Antisemitismus in Österreich 1933-1938 [1 ed.] 9783205204565, 9783205201267


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Antisemitismus in Österreich 1933-1938 [1 ed.]
 9783205204565, 9783205201267

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Gertrude Enderle-Burcel Ilse Reiter-Zatloukal (Hg.)

Antisemitismus in Österreich 1933–1938

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Publiziert mit der Unterstützung durch: Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Wissenschaft und Forschung Amt der Oberösterreichischen Landesregierung Amt der Salzburger Landesregierung Amt der Tiroler Landesregierung, Abteilung Kultur MA 7, Kulturabteilung der Stadt Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung Verein der Freunde der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien Zukunftsfonds der Republik Österreich (Projekt P 14-1897)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien, Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Titelbild der sozialdemokratischen Zeitschrift „Der Kuckuck“, 19. März 1933. © ÖNB/ANNO. Korrektorat: Claudia Holtermann, Bonn Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-20456-5

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  13 Heinz Fischer Geleitwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  15 Gertrude Enderle-Burcel/Ilse Reiter-Zatloukal Einleitende Streiflichter.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  17

GRUNDLAGEN Thomas Albrich Vom Antijudaismus zum Antisemitismus in Österreich. Von den Anfängen bis Ende der 1920er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  37 Stefan Schima

Der Antisemitismus vor dem Hintergrund der österreichischen Rechtsentwicklung bis 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61 Ewald Wiederin

Jüdische Bevölkerung und verfassungsrechtliche Lage 1918 bis 1938 . . . . . . .  97 Peter Melichar Juden zählen. Über die Bedeutung der Zahl im Antisemitismus . . . . . . . . . . 111 Andreas Weigl Zahlen – Daten – Fakten. Die jüdische Bevölkerung der Republik Österreich 1933 bis 1938 in der Statistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

POLITIK UND RELIGION Alexandra Neubauer-Czettl Juden – (k)ein Thema im Ministerrat  ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

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Inhaltsverzeichnis

Helmut Wohnout

Politischer Katholizismus und Antisemitismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Florian Wenninger »… für das ganze christliche Volk eine Frage auf Leben und Tod«. Anmerkungen zu Wesen und Bedeutung des christlichsozialen Antisemitismus bis 1934 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Rupert Klieber

Katholischer Antisemitismus im »Christlichen Ständestaat« zwischen theologischen Prämissen und kirchlichem Antimodernismus.. . . . . . . . . . . 237 Astrid Schweighofer Evangelischer Antisemitismus im Österreich der Zwischenkriegszeit . . . . . . . 259 Angelika Königseder Antisemitismus und Heimwehren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Emmerich Tálos

Antisemitismus und Vaterländische Front . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Michael Wladika

»Wir sind freiheitlich gesinnt und Judengegner«. Der (Rassen-)Antisemitismus der Großdeutschen Volkspartei . . . . . . . . . . . 291 Hanno Scheuch

Der Landbund für Österreich. Antisemitismus ohne Juden  ?. . . . . . . . . . . . 331 Kurt Bauer

Nationalsozialistischer Antisemitismus in der Illegalität.. . . . . . . . . . . . . . 349 Margit Reiter Die österreichische Sozialdemokratie und Antisemitismus. Politische Kampfansage mit Ambivalenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Johanna Gehmacher Im Rahmen des Sagbaren. Kontinuitäten der Geschlechterpolitik des Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381

Inhaltsverzeichnis

KUNST UND KULTUR Anita Mayer-Hirzberger

»… eine Angelegenheit hinter verschlossenen Türen«. Zum Antisemitismus im Musikleben zur Zeit des Austrofaschismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 Konstantin Kaiser »Ständestaat« und Antisemitismus in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Susanne Blumesberger

Antisemitische Strömungen in österreichischer Kinder- und Jugendliteratur im Zeitraum 1933 bis 1938. Vorbereitungen und Gegenbewegungen. . . . . . . . . 427 Birgit Peter

Antisemitismus und Theater. Über Stereotypisierungen und Widerstand . . . . . 443 Martina Cuba

Joseph Gregor, ambivalenter Sammler und Bibliothekar. Erwerbungspolitik in der Theatersammlung der Nationalbibliothek Wien von 1933 bis 1938 . . . . 451 Murray G. Hall »Und wenn es nicht auf gesetzlichem Wege gehen sollte, diese Parasiten zu vertreiben …«. Das antisemitische Programm eines Grazer Verlags . . . . . . . . 465 Christina Köstner-Pemsel

Das Vorspiel. Wissenschaftliche Bibliotheken in Österreich zwischen 1933 und 1938.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Christian H. Stifter

Antisemitismus und Volksbildung vor 1938 – ein Ausschlussverhältnis  ? . . . . . 487 Matthias Marschik

»… Herr Jud’ zu sagen«. Antisemitismus im österreichischen Sport 1933 bis 1938. Ein Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509

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Inhaltsverzeichnis

WIRTSCHAFT UND BERUFE Stefan Eminger

»Christen, kauft bei Christen  !«. Antisemitismus im Gewerbe 1933 bis 1938. . . 537 Marie-Theres Arnbom

»Judengeld ist eben doch auch Geld«. Antisemitismus und Fremdenverkehr . . . 555 Gertrude Enderle-Burcel

Antisemitismus am Beispiel der Spitzenbeamten.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 571 Stefan Spevak Schule und Antisemitismus in den Akten des Wiener Stadtschulrates 1933 bis 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 587 Ursula Schwarz Antisemitismus am Beispiel der Personalpolitik bei Richtern und Staatsanwälten 1933 bis 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 621 Erwin A. Schmidl Das Erbe einer übernationalen Armee im Zeitalter des Nationalismus. Das Bundesheer und seine jüdischen Soldaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633 Ilse Reiter-Zatloukal »Bodenständigkeit« vs. »Verjudung«. Antisemitismus in der Ärzteschaft 1918 bis 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 Otmar Seemann Zahnbehandler 1933 bis 1938. Jüdische Zahnärzte im Wettstreit mit christlichen Zahntechnikern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 Ilse Reiter-Zatloukal »Volksfremde Elemente im Anwaltsberuf«. Antisemitismus und Advokatur 1918 bis 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 695

Inhaltsverzeichnis

WISSENSCHAFT Kamila Staudigl-Ciechowicz

Zum rechtlichen Rahmen für die Personalpolitik an den österreichischen Universitäten im Austrofaschismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 731 Linda Erker/Klaus Taschwer

»Eine wirklich befriedigende Lösung der Judenfrage  !«. Antisemitische Personalpolitik an der Universität Wien vor und nach 1933 . . . . . . . . . . . . 751 Klaus Taschwer

Braun-schwarze Beziehungsgeflechte. Zur Bedeutung antisemitischer Netzwerke im akademischen Milieu der Zwischenkriegszeit und zu ihren Nachwirkungen nach 1938 und 1945.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769 Linda Erker Studierende der Universität Wien und ihr Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785 Peter Goller/Martin Urmann

Antisemitismus an der Universität Innsbruck. Vom »Waidhofener Prinzip« zum »Ständestaat« (1896 bis 1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 807 Johannes Koll »Die Vernichtung der jüdischen Lehr- und Lerntätigkeit«. Antisemitismus an den wissenschaftlichen Hochschulen in Wien bis zum »Anschluss« Österreichs.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 823 Tamara Ehs

Außeruniversitäre Wissenschaft. Verdrängt seit 1365 . . . . . . . . . . . . . . . . 851

BUNDESLÄNDER Gerhard Baumgartner

Antisemitismus im Burgenland vor 1938. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 869

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Inhaltsverzeichnis

Christian Klösch

Antisemitismus in Kärnten 1933 bis 1938 mit zwei Beispielen aus der Bezirksstadt Wolfsberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885 Christoph Lind »… das rasche Anwachsen des Hakenkreuzlertums …«. Antisemitismus in Niederösterreich 1933 bis 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 897 Christoph Ebner

Antisemitismus im Oberösterreich der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . 913 Gert Kerschbaumer Festspielstadt Salzburg  : weltoffen und antisemitisch . . . . . . . . . . . . . . . . 931 Dieter A. Binder »Jetzt kommt der Jud im Steireranzug  !«. Zum Antisemitismus in der Steiermark 1933 bis 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 943 Niko Hofinger

Antisemitismus in Tirol 1933 bis 1938. Gedankenspiele und Fakten zu einer fast unveröffentlichten Normalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 953 Nikolaus Hagen Antisemitismus in Vorarlberg 1933 bis 1938. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963 Christian Mertens

Von »anständigen« und »zersetzenden« Juden. Antisemitische Theorie und Praxis in der bundesunmittelbaren Stadt Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 977

JUSTIZ Christiane Rothländer

»… daß die Justiz in Österreich zur Dirne geworden ist«. Offener Antisemitismus in der Alltagsjustiz Anfang der 1930er Jahre . . . . . . . 991

Inhaltsverzeichnis

Gabriele Schneider

Antisemitismus in der Alltagsjustiz zwischen Juliabkommen 1936 und »Anschluss« 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1001

MIKROGESCHICHTLICHES Hanns Haas

Juden im »Ständestaat« am Beispiel des politischen Bezirkes Horn/Niederösterreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1023 Peter Melichar

Otto Ender und die Juden – ein Fall für die Antisemitismusforschung  ? . . . . 1061

JÜDISCHE POSITIONEN Georg Gaugusch

Der Antisemitismus im Großbürgertum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1085 Waltraud Heindl Otto Weininger. Ein Fall von jüdischem Antisemitismus  ? . . . . . . . . . . . . 1099 Doron Rabinovici Angesichts von Hass und Hetze. Jüdische Strategien gegen den Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1111

Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1127 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1151

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Vorwort Der vorliegende Sammelband geht auf die gleichnamige Konferenz zurück, die von 23. bis 26. März 2015 am Juridicum Wien unter dem Ehrenschutz des Herrn Bundespräsidenten Dr.  Heinz Fischer mit weit über den Erwartungen liegenden TeilnehmerInnenzahlen stattfand (https://antisemitismus1933-1938.univie.ac.at/). Zahl­reiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der unterschiedlichsten Fachrichtungen konnten für Vorträge gewonnen werden, viele Persönlichkeiten auch außerhalb des engeren Wissenschaftsbetriebs für die Vorsitzführung und Moderation der verschiedenen Panels. Die Beiträge der meisten Vortragenden liegen nun auch in gedruckter Form vor. Darüber hinaus konnten einzelne Vortrags- oder Publikationsabsagen durch andere AutorInnen ersetzt werden. Unser Dank gilt in erster Linie allen Vortragenden und AutorInnen für ihre Beiträge und die Geduld mit dem Publikationsprojekt, das aufgrund der großen Zahl der Beteiligten mehr Zeit in Anspruch nahm als erwartet. Zu besonderem Dank verpflichtet sind wir aber auch den Sponsoren der Konferenz (Zukunftsfonds der Republik Österreich, Projekt Nr. P14-1897 und Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Wien) und der Drucklegung (Zukunftsfonds der Republik Österreich, Nationalfonds der Republik Österreich, Kulturabteilung der Stadt Wien, Amt der Tiroler Landesregierung, Amt der Niederösterreichischen Landesregierung, Amt der Oberösterreichischen Landesregierung, Amt der Salzburger Landesregierung, Verein der Freunde der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien). Nicht zuletzt danken wir Dr.in Ursula Huber vom Böhlau-Verlag für die angenehme Zusammenarbeit und geduldige Betreuung des Bandes. Gertrude Enderle-Burcel & Ilse Reiter-Zatloukal Wien, im Januar 2018

Heinz Fischer

Geleitwort

Die vorliegende Publikation »Antisemitismus in Österreich 1933 bis 1938« basiert auf einer viertägigen Veranstaltung mit gleichem Titel im Juridicum der Universität Wien. Es ist den beiden Organisatorinnen der Tagung, Gertrude Enderle-Burcel und Ilse Reiter-Zatloukal gelungen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der unterschiedlichsten Fachrichtungen zur Mitarbeit zu gewinnen. Das Hauptinteresse lag dabei nicht so sehr auf dem offen gezeigten und praktizierten Antisemitismus, sondern der Forschungsschwerpunkt wurde primär auf den »versteckten Antisemitismus« gelenkt, wie es Bruce Pauley schon vor Jahren formulierte. Es ist das besondere Verdienst der beiden Wissenschaftlerinnen und der eingeladenen Kolleginnen und Kollegen, dass es gelungen ist, diesen unterschwelligen Antisemitismus in der österreichischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit erfahrbar zu machen, da er sich quellenmäßig oft nur sehr schwer nachweisen lässt – dafür aber umso bösartiger und gefährlicher ist. Diese Spurensuche führt in alle Lebensbereiche und zeigt die Aktualität der Einschätzung des Zeithistorikers Karl Stuhlpfarrer, der in den 1990er Jahren knapp und präzise formulierte  : »Die Politik der antisemitischen Kräfte war darauf gerichtet, die Juden in Österreich zu dissimilieren, sie mit Gewalt auch gegen ihren Willen auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet von der übrigen Bevölkerung abzusondern und ihnen jede Möglichkeit politischer Sozialisation als integrierender Teil des gesellschaftlichen und politischen Lebens der österreichischen Bevölkerung zu nehmen.« Er kam zu dem Schluss  : »dass der Antisemitismus nicht durch das NS-Herrschaftssystem importiert wurde, sondern, dass er autochthonen Charakter hatte.« Was aber nichts daran ändert, dass es der Nationalsozialismus war, der den Antisemitismus und Judenhass bis zum millionenfachen Mord und zum Holocaust steigerte. Der Aufbau des vorliegenden Bandes ist bestimmt von diesen beiden Forschungsansätzen  – den »versteckten Antisemitismus« aufzuspüren und den »autochthonen Charakter des Antisemitismus in Österreich« zu belegen. Die Beiträge im Sammelband zeigen die Vielfalt an möglichen wissenschaftlichen Zugängen. In großen Themenblöcken werden allgemeine einführende Beiträge, Beiträge zur Regierungspolitik, zur Haltung von Verbänden, Parteien und Religionsgesellschaften, zu wirtschaftlichen Diskriminierungen und zu Antisemitismus im Kultur- und Bildungsbereich sowie in der Wissenschaft behandelt. Auch der Antise-

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Heinz Fischer

mitismus in den Bundesländern und der offene Antisemitismus in den 1930er Jahren werden thematisiert. Die Haltung der Israelitischen Kultusgemeinde und der jüdische Antisemitismus ergänzen die Themenliste. Der Sammelband gibt einen umfassenden Überblick zum bisherigen Forschungsstand, bringt aktuelle Forschungsergebnisse, setzt sich aber auch mit den immer noch bestehenden Forschungslücken auseinander und liefert Antworten auf die Fragen nach dem antisemitischen Milieu in Österreich in den Jahren vor 1938. Es werden damit auch wichtige neue Erkenntnisse für die nach wie vor umstrittene Einstufung des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes im Spektrum der europäischen Faschismen vorgelegt. Es gebührt den Herausgeberinnen zweifellos das große Verdienst, einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der Geschichte der Ersten Republik geleistet und neue Akzente in der vielschichtigen Diskussion gesetzt zu haben. Heinz Fischer

Gertrude Enderle-Burcel/Ilse Reiter-Zatloukal

Einleitende Streiflichter

Die vielfältigen Formen des Antisemitismus im Österreich der 1930er Jahre möglichst umfassend nach dem derzeitigen Stand der Forschung aufzuzeigen, war ein vorrangiges Ziel der 2015 veranstalteten gleichnamigen Konferenz. So liefern die Beiträge einen repräsentativen Einblick in die Forschungslage und zeigen mit aller Deutlichkeit, was in der österreichischen Gesellschaft in den Jahren vor dem »Anschluss« an Möglichkeiten erwogen und was tatsächlich geduldet oder betrieben wurde. Der weite Themenansatz ermöglicht es, der Fachkollegenschaft und einer breiten Öffentlichkeit den aktuellen Erkenntnisstand in diesem Sammelband übersichtlich aufzuzeigen. Je nach Forschungslage schwankt die Länge der Beiträge. Inhaltlich reicht die Bandbreite von skizzenhaften Annäherungen an die Themen bis hin zu detailreichen und auf neuesten Forschungen beruhenden Studien. Die Beiträge gehen so vielfach weit über die ursprüngliche Absicht der Herausgeberinnen hinaus, die aktuelle Forschungslage und wissenschaftliche Desiderate überblicksartig aufzuzeigen. Sie bieten vielfach auch neueste Erkenntnisse, die oft erst im Umfeld der Tagung initiiert wurden. Der Sammelband stellt so den Versuch dar, dem nicht so offen sichtbaren Antisemitismus des »Ständestaates« auf die Spur zu kommen und bietet in seiner Themenbreite eine neue Qualität in der Forschungslandschaft. Angesichts der Fülle der Beiträge können diese hier freilich nicht einzeln vorgestellt werden, sondern es werden im Folgenden streiflichtartig Querverbindungen zwischen denselben herausgestellt.

Der Begriff »Antisemitismus« Antisemitismus – dies zeigt auch die vorliegende Publikation in aller Deutlichkeit – ist ein Sammelbegriff, der sehr viele Strömungen vereinigt und sich durch die Jahrhunderte veränderte. Nach Wolfgang Benz meint Antisemitismus »im modernen Sprachgebrauch die Gesamtheit judenfeindlicher Äußerungen, Tendenzen, Ressentiments, Haltungen und Handlungen unabhängig von ihren religiösen, rassistischen, sozialen oder sonstigen Motiven«.1 Die Mehrzahl der Beiträge liefert Beispiele für die Vielfalt 1 Benz 2001, 129.

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möglicher Ausrichtungen von Antisemitismus in den 1930er Jahren in Österreich. Bewusst einbezogen wurden aber in die Konzeption der Tagung und damit des Sammelbands auch Themen, welche die Entwicklungsstränge seit dem Mittelalter oder die besonderen Erscheinungsformen im 19. Jahrhundert aufzeigen. Einige Beiträge stellen darüber hinaus wichtige Verknüpfungen zu den antisemitischen Strömungen nach 1945 her. Durchgehend wird jedoch von den AutorInnen der zeitliche Fokus auf die 1930er Jahre gelegt und damit ein Antisemitismus aufgezeigt, der schon lange vor der nationalsozialistischen Rassenideologie vielfältige Ausformungen entwickelte. Zur Verdeutlichung seien hier nur einige Beispiele angeführt. Bei Albrich wird der Weg vom Antijudaismus zum modernen rassistischen Antisemitismus nachgezeichnet, wobei im Bereich der katholischen Kirche die Grenzen zwischen »religiösem« und »rassischem« Antisemitismus verschwammen, eine Einschätzung, zu der auch Klösch kommt  : »katholischer Antijudaismus, ständestaatlicher Antisemitismus und der Rassenantisemitismus der Nazis gingen in den 1930er Jahren fließend ineinander über und rechtfertigten sich gegenseitig.« Kerschbaumer bezeichnet den Antijudaismus als »Unterfutter des modernen Rassenantisemitismus«. Wenninger sieht hinter dem konfessionell motivierten Antisemitismus stets den Rassismus, und für ihn ist seit dem 19. Jahrhundert zwischen theologischem, ökonomischem und rassistischem Antisemitismus nicht mehr klar zu unterscheiden. Auf die Rechtfertigung eines »geistig-ethischen« Antisemitismus der Tat geht Klieber ein. Albrich wiederum bezeichnet die unscharfen Differenzierungsversuche in »religiös«, »wirtschaftlich«, »nationalistisch« oder rassistisch« als fragwürdig. In vielen Beiträgen werden dazu Ausdrücke aus dem alltäglichen Antisemitismus aufgezeigt wie »Notwehrantisemitismus«, »Tatantisemitismus«, »Abwehrantisemitismus« oder »Sommerfrischen-Antisemitismus«. Der Beitrag von Heindl thematisiert an Hand der Biographie von Otto Weininger die Möglichkeit eines jüdischen Antisemitismus. Antisemitismus findet sich häufig in Verbindung mit Antisozialismus bzw. Antibolschewismus (Eminger, Haas), Antimarxismus und Antimodernismus (Hagen, Klösch, Klieber, Melichar, Stifter, Wenninger), aber auch mit Antifeminismus (Heindl). Als vertrauter kultureller Code2 wurde er »zu einer Haltung, einem Prinzip, das unbeeindruckt von den realen Ausformungen jüdischen Lebens aufrechterhalten wurde« (Albrich). Antisemitismus findet sich aber, wie die Beiträge dokumentieren, auch unabhängig vom konkreten Vorhandensein von Juden, also unabhängig von der realen Erfahrung (Albrich, Bauer, Ebner, Hagen, Scheuch). Die Beiträge kommen übereinstimmend immer wieder zum Ergebnis, dass der Antisemitismus in Österreich in den Jahren 1933 bis 1938 in vielen Bereichen nicht of2 Volkov 2000.

Einleitende Streiflichter

fen zum Tragen kam. »Schleichender« Antisemitismus, »kaschierter Antisemitismus« oder »verdeckter«, »auf die Hinterbühne« verlagerter, »verlogener« Antisemitismus, Antisemitismus »in latenter, subtiler Form«, »subkutan«, »Gummisohlen-Antisemitismus« oder »auf inoffizieller Ebene wirksam«, dies sind die – zum Teil zeitgenössische Bezeichnungen einbeziehenden – Einschätzungen der AutorInnen, die zeigen, dass es sich beim Antisemitismus im Austrofaschismus nicht um eine »harmlose« oder »gemütliche« Spielart (Wenninger) handelte. Die Ausformung eines autochthonen Antisemitismus (Ehs, Wladika) – senkte die Hemmschwelle und war Wegbereiter für den brutalen Vernichtungsantisemitismus des Nationalsozialismus – so die durchgehende Analyse in den Beiträgen.

Zahlen und Statistiken »Juden zählen« (Melichar) zieht sich wie ein roter Faden durch alle Antisemitismen. Das Zählen ging stets Hand in Hand mit der Unterstellung einer jüdischen Identität unter Aberkennung subjektiver Bekenntnisse. Die Frage, was ein Jude sei, scheiterte an der fehlenden sicheren Identifikationsmöglichkeit. Im Zweifelsfall führte es zur »Judenriecherei«, einer intuitiven Identifizierung. Ein entpersonalisiertes Feindbild »der Jude« wurde geschaffen, eine verhältnismäßig kleine Zahl von Juden mit einschlägigem Vokabular prototypisch aufgebläht, wie man am Beispiel der »großen Zahl jüdischer Neureicher« sehen kann (Melichar). Konkrete Zahlen wurden in Österreich bei der Volkszählung 1934 erhoben (Weigl). Bei dieser war für die Zählung die rechtliche Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ausschlaggebend und nicht die »Volkszugehörigkeit«. Die Regierung hätte zwar gerne alle Juden erfasst, doch konnte keine passende Formulierung gefunden werden, welche die angestrebte bewusste Abgrenzung zu den Nationalsozialisten zum Ausdruck gebracht hätte. Neben den statistisch erhobenen Zahlen bei Weigl finden sich auch immer wieder in Einzelbeiträge konkrete Zahlen wie etwa bei Albrich im Zusammenhang mit Antisemitismus auf dem Lande, bei Ehs zur Anzahl aller Studierenden mit jüdischer Herkunft in Wien, bei Ebner zur Lage in Oberösterreich, bei Hagen zu Vorarlberg, bei Scheuch zu den Nationalratswahlen 1927 in den Bundesländern, bei Stifter zu den Vortragenden in der Volksbildung, bei Schwarz zu den Richtern, bei Reiter-Zatloukal zu den ÄrztInnen und AnwältInnen und bei Klösch zur Gemeinde Wolfsberg. Die Zahl von Juden wurde von den Zeitgenossen aus den unterschiedlichsten Motiven und zu den unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen erhoben, oft verzerrt und selten korrekt angegeben, wie die AutorInnen deutlich machen. Die Beiträge von Schmidl und Weigl thematisieren auch die Lücken im

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Gertrude Enderle-Burcel/Ilse Reiter-Zatloukal

statistischen Material. Unabhängig von allem Zählen gibt es freilich durchgehend das Phänomen des Antisemitismus ohne Juden. Dabei handelt es sich um einen von der realen Erfahrung unabhängigen Antisemitismus – besonders gut dokumentiert in den Bundesländern (Ebner, Hagen).

Stereotypen Durchgehend werden in den Beiträgen gängige antisemitische Stereotypen aufgedeckt und im jeweiligen thematischen Umfeld problematisiert. Beschuldigungen hinsichtlich Gottesmord, Ritualmord und Hostienschändung gehören zu den klassischen Stereotypen. Die Juden wurden etwa als »Kaftanjuden« sowie als »Fremdvolk« im Gegensatz zum »Wirtsvolk« bezeichnet und ausgegrenzt (Erker, Ehs, Klösch, Koll, Königseder, Wladika). Eine besondere Stellung in der antisemitischen Agitation nahmen die »Ostjuden« ein, die während des Ersten Weltkrieges und danach von Galizien und der Bukowina nach Wien gekommen waren. Sie standen im Mittelpunkt von judenfeindlicher Hetze, stets verbunden mit abwertenden Adjektiven (Albrich, Ebner, Ehs, Eminger, Erker, Goller, Marschik, Reiter, Stifter, Reiter-Zatloukal), und für sie wurde auch bereits die Anhaltung in Lagern erwogen. Die ausführlichste Darstellung der Thematik findet sich im Beitrag zum Antisemitismus in der Großdeutschen Partei (Wladika). Weiters wurde die Stereotype des reichen, bürgerlichen Juden konstruiert  : der »Schma­rotzer«, der »Kriegsgewinnler«, »Spekulant und Geschäftemacher«, der »jüdische Großkapitalist«, der »jüdische Schmutzkonkurrent« usw. und der Gegensatz von »jüdisch-raffendem« zum »christlich-schaffendem« Kapital (Eminger). Die Juden sah man als »verschwörerische Gruppe«, gekennzeichnet durch »jüdische Wuchergesinnung« und »freches jüdisches Treiben« (Neubauer-Czettl). »Jüdische Unrast« (Wenninger) wurde als Chiffre für als subversiv eingestufte Aktivitäten verwendet – wie etwa liberale, freidenkerische, sozialistische oder freimaurerische Ideen. Das Adjektiv »zersetzend« findet sich im Zusammenhang mit dem Judentum sogar im christlichsozialen Parteiprogramm. Es kam überdies zu einer Gleichsetzung von Juden mit der »bolschewistischen Gefahr« (Haas). In der NS-Propaganda wurden Juden dann als »Dunkelmänner, Einflüsterer und Drahtzieher« dargestellt (Bauer). Daneben gibt es die Stereotype des »jüdischen Verführers und Vergewaltigers unschuldiger arischer Mädchen« (Gehmacher). Angesichts der vielfältigen Formen, die der Antisemitismus annahm, und der Stereotypen mit denen er agierte, können – wie Albrich am Beginn seines Beitrages feststellt – die Differenzierungsversuche in »religiös«, »wirtschaftlich«, »nationalistisch«, oder »rassistisch« motiviert, nur als fragwürdig bezeichnet werden.

Einleitende Streiflichter

Rechtslage Gesetzliche Normen trugen jahrhundertelang wesentlich zur Diskriminierung und Ausgrenzung der Juden aus der Gesellschaft bei. Das Verbot von Eheschließungen mit Nichtjuden, das Gebot des Tragens von besonderer Kleidung, ökonomische Einschränkungen wie etwa das Verbot von Grundbesitz oder die Zuweisung von Familiennamen udgl. (Schima) gehörten zum einschlägigen rechtlichen Instrumentarium. Viele Beiträge weisen die Bedeutung der 1848er-Revolution und der anschließenden Verfassungsentwicklungen, darunter v. a. des Staatsgrundgesetzes 1867, für das jüdische Leben aus (Albrich, Ebner, Eminger, Gaugusch, Klösch, Lind, Schneider, Spevak, Reiter-Zatloukal). Die rechtlichen Rahmenbedingungen des 19.  Jahrhunderts brachten auch tatsächlich Verbesserungen im Schul- und Vereinswesen sowie im Berufs- und Wirtschaftsleben, doch fanden faktische Exklusion und Diskriminierung damit keineswegs ein Ende. Der Rückblick auf die Monarchie fällt bei den einzelnen AutorInnen freilich recht unterschiedlich aus. Ebner kommt etwa zum Schluss, dass der Antisemitismus auf dem Gebiet des späteren Oberösterreich in der Monarchie stärker als in der Zeit unmittelbar danach war, während für Lind die Monarchie trotz antisemitischer Anfeindungen eine goldene Ära darstellte. Für Gehmacher bildete sich schon in der Monarchie der politische Kern des Nationalsozialismus. Die Darstellung der verfassungsrechtliche Lage 1918 bis 1938 (Wiederin) wird in den Einzelbeiträgen immer wieder durch die Bezüge zu den themenrelevanten Rechtsnormen sowie zur konkreten Realität der Verfassung von 1934 ergänzt. In der Verfassung 1934 hieß es zwar, dass die Zulassung zu öffentlichen Stellungen, Ämtern und Würden vom Religionsbekenntnis unabhängig sei, doch folgte die Einschränkung, dass für den Schuldienst Ausnahmen von diesem Grundsatz durch Gesetz aufgestellt werden konnten (Spevak). Im »Ständestaat« ergingen allerdings keine speziellen Gesetze, die Juden ausgrenzten oder diskriminierten (Tálos), doch wurden die – auch die Juden schützenden – rechtlichen Bestimmungen entweder umgangen oder einzelne Normen dazu missbraucht, um antisemitisch motivierte Maßnahmen zu setzen. Beispiele dafür sind etwa die Gewerbeordnung 1933 (Eminger) oder das neue Hochschulgesetz (Staudigl-Ciechowicz). Für die Verhältnisse an den Hochschulen prägt Koll daher den Begriff der »legistischen Glasur«. Weitere Beispiele finden sich im Schulsektor (Spevak) oder im Beitrag über Otto Ender (Melichar), wobei jener zeigt, dass es eine inoffizielle Vereinbarung gab, keine Juden mehr in den öffentlichen Dienst aufzunehmen. Wie Wohnout feststellt, klaffte also »zwischen dem geschriebenen Verfassungstext und der täglichen Realität im Österreich der Jahre 1934 bis 1938 eine tiefgreifende Diskrepanz.« Dies wird auch etwa im Beitrag von Reiter-Zatloukal deutlich, der ei-

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nerseits zeigt, wie bestehende Normen faktisch ausgehebelt oder in – auf den ersten Blick unauffälliger Weise – an antisemitische Praktiken angepasst wurden. Trotzdem werden die noch vorhandenen rechtsstaatlichen Handlungsspielräume sichtbar, insbesondere die Möglichkeit, bei bestimmten Rechtsbrüchen die Gerichte anzurufen. Wenngleich diese Strategie vor dem Verfassungsgerichtshof oder den Zivilgerichten durchaus Erfolg haben konnte, so scheinen im Bereich antisemitisch motivierter Gewalt jedoch weder Polizei noch Justiz hinreichend Schutz für jüdische Gewaltopfer geboten zu haben (Rothländer, Schneider).

»Arierparagraph« und Numerus clausus Die Forderung nach »Arierparagraphen« und Numerus-clausus-Regelungen fanden in vielen Gesellschaftsbereichen ihren Ausruck und hatten eine lange Tradition. Auch ohne rechtliche Grundlagen wurden Juden aber bereits vielfach faktisch von Mitgliedschaften in Vereinen und Verbänden oder von Berufen ausgeschlossen sowie aus Tourismusorten vertrieben, wozu sich in den Beiträgen zahlreiche Beispiele finden. Ein derartiger Ausschluss von Juden begann im 19. Jahrhundert in den Burschenschaften (Lind) und im Vereinswesen (Ehs). Arierparagraphen finden sich in den 1920er Jahren etwa bei der »Villacher Urania« (Stifter), im »Österreichischen Alpenverein« (Albrich, Arnbom, Marschik), in Regionalvereinen (Lind), beim »Österreichischen Touristenclub«, der keine jüdischen Mitglieder mehr aufnahm (Arnbom), in der Großdeutschen Volkspartei (Wladika) oder im »Deutschösterreichischen Gewerbebund« (Eminger) sowie im Bereich der Lehrerschaft (Ebner). Eine weitere Facette zeigt sich beim »Österreichischen Jungvolk«, wo man nicht einmal getaufte Juden aufnehmen wollte (Koll). Während der Arierparagraph einen Ausschluss der Juden aus vielen Lebensbereichen anstrebte, zielte die Forderung nach einem Numerus clausus auf eine zahlenmäßige Beschränkung der Juden. So wurde etwa ein Numerus clausus für die Universitäten und Hochschulen gefordert, aber etwa auch für jüdische Ärzte und Anwälte (Reiter-Zatloukal) sowie für Journalisten (Albrich). Darüber hinaus bestand ganz allgemein die Forderung nach einem Numerus proportionalis für alle akademischen Berufe (Koll), also nach einer Zurückdrängung der Juden auf einen ihrem Prozentsatz an der Gesamtbevölkerung entsprechenden Anteil. Im Zusammenhang mit derartigen Versuchen, Juden und Jüdinnen aus bestimmten Akademikerberufen zu drängen, finden sich darüber hinaus auch Forderungen nach neuen gesetzlichen Regelungen, zu denen es erst unter der NS-Herrschaft kommen sollte, wie z. B. nach einer die Berufstätigkeit jüdischer Ärzte unbedingt verhindernde »Ausländerklausel« (Reiter-Zatloukal).

Einleitende Streiflichter

Regierungsposition In der Verfassung 1934 wurden zwar die staatsbürgerlichen Rechte der Juden gegenüber der Verfassung 1920 zurückgebaut (Wiederin), Juden waren aber nach wie vor in den Organen der Bundesgesetzgebung vertreten, wenngleich diesen Gremien wenig Einfluss zukam (Wohnout), oder aber in der Wiener Bürgerschaft (Mertens). Die institutionelle Einbindung änderte jedoch nichts am weitgehend tolerierten Antisemitismus in vielen Gesellschaftsbereichen. Marschik bringt in seinem Beitrag die Haltung der österreichischen Regierung auf eine allgemeine Kurzformel  : Sie »erließ keine gegen Juden gerichtete Gesetze, enthielt sich direkter Angriffe und distanzierte sich vom rassischen Antisemitismus.« So wies Ende 1937 Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, dem die antisemitische Boykottkampagne von Vizebürgermeister Josef Kresse gegen jüdische Geschäfte zu weit gegangen war, diesen im »Neuen Wiener Tagblatt« scharf zurecht (Wohnout). Regierungsintern lassen sich in den Ministerratsprotokollen jedoch vielfach anti­ semitische Äußerungen finden, wenngleich häufig nur in der stenographischen Mitschrift überliefert (Neubauer-Czettl). So waren den Protokollen zufolge einige gesetzliche Maßnahmen, z. B. gegen Warenhäuser und betreffend die Gewerbesperre, eindeutig als wirtschaftliche Diskriminierung von jüdischen Kaufleuten und Gewerbetreibenden angelegt, noch verschärft durch eine antisemitische Verbandspolitik. Im Gewerbe hatte der Antisemitismus im »Ständestaat« überhaupt eine neue Qualität erreicht (Eminger). Die Wortmeldungen im Ministerrat belegen klar, dass die Regie­ rungsmitglieder nicht frei von antisemitischen Vorurteilen waren und dementsprechend handelten, sich aber dennoch stets bemühten, einen offenen, nach außen sichtbaren Antisemitismus zu vermeiden, nicht zuletzt, um Kritik aus dem Ausland in Grenzen zu halten (Eminger, Wohnout). Auch auf der Ebene der Landesregierungen wurde offener Antisemitismus vermieden (Ebner). Dies galt allerdings nicht für alle Vertreter des politischen Katholizismus, einige Namen finden sich immer wieder in den Beiträgen. Die antisemitischen Vorstellungen und scharfen Äußerungen von Politikern, wie Emmerich Czermak, Engelbert Dollfuß, Otto Ender, Robert Krasser, Josef Kresse, Leopold Kunschak oder von Bischöfen wie Johannes Maria Gföllner und Alois Hudal, geben einen tiefen Einblick in das antisemitische Milieu der Jahre vor dem »Anschluss«. Selbst die Forderung nach Konzentrationslagern wurde, etwa von Leopold Kunschak, schon in den 1920er Jahren erhoben (Albrich, Wenninger, Wladika), und bei Emmerich Cermak finden sich Umsiedlungspläne für Juden nach Palästina (Klieber). Ein Otto-Ender-Zitat verdeutlicht die Haltung christlichsozialer Politiker  : »Der Jude wird nie Deutscher, nie Franzose, nie Engländer. Er ist und bleibt eben Jude und sollte von Rechts wegen

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Bürger nur sein in Jerusalem. In den Bestrebungen des Zionismus steckt Wahrheit. Alles andere ist Unwahrheit. Der Jude ist Jude, und ist bei uns nicht als deutscher Mitbürger, sondern in Wahrheit ist er Gast in unserem Lande« (Melichar). Politiker der »zweiten Reihe« (Lind) zeigten freilich oft noch viel unverhohlener ihren persönlichen oder parteigefärbten Antisemitismus als Regierungsmitglieder.

Parteien Antisemitismus findet sich in der Zwischenkriegszeit durchgehend im politischen Parteienspektrum Österreichs. Die Beiträge, die den antisemitischen Traditionen und Erscheinungsformen in den Parteien im Allgemeinen oder personenbezogen nachgehen (Bauer, Gehmacher. Klieber, Melichar, Reiter, Scheuch, Wenninger, Wladika, Wohnout) werden noch ergänzt durch Details in den Bundesländern (Ebner, Haas, Hagen, Hofinger, Kerschbaumer, Klösch, Lind, Mertens) und durch Beiträge zu den Heimwehren (Königseder) und der »Vaterländischen Front« (Tálos). Rückgriffe auf das Parteienspektrum der Monarchie (Albrich) oder die Auswirkungen parteipolitischen Agierens von Studierenden an den Universitäten (Erker) sind nur weitere Beispiele. Kaum ein Beitrag kommt ohne Bezüge auf die Spielarten des Antisemitismus in einer der Parteien oder im Vergleich mehrerer Parteien aus, wobei die NSDAP als »schärfste Antisemitenpartei« (Gehmacher) immer wieder zum Vergleich herangezogen wird. Die Bandbreite zwischen antisemitischen Ansätzen in der Sozialdemokratischen Partei und dem offenen Antisemitismus in der Großdeutschen Partei ist dabei groß. Immer wieder gibt es auch Hinweise auf Sonderentwicklungen in den Bundesländern. An Hand der »Vaterländischen Front«, nach Auflösung der Parteien einziges Sammelbecken für regierungstreue Kräfte, zeigt sich exemplarisch, wie eng verwoben die Themen in den Beiträgen dieses Sammelbandes sind. Die »Vaterländische Front«, innerorganisatorisch eindeutig antisemitisch ausgerichtet (Tálos), nahm nach dem Verbot der Parteien bzw. Selbstauflösung der christlichsozialen Partei eine zentrale Rolle bei Personalentscheidungen auf allen Ebenen des Staates ein. Beispiele dafür lassen sich etwa in der Musik (Mayer-Hirzberger), bei Richtern und Staatsanwälten (Schwarz) oder im Schulsektor (Spevak) aufzeigen. Beim Bundesheer (Schmidl) findet sich der Hinweis, dass der Beitritt des »Bundes Jüdischer Frontsoldaten« »in corpore« auf Ablehnung der »Vaterländischen Front« stieß, da der Bund keine anerkannte Berufsorganisation war. Die jüdische Jugendorganisation wurde nicht ins »Österreichische Jungvolk«, Teil der »Vaterländischen Front«, aufgenommen, sondern in einem eigenen Verband zusammengefasst (Marschik). Signifikant ist etwa auch,

Einleitende Streiflichter

dass im Entwurf einer programmatischen Erklärung der »Vaterländischen Front« die Empfehlung aufscheint, die Zurückdrängung jüdischer Menschen aus dem politischen und wirtschaftlichem Leben auf »kaltem Weg« und für die Öffentlichkeit zunächst »unmerklich« umzusetzen (Mayer-Hirzberger).

Religionsgemeinschaften Der Katholische Antisemitismus im »Christlichen Ständestaat« stand in der langen Tradition des Antijudaismus (Klieber). Die Betonung des Katholizismus in den Jahren 1934 bis 1938 verstärkte den Ausschluss von Juden, wenngleich sich der Antisemitismus in den Parteiprogrammen der christlichsozialen Partei als Konstante fand. Die Grenzen zum Rassenantisemitismus der Nationalsozialisten waren fließend, wie in katholischen Publikationen, etwa aus dem kircheneigenen Styria-Verlag, nachzulesen ist (Wenninger). Keine maßgebliche Gruppe innerhalb der katholischen Kirche, des politischen Katholizismus, des Vereinskatholizismus oder der katholischen Publizistik trat »entschieden und vorbehaltlos« gegen antisemitische Propaganda und Agitation auf (Wohnout). Antisemitisches Agieren von Geistlichen auf dem Lande (Wenninger), antisemitische Predigten von der Kanzel in Vorarlberg (Hagen) oder antijüdische Theologie in der Stadt Salzburg (Kerschbaumer) gehörten zum Alltag. Als eine der wenigen katholischen Kritikerinnen des Antisemitismus der Katholischen Kirche ist Irene Harand3 zu nennen (Spevak). Die evangelische Kirche Österreichs, geprägt durch Deutschnationalismus, Antikatholizismus und Antisemitismus, hatte – neben ihren innerkirchlichen Auseinandersetzungen – im »Ständestaat« zunehmend ein gespanntes Verhältnis zu den anderen Konfessionen. Die Erfahrungen von Marginalisierung und Diskriminierung im katholischen »Ständestaat« führten zu Allianzen mit den illegalen Nationalsozialisten und zu einem antikatholischen Elitebewußtsein. Auch die sogenannten Deutschen Christen, innerhalb der evangelischen Kirche zahlenmäßig eine Minderheit, verbreiteten ihre deutschchristliche Theologie. Antisemitismus in der evangelischen Kirche war deutschvölkisch und rassistisch-antisemitisch vermengt mit einem »kulturellen« Antisemitismus, der seinen Ausdruck u. a. in der Modernismuskritik fand. So gab es Bestrebungen im Sinne eines »arischen Christentums«, hebräische Ausdrücke aus der Liturgie und Kirchenliedern zu entfernen. Die Ausschreitungen in der Reichspogromnacht brachten zwar ein Umdenken, doch entwickelte sich kein nennenswerter Widerstand gegen die nationalsozialistische Judenpolitik (Schweighofer). 3 Vgl. ausf. Klösch 2004.

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Bildung Ausprägungen des Antisemitismus finden sich in vielen Bereichen des Bildungswesens. So wurde etwa eine Separation christlich-deutscher von jüdischen SchülerInnen (Albrich, Haas, Spevak, Stifter, Wenninger, Wohnout) schon in der Monarchie angestrebt, doch scheiterte dieser Versuch damals am Protest der Wiener Kultusgemeinde und dem Unterrichtsministerium. In einem »Schulhirtenbrief« von 1922 findet sich die Forderung nach Separation erneut. Nach dem Inkrafttreten des Konkordats 1934 kam es zu einem Erlass des Bundesministeriums für Unterricht, durch den alle nichtkatholischen SchülerInnen in einer Klasse zusammengeführt werden sollten. Die Parallelklassen-Aktion war aber nur ein Teil einer Rekonfessionalisierung des Schulwesens, wobei diese von einer kleinen Gruppierung orthodoxer Juden begrüßt wurde, während aus evangelischen Elternkreisen Beschwerden kamen, dass ihre Kinder nun in jüdisch-dominierten Klassen säßen (Spevak). Die Hochschulen und Universitäten waren in besonderem Maße jene Orte, an denen offener und versteckter Antisemitismus gleichzeitig praktiziert wurde. Dazu kam ihr vorbereitendes Wirken für die »Etablierung rassistischen Gedankengutes« (Ehs). So zeigen die Akten zu den Berufungsverfahren an der Universität Innsbruck einen offen formulierten Rassenantisemitismus (Goller). Die hochschulrechtlichen Bestimmungen selbst waren zwar »nicht inhärent antisemitisch«, aber der Antisemitismus gehörte zum Alltag im akademischen Leben (Staudigl-Ciechowicz). Der auf allen Hochschulen Österreichs offen praktizierte Antisemitismus nahm viele Formen an  : Schikanen gegenüber jüdischen Interessensvertretungen bei gleichzeitiger Tolerierung rechter Organisationen  ; gewalttätige Angriffe auf jüdische StudentInnen (Koll)  ; Zwangspensionierungen von unerwünschten Personen (Staudigl-Ciechowicz, Tasch­ wer)  ; Kampf gegen die sogenannten »Ostjuden«  ; Forderung nach einen ­Numerus clausus für Studierende, aber auch für Professoren und Dozenten (Ehs, Erker, Goller, Koll, Reiter-Zatloukal, Wenninger, Wladika) und Versuch der Festschreibung eines Rassenantisemitismus mittels der Gleispachschen Studentenordnung (Ehs, Erker, Melichar, Staudigl, Wiederin, Wohnout). Darüber hinaus gab es auf akademischem Boden noch ein »geheimes« Netzwerk, dessen Mitglieder Habilitationen oder Berufungen von Jüdinnen und Juden behinderten und in vielen Fällen verhinderten (Taschwer). Wissenschaft war für Juden und Jüdinnen oft nur mehr im »extramuralen Exil« möglich (Ehs). Insgesamt verringerte sich die offene Gewalt gegen jüdische Studierende im »Ständestaat« jedoch, und die Professorenschaft hielt sich unter dem Kruckenkreuz mit antisemitischen Äußerungen zurück (Koll). Die antisemitischen Vorgänge an den Universitäten wurden auch vom Ausland, insbesondere von den USA, aufmerksam

Einleitende Streiflichter

verfolgt und führten partiell sogar zu Reaktionen (Erker). So waren etwa finanzielle Zuwendungen an die Innsbrucker Universität wegen des dortigen Antisemitismus gefährdet (Goller). Vielfach gehen die Beiträge zu den Hochschulen und Universitäten zeitlich sogar über das Jahr 1938 hinaus und zeigen auf, wie die antisemitischen Netzwerke weit in die Zweite Republik wirkten (Ehs, Goller/Urmann, Taschwer), was in ähnlicher Weise bei den Bibliotheken festzustellen ist (Köstner-Pemsel). Über Schulen und Universitäten bzw. Hochschulen hinaus trat freilich der Antisemitismus auch im Volksbildungswesen in Erscheinung, in dem einige Landesreferenten »eindeutig antisemitischen Positionen bzw. Ideologien« zuzuordnen sind. Aktive Arbeit gegen den Antisemitismus fand an den Wiener Volkshochschulen ebenfalls kaum statt (Stifter).

Wirtschaft Von den vielfältigen Diskriminierungen auf wirtschaftlichem Gebiet können an dieser Stelle aus den Beiträgen nur einige Beispiele angeführt werden, welche die Bandbreite des »Tatantisemitismus« aufzeigen, der sowohl im öffentlichen Dienst als auch in der Privatwirtschaft festzustellen war. Judenfeindliche Forderungen und Agitationen finden sich im sozio-ökonomischen Zusammenhang durchgehend in allen Beiträgen, wobei es im Zuge der Weltwirtschaftskrise ab 1929 zu einem Ansteigen kam (Albrich, Eminger, Marschik). Ein Beispiel dafür sind etwa Boykottaufrufe, bei denen die Bandbreite der verbalen Aufrufe groß war  : von einem »Judenpranger«, der Namen von Personen enthielt, die bei Juden kauften (Ebner, Eminger), über Boykottaufrufe in Vorarlberg (Hagen), im Burgenland (Baumgartner) und in Kärnten (Klösch), »Judenlisten« in der Stadt Salzburg (Kerschbaumer), Boykott von Schulen gegen das Kaufhaus Gerngross (Spevak), wobei derartige Boykottaufrufe gegen jüdische Betriebe ab den 1930er Jahren regelmäßig vor Weihnachten (Eminger, Lind, Reiter-Zatloukal, Schneider, Wenninger) stattfanden udgl. Begleitet wurden diese Aktionen in den 1930er Jahren von terrorististischen Anschlägen gegen jüdische Unternehmen (Bauer, Kerschbaumer, Lind, Schneider, Wladika), wobei es schon vor dem »Anschluss« 1938 zu Zerstörungen von Auslagen und Brandanschlägen kam (Wenninger). Untersucht wird weiters, wie Polizei, Staatsanwaltschaft und Richter mit den Anzeigen der Betroffenen umgingen (Rothländer, Schneider). Betreffend das Gewerbe lassen sich neben Boykottmaßnahmen und terroristischen Anschlägen auch Regierungsmaßnahmen – wie etwa die Gewerbesperre – nachweisen, die sich eindeutig gegen jüdische Gewerbetreibende richteten (Eminger, Neubauer-­ Czettl, Wohnout). Gewerbeverbände gaben sich »Arierparagraphen« oder verwehrten

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Juden die Aufnahme, in dem sie die Statuten so formulierten, dass nur »bodenständige christlich-deutsche« Handwerker Aufnahme fanden (Eminger). Deutlich und offen zeigt sich der »Tatantisemitismus« besonders im Tourismus, dem ein eigener Beitrag gewidmet ist (Arnbom). Beispiele für den »Sommerfrischenantisemitismus« gibt es in vielen Bundesländern, wobei »jüdische Exzesse« sogar der Werbung dienten (Lind). So wurde etwa Arnold Schönberg aus der Salzburger Gemeinde Mattsee vertrieben (Kerschbaumer), massive Agitationen gegen »jüdische Sommerfrischler« sind in Oberösterreich (Ebner) und in verschiedenen niederösterreichischen Orten (Lind), wie etwa in Gars oder einigen Kamptalgemeinden (Haas), nachweisbar, und in Kärnten galt die »Verjudung der Sommerfrische« regelrecht als Bedrohung (Klösch). Die Erholungslandschaft wurde als »deutsch« und »christlich« definiert (Binder), und in den 1930er Jahren kam es sogar zu NS-Anschlägen gegen Hotels mit jüdischen Gästen (Bauer). In Reaktion darauf zeigte sich die österreichische Bundesregierung besorgt, dass jüdische Urlaubsgäste nun ausbleiben könnten (Neubauer-Czettl).

Berufsleben Dem Antisemitismus im öffentlichen Dienst widmen sich die Beiträge fokussiert auf die Spitzenbeamten (Enderle-Burcel), die Richter und Staatsanwälte (Schwarz), das Hochschul- und Universitätspersonal (Ehs, Goller/Urmann, Koll, Staudigl-Ciechowicz, Taschwer), die Gemeindebediensteten in Wien (Mertens),die LehrerInnen bzw. SchuldirektorInnen (Spevak), Bibliothekare und Bibliothekarinnen (Köstner-Pemsel) und SchauspielerInnen an Landestheatern (Ebner). Bedienstete im öffentlichen Dienst waren  – wenngleich zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichem Ausmaß  – Ziel meist nicht offen artikulierter antisemitischer Diskriminierungen. Im Schulbereich zeigt sich eine weitere Facette  : SchülerInnen bzw. deren Eltern zettelten Intrigen gegen jüdische LehrerInnen an (Spevak). Für die 1930er Jahre kann im Zusammenhang mit Otto Ender (Melichar) überdies nachgewiesen werden, dass im öffentlichen Dienst ein versteckter Antisemitismus eingefordert und praktiziert wurde. Dieser Antisemitismus war freilich nicht offiziell und auch nicht auf normativer Ebene verankert (Spevak). An die Öffentlichkeit trat er nur vereinzelt bei Stellenausschreibungen, wenn eine »deutsch-völkische Abstammung« (Klösch) oder der Taufschein (Reiter-Zatloukal) als Anstellungserfordernis verlangt wurde. In Einzelfällen ist eine antisemitische Diskriminierung überdies bei öffentlichen Aufträgen nachzuweisen (Eminger).

Einleitende Streiflichter

Für den öffentlichen Dienst ist für die 1930er Jahren überhaupt zu fragen, wie viele Nationalsozialisten sich bereits in der Beamtenschaft befanden (Schwarz, Schneider). Was den beruflichen Werdegang von Juden im Vergleich mit jenen der nichtjüdischen Beamten betrifft, so zeigen die Beiträge zu Spitzenbeamten, Richtern und Staatsanwälten (Enderle-Burcel, Schwarz) jedenfalls ein differenziertes Bild, da die Karriereverläufe der zahlenmäßig wenigen Juden keine Rückschlüsse auf Diskriminierungspraktiken zulassen. Ein besonderes Bild zeigt das Militär  : Es hatte keine »Judenzählungen« in der Armee gegeben (Lind), auch dürften die k. u. k. Armee und das Österreichische Bundesheer »im Großen und Ganzen relativ resistent« gegenüber dem Antisemitismus gewesen sein (Schmidl). Bei den freien Berufen findet sich hingegen bereits 1875 die Forderung nach einem Numerus clausus für Ärzte, Rechtsanwälte und Journalisten (Albrich). Ärzte und Rechtsanwälte (Reiter-Zatloukal), Schriftsteller (Kaiser), Musiker (Mayer-Hirzberger) oder Schauspieler (Peter) waren in Österreich auch durchgehend von antisemitischen Diskriminierungen betroffen. Teile der Presse wurden als »Judenpresse« diffamiert (Neubauer-Czettl, Marschik).

Kunst und Kultur Kunst und Kultur inklusive des Sports zeigen ein differenziertes Bild. So finden sich im Musikleben Beispiele »unverhüllter antisemitischer Äußerungen und Angriffe«, gleichzeitig traten antijüdische Ressentiments »aus wirtschaftlichem Kalkül und politischen Überlegungen« nicht immer offen auf. Ob jüdische Musiker auf Akzeptanz stießen, hing wesentlich davon ab, ob deren Musik als »österreichisch« oder »deutsch« gelten und daher der »österreichischen Idee« dienen konnte. Insbesondere durch die Gustav Mahler erwiesene Wertschätzung präsentierte sich das Regime überdies klischeeartig »als positive[r] Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Nachbarn« (Mayer-Hirzberger). In der Literatur waren ebenfalls vielfach antisemitische und rassistische Tendenzen zu erkennen (Kaiser, Blumesberger), und am Burgtheater wurde eine christlich-österreichische Tradition beschworen, welche »die austrofaschistische Ideologie unterfütterte« (Peter). Die Theaterwissenschaft wiederum war durch das »konsequente Markieren« von jüdischer Literatur und Theaterproduktion gekennzeichnet, die Theatersammlung durch den Erwerb zahlreicher jüdischer Bestände (Cuba) und die Lebenswelt der SchauspielerInnen ebenfalls durch vielfältigen Antisemitismus, der jedoch nur im Kabarett kritisch thematisiert wurde (Peter).

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In der Verlagslandschaft finden sich antisemitische Verlage, unter denen der Grazer Leopold Stocker-Verlag klar hervorsticht (Hall, Scheuch). Was die Sportberichterstattung in den Massenblättern betrifft, so zeigte diese einen »geringeren antisemitischen Tenor«, überdies wurden 1933 bis 1938 jüdische Spitzensportlerinnen und -sportler unter dem Zeichen einer Österreich-Ideologie »bewusst forciert«, offensichtliche antisemitische Ausschreitungen blieben die Ausnahme (Marschik).

Regionale Unterschiede Nicht nur in den Beiträgen mit Fokus auf die einzelnen Bundesländer (Baumgartner, Binder, Ebner, Haas, Hagen, Hall, Hofinger, Kerschbaumer, Klösch, Lind, Melichar, Mertens), sondern auch in anderen Arbeiten werden zahlreiche regionale Unterschiede bzw. ein spezifischer »Länderantisemitismus« aufgezeigt (Albrich, Bauer, Hall, Königseder, Marschik). Darüber hinaus manifestieren die Verhältnisse im Landbund (Scheuch), in der Volksbildung (Stifter) oder etwa an der Universität Innsbruck deutlich regionale Spielarten des Antisemitismus, Wenninger stellt überdies Unterschiede im »christlichsozialen Judendiskurs« in den Bundesländern fest.

Gegen den Strom Angesichts der Verhaltensweisen in Regierungskreisen, Verbänden, den politischen Parteien, Religionsgesellschaften, in der Kultur- und Bildungspolitik, der Wissenschaft und in den Bundesländern stellt sich die Frage nach denjenigen Kräften, die sich diesem umfassenden Antisemitismus entgegenstellten. Von jüdischer Seite wurden verschiedene Strategien entwickelt  : Die Bandbreite reichte einerseits von zionistischen Bestrebungen und der »Suche nach jüdischem Selbstbewußtsein« (Albrich, Rabinovici), über die Gründung eines Vereins zur Abwehr des Antisemitismus (Stifter), jüdischer Wissenschaftsvereine und eines internationalen Netzwerks (Ehs), der Förderung von Bildung (Stifter) und der Gründung von Organisationen im Gewerbe (Eminger) bis hin zur Errichtung einer organisierten militanten Schutztruppe, dem »Bund ehemaliger jüdischer Frontsoldaten« (Lind, Rabinovici, Schmidl). Anderseits gab es freilich auch Assimilation (Albrich, Ebner, Klieber, Rabinovici) und das Arrangieren mit dem »faschistischen Ständestaat« (Lind, Rabinovici).

Einleitende Streiflichter

Resümee Das antisemitische Milieu in Österreich in den Jahren vor dem »Anschluss« 1938 wird in den Beiträgen in all seinen Facetten präsententiert. Die Mehrzahl der Beiträge entstand auf diskursiver Basis – aus Akten, Zeitschriften und Literatur – und zeigt die Formen, die Antisemitismus in den verschiedenen Gesellschaftsbereichen annehmen konnte. In einzelnen Detailstudien wird aber gezeigt, dass sich Juden trotz des »latenten Antisemitismus« – wie etwa im Bezirk Horn – »durchaus integriert fühlten« (Haas). Auch der Sport wirkte »emanzipatorisch« und »integrativ« (Marschik). Das »subjektive Empfinden« von Zeitzeugen im Burgenland wird allerdings durchaus kritisch hinterfragt (Baumgartner). Die Autorinnen und Autoren aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Disziplinen und mit unterschiedlichsten Ansatzpunkten für ihre Forschungen kommen aber doch übereinstimmend zu grundsätzlichen Aussagen  : In Österreich bestand keine grundsätzliche Ächtung antisemitischer Positionen (Gehmacher). Überdies senkte der stark katholisch geprägte Antisemitismus die Hemmschwelle (Wohnout) und verlieh einer antijüdischen Haltung eine gefährliche gesellschaftliche Normalität (Koll). Die zeitliche Konzentration auf die Jahre 1933 bis 1938 zeigt den Prozess des Überganges von einem versteckten zu einem immer offener gewalttätigen Antisemitismus. Die Beiträge veranschaulichen mit vielen Details, wie der vornazistische Antisemitismus zum Wegbereiter der systematischen Verfolgung und Vernichtung durch das NS-Terrorregime wurde. Allerdings darf nicht übersehen werden, dass auch im übrigen Europa der Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit zunahm und insbesondere in den osteuropäischen Staaten manchmal nicht nur bereits die Staatsgründung mit antijüdischer Gewalt verbunden war, sondern dort ebenfalls seit den 1920er Jahren ein radikaler Antisemitismus herrschte. Dieser äußerte sich u. a. in Numerus-clausus-Festlegungen bzw. im Ausschluss von jüdischen Studierenden,4 wobei hier besonders Ungarn, Rumänien, Polen und Litauen zu nennen sind.5 In anderen Ländern fanden schon in den 1920er Jahren massive antisemitische Krawalle an den Universitäten statt, wie etwa in Bulgarien. In Polen, wo schon 1919 jüdische Verwaltungsbeamte beim Verwaltungsabbau in überdurchschnittlichem Maß betroffen waren, gab es in den 1930er Jahren einen »antisemitisch konnotierten Rechtsruck«, der sich in einer Förderung der jüdischen »Auswanderung«, einem restriktiven Schächtungsgesetz 1936, in gegen jüdische Läden gerichteten Boykottaktionen, in der Ein-

4 Petersen/Salzborn 2010  ; Fritz/Rossoliński-Liebe/Starek 2016. 5 Aly 2017, 229–279.

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führung von »Ghettobänken« für jüdische StudentInnen udgl. äußerte.6 Aber auch in Frankreich war der Antisemitismus in den 1930er Jahren weit stärker als zu Ende des 19. Jahrhunderts, wenngleich er »primär ein publizistisches Phänomen ohne starke organisatorische Basis« war, und in die englische Politik hielt der Antisemitismus mit der 1932 durch Sir Oswald Mosley gegründeten British Union of Fascists merklich Einzug.7 Dort wie auch etwa in Belgien und Schweden wurde z. B. die Einreise ausländischer Juden/Jüdinnen beschränkt, viele andere Länder, darunter Dänemark, bewilligten jüdischen AusländerInnen nur Touristenvisa, um deren dauernden Aufenthalt mit Arbeitssuche zu verhindern.8 Desgleichen lebte der Antisemitismus in den USA im Zuge der großen Depression deutlich auf. Insgesamt lässt sich also, so stellt Bergmann fest, »in vielen Ländern Europas und in den USA […] ein Anwachsen antijüdischer Stimmungen« feststellen. Als Gründe dafür führt er an  : »die Suche nach einem Sündenbock für die Kriegsniederlage bei den Mittelmächten  ; die revolutionäre Umbruchssituation nach dem Ersten Weltkrieg, in der die Beteiligung von Juden an der russischen Revolution wie an einigen Räteregierungen zu einer Identifizierung von Bolschewismus und Judentum führte, die den geschürten Ängsten vor einer jüdischen Weltverschwörung, sei sie nun kommunistisch oder kapitalistisch, neue Nahrung gab  ; das Aufkommen nationalistischer und faschistischer Bewegungen und autoritärer Regime  ; die Gründung neuer Staaten in Mittel- und Osteuropa, in denen Konflikte über die Stellung der Minderheiten (darunter der jüdischen) politischen Zündstoff bargen  ; ab Ende der 1920er Jahre dann die Weltwirtschaftskrise, die zu einer politischen Radikalisierung beitrug, und schließlich ab 1933 das ideologische Vorbild und der politische Druck des nationalsozialistischen Deutschland, das in einigen Ländern Nachahmung fand oder durch den Auswanderungsdruck in den Aufnahmeländern xenophobe Reaktionen hervorrief.«9 Rassismus und Antisemitismus waren also »europäische Phänomene«, »integrative Elemente ideologischer Sinnstiftung« und »handlungsleitende Grundmuster in den verschiedenen faschistischen Bewegungen«.10 Auch wenn die Intensität des Antisemitismus in Österreich vor 1938 nicht mit der manch anderer europäischer Staaten und insbesondere nicht mit der in NS-Deutschland verglichen werden kann, so war Antisemitismus doch »realiter vorhanden, antisemitische Strömungen waren weit verbreitet, wirtschaftliche und berufliche Diskri  6 Vgl. Bukovec  2011 ; Gerlach 2017, 308.  7 Bergmann 2004, 98.  8 Gerlach 2017, 309f.  9 Bergmann 2004, 101. 10 Schlemmer/Woller 2014, 125.

Einleitende Streiflichter

minierung war für die Juden Realität« 11 – in welchem Maß, dies zeigen die Beiträge dieses Bandes.

Literatur Aly, Götz, Europa gegen die Juden 1880–1945, Frankfurt a.M. 2017. Benz, Wolfgang, Bilder vom Juden. Studien zum alltäglichen Antisemitismus, München 2001. Bergmann, Werner, Geschichte des Antisemitismus, München 22004. Bukovec, Predrag, Ost- und südosteuropäische Juden im 19. und 20. Jahrhundert (2011), http://iegego.eu/de/threads/europa-unterwegs/juedsche-migration/predrag-bukovec-ost-und-suedosteuropaeische-juden-im-19-und-20-jhd (1.10.2017). Fritz, Regina/Rossoliński-Liebe, Grzegorz/Starek, Jana (Hg.), Alma mater antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1939, Wien 2016. Gerlach, Christian, Der Mord an den europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen, München 2017. Klösch, Christian/Scharr, Kurt/Weinzierl, Erika (Hg.), »Gegen. Rassenhass und Menschennot«. Irene Harand – Leben und Werk einer ungewöhnlichen Widerstandskämpferin, Innsbruck 2004. Petersen, Hans-Christian/Salzborn, Samuel (Hg.), »Antisemitism in Eastern Europe. History and Present in Comparison«, Frankfurt a.M. 2010. Schlemmer, Thomas/Woller, Hans, Essenz oder Konsequenz  ? Zur Bedeutung von Rassismus und Antisemitismus für den Faschismus, in  : Schlemmer, Thomas/Woller, Hans (Hg.), Der Faschismus in Europa. Wege der Forschung, München 2014, 123–144. Tálos, Emmerich/Wenninger, Florian, Das austrofaschistische Österreich 1933–1938 (Politik und Zeitgeschichte 10), Wien 2017. Volkov, Shulamit, Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 2000.

11 Tálos 2017, 169.

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GRUNDLAGEN

Thomas Albrich

Vom Antijudaismus zum Antisemitismus in Österreich Von den Anfängen bis Ende der 1920er Jahre Vorbemerkung »Zwar ist Auschwitz in der historischen Chronologie eindeutig ein Phänomen der Zeit nach 1938 – die Straßen dorthin waren aber schon längst vorher gebaut.«1 So schrieb Günter Fellner bereits Ende der 1970er Jahre. Ein erster Teil dieser »Straßen« – vom Übergang des Antijudaismus zum modernen Antisemitismus in Österreich bis zum Ende der 1920er Jahre  – soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Schon im Revolutionsjahr 1848 prophezeite ein Flugblatt in Wien der jüdischen Bevölkerung ihr Ende  : »Die Christen, die keinen Christusglauben mehr haben, werden die wüthendsten Feinde der Juden sein. Wenn das Christenvolk kein Christentum und kein Geld mehr hat, dann, Ihr Juden, laßt Euch eiserne Schädel machen, mit den beinernen werdet Ihr die Geschichte nicht überleben.«2 Weniger als 100 Jahre später erfüllte sich diese schreckliche Prophezeiung.3 Antisemitismus war und ist kein einheitliches Phänomen, antisemitische Äußerungen und Aktionen lassen sich in ihren Motiven und Intentionen auf keinen Generalnenner bringen. Daher stehen im Folgenden die Wirkungsgeschichte und Instrumentalisierung antisemitischer Vorurteile im Vordergrund, weniger ihre Entstehung und die meist ebenso fragwürdigen wie unscharfen Differenzierungsversuche in »religiös«, »wirtschaftlich«, »nationalistisch« oder »rassistisch« motivierte Einstellungen. Schon seit dem ausgehenden 19.  Jahrhundert vermischten sich Elemente des religiös motivierten und von der katholischen Kirche gepflegten »christlichen« Antijudaismus zunehmend mit Versatzstücken des sich entwickelnden »modernen« rassistischen Antisemitismus. Je nach politischer oder religiöser Einstellung, sozialer Lage oder wirtschaftlichen Interessen wurden unterschiedliche Begründungen für antijüdische Haltungen herangezogen. Trotz unterschiedlichem Vokabular blieb die Zielrichtung weitgehend identisch  : Ausgrenzung und Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung. 1 Fellner 1979, 246. 2 Wiener Flugblatt aus dem Jahr 1848, zit. n. Weinzierl 1985, 19f. 3 Als bislang umfassendste Zusammenschau mit ausführlicher Bibliographie vgl. Pauley 1993.

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Der Antisemitismus entwickelte sich schon vor 1900 zu einem latenten, bisweilen auch offen artikulierten gesellschaftlichen Grundkonsens, vor dem in Krisenzeiten wie der Zwischenkriegszeit auch nicht die Sozialdemokratie oder Antifaschisten anderer politischer Lager immun waren. Vom ausgehenden 19.  Jahrhundert bis zum »Anschluss« im März 1938 wird die Krisentheorie4 als wesentliche Erklärung für das Ansteigen von offenem Antisemitismus uneingeschränkt bestätigt. Da antisemitische Ressentiments an die Instinkte Angst, Neid und Hass appellieren und nicht auf rationalen Urteilen, sondern auf oft tiefverwurzelten Vorurteilen basieren, konnten diese in unterschiedlichsten Zusammenhängen reflexartig aktiviert und politisch instrumentalisiert werden. Juden kam für alle vermeintlichen und tatsächlichen gesellschaftlichen Fehlentwicklungen eine »Sündenbockfunktion« zu  : Sie wurden zum Synonym für das Böse, für die als Bedrohung empfundenen Phänomene der Moderne  – Glaubensfreiheit, Säkularisierung, Atheismus, Demokratie, Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus und Kapitalismus bis hin zur angeblichen »freimaurerisch-bolschewistischen Weltverschwörung«.5 Die Nationalsozialisten, der radikalste Auswuchs dieser latent antisemitisch eingestellten politischen Kultur, setzten bei all ihren Maßnahmen bis zur Deportation nur die Reden der Antisemiten der Jahrzehnte zuvor in die Tat um. Erst der Endpunkt der Radikalisierung, die »Endlösung«, der Massenmord an den Juden, war ein originäres Produkt der NS-Herrschaft.

Die Folgen der 1848er-Revolution für Jüdinnen und Juden Ausgangspunkt antijüdischer Agitation war, beginnend mit dem Toleranzpatent Kaiser Josephs II. und der Französischen Revolution, der fast hundertjährige Kampf um die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden.6 Erste Erfolge in Richtung Gleichberechtigung gab es als Folge der 1848er-Revolution, die jedoch bald wieder rückgängig gemacht wurden. Die vom Reichstag am 21.  Februar 1849 in Kremsier verabschiedeten Grundrechte sicherten in §  13 den österreichischen Staatsbürgern Freiheit des Glaubens und unbeschränkte häusliche und öffentliche Religionsausübung zu. Die neue Verfassung nach Auflösung des 4 Über die Wirkung ökonomischer und politischer Krisen auf die Entwicklung des modernen Antisemitismus vgl. Rürup 1987, bes. 116–118. 5 Zu traditionellen und modernen antisemitischen Anschuldigungen vgl. Rohrbacher/Schmidt 1991, 151–217  ; Pauley 1993, 30–39. 6 K arniel 1985.

Vom Antijudaismus zum Antisemitismus in Österreich

Reichstags, die sogenannte Oktroyierte Märzverfassung vom 4. März 1849, erwähnt ausdrücklich die Gleichberechtigung der Volksstämme, für die es auch ein einheitliches Reichbürgerrecht geben sollte. Nach § 25 sollte die Freizügigkeit der Person innerhalb der Reichsgrenzen keiner Beschränkung unterliegen, alle Reichsbürger waren nach § 27 vor dem Gesetz gleich, nach § 28 mussten alle öffentlichen Ämter für jeden dazu Befähigten zugänglich sein. Laut § 30 sollte jeder Reichsbürger in allen Teilen des Reiches Liegenschaften jeder Art erwerben und jeden gesetzlich erlaubten Erwerbszweig ausüben dürfen.7 Ein Grundrechtspatent gewährte volle Glaubensfreiheit sowie den gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften die öffentliche Religionsübung und weitgehende Selbstverwaltung. Lange aber konnten sich diese neuen Bestimmungen nicht halten. Zu viele Privilegien gingen den bisherigen Nutznießern von Judengesetzen verloren. Aufgrund der reaktionären Gegenbewegung nach der Revolution hoben die »Silvesterpatente« vom 31. Dezember 1851 die Verfassung und das Grundrechtspatent von 1849 wieder auf. Die neu erworbenen Rechte der Juden wurden allerdings noch nicht angetastet, denn die korporative Religionsfreiheit und die »Gleichheit aller Staats-Angehörigen vor dem Gesetze« sollten weiterhin festgeschrieben bleiben.8 Nach 1853 blieben auch den Juden eigene Zeitungen erlaubt. Dies führte als Reaktion zu einer antisemitischen katholischen Gegenpresse, die nun dauerhaft gegen das »demokratische Judengesindel« hetzte und es mit Liberalismus, Kapitalismus und Kommunismus gleichsetzte. Führend darin war der Artillerieoffizier Quirin Endlich, der »Judenfresser« von Wien.9

Der Weg zur Gleichstellung 1860 bis 1867 Die Periode des auf den Frühkonstitutionalismus folgenden Neoabsolutismus zwischen 1852 und 1860 darf nicht als Wiederinstandsetzung des Vormärz-Systems missverstanden werden. Obwohl es kurzfristig Rückschläge in der Emanzipation der Juden gab, war diese nicht mehr aufzuhalten. Nur dauerte es einige Jahre, bis alle bestehenden Einschränkungen wegfielen. Die Anstöße zur Veränderung allgemein und damit auch für die jüdische Bevölkerung bildeten die zwei schweren militärischen 7 Schima 2010, 435f. 8 Ebd., 437. 9 Johann Quirin Endlich war Herausgeber der rabiat antisemitischen Zeitschrift »Schild und Schwert«, die vom 10.11. bis 31.12.1848 täglich, außer Montag, erschien. Endlich führte eine tägliche Kolumne »Judenkontrolle«. Schreiber 2008, 73.

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Niederlagen der Donaumonarchie 1859 und 1866. Nach der Niederlage in Italien 1859 legte Heinrich Jaques in Wien eine »Denkschrift über die Stellung der Juden in Oesterreich« vor, mit der die Chance genützt werden sollte, die sich aus der Niederlage für die innere Entwicklung der Habsburgermonarchie ergab.10 Erst die kaiserliche Verordnung vom 18. Februar 1860 berechtigte die Juden in den meisten Teilen der Monarchie endgültig zum Besitz unbeweglicher Güter und zum Erwerb bäuerlicher Wirtschaften. Die Beschränkungen in Österreich ob der Enns, Salzburg, Steiermark, Kärnten, Krain und Tirol blieben jedoch aufrecht. In Galizien konnten Juden unter bestimmten Bedingungen, zum Beispiel einem gewissen Maß allgemeiner Bildung, das Recht auf Grund- und Bodenerwerb erhalten.11 Der endgültige Durchbruch zu Verfassung und rechtlicher Gleichstellung aller Bürger erfolgte nach der Niederlage von Königgrätz 1866. Das neoabsolutistische System war am Ende. Es kam zum »Ausgleich« mit Ungarn, die Doppelmonarchie entstand. Die Entwicklung zur völligen rechtlichen Gleichstellung der Juden in Öster­reich kam dann mit dem »Staatsgrundgesetz vom 21. Dezember 1867 über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger für die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder« zum Abschluss.12 Alle Staatsbürger wurden vor dem Gesetz gleichgestellt und jedem Staatsbürger volle Glaubens- und Gewissensfreiheit gewährt. Der Genuss der bürgerlichen und politischen Rechte wurde als vom Religionsbekenntnis unabhängig erklärt und jeder gesetzlich anerkannten Kirche das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsausübung zugestanden. Somit war fast 20 Jahre nach der Revolution von 1848 die vollkommene rechtliche Gleichstellung der Juden erreicht,13 die ihren Aufstieg in Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst ermöglichte.14 Als Individuen und Einzelstaatsbürger waren sie nach 1867 emanzipiert, als Nationalität (in der Verfassung »Volksstamm« genannt) wurden sie allerdings nicht anerkannt.15 Das wollten die meisten Jüdinnen und Juden auch gar nicht, da sie sich vor den 1890er Jahren noch nicht als Volk, sondern als Religionsgemeinschaft sahen.

10 [Jaques] 1859, 7f., 24. 11 Ebd., 894. 12 Scherer 1901, 516. 13 Bihl 1980, 894. 14 Einen Überblick für das 19.  Jahrhundert bietet Häusler 1982, 83–140  ; umfassend Rozenblit 1989  ; auch McCagg jr. 1989. 15 Ebd., 895  ; dazu auch Stourzh 1984, 73–98.

Vom Antijudaismus zum Antisemitismus in Österreich

Die Entwicklung des antisemitischen Grundkonsenses nach 1867 Der staatsbürgerlichen Gleichstellung folgten einschneidende demographische Veränderungen in der jüdischen Bevölkerung im heutigen Österreich  : Aufgrund jahrhundertelanger gesetzlicher Diskriminierung lebte die große Mehrheit der etwa 1,3 Millionen Juden Cisleithaniens in Galizien und der Bukowina. Durch die nunmehr erlaubte Zuwanderung aus diesen Teilen der Monarchie erhöhte sich die jüdische Bevölkerung Wiens von rund 40.000 im Jahre 1869 auf rund 175.000 bzw. 8,6 Prozent der Wiener Bevölkerung im Jahre 1910.16 Auch in Städten wie Graz, Linz, Innsbruck und anderen entstanden eigene jüdische Gemeinden. Vor 1867 hatten außerhalb Wiens nur die jüdischen Gemeinden des Burgenlandes und seit Anfang des 17. Jahrhunderts die knapp 500 Mitglieder umfassende isolierte Landjudengemeinde in Hohenems in Vorarlberg bestanden.17 In anderen Teilen des heutigen Österreich hatten sich nur vereinzelt jüdische Familien niederlassen dürfen. Auch nach 1867 hielt sich die Zuwanderung in die österreichische Provinz in Grenzen  : Zu keinem Zeitpunkt vor 1938 lebten mehr als 10 Prozent der jüdischen Bevölkerung Österreichs in den heutigen Bundesländern.18 Bis um 1880 wurden deutschsprechende Juden als »Deutschösterreicher« angesehen. Aufgrund ihrer starken Identifizierung mit der deutschen Kultur und dem Hause Österreich wurden sie von Angehörigen nationaler Minderheiten, die sich unterdrückt fühlten, sogar als Komplizen der Unterdrücker betrachtet. Die rasch fortschreitende Nationsbildung unter den slawischen Völkern der westlichen Reichshälfte, die Gründung des Deutschen Kaiserreiches (1871) und Pläne eines föderalistischen Umbaus der Monarchie politisierten den ethnisch-sprachlichen Konflikt. Aus dem Liberalismus entwickelte sich nun einerseits ein Deutschnationalismus, ein partieller Nationsbildungsprozess der Deutschsprachigen mit Blick auf eine »deutsche Nation«, verbunden mit einer spürbaren Abkehr vom Reichspatriotismus, andererseits lieferte er die Begründung für den Versuch, gegen die sich emanzipierenden nichtdeutschen Nationen die eigene privilegierte Stellung in der Habsburgermonarchie zu verteidigen.19 16 Zur jüdischen Bevölkerungsentwicklung vgl. Pauley 1993, 55–58. 17 Dazu Tänzer 1905  ; Dreier 1988. 18 Vom Höchststand von 201.500 nach dem Ersten Weltkrieg sank die Zahl der Juden in Wien bis 1938 auf knapp 170.000 ab. Im Jahre 1934 hatte sich die jüdische Bevölkerung folgendermaßen verteilt  : Gesamtanteil in Österreich  : 2,83 Prozent, Anteil in Wien  : 9,39 Prozent. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung in der Provinz variierte zwischen 1,21 Prozent im Burgenland und 0,03 Prozent in Vorarlberg, vgl. Ergebnisse 1935, 45. 19 Vgl. dazu kurz Hanisch 1994, 120–123.

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Mit der Politisierung des ethnischen Konfliktes tauchte bald die Frage auf  : Sind Juden und Jüdinnen Deutsche  ? Für die Altliberalen waren sie es, für die Deutschnationalen nicht. Die Juden gerieten nun zwischen die Fronten des Nationalitätenkonfliktes in der Habsburgermonarchie. Während sich die Deutschnationalen mit rassistischen Argumenten gegen die Juden abzugrenzen versuchten, benutzten die Nationalisten der kleinen Nationen der Monarchie den Umstand, dass sich viele JüdInnen als Deutsche verstanden, als Hauptargument gegen sie. Daraus entstand in Mitteleuropa eine »Zweigleisigkeit des Antisemitismus«.20 Nun eröffnete sich das komplexe Agitationsfeld des Antisemitismus, wurde Antisemitismus zum politischen Programm. Zuerst reagierten akademische Eliten auf die wachsende jüdische Konkurrenz und erhoben schon 1875 die Forderung nach einem Numerus clausus für jüdische Ärzte, dem in der Folgezeit ähnliche für andere Bereiche folgten.21 Ab 1878 wurden jüdische Mitglieder zum Austritt aus den akademischen Burschenschaften gezwungen oder zogen selbst die Konsequenzen  : Victor Adler, Heinrich Friedjung oder Theodor Herzl sind die bekanntesten Opfer dieser Entwicklung. Der Großteil der akademischen wehrhaften Vereine beschloss dann 1896, Juden keine »Satisfaktion« mehr zu geben, ein Grundsatz, der im »Waidhofener Prinzip« seinen Niederschlag fand, dessen allgemeine Durchsetzung vor allem in Deutschland allerdings nie gelang. Jedenfalls bildeten diese deutschnationalen Burschenschaften bis in die NS-Zeit die Speerspitze des »modernen« Antisemitismus, der ab Ende des 19. Jahrhunderts den entscheidenden Unterschied zwischen Liberalen und Deutschnationalen darstellte.22 Im deutschnationalen Lager war neben den schlagenden Burschenschaften und der radikal rassistisch-antisemitischen und antiklerikalen Gruppe um Georg Ritter von Schönerer,23 die den Anschluss an das Deutsche Reich anstrebten, auch eine gemäßigtere breite katholische Fraktion vorhanden, die an der Existenz des Habsburgerreichs festhielt und den eigenen »deutschen« Besitzstand mit aller Macht verteidigte. Im Antisemitismus, in der Ablehnung der Sozialdemokratie sowie der Abwehr der »Fremdvölkischen« im Zeichen des Nationalitätenkampfes waren ideologische Übereinstimmungen beider Richtungen gegeben. Obwohl der radikale Flügel – die Schönerianer – politisch keine Massenbewegung bildete und sich in Wien auch nicht durchsetzen konnte, bereitete Schönerer dennoch bei den Intellektuellen und akade20 Zur Entwicklung dieser »Zweigleisigkeit des Antisemitismus« vgl. kurz John 1995, 203f. 21 Vgl. Hein 1984  ; für Deutschland K ampe 1987. 22 Zum studentischen Antisemitismus vgl. Gehler 1990, bes. 93–116  ; weiters Heither/Gehler/ Kurth/Schäfer 1997. 23 Zu Schönerer vgl. Whiteside 1981.

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mischen Eliten den Weg für Hitler und gab auch den in den Mittelschichten schlummernden diffusen Ängsten ein Feindbild  : die Juden.24 Schönerers Anfangserfolge veranlassten Karl Lueger,25 auch den politischen Aufstieg seiner Christlichsozialen mittels konfessionell und wirtschaftlich motivierter antisemitischer Agitation voranzubringen. Seine Gefolgschaft rekrutierte sich in erster Linie aus dem infolge der Industrialisierung und der wirtschaftlichen Krise unter Existenzangst und Konkurrenzneid leidenden Wiener Mittelstand. Besonders das Handwerk, im Zuge der Anpassungskrise sozial in die Ecke gedrängt, adaptierte in den 1880er Jahren den Antisemitismus quasi als Klassenbewusstsein, was zumindest in Wien politisch in die Gründungsgeschichte der Christlichsozialen Partei einfloss.26 Diese »Volkstümlichkeit« des Wiener Antisemitismus hatte jedoch bis zum Holocaust immer ganz konkrete materielle Triebkräfte, da die jüdische Bevölkerung Wiens in den Augen der Antisemiten ein genügend großes wirtschaftliches Zielpotential darstellte.27 Daher konnte Luegers pragmatischer, religiös-kulturell verbrämter wirtschaftlicher Antisemitismus zum Integrationsinstrument seiner katholischen Kleinbürgerbewegung werden. Auf akademischem Boden waren es die nichtschlagenden katholischen Verbindungen, die sich mit dem politischen Katholizismus von Luegers Christlichsozialen identifizierten, wodurch auch katholische Eliten für den neuen Antisemitismus empfänglich wurden.28 Die ersten Manifestationen des neuen, politischen Antisemitismus, auf rassistischen Vorstellungen beruhend und von antiklerikalen Kräften getragen, wurden in den 1880er Jahren noch belächelt und auch strafrechtlich verfolgt. Doch die Idee dieses Antisemitismus sollte sich innerhalb weniger Jahre als ein Phänomen verbreiten und sich geradezu durchsetzen, das Shulamit Volkov mit dem Begriff »kultureller Code« bezeichnete. Er wurde zu einer Haltung, einem Prinzip, das unbeeindruckt von den realen Ausformungen jüdischen Lebens aufrechterhalten wurde.29 Gegen den sich ausbreitenden Antisemitismus führten nicht nur Juden, wie der Wiener Oberrabbiner Adolf Jellinek, der aus Galizien stammende Rabbi und spätere Reichsratsabgeordnete Josef Samuel Bloch oder der Journalist Nathan Birnbaum, einen vergeblichen publizistischen Kampf.30 Auch der 1891 von prominenten Nichtjuden gegründete »Verein zur Abwehr des Antisemitismus« konnte nicht verhindern, 24 Hanisch 1994, 122. 25 Zu Lueger vgl. Geehr 1989  ; kurz Reichhold 1989. 26 Lichtblau 1994. 27 Beller 1993. 28 Boyer 1981, 125–141. 29 Achrainer 2013, 292. 30 Zu den Anfängen der jüdischen Selbstverteidigung vgl. Pauley 1993, 84–90.

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dass antisemitische Hetze das politische Klima in Wien und Österreich nachhaltig veränderte und breite Schichten mit einem Judenhass verseuchte, den nach 1900 auch der junge Hitler in sich aufsog.31

Antisemitismus in den Parteien der Habsburgermonarchie Was den Vordenkern und Predigern des modernen Antisemitismus im Deutschen Reich vor dem Ersten Weltkrieg versagt blieb,32 gelang Schönerer und Lueger, den Vätern des politischen Antisemitismus in Österreich  : der politische Durchbruch.33 Nur vier Jahre nach ihrer Gründung erreichten die Christlichsozialen und die mit ihnen verbündeten Deutschnationalen bei den Gemeinderatswahlen 1895 in Wien, wo über 90 Prozent der Juden des heutigen Österreich lebten, mit einem antisemitischen Programm die absolute Mehrheit. Kaiser Franz Joseph versprach den Wiener Jüdinnen und Juden seinen persönlichen Schutz und weigerte sich innerhalb von zwei Jahren viermal, Luegers Wahl zum Bürgermeister zu bestätigen, was ihm bei Antisemiten den Ruf eines »Judenkaisers« einbrachte. Nach Luegers neuerlichem Sieg bei den Reichsratswahlen 1897 gab der Kaiser nach. Lueger war somit der erste Bürgermeister Europas, der mit einer antisemitischen Allianz siegreich war.34 Während Luegers Christlichsoziale die Stadt von 1895 bis 1919 regierten, gelang Schönerers »Rassenantisemitismus« der Durchbruch zur Massenbewegung nicht. Die Schönerianer blieben vor allem wegen ihrer antihabsburgischen und antiklerikalen Linie bis 1918 eine Randgruppe.35 Da die meisten erfolgreichen Juden eher deutsch-liberal gesinnt waren, verband sich die Liberalismuskritik mit einem starken Antisemitismus, der zuerst durch religiöse Argumente und später durch die wirtschaftlich-sozialen bis hin zu den rassistischen zunehmend an Bedeutung gewann. 1885 wurde, auch um dem entgegenzuwirken, die Union Österreichischer Juden gegründet. Um eine Assimilation zu verhindern, bildete sich auch eine Jüdischnationale Partei und 1882 die jüdische nationale Studentenverbindung Kadima. Die Antiassimilations- und nationalen Be-

31 Zum Verein, seinen Mitgliedern und seiner Wirkung vgl. Wistrich 1989, 186f., 190. 32 Ein kurzer Vergleich Deutschland–Österreich bei Lichtblau 1993, 261–271. 33 Zur Geschichte des katholisch-christlich-sozialen Antisemitismus in der Habsburgermonarchie vgl. Pulzer 2004. 34 Wistrich 1989, 205. 35 Dazu ausführlich Whiteside 1981  ; auch Höbelt 1993.

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strebungen wirkten mit der Begründung des theoretischen Zionismus durch Theodor Herzl zusammen.36 Trotz der politischen Erfolge der Antisemiten und aller Widerstände schien der gesellschaftliche Aufstieg und wirtschaftliche Erfolg vieler Juden das Konzept der Assimilation zu bestätigen  : 1890 betrug der Anteil der Juden unter den Wiener Studenten bereits rund ein Drittel, in den freien Berufen – bei Rechtsanwälten, Ärzten, Journalisten – etwa die Hälfte, und Juden spielten zudem eine dominierende Rolle in Wissenschaft und Kunst.37 Eine Minderheit manifestierte ihre Assimilation zudem durch den Austritt aus dem Judentum.38 Sogar in der Armee konnten Juden in die höchsten Positionen gelangen und stellten im Ersten Weltkrieg einen überproportionalen Anteil an Offizieren – und auch an Opfern.39 Politisch orientierte sich die jüdische Bevölkerung aufgrund des Verschwindens der Liberalen und des zunehmenden Antisemitismus bei Konservativen und Deutschnationalen an der Sozialdemokratischen Partei. Juden befanden sich schon seit den Anfängen in führenden Positionen der Arbeiterbewegung, sowohl in der Partei wie in den Gewerkschaften, und spätestens nach dem Ersten Weltkrieg war die SDAP auch für bürgerliche Jüdinnen die einzige wählbare Partei.40 War eine verstärkte Assimilation die Mehrheitsreaktion der jüdischen Bevölkerung auf den Antisemitismus vor der Jahrhundertwende, so reagierte eine Minderheit mit dem Gegenkonzept eines »jüdischen Nationalismus«, dem Zionismus. Dieser war jedoch nicht nur eine Antwort auf den Antisemitismus oder einen den Juden von außen aufgezwungenen »Volkscharakter«, sondern ganz im Sinne anderer Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts auch ein affirmatives Bekenntnis zur nationalen Eigenständigkeit. Theodor Herzl verhalf dieser Idee mit seinem Buch »Der Judenstaat« 1895 und dem von ihm ein Jahr später organisierten 1. Zionistenkongress in Basel schließlich zum politischen Durchbruch.41 Trotz seiner Wiener Wurzeln blieb der Zionismus als politische Bewegung eine Minderheitenposition im österreichischen Judentum. Die überwältigende Mehrheit setzte weiterhin auf die Assimilation und wurde nicht zuletzt durch die »Schutzfunktion« des Kaisers, der konsequent alle gesetzlichen Maßnahmen verhinderte, die den Juden schaden konnten, durch das politische Scheitern Schönerers und das scheinbare Abflauen des Antisemitismus in der Phase wirtschaftlicher Prosperität nach der 36 Kornberg 1993. 37 K ampe 1987, 61  ; Weinzierl 1985, 21–23. 38 Honigmann 1988, 452–466. 39 Schmidl 2014. 40 Simon 1971, 97–121. 41 Zu Herzl und zur Geschichte der zionistischen Bewegung vgl. u. a. O’Brien 1991.

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Jahrhundertwende darin bestätigt. In der von Nationalitätenkonflikten geschüttelten Donaumonarchie schienen die Juden die einzigen »echten Österreicher« zu sein.42 Allerdings zeigten schon die nächsten Krisen, der Erste Weltkrieg und die Gründungsjahre der Ersten Republik, wie unsicher der Status gesellschaftlicher Emanzipation und Assimilation der österreichischen Juden trotz aller Beweise staatsbürgerlicher Loyalität immer noch war.

Der Erste Weltkrieg als Katalysator des Antisemitismus Obwohl die österreichischen Juden den Kriegsbeginn im Sommer 1914 mit Jubel begrüßten und bei einem Sieg der Monarchie vor allem eine Verbesserung der Lage der JüdInnen im Zarenreich erwarteten, wurden sie angesichts der vernichtenden Niederlagen der k. u. k. Armee in Galizien im Herbst 1914 zu den ersten zivilen Kriegsopfern.43 Den »Ostjuden« schlugen von Anfang an die Vorurteile und die Verachtung deutschösterreichischer Truppenteile entgegen, wie folgende Tagebucheinträge eines Offiziers der Tiroler Kaiserjäger verdeutlichen  : »Wir marschieren durch Lemberg, durch grausliche Juden […] schreckliches Judenpack überall im Wege, die Säuglinge kugeln wie Spanferkel im Straßenschmutz […] Eine ekle [sic  !] Rasse. […] Die Juden rühren keinen Finger, sie laufen nur […] in den Tempel und beten, sonst machen sie nichts als Geschäfte. Eine verfluchte, feige, gewinnsüchtige Bande  !«44 Die Armee reagierte auf ihre Niederlage  – offiziell aus militärischer Notwendigkeit  – mit gewalttätigen Exzessen, Plünderungen, Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen, Massenhinrichtungen und der Schleifung hunderter Dörfer im Frontgebiet. Schon bald befand sich die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Galiziens – rund 400.000 Menschen – auf der Flucht bzw. wurde zwangsevakuiert. Ihre Wohnungen wurden von der einheimischen Bevölkerung geplündert oder sogar übernommen und die noch nicht evakuierten JüdInnen von der vorrückenden russischen Armee systematisch vertrieben.45 Im Zuge dieser Flüchtlingswelle erreichten im Herbst und Winter 1914/15 nicht weniger als 150.000 Personen, meist Juden und Jüdinnen, die Reichshauptstadt, denen bei ihrer Ankunft Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus entgegenschlugen. 42 Zum scheinbaren Rückgang des Antisemitismus vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Pauley 1993, 80–84. 43 Zum jüdischen Flüchtlingsproblem während und nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Hoffmann-Holter 1995b. 44 Zitate bei Oberkofler 1985, 91, 95. 45 Zur Lage im Kriegsgebiet und den Maßnahmen der österreichisch-ungarischen Truppen vgl. Mentzel 1995, 17–44, bes. 17–23. Zu den Kriegsflüchtlingen vgl. auch Kuprian 1995, 277–305.

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Es fehlte jegliches Verständnis für ihre Anwesenheit, da der Wiener Bevölkerung das militärische Debakel, die Zwangsevakuierungen und Zerstörungen im Frontgebiet verschwiegen worden waren. Die Flüchtlinge waren, außer den schlechten Ernährungs- und Wohnbedingungen sowohl in Wien als auch in den von der Außenwelt isolierten und bewachten »Flüchtlingslagern«, laufend Schikanen der Behörden ausgeliefert. Sie wurden mit dem Vorwurf konfrontiert, sich dem Militärdienst zu entziehen und, ohne zu arbeiten, Fürsorgeunterstützung zu erschleichen. Die perfide Logik rassistischer und fremdenfeindlicher Gesinnungen führte auch dazu, dass man ihnen die Schuld am eigenen Elend und an den hygienischen Verhältnissen, in denen Krankheit und Ungeziefer gediehen, zuschob. So verbot man jüdischen Flüchtlingen »aus hygienischen Gründen« die Benutzung von Straßenbahnen, den Besuch von Badeanstalten und das Verlassen ihrer Aufenthaltsorte. Bei der vorbeugenden Seuchenbekämpfung wurden unwürdige und die religiösen Gefühle verletzende Zwangsmaßnahmen ergriffen, und schon 1915 befürchtete man Pogrome, sollte bekannt werden, dass auch nur ein Flüchtling Träger epidemischer Krankheiten wäre. Als sich die soziale und ökonomische Lage im Hinterland verschlechterte, wurden die Juden nicht mehr nur als Schuldige an ihrer eigenen, sondern auch als Sündenböcke für die allgemeine Not diffamiert. Der Begriff »Ostjude« wurde bis Kriegsende zum Synonym für »Preistrei­ber« und »Wucherer«, und das Wort von der »Besetzung Wiens« durch »galizische Eindringlinge« zählte zu den Gemeinplätzen antisemitischer Agitation.46 Mit dem Hinweis auf die drohende Arbeitslosigkeit, die Seuchengefahr und den befürchteten »mitbestimmenden Einfluß auf die Zusammensetzung zahlreicher Körperschaften« betrieb der Wiener Bürgermeister Richard Weiskirchner schon Anfang 1915 die Abschiebung der Flüchtlinge. Diese würden sich zudem »dem Empfinden und der Denkungsweise der Wiener Bevölkerung nicht anpassen« und die Stadt der Gefahr aussetzen, »ihr charakteristisches Gepräge und ihre Eigenart einzubüßen«.47 Nach der Rückeroberung weiter Teile Galiziens und der Bukowina im Herbst 1915 repatriierte man sofort tausende Flüchtlinge. Dadurch sank die Zahl staatlich unterstützter Flüchtlinge in Wien von ursprünglich fast 150.000 bis zum Herbst 1915 auf 77.000  ; im Mai 1916 waren es nur noch 20.000. Wurde ein Ort zur Rückkehr freigegeben, dann verlor der Flüchtling die staatliche Unterstützung, wobei die Bereitschaft zur Heimkehr aufgrund der schlechten Lebensverhältnisse in Wien meist sehr groß war.48

46 Zitate bei Mentzel 1995, 24  ; Hoffmann-Holter 1995b, 46–52. 47 Zit. n. Mentzel 1995, 36. 48 Hoffmann-Holter 1995b, 50–53.

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In der zweiten Kriegshälfte verschärfte sich die Lage der Flüchtlinge dramatisch  : Die Brussilow-Offensive im Sommer 1916 löste eine neuerliche Fluchtwelle Richtung Wien aus, wodurch die Zahl der unterstützten jüdischen Flüchtlinge bis Mai 1917 wieder auf rund 40.000 stieg. Je länger der Krieg dauerte, desto schwächer wurde angesichts des Zerfalls der Zentralgewalt auch deren Schutzfunktion. Nach Wiedereröffnung des Parlaments und der teilweisen Aufhebung der Zensur erfüllte seit Herbst 1917 der Antisemitismus, von deutschnationalen und christlichsozialen Gemeindepolitikern und Zeitungen mit beachtlichem demagogischen Geschick verwendet, erneut seine Funktion als politisch nutzbares Ablenkungsmittel. Je größer das Elend der Bevölkerung wurde, desto mehr wuchs die Aggression gegenüber Flüchtlingen. Dem Feindbild »Jude« wurden Konturen verliehen, wobei der Bezug zur Realität dabei immer mehr verloren ging und die Argumentation der »Ostjudenhetze« der Nachkriegszeit sich immer deutlicher abzeichnete.49 Im Sommer 1917 machten die deutschösterreichischen Parteien den Antisemitismus im Reichsrat zu ihrem Hauptprogramm. Für die sich im Sommer 1918 endgültig abzeichnende militärische Niederlage und die ausweglose Versorgungslage brauchte man Sündenböcke  : die Juden, in erster Linie die »Ostjuden«. Sie wurden nun als »Kriegsgewinnler«, »Schieber« und »Spekulanten« für alle Not verantwortlich gemacht und die Verfehlungen einzelner Juden wurden von Antisemiten generalisierend auf die gesamte jüdische Gemeinde übertragen. Die Welle des Antisemitismus erreichte mit Massendemonstrationen anlässlich der sogenannten »Deutschen Volkstage«  – Loyalitätskundgebungen der Christlichsozialen und Alldeutschen für den Kaiser – im Juni 1918 ihren Höhepunkt. In Wien nannte bei dieser Gelegenheit ein Redner einen Pogrom als Mittel, den kranken Staat zu heilen.50 Als sich die Monarchie aufzulösen begann, wuchs für die bislang von Repatriierungsaktionen ausgenommenen rund 25.000 jüdischen Flüchtlinge in Wien erneut die Gefahr von Pogromen. Bezirksvertretungen drohten mit »Selbsthilfe« gegen »volksfremde Elemente« und gegen die »galizische Moral und Ausbeutung«. Auch außerhalb Wiens wurde die Lage bedrohlicher  : In einzelnen Gemeinden kam es zu Ausschreitungen, zur Streichung von Brotrationen und Unterstützungszahlungen. Zu »Ausländern« geworden, waren Juden nun von der Ausweisung bedroht. Teilweise wurden Flüchtlinge sogar in Eigeninitiative des Landes verwiesen,51 obwohl in Krakau und Lemberg schon vor Kriegsende Pogrome stattfanden, denen dann im Zuge der kriegerischen Ereignisse um die polnische Staatsgründung, der polnisch-ukraini49 Ebd., 46f. 50 Pauley 1993, 109–112. 51 Mentzel 1995, 36  ; Hoffmann-Holter 1995b, 52f.

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schen Kämpfe und des polnisch-sowjetischen Krieges 1920/21 die bis dato brutalsten Ausschreitungen gegen Juden folgen sollten. Während jüdische Flüchtlinge in diese Gebiete zwangsrepatriiert wurden, ergriffen gleichzeitig viele erneut die Flucht nach Österreich, wo sie nicht mehr als Kriegsflüchtlinge anerkannt wurden und keinen Anspruch auf Unterstützung durch die staatliche Fürsorge hatten.52

Antisemitismus als Erbe der Monarchie  : Die Rahmenbedingungen Durch den Zusammenbruch der Monarchie veränderten sich die politischen Rahmenbedingungen für die JüdInnen der neuen Republik »Deutsch-Österreich« entscheidend. Den Kaiser als verlässlichen Schutzherrn der Minderheit gab es nicht mehr, die Sicherung der im Staatsvertrag von Saint Germain und in der Verfassung verankerten Minderheitenrechte blieb bis zum »Anschluss« 1938 in der Hand von Regierungen, in denen Parteien mit explizit antisemitischer Programmatik – Christlichsoziale, Großdeutsche sowie das Bündnis »Heimatblock« von Landbund und Heimwehr – an der Macht waren.53 Für die nach Kriegsende rund 200.000 Juden, neben den Kärntner Slowenen die einzige Minderheit im neuen »deutschen« Bundesstaat Österreich, blieb im Ernstfall einzig der Schutz der Signatarstaaten des Staatsvertrages als internationales Korrektiv. Schon 1903, lange vor dem Ersten Weltkrieg, war das antisemitische Pamphlet »Die Protokolle der Weisen von Zion«, die einflussreichste Programmschrift antisemitischen Verschwörungsdenkens, von unbekannten Redakteuren in Russland auf der Grundlage mehrerer fiktionaler Texte erstellt worden. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde der Text zunehmend international verbreitet, obwohl die »Protokolle« bereits 1921 in der Londoner Times als Fälschung entlarvt worden waren. Bekannt wurden insbesondere die Ausgabe aus den 1920er Jahren von Henry Ford in den USA und die deutschen Ausgaben.54 Die Erste Republik übernahm nicht nur alle Varianten des Antisemitismus, sondern auch eine antisemitisch durchsetzte politische Elite, hervorgegangen aus der deutsch-österreichischen Studentenschaft der Monarchie.55 Dazu gehörten sowohl führende Politiker wie Leopold Kunschak, Ignaz Seipel und Engelbert Dollfuß als 52 Mentzel 1995, 38f. 53 Zu den antisemitischen Parteiprogrammen vgl. Rütgen 1989  ; Simon 1984  ; zu den »Spielarten« des österreichischen Antisemitismus in den einzelnen politischen Gruppierungen der Ersten Republik vgl. einen Überblick bei Pauley 1993, 182–253. 54 Benz 2007. 55 Zur Entwicklung außerhalb Wiens vgl. Gehler 1989, 263–288.

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auch Kirchenmänner wie Kardinal Theodor Innitzer oder die Bischöfe Johannes Gföllner, Alois Hudal und Franz Kamprath. Diese Eliten waren für die Tradierung und teilweise sogar für die Radikalisierung antisemitischer Vorurteile vor 1938 verantwortlich.56 Antisemitismus bildete nicht nur im sozial heterogenen rechten politischen Lager das traditionelle Verbindungsglied, sondern es gab auch eine Art populistischen Konkurrenzantisemitismus, der das gesamte politische Spektrum der Ersten Republik erfasste. In der einen oder anderen Form griffen vor 1938 alle Parteien auf antisemitische Klischees als Waffe im politischen Tageskampf zurück, wodurch ein antisemitischer Konsens entstand, der die breite Akzeptanz antijüdischer Maßnahmen der Nationalsozialisten begreifbarer macht. Wie sich zeigte, war auch Österreichs Linke nicht frei von derartigen Einstellungen.

Die Krise der ersten Nachkriegszeit  : »Ostjuden hinaus« Das Trauma des verlorenen Krieges, die politische Unsicherheit und wirtschaftliche Krise führten zu einem spürbaren Ansteigen nationalistisch-fremdenfeindlicher und antisemitischer Strömungen im neuen Staat. Obwohl sich der aggressive Antisemitismus nicht nur gegen die rund 25.000 jüdischen Kriegsflüchtlinge aus Galizien und der Bukowina in Wien richtete, waren diese als schwächste Gruppe zweifellos das Hauptziel. Dabei erreichte das Ausmaß der Hetze quer durch alle Bereiche des politischen Lebens eine neue Qualität, lenkten nun christlichsoziale und deutschnationale Demagogen mit unglaublicher Konsequenz die durch Not und Elend der Nachkriegszeit bedingten Aggressionen in der Bevölkerung auf diese leicht fassbare Gruppe der »Ostjuden«. Wie schon während des Krieges gab die antisemitische Propaganda den nunmehr zu »Ausländern« erklärten und nahezu recht- und schutzlosen altösterreichischen Flüchtlingen in Wien die Schuld an allen aktuellen Schwierigkeiten. Sogar seriöse katholische und nationale Blätter begannen 1919, soziale Ängste mit Phantasiezahlen von bis zu 300.000 Flüchtlingen zu mobilisieren und stilisierten so das »Ostjudenproblem« zur »Schicksalsfrage der Republik« hoch.57 Die »Ostjuden« hätten sich vor dem Militärdienst gedrückt, sich am Krieg maßlos bereichert und seien schuld 56 Pauley 1993, 211–213  ; zur Haltung der katholische Kirche zu Antisemitismus und Judenverfolgung zwischen 1933 und 1945 vgl. Weinzierl 1988, bes. 229–286. 57 »Judenrepublik oder Deutsche Republik – Die Schicksalsfrage der Gegenwart und Zukunft«, lautete die Schlagzeile in der Reichspost, dem offiziösen Organ der Christlichsozialen, am 26.9.1919.

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an der militärischen Niederlage,58 an der herrschenden Versorgungskrise, der Wohnungsknappheit, dem »Schieberunwesen«59 und der Hyperinflation. Sie wurden zum Katalysator der Angst der katholisch-konservativen Bevölkerung vor antiklerikalem Sozialismus und der angeblich geplanten »jüdischen Weltherrschaft« im Zeichen des Bolschewismus.60 Organisatorisches Sammelbecken und »überparteiliche« Klammer des christlich sozialen und deutschnationalen Antisemitismus war der im August 1919 gegründete »Deutschösterreichische Schutzverein Antisemiten-Bund«. Hier waren all jene vertreten, die Not und Elend breiter Bevölkerungsschichten, Angst vor politischer Unsicherheit und sozialem Abstieg dazu nutzen wollten, die Politik in undemokratische, antisozialistische oder antiliberale Bahnen zu lenken. Vier Jahrzehnte politischen Antisemitismus wurden in Forderungsprogramme gegossen, die in mancher Hinsicht die Radikalität der Nationalsozialisten vorwegnahmen. Die Gefahr dieser Bewegung lag in ihrem parteiübergreifenden Charakter und der dadurch gegebenen Möglichkeit, dass führende Politiker des bürgerlichen und deutschnationalen Lagers in breiter Front auf Bundes- und Landesebene die antisemitische Programmatik in den gesetzgebenden Körperschaften massiv vertreten und ihnen damit einen Anschein von Legitimität und Legalität geben konnten.61 Gerade dieser Umstand verstärkte die Akzeptanz von Forderungen nach Ausgrenzung der JüdInnen aus der österreichischen Gesellschaft, wenngleich diese Forderungen bis 1938 keine staatliche Anerkennung bzw. gesetzliche Verankerung fanden. Herausragende Figur unter den »Vorkämpfern« in der »Ostjudenfrage« war der christlichsoziale Arbeiterführer Leopold Kunschak. Unter der Parole »Ostjuden hinaus« wurde die Regierung mit Pogromdrohungen unter Druck gesetzt, die Flüchtlinge auszuweisen. Bei den »Antisemitenkrawallen« im Herbst 1919 zeigte sich ein »Antisemitismus der Tat«  : Die jüdische Bevölkerung sah sich erstmals mit gewalttätigen Übergriffen gegen Eigentum und Leben durch uniformierte Nationalsozialisten, Studenten und paramilitärisch organisierte Frontkämpfer konfrontiert.62 Trotz dieser teilweise gewalttätigen Auseinandersetzungen und Attacken auf Juden wurde die Tätigkeit des Antisemitenbundes von den Behörden nicht unterbunden. Ganz im Geiste dieser Programmatik verglich Kunschak »Ostjuden« mit Heuschrecken, die das Land kahlfressen63 und forderte im April 1920 im Parlament, Ju58 Als Beispiel einer antisemitischen Hetzschrift vgl. Daniek 1919. 59 Für einen derartigen »Skandal« vgl. Mathis 1995, 185–193. 60 Zum Mythos von der jüdischen Weltherrschaft vgl. Pauley 1993, 35–39. 61 Zum Antisemitenbund vgl. Hofinger 1994, 85–94. 62 John/Lichtblau 1990, 311ff  ; Pauley 1993, 123–126. 63 Zit. n. Hoffmann-Holter 1995b, 53.

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den, die nicht freiwillig in ihre Heimat zurückkehren wollten, »unverzüglich in Konzentrationslager« zu internieren.64 Auch der spätere Bundeskanzler Engelbert Doll­fuß betätigte sich als Student 1920/21 aktiv als Redner des Antisemitenbundes65 und der »Staatsvertragskanzler« Julius Raab, Baumeister in St. Pölten und damals niederösterreichischer Heimwehrführer, bezeichnete 1930 den Austromarxisten Otto Bauer als »Saujud«.66 Zwar lehnte die Sozialdemokratische Partei ideologisch den Antisemitismus ab, stand für jüdische Mitglieder immer offen und hatte während der Ersten Republik prominente jüdische Politiker67 in wichtigen Ämtern, trotzdem war sie für antisemitische Stimmungen anfällig. Dies zeigte sich sowohl in der Haltung gegenüber ostjüdischen Kriegsflüchtlingen als auch in ihrer antisemitisch gefärbten Propaganda gegen jüdische Kapitalisten. Dadurch schürten die Sozialdemokraten bei ihren Anhängern antijüdische Ressentiments, was von den jüdischen Parteiführern toleriert wurde, die ihre eigene Herkunft herunterspielten, um der Partei den »Vorwurf« zu ersparen, sie sei eine »Judenschutztruppe«, »verjudet« und würde nur jüdische Interessen vertreten.68 Diese populistische Anbiederung der Sozialdemokratie an die antijüdische Stimmung erreichte mit dem implizit gegen jüdische Kriegsflüchtlinge gerichteten Ausweisungserlass des sozialdemokratischen niederösterreichischen Landeshauptmannes Albert Sever im September 1919 einen Höhepunkt. Mit wenigen Ausnahmen sollten alle Jüdinnen und Juden, die sich vor dem 1. August 1914 nicht dauernd in Deutschösterreich aufgehalten und keine Heimatberechtigung im jetzigen Staatsgebiet hatten, innerhalb von zehn Tagen das Land verlassen. Der Erlass erwies sich als schwer durchführbar, da die zuständigen Politiker aus Angst vor einem Reputationsverlust im Ausland und den damit verbundenen wirtschaftlichen und politischen Folgen vor einer Massenausweisung vor der Ausweisung ehemals österreichischer Staatsbürger zurückschreckten. Der »Sever-Erlass« heizte die antisemitische Stimmung auf, stärkte die reaktionären Kräfte und gab die wegen ihrer teils ungeklärten Staatsangehörigkeit von Diskriminierung und Abschiebung bedrohten jüdischen Flüchtlinge dem Druck der Öffentlichkeit preis.69 64 Vgl. Staudinger 1979, 38f. 65 1920 brachte er in Regensburg den Antrag ein, »die deutsch-arische Abstammung nachweisbar bis auf die Großeltern« als Aufnahmebedingung in den Cartellverband einzuführen, vgl. Hartmann 1988, 416f. 66 Brusatti 1986, 90. 67 So Otto Bauer, Robert Danneberg oder Julius Deutsch. 68 Binder 1985, 43–53  ; Wistrich 1990, 169–180. 69 Zur Forderung nach Ausweisung der galizischen Flüchtlinge und zur »Optionsfrage« kurz Pauley 1993, 126–131.

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Quer durch alle Parteien wurde den altösterreichischen Jüdinnen und Juden das Recht auf Integration abgesprochen. Ausdruck dieser Einstellung waren die Formulierungen der Vollzugsanweisung zum »Optionsparagraphen« vom August 1920, die bewusst so gewählt wurden, dass galizischen und bukowinischen Juden der Nachweis eines Rechtsanspruches nur schwer gelingen konnte. Möglich wurde dies durch die rassistische Auslegung von Art. 80 des Staatsvertrages von St. Germain, der eine Zugehörigkeit »nach Rasse und Sprache« als Grundlage des Optionsrechtes festlegte.70 Die antisemitische Einheitsfront verstärkte sich zu Jahresende 1920 noch deutlicher, als sich abzeichnete, das Innenministerium könnte einzig das Kriterium »Sprache« bei der Bearbeitung der Optionsansuchen heranziehen  : Nun intervenierten christlichsoziale Abgeordnete mit einer parlamentarischen Anfrage, da nach diesem Kriterium die »ausnahmslos« Deutsch sprechenden »Ostjuden« nicht abgewehrt werden könnten, dass aber niemand behaupten dürfe, »daß die Ostjuden unserer Rasse angehören, beziehungsweise die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung zur jüdischen Rasse gezählt werden muß. So weit ist es Gott sei Dank doch noch nicht gekommen.«71 Im Jänner 1921 folgten mehrere deutschnationale Abgeordnete mit einer ähnlichen Anfrage und ersuchten den Innenminister, »alles vorzukehren, dass die Gesuche von Ostjuden im Sinne der klaren Bestimmungen des Friedensvertrages von St. Germain abschlägig beschieden werden«.72 Der außerparlamentarische Arm der Antisemiten, der Antisemitenbund, erhöhte den Druck und verstieg sich im Februar 1921 bis zum Pogromaufruf  : »So ein Pogrom braucht nicht einmal blutig zu verlaufen, denn wenn nur ein Dutzend Juden einmal an den Laternenpfählen baumelt, dann verschwinden die übrigen […] von selbst nach Galizien und Ungarn, woher sie gekommen sind.«73 Höhepunkt der politischen Tätigkeit des Antisemitenbundes war ein dreitägiger internationaler Antisemitentag in Wien im März 1921, an dem 62 Verbände und Klubs teilnahmen, denen insgesamt rund 400.000 Mitglieder angehörten.74 In diesem Klima forderte schließlich das Plenum des Nationalrates die Regierung auf, in der Frage des Optionsrechtes »der Forderung der Rassezugehörigkeit zur Mehrheit der österreichischen Bevölkerung gebührend Rechnung zu tragen«.75 Diese antisemitischen Machtdemonstrationen ermutigten auch den großdeutschen Innenminister Leopold Waber, die administrativen Schikanen gegen die jüdischen Flüchtlinge fortzusetzen. In seiner halbjährigen Amtsperiode wurden nahezu alle von Juden und Jüdinnen ein70 Vgl. Grandner 1995, 60–85. 71 Zit. n. ebd., 78. 72 Zit. n. ebd., 78f. 73 Der Eiserne Besen. Ein Blatt der Notwehr, 20.2.1921, zit. n. Mentzel 1995, 17f. 74 Fellner 1979, 128ff. 75 Grandner 1995, 79.

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gereichten Optionsansuchen für eine österreichische Staatsbürgerschaft mit teilweise offen rassistischen Begründungen abgelehnt. Ausgrenzung, so wurde signalisiert, war gesellschaftsfähig geworden. Allerdings kam man weder durch den Sever-Erlass noch durch die antisemitische Optionspraxis des Innenministeriums dem deklarierten Ziel näher, alle jüdischen Flüchtlinge aus Österreich zu vertreiben.76

Versuchte Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung Kernpunkt des Programms des Antisemitenbundes war die Erklärung der Juden zur »Nation«. Damit konnte nicht nur die Abschiebung der »Ostjuden« begründet werden, darauf bauten auch alle anderen Ausgrenzungsforderungen, die allerdings nicht neu waren  : ein Numerus clausus an Universitäten und in Berufen mit hohem jüdischen Prozentanteil, also für Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten,77 wie auch die Trennung der christlich-deutschen von den jüdischen Mittelschulen. Was Antisemiten schon in der Monarchie erfolglos angestrebt hatten, fand sich nunmehr in Gesetzesanträgen christlichsozialer Parlamentarier, die auf eine gesetzlich verankerte Ungleichheit der jüdischen Bevölkerung abzielten. Bis 1938 stand all diesen Versuchen allerdings die österreichische Verfassung entgegen.78 In einigen Bereichen konnten sich die Antisemiten jedoch durchsetzen  : Schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert hatten immer mehr Vereine, vor allem nationale Burschenschaften und Turnvereine, mittels »Arierparagraphen« jüdische Mitglieder ausgeschlossen. In der Zwischenkriegszeit folgte eine Reihe von Massenorganisationen und Vereinen, darunter der »Alpenverein«, die keine Juden mehr aufnahmen bzw. diese ausschlossen.79 Die politisch und sozial keineswegs homogene jüdische Bevölkerung Österreichs reagierte unterschiedlich auf diese neue Gefahr des sich ausbreitenden Rassismus und Deutschnationalismus. Während die assimilationswillige Mehrheit, seit 1886 in der »Union deutsch-österreichischer Juden« organisiert, auf ihren in der Verfassung garantierten Schutz vertraute, die Krise durchstehen und weiterhin die Integration in die österreichische Gesellschaft ohne jede Art von Privilegien oder Sonderrechten ­absichern wollte, verkörperte die zionistische Minderheit die Antithese zur Assimilation.80 76 Hoffmann-Holter 1995a, 56. 77 Hein 1984, 43. 78 Staudinger 2002, 247–270. 79 Lichtblau 1995, 467f. 80 Zur innerjüdischen Politik der Zwischenkriegszeit vgl. Pass Freidenreich 1991.

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Bei der assimilierten Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Österreichs stießen der Zionismus und die Gründung einer zionistischen Partei nach dem Ersten Weltkrieg unter Robert Stricker als offensive Reaktion auf die vorherrschende antisemitische Grundstimmung und Abkehr vom Konzept der Assimilation auf Ablehnung.81 Sie sah die Gefahr, dass die zionistische Proklamation einer »jüdischen Nation« Antisemiten – in scheinbarer Übereinstimmung mit den Zionisten82 – den Vorwand zu einer Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung unter »positiven« Vorzeichen lieferte. Auch auf dem Lande hatte der Antisemitismus einen starken Rückhalt mit einigen, allerdings erst kursorisch erforschten regionalen Eigenheiten.83 Aufgrund der geringen jüdischen Bevölkerungszahl  – in der Zwischenkriegszeit lebten nur rund 15.000 der mehr als 190.000 österreichischen Juden und Jüdinnen außerhalb Wiens – konnte nicht von einer »jüdischen Übermacht« gesprochen werden. Daher bot sich dem Länderantisemitismus die Projektion auf Wien, der Hass auf die Metropole, als Ersatz für reale Konflikte an.84 Gerade weil am Beginn der Republik Christlichsoziale aus den Ländern die Politik dominierten, reagierten sie am sensibelsten auf die von Kriegsmüdigkeit, Hass auf die Wiener Wirtschaftszentralen, Antisemitismus und Antimonarchismus geprägte Stimmung der ländlichen Bevölkerung. Schon im November 1918 wurde beispielsweise in Vorarlberg der wahre Feind und der Grund für die Ablehnung der Metropole und des von dort ausgehenden »Bolschewismus« publizistisch an den Pranger gestellt  : »Nicht der Kaiser in Eckartsau ist uns im Wege, sondern die Juden bei der Regierung in Wien, bei allen Ämtern und in allen Zentralen sind uns ein Dorn im Auge. […] Deshalb schaudert uns von Wien aus regiert zu werden. […] Los von Wien  ! Dieser Ruf wird, es ist kein Wunder, Tag für Tag lauter und in weitesten Kreisen erhoben.«85 Aus der Sicht antisemitisch denkender Provinzpolitiker wuchs Wien zu einem bedrohlichen, »verjudeten Moloch« heran. Das »rote Wien« der Zwischenkriegszeit  – 1930 lebten 60 Prozent aller Mitglieder der SDAP in Wien86 – war aus dieser Perspektive gleichzeitig das »jüdische Wien«. Auch die jüdischen Bewohner in den Bundesländern, vielleicht mit Ausnahme des Burgenlandes, sahen sich im katholisch-konservativen Umfeld im Vergleich zu Wien eher einem direkten Druck der Antisemiten ausgesetzt, wenngleich hier das distanzierte Verhältnis von Nichtjuden zu Juden noch viel stärker auf einer langen 81 Vgl. dazu Stricker 1929  ; Stricker 1920. 82 Vgl. dazu kurz Nicosia 1994, 60–76. 83 Dreier 1988, 132–249  ; Pallaver 1986  ; Hofinger 1994  ; Fellner 1979. 84 Rütgen 1989, 396. 85 Vorarlberger Volksblatt, 23.11.1918, zit. n. Dreier 1988, 191f. 86 Hanisch 1994, 138.

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christlichen Tradition antijüdischer Vorstellungen und Bilder beruhte und konkrete ökonomische Interessen eine eher untergeordnete Rolle spielten. Gab es schon keine »eigenen« Juden, wollte man in einigen Gegenden auch keine »fremden«  : Knapp 60 Gemeinden und Fremdenverkehrsverbände erklärten nach dem Ersten Weltkrieg Juden zu unerwünschten Personen und machten ihnen den Aufenthalt als Feriengäste unmöglich. Proteste jüdischer Organisationen fruchteten meist wenig.87 Nach einer letzten großem Demonstration Anfang 1923 vor dem Wiener Rathaus, in der sich christlichsoziale und deutschnationale Politiker für Gesetze »gegen die Diktatur des Judentums«88 aussprachen, verlor der Antisemitenbund an Einfluss, was nicht zuletzt ein Jahr später zum Austritt der Nationalsozialisten führte. Ein vorerst letztes Aufflackern der radau-antisemitischen Bewegung gab es in Wien nach der Ermordung des jüdischen Journalisten und Schriftstellers Hugo Bettauer im März 1925 nochmals im August, als die im »Völkisch-antisemitischen Kampfausschuß« vereinigten Organisationen Unruhen rund um den XIV. Zionistischen Weltkongress anzettelten.89 Danach gab es bis Anfang der 1930er Jahre eine relativ ruhige Zeit. Verantwortlich dafür waren einerseits die Konsolidierung der Wirtschaft sowie die Spaltung und Misserfolge der extremen politischen Rechten. Das Thema war jedoch nicht erledigt  : Im November 1926 wurde der »Kampf gegen die Übermacht des zersetzenden jüdischen Einflusses« in das neue Parteiprogramm der Christlichsozialen Partei aufgenommen, und nicht nur die deutschnationale, sondern auch die katholische Presse agitierte weiter gegen die Juden. Auch an den Universitäten, in Vereinen und Verbänden war das gewaltbereite antisemitische Potential weiterhin präsent.90 Schon geringe Anlässe genügten, wie beispielsweise der Halsmann-Prozess in Innsbruck 1928, um latent vorhandene antisemitische Grundeinstellungen reflexartig zu aktivieren.91 Zu einer neuerlichen Radikalisierung antisemitischer Agitation in Österreich kam es dann im Gefolge der Weltwirtschaftskrise und der sich abzeichnenden Krise der Demokratie in den frühen 1930er Jahren.

87 Lichtblau 1995, 465–467, 469. 88 Zitiert bei Mayer 1989, S. 240. 89 Zu den antisemitischen Demonstrationen von 1919 bis 1923 und zum Zionistischen Weltkongress 1925 vgl. Pauley 1993, 123–126, 154–162. 90 Weinzierl 1988, 23–28. 91 Zum Prozess gegen den jüdischen Studenten, der des Mordes an seinem Vater angeklagt war, vgl. Hofinger 1995, 194–221.

Vom Antijudaismus zum Antisemitismus in Österreich

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Stefan Schima

Der Antisemitismus vor dem Hintergrund der österreichischen Rechtsentwicklung bis 1918 Einleitung Antijudaismus bzw. Antisemitismus weisen mehrfache Berührungspunkte mit der österreichischen Rechtsentwicklung auf.1 Dabei ist einerseits zwischen Rechtsquellen zu unterscheiden, die Tendenzen vorwegnahmen, die in der Rechtssetzung des Natio­ nalsozialismus deutlich wahrnehmbar wurden, und andererseits zwischen Vorschriften und Maßnahmen, die zur Hintanhaltung bzw. Eindämmung antisemitischer Handlungsweisen beitragen sollten. Der zweitgenannte Aspekt ist v. a. aus heutiger Sicht von großer Bedeutung und dies insbesondere mit Blick auf den »Verhetzungsparagraphen« des geltenden Strafgesetzbuchs.2 In den folgenden Ausführungen wird schwerpunktmäßig auf Entwicklungen eingegangen, die Cisleithanien betrafen. Dabei kann eine gewisse »Kernlandlastigkeit« im Sinne von Gebieten des heutigen Österreich nicht ausgeschlossen werden.

Die Rechtsentwicklung bis 1848 Die mittelalterliche Rechtsentwicklung

Die einschlägige mittelalterliche Rechtsentwicklung führt uns deutlich antijüdische Stereotype vor Augen, mit denen die für die Erlassung einschlägiger Vorschriften 1 Der religiös konnotierte Begriff »Antijudaismus« und der eher rassisch konnotierte Begriff »Antisemitismus« können nicht in aller Schärfe auseinandergehalten werden. Siehe dazu die einleitenden Worte bei Schima im Druck. In den vorliegenden Ausführungen spielt aus rechtlicher Sicht die religiöse Anknüpfung an das Judentum eine dominante Rolle. Wenn freilich in zahlreichen Vorschriften v. a. des 17. bis 19.  Jahrhunderts ausdrücklich auf den religiösen Aspekt der Anknüpfung hingewiesen werden musste – so etwa im Zusammenhang mit der Frage, ob getaufte Juden nun wie Nichtjuden zu behandeln seien, siehe Schima 2010, 416, insb. mit Anm. 4 –, dann ist dies ein Beleg dafür, dass diese nicht allen Vollzugsorganen als gesichert vor Augen standen. 2 Stammfassung  : BGBl. 60/1974. Durch die Novelle BGBl. I 112/2015, die im Hinblick auf das Strafgesetzbuch am 1.1.2016 in Kraft tritt, erfuhr der einschlägige § 283 im Wesentlichen eine Verschärfung, wobei zweifelsohne der verstärkte Schutz von Musliminnen und Muslimen das Hauptmotiv dieser gesetzgeberischen Maßnahme darstellte.

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zuständigen Stellen in ambivalenter Weise umgingen. Es sind v. a. folgende fünf Rechtskreise zu beachten  : 1. sogenannte »universalkirchliche« Rechtsquellen  ; 2. partikularkirchliche Rechtsquellen  ; 3. Rechtsquellen des Heiligen Römischen Reiches  ; 4. landesherrliche Rechtsquellen und 5. Stadtrechte. Als grundsätzliche Konstante hat man sich vor Augen zu halten, dass Eheschließungen zwischen Christen und Nichtchristen rechtlich nicht möglich waren und auch ein Übertritt vom Christentum zum Judentum völlig ausgeschlossen war. Was das Eherecht betrifft, so wurde dieser Zustand in Österreich – sieht man von Unterbrechungen auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes ab – bis in das 20. Jahrhundert hinein aufrecht erhalten.3 Ein nach staatlichem Recht wirksamer Übertritt von einem christlichen Bekenntnis zum Judentum sollte erst durch das Interkonfessionellengesetz 1868 ermöglicht werden.4 Ferner sind zunächst bis zum Jahr 1848 und nachher für einige Jahre wieder Einschränkungen bzw. Ausschlüsse der Immobilienerwerbsfähigkeit zu beachten.5 Ad 1  : In dem wohl um 1140 entstandenen »Decretum Gratiani« – einer kommentierten Kirchenrechtssammlung, in der überkommenes Material wie Bestimmungen früherer Kirchenversammlungen, aber auch Kirchenväterliteratur zusammengestellt war  – finden sich 20 Texte, die auf die Rechtsstellung von Juden Bezug nehmen.6 Diese geringe Zahl vermag in Anbetracht des Umfangs der Sammlung überraschen, eingegangen wird hier etwa auf die Stellung der Juden im Zusammenhang mit Sklaverei, aber auch auf die Missionierung von Juden durch Christen und dem Schutz von Juden überhaupt.7 3 Dabei hat man insbesondere an § 64 ABGB zu denken, dem zufolge in Fortschreibung der bisherigen Rechtslage Ehen zwischen Christen und Personen, die sich nicht zum Christentum bekannten, nicht in gültiger Weise eingegangen werden konnten. Darüber hinaus wurde dieser Rechtszustand unter anderen Vorzeichen in der Zeit des Nationalsozialismus perpetuiert, und dies durch das Ehegesetz 1938 (DtRGBl. I 1938, S. 807), das entsprechende Bestimmungen der Nürnberger Rassegesetzgebung übernahm (vgl. §§ 4 und 5 Ehegesetz 1938). Dabei ist allerdings zu beachten, dass das nationalsozialistische Regime primär an einen rassischen Zuordnungsbegriff zum Judentum anknüpfte, das zeitlich vorangehende österreichische Recht aber an eine religiöse Zuordnung. Aufgrund der im Jahr 1945 verankerten Rechtsüberleitungsmechanismen wurde weder § 64 ABGB noch die betreffenden Bestimmungen des Ehegesetzes 1938 weiter übernommen. Ehen zwischen Christen und Personen, die sich nicht zum Christentum bekannten, waren somit rechtlich möglich. Zu den Überleitungsregelungen siehe Schima 2016. 4 Stammfassung  : RGBl. 49/1868. 5 Siehe dazu Stubenrauch 1853, wo auch mittelalterliche Quellen im Zuge der Darstellung der sehr differenzierten Rechtslage genannt sind. 6 Siehe Pakter 1988, 108–110. 7 Zum Judenschutz und zur Missionierung von Juden siehe insb. Decretum Gratiani, Dist. 45 c. 3 und 5, abgedr. bei Friedberg 1879, Sp. 160f.

Der Antisemitismus vor dem Hintergrund der österreichischen Rechtsentwicklung

Im Zusammenhang mit den päpstlichen Rechtsquellen ist vor allem die im Jahr 1165 durch Alexander III. erneut veröffentlichte bzw. ergänzte Bulle »Sicut Judaeis« zu nennen.8 Sie enthielt Schutzbestimmungen für Juden, wie etwa das Verbot der Zwangstaufe, und das Verbot, ohne weltliches Gerichtsurteil Juden zu töten, zu verletzen oder zu berauben. Untersagt wurde auch die Schändung jüdischer Friedhöfe. Im Jahr 1247 ergänzte Innozenz IV. die Bulle um das Verbot, gegen Juden den Vorwurf des Ritualmordes zu erheben. Damit nahm der Papst dezidiert insbesondere gegen die Beschuldigung Stellung, wonach christliche Kinder durch Juden in ritueller Weise geschlachtet würden.9 Allerdings wurden ausdrücklich nur jene Juden unter Schutz gestellt, die nichts gegen den christlichen Glauben unternommen hatten. Berühmtheit erlangten auch die die Juden betreffenden Bestimmungen des Vierten Laterankonzils (1215).10 Dabei soll hier nicht jene Bestimmung im Vordergrund stehen, die sich auf das Zinsnehmen durch Juden bezog (can. 67), sondern zunächst das Gebot des Tragens von besonderer Kleidung durch Juden und Muslime, um damit v. a. das Eingehen sexueller Beziehungen zwischen Christen und Nichtchristen zu verhindern, wobei den weltlichen Obrigkeiten die Durchsetzung dieses Gebots vorgeschrieben wurde (can. 68). Dass es sich bei der – offensichtlich in hohem Maße auch tatsächlich durchgesetzten  – Kennzeichnungspflicht um einen konkreten Vorläufer des in der Zeit des Nationalsozialismus zu tragenden »Davidsterns« handelte, muss nicht näher betont werden.11 Ferner ist das Verbot der Übertragung öffentlicher Ämter an Nichtchristen zu erwähnen (can. 69 bezog sich dabei auf frühere Vorschriften) und schließlich das an jene Juden, die sich hatten freiwillig taufen lassen, gerichtete Verbot der Rückkehr zu ihrer früheren Religion (can. 70). Damit war offensichtlich impliziert, dass Zwangsgetaufte sich grundsätzlich zum Judentum bekennen durften.12 Insgesamt erfolgte die Rezeption der universalkirchlichen Rechtsquellen in differenzierter Intensität. Was das Gebiet des Heiligen Römischen Reiches betrifft, erfolgten Umsetzungsschritte im Wesentlichen vergleichsweise spät.13 Ad 2  : Was die partikularkirchlichen Rechtsquellen betrifft, so ist auf eine im Jahr 1267 in Wien abgehaltene Kirchenversammlung hinzuweisen, die einen Beleg für   8 Abgedr. in Mansi 1778, Sp. 355–357, siehe dazu Schreckenberg 1997, 244–246.   9 Siehe dazu Lohrmann 2008, 43f.; zu den Thesen zur Entstehung der Ritualmorderzählungen siehe Toch 2013, 114f. 10 Zu den einschlägigen Bestimmungen des Vierten Laterankonzils siehe Brugger 2010, 239f. Diese sind abgedruckt samt deutscher Übers. bei Wohlmuth 2000, 265–267. 11 Zur Effektivität dieser Bestimmung siehe Liebeschütz 1983, 218f. 12 Vgl. Brugger 2010, 239. 13 Siehe ebd., 240.

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das gerade angesprochene langsame Rezeptionstempo darstellt.14 Dort zeichnete der päpstliche Legat Guido für einen Judenpassus verantwortlich, der im Kern die Bestimmungen des Vierten Laterankonzils in sich trägt. Abermals wurde den Juden das Tragen besonderer Kleidung vorgeschrieben, wobei im Besonderen auf das Tragen des spitzen Hutes, den die Juden im Wiener Raum ohnehin schon lange als nicht aufgezwungenes Kleidungsstück benutzt hatten, vorgesehen war (can. 15). Ferner wurde den Juden das Betreten von Bädern und Wirtshäusern, die für Christen bestimmt waren, ebenso untersagt, wie die Einstellung christlicher Dienstleute (can. 16). Durch drakonische Strafen wurde die Unzucht eines Juden mit einer Christin bedroht (can. 17), wobei die umgekehrte Konstellation  – intimer Verkehr einer Jüdin mit einem Christen – nicht geregelt war. Christen wurde es unter Androhung der Exkommunikation untersagt, mit Juden gemeinsam an einem Tisch zu sitzen bzw. mit ihnen Feste zu feiern oder zu tanzen, und darüber hinaus sollten Christen bei Juden keine Lebensmittel kaufen, da diese vergiftet sein könnten (can. 18). Ferner wurden Maßnahmen für den Fall der überhöhten Zinsnahme durch Juden bei Christen getroffen (can. 19). Unter den weiteren Regelungen seien hier noch das Verbot, einen Christen zum Übertritt zum Judentum zu bewegen, und das Verbot des Synagogenbaus erwähnt. Insgesamt konnten diese Vorschriften durchaus in einem Spannungsverhältnis zu den Interessen der christlichen weltlichen Gewalt stehen, da dieser aus ökonomischen Gründen nicht an Einschränkungen des sozialen Verkehrs bzw. des Handels gelegen war. Alles in allem liegt es nahe, sich bei dieser Gesetzgebung an die antijüdischen Maßnahmen des nationalsozialistischen Regimes erinnert zu fühlen. Ad 3  : Im Zusammenhang mit dem Recht des Heiligen Römischen Reiches sind neben hoheitlichen Rechtsakten vor allem der um 1225 entstandene Sachsenspiegel und der etwa 50 Jahre später niedergeschriebene Schwabenspiegel zu erwähnen.15 Diese als private Rechtssammlungen angelegten Werke stammten aus den 1270er Jahren und trugen als private Rechtsbücher zur Vereinheitlichung des Reichsrechts bei, wobei der Schwabenspiegel auf dem Gebiet des heutigen Österreich eine wichtigere Rolle spielte. In beiden Fällen war die schriftliche Niederlegung von Gewohnheitsrecht von zentraler Bedeutung, und es werden die Wechselwirkungen zwischen Vorgaben auf Reichsebene und kirchlichen Vorgaben offenkundig. Bereits im Reichslandfrieden von 1103 waren Juden als eine von mehreren schutzwürdigen Gruppen aufgenommen worden,16 und dies als Antwort auf die Judenpogrome, die sich wenige Jahre zuvor im Zusammenhang mit dem Ersten Kreuz14 Zum Folgenden siehe ebd., 240–242. 15 Siehe dazu Kisch 1978, 72–90  ; Lotter 1991, 36f.; Brugger 2010, 242f. 16 Abgedr. bei Weiland 1893, 125f.

Der Antisemitismus vor dem Hintergrund der österreichischen Rechtsentwicklung

zug im Reich zugetragen hatten. Insbesondere das Verbot der Tötung oder Verletzung wurde hier eingemahnt. Mehr Konkretheit weisen Rechtsakte von Friedrich I. Barbarossa auf.17 Diese wurden zu Vorläufern einschlägiger Bestimmungen Friedrichs II. aus dem Jahr 1236.18 Neben der Bestätigung früherer Judenprivilegien ging es hier – ähnlich wie wenig später bei Innozenz IV. – um das Verbot von Ritualmordvorwürfen. In weiterer Folge wurde der Judenschutz immer mehr zur Einnahmequelle, wobei ein regelrechter Wettlauf der Herrscher mit den Landesherren stattfand. Dabei spielte der Begriff des »Judenregals« eine wichtige Rolle. Der entsprechende Schutz der Juden war vom Träger des Judenregals gegen Entgeltzahlungen zu gewährleisten, und nach und nach fand eine Übertragung des Judenregals vom Herrscher auf die Landesherren statt.19 Ad 4  : Das angesprochene Muster des auf den Landesherren übertragenen Judenregals dürfte für das Herrschaftsgebiet der Babenberger nie maßgeblich und der Judenschutz ein spezifisch landesherrlicher gewesen sein.20 Es ist allerdings gerade der Konflikt um die Zuständigkeit für die Regelung der Rechtsstellung der Juden, der die Fronten nach dem Ende der Babenberger im Kampf um die österreichische Landesherrschaft sichtbar werden ließ.21 Sehr detaillierte Bestimmungen erließ Herzog Friedrich II. im Jahr 1244.22 Unter dem Aspekt des Judenschutzes waren die Regelungen noch strenger gehalten als das einschlägige Reichsrecht. So wurde die Verletzung von Juden mit höheren Geldstrafen bedroht, aber auch die Strafen für Zwangstaufen und Entführung jüdischer Kinder waren strenger als im Reichsrecht. Im Vergleich zum bisher erlassenen kaiserlichen Recht waren die nun erlassenen Schutzbestimmungen, die Juden vor überhöhten Mautforderungen bewahren sollten, weiter gestaltet. Über diese Vorgaben ging König Ottokar Přemysl, der ab 1251 Herzog von Öster­ reich und später auch anderer auf dem Gebiet des heutigen Österreichs gelegener Territorien war, in gewisser Weise hinaus, wobei die nachfolgenden Habsburger im Wesentlichen zu den Standards Herzog Friedrichs II. zurückkehrten.23 Generell kann 17 Siehe dazu Brugger 2010, 244. 18 »Privilegium et sententia in favorem Iudaeorum«, abgedr. bei Weiland 1896, 274–276. Zur Einordnung des Privilegs in die Entwicklung des Judenrechts und die Stellung von Juden als »servi camerae« siehe Kisch 1978, 61. 19 Vgl. Scherer 1901, 128. 20 Davon wird durch Scherer 1901, 128, mit Gewissheit ausgegangen. 21 Hierzu und zum Folgenden Brugger 2010, 244–249. 22 Der Text ist abgedr. bei Brugger/Wiedl 2005, 35–38  ; vgl. auch Scherer 1901, 179–184  ; siehe dazu ebd., 173–249. 23 Siehe Brugger 2010, 249–256.

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von einer rigoroseren Judenpolitik habsburgischer Landesherren gesprochen werden. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass im Jahr 1397 ein Privileg erging, das Juden für drei Jahre von Sondersteuern befreite, und zwar als Kompensation für Schäden aus vorangegangenen Judenverfolgungen.24 Dies hinderte allerdings die Landesherren nicht daran, sich im späten 14. und im frühen 15. Jahrhundert als treibende Kraft von Judenverfolgungen zu betätigen.25 Ad 5  : Im Zusammenhang mit den Stadtrechten ist zu beachten, dass im Wesentlichen – bei gleichzeitiger Einschärfung des aus dem Kirchenrecht stammenden Ämterverbots – detaillierte Regelungen ergingen, die es Juden untersagten, in bestimmten Berufszweigen tätig zu sein.26 Die neuzeitliche Rechtsentwicklung bis zum Tod Maria Theresias

Mittelalterliche Pogrome und Ausweisungsakte hatten für einen wesentlichen Rückgang der jüdischen Bevölkerung gesorgt, und einzelne Wiederansiedlungsverbote perpetuierten diesen Zustand in zahlreichen Gebieten.27 Für die verbliebenen Juden wurde das Tragen besonderer Kennzeichnungen – wie etwa des gelben Flecks – wiederholt eingeschärft. Einer kurzen Zeit der Duldung von Juden in Wien als sogenannte »Hofjuden« folgte im Jahr 1670 die von Kaiser Leopold I. angeordnete Vertreibung.28 Bereits im späten 17. Jahrhundert wurde jedoch einzelnen Juden wieder die Ansiedlung in Wien gestattet, doch allgemein war das Klima eines der Restriktion. Dies zeigt besonders deutlich eine Äußerung Maria Theresias, die im Jahr 1777  – und damit wenige Jahre vor ihrem Tod  – von den Juden als einer »Pest« schrieb, einer »Nation«, die im Stande sei, durch Betrug und Wucher »Leüt in den Bettelstand zu bringen«.29 In der »Constitutio Criminalis Theresiana« von 1768 wurde Gotteslästerung als das »ärgste« aller »Laster« bezeichnet, wobei mit Gott zwingend die »allerheiligste Dreyfaltigkeit oder eine deren drey göttlichen Personen« zu bezeichnen war (Art. 56 § 1).30 Demnach waren vom entsprechenden Tatbestand, der im schwersten Fall so24 Abgedr. in Urkundenbuch 1956, 658–660. 25 Wiedl 2010, 272. 26 Zur Rechtsstellung der Juden in den österreichischen Stadtrechten des Mittelalters siehe Brugger 2010, 255f.; Wiedl 2010, 257–272. 27 Siehe Staudinger 2006, 229f. 28 Siehe ebd., 330–332. 29 Zit. n. Lind 2006, 347. 30 Zu den religionsrechtlich relevanten Bestimmungen der Constitutio siehe Gampl 1984, 41.

Der Antisemitismus vor dem Hintergrund der österreichischen Rechtsentwicklung

gar mit Todesstrafe bedroht war, jüdische Gottesvorstellungen nicht umfasst. Der Abfall vom Christentum wurde mit Bestrafung »mit dem Schwert« bedroht, wobei ausdrücklich der Fall genannt wurde, bei dem Getaufte »den jüdischen, mahometanischen oder heydnischen Glauben annehmen« (Art. 57 Abs. 2). Waren die bisherigen Bemerkungen zur Neuzeit im Wesentlichen auf das obrigkeitliche Wirken auf der Ebene der Landesherrschaft bezogen, so ist noch ein Blick auf die Reichsebene zu richten  : Hier kam es nämlich nicht nur zur Zensur jüdischer Schriften, wie etwa des Talmuds, sondern es wurden auch antijüdische Schriften verboten.31 Betroffen war etwa Martin Luthers späte Schrift »Von den Juden und ihren Lügen«, aber auch das im Jahr 1700 veröffentlichte Werk »Entdecktes Judentum« von Johann Andreas Eisenmenger. Dieses Buch sollte im Kontext antisemitischer Äußerungen im Rahmen österreichischer Gerichtsprozesse des 19. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle spielen. Eisenmenger wirkte als Professor für orientalische Sprachen in Heidelberg und verdankte seine Kenntnisse des Talmuds v. a. Kontakten zu holländischen Kaufleuten, präsentierte allerdings Aussagen daraus in entstellter Form. Noch vor Erscheinen des Buches bemühte sich die Frankfurter Judengemeinde um eine kaiserliche Zensurmaßnahme. Daraufhin wurde nach vorangehenden Beratungen des Reichshofrates ein kaiserlicher Bescheid erlassen, der eine vorläufige Beschlagnahme der 2.050 gedruckten Exemplare vorsah. Ungeachtet einer entsprechenden endgültigen kaiserlichen Entscheidung aus dem Jahr 1707 konnte das Verbot erfolgreich umgangen werden. Von Joseph II. bis zum Jahr 1848

Die religionsrechtlich bedeutsame Gesetzgebung Josephs  II. (Alleinherrschaft von 1780 bis 1790) war von Tendenzen geprägt, die in Richtung Gleichbehandlung wiesen, ohne dabei aus heutiger Sicht paritätsrechtliche Standards zu erreichen. Die Toleranzgesetzgebung Josephs  II. für Juden, die in ihrer Bedeutung in Bezug auf die Schaffung einer neuen Rechtslage vielfach überschätzt wird, war regional sehr differenziert ausgestaltet.32 Das für die Juden Niederösterreichs – und damit v. a. auch Wiens – maßgebliche Toleranzpatent vom 2. Jänner 178233 war vergleichsweise rigoros angelegt  : Den Juden war die Gemeindebildung und die öffentliche – und damit nach außen hin sichtbare – Religionsausübung untersagt.34 Darüber hinaus ist die jo31 Zum Folgenden siehe Niewöhner 2002, 167–180  ; Ehrenpreis/Wendehorst 2011, 457–461. 32 Zur Rechtsstellung der Juden zwischen Joseph II. und 1848 siehe Schima 2010, 418–428. 33 Abgedr. bei Pribram 1918, 494–500. 34 Inwieweit tatsächlich eine sephardische Gemeinde im Sinne einer juristischen Person tätig werden konnte, ist hier nicht näher zu erklären.

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sephinische Strafgesetzgebung zu erwähnen, die in gewisser Weise Züge paritätsrechtlich neutraler Behandlung von im Staat geduldeten Religionen in sich trug. So wurde im Strafgesetz von 178735 die »Religionsstörung« geregelt, und dieses »politische Verbrechen« bezog sich auf Handlungsweisen, »durch die eine öffentliche gottesdienstliche Uebung der herrschenden, oder einer geduldeten Religion geflissentlich gestöret« wurde (II § 62). Wenn in weiterer Folge von entsprechenden Tathandlungen die Rede war, die in »Gotteshäusern« begangen wurden, dann hat man diesen Begriff insofern als religionsneutral zu betrachten, als hier Kirchen wie Synagogen gemeint sein konnten. Doch darf dies keinesfalls den Eindruck erwecken, als sei das Strafgesetz von 1787 insgesamt von einem religionsneutralen Zug geprägt gewesen. Es lag nämlich ein politisches Verbrechen auch dann vor, wenn sich jemand anmaßte, »einen christlichen Religionsverwandten durch falschen Unterricht oder Ränke zum Abfall vom christlichen Glauben zu bestimmen und ihn zur Verläugnung aller Religion, oder zu Annahme einer, die das Evangelium läugnet, zu verleiten« (II § 64). Damit waren die christlichen Bekenntnisse weiterhin eindeutig vor dem Judentum privilegiert.36 Bei der grundsätzlich toleranten Prägung josephinischer Minderheitenpolitik darf man allerdings nicht vergessen, dass die unter Joseph II. geregelte Vergabe von Familiennamen an Juden nicht nur Ausfluss einer diskriminierenden Haltung war, sondern in sich Keime antisemitischer Emanationen der Folgejahrhunderte in sich trug. Noch unter Maria Theresia war Galizien unter habsburgische Herrschaft gekommen. Hier lebten verhältnismäßig viele Juden, und v. a. hier kam es zur organisierten Vergabe von Familiennamen. Unmittelbar waren hierfür Kommissionen zuständig, denen eifrige Judengegner angehörten. Auch mussten die Juden selbst eine Auswahl aus einer vorgegebenen Liste deutscher Vornamen treffen.37 Die besondere Kennzeichnung von Juden unter dem Blickwinkel der Namensvergabe sollte in der Zeit des Nationalsozialismus ebenfalls eine Entsprechung erhalten, wenn es dort um die zwangsweise Vergabe der Vornamen »Israel« und »Sara« ging.38 Die besondere Namensvergabe kann gewissermaßen als der wirksamste Multiplikator des Antisemitismus aufgefasst werden. 35 JGS 611/1787. 36 Dass in der Folgebestimmung diejenigen mit Strafe bedroht wurden, die in einer der herrschenden Religion – und damit dem katholischen Bekenntnis – zuzurechnenden Gemeinde eine Irrlehre bzw. Unglauben zu verbreiten versuchten (II § 65), sei hier der Ergänzung halber erwähnt. 37 Unter den einschlägigen Rechtsakten ist zu unterscheiden  : Mit 23.7.1787 ist jenes Patent datiert, in dem Juden aller Provinzen aufgetragen wurde, bestimmte Familien- und deutsche Vornamen anzunehmen (JGS 698/1787). Mit 12.  November desselben Jahres ist jenes Patent datiert, das eine Liste deutscher Vornamen enthält, aus der ausschließlich die Juden eine Wahl zu treffen hatten (JGS 746/1787), siehe auch K aserer 1879, 9–11  ; Staudacher 2016. 38 Siehe Reiter-Zatloukal 2016.

Der Antisemitismus vor dem Hintergrund der österreichischen Rechtsentwicklung

Dass Übertritte von einem christlichen Bekenntnis zum Judentum staatlicherseits auch unter Joseph II. nicht möglich waren, ergibt sich aus dem bereits Festgestellten. Auch waren Heiraten zwischen Christen und Nichtchristen unter Joseph II. rechtlich weiterhin ausgeschlossen.39 Mit den in der Allgemeinen Gerichtsordnung enthaltenen Regelungen betreffend die Benachteiligung von Juden als Zeugen in Zivilstreitigkeiten trug der Herrscher grundsätzlich zur Perpetuierung des bisherigen Rechtszustandes bei.40 Unter Franz II./I. (1792 bis 1806 bzw. 1804 bis 1835) wurde im Jahr 1803 ein Strafgesetzbuch erlassen, in dem die »Religionsstörung« als Verbrechen geregelt und die einschlägigen Bestimmungen nicht ganz frei von paritätsrechtlichen Tendenzen waren (I § 107)  : Es wurde diejenige Person, die »eine im Staate bestehende Religionsübung störet oder durch entehrende Misshandlung an den zum Gottesdienst gewidmeten Gerätschaften oder sonst durch Handlungen, Reden, Schriften öffentlich der Religion Verachtung bezeiget« (lit. b), mit Strafe bedroht, wobei die Begehung einer derartigen Tat als Verbrechen behandelt wurde. Die hier zum Ausdruck kommende grundsätzliche Gleichbehandlung der jüdischen Religion mit christlichen Bekenntnissen wurde in den Folgebestimmungen gewissermaßen torpediert  : Das Verbrechen der Religionsstörung beging auch eine Person, die versuchte, einen Christen zum Abfall vom Christentum zu verleiten (lit. c) und diejenige Person, die bestrebt war »Unglauben zu verbreiten oder eine der christlichen Religion widerstrebende Irrlehre auszustreuen« (lit. d).41 Was das ABGB vom Jahr 1811 betrifft, so änderte sich an der bisherigen zivilrechtlichen Stellung der Juden im Wesentlichen nichts.42 Ehen zwischen Christen und Personen, die sich nicht zum Christentum bekannten, konnten weiterhin nicht eingegangen werden (§  64), und auch die Bestimmung, der zufolge Nichtchristen den letzten Willen eines Christen nicht bezeugen durften (§ 593) stellte inhaltlich nichts Neues dar. Dies gilt auch für die Festschreibung des Abfalls vom Christentum als Enterbungsgrund (§ 768 Z 1).

39 § 10 des Josephinischen Ehepatents, JGS 117/1783. 40 JGS 13/1781, § 142 lit. d. Siehe ausführlich Schima 2010, 424f. 41 Zur praktischen Bedeutsamkeit dieser Bestimmungen in der Rechtsprechung siehe Hartl 1973, 348f. 42 Dass das für Juden maßgebliche staatliche Eherecht nun in einem eigenen Abschnitt geregelt wurde (§§ 123–136), sei hier der Ergänzung halber erwähnt.

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Die Rechtsentwicklung von 1848 bis 1918 Allgemeines

Im Folgenden ist zunächst auf die allgemeine Rechtsentwicklung einzugehen. Dabei werden insbesondere Regelungen angesprochen, die mit Benachteiligungen von Juden und der Rücknahme dieser Benachteiligungen in Zusammenhang stehen. Auch hier wird deutlich ersichtlich, dass antijüdische Grundhaltungen mit dem Inhalt von Rechtsvorschriften korrelieren konnten. Im Weiteren ist auf die Entwicklung des materiellen Strafrechts einzugehen.43 Dabei werden jene Tatbestände durchleuchtet, die in direkter Weise geeignet waren, antijüdischen Exzessen vorzubeugen. Schließlich sind konkrete Gerichtsprozesse anzusprechen, in denen Antisemitismus eine Rolle spielte. Dabei ist zu fragen, ob tatsächlich die auf den ersten Blick als bedeutsam erscheinenden Straftatbestände von zentraler Bedeutung waren bzw. ob nicht auch andere Tatbestände vor Gericht fruchtbar gemacht wurden. Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen und einfachgesetzliche Umsetzungsschritte

Die einschlägige Verfassungsgesetzgebung zwischen 1848 und dem Ende der Monarchie war nicht nur von paritätsrechtlichen, sondern auch von religionsfreiheitlichen Zügen getragen.44 Die Verfassungen vom 25.  April 1848 (»Pillersdorfsche Verfassung«)45 und die auf den 4.  März vordatierte Verfassung vom 7.  März 1849 (»Oktroyierte Märzverfassung«)46 enthielten Bestimmungen, die in mehr oder weniger konkreter Form in Richtung Freiheit der öffentlichen Religionsübung für alle anerkannten Bekenntnisse und Schutz von deren Angelegenheiten wiesen sowie die allgemeine Immobilienerwerbsfähigkeit, die freie Berufswahl und die Zugänglichkeit zu öffentlichen Ämtern als Bürgerrecht umschrieben. Konkret wurde in letztgenanntem Verfassungswerk der Gleichheitsgrundsatz ausformuliert. Mit den sogenannten »Silvesterpatenten« vom 31. Dezember 1851 wurde das Ende der Ära des Frühkonstitutionalismus besiegelt. Dies bedeutete zwar den Anbruch des Neoabsolutismus, 43 Zur religionsrechtlich relevanten Entwicklung des Strafprozessrechts siehe Schima 2010, 442. Im Rahmen der vorliegenden Ausführungen kann auch nicht der für die einschlägigen Tatbestände jeweils relevante Strafrahmen problematisiert werden. 44 Detailliert Schima 2010, 428–437, 448. Dort wird auch auf den am 27.12.1848 erlassenen »Entwurf der Grundrechte des Deutschen Volkes« und auf die in Kremsier konzipierten Verfassungsentwürfe eingegangen. 45 PGS LXXVI 49. 46 Reichsverfassung  : RGBl. 150/1849  ; Grundrechtspatent  : RGBl. 151/1849.

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doch muss beachtet werden, dass die korporative Religionsfreiheit und die »Gleichheit aller Staats-Angehörigen vor dem Gesetz« weiter festgeschrieben wurden.47 Mit dem Abschluss des Konkordats von 185548 wurden zwar der Katholischen Kirche nicht unbeträchtliche Rechte eingeräumt, doch konnte damit nicht dauerhaft eine Benachteiligung von Angehörigen anderer christlicher Konfessionen bzw. Juden verbunden werden. Recht bald riefen außenpolitische Misserfolge nach einer Neugestaltung der Verfassungsordnung, was nach einigen Zwischenstationen schließlich in die Erlassung der sogenannten »Dezemberverfassung« von 1867 mündete. Von ihren Bestandteilen ist in unserem Zusammenhang v. a. das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger zu erwähnen.49 Von seinen grundrechtlichen Vorbildern aus den späten 1840er Jahren unterschied es sich zwar nicht wesentlich, doch zeigt die Gesetzgebung der Folgejahre deutlich, dass man viel eher gewillt war, die einschlägigen grundrechtlichen Postulate umzusetzen, als dies im Frühkonstitutionalismus der Fall war. Bereits in den frühen 1860er Jahren war die innerstaatliche Gesetzgebung mit dem Konkordat von 1855 in ein Spannungsverhältnis geraten. Im Jahr 1870 wurde der Vertrag schließlich einseitig durch Österreich gekündigt. Ohne die rechtlichen Vorgänge dieses völkerrechtlichen Schrittes näher zu durchleuchten, sei hier nur festgehalten, dass durch die Dezemberverfassung das Spannungsverhältnis zwischen innerstaatlichem Recht und Konkordat weiter verschärft worden war. Ungeachtet der hier angedeuteten Konturen der grundrechtlich relevanten Gesetzgebungsgeschichte kam es auch unter synchronem Aspekt zu bemerkenswert differenzierten Entwicklungen.50 Den Wiener Juden wurde in den frühen 1850er Jahren endgültig eine Gemeindebildung ermöglicht, wobei dies schon Ende der 1840er Jahre praktisch festgestanden war, und hinter diesen Erfolg sollte in der Zeit der Monarchie keine Entwicklung mehr zurückführen. Was die Immobilienerwerbsbeschränkungen betrifft, so wurden diese im März 1849 seitens des damaligen Justizministers Alexander (von) Bach für hinfällig betrachtet. Tatsächlich kam es nun zum Liegenschaftserwerb durch Juden, was zu extrem heftigen Reaktionen der ortsansässigen Bevölkerung führen konnte.51 Nach Erlassung der erwähnten »Silvesterpatente« 47 Dies geschah in den sogenannten »Silvesterpatenten« selbst  : Aufrechterhaltung des Gleichheitsgrundsatzes  : Reichsgesetzblatt 2/1852  ; der korporativen Religionsfreiheit  : RGBl. 3/1852. 48 RGBl. 195/1855. 49 RGBl. 142/1867. 50 Siehe ausführlich Schima 2010, 437–448. 51 Vgl. den Bericht des Journalisten Benjamin Kewall (Tagebucheintrag 4.5.1850) betreffend den Erwerb einer Liegenschaft durch einen Juden in der mährischen Stadt Trebitsch  : Gasser 2010, 493  : Nach zahlreichen Drohungen und tätlichen Angriffen gegen den Erwerber des betreffenden Hauses wurden die staatlichen Behörden »um Schutz gebeten, schienen jedoch die spätern [sic] Ereignisse ab-

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kam es zu Unklarheiten bezüglich der Immobilienerwerbsfähigkeit, bis im Jahr 1853 per Verordnung die Wiederherstellung des Rechtszustandes vom 1. Jänner 1848 angeordnet wurde, womit die damals geltenden Beschränkungen abermals maßgeblich waren.52 Die Wiederherstellung der vollen Immobilienerwerbsfähigkeit wurde dann im Wesentlichen im Jahr 1860 bewerkstelligt,53 wobei letzte Ausnahmen erst 1864 fielen.54 Spezielle für Juden geltende Berufsverbote konnten einem wechselhaften Schicksal unterworfen sein. So war Juden der Zugang zum Notariat zwischen 1855 und 1863 verwehrt.55 Was den Zugang zum Bildungswesen betrifft, so entfiel im Dezember 1848 das für den Gymnasialbesuch von Juden vorgesehene behördliche Bewilligungserfordernis,56 und es wurden auch Studienzugangsbeschränkungen, die für Juden noch am Vorabend der Revolution maßgebend waren, beseitigt.57 Im Jahr 1860 wurden all jene Vorschriften aufgehoben, die Juden als Zeugen gegenüber Christen benachteiligten.58 Zahlreiche Benachteiligungen von Juden waren somit schon vor Inkrafttreten der »Dezemberverfassung« von 1867 aufgehoben worden. Im Zusammenhang mit den einfachgesetzlichen Umsetzungsschritten ist v. a. das Interkonfessionellengesetz von 186859 zu erwähnen  : Erstmals war nun ein Übertritt von einem christlichen Bekenntnis zum Judentum möglich (vgl. Art. 6). Ferner wurde § 768 lit. a ABGB, der den Abfall vom Christentum als Enterbungsgrund geregelt hatte, aufgehoben. Damit sind freilich noch nicht alle insbesondere für Juden relevanten Bestimmungen des Interkonfessionellengesetzes angesprochen, denn auch für die Strafrechtsentwicklung war es von großer Bedeutung.

warten zu wollen, und der Bürgermeister sagte der Judenfrau geradezu, daß ihr Haus in der nächsten [Nacht] geplündert werden wird. So geschah es, und keine Hand rührte sich zum Schutze des Juden.« 52 RGBl. 190/1853. Für einige Zeit wurde diese Verordnung als einzige Rechtsquelle betrachtet, durch die jüdische Staatsbürgerinnen und -bürger in diskriminierender Weise behandelt wurden, vgl. Czoernig 1858, 651. 53 RGBl. 45/1860. Meine Vermutung, dass die damit im Ergebnis befristete Wiedereinführung von Immobilienerwerbsbeschränkungen für Juden auch im Zusammenhang mit einem bewussten Ausschluss vom Erwerb jener Immobilien zu sehen ist, die in Folge der Grundentlastung zum Verkauf angeboten wurden, kann an dieser Stelle nicht einer wissenschaftlichen Prüfung unterzogen werden. 54 RGBl. 26/1864. 55 Vgl. RGBl. 94/1855 und 93/1863. 56 RGBl. 38/1849. 57 Siehe Schima 2010, 443f. 58 RGBl. 9/1860. 59 Vgl. RGBl. 142/1868.

Der Antisemitismus vor dem Hintergrund der österreichischen Rechtsentwicklung

Die Entwicklung des Strafrechts im Besonderen

Zunächst ist das sogenannte »Milderungspatent« vom 17. Jänner 1850 zu erwähnen, mit dem die Straftatbestände der versuchten Verleitung einer Person zum Abfall vom Christentum und der versuchten Ausstreuung einer gegen die christliche Religion gerichteten Irrlehre (I § 107) aufgehoben wurden.60 Der einschlägige Ministerialvortrag zeigt dabei sehr deutlich, in wie engem Maße man sich an die grundrechtlichen Vorgaben der »Oktroyierten Märzverfassung« gebunden fühlte.61 Doch recht rasch wurden diese für den Frühkonstitutionalismus typischen Rechtsänderungen im Neoabsolutismus mit dem Strafgesetz von 1852 (StG) beseitigt, das sehr stark am Strafgesetzbuch von 1803 orientiert war. Dies gilt auch für die religionsrechtlich bedeutsame Bestimmung des § 122  : Demnach beging das Verbrechen der Religionsstörung  : »a) wer durch Reden, Handlungen, in Druckwerken oder verbreiteten Schriften Gott lästert  ; b) wer eine im Staate bestehende Religionsübung stört, oder durch entehrende Mißhandlung an den zum Gottesdienste gewidmeten Geräthschaften, oder sonst durch Handlungen, Reden, Druckwerken oder verbreiteten Schriften öffentlich der Religion Verachtung bezeigt  ; c) wer einen Christen zum Abfalle vom Christenthume zu verleiten, oder d) wer Unglauben zu verbreiten, oder eine der christlichen Religion widerstrebende Irrlehre auszustreuen sucht.« In der im Gefolge des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 ergangenen einfachen Gesetzgebung wurden allerdings durch das Interkonfessionellengesetz 1868 jene Bestimmungen, die sich auf den Versuch der Verleitung eines Christen zum Abfall vom Christentum und auf den Versuch der Ausstreuung einer der christlichen Religion widerstrebenden Irrlehre bezogen, aufgehoben (Art. 7 lit. d).62 63 Schutzobjekt des Gotteslästerungstatbestands war die im Glauben der anerkannten Religionsgemeinschaften verankerte Gottesvorstellung.64 Sowohl durch lit. a als auch durch lit. b waren jedenfalls auch jüdische Glaubensinhalte mit umfasst. Diese sich aus heutiger Sicht per se aufnötigende Erkenntnis musste freilich im Hinblick auf lit. a eigens durch ein Urteil aus dem Jahr 1884 bewusst gemacht werden.65 In der Judikatur wurde auch ausdrücklich festgehalten, dass es bei Gotteslästerungen nicht 60 RGBl. 24/1850. 61 Abgedr. im Beilagenheft des RGBl. 1850. 62 RGBl. 117/1852. 63 RGBl. 49/1868, Art. VII. 64 Löffler/Lorenz 1912, 249, mit Anführung von Judikatur des Obersten Gerichts- als Kassationshofes (OGH). 65 Ebd., 251, mit Hinweis auf die Entscheidung Z. 10.030 des OGH vom 22.11.1884.

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auf das Glaubensbekenntnis des Lästerers ankam, womit klargestellt war, dass Juden in Anbetracht der einschlägigen Bestimmung nicht strenger zu bestrafen waren als Christen.66 Mit dem Schutz vor antisemitischen Vorgangsweisen standen auch weitere Bestimmungen in Zusammenhang, mit denen »Übertretungen gegen die öffentliche Ruhe und Ordnung« verhindert werden sollten. Zunächst ist in diesem Zusammenhang § 302 zu nennen, mit dem »Aufreizung zu Feindseligkeiten gegen Nationalitäten, Religionsgenossenschaften, Körperschaften u. dgl.« mit Strafe bedroht wurde  : »Wer Andere zu Feindseligkeiten wider die verschiedenen Nationalitäten (Volksstämme), Religions- oder andere Gesellschaften, einzelne Klassen oder Stände der bürgerlichen Gesellschaft oder wider gesetzlich anerkannte Körperschaften, oder überhaupt die Einwohner des Staates zu feindseligen Parteiungen gegen einander auffordert, aneifert oder zu verleiten sucht, ist, in so ferne sich diese Thätigkeit nicht als eine schwerer verpönte strafbare Handlung darstellt, eines Vergehens schuldig, und soll zu strengem Arreste von drei bis zu sechs Monaten verurtheilt werden.« Diese Bestimmung kann als Vorläuferin des heute maßgeblichen und eingangs erwähnten »Verhetzungsparagraphen« betrachtet werden. Durch § 302 waren jedenfalls nicht nur christliche Religionsgemeinschaften geschützt. Als »Feindseligkeiten« konnten bereits Handlungen gelten, wenn man geneigt war, eine feindselige Gesinnung zu betätigen.67 Als »Feindseligkeit« war jedenfalls der Boykott von Geschäften von Angehörigen bestimmter Volksstämme anzusehen.68 Derartiges kam im Konflikt zwischen slawischen und nichtslawischen Bevölkerungsgruppen nicht selten vor. § 303 bezog sich auf die »Beleidigung einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft«  : »Wer öffentlich oder vor mehreren Leuten, oder in Druckwerken, verbreiteten bildlichen Darstellungen oder Schriften die Lehren, Gebräuche oder Einrichtungen einer im Staate gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft verspottet oder herabzuwürdigen sucht, oder einen Religionsdiener derselben bei Ausübung gottesdienstlicher Verrichtungen beleidiget, oder sich während ihrer öffentlichen Religionsübung auf eine zum Aergerniß für Andere geeignete Weise unanständig beträgt, macht sich, in so fern diese Handlungsweise nicht das Verbrechen der Religionsstörung bildet (§. 122), eines Vergehens schuldig, und soll mit strengem Arreste von einem bis zu sechs Monaten gestraft werden.«

66 Strafgesetz 1897, 133, Anm. 8a, mit Verweis auf die Entscheidung Z. 5.317 des OGH vom 2.10.1875. 67 Entscheidungen Nr. 2.500/1900. 68 Entscheidungen Nr. 1.988 und 1.989/1896.

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Gemäß §  305 konnten die in den §§ 302 und 303 genannten Vergehen dann auf einen strengen Arrest bis zu einem Jahr ausgedehnt werden, wenn diese »durch Druckschriften begangen« wurden. Inländer konnten darüber hinaus sogar aus dem betreffenden Kronland ausgewiesen werden, Ausländer aus sämtlichen Kronländern des Kaisertums überhaupt. Was § 303 betrifft, waren die Lehre, Gebräuche und Einrichtungen der Israelitischen Religionsgesellschaft jedenfalls geschützt. Ausdrücklich wurde in der Judikatur festgehalten, dass es für die Anwendung des § 303 genügte, wenn Äußerungen des Angeklagten »eine Verspottung der Lehren und Einrichtungen der jüdischen Religion beinhalten und daß Angeklagter der strafbaren Beschaffenheit seiner Äußerung sich bewußt war.«69 Ferner wurde in der Judikatur festgehalten, dass die Frauenabteilung eines israelitischen Bethauses, in der die Frauen den in der Männerabteilung abgehaltenen gottesdienstlichen Verrichtungen in abgesonderter Andachtsübung beiwohnten, unter dem Schutz des §  303 stand.70 Als öffentliche Religionsübung im Sinne des § 303 konnte gemäß der Judikatur auch eine ohne Zutun der zuständigen Kultusgemeinde vorgenommene Religionsübung der orthodoxen Juden qualifiziert werden.71 Das Merkmal der Öffentlichkeit konnte der Rechtsprechung zufolge auch dadurch nicht beeinträchtigt sein, dass die betreffende Religionsübung zwar in einem allgemein zugänglichen Bethaus stattfand, dieses aber im Eigentum einer Privatperson stand.72 Durch § 306 wurde u. a. die Beschädigung von Grabstätten mit Strafe bedroht. So themenrelevant diese Vorschriften aus heutiger Sicht sein mögen, so ist doch festzuhalten, dass sich aus § 306 selbst keine spezifische Richtung im Sinne des Schutzes jüdischer Gräber ableiten lässt.

69 Entscheidungen, Nr. 3.225/1906. 70 Entscheidungen, Nr. 3.452/1908. 71 Plenarbeschlüsse, Nr. 1.462/1891. 72 Entscheidungen, Nr. 3.171/1906.

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Die Praxis  : Prozesse und Protagonisten zwischen 1848 und 1918 Der Sturm im Blätterwald  : Die »Wiener Kirchenzeitung« – (seinerzeit) ein Kampfblatt  ?

Der katholische Priester Sebastian Brunner, der von 1843 bis 1848 für Staatskanzler Metternich prekäre Aufgaben zu erledigen hatte, gründete im Jahr 1848 gleichsam unter dem Schutz der eben aufgekeimten Pressefreiheit die »Wiener Kirchenzeitung«.73 Darunter hat man sich für die damalige Zeit ein Publikationsorgan vorzustellen, das durch seinen polemischen Stil Keime v. a. der späteren politischen Lagerbildungen in sich trug.74 Von den zahlreichen Verfahren, in die Brunner verwickelt war, ist v. a. jener vor dem Wiener Landesgericht geführte Presseprozess aus dem Jahr 1860 zu nennen, in dem Ignaz Kuranda angeklagt war.75 Kuranda, der bereits in den frühen 1840er Jahren als berühmter Journalist hervorgetreten76 und im Jahr 1848 Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung gewesen war, sollte später noch als Reichsratsabgeordneter und Präsident der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde wirken. Im Zuge der Revolution von 1848 hatte Kuranda die Zeitung »Ostdeutsche Post« gegründet, fungierte als ihr Herausgeber und kritisierte in der Nummer vom 28. Jänner 1860 Brunners Bestreben, »die Leidenschaft der christlichen Bevölkerung Österreichs zu dem wüthendsten Hasse gegen die Juden anzustacheln«.77 Abgesehen davon, dass Kuranda zu erkennen gab, dass Brunner der Justiz nicht unbekannt war – so war dieser im Jahr zuvor wegen Ehrenbeleidigung verurteilt worden  –,78 machte Kuranda insbesondere folgende Punkte geltend  : Brunner lasse gehässige Pamphlete unter der Überschrift einer »Kirchenzeitung« erscheinen  ; Brunner suche »seinen geschäftlichen Vortheil wie irgend ein anderer literarischer Industrieller«  ;79 unter Missachtung jeder journalistischen Sorgfaltspflicht mache Brunner die »Wiener Kirchenzeitung« zu einer »Harlekinsjacke von ausgeschnittenen Zeitungsfet73 Zu Brunner siehe etwa Häusler 1979, 338–341. Äußerst apologetisch  : Scheicher 1888  ; zum Antisemitismus Scheichers siehe Schima im Druck. 74 Zum antisemitischen Kurs der Zeitung siehe Novogratz 1978, 98–285. 75 Siehe Neumann 1860  ; Preßproceß 1860  ; Schlussverhandlung 1860  ; Duchkowitsch 2014, 6–9  ; Helvig 1996. Zu Kuranda siehe auch Doublier 1906. 76 Siehe Olechowski 2004, 143. 77 Zit. n. Duchkowitsch 2014, 6. 78 So war Brunner im Zuge eines früheren Prozesses wegen des Vergehens der Ehrenbeleidigung angeklagt worden. Das niederösterreichische Oberlandesgericht verurteilte Brunner schließlich am 26.4.1859 zu einer Geldstrafe von 50 Gulden, und dies unter Berufung auf die §§ 491 und 493, die den Tatbestand der Ehrenbeleidigung betrafen. Zu diesem Prozess siehe Pfundheller 1859  ; Redaction der »Presse« 1859. 79 Zit. n. Duchkowitsch 2014, 7.

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zen, Nachdruck und wieder Nachdruck […] zur Befriedigung der Scandalsucht […] von zähnefletschenden Glossen noch bitterer gestaltet.«80 Wie ein Lumpensammler beim Misthaufen suche Brunner auf jedem Abfallhaufen der Literatur Stoff für sein Geschäft. Im Übrigen trage Brunner in den Osterfeiertagen dazu bei, »selbst das wahnwitzige Märchen von dem jüdischen Durste nach Christenblut« zu verbreiten,81 womit der Jahrhunderte lang immer wieder erhobene Ritualmordvorwurf gemeint war. Ferner habe Brunner sich Friedrich Schillers Satz »Alle ziehen ihres Weges fort an ihr Geschäft – und meines ist der Mord« als Motto zu Eigen gemacht und »die Judenhetze zu seinem literarischen Industriezweig« ausgewählt.82 Brunner nähre ferner die Vorstellung, Juden durch eine Massenaktion ausrotten zu können. Seine Schilderung der Juden sei so beschaffen, dass man verwundert sein müsse, dass die Fürsten nicht längst Scheiterhaufen für sie entzündet hätten. Von großem kulturhistorischen Interesse ist der auf die »Harlekinsjacke« zugespitzte Vorwurf  : Diese würde gewissermaßen aus Fertigteilen zusammengesetzt, die Brunner aus fremden Erzeugnissen übernahm. Damit bedient sich Kuranda offensichtlich eines Arguments, das seinerseits in antijüdischer Polemik in konstanter Weise nutzbar gemacht wurde und im Wesentlichen nichts anderes als den Plagiatsvorwurf enthält.83 Tatsächlich erhob Kuranda während des Prozesses diesen Vorwurf wiederholt in mehr oder weniger direkter Form und eine wichtige Rolle spielte dabei Eisenmengers »Entdecktes Judentum«.84 Auf Kurandas Behauptungen reagierte Brunner und ging gestützt auf die §§ 491 (dies betraf die »Ehrenbeleidigung«) und 497 StG 1852 (»Vorwürfe wegen einer ausgestandenen oder erlassenen Strafe«) gegen diesen als »Privatkläger« vor dem Landesgericht in Wien vor. Kurandas Anwalt war Johann Nepomuk Berger. Der aus Mähren stammende Berger begegnet wiederholt als Rechtsvertreter liberal eingestellter Protagonisten in mit dem Antisemitismus in Zusammenhang stehenden Prozessen. Von 1867 bis 1870 sollte er dann der cisleithanischen Regierung als Minister ohne Portfeuille angehören. Zu seinen zahlreichen Publikationen, die sich sowohl im Bereich des öffentlichen als auch des Privatrechts bewegten, gehörten im Besonderen Werke zum Presserecht und zur Verfassungsfrage.85 Am 10.  Mai 1860 wurde Kuranda freigesprochen. Dass Brunner seine Anklagepunkte auf Bestimmungen stützte, die mit der Antisemitismusthematik keinen Zu80 Zit. n. ebd. 81 Zit. n. ebd. 82 Zit. n. ebd. 83 Zum Plagiatsvorwurf als Transportmittel antisemitischer Ressentiments siehe etwa Reulecke 2006, 288  ; Theison 2009, 512. 84 Siehe etwa Neumann 1860, 14, 30, 34. 85 Zu Bergers Wirksamkeit im Sinne der Pressefreiheit siehe Olechowski 2004, 226f.

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sammenhang aufwiesen, vermag im konkreten Fall nicht überraschend sein. Doch ist die Heranziehung von Regelungen, die den Tatbestand der Ehrenbeleidigung betrafen, nicht erstaunlich. Sie sollten noch wiederholt in Prozessen eine Rolle spielen, die mit antisemitischen Vorgangsweisen in Zusammenhang standen. Doch darf man eine konkrete Passage des Urteils nicht übersehen  : Das Gericht brachte zum Ausdruck, dass die durch Kuranda vorgelegten Artikel der »Wiener Kirchenzeitung« in einer Weise verfasst seien, »daß sie an den Begriff der strafbaren Handlung nach § 302 streifen, und es mit Grund zu glauben ist, daß eine Strafamtshandlung nur deshalb noch nicht eingeleitet worden sein dürfte, weil darauf Rücksicht genommen wurde, daß diese Artikel in einem Blatt erscheinen, welches nicht allgemein gelesen, sondern ein besonderes Publicum hat, eine größere Gefährlichkeit daher nicht zu befürchten ist.«86 Der katholische Priester Albert Wiesinger wurde im Jahr 1864 als Nachfolger Sebastian Brunners Herausgeber der »Wiener Kirchenzeitung«. Gleich in den Jahren 1864 und 1865 war er Protagonist von vier Presseprozessen.87 Im Zusammenhang mit Wiesingers antisemitischer Grundhaltung ist v. a. ein Prozess aus der Mitte der ersten Hälfte der 1860er Jahre zu erwähnen. Im Jahr 1863 war im »Jahrbuch der Israeliten« der Aufsatz »Die Verjüngung des jüdischen Stammes« von Heinrich Grätz erschienen.88 Darin wurde die Messiasidee auf das jüdische Volk appliziert, woraus man eine Gleichsetzung des jüdischen Volkes mit dem Messias herauslesen konnte. Es war v. a. der Satz, dass die Messiasidee, »auf eine Einzelnpersönlichkeit übertragen« zur »Carricatur« verkommen und »zu romantischer Schwärmerei« führen würde,89 der nun Wiesinger mit seiner »Kirchenzeitung« auf den Plan rief.90 Wiesinger sah in den Behauptungen von Grätz nicht nur eine Beleidigung der christlichen Religion, sondern auch eine Gotteslästerung. Dabei wies er auch darauf hin, dass in der »Wiener Zeitung« diese Zeitschrift als lesenswert empfohlen worden und damit keine intern jüdische Angelegenheit mehr gegeben sei. Wiederholt legte er in der Kirchenzeitung seinen Rechtsstandpunkt dar,91 und schließlich wurde aufgrund der Emanationen in 86 Zit. n. Duchkowitsch 2014, 8. 87 Zu diesen Prozessen siehe Schiller 1952, 49–61, wobei der Autor alles andere als frei von negativen Vorurteilen in Bezug auf Wiesingers Gegner ist. 88 Grätz 1863/64, 1–13. Zu Grätz siehe Meisl 1962, 941. Zum einschlägigen Prozess siehe Tietze 1987, 220  ; Schiller 1952, 50–52  ; Novogratz 1978, 94, Anm. 2. Ausführlich – und wohl nicht in der angebrachten Objektivität – ist der Prozess bei Wiesinger 1864 dargestellt. 89 Grätz 1863/64, 12. 90 Bereits im Jahr 1863 wird Wiesinger in Bezug auf die »Wiener Kirchenzeitung« als »Für die Redaktion verantwortlich« bezeichnet  : Siehe etwa Wiener Kirchenzeitung 1863, 768. 91 Siehe etwa Beilage zur Wiener Kirchenzeitung vom 2.12.1863, 767f.

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der »Wiener Kirchenzeitung« der Staatsanwalt und spätere katholisch-konservative Politiker Georg Lienbacher tätig.92 Lienbacher erhob beim Wiener Landesgericht Anklage gegen den Herausgeber des Jahrbuchs, Leopold Kompert, der seinerseits große Bedeutung als Schriftsteller erlangt hatte.93 Als Anwalt Leopold Komperts fungierte auch in diesem Prozess Johann Nepomuk Berger.94 Lienbacher sah nicht nur die christliche, sondern auch die jüdische bzw. jüdisch-orthodoxe Religion als durch den Artikel herabgewürdigt an. Letzteres begründete er damit, dass im Hinblick auf die Idee eines persönlichen Messias eine Lästerung vorläge. Im Zuge des Prozesses erhoben Wiesingers Gegner den Vorwurf, dass die Kirchenzeitung ein »Organ [sei], das mit frecher Böswilligkeit und gröblichem Judenhaß es sich zur Pflicht gemacht« habe, »jährlich, wenn die Ostertage beginnen, die Geschichte vom Schlachten der Christenkinder zu bringen  !«95 Kompert wurde zwar von der Anklage wegen des Verbrechens der Religionsstörung freigesprochen, doch für schuldig erklärt, die pflichtgemäße Obsorge als Redakteur vernachlässigt zu haben und zu 40 Gulden Geldstrafe oder acht Tagen Arrest verurteilt. Ferner wurden die verfügbaren Exemplare des Jahrbuchs konfisziert. Die Prozesse des Joseph Samuel Bloch Vorbemerkungen und Biographisches

Im Folgenden wird auf Joseph Samuel Bloch eingegangen, der nicht nur Protagonist konkreter Prozesse war, sondern auch eine Wirksamkeit entfaltete, die mit Verfahren in einem Kontext stand, in denen er weder Zeuge noch Partei war. Joseph Samuel Bloch (1850–1923) stammte aus Galizien und war in orthodox jüdischem Milieu aufgewachsen.96 Nach Ausbildung an mehreren jüdischen Bildungseinrichtungen und staatlichen Universitäten wurde er als Landesrabbiner an die seit 1880 bestehende jüdische Gemeinde Floridsdorf berufen. Ihm war es ein Anliegen, den Ursprung antisemitischer Regungen als irrational nachzuweisen und dies auch in öffentlichen Vorträgen und Schriften darzulegen. Im Jahr 1882 veröffentlichte er sein Werk »Gegen die Antisemiten«, in dem er einzelne Beschuldigungen gegen das Judentum bekämpfte.

92 Zu Lienbachers Lebenslauf siehe Steinkellner 1984, 361–363. 93 Zu Kompert siehe etwa Iggers 1973. 94 Schiller 1952, 72. 95 Zit. bei ebd., 51. 96 Zur Biographie Blochs siehe Bloch 1922a und 1922b  ; Toury 1984  ; Lander 1993  ; Pauley 1993, 84–89  ; Wistrich 1999, 224–256  ; Niessl 2001  ; Reifowitz 2003  ; Hödl 2006, 66–68  ; Buchen 2010  ; Lamprecht 2010, 160–164.

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In den Jahren 1884, 1885 und 1891 wurde Bloch schließlich für einen ­galizischen Wahlbezirk in das Abgeordnetenhaus des Reichsrats gewählt und trat auch dort als Mahner gegen den Antisemitismus auf. Im Jahr 1886 gründete er die »Österreichisch-Israelitische Union«, die bald darauf in der Israelitischen Kultusgemeinde eine bedeutende Rolle spielte. Eine persönliche Niederlage erlitt er insofern, als sein Bestreben um einen Lehrstuhl für jüdisches Altertum an der Universität Wien von seinen Gegnern vereitelt wurde. Die »Österreichisch-Israelitische Union«, das »Rechtsschutz-Comité« und sein Ausbau zum »Rechtsschutz-Bureau«

Die Österreichisch-Israelitische Union war ein Verein, der v. a. die Stärkung des jüdischen Selbstbewusstseins und die Abwehr des Antisemitismus als Zielsetzungen aufwies.97 Der zweitgenannte Aspekt stand insbesondere ab Mitte der 1890er Jahre in praktischer Weise im Vordergrund. Im März 1895 kam es schließlich zur Gründung des »Rechtsschutz-Comités«.98 Diesem Komitee kam die Aufgabe zu, »nach sorgfältiger Prüfung jeder Beschwerde legale Abwehr herbeizuführen, wenn seitens der Glaubensgenossen unsere Hilfe gegen eine dem Juden als solchen in Wort, Schrift und That zugefügte oder drohende Unbill angerufen wird. Auf diesem Wege hoffen wir dem Einzelnen in jenen Fällen, in denen seine Kraft nicht hinreicht, zu seinem Rechte zu verhelfen und indem wir ihn schützen, unsere Pflicht gegen die Gesamtheit unserer österreichischen Glaubensgenossen zu erfüllen.«99 In folgerichtiger Weise wurden durch das Komitee Anwälte vermittelt, um den Betroffenen Rechtsbeistand zu gewähren, gleichgültig ob diese über zu wenige Geldmittel verfügten oder einfach eingeschüchtert waren. Der Rechtsbeistand wurde unabhängig von einer allfälligen Mitgliedschaft der betreffenden Person bei der »Österreichisch-Israelitischen Union« geleistet. Bereits im März 1897 gab es in 62 Städten Cisleithaniens Anlaufstellen bzw. Vertrauenspersonen des Komitees, 1910 in 400 97 Zur »Österreichisch-Israelitischen Union« siehe Lander 1993, 183–240  ; Wistrich 1999, 275– 283  ; Buchen 2010, 202f.; Lamprecht 2010, 165–172. Im Rahmen der vorliegenden Ausführungen kann auf eine weitere Vereinsgründung nicht näher eingegangen werden, nämlich den im Juli 1891 nach dem Vorbild eines Berliner Vereins gegründeten »Verein zur Bekämpfung des Antisemitismus”  : Zu diesem siehe ebd., 172–176  ; Schima im Druck. Auch im Zusammenhang mit diesem durch nichtjüdische Angehörige des Wiener Großbürgertums gegründeten Zusammenschluss muss dessen Engagement auf juristischem Gebiet erwähnt werden, das vor allem im Rahmen der vom Verein getragenen Zeitung »Freies Blatt. Organ zur Abwehr des Antisemitismus« erfolgte. 98 Zu diesem siehe Lander 1993, 226–234  ; Lamprecht 2010, 168–172. 99 Zit. n. Lamprecht 2010, 168.

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Städten.100 Schon im Jahr 1897 wurde das Komitee in ein ständiges »Rechtsschutzund Abwehrbureau« umgewandelt.101 Als wichtige Tätigkeiten können die organisierten Reaktionen auf antisemitische Druckschriften bzw. Presseberichte, die Abfassung von Publikationen bzw. entsprechende Beauftragungen und die Vorbereitung politischer Interventionen bzw. Interpellationen genannt werden. Auch sollten gegebenenfalls staatliche Zensurmechanismen initiiert bzw. Zeitungen zu Entgegnungen gezwungen werden. Die Tätigkeiten bzw. die Einrichtung des Komitees und der Ausbau zu einem Büro können gewissermaßen als Kompensation dafür betrachtet werden, dass die »Österreichisch-Israelitische Union« ihr Ziel, dem Antisemitismus auf zivilgesellschaftlichem Weg Einhalt zu gebieten, nicht erreichte.102 Dafür fehlte es der »Österreichisch-Israelitischen Union« an einem Konsens, der zudem schon deswegen schwer zu erzielen war, weil man noch in liberal-elitärer Tradition stand. Damit war man etwa gegenüber der Massenbewegung der Christlichsozialen entschieden im Nachteil. Das Rechtsschutz-Bureau und die Ritualmordbeschuldigungen

Die Notwendigkeit des Rechtsschutz-Bureaus wurde insbesondere anhand der Ritualmordanschuldigungen manifest. Erst zu Beginn der 1880er Jahre zeigte sich von jüdischer Seite das Bestreben, gegen antisemitische Vorwürfe mit Anzeige wegen Verleumdung (§§ 209 und 210 StG 1852) vorzugehen.103 Und dieses Instrumentarium bewährte sich auch im Zusammenhang mit den Ritualmordanschuldigungen. Der wohl berühmteste einschlägige Prozess der Donaumonarchie  – der sogenannte »Ritualmordprozess von Tiszaeszlár – hatte von 1882 bis 1883 in Ungarn stattgefunden und mit Freisprüchen für alle Angeklagten geendet.104 Zwischen 1898 und 1910 zählte das Rechtsschutz-Bureau 35 Fälle, in denen man sich zu Interventionen genötigt sah.105 In oft detektivischer Arbeit versuchte man diese Fälle in kriminalistischer Weise aufzulösen und entsprechende Aufklärungsar 100 Ebd. 101 Ebd. 102 Siehe ebd. 103 Lander 1993, 92  ; vgl. etwa Bloch 1922b, 6. § 209 lautete  : »Wer jemanden wegen eines angedichteten Verbrechens bei der Obrigkeit angibt, oder auf solche Art beschuldigt, daß seine Beschuldigung zum Anlasse obrigkeitlicher Untersuchung, oder doch zur Nachforschung gegen den Beschuldigten dienen könnte, macht sich des Verbrechens der Verleumdung schuldig.« In § 210 wurde das Strafausmaß geregelt. 104 Siehe dazu Fischer 1988, 44–47. 105 Hierzu und zum Folgenden siehe Lamprecht 2010, 170f.

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beit zu leisten. Nicht selten konnte das Vorliegen von Selbsttötungen dargelegt werden. So blieb das Büro auch im Zusammenhang mit den berühmten Ritualmordbeschuldigungen von Polna/Polná nicht untätig.106 Die in Rede stehenden Vorgänge trugen sich in der in Mähren gelegenen Kleinstadt Polna/Polná (16 km nordwestlich von Iglau/Jihlava und damit nahe von Böhmen) zu. Am Karfreitag (29. März) 1899 wurde die 19-jährige Agneža Hrůzová vermisst und einen Tag später in teilweise entkleidetem Zustand in der Nähe Polnas/Polnás tot aufgefunden. Sehr bald fiel der Mordverdacht auf Leopold Hilsner, einem schlecht beleumundeten jüdischen Schustergesellen, der zum Zeitpunkt der Tat von Almosen lebte. Bald darauf wurde gegen Hilsner Anklage erhoben, und das darauffolgende vom Schwurgericht in Kuttenberg/Kutná Hora durchgeführte Strafverfahren wies offenkundige Mängel auf. Am 16. September 1899 wurde Hilsner zum Tod verurteilt. Vor allem in Anbetracht dessen, dass der Mordverdacht auf Familienangehörige des Opfers zu fallen begann, waren Ritualmordbeschuldigungen gegen Hilsner laut geworden. Die Schnittwunden am Mordopfer wurden in der öffentlichen Meinung dahin gedeutet, dass dieses »koscheriert« worden sei.107 Unter den Zeugenaussagen sind Ansichten feststellbar, denen zufolge es sich um einen Ritualmord gehandelt habe. So war von großen und scharfen Mordmessern die Rede, mit denen Schächter gut umgehen könnten.108 Mit reger Unterstützung des Rechtsschutz-Büros erhob Hilsner Nichtigkeitsbeschwerde, in deren Folge das Urteil am 25. April 1900 aufgehoben und die Rechtssache an das Schwurgericht in Pisek verwiesen wurde. Hier wurde Hilsner zunächst eine weitere Mordtat an einer Frau zur Last gelegt und beiden Morden ein sexuelles Motiv unterstellt, am 14. November 1900 erfolgte schließlich die Verurteilung zum Tod wegen Mitwirkung an zwei Mordtaten. Eine weitere Nichtigkeitsbeschwerde der Verteidigung an den Obersten Gerichtshof in Wien wurde durch Entscheidung vom 23. April 1901 verworfen. Am 11. Juni 1901 wandelte Kaiser Franz-Joseph das Todesurteil in eine lebenslängliche schwere Kerkerstrafe um, und am 24. März 1918 endete die Haftstrafe aufgrund einer durch Kaiser Karl ausgesprochenen Begnadigung. Die Tätigkeit des Rechtsschutz-Bureaus war in diesem Fall nie zum Erliegen gekommen, selbst nach den Begnadigungsakten wurde Hilsner Beistand gewährt. Dass der Prozess selbst noch insofern historische Bedeutung erhalten sollte, weil sich der 106 Zum entsprechenden prozessualen Geschehen siehe Schroubek 1987  ; Jabloner 2002  ; Lamprecht 2010, 171f. 107 Schroubek 1987, 154. 108 Ebd., 162.

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Prager Soziologieprofessor und spätere tschechoslowakische Staatspräsident Tomáš Garrigue Masaryk für Hilsner einsetzte und sich dafür selbst vor Gericht verantworten musste,109 sei nur am Rande erwähnt. Antisemit mit Faustschlagqualität  : Georg Ritter von Schönerer

Bevor nun auf Prozesse eingegangen wird, bei denen Joseph Samuel Bloch eine wichtige Rolle spielte, sei auf seinen Zeitgenossen Georg Ritter von Schönerer (1842– 1921) hingewiesen, der zu den prononciertesten Vertretern des deutschnationalen Lagers gehörte.110 Er war von 1873 bis 1888 und 1897 bis 1907 Abgeordneter des Reichsrats. Seine antisemitische und gleichzeitige antikatholische Grundhaltung ist mit seinen Worten »Ohne Juda, ohne Rom wird gebaut Germaniens Dom« zusammenzufassen. Dass sich nichtsdestotrotz gemeinsame Interessen zwischen Angehörigen des katholischen Klerus und Schönerer abzeichneten, wird der weiter unten zu besprechende Fall des Journalisten Franz Holubek zeigen. Obgleich Schönerer offenbar über die dauerhafte Neigung verfügte, sich als Protagonist von Prozessen in Gerichtssälen sehen lassen zu wollen, sei hier nur jenes Strafverfahren näher genannt, in dem er infolge seines gewalttätigen Auftretens in der Nacht vom 8. auf den 9. März 1888 angeklagt war.111 Dabei spielten seine antisemitischen Ressentiments eine ganz wesentliche Rolle. Damals stürmte Schönerer – er war damals Reichsratsabgeordneter – mit Gleichgesinnten die Redaktion des »Neuen Wiener Tagblattes«  : In dieser Zeitung war der Tod des deutschen Kaisers Wilhelm I. um einen Tag zu früh bekannt gegeben worden. Nach dem Eindringen in die Redaktion am Steyrerhof hielt Schönerer eine Rede, aus denen Passagen in der Anklageschrift folgendermaßen wiedergegeben wurden  : »Hier seht ihr diese Schandblattjuden (oder Preß- oder Zeitungsjuden) bei ihrer Arbeit. Sie haben uns schon viel angethan, daß sie aber nicht einmal den Tod des erlauchten deutschen Kaisers abwarten können, verletzt uns in unseren heiligsten Gefühlen, das dulden wir nicht, der Tag der Rache ist gekommen, nun wird der erste Schritt gemacht. Juden auf die Knie  ! Abbitte leisten  ! An seine Begleiter gerichtet  : »Schlagt sie nieder.« Dabei »soll 109 Siehe ebd., 166  ; Reiter 2008, 339ff. 110 Zu Schönerer siehe Valentin 1970  ; Whiteside 1981  ; Pauley 1993, 68–72  ; Heer 2001, 290– 297  ; Hamann 2002, insb. 337–367, 373–381, 402–407, 433–435  ; Wladika 2005, insb. 67–92, 205–216, 428–452. 111 Von großem Medieninteresse war auch der von Schönerer im Jahr 1884 angestrengte Ehrenbeleidigungsprozess gegen Moriz Szeps, den Gründer und Herausgeber des »Neuen Wiener Tagblatts«. Der in seiner Herausgeberschaft angeklagte Szeps wurde zu vier Wochen Haft verurteilt, siehe Paupié 1949, 54f.; Hamann 2002, 353f.; Beer 2013, 95–106.

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er Stock und Schlagring drohend emporgehoben haben und mehrere seiner Begleiter die Aufforderung ›Nieder zu den Knien‹ und die Drohung wiederholt haben.« Handgreiflichkeiten blieben nicht aus. Unter den Anwesenden befanden sich zahlreiche Redakteure jüdischer Herkunft.112 Schönerer wurde von der k. k. Staatsanwaltschaft in Wien vor dem Wiener Landesgericht angeklagt, das Verbrechen der Gewalttätigkeit gemäß § 83 StG 1852 begangen zu haben.113 In diesem Punkt gab es noch einen Mitangeklagten. Hinsichtlich folgender Delikte wurde allein Schönerer angeklagt  : Erfüllung des Tatbestandes des Vergehens der »Beleidigung der öffentlichen Beamten, Diener, Wachen, Eisenbahn-Angestellten» im Sinne des § 312 und des Vergehens »anderer Einmengungen in die Vollziehung öffentlicher Dienste» gemäß § 314. Schönerer wurde unter Berufung auf die §§ 83 und 312 zu einer viermonatigen Haftstrafe verurteilt und dabei der Adelsverlust ausgesprochen.114 Darüber hinaus wurde ihm sein Reichsratsmandat aberkannt bzw. er für fünf Jahre der diesbezüglichen passiven Wahlfähigkeit für verlustig erklärt.115 Josef Samuel Bloch und August Rohling

Der Journalist Franz Holubek hielt am 4. April 1882 im Saal »Zu den drei Engeln« in der Großen Neugasse vor der »Versammlung der christlichen Gewerbetreibenden«, die unter dem Vorsitz von Georg Ritter von Schönerer tagte, eine Rede, von denen Passagen vor Gericht folgendermaßen wiedergegeben wurden  : »Der Jude sei nicht mehr unser Mitbürger, er habe sich zu unserem Herrn aufgeworfen, er sei unser Peiniger, unser Bedränger geworden. Der Christ soll geschwächt, vernichtet, entehrt werden, es sei so weit gekommen, daß in der Hauptstadt des Habsburger Reiches ein Christ zittern müsse, sich als Christ zu bekennen. Ein Volk, dem schon Tacitus ein klassisches Brandmal aufgedrückt, habe sich zu unserem Herrn aufgeworfen, und uns sollte nichts übrig bleiben, als dieses Joch zu ertragen  ? Beurtheilt, ob ein solches Volk inmitten einer civilisirten Gesellschaft noch eine Existenzberechtigung hat  ? Ich 112 Siehe die Zeugeneinvernahmen in  : Proceß 1888, 41–79. Darüber hinaus wird bei einem als Zeugen einvernommenen Mitherausgeber die Beeidigung »nach mosaischem Ritus« angemerkt  : Proceß 1888, 41. 113 Zum Prozess siehe Proceß 1888  ; Valentin 1970, 54–269  ; Hamann 2002, 354f.; Wladika 2005, 208–215  ; Lamprecht 2010, 157. Zur Aufhebung von Schönerers Abgeordnetenimmunität siehe Valentin 1970, 133–152. 114 Das Urteil ist abgedr. in Proceß 1888, 172–176. 115 Zur Nichtigkeitsbeschwerde Schönerers und zur Verhandlung vor dem Obersten Gerichtshof und dessen das Ersturteil bestätigenden Entscheidung siehe Valentin 1970, 187–199.

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will Euch nicht aufreizen, aber hört und fühlt  ! Dieses Buch, der Talmud  ! Wißt Ihr, was in diesem Buche steht  ? Die Wahrheit  ! Und wißt Ihr, wie Ihr in diesem Buche bezeichnet seid  ? Als eine Horde von Schweinen, Hunden, Eseln  !«116 In diesen Worten sah die k. k. Staatsanwaltschaft zu Wien den Tatbestand des § 302 StG 1852 als verwirklicht an. Dabei war für den Staatsanwalt nicht etwa eine allfällige Verleumdung der Israelitischen Glaubensgemeinschaft bedeutsam, sondern die Eignung der Rede zur Störung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit.117 Damit stand der Staatsanwalt keineswegs allein, zeigte man sich doch von offizieller Seite häufig besorgt, dass aufgrund derartiger Äußerungen öffentliche Unruhen hervorgerufen werden könnten, wobei das die Juden diffamierende Moment vergleichsweise kaum Beachtung fand.118 Am 28.  Oktober 1882 kam es zur Verhandlung vor einem Schwurgericht, und dabei wurde auf Antrag der Verteidigung Holubeks ein Zitat aus dem Werk »Talmudjude« von August Rohling zitiert.119 Der aus Westfalen stammende August Rohling (1839–1931) war im Jahr 1876 zum ordentlichen, allerdings unbesoldeten, Universitätsprofessor an die Prager Universität berufen worden, wobei auch die Ansicht geäußert wurde, dass er diese Ernennung dem bereits erwähnten und im Jahr 1871 publizierten Werk »Der Talmudjude« zu verdanken hatte. Dabei stellte er die Behauptung auf, dass im Talmud die Erlaubnis verankert sei, Nichtjuden zu töten, ja für den Fall der Straflosigkeit sei dies sogar Pflicht. Ferner dürfe ein Jude christliche Frauen schänden und die Ehe unter Christen sei als nichts anderes als das Zusammenleben von Tieren zu bewerten. Unverkennbar bediente sich Rohling aus Eisenmengers Buch »Entdecktes Judentum«. Im erwähnten Antrag der Verteidigung Holubeks wurde festgehalten, dass im Talmud Nichtjuden mit Hunden gleichgesetzt würden.120 Daraufhin bemerkte der k. k. Staatsanwalt Julius Edler von Soos, dass er tatsächlich nicht abstreiten könne, dass derartiges im Talmud zu finden sei. Und auf seine Frage »Warum haben Sie gerade das Citat aus dem Talmud vorgetragen, das die Zuhörer besonders zu erbittern angethan war, daß alle Christen eine Horde von Schweinen, Hunden und Eseln seien  ?« antwortete Holubek mit folgenden Worten  : »Ich glaube, die Constatierung der Thatsache, daß in einem Religionsbuche derlei vorkommt, kann nicht geeignet sein, straf116 Diese Passage ist abgedr. in Acten I 1890, 1. Die weiteren Zitate aus diesem Prozess siehe ebd., 1f.; siehe auch Lander 1993, 94f.; Wladika 2005, 132–134  ; Hödl 2006, 66f.; Kienzl 2014, 104–109. 117 Lander 1993, 94f. 118 Ebd., 95. 119 Zu Rohling siehe Weinzierl 1970, 507–510  ; Lander 1993, 92–106  ; Lamprecht 2010, 162. 120 Die einschlägigen Stellen sind abgedr. in Acten I 1890, 1f.

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bar aufzureizen. Wohl aber reizt Derjenige gegen sich auf, welcher sich zu solchen und ähnlichen Grundsätzen bekennt. Das Citat beruht auf Wahrheit und berufe ich mich in dieser Beziehung auf den k. k. Universitätsprofessor in Prag Dr. August Rohling, welcher einen Preis von Tausend Thalern für Denjenigen bestimmte, der nachweist, daß auch nur ein einziges Citat in seinem Buche ›Der Talmudjude‹ falsch sei. Merkwürdigerweise hat sich noch kein Jude gefunden, diesen Preis zu gewinnen. Ich glaube, wenn man heutzutage irgend eine Gesellschaft mit solchen Satzungen gründen würde, wie in dem von mir zitierten Buch enthalten, so könnte dieselbe nie und nimmer zugelassen werden. Da meine ich, steht auch Jedem das Recht zu, über solche Sätze sich aufzuhalten.« Daraufhin wurde Franz Holubek durch die Geschworenen einstimmig freigesprochen. Schließlich trat Josef Samuel Bloch auf den Plan und veröffentlichte eine Antwort auf Rohlings Behauptungen und beschuldigte diesen, keine einzige Seite des Talmud fehlerfrei übersetzen zu können.121 Im Übrigen sprach Bloch mit Blick auf Eisenmengers »Entdecktes Judentum« von Rohling als einem »ruhmredigen, unwissenden Plagiator«.122 Auch bei diesen Vorwürfen Blochs dürfte – wie bei der Argumentation Kurandas gegen Brunner – das Bewusstsein eine Rolle gespielt haben, den Gegner durch einen Vorwurf ins Mark zu treffen, der nicht selten mit antisemitischer Grundierung gegen Juden vorgebracht worden war. In Reaktion auf diese Vorwürfe klagte Rohling Bloch wegen Ehrenbeleidigung beim Wiener Landesgericht in Strafsachen. Doch in der Folge versuchte er, offensichtlich davon ausgehend, seinem Gegner Bloch keine derartige Deliktsbegehung nachweisen zu können, Gerichtstermine zu verschieben und sah sich schließlich zwei Wochen vor dem endgültig festgelegten Prozessbeginn gezwungen, die Klage zurückzuziehen. In weiterer Folge verlor Rohling sogar seine Stellung als Universitätsprofessor. Es war vor allem dieser Rechtsfall, der Bloch zu großer Berühmtheit verhalf.123 Josef Samuel Bloch und Joseph Deckert

Auch das prozessuale Geschehen um den katholischen Priester Joseph Deckert aus Wien steht mit den Ritualmordanschuldigungen von Tiszaeszlár in Zusammenhang.124 Zu erwähnen sind Strafprozesse aus den Jahren 1893 und 1896. Der als prononcierter Antisemit bekannte Pfarrer von der Wiener Pfarre St. Josef Weinhaus-­ 121 122 123 124

Hierzu und zum nachfolgenden Prozess siehe Bloch 1922a, 81–141. Zit. n. Weinzierl 1970, 509. Lamprecht 2010, 162. Zu Deckert siehe Bloch 1922b  ; Weinzierl 1970, 510–513  ; Snizek 2014, 109–154.

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Währing beschrieb in einem 1893 erschienenen dünnen Buch den Fall des Simon von Trient, der Ritualmordbeschuldigungen zum Inhalt und im Jahr 1475 zur Hinrichtung von 14 Juden geführt hatte.125 Darin hielt Deckert die gegen diese vorgebrachten Anschuldigungen im Wesentlichen aufrecht. In Reaktion darauf publizierte Josef Samuel Bloch u. a. einen Artikel in der »Wiener Wochenschrift«.126 Darin warf er Deckert u. a. vor, Verfasser eines Pamphlets zu sein, das sich den »schmutzigsten und frechsten Lügenschriften« anreihen lasse. Der Konflikt breitete sich in mehrfacher Weise aus, wobei die Aussage eines zum Protestantismus konvertierten Juden eine Rolle spielte, wonach dieser einen durch einen Rabbiner begangenen Ritualmord bezeugen könne. Bloch berichtet, dass er diese Erzählung schon deswegen als Lüge habe entlarven können, weil der besagte Rabbiner zwei Jahre vor dieser ihm zugeschriebenen Tat gestorben war.127 Er veranlasste nun u. a. die Tochter des Rabbiners, deren Gatten und zwei angebliche Beihelfer, vor dem k. k. Landesgericht Wien in Strafsachen Privatanklage u. a. gegen Joseph Deckert zu erheben, und dies wegen des »Vergehens gegen die Sicherheit der Ehre« gemäß den §§  487 in Verbindung mit 493 und 495 StG 1852.128 Deckert selbst wurde beschuldigt, einen Brief mit der entsprechenden Behauptung der Zeitschrift »Vaterland« zur Veröffentlichung weitergeleitet zu haben.129 Am 15. September 1893 wurden alle drei Angeklagten – und somit auch Deckert – schuldig gesprochen und Deckert zu einer Geldstrafe von 400 Gulden verurteilt.130 Bei Deckert – wie übrigens auch bei den anderen beiden Angeklagten – flossen mildernde Umstände bei der Bemessung des Strafausmaßes in das Urteil ein, nämlich bei Deckert »das umfassende Geständnis, das tadellose Vorleben und der Umstand, daß er in einer heftigen Gemütsbewegung handelte, welche durch die vorausgegangene, in der Öffentlichkeit geführte Polemik entstanden war«. Dies zeigt offensichtlich, dass man seitens des Gerichtes derartige antisemitische Vorgangs125 126 127 128

Deckert 1893. Der Artikel aus der Nr. 14 vom 7.4.1893 ist abgedr. bei Bloch 1922b, 12–19. Siehe ebd., 82f. Zum prozessualen Geschehen siehe ebd., 87–226. In dem die §§ 487 bis 499 umfassenden zwölften Hauptstück des zweiten Teils des StG 1852 waren die »Vergehen und Übertretungen gegen die Sicherheit der Ehre« geregelt. In § 487 wurde der Tatbestand »ungegründete Beschuldigung wegen eines Verbrechens, Vergehens oder einer Übertretung« geregelt, in § 495 wurde die Konzipierung der Ehrenbeleidigungsdelikte als Privatanklagedelikte zum Ausdruck gebracht und § 493 enthielt einschlägige Regelungen über das Strafausmaß. Der Tatbestand des §  487 wurde vom Verleumdungstatbestand in der Weise abgegrenzt, dass im zweiten Fall eine »Wissentlichkeit des falschen Angebens oder Beschuldigens« als Tatbestandselement gefordert wurde, siehe Löffler/Lorenz 1912, 440. 129 Siehe Bloch 1922b, 93. 130 Das Urteil ist abgedr. bei ebd., 222–226.

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weisen gewissermaßen als Bagatelldelikt betrachtete. Deckerts einschlägige Publikationstätigkeit war damit noch keineswegs abgeschlossen, und auch seine Bekanntschaft mit der Strafgerichtsbarkeit blieb weiterhin erhalten, auch wenn im Rahmen dieses Beitrags darauf nicht näher eingegangen werden kann.131 Josef Samuel Bloch, katholische Klöster und verschwundene jüdische Mädchen Galiziens

Der Name Blochs steht auch im Zusammenhang mit der publizistischen Aufbereitung einer Thematik, welche die Juden Galiziens betraf und nicht zuletzt von Bloch selbst als eine Art »Mädchenraub» dargestellt wurde.132 Unbestritten ist, dass damals zahlreiche junge jüdische Frauen zur Katholischen Kirche übertraten und ihren Lebensweg in einem katholischen Kloster fortsetzten. Die Version dieser Begebenheiten, die u. a. von Bloch nicht selten als unfreiwilliger Übertritt zum Christentum dargestellt wurden, wird in der Literatur als inszeniertes »Gegengerücht» zu den Ritualmordvorwürfen dargestellt.133 Dies darf allerdings nicht so verstanden werden, dass man mit dem Übertritt einhergehende Zwangsmomente pauschal verwerfen darf. So war der sogenannte Fall Mortara, im Zuge dessen ein offensichtlich notgetauftes Kind im damals noch dem Kirchenstaat zugehörigen Bologna der Obhut seiner Eltern entzogen worden war, im intellektuellen Gedächtnis Europas durchaus noch präsent.134 Was nun den Klostereintritt ursprünglich jüdischer Mädchen in Galizien betrifft, so dürften häufig auf Initiative von deren Eltern geplante Zwangsheiraten eine wichtige Rolle gespielt haben. Überhaupt war dieses Phänomen vornehmlich bei jungen Damen mit vergleichsweise hohem Bildungsgrad zu beobachten, die schon zuvor nicht abgeschottet von der christlichen Umwelt gelebt hatten. Dabei ist keineswegs zwingend davon auszugehen, dass ein dauerhafter Verbleib im Kloster bzw. im Ordensstand geplant war. Oft diente der Klosteraufenthalt auch dazu, sich auf die Ehe mit einem Katholiken vorzubereiten. 131 Siehe Weinzierl 1970, 512  ; Snizek 2014, 149. 132 Siehe etwa Bloch 1922a, 212–219  ; Buchen 2010, 203–208  ; Buchen 2012, 300–317. 133 So Buchen 2010, 205  ; Buchen 2012, 300. 134 Siehe Kertzer 1998. Dass im Kontext mit katholischen Institutionen ein gewisser Druck auf Kinder anderen Bekenntnisses ausgeübt werden konnte, sich der Katholischen Kirche zuzuwenden ist etwa bei K azantzakis 1990, 99–101, dargestellt. Der aus griechisch-orthodoxer Familie Kretas stammende Autor und Philosoph Nikos Kazantzakis (1883–1957) hielt sich ab 1897 für zwei Jahre auf Naxos auf. Dort besuchte er eine von katholischen Patres geleitete Berufsschule. In seiner autobiographischen Darstellung beschreibt er den Versuch eines hochgestellten katholischen Geistlichen, ihn ohne Wissen der Eltern zu einem Übertritt zur Katholischen Kirche und zu einem Aufbruch nach Rom zu überreden. Zur durchaus kosmopolitischen Prägung, die Kazantzakis während dieser Jahre in der katholischen Schule erhielt, siehe K atsanakis 2008, 6.

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Gemäß der Rechtslage nach dem Interkonfessionellengesetz von 1868 waren konfessionelle Übertritte mit dem vollendeten 14. Lebensjahr möglich,135 jedoch war aufgrund anderer Bestimmungen bis zum vollendeten 24. Lebensjahr das elterliche Obsorgerecht maßgebend.136 Wenn in der Literatur behauptet wird, dass man in zahlreichen Fällen vom Straftatbestand der Entführung ausgehen könne, obgleich die betreffenden jungen Damen freiwillig ins Kloster gegangen seien,137 so ist hierzu Folgendes anzumerken  : Gemäß § 96 StG 1852 war für die strafrechtlich relevante Entführung das Vorliegen von Gewalt oder List erforderlich. Gemäß § 97 war das Entführungsdelikt dann als qualifiziert zu betrachten, wenn die Entführung gegen den Willen der entführten Person erfolgte oder die betreffende Person das 14. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte.138 Inwieweit die Behauptung einer zwangsweisen Verbringung junger Jüdinnen in katholische Klöster gestützt werden kann, ist hier nicht im Detail zu klären. Dass freilich die zuständigen staatlichen Organe nur selten in effizienter Form tätig wurden, um den Wechsel in das Kloster einer näheren Untersuchung zu unterwerfen,139 ist ein ganz grundsätzlicher Beleg dafür, dass die Katholische Kirche in der Gesellschaft Cisleithaniens eine dominante Rolle spielte, und dies ganz abgesehen von einer Rechtslage, die in gewissem Ausmaß religiös-paritätsrechtliche Züge trug. Zu besonderer Berühmtheit gelangte der »Fall Araten«.140 Im Jahr 1899 hatte ein 16-jähriges jüdisches Mädchen sein Elternhaus verlassen und sich hierauf in mehreren Klöstern Galiziens versteckt, um sich schließlich in Belgien taufen zu lassen. Obgleich der Vater des Mädchens bei hochgestellten Amtsträgern – schließlich beim Kaiser selbst – vorstellig wurde, gingen die Behörden bei der Suche nach dem Mädchen offenbar nicht mit der gebotenen Sorgfalt vor. Insbesondere die von Bloch jahrzehn135 RGBl. 49/1868, Art. 4. 136 Gemäß § 21 ABGB wurde die Volljährigkeit mit dem vollendeten 24. Lebensjahr erreicht. In § 145 ABGB war das Recht der Eltern verankert, »vermißte Kinder aufzusuchen, entwichene zurück zu fordern, und flüchtige mit obrigkeitlichem Beistande zurück zu bringen […]«. Gemäß dem Hofkanzleidekret vom 26.1.1844, JGS 1844/780 war für Minderjährige zum Eintritt in einen geistlichen Orden in ausdrücklicher Weise die Zustimmung des Vaters bzw. Vormundes und des vormundschaftlichen Gerichts notwendig (Verweis auf die §§ 148 und 216 ABGB). Siehe dazu auch Pace 1898, 242 mit Anm. 2. Zur allgemeinen Rechtslage gemäß dem ABGB siehe auch Manekin 2005, 198, Anm. 35. 137 So Buchen 2010, 207. 138 Ebd., Anm. 56, weist auf einen Fall hin, bei dem das betreffende Mädchen erst zehn Jahre alt gewesen war. Die Erwähnung leitet der Autor folgendermaßen ein  : »In den Archiven ist nur ein Fall erhalten, in dem tatsächlich ein Mädchen gegen ihren Willen und gewaltsam entführt wurde.« 139 Manekin 2005, 199  ; Buchen 2010, 204. 140 Siehe Buchen 2010, 205–208  ; Buchen 2012, 303–312.

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telang herausgegebene »Österreichische Wochenschrift« nahm sich nun dieses Falles an.141 Ob und wieweit man bei einschlägigen Zeitungsberichten von einem »Narrativ vom Mädchenraub«142 sprechen darf, muss im Rahmen der vorliegenden Ausführungen offen bleiben. Die Erzählungen über Mädchenraub in eine – wenn auch inverse – Analogie zu den Ritualmordgeschichten zu setzen,143 könnte zwar angebracht sein, doch mag die Wahrscheinlichkeit, dass die in Rede stehenden Übersiedlungen junger jüdischer Frauen in katholische Klöster nicht immer ganz freiwillig erfolgten, schon in Anbetracht des gesellschaftlichen Einflusses der Katholischen Kirche für den einen oder anderen Fall durchaus groß sein. Und dass katholisch-kirchlichen Stellen im 19. Jahrhundert Akte des Glaubenszwanges nicht ganz fremd waren, wurde bereits oben erwähnt.

Schluss Im Rahmen des vorliegenden Beitrags konnten nur Grundlinien einer Rechtsentwicklung dargestellt werden, die in Bezug auf die Antisemitismusthematik von Relevanz sind. Dies gilt v. a. für die Darstellung der einzelnen Epochen bis 1848. Was die Zeit zwischen 1848 und 1918 betrifft, so zeigen die hier erwähnten Strafprozesse deutlich, dass in den vor Gerichten ausgetragenen Kämpfen gegen den Antisemitismus weniger die direkt auf den Schutz von Religion und Religionsgemeinschaften bzw. Nationalitäten ausgerichteten Tatbestände eine Rolle spielten, als Regelungen, die etwa dem Schutz der Ehre dienten, wozu man auch in gewisser Weise diejenigen Bestimmungen rechnen kann, die den Tatbestand der Verleumdung zum Gegenstand hatten. Oftmals erlangten die Protagonisten einschlägiger Prozesse – worunter hier nicht nur Angeklagte, Richter, Privatankläger und Zeugen, sondern nicht zuletzt auch Personen, die aufgrund ihrer journalistischen Tätigkeit Staatsanwälte zum Handeln veranlassten, gerechnet werden – in völlig anderen Zusammenhängen zu großer Bedeutung, wie dies etwa anhand der Tätigkeit des jungen Verteidigers und späteren Ministers Johann Nepomuk Berger oder des später als katholisch-konservativen Po141 Siehe Buchen 2010, 207f. 142 So ebd., 208. 143 Ebd.; Buchen 2012, 308, wo der Autor meint  : »Diese Gegengeschichten zeigten, dass man nicht nur dem Judentum fanatische Züge im Talmud anhängen konnte. Auch im Christentum schien es Tendenzen zu geben, Menschen anderer Religionen für den eigenen Heilsplan zu missbrauchen und die Gleichbehandlung aller Menschen und dessen [sic  !] Garant, den modernen Rechtsstaat, zu missachten.«

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litikers hervorgetretenen Georg Lienbacher angedeutet wurde. Freilich konnte bei weitem nicht auf alle derartigen Prozessprotagonisten näher eingegangen werden. Obgleich der Zeitraum zwischen 1848 und 1918 einer näheren Behandlung unterzogen wurde, muss nochmals betont werden, dass genauere presserechtliche aber auch strafprozessuale Überlegungen unterbleiben mussten. Wenn der vorliegende Beitrag Denkanstöße für weitere Vertiefungen liefern kann, so sollte zumindest ein Ziel in der Aufgabenstellung der darstellerischen »Bewältigung« eines so langen Zeitraumes erreicht worden sein.

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Jüdische Bevölkerung und verfassungsrechtliche Lage 1918 bis 1938 In einem 2014 erschienenen Aufsatz haben Benjamin und Ulrike Davy die Haltung der »Zeitschrift für öffentliches Recht« in den Jahren 1933 bis 1945 analysiert.1 Am Ende ihrer breit angelegten und tief schürfenden Untersuchung halten sie fest, dass diese Zeitschrift den Angriffen auf die Idee der Freiheit, die vom »Ständestaat« und vom Nationalsozialismus ausgingen, durchaus etwas entgegenzusetzen wusste, selbst unter Zensurbedingungen. Die Negation der Gleichheit nahmen die Autoren der Zeitschrift hingegen kritiklos hin, niemand machte die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung zum Thema.2 Ich greife diese irritierende Feststellung auf und kehre sie in eine Frage um, die mich durch meinen Überblicksbeitrag leitet  : Wie sicher, wie brüchig war die verfassungsrechtliche Stellung der jüdischen Bevölkerung in der Zwischenkriegszeit, wie sicher oder brüchig war insbesondere ihre Gleichheit  ? Was machte die Gleichheit juristisch aus, und wie wurde sie im Verfassungsleben fassbar gemacht  ? Mein Beitrag gliedert sich in drei Abschnitte. Zunächst stelle ich die Kontroversen dar, die sich um die Verankerung der Gleichheit in der Bundesverfassung von 1920 rankten (I). Sodann erläutere ich, wie der Gleichheitssatz in Lehre und Rechtsprechung gedeutet wurde (II). Am Ende skizziere ich in aller Kürze, wie der Rückbau der Gleichheit im »Ständestaat« vonstattenging (III).

Die Fassung der Gleichheit in der Bundesverfassung von 1920 Schon die Dezemberverfassung 1867 hatte in Art. 2 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger3 allen Staatsbürgern ihre Gleichheit vor dem Gesetz verbürgt. Die provisorische Nationalversammlung der jungen Republik wollte es bei diesem Grundsatz nicht bewenden lassen, sondern ging schon am ersten Tag ihres Zusammentretens einen wichtigen Schritt weiter, indem sie die volle Vereins- und 1 Davy/Davy 2014, 715–804. 2 Ebd., 795f. 3 RGBl. 142/1867.

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Versammlungsfreiheit proklamierte und dabei betonte, dass diese ohne Unterschied des Geschlechts hergestellt werde.4 Gleichzeitig verbot sie die Zensur,5 und in der Folge räumte sie das Wahlrecht zur konstituierenden Nationalversammlung Männern wie Frauen ein.6 Die Gleichheit vor dem Gesetz war also im Prinzip unbestritten, so wie das Frauenwahlrecht auch. Die Auffassungen darüber, wie der Gleichheitssatz in der Verfassung konzipiert und formuliert werden sollte, gingen aber erheblich auseinander.7 Der Tiroler Entwurf regelte die Grundrechte äußerst zurückhaltend, um nicht zu sagen restriktiv, und kam ohne jede Gleichheitsverbürgung aus.8 Der erste Entwurf der Christlichsozialen wollte es durch die Übernahme des Staatsgrundgesetzes aus 1867 bei der simplen Proklamation der Gleichheit aller Staatsbürger ohne weiteren Zusatz belassen.9 Hans Kelsen präferierte hingegen in seinen Entwürfen, die er für die Staatskanzlei ausarbeitete, eine zweistufige Konzeption  : Dem Grundsatz, dass alle Staatsbürger vor dem Gesetze gleich sind, folgte der konkretisierende weitere Satz, dass Vorrechte der Geburt, der Nationalität und der Konfession ausgeschlossen sein sollten, und zwar für immer.10 Von diesem Schema weicht nur der Entwurf V ab, der die Gleichheitsgarantie der Weimarer Reichsverfassung wortwörtlich übernahm.11 Die Staatskanzlei schlug in ihren Entwürfen, die den Länderkonferenzen in Salzburg und Linz als Grundlage dienten, einen Mittelweg vor  : Der Proklamation der Gleichheit sollte jeweils die Klarstellung folgen, dass es keine Vorrechte der Geburt, Nationalität und Konfession geben dürfe.12 Das Geschlecht fehlt in der Aufzählung  : Geschlechtervorrechte aufzuheben, ging offensichtlich zu weit. Es sollte nach dem zweiten Absatz vielmehr bei der Versicherung bleiben, dass Männer und Frauen grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten haben.13 Darauf folgten jeweils Be-

  4 Beschluss vom 30.10.1918, StGBl. 2/1918, Z 3.   5 StGBl. 2/1918, Z 1.   6 Gesetz vom 18.12.1918 über die Wahlordnung für die konstituierende Nationalversammlung, StGBl. 115/1918, §§ 11f.   7 Zum Folgenden ausführlicher Pöschl 2008, 108–124.   8 Vgl. die Art. VII–XIII, wiedergegeben bei Ermacora 1967, 68f. Lediglich für die Landesverfassungen wird in Art. VI die Schranke aufgestellt, dass sie »die Ausübung der politischen Rechte nach den Grundsätzen der Rechtsgleichheit aller vor dem Gesetz« sichern muss, ebd., 68.  9 Ermacora 1967, 31. 10 Ermacora 1990, 173. 11 Ebd. 12 Art. 107 des Privatentwurfs Mayr, wiedergegeben bei Ermacora 1967, 60  ; Art. 108 des Linzer Entwurfs, wiedergegeben bei ebd., 131, und Ermacora 1990, 378. 13 Vgl. Ermacora 1967, 60, 131  ; Ermacora 1990, 378.

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stimmungen über den Adel, die hinter jenen des Adelsaufhebungsgesetzes weit zurückblieben. Dagegen formierte sich Widerstand, vor allem bei den Sozialdemokraten. Auf der Linzer Länderkonferenz übte Robert Danneberg massive Kritik. Er hielt die Grundund Freiheitsrechte des Entwurfs für »so rückschrittlich […] als unsere Gesetzgebung«, führte dies für die Gleichheit am Beispiel der Adelsaufhebung näher aus und brachte seine Überzeugung zum Ausdruck, »daß man die Abschaffung jedweden Vorrechtes auch noch in viel präziserer und schärferer Weise zum Ausdrucke bringen« müsse.14 Nach dem Gegenvorschlag, den er in der Folge ausarbeitete, durften Nationalität, Konfession, Geschlecht, Stand und Klasse keine Gründe für Vorrechte sein.15 Auch beim Geschlecht und bei der Klasse sollte es also strikte Gleichheit geben und nicht bloß eine grundsätzliche Gleichbehandlung. Sein Textvorschlag ging wortwörtlich in den Entwurf der Sozialdemokraten ein.16 Die Großdeutschen hatten in ihrem Verfassungsentwurf den Gleichheitssatz ebenfalls anders gefasst als die Staatskanzlei. Bei ihnen stand die Geschlechtergleichheit im Vordergrund, und sie war wie bei den Sozialdemokraten strikt konzipiert.17 Die Christlichsozialen beließen es hingegen auch in ihrem zweiten Entwurf dabei, Vorrechte der Geburt, des Standes und des Bekenntnisses für immer zu verbieten.18 Das Geschlecht blieb unerwähnt. Das Parlament, das die Verfassung den Sommer 1920 über ausarbeitete, legte seinen Beratungen zur Gleichheit nicht wie sonst den Linzer Entwurf zugrunde, sondern jenen der Sozialdemokraten.19 Der Grund dafür lag wohl darin, dass der Entwurf der Großdeutschen in die gleiche Richtung ging, weshalb absehbar war, dass die Fassung des Linzer Entwurfs keine Mehrheit finden werde. Die Debatte war denkbar kurz. Otto Bauer leitete sie als Vorsitzender mit der Bemerkung ein, dass die vorgeschlagene Fassung »eigentlich nur eine Ausführung des Wortes demokratisch in Art. 1 Abs. 1« sei.20 Darauf beantragte Ignaz Seipel, die Worte »für immer« zu streichen, was auch geschah. Ansonsten wurde die sozialdemokratische Fassung ohne Diskussion angenommen, aber in einer geringfügig geänderten Form, folgendermaßen lautend  : »Vorrechte der Geburt, des Geschlechtes, des Standes, der Klasse und des Bekenntnisses sind ausgeschlossen.« Über die Gründe, weshalb das Bekenntnis an die Stelle der Konfes14 Vgl. Ermacora 1989, 281, sowie Ermacora/Wirth 1982, 24f. 15 Ermacora 1990, 379. 16 Ermacora 1967, 177. 17 Art. 12, wiedergegeben bei ebd., 83. 18 Art. 6 Abs. 1, wiedergegeben bei ebd., 142. 19 Ebd., 339. 20 Ebd.

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sion und die Geburt an jene der Nationalität getreten ist, können wir nur spekulieren. Es kann eine Erweiterung, es kann eine Akzentverschiebung, es kann aber auch – in meinen Augen am Nächstliegenden – bloß eine Übersetzung gewesen sein. Schließlich erhielt auch der Staatsvertrag von St. Germain21 Verfassungsrang, soweit er im Abschnitt V seines III. Teiles den Minderheiten Schutz gewährleistete. In den bezogenen Bestimmungen fanden und finden sich bis heute Diskriminierungsverbote, Gleichbehandlungsgebote und Minderheitenschutzbestimmungen, die über Art. 7 B-VG und das Staatsgrundgesetz in manchen Punkten hinausgehen. Der Vorschlag hierzu war buchstäblich in letzter Minute – gegen Ende der letzten Sitzung – von der Staatskanzlei gekommen und vom Verfassungsunterausschuss ohne Diskussion gutgeheißen worden.22 Bei der Religionsfreiheit klafften hingegen die Vorstellungen so weit auseinander, dass im Unterausschuss eine Einigung noch nicht einmal versucht wurde  : Wie für die meisten anderen Grundrechte beließ man es beim Stand von 1867, indem das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger zum Verfassungsgesetz erklärt wurde.23 Doch auch hier gelang eine Verbesserung dadurch, dass die Glaubens, Religions und Bekenntnisfreiheit des Art. 63 Abs. 2 Staatsvertrag von St. Germain in Verfassungsrang gehoben wurde und dadurch den Charakter eines verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechts erhielt. Zwischenfazit  : Die im Kern bis heute geltende Fassung des Gleichheitssatzes haben die Sozialdemokraten mit den Großdeutschen gegen die Christlichsozialen erstritten. Differenzpunkt war primär die Geschlechtergleichheit, das Verbot von Diskriminierungen auf Grund des Bekenntnisses stand hingegen außer Streit.

Die Deutung der Gleichheitsverbürgungen in der Ersten Republik Soweit die Genese der Gleichheitsverbürgungen. Wie war es um deren Auslegung bestellt  ? In der heutigen Verfassungsrechtslehre dominiert die Einschätzung, dass die Grundrechte in der Zwischenkriegszeit so gut wie keine praktische Bedeutung hatten, dass sie erst nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise zum Leben erweckt wurden und dass sie erst mit der 1985 vollzogenen Wende hin zur Verhältnismäßigkeitsprüfung ihre heutige Wirkungsmacht entfalteten. Sieht man näher hin, erweist sich diese Einschätzung (wie so viele Fortschrittsgeschichten) rasch als allzu pauschal. 21 StGBl. 303/1920. 22 Ermacora 1967, 498. 23 Art. 149 Abs. 1 B-VG, StGBl. 450/1920 = BGBl. 1/1920.

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Die zeitgenössische Literatur

An diesem Befund trifft zu, dass die Rechtswissenschaft zur Interpretation des Gleichheitssatzes wenig beisteuerte außer Skepsis. Es gibt wenig Auseinandersetzung darüber, was die verschiedenen Gleichheitsverbürgungen bedeuteten, dafür aber umso mehr Zweifel, ob sie justiziabel und praktikabel seien, bis hin zu Vorbehalten, ob sie wünschenswert erschienen. Das Verfassungsrechtslehrbuch von Kelsen leitete etwa die Erörterung der Gleichheit vor dem Gesetz mit folgenden Worten ein  : »Dieser Gemeinplatz des politischen Liberalismus ist vom verfassungsrechtlichen Standpunkt außerordentlich unklar.«24 Bei der Geschlechtergleichheit war indes eher die Klarheit das Problem. Dass Frauen von der Wehrpflicht und von der Geschworenenpflicht ausgenommen werden durften, erschien als dermaßen evident, dass niemand das Gegenteil auch nur ernsthaft erwog. Die Begründung gelang allerdings nicht ohne Schwierigkeiten. Die Literatur bot drei Lösungen an  : erstens die  – wenig überzeugende  – Deutung des Gleichheitssatzes als programmatische Erklärung, die gar nicht justiziabel ist,25 zweitens die Reduktion seines Anwendungsbereichs auf politische Rechte,26 drittens die Aushöhlung der Differenzierungsverbote  : Was sachlich gerechtfertigt ist, ist trotz des zweiten Satzes möglich, das kann kein Vorrecht sein, meinte Ludwig Adamovich27 – er schmolz so die speziellen Diskriminierungsverbote in den allgemeinen Gleichheitssatz ein. Diese dritte Lösung hat sich in der Folge durchgesetzt  : Dass der Gleichheitssatz im Kern ein Verbot sachlich nicht gerechtfertigter Differenzierungen bedeutet, ist noch heute in jedem aktuellen Verfassungsrechtslehrbuch zu lesen. Der Verfassungsgerichtshof in den 1920er Jahren

Ganz anders ging der Verfassungsgerichtshof zu Beginn seiner Tätigkeit vor. Weil er sich in einer eng am Text der einschlägigen Gewährleistungen bleibenden Rechtsprechung weigerte, bei Eingriffen in Grundrechte, die unter einem Gesetzesvorbehalt stehen, die Verhältnismäßigkeit des Eingriffs nachzuprüfen,28 und weil er das Erfordernis eines öffentlichen Interesses für Enteignungen als nicht justiziabel erachtete,29 24 Kelsen 1923, 50. 25 Ebd. 26 Kelsen/Froehlich/Merkl 1922, 74  ; Kelsen 1923, 50f. 27 Adamovich 1927, 107. 28 Vgl. etwa VfSlg. 259/1924 zur Freizügigkeit, wo der Gerichtshof sein Ergebnis – die Beschränkbarkeit der Freizügigkeit durch die Gesetzgebung – allerdings explizit als bedauerlichen Zustand bezeichnet. 29 Vgl. insb. VfSlg. 1123/1928 zum Mietengesetz.

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hat die Grundrechtsjudikatur der Zwischenkriegszeit bis heute einen schlechten Ruf. Übersehen wird dabei freilich, dass es sich nur um eine Seite der Medaille handelte. Die wirtschaftlichen Grundrechte hatte der Gerichtshof in der Tat nicht stark gemacht. Grundrechte, die für den demokratischen Prozess wichtig sind, exekutierte er hingegen von Beginn an mit einer Schärfe, die noch heute erstaunt. Bei Eingriffen in die Meinungsäußerungsfreiheit prüfte er beispielsweise die gesetzliche Deckung von Eingriffen strikt nach.30 Und dem zuvor erwähnten Beschluss der provisorischen Nationalversammlung vom 30.  Oktober 1918 entnahm er zum einen das absolute Verbot jedweder Vorzensur,31 zum anderen die Abschaffung sämtlicher Bewilligungserfordernisse für Versammlungen, Vereine und die Presse.32 Vergleichbar strikt war seine Prüfungstätigkeit in Bezug auf die Gleichheit  : In meinen Augen bot der Verfassungsgerichtshof in den 1920er Jahren effektiveren Schutz vor Diskriminierungen als in der Epoche danach. Einige Entscheidungen mögen diesen Befund verdeutlichen. Die erste Entscheidung stammt aus dem Jahr 1923 und betraf einen Gendarmen, der diszipliniert wurde, weil er trotz Vorstellungen und Ermahnungen seines Vorgesetzten eine dem Standesansehen abträgliche Ehe eingegangen war.33 Der Gerichtshof entnahm einleitend dem Art. 7 B-VG nicht bloß ein Verbot von Vorrechten, sondern auch den »Ausschluß rechtlicher Zurücksetzungen gleicher Art«. Die Bestimmung hindere freilich die Gesetzgebung nicht, »aus wichtigen Gründen des Gemeinwohls einzelne Klassen der Bevölkerung oder selbst zeitweilig einzelne Gebiete« ausnahmsweise ungleich zu behandeln. Dies bedürfe »aber stets eines Bundesgesetzes«, »und auch dieses muß die durch seinen Zweck gebotenen Grenzen einhalten  ; werden diese Grenzen überschritten, so wird das verfassungsmäßig gewährleistete Recht verletzt.«34 Damit wird sowohl die Bindung der Gesetzgebung an den Gleichheitssatz ausgesprochen,35 als auch eine – andernorts abgelehnte – Verhältnismäßigkeitsprüfung eingefordert  : Die Ungleichbehandlung muss im öffentlichen Interesse liegen, und sie darf nicht weiter gehen, als es der Gemeinwohlzweck erfordert. Grund der Standeswidrigkeit war eine strafrechtliche Verurteilung der Frau, die jedoch noch vor der Eheschließung vom Bundespräsidenten begnadigt worden war. Der Verfassungsgerichtshof hielt fest, dass die Verurteilung deswegen bei der diszi30 VfSlg. 775/1927. 31 VfSlg. 552/1926, 630/1926, 949/1928. 32 VfSlg. 254/1923, 774/1927. 33 VfSlg. 216/1923. 34 VfSlg. 216/1923, 53 (1. bis 3. Zitat), 54 (4. Zitat). 35 VfSlg. 1.451/1932 stellt folglich einer verbreiteten Einschätzung zuwider keinen Paradigmenwechsel dar.

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plinären Behandlung des Falles nicht mehr in Betracht gezogen werden dürfe. Im Übrigen sei die Frau des Beschwerdeführers gut beleumundet, er selbst belobigt und seine Eheschließung »nach Ausweis der Akten durch seine Ehrenpflicht gegenüber seiner Braut von der Sitte geradezu gefordert« gewesen.36 Die Versetzung in den Ruhestand stelle daher »nicht bloß eine große Härte und Unbilligkeit« dar, sondern auch »eine Verweigerung der bürgerlichen Gleichheit vor dem Gesetze« – und dies nicht bloß in Bezug auf den Beschwerdeführer, sondern auch im Hinblick auf seine Frau.37 Aus einer Studie Robert Walters über Kelsen als Verfassungsrichter wissen wir, dass Kelsen in den Beratungen als Referent zunächst dafür plädiert hatte, nicht bloß die konkrete Disziplinierung, sondern das sie ermöglichende Disziplinarrecht als solches für gleichheitswidrig zu erklären, weil er in ihm eine Diskriminierung aufgrund des Standes sah. In eingehender Debatte ließ er sich aber davon überzeugen, dass nicht jede Standespflicht per se verfassungswidrig sei, und stimmte schlussendlich dem Vorschlag Julius Ofners38 zu, der Gerichtshof möge sich auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung beschränken.39 Ein zweiter Fall aus dem Jahr 1924 betraf einen Lehrer evangelischer Konfession, der sich in Wien um die Stelle eines Schulleiters bewerben wollte, sich aber mit einer Ausschreibung konfrontiert sah, die unter anderem den Nachweis der Befähigung zur Erteilung des katholischen Religionsunterrichts forderte.40 Dieses Erfordernis war auf § 48 Abs. 2 Reichsvolksschulgesetz41 gestützt, nach dem für die verantwortliche Leitung nur Lehrpersonen in Frage kamen, die die Befähigung zum Religionsunterricht jenes Glaubensbekenntnisses nachweisen konnten, der die Mehrheit der Schüler angehörte. In seiner Argumentation setzte der Gerichtshof nicht bei Art. 7 B-VG an, sondern beim Staatsvertrag von St. Germain. Dieser enthalte in Art.  66 eine »präzise und eindeutige Definition der Gleichheit« und verbiete insbesondere Benachteiligungen infolge der Religionsangehörigkeit, »namentlich bei Zulassung zu öffentlichen Stellungen, Ämtern und Würden«.42 In Widerspruch dazu sei das Reichsvolksschulgesetz geeignet, eine solche Benachteiligung herbeizuführen. Die konfessionsneutrale Formulierung dieses Gesetzes vermöge daran nichts zu ändern, weil der Staatsvertrag von St. Germain in Art. 67 nicht bloß rechtliche, sondern auch faktische Gleichheit verbürge und weil das Bekenntnis zu einer Religion Voraussetzung der Befähigung 36 VfSlg. 216/1923, 54. 37 Ebd. 38 Seit 1919 Mitglied und ständiger Referent des VfGH. 39 Walter 2005, 47. 40 VfSlg. 449/1925. 41 RGBl. 62/1869 i.d.F. RGBl. 53/1883. 42 VfSlg. 449/1925, 89.

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zur Erteilung entsprechenden Unterrichts sei. Nachdem gemäß § 48 Abs. 2 Reichsvolksschulgesetz die Befähigung zur Schulleitung nicht unabhängig vom Religionsbekenntnis erworben werden könne, erscheine diese Bestimmung offenkundig verfassungswidrig  ; sie sei daher als ältere Vorschrift infolge Derogation durch die spätere Verfassungsnorm außer Kraft getreten.43 Der Blick hinter die Kulissen zeigt, dass Adolf Menzel als mit dem Fall befasster Referent die Abweisung der Beschwerde vorgeschlagen hatte. Dagegen opponierte Kelsen mit dem Hinweis auf konfessionslose Lehrer, die durch die Bestimmung jedenfalls von der Leitung ausgeschlossen seien. Er schlug eine Lösung über den Staatsvertrag von St. Germain vor, die dem Gerichtshof die Aufhebung des § 48 Abs. 2 Reichsvolksschulgesetz erspare.44 Sein Vorschlag fand nach kontroversieller Debatte eine Mehrheit.45 Wir können deshalb annehmen, dass auch die Begründung aus seiner Feder stammt. Im dritten Fall beschwerte sich eine Frau, die in Wien Taxilenkerin werden wollte, aber an einer Verordnung aus 1913 scheiterte, die diese Tätigkeit den Männern vorbehielt.46 Der Verfassungsgerichtshof hielt fest, dass die Gleichheitsgarantie des Art. 7 Abs. 1 B-VG nicht hindere, »daß die Geschlechter ausnahmsweise ungleich behandelt werden, jedoch darf dies nur dann geschehen, wenn diese ungleiche Behandlung ihre Rechtfertigung in der Natur des Geschlechtes findet.«47 Der hieraus gezogene Schluss ist lapidar  : »Ein Grund zur Nichtzulassung von Personen weiblichen Geschlechtes zum Platzwagenlenkerdienste kann aus der Natur des weiblichen Geschlechtes nicht abgeleitet werden.«48 Das Kriterium der Natur des Geschlechtes, von Kelsen in die Debatte eingebracht und vom Gerichtshof aufgegriffen, ist sicherlich nicht der Weisheit letzter Schluss.49 Es erscheint aber wesentlich enger und strikter als jenes der biologisch-funktionalen Differenzierungen, auf die das deutsche Bundesverfassungsgericht noch viele Jahre später abstellen sollte.50 Vor allem aber  : Der Beschwerde wurde stattgegeben, sogar

43 VfSlg. 449/1925. 44 Walter 2005, 49. 45 Ebd. 46 Verordnung des k. k. Statthalters im Erzherzogtume Österreich unter des [sic] Enns betreffend die Erlassung einer Betriebsordnung und eines Maximaltarifes für die an öffentlichen Orten im Gemeindegebiete der Stadt Wien zu jedermanns Gebrauche bereitgehaltenen Personen-Lohnfuhrwerke (Platzfuhrwerk), LGBl. 45/1913. 47 VfSlg. 651/1926, S. 123. 48 Ebd. 49 Kritisch Walter 2005, 52. 50 BVerfGE 6, 389 (422).

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mit Stimmeneinhelligkeit.51 Ob der Fall in den 1960er Jahren ebenso ausgegangen wäre, erscheint durchaus offen.52 Das Erkenntnis zur Studentenordnung der Universität Wien

Der vierte Fall, den ich herausgreife, nimmt allerdings eine andere Wendung. Er ist meines Wissens der einzige Fall, in dem Antisemitismus vor dem Verfassungsgerichtshof offen thematisiert wurde, und er betraf jene Studentenordnung, die der Akademische Senat der Universität Wien auf Antrag des nationalsozialistisch gesinnten Rektors Wenzeslaus Gleispach einstimmig erlassen hatte und die am 6. April 1930 kundgemacht worden war.53 Mit dieser Ordnung wurde die antisemitisch agierende »Deutsche Studentenschaft« offiziell als Studentenvertretung anerkannt und mit Aufgaben im Disziplinarrecht betraut. Um diesen Kern waren Bestimmungen gruppiert, die es »andersvölkischen« Studierenden ermöglichen sollten, sich ebenfalls zu einer Studentennation zusammenzuschließen, wenngleich unter Vorbehalten  : Bestrebungen, die »den deutschen Charakter der Hochschule« beeinträchtigten, ermächtigten den Senat zur Aufhebung der Anerkennung. Ein Artikel in der »Wiener Sonn- und Montags-Zeitung« vom 19. Mai 1930 hielt dazu fest, dass die Studentenordnung »im Wesen nichts anderes bezweckt, als eine Entrechtung der jüdischen Universitätshörer«. Damit entferne sie sich »so weit von der verfassungsmäßigen Rechtsgrundlage, daß man sie mit Fug und Recht nicht bloß als ein ›Dokument von unserer Zeiten Schande‹, sondern als eine direkte Verletzung unserer Verfassungsgesetze bezeichnen darf.«54 Eine Anklage gegen den Verfasser des Artikels55 wegen Beleidigung von Senat und Rektor war die Folge. Im Strafverfahren bot der Angeklagte den Wahrheitsbeweis an, unter anderem wegen Benachteiligung österreichischer Studierender mosaischer Konfession. Das zuständige Strafbezirksge-

51 Walter 2005, 52. 52 Für die Gegenauffassung könnte man auf VfSlg. 2.979/1956 verweisen, wo der VfGH eine Bestimmung aufhob, die weiblichen Taxilenkerinnen das Beziehen von Standplätzen während der Nacht verbot. Für dieses Ergebnis war mit VfSlg. 651/1926, auf das sich der VfGH berief, eine entscheidende Weiche aber bereits gestellt. Anders hingegen zum allgemeinen Nachtarbeitsverbot von Frauen noch VfSlg. 13.038/1992. 53 Zur Studentenordnung näher Lichtenberger-Fenz 1990, 84–138, sowie Höflechner 1988, 360–368, 384–388, der auch ihren Text wiedergibt, ebd., 363–365. 54 Seine Magnifizenz der Rektor. Der Wiener Universitätsskandal, in  : Wiener Sonn und Montags-Zeitung vom 19.5.1930, Nr. 20, 68. Jg., 4 (ohne die Hervorhebungen des Originals). 55 Es handelte sich um den verantwortlichen Schriftleiter Ernst Klebinder  : näher zum Strafverfahren Lichtenberger-Fenz 1990, 114f., 135f.

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richt teilte seine Bedenken und focht die Studentenordnung beim Verfassungsgerichtshof an. In seinem Erkenntnis vom 20. Juni 1931 betrachtete der Verfassungsgerichtshof die Studentenordnung als Verordnung, bejahte ihre Präjudizialität und erachtete sich deshalb zur Behandlung des Antrags für zuständig. In meritorischer Hinsicht stellte er jedoch eingangs apodiktisch fest, »daß die Gliederung der Studierenden in Gruppen, die durch bestimmte gemeinsame Gesichtspunkte, seien es auch solche der Natio­nalität, gekennzeichnet sind, dem Grundsatz der Gleichheit aller Bundesbürger vor dem Gesetz nicht widerstreitet, sofern diese Gruppen mit den gleichen Rechten und Pflichten ausgestattet werden und die Eingliederung in diese Gruppen den verfassungsgesetzlichen Grundsätzen entspricht.«56 Das nahm der Gerichtshof offenbar an, ohne es zu begründen und auf das Antragsvorbringen57 näher einzugehen.58 Keine Rede war mehr von jener Garantie rechtlicher wie faktischer Gleichheit, die der Staatsvertrag von St. Germain den Angehörigen einer Minderheit nach Rasse, Religion oder Sprache verbürgte.59 Der Grund für diese implizite Abkehr von der eigenen Vorjudikatur liegt offenkundig in der geänderten Zusammensetzung des Gerichtshofs. Das Verfassungs-Übergangsgesetz von 1929 hatte zwischenzeitig die Funktion aller im Jahre 1921 auf Lebenszeit ernannten Mitglieder und Ersatzmitglieder des Verfassungsgerichtshofs mit dem 15. Februar 1930 beendet.60 Der neu bestellte Gerichtshof61 hatte für Diskriminierungsschutz sichtlich ein weniger ausgeprägtes Sensorium. 56 VfSlg. 1397/1931, 303f. 57 Das Strafbezirksgericht stützte sie maßgeblich auf Argumente, die Hupka 1930, 1f., entwickelt hatte. Zu Person und Schicksal Hupkas eingehend Taschwer 2014. 58 Zum Verfahren, zur Verhandlung und zu den Beratungen eingehend Lichtenberger-Fenz 1990, 115–126  : Georg Froehlich hatte als Berichterstatter vorgeschlagen, die Frage der Vereinbarkeit mit Art. 7 Abs. 1 B-VG auf sich beruhen zu lassen, weil die Studentenordnung schon mangels gesetzlicher Grundlage aufzuheben sei. Ludwig Adamovich steuerte dafür eine alternative Begründung bei (Vereinsgesetz), die ebenfalls aufgenommen wurde. Darauf beschloss der VfGH mit acht gegen fünf Stimmen die Aufhebung aus formellen Gründen. Das für den Verfahrensausgang gar nicht mehr erforderliche, sondern bloß künftige Verfahren präjudizierende Attest der Gleichheitskonformität der Studentenordnung wurde sodann auf Betreiben Adamovichs in mehreren Abstimmungsgängen (jeweils mit klaren Mehrheiten) beschlossen. Dagegen sprachen sich Froehlich, Friedrich Engel, Jakob Freundlich und Arthur Lenhoff aus. 59 Politisch bedeutete das Erkenntnis daher ungeachtet der Aufhebung der Studentenordnung einen klaren Sieg der völkisch gesinnten Deutschnationalen  : vgl. Lichtenberger-Fenz 1990, 128–130, mit Nachweis der vielfach kurzsichtigen Reaktionen. Die »Deutsche Studentenschaft« antwortete auf das Erkenntnis mit massiven Ausschreitungen, ebd., 131–134. 60 BGBl. 393/1929, Art. II § 25 Abs. 1. 61 Kelsen gehörte ihm nicht mehr an  : Er hatte ein Angebot der Sozialdemokraten abgelehnt, ihn aber-

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Dennoch war der Antrag am Ende erfolgreich. Der Gerichtshof hob die Studentenordnung zur Gänze auf, weil das Gesetz für ihre Erlassung keine hinreichende Grundlage bot.62 Auf Basis der mittlerweile festgefügten Rechtsprechung, die dem Legalitätsprinzip des Art. 18 B-VG einen Totalvorbehalt des Gesetzes entnahm, war ein anderes Ergebnis nicht erzielbar. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass selbst diese Weichenstellung noch auf Kelsen zurückgeht  : Er hatte diese durchaus voraussetzungsvolle Deutung des Art.  18 B-VG innerhalb des Gerichtshofs entwickelt63 und damit die österreichische Verfassungskultur bis heute wesentlich geprägt.

Der Rückbau der Gleichheit durch die Maiverfassung 1934 Bei diesem Rückschlag sollte es nicht bleiben. Mit der Verfassung 193464 wurden die politischen Rechte abgeschafft oder eingeschränkt.65 Dass dabei der Gleichheitssatz nicht ungeschoren davon kam, kann nicht überraschen, denn er ist nun einmal ein hochpolitisches Recht. In Art.  16 Abs.  1, dem neuen Gleichheitssatz, verschwand das Bekenntnis aus der Aufzählung jener Gründe, die als Anknüpfungspunkte für Vorrechte verpönt waren. Auch das Geschlecht sucht man dort vergeblich. Art. 16 Abs. 2 stellte vielmehr klar, dass Frauen die gleichen Rechte und Pflichten wie die Männer nur mehr soweit hatten, als durch Gesetz nichts anderes bestimmt war. Dafür wurde das Verständnis des Gleichheitssatzes als Sachlichkeitsgebot explizit im Text verankert  : Nach Art. 16 Abs. 1 zweiter Satz, der zwischen die Gleichheitsgewährleistung und das Verbot von Vorrechten gestellt war, durften alle Bundesbürger »in den Gesetzen nur insoweit ungleich behandelt werden, als es sachliche Gründe rechtfertigen.« Schutz vor Diskriminierung war nicht mehr die primäre Zielrichtung, und die Verbote von Vorrechten spielten in der Rechtsprechung fortan auch keine Rolle mehr. Nach 1945 hat sich daran nichts geändert. Die Sachlichkeit beherrschte das Feld. Das Verbot von Vorrechten der Geburt, des Geschlechts, des Standes, der Klasse und mals für den Gerichtshof vorzuschlagen, und einen Ruf an die Universität Köln angenommen. Zu seiner Auswanderung trugen der Verlust des Amts eines Verfassungsrichters – dazu Neschwara 2005, 353–355, 374–382  – und das Erstarken der antisemitischen Kräfte an der Universität – dazu Reiter-Zatloukal 2013, 190–198 – gleichermaßen bei. 62 So bereits Hupka 1930, 2. 63 Die Weiche wurde mit dem Erkenntnis VfSlg. 176/1923 gestellt, das Kelsen als Referent vorbereitet hatte. 64 BGBl. I 239/1934 = BGBl. II 1/1934. 65 Näher Wiederin 2012, 40f.

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des Bekenntnisses geriet in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes dermaßen in Vergessenheit, dass ein ausländischer Beobachter im Jahre 1985 gar einen Geltungsverlust des zweiten Satzes des Art. 7 Abs. 1 B-VG beklagte.66 Seither gibt es Fortschritte. Aber wir haben wenig Grund, auf sie stolz zu sein, denn sie sind zum überwiegenden Teil den europäischen Vorgaben geschuldet, mit denen sich die Republik im Gefolge ihres Beitritts zur Europäischen Union konfrontiert sah.

Schlussbemerkung Ich komme zum Schluss – und noch einmal zum Beitrag von Ulrike und Benjamin Davy über die Haltung der Zeitschrift für öffentliches Recht im Ständestaat und im Nationalsozialismus zurück. Nach der Feststellung, dass in besagter Zeitschrift niemand die Angriffe auf die Gleichheitsidee bekämpft hatte, weder zwischen 1933 und 1945, noch in den zwölf Jahren danach, lassen sie ihre Untersuchung mit einer Frage ausklingen. Sie lautet schlicht  : »Hat die Universalität des Gleichheitssatzes heute eine verlässlichere Grundlage  ?«67 Ich meine, wir sollten Zweifel zulassen, ob die Antwort wirklich ein »Ja« sein kann  ; und wir sollten uns daran erinnern, dass die universitäre Wissenschaft in den damaligen finsteren Zeiten die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung nicht etwa bekämpft, sondern ihr ganz im Gegenteil den Weg bereitet hat.

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Jüdische Bevölkerung und verfassungsrechtliche Lage 1918 bis 1938

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Juden zählen Über die Bedeutung der Zahl im Antisemitismus Die große Zahl Wann immer von Juden die Rede war, tauchten in irgendeiner Form Zahlen und Mengenverhältnisse auf.1 Das geschah nicht immer mittels Nennung konkreter Zahlen  : Oft wurde die Zahl der Juden metaphorisch verschleiert wie in der Rede eines prominenten Bischofs von der »Überwucherung des Landes durch das Judentum«;2   manchmal wurden unbestimmte Größenangaben eingesetzt, um angsteinflößende Behauptungen vom »übermächtigen Einfluss des Judentums auf unser öffentliches, wirtschaftliches und kulturelles Leben«3 zu formulieren. Vor allem geriet die »relativ große Zahl der jüdischen Neureichen«4 ins Visier. Manchmal erschien »fast alles jüdisch« – wie in einer Formulierung Heimito Doderers in Bezug auf Zeitungen oder in einer Bemerkung Jakob Wassermanns über Kultur und Gesellschaft.5 Sehr häufig war die Nennung konkreter Zahlen von Juden, meist in Bezug auf Berufe, Firmenbesitz oder Vermögen, vermeintlich präzise und anschaulich aufbereitet. Die sogenannte »Judenfrage« – ebenso tabuisiert wie populär6 – wurde stets von der Zahl der Juden beherrscht  : Die Behauptung einer »Verjudung« war eine 1 Gezählt wurde nicht nur von den Antisemiten, sondern auch von Juden selbst, allerdings in ganz anderem Interesse, vgl. z. B. Ruppin 1917 und Rotholz 1925. Der vorliegende Aufsatz vertieft Überlegungen, die schon vor über zehn Jahren skizziert wurden, vgl. Melichar 2006, 114–146. 2 Ottokár Prohászka (1858–1927), Bischof der in Ungarn gelegenen Diözese Stuhlweißenburg (heute  : Székesfehérvár), bezog seine Äußerung auf Ungarn, vgl. Prohászka 1919, 150  ; zu Bischof Prohászka vgl. Reichmann 2015. 3 So die »Politischen Leitsätze des Landbundes für Österreich« (1923), zit. n. Berchtold 1967, 483. 4 Coudenhove-K alergi 1935, 22. 5 Im September 1932 machte sich Doderer Gedanken über seine publizistischen Möglichkeiten und überlegte, nach Deutschland zu gehen. Er fragte sich  : »Was hab’ ich in Wien  ? Kaum eine Redaktion, kaum ein Verleger mehr. Fast alles jüdisch und daher zergehend wie Eis in der Hand«, Doderer 1996, 540 (29.9.1932). Jakob Wassermann schrieb in seiner 1921 erschienenen Schrift »Mein Weg als Deutscher und Jude« über seine ersten Eindrücke in Wien  : »Ich erkannte aber bald, daß die ganze Öffentlichkeit von Juden beherrscht wurde. Die Banken, die Presse, das Theater, die Literatur, die gesellschaftlichen Veranstaltungen, alles war in den Händen der Juden«, Wassermann 1921, 102. 6 »Die Judenfrage«, schrieb Karl Anton Rohan 1932, »ist Oben Tabu, daher erfüllt sie Unten die Straßen«, Rohan 1932, 453–459, 453.

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der wichtigsten Rechtfertigungen des Antisemitismus. Als Josef Eberle in »Das Neue Reich«, einer im Herbst 1918 gegründeten katholisch-intellektuellen Zeitschrift, zu Beginn des Jahres 1919 die große Bedeutung der »Judenfrage« hervorzuheben versuchte, begründete er dies sogleich mit Zahlenverhältnisse n : »Die Judenfrage ist in gewisser Hinsicht heute die Frage der Fragen. Es lässt sich kaum ein Problem lösen, ohne Stellung zu ihr zu nehmen, ohne sie zu lösen. Man redet jetzt von Demokratie, von Selbstbestimmung des Volkes und auch die Christen reden davon. Aber was will das heißen, wenn die Juden wie eine kleine Aristokratie unter uns leben, die das Bankenwesen und den Großhandel fast ganz, die Industrie, namentlich die auf Aktien aufgebaute zu zwei Dritteln besitzt, die ein Viertel des Großgrundbesitzes und ein zweites Viertel als Pächter beherrscht.«7 Wurden konkrete Zahlen genannt, sollten sie den Eindruck überwältigender Größe und Masse vermitteln. Sie wurden überschätzt und übertrieben.8 Ob die Autoren jeweils selbst von ihren Behauptungen überzeugt waren, oder ob sie bewusst übertrieben, ist nicht zu entscheiden. Jedenfalls betrachteten sie die Zahl meist nicht als an sich neutrale Größe, sondern brachten sie in Verbindung mit Bildern vor, die starke Gefühle auslösten – oft in Verbindung mit einer Bedrohung oder mit Abneigung und Ekel. Die Zahl der Juden war in diesem Sinne immer eine Überzahl, repräsentierte eine Übermacht und brachte eine offenbar empfundene Ohnmacht zum Ausdruck. Ein Beispiel, wie man Tausende liefern könnte, stammt aus dem österreichischen Nazi-Blatt »Volkskampf«, gedruckt 1927  : »Im Frieden eigneten dem Judentume schon rund 9.000 Wiener Häuser und auf zirka 27.000 lastet eine jüdische Hypothek. 1914 bis Ende 1926 raffte Juda in Wien noch weitere rund 11.600 Häuser zusammen, so daß heute in Wien fast 21.000 Häuser jüdischer Besitz sind. […] Von den kleineren Gebäuden Wiens fanden nur die 1.890 ›Villen‹ warmen Anklang bei Juda. Denn von ihnen besitzt dieser zirka 1.450.«9 Obwohl die Juden über die ganze Welt verstreut lebten und man schon von daher kaum je mit jüdischen Massen konfrontiert war, sondern geradezu ausschließlich mit jüdischen Minderheiten, oft sogar verschwindend kleinen Gruppen, kam der Zahl der Juden in der Literatur sowie in der Tages- und Wochenpresse eine enorme Bedeutung zu. Umso bemerkenswerter, dass bislang kaum versucht wurde, diese Bedeutung 7 Eberle 1919, 309. 8 Bruce F. Pauley zitiert in seiner »Geschichte des österreichischen Antisemitismus« einige der größten Übertreibungen  : Die Großdeutsche Volkspartei schätzte die Zahl der Juden in Österreich 1921 auf 730.000, davon in Wien 583.000. Die nationalsozialistische »Deutsche Arbeiterpresse« kam 1925 auf 300.000, die »Deutsch-österreichische Tageszeitung« behauptete auf Basis von Recherchen in Adressund Telefonbüchern, in Wien gäbe es 375.000 Juden, Pauley 1993, 257ff. 9 Wache/Stehauf 1927, 7f.

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zu erklären.10 Vielen Autoren war jedenfalls die Präsentation von Zahlen, die sich auf Juden bezogen, ein großes Anliegen – weniger das Zählen selbst. Ein Artikel der »Reichspost« mit dem Titel »Die Zionisten und ihr Kongress« von 1925 fasste dementsprechend zusammen  : In Palästina, das 760.000 EinwohnerInnen habe, wovon 90.000 Juden seien, könne man bei optimistischer Schätzung höchstens noch eine halbe Million Juden ansiedeln. Die »Gesamtzahl der Juden auf der Erde« betrage etwa 16 Millionen, die Zahl sei »in stetem Wachsen« begriffen, daher könnte »im allergünstigsten Falle kaum mehr als zwei bis drei Prozent des Weltjudentums für die Neubesiedelung Palästinas in Betracht kommen«. Der Artikel ging auch auf die These ein, der Antisemitismus sei »ein Zeichen geringerer Kultur«, das von Osten nach Westen abnehme  : Tatsächlich spiele in England und Frankreich der Antisemitismus eine geringe Rolle, aber dort könne von einer »Judenfrage« auch nicht die Rede sein, nachdem die Zahl der Juden klein sei (genannt werden dann für Frankreich 0,4 Prozent der Bevölkerung, für England 0,65 Prozent). In Österreich dagegen seien 4,5 Prozent, in Wien schon 13 Prozent der Einwohner Juden. Daher die Schlussfolgerung der »Reichspost«  : »Wenn also im Westen der Antisemitismus kaum zur Geltung kommt, so liegt der Grund einfach darin, daß ihm – für die große Menge sichtbar – das Objekt fehlt.«11 Um Juden zählen zu können, musste zuerst einmal eine Definition, eine Bestimmung dessen, was ein Jude ist, formuliert werden. Und diese Bestimmung sollte verbindlich sein. Erst dann, wenn die Definition allgemein anerkannt und praktikabel war, konnte man daran gehen, einzelne Personen als Jüdin oder Jude zu identifizieren. Dabei trat aber ein weiteres Problem auf  : Wie ging man mit der Frage der persönlichen Identitätsfindung um  ? Sollte man berücksichtigen, ob die oder der Einzelne Jüdin, Jude oder etwas anderes sein wollte  ? Erst wenn Fragen der Definition und der Identifizierung geklärt waren, konnte man mit dem Erheben und Zählen beginnen, zu welchen Zwecken auch immer. 10 So häufig Zahlenverhältnisse in antisemitischen Kontexten auch vorkommen, sind doch nur wenige Versuche unternommen worden, den Einsatz des Zählens zu untersuchen. Götz Aly und Karl Heinz Roth haben in ihrem Werk »Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus« schon 1984 auf wichtige Zusammenhänge für die Zeit nach 1933 hingewiesen. Jacob Rosenthal hat die »Judenzählung« im Ersten Weltkrieg untersucht, als es um die umstrittene Frage ging, wie hoch der Anteil der Juden unter den Soldaten sei, Hannah Ahlheim hat in einer Studie die versuchten Messungen des »jüdischen Einflusses« in der Wirtschaft untersucht und darauf hingewiesen, dass die entsprechenden Erhebungen die Größe eines behaupteten Einflusses weder belegen noch widerlegen konnten, vgl. Aly/Roth 2000, Rosenthal 2007 und Ahlheim 2010, 66. Erwähnenswert ist noch Edwin Blacks Bestseller »IBM und der Holocaust«, insbesondere das Kapitel »Wie man Juden identifiziert«, vgl. Black 2001, zur Kritik daran  : Schreiber 2001. 11 Die Zionisten und ihr Kongreß in Wien, in  : Reichspost, 15.8.1925, 2.

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Wie ging man beim Definieren vor  ? Es boten sich mehrere Möglichkeiten  : Die nächstliegende bestand darin, die Juden als Religionsgemeinschaft aufzufassen und zu bezeichnen. Das war auch lange Zeit ganz selbstverständlich üblich, mit der Konfession waren allerdings auch Rechtsverhältnisse verbunden, für die Juden u. a. diverse Verbote (etwa des Grunderwerbs), die erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgehoben wurden. Traten Juden aus der Kultusgemeinde aus und ließen sich taufen, so wurden sie meist evangelische oder katholische Christen. Zwar mögen ältere Zeitgenossen sich noch deren jüdischer Herkunft erinnert haben, doch mit – bei Juden im Zusammenhang mit Konvertierungen besonders häufigen – Namensänderungen, Ortswechseln und der Verheiratung mit Ehepartnern aus protestantischen oder katholischen Familien wies immer weniger auf diese Herkunft hin, sie konnte langsam in Vergessenheit geraten. Mit der Konjunktur des modernen Rassebegriffes im 19.  Jahrhunderts wurde der Identitätswechsel durch die Konversion jedoch in Frage gestellt. Das bekannte Zitat Georg Schönerers markiert den Wendepunkt  : »Die Religion ist einerlei, in der Rasse liegt die Schweinerei«.12 Der in Wien lebende Ethnologe und Priester Wilhelm Schmidt brachte die Frage, ob Juden sich in Christen verwandeln könnten, ohne zugleich irgendwie jüdisch zu bleiben, 1933 aus seiner Perspektive auf den Punkt  : Die Juden hätten zwar Christus hervorgebracht, aber nicht angenommen. »Zur Strafe dieser Verfehlung wurde dieses Volk, wie Christus selber es vorhersagte, von seinem Heimatboden vertrieben und irrt seitdem umher, seines heimatlichen Wurzelbodens beraubt, als entwurzeltes Volk. Diese jetzt fast zwei Jahrtausende dauernde Verzerrung und Entwurzelung seines Wesens hat sich dann aber auch in ihrer physischen Rasse, sekundär, aber tatsächlich ausgewirkt. Wenn nun ein Jude aus voller Überzeugung und von ganzem Herzen zur katholischen Kirche übertritt, hat er den stärksten Grund, der ihn von uns scheidet, entfernt und die eigentliche, tiefste Ursache seins Andersseins aufgehoben. Aber die rassischen Auswirkungen dieser Ursache, die im Laufe dieser zwei Jahrtausende sich eingestellt haben, werden nicht mit einem Male, auch nicht durch die Taufe aufgehoben  ; dazu braucht es viel Zeit und innere Arbeit, so daß er wohl zu uns gehört, aber nicht so wie unsere deutschen Volksgenossen.«13 Es spielte also eine entscheidende Rolle, ob die Definition von Judentum und Jude-Sein auf religiösen, ethnischen, rassischen oder kulturellen Grundlagen beruhte. Aber selbst der Wechsel der Religion ermöglichte – wie das Zitat Wilhelm Schmidts zeigt  – aufgrund der Unterwanderung der Theologie durch Rassentheorien keinen Wechsel der Identität mehr. Während der Wechsel der Konfession zwar den Einzelnen 12 Elmayer von Vestenbrugg 1936, 61. 13 Schmidt 1934, 408.

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überlassen war, schien es jedoch im Verständnis der damaligen Geisteswissenschaften ganz und gar unmöglich, die Volks- oder die Rassenzugehörigkeit zu wechseln. Und in jenem Maße, in dem Theologen selbst Anhänger der Rassentheorie wurden, erschienen auch die konfessionellen Übertritte verdächtig. Allerdings blieb der Rassenbegriff im katholischen Antisemitismus umstritten. Selbst einer der vehementesten Antisemiten der österreichischen Christlichsozialen, der mehrmalige Minister Richard Schmitz, betonte 1932 anlässlich der Debatte über die Studentenordnung im Nationalrat,14 man habe im Gesetzesentwurf den Begriff Rasse vermieden, weil man sich auf die »Rassentheorien von heute« nicht verlassen könne, da sie »allzusehr noch dem Wandel der Lehrmeinungen unterworfen« seien. »Wer garantiert uns denn«, fragte Schmitz, »ob sich nicht dieselbe Wandlung in der Rassenlehre, die wir in den letzten fünf bis zehn Jahren beobachten konnten, in den nächsten fünf bis zehn Jahren wiederholt  ? Wir wenigstens lehnen es ab, uns fortwährend in eine andere Rubrik einschachteln zu lassen, so daß jede Generation sozusagen einer anderen Rasse angehört, sondern wir sind der Meinung, daß die Wissenschaft zuerst selbst einheitlich und allgemein anerkannte Lehrmeinungen über das, was Rasse ist und woran man Rasse erkennt, aufstellen muß, bevor sie verlangen kann, daß die staatliche Gesetzgebung diese Lehrmeinungen auf ihre Rechtsordnung anwendet.«15

Die wirkmächtigste Definition Worin nun die Unterschiede, das Anderssein, das Fremde, mithin das Jüdische bestanden, schien offenkundig zu sein. Es offenbarte sich vor allem in Tautologien, wie die Bemerkung des ehemaligen Ministerialrates und Schriftstellers Richard Schaukal zeigt  : »Das Jüdische ist das ihn bestimmende Wesen des als Juden von Juden stammenden Semiten. Es zu beschreiben, erübrigt sich. Daß es grundverschieden ist vom Wesen des Nichtjüdischen, kann nur Verblendung oder hartnäckige theoretische Besserwisserei bestreiten.«16 Als Verwaltungsexperte hätte Schaukal wissen müssen, dass anwendbare Definitionen unbedingte Voraussetzung wirksamer Verwaltungsakte sind. Mit der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten in Deutschland wurde eine praktikable Definition von Judentum und jüdisch unerlässlich  : Für staatliche Repressionen per Verordnung oder Gesetz musste jener Personenkreis, für den sie gelten 14 Siehe dazu weiter unten und den Beitrag von Linda Erker in diesem Band. 15 Stenographisches Protokoll, 29.4.1932, 2081. 16 Schaukal 1932, 176.

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sollten, festgelegt werden. Die wirkmächtigste Definition, die im Deutschen Reich zur Anwendung kam, fand sich im »Reichsbürgergesetz« und »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« vom 15. September 1935 (»Nürnberger Gesetze«17) sowie deren Ausführungsbestimmungen vom 14.  November 1935, die nach dem »Anschluss« 1938 auch in Österreich Gültigkeit erlangten. Es fällt auf, dass diese Definition wiederum auf die Religionszugehörigkeit zurückgreifen musste. Hier findet sich in § 2 Abs. 2 der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz die Erklärung, als »volljüdisch« gelte ein Großelternteil dann, »wenn er der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hat«. § 5 lieferte schließlich die Definition  : »(1) Jude ist, wer von mindestens drei der Rassen nach volljüdischen Großeltern abstammt. § 2 Abs. 2 Satz 2 findet Anwendung.« Personen mit zwei jüdischen Großeltern galten als Juden, wenn sie a) der jüdischen Religionsgemeinschaft angehörten, b) mit einer Person, die als Jude galt, verheiratet waren, c) aus einer Ehe mit einem Juden stammten, d) aus dem außerehelichen Verkehr mit einem Juden stammten. In der Durchführungsverordnung18 zum nach der »Machtergreifung« Hitlers im Deutschen Reich erlassenen »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7.  April 193319 wurde übrigens ein noch rigiderer Arierparagraph formuliert. Danach konnten alle Staatsdiener entlassen werden, denen ein einziger Großelternteil jüdischen Glaubens nachgewiesen wurde. Damit entstand der Begriff des sogenannten »Vierteljuden«. Aller Rassenforschung und Rassentheoriebildung zum Trotz, waren die deutschen Nationalsozialisten – wohl die radikalsten Antisemiten – nicht in der Lage, 1933 bzw. 1935 Juden anders zu bestimmen als über die Religion ihrer Vorfahren. Und das galt auch für alle anderen Antisemiten, auch jene in Österreich. Die Definitionen, die in diesen Gesetzen von 1933 und 1935 zum Einsatz kamen, wurden zur wirkmächtigsten Grundlage der Verfolgung. Auf Basis der damit vorliegenden Bestimmungen wurden Zählungen in Angriff genommen, Arisierungen durchgeführt, Berufsverbote verhängt und schließlich Deportationen durchgeführt.20

17 Reichsbürgergesetz, Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre, DtRGBl. I 1935, 1146ff. 18 Erste Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, 11.4.1933, DtRGBl. 1933 I, S. 195. 19 Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, 7.4.1933, DtRGBl. I 1933, 175–177. 20 Vgl. zum Zusammenhang von Arisierungen und Deportationen Melichar 2016.

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Antisemitische Praktiken Obwohl also der Begriff der Rasse bzw. der Rassenzugehörigkeit juristisch kaum anwendbar war und auch in Österreich mit einer einzigen Ausnahme21 in keinem Gesetzestext vorkam  – baute die Verfassung von 1920 doch allein auf dem Begriff des (Landes- und Bundes-)Bürgers auf –, gab es auf dem Verordnungswege, durch Ausschlussverfahren und informelle Absprachen diverse Versuche, Juden zu entrechten, zu stigmatisieren und auszugrenzen. Zu erwähnen ist erstens die auf Weisung des Innenministers Leopold Waber erfolgte Ablehnung von Optionsanträgen nach dem Staatsvertrag von St. Germain, um die österreichische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Das betraf zumeist Personen, die als Juden galten und die, so hieß es in den Ablehnungen, die Zugehörigkeit zur deutschösterreichischen Rasse nicht nachweisen konnten. Zweitens war es ein Ziel der 1931 beschlossenen »Gleispachschen Studentenordnung«22 der Universität Wien, die alle Studentinnen und Studenten in »Nationen« einteilte, alle diejenigen, die als Juden klassifiziert werden konnten, aus der deutschen Studentennation auszuschließen. Drittens ist an Versuche zu erinnern, Rasse (gemeint waren die Juden und »Zigeuner«) im Rahmen der Volkszählungen 1923 und 1934 zu erfassen. Viertens wurde, vermutlich nach deutschem Vorbild, von der Kriminalpolizei ein sogenannter »Zigeuner-Kataster« oder eine »Zigeunerevidenz«23 geführt und fünftens etablierte sich eine Reihe von nichtamtlichen antisemitischen Praktiken. Diese wurden meist auf lokaler Ebene oder  – ohne Rechtsgrundlage  – gleichsam behördenintern umgesetzt, z. B. gegen Juden gerichtete Aufenthaltsverbote in Ferien- und Kurorten, Einführung von Arierparagraphen durch zahlreiche Vereine bzw. Ausschluss von und Nichtaufnahme von Juden in Vereinen, die Publikation von Personenlisten jüdischer Unternehmer, jüdischer Professoren, jüdischer Ärzte oder die Erstellung von lokalen »Juden-Katastern«24  – und schließlich die informellen 21 Diese Ausnahme ist der Staatsvertrag von St. Germain, Näheres dazu im Folgenden. 22 Wenzel Gleispach versuchte als Rektor der Universität Wien 1929 bis 1930 eine Studentenordnung einzuführen, die 1931 vom Verfassungsgerichtshof aus formalen Gründen aufgehoben wurde, vgl. Melichar 2016, 120f. 23 Vgl. zur Entwicklung dieser polizeilichen Evidenzhaltung von »Zigeunern« Weigl 2012. 24 Bekannt ist die Forderung des christlichsozialen Arbeiterführers Leopold Kunschak nach einem »Juden-Kataster« und eigenen Schulen für jüdische Kinder, vgl. Staudinger 1979. Diese Forderungen wurde auch vom »Antisemitenbund«, in dem einige prominente christlichsoziale Politiker – wie Anton Jerzabek, Andreas Thaler und Richard Steidle – führend tätig waren, übernommen und vom christlichsozialen Zentralorgan »Reichspost« als »notwendig und nützlich« propagiert, vgl. dazu den Artikel  : Anlage eines Judenkatasters für Wien. Ein notwendiges und nützliches Unternehmen des Antisemitenbundes, in  : Reichspost, 11.5.1921, 5. Einzelne lokale NSDAP-Gruppen arbeiteten an einem »Juden-Kataster« (vgl. etwa den von der Ortsgruppe Leoben erarbeiteten »Entwurf eines jüdischen

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Personal-Aufnahmesperren in bestimmten Ämtern. Alle diese Versuche des Zählens blieben Stückwerk, bis 1938 wurde keine Erfassung vollständig durchgeführt. Gewiss jedoch waren viele dieser Listen, Karteien und sonstigen Hilfsmittel in den Händen der NS-Behörden nach dem 11.  März 1938 hilfreich, um Personen, die als Juden verdächtigt wurden, ausfindig zu machen. Sechstens sollte das Zählen von Juden zu einer zahlenmäßigen Beschränkung der Zulassung in Gewerben, Berufen, Studienfächern oder Schulen finden. Der sozialdemokratische Abgeordnete Karl Leuthner konstatierte anlässlich der Debatte über die geplante Volkszählung von 1923 im Nationalrat einen »Feldzug für den Numerus clausus« seitens der Christlichsozialen und Großdeutschen.25 Eine besondere Rolle bei der Umsetzung antisemitischer Praktiken spielte der Staatsvertrag von St. Germain, der – am 10. September 1919 unterzeichnet – für Österreich am 16. Juli 1920 Gesetzeskraft erlangte. Darin war tatsächlich von »Rasse« die Rede, einerseits in den Art. 63 und folgende, wo es um den Minderheitenschutz ging, andererseits vor allem aber im Art. 80, wo das Optionsrecht geregelt war. Dort hieß es  : »Personen, die in einem zur ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie gehörigen Gebiet heimatberechtigt und dort nach Rasse und Sprache von der Mehrheit der Bevölkerung verschieden sind, können innerhalb eines Zeitraumes von sechs Monaten nach dem Inkrafttreten des gegenwärtigen Vertrages für Österreich, Italien, Polen, Rumänien, den serbisch-kroatisch-slowenischen Staat oder die Tschecho-Slowakei optieren, je nachdem die Mehrheit der Bevölkerung dort aus Personen besteht, welche die gleiche Sprache sprechen und derselben Rasse zugehören wie sie.«26 Die problematische – wenngleich nicht falsche – Übersetzung des Begriffs »race« durch »Rasse« ermöglichte eine Rechtspraxis der Behörden und auch des Verwaltungsgerichtshofes, welche die »Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volksstamm« einforderte.27 Aufgrund dieser Interpretation wurden die zahlreichen Antragsteller, die für die österreichische Staatsangehörigkeit optierten, genötigt, ihre »Rasse« nachzuweisen. Allerdings wurde nicht darauf hingewiesen, wie sie das hätten tun sollen oder können. Diese Unklarheit führte zu zahlreichen Ablehnungen. Friedrich Tezner, Mitglied des Verwaltungsgerichtshofes, kritisierte diese Spruchpraxis scharf.28 Gleichwohl wurde Katasters für den Gerichtsbezirk Leoben«, 1924, in  : Steiermärkisches Landesarchiv, Kapselsammlung, Kt. 120), desgleichen die diversen Publikationsorgane der NSDAP, vor allem etwa der »Eiserne Besen«, das Publikationsorgan des Salzburger »Antisemitenbundes«, vgl. Fellner 1979, 2, 159  ; Maslo 1999, 261–266. 25 Stenographisches Protokoll, 24.1.1923, 5185. 26 Staatsvertrag von St. Germain-en-Laye, 10.9.1919, StGBl. 90/1920 (Art. 80). 27 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes Nr. 13.300 (A.), 8.6.1923, in  : Schuster 1924, 123–125. 28 Vgl. Kolonovits 2002, 50f.; Burger 2014.

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durchgesetzt, dass Rasse nicht im Sinne von Nationalität zu verstehen sei, sondern als »eine von der Sprache selbst unabhängige, dem Menschen inhärierende, durch physische und psychische Momente bestimmte Eigenschaft dauernden Charakters […], die nicht willkürlich abgelegt oder verändert werden kann«.29 Obwohl es für derartige »physische und psychische Momente bestimmte Eigenschaft dauernden Charakters« keinerlei Prüf- oder Messverfahren gab, der Rassebegriff also, wie etwa Erich Voegelin noch zehn Jahre später feststellte, selbst von den Vertretern der Rassenkunde nicht auf die Bevölkerung angewandt werden konnte,30 wurde er – zumindest die Einbürgerung betreffend – für juristische Entscheidungen herangezogen.

Identifizierungsprobleme Mag das Definieren von Juden aufgrund der dabei möglichen Willkür kaum Schwierigkeiten bereitet haben – legendär ist der sowohl dem Bürgermeister Karl Lueger als auch Hermann Göring zugeschriebene Spruch »Wer ein Jude ist, bestimme ich«  –, das Identifizieren von Juden gestaltete sich schwieriger  : Naturwissenschaftliche Verfahren zur sicheren Identifizierung existierten nicht, weder ließ sich das Judentum anhand von Blutuntersuchungen nachweisen, noch gab es anthropologische Messverfahren, die zur ethnischen oder rassischen Klassifikation irgendwelcher äußeren körperlichen Merkmale getaugt hätten. All die Listen von Juden, die in den 1920er und 1930er Jahren produziert wurden, waren daher willkürlich und – gemessen an ihrem eigenen Anspruch, Juden zu identifizieren  – fehlerhaft. Als der Vorarlberger Landeshauptmann Otto Ender im Landtagswahlkampf 1928 den Vorarlberger Sozialdemokraten vorwarf, sie seien von jenen Juden, die die SDAP führten, abhängig, nannte er 13 Personen  : »Dr. Bauer, Dr. Eisler, Dr. Danneberg, Eldersch, Dr. Breitner, Dr. Ellenbogen, Dr. Adler, Austerlitz, Dr. Deutsch, Klein, Leuthner und von den Frauen Freundlich und Popp.«31 Von diesen 13 waren zumindest drei (nämlich Karl 29 Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes Nr. 13.300 (A.), 8.6.1923, in  : Schuster 1924, 124. 30 Voegelin stellte in seinem 1933 veröffentlichten Werk »Rasse und Staat« pointiert fest, dass »die Anthropologen, die sich als Anhänger der naturwissenschaftlichen Methode ausgeben, seelische oder geistige Rassetypen aufstellen«, sich zwangsläufig »eines Verfahrens bedienen, das mit den Verfahren der Biologie oder irgendeiner anderen Naturwissenschaft nicht das geringste zu schaffen hat« und daher »mit einem Verfahren arbeiten, das heute konventionell geisteswissenschaftlich genannt wird«, Voegelin 1933, 13. 31 [Otto Ender], Die Antwort an Dr. Danneberg. Einiges aus der Rede des Landeshauptmannes Dr. Ender auf der Wählerversammlung in Rankweil am Sonntag, 26.2., in  : Vorarlberger Volksblatt, 28.2.1928, 2. Vgl. zum Kontext der Rede und zum Antisemitismus des Vorarlberger Landeshauptmanns Otto Ender den Beitrag im vorliegenden Band  ; vgl. zu Ender  : Melichar 2012 und Melichar 2015 a.

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Leuthner, Matthias Eldersch und Adelheid Popp)  – wenigstens nach den Bestimmungen des deutschen »Reichsbürgergesetzes« – keine Juden  ; außerdem hatte Ender wohlweislich andere nichtjüdische Politiker unter den führenden Sozialdemokraten – wie Karl Renner und Karl Seitz  – gar nicht erst erwähnt, um die SDAP als reine »Judenpartei« darzustellen. Was immer wieder als Hindernis bei diversen Identifizierungsversuchen angesehen wurde, war das unbotmäßige Verhalten jener, die man identifizieren und zählen wollte  ; Josef Nadler bemerkte in seinem 1932 publizierten Aufsatz »Juden und die Literatur«  : »Denn neben den jüdischen Schriftstellern, die aus ihrem Judentum kein Hehl machen, gibt es sehr viele, die um keinen Preis eine solche Feststellung wünschen. Solange man aber keinen erschöpfenden Überblick über den tatsächlichen Anteil der Juden an der deutschen Literatur hat, kann man nur mit allem Vorbehalt abgrenzen, was deutsch und was jüdisch ist.«32 In Ermangelung sicherer Identifikationsmöglichkeiten in Zweifelsfällen verfiel man auf die sogenannte »Judenriecherei«,33 die – vor allem in Wien, wo sie eine Art Volkssport wurde – nicht immer bösartig, aber ohne ein antisemitisches Dispositiv undenkbar war. Ludwig Hirschfeld, Redakteur der »Neuen Freien Presse«, etwa hat auf die große Bedeutung der Frage »Ist er ein Jud  ?« 1927 hingewiesen.34 Auf die einzig sichere Art und Weise, herauszufinden, ob eine Person Jüdin oder Jude sei und bzw. oder sich als Jüdin oder Jude fühlte und verstand, griff man so gut wie nie zurück  : Die persönliche und direkte Frage ist so gut wie nie dokumentiert. Man könnte nun Beispiele auflisten von Jüdinnen und Juden, die nicht als solche identifiziert wurden, von Nichtjüdinnen und Nichtjuden, die als Juden bezeichnet wurden – darauf wird hier verzichtet.35 Nur ein Beispiel soll erwähnt werden, um zu zeigen, dass jene, die als Juden bezeichnet wurden, ohne Juden zu sein, sich in einer schwierigen Situation befanden. Ernst Krenek hatte regelmäßig als junger Komponist die Erfahrung gemacht, als Jude angegriffen zu werden. »Ich 32 Nadler 1932, 518. 33 Die »Judenriecherei« bedeutete nicht nur die äußerst fehleranfällige intuitive Identifizierung von Juden, sondern auch eine Vorgangsweise, mit Hilfe von Anspielungen, Verdächtigungen, Vermutungen das Jüdische irgendwo an Gesichtern, Namen oder Verhaltensweisen festzumachen, vgl. dazu Kremer 2007, 111. In Wien wurde der Ausdruck in der Ära des Bürgermeisters Karl Lueger geläufig und etwa von Anton Bach 1906 in der Schrift »Österreichs Zukunft und die Christlich-Sozialen« offen angesprochen, vgl. Boyer 2010, 254. 34 Hirschfeld 1927, 56f.; vgl. dazu Beller 2009, 1–16. 35 Noch immer werden – nun allerdings mit anderen und wechselnden Motiven – Nichtjuden in Juden verwandelt. Zuweilen dienen die Zuschreibungen als Erklärungen für eine wie immer geartete geistige Befindlichkeit, so etwa in William M. Johnstons Werk »Der österreichische Mensch«, vgl. Johnston 2011. Er bezeichnet Nichtjuden als Juden, um ihnen umgehend die Fähigkeit abzusprechen, ernsthaft über Österreich nachzudenken, weil sie eben Juden seien, vgl. dazu Melichar 2011, 382–384.

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erinnere mich nicht«, berichtet Krenek, »wann die Gegner moderner Musik unter den Kritikern zum ersten Mal die Nachricht verbreiteten, daß ich ein Ostjude sei, der es darauf abgesehen habe, die heiligen Brunnen deutscher Kunst zu vergiften. Da solche Angriffe nur aus der tiefsten Provinz der nationalistischen Presse kamen, wurden sie von niemandem beachtet, es sei denn, daß man sie sehr komisch fand, weil die Verteidiger teutonischer Reinheit in einem Stil zu schreiben pflegten, der sie in jeder Volksschule zu einem Quell der Heiterkeit gemacht hätte.«36 Nicht nur die banale Tatsache, dass es sich um eine Unwahrheit handelte, war ein Problem, sondern vielmehr auch der Umstand, dass eine Korrektur des Sachverhaltes die Vermutung hätte unterstützen können, dass der als Jude Bezeichnete das als Beleidigung, als Denunziation empfinde.37 Es erforderte eine gewisse charakterliche Stärke, der Versuchung zu widerstehen, eine Beschimpfung als Jude zurückzuweisen, indem man darauf hinwies, dass man keiner sei. Der im Deutschen Reich 1933 von offiziellen Stellen mehrfach als Jude bezeichnete Nichtjude Franz Blei bemerkte gegenüber Carl Schmitt lapidar, eine Berichtigung sei angesichts der Zeitumstände »nicht wichtig«.38

Probleme beim Zählen Wie sollte nun das Zählen von Juden funktionieren  ? Es gab – von privaten Versuchen, einen Judenkataster oder Judennachweis zu erstellen, einmal abgesehen – mehrere ernsthafte Versuche, die Juden zu zählen, vor allem die Volkszählungen 1923 und 1934.39 Um es kurz zu machen  : Obwohl einzelne Politiker wie Kurt Schusch-

36 Krenek 1998, 312. 37 Dazu die Schilderung von Krenek  : »Gewiß, wenn jemand behauptete, ich sei Jude, hätte ich ohne weiteres einen öffentlichen Widerruf dieser Aussage verlangen können. Aber ich hielt eine solche Bemerkung weder für wichtig genug, um der Zeitung von einem Rechtsanwalt drohen zu lassen, so daß sie die Berichtigung druckte, noch brachte ich es fertig, durch eine solche Handlung implizit zu verstehen zu geben, daß ich es für eine Schande hielte, als Jude bezeichnet zu werden. Ich habe an diesem Grundsatz auch dann festgehalten, als ich Unannehmlichkeiten und Ärger hätte vermeiden können, wenn ich dieser Unwahrheit widersprochen hätte, denn ich fand, daß es in der Zeit der furchtbarsten Judenverfolgung feige und entwürdigend gewesen wäre, den Umstand, daß ich Nichtjude war, auszunützen. Ich bedaure, daß es einen Augenblick gab – glücklicherweise nur einen –, in dem ich in diesem Punkt schwach wurde, aber gleichfalls glücklicherweise hatte dieses kurze Schwanken keine Folgen, und wurde nicht bekannt«, ebd. 38 Franz Blei an Carl Schmitt, 17.8.1933, in  : Blei 1995, 83. 39 Vgl. Durdik 1973, 225–266  ; Ladstätter 1973, 267–294, und Österreichisches Statistisches Zentralamt 1990.

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nigg gerne alle Juden – über die Religionszugehörigkeit hinaus – gezählt hätten,40 nahm man davon Abstand. Beamte wiesen darauf hin, welche Schwierigkeiten es 1923 gegeben habe, als man nach der »Rasse« gefragt habe. Auch Vinzenz Schumy hat 1929, damals Innenminister, festgestellt  : »Was die Rassenzugehörigkeit anlangt, so wäre es natürlich sehr interessant, eine statistische Nachweisung darüber zu erhalten, wenn nicht die Tatsache bestünde, daß die Rassenzugehörigkeit einwandfrei nicht festzustellen ist. Es gibt doch Uebergänge auf allen Gebieten und so auch auf dem Gebiet der Menschenrasse. Die reine Rassenzugehörigkeit ist zweifellos im Wege einer Volkszählung nicht zu ermitteln. Die Frage, ob und inwieweit, wie bereits in der letzten Volkszählung, eine Zählung der Juden möglich ist, müßte wohl noch überprüft werden.«41 In der Diskussion um die Volkszählung 1934 stellte jedenfalls der Innenminister Robert Kerber im Ministerrat klar, »es müßten diejenigen als Juden gezählt werden, die das Bekenntnis zum israelitischen Glauben ablegten, wollte man sich nicht nur auf einen dokumentarischen Beweis einlassen, der zu weitläufig wäre«.42 Mit der außerdem diskutierten Erfassung der »Volkszugehörigkeit«, bei der es sich nur um »freies Bekenntnis« handelte, hätte man Juden eben nicht erfassen können. Ein Erfassen der »Rasse« wurde 1934 überhaupt nicht in Erwägung gezogen. Dass die Regierung gerne die »Volkszugehörigkeit« erhoben hätte, geht aus Äußerungen Kerbers hervor. Er habe sich jedoch dazu entschlossen, »nach der sprachlichen Zugehörigkeit zu fragen und die Erklärung beizufügen, daß diese durch diejenige Sprache bestimmt werde, deren Kulturkreis der Befragte sich zugehörig fühle« und »als sprachliche Zugehörigkeit dürfe nur eine angegeben werden«. »Zigeuner«, so bemerkte der Minister, »würden besonders gezählt«. Wenn also selbst dem Staat die Erfassung der ethnischen oder rassischen Herkunft über Sprache und Religion hinaus nicht möglich schien, wer sollte überhaupt derartige Zählungen durchführen können  ? – eigentlich nur jener, der zählbare Einheiten definieren und über sie verfügen konnte. Das waren neben der bundesstaatlichen Statistik, die mit Hilfe ihrer Zählorgane Befragungen von Haus zu Haus durchführte, und den Universitäten, welche die Studierenden erfassten, im Grunde nur die Kultusgemeinden und die Pfarrämter. Hier wurden die Geburten registriert, die Todesfälle, 40 Justizminister Schuschnigg sagte im Ministerrat in einer Sitzung am 5.1.1934  : »Wenn man die Juden erfassen könnte, wäre dies gewiß zweckmäßig«, fügte jedoch gleich hinzu, »doch ließe sich hierfür keine entsprechende Formulierung finden«, Neck/Wandruszka 1984, 377 (5.1.1934, Stellungnahme Minister Schuschnigg). 41 [Bundesminister Vinzenz Schumy im Finanz- und Budgetausschuß], in  : Wiener Zeitung, 23.11.1929, 5. 42 Neck/Wandruszka 1984, 377 (5.1.1934, Stellungnahme Minister Kerber).

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die Austritte und Übertritte. Allerdings wurde im Zuge dessen nur nach Religion, Beruf, allenfalls noch nach der Muttersprache gefragt, nie nach der »Rasse«. Auf die in den Matriken erfassbaren Zahlen aber wurde kaum je zurückgegriffen, weil der Aufwand immens gewesen wäre und man für die Erhebung eines eigens geschulten, bürokratischen Apparats bedurft hätte. Das verfügbare Zahlenmaterial kam daher großteils aus der staatlichen Statistik. Abgesehen von den staatlichen Volkszählungen gab es also keine seriöse Zählung der Juden. Die Volkszählungen aber erhoben jeweils nur den Istzustand hinsichtlich des religiösen Bekenntnisses. Für Antisemiten war das wenig befriedigend, da sie sich durch jene Juden, die konvertiert waren und sich nun – in ihren Augen – als evangelische oder katholische Christen »lediglich ausgaben« oder gar konfessionslos waren, in weitaus höherem Maße bedroht sahen, als durch jene, die sich offen zum Judentum bekannten. Zahlen, die präsentiert wurden, basierten also so gut wie nie auf tatsächlichen Zählungen, sondern meist nur auf Schätzungen und Erfindungen, in die stets die Ängste, Phantasien oder Wunschvorstellungen derer, die sie kreierten, einflossen.

Jenseits der Zahl – vom Zählen zum Erzählen Selbst bei kleineren Gruppen, etwa bei Berufsgruppen wie den Schriftstellern und Literaturschaffenden, war zu sehen, dass kaum tatsächlich definiert, identifiziert und – so gut wie möglich – seriös gezählt, sondern vielmehr einfach behauptet wurde. Josef Nadler, Universitätsprofessor für Deutsche Literatur, stellte 1932 in einem Aufsatz über »Juden und die Literatur« fest, was »zuerst ins Auge« falle, sei »nicht eine besondere Geistigkeit der jüdischen Schriftsteller, sondern ihr zahlenmäßiges Übergewicht«. Es handle sich also um ein soziales und wirtschaftliches Problem. »Dieses zahlenmäßige Übergewicht, schrieb Nadler weiter, »ist nicht die Folge einer geistigen Überlegenheit und eines stärkeren Vorwalten schöpferischer Talente. Hier ist ein geschichtlicher Vorgang wirksam gewesen, der sich ziemlich eindeutig umgrenzen und bestimmen lässt. Es ist die Zusammenballung und Industrialisierung des Buchbetriebes, die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts nach den gleichen wirtschaftlichen Grundsätzen wie auf den anderen Gebieten vollzogen. Aus einem persönlich ausgeübten Handwerk, zu dem sich Schriftsteller und Buchdrucker zusammengefunden hatten, beginnt sich um dieselbe Zeit ein kapitalistischer Großbetrieb zu entwickeln, als das Ghetto sich öffnet und die jüdische Intelligenz auf den Markt drängt.«43

43 Nadler 1932, 517.

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Nadler unterstellte, dass Juden lediglich deshalb als Schriftsteller erfolgreich wurden, weil sie gleichzeitig den »Apparat« beherrschten, der den Erfolg bestimmte  : Druckereien, Verlage, Theater- und Pressewesen. Das Bild, das Nadler vom literarischen Markt skizzierte, ist getragen von der unterschwelligen Behauptung, Juden würden zusammenhalten, seien einig in ihren jeweiligen Interessen. »Die Verfügung über diesen Apparat«, führte Nadler aus, »bedeutet Bucherfolg und gesichertes Erträgnis. Und diese Verfügung kommt heute vom Verlagslektor über die Propagandamittel der Presse bis zum Theaterdirektor und zum Funkhaus dem jüdischen Schriftsteller sehr wesentlich zugute. Und da diese Entwicklung sich in anderen Ländern ähnlich abgespielt hat, so ist heute das, was internationale Literatur heißt, weitgehend jüdische Literatur in verschiedenen Sprachen, so daß sich auch das Übersetzergeschäft in demselben Kreise abwickelt.«44 Die Beziehungen zwischen Autorinnen und Autoren einerseits, den Druckereien, Verlagen und dem Pressewesen andererseits waren selbstverständlich höchst komplex. Nadler behauptete nicht direkt eine Benachteiligung nichtjüdischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller durch Verlage, Theater, Presse und Rundfunk, aber er konstatierte lapidar ein »Übergewicht der Juden im modernen Literaturbetrieb«,45 bedingt durch eine für Juden günstige Konstellation, die nur ausgenutzt werden musste. Was Nadler unterschlug, ist die Tatsache, dass derartige Netzwerke sowohl für katholische, sozialdemokratische und völkische Autorinnen und Autoren existierten, umgekehrt jedoch viele der als »jüdisch« klassifizierten Verlage und Zeitungen auch Nichtjuden offen standen. Ungeachtet aller Schwierigkeiten war das »Judenzählen« offenbar notwendig, um das permanente jüdische Übergewicht zu bestätigen. Die große, immer allzu große Zahl sollte das eigene Ohnmachtsgefühl, das Gefühl der Unterlegenheit begründen und rechtfertigen. Wer zu vielen Anderen, zu vielen Juden, gegenüberstand, konnte erklären, warum er machtlos war und ein Verlierer. Unter den Politikern der Ersten Republik und all jenen, die politisch interessiert waren, v. a. bei den Parteigängern und Sympathisanten jener politischen Kräfte, die in wechselnden Konstellationen an den Regierungskoalitionen beteiligt waren, intensivierte sich aus verschiedenen Gründen das Gefühl der Ohnmacht. Eine Krise folgte der anderen  : Auf die Versorgungskrise nach Kriegsende folgten Inflation und Hyperinflation, diverse große Zusammenbrüche, ausgelöst durch die misslungene Baisse-Spekulation gegen den französischen Franc im Jahr 1924 sowie schließlich durch die Konsolidierung und Goldbilanzierung 1925  ; darauf folgten politische Krisen 1927 (Justizpalastbrand) und 1929 (Ver44 Ebd., 517f. 45 Ebd., 518.

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fassungskrise) sowie schließlich die Bankenkrise von 1931. Aufgrund der wirtschaftlichen Situation und der finanziellen Abhängigkeit von internationalen Kreditgebern waren die Möglichkeiten der Politik äußerst beschränkt  : Weder vermochte man das Elend der Arbeitslosen wesentlich zu mildern, noch gelang es, wirtschaftspolitische Anreize zu schaffen. Die sozialdemokratische Opposition drohte stärker und stärker zu werden. War es ein Zufall, dass nicht wenige Politiker »die Juden«, nicht zuletzt die »jüdischen« Führer der Arbeiterpartei für alle tatsächlichen oder eingebildeten Probleme und Krisen verantwortlich machten  ? Der schon erwähnte Vorarlberger Landeshauptmann Otto Ender, ein nüchterner christlichsozialer Realpolitiker, der im Dezember 1930 Bundeskanzler und 1933 Minister im Kabinett von Engelbert Dollfuß werden sollte, konstatierte 1928  : »Es gibt auf Erden zwölf Millionen Juden. Es könnten beim besten Willen nicht alle in Jerusalem sein. Sie müssen sich anderswo auch aufhalten, und vielleicht gibt es keinen anderen Weg, als sie als Gäste überall zu dulden. Ein Unglück ist es natürlich immer, wenn die Zahl der Gäste in einem Lande oder in einer Stadt gar zu groß wird. Das Unglück ist umso größer, weil der Jude von Haus aus dazu neigt, seine Ueberlegenheit zu zeigen. So kommt es dann, dass wir hie und da den Eindruck haben, er sei arrogant. Und noch aus einem anderen Grunde hat es schlimme Folgen, wenn dieses Gastvolk auf engerem Raum zu zahlreich wird  : Der Jude neigt nämlich außerordentlich stark dazu, in kontrollierende Stellung zu gehen, also auch die Kontrolle seines Wirtsvolkes zu übernehmen. Er kontrolliert heute in fast allen europäischen Staaten die Finanzen und sein Bestreben ist, auch die Kontrolle des Parlaments zu übernehmen und selbst die Kontrolle der Regierung.«46 Es war also nicht nur die bloße Zahl, sondern auch die damit verknüpfte empfundene Unterlegenheit, die zur Belastung wurde. Man phantasierte eine »jüdische« Überlegenheit, eine »Arroganz« und schließlich darüber hinaus, eine Kontrolle und Macht, insbesondere eine wirtschaftliche Macht, die ihren Ausdruck wiederum in der großen Zahl der Juden fand. Dabei ist der springende Punkt, dass das Zählen von Juden, also die Konstruktion einer bestimmten zahlenmäßigen Größe, immer einherging mit der Unterstellung, dass das, was vermeintlich oder tatsächlich gezählt wurde, eine Einheit bilde, in sich im Wesentlichen homogen. Das war (und ist) freilich eine reichlich absurde Vorstellung. Aber man stößt immer wieder auf die Vorstellung, dass, so unterschiedlich die Juden auch gewesen sein mögen, sie doch irgendwie alle miteinander auf geheimnisvolle Weise verbunden wären und gegen die Nichtjuden zusammenhielten. Emmerich Czermak, christlichsozialer Politiker und Unterrichtsminister von 1929 bis 1932, formulierte 1933, es sei »die unumstößliche Tatsache«

46 Ender 1928, 2, vgl. dazu den Beitrag des Autors über Otto Ender im vorliegenden Band.

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von Bedeutung, »daß unverwischbare Kennzeichen der Wesensgemeinschaft und der Schicksalsverbundenheit unter den Juden der Welt bestehen«.47 Darüber hinaus kursierte die Meinung, dass sich durch die Ereignisse des Weltkrieges und durch sie bedingte demographische Verschiebungen »die Juden« in Österreich verändert hätten. Der Schriftsteller Franz Karl Ginzkey – bis heute vor allem als Autor von »Hatschi Bratschis Luftballon«48 bekannt – betonte in einem Aufsatz über »Das jüdische Wien« 1928 zum einen, es sei »die relative Judenzahl in Wien sehr stark gestiegen« und bezifferte sie unter Einbeziehung der Getauften und Konfessionslosen auf ein »Sechstel der Gesamtbevölkerung«. Zum anderen behauptete er, es sei neben der »quantitativen Verschiebung« zu einer qualitativen Veränderung gekommen. Die Juden Wiens wären in den 1920er Jahren »anders geworden, feindselig gegenüber unserer Art und allem deutschen Wesen«. Er behauptete  : »Sie ließen nicht mehr von ihrem Sein, unterstrichen es, verstärkten es geradezu. Nicht sie wollten mehr christlich werden, sie wollten uns nun ihr Gepräge aufzwingen. Das ist ihnen im heutigen Wien in weitem Maße gelungen. Diesem bewußt uns feindlich gewordenen Judentum stand keine Gesellschaftsklasse gleicher Geschlossenheit gegenüber.« Von dieser Auffassung ist es nicht weit zu klassischen Verschwörungstheorien. Ginzkey war sich dessen selbst bewusst, denn er stellte gleich klar  : »Ich halte die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion für eine Erfindung.« Worauf er aber Bezug nimmt, das sind die jüdischen Intellektuellen in der sozialdemokratischen Partei, die offensichtlich nicht wenigen Antisemiten als Surrogat für die »Weisen von Zion«49 dienten. Im Gegensatz zur – von russischen Geheimdienstkreisen erfundenen – vermeintlich weltverschwörerischen Gruppe, die von vielen als Realität phantasiert wurde, waren die bürgerlichen Intellektuellen in der Sozialdemokratie, darunter gewiss auch Juden, eine handfeste und beunruhigende politische Realität.50 Für Ginzkey – wie auch für die meisten anderen Antisemiten – handelte es sich allerdings ausschließlich um Juden  : »Das Wiener Judentum«, schreibt Ginzkey, »ersetzte der jäh zur wirklichen Bedeutung gelangten Sozialdemokratie in weitestem Ausmaße die sonst fast fehlende intellektuelle Führerschichte«.51 Das Zählen von Juden führte also über das Aufzählen zum Erzählen irgendwelcher Geschehnisse, welche die imaginierte Übermacht und Gefährlichkeit der Juden belegen sollte. Bestandteil des Narratives zu ihrer Dämonisierung war, dass Juden zentrale 47 Czermak 1933, 40. 48 Vgl. Ginzkey 1904. 49 Vgl. zum Kontext der »Protokolle der Weisen von Zion«  : Boltanski 2013, 268–276. 50 Vgl. zu den Verwerfungen in der Intelligenz der Zwischenkriegszeit, in der der Antisemitismus als ein intellektuelles Projekt mit neuen Qualitäten entworfen wurde  : Melichar 2015b, 284f. 51 [Ginzkey] 1928.

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Positionen aus offenbar unerklärlichem Grund – wenn nicht widerrechtlich oder widernatürlich – einnahmen. Dass die intellektuelle Führungsriege der österreichischen Sozialdemokratie zu einem großen Teil aus Jüdinnen und Juden bestanden habe, war genauso ein zentrales Element dieses Narratives wie der behauptete exorbitante jüdische Anteil unter den Reichen, jener unter den Schriftstellern und Künstlern, den Gelehrten und Wissenschaftlern. Die von politischen Parteien und Studentenorganisationen imaginierte »jüdische Gefahr«,52 angesichts der kleinen Zahl von Juden schwer vorstellbar, wurde durch bedrohlich wirkende Bio-Metaphern suggeriert. Die Rede von der »Infection durch jüdischen Geist«53 wurde ebenso geläufig wie das Bild vom Juden als »Parasiten«.54 Karl Anton Rohan, der Herausgeber der »Europäischen Revue«, verknüpfte 1932 in seiner Analyse der »Judenfrage« en passant die Elemente  : »Der seit Jahrhunderten in diesen Ländern seßhafte Jude dringt also in den Volkskörper ein. Sein sozialer Aufstieg zieht den Ostjuden an. Stetig wachsender Zuzug aus Osteuropa vermehrt die Zahl, Eroberung wichtiger Machtpositionen den Einfluß des Judentums in Mitteleuropa. […] Der Weltkrieg schafft neue Tatsachen. Hunderttausende von Juden aus dem Kriegsgebiet flüchten in das deutsche und österreichische Hinterland, und eine große Zahl von einheimischen, aber auch zugewanderten Juden bereichert sich an der Kriegswirtschaft.«55

Resümee Dem Zählen ging notwendigerweise die Unterstellung einer jüdischen Identität voraus. Um etwas Zählen zu können, muss von individuellen Besonderheiten, Eigenheiten etc. abstrahiert werden. Die jüdische Identität war – meist in antisemitischem Kontext entstanden – stets eine Fiktion, die unterstellt wurde, anders als jene Identität, die Personen in ihrem sozialen Umfeld sich aushandelten. Selbst dann, wenn es sich bei den Gezählten nach irgendeiner Definition um Juden handelte, war es zweifelhaft, ob sie sich in irgendeiner Hinsicht »als Juden« begriffen oder empfanden. Dem 52 Denkschrift des Kulturamtes der Deutschen Studentenschaft vom Juni 1925, zit. n. Welan/Ebner 1997, 77. 53 Heimito Doderer griff in seinem Tagebuch die Rede von der jüdischen Gefahr auf, bezeichnet sie jedoch als lächerlich und argumentierte gegen die angebliche »Infektion durch jüdischen Geist«, der nur »geistig gänzlich entfärbte und entsaftete Schichten grosstädtischer Bevölkerung unterliegen«, Doderer 1996, 294 (September 1925). 54 Vgl. dazu Bein 1966. 55 Rohan 1932, 455.

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Identifizieren und Zählen ging stets die Aberkennung des subjektiven Bekenntnisses des Einzelnen voraus. Sigmund Freud formulierte 1925 in seiner »Selbstdarstellung«  : »Meine Eltern war Juden, auch ich bin Jude geblieben.«56 Freud war  – ungeachtet seiner Religionskritik – Zeit seines Lebens Mitglied der Kultusgemeinde. Viele Juden waren jedoch ausgetreten und konvertiert, manche sogar mehrfach. Oftmals waren schon die Eltern oder Großeltern konvertiert. Manche wussten daher gar nichts von der jüdischen Herkunft ihrer Familien. Nicht wenige, die durch Antisemiten, spätestens durch die Geltung des »Reichsbürgergesetzes« zu Juden gemacht wurden, erfuhren auf diese Weise erstmals über ihre Herkunft.57 Manche hatten sich, wie etwa der Innsbrucker Universitätsprofessor Carl Lehmann-Haupt (1861–1938),58 von ihrer jüdischen Herkunft innerlich so weit entfernt, dass es ihnen kaum bewusst sein konnte, auf welche Weise ihr Wunsch, im Deutschtum aufzugehen, mit ihrer jüdischen Herkunft zu tun hatte. Es existierte eine große Variationsbreite von Bekenntnissen, Selbstbildern und Identitätskonstruktionen. Selbstverständlich machten die Konstrukteure der diversen Antisemitismen es sich nicht zur Aufgabe, ein facettenreiches und differenziertes Bild vom Judentum zu erarbeiten, im Gegenteil  : Die Herstellung des Feindbildes Jude operierte mit extremen Vereinfachungen, Reduktionen und Verzerrungen. Durch Entpersonalisierung wurde eine Abstraktion – »der Jude« – geschaffen, die zur Vorstellung der Juden als einer homogenen Gruppe, eines zusammengehörenden und zusammenhaltenden Volkes beitrug. Zwar gab es – nicht zuletzt in Reaktion auf antisemitische Praktiken in Politik und Verwaltung – Bemühungen diverser jüdischer Parteien, Verbände und Vereine, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zu stiften und einen Zusammenhalt unter Juden herzustellen.59 Doch diese Versuche scheiterten an divergierenden Lebensentwürfen, den unterschiedlichen Vermögensverhältnissen und Klassenzugehörigkeiten. Das Zählen von Juden bzw. die Behauptung einer großen Zahl von Juden, die Konstruktion einer jüdischen Übermacht, etwa in den Worten des Bischofs Alois Hudal »das übermässige Eindringen der Juden in Mittel- und Hochschulen, im Arzt-

56 Freud 1925, 34. 57 Am extremsten ist der Fall Robert Schüllers (1899–1943), der sich 1924 den Nationalsozialisten anschloss, höherer NS-Funktionär wurde und nach dem Anschluss erfuhr, dass drei seiner Großeltern der jüdischen Religionsgemeinschaft angehört hatten, vgl. Albrich 1999, 239–270. 58 Vgl. zu Lehmann-Haupt die Studie von Hagen 2015, 110  : »Carl Lehmann-Haupt entstammte einer Familie mit deutsch-jüdischen Wurzeln, aber er war kein Jude. Zum Juden erklärten ihn letztendlich die Antisemiten.« 59 Vgl. dazu Ahlheim 2010, 66f.

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und Advokatenberuf«,60 wurde zu einem zentralen Merkmal des antisemitischen Diskurses, das Zählen und Erheben von Juden ein wichtiges taktisches Element jener judenfeindlichen Praktiken, deren sich sowohl christlichsoziale wie völkisch-deutschnationale und nationalsozialistische Organisationen und Publikationen bedienten.61 Das Zählen führte über das Aufzählen zum Erzählen der Legende von der sehr variablen und anpassungsfähigen jüdischen Machtposition, die  – in welchen Zusammenhängen auch immer  – als kränkende Ungerechtigkeit empfunden wurde. Sie avancierte zum zentralen Element einer negativen Mythologisierung, mithin einer Dämonisierung, die auch schon begründete, warum jene, die als Juden erkannt wurden, bekämpft werden durften. Letztlich blieb, wie 1933 Erich Voegelin formulierte, der Rassenhass vor allem in Deutschland gerade aufgrund der kleinen Zahl an Juden ein Rätsel, von dem er meinte, dass es vielleicht nie gelöst werden könne  : »Daß gerade die Juden in so außergewöhnlicher Intensität zur Gegenidee der Deutschen geworden sind, ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie im Deutschen Reich nur ein Prozent der Bevölkerung ausmachen. Wie konnte eine zahlenmäßig so verschwindende Minorität so viel Hass auf sich vereinigen, der zweifellos zu einem ganz starken Teil in einem Gefühl der Unterlegenheit auf Seiten der Deutschen ihren Ursprung hat, in einer immer wieder in den antisemitischen Schriften kundgegebenen Angst vor der Herrschaft der Juden, in einem Glauben an weltumspannende mit diabolischer Klugheit geleitete Organisationen des gesamten Judentums zur vollständigen wirtschaftlichen Versklavung der Arier und im besonderen der Deutschen.«62 Das für Voegelin so rätselhafte Missverhältnis zwischen der verhältnismäßig kleinen Zahl von Juden und dem großen Hass, mit dem sie konfrontiert waren, bot für Sigmund Freud gerade eine Erklärung. Gerade weil Juden stets »als Minorität unter anderen Völkern leben«, werde der Judenhass möglich, »denn das Gemeinschaftsgefühl der Massen braucht zu seiner Ergänzung die Feindseligkeit gegen eine außenstehende Minderzahl, und die numerische Schwäche dieser Ausgeschlossenen fordert zu deren Unterdrückung auf.«63 Die Minorität, die Minderzahl, die kleine Zahl  : Das führt zurück zum Anfang, zur Rede von der großen Zahl von Juden da und dort. Gerade weil die Zahl der Juden 60 Hudal 1937, 87. 61 Shulamit Volkov hat schon 1978 den Antisemitismus als »kulturellen Code« bezeichnet, der eine politische Gegenkultur formierte. Interessant wäre die Frage nach Stellenwert oder Rang der Zahl bzw. der Mengenverhältnisse in diesem »Code«, vgl. Volkov 2000, 13–36. 62 Voegelin 1933, 182. 63 Freud 1939, 538. Auf Freuds Erklärung des Antisemitismus und die von ihm untersuchten »tieferen Motive des Judenhasses« kann hier nicht eingegangen werden, die Minorität der Juden ist für ihn nur einer von mehreren Faktoren.

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klein war, musste sie künstlich aufgebläht werden. In kleinen, exklusiven Nischen war das durchaus möglich. Die antisemitischen Propagandisten wussten, wo sie anzusetzen hatten, um mit der Zahl der Juden ihre Politik der Gefühle betreiben zu können. Es war vor allem die unbestimmte und meist ungezählte Vielzahl von Juden in den Sphären von Macht und Reichtum, die bei der von Krisen erschütterten Bevölkerung Wirkung zeigten und Gefühle von Neid, Missgunst und Hass hervorrief. Selbst populäre Geschichtswerke der Gegenwart operieren publikumswirksam mit der ebenso großen wie verwirrenden Zahl der Juden. Roman Sandgruber etwa bezeichnet in einer Passage zwei Drittel der von ihm untersuchten Wiener Millionäre des Jahres 1910 als Juden, an einer anderen Stelle handelt es gerade noch etwa um ein Drittel. Gleichgültig, wie viele Juden es wirklich waren und inwiefern sie jüdisch waren, sich selbst als jüdisch begriffen und ob sie jüdisch handelten und als Juden zusammenhielten, entscheidend ist der Einsatz der einen wie der anderen Zahl, um Macht und Einfluss der »jüdischen Geldaristokratie« zu betonen.64

Literatur und gedruckte Quellen Ahlheim, Hannah, »Judenzählung«. Der »jüdische Einfluß« in der Wirtschaft und das Problem seiner Messung, in  : Botsch, Gideon/Kopke, Christoph/Rensmann, Lars/Schoeps, Julius H. (Hg.), Politik des Hasses. Antisemitismus und radikale Rechte in Europa, Hildesheim 2010, 55–68. Albrich, Thomas, Ing. Robert Schüller  : »Ich war, bin und bleibe ein Nationalsozialist«, in  : Albrich, Thomas (Hg.), Wir lebten wie sie. Jüdische Lebensgeschichten aus Tirol und Vorarlberg, Innsbruck 1999, 239–270. Aly, Götz/Roth, Karl Heinz, Die restlose Erfassung. Volkszählen, Identifizieren, Aussondern im Nationalsozialismus (Berlin 11984), Frankfurt a.M. 2000. Bach, Anton, Österreichs Zukunft und die Christlich-Sozialen. Eine Stimme zur Wahlreform, Wien 1906. Bein, Alexander, »Der jüdische Parasit«. Bemerkungen zur Semantik der Judenfrage, in  : Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 13 (1966), Heft 2, 121–149.

64 Sandgruber 2013, 15. Roman Sandgruber untersucht in seinem Werk »Traumzeit für Millionäre« die 929 reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahr 1910. Auf S. 15 spricht er von der »jüdischen Geldaristokratie, immerhin fast zwei Drittel der Millionäre«. Dann behauptet er, 535 der 929 Millionäre (57,6 Prozent) seien »jüdischer Herkunft«, fügt jedoch hinzu, dass sich der Prozentsatz halbiere, berücksichtige man »ausschließlich« das Religionsbekenntnis – das wären dann etwa 28,8 Prozent (S. 152). Eine Tabelle auf S. 156 zum »Religionsbekenntnis der Millionäre« zählt jedoch wiederum 333 Millionärinnen und Millionäre mosaischer Konfession, mithin 35,8 Prozent.

Juden zählen

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133

Andreas Weigl

Zahlen – Daten – Fakten Die jüdische Bevölkerung der Republik Österreich 1933 bis 1938 in der Statistik Die »Statistik der Juden« im zeitgenössischen Kontext In den letzten Jahrzehnten der Donaumonarchie verfügten beide Reichshälften über ein entwickeltes System der amtlichen Statistik, welches sich auch internationaler Reputation erfreuen konnte. Im Rahmen der umfangreichen periodischen statistischen Erhebungen spielten die konfessionellen Verhältnisse vor allem im Kontext der Volkszählungen und der Statistik der Bevölkerungsbewegung eine gewisse Rolle. In der Zwischenkriegszeit erzwang die prekäre Finanzlage der jungen Republik jedoch Beschränkungen der Tätigkeit der amtlichen Statistik, was sich sowohl im Umfang der Auswertungen, als auch in jenem der Publikationen bemerkbar machte.1 Ein schwindendes Interesse an Statistiken im Allgemeinen – man denke nur an den Siegeszug der volksbildnerischen Bildstatistiken von Otto Neurath2 – und an der Bevölkerungsstatistik der jüdischen Bevölkerung kann daraus aber keineswegs abgeleitet werden. Wie noch zu zeigen sein wird, erschienen im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschung gerade auch von zionistischer Seite Studien, die sich mit den demographischen und sozioökonomischen Verhältnissen der jüdischen Bevölkerung beschäftigten. In der amtlichen Statistik blieb auch manches unausgewertet oder zumindest unpubliziert, was dem NS-Regime nach dem »Anschluss« nach kurzer Zeit erlaubte, Statistiken über die »Juden der Ostmark« in den Dienst seiner rassistischen Ideologie zu stellen. Bisherige Arbeiten zur demographischen Lage der jüdischen Bevölkerung Österreichs vor dem »Anschluss« haben sich in erster Linie auf die Ergebnisse der Volkszählung vom 22. März 1934, Ergebnisse der amtlichen Statistik über die Bewegung der Geburten und Sterbefälle, zeitgenössische Erhebungen der Israelitischen Kultusgemeinde Wien und nachträglich in der NS-Zeit vorgenommene Berechnungen über die Zahl der »Juden« nach der Definition der Nürnberger Rassengesetze gestützt. Es kann kein Zweifel bestehen, dass das aus diesen Quellen gewonnene Bild im Wesentlichen zutreffend ist. Wie noch zu zeigen sein wird, lässt es sich allerdings aus 1 Ladstätter 1973, 274, 278, 282f. 2 Pircher 1982.

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Andreas Weigl

einigen bisher wenig beachteten amtlichen Statistiken und durch die Auswertung ungedruckter Quellen ergänzen. Zudem bieten vorhandene Massenquellen zukünftig die Chance für spezifische Fragestellungen – allerdings mit erheblichem Aufwand – zusätzliche Erhebungen durchzuführen, die zu einem vertieften Verständnis der Bevölkerungsentwicklung der jüdischen Bevölkerung im betrachteten Zeitraum beitragen können.

Die Bevölkerungsentwicklung in der Zwischenkriegszeit Die gesamte Wohnbevölkerung mit jüdischer (»israelitischer«) Religionszugehörigkeit wurde in der Zwischenkriegszeit in Österreich nur einmal erhoben und zwar im Rahmen der Volkszählung des Jahres 1934. Demnach betrug die Zahl der jüdischen Religionsangehörigen 191.481. Davon lebten 176.034 in Wien, 7.716 in Niederösterreich, 3.632 im Burgenland und 2.195 in der Steiermark. In allen anderen Bundesländern lag die entsprechende Bevölkerungszahl unter 1.000. Mit Ausnahme des Burgenlandes und Vorarlbergs lebte die überwiegende Mehrzahl in den Landeshauptstädten.3 Die Auswertung der vorangegangenen Volkszählung von 1923 erfolgte hingegen aus finanziellen Gründen nur sehr eingeschränkt. Die konfessionelle Statistik wurde nur für Wien, das Burgenland und Kärnten ausgezählt. Im Fall des Burgenlandes und Kärntens war sie lediglich ein Nebenprodukt der Auswertungen, die auf Grund der Minderheitenfrage und der noch wenige Jahre zuvor umstrittenen Grenzen angestrengt wurden. Auf Basis dieser Beschränkungen lässt sich in der Zwischenkriegszeit die Entwicklung der Bevölkerung jüdischer Konfession nur für diese drei Bundesländer genau nachverfolgen. In Wien lag die Zahl der jüdischen Religionsangehörigen 1923 bei 201.513 (1934  : 176.034), im Burgenland bei 3.723 (1934  : 3.632) und in Kärnten bei 311 (1934  : 269). In diesen drei Bundesländern waren die entsprechenden Zahlen also rückläufig. Auch die entsprechenden Bevölkerungsanteile gingen zurück. Dasselbe gilt für alle anderen Bundesländer, wenn man das Vergleichsjahr 1910 heranzieht.4 Einzig Wien hatte als Folge der Flüchtlingswelle in und nach dem Ersten Weltkrieg einen temporären Anstieg um etwa 30.000 zu verzeichnen.5 Die Unterschiede zwischen der demographischen Entwicklung in Wien und den übrigen Bundesländern erklären sich auch durch den Verlust von Migrationsräumen 3 Bundesamt für Statistik 1935a, 8  ; Bundesamt für Statistik 1935c, 2–5. 4 Bundesamt für Statistik 1935b, 50f. 5 Weigl 2010, 145.

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Zahlen – Daten – Fakten

infolge des Auseinanderbrechens der Donaumonarchie aufgrund der auf Abschottung gerichteten Arbeitsmarktpolitik in den Nachfolgestaaten. Vielfach blieb nur die Option der Binnenmigration. Innerhalb der Republik Österreich wanderten viele Juden nach Wien ab.6 Die Folgen der Flüchtlingswelle in und nach dem Ersten Weltkrieg bilden sich auch in der Geburtsortstatistik ab. Von den Personen jüdischer Religionszugehörigkeit waren 1923 nur 38 Prozent in Wien geboren, von der anwesenden Bevölkerung insgesamt jedoch 54 Prozent. Den 58 Prozent im nunmehrigen Ausland geborenen Wiener Juden und Jüdinnen standen 30 Prozent der im Ausland geborenen Gesamtbevölkerung gegenüber.7 Im Jahr 1934 war jedoch die Zahl der Wienerinnen und Wiener mit jüdischer Religionszugehörigkeit auf den Ausgangswert des Jahres 1910 zurückgefallen. Auf die Gründe dieses Rückgangs wird noch näher einzugehen sein. Im langfristigen Vergleich ergibt sich eine gewisse Konstanz des jüdischen Bevölkerungsanteils, da auch die Gesamtbevölkerung auf dem Gebiet der Republik Österreich abgenommen hatte. Insgesamt bewegte sich der Anteil jüdischer Religionsangehöriger in Österreich im Zeitraum 1910 bis 1938 um die 3 Prozent. Tabelle 1  : Bevölkerung jüdischer Konfession in Österreich Dezember 1910 bis März 1938

Datum

Öster- Anteil* JVR Wien JVR Bundes- reich länder** 31.12.1910 194.584

2,9

175.318

JVR

19.266

07.3.1923 216.517

3,3

0,82

201.513

1,08

15.004

22.3.1934

2,8

–1,11

176.034

–1,22

15.400

0,24

2,7

–1,28

167.249

–1,27

14.633

–1,27

191.500

13.3.1938 181.882

–1,90

JVR = jährliche Veränderungsrate * 1938  : bezogen auf die Bevölkerungsfortschreibung mit Stand Ende 1936. ** Schätzung auf Basis des Trends für Burgenland und Kärnten.

Abseits der Konfessionsstatistik hatte es auch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten nicht an einzelnen Versuchen gefehlt, eine Erhebung der jüdischen Bevölkerung im Sinn der Nürnberger Rassegesetze vorzunehmen. Im Zuge der Volks6 Lichtblau 2006, 499–501. 7 Religionsbekenntnis 1925, 104.

138

Andreas Weigl

zählung des Jahres 1923 war die »Volkszugehörigkeit« und »Rasse« sogar erhoben worden.8 Die Ergebnisse waren allerdings derartig unbrauchbar, dass von einer Auszählung Abstand genommen wurde.9 Schätzungen auf Basis der Angaben der Auswanderungs-Hilfsaktion für nichtmosaische Juden und der NS-Behörden gehen von einer Zahl von 20.000–35.000 Personen aus, die im März 1938 im Sinn der Nürnberger Rassegesetze, nicht jedoch im konfessionellen Sinn, »jüdisch« waren.10

Die Volkszählung 1934 Auf Grund der beschriebenen Datenlage kommt für die Periode des Dollfuß-Schusch­ nigg-Regimes den Ergebnissen der Volkszählung des Jahres 1934 in mehrfacher Hinsicht größere Bedeutung zu  : 1. Es handelte sich um die einzige Zählung ihrer Art in der Zwischenkriegszeit, in der die erhobenen Daten in der geplanten Form auch mehr oder minder vollständig publiziert wurden und nicht etwa wie bei den Zählungen der Jahre 1920 und 1923 aufwendige Auszählungen dem Rotstift zum Opfer fielen. 2. Die Zählungsleitung lag in der Person Wilhelm Winklers in den Händen eines nicht nur äußerst ehrgeizigen Fachmanns, sondern auch eines ausgewiesenen Statistik-Experten. Die publizierten Daten werden daher in der Fachliteratur als sehr verlässlich eingestuft.11 Zu Winkler wäre noch zu erwähnen, dass er dem Dollfuß-Schuschnigg-Regime nahe stand. Für die rasche und professionelle Aufarbeitung der Volkszählung erhielt er 1936 das »Offizierskreuz des österreichischen Verdienstordens«. Dieses Naheverhältnis, vor allem aber seine Ehe mit einer jüdischen Frau, wurde ihm nach dem »Anschluss« zum Verhängnis, obwohl es seinerseits nicht an erfolglosen Versuchen mangelte, sich dem Regime anzubiedern.12 Mit der Erwähnung der Verläßlichkeit der Daten soll freilich nicht der Eindruck erweckt werden, der Zensus des Jahres 1934 hätte einen unpolitischen Charakter gehabt. Im Vorfeld der ursprünglich schon für 1930 vorgesehenen, jedoch aus finanziellen Gründen verschobenen Volkszählung13 war es im Ministerrat vom 5. Jänner   8 Ein Hinweis auf etwaige politische Debatten darüber lässt sich in den Ministerratsprotokollen allerdings nicht finden. Im Ministerratsprotokoll vom 9.10.1922 findet sich lediglich ein Hinweis auf die prekäre Kostenfrage der die später erfolgte ungenügende Aufarbeitung der Zählung erklärt, vgl. dazu Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Ministerratsprotokoll Nr. 232 vom 9.10.1923.  9 Melichar 2006, 131. 10 Jabloner u. a. 2003, 87. 11 Zeller 1979, 129. 12 Pinwinkler 2003, 205, 313. 13 Österreichisches Statistisches Zentralamt 1990, 28.

Zahlen – Daten – Fakten

1934 zu einer Diskussion über die Inhalte der geplanten Volkszählung gekommen. Das Regime befand sich jedoch in einer Zwickmühle. Zwar sollte der »deutsche Charakter« Österreichs bei der Zählung hervorgehoben werden, ohne jedoch den Nationalsozialisten in die Hände zu spielen. Implizit vorgegebenes Ziel war es daher, die Sprachminderheiten möglichst mit geringer Zahl zu erfassen. Eine Erhebung der »Volkszugehörigkeit« unterblieb. »Zu einer allfälligen Erfassung der Juden meinte Schuschnigg im Ministerrat, eine solche sei zwar ›zweckmäßig‹, doch lasse sich dafür keine entsprechende Formulierung finden«.14 Eine Folge dieses politischen Hintergrunds war die Betonung der rechtlichen Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft bei der Zählung. Der »inneren religiösen Einstellung« kam statistisch keine Bedeutung zu.15 Entsprechend wurden die Ergebnisse der Erhebung der Religionszugehörigkeit ohne jedweden antisemitischen Unterton mehr oder minder kommentarlos wiedergegeben.16 Mit Blick auf den Zählungstermin lässt sich festhalten, dass Zwangswanderungen für die Bevölkerung jüdischen Religionsbekenntnisses noch nicht besonders ins Gewicht fielen. Von den rund 2.000 Schutzbundkämpfern und SDAP-FunktionärInnen, die infolge der Februarkämpfe geflüchtet waren, dürften einige Hundert schon Wochen vor der Volkszählung aus Österreich geflohen sein.17 Diesen Flüchtlingen stand die Einwanderung rassisch verfolgter Juden und Jüdinnen aus dem Deutschen Reich gegenüber. Wie sich allerdings an der Zahl der erteilten Arbeitsbewilligungen der Jahre 1933 und 1934 für deutsche StaatsbürgerInnen ablesen lässt, lag die Zahl dieser Flüchtlinge im März 1934 im Bereich von wenigen hundert Personen.18 Abgesehen von den quantitativ noch nicht bedeutsamen Zwangswanderungen aus und nach Österreich lässt sich die rückläufige Zahl der jüdischen Religionsangehörigen der 1920er und frühen 1930er Jahre keineswegs ausschließlich, wie das in der zeitgenössischen amtlichen Statistik geschah, auf Konfessionsaustritte zurückführen.19 Vielmehr erweist sich die negative Geburtenbilanz, wie sich am Beispiel Wiens zeigen lässt, mit etwa 45 Prozent als dominanter demographischer Faktor. Daneben trug auch der negative Wanderungssaldo mit etwa 30 Prozent zum Rückgang der Bevölkerung mit jüdischem Glaubensbekenntnis bei. Lediglich der Rest entfiel auf die Konfessionsänderungen.20 Wie die Berechnungen von Jonny Moser belegen, än14 Pinwinkler 2003, 202f. 15 Bundesamt für Statistik 1935b, 44f. 16 Exner 2004, 294. 17 McLoughlin/Schafranek 1996, 174f. 18 Bundesamt für Statistik 1935a, 35. 19 Bundesamt für Statistik 1935b, 49. 20 Lichtblau 2006, 501–503.

139

140

Andreas Weigl

derte sich an diesem Bild auch in den Jahren vor dem »Anschluss« nur wenig. Das Geburtendefizit wurde allerdings noch größer, während der Wanderungssaldo sich ausglich. Der Abwanderung nach Palästina – auf dem Seeweg gelangten in den Jahren 1933–1937 2.713 österreichische Staatsbürger nach Palästina21 – und anderswo entsprach in etwa die Zuwanderung von de-facto-Flüchtlingen aus Nazi-Deutschland. Tabelle 2  : Bevölkerungsbilanz der jüdischen Bevölkerung Wiens 1923 bis 1938 Bevölkerung  : 7. März 1923

201.513 Bilanz 1923–1934

Eintritte – Austritte

–6.940

Geburtenbilanz

–13.095

Wanderungssaldo

–5.444

Bevölkerung  : 22. März 1934

176.034 Bilanz 1934–1938

Eintritte – Austritte

–1.016

Geburtenbilanz

–8.064

Wanderungssaldo Bevölkerung  : 13. März 1938

295 167.249

Die Gründe für das ausgeprägte Geburtendefizit werden durch eine zeitgenössische Berechnung todesursachenspezifischer Sterberaten klarer erkennbar  : Die jüdische Bevölkerung war selbst nach Maßstäben der 1930er Jahre »überaltert«. Dementsprechend lag die Sterberate bei degenerativen Erkrankungen über dem Durchschnitt der (katholischen, evangelischen und konfessionslosen) Mehrheitsbevölkerung. Im Gegensatz dazu lag sie bei der Tuberkulose deutlich darunter – ein Phänomen, welches bereits in der Monarchie beobachtet worden war und mit der »allmählich erworbenen Widerstandskraft gegen Tbc« und den Hygienevorschriften im Judentum in Verbindung gebracht wurde.22 Ebenso geringer war die Mütter- und Säuglingssterblichkeit. Die Selbstmordrate erreichte hingegen einen genauso hohen Wert wie bei den Konfessionslosen, während sie bei den christlichen Bekenntnissen signifikant darunter lag.

21 Niederland 1992, 367  ; siehe Anderl/Jensen 1996, 209. 22 Teleki 1926, 185. Eine Zusammenfassung weiterer zeitgenössischer Erklärungen findet sich bei Tschoetschel 1990, bes. 10–30.

141

Zahlen – Daten – Fakten

Tabelle 3  : Todesursachenspezifische Sterberaten nach Konfession auf 10.000 der Wiener Bevölkerung 1933/34 Todesursache

röm.-kath.

evangel.

mosaisch

ohne Bek.

Tuberkulose

13,7 9,7 7 12,9

Neubildungen (Krebs)

21,7 14,1 24,6 15,8

Herz-/Kreislauferkrankungen*

40,4 28,1 54 20,9

Erkrankungen der Atmungsorgane

13,7

9

12,1

Erkr. durch Schwangerschaft und Geburt

0,6

0,4

0,2

1,1

Krankheiten des frühesten Alters

2,3

1,9

0,8

2,4

6,8

Altersschwäche

3,3 3,2 3,7 0,8

Selbstmord

5,7 5,7 7,9 8,1

* einschließlich Rückenmarksdarre

Was die geringen Geburtenzahlen anlangt, so sind sie unzweifelhaft mit dem Altersaufbau in Verbindung zu bringen. Zeitgenossen wie der der zionistischen Bewegung angehörige Jurist und Statistiker Leo Goldhammer23 beklagten freilich auch das generative Verhalten von wohlhabenden jüdischen Frauen und die »Sterilität« der Mischehen.24 Es ist fast müßig zu betonen, dass die bei der Volkszählung erhobene Zahl der »Glaubensjuden« den Antisemiten, sei es von nationalsozialistischer, sei es von katholischer Seite, viel zu niedrig erschien. Nach Angaben des von Engelbert Dollfuß ins Leben gerufenen »Verbands für Volksdeutsche Auslandsarbeit« lebten im Jahr 1936 350.000 Juden und Jüdinnen in Österreich, davon 280.000 in Wien.25 Diese Zahl ist insofern bemerkenswert, als sie die aller Wahrscheinlichkeit sehr genaue Erhebung der Juden im Sinn der Nürnberger Rassegesetze nach dem »Anschluss« um rund 75.000 übertraf und außerhalb Wiens eine bombastische Überschätzung darstellte. Die wirtschaftliche Zugehörigkeit der Bevölkerung mit jüdischer Religionszugehörigkeit spielte bei der Publikation der Volkszählungsergebnisse des Jahres 1934 keine Rolle. Das hinderte freilich in der Folge antisemitische Autoren in keiner Weise, mittels unbewiesener Zahlen die hohe positive Korrelation zwischen dem Anteil der »Juden« und der Angesehenheit und ökonomischen Attraktivität von Berufen zu belegen.26 23 Zu Goldhammer vgl. Österreichische Akademie der Wissenschaften 1959, 23. 24 Malleier 2003, 29. 25 Melichar 2006, 132. 26 Ebd., 133f.

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Abb.: Anteil der Juden am Berufs- und Wirtschaftsleben Wiens 1934

Abseits dieser kruden Versuche müssen ungedruckte Auswertungen aus der im Rahmen der Volkszählung 1934 durchgeführten Berufszählung vorgenommen worden sein. Im erhalten gebliebenen Geschäftsprotokoll des Statistischen Amtes der Stadt Wien findet sich jedenfalls für das Jahr 1938 ein Eintrag mit dem Titel »Jüdische Bevölkerung Wiens, Statistik« der wohl nach dem »Anschluss« zu datieren ist.27 Die Sonderauswertung aus der Berufszählung könnte allerdings amtsintern, sei es auf Bundes-, sei es auf Landesebene, schon vor dem »Anschluss« durchgeführt worden sein. Bekannt ist, dass die Volkszählungsbögen der Zählung von 1934 mit einem LKW-Transport nach dem »Anschluss« nach Berlin abtransportiert wurden.28 Der Zeitpunkt des Transportes konnte bisher aktenmäßig nicht belegt werden, lag aber sicher vor der NS-Volkszählung von Mai 1939. Fest steht jedenfalls, dass eine Reihe ungedruckter Statistiken zu der jüdischen Bevölkerung im Statistischen Amt der Stadt Wien erstellt und gesammelt wurden, die teilweise auf Volkszählungsdaten des Jahres 1934 beruhen. Der Zeitpunkt der nach dem »Anschluss« erstellten Wiener Statistiken lässt sich zeitlich recht gut eingrenzen. Sie tragen den Vermerk »Mag.Abt. 47«. Diese Ordnungsziffer hatte die Magistratsabteilung für Statistik des Wiener Magistrates am 31. Oktober 1934 erhalten. Am

27 WStLA, MAbt. 121, B2/1 Geschäftsprotokoll (1935–1952)  : 196/38. 28 Freundliche Mitteilung von Dr. Alois Gehard, dem Leiter der Bibliothek von Statistik Austria, auf Basis von Angaben älterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus den 1970er und 1980er Jahren.

Zahlen – Daten – Fakten

1.  Mai  1939 war sie durch eine neue Geschäftseinteilung in die HVO 3/III umgewandelt worden.29 Einer offensichtlich im Sinn der NS-Ideologie erstellten grafischen Aufbereitung der Berufsstatistik des Jahres 1934 durch die Industrie- und Handelskammer Wien ging es darum, die überproportionale Vertretung von Juden in bestimmten Berufsgruppen hervor zu streichen. Demnach waren bei einem Bevölkerungsanteil von 9,4 Prozent 85,5 Prozent der Rechtsanwälte, 52 Prozent der Ärzte, 70 Prozent der Zahnärzte, 75 Prozent der im Bankwesen Tätigen, 73 Prozent der im Textilhandel Tätigen und 40 Prozent der Cafetiers, aber nur 1 Prozent der Tischler und 0 Prozent der Dachdecker, Straßenkehrer und Kanalräumer Juden. Wie ein Vergleich mit einer im Jänner 1938 von dem erwähnten Zionisten Leo Goldhammer zusammengestellten Berufsstatistik belegt, waren die Kammerstatistiker nach dem »Anschluss« offensichtlich bemüht, die Berufe so zu gruppieren und auszuwählen, dass in bestimmten Berufszweigen ein besonders hoher Anteil jüdischer Erwerbstätiger aufscheint. Die bei Goldhammer angeführten Anteile liegen  – nicht weiter verwunderlich  – Großteils unter jenen der nachbereiteten Volkszählungsergebnisse. Nichtsdestotrotz besitzen beide Berufsstatistiken doch eine gewisse Aussagekraft, da die den Berechnungen zugrundeliegenden Daten aus der Zeit des alten Regimes stammen. Goldhammer bezog seine Berechnungen allerdings nicht auf die Ergebnisse der Berufszählung des Jahres 1934, wie ein Vergleich der Gesamtzahlen für einzelne Berufsgruppen zeigt.30 Auch 29 Czeike/Csendes 1971, 42, 76f.; Csendes 2007, 141. 30 Bundesamt für Statistik 1935d, 50–155.

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Tabelle 4  : Anteil der Personen jüdischer Konfession an einzelnen Berufsgruppen in Wien 1934/36 Berufsgruppe

1934 1936 nach Statistisches nach n Amt Goldhammer in %

in %

Rechtsanwälte

85,5

62,0

Ärzte

51,6

47,2 1.531

1.341

Zahnärzte

70,0

62,7

446

Zahntechniker

31,0

31,1

385

Universitätsprofessoren

28,6 190

Univ.Prof. d. Medizin

45,0

Univ.Prof. d. Philosophie

15,0

Univ.Prof. d. Jurisprudenz

14,0

Bankbeamte

75,0

Zeitungswesen

80,0

Kinos

70,0

Weinhändler

18,1

569

74,3

208 1.186

Textilhändler

73,3

73,3

Schuhhändler

80,0

53,0

759

22,6

149

Buchhändler Brotfabrikanten

60,0

Juweliere

40,0

Cafetiers

40,0

Apotheker

31,5

Uhrmacher

39,8

31,6

Anstreicher

6,6

Tischler

1,3

Dachdecker, Straßenkehrer, Kanalräumer

0,0

382

241

Goldhammers Berechnungen belegen jedoch eine hohe Konzentration der jüdischen Bevölkerung auf bestimmte Berufssparten. Der daraus resultierende antisemitisch unterlegte Vorwurf einer Quasi-Monopolisierung zieht sich auch schon durch die öffentlichen Debatten während der »austrofaschistischen« Jahre. Eine Folge waren politisch begründete, aber tatsächlich antisemitisch motivierte Kündigungswellen nach dem Februar 1934. Zudem waren jüdische Angestellte und Lehrlinge mit großen Schwierigkeiten konfrontiert, in vielen Berufszweigen eine Anstellung zu bekommen.

Zahlen – Daten – Fakten

Die entsprechenden Diskurse wurden bereits in den 1970er Jahren von Sylvia Maderegger in einer Studie ausführlich dargestellt.31 Neben diesen in der Zeit des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes unpublizierten Berufsstatistiken wurden in den Statistischen Jahrbüchern der Stadt Wien auch Statistiken zur Zahl und zum Anteil von SchülerInnen mit mosaischem Religionsbekenntnis an verschiedenen Schultypen und Hochschulstudien, an denen das NS-Regime offensichtlich Interesse hatte, veröffentlicht, denn sie wurden im Rahmen der nach dem »Anschluss« im Statistischen Amt der Stadt Wien erstellten Zusammenstellung über die »Juden in Wien« aufgenommen.32 Aus den Statistiken kann unschwer geschlossen werden, dass der Anteil jüdischer SchülerInnen in den Volks- und Hauptschulen deutlich unterproportional war. Das war wohl zum kleineren Teil eine Folge der relativen »Überalterung« der jüdischen Bevölkerung Wiens, zum größeren Teil jedoch auf die hohe Bildungsorientierung der jüdischen Bevölkerung zurückzuführen. Die Zahl der jüdischen SchülerInnen am 31. Oktober 1937 in den Volks- und Hauptschulen betrug 6.279 (von 112.847 SchülerInnen). Die Vergleichszahlen bei den MittelschülerInnen für das Schuljahr 1936/37 lagen bei 6.127 zu 31.769. An den Hochschulen waren im Sommersemester 1937 1.798 Studentinnen und Studenten mosaischer Religion inskribiert. Die entsprechenden Daten wurden allerdings nicht nur amtsintern verwendet, sondern auch im Statistischen Jahrbuch der Stadt Wien schon vor dem »Anschluss« publiziert.33 Inhaltlich interessant ist dabei, dass in den Mittelschulen und nicht etwa an den Hochschulen der Anteil von SchülerInnen und Studierenden jüdischer Konfession am höchsten war und 14 Prozent betrug. Im Vergleich zum gesamten Anteil an der Wiener Bevölkerung von etwa 9,5 Prozent war das zwar überproportional, aber keineswegs so hoch wie von der antisemitischen Propaganda behauptet.

Conclusio Obwohl das Dollfuß-Schuschnigg-Regime einigen Ehrgeiz an den Tag legte, im Rahmen der Volkszählung 1934 die Bevölkerung Österreichs ausführlich statistisch zu erheben und zu dokumentieren, spielte dabei das statistische Merkmal der Konfession keine nennenswerte Rolle. Die bewusste Abgrenzung zu Hitler-Deutschland und zur Nazi-Opposition im Inland war dafür entscheidend. Nach dem »Anschluss« konnte 31 Maderegger 1973, 225–248. 32 Archiv des Statistisches Amt der Stadt Wien, Mappe Kriegszeit (1939–45), NSDAP, Juden. 33 Magistratsabteilung für Statistik 1938.

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das NS-Regime allerdings auf nicht publiziertes Material zurückgreifen, wobei aus den Akten nicht klar hervorgeht, ob dieses erst nach dem »Anschluss« auf Basis der Volkszählungsbögen ausgewertet worden war oder ob entsprechende Auszählungen schon zuvor erfolgt waren. Wie anhand einiger Beispiele gezeigt wurde, bietet die Auswertung dieser Quellen die Möglichkeit, das demographische und sozioökonomische Bild der »jüdischen« Bevölkerung Österreichs weiter zu schärfen. Für zukünftige historisch-demographische Forschungen liefern diese hochaggregierten Statistiken einen willkommenen Rahmen für Stichprobenerhebungen aus historischen Meldeunterlagen, Sterbeverzeichnissen, Matriken und ähnlichen seriellen Massenquellen.

Tabellen Tab. 1  : Bundesamt für Statistik 1924, 2  ; Bundesamt für Statistik 1935b, 45, 51  ; Österreichisches Statistisches Landesamt 1938, 13  ; Moser 1999, 16  ; eigene Berechnungen. Tab. 2  : Eigene Berechnungen nach Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), IKG, B5/1  : 58, 63  ; B 5/3  : 58, 58–60, 63  ; Wien im Großdeutschen Reich 1978, 609, 614f.; Goldhammer 1927, 19, 22  ; Moser 1999, 14–16. Tab. 3  : Magistratsabteilung für Statistik 1935, 38  ; eigene Berechnungen. Tab. 4  : Anteil der Juden am Berufs- und Wirtschaftsleben Wiens, Zählung 1934. Archiv des Statistischen Amtes der Stadt Wien, Mappe Kriegszeit (1939–45), NSDAP, Juden  ; Der Jude 14.1.1938, zit. n. Maderegger 1973, 220.

Abbildung Archiv des Statistischen Amtes der Stadt Wien, Mappe Kriegszeit (1939–45), NSDAP, Juden.

Literatur und gedruckte Quellen Anderl, Gabriele/Jensen, Angelika, Zionistische Auswanderung nach Palästina vor 1938, in  : Horvath, Traude/Neyer, Gerda (Hg.), Auswanderungen aus Österreich. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Wien u. a. 1996, 187–209. Bundesamt für Statistik (Bearb.), Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934. Bundesstaat, Textheft (Statistik des Bundesstaates Österreich 1), Wien 1935 (= Bundesamt für Statistik 1935b). Bundesamt für Statistik (Bearb.), Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934. Bundesstaat, Tabellenheft (Statistik des Bundesstaates Österreich 2), Wien 1935 (= Bundesamt für Statistik 1935c). Bundesamt für Statistik (Bearb.), Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März

Zahlen – Daten – Fakten

1934. Wien (Statistik des Bundesstaates Österreich 3), Wien 1935 (= Bundesamt für Statistik 1935d). Bundesamt für Statistik (Hg.), Statistisches Handbuch für den Bundesstaat Österreich 15 (1935), Wien 1935 (= Bundesamt für Statistik 1935a). Bundesamt für Statistik, Statistisches Handbuch 5, Wien 1924. Csendes, Peter, Geschichte der Wiener Magistratsabteilungen in den Wahlperioden 1969 bis 2005 (Veröffentlichungen des Wiener Stadt- und Landesarchivs C 13), Wien 2007. Czeike, Felix/Csendes, Peter, Die Geschichte der Magistratsabteilungen der Stadt Wien 1902– 1970 (Wiener Schriften 33), Wien/München 1971. Exner, Gudrun, Diskurs, in  : Exner, Gudrun/Kytir, Josef/Pinwinkler, Alexander, Bevölkerungswissenschaft in Österreich in der Zwischenkriegszeit (1918–1938). Personen, Institutionen, Diskurse (Schriften des Instituts für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 18), Wien u. a. 2004, 245–329. Goldhammer, Leo, Die Juden Wiens. Eine statistische Studie, Wien/Leipzig 1927. Jabloner, Clemens/Bailer-Galanda, Brigitte/Blimlinger, Eva/ Graf, Georg/Knight, Robert/Mikoletzky, Lorenz/Perz, Bertrand/Sandgruber, Roman/Stuhlpfarrer, Karl/Teichova, Alice (Hg.), Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich (Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich 1), Wien/München 2003. Ladstätter, Johannes, Wandel der Erhebungs- und Aufarbeitungsziele der Volkszählungen seit 1869, in  : Helczmanovszki, Heimold (Hg.), Beiträge zur Bevölkerungs- und Sozialgeschichte Österreichs. Nebst einem Überblick über die Entwicklung der Bevölkerungs- und Sozialstatistik, Wien 1973, 267–294. Lichtblau, Albert, Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn  – Österreichisch-jüdische Geschichte 1848 bis zur Gegenwart, in  : Brugger, Eveline/Keil, Martha/Lichtblau, Albert/ Lind, Christoph/Staudinger, Barbara, Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006, 447– 565. Maderegger, Sylvia, Die Juden im österreichischen Ständestaat 1934–1938, Wien/Salzburg 1973. Magistratsabteilung für Statistik (Hg.), Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1930–1935, NF Bd. 3, Wien 1935 (= Magistratsabteilung für Statistik 1935). Magistratsabteilung für Statistik (Hg.), Statistisches Jahrbuch der Stadt Wien 1937, NF Bd. 4, Wien 1938 (= Magistratsabteilung für Statistik 1938). Malleier, Elisabeth, Jüdische Frauen in Wien 1816–1938. Wohlfahrt – Mädchenbildung – Frauenarbeit, Wien 2003. McLoughlin, Barry/Schafranek, Hans, Die österreichische Emigration in die UdSSR bis 1938, in  : Horvath, Traude/Neyer, Gerda (Hg.), Auswanderung aus Österreich. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Wien u. a. 1996, 163–185. Melichar, Peter, Definieren, Identifizieren, Zählen. Antisemitische Praktiken in Österreich vor 1938, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 17/1 (2006), 114–146. Moser, Jonny, Demographie der jüdischen Bevölkerung Österreichs 1938–1945 (Schriftenreihe

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Andreas Weigl

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Archivalische Quellen Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Ministerratsprotokolle 1923. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA)  : IKG, B5/1  : 58, 63  ; B 5/3. MAbt. 121, B2/1 Geschäftsprotokoll (1935–1952).

Zahlen – Daten – Fakten

Archiv des Statistischen Amtes der Stadt Wien (nicht mehr bestehend, Kopie im Besitz des Autors). Mappe Kriegszeit (1939–45), NSDAP, Juden.

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POLITIK UND RELIGION

Alexandra Neubauer-Czettl

Juden – (k)ein Thema im Ministerrat  ?

Einleitung Der Antisemitismus in Österreich in den 1930er Jahren basierte auf der österreichischen Tradition kirchlicher, christlichsozialer und deutschnationaler Judenfeindlichkeit und war in allen Lebensbereichen zu finden.1 Bei der österreichischen Regierungspolitik dieser Jahre ist zu unterscheiden, wie sie offiziell agierte bzw. ob und was sie gegen Diskriminierung und Ausgrenzung von Juden unternahm. Ganz allgemein wurde von der österreichischen Regierung die Zusicherung gegeben, die österreichischen Juden und Jüdinnen zu schützen. Die Verfassung von 1934 gewährte ihnen die gleichen bürgerlichen Rechte und die Religionsfreiheit.2 Im Austrofaschismus wurden keine Gesetze erlassen, die direkt oder explizit gegen Juden gerichtet waren.3 Die österreichischen Juden waren sogar die einzige Bevölkerungsgruppe, die ihre Parteien nach 1934 behielt und auch das Recht hatte, innerhalb der Kultusgemeinde frei zu wählen.4 Dennoch bestand ungeachtet der formalrechtlichen Gleichstellung eine Diskrepanz zwischen Verfassungstext und Realität. Der Austrofaschismus verfolgte somit offiziell keine eindeutige Linie,5 obwohl sogar im offiziellen Parteiprogramm der Christlichsozialen Partei noch 1932 stand, der Antisemitismus sei ein wesentlicher Bestandteil der Parteiideologie und nicht bloß Agitationsmaterial. In diesem Parteiprogramm ist vom »zersetzenden revolutionär umstürzlerischen« Einfluss der Judenschaft die Rede  – bei gleichzeitiger Verurteilung des rassistischen Antisemitismus.6 Ungeachtet dieser Wurzeln bedienten sich weder Bundeskanzler Engelbert Dollfuß noch Bundeskanzler Kurt Schuschnigg des Antisemitismus in ihren öffentlichen und privaten Äußerungen und vermieden offenkundige Anzeichen von Antisemitismus.7 Regierungsintern lassen sich in den Ministerratsprotokollen allerdings antisemitische Äußerungen finden. 1 Tálos 2013, 470. 2 Siehe dazu den Beitrag von Ewald Wiederin in diesem Band. 3 Tálos 2013, 473. 4 Pauley 1993, 318. 5 Tálos 2013, 473. 6 Pauley 1993, 317. 7 Ebd., 321.

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Zur Quelle Die Ministerratsprotokolle sind eine zentrale Quelle zur Geschichte der Ersten Republik und der Zeit des Austrofaschismus. Sie weisen ein breites Themenspektrum auf, da Probleme der Außen-, Innen- und Wirtschaftspolitik in zum Teil sehr offener Form von den Regierungsmitgliedern und den zugezogenen Fachreferenten behandelt wurden. So verdeutlichen die Protokolle die Haltungen, Einstellungen und Zielvorstellungen der einzelnen Mitglieder der Bundesregierung bei politischen Entscheidungsprozessen, die auf anderer Ebene nur schwer bzw. gar nicht nachzuvollziehen sind. Für das Thema Antisemitismus liefern die Diskussionen im Ministerrat Beispiele aus den unterschiedlichsten Bereichen. Diese entstammen zum einen aus den von der Österreichischen Gesellschaft für historische Quellenstudien8 bereits edierten Ministerratsprotokollen der Regierungen Dr. Rudolf Ramek (20.  November 1924 bis 20. Oktober 1926), Dr. Engelbert Dollfuß (22. Mai 1932 bis 25. Juli 1934) und Dr. Kurt Schuschnigg (29.  Juli 1934 bis 11.  März 1938). Weiters wurden die der Forschung bisher noch nicht zugänglichen Übertragungen der in Gabelsberger Stenographie abgefassten Stenogramme der Regierungen Dr. Karl Renner (30.  Oktober 1918 bis 7.  Juli 1920), Dr. Michael Mayr (7.  Juli 1920 bis 21.  Juni 1921), Dr. Johann Schober (26. September 1929 bis 30. September 1930) und Dr. Karl Buresch (20. Juni 1931 bis 22. Mai 1932) einbezogen.

Die Anfänge der Ersten Republik Die Zitate aus der Zeit nach dem Zusammenbruch der Monarchie und den 1920er Jahren können nur einen ersten Eindruck von der Stimmung geben, da noch nicht alle Protokolle ediert sind und nicht alle diesen zugrundeliegenden Stenogramme transkribiert vorliegen.9 In der Regierung Renner finden sich nur ein paar neutrale Erwähnungen von Juden, sieht man von der Aussage Ludwig Pauls ab, eines keiner Partei zuzuordnenden Beamtenministers. Im Zusammenhang mit der Einführung des Transportscheinzwanges für Lebensmittel und andere Bedarfsgegenstände in Oberösterreich heißt es im Stenogramm  : »Hauptangst der Länder ist Kommunismus und Juden und Hamsterer. 8 Vgl. zur Edition www.oegq.at. 9 Die bisher vorhandenen Übertragungen der den Kabinetts- und Ministerratsprotokollen zugrundeliegenden Stenogramme befinden sich bei der Österreichischen Gesellschaft für historische Quellenstudien.

Juden – (k)ein Thema im Ministerrat  ?

Wenn man ihnen diese Angst nehmen könnte, wäre geholfen.«10 In weiterer Folge finden sich in den 1920er Jahren immer wieder stereotype antisemitische Aussagen und Ausdrücke in den Ministerratsprotokollen  : schäbiger Schleichhandelsjude  ;11 im Zusammenhang mit dem Verbot der Aufführung des »Reigen« von Arthur Schnitzler wurde das Stück als »Machwerk jüdischer Phantasie« bezeichnet  ;12 im Zusammenhang mit dem Zionistenkongress in Wien im August 1925 wurde vom Widerstand gegen das Überwuchern des jüdischen Geistes und vom freche[n] jüdische[n] Treiben13 gesprochen  ; erwähnt wurde auch die Verjudung des Theresianums14 und das Hinauswerfen der Juden aus den Hochschulen.15

Die 1930er Jahre In den 1930er Jahren führen die Vorgänge an den Hochschulen – vor allem im Zusammenhang mit einer neuen Studentenschaftsordnung16 – und im besonderen Ausmaß auch Wirtschaftsthemen zu antisemitischen Äußerungen. Die Situation an den Hochschulen

Die noch nicht publizierten Ministerratsprotokolle der Regierung Buresch 1931/32 liefern Beispiele für zahlreiche Äußerungen von Regierungsmitgliedern zur Problematik Juden – Rasse – Konfession – Nation, die jedoch nicht immer antisemitisch waren. So teilte der christlichsoziale Unterrichtsminister Emmerich Czermak in der Ministerratssitzung vom 24. Juni 1931 mit  : »Gestern wurden Hochschulen gesperrt  ; heute wieder Unruhen auf der Straße. Wir haben die Absicht, die Hochschulen nicht früher zu eröffnen bevor nicht die Gewähr geboten ist, daß die Skandale, die Jagd auf die jüdischen Hörer aufhören.«17 Zum Thema findet sich auch eine längere Debatte in der Ministerratssitzung vom 25. November 1931. Der christlichsoziale Heeresminister Carl Vaugoin meinte  : »Ich 10 Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (BKA), Kabinettsratsprotokoll (KRP) 109/4 vom 26.9. 1919, Stenogrammübertragung (StenÜb). 11 AdR, BKA, Ministerratsprotokoll (MRP) 31/8 vom 14.1.1921, StenÜb. 12 Ebd., MRP 43/6 vom 8.2.1921, StenÜb. 13 R amek 2, MRP 392 vom 10.8.1925, Zusätze aus den Stenogrammen, 259. 14 R amek 1, MRP 352/3 vom 28.11.1924, StenÜb, 21. 15 R amek 2, MRP 381 vom 28.5.1925, StenÜb, 105. 16 Siehe dazu den Beitrag Linda Erker und Klaus Taschwer in diesem Band. 17 AdR, BKA, MRP 705 vom 24.6.1931, StenÜb.

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sehe die Zwangslage des Unterrichtsministers ein, aber ob es ein Vorteil ist, daß man die Tschechen und Juden hinausjagt, ich weiß nicht, ob das ein großer Erfolg ist. Das ist der Schönerer Standpunkt. […] Krawalle waren alle Jahre. Zuerst sind die Christlichen gehaut worden, dann die Juden. […] Die jüdische Kultusgemeinde hat sich auf Grund meiner Mitteilung über den Inhalt des Gesetzes wohlwollend geäußert. Sie hat gefordert, daß die Gleichberechtigung der Studentenschaft statuiert wird und ich habe den Eindruck, daß sie mit der Möglichkeit der Einrichtung einer jüdischen Studentenschaft zufrieden ist. Das Judentum ist auf den Weg der konservativen Staatsidee nur dann zu bringen, wenn es sich konservativ orientiert. Auf jüdischer Seite werden wir nur bei Sozialdemokraten Widerstand haben.« Bundeskanzler Buresch stellte »eine praktische Frage  : Es ist ein Student da, dessen Großmutter Jüdin war und er meldet sich als deutscher Student und es wird ihm nachgewiesen, daß eine Jüdin dabei war. Was geschieht  ?« Unterrichtsminister Czermak antwortete, dass es nicht überprüft würde.18 In der Regierungserklärung am 2.  Februar 1932 berichtete Unterrichtsminister Czermak wieder über die Vorgänge an den Hochschulen  : »Wenn die Soz.[ialdemokraten] sich darauf einlassen, in die Beratung der Studentenordnung einzutreten, dann könnten wir eine Befriedung herbeiführen, weil jede Studentenschaft ihre verantwortliche Vertretung hätte. Die Ukrainer, Polen, Rumänen sind dafür, auch die Juden begrüßen es, nur wollen sie, daß jeder, der von ihr ausgeschlossen wird, in die deutsche Studentenschaft aufgenommen werden muß. […] Die Juden haben einen Nachteil, daß sie eine Nation und eine Konfession sind und nur wenn sie sich zu beiden bekennen, beisammenbleiben können.«19 Auf mögliche finanzpolitische Auswirkungen des Gesetzes machte der christlichsoziale Finanzminister Emanuel Weidenhoffer im Dezember 1931 aufmerksam  : »Präsident des Schweizer Bankenvereins Dreyfus hat mitgeteilt, daß nach einem ihm zugekommenen Gerücht in Österreich ein Studentenrecht eingeführt werden soll, nach dem die jüdische Nation unter eine Ausnahmsverfügung gestellt wird. Ungünstigster Einfluß in den ausländischen Finanzkreisen. Wenn dieses Gesetz noch nicht zurückgezogen ist, werde ich in Genf auf Schwierigkeiten stoßen.«20 Wirtschaftliche Rücksichtnahmen zwangen überhaupt mehrfach zu gemäßigten Haltungen gegenüber Juden. Das wird auch noch anhand von Beispielen im Zusammenhang mit dem Fremdenverkehr dargestellt werden.

18 Ebd., MRP 748/9 vom 25.11.1931, StenÜb. 19 Ebd., MRP 768/8 vom 2.2.1932, StenÜb. 20 Ebd., MRP 759/13 vom 30.12.1931, StenÜb.

Juden – (k)ein Thema im Ministerrat  ?

Der Zusammenbruch der Credit-Anstalt

Der zweite große Themenbereich, der die Amtszeit der Regierung Buresch beherrschte, war die Credit-Anstalt. Anlässlich des Zusammenbruchs der Großbank werden etliche Male Vorurteile in der Art von »Juden als Spekulanten« und »Juden sind schuld« geäußert. In der 708. Ministerratssitzung am 3. Juli 1931 machte der großdeutsche Justizminister Dr. Hans Schürff den Direktor der CA Lazar Weiß, der seit 1919 mit der Innenorganisation betraut war, eine vollkommen einseitige Einstellung bei der Führung des Personalreferates sowie Nepotismus zum Vorwurf, da er 15 Verwandte in der Credit-Anstalt untergebracht habe. »Von den 1800 Angestellten sind 75 % Juden.«21 Weiters stellte Schürff den Vorwurf in den Raum, dass Weiß eine jüdische Wirtschaft eingerichtet hätte und an Gehaltsexzessen schuld sei.22 Auch der Bankfachmann und Generaldirektor der CA Alexander Spitzmüller stellte fest  : »Das jüdische Element prävaliert bei der Creditanstalt.«23 Allgemeine Kritik übte Bundeskanzler Buresch  : »Die Herren der CA hätten […] einem französisch-jüdischen Spekulanten, der von den französischen Banken kein Geld bekommen hat, weil er ihnen zu schlecht war, 110 MS [Millionen Schilling] gegeben, damit er in Galizien sich Bohrtürme ankaufen kann.«24 Antisemitische Vorurteile und Aktionen in der Wirtschaft

Zwar wurden vom austrofaschistischen Regime keine antijüdischen Gesetze erlassen, doch aber auch keine ernsthaften Anstrengungen unternommen, um antisemitische Angriffe der Bevölkerung zu unterbinden. Die schon vor dem »Ständestaat« vorhandene Diskriminierung von Juden im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben verschärfte sich daher weiter. So kam es z. B. wiederholt zu Boykottaufrufen gegen jüdische Unternehmen.25 In der Mitte der 1930er Jahre verdichteten sich im Ministerrat antisemitische Äußerungen. Dabei wurde häufig das Stereotyp »Juden als Geschäftemacher« verwendet.26 So werden im März 1935 bei der Diskussion um den Milchpreis vom damali-

21 Ebd., MRP 708/18 vom 3.7.1931. 22 Ebd., MRP 736/13 vom 12.10.1931, StenÜb. 23 Ebd., MRP 714/21 vom 22.7.1931, StenÜb. 24 Ebd., MRP 775 vom 25.2.1932, StenÜb. 25 Königseder 2005, 56f. 26 Vgl. zu jüdischer Berufstätigkeit und Wirtschaftsverhältnissen Pauley 1993, 263.

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gen Finanzminister Buresch »eine Reihe neuer Namen, polnische Juden« angeführt, die »un[an]gemessene Gewinne einheimsen.«27 Im August 1936 erwähnte der ehemals der christlichsozialen Partei nahestehende Handelsminister Friedrich Stockinger in der Budgetdebatte der 1037. Ministerratssitzung anlässlich der Diskussion um Steuern der Gemeinde Wien  : »Für die großen Judenfirmen sind sie entgegengekommen.« Darauf Bundeskanzler Schuschnigg  : »Auch Kaufhäuser.« Stockinger antwortete, dass das noch unter Robert Danneberg gewesen sei.28 Weiters war 1933 durch Verordnung der Bundesregierung29 die Errichtung von Einheitspreisgeschäften zunächst für die Dauer von drei Jahren verboten worden. Sowohl im Dezember 1936 als auch im Dezember 1937 wurden entsprechende Bundesgesetze über die Verlängerung des Verbotes von Einheitspreisgeschäften30 erlassen. Die österreichische Regierung agierte damit wie die NSDAP, die seit 1927 Boykottaktionen gegen Warenhäuser und Einheitspreisgeschäfte durchführte, die als »jüdische Erfindung« bezeichnet wurden.31 In MRP 1042 vom 30. Oktober 1936 findet sich im Zusammenhang mit der Gewerbesperre eine weitere Wortmeldung von Friedrich Stockinger nur im Stenogramm. Diese wirtschaftliche Diskriminierung, die im Verbot des v. a. von jüdischen Händlern durchgeführten Kundenbesuchs und des Kaufs auf Raten bestand, war schon in der Gewerbeordnungsnovelle 1934 festgelegt worden.32 Stockinger meinte dazu  : »Es liegen in die Tausende gehende Ansuchen von Nichtariern vor.« Im offiziellen Protokolltext heißt es dazu  : »Eine völlige Freigabe des Wettbewerbes würde daher zur Etablierung von tausenden neuen jüdischen Geschäften führen, zumal da eine ganze Reihe von Gewerben ohne Befähigungsnachweis ausgeübt werden könne«.33 Im Zusammenhang mit dem Bundesgesetz, betreffend die Beschränkung der Herstellung von Erzeugnissen aus Föhrenrohharz und Föhrenholz bezeichnete es der Bundesminister für die innere Verwaltung Dr. Edmund Glaise-Horstenau als charak27 Schuschnigg 2, MRP 989/1 vom 28.3.1935, 379. 28 Schuschnigg 6, MRP 1037/11 vom 27./28./31.8., 1./2.9.1936, 177. Dr. Robert Danneberg, bis 1934 Mitglied des Wiener Gemeinderates und des Nationalrates, SdP, ab 1932 Finanzstadtrat der Gemeinde Wien, 1909 Austritt aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft. 29 BGBl. 54/1933. 30 BGBl. 469/1936 und BGBl. 451/1937. 31 Vgl. Dollfuss 2, MRP 855/10 vom 12.3.1933  ; AdR, BKA, Circular vom 21.12.1935  ; Schuschnigg 7, MRP 1046/20 vom 21.12.1936  ; Schuschnigg 8, MRP 1062/4 vom 8.10.1937  ; AdR, BKA, Circular vom 20.10.1937 und Schuschnigg 8, MRP 1064/31 vom 16.11.1937  ; zur Thematik vgl. auch Liska 1997, 11. 32 Vgl. Tálos 2013, 483  ; zur Gewerbeordnungsnovelle 1934 allgemein Schuschnigg 1, MRP 970/10 vom 9.10.1934 und MRP 971/17 vom 19.10.1934. 33 Schuschnigg 6, MRP 1042/13 vom 30.10.1936, 314.

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teristisch, dass erst das Eindringen der Juden die anderen Unternehmer zu Preissenkungen veranlasst habe.34 Antisemitische Vorurteile und Aktionen im Fremdenverkehr

Bei den Debatten im Ministerrat nimmt der Fremdenverkehr eine Sonderstellung ein. Hier herrschte das Dilemma zwischen den geldbringenden Juden als Gästen und der verbreiteten Ablehnung der Juden. Während einzelne österreichische Gemeinden Werbung für »Arier« machten bzw. Juden als unerwünscht propagierten, finden sich im Ministerrat auch andere Wortmeldungen. Am 28.  August 1935 erwähnte Handelsminister Stockinger im Zusammenhang mit dem Bundesvoranschlag 1936, dass sich der Fremdenverkehr gebessert hätte, und zwar »durch böhmische Juden, die nicht nach Deutschland gingen.«35 Ein paar Wochen später berichtete Stockinger über den Beschluss des Österreichischen Skiverbandes, einen Arierparagraphen aufzunehmen und bezeichnete dies als unmöglich und für den Fremdenverkehr schädigend  : »Österreich habe eben ein lebhaftes Interesse, ein zahlungskräftiges Reisepublikum ins Land zu bekommen, und könne daher schon aus diesem Grund den reichsdeutschen Antisemitismus nicht nachahmen.«36 Der Handelsminister begrüßte daher auch nicht den Werbeslogan »Arier bevorzugt« in Prospekten der Gemeinde Zell am See. Stockinger erbat eine grundsätzliche Stellungnahme des Ministerrates.37 Im August 1936 heißt es in Bezug auf die Fremdenverkehrswerbung, dass Prospekte in hebräischer Sprache abgefasst worden seien. Das wurde allerdings vom Staatssekretär für Äußeres Guido Schmidt »als tatsächlich überflüssig« bezeichnet.38 Auch noch Ende des Jahres 1937 wurde diese Problematik im Ministerrat thematisiert. In einem umfangreichen Exposé über die Situation des österreichischen Fremdenverkehrs vom November 1937 heißt es  : »Die ungesunde politische Hochspannung in Europa schafft im übrigen dauernd Schwierigkeiten für unseren Fremdenverkehr. Teils beliebt es unsere[r] Konkurrenz, je nach Gesinnung, unser Land als faschistisch anzukreiden, teils als liberal, wozu noch kommt, daß in manchen jüdischen Kreisen des In- und Auslandes die Parole ausgegeben wird, Österreich für 34 Schuschnigg 8, MRP 1058/19 vom 25.6.1937, 75. 35 Schuschnigg 3, MRP 1007/21 vom 28.8.1935, StenÜb, 244. 36 Dieser Satz lautet im Stenogramm folgendermaßen  : »Stockinger  : Mit den Nazis können wir wegen Antisemitismus nicht konkurrieren. Gerade die Leute, die im Winter hereinkommen sind 60–70% Juden und haben am meisten Geld. Wir haben Interesse dieses Publikum hereinzubekommen«, Schuschnigg 3, MRP 1009/4 vom 25.9.1935, 286. 37 Ebd., 285f. 38 Schuschnigg 6, MRP 1037/9 vom 27./28./31.8., 1./2.9.1936, 85.

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den Erholungsurlaub deshalb zu meiden, weil das Judentum Provokationen von antisemitischer Seite ausgesetzt ist.«39 Antisemitische Tendenzen und Maßnahmen in den freien Berufen

Neben dem Bereich der Kreditinstitute und Großindustriellen, in denen das antisemitische Stereotyp des »reichen Juden einigen Bezug zur Wahrheit hatte« – so eine Einschätzung von Bruce Pauley –, waren es die freien Berufe, wie Rechtsanwälte oder Ärzte, in denen die österreichischen Juden überrepräsentiert waren.40 Im Ministerrat kommen Maßnahmen gegen jüdische Rechtsanwälte nur indirekt zur Sprache und zwar im Zusammenhang mit den Vorschriften über die Einstellung der Berufsausübung von Rechtsanwälten und Notaren41 u. ä. im Zusammenhang mit den Februarkämpfen,42 mit denen Anwälten, die gegen eine der zahlreich zur Oppositionsbekämpfung erlassenen Verordnungen verstoßen hatten, die Ausübung ihres Berufes untersagt werden konnte. Mit Verordnung des Bundesministeriums für Justiz vom 31.  März 1934 waren außerdem die Mandate der Ausschüsse aller Rechtsanwaltskammern für erloschen erklärt worden, wenn die Inhaber dieser Mandate zur Zeit ihrer Wahl der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei oder einer unter ihrem Einfluss stehenden Organisation angehört hatten oder ihr nachher beigetreten waren. In der Folge wurden die Rechtsanwaltskammern und ihre Ausschüsse mit ernannten Mitgliedern neu besetzt.43 Die neuen Regelungen sollten auch den Zweck erfüllen, den v. a. in den Länderkammern bemerkbaren nationalsozialistischen Einfluss zu beseitigen.44 Seit 1934 wurde vom Verband deutsch-arischer Rechtsanwälte Österreichs zudem eine Abspaltung der Rechtsanwaltskammer betrieben, um die Vertretung der »arischen Kollegenschaft« sicherzustellen. Diese neue Kammer war als Gegenstück 39 Schuschnigg 8, MRP 1064/35 vom 16.11.1937, Beilage JJ, 364. 40 Vgl. die Gründe dafür und Zahlenmaterial bei Pauley 1993, 264–266. 41 Siehe zu den AnwältInnen den Beitrag von Ilse Reiter-Zatloukal in diesem Band. 42 Schuschnigg 8, MRP 1058/27 vom 25.6.1937. Zu den Vorschriften vgl. BGBl. I 135/1934, Verordnung der Bundesregierung vom 16.2.1934, betreffend die Ausübung der Rechtsanwaltschaft und des Notariates  ; BGBl. I 196/1934, Verordnung des Bundesministeriums für Justiz vom 31.3.1934, betreffend das Erlöschen von Befugnissen bei den Standesvertretungen der Rechtsanwälte und der Notare  ; BGBl. II 83/1934, Bundesgesetz vom 15.6.1934, betreffend die Ausübung der Rechtsanwaltschaft und des Notariates  ; BGBl. II 209/1934, Bundesgesetz vom 17.8.1934 über die Einstellung der Ausübung der Befugnis von Patentanwälten und Ziviltechnikern zur Vertretung von Parteien in Angelegenheiten des gewerblichen Rechtsschutzes  ; BGBl. II 445/1934, Bundesgesetz vom 20.12.1934, betreffend die Ausübung der Rechtsanwaltschaft und des Notariates. 43 Sauer 2013, 162–175. 44 Vgl. Wrabetz 2002, 120f.

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zu der bestehenden  – nach Ansicht des Verbandes  – jüdisch dominierten Wiener Kammer gedacht.45 Neben den Rechtsanwälten waren die Ärzte Ziel von antisemitischen Maßnahmen.46 Zu der willkürlichen Anwendung von Gesetzen, die Juden die ärztliche Ausbildung sowie die Berufsausübung erschwerten, kamen antisemitische Angriffe von verschiedenen Seiten. Es kam zur Verleumdung jüdischer Ärzte in der nationalsozialistischen und christlichen Presse, wo die Empfehlung, keine jüdischen Ärzte zu besuchen, auf der Tagesordnung stand. So wurde im »Wiener Montagsblatt« vom 5. März 1934 die Beschuldigung erhoben, die Juden betrieben die Ausrottung der christlichen Bevölkerung durch Abtreibungspropaganda, während sie bei Jüdinnen den § 144 streng einhalten würden.47 Im Zusammenhang damit finden sich 1937 auch im Ministerrat stereotype Vorurteile gegen Ärzte. Im Zuge der geplanten Verschärfung der juristischen Verurteilung von Abtreibungen wurde von Bundeskanzler Schuschnigg hervorgehoben, dass mit einem diesbezüglichen Gesetz einigen  – im Stenogramm zusätzlich bezeichnet als »jüdisch geführten« – Sanatorien »die Möglichkeit genommen werden solle, Unfug zu treiben.«48 Anlässlich einer ausführlichen Diskussion im Ministerrat wurden Abtreibungen von Schuschnigg als »eine typisch jüdische Praxis« bezeichnet.49 An anderer Stelle erwähnte der Bundeskanzler, dass »öfters eine polnische Jüdin einen Österreicher bloß zum Zweck geheiratet habe, um in Österreich die ärztliche Praxis ausüben zu können.« Sozialminister Josef Resch antwortete daraufhin, dass »die Ausübung der Wanderpraxis wie sie insbesondere von jüdischen Ärzten versucht werde«, verboten sei.50 Das antisemitische Milieu

Die Debatten im Ministerrat liefern aber auch Beispiele für den unterschwelligen Antisemitismus. Im Juni 1930 findet sich in den Ministerratsprotokollen eine geheime Stellungnahme der Regierung zur Heimwehr. Im Protokolltext heißt es dazu von Bundeskanzler Schober  : »Wir haben gegen die Heimwehrführung immer Nachsicht gehabt, solange sie sich nicht öffentlich gegen die Regierung gestellt hat, obwohl wir 45 Maderegger 1973, 237. Zur Stellung der Rechtsanwälte und der Rechtsanwaltskammer sowie den Berufsbeschränkungen während des Ständestaates, vgl. Reiter-Zatloukal 2010, 21–25  ; Königseder 2005, 56f. 46 Siehe zu den ÄrztInnen den Beitrag von Ilse Reiter-Zatloukal in diesem Band. 47 Vgl. zur Situation von jüdischen Ärzten Maderegger 1973, 224–235  ; Tálos 2013, 485–487. 48 Schuschnigg 7, MRP 1046/15 vom 21.12.1936, 129. 49 Schuschnigg 7, MRP 1048/20 vom 15.1.1937, 196. 50 Schuschnigg 8, MRP 1064/16 vom 16.11.1937, 324f.

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wußten, daß sie im geheimen gegen die Regierung arbeitet.« Nur im Stenogramm erhalten ist eine weitere Wortmeldung des Bundeskanzlers  : »Ich bitte den Ministerrat, sich mit dieser Frage ernstlich zu beschäftigen, es kann auch so sein, wenn dieser Erfolg nicht sehr bald eintritt, dann geht es uns so wie dem Juden, der seinen Buben in christliche Schule geschickt hat, damit er christlich werde und nach einer Woche hat die ganze Schule gejüdelt.«51 Nach dem Verbot der NSDAP im Juni 1933 gibt es in den Ministerratsprotokollen im Stenogramm eine eindeutige Äußerung von Vizekanzler Franz Winkler (Landbund)  : »Der Beifall der Judenpresse und der Boulevardpresse muß aufhören.« Ausführlicher meldete sich der Bundesminister für Heerwesen Carl Vaugoin zu Wort  : »Mir ist es sehr unsympathisch, daß die Judenblätter so begeistert über die Regierung schreiben. Wir haben das Interesse, daß der Ns uns nicht überrennt, aber man muß den Juden etwas sagen, daß wir es nicht für die Juden tun, wir tun es für die arische österreichische Bevölkerung. Das paßt wieder nicht in den Kram der Anleihe und des Fremdenverkehres, man ist den Juden wahllos ausgeliefert. Es war mir viel lieber als die Juden gegen mich geschimpft haben, aber das kann kein Grund sein, im Kampf gegen die Nazi zu erlahmen. […] Ich stimme sehr zu, keine unnötigen Verhaftungen, Judenpresse eindämmen.«52 Im September 1933 forderte Bundeskanzler Dollfuß  : »Die Haltung gegenüber Deutschland muß Regierung bestimmen und nicht Sozi oder Juden.«53 Zwei Jahre später findet sich wiederum nur im Stenogramm eine eindeutige Wortmeldung des Bundeskommissärs für Heimatdienst Walter Adam  : »Wir haben ausgeschaltet die nationalsozialistische, die deutschnationale, die rote Intelligenz und haben Interesse, daß wir die jüdische Intelligenz nicht so sehr aufkommen lassen. Es ist schwer in Wien einen geschickten Journalisten zu finden, der nicht Jude ist.«54 Im Protokoll vom 19. März 1936 nannte der Heimwehrführer und damalige Vize­ kanzler Ernst Rüdiger Starhemberg im Zusammenhang mit dem Agrarkongress der Paneuropaunion  – nur im Stenogramm überliefert  – in einem Atemzug Geschäftshuberei, Juden, Freimaurer. »Was muß ein japanischer Bastard sich in europäische Verhältnisse einmischen.« Gemeint war damit der Gründer und Präsident der Paneuropaunion Richard Coudenhove-Kalergi, der als Sohn eines österreichischen Diplomaten und einer japanischen Kaufmannstochter in Tokio geboren wurde. Negativ

51 AdR, BKA, MRP 635/2 vom 12.6.1930. 52 Dollfuss 3, MRP 882/2 vom 14.6.1933, StenÜb, 573f. 53 Dollfuss 4, MRP 898/29 vom 22.9.1933, StenÜb, 408. 54 Schuschnigg 3, MRP 1009/1 vom 25.9.1935, StenÜb, 277.

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vermerkt wurden im Ministerrat auch seine Schriften wie zum Beispiel »Judenhaß von heute. Das Wesen des Antisemitismus«, 1935 erschienen.55 Hinweise auf die mögliche Säuberung von Gremien und Institutionen finden sich im Zusammenhang mit der Neubesetzung des Kuratoriums der Postsparkasse56 und anlässlich der Diskussion über Entlassungen und Gehaltskürzungen bei der Phönix-Versicherung.57 Bei der Debatte zu Gesetzesentwürfen im Bereich des Versicherungswesens findet sich im Protokoll der 1063. Ministerratssitzung (nur im Stenogramm) die Wortmeldung von Finanzminister Rudolf Neumayer  : »Dank dem Schutz jüdischer Interessen müssen unsere Kindeskinder zahlen.«58

Resümee Die Beispiele zeigen, dass die Mitglieder der österreichischen Regierungen politischen und wirtschaftlichen Antisemitismus in vielen Lebensbereichen vertraten und tolerierten. Im offiziellen Protokolltext zu den Ministerratssitzungen werden Juden kaum erwähnt. In den überwiegenden Fällen sind antisemitische Äußerungen nur in den stenographischen Aufzeichnungen zu den Ministerratsprotokollen überliefert und fanden keinen Niederschlag in den Reinschriften, obwohl diese geheim waren. Allgemein wurde von den österreichischen Regierungen im Austrofaschismus die Zusicherung gegeben, den österreichischen Juden Schutz zu gewähren. Allerdings wurden keine Gegenmaßnahmen ergriffen, um den Antisemitismus, der in den Jahren 1933 bis 1938 auch ein wesentlicher Bestandteil des politischen und gesellschaftlichen Alltags war, zu unterbinden.59 Die Diskriminierung der Juden verlief in Österreich – im Gegensatz zu Deutschland – ruhiger und meist, ohne weltweite Aufmerksamkeit zu erregen. Auf den österreichischen Antisemitismus traf am besten der in einer NS-nahen Zeitschrift geprägte Begriff »Gummisohlen-Antisemitismus« zu, da von Österreich »größter Wert auf vollkommene Lautlosigkeit gelegt« wurde.60

55 Schuschnigg 5, MRP 1025/7 vom 19.3.1936, 8–10. 56 Schuschnigg 2, MRP 982/5 vom 1.2.1935 StenÜb, 261. 57 Schuschnigg 5, MRP 1026 vom 25.3.1936, StenÜb, 79, 81. 58 Schuschnigg 8, MRP 1063/8 vom 15.10.1937, 277. 59 Tálos 2013, 490. 60 Vgl. Die Tat (Dezember 1934), 707f. Im Gegensatz dazu wird von Bruce Pauley angenommen, dass der Begriff von jüdischen Kreisen selbst geprägt wurde, vgl. Pauley 1993, 332.

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Literatur und gedruckte Quellen Königseder, Angelika, Antisemitismus 1933–1938, in  : Tálos, Emmerich/Neugebauer, Wolfgang (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, Wien 52005, 54–65. Liska, Michael, Ein Vergleich der rumänischen und bulgarischen Judenpolitik im Zweiten Weltkrieg, Dipl.-Arb. Wien 1997. Maderegger, Sylvia, Die Juden im österreichischen Ständestaat 1934–1938, Wien u. a. 1973. Pauley, Bruce, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993. Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Rudolf Ramek, Bd. 1  : MRP 351 vom 25. November 1924 bis MRP 376 vom 4. Mai 1925, Wien 1991 (= R amek 1). Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Rudolf Ramek, Bd. 2  : MRP 377 vom 15. Mai 1925 bis MRP 404 vom 1. November 1925, Wien 1997 (= R amek 2). Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Engelbert Dollfuß, Bd. 2  : MRP 831 vom 26. Oktober 1932 bis MRP 860 vom 18./19./20. März 1933, Wien 1982 (= Dollfuss 2) Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Engelbert Dollfuß, Bd. 3  : MRP 861 vom 22./23. März 1933 bis MRP 882 vom 14. Juni 1933, Wien 1983 (= Dollfuss 3). Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Engelbert Dollfuß, Bd. 4  : MRP 883 vom 16. Juni 1933 bis MRP 904 vom 27. Oktober 1933, Wien 1984 (= Dollfuss 4). Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Kurt Schuschnigg, Bd. 1  : MRP 959 vom 30. Juli 1934 bis MRP 972 vom 26. Oktober 1934, Wien 1988 (= Schuschnigg 1). Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Kurt Schuschnigg, Bd. 2  : MRP 973 vom 30. Oktober 1934 bis MRP 997 vom 24. Mai 1935, Wien 1993 (= Schuschnigg 2). Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Kurt Schuschnigg, Bd. 3  : MRP 998 vom 31. Mai 1935 bis MRP 1015 vom 30. November 1935, Wien 1995 (= Schuschnigg 3). Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Kurt Schuschnigg, Bd. 5  : MRP 1025 vom 19. März 1936 bis MRP 1036 vom 24. Juli 1936, Wien 2001 (= Schuschnigg 5). Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Kurt Schuschnigg, Bd. 6  : MRP 1037 vom 27. August 1936 bis MRP 1043 vom 4. November 1936, Wien 2006 (= Schuschnigg 6). Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Kurt Schuschnigg, Bd. 7  : MRP 1044 vom 20. November 1936 bis MRP 1055 vom 25. Mai 1937, Wien 2011 (= Schuschnigg 7). Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Kabinett Dr. Kurt Schuschnigg, Bd. 8  : MRP 1056 vom 4. Juni 1937 bis MRP 1069 vom 21. Februar 1938 [MRP 1070 vom 12. März 1938 und MRP 1071 vom 13. März 1938], Wien 2013 (= Schuschnigg 8). Reiter-Zatloukal, Ilse, Die österreichische Rechtsanwaltschaft 1918 bis 1938, in  : Sauer, Barbara/Reiter-Zatloukal, Ilse, Advokaten 1938. Das Schicksal der in den Jahren 1938 bis 1945 verfolgten österreichischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Wien 2010, 1–31. Sauer, Barbara, Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung  : Die Wiener Rechtsanwaltskammer 1930–1950, in  : Enderle-Burcel, Gertrude/Neubauer-Czettl, Alexandra/Stumpf-­Fischer, Edith (Hg.), Brüche und Kontinuitäten 1933 – 1938 – 1945. Fallstudien zu Verwaltung und

Juden – (k)ein Thema im Ministerrat  ?

Bibliotheken (Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs Sonderband 12), Wien 2013, 159–179. Tálos, Emmerich, Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1993–1938, Wien u. a. 2013. Die Tat, 26 (Dezember 1934), Heft 9. Wrabetz, Peter, Österreichs Rechtsanwälte in Vergangenheit und Gegenwart, Wien 2002.

Archivalische Quellen Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik: Kabinettsratsprotokolle. Ministerratsprotokolle. Circulare. Bestände der Österreichischen Gesellschaft für historische Quellenstudien.

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Helmut Wohnout

Politischer Katholizismus und Antisemitismus

Der Begriff »Politischer Katholizismus« wird in diesem Beitrag als ein weit über die Christlichsoziale Partei hinausreichender Milieubegriff verstanden. Er scheint dem Verfasser für die Zeit von 1933 bis 1938 in mehrerlei Hinsicht geeignet, denn er reicht zeitlich über das Ende der Christlichsozialen als Partei hinaus.1 Er ermöglicht es, eine Brücke zu schlagen von der demokratischen in die autoritäre Ära bis zum März 1938. Er reicht weiters über den engeren Bereich einer politischen Partei hinaus und entspricht so besser dem, vor allem personell eng miteinander verwobenen, Beziehungsgeflecht von Christlichsozialer Partei, Vereinskatholizismus und katholischer Publizistik, soweit sie politisch meinungsbildend agierte. Politischer Katholizismus umfasst aber auch das Handeln katholischer Amtsträger, dort wo es über den Bereich der Seelsorge im engeren Sinn hinaus für das öffentliche Leben wirkmächtig war. Unter Politischem Katholizismus lässt sich auch in weiten Bereichen das Agieren der Staatsorgane zwischen 1934 bis 1938 subsumieren, definierte sich doch der mit der Verfassung 1934 eingerichtete »Bundesstaat Österreich« als dezidiert auf einer christlichen Grundlage stehend. Die meisten seiner führenden Vertreter waren eindeutig dem katholischen Lager zuordenbar und ließen über ihr Bekenntnis zu katholischen Wertvorstellungen keinen Zweifel aufkommen. Im Folgenden soll daher ein Überblick darüber gegeben werden, welche Gruppierungen innerhalb des Politischen Katholizismus sich als besonders anfällig für antisemitische Ressentiments zeigten. Prinzipiell ist für die Zeit von 1933 bis 1938 festzuhalten  : Von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, trat keine maßgebliche Gruppe innerhalb des Politischen Katholizismus entschieden und vorbehaltlos gegen antisemitische Propaganda und Agitation auf. Selbst dort, wo der Nationalsozialismus und sein Rassenantisemitismus auf entschiedene Ablehnung stießen, schwangen Untertöne mit, die, aus einem jahrhundertealten christlichen Antijudaismus gespeist, Judenfeindschaft signalisierten.2 1 Zum Begriff des Politischen Katholizismus vgl. den wissenschaftlichen Diskussionsstand bzw. verschiedene Sichtweisen zusammenfassend Ebner 2013. 2 Vgl. dazu Wohnout 1994. Diese Studie aus dem Jahr 1995 stellt den Ausgangspunkt für die hier auf Basis der seither erschienenen Literatur und weiterer, dem Verfasser mittlerweile zugänglicher, Quellen angestellten Überlegungen dar.

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Politischer Katholizismus und Antisemitismus

Die Christliche Arbeiterbewegung und die Christlichsoziale Partei Als eine der Speerspitzen der antisemitischen Agitation im weiten Spektrum des Politischen Katholizismus in Österreich fungierte die Christliche Arbeiterbewegung. Ihr Antisemitismus war in den Jahren nach 1918 deutlich stärker ausgeprägt als bei der Christlichsozialen Partei, wobei festzuhalten ist, dass sich die antisemitische Agitation insgesamt in der unmittelbaren Nachkriegszeit intensivierte. »Eine der verheerendsten Kriegsfolgen in dem Feld der Intelligenz war die Etablierung eines Antisemitismus-Paradigmas neuer Qualität. […] Ohne den Antisemitismus der Provenienz Luegers und Schönerers vor 1914 beschönigen zu wollen – neu waren die Radikalisierung der Vorschläge […], die organisatorische Verdichtung, der Einsatz informeller Absprachen, die keine gesetzliche Grundlage brauchten.«3 Einer der Vorreiter dieser Entwicklung war Leopold Kunschak, seit den 1890er Jahren der unumstrittene Führer und Begründer der Christlichen Arbeiterbewegung. 1919 formulierte er einen Gesetzesentwurf, der für Juden einen Numerus clausus im öffentlichen Dienst, in bestimmten akademischen Berufen und der Wirtschaft vorgesehen hätte, genauso wie eine Separation im Schulwesen sowie eine soziale Absonderung mittels eigener politischer Vertretungskörper.4 Auch wenn sein Antrag im Nationalrat nie eingebracht wurde, skizzierte er das Spektrum der Ausschlussverfahren, basierend auf dem Kriterium der Rasse. Es war insbesondere die Problematik der in den Kriegsjahren vor den Kämpfen aus Galizien nach Wien geströmten jüdischen Flüchtlinge aus Osteuropa, die zum »Katalysator« der antisemitischen Bewegung der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde und Kunschak zu wüsten Tiraden veranlasste.5 Bei einer Großkundgebung im Juni 1920 verlangte er ihre Ausweisung und erklärte für den Fall, dass dies nicht möglich wäre  : »Wenn ich ein Raubtier nicht aus dem Lande bringen kann, dann sperre ich es in den Käfig ein […] Es gibt […] ein Mittel, das ist die Internierung der Ostjuden. Wir müssen die unter ihnen, die nicht ausgewiesen werden können, in Flüchtlingslagern konzentrieren«.6 Zu der von ihm verlangten Internierung in Flüchtlingslagern hatte er bereits einige Wochen zuvor im Rahmen einer Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung ausgeführt  : »Das Staatsamt des Inneren soll die Ostjuden, die freiwillig nicht gehen wollen, ausweisen. Nun weist das Staatsamt des Inneren darauf hin, daß es ja von seiner Seite geschieht, daß aber so unendlich große Schwierigkeiten zu bewältigen sind. […] Wenn unser Staat kein Mittel hat, die 3 4 5 6

Melichar 2015, 187. Pauley 1993, 208–211  ; Staudinger 2002, 271f. Häusler 1993, 31f. Reichspost, 8.6.1920.

Politischer Katholizismus und Antisemitismus

Juden auszuweisen, dagegen gibt es völkerrechtlich und nach dem Friedensvertrag von Saint Germain gar keine Einwendung und keine Befürchtung, daß die Juden in Konzentrationslager hineingesteckt werden  ; dagegen ist gar nichts einzuwenden, von keinem Gesichtspunkte aus, und wir fordern daher, daß wenn die Juden, soweit sie nicht ausgewiesen werden können und soweit sie nicht freiwillig gehen, unverzüglich in solchen Konzentrationslagern interniert werden.«7 Kunschak behauptete weiters, bei den in Österreich lebenden Juden, zu denen er ausdrücklich neben den Kriegsflüchtlingen auch die assimilierten Juden zählte, handle es sich um »ein eigenes Volk«, weshalb er die Beschlussfassung eines Gesetzes verlangte, »welches die Rechtsverhältnisse der Juden als ausländisches Minderheitenvolk in Österreich regelt.«8 Das Linzer Programm der Christlichen Arbeiterbewegung aus dem Jahr 1923 sprach dann explizit davon, den »zersetzende[n] Einfluss des Judentums aus dem Geistes- und Wirtschaftsleben des deutschen Volkes« zu verdrängen.9 So wie andere sozialständische Gruppierungen im Vorfeld der Christlichsozialen Partei überlebte auch die Christliche Arbeiterbewegung das Ende des Parteienstaates 1934, wenngleich ihr Verhältnis zu den Regierungen Dollfuß und Schuschnigg auf Grund der grundsätzlichen demokratischen Orientierung der Christlichen Arbeiterbewegung von einer kritischen, wenngleich loyalen Distanz gekennzeichnet war.10 Mitte der 1930er Jahre erreichte die antisemitische Agitation der Christlichen Arbeiterbewegung dann einen neuerlichen Höhepunkt. Der Antisemitismus bei der Christlichen Arbeiterbewegung war Ausdruck des Antikapitalismus dieser Gruppierung, was auch bei anderen politischen Massenbewegungen der Zwischenkriegszeit ein Motiv für deren antisemitische Demagogie war. Es wäre falsch, die Zunahme des Judenhasses automatisch und ausschließlich als zum Rückbau der Demokratie parallel laufendes Phänomen zu sehen. Im Gegenteil, die antisemitische Konjunktur der Zwischenkriegszeit wurde auch in anderen Ländern von Gruppierungen getragen, die von demokratischen Errungenschaften, wie der Parlamentarisierung der politischen Systeme und der Ausweitung des Wahlrechts profitiert hatten. In seiner jüngsten, vergleichenden Studie zum Antisemitismus in Europa hat es Götz Aly auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt  : »Der Gedanke, die Voraussetzungen für den am Ende mörderischen Judenhass und ethnische Se  7 Stenographische Protokolle über die Sitzungen der Konstituierenden Nationalversammlung der Republik Österreich, Bd. II, 78. Sitzung, 29.4.1920, 2381f.   8 Ebd., 2383.   9 Zit. n. Pelinka 2005, 96. 10 Vgl. dazu Pelinka 1972.

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gregation hätten nur in autoritär, totalitär oder diktatorisch organisierten Staaten ausgebrütet werden können, geht an den Tatsachen vorbei. Auch Parlamente und Regierungen demokratisch verfasster Nationalstaaten folgten der ethnokollektivistischen Doktrin mit einer beachtlichen Selbstverständlichkeit.«11 Wenn man das mitbedenkt, wird das vermeintliche Paradoxon plausibler, wonach in vielen Fällen gerade jene Repräsentanten des Politischen Katholizismus in Österreich, die sich gegen die Beseitigung der Demokratie zur Wehr gesetzt hatten, anfällig für antisemitische Agitation waren. Neben Kunschak galt dies vor allem für den letzten Parteiobmann der Christlichsozialen, Emmerich Czermak, der bis 1932 eine Zeit lang Unterrichtsminister war. Ende 1933 publizierte er sein Büchlein »Ordnung in der Judenfrage«. Darin lehnte er etwa die Taufe als Assimilationsmittel grundsätzlich ab, da man zwar seine Konfession, nicht aber sein Volkstum ändern könne. Nach Czermak müsse »der religiöse Deutsche die Annahme der Taufe als ›Entréebillet‹ für Juden mit größter Entschiedenheit ablehnen.«12 Er verlangte die Errichtung konfessioneller Schulen, wobei jüdischen Kindern nur mehr der Besuch jüdischer Schulen gestattet sein sollte, sowie einen Numerus clausus für Juden in akademischen Berufen und öffentlichen Positionen. Bezüglich einer globalen »Lösung« der Problematik ventilierte Czermak einen »Madagaskarplan«, also die Möglichkeit, alle Juden nach Madagaskar umzusiedeln, da ihm Palästina dafür als räumlich zu klein und daher nur für eine vorläufige »Teillösung« geeignet erschien.13 Czermak wurde von Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg aus anderen Gründen auf ein politisches Nebengleis gestellt. Nach der endgültigen Auflösung der Christlichsozialen Partei im Herbst  1934 wurde er Leiter der Christlichen Pressezentrale. Diese konnte im Rahmen der Katholischen Aktion und unter dem ausdrücklichen Schutz Kardinal Theodor Innitzers den bisherigen »Informationsdienst der Christlich-sozialen Nachrichtenzentrale« als »Nachrichtendienst der Christlichen Pressezentrale« weiterführen. Abgeschnitten von politischen Entscheidungsprozessen fand Czermak im »Nachrichtendienst«, aber nicht nur dort, ein Forum, in dem er seinen immer radikaleren Rassenthesen freien Lauf ließ.14 Er kann so als Beispiel dafür gelten, dass es im Rahmen der an der Schnittstelle zwischen Kirche und Politik gelegenen regimenahen Publizistik bis 1938 auch unter den Augen der Zensur des 11 Aly 2017, 353. 12 Czermak 1933, 44. 13 Ebd., 54f. 14 Der amerikanische Gesandte in Österreich, George S. Messersmith, urteilte über Czermaks Reden, dass sich diese nur unwesentlich von jenen gemäßigter Nationalsozialisten unterschieden. National Archives, College Park, Maryland, USA, Record Group 59  : General Records of the Department of State 1930–1939 (im Folgenden zit. als NA, StD.), Zl. 863.00 P.R./84.

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autoritären Österreich möglich war, explizit antisemitische Positionen zu vertreten, solange sie nicht gewisse, allerdings sehr weit gesteckte, Grenzen überschritten. Nur zu offener Gewalt aufrufende oder sonstige radikale antisemitische Publikationen wurden von der staatlichen Zensur beschlagnahmt. Dagegen durfte antisemitische Literatur, die dieses sehr hoch angesetzte Extremmaß nicht überschritt, ungehindert im autoritären Österreich verkauft werden. Doch können Czermaks antisemitische Extrempositionen nicht als repräsentativ für die Politik der Christlichsozialen Partei insgesamt angesehen werden. Die Christlichsoziale Partei hatte sich in den Anfangsjahren der Republik zwar an der antisemitischen Konjunktur aktiv beteiligt, im Laufe der 1920er–Jahre rückte diese allerdings in den Hintergrund. Das galt auch für die christlichsozialen Wahlkämpfe.15 Lösen vom antisemitischen Paradigma konnten und wollten sich die Christlichsozialen aber nicht. Im Parteiprogramm des Jahres 1926 hieß es, dass die Partei »die Übermacht des zersetzenden jüdischen Einflusses auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiete« bekämpfe16 und in seinem 1932 erschienenen Kommentar dazu schrieb Richard Schmitz zu diesem Paragraphen  : »Der Antisemitismus ist seit den Uranfängen der Bewegung ein Stück christlichsozialen Wesens.« Fast entschuldigend fügte er hinzu, dass, auch wenn es um den Antisemitismus »in besseren Zeiten ruhiger« geworden, dieser niemals »in der Christlichsozialen Partei erstorben« gewesen sei. Schmitz erachtete wirtschaftliche Boykottmaßnahmen gegenüber Juden für legitim, jedoch gebe es »für den Christlichsozialen keinen gewalttätigen und auch keinen Rassenantisemitismus.«17 Albert Lichtblau resümiert für den christlichsozialen Antisemitismus der späten 1920er und frühen 1930er Jahre, dass dessen Intensität in den einzelnen Gliederungen der Partei und auch regional unterschiedlich war  : »Gegenüber der Anfangsphase in den 1880er und 1890er Jahre[n] schien der christlichsoziale Antisemitismus in der ideologischen Präsenz zurechtgerückt und stand nicht mehr als Skandalisierungsmittel derart zentral im Vordergrund. […] Da die Christlichsozialen aus der Sicht überzeugter Antisemiten real wenig zur eingeforderten ›Lösung der Judenfrage‹ beigetragen hatten, gewann in Phasen ökonomischer und politischer Krisen die radikalere politische Option der Nationalsozialisten an Glaubwürdigkeit.«18

15 Vgl. dazu zusammenfassend Rütgen 1989, 99–110. 16 Publiziert in Berchtold 1967, 374–376, hier 376. 17 Schmitz 1932, 67–70. 18 Lichtblau 2009, 57.

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Die Haltung kirchlicher Amtsträger Im Bereich der katholischen Kirche verschwammen die Grenzen zwischen »religiösem« und »rassischem« Antisemitismus. Der Gedanke, dass das Judentum nicht mit dem Religionswechsel allein abgeschüttelt werden könne, war im katholischen Klerus in Österreich weit verbreitet. Alter religiöser Antijudaismus wurde mitunter von modernem rassenantisemitischen Gedankengut überlagert, und es kam zu heute grotesk anmutenden Amalgamierungen. Selbst angesehene Wissenschaftler, wie der unter österreichischen Intellektuellen überaus angesehene deutsche Jesuit Hermann Muckermann oder der an der Wiener Universität lehrende Ethnologe Wilhelm Schmidt – gleichfalls ein katholischer Geistlicher – vertraten eine Sichtweise, wonach es sich bei den Juden um eine Rasse handle, die sich über die Jahrtausende hinweg entwickelt habe und sich von den Deutschen unterscheide. Das deutsche Volk sollte sich daher von den Juden separieren, konkret seien etwa gemischte Ehen zwischen Katholiken und Juden nach Tunlichkeit zu vermeiden.19 Eine Ebene darunter sprach ausgerechnet der Leiter des Paulus-Werkes, das kirchlicherseits für die damals sogenannte »Judenmission« zuständig war, also konversionswillige Juden betreute, der populäre Jesuit P. Georg Bichlmair, 1936 von »bösen Erbanlagen« der Juden und führte aus  : »Wie jeder getaufte Christ […] mit der Gnade Gottes an sich arbeiten muss, […] so bedarf es auch bei einem getauften Juden anstrengender Arbeit und längerer Zeit zur Behebung der aus seinem Volkscharakter stammenden Schwächen. Diese Tatsache werden wir uns vor Augen halten, wo es sich um die Frage handelt, ob der neugetaufte Jude ohne weiteres wie jeder andere bereits als Kind getaufte deutsche Christ zu allen Stellungen zugelassen werden soll.«20 Bei anderer Gelegenheit bemühte er das in seiner antisemitischen Konnotation in der frühen Neuzeit entstandene Klischeebild des Ahasver, des seit dem Kreuzestod Jesu auf Grund unterlassener Hilfeleistung heimatlos in der Welt herumirrenden Juden. Das Judentum sei »heimatlos und haltlos geworden«. Es hätte »seinen geistigen Wurzelboden verloren und damit die natürlichen Quellen seiner nationalen Existenz. Nur durch Gottes wunderbare Vorsehung bleibt es der Welt erhalten, unter 19 Connelly 2012, 13–18. Jan-Heiner Tück hält für die theologischen Lehrstühle im deutschen Sprachraum fest, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das nachbiblische Judentum für die meisten Theologen kein Thema war, ja manche unter ihnen sich von der nationalsozialistischen Idee einer homogenen Volksgemeinschaft beeindrucken ließen und eine Zeit lang den Versuch unternahmen, die antisemitische Politik des »Dritten Reiches« mit theologischen Argumenten zu rechtfertigen, Tück 2016b, 313f. 20 Zit. n. Maderegger 1973, 65  ; Moser 1977, 104. Zum ambivalenten Verhältnis Bichlmairs zum Judentum vgl. auch Connelly 2012, 22–24, 118–127.

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die Völker zerstreut, überall mit Misstrauen betrachtet, auf ewiger Wanderschaft begriffen, seinen eigenen Leichnam durch die Geschichte tragend, allen Völkern zum Zeugnis.«21 Es ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass es sich bei Bichlmair um keinen sektiererischen Außenseiter im katholischen Klerus Wiens handelte. Im Gegenteil, er war ein in der katholischen Öffentlichkeit angesehener und geschätzter Geistlicher, der keineswegs mit dem Nationalsozialismus sympathisierte, sondern nach 1938 verfolgt wurde.22 Wie Bichlmairs Beispiel zeigt, waren antijüdische Stereotype im Klerus weit verbreitet. Selbst viele der schärfsten katholischen Opponenten des NS-Regimes bedienten sich ihrer, bis in die höchsten Ebenen der kirchlichen Hierarchie im deutschsprachigen Raum. Innerhalb der österreichischen Bischofskonferenz bezog der Linzer Oberhirte Johannes Maria Gföllner am schärfsten gegen den Nationalsozialismus Stellung. Im Jänner 1933 veröffentlichte er einen Hirtenbrief, in dem er die Zugehörigkeit zur NSDAP als »mit dem katholischen Gewissen unvereinbar« bezeichnete.23 Doch im Hinblick auf den Antisemitismus war sein Rundschreiben mehr als zwiespältig. Gföllner erklärte den nationalsozialistischen »Rassenstandpunkt« als mit dem Christentum »völlig unvereinbar«. Zugleich setzte er allerdings fort  : »Verschieden vom jüdischen Volkstum und der jüdischen Religion ist der jüdische, internationale Weltgeist. […] Presse und Inserate, Theater und Kinos sind häufig erfüllt von frivolen und zynischen Tendenzen, die die christliche Volksseele bis ins Innerste vergiften und die ebenso vorwiegend vom Judentum genährt und verbreitet werden.« Der Bischof erklärte es daher als »strenge Gewissenspflicht eines jeden überzeugten Christen«, den »schändlichen Einfluß des Judentums zu bekämpfen und zu brechen.« Kardinal Theodor Innitzer verhielt sich in mehrerlei Hinsicht z­urückhaltender. Eine offene Verurteilung des Nationalsozialismus vermied er. Zugleich sprach er sich wiederholt gegen Diskriminierungen jeder Art aus. Persönlich lag Innitzer jede Form von Antisemitismus fern.24 Schon als Rektor der Universität Wien im Studienjahr 1928/29 hatte er sich – ganz im Gegensatz zu seinen Vorgängern wie Nachfolgern  – aktiv darum bemüht, der Eskalation antisemitischer Gewalt an der Uni21 Zit n. Königseder 2005, 58f. 22 Bichlmair war nach dem Anschluss federführend und im Auftrag von Kardinal Innitzer an den katholischen Initiativen für die Ermöglichung der Auswanderung von getauften Juden beteiligt, ehe er 1939 verhaftet wurde. Nach seiner Freilassung musste er Wien verlassen und lebte in Oberschlesien, Fenzl 1990, 401–403. 23 Die Passagen aus dem Hirtenbrief Gföllners sind zit. n. Rütgen 1989, 318f. Bezüglich einer historischen Bewertung und Einordnung des Rundschreibens vgl. Liebmann 1988, 33–41. 24 Aus dieser Haltung erklärt sich auch das persönliche Engagement Innitzers bei der 1940 erfolgten Gründung der »Erzbischöflichen Hilfsstelle für nichtarische Katholiken«, vgl. dazu Litzka 2010.

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versität Grenzen zu setzen und jüdische Studierende vor Übergriffen zu schützen. Dafür erntete er von Seiten radikal deutschnationaler Studenten scharfe Kritik. Doch stellte sich der Akademische Senat hinter ihn.25 Als Erzbischof von Wien und Vorsitzender der Bischofskonferenz fungierte Innitzer als Erstunterzeichner des von den österreichischen Bischöfen am 21. Dezember 1933 veröffentlichten »Weihnachtshirtenbriefes«. Mit diesem, nach Konsultationen mit dem Vatikan entstandenen Dokument26, forderten die Bischöfe die Gläubigen auf, sich hinter die Regierung Dollfuß zu stellen und verurteilten die nationalsozialistische Weltanschauung. Ihr wurden vier »Grundwahrheiten« gegenübergestellt, deren erste lautete  : »Die Menschheit ist eine einheitliche Familie, aufgebaut auf Gerechtigkeit und Liebe. Darum verurteilen wir den nationalsozialistischen Rassenwahn, der zu Rassenhaß und Völkerkonflikten führt, ja führen muß«.27 Das war eine klare Absage an Antisemitismus und die nationalsozialistische Rassenideologie.28 Einige Zeilen weiter erfuhr diese Ablehnung, zumindest auf den ersten Blick, eine Bekräftigung, wenn es hieß  : »Wir […] verurteilen den radikalen Rassenantisemitismus.« Oder war es doch eine implizite Einschränkung des zuvor Gesagten  ? Konnte oder sollte dieser Satz so verstanden werden, dass nur der Rassenantisemitismus nationalsozialistischer Provenienz klar verurteilt wurde, andere, aus katholischer Richtung kommende, Spielarten antisemitischen Denkens aber nicht  ? Die Tatsache, dass Bischof Gföllner innerhalb der Bischofskonferenz als Redakteur des Rundschreibens fungiert hatte,29 würde eher in diese Richtung deuten. Bleiben wir aber noch bei der Haltung Innitzers gegenüber dem Antisemitismus  : Anlässlich der Einweihung neuer Räumlichkeiten des Pauluswerkes im Februar 1936 hielt er eine bemerkenswerte Ansprache, in deren Zuge er erklärte  : »In einer Zeit, wo der Rassenhass und die Vergötzung der Rasse Triumphe feiern, ist es gut, wenn wir von der Kultur unseres Vaterlandes Österreich aus betonen, dass wir einen anderen Standpunkt einnehmen. […] Wir schließen uns den Worten Kardinal Faulhabers an  : die Betrachtung des Volkes vom einseitigen Rassenstandpunkte aus, besonders was die Judenfrage anbelangt, ist dem Christentum diametral entgegengesetzt. […] 25 Fenzl 1990, 389f.; Taschwer 2015a, 135f. 26 Volk 1983, 396–399. 27 Der Hirtenbrief brachte insoweit eine Klarstellung, als nach dem Bekanntwerden der von der Bischofskonferenz beschlossenen Zurückziehung katholischer Geistlicher von ihren politischen Mandaten einige Wochen zuvor von der nationalsozialistischen Presse die Behauptung in den Raum gestellt wurde, wonach die Kirche gegenüber der Regierung Dollfuß auf Distanz gegangen sei. Die damalige Entscheidung war unkommentiert verlautbart und auf ein späteres Hirtenwort verwiesen worden. Der nunmehrige Hirtenbrief fand in der Öffentlichkeit ein breites Echo und wurde in mehreren großen Tageszeitungen in vollem Wortlaut abgedruckt, hier zit. n. Wiener Zeitung, 23.12.1933. 28 Adamovich 2015, 145. 29 Volk 1983, 400.

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Wenn Christus der Herr gesagt hat, sie sollen alle eins sein, so sind seine Brüder im Judentum nicht ausgeschlossen. […] zunächst werden wir die große Parole Gerechtigkeit und Liebe vor Augen haben […] – gerade in einer Zeit, wo den Juden das elementarste Naturrecht abgesprochen wird.« Innitzer forderte dazu auf, »denen, aus deren Mitte das Heil gekommen ist, unser Augenmerk zuzuwenden« und schloss in Anspielung darauf, dass Paulus von Tarsus vor seiner Konversion jüdischer Gesetzeslehrer gewesen ist  : »Pauluswerk ist ein schönes Wort. Natürlich ist Paulus dem Rassenantisemitismus ein Greuel, uns aber ist er erhabenes Vorbild und hehre Gestalt«.30 Das war eine Erklärung, die sich in ihrer Eindeutigkeit von vielen Stellungnahmen seiner Amtsbrüder im deutschsprachigen Raum wohltuend abhob. Und doch blieb Innitzer bei seiner Verurteilung des Antisemitismus merkwürdig zurückhaltend. Als ihm Irene Harand ihr Buch »›Sein Kampf‹. Antwort an Hitler«, in dessen Mittelpunkt die Abrechnung mit der nationalsozialistischen Rassenlehre stand,31 übergab, lobte er das Werk ausdrücklich. Zugleich bat er, seine Zustimmung dazu nicht öffentlich zu machen.32 Das Beispiel zeigt anschaulich  : Dem antisemitischen Mainstream innerhalb seiner Diözese trat der Kardinal nicht offen entgegen. Denn gerade beim niederen Klerus und an der religiösen Basis spielte ein tief verwurzelter Antisemitismus  – einem jahrhundertealten Klischee folgend  – eine große Rolle. Unter den antijüdischen Stereotypen stach der auf einzelne Kirchenväter rückführbare Vorwurf hervor, »die Juden seien Christusmörder, ja Gottesmörder. […] Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n. Chr. und die anschließende Zerstreuung der Juden über den Erdkreis wurden als göttliche Strafe für die Kreuzigung des Messias sowie die : bleibende Verstocktheit gedeutet.«33 Die Stelle aus dem Matthäus-Evangelium   »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder (Mt 27,25, vgl. Mk 12,7)« apostrophiert der Dogmatiker Jan-Heiner Tück als »locus classicus des kirchlichen Antijudaismus«.34 Eine Untersuchung ausgewählter Wiener Pfarrblätter und der dort erschienenen antisemitischen Beiträge hat dies nochmals unterstrichen. Von den 25 Pfarren, deren Publikationen durchgesehen wurden, waren nur vier, die gänzlich auf Beiträge antisemitischen Inhalts verzichteten.35

30 Reichspost, 14.2.1936. 31 Zum Buch von Harand siehe die 2005 erfolgte, um biographische Beiträge ergänzte, Neuauflage, Reiter 2005. 32 Connelly 2012, 31. 33 Tück 2016a, 40. 34 Ebd. 35 Scholz 2002, 284f.; vgl. dazu im Detail Scholz/Heinisch 2001.

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Als 1936 nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges Nachrichten von Zerstörungen von Kirchen und Misshandlungen von Geistlichen bekannt wurden, konnte man im »Wiener Kirchenblatt« in einem vom Herausgeber, dem Prälaten Johann Mörzinger, gezeichneten Artikel lesen  : »Kirche von Spanien  ! […] Du musst einen bitteren Kreuzweg gehen  ! Christi Kreuzweg wurde von den Juden in Szene gesetzt. Die Kreuzwege der Kirche in unseren Tagen wurden meist nur von Juden veranstaltet. Armes, dummes Christenvolk, das den Juden zu Reichtum und sich selber zu Elend verhilft  !«36 In der katholischen Vulgärvorstellung entstand eine Symbiose der beiden auf internationaler Ebene operierenden kirchenfeindlichen Mächte, des jüdischen Bolschewismus auf der einen und des jüdischen Kapitalismus auf der anderen Seite. Gemeinsam verkörperten sie den »Antichristen« schlechthin. Dass solche Klischees mitunter auch in die Erklärungen hoher kirchlicher Amtsträger einfließen konnten, illustriert eine Passage aus dem bereits zitierten Hirtenbrief Bischof Gföllners  : »Das entartete Judentum im Bunde mit der Weltfreimaurerei ist auch vorwiegend Träger des mammonistischen Kapitalismus und vorwiegend Begründer und Apostel des Sozialismus und Kommunismus, der Vorboten und Schrittmacher des Bolschewismus.«37 Dass man mit solchen Argumentationsmustern implizit der nationalsozialistischen Propaganda, die stets den »jüdischen Ursprung« des Kommunismus betonte, in die Hände spielte, wurde den Amtsträgern der katholischen Kirche offenbar nicht bewusst. Gerade an der Berichterstattung über den Spanischen Bürgerkrieg lässt sich das anschaulich festmachen. Der »Völkische Beobachter« berichtete ausführlich über die gegen die Kirche gerichteten Übergriffe und Gewaltakte in Spanien – als Folge der »jüdisch-bolschewistischen Revolution«.

Katholische »Brückenbauer« Einer gesonderten Erwähnung bedarf die Gruppe der sogenannten katholisch-nationalen Brückenbauer, also jener  – durchaus einflussreichen  – Intellektuellen innerhalb des katholischen Spektrums Österreichs, die sich für ein aktives Bündnis oder zumindest ein freundliches Verhältnis von katholischer Kirche und Nationalsozia36 Wiener Kirchenblatt. Wochenschrift für die Katholiken mit der Beilage »Das kleine Kirchenblatt«, 16.8.1936. 37 Die gemeinsame Gegnerschaft gegenüber dem Marxismus, insbesondere gegenüber dem Sowjetkommunismus, hatte schon unter deutschen katholischen Geistlichen vor 1933 in manchen Fällen Sympathien für den Nationalsozialismus aufkommen lassen, auch wenn das Verhältnis insgesamt betrachtet viel distanziert-ablehnender blieb, als dies unter protestantischen Klerikern der Fall war, vgl. dazu Forstner 2015, 118–121.

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lismus einsetzten.38 Im Antisemitismus wurde dabei ein Feld gesehen, wo sich gemeinsame Intentionen trafen. In der Gegnerschaft zu Liberalismus, Individualismus und Marxismus wurden weitere Übereinstimmungen mit dem nationalsozialistischen Gedankengut gesehen. Als prominente Protagonisten dieser Brückenbauer zu nennen sind etwa der Universitätsprofessor für Urgeschichte und Rektor der Universität Wien  1935/1936, Oswald Menghin (Unterrichtsminister im Anschlusskabinett Seyss-Inquart), der einflussreiche katholische Publizist der Zwischenkriegszeit Josef Eberle mit seiner gerade in intellektuellen Kreisen weit verbreiteten Wochenzeitschrift »Schönere Zukunft«,39 der Bundesführer der für völkisches Gedankengut anfälligen Neuland-Bewegung und bereits geheim der NSDAP beigetretene Anton Böhm40 oder der als Direktor der »Anima« in Rom tätige Bischof Alois Hudal. Letzterer wird bewusst in dieser Gruppe genannt, spielte er doch nicht so sehr in der Hierarchie der österreichischen Bischöfe eine Rolle und war auch nicht Mitglied der Bischofskonferenz. Vielmehr übte er mit seiner schriftstellerischen Tätigkeit einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung in seiner Heimat aus. Sein 1936 erschienenes Buch »Die Grundlagen des Nationalsozialismus« fand in Österreich weite Verbreitung und wurde mehrfach neu aufgelegt. Es stellte den Versuch dar, die Ideenwelten von Nationalsozialismus und katholischer Kirche miteinander in Einklang zu bringen. Im Antisemitismus sah Hudal eine breite Übereinstimmung. So konnte man bei ihm lesen, »dass es eine Erfahrungstatsache ist, dass die Assimilation der Juden an fremdes Volkstum oft nur eine rein äußerliche bleibt«, und weiter unter Bezugnahme auf die nationalsozialistischen Rassengesetze im Deutschen Reich  : »Deshalb könnte auch gegen eine staatliche Gesetzgebung, die aus Notwehr und gegen eine Überflutung fremder Elemente das eigene Volkstum schützt, und aus staatspolitischen und religiösen Gründen gewisse Ausnahmebestimmungen für Angehörige des jüdischen Volkes erlässt, kein ernster Einwand erhoben werden, auch wenn solche Gesetze dem modernen Rechtsstaat nicht entsprechen, denn die Grundsätze des modernen Staates, die erst durch die Französische Revolution geschaffen wurden, sind vom Standpunkte des Christentums und des Volkstums nicht die besten.«41 Einzelne Stimmen im katholischen Lager traten sehr wohl entschieden gegen die völkische  Rassenlehre und den Antisemitismus auf. Sie waren aber im intellektuel38 Vgl. dazu u. a. Haag 1980  ; Weiss 2014, 115–123, 243–246. 39 Vgl. zu Eberle und zur Blattlinie der »Schöneren Zukunft« Eppel 1980. 40 So äußerte sich Böhm im Jahr 1933 in einer deklariert rassenantisemitischen Weise  : »Der mit großem Elan begonnene Kampf gegen das Judentum muß wohl als eine bittere Notwendigkeit angesehen werden […], denn die Assimilation der Judenschaft ist immer nur eine scheinbare. Auch die Bekehrung einzelner zum Christentum ändert daran nichts«, zit. n. Liebmann 2003, 423f. 41 Hudal 1936, 88.

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len Milieu nicht die Meinungsführer, sondern weit eher Außenseiter, wie etwa die bereits genannte Irene Harand, der vom Judentum zum Katholizismus konvertierte Geistliche Johannes Österreicher, der um Versöhnung mit der Arbeiterschaft bemühte zeitweilige Wiener Vizebürgermeister und Soziologe Ernst Karl Winter oder der deutsche Emigrant Dietrich von Hildebrandt mit der von ihm begründeten Monatsschrift »Der christliche Ständestaat«.42 Dort wurde bereits 1934 die Frage gestellt »wie es möglich sei, dass viele Katholiken trotz Sterilisierungsgesetz, verschiedenen Züchtungsplänen, Arierparagraphen, Rassenlehre, nationalsozialistischem Ehrbegriff, offenem Kulturkampf […] an die Phrase vom positiven Christentum glauben und noch immer mitarbeiten und mitgestalten wollen.«43

Die Haltung des autoritären Staates gegenüber den Juden »Mit Sicherheit kann man sagen, dass Dollfuß kein Vertreter des christlichsozialen Antisemitismus war, gerade das Gegenteil.«44 Diese Bewertung des Begründers und ersten Vorstandes des Instituts für Judaistik an der Universität Wien, Kurt Schubert, mag auf das Erste überraschen. Denn als Studentenfunktionär stellte Engelbert Dollfuß im Jahr 1920 auf der 51. Cartellversammlung des damals noch die katholischen Verbindungen des gesamten deutschen Sprachraumes erfassenden Cartellverbandes in Regensburg einen Antrag, wonach »die deutsch-arische Abstammung, nachweisbar bis auf die Großeltern« als Aufnahmebedingung in den Cartellverband gelten solle.45 In dieser Zeit trat er auch als Vertreter der »katholisch-deutschen Studentenschaft« im Rahmen des Antisemitenbundes als Redner auf.46 Es ist schwer zu beurteilen, wann und inwieweit Dollfuß seine Haltung gegenüber dem Antisemitismus änderte. 42 So wenig diese Frauen und Männer politisch wirkmächtig wurden, so sehr streicht John Connelly ihre geistesgeschichtliche Avantegardefunktion im Hinblick auf die Wandlungen im katholischen Denken nach 1945 hervor  : »Yet if we look at the map of Europe in the 1930s, Austria was clearly the point from which new energies propelled innovation in Catholic thought. The first systematic Catholic critique of Antisemitism in history appeared in Vienna in 1937. By that point, readers examining Vienna’s newsstands could find four Catholic journals opposing Nazism  : Irene Harand’s Gerechtigkeit, Dietrich von Hildebrand’s Der Christliche Ständestaat, Ernst Karl Winter’s Wiener Politische Blätter, and Johannes Österreicher’s Die Erfüllung«, Connelly 2012, 103. 43 Zit. n. Moritz 2002, 50. Zur Zeitschrift »Der Christliche Ständestaat« und deren Verbreitung vgl. Ebneth 1976. 44 Schubert 2009, 19. 45 Hartmann 2006, 493. Der Antrag trat im Übrigen nicht in Kraft, auch wenn es vorerst zu einer Beschlussfassung darüber kam. 46 Vgl. dazu z. B. Reichspost, 8.6.1920.

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Allerdings ist von ihm während seiner Zeit als Bundeskanzler keine Aktivität oder Äußerung bekannt, die als antisemitisch interpretiert werden könnte. Im Gegenteil, er signalisierte, das Erbe der Monarchie, in der die Juden volle staatsbürgerliche Rechte zuerkannt bekommen hatten, fortführen zu wollen. Doch wusste er, genauso wie nach ihm Schuschnigg, um die starken antijüdischen Ressentiments gerade innerhalb des Politischen Katholizismus. So versuchten beide in ihrer Politik als Kanzler einen möglichst neutralen Kurs zu steuern. Die jüdische Frage sollte in der politischen Diskussion möglichst keine Rolle spielen. Man erhoffte sich dadurch, erstens den Nationalsozialisten den Wind aus den Segeln zu nehmen, zweitens die eigene katholische Klientel nicht vor den Kopf zu stoßen, drittens die jüdische Bevölkerung, die sich angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung hinter die Regierung stellte, weiter bei der Stange zu halten. Zudem hatte man, last but not least, auch international keine Schwierigkeiten zu befürchten. Schließlich war nach dem Ende der Demokratie in den Augen der öffentlichen Meinung in den westlichen Demokratien die Behandlung der Juden einer jener Hauptpunkte, in denen sich Österreich vom nationalsozialistischen Deutschland unterschied und damit seine Unabhängigkeit rechtfertigte. Dollfuß gelang es, dieses labile Gleichgewicht einigermaßen aufrechtzuerhalten. Schon beim Regierungsantritt von Dollfuß im Frühjahr 1932 hatte sich die antijüdische Stimmung innerhalb der Bevölkerung drastisch verschärft. Das sprunghafte Ansteigen antisemitischer Stimmungslagen war zum einen eine Folge der sich nunmehr auf Österreich voll auswirkenden Wirtschaftskrise.47 Zum anderen wurde von den österreichischen Nationalsozialisten – sie wähnten sich seit den Landtagswahlen vom Frühjahr 1932 im Aufwind – ein aggressiver, teils gewalttätiger Antisemitismus neben der Anschlussforderung zur zweiten Säule ihrer politischen Agitation. Keine der anderen politischen Parteien hatte den Mut, dagegen entschieden aufzutreten. Bei den Christlichsozialen wurde dies nicht zuletzt durch den Umstand zusätzlich gehemmt, dass unter den führenden sozialdemokratischen Politikern mehrere jüdischer Herkunft waren. Ja, es gab christlichsoziale Politiker, die es für ihre Partei als Verdienst reklamierten, »die jüdische Gefahr« als erste erkannt zu haben.48 47 Pauley 2002, 254. 48 So auch die damalige Einschätzung der US-Gesandtschaft in Wien. NA, St.D., Zl. 863.4016/104. – Die Reichspost etwa schrieb im November  1933  : »Schon Jahrzehnte vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus hat es einen ›Verein zur Abwehr des Antisemitismus‹ gegeben und es ist daher Verfälschung eines notorischen Sachverhalts, wenn der Antisemitismus als eine Erfindung des Nationalsozialismus hingestellt und jeder, der auch nur irgendwie in den Verdacht antisemitischer Neigungen gebracht wurde, als Nationalsozialist von fragwürdiger österreichischer Gesinnung angeprangert wird. Es ist mit wärmstem österreichischen Patriotismus sehr wohl vereinbar, in der Hypertrophie des Judentums in einzelnen Berufen keinen Idealzustand zu erblicken«, Reichspost, 1.11.1933, 1.

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Ein Brennpunkt judenfeindlicher Ausschreitungen waren die Universitäten und hier vor allem die Universität Wien, wo diese bereits bedrohliche Ausmaße angenommen hatten.49 Antisemitische Exzesse nationalsozialistischer Studenten waren es, die die Frage der Hochschulautonomie im Mai 1933 auf die Tagesordnung der Ministerratssitzungen der Regierung brachten. Am 10. Mai 1933 wurden jüdische und sozialdemokratische Studenten am Anatomischen Institut Professor Julius Tandlers von zahlenmäßig weit überlegenen Nationalsozialisten, die mit Peitschen, Eisenstangen und Schlagringen bewaffnet waren, angegriffen und zusammengeschlagen. Da sich unter den Verletzten sechs amerikanische Staatsbürger befanden, hatte der Vorfall auch internationale Implikationen,50 umso mehr als es bereits im Oktober 1932 und im März 1933 zu ähnlichen Ausschreitungen gekommen war. Schon am 12. Mai 1933 verständigte sich die Regierung darauf, die Autonomie der Hochschulen, bei der es sich um traditionelles, aber lediglich gewohnheitsmäßiges Recht handelte, nicht mehr länger zu respektieren, wenn die akademischen Behörden nicht in der Lage oder nicht willens wären, für Ruhe und Ordnung auf akademischem Boden zu sorgen. Dollfuß selbst wäre noch weiter gegangen und hatte bereits eine temporäre Sperre der Universität erwogen.51 Als es dann am 27. Mai 1933 anlässlich einer »Heldengedenkfeier« katholischer Studentenverbindungen zu wüsten Attacken bewaffneter NS-Studenten kam, erfolgte auf Anweisung des selbst anwesenden Ministers Schuschnigg – der Justizminister war erst drei Tage zuvor zusätzlich mit den Agenden des Unterrichts und damit des Hochschulwesens betraut worden – erstmals ein massiver Einsatz der Exekutive.52 Binnen Minuten wurde die Aula der Universität durch die Alarmabteilung der Wiener Polizei geräumt. Mit der kurz darauf erfolgten Auflösung der »Deutschen Studentenschaft« und der staatlichen Aufsicht über die Universitäten trat eine Besserung der Situation für die jüdischen Studierenden ein. Sie konnten sich ab diesem Zeitpunkt wesentlich sicherer fühlen als in den Jahren davor.53 Mit der neuen Verfassung vom Mai 1934 wurden die staatsbürgerlichen Rechte der Juden gegenüber der Verfassung 1920 nicht beschnitten. Dies wurde von allen jüdischen Organisationen wertschätzend anerkannt. In der betont katholisch-konfessionellen Ausrichtung der Konstitution, deren Präambel bekanntlich mit dem Anruf des Allmächtigen begann, wurde nicht nur kein Hindernis, sondern vielfach eine 49 Zur Geschichte antisemitischer Übergriffe an der Universität Wien vgl. an zuletzt erschienenen Studien u. a. Ash 2015  ; Bauer 2016  ; Hanak-Lettner 2015  ; R athkolb 2013  ; Taschwer 2015a  ; Taschwer 2015b. 50 Enderle-Burcel 1983, VIII/3, 297 (MRP 872, 10.5.1933). 51 Ebd., 316f. (MRP 874, 12.5.1933). 52 Ebd., VIII/3, 421–423 (MRP 878, 31.5.1933). 53 Bauer 2016, 158.

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zusätzliche moralische Absicherung der Gleichberechtigung der Juden gesehen. »Eine Verfassung, die im Namen Gottes verkündet wird, kann nicht gegen uns Juden sein«, brachte es der Präsident der Kultusgemeinde, Desider Friedmann, auf den Punkt.54 Charakteristisch für die formalrechtlich korrekte Behandlung der Juden war ihre Vertretung in den staatlichen Repräsentativorganen, in erster Linie in jenen der Gesetzgebung. Für die Organe der Bundesgesetzgebung war ex lege vorgesehen, dass im Bundeskulturrat, einem der vier Konsultativorgane der Bundesgesetzgebung, ein Repräsentant der »israelischen Religionsgesellschaft« vertreten sein sollte.55 Zusätzlich berief Schuschnigg den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde, Friedmann, in den Staatsrat, das wichtigste dieser Konsultativorgane. Auch in die Wiener Bürgerschaft wurde mit Jakob Ehrlich ein prominentes Mitglied der Kultusgemeinde berufen. Angesichts der relativen Einflusslosigkeit dieser Gremien soll das Faktum der Berufung von Vertretern der Kultusgemeinde nicht überbewertet werden.56 Im Vergleich zu der zur selben Zeit stattfindenen systematischen Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland werden aber die Unterschiede zwischen dem »autoritären« Österreich und dem »totalitären« Deutschen Reich deutlich. Auf dieses Faktum nahm der Nachruf auf Dollfuß des Bundes »Jüdischer Frontsoldaten« Bezug. Dieser war schon im Mai 1933 korporativ der »Vaterländischen Front« beigetreten, übrigens als einziger der großen jüdischen Verbände.57 In seinem offiziellen Organ, der »Jüdischen Front«, war am 31.Juli 1934 zu lesen. »Aber wir Juden haben […] Ursache, den Namen des toten Kanzlers einzumeiseln [sic  !] in unser Gedächtnis. Denn in dieser Zeit, als der Haß, der gegen unsere Brüder und ihre Rechte anstürmte, war Bundeskanzler Dollfuß derjenige, der unbeirrt von den Losungen einer verhetzten Minderheit in der neuen ständischen Verfassung unsere Gleichberechtigung verankerte, eine Tat, die vielleicht nicht populär war, aber dem Gefühl der Gerechtigkeit und der inneren Verantwortung als Führer entsprang. Wir wissen ihm Dank dafür, dass er uns nicht zu Menschen zweiter Sorte stempeln ließ.«58 Zu der rechtsstaatlich konformen Vorgangsweise des autoritären Staates zählte auch, dass eine beträchtliche Zahl der über 2.000 jüdischen Flüchtlinge, die nach der Machtergreifung Hitlers in Deutschland nach Österreich gekommen waren, im Laufe der Zeit durch die Regierung eingebürgert oder wiedereingebürgert wurden.59 54 Zit. n. Maderegger 1973, 87  ; siehe zur Verfassung den Beitrag von Ewald Wiederin in diesem Band. 55 BGBl. 284/1934. 56 Zum Kräfteparallelogramm zwischen Regierung und gesetzgebenden Organen 1934–1938 Wohnout 1993. 57 Lamprecht 2014, 205. 58 Jüdische Front, 31.7.1934. 59 Burger 2014, 141–145. Von der Einbürgerungspraxis zu unterscheiden ist die insgesamt restriktive

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Einige waren im Staatsgebiet der Monarchie geboren oder mit Österreicherinnen bzw. Österreichern verheiratet. Zu dieser Gruppe gehörte etwa Carl Zuckmayer, der noch knapp vor dem März 1938 österreichischer Staatsbürger wurde. Umgekehrt wurden nach dem Februar 1934 fast 12.000 Gegner des Regimes ausgebürgert, unter ihnen viele Juden, die als Konsequenz ihrer Beteiligung an den Kämpfen auf Seiten der Sozialdemokratie die Staatsbürgerschaft verloren. In ihrer Studie zum Staatsbürgerschaftsrecht österreichischer Juden resümiert Hannelore Burger  : »So blieb das Verhältnis vieler Juden zu den Regierungen des österreichischen Ständestaates ambivalent.«60 Denn abgesehen von der oben skizzierten formalrechtlichen Gleichberechtigung und institutionellen Einbindung gab es sehr wohl eine gesellschaftlich weitgehend tolerierte Diskriminierung. Zwischen dem geschriebenen Verfassungstext und der täglichen Realität im Österreich der Jahre 1934 bis 1938 klaffte eine tiefgreifende Diskrepanz. So ergab sich folgende widersprüchliche Situation  : Während die Regierung offiziell antisemitische Aktivitäten verurteilte, konnte die »Reichspost« Forderungen nach Beschränkung der Juden in ihren wirtschaftlichen und beruflichen Möglichkeiten erheben.61 Wie bereits gesagt  : Solange nicht antisemitische Extrempositionen, wie Gewaltaufrufe oder Vergleichbares, überschritten wurden, konnten Zeitungsartikel antisemitischen Inhalts ungehindert erscheinen. Im Oktober 1934 kam es zu zwei Gesprächen Schuschniggs mit den führenden Vertretern der Kultusgemeinde. Dabei betonte der neue Bundeskanzler den verfassungsmäßigen Grundsatz der Gleichheit und Gleichberechtigung aller Bürger vor dem Gesetz unabhängig von ihrem Religionsbekenntnis. Nachdem die Funktionäre der Kultusgemeinde beim ersten Zusammentreffen Schuschnigg ein Memorandum mit den von ihnen beanstandeten Diskriminierungen überreicht hatten, ging der Kanzler beim zweiten Treffen Punkt für Punkt auf die Beschwerden ein und versprach eine korrekte und faire Behandlung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger.62 Ein Ende der antisemitischen Äußerungen innerhalb des Regierungslagers konnte oder wollte Schuschnigg allerdings auch in weiterer Folge nicht bewirken. Insbesondere bei untergeordneten Stellen der Vaterländischen Front oder den Wehrverbänden bis zu deren Auflösung 1936 gingen antijüdische Ressentiments oft sehr weit und wurden geduldet.63 Durch freundliche Gesten, wie z. B. dem demonstrativen Asyl- und Flüchtlingspolitik, die angesichts der wirtschaftlich katastrophalen Situation einen größeren Zustrom von Flüchtlingen nach Österreich hintanzuhalten trachtete, Seefried 2006, 69–94. 60 Ebd., 145. 61 Pauley 2002, 256. 62 Neues Wiener Tagblatt, 24.10.1934. 63 Vgl. zum Antisemitismus in der VF Mähr 2014, 41–103  ; bzw. bei der Heimwehr Rütgen 1989, 143–157.

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Besuch eines Sommerlagers jüdischer Jugendlicher, versuchte Schuschnigg, diesem »schleichenden Antisemitismus« (Friedrich Heer)64 zumindest in den Augen der Juden seine Spitze zu nehmen.65

Berufliche Diskriminierungen Generell lässt sich für den gesamten Bereich des öffentlichen Lebens sagen  : Ungeachtet aller Absichtserklärungen an der Regierungsspitze stößt man, sobald man nur eine Ebene tiefer nachforscht, auf antijüdische Ressentiments und Versuche, Juden zu diskriminieren. Dies begann bereits bei den von der Wiener Stadtverwaltung gesetzten Maßnahmen.66 Wien hatte insoweit eine Schlüsselstellung, als die überwiegende Mehrheit der rund 200.000 Juden in der Hauptstadt lebte. Bereits unmittelbar nachdem in Folge der Februarkämpfe das Regierungslager mit Richard Schmitz die Macht im Wiener Rathaus übernommen hatte, kam es bei der Stadtverwaltung zu zahlreichen Entlassungen jüdischer Gemeindebediensteter, die mit deren Betätigung in der Sozialdemokratischen Partei begründet wurden. Während zahlreiche nichtjüdische frühere Sozialdemokraten ihre Stellungen behalten konnten, war ein »Roter«, der darüber hinaus noch Jude war, mit einem zusätzlichen Minuspunkt behaftet. Am stärksten fühlbar wurde die Diskriminierung bei der Anstellung junger Ärzte an den Wiener Spitälern.67 Dabei ging es in erster Linie um die Ausbildung der absolvierten Medizinstudenten im Spitalsdienst. Ab 1933 riss – ohne dass dabei vordergründig ein Gesetz verletzt wurde – die Praxis ein, dass in den meisten Krankenanstalten, besonders aber in den Spitälern der Stadt Wien, jüdische Ärzte einfach übergangen wurden. Auf diese Art kam es sukzessive zur Kaltstellung nahezu aller jüdischen Jungärzte.68 Der Vertreter der Kultusgemeinde in der Wiener Bürgerschaft, Dr. Ehrlich, beklagte in einer mutigen Rede am 20. Dezember 1934 die im Bereich der Stadtverwaltung vorhandenen Repressionen, wobei er vor allem auf die Lage der jüdischen Jungärzte einging.69 In einer allgemein gehaltenen Replik sagte Bürgermeister Schmitz 64 Heer 1968, 71. 65 Maderegger 1973, 118. 66 Siehe zu Wien den Beitrag von Christian Mertens in diesem Band. 67 Siehe zu den ÄrztInnen den Beitrag von Reiter-Zatloukal in diesem Band. 68 Maderegger 1973, 226f. 69 Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Bestand Vertretungskörper  : Wiener Bürgerschaft, B 2, Kt.1, Stenographischer Bericht über die 14. (öffentliche Sitzung der Wiener Bürgerschaft vom 19.12. 1934), 470f.

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zu, auch gegenüber religiösen und nationalen Minderheiten den Grundsätzen von Gleichheit und Gerechtigkeit zu folgen und den vorgebrachten Beschwerden nachzugehen. Zwar kam es, dem US-amerikanischen Gesandten in Wien zufolge, um die Jahreswende 1934/35 zu einem Stopp der Entlassungen von Juden aus der Gemeinde­ verwaltung, die Lage der jungen Mediziner änderte das aber nicht.70 Als am 25.  November  1936 die Vereinigung jüdischer Ärzte ihre jährliche Konferenz abhielt, musste ihr Präsident, Prof. Herbert Elias, eine für Jungärzte ernüchternde Bilanz ziehen. Nahezu alle Möglichkeiten für eine adäquate Spitalsausbildung, vor allem im Facharztbereich, seien jüdischen Ärzten verschlossen. Nur mehr in ganz wenigen Spitälern Österreichs könnten junge jüdische Mediziner ihre Ausbildung erhalten. Etwas mehr als ein halbes Jahr später, im Juli  1937, sandte die Vereinigung an alle jüdischen Maturanten eine eindringliche Warnung, Medizin zu inskribieren. Darin hieß es, dass trotz der verfassungsgemäß festgelegten Gleichheit vor dem Gesetz der Sozialminister so wenige jüdische Ärzte wie möglich für den Dienst in den Wiener Spitälern bestelle. Nur solche Studenten könnten eine Ausbildung erhalten, die finanziell unabhängig seien, um diese in Privatspitälern ohne Bezahlung zu absolvieren.71 Dies entsprach auch den Tatsachen  : Ende 1937 waren mit einer Ausnahme alle Aspiranten und Hospitanten von der Liste gestrichen, sodass klar war, dass es in absehbarer Zeit keinen jüdischen Arzt mehr in einem städtischen Spital geben würde. Wie bei den Ärzten, so waren auch beim Rechtsanwaltsstand72 Juden im Vergleich zu ihrem Gesamtanteil an der Bevölkerung überproportional vertreten. Deshalb tauchte auch bei Anwälten immer wieder die Forderung nach einem Numerus clausus auf. Der Umstand, dass die Wiener Rechtsanwaltskammer von einem Juden geführt und dies vom Verband deutsch-arischer Rechtanwälte heftig kritisiert wurde, führte dazu, dass die Regierung Anfang 1936 eine Neubesetzung mit einem Nichtjuden vornahm und auch die meisten jüdischen Mitglieder im Kammerausschuss ersetzt wurden.73

70 NA, St.D., Zl. 863.4016/128. 71 NA, St.D., Zl. 863.00 P.R./171. 72 Siehe zu den ÄnwältInnen den Beitrag von Reiter-Zatloukal in diesem Band. 73 Maderegger 1973, 236–240  ; Reiter-Zatloukal 2010, 14–25.

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Separation der Juden  ? Ein anderes Konzept des Regierungslagers griff im Laufe des Jahres  1934 die keineswegs neue Idee der Separation der jüdischen Schuljugend in getrennten Schulklassen auf.74 Zwar standen gerade zionistisch eingestellte jüdische Organisationen einem derartigen Vorhaben nicht a priori ablehnend gegenüber, doch braucht auf die Gefahren einer solchen Ausgrenzung und der damit verbundenen Ghettoisierung nicht näher hingewiesen werden. Es war der erste Schritt in Richtung einer Absonderung der jüdischen Bevölkerung, auch wenn die Unterrichtsverwaltung schulpraktische Gründe geltend machte, als im Juli 1934 ein entsprechender Erlass erfolgte.75 Denn de facto bestand natürlich die Gefahr eines »Ein-Klassen-Ghettos« innerhalb der ansonsten interkonfessionellen Schule. Schon 1909 hatte der Philosoph Theodor Gomperz unter Anspielung auf die Forderungen zionistischer Gruppen pointiert geschrieben  : »Man gewährt […] ein privilegium favorabile, das sich unvermerkt in ein privilegium odiosium verwandeln kann, in eine Sondergesetzgebung«.76 Die drohende Möglichkeit, auf diese Art zu Bürgern zweiter Klasse zu werden, veranlasste die Kultusgemeinde zu einem formellen Protest gegen die Separationsabsichten. Die Verfügungen hätten, so hieß es, bei der Wiener jüdischen Bevölkerung »Beunruhigung und Erregung hervorgerufen. Diese Verfügungen müssen bei Kindern israelitischen Religionsbekenntnisses das Gefühl der Zurückweisung erwecken.«77 Die Angelegenheit wurde mit Beginn des neuen Schuljahres im September 1934 virulent, ausgerechnet als Schuschnigg zur Völkerbundversammlung nach Genf gereist war, um sich erstmals seit seinem erst einige Wochen zuvor erfolgten Amtsantritt als Bundeskanzler auf dem internationalen Parkett zu präsentieren. Seitens jüdischer Organisationen war gegen den Erlass, den ja Schuschnigg als Unterrichtsminister zu verantworten hatte, beim Völkerbund lobbyiert worden. Andere westeuropäische Staatskanzleien schalteten sich ein. Es löste Verwunderung und bisweilen Entsetzen aus, dass Österreich im Begriff war, einen solchen Schritt zu setzen. Für den Kanzler wurde die Angelegenheit sehr unangenehm, da er vor der Weltöffentlichkeit in den Ruf eines Antisemiten zu geraten drohte. Eilig versprach er eine Abänderung der Verordnung und gab Versicherungen nach allen Seiten ab, nicht ohne Gesichtsverlust. Es war zu spät, um die Sache im Winterhalbjahr 1934/35 rückgängig zu machen, doch kündigte Schuschnigg an, dass er, sollten ihm irgendwelche 74 Siehe dazu auch den Beitrag von Stephan Spevak in diesem Band. 75 R ath 2012, 23. 76 Zit. n. Stourzh 1985, 235 (Fußnote 132). 77 Zit. n. Mercsanits 2007, 172.

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Beschwerden über eine aus dieser Maßnahme resultierende Diskriminierung zukommen, höchstpersönlich die betroffenen Klassen besuchen würde.78 Er modifizierte seinen Erlass insoweit, als er festhielt, dass es nicht um eine grundsätzliche Scheidung nach Konfessionen gegangen sei, vielmehr aus pragmatischen Überlegungen bei einer großen Zahl von Schülern einer Konfession und mehreren Klassenzügen ein Klassenzug konfessionell einheitlich und einer konfessionell gemischt zu führen sei.79 Praktisch war Schuschniggs ursprüngliche Verordnung ohnedies nur in Ansätzen verwirklicht worden. Eine der wenigen Schulen, in denen sie zum Tragen kam, war das Wasagymnasium im neunten Wiener Gemeindebezirk. Dort, wo der Anteil von Schülern aus dem gehobenen Wiener Judentum sehr hoch war, fanden sich ausreichend viele neu eintretende jüdische Schüler, um eine eigene etwas größere »Judenklasse« sowie eine kleinere »Christenklasse« zu bilden, wie sich einer von ihnen, der spätere Chefredakteur der Jerusalem Post, Ari Rath, erinnert. Sie wurden bis zum Anschluss weitergeführt.80 Ansätze zu einer konfessionellen Segregation gab es 1934/35 auch am Brigittenauer Gymnasium. In beiden Schulen wurden allerdings ab dem folgenden Schuljahr die ersten Klassen wieder konfessionell gemischt geführt.81

Antisemitische Stimmungsmache 1937/38 Zu einer Verstärkung antisemitischer Stimmungslagen kam es im Frühjahr 1936 nach dem sogenannten »Phönix-Skandal«, dem Zusammenbruch der angesehenen Lebensversicherungsanstalt Phönix.82 Bei der – angesichts 330.000 Polizzenbesitzern – verunsicherten Bevölkerung waren bald Schuldige gefunden  : jüdische Schieber und Geschäftemacher, ein Vorwurf, der durch subtile Anspielungen von Bürgermeister Schmitz noch verstärkt wurde.83 Politiker wie Kunschak oder der Wiener Vizebürgermeister Josef Kresse zögerten in ihren Reden und Ansprachen nicht, sofort wieder einem verschärften Antisemitismus das Wort zu reden. Es ist bezeichnend, dass bis zum März 1938 die Gesandten Großbritanniens, Frankreichs und der USA immer wieder mittels sanftem Druck die österreichische Regierung drängten, die vorhandenen antisemitischen Ressentiments nur ja unter Kontrolle zu halten und keine wie

78 NA, St.D., Zl. 863.00/1134  ; Zl. 863.4016/118. 79 Mercsanits 2007, 172f. 80 R ath 2012, 23f. 81 Mercsanits 2007, 174f. 82 Zum Phönix-Skandal generell Ackerl 1977. 83 NA, St.D., Zl. 863.4016/147.

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immer gearteten Ausschreitungen zu dulden.84 An den existierenden Diskriminierungen sollte sich allerdings nichts mehr ändern. Noch anlässlich der Budgetdebatte in der Wiener Bürgerschaft für das Jahr 1938 bedauerte Jakob Ehrlich, dass die Zahl der Juden innerhalb der Wiener Stadtverwaltung auf 154 zurückgegangen sei, was einem Prozentsatz von 0,25 Prozent gleichkam, und er beklagte das Los der jüdischen Mediziner und Lehrer.85 Im Spätherbst 1937 erreichte die Stimmungsmache gegen die Juden einen neuen Höhepunkt. Der Anstoß dazu ging vom Gewerbebund aus. Seit ihrer Gründung hatte diese ständische Berufsvereinigung immer wieder einen scharfen wirtschaftlichen Antisemitismus forciert.86 Dazu gehörte, dass jedes Jahr – ausgerechnet in der Vorweihnachtszeit – die Kampagne »Christen kauft bei Christen« gestartet wurde. Ende 1937 wurde erstmals auch eine Werbeschau zu diesem Thema organisiert. Sie stand unter der Patronanz des Wiener Vizebürgermeisters Kresse, der zugleich Obmann des Gewerbebundes in Wien war. Boykottaufrufe gegenüber jüdischen Geschäften gehörten seit langem zum antisemitischen Repertoire des Politischen Katholizismus, wobei immer wieder beklagt wurde, dass sie kaum Wirkung zeigten.87 Dass sich der Wiener Vizebürgermeister Kresse derart demonstrativ an die Spitze einer solchen Kampagne stellte, überschritt allerdings die Schwelle dessen, was man regierungsseitig im autoritären Staat tolerierte. Schuschniggs publizistisches Sprachrohr, das »Neue Wiener Tagblatt«, brachte an prominenter Stelle eine scharfe Zurechtweisung und machte ihn nachdrücklich auf die Unvereinbarkeit seines Amtes mit antisemitischer Propaganda aufmerksam  : »Herr Dr. Kresse möge sich doch gelegentlich die Pflichten des ihm in den Schoß gefallenen hohen Amtes in Erinnerung rufen. Zu diesen Pflichten gehört wohl in erster Linie die Achtung vor der Bundesverfassung, die allen Bürgern die Gleichberechtigung sichert. Eine künstliche Aufspaltung der Bundesbürger in feindliche Heerlager steht aber auch in Widerspruch zu dem Geiste der ständischen Verfassung. […] Hiezu gesellt sich noch die Erwägung, dass Agitationen der gekenn-

84 Franklin D. Roosevelt Library, Hyde Park, New York, John C. Wiley Papers, Diplomatic File  : Austria 1937–1938 Telegrams and Memoranda  : Strictly Confidential Memorandum for the Honerable Grenville Emmet upon his arrival in Vienna, 9.7.1937. 85 WStLA, Bestand Vertretungskörper  : Wiener Bürgerschaft, B 2, Kt. 2, Stenographischer Bericht über die 10. (öffentliche) Sitzung der Wiener Bürgerschaft der zweiten Funktionsperiode vom 17.12.1937, 77. 86 Zum Gewerbebund vgl. Eminger 2005, siehe dazu auch den Beitrag von Stefan Eminger in diesem Band. 87 Vgl. dazu beispielsweise eine entsprechende bedauernde Anmerkung von Richard Schmitz in seinem Kommentar zum christlichsozialen Parteiprogramm. Schmitz 1932, 70.

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zeichneten Art geeignet sind, den wertvollen Ruf unseres Landes als einer Stätte der Kultur und des Bürgerfriedens zu beeinträchtigen.«88 Doch verhallten solche Appelle zur Mäßigung zusehends. Denn als der jüdische Vertreter in der Wiener Bürgerschaft, Jakob Ehrlich, dort einige Wochen später im Zuge der Budgetberatungen für das kommende Jahr Klage über die Kampagne des Gewerbebundes führte, musste er sich von seinem Kollegen Georg Friedl, wie Kresse ein Funktionär des Gewerbes,89 sagen lassen, dass es sich um eine »reine Selbsthilfeaktion« des Gewerbebundes gegenüber Aktionen der Juden gehandelt hätte und Kresse »seine Pflicht nicht erfüllen« würde, »wenn er es nicht täte«. Sofort kamen Rufe »Bravo Kresse« und Zustimmung aus dem Plenum der Wiener Bürgerschaft.90 Schließlich resümierte Friedl  : »Ich glaube, dass eine solche Aktion vollständig am Platze war. In dem Augenblick, in dem sich die Judenschaft selbst von den Schädlingen aus ihrem Kreis absondern wird – ich meine die anständige Judenschaft – werden sich solche Dinge wahrscheinlich auch nicht mehr ereignen.«91 Ende  1937 waren als »Vergeltungsmaßnahme« die Fenster vieler jüdischer Geschäfte in zahlreichen Bezirken Wiens eingeschlagen worden, im Februar 1938 kam es erstmals zu einem Brandanschlag auf ein jüdisches Bethaus. In einer britischen Analyse hieß es zu Jahresbeginn  1938  : »Theoretisch werden Juden völlig liberal behandelt, in der Praxis gibt es einen erheblichen antisemitischen Druck.«92 Als Schuschnigg Anfang März 1938 seinen Entschluss zur Abhaltung einer kurzfristig angesetzten Volksbefragung fasste, war die zur Abstimmung stehende Unabhängigkeit Österreichs zur Überlebensfrage für die Juden des Landes geworden. Alle jüdischen Zeitungen stellten sich in den Dienst der Volksbefragung. Der Präsident der Kultusgemeinde, Friedmann, war überzeugt, dass »jeder Jude seine patriotische Pflicht« erfüllen werde.93 Noch am 10. und 11. März 1938 überbrachte Friedmann dem Generalsekretär der Vaterländischen Front, Guido  Zernatto, zwei Schecks in der Höhe von insgesamt 800.000 Schilling als Wahlspende für das Plebiszit.94 Nach dem Anschluss diente dies als Vorwand für die Verhaftung Friedmanns, der wie zahl88 Der Artikel erschien unmittelbar neben einem Beitrag mit Auszügen aus dem eben erschienen Kanzlerbuch »Dreimal Österreich«. Neues Wiener Tagblatt, 27.11.1937 (Tagesausgabe). 89 Zu Friedl Seliger 2010, 770f. 90 Zu den Debattenbeiträgen Ehrlichs und Friedls  : WStLA, Bestand Vertretungskörper  : Wiener Bürgerschaft, B 2, Kt. 2, Stenographischer Bericht über die 10. (öffentliche) Sitzung der Wiener Bürgerschaft der zweiten Funktionsperiode vom 17.12.1937, 76–90. 91 Ebd., 89. 92 Zit n. Carsten 1990, 41. 93 Moser 1978, 173. 94 Moser 1977, 107.

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lose andere österreichische Jüdinnen und Juden im KZ Ausschwitz ermordet werden sollte.95

Fazit Der katholische Antisemitismus trug in den Jahren vor 1938 dazu bei, die Hemmschwelle für die Akzeptanz antisemitischer Maßnahmen zu senken. Eine Differenzierung zwischen religiösem, wirtschaftlichem oder rassischem Antisemitismus – die es in eindeutiger Form ohnedies nie gegeben hatte – wurde von den meisten Menschen nicht wahrgenommen. Ihnen hatten sich die immer wiederholten judenfeindlichen Schlagworte und Parolen tief eingeprägt. Deshalb war es auch problematisch, wenn Protagonisten von katholischer Seite parallel zum Aufstieg des Nationalsozialismus zunehmend darauf Wert legten, sich vom Rassenantisemitismus zu distanzieren, Antisemitismus als solcher aber für weite Teile des Politischen Katholizismus eine Selbstverständlichkeit blieb.96 Die Zahl katholischer Geistlicher oder Laien, die Antisemitismus grundsätzlich verurteilten und öffentlich dagegen auftraten, blieb klein. Der nationalsozialistische Antisemitismus war in Österreich deshalb so wirkungsvoll – und jedenfalls wirkungsvoller als zur selben Zeit im Deutschen Reich – weil er auf dem anderen, »gemäßigten«, aber tief verwurzelten und gerade in den Jahren unmittelbar vor dem Anschluss stark betriebenen christlichen Antijudaismus aufbaute. Dies galt vor allem für die lange Tradition von Judenstereotypen im Volksantisemitismus. Dazu kam der Antisemitismus des Wiener Kleinbürgertums, der angesichts der starken jüdischen Minderheit in der Hauptstadt eine deutliche wirtschaftliche Komponente aufwies.97 Dass auch große Teile der katholischen Intelligenz geistige Trägerschichten dieses Antisemitismus bildeten, war wohl eine weitere Voraussetzung für seine Wirksamkeit. Ohne dies beabsichtigt zu haben, wurde auch durch den katholischen Antisemitismus in Österreich jenes Feld bestellt, auf dem nach 1938 die in die Shoa führende Saat aufging. Das antisemitische Vorurteil war in den Jahren vor 1938 nicht nur vorhanden, es war vielmehr bereits massiv kultiviert worden. Und darin liegt die Mitverantwortung von katholischen Repräsentanten aus Politik und Kirche, auch wenn sie selbst nach dem 11. März 1938 zu den auf Grund ihrer religiösen und politischen Überzeugungen Verfolgten gehörten. 95 Zum Schicksal Friedmanns Enderle-Burcel 1991, 78  ; Rosenkranz 1990, 372. 96 Vgl. dazu auch Weinzierl 1983, 470f. 97 Botz 1990, 435f.

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Florian Wenninger

»… für das ganze christliche Volk eine Frage auf Leben und Tod«1 Anmerkungen zu Wesen und Bedeutung des christlichsozialen Antisemitismus bis 1934

»Der Antisemitismus ist eine krankhafte Erscheinung, und es ist sehr zu bedauern, daß er einen Punkt bildet im Programm der sonst so tüchtigen und vortrefflichen Christlichsozialen Partei« (Heinrich Coudenhove-Kalergi, 1936).2

Es ist in der Forschung weitgehend unstrittig, dass der Antisemitismus spätestens seit der Jahrhundertwende als »gemeinsame Geschäftsgrundlage«3 des Politischen Katholizismus4 anzusehen ist. Durchaus kontrovers ist hingegen nach wie vor, ob sich ein spezifisch christlichsozialer Antisemitismus von der völkischen Judenfeindschaft klar unterscheiden ließe, gleichsam als eine mildere Variante desselben. Zudem erhebt sich die Frage, ob sich der Antisemitismus innerhalb der Christlichsozialen Partei (CSP) argumentativ, aber auch hinsichtlich seiner Intensität entlang verschiedener Akteursgruppen unterschiedlich darstellte. Auf der Suche nach Antworten widmet sich dieser Beitrag der Geschichte des christlichsozialen Antisemitismus in einer (nach Maßstäben der Zeitgeschichte) longue durée, die von der Gründungsphase der Christlichsozialen Partei im 19.  Jahrhundert bis zu ihrer Selbstentleibung und partiellen Faschisierung Anfang der 1930er Jahre reicht. Dabei wird auch der Versuch unternommen, die judenfeindliche Agitation in ihrem sozioökonomischen Zusammenhang zu verorten.

1 Fischer 1932, 189. Für wertvolle Hinweise und Hilfestellungen bei den Recherchen danke ich Hans Safrian (Wien) und Nomi Halpern (Jerusalem). 2 Coudenhove-K alergi 1936, 282f. 3 Hartmann 2006, 482f. Siehe dazu auch gleichlautende Einschätzungen bei Pelinka 1972, 213. 4 Als dieser wird, der Einteilung Ernst Hanischs folgend, im Groben eine Summe dreier Glieder verstanden, nämlich der katholischen Kirche, der Christlichsozialen Partei und des katholischen Vereinswesens. Tatsächlich überschnitten sich diese Kategorien allerdings in vielen Fällen, eine strikte Abgrenzung erscheint daher weder machbar noch sinnvoll, vgl. Hanisch 1977, 2. Siehe zum Politischen Katholizismus auch den Beitrag von Helmut Wohnout in diesem Band.

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Zu den Wurzeln des Politischen Katholizismus im 19. Jahrhundert In ihren Anfängen Mitte der 1870er Jahre war die dezidiert katholische antisemitische Agitation vornehmlich eine Reaktion auf drei Entwicklungen. Dezemberverfassung und Judenemanzipation

Nach der Niederlage des Habsburgerreiches gegen Preußen 1866 sah sich das Erzhaus zu innenpolitischen Konzessionen an das Großbürgertum veranlasst. In Folge stieg die deutschsprachige Bourgeoisie zu einer einflussreichen Machtgruppe in Cisleithanien auf. Die Dominanz ihres politischen Arms, der Partei der Liberalen, hielt jedoch nur rund eine Dekade vor und nahm danach schrittweise ab. Der Hauptgrund für diese relative Schwäche war die nach westeuropäischen Maßstäben rückständige ökonomische Struktur des Reiches, die der privaten Kapitalakkumulation Grenzen setzte, den adeligen und kirchlichen Großgrundbesitz in der Phase der Industrialisierung beträchtlich begünstigte und einer vergleichsweise breiten Schicht von Kleingewerbetreibenden vorläufig das wirtschaftliche Überleben ermöglichte.5 Das aufstrebende Bürgertum sah sich daher einer von ihren sozialen Interessen her äußerst heterogenen Koalition aus städtischem Kleinbürgertum, Bauernschaft, einstmaligem Feudaladel und Katholischer Kirche gegenüber, die gemeinsam ab Ende der 1870er Jahre die soziale Basis des Politischen Katholizismus bilden sollten.6 Die in der liberalen Ära durchgesetzten bürgerlichen Grundrechte, insbesondere die Pressefreiheit,7 ermöglichte ein bisher ungekanntes Ausmaß öffentlicher Kritik. Leidvoll erfahren musste das besonders die katholische Kirche, die vom erwachenden liberalen Freisinn und seinen scharfen antiklerikalen Polemiken ins Mark getroffen wurde. Noch schwerwiegender war, dass kirchliche Privilegien, die im 1855 abgeschlossenen Konkordat niedergelegt waren, ab 1867 zunehmend unter Druck gerieten8 und schließlich mit der Aufhebung des Konkordats 1870 gänzlich beseitigt wurden.9 Der Kulturkampf zwischen Kirche und Liberalen prägte in weiterer Folge das politische Denken und Handeln der Geistlichkeit bis weit ins 20. Jahrhundert und begünstigte aus einem Gefühl existenzieller Bedrohung heraus die Ausbildung

5 Vgl. Eigner 1999, 56–77. 6 Zum Forschungsstand über den Politischen Katholizismus mit Schwerpunkt auf die Zwischenkriegszeit vgl. Ebner 2013. 7 Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, RGBl. 142/1867, Art. 13. 8 Vgl. France 1975. 9 Vgl. Weinzierl 1960.

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eines breit gefächerten, aggressiven Antimodernismus, der sich ganz besonders im Antisemitismus niederschlug.10 Eine andere Bevölkerungsgruppe musste die Errungenschaften der liberalen Ära dagegen als eine Zeitenwende im positiven Sinne erleben  : Erstmals genossen (zumindest männliche) Juden volle staatsbürgerliche Rechte. Damit entfielen die meisten bis dahin für sie gültigen Restriktionen, besonders Ansiedlungsverbote in den Kronländern und der Reichshauptstadt. Die Liberalisierung der Wirtschaft reduzierte informelle Diskriminierungen durch Behörden und Berufsorganisationen, letzte universitäre Zugangsbeschränkungen fielen.11 In weiterer Folge entstand in Wien rasch ein städtisches jüdisches Bürgertum, das nicht nur für die arrivierten ökonomischen Eliten, sondern auch für das nichtjüdische Bildungsbürgertum eine neue Konkurrenz darstellte und bald seinerseits ins Fadenkreuz antiliberaler Bestrebungen geriet.12 Zugleich warf die jüdische Emanzipation die Frage nach einer jüdischen Nationalität auf, die nicht nur innerhalb des Judentums diskutiert, sondern vor allem auch vom erstarkenden konservativ-völkischen Nationalismus benützt wurde, um die jüdische Bevölkerung zusätzlich als Fremdkörper zu definieren.13 Boom und Wirtschaftskrise

Die Industrialisierung, die im Habsburgerreich verspätet eingesetzt hatte, bescherte der Monarchie zwischen 1867 und 1873 einen ersten regelrechten Boom, der mit dem Börsenkrach von 1873 allerdings jäh endete und in eine jahrelange wirtschaftliche Abwärtsspirale überging. Die Rezension hemmte das weitere industrielle Wachstum und hatte gravierende soziale Auswirkungen. Diese betrafen nicht nur die ärmsten Teile der Bevölkerung, sondern zogen vor allem auch das Kleinbürgertum arg in Mitleidenschaft, das nicht über die Mittel verfügte, längere Flauten zu überbrücken.14 Erstarken der Arbeiterbewegung

Der dritte Entwicklungsstrang, der die Herausbildung des Politischen Katholizismus maßgeblich prägte war die Entstehung einer Industriearbeiterschaft, die sich auch zunehmend politisch organisierte. Das Kleinbürgertum sah seine Stellung damit nicht 10 Zu Akteuren siehe u. a. Mallinger 2000, 61ff. 11 Allerdings standen Juden trotz des besonders bedeutsamen Art. 19 der Dezemberverfassung nach wie vor nicht alle Ämter im Staat offen, vgl. Hellwing 1972, 35f. 12 Vgl. Pauley 1993, 132f. 13 Vgl. Sottopietra 1995, 48ff. 14 Vgl. Eigner 1997.

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nur von »oben«, durch das Großkapital und den feudalen Grundbesitz, ­bedroht, sondern immer stärker auch von »unten«. Obwohl seine sozialen Interessen sich mit denen der Arbeiterschaft deutlich stärker überschnitten als mit jenen der Bourgeoisie, orientierte sich das kleinbürgerliche Selbstverständnis vor allem nach »oben«  : Konstitutiv war der Wunsch, den »besseren« Leuten zugerechnet zu werden, unbesehen der tatsächlichen ökonomischen Machtverhältnisse, als »Bürgerlicher« gelten zu können. Der vehemente Sozialistenhass vieler Gewerbetreibender, insbesondere selbstständiger Handwerker, war dementsprechend nicht einfach der Zurückweisung sozialer Forderungen der eigenen Bediensteten geschuldet, spiegelte nicht nur grassierende Abstiegsängste wider. Er war vielmehr integraler Bestandteil kleinbürgerlicher Identität, die darauf fußte, eben kein »Prolet« zu sein.

Der »Pöbelsport«  : Antisemitismus in der Christlichsozialen Partei bis 1918 Die Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Liberalen war zunächst vor allem publizistischer Natur gewesen und reichte bis in die 1840er Jahre zurück.15 Auf katholischer Seite trat seit 1875 der neu berufene Chefredakteur des Organs der katholisch-konservativen Partei, der Wiener Tageszeitung »Vaterland«, Karl von Vogelsang, prominent in Erscheinung. Die katholisch-konservative Partei war ursprünglich die politische Repräsentanz der Hocharistokratie und des Klerus, Vogelsangs Anliegen war es jedoch, über diesen Kreis hinaus zu wirken. Als einer der ersten prominenten Konservativen widmete er sich ausführlich den sozialen Verwerfungen im Zuge der Industrialisierung und setzte dem das Ideal einer vormodernen, korporatistisch organisierten Gesellschaft entgegen. In seiner Argumentation verwob Vogelsang Kapitalismuskritik mit antimodernen, antimarxistischen und antisemitischen Versatzstücken zu einem spezifischen Amalgam.16 In Abgrenzung zu den herrschenden Verhältnissen entwarf Vogelsang die Vision einer ständischen, vormodernen Gesellschaft und prägte damit maßgeblich die christliche Soziallehre.17

15 Vgl. Hellwing 1972, 38ff. Zum bis in die Spätantike zurückreichenden christlichen Antisemitismus vgl. u. a. die Beiträge von Reinhold Mayer, Wolfgang Wirth, Willehad Paul Eckert und Paul Gerhard Aring in  : Ginzel 1991. 16 Zu Vogelsangs inhaltlicher Orientierung vgl. Diamant 1960, 51–58. Zum Charakter des Antisemitismus in dieser Phase vgl. Bunzl/Marin 1983, 28f., zu den Versuchen Vogelsangs, sich vom völkischen »Radauantisemitismus« abzuheben vgl. Baudisch 1967, 54ff. 17 Vgl. Boyer 1981, 166–180  ; Van Arkel 1966, 56–67.

Anmerkungen zu Wesen und Bedeutung des christlichsozialen Antisemitismus bis 1934

In den 1880ern begann der Politische Katholizismus durch die Gründung lokaler Vereine organisierte Formen anzunehmen. Ins Zentrum ihrer Agitation stellten vor allem die städtischen Strukturen bald den Antisemitismus,18 in dem sie mit einigem Recht den kleinsten gemeinsamen Nenner aller antiliberalen Kräfte erblickten und ihn deshalb als geeignet erachteten, ihre durchaus heterogene Basis zusammenzuhalten und wo möglich zu verbreitern.19 Die Notwendigkeit einer einigenden ideologischen Grundlage abseits religiöser Differenzen war umso dringlicher, je stärker die Arbeiterbewegung in Erscheinung trat.20 Die beiden am stärksten hervortretenden Strömungen innerhalb des antisemiti­ schen Vereinswesens, aus dem Anfang der 1890er die Christlichsoziale Partei entste­ hen sollte, waren aristokratisch geprägte Klerikal-Konservative, die unter der Führung von Aloys Prinz von und zu Liechtenstein über gute Beziehungen zum Episkopat verfügten, sowie Christlichsoziale aus dem Umfeld des Vogelsang-Kreises. Diese christlichsoziale Fraktion war vornehmlich die politische Repräsentanz vor allem des Wiener Kleinbürgertums und des niederen Klerus,21 in den Alpenländern der kleinen und mittleren Bauernschaft. Flankierend waren lokale Honoratioren und Interessensvertretungen wie jene der Hausbesitzer von Bedeutung.22 Um die Jahrhundertwende traten im städtischen Bereich außerdem zunehmend die christlichen Arbeiter unter der Führung Leopold Kunschaks in Erscheinung.23 Sie hatten angesichts der sozialdemokratischen Dominanz in den Betrieben ohnehin keinen leichten Stand, zugleich war aber auch ihre innerparteiliche Position überaus prekär. Organisationserfolge gelangen den christlichen Arbeitern am ehesten unter städtischen Bediensteten, Angestellten und vor allem unter Gesellen in Kleinbetrieben, deren sozialdemokratischer Organisationsgrad gering war. Letztere standen aber in einem unmittelbaren Interessensgegensatz zu den traditionellen, kleinbürgerlichen Parteieliten, denen auch die »eigene« Arbeiterassoziation letztlich immer »verhasst«24 blieb. Spätestens mit der schrittweisen Ausweitung des Wahlrechts war die Rekrutierung von Arbeitern jedoch 18 Zur konkreten Ausformung vgl. Baudisch 1967. 19 Die organisatorische Bandbreite veranschaulichen etwa die 364 Vereine, die Sauer alleine für Wien in der Periode von Beginn der 1880er bis zur Jahrhundertwende auflistet, vgl. Sauer 1980, 235–312. Gavin Lewis zufolge gab es 1902 in ganz Niederösterreich einschließlich Wiens alleine 1.176 »nichtpolitische« katholische Vereinigungen, vgl. Lewis 1977, 267. Zur politischen Funktionalität dieser »nichtpolitischen« Vereine siehe ebd., 273–287. 20 Vgl. Sauer 1980, 45. 21 Vgl. Boyer 1981, 338ff. 22 Boyer betont die Rolle der christlichsozialen Frauen stark, vgl. Boyer 1995, 69f. 23 Zur Geschichte der Christlichen Gewerkschaften vgl. die Beiträge von Johann Gassner, Anton Pelinka und Gerhard Botz, in  : ITH-Tagungsberichte 18, Wien 1983  ; Pelinka 1972. 24 Boyer 1995, 85.

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alternativlos, wohl oder übel ließ man Kunschak und die seinen daher gewähren, gängelte sie innerparteilich aber, wann immer sich eine Möglichkeit bot und benachteiligte sie massiv bei der Vergabe von Listenplätzen.25 In den westlichen Bundesländern war dieser interne Gegensatz milder als in Wien. Waren die Arbeiter in der Reichshauptstadt nur geduldet, hofften die Christlichsozialen in den Bundesländern, deren Bastion die Kleingemeinden waren, mithilfe der Arbeiterorganisationen – und antisemitischer Propaganda – den politischen Katholizismus endlich auch in die Städte tragen zu können.26 Karl Lueger hatte dem Feindbild »Jude« seinen politischen Aufstieg zu verdanken, glaubte den Inhalt seiner Tiraden selbst allerdings nicht und handhabte seinen Antisemitismus weitgehend pragmatisch.27 Nach der Übernahme des Bürgermeisteramtes 1897 wurde ihm die zuvor gezielt geschürte Pogromstimmung hinderlich, in seinen eigenen Worten  : »wenn man aber einmal oben ist, kann man ihn [den Antisemitismus, Anm.] nimmer brauchen, denn dös is a Pöbelsport.«28 Die antijüdische Hetze wurde daher im politischen Alltag reduziert, gänzlich verzichten mochte man auf sie freilich nicht. Das Parteiorgan, die Reichspost, hielt nüchtern fest  : »Nachdem jedoch der Antisemitismus zur Entwicklung und Machterweiterung der christlich-sozialen Partei wesentlich beigetragen hat, wird bei politischen Actionen auch fernerhin so lange an diesem rückschrittlichen Principe festzuhalten sein, bis dasselbe aufhört, eine Quelle der Kraft für die Partei zu bilden.«29 Speziell im Vorfeld der Wahlen 1900 und 1906 wurde ausgiebig aus dieser Kraftquelle geschöpft.30 Dabei war allerdings eine veränderte Schwerpunktsetzung zu bemerken. Die bisherige Judenfeindschaft war in Vogelsang’scher Tradition vor allem antimodern und gegen das ausbeuterische »jüdische« Großkapital gerichtet gewesen.31 Dieser klassenkämpferische Aspekt, der die angeblich spezifische Angewohnheit »jüdischer« Kapitalisten, ihre Beschäftigten auszubeuten, ins Zentrum gestellt hatte, trat nun stark zurück. Stattdessen griff die ökonomische Argumentationsvariante primär die »jüdische« Konkurrenz »christlicher« Handels- und Gewerbetreibender an.32 Und vor allem wandte sich die Judenhetze nun zunehmend der erstarkenden, »aus einem 25 Vgl. Silberbauer 1966, 164ff. 26 Vgl. Slapnicka 1984, 217. 27 Vgl. die gekürzte, auf Lueger fokussierte deutsche Übersetzung von Boyers Werk 2010. 28 Zit. n. Schiestl 1992, 300. 29 Reichspost, 13.10.1896, 2. 30 Vgl. Pauley 1993, 73f. 31 Beispielhaft nachzulesen in N.N. 1891, siehe auch Baudisch 1967, 66f. 32 Siehe dazu die Analyse der christlichsozialen Publizistik bei McEwan 2006, bes. 50–57. Ähnlich Straffler 2003, 49ff  ; Pauley 1993, 76f.

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Fremdgeiste geboren[en], von dem Wesen rassenfremder Führer durchdrungen[en]« Sozialdemokratie zu.33

Trägergruppen Als Klientelpartei des Gewerbes und der städtischen Angestellten stützten sich die Christlichsozialen in Wien lediglich auf eine Minderheit der Bevölkerung. Dank der Luegerschen Wahlrechtsreform von 1900, die speziell zugezogene Arbeiter benachteiligte,34 blieb die Partei auf kommunaler Ebene aber bis 1919 dominant. Nach dem Zusammenbruch der monarchischen Ordnung und der Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts auch in Wien war es damit vorbei, die Christlichsozialen erlitten bei den Gemeinderatswahlen im Mai 1919 eine schwere Niederlage. Diese Entwicklung war aufgrund der schmalen sozialen Basis, eines maroden Parteiapparates und zahlreicher Skandale absehbar gewesen.35 Die Parteipresse führte die Niederlage gleichwohl auf die angeblich übermäßige Einbürgerung von »Ostjuden« zurück, die restliche Partei griff diese Interpretation dankbar auf. Die Folge des Wahldebakels bestand daher in einer abermaligen Intensivierung antisemitischer Aktivitäten. Die vorübergehende Dominanz der Sozialdemokratie in den ersten beiden Nachkriegsjahren und die im Bürgertum grassierende Angst vor revolutionären Umstürzen führten zu einer engeren Kooperation der zersplitterten bürgerlichen Kräfte. Allen voran unternahm Ignaz Seipel bis Anfang der 1930er Jahre mehrere Versuche, das bürgerliche Milieu auch politisch unter der Ägide der Christlichsozialen Partei zu einen. Der Antisemitismus wurde dabei neben dem Antimarxismus zur zweiten einigenden Klammer der politischen Rechten. Wie noch zu zeigen sein wird, sind Argumentation und AdressatInnen schon zwischen völkischem und christlichsozialem Antisemitismus nicht scharf gegeneinander abgrenzbar, ebenso wenig gilt das für verschiedene Trägergruppen innerhalb der Christlichsozialen Partei. Gleichwohl sind Gewichtungsunterschiede zu erkennen, denen im Folgenden nachgegangen werden soll.

33 Reichspost, 4.5.1919, 2  ; zur antisemitischen Propaganda gegen die Linke vgl. Schiestl 1992, 322f., Baudisch 1967, 183–190. 34 Vgl. Seliger/Ucakar 1985, 737f.; Ucakar 1985, 286–289. 35 Vgl. Benesch 2010, 63ff.

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Geistliche

Der christliche Antijudaismus bildete insgesamt das ideologische Unterfutter für den modernen Antisemitismus.36 Im katholischen Milieu waren theologische Herleitungen allerdings wesentlich länger wirksam als im völkischen, dessen rassistisch argumentierende Judenfeindschaft sich aller Irrationalität zum Trotz in einer areligiösen, modern-wissenschaftlichen Tradition begriff. Der religiöse Antijudaismus des 19. Jahrhunderts war in Cisleithanien vor allem von katholischen Romantikern auf den unteren Ebenen der kirchlichen Hierarchie getragen worden. Im Kreis solcher Männer, zu denen neben anderen Clemens Maria Hofbauer, Sebastian Brunner oder Albert Wiesinger zählten, war seit 1848 nach und nach ein reges antisemitisches Presswesen gegründet worden. Publizistisch ebnete dieses im Weiteren der antisemitischen Agitation Luegers den Weg.37 Ein anderer prominenter Vertreter des religiös argumentierenden Antisemitismus in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts war der Geistliche August Rohling, der an der Prager Universität lehrte und als Fachmann für semitische Sprachen galt. Er popularisierte, gestützt auf vorgebliche Talmudauszüge, alte Ritualmordlegenden, erlitt allerdings eine empfindliche Niederlage, als ihm ein Wiener Rabbiner, Joseph Bloch, erfolgreich nachwies, dass er das Hebräische allenfalls rudimentär beherrschte und sich in seinen Behauptungen auf falsche Übersetzungen, Verdrehungen oder überhaupt Erfindungen stützte.38 Trotz Rohlings offenkundiger Scharlatanerie wurden seine Ritualmordanschuldigungen durch Geistliche weiter verbreitet. Besonders hervor tat sich dabei der Wiener Pfarrer Joseph Deckert, der die alten religiösen Vorurteile auch systematisch mit rassistischen Argumentationsmustern verband.39 Die Pamphlete Deckerts40 sind beredte Beispiele dafür, wie stark theologisch, ökonomisch, antiliberal und rassistisch motivierter Judenhass Ende des 19. Jahrhunderts ineinander zu greifen begonnen hatten. Daran hatte sich nach dem Ersten Weltkrieg kaum etwas geändert. In ihrer Untersuchung zu Antisemitismus in Wiener Pfarren der Zwischenkriegszeit fanden Nina Scholz und Heiko Heinisch ein gutes Drittel der antijüdischen Ausritte von Geistlichen religiös begründet, im Jahresverlauf naheliegender Weise besonders gehäuft vor

36 Vgl. Stegemann 1995. Zum protestantischen Antijudaismus vgl. etwa die Beiträge in Siegele-­ Wenschkewitz 1994. 37 Vgl. Pulzer 1990, 193ff. 38 Die gesamte Causa Rohling ist ausführlich behandelt bei Van Arkel 1966, 14–29. 39 Vgl. Boyer 1981, 156. 40 So etwa Decker 1894a, Decker 1894b, Decker 1895, Decker 1896, Decker 1898.

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Ostern.41 Wie u. a. das Beispiel Georg Bichlmairs eindrucksvoll illustriert, war in den 1920er Jahren selbst jener Teil der Geistlichkeit tief vom Rassenantisemitismus durchdrungen, der Juden zur Konversion bewegen und sogar vor dem Nationalsozialismus retten wollte.42 Was den Inhalt dieser religiösen Anwürfe betrifft, so lassen sich diese exemplarisch aus einem programmatischen Artikel »zur Juden- und Zionistenfrage« des Franziska­ nerpaters Zyrill (ursprünglich Johann) Fischer ersehen. Dieser zählte zu den aktivsten geistlichen Publizisten der Zwischenkriegszeit,43 in der Judenfrage durfte er unter seinesgleichen noch als ausgesprochen gemäßigt gelten.44 Dennoch ist seine Argumentation geradezu prototypisch für den katholischen Antisemitismus. Wie entsprechende Einlassungen des Salzburger Erzbischofs Sigismund Waitz,45 des Linzer Bischofs Johannes Gföllner,46 oder des Rektors der »Anima«, Bischof Alois Hudal47 zeigen, beschränkten sich die antisemitischen Ressentiments keineswegs auf den niederen Klerus, sondern waren auch in weiten Teilen des Episkopats verbreitet. Der Rest der Bischöfe hielt sich zwar stärker zurück, Ferdinand Pawlikowski, der Bischof von Seckau, genehmigte in seiner Diözese aber ebenso selbstverständlich die Veröffentlichung mehrerer antijüdischer Schriften,48 wie dies in Tirol der Fall war.49 Hudals Versuch, Kirche und Nationalsozialismus auszusöhnen, fand schließlich nicht nur die Unterstützung einzelner Geistlicher wie Simon Pirchegger, sondern auch etwa jene Kardinal Theodor Innitzers, der (im Unterschied zum Vatikan) Hudal erklärt haben soll, er, Innitzer, »decke das Buch über die Grundlagen des NS mit seinem Purpur.«50 Ungeachtet mehrerer Distanzierungen vom Rassenantisemitismus vertrat Fischer die Ansicht, die »Judenfrage« sei »eine der wichtigsten Fragen unseres geistigen und völkischen Lebens«.51 Diese zwiespältige Haltung zum Rassismus charakterisierte

41 Vgl. Scholz/Heinisch 2001, 24f. 42 Vgl. Eppel 1980, 151f. 43 Für eine weitgehend unkritische Biografie Fischers, die sich dessen antinationalsozialistischen Aktivitäten widmet und dabei seinen notorischen Antisemitismus völlig außen vor lässt siehe Kitzmüller 2012. 44 Vgl. Rütgen 1989, 314ff. 45 Waitz 1920. Die theologische Grundlage der Metapher von der »Synagoge des Satans« bildet die zweite Offenbarung des Johannes im Neuen Testament, vgl. Steinbauer 1996, 178. 46 Vgl. Gföllner 1933. 47 Vgl. Hudal 1937, 273–323. Zur Person siehe zuletzt Brechenmacher 2015. 48 Vgl. Rütgen 1989, 308ff. 49 Ebd., 310ff. 50 Zit. n. Spira 1981, 90. 51 Fischer 1932, 190.

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weite Teile des geistlichen Diskurses.52 Die von Fischer gegen Juden ins Feld geführten Vorwürfe entstammen – wenig überraschend – vor allem dem Fundus des klassisch-religiösen Antijudaismus. Während er interessanterweise von Ritualmordbeschuldigungen völlig absah, verargte Fischer den Juden besonders zwei Dinge  : den Gottesmord und die Uneinsichtigkeit, mit der sie sich gegen Missionierungsversuche sträubten. In den Worten des Paters  : »[E]s lastet ein Fluch auf dem Judenvolk, seit es den Heiland verworfen und gekreuzigt hat. Und diesen Fluch trägt es in alle Welt. Läßt sich ein Volk mit den Juden ein, so bekommt es selbst diesen Fluch zu spüren«.53 Die »Verstocktheit«, die auch Wiener Geistliche gerne ins Treffen führten,54 liest sich dagegen so  : »Der Apostel Paulus, selbst ein geborener Jude, sagt von seinen verblendeten Volksgenossen (Röm. 11)  : ›Gott gab ihnen den Geist der Zerrüttung, Augen, womit sie nicht sehen, und Ohren, womit sie nicht hören bis auf den heutigen Tag.‹«55 Zu den religiös motivierten Vorbehalten im engeren Sinne gesellen sich antimoderne Reflexe  : Im »Juden« wird schlechterdings alles bekämpft, was für den Niedergang kirchlicher Macht im Zeitalter der Aufklärung verantwortlich gemacht wird. Zentrale Bedeutung hat dabei die »jüdische Unrast«, eine Chiffre für subversive Aktivitäten aller Art, gleich ob liberaler, freidenkerischer, sozialistischer oder freimaurerischer Provenienz  : »Seit dem Tod des Heilandes irren die Juden durch die ganze Welt, können nicht Friede und Ruhe finden und stecken mit ihrer Unrast auch alle ihre Gastvölker an.«56 Der christlichsoziale Kulturpessimismus war allgemein stark antisemitisch orientiert,57 Fischer folgte diesem Muster und widmete sich speziell dem Medium des »zersetzenden Geistes«, der »Judenpresse«, die »die Bestie im Menschen […] pflegt […] Gossenschmutz und Geilheit in alle Häuser hinein[trägt].«58 Gegenwehr sei all52 Vgl. Staudinger 1990, 255f. 53 Fischer 1932, 181f. 54 Vgl. Scholz/Heinisch 2001, 25–29. 55 Fischer 1932, 182. Paulus bildet insgesamt einen populären Bezugspunkt im theologischen antisemitischen Diskurs, vgl. Staudinger 1990, 257. 56 Fischer 1932, 182. 57 Vgl. dazu exemplarisch die Untersuchung von Weinzierl 1981. 58 Fischer 1932, 188. Ein besonderes Hassobjekt stellte in puncto Sittenverfall die von Hugo Bettauer herausgegebene Zeitung »Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik« dar, siehe dazu die Rede Kunschaks auf dem Christlichsozialen Landesparteitag 1924, Reichspost, 28.4.1924, 3f., ausführlich außerdem Hall 1978. Zur Sittlichkeitsfrage in der frühen antisemitischen Propaganda der Christlichsozialen siehe Baudisch 1967, 214ff. Zur zugrunde liegenden Angst vor dem neuen weiblichen Selbstbewusstsein siehe Pfoser 1981. Zur hier anklingenden sexuellen Aufladung des katholischen wie des nationalsozialistischen Antisemitismus, manifest im Vorwurf des »jüdischen Mäd-

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gemein schwierig, weil »eben alle wichtigen Stellen schon mehr oder minder verjudet sind«59  – dies nicht nur im Falle der Intelligenz »auch die breite Masse der Arbeiter läuft am jüdischen Gängelbande. Österreichs sozialdemokratische Arbeiterschaft wird kaum wie eine auf der ganzen Welt von Juden geleitet und genasführt. […] Und so erhalten die getauften Arbeiter ihr geistiges Brot aus Judengehirnen.«60 Von nachgeordneter Bedeutung, aber keineswegs obsolet, war auch ökonomisch motivierter Antisemitismus, so beklagte Fischer den »riesigen Zustrom von Ostjuden die vor etlichen Jahren ihr ganzes Hab und Gut in einem Sacktuch beisammen hatten, [und nun] ein Riesenvermögen [erworben haben], natürlich auf Kosten der einheimischen Christenbevölkerung. Jetzt gelten wahrlich […] die Worte der Schrift (Ecclesiasticus 11, 36)  : ›Nimmst du einen Fremden auf in dein Haus, so bringt er alles untereinander, richtet dich zugrunde und vertreibt dich aus deinem Eigentum  !‹«61 Der argumentative Kreis schloss sich damit, dass Fischer im antijüdischen Hass selbst einen Beleg für die vorgebliche Schuld der Juden identifizierte  : »Würde das Judentum immer und überall so offen und ehrlich vorgehen, so würde sicherlich nicht so viel Radauantisemitismus vorhanden sein.«62 Während hier also unumwunden zugestanden wurde, dass Gewalt in der Luft liege und der Autor die herrschende Pogromstimmung auch »allzubegreiflich« fand,63 distanzierte er sich andernorts von ihr und behauptete, sie werde von der »Judenpresse« maßlos aufgebauscht64 – ein »›verfolgtes Volk‹ kann unmöglich solchen Einfluß an sich reißen«.65 Gemünzt auf die nationalsozialistische Propaganda fügte Fischer hinzu, der Radauantisemitismus sei schlicht ineffizient  : »Jedenfalls ist es die allerunglücklichste Judenbekämpfung und zugleich auch der allerungefährlichste Antisemitismus, an allen Straßenecken ›Juden hinaus  !‹ zu brüllen […] wir [können] mit dem hakenkreuzlerischen Indianergeheul ›Juda verrecke  !‹ – ›Ho-ruck nach Palästina  !‹ die Judenfrage absolut nicht lösen«.66 Propagandistisch lag hier vermutlich die größte Schwäche des katholischen Antisemitismus  : Was unter der »Lösung der Judenfrage« letztlich zu verstehen war, blieb nebulös. Die völkische Propaganda von der »Entjudung« der eigenen Nation mochte chenhandels«, den auch Hitler in seinen Wiener Jahren beobachtet haben will, siehe exemplarisch den Artikel »Der Jude als Mädchenhändler« in der katholischen Antisemitischen Monatsschrift »Die Judenfrage« vom Juli 1909, 16ff., siehe außerdem Schiestl 1992, 310. 59 Fischer 1932, 188, Hervorhebung im Original. 60 Ebd., 188f. 61 Ebd., 187, Hervorhebung im Original. 62 Ebd., 184. 63 Ebd., 190. 64 Vgl. ebd., 187, 189f. 65 Ebd., 190. 66 Ebd., 185, 190.

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man vulgär finden  – sie war aber zumindest konkret. Der katholische Antisemitismus blieb dagegen viel stärker im Ungefähren oder erklärte »nie wird, dies muss uns klar sein, die Judenfrage in der ganzen Welt restlos bereinigt sein«.67 Paranoiker, die sich dem Joch einer jüdischen Weltregierung unterworfen wähnten, konnten das kaum als befriedigend empfinden. In einem Bereich allerdings war Fischer nicht misszuverstehen, nämlich in seiner Ablehnung des Zionismus. Während sich völkische Gruppierungen oft nicht weiter darum kümmerten, wohin sich die zu vertreibende Minderheit begeben würde68 oder – wie übrigens auch der Christlichsoziale Emmerich Czermak – eine Auswanderung nach Palästina überhaupt dezidiert begrüßten, waren sich Rechtskatholiken wie manche Redakteure der Zeitschrift »Schönere Zukunft«69 oder eben auch Zyrill Fischer zumindest im Klaren darüber wohin die Juden nicht gelangen sollten, schließlich sei die Gefahr kaum abzuschätzen, »bekäme dieser atavistische Christushaß völlig die Leitung und Regierung Palästinas in die Hand«.70 Auch wenn Fischer strukturellen Diskriminierungen das Wort redete,71 war sein Kernanliegen wie das der Geistlichkeit generell, eine neue Gegenreformation, eine »seelische Abkehr vom Judengeiste«.72 Die größte Verbreitung fand der klerikale Antisemitismus freilich dort, wo der geistliche Einfluss besonders groß war. Einerseits war das in kleinen Agglomerationen der Fall, in denen die kirchliche Autorität ungleich weniger in Frage gestellt war als in den Städten. Andererseits fiel die religiös argumentierende Judenfeindschaft besonders dort auf fruchtbaren Boden, wo antimoderne (und damit meist auch  : antiurbane) Ressentiments am stärksten ausgeprägt waren. Arbeiter und Gewerbetreibende

Die Weltwirtschaftskrise ab 1873 zog das Habsburgerreich schwer in Mitleidenschaft und ließ es bis in die 1880er Jahre stagnieren. Neben der Arbeiterschaft traf das besonders selbstständige Handwerker und den Kleinhandel hart.73 Das soziale Selbstverständnis der beiden letzteren Gruppen war vornehmlich negativ konstituiert, ba67 Czermak/K arbach [1933], 53. 68 Vgl. als Beispiel die Christlichsoziale Arbeiterzeitung, 14.7.1923, 3f. Freilich vertrat das Blatt – wie im Übrigen auch die Reichspost – nach Bedarf auch gegensätzliche Positionen, etwa anlässlich des Zionistenkongresses. 69 Vgl. Wagner 1975, 39. 70 Fischer 1932, 185ff., Hervorhebung im Original. 71 Ebd., 90. 72 Ebd. 73 Zur wirtschaftlichen Entwicklung vgl. Butschek, 2010, 150ff.

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sierte also auf der Abgrenzung nach »unten«. Die Krise führte ihnen nun drastisch die Verletzlichkeit der eigenen gesellschaftlichen Stellung vor Augen – mit dramatischen sozialpsychologischen Konsequenzen. Dem um seine Existenz ringenden Kleinbürgertum ging es nicht um die Überwindung des kapitalistischen Wirtschaftssystems und damit um die Einebnung sozialer Hierarchien, sondern vielmehr um deren Stabilisierung. Weil nicht sein konnte, was nicht sein durfte, wurde die offenkundige Krisenanfälligkeit des herrschenden Wirtschaftssystems, auf dem schließlich auch der eigene Rang gründete, nicht als immanentes Merkmal interpretiert, sondern als temporäre Verwerfung innerhalb eines ansonsten durchaus wünschenswerten Rahmens. Damit stellte sich aber die Frage, was, wenn nicht das System selbst, denn verantwortlich zu machen war für die eigene ökonomische Talfahrt. Wenn nicht der Kapitalismus als solcher in Zweifel zu ziehen war, bedurfte es anderer, die haftbar gemacht werden konnten.74 Einerseits war das der liberalisierte Markt. Seine Dynamiken sollten nun durch protektionistische und regulatorische Forderungen eingehegt werden, die sich gut in romantisch-korporatistische Ideenwelten einbetten ließen.75 Andererseits steigerte das Bedrohungsgefühl aber auch im alltäglichen Gefühlshaushalt Abgrenzungsbedürfnisse. Wie schon ihre Standesgenossen im krisengeschüttelten Frankreich der 1830er Jahre verfiel auch die österreichische Petite Bourgeoisie der 1870er Jahre auf den Antisemitismus  – dessen Intensität und Verbreitungsgrad die des französischen allerdings bald bei weitem übertraf.76 Identifiziert wurde »der Jude« als Feind per se in einer dreifachen Funktion  : als übergeordneter, »raffender« Kapitalist, als unliebsamer Konkurrent und schließlich als weltanschaulicher Gegner, als »Intelligenzler« und »Umstürzler«. Diskursiv verwoben wurde all das mit der permanenten Anfeindung derjenigen, die zu Beginn der 1880er Jahre als Flüchtlinge vor Pogromen aus Russland und Galizien ins spätere Österreich gekommen waren.77 Die christlichsoziale Agitation gegen »fremde, insbesondere aus Galizien zugewanderte Elemente«, deren angebliche Protektion durch die Wiener Stadtverwaltung der christlichsoziale Parteitag noch 1924 beklagte,78 war dementsprechend weniger das Ergebnis einer tatsächlichen dauerhaften Zuwanderung während und nach dem Weltkrieg,79 sondern galt einem gut eingeführten To-

74 Vgl. Spira 1981, 22–26. 75 Vgl. Boyer 1981, 42–67. 76 Vgl. Pulzer 1990, 125f. 77 Vgl. Rona 1991, 61ff. 78 Vgl. Reichspost, 28.4.1924, 4. 79 Zu den realen Dimensionen und Auswirkungen der Fluchtbewegungen während des Krieges und in der unmittelbaren Nachkriegszeit siehe Hoffmann-Holter 1994, Pauley 1993, 104–108.

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pos, den die Christlichsozialen zu diesem Zeitpunkt bereits seit Jahrzehnten bedient hatten.80 Die antisemitische Agitation der zweiten urbanen Trägergruppe der Christlichsozialen, der christlichen Arbeiter, glich über weite Strecken jener der kleinbürgerlichen Eliten. Allerdings lebte in diesem Milieu die Tradition Vogelsangs, die Antisemitismus mit antikapitalistischen Tönen und Sozialkritik verband, wesentlich stärker fort.81 In hervorragendem Maße richtete sich der weniger religiös als vielmehr rassistisch argumentierende Antisemitismus der christlichen Arbeiter gegen die Sozialdemokratie, deren Presse (das »Schächtmesser des Herrn Austerlitz«82) und seit den Wahlen 1919 auch gegen die rote Hochburg, das »verjudete Wien«.83 Die von Kunschak und seinen Anhängern aufgemachte Gleichung Juden  =  Kapitalisten  =  Sozialdemokraten = Ausbeuter bot vor allem die Möglichkeit, Sozialkritik nicht unmittelbar gegen die besser Situierten und damit womöglich eigene Parteifreunde richten zu müssen, sondern vielmehr die Verbindung mit diesen zu stärken, während man gleichzeitig auch die sozialdemokratische Konkurrenz angreifen und obendrein antiintellektuelle Reflexe (die sozialdemokratischen Führer als »studirte Juden«84) bedienen konnte.85 Landbevölkerung

Wenn man dem christlichsozialen Judendiskurs in Wien jenen in den Bundesländern gegenüberstellt, werden tendenzielle Unterschiede deutlich. Einerseits hatte das mit der unterschiedlichen sozialen Basis zu tun. Die christlichsozialen Strukturen außerhalb Wiens waren agrarisch dominiert. Der Verdrängungswettbewerb in den industriellen Zentren und dementsprechend eine wie immer geartete Kapitalismuskritik waren hier weit weniger präsent. Auch die auf Ostösterreich und einige wenige industrielle Zentren beschränkte Arbeiterbewegung stellte für die besitzende Bauernschaft bis 1914 eine eher abstrakte Bedrohung dar. Aus Sicht der ländlichen Trägergruppen der Christlichsozialen schien die gesellschaftliche Hierarchie bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend stabil zu sein. Dementsprechend geringer war die emotionale Resonanz eines Antisemitismus, der sich primär gegen jüdisches Großkapital und die Linke wandte. 80 Zum Feindbild »Ostjude«, das uns zuvor schon in der Argumentation Zyrill Fischers begegnet war und auch in Deutschland vielfach bemüht wurde siehe u. a. Heid 2000. 81 Vgl. Baudisch 1967, 183ff. 82 Christlichsoziale Arbeiterzeitung, 3.2.1923, 2. 83 Vgl. Pelinka 1972, 220f. 84 Reichspost, 11.8.1896, 4. 85 Vgl. Pauley 1993, 208.

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In Westösterreich war die angefachte Judenfeindschaft des 19.  Jahrhunderts vor allem Instrument und Ergebnis des Kulturkampfes zwischen katholischer Kirche und liberalen Strömungen. Niedrige Kleriker, die im ländlichen Parteiapparat stark vertreten waren und über die kirchlichen Pressvereine die Parteimedien dominierten, bekämpften im »Juden« in erster Linie die Säkularisierung. Sie wandten sich hauptsächlich gegen die vermeintliche Bedrohung der Kirche durch antiklerikale Agitation und den Sittenverfall im Kultur- und Geistesleben. Als deren Träger wurden in beiden Fällen Juden ausgemacht  : Die »Judenpresse«, das »Judentheater« und die (ebenfalls jüdisch konnotierte) »Kinoseuche« waren Attribute einer städtischen Moderne, in der die angestammte Ordnung aus den Fugen geraten war.86 Wie sich am Beispiel des »Linzer Volksblatts« ersehen lässt, blieben diese antimodernen, auch stark antiurbanen Reflexe bis in die 1920er Jahre bestimmend. Allerdings begann sich während des Ersten Weltkrieges eine Verschiebung abzuzeichnen. Der Interessensgegensatz zwischen städtischer Arbeiterschaft und bäuerlichen Produzenten nahm im Zuge der Lebensmittelkrise ab Ende 1914 rapide zu. Die Requirierungen durch Behörden, die pauschal »den Wienern« angelastet wurden, vereinzelte Plünderungen und schließlich die Forderungen der stark radikalisierten Landarbeiterschaft nach Bodenreformen87 ließen die sozialen Spannungen am Land erheblich zunehmen. Damit einhergehend nahm nun auch im ländlichen Antisemitismus die Bedeutung des Antimarxismus zu, wurden die Warnungen vor den »Judenführern in Wien« und ihrer »fortwährenden Verhetzung« dringlicher.88 Nicht ohne Ironie ist es, dass der Antisemitismus sich nun selbst gegen diejenigen StädterInnen zu richten begann, von denen die Bauern fraglos profitierten  : gegen die pauschal zu Juden erklärten Sommerfrischlerlnnen.89 Die Radikalisierung des christlichsozialen Antisemitismus ab etwa 1930 war maßgeblich eine ihres ländlichen Flügels. Dieser war wirtschaftlich nach einer Phase der Prosperität ab 1929 stark unter Druck geraten.90 Auf 86 Zum Faktum, das »Judentum« auch ein Synonym für »Wien« und als solches eine wichtige Rolle in den Föderalismusbestrebungen in Westösterreich hatte vgl. Koller 2014. 87 Vgl. Dittlbacher 1992. 88 Der Oberösterreichische CSP-LAbg. Josef Zacherl (1867–1939), Bürgermeister von Edt bei Lambach, warf dem sozialdemokratischen Landeshauptmannstellvertreter Josef Gruber in der Landtagssitzung am 28.11.1927 vor, die Sozialdemokratie sei schuld am Justizpalastbrand und »daß der Putsch von Ihrer Partei und von den Judenführern in Wien durch fortwährende Verhetzung angezettelt worden ist«. Landtagssitzungsprotokoll vom 28.  November 1927, Oberösterreiches Landesarchiv (OÖLA), AV B 12, Landtag OÖ. 89 Vgl. die Debatte des Salzburger Landtages am 24.8.1919, auszugsweise zitiert bei Fellner 1979, 10. Siehe dazu auch den Beitrag von Marie-Theres Arnbom in diesem Band. 90 Vgl. Kernbauer/März/Weber 1983, 369  ; Senft 2002, 10f. Merklich schockiert berichtete ein britischer Diplomaten über die soziale Lage von Tiroler Bauern, zitiert bei Carsten 1988, 127.

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die um sich greifenden Pleiten landwirtschaftlicher Betriebe91 reagierten viele junge Bauern und Landarbeiter mit einer Hinwendung zum Nationalsozialismus. Dies wiederum versuchten die Christlichsozialen mit einer Intensivierung ihrer antidemokratischen wie auch ihrer antisemitischen Agitation zu verhindern.92 Intellektuelle

Die kleinste, vielleicht aber wirkmächtigste Trägergruppe des Antisemitismus innerhalb des politischen Katholizismus, waren Akademiker und Intellektuelle. Wie John Boyer und Anton Staudinger gezeigt haben, waren hier besonders drei Netzwerke einflussreich. Auf Ebene der Wiener Christlichsozialen war das ein um die Jahrhundertwende gegründeter Zusammenschluss junger Militanter, der offiziell »unpolitische« »Katholische Volksbund«. Geistig geprägt war diese Gruppierung von einem »intensiven, ans Irrationale grenzenden viszeralen Hass […] für die Sozialdemokraten«.93 Das Ziel des »Volksbundes« bestand in einer programmatischen Neuausrichtung der Christlichsozialen Politik in Richtung eines offensiveren Katholizismus, dem allein man zutraute, verbunden mit verstärkter antisemitischer Agitation, der Sozialdemokratie Herr zu werden.94 Anders als Lueger sahen die Mitglieder des »Volksbunds« in der Religion kein bloßes Instrument, das sich beliebig zur Wählermaximierung einsetzen ließ, sondern die letztinstanzliche Richtschnur für ihr eigenes Handeln.95 Durch das Ziel, die soziale Basis der Christlichsozialen über das »panische, selbstmörderische Kleinbürgertum«96 hinaus zu erweitern, kam es zu Interessensallianzen mit den innerparteilich weitgehend marginalisierten christlichsozialen Arbeitern. Ideologisch war das möglich, weil der Volksbund zwar nicht antikapitalistisch war, jedoch grundsätzlich die Tatsache anerkannte, dass der Kapitalismus soziales Elend verursachte und davon einen gewissen Handlungsbedarf ableitete.97 Die Gruppierung verfügte über ausgezeichnete Beziehungen zum Episkopat und hatte ihren mächtigsten Unterstützer in Kardinal Gustav Piffl gefunden. Sie bildete in weiterer Folge eine wesentliche 91 So wurden alleine 1932 6 Prozent der Salzburger Bauernhöfe versteigert, vgl. Mooslechner 1983, 50. 92 Vgl. Pauley 1993, 216f. 93 Boyer 2010, 414f. 94 Vgl. Boyer 1995, 417ff, 434ff. 95 Vgl. ebd., 409f. 96 So Albert Gessmann in einem Brief an Friedrich Funder 1912, zit. n. ebd., 313. 97 Zum theoretischen Verständnis der sozialen Frage in der Tradition Vogelsangs wie auch zur praktischen Bedeutung siehe u. a. Staudinger 1983, 254ff.

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Traditionslinie des Verbandskatholizismus der Zwischenkriegszeit98 und ein zentrales Rekrutierungsfeld für die rechte Führungsgruppe der Christlichsozialen in der Ersten Republik. So entstammten dem »Volksbund« neben Ignaz Seipel auch Richard Schmitz, Franz Hemala, Victor Kienböck oder Friedrich Funder.99 Neben dem »Volksbund« waren mehrere andere bürgerliche Querfrontprojekte im Zeichen des Antimarxismus bemüht, katholisch-religiöse und völkisch-nationale Strömungen zu bündeln. Besonders einflussreich war hier die »Deutsche Gemeinschaft«, eine Art rechtsradikale Geheimloge, der neben späteren führenden Nationalsozialisten wie Hermann Neubacher und Arthur Seyß-Inquart, auch deren künftige Gegner wie Emmerich Czermak oder Engelbert Dollfuß angehörten. Etliche Forderungen der »Deutschen Gemeinschaft« wurden durch Emmerich Czermak Anfang der 1930erJahre zur programmatischen Grundlage der Christlichsozialen Partei in der »Judenfrage«.100 Im Bemühen, die mehr und mehr Richtung NSDAP abdriftende bürgerliche Jugend zu integrieren, gründeten schließlich die maßgeblichen katholischen Verbände wie der »Reichsbund der christlich-deutschen Jugend Österreichs«, die »Christlich-Deutsche Turnerschaft«,101 der »Cartellverband«102 und der »Bund Neuland« den »Volksdeutschen Arbeitskreis österreichischer Katholiken«. Diese deklariert antiliberale und vor allem antimarxistische Organisation war auf Basis des Volksgemeinschafts- und Volkstumsgedankens auch per se stark antisemitisch.103 Die Radikalität der Intellektuellen, zumal der Studenten unter ihnen,104 war indes nicht nur auf ihre ideologische Überzeugung zurückzuführen. Die forcierte Forde-

 98 Vgl. Ebner 2013, 182.  99 Vgl. Boyer 1995, 298–321  ; Hartmann 2011, bes. ab 84. 100 Vgl. Staudinger 1990, 261f. 101 Die Christlich-Deutsche Turnerschaft war der späte Versuch des politischen Katholizismus, der Konkurrenz durch das völkisch-nationale Turnwesen eine kirchlich dominierte Alternative entgegen zu setzen. Während es in der Frage der Religiosität Unterschiede gab, war das restliche ideologische Fundament von christlichen und völkischen Turnern weitgehend ident, so auch die Stellung in der Rassenfrage bzw. im Antisemitismus, vgl. Matzinger 1993, bes. 69. 102 Zum Antisemitismus des Cartellverbandes vgl. Hartmann 2006, 475–498  ; zu Dollfuß’ Bemühen, 1920 innerhalb des CV, den Arierparagraphen durchzusetzen siehe ebd., 493. Zum studentischen Antisemitismus vgl. außerdem Steinbauer 1996, 139–144. 103 Vgl. Staudinger 1984, 225. Dem Volksdeutschen Arbeitskreis gehörten ausgesprochene katholische Nazis wie Taras Borodajkewycz, Anton Böhm oder Theodor Veiter ebenso an wie völkische Katholiken, die jedoch Distanz zum Nationalsozialismus wahrten. Zu letzteren zählten etwa Josef Klaus oder Eugen Kogon, vgl. ebd. 104 Siehe dazu den Beitrag von Linda Erker in diesem Band.

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rung nach einem Numerus clausus für jüdische Studierende war von Beginn an auch Ausfluss des Bemühens, sich einer unliebsamen Konkurrenz zu entledigen.105 Durchaus repräsentativ für den Antisemitismus jenes Teils der jungen VölkischKatholischen, der nicht ohnehin vollinhaltlich die Argumentation der NSDAP teilte, waren jene Stellungnahmen, die im wichtigsten katholischen Theorieorgan der 1930er Jahre, der »Schöneren Zukunft«, erschienen und sich in ihrer Gesamtheit dadurch auszeichneten, dass sie – ähnlich wie Bischof Hudal – versuchten, vermittels eines radikalen Antisemitismus und Antimarxismus eine ideologische Brücke zum Nationalsozialismus zu schlagen.106

Zur antisemitischen Praxis Luegers offenkundig zynischen Umgang mit dem Antisemitismus haben manche ZeitgenossInnen und HistorikerInnen nach 1945 als Beleg dafür gewertet, dass es sich beim christlichsozialen Antisemitismus um eine milde Variante der Judenfeindschaft gehandelt habe, die nicht verwechselt werden dürfe mit deren radikaler völkischer Erscheinungsform. Friedrich Funder, der für unzählige antisemitische Artikel in der »Reichspost« verantwortlich gezeichnet hatte, räumte nach dem Zweiten Weltkrieg zwar ein, es sei schwer, bezüglich der »grundsätzlich verschiedenen Erscheinungen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die unter dem Namen ›Antisemitismus‹ zusammengefaßt wurden […] nach dem schauerlichen Intermezzo von Auschwitz-Maydanek den rechten Maßstab zu finden.« Gleichwohl gelte es, historische Gerechtigkeit walten zu lassen  : »Man ermittelt den richtigen Sachverhalt bei der Erinnerung, daß während der ganzen Lueger-Zeit nicht ein einziges Mal die Sprüche erhitzter Redner und Zeitungsschreiber zu gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden geführt haben.«107 Kurt Skalnik meinte, gerade die »betont christlichen, […] bewußt katholischen Kräfte« seien doch im ausgehenden 19. Jahrhundert bemüht gewesen, »die reißend gewordene antisemitische Strömung in ein ruhiges Bett zu leiten und sie schließlich auslaufen zu lassen«.108 Helmut Rumpler stellte schließlich im Hinblick auf Luegers Antisemitismus fest, dieser »war zwar der einigende Faktor der sozial und kulturell 105 Vgl. Hartmann 2006, 477. 106 Zu Stellenwert und Argumentation des Antisemitismus in der »Schöneren Zukunft« siehe die Analyse von Eppel 1980, 153–192. 107 Funder 1952, 127. 108 Skalnik 1954, 58.

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bunt gemischten Luegerschen Koalition, aber eigentlich nur ein Mittel zur Mobilisierung der Massen. Nie zog er [Lueger, Anm.] aus seinen judenfeindlichen Reden praktische Konsequenzen, sein Antisemitismus war nicht rassistisch, sondern populistisch.«109 Diese Argumentationslinie impliziert drei entscheidende Behauptungen  : 1. Der Antisemitismus sei nicht etwa Teil des ideologischen Fundamentes der Christlichsozialen gewesen, sondern lediglich ein Ventil oder Werbemittel, dessen man sich in Wahlzeiten bedient habe. 2. Den Worten seien nie Taten gefolgt und daher 3. auch niemand zu Schaden gekommen – alles halb so wild. Die Distanzierung vom »Radauantisemitismus«, vom »vulgären Pogrom« gehörte schon seit Vogelsang zum fixen Repertoire nicht nur christlichsozialer, sondern überhaupt antisemitischer Agitation als solcher. In den Worten Vogelsangs  : »Nie werden wir die Religion der Juden schmähen, nie werden wir es billigen, wenn die ungeheure christliche Mehrheit den Kultus der jüdischen Minderheit verspotten oder verfolgen wollte«.110 Richard Steidle, seines Zeichens nicht nur christlichsozialer Parlamentarier und Heimwehrführer, sondern auch führender Funktionär des »Antisemitenbundes«,111 erklärte, zwar täten »gewisse Kreise jüdischer Herkunft […] das Menschenmöglichste, um antisemitische Tendenzen nach Kräften zu fördern« und seien »unter den destruktivsten Elementen des Marxismus […] unter den bösartigsten Vertretern der Asphaltdemokratie immer gerade die aus dem Osten zugewanderten Individuen jüdischer Abkunft zu finden«, fügte aber, vorgeblich um Fairness bemüht gleich hinzu  : »Es ist natürlich ungerecht, diese entarteten Exemplare eines Volkes mit der staatstreuen, konservativen und alteingesessenen Judenschaft in einen Topf zu werfen.«112 Selbst Hermann Göring tat in den Anfängen der NS-Herrschaft noch so, als wollten er und seinesgleichen in ihrem Rassismus differenzieren und versicherte, »staatstreue Juden« hätten selbstverständlich nichts zu befürchten, »die Regierung würde niemals dulden, daß ein Mensch nur deshalb irgendwelchen Verfolgungen ausgesetzt werde, weil er Jude sei.«113 Im Folgenden soll durch einige Schlaglichter erhellt werden, dass der christlichsoziale Antisemitismus von Lueger bis in die 1930er Jahre keineswegs »nur« der spontanen Stimmungsmache diente, sondern durchgängig tief in der Christlichsozialen Partei wurzelte und durchaus praktische Konsequenzen zeitigte. 109 Vgl. Rumpler 2010, 67. 110 Zit. n. Skalnik 1954, 58f. 111 Vgl. Rütgen 1989, 145. 112 Zit. n. ebd. 113 Zit. n. Reichspost, 27.3.1933, 2.

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Initiativen zur legalen Diskriminierung

Es gab zahlreiche Vorstöße von christlichsozialer Seite, eine gesetzliche Basis zur Segregation oder Diskriminierung von Juden zu schaffen. Lueger hatte schon 1887 einen Gesetzesvorschlag Georg Schönerers unterstützt, nach dem Vorbild der antichinesischen Einwanderungsgesetze in den USA die jüdische Zuwanderung bzw. Niederlassung in Österreich zu erschweren.114 Auch selbst forderten die Christlichsozialen schon seit ihren Anfängen immer wieder antisemitische Gesetze, die etwa Güterkonfiskationen, den Entzug des passiven Wahlrechtes oder auch die Beseitigung der Niederlassungsfreiheit, kurz  : die Rücknahme der Judenemanzipation, zum Ziel hatten.115 Besonders intensiv waren die einschlägigen Bestrebungen in der Anfangsphase der Ersten Republik. Im Juli 1919 wurde von christlichsozialen Abgeordneten im Parlament ein Gesetzesvorschlag eingebracht, der Namensänderungen verhindern und so die Assimilierung von Juden erschweren sollte.116 Zwei Monate später, im September 1919, wurde, befeuert von der christlichsozialen Presse, eine antisemitische Demonstration vor dem Rathaus abgehalten und die »eheste Durchführung des Ostjudenausweisungsgesetzes« gefordert, weil, wie die Reichspost mit geheuchelter Sorge schrieb, die »längere Duldung in Wien […] die bestehende Judengegnerschaft nur zu einer gefährlichen Höhe emportreiben« würde.117 Im Oktober 1919 forderten christlichsoziale Parlamentarier, Juden vom Armeedienst auszuschließen und die Juden bei künftigen Volkszählungen als »eigene Rasse« zu führen,118 zudem wurde eine weitere antisemitische Kundgebung vor dem Rathaus abgehalten, die neuerlich forderte, »Ostjuden« abzuschieben. Den umfassendsten antisemitischen Gesetzesentwurf präsentierte 1919 parteiintern Leopold Kunschak. Er sah u. a. die Erfassung der jüdischen Bevölkerung in einem Nationalkataster vor, wobei die Abstammung, nicht das konfessionelle Bekenntnis, ausschlaggebend zu sein habe  ; durch einen Numerus clausus entsprechend dem jüdischen Anteil an der Gesamtbevölkerung sollte die Teilhabe am öffentlichen und wirtschaftlichen Leben begrenzt werden, von Ämtern in Staats- und Landesregierungen, in der Nationalversammlung sowie vom Pressewesen seien Juden gänzlich auszuschließen. Desgleichen solle ihnen der Dienst in Militär, Gendarmerie, Zoll und Polizei sowie das Richteramt verwehrt sein. Zudem sollte Juden die Gründung von Vereinen untersagt werden, und jüdische Kinder wären 114 Vgl. Schiestl 1992, 296. 115 Vgl. Baudisch 1967, 120f. 116 Vgl. Pauley 1993, 207. 117 Reichspost, 26.9.1919, 1f. 118 Vgl. Pauley 1993, 207.

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möglichst in jüdischen Schulen zusammenzufassen.119 In den internen Beratungen hatte der für die Erarbeitung der Verfassung zuständige Staatssekretär Michael Mayr (wie im Übrigen auch Seipel) keine prinzipiellen Einwände, plädierte allerdings im Hinblick auf den Friedensvertrag für Zurückhaltung. Es gibt wenige Beispiele für konkrete parteiinterne Widerstände gegen antisemitische Reden und Vorhaben, in diesem Fall widersprach jedoch Josef Resch Kunschaks Forderungen unter Hinweis auf ihre Verfassungswidrigkeit und aus persönlichem Unwillen dagegen, Juden als »Staatsbürger zweiter Klasse« zu behandeln.120 Kunschak zog den Entwurf daraufhin zurück, brachte ihn aber 1936 in überarbeiteter Fassung wieder aufs Tapet.121 Auch dann war ihm  – wie allen anderen einschlägigen Initiativen  – aber kein Erfolg beschieden. Pogromstimmungen Eine Lueger-Veranstaltung eskaliert

Ein anschauliches Bild der Stimmung, die von den antisemitischen Kampagnen der Christlichsozialen provoziert wurde, vermittelte bereits vor der Jahrhundertwende ein Zeitungsbericht über antijüdische Ausschreitungen im Dezember 1895. Nachdem eine Kundgebung des katholischen Schulvereins Wien-Leopoldstadt aufgrund der hoffnungslos überfüllten Räumlichkeiten von den Behörden aufgelöst worden war, hatte in der Menge das Gerücht die Runde gemacht, Juden steckten hinter dem Abbruch der Versammlung. Daraufhin formierte sich ein spontaner Demonstrationszug von etwa zweitausend Frauen. Was folgte beschrieb die liberale »Neue Freie Presse« als einen »Straßenexcesse […] der in Wien bisher noch nicht beobachtet worden ist.«122 Angesichts der aufgebrachten Menge musste sich die Polizei mehrfach zurückziehen. »Der Strom ergießt sich in die Praterstraße und nun beginnt eine Reihe von widerlichsten Scenen. Unter dem unaufhörlichen Geheul ›Hoch Lueger  ! Nieder mit den Juden  ! Kauft nur bei Christen  ! Aufhängen die Juden  ! Kauft’s nix bei Juden  !‹ wälzt sich der […] Menschenstrom […] der Stadt zu  ; jüdische Passanten, die nicht schnell genug ausweichen, werden angespuckt, insultiert und gestoßen. Sie flüchten eilends aus dem Bereich der Menge, die ihnen die unflätigsten Schimpfworte nachbrüllt und jede einzelne dieser Rohheiten mit Gejohl und Gelächter begleitet.«123 119 Vollinhaltlich wiedergegeben sind die 13 Punkte des ursprünglichen Forderungskatalogs sowie die Version von 1936 bei Staudinger 1979, 36f., 40ff. 120 Vgl. ebd., 37f. 121 Ebd. 122 Neue Freie Presse, 3.12.1895, 6. 123 Ebd.

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Zionistenkongress 1925

Seit der Gründung der World Zionist Organisation 1897 trafen sich deren Mitglieder zunächst jährlich, später alle zwei Jahre zu internationalen Konferenzen in unterschiedlichen Städten. Für den August 1925 war als Tagungsort des 14. Kongresses Wien ausersehen worden. Nach Bekanntwerden dieser Nachricht organisierten christlichsoziale Gruppierungen gemeinsam mit den Nationalsozialisten umgehend Proteste. Die Bundesregierung, die den Zionistenkongress ursprünglich wegen der erwarteten Einnahmen aus dem Fremdenverkehr begrüßt hatte, zeigte sich vom Unmut in den eigenen Reihen anfangs nicht sonderlich beeindruckt. Selbst, nachdem es in Wien im Juli massive Ausschreitungen gegeben hatte,124 fühlte sich der Wiener Polizeipräsidenten Johannes Schober zunächst allenfalls an »verrückte Leute […] Verbrecher oder Geisteskranke« erinnert.125 Als aber Nationalsozialisten und christlichsoziale Turner Hand in Hand die »arisch-christliche Bevölkerung« zum Widerstand gegen den Kongress aufriefen126 und eine regelrechte Flut von Protestnoten deutschnationaler wie christlichsozialer Verbände127 einging, wurde dem deutschnationalen Justizminister Hans Schürff, selbst ein deklarierter Antisemit, zusehends mulmig  : »Jeder Hinweis darauf, daß wir die Zionisten fördern sollten, um die Juden wegzubringen, ziehen nicht mehr, auch nicht die volkswirtschaftliche Seite. Wir sind in einer Stimmung wie in den Zeiten des Hepp-Hepp-Antisemitismus.«128 Die Angst Schürffs und seiner Kollegen im Ministerrat war nun vor allem, in der Öffentlichkeit als eine »jüdische Regierung«129 zu erscheinen. Man veranlasste daher, dass der Zionistenkongress trotz bestehendem Nutzungsvertrag nicht in der Hofburg stattfinden durfte, und vermied es entgegen den üblichen Usancen auch, die jüdischen Spitzenfunktionäre zu einem offiziellen Empfang zu laden. Zugleich versuchte man, die Wogen zu glätten, indem man sich bemühte, die Berichterstattung über den Kongress in den eigenen Blättern zu unterbinden,130 und interpretierte den Zweck der Veranstaltung außerdem im antisemitischen Sinne  : Der Zionismus bezwecke die Abwanderung der Jüdischen Bevölkerung nach Palästina, »vom rein österreichischen 124 Vgl. Stachel 2007, 49ff. 125 Protokoll des Ministerrates, 10.8.1925, 263. 126 Vgl. das Plakat »Der Zionisten-Kongreß nähert sich«, Plakatsammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, AC 10651955. 127 ÖStA, AdR, BKA, Präs. Zl. 105.315/1925. 128 Zit. n. Protokoll des Ministerrates, 10.8.1925, 263. 129 Vgl. Wortmeldung Schürff, Protokoll des Ministerrates vom 10.8.1925, 264. 130 Protokoll des Ministerrates, 10.8.1925, Wortmeldung Ramek, 261. Speziell die »Reichspost« hatte zuvor die Stimmung massiv angeheizt.

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Standpunkt« sei »den Zionisten ein möglichst vollständiger Erfolg ihrer Bestrebungen [zu] wünschen«, wie Bundeskanzler Rudolf Ramek erklärte.131 Sollte die Regierung geglaubt haben, die Lage damit unter Kontrolle bringen zu können, musste sie bald feststellen, dass ihr Optimismus verfrüht gewesen war. Völkische und christliche Verbände setzten die Mobilisierung ihrer AnhängerInnen unverdrossen fort und organisierten, zeitgleich zum Zionistenkongress, eine Gegenveranstaltung in Form des »arischen« »Wiener Volkstages«.132 Sorgen machte der Exekutive dabei ausdrücklich nicht die NS-Agitation, schließlich habe sich erst unlängst gezeigt, »wo die radikalen Elemente zu suchen sind. Die Hitlergarde hat keinen Eindruck gemacht, viel gefährlicher ist es, wenn sich die [christlichen] Turner einmengen«, so Polizeipräsident Schober, der bei dieser Gelegenheit auch die eigene Abneigung gegen Juden durchscheinen ließ  : »Es brauchen nur Zusammenstöße zu sein und jemand von den Ariern getötet werden, so wird die Regierung davon gejagt. […] Unterschätzen dürfen wir diese Bewegung nicht, denn die Regierung und niemand hat die Masse mehr in der Hand. Der Instinkt richtet sich gegen das freche jüdische Treiben.«133 Vorübergehend wurde daraufhin der für 17. August anberaumte »Volkstag« ganz verboten. Nachdem sich der christlichsoziale Gemeinderat Anton Jerzabek, der dem Antisemitenbund134 vorstand, erfolglos für eine Aufhebung des Verbotes eingesetzt hatte,135 kam es am betreffenden Tag zu einer Demonstration von deutschnationalen und christlichen Turnern, bei der Randale mit etlichen Verletzten nicht ausblieben.136 Ein umso stärkeres Indiz dafür, welche Ausmaße die antisemitischen Aufwallungen innerhalb des gesamten bürgerlichen Milieus, »völkisch« wie »christlich«, angenommen hatten, kann in dem Umstand gesehen werden, dass die Bundesregierung das Verbot des »Volkstags« nicht durchhielt. Die Antisemitenkundgebung konnte fünf Tage später, am 22. August 1925, mit behördlichem Segen stattfinden. Es war wohl vor allem den massiven Sicherheitsmaßnahmen der Exekutive zu danken, dass es dabei nicht zu neuerlichen Ausschreitungen kam.137

131 Vgl. Protokoll des Ministerrates, 10.8.1925, Wortmeldung Ramek, 261. 132 Vgl. Berichterstattung in der Reichspost, 15., 17. und 18.8.1925, im Bauernbündler, 15.8.1925 und in der ebenfalls den Christlichsozialen zuneigenden Neuen Zeitung, 17. und 18.8.1925. Vgl. außerdem Pauley 1993, 152–162. 133 Protokoll des Ministerrates, 10.8.1925, Wortmeldung Schürff, 259. 134 Zum Antisemitenbund, der ähnlich den Heimwehren eine parteiübergreifende Struktur innerhalb des bürgerlichen Lagers bildete vgl. Rütgen 1989, 358–375. 135 Vgl. Stachel 2007, 99. 136 Vgl. Reichspost, 18.8.1925, 1f. 137 Vgl. Reichspost, 23.8.1923, 1f.; Arbeiter-Zeitung vom selben Tag, 5.

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Antijüdische Exzesse wie dieser waren nicht die Regel, gleichwohl kamen sie bis unmittelbar vor dem »Anschluss« 1938 vor, das Spektrum reichte von physischen Attacken auf Einzelpersonen bis hin zur Demolierung von Auslagen und Brandanschlägen auf jüdische Bethäuser.138

Struktureller Antisemitismus Neben dem Versuch, die Judendiskriminierung auf gesetzliche Grundlagen zu stellen, war im Einflussbereich der Christlichsozialen ein (nicht restlos konsequenter) struktureller Antisemitismus feststellbar. Dieser reichte von der Wiener Kommunalverwaltung unter Lueger139 bis zum Austrofaschismus. In Teilbereichen, vor allem den Hochschulen, war die systematische Benachteiligung von jüdischen Studierenden auch schon in der Republik gängige Praxis gewesen.140 Bereits in den Anfängen des Austrofaschismus verbanden katholische Studenten wie der spätere Bundeskanzler und damalige Funktionär der akademischen Jungfront, Josef Klaus, den Ruf nach dem »ständischen Volksstaat« mit der Forderung, die Hochschulen müssten »wieder zu Erziehungsstätten Christlichnationalen Geistes werden [und] von ihr die Zudringlichkeit des Judentums bis zu einem gebührenden Maße zurückgewiesen« werden.141 Die Praxis des Austrofaschismus entsprach dieser Forderung so konsequent, dass sich die Vereinigung jüdischer Ärzte 1937 genötigt sah, jüdische Maturanten in einem eigenen Schreiben zu warnen Medizin zu inskribieren, da die Aussichten für jüdische Absolventen gegen Null tendierten.142 Die Wiener Stadtverwaltung wurde nach 1934 systematisch von jüdischen, nicht aber von nichtjüdischen Sozialdemokraten gesäubert,143 zudem erging im September gleichen Jahres ein Erlass des Wiener Stadtschulrates, der auf die Herauslösung von jüdischen Kindern aus den Regelschulklassen und 138 Wohnout 1994, 15. 139 Vgl. Boyer 1995, 29ff, 64f. 140 Von den Universitätsrektoren wurde ein ausschließlich von christlichsozialen und deutschnationalen Studentenverbindungen gewähltes und beschicktes Gremium, der deutsch-arische Hochschulausschuss, als legitime Vertretung der Studierenden anerkannt  ; die Gleispach’sche Studentenordnung führte an der Universität Wien 1930 einen Numerus clausus für Juden ein, wobei die Definition dem Rasseprinzip folgte  ; antisemitische christlichsoziale und deutschnationale Professoren bildeten eine antisemitische Geheimgesellschaft, die Bärenhöhle, mit dem Ziel, systematisch die Habilitation bzw. Berufung von Juden zu sabotieren, siehe zu all diesen Punkten ausführlich die derzeit in Arbeit befindliche Dissertation von Linda Erker. 141 Reichspost, 9.3.1933, 11. 142 Vgl. Wohnout 1994, 10  ; siehe dazu auch den Beitrag von Reiter-Zatloukal in diesem Band. 143 Ebd., 9.

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ihre Zusammenfassung in eigenen Judenklassen als Vorstufe zu eigenen Judenschulen zielte. Nach internationalen Protesten wurde dieser Plan zwar schließlich zurück genommen. Die Idee, die jüdische Bevölkerung von der nichtjüdischen zu separieren, tauchte dennoch in verschiedenen Varianten weiter auf.144 An struktureller Diskriminierung sind zudem die Folgen diverser Boykottaufrufe christlichsozialer Gruppierungen und Repräsentanten zu nennen, die insbesondere in der Vorweihnachtszeit eine jahrzehntelange Tradition hatten.145 Friedrich Funder sollte später auch sie mit dem Hinweis entschuldigen, »daß die unter dem Motto ›Kauft nur bei Christen‹ […] geführte Propaganda den Käuferstrom […] nicht aus seinen gewohnten Bahnen zu bringen vermochte.«146 Und doch war es genau dieser »Tatantisemitismus«, mit dem sich die Christlichsozialen von jenem »radikalen Wortantisemitismus« abzuheben versuchten, in dem sich vermeintlich die nationalsozialistische Judenfeindschaft erschöpfe.147 Selbst die ersten Pogrome nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten wischte die »Reichspost« mit dieser Behauptung noch vom Tisch  : »da und dort wurde einzelnen Juden übel mitgespielt. Aber sofort schritt die Regierung des Dritten Reiches […] energisch ein. […] So beginnt ›das gigantische Aufbauwerk des Nationalsozialismus‹ […] de facto mit einer großzügigen Judenschutzaktion und die Massen […] haben das Nachsehen.«148

Antisemitismus als programmatische Säule Der Antisemitismus hatte innerhalb der CSP nie nur den Charakter eines agitatorischen Instruments, sondern immer auch den einer programmatischen Konstante gehabt. Das antijüdische Ressentiment war bereits der zentrale Daseinszweck vieler Vorläufervereine gewesen,149 und durchzog seit dem ersten Parteiprogramm, dem »Wahlmanifest der christlich-sozialen Reichspartei« aus dem Jahr 1907 auch das ideelle Fundament der Partei.150 Im November 1919 wurde auf dem Parteitag der Wiener Christlichsozialen ein Programm verabschiedet, dessen Essenz die künftige 144 Ebd., 10f.; Tálos 2013, 480ff. 145 Vgl. Wohnout 1994, 15  ; Boyer 1981, 378f., 382. 146 Funder 1952, 127. 147 Vgl. Generalsekretariat der Christlichsozialen Bundesparteileitung 1932, 69f. 148 Reichspost, 27.3.1933, 2. 149 So hatte sich beispielsweise ein sattes Drittel des Programmes der »Vereinigten Christen«, wie Luegers Partei hieß, bevor sie mit anderen Gruppierungen zur Christlichsozialen Partei verschmolz, der Rechtsstellung von Juden gewidmet, vgl. Schiestl 1992, 296f. 150 Vgl. Rütgen 1989, 84f.

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Position der Partei in der »Judenfrage« widerspiegelte  : die Separierung der jüdischen Bevölkerung als »eigene Nation«, die Isolation der Juden durch eigene Schulen oder Klassen, die Erschwerung der Einbürgerung »Volksfremder« und die Einführung eines Numerus clausus im Schul- und Universitätsdienst.151 Sämtliche andere Landesparteien taten es, so das nicht schon vorher der Fall gewesen war, dem Wiener Beispiel alsbald gleich und nahmen ihrerseits antisemitische Passagen in ihre Programme auf.152 Bezeichnenderweise beklagte das christlichsoziale Parteiprogramm von 1926 zwar den »zersetzenden jüdischen Einfluss«153 wurde allgemein aber dennoch als gemäßigt wahrgenommen, weil es an die kollektive Verunglimpfung keine konkreten Forderungen mehr knüpfte.154 Als die Partei Anfang der 1930er Jahre ihre antisemitische Agitation in Konkurrenz zu den Nationalsozialisten neuerlich intensivierte, wurde auch die betreffende Passage des gültigen Parteiprogrammes im von Richard Schmitz 1932 verantworteten Kommentar nachgeschärft. Der bereits zitierten Passage wurde von Schmitz nun hinzugefügt  : »Der Antisemitismus ist seit den Uranfängen der Bewegung ein Stück des christlichsozialen Wesens. Kein bloßes Agitationsmittel, sondern ein Teil des Programmes, des geistigen Inhaltes der Partei […] In dem von zahlreichen Juden bewohnten Wien […] ist der Antisemitismus lebendiger und eher zum Radikalismus geneigt als etwa in dem judenarmen Vorarlberg […] Ähnlich kann der Eintritt wirtschaftlicher Not […] den in besseren Zeiten ruhiger gewordenen Antisemitismus jäh zu heftigen und leidenschaftlichen Formen auftreiben. Niemals aber ist der Antisemitismus in der Christlichsozialen Partei erstorben gewesen.«155 Ebenfalls in diese Phase fiel die Beauftragung des völkischen Katholiken und späteren Parteiobmannes Emmerich Czermak mit der Ausarbeitung eines Programms zur »Lösung« der »Judenfrage«.156 Zusammen mit dem Rechtszionisten Oskar Karbach verfasste Czermak die Schrift »Ordnung in der Judenfrage«, in der Emanzipation und Assimilation als Irrwege gebrandmarkt wurden  : »das liberale, sozialistische, bolschewistische Judentum ist […] ein entartetes Judentum.«157 Im Weiteren konstruierte Czermak das Judentum auf explizit völkischer Grundlage,158 womit sich die Op151 Vgl. Kriechbaumer 2006, 72–78, bes. 72f. Zum Nachvollziehen der aufgeladenen antisemitischen Atmosphäre ist es durchaus lohnend, die Reden auf dem Parteitag zu lesen, etwa die Wortmeldung von Heinrich Mataja, vgl. ebd., 34. 152 Vgl. Rütgen 1989, 86ff  ; Rona 1991, 111f. 153 Vgl. Kriechbaumer 2006, 307. 154 Vgl. ebd., 306f.; Pauley 1993, 207f. 155 Generalsekretariat der Christlichsozialen Bundesparteileitung 1932, 67f. 156 Pauley 1993, 213. 157 Czermak/K arbach 1933, 9. 158 Vgl. ebd., 42f.

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tion einer Konversion erübrigte, um dem antisemitischen Stigma zu entkommen: Es »muß der religiöse Deutsche die Annahme der Taufe als ›Entreebillett‹ für die Juden mit größter Entschiedenheit ablehnen«.159 Als Lösung favorisierten die beiden Autoren die Unterstützung rechtszionistischer Bestrebungen in der Tradition Ze’ev Jabotinskys.160 Das zwischenzeitlich anzustrebende Ziel sahen Czermak und Karbach folglich darin »für die im Lande wohnenden Juden, zumindest für die restliche Dauer ihres Aufenthaltes [  !] ein wirklich brauchbares Recht« zu schaffen161 – eine Ausnahmegesetzgebung also, wie sie von Christlichsozialen schon seit Jahrzehnten vertreten worden war. Dies sei auch zum Besten der jüdischen Bevölkerung, »denn wo immer sie versuchen, gute Deutsche zu mimen, begehen sie Verrat an ihrem jüdischen Blut und Wesen […] Wir erwarten […] von ihnen, daß sie zurückfinden zu ihrem ursprünglich konservativen Wesen und daß sie sich freimachen von der nur durch ihre Phantasie entschuldbaren Illusion der Gleichschaltung mit den Deutschen.«162

Zur Spezifik christlichsozialer Judenfeindschaft Wie im Fall des »Radauantisemitismus« war auch die Distanzierung vom völkischen Rassenantisemitismus bereits im 19.  Jahrhundert ein fester Bestandteil des christlichsozialen antisemitischen Diskurses gewesen. Einerseits war der Judenhass zwar eine gemeinsame Grundlage der unterschiedlichen bürgerlichen Fraktionen, andererseits galt es aber im Parteienwettbewerb auch, auf bestimmten Unterscheidungsmerkmalen zu bestehen. Anfang der 1930er Jahre, als die nationalsozialistische Konkurrenz zusehends erstarkte, gewann diese Frage neuerlich an Brisanz. Die Christlichsozialen reagierten auf den Aufstieg der NSDAP mit einem scharfen Rechtsschwenk, in der Hoffnung, den Nationalsozialisten Wind aus den Segeln nehmen zu können. Es gab durchaus Stimmen, die warnten, man werde dadurch nur dem politischen Gegner einen Gefallen tun,163 eindeutigen Überhang hatten aber die Befürworter des prononcierten Rechtskurses. Mit der Forderung, künftig den Antisemitismus stärker zu betonen wurde nach dem Debakel bei den Gemeinderatswahlen in Wien 1932 ausgerechnet Leopold Kunschak zum Rücktritt als Landesparteiobmann gezwungen. 159 Ebd., 44. 160 Ebd., 53, 57. 161 Ebd., 58. 162 Ebd., 66f. 163 Vgl. Günther 1932, 13f.

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An seine Stelle trat der CVer Robert Krasser, dessen Antrittsrede getrost als Wegmarke zur Faschisierung der Christlichsozialen Partei gelten darf. Krasser plädierte in Vogelsangscher Tradition für die »Herausarbeitung des Charakters unserer Partei als soziale Reformpartei«, um diesen Anspruch umgehend mit dem Antisemitismus zu verbinden  : »Bei jedem Unglück sucht man einen Schuldigen […] Da ist es doch – lassen sie mich höflich sein – höchst unpraktisch, wenn ausgerechnet in einer solchen Zeit, in der kein Mensch mehr an unsere heutige Demokratie glaubt, unsere Partei immer und immer wieder […] für diesen Parlamentarismus eintritt  ! […] Welche zugkräftigen Ideen haben wir in den letzten Jahren noch gehabt  ? Bei der Eroberung Wiens durch Lueger war eine der zündenden Ideen der Antisemitismus. Aus staatspolitischen Erwägungen ist es damit in unserer Partei bedenklich still geworden. Damit hat sich unsere Partei eines ihrer volkstümlichsten und agitatorisch wirksamsten Schlagwörter entledigt.«164 Im nächsten Atemzug bestand Krasser aber auch gleich auf dem spezifischen Charakter des christlichsozialen Antisemitismus  : »Unser Antisemitismus wird sich gewiß vom Rassenantisemitismus der Nationalsozialisten unterscheiden. Es war doch auch der Antisemitismus Luegers maßvoll  ; in welch großem Maße immunisierte er aber auch dadurch das Volk gegen den zersetzenden jüdischen Geist.«165 Schmitz hatte sich ebenfalls im Kommentar zum Parteiprogramm von 1932 vom Rassenantisemitismus ausdrücklich distanziert  : »Schärferer Antisemitismus ist durchaus erlaubt und begründet. Immer jedoch muß er die Grenzen einhalten, die das Gesetz der christlichen Gerechtigkeit und das Gebot der christlichen Liebe gezogen haben. Daher gibt es für den Christlichsozialen keinen gewalttätigen und auch keinen Rassenantisemitismus.«166 20 Jahre und einen Völkermord später waren auch zwei andere zentrale Akteure intensiv daran interessiert, den Unterschied zwischen dem eigenen und dem rassistischen Antisemitismus der Nazis zu betonen, selbst, wenn sie offenkundig Schwierigkeiten hatten, alte Gewohnheiten abzustreifen  : Am 14. September 1945 agitierte Leopold Kunschak im Rahmen einer Versammlung in Wien gegen jüdische Displaced Persons. Er gab ihnen die Schuld für die wirtschaftliche Misere und bekräftigte bei dieser Gelegenheit, »schon immer« Antisemit gewesen zu sein – was er auch bleiben wolle. In einem Beitrag für das Jahrbuch des Karl-von-Vogelsang-Institutes167 hat Paul Mychalewicz quellenkritische Zweifel an der Authentizität dieser Aussage ange164 Zit. n. Reichspost, 23.5.1932, 2. Hervorhebung im Original. 165 Ebd. 166 Generalsekretariat der Christlichsozialen Bundesparteileitung 1932, 69. 167 Vgl. Mychalewicz 2011.

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meldet. Umso aufschlussreicher ist ein Dokumentenfund in Akten des »World Jewish Congress«. Zwei Vertreter des WJC hatten den damaligen Nationalratspräsidenten Kunschak nach seinen medial kolportierten Äußerungen um eine Erklärung ersucht und ihn zu diesem Zweck persönlich getroffen. In ihrem internen Bericht von der Zusammenkunft geben sie Kunschaks Darstellung wieder. Diese ist gerade auch im Hinblick auf das eingangs skizzierte Abgrenzungsproblem interessant. Dem Bericht zufolge erklärte Kunschak  : »Diese völlig mißverstandene Rede hat mir schon viel Verdruß bereitet und ich habe sie wiederholt zu berichtigen versucht. Ich will Ihnen den tatsächlichen Sachverhalt darlegen. In einer der Wahlreden behandelte ich die Geschichte des Antisemitismus in Österreich […] Es gab die folgenden Arten von Antisemitismus  : einen geschäftlichen, geführt von dem Abgeordneten Schneider, einen Religiösen, geführt von Dr. Pattai. Daneben entstand, von Schönerer geführt, der Rassen-Antisemitismus. Man weiss, wie Schönerer damals handgreiflich wurde und kennt die sich anschließenden Prozesse. Nicht auf den Rassen-Antisemitismus, sondern auf den wirtschaftlich-religiösen baute Lueger auf. […] Ich selbst, so erklärte ich der Versammlung – war immer Antisemit, aber niemals Rassenantisemit. Von dem Gedanken als gläubiger Katholik ausgehend, daß die Juden ebenso Geschöpfe Gottes, wie wir alle, sind, muß jeder gläubige Katholik den Rassenantisemitismus, der Menschen vernichtet, ablehnen. Dies und nichts anderes habe ich gesagt.«168 Friedrich Funder, der ebenfalls sehr bestrebt war, sich vom Rassenantisemitismus zu distanzieren, schrieb einige Jahre später in seinen Erinnerungen  : »Mit dem Rassenantisemitismus hatte keiner der verantwortlichen christlichsozialen Führer durch seine Handlungen und Überzeugungen etwas zu tun. Wohl aber hatten die christlichsozialen Reformbestrebungen sich mit Tatbeständen zu befassen, die ungesund waren und zu einer Kritik Anlaß wurden, die […] ebenso oberflächlich wie falschdeutig unterschiedslos als Antisemitismus deklassifiziert wurde.«169 Bezeichnenderweise waren sich aber selbst die beiden Veteranen Kunschak und Funder nicht einig, wer oder was nun eigentlich als Rassenantisemitismus anzusehen gewesen sei. Über Ernest Schneider, in dessen Tradition Kunschak seinen Antisemitismus verstanden wissen wollte, schrieb Funder nämlich  : »Schneiders Steckenpferd waren rassenantisemitische Ideen, die so bizarr waren, daß man zweifeln mußte, ob er sie selbst ernst nahm oder ob sie nur dazu bestimmt seien, […] vom versammelten Volke mit gutmütiger schallender Heiterkeit, wie eine Erfrischung unter allerhand

168 Stellungnahme der WJC-Delegierten Altmann und Stiassny, 1.8.1946, Yad Vashem Archives, O.30 Austria/93, ID 3696219. 169 Funder 1952, 124.

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Sachlichkeiten, aufgenommen zu werden.«170 Soweit die reichlich uneindeutige Kategorienbildung. Waren aber nicht deutliche stilistische Unterschiede festzustellen  ? Zweifellos war doch der Antisemitismus der »Reichspost« weit entfernt von dem des »Stürmer«. Allerdings gab es auch im breit gefächerten christlichsozialen Milieu andere Töne. Zur Illustration des vulgäreren, rabiateren Antisemitismus ist zunächst auf die Heimwehren zu verweisen,171 deren Geschicke ungeachtet permanenter Spannungen innerhalb des Führungskorps maßgeblich von den Christlichsozialen gelenkt wurden.172 Über ein elaboriertes Programm verfügten die Heimwehren in der Judenfrage genauso wenig wie in allen anderen Politikbereichen. Allerdings entstand in ihrem Umfeld 1930 eine vom deutschnationalen Studentenfunktionär Robert Körber verfasste, Ernst Rüdiger Starhemberg173 zugeeignete Schrift zum Thema.174 Sie vermittelt eine Idee von der Radikalisierung, der nicht nur der völkische, sondern der bürgerliche Diskurs insgesamt unterworfen war.175 Unter völligem Verzicht auf antiklerikale Polemiken, ganz im Gegenteil, unter mehrfacher positiver Bezugnahme auf das Christentum176 wird hier in einer vom Stürmer kaum unterscheidbaren Diktion gehetzt. »Die heutige Staatsverfassung will aber jedem Kannibalen und Zigeuner, jedem Neger- und Kaftanjuden die volle Gleichberechtigung einräumen  ! Eine solche Lehre bedeutet Mord an unserer Rasse, […] entthront den deutschen geistigen Höhenmenschen und krönt das asiatisch-afrikanische Affenmenschentum […].177 Der Staat von heute ist für Bastardenbrei und rassische Verköterung des deutschen Volkes.«178 Es ließe sich nun annehmen, Körber sei womöglich einfach ein völkischer Extremist gewesen, sein Pamphlet daher nicht geeignet, christlichsoziale Judenfeindschaft zu beschreiben, womöglich nicht einmal für die Heimwehren selbst aussagekräftig.179 170 Ebd. 171 Zum Antisemitismus der Heimwehren siehe auch Rütgen 1989, 143–157  ; Wiltschegg 1985, 264ff. 172 Vgl. Wenninger 2014. 173 Starhembergs antisemitische Polemiken gegen die Sozialdemokratie sind hinreichend bekannt, vgl. Carsten 1978, 167f. 174 Zur Person Robert Körber vgl. Bärnthaler 1971, 38  ; Häusler 1993, 36f. 175 K ämpfer 1930. 176 »Das Deutsche als Zweiheit von Volkstum und Religion«, »die christliche Religionsidee, die den deutschen Staat erfüllen muss und die geschändet wird, wenn wir [… sie] mit der sogenannten jüdischen ›Konfession‹ gleichstellen«, ebd., 18, siehe auch den Schluss, wo von der Gegenwart als der »Zeit der grausamsten Christenverfolgungen der Weltgeschichte« die Rede ist, ebd., 45. 177 Ebd., 6. 178 Ebd., 9. 179 Höbelt 2016, 79ff. legt nahe, dass die Heimwehren, wo nicht frei von Antisemitismus, so doch aus

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Allerdings wurde die Schrift innerhalb der Heimwehren faktisch zum Programmbestandteil, als die Presse des Verbandes sie der geneigten Leserschaft wärmstens ans Herz legte.180 Warum auch nicht  ? Sie unterschied sich schließlich kaum von Äußerungen aus anderen parteieübergreifenden bürgerlich-antisemitischen Organisationen wie dem Antisemitenbund, zu dessen leitenden Funktionären Christlichsoziale Mandatare wie Anton Jerzabek oder Richard Steidle zählten.181 Keineswegs nur Nationalsozialisten, auch dezidierte Katholiken befassten sich mit Fragen wie der »Rassenhygiene im katholischen Staat« und warnten vor der »Umvolkung« durch die Einwanderung von »Fremdrassigen«.182 Und nicht nur »Braune«, auch »Schwarze« hatten ihre antijüdischen Polemiken ab und an mit unverhohlenen Morddrohungen gewürzt, beileibe nicht nur der vorerwähnte Schneider, der im Niederösterreichischen Landtag 1899 gefordert hatte »Alle Juden soll man aufhängen«183 oder sein Parteifreund Josef Gregorig, der ähnliche Ideen ventilierte.184 Auch Leopold Kunschak konnte 1936 nur zwei Lösungsmöglichkeiten für das »Judenproblem« erkennen  : »Entweder löst man die Judenfrage rechtzeitig, Eingebungen der Vernunft und Menschlichkeit folgend, oder sie wird gelöst werden, wie das unvernünftige Tier seinen Feind angeht, im Toben wildgewordenen Instinkts.«185 In Anbetracht einer solchen Aggressivität ist es durchaus plausibel, auch Körbers Äußerungen als eine zwar rüde, innerhalb der Heimwehren aber dennoch weitgehend akzeptierte Position zu betrachten. Selbst allerdings, wenn man nicht nur Körber, sondern auch die ganze Heimwehrbewegung nicht als Teil des christlichsozialen Einflussbereiches gelten ließe, blieben genügend Quellenbeispiele übrig, um die These in Zweifel zu ziehen, der christlichsoziale Antisemitismus sei per se die abgemilderte, zivilisiertere Spielart des antijüdischen Ressentiments gewesen. Einerseits könnte dazu auf die Vielzahl von antisemitischen Schmähungen in der Reichspost verwiesen Rücksicht auf jüdische Geldgeber zumindest – als Verband - nicht explizit antisemitisch orientiert gewesen seien und auch Juden in ihren Reihen gehabt hätten. Im Hinblick auf die gut belegte Fülle antisemitischer Aussagen führender Akteure und die Inexistenz einer gemeinsamen programmatischen Grundlage ist allerdings der Schluss des Autors plausibel, wonach es sich dabei um die gängige Schizophrenie antisemitischer Strömung gehandelt habe, vgl. ebd., 81. 180 Vgl. Rütgen 1989, 151. 181 Siehe Fußnote 134 in diesem Beitrag, desgl. den Eintrag bei Benz 2012, 33f. 182 So der Arzt Herbert Orel, vgl. Pelinka 1972, 215. 183 Zit. n. Rona 1991, 88. 184 »Mir gefallen die krummen Beine, die krummen Nasen und die platten Füße der Juden nicht, und gerade aus ästhetischen Gründen begrüße ich die Oberleitungen [der neu elektrifizierten Straßenbahnen, Anm.], weil daran die ganzen nichtsnutzigen Juden von Wien aufgehängt werden können.« Zit. n. Neue Freie Presse, 20.5.1899, 3. 185 So Kunschak in einer Rede vor dem Freiheitsbund, zit. n. Pauley 1993, 210f.

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werden, in der schon 1923, also deutlich bevor die nationalsozialistische Konkurrenz fühlbar zu werden begonnen hatte, unter dem Titel »Der innere Feind« von »Pestilenzherden« zu lesen gewesen war, von »Hyänen der Schlachtfelder«, von »Parasiten des Verfalls«, die sich »mit Heißhunger auf die geschäftliche Ausbeutung des nationalen Unglücks gestürzt« hätten. Auch die weitere Diktion und Bildsprache waren – selbst nach den damaligen Maßstäben –   überaus aggressiv: »Haie werden fett, wenn das Schiff untergeht. Auf faulendem Grund wachsen die Pilze am üppigsten. Sittliche Fäulnis ist der rechte Nährboden für Schmarotzer«  ; »organisierter Haß gegen den christlichen Grundcharakter unseres nationalen Lebens«  ; »unappetitliche[s] Untermenschentum«  ; »Es ist die Schicksalsfrage unseres Volkes, es geht um Leben oder Sterben. Kampf den Volksvergiftern«.186 All diese Attribute und Anwürfe waren fraglos gegen die Sozialdemokratie gerichtet. Gleichzeitig waren sie aber ebenso zweifelsfrei antisemitisch aufgeladene Stereotype, die vom Publikum auch als solche decodiert wurden. Beispiele wie diese lassen sich in den 1920er und 1930er Jahren nicht nur in der »Reichspost« zuhauf finden,187 sondern auch in zahlreichen anderen christlichsozialen Medien.188 Es taten sich dabei nicht nur Kunschak und seine Anhänger hervor, nicht nur Gewerbevertreter, Akademiker oder Heimwehrleute. Auch Geistliche waren keineswegs pauschal als gemäßigt zu betrachten. Gaston Ritter, ein steirischer Pfarrer, publizierte 1933 im kircheneigenen Styria-Verlag eine Schrift mit dem Titel »Das Judentum und die Schatten des Antichrist«, in dem es unter anderem hieß  : »Wie eine Riesenspinne sitzt Ahasver den Völkern am Nacken und saugt ihnen das Blut aus den Adern. Polypenarme halten die ganze Welt umklammert. […] Eine rasche, übernationale Vereinigung der stärksten Völker wäre noch imstande, die Fesseln abzuschütteln, in welche das Judentum die Welt bereits gelegt hat. Jedenfalls wissen sollen die Arier, wer ihre Peiniger sind. Ja, wenn alle klar schauen könnten, würde die Abwehr schnell, gründlich und radikal einsetzen, wahrscheinlich mit den gleichen Mitteln, mit denen das Judentum die Welt in Fesseln geschlagen hat.«189

186 Reichspost, 25.2.1923, 1. 187 Vgl. Steinbauer 1996, die zahlreiche Beispiele zu thematisch geordneten Collagen zusammenfasst  ; McEwen 2006. 188 Besonders etwa im »Volkswohl« und in »Schönere Zukunft« oder »Das neue Volk«, aber auch in den diversen Tageszeitungen der Landesparteien, vgl. u. a. die Auszüge bei Steinbauer 1996, 203–247. 189 Ritter 1933, 12.

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Resümee Die Forschung stimmt überein, dass »hinter dem konfessionell motivierten Antisemitismus […] immer der Rassismus zum Durchbruch« kam.190 Theologischer, ökonomischer und rassistischer Antisemitismus waren bereits seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr klar voneinander unterscheidbar. Das Einfallstor für rassistische Argumente stellte im Fall des christlichsozialen Antisemitismus das »Volkstum« dar  : ein Nationenverständnis, das die Nation als christlich-arische Blutsgemeinschaft konstruierte und das Judentum nicht als Konfession oder Kulturgemeinschaft ansah, sondern gleichfalls als Abstammungskollektiv und damit letztlich als Rasse. Als solche wurde sie mit Attributen ausgestattet, die in ihrer Gesamtheit die Negativfolie zu jenem Deutschtum bildeten, zu dem sich die Christlichsozialen selbst bekannten. Die Differenzierung zwischen spezifisch christlichsozialem versus völkischem Antisemitismus war spätestens in den 1920er Jahren vollends zur Fiktion geworden. Vergleicht man einschlägige christlichsoziale Quellen mit jenen der Großdeutschen Volkspartei, des Landbundes oder der Frontkämpfervereinigung, dann lassen sich kaum Unterschiede feststellen. Selbst der Antisemitismus von vergleichsweise gemäßigten katholischen Intellektuellen wie Ernst Karl Winter rekurrierte ausdrücklich auf den Rassismus von Houston Stuart Chamberlain und Édouard Drumont.191 Gleichzeitig variierte aber die Aufladung des Feindbilds »Jude« innerhalb der CSP eindeutig nach Trägergruppen  : für die christliche Arbeiterbewegung und jenes kleinbürgerliche Milieu, das die städtischen Strukturen der Partei beherrschte war der Antisemitismus vornehmlich Vehikel einer verkürzten Kapitalismuskritik und zugleich Möglichkeit zur Kanalisierung sozialer Verwerfungen. Die parteiinterne Forderung nach einer Betonung des Antisemitismus kam vor diesem Hintergrund auch immer dem Wunsch gleich, soziale Themen stärker zu akzentuieren. Der Antisemitismus der bäuerlichen und geistlichen Teile der Partei argumentierte stärker religiös und richtete sich in größerem Maße gegen die Moderne als solche, gegen Säkularisierung und Aufklärung, gegen Urbanisierung und Frauenemanzipation, gegen Freisinnigkeit und Freizügigkeit, kurz, gegen alles was als Bedrohung der katholischen Vormachtstellung empfunden wurde. Das antimarxistische Element, das zudem in der antijüdischen Agitation der städtischen Christlichsozialen schon vor der Jahrhundertwende zentral 190 Pelinka 1972, 217. 191 Vgl. Wasserman 2014, 31  ; Busshoff 1968, 251–270  ; Weinzierl 1985, 257–269. Versuche, in Abgrenzung zum nationalsozialistischen Rassismus einen »ethischen«, katholisch-christlichen Antisemitismus zu kreieren, wie sie etwa Zyrill Fischer unternahm, griffen letztlich auf dasselbe argumentative Set zurück, vgl. Mähr 2013, 45ff.

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gewesen war gewann im ländlichen Raum erst im Ersten Weltkrieg und danach im Rahmen des »Kampfes ums Dorf« massiv an Bedeutung. Der Versuch, so etwas wie eine Konjunkturkurve des christlichsozialen Antisemitismus zu zeichnen, muss Fragment bleiben. Die Partei verdankte ihren kommunalen Aufstieg in Wien seit den 1880er Jahren in erster Linie der Judenhetze als Mobilisator  ; das Schüren antijüdischer Ressentiments nahm in der Bürgermeisterzeit Luegers zumindest unter der Legislaturperiode ab, weil es die praktische Regierungsarbeit erschwerte, ohne erkennbaren Nutzen zu bringen. In Wahlkämpfen griff man gleichwohl weiterhin darauf zurück. Luegers Tod ließ endgültig die parteiinterne Desorientierung offenbar werden, die sich schon Jahre vorher angedeutet hatte. Die inhaltliche und organisatorische Krise der Partei hielt bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges an. In dessen Schlussphase gewann der Antisemitismus neuerlich an Bedeutung, weil die CSP als regierende Fraktion im Wiener Rathaus außerstande war, auf die soziale Not infolge des Krieges angemessen zu reagieren und überdies fürchten musste, als kaisertreue Bewegung für den immer fataler verlaufenden Krieg selbst mitverantwortlich gemacht zu werden. Bürgermeister Richard Weißkirchner sah sich nun durch den jungen rechten Parteinachwuchs herausgefordert, der vehement verlangte, »die Frage des Antisemitismus ins klare zu bringen, nicht stilistisch, sondern meritorisch«.192 In der Ersten Republik setzte sich dieser Trend fort. Vor den Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung 1919 erklärten die Christlichsozialen in ihrem Wahlprogramm, durch »die auch im neuen Staat hervorgetretene Korruption und Herrschsucht jüdischer Kreise« gezwungen zu sein, »das deutschösterreichische Volk zum schärfsten Abwehrkampf gegen die jüdische Gefahr aufzurufen.«193 Von hier führte eine direkte Linie über die Ausschreitungen anlässlich des Zionistenkongresses 1925 bis hin zur abermaligen Intensivierung der einschlägigen Agitation ab Anfang der 1930er Jahre. Zwischen den genannten Punkten lagen ungezählte antisemitische Reden von Repräsentanten der Partei und Artikel der Parteipresse, die ins gleiche Horn stießen. Die Ursache für diese konstante Bemühung des Antisemitismus war maßgeblich darin zu sehen, dass die Judenfeindschaft gemeinsam mit dem Antimarxismus den kleinsten gemeinsamen ideologischen Nenner eines stark fragmentierten bürgerlichen Milieus bildete, das die Christlichsozialen unter ihrer Ägide zu einen versuchten. Der Aufstieg der NSDAP konterkarierte dieses Bestreben ab Ende der 1920er Jahre jedoch zusehends. Die Christlichsozialen versuchten, dem Problem mit jener Strategie zu begegnen, die ein Mitglied des Kabinetts Dollfuß später als »Überhitlerung« 192 Zit. n. Staudinger 1979, 16. 193 Zit. n. Reichspost, 25.12.1918, 1.

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bezeichnen sollte  :194 durch eine Radikalisierung des eigenen Kurses. Vornehmlich bezog sich das auf die Beseitigung der demokratischen Republik und die Ausschaltung der Sozialdemokratie, der Versuch, der nationalsozialistischen Konkurrenz puncto rechter Prinzipientreue keine Angriffsflächen zu bieten, machte sich aber auch in der antisemitischen Propaganda bemerkbar. Die Annahme eines »harmlosen«, fast schon »gemütlichen« christlichsozialen Antisemitismus wird häufig unter Verweis auf die vermeintlich fehlende praktische Ebene und die mehrfachen, demonstrativen Distanzierungen christlichsozialer Politiker vom »Radau-Antisemitismus« argumentiert. Beide Argumente erweisen sich bei näherer Betrachtung als wenig stichhaltig. Wie gezeigt wurde, arbeiteten Christlichsoziale von Kunschak bis Czermak sehr wohl an »praktischen« Lösungsvorschlägen des »Judenproblems«. Beide redeten dabei der Segregation und Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung das Wort (Kunschak im Fall von »Ostjuden« zeitweise auch der Einweisung in Lager195) und ventilierten langfristig die (wie auch immer geartete) Abwanderung derselben. Wie anhand mehrerer einschlägiger Gesetzesinitiativen illustriert wurde, handelte es sich dabei keineswegs um hohle Phrasen, auch, wenn keine der entsprechenden Initiativen Gesetzeskraft erlangten. Die Abgrenzung zu gewalttätigen Formen der Judenfeindschaft ist nicht nur unglaubwürdig, weil Christlichsoziale sehr wohl in antijüdische Ausschreitungen involviert waren und ihre Presse deren Opfer verhöhnte,196 sondern auch und vor allem, weil eben diese Abgrenzung, das Bestehen auf einem »zivilisierten« Ressentiment von je her ein Fixbestandteil antisemitischer Hetze war, dessen sich von der Frontkämpfervereinigung197 bis hin zu den Nationalsozialisten198 auch das gesamte völkische Spektrum bediente. Es war dieses scheinbare Beharren auf zivilisierten Standards, die den Mord als reale Option erst sagbar machte. Dessen war sich auch Leopold Kunschak sehr wohl bewusst. Dass selbst der Horror des Holocaust Kunschaks Judenhass nicht gemildert zu haben schien, beschäftigte zehn Jahre später offensichtlich auch die beiden WJC-Delegierten im bereits zitierten Gespräch. Auf ihre explizite Nachfrage: »Hat ihre Auffassung über den wirtschaftlich-religiösen, über den Antisemitismus überhaupt sich modifiziert  ?« antwortete Präsident Kunschak  : »Meiner Meinung nach, 194 Odo Neustädter Stürmer, zit. n. Goldinger 1980, 204. 195 Vgl. Staudinger 1979, 31. 196 Vgl. Pauley 1993, 124ff. 197 So hieß es im Vortrag eines Jungfrontreferenten »Zur Judenfrage« vom 4.12.1933  : »Wir leben in einer Zeit der Vorherrschaft des Judentums. Die Frontkämpfer wollen mit sittlichem Ernst dagegen ankämpfen. Keine Radau-Antisemiten, aber vernünftige Judengegnerschaft.« Zit. n. Messerer 1963, 80. 198 Vgl. Rupnow 2005, 69, bes. Fußnote 40.

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gibt es heute in Österreich keine Judenfrage mehr. […] Und so muß ich sagen  : mein Antisemitismus ist erledigt […].«199

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Katholischer Antisemitismus im »Christlichen Ständestaat« zwischen theologischen Prämissen und kirchlichem Antimodernismus Das belastete Erbe Anfang der 1930er Jahre blickten Gläubige jüdischer wie christlicher Bekenntnisse auf eine fast zweitausendjährige wechselhafte Beziehungsgeschichte zurück, die in vielen Elementen fortwirkte. Ihr Fundament waren drei theologische Prämissen aus der frühen Christengeschichte, die von dogmatischen Lehrbüchern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts fortgeschrieben wurden  :1 1.  Die Juden hätten die an ihre göttliche Erwählung geknüpften Verheißungen durch ihre Ablehnung und Tötung Jesu verwirkt  ; diese wären nun auf die Kirche als das »Neue Israel« übergegangen. 2.  Durch das Verkennen des Messias und ihre notorische »Verstocktheit« gegenüber dem wahren Glauben seien Juden dauerhaft zu Heimatlosigkeit und Unglück verflucht. 3.  Es sei Gottes Wille, dass Juden als Zeugen der Vergangenheit und in Erwartung ihrer Bekehrung am Ende der Tage durch die Zeiten fortexistierten. Die beiden ersten Prämissen boten eine pessimistische Gesamtdeutung der nachbiblischen Geschichte des Judentums und konnten jederzeit zur Rechtfertigung antijüdischer Maßnahmen dienen. Die letzte Annahme hingegen inkludierte die Existenzberechtigung, ja Bestandsgarantie des Judentums in christlichen Gesellschaften  ; heterodoxen christlichen Gruppierungen wurde eine solche über viele Jahrhunderte hinweg nicht gewährt. Sie wurde allerdings meist an Auflagen zum »Schutz der Christen« geknüpft (z. B. Missionierungs-, Heiratsverbot). Die emotionale Vermittlung dieser Kernthesen eines religiös bestimmten Antijudaismus geschah vor allem in der Liturgie und im hoch emotionalen Brauchtum der Karwoche (Passionsspiele etc.). Ab der Frühen Neuzeit waren sie zudem fester Bestandteil jeder Ausbildung (von der katechetischen Unterweisung der Kinder bis hin zu den Lehrsälen theologischer Fakultäten) sowie einer breiten Palette erbaulicher Literatur. Wie präsent diese Grund1 Vgl. Dexinger 1988.

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sätze noch in der Zwischenkriegszeit waren, belegen Anekdoten von Zeitzeugen wie des in Wien aufgewachsenen Herbert Schrott, den ein Mitschüler mit dem Vorwurf konfrontierte  : »Unser Katechet hat in der Religionsstunde gesagt  : Die Juden sind schuld am Tod des Heilands, sie haben ihn ermordet, und auch du bist schuld daran  !« Abgesehen davon, dass jener nicht wusste, wer mit dem »Heiland« gemeint war, konnte der Vater den Knaben beruhigen, dass kein Mitglied der Familie Schrott diesen getötet habe.2 Die lateinische Kirche des Hochmittelalters reicherte den altkirchlichen Konsens über das Judentum um einige brisante Elemente weiter an. Ausgangspunkt dafür war die von einem Konvertiten im Paris des 13.  Jahrhunderts angezettelte Diskussion um den Talmud. Sie steigerte sich bis zur Folgerung, dass die Juden durch ihn das gemeinsame biblische Erbe verlassen und damit ihre Duldung verwirkt hätten. Dem Talmud wurde unterstellt, die bewusste Schädigung von Christen zu propagieren, als deren schlimmste Formen der Hostienfrevel sowie Ritualmorde an christlichen Kindern galten. Beide Vorwürfe vergifteten fortan immer wieder regionales Zusammenleben von Christen und Juden. Sie flossen in lokale Kulte ein (z. B. um die vermeintlichen Opfer Simon von Trient, Ursula von Lienz und Anderl von Rinn), waren Inhalt zahlreicher polemischer wie pseudowissenschaftlicher Abhandlungen zum Talmud und lieferten in etlichen Ritualmordprozessen bis ins frühe 20. Jahrhundert Erweise ihrer destruktiven Potenz. Spektakuläre Beispiele dafür waren auf dem Gebiet der Donaumonarchie die aufsehenerregende Publikation »Der Talmudjude« des Prager katholischen Alttestamentlers August Rohling 1871 sowie Ritualmordprozesse 1882 im ungarischen Tiszaeszlár, 1899 im böhmischen Polná und 1903 im galizischen Zablotow.3 Vom traditionellen Antijudaismus religiösen Zuschnitts unterscheidet man mit guten Gründen einen modernen Antisemitismus, der seine Motive überwiegend aus anderen Diskursen bezog. Abgesehen von den stets aktualisierbaren Vorwürfen wirtschaftlicher Übervorteilung speiste er sich bevorzugt aus Rassenlehren, die bei nicht wenigen Intellektuellen seit der Aufklärung hoch im Kurs standen. Ihre Bandbreite reichte von esoterisch-verschwörungstheoretischen Konzepten bis hin zu vorgeblich wissenschaftlichen Expertisen der Feldforschung bzw. des Vermessens und Experimentierens. Als genetisch fundierte »Erblehren« fanden sie schließlich Eingang in die Wissenschaftstempel der Zeit. Richtet man das Augenmerk auf die dezidiert-kirchlichen Milieus des 19. und 20.  Jahrhunderts4 (katholisch wie protestantisch), so 2 Rubin-Bittmann 2016. 3 Klieber 2010a, 26  ; allgemein zum christlich argumentierenden Antisemitismus  : Herzog 1997. 4 Zur Unterscheidung der Intensitätsstufen von Gläubigkeit  : Klieber 2010b.

Katholischer Antisemitismus im »Christlichen Ständestaat«

wird man noch eine besondere Spielart des modernen Antisemitismus konstatieren können. Urs Altermatt nannte ihn »Kulturalismus«,5 bündiger kann er wohl als »Kultur-Antisemitismus« bezeichnet werden. Was waren seine typischen Merkmale  ? Den gesellschaftlichen Hintergrund dafür bildete der atemberaubend rasche Emanzipationsprozess des europäischen Judentums nach 1848 bzw. der radikale Wandel jüdischen Lebens und seiner Präsenz in den (Groß-)Städten mittel- und westeuropäischer Staaten. Max Rosenfeld sprach in diesem Zusammenhang 1918 von einer »Revolution, wie sie kein Volk gesehen hat.«6 Wer um 1860 geboren wurde und um 1940 verstarb, erlebte innerhalb eines Lebensalters etwa die Zunahme der jüdischen Bevölkerung Wiens von rund 10.000 (1860) auf knapp 200.000 Personen sowie den rasanten Aufstieg jüdischer Persönlichkeiten und Familien aus dem gesellschaftlichen Abseits in die höchsten Sphären der nationalen Gesellschaften durch wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Erfolg. Damit einher ging eine bisher nicht gekannte Bandbreite im Umgang mit dem jüdischen religiösen Erbe, das von traditioneller strenggläubiger Abkapselung über ein Kulturjudentum nach protestantischem Muster bis hin zu faktisch areligiösen assimilierten Milieus reichte. Sehr viel mehr als ihre christlichen ZeitgenossInnen, denen konventionelle Formen der Kirchlichkeit wenig abverlangten, waren Frauen und Männer dieser neuen stadt-jüdischen Lebenswelten ständig zur Abwägung gezwungen, welche Teile der zahlreichen tradierten Vorschriften sie noch einzuhalten bereit waren. Zum Schrecken von geistlichen Kommentatoren der Zeit lebten weite Teile des assimilierten Judentums damit erstmals quasi im Großversuch und sichtbar ein »modernes Leben ohne Religion« vor  ; die frei gewordenen religiösen Energien schienen augenscheinlich in eine ausnehmend intensive Anteilnahme am Kunstschaffen der Zeit sowie in liberale bzw. später in sozialistische politische Konzepte zu fließen. Diese Prozesse ließen das Judentum der Zeit gleichsam zum »Versuchslabor« und »Druckkessel der Moderne« werden, was den Betroffenen und ihrer Umgebung enorme Energien abverlangte, aber auch kreative wie destruktive Kräfte freisetzte. Der Kultur-Antisemitismus reagierte auf eben diese Entwicklung und verweigerte den assimilierten jüdischen Kreisen, ja selbst getauften Juden, die Inklusion in die eigene »Wir-Definition«7 – im Gegenteil  : Insofern diese sich überwiegend dem »Freisinn« verschrieben und als Vorhut liberaler, kirchen- und religionsfeindlicher Strömungen galten, erachtete man sie für gefährlicher als die traditionell-gläubige Judenschaft, der man nun vermehrt Sympathien entgegenbrachte. 5 Altermatt 1999a, 306f. 6 Rosenfeld 1918, 16, zit. n. Klieber 2010a, 28. 7 Fellner 1979, 217, bezeichnet die Dissoziation als »Kehrseite der Aggression«  ; diese kann vielleicht treffender als Voraussetzung jeder Sonderbehandlung und Verfolgung bezeichnet werden.

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Der Kultur-Antisemitismus bündelte die Ängste von kleinbürgerlich-wirtschaftlichen Modernisierungsverlierern und ihre Kritik an der modernen Gesellschaft ebenso wie kirchliche Ablehnung des »Modernismus« im Sinne eines religions- und kirchenkritischen Zeitgeists. In den Händen von »Juden oder verjudeter Christen« konstatierte man vor allem liberale Zeitungen  ; wirtschaftliche und soziale Missstände wurden als Ausfluss »jüdischer Wuchergesinnung« interpretiert. Man kritisierte »jüdischen« Zwischenhandel von Agrarprodukten, »jüdische« Ramschkonkurrenz für einheimische Kaufleute, den überproportionalen Anteil von Juden in akademischen Berufen, ebenso aber in der religionsfeindlichen Sozialdemokratie u. a.m. Damit personalisierte der Kultur-Antisemitismus die gleichzeitige Gegnerschaft zu Kapitalismus und Sozialismus, die beide von Juden geprägt seien und zum Schaden der christlichen Völker gereichten. Konservativ-kirchliche Sicht schrieb vermeintliche oder tatsächlich abträgliche Folgen der Säkularisierung für Religion und Kirche spezifischen Gruppen zu, unter denen das Judentum die am einfachsten identifizierbare war, wie am Beispiel einer Ansprache von Papst Leo XIII. († 1903) an österreichische Lehrer im Jubeljahr 1900 in Rom gezeigt werden kann  : Österreich brauche katholische Lehrer, »da die Juden, Freimaurer, Ungläubigen und Indifferenten, die Feinde jeglicher Ordnung, sich der Herrschaft bemächtigt haben und ihr ganzes Streben darauf richten, in Familie, Schule und Staat die wahre Religion zum Falle zu bringen, sie aus den Herzen der Jugend und des gesamten Volkes zu reißen.«8 Die auf höchst unterschiedlichem Niveau über Jahrzehnte hinweg geführte Diskussion zum Antisemitismus gerann im Bereich der katholischen Kirche bis zum Ersten Weltkrieg zu offiziellen Positionen, die Eingang in Handbücher und Lexika fanden (z. B. die »Catholic Encyclopedia« von 1910) und damit verbindliche Orientierung boten. Kern der Argumentation war die Unterscheidung eines den Katholiken verbotenen rassischen von einem staatspolitisch legitimen und gebotenen Antisemitismus. Eine gleichsam klassische Formulierung dafür fand der Eintrag »Antisemitismus« des Jesuiten Gustav Gundlach im Lexikon für Theologie und Kirche von 1930  : »Die erste Richtung des A. ist unchristlich, weil es gegen die Nächstenliebe ist, Menschen allein wegen der Andersartigkeit ihres Volkstums, also nicht ihrer Taten, zu bekämpfen. Auch wendet sich diese Richtung notwendig gegen das Christentum wegen seines innern Zusammenhangs mit der Religion des von Gott einst auserwählten jüd. Volkes. Die zweite Richtung des A. ist erlaubt, sobald sie tatsächlich-schädlichen Einfluss des jüd. Volkteils auf den Gebieten des Wirtschafts- u. Parteiwesens, des Theaters, Kinos u. der Presse, der Wissenschaft u. Kunst (liberal-libertinistische Tendenzen) mit sittl.

8 Zit. n. Salzburger Chronik, 7.12.1900,1.

Katholischer Antisemitismus im »Christlichen Ständestaat«

u. rechtl. Mitteln bekämpft. Ausgeschlossen sind Ausnahmegesetze gegen jüd. Staatsbürger als Juden, u. zwar vom Standpunkt des modernen Rechtsstaats.«9 Durch die volkskirchlich unscharfen Ränder des großen katholischen Gesellschaftssegments kam es im großen alten wie im kleinen neuen Österreich naturgemäß stets zu diffusen Verschränkungen aller genannten Spielarten der Judenfeindschaft. Wie in anderen Ländern lenkten auch hier die konkreten sozialen und gesellschaftspolitischen Konstellationen den antisemitischen Diskurs in spezifische Richtungen. Während der Kultur-Antisemitismus im Deutschen Reich eher im nationalprotestantisch-kirchlichen Lager blühte, pflegte ihn im alten und neuen Österreich primär das katholisch-politische Milieu, das sich zur Jahrhundertwende in der christlichsozialen Bewegung nicht zuletzt mittels eines populistischen Antisemitismus neu geformt hatte. Das protestantische Segment der Gesellschaft hingegen öffnete sich hier weit den deutschnationalen Idealen und ihren häufig vorbehaltlosen rassistischen Ressentiments gegen Juden. Andererseits instrumentalisierten in Österreich die politischen Kontrahenten nationaler wie linker Provenienz stärker als anderswo und in frappant ähnlicher Weise den Antiklerikalismus zur exzessiv eingesetzten politischen Waffe (der Klerus als »schwarze Internationale«, welche die Völker verdirbt und verdummt). Eine idealtypisch-saubere Zuweisung antisemitischer Äußerungen der Zeit auf eine der genannten Spielarten der Judenfeindschaft ist somit kaum möglich  ; sie sind wohl auch im Alltag der Zeit und ihren Akteuren unentwirrbar ineinandergeflossen. Ausgegangen kann wohl davon werden, dass offizielle kirchliche Stellungnahmen (wie Hirtenbriefe, moraltheologische Expertisen) den festgelegten eigenen Sprachregelungen folgten. Sehr viel weniger schon hielten sich die kirchlichen oder kirchennahen Medien bzw. katholische Intellektuelle (Geistliche wie Laien) daran und überschritten zuweilen deutlich die kirchlich gesteckten Grenzen.10 Zu den herkömmlichen Vorwürfen der veröffentlichten katholischen Meinung über das Judentum gesellte sich in den 1920/30er Jahren der Vorwurf, dass die »jüdisch-liberale Presse« sowohl die antireligiösen Gräueltaten des Bolschewismus im Russland nach 1917 als auch die brutale Verfolgung der Kirche durch die Regierungen in Mexiko und Spanien totschweige.11 Dass dies nicht ohne Folgen blieb, zeigt eine Sondierung des Breslauer Erzbischofs Adolf Bertram († 1945) unter den Metropoliten Deutschlands zur Frage, ob kirchlicherseits gegen die antijüdischen Maßnahmen des NS-Regimes (Boykott vom 1. April 1933) protestiert werden sollte. Seinen drei Argumenten dagegen fügte er als Apropos an  : »Daß die überwiegend in jüdischen  9 Gundlach 1930, 504–505  ; vgl. Altermatt 1999a, 100–108. 10 Vgl. Hannot 1990  ; Malinka 1997  ; Mraz 1974. 11 Klieber 2002, 335.

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Händen befindliche Presse gegenüber den Katholikenverfolgungen in verschiedenen Ländern durchwegs Schweigen beobachtet hat, sei nur nebenbei berührt.«12 Auf der anderen Seite führte die brutale Unterdrückung aller Religionen im bolschewistischen Russland zu ersten gemeinsamen Auftritten von Vertretern unterschiedlicher Konfessionen, die sich mit ihren verfolgten russischen Glaubensgeschwistern solidarisierten. Eine in dieser Form noch wenige Jahre zuvor wohl undenkbare derartige Manifestation fand am 30. März 1930 in Wien statt. Ein Komitee unter Leitung des griechisch-katholischen Wiener Pfarrers Miron Hornykewitsch hatte für diesen Tag eine »Interkonfessionelle Kundgebung für die Glaubens- und Gewissensfreiheit in den Sowjetrepubliken« organisiert, die in der Presse und mittels Flugzetteln vor Wiener Gotteshäusern beworben wurde. Den Auftakt bildete ein in der Karlskirche zelebrierter Gottesdienst, zu dessen Abschluss Nuntius Enrico Sibilia (in Wien 1922 bis 1936) den Apostolischen Segen erteilte. Zur Protestversammlung im Kurhaus mit polizeilich geschätzten ca. 1.000 Personen traten Redner verschiedener Konfessionen ans Pult. Neben Minister a.D. Richard Schmitz für die Katholiken und Dozent Dr. Hans Koch namens der Protestanten waren dies der Rabbiner Dr. Israel Taglicht und Vertreter der russisch- und ukrainisch-orthodoxen sowie griechisch-katholischen Kirchen. Die Versammlung endete mit der Verabschiedung einer Resolution zugunsten der verfolgten Gläubigen Russlands sowie dem Aufruf an die »Gläubigen aller Konfessionen […], ihrer schwer heimgesuchten Brüder in der Sowjetunion betend zu gedenken«.13 Wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen unterlag auch der Antisemitismus in den heimischen katholisch-kirchlichen Milieus gewissen Konjunkturen und wurde im Gefolge veränderter Umstände stärker hervorgekehrt oder in den Hintergrund gedrängt. Erika Weinzierl sieht Hochkonjunkturen in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg sowie ein Zwischenhoch um 1926/27, als antisemitische Klauseln ins christlichsoziale Parteiprogramm geschrieben wurden und sich in Hirtenbriefe österreichischer Bischöfe verirrten.14 Wenig verwunderlich ist auch, dass das Problem in Wien virulenter war als in der Provinz, die mit der »jüdischen Frage« fast nur theologisch bzw. ideologisch konfrontiert war und Betroffene meist nur als Sommerfrischler wahrnahm. Allerdings zeigen Studien für einzelne Regionen sowie den studentisch-akademischen Bereich, dass ein geradezu pathologischer Hass auf Juden 12 Zit. n. Weinzierl 1988, 236. 13 Bundeskanzleramt (BKA) 26.388  : Bericht der Bundes-Polizeidirektion in Wien an das Bundeskanzleramt über die Interkonfessionelle Kundgebung für die Glaubens- und Gewissensfreiheit in den Sowjetrepubliken, Zl.IV-1111/30, Wien 31.3.1930, Folio 211–214, Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Neues Politisches Archiv (NPA), Kt. 667, Liasse Russland 3/2. 14 Weinzierl 1997.

Katholischer Antisemitismus im »Christlichen Ständestaat«

auch dort zelebriert werden konnte, wo sie praktisch nicht präsent waren (z. B. Tirol bzw. an der Universität Innsbruck).15 Gestellt werden muss die Frage, ob bzw. inwieweit Kirchenleute mit dem zunehmenden Radau-Antisemitismus der Nationalsozialisten ab Ende der 1920er Jahre bzw. den ersten antijüdischen Maßnahmen im Deutschen Reich nach der »Machtergreifung« Hitlers von diesem abrückten  ? Einer der ersten, der mit Randalen neuer Qualität konfrontiert wurde, war der Neutestamentler Theodor Innitzer als Rektor der Universität Wien. 1928 untersagte er eine Kranzniederlegung am Gefallenendenkmal (»Siegfriedkopf«) in der Aula der Universität, bei der u. a. Ernst Röhm des Hitler-Putsches von 1923 gedenken wollte. 1929 verbot er nach antisemitischen Ausschreitungen das Tragen des Braunhemds, woraufhin er als »Handlanger des jüdischen Terrors« beschimpft wurde. 1930 drohte er damit, die Universität für ein Jahr zu sperren, falls nur ein jüdischer Student zu Schaden käme.16 Da der politische Katholizismus sowie etliche soziale und berufliche Großgruppen des Ständestaates im vorliegenden Sammelband Gegenstand separater Untersuchungen sind, konzentriert sich dieser Beitrag nun auf den »amtskirchlichen« Bereich, respektive das offizielle und offiziöse Agieren ausgewiesener Vertreter der römisch-katholischen Kirche des Landes.

Der kirchliche Antisemitismus in »Neu-Österreich« 1934 bis 1938 Urs Altermatt hat in einer gründlichen Studie über den Antisemitismus im kirchlichen Bereich nach 1933 in der Schweiz eine große Bandbreite an Positionen konstatiert, die teilweise deutlich über die dargelegten lehramtlichen Vorgaben hinausgingen. Zugleich registrierte er eine mit den nationalsozialistischen Gräueln in Deutschland zunehmende »Nachdenklichkeit« im kirchlichen Bereich.17 Trifft dieser Befund auch für Österreich zu  ? Aussagen zum Antisemitismus bzw. über Äußerungen zum Judentum im enger definierten kirchlichen Bereich finden sich seit Jahrzehnten in zahlreichen regionalen wie überregionalen Studien.18 Vor allem Erika Weinzierl hat sich dem Themenkomplex wiederholt ausführlich gewidmet.19 Die Studien bestätigen auch für Österreich 15 Vgl. Gehler 1988/1989  ; Hofinger 1994. 16 Klieber 2015a, 415. 17 Altermatt 1999a, 225–242. 18 Maderegger 1973  ; Fellner 1979  ; Hofinger 1994. 19 Weinzierl 1967/1988/1997.

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eine große Streuung der Ansichten im kirchlichen Bereich. Die Bandbreite umfasste Zeitschriften wie die von Joseph Eberle herausgegebene »Schönere Zukunft« sowie geistliche Kommentatoren wie die stramm rechtskonservativen Jesuiten Georg Bichlmair († 1953) oder Bela Bangha († 1940) auf der einen Seite, die dem Judentum bis hinein in den religiösen Bereich »Erblasten« unterstellten (gleichsam als zusätzliche Erbsünde) oder gar schädigende Wirkungen zuschrieben.20 Am anderen Ende der Palette befanden sich katholische Intellektuelle wie Dieter von Hildebrand (Herausgeber der Zeitschrift »Der christliche Ständestaat«) oder Priestergelehrte wie Alois Mager OSB in Salzburg und Johannes Österreicher in Wien, Herausgeber der Zeitschrift »Die Erfüllung« und Leiter des 1935 mit ausdrücklicher Unterstützung von Erzbischof Innitzer gegründeten Paulus-Werks, das auf Basis der Wertschätzung für das Judentum dieses für das Christentum gewinnen wollte.21 Sie bekämpften den Antisemitismus aus religiöser Überzeugung und vollzogen dabei einen Schwenk mit, der unverkennbar unter Pius XI. eingesetzt hatte und zur Revision der traditionellen theologischen Positionen zum Judentum in der katholischen Kirche führen sollte. Stärkste Lobby dafür war weltweit ein 1926 ins Leben gerufener innerkirchlicher Zusammenschluss der sogenannten Amici Israel, dem bald rund 3.000 Priester, mehr als 300 Bischöfe und 19 Kardinäle angehörten.22 Dabei wurden nicht zuletzt in Österreich ansatzweise bereits jene neuen theologischen Orientierungen vorformuliert, die zuletzt in die revolutionäre Neudeutung des Verhältnisses von Judentum und katholischer Kirche durch das Zweite Vatikanische Konzil einmündeten.23 Dessen ungeachtet war dieser Teil des katholischen Spektrums in den betreffenden Jahren zweifellos klar in der Minderheit. Für Hildebrand und Österreicher bildete zudem die eigene jüdische Herkunft ein Handicap, da ihnen Gegner damit leicht eine Argumentation pro domo unterstellen konnten. Hermann Greive hat bereits 1969 herausgearbeitet, dass der Antisemitismus im katholisch-kirchlichen Österreich der Zwischenkriegszeit anders als in Deutschland durchgehend und sehr viel ungenierter die Stimme erhob und sich hier auch Bischöfe (Ferdinand Pawlikowski/Graz-Seckau, Sigismund Waitz/Innsbruck, Johannes Gföllner/Linz) expliziter äußerten als ihre Amtsbrüder im Reich.24 Das illustriert 20 Bangha 1934. Bangha war einer der einflussreichsten und prägendsten Gestalten des ungarischen Katholizismus der Zwischenkriegszeit und einer der Hauptorganisatoren der ungarischen Katholischen Aktion. 21 Zu Mager siehe  : Fellner 1979, 218–220  ; zu Österreicher  : Fenzl 2003  ; Thoma 2004  ; Lauritsch 1997. 22 Zur Gruppierung siehe Wolf 2004 und Wolf 2008, 95–143. 23 Maderegger 1973, 144–149  ; vgl. Connelly 2012. 24 Greive 1969, 117–126.

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eindrucksvoll ein Hirtenbrief des altkonservativen und an der Kurie hoch angesehenen Linzer Oberhirten Gföllner vom Jänner 1933, der exemplarisch der skizzierten Argumentationslinie des katholischen Kultur-Antisemitismus folgt, die Gewichte aber ungleich verteilt. Auf einige Sätze, die einen rassisch definierten Antisemitismus als »völlig unvereinbar« mit dem Christentum brandmarken und festhalten, dass kein wahrer Katholik wirklicher Nationalsozialist sein könne, folgen ausführliche Passagen zur Rechtfertigung eines »geistig-ethischen« Antisemitismus der Tat  : »Das entartete Judentum im Bunde mit der Weltfreimaurerei ist auch vorwiegend Träger des mammonistischen Kapitalismus und vorwiegend Begründer und Apostel des Sozialismus und Kommunismus, der Vorboten und Schrittmacher des Bolschewismus. Diesen schädlichen Einfluß des Judentums zu bekämpfen und zu brechen, ist nicht nur gutes Recht, sondern strenge Gewissenspflicht eines jeden überzeugten Christen, und es wäre nur zu wünschen, daß auf arischer und auf christlicher Seite diese Gefahren und Schädigungen durch den jüdischen Geist noch mehr gewürdigt, noch nachhaltiger bekämpft und nicht, offen oder versteckt, gar nachgeahmt und gefördert würden. […] die moderne Zeit braucht zwar die Juden nicht des Landes zu verweisen, sollte aber in der Gesetzgebung und Verwaltung einen starken Damm aufrichten gegen all den geistigen Unrat und die unsittliche Schlammflut, die vorwiegend vom Judentum aus die Welt zu überschwemmen drohen.«25 Im Unterschied dazu kam der ebenfalls von Gföllner redigierte gemeinsame Hirtenbrief der österreichischen Bischöfe zu Weihnachten 1933 ohne relativierende Einschränkungen der kirchlichen Position aus  : »Darum verurteilen Wir den nationalsozialistischen Rassenwahn, der zum Rassenhaß und zu Völkerkonflikten führt, ja führen muß.«26 Ähnlich wie Altermatt für die Schweiz kommt ein Aufsatz Markus Lehners zum Schluss, dass ab dem Nationalsozialismus »in power« die katholischen Stimmen des Antisemitismus leiser wurden. Basis seiner Aussagen war jedoch allein die Auswertung der hochkirchlichen, in Linz produzierten »Theologisch-praktischen Quartalschrift«. Das führt zu einem Kernproblem vieler bisheriger Studien zum Themenfeld. Sie referieren zum überwiegenden Teil veröffentlichte »Schreibtisch-Positionen« katholischer Intellektueller, deren Rezeption in der gläubigen Basis, geschweige denn in der formell überwiegend katholischen Bevölkerung faktisch nicht überprüft werden kann. Angesichts einer hochinflationären zeitgenössischen Produktion an weltanschaulichen Papieren muss die Reichweite von Zeitschriftenbeiträgen wohl als eher gering eingeschätzt werden. Offizielle kirchliche Stellungnahmen wie Hirtenbriefe hatten 25 Zit. n. Greive 1969, 221. 26 Zit. n. Weinzierl 1988, 243.

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zumindest eine definierte breitere Hörer- oder Leserschaft (den Klerus einer Diözese oder die bei der Verlesung im Gottesdienst Anwesenden). Näher an der gläubigen Basis ist vermutlich eine Untersuchung zu antisemitischen Aussagen in den Pfarrblättern Wiens der 1930er Jahre von Nina Scholz. Basis ihrer Analyse sind knapp 1.749 Ausgaben solcher Blätter aus 25 Pfarren. In durchschnittlich jeder zehnten Ausgabe (= 179) fand sie Beiträge mit antisemitischen Konnotationen (exakt 201 Artikel)  ; vier Pfarren publizierten keinen einzigen solchen Inhalts. Fast die Hälfte der betroffenen Artikel (= 41 Prozent) argumentierten wirtschaftlich, 37 Prozent von ihnen erwähnten die bekannten religiös-theologischen Vorbehalte. Im engeren Sinn als rassistisch hat die Autorin vier Prozent der einschlägigen Aussagen gewertet. Höhepunkte antisemitischer Aufwallung waren demnach die Jahre 1934 sowie 1937/38.27 Ambitioniert war der Versuch der Zeithistorikerin Weinzierl von 1979, mittels 2.800 an alle damals über 60-jährigen Welt- und Ordensgeistlichen verschickten Fragebögen deren Einstellung zur Problematik in fraglicher Zeit zu erheben. Wiewohl das Unternehmen nicht den professionellen Standards statistischer Erhebung entsprach, erbrachte es aufschlussreiche Ergebnisse. Der Rücklauf betrug 282 Bögen (die meisten aus den Diözesen Wien und Linz). Die Frage der Haltung der Katholiken gegenüber den Juden vor dem März 1938 beurteilten 39 als »positiv«, 75 als »indifferent« (z. B. »wenig Berührung«) und 132 als »ablehnend«. Begründet wurde letzteres vor allem mit den Gründen, die auch Bischof Gföllner im Hirtenbrief angeführt hatte (wirtschaftliche Übervorteilung, moralisch-zersetzender Einfluss). Eine Zusendung brachte die wohl typische Haltung auf den Punkt  : »Die meisten waren, wie ich selbst, Antisemiten, aber natürlich weit von dem Judenhaß der Nazis entfernt«.28 Beide Untersuchungen erlauben den Schluss, dass sich der niedere Klerus grosso modo an die kirchlichen Vorgaben hielt und über religiöse Überzeugungen hinaus überwiegend nur einen vermeintlich schädlichen jüdischen Einfluss in wirtschaftlich-weltanschaulicher Hinsicht anprangerte. Bei allen genannten Studien fällt auf, dass der antisemitische Diskurs offensichtlich in höchstem Maße ein männlicher Diskurs war  ; katholische Frauen bzw. Frauenorganisationen als Vorreiterinnen für denselben konnte der Autor nicht ausmachen. Umgekehrt aber taten sich einige Frauenstimmen im Abwehrkampf gegen den pathologischen Judenhass beispielhaft hervor. Die bekannteste unter ihnen war die engagierte Katholikin Irene Harand und ihre Streitschrift »Sein Kampf« bzw. die sogenannte Harand-Bewegung und ihr Organ »Gerechtigkeit«.29 Weinzierl erwähnt 27 Scholz 2002. 28 Weinzierl 1997, 112–114. 29 Harand 1935  ; vgl. Klösch 2004  ; Klösch 2007.

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den Protestbrief einer anonymen Wienerin aus dem Jahr 1931 an den NS-Gauleiter Alfred Frauenfeld, worin diese konstatierte, dass gewiss ein »Neger«, der die Lehren der Bergpredigt begriffen habe, dem Herzen Gottes näher liege »als der stramme Hakenkreuzler, der mit dem Gummiknüppel gegen einen Juden losgeht und dadurch eines der größten Gebote übertritt.«30

Der österreichische Einfluss auf Positionen der römischen Kirchenzentrale Der bisher dargelegte historiographische Befund ist seit geraumer Zeit bekannt. Neue Erkenntnisse ermöglicht indes seit einigen Jahren die Öffnung der Archivbestände zum Pontifikat Pius’ XI. (1922–39), die bisher unbekannte Materialien zu einzelnen Facetten des Themenfeldes zugänglich gemacht hat. Ihre Auswertung ist Teil des vom Autor geleiteten Forschungsprojekts »Pius XI. und Österreich«.31 Erste Ergebnisse betreffen Einschätzungen und Einflussnahmen der römischen Kirchenzentrale betreffend die Erste Republik sowie österreichische Beiträge zur innerkirchlichen Rassendebatte und ihre Rückwirkungen auf den heimischen Katholizismus. Mit dem Siegeszug der NS-Ideologie sah sich der Heilige Stuhl herausgefordert, seinerseits eine angemessene Position zur sich wissenschaftlich gerierenden NS-Rassenlehre und ihrer Propaganda zu finden. Im Fokus standen Publikationen des NS-Ideologen Alfred Rosenberg, der bekanntlich programmatisch eine Ablöse des »verjudeten« Christentums durch ein auf dem Rassegedanken aufbauendes modernes Weltbild forderte. Archivrecherchen des am Projekt beteiligten Wiener Ethnologen Peter Rohrbacher haben gezeigt, dass einige österreichische bzw. in Österreich tätige deutsche Kirchenmänner bei der Formulierung kurialer Gegenpositionen eine Rolle spielten, allen voran der hauptsächlich von der österreichischen Ordenszentrale in Mödling aus wirkende Steyler Missionar und Ethnologe Wilhelm Schmidt († 1954).32 Die Bestände erlauben auch einen differenzierteren Blick auf den steirisch-stämmigen Rektor des österreichisch-deutschen Priesterkollegs Santa Maria della Anima in Rom, Bischof Alois Hudal († 1963), der in die einschlägige Literatur als prominentes Beispiel eines sogenannten Brückenbauers (i.e. Befürworters einer Verständigung zwi30 Weinzierl 1997, 112. 31 Zum Projekt siehe Homepage  : piusxi.univie.ac.at. 32 Dem Autor verdankt Peter Rohrbacher zahlreiche Hinweise  ; ihm liegt bereits auch sein Manuskript zum Ergebnisband des Forschungsprojekts vor  : Österreichs Missionsexperten als kuriale Ratgeber für die »Rassendiskussion« (im Druck).

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schen Katholizismus und Nationalsozialismus) eingegangen ist. Sie lassen erkennen, wie sehr Positionen maßgeblicher Wortführer der Zeit einer Entwicklung unterlagen bzw. Ehrgeiz und geistige Wendigkeit zu merklichen Verschiebungen der Ansichten führen konnten. Der rührige Prälat Hudal hatte demnach in den Umbruchsjahren 1933/34 als Konsultor des Heiligen Offiziums noch entschiedener als die österreichischen Bischöfe auf eine klare kirchliche Verurteilung von NS-Positionen gedrängt. Sein Gutachten an die Kurie im Oktober 1933 gipfelte in eindringlichen Appellen an die Verantwortlichen  : »Solcherart fühle ich mich durch mein Gewissen gezwungen, als unumgänglich und eine heilige Pflicht vorzuschlagen, dass der Hl. Stuhl so schnell wie möglich feierlich die fundamentalen Irrtümer des NS verurteile noch bevor der Episkopat einen Hirtenbrief über heidnische und christliche Formen des Nationalismus publiziert. Solche Irrtümer, die echte Häresien und eine Pest für die Zivilisation sind und die in höchstmöglich feierlicher Form verurteilt gehören, sind [zum Beispiel]  : Die Lehre vom Vorrang und der absoluten Überlegenheit der arischen Rasse vor allen anderen, von der Rasse überhaupt und dem Mythos des Blutes sowie von der Nationalisierung der Religion  ; die Trennung des Alten vom Neuen Testaments – fundamentaler Irrtum dieser Partei  ; der (radikale) Antisemitismus voller Unrechtsakte und barbarischen Aktionen gegen viele Juden  ; die Anschauung, dass die christliche Religion durch den Judaismus verfälscht worden sei etc.; der absolute Vorrang des Staates etc. […]. Ohne eine feierliche Verurteilung dieser fundamentalen Irrtümer vonseiten des Hl. Stuhles vor der gesamten Welt, die mit großer Befriedigung sehen wird, dass die höchste moralische Autorität den Mut hat, alles zu verurteilen, was ihren gesunden Grundsätzen widerspricht, wird ein neues Hirtenschreiben der Bischöfe nicht nur überflüssig sondern direkt schädlich für die katholische Religion in Österreich sein. Die Verwirrung würde nur weiter steigen.«33 Auf Hudals Betreiben landete Rosenbergs Hauptschrift »Der Mythus des 20. Jahrhunderts« 1934 auf dem Index verbotener Bücher. Unter dem unheilvollen Einfluss des deutschen Botschafters in Wien, Franz von Papen, und vermutlich auch im Blick auf die zunehmende Etablierung des NS-Regimes in Deutschland änderte der ehrgeizige Bischof die Stoßrichtung seiner zahlreichen Publikationen und entwickelte eine ambitionierte Sendung zur »Versöhnung« von katholischer Kirche und Nationalsozialismus.34 33 Eigene Übersetzung  ; Original-Gutachten auf Italienisch in  : AA.EE.SS., Austria  – Ungheria, Anno 1933–1937, Position (Pos.) 883, Faszikel (Fasc.) 44, Folio (fol.) 32–33v  ; wiedergegeben auch in Klieber 2015b. 34 Klieber 2015b.

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Parallele Studien des deutschen Kirchenhistorikers Hubert Wolf haben nachgewiesen, dass an der Kurie in Rom tatsächlich eine Enzyklika zu den Themenfeldern »Rassismus«, »Naturalismus«, »Totalitarismus« und »Kommunismus« geplant und vorbereitet wurde. Ein Entwurf benannte fundamentale Widersprüche der Rassenlehre zum christlichen Weltbild  ; unter 26 speziell verurteilten Thesen befanden sich zehn Aussagen zur Rassenfrage, die meisten von ihnen Hitler-Zitate. Aus bislang unbekannten Gründen wurden diese Arbeiten im Herbst 1936 jedoch auf unbestimmte Zeit vertagt (»dilata sine die«). Als weitere »unterschlagene Enzyklika« werden Vorarbeiten von 1938 unter dem Titel »Humani generis unitas« gewertet. Stattdessen erschienen 1937 bekanntlich zwei separate päpstliche Lehrschreiben. Die eine wandte sich gegen den Kommunismus  ; die in Deutsch verfasste Enzyklika »Mit brennender Sorge« beklagte nun primär »Angriffe auf Christus und seine Kirche«, respektive die vielen Rechtsverletzungen gegenüber der Kirche im NS-Staat. In einigen Passagen enthielt sie aber auch Absagen an die NS-Rassenlehre  : »Die Gebote Gottes gelten […] unabhängig von Zeit und Raum, Land und Rasse. So wie Gottes Sonne über allem leuchtet, was Menschenantlitz trägt, so kennt auch sein Gesetz keine Vorrechte und Ausnahmen.«35 In höherem Maße als Hudal dürfte der Ordensmann Schmidt die kuriale Linie zur Rassenfrage beeinflusst haben. Er gehörte mit Michael Schulien († 1968) zu den Pionieren der wissenschaftlichen Ethnologie und Religionswissenschaft an den Universitäten in Deutschland und Österreich. Die Kurie erachtete sie daher als kompetente Ratgeber für die immer brisanter werdende Rassendiskussion. Schmidt kuratierte im Auftrag Pius XI. eine große Missionsausstellung zum Heiligen Jahr 1925 und wurde dabei mit dem Papst näher bekannt. Die Ausstellungsobjekte wurden 1926 Kernbestand eines neuen ethnologischen Museums, als dessen Direktor Schmidt bis 1939 amtierte. Dieser entwickelte ab 1926 eine sogenannte Kulturkreislehre, die ihrerseits zwar ebenfalls rassisch argumentierte, sich aber dezidiert als Gegenposition zur NS-Rassendoktrin verstand. Als Hauptwerk dazu erschien 1927 »Rasse und Volk«, das überarbeitet erneut 1935 im Salzburger Pustet-Verlag herausgegeben wurde.36 Für seine hohe Wertschätzung im Episkopat wie an der Kurie spricht, dass Schmidt sowohl für Katholische Universitäten im chinesischen Taipeh als auch in Salzburg als Rektor vorgesehen war. Welche Gratwanderung seine Theorien wagten, zeigte sich in einem großen Auftritt vor 200 Priestern und Laien aus ganz Österreich im Rahmen einer sogenannten Führertagung der Katholischen Aktion in Wien im Dezember 1933, i.e. einer Vollversammlung der Aktivisten des heimischen Katholizismus. Laut 35 Wolf 2008, 230–239  ; Huemer 1997. 36 Vgl. Mischek 2008.

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Bericht der »Reichspost« bündelte Schmidt im Bericht aus der »Arbeitsgemeinschaft Volk« zuletzt die im kirchlichen Denken präsenten Ideologeme theologischer, weltanschaulicher und wirtschaftlicher Natur und stellte sie in Beziehung zu aktuellen Thesen der Rassendiskussion. Dabei warnte er, den Rassebegriff zur Grundlage des »Staatsbegriffs« oder von »Weltanschauungen« zu machen  ; eine durch »Züchtung« begünstigte »nordische Rasse« sei empirisch nicht nachweisbar. Dennoch betrachtete die »Arbeitsgemeinschaft« eine Lösung der Judenfrage in Österreich für unumgänglich, weil sie sonst »später in gewaltsamer Weise gefällt würde, die weder dem österreichischen noch dem jüdischen Volke günstig wäre«. Man begrüßte die Initiative des ehemaligen Ministers und letzten Vorsitzenden der christlichsozialen Partei, Emmerich Czermak, für eine »einvernehmliche Lösung«. Auch »die andere Seite« müsse die Unhaltbarkeit der Zustände einsehen  : »das übermäßige Eindringen der Juden in den Mittelschulen, Universitäten, in den Beruf der Ärzte und Advokaten kann nicht ertragen werden, weil unsere jungen Leute ihr Brot finden und eine Familie gründen wollen. Die österreichische Jugend […] findet viele Berufe in unverhältnismäßig hohem Maße von Juden besetzt und sieht das radikale Beispiel des Dritten Reiches in der Behandlung der Judenfrage vor Augen. Der jüdische Einfluss auf Kino, Theater und Presse ist im Verhältnis zur jüdischen Bevölkerungszahl übermächtig.«37 Czermak hatte in einer programmatischen Schrift für eine Lösung im Sinne des jüdischen Nationalismus durch Auswanderung nach Palästina plädiert. In einem Brief an Oskar Karbach, dem Wortführer der Zionisten, bezog er die geradezu klassische Position des Kultur-Antisemitismus  : »Wir begegnen dem jüdischen Volk und auch seiner nationalen Religion gerne mit voller Achtung. Wir wollen sie geschützt sehen, aber auch uns selbst schützen. Nicht etwa vor den Bekennern der jüdischen Religion und Nation, sondern vor den national und religiös heimatlos gewordenen Schädlingen, welche an der Zerstörung der ihnen unverständlich gewordenen Werte des eigenen und des Wirtsvolkes Schuld tragen.«38 Schmidt glaubte einige Ausführungen Czermaks noch vertiefen zu können und ergänzte sie um Aussagen, die traditionelle Anschauungen zum Judentum (verspielte Erwählung, Fluch der Verbannung) auf gefährliche Weise mit rassisch-physischen Komponenten verknüpften, gipfelnd in der These von gleichsam genetischen Folgen einer langen besonderen Unheilsgeschichte, die selbst getaufte Juden zu Glaubensgenossen zweiter Klasse stempelte  : »Vom physischen Standpunkt stehen uns die Juden nicht so fern, wie man im Dritten Reich sagt, aber das Judenproblem steht rein rassisch einzig da, weil dieses Volk auserwählt war, den Heiland vorzubereiten und 37 Reichspost, 11.12.1933, 5. 38 Zit. n. Meysels 1992, 54f.

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ihm den Weg zu ebnen  ; diesen Beruf hat es nur zum Teil erfüllt. Darum ist sein inneres Wesen verzerrt worden  ; diese Folge ist die Strafe über das Volk, das von seinem Wurzelboden entfernt wurde. Die zweitausend Jahre Verbannung haben auch physisch auf sein Wesen eingewirkt. Wenn ein Jude zur katholischen Kirche mit ganzem Herzen übertritt, hat es den stärksten Grund, der uns von ihm entfernt, abgelegt  ; die Nachwirkungen, die kamen, hebt die Taufe nicht auf, dazu braucht es Zeit und innere Arbeit, so dass er wohl zu uns gehört, aber nicht so sehr zu uns gehört wie andere Volksgenossen.«39 Maßgebliche Kreise des Katholizismus in Österreich nahmen somit in der zunehmend brisanten jüdischen Frage eine höchst ambivalente Position ein. Einerseits verwahrte man sich gegen die NS-Rassenlehre und die daraus gezogenen Konsequenzen, andererseits aber machte man unüberhörbare Konzessionen an rassistische Argumentationsweisen. Eine halbherzige Haltung, die wenig dazu angetan war, Widerstandsgeist und Abwehrkräfte für die folgende Zeit der Bewährung zu stärken. Ein anschauliches weiteres Beispiel dafür bietet auch der Priester, katholische Sprachwissenschaftler und »Rasse-Experte« Albert Drexel, der nach einem gescheiterten Engagement in Rom an sein Afrikanisches Institut in Innsbruck ein »Institut für Rassenforschung« anschloss. 1935 verurteilte er die Nürnberger Rassengesetze, empfahl zugleich aber für Österreich eine »gemäßigte« alternative Gesetzgebung zur Regelung der Judenfrage, womit wohl Restriktionen geringeren Maßes gemeint waren.40 Ebenfalls in Kenntnis mehrjähriger antijüdischen Willkür und Maßnahmen im Reich und nach Erlass der Nürnberger Gesetze formulierte der pastoral hoch engagierte Salzburger Neuland-Priester41 und Neutestamentler Josef Dillersberger († 1972) 1936 in der am Ort herausgegebenen Katholischen Kirchenzeitung – ein kirchlich anerkanntes Organ überregionaler Reichweite mit Beiträgen von Theologen für theologisch interessierte Geistliche – unter dem Titel »Der Sonntag des Antisemitismus« eine Geschichtsbetrachtung, die dazu geeignet war, jede unterlassene Hilfeleistung an Juden theologisch zu rechtfertigen  : »Und das Wort, daß sie bedrängt werden von allen Seiten, ist nicht nur einmal beim Untergang Jerusalems wahr geworden – alles, was immer gegen die Juden unternommen wird zu allen Zeiten, ist Fortsetzung dieser Gerichts-Weissagung des Herrn  ! […] Nie kann ein Christ selbst als Rächer und Vollstrecker göttlichen Gerichts auftreten wollen. Das überlassen wir – 39 Ebd. 40 Rohrbacher, Missionsexperten, wie Anm. 31. 41 Der Bund Neuland ging aus der Jugendbewegung hervor und wurde von pastoral hoch engagierten Geistlichen betreut. Seine Wortführer pflegten u. a. eine inhaltlich nicht klar bestimmte »Reichsidee«, zeigten sich vielfach kritisch gegenüber dem etablierten katholisch-politischen und kirchlichen Establishment und stellten nicht wenige »Brückenbauer« hin zur nationalsozialistischen Bewegung.

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den Heiden  ! Aber wir müssen es wohl geschehen lassen, was da geschieht, denn es ist Gottes Gericht  ! Wer darf rechten mit Gott  ?«42 Dass eine solche religiöse Verbrämung von Unrecht, ja seine geradezu blasphemische Abwälzung auf Gott, noch 1941 möglich war, dokumentiert bislang kein Beispiel aus Österreich, jedoch eine Passage der Schweizerischen Kirchenzeitung  : »Gottlosigkeit und Sittenlosigkeit des Volkes wird am gesamten Volk bestraft  ; zur Ausführung solcher Strafgerichte bedient sich Gott oft anderer Völker als seiner Werkzeuge.«43 Überhaupt bildete das Jahr 1936 nicht nur für den »christlichen Ständestaat« sondern auch hinsichtlich der heimischen kirchlichen Diskussion um die »Rassenfrage« einen Wendepunkt. Als Katalysatoren für diese Prozesse dienten nicht zuletzt die beiden Genannten Schmidt und Hudal. Anfang 1936 startete die »Katholische Aktion Wien« eine Vortragsreihe unter dem Leitwort »Kirche im Ringen der Zeit«. Die Vorträge sollten die »lebensstärkere Haltung« des Katholischen demonstrieren bzw. die »Stückhaftigkeit und Einseitigkeit neuer Weltanschauungen« aufzeigen. Zu den Referenten zählte auch Schmidt, der am 27.  Februar 1936 zum Thema »Blut und Boden, Rasse und Volk« sprach. Die Veranstaltung war prominent besucht, unter den Ehrengästen firmierten Kardinal Theodor Innitzer († 1955), Bundeskanzler Kurt Schuschnigg († 1977) und Staatssekretär Hans Pernter († 1951). Schmidt zerpflückte NS-Schlüsselbegriffe wie »Blut und Boden« und widerlegte vor allem die Thesen des »Rasseforschers« Hans Günther (1891–1968), dem er vorwarf, »Bilderbücher für große Kinder in die Massen« zu werfen. Unter Berufung auf Egon Eickstedt (1892– 1965) legte Schmidt dar, dass Rassen durch Umweltfaktoren ständiger Veränderung unterlägen und eine »Rassenkonstanz« daher nie gegeben war. Aus theologischem Kontext bezog er sein wichtigstes Gegenargument. Das Innerste des Menschen bilde seine Seele  ; da aber jede Seele von Gott neu geschaffen werde, kenne sie keinen erblichen Zusammenhang  : »Die Seele als solche hat keine Rasse, wie sie auch keine irdische Heimat hat«. Die Wirkung des Vortrags war offensichtlich bedeutend. Die Reichspost konstatierte »Die Widerlegung der Irrlehre von ›Blut und Boden‹«.44 Das Unterrichtsministerium publizierte Auszüge aus Schmidts »Rasse und Volk« im vor allem für Mittelschullehrer vorgesehenen Handbuch »Österreich«. Der deutsche Völkerkundler Wilhelm Mühlmann († 1988) interpretierte das Buch als »Kampfschrift gegen den im Dritten Reiche vertretenen Rassengedanken«  ; es wurde daraufhin in Deutschland verboten.45 42 Zit. n. Fellner 1979, 217. 43 Beitrag von Heinrich Bolfing aus dem Jahr 1941, zit. n. Altermatt 1999b. 44 Reichspost, 27.2.1936 , 6 ; vgl. Rohrbacher wie Anm. 31. 45 Schmidt 1936, 75–84.

Katholischer Antisemitismus im »Christlichen Ständestaat«

Parallel dazu konterkarierte Hudal das bisherige Engagement zur Verurteilung von NS-Positionen mit der Präsentation eines großen »Versöhnungswerks«. Er stand 1936 am Zenit seines Ansehens  ; Vortragsreisen führten ihn durch Österreich und Deutschland. Im Herbst des Jahres lieferte er mit seinem Werk über die »Grundlagen des Nationalsozialismus« einen veritablen Paukenschlag. Kern der programmatischen Aussagen war die Unterscheidung eines im Kern akzeptablen »guten rechten« von einem abzulehnenden »schlechten linken« Nationalsozialismus – irrealer, fataler Fehlschluss des Konstrukts. Hudal wollte nun nicht weniger als ein Wegbereiter für eine Befriedung des Verhältnisses von Kirche und NS-Bewegung sein, so ferne diese sich von ihren »irrigen« Elementen zu lösen bereitfinde. Auf die Polarisierung, die er damit im In- und Ausland auslöste, reagierte er überrascht und verärgert.46 Sein Wunsch nach kurialer Anerkennung erfüllte sich nicht. Staatssekretär Eugenio Pacelli notierte die Reaktion des Papstes auf die Frage nach einer italienischen Übersetzung am 15. Mai 1937  : »Il S.Padre non è contento del libro. Ha risposta  : Non expeditur.« (Der Hl. Vater ist nicht zufrieden mit dem Buch und hat geantwortet  : Wird nicht genehmigt.)47 In Österreich wurde Hudal zum Katalysator einer tiefen Spaltung der katholischen Intelligenz, die bis zum »Anschluss« nicht mehr überbrückt wurde. Jenes Segment, das eine »nationale Volksgemeinschaft« unter NS-Führung akzeptieren und mitgestalten wollte, gewann zunehmend die Oberhand. 1938 konnte sich Hudal durch die »Anschluss-Erklärung« des Episkopats ehrenvoll bestätigt fühlen  ; sein Konzept schien nun akzeptierte kirchliche Linie zu sein. Bekanntlich trat in dieser Hinsicht jedoch schon nach wenigen Monaten eine gründliche Ernüchterung ein, die nicht mehr Gegenstand der vorliegenden Ausführungen ist. Schmidt gehörte indes zusammen mit Wilhelm Miklas und Kurt Schuschnigg zum exklusiven Kreis jener, für die Pius XI. diplomatisch beim Deutschen Reich intervenierte, und konnte sich ins Ausland absetzen. Dass es an innerkatholischen Stimmen nicht fehlte, die eine Ausweitung der kirchlichen Intervention auf jüdische MitbürgerInnen forderten, belegt zuletzt ein Brief des aus Österreich in die Schweiz geflohenen katholischen Publizisten Alfred Missong an die römische Kurie, wenige Tage vor dem November-Pogrom von 1938. Er lässt deutlich werden, wie sehr heimische KatholikInnen TäterInnen oder Opfer werden konnten. Nach Würdigung bisheriger vatikanischer Stellungnahmen konstatiert Missong resigniert  : »Es waren indes bisher stets ausschließlich Kundgebungen gegen den im engeren Sinn kirchenfeindlichen Terror des Nationalsozialismus, die aus der Va46 Klieber 2015b. 47 AA.EE.SS. Austria-Ungheria, anno 1936–1946, Pos. 903–904, Fasc. 65, fol. 3–4. Brief Hudals an Kardinalstaatssekretär Pacelli, Rom 14.5.1937.

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tikanstadt in die Welt gesandt worden sind. Die solenne Kundgebung des Pontifex Maximus gegen den Barbarismus des nationalsozialistischen Staatssystems und seine auf Lüge, Betrug, Niedertracht, Verfolgung und Ausrottung aller anständigen Staatsbürger beruhende diabolische Wesenheit und Regierungspraxis ist hingegen noch ausständig. Sie wird und muß endlich erlassen werden, wenn anders die christliche Welt nicht zu der Auffassung gelangen soll, daß die hl. Kirche nur ihre höchsten sakramentalen Amtsträger verteidige, die einfachen Mitglieder des Corpus Christi Mysticum jedoch ebenso wie die Juden aus weltlichen, diplomatischen Klugheitserwägungen mitleidlos ihrem Schicksal überlasse. […] Verständnis habe er für jene, […] die ob des Schweigens der Kirche an ihr irre werden, weil sie sich sagen  : »Qui tacet, consentire videtur  !« Bezüglich der eigenen Erfahrung  : »Ich war einer der ersten ›konfessionellen Missetäter‹, die den braunen Horden in die Hände fielen und von ihnen – drei Monate lang – in ›Schutzhaft‹ genommen wurden. Ich weiß, was ›normale Schutzhaft‹ bedeutet, und kann mir daher sehr gut vorstellen, welch bestialischen Torturen die Schutzhäftlinge und Konzentrationslager-Insassen besonderen Grades, d. h. also die prominenten katholischen Führerpersönlichkeiten des seinerzeitigen Österreich, unterworfen sind. Aus 12jähriger Tätigkeit als katholischer Publizist in Wien – ich war seit 1925 Redakteur der katholischen Wochenzeitschrift ›Schönere Zukunft‹ – kenne ich die meisten der katholischen Verräter sowohl wie der katholischen Opfer persönlich.«48

Conclusio Die amtliche Lehre der römisch-katholischen Kirche zum Judentum in der fraglichen Zeit kombinierte altkirchliche und hochmittelalterliche theologische Axiome mit Einschätzungen eines seit der Mitte des 19. Jahrhunderts – nicht zuletzt im alten Österreich – entwickelten Kultur-Antisemitismus. Dieser spezifisch kirchliche Antisemitismus-Diskurs grenzte sich vom NS-Rassenwahn und seinen brutalen Schlussfolgerungen entschieden ab. Damit wurde dem antisemitischen Handeln von Personen, die sich kirchlichen Positionen verpflichtet fühlten, eindeutige Grenzen gesetzt  : Eigentum, Leib und Leben jüdischer Mitbürger beiderlei Geschlechts standen nicht zur Disposition  – ein zweifellos essentieller, ja existenzieller Unterschied zu parallelen Antisemitismen der Zeit. Der Blick auf Thesen katholischer Priestergelehrter wie des Ethnologen Wilhelm Schmidt zeigt jedoch, wie fließend die Grenzen zum 48 AA.EE.SS. Austria-Ungheria, Anno 1938–1946, Pos. 918, Fasc. 76, f. 39–41  : Brief Alfred Missong an Kardinal-Staatssekretär Eugenio Pacelli, Stans 2.11.1938.

Katholischer Antisemitismus im »Christlichen Ständestaat«

rassistischen Denken hin werden konnten. Soweit erkennbar sind sie jedoch in kein kirchenamtliches Dokument eingeflossen. Fatale Folge des im katholisch-kirchlichen Milieu Österreichs stärker als in anderen nationalen Katholizismen (z. B. Deutschland, Italien) präsenten Antisemitismus war, dass die damit einhergehende Dissoziation mit der jüdischen Mitbevölkerung den Willen lähmte, aktiv für diese einzutreten. Schlimmer noch  : Der stete antisemitische Input senkte zweifellos auch die Hemmschwelle für katholische Männer und Frauen dahingehend, sich zu gegebener Zeit als Profiteure oder Täter aktiv an der Verfolgungsmaschinerie zu beteiligen. Positiv weckte die hohe Präsenz kritischer Diskurse zum Judentum in Österreich kirchliche Gegenkräfte, die zur Reformulierung der theologischen Positionen zum Judentum maßgeblich beitrugen. Tragisches Paradox der Situation war, dass die enthemmten Gehässigkeiten der Bevölkerung nach dem Anschluss einem nicht unerheblichen Teil der heimischen jüdischen Bevölkerung indirekt das Leben rettete, weil sie drastisch die weitgehende Alternativlosigkeit einer Auswanderung vor Augen führten. Zu den verstörenden Facetten der Materie gehört, dass geistig Rege, religiös hoch Motivierte und intellektuell Aufgeschlossene im kirchlichen Bereich (z. B. Mitglieder im Bund Neuland) sich anfälliger für Konzepte der Verständigung mit dem NS-System erwiesen als ihre weniger intellektuellen, stramm-konservativen Glaubensgenossen. Explizit oder implizit gipfelte der kirchliche antisemitische Diskurs in blasphemischen Geschichtsbetrachtungen, die Gott selbst für das schuldhafte Treiben der Zeit vereinnahmten. Ihre Repräsentativität – wie die aller antisemitischen Diskurse im kirchlichen Bereich – ist historiographisch schwer zu eruieren. Man will hoffen, dass die daran Beteiligten sie spätestens ab dem November 1938 bereut haben.

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Astrid Schweighofer

Evangelischer Antisemitismus im Österreich der Zwischenkriegszeit Einführung Religiös begründete Vorurteile und Vorbehalte gegenüber Jüdinnen und Juden waren im Protestantismus von Anfang an ebenso verbreitet wie im katholischen Christentum.1 Der Historiker und Leiter der evangelischen Akademie in Wien, Ulrich Trinks (1930–2008), der sich als einer der ersten intensiv mit dem Verhältnis von Judentum und Christentum/Protestantismus auseinandergesetzt hat und gegen den Antisemitismus an- und für den jüdisch-christlichen Dialog eingetreten ist,2 hat allerdings darauf hingewiesen, dass Jüdinnen und Juden sowie Protestantinnen und Protestanten in den habsburgischen Ländern zwischen Toleranz (1781/82) und Gleichberechtigung (1861/1867) zunächst »eine gewisse Gemeinsamkeit des Schicksals« teilten und dadurch in einer »Interessen- und Aktionsgemeinschaft« miteinander verbunden waren.3 In ihrer Position als geduldete religiöse »Minderheiten« in der katholischen Habsburgermonarchie kämpften beide Gruppen um Gleichberechtigung. Unter den Evangelischen finden sich 1848/49 eindrückliche, vom Geist der Aufklärung geprägte Plädoyers für die Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung. Zu einer tiefergehenden und ernsthaften Beschäftigung bzw. Begegnung mit der jüdischen Religion bzw. mit dem Judentum kam es damals jedoch nicht – es öffnete sich »eine Lücke […], in der auch christlich begründete Ablehnung des Judentums Platz finden konnte«.4 Tatsächlich führte die Erlangung der staatsbürgerlichen Gleichberechtigung zu einem Ende der bisherigen Zusammenarbeit und zu einer Entfremdung zwischen Judentum und Protestantismus. Im evangelischen Lager drangen Nationalismus und Antisemitismus vor, dürften aber noch nicht das Gemeindeleben erreicht haben.5 Einer, der sich Mitte der 1880er Jahre den antisemitischen Auswüchsen seiner Zeit entschieden entgegen stellte, war der mährisch-schlesische Superintendent und Politiker Theodor 1 2 3 4 5

Trinks 1970, 535, 542. Zu Trinks vgl. Nüchtern/Schwarz/Werneck 2008/2009, 220–222. Trinks 1970, 532, 541. Ebd., 536–539, 542, hier zit. 542  ; vgl. dazu auch Schweighofer 2015, 9f., 17–19, 57. Trinks 1970, 541f.; vgl. auch Schweighofer 2015, 57f.

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Haase (1834–1909). 1886 warnte er in einer Rede im Abgeordnetenhaus vor dem »große[n] Unheil«, welches der Antisemitismus anrichte.6 Wenig später legte er in seinem Büchlein »Antisemitismus. Kleine Studien«7 dar, warum »[e]in Christ […] kein ernsthafter, vollständiger Antisemit sein [kann]«.8 Der Antisemitismus sei eine »Verläugnung [sic  !] des Ursprungs des eigenen religiösen Bekenntnisses«  : »Wir beschimpfen, indem wir die Juden hassen und beschimpfen, den Erlöser, das Christenthum, unsere Kirche, unseren Glauben, unsern Gottesdienst, unsere frommen Bräuche, uns selbst.«9 Theodor Haases mahnende Worte erreichten nur einen kleinen Kreis.10

Die Los-von-Rom-Bewegung Eine Zäsur hinsichtlich Antisemitismus und deutschvölkischen Gedankenguts stellt die Los-von-Rom-Bewegung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert dar.11 Aus Protest gegen die Badenischen Sprachenverordnungen (April 1897)12 propagierten die Protagonisten dieser anfangs rein politisch (deutschnational) ausgerichteten Bewegung – allen voran Georg Ritter von Schönerer – den Austritt aus der römisch-katholischen Kirche, die, so die Meinung der Deutschnationalen, proslawisch agiere und zudem äußerst rückschrittlich und unmodern sei. Der Übertritt zum Protestantismus war nicht primäres Ziel, die »Protestantisierung des katholischen Österreich«13 wurde allerdings als ein wesentlicher Schritt hin zur angestrebten Auflösung der Habsburgermonarchie und zu einem möglichst raschen Anschluss an Deutschland gesehen.14 Die evangelische Kirche, welche bereits vor Einsetzen der eigentlichen (politischen) Los-von-Rom-Bewegung (1897) Übertritte aus dem Katholizismus und dem Judentum registrierte und auch Anhängerinnen und Anhänger der Sozialdemokratie und   6 Rede Haases (5.3.1886), zit. n. Trinks 1970, 543f.  7 Haase 1887, passim  ; vgl. dazu auch Trinks 1970, 545f.  8 Haase 1887, 17, 20, 30, hier zit. 20.   9 Ebd., 30. 10 Trinks 1970, 545f. 11 Zur Los-von-Rom-Bewegung vgl. Trauner 2006, passim  ; Leeb 1999, passim  ; Höbelt 1994, passim. 12 Die Badenischen Sprachenverordnungen werteten die tschechische Sprache in Böhmen und Mähren als Amtssprache auf und stellten sie damit dem Deutschen weitgehend gleich, vgl. Trauner 2006, 113–115, 228  ; Höbelt 1993, 150–152. 13 Leeb 1999, 200. 14 Zu den Hintergründen und zum Beginn der Los-von-Rom-Bewegung vgl. Leeb 1999, 196–198  ; Trauner 2006, 228–231. Zum Verhältnis zwischen der Los-von-Rom-Bewegung und der Entwicklung der »Deutschen Christen« in Österreich vgl. Leeb 2008/2009, 42–45.

Evangelischer Antisemitismus im Österreich der Zwischenkriegszeit

diverser weltanschaulicher Gruppen anzog,15 stand durch die infolge der politischen Propaganda anschwellenden Eintrittszahlen16 vor einer neuen Situation – und auch vor neuen Problemen  : Der kaisertreue evangelische Oberkirchenrat mahnte zur Vorsicht hinsichtlich der religiösen Überzeugung der Konversionswilligen und wehrte sich gegen eine politisch-deutschnationale Instrumentalisierung der evangelischen Kirche.17 Die Gefahr einer derartigen Instrumentalisierung war nicht unbegründet. Im Auftrag des äußerst nationalistisch, militant antikatholisch und populistisch agierenden »Evangelischen Bundes zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen« (gegr. 1886) waren nämlich Vikare aus Deutschland nach Österreich gekommen, welche die Übertritte kirchlich bündeln, sich dem Gemeindeaufbau widmen und die Weichen für den kulturellen und nationalen Zusammenschluss aller Deutschen unter dem konfessionellen Vorzeichen des Protestantismus stellen sollten.18 Die radikal deutschnational und deutschvölkisch Gesinnten unter diesen Vikaren stellten später den personellen Grundstock für die »Deutschen Christen« in Österreich.19 Das Wirken der Los-von-Rom-Vikare, das sich in zahlreichen Kirchenneubauten, in kulturellen Veranstaltungen und einer umfangreichen publizistischen Propaganda manifestierte, führte auf der einen Seite zu einem verstärkten Sichtbarwerden des nun als die moderne Alternative zum römischen Katholizismus propagierten Protestantismus in der Öffentlichkeit und erhöhte dessen Anziehungskraft auch auf diejenigen, die einen Übertritt nicht (allein) aus deutschnationalen Beweggründen erwogen bzw. auch vollzogen.20 Auf der anderen Seite konnten Deutschnationalismus, Antikatholizismus und Antisemitismus Platz greifen, welche nicht nur für innerkirchliche Spannungen sorgten, sondern auch die öffentliche Sicht auf den österreichischen Protestantismus nachhaltig prägten sowie das Verhältnis zwischen den Religionen und Konfessionen verschlechterten – insbesondere in der Zeit des »Ständestaates« sollte sich dies als konfliktreich erweisen.21

15 Leeb 1999, 202f.; Unterköfler 1991/1992, 110. Diese Übertritte wurzelten vielfach in der Suche nach einer liberalen und modernitätsoffenen Religion/Konfession, vgl. dazu Schweighofer 2015, passim, hier v. a. 200–203, 283  ; Unterköfler 1991/1992, 114f. 16 Zu den Übertrittszahlen und zu den regionalen Schwerpunkten vgl. Leeb 1999, 202–205. 17 Ebd., 198  ; Höbelt 1994, 45. 18 Leeb 1999, 198–201  ; Leeb 2008/2009, 43. 19 Leeb 2008/2009, 43f. 20 Leeb 1999, 205–208  ; Unterköfler 1986, 350, 355–358  ; Leeb 2008/2009, 42f.; zu den Übertritten insbesondere vom Judentum vgl. Schweighofer 2015, passim. 21 Leeb 1999, 205–212  ; Unterköfler 1986, 349–351, 359.

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Astrid Schweighofer

Spielarten und Manifestationen des Antisemitismus in der Evangelischen Kirche in Österreich zwischen den beiden Weltkriegen Kultureller und rassischer Antisemitismus

Infolge der Los-von-Rom-Bewegung breiteten sich deutschvölkische und rassisch-antisemitische Ansichten im evangelischen Lager weiter aus und gelangten noch während des Ersten Weltkrieges voll zum Durchbruch, insbesondere an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien, in diversen kirchlichen Vereinen wie auch in Teilen der Pfarrerschaft.22 In den einzelnen Gemeinden erwies sich demgegenüber vor allem ein »kultureller« Antisemitismus als wirkmächtig.23 Dieser stand in Zusammenhang mit der Zivilisations- und Modernismuskritik des ausgehenden 19. Jahrhunderts und basierte auf der Annahme, dass das »Jüdische« im Sinne einer Geisteshaltung eine Gefahr für die Gesellschaft und Kultur darstelle, als eine solche Geisteshaltung jedoch »überwunden« werden könne.24 Ein derartiges Konzept rechtfertigte letztlich auch den Umgang mit getauften »Jüdinnen« und »Juden«, wie sich etwa in der Argumentation des Grazer evangelischen Pfarrers (i.R.) Karl Eckardt (1857–1946) zeigt. Von einem Gespräch Eckardts mit dem Grazer Rabbiner David Herzog (1869–1946), das vermutlich Mitte der 1930er Jahre stattgefunden hat, berichtet Letzterer in seinen Lebenserinnerungen  :25 »Als wir so miteinander sprachen, […] kam das Gespräch auch auf das Nazitum. Da sagte mir der Mann [Eckardt, Anm. der Verf.], der viel mit von ihm getauften Juden verkehrte, Antisemitismus ja, aber er verurteile den Rassenantisemitismus. Denn obschon er selber Antisemit, aber den Rassenantisemitismus könne er nicht billigen«.26 Eckardt selbst bekundet in seinen autobiographischen Aufzeichnungen27 seine Abneigung gegenüber den »Juden«, bezichtigt sie, das Christentum zu verhöhnen und lastet ihnen als »Verfasser und Verbreiter der pornographischen Literatur« eine »Hauptschuld an dem sitllichen [sic  !] Niedergang des deutschen Volkes in den Jahrzehnten vor und nach dem Weltkrieg« an.28 Obwohl er zugibt, dass »[d]er Gedanke, daß einmal jüdisches Blut in meine Familie eindringen könnte« ihm »schon vor ei22 Trinks 1970, 551. 23 Leeb 2008/2009, 91. 24 Beller 1993, 209  ; Schweighofer 2015, 36. 25 Vgl. zum Folgenden auch Schubert 2005, 58. 26 Höflechner 1995, 20. 27 Die hier zitierten Passagen dürften Mitte der 1940er Jahre verfasst worden sein  ; vgl. Schubert 2005, 57, Anm. 316. 28 Eckardt o. J., Teil III, 64  ; vgl. dazu auch Schubert 2005, 57.

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nem halben Jahrhundert schrecklich gewesen [wäre]«, unterlässt er es nicht, seiner Ablehnung der Nürnberger Gesetze und seiner Empörung gegenüber den »rohe[n] Gewalttaten« der Nationalsozialisten an Juden – er bezieht sich hier auf die Reichspogromnacht – Ausdruck zu verleihen.29 Wie später noch gezeigt wird, war mit der Reichspogromnacht auch bei anderen Pfarrern der Evangelischen Kirche in Österreich eine Grenze überschritten, die zum Umdenken zwang.30 Mit der Unterscheidung von kulturellem und rassischem Antisemitismus soll ersterer freilich nicht als die »bessere« Form des Antisemitismus verharmlost werden. Seine Auswirkungen auf das geistige Klima in der Gesellschaft waren beträchtlich. Dennoch scheint mir diese Differenzierung im Hinblick auf die Breite der Reaktionen der evangelischen Pfarrer auf die nationalsozialistische Judenpolitik sinnvoll. Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass sich in Wien um 1900 auch viele vom Judentum zum Protestantismus Übergetretene eines kulturellen Antisemitismus bedienten. Sie verliehen damit einerseits ihrer eigenen, durch die Taufe vollzogenen Ablösung vom Judentum Nachdruck und distanzierten sich andererseits vom Rassenantisemitismus, der ihre Hoffnungen auf gesellschaftliche Anerkennung als »echte« Deutsche, untergrub.31 Völkisch-rassisches Denken und Antisemitismus in der theologischen Lehre, in kirchlichen Gremien und Vereinen sowie in der kirchlichen Verkündigung und Seelsorge

Der Antisemitismus der Zwischenkriegszeit spiegelt sich in all seinen Spielarten in den in zeitgenössischen Publikationen und anderen Dokumenten belegten Debatten über die Rolle des Judentums in der Gesellschaft, die jüdische Herkunft Jesu, den Wert des Alten Testaments für den christlichen Gottesdienst und Religionsunterricht, über die dem »deutschen Volk« angemessene Predigt des Evangeliums oder über ein »arisches Christentum«.32 So gab es etwa Bestrebungen bzw. eine dezidierte Bereitschaft, hebräische Ausdrücke aus Liturgie und Kirchenliedern zu entfernen oder das Alte Testament aus dem Religionsunterricht zu verbannen.33 Von der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien hoben der Alttestamentler Fritz Wilke (1879–1957) und der Praktische Theologe und langjährige Dekan Gustav Entz (1884–1957  ; Dekan von 29 Eckardt o. J., Teil III, 64  ; vgl. dazu auch Schubert 2005, 58. 30 Vgl. auch Schubert 2005, 56. 31 Schweighofer 2015, 36, 96, 399  ; vgl. dazu auch Beller 1993, 209f. 32 Vgl. dazu Trinks 1970, 550–552. 33 Vgl. dazu Schwarz 1998, 168  ; Schwarz 2008, 20  ; Unterköfler 1991/1992, 126  ; Trinks 1970, 553.

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1938–1949) die Unterschiedenheit der Menschheit in »Völker« und »Rassen« hervor und warnten vor deren Vermischung.34 Der begeisterte Nationalsozialist Entz, der seine antisemitische Einstellung übrigens bis zu seinem Tod beibehielt und auch äußerte,35 tat Letzteres ganz deutlich im Sommer 1937 auf dem ersten evangelischen Gemeindetag Österreichs in Graz. Aus »Respekt vor den grandiosen Ordnungen der Natur, vor den Werken des Schöpfers« müsse man, »was schöpfungsmäßig gegeben ist«, vor der Zerstörung bewahren. Demgemäß bekundete er seine eigene und der evangelischen Christen Freude über den von einigen Staaten »zielbewußt[…] und energisch[… geführten] Kampf um die Erhaltung von Volkstum und Rasse«.36 Mit derartigen Aussagen stimmte Entz in den von Volkstümelei und rassischem Antisemitismus nur so geprägten Chor seiner Koreferenten ein  :37 Kurator Fritz Meldt aus Graz verwies in seiner Eröffnungsansprache auf die blutsmäßige Gemeinschaft der Deutschen und bekundete die Bereitschaft der Evangelischen zur »Mitarbeit zur Erhaltung der Volksgemeinschaft«.38 Der Kurator der Wiener Gemeinde A.  B. Johannes Wetjen drang in seinem Vortrag, Bezug nehmend auf die Hochschulpolitik im Deutschen Reich, auf den Ausschluss all jener vom Theologiestudium, »die durch Abstammung, Familie, durch charakterliche und auch körperliche Mängel ungeeignet sind«.39 Überhaupt sorgte die Frage nach dem Umgang mit Konvertitinnen und Konvertiten vom Judentum zum Protestantismus, insbesondere mit konvertierten Pfarrern, in der Zwischenkriegszeit immer wieder für Debatten und Stellungnahmen. Angesichts der seit Ende des 19.  Jahrhunderts steigenden Übertrittszahlen sowohl von katholischer als auch von jüdischer Seite gab es in der Wiener evangelischen Gemeinde A. B. Bedenken hinsichtlich der innerlichen Eingliederung vor allem der aus dem Judentum Übertretenden40 – Anfang 1921 beschloss das Presbyterium eine »strengere Behandlung der Übertritte, namentlich solcher vom Judentum«.41 1927 bekundeten die Mitglieder des »Evangelischen Bundes« in ihrer Hauptversammlung 34 Wilke 1914, Nr. 18, 131 und Nr. 20, 262  ; Wilke 1916, 8  ; Entz 1937, 35f. Speziell zu Wilke vgl. Trinks 1970, 551f.; Kieweler 1997, passim, hier v. a. 311f.; Klein 1993, 143–151. 35 Zur umstrittenen Persönlichkeit von Entz vgl. Schwarz 1997, 192–203  ; Trinks 2007, 53  ; Trinks 1992, 98 sowie neuerdings Pfefferle/Pfefferle 2014, passim und die Aufsätze in Schwarz 2012, passim, insbesondere Entz’ Erinnerungen 13–50. 36 Entz 1937, 35  ; vgl. auch Nüchtern 1985, 30. 37 Vgl. zum Folgenden auch Schweighofer 2009, 29. 38 Konkret sollte durch mehr Geburten »der Untergang unseres Volks in Österreich« hintangehalten werden. Meldt 1937, 27. 39 Wetjen 1937, 45  ; vgl. dazu auch Nüchtern 1985, 30. 40 Stökl 1921, 18. Zu den Übertrittszahlen vom Judentum zum Protestantismus vgl. Schweighofer 2015, 68–74. 41 W. 1921, 20  ; vgl. dazu auch Unterköfler 1991/1992, 111.

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ihre Sorge über die »Gefahr des immer mehr überhandnehmenden Judentums«, forderten »alle Mitglieder des Bundes zum schärfsten Kampfe wider diesen Volksfeind auf« und sprachen sich insbesondere »gegen die Wahl getaufter Juden in evangelische Gemeindekörperschaften« aus.42 1921 wurde in der Superintendentialversammlung in Leoben der Antrag gestellt, »dass nur Arier Ehrenstellungen in der ev. Gemeinde annehmen dürfen«.43 Der Grazer Pfarrer Friedrich Ulrich (1877–1944) stellte daraufhin die »arische Abstammung« Pfarrer Josef Becks (1867–1944) aus Wien infrage, was zu einer umfangreichen, in zahlreichen Briefen dokumentierten, Kontroverse innerhalb der evangelischen Pfarrerschaft führte – es ging darin u. a. um den an Ulrich herangetragenen Vorwurf der Verleumdung Pfarrer Becks.44 Der Kurator des steirischen Seniorates Wilhelm Dantine sen. (1876–1946) aus Leoben wiederum klagte im Juni 1938 in einem Brief an seinen Sohn  : »Es ist eigentlich schrecklich, wie stark die Verjudung in unsern Pfarrerstand eingedrungen ist. Ich hätte das nie geglaubt. Der verflossene Jellinek-Ischl, [Walter] Beran, [Alfred] Freund-Zinnb[auer], in Steiermark [Hermann] Thür und Frau in Kapfenberg u[nd] Wölfl [recte Wölfel] in Fürstenfeld, die mindestens verdächtig sind, im Burgenland auch einer, dessen Name mir nicht einfällt, u[nd] nun auch die Pfarrfrau von Hallstadt [sic  !]  ! Ich würde, wenn das wahr ist, auch nicht in dieses Pfarrhaus gehen, aber nicht aus Furcht vor dem Stürmer, sondern weil ich eben mit Juden nicht gesellschaftlich verkehre. Ich weiß augenblicklich nicht, wie der Pfarrer von H[allstatt] heißt – hat denn so ein Mann gar keinen Rasseninstinkt  ?«45 Und Hans Eder (1890–1944), Pfarrer von Gosau und späterer Bischof, stellte 1933 in einem Zeitungsartikel fest  : »Der Jude bleibt aber auch nach seiner Bekehrung Glied einer anderen Rasse … Daher ist eine Blutsvermischung mit Angehörigen einer anderen Rasse auch nach ihrer Bekehrung und trotz aller glaubensbrüderlichen Verbundenheit, die wir zu ihnen haben, grundsätzlich abzulehnen.«46

42 Pechel 1927, 5  ; vgl. dazu auch Nüchtern 1985, 29. 43 Muhr, Brief vom 21.2.1922  ; vgl. Nachlass Ulrich Trinks, Kiste 2, Private Aufzeichnungen und Korrespondenzen, Schriften und Korrespondenz von Pfarrer Friedrich Ulrich und »Kontroverse Beck – Ulrich« (grün marmorierter Buchdeckel, Folio  ; derzeit in der Fachsbereichsbibliothek Katholische und Evangelische Theologie in Wien). 44 Zu der Kontroverse vgl. den Briefwechsel ebd. 45 Brief Wilhelm Dantines sen. vom 2.6.1938, zit. n. Schwarz 1998, 184  ; zu den genannten Pfarrern vgl. Ludwig/Röhm/Thierfelder 2014, 50f., 114f., 170f., 346f., 374f., 400. 46 Der Bergbote 2 (1933), Folge 11, 80, zit. n. Gamsjäger 1988, 28  ; vgl. dazu auch Schubert 2005, 53.

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Angesichts der von einigen Kirchenvertretern offenbar als untragbar empfundenen »Verjudung« der Pfarrerschaft gab es auch diverse Versuche, eine solche hintan zu halten  – so beispielsweise 1937 im oberösterreichischen Wallern, als es um die Neubesetzung der dortigen Pfarrstelle ging. Weil der, auch im obigen Zitat genannte, Favorit Alfred Freund-Zinnbauer einen jüdischen Vater hatte, agitierten antisemitische Pfarrer aus den Nachbargemeinden mit Verleumdungen und Gerüchten erfolgreich gegen ihn.47 1942 gab der Klosterneuburger Pfarrer Otto Riedel seine Bedenken kund, die »Halbjuden« Martin Putschek48 und Josef Wölfel49 weiterhin im Bereich der Seelsorge einzusetzen.50 Hinter Riedels Bedenken steht ein theologisches Konzept, das kennzeichnend für den radikalen Zweig der »Deutschen Christen« ist und das, im Unterschied zum anderen, gemäßigten Zweig der »Deutschen Christen«, dessen Vertreter die Kirche weiterhin als eigenständige, vom Staat getrennte Größe sahen, letztlich auf eine überkonfessionelle, mit Volk, Staat und Partei verschmolzene Nationalkirche abzielte. Glaube wird diesem Konzept zufolge als eine aus dem Volk wachsende und in ihm lebende »Kraft« verstanden.51 »Genau deshalb könnten nur Volksgenossen untereinander denselben Glauben empfinden und deswegen auch nur Volksgenossen (und kein Jude an einem Christen) aneinander Seelsorge betreiben.«52 Evangelischer Antisemitismus vor dem Hintergrund der (kirchen)politischen Ereignisse seit 1933

Die Erfahrungen von Misstrauen, Marginalisierung und Diskriminierung im katho­ lischen »Ständestaat« verstärkten bei vielen Evangelischen den schon mehrere Jahrzehnte vorhandenen Wunsch nach einer Vereinigung mit dem »Mutterland der Reformation« und führten zu Allianzen mit den illegalen Nationalsozialisten sowie zu einem »antikatholische[n] Elitebewusstsein (›Trutzprotestanten‹)«.53 Den nationalsozialistisch gesinnten »Deutschen Christen« brachten die politischen Verhältnisse eine Stärkung ihrer innerkirchlichen Position und damit einen deutlichen Aufschwung. 47 Zur Affaire um die Neubesetzung der Pfarrstelle in Wallern, in die Pfarrer Gerhard Fischer aus Thening massiv involviert war, vgl. Merz 2008/2009, 115  ; Schweighofer 2009, 30. 48 Zu Martin Putschek vgl. auch Unterköfler 1984, 365. 49 Zu Josef Wölfel vgl. auch R ampler 1998, 375f. 50 Leeb 2008/2009, 92. 51 Zu den beiden Richtungen der »Deutschen Christen« und zu ihrem Kirchenverständnis vgl. Leeb 2008/2009, 46–48  ; 58–60  ; 62f.; 92. 52 Leeb 2008/2009, 92. 53 Zum Etikett der evangelischen Kirche als »Nazikirche« oder »Sammelbecken politisch Mißvergnügter«, Jakob Ernst Koch d. J., zit. n. Reingrabner/Schwarz 1988/1989, 125  ; vgl. Schwarz 2008/2009, 20–25, hier 21  ; Schwarz 2008, 17f.; Leeb 2008/2009, 64–67.

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Sie wussten das Feindbild des »Ständestaates« geschickt für sich zu nutzen, warben mit aufwändiger Publizistik und finanzieller Hilfe aus Deutschland für ihre Ziele und stellten sich damit in direkte Gegnerschaft zum Staat – sehr zum Missfallen des an den Staat gebundenen Oberkirchenrates.54 Ein Medium der Verbreitung ihrer Anliegen war beispielsweise die von dem Grazer Pfarrer Friedrich Ulrich herausgegebene, österreichweit verbreitete und dezidiert antisemitisch ausgerichtete Kirchenzeitung »Der Säemann«.55 Die Gegner der »Deutschen Christen«, nämlich die Anhänger der reformatorischen Bekenntnisbewegung, welche sich um den Ramsauer Pfarrer Jakob Ernst Koch (1897–1966) sammelten und auch dem Antisemitismus standhielten, waren in dieser Zeit innerkirchlich eindeutig im Hintertreffen.56 Noch im Laufe des Jahres 1938 setzte allerdings ein Umschwung zuungunsten der »Deutschen Christen« ein.57 Nachdem der »Anschluss« Österreichs an Nazideutschland von den österreichischen Evangelischen mehrheitlich noch mit Begeisterung aufgenommen worden war,58 machte sich innerhalb der evangelischen Pfarrerschaft bereits in den folgenden Monaten eine erste Ernüchterung angesichts der nationalsozialistischen Kirchenpolitik (Kirchenaustrittspropaganda, Auflösung kirchlicher Vereine, Behinderungen beim Religionsunterricht usw.) breit,59 die sich in den kommenden Jahren zur Verweigerung gegenüber dem Totalitarismus des NS-Systems steigerte.60 Ernüchterung und Enttäuschung angesichts der nationalsozialistischen Kirchenpolitik führten freilich nicht zwangsweise zu einer Abkehr vom Nationalsozialismus insgesamt, geschweige denn zu einer Abkehr vom Antisemitismus. Davon zeugt etwa ein von dem deutschchristlichen Theninger Pfarrer Gerhard Fischer im Namen des Unterländer Evangelischen Senioratsausschusses A. B. verfasstes Beschwerdeschreiben an den Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart vom 27. Dezember 1938. Fischer bekennt sich darin zum Nationalsozialismus, drückt aber seine Sorge um die Zukunft des Chris54 Leeb 2008/2009, 64–70, 74  ; Schwarz 2008/2009, 23. Zur Formierung der »Deutschen Christen« in Österreich und ihren Positionen vgl. Leeb 2008/2009, 49–63. 55 Leeb 2008/2009, 69. Zu Ulrichs antisemitischen Äußerungen im »Säemann« vgl. Schubert 2008/2009, 182–196. 56 Leeb 2008/2009, 64, 69f.; Schwarz 2008/2009, 23  ; Trinks 1985, 42. 57 Leeb 2008/2009, 74. 58 Schwarz 2008, 20  ; Leeb 2008/2009, 68. 59 Superintendent Johannes Heinzelmann hatte angesichts der Vorgänge im »Dritten Reich« bereits in seinem Neujahrshirtenbrief 1937/38 vor den Gefahren des Nationalsozialismus für das Christentum gewarnt, vgl. Schwarz 2008/2009, 25. Zum Hirtenbrief vgl. Schwarz 1994, passim. 60 Die Formel »Bejahung, Ernüchterung, Verweigerung« in Hinblick auf die Haltung der Evangelischen gegenüber dem NS-Staat wurde von Otto Bünker, einem Zeitzeugen der damaligen Entwicklungen, geprägt  ; vgl. Bünker 1988, passim  ; vgl. zur obigen Thematik weiter Schwarz 2008/2009, 18, 28, 32–34  ; Schwarz 2008, 20  ; Leeb 2008/2009, 74.

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tentums aus und schreibt unter anderem  :61 »Die Entwicklung der letzten Monate hat einen andern Lauf genommen. In Verbindung mit der Aktion der Ausscheidung des Judentums aus dem wirtschaftl. und gesellschaftl. Leben unseres Volkes, deren Notwendigkeit wir aus rassischer Erkenntnis und persönlicher Erfahrung rückhaltlos bejahen, hat sich […] eine starke christentums- und religionsfeindliche Strömung in unserem Gebiet geltend gemacht.«62 Werfen wir einen Blick auf die Tage des »Anschlusses«  : Am 11. März 1938, also unmittelbar vor dem »Anschluss«, wurde infolge eines Putsches eine neue, nationalsozialistische und deutschchristliche Kirchenleitung installiert. Im Hintergrund des Putsches stand der am 10. März 1938 getätigte Aufruf des Oberkirchenrates, an der von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg geplanten Volksabstimmung für die Unabhängigkeit Österreichs teilzunehmen. Die Akademikergemeinschaft im Evangelischen Bund preschte in dieser Situation vor, setzte den Oberkirchenrat ab und den Juristen Robert Kauer (1901–1953) und den Gosauer Pfarrer Hans Eder an die Spitze der neuen Kirchenleitung. Der »Anschluss« wurde demgemäß mit Hakenkreuzbeflaggung, dem Singen des Horst-Wessel-Liedes und der Vereidigung der Pfarrer auf den »Führer« begrüßt.63 Angesichts der absehbaren Einführung der »Nürnberger Rassengesetze« auch in Österreich drang der Oberkirchenrat unter Kauer bereits am 22.  März 1938 in einem Erlass darauf, von Eheschließungen zwischen »Personen deutschen oder artverwandten Blutes mit anderen Personen« abzusehen  : »Weder vom geistlichen Standpunkt als Seelsorger, noch vom weltlichen Standpunkt als Standesbeamter ist es zweckmäßig, zu Eheschließungen die Hand zu bieten, die in der Folge für ungültig erklärt werden könnten.«64 Vereinzelter Widerstand von Seiten der Pfarrerschaft gegen den Erlass konnte sich zwar nicht durchsetzen, zeigt allerdings, wie Herbert Unterköfler betont hat, »daß die Kirchenleitung die Bereitschaft zu rigoroser judenfeindlicher Auslegung ihrer Erlässe in der evangelischen Geistlichkeit teilweise überschätzt haben dürfte«.65 Wie oben angedeutet, führte der Terror der Reichspogromnacht (9.  November 1938) bei vielen Pfarrern zu einem ersten Umdenken und auch Handeln angesichts des nationalsozialistischen Rassenwahns.66 Superintendent Johannes Heinzelmann 61 Vgl. dazu Reingrabner/Schwarz 1988/1989, 362–365  ; vgl. dazu auch Merz 2008/2009, 116 und Schweighofer 2009, 30f. 62 Reingrabner/Schwarz 1988/1989, 363. 63 Schwarz 2008/2009, 25–29  ; Schwarz 2008, 19f.; Leeb 2008/2008, 68f. 64 Erlass des Evangelischen Oberkirchenrates vom 22.3.1938  ; vgl. Reingrabner/Schwarz 1988/1989, Nr. 118, 314  ; vgl. dazu auch Unterköfler 1991/1992, 121f. 65 Unterköfler 1991/1992, 121f., hier zit. 121. 66 Vgl. zum Folgenden auch Schubert 2005, 56.

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(1873–1946), der sich unter anderem für die »Entjudung« des Kirchengesangbuchs engagiert hatte,67 bekundete im darauffolgenden Sonntagsgottesdienst von der Kanzel herab, »dass er sich zum ersten Mal in seinem Leben schäme, ein Deutscher zu sein«,68 und stattete einer ausgeplünderten jüdischen (oder »judenchristlichen«) Familie aus Villach einen Besuch ab.69 Der Gumpendorfer Pfarrer und Vorsitzende des »Evangelischen Bundes« Othmar Muhr (1883–1962), ein bekennender Nationalsozialist, soll Jüdinnen und Juden in seinem Pfarrhaus Schutz vor Verfolgung geboten haben.70 Und der bereits erwähnte Wilhelm Dantine sen. sprach am 13. November 1938 in einem Brief an seinen Sohn von seiner »gedrückte[n] Stimmung«  : »die Ereignisse der letzten Tage lasten schwer auf mir.«71 Kauer stand bis April 1939 als kommissarischer Leiter an der Spitze der österreichischen Evangelischen Kirche.72 In dieser Zeit gerieten evangelische Pfarrer, die ihre arische Abstammung nicht nachweisen konnten, auch innerkirchlich zunehmend in Bedrängnis und wurden beispielsweise aufgefordert, sich nach einem Posten im Ausland umzuschauen.73 Unter Kauers Nachfolger Heinrich Liptak (1898–1971)  – und weiterhin Hans Eder als geistlichem Leiter – erfolgte im Oberkirchenrat jedoch ein kirchenpolitischer Kurswechsel. Konvertitinnen und Konvertiten vom Judentum zum Protestantismus wurden nun unterstützt, ebenso wurden von den »Nürnberger Rassengesetzen« betroffene Pfarrer geschützt, etwa durch mehrmaligen Dienstortwechsel oder Interventionen bei der Gestapo. Paaren, die sich in einer sogenannten Mischehe befanden, wurde geraten, »taube Ohren zu haben und auf diese Weise ihre jüdischen Gatten zu schützen«.74 Insgesamt scheint es für die Zeit der NS-Herrschaft, als hätten die evangelischen Geistlichen einen kaum zu bewältigenden inneren Spagat zwischen den Ansprüchen und Forderungen des Regimes, ihren eigenen, von einem Antisemitismus unterschiedlicher Spielart durchzogenen Positionen und jenen der Gemeindemitglieder zu vollziehen versucht. Das Bestreben, nach außen hin einen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Interessen zu schaffen, führte mitunter zu ambivalenten Äußerungen und Handlungen ein und derselben Person. Beachtung verdient in diesem 67 Schwarz 1998, 168. 68 Zit. n. Schwarz 2008/2009, 34. 69 Bünker 1988, 62  ; Schwarz 1998, 169. 70 Schwarz 1998, 177f. 71 Brief Wilhelm Dantines sen. vom 13.11.1938, zit. n. Schwarz 1998, 187, vgl. dazu auch ebd., 169. 72 Zu Robert Kauer vgl. neuerdings Uhl 2014, passim. 73 Unterköfler 1991/1992, 124  ; Schubert 2005, 55  ; R ampler 1998, 374–376. 74 Bericht Heinrich Liptaks, zit. n. Schwarz 2000, 41  ; vgl. auch Unterköfler 1991/1992, 124f., 134f.; Schubert 2005, 56  ; Reingrabner 1983, 155.

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Zusammenhang eine Aussage des erwähnten Johannes Heinzelmann vom April 1944 in Bezug auf die von der Wiener Superintendentur abgelehnte Übernahme des in Berlin entlassenen Pfarrers Paul Mendelson75 (1873–1952) in den Dienst der Evangelischen Kirche in Österreich  : »Der Name ist so unverkennbar semitisch, daß die Gemeinde [vmtl. Znaim  ; Anm. der Verf.], wie die Dinge derzeit nun einmal liegen, daran Anstoß nehmen wird. Sollte der in Frage stehende Pfarrer M. identisch sein mit demjenigen M., mit dem der Unterzeichnete vor mehr als einem halben Jahrhundert in Tübingen studierte, so würde die Rasse sich auch im Gesicht unverkennbar ausprägen, ich kann die Verwendung M. daher kaum befürworten.«76 In Wien wurde Christinnen und Christen jüdischer Herkunft im September 1941 von der dortigen Pfarrerschaft nahegelegt, vorerst auf den Gottesdienstbesuch zu verzichten und »abzuwarten, bis für sie ein eigener Gottesdienst eingerichtet wird, über dessen Zustandekommen zwischen dem Präsidenten unseres oberkirchenrates [sic  !] und der Gestapo Verhandlungen eingeleitet sind« – die Pfarrer folgten mit diesem Schritt einer Anweisung, bis zum 21. September 1941 für die evangelischen Kirchen Wiens eine »einheitliche Regelung« zu schaffen.77 Der Gumpendorfer Pfarrer Othmar Muhr berichtete seinem Grazer Amtskollegen Friedrich Ulrich in einem Brief vom 18.  September 1941 von der diesbezüglichen Pfarrerkonferenz und zitiert zunächst aus der Beschlussfassung  :78»Die Konferenz der luther. und ref. Pfarrer Wiens hat sich am 15. September eingehend mit der Frage beschäftigt, ob sich Juden evang. Glaubens, die Träger des Davidsternes sind, gemeinsam mit den Deutschen evang. Glaubens am Gemeindegottesdienst der evang. Gemeinde beteiligen dürfen. Grundsätzlich ist der evang. Gottesdienst öffentlich und allgemein zugänglich für jedermann. Nach Luther redet in ihm unser Herr Jesus Christus mit uns durch sein hl. Wort und wir wiederum reden mit ihm durch Gebet und Lobgesang.« Nach einer kurzen Bezugnahme auf Art. VII des Augsburger Bekenntnisses setzt Muhr mit folgender Begründung für den Beschluss fort  : »Es ist […] notwendig, dass auch Judenchristen ihren Gottesdienst halten, aber es ist nicht not, dass dieser gemeinsam mit den Deutschen evang/Glaubens begangen wird. Die evang. Kirche in Deutschland will deutsche Volkskirche sein. Als solche kann sie nicht übersehen, dass der gegenwärtige Krieg (so wie der Weltkrieg) in ursächlichem Zusammenhang, mit dem Weltjudentum steht. Der deutsche Staat muss in der Gegenwart im Juden seinen 75 Zu Paul Mendelson vgl. Röhm/Thierfelder 1990, 234–239. 76 Erlass des OKR Zl. 2555/19.4.1944, zit. n. Schwarz 1991/1992, 230f.; vgl. dazu auch Schubert 2005, 55f. 77 Brief Muhrs an Ulrich, zit. n. Nüchtern 1985, 106  ; vgl. auch ebd., 31  ; Unterköfler 1991/1992, 125. 78 Eine Kopie des Briefes findet sich im Anhang bei Nüchtern 1985, 105f.

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ausgesprochenen Feind sehen und muss daher Massnahmen zur Ausschaltung des Einflusses des Judentums auf das Deutschtum treffen. […] Bei diesem klaren Willen des Staates, die Arier von den Nichtariern zu scheiden, kann die deutsche evang. Volkskirche dem Besuche des Gemeindegottesdienstes durch Träger des Davidsternes nicht zustimmen. Die Anwesenheit von Trägern dieses sichtbaren Judenabzeichens in der Kirche könnte auch zu Störungen der Ruhe im Gotteshause führen. Die evang. Kirche darf ihren Gemeindegottesdienst und auch die Besucher dieses Gottesdienstes der Gefahr der Beanstandung nicht aussetzen.«79 Ein Zufluchtsort für jüdisch-protestantische Konvertitinnen und Konvertiten war in dieser Zeit die Schwedische Israelmission in der Wiener Seegasse.80

Schluss Antisemitische Einstellungen waren unter Österreichs Evangelischen weit verbreitet und saßen tief. Wie gezeigt werden konnte, setzte jedoch mit den Ausschreitungen der Reichspogromnacht bei vielen Pfarrern ein deutlicher Gesinnungswandel ein. Nicht so bei den (radikalen) »Deutschen Christen«, die weiterhin am (rassischen) Antisemitismus festhielten – deutschchristlich gesinnte Pfarrer aus Österreich sowie Professoren der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien beteiligten sich beispielsweise an dem 1939 in Eisenach gegründeten »Institut zur Erforschung (und Beseitigung) des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben«.81 Die »Deutschen Christen« waren vor allem in den bürgerlichen, von der Los-von-Rom-Bewegung geprägten Milieus der Städte aktiv und fanden ihre Anhängerschaft in Teilen der dortigen Pfarrerschaft und unter den Professoren der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Wien. Obwohl zahlenmäßig stets in der Minderheit, waren sie in der Zwischenkriegszeit die Lauteren und Initiativeren und trugen ihre deutschchristliche Theologie und ihren Antisemitismus unter anderem über Kirchenblätter in die Öffentlichkeit.82 Dem publizistischen Agieren der »Deutschen Christen« entspricht eine relativ gute Quellenlage für diese Gruppe. Demgegenüber wissen wir bislang nur wenig über die Einstellungen evangelischer Laien insbesondere in den traditionellen Toleranzgemeinden

79 Brief Muhrs an Ulrich, zit. n. Nüchtern 1985, 105f. 80 Zur schwedischen Israelmission vgl. Unterköfler 1991/1992, 115–118, 125–134  ; Nüchtern/ Schwarz/Werneck 2008/2009, 225f. 81 Vgl. dazu Leeb 2008/2009, 83–91. 82 Ebd., 69f., 99.

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auf dem Land – eine Durchsicht diverser Gemeindearchive würde diesbezüglich wohl neue wertvolle Erkenntnisse bringen. Insgesamt konnte sich in der Evangelischen Kirche in Österreich trotz gelegentlicher Proteste und Hilfsaktionen kein nennenswerter Widerstand gegen den Antisemitismus im Allgemeinen und die nationalsozialistische Judenpolitik im Besonderen formieren.83 Die evangelische Kirche hat, wie die österreichische Gesamtgesellschaft, spät begonnen, sich mit ihrer Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus und ihrer Haltung zum Antisemitismus auseinanderzusetzen.84

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83 Unterköfler 1991/1992, 125f.; Trinks 1970, 553f.; Reingrabner 1983, 153. 84 Vgl. zu dieser Thematik Schwarz 2008, 24–27. Ulrich Trinks stellte mit Blick auf das Verhältnis zum Judentum bei der Evangelischen Kirche in Österreich nach 1945 eine »sehr begrenzt[e] Lernfähigkeit« fest, vgl. Trinks 2007, passim, hier zit. 58.

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Antisemitismus und Heimwehren

Die Machtübernahme der Nationalsozialisten im Deutschen Reich 1933 hatte im Nachbarland Österreich eine auf den ersten Blick überraschende Folge  : Der Antisemi­ tismus, der seit dem Ende des Ersten Weltkriegs als wichtigste Waffe nahezu aller politischen Kräfte in der innenpolitischen Auseinandersetzung gedient hatte, büßte seine Schlagkraft in Teilen ein. Er war zwar in weiten Kreisen der österreichischen Bevölkerung und der auch in der Politik sehr einflussreichen katholischen Kirche weiterhin vorhanden, kam auch durch aggressive Werbekampagnen und Ausgrenzungsversuche im ökonomischen Feld für die Betroffenen sehr deutlich zum Ausdruck, spielte aber im öffentlichen Leben der Ersten Republik eine weniger entscheidende Rolle als vor 1933. Die Niederlage von 1918 war der ideale Nährboden für das Wiederaufleben der tradierten antijüdischen Vorurteile gewesen. »Die Juden« dienten als klassischer Sündenbock für die verheerenden Kriegsfolgen, die beträchtlichen Gebietsabtretungen, die existenziellen wirtschaftlichen Probleme und die tiefe nationale Demütigung Österreichs.1 Die Heimwehren2 hatten ihren Ursprung in den paramilitärischen Wehrgruppen, die sich nach dem Ersten Weltkrieg auf lokaler und regionaler Ebene spontan zur Verteidigung der Grenzen gegründet hatten. Vor allem die Christlichsoziale Partei unterstützte die antisozialistisch eingestellten Heimwehren und machte sie sich als Hilfsarmee in ihrem Kampf gegen die österreichische Arbeiterbewegung zunutze.3 Der Brand des Justizpalastes und der Arbeiteraufstand am 15.  Juli 1927 in Wien, zu dessen Niederschlagung die Heimwehren eingesetzt wurden, verschafften ihnen stärkeren Einfluss auf politischer Ebene. Bis dahin hatten sie in den Worten des Sozialdemokraten Dr. Otto Leichter »ein kümmerliches Dasein in Winkeln und Wirtshäusern gefristet«.4 Sie war organisatorisch zersplittert, hatte keine Führerge-

1 Vgl. dazu ausführlich Königseder 2005. 2 Zu den Heimwehren vgl. Carsten 1977, 39–66, 98–130, 156–174 und 195–210  ; Edmondson 1978  ; Wiltschegg 1985. 3 Zum Verhältnis von Christlichsozialer Partei und Heimwehr bei der Errichtung der Diktatur vgl. Staudinger 1975, 65ff. 4 Zit. n. Wiltschegg 1985, 37.

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stalt, keine einheitliche Weltanschauung und verfügte nicht über ausreichende Finanzmittel.5 Finanziell seit Frühjahr 1928 auch von Mussolini gefördert und vom italienischen Faschismus inspiriert, verabschiedeten sich die Heimwehren mit dem »Korneuburger Eid« im Mai 1930 endgültig von demokratischen Vorstellungen und plädierten für eine autoritäre Regierungsform und die berufsständische Gliederung von Wirtschaft und Gesellschaft. Nach dem Auseinanderbrechen des Bürgerblocks im April 1932 wurden die Heimwehren wichtiger Koalitionspartner in der von Engelbert Dollfuß angeführten Koalitionsregierung aus dessen Christlichsozialer Partei, dem Landbund und eben der Heimwehr. Ernst Rüdiger von Starhemberg war seit 1. Mai 1933 Vizekanzler und stellvertretender Führer der »Vaterländischen Front«. Trotz ihres starken Rückhalts in der österreichischen Gesellschaft kamen die Heimwehren infolge ihrer eigenen Uneinigkeit über die Rolle eines Juniorpartners in der Regierung Dollfuß nicht hinaus.6 Während der Kanzlerschaft Schuschniggs wurden die Heimwehren schrittweise entmachtet und schließlich im Oktober 1936 aufgelöst. Am 16.  Mai 1936 schieden Starhemberg als Vizekanzler und Egon Berger-Waldenegg als Außenminister aus der Regierung aus. Die Beurteilung der Heimwehr in Bezug auf ihren Antisemitismus ist schwierig, da sie keine homogene Organisation war und ihr – abgesehen von ihrer antisozialistischen Position – eine kontinuierliche eigene Ideologie fehlte. Die anderen politischen Akteure hatten in der Regel einen klar auszumachenden politischen Gegner und setzten den Antisemitismus als Mittel im Kampf gegen ihn ein. Je nach Standpunkt identifizierten die antisemitischen Hetzer die jüdische Minderheit entweder mit den »jüdischen Kapitalisten«, mit der »verjudeten« Sozialdemokratie oder mit den verarmten ostjüdischen Flüchtlingen, die aus den östlichen Teilen des zusammengebrochenen Habsburger Reiches vor allem nach Wien zogen, agitierten gegen assimilierte, zionistische oder orthodoxe Juden. Möglich war das, weil der Antisemitismus im Österreich der Zwischenkriegszeit weniger auf tatsächlichen Spannungen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der jüdischen Minderheit beruhte, sondern vielmehr als ein Ventil für die durch die Krise verunsicherten Schichten diente.7 Genährt wurde er vor allem aus wirtschaftlichen Motiven. Auf der Suche nach Sündenböcken für die verheerende ökonomische Lage ignorierten die Antisemiten aller couleur die Tatsache, dass Juden in gleichem Maße betroffen waren, und machten sie stattdessen für die Missstände verantwortlich. Nahezu allen gesellschaftlichen und staatstragen5 Ebd. 6 Woller 1999, 94f. 7 Bunzl/Marin 1983, 43.

Antisemitismus und Heimwehren

den politischen Kräften war er als Mittel im Kampf gegen die Konkurrenz oder den politischen Gegnern Recht. Grundsätzlich war die Haltung der Heimwehren den Juden gegenüber widersprüchlich und von Opportunismus bestimmt. Geprägt durch Streitigkeiten ihrer Führungspersonen und das zeitweise völlige Fehlen einer zentralen Führergestalt, aber auch durch ihre unterschiedliche Entwicklung in den einzelnen Bundesländern, die sich aus deren Historie und Situation erklärt und dazu führte, dass man sich nicht einmal auf eine einheitliche Selbstbezeichnung einigen konnte, war sie sowohl auf die Unterstützung ihrer heterogen zusammengesetzten Mitglieder als auch auf ihre jüdischen Geldgeber angewiesen. Insgesamt dürfte der Antisemitismus bei den Heimwehren als Integrationsmittel von geringerer Bedeutung gewesen sein als bei der stärker von der Kirche beeinflussten Christlichsozialen Partei. Die antisemitischen Äußerungen der Heimwehrführer zollten wohl vor allem der judenfeindlichen Haltung ihrer Anhänger Tribut. In großen Teilen der Bevölkerung, die die Juden traditionell als »Fremde« betrachteten, konnte man damit Zustimmung ernten. Auch ist – abgesehen vom »Steirischen Heimatschutz« – kein zunehmender Antisemitismus im Verlauf des Faschisierungsprozesses der Heimwehren festzustellen, sodass dadurch zwar für die Demokratie und den Staat Österreich eine Gefahr entstand, die jüdischen ÖsterreicherInnen davon jedoch zunächst nicht stärker betroffen waren als ihre nichtjüdischen Landsleute.Wie für die Christlichsoziale Partei  – und alle anderen politischen Kräfte – war der Antisemitismus jedoch auch für die Heimwehren eine wichtige Waffe im Kampf gegen den politischen Gegner. Als die neuen Grenzen des österreichischen Staates im Friedensvertrag von St. Germain geregelt waren, blieb den Heimwehren der Feind im Inneren, nämlich der »Austromarxismus«. Und an der Auseinandersetzung mit dem Republikanischen Schutzbund der Sozialdemokraten lassen sich zwei Phänomene festmachen, die für den Antisemitismus im Österreich der Zwischenkriegszeit charakteristisch sind  : Der Angriff gegen den politischen Gegner enthielt nahezu immer antisemitische Töne, wobei die Richtung natürlich abhängig von der jeweiligen politischen Position war. Während also z. B. die Sozialdemokraten gegen die jüdischen Kapitalisten wetterten, so erklärte der Bundesführer der Heimwehren Richard Steidle im April 1929, seine Organisation sei nicht antisemitisch, sie lehne nur die »jüdischen Marxisten« ab.8 Es reichte also nicht, die Marxisten – gemeint waren sowieso die Sozialdemokraten – als wichtigsten politischen Gegner abzulehnen, sondern dem Angriff sollte deutlicherer Nachdruck verliehen werden, indem die »Marxisten« zu »jüdischen Marxisten« gemacht wurden. In Zeitungsartikeln wurden die Spitzen der Sozialdemokratie als 8 Spira 1981, 32.

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Juden, die angeblich das sowjetische Gesellschaftsmodell anstrebten, diffamiert.9 Diese Strategie lässt sich für alle politischen Kräfte im Österreich der Zwischenkriegszeit nachweisen und war keinesfalls eine Besonderheit der Heimwehren. Das zweite Phänomen ist die Unterscheidung zwischen alteingesessenen österreichischen Juden und jüdischen Flüchtlingen aus den östlichen Teilen des Habsburger Reiches, die nach dessen Zerschlagung vor allem in Wien ein neues Zuhause suchten. Joseph Roth charakterisierte prägnant die Pariarolle, die alle politischen Parteien den Flüchtlingen zuwiesen  : »Es ist furchtbar schwer, ein Ostjude zu sein  ; es gibt kein schwereres Los als das eines fremden Ostjuden in Wien. Für Christlichsoziale sind’s Juden. Für Deutschnationale sind sie Semiten. Für Sozialdemokraten sind sie unproduktive Elemente.«10 Auch hier unterschied sich die Heimwehr nicht von den anderen politischen Kräften. In einem Artikel »Heimwehr und Antisemitismus«, den der damalige Bundesführer Richard Steidle 1929 publizierte, war zu diesem Thema zu lesen  : »Gewisse Kreise jüdischer Herkunft tun das Menschenmöglichste, um antisemitische Tendenzen nach Kräften zu fördern, oder wo solche noch nicht vorhanden sind, zu erzeugen. Ich meine damit, daß gerade unter den übelsten Pressestrolchen, unter den destruktivsten Elementen des Marxismus und seiner Mitläufer, unter den bösartigsten Vertretern der Asphaltdemokratie immer gerade die aus dem Osten zugewanderten Individuen jüdischer Abkunft zu finden sind. Es ist natürlich ungerecht, diese entarteten Exemplare eines Volkes mit der staatstreuen, konservativen und alteingesessenen Judenschaft in einen Topf zu werfen.«11 Mit dieser Unterscheidung zwischen den zugewanderten Ostjuden und dem assimilierten österreichischen Judentum kam Steidle, der sich in früheren Jahren als Gründer des Tiroler Antisemitenbundes noch deutlich radikaler geäußert hatte, sicherlich seinen jüdischen Geldgebern und gleichzeitig einem Großteil der Anhängerschaft der Heimwehren entgegen. Auch sein Nachfolger Ernst Rüdiger Fürst Starhemberg führte diesen Balanceakt fort und vermied es, zu eindeutig Position gegen Juden zu beziehen. Zwar fielen in den Wahlkämpfen – 1930 nahmen die Heimwehren erstmals als »Heimatblock« an den Nationalratswahlen teil – deutlich antisemitische Töne, die Teil ihrer »antimarxistischen« Strategie waren. Am 25.  März 1930 sagte er z. B. in einer Rede  : »Unter Volksgenossen meine ich nur jene, die die Rasseninstinkte der Deutschen tragen, in deren Adern deutsches Blut fließt. Mit dem Volk meine ich nicht jene fremden,

  9 Z.B. Die Heimwehr 33, 17.8.1928. 10 Joseph Roth, Juden auf Wanderschaft, Berlin 1927, zit. n. Wistrich 1990, 169. 11 Neues Wiener Journal, 10.3.1929, zit. n. Wiltschegg 1985, 266.

Antisemitismus und Heimwehren

plattfüßigen Parasiten aus dem Osten, die uns ausbeuten.«12 Aber die Bundesorganisation der Heimwehren forderte keine antijüdischen Maßnahmen wie etwa das in christlichsozialen Kreisen immer wieder erhobene Postulat eines Numerus clausus für jüdische Studenten. Mit dem Verbot des Republikanischen Schutzbundes Ende März 1933 und der Sozialdemokratischen Partei im Februar 1934 verlor der Antisemitismus bei der Heimwehr seine Funktion als Propagandainstrument gegen den politischen Gegner und trat in den Hintergrund. Gegen die konkurrierende NSDAP versprach der Antisemitismus kaum Erfolg, eine Erfahrung, die die Heimwehr ebenfalls mit den anderen politischen Kräften teilte. Allerdings wird daran deutlich, welchen zentralen Stellenwert der Antisemitismus im Österreich der Zwischenkriegszeit besaß  : Keine politische Gruppierung wollte dieses Feld völlig den Nationalsozialisten überlassen. Immer wieder betonte man, dass man wegen des Antisemitismus kein Anhänger der Nationalsozialisten werden müsse. Wie sehr damit das innenpolitische Klima im Österreich der Zwischenkriegszeit vergiftet war, zeigte sich im Frühjahr 1938, als der Einmarsch der deutschen Wehrmacht und der »Anschluss« an Deutschland die Voraussetzung schufen, die Aggressionen gegen das propagierte Feindbild »Jude« auszuleben. Der Ausbruch antisemitischer Gewalt im Frühjahr 1938 überraschte selbst die neuen Machthaber. Die lange aufgestauten Frustrationsgefühle konnten nun hemmungslos an dem Sündenbock, den für fast alle gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Probleme verantwortlich gemachten Juden, ausgelebt werden. Auch die »Arisierung«, die in der Tradition des wirtschaftlichen Antisemitismus stand, wurde mit brutaler Konsequenz und Gründlichkeit durchgeführt. Eine andere Strategie hatte allerdings der radikal-antisemitische Flügel der Heimwehren, der »Steirische Heimatschutz«, verfolgt. Auch er war nach der Niederlage von 1918 als paramilitärische Organisation gegründet worden. Seine radikale ideologische Position rührte nach Martin Moll aus drei Faktoren, die sich in der Steiermark vereinten  : der vorübergehenden Besetzung von Gebieten im Süden dieses Bundeslandes, der Furcht vor einer bolschewistischen Revolution und erwarteten Plünderungen von zurückkehrenden Soldaten.13 Seine Führer, seit 1923 Rechtsanwalt Walter Pfrimer, gefolgt von August Meyszner, Josef Hainzl und Hanns Albin Rauter sowie seit Mai 1932 Konstantin Kammerhofer, positionierten sich für einen »Anschluss« an das Deutsche Reich, was auch durch die Umbenennung von »Heimatschutzverband Steiermark« in »Deutschösterreichischer Heimatschutz« im Januar 1933 zum Ausdruck gebracht werden sollte, und deutlich gegen eine angeblich judenfreundliche Position 12 Zit. n. Britz 1993, 36. 13 Vgl. dazu Moll 2015, 106.

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Steidles oder Starhembergs. Er stigmatisierte die Juden als Fremde und äußerte sich – wie die Nationalsozialisten und im Unterschied zum Bundesverband – rassenantisemitisch.14 Vor allem nach dem Scheitern des Pfrimer-Putsches im September 1931, der die Regierungsübernahme durch die Heimwehren und eine Neuausrichtung des Staates entsprechend dem »Korneuburger Eid« intendiert hatte, rückte der »Steirische Heimatschutz« ideologisch in Richtung NSDAP, ohne allerdings auf seine Selbstständigkeit verzichten zu wollen. Es war offenkundig, dass er seine Vorstellungen innerhalb der Heimwehrbewegung nicht durchsetzen konnte.15 Im Juni 1932 verabschiedete der »Steirische Heimatschutz« »12 Grundsätze«, die deutlich machten, dass die NSDAP und der Heimatschutz um die gleiche Klientel warben. Drei »Grundsätze« beschäftigten sich explizit mit Antisemitismus und »Rassenfragen«.16 In seinem in Graz erscheinenden Blatt »Der Panther« bezog er nun offen gegen die Bundesführer Stellung. Die Zeitung rief z. B. am 11.  Februar 1933 zum Boykott jüdischer Geschäfte auf  : »Der Panther nimmt Anzeigen jüdischer Firmen nicht auf  ! Kameraden und Kameradinnen, kaufet daher in Geschäften, die in unserem Blatte anzeigen  !«17 Der »Steirische Heimatschutz« mit seiner immer stärkeren Anlehnung an die Nationalsozialisten konnte sich trotz seines Rückhalts in der Steiermark und nach einem erfolglosen Putschversuch 1931 in der Bundesorganisation, die ideologisch den Christlichsozialen zuneigte, nicht durchsetzen und suchte bei den Nationalsozialisten eine neue Heimat. Mit der Machtübernahme der NSDAP im Deutschen Reich gab Kammerhofer das Streben nach Erhalt der Eigenständigkeit auf und verbündete sich mit der NSDAP zur »Großdeutschen Front«. Gleichzeitig nahm damit der Antisemitismus der Heimatschützer zu.18 Wie die NSDAP verbot die Regierung Dollfuß auch den »Steirischen Heimatschutz« im Juni 1933  ; schließlich ging er in der N ­ SDAP auf. Seine Führungsriege machte denn auch Karriere bei den Nationalsozialisten, nachdem sie sich nach dem Verbot und dem Scheitern des Putsches im Juli 1934 schon ins Deutsche Reich abgesetzt hatte.19 Walter Pfrimer wurde Mitglied des Reichstags, und August Meyszner sowie Hanns Albin Rauter dienten als Höhere SS- und Polizeiführer (HSSPF) in Serbien bzw. in den Niederlanden.20 Zum Antisemitismus der Heimwehren besteht insgesamt noch erheblicher Forschungsbedarf. Um herauszufinden, welche Rolle der Antisemitismus als Bindemittel 14 Lauridsen 2007, 187. 15 Moll 2015, 109. 16 Ebd., 115. 17 Der Panther, 11.2.1933, zit. n. Maderegger 1973, 122. 18 Moll 2015, 116. 19 Ebd., 122. 20 Ebd.

Antisemitismus und Heimwehren

unter ihren Anhängern spielte und ob es dabei möglicherweise erhebliche regionale Unterschiede gab, müsste man zunächst die Presseerzeugnisse auf Länder- und kommunaler Ebene analysieren. Interessant wären auch eine Durchsicht dieser Zeitungen und biografische Forschungen in Bezug auf spezielle politische Ereignisse, also die Reaktion auf den Brand des Justizpalastes und die Arbeiteraufstände 1927 oder etwa den Zusammenbruch der Creditanstalt 1930 und vor allem im Umgang, der Abgrenzung oder Hinwendung zur NSDAP. Dass für die Nationalsozialisten in Österreich der Antisemitismus mehr war als nur ein Propagandainstrument in der Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern, ja gerade dieses Thema einen erheblichen Teil seiner Attraktivität ausmachte, dürfte unstrittig sein und wird durch die Reaktion der etablierten politischen Kräfte deutlich. Meiner Meinung nach trifft dies aber für die Heimwehren, abgesehen vom »Steirischen Heimatschutz« und vielleicht auch in Kärnten, weniger zu. Ihr Antisemitismus spiegelt die traditionell antijüdische Haltung ihrer Anhänger auf dem Land wider und bedient deren antisemitische Klischees, in der Intensität nicht zuletzt abhängig von der jeweiligen Führungsgestalt und regionalen Unterschieden, wie sich in der Steiermark und Kärnten zeigt. Im Vergleich zur Christlichsozialen Partei und der christlichen Arbeiterbewegung, erst recht im Vergleich zur NSDAP scheint mir der Antisemitismus bei den Heimwehren aber eher eine geringere Rolle als integratives Element der Bewegung zu spielen. Vielleicht hat das etwas damit zu tun, dass die Heimwehren unter ihrer Anhängerschaft mit dem Republikanischen Schutzbund und den Sozialdemokraten einen erklärten, klar ausgemachten Gegner hatten. Dieser Gegner wurde ihnen zudem von den die Heimwehren unterstützenden konservativen Kräften zugeschrieben  ; sie sollten quasi als deren verlängerter, militärischer Arm im Kampf gegen die sozialdemokratische Arbeiterbewegung dienen. Außerdem waren sie eigentlich erst seit ihrer Teilnahme als »Heimatblock« an den Wahlen 1930 gezwungen, sich politisch-ideologisch so zu positionieren, dass sie die Wähler von sich überzeugten, was mit den gut 6 Prozent der erreichten Stimmen allerdings nicht übermäßig erfolgreich verlief. Als Juniorpartner der Konservativen waren sie in deren Auseinandersetzung mit den Sozialdemokraten und mit den Nationalsozialisten eingebunden, entwickelten aber keine eigenständige Ideologie. Die Wissenschaft hat sich bislang mehr damit beschäftigt, wie ausgeprägt der Faschisierungsprozess der Heimwehren in diesen Jahren verlief und diskutiert, ob die Heimwehren überhaupt als eine faschistische Bewegung begriffen werden können, als damit, welche Rolle der Antisemitismus dabei gespielt hat. Davon unberührt bleibt jedoch die Tatsache, dass sich die Heimwehren durch ihre Abkehr vom politischen System spätestens mit dem »Korneuburger Eid«, aber auch z. B. durch den versuchten Putsch von Walter Pfrimer 1931 als einer der Wegbereiter des autoritären Ständestaates gerierten. Aber diese Überlegungen sind im Moment nicht

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mehr als eine Arbeitshypothese, für ein abschließendes Urteil über die Bedeutung des Antisemi­tismus bei den Heimwehren sind gründliche Forschungen unabdingbar.

Literatur und Quellen Britz, Werner, Die Rolle des Fürsten Ernst Rüdiger Starhemberg bei der Verteidigung der österreichischen Unabhängigkeit gegen das Dritte Reich 1933–1936, Frankfurt a.M. u. a. 1993. Bunzl, John/Marin, Bernd, Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien, Innsbruck 1983. Carsten, F. L., Faschismus in Österreich. Von Schönerer zu Hitler, München 1977. Edmondson, C. Earl, The Heimwehr and Austrian Politics 1918–1936, Athens 1978. Die Heimwehr 1928. Königseder, Angelika, Antisemitismus 1933–1938, in  : Tálos, Emmerich/Neugebauer, Wolfgang (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, Wien 2005. Lauridsen, John T., Nazism and the Radical Right in Austria 1918–1934, Kopenhagen 2007. Maderegger, Sylvia, Die Juden im österreichischen Ständestaat 1934–1938, Wien 1973. Moll, Martin, Konfrontation  – Kooperation  – Fusion. Das Aufgehen des Steirischen Heimatschutzes in der österreichischen NSDAP, in  : Schmidt, Daniel/Sturm, Michael/Livi, Massimiliano (Hg.), Wegbereiter des Nationalsozialismus. Personen, Organisationen und Netzwerke der extremen Rechten 1918 und 1933, Essen 2015, 105–123. Neues Wiener Journal 1929. Der Panther 1933. Spira, Leopold, Feindbild »Jud’«. 100 Jahre politischer Antisemitismus in Österreich, Wien u. a. 1981. Staudinger, Anton, Christlichsoziale Partei und Errichtung des »Autoritären Ständestaates« in Österreich, in  : Jedlicka, Ludwig/Neck, Rudolf (Hg.), Vom Justizpalast zum Heldenplatz. Studien und Dokumentationen 1927 bis 1938, Wien 1975. Wistrich, Robert S., Sozialdemokratie, Antisemitismus und die Wiener Juden, in  : Botz, Gerhard/Oxaal, Ivar/Pollak, Michael (Hg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Buchloe 1990. Wiltschegg, Walter, Die Heimwehr. Eine unwiderstehliche Volksbewegung  ?, München 1985. Woller, Hans, Rom, 28. Oktober 1922. Die faschistische Herausforderung, München 1999.

Emmerich Tálos

Antisemitismus und Vaterländische Front

Einstieg Der verbreitete Antisemitismus im Austrofaschismus war in die alte österreichische Tradition der Judenfeindlichkeit eingebettet. In offiziellen Stellungnahmen der Regierung spielte der Antisemitismus keine Rolle, Juden wurden im Austrofaschismus im Unterschied zum deutschen Nationalsozialismus nicht durch spezielle Gesetze diskriminiert und ausgegrenzt. Offiziell kein Thema, im politischen und gesellschaftlichen Alltag des Austrofaschismus allerdings schon. Einen diesbezüglich bedeutenden Faktor stellte die Monopolorganisation, die Vaterländische Front (VF) dar.

Zur politischen Rolle der VF In Analysen über den Austrofaschismus war die VF lange Zeit in ihrer Bedeutung für das Herrschaftssystem unterschätzt worden. Auf Basis der Bearbeitung einschlägiger VF Akten1 lässt sich deren wichtige politische Rolle an mehreren Punkten festmachen  :2 an ihrem breiten Organisationsnetzwerk, das zum einen verschiedenste Gruppen der Bevölkerung erfasste  : vom Mutterschutzwerk, Frauenreferat, dem Österreichischen Jungvolk, der Arbeiterschaft im Rahmen der Sozialen Arbeitsgemeinschaft, Monarchisten bis hin zum Volkspolitischen Referat, das der Integration von Nationalsozialisten dienen sollte und zum Desintegrationsfaktor wurde. Zum anderen überzog die VF Österreich bis ins letzte Dorf mit ihren Organisationen. Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung, nämlich 3 Millionen, waren Mitglieder der VF – ungeachtet dessen, dass diese Zahl keineswegs immer eine uneingeschränkte Identifikation bedeutete, der Beitritt sich teils pragmatischer, opportunistischer Gründe verdankte. Die Bedeutung ist ablesbar an ihrer Rolle für die Propaganda und Mobilisierung der Bevölkerung durch Massenfestspiele, und diverse Appelle, an ihrer Mitwirkung bei

1 Die Akten finden sich im Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Moskauer Bestand, VF (im Folgenden abgekürzt VF-Bestand). 2 Siehe ausführlich dazu Tálos 2013, 147–191.

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Funktionärsbestellungen, an ihren Interventionen in Gesetzgebung und Verwaltung, und nicht zuletzt an ihrer Rolle als politisches Kontrollorgan.

Zur offiziellen Seite des Umgangs mit Juden und Jüdinnen In der Verfassung von 1934 zählte zu den »Allgemeinen Rechten der Staatsbürger« (Art. 15–33) u. a. die Glaubens- und Gewissenfreiheit. Damit waren auch Juden/ Jüdinnen gleiche bürgerliche Rechte und die Religionsfreiheit eingeräumt.3 Es wurden keine Gesetze verabschiedet, die direkt oder explizit gegen die jüdische Bevölkerung gerichtet waren – Kunschaks neuerlicher Vorstoß (1936) für eine Gesetzgebung gegen Juden verlief im Sande. Einige wenige Juden hatten politische Mandate inne  : Unter den 213 Mitgliedern der vier vorberatenden Organe der Gesetzgebung gab es zwei Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde  : Desider Friedmann war Staatsrat und Salomon Frankfurter Bundeskulturrat.4 Jakob Ehrlich war Mitglied der Wiener Bürgerschaft.5 Juden/ Jüdinnen konnten Mitglied der VF werden. Zur Abgrenzung vom nationalsozialistischen Antisemitismus wurde die Differenzierung zwischen religiösem und rassistischem Antisemitismus betont. Realiter gab es keine eindeutige Trennlinie, die Übergänge waren fließend.6 Die konstatierbare Haltung des Lavierens hatte vor allem auch wirtschaftliche Gründe  : Die offizielle Ablehnung der Ausgrenzung von Juden aus dem Tourismus wurde mit deren großer Bedeutung für diesen Wirtschaftszweig begründet. Auch das Prinzip »pecunia non olet« kam zur Geltung  : Finanzielle Zuwendungen seitens der jüdischen Kultusgemeinde waren willkommen. All dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Antisemitismus in der Politik, in der Wirtschaft, in Einstellungen der Bevölkerung realiter große Bedeutung hatte.

»Gesichter« des realen Antisemitismus In ihrem Selbstverständnis schrieb sich die VF eine zweifache Aufgabe zu  : Zum einen müsse sie Sorge tragen, dass im öffentlichem Leben nur Personen zur Geltung 3 Siehe Putschek 1993, 17–20  ; Tálos 2013, 92–93. 4 Siehe Enderle-Burcel 1991, 305f. 5 Siehe Seliger 2010, 61. 6 Siehe Staudinger 1990, 251, 266  ; Wohnout 1994, 16.

Antisemitismus und Vaterländische Front

kämen, die das Gedankengut des christlichen, deutschen Staates zu wahren wüssten. Zum anderen könne sie es nicht billigen, wenn die politischen Rechte vaterlandstreue Staatsbürger wegen ihrer Konfession oder Abstammung beeinträchtigt würden.7 Alles andere (wie z. B. die Abwehr des Antisemitismus) sei Privatsache. Die reale Haltung war allerdings durch ein deutliches Ungleichgewicht geprägt  : Ein Beispiel für die Verbreitung des innerorganisatorischen Antisemitismus ist der Briefverkehr eines Juden mit dem Generalsekretariat der VF  : Martin Bunzl schrieb an die Leitung der VF, dass er und viele seiner Freunde der VF beitreten würden, wenn er »überzeugt wäre, dass dort Juden nicht nur geduldet, sondern ebenso willkommen sind wie christliche Mitglieder, wenn sie auch nur bereit sind, für ihr Vaterland entsprechend einzustehen.«8 Er habe diesbezüglich eine Erklärung vermisst. In der Antwort dazu aus dem Generalsekretariat heißt es  : »Es ist nicht zu leugnen, dass innerhalb der VF sich auch Juden finden […] Wir werden dafür zu sorgen wissen, dass keiner von ihnen irgendwo im Rampenlicht steht, um auf jeden Fall den Eindruck zu vermeiden, dass wir nach dieser Richtung hin ein ganz großes Erfordernis übersehen.«9 Damit wurde zwar das Anliegen des Briefschreibers missverstanden, jedoch die Haltung der VF sehr deutlich zum Ausdruck gebracht. Nicht überraschend daher dessen Antwortschreiben  : Die Juden würden nur interimistisch geduldet. Nicht Gesinnung und Vaterlandstreue seien maßgebend, sondern Rasse und Konfession.10 Es gab keine Distanzierung vom Antisemitismus in den eigenen Reihen. Die VF bezog eine positive Haltung zur verstärkten Zunahme antisemitischer Stimmungen bei ihren Funktionären und Mitgliedern. So heißt es in einem Bericht der Landeswerbeleitung der Tiroler VF, dass der starke Antisemitismus »erfreulicherweise auch die vaterländischen Kreise sehr stark erfasst« habe.11 Wiederholt wurde ventiliert, den Antisemitismus als Waffe gegen den Nationalsozialismus einzusetzen  : »Will die Vaterländische Front hierzulande den Nazis den Wind aus den Segeln nehmen und den Kreis ehrlicher Kämpfer festigen und erweitern«, so müsse sie »in der Judenfrage nach dem Rechten sehen«.12 Realiter wurden Juden/Jüdinnen politisch und gesellschaftlich diskriminiert und ausgegrenzt  :13 Es wurde nicht nur der Beitritt zur VF erschwert. In Führerschulungskursen der Jugendorganisation »Österreichisches Jungvolk« wurde ein Vorschlag zur   7 Programmatische Schrift der VF  : VF-Bestand 2446/29–30.   8 Brief vom 22.9.1933 (VF-Bestand 195/109).   9 Brief vom 29.9.1933 (VF-Bestand 195/110). 10 Siehe Tálos 2013, 475. 11 VF-Bestand 2571/101–102. 12 VF-Bestand 836/12. 13 Siehe näher dazu Tálos 2013, 478–488.

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Einführung des Arierparagraphen in der Organisation gemacht und diesbezügliche Anregungen dem Generalsekretariat der VF vorgelegt.14 Der Beitritt nichtgetaufter Juden sollte verboten werden. Mit der Einführung dieses Paragraphen könne man die Herzen der Bevölkerung gewinnen. Die Anregungen wurden nicht umgesetzt, allerdings ein eigener jüdischer Jugendverband gegründet. Den Arierparagraphen gab es laut Statuten in der Jugendorganisation der von Kurt Schuschnigg gegründeten »Ostmärkischen Sturmscharen« und in der »Christlich deutschen Turnerschaft«. Die wirtschaftliche und berufliche Diskriminierung erfolgte auf mehreren Wegen  : Mit der Gewerbeordnungsnovelle 1934 wurde eine reale Diskriminierung jüdischer Händler insofern eingeführt, als es zur Unterbindung von Aktivitäten wie Kundenbesuchen, die vor allem von jüdischen Händlern durchgeführt wurden, und zur Untersagung des Kaufs auf Raten kam. Jüdische Jungärzte wurden von der Fachausbildung ausgeschlossen. VF Kreise erhoben wiederholt Forderungen nach wirtschaftlicher und beruflicher Diskriminierung. So heißt es beispielsweise in einem Bericht der Wunschversammlungen in Tirol vom Juni 1937  : Zurückdrängung der jüdischen Intellektuellen, Advokaten, Ärzte, Professoren, Kaufleute, Ingenieure auf ein Maß, das der Volkszahl entspricht  ; Säuberung der RAVAG von jüdischen Elementen, Entfernung der jüdischen Schriftleiter aus den Redaktionen der staatlichen und regierungstreuen Blätter  ; möglichste Beschränkung des staatlichen Geldverkehrs mit jüdischem Kapital.15 Berufliche Nachteile für Juden/Jüdinnen wurden von der VF bestätigt. So trat das Generalsekretariat der VF von den Nationalsozialisten gestreuten Gerüchten, dass bei der Länderbühne Juden Beschäftigung fänden, wie folgt entgegen  : Im technischen Personal ist kein Jude beschäftigt. Das VF Werk »Neues Leben« garantierte bei der Besetzung der Leitung des Theaters der Jugend »Rassenreinheit« in der Personalpolitik. Der Antisemitismus war zur alltäglichen Selbstverständlichkeit geworden. Ein Beispiel, das dies eindrücklich belegt  :16 Eine Gruppe des Österreichischen Jungvolkes hatte beim Marsch durch den 2. Bezirk ein Lied gesungen, in dem ein Strophe ­lautete  : »Wenn der Heimwehrmann ins Feld zieht, ja da hat er frohen Mut, und wenn das Judenblut vom Messer spritzt, geht es noch einmal so gut«. Nach einer Anzeige aus der Bevölkerung rechtfertigte er sich bei einer Befragung des Gruppenführers durch die Polizei damit, dass er dieses Lied vom Ferienlager des Heimatschutzes kenne. Seitens der Landesjugendführung wurde dem Führer ein Verweis ausgespro14 Siehe VF-Bestand 836/12. 15 Siehe VF-Bestand 2571/101. 16 Siehe VF-Bestand 838/131, 133.

Antisemitismus und Vaterländische Front

chen  : »Mit Rücksicht auf den Stadtbezirk und dessen Bevölkerung war das Absingen des beanstandeten Liedes jedenfalls untunlich«.17 Kurz zusammengefasst  : Antisemitismus war ein wesentlicher Bestandteil des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Alltags in den Jahre 1933–1938. Er wurde nicht bloß geduldet, sondern begünstigt, gefördert und praktiziert sowohl durch die austrofaschistische Regierung als auch durch VF und deren Organisationen – mit unübersehbaren Folgen für die Entwicklung ab 1938. Der austrofaschistische Antisemitismus weist mit dem des italienischen Faschismus große Ähnlichkeiten auf. Auch in Italien hatte der Antisemitismus bis in die zweite Hälfte der 1930er Jahre offiziell keine Bedeutung.18 Der Anteil von Juden/Jüdinnen an den Mitgliedern der Faschistischen Partei Italiens lag höher als deren Anteil an der italienischen Gesamtbevölkerung. Eine einschneidende Änderung erfolgte erst im Gefolge des Abessinienkrieges und der Annäherung an den Nationalsozialismus – mit Rassengesetz und Ausschluss aus dem Staatsapparat.19

Literatur Bauerkämper, Arnd, Der Faschismus in Europa 1918–1945, Stuttgart 2006. Enderle-Burcel, Gertrude (unter Mitarbeit von Johannes Kraus), Christlich – Ständisch – Autoritär  : Mandatare im Ständestaat 1934–1938, Wien 1991. Payne, Stanley G., Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung, München 2001. Putschek, Wolfgang, Ständische Verfassung und autoritäre Verfassungspraxis in Österreich 1933– 1938, Frankfurt 1993. Schieder, Wolfgang, Der italienische Faschismus 1919–1945, München 2010. Seliger, Maren, Scheinparlamentarismus im Führerstaat, Wien 2010. Staudinger, Anton, Katholischer Antisemitismus in der Ersten Republik, in  : Botz, Gerhard (Hg.), Eine zerstörte Kultur, Buchloe 1990, 247–270. Tálos, Emmerich, Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933–1938, Wien 2013. Tálos, Emmerich (unter Mitarbeit von Florian Wenninger), Das austrofaschistische Österreich 1933–1938, Wien 2017. Wohnout, Helmut, Die Janusköpfigkeit des autoritären Österreich, in  : Geschichte und Gegenwart 13 (1994/1), 3–16.

17 VF-Bestand 838/135. 18 Siehe Payne 2001, 261  : Tálos 2017, 169. 19 Siehe Schieder 2010, 62  ; Bauerkämper 2006, 56.

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Archivalische Quellen Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Moskauer Bestand, VF.

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»Wir sind freiheitlich gesinnt und Judengegner« Der (Rassen-)Antisemitismus der Großdeutschen Volkspartei Einleitung Die Großdeutsche Volkspartei (GDVP) verabschiedete auf ihrem Gründungsparteitag in Salzburg vom 5. bis 7. September 1920 das nach dem Tagungsort1 benannte »Salzburger Programm«, das bis zur Parteiauflösung 1934 unverändert in Geltung blieb.2 Das Programm, das erstmalig in der Schrift »Richtlinien deutscher Politik, programmatische Grundsätze der Großdeutschen Volkspartei« Ende 1920 in Wien publiziert wurde, wurde fast unverändert von der »Nationaldemokratischen Partei« übernommen. Es bildete eine Gemeinschaftsarbeit von Felix Frank (1876–1957), Hermann Kandl, August Wotawa (1876–1933) und des bald zum Parteiideologen aufgestiegenen, damals sehr prominenten Nationalökonomen und Dozenten an der Technischen Hochschule Otto Conrad (1876–1943). Die Genannten waren auch federführend bei der deutschnationalen Einigung beteiligt.3 »Unverrückbarer außenpolitischer Leitstern« des Salzburger Programmes war der sofortige Anschluss an das Deutsche Reich, dem alle anderen Aufgaben unterzuordnen waren. Dies war zwar kein Alleinstellungsmerkmal, denn auch die Sozialdemokraten und Teile der Christlichsozialen hätten für einen Anschluss unterschrieben, keine andere Partei betrieb diese Forderung aber mit einer derartigen Vehemenz. Das Streben nach einer »Vereinigung aller Volksgenossen in einem staatlichen Verband« lag »naturnotwendig im Wesen der Volksgemeinschaft«  – der zweiten, innenpolitischen Säule des Programms. Durch die Idee der »nationalen Volksgemeinschaft«, die als eine auf den Prinzipien von Leistung und sozialer Gerechtigkeit beruhenden 1 Richard Voithofer unterstrich die Bedeutung von Salzburg als Tagungsort  : Die Stadt stellte geographisch die Mitte Österreichs dar und war in Anbetracht der schwierigen Verkehrsverhältnisse von allen Bundesländern aus leicht zu erreichen. Die Grenznähe Salzburgs zum Deutschen Reich unterstrich den Anschlusswillen der Großdeutschen, und die Abhaltung dieser Großveranstaltung sollte die Salzburger in ihren Anschlussbestrebungen unterstützen, vgl. Voithofer 2000, 108. 2 Kriechbaumer 2001, 479. 3 Jung 1937, 3. Siehe auch Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Parteiarchiv der GDVP (PArch GDVP), Kt. 26, Mappe R1-3, »Die Geschichte der Bestrebungen nach Herstellung einer nationalen Einheitsfront«, o.D.

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Kultur- und Arbeitsgemeinschaft angesehen wurde, sollte der ungehemmte Individualismus einerseits, wie er im Liberalismus zum Ausdruck gekommen sei, sowie der klassenkämpferische Sozialismus andererseits überwunden werden.4 Die Partei ersetzte jedoch den verhassten Klassenkampf durch den »Rassenkampf«,5 denn aus dem Gedanken der »Volksgemeinschaft« wurde in einem letzten Kapitel des fast vierzigseitigen Programms »Unsere Stellung zur Judenfrage« abgeleitet. Keine andere Partei der Ersten Republik widmete sich dem antisemitischen Ressentiment in solcher Ausführlichkeit wie die GDVP. Die schlechte Ernährungslage, Kohlenund Wohnungsnot, Pauperisierungsängste des Mittelstandes sowie starke jüdische Zuwanderung aus dem Osten der Monarchie, über die noch ausführlich berichtet wird, führten zu einer zusätzlichen Aktualisierung der »Judenfrage«  :6 »Der Gedanke der Volksgemeinschaft hat eine negative Seite  : In ihm liegt das Gebot der Abwehr volksfremder, schädlicher Einflüsse und das Bedürfnis nach Schutz gegen Fremdkörper, die dem Volksorganismus gefährlich sind. Ein solcher Fremdkörper ist das Judentum«, hieß es in der Einleitung.7 Die Begründung des antisemitischen Reflexes basierte auf der rassistischen Argumentation der »jüdischen Rasseneigentümlichkeit«, deren Moral »der jüdischen Rassen- und Interessensgemeinschaft« entspreche, die der deutschen entgegengesetzt wäre und auf deren »Gemüt und […] Gesinnung wirkt wie ein fressendes Gift«.8 Als »zersetzend« und »verheerend für den inneren Zusammenhalt des Volkes« hätten die Programmgestalter »die Weltanschauung des Individualismus erkannt, die im Liberalismus und Marxismus ihre Auswirkungen gefunden hat. Diese Weltanschauung hat nun am Judentum ihre festeste Stütze, denn der Jude ist seinem Charakter und seiner Veranlagung nach durch und durch Individualist. Der Gedanke, dass das Ganze gedeihen müsse, damit die Wohlfahrt des Einzelnen gesichert sei, ist ihm fremd. Er verfolgt seinen unmittelbaren persönlichen Vorteil unbekümmert um die Bedürfnisse der Allgemeinheit […] Im Wesen des Individualismus, der rücksichtslos den eigenen Vorteil verfolgt, liegt das Bestreben, andere zu beherrschen und für sich arbeiten zu lassen. Deutscher Geistesrichtung entspricht der Satz  : ›Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‹. Nach der Auffassung der jüdischen Religion ist die Arbeit ein Fluch. Liberalismus und Marxismus, beide vom jüdischen Geiste erfüllt, kennen den Begriff der Arbeitsfreude überhaupt nicht. Die Arbeitsgemeinschaft, die alle Angehörigen der Volkswirtschaft miteinander verbindet, wird 4 5 6 7 8

Ackerl 1967, 49ff  ; Wandruszka 1983, 282. Bunzl/Marin 1983, 52. Holzmann 1986, 68. Berchtold 1967, 478. Zit. n. Kriechbaumer 2001, 485.

Der (Rassen-)Antisemitismus der Großdeutschen Volkspartei

vom Juden nicht empfunden, er sucht sich ihr zu entziehen. Sein höchstes Ziel ist, Reichtümer anzuhäufen, um der Notwendigkeit, arbeiten zu müssen, enthoben zu sein. Seinen Beruf wählt er so, dass er aus der Arbeit anderer Nutzen zieht […] Er ist ein Parasit am Wirtschaftskörper.« Diese Veranlagung mache die Juden »zur Erhaltung eines eigenen Staates unfähig […]. So ist es das Schicksal der Juden geworden, unter fremden Völkern zu leben […] Die Rassenveranlagung treibt den Juden dazu, die Herrschaft über das Wirtsvolk anzustreben« und die »Bildung einer Volksgemeinschaft zu verhindern«.9 Der Weltkrieg, die Schwächung des Staates und die voranschreitende Auflösung des gesellschaftlichen Zusammenhalts habe zu einem ungeheuren Machtanstieg des Judentums geführt, das durch seine Dominanz im Wirtschafts- und Kulturleben das deutschösterreichische Wirtsvolk weitgehend beherrsche  :10 »Zermürbung der bodenständigen Machtorganisation, Zersplitterung des Volkes in einander bekämpfende Gruppen, Untergrabung der sittlichen Kraft des Volkes, das ist das Zerstörungswerk, das der jüdischen Herrschaft den Weg bahnt und die Machtmittel zur Geltung bringt, die sich das Judentum seinerseits geschaffen hat  : die Finanzinstitute, womit der Jude die Wirtschaft und die Presse, womit er die öffentliche Meinung beherrscht. Mit ihnen hält er das Volk in Knechtschaft und den Staat am Zügel […] So übt der Jude die Herrschaft aus, nachdem er die Kraft des Wirtsvolkes zersplittert und zerbrochen hat.« Nach diesen Ausführungen folgte ein als ideologischer »Abwehrantisemitismus« getarnter Forderungs- und Disziplinierungskatalog  : »Seine unserem Volk schädlichen, ererbten und unabänderlichen Eigenschaften sind es […], die uns zu einer sich als Rassenantisemitismus darstellenden Gegnerschaft zum Judentum führen. Wir verlangen daher die Behandlung der Juden als eigene Nation mit allen sich daraus ergebenden Folgerungen, eine Forderung, die ja auch von einem Teil der Judenschaft11 selbst vertreten wird. Aufklärende Arbeit über das Wesen der jüdischen Geistesrichtung und ihre Gefahren für das deutsche Volk soll dazu führen, dass der jüdische Einfluss in Kultur und Wissenschaft und im öffentliche Leben zurückgedrängt und jüdische Denkart und Anschauung innerhalb des deutschen Volkes verschwindet. Dadurch werden wir das Hauptziel, die Errichtung der Volksgemeinschaft, leichter und rascher erreichen können […] Je mehr die Volksgemeinschaft erstarkt, desto mehr wird die

 9 Berchtold 1967, 479. 10 Zusammengefasst bei Kriechbaumer 2001, 486. 11 Gemeint sind die zionistischen Gruppierungen.

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Machtstellung des Judentums geschwächt. Die vollendete Verwirklichung der Volksgemeinschaft würde das Ende der jüdischen Herrschaft bedeuten.«12 Adam Wandruszka hat zurecht darauf hingewiesen, dass in dem Programm auch der Versuch steckte, neben den »radikalen« auch die »gemäßigten« Antisemiten mit folgenden Formulierungen zufriedenzustellen, wodurch sich zwangsläufig Widersprüche ergaben  : »Wenn hierüber […] mit voller Offenheit gesprochen wird, so geschieht dies ohne Gehässigkeit und ohne sittliche Wertung der jüdischen Rasseneigentümlichkeit […] Wir sind auch weit davon entfernt, zu bestreiten, dass es Juden gibt, die sich von der jüdischen Interessensgemeinschaft losgesagt haben und bestrebt sind, sich deutsche Denkart und Gesinnung anzueignen.« Immer wieder langten auch Schreiben von Funktionären bei der Parteileitung ein, in denen Beschwerde gegen allzu radikale Formulierungen wie »Zersetzung« oder »fressendes Gift«, vor allem nach Übernahme der Regierungsmitverantwortung geführt wurde.13 Wandruszka verharmloste das Programm dennoch, indem er den Nachsatz zu obiger Assimilierungs-Passage einfach wegließ (»Allein diese Fälle sind Ausnahmen, die große Masse der Juden ist volksfremd, mit ihr haben wir es in der Politik zu tun«) und an anderer Stelle verallgemeinernd über den »gemäßigten Antisemitismus im Salzburger Programm« schrieb.14 Die Aussage im Programm, dass »es viele Deutsche gibt, die von den Juden Denkart und Gesinnung angenommen haben, die wir nicht als Gegner, sondern als Verräter am Volk betrachten, die wir nur der Verachtung preisgeben können, denn sie stehen außerhalb der Gemeinschaft […] und handeln […] moralisch verwerflich«, fand in dem am zweiten Reichsparteitag am 28. Juni 1921 beschlossenen »Parteigrundgesetz« und dem darin enthaltenen »Arierparagraphen« seinen Niederschlag  : »Mitglied […] kann jeder eigenberechtigte Deutsche ohne Unterschied des Geschlechts werden. Juden sind demnach von der Mitgliedschaft ausgeschlossen.«15 Somit war die GDVP die einzige der im Nationalrat vertretenen Parteien, die einen Arierparagraphen führte. Bis zum kleinsten Vertrauensmann hinab musste jeder Parteifunktionär einen »Revers« unterschreiben, in dem er sich bei sonstiger Zurücklegung des Mandats den programmatischen Grundsätzen des Salzburger Programms sowie dem Parteigrundgesetz und den Beschlüssen der Reichs- und Landesparteileitung unterwarf.16 12 Berchtold 1967, 481f. 13 Siehe etwa ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 26, Mappe »Parteiprogramm 1930« Vorschläge des Landesfrauenausschuss Salzburg zu dem Entwurf des neuen Parteiprogramms, 6. 14 Wandruszka 1983, 285–287. 15 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 30, Mappe »Parteigrundgesetz«  ; vgl. Weis 1994, 11  ; Kriechbaumer 2001, 487. 16 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 25, Mappe L-II, »Wahlen in die Bezirkssauschüsse 1927«.

Der (Rassen-)Antisemitismus der Großdeutschen Volkspartei

Mit dem Salzburger Programm fanden auch die zahlreichen Entwürfe für Parteirichtlinien ein Ende, wie etwa jene Konzeption von Josef Ursin (1863–1932) vom August 1919, in dem er den an sich schon widersprüchlichen Satz »Wir sind freiheitlich gesinnt und Judengegner« propagierte.17

Besetzungsfragen in der politischen Praxis Bei der Nationalratswahl vom 17. Oktober 1920 gaben der zu dieser Zeit weder finanziell noch organisatorisch fundierten Partei, die eine, wenn auch aufsteigende Mitgliederzahl von rund 90.000 aufweisen konnte, 475.889 Personen ihre Stimme (16,69 Prozent), was sich in nicht erwarteten 20 Mandaten niederschlug.18 Die Mandatare bildeten den »Verband der großdeutschen Abgeordneten im Nationalrat« unter der Führung des Klubobmannes und Dritten Nationalratspräsidenten Franz Dinghofer (1873–1956). Die Bildung einer auf das kurzlebige Proporzkabinett des Bundeskanzlers Michael Mayr (1864–1922) folgenden Regierung gestaltete sich schwierig, da die Sozialdemokraten den Wiener Polizeipräsidenten Johann Schober (1874–1932) ablehnten, der erwog, eine reine Beamtenregierung zu formieren. Die SDAP ging lieber in Opposition. Schober, der gesinnungsmäßig den Großdeutschen nahestand, scheiterte schließlich auch an den Einwänden der Parteiabgeordneten. Der Verband lehnte Josef Redlich (1869–1936), im letzten Kabinett Lammasch ab 27. Oktober 1918 zwei Wochen Finanzminister, der wieder für dieses Ressort im Gespräch war, einstimmig ab, weil er »Donauföderalist«, daher als »Gegner Deutschlands« gegen den Anschluss eingestellt, und »Judenstämmling« sei.19 Als Schober auf der Kandidatur Redlichs bestand, erklärte der Tiroler Schönerianer Sepp Straffner (1875–1952) am 19. November 1920 im Verband  : »Wir sind Antisemiten. Unser Antisemitismus darf in diesem kritischen Augenblick nicht versagen  !«20 Schober resignierte wegen der Ablehnung Redlichs durch die GDVP, es kam zu einem christlichsozialen Minderheitenkabinett unter Kanzler Michael Mayr (II), das die Großdeutschen jedoch in Form der »Politik der freien Hand« von Fall zu Fall unterstützten.21 17 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 37, Mappe I-15, »Deutsche parlamentarische Kanzlei«, Richtlinien, Entschließungen und Beschlüsse Großdeutsche Vereinigung für Niederösterreich, 20.8.1919, 1. 18 Ackerl 1967, 80, 97, 129. 19 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 2, 3. Sitzung des Verbandes der Abgeordneten der GDVP, 18.11. 1920, 2. 20 Ebd., 4. Sitzung des Verbandes der Abgeordneten der GDVP, 19.11.1920, 5. 21 Ebd., 5. Sitzung des Verbandes der Abgeordneten der GDVP, 20.11.1920, 4f.

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Noch einmal beschäftigte sich der Verband mit Josef Redlich  : Als die Regierung Mayr den Wunsch äußerte, Redlich als außerordentlichen Gesandten in die USA zu entsenden, um Privatkredite für das hungernde Österreich zu bekommen, wurde dies in der Sitzung vom 12. Jänner 1921 zunächst aus zwei Gründen begrüßt  : Ein finanziell in Österreich engagiertes Amerika würde den Anschluss deswegen befürworten, weil als Schuldner das große Deutsche Reich in Betracht käme. Den zweiten Grund nannte der oberösterreichische Fachlehrer Max Pauly (1876–1934)  : »Amerika ist stark verjudet. Es wäre daher praktisch vielleicht ganz gut, einen Juden nach Amerika zu senden.« Da aber Redlich »absolut keine Sicherung dafür« gebe, »dass wir nicht in vollständige Abhängigkeit Amerikas geraten und den Anschluss erschweren«, schloss sich Pauly dem schließlich einstimmig angenommenen Antrag des Reichsparteiobmannes Hermann Kandl an, zwar für einen Gesandten zu stimmen, Josef Redlich jedoch wegen seiner »Anschlussfeindlichkeit« erneut abzulehnen.22 Für den 8.  Dezember 1920 waren Bundespräsidentenwahlen durch die Bundesversammlung angesetzt, in der keiner der drei Parteien die Mehrheit besaß. Das bisherige sozialdemokratische Staatsoberhaupt Karl Seitz (1869–1950) soll sich im Vorfeld gegenüber dem Großdeutschen Hans Schürff (1875–1939) geäußert haben, dass ihn »das Amt nicht reize, denn die Tätigkeit des Bundespräsidenten eigne sich für einen senilen Trottel.«23 Auch die Christlichsozialen waren wegen ihres Kandidaten Michael Mayr (1864–1922) in Verlegenheit, der mittlerweile ja Bundeskanzler war. Sie traten zunächst wegen eines »Kandidaten im Einvernehmen« an die GDVP heran. Als die Partei jedoch namhaft gemachte Personen immer wieder ablehnte und die Christlichsozialen verdächtigte, Monarchie-freundlich und Anschluss-feindlich zu sein, stellten diese am 7. Dezember 1920 den parteilosen Juristen, Volksbildner und Mitbegründer der Wiener Zentralbibliothek, Michael Hainisch (1858–1940), als ihren ultimativen Kandidaten vor, um die drohende Demission der Regierung zu verhindern. Die GDVP reagierte darauf mit einem eigenen Kandidaten in der Person Franz Dinghofers. Einige Abgeordnete, angeführt vom Schönerianer Josef Ursin, machten nun aus »antisemitischen Gründen« Stimmung gegen Hainisch, weil dieser »eine Jüdin zur Frau habe« und daher nicht wählbar sei.24 Das Ergebnis ist bekannt  : Michael Hainisch wurde am 9. Dezember 1920 als Bundespräsident angelobt, Dinghofer unterlag. 22 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 2, 15. Sitzung des Verbandes der Abgeordneten der GDVP, 12.1.1921, 1ff. 23 Ebd., 8. Sitzung des Verbandes der Abgeordneten der GDVP, 4.12.1920, 4. 24 Ebd., 10. Sitzung des Verbandes der Abgeordneten der GDVP, 9.12.1920, 4  ; siehe auch ÖStA, AdR, PA GDVP, Kt. 37, Mappe »Obmännerbesprechungen«, R1-15, Schreiben Franz Dinghofer an Hermann Kandl, 12.12.1920.

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Interessanterweise setzte sich die GDVP danach nicht mehr mit Besetzungsfragen auseinander. In den Parteiprotokollen finden sich dafür bis auf eine Ausnahme keine Anhaltspunkte  : 1922, als sich die GDVP bereits in einer Koalition mit den Christlichsozialen befand, wurde bei der Bestellung Viktor Kienböcks (1873–1956) zum Finanzminister zwar angemerkt, dass er eine jüdische Mutter habe, eine Ablehnung wie bei Josef Redlich erfolgte jedoch nicht. Nur Ursin ersuchte aus »antisemitischen Gründen«, sich der Wahl des Finanzministers im Abgeordnetenklub enthalten zu können.25

Die »Ostjudenfrage« Nach der vernichtenden Niederlage der k. u. k. Armee in Galizien im Herbst 1914 wurden die »Ostjuden« zu den ersten zivilen Kriegsopfern  : Die österreichisch-ungarischen Streitkräfte reagierten auf den russischen Durchbruch  – offiziell aus militärischer Notwendigkeit – mit gewalttätigen Exzessen, Plünderungen, Vertreibungen, Zwangsumsiedelungen, Massenhinrichtungen und der Schleifung Hunderter Dörfer im Frontgebiet. Schon bald befand sich die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Galiziens – rund 400.000 Menschen – auf der Flucht bzw. wurde zwangsevakuiert. Im Zuge dieser Flüchtlingswelle erreichten im Herbst und Winter 1914/15 nicht weniger als 150.000 Personen, meist Juden, die Reichshauptstadt Wien, denen bei ihrer Ankunft Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus entgegenschlug. Es fehlte jegliches Verständnis für ihre Anwesenheit, da der Bevölkerung das militärische Debakel, die Zwangsevakuierungen und Zerstörungen im Frontgebiet verschwiegen worden war. Nach der Rückeroberung weiter Teile Galiziens und der Bukowina im Herbst 1915 repatriierte man sofort tausende Flüchtlinge. Dadurch sank die Zahl staatlich unterstützter Flüchtlinge in Wien von fast 150.000 bis zum Herbst 1915 auf 77.000  ; im Mai 1916 waren es nur noch 20.000. Die Brussilow-Offensive im Sommer 1916 löste eine neuerliche Fluchtwelle Richtung Wien aus, wodurch die Zahl der unterstützten jüdischen Flüchtlinge bis Mai 1917 wieder auf rund 40.000 stieg. Als sich die Monarchie aufzulösen begann, befanden sich rund 25.000 jüdische Flüchtlinge in Wien, die von Repatriierungsmaßnahmen ausgenommen waren und unter menschenunwürdigen Bedingungen dahinvegetierten.26

25 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 3, Verhandlungsschrift der 167. Sitzung des Verbandes der Abgeordneten der GDVP, 14.11.1922, 5. 26 Albrich 1997, 317–320.

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Bereits in den letzten beiden Kriegsjahren wurden die »fremden Opfer«, deren plötzliches und zahlreiches Auftreten Angst hervorrief, ungeachtet der Zensur als Schmarotzer und Parasiten, als Wucherer, Preistreiber und Schleichhändler, schließlich als Unruhestifter und rote Revolutionäre diffamiert. Das kollektive Feindbild »Flüchtling« gewann klare Konturen. Neu war das Ausmaß der Hetze, die immer »kämpferischere, gewalttätigere und aggressivere Formen« annahm und alle Bereiche des öffentlichen Lebens erfasste, sowie die Konsequenz, mit der die Ängste und Aggressionen der von Nachkriegselend und Wirtschaftskrise hart betroffenen Bevölkerung auf eine durch mangelnde Assimilation leicht fassbare Fremdgruppe als Sündenböcke abgewälzt wurden.27 Die Initiative dazu ging eindeutig von Politikern des christlichsozialen und des deutschnationalen Lagers aus, aber auch die Sozialdemokraten waren gegen den Antisemitismus nicht immun. Als sich die GDVP gleich nach ihrer Gründung mit der »Ostjudenfrage« befasste, gab es daher bereits »Höhepunkte« antisemitischer Agitation  : So brachte der christlichsoziale Abgeordnete Anton Jerzabek (1867–1939) am 4. Februar 1919 in der Provisorischen Nationalversammlung den Gesetzesantrag ein, fremdzuständigen Personen, und damit waren in erster Linie jüdische Flüchtlinge gemeint, die Einwanderung zu verbieten, bzw. schon eingewanderte auszuweisen.28 Am 2. Juli 1919 richtete der Schönerianer Josef Ursin eine Anfrage an die Regierung, was sie gegen die Einbürgerung und Namensänderung galizischer Flüchtlinge unternehme, die sich während des Krieges Vermögen angehäuft hätten, und trat für deren Abschiebung ein.29 Am 10.  September 1919, am Tag der Unterzeichnung des Staatsvertrages von St. Germain, ließ der sozialdemokratische niederösterreichische Landeshauptmann Albert Sever (1867–1942), in dessen Kompetenzbereich damals noch Wien fiel, eine Kundmachung betreffend »Die Abreisendmachung der in Deutschösterreich nicht heimatberechtigten Personen« veröffentlichen, in der »alle Angehörigen der österreichisch-ungarischen Monarchie«, die ohne Heimatberechtigung in Deutschösterreich lebten und sich nicht vor dem 1. April 1914 in Österreich dauernd aufhielten, bis zum 20. September zur Auswanderung aufgefordert wurden.30 Als sich der Erlass wegen der Schwierigkeiten im Eisenbahnverkehr zunächst als undurchführbar erwies, forderte erneut Josef 27 Hoffmann-Holter 1995, 161, 272. 28 Im Motivenbericht hieß es, »dass es der Bevölkerung in Deutschösterreich doch unmöglich zugemutet werden« könne, dass sie »jedes Gesindel, dem in seinem früheren Aufenthaltsort der Boden zu heiß geworden« sei, »bei sich aufzunehmen und von demselben zum Dank dafür sich bis auf die Haut ausziehen, ja zu guter letzt noch das Dach über dem Kopfe anzünden lassen müsse«, zit. n. Staudinger 1979, 28. 29 Holzmann 1986, 105. 30 Hoffmann-Holter 1995, 197–204  ; Holzmann 1986, 107.

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Ursin gemeinsam mit dem Nationalsozialisten Walter Riehl (1881–1955) vor 5.000 Personen in einer Versammlung des »Deutschen Volksrates für Wien und Niederösterreich« am Rathausplatz die »Ausweisung der Ostjuden« ultimativ bis 3. Oktober. Mit Plakaten mit den Parolen »Ostjuden hinaus, fort mit den fremden Schmarotzern  !« wurde Stimmung gemacht. Im Herbst 1919 veranstaltete auch der Antisemitenbund, der unter der Leitung von Anton Jerzabek stand, Großversammlungen und Demonstrationszüge.31 Obwohl auch später immer wieder vereinzelt Großdeutsche in Führungspositionen im Antisemitenbund tätig waren, lehnte ihn die Partei wegen seines »reaktionär-christlichsozialen« Charakters ab und beschloss etwa, sich nicht an den Herbstdemonstrationen zu beteiligen.32 Schließlich stellte der christlichsoziale Arbeiterführer Leopold Kunschak (1871–1953) am 29. April 1920 in einer Rede vor der Konstituierenden Nationalversammlung »die Juden vor die Wahl, entweder freiwillig auszuwandern oder aber in Konzentrationslager gesteckt zu werden«. Kunschak meinte damit nicht nur die »Ostjuden«, sondern auch schon assimilierte österreichische Staatsbürger.33 Es passt daher in den zeitlichen und thematischen Kontext, als Josef Ursin in der Sitzung des Reichsvollzugsausschusses der GDVP vom 25. Jänner 1921 verkündete, dass er im Abgeordnetenverband beantragt habe, einen sogenannten »Fachausschuss für die Judenfrage« einzusetzen, der sich mit der »Frage der systematischen Bekämpfung des Judentums« zu beschäftigen habe. Ursin ersuchte deswegen die Partei um Beistellung von Material und »Fachleuten« für die Ausschussarbeiten.34 Im Parteiarchiv der GDVP im Österreichischen Staatsarchiv hat sich neben den Verhandlungsschriften eine zwar undatierte, aber scheinbar komplette »Mitgliederliste des Judenausschusses« erhalten. Demnach gehörten dem Ausschuss neben Josef Ursin noch die großdeutschen Abgeordneten Felix Frank, Hans Angerer (1871–1944), Viktor Zeidler (1868–1942) sowie der spätere Reichsparteiobmann August Wotawa an. Zeitweise waren auch die Abgeordneten Pauly und Heinrich Clessin (1880–1950) dabei.35 In der ersten Sitzung, die am 21.  April 1921 abgehalten wurde, war auch 31 Holzmann 1986, 107f. 32 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 2, Verhandlungsschrift der 40.Sitzung der »Großdeutschen Vereinigung«, 9.10.1919, 13. 33 Stuhlpfarrer 1988, 143. 34 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 37, Mappe »Reichsvollzugsausschuss August 1920–Juni 1921«, Verhandlungsschrift über die Sitzung vom 25.1.1921, 6. 35 Als sogenannte »Fachleute« befinden sich noch auf der Liste Emil Barnert, Otto Conrad, Hans Erntner, Schulz, das Vorstandsmitglied des Antisemitenbundes Eduard Voglmayer, Georg Schmollinger, der Redakteur des Wiener Mittag Viktor Lischka, Karl Frey, Alfred Schlusth, Heinrich Payr, der Wiener Gemeinderatsabgeordnete der GDVP Otto Wagner, Fehleise, Obstl. Odelga, Viktor Otte, Josef Erber, der spätere Wiener VdU-Obmann Viktor Miltschinsky, der frühere Nationalsozialist Josef Ertl,

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die »Ostjudenfrage« eines der Hauptthemen. Zunächst wurden Josef Ursin zum Obmann des Ausschusses, der Redakteur und völkische Schriftsteller Emil Barnert36 zu seinem Stellvertreter gewählt. Man war sich einig, dass die »Judenfrage« nur durch ein Zusammenwirken aller Parteien und Staaten, die von der »Judenplage« betroffen seien, gelöst werden könne, weswegen zunächst ein Informationsdienst »über krasse Auswüchse der jüdischen Geschäftspraktiken« und eine »Bankbeobachtungsstelle« eingerichtet werden sollte. Eine Mitarbeit der Christlichsozialen und des Antisemitenbundes wurde jedoch an anderer Stelle wegen der »karlistischen«37 Tendenzen von »Anton Orel und Genossen« abgelehnt. Mit dem Nationalökonomen Otto Conrad, Mitarbeiter und möglicherweise Urheber des Kapitels »Unsere Stellung zur Judenfrage« im Salzburger Programm, erwuchs Ursin aber bald ein Konkurrent um die Wortführerschaft. Conrad, der seine »Judenbibliothek«38 für die Herausgabe von Flugschriften zur Verfügung stellte, bedauerte es, dass sich die GDVP bisher viel zu wenig als antisemitische Partei gezeigt habe. Die Presse und auch die Abgeordneten würden die »Judenfrage« so gut wie gar nicht berühren, denn »jeder müsse sich darüber klar sein, dass die Judenfrage für die Erhaltung des deutschen Volkes und seiner Volkswirtschaft eine weit größere Gefahr« sei, »als die Entente«. Letztere äußere »ihren Vernichtungswillen, während die Juden insgeheim, äußerlich nicht leicht erkennbar planmäßig den Volkskörper zersetzen«.39 Mit Einstimmigkeit wurde unter anderem beschlossen, einen Antrag im Nationalrat einzubringen, in dem das Bundesministerium für Inneres aufgefordert werden sollte, ein Verzeichnis aller »Ostjuden«, die in den Heimatverband aufgenommen worden wären, vorzulegen.40 Beatrix Hoffmann-Holter hat wiederholt darauf hingewiesen, dass 25.000 jüdische Flüchtlinge aus dem ehemaligen Osten der Monarchie eine marginale Größe waren, um bei den Problemen der Versorgungslage einer Zweimillionenstadt wie Wien ins Gewicht zu fallen.41 Deshalb wurden die Zahlen manipuliert, um bei den eigenen Parteifreunden, ja noch mehr bei der Bevölkerung Ängste zu schüren, die als Bedrohung der eigenen Existenz wahrgenommen werden sollten. So unterstrich Emil BarJosef Kronauer, Hans Zehetmayer, Fritsch und Edmund Krautmann, ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 58, VI-36, Mappe »Judenausschuss«, Mitgliederliste o.D. 36 Barnerts Hauptwerk »Die Ideenwelt des Bolschewismus, Kommunismus. Sein Programm, seine praktische Anwendung, seine Irrtümer« erschien 1919. 37 Unter den »Karlisten« verstanden die Großdeutschen die Anhänger des letzten Habsburgers, Kaiser Karl. 38 Gemeint sind hier offenbar antisemitische Schriften über die »Judenfrage«. 39 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 58, VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Verhandlungsschrift über die erste Sitzung des Judenausschusses am 21. April 1921«, 2. 40 Ebd., 3. 41 Hoffmann-Holter 1995, 175, 195.

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nert in der zweiten Sitzung des »Judenausschusses« am 7. Mai 1921 »die Wichtigkeit der Judenfrage«, indem er ausführte, dass »in Österreich insgesamt 220.000 Ostjuden ansässig sind, die mit den inländischen Juden die Zahl von 730.000 erreichen und 12% der Gesamtbevölkerung ausmachen. Auf Wien allein entfallen 583.000, also 31,4% Juden«. Barnert fügte dem hinzu, dass das »Ziffernmaterial verlässlich« sei und von einer »statistischen Behörde« stamme.42 Das waren exakt die Zahlen, die Josef Ursin einige Wochen zuvor in einem Vortrag über die »Judenfrage in neuzeitlicher Bedeutung« genannt hatte und mit denen er in der »Deutschösterreichischen Tageszeitung« (DÖTZ) zitiert worden war. Demnach wäre »jeder Dritte Mensch in Wien Jude«.43 Viktor Miltschinsky (1887–1974) stellte schließlich den Antrag, dass Obmann Ursin bei den Polizeibehörden »Erhebungen bezüglich der Abschiebung von Ostjuden pflegen« solle.44 Anfang Juni 1921 konnte dieser mitteilen, dass die »Vorschriften bezüglich Ausweisung schärfstens gehandhabt« werden würden, die Bezirksvertretungen würden hingegen »Gesuche von Juden im günstigsten Sinn« entscheiden.45 In der Sitzung vom 10. Juni 1921 wurde ein Antrag folgenden Wortlautes angenommen, der an die Landes- und Reichsparteileitung zur Genehmigung und danach dem Abgeordnetenklub zur Einreichung übermittelt werden sollte  : »Sofortige Abschiebung aller seit August 1914 eingewanderter (sic  !) Juden  ; insoweit zwingende Gründe diese Abschiebung verhindern, allgemeine Internierung in Flüchtlingslagern.«46 Da der Antrag scheinbar nicht auf Zustimmung stieß, wurde er fast ein Jahr später, im Mai 1922, wiederholt.47

Die »Waber’sche Optionspraxis« Im Folgenden werden jene Optionsregelungen dargestellt, die zunächst nur für die jüdischen Kriegsflüchtlinge aus Galizien von Relevanz waren  :48 Am 10. September 42 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 58, VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Verhandlungsschrift über die zweite Sitzung des Fachausschusses für die Judenfrage am 7. Mai 1921«, 1. 43 DÖTZ vom 2.4.1921, 6. Siehe auch Barnert, Emil, »Auf Leben und Tod«, in  : DÖTZ, 18.5.1921. 44 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 58, VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Verhandlungsschrift über die zweite Sitzung des Fachausschusses für die Judenfrage am 7. Mai 1921«, 4. 45 Ebd., VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Verhandlungsschrift über die vierte Sitzung des Fachausschusses für die Judenfrage am 2. Juni 1921«, 2. 46 Ebd., VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Verhandlungsschrift über die fünfte Sitzung des Fachausschusses für die Judenfrage am 10. Juni 1921«, 2. 47 Ebd., VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Verhandlungsschrift über die erste Sitzung (III. Geschäftsjahr) des Fachausschusses für die Judenfrage am 23. Mai 1921«, 1. 48 Vgl. im Folgenden auch Hoffmann-Holter 1995, 227–257.

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1919 unterzeichnete Staatskanzler Karl Renner den Staatsvertrag von St. Germain, der in Österreich am 16. Juli 1920 in Kraft trat. Das zionistische Blatt »Wiener Morgenzeitung« vermutete, dass auf Renners persönliches Betreiben der ursprüngliche Entwurf über die Regelung staatsbürgerlicher Verhältnisse geändert wurde, um den Antisemiten in der »Ostjudenfrage« gefällig zu sein, denn die Bestimmungen stellten nicht auf den Wohnsitz, sondern auf das altösterreichische Heimatrecht ab. Nach diesem antiquierten Gesetz wurden die Angehörigen der ehemaligen Donaumonarchie auf die einzelnen Nachfolgestaaten aufgeteilt und nunmehr als Angehörige desjenigen Sukzessionsstaates erklärt, der auf dem Gebiet, in dem die betreffende Heimatgemeinde gelegen war, die Souveränität ausübte. War der Betroffene damit nicht einverstanden, blieb ihm das Recht auf Option.49 Für die jüdischen galizischen Kriegsflüchtlinge, aber auch für alle Personen, die schon vor 1914 im Gebiet der Republik Österreich ansässig waren, ohne hier heimatberechtigt zu sein, war Art. 80 des Staatsvertrages von Bedeutung. Die Bestimmung sah vor, dass Personen, die in einem zur ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie gehörigen Gebiet heimatberechtigt waren und dort nach »Rasse und Sprache« von der Mehrheit der Bevölkerung verschieden waren, innerhalb von sechs Monaten nach Inkrafttreten des Vertrages, somit bis 16. Jänner 1921, für Österreich optieren konnten, je nachdem die Mehrheit der Bevölkerung aus Personen bestand, welche die gleiche Sprache sprachen und derselben »Rasse« angehörten wie sie.50 Aus der Nebeneinanderstellung der Begriffe »Sprache« und »Rasse« konnte nun gefolgert werden, dass der Gebrauch der deutschen Sprache für den Optierenden nicht genügte, auch wenn sie schon seit Generationen in der Familie gesprochen wurde, sondern dass die Zugehörigkeit zur »deutschen Rasse« noch besonders erwiesen werden musste.51 Das war aber sicher nicht die Intention der Ententemächte gewesen. Die unglückliche Terminologie beruhte vielmehr auf einem Übersetzungsfehler. Das Redaktionskommitee in St. Germain hatte übersehen, dass das deutsche Wort »Rasse« in seiner Bedeutung nicht dem französischen Begriff »race«, der im Sinne von »Nationalität« verstanden wurde, gleichzusetzen war und ihm im deutschen Sprachgebrauch ein auf das Völkische eingeschränkter Bedeutungsinhalt eigen ist. Auch fehlte jeder Hinweis, ob die Mutteroder die Umgangssprache ausschlaggebend sein sollte.52 Zur Durchführung von Art. 80 bedurfte es einer Vollzugsanweisung der österreichischen Regierung. War man im Innenministerium anfänglich noch für eine Formu49 »Völkerrechtslehrer über österreichischen Optionsskandal«, in  : Wiener Morgenzeitung, 23.9.1921. 50 Deutsche Tageszeitung, 14.1.1921, 4. 51 Blohn 1921. 52 Hoffmann-Holter 1995, 228  ; siehe auch Knöpfmacher 1921.

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lierung von »Rasse oder Sprache« im Text ausgegangen, der somit sicher den Intentionen der Konferenzmächte entsprochen hätte, herrschte im Sommer 1920 unter dem wachsenden Druck der Öffentlichkeit quer durch alle politischen Lager Konsens über eine restriktive Auslegung des Optionsparagraphen – galizische Juden waren als österreichische Staatsbürger unerwünscht. Denn letztendlich zielte die Vollzugsanweisung, die am 20. August 1920 erlassen wurde, genau auf sie. Art. 80 fand darin mit den Begriffen »Sprache und Rasse« im Wesentlichen unverändert Eingang in die österreichische Gesetzgebung. Eine Erklärung der beiden Begriffe vermied man, wahrscheinlich um jüdischen Bewerbern aus Galizien nicht von vornherein offen ihr Optionsrecht zu beschneiden.53 Wenn es aber eines Beweises für deren Diskriminierung bedurfte, so ist dieser im Brünner Vertrag vom 7. Juni 1920 zu finden  : In Art. 9 kamen nämlich die beiden Vertragsstaaten, Österreich und die Tschechoslowakei, überein, dass »sie im gegenseitigen Verhältnisse bei der Durchführung der Optionsbestimmungen nach Art. 80 […] in liberaler Weise vorgehen und insbesondere die Worte ›par la race et la langue‹ derart deuten wollen, dass […] praktisch hauptsächlich die Sprache als wichtigstes Kennzeichen der Volkszugehörigkeit in Betracht gezogen werde«.54 Während daher auch bei Juden aus den Sudetenländern oder – nach einem Kommentar des Innenministeriums – der Bukowina die »Rasse« ein zu vernachlässigender Faktor sein sollte, verlangte die Vollzugsanweisung bei galizischen Juden diesen Nachweis als Optionskriterium.55 Optionsansuchen waren im Falle Wiens bei den magistratischen Bezirksbehörden einzubringen  ; die Entscheidung nach Art. 80 lag hingegen direkt beim Staatsamt für Inneres und Unterricht, bei einer Ablehnung bestand die Möglichkeit der Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof, von der aber wegen der damit verbundenen hohen Kosten im allgemeinen abgeraten wurde.56 Bis Fristende am 16. Jänner 1921 langten nach übereinstimmenden Pressemitteilungen 180.000 Optionsgesuche ein.57 Die mit der Bearbeitung betrauten christlichsozialen Innenminister Egon Glanz (1880–1945), Walter Breisky (1871–1944) und Rudolf Ramek (1881–1941) vermieden eine rassistische Auslegung, da sie den Standpunkt vertraten, dass der Begriff 53 Scharfmesser 1921. 54 »Gegenüber Juden gilt kein Vertrag«, in  : Wiener Morgenzeitung, 6.9.1921. 55 Hoffmann-Holter 1995, 234. 56 »Voller Erfolg in der Optionsfrage«, in  : Wiener Sonn- und Montagszeitung, 26.9.1921; »Waber – Op­ tionsautomat«, in  : Der Morgen, 7.11.1921. 57 Siehe etwa Neue Freie Presse, 27.10.1921, 1. Das Gesuch des Familienoberhauptes galt gleich für die Ehefrau und die Kinder unter 18 Jahren, weswegen geschätzt wurde, dass es 250.000 Menschen gab, die optieren wollten. Die Neue Freie Presse schrieb  : »Es ist kaum zu glauben, dass es so viele Sehnsüchtige gibt, die unser Elend teilen wollen.«

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»Rasse« wissenschaftlich nicht erfasst werden könne, weshalb nur der Nachweis der Sprache als Kriterium für die deutsch-österreichische Volkszugehörigkeit betrachtet wurde. Abweisungen von Optionsgesuchen gehörten daher eher zur Seltenheit, obwohl bis April 1921 nur etwa ein Drittel der Ansuchen einer Erledigung zugeführt werden konnte, wie Josef Ursin im »Judenausschuss« zu berichten wusste.58 Im Juni 1921 informierte er seine Ausschusskollegen über eine Unterredung mit dem im Innenministerium zuständigen Sektionschef Richard Wenedikter. Dieser habe ihm, Ursin, mitgeteilt, dass täglich trotz der Einstellung zahlreicher Hilfsbeamter nur 1.000 Gesuche erledigt werden würden. Der Bitte Ursins, dass zuerst all jene »berücksichtigt werden, die aus Deutschböhmen stammen und Arier sind«, wurde scheinbar ohnehin in der Praxis bereits entsprochen  : »Bei den Juden wird allgemein der Vorgang eingehalten, dass alle Gesuche zurückgewiesen werden mit dem Hinweis darauf, dass sie nicht genügend und unvollkommen belegt sind.«59 Das war die Ausgangslage, als am 9. Juni 1921 ein bahnbrechendes Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes60 an die Öffentlichkeit drang  : Da dem galizischen Juden Moses (Mendel) Dym, der in Wien ein Optionsansuchen für sich, seine Frau und seine vier Kinder eingebracht hatte, der in § 6 der Vollzugsanweisung geforderte Nachweis der deutschen Sprache durch Schulzeugnisse etc. nicht gelungen war, wies das Innenministerium seinen Antrag mit Bescheid vom 7. November 1920 ab. Dym rief nun über seinen Anwalt den Verwaltungsgerichtshof an.61 Dieser wies die Beschwerde als unbegründet ab, überprüfte jedoch die Kriterien »Sprache und Rasse« und kam zu dem Schluss, dass es »als bedeutungslos, ununtersucht bleiben [konnte], ob Moses Dym den Nachweis der sprachlichen Zugehörigkeit zum deutschen Volk erbracht hat. Jedenfalls hat er den Nachweis seiner Zugehörigkeit zu ihm der Rasse nach nicht angetreten, und schon darum ist sein Optionsgesuch unbegründet«.62 Die zionistische »Wiener Morgenzeitung« pflichtete dem Verwaltungsgerichtshof dahingehend bei, dass die Beschwerde aufgrund der Sprache offenkundig unbegründet war, entrüstete sich aber, dass das Höchstgericht »ohne eigentliche Nötigung, gleichsam als Gratisbeigabe, eine Untersuchung über die Frage der Rasse mitgeliefert« hatte. Denn die Abweisungsbegründung lautete unter anderem  : »Aus der Sprache, die ein Mensch spricht, [kann] noch nicht auf seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten 58 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 58, VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Verhandlungsschrift über die erste Sitzung des Judenausschusses am 21. April 1921«, 1. 59 Ebd., VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Verhandlungsschrift über die vierte Sitzung des Fachausschusses für die Judenfrage am 2. Juni 1921«, 1. 60 VwGH-Erkenntnis Zl. 2973/21. 61 Siehe dazu detailliert Besenböck 1992, 92ff. 62 »Zur Frage der Optionen«, in  : Wiener Morgenzeitung, 13.8.1921.

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Rasse geschlossen werden […] Sie ist eine ihm angestammte, inhärente, durch physische und psychische Momente bestimmte und charakterisierende Eigenart dauernden Charakters, ein ihm anhaftender Zustand, der nicht [wie die Sprache, Anm. d. Verf.] nach Belieben verändert werden kann.«63 Die jüdisch-zionistischen Zeitungen liefen Sturm gegen das »Skandalurteil«. Die »Wiener Sonn- und Montagszeitung« schrieb etwa  : »Es ist höchste Zeit, den Anschlag zu parieren und sich zur Wehr zu setzen. Es darf nicht geschehen, dass in einer Zeit, da die Regierung nichts anderes weiß, als Europa um Hilfe anzubetteln, eines ihrer Mitglieder im Zentrum Mitteleuropas Narrenpossen aufführt und die Bürger dieser Stadt nach ›Rassen‹ zu sortieren beginnt.«64 Nicht einmal zwei Wochen nach der Veröffentlichung dieses Erkenntnisses (am 21.  Juni 1921) wurde ein reines Beamtenkabinett unter der Führung des bisherigen Wiener Polizeipräsidenten Johann Schober angelobt, dem je ein christlichsozialer und ein großdeutscher Minister angehörte. Von den Großdeutschen übernahm der bisherige Abgeordnete, der damals 46jährige Jurist Leopold Waber (1875–1945)65 das Innenressort.66 Waber, sichtlich ermutigt durch das Erkenntnis und wiederholte Demonstrationen, bei denen die Ausweisung der »Ostjuden« und die Änderung der bisherigen Optionspraxis gefordert wurde, wies bereits wenige Tage nach seiner Amtsübernahme seine Beamtenschaft an, bei den jüdischen Optionsbewerbern auf jede differenzierte Vorgangsweise zu verzichten. Jüdische Anträge seien unter Hinweis auf den fehlenden Nachweis »rassischer« Zugehörigkeit zur deutschen Bevölkerungsmehrheit ab sofort ausnahmslos abzuweisen.67 Waber wurde zum »Optionsabweisungsautomaten«, wie »Der Morgen« den Titel seines Artikels »Analphabeten mit Stampiglien« überschrieb.68 Wabers Weisung betraf nun auch erstmals einen Personenkreis, dessen Rechtsanspruch auf die österreichische Staatsbürgerschaft bisher nicht in Zweifel gezogen worden war  : Optionsgesuche jüdischer Bürger Altösterreichs, die schon lange vor 1914 in das Gebiet der Republik Österreich zugezogen bzw. hier geboren waren, sich jedoch nicht um eine hiesige Heimatberechtigung bemüht hatten, wurden nunmehr ebenso kategorisch abgewiesen wie jene von Kriegsflüchtlingen.69 Während die assimilierten Wiener Juden vorsichtig blieben, schrie63 »Der Verwaltungsgerichtshof und die Optionen«, in  : Wiener Morgenzeitung, 20.8.1921. 64 »Genug der Narrenpossen«, in  : Wiener Sonn- und Montagszeitung, 19.9.1921. 65 Zur Biographie Leopold Wabers siehe ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 37, Mappe »Dr. Waber«. 66 Ackerl 1967, 137. 67 Hoffmann-Holter 1995, 250. Beatrix Hoffmann-Holter wies darauf hin, dass die Weisung nicht aktenkundig sei. Sie lasse sich jedoch aus einem Schriftstück zur Optionspraxis erschließen, das zur Information für Kanzler Schober bestimmt war. 68 »Waber – Optionsabweisungsautomat. Analphabeten mit Stampiglien«, Der Morgen, 7.11.1921. 69 Hoffmann-Holter 1995, 250.

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ben die zionistischen Blätter über den »Rechtsbruch mit einer bereits bestehenden Übung«, den »Skandal« und die »Willkürakte«. Die Redaktion der »Wiener Sonnund Montagszeitung« startete über den Sommer 1921 einen Aufruf an alle »abgewiesenen Optionswerber«, ihren Fall dem Blatt zu schildern und druckte die absurdesten Berichte ab.70 So kam es etwa vor, dass es in der Familie eines zurückgewiesenen Optionswerbers bereits österreichische Staatsbürger gab, welche ihren Antrag eben früher eingebracht hatten.71 Den Protesten schloss sich auch die »Arbeiter-Zeitung« an, als das Gesuch eines Optanten, der 30 Jahre zuvor römisch-katholisch getauft worden war, unter Berufung auf das »bindende« Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes mit der Begründung abgewiesen wurde, »das könne nichts ändern, weil er eben der semitischen Rasse angehöre«.72 Leopold Waber formulierte in einem Schreiben an den ehemaligen deutschnationalen Reichsratsabgeordneten Anton Schalk (1868–1951) sein Programm  : »Da die Juden der Rasse nach ohne Frage von der Mehrheit der Bevölkerung verschieden sind, habe ich die Verfügung getroffen, dass keinem einzigen Optionsgesuch eines Juden stattgegeben werden darf. Es gibt in dieser Richtung nur ein ›entweder – oder‹, denn ich kann unmöglich sagen, dass nur der ostgalizische Jude einer anderen Rasse angehört, der in Wien lebende aber nicht. Von dieser grundsätzlichen Weisung habe ich nicht eine Ausnahme gemacht.«73 Im Oktober 1921 waren bereits 119.180 Optionsansuchen erledigt, die restlichen rund 60.000 Mitte Dezember 1921. Der Materien-Index 1921 des Innenministeriums hielt fest, dass es insgesamt 24.486 Abweisungen jüdischer Optionswerber gab, wovon inklusive Familienangehörige rund 75.000 Personen betroffen waren.74 Als nun auch aus dem Ausland Proteste einlangten und sich im November 1921 der Völkerbund auf Betreiben internationaler jüdischer Organisationen einschaltete, musste Waber, der auch nicht unbedingt auf den Rückhalt Schobers zählen konnte, den Rückzug antreten, tat dies aber halbherzig. Da »Härten und Unbilligkeiten« aufgetreten seien, ließ der Minister seine bereits am 28. Juli 1921 abgegebene Erklärung bzw. seinen »Ratschlag« in mehreren Zeitungen lancieren, bei Abweisungen zu versuchen, die Staatsbürgerschaft aufgrund der Heimatsgesetz-Novelle 1896 zu erlangen, die eine »Ersitzung« des für den Staatsbürgerschaftserwerbs erforderlichen Heimatrechts nach zehnjährigem qualifizierten Aufenthalt vorsah. Gerade in Wien sei der Weg da70 »Aufruf an alle Optionswerber  !«, in  : Wiener Sonn- und Montagszeitung, 19.9.1921. 71 »Die Massenabweisung der Optionswerber«, in  : Wiener Sonn- und Montagszeitung, 21.9.1921. 72 »Option und Rassentheorie«, in  : Arbeiter-Zeitung, 6.8.1921. 73 Zit. n. Hoffmann-Holter 1995, 253. 74 Ebd., 252f.

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durch vereinfacht, da der Magistrat zugleich die Landesregierung war. Der Bewerber müsse nur um die »Zusicherung der Aufnahme in den Heimatverband« und zugleich um die »Verleihung der Staatsbürgerschaft« ansuchen. Angeblich war dieser »Ausweg« auch auf den Abweisungsbescheiden zu finden.75 Insbesondere für lange in Wien ansässige Personen sei die Aufnahme also sehr leicht zu bewerkstelligen. Die zionistische »Wiener Sonn- und Montagszeitung« wusste zu berichten, dass die Leitung der zuständigen Magistratsabteilung 50 durch den amtsführenden Stadtrat Karl Richter (1872–1935) eine »mustergültige« sei, sein Vorgehen als das »liberalste« bezeichnet werden könne und die Taxen, die für die Aufnahme in den Heimatverband eingehoben wurden, »niedrig bemessen« seien, nämlich nach dem jährlichen Einkommen des Bewerbers.76 Die magistratischen Bezirksämter sahen sich nun mit einer Flut von Einbürgerungsansuchen konfrontiert  : Während österreichweit im Zeitraum zwischen 1920 und 1930 93.535 Personen eingebürgert wurden, hatten sich alleine in Wien 63.970 oder 68,4 Prozent um die Aufnahme beworben. Von den insgesamt 93.535 eingebürgerten Personen waren 25.627 Juden. Die allermeisten von ihnen, nämlich 24.891 nahm die Gemeinde Wien auf.77 Als Bundeskanzler Schober am 16. Dezember 1921 den Vertrag von Lana abschloss, der im Gegenzug für einen Kredit die Grenzen des tschechoslowakischen Staates garantierte, entzogen ihm die Großdeutschen wegen des »Verrates an den deutschen Minderheiten« das Vertrauen und beriefen am 23. Dezember 1921 Minister Waber nach nur sechs Monaten aus der Regierung zurück.78 Was von den großdeutschen Autoren als »die erste wirkliche antisemitische Tat in der ganzen Geschichte des Antisemitismus« gefeiert wurde,79 blieb fragwürdig. Die antijüdische Politik Wabers beschränkte sich im Wesentlichen doch nur auf einen formalen Akt, denn es finden sich keinerlei Hinweise über Abschubverfahren oder sonstige Repressalien, sprich der Aufenthalt eines jüdischen Optanten in Österreich war im Falle einer Ablehnung nicht unmittelbar bedroht, weswegen auch der Völkerbund nach dem Rücktritt des Ministers die Angelegenheit nicht weiter verfolgte. Schober, der das Innenministerium bis zur Demissionierung des zweiten von ihm gebildeten Kabinetts bis Ende Mai 1922 selbst leitete, ließ Gesuche abgewiesener Optanten 75 »Heimatverband und Option. Ein Ausweg für abgewiesene Optionswerber«, in   : Volkszeitung, 19.9.1921. 76 »Voller Erfolg in der Optionsfrage. Das Ministerium des Inneren schaltet sich aus«, in  : Wiener Sonnund Montagszeitung, 26.9.1921. 77 Hoffmann-Holter 1995, 257. 78 Ackerl 1967, 139ff. 79 Jung 1928, 13.

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im Zuge einer Wiederaufnahme für eine neuerliche Überprüfung zu.80 Parallel dazu liefen die Einbürgerungsverfahren. Von großdeutscher Seite wurde mit Häme beobachtet, dass die im »roten Wien« eingebürgerten Juden sozialdemokratisch wählen würden, was wiederum das Klischee von der verjudeten Sozialdemokratie stärkte.81 Im April 1922 hob der Verwaltungsgerichtshof82 die abweisenden Bescheide des Innenministeriums mit der Begründung auf, sie enthielten keine Erklärung, was unter dem Begriff »Rasse« zu verstehen sei, ob dieser im Sinne der »Blutsgemeinschaft« oder der »Kulturgemeinschaft« eines Volkes auszulegen sei.83 Schließlich zog Waber selbst in einer Vertrauensmännerversammlung am 8. April 1924 Bilanz  : »Was übri­gens den Antisemitismus anbelangt, so habe ich damit schlimme Erfahrungen gemacht. Es hat wohl noch niemand in Österreich eine mehr antisemitische Tat gesetzt, als ich während meiner Ministerzeit in der Frage der Heimatrechterteilung an die Ostjuden. Schauen sie sich aber meinen Wahlkreis an  : Abfall nach rechts und nach links  ! An die Sozi […] und an die Klerikalen.« Waber kam zu dem etwas trotzigen Schluss  : »Das Flunkern mit dem Antisemitismus sagt den Wienern offenbar mehr zu, als die ernste Bekämpfung der jüdischen Gefahr.«84

Das Arbeitsübereinkommen mit den Christlichsozialen Nach dem endgültigen Sturz des Kabinetts Schober entschlossen sich die Christlichsozialen, mit der GDVP bezüglich des Abschlusses eines Koalitionsvertrages in Verhandlungen zu treten. Am Reichsparteitag im Mai 1922 in Graz fiel die mit großer Mehrheit angenommene Entscheidung der Großdeutschen für den Eintritt in eine von Ignaz Seipel (1876–1932) geführte Koalitionsregierung. Dieser gewährte seinem neuen Regierungspartner eine weitgehende Freiheit in der Verfolgung der Anschlusspropaganda und im Arbeitsprogramm eine enge Fühlungnahme mit der deutschen Regierung in Fragen der Außen- und Handelspolitik. Die strittigen kulturpolitischen Bereiche waren bewusst ausgeklammert worden, um den teilweise massiven Widerstand gegen den Regierungseintritt in der antiklerikal-deutschnationalen Basis

80 Hoffmann-Holter 1995, 256. 81 Jung 1928, 13. 82 VwGH-Erkenntnis, Zl. 804/1922. 83 »Die Rasse der Optanten. Eine interessante Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes«, in  : Neues Wiener Journal, 24.5.1922. 84 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 23, I-4, Mappe »Gauleitung Wien«, »Vertrauensmänner-Versammlung am 8.4.1924 im Saale der Bäckergenossenschaft«, 9f.

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der Alpenländer nicht zu provozieren.85 In dem Passus im Arbeitsprogramm »Wirksamer Schutz der einheimischen deutschen Bevölkerung gegen die zunehmenden schädlichen Einflüsse des Judentums auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens«86 fanden völkischer und christlichsozialer Antisemitismus zueinander. Verglichen mit dem Salzburger Programm der GDVP ist die gemäßigte, rückschrittliche Note des Textes auffallend, die an Georg von Schönerers (1842–1921) Anhang zum Linzer Programm 1885  – »Beseitigung des jüdischen Einflusses auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens« – erinnert.87 Mit dem Arbeitsprogramm begann das Jahrzehnt der christlichsozial-großdeutschen Koalition.

Die »Volkurkunde« als Vorläufer des »Ariernachweises« Ab dem Juni 1921 wurde im »Judenausschuss« über die »Schaffung einer Urkunde über die arische Abstammung« diskutiert. Den Anfang machte ein »Hauptmann Hiecke«, der die Anregung gab, einen Antrag ins Auge zu fassen, »wonach jeder Staatsbürger verpflichtet sein soll, eine mit Lichtbild versehene Legitimation bei sich zu führen«. Zu dem Antrag bemerkte Hiecke, »dass dieser in der Begründung nichts von einer antisemitischen Note enthalten dürfe, weil er sonst niemals angenommen werden wird«.88 Den Antrag trug dann ein »Ing. Wielemanns«89 in der Sitzung vom 6. Dezember 1921 vor und versah ihn im Gegenteil mit einer rassenantisemiti­schen Note  : Da die »arische Abstammung« von einer großen Zahl von Vereinen und Verbänden zur Bedingung für die Aufnahme als Mitglied gemacht und auch bei Ausschreibungen von privaten Stellen und Lieferungen gefordert werde, schlug Wielemanns »feste Regeln« vor, nach denen der Nachweis zu erbringen sei. Dem »Volksgenossen« könne nicht zugemutet werden, jedesmal von neuem Urkunden vorzulegen, andererseits würde den Vereinen und Verbänden eine sachgemäße Prüfung vor allem in Zweifelsfällen und »mit der in der Sache gebotenen Strenge« schwerfallen. Um »Richtlinien für die Prüfung und für die Ausstellung einer Urkunde« aufzustellen sowie eine »rege Werbetätigkeit« zu beginnen, damit »viele Kreise des deutschen Volkes veranlasst« würden, »sich eine Urkunde über die arische Abstammung ausstellen zu lassen«, be85 Kriechbaumer 2001, 449f.; Ackerl 1967, 146f. 86 Zit. n. Wandruszka 1983, 288. 87 Zu Schönerer, dem Linzer Programm und dem Anhang 1885 siehe Wladika 2005, 146ff. 88 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 58, VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Verhandlungsschrift über die fünfte Sitzung des Fachausschusses für die Judenfrage am 10. Juni 1921«, 1. 89 Ing. Wielemans oder Wielemanns befindet sich nicht auf der Mitgliederliste des Ausschusses und könnte möglicherweise ein »Gast« gewesen sein, was nicht ungewöhnlich war.

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antragte Wielemanns die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft von völkischen Verbänden, die einen Hauptausschuss zur Leitung der »Aktion« einsetzen sollte. Als Urkunde schwebte Wielemanns – als Namen nannte er »deutsche Stammrolle« oder »deutscher Volkspass«  – ein »gebundenes Büchlein in Form eines Passes« vor, der eine »Aufzählung aller nachgewiesenen Daten über Eltern und Voreltern« enthalten sollte. Wielemanns strebte die spätere gesetzliche Anerkennung des »Volkpasses« als Beweismittel der deutschen Abstammung an und hob schließlich dessen »Vorzüge« hervor  : »1. Die Möglichkeit, allmählich zur Anlegung eines Volkskatasters zu gelangen. 2. Ein Mittel, eine gesetzliche Unterscheidung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen einführen zu können.3. Erleichterung für Vereine, Gemeinden, Privatpersonen und dgl., bei allen möglichen Anlässen nur Deutscharier zu bevorzugen. 4. Hebung des Familiensinnes und des Sinnes für Familiengeschichte im Volke, insbesondere bei der heranwachsenden Jugend. 5. Wirksame Aufklärung gegen Mischehen mit Nichtariern.«90 Wielemanns Antrag wurde vom »Judenausschuss« einstimmig angenommen.91 Zur Bildung eines Hauptausschusses dürfte es aber nicht gekommen sein  ; in den einschlägigen Protokollen findet sich kein Hinweis.

Volkszählung, Nationalratswahl und Ausschreitungen an der Wiener Universität im Jahre 1923 Bereits am 21.  Oktober 1919 hatte die Regierung eine Vorlage in die konstituierende Nationalversammlung eingebracht, durch welche sie sich ermächtigen ließ, für eine Reihe von dringender Verwaltungszwecke – es ging um die Ausgabe von Brotkarten – am 31. Jänner 1920 eine außerordentliche und vereinfachte Volkszählung durchzuführen. In der Debatte kritisierte der zionistische Abgeordnete Robert Stricker (1879–1944),92 dass nur die Umgangssprache erhoben werden sollte,93 denn die Juden würden zwar die deutsche Umgangssprache sprechen, aber nicht der deutschen Nation angehören. Er stellte daher den Zusatzantrag, den Juden das Bekenntnis zur

90 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 58, VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Antrag an den Ausschuss für die Judenfrage der Großdeutschen Volkspartei auf Schaffung einer Urkunde über die arische Abstammung«, o.D., 1f. 91 Ebd., VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Verhandlungsschrift über die zweite Sitzung (II. Geschäftsjahr) des Fachausschusses für die Judenfrage am 6. Dezember 1921«, 2. 92 Stricker wurde im Oktober 1944 im KZ Auschwitz ermordet. 93 Es gab daher auch keine Rubrik »Religion oder Konfession«, Grazer Volksblatt, 26.2.1920.

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jüdischen Nation mit einer eigenen Rubrik in den Zählblättern »Nation« zu ermöglichen, womit er auf großdeutscher Seite helle Begeisterung auslöste  : Die Abgeordneten schlossen sich diesem Antrag an.94 Staatskanzler Karl Renner (1870–1950) widersprach Stricker, vertröstete ihn auf die noch für Ende 1921 geplante endgültige Zählung und führte unter anderem aus  : »Vorläufig kennen wir nur die mosaische Religion […] Die Nationen aber durch Nationalbekenntnis zu konskribieren, dazu haben wir jetzt wohl in Deutschösterreich kein verwaltungsmäßiges Bedürfnis […] Erst wenn das Judentum vollständig mit sich selbst im Reinen sein wird, wird es sich entscheiden, ob es eine Nation oder bloß eine Konfession ist und in den anderen Nationen eingeht.« Schließlich wurde der Antrag Strickers auch mit dem Argument, dass die Zählkarten schon gedruckt seien, abgelehnt.95 Es konnte daher die Zahl der 1920 in Österreich lebenden Juden und Jüdinnen nicht eruiert werden. Im November 1921 fand dann keine weitere, »endgültige« Volkszählung statt  ; sie wurde auf den 7.  März 1923 verlegt. Die Großdeutschen, allen voran der »Judenausschuss«, hatten daher genug Zeit, sich mit der Frage der Anerkennung der Juden als eigene Nation, »das heißt als ein Minderheitsfremdvolk in Deutschösterreich« zu beschäftigen.96 Bald kam man jedoch vom Nationenbegriff ab, denn dies hätte nach Art. 19 Abs. 1 des Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867 bedeutet, dass den Juden als eigener Volksstamm »ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache« zugekommen wäre. Auch die Art. 66 und 67 des Staatsvertrages von St. Germain sahen Minderheitenrechte, wie etwa eigene Schulen, vor. Um dieser »Gefahr« vorzubeugen, folgte nun die Konstruktion »dass es wohl nicht richtig ist, wenn wir sie als eigene Nation bezeichnen, denn die Juden sind eine Rasse ohne Nationalitätenbewusstsein. Die Nation ist ihnen immer und überall nur Mittel zum nächsten Zweck, ihrer eigenen Rasse selbst überall Geltung zu verschaffen«. Auch würden die Juden keine gemäß Art. 19 geforderte, eigene Sprache besitzen, sprechen sie doch jene des Volkes, unter dem sie gerade leben würden.97 Es blieb daher dem großdeutschen Vizekanzler und Innenminister Felix Frank in der Koalitionsregierung Seipel vorbehalten, mittels einer Durchführungsverordnung vom 7. Februar 1923 festzulegen, dass neben der Neuerung gegenüber der Zählung 1920, der Erhebung der Konfession, nun auch nach der »Volkszugehörigkeit (Rasse)« 94 »Die außerordentliche Volkszählung«, in  : Neue Freie Presse, 22.10.1919. 95 »Volkszählung, Judentum und Sozialdemokratie«, in  : Vorarlberger Tagblatt, 1.2.1923. 96 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 58, VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Volkszählung und Rassezugehörigkeit«. Pressemitteilungen der Großdeutschen Volkspartei, 17.1.1923, 2. 97 Ebd., VI-36, Mappe »Judenausschuss«, Informationsblatt für Josef Ursin, 4.

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gefragt werde.98 Die Absicht, die damit verfolgt wurde, war klar. Da sich »nur die wenigen, zionistisch orientierten, also rassebewussten Juden, zur jüdischen Rasse bekennen würden, aber alle anderen, insbesondere die vom Judentum zum Christentum übergetretenen und konfessionslosen Juden dies nicht tun« würden, würde ein »ganz falsches Bild« entstehen.99 Oder, wie es die »Wiener Morgenzeitung« Robert Strickers ausdrückte  : »Wir wissen genau, was die österreichische Regierung mit der Verordnung bezweckt. Sie will die Kommerspolitik der deutschen Burschenschafter Frank und Waber fortsetzen und erfahren, wer Arier und wer Semit ist.«100 In diesem Sinne versuchte der Abgeordnete Ursin, mit einem Entschließungsantrag im Nationalrat und mit drei Zeitungsartikeln Stimmung für den rassistischen Zusatz auf den Zählkarten, nämlich für die Erhebung der Volkszugehörigkeit »und« der Rasse, zu machen  : »Während wir Deutsche auf unsere Nation stolz sind und unsere Rasse freiwillig bekennen, [… scheut] der Jude nichts mehr als Klarheit und weil ihm die Verschleierung seiner Herkunft angeboren [ist].«101 In einem anderen Artikel kam Ursin wieder auf die »250.000 bis 500.000 Ostjuden« zu sprechen, welche die Einwohnerzahl verschoben hätten  : »Nun aber haben wir Bodenständigen es satt, uns von dem Gelichter aus dem Osten und all jenen, die es mit ihm halten, am Narrenseil herumführen zu lassen. Wir wollen […] wissen, mit wem wir es in unserem Heimatlande zu tun haben, wie viele Angehörige dieser […] unartenlosen Rasse es bei uns gibt. Die Erfahrungen, die wir während und nach der Kriegszeit mit diesen Leuten gemacht haben, bei denen die geschäftliche Fruktifizierung des Elends unseres Volkes allen anderen Überlegungen vorausging, bringen es mit sich, dass wir diese Schädlinge der deutscharischen Bevölkerung und unserer Volkswirtschaft kontrollieren wollen. Das ist den Herren unangenehm.«102 Schließlich gab Ursin Belehrungen, wie die Zählkarte auszufüllen sei  : »Bei uns in Österreich kommt bezüglich der Volkszugehörigkeit […] hauptsächlich in Betracht, ob der Betreffende ein Deutscher, ein Tscheche, ein Jude usw. ist. Demnach ist in die Rubrik ›Volkszugehörigkeit‹ eine der erwähnten Völkerschaften einzusetzen, jedoch spielt hierbei nicht der Umstand eine Rolle, zu welchem Volk sich der Betreffende der Gesinnung und dem Gefühle nach zuzählt, sondern welcher Völkerschaft bzw. Nation [er] tatsächlich angehört. ›Rasse‹ bezieht sich auf Abstammung. Bei uns kommen diesbezüglich in Betracht die arische und semitische Rasse. Die Nichtjuden haben  98 Plaschkes 1923.  99 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 58, VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Volkszählung und Rassezugehörigkeit«. Pressemitteilungen der Großdeutschen Volkspartei, 17.1.1923, 1. 100 Plaschkes 1923. 101 Ursin 1923b. 102 Ursin 1923a.

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daher in die […] Rubrik ›arisch‹ einzutragen, die Juden ›semitisch‹. Handelt es sich um Mischlinge, so kann eingetragen werden ›arisch-semitisch‹.«103 Das gesamte Drucksortenmaterial für die Volkszählung war schon im Jahre 1921 an die Bezirkshauptmannschaften und zum Teil an die Gemeinden ausgesendet worden. Es war daher technisch und zeitlich nicht mehr möglich, neue Drucksorten herauszubringen. Darüber entbrannte in der Sitzung des Abgeordnetenverbandes der GDVP am 24. Jänner 1923 eine Diskussion, an der sich auch Vizekanzler und Innenminister Frank beteiligte und die Möglichkeiten aufzeigte  : »Im Zählblatt sind Änderungen nicht mehr möglich. Aufkleben von Zetteln ist manipulativ nicht zu machen. Die Überprüfung von Dokumenten ist […] nicht möglich  ; […] Strafen durchzuführen wäre äußerst schwierig […] Der Rassebegriff ist gesetzlich nicht festgelegt […] Kein Jude kann gezwungen werden, sich zur jüdischen Rasse zu bekennen.« Ursin widersprach ihm  : »Es ist noch immer möglich, eine Rubrik einzufügen, denn wir müssen offen Farbe bekennen. Wenn wir nicht offen vorgehen, wird der Eindruck erweckt, als ob wir dem praktischen Antisemitismus aus dem Wege gehen.«104 Ganz im Sinne Ursins wurde bei der Volkszählung am 7. März 1923 auf einem beigehefteten Zettel darauf hingewiesen, dass »zur Frage 7 (sprachliche Zugehörigkeit) […] auch die Volkszugehörigkeit und Rasse anzugeben« sei.105 Der Versuch scheiterte daran, dass die Mehrheit der Österreicher und Österreicherinnen liberalen Presseparolen folgten und in die Rubrik »Rasse« das Wort »weiß« eintrug.106 Wie schon die Zählung von 1920 lieferte jene von 1923 nur bruchstückhafte Ergebnisse.107 Bei den Nationalratswahlen am 21. Oktober 1923 setzte es für die Großdeutschen eine schwere Niederlage  : Sie erhielten von 3,350.885 gültigen Stimmen nur mehr 422.600, das waren insgesamt 12,76 Prozent. Die GDVP zog daher nur mehr mit zehn Vertretern,108 der Hälfte der Abgeordneten nach der Oktoberwahl 1920, in das neue Parlament ein.109 Die Schönerianer Josef Ursin, Friedrich Waneck, Viktor Zeidler und Sepp Straffner schieden aus dem Nationalrat aus. Die Gründe für die Niederlage waren mannigfaltig. Adam Wandruszka hat das Mittragen des Genfer Sanierungswerkes, das unter anderem ein verschärftes An103 Ursin 1923c. 104 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 3, 179. Sitzung des Verbandes der Abgeordneten der GDVP, 24.2.1923, 2ff. 105 Zettel eingelegt in  : ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 58, VI-36, Mappe »Judenausschuss«. 106 Holzmann 1986, 73f. 107 https://www.wien.gv.at/wiki/index.php/Volksz%C3%A4hlung (19.1.2016). 108 Franz Dinghofer, Felix Frank, Hans Schürff, Ernst Hampel, Leopold Waber, Heinrich Clessin, Hans Angerer, Thomas Klimann, Rudolf Zarboch, Iring Grailer. 109 Ackerl 1967, 166.

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schlussverbot und einen Abbau von rund 100.000 Beamten beinhaltete, als einen vom Standpunkt des Parteiinteresses aus gesehenen »selbstmörderischen Akt« bezeichnet.110 Franz Dinghofer versuchte dieses »Opfer« in einer Nachwahlbetrachtung zu rechtfertigen  : »Mit der Genfer Aktion [haben] wir eine deutsche Tat getan, denn Österreich stand vor der Auflösung und durch uns wurde der Staat gerettet. Wir haben die Verpflichtung, diesen Staat als deutschen Staat zu erhalten, bis Deutschland wieder gesund ist.«111 Auch die starke Persönlichkeit Ignaz Seipels, die Verminderung der Zahl der Parlamentssitze von 183 auf 165 und die entsprechende Erhöhung der Wahlzahl, die sich zum Nachteil der kleineren Parteien auswirkte, taten das ihre.112 Die Partei geriet vorübergehend in eine Krise, was auch zu Spannungen über den weiteren innenpolitischen Kurs führte. Hermann Kandl trat als Reichsparteiobmann zurück und wurde vom Mittelschullehrer August Wotawa abgelöst, der diese Funktion bis 1930 innehaben sollte. Mit ihm führte nun ein Vertreter der beamteten Kernschichten, der Lehrerschaft, die in Zukunft die Linie der Politik und deren Erscheinungsbild prägen sollten, die Partei.113 Nur wenige Wochen nach der Nationalratswahl, rund um die Aufstellung und Einweihung des »Siegfriedskopfes« am 9.  November 1923 in der Aula der Wiener Universität – das Datum fiel zufällig auf den Putschversuch der Nationalsozialisten in München – kam es zu den bisher aggressivsten antisemitisch motivierten Ausschreitungen gegen jüdische Studenten. Als die Universitätsleitung den Burschenschaftern im Anschluss an die Feier, auf der vor dem früheren Rektor Karl Diener (1862–1928) auch das »Deutschlandlied« erklungen war, das Tragen von Farben und Insignien verboten hatte, eskalierte die Lage am 19. November völlig. Etwa 200 mit Totschlägern und Schlagringen bewaffnete »Hakenkreuzler« – ein von der Presse verwendeter Sammelbegriff für nationalsozialistische, aber auch deutschnationale, deutsch-völkische und katholische Studenten – bahnten sich den Weg ins Gebäude und in Lehrveranstaltungen, wo sie den Ausschluss jüdischer Studierender forderten. Neun Schwerverletzte waren die Folge.114 Die in diesem Jahr immer wiederkehrenden Forderungen nach einem antijüdischen Numerus clausus an Hochschulen, wie er 1920 in Ungarn eingeführt worden war  – nämlich eine Zulassungsbeschränkung jüdischer Studierender und Lehrender nach dem Bevölkerungsschlüssel, und daher auf etwa zehn Prozent, wegen ihres »unverhältnismäßig hohen Anteils« v. a. an der medizinischen 110 Wandruszka 1983, 290. 111 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 4, 1. Sitzung des Verbandes der Abgeordneten der GDVP, 9.11. 1923, 5. 112 Wandruszka 1983, 290. 113 Kriechbaumer 2001, 454f. 114 Taschwer 2015, 82.

Der (Rassen-)Antisemitismus der Großdeutschen Volkspartei

und juridischen Fakultät – war an sich nicht neu und hing auch wieder eng mit der »Ostjudenfrage« zusammen. So berichtete Josef Ursin bereits im Oktober 1919 in der »Großdeutschen Vereinigung«, dem Abgeordnetenverband, von dem »Wunsch« deutscher Studenten, »die Ostjudenfrage an der Universität baldigst zu regeln«. Da 2.786 Juden 3.517 inskribierten »Ariern« gegenüberstehen würden – Ursin dürfte dabei die medizinische Fakultät gemeint haben –, betrüge der »Unterschied nur mehr 700 Studierende«. Nun seien aber weitere 1.000 »Ostjuden« zur Inskription angemeldet.115 Einmal mehr hatte Ursin manipulierte Zahlen angeführt, wenn auch der Anteil jüdischer Studierender an der Universität Wien traditionell hoch war und sich verkürzt mit dem Streben nach den freien Berufen des Arztes oder Juristen erklären lässt, in denen Juden noch am wenigsten diskriminiert wurden. In einer statistischen Studie erhob der zionistische Rechtsanwalt Leo Goldhammer 1928 Zahlen für die Studienjahrgänge 1920/21 und 1922/23 in Wien  : Das Verhältnis der jüdischen zu den nichtjüdischen Studierenden betrug 1920/21 4.556 zu 6.253, was 42,15 Prozent entsprach  ; 1922/23 3.722 zu 7.323, also 33,69 Prozent.116 Der prozentuelle Anteil jüdischer Studenten nahm auch in den nächsten Studienjahren weiter ab, was auf einen versteckten Numerus clausus zurückzuführen war, bedingt durch die hohen Inskriptionsgebühren für Ausländer, die willkürliche Verteilung der Plätze in Instituten sowie den Ausschluss von sämtlichen Hilfsaktionen.117 Tatsächlich waren im und kurz nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund des russischen Durchbruchs in Galizien und der damit verbundenen Schließung der Universitäten Krakau, Lemberg und Czernowitz viele jüdische Studierende nach Wien gekommen. Die dadurch empfundene Konkurrenz um den Studienplatz wurde schnell zur Verdrängung des Deutschtums hochstilisiert, oder wie es Ursin im Nationalrat vorbrachte, der 1920 antisemitische Demonstrationen als »Auflehnung gegen die jüdische Vorherrschaft« bezeichnete.118 Weiters wies Ursin in einer Budgetrede im Dezember 1921 auf die »zunehmende Verjudung des Ärztestandes« hin und schloss mit den Worten  : »Wie kommt Deutschösterreich dazu, auf seinen Hochschulen, deren medizinische Kliniken und wissenschaftliche Anstalten ein großes Passivum aufweisen, die Kosten des Studiums dieser Parasiten zu zahlen  ?«119

115 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 2, 43. Verhandlungsschrift der Sitzung des Verbandes der Abgeordneten der GDVP, 16.10.1919, 4. 116 Goldhammer 1928. 117 »Die Juden Wiens«, in  : Wiener Journal, 4.8.1927. 118 Der neue Tag, 30.4.1920. 119 »Nichtdeutsche Ärzte  !«, in  : DÖTZ, 29.12.1921.

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Sekundiert wurden Ursin und seine Gesinnungsgenossen vom damaligen Rektor der Universität Wien, dem deutschnationalen Geologen und Paläontologen Karl Diener.120 Im Juni 1925 wurde im Abgeordnetenverband eine Beschwerde der Professoren und Studierenden vorgetragen, dass sich von großdeutscher Seite niemand um sie kümmern würde. Die Angelegenheit wurde in einen dreigliedrigen Ausschuss abgeschoben, der aus Angerer, Frank und Holzmann bestand, von dem aber keine weiteren Aktivitäten aktenkundig sind.121 Obwohl die Ausschreitungen vor allem auf der Wiener Universität bis weit in die 1930er Jahre reichten, waren »Hochschulfragen« bis zur Auflösung der Partei unter den Abgeordneten kein Thema mehr.

Diskussionen im Judenausschuss über die »wirtschaftliche Bedeutung des Judentums« Es ist sehr auffällig, dass der Antisemitismus nach dem Ausscheiden des »Hardliners« Josef Ursin aus dem Nationalrat 1932 unter den Abgeordneten nur mehr eine Randerscheinung war, ja mehrmals überhaupt hinterfragt wurde, ob man damit nicht Wähler abstoßen würde.122 Ursin blieb zwar Obmann des »Judenausschusses«, da dieser allerdings das ganze Jahr 1923 nicht einberufen wurde123 und er deshalb Kritik wegen »mangelhafter Tätigkeit« erntete, stellte er in der Sitzung vom 18. Jänner 1924 seine Funktion zur Verfügung, behielt sie dann aber letztlich doch. Rasch waren sich die Sitzungsteilnehmer einig, dass die »Ursache, warum der Ausschuss bisher noch keine erfolgreiche Arbeit geleistet« habe, darin liege, dass man sich noch keine Klarheit verschafft habe, »wie die jüdische Gefahr zu bekämpfen« sei. Der andere Weg, der eingeschlagen werden müsse, habe wegzuführen vom »Hurra- und Heppgeschrei«, wie ihn die Nationalsozialisten praktizieren würden, und hin zur Aufklärung der Bevölkerung über die »wirtschaftliche Bedeutung des Judentums«.124 Wegen der »Bedeutungslosigkeit des 120 »Das Memorandum der deutschen Studentenschaft«, in  : Reichspost, 10.12.1922  ; zit. n. Taschwer 2015, 67. 121 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 5, 83. Verhandlungsschrift der Sitzung des Verbandes der Abgeordneten der GDVP, 4.6.1925, 3. 122 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 58, VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Verhandlungsschrift über die Sitzung (4. Geschäftsjahr) des Fachausschusses für die Judenfrage« 18.1.1924, 1. 123 Ursin erklärte dies mit seiner früheren Überlastung als Abgeordneter. 124 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 58, VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Verhandlungsschrift über die Sitzung (4. Geschäftsjahr) des Fachausschusses für die Judenfrage« 18.1.1924, 2f.

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bisherigen Erfolges« kam man überein, zunächst eine Grundsatzdiskussion über das »Wesen der Judenfrage« zu führen, wobei Otto Conrad zum Wortführer wurde, der zwei Meinungen vorstellte  : »Die eine fasst die Juden als einen Schwarm von lästigen, voneinander unabhängig lebenden Schmarotzern auf, der nur durch geschäftliche Bande zusammengehalten wird. Die andere Meinung […] umfasst die Juden als eine international geleitete, planmäßig arbeitende und gefährliche Großmacht auf.« Conrad, der zweiten Meinung anhängend, versuchte nun zu beweisen, dass es eine »jüdische Hauptgeschäftsstelle beim Völkerbund« gebe, welche die Staaten durch Kreditvergaben dem »internationalen jüdischen Finanzkapital« unterwerfen würde, und dass die »Arbeit der Feinde des Volkes von New York aus« geleistet werde. Bei Conrads Verschwörungstheorien ist auffällig, dass sie sehr den »Protokollen der Weisen von Zion« ähneln, die zwar in einer deutschen Erstausgabe bereits 1920 erschienen waren, zu dieser Zeit aber in fast allen völkischen Zeitungen diskutiert wurden.125 Auch Ursin glaubte an die Echtheit der »Protokolle«.126 Ehrlich127 pflichtete Conrad bei, dass die »Juden eine organisierte Macht« seien und dass die bisherige »Taktik im Kampfe« falsch gewesen sei. Er setzte auf Aufklärung, wobei noch viel Arbeit zu leisten sei, wolle man den »jüdischen Einfluss in der Wirtschaft, in der Wissenschaft, in der Kunst, im Sporte usw.« verdrängen. Trotzdem dürfe man die »Methoden des Kampfes gegen das Judentum nicht der Öffentlichkeit« mitteilen und auch nichts davon ins Parteiprogramm übernehmen. Auch würden sich viele Menschen, die nicht der Meinung Conrads seien, von der antisemitischen Arbeit abschrecken lassen.128 Viktor Lischka, der Redakteur der »Wiener Neuesten Nachrichten« kritisierte außerdem, dass bei den Ausführungen Conrads »die konkreten Vorschläge für die Bekämpfung des Judentums oder wenigstens die Festlegung der Methode für diesen Abwehrkampf« fehlen würden. So war man sich nur einig, dass sich im Ausschuss »zwei völlig verschiedene Anschauungen schroff gegenüber« stehen würden. Auch bezüglich der Frage, ob Parteimitglieder in »jüdischen Zeitungen« schreiben dürften – ein immer wiederkehrendes Thema unter den Abgeordneten und im Parteivorstand – konnte schließlich keine Einigung erzielt werden.129 Als kleinster gemeinsamer Nenner wurde in der Ausschusssitzung vom 13.  März 1924 ein (Rumpf-)Antrag Otto Conrads angenommen, der 125 Zu den »Protokollen der Weisen von Zion« siehe Horn 2012. 126 Pauley 1993, 231. 127 Es dürfte sich um den Hauptgeschäftsführer der Salzburger Reichsparteileitung Robert Ehrlich gehandelt haben. 128 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 58, VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Verhandlungsschrift über die Sitzung (4. Geschäftsjahr) des Fachausschusses für die Judenfrage« 7.2.1924, 1ff. 129 Ebd., VI-36, Mappe »Judenausschuss«, Verhandlungsschrift 22.2.1924, 3.

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einer Vertrauensmänner-Versammlung vorgelegt werden sollte  : »Nach Ansicht des Fachausschusses wird es […] immer offenbarer, dass die Zerrüttung der Wirtschaft und die Zerstörung der Währung […] ein Werk der internationalen Judenmacht ist, herbeigeführt, zu dem Zwecke, um in Verfolgung des jüdischen Weltmachtstrebens alle Länder in die Abhängigkeit vom internationalen Finanzkapital zu bringen. Der Fachausschuss erklärt es als Notwendigkeit und Pflicht der Partei, die Bevölkerung über die bisher nicht richtig erkannte, wahre Natur der Judenmacht […] aufzuklären.«130 Quasi als Zukunftsprogramm wurde in der Sitzung vom 20. März 1924 dann noch über die »praktische Bekämpfung des Judentums«, etwa durch die Gründung einer »arischen Großbank«, diskutiert.131 Hiermit endet das Konvolut an Verhandlungsschriften des »Judenausschusses« im Österreichischen Staatsarchiv. Es ist angesichts der gegensätzlichen Meinungen der Teilnehmer auch kaum glaublich, dass der Ausschuss noch einmal einberufen wurde. Außerdem legte Ursin in diesem Jahr 1924 seine Vorstandsfunktion in der Reichsparteileitung nieder und bekleidete fortan das Amt des Vizepräsidenten des Kriegsgeschädigtenfonds.132

Der XIV. Zionistische Weltkongress des Jahres 1925 in Wien Bereits im Vorfeld des XIV. Zionistenkongresses, der vom 18. bis 31. August 1925 in Wien in den Sofiensälen, im Konzerthaus und im Akademischen Gymnasium abgehalten wurde, versuchten die Nationalsozialisten, »eine Erregung in der Bevölkerung« hervorzurufen. Sie stellten die völlig aus der Luft gegriffene Behauptung auf, es würden 30.000 Juden, darunter 25.000 aus den östlichen Ländern, zum Kongress kommen, von denen 20.000 gar nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren, sondern in Wien bleiben wollten, »um hier die Herrschaft über Österreich zu gewinnen«.133 Die Regierung unter dem christlichsozialen Bundeskanzler Rudolf Ramek, der auch Leopold Waber als Vizekanzler angehörte, hatte die Abhaltung des Kongresses im Ministerrat ausdrücklich genehmigt und stand auch dazu, als im Juli 1925 Delegationen vom »Landbund« und von völkischen Verbänden (ohne die Großdeutschen)134 gegen

130 Ebd., VI-36, Mappe »Judenausschuss«, Verhandlungsschrift 13.3.1924, 1f. 131 Ebd., VI-36, Mappe »Judenausschuss«, Verhandlungsschrift 20.3.1924, 2. 132 Wladika 2016. 133 Neues Wiener Journal, 19.8.1925, 1. 134 Dies wurde von der DÖTZ heftig kritisiert. Siehe ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 5, Verhandlungsschrift der 97. Sitzung des Verbandes der Abgeordneten der GDVP, 1.9.1925, 3.

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die Tagung protestierten und u. a. »sanitäre Gefahren« ins Treffen führten.135 Ramek machte im Gegenteil eher wirtschaftliche Vorteile durch die Kongresstouristen – es kamen schließlich 10.000 Besucher und Besucherinnen  – als Nachteile geltend136 und wies darauf hin, dass die zionistische Bewegung, die von Wien ihren Ausgang genommen habe, unter dem Schutz des Völkerbundes stehen würde, dem auch die Republik Österreich angehöre.137 Den Nationalsozialisten ließ Ramek ausrichten, dass er keinen Terror dulden werde.138 Auch der den Großdeutschen nahestehende Wiener Polizeipräsident Johannes Schober erklärte, »dass alles zum Schutze des Zionistenkongresses getan würde«.139 Er ließ Wien in eine wahre Festung verwandeln. Die wichtigsten öffentlichen Gebäude der Bundeshauptstadt wurden von einem Polizeikordon umgeben. Auch wurde eine besonders rassistische Ausgabe der »Deutschen Arbeiter Presse« während des Kongresses beschlagnahmt.140 Zur größten Empörung der Antisemiten nahm ein Mitglied aus Rameks Kabinett, Sozialminister Josef Resch (1880–1939), an der Eröffnung des Kongresses teil und begrüßte die Delegierten im Namen der österreichischen Regierung. Nationalsozialisten und andere völkische Gruppierungen brachen das Versprechen, das sie Schober gegeben hatten, nicht gegen den Kongress zu demonstrieren, noch vor dessen offizieller Eröffnung am 18. August 1925. Bereits am 13. August fanden sich 10.000 Demonstranten in drei Sälen zusammen, um gegen den Kongress Protest zu erheben, und diese Kundgebung veranlasste einige Nationalsozialisten dazu, die Fenster von Kaffeehäusern in jüdischem Besitz einzuschlagen.141 Das war sicher der Anlass, warum ein für den Abend des Montags, den 17. August geplanter Demonstrationszug über die Ringstraße von der Wiener Polizeidirektion »aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und des öffentlichen Wohles« verboten wurde.142 Trotz dieses Polizeiverbots versuchten antisemitische Verbände dennoch, eine Demonstration gegen den Zionistenkongress, und zwar auf dem Freiheitsplatz143 vor der Votivkirche, abzuhalten. Dabei kam es hier, aber auch in anderen Innenstadtbereichen, zu blutigen Zusammenstößen mit der Polizei. Vier Stunden tobte eine wahre Straßenschlacht, bei der 135 »Österreich und der Zionismus  !«, in  : Reichspost, 8.8.1925. 136 »Bedeutsame Kundgebung der Regierung zum Zionistenkongress«, in  : Neues Wiener Journal, 8.8. 1925, 1. 137 Neues Wiener Journal, 19.8.1925, 1. 138 »Die Vorkonferenz des XIV. Zionistenkongresses«, in  : Neue Freie Presse, 1.8.1925. 139 »Die Sorge um den Zionistenkongress«, in  : DÖTZ, 21.6.1925. 140 Pauley 1993, 156. 141 Ebd. 142 »Verbot der völkischen Kundgebung«, Wiener Journal, 17.8.1925. 143 Heute Rooseveltplatz.

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sich die teils berittene Exekutive unter dem Steinhagel der Demonstranten genötigt sah, mit »blanker Waffe«, sprich dem Säbel, vorzugehen.144 Die Bilanz der Krawalle  : 132 Personen wurden verhaftet  ; 40 wurden verletzt, davon 21 Polizisten  ; der Sachschaden betrug 32 Millionen Schilling. Am 18. August gingen die Ausschreitungen weiter, ebbten dann aber ab. Diesmal wurden nur 73 Demonstranten festgenommen. Unter den mehr als 200 Verhafteten dieser beiden Tage befanden sich gerade einmal zwei Mitglieder der GDVP.145 Die Partei wurde wegen ihrer Zurückhaltung von ihren Anhängern heftig kritisiert. Auch der Abgeordnete Iring Grailer (1888–1979) machte in der Sitzung des Abgeordnetenverbandes vom 1. September 1925 der Regierung ihre Taktik zum Vorwurf, einerseits den Kongress zu fördern, die nationalsozialistische Versammlung aber zu verbieten. Der so angesprochene Vizekanzler Waber rechtfertigte die Entscheidung der Regierung, den Kongress, der unter dem besonderen Schutze Englands stehen würde, abzuhalten. Als »internationale Angelegenheit« wäre er von allen Regierungen der Welt anerkannt, die auch ihre Vertreter entsenden würden. Ein Verbot hätte dem Ansehen Österreichs geschadet und wäre »ganz unmöglich« gewesen. Waber kam nun zum antisemitischen Punkt, der auch der Parteilinie entsprach  : »Wer die Tagung des Kongresses überblickt, der sieht deutlich, dass der Standpunkt des Zionismus uns erwünscht sein muss, denn die Auswanderungsbestrebungen sind etwas außerordentlich wünschenswertes, die Kolonisation müsste unterstützt werden, denn sie ergäbe eine Entlastung unserer Bevölkerung. Ich habe nicht öffentlich zu der Frage Stellung genommen, um nicht am Ende als Beschützer der Zionisten bezeichnet zu werden.«146

Eine nicht mehr realisierte neue Fassung des Parteiprogramms im Jahre 1930 und die Auflösung der GDVP 1934 Viele Historiker, allen voran Bruce Pauley, haben konstatiert, dass sich die Jahre 1926 bis 1929 als die bei weitem ruhigste Periode in der Geschichte der Ersten Republik herausstellen sollten, abgesehen vom Brand des Justizpalastes im Jahre 1927. Dafür war sicherlich der nach einer erfolgreichen Sanierungspolitik erfolgte wirtschaftliche

144 Siehe den ausführlichen Bericht »Schwere Hakenkreuzlerexzesse«, Neues Wiener Journal, 18.8.1925. 145 Pauley 1993, 157f. 146 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 5, Verhandlungsschrift der 97. Sitzung des Verbandes der Abgeordneten der GDVP, 1.9.1925, 2f.

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Aufschwung in diesen Jahren verantwortlich.147 Was den Antisemitismus anbelangt, so ist auch hier eine gewisse Ruhe feststellbar, wenn auch die Großdeutschen kein Hehl daraus machten, dass sie am Parteiprogramm festhalten und ihre Haltung gegenüber dem Judentum nicht ändern würden.148 Am 24.  März 1930 wurde den Mitgliedern der Reichsparteileitung der Entwurf einer neuen Fassung des Parteiprogramms zur Überprüfung zugesandt, der die zehnjährige Parteiarbeit der GDVP berücksichtigen und das Salzburger Programm des Jahres 1920 diesbezüglich ergänzen sollte.149 Das letzte Kapitel, »Unsere Stellung zur Judenfrage«, wurde dabei zum größten Teil dem alten Programm entnommen und Ergänzungen wurden an das Ende des ursprünglichen Textes einfach angefügt. Dabei kamen zunächst die Erfahrungen mit der »Ostjudenfrage« und dem Zionistenkongress zur Sprache  : »Dem stetigen Anwachsen der Juden im Staate kann nur durch ein Verbot weiterer jüdischer Einwanderung begegnet werden. Auch die Gemeindezuständigkeit sowie die Landes- und Bundesbürgerschaft soll an Juden nicht mehr verliehen werden dürfen. Hingegen ist die jüdische Abwanderung nach Palästina weitgehendst zu fördern.«150 Der endgültige Entwurf enthielt noch deutliche Verschärfungen der Grundsätze. So wurden bezüglich »Trennung der deutschen Volksgemeinschaft vom Judentume« und »Mischehen« Subkapitel eingefügt, die insofern ein »alter Hut« waren, als sie doch bereits in der 3. Sitzung des »Judenausschusses« am 19. Mai 1921 formuliert worden waren.151 Sie gelangten fast unverändert in den Programmentwurf  : »Aus den aufgezeigten Rassenunterschieden ergibt sich von selbst, dass Juden vom öffentlichen Dienst fernzuhalten sind und dass sie weder Lehrer deutscher Kinder noch Richter über deutsche Volksgenossen sein können. Wo die Möglichkeit besteht, sollen auch jüdische Kinder von deutschen getrennt in eigenen Klassen unterrichtet werden. Aus den gleichen Gründen können Juden nicht Vertreter deutscher Volksgenossen in öffentlichen Körperschaften sein […] Ein wichtiger Schritt zu unserem Ziele wäre die vollständige Trennung vom Judentume im geselligen Verkehre. Diese Trennung soll zunächst in allen Geselligkeits-, Sport-, Kunst-, wissenschaftlichen und Berufsvereinigungen durchgeführt werden.«

147 Pauley 1993, 162. 148 Ackerl 1967, 258. 149 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 26, Mappe »Parteiprogramm 1930«, Ortsgruppe Judenburg an die Reichsparteileitung der Großdeutschen Volkspartei, 2.6.1930. 150 Ebd., Mappe »Parteiprogramm 1930«, Programmentwurf 1930, 8f. 151 ÖStA, AdR, Parteiarchiv der GDVP, Kt. 58, VI-36, Mappe »Judenausschuss«, »Verhandlungsschrift über die 3. Sitzung des Fachausschusses für die Judenfrage am 19. Mai 1921«, 1f.

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Auch was die Grundsätze über die »Mischehen« anbelangte, ähnelten diese den späteren NS-Bestimmungen  : »Aber auch in der Familie und im Hause der bewusst Deutschen soll der Jude keinen Zutritt finden. Dadurch wird den leider schon so zahlreichen Mischehen gegengesteuert, unsere Rasse vor Verschlechterung und unsere Jugend vor Verbindungen bewahrt, die doch nicht wahrhaft glückbringend sein können. Ehen zwischen deutschen Volksgenossen und Angehörigen der jüdischen Rasse sollten gesetzlich verboten werden. Die Nachkommen aus arisch-jüdischen Mischehen können wir nicht als vollwertige Volksgenossen betrachten. Unsere heranwachsende Jugend davor zu bewahren, dass sie ihre Nachkommenschaft zu Mischlingen macht, ist eine Hauptaufgabe der Jugenderziehung.«152 Das Programm 1930 blieb ein Entwurf. Mit ziemlicher Sicherheit sollte es dem 12. Reichsparteitag vom 4. bis 6. Dezember 1931, der in Wien abgehalten wurde, zur Beschlussfassung vorgelegt werden, dieser dürfte aber dann vertagt worden sein. Da es keinen weiteren Reichsparteitag mehr gab, blieb letztlich das Salzburger Programm aus dem Jahre 1920 bis zum Ende der GDVP im Jahre 1934 die Grundlage. In den Jahren nach 1930 war der Antisemitismus außerhalb des Parteiprogrammes nicht einmal mehr eine Randerscheinung. So findet er etwa im Stenographischen Protokoll des »Elften ordentlichen Großdeutschen Landesparteitages für Wien und Niederösterreich«, das am 29. März 1931 erstellt wurde und 118 Seiten umfasst, keine einzige Erwähnung.153 Der Grund dürfte gewesen sein, dass die Partei um diese Zeit bereits um ihr politisches Überleben kämpfte. Die Auflösung der Partei erfolgte dann in kurzen, aufeinander folgenden Etappen. Am 27. Jänner 1932 traten die Großdeutschen endgültig aus der Koalitionsregierung mit den Christlichsozialen und dem »Landbund« unter Bundeskanzler Karl Buresch (1878–1936) aus und gingen in Opposition. Die Hauptgründe waren dabei einerseits der nach dem Scheitern des Zollunionsprojektes mit dem Deutschen Reich von den Christlichsozialen eingeschlagene französische Kurs, andererseits die schwerwiegenden Konsequenzen der Banken- und Budgetsanierung für die Hauptklientel der Großdeutschen – die Beamten. Für eine kleine Partei wie die Großdeutschen wirkte sich die Oppositionsrolle fatal aus  : Sie wurde zunehmend vom Vordringen der NSDAP bedroht, die sich 1932 nach einem Konzentrationsprozess und durch den Aufstieg Adolf Hitlers im Deutschen Reich zur Massenpartei entwickelt hatte. Es erfolgte die Aufsaugung der völlig

152 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 26, Mappe »Parteiprogramm 1930«, Programmentwurf 1930, 9f. 153 ÖStA, AdR, PArch GDVP, Kt. 23, B I/3, Mappe »Landesparteitag 1931«, Stenographisches Protokoll des Elften ordentlichen Großdeutschen Landesparteitages für Wien und Niederösterreich, 29.3.1931.

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gelähmten GDVP, wobei der Übergang von GDVP zur NSDAP deutliche Züge eines Generationswechsels trug. Das entscheidende Datum für diesen Prozess – Bruce Pauley zufolge »der« Wendepunkt in der Geschichte der Ersten Republik154 – waren die Landtags- bzw. Gemeinderatswahlen am 24. April 1932 für Wien, Niederösterreich und Salzburg. Sie gerieten für die Großdeutschen zum Fiasko, denn sie verloren fast alle Wähler und Wählerinnen an die Nationalsozialisten, an die auch ihre Landtagssitze gingen. So sank die Partei von 10,3 auf 1,6 Prozent und damit in die politische Bedeutungslosigkeit.155 In Wien etwa erhielten die Großdeutschen gerade einmal armselige 8.850 Stimmen.156 Die antimarxistische, antiklerikale, antisemitische und großdeutsch-völkische Ideologie der GDVP hatte es den Wählern leichtgemacht, für die NSDAP zu stimmen, die in den drei Bundesländern von 66.000 Stimmen des Jahres 1930 nunmehr auf 336.000 kamen.157 Der Wahlerfolg der Nationalsozialisten hatte auch Folgen für die Bundespolitik. Einen Antrag der Großdeutschen im Nationalrat, wegen der geänderten Stimmungslage das Parlament aufzulösen, nahmen die Sozialdemokraten auf, während sich die Christlichsozialen und der Landbund dagegen aussprachen. Das Zünglein an der Waage spielte der Heimatblock, der die Alternativfrage »Rechtsregierung oder Auflösung« stellte. Damit war das Kabinett Buresch II Geschichte und am 10. Mai 1932 der Weg frei für den Landwirtschaftsminister Engelbert Dollfuß (1892–1934), der mit der Bildung einer »Rechtsregierung« betraut wurde. Zweimal lud er die Großdeutschen ein, in seine Regierung, an der sich Christlichsoziale, Landbündler und der Heimatblock beteiligten, einzutreten  ; die Verhandlungen scheiterten jedoch.158 Den Wählern, die zur NSDAP übergelaufen waren, folgten alsbald die großdeutschen Funktionäre nach  : Von den Parlamentariern sympathisierten seit dem Beginn der 1930er Jahre Hermann Foppa (1882–1959), Hans Prodinger (1887–1938), Rudolf Zarboch (1878–1960) und Maria Schneider (1898–1979) mehr oder weniger offen mit gewissen NS-Tendenzen. In Vorarlberg empfahl die dortige großdeutsche Parteiorganisation im Mai 1933 ihren Mitgliedern gar, der NSDAP beizutreten, »da diese Bewegung […] den Anschlusswillen und den Antisemitismus gleichfalls vertritt«, und 1932/33 traten tatsächlich 90 Prozent der GDVP der NSDAP bei.159 Im Sommer 1932 folgten sieben Mitglieder der Wiener und der niederösterreichischen 154 155 156 157 158 159

Pauley 1988, 81. Kriechbaumer 2001, 472. Zu den Wahlen des Jahres 1932 siehe Schausberger 2012, 134. Dostal 1994, 239. Jung 1937, 37. Dostal 1994, 241.

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Reichsparteileitung unter der Führung des Wiener Landesparteiobmannes Emil van Tongel (1902–1981) dem Ruf der NSDAP.160 Bereits im Dezember 1931 – ein Jahr vor seinem Tod  – hatte Josef Ursin auf einer Veranstaltung »unter brausenden Rufen aller Teilnehmer […] seinen offiziellen Beitritt als Mitglied und Mitstreiter der NSDAP« bekanntgegeben.161 Zu diesem Erosionsprozess kam auch noch die finanzielle Misere der GDVP hinzu. Wegen der leeren Kassen sollte Hilfe von der reichsdeutschen »Deutschnationalen Volkspartei« Alfred Hugenbergs (1865–1951) kommen, was sich aber angesichts der geänderten politischen Verhältnisse zerschlug.162 Nach der Ausschaltung des Parlamentarismus am 4. März 1933 machte der ebenfalls zurückgetretene großdeutsche Dritte Nationalratspräsident Sepp Straffner noch einmal Schlagzeilen, als er am 15. März 1933 den Nationalrat zur Fortsetzung der unterbrochenen Sitzung mit der Absicht einberief, durch eine Selbstauflösung des Parlamentes die Ausschreibung von Neuwahlen zu erzwingen, was jedoch von der Regierung Dollfuß als verfassungswidrig erklärt wurde.163 Den Großdeutschen war somit auch der legalistische Boden entzogen worden. Sie standen nun wie die Nationalsozialisten in Opposition zum austrofaschistischen Regime, was beiden auch erleichterte, ins Gespräch zu kommen. Das Ergebnis war das von Thomas Dostal als »grotesk« bezeichnete, am 15.  Mai 1933 geschlossene »Kampfbündnis« zwischen der NSDAP, dem »Steirischen Heimatschutz« (welche sich bereits am 9. März 1933 zur »Großdeutschen Front« zusammengeschlossen hatten) und der GDVP.164 Dieses Bündnis bedeutete die De-Facto-Selbstaufgabe der Partei, die in dem Abkommen auf die Erhaltung einer selbständigen Organisationsform verzichtete und die Verwertung der von ihr besetzten politischen Positionen im Sinne der Kampffront ebenso billigte wie den Übertritt ihrer Mitglieder zur NSDAP. Öffentliche Versammlungen der Partei durften nur mehr im Rahmen der »Nationalen Kampffront« durchgeführt werden. Als unmittelbares politisches Nahziel wurde die Ausschreibung von Neuwahlen, der Sieg der »Nationalen Kampffront« und die Realisierung des Anschlusses genannt. Wenngleich die GDVP in dem neuen Bündnis formell ihre Selbständigkeit bewahren konnte, war sie de facto zu einer Nebenstelle der NSDAP geworden.165 Diese erhielt durch die Unterordnung der Großdeutschen auch noch Zugang zu den bürgerlichen »nationalen« Kreisen und einen Anstrich von 160 Kriechbaumer 2001, 475. 161 Dr. Ursin in einer NSDAP-Versammlung, in  : DÖTZ, 5.12.1931. 162 Ackerl 1967, 295f. 163 Ebd., 292. 164 Dostal 1994, 242. 165 Kriechbaumer 2001, 477. Zur Bildung der »Nationalen Kampfront« siehe auch Ackerl 1975, 21–35.

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Legalität und bürgerlicher Seriosität  ; kurz  : Die Großdeutschen machten die Nationalsozialisten damit auch noch salonfähig.166 Als am 19. Juni 1933 – nur ein Monat nach Gründung der »Nationalen Kampf­ front«  – sowohl die NSDAP als auch der »Steirische Heimatschutz« verboten wurden, traten die nicht verbotenen Großdeutschen durch Hermann Foppa und Franz Langoth angesichts der zunehmenden NS-Terrorwelle als Mittler zwischen nunmehr illegaler NSDAP und der Regierung noch einmal in Erscheinung. Sie sahen darin eine Chance, einen Umbau der Regierung durch den Eintritt der »Nationalen Kampffront« zu erwirken. Die langwierigen und immer wieder vertagten Verhandlungen scheiterten jedoch im November 1933 endgültig.167 Am Tag vor der Verkündung der sogenannten Maiverfassung, am 30. April 1934, berief die Regierung Dollfuß die nach der Aberkennung der sozialdemokratischen Mandate im Zuge der Februarereignisse noch übrigen Nationalräte zu einer Sitzung ein, deren Gegenstand die Annahme der neuen Verfassung und hierauf die Auflösung des Nationalrates bildete. Nachdem der Großdeutsche Ernst Hampel (1885–1964) am Beginn der Sitzung einen auf die Bestimmungen der Verfassung gegründeten geschäftsordnungsmäßigen Protest zur Kenntnis gebracht hatte und die großdeutschen Mitglieder bis auf den Reichsparteiobmann Foppa den Saal verlassen hatten, gab dieser namens der GDVP eine Erklärung ab, die in entschiedener Form gegen die Sitzung des Nationalrates und gegen die beabsichtigte Verfassungsänderung Stellung nahm.168 Foppa schloss mit den Worten  : »Wir erheben […] feierlich Einspruch gegen ein Regime, das […] sich über ein Jahr außerhalb der Verfassung gestellt hat […] Wir grüßen in dieser entscheidenden Stunde als freigewählte österreichische Volksvertreter […] unsere Brüder im Deutschen Reiche und geloben, auf unserem völkischen Vorposten auszuharren, bis die Lebensforderung des österreichischen Volkes erfüllt ist  : Keine Lösung der österreichischen Frage ohne das Deutsche Reich, keine Lösung des mitteleuropäischen Problems ohne Deutschland.«169 Nachdem Foppa den Saal verlassen hatte, konnte man die GDVP im Rahmen der österreichischen Innenpolitik als nicht mehr existent betrachten.170 Von Seiten des Staates wurde die GDVP zwar nie behördlich aufgelöst, vielmehr löste sie sich selbst auf und wandelte sich in unpolitische kulturelle Volksbünde um, die bis 1938 Bestand hatten.171 166 167 168 169 170 171

Dostal 1994, 243f. Detailliert bei Kriechbaumer 2001, 477f.; Ackerl 1967, 302f. Jung 1937, 40. Zit. n. Dostal 1994, 245. Ackerl 1967, 310. Ebd., 311.

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Schlussfolgerungen Ein Resümee muss zwiespältig ausfallen. Liest man nur das Salzburger Programm, so gewinnt man den Eindruck, dass es sich bei der GDVP um eine Partei handelte, die einen eliminatorischen Antisemitismus vertrat, der sich vor allem dadurch auszeichnete, dass »Jude« die Zugehörigkeit zu einer rassenbiologischen definierten Entität bedeutete, aus der es kein Entrinnen durch Taufe oder Assimilation gab.172 Wenn auch alle Parteifunktionäre auf dieses Programm mittels Reversen eingeschworen wurden, so hat diese Untersuchung doch deutlich gezeigt, dass eine interessante Kluft zwischen den Richtlinien und der eher toleranten und nachsichtigen politischen Betätigung bestand, wie dies auch Isabella Ackerl konstatiert hat.173 Der Partei ist es etwa nie gelungen, ihre Funktionäre trotz eines Verbotes davon abzuhalten, in »jüdischen Blättern« zu publizieren. Bruce Pauley ging sogar so weit, zutreffender Weise zu schreiben, dass diese »Mäßigung«, nämlich »die Unfähigkeit der Partei, ihrem rhetorischem Extremismus gegenüber den Juden konkrete Taten folgen zu lassen«, abgesehen vielleicht von Wabers Agieren in der »Ostjudenfrage«, zumindest teilweise ein Grund dafür war, dass die GDVP 1932/33 rund 90 Prozent ihrer Anhänger an die Nationalsozialisten verlor.174 Gerade der »Judenausschuss« offenbart, wie die »Hardliner« Ursin oder Conrad, die die Partei in der »Judenfrage« vor sich hertrieben und zeitweise in Geiselhaft nahmen, doch selbst an der Durchsetzungskraft ihrer krausen Ideen zweifelten. Ihr Einfluss in der Partei scheint insgesamt marginal gewesen zu sein und schwand gegen Ende der 1920er Jahre gänzlich. Die »Ostjudenfrage« gibt auch ein gutes Beispiel, wie sich der als gemäßigt geltende Johann Schober, mit dem die GDVP immerhin einen ihr nahestehenden Bundeskanzler stellte, von seinem Innenminister Waber distanzierte. Auf der anderen Seite war es in der Außenwirkung gerade der rhetorische Rassenantisemitismus, den die Großdeutschen durch ihr Programm, durch Ansprachen, Flugblätter, Zeitungsartikel, Pamphlete und Bücher erst salonfähig machten. Eine Regierungspartei mit einem Arierparagraphen, die insgesamt 14 Minister stellte, gab damit in der Öffentlichkeit das schlechteste Vorbild ab. Die Stimmen, die sich gegen diese Radikalität wandten, waren zu schwach. So hat der Ansatz von Karl Stuhlpfarrer, dass nicht das NS-Herrschaftssystem den Antisemitismus nach Österreich gebracht hatte, sondern dass er autochthonen österreichischen Charakter hatte, seine Berech-

172 Zum eliminatorischen Antisemitismus Hitlers siehe Pyta 2015, 100. 173 Ackerl 1967, 317. 174 Pauley 1993, 232.

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tigung.175 Sicherlich legten die Großdeutschen hierfür die Basis, denkt man an die »wilden Arisierungen« in den »Anschluss« -Tagen des März 1938, die sogar bei den neuen reichsdeutschen Machthabern für Verblüffung über den Ausbruch eines derart radikalen Judenhasses in der Bevölkerung sorgte.

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Der Landbund für Österreich Antisemitismus ohne Juden  ? Einleitung »Es ist das Unglück unserer Partei, dass sie keine Theoretiker hat, die wissenschaftlich diese Fragen durchstudieren könnten und die uns als Synthese ihrer Arbeit einen nationalen Sozialismus vorlegen, der vom Bauernstande als der Grundlage der Nation ausgehend dem Bauernstand in der neuen Gesellschaftsform auch eine gesicherte Grundlage bietet […]. Wir stehen schon mitten im Sozialismus drinnen, dass ich fest glaube[,] er wird für die nächsten Jahre unser Schicksal bestimmen. Aber wenn schon, dann darf es doch nur ein nationaler Sozialismus sein – nicht zu verwechseln bitte, mit einer der Spielarten desselben, den Nationalsozialismus.«1 So legte der Rechtsanwalt und Landbund-Sympathisant, Carl Bresanyt, die programm­bezogene Situation im Landbund für Österreich in einem Brief an Vincenz Schumy im Jahre 1931 dar. Von dieser kritischen Selbstbetrachtung eines Landbündlers ausgehend, ergeben sich folgende Fragestellungen  : a) Kann man den Landbund für Österreich von den anderen deutschnationalen Parteien der Ersten Republik abgrenzen und verfügte der Landbund über ein eigenständiges politisches Programm  ? b) Stellte der Landbund, der ideologisch und strukturell in enger Beziehung zur Großdeutschen Volkspartei stand, als eine rein berufsständische Interessenpartei das Gegenstück zu dieser dar, wie es Gernot Stimmer formuliert hat  ?2 c) Konnte sich der Landbund, einem Unterscheidungskriterium von Robert Kriechbaumer folgend, durch dessen Konzentration auf das deutschnationale bäuerliche Wählersegment – im Gegensatz zur Großdeutschen Volkspartei ein »soziokulturelles Integrationsmilieu« schaffen  ?3 d) Differenziert sich die antisemitische Programmatik des Landbundes von der der Großdeutschen Volkspartei und gibt es eine spezifische Form eines »bäuerlichen Antisemitismus«  ? Anhand der Publikationen der letzten Jahre kann man eine wieder verstärkte Beschäftigung mit dem Thema Landbund beobachten. Aufbauend auf Günther Bur1 Brief von Carl Bresanyt an Vincenz Schumy, Nachlass Schumy, hier zit. n. Mattl 1981, 400. 2 Stimmer 1997, 659f. 3 Kriechbaumer 2000, 519.

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kerts umfangreichen Forschungsergebnissen von 1995 hat einerseits Lothar Höbelt 2008 eine kurzgefasste Geschichte der Großdeutschen Volkspartei verknüpft mit der des Landbundes veröffentlicht, Kriechbaumer 2000 und 2001 die historischen Entwicklungslinien des Landbundes neu beleuchtet und Christian Klösch 2013 die schwierige Situation des Landbundes und der Großdeutschen Volkspartei zwischen Nationalsozialismus und Austrofaschismus kritisch dargelegt.4 Für die Zukunft wegweisend betreffend die Darstellung der Geschichte des Landbundes in den einzelnen Bundesländern ist Bernd Vogels 2015 erschienene Veröffentlichung »Deutschnationalismus in Vorarlberg.«5 Für die Steiermark bietet Hanns Haas’ Studie über die »Die vergessene Bauernpartei«6 bisher nicht bekannte Details über die führenden Landbundpolitiker. Im Kontrast zur vorerwähnten Situation bezüglich der Sekundärliteratur sind Primärquellen nur sehr eingeschränkt vorhanden. Während man für die Großdeutsche Volkspartei auf einen umfangreichen Archivbestand im Österreichischen Staatsarchiv,7 zurückgreifen kann, gibt es keinen vergleichbaren selbständigen Bestand des Landbundes. Die Materialien der Parlamentsfraktion des Landbundes wurden verschiedenen Hinweisen zufolge 1934 (bzw. im Laufe des Zweiten Weltkrieges) im Parlament vernichtet. Neben den vorher erwähnten grundlegenden Quellen im Bestand der Großdeutschen Volkspartei stehen darüber hinaus nur Vereinsgründungsunterlagen und die persönlichen Nachlässe einiger Landbundpolitiker zur Verfügung. Jener von Vincenz Schumy befindet sich im Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien und der von Karl Hartleb im Steiermärkischen Landesarchiv. Gerade der Nachlass Schumys, von Siegfried Mattl als »äußerst heterogenes verbandinternes und regionales«8 Material bezeichnet, ist schwerpunktmäßig auf die Entwicklung des Landbundes in Kärnten ausgerichtet und bot die Grundlage für mehrere Dissertationen über den Landbund für Österreich, den Kärntner Landbund und einzelne Landbundpolitiker.9

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Burkert 1995  ; Höbelt 2008  ; Kriechbaumer 2000 und Kriechbaumer 2001  ; Klösch 2013. Vogel 2015. Haas 2000  ; ein lokaler Beitrag bei Stibor 2009  ; für Niederösterreich Sedlacek 1996. Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bestand Großdeutsche Volkspartei  : Kt. 10 (Nationaler Wirtschaftsblock und Landbund-Verhandlungsschriften), Kt. 12 (Verband deutschvölkischer Vereine Deutschösterreichs), Kt. 42 (Deutschösterreichische Bauernpartei) und Kt. 52 (Nationaler Wirtschaftsblock, Landbund). 8 Mattl 1981, III. 9 Benedikt 1966  ; Feldmann 1967  ; Reif 1987.

Der Landbund für Österreich

Fragestellungen zum politischen Programm des Landbundes Aus Platzgründen wird auf einen historischen Überblick der Geschichte des Landbundes verzichtet und auf die zitierte Sekundärliteratur verwiesen. Anhand der »Programmatischen Grundsätze« wird im folgendem Abschnitt auf einige für diesen Beitrag wesentliche Elemente im Programm des Landbundes eingegangen,10 wobei der Schwerpunkt auf die Thematik Antisemitismus gelegt wird. Die »Programmatischen Grundsätze« des Landesbundes wurden beim ersten Reichsparteitag in Klagenfurt am 31. Jänner 1925 von NR Dr. Ernst Schönbauer vorgestellt, während der steirische Landesrat Franz Winkler das neue Organisationsstatut präsentierte. Diese Programmatischen Grundsätze haben ihre Vorläufer in den Leitsätzen der »Deutschösterreichischen Bauernpartei«, welche am 26. Juni 1920 in Leoben gegründet wurde und den Richtlinien des »Deutschen Bauernbundes für Steiermark« vom Dezember 1918.11 Weitere Anhaltspunkte finden sich in den politischen »Leitsätzen des Landbundes« vom 23. Jänner 1923, welche am 1. Landbundtag in Linz angenommen wurden, und in den Entwürfen, welche sich im Nachlass Schumys befinden. 12 Die Programmatischen Grundsätze bestehen aus zwölf Punkten und wurden in den Folgejahren in den jährlichen Landbund-Kalendern abgedruckt und knapp kommentiert. Programmatische Grundsätze des Landbundes

(1) Der Landbund ist eine selbständige Partei. Die Konstituierung des Landbundes als einheitliche und selbständige Partei auf Bundesebene stellte einen vorläufigen Abschluss einer innerparteilichen Auseinandersetzung dar, welche die deutschnationale Bauernschaft seit 1918 prägte. Die Option, nämlich einer engen Kooperation mit der Großdeutschen Volkspartei, lag diametral den Interessen der steirischen Gruppe des Landbundes mit Leopold Stocker und Winkler entgegen, welche die spezifisch agrarische Interessenspolitik nur durch die Gründung einer eigenen Partei für ausreichend vertreten ansahen.13 Die Geschichte der verschiedenen nationalen bäuerlichen Gruppierungen in den Bundesländern zeigte in den Jahren 1918 bis 1925 ein stetiges Schwanken zwischen versuchter Zusammenarbeit mit anderen nationalen Gruppierungen oder selbständiger politischer 10 Grundlegend zur Ideologie und Programmatik des Landesbundes  : Wandruszka 1977  ; Feldmann 1967  ; Mattl 1981  ; Fellinger 1989  ; Burkert 1995  ; Kriechbaumer 2001. 11 Haas 2000, 168. 12 Kriechbaumer 2001, 530. 13 Kriechbaumer 2000, 522f.

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Tätigkeit. Neben dem propagierten »Schreckensszenario«, organisatorisch in der Großdeutschen Volkspartei aufzugehen,14 dürfte der endgültige Anstoß zur Gründung einer selbständigen Partei auch in den negativen Erfahrungen anlässlich der Nationalratswahlen im Jahre 1923 liegen. 1923 trat der Landbund nicht bundesweit als einheitliche Wahlpartei an, sondern regional unterschiedlich mit diversen Listenbezeichnungen. Nach einer erfolgreichen Wahlanfechtung wurden dem Landbund auf Grund eines Erkenntnisses des Verfassungsgerichtshofes vom Jänner 1924 drei von acht Mandaten aberkannt. Diese Bruchlinien zwischen einheitlicher nationaler Front und einer selbständigen Bauernpartei finden sich auch in der Geschichte der Weimarer Republik, als es zu Versuchen kam, aus dem Reichslandbund und den Landbundorganisationen eine selbständige Partei aufzubauen, wobei jedoch im Gegensatz zu Österreich keine dauerhafte Gründung einer selbständigen Bauernpartei erfolgte. 15 Im weiteren Verlauf ging der Landbund für Österreich bei Wahlen trotz Gründung einer selbständigen Partei auf Landes- und Bundesebene weiterhin Listenverbindungen ein, und es blieb auch, wie Adam Wandruszka betont hat, der stark föderalistische Aufbau der Partei bestehen.16 (2) Der Landbund ist eine Standespartei. Die Forderung nach einer ständischen Gliederung der Gesellschaft bis hin zu e­ iner Vertretung durch ein Stände- oder Wirtschaftsparlament spiegelte sich in der Landbundpresse kontinuierlich wider. Der Weg dorthin sollte jedoch über eine reine Standespartei erfolgen, welche sich als Zwischenlösung in der Form einer »historisch überkommenen Partei« präsentierte. Zur Unterscheidung des vom Landbund propagierten Modells eines Ständestaates von jenen faschistischer bzw. katholischer Provenienz hat Vogel kürzlich drei wesentliche Kriterien herausgearbeitet auf welche hier nur hingewiesen wird.17 (3) Der Landbund ist keine Klassenpartei. Dieser Programmpunkt erscheint von zwei Gesichtspunkten aus besonders erwähnenswert, einerseits, weil der Landbund von Gegnern und Kritikern auch aus den eigenen Reihen als Klassenpartei bezeichnet wurde, andererseits weil die Klassenfrage das Verhältnis zur Sozialdemokratie wesentlich prägte. So warf die oberösterreichische Grup14 Ebd., 522. 15 Panzer 1977, 534  : »das Ziel der neuen Partei ist dem deutschen Landvolk in allen gesetzgebenden Körperschaften eine möglichst starke Vertretung zu schaffen, Aufbau des Staates auf berufsständischer Grundlage, Erhaltung des Privateigentums, christliche Weltanschauung, Kampf gegen das internationale Finanzkapital«. 16 Wandruszka 1977, 595. 17 Vogel 2015, 32.

Der Landbund für Österreich

pierung der Großdeutschen Volkspartei der Stockerpartei vor, eine »starre agrarische Klassenpartei zu sein, die den Klassenegoismus zum Programm wählte«.18 Josef Redlich berichtet in seinen Tagebüchern über eine Stellungnahme Ignaz Seipels, der über das schlechte Wahlergebnis der Landbündler 1923 erfreut schien, da sie mit ihrer Demagogie die christlichsoziale Bauernschaft immer schwer bedrückt hätten und als Partei der »Protzenbauer […] die agrarische Politik als Klassenkampfpolitik betreiben wolle.«19 Darüber hinaus lehnte der Landbund den »Klassenkampf im Gegensatz zum Marxismus« ab, wie es im Salzburger Landbündler vom Dezember 1924 warnend hieß  : »Fragt jene, die in Russland waren  ! Hat man nicht die Bauern geholt[,] um Revolution zu machen […,] und nachher haben ihnen ihre Freunde der Revolution die Pferde vom Pflug weg und das Korn vom Schober geholt«.20 In der täglichen politischen Auseinandersetzung und Argumentation in der Landbundpresse vermengte sich dieser Programmpunkt mit dem folgenden Punkt 4 und diente als Warnung an die potentielle Wählerschaft vor dem Einströmen linksorientierter Ideologien in die ländliche Gesellschaft.21 (4) Der Landbund vertritt die gesamte Land- und Forstwirtschaft. Trotz einzelner in der Literatur beschriebener Fällen von zeitlich beschränkter und themenspezifischer Zusammenarbeit zwischen dem Landbund und der Sozialdemokratie, z. B. im Burgenland, in Niederösterreich und in Vorarlberg, wurde Otto Bauers Offensive bei Landarbeitern und Kleinbauern zur großen Herausforderung für den Landbund. Als Gegenmaßnahme setzte man diesem Versuch das Konzept des »ganzen Hauses« entgegen, in dem neben der bäuerlichen Wählerschicht »auch der ländlich gewerbetreibende Händler und Landarbeiter« vertreten sein sollte. Um der Sozialdemokratie das Eindringen in die ländliche Wählergruppe zu erschweren, forderte die Landbundführung die Bauernschaft auf, die Landarbeiter gerecht zu entlohnen«22, um ein Fußfassen des Sozialismus im Dorf abzuwehren, wie die Landbundpresse argumentierte.23 (5)   Landbund und Gewerbe. (6)   Landbund und Landarbeiter. (7)   Landbund und Landjugend. 18 Fellinger 1989, 179. 19 Fellner 2011, 625. 20 Kriechbaumer 2000, 525. 21 Die Konzentration auf die ländliche Wählerschaft ermöglichte laut Kriechbaumer die Entstehung einer größeren Stabilität des Landbundmilieus gegenüber jenem der Großdeutschen Volkspartei, Kriechbaumer 2001, 541. 22 Ebd., 525. 23 Bauernblatt, 1.9.1922.

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(8)   Der Landbund ist eine nationale Partei. (9)   Der Landbund ist eine verfassungstreue Partei. (10) Der Landbund steht auf christlicher Grundlage. (11) Landbund und Schule. (12) Der Landbund schützt die vaterländische Arbeit und Wirtschaft. Für diese Betrachtung ist der achte Programmpunkt von zentraler Bedeutung und wird daher im vollen Wortlaut wiedergegeben  : »Der Landbund will im deutschen Landvolke das nationale Einheitsgefühl heben und vertiefen. Der Zusammenschluss aller deutschen Stämme im geschlossenen Sprachgebiete zu einem einigen deutschen Reiche bildet sein unverrückbares außenpolitisches Ziel. Er tritt aber auch für den Schutz der deutschen Minderheiten in den fremden Staaten ein. Der schädliche Einfluss des Judentums auf unser öffentliches, kulturelles und wirtschaftliches Leben zwingt uns zu gesetzlichen und wirtschaftlichen Abwehrmaßnahmen« [Hervorhebung durch den Verf ]. Steven Beller hat diese Trennung zwischen einem jüdischen »sie« [das Judentum, Anm. d. Verf.] und einem nichtjüdischen »wir« [im gegebenen Fall der Landbund und seine Wählerschicht, Anm. d. Verf.] als korporatistische Version der Moderne bezeichnet, welche die Gesellschaft eher in Form von Gruppen im Gegensatz zu individuell handelnden Personen sieht.24 In einem, im Nachlass Schumy befindlichen Entwurf der Programmatischen Grundsätze ist die antisemitische Haltung noch deutlicher ausgeprägt und nicht unter dem Programmpunkt nationale Partei subsumiert, sondern als eigener Programmpunkt 8 ausgewiesen  : »Der Landbund ist eine anti-semitische Partei. Es ist dem Judentum gelungen, einen übermächtigen Einfluss auf unser öffentliches, kulturelles und wirtschaftliches Leben zu gewinnen. Es ist deshalb notwendig, den Machtgelüsten des Judentums sowohl auf gesetzlichem Wege entgegenzutreten, als insbesondere im wirtschaftlichen Leben. Denn das Judentum ist der Träger des internationalen Großkapitals.«25 In seinem Gastbeitrag im Bauernbund-Kalender des Landbundes des Jahres 1923 führte der ehemalige böhmische Abgeordnete Franz Heller in noch radikaler Form aus  : »Wer die Beschlüsse des im Jahren 1897 in Basel abgehaltenen zionistischen Weltkongresses kennt, wundert sich weniger dass alles so gekommen ist, doch sollen sie für alle, die noch nicht vom jüdischen Geiste verseucht sind, ein Ansporn sein, alle ihre Kräfte einzusetzen, damit das Gift, welches das internationale Weltjudentum und seine Jünger dem Volkskörper einflössen, um ihn zu ersetzen, nicht zum Todesgift für unser nationales Bewusstsein, für das Deutschtum wird.«26 24 Beller 2009, 103. 25 Hier zit. n. Feldmann 1967, 12. 26 Bauernbund Kalender 1923, 33.

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Diese antisemitische Grundhaltung spiegelte sich letztlich auch in den Satzungen des Landbundes wider, so zum Beispiel in denen des Vereines »Junglandbund« in Wels  : »Ordentliches Mitglied kann jeder unbescholtene arische Deutsche, christlicher Religion, männlichen oder weiblichen Geschlechtes werden, der sich zu den Grundsätzen des Vereins bekennt«.27 Gemeinsam mit dem Programmpunkt 10 werden in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner – der Sozialdemokratie – Antisemitismus, Klassenhass, Verteidigung des Privateigentums und Aspekte christlichen Glaubens vermengt, wie es ein zeitlich späteres Beispiel im Salzburger Bauernbündler verdeutlicht  : Die Juliereignisse haben »unversöhnlichen Gegensatz zwischen dem jüdischen Marxismus als Ideologie des Antichrist und dem Christentum gezeigt. Der Marxismus verkörpere das Gegenteil der christlichen Botschaft, nämlich Klassenhass, Gewaltherrschaft, Raub des Eigentums und Aufpeitschung der niedrigsten Instinkte der Menschheit, wie Neid, Verachtung der Rechte des Nächsten, Auflehnung gegen die Ordnung und jedes Gesetz und die Verneinung der Gottheit«.28 Wandruszka, Mattl, Burkert, Stimmer und zuletzt Kriechbaumer haben die programmatischen Schwächen des Landbundes im Vergleich zu anderen Parteien betont. Burkert sieht in der Programmatik eigentlich keine Grundsätze, sondern nur eine Summe von taktischen Grundhaltungen,29 während Mattl vermutet, das »exogene Faktoren«30 das Programm beeinflussten und es »vielmehr den Charakter eines Konglomerates partieller Anschauungen und Forderungen, ohne inneren Zusammenhang und Konsistenz« habe.31 Ausgehend von den Forschungsergebnissen Karin Fellingers und anderer, dass es sich beim Landbund um eine Wählerpartei und nicht eine auf Mitgliedschaft hin orientierte Partei handelte, stellt sich freilich die Frage, inwieweit die programmatische Ausrichtung und die politische Äußerungen der Landbundleitung für die Wählerschicht des Landbundes überhaupt von zentraler Bedeutung waren. Eine Aussage Schönbauers untermauert solche Zweifel  : »In der Leitung soll der Landbund radikal sein […,] wir können uns die radikalnationale Richtung leisten, weil die Massen gar nicht empfindlich sind, der Bauer vertraut demjenigen, dem er in wirtschaftlichen Dingen vertraut auch sonst vollkommen und lässt ihm freie Hand«.32 Zu dieser Problematik, nämlich als Kleinpartei und zeitweise kleinster Koalitionspartner politisch 27 Fellinger 1989, 271. 28 Salzburger Landbündler, 18.8.1927, zit. n. Kriechbaumer 2000, 528. 29 Burkert 1995, 215. 30 Zit. n. Mattl 1981, 275. 31 Ebd., 278. 32 Ebd., 273.

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zu agieren und gleichzeitig ideologische Programmatik durchzusetzen, hat Stimmer gefolgert, dass die verbale Radikalität der Weltanschauung der »Realität einer sich als Vertreter bäuerlicher Interessen verstehenden Kleinpartei untergeordnet wurde.«33 Anhand der folgenden vier Fallbeispiele soll versucht werden, von den »Programmatischen Grundsätzen« ausgehend, spezifische Aspekte der antisemitischen Ideologie des Landbundes näher zu beleuchten. Fallbeispiele Antisemitismus ohne Juden  ?

Die Frage nach einem Antisemitismus ohne Juden wurde bereits in der Allgemeinen Bauernzeitung in Kärnten vom 4. Juli 1901 gestellt. Die Antwort auf den Umstand, dass es in Kärnten kaum Juden gäbe und die Zeitung trotzdem antisemitische Artikel publiziere, begründete man damit, dass »man aber rechtzeitig vor galizischen Zuständen« warnen wolle und verwies dann auf den Bahnbau in Oberkärnten, »wo Juden schon aufgetaucht seien, um Grund zu kaufen«.34 Hält man sich die drei sogenannten Wählerhochburgen des Landbundes, nämlich Kärnten, die Steiermark und dann mit großem Abstand Oberösterreich vor Augen und vergleicht damit die Anzahl der jüdischen Bevölkerung in diesen Bundesländern, so ergibt sich folgendes Bild  : Tabelle 1  : Ergebnisse der Nationalratswahl 1927 Kärnten  : abgegebene Stimmen

86.722

abgegebene gültige Stimmen für den Landbund

46.094

Prozentanteil an den abgegebenen gültigen Stimmen

53.15%

Steiermark  : abgegebene Stimmen

252.783

abgegebene gültige Stimmen für den Landbund

81.056

Prozentanteil an den abgegebenen gültigen Stimmen

32.06%

Oberösterreich  : abgegebene Stimmen abgegebene gültige Stimmen für den Landbund Prozentanteil an den abgegebenen gültigen Stimmen 33 Stimmer 1997, 661. 34 Reif 1987, 58.

477.661 42.065 8.8%

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Tabelle 2  : Jüdische Bevölkerung in Österreich  : Volkszählung 1934 Kärnten  : Bevölkerung insgesamt  : 404.860

davon jüdische Bevölkerung 269

0 1%

180

0.6%

2.195

0.2%

1.720

1.1%

966

0.1%

671

0.6%

Klagenfurt  : Bevölkerung insgesamt  : 29.491 Steiermark  : Bevölkerung insgesamt  : 1.012.911 Graz  : Bevölkerung insgesamt  : 151.121 Oberösterreich  : Bevölkerung insgesamt  : 901.352 Linz  : Bevölkerung insgesamt  : 108.299

Anhand dieser Daten ist meines Erachtens die Fragestellung nach einem Antisemitismus ohne Juden im Falle des Landbundes gerechtfertigt. Die Ursachen dafür sind bisher noch nicht überzeugend dargelegt worden, wobei die Feindbilder des »jüdischen Marxismus« einerseits und des »jüdischen Kapitalismus« anderseits als »Ersatz« für die nicht vorhandene jüdische Bevölkerung im ländlichen Raum gedient haben dürften. Leopold Stocker als führender Landbündler und Verleger

In der Literatur über die geschichtliche Entwicklung des Landbundes und dessen Programmatik wurde mehrmals auf die zentrale Bedeutung von Leopold Stocker hingewiesen. Als Gründer des Deutschen Bauernbundes und als zeitweiser Vorsitzender des Landbundes sowie als Abgeordneter in der Nationalversammlung und im Bundesrat, konnte Stocker auf parteilicher und parlamentarischer Ebene erheblichen Einfluss geltend machen. Bei einem der ersten Treffen des Deutschen Bauernbundes für Steiermark führte Stocker aus  : »Wir sehen im jüdischen Einfluss eine ungeheure Gefahr für die schaffende Arbeit und das deutsche Volk. Deshalb werden wir das Überwiegen des jüdischen Einflusses und dessen zersetzende Wirkung auf unser gesamtes öffentliches und wirtschaftliches Leben auf das schärfste bekämpfen«.35 Wie schon in anderen Untersuchungen hervorgehoben, muss man seine politische Tätigkeit im engen Zusammenhang mit der als Verleger in Graz sehen und mögliche Wechselwirkungen nicht außer Betracht lassen. 35 Haas 2000, 118.

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Da aber in diesem Band eine spezielle Untersuchung zu diesem Thema vorgelegt wurde, beschränke ich mich auf einige wenige Hinweise, welche für die Entwicklung des politischen Programmes des Landbundes von Bedeutung gewesen sind. Mehrere Veröffentlichungen des Verlages in der Zeit der Ersten Republik waren von antisemitischen Darstellungen geprägt. So war die antibolschewistische und antisemitische Publikation von Heinrich Ardninger »Sozialdemokratie und Landwirtschaft« speziell auf die Situation der Bauernschaft gerichtet und schürte Ängste vor dem Marxismus und dessen »jüdischen« Funktionären. Die Schriften des Antisemiten Karl Paumgartten, wie »Judentum und Sozialismus«, die »Judenfibel – Das ABC der viertausendjährigen Judenfrage« und »Juda-Kritische Betrachtungen über das Wesen und Wirken des Judentums« waren im Verlag Stocker in den Jahren 1920 bis 1922 erschienen. Die folgenden beiden Textbeispiele aus »Judentum und Sozialismus« zeigen die Argumentationsrichtung nur zu deutlich auf  : »So entzweit der volks- und gesinnungsfremde Jude die Bürger und die Proletarier, die beide vom selben Fleisch und Blut sind, er schürt einen Klassenhass, indem er den Bürger als den Ausbeuter des Proletariers hinstellt«  ;36»wurden die Arbeitermassen jemals gegen die größten Schädlinge des Volkes, die Börsengauner, die Bankenschurken und die Lebensmittelhyänen auf die Straße gerufen  ? Nein  ! Denn die Börsengauner, die Bankenschurken und die Lebensmittelhyänen sind Juden, und die Führer der Sozialdemokratie sind Juden  !«37 In diesem direkten Zusammenhang wurden im Werbeteil des Bauernbund-Kalenders 1923, herausgegeben vom Landbund für Österreich in Graz, »Ansichtskarten zur Abwehr von Judentum und Sozialdemokratie« angeboten, und zu Paumgarttens Schrift »Juda« wurde vermerkt  : »Jeder der ein Gegner der Juden ist, soll dieses großartige Buch lesen«.38 Antisemitische Karikaturen, welche mit denen in Paumgarttens Schriften ident oder sehr ähnlich gestaltet sind, finden sich in dem von Karl Itzinger39 herausgegebenen Salzburger Bauernbündler (Organ des Salzburger Landbundes). Als Beispiel dafür dient hier die Darstellung  : »Zank und Hader im Volke«. Der Text zur Karikatur lautet  : »In der schwersten Zeit, in der das deutsche Volk heute lebt, sollte man meinen, es sei eine Selbstverständlichkeit zusammenzuhalten gegen den äußeren 36 Paumgartten 1920, 38. 37 Ebd., 40. 38 Bauernbund Kalender 1923  ; dazu auch  : Rettl 1987, 135–138  ; Rütgen 1988  ; Rütgen 1989  ; Sonnleitner 2003. 39 Einer Kurzbiographie des Stifter Hauses – Zentrum für Literatur und Sprache in Oberösterreich zufolge war Itzinger ab 1919 Schriftleiter des Salzburger Bauernbündlers, Sekretär des Landbundes und Redakteur der Welser Bauernzeitung. 1933 wurde er Pressereferent des Landbundes und schloss sich dann der illegalen SA an. In seinen Publikationen trat er offen antisemitisch auf. Aus den genannten Funktionen ergab sich eine Zusammenarbeit mit Leopold Stocker.

Der Landbund für Österreich

Feind. Aber nein. Da ist ein ewiges Gehader zwischen den einzelnen Parteien. Der lachende Dritte ist der Jude, der uns dabei wirtschaftlich ausbeutet  ; sein Weizen blüht am schönsten, je mehr sich das Volk in den Haaren liegt«.40 »Bäuerlich-ausgeformter« Antisemitismus am Beispiel der Bauernlegungen  ?

Im Zusammenhang mit der Entwicklung des bäuerlichen Besitzstandes ist das Phänomen der »Bauernlegungen« schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg wissenschaftlich und auch in Form vom statistischen Material detailliert erfasst worden.41 Das Bauernlegen wurde als ein Fallbeispiel ausgewählt, um einen möglichen Zusammenhang zwischen einen spezifisch bäuerlich-ausgeprägten Antisemitismus und den Bauernlegungen zu überprüfen. August Bebel formulierte es pointiert  : »In Steiermark, Tirol, Salzburg […] versucht man die Bauern mit allen Mitteln von ihrem heimatlichen Boden zu verdrängen und das Bauernland in Herrenland umzuwandeln.«42 Wittschibens Bericht aus dem Jahre 1916 über die Steiermark führte aus, dass Bauernlegungen nicht nur kriegsbedingt vermehrt auftraten sondern, dass »viele der wohlhabenden galizischen Flüchtlinge Lust bekamen, sich in unserem Kronlande einzukaufen und vielfach sogar bereit waren, selbst ungewöhnlich hohe Preise für günstig gelegene Bauerngüter zu bezahlen.«43 Während es für die Jahre 1915/1916 keine veröffentlichten Detailunterlagen gibt, können die Käufergruppen dieser Liegenschaften für die Periode 1903 bis 1912 genau nach Berufen geordnet und gemäß ihrer prozentuellen Verteilung dargestellt werden  :

40 Salzburger Bauernbündler 9.12.1922, 2. 41 Dem Begriff der Bauernlegungen soll folgende historische Definition aus dem Jahre 1916 vorangestellt werden  : Maßnahme, die zu einem »Übergang einer als Ganzes bewirtschafteten bäuerlichen Besitzung an eine Person nichtbäuerlichen Standes führt und zur Folge hat, dass die Besitzung nicht mehr nach bäuerlicher Wirtschaftsmethode weiterbewirtschaftet wird«, Wittschieben 1916, 52. 42 Bebel 1973, 396. 43 Wittschieben 1916. Zu den rechtlichen Maßnahmen in diesem Zusammenhang und der Einschränkung dieser Ankäufe  : Kaiserliche Verordnung vom 9.11.1915 über die Veräußerung land- und forstwirtschaftlicher Grundstücke, 9. August 1915, RGBl. 234/1915. Im Falle der Bauerlegungen in den Alpentälern Niederösterreichs wurden auch die Namen der Großgrundbesitzer und die Größe der erworbenen Flächen angeführt, Pantz 1905, 9.

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Grafik  : Steiermark

Oberland 22.2% 15.4%

47.7%

Oberland  :  Großgrundbesitzer 47.7%  Fabrik- u. Mühlenbesitzer 15.4%  Kaufleute u. Gewerbetreibende 22.2%

Mittelland 14.1% 22.2%

29.5%

Mittelland  :  Großgrundbesitzer 14.1%  »Güterzertrümmerer« 29.5%  Kaufleute u. Gewerbetreibende 25.8%

Unterland 18.7% 25.8%

36,5%

Unterland  :  »Güterzertrümmerer«  Kaufleute u. Gewerbetreibende  Beamte, Ärzte u. freie Berufe 44 Wittschieben 1916, 29.

18.7% 36.5% 25,8%44

Der Landbund für Österreich

Die Steirischen Bauernstimmen berichteten im Juni 1919 ausführlich über die Tätigkeit Stockers im landwirtschaftlichen Ausschuss und dessen Antrag, im Sinne des Wiederbesiedelungsgesetzes von 191945 »nur Personen deutscharischer Stammeszugehörigkeit in Betracht« zu ziehen.46 Stocker, der sich mit dieser Materie intensiv auseinandersetzte, schrieb ein Jahr später  : »Kapitalisten, Spekulanten und Jagdliebhaber benützen die Gelegenheit[,] um sich einen Großgrundbesitz zusammenzukaufen.«47 Abgesehen von der Stellungnahme Stockers kann man in der Landbundpresse jedoch kaum Berichte zum Thema Bauernlegen nachweisen, wobei jedoch allgemeine Hinweise auf Kapitalisten und Spekulanten im Zusammenhang mit den Bauernlegungen auch als indirekt vorgebrachte antisemitische Vorwürfe interpretiert werden könnten. Antisemitismus im Zusammenhang mit Bankenkrisen  ?

In den Entwürfen zu den Programmatischen Grundsätzen des Landbundes finden sich unter Punkt 5 (Der Landbund bekämpft den Marxismus) und Punkt 8 (Der Landbund ist eine antisemitische Partei) Unterstellungen wie »internationale Großkapital, das spekulative Kapital und die Rolle des Judentums«. Nach Mattl stellte der kleinbürgerliche Antikapitalismus auch die eigentliche ideologische Basis des Landbundes dar  : »Auf dem Boden der bürgerlich-kapitalistischen Eigentums- und Austauschverhältnisse stehend, kritisierten die Landbündler das spekulative Kapital. Darüber hinaus verschmolzen in diesem Antikapitalismus kleinbürgerliche ökonomische Utopien – die Vorstellung von Beharrungsvermögen gewerblicher und agrarischer Eigentumsstrukturen im dynamischen Prozess der Kapitalakkumulation – mit Antisemitismus, Antimarxismus, Antiliberalismus und Arbeiterfeindschaft.«48 Im Zusammenhang mit dieser Antikapitalismus-Kritik im Programm des Landbundes erscheint ein Hinweis von Kriechbaumer auf einen Artikel im Salzburger Landbündler, der sich auf die Skandale um Camillo Castiglioni und Siegmund Bosel bezieht, äußerst bedeutsam. Zuerst wurde Bosel als »ostjüdischer Schieber« bezeichnet, um dann fortzufahren  : »Aus dem ganzen Skandal ersehen wir, mit welch zweierlei Maß die Regierung ihre Staatsbürger behandelt  ! Das bodenständige Element und die erwerbenden Stände werden zugrunde gerichtet, fremdes, jüdisches Pack wird

45 StGBl. 310/1919. 46 Steirische Bauernstimmen, 15.6.1919, hier zitiert nach Rettl 1987, 118. 47 Stocker 1920, 8. So finden sich zum Beispiel im Bauernbund Kalender für das Jahr 1923 und in den Bauernstimmen der Jahre 1924 und 1925 keine antisemitisch-geprägten Aussagen im direkten Zusammenhang mit Bauernlegungen. 48 Mattl 1981, 282.

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großgezüchtet«.49 Kriechbaumer schließt daraus, dass im Zuge dieser Skandale die Argumentation reines Land versus verruchte Stadt ein fester Bestandteil der antisemitischen Ideologie wurde.50 Abgesehen von dem vorgenannten Beitrag im Salzburger Landbündler ergeben sich aber nach der Durchsicht der Landbundpresse im Fall Castiglionis keine antisemitischen Aussagen von Landbundpolitkern zu diesem Thema.51 Ähnliches kann man im Falle des zweiten Beispiels, nämlich der Sanierung der Creditanstalt vermerken.52

Schlussbetrachtung Basierend auf den vorgebrachten Hinweisen auf das Programm des Landbundes kann festgehalten werden, dass der Antisemitismus eine politische Linie in den Grundsätzen des Landbundes darstellte. Ohne diese Feststellung zu relativieren, muss jedoch auf die zeitlichen und bundesländerspezifischen Unterschiede hingewiesen werden. So hat Vogel aufgezeigt, dass der »Arierparagraph« für den Vorarlberger Landbund »erst« 1927 in die Satzungen aufgenommen wurde, während Stocker dies bereits für den Deutschen Bauernbund in der Steiermark im Jahre 1919 eingefordert hatte. Der Einfluss der völkischen Schutzvereine, wie der des »Deutschen Schulvereins Südmark«, dürfte hier bundesländerspezifische Entwicklungen geprägt haben.53 Wie Bruce F. Pauley und auch Kriechbaumer anmerken, scheint der Antisemitismus des Landbundes auch den Kurven der Wirtschaftskonjunktur gefolgt zu sein, wobei diese Verallgemeinerung wieder auf das Beispiel Vorarlberg nicht völlig zutrifft.54 Aufgrund der nur vage formulierten Grundsätze des Landbundes und der sich ständig wechselnden Listenverbindungen bei den Wahlen zum Nationalrat und auf Länderebene erscheint es eher schwierig, landbundspezifische antisemitische Ansätze zu definieren. Die in den Fallbeispielen angedeuteten Aspekte können nur partikuläre Ansätze erhärten, jedoch verallgemeinernd ist eine Vermengung von Antimarxismus, 49 Salzburger Landbündler, 25.11.1926, hier zit. n. Kriechbaumer 2001, 506. 50 Kriechbaumer 2000, 526. 51 Stiefel 2012. 52 Stiefel 1989. Auch hier sind zum Beispiel in den Ministerratsprotokollen und Stellungnahmen Winklers keine antisemitischen Bemerkungen zu finden In seiner Streitschrift »Die Diktatur in Österreich« beschreibt Winkler die Krise um die Creditanstalt nur mit den lapidaren Worten  : »Die Regierung Ender stürzte über ihre zu weit gehenden Hilfsmaßahmen für die Kreditanstalt infolge Demission des damaligen Innenministers Winkler«, Winkler 1935, 13. 53 Streibel 1994, 52. Der Grazer Schutzverein hatte bereits 1907 den Arierparaphen eingeführt, der Deutsche Schulverein folgte mit einer diesbezüglichen Satzungsänderung 1920. 54 Vogel 2015, 44f.

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Antikapitalismus und religiösen Vorurteilen festzustellen. Im Hinblick auf die vorgenannten Aussagen Schönbauers zur »Unempfindlichkeit der Massen« gegenüber der radikalen Ausrichtung der Leitung des Landbundes wäre eine nähere Untersuchung bezüglich der Wirkung des Programmes auf die typischen Landbund-Wählerschichten interessant und gleichzeitig aufschlussreich über den Antisemitismus in diesem spezifischen ländlichen Milieu.55

Tabellen Tabelle 1   : Kriechbaumer 2001, 538. Die Gesamtzahl der abgegebenen Stimmen für die Steiermark mit 552.782 Stimmen dürfte versehentlich falsch wiedergegeben worden sein. Tabelle 2  : Lichtblau 2008, 373.

Literatur und gedruckte Quellen Bauernblatt. Wochenschrift des Vorarlberger Unabhängigen Bauernbundes 1922. Bauernbund Kalender 1923. Bauernstimmen 1924, 1925. Bebel, August, Die Frau und der Sozialismus, Berlin621973. Beller, Steven, Antisemitismus, Stuttgart 2009. Benedikt, Ursula, Vincenz Schumy 1878–1962, Eine politische Biographie, Diss. Wien 1966. Burkert, Günther R., Der Landbund für Österreich, in  : Tálos, Emmerich/Dachs, Herbert/ Hainisch, Ernst/Staudinger, Anton (Hg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs, Erste Republik 1918–1933, Wien 1995, 207–217. Feldmann, Angela, Landbund für Österreich, Ideologie  – Organisation  – Politik, Diss. Wien 1967. Fellinger, Karin, Der Landbund für Oberösterreich, Diss. Salzburg 1989. Fellner, Fritz/Corradini, Doris A. (Hg.), Schicksalsjahre Österreichs. Die Erinnerungen und Tagebücher Josef Redlichs 1869–1936, Bd. 2, Wien 2011. Haas, Hanns, Die vergessene Bauernpartei. Der Steirische Landbund und sein Einfluss auf die österreichische Politik 1918–1934, Graz 2000. Höbelt, Lothar, Vom ersten zum dritten Lager  : Großdeutsche und Landbund in der Ersten Republik, in  : Karner, Stefan/Mikoletzky, Lorenz (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik, Innsbruck 2008. Klösch, Christian, Zerrieben zwischen Nationalsozialismus und Austrofaschismus. Landbund und Großdeutsche Volkspartei und das Ende der deutschnationalen Mittelparteien am Beispiel

55 Als ein möglicher vergleichender Ansatz dazu könnten die von Mommsen 2014 angeführten Studien über den Aufstieg der NSDAP in verschieden Gebieten Deutschlands dienen.

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von Franz Winkler und Viktor Mittermann, in  : Wenninger, Florian/Dreidemy, Lucile (Hg.), Das Dollfuss/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien 2013, 97–104. Kriechbaumer, Robert, Der Landbund. Historische Entwicklungslinien einer deutschnationalen Milieupartei in der Ersten Republik, in  : Burz, Ulfried/Derndarsky, Michael/Drobesch, Werner (Hg.), Brennpunkt Mitteleuropa, Festschrift für Helmut Rumpler zum 65. Geburtstag, Klagenfurt 2000, 519–534. Kriechbaumer, Robert, Die großen Erzählungen. Politische Kultur und Parteien in Österreich von der Jahrhundertwende bis 1945, Wien 2001. Lichtblau, Albert, Die jüdische Bevölkerung im Österreich der Ersten und Zweiten Republik, in  : Karner, Stefan/Mikoletzky, Lorenz (Hg.), Österreich. 90 Jahre Republik, Innsbruck 2008, 369–384. Mattl, Siegfried, Agrarstruktur/Bauernbewegung und Agrarpolitik in Österreich 1919–1929, Wien 1981. Mommsen, Hans, Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa, Göttingen 2014. Pantz, Ferdinand Ritter von, Die Bauernlegungen in den Alpentälern Niederösterreichs. Agrarpolitische Erhebungen und Reformvorschläge, Wien 1905. Panzer, Arno, Parteipolitische Ansätze der deutschen Bauernbewegung bis 1933, in  : Gollwitzer, Heinz (Hg.), Europäische Bauernparteien im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1977, 524–561. Paumgartten, Karl, Judentum und Sozialdemokratie, Graz 1920. Reif, Johann, Zwischen Standespartei und Volkspartei. Die Geschichte des Kärntner Landbundes und des Bauernbundes von 1886 bis1934, Diss. Klagenfurt 1987. Rettl, Wolfgang, Antisemitismus in der Steiermark zu Beginn der Ersten Republik, Dipl.-Arb. Graz 1987. Rütgen, Herbert, Antisemitismus in allen Lagern. Publizistische Dokumente zur Ersten Republik Österreich 1918–1938, Graz 1989. Rütgen, Herbert, Der Leopold Stocker Verlag von der Verlagsgründung bis 1938, in  : Binder, Dieter/Reiter, Gudrun/Rütgen, Herbert (Hg.), Judentum in einer antisemitischen Umwelt. Am Beispiel der Stadt Graz 1918–1938, Graz 1988, 183–202. Salzburger Bauernbündler (Organ des Salzburger Landbundes) 1922. Sedlacek, Nadja, Eine Geschichte des Landbundes für Österreich mit besonderer Berücksichtigung der Landesorganisation Niederösterreich, Dipl.-Arb. Wien 1996. Sonnleitner, Johann, Völkische Literatur und Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit, in  : Betten, Anne/Fliedl, Konstanze (Hg.), Judentum und Antisemitismus. Studien zur Literatur und Germanistik in Österreich, Berlin 2003, 84–92. Stibor, Stephan, Hartberg 1918–1938. Eine Studie zu Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft in einer Region, Diss. Graz 2009. Stiefel, Dieter, Camillo Castiglioni oder Die Metaphysik der Haifische, Wien 2012. Stiefel, Dieter, Finanzdiplomatie und Weltwirtschaftskrise. Die Krise der Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe 1931, Frankfurt a.M. 1989. Stimmer, Gernot, Eliten in Österreich 1848–1970, Wien 1997. Stocker, Leopold, Das Wiederbesiedlungsgesetz mit Novelle, Graz 1920.

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Nationalsozialistischer Antisemitismus in der Illegalität Für den Nationalsozialismus waren drei politisch-ideologische Elemente grundlegend  : erstens der aggressive, expansionistische Nationalismus, zweitens der in seiner Massenwirkung keineswegs zu unterschätzende soziale Appell (»Volksgemeinschaft«) und drittens der gewaltbereite Rassen-Antisemitismus. Die Nationalsozialisten machten »die Juden« buchstäblich für alle negativen Erscheinungen der modernen Welt, für alle erdenklichen Missstände und Übel verantwortlich. Dieser maßlose Judenhass war keineswegs ein genuin nationalsozialistisches Phänomen. Aber der Nationalsozialismus war es, der den Vertreibungs- und Vernichtungs-Antisemitismus zum Wesenskern seiner rassenutopischen Erlösungsbotschaft machte.1

Phase der Massenmobilisierung Das heißt freilich nicht, dass Hitler nicht flexibel genug gewesen wäre, seine antisemitische Agitation den jeweiligen Gegebenheiten und Erfordernissen anzupassen. In der Zeit des NS-Aufstieges in Deutschland 1930 bis 1932 traten die zentralen politisch-ideologischen Elemente Antisemitismus und völkische Weltanschauung in der Außendarstellung deutlich zurück. Diese Zurückhaltung war so auffallend, dass ein führender sozialdemokratischer Intellektueller der Weimarer Republik, Carlo Mierendorff, in einer 1931 veröffentlichten Analyse des Nationalsozialismus zu dem Ergebnis gelangte, die antisemitische Tendenz in der NSDAP habe »nur noch regionale oder Nebenbedeutung«.2 Eine Stichprobenanalyse der Hitler-Wahlkampfreden des Jahres 1932 ergibt, dass Juden darin keinerlei Rolle spielten. Hitler wetterte gegen den Parteienstaat, versprach inneren Frieden und nationalen Wiederaufstieg und vermied es tunlichst, den nationalsozialistischen Antisemitismus in irgendeiner Form herauszustreichen.3 1 Vgl. als Einführung zur Geschichte des Antisemitismus im Allgemeinen und zum nationalsozialistischen Antisemitismus im Besonderen  : Bergmann 2004, insbes. 102f. 2 Mierendorff 1931, 150. 3 Ausgewertet wurden Reden, die Hitler zwischen 17. und 30.7.1932 hielt, also unmittelbar vor denationalsozialistischen Triumph bei der Reichstagswahl vom 31.7.1932  ; vgl. Hitler 1996, 233–294.

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In Österreich – speziell in Wien, wo über 90 Prozent aller österreichischen Jüdinnen und Juden lebten – konnte von einer derartigen Zurückhaltung allerdings keine Rede sein. Anfang 1930 war der energische und skrupellose Alfred Eduard Frauenfeld neuer Gauleiter der Wiener NSDAP geworden. Er betrieb, ganz nach dem Vorbild des Berliner NS-Gauleiters Joseph Goebbels, eine Politik der kalkulierten Eskalation. Durch herausforderndes öffentliches Auftreten, durch bewusst provozierte gewalttätige Auseinandersetzungen mit politischen Gegnern, insbesondere Sozialdemokraten und Kommunisten, gelangten die Nationalsozialisten in die Schlagzeilen und zogen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich. Fast stärker noch als gegen die politische Linke ging es gegen Jüdinnen und Juden. Die Floskel »jüdisch aussehende Passanten« findet sich in zahllosen Polizeiberichten und Zeitungsmeldungen jener Tage. Immer wieder wurden jüdische Passantinnen und Passanten, die das Pech hatten, einer der vielen NS-Demonstrationen des Jahres 1932 über den Weg zu laufen, von tobenden Nationalsozialisten angegriffen und misshandelt. Der bevorzugte Boden antisemitischer Gewalt war freilich nicht die Straße, sondern die Gänge und Hörsäle der Hochschulen und Universitäten. Gewalttätige Angriffe auf jüdische Studentinnen und Studenten gehörten seit den 1870er Jahren zu den regelmäßig wiederkehrenden Erscheinungen. Sie hatten sich nach Ende des Ersten Weltkrieges intensiviert und in den frühen 1930er Jahren ein katastrophales Ausmaß angenommen. Beinahe im Wochenrhythmus kam es zwischen 1931 und 1933 zu antisemitischen Krawallen. Ein spezielles Interesse der Nationalsozialisten galt Geschäften von Händlern jüdischer Herkunft. Im Dezember 1932 etwa verging kaum ein Tag ohne NS-Aktivitäten unter dem Slogan »Kauft nicht bei Juden«. Die versuchten Absperrungen jüdischer Warenhäuser durch die SA und das nächtliche Beschmieren lassen an die »Anschluss«-Pogrome von 1938 denken. Am letzten Einkaufssonntag vor Weihnachten verübte die Wiener SS einen aufsehenerregenden Tränengasanschlag auf das überfüllte Warenhaus Gerngroß in der Mariahilfer Straße – die Folge  : eine veritable Massenpanik. Wie durch ein Wunder gab es keine ernsthaft Verletzten. Der autoritäre Kurs der Dollfuß-Regierung ab März 1933 schränkte die nationalsozialistische Bewegungsfreiheit sukzessive ein. Der bis dahin geübte Aktionismus war nicht im gewohnten Stil fortzusetzen. Versammlungs- und Aufmarschverbote, scharfes Vorgehen der Polizei gegen verbotene Demonstrationen, Verhaftungen und Ausweisungen von NS-Führern etc. führten dazu, dass die Nationalsozialisten zu immer brutaleren Mitteln griffen. Sie fühlten sich stark, denn sie wussten Hitler und das Deutsche Reich hinter sich. Am Vormittag des 12. Juni 1933 warf ein ca. dreißigjähriger Mann ein in braunes Packpapier gehülltes Paket in das Geschäft des jüdischen Juweliers Norbert Futter-

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weit in der Meidlinger Hauptstraße. Dieser hob das Paket auf und wollte es zur Tür bringen. Es explodierte in seinen Händen. Futterweit war auf der Stelle tot, sechs Personen wurden schwer verletzt, ein Verletzter starb nach kurzer Zeit. Zur selben Stunde misslang ein Sprengstoffanschlag auf das als »jüdisch« geltende Café »Produktenbörse« in der Taborstraße. Es hätte verheerende Folgen gehabt. In der darauffolgenden Nacht explodierte eine Bombe in einem auf billige Gebrauchsartikel spezialisierten Warenhaus in der Favoritenstraße. Das seitens der Nationalsozialisten seit jeher angefeindete und wiederholt mit antisemitischen Parolen beschmierte Geschäft wurde fast vollständig demoliert. Wie sich innerhalb weniger Tage herausstellen sollte, steckten hinter der Anschlag­ serie in Wien durchwegs SS-Leute. Es bedurfte allerdings eines Handgranatenanschlags auf eine Abteilung christlich-deutscher Turner am 19.  Juni 1933 in Krems, damit sich das Regime Dollfuß zu einem Verbot der NSDAP durchringen konnte.4

Illegalität Das Parteiverbot war für die österreichischen Nationalsozialisten nach der Eskalation der vorangegangenen Wochen keineswegs überraschend gekommen. So setzten sie schon nach einer kurzen Schrecksekunde den zuvor eingeschlagenen Kurs fort und bekämpften das Dollfuß-Regime mit einem Mix aus Propaganda, Sabotage und Terror. Zur illegalen Propaganda zählten etwa die Verteilung von Streuzetteln und Flugblättern, das Beschmieren von Hausmauern und Verkehrsflächen, das Hissen von Hakenkreuzfahnen an gut einsehbaren Stellen, das Verbreiten verbotener Zeitschriften etc. Als Sabotage und Terror zu werten ist das Werfen von Tränengasphiolen in Massenansammlungen, das Zünden von Papierböllern, das Einschlagen von Fenster- und Auslagenscheiben, Anschläge auf die staatliche Infrastruktur (Eisenbahn, Brücken, Telefon- und Stromleitungen etc.) sowie die Gewalt, die sich primär gegen Personen richtete – vom Psychoterror über Brand- und Bombenanschläge bis hin zu gezielten Attentaten.5 Die illegale Propaganda wandte sich in erster Linie gegen das herrschende Regime im weiteren Sinn (also beispielsweise auch gegen die katholische Kirche), daneben aber auch gegen Juden. Ein gutes Beispiel für die Ausrichtung der NS-Propaganda ist 4 Botz 1983, 186–217  ; Bauer 2005  ; Bauer 2010  ; ausführlich zu den Anschlägen im Juni 1933  : Rothländer 2012, 358–376  ; ausführlich zum Antisemitismus an der Universität Wien  : Taschwer 2015. 5 Vgl. Bauer 2007, 103–108.

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ein Anfang 1935 verbreitetes »Witzblatt« namens »Galgenvogel«. Über wen und wie rissen die Illegalen ihre wenig geistreichen Witze  ? – über Kanzler Kurt Schuschnigg als furchterregender Totenvogel, mickrige Heimwehrler mit dem Hahnenschwanz am Hut, fette katholische Priester im schwarzen Rock, den hageren Kardinal Theodor Innitzer, der sich grinsend den Fuß küssen lässt, Bürgermeister Richard Schmitz mit Amtskette, Otto Habsburg-Lothringen als Kleinkind auf dem Nachttopf, angehimmelt von einem kleinbürgerlichen Spießerpaar, das die »Vaterländische Front« darstellen sollte. Schließlich darf in diesem Panoptikum auch ein schmerbäuchiger Jude mit dicker Zigarre und Sekt im Eiskübel nicht fehlen. Trotz der eindeutig kapitalistischen Symbolik träumt dieser merkwürdigerweise von einer Sowjetregierung in Deutschland.6 Juden werden nach bewährtem Muster als Dunkelmänner, Einflüsterer und Drahtzieher im Hintergrund dargestellt. Idealtypisch zeigt das eine 1933/34 verbreitete nationalsozialistische Postkarte. Zu sehen ist Bundeskanzler Engelbert Dollfuß in Kaiserschützen-Uniform. Über seinem Haupt schwebt der Davidstern, der in der Mitte ein Kruckenkreuz trägt, das Symbol des »Christlichen Ständestaates«. Umgeben ist der kleine Dollfuß von vier übergroßen dunklen Gestalten mit langen Bärten, langen schwarzen Mänteln, schwarzen Hüten – jüdische Schriftgelehrte, mehr noch  : die »Weisen von Zion«.7 Hinter allem stecken Juden, an allem sind Juden schuld.  – Im Leitartikel der NS-Flugschrift »Volkskampf« von Ende November 1933 findet sich folgende einleitende Passage  : »Der über Befehl des internationalen Judentums von den in der derzeitigen Regierung sitzenden Schergen Frankreichs und Italiens geführte Kampf gegen die deutsche Bevölkerung in Österreich«.8 Im Februar 1934 schlug das Dollfuß-Regime den Aufstand des Republikanischen Schutzbundes nieder. Die Nationalsozialisten hatten ihre eigene Interpretation der Vorgänge, wie ein in Graz aufgefundenes Flugblatt zeigt, das enttäuschte Sozialdemokraten für den Nationalsozialismus gewinnen sollte  : Auf der einen Seite (Sozialdemokratie) waren es »jüdisch-marxistische Bonzen«, die den »unseligen Kampf deutscher Volksgenossen« verschuldet hatten, auf

6 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt-Inneres (BKA-Inneres) 16/2, Kt. 3786, beschlagnahmte Druckwerke Anfang 1935, »Galgenvogel. Ein verbotenes Witzblatt der Nationalsozialisten Wiens«. 7 Parlamentsdirektion, Abteilung parlamentarische Dokumentation, Archiv und Statistik, Wien, Gauarchiv Wien, Postkarte »O, du mein Österreich. Bundeskanzler Dollfuß, der Führer der Vaterländischen Front«. 8 ÖStA/AdR, BKA-Inneres 22/Stmk., Kt. 5136, Gz. 257.147/33, Lagebericht des Sicherheitsdirektors für Steiermark vom Dezember 1933, Beilage.

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der anderen Seite (Dollfuß-Regime) hatten ebenfalls irgendwie Juden Schuld an der Sache – und daneben noch »Vatikansöldlinge«.9 Auch in der Illegalität versuchten die Nationalsozialisten, die vorweihnachtlichen »Kauft-nicht-bei-Juden«-Aktionen der Vorjahre fortzusetzen. In illegalen NS-Blättern finden sich in der Vorweihnachtszeit Parolen wie »Verderbt den Juden das Weihnachtsgeschäft  ! Kauft nur bei deutschen Volksgenossen  !« oder »Weihnachtsgeschenke, die erfreuen sollen, erhältst Du nicht beim Juden  !« Die Polizei, die an den großen Einkaufssonntagen im Advent Aktionen im Stil des Gerngroß-Attentates von 1932 befürchtete, war etwa in der Wiener Mariahilfer Straße mit einem Großaufgebot präsent. »Vor jedem größeren jüdischen Geschäft«, heißt es in einer NS-Flugschrift, »stand ein Überfallsauto, alle paar Schritte ein Doppelposten zu Fuß. Berittene Patrouillen sorgten für Abwechslung im Bild.«10 SA-Leute erhielten von ihren Führern Papierböller und den Auftrag, diese vor jüdischen Geschäften zu zünden. Eine Woche vor Weihnachten verhaftete die Polizei eine kleine Gruppe von Nationalsozialisten, die in der Nacht herumgezogen waren und kleine Nägel in die Rollbalkenschlösser von jüdischen Geschäften gesteckt hatten, um diese funktionsunfähig zu machen.11 Die Analyse der Vorgänge in der Steiermark – einem Zentrum nationalsozialistischer Aktivitäten in den Jahren 1933/34 – zeigt, dass die NS-Anschläge sich häufig gegen die staatliche Infrastruktur richteten. Nicht weniger oft handelte es sich aber um private Betriebe, Läden oder Wohnungen von bekannten Vertretern des »vaterländischen« Regimes, um Wohnungen NS-feindlich eingestellter Beamter, um Lokale der regierungstreuen Wehrverbände, um katholische Vereinshäuser etc.12 Hin und wieder gerieten auch jüdische Betriebe, Geschäfte, Kaffeehäuser oder Hotels, in denen sich bevorzugt Gäste jüdischer Herkunft aufhielten, in den Fokus der nationalsozialistischen Terrorgruppen. So attackierten in der Silvesternacht 1933 illegale Nationalsozialisten das Hotel Laufenstein in Mariazell mit Papierböllern und Tränengas. Die Gäste – laut Polizei »zu 80 Prozent Israeliten« – stürzten in Panik ins Freie. Zugleich fiel wegen eines Anschlages auf die Stromleitung das Licht im gesamten Ort aus. Später in der Nacht wurde noch ein Heizkessel des Hotels gesprengt, »um auch   9 ÖStA, AdR, BKA-Inneres 22/Stmk., Kt. 5138, Gz. 156.869/34, beigefügtes hektographiertes Flugblatt »Nachrichten der NSDAP (Hitlerbewegung), Ortsgruppe Eggenberg«. 10 ÖStA, AdR, BKA-Inneres 22/Stmk., Kt. 5137, Gz. 112.702/34, Beilage zum Lagebericht des Sicherheitsdirektors für Steiermark vom Jänner 1934 sowie ebd., Gz. 109.632/34, gedruckte NS-Zeitschrift »Nachrichtendienst«, 16.12.1933. 11 ÖStA, AdR, BKA-Inneres 22/Wien, Kt. 5180, Pr. Z IV-283/775/33, Bericht der Bundespolizeidirektion Wien vom 20.12.1933. 12 Vgl. z. B. den Lagebericht des Landesgendarmeriekommandos für Steiermark über die Tätigkeit der NS-Bewegung im Juni 1934, ÖStA, AdR, BKA-Inneres 22/Stmk., Kt. 5137, Gz. 208.353/34.

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so die im Hotel Laufenstein wohnenden Israeliten zu treffen«, wie es im Bericht heißt. Zur Durchführung der Anschläge waren Nationalsozialisten aus Wien angereist. Als Drahtzieher fungierte der führende Mariazeller Nationalsozialist Josef Feichtegger, ein Hotelier und Konkurrent des Hotels Laufenstein.13 Am späteren Abend des 25. Jänner 1934 legten Nationalsozialisten einen Sprengkörper in den Hausflur des jüdischen Geschirrhändlers Max Gewing in Leoben. Durch die Explosion wurden Fensterscheiben, Geschirr und Glaswaren zertrümmert, Türen und der Plafond beschädigt – Sachschaden  : rund 1.000 Schilling. Bereits 1933 war ein Anschlag auf dieses Geschäft verübt worden. Andere jüdische Geschäfte in Leoben mussten ähnliche nationalsozialistische Attacken erdulden.14 Am Sonntagmorgen, 11.  Februar 1934, explodierte vor dem Textilgeschäft Rendi in Graz ein Sprengkörper. Die Auslagenscheibe wurde zertrümmert, das Schutzgitter der Eingangstür und die Stoffe beschädigt  – Sachschaden  : rund 2.500 Schilling.15 Der siebzigjährige Tuchhändler Simon Rendi war viele Jahre Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde Graz gewesen. Sein renommiertes Geschäft wurde 1938 von einer Wiener Firma »arisiert«. Er wurde 1942 im KZ Jasenovac ermordet.16 Das Zentrum illegaler nationalsozialistischer Aktivitäten mit explizit antisemitischer Stoßrichtung war freilich Wien. Im Mai 1934 gab es Anschläge gegen drei beliebte Kaffeehäuser. Vor dem Café Palmhof in der äußeren Mariahilfer Straße explodierte am Abend des 5. Mai eine an die Wand gelehnte Aktentasche. Die »kanonenschussähnliche Detonation« führte dazu, dass in den engen Gassen nicht weniger als 400 Fenster- und Auslagenscheiben zerbrachen. Im Café City, Porzellangasse, wurde am Abend des 7. Mai ein unter einem Marmortisch platzierter Sprengkörper bemerkt. Die Gäste konnten rechtzeitig flüchten, aber die nicht mehr zu verhindernde Detonation richtete einen Sachschaden von rund 7.800 Schilling an. Beim Anschlag auf den Gastgarten des Cafés Victoria in der Schottengasse am Abend des 12. Mai wurden zwei Frauen verletzt. Die Polizei vermerkte  : »Ein gemeinsames Moment in allen drei Fällen besteht darin, dass die Kaffeehäuser Palmhof und City fast ausschließlich und das Café Viktoria zum überwiegenden Teil jüdische Besucher aufweisen, gegen die die Anschläge vermutlich auch gerichtet waren.« Als Täter ermittelte die Polizei 13 ÖStA, AdR, BKA-Inneres 22/Wien, Kt. 5179, Gz. 102.738/34, »Sprengstoffanschlag in Mariazell in der Silvesternacht 1933«, mehrere Berichte des Gendarmeriepostenkommandos Mariazell und der Bundespolizeidirektion Wien vom Jänner 1934. 14 Steiner 2010, 119f. sowie ÖStA, AdR, BKA-Inneres 22/Stmk., Kt. 5137, Gz. 116.269/34, Lagebericht des Sicherheitsdirektors für Steiermark vom Jänner 1934. 15 ÖStA/AdR, BKA-Inneres 22/Stmk., Kt. 5138, Gz. 131.013/34, Lagebericht des Sicherheitsdirektors für Steiermark vom Februar 1934. 16 Verdnik 2011.

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dieselbe Gruppe um Anton Geckl und Theodor Stroppe, die bereits die Anschläge in Mariazell zum Jahreswechsel 1933/34 durchgeführt hatte. Bei Geckl stellte die Polizei einen Zettel sicher, auf dem sich folgende Worte fanden  : »Polnischer Saujud, aus dir werden wir noch Riemen schneiden  ! Auf Wiedersehen im Dritten Reich.« Adressiert war diese unmissverständliche Drohung an einen Moses Berggrün, wohnhaft in Wien-Rudolfsheim. – Dieser sollte das Dritte Reich tatsächlich nicht lange überleben. Er wurde im Dezember 1939 im KZ Buchenwald ermordet.17 Ein weiterer eindeutig antisemitisch motivierter Anschlag ereignete sich am Abend des 18.  Juni 1934 in der Taborstraße in Wien-Leopoldstadt. Im Hauseingang des Warenhauses der Brüder Schiffmann explodierte eine selbst gebastelte Bombe, die vier Auslagenscheiben und die Rahmen der Auslagenkästen zertrümmerte sowie das Mauerwerk beschädigte – Sachschaden  : rund 600 Schilling.18 Ein 25-seitiges Verzeichnis der Wiener Polizei listet für den Zeitraum Oktober 1933 bis Juli 1934 rund 800 nationalsozialistische Anschläge mit Tränengas, Stinkbomben, Böller, Sprengstoff und Brandbomben auf.19 Gegen welche und wie viele jüdischen Geschäfte, Lokale, Betriebe und Einrichtungen Anschläge gerichtet waren, ist nicht verzeichnet. Ein Hinweis auf die Verteilung findet sich bei den Aktivitäten der Terrorgruppe Geckl Ihr ordnete die Polizei insgesamt 14 Anschläge zu. Davon hatten die drei erwähnten Anschläge gegen jüdische Kaffeehäuser eine eindeutig antisemitische Stoßrichtung. Die anderen richteten sich gegen Organisationen, Einrichtungen oder Veranstaltungen des Ständestaatsregimes oder dürften darauf abgezielt haben, ganz allgemein für Beunruhigung zu sorgen. In den Worten der Polizei  : »Der Zweck der Terrorakte kann einerseits darin erblickt werden, Unruhen und Furcht in der Bevölkerung zu verbreiten, andererseits aber darin, jüdische Geschäftsleute beziehungsweise den österreichischen Fremdenverkehr zu schädigen.«20 Außerhalb Wiens dürfte der Antisemitismus aufgrund des Mangels an geeigneten Zielobjekten für entsprechende Terroraktionen eine wesentlich geringere Rolle gespielt haben. In der Steiermark und Kärnten, den beiden Bundesländern mit der 17 ÖStA, AdR, BKA-Inneres 22/Wien, Kt. 5182, Gz. 185.509/34, Anzeige der Bundespolizeidirektion Wien an die Staatsanwaltschaft Wien I vom 31.5.1934.  – Opfersuche DÖW, http://www.doew.at/ (14.10.2015)  ; Sindemann  ; Wien Geschichte Wiki, Stichwörter »Café City« und »Kabarett ABC«, https://www.wien.gv.at/wiki/index.php/Caf%C3%A9_City, https://www.wien.gv.at/wiki/index.php/ Kabarett_ABC (14.10.2015). 18 ÖStA, AdR, BKA-Inneres 22/Wien, Kt. 5182, Gz. 207.180/34, Bericht der Bundespolizeidirektion Wien an das Bundeskanzleramt. 19 ÖStA, AdR, Bundesministerium für Landesverteidigung, Militärgerichtshof Wien, 29/34, Verzeichnis der Bundespolizeidirektion Wien vom 21.11.1934, fol. 259–284. 20 Anzeige der Bundespolizeidirektion Wien wie oben Fußnote 17, 9f.

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höchsten NS-Affinität,21 lebten in den 1930er Jahren – ausgenommen Graz und einige Provinzstädte und größere Ortschaften – so gut wie keine Juden und Jüdinnen.22 Entsprechend gering war die Auswahl an jüdischen Einrichtungen, Geschäftslokalen etc., gegen die sich NS-Anschläge hätten richten können. Tatsächlich lässt sich bei Auswertung der personenbezogenen Daten von mehr als 8.000 nationalsozialistischen Anhaltehäftlingen ein geradezu paradoxer Zusammenhang erkennen  : Die Anhaltehäftlinge stammten überwiegend aus Gebieten, in denen es wenig oder gar keine Juden gab. Der nationalsozialistische Antisemitismus in Österreich war, wie man folgern muss, überwiegend ein Judenhass ohne Juden. Mehr als vier Fünftel aller österreichischen Nationalsozialisten dürften kaum jemals in ihrem Leben mit Jüdinnen oder Juden in persönlichen Kontakt gekommen sein.23 Nach dem gescheiterten Putschversuch vom 25. Juli 1934 gingen die nationalsozialistischen Anschläge deutlich zurück. In den Jahren 1935 bis 1937 registrierten die Sicherheitsbehörden in Wien rund sechs schwere und 650 leichte Anschläge und Propagandaaktionen der Nationalsozialisten, also deutlich weniger – vor allem auch weniger gefährliche – als zwischen Herbst 1933 und Sommer 1934.24 Diese relativ ruhige Phase war Ende 1937 vorüber. »Seit Dezember 1937«, heißt es in einem Polizeibericht, »entfalteten die Nationalsozialisten in Wien eine gesteigerte Aktivität, die sich vor allem in der Zertrümmerung und Beschädigung von Auslagenscheiben und Ankündigungstafeln von Geschäftslokalen jüdischer Inhaber, durch die ein großer Sachschaden verursacht wurde, sowie in Schmier- und Streuaktionen zeigte.« Bei den Tätern, so die Polizei, dürfte es sich um Mitglieder der illegalen SA gehandelt haben.25 Dass auch HJ-Mitglieder solcherart eingesetzt wurden, zeigt ein anderer Bericht. Am späten Nachmittag des 4. Februar 1938 – noch während der Geschäftszeit – zog eine Gruppe der Hitlerjugend mit in Papier eingepackten Steinen und Eisenstücken durch Wien-Neubau und schlug die Auslagenscheiben von fünf Straßenlokalen jüdischer Geschäftsleute ein  – Sachschaden insgesamt  : rund 2.000 21 Vgl. Botz 1980, 36. Demnach waren 1933 28,9 Prozent und 1938 38,7 Prozent der österreichischen NSDAP-Mitglieder in »Südösterreich« (also Steiermark und Kärnten) wohnhaft, während der Anteil dieser Bundesländer an der österreichischen Gesamtbevölkerung nur 21 Prozent betrug. 22 Anteile von Personen mit israelitischer Konfessionszugehörigkeit bei der Volkszählung 1934  : Kärnten 269 Personen (0,07 Prozent der Wohnbevölkerung)  ; Steiermark 2.195 Personen (0,22 Prozent der Wohnbevölkerung), Ergebnisse der österreichischen Volkszählung 1935, 45. 23 Bauer 2012, 62f. 24 Diese Angaben basieren auf den Auswertungen von Monatsberichten der österreichischen Sicherheitsbehörden. Siehe ÖStA, AdR, BKA/Zeitgeschichtliche Sammlung, Kt. 5  : Monatliche Lageberichte der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit. 25 ÖStA, AdR, BKA-Inneres 22/Wien, Kt. 5212, Gz. 302.935/38, Anzeige der Bundespolizeidirektion Wien an die Staatsanwaltschaft Wien I.

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Schilling.26 Ähnliches trug sich zur selben Stunde in der äußeren Mariahilfer Straße zu. Illegale SA-Leute sammelten sich in den Seitengassen, stürmten dann gleichzeitig aus allen Richtungen zum Kaufhaus Gerstl, nahmen davor Aufstellung, schrien mehrmals laut »Heil Hitler« und schlugen eine Auslagenscheibe ein, möglicherweise mit einer Billardkugel.27 Berichte über weitere ähnliche Vorfälle an diesem und an anderen Tagen liegen vor. Überdeutlich zeichnete sich bereits in den Monaten vor dem »Anschluss« ab, was nach der nationalsozialistischen »Machtergreifung« geschehen und gegen wen sich der dann institutionalisierte NS-Terror in erster Linie richten würde.

Resümee Die dargelegten Beispiele vermitteln möglicherweise einen falschen Eindruck vom Ausmaß des nationalsozialistischen antisemitischen Terrors in der illegalen Phase. In der Öffentlichkeit wurde das Phänomen kaum wahrgenommen. Es verblasste angesichts der sonstigen, nicht primär antisemitisch motivierten Anschläge der Nationalsozialisten. (Nicht zu vergessen  : Die Berichterstattung in den Zeitungen über derartige Vorkommnisse wurde in der Regel unterdrückt.) Der antisemitische Hochschulterror konnte durch die antinazistischen Maßnahmen des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes jedenfalls stark zurückgedrängt werden. Die jüdischen Studentinnen und Studenten erlebten das NS-Verbot vom Juni 1933 durchaus als Erleichterung. Der Medizinstudent Benno Weiser  : »Von da an konnten wir uns angstfrei auf unsere Studien konzentrieren.«28 Andererseits fühlten sie sich isoliert. Der Romanistikstudent Walter H. Sokel meint, dass es zwar keine physischen Angriffe auf Juden und Jüdinnen mehr gegeben, zugleich aber der Prozess einer stillschweigenden, schleichenden Ghettoisierung eingesetzt habe.29 Mit konzentrierter Kraft gingen die illegalen Nationalsozialisten in erster Linie gegen das herrschende Regime vor. Juden galten ihnen als Drahtzieher im Hintergrund. Unsichtbar zwar – denn im latent antisemitischen Ständestaat spielten Juden weder personell noch institutionell die geringste Rolle –, aber doch irgendwie unheimlich

26 ÖStA, AdR, BKA-Inneres 22/Wien, Kt. 5214/a, Gz. 311.217/38, Bericht der Bundespolizeidirektion Wien vom 19.2.1938. 27 Ebd., Gz. 311.216/38. 28 Weiser 2002. 29 Vortrag Sokel 2008.

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und bedrohlich. Die erwähnte Postkarte verdeutlicht dies. Der kleine Dollfuß ist umgeben von übermächtigen, düsteren Einflüsterern, die ihm die Richtung vorgeben. Direkte Angriffe auf Jüdinnen und Juden als Personen und auf jüdische Einrichtungen ebenso wie antisemitische Propaganda spielten für die Nationalsozialisten in den Jahren 1933 bis 1938 eine geringere Rolle als in der Zeit davor. Das heißt keineswegs, dass der nationalsozialistische Antisemitismus in der Illegalität an Bedeutung verloren hätte. Er wurde situationsbedingt vorübergehend zurückgestellt.

Literatur und Quellen Bauer, Kurt, »… jüdisch aussehende Passanten«. Nationalsozialistische Gewalt und sozialdemokratische Gegengewalt in Wien 1932/33, in  : Das Jüdische Echo 54 (Oktober 2005), 125–139. Bauer, Kurt, Der Weg zum Juliputsch. Zu Struktur und Dynamik des Nationalsozialismus in der Steiermark von 1932 bis 1934, in  : Halbrainer, Heimo/Polaschek Martin F. (Hg.), Aufstand, Putsch und Diktatur. Das Jahr 1934 in der Steiermark, Graz 2007, 95–117. Bauer, Kurt, Die kalkulierte Eskalation. Nationalsozialismus und Gewalt in Wien um 1930, in  : Kos, Wolfgang (Hg.), Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930. Ausstellungskatalog Wien Museum, Wien 2010, 35–45. Bauer, Kurt, Die Sozialstruktur der sozialdemokratischen und kommunistischen Häftlinge der österreichischen Anhaltelager (1933–1938). Unveröffentlichter Projektbericht an den Zukunftsfonds der Republik Österreich (Zukunftsfondsprojekt Nr. P10-0714), 2012. Bergmann, Werner, Geschichte des Antisemitismus, München 22004. Botz, Gerhard, Soziale »Basis« und Typologie der österreichischen Faschismen im innerösterreichischen und europäischen Vergleich, in  : Jahrbuch für Zeitgeschichte 1980/81, 15–77. Botz, Gerhard, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918–1938, München 1983. Die Ergebnisse der österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934. Bearbeitet vom Bundesamt für Statistik, Heft 1  : Bundesstaat – Textheft, Wien 1935. Hitler, Adolf, Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, hg. vom Institut für Zeitgeschichte, kommentiert von Klaus A. Langheit, Bd. 5  : Von der Reichspräsidentenwahl bis zur Machtergreifung.  April 1932–Januar 1933, Teil 1  : April 1932–September 1932 München u. a. 1996. Mierendorff, Carlo, Was ist der Nationalsozialismus  ? Zur Topographie des Faschismus in Deutschland, in  : Neue Blätter für den Sozialismus, 4. Heft (1931), 149–154. Rothländer, Christiane, Die Anfänge der Wiener SS, Wien u. a. 2012. Sindemann, Katja, Geschichte des Café Palmhof. Ein jüdisches Konzertcafé der Zwischenkriegszeit, http://www.sindemann.at/index.php/wissenschaft/cafe-palmhof (14.10.2015). Sokel, Walter H., Das provisorische Dasein: 1936–38, Vortrag, gehalten am 12. 3. 2008 im Kleinen Festsaal der Universität Wien, http://stream.univio.ar.at/media/DiesAcademicus/Sokel (16. 1. 2013).

Nationalsozialistischer Antisemitismus in der Illegalität

Steiner, Roland, Antisemitismus im medialen Diskurs während der austrofaschistischen Herrschaft (1933–1938) im Bezirk Leoben, Dipl.-Arb. Wien 2010. Taschwer, Klaus, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015. Verdnik, Alexander, Erforschen – Bewahren – Erinnern. Eine Aufarbeitung und Dokumentation der Geschichte des Grazer jüdischen Friedhofes, in  : David, Jüdische Kulturzeitschrift, Heft 91, 12 (2011), URL  : http://davidkultur.at/ausgabe.php?ausg=91&artikel=280 (8.10.2015). Weiser, Benno, Wie ich, obwohl Jude, nicht Arzt wurde, in  : Context XXI, Jg. 2002, http://www. contextxxi.at/context/content/view/168/93/index.html (24.10.2015).

Archivalische Quellen Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR)  : Bundeskanzleramt-Inneres (BKA-I) 16/2, Kt. 3786. Bundeskanzleramt (BKA)/Zeitgeschichtliche Sammlung, Kt. 5. Bundeskanzleramt-Inneres (BKA-I) 22/Stmk., Kt. 5136, 5137, 5138. Bundeskanzleramt-Inneres (BKA-I) 22/Wien, Kt. 5179, 5180, 5182, 5212, 5214/a. Bundesministerium für Landesverteidigung, Militärgerichtshof Wien. Wiener Stadt- und Landesarchiv, Gauarchiv der NSDAP Wien, davor Parlamentsdirektion, Abteilung parlamentarische Dokumentation, Archiv und Statistik, Wien, Gauarchiv Wien.

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Die österreichische Sozialdemokratie und Antisemitismus Politische Kampfansage mit Ambivalenzen Einleitung Über das Thema Sozialdemokratie und Antisemitismus im Zeitraum von 1933 bis 1938 zu schreiben ist aus mehreren Gründen ein schwieriges, ja beinahe unmögliches Unterfangen. Zum einen bietet sich die Sozialdemokratie (im zeitgenössischen Vergleich) nicht als bevorzugtes Forschungsobjekt an, da sie Antisemitismus immer verurteilt hat und zunehmend selbst zur Zielscheibe eines rabiaten Antisemitismus wurde. Ungeachtet dieser grundsätzlichen Ablehnung war aber auch sie nicht frei von antisemitischen Vorurteilen und Argumentationen, die sich entweder gegen ihre politischen Gegner richteten oder indirekt und verklausuliert zum Ausdruck kamen. Zum anderen ergibt sich die Schwierigkeit aus der Quellenlage für den zu untersuchenden Zeitraum. Da die Sozialdemokratie nach der Niederlage vom Februar 1934 in die Illegalität gedrängt und die sozialdemokratischen Medien verboten waren, sind zeitgenössische schriftliche Quellen äußerst rar, besonders was eine derart sensible Thematik wie Antisemitismus betrifft. Letztendlich ist man auf vereinzelte Hinweise und auf mündliche Überlieferungen angewiesen, die die Existenz von Antisemitismus in der Sozialdemokratie thematisieren, die gleichzeitig aber auch quellenkritisch hinterfragt und kontextualisiert werden müssen. Auf der Basis dieser Vorüberlegungen wird im Beitrag folgenden Fragen nachgegangen  : Wie ist die österreichische Sozialdemokratie mit dem allgegenwärtigen Phänomen Antisemitismus umgegangen und wie verhielt es sich mit antisemitischen Ressentiments in der Sozialdemokratie selbst  ? Aufgrund der schwierigen Quellenlage wird der zeitliche Fokus des Beitrags auf die Zeit vor 1933/34 ausgeweitet, er umfasst somit die gesamte Zwischenkriegszeit. Durch diese zeitliche Erweiterung, d. h. durch die Einbeziehung der historischen Traditionen und theoretischen Zugänge der Linken zu Antisemitismus und der Haltungen der Sozialdemokratie in der Ersten Republik, kann die spätere Entwicklung in den 1930er Jahren in einen größeren historischen Kontext eingeordnet und somit verständlicher gemacht werden.

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Historische Traditionen der Linken Ausgehend davon, dass der Antisemitismus als inhärenter Bestandteil der kapitalistischen Gesellschaft mit dem Sturz des Kapitalismus selbstverständlich beseitigt sein würde, schenkten die linken Theoretiker dem Phänomen des Antisemitismus anfänglich wenig Beachtung. Als dieser jedoch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend Bestandteil des politischen Diskurses wurde und sich im hohen Ausmaß auch gegen sie selbst richtete, kamen sie nicht umhin, sich eingehender mit dem Phänomen Antisemitismus auseinanderzusetzen und sich einen Standpunkt dazu zu erarbeiten.1 In den 1890er Jahren haben Friedrich Engels und August Bebel jegliche Feindschaft gegenüber den Juden verurteilt, die erstmals nicht mit dem Kapitalismus gleichgesetzt, sondern als mögliche Verbündete im Kampf um den Sozialismus angesehen wurde.2 Die Ablehnung des Antisemitismus erfolgte zunächst mit dem funktionalen Argument, dass er die Arbeiterschaft vom richtigen Klassenbewusstsein abhalten und somit den Klassenkampf in eine falsche Richtung lenken würde. In diesem Zusammenhang ist auch der viel zitierte (meist fälschlicherweise August Bebel zugeordnete) Ausspruch vom »Sozialismus des dummen Kerls«3 zu sehen, wonach der Antisemitismus eine notwendige Durchgangsphase im Bewusstsein der Arbeiterschaft sein könnte. Antisemitismus wurde in der Linken lange als ein Nebenphänomen des Klassenkampfes betrachtet, als eine Art antikapitalistische Ersatzideologie, die man möglicherweise zu eigenen politischen Zwecken nützen konnte. Von diesen Prämissen ausgehend kam nicht nur Viktor Adler zur politischen Fehleinschätzung, dass die Antisemiten durch ihre gleichzeitige antikapitalistische Agitation letztendlich die »Geschäfte der Sozialdemokratie« besorgen würden.4 Dieses verkürzte und taktisch-motivierte Verständnis löste sich erst dann weitgehend auf, als die Arbeiterbewegung selbst zur Zielscheibe antisemitischer Angriffe wurde und man die daraus resultierenden Gefahren auch für die Arbeiterschaft erkannte. So gestand der damals noch in Österreich lebende Karl Kautsky 1884 in einem Brief an Friedrich Engels ein  : »Wir [die österreichischen Sozialisten, Anm. d. Verf.] haben Mühe, unsere eigenen Leute zu hindern, dass sie nicht mit den Antisemiten fraternisieren. Die Antisemiten sind jetzt unser gefährlichster Gegner«.5 1 2 3 4 5

Silberner 1962  ; Silberner 1983. Traverso 1995, 48f und 77f.; Silberner 1962, 244f. Silberner 1962, 206. Ebd., 235. Zit. n. Silberner 1962, 231.

Die österreichische Sozialdemokratie und Antisemitismus

Die österreichische Sozialdemokratie stand in ihrer theoretischen Haltung zur »Judenfrage« und zum Antisemitismus im Einklang mit den Sozialisten und Marxisten ihrer Zeit, wobei einige von ihnen, wie Karl Kautsky oder Otto Bauer selbst grundlegende theoretische Arbeiten zu dieser Frage verfasst haben.6 Auch sie gingen davon aus, dass Antisemitismus ein reaktionäres, zum Untergang verurteiltes gesellschaftliches Phänomen sei, und auch sie sahen in der Assimilation der Juden und in der propagierten sozialistischen Revolution die anzustrebende Lösung der »Judenfrage«. Obwohl die Sozialdemokratie (neben den KommunistInnen) die einzige österreichische Partei war, die der reaktionären antisemitischen Propaganda entgegenzuwirken versuchte, besaß sie kein einheitliches Konzept für ihren Kampf gegen den Antisemitismus. Vielmehr schwankte sie in ihrer Haltung zwischen prinzipieller Ablehnung jeglicher Rassenfeindschaft, einer gleichzeitigen Bagatellisierung des Phänomens Antisemitismus und einer Zurückhaltung, sich demonstrativ für die angefeindeten Juden und Jüdinnen zu exponieren.7 Diese indifferente Haltung wurde parteiintern schon früh kritisiert.8 Parteiführer Viktor Adler stand aber auf dem Standpunkt, dass »die Judenfrage aufgebauscht« werden würde und trat für eine neutrale Position zwischen Antisemitismus und Philosemitismus ein.9 Viktor Adlers Bemühen um einen strikten »Neutralismus« war einerseits typisch für die Sozialdemokratie insgesamt, sie war aber auch Ausdruck seiner Persönlichkeit und der damit zusammenhängenden Identitätsproblematik eines führenden Sozialdemokraten jüdischer Herkunft.10 Tatsächlich war in der österreichischen Sozialdemokratie ein hoher Prozentsatz der führenden Kader jüdischer Herkunft, was die Haltung der SDAP in dieser Frage erheblich beeinflusste.11 Viktor Adler war, wie viele jüdische Sozialdemokraten auch, aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten und tendierte zu einer »Überanpassung« an die antisemitische Umwelt, die sich in Abgrenzungsbemühungen und oft auch in der Übernahme von antisemitischen Klischees äußerte.12 Otto Bauer hingegen trat, obwohl nicht religiös und auf Assimilation ausgerichtet, demonstrativ nicht aus der Kultusgemeinde aus, letztendlich

 6 K autsky 1914  ; Bauer 1907.   7 Ausführlich zu dieser Ambivalenz Jacobs 1994, 84–110.   8 Zur Kritik des Abgeordneten Jakob Brod am Parteitag in Brünn 1897 vgl. Spira 1981, 41–44.  9 Jacobs 1994, 95  ; Spira 1981, 43f. 10 Vgl. Braunthal 1965  ; Jacobs 1994, 84–98, Spira 1981, 35–38. 11 Pauley spricht von rund 80 Prozent, im Unterschied zur deutschen Schwesterpartei, die nur 10 Prozent jüdische Führungsleute hatte, Pauley 1993, 195. 12 Spira 1981, 35f.; Pelinka 1992, 541.

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vertrat er aber ähnliche Positionen zur »Judenfrage« wie Viktor Adler und seine linken Zeitgenossen, die er theoretisch in seinen Werken untermauerte.13 Alles in allem war die österreichische Sozialdemokratie zwar theoretisch antiantisemitisch, in der konkreten politischen Auseinandersetzung war ihre Haltung zum Antisemitismus allerdings oft strategisch-taktischer Natur und daher keineswegs frei von Widersprüchen. Die in der linken Geschichte angelegte Ambivalenz der österreichischen Sozialdemokratie in Bezug auf Antisemitismus spitzte sich im aufgeheizten politischen Klima der Zwischenkriegszeit14 noch erheblich zu.

Die österreichische Sozialdemokratie und Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit »Ostjuden«

Die Widersprüchlichkeit der Sozialdemokratie zeigte sich erstmals in der politischen Praxis in ihrer Haltung gegenüber den tausenden osteuropäischen Juden und Jüdinnen, die während und nach dem Ersten Weltkrieg nach Wien geflüchtet waren.15 Die ostjüdische Flüchtlingswelle hatte in Österreich zu einer umfassenden antisemitischen Hetzkampagne gegen »die Ostjuden« geführt, denen pauschal Schleichhandel und revolutionäre Umtriebe unterstellt wurden. Die Haltung der Sozialdemokratie gegenüber den »Ostjuden« war ambivalent  : Einerseits bot die sozialdemokratische Wiener Stadtverwaltung den ostjüdischen Flüchtlingen konkrete soziale Hilfestellungen und Integrationsmöglichkeiten an und warnte immer wieder vor »Pogromen«  ; andererseits beteiligte auch sie sich an Gedankenspielen über eine mögliche Abschiebung, wie z. B. der sozialdemokratische Landeshauptmann von Niederösterreich und Wien, Albert Sever, der 1919 die Ausweisung von jüdischen Kriegsflüchtlingen amtlich verordnen wollte (»Sever-Erlass«), die auch ansatzweise in die Praxis umgesetzt wurde.16 Auch innerhalb der sozialdemokratischen Arbeiterschaft bestanden Vorurteile gegenüber den »Ostjuden«, die einerseits als »Spekulanten«, »Kriegsgewinnler« und »Geschäftemacher« und andererseits als Konkurrenz des Proletariats wahrgenommen wurden.17 Die große Zahl an ostjüdischen Flüchtlingen, die meist jiddisch sprachen und sozioökonomisch nur schwer einzuordnen waren, stellte besonders für die 13 Zu Otto Bauer vgl. Spira 1981, 55–62, Silberner 1962, 240–245  ; Jacobs 1994, 98–104. 14 Vgl. dazu allgemein R abinach 1983. 15 Vgl. Hoffmann-Holter 1995. 16 Ebd., 197–201  ; Reiter-Zatloukal 2000, 478–501. 17 Vgl. Spira 1981, 66f.

Die österreichische Sozialdemokratie und Antisemitismus

assimilationsbereiten Juden und Jüdinnen in der Sozialdemokratie eine Bedrohung dar. Abgesehen von einigen Ausnahmen gab es nur wenig Sensibilität für das unvorstellbare Elend der ostjüdischen Flüchtlinge, wie es beispielsweise Bruno Frei (damals noch Sozialdemokrat, nach 1934 Kommunist) in seiner 1920 veröffentlichten Studie »Jüdisches Elend in Wien« anschaulich dargestellt hat.18 Alles in allem hat sich auch die Sozialdemokratie in den allgemeinen Konsens der gegen die »Ostjuden« gerichteten antisemitischen Stimmung und Politik nach dem Ersten Weltkrieg eingereiht.19 (K)eine Judenschutzpartei  ?

Die mangelnde Unterstützung der Sozialdemokratie für »Ostjuden« ergab sich auch daraus, dass sie wie keine andere Partei mit dem Vorwurf, eine »Judenpartei« bzw. eine »Judenschutzpartei« zu sein, konfrontiert war. In den 1920er Jahren erschienen eine Flut von antisozialistischen und antisemitischen Pamphleten sowie unzählige Artikel, die den Vorwurf erhoben, dass die SDAP vollkommen »verjudet« sei und die Arbeiterschaft durch ihre »rassefremden« jüdischen Führer verhetzt und in die Irre geführt werden würde.20 Tatsächlich übte die österreichische Sozialdemokratie auf das Judentum eine große Anziehungskraft aus, nicht zuletzt deshalb, weil alle übrigen Parteien eine explizit oder implizit antisemitische Programmatik vertraten.21 Die SDAP hatte nicht nur den mit Abstand höchsten Anteil an jüdischen WählerInnen,22 sondern auch an der Parteibasis und an der Führungsspitze gab es eine ständig steigende Zahl von Juden und Jüdinnen. Diese schlossen sich aus politischer Überzeugung oder auch mangels politischer Alternativen der Sozialdemokratie an und prägten die Partei in der Zwischenkriegszeit stark. Joseph Buttinger beschreibt die Attraktivität der SDAP für die Juden/Jüdinnen und deren Rolle darin folgendermaßen  : »Wie die Mehrheit der Gesamtbevölkerung Wiens, so stand erst recht die überwältigende Mehrheit der Wiener Juden im Lager der Sozialdemokratie. […] In dem ehrfürchtigen Respekt 18 Frei 1920  ; vgl. auch Roth 1920/1985. 19 Lediglich die politisch marginalisierten österreichischen Kommunisten protestierten »gegen die Ausweisung der polnischen Arbeiter« und bekundeten ihre Solidarität mit den »jüdischen Proletariern«, Hoffmann-Holter 1995, 205. 20 Eines der bösartigsten antisemitischen Pamphlete gegen die Linke war die 1920 erschienene Schrift »Judentum und Sozialdemokratie« von Karl Paumgartten, vgl. dazu Pauley 1993, 195f. 21 Wistrich 1990, 173f.; Pauley 1990, 186–189  ; Bunzl 1978, 743–763. 22 Laut Pauley stimmten Anfang der 1930er Jahre 75 Prozent der Juden/Jüdinnen für die Sozialisten, nur ein verschwindend geringer Teil von ihnen wählte die Großdeutsche Volkspartei oder die Christlichsoziale Partei, vgl. Pauley 1993, 188.

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der österreichischen Arbeiter vor geistigen Leistungen fanden viele intellektuelle Juden ihr erstes und stärkstes Lebensglück. Jetzt erst waren sie dem verhaßten Ghetto entronnen […] die Partei stellte sie in den Mittelpunkt großer sozialer, politischer und kultureller Prozesse […]. Viele der jüdischen Intellektuellen dienten der Partei mit einem echten Fanatismus, der sich deutlich von dem zudringlichen Eifer jener abhob, die in der Partei bloß persönliche Zwecke verfolgten.«23 Auch wenn sich die meisten jüdischen SozialdemokratInnen ihrer Identität und ihrem politischen Selbstverständnis nach vorrangig als Linke empfanden und somit definitorisch als »Non-jewish Jews«24 erfasst werden können, wurden sie trotzdem immer als »Juden« wahrgenommen und entsprechend angegriffen. Die Sozialdemokratie war im polarisierten politischen Klima der Zwischenkriegszeit einem massiven Antisemitismus ausgesetzt, der sich sowohl gegen das »verjudete« Rote Wien insgesamt als auch gegen besonders exponierte Politiker wie Hugo Breitner, Robert Danneberg oder Julius Tandler richtete. Vor allem aber zielten die antisemitischen Anfeindungen auf Otto Bauer ab, der in den rechten Medien, aber auch im Parlament immer wieder antisemitisch angepöbelt wurde – so etwa titulierte der niederösterreichische Heimwehrführer (und spätere Bundeskanzler) Julius Raab 1930 im Parlament Otto Bauer in einem Zwischenruf als »freche(n) Saujud«.25 Ungeachtet dieser Anfeindungen trat die Sozialdemokratie tatsächlich öfters als »Judenschutzpartei« auf, so z. B. wenn Bürgermeister Karl Seitz die antisemitischen Krawalle an der Universität Wien im August 1924 heftig anprangerte26 oder wenn im Organ des Schutzbunds Antisemitismus als »schrecklichste Fratze im Kampf der Reaktion gegen die Arbeiterklasse« verurteilt und das weit verbreitete Vorurteil von Juden als »Drückeberger« im Ersten Weltkrieg aufs Vehementeste zurückgewiesen wurde.27 Gegenangriffe und »defensiver Antisemitismus«

Gleichzeitig versuchte die Sozialdemokratie aber auch, dem vermeintlichen Stigma einer »Juden(schutz)partei« zu entfliehen, indem sie zum Gegenangriff überging. In ihrer Abwehr bediente sie sich oft eines defensiven, eines »taktischen« Antisemitismus, mithilfe dessen die antisemitischen Angriffe auf die Arbeiterbewegung neutralisiert und gegen ihre Urheber gekehrt werden sollten.28 So versuchte man, die 23 Buttinger 1953, 95f. 24 Deutscher 1988. 25 Zit. n. Hanisch 2011, 53. 26 Pauley 1993, 194. 27 Der Schutzbund, Nr. 6, Juni 1925, 18f. 28 Spira 1981, 30.

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Christlichsozialen als die eigentliche »Judenpartei« zu entlarven, da sie in engen Geschäftsbeziehungen mit »jüdischen Kapitalisten« und in finanzieller Abhängigkeit von »Judenbanken« stünden. »Wieder eine Judenbank als Retterin der Christlichsozialen« – lautete beispielsweise eine Schlagzeile der »Arbeiter-Zeitung« im Juli 1926.29 Geradezu exemplarisch für diese Argumentation, bei der sich die Angriffe auf die politischen Gegner mit antikapitalistischer Rhetorik vermengten, steht eine Rede von Robert Danneberg gegen die Finanzpolitik der Regierung am 6.  Juli 1926 im Parlament.30 Danneberg, selbst jüdischer Herkunft (allerdings 1909 aus der Kultusgemeinde ausgetreten) und häufig das Ziel antisemitischer Anfeindungen,31 prangerte darin den Antisemitismus der Großdeutschen und Christlichsozialen an, den er – am Beispiel der Bankenskandale – jedoch als heuchlerisch bloßstellte. In einer rhetorisch brillanten Rede analysierte Danneberg den »antisemitischen Kreuzzug gegen das jüdische Kapital«32 als billige Ablenkungsstrategie der Regierung, wobei er vier verschiedene Methoden ihrer Verschleierungstaktik aufzählte und mit konkreten Beispielen belegte.33 So sprach er unter anderem von »offenkundige[n] Kompaniegeschäfte[n]« von »Rasseantisemiten mit Juden« und von Täuschungsmanövern, indem die Banken nach außen hin »ein ganz arisches Aushängeschild« benutzten, während »im letzten Zimmer […] dann ein jüdischer Direktor« säße. In vielen Fällen, so Danneberg weiter, wäre die Bank – vom Namen über den Direktor bis hin zu den Angestellten – zwar »arisch«, das gesamte Geld würde aber »einem Juden zum Spekulieren« überlassen, worauf er einige jüdisch klingende Namen nannte, die mit wissendem Beifall und Gelächter im Plenum quittiert wurden. Bei der vierten Methode schließlich, so Danneberg, kämen bei einer drohenden Bankenpleite »die Herren, die den Kreuzzug gegen das jüdische Kapital gepredigt haben, bittend in die Vorzimmer der Judenbanken« und würden dort um Hilfe »winseln«.34 Die Reaktionen auf die Rede (Beifall, Gelächter) zeigen, dass Danneberg damit in den eigenen Reihen auf Zustimmung stieß, wie auch ein sarkastischer Zwischenruf von Julius Deutsch verdeutlicht  : »Die Juden lassen sich ihre Antisemiten etwas kosten  !«35 29 Arbeiter-Zeitung, 15.7.1926. 30 Diese Rede wurde unter dem Titel »Die Schiebergeschäfte der Regierungsparteien. Der Antisemitismus im Lichte der Tatsachen« in einer Broschüre veröffentlicht, Danneberg 1926. 31 Zur (auch innerparteilichen) Diskussion um den »Typus Danneberg« vgl. Spira 1981, 63–65. Robert Danneberg wurde 1938 von der Gestapo verhaftet und 1942 im KZ Auschwitz ermordet, vgl. auch K ane 1980. 32 Danneberg 1926, 6. 33 Im Folgenden Danneberg 1926, 9–14. 34 Ebd., 12–16. 35 Ebd., 17.

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Der Vorwurf, dass die Christlichsozialen und die Heimwehr »gar keine Antisemiten seien«, sondern »nur gegen die armen und sich zur Arbeiterschaft bekennenden Juden«, nicht aber gegen »jüdische Kapitalisten« vorgingen, findet sich in unzähligen Artikeln in der sozialdemokratischen Presse.36 Fallweise ging die sozialdemokratische Argumentation aber noch einen Schritt weiter, indem mehr oder weniger offen auf die angebliche »Verjudung« der Christlichsozialen Partei angespielt wurde. So hieß es beispielsweise in der »Arbeiter-Zeitung« über Minister Alfred Grünberger süffisant, dass dieser »wahrscheinlich nicht von Hermann dem Cherusker abstamme«37 und auch Minister Viktor Kienböck wurde als »Judenstämmling« tituliert, der wegen seiner jüdischen Herkunft »doppelt beflissen« antisemitisch agiere, gleichzeitig aber Geschäfte mit reichen Ostjuden mache.38 Es ist bemerkenswert, dass solche Aussagen fast ausnahmslos im Kontext einer Verurteilung des Antisemitismus der Gegner erfolgten, sie aber trotz dieser kritischen Intention gleichzeitig immer auch selbst antisemitische Stereotype reproduzierten. Dies zeigte sich auch 1923 als Reaktion auf eine Verordnung des deutschnationalen Innenministers Felix Frank bei der anstehenden Volkszählung eine Rubrik für »Volkszugehörigkeit und Rasse« einzuführen, was in der Sozialdemokratie auf heftige Kritik stieß.39 Auch hier griff die Linke in ihrem Abwehrkampf zu fragwürdigen Mitteln. Leopold Spira zitiert in diesem Zusammenhang eine Glosse in der »Arbeiter-­ Zeitung«, wo durch Anspielungen auf »typisch jüdische« physiognomische Merkmale, wie z. B. die »Judennase« von Prälat Ignaz Seipel, der »Rassenantisemitismus« der politischen Gegner ad absurdum geführt werden sollte.40 Auch wenn sich die Polemik eindeutig gegen die Verordnung des antisemitischen Innenministers und die ihr zugrunde liegende »Rassenlehre« richtete, so bediente sie sich dabei gängiger antisemitischer Klischees, die solcherart noch untermauert und verfestigt wurden. Selbst noch im April 1933, nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und nach der »Ausschaltung« des österreichischen Parlaments, setzte die sozialdemokratische Presse diese fatale Argumentationsstrategie fort. Als Antwort auf den von Engelbert Dollfuß ausgerufenen »Kampf gegen den jüdischen Marxismus« antwortete die »Arbeiter-Zeitung« mit Angriffen bzw. Untergriffen auf »Judenstämmlinge« im christlichsozialen Lager (z. B. Sektionschef Robert Hecht, Minister Kien-

36 Exemplarisch dazu Der Schutzbund, Nr. 10, Oktober 1928, 5f.; Der Schutzbund, Nr. 5, Mai 1929, 8f. Viele Beispiele aus der Arbeiter-Zeitung finden sich bei Spira 1981. 37 Arbeiter-Zeitung, 16.3.1921. 38 Zit. n. Spira 1981, 84. 39 Der Rassenforscher Frank, in  : Arbeiter-Zeitung, 11.2.1923. 40 Vgl. Spira 1981, 18 (ich selbst habe diese Glosse nicht gefunden).

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böck, Industrielle, Journalisten).41 Ein besonderes Feindbild der Sozialdemokraten war der in die Hirtenberger Waffenschmuggel-Affäre verwickelte Industrielle Fritz Mandl, der von Julius Deutsch im Parlament nicht nur als »Protektor der Heimwehr« und »intimste[r] Freund des Starhemberg«, sondern wiederholt auch wörtlich als »jüdische[r] Schieber Mandl« bezeichnet wurde.42 Auch hier vermengte sich (berechtigte) politische Kritik mit einer fragwürdigen Argumentation und Terminologie, die den ohnehin weit verbreiteten Antisemitismus nicht – wie beabsichtigt – schwächten, sondern letztendlich wohl eher noch zusätzlich bestärkten. Antikapitalismus

Wie sich bei all diesen Beispielen gezeigt hat, vermengten sich die Vorwürfe gegen die politischen Gegner mit einer antikapitalistischen Argumentation, was einerseits auf die spezifische politische Konstellation in der Zwischenkriegszeit, andererseits aber auch auf eine lange Tradition der linken Kapitalismuskritik zurückzuführen ist. Als »Vorvater« eines linken, antikapitalistisch motivierten Antisemitismus gilt Karl Marx mit seiner Frühschrift »Zur Judenfrage« (1843), worin er das Judentum als Metapher der Zirkulation und des Handels identifizierte und damit einer Gleichsetzung von Judentum und Kapitalismus Vorschub geleistet hat.43 Die Wirkungsmacht dieser umstrittenen Schrift von Marx auf die Arbeiterbewegung ist nicht zu unterschätzen, denn mit seiner ökonomistisch-verkürzten Kapitalismuskritik hat die ohnehin weit verbreitete Vorstellung vom produktiven und unproduktiven (jüdischen) Kapital und vom reichen »jüdischen Kapitalisten« ihre theoretische Fundierung erfahren und damit der antikapitalistischen Variante des Antisemitismus neue Nahrung gegeben. In der Tat findet sich dieser fatale Topos über die gesamte Geschichte der Arbeiterbewegung in deren politischen Argumentation wieder. Die Gleichsetzung von Kapitalismus und dem Judentum war aber keine linke Erfindung, sondern das Stereotyp des »Wucherers« und »jüdischen Kapitalisten« war seit Jahrhunderten wirksam44 und erhielt im modernen Antisemitismus einen wahnhaften, verschwörungstheoretischen Charakter, wonach »der Jude« als Symbol für Modernität (Kapitalismus, Liberalismus, Materialismus) schlechthin galt und als allumfassende Bedrohung erlebt wurde.45 Dabei kam es fallweise zu Ähnlichkeiten 41 Arbeiter-Zeitung, 4.4.1933. 42 Vgl. dazu Spira 1981, 94. 43 Zu Einschätzungen und Kontroversen dazu vgl. Silberner 1983, 16–42  ; Traverso 1995, 35–44. 44 R aphael 1999  ; Barkai 1995  ; Berg 2011. 45 Berg 2011  ; Loewy 2006.

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und Überschneidungen zwischen einem antisemitisch grundierten Antikapitalismus linker und rechter Provenienz,46 wenn auch die dahinter stehenden Intentionen oft andere waren. So stellte Otto Bauer in seiner Abhandlung »Sozialismus und Antisemitismus« (1910) klar, dass »das jüdische Kapital bekämpft werden muss, nicht, weil es jüdisch, sondern weil es Kapital ist«47 – in der politischen Praxis wurde diese theoretische Unterscheidung allerdings nicht immer vorgenommen. Zumindest der Form nach hat die in die politische Defensive geratene Linke aus ihrer kapitalismuskritischen Perspektive heraus mit einer ähnlichen Terminologie wie die rechten AntisemitInnen operiert. Pejorative Zuschreibungen und Begriffe wie »jüdische Schieber«, »Judenbanken«, »jüdische Hochfinanz« bzw. »jüdisches Großkapital«, »jüdische Plutokratie«, »Bankjuden« oder »Börsejuden« waren in der sozialdemokratischen Presse der Zwischenkriegszeit gang und gäbe. Auch in vielen Karikaturen wurden »Kapitalisten« grundsätzlich mit »jüdischen« Gesichtszügen dargestellt,48 die man – wie bereits aufgezeigt – pauschal der Kollaboration mit den politischen Gegnern bezichtigte. So deckte die Zeitschrift »Schutzbund« Beziehungen zwischen »reichen Geldjuden« und den angeblich »kapitalsfeindlichen Hakenkreuzlern« auf, die sie exemplarisch an Baron Sigi Springer als »würdige[m] Schutzpatron der judenfeindlichen Hakenkreuzler« veranschaulichte.49 Auch Geschäftsverbindungen zwischen den verhassten Frontkämpfern und dem Wiener Antisemitenbund mit den »gerissensten Bankjuden« wurden immer wieder polemisch kommentiert.50 Die Demagogie richtete sich vor allem gegen die politischen Gegner, aber auch die »jüdischen Kapitalisten« selbst, für die man nur Geringschätzung und Spott übrig hatte, gerieten zunehmend ins Visier der Kritik. Der Vorwurf lautete, dass sich die reichen Juden »mit dem Antisemitismus längst abgefunden« hätten und als »Wahlhelfer der Antisemiten« und als deren »Kettenhunde« im Kampf gegen die Sozialdemokratie fungierten.51 Und in der illegalen »Arbeiter-Zeitung« im Oktober 1934 hieß es  : »Mit den reichen Juden verträgt sich der Austrofaschismus ausgezeichnet. Neben den Aristokraten und katholischen Pfaffen steht niemand so fest zu dem klerikofaschistischen Regime wie die jüdischen Kapitalisten«, was das Regime aber nicht daran hindere, gleichzeitig jüdische Ärzte, Angestellte und Beamte zu entlassen.52

46 Aly 2011. 47 Zit. n. Jacobs 1994, 103. 48 Pauley 1993, 191. Zahlreiche Abbildungen finden sich in Spira 1981. 49 Der Schutzbund, Nr. 8, August 1925, 5. 50 Der Schutzbund, Nr. 6, Juni 1925, 14f. 51 Zit. n. Spira 1981, 85. 52 Arbeiter-Zeitung, 13.10.1934  ; siehe dazu den Beitrag von Reiter-Zatloukal in diesem Band.

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Obwohl Otto Bauer bereits zu Beginn der 1920er Jahre erkannt hatte, dass der Antisemitismus seine antikapitalistische Stoßrichtung verloren hatte,53 hinderte ihn diese Erkenntnis nicht daran, auch weiterhin die Sozialdemokratie als den besseren Gegner der »jüdischen Großbourgoisie und Hochfinanz« darzustellen sowie die Christlichsozialen und Großdeutschen als die »Komplizen« und »Profiteure« des »jüdischen Kapitals« anzuprangern.54 Im Großen und Ganzen lebte die fatale Gleichsetzung von Judentum und Kapitalismus in der gesamten Zwischenkriegszeit und selbst nach dem politischen Erstarken des Nationalsozialismus ungebrochen fort.55 Dies führte später u. a. auch dazu, dass sich ein Teil der sozialdemokratischen Arbeiterschaft für die antikapitalistischen Parolen der Nationalsozialisten anfällig zeigte und damit eine ideologische Anschlussmöglichkeit zum Nationalsozialismus gegeben war. Vor/nach dem Februar 1934  : Enttäuschung und »Faschismus« als neue Gefahr

Neben dem eher strategischen Abwehr-Antisemitismus gab es in der Sozialdemokratie auch eine Art »volkstümlichen« Antisemitismus,56 der Ausdruck einer in der Arbeiterschaft verbreiteten intellektuellenfeindlichen Stimmung war und vor allem innerparteilich wirksam wurde. Besonders an der Parteibasis und in der Provinz herrschten erhebliche Vorbehalte gegen jüdische Intellektuelle und die »Juden in der Wienzeile«, wo sowohl die Redaktion der »Arbeiter-Zeitung« als auch der Sitz der Parteiführung waren. Im Wissen um diese hartnäckigen Ressentiments in den eigenen Reihen empfanden sich manche sozialistische Parteiführer jüdischer Herkunft als politische »Belastung« für die Partei.57 Bevorzugtes Ziel dieses antisemitisch grundierten Anti-Intellektualismus war Otto Bauer, der nicht nur von seinen politischen Gegnern, sondern auch in der eigenen Partei, mit der Zuschreibung als »arroganter Jude« konfrontiert war.58 So erinnerte sich Bruno Kreisky, dass er als junger Sozialist von Seiten sozialdemokratischer Funktionäre aus der Provinz »den ganzen Hass gegen Otto Bauer gespürt« habe.59 Vor diesem Hintergrund war es auch kein Zufall, dass Bauer niemals Parteiobmann der SDAP (diese Funktion übte Karl Seitz aus), sondern »nur« stellvertretender Obmann und Fraktionsführer im Parlament war. Diese Rücksichtnahme bzw. dieses Signal 53 Bauer 1923, 207. 54 Spira 1981, 60f. 55 Vgl. Pauley 1993, 190–195  ; Binder 1985, 43–53. 56 Spira 1981, 30. 57 Ebd., 44–47  ; Jacobs 1994, 96  ; Braunthal 1965, 144f. 58 Vgl. Fischer 1969, 152f. 59 Vgl. Lendvai/Ritschel 1972, 54.

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nach außen und nach innen, nützte allerdings wenig, da Bauer als führender Ideologe und wortgewaltiger Redner eine herausragende Position in der Sozialdemokratie einnahm und immer als (jüdischer) Parteiführer wahrgenommen wurde. Der alte »Groll gegen Juden und Intellektuelle« lebte auch nach dem Februar 1934 fort, ja er intensivierte sich noch. Tatsächlich schien die austrofaschistische und nationalsozialistische Propaganda, wonach die »jüdische Führung« der Sozialdemokraten an der politischen Niederlage schuld wäre, in der enttäuschten und verbitterten Arbeiterschaft teilweise gefruchtet zu haben. Hier tun sich allerdings methodische und quellenkritische Probleme auf, denn entsprechende Schuldzuweisungen und Äußerungen fielen v. a. im privaten oder semiöffentlichen Bereich, z. B. im Gespräch zwischen ParteifunktionärInnen und sind insbesondere durch Zeitzeugen überliefert, die auf eigene Erfahrungen in der Zeit der Illegalität von 1934 bis 1938 zurückgreifen können.60 So schildert Joseph Buttinger, der Führer der »Revolutionären Sozialisten«, dass der Antisemitismus nach dem Umsturz 1934 ungeheuer zugenommen habe, was sich vor allem in einem tiefen Misstrauen gegen die jüdischen Führer äußerte, denen die Hauptschuld für die Niederlage zugeschrieben wurde. Besonders hervorgetan hätten sich dabei v. a. radikalisierte Schutzbündler und Jugendliche in einzelnen Wiener Bezirken, die die passive Parteiführung schon zuvor in einem Flugblatt wegen ihrer »Feigheit« angegriffen hatten. Der Vorwurf der »Feigheit« der ungeduldigen, auf politischen Aktivismus drängenden linken Jugend war insofern antisemitisch grundiert, als diese als »typisch jüdische Eigenschaft« hingestellt wurde.61 Interessant ist, dass die jungen AktivistInnen, wenn sie von Juden sprachen, weniger die Parteiführer Bauer und Danneberg meinten, die »wegen ihrer falschen Politik selbstverständlich abdanken müssen«, sondern vor allem die »Tausende[n] von Schmarotzern«, die sich in der Wiener Partei und in der Gemeinde Wien breit gemacht hätten, ebenso wie alle »Erwerbssozialisten« (z. B. jüdische Advokaten, Kaufleute, Ärzte), die an der Partei »stets verdient« hätten.62 Die auch schon zuvor vorhandenen Stimmen für eine Zurückdrängung des »jüdischen Einflusses« in der Partei wurden jedenfalls lauter. Buttinger schreibt sogar von einem »geheimen Arierparagraphen«, der im Parteivorstand diskutiert worden sein soll.63 Im Chaos der Niederlage, so Buttinger, schienen bisher unterdrückte Ressentiments an die Oberfläche gekommen zu sein, und es kam

60 Vgl. Buttinger 1953, 63, 89f.; Simon 1979, 123, 156. 61 Buttinger 1953, 89. 62 Ebd., 89. 63 Ebd., 94f.

Die österreichische Sozialdemokratie und Antisemitismus

zu einem Kampf jeder gegen jeden  : »Die Jungen wollten die Alten verdrängen, der Schutzbund die Partei, die Arbeiter die Intellektuellen und die ›Arier‹ die Juden.«64 Joseph Simon, 1934 bis 1938 ebenfalls bei den »Revolutionären Sozialisten« aktiv, bestätigt diese Beobachtungen und zitiert in seiner Autobiographie ein ominöses Flugblatt einer sogenannten »Arisch-Sozialistischen Arbeiterpartei«, in dem der hohe jüdische Prozentsatz in der Redaktion der »Arbeiter-Zeitung« beanstandet wurde. Außerdem wies man darauf hin, dass »unter den gehenkten Februarkämpfern kein einziger Jude« zu finden wäre und dass »die Juden Bauer und Deutsch das Weite gesucht« hätten, während »deutsche Arbeiter auf den Barrikaden verblutet« wären.65 Eine ähnliche Aussage wird Eduard Korbel, einem ehemaligen Schutzbündler und Regierungsspitzel, zugeschrieben, der unmittelbar nach den Februarkämpfen verzweifelt den Verrat von Deutsch und Bauer beklagt und diese als »Schufte und jüdische Gauner, die mit dem Gelde abgefahren sind«, bezeichnet haben soll.66 Die Verbitterung gegenüber der Parteiführung setzte sich auch im Exil fort, wie heftige innerparteiliche Debatten in der Tschechoslowakei belegen.67 So gab es in dortigen Lagern von geflohenen SozialdemokratInnen derart heftige Anwürfe gegen die Parteiführer, dass man Otto Bauer von einer Diskussion mit ihnen abriet, weil er dort nur »in ordinärster Weise angeflegelt« werden würde.68 Ob und inwieweit diese befürchtete »Flegelei« auch antisemitischer Art gewesen sein könnte, wurde nicht erläutert. Dies gilt für sämtliche emotionale Äußerungen gegen die geflüchtete Parteiführung, die antisemitisch motiviert sein konnten, es aber nicht zwangsläufig sein mussten.69 Aufgrund des Mangels an zeitgenössischen schriftlichen Quellen sind wir in diesem Zusammenhang auf Indizien in der (teils veralteten) Forschungsliteratur und auf mündliche Tradierungen mit all ihren Tücken angewiesen, die Häufigkeit der Aussagen lässt aber Rückschlüsse auf die Existenz antisemitischer Ressentiments zu. Josef Simon nannte Jahrzehnte später den »in der Arbeiterbewegung um sich greifenden Antisemitismus« als einen von mehreren Faktoren für die Anfälligkeit vie64 Ebd., 90f. 65 Zit. n. Simon 1979, 123. Es ist historisch nicht geklärt, wer diese Gruppierung tatsächlich war und wen sie repräsentierte, es handelte sich vermutlich um eine sehr kleine Splittergruppe (im Umfeld der illegalen Nationalsozialisten  ?), die nicht mit der Sozialdemokratie insgesamt gleichzusetzen ist. 66 Zit. n. Marschalek 1990, 154. Diese Aussage wurde beim Schutzbundprozess Anfang 1935 durch einen anonymen Zeugen der Anklage bestätigt, ist aber aufgrund der Zweifelhaftigkeit der beteiligten Personen und der Umstände quellenkritisch zu hinterfragen. 67 Vgl. dazu ausführlich Marschalek 1990. 68 Ebd., 148. 69 Hanisch 2011, 206.

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ler Linker für den Nationalsozialismus und meinte, dass es »sinnlos wäre, ihn heute wegzuleugnen«.70 Der Faktor der Illegalität macht die Erfassung und Deutung des Antisemitismus in der Sozialdemokratie zwischen 1933 und 1938 noch diffiziler. Nach der Niederlage vom Februar 1934 war die sozialdemokratische Partei verboten, die »Arbeiter-Zeitung« erschien illegal aus dem Ausland, ebenso wie die illegalen Flugschriften, Aufrufe und Broschüren, in denen Antisemitismus kaum ein Thema war.71 Vor dem Hintergrund der zunehmend repressiven politischen Situation in den Jahren bis zum »Anschluss« 1938 ist nachvollziehbar, dass die in den Untergrund gedrängten und politisch verfolgten antifaschistischen SozialdemokratInnen andere Probleme und Prioritäten hatten, als antisemitisch zu agieren (und wenn, dann kaum in publizierter Form).72 Mit dem zunehmenden Erstarken des Nationalsozialismus in Deutschland und auch im eigenen Land zu Beginn der 1930er Jahre, begann sich die Sozialdemokratie verstärkt mit dem »Faschismus« als »neue Gefahr für die Arbeiterschaft« auseinanderzusetzen.73 Wie eine Durchsicht sozialdemokratischer Medien zeigt, schien Antisemitismus in den politischen Analysen allerdings nur am Rande auf. Auf die zentrale Frage dieser Zeit, welcher der zwei Faschismen denn gefährlicher sei, fand man eine klare Antwort, die sich wenige Jahre später als fatale Fehleinschätzung erweisen sollte  : »Der Nationalsozialismus wird sicher kein stärkerer Gegner sein als der Austrofaschismus.«74 Trotzdem wurde der »Vormarsch der Nationalsozialisten« beunruhigt verfolgt und als eines seiner politischen Ziele schon früh die »Brechung der Zinsknechtherrschaft« und die »Ausrottung der Juden« genannt.75 Allerdings neigte man dazu, den von den Nationalsozialisten propagierten Antisemitismus als »Schwindel« zu entlarven und damit auch zu unterschätzen.76 Der Sinn und das Ziel des »Nazi-Antisemitismus mit der altbekannten Parole ›Der Jud ist schuld‹«, so die sozialdemokratische Argumentation, sei es lediglich, »die Köpfe der Arbeiter zu verwirren«.77 Dass diese Einschätzung sich als falsch erweisen sollte, mussten viele SozialdemokratInnen bereits wenige Jahre später und oft auch am eigenen Leib erfahren. 70 Simon 1979, 123. 71 Marschalek 1990, 47f., 70f. 72 Vgl. allgemein dazu West 1978  ; Holtmann 1978. 73 Malles 1931, 13–15. 74 Der Schutzbund, Nr. 2, Februar 1931, 15. 75 Der Schutzbund, Nr. 12, Dezember 1931, 2. 76 Exemplarisch dafür die Abhandlungen in der Nachfolgezeitschrift des Schutzbundes »Der Kämpfer«  : Der neue Gegner, in  : Der Kämpfer, 9. Jg., Nr. 5, Mai 1932, 4f. und Der Nationalsozialismus, in  : Der Kämpfer, Nr. 6, Juni 1932, 7–12. 77 Der Kämpfer, Nr. 6, Juni 1932, 10f.

Die österreichische Sozialdemokratie und Antisemitismus

Die Parteiführung war sich durchaus der Gefahr bewusst, dass ihre ehemalige WählerInnen und Mitglieder zum Nationalsozialismus überlaufen könnten. Dies zeigen wiederholte Appelle in der illegalen »Arbeiter-Zeitung«, der Propaganda der politischen Gegner nicht auf den Leim zu gehen. Unter dem Titel »Achtung auf die Nazi  !« wurde den Nationalsozialisten vorgeworfen, dass sie im Februar 1934 nicht mitgekämpft hätten, jetzt aber versuchen würden, »sich bei den Arbeitern einzuschmeicheln.« Leider fänden sie »bei manchen jungen Arbeitern Gehör. Mancher junge Genosse meint, man müsse jetzt mit den Nazi gehen, um sich an den klerikofaschistischen Henkern zu rächen. Das ist ein begreiflicher, aber höchst gefährlicher Irrtum« (Hervorhebung im Original).78 Und an anderer Stelle warnte man  : »Lasst euch nicht aus Hass gegen Fey und Dollfuß von den Nazi einfangen. Hitler ist der Todfeind der deutschen Arbeiter und daher auch unser Todfeind.«79 Umgekehrt startete die Sozialdemokratie nach dem missglückten Naziputsch im Juli 1934 selbst eine Propagandakampagne, um einen Teil der enttäuschten Nationalsozialisten wieder »aufzufangen« oder »zurückzugewinnen«, wie es hieß. Dabei grenzte man sich zwar strikt von Hitler ab, propagierte aber ein »Bündnis der sozialistischen Arbeiter mit den antiklerikalen und antihabsburgischen Intellektuellen, Kleinbürgern und Bauern«, um gemeinsam »Rache [zu] nehmen für die gemordeten Kämpfer des Februar und für die gemordeten Kämpfer des Juli zugleich.«80 Nach dem Februar 1934 radikalisierten sich viele enttäuschte SozialdemokratInnen nach links (»Revolutionäre Sozialisten«)81 oder schlossen sich dem kommunistischen Widerstand an, viele zogen sich überhaupt resigniert in die politische Passivität zurück. Ein nicht unerheblicher Teil der Arbeiterschaft aber zeigte trotz entsprechender Warnungen eine zumindest partielle Anfälligkeit für die NS-Ideologie und lief entweder sofort oder 1938 zum Nationalsozialismus über. Es liegen zwar einige Wähleranalysen vor, die belegen, dass es zu solchen Übertritten kam – ob nun aus Hass auf das austrofaschistische Regime, aus Zustimmung zum »Anschluss« an Deutschland oder doch wegen Antisemitismus  ? – ist bislang noch nicht ausreichend erforscht.82

78 Arbeiter-Zeitung, 4.3.1934. 79 Arbeiter-Zeitung, 25.2.1934. 80 Arbeiter-Zeitung, 5.8.1934. 81 Leichter 1968. 82 Vgl. Hänisch 1998  ; Ardelt/Hautmann 1990, darin besonders die Beiträge von Konrad 1990, 73–89  ; Schafranek 1990, 91–128.

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Resümee Die Sozialdemokratie war in der Ersten Republik zur mächtigen politischen Kraft geworden und somit auch Bestandteil und politischer (Mit-)Akteur der antisemitischen Kultur in Österreich. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Sozialdemokratie den Antisemitismus zwar prinzipiell und mit theoretisch untermauerten Begründungen ablehnte, ja bekämpfte, dass sie aber gleichzeitig in der politischen Praxis nicht gänzlich immun dagegen war. Die grundsätzliche Ablehnung des immer stärker werdenden Antisemitismus fiel in der politischen Praxis oft tagespolitischem Kalkül zum Opfer und war daher keineswegs frei von Widersprüchen, d. h. die SDAP war zwar theoretisch anti-antisemitisch, scheute sich aber gleichzeitig, als explizite »Schutzpartei« für die zusehends angefeindeten und bedrängten Juden und Jüdinnen aufzutreten. Obwohl, oder vielleicht auch gerade weil die Sozialdemokratie selbst das bevorzugte Zielobjekt antisemitischer Anfeindungen war, griff sie aus dieser Abwehrhaltung heraus oft ebenfalls zu antisemitisch gefärbten Argumenten und Begrifflichkeiten. Antisemitismus wurde einerseits als strategische Waffe zur Demaskierung der politischen Gegner eingesetzt, andererseits bestanden auch in der Sozialdemokratie – sowohl bei ihren führenden Exponenten als auch an der Parteibasis – antisemitische Vorurteile und Denkmuster, die vor allem in Form von Antikapitalismus und Antiintellektualismus zum Ausdruck kamen. Damit soll keinesfalls einer Nivellierung nach dem Motto »Alle waren Antisemiten« das Wort geredet werden, sondern noch einmal die Relationen zurechtgerückt werden. Der fallweise in der Sozialdemokratie vorhandene Antisemitismus unterscheidet sich grundsätzlich, d. h. sowohl was die Intensität als auch die Zielsetzung betrifft, vom Antisemitismus der Deutschnationalen, Christlichsozialen und Nationalsozialisten. Antisemitismus war niemals Bestandteil des offiziellen Parteiprogramms der SDAP und zu keiner Zeit war er gegen die Juden (als solche) gerichtet, d. h. es bestand niemals die politische Absicht, Juden/Jüdinnen absichtlich oder aktiv zu diskriminieren oder gar zu verfolgen.83 Im Gegenteil, viele SozialdemokratInnen standen in ideologisch gefestigter, politischer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus und zum Antisemitismus und waren nach der nationalsozialistischen »Machtergreifung« auch aktiv im Widerstand tätig. Viele von ihnen wurden  – als Linke und/oder als »Juden«/­»Jüdinnen« – selbst zum Opfer des nationalsozialistischen Rassenantisemitismus, dem sie entweder durch eine Flucht ins Ausland nur knapp entrinnen konnten, oder sie wurden in die nationalsozialistischen Konzentrationslager eingeliefert und viele dort auch ermordet. 83 Wistrich 1990, 170  ; Pauley 1993, 182.

Die österreichische Sozialdemokratie und Antisemitismus

Ungeachtet dieser notwendigen Klarstellung ist aber auch festzuhalten, dass sich die Sozialdemokratie durch ihre Indifferenz und ihren taktischen Umgang mit Antisemitismus am allgemeinen antisemitischen Diskurs der Zwischenkriegszeit beteiligte und ihm wenig entgegenzusetzen vermochte. Die aufgezeigten Ambivalenzen in der Haltung der Sozialdemokratie zum immer stärker werdenden Antisemitismus hatten weitreichende Konsequenzen. Eine fatale – kurzfristige – Konsequenz daraus war die mangelnde Sensibilität und Resistenz der Arbeiterschaft gegenüber dem Nationalsozialismus allgemein und dem Antisemitismus im Besonderen. Längerfristig gesehen stand die österreichische Linke auch nach 1945 in dieser Tradition, und manche, wenn auch nicht alle Unzulänglichkeiten und Ambivalenzen des linken (Umgangs mit) Antisemitismus wirkten auch »nach Auschwitz« fort.84

Literatur und Quellen Aly, Götz, Warum die Deutschen  ? Warum die Juden  ? Gleichheit, Neid und Rassenhass – 1800– 1933, Frankfurt a.M. 2011. Arbeiter-Zeitung 1921, 1923, 1926, 1933, 1934. Ardelt, Rudolf/Hautmann, Hans (Hg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich, Wien/Zürich 1990. Barkai, Avraham, Der Kapitalist, in  : Schoeps, Julius/Schlör, Joachim (Hg.), Antisemitismus – Vorurteile und Mythen, Augsburg 1995, 265–272. Bauer, Otto, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Wien 1907. Bauer, Otto, Die österreichische Revolution, Wien 1923. Berg, Nicolas (Hg.), Kapitalismusdebatten um 1900. Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen, Leipzig 2011. Binder, Dieter A., Der »reiche Jude«. Zur sozialdemokratischen Kapitalismuskritik und zu deren antisemitischen Feindbildern in der Ersten Republik, in  : Geschichte und Gegenwart. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1 (1985), 43–53. Braunthal, Julius, Viktor und Friedrich Adler. Zwei Generationen Arbeiterbewegung, Wien 1965. Bunzl, John, Arbeiterbewegung, »Judenfrage« und Antisemitismus. Am Beispiel des Wiener Bezirks Leopoldstadt, in  : Botz, Gerhard/Hautmann, Hans/Konrad, Helmut/Weidenholzer, Josef (Hg.) Bewegung und Klasse. Studien zur österreichischen Arbeitergeschichte, Wien u. a. 1978, 743–763. Buttinger, Joseph, Am Beispiel Österreichs, Ein geschichtlicher Beitrag zur Krise der sozialistischen Bewegung, Köln 1953. Danneberg, Robert, Die Schiebergeschäfte der Regierungsparteien. Der Antisemitismus im

84 Vgl. dazu Reiter 2001.

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Lichte der Tatsachen. Enthüllungen des Abgeordneten Robert Danneberg in der Sitzung des Nationalrates am 6. Juli 1926, Wien 1926. Deutscher, Isaac, Der nichtjüdische Jude. Essays, Berlin 1988. Fischer, Ernst, Erinnerungen und Reflexionen, Hamburg 1969. Frei, Bruno, Jüdisches Elend in Wien. Bilder und Daten, Berlin/Wien 1920. Hanisch, Ernst, Der große Illusionist. Otto Bauer (1881–1938), Wien u. a. 2011. Hänisch, Dirk, Die österreichischen NSDAP-Wähler. Eine empirische Analyse ihrer politischen Herkunft und ihres Sozialprofils, Wien u. a. 1998. Hoffmann-Holter, Beatrix, »Abreisendmachung«. Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien 1914 bis 1923, Wien u. a. 1995. Holtmann, Everhard, Zwischen Unterdrückung und Befriedung. Sozialistische Arbeiterbewegung und autoritäres Regime in Österreich 1933–1938, Wien 1978. Jacobs, Jack, Sozialisten und die »jüdische Frage« nach Marx, Mainz 1994. Der Kämpfer 1932. Kane, Leon, Robert Danneberg. Ein pragmatischer Idealist, Wien u. a. 1980. Kautsky, Karl, Rasse und Judentum, Stuttgart 1914. Konrad Helmut, Das Werben der NSDAP um die Sozialdemokraten 1933–1938, in  : Ardelt, Rudolf/Hautmann, Hans (Hg.), Arbeiterschaft und Nationalsozialismus in Österreich, Wien/ Zürich 1990, 73–89. Leichter, Otto, Zwischen zwei Diktaturen. Österreichs Revolutionäre Sozialisten 1934–38, Wien u. a. 1968. Lendvai, Paul/Karl Heinz Ritschel, Kreisky. Porträt eines Staatsmannes, Wien 1972. Loewy, Hanno (Hg.), Gerüchte über Juden. Antisemitismus. Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien, Essen 2006. Malles, Paul, Heimwehr und Nationalsozialismus, in  : Der Schutzbund, Nr. 2, Februar 1931, 13–15. Marschalek, Manfred, Untergrund und Exil. Österreichs Sozialisten zwischen 1934 und 1945, Wien 1990. Pauley, Bruce F., Politischer Antisemitismus in Wien der Zwischenkriegszeit, in  : Botz, Gerhard/ Oxaal, Ivar/Pollak, Michael (Hg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Buchloe 1990, 221–246. Pauley, Bruce F., Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993. Pelinka, Anton, Sozialdemokratie und Antisemitismus, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) 4 (1992), 540–554. R abinbach, Anson, Vom Roten Wien zum Bürgerkrieg, Wien 1983. R aphael, Freddy, »Der Wucherer«, in  : Schoeps, Julius/Schlör, Joachim (Hg.), Antisemitismus – Vorurteile und Mythen, Augsburg 1999, 103–118. Reiter, Margit, Unter Antisemitismus-Verdacht. Die österreichische Linke und Israel nach der Shoah, Innsbruck u. a. 2001. Reiter-Zatloukal, Ilse, Ausgewiesen und abgeschoben. Eine Geschichte des Ausweisungsrechts in Österreich vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2000. Roth, Joseph, Juden auf Wanderschaft (1920), Köln 1985.

Die österreichische Sozialdemokratie und Antisemitismus

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Im Rahmen des Sagbaren Kontinuitäten der Geschlechterpolitik des Antisemitismus Vorbemerkung Die Dimensionen und Effekte des Antisemitismus im Österreich der 1930er Jahre, die in diesem Band Thema sind, lassen sich nur verstehen, wenn man die Kooperationen, Korrespondenzen und Übergänge zwischen dem nationalsozialistischen Rassenantisemitismus und dem Antisemitismus sowohl des katholischen Lagers als auch des breiten deutschnationalen Milieus im Lande analysiert. Denn der antisemitische Kern des Nationalsozialismus ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund seines Entstehens auf dem Boden der ehemaligen Habsburgermonarchie und einer von offenem und verstecktem Antisemitismus geprägten politischen Kultur zu verstehen, zu der die mit diesen Milieus verbundenen Parteien maßgeblich beitrugen. Wenn ich im Folgenden nach der Geschlechterpolitik des Antisemitismus frage und damit einen spezifischen Aspekt seiner politischen Verwendung thematisiere, so will ich damit auch das Argument deutlich machen, dass eine Analyse von Antisemitismus, den ich sowohl als soziales Vorurteil als auch mit Shulamit Volkov als einen kulturellen Code begreife,1 nicht ohne eine Einbeziehung der Kategorie Geschlecht möglich ist.2

Ein Generationenkonflikt zwischen Frauen Im Spätherbst 1935 erschien in dem als »linkskatholisch« charakterisierten, vom Wiener Vizebürgermeister Ernst Karl Winter geführten Verlag Gsur der antifaschistische Roman »Unsere Töchter die Nazinen« von Hermynia Zur Mühlen.3 Das Werk der Sozialistin und Feministin, Tochter eines hochadeligen k. u. k.-Diplomaten, die in den 1920er Jahren in Frankfurt am Main als Schriftstellerin gelebt hatte und 1933 mit ihrem jüdischen Lebensgefährten vor dem Nationalsozialismus in ihre Heimat

1 Volkov 2000. 2 Gehmacher 1994  ; Gehmacher 1998a und b. 3 Thunecke 2000.

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Österreich geflohen war,4 ist bemerkenswert in mehrfacher Hinsicht. Nicht nur, weil es zu den nicht sehr zahlreichen expliziten literarischen Statements gegen den Nationalsozialismus im Österreich der 1930er Jahre zählt, sondern auch, weil es Frauen ins Zentrum der Darstellung rückt. Wenn Zur Mühlen darin die Wege junger Frauen in die NS-Bewegung schildert, so zeichnet sie den Antisemitismus nicht nur als zentrales Charakteristikum dieser Bewegung, sondern auch als eine wesentliche Attraktion des Nationalsozialismus für Frauen. So offenbart eine der Protagonistinnen des Romans ihrer entsetzten Mutter ihre Zugehörigkeit zur NS-Bewegung mit diesen Worten  : »Ja Mutter, die Juden haben unser Land ruiniert. Es wird sich erst dann wieder zu seiner vollen Größe entfalten können, wenn wir die Juden vertrieben haben.«5 In mehreren Varianten taucht in dem Buch das Narrativ eines Konflikts zwischen Müttern und Töchtern auf, in dem die Frage verhandelt wird, ob es eine spezifische Rolle »der Juden« in der Gesellschaft gebe. Die in dem Roman entworfene nationalsozialistische Töchtergeneration unterscheidet sich von ihren Müttern nicht zuletzt durch ihren offen zum Ausdruck gebrachten Antisemitismus. In der Fokussierung auf die Generationendifferenz wird der nicht nur von GegnerInnen des Nationalsozialismus geäußerten Beobachtung eines besonders hohen Anteils junger Leute in der NS-Bewegung literarisch Ausdruck verliehen. Hermynia Zur Mühlen hat damit überdies lange vor den diesbezüglichen Untersuchungen und Debatten, die seit den 1980er Jahren im Kontext der Frauen- und Geschlechtergeschichte entstanden sind, die Frage aufgeworfen, ob sich ein spezifisch weiblicher Antisemitismus nachweisen lasse,6 bzw. – allgemeiner formuliert – ob Antisemitismus etwas mit Geschlecht zu tun habe.7 An diese bemerkenswerte politische Intervention ist anzuknüpfen, wenn es gilt, das Verhältnis von Antisemitismus und Geschlecht im Österreich der 1930er Jahre zu untersuchen.

Antisemitismus und Geschlecht Ausgangspunkt meiner diesbezüglichen Überlegungen ist die Beobachtung, dass antisemitische Narrative und Bilder häufig auf Geschlecht als soziale Kategorie und 4 Ebd., 143f. 5 Zur Mühlen 2000, 53. 6 Die Debatte hat Margarete Mitscherlich mit einem 1983 zuerst in der Zeitschrift Psyche veröffentlichten Aufsatz unter dem Titel »Antisemitismus – eine Männerkrankheit  ?« ausgelöst, Mitscherlich 1985. Eine kritische Würdigung des bald heftig diskutierten Textes bieten Becker/Stillke 1987. 7 Ein starker Fokus der Forschungen lag dabei auf der Frage nach Antisemitismus in der bürgerlichen Frauenbewegung  : Bereswill 1998  ; Kohn-Ley 1994  ; Omran 2000. Eine breitere Perspektive entwirft der Sammelband  : Gender-Killer 2005.

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als Metapher rekurrieren. Als ein zentrales Beispiel hierfür kann das in der antisemitischen Propaganda verbreitete Bild des »jüdischen Verführers und Vergewaltigers unschuldiger arischer Mädchen« gelten  : Das Geschlechterverhältnis wird darin als Gewaltverhältnis gezeichnet und in ein Rassenverhältnis übersetzt.8 Ich habe an anderer Stelle gezeigt, dass dieses im rassistischen Antisemitismus der frühen österreichischen NSDAP allgegenwärtige Bild nicht nur als antijüdisches Vorurteil fungierte, sondern auch eine geschlechterpolitische Funktion hatte.9 Es erlaubte, Konflikte im Geschlechterverhältnis und Erfahrungen von Gewalt zu thematisieren, ohne sich explizit mit Geschlechterpolitik auseinandersetzen zu müssen. Denn die Hinterseite dieses Bildes – in nationalsozialistischen Jugendzeitschriften vielfach ausgebreitet – ist der heldische deutsche Mann, der die deutschen Mädchen vor allen Gefahren des Geschlechterverhältnisses beschützt. Zugleich ermöglichte das antisemitische Bild aber Männern, auch Aggressionen gegen Frauen auszuleben, denn den Opfern »jüdischer Vergewaltiger« wurde wiederholt nahegelegt, durch Selbsttötung die von ihrem Körper ausgehende Gefahr für den deutschen Volkskörper zu bannen.10 Als These lässt sich also formulieren  : Antisemitismus nutzt Geschlecht nicht nur als semantische Ressource, sondern antisemitische Bilder und Narrative werden auch als Instrument geschlechterpolitischer Intervention eingesetzt. Wo und wie diese Übersetzung von Geschlechterkonflikten in Rassenkonflikte stattfindet, lässt sich für Österreich in den 1920er und 1930er Jahren an einer Reihe von Beispielen in unterschiedlichen politischen und sozialen Kontexten untersuchen. Das Bild vom »arischen Mädchen« als Opfer jüdischer Aggression findet sich in mehreren Varianten in der nationalsozialistischen Propaganda und war insbesondere im Milieu gewalttätiger nationalsozialistischer Jugendgruppen in Österreich weit verbreitet. In modifizierter Form lässt es sich aber in den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kontexten der Zwischenkriegszeit nachweisen. Dies gilt auch für den zentralen Ort der politischen Repräsentation, das Parlament, wo sich unter einer Vielzahl antisemitischer Aussagen11 auch antisemitische Reformulierungen geschlechterpolitischer Konflikte belegen lassen.

  8 Früh mit den Sexualbildern des rassistischen Antisemitismus auseinandergesetzt hat sich Christina von Braun, vgl. u. a. Braun 1994.  9 Gehmacher 1992. 10 Ungewitter 1925. 11 Falter/Stachowitsch 2013.

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Antisemitische Reformulierungen geschlechterpolitischer Konflikte Eine Scharnierfunktion hatten hier, wie ich zeigen möchte, Politikerinnen der Großdeutschen Volkspartei und ihre Organisationszusammenhänge. Ich habe dies an anderer Stelle am Beispiel der großdeutschen Politikerin Emmy Stradal ausgeführt.12 Sie stand in engem Kontakt mit Vertreterinnen der bürgerlich-liberalen Frauenbewegung und machte sich eine Reihe von deren Forderungen zu eigen. Dies galt besonders für den Kampf gegen die eklatanten Geschlechterungleichheiten im Bildungswesen. Anders als die Knabenbildung wurde die Mädchenbildung nicht staatlich gefördert, so dass die Erreichung der Matura für Mädchen aufgrund der geringen Zahl von privaten Mädchenschulen und des weitaus höheren Schulgeldes schwierig und teuer war.13 Überdies waren die Lehrerinnen in den privaten Mädchenschulen schlechter bezahlt als die Lehrer in öffentlichen Knabenschulen. Ein Erlass des kurzzeitigen sozialdemokratischen Unterrichtsministers Otto Glöckel hatte zwar einzelne Knabenschulen für die Koedukation geöffnet, damit allerdings auch Protest von Organisationen der Frauenbewegung evoziert, da die gänzlich ohne staatliche Unterstützung mit jahrelangem idealistischen Einsatz aufgebauten privaten Mädchenschulen durch die Öffnung der kostengünstigeren staatlich geförderten Knabenschulen massiv in ihrer Existenz bedroht waren.14 In dieser Situation, die von umfassendem Geldmangel der staatlichen Verwaltung in der Nachkriegszeit und einem grundsätzlichen Desinteresse an Mädchenerziehung gekennzeichnet war, suchte Emmy Stradal parteiübergreifende Allianzen für eine Kompromiss-Strategie, die einerseits die Anstellung weiblicher Lehrkräfte an koedukativen Schulen, andererseits eine staatliche Förderung der Mädchenschule zur Angleichung der Schulgelder für Mädchen an diese für Knaben beinhaltete. Dies erfolgreich voranzutreiben gelang ihr auch für eine kurze Phase, in der sie mit Aktivistinnen der bürgerlich-liberalen Frauenbewegung und mit Sozialdemokratinnen auch öffentlich gemeinsam auftrat.15 Vielleicht am schwierigsten wurde ihr allerdings die Durchsetzung ihrer Forderungen in ihrer eigenen Gesinnungsgenossenschaft, denn in der bildungsbürgerlichen, insbesondere im Beamtentum verankerten Partei fürchtete man die Konkurrenz der weiblichen Lehrerinnen angesichts der beständig drohenden Entlassung von Lehrern. Um das Mädchenbildungspro12 Gehmacher 1998b, 92–103  ; vgl. auch Gehmacher 2015. 13 Simon 1994, 215–217. 14 Ebd. 15 Mädchenerziehung an Knabenschulen, in  : Arbeiter-Zeitung, 12.6.1921; vgl. auch Hauch 1995, 215–217  ; Gehmacher 1998b, 86f.

Kontinuitäten der Geschlechterpolitik des Antisemitismus

gramm der großdeutschen Frauenorganisation durchzusetzen, reformulierte Stradal ihre Forderungen im Rahmen des programmatischen Antisemitismus ihrer Partei  : Wenn man nicht bereit sei, die Mädchenbildung und die Lehrerinnen, die sich darum bemühten, ausreichend staatlich zu fördern, dann könnten eben bald nur mehr »die jüdischen Mädchen begüterter Eltern« in teure private Schulen gehen.16 Expliziter noch vertrat diese bildungspolitische Position etwas später die großdeutsche Politikerin Maria Schneider, die meinte, »angesichts der fürchterlichen Überschwemmung der Mädchenmittelschulen mit Fremdrassigen« sei es »eine nationale Pflicht, die Kinder des eigenen Volkes zu unterstützen«.17 Das virulente Thema der beruflichen Konkurrenz zwischen Lehrerinnen und Lehrern wurde damit in eine Konkurrenz um Bildungschancen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Mädchen transformiert und ein antisemitisch definierter Raum des »Volkes« geschaffen, in dem Solidarität zwischen den Geschlechtern einforderbar war. Lesbar werden solche Setzungen nicht zuletzt durch eine Analyse der Verwendungen des Begriffs der »Volksgemeinschaft«, der im Rahmen großdeutscher Politik in besonderer Weise aufgeladen war. Zum einen machten ihn sich insbesondere jene großdeutschen Politikerinnen zu eigen, die darin die notwendige klassenübergreifende Zusammenarbeit unter Frauen betont sahen  – Frauen waren aus ihrer Sicht die »berufensten Vertreterinnen des ganzen Volkes«  –, und so wählten mehrere Frauenorganisationen im Vorfeld der Partei diesen Begriff als Vereinsnamen.18 Zum anderen spielte die Gegenüberstellung der Begriffe »Volksgemeinschaft« und »Judentum« im großdeutschen Parteiprogramm eine zentrale Rolle  : »der Gedanke der Volksgemeinschaft und der jüdische Geist« stehen einander, so heißt es dort, »als zwei unversöhnliche Gegner einander gegenüber«.19 Die gesamte Argumentation des am Gründungsparteitag in Salzburg 1920 beschlossenen Programms ruht auf dem Entwurf einer Gemeinschaftsvorstellung, die den »inneren Zusammenhalt des deutschen Volkes« stärken bzw. wieder herstellen sollte. Zuallererst aber sollte die Ideologie der »Volksgemeinschaft« die widerstrebenden Interessen und Zielsetzungen der aus einer Reihe unterschiedlicher liberaler und deutschnationaler Gruppen zusammengesetzten Sammelpartei integrieren helfen. Die ausführlichen, an den Beginn des Programms gestellten Überlegungen machen dies nur zu deutlich, werden doch nicht nur die Kritik von Liberalismus und Kapitalismus mit einer vehementen Opposition gegen Marxismus und Sozialismus verbunden, sondern auch das »Bekenntnis 16 Gehmacher 1998b, 88. 17 Schneider 1923. 18 Gehmacher 1998b, 69f. 19 Berchtold 1967, 482.

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zur privatwirtschaftlichen Produktionsorganisation« mit der Ablehnung des »arbeitslose[n] Einkommen[s]«.20 Die Verknüpfung dieser so divergenten Gegnerschaften gelang nur über die Einführung der antisemitischen Figur des »jüdische[n] Geistes«, der, so die großdeutsche Überzeugung, hinter Liberalismus und Marxismus gleichermaßen stehe und nur durch die Wiedereinsetzung der als »Grundgedanke[n]« großdeutscher Politik beschworenen »Volksgemeinschaft« überwunden werden könne.21 Wenn großdeutsche Frauenorganisationen ihre besondere Beziehung zur Ideologie der Volksgemeinschaft betonten, so kehrten sie nicht nur die aus ihrer Sicht größere Verbundenheit zwischen Frauen über Klassengrenzen hinweg hervor, sie verbanden sich damit auch dem antisemitischen Programm der Partei in besonderer Weise. Die antisemitische Verortung der Forderung der großdeutschen Politikerinnen nach Mädchenbildungsrechten war, so muss festgehalten werden, kein Hindernis für die zumindest temporäre Bildung von Allianzen, die weit über die Parteigrenzen der Großdeutschen Volkspartei hinauswiesen. Die Hintergründe dafür sind, wie ich glaube, darin zu suchen, dass Antisemitismus nicht nur als alltägliches Vorurteil und als politische Agenda einzelner Parteien vorkam, sondern darüber hinaus auch Konsens in weiten Teilen der Gesellschaft bildete.

Alltägliches Vorurteil, politische Agenda und hegemonialer Konsens der Gesellschaft Die weit verbreitete Präsenz antisemitischer Vorurteile bildete den Resonanzraum des von Parteien getragenen politischen Antisemitismus. Das politische Feld zeichnete sich darüber hinaus dadurch aus, dass es gegenüber offen antisemitischer Programmatik kein Berührungsverbot gab, sondern diese vielmehr durch die bürgerliche Regierungskoalition Bestandteil der offiziellen Politik war. Denn auch die Christlichsoziale Partei und der Landbund forderten in ihren Programmen, dass der »Übermacht des zersetzenden jüdischen Einflusses« entgegenzutreten sei. So heißt es in den abschließenden Formulierungen des Programms der Christlichsozialen Partei von 1926  : »Als national gesinnte Partei fordert die christlichsoziale Partei die Pflege deutscher Art und bekämpft die Übermacht des zersetzenden jüdischen Einflusses auf geistigem und wirtschaftlichen Gebiete.«22 Prominente Vertreter des Landbundes und der Christlichsozialen Partei kooperierten mit späteren Größen des österreichischen Na20 Ebd., 440–443. 21 Ebd., 444f. 22 Ebd., 376.

Kontinuitäten der Geschlechterpolitik des Antisemitismus

tionalsozialismus in der elitären »Deutschen Gemeinschaft«, die sich die Bekämpfung von »Sozialisten, Juden, und Freimaurern« zum zentralen Ziel gemacht hatte.23 Als interagierende aber analytisch zu trennende Ebenen gilt es zum einen das alltägliche antijüdische und antisemitische Vorurteil zu untersuchen, das sich in lebensweltlich gefärbten Zuschreibungen und Aggressionen äußerte, zum anderen den politische Antisemitismus, der zentrale Agenda der NationalsozialistInnen, definitorischer Rahmen des völkischen Gemeinschaftsbegriffes der deutschnationalen Parteien sowie ein expliziter Programmpunkt der christlichsozialen Partei und des Landbundes war. Als drittes – und es ist wichtig, das als eigene analytische Ebene zu begreifen – herrschte ein hegemonialer gesellschaftlicher Konsens der Duldung antisemitischer Positionen. Expliziter Antisemitismus fungierte in Österreich (anders als im Deutschen Reich) nur sehr eingeschränkt als ein Code für die Zugehörigkeit zu einem spezifischen politischen Milieu24 – dies zum einen, weil hier Antisemitismus katholischer und völkischer Prägung miteinander einher gingen und in ihren Positionen immer wieder auch konvergierten, zum anderen, weil keine grundsätzliche Ächtung antisemitischer Positionen bestand. Da dieses Phänomen keiner expliziten Verbalisierung bedurfte, ist es historiographisch schwerer zu fassen – für die spätere Durchsetzung antijüdischer Politik ist es, wie ich meine, essentiell gewesen. Für eine Untersuchung der Kontinuitäten des Antisemitismus nach der Zerstörung der Demokratie im Frühjahr 1933 scheint es mir wichtig, auf jeder dieser Ebenen zu fragen, inwiefern der Regimewechsel 1933 in dieser Hinsicht einen Bruch bedeutet haben könnte. Geschlechterpolitische Handlungsräume erweisen sich dafür als ein brauchbares Untersuchungsfeld.

Die Grenzen des Sagbaren Geschlechterpolitisch bedeutete die Durchsetzung des austrofaschistischen Regimes einen gravierenden Bruch. Das nach den Kämpfen der Frauenbewegungen25 am Beginn der Ersten Republik festgelegte gleiche Recht auf politische Vertretung für Frauen und Männer hatte einen wichtigen Ausgangspunkt zur Kritik an der verschwindend geringen Repräsentanz von Frauen in politischen Vertretungskörpern, an sozialer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und an Frauen benachteiligen-

23 Stuhlpfarrer 1974  ; vgl. Aicher 2012. 24 Volkov 2000, 23. 25 Exemplarisch dazu Zaar 1993  ; Hauch 1995.

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den Gesetzesbeständen gebildet.26 Kaum mehr als ein Jahrzehnt später wurde dieses gleiche Recht durch die austrofaschistische Verfassung wieder aufgehoben und die Rekatholisierung und »ständische« Reorganisation der Gesellschaft im Namen »gottgewollter Geschlechterdifferenzen« vorangetrieben.27 Im Hinblick auf den alltäglichen und den politischen Antisemitismus gilt es zu fragen, inwiefern die Selbstpositionierung des Regimes als gegen den Nationalsozialismus gerichtet auch die hegemoniale Duldung antisemitischer Haltungen in Frage stellte. Dem soll im Folgenden am Beispiel nationalsozialistischer Pressepolitik am Rande der Legalität nachgegangen werden. Denn um Transformationen öffentlicher Haltungen nach dem Regimewechsel, um allfällige Verschiebungen der Grenzen des Sagbaren zu untersuchen, kann nationalsozialistische Publizistik von und für Frauen als eine gute Sonde dienen, wurde doch nach dem Verbot der NSDAP im Juni 1933 keineswegs die gesamte nationalsozialistische Presse verboten. Insbesondere die nicht als besonders gefährlich geltende Frauenpublizistik wurde geduldet – so erschien die nationalsozialistische Zeitschrift »Die deutsche Frau« weiterhin legal und ohne Unterbrechung  –, man tilgte nur direkte Nennungen nationalsozialistischer Organisationen und ließ das Hakenkreuz vom Titelblatt verschwinden.28 Das Blatt scheint bereits zur Zeit seines Erscheinens beiden Seiten als Sondierungsinstrument gedient zu haben  : Hier konnte die verbotene NSDAP ausloten, was öffentlich ausgesprochen werden konnte, was zu staatlichem Vorgehen führte – das Blatt lavierte bis zu seiner Umbenennung in »Frau und Welt« Anfang 1936 immer an der Grenze des Verbotes entlang.29 Dabei ist auffällig, dass die Blattlinie zwar mit Kurzgeschichten, Romanfortsetzungen, Haushaltsthemen sich stark dem Bild einer »unpolitischen« Frauenzeitschrift annäherte, aber doch immer wieder Nachrichten aus dem nationalsozialistischen Deutschland unterbrachte – so etwa, wenn unter dem Prätext, eine Serie über »Frauen in großen Kulturstaaten« beginnen zu wollen, ein Artikel über »Die Frau im neuen Deutschland« gebracht wurde, der zwischen einer kurzen Einleitung und einigen Schlusssätzen im Wesentlichen eine Rede von Joseph Goebbels wortgetreu wiedergab,30 oder wenn unter dem Titel »Volk und Staat« Überlegungen zum 26 Gehmacher 2009. 27 Bei 2008  ; Bandhauer-Schöffmann 2008  ; für einen aktuellen Überblick zu Forschungen zur Geschlechterpolitik des Austrofaschismus Hauch 2013. Grundlegend zum System und zum Begriff Austrofaschismus Tálos 2013. 28 Der Titel wurde geändert von »Die Deutsche Frau. Monatszeitschrift der NS Frauenschaft Österreich« zu »Die Deutsche Frau. Österreichische (illustrierte) Monatsschrift für Frauenfragen«. 29 Für eine detaillierte Argumentation Gehmacher 1998b, 193ff. 30 Die Frau im neuen Deutschland, in  : Die Deutsche Frau. Österreichische illustrierte Monatsschrift 3/1934.

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Begriff »Volksgemeinschaft« angestellt wurden.31 Kurz darauf brachte die Zeitschrift unter dem bezeichnenden Untertitel »Grundsätzliches zur Rassen- und Judenfrage« eine ausführliche Zusammenfassung von »Geist und Blut«, einem Buch des Wiener Urgeschichtsforschers Oswald Menghin, der bald darauf Rektor der Universität Wien und in der nationalsozialistischen Regierung Seyss-Inquart Unterrichtsminister werden sollte.32 Luzie Reitter fokussierte in ihrer Rezension auf das, wie sie formulierte »letzte und wichtigste Kapitel des Buches« und die darin »aufgeworfene Frage, warum gerade für unser Volk die Judenfrage von so großer Bedeutung ist«. Mit Menghin kam sie zum Schluss, dass »die Aufnahme des Judentum in das Deutschtum«, »die Gefahr einer Abänderung des deutschen Volkscharakters nach sich ziehen würde« und sah als einzigen Ausweg jenen, »den die Zionisten zu gehen entschlossen sind«.33 Nachdem auch dieser Vorstoß die publizistische Existenz des Blattes nicht gefährdet hatte, setzte man ein Monat später mit einem Text über »Arische Moral – jüdische Moral« nach, in dem Assimilation als nationale Gefahr gezeichnet und eine »Lösung der Judenfrage« zur Rettung des »deutschen Staates« gefordert wurde.34 Ohne hier näher auf die propagandistische Funktion eines Blattes wie der »Deutsche[n] Frau«, das im Übrigen maßgeblich von ehemaligen großdeutschen Aktivistinnen betrieben wurde, eingehen zu können, oder die bedeutende Funktion der nationalsozialistischen Frauenvereine als partiell legales Unterstützungsnetzwerk der illegalen NS-Partei darstellen zu können,35 lässt sich festhalten  : Wenn die »Deutsche Frau« ein Medium war, in dem die illegale NSDAP ausprobierte, was sie unter dem neuen Regime ungestraft sagen konnte, dann lagen explizit antisemitische Positionierungen eindeutig im Rahmen des Sagbaren.

Frauenpropaganda gegen die NSDAP und gegen den Antisemitismus Dieser Befund deutet darauf hin, dass zwar mit der Auflösung der deutschnationalen Parteien und dem Verbot der NSDAP als schärfster Antisemitenpartei der programmatische politische Antisemitismus ein Stück weit zurückgedrängt war, doch der hegemoniale antisemitische Konsens in der Gesellschaft bestand weiterhin. Damit lässt sich im 31 Volk und Staat, in  : Die Deutsche Frau. Österreichische illustrierte Monatsschrift 6/1934. 32 Kromer 1994. 33 Reitter 1934. 34 Lugauer 1934. 35 Ausf. Gehmacher 1998b, 180–190.

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Übrigen erklären, dass auch jene Frauenorganisationen, die Anfang der 1930er Jahre – bis sie durch das autoritäre Regime verboten oder an den Rand gedrängt wurden  –, offensiv gegen die NSDAP auftraten, den nationalsozialistischen Antisemitismus kaum thematisierten. Das gilt für den »Bund Österreichischer Frauenvereine«, der sich von den Wahlerfolgen der NSDAP 1932 entsetzt zeigte, die gravierenden politischen Folgen skizzierte, dabei aber nicht nur das antisemitische Programm der Partei unerwähnt ließ, sondern auch noch bedauerte, dass die (ebenfalls antisemitische) Großdeutsche Volkspartei kein Mandat mehr erringen hatte können.36 Weniger politisch naiv, aber in der Setzung der Gewichte ebenso deutlich ist dies in der Frauenpropaganda der Sozialdemokratinnen, die mit großem Einsatz, u. a. mit einer weit verbreiteten (anonym von Käthe Leichter verfassten) Broschüre propagandistisch gegen die NSDAP auftraten, dabei aber deren antisemitische Programmatik nur am Rande thematisierte.37 Wenn eine maßgebliche Akteurin dieser Propaganda, Käthe Leichter, die jüdischer Herkunft war, sich als sozialistische Politikerin explizit gegen den Nationalsozialismus positionierte und 1942 in der NS-Tötungsanstalt Bernburg ermordet werden sollte38, sich dazu entschied, eine solche Leerstelle bestehen zu lassen, so hat das – dies müssen wir vermuten – wohl etwas damit zu tun, dass sie nicht davon ausging, mit einem Auftreten gegen den Antisemitismus Erfolge gegen die NSDAP erzielen zu können. Vor diesem Hintergrund wird die Ausnahmestellung von Hermynia Zur Mühlens antinationalsozialistischem Werk »Unsere Töchter die Nazinen« erst recht deutlich. Sie hatte sich entschieden, die Frage, warum Frauen der jüngeren Generation in den 1930er Jahren sich der NS-Bewegung anschlossen, mit dem Antisemitismus der Partei in Verbindung zu bringen und formulierte mit ihrem aufrüttelnden Roman nicht nur die These, dass, wer den Nationalsozialismus bekämpfen wolle, auch gegen den Antisemitismus vorgehen müsse, sondern sie war auch davon überzeugt, dass man sich mit der Attraktion, die diese Ideologie für Frauen haben konnte, auseinandersetzen musste. Die aufklärerische Wirkung ihres Romans konnte freilich kaum zum Tragen kommen. In seinem ausführlichen Nachwort zur Neuedition des Buches schildert Jörg Thunecke die Publikationsgeschichte  : Kurz nachdem Zur Mühlens Buch in Wien erschienen war, übergab der deutsche Gesandte in Wien, Franz von Papen, im Dezember 1935 eine Verbalnote im österreichischen Bundeskanzleramt, in der er scharfen Protest gegen das Erscheinen des Werkes einlegte, das Beleidigungen gegen den deutschen Reichskanzler Adolf Hitler und ihn selbst enthalte.39 Er forderte die österreichische Regierung auf, das Buch zu beschlagnahmen und gegen die Verfasse36 Was uns die Wahlen lehren sollen, in  : Die Österreicherin, Mai 1932. 37 Leichter 1932. 38 Hauch 1992  ; Steiner 1997. 39 Thunecke 2000, 148f.

Kontinuitäten der Geschlechterpolitik des Antisemitismus

rin vorzugehen. Nun wollte man sich offenbar nicht so vom deutschen Vertreter maßregeln lassen, gleichwohl aber keinen Konflikt in dieser Angelegenheit riskieren. Und so ließ man in größter Eile ein Gutachten über das Werk erstellen, das zu dem Ergebnis kam, dass Zur Mühlens Roman eine marxistische Tendenz habe und überdies religionsfeindlich sei. »Unsere Töchter, die Nazinen« wurde daher wenige Wochen nach seinem Erscheinen durch die österreichischen Behörden beschlagnahmt und im Februar 1936 auf die Liste der verbotenen Bücher des Regimes gesetzt.40

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legungen, in  : Gehmacher, Johanna/Vittorelli, Natascha (Hg.), Wie Frauenbewegung geschrieben wird. Historiographie, Dokumentation, Stellungnahmen, Bibliographien, Wien 2009, 135–180. Gehmacher, Johanna, »Antisemitismus und die Krise des Geschlechterverhältnisses.« Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 3 (1992) 4, 425–447. Gehmacher, Johanna, Feministische Geschichtsschreibung und die Frage nach Antisemitismus von Frauen, in  : Kohn-Ley, Charlotte/Korotin, Ilse (Hg.), Der feministische »Sündenfall«  ? Antisemitische Vorurteile in der Frauenbewegung, Wien 1994, 131–159. Gehmacher, Johanna, Die Eine und der Andere. Moderner Antisemitismus als Geschlechtergeschichte, in  : Bereswill, Mechthild/Wagner, Leonie (Hg.), Bürgerliche Frauenbewegung und Antisemitismus, Tübingen 1998, 101–120 (= Gehmacher 1998a). Gehmacher, Johanna, Völkische Frauenbewegung. Deutschnationale und nationalsozialistische Geschlechterpolitik in Österreich, Wien 1998 (= Gehmacher 1998b). A. G. Gender Killer (Hg.), Antisemitismus und Geschlecht. Von »effeminierten Juden«, »maskulinisierten Jüdinnen« und anderen Geschlechterbildern, Münster 2005. Hauch, Gabriella, Käthe Leichter, geb. Pick. Spuren eines Frauenlebens, in  : Archiv. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung 8 (1992), 97–123. Hauch, Gabriella, Vom Frauenstandpunkt aus. Frauen im Parlament 1919–1933. Wien 1995. Hauch, Gabriella, Vom Androzentrismus in der Geschichtsschreibung. Geschlecht und Politik im autoritären christlichen Ständestaat/»Austrofaschismus« (1933/34–1938), in  : Wenninger, Florian/Dreidemy, Lucile (Hg.), Das Dollfuss/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien u. a. 2013, 351–379. Kohn-Ley, Charlotte/Korotin, Ilse (Hg.), Der feministische »Sündenfall«  ? Antisemitische Vorurteile in der Frauenbewegung, Wien 1994. Kromer, Karl, Menghin, Oswald, in  : Neue Deutsche Biographie 17 (1994), 75f., http://www. deutsche-biographie.de/pnd116881895.html (30.11.2015). Leichter, Käthe, 100.000 Kinder auf einen Hieb. Die Frau als Zuchtstute im Dritten Reich, Wien 1932. Lugauer, Dr. Martin, Arische Moral – jüdische Moral, in  : Die Deutsche Frau. Österreichische illustrierte Monatsschrift 9 (1934). Mitscherlich, Margarete, Antisemitismus – eine Männerkranheit  ?, in  : Mitscherlich, Margarete, Die friedfertige Frau. Eine psychoanalytische Untersuchung zur Aggression der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1985, 148–160. Die Österreicherin 1932. Österreichische illustrierte Monatsschrift 1934. Omran, Susanne, Frauenbewegung und »Judenfrage«. Diskurse um Rasse und Geschlecht nach 1900, Frankfurt a.M. u. a. 2000. Reitter, Luzie, Rezension zu  : Dr. Oswald Menghin  : Geist und Blut. Grundsätzliches zur Rassen- und Judenfrage, in  : Die Deutsche Frau. Österreichische illustrierte Monatsschrift 8 (1934). Schneider, Dr. Mizzi, Eine Volksgemeinschaftsaufgabe, in  : Deutsche Zeit, 1.6.1923. Simon, Gertrud, Hintertreppen zum Elfenbeinturm. Höhere Mädchenbildung in Österreich  : Anfänge und Entwicklungen. Ein Beitrag zur Historiographie und Systematik der Erziehungswissenschaften, Wien 1994.

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KUNST UND KULTUR

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»… eine Angelegenheit hinter verschlossenen Türen« Zum Antisemitismus im Musikleben zur Zeit des Austrofaschismus Einleitung Will man sich als MusikhistorikerIn dem Thema »Antisemitismus und Musik« in der Zeit des Austrofaschismus nähern, steht man zunächst vor dem Problem, dass dieser Zeitabschnitt in der österreichischen Musikgeschichtsschreibung bis heute eher stiefmütterlich behandelt wurde. Mittlerweile verschwindet diese Ära zwar nicht mehr in einer Epoche »Zwischenkriegszeit«1 oder in einem Kapitel »Erste Republik«. Doch obwohl der austrofaschistischen Kulturpolitik seit etwa einem Jahrzehnt auch in musikhistorischen Abhandlungen deutlich mehr Bedeutung zugemessen wird − vor allem in Diplomarbeiten und Dissertationen bildet sie mitunter eine zentrale Fragestellung −, darf von einer umfassenden Auseinandersetzung nach wie vor nicht gesprochen werden. Daher kann beim momentanen Forschungsstand die Frage nach möglichen antisemitischen Erscheinungsformen im damaligen Musikleben nur in Ansätzen beantwortet werden. Doch damit steht man bereits vor dem nächsten Problem  : Wie äußert sich Antisemitismus in diesem Bereich  ? Sehr schnell lassen sich Beispiele unverhüllter antisemitischer Äußerungen und Angriffe aufzählen, was auch am Beginn dieser Abhandlung exemplarisch gemacht wird. Doch nicht immer traten antijüdische Ressentiments offen zum Vorschein, denn aus wirtschaftlichem Kalkül und politischen Überlegungen gab es Bemühungen, den Schein zu wahren und diesbezüglich zurückhaltend zu sein. Schließlich sind aber auch mahnende Stimmen auszumachen, und nicht nur GegnerInnen des austrofaschistischen Regimes setzten sich für Toleranz ein. Dieser bereits mehrfach beschriebenen ambivalenten Haltung – von einem offen ausgelebten, über einen kaschierten Antisemitismus bis zu deutlichen Gegenpositionen – soll anhand der Frage nachgegangen werden, inwieweit jüdische Musiker und Musikerinnen im Kanon der österreichischen MusikheldInnen akzeptiert wurden. In einem letzten Kapitel wird versucht, versteckte antisemitische Attacken zu enthüllen, die sich vordergründig gegen »unösterreichische« Musik richteten. 1 Als ein Bespiel dafür sei hier die neue Ausgabe der »Österreichischen Musikgeschichte« von 1995 genannt, Flotzinger 1995.

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Viele bedienen sich dabei eines Vokabulars, das bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts mit antisemitischen Äußerungen verknüpft worden war und auch in diesem Sinne verstanden wurde.

Der »kalte Weg« – verdeckter Antisemitismus Die Verfassung vom 1.  Mai 1934 garantierte im Art. 16 allen ÖsterreicherInnen Gleichberechtigung und im Art. 27 die freie Ausübung ihrer Religion.2 Doch diese verfassungsrechtliche Garantie stimmte nicht unbedingt mit der Realität überein. Öffentlich zur Schau getragene antisemitische Haltungen auch von Mitgliedern der Einheitspartei »Vaterländische Front« waren durchaus üblich. Daniel Mähr schildert in seiner Diplomarbeit zum Thema »Antisemitismus und Vaterländische Front« eine Reihe von Provokationen und Angriffen gegen Juden, obwohl auch in dieser Organisation zumindest nach außen hin Zurückhaltung geübt werden sollte. Geahndet wurden derartige Vorfälle meist nur dann, wenn Beschwerden vorlagen. Unter den vielen Beispielen für diese Vorgehensweise ist auch ein antisemitischer Angriff durch Musik dokumentiert  : Eine Gruppe des »Österreichischen Jungvolkes« sang bei ihrem öffentlichen Aufmarsch ein Lied mit der Textpassage »Wenn der Heimwehrmann ins Feld zieht, ja da hat er frohen Mut, und wenn das Judenblut vom Messer spritzt, geht es noch einmal so gut«. 3 Der Gruppenführer wurde offiziell von der Landesregierung von seinem Posten verwiesen, allerdings erst, nachdem erboste Bürger sich beschwert hatten.4 Diese lavierende Haltung zeigt sich auch im Fall des Dirigenten Leopold Reichwein, dessen antisemitische Haltung5 und Sympathien für den Nationalsozialismus6 allgemein bekannt waren. Seiner Karriere in Österreich schadete dies allerdings nur wenig. Nur wenn die öffentliche Kritik zu stark wurde, gab es Konsequenzen, die allerdings eher wie Beschwichtigungsversuche erscheinen. Trotz der Intervention von Seiten der Regierung in den Konzertsaisonen 1934/35 und 1935/36 entschied sich 2 Tálos 2013, 473  ; BGBl. II 1/1934. 3 Zit. n. Mähr 2014, 67. 4 Ebd. 5 Bereits im September 1932 erschien von ihm der Artikel über »Die Juden in der deutschen Musik« im »Völkischen Beobachter«, vgl. Dahm 2007, 327. 6 In einem geheimen Bericht der Bundes-Polizeidirektion wird auf seinen Beitritt zur NSDAP in Deutschland am 1.3.1932 hingewiesen, vgl. Streng vertraulicher Bericht der Bundes-Polizeidirektion, 2.2.1936, Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Unterricht 4.935/36.

Zum Antisemitismus im Musikleben zur Zeit des Austrofaschismus

die Leitung des Wiener Konzerthauses für seinen Verbleib, angeblich aus künstlerischen und wirtschaftlichen Überlegungen. 1935/36 wurden vorsichtshalber drei seiner acht Konzerte gestrichen, da man ansonsten »die schlimmsten Folgen für das Wiener Musikleben« befürchtete.7 Als im Jänner 1936 einige Medien vehement die Beendigung seiner Wiener Tätigkeit verlangten, da die Art seines Auftretens bei Konzerten in Deutschland, insbesondere am 15. Jänner 1936 in München, »nur als eine politische Demonstration gegen Österreich gewertet werden«8 könne, trat Reichwein einen Tag vor dem Fünften Symphoniekonzert am 29.  Jänner 1936 im Wiener Konzerthaus angeblich freiwillig zurück, um eine Eskalierung der Situation zu vermeiden. Doch bereits im Februar des nächsten Jahres dirigierte er in diesem Haus wieder das Erste Symphoniekonzert.9 Der Entwurf einer programmatischen Erklärung der »Vaterländischen Front« gibt einen interessanten Einblick in den damaligen Umgang mit der jüdischen Bevölkerung. Darin wird empfohlen, die »Verdrängung des jüdischen Menschen oder besser gesagt, die Zurückdrängung desselben aus dem politischen und wirtschaftlichen Leben auf dem kalten Wege, für die Öffentlichkeit zunächst unmerklich« umzusetzen.10 Die Politik des »verdeckten Antisemitismus« wurde mit der Rücksichtnahme auf die wirtschaftliche Situation, zur Stärkung des Images einer »politischen Überlegenheit über den deutschen Nachbarn« und zur Entkräftung von Beschwerden über »die Ausschaltung des Judentums«11 begründet. Die Distanzierung vom nationalsozialistischen Deutschland in puncto Antisemitismus bedeutete aber keineswegs ein Umdenken in Österreich, denn ganz offensichtlich gehörten antisemitische Äußerungen auch weiterhin zum Jargon einiger Repräsentanten und Beamten dieses Systems. Nicht alle versuchten, ihre Gesinnung zu kaschieren. In den Akten des Österreichischen Staatsarchivs befindet sich ein Beispiel einer unverhohlen antisemitischen Diskriminierung  : In einem Gutachten auf Grund eines Ansuchens auf Reisekostenzuschuss wird die Antragstellerin als »eine alte, abgetakelte wenig repräsentativ aussehende Person, die außerdem nicht über besondere Stimmmittel verfügt«.12 geschildert. Da am Ende dieser Beurteilung − quasi als Bekräftigung

  7 Ebd., 4.   8 Reichwein-Skandal in Permanenz, in  : Wiener Sonn- und Montags-Zeitung, 27.1.1936, 9.   9 Die Durchsicht der Programme des Konzerthauses zeigt 1936 einen deutlichen Einbruch, ab 1937 wird er − allerdings weniger häufig als 1934/35 – wieder als Dirigent angeführt, vgl. Wiener Konzerthaus 2015  ; Heller 1983, 95. 10 Kriechbaumer 2005, 105. 11 Ebd. 12 ÖStA, AVA, Unterricht UM allg. Akten 3.071.

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des zuvor Gesagten − noch darauf hingewiesen wird, dass es sich um eine Jüdin13 handelt, darf auf eine antisemitische Einstellung des Verfassers geschlossen werden, die zumindest in der internen Kommunikation im Unterrichtsministerium möglich war und vermutlich auch auf Verständnis stieß. Zwar weisen auch einige andere Gutachten einen mitunter rauen Ton auf, eine derartig diffamierende Charakterisierung ist allerdings – zumindest was die musikalischen Gutachten betrifft − nicht die Norm. Einen einmaligen »Ausrutscher« stellt dieser Fall aber sicher nicht dar. Das beweisen die Handlungen des Komponisten und Kulturpolitikers Joseph Rinaldini, dem trotz seiner einflussreichen Positionen während des Austrofaschismus in der österreichischen Musikgeschichtsschreibung bis heute wenig Beachtung geschenkt wird. Am besten beschrieben sind seine Intrigen gegen die Aufführungen der Opern »Jonny spielt auf« und »Karl V.« von Ernst Krenek,14 der sich in seiner Autobiographie entsprechend negativ an seinen ehemaligen Studienkollegen erinnert  :15 »ein großer, schlanker, dunkelhäutiger Bursche mit einem wiederlich vorstehenden Kinn […]. Ich begegnete ihm einmal im Foyer des Musikvereinsgebäudes, als wir beide einen plötzlichen Wolkenbruch abwarteten, und er machte eine beiläufige antisemitische Bemerkung. Damals erschien sie mir ebenso unbedeutend wie geschmacklos. Viele Jahre später mußte ich es zutiefst bedauern, daß ich der Laufbahn dieses Schurken nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hatte.«16 Diese Art der Charakterisierung ist zweifelsohne durch die konfliktreiche Beziehung der beiden Kontrahenten geprägt. Sie eignet sich aber dennoch als Beleg für die judenfeindliche Einstellung, die Rinaldini bereits in jungen Jahren zeigte und die in der Zeit des Austrofaschismus durch seine politische Machtposition konkrete Auswirkungen nach sich zog. Er war Mitglied des Bundeskulturrates und dessen Vertreter im Bundestag, ab 1934 Vorstand der österreichischen Kunststelle, von 1932 bis 1936 Leiter der kulturpolitischen Abteilung des österreichischen Heimatschutzes, 1932 bis 1938 Mitglied des Radiobeirates, Leiter des Arbeitskreises »Musik« (seit 1936 bei der Organisation »Neues Leben«) und Mitglied der Jury für den österreichischen Staatspreis für Musik und des Filmbeirates der Stadt Wien.17 Dieser Aufzählung könnten

13 Ebd. 14 Über die Hintergründe zu Kreneks damaligen Misserfolg wurde bereits mehrmals publiziert, vgl. Maurer-Zenck 1980, 78ff. 15 Beide erhielten bei Franz Schreker Kompositionsunterricht. 16 Krenek 1999, 158. 17 Enderle-Burcel 1991, 154f., 202  ; Martinsich 2003, 4f., 51, 57, 68  ; Schubert 1978, 6  ; Mayer-Hirzberger 2008, 52−54  ; R ausch/Fastl, http://www.musiklexikon.ac.at/ml/musik_R/Rinaldini_Josef.xml (23.12.2017).

Zum Antisemitismus im Musikleben zur Zeit des Austrofaschismus

noch andere Positionen in diversen Gremien musikalischer Institutionen hinzugefügt werden. Während viele Repräsentanten sich damals zumindest von einem »rassistischen« Antisemitismus im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie zu distanzieren versuchten,18 stellte dies für Rinaldini kein Problem dar. Der austrofaschistische Funktionär praktizierte genau das, was dem Nationalsozialisten Reichwein im vertraulichen Bericht der Bundespolizeidirektion vorgeworfen wurde, nämlich Musiker »wegen ihrer jüdischen Stammeszugehörigkeit«19 von der Mitwirkung im Kulturleben auszuschließen. Als Leiter des Musikreferates »Neues Leben« achtete Rinaldini darauf, vor allem »Arier« zu fördern. Das betraf die Besetzung der Redaktion der Zeitschrift »Die Volksmusik« mit »durchwegs arischen Fachleuten«, die Auswahl »arischer Berufsmusiker« bei offiziellen Veranstaltungen sowie die »Förderung arischer Solisten.«20 In einem Bericht des Musikreferates »Neues Leben« weist er stolz darauf hin, dass er trotz »wiederholter Angriffe sehr einflussreicher Stellen« den »rein nationale[n] und arische[n] Standpunkt« durchhalte. Dies betraf nicht nur Musiker und Musikschriftsteller, sondern auch Konzertagenturen. Als Leiter des Musikreferates lehnte er es ab, mit jüdischen Konzertagenturen zu verhandeln  : »Anträge betreffend verbilligten Kartenbezug, die eine jüdische Konzertagentur stellte, wurden nicht angenommen.«21

»… hinter verschlossenen Türen« – jüdische Musiker als österreichische Leitfiguren Um Kritiker zu beruhigen, gab es aus dem Umkreis der Vaterländischen Front den Vorschlag, die »prominentesten Köpfe der österreichischen Judenschaft besonders auszeichnend« zu behandeln und mit »Ehrenstellen« zu versorgen.22 Doch wurden jüdische MusikerInnen tatsächlich als »Ehrenbürger« akzeptiert, war es für sie möglich, in die »Ehrenhallen« der österreichischen Musikgeschichte aufgenommen zu werden  ? Im angeblichen »Land der Musik« galten Musikschaffende der Vergangenheit und Gegenwart schon seit mindestens einem halben Jahrhundert als Leitfiguren für unterschiedliche Ideologien. Ihre klischeehaften Beschreibungen wurden erfolgreich den jeweiligen Bedürfnissen angepasst, sodass dieselben MusikerInnen 18 Vgl. dazu auch Bunzl/Marin 1983, 46f.; Tálos 2013, 473. 19 Siehe den streng vertraulichen Bericht der Bundes-Polizeidirektion (wie Fußnote 6), 4. 20 Bericht  : Arbeitsgebiet des Musikreferates im Büro der Bundesleitung des V.F.-Werkes »Neues Leben«, ÖStA, Archiv der Republik (AdR), Neues Leben, Kt. 37, 09/1 39. 21 Ebd. 22 Kriechbaumer 2005, 105.

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als Beweis für deutsches, österreichisches, deutsch-österreichisches oder europäisches Wesen dienen konnten. Sie galten wechselweise als wahre Vertreter der Monarchie, der Demokratie, des liberalen Bürgertums, der Arbeiterschaft oder des katholischen Volkes. In den vorderen Reihen dieser musikalischen Ehrenhalle standen die längst etablierten Säulenheiligen  : Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Anton Bruckner, Johann Strauß (eher Sohn als Vater). Neben dieser Prominenz auch nur genannt zu werden, hatte Bedeutung. Lebende Komponisten galten dabei als Fortsetzer der großen musikalischen Vergangenheit, Musiker des Mittelalters und der Frühen Neuzeit als Ahnherrn. Im »Ständestaat« dienten die Tonheroen als vorbildliche Vertreter der sogenannten »österreichischen Idee«, wie dies im Vorwort zu einer in diesem Sinne 1935 verfassten Schrift erklärt wird  : Das Buch soll »mit Taten und Menschen vertraut machen, die als ›gut österreichisch‹ anzusehen sind«, und »tausendfältigen Samen der Liebe zur Heimat ausstreuen  !«23 In der jüngeren Musikergeneration hätten sich auch jüdische Komponisten befunden  : Selten wird Arnold Schönberg genannt, noch seltener Carl Goldmark, öfter hingegen Gustav Mahler. Dass der Umgang mit Mahler ein sehr gutes Beispiel für die Beschreibung des Antisemitismus in Österreich dieser Zeit ist, zeigen auch einige Publikationen, die im letzten Jahrzehnt erschienen sind.24 Die Akzeptanz und die Ablehnung dieses Komponisten und seiner Musik spiegelt bei vielen Rezipienten auch deren Haltung zum Judentum wider. Oberflächlich betrachtet scheint Mahler zur Zeit des Austrofaschismus als staatstragend akzeptiert gewesen zu sein  : Als die Gesellschaft der Musikfreunde 1935 die Ausstellung »Großmeister der österreichischen Tonkunst«25 organisierte, repräsentierte er gemeinsam mit Anton Bruckner und Hugo Wolf die jüngste Riege der »großen« österreichischen Komponisten. Der Kulturjournalist und Schönberg-Schüler Alfons Wallis26 reihte ihn in »Österreichs große Musiker« 1935 unter die »zehn bedeutendsten Musiker, die in Österreich schufen«, ein.27 Im Artikel »Österreichische Melodie« des Komponisten und Musikwissenschaftlers Kurt Roger28 fungiert er als 23 Wallis 1935, [4]. 24 Vgl. Scheit/Svoboda 2002  ; Hilmes 2004  ; Glanz 2013  ; Knittel 2010. 25 Vgl. Großmeister der österreichischen Tonkunst 1935. I  : Ältere Meister und Joseph Haydn (von der Zeit der »komponierenden Kaiser« aufwärts bis Joseph Haydn), II  : Mozart und Beethoven, III  : Schubert, IV  : Tanz und Operette, V  : Brahms. 26 1898−1967  ; der Musikkritiker war Schüler von Arnold Schönberg, im amerikanischen Exil Verlagsangestellter und schrieb Partituren für Otto Klemperer und andere  ; vgl. Dubrović 1985, 231. 27 Gluck, Haydn, Mozart, Beethoven, Schubert, Bruckner, Brahms, Wolf, Mahler und Johann Strauß, Wallis 1935, 8. 28 Er war Schüler von Arnold Schönberg und Guido Adler.

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einer der Botschafter Österreichs und steht damit in prominenter Nachbarschaft  : »Haydn, Mozart und Johann Strauß haben zu Lebzeiten, Schubert, Bruckner und Mahler, diese drei Repräsentanten österreichischer Symphonik, bald nach ihrem Tode den Ruf der österreichischen Melodie in alle Welt dringen lassen.«29 Bei patriotischen Konzerten waren auch Mahlers Werke im Programm vertreten. 1936 kam dieser Komponist zu besonderen Ehren, als seines 25. Todestages gedachte wurde. Seine umtriebige Witwe, Alma Mahler-Werfel, war der wesentliche Motor für diese Feierlichkeiten. Geschickt nutzte sie dabei ihre hervorragenden Beziehungen zur Regierungsspitze, wie Kanzler Kurt Schuschnigg, dem Unterrichtsminister Hans Pernter und dem Heimwehrführer Ernst Rüdiger von Starhemberg, die gern gesehene Gäste in ihrem Haus waren.30 Die Anwesenheit prominenter Regierungsmitglieder bei den Feierlichkeiten und Konzerten im April und Mai 1936 gaben diesen Veranstaltungen einen offiziellen Charakter.31 Umgekehrt profitierten davon auch die Politiker. An Mahlers Todestag organisierte Mahler-Werfel einen Festempfang, bei dem nicht nur Vertreter der österreichischen Regierung, die vornehme Wiener Gesellschaft und bekannte KünstlerInnen erschienen, sondern auch eine Reihe ausländischer Gesandter, was dem Ganzen ein internationales Flair verlieh.32 Durch die so zur Schau getragene Ehrung eines jüdischen Komponisten, konnte sich das offizielle Österreich als positiven Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Nachbarn präsentieren33 und das Klischee eines für ganz Europa vorbildlichen multikulturellen und antinationalen Landes bekräftigen. Damit wurde auf ein Mahlerbild zurückgegriffen, das bereits am Beginn der Ersten Republik gezeichnet worden war. Auch damals galt der Komponist als Verkörperung eines multikulturellen, autonomen Österreich und wurde als positiver Gegenentwurf zum ehemaligen Kriegsverbündeten stilisiert. In »Gustav Mahler. Eine Erkenntnis« aus dem Jahr 1919 erklärte ihn Hans Redlich zum »Symbol eines zukünftigen idealeren, geistigeren Österreichs«, weil seine Musik »in geradezu beispielloser Weise von allen geistigen Elementen des gesamt-österreichischen Komplexes durchtränkt«34 wäre – und mehrmals betonte der Autor, dass im Werk Mahlers slawische, jüdische und deutsche Elemente verschmelzen. Redlich verstand seine Beschreibung Mahlers auch als Polemik gegen den »ungeheuren Machthunger des Neudeutschtums«, den er 29 Roger 1937, 12. 30 Vgl. Hilmes 2003, 169  ; Hilmes 2004, 255ff. 31 Hilmes 2003, 190f.; Scheit/Svoboda 2002, 57. 32 Der Empfang war zu Ehren Bruno Walters gegeben worden, den Alma Mahler-Werfel an sich nicht besonders schätzte, vgl.: Hilmes 2004, 281−285. 33 Vgl. Hilmes 2003, 214ff. 34 Redlich 1919 33.

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in Richard Wagner symbolisiert sah  : Der »musikalische Mythos« Wagner sei vorbei, die Zeit des österreichischen Mahler angebrochen.35 Damit stilisierte Redlich den Komponisten zu einem Gegenbild eines deutsch-nationalen Narrativs, in dem Mahler als Prototyp des schädlichen jüdischen Einflusses auf die deutsche Musik beschrieben wurde.36 Beim Mahlerfest 1920 in Amsterdam stand der Komponist schließlich für eine neue, friedliche europäische Gemeinschaftskultur. Felix Salten stellte dort in seinem Referat klar, dass die Wiener multikulturelle Atmosphäre der beste Ort für Musiker und für den Aufbau dieser gemeinsamen Kultur sei  : Wien »war von jeher ein Uebergang von Sprache zu Sprache, von Geschichte zu Geschichte, von Rasse zu Rasse. Ihre Arbeit war von jeher ein Ringen nach Einheit im Vielfachen«.37 Der Literat und Feuilletonist der »Presse« Raoul Auernheimer, ein eifriger Vertreter dieses Österreichgedankens, beschrieb diesen Kreis der Mahlerverehrer in seinen Memoiren allerdings als eine kleine exklusive Gruppe, der viele jüdische Literaten und Intellektuelle angehörten.38 Mit dieser Art des »kosmopolitischen« Österreichbildes konnten sich Juden nicht nur besser identifizieren, sondern auch als Mitgestalter einer idealisierten universalen Kultur verstehen. Diese Vorstellung von Österreich bekam allerdings am Beginn der Ersten Republik den Ruf des Reaktionären und tauchte verstärkt erst wieder in den 1930er Jahren auf, erneut als Gegenentwurf zum nationalen und ab 1933 zum nationalsozialistischen Deutschland. Vermutlich waren einige Zeitgenossen tatsächlich überzeugt, im »Ständestaat« das geeignete Ambiente zur Realisierung einer übernationalen Kultur vorzufinden, oder sie versuchten zumindest, diese Idee hochzuhalten, wie Ernst Karl Winter, der in seinen »Wiener politischen Blättern« auf die Bedeutung des »positiven Anteil[s] des Judentums« auf die Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts hinwies, ohne den die Österreichische Kultur »nicht denkbar«39 wäre. Zu diesen »Idealisten« zählte auch der Komponist Ernst Krenek, der zunächst versuchte, sich in die damalige Kulturpolitik einzubringen. Er hoffte unter diesem Regime auf die Realisierung seiner Vorstellung einer »Universalität der Kultur«,40 wurde allerdings sehr schnell von der Realität eingeholt. Wie im Buch »Feindbild Gustav Mahler« von Scheit/Svoboda beschrieben wird, träumte Krenek noch 1941 im Amerikanischen Exil von diesem universellen Österreich, und Gustav Mahler war für ihn noch immer ein idealer Repräsentant dafür.41 35 Ebd., 6. 36 Dahm 2007, 185. 37 Salten 1920, 3. 38 Auernheimer 1948. 39 Winter 1936, 199. 40 Krenek 1931, 5. 41 Scheit/Svoboda 2002, 120f.

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Die Gruppe dieser Mahler-Verehrer blieb auch im Austrofaschismus klein, was in der deutsch-nationalen Zeitschrift »Augarten« noch vor dem Anschluss mit einem deutlich antisemitischen Ton sarkastisch bemerkt wurde  : Erfreut stellte der Autor fest, dass die Konzertprogramme im November und Dezember 1937 keineswegs mehr eine »Ueberfremdung aufweisen, wie dies vor nicht allzulanger Zeit der Fall war. Im Gegenteil. Die großen österreichischen Symphoniekonzerte […] bringen so gut wie ausschließlich beste deutsche Musik. […] Und wenn auch z. B. ein Dirigent mit Namen Blatt einen Abend mit Gustav Mahler ausfüllt, so ist das schließlich eine Angelegenheit hinter verschlossenen Türen, die niemandem wehe tut.«42 Der Verantwortliche für den Bereich »Musik« in dieser Zeitschrift war Max von Millenkovich-Morold. Er ist unter den damaligen Musikschriftstellern sicher zu den extrem deutsch-national und antisemitisch eingestellten zu rechnen. Seine Sympathie für den Nationalsozialismus war kein Geheimnis.43 Dieser Beamte, Kulturjournalist und 1917 Kurzzeitdirektor des Burgtheaters hatte schon seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert nachzuweisen versucht, dass österreichische kulturelle Leistungen als Teil der deutschen Kultur zu sehen seien. Mahler spielte in seinen Abhandlungen seit jeher, wenn überhaupt, nur eine marginale Rolle. In der 84-seitigen Abhandlung »Die österreichische Tonkunst« von 1918 widmete Millenkovich-Morold dem Komponisten gerade vier Zeilen und beschrieb seine Musik als »verworren« und »verstiegen«.44 Diese Meinung über Mahler vertrat er auch zur Zeit des Austrofaschismus, ohne auf größeren Widerstand zu stoßen. Die Idealisierung Mahlers als Gipfel des deutschen oder österreichischen Musikschaffens einerseits sowie die völlige Ablehnung desselben Komponisten andererseits sind die Extreme der Mahler-Rezeption. Wesentlich häufiger werden Mahler und seine Musik ignoriert oder »verharmlost«. In den meisten Schriften zwischen 1933 und 1938, die vorbildliche österreichische Musiker aufzählten, blieb Mahler einfach unerwähnt oder wurde höchstens als Dirigent genannt, was ein Blick in Lehrbücher für das verpflichtende Unterrichtsfach »Vaterlandskunde« bestätigt. Für Heribert Nagler repräsentierten Franz Liszt, Anton Bruckner, Johannes Brahms, Hugo Wolf und auch Richard Strauss die Zeit Kaiser Franz Josephs, nicht aber Gustav Mahler.45 Verglichen mit dem Bemühen, aus dem 42 A. C. H., Zehn Wochen ernste Musik in Wien, in  : Augarten 1938, 73f. 43 Nach eigenen Angaben gehörte er seit 1932 der NSDAP an, war ab 1930 Wiener Korrespondent des Völkischen Beobachters und ab 1931 Vorstandsmitglied in der österreichischen Landesleitung des antisemitisch und völkisch eingestellten »Kampfbundes für deutsche Kultur«, vgl. Prieberg 2004, 4633f. 44 Millenkovich-Morold 1918, 460. 45 Nagler 1938, 169.

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Bayern Strauss einen Österreicher zu machen, kommt Mahler insgesamt schlecht weg. Alfons Wallis setzte Strauss sogar in seiner Funktion als Dirigent vor Mahler  : »Strauß [sic  !] nahm zwar vielleicht an grundsätzlichen und Alltagsfragen des Betriebes weniger Anteil als seinerzeit Mahler, aber schon der Dirigent Strauß [sic  !] bedeutete Größe und Glanz. So hatte Österreich geraume Zeit Anteil an der Person des bedeutendsten zeitgenössischen Musikers«.46

Mendelssohn ist nicht »artfremd« – die österreichische Variante des Antisemitismus Eine damals sehr häufig anzutreffende Variante des Antisemitismus zeigt sich in einer Diskussion um geeignete »Unterhaltungskonzerte« im Rahmen der »Vaterländischen Front«  – Organisation »Neues Leben«. Der Komponist und Dirigent Anton Konrath47 empfahl dafür neben Werken von Mozart und Schubert auch die Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy als geeignet und »ungefährlich«  : »Ich erkläre ihn nicht als artfremd. Artfremd nenne ich den, der aus rassischen Urgefühlen sich in eine andere Art nicht hinein finden kann, niemals die Kunst pflegen kann, die dem Volksganzen entspricht. Mendelssohn hat den romantischen Geist des deutschen Volkes erfasst. Wir begnügen uns damit, dass wir wissen, was dem österreichischen Volk geziemt.«48 Mit dieser Verteidigung des jüdischen Komponisten Mendelssohn vertrat Konrath eine Variante des Antisemitismus, die schon länger im Musikschrifttum praktiziert wurde. Hans Pfitzner schrieb in seiner polemischen Abrechnung mit dem jüdischen Autor Paul Bekker49 und seiner Schrift »Die Sinfonie von Beethoven bis Mahler« von 1918  : »Es ist ein Unterschied zwischen Jude und Judentum. Der Grenzstrich der Scheidung in Deutschland geht nicht zwischen Jude und Nichtjude, sondern zwischen deutsch−national empfindend und international empfindend.«50 Jüdische Musiker, deren Musik als einwandfrei »österreichisch« oder »deutsch« akzeptiert wurde, stießen zur Zeit des Austrofaschismus meist auf wenig Widerstand. Edmund Eysler und Oscar Straus vertraten 1935 bei dem Festspiel »Wien bleibt Wien«, das am 16. Juni 1935 im Rahmen der Wiener Festwochen aufgeführt wurde, 46 Wallis 1935, 12. 47 Konrath wird 1936 als Zuständiger für den Teilbereich »Dirigenten« im Arbeitskreis Musik des Kulturreferates der Vaterländischen Front genannt, vgl.: Mayer-Hirzberger 2008, 53. 48 Protokoll einer Diskussion über Volksmusik, ÖStA, AdR, BKA-I Parteiarchive VF VFw Neues Leben 37. 49 Vgl. Dahm 2007, 192. 50 Pfitzner 1920, 124.

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neben Franz Lehár die Generation der neuen österreichischen Operette und gehörten damit zum Symbol der Musikstadt Wien. Einer der Höhepunkte bei diesem Spektakel bildete das »Fiakerlied« des (1921 verstorbenen) jüdischen Wienerliedkomponisten Gustav Pick. In der Festschrift wurde der vollständige Text dieses Liedes neben einem Portrait seines Schöpfers abgedruckt.51 Pick war zum Inbegriff des Wienertums geworden. Als im Jänner 1938 der Nachlass seines Sohnes versteigert wurde, schrieb das »Neue Wiener Tagblatt« von einer »der wienerischesten Auktion, die Wien je gesehen hat«. Die Auktionsleitung bedauerte das »Zerflattern dieser Sammlung« und bat die Käufer eindringlich, die Objekte als ein unwiederbringliches »Andenken an das alte Wien« in Ehren zu halten. Zur Einstimmung wurde eine Aufnahme des Fiakerliedes mit Alexander Girardi wiedergegeben, was laut Zeitungsbericht entsprechende Wirkung zeigte  : »Viele ältere Wiener, Frauen und Männer, weinten dabei heimlich.«52 Wie stark die Forderung des Volkstümlich-Bodenständigen als Grundlage für österreichische Kultur akzeptiert war, kann auch bei den Versuchen gesehen werden, die Musik Mahlers in diesem Sinne zu erklären. Auch diese Interpretation hatte Tradition  : Guido Adler betonte in seiner Mahlerbiographie von 1916, dass »Mahlers Melodik auf dem Boden der heimatlichen Volksmusik erwachsen ist.« Wie Konrath bei Mendelssohn strich auch Adler bei Mahler dessen Einfühlungsvermögen in die deutsche Kultur heraus  : »Wer zudem Wagner, Beethoven, Mozart, Lortzing u. a. so stilrein aufführte wie Mahler, und dies zumeist ohne äußere Vorbilder, sondern aus sich heraus, aus Intuition, der ist ein wahrer deutscher Künstler, der wie jeder universale Meister die Fähigkeit besaß, sich auch in andere Stilrichtungen einzuleben.«53 1936 argumentierte der als Mahlerdirigent anerkannte Bruno Walter in ähnlicher Weise und nannte »ursprüngliches Musikantentum«54 und den deutlich vernehmbaren »österreichische[n] Dialekt« als die wesentlichen Elemente seiner Musik  : »Als er dann ›Des Knaben Wunderhorn‹ kennenlernte, muß ihm gewesen sein, als entdecke er seine Heimat.«55 Ähnlich klingt die Interpretation bei Alfons Wallis. So wie er die Qualität der Musik Bruckners durch die durchklingenden »Bauernweisen« bestätigt sah, erklärte er für Mahler »die Militärmusik und das Volkslied« als wesentliches Kriterium.56 Dass Mahler bei einer derartig eingeengten Sichtweise ins Hintertreffen kam, ist naheliegend. Für Wallis ist daher auch nicht Mahler, sondern Franz Schmidt der Pro51 50 Jahre Wiener Musik 1935, 17ff. 52 Alt-Wiener Andenken werden versteigert, in  : Neues Wiener Tagblatt, 15.1.1938, 5. 53 Adler 1916, 55. 54 Walter 1936, 24. 55 Ebd., 25. 56 Wallis 1935, 8.

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totyp der jüngeren österreichischen Symphonik, der in der Tradition »der Größen« des 19. Jahrhunderts steht  : In seinen Werken würden Bruckner und Brahms einander gleichsam die Hand reichen.57

»In welchem Lager ist Österreich«  ? Diskussionen um »österreichische Musik« Mit der Bevorzugung einer Musik, als deren wesentliches Qualitätsmerkmal die Verbundenheit mit Volkstum und Tradition gesehen wurde, kam man den Vorstellungen der nationalsozialistischen Kulturpolitik sehr nahe, obwohl stets betont wurde, sich von ihr distanzieren zu wollen. Bereits 1934 deckte Krenek diese Widersprüchlichkeit auf. Er kritisierte die tendenziöse Programmgestaltung der RAVAG, die genau jene Musik ignoriere, die auch in Deutschland verboten war, und er warf der Regierung ein falsches Spiel vor, denn ein Staat, der »allen positiven Kräften Entfaltung garantiert«, wodurch er sich »vom totalitären Staat der mechanischen Gleichschaltung wesentlich unterscheidet«,58 könne nicht diese Einseitigkeit zulassen. Aber es wären eben die »Rinaldinis«, die das damalige Musikleben beherrschten.59 Diese »Rinaldinis« verhinderten nicht nur die Aufführung von ihrer Meinung nach »unösterreichischer« Musik, sondern diffamierten sie in einem Jargon, der schon in der Zwischenkriegszeit eine Nähe zum Antisemitismus aufweisen konnte. »Degeneration«, »Entartung«, »Artfremdheit«, »Kulturbolschewismus« oder »Musikkulturkampf« wurde dabei einerseits mit Einflüssen des »revolutionären« Ostens, andererseits mit einem westlichen Kapitalismus, der mit einem von Juden dominierten Bankenwesen verbunden wurde, erklärt. 60 In der jüdischen Zeitung »Die Stimme« wurde darauf hingewiesen, dass sich hinter Ausdrücken wie »artfremd« eine antisemitische Haltung verstecken konnte  : »Wenn ein Antisemit den Kulturmenschen mimt, dann tut er dies, indem er ängstlich dem Worte ›Jud‹ ausweicht und lieber von ›Artfremdheit‹ spricht. Das bringt auch in ein so rüdes Hetzblatt wie das ›Deutsche Volksblatt‹ eine vornehm wirkende Nuance.«61 Ein frühes Beispiel für die Verflechtung der Denkfigur »Musikbolschewismus« mit antisemitischen Elementen ist die Schrift Hans Pfitzners »Die neue Ästhetik der mu57 Ebd., 11. 58 Krenek 1934, 20. 59 Krenek 1999, 891. 60 John 1994, 67. 61 SP. H., Volksnahe und artfremde Kunst, in  : Die Stimme, 6.1.1938, 3f.

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sikalischen Impotenz« aus dem Jahr 1919.62 Darin wird der Begriff als »jüdisch-internationaler Geist« interpretiert, »der dem Deutschen den ihm ganz fremden Wahnsinn des Niederreißens und Zertrümmerns einpflanzt.«63 Die Kritik Pfitzners richtete sich gegen neue Strömungen in der Musik, die er von einem »jüdischen Internationalismus« beeinflusst sah. In Umkehrung zu dem oben zitierten Ausspruch von Konrath, dass ein jüdischer Musiker nicht »artfremd« sei, wenn er »den Geist eines Volkes« erfasse, können nach Pfitzner auch nichtjüdische Musiker als »artfremd« verstanden werden, wenn sie durch »gefährliche« Einflüsse das Gespür für diesen »Geist« verloren hätten. Auch im austrofaschistischen Österreich fand dieser Sprechstil Eingang in Beschreibungen des zeitgenössischen Kunstschaffens. Hauptangriffsziel war der Kreis um Arnold Schönberg, dessen Musik als »artfremd«, daher »unösterreichisch«, bedrohlich und zerstörerisch beschrieben wurde. Roland Tenschert sprach − ähnlich wie Pfitzner fast drei Jahrzehnte zuvor − vom »Trümmerfeld« der atonalen Musik, mit dem sich die künftigen musikalischen Hoffnungsträger Österreichs auseinandersetzen müssten.64 Aber auch Formen der Unterhaltungsmusik, unter dem Begriff »Jazz« subsumiert, wurden in ähnlicher Weise diskreditiert. Der Kulturreferent der Bezirksstelle Ottakring, Stanislaus Koci, bezeichnete Jazz als eine »krankhafte Erscheinung der damaligen Zeit«65, vergleichbar mit futuristischen und expressionistischen Werken der Bildenden Kunst. In Diskussionen über ein geeignetes Rundfunkprogramm wurde sogar der Wunsch laut, das Senden von »Jazz- und Schlagermusik« zu verbieten.66 Sogar Ernst Krenek gab im Bereich der Unterhaltungsmusik seinen Kontrahenten recht  : »Mit vollem Recht verwahrt man sich gegen die Exzesse der sogenannten ›Asphaltkunst‹ und lehnt ein naseweises Libertinertum ab«.67 Wiederum zeigt sich die zuvor angesprochene Widersprüchlichkeit im Austrofaschismus  : Für einige galt »Kosmopolitismus« als typisch österreichisch und positiv − bei Krenek68 sogar als grundlegend für kulturelle Großleistungen −, für andere war »Internationalismus« eindeutig negativ konnotiert. Im letzteren Sinn wäre etwa die Interpretation der Kirchenmusik von Franz Liszt durch Joseph Messner zu sehen, für den die Einflüsse von »auswärts« als problematisch galten.69 Willi Reich wies 62 John 2004, 107. 63 Ebd. 64 Tenschert 1936, 5. 65 Protokoll einer Diskussion über Volksmusik (wie Fußnote 48). 66 Schubert 1978, 219f. 67 Krenek 1935, 521. 68 Krenek 1931, 3. 69 Messner 1935, 89.

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1935 auf diese Divergenz hin und verteidigte die als »Kulturbolschewiken« gebrandmarkten und daher bei Lehrstellen, Ehrenämtern und größeren Aufführungen benachteiligten Komponisten Anton von Webern, Alban Berg und Ernst Krenek mit einem Zitat von Engelbert Dollfuß  : »Für uns Oesterreicher war der Universalismus seit jeher eine vertraute Vorstellung. Kraft seiner geographischen Lage im Herzraum Europas war Oesterreich das Los beschieden, als Werkzeug der Annäherung zwischen den Völkern des Donaubeckens zu wirken. Oesterreich hat diese Sendung erfolgreich erfüllt. Oesterreichs Pflicht ist es, seiner geschichtlichen Mission treu zu bleiben, nicht nur im eigenen Interesse und im Interesse des deutschen Volkes, sondern auch im Interesse Europas.«70 Die Vorstellung einer kosmopolitischen Kultur blieb allerdings ein Minderheitenprogramm. Die »Richtlinien zur Führerausbildung«71 der »Vaterländischen Front« warnten vor zu freien kulturellen Strömungen, die zur »Entartung der Kunst« führten  : »Die österreichischen Sturmscharen erwarteten vom Staat, dass er einer ›Asphaltliteratur‹, einem Salonbolschewikentum, einer gegenwartsfremden L’art-pour-l’artKunst, in der sittliche Ungebundenheit und religionsferne Haltung gepredigt wird, zumindest jede Förderung versagen muß.«72 Die Zeitschrift »Der Augarten« hatte schon 1935 klar gemacht, was von einem derartigen Gedankengut zu halten sei. Bei dem »Internationalen Schriftstellerkongresses in Paris« sah der anonyme Berichterstatter nur Kulturbolschewisten und Nestbeschmutzer vertreten, und er stellte klar, dass diese »›übervölkischen‹ Literaten, die angeblich die ›Kultur verteidigen‹ wollen, […] in Wahrheit die ärgste Gefahr für jede wahre Kultur« sind.73 Die Österreichidee einer pluralistischen Gesellschaft wurde so ad absurdum geführt. Sie diente höchstens als Feigenblatt, um diese Staatsform – vor allem im Ausland – als positiven »humanen« Gegenentwurf zum nationalsozialistischen Deutschland präsentieren zu können. 1933 wurde in der Zeitschrift »23« freilich die ignorante Haltung gegenüber den vom nationalsozialistischen Deutschland verfolgten KünstlerInnen kritisiert  : Wenn Österreich sich tatsächlich als positives Gegenbild zum Nationalsozialismus verstünde, hätte man sich für sie einsetzten müssen. »In Wirklichkeit ist aber gerade das Gegenteil geschehen.«74

70 Reich 1935, 1133. 71 Vaterländische Front Bundespropagandaausbildung 1938. 72 Um Oesterreichs Kultursendung, in  : Sturm über Österreich, Jg. 3/9 (1935), 24. 73 Internationaler Schriftstellerkongress, in  : Augarten 10/11 (1935), 206. 74 In welchem Lager ist Österreich, in  : 23. Eine Wiener Musikzeitschrift 13 (1933), 10−12, hier 10  ; vgl. auch Mayer-Hirzberger 2008, 255.

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Literatur und gedruckte Quellen 50 Jahre Wiener Musik, Festschrift herausgegeben anlässlich der Veranstaltung »Wien bleibt Wien«, 16. Juni 1935, Stadion, o.O. 1935. Adler, Guido, Gustav Mahler, Wien 21916. Auernheimer, Raoul, Das Wirtshaus zur verlorenen Zeit  : Erlebnisse und Bekenntnisse, Wien 1948. Augarten 1935, 1938. Bunzl, John/Marin, Bernd, Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien (Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit 3), Innsbruck 1983. Dahm, Annkatrin, Der Topos der Juden  : Studien zur Geschichte des Antisemitismus im deutschsprachigen Musikschrifttum, Göttingen 2007. Dubrović, Milan, Veruntreute Geschichte  : Die Wiener Salons und Literatencafes, Wien 1985. Enderle-Burcel, Gertrude, Christlich-Ständisch-Autoritär, Mandatare im Ständestaat, Wien 1991. Flotzinger, Rudolf/Gruber, Gernot (Hg.), Musikgeschichte Österreichs, Wien 1995. Glanz, Christian, Der bedrängte Anwalt  : Zu Bruno Walters Mahler-Verkündigung im Kontext der österreichischen Zeitgeschichte, in  : Staudinger, Michael (Hg.), Bruno Walter  : internationales Symposium, Universität für Musik und Darstellende Kunst Wien, 12. Dezember 2012, Wien 2013, 23–32. Großmeister der österreichischen Tonkunst. Führer durch die Ausstellung im Museum der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Wien [1935]. Heller, Friedrich C., Von der Arbeiterkultur zur Theatersperre, in  : Heller, Friedrich C./Revers, Peter (Hg.), Das Wiener Konzerthaus  : Geschichte und Bedeutung 1913−1983, Wien 1983, 87−110. Hilmes, Oliver, Im Fadenkreuz  : Politische Gustav-Mahler-Rezeption 1919−1945. Eine Studie über den Zusammenhang von Antisemitismus und Kritik an der Moderne (Europäische Hochschulschriften, Reihe III 958), Frankfurt a.M. u. a. 2003. Hilmes, Oliver, Witwe im Wahn  : Das Leben der Alma Mahler-Werfel, München 2004. John, Eckhard, Musikbolschewismus  : Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918 bis 1938, Stuttgart u. a. 1994. John, Eckhard, Wer hat Angst vor »jüdischer Musik«  ? Die Politisierung der Musik im Zeichen des Antisemitismus, in  : Eckhard, John/Zimmermann, Heidy (Hg.), Jüdische Musik  ? Fremdbilder – Eigenbilder, Köln u. a. 2004, 101−118. Knittel, K[ay] M., Seeing Mahler  : music and the language of antisemitism in fin-de-siècle Vienna, Farnham u. a. 2010. Krenek, Ernst, Im Atem der Zeit. Erinnerung an die Moderne. Aus dem Amerikanischen von Friedrich Saathen, revidierte Übersetzung von Sabine Schulte, München 1999. Krenek, Ernst, Ravag-Sendung und österreichische Sendung, in  : 23. Eine Wiener Musikzeitschrift 15/16 (25.10.1934), 18−24. Krenek, Ernst, Von der Aufgabe ein Österreicher zu sein, in  : Die Freyung 2/2 (1931), 1−10.

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Zum Antisemitismus im Musikleben zur Zeit des Austrofaschismus

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In seiner programmatischen »Trabrennplatzrede« vom 11.  September 1933 hatte Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, nach der Ausschaltung des Parlaments mit Notverordnungen aufgrund des Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes von 1917 regierend, den »sozialen, christlichen, deutschen Staat Österreich auf ständischer Grundlage, unter starker autoritärer Führung« verkündet. Die Aufgabe sei, »die Fehler der letzten 150 Jahre unserer Geistesgeschichte gutzumachen«.1 Wenigstens den Anschluss an Hitlerdeutschland fasste Dollfuss nicht ins Auge  : Er und der »Ständestaat« wurden für die damals mehrheitlich linksgerichteten und liberal orientierten österreichischen Juden zum sozusagen kleineren Übel. Es gibt keine bessere Charakteristik dieser vertrackten Situation als das »Minidrama«, wie man heute sagen würde, »Der treueste Bürger von Bagdad«2 von Jura Soyfer (1912–1939). In dem Stück begibt sich der gütige Kalif Harun Al Raschid als ärmlicher Eseltreiber verkleidet in die Straßen von Bagdad, um das Leben seiner Untertanen zu erkunden. Er trifft auf Geschäftsleute, die in derben Worten ihr Unglück beklagen, aber auch auf einen, der Ruben heißt und seine Worte mit größter Vorsicht wählt. Auf die Frage, ob er glücklich sei, antwortet er  : »Warum soll ich glücklich sein  ? Und aber wahrlich  : Warum soll ich unglücklich sein  ? Muß man heutzutage nicht froh sein, daß man lebt  ?« Während die Anderen kein gutes Haar am Staat des Kalifen lassen und diesen sogar entmannt wissen wollen, um die Kosten für seinen Harem zu sparen, will sich Ruben in den Streit nicht einmischen, denn er sei »erst kürzlich zugereist«, und so stehe es ihm nicht zu, sich »unliebsam bemerkbar zu machen«. Und der Kalif, entzückt über diesen »treuesten Bürger von Bagdad«, stellt ihm Steuernachlass als Belohnung in Aussicht. Nun aber kommt heraus, dass Ruben nicht »Ismaelit« (zwar kein Sunnit, aber immerhin schiitischer Muslim, eine Anspielung Soyfers auf die Stellung des Protestantismus im katholischen Österreich), sondern »Israelit« ist. Nun wird dem Kalifen sein »penibel langes Zusammensein« mit einem Juden lästig. Er befiehlt Ruben, »Nieder mit Harun  !« zu rufen, damit die Wache ihn zur Bastonade schleife und die Sache aus der Welt geschafft sei. Dasselbe geschähe, wenn sich Ruben dem An1 Zit. n. Berchtold 1967, 430, 433. 2 Hier wiedergegeben bzw. in der Folge zit. n. Soyfer 1980, 524–529.

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sinnen des Kalifen widersetze. Die Szene schließt mit einem Einwurf der Erzählerin Scheherezade  : »Da sagte Ruben, der Händler, und seine Worte stockten vor Gram, der finster war mit bitter gemischt … Ruben  : Schwer … Harun  : Was ist schwer  ? Ruben  : Schwer zu sein ein Kalif …« Natürlich wäre »Schwer zu sein ein Jud« an dieser Stelle zu erwarten gewesen, doch Ruben zeigt auch in schwieriger Lage Verständnis für die Probleme seines Herrschers. Wie im biblischen Buch Esther sind die vom bösen Haman-Hitler bedrohten Juden Österreichs auf das Wohlwollen des Königs-Bundeskanzlers angewiesen. Die Satire scheint sich gegen das staatsfromme Verhalten österreichischer Juden zu richten, zugleich aber wird an den sich christlich gebärdenden Antisemitismus des »Ständestaates« erinnert. Charakteristisch dafür war schon ein Hirtenbrief des Linzer Bischofs Johann Maria Gföllner vom 21. Jänner1933, in dem er sich gegen die »Irrlehren« des Nationalsozialismus (vor allem dessen Leugnung der einheitlichen Abstammung des Menschengeschlechts) verwahrte und zugleich gegen das »entartete Judentum« vom Leder zog, das »im Bunde mit der Weltfreimaurerei […] auch vorwiegend Träger des mammonistischen Kapitalismus und vorwiegend Begründer und Apostel des Sozialismus und Kommunismus« sei.3 Der Antisemitismus des »Ständestaates« war kein offizieller, auch wenn ein Emmerich Czermak, letzter Vorsitzender der 1934 sich selbst auflösenden christlichsozialen Partei, »Ordnung in der Judenfrage« schaffen wollte und 1933 schrieb  : »Die Tatsachen verpflichten uns festzustellen, daß der Nutzen, den die Juden dem christlichen Volk gebracht, verschwindend klein ist gegenüber den unermeßlichen Schäden«.4 Hier fällt bereits ein zeittypischer Grundzug des Antisemitismus auf  : Das antisemitische Ressentiment wird an den Staat delegiert, er soll »Ordnung« in die »Judenfrage« bringen. Mentalitätsgeschichtlich knüpft dies an die jahrhundertelange Stellung der Juden im Sacrum Imperium als Knechte der kaiserlichen Kammer an – es ist Sache des Fürsten, sie zu dulden, des Landes zu verweisen oder gar zu ermorden, wie es z. B. der vielgerühmte luxemburgische Kaiser Karl IV. 1349 in Nürnberg buchstäblich in Kauf nahm, während der habsburgische Kaiser Matthias den Anführer eines Juden-Pogroms in Frankfurt am Main 1616 vierteilen ließ. Emmerich Tálos belegt den langsam vorrückenden, lavierenden Antisemitismus des »Ständestaates« in seinem Standardwerk über das »austrofaschistische Herrschafts3 Zit. n. Fried 1947, 178f. 4 Zit. n. Aspetsberger 1980, 39.

»Ständestaat« und Antisemitismus in der Literatur

system« mit den wiederholten Forderungen von Funktionären der »Vaterländischen Front«, endlich den Arierparagraphen einzuführen.5 Hätte dieser Staat als Verbündeter Hitlers und Mussolinis weiter existiert, wäre die Einführung antisemitischer Gesetze nach den Vorbildern Ungarns oder Italiens absehbar gewesen.6 Ganz auf der Linie Emmerich Czermaks lag die Beschwerde, die ein Walther Martinek in der Literaturzeitschrift »Der Augarten« erhob  : Echte Dichter würden Not leiden, weil sie von den »literarischen Strauchrittern und Sudelfinken in der schamlosesten Weise in Zeitungen und Zeitschriften verunglimpft« würden. Und  : »Da muß die Regierung einschreiten und diesem Gelichter das Handwerk legen.«7 Friedbert Aspetsberger, der Martinek in seinem Standardwerk über »Literarisches Leben im Austrofaschismus« zitiert, meint dazu, Martineks Geschreibsel zeuge »von extremer geistiger Provinz, die sich immer gegen andere abgrenzt«.8 Mir scheint hier eine falsche Spur gelegt. So selbstverständlich scheint uns Provinz heute nicht mehr als Inbegriff von Rückständigkeit und feindseliger Abschottung. Aspetsbergers nicht weiter begründete Einschätzung resultiert zum einen aus einer in der Germanistik verbreiteten, zum locus communis gewordenen Auffassung der Provinzkunstbewegung der Jahrhundertwende, aus der sich dann eine zunehmend zivilisationskritische Heimatliteratur und schließlich die mit dem Nationalsozialismus kompatible völkisch-nationale Literatur entwickelt hätten. So schrieb der Salzburger Germanist Karlheinz Rossbacher 1977  : »Die Gleichsetzung von Demokratie und Großstadt gehört zu den […] Merkmalen der provinzkünstlerischen Tradition. Sie richtet sich […] gegen die Sozialdemokratie […] gegen die großbürgerlichen Börsenviertel, gegen Naturalismus und Expressionismus«.9 Ein anderes, ein wenig differenzierteres Bild der Anfänge der Provinzkunstbewegung zeichnet der Innsbrucker Germanist Johann Holzner in seinem Buch über Franz Kranewitter.10  Zum anderen entspringt Aspetsbergers Perhorreszierung des Provinzialismus wohl aus dem Modernisierungs-Diskurs der 1970er Jahre, der in rückwärtsgewandter Prophetie die Entstehung eines neuen Antisemitismus und das Aufkommen völkisch-na  5 Vgl. Tálos 2013, 470–490.   6 In Ungarn existierte zwar von 1920 bis 1928 ein diskriminierender Numerus clausus für jüdische Studierende, das erste »Judengesetz«, dem dann immer neue Verschärfungen folgten, wurde aber erst am 24.5.1938, also nach dem »Anschluss« Österreichs, erlassen, vgl. Moser (2006), 34. – Das Gesetzesdekret der italienischen Regierung zum »Schutz der italienischen Rasse«, das die Verfolgung der Juden eröffnete, wurde am 17.11.1938 verlautbart.   7 Zit. n. Aspetsberger 1980, 37f.   8 Ebd., 38f.  9 Rossbacher 1977, 94. 10 Vgl. Holzner 1985.

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tionaler politischer Strömungen in den Kontext einer Modernisierungskrise um die Jahrhundertwende stellte. Es ist überhaupt problematisch, jene periodischen Schwankungen und Brüche, denen die gesellschaftliche Arbeitsteilung ausgesetzt ist (sowohl in ihren quantitativen Verhältnissen als auch in qualitativer Hinsicht), als Modernisierungskrisen zu apostrophieren. Krisenhaft verlaufen sie wohl, doch haben sie ihre Ursachen und werden nicht durch ein in der Zukunft liegendes Ziel hervorgerufen. Das Auffälligste an der Forderung des von Aspetsberger zitierten Walter Martinek ist aber nicht ihr »Provinzialismus«, sondern das unschwer zu erkennende antisemitische Grundmotiv. Denn mit den »Strauchrittern und Sudelfinken« sind in allererster Linie jüdische Journalisten und Schriftsteller gemeint, und zudem scheinen sie einander in ihrem koordinierten Vorgehen gegen »echte Dichter« verschwörerisch verbunden. Antisemitismus war in der deutschen und österreichischen Literatur seit jeher heimisch, man denke nur an den sprachgewaltigen Prediger Abraham a Sancta Clara, bei dem man es bereits studieren kann, dass es »in dieser Welt keine bessere und lustigere Form« gibt, »sich dem Herrn zu unterwerfen, als über den Juden herzufallen«.11 In seiner 1685 datierten Schrift »Judas der Ertz-Schelm« behauptete er, wer Jude sei, brauche Christenblut wie die Luft zum Atmen.12 Er behauptete dies nach erfolgter Vertreibung der Juden aus Wien. Das Ghetto am Unteren Werd war ja 1670 auf dringliches Verlangen der Wiener Bürgerschaft aufgehoben worden. Gerhard Scheit hat in seinem Buch zur »Dramaturgie des Antisemitismus« den geschichtlichen Wandel, das Überdauern in der Umfunktionierung seit den mittelalterlichen Passionsspielen nachzuzeichnen gesucht. Ein durchgängiger Aspekt des Antijudaismus besteht aber darin, dass der regierende Fürst, die städtische Obrigkeit, der Staat in die Pflicht genommen werden, eine entsprechende »Judenpolizey« auszuüben, also das Wachstum jüdischer Gemeinden in Schranken zu halten, die von Juden ausübbaren Gewerbe zu reglementieren und das christliche Handwerk vor jüdischer »Schmutzkonkurrenz« zu schützen.13 Zwischen Abraham a Sancta Clara und dem durch den Nationalsozialismus aufgestachelten, ihren Antisemitismus bekennenden SchriftstellerInnen der 1930er Jahre ließe sich eine Wäscheleine spannen, an der man die bunten Fetzen aller möglicher antijüdischer und antisemitischer Gedichte und Satiren, Volksschwänke und akademischer Studien zum Trocknen aufhängen könnte. Man wird dann, wie Johann 11 Scheit 1999, 131. 12 Ebd., 134. 13 Zu den Anfängen dieses »delegativen Antisemitismus« im Hochmittelalter vgl. Toch 2013, 102ff  ; auch Tietze 2007. Hier ist gerade die Geschichte der Austreibung der Juden aus Wien (47–73) lehrreich für die Erwartungen, die die Bürger von Wien in die Obrigkeit setzten.

»Ständestaat« und Antisemitismus in der Literatur

Sonnleitner einmal über die völkische Literatur der Zwischenkriegszeit festgestellt hat, eine gewisse Einförmigkeit und Ähnlichkeit der Vorstellungen und Gestaltungen nicht übersehen können.14 Relativ neu scheint hingegen ein spezifisch literarischer Antisemitismus, der sich erst mit dem Auftreten jüdischer KünstlerInnen und SchriftstellerInnen herauszubilden beginnt. Seine Anfänge finden sich im Vormärz, in den Angriffen auf das »Junge Deutschland«, auf Heinrich Heine, Ludwig Börne und Heinrich Laube, deren Schriften, der »Frivolität« geziehen,15 vom Deutschen Bundestag 1835 einem Verbreitungsverbot unterworfen wurden. Die »Frivolität«, Ausdruck eines antifranzösischen, höchst ambivalenten Ressentiments (richtete es sich doch gleichzeitig gegen die französisierte Adelskultur und die französische Aufklärung des 18. Jahrhunderts), erlangt nun sozusagen innerliterarische Bedeutung  ; umstürzlerische Bestrebungen und perhorresziert Jüdisches verschmelzen in der Kritik an der »Frivolität« des »Jungen Deutschland«. Der Kritiker Wolfgang Menzel, schon in den 1830er Jahren führend in der Hetze gegen das »Junge Deutschland«, fasst die »Physiognomie des Jungen Deutschland« 1859 im Rückblick zusammen als die »eines aus Paris kommenden, […] gänzlich blasierten, durch Lüderlichkeit entnervten Judenjünglings mit spezifischem Moschus- und Knoblauchgeruch.«16 So spricht wohl einer, der sich nach der gescheiterten 1848er Revolution auf der Seite der Sieger dünkt. Zur Ausdifferenzierung dieses neuen literarischen Antisemitismus hat zunächst Richard Wagner 1850 mit seiner Schrift »Das Judenthum in der Musik«17 beigetragen. Diese hebt zwar mit geläufiger antisemitischer Suada an, die sich teilweise liest wie so manches, das heutzutage über »Flüchtlinge« geschrieben wird, kommt aber dann auf die für ihn, Wagner, wesentlichen Dinge. »Der Jude«, schreibt er, »spricht die Sprache der Nation, unter welcher er von Geschlecht zu Geschlecht lebt, aber er spricht sie immer als Ausländer.« Und erklärend fügt Wagner hinzu  : »Eine Sprache, ihr Ausdruck und ihre Fortbildung, ist nicht das Werk Einzelner, sondern einer geschichtlichen Gemeinsamkeit  : nur wer unbewußt in dieser Gemeinsamkeit aufgewachsen ist, nimmt auch an ihren Schöpfungen theil. Der Jude stand aber außerhalb einer solchen Gemeinsamkeit«. Mit Wagner entwickelt sich eine ästhetisch begründete Ausgrenzung des Juden ohne Ansehen der Person – Wagners Jude muss nicht nach Moschus oder Knoblauch riechen, er darf durchaus der gebildetste, talentier14 Sonnleitner 2003, 88  : »Der serielle Charakter dieser ideologisch engagierten und massenhaft verbreiteten Texte« [der »national-völkischen Autoren«] »lässt jede individuelle Signatur vermissen«. 15 Vgl. z. B. Arnold Ruge, der mit Blick auf Heinrich Heine formulierte  : Dessen Werk beweise »nichts als die Frivolität des bloßen Formverstandes und Formtalentes«, zit. n. Löwith 1969, 322. 16 Zit. n. Hermand 1966, 335. 17 Wagner 1869.

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teste, fleißigste Mensch sein, wie es der Komponist Felix Mendelssohn-Bartholdy war, ohne »auch nur ein einziges Mal die tiefe, Herz und Seele ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten«. Leider war es kein geringerer als Karl Kraus, der diesem neuen literarischen Antisemitismus 1910 die glänzende Formulierung, nicht aber das Stichwort gab durch die Unterscheidung zwischen denen, die in der deutschen Sprache schaffen, und denen, die schaffen, was mit der Sprache zu schaffen ist. Die Trennlinie scheint hier, anders als bei Richard Wagner, nicht zwischen Nichtjuden und Juden zu verlaufen. Aber der mit Glamour Attackierte ist wie bei Wolfgang Menzel und Richard Wagner wieder der von vielen freiheitsdürstenden Herzen verehrte Heinrich Heine. »Heine hat aus dem Wunder der sprachlichen Schöpfung einen Zauber gemacht. Er hat das höchste geschaffen, was mit der Sprache zu schaffen ist  ; höher steht, was aus der Sprache geschaffen wird.«18 Für all jene, die die Verehrung für Karl Kraus mit der Bewunderung für Adolf Hitler zu vereinen wussten, wurde aus dem instrumentellen »mit der Sprache« und dem organischen »aus der Sprache« sogleich die Unterscheidung zwischen dem Unechten und dem Echten. Ein Josef Weinheber, schon ganz auf dem Gipfel des deutschen Parnass, bescheinigte dann einem Theodor Kramer, den er als dichterischen Rivalen empfand, »tollwütiges Seelenunvermögen des sekundären Menschen«.19 Und die sogenannte Emigrantenliteratur wird nach 1945 als dem eigenen Fühlen und Erfahren fremd zurückgewiesen. Die Emigranten, an der Côte d’Azur geparkt, hätten die Bombennächte nicht miterlitten, nicht mitgekämpft im großen Krieg, nicht gehungert in den Nachkriegsjahren. Sie hätten sich zudem der Sprache entfremdet. Mit Karl Müller könnte man sagen  : »Konstant blieb die Verleumdung von jüdischen Autoren ob angeblich fehlender Schöpferkraft.«20 Ein Handschreiben von Ing. Leopold Figl, Bundesparteiobmann der ÖVP, vom 25. November 1945, also am Tag der für die ÖVP so günstig ausgegangenen Nationalratswahlen, hebt mit dem Satz an  : »Wir haben für Österreich gekämpft und gelitten[,] als die anderen in der Emigration saßen. Wir wollen heute nichts anderes als Frieden in diesem Österreich  !«21 Die Zweite Republik tradierte mit der Abwehrhaltung gegenüber dem Exil den »Ständestaat«. Dieses fragwürdige Erbe ist bis heute nicht überwunden. Wir sind sehr darin geübt, den Antisemitismus in der Literatur als einer vergangenen Periode zugehörig zu erforschen. Aus der neueren Literatur scheint er fast zur 18 Kraus 1986, 61. 19 Vgl. Strigl 2000. 20 Zit. n. A. Betten/Fliedl 2003, 176. 21 Zit. n. dem Faksimile in  : Die Presse, 25.11.2015.

»Ständestaat« und Antisemitismus in der Literatur

Gänze gewichen. Nur in Randlagen, in Heimatblättern, Gemeindezeitungen und dergleichen taucht er mitunter auf, möglicherweise auch in unbedachten Äußerungen einzelner SchriftstellerInnen zum Nahost-Konflikt. Man könnte Erich Frieds »Höre, Israel« (1974) und Arthur Wests »Israel-Sprüche« (1980) im Sinne eines »linken Antisemitismus«, der als Antizionismus auftritt, interpretieren. Abgesehen davon, dass sowohl Fried als auch West jüdischer Herkunft sind (was nicht unbedingt ein Ausschließungsgrund sein muss), unterscheiden sie in ihrer Kritik sehr wohl zwischen dem Staat Israel und dem, was bei einem José Saramago dann »die Juden« sind. Saramago behauptete in der spanischen Tageszeitung »El país« (Madrid) am 31. März 2002 über das israelische Besatzungsregime in den Palästinensergebieten  : »Das Verhalten dieser militärischen Kräfte und der Geist vor allem, der sie erfüllt, gleicht in erstaunlicher Weise dem Tun und Denken der Nazis.« Und schloss daran die Bemerkung  : »Mich einen Antisemiten zu nennen, bringt nichts. Für die Juden ist jeder, der nicht Philosemit ist, ein Antisemit.«22 Oder aber in der Verehrung von ehemaligen NS-Schriftstellern, wie die von Josef Weinheber, dessen Nazitum noch anlässlich seines 100. Geburtstages 1992 als ein für seine Poesie unerhebliches Mitläufertum hingestellt wurde.23 Der bekannte Literaturkritiker Edwin Hartl schrieb  : »man macht es sich zu leicht, anstatt die artistische Dialektik seiner Dialektgedichte zu interpretieren, argumentativ an die Mitgliedsnummer bei der NSDAP zu erinnern. Die Kenner wissen davon sowieso, und die Nichtkenner könnten ihn für einen bloßen Parteipoeten halten«. Hartl spricht dann von Weinhebers NSDAP-Mitgliedschaft als »vom politischen Fehltritt des harmlosen Mitläufers« – den man jedoch eher als gefährlichen »Vorläufer« bezeichnen müsste, trat er doch bereits 1931 der NSDAP bei und war ab 1933 Leiter der »Fachschaft Schrifttum« des von Alfred Rosenberg gegründeten »Kampfbundes für deutsche Kultur« in Österreich. Oder 1988 in der Gemeinde Seewalchen am Atterssee, wo versucht wurde, eine Schule nach dem NS-Autor Franz Karl Ginzkey zu benennen, was im Gemeinderat erst nach Protesten und gegen die Stimmen von ÖVP und FPÖ abgeblasen wurde. Die lokale SPÖ bemühte sich jedoch zu versichern, dass Ginzkey »sicher kein Kriegsverbrecher oder Antisemit« gewesen sei.24 In Seewalchen ist nach wie vor eine Straße nach Ginzkey benannt und ein Denkmal für ihn aufgestellt. Am Wiener Zentralfriedhof ist ihm ein Ehrengrab gewidmet. Beschönigend ist übrigens auch der Wikipedia-Eintrag über ihn, in dem verlautet wird  : »Er arrangierte sich nach 1938 mit 22 Übersetzung durch den Verf. 23 Vgl. z. B. Hartl 1993, 47f. 24 Vgl. K aiser 1989, 1f.; vgl. auch Hangler u. a. 1989.

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den Machthabern des Nationalsozialismus.«25 Immerhin schloss er sich nach seinem Austritt aus dem P.E.N.-Club 1933 im November 1936 dem »Bund der Deutschen Schriftsteller in Österreich« an und bekannte im »Salzburger Volksblatt« vom 15. April 1938,26 er habe sich 1934–1938 nur deshalb für den »Staatsrat« des sogenannten Ständestaates gewinnen lassen, um in reichsdeutschem (»nationalem«) Interesse »manches verhindern und manches auch wieder gut machen« zu können. Und resümiert  : »In diesem Sinne betätigte ich mich die ganze Zeit hindurch«. Da er von 1919 bis 1931 Mitglied einer Freimaurerloge war, wurde seinem Antrag um Aufnahme in die NSDAP 1941 nur durch »Gnadenentscheid« Adolf Hitlers stattgegeben. Also steht zu vermuten, dass der Antisemitismus der Nach-Waldheim-Periode vorerst im Speck der Ignoranz und Nicht-Kenntnisnahme verborgen bleiben will. Wir leben in einer Zeit des »Antisemitismus ohne Antisemiten«, wie Bernd Marin 1983 den »nachfaschistischen Antisemitismus« in Deutschland und Österreich typisierte.27 Ein defensiv lauernder Antisemitismus scheint da zu sein, man darf nur nicht zu tief kratzen. Mehr in die Mitte der guten Literaturgesellschaft führen Zufallsfunde. Im Dezember 1956 besuchte der Literatur-Avantgardist Konrad Bayer eine Theatervorstellung des »Experiments am Lichtenwerd«28 in Wien  ; gegeben wurde Jura Soyfers Mittelstück »Vineta«. Bayer schreibt darüber in den posthum veröffentlichten »Briefen an Ida«, nachdem er sich zunächst über die Mittelmäßigkeit der Aufführung verbreitete  : »vineta ist von jura soifer (glaube österr. jude) und nicht sehr extravagant, befürchte  : gar nicht. du kennst diese tour der halbmodernität. humanistisch etc. schlecht, bemüht sich aber um das gute. beachte  : das gute, das ist ja nicht das schlechteste. aber wenn man das wirklich auf klasse baut, wahrscheinlich unerträglich langweilig und mesalliant.«29 Man fragt sich, warum Konrad Bayer nicht zuerst der politischen Haltung des Autors Jura Soyfer gewahr wurde, der doch als ein deklarierter »Linker« anzusehen ist. Oder vielleicht bemerkt hätte, dass das im November 1937 in Wien uraufgeführte Stück in »Auseinandersetzung mit der französischen Avantgarde«30 entstanden sein könnte. Die Klassifikation des Autors als »österr. Jude« geht jedoch bei Bayer allen anderen Erwägungen voran. Die Verbindung von Skepsis gegen die humanistische Intention des Stückes mit dem Durchschauen der jüdischen Herkunft des Autors 25 https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Karl_Ginzkey (27.3.2015). 26 Salzburger Volksblatt, 15.4.1938, 5. 27 Marin 1983. 28 Zur Datierung vgl. Jarka 1980, 873. 29 Bayer 1973, 54. 30 Vgl. ausf. Kucher 1991.

»Ständestaat« und Antisemitismus in der Literatur

zeugt von erfolgreicher Resistenz gegen Versuche antinazistischer Reedukation. Bedeutsam scheint die Wiederkehr des Denkmotivs  : Was Soyfer zu bieten hat, ist »diese tour der halbmodernität«, also nichts Echtes, nichts »wirklich auf klasse« Gebautes. Ein anderer Zufallsfund  : Die Wiener Schriftstellerin Liesl Ujvary versicherte 2002 in einem Interview mit einer Literaturzeitschrift  : »Also, Celan mit seiner schwarzen Milch halte ich für Edelkitsch«.31 Da in dem Interview auf weitere Literatur von Shoah-Überlebenden nicht eingegangen wird, steht Celans weltberühmtes Gedicht »Todesfuge« hier stellvertretend für den ganzen Komplex. »Edelkitsch« könnte alles Mögliche meinen  ; der Vorwurf des Nicht-Authentischen, des bloß erschwindelten Effekts schwingt jedenfalls mit – damit schließt die Bemerkung der Schriftstellerin an frühere Vorbehalte gegen die Hervorbringungen jüdischer AutorInnen an. Das muss nicht antisemitisch gemeint sein, irritierend ist bloß, wie leicht und schnell es hingesagt wird, Einverständnis voraussetzend, keiner weiteren Erklärung bedürftig. Welche Rolle spielt aber die kurze Periode des »Ständestaates« in den langwelligen Entwicklungen der Literatur, die sich bloß institutionsgeschichtlich auf so kleine Zeiträume wie den von 1933 bis 1938 festlegen lassen  ? Der »Ständestaat« war das Theater für die Vorgeschichte der Spaltung der Literatur in eine Literatur der Daheimgebliebenen und des Exils, eine Vorgeschichte, die mit der Spaltung des österreichischen P.E.N-Zentrums 1933 zuerst organisatorisch manifest wurde. Anlass waren die am 10. Mai 1933 von der »Deutschen Studentenschaft« in mehreren deutschen Universitätsstädten inszenierten Bücherverbrennungen im Rahmen einer Kampagne »Wider den undeutschen Geist«. Beim Jahreskongress des internationalen Schriftsteller-Clubs P.E.N. in Ragusa (heute Dubrovnik) vom 25. bis 28. Mai 1933 verließ die Delegation des gleichgeschalteten deutschen P.E.N. den Saal, als eine Diskussion über die Bücherverbrennungen und die Verfolgung von Schriftstellern im »Dritten Reich« nicht mehr zu verhindern war. Mit der deutschen Delegation ging die österreichische Vertreterin Grete Urbanitzky (1893–1974). Sie wurde bei einer Generalversammlung des österreichischen P.E.N. in Wien zur Rede gestellt, die eine Resolution gegen die Gleichschaltung der Literatur in Deutschland annahm. Die Folge war eine Welle von Austritten »deutsch« gesinnter Mitglieder. Ein größerer Teil der Ausgetretenen fand sich, drei Jahre später, im »Bund deutscher Schriftsteller Österreichs« wieder (Gründungsversammlung am 22. Dezember 1936 im »Deutschen Haus«, einem Restaurant am Stefansplatz in Wien). Max Mell (1882–1971), 1933 aus dem P.E.N. ausgetreten, wurde zum Vorsitzenden bestimmt, Max Stebich (1897– 1972) zum Geschäftsführer.

31 Kubaczek 2002, 105.

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Stebich war bereits Mitglied des Rosenbergschen »Kampfbundes für deutsche Kultur« (1927 in Deutschland gegründet, seit 1931 auch in Österreich tätig), der trotz seiner behördlichen Auflösung am 4. November 1933 in der Illegalität weiterbestand. Auch an dem kurzlebigen Versuch, einen »Ring nationaler Schriftsteller« ins Leben zu rufen, hatte er sich 1933 beteiligt. Bis zum März 1938 war er Deutschlehrer in einer Mittelschule und verfasste für den Wiener Stadtschulrat ein Festspiel »In hoc signo vinces«, das am 1. Mai 1937 im Wiener Stadion aufgeführt wurde. Diese Auftragsarbeit und der Umstand, dass er mit der Tochter eines jüdischen Unternehmers verheiratet war (von der er sich, mangels weiterer aus solcher Beziehung zu gewärtigender Vorteile, 1938 trennte), wurden von rivalisierenden »deutsch« gesinnten Schriftstellern wiederholt gegen ihn ausgenützt. So konnte er sich als geschäftsführender Leiter der Reichsschrifttumskammer in Wien nur kurze Zeit halten. Sein größter Moment dürfte aber die Vorstellung des von ihm zusammengetrommelten »Bekenntnisbuches österreichischer Dichter« bei der »Reichstheaterwoche« in Wien 1938 gewesen sein. In einem dithyrambischen Vorspruch verkündete er  : »Österreich ist durch die Tat des Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler heimgekehrt in das Deutsche Reich. Die nationalen Dichter der Ostmark neigen sich bewegt von dieser Vollendung. Ihr Ziel war Deutschland. Ihr Werk bleibt Deutschland.«32 In der von ihm mitbegründeten Josef-Weinheber-Gesellschaft (Gründungsversammlung 13. Jänner 1956) blieb er stets geschäftsführender Vizepräsident. Österreich ehrte ihn durch einen Staatspreis für Jugendliteratur 1965. Hinweggefegt waren die Juden aus Wien, als Abraham a Sancta Clara 1685 das Gespenst Christenblut trinkender Juden an die Wand malte. Hinweggefegt waren sie auch – obwohl ihre Vertreibung erst so richtig beginnen sollte – in Rudolf Lists (1901–1979) am 1. April 1938 veröffentlichtem Jubel-Artikel in der vormals christlichsozialen Tageszeitung »Reichspost« (Wien)  : »Die dunklen Kräfte, die seit Jahr und Tag das eigenvölkische Kulturleben unserer Stadt und unseres Landes mit einem Raubspinnennetz umgaben, Parasiten am lebendigen Leib des Volkstums, Schmarotzer an der höheren Seele unseres Seins, diese dunklen Kräfte hat der Sturmwind der Erneuerung hinweggefegt, der Weg ist klar  : er führt aus dem Volk zum Volk. Er führt über den Schutt und Morast einer entarteten Zeit hinweg, er führt über Namen hinweg, die wie tönerne Götzen an den Fassaden, aber auch hinter den Kulissen eines kulturpolitischen Geschehens standen, dass die Besten unter den Schaffenden immer wieder mit stummer Empörung und weher Scham erfüllte. Und uns katholische Deutsche umso tiefer und umso heftiger, weil wir die enge Verbindung jüdischer Machtinteressen und einer äußerlich katholischen, in Wahrheit aber erzliberalen 32 Bekenntnisbuch 1938.

»Ständestaat« und Antisemitismus in der Literatur

Kulturpolitik als eine unerhörte Schmach miterleben und miterdulden müßten, die gleich stark an unser völkisches wie an unser religiöses Empfinden rührte.« Eine Woche danach diagnostiziert List aufgrund des Kürschner Literaturkalenders 1926, dass 450 von 600 SchriftstellerInnen in Wien »Juden« gewesen seien.33 List, Feuilletonchef der »Reichspost«, bekannt als vielvertonter Lyriker, war schon 1933 aus dem gegen die Bücherverbrennungen in Deutschland protestierenden österreichischem P.E.N.-Zentrum ausgetreten und hatte sich 1936 dem »Bund deutscher Schriftsteller Österreichs« angeschlossen. In der NS-Zeit veröffentlichte er dann u. a. 1942 die Schrift »Brünn, ein deutsches Bollwerk«. Nach 1945 konnte Rudolf List seine Karriere bald wieder fortsetzen. Ab 1948 durften seine Bücher wiedererscheinen, 1954 erhielt er den Förderungspreis des Kulturringes der oberösterreichischen Wirtschaft, 1957 den Peter-Rosegger-Preis der Steiermärkischen Landesregierung und den Kunstpreis der Stadt Leoben.34

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Kubaczek, Martin, Interview, in  : kolik. Zeitschrift für Literatur (Wien), Nr. 17 (2002), 105. Kucher, Primus-Heinz, Jura Soyfers Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen französischen Avantgarde, in  : Jura Soyfer Gesellschaft in Zusammenarbeit mit der Theodor Kramer Gesellschaft (Hg.), Die Welt des Jura Soyfer. Wien 1991, 141–158. List, Rudolf, Deutsches Sehnen und Kämpfen. Der Weg des Wiener Schriftstellers zwischen Dunkel und Befreiung, in  : Die Reichspost (Wien), 8.4.1938, 11f. Löwith, Karl, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1969. Marin, Bernd, Ein historisch neuartiger ›Antisemitismus ohne Antisemiten‹  ?, in  : Bunzl, John/ Marin, Bernd, Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien. Innsbruck 1983, 173–192. Moser Jonny, Antijüdische Gesetzgebung in Ungarn, in  : Zwischenwelt (Wien) 23 (2006), Heft 2–3, 34. Rossbacher, Karlheinz, Literatur und Ständestaat, in  : Aspetsberger, Friedbert (Hg.), Staat und Gesellschaft in der modernen österreichischen Literatur, Wien 1977, 93–107. Salzburger Volksblatt 1938. Scheit, Gerhard, Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus, Freiburg 1999. Sonnleitner, Johann, Völkische Literatur und Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit, in  : Betten, Anne/Fliedl, Konstanze (Hg.), Judentum und Antisemitismus. Studien zur Germanistik und Literatur in Österreich, Berlin 2003, 84–92. Soyfer, Jura, Das Gesamtwerk, hg. v. Horst Jarka, Wien u. a. 1980. Strigl, Daniela, »Erschrocken fühl ich heut mich dir verwandt«. Theodor Kramer und Josef Weinheber, in  : Staud, Herbert/Thunecke, Jörg (Hg.), Chronist seiner Zeit. Theodor Kramer, Klagenfurt/Celovec 2000, 255–273. Tálos, Emmerich, Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933–1938, Wien 2013. Tietze, Hans, Die Juden Wiens, Wien 2007 (unveränd. Neuaufl. der Ausg. Wien 1933). Toch, Michael, Die Juden im mittelalterlichen Reich (Enzyklopädie deutscher Geschichte 24), München 2013. Wagner, Richard, Das Judenthum in der Musik, Leipzig 1869.

Susanne Blumesberger

Antisemitische Strömungen in österreichischer Kinder- und Jugendliteratur im Zeitraum 1933 bis 1938 Vorbereitungen und Gegenbewegungen Antisemitismus in der Literatur(-politik) Die Literaturpolitik und -wissenschaft in Österreich war schon lange vor dem »Anschluss« inhaltlich mit den Ideen des Nationalsozialismus konfrontiert, schon früh wurde Österreich in das Agitationsfeld miteinbezogen. So sprach etwa der österreichische Nationalökonom, Soziologe und Philosoph Othmar Spann (1878–1950), der als Wegbereiter des »Austrofaschismus« gilt, am 23.  Februar 1929 im Auditorium Maximum der Münchner Universität im Rahmen der ersten repräsentativen Veranstaltung des »Kampfbundes für deutsche Kultur«, der sich aus der nationalsozialistischen »Gesellschaft für deutsche Kultur« entwickelt hatte, über die »Kulturkrise der Gegenwart«.1 Der »Kampfbund« war in Wirklichkeit eine Einrichtung der Nationalsozialisten und nicht überparteilich, wie der von Hitler bestellte Alfred Rosenberg beteuerte, der mit seinen rassenpolitischen Schriften wesentlich zum Antisemitismus beitrug. 1931 wurde ein »Kampfbund für Deutsche Kultur, Landesleitung Österreich« gegründet. Alle, die »deutschen Blutes und deutscher Geinnung« waren, wurden aufgerufen, beizutreten und damit gegen die »jüdische Überfremdung« zu kämpfen.2 Vorsitzender des Kampfbundes war ein Jahr lang Hermann Graedener, stellvertretender Vorsitzender der Jugendbuchautor Mirko Jelusich (1886–1969). Ab Februar 1933 nahm Anton Haasbauer die Funktion des Vorsitzenden wahr, 1940 wurde er dann Leiter des »Österreichischen Landesverlages« und des »Deutschen Verlages für Jugend und Volk«. Haasbauer war auch Herausgeber der »Mitteilungen des Kampfbundes für deutsche Kultur«. Dort wurde im Mai 1933 eine Liste empfehlenswerter österreichischer Autoren veröffentlicht, unter ihnen weitere (Jugend-)SchriftstellerInnen wie Franz Karl Ginzkey, Maria Grengg, Paula Grogger, Enrica Handel-Mazzetti, Mirko

1 Siehe Amann 1988, 25. 2 Ebd., 27.

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Jelusich, Maria Veronika Rubatscher, Karl Springenschmid sowie der Bergsteiger und Autor von Abenteuerbüchern Luis Trenker. Der Literaturwissenschaftler Klaus Amann stellte fest  : »Zu der Strategie des Kampfbundes gehörte nicht nur, durch ein Netz von Mitgliedern in Zeitungsredaktionen und Verlagen, sich gegenseitig hochzuloben und die politisch oder rassisch stigmatisierten Kollegen – vorerst noch – mit den Waffen der Kritik zu vernichten oder sie schlicht totzuschweigen und so Raum zu schaffen für deutschblütige Künstler […] in gleicher Weise versuchte man – besonders nach dem Verbot der Partei –, durch die Rekrutierung von Sympathisanten und Mitgliedern in Ämtern und Behörden, ein Netz der politischen Konspiration zu knüpfen.«3 Der Autor von historischen Werken, Egmont Colerus (1888–1939), schrieb in einem Lebenslauf aus dem Jahre 1938 etwa, dass er als Beamter des Bundeskanzleramtes seine nationalsozialistischen Kameraden unterstütze, wo er nur konnte.4 Außerdem gab er bei »sonstiger Tätigkeit für die NSDAP« an  : »Beteiligung an der möglichsten Gleichschaltung des Wiener Verlagswesens.«5 In seiner autobiographischen Schrift »Mein Lebensweg als Deutscher« hieß es  : »Die Sprengung des Wr. Penklub, an der ich als einer der ersten zehn ausgetretenen nationalen Dichter in den ersten Julitagen 1933 tätigen Anteil hatte, zerschlug in wirksamster Art den Weltring der liberalen geistigen Weltherrschaft. Ich wurde deshalb auch noch im September 1933 von Freimaurern heftigst angegriffen, und es bestand für mich große Gefahr als Staatsbeamter.«6 Auch der Volkskundler Viktor von Geramb (1884–1958), der 1941 »Kinder- und Hausmärchen der Steiermark« herausgegeben hatte, gab zu, zahlreichen illegalen Nationalsozialisten geholfen zu haben. Unter den von Haasbauer genannten größten lebenden Dichtern Österreichs 1933 befanden sich Ortsgruppenführer Jelusich, der Wiener Bibliotheksbeamte und Schriftsteller Robert Hohlbaum und der Dichter Max Mell, der seit Jänner 1932 Mitglied der Preußischen Akademie der Künste war, die zu dieser Zeit in eine gleichgeschaltete Akademie umgewandelt wurde. Am 16. März 1933 hatte Mell die Loyalitätserklärung gegenüber dem NS-Regime abgegeben. Im Herbst 1933 unterschrieben Mell, der Dramatiker Karl Schönherr und die Schriftstellerin Enrica von Handel-Mazzetti die Unterstützungserklärung der Akademie für die »Politik des Volkskanzlers Adolf Hitler« anlässlich des Austrittes Deutschlands aus dem Völkerbund am 14. Oktober 1933.7 3 Ebd., 31. 4 Siehe ebd. 5 Hall 1994, 404. 6 Siehe ebd., 403. 7 Siehe Amann 1988, 33.

Antisemitische Strömungen in österreichischer Kinder- und Jugendliteratur

1933 schrieb der Bibliothekar und Schriftsteller Karl Wache in der Einleitung im von ihm herausgegebenen »Handbuch des völkischen Lebens in der Ostmark«  : »Ueber tausend Verbände, Bünde, Verbindungen, Vereine, Gesellschaften, Klubs und Körperschaften bestehen heute in Oesterreich, die alle dem deutschvölkischen Gedanken nach irgend einer Richtung hin dienen wollen, sei es hinsichtlich der Anschlußbestrebungen, der körperlichen Ertüchtigung, der Verbreitung rassenkundlicher Kenntnisse, der Volksbildung, der Schulerhaltung, der Sprachreinigung, der Abwehr klerikaler und jüdischer Einflüsse, der Gläubigkeit, der Kunst, der Geselligkeit und Fröhlichkeit.«8 Viele dieser Verbände hatten einen offenen oder versteckten »Arierparagraphen«, wie zum Beispiel der »Deutschösterreichische Alpenverein« oder die »Deutsch-Österreichische Schriftstellergenossenschaft«. Einige warben auch offen für den »Anschluss«. Der Turnerbund und die Zeitschrift »Der Turner« waren rein nationalsozialistisch und beteiligten sich an der Verbreitung nationalsozialistischen Gedankengutes. Franz von Papen, damals Gesandter und Botschafter des Deutschen Reiches, schlug deshalb dem Auswärtigen Amt auch vor, den Turnerbund 1937 mit 25.000 Reichsmark zu unterstützen.

Ideologisierte Kinder- und Jugendbücher Zahlreiche Werke, die zu dieser Zeit propagiert wurden, waren schon in der Kaiserzeit am Markt gewesen. Zu den häufigsten Themen zählten der Erste Weltkrieg und dessen Folgen, Berichte über Kolonien, Abenteuerbücher, Märchen, Sagen und Schwänke  – die sogenannte Volksliteratur sowie die traditionelle Mädchenliteratur, abgesehen von Zeitschriften in ihren vielfältigen Formen. Auch Klassiker wurden weiterhin aufgelegt, bei den Übersetzungen waren Werke aus dem skandinavischen Raum sehr beliebt. Neu hinzu kamen sämtliche Bücher über nationalsozialistische Jugendverbände, wie etwa über den »Bund deutscher Mädel« (BDM) oder die »Hitlerjugend« (HJ), den Reichsarbeitsdienst (RAD) und jene, die sich mit NS-Persönlichkeiten beschäftigten. Viele dieser Bücher waren vom System jedoch gar nicht erwünscht und galten als »Konjunkturliteratur«. Diese Bücher wurden aus wirtschaftlichen Gründen produziert, waren aber offiziell nicht gerne gesehen.

8 Wache 1933, 62. Durch dieses Buch verlor Wache seinen Posten an der Wiener Universitätsbibliothek und konnte ihn erst im März 1938 wieder einnehmen. Das Buch wurde am 27.10.1933 beschlagnahmt.

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Grundsätzlich waren sämtliche Literaturgattungen auch in der Kinder- und Jugendliteratur während der NS-Zeit am Markt vorhanden. 1936 setzte sich beispielsweise der NS-Lehrerbund mit dem Bilderbuch auseinander und entwarf auch Grundsätze über die sogenannte volkserzieherische Bedeutung. Eduard Rothemund, der die deutsche »Begutachtungsstelle für Jugendschrifttum« leitete, hielt beispielsweise 1936 einen Vortrag, in dem er eine kräftige Bildsprache propagierte und sich gegen alles Dekorative und Schematische aussprach. Idyllische Kindheitsdarstellung und Geschichten von anthropomorphisierten Tieren und Pflanzen, wie etwa die Bücher von Ida Bohatta-Morpurgo (1900–1992), waren nicht erwünscht. Kaum eines der damals am Markt befindlichen Bilderbücher wurde als geeignet betrachtet. Die beiden antisemitischen und anscheinend genau den nationalsozialistischen Kriterien entsprechenden Bilderbücher, nämlich »Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid« (1936) von Elvira Bauer und »Der Giftpilz« (1938) von Ernst Hiemer wurden von der NS-Kritik nicht einmal erwähnt. Diese doch zu platten Darstellungen passte nicht ins Idealbild von passender Kinderliteratur. Das 2014 beendete Projekt »Österreichische Kinder- und Jugendliteratur von 1933 bis 1945«,9 hat gezeigt, dass auch in Österreich in den Jahren 1933 bis 1938 antisemitische und rassistische Tendenzen zu erkennen waren.10 Zugleich ist aber nachweisbar, dass es zahlreiche Gegenbewegungen in der Kinder- und Jugendliteraturszene gab, auf die später noch zurückzukommen sein wird. Besonders in den Kinder- und Jugendbüchern, die in Deutschland während der NS-Zeit erschienen sind, wurde antisemitisches Gedankengut weitergetragen bzw. antisemitische Hetze betrieben. Pathetische Worte fehlen ebenfalls nicht, wie folgendes Beispiel aus dem 1937 in Deutschland erschienenen Buch »Bekenntnisse österreichischer Jugend« zeigt  : »Ihr könnt uns die Freiheit rauben, alles, was das Herz uns bricht … Doch den großen starken Glauben An den Führer brecht ihr nicht  !«11 »Sturmlied  ! Stürmende Jugend marschiert durch das Reich,   9 Gefördert vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank und in den Jahren 2011 bis 2014 am Wiener Institut für Wissenschaft und Kunst durchgeführt, Projektnummer  : 13989  ; näheres siehe unter  : https://www.oenb.at/jublfonds/jublfonds/projectsearch. 10 Siehe auch Blumesberger 2009. 11 Widmung in Weber 1937.

Antisemitische Strömungen in österreichischer Kinder- und Jugendliteratur

Wuchtend der Schritt der Kolonnen  : Wir aber warten noch, stumm oft und bleich, Deutschland, wir kommen, wir kommen  ! Laßt jammern die Spießer, feige in Ruh, Jugend, faß Tritt, Jugend greif zu  ! Wir sind der Ostmark Befreier  !«12

Das Geleitwort Hans Schemms, Lehrer und später Reichsverwalter des »Nationalsozialistischen Lehrerbunds«, zu dem Jugendschriftenverzeichnis »Das Jugendbuch im Dritten Reich« (Berlin 1933), zeigt den Stellenwert, den das Jugendbuch im Dritten Reich haben sollte  : »Das deutsche Buch ist Ausdruck und Niederschlag deutschen Geistes, deutscher Seele, deutschen Blutes. Aber nicht ein Volk weltferner Träumer, nicht nur ein Volk der Dichter und Denker, sondern auch ein Volk des politischen Willens kann und will das Buch mitgestalten helfen. Das gute deutsche Jugendbuch ist mitberufen, ein Geschlecht heranzubilden aus der großen fruchtbaren Dreieinheit von Körper, Seele und Geist, von Rasse, Volk und Gott, eine Jugend, die weiß, daß man fest auf der Erde, auf dem Boden der Heimat, des Vaterlandes stehen muß, wenn man nach Idealen streben, nach den Sternen greifen will  : Keine lebensfremden Stubenhocker und bleichwangigen Bücherwürmer, sondern ganze Kerle, echte deutsche Männer und Frauen sollen aus unserer Jugend hervorwachsen. Das rechte und das rechtgebrauchte Jugendbuch kann dem dienen.«13 1936 schrieb Theo L. Goerlitz (1908–1943), Journalist, Lyriker und Mitarbeiter des Verlags Saturn, im Vorwort seines Werkes »Kinderbücher. Ein Ratgeber für Eltern, Erzieher und Kinderfreunde«  : »In der Stunde […], wo man einem Kinde das erste Buch in die Hände legt, das erste Bilderbuch, […], hält man ihn seinen ersten Spiegel vor Augen und ein erstes Bildnis der Welt. Wehe, wenn der Spiegel getrübt ist und nur Lügenhaftes und Unwirkliches zeigt, das kein Wirklicheres verbirgt, wehe, wenn das Bildnis entstellt. Dann wird schon in der kindlichen Innenwelt eine Verwirrung anwachsen, die mitunter nicht einmal die Jahre beschwichtigen können. Es wird schon dem Kind der Mut zum Buche und die Freude am Buche genommen werden. Es wird ihm eine Macht verschlossen werden, mit der es sich auf das fruchtbarste befreunden könnte.«14 Uminterpretationen und Umdichtungen waren sehr häufig, unter anderem wurde auch das Lied »Stille Nacht« entsprechend umgedichtet  : 12 In ebd. 13 Zit. n. Wulf 1966, 303. 14 Goerlitz 1936.

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»Stille Nacht, heilige Nacht, Alles schläft, einsam wacht Nur der Kanzler treuer Hut, Wacht zu Deutschlands Gedei’hen gut. Immer für uns bedacht. Stille Nacht, heilige Nacht, Alles schläft, einsam wacht Adolf Hitler für Deutschlands Geschick, Führt uns zur Größe, zum Ruhm und zum Glück, Gibt uns Deutschen die Macht. Stille Nacht, heilige Nacht, Alles schläft, einsam wacht Unser Führer für deutsches Land, Von uns allen die Sorgen er bannt, Daß die Sonne uns lacht.«15

Auch die damals sehr beliebten historischen Romane boten sich an, um das Bild eines Helden zu stilisieren. So wurden viele historische Persönlichkeiten im Nachhinein zu Vorkämpfern für das Germanentum und zu Antisemiten. In den historischen Romanen mit nationalsozialistischen Tendenzen wurde Geschichte nicht objektiv erzählt, sondern bewusst verändert und in die gewünschte Richtung korrigiert. Der Journalist und Kulturhistoriker Erwin Stranik meinte 1937  : »Der historische Roman ›durchtränkt‹ das ›Einst mit den Problemen des Heute‹ und gestaltet ›Vergangenheit als aufrüttelndes Symbol für unsere Gegenwart‹«.16 Geschichte wurde als revidierbar angesehen. Nach dem führenden NS-Literaturhistoriker Hellmut Langenbucher hatte der historische Roman den Sinn, Vorbilder und Lösungsmöglichkeiten für politische Probleme zu schaffen. Die Literatur sei dafür besonders geeignet, weil sie »Seele und Gefühl der Menschen unmittelbar anspricht und sie dadurch unmittelbaren Einfluss gewinnt auf die Widerstandskraft, die der Mensch den Schwierigkeiten und Forderungen, den Aufgaben und Belastungen der Gegenwart entgegensetzen kann.«17 Die historischen Romane waren vielfach als politische Anweisungen zu verstehen. In Wirklichkeit war es eine »Literatur für Eingeweihte«, AutorInnen und LeserInnen hatten ein gemeinsames politisches Ziel, es ging vor allem um Bestärkung.

15 R abenau 1934, 3. 16 Stranik 1937, 286. 17 Langenbucher 1944, 102.

Antisemitische Strömungen in österreichischer Kinder- und Jugendliteratur

Somit ist es kein Zufall, dass die österreichische Kinder- und Jugendliteratur in den Jahren 1933 bis 1945 zahlreiche historische Werke zu verzeichnen hat. Ein beliebtes Motiv waren Figuren aus der österreichischen Vergangenheit, die als Helden dargestellt wurden, wie z. B. Prinz Eugen von Savoyen. Ein Autor, der sich mit dieser historischen Persönlichkeit auseinandersetzte, war der Schriftsteller und Maler Alfons von Czibulka (1888–1969). Seine Romane griffen vor allem historische Themen aus dem alten Österreich auf. Ein Teil seiner Werke wurde 1946 aufgrund ihrer Nähe zum Nationalsozialismus und Militarismus auf die Liste der auszusondernden Literatur in der Sowjetischen Besatzungszone gesetzt. Sein Buch »Große deutsche Soldaten« erschien 1933 im Berliner Drei Masken-Verlag, »Das Volksbuch vom Prinzen Eugen« 1936 im Münchner Verlag H. Hugendubel. 1938 folgte im Verlag Luser »Prinz Eugen und das Reich«, das 1941 in Wien in der Wiener Verlagsgesellschaft neu herausgegeben wurde. Die Biografie Prinz Eugens leitete Czibulka im »Volksbuch vom Prinzen Eugen« mit folgenden Worten ein  : »Prinz Eugen von Savoyen – Deutschlands Held –, wie Friedrich der Große ihn nannte, hat durch seine Kriegstaten, die in der Geschichte wenig ihresgleichen finden, dem heiligen Reiche der Deutschen in jenen Stürmen aus Ost und West das Leben gerettet und unserem Volke über noch zwei Jahrhunderte deutschen Haders hinweg den Weg in die Zukunft gewiesen. Es ist ein glückhaftes Zeichen unseres neuen Tags, daß Prinz Eugen heute wieder in den Herzen aller Deutschen lebt.«18 Er präzisiert diese Aussage mit den Worten  : »Doch selbst wir sind uns dessen immer noch zu wenig bewußt, daß Prinz Eugen nicht nur der Besieger der Türken und der große Überwinder des Sonnenkönigs war, sondern seine gesamtdeutsche Leistung eine dreifache gewesen ist  : die des Feldherrn, des Staatsmannes und des Wegbereiters eines der strahlendsten Abschnitte deutscher Kultur.«19 »Prinz Eugen und das Reich« ist gewissermaßen ein Konzentrat des großen historischen Romans. Wie die Geschichte Prinz Eugens gelesen werden sollte, wird in diesem Buch ebenfalls sehr deutlich. So heißt es  : »Es schritt seiner Erfüllung entgegen mit dem Werden des Dritten Reichs, als um des Glücks und des Friedens Europas willen, wie in den großen Tagen Eugens, die Deutschen wieder zum Vorkämpfer wurden gegen die zerstörenden, von neuem mit Frankreich verbündeten Kräfte des Ostens, als die Fahnen des Reichs wieder über Österreich wehten, auch der Südostraum sich seiner unlösbaren Schicksalsgemeinschaft mit dem deutschen Volke wieder bewußt wurde und vor kurzem die heiligen Lieder der Deutschen und Ungarn 18 Czibulka 1936, 5f. 19 Ebd.

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ein Kriegsschiff umbrausten, das des Savoyers großen Namen trägt. Es ist der Geist Eugens, daß die Kuppel des Reichs heute, in einem gewandelten Raum, wohl nicht mehr im staatlichen, aber im geistigen, über alles deutsche Leben sich wölbt und das Reich auch die Hoffnung wurde des deutschen Böhmens, das einst seine kostbarste Chur gewesen ist. Es ist das Gebet der Deutschen, daß Eugens Vermächtnis sich auch dort bewähre. Dann wäre es erfüllt, doch nicht zu Ende. Denn Eugens Vermächtnis ist ewig. Es ist der Deutschen ewiges Reich  !«20 Ein weiterer Autor, der in der NS-Zeit als Jugendbuchautor in Erscheinung trat, war Karl Springenschmid (1897–1981), der auch unter den Pseudonymen Christian Kreuzhakler und Beatus Streitter veröffentlichte, was einiges über seine politische Einstellung verrät. Ab 1932 Mitglied der NSDAP und des illegalen NS-Lehrerbundes, zwischen März 1934 und Jänner 1938 Mitglied der SA und ab 1938 SS-Mitglied, leitete er zwischen 1938 und 1945 den NS-Lehrerbund in Salzburg und war der Hauptverantwortliche für die dortigen Bücherverbrennungen. Er setzte sich für die Vernichtung alles Klerikalen und Jüdischen ein. 1946 stand sein gesamtes Werk auf der österreichischen »Liste der gesperrten Autoren und Bücher« weil sie Bestandteil der nationalsozialistischen Propaganda waren. Trotzdem konnte Springenschmid nach Kriegsende weiterpublizieren. Springenschmid veröffentlichte 1936 bei der Stuttgarter Franck’schen Verlagsbuchhandlung »Eine wahre Geschichte. Worte und Bilder von zwei Deutschen aus dem Auslande«. Die Geschichte handelt von einem kleinen, in Österreich geborenen Jungen, der nie verstehen konnte, warum es eine Grenze zwischen Österreich und Deutschland gab, unschwer ist in der Hauptfigur Adolf Hitler erkennbar. Springenschmid wählte aber auch historische Vorbilder, um die Jugend zu beeinflussen. Als Beispiel sei »Sechs gegen Napoleon« genannt, das 1933 im Frau und Mutter-Verlag erstmals erschienen ist und bis 1952 mehrmals neu aufgelegt wurde. Eingeleitet wurde das Buch von Franz Karl Ginzkey (1871–1963), einem österreichisch-ungarischen Offizier, Dichter und Schriftsteller, der mit seinem Jugendbuch »Hatschi Bratschis Luftballon« bekannt wurde. Auch Ginzkey arrangierte sich übrigens später mit den Nationalsozialisten und wurde 1942 NSDAP-Mitglied. Ginzkey lobte die Bücher Springenschmids mit pathetischen Worten und sprach ihm ein »rein naturgemäßes Deutschtum«21 zu. »Sechs gegen Napoleon« ist in Tiroler Mundart geschrieben. Den einfachen Buben, die mit brutaler Gewalt »ihr Land« gegen die sogenannten »Welschen« verteidigen, werden derbe Worte in den Mund gelegt.

20 Czibulka 1938, 66f. 21 Springenschmid 1933, 10.

Antisemitische Strömungen in österreichischer Kinder- und Jugendliteratur

Beliebt bei den historischen Romanen war vor allem das Thema der Türkenkriege. Josef Prüger veröffentlichte 1933 »Wien im Türkensturm 1683. Eine geschichtliche Erzählung« im Österreichischen Bundesverlag. Darin wird anhand einer Familie erzählt, wie sich der Angriff der Türken auf das sonst so beschauliche Leben der Wienerinnen und Wiener auswirkte. Der Feind wird als roh, brutal und unzivilisiert geschildert. Der Bürgermeister Johann Andreas Liebenberg spricht folgende Worte  : »Und nun den Mut nit verlieren, liebe Leut’  ! Wir wollen unsere Stadt halten als Hort der Christenheit und als Hauptstadt des Heiligen römisch-deutschen Reiches  !«22 Dies gelingt, auch wenn es viele Opfer gibt und die als Beispiel herangezogene Familie einige kritische Zeiten erleben muss. So heißt es am Ende des Buches  : »Da draußen liegt sie, verstümmelt und blutend aus tausend Wunden, aber nit erobert und geschändet von dem wilden Feind, der wider ihre Mauern rannte. Der alte Steffel23 steht noch und schaut stolz über das Land hin als ein Zeichen, daß tapferer deutscher Bürgersinn und Opfermut in dieser Stadt wohnen. Wird alles eine ferne Erinnerung werden und wie ein böser Traum sein, den wir erlebt. Aber ihr sollt daran denken, Kinder, daß es eure Väter und Mütter waren, die euch die Heimat im Türkensturm erhalten haben, und werdet einst selber treue Söhne und Töchter unserer lieben Stadt.«24 Die Botschaft ist klar und deutlich  : Zusammenhalten und den »deutschen« Boden mit aller Macht verteidigen. Die Feinde sind dabei austauschbar. Beliebt waren auch Bücher, die die Illegalität der Nationalsozialisten beschrieben und so die NationalsozialistInnen der ersten Stunden zu HeldInnen erhoben. Eines davon ist »Birkhild. Aus der Kampfzeit eines österreichischen BDM-Mädels«. Die Autorin Ilse Ringler-Kellner (1894–1958) war während der NS-Zeit sehr aktiv, sie arbeitete in führenden Kunstzeitschriften und -zeitungen mit und las in Schulen. In »Birkhild« erzählt sie autobiografisch beeinflusst von ihren eigenen Erlebnissen. Ringler-Kellner beschreibt die Jahre 1934 bis 1938, als die Nationalsozialistische Partei in Österreich verboten war. Birkhild organisiert in ihrem Zimmer heimliche Treffen des BDM und verbreitet verbotene Zeitungen. Schließlich wird sie erwischt, von der Schule verwiesen und flieht nach Deutschland, ins sogenannte »Reich« und kehrt rechtzeitig zum »Anschluss« wieder nach Österreich zurück. Auch dieses Buch ist antisemitisch gefärbt. Ebenso blieben Kinder- und Jugendzeitschriften nicht von antisemitischer Hetze verschont. In »Hilf mit  ! Illustrierte deutsche Schülerzeitung« kann man 1936 die

22 Prüger 1933, 9. 23 Wiener Bezeichnung für das Wahrzeichen von Wien, den Stephansdom. 24 Prüger 1933, 106.

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Geschichte »Gift im Bücherschrank« lesen.25 Ein elfjähriger Junge sucht aus Vaters reichem Bücherschrank all jene Werke heraus, von denen er gehört hat, dass sie von Juden stammen. Der Vater will zunächst nicht glauben, dass Ludwig Fulda oder Jacob Wassermann Juden waren. Doch der ältere Sohn in HJ-Uniform unterstützt den jüngeren Bruder, bis am Ende der Geschichte der Vater folgende Worte spricht  : »Also nun paßt mal auf, Jungens  ! Am Sonnabendnachmittag habe ich Zeit, da wird der Bücherschrank von allem jüdischen Gift gereinigt, und ihr sollt mir dabei helfen«.

Der Kampf für das antifaschistische Kinderbuch Die Tatsache, dass sich unter den in das Exil getriebenen Schriftstellerinnen und Schriftstellern auch viele befanden, die für Kinder- und Jugendliche schrieben, ist erst spät in die Forschung eingegangen, obwohl der Schriftsteller Franz Carl Weiskopf (1900–1955) bereits 1948 auf diesen Bereich der Exilliteratur hingewiesen hat.26 Warum es für Kinder- und JugendbuchautorInnen im Exil besonders schwierig war, erklärt Weiskopf  : »Von den Erwachsenen, die in die Verbannung gehen mußten, blieben die meisten der Muttersprache wenigstens insoweit treu, daß sie fortfuhren, deutsche Bücher zu lesen. Bei den Kindern lagen die Dinge anders. Sie besuchten die Schule im Asylland, sie spielten mit fremdsprachigen Freunden, sie vergaßen sehr oft die Sprache ihrer Heimat. Aus diesen Gründen hatten es die Autoren von Kinderund Jugendliteratur im Exil ganz besonders schwer.«27 Auch theoretische Auseinandersetzungen zum Thema Kinder- und Jugendliteratur fanden in den Exilländern nur unter erschwerten Bedingungen statt. Dennoch gelang es einigen, sich auch wissenschaftlich mit Kinder- und Jugendliteratur auseinanderzusetzen und zum Teil diese Überlegungen praktisch umzusetzen. Zu nennen wäre hier Alex Wedding mit ihrem Beitrag »Kinderliteratur«, den sie in der Zeitschrift »Das Wort« 1937 platzieren konnte.28 Der in Wien geborene und nach Israel emigrierte Joseph H. Schwarcz (1917–1988), der später an der Universität Haifa als Professor für visuelle Kommunikation tätig war, trug mit seinen beiden Werken »Ways of the illustrator. Visual communication in children’s literature« (1982) und »The picture book comes of age. Looking at childhood through the art of illustration« (1991, gemeinsam mit Chava Schwarcz) zur Diskussion bei. 25 Hilf mit  ! Illustrierte deutsche Schülerzeitung, 2.11.1936. 26 Siehe Weiskopf 1948. 27 Ebd., 100. 28 Wedding 1937, 50ff.

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Die Herausforderung für die neue Kinder- und Jugendliteratur bestand darin, einerseits zeitgeschichtliche Realität zu vermitteln und andererseits neue Themen, wie solidarisches und antifaschistisches Handeln in die Handlung der Bücher zu integrieren. Mitunter konnten die exilierten Autorinnen und Autoren das Exil auch als schöpferische Kraft nutzen. Die Exilforschung hat erst vor einigen Jahren damit begonnen, sich mit diesem trotz aller dunklen Seiten doch positiven Aspekt zu beschäftigen, wodurch sich ein Paradigmenwechsel vollzieht.29 Die literarische Produktion war bei vielen noch sehr eng mit dem Verlauf der Emigration verbunden. Jene, die es geschafft hatten, sich auch literarisch voll und ganz in das Gastland zu integrieren, wurden oft von der Exilforschung vergessen.30 Wenn man den Begriff der Akkulturation in die Exilforschung mithineinnimmt, so sind auch die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Gastländern bzw. die Schwierigkeiten sich einzuleben usw. zu berücksichtigen.31 Die amerikanische Exil- und Exilliteraturforschung der 1980er und 1990er Jahre hat das Themenfeld der deutschsprachigen Exilliteratur um die Aspekte der kulturellen und sprachlichen Assimilation sowie der Immigration erweitert. Das Schreiben im Exil wurde (und wird) v. a. durch die Anforderungen des Alltags erschwert. Besonders auffällig war dies bei den Schriftstellerinnen, die oft für die Existenzsicherung zuständig waren und daher wenig Zeit zum Schreiben hatten.32 Zahlreiche Fragen sind noch offen, z. B. wer die LeserInnen dieser Werke waren, welche Lektüre im Exil überhaupt zur Verfügung stand, welche Rolle sie spielte, welche Resonanz die exilierten KinderbuchautorInnen hatten usw. Die Kinder- und Jugendliteratur des Exils ist mit allen Gattungen vertreten, mit Tiergeschichten, wie etwa von Felix Salten, Mädchenbüchern wie von Adrienne Thomas, Abenteuerromanen, wie von Friedrich Feld oder Béla Bálasz, Auguste Lazar, Joe Lederer oder Mira Lobe, Märchen, wie etwa jene von Hermynia Zur Mühlen oder Kinderbücher zum deutschsprachigen Kulturerbe, wie von Hertha Pauli. Paul Neurath verfasste Sachbücher, Ilse Daus, Bettina Ehrlich, Susi Hochstimm und viele andere veröffentlichten Bilderbücher.33 Maria Leitners »Elisabeth, ein Hitlermädchen« (1937) und Anna Gmeyners »Manja. Ein Roman um fünf Kinder« (1938) waren sowohl an Erwachsene als auch an Kinder gerichtet. »Andrea und Viktoria«, beide aus dem Jahr 1937 von Adrienne Thomas (1897–1980), sind auf den ersten Blick als unterhaltsame Mädchenbücher einzustufen, auf den zweiten Blick aber sehr wohl mit der Exilthematik verwoben. 29 Siehe auch Schreckenberger 2005. 30 Ein Fall wäre etwa die 1929 in Wien geborene Doris Orgel, die als Kind in die USA emigrierte und dort eine erfolgreiche Schriftstellerin und Übersetzerin wurde. 31 Siehe auch Becker 2010, 3. 32 Auch Brutschin 2010, 159. 33 Siehe Seeber-Weyrer 1997, 114.

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Auch die Tiergeschichten von Felix Salten (1869–1945), allen voran »Bambi« (1923), kann man nur bei sehr oberflächlicher Betrachtung als bloßes Tiermärchen bezeichnen. Historische Romane verfasste die in Salzburg geborene Alex Wedding (1905– 1966) im Exil, z. B. »Die Fahne des Pfeiferhänsleins« (1948) und »Söldner ohne Sold« (1948), 1951 unter dem Titel »Das große Abenteuer des Kaspar Schmeck« erschienen. Ihr Anliegen war es, gemeinsam mit ihrem Mann Franz Carl Weiskopf, v. a. positive Beispiele aus der Geschichte für die antifaschistische Erziehung zu nutzen, Analogien herzustellen und diese auch für die Zukunft zu nutzen. Mit der Entstehung des Faschismus befasst sich hingegen das Werk »Unsere Töchter, die Nazinen« (1935) der österreichischen Schriftstellerin und Übersetzerin Hermynia Zur Mühlen (1883–1951). Anhand von drei jungen Mädchen unterschiedlicher sozialer Herkunft schildert sie, wie diese von der Idee des Nationalsozialismus begeistert werden. Bei zwei Mädchen gelingt es den Müttern, ihren Töchtern die Augen zu öffnen. Auch in »Jan auf der Zille. Eine Jugenderzählung aus dem Jahr 1934« (1950) von Auguste Lazar werden die Ereignisse im nationalsozialistischen Deutschland beschrieben. Die promovierte Germanistin Lazar (1887–1970), mit Alex Wedding Wegbereiterin der sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur, nimmt in ihrem Buch »Sally Bleistift in Amerika« (1935) direkt auf die Verfolgung von Juden und die Situation im Exil Bezug. Die alte jüdische Kleiderhändlerin Sally Bleistift flieht nämlich vor einem Pogrom nach Amerika und kümmert sich dort um ihre Enkelin, einen schwarzen Jungen und den »Indianerjungen« Redjacket. Lazar ruft in diesem Werk zur Überwindung von Rassenvorurteilen auf. Nicht alle Kinder- und Jugendbücher, die im Exil entstanden, beschäftigen sich jedoch mit Themen wie Exil oder Faschismus. Dirk Krüger verweist auf die Tatsache, dass – anders als bei der Erwachsenenliteratur – bei der Kinder- und Jugendliteratur im Exil kaum Themen aus den ursprünglichen Ländern mitgenommen werden.34 Auch Zeitungen und Zeitschriften spielten eine große Rolle. Regelmäßige Kinder­ seiten erschienen im »Aufbau« oder in der Prager »Arbeiter-Illustrierten-Zeitung«, 1933 bis 1936 von Alex Wedding redigiert. Exilzeitschriften hatten fast alle eine Kinderbeilage, z. B. die von »Junges Österreich – Young Austria« (London) und »Freie Österreichische Jugend  – Free Austrian Youth« (New York) herausgegebene »Zeitschrift der österreichischen Weltjugendbewegung«. Diese erschien 1940 und 1942 bis 1945 in London und New York. Exilierten Jugendlichen sollte ein Heimatgefühl vermittelt werden. Viele Zeitschriften, wie »Junges Österreich« (Buenos Aires 1944–

34 Krüger 2007, 3.

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1945) oder »Young Czechoslovkia«, in London herausgegeben, waren wie Schülerzeitschriften gestaltet. Der amerikanische Literaturwissenschaftler deutsch-jüdischer Herkunft Guy Stern stellt allgemein zum Thema Kinder- und Jugendliteratur im Exil fest  : »Was den gemeinsamen Nenner und Wert dieser trotz allem entstandenen Exilliteratur im politischen Kontext ausmacht, ist ihr eindeutiges oppositionelles Engagement. Wurden die repressiven Nazijugendorganisationen innerhalb des Dritten Reichs verherrlicht, so versuchte ein Exil-Jugendbuch den Nimbus zu zerstören. Wurden in Deutschland Exil und Exilanten totgeschwiegen, so bemühten sich die geflüchteten Schriftsteller, ihnen in Jugendbüchern Rechnung zu tragen – sei es auch nur als Rahmen in einem völlig anderen Kontext. Verherrlichte die Naziliteratur Nationalsozialismus, Konformismus und Krieg, so stellten die Exilanten dem humanistische, kosmopolitische und menschrechtliche Gedanken entgegen.«35 Insgesamt ist festzustellen, dass im Exil eine Vielfalt an literarischen Formen und Themen in der Kinder- und Jugendliteratur entstand. Als häufig aufgegriffenes Motiv in der Kinder- und Jugendliteratur des Exils ist Freundschaft, Solidarität und Liebe zwischen allen Menschen – Kindern und Erwachsenen – aus allen Ländern erkennbar, wie etwa bei »Sally Bleistift in Amerika«. Dirk Krüger bezeichnet die Kinder- und Jugendbücher des Exils als »Protest und Alternative gegen die auf Rassenhass, Unmenschlichkeit, Völkerfeindschaft und Kriegsbereitschaft zielende Kinder- und Jugendliteratur im nationalsozialistischen Deutschland«.36 Als Beispiel für eher subtil angelegte antifaschistische Kinder- und Jugendliteratur soll »Alban springt ins Abenteuer. Ein Jugendroman gestern, heute und morgen« aus dem Jahr 1935 von Robert Skorpil (1894–1985), einem Schriftsteller und Jugendrichter, der nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 für zwei Jahre inhaftiert war, genannt werden. Das Buch ist auf der obersten Ebene als Kriminalroman zu lesen. Der Vater von Alban, Dr. Bernhard Sucher, ist Erfinder und wird bedroht, weil er sich weigert, seine Pläne von Vernichtungswaffen an eine nicht näher beschriebene asiatische Macht herauszugeben. Als Pazifist hat er die Pläne vernichtet, um kein Unheil anzurichten. Der sechzehnjährige Alban wächst in gebildeter und wohlhabender Umgebung auf, jedoch ohne Mutter, weil diese zwölf Jahre zuvor auf unerklärliche Weise verschwunden ist. Erst nach und nach enthüllt sich dem Leser/der Leserin, dass das Verschwinden der Mutter mit einer Erpressung wegen der Pläne zusammenhängt. Eine Erfindung des Vaters, eine Maschine, die er gebaut hat, um telepathische Übertragung zu ermöglichen, erweist sich als Möglichkeit, in die Vergangenheit zu reisen. 35 Stern 1993, 299. 36 Krüger 2007, 14.

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Diese Reise in sein eigenes Leben zwölf Jahre zuvor hilft Alban, die Entführung seiner Mutter aufzudecken und die Spur zu ihr zu finden. Die Familie ist zum Schluss wieder vereint. Das Buch vermittelt aber auch Werte, die dem aufkommenden Nationalsozialismus diametral entgegenstanden, nämlich vor allem Pazifismus, Friede und Solidarität. Ein weiteres Beispiel eines Kinderbuchs, das sich für ein demokratisches Weltbild einsetzte, ist Friedrich Felds mehrmals neu aufgelegtes »Tirilin reist um die Welt. Eine Erzählung für denkende Kinder« (1931). Feld, eigentlich Friedrich Rosenfeld (1902–1987), gehörte von 1923 bis 1934 der Kulturredaktion der sozialdemokratischen Wiener »Arbeiter-Zeitung« an. Er emigrierte 1934 in die Tschechoslowakei, 1939 nach England. In »Tirilin« reist der verwaiste arme Holzfällersohn auf der Suche nach dem Märchenland durch die Welt und kommt enttäuscht und ernüchtert, aber selbstbewusst geworden, wieder in die Heimat zurück, wo er am Aufbau einer besseren Welt mithilft. Auch Auguste Lazars schon erwähntes und zunächst in Moskau erschienenes Werk »Sally Bleistift in Amerika« (1935) kann als Beispiel für diese Gattung genannt werden. Lazar, zunächst als Lehrerin an der Reformschule von Eugenie Schwarzwald tätig, folgte 1920 ihrem Mann nach Dresden und unterstützte dort den politischen Kampf ihrer kommunistischen Freunde, bevor sie nach England emigrierte.37 Als letztes Beispiel sei noch Anna Maria Jokls »Die Perlmutterfarbe. Ein Kinderroman für fast alle Leute«, erwähnt, in dem sie ein erzählerisches Szenario entwirft, das als Parabel auf die Geschichte Deutschlands nach der »Machtergreifung« Hitlers gelesen werden kann. Die aus Wien stammende und in mehreren Exilländern lebende Schriftstellerin, Journalistin, Filmexpertin und Psychotherapeutin Jokl (1911–2001) verfasste das Buch 1937, es konnte jedoch erst 1948 erscheinen. Inzwischen wurde es mehrmals neu aufgelegt und verfilmt. Anhand von zwei Schulklassen beschreibt sie darin die Entstehung einer faschistischen Atmosphäre.

Fazit Wie die wenigen hier vorgestellten Werke aus dem Zeitraum 1933 bis 1938 zeigen, gab es durchaus antisemitische Strömungen in österreichischen Kinder- und Jugendbüchern. Es lässt sich aber sowohl eine große Bandbreite an Themen als auch an politischen Einstellungen erkennen. Neben Werken, die ein antisemitisches Weltbild verbreiten sollten, gab es auch Gegenbewegungen, die sich offen oder subtil dieser 37 Siehe Blumesberger 2007.

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Geisteshaltung widersetzten. Viele dieser Werke sind heute kaum noch bekannt und werden deshalb von der Literaturwissenschaft kaum wahrgenommen.

Literatur Primärliteratur Czibulka, Alfons von, Große deutsche Soldaten, Berlin 1933. Czibulka, Alfons von, Das Volksbuch vom Prinzen Eugen, München 1936. Czibulka, Alfons von, Prinz Eugen und das Reich, Wien/Leipzig 1938, Wien 1941. Feld, Friedrich, Tirilin reist um die Welt. Eine Erzählung für denkende Kinder, Wien/Leipzig 1931. Goerlitz, Theo L., Kinderbücher. Ein Ratgeber für Eltern, Erzieher und Kinderfreunde, Wien 1936. Illustrierte deutsche Schülerzeitung 1936. Jokl, Anna Maria, Die Perlmutterfarbe. Ein Kinderroman für fast alle Leute, Berlin 1948. Langenbucher, Hellmuth, Dichtung als Lebenshilfe. Betrachtungen über Persönlichkeiten und Werke der deutschen Gegenwartsdichtung, Berlin 1944. Lazar, Auguste, Sally Bleistift in Amerika, Moskau 1935. Prüger, Josef, Wien im Türkensturm 1683. Eine geschichtliche Erzählung, Wien 1933. R abenau, Fritz von, Weihnachten im 3. Reich, Berlin 1934. Ringler-Kellner, Ilse, Birkhild. Aus der Kampfzeit eines österreichischen BDM-Mädels, Reutlingen 1938. Skorpil, Robert, Alban springt ins Abenteuer. Ein Jugendroman gestern, heute und morgen, Wien/Innsbruck 1935. Springenschmid, Karl, Sechs gegen Napoleon. Tiroler Buben 1809, Wien/Leipzig 1933. Springenschmid, Karl, Eine wahre Geschichte. Worte und Bilder von zwei Deutschen aus dem Auslande, Stuttgart 1936. Stranik, Erwin, Österreichs deutsche Leistung. Eine Kulturgeschichte des südostdeutschen Lebensraumes, Wien/Leipzig 21937. Wache, Karl, Land und Volk, in  : Deutscher Geist in Österreich. Ein Handbuch des völkischen Lebens in der Ostmark, Dornbirn 1933, 9–69. Weber, Otto (Hg.), Bekenntnisse österreichischer Jugend. Gedichte, Berlin 1937. Wedding, Alex, Kinderliteratur, in  : Das Wort. Literarische Monatsschrift, Moskau 1937, Heft 4–5, 50–54. Weiskopf, Franz Carl, Unter fremden Himmeln. Ein Abriß der deutschen Literatur im Exil 1933 bis 1947, New York 1947, Berlin 1948. Wulf, Joseph, Literatur und Dichtung im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Hamburg 1966. Sekundärliteratur Amann, Klaus, Der Anschluß österreichischer Schriftsteller an das Dritte Reich. Institutionelle und bewußtseinsgeschichtliche Aspekte, Frankfurt a.M. 1988.

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Becker, Sabina/Krause, Robert (Hg.), Exil ohne Rückkehr. Literatur als Medium der Akkulturation nach 1933, München 2010. Blumesberger, Susanne, Auguste Lazar (1887–1970). Schreiben als Widerstand, in  : libri liberorum. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung 8, Heft 27 (November 2007), 18f. Blumesberger, Susanne, Von Giftpilzen, Trödeljakobs und Kartoffelkäfern. Antisemitische Hetze in Kinderbüchern während der NS-Zeit, in  : Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 5 (2009), http://phaidra.univie.ac.at/o  :48388 (1.7.2017). Brutschin, Kerstin, Hat doch die Mehrzahl der Frauen ihr Schicksal – und den Mann – gemeistert. Deutschsprachige Schriftstellerinnen im französischen Exil von 1933–1945, in  : Becker, Sabina/Krause, Robert (Hg.), Exil ohne Rückkehr. Literatur als Medium der Akkulturation nach 1933. München 2010, 139–161. Hall, Murray G., Der Paul-Zsolnay-Verlag. Von der Gründung bis zur Rückkehr aus dem Exil, Tübingen 1994. Krüger, Dirk, Exil 1933–1945, in  : Franz, Kurt/Lange, Günter/Payrhuber, Franz-Josef (Hg.), Kinder- und Jugendliteratur. Ein Lexikon, 30. Ergänzungslieferung, Meitingen 2007. Schreckenberger, Helga (Hg.), Die Alchemie des Exils, Wien 2005. Schwarcz, Joseph H., Ways of the illustrator. Visual communication in children’s literature, Chicago 1982. Schwarcz, Joseph H./Schwarcz, Chava, The picture book comes of age. Looking at childhood through the art of illustration, Chicago/London 1991. Seeber-Weyrer, Ursula, Zweifaches Exil. Österreichische Kinder- und Jugendliteratur im Exil, in  : Ewers, Hans-Heino/Seibert, Ernst, Geschichte der österreichischen Kinder- und Jugendliteratur von 1800 bis zur Gegenwart, Wien 1997, 114–124. Stern, Guy, Wirkung und Nachwirkung der antifaschistischen Jugendliteratur, in  : Stüben, Jens/ Woesler, Winfried/Loewy, Ernst (Hg.), Wir tragen den Zettelkasten mit den Steckbriefen unserer Freunde. Acta-Band zum Symposium »Beiträge jüdischer Autoren zur deutschen Literatur seit 1945«, Darmstadt 1993, 299–312.

Birgit Peter

Antisemitismus und Theater Über Stereotypisierungen und Widerstand Die Theaterstadt Wien ist ein kulturelles Konstrukt des langen 19.  Jahrhunderts und bietet für die Frage nach Antisemitismus und Theater eine Fülle an Material. Dieser Beitrag zeigt Traditionslinien auf, die das Theater für antisemitische Stereotypisierungen und Politik benutzten. Dem wird die Geschichte von Theaterleuten entgegengestellt, die gegen das antisemitische Klima und die Selbstverständlichkeit antisemitischer Ausgrenzung und Diffamierung auftraten. Es liegt an der gesellschafts­ politischen Bedeutung, die dem Theater in Wien beigemessen wurde, sowie an der engen Verknüpfung von Theater und Nationalität, dass es zum besonders begehrten Agitationsraum für Antisemiten wurde. Mit der Gründung des Burgtheaters als Hof- und Nationaltheater 1776 setzte eine Debatte um den vorbildlichen Bürger, die vorbildliche Sprache und Sittlichkeit ein, die im 19. Jahrhundert als Nationalitätendebatte geführt wurde. Dabei stand die Formulierung und Verkörperung genuin österreichischer Eigenschaften im Zentrum, die als Selbstvergewisserung der nationalen Identität der Habsburgermonarchie dienen sollten. Vor allem am Burgtheater kreierten Schauspielerinnen und Schauspieler die übernationale Utopie einer Monarchie, in der das Deutsch-österreichische als kultureller Ausdruck das Gemeinsame, Einende darstellen sollte.1 Stefan Zweig bezeichnete in »Die Welt von gestern« diese Parallelwelt des Burgtheaters als Goldenes Zeitalter, in dem sich nicht die Frage nach Jude oder Christ stellte, da alle gemeinsam diese Utopie herstellten  : »Denn das kaiserliche Theater, das Burgtheater war für den Wiener, für den Österreicher mehr als eine bloße Bühne, auf der Schauspieler Theaterstücke spielten  ; es war der Mikrokosmos, der den Makrokosmos spiegelte, der bunte Widerschein, in dem sich die Gesellschaft selbst betrachtete, der einzig richtige ›cortigiano‹ des guten Geschmacks.«2 In dieser durchaus verklärten Erinnerung steht der Burgschauspieler Adolph von Sonnenthal (1834–1909) im Zentrum. Seine Eleganz und sein Stil galten als Vorbild für die noble Gesellschaft, waren tonangebend für den guten Geschmack. Zweigs »Goldenes Zeitalter« der 1880/90er Jahre meinte damit die gesellschaftliche Teilhabe 1 Ein einprägsames Beispiel dafür Richter 1918. 2 Zweig 2006, 30.

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des jüdischen Bürgertums und Sonnenthal dient ihm dafür als prägnantes Beispiel. Der jüdische Schauspieler, in Budapest als Sohn eines Schneiders geboren, schaffte es, höchste gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen, ja tonangebend für den Stil Wiener Eleganz zu werden. Dies ist umso bemerkenswerter, da Sonnenthal ganz offen zum Judentum stand. Er interpretierte Rollen wie Nathan oder Uriel Acosta als selbstbewusste Juden. Dazu agierte Sonnenthal politisch, er war aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde in Wien. 1900 hielt er die Gedenkrede anlässlich des zehnten Todestages des Oberkantors von Wien, Salomon Sulzer.3 Sein 50-jähriges Burgtheaterjubiläum (1906) beging er mit Lessings Nathan. Die letzte Rolle, an der Sonnenthal bis zu seinem Tod 1909 arbeitete,4 widmete er der zentralsten Darstellung eines Juden in der europäischen Theaterliteratur – Shakespeares Shylock im »Kaufmann von Venedig«. Offenbar wollte Sonnenthal mit seiner Interpretation dem antisemitischen Darstellungskanon eine andere Interpretation entgegensetzen, denn »er studierte den Shylock und beabsichtigte, zu der alten Macklin’schen Auffassung des Juden als des rechtschaffenen, in seinem Recht gekränkten, nichts als sein gutes Recht verfechtenden tragischen Helden zurückzukehren«.5 Dass dies 1909 eine Notwendigkeit war, zeigt die vernichtende Kritik der Theaterhistorikerin Helene Richter (1861–1942) von der »Kaufmann von Venedig«-Neuinszenierung im Dezember dieses Jahres, deren Interpretation sie eine »gänzlich falsche Basis« zuschrieb, insbesondere der Gestaltung des Shylock durch Otto Tressler (1871–1965). Dieser hatte Sonnenthals Rolle übernommen, seine Interpretation entsprach allerdings plumpen antisemitischen Klischees  : »Otto Tressler, ein Schauspieler von hervorragendem Können im heiteren Charakterfache, gab einen mageren, schäbigen Juden mit langfädigem schitteren [sic  !] grauschwarzen Bart und hakenförmig gekrümmten Knochenfingern, mit blutunterlaufenen Augen und kreischender Rachenstimme. […] Tressler steigerte seine Rachewut bereits im 1. und 2. Akt auf den äußersten Gipfel, so daß ihm für den dritten Akt nur ein karikiertes Übermaß blieb, während er im vierten Akt kalt ließ.«6 Unter der Direktion von Hermann Röbbeling (1875–1949) wurde zwischen 1933 und 1938 am Burgtheater an einer Glorifizierung des habsburgisch-katholischen Erbes gearbeitet. Dramen von Hermann Heinz Ortner (1895–1956), Josef Wenter (1880– 1947) und Friedrich Schreyvogl (1899– 1976), Georg Rendl (1903–1972) und Hanns Saßmann (1882–1944) beschworen eine christliche österreichische Tradition, die die 3 Botstein 2003, 44. 4 Sein Tod wurde im Theaterfeuilleton als das Ende einer Ära beschrieben, »und so war Sonnenthal für die Wiener das Bild ihrer Burgtheaterkunst«, Schlesinger 1909, 1. 5 Nekrolog, 140. 6 Richter 1909a, 165.

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austrofaschistische Ideologie unterfütterte – kein dezidierter Antisemitismus, aber eine Neudefinition gesellschaftlicher Werte des von Zweig benannten Mikrokosmos, in dem ein unausgesprochener Ausschluss von Jüdinnen und Juden zu erkennen ist. Ein bemerkenswertes Dokument für diesen theatralen Mikrokosmos birgt der Film »Burgtheater« aus dem Jahr 1936 von Willi Forst (1903–1980).7 Laut Drehbuch handelt es sich um das Burgtheater 1897, es wird Lessings Nathan gegeben. 1897 stand auch in der historischen Realität Nathan am Spielplan mit Sonnenthal in der Titelrolle. Im Zentrum des Films steht der Burgtheaterstar Felix Mitter,8 verkörpert von Werner Krauss (1884–1959), seit 1933 am Burgtheater engagiert und ebenfalls seit 1933 von Joseph Goebbels zum Vizepräsidenten des nationalsozialistischen kulturellen Kontrollapparats der Reichstheaterkammer bestellt. Krauss steht im Film »Burgtheater« für zwei Positionen  : Einmal fungiert er als prominentester Vertreter nationalsozialistischer Schauspieler, der in seiner Darstellung des Burgtheaterstars um 1900 gegen die historische Realität des jüdischen Burgtheaterstars Sonnenthal anspielt, und zweitens als bereits in den österreichischen Theaterbetrieb installierter hoher NS-Theaterfunktionär. Auffallend ist, dass in der Ersten Republik in Theaterpolemiken an einem antisemitischen Kanon gearbeitet wurde, der anknüpfend an Adam Müller-Guttenbrunn (1852–1923) ein christlich-germanisches Schönheitsideal in den Theatertraditionen und -produktionen herstellen wollte. Müller-Guttenbrunn hatte mit der Gründung des Kaiserjubiläums-Stadttheaters – der heutigen Volksoper – 1898 ein Theater mit folgender Intention gegründet  : »das Theater keinem jüdischen Einfluss zugänglich zu machen, wissentlich keine jüdischen Schauspieler zu engagieren und das Werk keines Juden zur Aufführung zu bringen.«9 Diese antisemitischen Ausgrenzungen richteten sich gegen Theaterleute wie Max Reinhardt (1873–1943), die als jüdisch markiert und deren Arbeit als wertlos, zersetzend und unkünstlerisch dargestellt wurde.10 Eine Besonderheit stellt die Erhöhung dieser Polemiken zur wissenschaftlichen Kategorie durch eine neue Generation Geisteswissenschaftler dar, die Walter Benjamin (1892– 1940) in einer Rezension 1931 als Wissenschaft nach der Mode bezeichnete.11 Er   7 »Burgtheater« (Alternativtitel  : »Sag beim Abschied leise Servus«), Ö 1936, Regie  : Willi Forst. Die Uraufführung fand am 13.11.1936 in Berlin im Gloriaplast statt, die österreichische Erstaufführung am 21.11. in Wien im Busch-Kino, siehe Büttner 2004, 121–133. Die Librettisten der Filmmusik von »Burgtheater«, Siegfried Tisch (1905–1981) und Hans Lengsfelder (1903–1979), durften als Juden nicht genannt werden.   8 Es scheint sich um ein Wortspiel mit dem Namen des wie Sonnenthal ebenso prominenten Burgschauspielers Friedrich Mitterwurzer (1844–1897) zu handeln.  9 Pape 2015, 22. 10 Als eine dieser zahlreichen polemischen Schriften wird hier auf Baumgarten 1920 verwiesen. 11 Benjamin, Walter, Wissenschaft nach der Mode. In  : Literaturblatt der Frankfurter Zeitung, 9.8.1931, siehe Benjamin 1991, 300–302.

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meinte damit einen Vertreter, Heinz Kindermann (1894–1985), den Begründer des Instituts für Theaterwissenschaft in Wien,12 dessen Arbeit durch das konsequente Markieren von nichtdeutscher, jüdischer Literatur und Theaterproduktion gekennzeichnet war. In seinem 1939 veröffentlichten Buch »Burgtheater. Erbe und Sendung eines Nationaltheaters« formulierte er die Wiener Theatergeschichte zugunsten eines NS-Kanons neu. Kindermanns antisemitische Hetze zielt direkt auf Sonnenthal, gegen dessen, den Burgtheaterstil um 1900 prägende Persönlichkeit er anschrieb  : »Und was hat nicht bis noch tief ins 20. Jahrhundert hinein der von der jüdischen Presse hochgelobte und von Laube engagierte Jude Sonnenthal an orientalischen Verzerrungen größter Künstlerrollen verschuldet  ! Wer die verhängnisvolle Rolle des Judentums im Wiener Geistesleben studieren will, der muß gerade auch dieses Echo Sonnenthals hören, weil es hier nicht um den leichter erkennbaren Typ des zynischen [er meint den Burgschauspieler Bogumil Dawison (1818 bis 1872), Anm. d. Verf.], sondern um den viel stärker getarnten des sentimentalen Juden geht.«13 Auch am Theater in der Josefstadt wirkten illegale Nationalsozialisten, wie Robert Valberg (1884–1955), Erik Frey (1908 –1988) und Robert Horky (1908–1983), um – nachweislich seit 1935 – als Spitzel und Denunzianten den Anschluss an NSDeutschland vorzubereiten. Reinhardt hatte das Theater 1935 an Ernst Lothar (1890– 1974) verpachtet, und Lothars Spielplanpolitik unterstützte die austrofaschistische Österreichideologie – so etwa mit der Inszenierung von Emmet Laverys (1902–1986) »Die erste Legion«, übersetzt von Friedrich Schreyvogl (1899–1976), die unter Anwesenheit von Kardinal Theodor Innitzer (1875–1955) und Bundeskanzler Kurt Schuschnigg (1897– 1977) 1935 Premiere hatte und als Zeitstück vom Wunder des Glaubens gefeiert wurde. Die zweite Strategie Lothars war es, gezielt auf Basis dieses Katholizismus-Konsenses für Toleranz zu werben. 1936 inszeniert er Lessings »Nathan der Weise« mit dem 1933 aus Deutschland emigrierten Albert Bassermann (1867–1952) in der Titelrolle. Wie Julia Danielczyk in ihrem Aufsatz über die Ära Lothar am Theater in der Josefstadt herausarbeitete, zeigte sich anhand dieser Inszenierung, wie gefährdet dieser Konsens bereits war. Die Kritik betonte zwar die Wichtigkeit und Gültigkeit Lessings gerade in dieser Zeit, und der Theaterhistoriker Joseph Gregor (1888–1960) schrieb von der Bedeutsamkeit »dieses Hohelieds auf Humanität in unseren Tagen«, warnte aber auch, dass »es zur Zielscheibe des Antisemitismus umfunktioniert werden könne«.14 Neben Bassermann als Nathan agierte 12 Das »Zentralinstitut für Theaterwissenschaft« an der Universität Wien wurde 1943 gegründet, siehe Peter/Payr 2008. 13 Kindermann 1939, 105. 14 Vgl. Danielczyk 2010, 89.

Antisemitismus und Theater

Erik Frey als Tempelherr, und dieser »redet ziemlich nazihaft daher«, wie der Kritiker der »Stunde« schrieb.15 Ein weiteres Beispiel verdeutlicht, wie wirksam Antisemitismus in der realen Lebenswelt eines Schauspielers geworden war. Der aus Deutschland geflüchtete Schauspieler Leo Reuss (1891–1946) debütiert 1936 unter dem Namen Kaspar Brandhofer in der Uraufführung von Arthur Schnitzlers »Fräulein Else« als Herr von Dorsday. Er wurde von der Kritik als unglaubliche Begabung gefeiert. Reuss hatte für sich die Biografie eines Tiroler Bergbauernkinds erfunden, das als Fünfzehnjähriger den damals weltberühmten Schauspieler Josef Kainz (1858–1910) am Burgtheater gesehen und darauf sich selbst in der Abgeschiedenheit der Berge die Schauspielkunst beigebracht hätte. Besonders beeindruckt zeigten sich antisemitische Kritiker, die im Spiel des vermeintlichen Bergbauern den künstlerischen Beweis für blutvolle germanische Schauspielkunst sahen. Als kurze Zeit später die Maskerade aufflog, empörten sich die Antisemiten, dass die »bodenständige« österreichische Öffentlichkeit von einem jüdischen Schauspieler irregeführt worden war.16 Eine Kritik am Antisemitismus wird in der reichen Kabarett- und Unterhaltungsszene im Wien der 1930er Jahre viel direkter formuliert. Von den vielen Beispielen für den Kampf gegen den allgegenwärtigen Antisemitismus sollen zwei vorgestellt werden, das »Jüdisch-Politische Cabaret« und »Der liebe Augustin«. Das 1927 gegründete »Jüdisch-Politische Cabaret« von Oscar Teller (1902–1985) und Viktor Schlesinger (1903–1978) setzte sich von Beginn an das Ziel, aggressiv gegen Antisemiten vorzugehen. Die Revuen waren betitelt »Juden hinaus  !« (1927), »Ho-Ruck nach Palästina« (1933), »Rassisches und Klassisches« (1937). Die erfolgreichste Revue war »Juden hinaus  !«. Die politischen Lieder aus dieser Revue erschienen 1930 in einer Auflage von einigen Tausend als Schlagerheft. Bei der Kultuswahl der Wiener Jüdischen Gemeinde 1932 warb das »Jüdisch-Politische Cabaret« für das Wahlbündnis der »Allgemeinen Zionisten« mit den »Revisionisten«, welches dann auch die Mehrheit erlangte, ebenso im Jahr 1936. Das »Jüdische-Politische Cabaret« gastierte in verschiedenen österreichischen Städten wie Graz, Innsbruck und Salzburg, 1935 auch in Prag.17 Die Besonderheit und der Erfolg des »Jüdisch-Politischen Cabarets« lag nach Tellers Einschätzung in der Originalität der Form, populären Wienerliedern bzw. Schlagern gänzlich kritische Texte zu unterlegen, um so Lebenswirklichkeit von Juden in einer zutiefst judenfeindlichen Gesellschaft zu problematisieren und diese zum Widerstand 15 Die Stunde, 19.3.1936, vgl. ebd., 88. 16 Vgl. Haider-Pregler 1998  ; Haider-Pregler 2010. 17 Teller 1982.

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zu aktivieren. Der Erfolg, so erinnerte sich Teller, habe alle Erwartungen übertroffen, denn erstmals bekam ein jüdisches Publikum »aggressive Satiren in eigener Sache zu hören, noch dazu in einer vertrauten eingängigen Form  ; zum ersten Mal erfolgte mit der Waffe des Witzes ein jüdischer Gegenangriff.«18 Aus den erhalten gebliebenen Texten lässt sich erkennen, wie dieser Kampf gegen Antisemitismus geführt wurde  : Die Kritik richtete sich gegen die assimilierten Juden, die die Werte der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft affirmierten. Am Beispiel prominenter Persönlichkeiten aus Politik und Kultur, so etwa des sozialdemokratischen Wiener Finanzstadtrats Hugo Breitner (1873–1946) oder des Schriftstellers Jakob Wassermann (1873–1934) wurde der Hiatus von Assimilation und Jüdisch-Sein in einer bedrohlich antisemitischen Gesellschaft aufgezeigt. Neben dem Nationalsozialismus und dem österreichischen Antisemitismus galt es ebenso, die Gefahren anderer nationaler Erscheinungsformen des Antisemitismus aufzuzeigen, wie etwa der Horty-Anhänger in Ungarn oder der nationalistischen Tschechen. Ein weiteres wesentliches Thema lag in der Problematisierung des Generationenkonflikts zwischen assimilierten Eltern und zionistisch orientierter Jugend. Für Oscar Teller lag die Bedeutung des »Jüdisch-Politischen Cabarets« darin, Zeugnis für den jüdischen Selbstbehauptungswillen abgelegt und mit Witz als Waffe den Kampf gegen Antisemitismus geführt zu haben. Auch die Schauspielerin Stella Kadmon (1902–1981) bot in ihrem Kabarett »Der liebe Augustin« im Café Prückel ab 1931 einen Ort für witzig-kritische Auseinandersetzung mit der aktuellen Lebenswelt und den politischen Vorgängen in Österreich, ab 1933 verstärkt auch in NS-Deutschland.19 »Der liebe Augustin« übte in einer sehr spezifischen Weise Kritik an den politischen Vorgängen. Mit Parodie, Travestie, Nonsens und Witz kommentierte das Ensemble um Kadmon seine Umwelt, studierte Wiener Typen, fragte sich nach dem Geschmack seiner Zeit, nach Moden und denjenigen, die sie kreierten. Hinter dem scheinbar leichten Witz waren diese Produktionen subversiv, arbeiteten gegen einen Zeitgeist, der sich in Kitsch gefiel, um von dem Prozess der Zerstörung der Demokratie abzulenken, vor antisemitischen Ausgrenzungen die Augen zu verschließen und eine heile, heitere bis heroische Welt zu kreieren. Ein Großteil der Unterhaltungsindustrie und der sogenannten Hochkultur produzierte Kitsch – nicht reale Lebensverhältnisse oder politische Vorgänge bildeten dabei den Ausgangspunkt, sondern die Leugnung derselben. Ab 1933 stellte Kadmons Bühne für die aus NS-Deutschland vertriebenen Schriftsteller, Schauspieler und Regisseure einen Ort dar, der ihnen die Möglichkeit bot, sichtbar zu bleiben, indem sie dort arbeiten konnten. Und auch im Publikum fanden sich Remigran18 Ebd. 19 Vgl. Peter 1998, 226–244.

Antisemitismus und Theater

tInnen und EmigrantInnen, wie das ins Exil gerettete Gästebuch Kadmons belegt. Der »liebe Augustin« wurde zum intellektuellen Zufluchtsort. Opernparodien von Peter Hammerschlag (1902–1942) und dem aus Deutschland vertriebenen Hugo F. Königsgarten (1904–1975) sowie musikalische Arrangements von Franz Eugen Klein (1912–1944) verlachten den geblähten Pathos der als sakrosankt geltenden Werke, etwa von Richard Wagners »Ring der Nibelungen«. Die Demontage des unantastbar Würdigen, zu der in der Kulturprogrammatik der Nationalsozialisten beständig aufgerufen wurde, stand dabei im Vordergrund der Arbeit. Im November 1934 kam als neuer Autor Gerhart Herrmann Mostar (1901–1973) zum »lieben Augustin«. Ehemals Journalist beim sozialdemokratischen Vorwärts, war Mostar aus Berlin geflohen, sein Karl-Marx-Roman »Der schwarze Ritter« war eines der 1933 verbrannten Bücher. Mit ihm veränderte sich die Programmatik im »lieben Augustin«, nicht mehr der anarchisch parodistische Witz von Hammerschlag und Königsgarten, sondern Melancholie und Anklage bestimmten den Ton. Mostar setzte auf die Ratio als aufklärerisches Instrument gegen den Nationalsozialismus. So schrieb er als Gegenkonzept zu den Johann Sebastian Bach-Feiern in Deutschland 1935 einen Bach-Abend für den »lieben Augustin«. Das bekannteste Beispiel für Mostars Intention, zu Menschlichkeit und Handeln aufzurufen, war die von Herbert Berghof (1909–1990) vorgetragene Ballade des namenlosen Soldaten. Diese spielte auf die von den Nationalsozialisten praktizierte Auslöschung jüdischer Namen auf den Gefallenendenkmälern des Ersten Weltkriegs an. 1936 thematisierte Mostar prominent den aggressiven Antisemitismus. In der Fabel »Waldlegende« flüchtet um 1900 ein Mensch, dargestellt von der Tänzerin Cilli Wang, nach einem Pogrom in einen polnischen Wald. Die Insekten des Waldes und eine Elfe retten den Menschen vor dem Tod durch den braunen Maikäfer. Das am Schluss auftretende Paar der Zukunft hatte die Funktion, Antisemitismus als Ausdruck »finsteren Mittelalters« aus der Gegenwart zu verbannen. Ein weiterer aus NS-Deutschland vertriebener Autor, Curt Bry (1902–1974), der bis 1933 im politischen Berliner Kabarett »Katakombe« als Autor und Pianist gearbeitet hatte, kam 1937 zum »lieben Augustin«. Bry verfasste die beiden letzten Programme »Zirkus Universum« und »Der Durchschnittsmensch«. Letzteres erhielt noch am 12.  März 1938, dem Tag vor dem sogenannten »Anschluss« eine Kritik in der Zeitung »Wiener Tag«  : »Während die Zeit den heroischen Menschen sich zum Ziel gesetzt hat, koste es was es wolle, nimmt sich der liebe Augustin des Durchschnittmenschen an und kommt auch hier mit Galgenhumor zu der lieben alten Weise, die alles hin sein läßt, aber auch in der Pestgrube noch die Hoffnung nicht aufgibt.«20 20 Wiener Tag, 12.3.1938, Nachlass Kadmon, Archiv und theaterhistorische Sammlung, Institut für Theater, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien.

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Literatur und Quellen Baumgarten, Franz Ferdinand, Zirkus Reinhardt, Potsdam 1920. Benjamin, Walter, Wissenschaft nach der Mode, in  : Literaturblatt der Frankfurter Zeitung, 9.8.1931. Benjamin, Walter, Kritiken und Rezensionen. Gesammelte Schriften. Unter Mitw. von Theodor W. Adorno/Geshom Scholem, hg. v. Tiedemann, Rolf/Schweppenhäuser, Hermann, Bd. 3, hg. v. Hella-Tiedemann Bartels, Frankfurt a.M. 1991, 300–302. Botstein, Leon, Sozialgeschichte und Politik des Ästhetischen, in  : Botstein, Leon/Hanak, Werner (Hg.), Quasi una fantasia. Juden und die Musikstadt Wien, Wien 2003, 43–63. Büttner, Elisabeth, »Die Fallen der Kunst. Burgtheater von Willi Forst«, in  : Burgtheater. Mythos – Eros  – Imago. Maske und Kothurn. 50 Jg., Heft, hg. v. Hochholdinger-Reiterer, Beate/ Peter, Birgit, Wien 2004, 121–133. Danielczyk, Julia, Trügerische Hoffnung. Ernst Lothars Theater in der Josefstadt als Spielort österreichischer Affirmationsdramatik, in  : Bauer, Gerald M./Peter, Birgit (Hg.), Das Theater in der Josefstadt. Kultur, Politik, Ideologie für Eliten  ? Wien 2010, 81–92. Haider-Pregler, Hilde, Überlebenstheater. Der Schauspieler Leo Reuss, Wien 1998. Haider-Pregler, Hilde, »The actor who hoaxed the Nazis«. Das Überlebenstheater des Schauspielers Leo Reuss, in  : Bauer, Gerald M./Peter, Birgit (Hg.), Das Theater in der Josefstadt. Kultur, Politik, Ideologie für Eliten  ? Wien 2010, 95–107. Kindermann, Heinz, Das Burgtheater. Erbe und Sendung eines Nationaltheaters, Leipzig 1939. Pape, Christian, Das arische Theater in Wien (1898–1903), in  : Benz, Wolfgang (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7  : Literatur, Film, Theater und Kunst, Berlin 2015, 22f. Peter, Birgit, Stella Kadmons Courage. Stationen einer Theaterdirektorin, in  : Haider-Pregler, Hilde/Roessler, Peter (Hg.), Zeit der Befreiung. Wiener Theater nach 1945, Wien 1998, 226–244. Peter, Birgit/Payr, Martina (Hg.), »Wissenschaft nach der Mode«  ? Die Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943, Wien 2008. Richter, Helene, Der »Kaufmann von Venedig« im Wiener Burgtheater, in  : Shakespeare-Jahrbuch 46 (1909), 162–165 (= Richter 1909a). Richter, Helene. Nekrologe. Adolf von Sonnenthal, Shakespeare-Jahrbuch 46 (1909), 130–140 (= Richter 1909b). Richter, Helene, Unser Burgtheater, Zürich u. a. 1918. Schlesinger, Siegmund, Sonnenthal, in  : Neues Wiener Journal, 5.4.1909, 1. Teller, Oscar, Davids Witz-Schleuder. Jüdisch-Politisches Cabaret. 50 Jahre Kleinkunstbühnen in Wien, Berlin, London, New York, Warschau und Tel Aviv, Darmstadt 1982. Wiener Tag 1938. Neuer Wiener Tag, 12. März 1938, Zeitungsausschnitt »Der Durchschnittsmensch«, in  : Teilnachlass Stella Kadmon, Archiv und theaterhistorische Sammlung Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Zweig, Stefan, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a.M. 2006.

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Joseph Gregor, ambivalenter Sammler und Bibliothekar Erwerbungspolitik in der Theatersammlung der Nationalbibliothek Wien von 1933 bis 1938 Ambivalenter Sammler und Bibliothekar Als Joseph Gregor (1888–1960) im Jahr 1918, als Nachfolger des Theaterhistorikers Alexander von Weilen,1 seinen Dienst als Referent für Theaterwesen in der Hofbibliothek in Wien antrat, verfolgte er von Anfang an ein Ziel  : die zahlreichen Theatralia in einer eigenen Sammlung zusammenzuführen. Bereits im Winter 1921 sollte er dies erreicht haben. Die Gründung einer Theatersammlung in der nunmehrigen Nationalbibliothek wurde vom damaligen Direktor Josef Donabaum (1861–1936) und Vizedirektor Josef Bick (1880–1952) offiziell beschlossen, Gregor zu ihrem Leiter bestimmt und mit den Aufbauarbeiten betraut. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1953 leitete Gregor die Theatersammlung. Gregors Eigenschaften wäre, so Stefan Zweig, auch die Begründung der Theatersammlung zu verdanken, er galt als passionierter Sammler, Bibliothekar und Archivar  : »Es war lange (und ist auch heute noch) [sic  !] viel zu wenig bekannt, eine wie unerschöpfliche Schatzkammer in theatralicis die Nationalbibliothek darstellt, in der die theaterfreudigen und im Sinne der Schaufreudigkeit noch ganz spanischen Habsburger Kostbarkeiten im Laufe dreier Jahrhunderte angehäuft haben, von deren Dasein, geschweige denn deren künstlerischem Wert kaum jemals eine Ahnung nur bis zu den Fachmännern drang. Und diese Werke gekannt, gesondert und schließlich ins Licht gehoben zu haben, ist vor allem das Verdienst Josef Gregors, des jetzigen Direktors der neu erschaffenen Theaterabteilung der Nationalbibliothek.«2 Gregor beschrieb sich selbst 1924 im »Neuen Wiener Tagblatt«  : »Die stärkste Triebkraft des Sammlers ist der Glaube an die eigene Sammlung«.3 In einem Aufsatz von 1925 drückte er sich noch drastischer aus und schrieb von »sanftem Wahn1 Alexander von Weilen (1863–1918), Theaterreferent der Hofbibliothek, verunglückte 1918 tödlich und Gregor übernahm daraufhin seinen Aufgabenbereich. 2 Zweig 2013, 137. 3 Gregor 1924.

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sinn des Anhäufens von Objekten«, über den »Fluch des Unikats« und die »Sünde des Besitzes«.4 Gregor identifizierte sich nach eigenen Worten sehr mit der archivarischen und bibliothekarischen Tätigkeit und lebte darin seine akribische und ausdauernde Sammelleidenschaft aus. Weitreichende Kontakte zu Theaterschaffenden und KünstlerInnen in internationalen Kunstkreisen begünstigten zusätzlich den Ausbau der Sammlungen und verhalfen ihm zu neuem Sammlungsmaterial. An dieses sollte Gregor nach dem »Anschluss« 1938 über andere Wege herankommen. Wenige Tage nach dem 12. März 1938 wurde der damalige Generaldirektor der Nationalbibliothek Josef Bick durch den regimetreuen Paul Heigl (1887–1945) ersetzt.5 Sein Stellvertreter Robert Teichl (1883–1970) hingegen blieb in seinem Amt.6 Gregor fand Ende Mai 1939 anlässlich der 35. Versammlung des Vereins Deutscher Bibliothekare in seiner Rede zum Thema »Entwicklung der Theatersammlung in der Nationalbibliothek Wien« ausschließlich huldigende Worte für seinen neuen Direktor. »Mit dankerfülltem Staunen habe ich jener Förderung zu gedenken, die die Theatersammlung seit den Märztagen 1938 seitens ihrer vorgesetzten Stellen, namentlich durch den Generaldirektor der Nationalbibliothek, Herrn Dr. P. Heigl, erfahren hat und die in den vorangegangenen 16 Jahren ihres Bestandes keinerlei Parallele findet.«7 Trotzdem war seine Position bis Ende 1939 nicht gesichert, denn die Nationalsozialisten erhoben Anschuldigungen wegen seines ausgedehnten jüdischen und proösterreichischen Bekanntenkreises.8 Gregor war damals auch ständiger Mitarbeiter der »Neuen Freien Presse« und äußerte sich darin zu Kunst- und Kulturereignissen. Alfred E. Frauenfeld (1898–1977),9 »ostmärkischer« Geschäfts­führer der »Reichstheaterkammer«, beschrieb Gregor 1937 »durchwegs als Jude«, der »seinem Aussehen nach jüdisch wirkte«, sich im »jüdisch-freimaurerischen Fahrwasser« bewegte und »von Juden in Presse und Kunst geschoben« wurde.10 Die Nationalsozialisten duldeten Gregor vorerst, stuften ihn aber als politischen Opportunisten ein,   4 Zit. n. Mühlegger-Henhapel 2006, 33.   5 Heigl wurde von Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart bereits am 12.3.1938 telefonisch informiert und von Berlin nach Wien gerufen, wo er seinen Posten in der Nationalbibliothek bereits vier Tage später antrat, vgl. Hall/Köstner 2006, 43.   6 Robert Teichl war Historiker und trat 1907 in die Österreichische Nationalbibliothek ein. 1937 wurde Teichl zum Generalstaatsbibliothekar ernannt, war Stellvertreter von Generaldirektor Josef Bick. Teichl war schon vor dem »Anschluss« deutschnational eingestellt, ein Sympathisant der Nationalsozialisten und trat 1938 in die NSDAP ein, vgl. Hall/Köstner 2006, 86.  7 Gregor 1940, 38.   8 Vgl. Hall/Köstner 2006, 313.   9 Alfred Eduard Frauenfeld war von 1935 bis 1940 Geschäftsführer der Reichstheaterkammer in der Reichskulturkammer. 10 R atkolb 1991, 187.

Joseph Gregor, ambivalenter Sammler und Bibliothekar

der sich in die nationalsozialistischen Direktiven sehr schnell einzufügen wusste. Im Gauakt von 1939 wurde Gregor als »Konjunktumensch« bezeichnet, der vor 1938 »jüdisch-freundlich« gewesen war und sich nun »betont nationalsozialistisch zeige«.11 Einen prominenten Fürsprecher fand Gregor auch im Präsident der Reichsmusikkammer, Richard Strauss (1864–1949), dessen Librettist er seit 1935 war und unter dessen persönlichem Schutz er stand.

Dynamische Erwerbungspolitik 1933 bis 1939 Gregor verfügte, wie bereits gesagt, über ein weit verzweigtes Netzwerk an beruflichen und privaten Kontakten in internationalen Theater- und Kunstkreisen. Als sich im Lauf der Jahre der Zugang an Materialien für die Sammlung, auch aus budgetären Gründen, verringerte, konnte Gregor über diese Kontakte neue Bestände für die Theatersammlung erwerben. In seinem Jahresbericht von 1932 erwähnte er eine massive Einschränkung des Ankaufs durch die Sammlung. Der Zuwachs entstand hauptsächlich durch Spenden von PrivatsammlerInnen.12 Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1938 sollte sich nun eine weitere »lukrative« Bezugsquelle für Gregors umtriebige Sammeltätigkeit eröffnen. Im Jahresbericht der Theatersammlung von 1938/1939 schrieb Gregor über die zur Zeit »günstigen Entwicklungsmöglichkeiten« für die Sammlung, da der Bestand durch »Spenden und Übernahmen« – gemeint ist damit die Erwerbung von geraubten Büchern, Sammlungen und Objekten – rasch erweitert werden konnte.13 Die Ergänzung der Bestände betrieb Gregor »dynamisch« nach dem Anbot- und Auswahlprinzip, und sie nahm »erfreulichen Fortgang«, so beschrieb es Franz Ecker (1882–1959), Gregors Mitarbeiter, in seinem Bericht über die Theatersammlung in den Jahren von 1932 bis 1946.14 Sieht man sich im Bericht die Erwerbungstätigkeit in der Zeit von 1932 bis 1938/39 an, dann stechen sofort die Erwerbungszahlen von 11 Vgl. Hall/Köstner 2006, 551. 12 Vgl. Gschiel 2014, 281f. 13 Vgl. Hall/Köstner 2006, 316. 14 Ecker 1947, 9. Hierzu sei noch angemerkt, dass Gregor, der zeitlebens ein Vielpublizierender war und keine Gelegenheit ausließ, um über den Fortgang der Sammlung in Fachkreisen zu berichten, den Bericht über den Zeitraum 1932–1946 seinem damaligen Mitarbeiter Dr. Franz Ecker schreiben ließ. Dieser Entschluss könnte vielleicht aus Zeitmangel entstanden sein, Gregor gab gleichzeitig einen Teil der Briefsammlung Hermann Bahrs heraus. Vielmehr drängt sich jedoch der Verdacht auf, Gregor versuchte auf diese Weise, seiner Tätigkeit gerecht zu werden, indem er indirekt, aber nicht selbst darüber berichtete.

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1934, 1937 und 1938/39 heraus. Die Zahlen beziehen sich nur auf Objekte, die mit einem vollständigen Eintrag im Akzessionsjournal verzeichnet waren. In den genannten Jahren übersteigen die Schenkungen bei Weitem die Ankäufe und den Tausch. Gregor bemühte sich in der Zeit von 1933 bis 1938 auffallend um Sammlungen von jüdischen SchauspielerInnen, SchriftstellerInnen und KünstlerInnen. Der Anschein trügt nicht, dass er mit dieser Erwerbungsstrategie Profit für die Theatersammlung schlug. Er wurde somit zum Nutznießer der prekären Situation, in der sich viele der KünstlerInnen und SchriftstellerInnen seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 und dem beginnenden autoritären Ständestaat in Österreich befanden. Die Privatsammlung des Wiener Burgschauspielers Hugo Thimig (1854–1944) begründete die Theatersammlung und umfasste eine Bibliothek, Handschriften, Handzeichnungen und Grafiken. In seinen Briefen äußerte sich Thimig zu seiner Schenkung und wollte diese geschlossen aufgestellt wissen. Gregor ließ die Sammlung jedoch aufspalten und verteilte sie an verschiedene Abteilungen in der Nationalbibliothek.15 Von den Handschriften wurden nur diejenigen mit theatralem Bezug in die Theatersammlung aufgenommen, die anderen an die Handschriftensammlung abgegeben. Zwischen 1931 und 1934 erhielt die Theatersammlung weiters die umfangreiche Sammlung von Adolph von Sonnenthal (1834–1909). Sonnenthal war einer der bedeutendsten Wiener Schauspieler mit internationaler Reputation und spielte seit 1856 am Wiener Hofburgtheater. Als bekennender Jude war er einer der prominentesten Vertreter des Wiener Kultur- und Gesellschaftslebens gewesen. Eine Ehrenbürgerschaft der Stadt Wien wurde ihm jedoch in der zunehmend antisemitisch geprägten Ära Karl Luegers verweigert.16 Den Nachlass beschrieb Gregors Mitarbeiter Franz Ecker als großzügiges Geschenk der Familie Sonnenthal. 1931 übergab Siegmund Sonnenthal (1867–1933) den Großteil der Sammlung auf testamentarischen Wunsch seiner Schwester Hermine (1862–1922) an die Nationalbibliothek. 1934 erfolgten die restlichen ungefähr 14.000 Einzelstücke der Sammlung.17 Die verzögerte offizielle Aufnahme des Nachlasses führte 1937 auch zur Rekordsumme im Akzessionsjournal.

15 Vielen Dank für den Hinweis an Dr. Birgit Peter (TFMA), Gespräch 17.3.2015 16 Vgl. Peter 2009, 439–461. Adolph von Sonnenthal war von 1887 bis 1888 interimistischer Direktor des Wiener Hofburgtheaters, in diese Zeit fiel auch die Übersiedlung vom alten in das neue Gebäude am Ring. 17 Gschiel 2014, 282f.

Joseph Gregor, ambivalenter Sammler und Bibliothekar

Einen weiteren bedeutenden Zuwachs für die Sammlung konnte Gregor mit der Autographensammlung von Stefan Zweig verbuchen. Gregor war mit Zweig eng befreundet, wie sein Briefwechsel mit Zweig von 1921 bis 1938 belegt. Zweig förderte Gregor und besprach mit ihm dessen literarische Anliegen. So schrieb er im Juni 1933, dass es ihm ein Bedürfnis sei, einmal »amtlich« mit Gregor zu sprechen und kündigte in seinem Brief an, seine umfassende Sammlung von Autographen an die Nationalbibliothek schenken zu wollen.18 »Nun denke ich öfter daran, ob nicht die Wiener Nationalbibliothek diese ganze Sammlung übernehmen könnte. […] Ich würde nichts dafür wollen, sondern nur die Bedingung stellen, dass sie Zeit meines Lebens in einem gesonderten Raum […] aufgestellt wird und ich immer in jedes einzelne Stück einsehen kann.«19 Zu diesem Zeitpunkt setzte sich Zweig schon intensiv mit dem Gedanken auseinander, nach London zu emigrieren. »Ich wälze Gedanken hin und her […] nun bin ich fast sicher entschlossen, im Herbst, wo das Politische wahrscheinlich stärker aufflackert, für einige Zeit fortzugehen.«20 1935 begann er über das Antiquariat Heinrich Hinterberger die Sammlung systematisch zu verkaufen.21 Nach dem Debakel um die Uraufführung von Richard Strauss’ »Die schweigsame Frau« in Dresden, zu der Zweig das Libretto verfasst hatte – antisemitische Anfeindungen führten zu Absetzung der Oper nach nur drei Aufführungen – flüchtete er noch im selben Jahr endgültig nach London.22 Im Dezember 1937 überließ er 101 Autographen zeitgenössischer Autoren der Theatersammlung. »Ich habe meinem Freund Prof. Joseph Gregor, die im beiliegenden Verzeichnis angeführten Originalhandschriften […] als Geschenk für die Nationalbibliothek übergeben und wünsche[,] dass diese Collection geschlossen für immerwährende Zeiten an der Seite der Collectionen Hugo Thimig und Josef Kainz verwahrt, katalogisiert und benützt bliebe«.23 Zweig konnte mit dieser Schenkung weitere Steuerforderungen des Finanzamtes verhindern, und Gregor verschaffte der Theatersammlung einen weiteren äußerst wertvollen Bestand.24 18 Die Einnahmen aus seinem Volpone, dem Kassenstück des Burgtheaters und des Dresdner Staatstheaters, gab Stefan Zweig für Autographen aus. So schrieb er im Dezember 1929 an Romain Rolland, alle Einnahmen aus dem Volpone, dem Kassenstück des Burgtheaters und des Dresdner Staatstheaters für Autographen ausgegeben zu haben, darunter waren so bedeutende wie von Bach, Mozart, Montesquieu, eine »große Rede Robespierres«, zwei Gedichte Baudelaires und eine Zeichnung Goethes, vgl. Matuschek 2008, 220f. 19 Zweig 1991, S 175f. 20 Ebd., 175. 21 Matuschek 2008, 291f. 22 Vgl. ebd., 289. 23 Zit. n. Pausch 1995, 13. 24 Matuschek 2008, 307.

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Die Bibliothek und Theatersammlung der prominenten Theaterhistorikerin und -kritikerin Helene Richter (1861–1942) kam hingegen erst 1942 – unter sehr fragwürdigen Umständen – in den Bestand der Theatersammlung. Sie soll hier aber auch Erwähnung finden, um Gregors Beitrag daran zu skizzieren. Richter war eine bekannte Anglistin und Theaterwissenschaftlerin. Ihr Wissen eignete sie sich autodidaktisch an und besuchte ab 1890 als außerordentliche Hörerin Vorlesungen an der Universität Wien. Sie lebte gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Elise Richter,25 und beide besaßen eine umfangreiche wissenschaftliche Bibliothek. Richter machte sich ab der Jahrhundertwende rasch einen Namen mit ihren literaturwissenschaftlichen und biografischen Schriften zu Mary Shelley, Lord Byron und William Shakespeare. Seit 1905 schrieb sie regelmäßig als Burgtheaterkritikerin in den Rubriken »Theaterschau« und »Nekrolog« für das Shakespeare-Jahrbuch der Deutschen Shakespeare Gesellschaft sowie für das Goethe-Jahrbuch.26 Ab der Jahrhundertwende widmete sie sich verstärkt der Theaterwissenschaft. Ihre Leidenschaft für das Sammeln von Theatralia begann bereits als Jugendliche mit dem Anlegen einer »Burgtheatermappe«.27 Diese wurde zum Grundstein ihrer späteren umfangreichen Theatersammlung. Als »Burgtheaterbiographin«28 besaß sie sogar einige Zeit ein eigenes Büro im Wiener Burgtheater. Ihre Schwester Elise Richter begann bereits zwischen 1938 und 1939, wegen der Entrichtung der 25-prozentigen Judenvermögensabgabe Teile ihrer wertvollen Fachbibliothek zu verkaufen. 1941 kam der Kontakt zwischen Elise Richter und Hermann Corsten, Direktor der Kölner Universitäts- und Stadtbibliothek, zustande. Corsten trat seinerseits unmittelbar nach Beginn der Verkaufsverhandlungen mit Robert Teichl von der Nationalbibliothek in Kontakt. Bei Corstens Besuch in Wien zeigte ihm Elise Richter auch die Theatermappen ihrer Schwester Helene, betonte aber, diese stünden nicht zum Verkauf.29 Für genau diesen Teil des Bestandes der Bibliothek, die theaterwissenschaftliche Sammlung, interessierte sich aber Gregor, welchen Teichl zu den Verhandlungen hinzugezogen hatte. Gregor war bekannt, dass eine Sammlung 25 Elise Richter (1865–1943) war zu Beginn des 20. Jahrhunderts die bedeutendste Sprachwissenschaftlerin im Fach Romanische Philologie und Begründerin der experimentellen Phonetik. Richter absolvierte als erste Frau an der Universität Wien ein vollständiges, regelmäßiges Studium. 1901 promovierte sie als erst dritte Frau zum Doktor der Philosophie und erhielt schließlich 1907 nach langem Warten als erster Privatdozentin die Lehrbefugnis für das Fach Romanische Philologie. Nach dem »Anschluss« 1938 wurde sie sofort zwangspensioniert, wodurch die Schwestern sehr rasch in finanzielle Bedrängnis gerieten. 26 Vgl. Hoffrath 2009, 30f. 27 Richter 1997, 51. 28 Ebd., 52. Elise Richter bezeichnete ihre Schwester als »Burgtheaterbiographin«. Helene Richters Buch »Unser Burgtheater« erschien 1918. 29 Vgl. Hoffrath 2009, 125.

Joseph Gregor, ambivalenter Sammler und Bibliothekar

von Helene Richter existierte und sein Interesse, diese Theatralia in die Theatersammlung einzufügen, war dementsprechend groß. Im Oktober 1941 bewilligte das Kölner Kuratorium der Universität den Kauf. Eine Abmachung zwischen Corsten und Teichl sah danach vor, dass die Bücher von Elise Richter nach Köln kamen, die Theaterbibliothek und die Theatermappen von Helene Richter aber in Wien bleiben sollten.30 Als Gregor nun seinen Besuch zur Besichtigung der Theaterbücher bei Elise Richter ankündigte, reagierte diese voller Bestürzung und wollte sein Kommen unter allen Umständen verhindern. »Ihr gütiger Vorschlag, für den ich Ihnen bestens danke, kommt mir ganz überraschend. Dass Professor Corsten für einen geringfügigen Umstand einen solchen Apparat in Bewegung setzt, beruht offenbar auf einem Misverständnis [sic  !]. In Frage kommt ja für uns ausschliesslich die Veräusserung einer bescheidenen Büchergruppe zum Zweck der Steuerzahlung für das nächste Jahr. Dass in dem Bücherverzeichnis, das wir ihm [Corsten, Anm. d. Verf.] zur Orientierung schickten, auch ein kleiner _ (sehr kleiner  !) _ [sic  !] Absatz ›Theater‹ überschrieben war, mag ihn veranlasst haben, einen Sachverständigen des Faches heran zu ziehen. In Wirklichkeit sind unsere paar armseligen Theaterbücher so unbedeutend, dass ihre Besichtigung Ihnen als ärgerlicher oder lachhafter Missbrauch Ihrer Zeit erscheinen müsste. Sie erinnern sich ja vielleicht noch, dass meine Schwester immer mit den Beständen Ihrer [sic  !] Sammlung gearbeitet hat. Ich hoffe, diese Zeilen _ von einer Telefonischen Verständigung, die ja erfahrungsgemäß in der Nationalbibliothek schwer erreichbar, möchte ich absehen _treffen rechtzeitig bei Ihnen ein, um Ihnen eine Bemühung zu ersparen, die mir meinerseits ganz unbescheiden erschiene.«31 Bei dem Bücherverzeichnis »Theater« handelte es sich um 118 Theaterbücher und 19 Aufsätze. Sein Besuch fand wohl nicht statt, er konnte aber ein Gutachten anhand des ihm bereits vorliegenden Verzeichnis der Bücher und Theatermappen schreiben. Corsten hatte ihm das Verzeichnis schon Tage vorher zugesandt.32 Gregor stufte die Sammlung als »gewiss sehr wertvoll« ein, »Helene Richter hat nicht nur mit genauer Kenntnis des wiener [sic  !] Theaters, sondern auch auf Grund reicher Beziehungen gesammelt und besitzt gewiss keine nebensächlichen Stücke.«33 Er kritisierte, dass Elise Richter nur von Theaterbüchern schrieb und die Theatermappen mit einer Reihe kostbarer Grafiken einfach unterschlagen wollte. Ein Großteil des Materials, so schrieb er, war in der Theaterabteilung bereits vorhanden. Aber die Theatermappen 30 Vgl. ebd., 120–124. 31 Ebd., 124. Brief Elise Richter an Josef Gregor, 25.10.1941. 32 Christine Hoffrath gibt an, dass das Verzeichnis der Theatermappen in Köln leider nicht mehr erhalten geblieben ist. 33 Hoffrath 2009, 126. Joseph Gregor Gutachten über die beiden Verzeichnisse Theatermappen und Theater aus dem Besitz von Elise und Helene Richter, 27.10.1941.

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enthielten ein paar Unikate an Grafiken, die ihm für die Theatersammlung als sehr gewichtig erschienen. Außerdem wollte er die Sonderdrucksammlung, in der sich auch der von ihm verfasste Aufsatz »Historische Tage des Theaters in der Josefstadt« befand, für den Bestand haben.34 Als Kaufsumme sah Gregor 1.000 Reichsmark als »gewiss nicht hoch […], aber angesichts der Sachlage als das Richtige« an.35 Als Elise Richter Anfang 1942 vom Verkauf der Bibliothek zurücktreten wollte, drohte ihr Corsten mit der Gestapo. Im März 1942 wurden schließlich Teile der Bibliothek nach Köln transportiert, die restlichen inklusive der Theaterbibliothek Helene Richters blieben in der Nationalbibliothek. Elise und Helene Richter wurden im Oktober 1942 nach Theresienstadt deportiert. Helene Richter starb dort im November 1942 und ihre Schwester Elise im Juni 1943. Die Theatersammlung von Helene Richter wird bis heute im Theatermuseum in Wien verwahrt.

Joseph Gregor – Theaterhistoriker und Literat Gregor betätigte sich, neben seiner Leitungsfunktion, auch als Publizist, Literat und Theaterhistoriker. Regelmäßig verfasste er Aufsätze und Berichte über seine bibliothekarische und archivarische Arbeit für Fachzeitschriften und hielt Vorträge im In- und Ausland. Vor allem publizierte er aber umfassend angelegte kulturhistorische Bücher über Theater-, Musik- und Ballettgeschichte. So verfasste er, um einige zu nennen, eine große Gesamtdarstellung zur »Weltgeschichte des Theaters« 1933, »Richard Strauss, Meister der Oper« 1939 und »Das Theater des Volkes in der Ostmark« 1943, gewidmet dem Reichsstatthalter von Wien, Baldur von Schirach. Er verarbeitete darin die Bestände der Theatersammlung, unter Verwendung unzähliger Druckschriften und Bildmaterialien, allerdings ohne Angabe von Quellen und Fußnoten. Seine historischen Forschungen sind großzügige Längs- und Querschnitte durch die Geschichte. In seiner Funktion als Historiker trug Gregor durch seine Publikationen zu den Beständen der Theatersammlung zur gegenwärtigen Auffassung von nationalem Theater bei und passte seine Worte geschmeidig der nationalsozialistischen Diktion an. So schrieb er 1941 in die »Kulturgeschichte der Oper«  : »Gleichzeitig erhebt sich die Oper. Wir genießen das Glück, an ihrer Blütezeit stehen zu dürfen. […] Ja es ist sogar möglich, daß wir, in dem grandiosen Umbau Europas, der sie jedenfalls neuerlich umfassen wird, noch vor ihrem Höhepunkt stehen, wenngleich niemand sagen

34 Aufsätze in Sonderdruck erhöhten damals wesentlich die Auffindbarkeit für Bibliotheksbenützer. 35 Hoffrath 2009, 126.

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kann ob dieser Höhepunkt neuer Produktion dienen wird oder nur der Wiedergabe des Geschaffenen.«36 Namen der von ihm ehemals verehrten Dramatiker, wie Hugo von Hofmannsthal oder seines »Freundes« Stefan Zweig, ließ Gregor unerwähnt und subsumierte sie unter Textdichter.37 Gregor schrieb nach 1938 mit seinen zahlreichen, theaterhistorischen Forschungen am nationalsozialistischen Kanon mit, und dieser Zusammenhang ist bis heute nicht kritisch reflektiert.

Joseph Gregor – Librettist von Richard Strauss Der musikalischen Öffentlichkeit ist Josef Gregor vor allem als Librettist von drei Opern von Richard Strauss bekannt  : 1935 »Friedenstag«, Uraufführung Juli 1938 in München, 1935/36 »Daphne«, Uraufführung Oktober 1938 in Dresden, und 1936 bis 1940 »Die Liebe der Danae«, Uraufführung August 1952 in Salzburg.38 In dieser Funktion trat er 1935 die Nachfolge von Zweig an. Dieser hatte ihn an Strauss empfohlen. So schrieb Zweig im Juni 1935 an Strauss  : »Wenn ich Ihnen Joseph Gregor so dringend vorschlug, so geschah dies aus redlichster Überzeugung, dass niemand heute ein solcher Kenner der Oper und des Theaters ist wie er, und weil ich nach seinen Gedichten und Dramen ihm die höchste Stilanpassungsfähigkeit zutraue«.39 Gregor selbst verehrte Strauss seit seinen Jugendtagen. In seinem Strauss-Buch »Meister der Oper« von 1939 erwähnte er ein Abiturgeschenk in Form eines »Salome« Klavierauszuges. »Als ich ihn mit glühenden Wangen und vielen falschen Tönen spielte, faßte ich den Entschluß, einen Operntext für Richard Strauss zu schreiben. Dies hat dann noch dreißig Jahre auf seine Verwirklichung gewartet, ist mir aber immerhin ein Beweis, daß Blütenträume reifen.«40 Als Strauss sich schließlich zur Zusammenarbeit entschied, antwortete ihm Gregor, sich glücklich in der Nachfolge von Hofmannsthal und Zweig wissend  : »Mein Freund Dr. Zweig überbrachte mir die wahrhaft beglückende Nachricht, dass ich Hoffnung haben kann, für Sie zu arbeiten. Welche Gefühle mich in diesem Augenblicke beherrschten, muß ich Ihnen nicht sagen, der meiner Verehrung so gewiß ist, einer Verbindung der Gedanken vom Meis-

36 Gregor 1941, 17. 37 Ebd., 410. 38 Vgl. Bleier-Brody 1958, 10. 39 Birkin 2006, 67f. 40 Gregor 1939, 76.

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ter zum Adepten, die niemand anderer als Hofmannsthal geschlagen. Zweig machte mich also mit den verschiedenen in der Debatte stehenden Themen bekannt.«41 Aus dem erhaltenen Briefwechsel von Strauss und Gregor, der in erster Linie eine Werkstattkorrespondenz beinhaltet, lässt sich herauslesen, dass Strauss zunächst Gregors wissenschaftliche Arbeiten schätzte. Anlässlich des Erscheinens der »Weltgeschichte des Theaters« 1935 schrieb er am 8.  Jänner 1935 einen ausführlichen Kommentar dazu in einem Brief an Gregor und lobte sein Werk  : »möchte ich Ihnen mit besten Neujahrswünschen mitteilen, dass ich Ihre ausgezeichnete Geschichte des Theaters mit größter Freude und regen Interesse nun beinahe zu Ende gelesen habe.«42 Außerdem zeigte er sich an den bildlichen und literarischen Dokumenten zum Barocktheater der Theatersammlung sehr interessiert. Anfangs unterstützte Zweig Gregor noch bei der Arbeit an den Libretti. Für »Friedenstag« stellte er die Skizzen zusammen und machte Vorschläge für Dialoge und Dramaturgie. Die Idee und Skizzen zu »Daphne« stammten hingegen von Gregor selbst und inspirierten Strauss zur Oper. Doch sparte Strauss in den Briefen nicht mit Kritik an Gregors Schreibstil, um sich dann wiederum mit lobenden Worte zu entschuldigen. So äußerte er sich im Oktober 1935 zu Gregors Entwurf von »Friedenstag«  : »Ich habe jetzt einige Distanz zu Ihrer sonst so wertvollen Arbeit gewonnen. So wie sie heute ist, taugt sie nicht für mich. Wenn sie den Versuch machen, das Ganze nochmal umzuarbeiten auf gehobene Prosa, aber so wie natürliche Menschen sprechen«. Einen Tag später, am 7. Oktober 1935, entschuldigte und bedankte er sich  : »Hoffentlich hat sie derselbe [Brief ] nicht allzu sehr gekränkt. Aber wenn man brieflich-sachlich kritisieren soll, dann kann man es – will man deutlich sein – nur mit Beleidigungen gegen einen Freund, der einen versteht. Also die letzten Correkturen sind eine enorme Verbesserung und treffen schon näher den Kern.«43 Die Arbeiten für Strauss stellten für Gregor einen Höhepunkt seines dichterischen Schaffens dar, obwohl oder gerade weil sich dieser zu seinem stilistischen Können oft verhalten äußerte. In seinem 1939 erschienenen Buch über »Richard Strauss, Meister der Oper« schrieb Gregor  : »Ich habe nämlich auch meine Texte nie anders aufgefasst, als dem Genie des Meisters zu dienen, wie es in dem vorliegenden Buche geschieht. Ich habe es dankbar, aber ohne Überheblichkeit hingenommen, wenn er sich manchmal höchst lobend, ja begeistert über meine Arbeit aussprach. Und ich habe es ebensogut verstanden, wenn er manchmal  : ›Trivial  ! Banal  ! Schrecklich  !‹ an den Rand meiner Arbeiten schrieb. Dies sind Erlebnisse einer 41 Strauss 1955, 21. 42 Ebd., 14. 43 Ebd., 36.

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anderen Sphäre.«44 In Strauss fand Gregor nicht nur seinen Meister, sondern dessen Berühmtheit war für ihn ein Schutz vor den Anfeindungen der Nationalsozialisten nach dem »Anschluss« 1938.

Ausstellungen und Theatermuseum Im Kuppelsaal der Nationabibliothek kuratierte Gregor seit 1922 regelmäßig Theaterausstellungen. Damit präsentierte Gregor die Neuzugänge der Bestände der Theatersammlung einer breiteren Öffentlichkeit. Im 1931 gegründeten Bundestheatermuseum konnte Gregor seine Sammlungsaktivitäten endlich auch auf Objekte außerhalb des Sammlungsprofils der Theatersammlung ausdehnen und sie entsprechend präsentieren. Mit dem Nachlass von Adolph von Sonnenthal hatte die Theatersammlung 1931, wie bereits gesagt, viele Objekte erhalten, die hervorragend in ein museales Sammlungsprofil fielen. Gregors Mitarbeiter Ecker schrieb dazu in seinem Sammlungsbericht, mit den Ausstellungen wäre eine »wertvolle Kulturmission« erfüllt worden.45 Die Ausstellungstätigkeit verdichtete sich im Zeitraum 1933–1938. Die Anzahl der von Gregor persönlich gestalteten Ausstellungen stieg, im Vergleich zu den Jahren 1922–1932, auf das Doppelte an. Die Beteiligung mit Objekten an anderen nationalen und internationalen Ausstellungen nahm ebenfalls stark zu. Im Schnitt wurde im Zeitraum von 1933–1938 jedes Jahr ein bedeutender Bestandszuwachs präsentiert. Das Jahr 1935 stach in der Liste besonders heraus. In diesem Jahr gestaltete Gregor vier Ausstellungen, drei davon zu Beständen aus der Theatersammlung  : eine zur bereits erwähnten Sammlung von Adolph Sonnenthal, zu Alexander Moissi und zu Josef Kainz.46 Mit dem »Anschluss« setzte auch bei der Themenauswahl für die Ausstellungen ein ideologischer Wandel ein. Eine Ausstellung zu Adolph von Sonnenthal zu kuratieren, wäre unter den Nationalsozialisten nicht mehr möglich gewesen. Gregor sah seine Aufgabe jetzt darin, zur Geschichte des Nationaltheaters beizutragen, und wählte Themen wie »Das Wiener Burgtheater« 1938, Richard Strauss 1939, Ferdinand Raimund und das Volkstheater 1940 sowie Hebbel und Wien 1942. Anlässlich der »Gaukulturwoche« in der Saarpfalz 1938 konnte Gregor seine Ausstellung über das

44 Ebd., 51. 45 Ecker 1947, 31. 46 Ebd., 32f.

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»Wiener Burgtheater« in der Saarpfalzoper in Saarbrücken präsentieren.47 Das Saarländische Staatstheater, auch Westgautheater oder Grenzlandtheater, wurde zwischen 1937 und 1938 erbaut und war v. a. auch als »kulturelles Bollwerk« gegen Frankreich gedacht. An diesem Ort im äußersten Westen eine Ausstellung über das Wiener Burgtheater, das »Nationaltheater der Ostmark«, als »kulturelles Bollwerk« gegen den Osten, zu zeigen, hatte hohen propagandistischen Wert. Mit der Teilnahme an der »Gaukulturwoche« sah Gregor neue Möglichkeiten, sich und die Theatersammlung ganz in den Dienst der NS Theaterpolitik zu stellen und über die Grenzen Wiens wirken zu können. Die Bedeutung, die das antisemitische Klima in Österreich zwischen 1933 und 1938 für die Erwerbungspolitik von Bibliotheken und Archiven hatte, ist evident. Vertiefende Studien zu den Akteuren und Profiteuren sind weiterhin notwendig, um eine kritische Befragung österreichischer Selbstvergewisserung über Kultur zu ermöglichen.48

Literatur und gedruckte Quellen Birkin, Kenneth, Joseph Gregor. Die Entstehung eines Richard Strauss Librettisten, in  : Mühlegger-Henhapel, Christiane (Hg.), Joseph Gregor. Gelehrter – Dichter – Sammler, Frankfurt a.M. 2006, 61–71. Bleier-Brody, Agnes, Joseph Gregor. Bibliographie 1908–1958, Berlin 1958. Ecker, Karl, Die Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in den Jahren 1932– 1946, in  : Gregor, Joseph (Hg.), Meister und Meisterbriefe um Hermann Bahr, Wien 1947, 5–45. Gregor, Joseph, Entwicklung der Theatersammlung an der Nationalbibliothek in Wien, in  : Zentralblatt für Bibliothekswesen (1940), 36–44. Gregor, Joseph, Kulturgeschichte der Oper  : Ihre Verbindung mit dem Leben, den Werken des Geistes und der Politik, Wien 1941. Gregor, Joseph, Richard Strauss. Der Meister der Oper, München 1939. Gregor, Joseph, Von Sammlern und Sammlungen, in  : Neues Wiener Tagblatt, 23.9.1924. Gschiel, Christina, Joseph Gregor und die Theatersammlung der Nationalbibliothek in Wien – rastlose Tätigkeit im Interesse der Sammlung, in  : Blimlinger, Eva (Hg.), Praxis des Sammelns, Wien 2014, 264–297. 47 Vgl. Gschiel 2014, 291f. 48 In ihrer Dissertation zum Thema »Die Gründung eines theaterwissenschaftlichen Forschungsapparates im Nationalsozialismus. Zur Sammlungsgeschichte der Bestände am Zentralinstitut für Theaterwissenschaft 1943–1945« befasst sich die Autorin weiter mit Joseph Gregor als NS-Akteur und untersucht seine Verbindung zu Heinz Kindermann (1894–1985), Gründer des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft 1943 an der Universität Wien.

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Hall, Murray/Köstner, Christina, »… allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern …« Eine Österreichische Institution in der NS-Zeit, Wien 2006. Hoffrath, Christiane, Bücherspuren. Das Schicksal von Elise und Helene Richter und ihrer Bibliothek im »Dritten Reich«, Köln 2009. Matuschek, Oliver, Stefan Zweig. Drei Leben, eine Biographie, Frankfurt a.M. 2008. Mühlegger-Henhapel, Christiane, Die Sammlung als Denkmal. Joseph Gregor und das Österreichische Theatermuseum, in  : Mühlegger-Henhapel, Christiane (Hg.), Joseph Gregor. Gelehrter – Dichter – Sammler, Frankfurt a.M. 2006, 33–45. Pausch, Oskar, Geheimnis der Schöpfung. Die Autographensammlung Stefan Zweigs im Österreichischen Theatermuseum, Wien 1995. Peter, Birgit, Imago und Vergessen  – Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber, in  : Stern, Frank (Hg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitimus – Zionismus, Wien 2009, 439–461. R athkolb, Oliver, Führertreu und Gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich, Wien 1991. Richter, Elise, Summe des Lebens, hg. v. Verband der Akademikerinnen Österreichs, Wien1997. Strauss, Richard, Richard Strauss und Joseph Gregor. Briefwechsel 1934–1949, hg. v. Roland Tenschert, Salzburg 1955. Zweig, Stefan, Denkmäler des Theaters, in  : Peter, Birgit/Renolder, Klemens (Hg.), Zweigs Theater. Der Dramatiker Stefan Zweig im Kontext europäischer Kultur- und Theatergeschichte, Würzburg 2013, 137–139. Zweig, Stefan, Stefan Zweig – Joseph Gregor. Correspondence 1921–1938, hg. v. Kenneth Birkin, Dunedin 1991.

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»Und wenn es nicht auf gesetzlichem Wege gehen sollte, diese Parasiten zu vertreiben …« Das antisemitische Programm eines Grazer Verlags Wenn man die österreichische Verlagslandschaft des 20. Jahrhunderts in Hinblick auf den Antisemitismus überblickt, dann kommt man um den 1917 von Leopold Stocker in Graz gegründeten Heimatverlag (später Leopold Stocker Verlag) nicht herum. Er steht allein da. Bei näherem Hinsehen kristallisiert sich eine eigenartige Symbiose zwischen Verleger und antisemitischem Verlagsprogramm einerseits und eine zwischen dem »Hauptlieferanten« antisemitischer, antirepublikanischer, antibolschewistischer Schriften und dem Verlag andererseits heraus. Es sollen im Folgenden die Zusammenhänge zwischen der politischen Karriere und der ideologischen Ausrichtung des Verlegers durch die Vorstellung der einschlägigen Publikationen untersucht werden. Leopold Stocker wurde 1886 in Brand bei Zwettl in Niederösterreich geboren und gründete, wie erwähnt, 1917 den Heimatverlag Leopold Stocker in Graz. Nicht unwesentlich für das Verlagsprogramm war seine Beziehung zur Landwirtschaft und seine politische Tätigkeit. Von November 1918 bis Frühjahr 1934, als der Landbund für Österreich korporativ in die NSDAP eingegliedert wurde,1 gehörte Stocker dem Landbund in leitenden Funktionen an. Im Frühjahr 1919 wurde er als steirischer Abgeordneter des »Deutschen Bauernbundes« in die Konstituierende Nationalversammlung Deutschösterreichs gewählt, und von Dezember 1924 bis Mai 1927 gehörte er als Mitglied des Landbunds (Steiermark) dem Bundesrat an.2 In dieser Eigenschaft sprach Stocker Anfang Oktober 1920 vor einer Wählerversammlung des Landbunds in Graz und zog gegen die Sozialdemokraten wegen deren behaupteter unrühmlicher Rolle beim »Umsturz« los. Die Sozialdemokraten setzte er mit den Juden (bzw. umgekehrt) gleich. Im Zeitungsbericht über seine Rede heißt es  : »Mit der Bekämpfung der Juden müsse endlich einmal Ernst gemacht werden. Der Numerus 1 Siehe dazu den Beitrag von Hanno Scheuch in diesem Band. 2 Im Personal-Fragebogen zum Antragschein auf Ausstellung einer vorläufigen Mitgliedskarte und zur Feststellung der Mitgliedschaft im Lande Österreich, unterzeichnet am 24.5.1938, schreibt Stocker Folgendes  : »Seit November 1918 habe ich aktiv in zahlreichen Veranstaltungen und Kundgebungen als Redner für den Anschluss Oesterreichs an Deutschland geworben und gekämpft.« Stocker war Parteigenosse seit 1.5.1938 und erhielt die Nummer 6,349.842, Landesgericht für Strafsachen Graz, 11 Vr 6396/48, Strafsache gegen Leopold Stocker, Blatt 1541–1546, hier Blatt 1545.

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Abb. 1  : Karl Paumgartten, Judentum und Sozialdemokratie.

Abb. 2  : Illustration in  : Karl Paumgartten, Judentum und Sozialdemokratie.

clausus für die Hochschulen müsse eingeführt werden, die Ausweisung der Ostjuden müsse gesetzlich durchgeführt werden. (Beifall.) Und wenn es nicht auf gesetzlichem Wege gehen sollte, diese Parasiten zu vertreiben, dann müssen andere Mittel gefunden werden und wenn es der Pogrom ist. (Stürmischer Beifall.)«3 Eine rhetorische Fortsetzung fand dieses Gedankengut in den Werken von Karl Paumgartten (d.i. Karl Huffnagl). Paumgartten war vom Gedanken geradezu besessen, dass das arbeitende Volk durch die jüdischen sozialdemokratischen Proletarierführer irregeleitet, verführt und betrogen werden würde, und so richtete er mehrere Pamphlete an die Arbeiter. 1920 erschien »Judentum und Sozialdemokratie« in mehreren Auflagen4 mit »Um-

3 Tagespost (Graz), Morgenblatt, Nr. 275, 5.10.1920, 3f.; hier 4. 4 Die 2., »vollständig umgearbeitete Auflage« erschien im August 1921.

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Abb. 3  : Illustration in  : Karl Paumgartten, Judentum und Sozialdemokratie.

Abb. 4  : Illustration in  : Karl Paumgartten, Judentum und Sozialdemokratie.

schlagzeichnung und Textillustrationen von Willi Stiborsky«,5 gefolgt von »Arbeiter, auf ein Wort  !« (1921) und »Briefe an einen Sozialdemokraten« (1927). Wenn man die Illustrationen betrachtet, dann sagt ein Bild mehr als tausend Worte. 1924 erschien im Heimatverlag Stocker das Werk »Judenfibel. Das ABC der viertausendjährigen Judenfrage« von Karl Paumgartten in einer Auflage von 10.000 Exemplaren. Es war 13 Jahre lang, also bis 1937, lieferbar. Es stellt sich in diesem Fall wie auch bei den anderen Büchern Paumgarttens – für die »Verhetzung« eine passende Beschreibung wäre – trotzdem die Frage, wieso von keiner Behörde in Österreich ge5 So laut Inserat in der Buchhändler-Correspondenz, Nr. 37–41, 13.10.1920, 397. Er hieß eigentlich Willy Stieborsky (1881–1966) und nannte sich auch entweder Georg Willy Stieborsky oder Georg Wilhelm Stieborsky. In manchen Publikationen für den Stocker-Verlag verwendete er den Künstlernamen »Wilhelm Georgus«.

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Abb. 5  : Karl Paumgartten, Arbeiter, auf ein Wort  ! Abb. 6  : Illustration in  : Karl Paumgartten, Briefe an einen Sozialdemokraten.

gen sie vorgegangen wurde. Eine Antwort habe ich nicht, aber im Jahr 1937 wurde gegen die »Judenfibel« ein Verfahren nach dem damaligen § 302 StG (Aufreizung zu Feindseligkeiten gegen Nationalitäten, Religionsgenossenschaften, Körperschaften u. dgl.) sowie § 303 (Beleidigung einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft) eingeleitet. Stocker erhielt wegen Verletzung von § 303 StG eine Strafe in der Höhe von 100 Schilling, und das Buch wurde für verfallen erklärt. Im Werbetext für die »Judenfibel« liest man  : »Wer sie [diese Schrift, Anm. d. Verf.] zur Hand nimmt, dem löst sich sofort das geheimnisvollste aller Menschenrätsel, für den fällt die Maske, die der Jude vor seinem wahren Gesicht trägt.« Im Anhang zur »Judenfibel« preist Stocker den »Aufklärungsapostel gegen Juda« (Paumgartten) und meint  : »Der Kampf gegen die Allmacht Juda und die Aufklärung über diesen Schmarotzer am Mark des deutschen Volkes ist außerordentlich schwierig, weil der größte Teil der in deutscher Sprache geschriebenen Presse in den Händen der Juden selbst oder in denen der Judendiener ist […] Daher ist die Verbreitung dieser Aufklärungsschriften von Mann zu Mann ein Gebot deutscher Aufklärungspflicht. Solche Arbeit ist Antisemitismus der Tat.«

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Abb. 7  : Illustration in  : Karl Paumgartten, Briefe an einen Sozialdemokraten.

Die eindeutig antisemitischen Bilder wurden vom Verlag wiederverwertet. Stocker machte sie nämlich zu »Postkarten zur Abwehr von Judentum und Sozialdemokratie«. »Die 14 besten Bilder« waren käuflich beim Verlag zu erwerben. Als Abgeordneter war Stocker Ende 1924 auch im Bundesrat mit antisemitischen Äußerungen auffällig geworden. Als der sozialdemokratische Abgeordnete Max Klein – er war jüdischer Abstammung, Mitglied des Bundesrats bis 1934, konnte 1938 nach Palästina auswandern und kehrte nach dem Krieg nach Wien zurück – bei einer Debatte über die wirtschaftliche Lage des Landes das Niveau der Diskussion beklagte, kam es zu einem Zuruf Stockers. Laut stenographischem Protokoll rief er »Jüdische Frechheit«. Die Folge laut Protokoll  : »Lebhafte Zwischenrufe und lang andauernder Lärm.« Statt einen Ordnungsruf zu erteilen, meinte der Vorsitzende lediglich  : »Herr Bundesrat Stocker, ich bitte um Ruhe  !«6 6 Stenographisches Protokoll, 82. Sitzung des Bundesrates der Republik Österreich, 30.12.1924, 1024.

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Abb. 8  : Werbung für antisemitische Postkarten.

Abb. 9  : Karl Paumgartten, Juda. Wesen und Wirken des Judentums.

Etwas mehr als ein halbes Jahr später fand eine Debatte im Bundesrat über das Arbeitslosenversicherungsgesetz statt, und Abgeordneter Stocker meldete sich mit einfachen Lösungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu Wort. Auch nun war, wie schon im Oktober 1920, die Ausweisung der Juden Stockers probates Mittel. Im Protokoll liest man  : »Ein weiteres Mittel, um sofort oder wenigstens in absehbarer Zeit eine bedeutende Verminderung der Zahl der Arbeitslosen bewerkstelligen zu können, wäre, daß die vielen Tausende fremdnationaler Arbeiter und die polnischen Juden aus unserem Staate ausgewiesen werden. […] Wir verlangen zur Lösung des Arbeitslosenproblems, daß die polnischen Juden, die in Scharen zugewandert sind, aus dem Lande ausgewiesen werden. Das würde gleichzeitig eine Lösung des Wohnungsproblems bedeuten, denn die vielen Tausende polnische Juden, die sich hier eingenistet haben, sind gewiß nicht wohnungslos. Es würde auf diese Weise gleichzeitig auch Raum frei werden für unsere bodenständige Bevölkerung und unsere bodenständigen Arbeiter. […] Wenn entweder mein deutscher Volksgenosse oder der Fremdnationale  – ich

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Abb. 10  : Schutzumschlag von Karl Paumgartten, Juda. Wesen und Wirken des Judentums. Abb. 11  : Illustration in  : Karl Paumgartten, Juda. Wesen und Wirken des Judentums.

sage ausdrücklich Fremdnationale – verhungern soll, dann muß dieser weichen […]. Man möge also die fremdnationalen Arbeiter in ihre Heimat schicken und auch vor allem die polnischen Juden.«7 Im Jahr 1942 war Stocker für ein wesentlich radikaleres Mittel als die bloße »Ausweisung der Juden«. In einer Verlagsanzeige im »Börsenblatt« für das 1921 im Verlag erschienene Machwerk »Juda. Kritische Betrachungen über Wesen und Wirken des Judentums« – eine Restauflage wäre noch lieferbar – heißt es schlicht und ohne äußeren Zwang  : »Das Judentum muß vernichtet werden.«8 Die Cover- und Einbandgestaltung dieses Buches ließ der Fantasie keinen Spielraum, wie diverse Illustrationen zeigen. In der gleichen Sitzung des Bundesrates am 30. Juli 1925 fand Stocker einen neuerlichen Anlass für seine antisemitische Agitation, nämlich den internationalen Zionisten7 Stenographisches Protokoll, 93. Sitzung des Bundesrates der Republik Österreich, 30.7.1925, 1109. 8 Börsenblatt, Nr. 43/44, 3. 3.1942, 249. In einer Anzeige in der Buchhändler-Correspondenz, Nr. 48–49, 30.11.1921, 366, hieß es anlässlich der 2. Auflage (3.–4.000)  : »Bestellen Sie reichlich  ! Bei Ausstellen im Schaufenster lassen sich die mit wirkungsvollen Umschlägen versehenen Bücher glatt verkaufen. Sie verdienen dabei und helfen mit, das deutsche Volk von seinem Krebsschaden befreien.«

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kongress, der vom 18. bis 31. August in Wien abgehalten werden sollte. Er brachte eine Anfrage an den »Bundeskanzler als Leiter des Ministeriums für Inneres, betr. die aus der Abhaltung des Zionistenkongresses erwachsenden Gefahren für die innere Ruhe und Ordnung und die Schädigung der Interessen der bodenständigen Bevölkerung«. Die Ankündigung habe, so Stocker, »in der bodenständigen Bevölkerung […] lebhafte Beunruhigung hervorgerufen, […] weil der bodenständigen Bevölkerung dadurch die Gastfreundschaft gegenüber einer Veranstaltung aufgezwungen werden soll, zu deren Teilnehmern sie sich infolge des ohnehin übermässig starken Hervortretens des jüdischen Elementes in Wien in schärfster Abwehrstellung befindet, als auch aus dem Grunde, weil durch das Zusammenströmen vieler Tausende von Juden aus den verschiedensten Länder[n] nicht zu unterschätzende Beeinträchtigungen und Schädigungen der einheimischen Bevölkerung zu befürchten sind. Die freie Einreise zahlreicher Kongressteilnehmer aus den östlichen Länder[n] ist […] mit schwersten sanitären Gefahren für Wien verbunden. Bei den mangelhaften Reinlichkeitsbegriffen dieser Elemente ist auch mit einer argen Verunreinigung der nach Wien führenden Bahnen zu rechnen«. Stocker meinte zudem, dass der Kongress auch die heimische Geschäftswelt schädigen würde und stellte sechs Fragen an den Bundeskanzler, u. a. ob diesem »die vorerwähnten Gefahrenmomente« bekannt seien und wie die Regierung den »sanitären Gefahren« zu begegnen gedenke.9 In seiner ausführlichen Anfragebeantwortung meinte Bundeskanzler Rudolf Ramek, dass es keinerlei politische Veranlassung gebe, den Kongress zu verbieten und dass die Regierung die geäußerten Besorgnisse nicht teilen könne. »Sanitäre Gefahren sieht sie nicht als gegeben an.«10 Anlässlich der Eröffnung des Kongresses am 18. August kam es zwar nicht nur in der Innenstadt, sondern v. a. um das Konzerthaus zu schweren Ausschreitungen, zahlreichen Festnahmen und Verletzten sowie zu Beschwerden über das gewaltsame Auftreten der Polizei. Es gab ein riesiges Polizeiaufgebot beim Konzerthaus. Laut »Reichspost«11 waren es 500 Wachleute zu Fuß und 150 Berittene. Nebenbei bemerkt  : Der Wiener Bürgermeister Karl Seitz blieb der Eröffnung fern, angeblich weil er keine konfessionelle Veranstaltung begrüßen könne. Die Bundesregierung war durch den Sozialminister Dr. Josef Resch vertreten. Am nächsten Tag rief Bundeskanzler Ramek zu einer Pressekonferenz, bei der er den Standpunkt der Regierung zu den Unruhen bekanntgeben wollte – ein wohl nicht alltägliches Ereignis. 9 Anfrage der Bundesräte Stocker, Berger und Genossen, Bundesrat, Beiblatt zur Staatskorrespondenz, 93. Sitzung, 30.7.1925, 105–106. 10 Anfragebeantwortung des Bundeskanzlers Dr. Ramek, Bundesrat, Beiblatt zur Staatskorrespondenz, 93. Sitzung, 30.7.1925, 118–119. 11 Reichspost, 18.8.1925, 3.

Das antisemitische Programm eines Grazer Verlags

Im Frühjahr 1927 erschien im Heimatverlag Leopold Stocker in Graz in einer Auflage von 10.000 Exemplaren die Schrift – die »Arbeiter-Zeitung« bezeichnete sie als »Sudelbroschüre«12 – »Unter dem roten Banner. Stimmen von Enttäuschten«. Am 18. und am 26. März wurde die ohne Verfassernamen erschienene Broschüre nach dem Erkenntnis des Landesgerichts für Strafsachen in Graz in den Verlagsräumlichkeiten beschlagnahmt. Die Beschlagnahme folgte einer erfolgreichen Klage des sozialdemokratischen Abgeordneten zum Nationalrat, Dr. Arnold Eisler, der sich in seiner Ehre verletzt fühlte. Wie der Verlag einer ungenannten Zeitung mitteilte, konnten nur mehr 110 Stück beschlagnahmt werden, weil die übrigen Exemplare schon in ganz Deutschösterreich verbreitet worden waren. Der Heimatverlag veranstaltete mit der gleichen Coverillustration wenige Tage später eine zweite Auflage unter Weglassung der inkriminierten 37 Zeilen (auf S. 7 und 8).13 Diesmal trug das Werk den Untertitel »Der österreichische Bolschewismus«. Es ist eine umfassende »Abrechnung« mit den Wiener Sozialdemokraten, die von einem Insider verfasst wurde. Den namentlich genannten »Proletarierführern«, wie sie hier bezeichnet werden, wird Macht- und Habgier, Korruption, Protektionswirtschaft, Ämterkumulierung, Unterschlagung, Geldverschwendung, Ausbeutung des Volkes, persönliche Bereicherung etc. etc. vorgeworfen. Interessanterweise kommt weder das Wort »Jude« noch das Wort »Bolschewismus« im Text vor. Mit der Beschlagnahme und Neuauflage war die Geschichte für den Verleger nicht zu Ende  : In der 115. Sitzung des Bundesrates am 8. April 1927 vertrat Stocker die Ansicht, dass die mehrfache Hausdurchsuchung eine Verletzung seiner Immunität als Mitglied des Bundesrates gewesen sei, wogegen er Protest erhebe.14 Sein Antrag, seine Eingabe an Bundeskanzler Ignaz Seipel sofort behandeln zu lassen, wurde abgelehnt. In seiner mehrseitigen schriftlichen Beantwortung hat Seipel sodann die Beschwerde Stockers, seine Immunität wäre verletzt worden, ausführlich zerpflückt. Die Beschlagnahmeaktion habe sich nicht gegen eine immune Person gerichtet.15 Aber in diesem Fall könnte man sagen  : wer zuletzt lacht, lacht am besten. 12 Der Verleumder und seine Immunität, in  : Arbeiter-Zeitung, Nr. 89, 9.4.1927, 4. 13 In der zweiten Auflage steht an der Stelle des inkriminierten Textes »Beschlagnahmt durch das Landesgericht Graz auf Antrag des Nationalrates Dr. Eisler« bzw. »Beschlagnahmt durch das Landesgericht Graz auf Antrag des Nationalrates Dr. Karl Renner« usw. Neu in dieser Auflage ist eine Stellungnahme Stockers »Zur Beschlagnahme  !«. Darin wirft Stocker den Sozialdemokraten vor, »zu Feinden der Preßfreiheit, zu Feinden der freien Meinungsäußerung, zu Feinden der Wahrheit geworden« zu sein. 14 Stenographisches Protokoll, 115. Sitzung des Bundesrates der Republik Österreich, 8.4.1927, 1307. 15 Siehe dazu Bundesrat, Beiblatt zur Staatskorrespondenz, 1927, Anfragebeantwortung des Bundeskanzlers Dr. Seipel, betr. die Anfrage der Bundesräte Drescher und Genossen betr. Konfiskationspraxis des Landesgerichtes für Strafsachen in Graz, zu Nr. 64/J, 37b, 145ff. Abschriften von Stockers Schreiben an das Präsidium des Bundesrates sowie des Schreibens des Landesgerichts an den Heimatverlag und des Hausdurchsuchungsbefehls finden sich in den Unterlagen des Bundesrates.

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Und das war Stocker. Denn in einer bzw. durch eine Anfrage seiner Parteikollegen vom Landbund, Bundesrat Martin Drescher (nomen est omen) und Genossen, an den Herrn Vizekanzler als Leiter des Justizamtes Franz Dinghofer wurden die inkriminierten Stellen vollinhaltlich wiedergegeben und somit immunisiert. Als kleiner Racheakt an seinen Feinden druckte Stocker dann die gesamte Anfrage im Anhang der zweiten Auflage nach der Beschlagnahme ab. Als Karl Paumgartten 1927 starb, verlor der Heimatverlag Leopold Stocker eine Gallionsfigur, doch die Bücher Paumgarttens blieben, so nicht vergriffen, in den 1930er Jahren weiterhin lieferbar. Zu erwähnen wäre noch der politischAbb. 12: Verlagsanzeige, Börsenblatt, 3.3.1942. satirische Roman »Repablick. Eine galgenfröhliche Wiener Legende aus der Zeit der gelben Pest und des roten Todes« aus dem Jahr 1924, der von Antisemitismus nicht frei ist. Jenseits der Werke Paumgarttens, aber durchaus auf Stockers Verlagslinie war eine Publikation im Jahr 1927  : »Aus der Werkstatt der Freimaurer und Juden im Österreich der Nachkriegszeit. Eine Studie von Dr. Friedrich Hergeth«. Es handelt sich hier um ein Pseudonym für denjenigen, der nach dem Anschluss Direktor der Nationalbibliothek in Wien werden sollte, nämlich Dr. Paul Heigl. Als Bibliothekar am Institut für Österreichische Geschichtsforschung konnte er ein solches Buch nicht unter seinem richtigen Namen verlegen. Die Verlagswerbung für das fast 400-seitige Werk lautete  : »Ein hochinteressantes Werk, das in vollständig sachlicher Art das Wesen des Freimaurertums im heutigen Österreich und seine Beziehungen zum Weltfreimaurertum darstellt.«16 Der Heimatverlag Leopold Stocker bzw. der Leopold Stocker Verlag hat natürlich auch andere Bücher herausgegeben, die – damals wie heute – Themen aus dem Bereich der Landwirtschaft zum Inhalt hatten. Daher seien stellvertretend hier einige Titel genannt  : »Neuzeitlicher Güllereibetrieb in der Landwirtschaft, Erfolgreiche Düngerwirtschaft, Viehmästung«, und »Erfolgreicher Futterbau«.

16 Börsenblatt, Nr. 215, 14.9.1927.

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Das antisemitische Programm eines Grazer Verlags

Abb. 13  : Unter dem roten Banner. Stimmen von Enttäuschten.

Abb. 14  : Karl Paumgartten, Repablick.

Es darf auch nicht verschwiegen werden, dass  – in den Augen der damaligen Behörde – zumindest Teile der Verlagsproduktion ein Naheverhältnis zur NS-Ideologie aufwiesen. Ende Dezember 1935 verweigerte der Sicherheitsdirektor des Bundes für das Land Steiermark Stocker die Bewilligung zur Herausgabe einer Zeitschrift unter dem Titel »Der Wegweiser«. In der Begründung heißt es  : »Aus seinen [Stockers, Anm. d. Verf.] Veröffentlichungen ist eine deutlich bejahende Einstellung zum nationalsozialistischen Staate erkenntlich. […] Es besteht daher wohl kein Zweifel, daß Leopold Stocker nationalsozialistisch eingestellt und daher in staatspolizeilicher Hinsicht als nicht einwandfrei anzusehen ist.«17 Ich muss an dieser Stelle nicht besonders betonen, dass Leopold Stocker den Vorwurf nach dem Krieg energisch in Abrede stellte. Er 17 LG für Strafsachen Graz, 11 Vr 6396/48, Strafsache gegen Leopold Stocker u. a. wegen § 3 g Abs. 1 und 2 Verbotsgesetz. Bescheid des Sicherheitsdirektors an Heimatverlag Leopold Stocker, 30. Dezember 1935 (Blatt 723).

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Murray G. Hall Abb. 15  : Aus der Werkstatt der Freimaurer und Juden.

starb 1950 in Graz. Der Verlag wurde bis 1995 von dessen Tochter Ilse Dvorak-Stocker geführt. Seit 1995 ist Wolfgang Dvorak-Stocker Geschäftsführer und Inhaber. In der Zweiten Republik wurden Verlag und Verleger mehrfach ausgezeichnet  : Goldenes Ehrenzeichen des Landes Steiermark (1982), Landeswappen Land Steiermark (1992), Goldenes Ehrenzeichen der Landeshauptstadt Graz, Goldenes Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich (2002) usw. usf. Der hier präsentierte Abschnitt der Firmengeschichte wird sowohl in dem 1967 erschienenen »Rückblick« als auch auf der Website des Verlags ausgeblendet.

Abbildungen Abb. 1  : Karl Paumgartten, Judentum und Sozialdemokratie 1. Abb. 2  : Illustration in ebd. Abb. 3  : Illustration in ebd. Abb. 4  : Illustration in ebd.

Das antisemitische Programm eines Grazer Verlags

Abb. 5  : Karl Paumgartten, Arbeiter, auf ein Wort  !, Graz1921. Abb. 6  : Illustration in Karl Paumgartten, Briefe an einen Sozialdemokraten, Graz 1927. Abb. 7  : Illustration in ebd. Abb. 8  : Werbung für antisemitische Postkarten. Abb. 9  : Karl Paumgartten, Juda. Wesen und Wirken des Judentums, Graz 1921. Abb. 10  : Schutzumschlag von Karl Paumgartten, Juda. Wesen und Wirken des Judentums. Abb. 11  : Illustration in ebd. Abb. 12  : »Das Judentum muß vernichtet werden«, Anzeige Börsenblatt, 3.3.1942. Abb. 13  : Unter dem roten Banner. Stimmen von Enttäuschten, Graz 11927. Abb. 14  : Karl Paumgartten, Repablick (Roman), Graz 1924. Abb. 15  : Aus der Werkstatt der Freimaurer und Juden, Graz 1927.

Quellen Arbeiter-Zeitung 1927. Börsenblatt 1927, 1942. Buchhändler-Correspondenz 1920, 1921. Landesgericht für Strafsachen (LGfS) Graz, 11 Vr 6396/48, Strafsache gegen Leopold Stocker. Reichspost 1925. Stenographische Protokolle des Bundesrates der Republik Österreich 1924, 1925, 1927. Tagespost 1920.

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Das Vorspiel Wissenschaftliche Bibliotheken in Österreich zwischen 1933 und 1938 Vorbemerkung Antisemitismus im österreichischen Bibliothekswesen vor 1938 aufzuspüren ist überaus schwierig. In den Personalakten aus der Zeit fand sich bislang nicht einmal ein indirekter Hinweis auf Antisemitismus und die Judenfeindlichkeit im Alltag, die es an österreichischen Bibliotheken sicher gegeben hat. Welche Protagonisten diese Situation beeinflusst haben und wie der zeitgeschichtliche Kontext in den Jahren zwischen 1933 und 1938 an österreichischen Bibliotheken gewirkt hat, soll im Folgenden trotzdem zumindest angerissen werden. Klaus Taschwer stellte 2012 im Zusammenhang mit der Frage nach dem Antisemitismus an der Universität Wien fest  : »Junge jüdische Wissenschaftler hatten bereits ab 1918 kaum mehr eine Chance, an der Uni Wien Karriere zu machen. Verhindert wurde das von geheimen Cliquen deutschnationaler Professoren – und Kollegen vom CV.«1 Die »Bärenhöhle« war ein Zweckbündnis von deutschnationalen und dem Cartell-Verband angehörenden Uni-Professoren. Was die »Braunen« und »Schwarzen« einte, war der Kampf gegen die Linken und die Juden, so Taschwer.

Personalpolitik Antisemitismus war damals im Cartell-Verband Gang und gäbe und da unter den Bibliotheksdirektoren und den meisten leitenden Mitarbeitern im wissenschaftlichen Bibliotheksdienst viele CV-Mitglieder2 tätig waren, dürfte dieses Phänomen auch im Bibliothekswesen vorhanden gewesen sein. Josef Bick hat jedenfalls sehr viel dazu beigetragen, dass die Zahl der jüdischen BibliothekarInnen in der Zwischenkriegszeit 1 Taschwer 2016a  ; siehe auch Taschwer 2016b. 2 Johann Gans (Universitätsbibliothek Wien), Josef Bick (Nationalbibliothek Wien), Gustav Blenk (Hochschule für Welthandel), Josef Hofinger (Studienbibliothek Linz), Rudolf Flatscher (Universitätsbibliothek Innsbruck).

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sehr gering blieb. Bick muss Beate Fechter zufolge bereits unmittelbar nach der Gründung der Deutschen Gemeinschaft3 im Jahr 1919 dieser beigetreten sein und deren Anschlussbestrebungen mit Deutschland befürwortet haben. Auch sein Antisemitismus wird von Arthur Seys-Inquart in einem Brief aus dem Jahr 1939 bezeugt.4 Als Direktor seit 1923 und Generaldirektor der Nationalbibliothek seit 1926 hatte Josef Bick vor allem in seiner Position als Konsulent für Bibliotheksangelegenheiten im Unterrichtsministerium von 1926 bis 1938 und von 1945 bis 1948 großen Einfluss auf Ernennungen an österreichischen Bibliotheken. An dieser Stelle sei auch erwähnt, dass Bick durchaus als »Mann des Ständestaats« bezeichnet werden kann. Immerhin war er Ende Oktober 1934 vom Bundespräsidenten in den Bundeskulturrat berufen worden und fungierte als dessen Präsident. Zudem wurde er auch noch zum Vizepräsidenten des Bundesrates ernannt. Bick prägte durch seine Personalpolitik mehrere Generationen von Bibliothekaren und Bibliothekarinnen. Als »CVler« habe Bick »dafür Sorge getragen, daß die meisten leitenden Stellen im wissenschaftlichen Bibliotheksdienst durch Angehörige des CV. besetzt wurden«, heißt es in einem Schreiben Rudolf Kummers, dem Referenten des Bibliothekswesens im Berliner Reichserziehungsministerium im April 1938.5 Karl Wache, Bibliothekar an der Universitätsbibliothek Wien und eine Zeitlang an der Bibliothek der Akademie der Bildenden Künste tätig, formuliert es in seinen Erinnerungen aus dem Jahr 1960 sehr pointiert, als er die Neubesetzung nach Heinrich Röttinger (1869–1952) im Jahr 1933 an der Universitätsbibliothek Wien thematisiert  : »Wir waren machtlos gegen den C.V. und nach einem kurzen Zwischenreich des Hofrats Dr. Röttinger, eines sehr gelehrten, aber abgekämpften und vergrämten alten Herrn, wurde über alle älteren Anwärter hinweg der Außenseiter Dr. Gans von der Bibliothek der Handelshochschule als Direktor ernannt, der als Leiter einer kleinen Fachbücherei  – gegenüber der Universalbibliothek der U.B.!  – und ohne Kenntnis der Tradition des Hauses, bar jeder Personalkenntnis, den großen Aufgaben an der einzigen wissenschaftlichen Gesamtbibliothek Österreichs nie gewachsen sein konnte. Aber hier wirkte sich wieder der alte Gemeinschaftsbund aus, aus dem ich schon vor Jahren als ›Antiklerikaler‹ hinausgejagt worden war, der, zwar schon aufgelöst, in unterirdischen Verbindungen immer noch fortbestand. […] Der C.V. hatte

3 Die Deutsche Gemeinschaft verband Vertreter von katholischen und deutschnationalen Studentenverbindungen, die gemeinsam gegen Bedrohungen der deutschen Nation eintraten. Mit dem Blick auf gemeinsame Feinde konnten sie ihre Differenzen ausblenden, siehe dazu Fechter 2013, 21f. 4 Brief Seyß-Inquart an Heinrich Himmler, 19.8.1939, zit. n. ebd., 23. 5 Schreiben von Rudolf Kummer an Hans Huber, Gerhard Kasper und Otto Graf zu Rantzau (REM), fol. 1, 7.4.1938, Bundesarchiv Berlin, R/4901, Sign. 13.677.

Das Vorspiel

nun unsere feste Burg eingenommen und wir mußten uns sagen, daß wir mitsamt der alten Bibliothekstradition verloren seien.«6 Als Johann Gans (1886–1956) im Juli 1933 auf Antrag von Bick als Bibliothekskonsulent im österreichischen Unterrichtsministerium nun zum Direktor der Universitätsbibliothek Wien ernannt wurde, übernahm er die Bibliothek in einer politisch aufgeladenen Zeit, die gerade an der Universität Wien von Studentenunruhen (1932/1933) und gewalttätigen Zusammenstößen geprägt war.7 Die Bibliotheksleitung ließ deshalb im Herbst 1932 nach unliebsamen Vorfällen beim Lesesaal aus Sicherheitsgründen einen eisernen Rollbalken einbauen und wenig später wurden zur Kontrolle Lesesaalkarten ausgegeben.8 Der Werdegang von Gans und seine politische Einstellung zeigen große Parallelen zu Josef Bick. Beide stammten aus katholischem Milieu und studierten in Prag und waren Mitglied der katholischen Studentenverbindung »Ferdinandea«. Beide übersiedelten noch vor dem Ersten Weltkrieg nach Wien, wo sie ihre Bibliothekslaufbahnen an der Wiener Hofbibliothek begannen. Sie sollten schließlich in den zwei größten österreichischen Bibliotheken zu Direktoren aufsteigen, die auch bedeutende politische Funktionen, im engen und weiteren Sinne, innehatten. Gans arrangierte sich mit dem »Ständestaat« und war im Unterrichtsministerium als ausgezeichneter Fachmann geschätzt. So wurde er 1936 zum Hofrat und Generalstaatsbibliothekar ernannt. Bick versuchte offenbar soweit als möglich Nationalsozialisten zu verhindern. An der Nationalbibliothek Wien war ihm das weitgehend »gelungen«, denn Paul Heigl musste nach seiner Ernennung zum Leiter der Nationalbibliothek Wien im März 1938 erschüttert feststellen, dass ein einziger Bibliothekar an der Nationalbibliothek Wien illegales Mitglied der NSDAP war.9 Im Fall von Franz Gosch (1884–1952) konnte Bick die Ernennung nur hinauszögern, musste sich aber letztendlich geschlagen geben. Gosch wurde im März 1933 mit der provisorischen Leitung der Universitätsbibliothek Graz betraut und im Mai 1934 definitiv gestellt. Er galt schon damals 6 Karl Wache  : Denk- und Nichtswürdigkeiten. Erinnerungen eines Außenseiters der Politik von Franz Joseph bis Theodor Körner. Typoskript der unveröffentlichten Lebenserinnerungen, o.J. [um 1960], 168, Archiv des Österreichischen Instituts für Zeitgeschichte, Sign. Do-41. 7 Die Bibliothek wurde wegen der Studentenunruhen zwischen 22.3.–1.4, 13.5., 27.5–6.7. und am 16.10. gesperrt. Zustandsbericht der Universitätsbibliothek Wien (UBW) über das Verwaltungsjahr 1933, Univ. Wien Bibliothek, Zl. 40237/1934, Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Unterrichtsministerium, Kt. 831. 8 Zustandsberichte 1932 und 1933, Universitätsarchiv Wien (UAW), UBW, zit. n. Pongratz 1977, 136. 9 Ein Beispiel dafür ist auch Kurt Holter (1911–2000), der als junger aufstrebender Wissenschafter seit Juli 1936 als Volontär an der Nationalbibliothek tätig war und Ende 1937 die Bibliotheksprüfung absolviert hatte. Aber Bick verweigerte ihm sowohl während seiner Referendarszeit als auch danach eine fixe Anstellung. Erst Heigl nahm Holter schließlich auf.

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als deutschnational und erwies sich 1938 tatsächlich als (illegales) NSDAP-Mitglied seit 1935. Seine (Pflicht-)Mitgliedschaft bei der »Vaterländischen Front« (er war seit 1934 sogar Dienststellenleiter der Vaterländischen Front) hinderte ihn daran nicht. Sein Mitarbeiter Wolfgang Benndorf konstatierte nach dem Krieg, dass Gosch vor dem Anschluss alle Abwehrmaßnahmen gegen den Nationalsozialismus an der Universitätsbibliothek Graz sabotiert hätte.10 Aber nicht nur Nationalsozialisten versuchte Bick zu verhindern, auch jüdische BibliothekarInnen wurden nur vereinzelt in den Bibliotheksdienst aufgenommen.11 Die einzige, möglicherweise antisemitisch motivierte Entlassung, die bislang bei den Recherchen für den Zeitraum 1933 und 1938 nachgewiesen werden kann, betrifft die langjährige jüdische Mitarbeiterin der Albertina Lili Fröhlich-Bum (1886–1981) durch Josef Bick. Allerdings muss letztlich offen bleiben, ob es sich tatsächlich um eine Entlassung aus antisemitischen Gründen handelte. Andreas Huber beruft sich in seiner Diplomarbeit auf einen Brief des Kommissarischen Leiters der Albertina Anton Reichel vom 6. März 1939, in dem dieser von der Entlassung der jüdischen Assistentin Fröhlich-Bum, von Bick als »artfremd« bezeichnet, berichtet. Da Reichel Bicks Stellvertreter bis 1938 war, stellt sich jedoch die Frage, inwiefern er ihm nicht nach dem »Anschluss« einen Gefallen erweisen wollte. Bick weist zwar in einem Schreiben vom 22. Oktober 1940 explizit darauf hin, »nie öffentlich gegen die NSDAP aufgetreten« zu sein und »als bewusster Antisemit stets dort gearbeitet [zu haben], wo es galt, den jüdischen Einfluß zu bekämpfen«,12 und weiter  : »Kein geringerer als Reichsminister Dr. Seyß-Inquart wird bestätigen können, daß ich in den Nachkriegszeiten, als in Wien und Österreich der rote Jude die Alleinherrschaft anstrebte, als verläßlicher Mitarbeiter diesem zur Seite stand.«13 Das mag stimmen, doch wohl nur, weil die Politik der Cartellverbandsmitglieder und der Nationalsozialisten in diesem Punkt übereinstimmte. Bick hatte in Summe bei seiner Personalauswahl ganz im Sinne einer konservativen, katholischen Gesinnung gehandelt und so in gewisser Weise im Sinne des »Ständestaates«.14 10 Schreiben von Wolfgang Benndorf an das Unterrichtsministerium, 23.4.1946, Archiv Universitätsbibliothek Graz, Schuber 118, Zl. 108/1946. 11 Ein interessantes Beispiel ist der langjährige Bibliothekar beim Verein »Volksheim« in Wien Richard Czwiklitzer (1882–1940), der mit Juli 1935 der UBW zugeteilt wurde. Mit 1.5.1939 endete diese Tätigkeit mit der Zwangspensionierung. Wie die Zuteilung zustande kam, geht aus den Akten aber nicht hervor. 12 Schreiben von Bick an den Reichsminister des Inneren, 22.10.1940, zit. n. Huber 2012, 90  ; Hervorhebung im Original. 13 Ebd. 14 Aus den Akten sowohl in der Österreichischen Nationalbibliothek als auch im ÖStA geht hervor, dass unter den Mitarbeitern vor dem »Anschluss« nur Konstantin Schneider (1889–1945) Mitglied

Das Vorspiel

Der Einfluss der »Vaterländischen Front« lässt sich anhand der Personalakten an der Universitätsbibliothek Wien zeigen. So wurde etwa bei einer Neuanstellung nachgefragt, ob »vom Standpunkte der Vaterländischen Front Einwendungen erhoben werden«.15 Außerdem war Gans seit Ende Februar 1934 von der Bundesleitung der »Vaterländischen Front« zum Dienststellenleiter für die Universitätsbibliothek Wien für das Personal der Rektoratskanzlei sowie der Quästur der Universität Wien bestellt worden.16 In dieser Funktion sorgte er auch dafür, dass BibliothekarInnen der Universitätsbibliothek Wien an Veranstaltungen der »Vaterländischen Front« teilnahmen. Im Dezember 1937 wurden schließlich alle MitarbeiterInnen der Universitätsbibliothek Wien erfasst, die sich immer noch nicht entschließen hatten können, der Vaterländischen Front beizutreten.17 Diese Maßnahme blieb aber ohne Konsequenzen, da sie – wie wir heute wissen – zu spät kam.

Verbotene Literatur Ein Charakteristikum des »Ständestaates« war auch die Bücherzensur, der die längste Zeit auch unsittliche Literatur unterlag. Doch in den 1930er Jahren kämpften BuchhändlerInnen und BibliothekarInnen vor allem mit den Verboten im Bereich sozialdemokratischer, kommunistischer/marxistischer und in Österreich nationalsozialistischer Literatur. Demnach kam vor allem die Nationalbibliothek Wien schon vor 1938 mit beschlagnahmter Literatur in Berührung, denn sie wurde ab 1935 zur wichtigsten Anlaufstelle für aus Arbeiterbüchereien in ganz Österreich ausgesonderte Bücher.18 der NSDAP war, und zwar seit Oktober 1933. Schneider hatte im Dezember 1923 an der Musikuniversität Wien promoviert und war seit 1925 in der Musiksammlung der Nationalbibliothek tätig gewesen. Er wurde im Juli 1935 in der Nationalbibliothek befördert und bewarb sich im Herbst 1935 um einen Posten an der Bayerischen Staatsbibliothek in München. Heigl – zu dieser Zeit bereits in Berlin  – wurde gebeten, über Schneider ein politisches Gutachten abzugeben. Heigl kam zu dem Schluss, dass »Schneider nicht als tätiges Mitglied der Nationalsozialistischen Partei angesprochen werden« kann. Schneider blieb daraufhin an der Nationalbibliothek. Im Gauakt Schneiders ist belegt, dass er ab 20.3.1938 Zellenleiter der NSDAP in der Nationalbibliothek war, vgl. ÖStA, Archiv der Republik (AdR), Gauakt Konstantin Schneider. Es liegt allerdings die Vermutung nahe, dass er diese Position schon zuvor innegehabt haben könnte, denn alle großen Häuser wie etwa die Staatsoper oder das Burgtheater hatten Zellenleiter, die vor dem März 1938 ihre Politik betrieben. 15 UBW–Landesleitung der »Vaterländischen Front«, 15.5.1937, UAW, Bestand UBW, Zl. 1937–180, zit. n. Malina 1989, 323 16 Laufer, 2.3.1934, UAW, Bestand UBW, zit. n. ebd. 17 Bundesfachleitung für Unterricht, Rundschreiben Nr. 44, 4.12.1937, UAW, Bestand UBW, Zl. 1936– 74, zit. n. ebd. 18 Vgl. dazu ausführlich Hall 2004, 15–29  ; Hall 2006, 23–38.

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Bis zum Frühjahr 1938 kamen schätzungsweise mehrere zehntausend Bücher in die Nationalbibliothek.19 Bicks Nähe zur Politik ermöglichte es ihm, eine Genehmigung des Bundeskanzleramtes (Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit) zu erhalten, auch verbotene Bücher sammeln zu dürfen, und er gab der Wiener Buchhandlung Gerold&Co. im September 1934 den Auftrag, im Namen der Nationalbibliothek verbotene Bücher für sie zu beschaffen.20 Die Zusammenarbeit zwischen Bick und Gans funktionierte offenbar sehr gut, denn Gans erhielt einen Durchschlag von Bicks Ansuchen und konnte ebenfalls eine Ausnahme der wissenschaftlichen Zeitschriften vom Verbot sämtlicher deutscher Zeitungen und Zeitschriften erreichen.21 Es blieb zumindest der Universitätsbibliothek Innsbruck nicht verborgen, dass die Universitätsbibliothek Wien etwa die seit März 1935 verbotene Zeitschrift »Die neue Literatur«22 weiterbezog. Direktor Rudolf Flatscher fragte deshalb Mitte Dezember 1935 bei seinem Kollegen in Wien an, wie die Universitätsbibliothek Wien das erreicht habe, denn der Universitätsbibliothek Innsbruck war damals verboten worden, die Zeitschrift weiter zu beziehen, obwohl sie sich bereit erklärt hatte, die Zeitschrift auf die Dauer des Verbots unter Sperre zu halten.23 Gans antwortete ihm, dass die Universitätsbibliothek Wien alle verbotenen Zeitschriften mit der Genehmigung der Polizeidirektion Wien über die Buchhandlung Gerold beziehe, die eine Einfuhrbewilligung dafür habe.24

Schlussbemerkung Die Tatsache, dass Österreich schon vor 1938 kein demokratischer Staat mehr gewesen war, ging auch an den Bibliotheken nicht spurlos vorüber. Doch so massive Einschnitte wie 1938 brachte der politische Wechsel der Jahre 1933/34 auch aufgrund der Protagonisten nicht. Die Jahre des »Ständestaates« können demnach zwar 19 Hall/Köstner 2006, 31. 20 Schreiben von Bick an Gerold, 24.9.1934, ÖNB Archiv, Zl. 1500/1934, UAW, Bestand UBW, UB A.54 Kurrentakten 1934, Zl. 67/1934, Abschrift. 21 Schreiben von Gans an Bundeskanzleramt, 3.3.1934, UAW, Bestand UBW, UB A.54 Kurrentakten 1934, Zl. 67/139/1934. 22 Die Neue Literatur (vor 1931) bzw. Die schöne Literatur war eine deutsche Literaturzeitschrift, die in der Zeit des »Dritten Reichs« zur führenden nationalsozialistischen Literaturzeitschrift wurde. Herausgeber der Zeitschrift war von 1923 bis 1943 Will Vesper. 23 Schreiben von Flatscher (UB Innsbruck) an Gans, 14.12.1935, UAW, Bestand UBW, UB A.55 Kurrentakten 1935, Zl. 370/653/1935. 24 Schreiben von Gans an Flatscher (UB Innsbruck), 16.12.1935, UAW, Bestand UBW, UB A.55 Kurrentakten 1935, Zl. 370/653/1935.

Das Vorspiel

als Vorspiel bezeichnet werden, aber eben nicht mehr. Peter Malina hält in diesem Zusammenhang treffend fest  : »Vorauseilender Gehorsam und die Bereitschaft, wegzusehen und stillzuhalten, waren Haltungen, die auch schon vor 1938 im alltäglichen Dienstbetrieb geübt werden mussten und die sich nun bei der Umstellung auf die neuen politischen Verhältnisse durchaus ›bewährten‹.«25 Unbestritten ist, dass jede Diktatur eine Anpassung und ein Mitmachen evoziert, den großen Unterschied gibt es aber trotzdem im Kleinen und dies lässt sich auch in den einzelnen Bibliotheken feststellen. Dieser kurze Beitrag sei eine Anregung für sehr wünschenswerte, weiterführende Recherchen zum Thema Antisemitismus in Bibliotheken und zur Geschichte der wissenschaftlichen Bibliotheken in Österreich in den 1930er Jahren.

Literatur und gedruckte Quellen Fechter, Beate, Josef Bick, Dipl.-Arb. Wien 2013. Hall, Murray G., Das Vorspiel  : Die Jahre 1933 bis März 1938, in  : Hall, Murray G./Köstner, Christina, »… allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern …«. Eine österreichische Institution in der NS-Zeit, Wien u. a. 2006, 23–38. Hall, Murray G., I AB 59-63. Zur Rolle der Nationalbibliothek in der Liquidierung sozialdemokratischer Bildungseinrichtungen ab 1934, in  : Hall, Murray G./Köstner, Christina/Werner, Margot (Hg.), Geraubte Bücher. Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit, Wien 2004, 15–29. Hall, Murray G./Köstner, Christina, »… allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern …«. Eine österreichische Institution in der NS-Zeit, Wien u. a. 2006. Huber, Andreas, Eliten/dis/kontinuitäten. Kollektivporträt der im Nationalsozialismus aus »politischen« Gründen vertriebenen Hochschullehrer der Universität Wien, Dipl.-Arb. Wien 2012. Malina, Peter, Zur Geschichte der wissenschaftlichen Bibliotheken Österreichs in der NS-Zeit. Dargestellt am Beispiel der Universitätsbibliotheken Wien und Graz und der Österreichischen Nationalbibliothek, in  : Vodosek, Peter/Komorowski, Manfred (Hg.), Bibliotheken während des Nationalsozialismus, Teil 1, Wiesbaden 1989, 443–452. Pongratz, Walter, Geschichte der Universitätsbibliothek Wien, Wien u. a. 1977. Taschwer, Klaus, Hochburg des Antisemitismus, http://derstandard.at/1338559407873/Universitaet-Wien-Hochburg-des-Antisemitismus (14.7.2016) (= Taschwer 2016a). Taschwer, Klaus, Geheimsache Bärenhöhle. Wie eine antisemitische Professorenclique nach 1918 an der Universität Wien jüdische Forscherinnen und Forscher vertrieb, Fritz, Regina/Rossoliński-Liebe, Grzegorz und Starek, Jana (Hg.), Alma mater antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1939, Wien 2016, 221–242 (= Taschwer 2016b).

25 Malina 1989, 447.

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Archivalische Quellen Archiv des Österreichischen Instituts für Zeitgeschichte, Sign. Do-41. Archiv Universitätsbibliothek Graz, Schuber 118, Zl. 108/1946. Bundesarchiv Berlin, R/4901, Sign. 13.677. Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) Archiv, Zl. 1500/1934. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA): Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Unterrichtsministerium, Kt. 831. Archiv der Republik (AdR), Gauakten. Universitätsarchiv Wien (UAW), Bestand Universitätsbibliothek Wien, UB A.54 Kurrentakten 1934, UB A.55 Kurrentakten 1935.

Christian H. Stifter

Antisemitismus und Volksbildung vor 1938 – ein Ausschlussverhältnis  ? Vorbemerkung Die Entstehung und Entwicklung moderner Volksbildung vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit ist nur in Ansätzen erforscht. Unter dem Begriff »Volksbildung« findet sich vom letzten Drittel des 19.  Jahrhunderts bis zum »Anschluss« 1938 eine Vielzahl institutionalisierter Initiativen, die von vielen Proponentengruppen an unterschiedlichen Orten und mit weltanschaulich-politisch teils erheblich differierenden Zielsetzungen und Methoden durchgeführt wurden. Durch die bisherigen Forschungen, die sich vor allem auf die urbane, wissenschaftsorientierte Volksbildung konzentrierten, konnte – wenn überhaupt – nur die Spitze des Eisbergs freigelegt werden, wobei die vorgelegten Ergebnisse aufgrund ihrer thematischen Randständigkeit zum historiografischen Mainstream bisher so gut wie nicht rezipiert wurden.1

Eingrenzung des Begriffs »Volksbildung« Unter Ausklammerung aller lediglich auf diskursiver Basis wie etwa in Zeitschriften, Büchern oder losen Zusammenkünften basierenden Aktivitäten ist unter Volksbildung jede nicht korporative, sozial nicht exklusive, nicht direkt politisch orientierte, auf vereinsrechtlicher (oder auch staatlicher) Basis organisierte Bildungstätigkeit für eine zumeist erwachsene Klientel gemeint, die ihre Angebote grundsätzlich für alle daran Interessierten offenhielt.2 Trotz der organisatorischen und medialen Vielfalt, der soziokulturellen Inhomogenität der Proponenten und ihrer Klientel sowie personeller und institutioneller Inkongruenzen bzw. Überschneidungen lassen sich in Österreich zwei Hauptstränge benennen  : Zum einen ist dies die weitgehend unerforschte konfessionell »­ gebundene«, 1 Stifter 2010, 38–51. 2 Nicht zuletzt aus Platzgründen muss hier auf die Miteinbeziehung des Büchereiwesens und des Arbeiterbildungswesens verzichtet werden.

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hauptsächlich katholisch-ländliche Volksbildung, zum anderen die urbane, weltanschaulich »neutrale« und auf demokratische Partizipation ausgerichtete Praxis moderner Wissenschaftsvermittlung, wie sie insbesondere durch die frühen Volkshochschulen organisiert wurde, deren Pioniere aus wissenschaftsaffinen bürgerlich-liberalen sowie sozialreformerisch-sozialdemokratischen Kreisen stammten. Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts weitverbreitete antisemitische Rhetorik katholischer Hetzprediger3 und Volksschriftsteller  – die unter anderem die drohende »Verjudung« Österreichs und insbesondere Wiens als Gefährdung christlicher Kultur und Gesellschaft anprangerten,4 findet jedenfalls in den institutionalisierten bäuerlich-katholischen Volksbildungseinrichtungen in den ländlichen Regionen keinen direkten Niederschlag, der sich beim gegenwärtigen Forschungsstand anhand von Quellen rekonstruieren ließe. Ungeachtet dessen ist aber aufgrund personeller Verflechtungen zwischen den antiliberal-katholischen und den deutlich politischer auftretenden deutsch-völkischen Vereinen von der Existenz einschlägiger antisemitischer Stereotype und Vorurteile auch in der ländlichen, auf Traditionspflege, »Heimatschutz«, Seelsorge und strukturkonservativer Erneuerung des Bauerntums ausgerichteten katholischen Volksbildung auszugehen. Als expliziter Bezugspunkt bzw. als inhaltliche Programmatik lässt sich Antisemitismus in Einrichtungen wie beispielsweise der 1890 gegründeten Bauernhochschule Otterbach bei Schärding, der 1903 gegründeten Bauernschule Gröbming, der bäuerlichen Volksbildungsheime St. Martin bei Graz (1914) sowie Hubertendorf bei Amstetten (1929) allerdings nach derzeitigem Forschungsstand nicht nachzeichnen,5 was keineswegs heißt, dass Antisemitismus unter den Proponenten oder KursleiterInnen nicht verbreitet gewesen wäre. Dies zeigt sich etwa daran, dass selbst die Villacher Urania-Neugründung 1923 zunächst einen »Arierparagraphen« in die Satzungen aufnehmen wollte, was erst nach der Drohung der Wiener Urania, den Kontakt zum Villacher Zweigverein abzubrechen,6 sowie scharfem Protest im sozialdemokratischen »Arbeiterwille[n]«, der die Gründung »Hakenkreuzlern« zuschrieb, fallen gelassen wurde.7

3 Adolf Stoecker, Johannes Andreas Eisenmenger, Joseph Rebbert, August Rohling, Georg Ratzinger, vgl. Langer 1944, Xff. 4 Z.B. Alban Stolz, ebd., 48ff. 5 Vgl. dazu allgemein Dostal 2012. 6 Suntinger 2009, 110–112. Für diesen Hinweis danke ich Herrn Univ.-Doz. Dr. Wilhelm Filla. 7 Der Arbeiterwille, 27.6.1923, 6. Auch auszugsweise zit. bei Suntinger 2009, 110f.

Antisemitismus und Volksbildung vor 1938 – ein Ausschlussverhältnis  ?

Bildungspolitischer »Abwehrkampf« christlicher Vereine Anders verhält es sich mit der großen Zahl offen politisch agierender Vorfeldvereine im Spektrum des Politischen Katholizismus. Als direkte Gegenreaktion auf die von liberaler und sozialdemokratischer Seite initiierten bzw. unterstützten Bildungsvereine entstand spätestens ab 1890 hauptsächlich in den Städten sowie in deren Umfeld ein loses Netz an christlichen Volksvereinen, katholischen Schul- und Gesellenvereinen sowie christlich-katholischen Arbeitervereinen. Die antisemitisch geprägten Aktivitäten dieser Vereine waren – neben dem Kampf gegen »destructive« monistische und darwinistische Lehren8 und der Ablehnung einer wissenschaftsorientierten Bildung des Proletariats –, v. a. gegen die materialistisch-freisinnige Vereinnahmung »wahrer christlicher Volksbildung«9 gerichtet, die einzig und allein in der Befolgung der christlichen Glaubenslehre bestehe. Demgegenüber würde die unter anderem von liberaler Seite »agitierte« Volksbildung »öffentliche Angelegenheiten unter dem Deckmantel der Humanität« betreiben, wie Karl Lueger 1893 im Wiener Gemeinderat erklärte.10 Als Redner erntete Karl Lueger bei einer Kundgebung anlässlich des neu gegründeten »Christlichen Volksbildungsvereines« in Atzgersdorf bei Wien im Oktober 1893 für seine gegen die von liberaler Seite vorgebrachte Kritik, die Kirche sei »volksfeindlich, bildungs- und fortschrittsfeindlich« großen Beifall, indem er klarstellte  : »Nicht die Katholiken mit ihrem Katholicismus werden die Sonne verfinstern, sondern unsere Feinde mit ihren langen Nasen.«11 Auch an den Hochschulen, deren Einfluss mittlerweile »bis in die untersten Stufen der Volksbildung« vermutet wurde, gefährde der vordringende Geist des Rationalismus und Materialismus – so die »Reichspost« 1894 – zunehmend die akademische Jugend. Schuld an der »gottentfremdeten Wissenschaft« hätten, wie sie titelte, »die Freimaurerloge und ihr Bundesgenosse, das Judenthum«, welche die Hochschulen dem »confessionslosen Staate unterworfen« hätten.12 »Nirgends ist unser Herrgott weniger zu Hause als an unseren Universitäten«, stellte der Domvikar Dr. Josef Gruber am Diözesan-Katholikentag in St. Pölten im Oktober 1895 fest und forderte

  8 Vom Volksbildungsvereine. Charles Darwin, in  : Das Vaterland, 25.2.1890, 5. Hier heißt es etwa  : »Der Jude, pardon Israelit, Dr. Schiff erklärt in einem öffentlichen Vortrage vor jungen und alten Christenmenschen die Schöpfermacht und Schöpfungsthat Gottes als Phantom.«   9 Reichspost, 26.1.1894, 1. 10 Das Vaterland, 22.4.1893, 11. 11 Das Vaterland, 20.10.1893, 6. 12 Reichspost, 26.1.1894, 1.

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daher die umgehende Gründung einer »katholischen Universität«,13 deren geplante Errichtung in Salzburg der Doyen der Wiener Volkshochschulen, Ludo Moritz Hartmann, jedoch durch gezielte Aktivitäten zu unterlaufen trachtete.14 Inwieweit der kurz skizzierte antimodern-christliche »Abwehrkampf« über rhetorisch-publizistische Manifestationen hinaus auch auf Ebene der zahlreichen lokalen Vereine eine breitere und kontinuierliche bildungspolitische Aktivität entfaltete, ist ungeklärt. Außer Frage steht hingegen, dass der im Frühjahr 1920 erfolgte Zusammenschluss aller Wiener Vereine zur »Christlichen Volksbildungsstelle«, dessen vergleichsweise bescheidenes Angebot an Vortrags-, Musik- und Theaterveranstaltungen auch von der Gemeinde Wien unterstützt wurde,15 angesichts des enormen Publikumszuspruches der wissenschaftsorientierten urbanen Volksbildungsinstitute keine nennenswerte Konkurrenz darstellte.

Deutschnational-völkische »Volksbildung« – Verflechtungen, Überschneidungen Explizite und radikal rassen-antisemitisch formulierte Zielsetzungen auf institutioneller Basis finden sich in deutschnational-völkischen »Schutzbundorganisationen« grundgelegt, so etwa im Fall des 1889 in Graz gegründeten deutschen »Schulvereins Südmark«. Dieser trachtete, mittels Büchereiarbeit »auf arischer Grundlage« den »jüdischen Einfluss«16 abzuwehren und so dem prognostizierten sittlichen Verfall des deutschen Volkstums entgegenzuarbeiten, wobei der Schwerpunkt der Tätigkeit allerdings auf der offensiv-aggressiven (Neu-)Ansiedelung deutscher Bauern in gemischtsprachigen Gebieten Kärntens, in der Untersteiermark und später auch in Niederösterreich lag.17 Als durchgängiges Identitätsmerkmal aller deutschnationalen Verbände dokumentieren sich die antisemitischen bzw. rassen-antisemitischen Positionen in den publizistischen Zeugnissen der Südmark-Aktivisten in unterschiedlicher Deutlichkeit, wobei diese – wie etwa im Fall der bevölkerungspolitischen Befürchtungen des Demografen Wilhelm Hecke18 vor einer Übervölkerungsgefahr unter anderem durch jüdische 13 Das Vaterland, 25.10.1895, 1. 14 Vgl. Fellner 1985, 109. Zu Hartmann siehe auch Stifter 2015b. 15 Christlich-soziale Arbeiter-Zeitung, 13.3.1920, 2. 16 Kiyem 1995, 47, § 3 Statuten. 17 Siehe Judson 2014, 59–61. 18 Wilhelm Hecke, Regierungsrat der k. k. Statistischen Zentralkommission, war Schriftleiter der zwischen 1917–1938 bestehenden Österreichischen Gesellschaft für Bevölkerungspolitik (und Fürsorge-

Antisemitismus und Volksbildung vor 1938 – ein Ausschlussverhältnis  ?

Zuwanderer aus dem Osten  – wissenschaftlich verbrämt, jedenfalls kaum aggressiv vorgetragen wurden.19 Obwohl der Verein »Südmark« sowohl aufgrund der politischen Programmatik als auch aufgrund seiner spezifischen »Kulturarbeit«20  – u. a. durch Volksbüchereien und Schriften21  – für eine »deutsche Volksgemeinschaft« nicht zu den Volksbildungseinrichtungen im engeren Sinn gezählt werden kann, finden sich unter den großteils aus Akademikern bestehenden Funktionären und Unterstützern neben einer Vielzahl hoher Beamter auch einflussreiche Vertreter der antimodernen, christlich-konservativ geprägten Volksbildung sowie vereinzelt auch Grenzgänger im Spektrum zwischen deutsch-völkischen und liberal-sozialpolitischen Positionen. Auf den Rednerlisten des Vereins stehen neben dem späteren antisemitischen und pronationalsozialistischen Wiener Rektor Wenzel Gleispach, dem antisemitischen Historiker, Rektor und NS-Karrieristen Heinrich Srbik auch der katholisch-nationale Volkskundler und Urania-Vortragende Viktor Geramb oder der spätere erste Bundespräsident der Ersten Republik, Michael Hainisch, an dem sich zeigt, wie fließend die Übergänge mitunter sein konnten. Zwar war auch Srbik über fast drei Jahrzehnte Vortragender der volkstümlichen Universitätsvorträge und der Wiener Urania, aber der Sozialpolitiker Hainisch, der das Südmark-Volksbüchereiwerk tatkräftig unterstützt hatte,22 war darüber hinaus auch langjähriges Vorstandsmitglied im »Wiener Volksbildungsverein«  – der Keimzelle der nachfolgenden Volkshochschulen – sowie Obmann des »Sozialwissenschaftlichen Bildungsvereines«, in dem sich u. a. auch Rudolf Goldscheid und Ludo Moritz Hartmann engagierten. Außerdem unterschrieb Hainisch – neben Ernst Mach, Eduard Suess, Rosa Mayreder, Wilhelm Jerusalem, Karl Seitz und weiteren 58 Proponenten – im Jahr 1900 den Aufruf zur Gründung einer Volkshochschule im Arbeiterbezirk Ottakring,23 förderte dessen ungeachtet aber die »engsten Beziehungen«24

politik), die er mit Viktor Mataja und Julius Tandler gegründet hatte, siehe Sablik 2010, 134  ; weiters Exner u. a. 2004, 212f. 19 Auswertung der Kurse und Vorträge der Wiener Volkshochschulen und Vorläufereinrichtungen, 1887– 1964. Österreichisches Volkshochschularchiv (ÖVA) – internes Archivinformationssystem ­the­seus. 20 Siehe Pock 1925, 160–163. 21 Siehe Staudinger 1988, 152. 22 Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950, Bd. 2 1958, 152f. 23 Österreichisches Volkshochschularchiv (ÖVA), Bestand Volkshochschule »Volksheim« Ottakring, Box 19, Ordner 246, Aufruf zur Gründung eines Volksheimes (Volkshochschule). 24 So Michael Hainisch in einem Referat am Delegiertentag des Zentralverbandes der Deutsch-Österreichischen Volksbildungsvereine, 30.–31.10.1910 in Salzburg, zit. n. Salzburger Volksblatt, 2.11.1910, 2.

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zwi­schen der »Südmark« und dem Verein »Zentralbibliothek« – einem Ableger des Wiener Volksbildungsvereines.25 Unter den zu Beginn der Ersten Republik durch Unterstaatssekretär Otto Glöckel neu installierten Landesreferenten für Volksbildung, die u. a. vom Theater- und Literaturwissenschaftler Heinz Kindermann26 im Volksbildungsamt des Unterrichtsministeriums koordiniert wurden, finden sich schließlich auch Ministerialbeamte, die im zunehmend radikaler werdenden Verein »Südmark« aktiv waren  – so etwa der Landesreferent für Kärnten und spätere Leiter der NS-Reichsschrifttumskammer Kärnten, Emil Lorenz, oder der Landesreferent für Steiermark, Regierungsrat Walter Semetkowski. Letzterer hatte sich, einer politischen Beurteilung zufolge, »eindeutig schon vor dem Umbruche für die NSDAP ausgesprochen« und wurde 1940 zum »Gaukonservator«27 bestellt. Wie sein Universitätslehrer, der antisemitische und streng deutsch-völkisch orientierte Kunsthistoriker Josef Strzygowski, war Semetkowski zuvor über viele Jahre Vortragender an der Wiener und Grazer Urania gewesen. Der Kärntner Landesreferent Emil Lorenz,28 der 1933 der NSDAP beitrat,29 setzte sich in seiner volksbildnerischen Tätigkeit einschlägig mit Bluterbe, historischer Ahnenschaft sowie der Funktionsaufgabe der »nordisch-dinarischen Kärntner Rasse« auseinander und gründete 1923 mit hohem bundesstaatlichem Zuschuss auf Schloss Tanzenberg bei St. Veit eine alpenländische Sommer-Bauernvolkshochschule nach nordischem Muster, um für den »Abwehrkampf« die als erforderlich angesehenen »Führernaturen« heranzubilden.30 Lorenz »kongenialer« Nachfolger als Kärntner Landesreferent, Viktor Winkler-Hermaden  – »Theoretiker der austrofaschistischen Festspielbewegung« und Leiter des »Referats für Volkstum« des Vaterländischen Frontwerks »Neues Leben«31 – teilte dem Unterrichtsministerium unmittelbar vor der NS-»Volksabstimmung« mit, dass er durch seine für die Kärntner Gauwahlleitung durchgeführte Propagandavorträge für »die Notwendigkeit des Bekenntnisses zum großdeutschen Reich […] wesentlich dazu beigetragen habe, bisher abseits ste25 Verein »Zentralbibliothek« 1928  ; weiters Nötsch 1989. 26 Siehe auch den Beitrag von Birgit Peter in diesem Band. 27 Der Staatskommissar beim Reichsstatthalter, SS-Standartenführer Dr. Otto Wächter, Politische Beurteilung des Walter Semetkowski, Wien 27.8.1938, Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Gauakt-Nr. 18.711. 28 Lorenz hatte diese Stelle von 1920 bis 1928 inne, siehe Walder 2007, 126, 129. Zur Volksbildung brachte Lorenz sein Doktorvater, der Wiener Philosoph und Volksbildungspionier Friedrich Jodl, bei dem er 1911 promoviert hatte, ebd., 29. 29 Filla 2015, 26. 30 Lorenz 1926, 26–28. 31 Janke 2010, 349.

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hende Kreise der Bevölkerung für eine positive Einstellung zur Wahl am 10. April zu bestimmen.«32 Der bundesstaatliche Landesreferent für Niederösterreich, Regierungsrat Maximilian Mayer, der seit 1924 – gemeinsam mit Otto Glöckel und anderen – im Vorstand der Wiener Urania saß, wurde 1932 schließlich sogar Obmann des Vereins »Südmark«, der seit Mitte der 1920er Jahre bereits mehrheitlich von Nationalsozialisten dominiert und Motor der Anschlussbewegung war, im austrofaschistischen Regime aber weitgehend unbehelligt weiter bestehen konnte.33 Mayers Nachfolger als staatlicher Volksbildungsreferent in Niederösterreich ab 1934, Hans Mairinger, »illegales« NSDAP-Mitglied in Pulkau (bei Hollabrunn),34 gelobte nach dem »Anschluss« sogleich »unserem herrlichen Führer Adolf Hitler Treue« und skizzierte in einer Weisung »an alle Volksbildner Niederösterreichs« ein »bodenständiges« Volksbildungsprogramm auf »der Grundlage deutscher Blut- und Kulturgemeinschaft« zur Erweckung »tiefe[r] deutscher Gemeinschaftswerte.«35 Als besonders eifriger Unterstützer des »grossdeutschen und sozialen Gedankens«36 erwies sich der bundesstaatliche Volksbildungsreferent für Salzburg (1921– 1938), Karl Wagner. Als Multifunktionär war der promovierte Germanist ab 1922 zugleich Vorstand des »Vereins für Heimatschutz im Lande Salzburg«,37 sodann ab 1928 für die »Kulturarbeit« zuständiger Stellvertreter des »Gauobmannes« im »Deutschen Schulverein Südmark« und ab 1936 auch Landessachwalter der austrofaschistischen »Frontwerk«-Organisation »Neues Leben«. Darüber hinaus war Wagner vor dem »Anschluss«38 geheimes Mitglied des NS-Kulturbundes, wo er die Funktion eines »Fachschaftsleiters« bekleidete, und zudem »Gaudietwart« beim »Deutschen 32 Viktor Winkler-Hermaden an das Österreichische Ministerium für Unterricht. Betref. Mitwirkung an der Wahlpropaganda, Klagenfurt, 7.4.1938, ÖStA, AVA, Unterricht (1848–1940), Volksbildung 1938, Kt. 463, Sign. 2D2, GZ 11.709–38. 33 Vgl. Zettelbauer 2008, 218f. 34 Dr. Johann Mairinger, Inverwendungnahme, 28.7.1938, ÖStA, AVA, Unterricht allg., Volksbildung 1938, Kt. 463, Sign. 2D2, GZ 8.972–38. 35 Dr. Hans Mairinger an das Österr. Unterrichtsministerium, Zentralstelle für Volksbildung, 6.4.1938, ebd., GZ 11.478/38. 36 Volksbildungsreferent für Salzburg an das Österreichische Unterrichtsministerium, Zentralstelle für Volksbildung, Salzburg, 18.5.1938, ebd., GZ 17.069, 2. 37 K[lein] 1952, 202f. 38 Der »Anschluss« 1938 bereitete Wagner »vielleicht die grösste Freude in seinem dienstlichen Wirken […]. War doch seine ganze Einstellung von Anfang an auf den volksdeutschen Gedanken eingestellt […]. Diese nationale Einstellung war im Unterrichtsministerium gewiss jederzeit bekannt.« VB Referat Salzburg. Neuorientierung. Verhältnis zu den Dienststellen der NSDAP. Karl Wagner an das Österreichische Unterrichtsministerium, Zentralstelle für Volksbildung, Salzburg, 26.3.1938, ÖStA/ AVA, Unterricht allg., Volksbildung 1938, Kt. 463, Sign. 2D2, GZ 17.069/38.

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Turnerbund«. In all seinen Funktionen habe er, wie er in seinem (erfolgreichen) Unterstützungsgesuch an seinen Jugendfreund, »Minister« Edmund Glaise-Horstenau, anlässlich der bevorstehenden Auflösung aller bundesstaatlichen Volksbildungsstellen im Juli 1938 schrieb, seine Funktionen dafür genützt, »alle mir bekannten nationalen und nationalsozialistischen Vereine und Vereinigungen so weit als möglich zu fördern und in ihren Arbeiten zu decken«.39 Wie die genannten Beispiele zeigen, hatten einzelne Südmark-Vertreter sowie Parteigänger nationalsozialistischer Politik in der staatlichen Volksbildungspolitik der Ersten Republik Schlüsselfunktionen inne. Vereinzelt tauchen einige der genannten Repräsentanten auch in den weltanschaulich neutralen Stammhäusern der wissenschaftszentrierten Wiener Volksbildung auf, wo sie allerdings kaum auf einen besonders fruchtbaren Boden hoffen konnten. So lud das mehrheitlich konservative Präsidium der Wiener Urania Albert Einstein im September 1920 zu einem Vortrag über Allgemeine und Spezielle Relativitätstheorie ein, wobei ihm eigens versichert wurde, dass »das sachliche Interesse« an seiner Lehre in Österreich »keineswegs durch die aus Deutschland vernommene Parteiung verwirrt«40 sei. Wie der Urania-Vorstand Einstein des Weiteren mitteilte, konnte bei einer sommerlichen Urania-Vortragsreise nach Linz, Salzburg und Innsbruck »gerade in diesen bekanntlich streng katholischen und dem Antisemitismus zugeneigten Ländern und insbesondere auch bei den dortigen geistigen Führern ein rein sachliches, ganz besonders tiefes Interesse für Ihre Lehre«41 beobachtet werden  ; ein Aspekt, der für Einstein, der in jener Zeit bereits mit heftigen Diffamierungsbemühungen von reaktionärer, antisemitischer Seite konfrontiert war, zwar nicht ausschlaggebend, wohl aber zusätzlich motivierend für seine Zusage gewesen sein dürfte.

Wissenschaftsorientierte Volksbildung in Wien – ein bildungspolitischer Ausnahmefall  ? In diametralem Gegensatz zu den zuvor grob skizzierten bäuerlich-katholischen sowie den deutschnational-völkischen Aktivitäten ist die institutionelle Formation der wissenschaftszentrierten Volksbildung zu sehen, deren rasante Expansion ab Ende der 1880er Jahre mit dem Aufstieg des politischen und rassistischen Antisemitismus 39 VB Referent für Salzburg. Auflösung des Volksbildungsreferates, Verwendung des Referenten Stud. Rat. Dr. Karl Wagner. Karl Wagner an Glaise-Horstenau, 25. Juli 1938, ebd., GZ IV–1–27.318-C (34.197/38), 3. 40 Stifter 2006, 3. 41 Ebd.

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zeitlich zusammenfiel. Oberste Maxime dieser auf rationale Denkschulung ausgerichteten spätaufklärerischen Volksbildungsaktivitäten, die von einer großen Zahl reformorientierter Universitätsprofessoren und Dozenten getragen wurden, war die wissenschaftliche Objektivität sowie die weltanschaulich-politische Neutralität, also die vollständige Ausklammerung aller Fragen, die sich auf »die politischen, religiösen und socialen Kämpfe beziehen«.42 Den deutlichsten Ausdruck fand dieses Konzept einer wissenschaftszentrierten Volksbildungsarbeit, das implizit davon ausging, dass einer geistigen Befreiung die politische folgen würde, schließlich in Gründungen, die als direkte Vorläufer der Volkshochschulen der Ersten Republik zu sehen sind – dem 1887 gegründeten »Wiener Volksbildungsverein«, den 1895 nach englischem Vorbild etablierten volkstümlichen Universitätsvorträgen an der Universität Wien,43 der 1897 gegründeten Wiener Urania sowie der 1901 geschaffenen ersten Volksuniversität im Arbeiterbezirk Ottakring. Letztere Einrichtung durfte sich nach Einspruch der Vereinsbehörde allerdings nicht »Volkshochschule« nennen und musste sich daher den unverdächtiger klingenden Vereinsnamen »Volksheim« zulegen.44 Sowohl die Vorläufereinrichtungen als auch die Volkshochschulen in der Ersten Republik waren auf offenen Zugang und egalitär-emanzipatorische Wissensvermittlung ausgerichtet, wobei soziale Herkunft, Besitz, religiöse Überzeugung oder Geschlecht keine Rolle spielen sollten. Dieser neugeschaffene Lernort orientierte sich am Idealbild einer herrschafts- und ideologiefreien akademischen Debatte, deren Ziel in friedvoller Verständigung und individuell-kollektiver Weiterentwicklung lag. Abgesehen von der partizipativen, demokratiepolitischen Stoßrichtung dieser neuen und stark frequentierten Bildungseinrichtungen, die unter anderem auch erhebliche finanzielle Zuwendungen seitens jüdischer Mäzene wie etwa der Bankiersfamilie Rothschild, der Industriellenfamilie Auspitz, der großbürgerlichen Finanz- und Kaufmannsfamilie Lieben oder assimilierter Unternehmer wie Karl Wittgenstein erhielten, finden sich unter den frühen Förderern und Mitinitiatoren der Wiener Volkshochschulbewegung auch Mitglieder des 1891 nach Berliner Vorbild gegründeten »Vereins zur Abwehr des Antisemitismus« – so zum Beispiel Wilhelm Exner, Eduard Suess, Marie von Ebner-Eschenbach, Alfred Hermann Fried oder der Verleger Moritz Szeps.45 Es ist daher auch nicht weiter verwunderlich, dass im Anschluss an den neuerlichen Wahlsieg Karl Luegers als Bürgermeisterkandidat die »antisemitische Majorität 42 Die Presse, 26.10.1895, 9. 43 Siehe dazu allgemein Taschwer 2002  ; Altenhuber 1995  ; K apner 1961. 44 Stifter 2005, 44. 45 Hamann 1995, 254.

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im Gemeinderath« im Juni 1896 die Kürzung der Fördermittel des Wiener Volksbildungsvereines um rund 85 Prozent beschloss,46 was umgehend zu einer großen Protestversammlung im Wiener Musikvereinssaal führte.47 Als ausschlaggebender Grund für die erbitterte Gegnerschaft und Agitation christlichsozialer und deutschnationaler Gemeinderäte gegen die »Volksbildungsvergiftung« sowie für die erfolgten Kürzungen wurde angeführt, dass im Wiener Volksbildungsverein »ein Drittel der Mitglieder nicht dem arischen Stamm angehören. Der Rest setzt sich zumeist aus Personen zusammen der politischen Richtung, die wir bekämpft haben, über die wir gesiegt haben, und über die wir hoffentlich auch Sieger bleiben werden.«48 Gegen die »Rohheit und Borniertheit« der Gemeinderäte wettert auch die »Arbeiter-Zeitung«, polemisierte jedoch zugleich gegen die »schäbige Geringfügigkeit der Subvention der früheren liberalen Stadtverwaltung« und meinte gar  : »Das Schicksal, von den Liberalen vertheidigt zu werden, ist bei weitem härter als die Gegnerschaft der Antisemiten.«49 Dass nun die bildungspolitische Stoßrichtung der Volkshochschulvorläuferorganisationen sowie der Volkshochschulen im »Roten Wien« einen organisationsspezifischen Antisemitismus geradezu ausschloss, verdeutlicht sich, abgesehen von den programmatischen Zielsetzungen sowohl am Veranstaltungsangebot, an der Zusammensetzung der Proponenten bzw. der Akteurinnen und Akteure als auch an der bunten Zusammensetzung des Publikums.50 Auch wenn es derzeit noch nicht möglich ist, dies anhand verlässlicher Zahlen darzustellen, war der Anteil von Vortragenden, Funktionärinnen und Funktionären sowie Kursleiterinnen und Kursleitern mit jüdischem Hintergrund doch relativ groß und lag etwa in der Volkshochschule Ottakring weit über 50 Prozent  ; dies nicht zuletzt auch deshalb, da insbesondere für jüdische Universitätsabsolventinnen und -absolventen aufgrund des zunehmend reaktionären, deutschnational-antisemitischen Klimas an den Universitäten eine akademische Karriere immer schwieriger wurde und sich über Vorträge an Volkshochschulen zumindest ein bescheidenes Honorar erwirtschaften ließ.51

46 Neue Freie Presse, 18.6.1896, 6. 47 Siehe Filla 1996. 48 Deutsches Volksblatt, 26.6.1896, 5  ; Reichspost, 27.6.1896, 3. 49 Arbeiter-Zeitung, 20.6.1896, 1. 50 So meinte etwa der Geologe, Volksbildungspionier und Gründer des »Vereins Zentralbibliothek« hinsichtlich der Zusammensetzung der TeilnehmerInnen der »volkstümlichen Universitätsvorträge«: »Lehrer und Beamte, Gewerbetreibende, Arbeiter, Handelsleute, Antisemiten [sic] und Semiten, Deutschnationale und Czechen, Angehörige jeder politischen Partei sitzen in den Bänken ohne in Streit zu geraten«, Die Presse, 21.11.1895, 1. 51 Stifter 2015a, 297  ; siehe auch den Beitrag von Tamara Ehs in diesem Band.

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So hielt zum Beispiel der bedeutende Physiker und Wissenschaftshistoriker Edgar Zilsel52 zwischen 1917 und 1936 als hauptberuflicher Erwachsenenbildner 373 wissenschaftssoziologische Vorträge und Kurse im Wiener Volksbildungsverein und der Volkshochschule Ottakring.53 Nach seiner Zwangspensionierung flüchtete er 1938 ebenso in die USA wie etwa auch Hermann Broch. Letzterer hatte 1930 an der Volkshochschule Ottakring erstmals aus dem noch unveröffentlichten Manuskript »Die Schlafwandler« vorgetragen und 1932 gemeinsam mit Franz Theodor Csokor in der Reihe »Dichter werben für Dichter« den noch weitgehend unbekannten 28jährigen Elias Canetti eingeladen, aus dem Manuskript »Die Blendung« zu rezitieren.54 Die beiden KunstwissenschafterInnen Hans und Erica Tietze fanden, wie aus den kürzlich veröffentlichten Tagebüchern Erica Tietze-Conrats hervorgeht, in der Beziehung zu ihrem stets zahlreichen Publikum an der Urania eine zweite Heimat.55 Zwischen 1906 und 1938 hielten beide im Volksbildungsverein, der Volkshochschule Ottakring, an der Wiener Urania und den volkstümlichen Universitätsvorträgen in Summe 238 Kurse und Vorträge.56 Und der aus einer jüdischen Wiener Kaufmannsfamilie stammende Zoologe Richard Czwiklitzer war nicht nur seit 1914 Vortragender, sondern ab 1921 auch Sekretär, schließlich Generalsekretär der Volkshochschule Ottakring. Nach dem »Anschluss« wurde Czwiklitzer als zweiter Staatsbibliothekar mosaischen Glaubens an der Universitätsbibliothek neben dem Indogermanisten und Albanologen Norbert Jokl zwangspensioniert. Schließlich wurde er deportiert und kam am 9.  März 1940 an bisher unbekanntem Ort zu Tode.57 Aber auch hinsichtlich der leitenden Volkshochschulfunktionäre ist das Bild keineswegs ganz so klar, wie es zunächst scheint. Immerhin gibt es mit dem Generalsekretär des Wiener Volksbildungsvereins, dem Kunsthistoriker Friedrich Plutzar, der 1921 beim bereits genannten Josef Strzygowski in Wien dissertiert hatte, ein direktes Gegenbeispiel. Nach dem Februar 1934 führte der Generalsekretär der ältesten Volkshochschul-Vorläufereinrichtung Wiens seinen Verein als einziger vom austrofaschistischen Regime nicht abgesetzter Leiter widerstandslos in die neue Ära einer intellektuellenfeindlichen und antisemitischen Kultur- und Bildungsarbeit. Nach dem »Anschluss« 52 Siehe Dvořak 1981. 53 Auswertung der Kurse und Vorträge (ÖVA) – internes Archivinformationssystem theseus. 54 Stifter 2004, 91. 55 Caruso 2015, 120–122. Ich danke Frau Dr. Caruso für die freundliche Zurverfügungstellung der Druckfahnen des Bandes. 56 Auswertung der Kurse und Vorträge (ÖVA) – internes Archivinformationssystem theseus. 57 Siehe den Online-Eintrag zu Richard Czwicklitzer (1882–1940)  : http://www.adulteducation.at/de/ historiografie/personen/43 (25.11.2015).

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wurde Plutzar, der seit dem Jänner 1933 »illegaler« Nationalsozialist war,58 zunächst zum kommissarischen Leiter des Volksbildungsvereins bzw. des Volksbildungsamtes der Stadt Wien bestellt und avancierte bald darauf zum NS-Gauvolksbildungswart der im »Deutschen Volksbildungswerk« gleichgeschalteten Volksbildungsstätten.59 Plutzars darauffolgendes Wirken als Wehrmachtsoffizier, als SS-Sturmbannführer und Leiter der Hauptabteilung »Wissenschaft, Volksbildung und Kulturpflege« sowie als kurzfristiger Ko-Leiter der »Germanischen Forschungsstelle« in den besetzten Niederlanden ist im Übrigen bislang weitgehend unerforscht.60 Anders verhält es sich im Fall von Plutzars Studienkollegen und Freund, Friedrich Wimmer. Der Kunsthistoriker, der ebenfalls bei Josef Strzygowski (und Oswald Menghin) promoviert und obendrein ein rechtswissenschaftliches Studium absolviert hatte, war seit Februar 1934 illegales NSDAP-Mitglied. Als Nachfolger von Fritz Saxl und Friedrich Löhr war Wimmer in den Jahren von 1923 bis 1932/33 als Obmann der »Kunsthistorischen Fachgruppe« in der Volkshochschule Ottakring intensiv in die Volkshochschularbeit eingebunden, bis er als »wissenschaftlicher Assistent« in die niederösterreichische Landessregierung wechselte und hier mit staatsrechtlichen und staatspolizeilichen Aufgaben betraut wurde.61 In enger Zusammenarbeit mit Arthur Seyß-Inquart arbeitete Wimmer schließlich am »Anschlussgesetz« mit und avancierte vom Staatssekretär beim Reichsstatthalter bald zum »kommissarischen Leiter« der Dienststelle »NS-Rechtswahrerbund Gauführung Wien«, bis er über seine Interimsfunktion als Regierungspräsident in der Oberpfalz schließlich von Seyß-Inquart zum »Generalkommissar für Verwaltung und Justiz« in den besetzten Niederlanden bestellt wurde.62 Infolge der politischen Säuberungen des Lehrpersonals von SozialdemokratInnen und Juden nach dem Februar 1934, der Bespitzelung durch die Bezirksleitungen der »Vaterländischen Front« sowie schon länger währender schleichender Wissenschaftsemigration nahm der Prozentsatz jüdischer Volkshochschuldozentinnen und -dozenten jedenfalls deutlich ab. Mit dem im Juli 1936 erlassenen autoritären Stadt58 Gauakt Friedrich Plutzar, ÖStA, AdR. Gauakt-Nr. 41.218. 59 Als seinen Nachfolger im Wiener Volksbildungsverein setzte Plutzar den »Illegalen« Franz Hadamovsky ein  ; der Theaterwissenschafter war ebendort seit 1923 Kursleiter und ab 1934 Vorstandsmitglied, Österreichische Nationalbibliothek, Handschriftensammlung und Nachlässe, Archiv des Hauptverbandes des Österreichischen Buchhandels, Fragenbogen 1938 Wien V. Bezirk, betref. Buchhandlung des Wiener Volksbildungsvereines, 5.4.1938, 1. 60 Plutzar o. J., 110. Der Autor dankt Frau Dr. Verena Plutzar für die freundliche Zurverfügungstellung des Manuskriptes  ; siehe weiter Koll 2015, 500f. 61 Urban 2002, 37. 62 Ebd., 39f.

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gesetz zur Regelung des Volksbildungswesens bereitete die austrofaschistische Wiener Stadtregierung unter Richard Schmitz der als »jüdisch-zersetzend« angesehenen wissenschaftszentrierten Wiener Volksbildung schließlich das Ende. Die nunmehr obligatorischen Lehrpersonalstandslisten, die in einer zentralen »Volksbildnerkartei« zusammengefasst wurden, erhoben  – neben der Rubrik »Mitgliedsnummer der Vaterländischen Front« – nun erstmals auch das Glaubensbekenntnis der Lehrkräfte.63 Wie aus einem an das Unterrichtsministerium übermittelten Tätigkeitsbericht des »Volksbildungsreferenten des Bürgermeisters der Stadt Wien« für das zweite Halbjahr 1936 hervorgeht, wurden auf Basis »laufender Inspektionsberichte« die großen Volksbildungseinrichtungen betreffend auch »Vorbesprechungen über das Programm gepflogen«, um so »schlechte« Vortragende sofort oder allmählich abzubauen.64 Tatsächlich drängte Karl Lugmayer in seiner Eigenschaft als Volksbildungsreferent darauf, dass »gute« Vortragende, die den »Ausbildungskurs des Volksbildungsreferenten« durchlaufen hatten, die ausgeschiedenen Kursleiter der traditionellen Volksbildungsvereine ersetzen sollten, was jedoch nur langsam gelang.65 Laut Aufstellung des magistratischen Volksbildungsamtes über die »konfessionelle Zusammensetzung« der Lehrkräfte befanden sich 1936 unter den 195 Kursleitern der Wiener Urania lediglich vier Personen mosaischen Glaubens. In der Volkshochschule Ottakring wurden von den insgesamt 203 KursleiterInnen immerhin 39 Vortragende mit mosaischem Glaubensbekenntnis rubriziert  ; handschriftlich vermerkt findet sich der Hinweis, dass im »Volksheim« »75 Nichtkatholiken  !« gezählt wurden, die 128 Lehrkräften mit römisch-katholischem Glaubensbekenntnis gegenüberstanden  ;66 des Weiteren zählte man ebendort unter den Kursleitern sechs »Chormeister von ehemaligen Arbeitervereinen, die sich als Fachgruppen dem Volksheim eingebaut haben.«67 Im Wiener Volksbildungsverein listete das städtische Kontrollorgan unter den 160 Vortragenden und KursleiterInnen zehn mit deklariert mosaischem Bekenntnis, denen »122 Katholiken« gegenüberstanden.68 63 Siehe ÖVA, Bestand Volkshochschule »Volksheim« Ottakring, Box 5, Mappe 76, Kursleiterlisten (Dozenten), 1936–1938. 64 ÖStA, AVA, Unterricht allg. (1848–1940), Volksbildung 1937, Kt. 441, Sign. 2D2, GZ 3.425, 8.2. 1937, Volksbildungsamt Wien (Evidenz der Volksbildner), 4. 65 Der Volksbildungsreferent des Bürgermeisters der Stadt Wien an das Bundesministerium für Unterricht. Tätigkeitsbericht über das 2. Halbjahr 1936. Ergebnis der Einreichungen für Kurse, Vortragsreihen usw., 2.2.1937, 2. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 So der Volksbildungsverein »Apolloneum« (16 Vortragende, davon »3 mos.«), der Katholische Fort-

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Bei den weiteren angeführten Vereinen fielen  – mit Ausnahme der als Spaltkeil zu den zionistischen Organisationen fungierenden »Jüdischen Volkshochschule«, deren Lehrpersonal zur Gänze »israelitischer Konfession« war – sowohl die Anzahl der Kurse bzw. die Zahl der beschäftigten Lehrkräfte als auch deren konfessionelle Zusammensetzung kaum ins Gewicht. Wenn auch vom Tempo her eher schleichend, so kam die Gleichschaltung der Volkshochschulen ab 1936 allmählich doch zum Tragen. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass von den im Wintersemester 1936/37 in der Volkshochschule Ottakring gezählten 49 Nichtmitgliedern der »Vaterländischen Front« ein halbes Jahr später, im Juni 1937 keines mehr auftaucht  : Trotz des Anstiegs der Lehrkräfte auf 256 waren nun alle als Mitglieder der »Vaterländischen Front« vermerkt, wohingegen nur mehr 25 mit mosaischem Glaubensbekenntnis geführt wurden. Tatsächlich waren die Volkshochschulen nach der Entfernung der langjährigen KursleiterInnen und Vortragenden infolge der Personalsäuberungen der austrofaschistischen Stadtregierung bald von illegalen Nationalsozialisten und Nazi-Sympathisanten unterwandert, die allein in der Volkshochschule Ottakring kurz vor dem »Anschluss« rund zwei Drittel der Kursleiter ausmachten.69 Wie dem ersten Bericht des neu bestellten kommissarischen Leiters des NS-Volksbildungsamtes der Stadt Wien, Friedrich Plutzar, unmittelbar nach dem »Anschluss« zu entnehmen ist, wurden in allen Wiener Volkshochschulen sowie in allen anderen Volksbildungseinrichtungen sogleich (»illegale«) »Vertrauensmänner« als kommissarische Leiter eingesetzt, die zum Teil schon lange vorher in den Einrichtungen als Vortragende oder Funktionäre tätig gewesen waren und nunmehr einen Stab von »verlässlichen Mitarbeitern« aufbauen sollten, um »alle Lokale, die bisher der Volksbildung gedient haben […] für die Volksbildung zu sichern«, wobei »jüdische Vortragende und Funktionäre […] zu ersetzen« waren.70

bildungsverein »Reunion« (104 Kursleiter, sämtliche »r.k«), die Bildungsstelle des Katholischen Volksbundes (alle 24 Kursleiter »r.k.«) die Evangelische Volkshochschule (43 Kursleiter, alle »evang.«). 69 So das Ergebnis einer früheren Auswertung, siehe Filla 1994, 23f. 70 ÖStA, AVA (1848–1940) Volksbildung 1938, Zl 17.000, Kt. 461, Sign. 2D2, GZ 10.189. Friedrich Plutzar, 1. Bericht an den Herrn Bürgermeister (abgeschlossen am 22.3.1938). VBA-1.277/38, 1. Folgende »illegale« Nationalsozialisten wurden als »kommissarische Leiter« eingesetzt  : Wiener Urania – Univ.-Prof. Dr. Viktor Christian (zuvor wissenschaftlicher Leiter, Vorstandsmitglied und ab 1934 Vizepräsident der Urania)  ; Wiener Volksbildungsverein – zunächst Dr. Friedrich Plutzar, danach »Pg.« Dr. Franz Hadamovsky  ; Volkshochschule »Volksheim«  – Viktor Winkler, akademischer Maler (seit 1925 Kursleiter in der Wiener Urania und im Wiener Volksbildungsverein)  ; Volkshochschule Alsergrund – Univ.-Doz. Dr. Walter Hirschberg (der Ethnologe und Afrikanist war seit 1931 Vortragender an den Wiener Volkshochschulen).

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Veranstaltungsangebot der Volkshochschulen und ihrer Vorläufereinrichtungen Wie die Auswertung der gesamten Veranstaltungsprogramme der Wiener Volkshochschulen im Zeitraum 1887–1938 ergibt, finden sich unter den in Summe 177.000 Vorträgen nur 84 mit Bezug auf Judentum, jüdische Kultur, Volksleben und Glauben  ; darunter ein einziger, der Judentum im Zusammenhang mit Rasse thematisierte. Diesen hielt 1915 der Kinderforscher und Psychologe Ottokar Nemecek unter dem Titel »Rasse und Begabung. Praktische Erfahrungen an christlichen und jüdischen Schülern« in der Wiener Urania, was ein positives, quasi »philosemitisches Ergebnis« zumindest nicht ausschließt.71 Etwas anders verhält es sich mit den Vorträgen zu allgemein »rassekundlichen« Themen. Aber auch hier zeigt sich, dass unter den insgesamt 187 Vorträgen  – die von der »politischen Bewegung der schwarzen Rasse« über die »Rassen und Völker Afrikas« bis hin zur »Rassenbiologie« reichen – nur vergleichsweise wenige »rassenhygienische«, eugenische oder dezidiert kulturrassistische Positionen auffindbar sind.72 Der Anteil explizit »rassekundlicher« Themen am Gesamtangebot insbesondere an den Stammhäusern der wissenschaftszentrierten Wiener Volkshochschulen mit rund 0,1 Prozent war verschwindend gering  – nicht zuletzt auch, weil engagierte Volksbildungsfunktionäre wie der Dekan der Wiener Medizinischen Fakultät und später führende Rassenhygieniker Max von Gruber73 oder der Prähistoriker und antisemitische Rassentheoretiker Oswald Menghin74 (ab 1922/23 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Wiener Urania) in ihren Vorträgen kaum rassenkundliche Themen erörterten. So geht beispielsweise bei den zwischen 1901 und 1938 insgesamt 35.693 abgehaltenen Vorträgen und Kursen an der Volkshochschule Ottakring samt Zweigstellen nur bei 68 Vorträgen aus dem Titel hervor, dass sie sich mit »rassekundlichen« Themen auseinandersetzten  ; darunter finden sich allerdings auch rassenkritische Vorträge, so etwa jene des Ökonomen, Soziologen und Historikers Friedrich Hertz, der,

71 Auswertung der Kurse und Vorträge (ÖVA) – internes Archivinformationssystem THESEUS. 72 Stifter 2000, 58f. 73 So war Max von Gruber engagiertes Mitglied des Komitees für die Einrichtung der »volkstümlichen Universitätskurse« und bis zu seiner Berufung nach München 1902 auch dessen Ausschuss-Vorsitzender sowie Mitunterzeichner des Aufrufes gegen die Kürzung der Subventionen des Wiener Volksbildungsvereines 1896. Auswertung der Kurse und Vorträge (ÖVA) – internes Archivinformationssystem THESEUS. 74 Siehe Pusman 2008, 148.

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wie auch einige andere Volkshochschulfunktionäre und -dozenten,75 1911 Teilnehmer am ersten »Welt-Rassenkongress« in London war, der sich ausdrücklich gegen den weitverbreiteten Rassismus richtete. Hertz, der selbst jüdische Wurzeln hatte, war  – neben Hartmanns Doktorvater Theodor Mommsen76 oder (später) dem Genetiker und Gründer der Masaryk-Volkshochschule Brünn, Hugo Iltis,77 – einer der schärfsten und profiliertesten Kritiker des Antisemitismus78 und der »Rassentheorien«79 jener Zeit. Infolge des Anstiegs antisemitischer, rechtskonservativ-antidemokratischer bis offen nationalsozialistischer Kräfte an den Universitäten tauchen Vertreter der Gegenaufklärung nicht nur im Programm der staatlich finanzierten volkstümlichen Universitätsvorträge auf, sondern sind auch unter den Lehrenden der Volkshochschulstammhäuser zu finden. Neben Mitgliedern der »Deutschen Gemeinschaft« finden sich bis auf zwei Personen alle 18 Konspiranten der geheim organisierten universitären Antisemiten-Clique der »Bärenhöhle«80 zum Teil über mehrere Dekaden hinweg als Vortragende an der Wiener Urania, der Volkshochschule Ottakring und dem Wiener Volksbildungsverein in der Stöbergasse.81 Die von den Genannten behandelten Themen, die von allgemeiner Musikgeschichte, über die Musikdramen Richard Wagners, die Urgeschichte der Kultur bis zu volkskundlichen Eindrücken aus Siebenbürgen reichen, weisen allerdings nicht nur unverdächtige Titel auf, sondern dürften auch kaum einschlägiges Gedankengut transportiert haben, zumal dies nicht nur bei der Programmleitung, sondern insbesondere auch beim Publikum sowie unter der Kollegenschaft der Volkshochschulvortragenden umgehend schwere Irritationen hervorgerufen hätte.82 75 So etwa Friedrich Jodl, Wilhelm Börner, Rudolf Goldscheid, Thomas Garrigue Masaryk, Moritz Hoernes, Rudolf Geyer, Rudolf Kobatsch oder Leo Strisower. 76 So meinte Mommsen 1894 in einer veröffentlichten Erklärung gegenüber Hermann Bahr hinsichtlich der »ungeheure[n] Schmach […], welche Antisemitismus heißt«  : »Gegen den Pöbel gibt es keinen Schutz – ob es nun der Pöbel auf der Straße oder der Pöbel im Salon ist, das macht keinen Unterschied  : Kanaille bleibt Kanaille und der Antisemitismus ist die Gesinnung der Kanaille«, zit. n. Bahr 1894, 26. 77 Iltis 1936. 78 Hertz 1904. 79 Hertz 1915. 80 Taschwer 2015, hier vor allem das Kap. 4, »Geheime antisemitische Netzwerke«, 99–132. 81 Es sind dies  : Robert Lach, Othenio Abel, Oswald Menghin, Viktor Christian, Rudolf Much, Kurt Ehrenberg, Heinrich Srbik, Robert Reininger, Hans Übersberger, Wilhelm Bauer, Anton Pfalz, Hermann Junker, Rudolf Geyer, Dietrich Kralik, Gustav Turba und Wilhelm Czermak. 82 Nicht zuletzt protestierten führende Exponenten der Volkshochschulen in ihrer Eigenschaft als Universitätsangehörige bei antisemitischen Habilitationsverhinderungen wie etwa im Fall des Physikers Karl Horowitz 1923, wo unter anderen der Spiritus rector des Ottakringer »Volksheims«, der Medi-

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Nicht zuletzt hatte der Doyen und Spiritus rector der wissenschaftsorientierten Volksbildung in Österreich, der Mediävist, Mommsen-Schüler und Bildungsreformer Ludo Moritz Hartmann, anlässlich der Volksbefragung im Jahr 1923, bei der erstmals auch die Rassen- und Volkszugehörigkeit abgefragt wurde, in einem pointierten öffentlichen Brief an den »Rasseforscher Frank«, also den Vizekanzler Felix Frank der Regierung Seipel I, den stumpfen Klassifizierungsrassismus mit Bezug auf die eigene hetitisch-arische, keltische sowie chazarisch-sephardische Identität in scharfsinniger Weise der Lächerlichkeit preisgegeben.83 Dass unter den Lehrenden der wissenschaftsorientierten Volksbildungsinstitute auch Rassenantisemiten zu finden sind, ist so gesehen weniger Ausdruck als vielmehr Folge der weltanschaulich-bildungspolitischen »Neutralität«, die sich im Zusammenhang der »Objektivität« der Vortragenden und Kursleiter hauptsächlich an der vorausgesetzten und formal ausweisbaren wissenschaftlich-fachlichen Qualifikation orientierte. Unter strikter Ausklammerung politischer Debatten und der eingeforderten sachlich-fachlichen Objektivität war der großteils aus Akademikern bestehende Lehrkörper der Volkshochschulen ideologisch freilich keineswegs homogen  : Neben Vertretern des Austromarxismus, des Wiener Kreises oder Repräsentanten des spätliberal-spätaufklärerischen Bürgertums,84 reüssierten eben auch solche des katholisch-­ »vaterländischen« oder des deutschnational-»völkischen« Lagers, auch wenn deren Zahl und deren Einfluss in diesem edukativen Habitat bis 1934 vergleichsweise gering waren. Obwohl der Austrofaschismus, wie dargestellt, die wissenschaftlich orientierte Volksbildung spätestens 1936 nahezu vollständig liquidierte, maß das Dollfuß-Schuschnigg-Regime regimekonformer, d. h. »vaterlands- und volkstumstreuer« Volksbildung zur »richtigen Volksgesundheit« und zum Aufbau einer »wahren österreichischen Volksgemeinschaft« große Bedeutung bei.85 Dies zeigt sich unter anderem auch darin, dass es 1934 neben der Gründung von Volkshochschulen in Klagenfurt und Villach86 auch in Wien zu Neugründungen kam. So wurde im Herbst 1934 die Volkshochschule Alsergrund eröffnet87 und im November schließlich die im Geävist und Mommsen-Schüler Ludo Moritz Hartmann, dessen Mitstreiter Emil Reich oder der Mineraloge und langjährige Vereins-Obmann Friederich Becke, eigenhändig scharf protestierten, siehe  : Oberkofler/Goller 1994, 28. 83 Hartmann 1923, 5. Abgedruckt in  : Filla u. a. 1992, 167–170. 84 Siehe Filla 1997, 26–42. 85 Siehe Dostal 2017, 208ff. 86 Filla 2015, 44f. 87 Swoboda 2012, 33–35.

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bäude des Stadtschulrates untergebrachte »Jüdische Volkshochschule« unter Leitung des Rabbiners Manfred Pappo.88 Die »Jüdische Volkshochschule« hatte das Ziel, die traditionell stark über Bildung kulturalisierte jüdische Wiener Bevölkerung im religiös-vaterländischen Sinn zu erreichen. Gegen den Widerstand der zionistischen Führung der Jüdischen Kultusgemeinde vertrat diese »separatistische« Einrichtung, die ihre Arbeit der »jüdisch-religiösen Volkserziehung« widmete, ein ideologisches Konzept, das ganz im Sinne der beabsichtigten Reorganisation des gesamten Volksbildungswesens auf Basis »vaterländischer« Gesinnung auf die Hochhaltung traditionell jüdischer Kultur und Religion gerichtet war und sozialistisches, zionistisches oder auch liberales Gedankengut grundsätzlich ablehnte.89 Demgemäß konzentrierte sich das Programm neben der bürgerlichen Hochkultur vor allem auf jüdische Bräuche, jüdische Philosophie und Musik, hebräische Bibellektüre oder Synagogengesang.90

Resümee Auch wenn aufgrund der derzeitigen Forschungslage ein klares Resümee zu ziehen kaum möglich ist, lassen sich im Zusammenhang der Ausgangsfragestellung doch einige zentrale Aspekte verdeutlichen. Zunächst, und dies ist keineswegs trivial, zeigt sich, dass die Frage nach dem Ausschlussverhältnis zwischen Antisemitismus und Volksbildung eng mit den unterschiedlichen weltanschaulich-politischen Grundlagen der beiden Hauptströmungen der institutionalisierten Volksbildung in Österreich verbunden ist, wie sie sich im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelt haben. Wie tief dabei der gesellschaftlich und politisch grassierende Antisemitismus über den politischen Katholizismus sowie über deutschnational-völkisches Gedankengut hinaus auch und insbesondere in den Bereich der Volksbildung eingedrungen ist, lässt sich derzeit allerdings, wie dargestellt, nur indirekt erschließen. Wie gezeigt werden konnte, finden sich unter den bundesstaatlichen Landesreferenten für Volksbildung zur Zeit der Ersten Republik doch einige Beamte, die eindeutig antisemitischen Positionen bzw. Ideologien nahestanden und die ihre Einfluß- und finanziellen Fördermöglichkeiten entsprechend nützten. Obwohl auch im Bereich der wissenschaftsorientierten Volkshochschulen und ihrer Vorläufereinrichtungen Antisemitismus unter Einzelpersonen klarerweise keineswegs 88 Gaisbauer 1988, 28–30. 89 Ebd., 32f., 53f. 90 Siehe dazu die Veranstaltungsprogramme in  : Die Garbe 1935–1938.

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ausgeschlossen werden kann – im Gegenteil finden sich sogar prononcierte Antisemiten unter den langjährigen Vortragenden und Kursleitern der Volkshochschulen – ist im Hinblick auf das Selbstverständnis und die bildungspolitische Ausrichtung dieser Organisationen tendenziell von einer Bedrohungs- bzw. Gefährdungsperspektive auszugehen. Ausgehend von den programmatischen Zielsetzungen, den Veranstaltungsangeboten als auch hinsichtlich der beteiligten AkteurInnen ist ein organisationspezifischer Antisemitismus jedenfalls ebenso wenig nachweisbar wie prononciert antisemitische Untertöne in der konkreten Wissens- und Bildungsvermittlung. Dass für ein besseres analytisches Verständnis der Ursachen und Spezifika des partiellen Durchdringungsverhältnisses von Antisemitismus und Volksbildung allgemein, wie insbesondere auch im Hinblick auf deren wissenschaftszentrierte Ausprägungen weitere Forschungen notwendig sein werden, ist aber evident. Dies gilt auch für die Klärung der Frage, inwiefern bzw. warum an den »neutralen« Wiener Volkshochschulen, trotz verschiedentlicher Angebote zur »Politischen Bildung«,91 kaum aktive Bildungsarbeit gegen den Antisemitismus betrieben wurde.

Literatur und gedruckte Quellen Altenhuber, Hans, Universitäre Volksbildung in Österreich 1895–1937 (Zur Geschichte der Erwachsenenbildung, Bd. 1), Wien 1995. Der Arbeiterwille 1923. Arbeiter-Zeitung 1896. Bahr, Hermann, Der Antisemitismus. Ein internationales Interview, Berlin 1894. Caruso, Alexandra (Hg.), Erica Tietze-Conrat. Tagebücher. Mit einem Geleitwort von Edward Timms/David Rosand. Bd. 1, Wien u. a. 2015. Christlich-soziale Arbeiter-Zeitung 1920. Deutsches Volksblatt 1896. Dostal, Thomas, Bildung im Herrgottswinkel. Zu den ideellen und pädagogischen Grundlagen von Architektur und Raumgestaltung ländlicher Heimvolkshochschulen am Beispiel des bäuerlichen Volksbildungsheims Hubertendorf 1928 bis 1938, in  : Spurensuche. Zeitschrift für Geschichte der Erwachsenenbildung und Wissenschaftspopularisierung 20/21 (2012), Heft 1–4, 146–170. Dostal, Thomas, Bildung zu »Volkstum und Heimat« in der österreichischen Volksbildung der Zwischenkriegszeit, Diss. Wien 2017. Dvořak, Johann, Edgar Zilsel und die Einheit der Erkenntnis. (Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften), Wien 1981. Ehs, Tamara, Hans Kelsen und politische Bildung im modernen Staat. Vorträge in der Wiener 91 Vgl. Ehs 2007.

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»… Herr Jud’ zu sagen« Antisemitismus im österreichischen Sport 1933 bis 1938 – ein Forschungsüberblick Vorbemerkung Friedrich Torberg wird oft als Zeuge sowohl der auf sportlichem Gebiet zum Ausdruck gebrachten jüdischen Selbstbehauptung als auch des oft massiven Antisemitismus im Wien der 1930er Jahre angeführt. In Arthur Baars Rückblick auf die ersten 50 Jahre des »Sportclubs Hakoah«1 formulierte Torberg, dieser Sportverein habe den Menschen beigebracht, »Herr Jud« zu sagen. Es mag diskutabel sein, dies einseitig als Leistung der »Hakoah« und als Folge jüdischen Selbstbewusstseins zu sehen, doch dass sportliche Erfolge zumindest im sportaffinen Wien neben Missgunst auch Bewunderung oder zumindest Anerkennung einbrachten, ist evident (Abb. 1)  : Es gelang jüdischen SportlerInnen, weit über jüdische Communities hinaus Respekt und Beifall auszulösen, wenn etwa 1923 die Mariahilferstraße voll von jubelnden Fußballfans war, die der »Hakoah« nach ihrem sensationellen 5  :0-Sieg beim Londoner Fußballklub »Westham United« ihre Wertschätzung entgegenbrachten. So eignet sich Torbergs Diktum2 grosso modo doch als Metapher jüdischen Sportengagements innerhalb der (massen-)sportlichen Populärkultur Wiens in den Jahren zwischen den Weltkriegen  : SportlerInnen wie Béla Guttmann oder Hedy Bienenfeld (es ist im Sinne des maskulin kodierten Sportgeschehens der 1930er Jahre zulässig, die Bewunderung ihrer Leistungen im Sinne des »Herrn Jud’« männlich zu deklinieren3), Trainer wie Zsigo Wertheimer oder Hugo Meisl, aber auch Funktionäre wie Theodor Schmidt4 oder Emanuel Schwarz5 waren imstande, zugleich Ressentiments und Hochachtung auszulösen (Abb. 2). Das gilt im Gegensatz zur österreichischen »Provinz«, aber auch etwa zur Weimarer Republik und zum Deutschen Reich ab 1933, wo eine Fokussierung auf das Turnen, eine starke Autarkie des jüdischen Sporttrei1 2 3 4 5

Torberg 1959, 278f. Patka 2008. Marschik/Dorer 2010, 242f. Marschik 2016. Hachleitner 2008.

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Abb. 1  : Die »Herren Juden«  : Die Hakoah-Fußballer als erste österreichische Meister im Profifußball.

bens und kaum öffentlich wahrgenommene Sporterfolge von Juden und Jüdinnen zu einem geringeren Maß an Antisemitismus im Sport, aber eben auch kaum zu dessen Wertschätzung führten.6

Selektive Blickwinkel auf den jüdischen Sport Schon die Frühgeschichte jüdischen Sporttreibens in Wien verdeutlicht, dass der jüdische Sport – als Singularbegriff – nicht existiert  : Um 1890 evozierte die Zunahme des Antisemitismus in den meist deutsch-nationalen Turnvereinen die Gründung dezidiert jüdischer Klubs,7 ab 1900 begannen sich Juden (vereinzelt auch Jüdinnen) sukzessive auch im modernen Sport zu etablieren, und zwar als Aktive wie als Funkti6 Borut 2006  ; Peiffer/Wahlig 2012  ; Zimmermann 2014  ; Wahlig 2015. 7 Wildmann 2009, 42ff.

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onärInnen. 1909 erfolgte die Gründung der »Hakoah« als »zionistisches Projekt«.8 Dabei lassen sich in den jüdischen und jüdisch konnotierten Bewegungskulturen neben klassen-, alters- und geschlechtsspezifischen auch gravierende Differenzen auf der Ebene performativer Konstruktion jüdischer Identitäten (etwa zwischen den Polen der Identifikation mit den unterschiedlichen Ausprägungen von Zionismus, Orthodoxie oder Akkulturation oder zwischen den Extrempositionen von Muskeljudentum und Assimilation) wie auf jener des Sports festmachen.9 Doch auch die Außenwahrnehmung jüdischer Sportaktivität reflektiert in- wie externe Differenzen, die sich auch in der Quantität wie Qua- Abb. 2  : »Frau Jud«  : Die Hakoah-Schwimmerin lität des Antisemitismus manifestier- Hedy Bienenfeld als »Covergirl« der ten.10 So machte sich Antisemitismus im »Österreichischen Raucherzeitung« Turnen schon ab den 1890er Jahren, im Sport hingegen erst in den 1920er Jahren massiv bemerkbar. Das geschah auf organisatorischer Ebene primär im Alpinismus11 und Skisport,12 in den Sportpraxen dagegen besonders dort, wo jüdische SportlerInnen Spitzenleistungen vollbrachten. Auf die mangelnde Berücksichtigung dieser Vielheit lassen sich die meisten der folgenden Forschungsdesiderate zurückführen  : 1.  Was den jüdischen Sport in der Zwischenkriegszeit betrifft, ist einzig die Geschichte des »SC Hakoah«13 und jene des wegen eines hohen jüdischen Anteils in der Funktionärsriege als »Judenklub« titulierten »Fußball-Klub Austria« gut dokumentiert.14 Dieser Fokus hat massive Auswirkungen auf die Analyse des jüdisch konnotierten Sporttreibens selbst, das vielfach aus der Perspektive des Spitzensports 8 Bunzl 1987, 16  ; Haber 1995a, 24. 9 Marschik 2011. 10 John 2006. 11 Amstädter 1996, 233  ; Achrainer 2009  ; Achrainer/Mailänder 2011, 224–249. 12 Stecewicz 1996, 44. 13 Betz/Löscher/Schölnberger 2009. 14 Skocek 2014.

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betrachtet wird, wie auf die Einschätzung des Antisemitismus im Sport, der zweifellos in jenen beiden Klubs kulminierte. Weitgehend negiert wird der übrige jüdische Breitensport, von den kleinen »national-jüdischen« Klubs bis zum Anteil von Jüden und Jüdinnen in der Arbeitersportbewegung. Kaum beachtet werden selbst OlypiamedaillengewinnerInnen wie Ellen Müller-Preis oder der Boxeuropameister Ernst Weiß.15 Exemplarisch sei hier der Olympiaboykott durch mehrere Aktive der »Hakoah« genannt, während die Geschichte des jüdischen Goldmedaillengewinners von 1936, Robert Fein, noch ungeschrieben ist. Doch generiert die Fokussierung auf die »Hakoah« etwa auch eine Überbetonung Abb. 3  : Rudolf Mütz, Präsident des SC Admira (1924–1930). von Körperkonzepten und -wahrnehmungen, die das zionistische Modell des Muskeljudentums zentral stellen,16 das aber nur für eine Minderheit jüdischer Aktiver verbindlich war. 2. Die Konzentration auf die »jüdisch« konnotierten Klubs verstellt vielfach bis heute den Blick auf jüdische Aktive und FunktionärInnen in anderen Vereinen. Dabei wiesen etliche der frühen Allround-Vereine, vom »Wiener Athletic Club« (WAC) bis zum »First Vienna Football Club«,17 in ihren Anfangsjahren einen hohen Anteil jüdischer Aktiver und FunktionärInnen auf, während die Vorstadtklubs, vom »Sportklub Rapid«18 bis zum »Simmeringer SC«19 oder zum »SC Admira«, speziell ab den 1920er Jahren eine Zunahme jüdischer Mitglieder verzeichneten (Abb. 3). Kaum rezipiert wurde bislang vor allem der hohe Anteil jüdischer FunktionärInnen im Wiener Sportgeschehen abseits des zionistischen Sports.20 Dabei zeigt sich gerade auf der Organisationsebene ein subtiles Bild von Akzeptanz und Ausgrenzung. Bei15 Lang 2013. 16 Wistrich 2004. 17 Juraske 2017, 21–26. 18 Rosenberg/Spitaler 2011, 40ff  ; Marschik/Spitaler 2015. 19 Exenberger 2009. 20 Colpan/Marschik 2017.

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spielhaft seien hier die Vienna-Präsidenten Hans Martin Mauthner und Alexander Neumann genannt, beide Konvertiten und laut »Hakoah«-Gründer Ignaz Hermann Körner »wüste Antisemiten«,21 die durch frühe Aktivitäten der Professionalisierung des Sports höchst differente Reaktionen hervorriefen.22 3. Eine stärkere Differenzierung würde auch die sportliche Ebene selbst erfordern  : Im Wien der Zwischenkriegszeit hatte vorerst nur der Fußball eine Eigenweltlichkeit ausgebildet, die zu strukturellen Differenzen in den antijüdischen Ressentiments führte, die im Fußball andere Qualitäten aufwiesen als etwa im Wassersport der 1930er Jahre. Die Massenkultur des Berufssports unterlag bezüglich der Selbst- wie Fremdzuschreibungen jüdischer Akteure wie hinsichtlich des Antisemitismus anderen Prämissen,23 bis hin zu nationalen Gefühlen im Falle des Erfolgs, antijüdischen Vorwürfen der Geschäftemacherei im Falle des Scheiterns. Beispielhaft kann die Figur des Fußball-Teamchefs Hugo Meisl angeführt werden,24 der als positives Exempel jüdischer »Assimilation« gesehen wurde, um bei Misserfolgen umso intensiver wegen seines Jüdischseins apostrophiert zu werden.25 4. Vermehrt Berücksichtigung verdienten auch politische Milieus, wie sie zum einen deutliche Differenzen zwischen dem »Roten Wien« und der »Provinz« schufen26, zum anderen auch innerhalb der Metropole Wien erhebliche topografische,27 soziale, politische wie auch sportpolitische Unterschiede kreierten, die jüdische Verortungen intern wie extern präformierten und figurierten. Die Leopoldstadt, die »City« oder die Vorstädte schufen anders geartete Umwelten. Politische Hegemonien ließen ein Spannungsfeld zwischen einer sozialdemokratischen  – durchaus nicht antisemitismusfreien – »Neutralität« in der Judenfrage28 und judenfeindlichen christlichsozialen oder deutschnationalen Milieus nebeneinander existieren.29 Auch wird in der Sportliteratur der März 1938 als massiver Einschnitt wahrgenommen, der politische Wechsel der Jahre 1933/34 kaum als Zäsur problematisiert. Eine verstärkte Analyse der Differenzen zwischen Sommer- und Wintersport oder zwischen der Arbeiterolympiade

21 Körner 2008, 44. 22 Marschik 1997, 103. 23 Marschik 2008. 24 Hafer/Hafer 2007, 33. 25 Schulze-Marmeling 2005, 73. 26 Das Konzept der »Jewish Difference« von Lisa Silverman (2012) wird dadurch nachdrücklich untermauert. 27 Silverman 2014. 28 Lappin 2009, 29. 29 Beller 2007, 207.

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1931 in Wien und der Beschickung der Berliner Sommerspiele 1936 könnte hier zum besseren Verständnis jüdischen Sporttreibens hilfreich sein. 5. Weiters wäre die kaum problematisierte Gleichsetzung des jüdischen Sportlebens in Wien mit jenem in Österreich zu hinterfragen. Zwar existierten in der Zwischenkriegszeit jüdische Sport- und Turnvereine auch in Graz, Leoben, Innsbruck und Linz,30 aber sonst gab es kaum nennenswerte Aktivitäten. Dass das jüdische Sportleben in den Metropolen seinen Nukleus besaß, galt zwar für den gesamten deutschsprachigen Raum, doch betrug der jüdische Bevölkerungsanteil um 1930 in Berlin knapp vier, in Wien fast zehn Prozent. Vergleiche mit Deutschland und der Schweiz31 werden jedoch, außer bezüglich der Anfänge der national-jüdischen Turnerschaft, kaum angestellt. Dabei würden transnationale ebenso wie Binnenvergleiche manche Kontraste zutage fördern, von den Spezifika jüdischer Sportaktivitäten in der »Provinz« bis hin zur Identifikation mit Sporterfolgen in Wien. 6. Selektiv betrachtet werden auch mediale Repräsentationen jüdischer Verortungen und antijüdischer Einstellungen. Die Kontrastierung meist jüdischer32 und deutschnationaler Blätter entwirft ein einseitiges Bild eines massiven Alltagsantisemitismus auf den Sportplätzen. Die Massenpresse von der »Arbeiter-Zeitung« bis zur »Kronen-Zeitung« und von der »Neuen Freien Presse« bis zur »Reichspost«, die ansonsten als »verlässliche[r] Chronist antisemitischer Regungen«33 gesehen werden kann, zeigt hingegen einen geringeren antisemitischen Tenor in den Texten und Fotos zum Thema Sport, konterkariert allerdings oft von antisemitischen Karikaturen. Eine detailliertere Medienanalyse entwirft jedenfalls ein differenzierteres Bild,34 das zum Teil wohl der scheinbaren »Neutralität« des Sports, zum Teil auch dem hohen Anteil jüdischer Sportjournalisten und -essayisten zuzuschreiben war.35 7. Der Großteil der Arbeiten zum jüdischen Sport setzt einen verkürzenden Fokus, der entweder auf den Beitrag von Juden und Jüdinnen am Sportgeschehen oder auf den Antisemitismus abstellt. Doch selbst wenn die Wechselwirkung beider Aspekte berücksichtigt wird, fehlt oft der Hinweis auf Durchbrechungen jener Bipolarität. Weder die von Klaus Hödl36 eingeforderte Berücksichtigung der Performativität noch die von Lisa Silverman postulierte »Jewish Difference«37 sind in Analysen jüdischen 30 Halbrainer 2004  ; Schwaiger 2008, 16. 31 Hochreiter 1998. 32 Hecht 2009. 33 Hall 2009, 63. 34 Marschik 2003. 35 Pfoser 2010. 36 Hödl 2013  ; Hödl 2015. 37 Silverman 2012, 29.

Antisemitismus im österreichischen Sport 1933 bis 1938 – ein Forschungsüberblick

Sporttreibens nachhaltig präsent. Dabei lassen sich auf vielen Terrains der Populärkultur, aber insbesondere im Sport, zahlreiche Exempel finden, wo antijüdische Ressentiments auf dem Sportfeld, auf den Tribünen oder in der Presse sich mit Bewunderung mischten,38 wo sich andererseits jüdische Selbstbehauptung und zugleich antisemitische Aktion und Agitation anhand von Sporterfolgen manifestierten.

Verschiebungen in der österreichischen Sportkultur 1933/34 Die Bruchhaftigkeit der Fremdzuschreibungen wie der Selbstpositionierungen in jüdischen oder jüdisch konnotierten Sportpraxen lässt sich gerade nach den politischen und sportpolitischen, den sozialen und kulturellen Veränderungen der Jahre 1933/34 nachzeichnen, in denen Ereignisse bzw. Entwicklungen zusammenfielen, die den Antisemitismus im Sportgeschehen deutlich beeinflussten. 1. 1933/34 wurde Österreich in ein autoritäres Staatsgebilde umgewandelt, und erstmals spielte der Sport in einem solchen Transformationsprozess eine wesentliche Rolle. Das Haupthindernis einer Vereinheitlichung der Sportorganisation, der organisierte Arbeitersport, in dessen Reihen vielen jüdische Aktive und FunktionärInnen bis hin zum Präsidenten des »Arbeiterbunds für Sport und Körperkultur«, Julius Deutsch, tätig gewesen waren, wurde am 14.  Februar 1934 radikal beseitigt. Weit defensiver agierte man gegenüber deutschnationalen Kräften  : Selbst nach dem Juliputsch 1934 wurde der »Deutsche Turnerbund« zwar unter staatliche Verwaltung gestellt, aber nicht aufgelöst.39 Im Mai 1934 erfolgte eine Zentralisierung aller Sportagenden – mit Ausnahme des Turnunterrichts – im Bundeskanzleramt, im Juni wurde Ernst Rüdiger Starhemberg zum Sportführer ernannt.40 Allein die personelle Zusammenfassung von Sport und »Vaterländischer Front« verlieh der Sportpolitik vermehrtes Gewicht  : Man wollte mit dem Sport fokussiert und offensiv agieren. Im Oktober verlautbarte Starhemberg das Gesetz über die »Österreichische Sport- und Turnfront«, in der Sport und Turnen in einem autoritär strukturierten Verband geeint und der »Vaterländischen Front« als Teil der »Wehrfront« eingegliedert wurden. Der von der Regierung bestimmte »Oberste Führer« ernannte nun die Leitungsorgane aller Verbände und Vereine, entschied über die Abhaltung von Veranstaltungen, die Teilnahme von SportlerInnen an Wettkämpfen sowie über finanzielle Belange.41 1936 38 John 2003, 243. 39 Krammer 1983, 731. 40 Matscheko 2000. 41 Marschik 2005, 378.

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wurde nachträglich ein – relativ erfolgloser – Versuch gestartet, auch die sportliche Nachwuchsarbeit in einem »Österreichischen Jungvolk« zu bündeln.42 Turnen und Sport sollten in der Sportpolitik des »Ständestaats« aktiv instrumentalisiert werden. Indem körperliche Ausbildung zum »Dienst am Volk« erklärt wurde, sollte die Volksgesundheit gestärkt werden  : Die Bewahrung (weiblicher) »Natürlichkeit« sollte die Frau zur Retterin des »Volksganzen« ermächtigen, die (männliche) Leistungsfähigkeit die fehlende allgemeine Wehrpflicht substituieren, die Jugendarbeit für eine adäquate Vorbildung sorgen. Im Breiten- und im Schulsport wurden dabei ebenso Erfolge erzielt wie im Turnen. Zum einen konnten Disziplin, Gehorsam und Opferbereitschaft gefördert werden, zum anderen gelang eine Ausweitung des Sportes in die »Provinz«, die Zentralisierung von Organisation und Ausbildung und auch dessen (außen-)politische Nutzung. Weitgehend erfolglos hingegen verlief die Instrumentalisierung massensportlicher Praxen, wie sie sich im Wiener Fußball manifestierten, der »sogar in autoritärer Zeit ein Staat im Staate« blieb.43 Er erfüllte jedoch viele der sportpolitischen Prämissen ohnedies quasi von selbst  : Er inszenierte sich unpolitisch, löste starke nationale Gefühle aus, erzielte österreichische Siege und vertrat die Nation erfolgreich im Ausland. Das Gegenteil traf auf den Alpinismus im Rahmen des »Alpenvereins« und auf den alpinen Skisport zu  : Nicht nur, dass der Verband schon 1923 einen »Arierparagraphen« eingeführt hatte, wurde Anfang 1935 sogar ein Regierungskommissar zur Erkundung der deutsch-nationalen Aktivitäten im »Österreichischen Skiverband« (ÖSV) abgestellt, ohne dadurch die Zahl der Nationalsozialisten unter den Funktionären wie Aktiven merklich reduzieren zu können.44 So wanderten Abfahrtsstars wie Hellmut Lantschner nach einer nationalen Sperre 1934 nach Deutschland aus. 2. Der Begriff des »Vaterlandes« stand im Zentrum eines massiv beförderten Nationalismus. Im Rahmen dieser Österreich-Ideologie wurde dem Sport erstmals eine staatsrelevante Bedeutung zugeschrieben. Sporterfolge sollten zur Erweckung einer positiven nationalen Identität beitragen, um nach innen wie nach außen die Rolle Österreichs als Träger wahrer deutscher Kultur verkörpern zu können. So wurden dem Sport neben der Hebung der Volksgesundheit und der Wehrhaftmachung der männlichen Jugend auch integrative Rollen zugeteilt, etwa bei der Wiedereingliederung der nach dem Februar 1934 verbotenen ArbeitersportlerInnen, der Integration der im Leistungssport verpönten Frauen45 und nicht zuletzt der verstärkten Einbin42 Tálos 2013, 409. 43 Stecewicz 1996, 142. 44 Ebd., 93. 45 Dorer/Marschik 2016.

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Abb. 4  : »Heimspiel« für die »Hakoah«  : Einmarsch der österreichischen Delegation bei der 2. Makkabiade 1935 in Tel Aviv.

dung jüdischer Aktiver in die Produktion österreichischer Erfolge. Nach außen sollte die Leistungsfähigkeit des Landes unter Beweis gestellt werden, wie das vom »Wunderteam« schon vorgeführt worden war  : Nicht nur, dass etwa das »Jahrhundertspiel« gegen England im Dezember 1933 europaweites Aufsehen erregte, sondern es hatten sich auch die nach London mitgereisten Anhänger durch rot-weiß-rote Fahnen und Kokarden als Österreicher kenntlich gemacht.46 Besonders im Hinblick auf Olympia 1936 wollte das Regime den Sport in eine nationale Verantwortlichkeit einbinden. 3. Der Antisemitismus war durch die ganze Zwischenkriegszeit hindurch höchst präsent und seine Intensität wurde durch die Wirtschaftskrise noch verstärkt, auch wenn sich eine Differenzierung etwa hinsichtlich als assimilationswillig eingeschätzter Juden und Jüdinnen auf der einen, bezüglich »roter« und »Ostjuden« auf der anderen Seite nachweisen lässt. Das Regime des »Ständestaats« änderte daran wenig, allerdings erließ es keine gegen Juden und Jüdinnen gerichteten Gesetze, enthielt sich direkter Angriffe und distanzierte sich vom rassistischen Antisemitismus. Zudem förderte das 46 Marschik 2010, 258.

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Regime den Zionismus als nationale Ideologie und wegen seiner Segregationsbestrebungen zwischen Juden und Christen,47 so wie auf der anderen Seite der Sport jener Jahre politischer und »zionistischer« wurde.48 (Abb. 4) In der Praxis bedeutete das ein labiles Lavieren, »begünstigt, befördert und praktiziert« durch Kirche und Regierung.49 Juden sollten »dankbar sein, dass man sie bei uns vor den Methoden Hitlerdeutschlands bewahrt«.50 Eine punktuelle Verschiebung lässt sich auch in der Sportpolitik konstatieren  : Noch bei der Etablierung der »Sport- und Turnfront« hatte sich Starhemberg gegen die Einbeziehung von Juden und Jüdinnen ausgesprochen, bestärkt durch den ÖSV und den Alpenverein, die die politische Veränderung dazu nutzen wollten, den »Arierparagraphen« nun zu einer Muss-Bestimmung zu machen.51 In der Endfassung des Gesetzes hieß es hingegen, eine Beschränkung einer Vereinsmitgliedschaft auf Personen jüdischer oder eben »arischer« Abstammung sei verfassungskonform, ein Beseitigen von »Arierparagraphen« aus Vereinsstatuten durch die Behörde daher ausgeschlossen.52 Ab dem Sommer 1934 – und bis zum Juliabkommen 1936 – manifestierte sich das geänderte politische Klima gerade auch im Sport  : Auf den Sportanlagen wurden antisemitische Schmähungen sanktioniert, in der Verbandspolitik wurden jüdische SportlerInnen verstärkt für Auswahlteams herangezogen  : Juden und Jüdinnen und jüdische Organisationen sollten so »als wichtige Verbündete gegen den Nationalsozialismus« gewonnen werden.53 Vor allem im Sport zeigte sich aber auch eine geänderte kulturelle Verortung des Antisemitismus, der nun vermehrt mit dem illegalen Nationalsozialismus in Verbindung gebracht wurde. 4.  Geändert hatten sich in den 1930er Jahren nicht zuletzt die Wertigkeiten im jüdisch konnotierten Spitzensport, der, abgesehen von Figuren wie Hugo Meisl, weitgehend mit der »Hakoah« identifiziert werden kann. Den Nukleus von Bewunderung oder Verurteilung bildete lange Zeit die Fußballsektion der »Hakoah«, die freilich nach zwei Amerika-Tourneen in den späten 1920er Jahren nur mehr ein Schatten ihrer selbst war. Sprachen jüdische Kreise von »Verfallserscheinungen im zionistischen Leben«54 oder von »Niedergangserscheinungen im Bürgertum«,55 verteilte sich der – 47 Hecht 2009, 113. 48 Lappin 2009, 33. 49 Tálos 2013, 490. 50 Ebd., 485. 51 Ebd., 479. 52 Marschik 1998, 120. 53 John 2003, 246. 54 Ebd., 247. 55 Horak/Maderthaner 1997, 194f.

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wiewohl nicht weniger gehässige – Antisemitismus doch zwischen der »Hakoah« und kleineren zionistischen Klubs und verlagerte sich innerhalb der »Hakoah« vom Fußball zunehmend auf den Wassersport, wo jüdische SportlerInnen zahlreiche Landesrekorde aufstellten oder beim Schwimmen »Quer durch Wien« im Donaukanal große Publizität erreichten. Diese Verschiebung bewirkte jedoch eine andere Qualität des Antisemitismus. Stolz wie Verachtung, Selbstbewusstsein wie Angst hatten ihr Zentrum verloren.

Jüdischer Sport und jüdisches Sportleben 1933/34 bis 1938 Die politischen Einschnitte der Jahre 1933/34 trugen nicht das Potential zu einer basalen Veränderung des Antisemitismus in sich, sehr wohl aber zu einer Korrektur konkreter Facetten. Die Politik des autoritären Regimes sorgte dafür, dass antijüdische Äußerungen zumindest zurückgedrängt oder weniger publik, ihre Auswirkungen im öffentlichen Leben graduell weniger bedeutsam wurden.56 Ihre beschränkte »Eigenweltlichkeit«57 sorgte dafür, dass sportliche Populärkulturen die Veränderungen nur zum Teil mitvollzogen, zum Teil aber auch konterkarierten oder partiell durchbrachen. Das lag zum einen an der Sportkultur des Regimes selbst, das im Sinne seiner Österreich-Ideologie jüdische SpitzensportlerInnen bewusst forcierte. Zum anderen sollte das Sportleben den gemäßigten Weg gegenüber Juden beispielhaft repräsentieren. Das lief primär über eine maßvolle Berichterstattung der (zensurierten) Presse und die Tolerierung eines hohen Anteils jüdischer Journalisten in den Sportressorts, etwa im von den Nazis 1938 als »jüdisch-freimaurerisch«58 titulierten »Sport-Tagblatt«. Auf der anderen Seite waren viele der offen gegen das Judentum polemisierenden Medien, vor allem die »Deutschösterreichische Tageszeitung«, verboten. 1.  Der Alltagsantisemitismus wurde gerade auf den Sportplätzen prolongiert, j­edoch in qualitativ wie quantitativ abgeschwächter Form. Er blieb freilich Teil des »Un­­ter­haltungsrepetoire[s]« nichtjüdischer StadionbesucherInnen   : ­­»[A]ntisemitische Bedeutungscollagen« hatten die »Diskurshoheit« gerade auch im Sportkontext übernommen.59 Weiterhin löste allein das Antreten jüdischer Teams oder Aktiver fast reflexartige antisemitische Äußerungen aus, die von jüdischen ZuschauerInnen und SportlerInnen ebenso automatisiert mit gleicher Münze erwidert wurden. Juden wehr56 Königseder 2005, 54. 57 Schmidt 2002, 72f. 58 Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, 14.3.1938, 8. 59 Lichtblau 2009, 39.

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ten sich gegen antisemitische Anwürfe mit antinazistischen Schmähungen und mit Rufen wie »Drecknazi«.60 Auch zwischen 1933 und dem Sommer 1936 verschwanden antijüdische Aussagen keineswegs von den Sportplätzen, aber sie waren retardiert und in ihrem Charakter ritualisiert. Das wurde von den Medien verdoppelt, die kaum über antisemitische Aktivitäten berichteten und sich noch weniger in diesem Sinn äußerten. Je weniger Sensationen der jüdische Sport bot, und je mehr man sich von den »Nazis« zu distanzieren trachtete, desto mehr wurde »Nichterwähnung«61 zu medialer Normalität  ; Mitte der 1930er Jahre wurde sie vorübergehend zur Strategie. Zumindest in diesen zwei Jahren wurden jüdische Sportfunktionäre wie Leo Schidrowitz bei Rapid, Emanuel Schwarz bei der Austria oder Österreichs Teamchef Hugo Meisl (Abb. 5) medial kaum einmal ob ihres Jüdischseins apostrophiert. Gleiches lässt sich über erfolgreiche SportlerInnen wie den Fußballer Leo Drucker, die Fechterin Ellen Müller-Preis oder den mehrfachen Box-Europameister Ernst Weiß sagen. Ein solcher ritualisierter Antisemitismus »gehörte zum jüdischen Alltag«, und das erklärt zumindest partiell, warum er in jüdischen Lebenserinnerungen retrospektiv teils weiterhin eminent bedrängend erlebt, oft aber einfach »nicht ernst genommen« wurde.62 2. Teil des nationalen Kalküls war der Versuch verstärkter Einbindung jüdischer SportlerInnen in das Sportleben. Schon die Winterspiele 1936 in Garmisch-Partenkirchen sollten Österreichs nationale Leistungsfähigkeit demonstrieren  : Doch trotz des mit 60 Aktiven größten nationalen Kontingents misslang diese Intention, zumal die mit einem dem »Hitlergruß« täuschend ähnlichen »Olympischen Gruß« an der Ehrentribüne vorbeidefilierenden ÖsterreicherInnen vom deutschen Publikum enthusiastisch begrüßt wurden.63 Lange Zeit erwog die »Sport- und Turnfront« daraufhin einen Boykott der Sommerspiele, entschied sich aber dann für den gegenteiligen Weg  : Man stellte für Berlin ein enormes Aufgebot von 234 AthletInnen zusammen, das nach Kriterien der Regimetreue ausgewählt wurde. Vermutlich gerade deshalb wurden gleich acht jüdische Aktive, zum Gutteil von der »Hakoah«, einberufen, obwohl der »Makkabi«-Weltverband wie der »Jüdische Turn- und Sportverband Österreichs«64 zu einem Boykott der Spiele aufgerufen hatten.65 Während der »Österreichische Makkabi-Verband« einen Start seiner Aktiven als »mit den Begriffen jüdischer Ehre unvereinbar« erklärte66 und die »Hakoah« bat, auf 60 Haber 1995b, 103. 61 Schölnberger 2009, 109. 62 Lappin 2009, 35. 63 Niedermann 2001, 86. 64 Bunzl 1987, 116. 65 Krüger 1999, 354. 66 Wiener Zeitung, 9.7.1936, 8.

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Abb. 5  : Der »ideale Jude«, so lange die Erfolge vorherrschten  : Österreichs Fußball-Teamchef Hugo Meisl.

eine Entsendung ihrer SportlerInnen zu verzichten,67 argumentierte das nationale »Olympische Komitee«, die Entscheidung läge ausschließlich bei den SportlerInnen selbst. Dieser Standpunkt wurde auch exekutiert  : Der Gewichtheber Robert Fein (»SC Ursus«) errang in Berlin sogar den Olympiasieg (Abb. 6), während die WAC-Leichtathletin Gerda Gottlieb die Teilnahme (folgenlos) absagte. Massive, wenn auch höchst unterschiedliche, Konsequenzen gab es hingegen bei den sechs einberufenen »Hakoah«-SportlerInnen. Die Teilnahme der LeichtathletInnen Grete Neumann und Alfred König und des Ringers Erich Fincsus in Berlin hatte ihren sofortigen Ausschluss aus der »Hakoah« zur Folge. Die jüdische Stimme berichtete, König und Fincsus hätten »die Konsequenz aus ihrer unhaltbaren Lage gezogen und sich bei der ›Hakoah‹ abgemeldet«, bei Neumann sei die Mitgliedschaft automatisch erloschen, nachdem sich herausgestellt habe, dass sie konfessionslos sei.68 Die drei minderjährigen Schwimmerinnen Judith Deutsch, Lucie Goldner und Ruth Langer hingegen sagten die Teilnahme in Berlin ab. Das trug ihnen Beifall von jüdischer Seite ein  : Die »Stimme« lobte, dass diese drei Athletinnen wüssten, »was

67 Baar 1959, 233. 68 Die Stimme, 4.8.1936, 1.

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Abb. 6  : Ein Jude und ein illegaler Nationalsozialist inmitten austrofaschistischer Prominenz  : Die Olympiasieger Robert Fein und Gregor Hradetzky beim Obersten Sportführer.

Ehre ist«,69 (Abb.  7) und Judith Deutsch wurde bei einem Besuch im Sommerlager der orthodoxen Zwi-Perez-Chajes-Schule in Kärnten stürmisch gefeiert.70 Die Medien verhielten sich meist neutral, indem sie den Vorfall entweder verschwiegen oder die Korrektheit der Entscheidung konzedierten. Einzig die amtliche »Wiener Zeitung« erklärte, jüdische Sportlerinnen in anderen Ländern würden für ihre Absage nicht gesperrt.71 Von Seiten des »Olympischen Komitees« dagegen wurde ein Exempel statuiert  :72 Obwohl der Startverzicht laut den Statuten des internationalen ebenso wie nach den Richtlinien des nationalen Olympischen Komitees rechtens war,73 wurden die drei Schwimmerinnen lebenslang, nach internationalen Protesten dann lediglich auf zwei Jahre gesperrt, alle nationalen Rekorde wurden ihnen aberkannt.74 Antisemitismus allein reicht als Erklärung dieser Entscheidung nicht aus  : Schließlich hatte Judith Deutsch nur kurz zuvor das »Goldene Ehrenzeichen der Republik« erhalten, das 1937 übrigens auch Robert Fein verliehen wurde. Insofern verweist die 69 Die Stimme, 4.8.1936, 3. 70 Lappin 2009, 34. 71 Wiener Zeitung, 9.7.1936, 8. 72 Marschik 2012. 73 Baar 1959, 233ff. 74 Woggon 1999.

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Abb. 7  : Zionistisches Lob für den Olympia-Boykott

Schärfe wie die Doppelgeleisigkeit der Reaktion zwischen Straffreiheit und extremen Sanktionen auf eine Enttäuschung des Sportverbands  : Man sah sich von den drei jungen Frauen zweifach betrogen. Man hatte sich von ihnen sowohl als Jüdinnen wie auch als Frauen Dankbarkeit in Gestalt verwertbarer Sporterfolge, sogar von Medaillen erwartet. In der Sperre manifestierte sich die Empörung der Sportpolitik über mangelnde Kooperation im behaupteten gemeinsamen Kampf gegen den Nationalsozialismus. Der wurde freilich andernorts verloren, auf dem Terrain der Politik, aber auch bei Olympia selbst, wo SportlerInnen wie das sportinteressierte Publikum teils frei-, teils widerwillig den Inszenierungen der »Nazi-Olympiade« verfielen.75 3. Offensichtliche antisemitische Ausschreitungen aus den Jahren 1934 bis März 1938 sind auf dem Terrain des Sports kaum überliefert  – und wenn, dann waren sie deutschnational oder nationalsozialistisch konnotiert, wie etwa bei einem Handball-Länderkampf Österreich gegen Deutschland in Mai 1937, einem der ersten Sportereignisse nach der Wiederaufnahme der gegenseitigen Sportbeziehungen  : Der überwiegende Teil der etwa 45.000 ZuschauerInnen im Praterstadion hatte den Anlass für massive NS-Propaganda genutzt und dabei auch antijüdische Parolen skandiert.76 Die Medien gingen naheliegender Weise auf beide Ebenen nicht ein und klagten nur über »politische Radaubrüder«77 oder »jene unreifen Elemente, meist 75 Krüger 1998. 76 Tálos 2013, 418f. 77 Das Kleine Blatt, 24.5.1937, 12.

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halbwüchsige Bürschchen«, die jede »Gelegenheit zu politischen Demonstrationen nützten«.78 Es betraf jedoch keineswegs nur die Medien, dass alle, die zu Österreich und auf der Seite der »Vaterländischen Front« standen (oder das zumindest nach außen vorweisen wollten), sich zum einen antisemitischer Aussagen enthielten, zum anderen zu solchen Vorfällen schwiegen, gerade um nicht als Nationalsozialist identifiziert zu werden. Das markanteste Exempel antisemitischer Ausfälle bot der Olympia-Festzug auf der Ringstraße im Vorfeld der Berliner Olympiade. Dabei handelte es sich aber gerade nicht um austrofaschistischen Antisemitismus, sondern um eine NS-Demonstration gegen das Regime. Der Empfang des olympischen Feuers in Wien auf seinem Weg von Griechenland nach Berlin sollte zur machtvollen Vorführung nationaler Präsenz und zur Präsentation der OlympionikInnen genutzt werden. Die geplante »Weihestunde« kippte aber rasch ins Gegenteil. Illegale nationalsozialistische Gruppen demonstrierten für den Anschluss, Bundespräsident Wilhelm Miklas wurde ausgebuht, Sportführer Starhemberg flüchtete in seinem Automobil, die Ravag stoppte ihre Live-Übertragung, nachdem der NS-Tenor nicht länger ausgeblendet werden konnte.79 Beim Defilee der SportlerInnen auf dem Heldenplatz »marschierten die Hakoahner durch ein Spalier von Verbalinjurien, von denen das Wort Saujud noch die kleinste Beschimpfung war«, schrieb die »Stimme«.80 Der sportliche Auftritt sei binnen weniger Minuten zu einem »Spießrutenlauf« mutiert. Aber nicht nur die zionistischen, alle jüdischen SportlerInnen wurden körperlich attackiert, beschimpft und bespuckt.81 In einer generellen Kundgebung gegen die »Vaterländische Front« und gegen Starhemberg wurden Juden und Jüdinnen als besondere Opfer der Attacken auserkoren, und das lässt wohl darauf schließen, dass die Angreifer primär dem Lager der Nationalsozialisten zuzuordnen waren. Das wird durch den Bericht der »Stimme« untermauert, wonach ein »erheblicher Teil der Zuschauer […] vollkommen ruhig« blieb. Mehr noch  : Man »konnte diesen Leuten deutlich ansehen, dass ihnen die Beschimpfungen aus tiefstem Herzen zuwider waren«. Der jüdische Sport habe sich durch Teilnahme und das mutige Auftreten zumindest »bei den anständigen Leuten die Achtung ertrotzt, die er verdient«.82 Das würde auch der Einschätzung der Situation auf den Sportplätzen entsprechen, wo antisemitische Äußerungen wohl eben78 Neue Freie Presse, 24.5.1937, 7. 79 Bauer 2008. 80 Die Stimme, 31.7.1936, 1. 81 Bunzl 1987, 122f. 82 Die Stimme, 31.7.1936, 1.

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Abb. 8  : Ein Ort ständigen Antisemitismus  : Das Dianabad bei einem Schwimm-Meeting der »Hakoah«.

falls vielfach nationalsozialistisch motiviert gewesen waren, auch wenn die Grenzen zwischen ritualisiertem Antijudaismus und scharfen antisemitischen Angriffen wohl fließend waren. 4. Einen Sonderfall bildete die permanente Konfrontation zwischen der »Hakoah« und dem »Ersten Wiener Amateur-Schwimm-Club« (EWASC). (Abb. 8) Nach dem Rückfall der Fußballer waren die SchwimmerInnen zum wichtigsten Aushängeschild der »Hakoah« geworden. Sie trafen bei jedem Wasserballturnier, bei jedem Schwimm-Meeting auf ihren ewigen Rivalen, den deutsch-nationalen und nationalsozialistisch unterwanderten EWASC, dessen Mitglieder ihrem Antisemitismus offen und weitgehend ungestraft Ausdruck verliehen. So erinnert sich die Hakoahnerin Lucie Goldner, man sei »bei jedem sportlichen Treffen […] in irgendeiner Form angegriffen, brüskiert oder diskriminiert« worden. Der Einfluss von EWASC-Funktionären habe so weit gereicht, dass jüdische SportlerInnen sogar um den Eintrag ihrer Leistungen in die Rekordlisten kämpfen mussten.83 Auch die Schwimmerin Friederike Löwy erinnert sich  : »Antisemitismus haben wir sehr gespürt durch den ›Ersten Wiener Amateur-Schwimm-Klub‹. Das waren unsere schärfsten Gegner«.84

83 Goldner 1987, 119. 84 Löwy 2015.

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Im Gegensatz zu anderen Sportvereinen, die einem vorgeblich unpolitischen Sportideal anhingen, legte der EWASC, wie auf anderer Ebene ja auch die »Hakoah«, sein Sporttreiben als politische Manifestation aus (Abb. 9). So liest sich die Vereinszeitung als deutschnationales Pamphlet, das von Polemik gegen den »jüdischen Mob und dessen marxistische […] Sturmtruppen«85 getragen war. Auseinandersetzungen zwischen den AthletInnen, AnhängerInnen und im Verband waren an der Tagesordnung und endeten nicht selten in Raufereien. Die »Hakoah« setzte sich gegen die ständigen Übergriffe erfolgreich zur Wehr, nicht zuletzt indem die Schwerathleten des Klubs als Schutzgarde dienten. Insofern dürfen die Kontroversen zwischen EWASC und Abb. 9  : Das Aushängeschild der »Hakoah« in »Hakoah« nicht als Exempel gängiger zeitden 1930er Jahren  : Die Schwimmsektion (Fritzi üblicher antisemitischer Praxen im Sport Löwy, Lucie Goldner, Hedy Bienenfeld und gesehen werden, sehr wohl allerdings als Trainer Zsigo Wertheimer). Beispiel dafür, was das Regime an Anund Übergriffen sanktionslos duldete. 5. Mit dem Juli-Abkommen 1936 war die kurze Phase gesteigerter Toleranz gegenüber dem jüdischen Sport und seinen Aktiven auch schon wieder beendet. Zumindest kündet ein Blick in die Sportseiten und besonders in die jüdische Presse im Jahr 1937 von einem erneuten Anwachsen antisemitischer Aktionen, wobei letztlich nicht zu verifizieren ist, ob das auf eine Veränderung des politischen bzw. sportpolitischen Umfelds, auf ein Umdenken in der Berichterstattung oder auf sportliche Umstellungen zurückzuführen war  : So wurde die jüdische Jugend nicht ins »Österreichische Jungvolk« eingegliedert, sondern in einem eigenen jüdischen Verband, dessen Leitung vom Sportführer bestimmt wurde, zusammengefasst.86

85 EWASC. Nachrichtenblatt des Ersten Wiener Amateur-Schwimm-Club, 28.6.1932, 1. 86 Matscheko 2000, 159f.

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Abb. 10  : ÖOC-Präsident Theodor Schmidt übernimmt das Olympische Feuer an der österreichischen Grenze.

Resümee Beim Durchmarsch des Olympischen Feuers durch Österreich im Juli 1936 war es ÖOC-Präsident Theodor Schmidt, nach späterer nationalsozialistischer Diktion ein »Mischling 1. Grades«, der die Flamme in Kittsee auf österreichisches Gebiet trug (Abb. 10), und Edgar Fried, Sekretär des ÖOC und laut Ignaz Hermann Körner der »Typus des verleumderischen und gehässigen Konvertiten«,87 trug die Flamme auf dem letzten Kilometer vor der deutschen Grenze. Zugleich standen etliche jüdische SportlerInnen im österreichischen Aufgebot für Berlin und selbst die Teilnahme eines Kontingents der »Hakoah« am Festzug über die Ringstraße war nicht unerwünscht. Diese Szenerie charakterisiert beispielhaft die besondere Stellung des – im weitesten Sinn definierten  – jüdischen Sports im Rahmen des Austrofaschismus  : Akzeptanz oder zumindest Toleranz, so lange es den Intentionen des Regimes nutzte oder untergeordnet werden konnte. So war es auch Theodor Schmidt, der nach Starhembergs »Flucht« die aufgebrachten Massen am Heldenplatz beruhigen musste. Als Chef de Mission des österreichischen Teams für Berlin wurde er jedoch im letzten Moment

87 Körner 2008, 49.

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auf Geheiß »national eingestellter« Funktionäre und Politiker ausgebootet.88 Wenige Wochen nach dem Juliabkommen hätte ein »halbjüdischer« Delegationsleiter die fragile Beziehung zum Deutschen Reich allzu sehr belastet. Auch für die Zeit des Austrofaschismus gilt also  : Der jüdische Sport, jüdische Sportler, Sportlerinnen und SportfunktionärInnen bildeten einen Anlassfall für antisemitistische Aussagen und Aktivitäten, wobei auffällt, dass Erinnerungen ehemaliger jüdischer SportlerInnen kaum auf die Jahre 1934 bis 1938 verweisen. Zugleich hielt das Sportgeschehen zwei offensive Selbstbehauptungsstrategien für Juden und Jüdinnen bereit, eine emanzipatorische und eine integrative. Die erste finden wir besonders im zionistischen Projekt der »Hakoah«, die zweite in den zahlreichen Sport- und Funktionärskarrieren jüdischer WienerInnen. Das Sportengagement trug zu Selbstbewusstsein, Sichtbarkeit und dem Vorweis von Leistungsfähigkeit sowie Erfolg auf einem antisemitisch konnotierten Terrain bei. Das funktionierte aber freilich nur unter den Prämissen einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft, denn mangelnde sportliche Erfolge minimierten zwar antisemitische Reaktionen, aber eben auch die öffentliche Anerkennung wie die Selbstbestätigung. Wenn auch unter völlig anderen Voraussetzungen und Praxen als das »Rote Wien« war also auch der Austrofaschismus für kurze Zeit (zumindest bis zum Sommer 1936) zu einer fragilen Aushandlung von »Jewish Difference« bereit, wenn es im Rahmen seiner Prämissen möglich oder sogar opportun war. Das Terrain des Sports hielt paradigmatische Möglichkeiten bereit, diesen Standpunkt zu erproben und durchzusetzen. Gerade die Entwicklung des jüdischen Sports und die Selbst- wie Fremdwahrnehmung jüdischer SportlerInnen und Funktionäre während der Ära des Austrofaschismus verdeutlicht, dass uns Modelle von Antisemitismus oder Muskeljudentum eher den Blick auf konkrete Praxen verstellen, die wir nur durch Modelle der Performanz in den Griff bekommen. Wenn wir dennoch eine Verallgemeinerung versuchen, so kann formuliert werden, dass sich das Wiener Judentum, dass sich v. a. einzelne Juden und Jüdinnen auf dem Terrain des Sports Selbstbewusstsein erarbeiten konnten, das von außen Bestätigung fand. Der Antisemitismus auf den Sportplätzen ist gerade auch in dieser Richtung zu lesen, dass die Leistungsfähigkeit von Juden und Jüdinnen ernst genommen wurde. Ernst nehmen ist freilich noch keine Voraussetzung für wachsende Akzeptanz. Ihre Beiträge zum und Leistungen im Sport führten gewiss dazu, dass man vermehrt »Herr Jud« sagte. Aber in einer zynischen, perversen und tödlichen Art und Weise nahmen ja auch die Nationalsozialisten die Juden ernst.

88 Roth 2008, 78.

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Abbildungen Abb. 1  : Die »Herren Juden«  : Die Hakoah-Fußballer als erste österreichische Meister im Profifußball, Bild  : Maccabi World Union Archive. Abb. 2  : »Frau Jud«  : Die Hakoah-Schwimmerin Hedy Bienenfeld als »Covergirl« der »Österreichischen Raucherzeitung«, August 1931. Abb. 3  : Rudolf Mütz, Direktor der Textilfabrik Hermann Pollack’s Söhne und von 1924 bis 1930 Präsident des SC Admira, Privatarchiv Matthias Marschik. Abb. 4  : »Heimspiel« für die »Hakoah«  : Einmarsch der österreichischen Delegation bei der 2. Makkabiade 1935 in Tel Aviv, Bild  : Jüdisches Museum Wien. Abb. 5  : Der »ideale Jude«, so lange die Erfolge vorherrschten  : Österreichs Fußball-Teamchef Hugo Meisl, Bild  : Maccabi World Union Archive. Abb. 6  : Ein Jude und ein illegaler Nationalsozialist inmitten austrofaschistischer Prominenz  : Die Olympiasieger Robert Fein und Gregor Hradetzky beim Obersten Sportführer, Bild  : Hilscher/ Das Interessante Blatt, 27.8.1936. Abb. 7  : Zionistisches Lob für den Olympia-Boykott, Die Stimme, 4.8. 1936, 3. Abb. 8  : Ein Ort ständigen Antisemitismus  : Das Dianabad bei einem Schwimm-Meeting der »Hakoah«, Bild  : Maccabi World Union Archive. Abb. 9  : Das Aushängeschild der »Hakoah« in den 1930er Jahren  : Die Schwimmsektion (Fritzi Löwy, Lucie Goldner, Hedy Bienenfeld und Trainer Zsigo Wertheimer), Bild  : Maccabi World Union Archive. Abb. 10  : ÖOC-Präsident Theodor Schmidt übernimmt das Olympische Feuer an der österreichischen Grenze, Bild  : Wiener Bilder, 2.8.1936, 5.

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WIRTSCHAFT UND BERUFE

Stefan Eminger

»Christen, kauft bei Christen  !« Antisemitismus im Gewerbe 1933 bis 1938 Einleitung Die Anfänge des österreichischen Antisemitismus als politische Massenbewegung reichten in die zweite Hälfte des 19.  Jahrhunderts zurück. Sie waren mit dem Gewerbe untrennbar verbunden und gründeten auf der jahrhundertealten christlichen Judenfeindschaft. Sie standen in Zusammenhang mit der forcierten Liberalisierung der österreichischen Wirtschaft, mit dem Aufstreben der Großbetriebe bei nunmehr weitgehend offenem Zugang zum Handwerk seit dem Inkrafttreten der Gewerbefreiheit 1860. In der Großen Depression ab den späten 1870er Jahren sah sich ein Teil der Gewerbetreibenden von Proletarisierung und gesellschaftlichem Abstieg bedroht  ; seine Ängste und Enttäuschungen wandten sich gegen Liberalismus und Kapitalismus. Beides identifizierte er allmählich immer mehr mit dem seit 1867 verfassungsrechtlich erstmals gleichgestellten Judentum. Katholische Sozialtheoretiker wie Karl Freiherr von Vogelsang spielten bei dieser vereinfachenden Personifizierung ökonomisch-sozialer Transformationsprozesse eine wesentliche Rolle.1 Bereits in den frühen 1880er Jahren waren die antisemitischen Bilder vom »jüdischen Großkapitalisten« und dem aus dem Osten zugewanderten »jüdischen Schmutzkonkurrenten« im Gewerbe vorhanden. Die junge christlichsoziale Bewegung lenkte die antiliberal-antikapitalistischen Affekte der kleinbürgerlichen Zwischenschichten gezielt gegen »die Juden«. Sie blockierte damit ein Bündnis des Handwerks mit der aufstrebenden Sozialdemokratie, das aufgrund der sozialen Lage des Gewerbes möglich gewesen wäre.2 Freilich waren die Antisemiten im Gewerbe keine Gegner des Privateigentums. Mit der Konstruktion des Gegensatzes von »jüdisch-raffendem« und »christlich-schaffendem« Kapital schafften sie den Spagat, die Juden zu verdammen, die kapitalistische Eigentumsordnung aber unangetastet zu lassen.3 Der Antisemitismus im Handwerk des ausgehenden 19. Jahrhunderts war überwiegend christlich-konservativ. Er war Parole und Integrationsformel, nicht Aktionspro1 Pulzer 1990, 126, 128  ; Berger 1992, 555–559. 2 Berger 1992, 559–561. 3 Ebd., 559  ; Benz 2001, 25.

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gramm.4 Im Ersten Weltkrieg, vor allem aber zu Beginn der Republik nahm er deutlich zu. Überwiegend arme jüdische Kriegsflüchtlinge aus Galizien und der Bukowina strömten nach Wien und suchten u. a. im gewerblich-kaufmännischen Bereich, ihr Überleben zu sichern. Das Stereotyp des handwerklich schlecht ausgebildeten, mit allen Salben geschmierten »Ostjuden« war nun in aller Munde. Die Tatsache, dass bis 1921 der Großteil der Flüchtlinge wieder in seine verwüstete Heimat zurückgeschickt worden war, tat der weiten Verbreitung dieses Feindbildes keinen Abbruch.5 Nach der Gründung der Ersten Republik wurde die antisozialistische Facette in der antisemitischen Gewerbeagitation stark forciert.6 Mit der Konsolidierung der wirtschaftlichen Verhältnisse seit 1924 ließ die Intensität der antisemitischen Agitation im Gewerbe nach. Der Einbruch der Weltwirtschaftskrise und das Erstarken der Nationalsozialisten Anfang der 1930er Jahre bedeuteten jedoch ein neuerliches Ansteigen. Spätestens jetzt sahen sich jüdische Gewerbetreibende erstmals an Leib und Leben bedroht  ; spätestens jetzt war der »Antisemitismus des Wortes« zum »Antisemitismus der Tat« geworden. Der gewerbliche Antisemitismus in der bürgerlichen Diktatur 1933–1938 kann ohne diese Vorgeschichte nicht adäquat analysiert werden. Führende Gewerbefunktionäre griffen immer wieder auf Bilder des späten 19. Jahrhunderts, der unmittelbaren Nachkriegszeit oder der NS-Propaganda der früher 1930er Jahre zurück. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit Struktur und Beschaffenheit des gewerblichen Antisemitismus zwischen 1933 und 1938 und interpretiert diesen auch vor dem Hintergrund der Distinktionskämpfe zwischen den verschiedenen Gewerbegruppen. Er fragt nach den wichtigsten Akteuren, nach Verlaufsformen und inhaltlichen Schwerpunkten der antisemitischen Propaganda. Ferner werden die Funktionen des Antisemitismus im Gewerbe diskutiert. Eingangs sollen jedoch die Fragen geklärt werden, was unter »Gewerbe« überhaupt zu verstehen ist, welche Gruppierungen und Geschäftsmodelle im Gewerbe vorherrschten und wo jüdische Gewerbetreibende vertreten waren.

Was heißt Gewerbe  ? »Das Gewerbe« kann nicht als homogene Einheit gesehen werden. Es war vielmehr in diverse Fraktionen zersplittert  ; etwa nach Betriebsgrößen, Branchen, Geschlechtern, Regionen, und es war nur sehr vage definierbar. Charakteristisch waren und sind 4 Pulzer 1990, 130. 5 Pauley 1990, 222f. 6 Vgl. dazu exemplarisch Reichsgewerbetag 1920, 13f.

Antisemitismus im Gewerbe 1933 bis 1938

seine fließenden Übergänge zu Handel, Kleinindustrie, Landwirtschaft. Pointiert ausgedrückt, war das Hauptmerkmal »des Gewerbes« seine Zerrissenheit, das Ringen um »Einigkeit und Einheit« folglich ein Dauerthema in gewerblichen Interessenvertretungen.7 Dennoch existierten Vorstellungen davon, was das Gewerbe sei oder sein sollte. Werfen wir einen genaueren Blick auf das Gewerbe, dann erkennen wir, dass es sich in einem permanenten, konflikthaft verlaufenden Konstruktions- und Klassifikationsprozess befand, der um die Frage kreiste, was denn nun als das »wahre« und »echte« Gewerbe allgemeine Geltung und Anerkennung beanspruchen durfte.8 Die Kämpfe im Rahmen dieser Prozesse wurden nach Pierre Bourdieu zumeist unbewusst und unreflektiert geführt. Zumindest in der Zwischenkriegszeit wurden sie – so die These – vor allem zwischen den Angehörigen verschiedener Betriebsgrößengruppen ausgetragen, die wiederum ganz bestimmte Marktstrategien verfolgten und je spezifische Wirtschaftsstile pflegten. Im Wesentlichen ging es um folgende Fragen  : War es eher der wirtschaftliche Erfolg oder doch mehr die »Standesehre«, war es vor allem der Gewinn oder überwiegend der »ehrbare Lebensstil«, der das Bild des »echten Handwerks« bestimmen sollte  ?9 Meine Hauptthese lautet, dass der Antisemitismus in diese Distinktionskämpfe eingeflochten und die Reichweite der antisemitischen Propaganda stark davon abhängig war, in welchem Ausmaß es dem antisemitischen Diskurs gelang, Allianzen mit diesem und anderen mächtigen Diskursen einzugehen.

Fraktionierungen im Gewerbe Grob typologisierend können wir drei Kategorien von Gewerbetreibenden unterscheiden  : Alleingewerbetreibende, mittlere Gewerbetreibende und Großgewerbetreibende.10 Alleingewerbetreibende arbeiteten ohne familienfremde Beschäftigte und fristeten ihr Dasein stets am Rande der Prekarität. Sie machten 1930 fast 45 Prozent aller österreichischen Gewerbetreibenden aus. Alleingewerbetreibende waren nicht immer nur Gewerbetreibende. Je nach Wirtschaftslage kombinierten sie Lohnarbeit und selbständige gewerbliche Produktion. Auf dem Land war ihr gewerblicher Betrieb stets mit einer kleinen Landwirtschaft verbunden. Ihr bescheidener Konkurrenzvorteil lag zum einen in ihrer Flexibilität  ; d. h. in ihrer Fähigkeit, sehr rasch auf  7 Eminger 2005, 51.  8 Eminger 2008b, 299  ; Eminger 2008a, 236–238.  9 Eminger 2008a, 236. 10 Ausführlich zu dieser Kategorisierung vgl. Eminger 2005, 25–32.

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Konjunkturveränderungen und neue Trends reagieren zu können. Ihr wichtigster Konkurrenzvorteil war aber der niedrige Preis. Der Großteil der etwa 12.000 jüdischen Gewerbetreibenden in Wien zählte zum Alleingewerbe. In den Branchen der Modegewerbe, Uhrmacher und Juweliere, in der Nahrungs- und Genussmittelerzeugung, in der Mieder- und Wäschewarenproduktion sowie bei den Fotografen und im Beratungs- und Vermittlungsgewerbe waren Gewerbetreibende jüdischer Religion weit überdurchschnittlich vertreten.11 Die zweite und größte Gruppe bildeten mittlere Gewerbetreibende. Sie waren vor allem durch ihre Stellung als ArbeitgeberInnen definiert und beschäftigten bis zu etwa zehn familienfremde MitarbeiterInnen. Bei derartigen Betriebsgrößen konnten Gewerbeinhaber oder Gewerbeinhaberin noch im Produktionsprozess mitarbeiten. Mittlere Gewerbetreibende verfügten zumeist über den Meistertitel und über eine ökonomische Mindestausstattung. Sie waren auf kleine und relativ stabile lokale Märkte orientiert. Das war wirtschaftlich sinnvoll, denn es verminderte den Konkurrenzdruck  ; andererseits begrenzte es die Gewinnchancen. Der Lebensstil mittlerer Gewerbetreibender war daher einer des »Maßhaltens«, der sich einen lediglich »bürgerlichen« Gewinn zugestand. Mittlere Gewerbetreibende waren die Propagandisten der »gewerblichen Qualitätsproduktion« und die Architekten der handwerklichen Selbstdarstellung. Sie gaben in den wichtigsten Gewerbeorganisationen den Ton an, und dieser Ton war traditionell auch antijüdisch. Viele Meister weigerten sich auch noch in der Zwischenkriegszeit, jüdische Lehrlinge auszubilden, und die meisten dieser Gewerbeorganisationen nahmen statutengemäß keine Juden auf. Gewerbepolitisch gesehen, zählten die mittleren Gewerbetreibenden zu den engagiertesten Verfechtern einer antiliberalen Politik des »Gewerbeschutzes«. Durch die Weltwirtschaftskrise war ihre hegemoniale Position unter Druck geraten. Immer weniger Gewerbetreibende konnten sich einen »standesbewussten« Lebensstil und eine qualitativ stets hochwertige Produktion leisten. Immer mehr von ihnen drohten, zu Alleingewerbetreibenden abzusinken. Sie mussten ihre kleinen Märkte ausweiten und mit immer billigeren Preisen auch um Laufkundschaft konkurrieren. Die dritte Gruppe waren Großgewerbetreibende. Es handelte sich dabei um die wenigen HandwerksunternehmerInnen, die mehr als zehn Arbeitskräfte beschäftigten. Großgewerbetreibende verfügten häufig über viel ökonomisches Kapital, über teure Betriebsanlagen, Gebäude, Rohstoffe. Was sie mit den mittleren Gewerbetreibenden verband, war vor allem ihre Stellung als ArbeitgeberInnen. Anders als mittlere Gewerbetreibende waren sie von ihrer Geschäftsmentalität her eher auf eine 11 Ebd., 73f.

Antisemitismus im Gewerbe 1933 bis 1938

Ausweitung der Märkte denn auf Stabilität ausgerichtet. Mit Alleingewerbetreibenden teilten die HandwerksunternehmerInnen wesentliche Geschäftsstrategien. Beide Gruppen stellten den ökonomischen Erfolg über den angeblich »gerechten« Preis und die handwerkliche »Standesehre«.

Regime greift in Distinktionskämpfe ein Nach der Ausschaltung des Parlaments 1933 beseitigte die Regierung die letzten Reste der Gewerbefreiheit. Sie verschärfte den antiliberalen Kurs des »Gewerbeschutzes« und griff damit zugunsten der mittleren Gewerbetreibenden in die Distinktionskämpfe ein. Groß- wie Alleingewerbetreibende und damit auch die meisten jüdischen Gewerbetreibenden wurden durch die drastischen Reglementierungen und Einschränkungen in ihrem Fortkommen jedoch behindert.12 Interessenvertretungen des mittleren Gewerbes verknüpften die Forderung nach Zugangsbeschränkungen zum Handwerk ausdrücklich auch mit antisemitischen Motiven. So spielte der unter christlichsozialer Leitung stehende »Reichsfachverband der Mechaniker und Maschinenbauer Österreichs« im Frühjahr 1933 auf die Flucht von Juden und Jüdinnen aus dem Deutschen Reich nach der NS-»Machtergreifung« an und verlangte die Ausweitung der zunächst noch regional begrenzten Sperre seiner Branche. In einem Schreiben an das Handelsministerium behauptete der Verband, dass derzeit wieder ein »größerer Zustrom sehr unerwünschter Elemente aus Deutschland nach Österreich, speziell nach Wien«, stattfinde.13 Diese Leute seien »sozusagen mit allen Salben geschmiert und werden daher nichts unversucht lassen, um hier zum Schaden der bodenständigen Gewerbetreibenden durch unlautere Mittel sich einen Erwerb zu verschaffen. In der Umgehung der Gesetze sind diese Elemente ja unübertroffene Meister.«14 Beabsichtigt oder unbewusst wurde den jüdischen Gewerbetreibenden das Distinktionsmittel des Meistertitels nur auf dem Gebiet der Unmoral zugestanden. Die Diktatur der Regierung Dollfuß brachte eine grundlegende Restrukturierung der gewerblichen Interessenvertretung.15 Auch diese Neuorganisation hatte Auswirkungen auf die Distinktionskämpfe. Als Vorbereitung des berufsständischen Aufbaus 12 Eminger 2008a, 240. 13 Schreiben Reichsfachverband der Mechaniker und Maschinenbauer Österreichs o.  D, Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bundesministerium für Handel und Verkehr/ allgemein (BMfHuV/allg.), Sign. 501, Grundzahl (GZ) 121.119/1933, Vorübergehende außerordentliche Maßnahmen auf dem Gebiete des Gewerberechtes  ; Geschäftszahl 125.019/1933. 14 Ebd. 15 Zum Folgenden vgl. Eminger 2005, 124–131.

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erfolgte eine Zentralisierung und Monopolisierung des in zahlreiche Organisationen zersplitterten Gewerbes. Zwei Bünde mit ähnlich klingenden Bezeichnungen und engen Verbindungen zueinander wurden geschaffen. Der »Bund der österreichischen Gewerbetreibenden« (BDÖG) fungierte fortan als »berufsständische« Vertretung. Er war öffentlich-rechtlich verankert und mit Pflichtmitgliedschaft ausgestattet. Der »Österreichische Gewerbebund« (ÖGWB) bildete die »politische« Repräsentanz des Gewerbes. Er war nach dem Vereinsgesetz konstituiert und gleich nach seiner Gründung der »Vaterländischen Front« beigetreten.16 Für das hier interessierende Thema ist die Agitation des ÖGWB besonders relevant. Kern des ÖGWB war der 1908 auf Anregung Karl Luegers gegründete Deutschösterreichische Gewerbebund (DÖG), der vor allem in Wien und Niederösterreich verankert und von christlichsozial orientierten mittleren Gewerbetreibenden und Kaufleuten dominiert war.17 Der DÖG stand in der Tradition der katholischen Soziallehre Karl von Vogelsangs und war antisemitisch eingestellt. In seinen Satzungen führte er den »Arierparagraphen«,18 was aber in Einzelfällen die Aufnahme von Wirtschaftstreibenden, die nach dem »Anschluss« 1938 als Juden verfolgt wurden, nicht ausschloss.19 Aus dem DÖG ging im Wege des »Österreichischen Reichsgewerbebundes« 1935 der ÖGWB hervor.20 An dessen Spitze stand der St. Pöltner Bauunternehmer Ing.  Julius Raab, der in Personalunion auch der »berufsständischen« Organisation BDÖG vorstand. Obmann der Stadtgruppe Wien des ÖGWB war der Vizebürgermeister von Wien, Dr. Josef Kresse, gleichzeitig einer der drei Vizepräsidenten sowie Obmann des Gewerbeverbandes der Stadt Wien des BDÖG. Die Landesgruppe Niederösterreich der »politischen« Organisation ÖGWB führte Baumeister Ing. August Kargl aus Langenlois bei Krems. Er war auch Finanzreferent des Landesgewerbeverbandes für Niederösterreich des BDÖG.21 Der ÖGWB verzichtete zwar auf den »Arierparagraphen«. Mit der Formulierung in seinen Statuten, er bezwecke die »Erhaltung eines lebensfähigen, freien, bodenständigen christlich-deutschen Handwerker- und Handelsstandes auf vaterländischer Grundlage«,

16 Ebd., 123–131. 17 Ebd., 125. 18 »Ordentliche Mitglieder können nur arische Gewerbetreibende oder auch Korporationen oder Vereine sein«, heißt es in § 5 der Statuten des DÖG, vgl. JB 1920, 43. 19 Das belegt etwa die Mitgliedschaft des vom Judentum zur Katholischen Kirche übergetretenen Buchhändlers Josef Lande bei der Ortsgruppe Wolkersdorf des DÖG, vgl. Hickel 1992, Abb. 44  ; zur Lande vgl. auch http://www.wolkersdorf1938.at/lande.html (23.10.2015). 20 Zum im März 1933 geschaffenen Reichsgewerbebund vgl. Eminger 2005, 104. 21 Jahrbuch des Gemeindebundes (JB) [1935], 33, 43.

Antisemitismus im Gewerbe 1933 bis 1938

erreichte er aber das Gleiche.22 Mit der Monopolisierung der politischen Gewerbevertretung im ÖGWB erhielt der Antisemitismus eine offizielle Note. Eine besondere Rolle nahm dabei die Stadtgruppe Wien mit Vizebürgermeister Kresse ein.23 Abgesehen von wenigen Ausnahmen, verweigerte der ÖGWB jüdischen Gewerbetreibenden die Aufnahme. Das war zwar verfassungswidrig,24 doch Kresse und auch der Obmann der niederösterreichischen Landesgruppe, Kargl, verteidigten diese Diskriminierung. Kresse berief sich dabei auf die antijüdische Praxis der mittelalterlichen Zünfte, deren Geist er wieder aufleben lassen wolle. In einer Rede im Oktober 1935 betonte er  : »Ich sage es offen  : Nie werde ich dulden, daß sich Elemente auf Kosten der bodenständigen und ehrlich arbeitenden Kollegen bereichern. Und ich lehne es ab, die Zahl der Gewerbebundmitglieder mit derartigen Fremdlingen zu vermehren. […] In den alten Zunftbüchern findet man solche Namen ja auch nicht.«25 Kargl verknüpfte Antisemitismus mit Antisozialismus und behauptete, dass in der »Umsturzzeit von den roten Machthabern wahllos Heimat- und Gewerbescheine ausgegeben« worden seien und er daher von seinem Recht der Überprüfung der Ansuchen um Aufnahme »in solchen Fällen besonders Gebrauch machen« werde.26

22 Eminger 2005, 125. 23 Dr. Josef Kresse, Kommerzialrat, geb. 30.10.1890 in Cleveland (USA), wohin seine Eltern aus der deutschen Sprachinsel Gottschee (Kočevje, heute Slowenien) ausgewandert waren, Mittelschule in Gottschee, 1914 Kriegsdienst als Einjährig-Freiwilliger, bis Kriegsende Artillerieoffizier, Promotion als Dr. jur. an der Univ. Wien, 1919 Eintritt in das Geschäft seines Schwiegervaters, Ing. Oswald Röhrer, Rabls Nachfolger, Brunnenbau und Tiefbohrungen, 1926 Meisterprüfung, später Inhaber einer Autofahrschule in Wien-Währing, Obmann der christlichsozialen Parteileitung in Wien-Währing, Vorsteher der Sektion Wien im DÖG, 1945 bis 1949 Gemeinderat und Landtagsabgeordneter für die ÖVP in Wien sowie Obmann der Gewerbesektion der Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, 1950 Gründung der Firma Dr. Kresse & Co., Handel mit technischen Ausrüstungen, gestorben 1966  ; Österreichische Gewerbe-Zeitung (ÖGZ), 14.4.1934, 1  ; Das neue Wien 1934, 53  ; Repräsentanten o.J., 63  ; Seliger 2010, 613f. 24 Kritik geübt wurde etwa in  : Der Wiener Tag, 19.2.1937, 2, sowie ebd., 21.2.1937, 8. 25 Neue Freie Presse, 27.10.1935  ; Jüdische Front (JF), 15.12.1935, 3. 26 Der Gewerbebündler (DGB), 15.2.1937, 1 (Hervorhebung im Original)  ; dieser Verbalantisemitismus Kargls, der als Vertreter des »Systemregimes« von den Nationalsozialisten mit dem ersten »Österreichertransport« im April 1938 ins KZ Dachau deportiert, Anfang August 1938 wieder freigelassen und nach dem Attentat auf Hitler 1944 kurzfristig wieder in Haft gesetzt worden war, stand in auffälligem Gegensatz zur ausgesprochen humanen und couragierten Haltung, die Kargl während der NS-Herrschaft ungarisch-jüdischen ZwangsarbeiterInnen gegenüber einnahm. Als Zeichen der Erinnerung an seine Wohltaten stifteten die vier in seinem Betrieb beschäftigten jüdischen Familien im April 1960 zehn Bäume am Mount Herzl in der Nähe von Jerusalem  ; vgl. dazu Litschauer 2006, 197– 200  ; allgemein zu Kargl vgl. Handbuch 2000, 79f.; zum »Österreichertransport« vgl. Neugebauer/ Schwarz 2008.

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Mit der Ausgrenzung jüdischer Gewerbetreibender aus dem ÖGWB waren erhebliche Benachteiligungen verbunden. Wer nicht Mitglied war, hatte kein Mitspracherecht in den gewerblichen Pflichtorganisationen des BDÖG sowie in den Meisterund Gesellenprüfungskommissionen, mithin also in jenen Gremien, die über den Zugang zum Gewerbe entschieden. Vor allem aber wurden Gewerbetreibende, die nicht Mitglieder des ÖGWB waren, bei der Vergabe der begehrten öffentlichen Lieferaufträge nicht berücksichtigt.27

Antisemitismus in der »berufsständischen« Vertretung des Gewerbes Judenfeindliche Äußerungen fanden sich auch an der Spitze der »berufsständischen« Organisation BDÖG. Diesem Verband gehörten aufgrund der Pflichtmitgliedschaft auch die jüdischen Gewerbetreibenden an. Interne Stellungnahmen führender Funktionäre des BDÖG belegen aber, dass sich diese für ihre Mitglieder jüdischer Religion gar nicht zuständig fühlten, ja mitunter sogar bewusst gegen deren Interessen agitierten. Als etwa in einer Präsidialsitzung des BDÖG Ende 1936 von einem Boykottaufruf des bayrischen Staatspräsidenten gegen »vaterländische« Tourismusbetriebe in Österreich die Rede war, äußerte der stellvertretende Obmann des BDÖG, Julius Kampitsch, die Vermutung, dass es sich hier wohl lediglich um informelle Weisungen handle, die sich »hauptsächlich gegen jüdische Häuser« richteten.28 Bezeichnend für die Selbstverständlichkeit des Antisemitismus im BDÖG war die Entgegnung des zweiten Obmannstellvertreters Ing. Carl Lipp, der monierte, dass es einen konkreten Fall in Graz gegeben habe, bei dem es nicht nur gegen jüdische Besitzer gegangen sei.29 Die Diskussion über die Aufrechterhaltung der Zugangsbeschränkungen zum Gewerbe wurde im BDÖG gleichfalls mit antisemitischer Stoßrichtung geführt. So forderte etwa der Wiener Vertreter, Kommerzialrat Heinrich Lenhart, in einer Präsidialsitzung Mitte 1937 die »nachdrücklichste Einschränkung der Dispens von der Meisterprüfung […], zumal diese Begünstigung zum weitaus grösseren Prozentsatz von Juden beansprucht« werde.30

27 Eminger 2005, 182. 28 Fortsetzungsprotokoll der 15. Präsidialsitzung des BDÖG, 10.12.1936, Wirtschaftskammer Wien, Registratur, Paket 3.570/1. 29 Ebd. 30 Protokoll der 9. Präsidialsitzung des BDÖG, 19.7.1937, Wirtschaftskammer Wien, Registratur, Paket 3.389.

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Antisemitische Propaganda im ÖGWB Die auch mit antisemitischen Mitteln ausgetragenen Distinktionskämpfe des ÖGWB brauchten klar identifizierbare Gegner. In der Figur des »ostjüdischen Pfuschers«, womit auch alleingewerbliche Geschäftsmodelle generell abgewertet wurden, und im »jüdischen Warenhaus«, das auch zur pauschalen Diffamierung großgewerblicher Entwürfe diente, standen sie schon seit dem Ende des 19.  Jahrhunderts zur Verfügung. Komplexe ökonomisch-soziale Probleme konnten so auf klar benennbare, vermeintlich »Schuldige« reduziert werden. Beide Stereotype hatten zudem in der rassistisch geprägten Gewerbepropaganda der Nationalsozialisten 1932/1933 eine zentrale Rolle gespielt. »Jüdische Warenhäuser« waren insbesondere in der Vorweihnachtszeit 1932 ein Hauptziel nationalsozialistischer Angriffe gewesen.31 Führende Vertreter des ÖGWB und der Stadt Wien knüpften in der Vorweihnachtszeit des Jahres 1936 an diese Feindbilder an. Den Anfang machte der Präsident der beiden Gewerbebünde. Im Budgetausschuss wandte sich Raab gegen die seiner Ansicht nach zu harten Methoden der Steuereintreibung bei kleinen Gewerbetreibenden. Er lenkte die Aufmerksamkeit auf Betriebsstrategien der Großbetriebe, denen er pauschal Steuerbetrug unterstellte. Namentlich stellte er die »jüdische Firma« Krupnik an den Pranger. »Da empfehle ich den Behörden schon die Steuerhinterzieher«, polemisierte Raab. »Ich will nur einen Namen nennen, Krupnik in Wien. Dieser Unternehmer legt 1000 Schneidermeister nieder, aber wenn Frau Krupnik bei allen möglichen vaterländischen Veranstaltungen auch als Fahnenpatin auftritt, müssen Sie schließlich die Verstimmung der kleinen Handwerksleute mit 1400 S Jahreseinkommen verstehen. (Zustimmung.) Frau Krupnik wird den Staat nicht aufrechterhalten. Fragen Sie, was für Löhne diese Firma zahlt und wie die Arbeitsverhältnisse dort sind.«32 Beispielhaft kann hier die antisemitische Strategie der Verbreitung von Halbwahrheiten, Verdrehungen und Übertreibungen dargelegt werden. Wie viele nichtjüdische Großhändler sparte die Firma Krupnik soziale Abgaben durch die Beschäftigung von sogenannten Stückmeistern und Stückmeisterinnen. Diese Gewerbetreibenden galten de jure zwar als Selbständige, als Bezieher fixer Entgelte von der Großhandelsfirma hatten sie aber keinerlei Einfluss auf die Preisgestaltung und waren daher de facto als Lohnabhängige anzusehen.33 Der Begriff der Steuerhinterziehung beschrieb also keinen rechtlichen, sondern einen moralischen Tatbestand. Die Vermengung dieser beiden Bereiche war Teil der antisemitischen Stra31 Bauer 2005, 133. 32 ÖGZ, 14.11.1936, 1. 33 Eminger 2005, 28.

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tegie. Unterstützung erhielt die Propaganda gegen die Inhaber der Firma Krupnik auch durch die illegale NSDAP. In ihrem verbotenen Organ »Österreichischer Beobachter« griff sie das Ehepaar Julius und Olga Krupnik scharf an.34 Wenig später schlug der Wiener Bürgermeister Richard Schmitz in die gleiche Kerbe. In Anwesenheit von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg und anderen Mitgliedern der Regierung wetterte er in einer Versammlung des Wiener ÖGWB gegen jüdisch geführte Großwarenhäuser, ohne diese beim Namen zu nennen. Mühelos verband er damit Seitenhiebe auf die ehemals sozialdemokratische Stadtverwaltung und Anspielungen auf »ostjüdische« Zuwanderer  : »Wir verlangen nicht, daß bestehende Warenhäuser vernichtet werden, sondern daß keine neuen Warenhäuser mehr entstehen sollen. Wir verlangen dies um so mehr, als ja hinter diesen Neugründungen und Erweiterungsplänen zumeist nicht Leute stehen, die wir von jung auf kennen, sondern solche, deren Heimatschein und Gewerbeschein verhältnismäßig sehr jungen Datums ist [sic], allerdings eines älteren Datums, als meine Bürgermeisterschaft. (Stürmischer Beifall.)«35 Die Täter-Opfer-Umkehr ist ein bewährtes Muster der antisemitischen Propaganda. Es überrascht daher nicht, dass Kresse »die jüdischen Zuwanderer« auch für den Zulauf zum Nationalsozialismus verantwortlich machte. In einer Rede beim christlichen Volksverein von Währing »über die Judenfrage« führte er im Frühjahr 1936 aus  : »Leider muß ich auch feststellen, daß die besten Propagandisten für den Nationalsozialismus jene zugereisten Juden sind, die immerfort schreien, statt ruhig zu sein und sich mit der Stellung als Minderheit zufrieden zu geben. Wenn diese Leute es weiter so treiben, dann werden sie einmal sehen, daß sie den schlechtesten Dienst sich selbst erwiesen haben. Es kostet schon heute manchmal harte Mühe, die Gewerbetreibenden vor unüberlegtem Radikalismus zurückzuhalten.«36

Boykott Wie alle Antisemiten, so strebten auch der ÖGWB und Kresse danach, die jüdische Bevölkerung von der nichtjüdischen möglichst scharf zu trennen. Die Aktion des ÖGWB »Christen, kauft bei Christen  !« in der Vorweihnachtszeit 1937 lag ganz auf dieser Linie und stand in einer langen Tradition antijüdischer Boykottaufrufe. 34 Österreichischer Beobachter. Organ der N.S.D.A.P. in Oesterreich, 8.12.1936, 6. 35 Reichspost, 23.11.1936, 2  ; JF, 1.12.1936, 3. 36 Neue Freie Presse (Abendblatt), 31.3.1936, 8, Wienbibliothek im Rathaus, Tagblatt-Archiv, Mappe Josef Kresse.

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»Kauft nur bei Christen  !«, war etwa schon 1898 im christlichsozialen »Vorarlberger Volksblatt« zu lesen gewesen  ;37 »Deutsche, kauft bei Deutschen  !«, affichierte 1927 der betont deutschnational ausgerichtete »Hagebund« in Wien in Turnhallen, Vereinsheimen und Kanzleien deutschvölkischer Organisationen  ;38 »Kauft nicht bei Juden  !«, hieß es in den frühen 1930er Jahren regelmäßig in der Vorweihnachtszeit auf Plakaten der NSDAP und auf Flugzetteln, die von Nationalsozialisten vor Geschäften von Juden verteilt wurden.39 Nationalsozialistischer Provenienz waren zumeist auch die verschiedenen Adressenverzeichnisse, die vor Weihnachten in Umlauf gebracht wurden und die Kundschaft vom Einkauf bei jüdischen Wirtschaftstreibenden abhalten sollten. Bereits in sechster Auflage erschienen waren 1931 etwa Heinrich »Peyrl’s arische Gewerbe-Adressen. Führer durch die christliche Geschäftswelt Wiens«, der sich der Erhaltung des »bodenständigen« Gewerbestandes verschrieben hatte.40 Ein »Wegweiser durch die deutsche bodenständige Geschäftswelt« wurde vor Weihnachten 1932 verbreitet,41 ein »Arischer Geschäftsweiser« erschien rechtzeitig vor Weihnachten 1934.42 Im gleichen Jahr musste in Wien die Israelitische Kultusgemeinde gegen die Verbreitung der Flugschrift »Kenn’ dich aus … beim Einkauf in der Mariahilferstraße« protestieren. Darin war die bekannte Wiener Einkaufsstraße schematisch dargestellt  ; »arische« Geschäfte waren schwarz, »jüdische« rot gekennzeichnet.43 Der Höhepunkt der NS-Agitation gegen Juden und »jüdische Geschäfte« war jedoch im Zuge der beispiellosen Terrorwelle kurz vor dem Betätigungsverbot Mitte 1933 erreicht. Forderte der Sprengstoffanschlag gegen das »jüdische« Cafe »Produktenbörse« in Wien, 2. Bezirk, wie durch ein Wunder keine Todesopfer, so kostete ein ähnlicher Anschlag auf ein schon länger angefeindetes »jüdisches« Juweliergeschäft in der Meidlinger Hauptstraße den Inhaber Norbert Futterweit am 12. Juni 1933 das Leben.44 37 Vorarlberger Volksblatt, 11.5.1898. 38 Wiener Neueste Nachrichten, 9.10.1927, ÖStA, AdR, Parteiarchive (PArch), Großdeutsche Volkspartei, Zeitungsausschnitte, Materie, Mappe 157, Sign. 33/p. 39 Die Wahrheit (DW), 11.12.1931, 5  ; dies., 23.12.1932, 3  ; ÖStA, AdR, BMfHuV/allg., Sign. 501, GZ 137.730/1932, Agitation gegen jüdische Geschäftsleute  ; ÖStA, AdR, Bundeskanzleramt (BKA)/ allg., Signaturenreihe (SR), Sign. 22/Wien, GZ 110.434/1933, Agitation und Anschläge gegen jüdische Geschäfte durch Nationalsozialisten  ; Schreiben des Präsidenten des Gremiums der Wiener Kaufmannschaft an den Bundeskanzler vom 12.12.1932  ; vgl. auch Bauer 2005, 133. 40 Peyrl 1931. 41 Unsigniertes Schreiben an den Gauleiter der NSDAP, 17.11.1932, ÖStA, AdR, PArch., NS. Parteistellen, Kt. 8, Mappe NS Handels- und Gewerbering Korrespondenz. 42 DW, 21.12.1934, 2. 43 DW, 28.12.1934, 3. 44 Botz 1976, 216  ; vgl. auch Bauer 2005, 137.

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Mit der Aktion »Christen, kauft bei Christen  !« knüpfte der ÖGWB Wien an die Boykott-Tradition an. Sie markierte ein bislang nicht erreichtes Ausmaß der offiziellen antisemitischen Agitation im Gewerbe, die – anders als bisher – auch nach Weihnachten nicht mehr abflaute und erst von den Nationalsozialisten mit den »Anschlusspogromen« im März 1938 übertroffen wurde. Die Aktion selbst war nicht allzu bedeutend. Es handelte sich um eine Werbeausstellung der Ortsgruppe Wien-Alsergrund des ÖGWB in den Sälen des Restaurants »Zum Auge Gottes« in der Nußdorferstraße. Organisiert vom Obmann der Ortsgruppe, Handelskammerrat und Buchbindermeister Franz Spath, dauerte die Schau lediglich drei Tage (30. November bis 2. Dezember 1937) und wurde von etwa 40 Handwerkern des Bezirkes, die ihre Produkte präsentierten, bestritten.45 Durch ihre antisemitische Stoßrichtung erlangte sie schon Wochen vor ihrer Eröffnung die Aufmerksamkeit einer breiteren,46 später auch internationalen Öffentlichkeit. Im Rahmen dieser Aktion wurden in mehreren Bezirken Wiens vom ÖGWB Flugzettel verteilt mit der Parole »Christen, kauft bei Christen  !« und solche mit der zusätzlichen Aufforderung  : »Leg auf den Weihnachtstisch ein Geschenk, das du bei einer christlichen Firma gekauft hast  !«47 Vizebürgermeister Kresse fungierte als Protektor der Aktion. Er stellte sie schon im Vorfeld als legitime Abwehrreaktion des »bodenständigen« Gewerbes dar und behauptete  : »Wir lehnen jeden Rassenhaß ab, unser Antisemitismus ist Notwehr gegen die Ueberflutung unseres Gewerbes durch erst seit dem Krieg neu zugewanderte, im Konkurrenzkampf bedenkenlose Elemente.«48 Wiederholt hatte Kresse zudem öffentlich behauptet, die Parole des ÖGWB sei lediglich die Antwort auf Boykottaufrufe jüdischer Organisationen gegen »arische« Geschäftsleute.49 Tatsächlich waren Ende Februar 1936 in mehreren Wiener Bezirken Flugblätter mit Davidstern und dem Aufdruck »Juden, kauft nur bei Glaubensgenossen« gestreut worden. Wie sich rasch herausstellte, war hinter dieser Aktion der von Nationalsozialisten durchsetzte Verein »Antisemitenbund« gestanden.50 Führende Funktionäre hatten die Herstellung der Flugblätter in Auftrag gegeben und die Verteilung organisiert.51 Kresse nahm diese Ermittlungsergebnisse nicht zur Kenntnis. 45 Reichspost, 28.11.1937, 8. 46 Vgl. etwa die frühe Kritik in  : DW, 8.10.1937, 4. 47 DJ, 24.12.1937, 1. 48 Wiener Gewerbe (WG), 15.12.1937, 1f. (Hervorhebung im Original)  ; ÖGZ, 20.11.1937, o. S. 49 DW, 27.3.1936, 2. 50 Zum Antisemitenbund vgl. Pauley 1990, 235f. 51 Lagebericht über den Monat Februar 1936, ÖStA, AdR, BKA, Zeitgeschichtliche Sammlung, Mappe 37.3., Zl. GD 314.949-St.B.; Schreiben der Bundespolizeidirektion in Wien an das BKA, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit, 19.3.1936, ÖStA, AdR, BKA/Allg., SR, Sign. 22/Wien,

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Noch im November 1937 sprach er von Beweisen, die er in Händen habe, dass jüdische Organisationen zum Boykott christlicher Geschäfte aufgerufen hätten,52 und Anfang Februar 1938 war in der Zeitung des Wiener ÖGWB zu lesen, dass »die Juden in letzter Zeit gegen die arische Geschäftswelt, Handel- und Gewerbetreibende, eine systematische Boykotthetze betreiben«.53 In in- und ausländischen Zeitungen gab es Proteste gegen die Boykottaktion des ÖGWB. Nach einem Bericht des in London erscheinenden »Jewish Chronicle« sprach die britische Zeitung »Catholic Herald« den Initiatoren der Ausstellung gar ihr Christentum ab  : »Das sind keine Christen, die solche Parolen ausgeben«, wurde die Zeitung zitiert.54 Das Maß war nun offenbar auch für Bundeskanzler Kurt Schuschnigg voll. In einem US-amerikanischen Bericht wurde vermerkt, dass Kresse in der dem Kanzler nahestehenden Zeitung »Neues Wiener Tagblatt« an die Unvereinbarkeit seines öffentlichen Amtes mit antisemitischen Parolen erinnert und ihm vorgeworfen wurde, die Wiener Bevölkerung zu spalten.55 Zu einer Mäßigung der antisemitischen Propaganda oder zu einer Disziplinierung Kresses kam es nicht  ; im Gegenteil. Der ÖGWB nutzte die Kritik an seiner Aktion zum Schulterschluss des »bodenständigen« Gewerbes. Demonstrativ besuchte der Präsident des ÖGWB Raab in Begleitung sämtlicher Präsidialmitglieder am 2.  Dezember die Ausstellung und erhielt dabei eine Führung von Kresse.56 Der antisemitische Ton im ÖGWB Wien wurde verschärft, die Boykottaktion als Teil einer historisch-abendländischen Sendung hochstilisiert. Sie stelle nichts anderes dar, hieß es im offiziellen Verbandsorgan des Wiener ÖGWB, »als die Erfüllung jener Mission, die dem bodenständigen Volk von Wien seit Jahrhunderten überantwortet ist. Sie ist Ausdruck des Wehrwillens der christlichen Bewohner dieser Stadt, die auf einem weit gegen Osten vorgeschobenen Vorposten christlich-abendländischer Kultur stehen. Das Wiener Bürgertum wird, so wie eh und je, diese Position gegen alle Anstürme der aus dem Osten kommenden Feinde unserer Kultur, unserer Gesittung und Religion zu halten wissen. […] Die Stadtgruppe Wien des Oe. G. B. [ÖGWB, Anm. d. Verf.] kämpft um

GZ 318.310/1936, Fontano-Zwentendorf Georg u. a.; § 1 der Verordnung vom 19.5.1933, BGBl. 185/1933 zur Hintanhaltung politischer Demonstrationen. 52 DW, 26.11.1937, 1. 53 WG, 10.2.1938, 1. 54 Zit. n. WG, 25.1.1938, 1. 55 National Archives, Washington D.C., Record Group 59  : General Records of the Department of State 1930–1939, Zl. 863.00/P.R./181  ; zit. n. Wohnout 1994, 15  ; ich danke Helmut Wohnout für die Überlassung einer Kopie dieses Berichtes  ; Reichspost, 28.11.1937, 4. 56 Reichspost, 2.12.1937, 6.

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die Reinhaltung des Wiener Gewerbestandes und die Fernhaltung aller ostjüdischen Unmoral.«57 Die ohnehin fragwürdige Trennung zwischen wirtschaftlich und rassistisch begründetem Antisemitismus ist für diese Phase nicht mehr aufrechtzuerhalten. Im Jänner drängte die Zeitung des Wiener ÖGWB auf die Erlassung eines angeblich schon lange angekündigten Fremdengesetzes, das »die Seßhaftmachung ausländischer Juden unmöglich machen« soll. Sie forderte »das bodenständige Volk« überdies auf, den »schon im Lande befindlichen Israeliten […] auf die Finger zu schauen«, denn man werde »den Juden, wo immer es not tut, mit der entsprechenden Schärfe (selbstverständlich immer im Rahmen der Gesetze) klar machen müssen, daß sie schließlich und endlich in einem Kulturstaat und nicht in einem asiatischen Ghetto leben. Wer das Gastrecht mißbraucht, ist nicht würdig, den Schutz dieses Staates zu genießen.«58 Der notorische Antisemit Kresse machte weiter Karriere. Als Raab Mitte Februar 1938 zum Handelsminister bestellt wurde, stieg Kresse an dessen Stelle zum geschäftsführenden Vizepräsidenten des BDÖG auf.59 Die antisemitische Agitation des ÖGWB spielte der Politik der illegalen Nationalsozialisten in die Hände. Wenn auch nicht beabsichtigt, ging der austrofaschistisch mit dem nationalsozialistischen Antisemitismus eine arbeitsteilige Allianz ein. Daran änderte auch die Verleihung der kleinen silbernen Verdienstmedaille an den jüdischen Miedererzeuger Max Spitzer Ende Jänner 1938 durch den von Kresse geführten Gewerbeverband der Stadt Wien nichts.60 Seit Dezember 1937, so hieß es in einem Bericht der Sicherheitsbehörden, entfalteten die Nationalsozialisten in Wien eine »gesteigerte Aktivität«. Diese zeige sich »vor allem in der Zertrümmerung und Beschädigung von Auslagenscheiben und Ankündigungstafeln von Geschäftslokalen jüdischer Inhaber, durch die ein grosser Sachschaden verursacht wurde, sowie in Schmier- und Streuaktionen«.61

Zusammenfassung Der gewerbliche Antisemitismus in der bürgerlichen Diktatur der 1930er Jahre schien dem Antisemitismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts zum Verwechseln ähnlich. Er 57 WG, 25.1.1938, 1 (Hervorhebung im Original). 58 WG, 10.1.1938, 1 (Hervorhebungen im Original). 59 WG, 25.2.1938, 1. 60 DW, 28.1.1938, 8. 61 Schreiben der Bundespolizeidirektion in Wien an die Staatsanwaltschaft Wien I, 16.2.1938, Aufdeckung des Kommandos der SA-Brigade Nr. 2 Wien  ; Franz Hanke u. a., ÖStA, AdR, BKA/Allg., SR, Sign. 22/Wien, GZ 302.935/1938.

Antisemitismus im Gewerbe 1933 bis 1938

war christlich-konservativ, antiliberal, antisozialistisch und antikapitalistisch, ohne die bürgerliche Eigentumsordnung in Frage zu stellen. Als »kultureller Code« stand er für eine konservative antiemanzipatorische Weltanschauung, die der aufgeklärten, rationalistisch-individualistischen Geisteshaltung gegenüberstand.62 Schien in der Monarchie noch ein Kompromiss zwischen dieses beiden Kulturen möglich, so hatte sich die Kluft in der Zwischenkriegszeit vertieft. Darüber hinaus rückten deutschvölkisch-nationalsozialistische Aktivisten den Antisemitismus immer mehr in den Mittelpunkt, radikalisierten und veränderten ihn. Sie bedrohten jüdische MitbürgerInnen an Leib und Leben. Die teils pogromartigen Ausschreitungen 1932/1933, also Jahre vor dem »Anschluss«, sind für die Analyse des Antisemitismus 1933–1938 von wesentlicher Bedeutung. War der Vorkriegs-Antisemitismus primär Parole und Integrationsformel gewesen, wurde er spätestens jetzt auch zum Aktionsprogramm. Diese neue Konnotation des Antisemitismus war auch nach dem Betätigungsverbot der NSDAP und dem Aufhören der physischen Angriffe auf Juden und Jüdinnen nicht mehr rückgängig zu machen. Daran änderte auch die betuliche Berufung auf den »traditionellen« Antisemitismus als Abgrenzung zum rassistischen nationalsozialistischen Antisemitismus – sofern sie nicht ohnehin nur aus Gründen außenpolitischer Räson erfolgte – nichts. Dieser schleichende Bedeutungswandel blieb zahlreichen Gewerbetreibenden und auch vielen Juden verborgen. Für sie blieb Antisemitismus der vertraute kulturelle Code, der noch dazu im Gewand der altbekannten Distinktionskämpfe daherkam. Und im Vergleich zum nationalsozialistischen Deutschland schien die Situation in Österreich immer noch erträglich. Dennoch erreichte der Antisemitismus in der Diktatur 1933–1938 eine neue Qualität. Verbreitet von Monopolorganisationen des Regimes, erlangte er im Gewerbe offiziellen Charakter. Und durch den Ausschluss von öffentlichen Lieferaufträgen wurden jüdische Gewerbetreibende wirtschaftlich systematisch benachteiligt. Die antisemitische Propaganda im Gewerbe wies zwischen 1933 und 1938 wechselnde Intensitäten auf. Sie nahm in der Vorweihnachtszeit zu und ebbte danach wieder ab. Ende 1937 erreichte sie eine bislang nicht dagewesene Schärfe, die erst durch die nationalsozialistischen »Anschlusspogrome« im März 1938 übertroffen wurde. Der antisemitische Diskurs im Gewerbe war mit den gewerblichen Distinktionskämpfen eng verwoben. Er stand in Zusammenhang mit dem Ringen um Aufrechterhaltung der in der Weltwirtschaftskrise besonders bedrohten hegemonialen Stellung des mittleren traditionsverbundenen Gewerbes. Er wandte sich nicht allein gegen jüdische Gewerbetreibende, sondern fungierte auch als Drohgeste gegenüber nichtjüdischen Gewerbetreibenden, ohne diese beim Namen nennen und die fragile Ein62 Volkov 2000, 35.

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heit des »christlichen Gewerbes« gefährden zu müssen. Die Rede vom »ostjüdischen Pfuscher« diente auch der Abwertung alleingewerblicher Geschäftsmodelle per se, die Angriffe auf »jüdische Großwarenhäuser« diffamierten auch großgewerbliche Selbständigkeitsentwürfe im Ganzen. Der antisemitische Diskurs im Gewerbe operierte mit Bildern und Dichotomien, die im Kern schon Ende des 19. Jahrhunderts vorhanden waren. Sie wurden in den 1930er Jahren zu einem Freund-Feind-Denken radikalisiert und teils auch rassistisch aufgeladen. Die Rede von »Bodenständigkeit« und »(Volks-)Fremdheit«, von »Standesehre« und »ostjüdischem Geist«, von »christlicher Moral« und »ostjüdischer Unmoral« stellten das »Eigene« dem »Fremden«, das »Christliche« dem »Jüdischen« immer schärfer gegenüber. Hochrangige Gewerbefunktionäre benutzten den Antisemitismus als politisches Instrument. In altbewährter Weise personalisierten sie damit komplexe ökonomisch-soziale Probleme und verwiesen dann auf scheinbar einfache Lösungen. Der Antisemitismus diente dem bedrohten Zusammenhalt des »christlichen Gewerbes« als Integrationsvehikel. Er wurde intensiviert, als der bisherige gemeinsame Hauptfeind Austromarxismus nicht mehr zur Verfügung stand, der Widerstand gegen die protektionistische Politik des ÖGWB in führenden Kreisen der bürgerlichen Diktatur spürbarer, das Scheitern der »berufsständischen« Utopie offensichtlicher wurde. Die grelle Beschwörung von Bedrohungsszenarien als Mittel, den fragilen Zusammenhalt zu wahren, zählte zwar zum traditionellen Repertoire der Gewerbefunktionäre. Mit der Boykottaktion Ende 1937 und deren Verteidigung war der gewerbliche Antisemitismus aber in ein neues Stadium getreten. Waren durch die antisemitischen Umtriebe nachgeordneter Organisationen außenpolitische Schwierigkeiten zu befürchten, so suchte offenbar auch Bundeskanzler Schuschnigg dem entgegenzuwirken. Seine Intervention gegen die Boykottaktion des ÖGWB blieb aber unverbindlich und wirkungslos. Bei der Abwehr des Antisemitismus erhielten die jüdischen Gewerbetreibenden lediglich von jüdischen Organisationen und der liberalen Presse Unterstützung. Im Alltag waren sie vielfach auf sich allein gestellt. Sie wehrten sich vor allem mit rechtlichen Mitteln gegen die diskriminierende Agitation des ÖGWB. Sie stützten sich in Wien auf ein vielfältiges Vereinswesen. Entgegen dem antisemitischen Stereotyp, waren sie aber in keiner Phase der Ersten Republik einig. Zersplittert nicht nur in Unionisten und Zionisten,63 kamen sie gegen das nicht intendierte, aber im Effekt arbeitsteilige Zusammenwirken des austrofaschistischen mit dem nationalsozialistischen Antisemitismus nicht an. 63 Pauley 1990, 243–245.

Antisemitismus im Gewerbe 1933 bis 1938

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Stefan Eminger

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Marie-Theres Arnbom

»Judengeld ist eben doch auch Geld« Antisemitismus und Fremdenverkehr Viele sehr stark besuchte Sommerfrischen in Österreich sind bis Mitte Juni radikal antisemitisch, von Mitte Juni bis Mitte September verlogen judenfreundlich – Judengeld ist eben doch auch Geld – und vomhalben September an wieder radikal antisemitisch. (Wiener Allgemeine Zeitung, 4. Juni 1927).

»Anfragen von Juden bleiben unberücksichtigt«. Antisemitismus in den Gemeinden Bereits im 19. Jahrhundert finden sich in Kur- und Sommerfrischeorten Vorbehalte und Vorurteile gegenüber Gästen, die »anders« als die Einheimischen waren  : Dieses »Anderssein« fußte auch in Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber den Städtern, die andere »fremde« Werte hatten und sich der Scholle nicht verbunden fühlten. Dieses uralte Klischee des »verderbten Städters«, der dem »frommen Landmann« gegenübergestellt wird, funktionierte zu verschiedenen Zeiten. Doch am Ende des 19.  Jahrhunderts kam es zu einer neuen Facette dieser Stereotype  : Der fremde und verhasste Städter wurde jüdisch. Eine neue wirtschaftlich erfolgreiche Schichte etablierte sich und verbrachte die Sommerfrische am Land, kleidete sich in Dirndl und Lederhose, erklomm die Berge und unterstützte die Gemeinden mit Wohltätigkeitsveranstaltungen und damit fließenden Geldmitteln zur Erhaltung und Verschönerung der Orte. Doch blieben die StädterInnen fremd, und schon früh finden sich antisemitische Karikaturen, die die Meinung der Einheimischen widerspiegeln. Parallel dazu begannen jüdische Zeitungen, Listen mit antisemitischen Sommerfrischen zu veröffentlichen, so die Zeitschrift »Im deutschen Reich« bereits 1914 unter dem Titel »Erholungsorte, die antisemitischen Charakter haben  : Kitzbühel  : Fremdenverkehrsverein versendet Reklamebücher mit Stempel  : Beschluß d. Gen.-Vers. 1897  : Anfragen von Juden bleiben unberücksichtigt. Der Besitzer des Hotels Eckinger-Hof hat aber erklärt, Juden gern aufzunehmen.«1 Es zeigt sich ein sehr fragiles Miteinander, das auf rein pekuniären Bedürfnissen gründete. 1 Im deutschen Reich. Zeitschrift des Centralvereins deutscher Bürger jüdischen Glaubens, Juli/August 1914, 20.

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Abb. 1 : Kikeriki 1927.

»Wie man sich trefft im Ampezzotal« »Der eine hieß Kurt Egon Kohden Und trug eine Hose von grauem Loden Und einen ebensolchen Rock Nebst Ruckesack und Pickelstock  ; Daran erkennt man den Touristen Und fast den römisch-katholischen Christen.«1

1 Löhner-Beda 1916, 6f.

Antisemitismus und Fremdenverkehr

Bereits 1916 setzte ich der Librettist und Schriftsteller Fritz Löhner-Beda in seinem Gedicht »Wie man sich trefft im Ampezzotal« mit dem oft übertriebenen Drang nach äußerer Anpassung und somit vermeintlicher Integration auseinander. Der genannte Kurt Egon Kohden hieß, wie sich auch später im Gedicht aufklärt, ursprünglich Kohn und hatte seinem Namen einen weniger jüdisch klingenden Anstrich gegeben, verstärkt durch die beiden sehr deutsch klingenden Vornamen. Seine Kleidung entspricht der ländlichen Tracht, mit der sich nicht nur jüdische Städter in der Sommerfrische oder in den Bergen der einheimischen Bevölkerung angleichen wollten. All diese offensichtlichen Elemente lehnte Löhner-Beda als Anbiede- Abb. 2 »Wie man sich trifft im Ampezzotal«. rung ab und machte sich in zahlreichen Gedichtbändchen auf sehr humoristische Art und Weise darüber lustig, jedoch immer mit einem ernsten Kern.2

Institutionalisierter Antisemitismus Die Berge übten immer schon eine starke Faszination auf wagemutige Menschen aus  : 1862 wurde der »Österreichische Alpenverein«, 1869 der »Deutsche Alpenverein« gegründet – wohl einer der einflussreichsten Vereine Mitteleuropas  : Von der Nordsee bis zum Bodensee, von der Ostsee bis zur Adria gab es bald keinen größeren Ort ohne Alpenvereinssektion. Der Alpenverein beeinflusste nicht nur das Leben und die Freizeitgestaltung seiner Mitglieder, sondern trug wesentlich zu wirtschaftlichen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts bei. Seine Mitglieder erbauten zahlreiche Hütten sowie viele hundert Kilometer Wanderwege und forcierten die wissenschaftliche Erforschung der Alpen. Trotzdem lösten der Alpinismus und die Gründung des Alpenvereins zwiespältige Gefühle aus  : Einerseits 2 Denscher/Peschina 2002.

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stand die Liebe zur Natur, zu den Bergen im Vordergrund, andererseits war von Anfang an die Verbreitung der deutschen Kultur ein Hauptanliegen. Im 19. Jahrhundert auch vom jüdischen Großbürgertum als eine der tragenden Gruppen der deutschen Kultur gefördert, entwickelte sich aber gerade dieser Ansatz in eine nationalistische und antisemitische Richtung. Der »Österreichische Touristenclub« – ihm gehörten 1922 ca. 27.000 Mitglieder an – nahm ab 1920 keine jüdischen Mitglieder mehr auf. Unter heftiger Agitation und Aufrufen seitens der Christlichsozialen, des »Antisemitenbundes«, der »Frontkämpfervereinigung«, der Nationalsozialisten unter Walter Riehl und anderer einschlägiger Organisationen beschloss am 29. April 1921 eine außerordentliche Hauptversammlung mit 3.056 gegen 784 Stimmen die Aufnahme des »Arierparagraphen« in die Statuten. Am 30.  April 1921 berichtete die »Neue Freie Presse« über diese Sitzung  : »›Politische Angelegenheiten sollen nicht in die Touristik hineingetragen werden. Einem Schieber werde sie die Berge nicht verleiden. Wir alten Mitglieder des Touristenvereines jüdischer Konfession wollen jedoch unbehindert und frei sein in dem herrlichen Dom der Natur. Mit jüdischem Geld sind die Hütten gebaut worden.‹ Bei diesen Worten entsteht neuerlich ein großer Tumult, Pfuirufe und schrille Pfiffe ertönen. Nicht weiterreden lassen  ! Abzug S…jud  !« »Die Wahrheit« (Unabhängige Zeitschrift für jüdische Interessen) bot Ende Juni 1921 ein Bild der Realität in den Fremdenverkehrsorten  : »Manchmal besitzen Wirte, Bauern und Krämer, die für gewöhnlich nicht über sehr helle Köpfe verfügen, ein besonders klares Auffassungsvermögen. Kaum hat der Österreichische Touristenclub die Judenreinheit auf seine unsauberen Fahnen geschrieben, wagen sich auch die gut christlichen Sommerfrischenunternehmer in der Wachau mit der Sprache heraus und verkünden öffentlich mittels Anschlag, was schon früher stillschweigend geübt wurde  : ›Der Aufenthalt wird nur Ariern bewilligt  !‹«3 Auch die Sektion »Austria« des Österreichischen Alpenvereins führte im selben Jahr den »Arierparagraphen« ein, nicht jedoch auf ersten Anhieb  : »Das schandbare Treiben der Juden in den alpinen Vereinen, vor allem ihre den Bergsteigersport schwer schädigende Ausnutzung der Hütten als Sommerfrische und Mastanstalt, haben dazu geführt, die großen alpinen Vereine judenrein zu gestalten«, berichtete das »Vorarlberger Tagblatt« im März 1921 anlässlich der gerade noch nicht durchgesetzten Einführung des »Arierparagraphen« in der Sektion »Austria«.4 Gerade diese Sektion war aber die Heimat des Großbürgertums. Fast alle bedeutenden Bergsteiger der 1880er und 1890er Jahre gehörten der »Austria« an, dies zeigt 3 Die Wahrheit, 23.6.1921, 7. 4 Vorarlberger Tagblatt, 2.3.1921, 2.

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die schwierige Situation des jüdischen Bürgertums ebenso wie die Begrenztheit der Anpassungs- und Akzeptanzmöglichkeiten. Die Taufe allein war nur beschränkt dazu geeignet, die Abstammung hinter sich zu lassen, denn in Vereinen kam man mit Menschen zusammen, die eine völlig andere Einstellung hatten und die durch die Agitation der Massenparteien aufgewiegelt wurden. In dieser Atmosphäre verwundert auch der Antisemitismus des Großbürgertums nicht weiter – die Sorge, dass die vor allem im Zuge des Ersten Weltkrieges nach Wien geflüchteten Juden aus dem Osten die mühsam aufgebaute Stellung, das noch immer nicht sehr stabile Gleichgewicht wieder zu Sturz bringen könnten, bewirkte, dass gerade dieses Bürgertum stark antisemitische Tendenzen entwickelte – weniger aus »rassischen« als aus sozialen Gründen. Diese Problematik thematisierte die »Wiener Morgenzeitung« bereits 1922  : »Aber wenn auch zuzugeben ist, daß der Älpler den Juden vielfach in der Gestalt des Schiebers kennen lernt, neben dessen lärmenden und protzigen Gehaben die stille Art des gebildeten Juden nicht zum Durchbruch kommt, so muß doch andererseits auch gesagt werden, daß der Kern der Abwehrbewegung trotz allem nackter, unverhüllter Rassenhaß ist.«5 Am 27. Oktober 1921 beschloss dann auch die Sektion »Austria«, Juden als Mitglieder nicht mehr zu akzeptieren. Hinter der umstrittenen Durchsetzung in den Statuten standen nationalistische Aktivisten um den Schönerer Biographen Eduard Pichl und den Nationalsozialisten Walter Riehl. Trotz heftiger Kritik der deutschen Alpinisten entfaltete sich kein Widerstand der anderen österreichischen Sektionen gegen den Ausschluss der Juden. Für die jüdischen Alpinisten stand nur mehr die Sektion »Donauland« offen. Die Stimmung gegen die Sektion »Donauland« heizte vor allem die Sektion »Austria« an, bei den jährlichen Sitzungen des deutschen und österreichischen Alpenvereins stellten sich stets die deutschen Sektionen gegen die Anträge der »Austria« und wiesen darauf hin, dass der Alpenverein keine politische Vereinigung sei, sondern sich einzig um alpine Belange annehme. Der Druck erhöhte sich jedoch immer mehr, und am 13.  Dezember 1924 wurde die Sektion »Donauland« aus dem deutschen und österreichischen Alpenverein ausgeschlossen mit der Begründung, dass sie die Mainzer Hütte erworben hätte sowie »daran sich knüpfende Verstöße […] gegen alpine Sitten und alpinen Anstand«, wie in der »Wiener Zeitung« zu lesen ist.6 Mehr als zwei Drittel der Abstimmungsberechtigten hatten für den Ausschluss gestimmt. Auffallend ist, dass in der Berichterstattung aller Tageszeitungen

5 Wiener Morgenzeitung, 2.9.1922, 4. 6 Wiener Zeitung, 15.12.1924, S. 3  ; vgl. Loewy/Milchram 2009  ; siehe auch Benz 2012, 16–20 mit weiterer Literatur.

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der wahre Grund nicht genannt wird und somit nicht sofort augenscheinlich ist, dass sich diese Maßnahme ausschließlich gegen Juden richtete. Die »Nachrichten der Sektion ›Donauland‹ des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins« thematisierten im Sommer 1924 einen Vorfall, der an die Herbergssuche einer andere jüdischen Familie erinnert  : »Ein älteres Ehepaar, beide über Fünfzig, mit seinem Sohn, Mitglied der Sektion Breslau und dem Äußeren nach Juden, kommt nach fünfzehnstündiger Wanderung um 8 Uhr abends auf die der Akademischen Sektion Wien gehörige Hofmannshütte am Glockner. Die Bitte um Unterkunft wird in rüdem Tone abgelehnt, den Einlaßheischenden der Vorschlag gemacht, den halbverfallenen, türlosen Pferdestall als Nachtquartier zu benützen. Später angekommene junge Touristen finden ohneweiters Unterkunft, der Dame, die diesbezüglich Vorstellungen erhebt, wird grob und unehrerbietig geantwortet. Nach zwei Stunden scheinen aber dem Hüttenwirt ob der eiseskalten Sturmnacht doch Bedenken aufgestiegen zu sein, er bietet den Dreien im Stalle Platz am Hüttentisch an. Die aber danken und ziehen das Biwak im Pferdestall dem Beisammensein mit der ›akademischen‹ Gesellschaft vor.«7

»Es war zum Schluß sehr hässlich in Mattsee« Arnold Schönberg und das Jahr 1921 Im Juni 1921 war Arnold Schönberg zusammen mit seiner Familie und einigen Schülern in die Sommerfrische nach Mattsee gereist. Berta Schönberg, die Frau seines Bruders Heinrich, besaß dort ein Haus und hatte die Familie ihres Schwagers eingeladen, den Sommer dort zu verbringen. Diese »Ansammlung« von angeblich jüdischen Sommergästen rief in Mattsee Unmut hervor, und es wurde auf radikale Art und Weise versucht, die Gäste loszuwerden. In einem öffentlichen Aufruf wurden die Vermieter aufgefordert, ihre Ferienwohnungen nicht an Juden zu vermieten  : »Die gefertigte Gemeindevertretung richtet daher an die gesamte Bevölkerung das dringende Ersuchen, dem Beschluß der freigewählten Gemeindevertretung willig Folge zu leisten, damit unserem schönen Orte Mattsee die Folgen einer etwaigen Verjudung, den Mietern und Vermietern Schikanen jeder Art durch die deutsch-arische Bevölkerung erspart bleibe.«8 Schon im Jahr zuvor hatte sich diese Entwicklung abgezeichnet, wie die zionistische »Wiener Morgenzeitung« im Juni 1920 berichtete  : »Die Gemeinde Mattsee hat 7 Nachrichten der Sektion »Donauland« des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins 1924, Nr. 39, 152.   8 Mattsee, 20.6.1921, zit. n. Salzburger Chronik, 5.7.1921, 2.

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Abb. 3: Nachrichten der Sektion »Donauland« des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins 1924.

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sich entschlossen, innerhalb ihrer Mauern nur Antisemiten zu dulden und setzt diesen Begriff gleich Nichtjuden. An den Häusern dieses Ortes prangt seit einigen Tagen eine mit dem Stempel der Gemeindevorstehung versehene Verordnung ›Betreffend die Vermietung der Wohnungen in der heurigen Saison‹, deren erster Punkt lautet  : ›1. Die Vermietung darf nur für Antisemiten (Nichtjuden) erfolgen, da für Juden der Aufenthalt nicht gestattet wird.‹«9 Ein weiterer Aufenthalt wurde für Schönberg, seine Familie und Freunde unerträglich. Zeitungsberichte hatten das ihrige dazu getan, die »Affäre« an die Öffentlichkeit zu tragen und die Wogen immer höher gehen zu lassen. Ende Juni 1921 berichtet die »Neue Freie Presse«, dass Schönberg aufgefordert worden wurde, zu beweisen, dass er kein Jude sei  : »Obwohl Schönberg nachweisen konnte, dass er Protestant ist, hat er sich entschlossen, den Ort Mattsee zu verlassen.« Und weiter blieb für die »Neue Freie Presse« die Frage offen, »ob die Bundesgesetze just in Mattsee im Salzburgischen in so ungenierter Weise außer Kraft gesetzt werden dürfen.«10 Am 14. Juli erfolgte die Übersiedlung nach Traunkirchen, Schönberg schrieb seinem Verleger Emil Hertzka  : »Liebster Freund, nun sind wir seit 14. hier. Es war zum Schluß sehr hässlich in Mattsee. Die Leute dort haben mich scheinbar so verachtet, wie wenn sie meine Noten kannten. Geschehen ist uns sonst nichts.«11

»Man will Juden nicht im österreichischen Alpenland« Hugo Bettauers »Stadt ohne Juden« (1922)

Der Ruf Mattsees als »judenfrei« wurde in der antisemitischen Presse mit Hugo Bettauers Buch »Stadt ohne Juden« in Zusammenhang gebracht. So schrieb der »Kikeriki« im August 1924  : »Die Sommerfrische Mattsee, die ist ein Ort ohne Juden  ; Die Leut’ an deren Platze nur Christen zu sich luden. Und sind mit dem Erlasse seit Jahren sehr zufrieden  ; Woraus die Wiener Stadt seh’  : Es geht auch ohne Juden. Was möglich ist in Mattsee, das wär’s auch in Wiens Mauern  ; Es würde keine Katze Bettauers Volk nachtrauern.«12

9 Wiener Morgenzeitung, 4.6.1920, 4. 10 Neue Freie Presse, 30.6.1921, 5. 11 WStLB, Brief Arnold Schönberg an Emil Hertzka, 16.7.1921, zit. n. Waitzbauer 2002, 167. 12 Kikeriki, 31.8.1924, 3.

Antisemitismus und Fremdenverkehr

1922 widmete Hugo Bettauer in seinem erschreckenden und visionären – oder vielleicht doch die realen Umstände abbildenden – Roman »Stadt ohne Juden« der Sommerfrische ein ganzes Kapitel. In der Umkehrung der tatsächlichen Situation der 1920er Jahre rütteln die (noch) hypothetischen Auswirkungen den Leser auf  : »Das ganze herrliche Salzkammergut, das Semmeringgebiet, sogar Tirol, soweit es einigen Komfort bot, waren von österreichischen, tschechoslowakischen und ungarischen Juden überflutet gewesen  ; in Ischl, Gmunden, Wolfgang, Gilgen, Strobl, am Attersee und in Aussee erregte es direkt Aufsehen, wenn Leute auftauchten, die im Verdacht standen, Arier zu sein. Die christliche Bevölkerung, zum Teil weniger im Überfluss schwelgend, zum Teil auch großen Geldausgaben konservativer gegenüberstehend, fühlte sich nicht ohne Unrecht verdrängt und musste mit den billigeren, aber auch weniger schönen Gegenden in Niederösterreich, Steiermark oder in entlegenen Tiroler Dörfern vorliebnehmen. Das war seit der Judenvertreibung anders geworden.«13

»Judenreinheit der Sommerfrischen«

Schon lange, bevor Bettauers Vision unter den Nationalsozialisten schreckliche Realität wurde, berichtete im Juni 1921 »Die Wahrheit« (Unabhängige Zeitschrift für jüdische Interessen) unter dem Titel »Judenreinheit der Sommerfrischen«  : »Die antisemitischen Blätter in Stadt und Land können sich nicht genug tun in der Verhetzung der Bauernschaft gegen Aufnahme von Juden. Besonders großer Anstrengung bedarf es nicht. Wer gerne tanzt, dem ist leicht gegeigt. Wir haben bereits eine recht stattliche Reihe von Sommerfrischen, deren eingeborene Bevölkerung zum judenreinen Programm schwört. Sie können sich’s ja leisten. Das österreichische Repertoirestück ist ›Der Bauer als Millionär‹ und der hat es nicht notwendig, auf ein paar lumpige Kronen aus der Judenhand zu warten. Das war einmal. Heute aber – ja Bauer, das ist was anderes  ! Und so machen die biederen Landsleute nicht aus der Not, sondern im Gegenteil, aus dem Reichtum eine Tugend der Judenreinheit. Nichtsdestoweniger verspritzen die Wiener Antisemitenblätter das Gift ihrer schändlichen Gesinnung.« Und weiter hieß es  : »Von den Gastwirten [in Kirchberg am Wagram, Anm. d. Verf.] hat ein einziger alle verlockenden Angebote der Juden zurückgewiesen und erklärt  : ›Von dem Gelde der Juden, an welchem das Blut und die Tränen deutscher Arbeiter und Bürger klebt, will ich nicht reich werden  !‹ So handelt ein Mann von echtem deutschen Volksempfinden.«14 13 Bettauer 1922, http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-stadt-ohne-juden-2107/19 (17.7.2017). 14 Judenreinheit der Sommerfrischen, 23.6.1921, in  : Die Wahrheit (Unabhängige Zeitschrift für jüdische Interessen) 6.

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Ein Jahr später zog die »Wiener Morgenzeitung« ein ernüchterndes Resümee der Sommerfrischen-Saison, das in einem Satz zusammengefasst lautet  : »Man will Juden nicht im österreichischen Alpenland.« Darauf folgt eine Zusammenfassung der Ereignisse des Sommers 1922  : »Plakate mit Schmähungen und Drohungen« fanden die Sommerfrischler ebenso vor wie Hotels, »verziert« mit Hakenkreuzen. Der Zutritt zu Schutzhütten wurde verwehrt, was die Zeitung zu dem Schluss brachte  : »So könnte man nun von den österreichischen Sommerfrischen sagen, es herrsche der Haß, gemildert durch Profitgier.« Die antisemitischen Aktionen richteten sich gegen inländische jüdische BesucherInnen, nicht jedoch gegen AusländerInnen, da diese die dringend benötigten Devisen ins Land brachten  : »Edelvaluta scheint eben an sich unzweifelhaftes Ariertum zu besitzen und davon genug auf ihren Eigentümer ausstrahlen zu können.«15 Unter dem Titel »Sommerfrischen!  – leer  !« berichtete »Der Morgen« Ende Juli 1925 über die katastrophale Situation des österreichischen Fremdenverkehrs und deren Ursachen  : »In Tirol sieht man den Fremden auch heute als lästigen Ausländer an, der sein Geld dazulassen und zu kuschen hat. Dazu kommt noch die unwidersprochene Verlautbarung der Tiroler Fremdenverkehrsverbände, daß jüdische Gäste in Tirol nicht gern gesehen werden  ! Ist es da ein Wunder, wenn einerseits die Nichthakenkreuzler lieber in die Schweizer Berge gehen, wenn man den politischen Bürgermeistern aus dem Wege geht, wenn man Länder aufsucht, wo der Gast Gast ist und nicht ein geduldetes Subjekt. Auch für die Sommerfrischen des Salzkammergutes gilt Ähnliches, auch dort gibt es Orte, die Hakenkreuze an den Ortseingängen aufpflanzen – wenn man durchaus Politik machen muß, dann muß man eben den Fremdenverkehr lassen und auf seine Erträgnisse verzichten. […] Da kann nur eines helfen  : radikale Unterdrückung aller politischen Geschichten in den Sommerfrischen und die Angleichung an europäische Umgangsweise  !«16 »Die Wahrheit« ging auf diesen Artikel ein und bereicherte ihn um eine weitere Facette  : »Vorige Woche hat das Wiener Montagsblatt ›Der Morgen‹ von dem schlechten Besuche der österreichischen Sommerfrischen gesprochen und die gerade katastrophalen Folgen geschildert, welche diese Erscheinung für alle am Fremdenverkehr interessierten Kreise nach sich ziehen muss. ›Der Morgen‹ hat auch die Ursachen für das fast vollständige Ausbleiben der Sommergäste in den österreichischen Kurorten eingehend besprochen, welche in den hohen Preisen, den schlechten hygienischen Zuständen und den sonstigen Schikanen, welchen die Fremden ausgesetzt sind, gesucht werden müssen und hat das in den österreichischen Alpenländern leider vorhandene 15 Wiener Morgenzeitung, 2.9.1922, 4. 16 Der Morgen, 27.7.1925, 7.

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Hakenkreuzunwesen als einen Hauptgrund dafür angeführt, dass zahlreiche österreichische Sommerfrischen leer stehen, während die italienischen und schweizerischen Erholungsstätten derart überfüllt sind, dass in vielen buchstäblich kein Bett aufzutreiben ist. Womit widerlegt nun die in Gmunden erscheinende ›Neueste Post‹ die Ausführungen des Wiener Montagsblatts, welches sind die Argumente der Zeitung, deren Redakteur der Gmundner Bürgermeister Dr. Thomas selbst ist  ? Die Antwort, welche dem Berichterstatter des ›Morgen‹ erteilt wird, lautet  : ›Judenbengel  !‹ So spricht der Bürgermeister eines Ortes, dessen Kurgäste zum größten Teil Juden sind.«17 Diese Berichterstattung zieht sich durch die Zeitungen über Jahre. Hinweise und Informationen über Orte, die gemieden werden sollen, werden regelmäßig publiziert und zeigen die Brisanz dieser Problematik. So findet sich in der Beilage zur »Central-Vereins-Zeitung« am 8. Mai 1931 der Hinweis, »Kurorte und Gasthäuser, deren Besuch unseren Freunden nicht anempfohlen werden kann  : Krems a. d. Donau  : Die Verwaltung der Stiftswälder untersagt den jüdischen Kurgästen das Betreten der Wälder. Schönberg am Kamp  : Im Jahre 1925 antisemitische Exzesse. St. Georgen im Attergau  : Der Gasthof ›Bauern-Löcker‹ inseriert  : Nur christliche Sommergäste erhalten Unterkunft. Schörfling  : Alle Wirte mit Ausnahme des Gasthofes ›Blaue Traube‹. Schladming  : versieht seine Prospekte mit dem Vermerk  : ›Juden nicht erwünscht‹. Weißensee/Kärnten  : Juden sind am Weißensee in sämtlichen Sommerfrischen ungebetene Gäste, da gemäß einem Beschluß der dortigen Fremdenverkehrsverbände die Sommerfrischen ›judenrein‹ zu sein wünschen. Zillertal  : gilt als teilweise antisemitisch  ; es dürfte sich empfehlen, jeweils zuvor Erkundigungen einzuziehen.«18

»Im übrigen sind Juden unerwünscht«   1938 – Enteignung und Vertreibung Die Sommermonate verbrachten die Städter in Dirndl und Trachtenanzug. Heute wird das vielfach als Verkleidung belächelt, doch gerade das jüdische Bürgertum trug die Tracht mit Stolz, fühlte es sich doch in besonderem Maße Österreich und der Habsburger-Monarchie verbunden. Man muss nur die vielen Fotos dieser Familien von Herzl bis Freud betrachten, um den Stellenwert dieser Kleidung als Zeichen der Integration zu erkennen – bis 1938. Im Sommer dieses Jahres ordnete die Salzburger Polizeidirektion an  : »Juden ist das öffentliche Tragen von alpenländischen Trachten

17 Die Wahrheit, 7.8.1925, 8. 18 Central-Vereins-Zeitung, 8.5.1931, 5.

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wie Lederhosen, Joppen, Dirndlkleidern, weißen Wadenstutzen usw. verboten.«19 Keine lebensbedrohende Maßnahme, doch ein bedeutendes Zeichen der Ausgrenzung und der Wegnahme eines integrierenden und selbstverständlichen Bestandteiles des Lebens. Nun zeigte sich das wahre Gesicht – die Enteignungen des jüdischen Besitzes wurden gerade im Salzkammergut mit erschreckender Akkuratesse und menschenverachtenden Methoden durchgeführt. Der Samen hierzu konnte nun in voller Blüte aufgehen. Circa 250 Villen wurden enteignet, davon allein in Bad Ischl 68, in Gmunden 25, in Bad Aussee und Alt Aussee 55.20 Auch der (etwaige) Aufenthalt jüdischer Kurgäste erhielt strikte Regeln. So verlautbarte die Kurkommission Bad Ischl im Juni 1938  : »Jüdische Kurgäste werden getrennt von den übrigen Kurgästen in jüdischen Hotels, Pensionen, Fremdenheimen etc. untergebracht. Voraussetzung ist dabei, dass in diesen Betrieben deutschblütiges weibliches Personal unter 45 Jahren nicht beschäftigt wird. Unterschiede zwischen aus- und inländischen Juden werden nicht gemacht. Der Kurgast hat die Tatsache, dass er Jude ist, mit der vorgeschriebenen Meldung bekanntzugeben. Jüdische Kurgäste erhalten eine gelbe Kurkarte, die wohl zur Benützung der Kurmittel, die Heilzwecken dienen, berechtigen, aber den Zutritt zu den Kurkonzerten und sonstigen Gemeinschafts-Veranstaltungen nicht gestatten. Auch auf der Esplanade dürfen sich während des Kurkonzerts keine Juden aufhalten, wie ihnen auch der Eintritt und Aufenthalt im Lese- und Musikzimmer des Kurhauses, der Kurhausrestauration, auf den Kinderspielplätzen, Tennis- und anderen Sportplätzen, sowie in der Schwimmschule und den übrigen Flussbädern untersagt ist. Jüdische Kurgäste werden ausnahmslos in die erste Klasse der Kurtaxe eingeteilt und genießen keine Ermäßigungen. Zuwiderhandelnde werden mit Geldbußen und Verbot des weiteren Aufenthalts im Kurrayon bestraft. Im übrigen sind Juden unerwünscht.«21

Sehnsucht nach Alt-Aussee Trotz dieser und vieler anderer Verletzungen waren die Sehnsucht und die intensive Erinnerung derjenigen, die den Todeslagern entkommen konnten und ein Leben als EmigrantInnen in der Ferne führten, immer wieder auf die selbst erlebte Sommerfrische, auf die frohe und unbeschwerte Zeit des Sommers, der Ferien und der Sonne 19 Zit. n. K ammerhofer 2002, 167. 20 Siehe Ellmauer 2004, 396. 21 Kurkommission Bad Ischl Juni 1938, Archiv der Stadt Bad Ischl.

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gerichtet. Friedrich Torberg beispielsweise schrieb 1942 im kalifornischen Exil Sehnsucht nach Alt-Aussee  : »Wieder ist es Sommer worden, dritter, vierter Sommer schon. Ist es Süden, ist es Norden wo ich von der Heimat wohn  ? Gelten noch die alten Strecken  ? Streben Gipfel in die Höh  ? Ruht im bergumhegten Becken noch der Altauseer See  ? Treibt’s mich heut zum See  ? Zur Klause  ? Treibt’s mich auf die Blaa-Alm hin  ? Wird’s beim Fischer eine Jause  ? Wird’s ein Gang zur Wasnerin  ? Ach, wo hat’s mich hingetrieben  ! Pötschen weiß ich, und Plateau. Aber welcher Hang ist drüben  ? Aber die Zyklamen – wo  ?«22

»… musste zurückgestellt werden …« – nach dem Krieg Nach dem Ende des Krieges änderte sich die seit Jahrzehnten prägende Geisteshaltung nicht – Rückstellungsakten legen davon ein beredtes Zeugnis ab. Zwei Beispiele sollen die anhaltende antisemitische Geisteshaltung deutlich machen. Ein »Akt der Großmut«  : Altmünster 1947

Margarete Bittner, geborene Cohn, besaß gemeinsam mit ihrem Mann Georg die Villa Altmünster Nr. 10. Georg Bittner war Journalist und prononciert legitimistisch eingestellt  ; nach seiner Emigration arbeitete er eng mit Otto Habsburg zusammen. Die Villa war bereits am 29. Juli 1938 von der Gestapo zu Gunsten des im Akt noch sogenannten »Landes Österreich« beschlagnahmt und eingezogen worden. Nach 22 Herz-Kestranek/K aiser/Strigl 2007, 479.

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langem bürokratischen Hin und Her zwischen verschiedenen nationalsozialistischen Organisationen wurde sie aufgrund eines vermeintlichen Kaufvertrages vom 11. August 1942 für die Gemeinde Altmünster einverleibt. Am 12. Dezember 1947 erhielt Margarete Bittner, die mittlerweile in New York lebte, die Villa ohne Einrichtung wieder zurück, aber nicht, ohne mit der Gemeinde Altmünster um die Rückstellung diskutieren zu müssen. Die Gemeinde strebte einen »Vergleich« an, was Margarete Bittner strikt ablehnte – die Argumentation der Gemeinde war unfassbar, schrieb sie doch, Margarete möge sich »durch einen Akt der Großmut ein dauerndes Andenken in den Herzen aller Gemeindeinsassen«23 sichern. Familie Kux und die Ischler Krankenschwestern

Paula Kux, geborene Wild, besaß eine Villa in der Bad Ischler Frauenstraße 10, die 1938 enteignet wurde und über einige Umwege 1944 in den Besitz des Landrates in Gmunden kam. Die Villa wurde vom Krankenhaus Bad Ischl als Schwesternwohnheim angemietet. Nach dem Ende des Krieges strebte Paulas Sohn Georg Viktor Kux die Rückstellung an, die nach langwierigen Korrespondenzen 1951 endlich auch gelang. Der Ton der nun folgenden Diskussionen, was denn mit den Krankenschwestern geschehen werde, beweist jedoch, dass das Denken, das so viele Jahrzehnte vorgeherrscht hatte, nach wie vor offen vorhanden war. So heißt es in einem Schreiben  : »Die gegenständliche Liegenschaft in Bad Ischl (Villa Kux) musste auf Grund des Teilerkenntnisses der Rückstellungskommission […] an Herrn Georg Viktor Kux zurückgestellt werden.«24 Die Verwendung des Wortes »musste« impliziert die Auffassung, dass diese Rückstellung als ungerechtfertigt angesehen wurde. Im selben Schreiben wird dem nun wieder rechtmäßigen Besitzer, der in Australien lebte, jedoch unterstellt, den Betrieb des Krankenhauses boykottieren zu wollen  : »Seit der Rückstellung der Villa Kux wird diese, da sich der Eigentümer weigert, einen Bestandvertrag mit dem Lande [Oberösterreich, Anm. d. Verf.] abzuschließen, ohne Rechtsgrundlage gegen monatliche Bezahlung einer Mietwertentschädigung benützt. Es besteht daher die latente Gefahr, dass das Land Oberösterreich zur Räumung des Hauses gezwungen wird, wodurch der Betrieb des Krankenhauses nicht nur erschwert, sondern – insbesondere während der Saison – lahmgelegt werden könnte. 23 Brief Margarethe Bittner, 1.10.1947, Rückstellungskommission beim Landesgericht Linz, RK 10/47, Oberösterreichisches Landesarchiv (OÖLA). Dank an Regina Wöhs-Thumser. 24 Rückstellungsakten 361/48 Viktor Kux Sch.1 Nr. 5, OÖLA, An die Abteilung Außenhandel, Entwurf, Linz, 10.10.1952. Ha – 954/23 – 1952. Finanzabteilung Rückstellungsakten 361/48 Viktor Kux Sch.1 Nr. 5.

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Um dieser Gefahr zu begegnen, wurde zwischen dem Land Oberösterreich und Herrn Georg Viktor Kux ein Kaufvertrag über die Liegenschaft abgeschlossen. Der Käufer fordert jedoch die Überweisung des Kaufpreises von 135.000 Schilling nach Melbourne in australischen oder britischen Pfunden oder in US-Dollars.«25 Kux besaß also auch noch die »Frechheit«, den Kaufpreis in der Währung seiner neuen Heimat zu fordern – eine Forderung, die zu dieser Zeit für die Österreichische Nationalbank tatsächlich ein großes Problem darstellte  : Devisen waren rar und konnten in diesem speziellen Fall zuerst nicht aufgetrieben werden, die Nationalbank lehnte die Zuteilung der erforderlichen ausländischen Zahlungsmittel vorerst ab. Erst 1956 konnte der Fall abgeschlossen werden.

Abbildungen Abb. 1  : Kikeriki, 14.7.1927, 3. Abb. 2  : Cover von Löhner-Beda, Fritz, Wie man sich trefft im Ampezzotal. Altes und Neues von Beda, Wien 1916. Abb. 3  : Nachrichten der Sektion »Donauland« des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins, Nr. 39, 1. Oktober 1924.

Literatur und gedruckte Quellen Benz, Wolfgang (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5  : Organisationen, Institutionen, Bewegungen, Berlin 2012. Central-Vereins-Zeitung 1931. Denscher, Barbara/Peschina, Helmut, Kein Land des Lächelns. Fritz Löhner-Beda 1883–1942, Salzburg 2002. Im deutschen Reich. Zeitschrift des Centralvereins deutscher Bürger jüdischen Glaubens 1914. Ellmauer, Daniela/John, Michael/Thumser, Regina (Hg.), »Arisierungen«, Beschlagnahmte Vermögen, Rückstellungen und Entschädigungen in Oberösterreich (= Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich, 17/1), Wien/München 2004. Herz-Kestranek, Miguel/Kaiser, Konstantin/Strigl, Daniela (Hg.), In welcher Sprache träumen Sie  ? Österreichische Exillyrik, Wien 2007. Kammerhofer-Aggermann, Ulrike, Dirndl, Lederhose und Sommerfrischenidylle, in  : Kriechbaumer, Robert (Hg.), Der Geschmack der Vergänglichkeit. Jüdische Sommerfrische in Salzburg, Wien 2002, 317–334. Kikeriki 1924, 1927. 25 Ebd.

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Loewy, Hanno/Milchram, Gerhard, (Hg.), »Hast Du meine Alpen gesehen  ?«. Eine jüdische Beziehungsgeschichte. Katalog zur Ausstellung des Jüdischen Museums Hohenems und des Jüdischen Museums Wien, Wien u. a. 2009. Löhner-Beda, Fritz, Wie man sich trefft im Ampezzotal. Altes und Neues von Beda, Wien 1916. Der Morgen 1925. Nachrichten der Sektion »Donauland« des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins 1924. Neue Freie Presse 1921. Salzburger Chronik 1921. Vorarlberger Tagblatt 1921. Die Wahrheit 1921, 1925. Waitzbauer, Heinrich, Arnold Schönberg ist in Mattsee unerwünscht, in  : Kriechbaumer, Robert (Hg.), Der Geschmack der Vergänglichkeit. Jüdische Sommerfrische in Salzburg, Wien 2002, 153–173. Wiener Morgenzeitung 1920, 1922. Wiener Allgemeine Zeitung 1927. Wiener Zeitung 1924.

Archivalische Quellen Archiv der Stadt Bad Ischl, Kurkommission Bad Ischl Juni 1938. Oberösterreichisches Landesarchiv (OÖLA)  : Rückstellungskommission beim Landesgericht Linz, RK 10/47. Finanzabteilung Rückstellungsakten 361/48 Viktor Kux Sch.1 Nr. 5.

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Antisemitismus am Beispiel der Spitzenbeamten

Einleitung Die Erscheinungsformen des Antisemitismus im Österreich der 1930er Jahre sind sehr unterschiedlich und quellenmäßig oft nur schwer zu erfassen. Dieser »versteckte Antisemitismus«,1 wie ihn Bruce Pauley in seiner grundlegenden Arbeit zur Geschichte des österreichischen Antisemitismus titelte, soll im Folgenden aufgespürt werden. Bereits Karl Stuhlpfarrer formulierte Ende der 1980er Jahre richtungsweisend zum österreichischen Antisemitismus  : »Die Politik der antisemitischen Kräfte war darauf gerichtet, die Juden in Österreich zu dissimilieren, sie mit Gewalt auch gegen ihren Willen auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet von der übrigen Bevölkerung abzusondern und ihnen jede Möglichkeit politischer Sozialisation als integrierender Teil des gesellschaftlichen und politischen Lebens der österreichischen Bevölkerung zu nehmen.« Und er kommt zu dem Schluss, »daß der Antisemitismus nicht durch das NS-Herrschaftssystem importiert wurde, sondern, daß er autochthonen österreichischen Charakter hatte.«2 An Hand der Berufssituation der Sektionschefs aller Ressorts, der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes und der Ministerialbeamten eines Einzelressorts (Justizministerium) wird diesem »autochthonen« und oft auch »versteckten« Antisemitismus in der Ausformung der 1930er Jahre nachgegangen.

Juden im öffentlichen Dienst Juden unterlagen jahrhundertelang einer Ausnahmegesetzgebung, die unter anderem eine wirtschaftliche und berufliche Diskriminierung zum Ziel hatte. Sie waren nur in einigen Berufen überrepräsentiert, in vielen aber unterrepräsentiert – dazu gehörte der öffentliche Dienst.3 Legt man den Fokus auf die 1930er Jahre, waren ihnen 1 Pauley 1993, 326–333. 2 Stuhlpfarrer 1988, 141f. 3 Pauley 2002, 244f.

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viele Posten verschlossen. In der Forschung ist diese Diskriminierung für die Wissenschaft und den Hochschulbereich besonders gut nachgewiesen.4 In den Schulen zeigt sich, dass es keine jüdischen Schuldirektoren gab und Juden unter den Volksund Mittelschullehrern unterpräsentiert waren. Von 5.000 Wiener Lehrpersonen waren in den 1930er Jahren nur 180 Juden.5 Es gab nur wenige Juden unter den Richtern6 und Offizieren,7 doch stehen für diese Berufsgruppen noch Forschungen aus. Bruce Pauley führt an, dass seit Errichtung der Republik in Österreich »kein Jude je zum Richter ernannt« wurde, »während es vor dem Krieg alleine in Wien 13 jüdische Richter gegeben hatte.«8 Für die Beamten insgesamt führt Pauley an, dass 1935 Österreich 160.692 Beamte beschäftigte, wovon 682 – also 0,28 Prozent – Juden waren.9 Dabei stellt sich allerdings die Frage, wer als Jude erfaßt wurde. Pauley widmet zwar ein Unterkapitel den Konversionen, Mischehen und dem allmählichen Verlust jüdischer Identität,10 doch gibt es bei den angeführten Zahlen und Prozentangaben keine weitere Erklärung. Auf Grund des von ihm ausgewiesenen geringen Anteils von Juden ist davon auszugehen, dass dies die Zahlen jener Juden sind, die sich zur jüdischen Religionsgemeinschaft bekannten. Für die Studien zu den Sektionschefs, Diplomaten und Ministerialbeamten des Justizministeriums wurde unterschieden zwischen jenen, die sich zur jüdischen Religionsgemeinschaft bekannten und jenen, die assimiliert waren und/oder sich zu anderen Religionsgemeinschaften – meist römisch-katholisch oder evangelisch – bekannten, die aber von Antisemiten und von den Rassengesetzen des nationalsozialistischen Regimes weiter als Juden eingestuft wurden.11 Nach jahrelangen Forschungen zu Verwaltungsstrukturen und zu österreichischen Spitzenbeamten der Ersten und Zweiten Republik können zumindest für die kleine Gruppe von Spitzenbeamten Angaben zu Zusammenhängen zwischen Religion und Karriere gemacht werden.

  4 Siehe die Beiträge zu den Universitäten in diesem Band.  5 Pauley 1993, 331  ; siehe auch den Beitrag von Stefan Spevak in diesem Band.   6 Als Beispiel sei hier Heinrich Klang angeführt. Den Hinweis verdanke ich Peter Melichar.   7 Als Beispiel sei hier General Karl Schwarz angeführt. Den Hinweis verdanke ich Gerhard Artl, vgl. dazu auch den Beitrag von Erwin Schmidl in diesem Band.  8 Pauley 1993, 269  ; siehe dazu den Beitrag von Ursula Schwarz in diesem Band.  9 Pauley 1993, 269. 10 Ebd., 94–97. 11 Zur Fragestellung Wer ist Jude  ? vgl. Knütter 1971, 16–21  ; siehe auch den Beitrag von Peter Melichar zum Zählen von Juden in diesem Band.

Antisemitismus am Beispiel der Spitzenbeamten

Sektionschefs Der Anteil der Sektionschefs mit jüdischem Glaubensbekenntnis war gering.12 Eine Auswertung der Religionszugehörigkeit aller Sektionschefs am Ende der Monarchie, während der Ersten Republik sowie im Jahr 1945 hat ergeben, dass von 304 erfassten Spitzenbeamten auf Grund der bisher vorhandenen Quellen nur sieben jüdische Wurzeln hatten.13 Lediglich zwei davon bekannten sich zum jüdischen Glauben, Richard Schüller und Hermann Schwarzwald. Von Richard Schüller heißt es, dass er die Taufe, die in der Monarchie unterschwellig als Voraussetzung für eine glänzende Karriere gefordert worden war,14 abgelehnt hatte, obwohl man ihm sagte, dass der Kaiser keinen Juden zum Sektionschef ernenne.15 Zwei Sektionschefs, Emil Kralowsky und Karl Pollak, waren zum katholischen Glauben konvertiert, drei, Robert Hecht, Siegmund Solvis und Oskar Wollheim, zum evangelischen Glauben. Bei Karl Pollak findet sich der Hinweis, dass er am 29.  Juli 1893 römisch-katholisch getauft worden war. Genaue Angaben zu Konversionen sind aber überaus selten.16 Die geringe Anzahl von Sektionschefs mit jüdischem Glaubensbekenntnis zeigt, dass das von den Nationalsozialisten propagierte Schlagwort von der »verjudeten Beamtenschaft« sicher nicht zutraf.17 Betrachtet man die sieben Einzelkarrieren, so waren zwei davon – Robert Hecht und Richard Schüller – sicher Ausnahmefälle mit glänzenden Karrieren, wobei ihre überragende fachliche Qualifikation den Ausschlag gegeben hatte. Robert Hecht, 1881 geboren, kam 1917 als Richter in das Heeresministerium und wurde 1922  – nach acht Jahren – zum Sektionschef ernannt.18 Richard Schüller, 1870 geboren, kam 1898 in das Handelsministerium, wo er 1919 zum Sektionschef ernannt wurde.19 Die durchschnittliche Dauer vom Eintritt in ein Ministerium bis zur Ernennung zum Sektionschef betrug in beiden Ressorts 28,6 Jahre.20 Es kann angenommen werden, dass bei gleicher oder mittlerer Qualifikation die Spitzenpositionen in der Verwaltung für Beamte mit jüdischem Bekenntnis ver12 In die Auswertung wurden nur jene Sektionschefs aufgenommen, deren bestehende oder ehemalige Zugehörigkeit zur jüdischen Glaubensgemeinde aktenkundig ist. 13 Enderle-Burcel/Follner 1997, 504. 14 Goldinger 1981, 322. 15 K ann 1974, 405. 16 Alle Kurzbiographien vgl. Enderle-Burcel/Follner 1997. 17 Pauley geht für das Jahr 1934 von 160.696 Beamten aus, unter denen sich lediglich 700 Juden befanden, vgl. Pauley 2002, 244. 18 Details vgl. Enderle-Burcel/Follner 1997, 163–165. 19 Details vgl. ebd., 423–425. 20 Ebd., 520.

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schlossen waren. Selbst bei den zwei Ausnahmefällen Hecht und Schüller lassen sich Hinweise auf Positionen finden, die sie auf Grund ihres Judentums nicht erreichen konnten. Robert Hecht blieb trotz seiner außergewöhnlichen Karriere der Titel Gouverneur als Leiter des Postsparkassenamtes verschlossen. Obwohl er am 20.  Oktober 1936 Leiter geworden war, blieb er nominell Vizegouverneur. Kurt Schuschnigg schrieb dazu in einem Brief im Mai 1967 an den Verfasser der Hecht-Biographie Peter Huemer  : »Wenn Dr. Hecht formal nicht den Gouverneurs-Titel erhielt, war dies wahrscheinlich in den Zeitumständen begründet.« Huemer interpretierte diese Formulierung dahingehend, dass Hecht den Gouverneurstitel nicht erhielt, weil er Jude war und die Regierung die Antisemiten nicht reizen wollte.21 Allerdings wurde Hecht, der als juristischer Berater von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß galt, bis 1938 zu allen wichtigen Gesetzesvorhaben hinzugezogen.22 Richard Schüller, der ebenfalls eine außergewöhnliche Karriere aufweist, kam auf Initiative Victor Adlers vom Handelsministerium ins Staatsamt für Äußeres. Ihm wurde ein überaus enges Verhältnis zu Otto Bauer nachgesagt. Dieser sah in ihm sogar einen geeigneten Nachfolger im Amt des Außenministers. Bauer schrieb dazu allerdings am 13. Juli 1919 an Karl Renner  : »Daß mir aber Schüller und Eisler / als Nachfolger für die Sozialisierung  / folgen, wäre wegen des Judenpunktes unmöglich.«23 Zu dieser Zeit hatte sich die Staatskanzlei immer wieder mit antisemitischen Forderungen auseinanderzusetzen. Bei einer »objektiven Stellenbesetzung« sollten »die vertriebenen deutschen Brüder« berücksichtigt werden. In einem Antrag des Präsidiums der Salzburger Landesregierung hieß es, dass es einer demokratischen Volksregierung unwürdig sei, das Judentum im Staatswesen zu bevorzugen und wichtige »Stellen des inneren und äußeren Dienstes seitens des Staatsrates […] mit Angehörigen des semitischen Volksstammes zu besetzen.«24 Das Beispiel gibt einen Eindruck von den antisemitischen Strömungen im öffentlichen Dienst am Beginn der Republik. 21 Huemer 1975, 331. 22 Vgl. dazu den Nachlass Robert Hecht in der Österreichischen Postsparkassa, der weitgehend unbearbeitet ist. 23 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Neues Politisches Archiv (NPA), Präsidium Kt. 233, fol. 668f. Im Bestand Präsidium enthalten die Kt. 233 und 234 Materialien von Otto Bauer  ; vgl. weiters Nautz 1990, 14. Mit Eisler ist allerdings nicht Arnold Eisler gemeint – wie bei Nautz angeführt  – sondern viel wahrscheinlicher Armand Eisler (1880–1957), Sozialdemokrat, Rechtsanwalt, u. a. juristischer Berater der Sozialisierungskommission  ; eine Kurzbiographie vgl. Enderle-Burcel 2008, 338  ; vgl. biographische Details Arbeiter-Zeitung, 12.5.1950, 3 »Dr. Armand Eisler siebzig Jahre«  ; Arbeiter-Zeitung, 6.5.1955, 4, »Dr. Armand Eisler 75 Jahre«. 24 Vgl. dazu und weitere Beispiele Megner 1985, 11.

Antisemitismus am Beispiel der Spitzenbeamten

Schüller schrieb zum Angebot des Außenministeramtes in seinen Erinnerungen, dass er die Aufgabe abgelehnt hätte. Er sei »immer ein Beamter und kein Politiker gewesen«. Trotz seines Naheverhältnisses zu Karl Renner und Otto Bauer sei er auch nie ein »Sozi« gewesen.25 Der »Judenpunkt« und das Naheverhältnis zu den Sozialdemokraten waren aber kein Hindernis dafür, dass Schüller bis 1938 ein unentbehrlicher Berater von allen weiteren Bundeskanzlern in sämtlichen wirtschafts- und handelspolitischen Fragen blieb. Beide Beamte – Hecht und Schüller – stellen allerdings ausgesprochene Ausnah­men in der Beamtenschaft dar. So ähnlich ihre glänzenden Karrieren und ihre durchgehende Beratertätigkeit waren, so unterschiedlich verlief ihr weiteres Schicksal. Hecht wurde am Nachmittag des 12. März 1938 aus seiner Wohnung verschleppt und blieb bis 1. April 1938 inhaftiert. An diesem Tag wurde er im ersten Österreichertransport nach Dachau deportiert. Sein Todestag wird mit 30.  Mai 1938 angenommen. Ein Selbstmord  – infolge der persönlichen »Quälereien und Erniedrigungen« ist wahrscheinlich.26 Schüller, politisch nicht so exponiert wie Hecht, war 1938 bereits 68 Jahre alt. Im Personalakt steht dazu  : »Über Dr. Richard Schüller wurde weder in krimineller noch politischer Hinsicht Nachteiliges bekannt. Wegen seines hohen Alters kommt eine Unterbringung in ein K.Z. nicht in Frage. Gegen die Erteilung der Ausreisebewilligung bestehen von hier keine Bedenken, wenn Dr. Schüller das Reichsgebiet für ständig verlässt.«27 Schüller entschied sich dennoch für eine Flucht über die Ötztaler Alpen nach Italien, wo der Präfekt von Bozen aus Rom ein Telegramm erhielt  : »L’amico Schuller e benvenuto  – Mussolini.«28 Trotz freundlicher Aufnahme in Italien reiste Schüller noch 1938 über Paris nach London. Von 1940 bis 1952 war er Professor für Nationalökonomie an der New School for Social Research in New York. 1972 starb er in Georgetown.29 Die fünf weiteren Sektionschefs mit jüdischem Wurzeln weisen absolut durchschnittliche Karrieren auf und wurden in den Jahren 1919 bis 1925 pensioniert. Emil Kralowsky, geboren 1868, ab 1919 als Leiter der politischen Sektion im Heeresministerium für zwischenstaatliche Verhandlungen mit den Arbeiter- und Soldatenräten

25 Nautz 1990, 14. 26 Huemer 1975, 333. 27 ÖStA, Bundeskanzleramt/Auswärtige Angelegenheiten, Neue Administrative Registratur, Fach 4, Personalakt Richard Schüller. Längere Zitate aus dem Personalakt vgl. Nautz (1990), 178. 28 Zur Darstellung der Flucht durch Schüller vgl. Nautz 1990, 180f. 29 Enderle-Burcel/Follner 1997, 423–425.

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verantwortlich, wurde bereits 1923 pensioniert und starb – durch die Ehe mit einer Nichtjüdin30 vor lebensbedrohender Verfolgung geschützt – 1941 in Wien.31 Karl Pollak, 1921 bis 1924 Leiter der Sektion für Bank- und Börsewesen, wurde im Februar 1924 pensioniert. Sein hohes Alter – er war Geburtsjahrgang 1863 – schützte ihn nicht vor der Deportation nach Theresienstadt, wo er im August 1942 starb.32 Hermann Schwarzwald, 1871 geboren, 1919 bis 1924 Leiter der Kredit- und Währungssektion im Finanzministerium, war nach seiner Pensionierung Verwaltungsrat in mehreren bedeutenden Aktiengesellschaften. Verheiratet mit der Pädagogin und Sozialreformerin Eugenie Schwarzwald folgte er seiner Frau, die 1938 von einer Vortragreise in Dänemark nicht mehr nach Österreich zurückkehrte, in die Schweiz ins Exil. Er starb im August 1939 in Zürich.33 Auch Siegmund Solvis, 1861 geboren, hatte nach seiner im Jänner 1919 erfolgten Pensionierung zahlreiche Wirtschaftsfunktionen in Aktiengesellschaften inne. Durch eine Ehe mit einer Nichtjüdin vor lebensbedrohender Verfolgung geschützt, konnte er 1938 bis 1945 weiter in seiner Wohnung in Wien leben. Aus den Akten der Vermögensverkehrsstelle geht hervor, dass er ein Ansuchen um Zuerkennung der Reichsbürgerschaft gestellt hatte, über dessen Verbleib oder Erledigung den Akten allerdings nichts zu entnehmen ist.34 Er starb am 9. Oktober 1959 in Wien.35 Oskar Heinrich Wollheim, 1868 geboren, 1923 bis 1925 Leiter der Gebührensektion, emigrierte im Oktober 1941 nach Kuba.36 Alle fünf waren nur am Beginn der Republik bzw. bis in die Mitte der 1920er Jahre aktiv. Der einzige jüngere unter ihnen  – Hermann Schwarzwald  – hatte seinen Übertritt vom hohen Staatsbeamten in die Privatwirtschaft aus Eigenem vollzog. Er gehörte damit zu einer ganzen Gruppe von Beamten, deren Wechsel in der Öffentlichkeit auf Kritik stieß. Am schärfsten wurde diese Erscheinung bei der Kreditsektion des Finanzministeriums verurteilt, wo einige leitende Beamte, die wichtige Überwachungstätigkeiten in den Bankinstituten versehen hatten, gerade in die von ihnen kontrollierten Unternehmungen wechselten.37

30 ÖStA, AdR, Vermögensverkehrsstelle Zl. 1.804. 31 Enderle-Burcel/Follner 1997, 246f. 32 Ebd., 357f. 33 Ebd., 428–430. 34 ÖStA, AdR, Vermögensverkehrsstelle Zl. 41.695. 35 Enderle-Burcel/Follner 1997, 437–439. 36 Ebd., 491f. 37 Vgl. dazu etwa Arbeiter-Zeitung, 17.11.1920, 4, »Staatsbeamte in Privatbetrieben«, vgl. weiters Enderle-Burcel 1985, 15f.

Antisemitismus am Beispiel der Spitzenbeamten

Bei den weiteren Ernennungen rückten keine Juden mehr in den Rang von Sektionschefs nach. In den 1930er Jahren ging es auch nicht mehr um Karrierefragen. Ein Fund Peter Melichars im Nachlass Otto Ender, der sich im Vorarlberger Landesarchiv befindet, lässt den Schluss zu, dass unter Bundeskanzler Dollfuß Juden in der öffentlichen Verwaltung überhaupt nicht mehr angestellt wurden. So konkrete Hinweise auf informelle Vereinbarungen – wie in der Korrespondenz von Otto Ender gefunden – sind allerdings selten.38

Diplomaten Für eine Forschungsarbeit – gemeinsam mit Rudolf Agstner vom Außenministerium und Michaela Follner, die viele Jahre die außenpolitischen Bestände im Österreichischen Staatsarchiv betreut hatte  – wurden 183 Einzelbiographien von Beamten des Höheren Auswärtigen Dienstes für die Jahre 1918 bis 1938 sowie für 1945 bis 1959 erstellt und einer kollektivbiographischen Auswertung unterzogen.39 Die Biographien umfassen alle Sektionschefs und Abteilungsleiter der Zentralbehörde, alle Leiter von Botschaften und Gesandtschaften sowie die Leiter von Generalkonsulaten. Die Forschungslage war durch Vorarbeiten von Oliver Rathkolb, durch die Materialien der Österreichischen Gesellschaft für historische Quellenstudien, durch die Sammlung von Gesandten Rudolf Agstner und die Hilfe einer erfahrenen Archivarin um vieles besser als bei den Recherchen für die Biographien der Sektionschefs. Bei einem Vergleich der Karriereverläufe zwischen den Sektionschefs und den Beamten des Höheren Auswärtigen Dienstes zeigen sich interessante Unterschiede. Unter den 76 Spitzendiplomaten der Ersten Republik befanden sich insgesamt elf mit jüdischen Wurzeln – also deutlich mehr als unter den Sektionschefs. Drei bekannten sich zum mosaischen Glauben  – Ludo Moritz Hartmann, Otto Pohl und Richard Schüller. Hartmann  – deutschnational, antiklerikal und Mitglied der Sozialdemokratischen Partei – exponierte sich als a.o. Gesandter und bevollmächtigter Minister in Berlin in den Jahren 1918 bis 1921 für einen Anschluss an ein sozialistisches und republikanisches Deutschland.40 Pohl, auch Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, war von 1924 bis 1927 a.o. Gesandter und bev. Minister in Moskau. Er wurde

38 Vgl. dazu den Beitrag zu Otto Ender von Peter Melichar in diesem Band. 39 Agstner/Enderle-Burcel/Follner 2009. 40 Ebd., 230–232.

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auf Betreiben konservativer Kreise unter der Regierung Seipel 1927 in den dauernden Ruhestand versetzt und mit Disziplinarverfahren verfolgt.41 Schüller – Sektionschef und mit 1918 als Leiter der Handelspolitischen Sektion in das Außenministerium übernommen, war 1933 bis 1938 u. a. auch als a.o. Gesandter und bevollmächtigter Minister beim Generalsekretariat des Völkerbundes tätig. Hartmann, Pohl und Schüller weisen keine klassische Diplomatenkarriere auf. Bei Hartmann und Pohl waren politische Motive für ihre Verwendung auf Gesandtenposten ausschlaggebend, bei Schüller sein Fachwissen auf dem Gebiet der Handelspolitik. Sieht man von diesen drei ab, die sich durch Selbstzuschreibung zum Judentum bekannten, gab es noch weitere acht Diplomaten, deren jüdische Identität 1938 von außen zugeschrieben wurde. Bei allen acht  – Ludwig Blaas, Rudolf Blühdorn, Karl Ludwig Braunias, Karl Buchberger, Emmerich Herzfeld, Max Hoffinger, Albin Lennkh und Paul Winterstein – findet sich in den Personalakten unter Religion »römisch-katholisch«.42 1938 wurden sie von ihrem Judentum eingeholt. Sie wurden gemäß § 3 der Berufsbeamtenverordnung von 1938 aus rassistischen Gründen vom Dienst entfernt.43 Für sie galt, wie Hannah Arendt es in ihrem Buch über Rahel Varnhagen formulierte  : »Aus dem Judentum kommt man nicht heraus.«44 Die Karriereverläufe dieser acht Beamten zeigen aber ein anderes Bild als bei den Sektionschefs. Drei von ihnen – Buchberger, Herzfeld und Hoffinger – erlangten Spitzenpositionen. Hoffinger, Jahrgang 1884, wurde bereits 1919 zum a.o. Gesandten und bev. Minister ernannt, Buchberger, Jahrgang 1887, 1933 und Herzfeld, Jahrgang 1880, 1934. Die Ernennungen in den 1930er Jahren waren durchaus bemerkenswert, da die Jahre 1933 bis 1938 von einer stärkeren Verquickung von Diplomatie und Politik gekennzeichnet und die leitenden Positionen knapp waren. Im »Ständestaat« kam es mehrfach zur Besetzung von Auslandsposten mit »innenpolitisch unerwünschten Persönlichkeiten«45 wie Anton Rintelen, Richard Steidle, Eduard Baar-Barenfels, Egon Berger-Waldenegg und Odo Neustädter-Stürmer.46 Die übrigen fünf Diplomaten mit jüdischen Wurzeln erreichten zwar die höchsten Positionen erst in der Zweiten Republik, als man »damals bewusst politisch unbelas41 Ebd., 367f. 42 Details zu den Biographien vgl. ebd. 43 GBl. Land Österreich 160/1938, Kundmachung des Herrn Reichstatthalters in Österreich, wodurch die Verordnung zur Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums vom 31.5.1938 bekanntgemacht wird. 44 Arendt 1959, 201. 45 Stimmer 1997, 880. 46 Enderle-Burcel 2009, 34.

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tete, im Ausland herzeigbare Mitarbeiter«47 suchte, doch zeigen ihre Karriereverläufe in den 1930er Jahren doch einige Besonderheiten, die nicht auf antisemitische Diskriminierungen hinweisen. So wurde Ludwig Blaas, Jahrgang 1884, im Oktober 1934 zum Vorstand des Kabinetts von Bundesminister Egon Berger-Waldenegg und im Juni 1937 zum Vorstand des Kabinetts von Staatssekretär Guido Schmidt unter Verleihung des Titels eines a.o. Gesandten und bev. Ministers ernannt. Blaas galt als Legitimist und wurde in einem Bericht des deutschen Botschafters in London an das Auswärtige Amt aus dem Jahre 1937 »als dem nationalsozialistischen Deutschland fernstehend« beschrieben.48 Rudolf Blühdorn, Jahrgang 1887, wurde 1931 zum Sektionsrat ernannt, habili­ tierte sich 1934 als Privatdozent für Völkerrecht an der Universität Wien, hielt 1937/38 auch Vorlesungen an der Konsularakademie und wurde im Juli 1937 zum Ministerialrat ernannt.49 Albin Lennkh, Jahrgang 1905, trat 1930 in den Auswärtigen Dienst im Bundeskanzleramt. Im August erfolgte seine Zuteilung zum Büro von Staatssekretär Guido Schmidt.50 Paul Winterstein, Jahrgang 1887, wurde 1936 mit der Leitung der Personalabteilung im Bundeskanzleramt/Auswärtige Angelegenheiten betraut.51 Die Bandbreite an möglichen Karrieren war groß wie etwa der Karriereverlauf von Karl Ludwig Braunias, Jahrgang 1899, zeigt. Er stellt in mehrfacher Hinsicht eine Besonderheit dar. Braunias trat 1927 in den Staatsdienst ein und wurde in der Chiffreabteilung des Auswärtigen Dienstes im Bundeskanzleramt verwendet. Von 1933 bis 1938 lehrte er zudem als Privatdozent an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Vom März 1938 bis März 1939 war er Konsularreferent beim Amt des Reichsstatthalters. Im April 1939 erfolgte seine Einberufung in den Deutschen Auswärtigen Dienst bzw. seine Zuteilung zum Vertreter des Auswärtigen Amtes beim Reichsprotektorat in Böhmen und Mähren in Prag. Er gehörte einer Untersuchungskommission für das Archiv des ehemaligen Außenministeriums in Prag an. Von Oktober 1939 bis September 1942 war er im Chiffrier- und Nachrichtenwesen im Auswärtigen Amt in Berlin tätig. Vom September 1942 bis Dezember 1943 war er dem Reichsarchiv in Wien als Vertreter des Auswärtigen Amtes bei der Kom-

47 Weich 2002, 67. 48 Zur Kurzbiographie vgl. Agstner/Enderle-Burcel/Follner 2009, 136–137. 49 Zur Kurzbiographie vgl. ebd., 138f. 50 Zur Kurzbiographie vgl. ebd., 306–308. 51 Zur Kurzbiographie vgl. ebd., 480–482.

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mission zur Herausgabe einer Publikation über die Vorgeschichte des Weltkrieges anhand der erbeuteten serbischen Akten zugeteilt. Seine Versetzung in den Ruhestand erfolgte in zwei Schritten. Im März 1941 wurde er zunächst in den einstweiligen Ruhestand versetzt, jedoch weiterverwendet. Erst im Oktober 1944 erfolgte seine Versetzung in den dauernden Ruhestand aus rassistischen Gründen gemäß §  3 der Berufsbeamtenverordnung. Braunias war ab 1. Mai 1938 Mitglied der NSDAP mit der Mitgliedsnummer 6.136.082. In seinem Gauakt finden sich Hinweise, dass er sich während der »Illegalität« – also nach dem Verbot der NSDAP in Österreich am 19. Juni 193352 – im NS-Sinn betätigt hatte. Er übermittelte u. a. nach Angaben Otto Gustav Wächters dienstliche Nachrichten an die illegale Landesleitung der NSDAP. Er war 1934 auch einer der Begründer der »Gesellschaft für Rechtswissenschaften«, eine getarnte Organisation von nationalsozialistischen Juristen.53 Im April 1945 trat er wieder in das Bundeskanzleramt/Auswärtige Angelegenheiten ein und gab im Jänner 1946 in einem Fragebogen des Figl-Ministerkomitees54 die Verfolgung seiner nächsten Verwandten aus rassistischen Gründen an. Weitere Karriereschritte waren seine Ernennung zum a.o. Gesandten und bev. Minister im März 1951, seine Tätigkeit als a.o. Gesandter und bevollmächtigter Minister in Budapest vom März 1955 bis März 1956. Danach wurde er Leiter der Abteilung Kultur und 1957 bis 1963 Direktor des Internationalen Diplomatenseminars in Kleßheim bei Salzburg.55 Diese außergewöhnliche Karriere zeigt, dass in einem absoluten Einzelfall die jüdische Herkunft eine NSDAP-Mitgliedschaft nicht hinderte und diese Mitgliedschaft wieder eine Karriere in der Zweiten Republik nicht hemmte. Bei allen Beamten ist davon auszugehen, dass das Wissen um ihre jüdischen Wurzeln bekannt war. Selbst bei den Arbeiten an den Sektionschefs-Biographien in den 1990er Jahren wurden von Nachkommen Hinweise auf jüdische Abstammung einzelner Beamte gegeben. Die Ernennungen zu Leitern von Gesandtschaften, die Tätigkeiten in den Ministerbüros, die Lehrtätigkeit an der Konsular-Akademie und die 52 BGBl. 240/1933. 53 Zur Kurzbiographie vgl. Agstner/Enderle-Bucel/Follner 2009, 145  ; ÖStA, AdR, Bundesministerium für Inneres, Gauakt Nr. 12.440 Karl Braunias. 54 Die nur schleppend vorangehenden Überprüfungen wurden von den Alliierten kritisiert und führten Anfang Februar 1946 zur Schaffung eines »Ministerkomitees zur Entnazifizierung der leitenden Stellen von Beamtenschaft und Wirtschaft«, das sogenannte Figl-Komitee. Dazu gibt es im ÖStA, AdR, Bundeskanzleramt einen eigenen Bestand Ministerkomitee, in dem sich der Fragebogen befindet. 55 Die gesammelten Materialien zu den Biographien aller Diplomaten liegen im AdR, Bestand Österreichische Gesellschaft für historische Quellenstudien, Diplomaten.

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Leitung von Personalagenden zeigen für den diplomatischen Dienst aber eine Durchlässigkeit und gute Aufstiegschancen, die bei den Sektionschefs der übrigen Ressorts nicht festzustellen ist. Die Karriereverläufe der jüdischen Diplomaten  – ob durch Selbst- oder Fremdzuschreibung so zu bezeichnen  – zeigen insgesamt keine Anzeichen für eine »Arisierung« des Außendienstes vor 1938 unter Guido Schmidt, wie es Oliver Rathkolb in einem frühen Forschungsstadium andeutete.56

Das Justizministerium Während bei den Sektionschefs und den Spitzendiplomaten die Beamten der obersten Klassen/Ränge im Mittelpunkt der Forschungen standen, muss beim Justizministerium die Gesamtheit der Ministerialbeamten betrachtet werden, da in diesem Ressort nur ein einziger Beamter 1938 aus rassistischen Gründen vom Dienst entfernt wurde. Unter den 1938 im Amtskalender im Justizministerium angeführten 36 Ministerialbeamten gab es lediglich einen »rassisch« Verfolgten, Viktor Hoyer, und einen politisch Verfolgten, Josef Gerö.57 Bei Viktor Hoyer, geboren 1905, findet sich in seinen Personalakten unter Religion römisch-katholisch. Nach seiner Promotion 1929 war er in unterschiedlichsten Gerichten tätig und wurde im Juni 1932 zum Richter ernannt. Im November 1935 fand seine Zuteilung zum Bundesministerium für Justiz statt. Im Jänner 1937 erfolgte seine Ernennung zum Staatsanwalt. Mit 30. September 1938 wurde er gemäß § 3 der Berufsbeamtenverordnung aus rassistischen Gründen in den Ruhestand versetzt. Bei seiner Einberufung zur Dienstleistung ins Staatsamt für Justiz im Mai 1945 schrieb er in seinem Lebenslauf  : »Von politischer Betätigung habe ich mich stets fern gehalten, wobei insbesondere die Tatsache maßgebend war, dass ich wegen meiner Abstammung von einer Mitgliedschaft bei nationalen und auch bei vielen katholischen Vereinigungen, insbesondere auch Studentenverbindungen, ausgeschlossen war, mit anderen politischen Richtungen aber keinerlei innere oder

56 R athkolb 1986/87, 36. 57 Josef Gerö, 1896 geboren, 1921 Eintritt in den Gerichtsdienst, 1927 bis 1929 Staatsanwalt in Wiener Neustadt, 1929 bis 1934 in Wien, 1934 Einberufung in das Präsidialbüro des Bundesministeriums für Justiz, Leiter der politischen Strafabteilung und der Personalabteilung, März 1936 Ernennung zum Ersten Staatsanwalt in Korneuburg, 1938 zwangsweise pensioniert und 1939 entlassen, 1.4.1938 verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald deportiert, August 1939 Flucht nach Jugoslawien, 1941 neuerliche Verhaftung, 1944 Rückkehr nach Österreich, April bis Dezember 1945 Staatssekretär für Justiz, Dezember 1945 bis November 1949 und September 1952 bis Dezember 1954 Bundesminister für Justiz.

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äußere Beziehungen hatte und habe.«58 Im Dezember 1970 wurde er als Sektionschef pensioniert. Vor 1938 finden sich im Justizministerium keine Beamten, die sich zum jüdischen Glauben bekannten. Dies ist eine Folge davon, dass sich Ministerialbeamte der Justiz bevorzugt aus dem Richterstand rekrutierten und sich unter den Richtern wiederum nur wenige Juden befanden. Für eine gute Karriere im Staatsdienst war in der Regel der Übertritt zum christlichen Glauben notwendig. Die Konsequenz und Alternative waren für viele jüdische Juristen die freien Berufe.59 Das Beispiel von Viktor Hoyer zeigt aber, dass Konvertiten (vereinzelt) sehr wohl zu Richtern ernannt wurden und – wie ein Vergleich mit einem Kollegen von ihm zeigt – durchaus ähnliche Karriereverläufe wie Beamte ohne jüdische Wurzeln zeigen. So wurde etwa Alois Müller, auch Geburtsjahrgang 1905, ebenfalls 1932 zum Richter ernannt und im Dezember 1937 in das Justizministerium einberufen. Im Gegensatz zu Viktor Hoyer war Müller seit April 1936 Parteimitglied der NSDAP und wurde in den deutschen Justizdienst übernommen. Nach einem anhängigen Strafverfahren beim Volksgerichtshof Graz und einem Gnadenakt des Bundespräsidenten wurde er im Jänner 1952 wieder in Dienst gestellt, allerdings nicht im Justizministerium. Bei seinem Tod 1965 war er Senatspräsident des Oberlandesgerichtes Linz.60 In den Geschäftsverteilern des Justizressorts 1945/46 finden sich unter den 45 Bediensteten 15, die von den Nationalsozialisten gemaßregelt oder verfolgt worden waren. Von den 15 hatten zwei Personen den Weg ins Exil nehmen müssen, fünf waren gemäß § 3 der Berufsbeamtenverordnung, also aus rassistischen Gründen, vom Dienst entfernt worden, drei auf Grund § 4, also aus politischen Gründe und zwei auf Grund § 6, also aufgrund des Auffangtatbestands der »Vereinfachung der Verwaltung« oder im »Interesse des Dienstes«, weitere drei waren 1939 vom Dienst entfernt worden.61 Der hohe Anteil an Verfolgten zeigt das Bemühen im Justizministeriums 1945/46, an dessen Spitze der Antifaschist Josef Gerö stand, Beamte aus der Gruppe der Verfolgten zu rekrutieren. § 6 (2) des Beamten-Überleitungsgesetzes vom 22. August 194562 sah dies allerdings auch vor. 58 Vgl. Bundesministerium für Justiz, Personalakt Dr. Viktor Hoyer. 59 Vgl. Sauer 2013, 175f. Der Anteil etwa an jüdischen Richtern gehört noch zu den Forschungsdesideraten, siehe dazu den Beitrag von Ursula Schwarz in diesem Band. 60 Vgl. zu Alois Müller ÖStA, AdR, Justiz, Reichsjustizministerium, Personalakt  ; weiters Bundesministerium für Justiz (BMJ), Personalakt Alois Müller. 61 Hinweise auf jene Beamte, die im Rehabilitierungswege, StGBl. 134/1945, Beamten-Überleitungsgesetz § 4, wieder in den Dienst aufgenommen wurden, vgl. ÖStA, AdR, BMJ, Präsidium, G Zl. 202/1946. 62 StGBl. Nr. 134/1945.

Antisemitismus am Beispiel der Spitzenbeamten

Die fünf aufgrund von § 3 der Berufsbeamtenverordnung von 1938 nach dem »Anschluss« aus dem Dienst entfernten Beamten waren  : Wilhelm Fundulus, Geburtsjahrgang 1906, 1929 in den Justizdienst eingetreten, 1933 zum Richter ernannt, 1935 zum Bezirksrichter und Gerichtsvorsteher ernannt, (erst) mit März 1940 gemäß § 3 der Berufsbeamtenverordnung in den Ruhestand versetzt, danach in Rüstungsbetrieben tätig  ; Franz Handler, Geburtsjahrgang 1885, römisch-katholisch, 1910 in den Staatsdienst getreten, 1919 zum Richter ernannt, im Februar 1935 der Generalprokuratur zugeteilt, im Juni 1935 zum I. Staatsanwalt befördert  ;63 Ludwig Heller, Geburtsjahrgang 1895, römisch-katholisch, 1919 in den Justizdienst eingetreten, 1922 zum Richter ernannt, ab 1931 bis 1938 Landesgerichtsrat beim Handelsgericht Wien  ;64 Viktor Hoyer – bereits erwähnt – Geburtsjahrgang 1905, 1929 in den Justizdienst eingetreten, 1932 zum Richter ernannt, 1935 in das Justizministerium berufen, 1937 zum Staatsanwalt ernannt  ;65 Rudolf Naumann, Geburtsjahrgang 1890, evangelisch AB, 1922 in den Justizdienst eingetreten, 1927 zum Richter ernannt, 1935 zum Landesgerichtsrat beim LG für Strafsachen Wien I ernannt.66 Die Karriereverläufe der konvertierten Juden zeigen vor 1938 keine offenkundigen Benachteiligungen. Sie wurden zu Richtern ernannt und weiter befördert. Pauleys Feststellung, dass kein Jude – wobei von bekennender Jude auszugehen ist – in der Zwischenkriegszeit zum Richter ernannt wurde, kann beim derzeitigen Stand der Forschung weder verifiziert noch falsifiziert werden.

Resümee Ein abschließendes Urteil über die Berufssituation für Juden im öffentlichen Dienst – ob bekennend oder konvertiert  – steht noch aus. Die wenigen Erkenntnisse zur allgemeinen Größenordnung und zu den individuellen Berufslaufbahnen der Sektionschefs aller Ressorts, der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes und der Ministerialbeamten des Justizministeriums in den 1930er Jahren zeigen, dass Bekenntnisse zum Judentum die absolute Ausnahme darstellen. Für jene, die konvertierten, waren Karrieren möglich. Ab wann und wie rigoros die durch einen Aktenfund belegte informelle Aufnahmesperre für Juden praktiziert wurde, kann beim momentanen Stand der Forschung nicht festgestellt werden. 63 ÖStA, AdR, Staatsamt für Justiz, Präsidium, G Zl. 278/1945. 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Ebd.

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Selbst- und Fremdzuschreibungen, Etikettierung und Unterstellung und die Vielfalt an Lebenswegen machen es schwierig, eindeutige und umfassende Aussagen zu den Berufsbedingungen von Juden in Österreich im öffentlichen Dienst in den Jahren vor dem »Anschluss« zu machen. Es bedürfte auch noch einer viel tiefergehenden Kenntnis der Verhältnisse in der Monarchie und in den 1920er Jahren, um Veränderungen in den 1930er Jahren deutlich herausarbeiten zu können. Nicht zuletzt bleibt das Unbehagen, wenn man für tausende, ja zehntausende Beamte in jahrelanger Forschung die Frage »Jude oder nicht Jude« stellt – ein Unbehagen am Abgrenzen, Definieren, Identifizieren und Zählen von Juden – bekennenden oder assimilierten –, wie es auch in der Literatur immer wieder artikuliert wird.67

Literatur und gedruckte Quellen Agstner, Rudolf/Enderle-Burcel, Gertrude/Follner, Michaela, Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky. Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959, Wien 2009. Arendt, Hannah, Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1959. Enderle-Burcel, Gertrude, Aufbau und Beamtenschaft des Bundesministeriums für Finanzen in der Ersten Republik (ungedrucktes Manuskript), in  : Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungs-, Finanz- und Hofkammerarchiv, Nachlass E/1700  :38, Beitrag zur Tagung »Beiträge zur Verwaltungsgeschichte der Ersten Republik«, 22. und 23. Oktober 1985. Enderle-Burcel, Gertrude/Follner, Michaela, Diener vieler Herren. Biographisches Handbuch der Sektionschefs der Ersten Republik und des Jahres 1945, Wien 1997. Enderle-Burcel, Gertrude (Hg.), Adolf Schärf. Tagebuchnotizen des Jahres 1955, Innsbruck 2008. Enderle-Burcel, Gertrude, Biographien der Spitzendiplomaten der Ersten und Zweiten Republik – ein Beitrag zur Elitenforschung für die Jahre 1918 bis 1945, in  : Agstner, Rudolf/Enderle-Burcel, Gertrude/Follner, Michaela (Hg.), Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky. Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959, Wien 2009, 11–52. Goldinger, Die Wiener Hochbürokratie 1848–1918, in  : Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 117 (1981), 310–333. Huemer, Peter, Sektionschef Robert Hecht und die Zerstörung der Demokratie in Österreich. Eine historisch-politische Studie, Wien 1975. Kann, Robert A., Aus den Erinnerungen des Gesandten Dr. Richard Schüller (1870–1971), in  :

67 Zohn 1964, 7. Mehr als 20 Jahre später wiederholte der Autor seine Bedenken, Zohn 1986, 9, vgl. weiters Melichar 2006, 129.

Antisemitismus am Beispiel der Spitzenbeamten

Fichtenau, Heinrich/Zöllner, Erich (Hg.), Beiträge zur neueren Geschichte Österreichs, Wien u. a. 1974, 403–416. Knütter, Hans-Helmuth, Die Juden und die deutsche Linke in der Weimarer Republik 1918– 1933, Düsseldorf 1971. Megner, Karl, Der österreichische Staatsbeamte im Übergang von der Monarchie zur Republik (ungedrucktes Manuskript), in  : Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungs-, Finanzund Hofkammerarchiv, Nachlass E/1700  :38, Beitrag zur Tagung »Beiträge zur Verwaltungsgeschichte der Ersten Republik«, 22. und 23. Oktober 1985. Melichar, Peter  : Definieren, Identifizieren, Zählen. Antisemitische Praktiken in Österreich vor 1938, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1 (2006) (Die Räume der Geschichte), hg. v. Reinhard Sieder, Innsbruck u. a. 2006, 114–146. Nautz, Jürgen (Hg.), Unterhändler des Vertrauens. Aus den nachgelassenen Schriften von Sektionschef Dr. Richard Schüller, Wien 1990. Pauley, Bruce, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993. Pauley, Bruce, Politischer Antisemitismus in Wien der Zwischenkriegszeit, in  : Botz, Gerhard/ Oxaal, Ivar/Pollak, Michael/Scholz, Nina (Hg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, 22002, 241–259. R athkolb, Oliver, Projektbericht. Die Wiedererrichtung des Auswärtigen Dienstes nach 1945, Wien 1986/87. Sauer, Barbara, Selbstbestimmung versus Fremdbestimmung  : Die Wiener Rechtsanwaltskammer 1930–1950, in  : Enderle-Burcel, Gertrude/Neubauer-Czettl, Alexandra/Stumpf-Fischer, Edith (Hg.), Brüche und Kontinuitäten 1933–1938–1945. Fallstudien zu Verwaltung und Bibliotheken, Wien 2013, 159–179. Stimmer, Gernot, Eliten in Österreich 1848–1970, Bd. 2, Wien u. a. 1997. Stuhlpfarrer, Karl, Judenfeindschaft und Judenverfolgung in Österreich seit dem Ersten Weltkrieg, in  : Drabek, Anna/Häusler, Wolfgang/Schubert, Kurt/Stuhlpfarrer Karl/Vielmetti, Nikolaus (Hg.), Wien 31988, 141–204. Weich, Annie, Über Karl Hartl, in  : Kienzl, Heinz/Kirchner, Susanne (Hg.), Ein neuer Frühling wird in der Heimat blühen. Erinnerungen und Spurensuche, Wien 2002, 63–77. Zohn, Harry, Wiener Juden in der deutschen Literatur. Essays, Tel Aviv 1964. Zohn, Harry, »… ich bin ein Sohn der deutschen Sprache nur …«. Jüdisches Erbe in der österreichischen Literatur, Wien u. a. 1986.

Archivalische Quellen Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR)  : Bestand Österreichische Gesellschaft für historische Quellenstudien, Diplomaten. Bundeskanzleramt (BKA), Ministerkomitee. Bundeskanzleramt (BKA)/Auswärtige Angelegenheiten, Neue Administrative Registratur, Fach 4, Personalakt Richard Schüller.

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Bundesministerium für Inneres, Gauakt Nr. 12.440 Karl Braunias. Bundesministerium für Justiz. Neues Politisches Archiv (NPA), Präsidium Kt. 233, 234. Staatsamt für Justiz, Präsidium. Vermögensverkehrsstelle.

Stefan Spevak

Schule und Antisemitismus 1933 bis 1938 Erkenntnisse aus den Akten des Wiener Stadtschulrates Ein1 teils noch vormoderner Antisemitismus2 hatte dem politischen Lager der Christ­ lichsozialen bereits zu Zeiten des Wiener Bürgermeisters Dr. Karl Lueger als Waffe gegen die politischen Kräfte des Liberalismus und der Linken gedient.3 Nach innen fungierte dieser sich je nach Adressat als konfessionell, ethisch oder auch antikapitalistisch gebärdende Antisemitismus als Mittel zur Integration der sozial sehr heterogen geschichteten Klientel dieses Lagers.4 Auch unter dem seit 1933 autoritär herrschenden, vom Politischen Katholizismus5 geprägten Dollfuß/Schuschnigg-Regime war dieses Mittel auf einer inoffiziellen Ebene nach wie vor politisch wirksam,6 wollte man damit doch sowohl das eigene Lager als auch jenes bereits weitgehend zu den Nationalsozialisten übergegangene nationale Lager ansprechen. Für eine offizielle antisemitische Politik gab es aber realpolitische Schranken.7 Es entsprach der außenpolitischen Raison dieses Regimes, sich von einem in konstitutiver Weise rassenantisemitischen Hitlerdeutschland abzugrenzen und Antisemitismus, mindestens auf einer offiziellen bzw. normativen Ebene, nicht sichtbar werden zu lassen. Die gelebte Praxis war mitunter eine andere.8 Es stellt sich die Frage, inwiefern und auf welche Weise sich diese Politik auf das Schulwesen auswirkte. In diesem hatte sich das Phänomen des Antisemitismus so wie in vielen anderen Bereichen der österreichischen Gesellschaft über die Jahrzehnte in besonderer Weise manifestiert9 und im Beziehungsgeflecht zwischen Lehrkräften, Schülern, Schülerinnen und Eltern einen latenten Störfaktor gebildet.10 Um den bishe1 Für freundliche Hinweise auf einzelne jüdische LehrerInnen sowie auf relevante Quellen und Literatur danke ich  : Primavera Diessen-Gruber, Shoshana Duizend-Jensen, Gertrude Enderle-Burcel, Felicitas Freise, Christian Klösch, Martina Salakova, Maren Seliger und Andreas Weigl. 2 Vgl. Pulzer 1990, 128–134  ; zum konfessionellen Antisemitismus vgl. Hellwing 1972  ; zum Antisemitismus allgemein Benz 2012. 3 Boyer 2010  ; Pauley 1993, 217  ; Staudinger 1990, 250. 4 Staudinger 1979, 13f. 5 Ebner 2012, 221  ; vgl. Hanisch 2005, 68–86. 6 Mähr 2014, passim. 7 Vgl. Hanisch 1994, 318–323. 8 Tálos 2013, 473  ; Königseder 2012, 60  ; Wohnout 1994, 6. 9 Vgl. Thorpe 2013, 381–393  ; Pauley 1993, 282  ; Ackerl 1988, 217. 10 Vgl. Göllner 2009, 17–44  ; Jüdische Schicksale 1992, 62f., 64–68, 81f.

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rigen Ergebnissen einer einschlägigen Forschung für den Untersuchungszeitraum von 1933 bis 193811 einige vertiefende und ergänzende Erkenntnisse insbesondere in Bezug auf die Situation in Wien hinzufügen zu können, wurde der bisher noch weitgehend unbeforschte Archivbestand »Wiener Stadtschulrat« (SSR) im Wiener Stadt- und Landesarchiv herangezogen. Es sollen mit der folgenden Studie einem bereits vor Jahren geäußerten Forschungsdesiderat entsprochen und Wege zur Beforschung dieses Bestandes aufgezeigt werden.12 Präsident dieser dem Bundesministerium für Unterricht (BMfU) nachgeordneten Stelle war von seinen Anfängen im Jahr 1922 bis zum Verbot der Sozialdemokratie infolge der Februarkämpfe 1934 der Wiener Bürgermeister Karl Seitz. Als sein amtsführender Stellvertreter fungierte während dieses ganzen Zeitraumes der bedeutende Schulreformer Otto Glöckel.13 Als Vertreter des Dollfuß-Regimes folgten diesen beiden 1934 verhafteten Sozialdemokraten der neue vom Kanzler berufene Wiener Bürgermeister Richard Schmitz bzw. als Amtsführer des SSR Robert Krasser nach. Auch zahlreiche sozialdemokratische Mitglieder des Gremiums SSR, wie z. B. die Landesschulinspektoren Dr. Karl Furtmüller oder Viktor Fadrus, wurden durch Anhänger des Regimes ersetzt.14 Laut Herbert Dachs mussten 102 von 500 Direktoren und Direktorinnen der einzelnen Wiener Schulen ebenso ihre Positionen räumen.15 Davon unbeschadet lebte die Glöckelsche Konstruktion der Schulaufsicht, in der die ursprünglichen Aufgaben des Bezirksschulrates und Landesschulrates zusammen vom SSR ausgeübt werden, fort.16 Entsprechend dem Landesgesetz betreffend die Bestellung der Stadtschulratsmitglieder stellte neben der katholischen und evangelischen Kirche auch die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) ihren Vertreter in diesem Gremium,17 ähnlich wie ab Mai 1934 dann auch im »Staatsrat« und in der scheinparlamentarischen »Wiener Bürgerschaft«.18 Was die Unterlagen des Bestandes »Wiener Stadtschulrat« im Wiener Stadt- und Landesarchiv betrifft, so geben diese Einblicke in jene Ebene, die es mit der Umsetzung von Rechtsnormen wie Gesetzen, Verordnungen und Erlässen zu tun hatte. 11 Vgl. Literaturübersichten in Tálos 2013  ; Thorpe 2013  ; Dachs 2012. 12 Enderle-Burcel/Neubauer-Czettl 2013, 424. 13 Vgl. Achs 1993, 122–140. 14 Vgl. Amtskalender 1934, 733  ; Amtskalender 1935, 747  ; Schnell 1972, 65. Die unteren Chargen konnten wahrscheinlich so wie in der Wiener Stadtverwaltung überwiegend verbleiben, vgl. Rigele 2011, 271–294. 15 Dachs 2012, 286. 16 Engelbrecht 1988, 274f. 17 Landesgesetz, 3.3.1922, LGBl f. Wien 36/1922, Art. 1, § 2, Pkt. g. 18 Lichtblau 2011, 205f.; Seliger 2010, 376f.; Enderle-Burcel 1991  ; BGBl. 90/1935, Art. 1, 3 (16.3.1935).

Schule und Antisemitismus 1933 bis 1938

Schulaufsicht, Personalrekrutierung und Lehrerfortbildung waren weitere wichtige Aufgabengebiete des SSR.19 Für den Untersuchungszeitraum der Jahre 1933 bis 1938 liegen vier große Aktenserien vor, die mit den verschiedenen Abteilungen dieser Behörde korrespondieren. Leider sind für diesen Zeitraum gerade jene Akten, die in den Indexprotokollen explizit jüdische Betreffe indizieren, in keiner dieser Aktenserien einliegend bzw. überliefert.20 Das gilt zum Teil auch für die Personalakten der Mittelschullehrer und -lehrerinnen. Etliche Akten, die jüdische Lehrpersonen betreffen, fehlen.21 Hinweise darauf, dass in den letzten Märztagen des Jahres 1945 zahlreiche Akten des SSR vernichtet wurden, finden sich im Volksgerichtsakt von Matthias Petschenka, einem für das Mittelschulpersonal zuständigen Beamten der Reichsstatthalterei Wien.22 Die Einsichtnahme in Akten, die sich im Indexprotokoll unter Schlagwörtern wie »politische Vorfälle« oder »Versetzung in den Ruhestand« finden, sowie zu Schulen wie z. B. dem Realgymnasium Unterbergergasse 1, die traditionell von vielen jüdischen Schülern und Schülerinnen besucht wurden und wo es auch mehrere jüdische Lehrkräfte gab, förderten doch etliche Schriftstücke zu Tage, die über konkrete antisemitische Vorgänge Aufschluss geben und die sich für eine qualitative Analyse eigneten.

Beschwerdebriefe an den Wiener Stadtschulrat Am 15. Juni 1935 richtet eine »Elternvereinigung der christlich vaterländischen Front zur Heiligen Brigitta« einen Beschwerdebrief an das Bundesministerium für Unterricht.23 Die dahinter stehende anonyme Person bzw. Personengruppe  – ein Verein mit genau diesem Namen existierte damals nicht24 – schreibt über »skandalöse 19 Vgl. Schnell 1972, 17–64. 20 Der im Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA) befindliche Bestand des SSR umfasst mehrere hier behandelte Aktenserien  : A1  – I Pflichtschulen  ; A2  – II Gymnasien, Realgymnasien und Lehrerbildungsanstalten  ; A3 – IIa Realschulen und Allgemeines  ; A4 – III berufsbildende Schulen. Für die vorliegende Studie wurden extensive Stichproben im Untersuchungszeitraum vorgenommen in  : A1, A2, A3. Die Serie A4 wurde nicht durchgesehen, hier sind bislang keine Findbehelfe bzw. Geschäftsbücher verfügbar. 21 WStLA, SSR, A23 – Personalakten Mittelschullehrer. 22 Darin ist explizit von der Vernichtung von Personalakten, insbesondere der in ihnen enthaltenen Frage­bögen des Jahres 1938, die Rede, vgl. WStLA, Volksgericht, A1 – Strafakten  : Vg 1i Vr 2111/49, Beilage zu Dok. 7. Für den freundlichen Hinweis auf diesen Akt danke ich Dr. Maren Seliger. 23 WStLA, SSR, A3  : IIa 3372/37, Schreiben an das BMfU, 16.6.1935. 24 Laut Aussage des Direktors der Schule, Dr. Alois Hinner, ist der Name fingiert, vgl. WStLA, SSR, A3  : IIa 3372/37 (darin  : II 3390/35 = Schreiben  : Irma Last an den SSR, 8.7.1935). Es existierte ein Verein

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Zustände«, die am Gymnasium Wien 20., Unterbergergasse 1, herrschen würden. Die Vorwürfe richten sich insbesondere gegen die beiden jüdischen Lehrerinnen, Dr. Sabine Deutsch-Edel, Professorin für Naturgeschichte, sowie Irma Last, Professorin für Zeichnen und Mathematik.25 Im Beschwerdebrief heißt es, beide seien Vertraute des »früheren Freidenkers und Kommunisten Direktor Dr. Beran«26 gewesen und würden »vaterländische christliche Kinder in jeder Weise nicht nur zurücksetzen, sondern auch in den Kot zerren.« Die Professorin Last scheue sich außerdem nicht, »Kinder zu schlagen, an die Wand zu werfen oder sonst wie unflätig mit diesen umzugehen«. Weiters würden mit beider Zutun »Orgien zwischen Mädchen und Buben« stattfinden  ; und obwohl man bereits bei der Schuldirektion und beim Wiener SSR Beschwerde gegen beide geführt habe, sei in dieser Sache keinerlei Abhilfe geschaffen worden. Es gäbe doch »genug ehrwürdige christlich-vaterländische Lehrpersonen, welche entsprechende gerechte und tüchtige Pädagogen sind und diese ersetzen können.«27 Das Unterrichtsministerium sandte dieses Schreiben in der Folge an den SSR weiter und dieser wiederum forderte die Direktion des Realgymnasiums Unterbergergasse zu einer Berichterstattung auf.28 Der 1934 neu eingesetzte, regimekonforme Gymnasialdirektor Dr. Alois Hinner29 hatte sich von der völligen Haltlosigkeit der Anschuldigungen bald überzeugen können und gab diese Sichtweise auch an die übergeordnete Behörde weiter. Das Ansuchen einer der beiden Lehrerinnen, nämlich der in ihrer Berufsehre verletzten jüdischen Lehrerin Irma Last an den SSR, eine Disziplinaruntersuchung einzuleiten, um eine vollständige Klarstellung und damit Rehabilitierung zu erwirken, lehnte dieser ab. Es gebe »zu einer solchen Maßnahme keinen Anlass«, heißt es in einem Schreiben des Stadtschulrates an sie.30 Dennoch wird die Zeichenprofessorin schon zwei Monate später, nach dem Ende der Sommerferien, gegen ihren Willen in eine andere Schule versetzt. In einer persönlichen Unterredung zwischen dem Vater von Irma Last, dem respektierten Universitätsprofessor Dr. Adolf mit Namen »Elternvereinigung der Staatsrealschule im XX. Bezirk«, der sich infolge der Umbenennung der Schule in »Brigitta-Realgymnasium und Oberlyzeum in Wien XX« im März 1937 analog umbenannte, vgl. WStLA, M.Abt. 119, A32 – Gelöschte Vereine  : 1986/37. 25 Irma Last, geboren 1901 in Lemberg, Abmeldung nach »unbekannt« (1938), vgl. WStLA, Historische Meldeunterlagen, Meldung vom 11.10.1929  ; Sabine Deutsch-Edel, geboren 1902 in Wien, vgl. Taschenjahrbuch 1937, 158. 26 Dr. Hugo Beran (1880–1942), Direktor des Bundesrealgymnasiums im 20. Wiener Gemeindebezirk, Mitglied des SSR, vgl. Amtskalender 1934, 801. 27 WStLA, SSR, A3  : IIa 3372/37, Schreiben an das BMfU, 16.6.1935. 28 Ebd., Schreiben des BMfU an den SSR, 22.6.1935. 29 Dr. Alois Hinner, Direktor des Bundesrealgymnasiums im XX. Bezirk in Wien, vgl. Amtskalender 1935, 817  ; weiters WStLA, SSR, A23  : Dr. Alois Hinner. 30 WStLA, SSR, A3  : IIa – 3372/37, Konzept  : SSR an Irma Last, 10.9.1935.

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Last und dem für Mittelschulen zuständigen leitenden Beamten des SSR, Dr. Ignaz Riebl,31 hieß es, es habe sich um eine »nationalsozialistisch-antisemitische Intrige gehandelt«, und die Versetzung solle der Lehrerin »zum Schutze gereichen«.32 Irma Last vermutete hingegen, dass der für die Unterbergergasse zuständige Dienststellenleiter der »Vaterländischen Front« (VF) hinter all dem steckte. Dieser hatte ihre für den Verbleib in den Schuldienst obligatorische Aufnahme als Jüdin in seinen politischen Verband beharrlich verweigert und schließlich ohnmächtig mitansehen müssen, wie Last, als sie sich an die Landesleitung der VF wandte, dennoch anstandslos darin Aufnahme gefunden hatte.33 Nicht um ein Opfer antisemitischer Intrige, sondern um einen dezidierten Antisemiten selbst handelt es sich im Falle von Dr. Theodor Pugel, Gymnasialprofessor für Geschichte und Geographie im Bundesgymnasium Wien 3., Kundmanngasse 22. Pugel, geboren 1891, wurde 1936 im Zuge einer aus Einsparungsgründen vorgenommenen Pensionierungswelle mit sehr geringen Bezügen vorzeitig außer Dienst gestellt. Am 3.  November 1936 richtete er ein Schreiben an Bundeskanzler Kurt Schuschnigg,34 in dem es hieß, es widerspreche selbst »den primitivsten Grundsätzen des christlichen Glaubens«, dass gerade er, ein »Weltkriegsveteran«, verheiratet und »durch ein Unglück in schwere Verschuldung« geraten, in den Ruhestand versetzt worden sei und nicht vielmehr seine an derselben Schule tätigen, an Dienstjahren wesentlich älteren, alleinstehenden und bestens situierten Kollegen. Auch seitens der VF liege gegen ihn nichts vor, so Pugel. »Meine Pensionierung ist von Juden durchgesetzt worden  !  ! […] Es ist wahrhaftig entsetzlich, welche unheilvolle Macht getarnte Freimaurer und Marxistenkreise zufolge persönlicher Beziehungen bei Behörden heute noch auszuüben vermögen im christlichen und deutschen Österreich.« Abschließend bittet Pugel, der zuvor schon zwei ähnlich lautende Briefe an das Unterrichtsministerium gerichtet hatte,35 den Kanzler, sich für seine Reaktivierung einzusetzen. Theodor Pugel, dem Mitverfasser des in mehreren Auflagen erschienenen Buches »Antisemitismus der Welt in Wort und Bild«,36 blieb diese Bitte jedoch verwehrt. Auch seine Briefe an den SSR und die VF blieben, wie aus seinem Personalakt hervorgeht, ohne Wirkung. Pugels Ärger ist insofern nachvollziehbar, als er im Sinne des Lehrerabbaugesetzes erst nach 15 anrechenbaren Dienstjahren in den dauerhaften Ruhestand ver31 Amtskalender 1937, 773. 32 WStLA, SSR, A3  : IIa 3372/37, Schreiben  : Irma Last an den SSR, 14.8.1937. Last referiert darin Inhalte dieser Unterredung. 33 Ebd. 34 WStLA, SSR, A2  : II 4877/37, Schreiben  : Theodor Pugel an Bundeskanzler Schuschnigg, 3.11.1936. 35 Ebd. Schreiben Theodor Pugels an das BMfU, 1.9.1936, 10.9.1936. 36 Körber/Pugel 1936  ; weiters Pugel 1936.

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setzt hätte werden können – es waren derer aber erst 13.37 In seinem Personalakt ist nachzulesen, dass Pugels vorzeitige Pensionierung »aus politischen Gründen« erfolgt war.38 Auch seine publizistische Tätigkeit hatte eine Rolle gespielt.39 Offiziell war ihm das allerdings nicht mitgeteilt worden. Als illegales NSDAP-Mitglied und »Alter Kämpfer« wurde er schließlich am 20. April 1938 wieder eingestellt, unterrichtete im Gymnasium Wien 18., Klostergasse 25, und war für die NSDAP als Kulturreferent und Gauredner tätig.40 Am 23.  November 1937 wandte sich Malvine Ferstel,41 eine Professorin an der Bundes-Lehrerinnenbildungsanstalt Wien 1., Hegelgasse 14, mit einem Schreiben an den SSR Wien.42 Während einer Elternversammlung, bei der es um die Vorbereitung einer Weihnachtsaufführung durch Schülerinnen gegangen war, sei ihr von einem anwesenden Vater unterstellt worden, diese Festvorbereitungen zu missbrauchen, um für jüdische Geschäfte Propaganda zu machen – und zwar deshalb, weil sie den Vorschlag einer ebenso anwesenden Mutter gutgeheißen hatte, die benötigten Goldbänder im jüdischen Kaufhaus Gerngross in der Mariahilferstraße zu besorgen. Der Vater habe sich in der Folge, begleitet vom Stadtgewerberat Nikolaus Knozer in der Direktion über »jüdische Geschäftemacherei« beschwert. Die Professorin Ferstel stellte in ihrem Schreiben an den SSR die auch von vielen der übrigen Eltern geteilte Vermutung an, dass die Antipathie dieses Mannes ihr gegenüber daher rühre, dass er sie für einen »Judenstämmling« halte. Sie teilte weiters mit, dass sich die unter einem starken elterlichen Einfluss stehende Tochter dieses Mannes negativ gegenüber jüdischen Mitschülerinnen äußere und ersuchte deshalb um deren Versetzung in eine andere Schule. Dieses Ersuchen wurde nach einer Entschuldigung des Kindesvaters von der Lehrerin schließlich zurückgezogen. Was diese drei bisher geschilderten Fallbeispiele verbindet, ist, dass jeweils ein Appell an die verschiedenen Ebenen der Schulaufsichtsbehörde gerichtet wurde, etwas dagegen zu unternehmen, dass Menschen innerhalb des Wiener Schulwesens »Opfer von Juden« werden. Seltener haben sich – so lässt es die Anzahl der vorgefundenen 37 BGBl. 342/1933, §6  ; LGBl. 39/1933. 38 WStLA, SSR, A23  : Theodor Pugel. 39 Sein Koautor, Dr. Robert Körber, war Deutschnationaler und Vorstand des Antisemitenbundes, vgl. Pulzer 1990, 135. 40 WStLA, SSR, A23  : Theodor Pugel  : Engagement für NSDAP Mödling ab 1923, seit 1931 Parteigenosse (Nr. 614.548). 41 Malvine Ferstel, röm. kath., geb. 11.9.1884 in Wien, vgl. WStLA, Historische Meldeunterlagen  : Meldung vom 14.5.1935  ; Ferstel findet sich in den Quellen fallweise auch unter Ferstl-Gierster, vgl. Taschenjahrbuch 1937, 264. 42 WStLA, SSR, A2  : II 4267/37, Schreiben Malvine Ferstels an den SSR, 23.11.1937.

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Quellen erscheinen  – auch jüdische LehrerInnen und SchülerInnen erlaubt, über negative antisemitische Erfahrungen innerhalb ihrer Schulen Beschwerde zu führen. Ein Beispiel dafür findet sich indessen in dem bereits oben angesprochenen schulischen »Biotop« Realgymnasium Unterbergergasse.43 Anfang 1935 erlaubte dort der Deutschprofessor Dr. Heinrich Häusler einem nationalsozialistisch gesinnten Schüler namens Robert K. in einer fünften Klasse wiederholt zu politischen bzw. historischen Themen wie »Hindenburg« oder dem »Kampfflieger Freiherr von Richthofen« Vorträge zu halten. Dabei schweifte der Schüler jedes Mal thematisch ab, ging in diesen Exkursen in kritischer Weise auf das damalige österreichische Regime ein und tätigte »allgemeine Behauptungen über das Judentum«.44 Weil sich »ein Teil der Schüler durch Bemerkungen über die Juden verletzt fühlte«, kam es mehrfach zu Auseinandersetzungen mit dem vortragenden Schüler und zu Beschwerden bei der Schuldirektion.45 Die Direktion, welche die Vorfälle an den SSR weitergemeldet hatte, wurde in der Folge von diesem aufgefordert, eine »disziplinäre Behandlung des Schülers« zu veranlassen. Beim Unterrichtsministerium wurde seitens des SSR die Einleitung staatspolizeilicher Erhebungen sowie eine Versetzung dieses Lehrers in den Ruhestand erbeten.46 Dazu, dass es trotzdem nicht zu einer solchen kam, trug vermutlich eine wohlwollende Leumundserhebung der Generaldirektion für öffentliche Sicherheit bei. Durch einen jüdischen Zeitungsbericht war der Fall nämlich an die Öffentlichkeit geraten.47 Immerhin wurde Häusler in der Folge drei Mal strafversetzt, jeweils im Herbst der Jahre 1935, 1936 und erneut 1937. Aus einer Empfehlungsschrift an die NS-Gauleitung Wien für Häusler geht hervor, dass dieser seit 1930 in mehreren NS-Gliederungen Mitglied war, dass er als »treuer Beschützer der NS-Jugend« diese bei »ihren illegalen Unternehmungen beraten und vor Spitzeln in der Lehrerschaft gewarnt« hatte und dies der Grund für seine Strafversetzungen war.48 Unmittelbar nach dem »Anschluss« wurde Häusler hintereinander kommissarischer Leiter mehrerer Schulen und kehrte 1942 ins Realgymnasium Un-

43 WStLA, SSR, A2  : II 1421/35. 44 Ebd.: Interner Vermerk des SSR zu den Vorfällen im BRG Wien XX, 12.4.1935, wahrscheinlich von Landesschulinspektor Dr. Heinrich Gassner. 45 WStLA, SSR, A2  : II 1421/35, Konzept  : Amtsführender Präsident des SSR, Robert Krasser, an das BMfU, 16.4.1935. 46 Ebd.: Konzept  : Amtsführender SSR-Präsident Robert Krasser an BMfU, 18.4.1935. 47 Ebd.: BKA/Generaldirektion für öffentliche Sicherheit an SSR, 17.7.1935. 48 WStLA, SSR, A23  : Dr. Heinrich Häusler, Dok. 2/1 (Standesausweis 1938) und Dok. 13/1 (Empfehlung der Kreisleitung Wien IX von 1939).

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terbergergasse zurück – als dessen Direktor.49 Ob eine Sanktion gegen den Schüler Robert K. erfolgte, geht aus den Quellen nicht hervor. In Betrachtung dieser vier geschilderten Fälle zeigt sich das vielschichtige und zumindest ambivalente Agieren des SSR. Einerseits wurde die jüdische Lehrerin Irma Last aufgrund der gegen sie gerichteten anonymen Verleumdungen und einer in diesem Zusammenhang erfolgten Reklamation eines Vorranges christlicher Lehrkräfte vor jüdischen vom SSR in eine andere Schule versetzt, was inoffiziell einem Akt der Disziplinierung gleichkam und womit einer antisemitischen Beschwerde Folge geleistet wurde.50 Andererseits wurden die Eingaben des illegalen Nationalsozialisten Theodor Pugel, der in seinen Briefen an die Tradition des Antisemitismus auch im katholischen Christentum erinnerte und seine Wiedereinstellung in den Schuldienst forderte, seitens des SSR ignoriert, worauf dieser sich – ebenso vergeblich – an das Unterrichtsministerium wandte. Er war unter anderem wegen seiner völkisch-antisemitischen Publikationstätigkeit in den Ruhestand versetzt worden und blieb auch in diesem. Im dritten Fall handelte der Vater einer Schülerin mit seiner Beschwerde im Sinne jener Boykottaufrufe, die von Seiten christlichsozialer Gewerbetreibender insbesondere in der Vorweihnachtszeit gegenüber jüdischen Geschäften lanciert wurden.51 Als die betroffene Lehrerin, auf diese Unterstellung hin, dass sie als Jüdin »jüdische Geschäftemacherei« betreibe, in die Gegenoffensive ging, die Versetzung der antisemitisch erzogenen Tochter dieses Mannes forderte und dabei ihre Schuldirektion hinter sich wusste, musste der Kindesvater klein begeben. Für den Stadtschulrat war die Entscheidung, sich in diesem Fall auf die Seite der Lehrerin zu stellen, einfach, handelte es sich bei dieser doch ohnehin nicht um eine Jüdin. Charakteristisch für den letzten Fall, wo sich jüdische Schüler über die Duldung antisemitischer Behauptungen während des Unterrichts durch ihren Deutschlehrer beschwerten, ist, dass in der Folge seitens der Schulaufsichtsbehörde in erster Linie die fehlende »vaterländisch-österreichische Gesinnung« des Deutschlehrers beanstandet, der antisemitische Aspekt des Vorfalles dagegen bagatellisiert wurde. In einer internen Äußerung des SSR heißt es, dass, die Schüler, welche sich in der Direktion beschwerten, »die Tatsachen gefühlsmäßig überbewertet« hätten.52

49 Brigittenauer Gymnasium 2000, 35, 39. 50 Dachs 1982, 311  ; vgl. Sanktionierung von Disziplinarvergehen gemäß Lehrerdienstgesetz, BGBl. 443/1923, § 87. 51 Königseder 2012, 56  ; Maderegger 1973, 242, siehe dazu auch den Beitrag von Stefan Eminger in diesem Band. 52 WStLA, SSR, A2, II 1421/35, Interne Äußerung des SSR zu den Vorfällen im BRG Wien XX, 12.4.1935, vermutlich von Landesschulinspektor Dr. Heinrich Gassner.

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Entlassung jüdischer Lehrkräfte im Bereich von Pflicht- und höheren Schulen Neben dem SSR war auch die VF eine maßgebliche Instanz, was die Einstellung bzw. Entlassung von Lehrern und Lehrerinnen betrifft. Insbesondere der jeweilige VF-Dienststellenleiter an einer Schule spielte eine sehr wichtige Rolle.53 Dieser hatte jegliche staats- bzw. regierungsfeindliche Betätigung von Lehrpersonen und Schülern zu beobachten und weiter zu melden. Es lastete dadurch ein hoher Gesinnungsdruck auf Lehrern und Lehrerinnen, der sich auch auf deren familiäres Umfeld ausdehnte.54 Auf einer Ebene darüber gab es einen VF-Landesfachleiter. Über diesen konnte sich der Dienststellenleiter einer Schule an seiner Direktion vorbei an den Stadtschulrat wenden.55 Ein ministerieller Erlass vom 8. Jänner 1934 hatte die österreichische Lehrerschaft offiziell dazu aufgefordert, der VF beizutreten.56 Offensichtlich legten die Schulen gegenüber den Aufsichtsbehörden Rechenschaft über die Befolgung dieses Erlasses ab. So meldete etwa die Direktion der Hauptschule für Mädchen in Wien 21., Konstanziagasse 50, an den SSR, dass am 19. Februar 1934 der gesamte Lehrkörper der VF beigetreten sei.57 Wie sich in den oben genannten Beispielen gezeigt hat, sahen sich sowohl der illegale Nationalsozialist Pugel als auch die junge jüdische Lehrerin Last hinsichtlich der Bewahrung ihres Arbeitsplatzes gezwungen, den SSR auf ihre Mitgliedschaft in der VF hinzuweisen. Betreffend die Aufnahme jüdischer Mitglieder in der VF gab es aber durchaus Widerstände, insbesondere seitens der niedrigeren VF-Chargen und umso mehr, wenn es um die Bekleidung von Spitzenfunktionen durch jüdische Mitglieder ging.58 Die schon 1919 von Richard Schmitz im Zusammenhang mit seinen Vorstellungen von einem »praktischen Antisemitismus« geäußerten Pläne zur Reduktion der Juden im öffentlichen Dienst zeigen, dass es sich hier um ein langgehegtes Ziel des nunmehrigen Wiener Bürgermeisters und Stadtschulratspräsidenten handelte.59 Für die Beantwortung der Frage, ob sich so wie bei der Wiener Ärzteschaft60 infolge des Februar 1934 auch unter den entlassenen Lehrern und Lehrerinnen überpropor53 Vgl. Tálos 2013, 154–165. 54 Dachs 1982, 309  ; Engelbrecht 1988, 266  ; Tálos 2013, 402f. 55 Engelbrecht 1988, 266. 56 Dachs 2012, 284f. 57 WStLA, SSR, A1, I 2373/34, Schreiben  : Hauptschule Konstanziagasse 50 an den SSR, 23.2.1934. 58 Pauley 1993 331  ; vgl. Mähr 2014, 98–103. 59 Vgl. Mähr 2014, 62–64. 60 Siehe dazu den Beitrag von Ilse Reiter-Zatloukal in diesem Band.

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tional viele Juden und Jüdinnen befunden haben, wären die jährlichen hauseigenen Statistiken des SSR sehr nützlich. Diese sind zwar in den Geschäftsbüchern des SSR vermerkt, liegen aber an den indizierten Stellen in den Aktenserien nicht ein. Ein aus den Handakten der Personalverwaltung des SSR überliefertes schmales Konvolut mit diversen Aufstellungen kann dieses Manko teilweise kompensieren.61 Immerhin erfährt man darin, dass sich die Anzahl der jüdischen Lehrkräfte von 1913 bis 1937 von 93 auf zehn reduzierte.62 Schmitz’ Ziel hatte sich also in Bezug auf jüdische LehrerInnen in einem hohen Maß realisiert. Doch abgesehen von dieser radikalen Reduktion war der Anteil von Jüdinnen und Juden innerhalb der Wiener Lehrerschaft im Vergleich zur Ärzteschaft auch schon früher wesentlich geringer gewesen.63 Der Beruf LehrerIn hatte in der jüdischen Bevölkerung insofern wenig Tradition gehabt, als er ihr bis 1867 überhaupt verwehrt gewesen und auch später, wie bei allen Stellen im öffentlichen Dienst, nur vergleichsweise erschwert zugänglich war. Die antisemitische Haltung der übrigen organisierten Lehrerschaft und ihr Mitspracherecht bei Neuaufnahmen spielte dabei eine wichtige Rolle.64 Sylvia Maderegger jedenfalls bejaht die Frage nach einer überproportionalen Entlassung von jüdischen Personen auch im Schuldienst und stützt sich dabei auf verschiedene zeitgenössische Berichte in jüdischen Zeitschriften.65 Sie zitiert z. B. Dr. Jakob Ehrlich, dessen Rede im Dezember 1937 vor der Wiener Bürgerschaft die »Ausschaltung der Juden aus dem öffentlichen Leben« zum Thema hatte und in der zionistische Zeitschrift »Die Stimme« abgedruckt worden war. Er sagte damals  : »Unter den 4.765 städtischen Lehrpersonen befinden sich nur 10 Juden.«66 Dies geht auch mit den bereits oben zitierten zeitgenössischen Aufzeichnungen des SSR konform.67 Den damaligen Statistiken entsprechend waren dabei die Religionslehrer und -lehrerinnen nicht mitgerechnet und wurden eigens geführt. Für sämtliche Konfessionen zusammen gab es 1937 für das Fach Religion 515 Lehrkräfte.68 Da der Anteil an konfessionslosen SchülerInnen sehr gering war,

61 WStLA, SSR, A18/35  : Statistische Zusammenstellungen 1934–1937. 62 Ebd., darin Liste aus 1937  : »Religionsbekenntnis der Lehrpersonen«. Die Gesamtzahl der Lehrkräfte hat sich im selben Zeitraum von 6.207 auf 4.646 reduziert, ebenso römisch-katholische Lehrkräfte von 5.966 auf 4.412, evangelische haben sich von 138 auf 148 gesteigert, ebenso die altkatholischen von fünf auf 70. 63 Pauley nennt einem Anteil von 47 Prozent Juden unter den Wiener Ärzten, vgl. Pauley 1990, 225. 64 Maderegger 1973, 154f.; Klein-Löw 1980, 103. 65 Maderegger 1973, 240f. 66 Ebd., 240, darin Zitat aus »Die Stimme«, 20.12.1937. 67 WStLA, SSR, A18/35  : Liste aus 1937  : »Religionsbekenntnis der Lehrpersonen«. Als Gesamtsumme aller Lehrpersonen wird allerdings 4.646. angegeben. 68 Statistisches Jahrbuch Wien 1937, 184.

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müsste davon entsprechend dem Schüleranteil69 etwa ein Zehntel jüdisch gewesen sein. Extra und bei Ehrlich nicht mitgerechnet sind weiters die jüdischen Lehrkräfte in Privatschulen, wie z. B. jene 26 jüdischen Lehrer und Lehrerinnen der beiden Talmud-Thora-Schulen in Wien 2., Malzgasse 16, einer konfessionellen Volks- und einer Hauptschule mit Öffentlichkeitsrecht  ;70 oder jene fünf jüdischen Lehrkräfte der von der IKG 1935 neu gegründeten privaten Volksschule in der Castellezgasse 35.71 Eine Aufstellung vom 2. April 1938 aus dem Bestand SSR, welche die Anzahl der von der nationalsozialistisch gewordenen Behörde entlassenen jüdischen LehrerInnen in öffentlichen Schulen Wiens wiedergibt, hält fest, dass es damals 33 städtisch bedienstete jüdische Lehrpersonen in Wien gab. 26 davon wurden sofort entlassen, sieben davon waren ReligionslehrerInnen und konnten ihre Stelle vorläufig noch behalten.72 Möglicherweise erklärt sich diese Diskrepanz zu Maderegger bzw. Fried durch den rassischen Judenbegriff, der auch Personen berücksichtigt, die aus der IKG ausgetreten oder konvertiert waren. Die Relation zur Gesamtzahl an LehrerInnen von – laut NS-Statistik – 4.723 bleibt auch bei 33 Lehrkräften mit einem Anteil von 0,7 Prozent außerordentlich gering.73 Um auf die Frage nach überproportionaler Entlassung jüdischer Lehrkräfte infolge des Februar 1934 trotz Fehlens zuverlässiger Zahlen eine Antwort zu finden, wurden die Standesausweise der 30 öffentlichen Pflichtschulen des zweiten Wiener Gemeindebezirkes untersucht,74 jenem Bezirk mit dem traditionell höchsten Anteil an jüdischen EinwohnerInnen. Es wurden dabei die Schuljahre 1933/34 und 1935/36 miteinander verglichen, um herauszufinden, ob sich signifikante Unterschiede hinsichtlich der Anzahl jüdischer LehrerInnen zeigen. Tatsächlich gab es 1933/34 in diesem Bezirk noch vier jüdische Schulleiterinnen und einen Schulleiter öffentlicher Schulen und zwei Jahre später mit Käthe Neumann nur mehr eine einzige.75 Sie war Oberlehrerin in der mehrheitlich von jüdischen SchülerInnen besuchten Volksschule Blumauergasse 21. Gemeinsam mit den beiden Lehrkräften für mosaische Religion, 69 Vgl. dazu den Beitrag von Andreas Weigl in diesem Band. 70 WStLA, SSR, A10 – Standesausweise Privatschulen  : Volks- und Hauptschule des Wiener Schulvereins Talmut-Thora, Malzlgasse 16, Schuljahr 1936/37. 71 Gold 1966, 70  ; WStLA, SSR, A10  : Volksschule Castellezgasse 35, Schuljahr 1935/36 sowie 1936/37. 72 Die 26 entlassenen jüdischen Lehrkräfte waren  : ein Oberlehrer, eine Oberlehrerin, also beide Leiter einer Volksschule, 13 HauptschullehrerInnen, sechs VolksschullehrerInnen, vier provisorischen LehrerInnen, 1Hilfslehrerin. Vgl. WStLA, SSR, A18/35  : Übersicht über die an öffentlichen Schulen »im Wiener Schulbezirk in Verwendung stehenden Lehrpersonen«, 2.4.1938. 73 1937 lag die Zahl der städtisch bediensteten LehrerInnen in Wien, einschließlich Hilfslehrer bei 4.634, vgl. Statistisches Jahrbuch Wien 1937, 229. 74 WStlA, SSR, A9 – Standesausweise öffentliche Schulen  : Sch. 38 u. 42. 75 WStLA, SSR, A9  : Volksschule Blumauergasse 21, Schuljahr 1935/36.

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die zusammen zehn Stunden unterrichteten, stand sie in konfessioneller Hinsicht 13 katholischen Lehrkräften gegenüber.76 Während in jener Volksschule die Anzahl der jüdischen LehrerInnen seit 1934 immerhin gleich geblieben war, hatte sie sich in den meisten anderen Volks- und Hauptschulen der Leopoldstadt bis 1935 verringert, und zwar von insgesamt 32 auf 23. Bei den jüdischen Lehrkräften, die ausgeschieden waren, handelte es sich einerseits um vier Religionslehrer, fünf weitere waren promovierte Akademiker, die mit Mathematik oder Französischunterricht versucht hatten, sich existentiell über Wasser zu halten. Allesamt hatten in diesem Jahr ihre Stelle – in der Regel waren das befristete Hilfslehrerstellen77  – verloren oder von sich aus aufgegeben. Die Gesamtzahl der SchülerInnen von öffentlichen Schulen des zweiten Bezirks hatte sich im selben Zeitraum zwar auch verringert, aber mit ca. 11 Prozent in wesentlich geringerem Ausmaß als die jüdischen Lehrkräfte.78 Auch die Gesamtzahl der LehrerInnen in öffentlichen PflichtschulenWiens, inklusive ReligionslehrerInnen, war aufgrund des allgemeinen Lehrerabbaus gesunken, aber auch wesentlich weniger als sein jüdischer Anteil in der Leopoldstadt, nämlich um 6,7 Prozent.79 Charakteristisch für die Situation in diesen Schulen des zweiten Bezirks war, dass die jüdischen SchülerInnen, die in nicht wenigen Schulen die Mehrheit bildeten, in jedem Fach außer Religion ausschließlich von nichtjüdischen Lehrkräften unterrichtet wurden. Die Aussage von Bruce Pauley, dass es 1934 im öffentlichen Dienst »keine jüdischen Schuldirektoren« gab, ist von ihrer Tendenz her zu bestätigen. Die einzige im Wiener Bezirk Leopoldstadt verbliebene jüdische Oberlehrerin als Leiterin einer öffentlichen Volksschule – und folgt man der oben bereits zitierten Liste vom April 1938, so gab es irgendwo in einem anderen Bezirk noch einen weiteren jüdischen Oberlehrer  – stellt in Anbetracht der 533 öffentlichen Wiener Pflichtschulen80 dazu nur einen geringen Widerspruch dar.81 Fasst man den Bereich der Privatschulen mit ins Auge, so hatten die beiden schon erwähnten Schulen in der Malzgasse 16 jeweils einen jüdischen Schulleiter, und mit der Gründung der Volksschule Castellezgasse 35 durch 76 Ebd.: Schüler Blumauergasse 1935/36  : 161 jüdisch, 154 andere Konfessionen bzw. konfessionslos  ; Lehrer  : drei mosaisch, 13 katholisch. 77 Hilfslehrer sind per Vertrag nur für ein Jahr angestellt, vgl. Hilfslehrerverordnung, BGBl. 126/1930 (16.4.1930). 78 Der Anteil der jüdischen SchülerInnen an der Gesamtzahl war von 30,5 Prozent auf 27 Prozent gesunken, in absoluten Zahlen von insgesamt 3.271 auf 2.572, vgl. WStlA, SSR, A9 – Standesausweise öffentliche Schulen  : Sch. 38, 42. 79 Volks-, Haupt-, Sonderschul- und Religionslehrer 1933/34  : 5.601 und 1935/36  : 5.226, vgl. Statistisches Jahrbuch Wien 1935, 155. 80 Zur Anzahl von öffentlichen Volks-, Haupt- und Sonderschulen 1934/35, vgl. Statistisches Jahrbuch Wien 1935, 155. 81 Pauley 1990, 226.

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die IKG im Jahre 1935 kam mit Max Jellinek noch ein weiterer hinzu.82 Für den Bereich der Mittelschulen gab es im zweiten Bezirk weiters auch noch das zionistisch orientierte Chajes-Realgymnasium mit seinem jüdischen Direktor Dr. Viktor Kellner sowie das Mädchen-Realgymnasium 2., Novaragasse 30, mit seiner jüdischen Direktorin Dr. Elise Deiner.83 In den Mittelschulen, den Staatsgewerbeschulen und der Schule der Wiener Kaufmannschaft lag bei den Unterrichtenden, die vom Bund besoldet wurden, der Anteil an jüdischen Lehrkräften etwas höher als im Pflichtschulbereich. Doch waren es in Wien von 1.260 Lehrkräften auch nur 68.84 Zusätzlich zu diesen führte die Zeitschrift »Die Stimme« im Jahr 1937 noch 15 Konfessionslose an, die aus der jüdischen Religion ausgetreten waren. Im bereits erwähnten Volksgerichtsakt Petschenka, der 1938 im SSR bei der Entlassung der »nicht arischen und jüdisch versippten Lehrerschaft« organisatorisch beteiligt war, heißt es  : »Von den ca. 2.000 Mittelschullehrern wurden aus rassischen Gründen seit Mitte März 1938 133 Mittelschullehrer vom Dienste enthoben.«85 Die verfügbaren Zahlen weichen hier von den in der »Stimme« angegebenen ab. Wahrscheinlich ist, dass bei den 133 entlassenen Lehrern entsprechend den Nürnberger Rassegesetzen auch »Mischlinge ersten und zweiten Grades« (M1, M2) sowie »jüdisch versippte« Personen mitgerechnet wurden. Im Volksgerichtsakt des für das Lehrpersonal verantwortlichen NS-Beamten in der Reichstatthalterei, Petschenka, ist ein Lehreralmanach des Jahres 1937 überliefert,86 in welchem nach Schulen geordnet sämtliche Mittelschullehrer Österreichs aufgelistet sind. Petschenka hatte darin die einzelnen LehrerInnen mit Kürzeln, wie »J«, »M1«, »M2« sowie »Pg« gekennzeichnet. Einige weitere Aufschlüsse über die Personalpolitik gegenüber jüdischen Lehrkräften ergeben sich durch eine in methodischer Hinsicht qualitative Betrachtung der Korrespondenzen des SSR mit den einzelnen Mittelschuladministrationen. Ein Beispiel ist erneut das bereits oben angesprochene Brigitta-Realgymnasium und Oberlyzeum in Wien 20., Unterbergergasse 1. Dort wurde im März 1934 der schon erwähnte Direktor Hugo Beran in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. Sein christlichsozialer Nachfolger Hinner schrieb im April 1938 an das nunmehr nationalsozialistische Unterrichtsministerium, dass er am 10. März 1934 vom SSR die Weisung bekommen habe, »die unter Direktor Dr. Beran kommunistisch geführte Anstalt zu 82 WStLA, SSR, A10  : Volksschule Castellezgasse 35, Schuljahr 1935/36. 83 Taschenjahrbuch 1937, 83, 160. 84 »Die Juden im Staatsdienst«, in  : Die Stimme, 15.5.1934, 1  ; »Gewerbenovelle und Antisemitismus«, in  : Die Stimme, 26.1.1934, 2. 85 WStLA, Volksgericht, A1  : Vg 1i Vr 2111/49, Beilage zu Dok. 7. 86 Ebd., Beilage  : Taschenjahrbuch 1937.

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reorganisieren.«87 Diese Aufgabe habe er  – mit dieser Diktion den neuen Machthabern hörbar gefallen wollend  – »trotz der heftigen Gegenarbeit der kommunistischen Bevölkerung des Bezirkes und ihrer Drohungen in einem Jahr durchgeführt.« In Wirklichkeit war der in der Unterbergergasse seit 1928 als Direktor fungierende Beran nicht Kommunist, sondern Sozialdemokrat. Als solcher stand er dem Reformer Glöckel nahe und war auch Mitglied des Stadtschulratsgremiums. Beran war zwar selbst evangelisch getauft und später aus der Evangelischen Kirche wiederum ausgetreten,88 war aber in einer jüdischen Familie aufgewachsen.89 In den Quellen des Untersuchungszeitraumes wird er mehrfach als Kommunist bezeichnet. Dies geschah offensichtlich auch, um jüdische Lehrerinnen, die ihm angeblich nahegestanden und an der Schule verblieben waren, zu diskreditieren. Wie oben dargestellt, war dies bei Sabine Deutsch-Edel und bei Irma Last der Fall. Auch an der in derselben Schule tätigen Deutschprofessorin Bianca Stern zeigt sich der Druck, dem jüdische Lehrkräfte damals ausgesetzt waren. Ein sie betreffender Akt im Bestand »Stadtschulrat« findet sich unter dem Indexschlagwort »Jüdisch-zionistische Lehrkräfte«.90 Dabei handelt es sich um ein Zitat aus einer Elternbeschwerde, in der von einer »Überdosierung jüdisch-zionistischer Lehrkräfte« die Rede ist.91 Der Deutsch- und Französischprofessorin Stern wurde vor allem ein negativer Umgang mit den Schülern und Schülerinnen vorgeworfen, aber auch, dass sie sich in Bezug auf zwei Tage religiöse Exerzitien, welche die katholischen Schüler und Schülerinnen außerhalb der Schule verbringen sollten, dahingehend geäußert habe, diese durch »Strafaufgaben« sabotieren zu wollen.92 Direktor Hinner schrieb dazu in seiner Stellungnahme an den SSR, dass es besser wäre, wenn sie an eine andere Schule käme und »an ihrer Stelle eine christlich eingestellte Lehrerin oder Professor eingestellt würde.«93 Stern wurde in der Folge tatsächlich an eine andere Schule versetzt. Mit Stern, Beran und Last hatten somit binnen eines Jahres mindestens drei jüdische bzw. jüdischstämmige LehrerInnen die Schule zu verlassen gehabt. Sieben weitere bzw. darüber hinaus auch zwei »Mischlinge« waren laut den Aufzeich-

87 WStLA, SSR, A23  : Dr. Alois Hinner, Schreiben an das BMfU, 22.4.1938. 88 WStLA, Historische Meldeunterlagen  : Dr. Hugo Beran  : Meldung, 10.11.1911, Konfession  : »evang. A.B.«  ; Meldung vom 8.12.1930  : »konfessionslos«. 89 WStLA, Historische Meldeunterlagen  : Emanuel und Rosa Beran  : Meldung, 12.8.1908, 2.11.1915. Das Bekenntnis beider war bis an ihr Lebensende (1916 bzw. 1917) »mosaisch«. 90 Vgl. WStLA, SSR, B5 – Geschäftsprotokoll II  : Bd. 16, Protokolleintrag zur Zl. 1422/1935. 91 WStLA, SSR, A2  : II 1422/1935, Beschwerdebrief  : Dr. Josef Rieger an den SSR, 10.5.1935. 92 Ebd. 93 WStLA, SSR, A2  : II 1422/1935, Schreiben  : Dr. Alois Hinner an den SSR, 18.5.1935.

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nungen des Nationalsozialisten Petschenka an der Schule verblieben.94 Immerhin war einer davon, Dr. Berthold Hirschl, sowohl Mitglied einer zionistischen Organisation als auch bis Ende 1933 der »Vereinigung sozialistischer Mittelschullehrer« gewesen.95 Ihnen standen neun illegale Parteigenossen der NSDAP und 42 weitere nichtjüdische LehrerInnen gegenüber.96 Über 40 Prozent der SchülerInnen waren an dieser Schule damals jüdischer Konfession.97 Was die an eine andere Schule versetzte Zeichenprofessorin Last anbelangt, so wurden ihr die 1935 offiziell als gegenstandslos erachteten Vorwürfe, Kinder misshandelt zu haben, innerhalb des SSR 1937 neuerlich zur Last gelegt, und zwar um ihre Versetzung in den vorzeitigen Ruhestand zu rechtfertigen. Mit Unterstützung des inzwischen pensionierten Spitzenbeamten des SSR Riebl, der zu seinem 1935 gegebenen Wort stand, dass Last aus dieser Sache trotz vermiedener Disziplinaruntersuchung kein Schaden erwachsen werde, und infolge eines positiven Gutachtens der Fachinspektorin Helene Cornaro konnte die Entlassung abgewendet werden.98 Nach dem »Anschluss« flüchtete Last ins Ausland.99 In Bezug auf jüdische Lehrkräfte fanden sich in den Akten des SSR für die Jahre 1933 bis 1938 noch andere Beispiele für Versetzungen in den vorzeitigen Ruhestand.100 Freilich ging es bei all diesen Entlassungen während der Herrschaft des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes auch um einen allgemeinen Lehrkräfteabbau. Vom Februar 1934 bis Jänner 1937 wurden in Wien insgesamt 1.212 LehrerInnen unfreiwillig in den Ruhestand versetzt bzw. gekündigt.101 Damit einhergehend kam es auch zu einer personellen Anpassung an die ideologischen Zielvorstellungen des Regimes im Schulbereich, unzählige sozialdemokratische LehrerInnen wurden entlassen. Das wirkte sich auf jüdische Lehrkräfte insofern aus, als die meisten davon der Sozialdemokratie nahe gestanden waren. Bruce Pauley spricht in Bezug auf sämtliche jüdische EinwohnerInnen Wiens von 75 Prozent, auf die dies zutraf.102 Die meisten davon wurden frühzeitig pensioniert, nur wenige wurden bei Entfall von Ruhebe 94 Darunter auch Sabine Deutsch-Edel, vgl. WStLA, Volksgericht, A1  : Vg 1i Vr 2111/49, Beilage  : Taschenjahrbuch 1937, 158–160.  95 WStLA, SSR, A23  : Dr. Berthold Hirschl.  96 WStLA, Volksgericht, A1  : Vg 1i Vr 2111/49, Beilage  : Taschenjahrbuch 1937.  97 Von 737 SchülerInnen waren 305 mosaischer Konfession, vgl.: WStLA, SSR, B20 – Zustandsbericht Mittelschulen  : Bd. 6, Schuljahr 1934/35.  98 WStLA, SSR, A3  : IIa 3372/37.  99 »Ausgezogen am  : 1938, nach  : unbekannt«, vgl. WStLA, Historische Meldeunterlagen  : Meldung, 11.10.1929. 100 WStLA, SSR, A3  : IIa 1129/37. 101 WStLA, SSR, A18/35  : Liste  : »Ausscheiden aus dem Schuldienste seit Februar 1934«, 14.1.1937. 102 Vgl. Tálos 2013, 395–397  ; Pauley 1990, 227.

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zügen gekündigt. Zweiteres traf etwa auf die durch ihre Sozialforschungen später so bedeutende Marie Jahoda-Lazarsfeld zu. Sie verlor ihre Stelle als Volksschullehrerin am 30. November 1934 »aus politischen Gründen«, weil sie sich bei den »Revolutionären Sozialisten« im Widerstand engagiert hatte.103 Ähnliches galt für den jüdischen Lehrer und Sozialdemokraten Dr. Alfred Apsler.104 Aber auch für nichtmarxistische jüdische LehrerInnen war die Situation aufgrund der allgemein rigiden Umsetzung des Lehrerabbaugesetzes schwierig.105 In den zahlreich überlieferten Konvoluten von Bewerbungsbögen106 finden sich vereinzelt auch jüdische BewerberInnen, doch hatten diese, soweit dies in den Quellen nachvollziehbar ist, infolge eines Überangebots an nichtjüdischen LehramtskandidatInnen diesen gegenüber immer das Nachsehen. Richard Thieberger, der damals ein junger Aspirant auf eine Stelle als Französischprofessor war, schrieb rückblickend, dass er nach 1934 als Jude in Wien keine Aussicht mehr hatte, eine Stelle zu bekommen.107 Die Situation für jüdische Lehrkräfte war auch schon vor 1934 sehr schwierig gewesen. Ein Beispiel dafür ist die spätere SPÖ-Nationalratsabgeordnete Stella Klein-Löw, die sich erinnerte, trotz hervorragender Zeugnisse als Jüdin und Sozialdemokratin keine Stelle bekommen zu haben und immer an den Vorbehalten der Schuladministrationen und jeweiligen Lehrerschaft gescheitert zu sein.108 Mit starker Unterstützung des SSR bekam sie 1933 schließlich eine Stelle im privaten Chajes-Realgymnasium.109 Diese Unterstützung für jene jüdischen Lehrkräfte, die der Sozialdemokratie nahestanden, war schließlich 1934 weggefallen. In jüdischen Privatschulen war die Situation etwas besser. Die bis dahin an einer anderen Schule tätige Professorin Felicia Bach bekam im Realgymnasium Novaragasse eine Stelle. Eigentlich war dort die jüdische Junglehrerin Minna Lachs unter den zehn Bewerberinnen aufgrund ihres »ungewöhnlichen pädagogischen Geschicks« die ausdrückliche Wunschkandidatin

103 WStLA, SSR, A2  : II 4211/1936, Konzept  : SSR an BMfU betreffend Verhaftung von Dr. Maria Lazarsfeld-Jahoda, 14.12.1936. Der Akt liegt unter der Zl. II 4254/37 ein  ; vgl. ebenso  : WStLA, SSR, A18/35  : Liste  : »Lehrpersonen seit Februar 1934 aus dem Schuldienst entlassen«. Apsler wurde im Dezember 1934 entlassen. 104 WStLA, SSR, A18/35  : Liste  : »Lehrpersonen seit Februar 1934 aus dem Schuldienst entlassen«. 105 Von Februar 1934 bis September 1937 wurden durch Pensionierung 776 Lehrkräfte abgebaut, 18 weitere gekündigt und elf entlassen, vgl. WStLA, SSR, A18/35  : Schriftstück  : »Abfall an Lehrpersonen«. 106 WStLA, SSR, A1, A2, A3. In diese drei Aktenserien wurde betreffend die Jahrgänge 1934–1937 mittels extensiver Stichproben Einsicht genommen. 107 Thieberger 2002, 313. 108 Klein-Löw 1980, 103f. 109 Shimron 1989, 24f.

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der Direktorin gewesen.110 Wie bei so vielen Frauen stand Lachs die vom Regime 1933 erlassene Doppelverdienerverordnung111 im Weg, denn auch ihr Mann hatte eine Anstellung bei der Stadt Wien.112 Hunderte Lehrerinnen, die verheiratet und deren Männer berufstätig waren, wurden entlassen. Von jenen Lehrkräften, die jüdische Vorfahren hatten, blieben lediglich Männer, die zu einer christlichen Konfession konvertiert waren und sich gerade in keiner marxistischen Partei engagierten, von all den Entlassungen unberührt. Ein Beispiel dafür ist der später zu großem Ruhm als Wissenschaftler gelangte Wiener Hauptschullehrer Karl Popper.113 Vom LehrerInnenabbau vergleichsweise in geringerem Maß betroffen waren auch jüdische ReligionslehrerInnen, wurde doch die Pflege der jüdischen Glaubensübung seitens der Schulbehörde eher gefördert. Die Direktorin der Privat-Mädchen-Mittelschule Luithlen in Wien 1., Tuchlauben 14, schreibt sogar 1934, sie habe wiederholt die Erfahrung gemacht, dass es »sehr schwierig« sei, »eine geeignete Lehrkraft für israelitische Religion zu finden«.114 Seitens der IKG wurden dem SSR neue ReligionslehrerInnen gemeldet und dieser stimmte den Vorschlägen, wenn die formalen Voraussetzungen gegeben waren, in der Regel zu.115 Dennoch zeigt eine interne Statistik des SSR, dass auch die städtischen Religionslehrerstellen, sowohl die katholischen als auch die israelitischen, abgebaut wurden.116 Allgemein schien die Zusammenarbeit zwischen SSR und IKG klaglos verlaufen zu sein. Auch der Herausgabe sämtlicher Namen und Adressen von jüdischen Kindern an die IKG zur Organisation von zusätzlichen religiösen Erziehungsmaßnahmen in externen Sprach- und Bibelschulen stimmte der SSR trotz rechtlicher Bedenken am 5.  November 1934 zu.117 Jede Schule ressortierte mit ihren jüdischen Schülern zu einer be110 111 112 113

WStLA, SSR, A2  : II 1733/37, Schreiben  : Direktorin Dr. Elise Deiner an den SSR, 25.9.1936. Vgl. zu diesem Thema Bei 2012, 197–206. Lachs 1986, 28f. WStLA, SSR, A1  : I 1715/34, Schreiben  : Direktion der Hauptschule für Knaben, Wien 14., Schweglerstraße 2–4 an SSR betreffend eine von Karl Popper gewünschte temporäre Karenzierung zur Abfassung einer wissenschaftlichen Arbeit, 27.2.1934. 114 WStLA, SSR, A3  : IIa 6128/34, Schreiben  : Direktorin Martha Fabian an den SSR, 5.10.1934. 115 WStLA, SSR, A1  : I 1553/34, Schreiben  : IKG an den SSR, 26.2.1934  : »Es wird, um die Ausstellung von Dienstantrittsbestätigungen für die Religionslehrerin Frl. Malka Rosenblum an folgenden Schulen ersucht und zwar  : I. Freyung 6, II. Czerninplatz 3, XXI Franklingstrasse 45, XXI Meissnergasse 1.« Der SSR schickte in der Folge Dienstantrittsbescheinigungen an die Schulleitungen, den Bezirksschulinspektor sowie an den Vorstand der IKG. 116 WStLA, SSR, A18/35  : »Stand der Lehrpersonen, Stichtag 1.10.1937«  : die Zahl der katholischen ReligionslehrerInnen verringerte sich von 1935 auf 1937 von 90 auf 82, jene der israelitischen von neun auf sieben. 117 WStLA, SSR, A1  : I 8247/34.

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stimmten Synagoge und die Schulgottesdienste wurden von IKG und SSR wie auch bei den christlichen Konfessionen unverändert jedes Jahr gemeinsam organisiert.118 Was die österreichische Schulbehörde in diesen Jahren forderte, war Patriotismus. Für die Verwendung der Zeitschrift »Jüdische Jugend« im Religionsunterricht, herausgegeben vom zionistischen »Jüdisch kulturellen Elternbund«, erteilte der SSR 1936 keine Bewilligung, weil sie dieser Forderung nicht entsprach.119 Dem zionistischen Chajes-Realgymnasium wurde indessen vom SSR anstelle des zu klein gewordenen Gebäudes in der Castellezgasse ein größeres Gebäude in Wien 20., Staudingergasse 6 zugewiesen.120

Zurück in die Vormoderne – Rekonfessionalisierung des Schulwesens Was bei der Durchsicht der Aktenserie »I Pflichtschulen« des SSR im Jahre 1934121 ins Auge fällt, sind chronologisch gleich zu Beginn die weit über 100 Akten betreffend Lehrer und Lehrerinnen sowie Schüler und Schülerinnen, die neu in eine Konfession eintraten, zurückkehrten oder in eine andere übertraten. In einem dazugehörigen Akt liest man  : »An den Stadtschulrat, der Unterzeichnete meldet, dass er am 9. März 1934 zum Judentume zurückgetreten ist und von der IKG in Wien in die mosaische Glaubensgemeinschaft wieder aufgenommen wurde. Karl Frank, Volksschullehrer«. Beigefügt ist diesem Schreiben auch eine Bestätigung des Rabbinates der IKG über den erfolgten »Rücktritt zum Judentume«, aus dem er am 5. Mai 1928 ausgetreten war.122 Diese Welle an Übertritten von konfessionslosen LehrerInnen und SchülerInnen in eine Konfession schwoll schon vor den Februarkämpfen des Jahres 1934 an, erreichte danach ihren Höhepunkt und ebbte erst in den Folgejahren wieder ab. Durch die Aufhebung des sogenannten Glöckelerlasses durch Unterrichtsminister Anton Rintelen im April 1933123 wurde für SchülerInnen die Teilnahme an religiösen Übungen wie Morgengebet, Gottesdienstbesuch und Sakramentenempfang 118 Konvolut mit jährlichen Schreiben der IKG Wien an SSR betreffend Einteilung der Jugendgottesdienste, 1923–1935  ; vgl. WSTLA, SSR, A3  : IIa 2992/35. 119 WStLA, SSR, A17/5 – Konfessioneller Unterricht, diverse Angelegenheiten  : Konzept  : SSR an »Jüdisch-Kultureller Elternbund«, 27.2.1936. 120 Shimron 1989, 29. 121 WStLA, SSR, A1  : 5/1934 – 744/1934. 122 WStLA, SSR, A1  : I 2401/34, Schreiben  : Karl Frank, Volksschullehrer in Wien 16., Ottakringerstr. 150 (tschechische Schule) an den SSR. 123 Liebmann 2005, 411  ; Engelbrecht 1988, 270.

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wieder verpflichtend und ebenso die Begleitung, Beaufsichtigung und Sanktionierung all dieser Übungen durch die Lehrkräfte, und zwar auch durch jene, die nicht Religionslehrer waren.124 In einer Zeit, in der unzählige Lehrer und Lehrerinnen entlassen bzw. vorzeitig in den Ruhestand versetzt wurden, bestand hier ein enormer Druck, rasch wieder einer Religionsgemeinschaft beizutreten, zumal es klar schien, dass konfessionell gebundenen BewerberInnen der Vorzug gegeben werden würde bzw. ungebundene ihre Stelle als Erste verlieren würden. In der ständestaatlichen Verfassung vom 1. Mai 1934 heißt es zwar, dass die Zulassung zu öffentlichen Stellungen, Ämtern und Würden vom Religionsbekenntnis unabhängig sei (Art.) 27 (2), es konnten aber »für den Schuldienst [… ]Ausnahmen von diesem Grundsatz durch Gesetz aufgestellt werden.«125 Die meisten LehrerInnen, die vielfach in den 1920er Jahren ausgetreten waren, kehrten indessen wieder in die katholische Kirche zurück.126 Zahlreiche andere verweigerten sich dem aber offenbar und zeigten ihren Widerstand dadurch, dass sie, obwohl ursprünglich römisch katholisch gewesen, nun in die Altkatholische Kirche eintraten.127 Einen zusätzlichen Faktor bildete dabei wohl, dass die Altkatholiken im Gegensatz zur katholischen Kirche auch geschiedene wiederverheiratete Personen aufnahmen. Auch ehemalige Mitglieder der IKG, darunter die bereits angesprochene im Untergrund für die Revolutionären Sozialisten engagierte Marie Jahoda-Lazarsfeld, kehrten im Februar 1934 von der Konfessionslosigkeit in ihre ursprüngliche Glaubensgemeinschaft zurück.128 In nicht wenigen Fällen erfolgte von ehemaligen IKG-Mitgliedern auch ein Übertritt in die katholische oder evangelische Kirche.129 In einer ähnlichen Situation befanden sich auch Schüler und Schülerinnen. Der sozialdemokratische Schulreformer Glöckel hatte, sich auf das Staatsgrundgesetz von 1867130 stützend, betont, dass die Nichtteilnahme an religiösen Übungen auf die 124 Dachs 2012, 283f. 125 Verfassung vom 1.5.1934, § 27, Abs. 2, 3, BGBl. II 1/1934. 126 1934 traten in Österreich 32.943 Personen wieder in die Katholische Kirche ein, vgl. Engelbrecht 1988, 264. 127 Dies gilt auch für Wien allgemein  : 1.571 Eintritten in die Altkatholische Kirche im Jahr 1933, 7.177 im Jahr 1934, vgl. Statistisches Jahrbuch Wien 1935, 203f.; laut einer internen Aufstellung des SSR gab es fünf altkatholische Lehrer 1913 und 70 im Jahre 1937, vgl. WStLA, SSR, A18/35  : Liste 1937  : »Religionsbekenntnis der Lehrpersonen«. 128 WStLA, SSR, A1  : I 2345/34, Schreiben  : Direktion der Volksschule Wien 3., Hörnesgasse 12 an den SSR, 7.3.1934. 129 Statistisches Jahrbuch Wien 1937, 228  ; vgl. ebenso Archiv der IKG Wien, Proselytenprotokoll IKG Stadt. 130 »Niemand kann zu einer kirchlichen Handlung oder zur Teilnahme an einer kirchlichen Feierlichkeit gezwungen werden«  ; vgl. RGBl. 142/1867, Art. 14, Abs. 3.

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Klassifikation des Schülers keinen Einfluss haben solle. Nun mussten die regelmäßig am Samstag stattfindenden jüdischen Jugendgottesdienste verpflichtend besucht werden. Bei den Eltern herrschte jetzt offensichtlich die Angst vor, dass konfessionslose Kinder in sittlicher Hinsicht als inferior betrachtet würden, und führten diese deshalb wieder einer Konfession zu bzw. meldeten sie zum Religionsunterricht an. Die diesbezüglichen Einträge in das Geschäftsbuch des SSR häuften sich 1934 derart, dass die Kanzleikräfte extra einen Stempel für »Besuch d. kath. Rel. Unt.« schneiden ließen, um viele Dutzend gleichlautende Aktenbetreffe nicht immer händisch eintragen zu müssen.131 Gerade bei geschiedenen jüdischen Ehepaaren, die sich konfessionell in verschiedene Richtung hin neu orientiert hatten – oft waren es die Männer, die sich assimilierten und taufen ließen –, führte dies nun zu schlimmen Streitigkeiten vor dem SSR. Es ging um die Frage, welchen Religionsunterricht – den israelitischen oder katholischen – das Kind nun besuchen sollte. Der Eindruck, der sich aus den Quellen gewinnen lässt, ist jener, dass die Behörde hier nicht unbedingt die Annahme der katholischen Konfession forcierte, sondern einfach den vorgegebenen Normen folgte. Nicht erfüllbar war der gar nicht so seltene Wunsch von Eltern verschiedener Konfession, sich hinsichtlich des gemeinsamen Kindes auf den Kompromiss »konfessionslos« einigen zu können. Der SSR schrieb z. B. im Jahre 1937 an Eltern, von denen der Vater konfessionslos war, die Mutter hingegen jüdisch  : »Eine derartige Vereinbarung ist ungültig, weil das Gesetz den Eltern lediglich das Recht einräumt, für die Kinder eine Religion zu vereinbaren, nicht aber auch den Stand der Konfessionslosigkeit, der einem Religionsbekenntnisse nicht gleich zu achten ist. Das Kind hat demnach seiner Mutter in das israelitische Religionsbekenntnis zu folgen. Gegen diesen Bescheid ist eine weitere Berufung unzulässig.«132

Die »Parallelklassen-Aktion« Eine politische Handlung, die im Kontext Dolluß/Schuschnigg-Regime und Antisemitismus in der wissenschaftlichen Literatur immer wieder thematisiert wird,133 ist der Parallelklassen-Erlass des Bundesministeriums für Unterricht vom 4. Juli 1934.134 Demnach sollten in Mittelschulen bei der Teilung von Schülern bzw. Schülerinnen in 131 WStLA, SSR, B1 – Geschäftsprotokoll I Pflichtschulen, Bd. 175, 176. 132 WStLA, SSR, A2  : II 3730/36. 133 Vgl. Göllner 2009, 40–44  ; Lichtblau 2006, 510f.; Pauley 1993, 331f.; Wohnout 1994, 10f.; Freidenreich 1991, 198–200, 272. 134 Erlass des BMfU, 4.7.1934, Z. 16502.

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mehrere Parallelzüge alle nichtkatholischen Schüler in einer Klasse zusammengeführt und nicht mehr auf zwei oder alle Parallelzüge aufgeteilt sein. Als Begründung dafür nannte der Erlass »schulpraktische Erwägungen«. Gemeint war damit, dass durch die Bildung von konfessionell homogenen Klassen die Organisation des Religionsunterrichts eine Erleichterung erfahren würde und mit der erwarteten Reduktion von Religionsstunden eine Kostenersparnis einherginge. Diese Verordnung wurde in Wien mit Erlass des SSR Nr. 151/1934 umgesetzt und bezog sich auf Mittelschulen, also Gymnasien, Realgymnasien, Realschulen und Lehrerbildungsanstalten. Die Umsetzung dieses Erlasses führte zu einer einstimmig ablehnenden Resolution durch die IKG Wien.135 Dort befürchtete man, dass mit diesem Erlass »bei den Kindern israelitischen Religionsbekenntnisses das Gefühl der Zurücksetzung« erweckt werde.136 Selbst in der dem Regime ansonsten mit großer Nachsicht begegnenden, assimilatorisch orientierten »Union österreichischer Juden« bzw. in deren Wochenzeitschrift »Die Wahrheit« übte man offene Kritik an diesem Erlass und forderte die Beibehaltung der interkonfessionellen Simultanschule.137 Die Kritik des zionistischen »Jüdischen Volksbundes« war dagegen anders gelagert. Die Zionisten forderten eine wesentlich weitergehende Separierung als es der Erlass eigentlich vorsah, nämlich ein »öffentliches jüdisches Schulwerk«, worunter diese »mit öffentlichen Mitteln erhaltene Schulen für jüdische Schüler mit jüdischen Lehrern« verstanden.138 Dieses hätte für jüdische Kinder eine Alternative zum öffentlichen Schulsystem bilden sollen, damit jüdische Kinder nicht mehr überwiegend christlichen und oftmals antisemitischen Lehrern ausgesetzt wären.139 Die einzige Gruppierung innerhalb der jüdischen Bevölkerung Wiens, die den Erlass uneingeschränkt begrüßte, war »Agudas Israel«, eine Vereinigung, welche die Orthodoxen repräsentierte und der Rekonfessionalisierungspolitik des Regimes positiv gegenüberstand.140 Allerdings war diese Fraktion innerhalb der jüdischen Bevölkerung sehr klein. Für die letztendliche Erfolglosigkeit des Protests der IKG wurde seitens der »Union österreichischer Juden« die Uneinigkeit zwischen den einzelnen jüdischen Fraktionen als Grund gesehen.141 Doch Proteste kamen nicht nur von jüdischer Seite, es gab auch eine öffentliche Wortmeldung der katholischen Antisemitismuskritikerin Irene Harand. Sie prognos135 »Die Wiener Kultusgemeinde gegen das Schulghetto«, in  : Die Stimme, 28.9.1934, 1. 136 »Gegen die Judenklassen«, in  : ebd. 137 »Nicht so wehleidig sein …  !«, in  : Die Wahrheit, 28.9.1934, 1. 138 WStLA, SSR, A3  : IIa 6128/34, Schreiben  : SSR an das Präsidium der Stadt Wien, 15.1.1935. 139 Göllner 2009, 42. 140 Maderegger 1973, 45f. 141 »Unser Blick in eine lichtere Zukunft«, in  : Die Wahrheit, 5.10.1934, 1  ; vgl. ebenso Ornstein 1937, 37.

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tizierte schon im September 1934  : »Die katholischen Kinder in den rein katholischen Klassen werden sich besser dünken als ihre jüdischen Mitschüler und letztere werden von einem Gefühl der Minderwertigkeit befangen werden, da man sie in eigene Klassen verbannt.«142 Auch international erhob sich heftige Kritik, der sich Bundeskanzler und Unterrichtsminister Kurt Schuschnigg während seines Aufenthalts bei einer Völkerbundversammlung am 12. September 1934 in Genf ausgesetzt sah.143 Immerhin erfolgte zwei Wochen darauf seitens des Kanzlers eine leichte Abschwächung des Erlasses und zwar dergestalt, dass für Schüler und Schülerinnen aus der zweiten bis achten Klasse, für die sich durch das Ausscheiden aus ihrem bisherigen Klassenverband und Einreihung in eine Parallelklasse besondere Schwierigkeiten ergeben würden, nun mildernde Vorkehrungen getroffen werden sollten. Grundsätzlich wurden die Bestimmungen aber beibehalten.144 Am 3. Oktober 1934, also einen Monat nach Schulbeginn, forderte der SSR die Administrationen der Wiener Mittelschulen auf, über die Umsetzung des Erlasses Bericht zu erstatten. Es gab damals 80 allgemeinbildende höhere Schulen in Wien.145 Von diesen sind 66 Rückmeldungen an den SSR überliefert.146 Sie zeigen all die Verwerfungen auf, die sich infolge des Erlasses ergeben hatten. Für ca. die Hälfte der Schulen erwies sich dieser als praktisch nicht umsetzbar. Dies war entweder der Fall, weil man Burschen und Mädchen aus einer spezifischen Schultradition heraus getrennt unterrichten und nicht eigens zur Konzentration aller Nichtkatholiken koedukativ zusammenmischen wollte,147 oder auch weil die parallelen Klassenzüge verschiedenen Schultypen entsprachen und man deren SchülerInnen nicht zusammenwürfeln konnte. In kleineren Schulen wiederum existierte überhaupt nur ein Klassenzug und somit gar keine Parallelklasse. Manchmal war auch ein Teil der SchülerInnen, sei es der katholische oder auch der nichtkatholische, so groß, dass dafür kein ausreichend großer Raum zur Verfügung stand. Generell gewinnt man den Eindruck, dass der Erlass an den meisten Schulen sehr eigenmächtig interpretiert wurde und seine Umsetzung meist nur in neukonstituierten Klassen am Beginn eines Schulabschnittes erfolgte. Folgt man den Rückmeldungen an den SSR, so war das bei 34 – also rund der Hälfte – der Schulen der Fall. In diesen entstand in der ersten Schulstufe jeweils 142 Harand 1934, 2. Für den Hinweis auf diesen Artikel danke ich Christian Klösch. 143 Wohnout 1994, 10f. 144 WStLA, SSR, A3  : IIa 6128/34, Schreiben  : Unterrichtsminister bzw. Kanzler Schuschnigg an den Wiener Bürgermeister Schmitz, 29.9.1934. 145 Amtskalender 1934, 799–803. 146 WStLA, SSR, A3  : IIa 6128/34. 147 Die Schulpolitik des Regimes hatte die Abkehr von der Koedukation zum Ziel, vgl. Sorgo 1978, 105f.

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eine reine Katholikenklasse. In insgesamt zwölf davon wurden darüber hinaus auch einige höhere Klassen nach konfessionellen Gesichtspunkten neu zusammengesetzt. Klassen mit ausschließlich jüdischen Schülern gab es nur in höheren Schulen mit dominierendem jüdischem Schüleranteil, etwa im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Dort wurden parallel zu gemischtkonfessionellen Klassen rein israelitische Klassen geführt. In der Rückmeldung des privaten Mädchenrealgymnasiums im zweiten Bezirk, Novaragasse 30, zeigte man sich mit dem Parallelklassen-Erlass durchaus einverstanden, zumal dort schon bisher alle strenggläubigen jüdischen Mädchen separat in einer eigenen Klasse gewesen waren, um am Samstag die Schabbatregeln einhalten zu können, »ohne schreiben zu müssen«.148 Die konfessionslosen Mädchen sowie Kinder anderer Konfessionen wurden gemeinsam in einer eigenen Klasse unterrichtet. Ähnlich verhielt es sich im Bundesgymnasium Wien 2., Zirkusgasse 48.149 Es bildete sich hier reziprok eine ähnliche Situation wie in jenen Schulen ab, wo es neben den rein katholischen Klassen gemischtkonfessionelle Parallelklassen gab. Was die Reaktion der von diesen Umwälzungen betroffenen jüdischen Eltern anlangt, so wird in insgesamt sechs der Rückmeldungen an den SSR über den Unmut berichtet, der bei diesen entstanden sei. Man hatte den Eindruck, dass hier eine »konfessionell motivierte Trennung« stattfinde. In der Privat-Mädchen-Mittelschule Luithlen in Wien 1., Tuchlauben 14, einer Privatschule mit hohem Anteil an jüdischen Schülerinnen und Lehrkräften etwa hatte es, so schreibt deren Direktorin, regelrecht eine »israelitische Protestbewegung« gegeben150 – und dies, obwohl man wegen der Befürchtung »durch eine strenge Scheidung nach Konfessionen die Gefühle der israelitischen Elternschaft zu verletzen« eine solche gerade nicht vorgenommen habe. Es seien nämlich noch vor Bekanntgabe des Erlasses zur Vermeidung von zusätzlichen Nachmittagsstunden aus Religion neben einer Klasse mit 28 ausschließlich israelitischen Schülerinnen in einer Parallelklasse fünf weitere israelitische Schülerinnen mit allen römisch-katholischen, evangelischen, altkatholischen und konfessionslosen zusammengefasst worden. Die jüdische Elternschaft habe aber mit Hinweis auf die gesetzlich gewährleistete Gleichberechtigung der Konfessionen »eine gleichmäßige Verteilung der israelitischen Schülerinnen auf beide Parallelklassen« verlangt. Sie wisse nun nicht, ob sie gemäß dem Erlass auch die fünf übrigen israelitischen Schü148 WStLA, SSR, A3  : IIa 6128/34, Schreiben  : Dr. Elise Deiner, Direktorin des Realgymnasiums für Mädchen, Wien 2., Novaragasse 30, an den SSR, 6.10.1934, vgl. zum Thema »Schreibverbot«  : Archiv der IKG, Religionsunterricht, 1.556. 149 WStLA, SSR, A3, IIa 6128/34, Schreiben  : Direktion des Bundesgymnasiums Zirkusgasse 48 an den SSR, 6.10.1934. 150 WStLA, SSR, A3  : IIa 6128/34, Schreiben  : Martha Fabian, Direktorin der Privat-Mädchen-Mittelschule Luithlen, an SSR, 5.10.1934.

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lerinnen der rein jüdischen Klasse zuführen solle, die aber dann zu groß wäre, oder ob sie eine gleichmäßige Verteilung aller jüdischen Schülerinnen vornehmen solle.151 In der Rückmeldung einer anderen Schule, des Privaten Mädchen-Realgymnasium des Schulvereines für Beamtentöchter, 8., Lange Gasse 47, heißt es gegenüber dem Stadschulrat, dass eine Belassung der gemischten Verteilung der Schülerinnen »pädagogisch (auch religiös) und administrativ vorzuziehen« sei.152 Im Reskript des Realgymnasiums des Wiener Frauen-Erwerb-Vereines wiederum liest man  : »Der Direktion scheint es nach den Berichten der Lehrer, als ob durch diese Teilung – trotzdem sie stundenplantechnisch günstig ist – Gegensätze zwischen den Kindern geschaffen würden.«153 Von der katholischen Elternschaft kamen keine nennenswerten Einwände gegen den Erlass. Etwas anders war das bei den Eltern evangelischer Schüler und Schülerinnen. Hier gab es doch mindestens drei Beschwerden darüber, dass ihre Kinder nun in einer jüdisch-dominierten Klasse sitzen müssten. Viktor Miltschinsky, ein ehemaliger Funktionär der Großdeutschen Volkspartei,154 dessen Sohn das Akademische Gymnasium im ersten Wiener Gemeindebezirk besuchte, schrieb in diesem Sinne an den SSR folgendes  : »In der israelitischen Klasse steht er [sein Sohn, Anm. d. Verf.] nun einer verhältnismäßig großen Anzahl reicher Schüler gegenüber, die sich ihres Reichtums auch sehr deutlich bewusst sind. Ich möchte meinen Sohn aus der Gefahr, die diese Umgebung für ihn bedeutet, gerne befreit sehen. Ähnlich liegt es auch auf geistigem Gebiete. Die fast rein jüdische Klasse ist in ihrer Gesamtheit naturgemäß geistig viel frühreifer und bereits Genüssen und Eindrücken zugänglich, die ich für meinen Sohn erst für spätere Jahre hätte in Aussicht nehmen wollen […]. Absolut unerwünscht wäre mir vor allem auch der Einfluss einer geschlossenen jüdischen Klasse auf sexuellem Gebiete, wo sich die notorische frühere Reife ganz besonders geltend machen muss.«155 Der SSR antwortet abschlägig und begründet dies in sehr einsilbiger Weise damit, dass eine ausnahmsweise Behandlung seines Sohnes zu einer 151 Ebd.; ein Antwortschreiben des SSR ist nicht überliefert. 152 WStLA, SSR, A3  : IIa 6128/34, Schreiben  : Dr. Ludwig Hänsel, Direktor des Mädchen-Realgymnasiums des Schulvereins für Beamtentöchter in Wien VIII, an den SSR, 21.9.1934. 153 Ebd., Schreiben  : Hildegard Meißner, Direktorin des privaten Realgymnasiums, Oberlyzeums und der Frauen-Oberschule des Wiener Frauen-Erwerb-Vereines, Wien 4., Wiedner Gürtel 68, an den SSR, 9.10.1934. 154 Dr. Viktor Miltschinsky (9.8.1887–6.3.1974) geb. in Feistritz im Rosental, Mittelschullehrer, Funktionär in der Wiener Landesorganisation der Großdeutschen Volkspartei, infolge des Juliabkommens Volkspolitischer Referent in der Wiener Landesführung der VF und Verbindungsmann zu den Deutschnationalen, 1949 Obmann des Wiener VdU, vgl. Broucek 1983, 204. 155 WStLA, SSR, A3  : IIa 6128/34, Schreiben  : Dr. Viktor Miltschinksy an den SSR, 22.10.1934.

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allgemeinen Verstimmung führen würde.156 Auf das von Miltschinsky gebotene Panoptikum antisemitischer Stereotypen wurde dabei nicht eingegangen. Im Jänner 1935 wurde schließlich von einer in den Quellen als »Judenkongress in New-York« bezeichneten Seite gegenüber diesem Erlass Beschwerde erhoben und über den österreichischen Gesandten an die Bundesregierung weiter übermittelt.157 Es wurde darin der Parallelklassen-Erlass als »Ghettoschulgesetz« bezeichnet, und zwar mit der Begründung, dass die Trennung von Katholiken und Nichtkatholiken in der Praxis dazu geführt habe, dass christliche Klassen, aus Katholiken und Protestanten zusammengesetzt, zu einer »Isolierung der Juden« geführt hätten, und dies nicht nur in Mittelschulen, sondern auch in mehreren Volksschulen des zweiten Wiener Bezirks. Für Letzteres konnte in den Standesausweisen der Schuljahre 1934/35 sowie 1935/36 kein Nachweis gefunden werden.158 Überprüft man den ersten Teil der Beschwerde anhand der Rückmeldungen der einzelnen Mittelschulen, so lässt sich nachweisen, dass sich diese kritisierte Konstellation abgesehen von rein jüdischen Privatschulen nur in zehn Fällen ergab.159 An doppelt so vielen Schulen waren jüdische Kinder und Jugendliche mit Protestanten, Altkatholiken und Konfessionslosen in einer Klasse zusammengefasst. Die Parallelklassen gab es jedenfalls trotz all der Proteste weiterhin, und sie wurden in der jeweils ersten Klasse an vielen höheren Schulen implementiert. Allerdings dürfte diese Aktion nicht mit sonderlichem Nachdruck weiterverfolgt worden sein, denn es lassen sich zu dieser Angelegenheit im Geschäftsprotokoll des SSR in den Folgejahren bis inklusive 1938 nur ganz spärliche Protokolleinträge finden. Wie inkonsequent und teilweise unambitioniert der Parallelklassen-Erlass auch umgesetzt worden sein mag – es ist wichtig, in diesem Zusammenhang auch auf das subjektive Erleben jener SchülerInnen hinzuweisen, die davon betroffen waren. Renate Göllner, die zahlreiche Lebenserinnerungen von ehemaligen jüdischen Wiener Schülern gesammelt hat, zitiert Arie Rath, der vier Jahre lang im Wiener Wasagymnasium in einer jüdischen Parallelklasse verbracht hat, und das sehr in ebenso negativer Erinne156 Ebd., Konzept  : SSR an Dr. Viktor Miltschinksy, 26.10.1934. 157 WStLA, SSR, A2  : II 6128/34, Schreiben  : Präsidium des SSR an Dr. Ignaz Riebl, 15.1.1935  ; vgl. ebenso »Die Wiener Kultusgemeinde gegen das Schulghetto«, in  : Die Stimme, 28.9.1934, 1. 158 Dazu wurde in folgende Aktenserie Einsicht genommen  : WStLA, SSR, A9/1  – Standesausweise öffentliche Schulen  : Schuljahr 1934/35. 159 WStLA, SSR, A2  : II 6128/34, rein jüdische Klassen in  : Akademisches Gymnasium (1. Bez.), Bundesgymnasium Zirkusgasse (2. Bez.), Bundesgymnasium Wasagasse (9. Bez.), Bundesrealgymnasium Stubenbastei (1.  Bez.), Bundesrealgymnasium Hagenmüllergasse (3.  Bez.), Döblinger Mädchenmittelschule, Gymnasiumstraße (19. Bez.), Öffentliches Realgymnasium für Mädchen, Novaragasse (2. Bez.), eine beinahe »reine« jüdische Klasse gab es in der Bundesrealschule für den 1. Bezirk und möglicherweise noch in zwei weiteren Schulen, deren Angaben nicht eindeutig sind.

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rung hat wie Herbert Wise im Realgymnasium Schottenbastei. Beiden wurde in dieser Zeit durch das schulische Umfeld vermittelt, »Schüler zweiter Klasse« zu sein.160 Zur Frage der Intention des Parallelklassenerlasses lässt sich grundsätzlich festhalten, dass der Wunsch nach einer möglichst klaren Separierung der jüdischen EinwohnerInnen Wiens von der übrigen katholisch dominierten Gesellschaft bis in die Vormoderne, also weit hinter das Toleranzpatent von 1782, zurückreicht.161 Auch letzteres sah selbst noch bei den »tolerierten Juden« in vielerlei Hinsicht eine Separierung vor.162 In dieser Tradition steht auch noch der Parallelklassen-Erlass von 1934, der übrigens in ähnlicher Form schon einen Vorläufer hatte. Am 5. September 1889 war vom christlichsozial dominierten Wiener Bezirksschulrat ein Erlass herausgegeben worden, der schon damals eine Trennung der SchülerInnen nach Konfessionen vorgesehen hatte. Gescheitert war dieser Erlass schließlich am Protest der IKG und am damaligen Unterrichtsministerium, das dessen Durchführung für »nicht statthaft« erklärte.163 Im Jahre 1918 fand sich diese Idee im christlichsozialen Wahlprogramm wieder,164 und im Februar 1922 hatte der österreichische Episkopat in einem »Schulhirtenbrief« erneut eine ähnlich lautende Forderung erhoben. Katholische Kinder sollten demnach »möglichst getrennt von andersgläubigen Kindern unterrichtet und erzogen« werden. Mit dem Inkrafttreten des Konkordats am 1. Mai 1934 gewann diese Forderung schließlich neue Aktualität.165 Der bei den Konkordatsverhandlungen geäußerte Wunsch nach einer Wiedereinführung der konfessionellen Staatsschule konnte nicht erfüllt werden, diesbezügliche Bestimmungen des Reichsvolksschulgesetzes blieben unangetastet.166 Aber das Dollfuß/Schuschnigg-Regime wollte der katholischen Kirche nun auf andere Weise entgegenkommen und durch rein katholische Klassen eine Intensivierung des Glaubenslebens ermöglichen.167 Die SchülerInnen sollten in einen ungebrochenen religiösen Kosmos eintauchen können, religiöse Inhalte sich auch außerhalb des spezifischen Religionsunterrichts wie z. B. im Fach Musikerziehung in Form der Einübung von Kirchenliedern wiederfinden können.168 Inwieweit das Regime, als der Parallelklassen-Erlass im Jahr 1934 umge160 Göllner 2009, 42f.; R ath 2012, 23f.; weitere Erinnerungen bei Lichtblau 2006, 510f.; Freidenreich 1991, 198–200. 161 Loinig 2016, 20–28. 162 Staudacher 2006, 12–14. 163 »Die Wiener Kultusgemeinde gegen das Schulghetto«, in  : Die Stimme, 28.9.1934, 1. 164 Mähr 2014, 87. 165 Liebmann 2005, 399. 166 Ebd., 410. 167 Dachs 1982, 228f.; Pfefferle 2010, 161. 168 WStLA, SSR, A1  : I 2448/34.

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setzt wurde, darüber hinaus auch antisemitischen Forderungen nachkommen wollte, lässt sich in den Quellen des SSR in expliziter Weise nicht nachweisen. Bedenkt man andererseits, dass diese Maßnahme des Schuschnigg-Regimes vor dem Hintergrund einer bereits 1933 in Hitlerdeutschland erlassenen Gesetzgebung zur Verdrängung jüdischer Kinder aus den deutschen Bildungseinrichtungen erfolgte,169 und dass im Vorfeld des österreichischen Parallelklassenerlasses auch keinerlei Einvernehmen mit der IKG Wien hergestellt worden war,170 so scheint dies über das übliche Maß an Ignoranz bzw. fehlender Sensibilität hinauszugehen. Von Antisemiten innerhalb und außerhalb des Regierungslagers musste dieser Erlass als politisches Signal gedeutet werden, und dies wurde er auch, wenn auch höhnisch als »schwächliches«.171

Zusammenfassung Die Akten des Archivbestandes »Stadtschulrat Wien« eignen sich dazu, einen schmalen Lichtkegel in die »black box« des schulischen Geschehens der Jahre 1933 bis 1938 zu werfen. Sie machen evident, dass in den teils offenen politischen und sozialen Auseinandersetzungen zwischen SchülerInnen, LehrerInnen und Eltern das Ressentiment »Antisemitismus« oftmals eine Rolle spielte. Die Schulaufsichtsbehörde im Verein mit der »Vaterländische Front« ahndete vor allem Vorkommnisse, die der Gesinnung und Politik des herrschenden Regimes zuwiderliefen, etwa kommunistische oder nationalsozialistische Agitation. Antisemitismus sanktionierte die Behörde lavierend und ohne dass sie gegen diesen offiziell Stellung beziehen wollte. Es finden sich unter den Akten des SSR auch seltener Eingaben von Opfern des Antisemitismus als vielmehr solche von Antisemiten selbst, die sich als Opfer von Juden gerierten. Getarnt durch antimarxistische Diktion, vorgetragen im Kontext christlichsozialer Gesinnung, wurden antisemitische Eingaben von der Behörde aufgenommen und auf einer scheinbar rein normativen Ebene behandelt. An den Beispielen Last und Stern konnte gezeigt werden, dass solche, selbst ins Absurde gehende Anschuldigungen dennoch für jüdische Lehrkräfte negative Konsequenzen haben konnten, zumal die Behörde versuchte, es den Beschwerdeführern möglichst recht zu machen. Umgekehrt wurde die Behörde dort, wo sie einen sich im Bereich des illegalen National-

169 RGBl 1933 I, 225. 170 »Gegen die Judenklassen«, in  : Die Stimme, 28.9.1934, 1. 171 Diese Attribuierung »schwächlich« stammt vom deutschnationalen Historiker Reinhold Lorenz, zit. n. Königseder 2012, 57  ; Rütgen 1989, 124f.

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sozialismus zeigenden Antisemitismus negativ sanktionierte, selbst bezichtigt, unter jüdischem Einfluss zu stehen. Von Ambivalenz geprägt ist auch der sogenannte Parallelklassen-Erlass. Mit der formalen Begründung eines höheren praktischen Nutzens in der Organisation von Religionsstunden erfolgte eine Separierung von katholischen Schülern und Schülerinnen von den übrigen Konfessionen. Damit trug man sowohl den traditionellen kirchlichen Forderungen Rechnung als auch unausgesprochen solchen von Antisemiten. Dass orthodoxe Juden diese Trennung mitunter als positiv erachteten, sie den Zionisten zu wenig weit ging und vor allem die integrations- bzw. assimilierungsorientierten Juden dagegen protestierten, zeigt die starke Fragmentierung der jüdischen Gemeinde in Wien. Ähnlich wie in der übrigen Gesellschaft standen einander auch hier die politischen Strömungen des Konservativismus und jene der Moderne teils unversöhnlich gegenüber. Der Parallelklassen-Erlass selbst wurde in Mittelschulen umgesetzt und dies aufgrund großer organisatorischer Hindernisse in nur der Hälfte aller Schulen. In diesen waren wiederum meist nur sich neu konstituierende Klassen davon betroffen. In der Praxis ergaben sich Klassen mit rein jüdischen SchülerInnen eher selten. Dieser lückenhaften Umsetzung ungeachtet empfanden viele betroffene jüdische Eltern sowie auch SchülerInnen die Konsequenzen dieses Erlasses als negativ. Was jüdische Lehrkräfte anlangt, so fanden diese nach 1934 in den öffentlichen Schulen nur mehr äußerst selten eine Anstellung. Auch der Wiedereintritt aus der Konfessionslosigkeit in die Israelitische Kultusgemeinde sowie der Eintritt in die VF bewirkten wenig, erst recht, weil diese jüdischen Lehrerinnen und Lehrer überwiegend der in die Illegalität gedrängten Sozialdemokratie nahestanden. Wie sich am Beispiel der Pflichtschulen des zweiten Wiener Gemeindebezirks zeigte, verringerte sich der Anteil an jüdischen SchulleiterInnen von 1934/35 auf 1935/36 deutlich, auch bei den jüdischen LehrerInnen war dies der Fall. Anhand der inneren Vorgänge im Realgymnasium Unterbergergasse ließ sich exemplarisch zeigen, wie insbesondere von Seiten der nichtjüdischen Elternschaft Druck auf die Schulbehörden ausgeübt und eine Reduktion des jüdischen Lehreranteils durchgesetzt wurde. In Rechnung zu stellen ist bei alldem der allgemein erfolgende starke LehrerInnenabbau. Dieser machte auch vor jüdischen Religionslehrern und -lehrerinnen, für deren Rekrutierung sich aufgrund der Rekonfessionalisierungspolitik des Dollfuss/Schuschnigg-Regimes ein verstärkter Bedarf ergeben hatte, nicht halt. Jüdische Privatschulen stießen durchaus auf das Wohlwollen des Regimes, entsprachen sie doch seiner Intention der konfessionellen Trennung. Auf einer Metaebene zeigt sich in Hinblick auf die gerade im Schulbereich betriebene Rekonfessionalisierung ein gravierendes Problem. Indem nämlich das Regime gesetzlich, aber auch durch politischen Druck die Konfession als individuelles

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Identitätsmerkmal wieder derartig reaktivierte, wurde auch die in der Vormoderne so hervorgestrichene Alienität der Juden neuerlich befördert und wirkte damit exkludierend und dissimilierend. In einem sich in seiner Verfassung als »christlich und vaterländisch« definierenden Staat bedeutete das realiter für eine darin nicht inbegriffene Glaubensgemeinschaft wie die jüdische die Zuweisung der alten vormodernen gesellschaftlichen Rolle, nämlich jener der Inferiorität. In Anbetracht der nationalsozialistischen Gefahr sahen viele jüdische SchülerInnen in diesem Staat dennoch ihren letzten Rettungsanker: So verfassten am 26. Februar 1938 ca. 500 Schüler des Erzherzog Rainer Realgymnasiums in Wien II – ungefähr die Hälfte davon war jüdisch – ein gemeinsames Schreiben an Bundeskanzler Schuschnigg. In Anspielung an dessen Rede vom 24. Februar dankten sie ihm für „die Wahrung und Unabhängigkeit unseres Vaterlandes“ und gelobten letzterem „Treue bis in den Tod“. Dieser patriotische Brief, der von jedem einzelnen Buben eigenhändig unterschrieben wurde, langte erst am 10. März 1938 beim Wiener Stadtschulrat ein und hat diesen mangels Adressaten nicht mehr in Richtung Bundeskanzleramt verlassen.

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Schule und Antisemitismus 1933 bis 1938

SSR, A18 – Sammelakten  : Personalangelegenheiten. SSR, A23 – Personalakten Mittelschullehrer. SSR, B1 – Geschäftsprotokoll I Pflichtschulen. SSR, B5 – Geschäftsprotokoll II Gymnasien, Realgymasien und Lehrerbildungsanstalten. SSR, B20 – Zustandsbericht Mittelschulen. Volksgericht, A1 – Strafakten. Historische Meldeunterlagen. M.Abt. 119, A32 – Gelöschte Vereine. Historische Meldeunterlagen. Volksgericht, A1.

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Antisemitismus am Beispiel der Personalpolitik bei Richtern und Staatsanwälten 1933 bis 1938 Einführung Forschungen zum Antisemitismus bei Richtern und Staatsanwälten in der Zwischenkriegszeit, sei es betreffend ihre Urteilsfindung, die eventuell von rassistischen Vorurteilen geprägt war, oder der Einstellungspolitik des Justizministeriums sind nur vereinzelt vorhanden. Lediglich einige Wissenschafterinnen haben sich mit dem Bereich Justiz befasst  : Ilse Reiter-Zatloukal und Barbara Sauer mit den RechtsanwältInnen in der NS-Zeit,1 Ilse Reiter-Zatloukal mit den Maßregelungen von Richtern 1934 bis 1938,2 Christiane Rothländer mit Beispielen für antisemitisch geprägte Justizpraxis 1932.3 Richter und Staatsanwälte4 in der Zeit von 1918 bis 1938 und ihre eventuell antisemitische Ausrichtung sowie die Einstellungspolitik des Justizministeriums standen bislang kaum im Mittelpunkt des Interesses. Die Publikationen und Aufsätze, die sich mit der Zwischenkriegszeit beschäftigen, hatten vor allem den Fokus auf die richterliche Unabhängigkeit gelegt.5 Im Zuge des Forschungsprojekts »Personalpolitik bei Richtern und Staatsanwälten 1938–1945«, das das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) gemeinsam mit der Universität Marburg/Lahn durchgeführt hat, wurde untersucht, welche Personen 1938 bis 1945 Richter bzw. Staatsanwälte waren.6 Nun wird aus den vorhandenen biographischen Daten eine Analyse ihrer Sozialstruktur erstellt. Gleichzeitig wurde aber auch der Fokus darauf gelegt, zu erfahren, welche Gruppe nach dem »Anschluss« Österreichs aus dem Justizdienst entfernt worden war. Hierbei konnte erstmals eine Liste von 207 Personen erstellt werden, die 1938 aufgrund der Verordnung zur »Neuordnung des österrei1 2 3 4

Sauer/Reiter-Zatloukal 2010. Reiter-Zatloukal 2016. Rothländer 2012, siehe auch den Beitrag in diesem Band. Richter und Staatsanwälte lassen sich personell kaum trennen. Oftmals wurden Personen, die vor dem Krieg und während der NS-Zeit Staatsanwälte waren, in der Zweiten Republik als Richter verwendet und umgekehrt. 5 Neugebauer 1995, 51–74. 6 Form/Neugebauer/Schwarz 2007, 161–176.

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chischen Berufsbeamtentums« (BBV),7 aus politischen oder rassistischen Gründen aus dem Justizdienst entfernt worden waren. Hieraus lassen sich Rückschlüsse auf die Anzahl der jüdischen Richter und Staatsanwälte ziehen, die zum 1. Jänner 1938 im Justizdienst standen, die den Gegenstand der folgenden Ausführungen bilden. Thematisiert werden in diesem Aufsatz nur Männer, da in der Zwischenkriegszeit und während der NS-Zeit keine Frauen als Richterinnen bzw. Staatsanwältinnen in Österreich tätig waren. Frauen hatten erst ab 1918/1919 die Möglichkeit, an der Universität Wien Rechtswissenschaften zu studieren.8 Die erste Rechtsanwältin, Marianne Beth (1890–1984), wurde 1928 in die Liste der Wiener Rechtsanwaltskammer eingetragen, nachdem sie das Gerichtsjahr absolviert hatte. Richterinnen hätte es also ebenfalls etwa ab diesem Zeitraum geben können, dass dies nicht möglich war, hat einerseits mit dem damals vorhandenen Frauenbild zu tun, nach dem die Frau die Familie zu betreuen und ihrem Ehemann den Rücken freizuhalten hatte. Andererseits hatten Frauen es grundsätzlich schwer, in den Staatsdienst aufgenommen zu werden, wenn dann als Sekretärinnen (obwohl auch hier oft Männer bevorzugt wurden) oder Lehrerinnen, die aber lange Zeit ledig sein mussten. Spätestens seit der sogennannten Doppelverdienerverordnung 1933 durfte es keine verheirateten Frauen im Staatsdienst mehr geben,9 entsprechend den drei K-Schlagworten des »Ständestaates«  : Kinder – Küche – Kirche. Bereits 1936 hatte Hitler für das Deutsche Reich entschieden, dass Frauen weder Richterin noch Staatsanwältin werden konnten, Juristinnen wären nur mehr in der Verwaltung zu verwenden. Die Einberufung männlicher Juristen zur Deutschen Wehrmacht und die damit verbundene Personalknappheit brachten nur insofern eine Änderung, als Frauen ausnahmsweise bei großen Gerichten in Grundbuch- oder Registersachen eingesetzt werden konnten. Vormundschafts-, Konkurs-, Nachlass- oder Prozessrichterin konnten sie nicht werden. Dass die NSDAP nicht nur Juristen, sondern im besonderen Maße Juristinnen ablehnend gegenüberstand, belegt bereits eine Äußerung von Joseph Goebbels aus dem Jahr 1931  : »Wenn dann vielleicht noch, wie in der ersten Sitzung, noch ein weiblicher Schöffe vorhanden ist, das Gericht also mit 2 Frauen und einem Mann besetzt ist, so bedeutet das eine Herabwürdigung der Rechtspflege, wie sie ärger kaum gedacht werden kann.«10

  7 RGBl. I 1938, S. 607ff.  8 Sauer/Reiter-Zatloukal 2010, 34.   9 Vgl. dazu Bei 2012. 10 Zit. n. Bajohr/Rödiger-Bajhor 1980, 45.

Antisemitismus am Beispiel der Personalpolitik bei Richtern und Staatsanwälten 1933 bis 1938

Richter vor 1938 »Das Schuschnigg-System war sich dessen bewußt, daß – abgesehen von den Juden und Mischlingen  – die Richter und Staatsanwälte im Lande Österreich dem Nationalsozialismus nahestanden, soweit sie nicht sogar illegale Mitglieder der NSDAP oder ihrer Gliederungen waren«,11 so der Wiener Oberstaatsanwalt Hans Hoyer. Er übertrieb zwar einerseits das Ausmaß der NS-Sympathisanten unter dem österreichischen richterlichen Personal, andererseits charakterisierte er aber die politische Einstellung der Mehrheit der österreichischen Richter durchaus zutreffend.12 Deshalb sahen die Führer des »Ständestaates« in den österreichischen Richtern, die dem Nationalsozialismus zugeneigt waren, durchaus einen Gegner, den man mit bestimmten Maßnahmen, wie z. B. der Bildung des Militärgerichtshofes für die Aburteilung der Juli-Putschisten, der Übertragung der Geschäftsverteilung von unabhängigen Personalsenaten auf die Präsidenten der Gerichtshöfe 1. Instanz sowie der Beseitigung der Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit der Richter,13 beizukommen versuchte.14 Als Ursachen für die weitgehend »nationale« Einstellung der Richter werden einerseits die zwischen dem Ende des Ersten Weltkrieges und 1933/34 häufig der Großdeutschen Partei (z. B. Leopold Waber, Felix Frank, Franz Dinghofer, Franz Slama) und christlichsozialen Partei bzw. Heimwehr (z. B. Ignaz Seipl, Franz Hueber, Kurt Schuschnigg, Robert Winterstein) angehörenden Justizminister genannt (der einzige Staatssekretär für Justiz, der der SDAP angehörte war Mathias Eldersch Juni/ Juli 1920), andererseits die Bedeutung der Burschenschaften bei der politischen Sozialisierung der Richter. Ein Großteil der Richter bzw. Staatsanwälte waren aktive Mitglieder schlagender Burschenschaften, wie z. B. Gothia, Germania und Alemannia. Neben dem großdeutschen Lager kamen Richter auch aus christlichsozialen bzw. katholisch-klerikalen Kreisen. In beiden Lagern waren Antisemitismus, Deutschnationalismus, Antislawismus und Antimarxismus weit verbreitet.15 Bisher kann erst ein Richter nachgewiesen werden, der der SDAP angehörte. Selbst die Mitgliedschaft in der »Vaterländischen Front« musste kein Indiz für eine NS-feindliche Einstellung sein. Sie hielt zwar einige Richter von einer aktiven Betä-

11 Hoyer 1938, 1. 12 Franz Hueber, nach dem »Anschluss« Minister für Justiz in Wien, gab die Zahl der Illegalen unter den rund 1.550 österreichischen Richtern und Staatsanwälten mit mindestens 225 an, Deutsches Recht Ausgabe B Nr. 13–14, 20.7.1939, 238. 13 Reiter 2007. 14 Mulley 2002, 266–269  ; Neugebauer 1995, 53f. 15 Hautmann/Kuretsidis-Haider 2000.

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tigung für die verbotene NSDAP16 ab und zwang sie zu einer gewissen Anpassung, ihre Einstellung dürfte sich, wie aus Personalakten des Reichsjustizministeriums hervorgeht, jedoch nicht geändert haben. Dort gaben die Richter nach dem »Anschluss« ihre Tätigkeit für die NSDAP während der Verbotszeit mit Sammlung von Spenden, Bezahlung von Mitgliedsbeiträgen, Begünstigung für inhaftierte Nazis, Verteilung von verbotenen Zeitungen, Zeitschriften und Büchern etc. an. Selbst Dienststellenleiter17 oder Mitglieder des Führerrates18 der »Vaterländischen Front« waren illegale Nationalsozialisten. Bekannt ist, dass sich drei Personen, Dr. Robert Kauer, Dr. Anton Köllinger (in der NS-Zeit Generalstaatsanwalt in Linz, später in Innsbruck) und Dr. Johannes Meissner (1939–1945 Generalstaatsanwalt in Graz) weigerten, der »Vaterländischen Front« beizutreten. Auch der illegale nationalsozialistische »Rechtswahrerbund«, dem viele Richter und Staatsanwälte bereits während des Verbotes der NSDAP angehörten, empfahl seinen Mitgliedern den Beitritt zur »Vaterländischen Front« als Tarnung.19 In dieser Situation warteten die österreichischen Nationalsozialisten in der Richterschaft und Staatsanwaltschaft auf den Tag des »Anschlusses«. Sie bewahrten ihre Gesinnung in legalen Organisationen, wie dem »Deutschen Klub«, der »Gesellschaft für Rechts- und Staatswissenschaften«, dem »Deutschen Turnerbund 1919« sowie diversen Burschenschaften.20 Bei der Jahresversammlung des DÖW 1974 hatte der damalige Justizminister Christian Broda davon gesprochen, dass sich einer von ihm veranlassten Erhebung zufolge in den Personalständen der österreichischen Justiz am 1. Jänner 1938 1.550 Richter und Staatsanwälte befunden hatten.21 Aufgrund der Verordnung zur »Neuordnung des österreichischen Berufsbeamtentums« vom 31. Mai 1938 wurden 207 Personen entlassen bzw. versetzt (93 von ihnen wurden nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges und der Kapitulation des »Dritten Reiches« wieder in den Dienst der Zweiten Republik gestellt). Mit der Durchführung der Verordnung wurde der Staats16 Verbotszeit der NSDAP vom 20.6.1933 bis 11.3.1938. 17 August Dellisch war Dienststellenleiter am BG Pottenstein, Dr. Otto Estl war stv. Dienststellenleiter am BG Waidhofen/Ybbs, beide waren illegale Mitglieder der NSDAP, Stadler 2004, 250. 18 Dr. Richard Eberstaller, geb. 12.4.1887 in Langenlois, gest. 13.4.1945, Pg. seit 31.1.1931 (Nr. 440.371), NSRB, RDB, NSV, Reichskolonialverband, 23.3.1920 Richter beim LG für ZRS Wien, 28.12.1920 Bezirksrichter beim LG für ZRS Wien, 27.3.1928 LGR des LG für ZRS Wien, 2.8.1932 OLGR beim LG für ZRS Wien, 26.8.1938 Versetzung zum LG für Strafsachen Wien I, 12.5.1944 Vizepräs. des LG Wien. 19 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Reichsjustizministerium (RJM) Personalakt Dr. Otto Estl, Lebenslauf, 5.5.1938. 20 Stadler 2004, 10. 21 Broda 1974, 182.

Antisemitismus am Beispiel der Personalpolitik bei Richtern und Staatsanwälten 1933 bis 1938

kommissar beim Reichsstatthalter SS-Standartenführer Dr. Otto Gustav Wächter22 beauftragt. An der Säuberung wirkten in Wien unter anderen die Richter Dr. Othmar Gasser, Dr. Paul Lux, Dr. Ludwig Koloseus, Dr. Rudolf Kretschmer, Friedrich Müller und Rupert Schwelle sowie in Graz Dr. Gustav Tamele mit. Gemäß § 3 dieser Verordnung waren »Juden«, »Mischlinge« und Beamte, die mit »Juden« oder »Mischlingen 1. Grades« verheiratet waren, in den Ruhestand zu versetzen. Einen Ruhegenuss erhielten sie nur dann, wenn sie bereits zehn Jahre im Justizdienst verbracht hatten. Beamte, die mit »Juden« verheiratet waren, und bestimmte »Mischlinge 1. Grades« konnten ausnahmsweise, insbesondere aufgrund des sogenannten Frontkämpferprivilegs, im Dienst belassen werden. Gemäß § 4 waren jene Beamten in den Ruhestand zu versetzen, »die nach ihrem bisherigen Verhalten nicht die Gewähr dafür bieten, daß sie jederzeit rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat eintreten« würden. Von den 207 entlassenen Personen waren 86 als »Juden«, »Mischlinge« oder sogenannte »jüdisch Versippte« (entsprechend den Nürnberger Rassegesetzen), 65 als politische Gegner und 12 aus unbestimmten Gründen (gemäß § 6 BBV) entlassen worden. 28 Personen wurden auf einen anderen Dienstort, in der Regel an ein unbedeutendes Amtsgericht auf dem Land, versetzt. Hinsichtlich der restlichen Personen konnten noch keine Unterlagen gefunden werden. Zusätzlich wurden fünf als »jüdische Mischlinge« geltende Personen gemäß § 3 BBV zuerst entlassen, dann wieder in den Dienst gestellt, allerdings nicht mehr als Strafrichter verwendet. Ein sehr ambivalentes Bild zeigt die Person Dr. Otto Seka. Er wurde 1933 Mitglied der NSDAP und war ab 1940 im »Rassenpolitischen Amt« in Klagenfurt tätig. In erster Ehe war er mit einer Frau verheiratet, die als »jüdischer Mischling« galt und 1939 starb. Eine Folge dieser Klassifizierung war, dass Seka 1943 aus der NSDAP ausgeschlossen wurde, eine Maßnahme, die vom Gaugericht der NSDAP Steiermark bestätigt wurde. In der Begründung der Entlassung wurde ausführlich festgestellt, dass die Kinder aus dieser Ehe (das jüngste war gerade vier Jahre alt) im gemeinsamen Haushalt lebten und Seka keine Anstalten machte, sich von ihnen zu trennen, obwohl sie als »jüdische Mi22 Dr. Otto Gustav Wächter, geb. 8.7.1901 in Wien, gest. 14.8.1949 in Rom, 1932 bis 1934 RA in Wien, 1923 SA-Mitglied, 1930 Beitritt zur NSDAP, 1932 Übertritt zur SS (zuletzt Gruppenführer), führend beteiligt am gescheiterten Putsch österreichischer Nationalsozialisten im Juli 1934, Flucht nach Deutschland, Aberkennung der österreichischen Staatsbürgerschaft, 24.5.1938 bis 30.4.1939 Staatskommissar beim Reichsstatthalter in Wien, Oktober 1939 Gouverneur des Distrikts Krakau, Jänner 1942 bis 1944 Gouverneur des Distrikts Galizien des »Generalgouvernements« Polen, Oktober 1942 Führer beim Stab des SS-Oberabschnitts Ost, 1944 Militärverwaltungschef Italien, 1945 Flucht nach Rom, wo er in einem katholischen Kollegium unter falschem Namen Zuflucht fand, http:// www.aeiou.at/aeiou.encyclop.w/w014534.htm (23.3.2003)  ; nach Klee 1992, 49, war Wächter zuletzt Obergruppenführer und seit Herbst 1943 Chef der deutschen Militärverwaltung in Italien.

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schlinge« galten. Er behielt seinen Posten am Amtsgericht Graz und heiratete schließlich 1940 wieder.23 Zwei Richter, Dr. Edgar Tintara und Dr. Karl Lahr konnten nach erfolgter Scheidung von ihren jüdischen Ehefrauen weiter Karriere machen. Die 86 gemäß § 3 BBV entlassenen Richter und Staatsanwälte hatten folgenden Hintergrund  : Vier Ehefrauen waren »jüdische Mischlinge«, fünf Ehefrauen waren »Volljüdinnen«, 28 entlassene Personen »jüdische Mischlinge« und 47 entlassene Personen waren »Juden«. Zwei Personen wurden sowohl wegen ihrer politischen Untragbarkeit als auch aus rassistischen Gründen entlassen, wobei zumindest eine Person »jüdischer Mischling« war. Wir sprechen also, wenn wir »jüdische« Richter und Staatsanwälte im engeren Sinn meinen, von nur 47 Personen, die bereits vor 1938 im Staatsdienst beschäftigt waren. Das machte, gerechnet an den 1.550 Richtern, die am 1. Jänner 1938 im Personalstand der Justiz waren, etwa 3 Prozent aus. Davon waren drei Personen Konvertiten (zwei katholisch und eine evangelisch), zwei ohne religiöses Bekenntnis und 40 unbekannter Religionszugehörigkeit, da diese Akten noch nicht eingesehen werden konnten. In diesen ersten Auswertungen fanden sich auch zwei Richter, die mosaischen Glaubens waren, Dr. Theobald Auerbach vom Landesgericht Wien und Dr. Robert Löw vom Bezirksgericht Wien/Innere Stadt. Wie sahen nun die Karrierechancen von mosaisch gebliebenen Richtern aus  ? Ich habe die Karriereverläufe von Theobald Auerbach (geb. 1886) und Rudolf Löw (geb. 1890) mit den Karriereverläufen anderer Richter des gleichen Jahrganges verglichen, die keine Juden waren, um herauszufinden, ob eine Karriere im Justizdienst für Richter mosaischen Glaubens schwerer zu machen war. Eine erste vorsichtige Einschätzung lässt erkennen, dass es in den meisten Fällen genauso kurz oder lange dauerte, bis sie die Karriereleiter hinaufklettern konnten. Die Daten der Ernennungen vom Richter zum Bezirksrichter, vom Bezirksrichter zum Landesgerichtsrat sowie später zum Oberlandesgerichtsrat unterscheiden sich kaum. Dies ist aber vor allem eine Folge des Besoldungsrechts sowie der Tatsache, wann ein Planposten für die nächste Dienststufe vorhanden war. Dr. Theobald Auerbach,24 geboren am 13.  Juni 1886, mosaisch, dissertierte an der juridischen Fakultät der Universität Wien 1910 und legte die Richteramtsprüfung 1913 mit ausgezeichnetem Erfolg ab. Ab 1909 war er als Rechtspraktikant tätig, 1916 wurde er zum Richter, 1920 zum Bezirksrichter ernannt. Seine Dienststelle war das Bezirksgericht Wien/Innere Stadt. Nach seiner Ernennung 1927 zum Landesgerichtsrat wechselte er 1928 an das Landesgericht Wien, wo 1931 die Ernennung 23 ÖStA, AdR, Namensakten des Bundesministeriums für Justiz (Namensakten), Kt. 537, Seka, Otto. 24 Alle Angaben aus  : ÖStA, AdR, Namensakten, Kt. 402, Auerbach, Theobald.

Antisemitismus am Beispiel der Personalpolitik bei Richtern und Staatsanwälten 1933 bis 1938

zum Oberlandesgerichtsrat und 1933 zum Senatsvorsitzenden erfolgte. Am 16. März 1938 wurde er seines Dienstes am Landesgericht Wien enthoben. Er war während der NS-Zeit für die Israelitischen Kultusgemeinde tätig. Seine Geschwister wurden am 17. August 1942 nach Polen deportiert und ermordet. Von etwa 1943 bis Kriegsende lebte er als U-Boot illegal in Wien. Am 1. Juni 1945 wurde er wieder dem Landesgericht Wien zugeteilt. Dr. Auerbach starb am 2. November 1950. Dr. Arnold Steinlechner,25 geboren am 19.  März 1886, evangelisch, absolvierte die Richteramtsprüfung 1920 mit gutem Erfolg am Oberlandesgericht Graz. Er absolvierte seine Gerichtspraxis ab 1912, erst am Landesgericht Graz, danach am Kreisgericht Leoben. 1920 wurde er zum Richter und 1921 zum Bezirksrichter ernannt, wobei er am Bezirksgericht Feldbach und Kreisgericht Leoben tätig war. 1926 wurde er Gerichtsvorsteher am Bezirksgericht Rottenmann, 1928 zum Landesgerichtsrat und 1935 zum Oberlandesgerichtsrat ernannt, 1936 dem Bezirksgericht Judenburg zugeteilt, wo er ab dem »Anschluss« 1938 als Oberamtsrichter tätig war. Ab 1. August 1938 fungierte er als Vorsitzender des Anerbengerichts Judenburg. Mit 6. Juni 1945 wurde er aus dem Dienst entlassen und im Lager Wolfsberg interniert. Sein Strafverfahren vor dem Kreisgericht Leoben (18a Vr 2850/47) wegen §§ 11 VG und 7 des Kriegsverbrechergesetzes (KVG) wurde am 2. März 1948 gem. § 109 Strafprozessordnung (StPO) bereits nach der Voruntersuchung eingestellt. Er wurde mit 28. April 1948 bei vollen Bezügen pensioniert. Dr. Steinlechner starb am 8. November 1955. Amtsbezeichnung

Dr. Theobald Auerbach (geb. 1886)

Dr. Arnold Steinlechner (geb. 1886)

Richter

1916

1920

Bezirksrichter

1920

1921

Landesgerichtsrat

1927

1928

Oberlandesgerichtsrat

1931

1935

Dr. Robert Löw,26 geboren am 18.  Juni 1890, mosaisch, absolvierte ab 1913 seine Gerichtspraxis. Er legte die Richteramtsprüfung 1920 ab. 1921 wurde er zum Bezirksrichter, 1927 zum Landesgerichtsrat und 1936 zum Oberlandesgerichtsrat ernannt. Mit 30.  September 1938 erfolgte seine Entlassung aus dem Gerichtsdienst 25 Mitarbeiter des SD  ; Schlaraffia, Leoben, Vaterländische Front (15.3.1935–1938), steirischer Heimatschutz (1927–1933), österreichischer Heimatschutz 1935, akadem. Juristenverein, Graz (1910–1920), bereits 1923 bis 1927 und ab 1937 NSDAP-Mitglied, Märzmedaille, alle Angaben aus  : ÖStA, AdR, Namensakten, Kt. 557, Steinlechner, Arnold  ; sowie ÖStA, AdR, RJM, Personalakten, Steinlechner, Arnold. 26 Alle Angaben aus  : ÖStA, AdR, Namensakten, Kt. 492, Löw, Robert.

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Ursula Schwarz

beim Bezirksgericht Wien/Innere Stadt. Am 9.  April 1942 wurde er nach Izbica27 deportiert und ermordet. Dr. Karl Schattanek,28 geboren am 28.  März 1890, »gottgläubig«, absolvierte ab 1913 seine Gerichtspraxis. 1921 wurde er zum Bezirksrichter, 1928 zum Landesgerichtsrat, 1936 zum Oberlandesgerichtsrat am Landesgericht Innsbruck ernannt. Während der NS-Zeit war Schattanek erst am Landgericht sowie am Sondergericht Innsbruck und bis Kriegsende am Oberlandesgericht Innsbruck tätig. Ab 1938 war er Vorsitzender des Einigungsamts Innsbruck. Er wurde 1945 entlassen und 1948 gem. § 8 (2) Beamtenüberleitungsgesetz pensioniert. Am 27. April 1950 wurde Schattanek reaktiviert und erst am Landesgericht Innsbruck, später als Senatsvorsitzender am Oberlandesgericht Innsbruck und ab 1.  Jänner 1952 stimmführendes Mitglied des OLG Innsbruck verwendet. Am 31. Dezember 1955 wurde er als Hofrat endgültig pensioniert.

Amtsbezeichnung

Dr. Robert Löw (geb. 1890)

Dr. Karl Schattanek (geb. 1890)

Bezirksrichter

1921

1921

Landesgerichtsrat

1927

1928

Oberlandesgerichtsrat

1936

1936

27 Zwischen dem 9.4. und 5.6.1942 gingen insgesamt vier Deportationstransporte mit 4.000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern vom Wiener Aspangbahnhof nach Izbica ab. Der Ort Izbica liegt etwa 18 km südlich der Kreishauptstadt Krasnystow im Distrikt Lublin. Die ursprüngliche Einwohnerschaft von ca. 6.000 Personen bestand etwa zu 90 Prozent aus Juden. Durch Deportationen aus anderen Teilen Polens, aus dem »Protektorat« (darunter auch Österreicher), aus dem »Altreich« und aus Wien stieg die Anzahl der jüdischen Bewohner zeitweise auf bis zu 12.000 Personen. Offensichtlich um Platz für die Neuankömmlinge zu schaffen, wurden bereits am 24.3.1942 ca. 2.200 Menschen aus Izbica in das Vernichtungslager Belzec deportiert. Nach einer Pause von einigen Monaten übernahm im Sommer 1942 ein »Umsiedlungsstab« der SS die Organisation der nun wieder anlaufenden Deportationen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt muss Izbica als ein »Warteraum« für das Vernichtungslager Belzec gesehen werden, dessen Belegung durch die Kapazitäten der Vergasungsanlagen von Belzec bestimmt wurde. Am 15.10.1942 wurden 10.000 Juden auf dem Bahnhof von Izbica zusammengetrieben, von denen 5.000 abtransportiert wurden. Bei dieser Selektion kam es zu einem Massaker, bei dem ca. 500 Menschen erschossen wurden. Niemand von den 4.000 nach Izbica deportierten österreichischen Juden überlebte, http://ausstellung.de.doew. at/b195.html (30.9.2015). 28 Vaterländische Front, Richtervereinigung Innsbruck, national-akad. Alpenclub, ab 1.5.1938 NSDAP-Mitglied (Nr. 6.223.774), alle Angaben aus  : ÖStA, AdR, Namensakten, Kt. 544, Schattanek, Karl.

Antisemitismus am Beispiel der Personalpolitik bei Richtern und Staatsanwälten 1933 bis 1938

Entlassungen 1938 Oberlandesgerichtsrat Dr. Karl Wahle wurde 1938 als »Jude« von seinem Posten beim Handelsgericht Wien entfernt.29 Wahle überlebte die NS-Zeit als sogenanntes U-Boot, wurde 1945 reaktiviert und in der Folge Präsident des Handelsgerichts. 1956 erfolgte seine Ernennung zum Präsidenten des OGH. Von 1951 bis 1957 fungierte er auch als Präsident der Richtervereinigung.30 Auch Heinrich Klang31 wurde 1938 aus rassistischen Gründen entlassen und später in das KZ Theresienstadt deportiert, wo er als Ghettorichter fungierte. Er organisierte den ersten Rücktransport von Österreicherinnen und Österreichern aus Theresienstadt nach Wien. Nach dem Krieg wurde er Senatspräsident am Obersten Gerichtshof. Außerdem war er maßgeblich an der Schaffung der juristischen Grundlagen zur Restitution beteiligt und Vorsitzender der »Obersten Rückstellungskommission«, die sich mit Wiedergutmachungsfragen befasste. Dr. Theobald Auerbach stand während der NS-Zeit im Dienst der Israelitischen Kultusgemeinde (Ordnerdienst), er überlebte als U-Boot. Zumindest 13 Richter wurden in den KZ der Nationalsozialisten ermordet, so Dr. Ernst Bettelheim (OLG Wien) und Dr. Herbert Grütz (LG Wien) in Theresienstadt. Dr. Robert Lanzer (LG Wien) und Dr. Robert Löw (BG Wien/Innere Stadt) befanden sich im ersten Transport am 9. April 1942 nach Izbica (Distrikt Lublin),keine/r von den 4.000 nach Izbica deportierten österreichischen Jüdinnen und Juden überlebte. Dr. Robert Hahndel (LG Wien) und Dr. Rudolf Müller (Handelsgericht Wien) wurden aus Theresienstadt, Dr. Richard Steiner (HG Wien) aus Budapest nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Dr. Erwin Jerusalem (LG Wien) wurde von der Gestapo verhaftet und ebenfalls in Auschwitz ermordet, Dr. Kornel Szepesy (OLG Wien) in Sobibor. Dr. Leopold Fanta (LG Wien) und Dr. Salomon Geist (BG Wien/ Innere Stadt) starben in Wien, Dr. Eugen Fernau (BG Völcklabruck) in Vöcklabruck. Der ehemalige Vizepräsident des LG Wien Dr. Alois Osio wurde aus rassistischen Gründen mit dem ersten Transport am 1. April 1938 (»Prominententransport«) in das KZ Dachau verbracht und im Jänner 1939 im KZ Buchenwald ermordet. Einigen Richtern gelang die Flucht ins sichere Ausland, wie z. B. Dr. Robert Langer, der 1938 als »Jude« aus dem Richteramt entlassen wurde und in die USA emigrierte, dort 1944 die amerikanische Staatsbürgerschaft erlangte und an einer amerikanischen

29 Siehe zu den Entlassungen 1938 allgemein  : Schwarz 2014, 125ff. 30 Österreichische Richterzeitung 1970, 129. 31 Siehe zu ihm Gössler/Niklas 2012.

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Hochschule lehrte. Nach 1945 einigte er sich nach einigen Kontroversen mit dem Justizministerium auf Anrechnung seiner Dienstzeiten für eine Pensionszahlung.32

Zusammenfassung Als erstes Ergebnis kann festgestellt werden, dass Juden vor 1938 wenige Chancen hatten, in den höheren Justizdienst als Richter oder Staatsanwälte aufgenommen zu werden.33 Es waren nur etwa drei Prozent, die als Richter oder Staatsanwalt tätig waren. Auch die Berufung des Generalprokurators Dr. Robert Winterstein, eines konvertierten Juden, zum Justizminister 1935 brachte keine Änderung. Rechnet man nun auch die »jüdischen Mischlinge« und die mit Jüdinnen verheirateten Justizjuristen dazu, kommt man auf einen Wert von 5,6 Prozent, was im krassen Gegensatz zu den Prozentzahlen bei den jüdischen RechtsanwältInnen steht. Dort lag der Prozentsatz der jüdischen RechtsanwältInnen bei etwa 62 Prozent34 und auch Frauen hatten die Möglichkeit, ihren Beruf auszuüben35 – im Gegensatz zum höheren Justizdienst. Als zweite vorsichtige Einschätzung kann gesagt werden, dass die Karrierechancen aber trotz mosaischen Glaubens durchaus vergleichbar waren mit denen nichtjüdischer Richter. Eine genaue Auswertung dieser ersten Einschätzungen wird weiteren Forschungen vorbehalten bleiben.

Literatur und gedruckte Quellen Bajor, Stefan/Rödiger-Bajohr, Katrin, Die Diskriminierung der Juristin in Deutschland bis 1945, in  : Kritische Justiz (1980), Heft 1, S. 39–51. Bei, Neda, Austrofaschistische Geschlechterpolitik durch Recht  : Die »Doppelverdienerverordnung«, in  : Reiter-Zatloukal, Ilse/Rothländer, Christiane/Schölnberger, Pia (Hg.), Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherung an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime, Wien u a., 2012, 197–206. Broda, Christian, 1938–1974  : Was ist geblieben  ? Rede bei der Jahresversammlung des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes am 11. März 1974 in Wien, in  : Zeitgeschichte, Heft 8, Mai 1974, 181–186. Deutsches Recht, Ausgabe B 1939. Form, Wolfgang/Neugebauer, Wolfgang/Schwarz, Ursula, Die Kooperationsprojekte der Uni32 ÖStA/AdR, Namensakten, Kt. 488, Langer, Robert. 33 Siehe dazu auch Reiter-Zatloukal 2013. 34 Sauer/Reiter -Zatloukal 2010. 35 Reiter-Zatloukal/Sauer 2013.

versität Marburg und des DÖW zu NS-Justiz. Wien 2007, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), DÖW-Jahrbuch 2007, 161–176. Gössler, Günter/Niklas, Martin, Heinrich Klang zwischen Praxis und Theorie sowie Verfolgung und Rückkehr, in  : Meissel, Franz Stefan/Olechowski, Thomas/Reiter-Zatloukal, Ilse/ Schima, Stefan (Hg.), Vertriebenes Recht – Vertreibendes Recht. Zur Geschichte der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät zwischen 1938 und 1945 (Juridicum Spotlight 2), Wien 2012, 281–300. Hautmann, Hans/Kuretsidis-Haider, Claudia, Justizverbrechen als Instrument der inneren Kriegsführung und als Gegenstand der Kriegsfolgenbewältigung in Österreich (Vergleich 1. und 2. Weltkrieg). Referat auf dem 19. Internationalen Kongress der Historischen Wissenschaften Oslo, 6. bis 13.August 2000, http://zeitgeschichte.uni-linz.ac.at/modern.history.linz/006.pdf (23.12.2017). Hoyer, Hans, Kommentar zur »Verordnung über die Aufhebung österreichischer Bundesgesetze zur Ahndung von Sprengstoffverbrechen und zur Bekämpfung staatsfeindlicher Druckwerke vom 27.  August 1938«, RGBl. I, S. 1173, in  : Pfundtner, Hans/Neubert, Reinhard, Das neue deutsche Reichsrecht. Ausgabe Österreich. Ergänzbare Sammlung des für Österreich geltenden Reichsrechts und Landesrechts seit dem 13. März 1938 mit Erläuterungen, Berlin u. a. 1938, Teil II c 9, 1f. Klee, Ernst, Persilscheine und falsche Pässe. Wie die Kirchen den Nazis halfen, Frankfurt a.M. 3 1992. Mulley, Klaus-Dieter, Zur »Gleichschaltung der Justiz im Bereich des Oberlandesgerichtes Wien 1938/39. Bemerkungen zu »Recht«, »Rechtsprechung« und »Richterschaft« vor und nach dem »Anschluß« Österreichs, in  : Rosner, Willibald (Hg.), Recht und Gericht in Niederösterreich, St. Pölten 2002, 258–294. Neugebauer, Wolfgang, Richterliche Unabhängigkeit 1934–1945 unter Berücksichtigung der Standgerichte und der Militärgerichte, in  : Weinzierl, Erika/R athkolb, Oliver/Ardelt, Rudolf/Mattl, Siegfried (Hg.), Justiz und Zeitgeschichte, Wien 1995, Bd. 2, 51–74. Österreichische Richterzeitung 1970. Reiter-Zatloukal, Ilse, Antisemitismus und Juristenstand. Wiener rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät und Rechtspraxis vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum »Anschluss« 1938, in  : R athkolb, Oliver (Hg.), Der lange Schatten des Antisemitismus – Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert (Zeitgeschichte im Kontext 8), Wien 2013, 183–205. Reiter-Zatloukal, Ilse, Richterliche Unabhängigkeit im autoritären Ständestaat, in  : Helige, Barbara/Olechowski, Thomas (Hg.), 100 Jahre Richtervereinigung. Beiträge zur Juristischen Zeitgeschichte, Wien  : 2007, 89–111. Reiter-Zatloukal, Ilse/Sauer, Barbara, Die Pionierinnen der österreichischen Rechtsanwaltschaft, gemeinsam mit Barbara Sauer, in  : Anwaltsblatt 3 (2013), 109–112. Reiter-Zatloukal, Ilse, Die (Un)Abhängigkeit der Richter unter der austrofaschistischen und nationalsozialistischen Herrschaft, in  : BRGÖ 2016/2, 419–469. Rothländer, Christiane, Die Anfänge der Wiener SS, Wien u. a. 2012. Sauer, Barbara/Reiter-Zatloukal, Ilse, Advokaten 1938. Das Schicksal der in den Jahren 1938 bis 1945 verfolgten österreichischen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, hg. v. Verein zur

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Ursula Schwarz

Erforschung der Anwaltlichen Berufsgeschichte der zwischen 1938 und 1945 diskreditierten Mitglieder der Österreichischen Rechtsanwaltskammern, Wien 2010. Schwarz, Ursula, NS-Richter in Österreich. Auswahl, Ausbildung, Fortbildung und Berufslaufbahn, in  : Kohl, Gerald/Reiter-Zatloukal, Ilse (Hg.), RichterInnen in Geschichte, Gegenwart und Zukunft, Wien 2014, 125–144. Stadler, Wolfgang, »… Juristisch bin ich nicht zu fassen.« Die Verfahren des Volksgerichts Wien gegen Richter und Staatsanwälte 1945–1955, Wien 2004.

Archivalische Quellen Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR)  : Namensakten des Bundesministeriums für Justiz, Kt. 402, 488, 492, 537, 544, 557. Reichsjustizministerium, Personalakten.

Erwin A. Schmidl

Das Erbe einer übernationalen Armee im Zeitalter des Nationalismus Das Bundesheer und seine jüdischen Soldaten Vorbemerkung Rein äußerlich begann für das Bundesheer der Ersten Republik – dieser Begriff sei hier summarisch für die unterschiedlichen Staatsformen und -namen zwischen 1918 und 1938 und ihre militärischen Formationen genommen1 – 1933 eine neue Epoche  : Die Adjustierung von 1920 und 1923 hatte dem Selbstverständnis (Deutsch-)Österreichs als »Teil der deutschen Republik« Rechnung getragen und war daher weitestgehend an jene der Reichswehr angelehnt, mit Tellerkappe, deutschen Rangabzeichen und den »Gardelitzen« (die auf die Tressen des preußischen Infanterie-Regiments 26 der friderizianischen Zeit zurückgingen) am Kragen.2 1933 aber wurde die alte k. u. k. Uniform wiedereingeführt. Die (den deutschen entsprechenden) Waffengattungsfarben (z. B. weiß für die Infanterie, gelb für die Kavallerie usw.) wurden durch die alten Regimentsfarben (also himmelblau für die »Hoch- und Deutschmeister«, braun für die »Khevenhüller« usw.) ersetzt  ; Offiziere konnten auf eigene Kosten den bunten Waffenrock des jeweiligen Traditionstruppenkörpers tragen. Dies war allerdings kein plötzlicher Bruch  : Schon die 1925 eingeführten Feldzeichen (d. h. Fahnen, Standarten und Signalhörner) hatten an die altösterreichische Tradition verwiesen, und ab 1934 wurde diese im »Bundesstaat Österreich« noch stärker betont.

Das Erbe der »alten Armee« Zu den Traditionen der »alten Armee« gehörte die Toleranz, gerade auch Juden gegenüber. Juden konnten seit 1788 in der Armee dienen, und seit den Napoleonischen Kriegen gab es Offiziere jüdischer Religion, unter ihnen vor und im Ersten Weltkrieg 1 Korrekt müsste man natürlich 1918 bis 1919 von der Republik Deutsch-Österreich, dann von der Republik Österreich und ab 1934 vom Bundesstaat Österreich sprechen. Die militärische Organisation hieß 1918 bis 1919 Volkswehr und ab 1920 durchgehend Bundesheer. 2 Schmidl 1994b, 98–119  ; zur Adjustierung der Reichswehr  : Schlicht/Kraus 1987.

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auch mehrere Generäle.3 Rund drei Prozent der Mannschaften, knapp ein Prozent der Berufsoffiziere, aber fast 20 Prozent der Reserveoffiziere waren jüdischer Religion. Auch wenn man die teils nostalgisch verbrämten Erinnerungen jüdischer k. u. k. Soldaten, sie hätten in der »alten Armee« nie oder nur selten Antisemitismus erlebt, mit Vorsicht betrachten muss, so empfand sich die k. u. k. Armee zweifellos als supranational, als über den nationalen, ethnischen oder religiösen Identitäten (und Konflikten) stehend, in ihrer Loyalität auf den Gesamtstaat und die Dynastie hin orientiert. Schon vor, besonders aber im Laufe des Ersten Weltkriegs nahmen antisemitische Züge allerdings auch im Militär zu, und es wäre unrealistisch anzunehmen, dass das Bundesheer nach 1918 von der gespannten Atmosphäre dieser Zeit unberührt geblieben wäre. Der Schock des Zusammenbruchs 1918/19 und die führende Rolle von Juden in den revolutionären und bolschewistischen Bewegungen verschärfte das Misstrauen gegen sie – auch im Militär. So konnten beispielsweise in »Danzer’s Armee-Zeitung«, die vor dem Ersten Weltkrieg entschieden gegen den Antisemitismus aufgetreten war, 1919 antisemitische Beiträge erscheinen.4 Und der bekannte Karikaturist Fritz Schönpflug (1873–1951), der schon früher durchaus antijüdische Darstellungen gezeichnet hatte, lieferte recht drastische Karikaturen jüdischer Volkswehr-Typen.5 Bei vielen Juden hingegen trugen die Erfahrungen des Krieges zur Ausprägung oder Verstärkung ihrer jüdischen Identität bei – nicht zuletzt im Zuge der religiösen Feiern im Felde, wo jüdische Soldaten aus allen Teilen der Monarchie gemeinsam sangen und beteten.6 Die Kriegserlebnisse und der verstärkte Antisemitismus dieser Zeit bestärkten manche Juden in der Hoffnung, in einer Auswanderung nach Palästina eine bessere Zukunft zu finden.7

3 Dazu und zum Folgenden detailliert  : Schmidl 2014. Dieser Aufsatz basiert im Wesentlichen auf den Arbeiten, die ich seit 1984 zum Thema »jüdische Soldaten« durchgeführt habe, und folgt daher dem genannten Buch. 4 N.M. 1919, 22. 5 Vgl. etwa Etschmann 1979, 275/Beilage 22 (Kopie eines Aufsatzes aus der »Muskete« von Jeremias, Der Entsatz des Vierburgenlandes, illustriert von Schönpflug). 6 Rozenblit 2001, 94f. 7 Univ.-Prof. Dr. Kurt Schubert erwähnte im Zuge der Vorbereitungen zur Ausstellung im Österreichischen Jüdischen Museum in Eisenstadt 1988 die Erinnerungen eines jüdischen Offiziers in einem Tiroler Regiment, der sich in Gesprächen mit Kameraden zur Auswanderung nach Palästina entschlossen hatte, erinnerte sich aber nicht mehr an die genaue Quelle.

Das Erbe einer übernationalen Armee im Zeitalter des Nationalismus

Juden im Bundesheer der Ersten Republik Da der Staatsvertrag von St. Germain (1919) Österreich nur ein kleines Berufsheer von 30.000 Mann erlaubte, war die Zahl jüdischer Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften im Bundesheer naturgemäß sehr gering – genaue Prozentzahlen fehlen allerdings mangels einschlägiger Statistiken. Zu den bekannteren Offizieren zählte Oberst (später Generalmajor) Emil Sommer (1869–1947), der im Weltkrieg ein Bataillon, dann ein Regiment geführt hatte und ein ausgezeichneter Offizier war. In den Karpatenkämpfen 1914/15 war er im April 1915 in russische Kriegsgefangenschaft geraten  ; nach seiner Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft kämpfte er an der italienischen Front. Als »ein hervorragend tüchtiger, vielseitig verwendbarer und findiger Truppenoffizier« beschrieben, wurde er ins Bundesheer übernommen und befehligte im Umfeld der Besetzung des Burgenlandes 1921 das II. Bataillon des Wiener Infanterie-Regiments Nr. 5. Am 5. September 1921 kämpfte dieses Bataillon bei Kollerschlag gegen ungarische Freischärler, die in der Buckligen Welt über die Grenze nach Niederösterreich eingedrungen waren. In diesem Gefecht fielen zehn Österreicher und 21 Ungarn. Sommer trat 1923 als Oberst in den Ruhestand (wie damals üblich, mit 55 Jahren) und erhielt später ehrenhalber den Titel eines Generalmajors verliehen.8 Sein Sohn Anton (1911–1992) studierte Medizin und diente ab 1935 als Militärarzt im Bundesheer. Auch einer der bei Kirchschlag gefallenen Soldaten war Jude. Beim Infanterie-Regiment Nr. 5 diente auch der hochdekorierte jüdische Oberstleutnant Franz Reicher (1882–  ?), der als Folge seines Kriegsdienstes und der Folgen seiner Verwundungen als »unkündbarer Kriegsbeschädigter« eingestuft war, bis zum 15. März 1938.9 In einer Zeit der allgemeinen Arbeitslosigkeit galt der Dienst im Bundesheer allgemein als sichere Anstellung und erstrebenswert – dementsprechend begehrt waren die wenigen offenen Stellen (die Dienstverpflichtung der Mannschaften betrug entsprechend den Vorgaben von St. Germain sechs Jahre). Befürwortungen politisch einflussreicher Persönlichkeiten oder des Dorfpfarrers sollen sich, den Erinnerungen 8 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bestand Österreichisches Bundesheer (in der Folge  : ÖStA, AdR  : ÖBH)  : Personalakt E. Sommer, dabei auch ein hervorragendes Manuskript von Martin Senekowitsch für das Österreichische Biographische Lexikon  ; für ergänzende Mitteilungen bin ich Martin Senekowitsch zu Dank verpflichtet. Manche der in der Literatur verbreiteten Legenden über Sommers Laufbahn entsprechen nicht den Tatsachen, vgl. Rubin 1952, 73  ; Weisl 1971, 13. 9 ÖStA, AdR  : ÖBH, Personalakt Franz Reicher. Reicher hatte nach der Matura in Czernowitz Mathematik und Naturwissenschaften studiert, wirkte u. a. an der Kadettenschule in Königsfeld und später auch im Ersten Bundesheer als Lehrer.

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ehemaliger Soldaten des Bundesheeres zufolge, auf die Aufnahme günstig ausgewirkt haben. Dennoch gab es auch in den 1920er und 1930er Jahren jüdische Soldaten im Bundesheer – so erinnerte sich ein ehemaliger Unteroffizier an einen strenggläubigen Juden, der noch vor Einführung der allgemeinen Wehrpflicht ins Bundesheer eingetreten war und im Wiener Infanterie-Regiment Nr. 4 (den »Hoch- und Deutschmeistern«) diente. Er stand am Morgen vor der allgemeinen Tagwache auf und verrichtete seine Gebete auf dem Gang vor dem Schlafsaal. Von der Teilnahme an der allgemeinen Verpflegung war er befreit  ; Verwandte brachten ihm regelmäßig koscheres Essen zum Tor der Rossauer Kaserne.10 Anders als vor 1918 gab es im Bundesheer weder Feldrabbiner, noch die Möglichkeit koscherer Verpflegung – teilweise wurde diese eben, wie in diesem Fall, von Angehörigen oder jüdischen Familien beigestellt. Insgesamt scheint das Bundesheer jedoch, ähnlich wie zuvor die k. u. k. Armee, dem Antisemitismus gegenüber im Großen und Ganzen relativ resistent gewesen zu sein.

Die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht 1936 Eine wesentliche Zäsur war die Wiedereinführung der Wehrpflicht (»Bundesdienstpflicht«) 1936 – mit Verfassungsgesetz vom 1. April 1936 wurde für alle Österreicher männlichen Geschlechts die Bundesdienstpflicht vom 18. bis zum 42. Lebensjahr eingeführt.11 Bei dieser Gelegenheit wurde auch das Institut der »Einjährig-Freiwilligen«, d. h. von Reserve-Offiziersanwärtern, neu belebt. Maturanten konnten sich für eine Ausbildung zum Reserveoffizier melden  – in der k. u. k. Armee hatte das bedeutet, sich freiwillig für einen einjährigen Dienst (statt des damals dreijährigen Wehrdienstes) zu melden  ; 1936 bis 1938 betrug die Dienstzeit für alle ein Jahr (in der Zweiten Republik sollte »Einjährig-Freiwillig« dann ein Jahr statt neun, acht oder sechs Monaten bedeuten). Da es unter den Maturanten zahlreiche junge Männer jüdischer Religion oder jüdischer Herkunft gab, fanden diese damit auch den Weg 10 Für diesen Hinweis danke ich Amtsdirektor i.R. Walter Baschtarz sehr herzlich, der damals junger Gefreiter war. Damals gab es den jüdischen Betraum nicht mehr, der in der Rossauer Kaserne vor 1918 bestanden hatte. 11 Bundesverfassungsgesetz über eine allgemeine Dienstpflicht für öffentliche Zwecke (Bundesdienstpflichtgesetz), BGBl. 102/1936. Für die Stellungspflicht wurde jenes Jahr festgelegt, in dem der Wehrpflichtige das 21. Lebensjahr vollendete (I. Verordnung zum Bundesdienstpflichtgesetz, 30.5.1936, BGBl. 176/1936, § 3) – dies wurde 1938 auf das 20. Lebensjahr herabgesetzt (VII. Verordnung zum Bundesdienstpflichtgesetz, BGBl. 30/1938). Mit Bundesverfassungsgesetz vom 22.12.1937 (BGBl. 456/1937) wurde die Wehrpflicht für ehemalige Offiziere und Fähnriche des Aktiv- und Reservestandes bis zum 60. Lebensjahr ausgedehnt.

Das Erbe einer übernationalen Armee im Zeitalter des Nationalismus

ins Bundesheer. Dies wird durch Erzählungen ehemaliger Soldaten bestätigt.12 Als Einjährig-Freiwilliger diente auch Guido Loewi (später Geoffrey Low, geb. 1915), der Sohn des aus Frankfurt am Main stammenden, aber in Graz lehrenden Pharmakologie-Professors Dr. Otto Loewi (1873–1961), der im Jahre 1936 den Nobelpreis für Medizin erhalten hatte. (1938 musste er als Jude das Land verlassen, freilich nicht bevor er das Nobel-Preisgeld an eine deutsche Bank überweisen hatte müssen.)13 Die Wiener Kultusgemeinde errichtete auf dem Wiener Zentralfriedhof ein Ehrenmal für gefallene jüdische Soldaten, das am 13.  Oktober 1929 in Anwesenheit von Bundeskanzler Johann Schober (1874–1932) und des Präsidenten der Kultusgemeinde (von 1920 bis 1932), des berühmten Professors und ehemaligen General-Oberstabsarztes Dr. Alois Pick (1859–1945), eingeweiht wurde.14 Weitere Gedenktafeln in Synagogen und Ehrenmale auf Friedhöfen in ganz Österreich folgten. Bei derartigen Feiern waren stets Abordnungen des Bundesheeres anwesend, das damit die Verbundenheit mit der Tradition der k. u. k. Armee bekräftigte. In einer Zeit des rassischen Antisemitismus würde es freilich zu kurz greifen, wollten wir uns auf Soldaten jüdischer Religion beschränken. Natürlich dienten zahlreiche Soldaten – auch Offiziere – (teilweise) jüdischer Herkunft im Bundesheer (wie auch zuvor in der k. u. k. Armee). Prominentestes Beispiel war wohl Johann Friedländer (1882–1945), ein hervorragender Generalstabsoffizier mit teilweise jüdischen Wurzeln. Er wurde 1925 Regimentskommandant und diente ab 1928 in führenden Stellungen im Verteidigungsministerium. 1932 zum Generalmajor ernannt, wurde er 1936 in den Stab des Generaltruppeninspektors berufen. Bei seiner Pensionierung 1937 erhielt er den Titel Feldmarschallleutnant (= Generalleutnant).15 Ebenfalls jüdischer Abstammung war Dr. Robert Hecht (1881–1938), Sektionschef im Verteidigungsministerium und einflussreicher Berater der Regierungschefs in den dreißiger Jahren.16

Der Bund Jüdischer Frontsoldaten Eine bemerkenswerte Organisation dieser Zeit war der »Bund Jüdischer Frontsoldaten« (BJF). Schon in den Zeiten des Umbruchs 1918/19 hatten sich unter den zahl12 Hauptmann a.D. Helmut Krauhs, der bekannte Künstler und Erschaffer der unübertroffenen Figurinen, erinnerte sich, in seinem Zug zwei jüdische Einjährig-Freiwillige gehabt zu haben. 13 S.M. (1995), 6  ; für ergänzende Angaben danke ich Mag. Roman Eccher. 14 Senekowitsch 1994a. 15 Senekowitsch 1995a  ; Personalakt J. Friedländer, ÖStA, AdR  : ÖBH. 16 Huemer 1975, 131–135.

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reichen Selbstschutz-Verbänden, die allerorten entstanden, vor allem in Wien und den größeren Städten auch jüdische Gruppen gebildet, um jüdische Familien und Geschäfte vor Plünderern und antisemitischen Provokationen zu schützen. In Wien formierte sich eine »Jüdische Legion« bzw., wie sie offiziell hieß, »Jüdische Gruppe der Stadtschutzgarde«, die anfangs aus zwei Kompanien bestand. In der zweiten Jahreshälfte 1932, als die Bedrohung durch die erstarkende NSDAP und deren Schlägertrupps zunahm, entstand der »Bund Jüdischer Frontsoldaten« als Kombination aus Veteranenverband und jüdischer Selbstschutz-Gruppe. Die Gründer waren Generalmajor i.R. Emil Sommer und Oberleutnant in der Reserve Dkfm. Ernst Stiassny (geb. 1895).17 Ein erster Appell fand auf dem Sportplatz des jüdischen Sportklubs »Hakoah« in Wien am Sonntag, dem 11. September 1932 statt.18 Wenige Wochen später musste der BJF dann »seine Feuerprobe« bestehen  : Anlässlich der Ende September und Anfang Oktober 1932 erwarteten nationalsozialistischen Aktionen war »strengste Bereitschaft« angeordnet, zu den einzelnen jüdischen Bethäusern wurden Schutz-Abteilungen verlegt. Es galt, »uns bereit [zu] halten, für die jüdische Ehre, jüdisches Leben und jüdischen Besitz einzugreifen«.19 Kurz vor Weihnachten befahl die Bundesführung erneut Bereitschaft, um nationalsozialistischen Zettelaktionen durch das Aufkleben oder Verteilen eigener Zettel zu begegnen  ; dies konnte dann aber aufgehoben werden, weil »auf Grund unseres Einschreitens bei der Polizei-Direktion dieselbe die energischeste Bekämpfung der nationalsozialistischen Zettelaktion gewährleistet«.20 »Durch direkte Fühlungnahme und Aufklärung mit der nichtjüdischen Bevölkerung« wollte der BJF zur »Abwehr des Antisemitismus« beitragen. Die in diesem Sinne zu nichtjüdischen Frontkämpfer-Organisationen aufgenommenen Kontakte waren zwar nur mäßig erfolgreich, »aber der Eindruck ist doch der, dass gediente Soldaten niemals eine aggressive Haltung gegenüber den Juden eingenommen haben, soferne der Intervenierende selbst Frontsoldat gewesen ist und sogar auf Dekorationen […] hinweisen kann«.21

17 Zum BJF vgl. v. a. Senekowitsch 1994b. Der »Bundesbefehl Nr. 1« von Anfang September 1932 war von GM i.R. Emil Sommer gezeichnet, die »Bundesanordnung Nr. 1«, 25.10.1932 von Ernst Stiassny, Russisches Militärisches Staatsarchiv in Moskau (in der Folge  : RGWA), Fond 627/1/1-19, Kt. 1, Mappe 19, 126, und Fond 627/1/20–27, Kt. 2, Mappe 20, 1. 18 Bundesbefehl Nr. 1, ebd., Mappe 19, 126. 19 Bundesbefehle Nr. 5 und 6, Wien 28.9.1932 und 6.10.1932, und Dispositionen für die Bereitschaft, ebd., Fond 627/1/1-19, Kt. 1, Mappe 19, 135, 121, und Mappe 18, 259f.; Fond 627/1/20-27, Kt. 2, Mappe 20, 13. 20 Reservatbefehle, Wien 17. und 18.12.1932, ebd., Fond 627/1/1-19, Kt. 1, Mappe 19, 155f. 21 Notiz Dir. Glasers, n.d., ebd., Fond 627/1/1-19, Kt. 1, Mappe 9, 42f.

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Der BJF begrüßte, wie es in einem Rundschreiben an die Bezirksgruppenführer hieß, die Ausschaltung des Parlaments im März 1933 und stand »voll und ganz hinter der heutigen Autoritätsregierung des Herrn Bundeskanzlers Dr. Dollfuss. Dessen Namen und die Namen unseres Heeresministers G.d.I. Vaugoin, unseres Sicherheitsministers Theresienritters Major Dr. Fey, unseres Justizministers Dr. Schuschnigg u.s.w., größtenteils ehemalige Frontoffiziere und somit unsere Kriegskameraden, bieten uns jüdischen Frontkämpfern die Gewähr, dass, so lange diese unerschrockenen Männer an der Spitze der Regierung stehen, unsere Glaubensbrüder, insbesondere aber wir ehemaligen Frontkämpfer, nie solchen Verfolgungen ausgesetzt sein werden, wie draußen im Reiche Hitlers.« Daher, so hieß es weiter, sei es »auch unsere Pflicht, getreu unserer Bezeichnung Frontkämpfer, jederzeit schlagbereit da zu stehen, falls die Regierung militante Formationen benötigt.«22 Grundsätzlich verstand sich der BJF freilich als unpolitisch, soweit dies in der innenpolitisch gespaltenen Zeit der 1930er Jahre überhaupt möglich war  : »Wir kennen keine Politik, wir kennen nur Juden und ihre Not  !« Als »unpolitische Vereinigung« nahm der BJF auch »zu den Kultuswahlen keine Stellung«, wie im November 1932 betont wurde, obwohl einzelne Funktionäre für verschiedene Listen kandidierten.23 Der angestrebte Beitritt des BJF »in corpore« zur »Vaterländischen Front«, der neuen österreichischen Einheitsorganisation, scheiterte, da ein korporativer Beitritt zur »Vaterländischen Front« nur für »anerkannte Berufsorganisationen« möglich war und daher »die Mitgliedschaft […] nur im Wege des Einzelbeitrittes erworben werden« konnte.24 Ein offizielles Zusammengehen des BJF mit den »Heimwehren« (den konservativen Wehrformationen, die zum Teil militant antidemokratisch eingestellt waren) oder anderen Organisationen ebenso wie ein Eintreten jüdischer Frontkämpfer in diese erschien aus innenpolitischen Gründen »nicht opportun«  : »Getrennt marschieren und vereint schlagen«, lautete die Devise.25 Davon unabhängig gehörten viele jüdische Kriegsveteranen natürlich den Traditions- und Kameradschaftsvereinen ihrer alten Truppenkörper an. Zu Beginn war der BJF streng militärisch organisiert und erhielt Ende 1933 eine Regimentsstruktur unter Mitwirkung von Major Franz Reicher (der weiterhin als aktiver Offizier im Bundesheer diente und daher formell keine Funktion im Bund 22 Dies und das Folgende aus dem Rundschreiben an die Bezirksgruppenführer des BJF, o.D., wohl erste Hälfte 1933, ebd., Fond 627/1/1-19, Kt. 1, Mappe 19, 4ff. 23 Entwurf für einen Werbezettel und Bundesanordnung Nr. 3, Wien 8.11.1932, ebd., Mappe 16, 2, und Mappe 19, 132. 24 Generalsekretariat der VF, Organisationsabteilung, an BJF, Nr. 16.294/Org., Wien Dezember, ebd., Mappe 6, 7. 25 Rundschreiben an die Bezirksgruppenführer des BJF, ebd., Mappe 19, 4ff.

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übernahm)  : »Das erste Regiment unserer Wehrformation« sollte drei Bataillone mit zusammen zwölf Kompanien und ein Jugend-Bataillon zu drei Kompanien umfassen  ; Ziel war »die Schaffung einer Edelgarde jüdischer Männer und Jünglinge«.26 Auf Bezirksebene wurden Alarmpläne erstellt. Neben (para-)militärischen Übungen und Exerzieren stand weiterer Unterricht auf dem Programm. Vor allem die Jugend sollte »im vaterländischen Sinne« beeinflusst und daher neben Erster Hilfe auch in Rechtsund Heimatkunde sowie jüdischer Geschichte unterrichtet werden.27 Daneben entstand ein »Abwehrreferat« als eine Art Nachrichtendienst, um über antisemitische Publikationen und Pläne informiert zu sein.28 Es gab auch eigene Frauen- und Jugendgruppen sowie einen »Sturmkader«.29 Mitte 1934 übernahm Hauptmann i.R. Sigmund (Edler von) Friedmann (1892– 1964), ein hochdekorierter Offizier, die Aufgabe des Bundesführers.30 Sein Vater Moriz (1851–1932) war Oberst in der k. u. k. Armee gewesen und für seine Verdienste geadelt worden  ; das Wappen zeigte den Löwen von Juda.31 Friedmann war 1913 aus der Technischen Militärakademie in Mödling als Leutnant ausgemustert worden und diente im Ersten Weltkrieg als Artillerieoffizier in Galizien und an der italienischen Front. 1918/19 war er im deutsch-österreichischen Staatsamt für Heerwesen (dem späteren Verteidigungsministerium) beim sozialdemokratischen Nationalrat Johann Smitka (1863–1944) eingeteilt.32 Unter Friedmanns Führung entwickelte sich der BJF weiter und verstand sich als »Schild und Schwert des Judentums« gegen Angriffe von außen, wie er es in einer Rede am 4. Oktober 1934 formulierte. Darüber hinaus bemühte er sich um nichts weniger als »die Einigung des Gesamtjudentums unter Ausschaltung aller jüdisch-innerpolitischen Fragen«.33 Letztlich zeigte sich hier in einer jüdischen Variante ein allgemeines Phänomen der 26 Bundesbefehl Nr. 52, Wien 13.11.1933, und Regimentskommandobefehl Nr. 1, ebd., Fond 627/1/20– 27, Kt. 2, Mappe 20, 19–23. 27 Weisungen … und Bundesbefehl Nr. 54, Wien 13.12.1933, ebd., Fond 627/1/1-19, Kt. 1, Mappe 14 und Mappe 18, 17. 28 Ebd., Mappe 13, 23ff. 29 Drei Jahre BJF 1935. 30 Offiziell wurde Friedmann auf der Außerordentlichen Generalversammlung am 15.9.1934 zum Bundesführer gewählt, Bundesbefehl Nr. 24, Wien 24.9.1934, RGWA  : Fond 627/1/1-19, Kt. 1, Mappe 9, 7, er dürfte aber bereits davor de facto die Führung des BJF übernommen haben. 31 ÖStA, Kriegsarchiv (in der Folge  : ÖStA, KA)  : Qualifikationsliste Moriz Friedmann. Für ergänzende Informationen danke ich Sigmund v. Friedmanns Tochter Ruth Laron sowie Albert Sternfeld. 32 Wie vorige Anmerkung sowie Qualifikationslisten und Personalakten Sigmund v. Friedmann, ÖStA, KA sowie AdR  : ÖBH. 33 Programm des Weltkongresses jüdischer Frontsoldaten in Wien 1936, RGWA  : Fond 627/1/1-19, Kt. 1, Mappe 10, 57.

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Zwischenkriegszeit  : Dass sich die ehemaligen Frontkämpfer und Kriegsteilnehmer auf Grund ihrer Erlebnisse und Erfahrungen in den »Stahlgewittern« des Weltkrieges für geeignet und berufen fühlten, die Entwicklung der Gesellschaft in die richtigen Bahnen zu lenken. Abordnungen des BJF nahmen an zahlreichen Soldatentreffen und Gedenkveranstaltungen teil, so auch an der Einweihung des Wiener Heldendenkmals im Äußeren Burgtor am 9. und der Heldengedenkfeier am 15.  September 1934.34 Dazu kam die Errichtung zahlreicher Gedenktafeln für jüdische Gefallene in jüdischen Synagogen und auf Friedhöfen. Nachdem ein erster »Weltkongress« der jüdischen Frontkämpfer-Organisationen im Juni 1935 in Paris durchgeführt worden war, fand die zweite derartige Veranstaltung vom 27. Juni bis 4. Juli 1936 im Wiener Musikverein statt.35 In der Folge übernahm der BJF das Präsidium der Weltvereinigung jüdischer Frontkämpfer-Organisationen  – die Probleme der antisemitischen Agitation waren ja keineswegs auf Österreich beschränkt. Zum »Internationalen Frontkämpfer-Friedenskongress« in Wien vom 26. bis 29. September 1937 stellte der BJF eine Ehrenabteilung. Obwohl Wien das Zentrum der Aktivitäten des BJF blieb, entstanden in ganz Österreich Gruppen, von denen vor allem die Grazer Gruppe unter dem im Krieg schwer verwundeten Oberleutnant a.D. Dr. Ing. Ernst Wechsler (1889–1947) aktiv war. An der Heldengedenkfeier am 23. Juni 1935 in Graz nahmen neben den uniformierten Angehörigen des BJF aus Graz und aus Wien auch Delegationen des Bundesheeres und des Schutzkorps sowie eine Abordnung des »27er-Bundes« (d. h. der Kameradschaft des einstigen k. u. k. Infanterie-Regiments Nr. 27, des Grazer Hausregiments) am Aufmarsch teil.36 Weitere Ortsgruppen bestanden in Horn, Innsbruck, Klagenfurt, Mödling und St. Pölten. Im Zuge der Zurückdrängung der in den frühen 1930er Jahren so zahlreichen unterschiedlichen Wehrformationen (die mit Verordnung vom 10. Oktober 1936 alle aufgelöst wurden), durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht und die Entwicklung der Frontmiliz hin zu einer Landwehrkomponente des Bundesheeres wurde auch der BJF, wie dies Friedmann Anfang 1938 ausführte, »zum Teile seines militärischen Charakters entkleidet« und konzentrierte sich auf nichtmilitärische Aufgaben. 34 Bundesbefehl Nr. 24, Wien 24.9.1934, ebd., Fond 627/1/1-19, Kt. 1, Mappe 9, 7. 35 Ebd., Fond 627/1/1-19, Kt. 1, Mappe 3, 8  ; vgl. auch die Berichterstattung dazu in der »Jüdischen Front«. 36 Ein Fotoalbum Album der Heldengedenkfeier in Graz befindet sich unter den BJF Akten in Moskau, RGWA  : Fond 627/1/206–220, Kt. 26, Mappe 207  ; vgl. dazu, mit detaillierten Angaben zur Biographie Wechslers, Senekowitsch 1995b, 22f.; Senekowitsch 1997, 115–118  ; Duizend-Jensen 2004, 50.

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Eine Eingliederung in die (Front-)Miliz war offenbar Anfang 1937 versucht worden, scheiterte jedoch  ; lediglich mit der »Soldatenfront« als Veteranenorganisation der »Vaterländischen Front« hielt der BJF enge Fühlung.37 Die Organisation des BJF wirkt, wenn man die Akten durchsieht, höchst bürokratisch. Friedmanns sehr autoritäre Führung wurden von Teilen des BJF heftig kritisiert, von anderen aber begrüßt. Die fünfte Generalversammlung am 29. Jänner 1938 brachte darüber heftige Diskussionen und letztlich eine Bestätigung Friedmanns sowie die Entfernung der kritischen Funktionäre – darunter auch des Mitgründers Stiassny  – aus der Bundesführung, um »dem Bunde […] wieder eine einheitliche Führung zu geben«. Mit 80 gegen zwei Stimmen nahm die Generalversammlung den Antrag an, den Bund künftig noch stärker »auf autoritärer Basis« zu führen, weil die »Wahl mit dem Stimmzettel« zuletzt eine Bundesführung ergeben habe, die »vollständig arbeitsunfähig war«.38 Insgesamt war der BJF anscheinend durchaus erfolgreich – für 1938 werden immerhin 24.000 Mitglieder genannt, und die Personaldokumente (die sich derzeit noch in Moskau befinden) enthalten Nummern mindestens bis zu 38.573. Zum Vergleich  : 1938 lebten in Österreich insgesamt rund 180.000 Juden (und über 24.000 Österreicher jüdischer Abstammung). Zwischen 1935 und 1937 verzeichnete der BJF 3.274 Zu- und 2.735 Abgänge.39 Die Zahlung des Mitgliedsbeitrags von monatlich einem Schilling wurde mittels kleiner Marken in den Mitgliedsausweisen nachgewiesen.40 Der BJF war wohl die größte, aber nicht die einzige jüdische Veteranen-Organisation im Österreich der Zwischenkriegszeit. Generalmajor Emil Sommer, der den BJF 1934 offenbar nicht ganz freiwillig verlassen hatte, gründete in der Folge die »Vereinigung der Legitimistischen Jüdischen Frontkämpfer« im »Eisernen Ring«, der monarchistischen Dachorganisation in Österreich.41 Als Bundesführer dieser neuen Organisation erließ Sommer schon im April 1934 einen Aufruf zum Beitritt. Zu den ersten, die sich begeistert meldeten, gehörte der ehemalige Feuerwerker (= Feldwebel) 37 Tätigkeitsbericht, Jänner 1938, RGWA  : Fond 627/1/1-19, Kt. 1, Mappe 10, 67–85. 38 Vgl. die Materialien zur Generalversammlung 1938, ebd., Mappe 10. Ernst (Ernest) Stiassny kam übrigens nach dem Zweiten Weltkrieg als Vertreter des World Jewish Congress wieder nach Wien. 39 Tramer 1969, 270  ; Personalblätter des BJF im RGWA  : Fond 627/2/6-8, Kt. 3  ; Gesamtaufstellung über Zu- und Abgänge, Fond 627/1/1-19, Kt. 1, Mappe 10, 51f. 40 Leontine »Loni« Shwartz danke ich für die Überlassung von Kopien des Mitgliedsausweises ihres Vaters Julius (bzw. Gyula) Neumanns, ehemaligen Wachtmeisters im k. u. k. Husaren-Regiment Nr. 9. 41 RGWA  : Fond 627/2/1-3, Kt. 1, Mappen 2 und 3. Die Akten dieser Legitimistischen Frontkämpfer-Vereinigung dürften 1938 ebenso wie die des BJF von der Gestapo beschlagnahmt und nach Berlin gebracht worden sein. Dort »erbeutete« sie 1945 die »Rote Armee« und brachte sie ins Militärarchiv in Moskau, wo ich sie im Februar 2013 einsehen konnte. Dabei dürften diese beiden Bestände teilweise vermengt worden sein.

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Teofil Reiss (1889–um 1943), der von 1910 bis 1919 aktiv in der k. u. k. Armee (im Feldhaubitz-Regiment Nr. 11) gedient hatte und mehrfach, darunter mit der Silbernen Tapferkeitsmedaille 1. Klasse, dekoriert worden war. Reiss wurde in der Folge einer der führenden Funktionäre dieser Organisation.42 Auch die Legitimistischen Frontkämpfer waren bis 1938 eine zwar kleine, aber höchst aktive Gruppe.

Das Ende 1938 War der Bundesstaat Österreich in den Jahren von 1934 bis 1938 für viele Juden – wie auch für viele andere Deutsche, die aus politischen oder »rassischen« Gründen aus dem Deutschen Reich geflüchtet oder vertrieben worden waren – ein Hort der Sicherheit und, so sahen es viele, der »bessere deutsche Staat«, so änderte sich das mit den Ereignissen des März 1938 dramatisch. Auf die nationalsozialistische »Machtübernahme« in Österreich am 11. März 1938 folgte der Einmarsch deutscher Truppen, Polizei- und SS-Formationen am 12. März und bereits am 13. März der formelle »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich. Bereits in der Nacht des 11. März kam es zu Ausschreitungen gegen jüdische und »vaterländische« Österreicher, die wohl zu den beschämendsten Episoden der österreichischen Geschichte gehören. In den folgenden Jahren wurden die meisten in Österreich lebenden Juden – gleich ob jüdischer Religion oder jüdischer Abstammung  – zur Ausreise gezwungen oder kamen im Holocaust ums Leben  ; ihr Besitz wurde großteils »arisiert«.43 Das österreichische Bundesheer wurde bereits am 14. März auf Adolf Hitler vereidigt und in die deutsche Wehrmacht übernommen.44 Jüdische Soldaten (bzw. »Nichtarier« im Sinne der Nürnberger Gesetze) wurden, manchmal mit gekürzten Bezügen, pensioniert. Ihre Gesamtzahl ist nicht genau bekannt. Eine sicher unvollständige Zählung ergab 238 Personen, die bei der Übernahme des Bundesheeres in die deutsche Wehrmacht im März 1938 wegen ihrer jüdischen Religion oder Herkunft, wegen einer Ehe mit einer Nichtarierin oder – in einem Fall – »als Judenfreund« aus dem Militär entfernt wurden.45 42 Teofil Reiss an GM Sommer, Wien 5.4.1935, RGWA  : Fond 627/2/4-5, Kt. 2, 83. Für ergänzende Hinweise danke ich Reiss’ Sohn, Major a.D. Kurt Eres. 43 Dazu sehr detailliert und differenziert Etzersdorfer 1995. 44 Einige jüdische Soldaten wurden von der Vereidigung ausgeschlossen, während andere den Eid mitleisteten. Freundliche Mitteilung von Univ.-Prof. Dr. Walter Simon. 45 Schmidl 1994a, 221. Inzwischen ist die Dissertation von Ramon Rößler zur Übernahme des Bundesheeres erschienen (Rössler 2017), die dazu genauere und detailliertere Angaben enthält. Ich danke Major Rößler herzlich für seine weiterführenden Informationen zu diesem Thema.

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Die »Nürnberger Gesetze« von 1935 untersagten den Dienst von Juden in der Wehrmacht  ; Offiziere mussten nicht nur die eigene, sondern auch die »arische« (=  nichtjüdische) Abstammung der Ehefrau nachweisen.46 Mit dem »Anschluss« galten diese Vorschriften auch in Österreich. Nach den Nürnberger Gesetzen als »Mischlinge« qualifizierte Personen (»Vierteljuden«, d. h. Personen mit einem jüdischen Großelternteil) konnten in der Wehrmacht noch bis 1940 dienen  ; dann wurden auch sie – zusammen mit Angehörigen ehemals regierender deutscher Fürstenhäuser und des Jesuitenordens – als »wehrunwürdig« aus der Wehrmacht entfernt.47 Zu ihnen zählte Hubert Wingelbauer (1915–1987), der nach dem »Anschluss« noch zum Oberleutnant befördert worden war, die Wehrmacht aber wegen seiner teilweise jüdischen Abstammung und als »politisch verdächtig« 1939 verlassen musste. In der Zweiten Republik war er u. a. Verteidigungsattaché in Paris und London und von 1978 bis 1980 als Generaltruppeninspektor der höchste Offizier des Bundesheeres.48 Eine große Anzahl jüdischer Soldaten, darunter hohe Offiziere sowie hochdekorierte Veteranen des Ersten Weltkrieges, wurden von Nationalsozialisten ermordet. Einer davon war Regierungsrat Oberst a.D. Dr. Otto Grossmann (1873–1942), ein ehemals aktiver Offizier, der den Ersten Weltkrieg als Kompanie-, dann Bataillonskommandant mitgemacht und danach  – auf Grund seiner schweren Verwundung (im Krieg hatte er ein Bein verloren) – im Kriegsarchiv gearbeitet hatte. Nach dem »Anschluss« verlor er zuerst seine Wohnung und seine Bezüge wurden gekürzt. Auch ein Ansuchen beim Oberkommando der Wehrmacht vermochte nicht, die Lage des fast 70-jährigen ehemaligen Offiziers zu verändern  ; im Sommer 1942 wurde er in das Konzentrationslager Theresienstadt (Terezín) in Böhmen deportiert, wo er noch im Oktober dieses Jahres starb.49 Zu den prominenten Opfern der Nationalsozialisten gehörte auch Sektionschef Dr. Robert Hecht, den die Nationalsozialisten sofort nach dem »Anschluss« als wichtigen Unterstützer und Wegbereiter des österreichischen Ständestaates verhafteten. Hecht kam noch 1938 im Konzentrationslager Dachau ums Leben.50 Der pensionierte Feldmarschallleutnant Friedländer war nach den »Nürnberger Gesetzen« – da 46 Rigg 2002, 99–106. Wie Rigg zeigte, dienten dennoch einige Soldaten (teilweise) jüdischer Abstammung in der Wehrmacht, einige sogar in der Waffen-SS. Einige von ihnen waren wegen früherer Verdienste offiziell als »deutschblütig« erklärt worden. Immerhin anerkannte selbst Hitler den tapferen Dienst jüdischer Mannschaften und Offiziere im Weltkrieg, ebd., 189. 47 Juden und »50%ige jüdische Mischlinge« waren gemäß der OKW-Weisung vom 8.4.1940 zu entlassen  ; es gab aber Ausnahmen, Absolon 1988, 371  ; Vogel 1977, 229–262. 48 Bader 2004, 366–369. 49 Tepperberg 1988/89, 319–333. 50 Huemer 1975, 131–135.

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nur teilweise jüdischer Abstammung – »Halbjude«, galt wegen seiner Ehe mit einer zwar ebenfalls getauften, aber »volljüdischen« Frau dennoch als »Volljude«. Trotz aller Versuche der Wehrmacht, den verdienten General zu schützen, wurde das Ehepaar sukzessive aller bürgerlichen Rechte und des Eigentums beraubt sowie 1943 nach Theresienstadt deportiert, wo Friedländers Frau 1944 starb. Der General selbst wurde, bereits 63 Jahre alt, noch weiter nach Auschwitz (Oświęcim) deportiert und auf dem »Todesmarsch« von Auschwitz nach Pless (Pszyna in Polen) im Jänner 1945 erschossen.51 Friedländer selbst betrachtete sich offenbar nicht als Jude  : Auf den NS-Vordrucken strich er die Formulierung »Ich bin Jude …« regelmäßig durch und ersetzte sie durch den Satz »Ich gelte als Jude …«. Die perverse Logik der »Rassegesetze« zeigt sich darin, dass sein Neffe 1942 im Alter von 22 Jahren als Soldat der Wehrmacht an der Ostfront fiel. Dessen Vater Dr. Franz Friedländer, der Bruder des Generals, hatte im Ersten Weltkrieg als Reserveoffizier ein Bein verloren  ; aufgrund seiner Ehe mit einer »Arierin« blieb er von den Folgen der Rassengesetze weitgehend verschont und sein Sohn war daher würdig, in der Wehrmacht zu dienen und für den »Führer« zu fallen. Der Rabbiner Dr. Arnold Frankfurter, der im Ersten Weltkrieg die israelitische Militärseelsorge in Wien geleitet hatte, überlebte den Holocaust ebenfalls nicht. Im September 1938 verhaftet, wurde er zuerst nach Dachau und dann nach Buchenwald verbracht, wo er am 10. März 1942 ermordet wurde.52 Auch für Generalmajor Emil Sommer bedeutete der »Anschluss« eine tiefe Zäsur. Später dementierte er die Geschichte, dass er, als man ihn im März 1938 zu den berüchtigten »Reibpartien« abholen wollte (Juden wurden gezwungen, unter dem Johlen des Pöbels mit Zahnbürsten und ähnlich ungeeigneten Mitteln die Wahlparolen der »Vaterländischen Front« von den Gehsteigen zu kratzen), in Generalsuniform mit allen Dekorationen erschienen und daher von diesen Demütigungen verschont worden wäre. Wie Friedländer wurde auch Sommer nach Theresienstadt deportiert, überlebte aber den Krieg ebenso wie seine Frau. Nach seiner Rückkehr kandidierte er im April 1946 mit einer »Liste jüdischer Kriegsopfer« bei den Wahlen zur Kultusgemeinde, erreichte aber nur drei der 36 Mandate. Sommer starb während einer Reise nach New York 1947, wo das Ehepaar die Tochter besuchte, die 1938 in die USA emigriert war. Sommers Sohn Anton emigrierte 1939 über Frankreich nach Côte d’Ivoire und in den Kongo, wo er bis 1946 als Tropenarzt arbeitete. Nach seiner Rückkehr war er Arzt bei der Wiener Polizei.53 51 Senekowitsch 1995a  ; ÖStA, AdR  : ÖBH Personalakt J. Friedländer. 52 Köhler 2008, 12. 53 Zu Sommer vgl. die Verweise in Anm. 8.

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Besonders tragisch war das Schicksal Teofil Reiss’, der ja wie Sommer bei den »Legitimistischen Frontkämpfern« gewirkt hatte. Er wurde nach dem »Anschluss« verhaftet, kam aber nach einigen Monaten in einem Konzentrationslager wieder frei und konnte nach Polen ausreisen. Nach Kriegsbeginn und der Teilung Polens zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion befand er sich in dem von den Sowjets besetzten Teil, wurde prompt erneut verhaftet und kam in ein sowjetisches Lager im Kaukasusgebiet. Sein Sohn Kurt, der von Österreich nach Palästina ausreisen konnte, erhielt um 1943 das letzte Mal eine Nachricht von seinem Vater. Teofil Reiss dürfte in einem sowjetischen Lager ums Leben gekommen sein.54 Zugsführer a.D. Gustav Kleinmann (1891–1976) wurde nach dem »Anschluss« in die Konzentrationslager Buchenwald, Auschwitz, dann weiter nach Osten deportiert – die Hoffnung, die Kriegsauszeichnungen aus dem Ersten Weltkrieg, darunter die Silberne Tapferkeitsmedaille 1. Klasse, würden ihn vor den Verfolgungen der Nationalsozialisten bewahren, erfüllten sich nicht. Dennoch hatte er Glück und überlebte den Holocaust ebenso wie sein Sohn Fritz, den die US-Truppen 1945 im KZ Mauthausen befreiten. Von tausend mit ihm verhafteten Juden überlebten nur 26 den Holocaust. Kleinmanns Enkel konnten dann bereits im Bundesheer der Zweiten Republik ihren Wehrdienst ableisten.55 Wie andere jüdische Organisationen wurde auch der BJF von den neuen nationalsozialistischen Machthabern gleich nach dem »Anschluss« aufgelöst und dessen Akten beschlagnahmt. Der damalige Bundesführer, Sigmund (Edler von) Friedmann, konnte allerdings nach Palästina ausreisen und machte dort Karriere in der »Hagana«, der jüdischen Untergrundarmee. Er nahm den Namen Eitan Avisar an und wurde schließlich stellvertretender Generalstabschef der Hagana. Nach 1948 gehörte Friedmann/Avisar zu den ersten Generälen der neuen Israelischen Armee  ; als Aluf (= Generalmajor) war er Vorsitzender des israelischen Obersten Militärgerichts. Auch andere Österreicher brachten ihre Kenntnisse in die »Hagana« und später in die Israelische Armee ein, darunter Rudolf Löw (Rafael Lev, gest. 1961), ein früherer Ausbilder des Republikanischen Schutzbundes (der Wehrformation der Sozialdemokraten)  ; Israel Beer (Bär), der ein guter Lehrer war, später aber als Spion für die Sowjetunion arbeitete  ; Wolfgang (von) Weisl  ; oder Hauptmann Fritz Eisenstädter (Eshek), ein Artillerist.56 Aber das ist wieder eine andere Geschichte … 54 Für diese Informationen bin ich Reiss’ Sohn, Major a.D. Kurt J. Eres, zu Dank verpflichtet. Die Tagebücher Teofil Reiss’ wurden inzwischen publiziert (Eres/Rosner 1995 bzw. Reiss 2016). 55 Ein alt-österreichischer Korporal 1988, 10f.; für ergänzende Mitteilungen danke ich Herrn Fritz Kleinmann. 56 Für diese Hinweise danke ich Dr. Netanel Lorch, David Ignatz Neumann und Prof. Dr. Jehuda Wallach sehr herzlich.

Das Erbe einer übernationalen Armee im Zeitalter des Nationalismus

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Ilse Reiter-Zatloukal

»Bodenständigkeit« vs. »Verjudung«* Antisemitismus in der Ärzteschaft 1918 bis 1938 »Überfüllung« und »Überfremdung« der Ärzteschaft Die jüdischen Ärzte (und Ärztinnen)1 in Österreich waren seit Beginn der Republik Österreich von einer rigorosen und systematischen Ausgrenzungspolitik betroffen, wobei zunächst  – wie auch bei den Anwälten2  – Maßnahmen gegen die »Überfüllung des Ärztestandes in Österreich« 3 gefordert wurden. Der »kolossale Aufschwung der medizinischen Wissenschaften« hatte nämlich bereits in den 1870er Jahren »ein ungeheures Zuströmen zum Studium der Medizin« veranlasst, und schon damals war – so die »Ärztliche Reform-Zeitung« (ÄRZ), das »Organ des Vereins deutscher Ärzte in Österreich« im Jänner 1933 – »von ärztlicher Seite vor dem großen Ansturm vergeblich gewarnt« worden. Die »Folgen des Überflusses an Ärzten« hätten sich auch sehr bald gezeigt, und bereits Ende der 1870er Jahre habe man versucht, Ärzte zur Niederlassung auf dem Lande zu bewegen, um der »Überzahl der Ärzte in größeren Städten, namentlich in Wien, Abzug zu schaffen«.4 Nach dem Zusammenbruch der Monarchie vergrößerte sich die »Not der Ärzte in Deutschösterreich«, v. a. durch die »Kriegspromovierten, die deutschen Ärzte aus den fremden Nationalstaaten, die aus dem Heere gezwungenen Militärärzte« 5 und die aus dem Osten der einstigen Monarchie Zugezogenen. 1922 gab es in Wien bereits 4.191 Ärzte, womit hier ein Arzt auf 439 EinwohnerInnen kam, während z. B. in Kärnten das Verhältnis eins zu 2.433 ausmachte.6 *  Ich danke Barbara Sauer für die kritische Durchsicht des Manuskripts. 1 Angesichts der geringen Zahl an Ärztinnen wird in diesem Beitrag beim Begriff »Ärzte« von einer gendergerechten Ausdrucksweise abgesehen. Eine geschlechtsspezifische Statistik liegt nicht vor, 1938 lag aber der Anteil der NS-verfolgten Ärztinnen bei ungefähr einem Sechstel. 2 Siehe dazu den Beitrag von Ilse Reiter-Zatloukal in diesem Band. 3 Narbeshuber 1933. 4 List 1924, 202. 5 Ärztliche Reform-Zeitung (ÄRZ) 21 (1919), 12. 6 In Niederösterreich gab es 806 Ärzte (1  :1.808), Oberösterreich 467 (1  :1.838), Tirol 315 (1  :972), Salzburg 158 (1  :1.356), Kärnten 173 (1  :2.433), Vorarlberg 88 (1  :1.514), Burgenland 71 (unbekannt, mangels Volkszählung 1920)  ; in der Steiermark gab es 190 Ärzte, in Graz 420, Kilhof 1923, 74f.

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Es wurde aber nicht nur die »Überfüllung« des Ärztestandes beklagt, sondern insbesondere auch dessen »Überfremdung« mit jüdischen Ärzten. So kritisierte die ÄRZ 1923 nicht nur, dass die »Vermehrung der Ärzte« noch weiter fortschreite, sondern stellte auch fest, dass sich unter den 32 neuen Ärzten im März 1923 »diesmal 10 Österreicher« befänden – wenngleich nicht ersichtlich sei, »wie lange« sie schon Österreicher seien –, weiters »9 Ostgalizianer, 5 Rumänen u.s.f.«.7 Nach den Angaben der ÄRZ gab es 1933 in ganz Österreich 8.620 Ärzte (niedergelassene und Amtsärzte), davon in Wien 4.877.8 Darunter befanden sich der »Wirtschaftlichen Organisation der Ärzte Wiens« zufolge über 500 Ärzte aus »dem früheren Osten des Reiches«, die sich in den ersten Nachkriegsjahren in Wien angesiedelt hatten, wodurch »natürlich die bodenständigen9 Ärzte auf das Schwerste betroffen« seien.10 Deshalb dürfe, so die ÄRZ im Mai 1933, »ein weiterer Zustrom aus dem Auslande, besonders aus dem Osten, auf keinen Fall mehr stattfinden«. Schon 1932 wurde vor der Katastrophe einer ärztlichen Arbeitslosigkeit gewarnt,11 weshalb man sich, so die ÄRZ 1932, »mit der unabweisbaren Pflicht belasten« müsse, »die Zahl der Ärzte, ja auch die Zahl der Medizinstudierenden dem wirklichen Bedarf der Bevölkerung anzupassen«.12 Abgesehen vom Vorwurf, anstelle »bodenständiger« Ärzte lukrative Arztstellen zu besetzen, wurde den jüdischen Ärzten aber auch mehr oder weniger direkt kriminelles, geldgieriges und die »bodenständige« Bevölkerung schädigendes Verhalten vorgeworfen, insbesondere freilich in der NS-Presse.13 Ein typisch antisemitisches Vorurteil war überdies, dass jüdische Ärzte »durch skrupellose Übertretung des Abtreibungsverbotes«14 die christliche Bevölkerung schädigen würden. So behauptete das »Wiener Montagblatt« im März 1934,15 dass die Juden »systematisch auf die Ausrottung der   7 Ebd.   8 Auf Niederösterreich 1.040, Steiermark 953, Oberösterreich 585, Tirol 430, Kärnten 283, Salzburg 204, Burgenland 131 und Vorarlberg 117, ÄRZ 35 (1933), 5.   9 Vgl. zum Begriff der »Bodenständigkeit«, der für »nicht jüdisch« bzw. »arisch« durchgängig Verwendung fand, Mitteilungsblatt der Vereinigung jüdischer Ärzte in Wien (MVjÄ) Nr. 7/Juli 1934, 2. 10 Mitteilungen der Wirtschaftlichen Organisation der Ärzte Wiens 17 (1937), 74f. 11 Tatsächlich promovierten in Wien im Studienjahr 1934/35 286 Mediziner, im 1935/36 393, 1936/37 497 und 1937/38 568, ebd. 12 Narbeshuber 1932, 299. 13 »Volksgenossen  ! Nehmt keine jüdischen Ärzte  ! Vertraut eure Gesundheit, die Gesundheit eurer Familien, eurer Kinder und Frauen nicht jenen jüdischen Subjekten an, die vor keiner Gaunerei zurückschrecken, um durch eine nicht notwendige Operation oder in die Länge gezogene Behandlung Geld zu raffen  ! […] Meidet den jüdischen Arzt wie die Pest  ! Kein Jude ins arische Haus  !«, Österreichischer Beobachter 2 (1934), F. 8. 14 MVjÄ Nr. 3/März 1934, 1. 15 Vgl. dazu Die Neue Welt, Nr. 346/6.3.1934, 1  ; auch MVjÄ, Nr. 5/Mai 1934, 1–4.

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christlichen Bevölkerung und gleichzeitig auf die Erhaltung und Vermehrung der jüdischen Bevölkerung hinarbeiten« würden. Jüdische Ärzte missbrauchten angeblich ihre Stellung, um »die christlichen Frauen zur Abtreibung der Leibesfrucht zu bewegen, würden aber bei jüdischen Frauen [… das] Verbot der Abtreibung strenge befolgen«. Die »Propaganda für die Abtreibung« hätte durch die Tätigkeit der jüdischen Ärzte »ein derartig übles Ausmaß« erreicht, dass damit einer »mörderischen Entvölkerungspolitik« Vorschub geleistet werde. Der »Österreichische Arzt«, das Organ der Ärzte in der »Vaterländischen Front« (VF), forderte daher, die »Auswüchse übelsten Verdienertums am Volkskörper unter allen Umständen zu entfernen«. Es müsse die »Gilde der berufsmäßigen Abtreiber […] aus unserem Stand heraus«, denn »[v]iel zu lange schon durften volksfeindliche Elemente in der Ärzteschaft am Marke unseres braven Volkes zehren.«16 Es wurden daher verschiedene Maßnahmen für den Kampf gegen »Überfüllung« und »Überfremdung« angeregt, die sowohl auf eine Beschränkung der Anzahl der MedizinstudentInnen, v. a. an der Universität Wien, als auch auf eine Reduktion der Zulassungen zur Ausübung der ärztlichen Praxis zielten. Die Maßnahmen der Regierung Dollfuß zeigten in weiterer Folge eine klar antisemitische Ausrichtung, wurde doch die Zahl der jüdischen Ärzte, v. a. in den Spitälern, Krankenkassen und Fürsorgeeinrichtungen der Stadt Wien, mehr oder weniger deutlich verringert, was insbesondere für jüdische Jungärzte zu einer Situation der beruflichen Hoffnungslosigkeit führte, zumal auch die Emigration keinen wirklichen Ausweg bot.

Vorgeschlagene Maßnahmen Verringerung der Studierenden

Die Zahl der Medizinstudierenden betrug an der Universität Wien 1919 2.975, davon waren laut der ÄRZ 1.732 »wirkliche Deutschösterreicher«, 1.243 »aus dem jetzigen Ausland Zugereiste«, darunter allerdings 470,17 die aufgrund des Staatsbürgerschaftsrechts 1918 durch Erklärung die deutschösterreichische Staatsangehörigkeit erlangt hatten.18 Der Anteil ausländischer Studierender war an der Universität Wien in den 1920er Jahren generell sehr hoch (19 bis 32 Prozent) und lag an der medizinischen Fakultät bis 1924 sogar zwischen 45 und 55 Prozent, sank jedoch stetig bis

16 Der Österreichische Arzt 1 (1934), Nr. 2, 26. 17 Wanschura 1919, 56–58. 18 StGBl. 91/1918.

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Anfang 1938, als er universitätsweit nur mehr bei etwa einem Achtel lag.19 Jüdische Studierende waren im Wintersemester 1933/34 an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien mit 32,4 Prozent vertreten, womit ihr Anteil mehr als doppelt so hoch lag wie an der Wiener Rechtswissenschaftlichen Fakultät,20 in Graz hingegen machten die jüdischen Medizinstudenten nur 2,5 Prozent aus.21 Angesichts der »Überfüllung« des Ärztestandes wurde immer wieder generell davon abgeraten, überhaupt Medizin zu studieren, wie dies etwa bereits im Juni 1930 der Reichsverband österreichischer Ärzteorganisationen tat.22 Seit Mitte Juli 1936 sah sich auch die »Vereinigung jüdischer Ärzte« (VjÄ)23 »im Bewußtsein ihrer Verantwortung genötigt, die jüdischen Abiturienten und ihre Eltern vor der Wahl des Medizinstudiums in der jetzigen Zeit auf das nachdrücklichste zu warnen«, und sie griff zu den drastischen Worten  : »Es mache sich jeder Jude, der Medizin zu studieren beabsichtigt, damit vertraut, daß ihm Elend, Auswanderung oder Umschichtung24 drohen  !« Es gab nach Ansicht der sich unpolitisch gebenden ÄRZ allerdings auch noch ein anderes Mittel, »um sofort den Zustrom einzudämmen«, nämlich nicht mehr Hörer inskribieren zu lassen, als »gut ausgebildet« werden könnten. Das sei zwar noch kein Numerus clausus, wirke sich aber ähnlich aus und gewährleiste noch dazu eine erstrangige Ausbildung. Die »gute Absicht einer Abstoppung des Zustromes zur Medizin« dürfe laut ÄRZ »aber nicht dazu führen, daß sich gerade nur die Arier abhalten lassen, die aber ein großer Teil der Bevölkerung will und verlangt«.25 Studienreform

Um AusländerInnen, darunter insbesondere »Ostjuden«, davon abzuhalten, nach Wien zum Studium zu kommen und damit »den Einheimischen die ohnehin beschränkten Studienmittel noch mehr zu beschränken«, war außerdem bereits 1926 das erste Mal der Vorschlag erstattet worden, zusätzlich zu den akademischen Prüfungen, konkret nach dem letzten Rigorosum, eine medizinische Staatsprüfung einzufüh19 Posch/Ingrisch/Dressel 2008, 88f. 20 Ebd., 84. 21 Scherz 2000, 139. 22 ÄRZ 32 (1930), F. 12, 212. 23 Die Neue Welt, Nr. 577/17.7.1936, ebd., Nr. 19/Juli 1935. 24 Also etwa die »Umschichtung« zur Krankenpflegerin oder Heimschwester, vgl. MVjÄ Nr. 47/November 1937, 1–3  ; oder gar in die Landwirtschaft oder Handwerk und Gewerbe, MVjÄ Nr. 44/August 1937, 1f. 25 ÄRZ 35 (1933), 5–7.

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ren und diese allein InländerInnen vorzubehalten. Ein weiterer Vorschlag ging dahin, eine derartige Staatsprüfung für Staatsbürger schon an das Ende des 1. Abschnittes zu legen, von deren Ablegung die Fortsetzung des Studiums abhängen sollte.26 Im Oktober 1935 berichtete die ÄRZ unter dem Titel »Es geht  – wenn man will  !«,27 dass nach der neuen Studienordnung für Juristen28 nun »nur österreichische Bundesbürger« zu den »theoretischen Staatsprüfungen zugelassen« seien. Wie die »Wiener Zeitung« hervorhob sollte die neue Studienordnung dem »Schutz und Förderung der juristischen Berufe durch Verschärfung der Auslese des Nachwuchses und Erschwerung der Überfremdung« dienen. Die ÄRZ folgerte daraus, dass es für Inund AusländerInnen verschiedene Bestimmungen geben könne, und solche sollten daher auch für die Medizin erlassen werden. Man gönne den Juristen diese »Sicherung«, wünsche aber auch für die Mediziner einen »Schutz«, denn es gäbe »Dinge, in denen das Herz für das eigene Volk in harten Notzeiten so laut schlagen muss, daß es alle anderen Bedenken übertönt.« 29 Diese Forderungen verhallten jedoch ungehört, und noch 1936 beklagte die ÄRZ, dass man zwar in den Nachkriegsjahren, als »eine östliche Flut hereinbrach«, in akademischen Kreisen über eine derartige Studienreform nachgedacht, aber hinsichtlich dieser »alte[n] Forderung der bodenständigen Ärzteschaft« bislang nichts erreicht habe. Es müsse jedoch weiterhin versucht werden, einen »Schutz des echten Inländertums auch in der Medizin« zu erreichen.30 Numerus clausus bei der Arztzulassung

Infolge der »Überflutung unseres kleinen Staates mit Ärzten« erschien der »bodenständischen« Ärzteschaft schon in den 1920er Jahren nicht nur ein Numerus clausus für Studierende erforderlich, sondern »aus rassenpolitischen Gründen«31 auch ein »numerus clausus der Ärzte«, »d. h. wir müssen«, so die ÄRZ 1933, »eine Zahl für den Zuwachs der Ärzte finden, die nicht überschritten werden darf«. Das Ideal sei, »eine Formel aufzustellen«, die erlaube, »den andrängenden Nachwuchs dem Bedarfe an Ärzten anzupassen.«32 Ohne dass hier explizit die jüdische Ärzteschaft genannt wurde, war doch die antisemitische Grundtendenz dieses Vorschlages evident. 1933

26 Ebd. 27 ÄRZ 37 (1935), 249f. 28 Olechowski 2011, 469f. 29 Wiener Zeitung, 23.9.1935, 3. 30 ÄRZ 38 (1936), 41f. 31 Liebenwein 1926, 218f. 32 ÄRZ 35 (1933), 148ff.

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sprach sich die Grazer Universität explizit für einen Numerus clausus aus,33 und zum Jahreswechsel 1933/34 hielt das »Mitteilungsblatt der Vereinigung jüdischer Ärzte in Wien« (MVjÄ) fest, dass die Forderungen nach einem Numerus clausus »in der letzten Zeit seitens radikaler Gruppen laut geworden« seien und »in maßgebenden Kreisen bemerkenswerten Widerhall gefunden« hätten.34 Der »Amerikanische Judenkongress« nahm Ende November 1934 allerdings deutlich Stellung gegen den propagierten Numerus clausus und betonte »das Trügerische und Gefährliche« der Ansicht, dass die Zahl der Juden in bestimmten Berufen ihren Anteil an der österreichischen Bevölkerung übersteige und daher reduziert werden müsse. Die Juden würden die Christen auch »keineswegs von Berufen fernhalten«, vielmehr liege die Ursache dafür, dass Juden in einem Berufszweig überwogen, darin, dass sich Christen entweder nicht für diesen Beruf entschieden hätten oder diejenigen, die ihn ergriffen, »nicht zu den geschicktesten und intelligentesten gehören«. Was nämlich die Leistungsfähigkeit in der Medizin, im Rechtswesen, in der Kunst und Wissenschaft betreffe, so hänge sie nicht von der Konfession, sondern von der Geschicklichkeit und Intelligenz ab. Die Patienten würden auch in zivilisierten Ländern ihre Ärzte nicht deshalb wählen, weil sie Juden oder Nichtjuden seien, »sondern weil bekannt ist, dass sie in der Behandlung der Kranken geschickt sind und die […] Wissenschaft der Medizin zu fördern verstehen.« Die Juden von der Medizin, dem Rechtswesen oder anderen Betätigungsfeldern mittels Numerus clausus auszuschließen, könne »keine andere Wirkung haben, als dem österreichischen Volk die Dienste der Fähigsten vorzuenthalten«.35 Aus Sicht des Bundeskanzleramtes war dies freilich »überheblich«, denn Nichtjuden würden sich dem Ärztestand nur zuwenden, wenn sie dazu die Berufung fühlten und die nötige Intelligenz und Geschicklichkeit dazu besäßen, »während die Juden zum nicht geringen Teile keineswegs auf Grund dieser Qualifikationen, sondern aus anderen hier nicht näher zu erörternden Gründen der Medizin zustreben.« Anders wäre es »bei aller Anerkennung der geistigen Fähigkeiten der Juden wohl nicht möglich«, dass diese, obwohl sie nur »zirka 5 Prozent der Bevölkerung ausmachen, im ärztlichen Berufe mit rund 30 Prozent vertreten sind«. Die Auffassung, wonach die christlichen Ärzte eine schlechtere Befähigung für ihren Beruf aufwiesen als die jüdischen, wurde jedenfalls »als ganz unzutreffend zurückgewiesen«.36 33 Und überdies auch für die Etablierung eines Lehrstuhles für Rassenhygiene, ÄRZ 35 (1933), 108. 34 MVjÄ Nr. 1/Jänner 1934, 1. 35 Übersetzung des Memorandums 20.11.1934, GZ. 4.565/35  : Stellungnahme des amerikanischen Judenkongresses zu den Vorgängen in Österreich, Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bundesministerium für Soziale Verwaltung (BMSV), Kt. 2.181. 36 Konzept der Stellungnahme des Bundeskanzleramtes (BKA) dazu, 26.1.1935, ebd.

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Einbürgerungsstopp und Maßnahmen gegen Scheinehen

Nach den noch auf die Monarchie zurückgehenden Vorschriften war zur Ausübung der ärztlichen Praxis nicht nur ein von einer österreichischen Universität erworbener (oder im Inland nostrifizierter ausländischer) Doktorgrad und die Meldung der Niederlassung erforderlich,37 sondern auch die österreichische Staatsbürgerschaft. Diese wiederum sei in den Nachkriegsjahren an zu viele jüdische Ärzte vergeben worden, und für diese »Schädigung der einheimischen Ärzteschaft«38 machte das Bundeskanzleramt das »Rote Wien« verantwortlich. Die Gemeinde Wien habe nämlich »unter ihrem letzten sozialdemokratischen Regime aus rein parteipolitischen Gründen nicht weniger als 1.008 Ärzte eingebürgert«, wodurch die Zahl der Ärzte in Österreich auf mehr als 8.000 gestiegen sei, was »natürlich eine enorme Belastung des inländischen Arbeitsmarktes« darstelle. Man musste daher, so das Bundeskanzleramt 1935, danach trachten, »besoldete Stellen vor allem jenen Ärzten zukommen zu lassen, die ihre Staatsbürgerschaft auf Grund ihrer Geburt besitzen, bzw. deren Vorfahren bereits österr. Staatsbürger waren«. Wenn bei diesem »Bestreben Juden in stärkerem Masse betroffen wurden«, so habe das seinen Grund darin, dass von den 1.008 eingebürgerten Ärzten mehr als 80 Prozent Juden seien.39 Seitens der »bodenständigen« Ärzteschaft wurden »Sicherheiten« gefordert, »damit nicht in Zukunft wieder eingewanderte Angehörige anderer Staaten durch irgendwelche Machenschaften sich doch die Praxisberechtigung ergattern können«. Die ÄRZ betonte allerdings Ende März 1934, dass nach den »letzten Ereignissen in Österreich […] wohl mit Sicherheit anzunehmen« sei, »daß es so arg nicht mehr sein« werde, weil der »Hauptfaktor« für die unerwünschten Einbürgerungen das von den – mittlerweile verbotenen – Sozialdemokraten geführte »Wiener Rathaus« gewesen sei.40 Was den Erwerb der Staatsbürgerschaft durch AusländerInnen im »Ständestaat« anbelangt, so war von der Regierung Dollfuß 1933 mit der sogenannten Sperrverordnung ohnedies bereits eine Einbürgerung insofern generell erschwert worden, als diese nun »im Interesse des Bundes« gelegen sein musste.41 Auch sprach sich die Ärztekammer, wenn sie um Stellungnahme bei Einbürgerungsansuchen von auslän37 Vgl. kaiserliche Entschließung 26.9.1837, Justizgesetzsammlung (JGS) 231   ; Hofkanzleidekret 3.11.1808 und Hofkanzleidekret 24.4.1827, Politische Gesetzessammlung (PGS) 55, Nr. 53, so GZ III-111.563-31  : Praxisausübung ausländischer Ärzte in Österreich, ÖStA, AdR, BMSV 1938, Kt. 2.182. 38 ÄRZ 36 (1934), 89ff. 39 Stellungnahme des BKA (wie Fußnote 36). 40 ÄRZ 36 (1934), 89ff. 41 BGBl. 523/1933, vgl. Reiter-Zatloukal 2011, 292f.

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dischen Ärzten ersucht wurde, in der Regel gegen die Bewilligungen aus, so z. B. im Fall von Dr. Max Gerson, der 1933 aus dem Deutschen Reich wegen der dortigen rassistischen Verfolgung nach Wien geflüchtet war.42 Durch die »notorische Überfüllung des Ärztestandes in Österreich« seien nämlich die Existenzbedingungen der inländischen Ärzte »ohnehin in schwerstem Maße beeinträchtigt«, wozu noch käme, dass »sich in den letzten Jahren das Abflussgebiet für österreichische Ärzte ins Ausland erheblich verringert hat und namentlich Deutschland in dieser Richtung fast vollständig verloren gegangen ist, und dass überdies in letzter Zeit auch eine Rückwanderung von bisher im Auslande tätigen österreichischen Ärzten nach Österreich festzustellen ist.«43 Aber auch bei nichtjüdischen ausländischen Ärzten wurde regelmäßig die Einbürgerung von der Regierung abgelehnt, weil »die Zahl der in Österreich berufstätigen Ärzte bekanntermaßen eine außerordentliche große war, so daß der Bedarf an Ärzten gedeckt erscheint«, weshalb »aus diesem Grunde kein Interesse des Bundes vorliegt«.44 Befürwortungen gab es nur, wenn sich für eine Stelle kein Inländer fand oder wenn es sich um Personen »deutscher Stammesangehörigkeit« handelte.45 Ein besonderes Ärgernis stellte aber offenbar die für ausländische Frauen bestehende Möglichkeit dar, durch die Heirat mit einem Inländer die österreichische Staatsbürgerschaft zu erwerben. So beklagte der Dekan der Wiener Medizinischen Fakultät im Jänner 1934, dass eine »Anzahl der weiblichen Studierenden ausländischer Staatszugehörigkeit vor oder nach der Promotion durch Heirat die österreichische Bundesbürgerschaft erwirbt«, und bat, Maßnahmen zu erwägen, »die verhindern, dass die ohnehin schlechte wirtschaftliche Lage des inländischen Ärztestandes durch den Zustrom ausländischer, durch Heirat eingebürgerter weiblicher Ärzte eine weitere Verschlechterung erfährt«.46 Da mit »Ausländerinnen« in diesem Kontext in der Regel »Ostjüdinnen« gemeint waren, verband sich so Antisemitismus letztlich mit einer genderspezifischen Unterstellung von Scheinehen. Der Dekan der Wiener Medizinfakultät brachte auch den Vorschlag ins Spiel, für die Bestellung eingebürgerter Ärzte im Dienste der Sozialversicherungsträger eine 42 Dr. Max Gerson, Einbürgerungsansuchen, GZ 18.277-8/34, ÖStA, AdR, BMSV, Kt. 2.182. 43 Geschäftsausschuss österr. Ärztekammern an BMSV 12.3.1934, Z. 20. G.A. ex 1934, ebd. 44 Vgl. etwa Dr. Albert Riedl, ausländischer Arzt, Einbürgerungsansuchen, GZ IV 91.449-37, Abt. 8, ÖStA, AdR, BMSV, Kt. 2.281. 45 Dr. Karl Gutt (Linz), Einbürgerungsansuchen, GZ 1.094, Abt. 8/1934, ÖStA, AdR, BMSV, Kt. 2.138  ; für eine Ablehnung siehe etwa Dr. Eugen Denk, Arzt, Einbürgerungsansuchen, BMSV 61.682, Abt. 8/1932, ebd. 46 Schreiben BMU an BMSV 10.2.1934, Zl. 2.690-I-1  : Ausübung der ärztlichen Praxis durch ehemalige Ausländerinnen, GZ 14.987-Abt. 8/1934  : Ärztliche Praxis, Ausübung durch ehemalige Ausländerinnen, ebd.

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»Karenzfrist« – etwa zehn Jahre vom Tage der Einbürgerung – zu normieren,47 welche Anregung das Ministerium für durchaus geeignet erachtete, »einer weiteren Beeinträchtigung der einheimischen Ärzteschaft infolge Einbürgerung ausländischer Ärzte – und zwar nicht nur von Ärztinnen mittels Verheiratung – […] entgegen zu wirken«. Daher wurde auch im Entwurf für eine neue Ärzteordnung 1934 vorgesehen,48 dass mittels Verordnung den Trägern der Sozialversicherung die Anstellung solcher Ärzte untersagt werden könne, die außer einer zweijährigen Spitalspraxis nicht auch den Besitz der österreichischen Staatsangehörigkeit seit zehn Jahren vor der Anstellung nachweisen konnten – was allerdings dann nicht in die neue Ärzteordnung 1937 einging.49 Auch enthielt der Anfang 1938 fertig gestellte Entwurf eines neuen österreichischen Staatsbürgerschaftsgesetzes die Regelung, dass der Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft durch Heirat dann ausgeschlossen war, wenn der Verdacht einer Scheinehe bestand. Begründet wurde dies mit den bereits angesprochenen Vorwurf, dass »[s]chon seit längerer Zeit […] Ausländerinnen, insbesondere Studentinnen, zum Scheine Ehen mit Inländern lediglich zu dem Zwecke eingehen, um dadurch die Bundesbürgerschaft und damit die Möglichkeit der Berufsausübung sich zu sichern, hingegen keiner der Partner auch nur im entferntesten daran denkt, jemals die Ehegemeinschaft aufzunehmen«.50 Dieser Entwurf wurde allerdings nicht realisiert und nach dem »Anschluss« schließlich die reichsdeutsche Rechtslage betreffend Scheinehen übernommen. Verschärfung der »Ausländerklausel«

Als weiteres Instrument, jüdische MedizinerInnen zurückzudrängen, wurde die Ausdehnung der »Ausländerklausel« in Erwägung gezogen, wobei diese Diskussion bereits in die Jahrhundertwende zurück reicht, als sich, so die ÄRZ 1907, das »Verhältnis zwischen Ariern und Nichtariern zu verschieben begann« und die »Arier« dadurch weniger wurden, weil sich »der Andrang gerade zur Medizin aus dem Osten« verstärkt hatte. Nach dem Krieg sei dann die »Zahl der Arier in Wien« gesunken, die Zahl der Ärzte hingegen um mehr als 50 Prozent gestiegen. Angesichts der Möglichkeit für »zahlreiche ursprüngliche Bewohner östlicher Gefilde«, durch die sogenannte Optierung die österreichische Staatsbürgerschaft zu erlangen, sei die »Gefahr einer 47 Ärztliche Praxis, Ausübung durch ehemalige Ausländerinnen, BMSV GZ 14.987-Abt. 8/1934, ebd. 48 2. Bogen z.Zl. 14.987/8/34, ebd. 49 BGBl. II 430/1937. 50 Zit. n. Reiter-Zatloukal 2012, 133.

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Überfüllung« schließlich erkannt und die sogenannte »Ausländerklausel« auf das MedizinerInnen-Diplom gesetzt worden.51 Von den promovierten MedizinerInnen ohne österreichische Staatsbürgerschaft wurde nämlich nun ein vorläufig ausgestellter Revers verlangt, in dem diese erklärten, dass sie die ihnen im Doktordiplom zugesprochene Praxisberechtigung in Österreich ohne vorhergehende Erfüllung der gesetzlichen Bedingungen, also den Erwerb der Staatsbürgerschaft, nicht ausüben würden. Bei Wegfall des zur Zeit der Promotion bestandenen Mangels wurde der Revers gegenstandslos, die Ausländerklausel auf dem Diplom gelöscht und der promovierte Arzt, der nunmehr allen Anforderungen entsprach, erlangte die ihm im Diplom zugesprochene Praxisberechtigung.52 Der »Verein Deutscher Ärzte in Österreich« richtete in weiterer Folge hinsichtlich der Ausländerklausel im Mai 1933 die Bitte an das Bundesministerium für Unterricht, im Hinblick auf die »ungeheure Überfüllung des Ärztestandes und mit Rücksicht auf die grosse, immer noch zunehmende Zahl ausländischer Hörer der Medizin« den »Begriff des Inländers« enger zu fassen, keine Nostrifizierungen ausländischer medizinischer Studienabschlüsse mehr vorzunehmen und die Ausländerklausel für unwiderruflich zu erklären.53 Das Professorenkollegium der medizinischen Universität der Universität Wien schloss sich im November diesen Forderungen vollinhaltlich an und beantragte, »von ausländischen Juden (Ostjuden), die in Wien promovieren, einen Revers zu verlangen, in dem sie unbedingt (also auch für den Fall der nachträglichen Erlangung der österr. Staatsbürgerschaft) auf die Ausübung des ärztlichen Berufes in Österreich verzichten.«54 Doch erwies sich, so die ÄRZ 1933, »diese Vorsorge der akademischen Behörden zum Schutze inländischer Absolventen leider als ein Schlag ins Wasser […], da recht bald eine richterliche Entscheidung diese Klausel als rechtsunwirksam erklärte und damit allen, die aus dem Osten zu uns kamen, die Möglichkeit ärztlicher Betätigung in Österreich gab«.55

51 ÄRZ 35 (1933), 148ff. 52 Erlass des Ministeriums für innere und kulturelle Angelegenheiten (BMikA)Ang. Abt IV., 28.6.1938, Zl 22.247/IMe, GZ 52.353-8/38  : Revers für jüdische Absolventen vor Zulassung zur Promotion zu Doktoren der gesamten Heilkunde, ÖStA, AdR, BMSV 1938, Kt. 2.330. 53 Abschrift des Briefes des Vereins deutscher Ärzte in Österreich an das BMU vom Mai 1933, zit. n. Scherz 2000, 76f. 54 Erlass des BMikA (wie Fußnote 52). 55 ÄRZ 35 (1933), 148ff.

Antisemitismus in der Ärzteschaft 1918 bis 1938

Austrofaschistische Maßnahmen Neuvereidigung

Nach der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 wurde von der Regierung Dollfuß umgehend eine Erfassung der jüdischen Ärzte in Angriff genommen, und zwar in den Spitälern des Wiener Krankenanstaltenfonds (WrKAF) im Zusammenhang mit der in der Regierungsverordnung vom 10. Mai 193356 vorgeschriebenen Vereidigung aller öffentlichrechtlichen Bundes- und Fondsangestellten auf die Regierung, in der sie u. a. schwören mussten, der Regierung »treu und gehorsam zu sein«.57 Die Verweigerung der Eidesleistung wurde als Austritt aus dem Dienstverhältnis gesehen, der den Verlust aller sich aus dem Dienstverhältnis ergebenden Rechte und Ansprüche nach sich zog. Die aktuelle Entwicklung Österreichs mache es, so das Sozialministerium, erforderlich, sich »restlos hinter den Staat und seine verantwortliche Führung zu stellen« und daher entweder »dem Apell der Regierung […] zu folgen oder sein Amt niederzulegen«. Nach der durchgeführten Beeidigung sollte auch »unverweilt« an das Sozialministerium gemeldet werden, wie viele Fondsangestellte den Eid in der Form für christliche Bekenntnisse, für die mosaische Religion oder nur durch Handschlag abgelegt hatten.58 Ob Ärzte die nun vorgeschriebene Eidesleistung ablehnten, ist bislang nicht bekannt. Berufsverbote 1934

Unmittelbar nach dem Schutzbundaufstand erging für die Ärzte am 16. Februar 1934 ein Bundesgesetz betreffend die Einstellung der Berufsausübung,59 dessen Geltungsdauer bis Ende Dezember 1935 verlängert wurde.60 Rechtskräftige Abstrafungen eines Arztes – nach im einzelnen aufgezählten Verwaltungsstraftatbeständen, die alle im Zusammenhang mit der Bekämpfung der politischen Opposition standen61 – waren dem Sozialminister und der Ärztekammer »ungesäumt« mitzuteilen, wobei ein Berufsverbot nur innerhalb von zwei Monaten nach Rechtskraft ergehen durfte. Auch »Tatfälle«, die sich vor dem Inkrafttreten dieser Verordnung ereignet hatten, fielen unter diese Verord-

56 BGBl. 173/1933. 57 Siehe dazu am Beispiel der Richter ausf. Reiter-Zatloukal 2016, 425f. 58 BMSV an die Direktoren der WrKA, 19.5.1933, Zl. 40.942-Abt. 9/2/1933  : Beeidigung (Pflichtangelobung) der Angestellten des WrKAF, ÖStA, AdR, BMSV, Kt. 2.096  ; siehe das Verzeichnis D.Z. 399/4 13.7.1933, ÖStA, AdR, BMSV, Kt. 2.097. 59 BGBl. 136/1934. 60 BGBl. II 82/1934, II 461/1934, 463/1934. 61 Siehe dazu ausführlicher den Beitrag von Reiter-Zatloukal zu den RechtsanwältInnen in diesem Band.

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nung.62 Konnte also bis zu diesem Gesetz die ärztliche Berufsausübung nur durch richterliches Urteil untersagt werden, reichte jetzt eine bloße Verwaltungsstrafe, wobei freilich eine analoge Regelung auch bezüglich der Rechtsanwälte und Notare erlassen wurde. In wohl nicht untypischer Weise betraf der einzige bislang aufgefundene einschlägige Fall, und zwar eine Abstrafung wegen kommunistischer Betätigung,63 eine jüdische Ärztin, nämlich die seit 1924 als Kinderärztin tätige Dr. Margarete Schönberger (seit 1937 Mahler), die 1934 die psychoanalytisch orientierte Kinderklinik »Ambulatorium Rauscherstraße« eröffnet hatte.64 Ihr wurde mit Bescheid vom 24.  April 193565 die Ausübung des ärztlichen Berufes bis Ende Dezember 1935 vom Sozialministerium verboten, weil in ihrer Wohnung im November 1934 »Zusammenkünfte von Kommunisten« stattgefunden hätten,66 darunter der bekannte Kommunist Gregor Kersche67 und der frühere Sozialdemokrat Franz Schuster.68 Nachdem sich u. a. die »Wirtschaftliche Organisation« für die gnadenweise Aufhebung der Strafe des Praxisverbotes ausgesprochen hatte, weil Schönberger eine politische Betätigung nicht beabsichtigt hätte, die »Vaterländische Front« (VF) das Ansuchen befürwortet und die Polizei wegen sonstigen Wohlverhaltens keine Bedenken dagegen vorgebracht hatte, wurde das Berufsverbot mit Ende Juli 1935 befristet.69 Verhaftungen und Anhaltungen

Im Zuge der Februarereignisse kam es aber auch zu Verhaftungen jüdischer Ärzte, entweder weil sie Schutzbündler ärztlich unterstützten70 oder aber aufgrund ihrer sozial62 ÄRZ 36 (1934), 92. 63 Bislang konnten nur wegen NS-Betätigung verurteilte Ärzte aufgefunden werden, vgl. BMSV, GZ 87.128/34, 68.190/34, 110.092/34 (Friedrich Eichhorn)  ; GZ 67.429/34 (Richard Errhalt)  ; GZ 78.600/34 (Adolf Gotzmann)  ; GZ 118.88  : Stand der Untersuchung gegen inhaftierte Ärzte in Kärnten  ; GZ 102.974/34 (Gustav Herbst), GZ 106.048/34 (Karl Machan), ÖStA, AdR, BMSV, Kt. 2.137. 64 http://www.univie.ac.at/biografiA/daten/text/bio/Mahler_Margaret.htm  ; siehe zu Schönberger etwa Mühlleitner 1992  ; Mühlleitner 2002. 65 Dr. Margarete Schönberger in Wien, Abstrafung, Berufseinstellung, BMSV GZ 38.911, Abt. 8/1935, ÖStA, AdR, BMSV, Kt. 2.181. 66 BMSV GZ 49.249, Abt. 8/1935  : Dr. Margarete Schönberger in Wien, Abstrafung, Berufseinstellung, Gnadengesuch, ebd. 67 http://members.inode.at/777911/html/stalin/kersche.htm (23.10.2017). 68 http://www.klahrgesellschaft.at/KaempferInnen/Schuster.html  ; http://www.dasrotewien.at/schuster franz.html. 69 Schreiben an das BMSV 4. 71935, BMSV GZ 62.631, Abt. 8/1935  : Dr. Margarete Schönberger in Wien, Berufseinstellung, Gnadengesuch, ÖStA, AdR, BMSV, Kt. 2.181. 70 Z.B. http://www.doew.at/erinnern/biographien/erzaehlte-geschichte/februar-1934/rudolfine-muhr-zumkampf-ist-es-in-hietzing-nicht-gekommen.

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demokratischen Betätigung. So waren von den sechs bislang nachweisbar verhafteten Ärzten jedenfalls fünf jüdischer Herkunft, wie Julius Tandler, der seine Professur an der Universität Wien verlor, nach Entlassung aus der Haft bis Sommer 1934 im Anhaltelager Wöllersdorf interniert wurde und schließlich über China nach Moskau emigrierte.71 Auch Wilhelm Ellenbogen, bis 1934 dem Arztberuf nachgehend, Mitglied des Parteivorstandes, Mitglied des Nationalrats und 1934 wegen Hochverrats angeklagt, wurde kurz in Haft gehalten.72 Der Kinderarzt Josef Karl Friedjung,73 Mitbegründer der »Wiener Sozialdemokratischen Ärztevereinigung« 1921, Obmann des Arbeiter-Samariterbundes, Wiener Gemeinderat und sowohl in der Jugendfürsorge als auch im Gesundheitswesen unter Tandler tätig, wurde ebenfalls verhaftet, kurzzeitig in Wöllersdorf interniert74 und verlor all seine Ämter sowie Funktionen. Desgleichen in Haft war Karl Kautsky jun., Sohn des gleichnamigen führenden Theoretikers des Marxismus, Gynäkologe, seit 1922 Leiter der Eheberatungsstellen in Wien und dort Gemeinderat.75 Der Kommunist Fritz Jensen,76 Arzt am Krankenhaus Lainz, hatte während der Februarkämpfe einen Sanitätsdienst zwecks Hilfe für die verwundeten Schutzbündler eingerichtet, wurde im Juli 1934 in Haft genommen, später in Wöllersdorf interniert und ging in weiterer Folge über Spanien nach China in die Emigration.77 »Entjudung« der Wiener Spitäler

Die meisten Spitäler in Wien waren im WrKAF zusammengeschlossen und ressortierten zum Bundesministerium für Soziale Verwaltung (BMSV). Nur das Lainzer Krankenhaus und einige Kinderspitäler unterstanden der Gemeinde Wien. Daneben gab es Privatspitäler, wie z. B. die Wiener Poliklinik, die geistlichen Spitäler und das Spital der IKG, also das Rothschildspital, denen ebenfalls das Ausbildungsrecht zukam, nicht jedoch aber den Humanitätsanstalten, also den Altenheimen und Irrenanstalten. Angesichts der schon in den 1920er Jahren geübten Kritik am überproportionalen Anteil an Juden in den Spitälern waren in Wien schon früh Maßnahmen gesetzt worden, um die Zahl der Juden in den Spitälern zu reduzieren. Hubenstorf zufolge war 71 Nemec/Taschwer 2013, 169  ; Sablik 1983, 313ff. 72 Verzeichnis nach den Februarereignissen 1934 in Haft befindlichen Personen (o.D.) (sozialdemokratische Funktionäre und Mandatare, sowie am Februaraufstand Beteiligte), DÖW Nr. 5.924. 73 https://www.wien.gv.at/wiki/index.php/Josef_Karl_Friedjung. 74 Schölnberger 2015, 160, 230, 257. 75 DÖW Nr. 5.924  ; Mesner 2010, 67f. 76 http://gedenkbuch.univie.ac.at/index.php?person_single_id=40291. 77 Ein weiterer Verhafteter war Wilhelm Sorer, laut Verhaftungsliste ein »ehem. Arzt des Schutzbundes«.

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bereits 1924 der Hauptteil des Kaiserin-Elisabeth-Spitals auf der Ebene der Ärzte in Ausbildung »judenfrei«, 1925 sei dies auch im Wilhelminenspital der Fall gewesen.78 Nach dem Ende des »Roten Wien« wurden dann jüdische Ärzte in Wien gar nicht mehr angestellt, zum nächstmöglichen Zeitpunkt aus ihren Verträgen entlassen oder auf unbezahlte Assistentenstellen gesetzt sowie Ärzte wegen (vorgeblicher) sozialdemokratischer Betätigung entlassen.79 Was die Jungärzte anbelangt, so hatte bereits 1932 Richard Schmitz (der schon 1919 im Gemeinderat für einen »Antisemitismus gegen die Assimilationsjuden« gestanden war80) im Nationalrat erklärt, dass man sich der jungen Menschen, darunter der JungakademikerInnen besonders annehmen solle, denn im Wettbewerb um berufliche Chancen »scheint das Verhältnis zugunsten der Kinder des christlichen Volkes verschoben« zu sein, was auch »vor allem den radikalen Ton, den die antisemitische Gesinnung in der jungen Generation angenommen« habe, erkläre.81 Ebenfalls 1932 veröffentlichte der »Akademische Verein deutscher Akademiker« eine »Bitte an alle arischen Ärzte in leitender Stellung«, »nicht zu vergessen, wenn eine Stelle frei ist oder wird, bei deren Vergebung an uns deutsche Studenten zu denken.«82 Das Recht, Jungärzte auszubilden, stand den (meisten) Spitälern zu, wobei an den Spitälern des WrKAF »Aspiranten« und »Sekundarärzte« als Abteilungsärzte tätig waren. Aspiranten mussten die österreichische Staatsbürgerschaft besitzen, nicht länger als drei Jahre promoviert und zur Ausübung der ärztlichen Praxis berechtigt sein.83 Überdies wurden seit Ende der 1920er Jahre nur Ledige als Aspiranten zugelassen.84 Aspiranten waren bei entsprechender Eignung zur Vertretung der Sekundarärzte und Assistenten zu verwenden, und sie erhielten dann eine Zuwendung, wenn sie nicht im Genuss eines Stipendiums waren, denn für mittellose Aspiranten stand pro Spital ein Stipendium des BMSV zur Verfügung.85 Bis 1933 hatten die Spitalsdirektoren allein das Recht der Ernennung bzw. Zulassung von Abteilungsärzten, also sowohl von Aspiranten als auch Sekundarärzten. Nach den Regelungen der Dienstordnung vom 15.  April 1933 erfolgte die Ernen78 Hubenstorf 1988, 312, Anm. 77. 79 Maderegger 1973, 224f. 80 Staudinger 1978/1979, 29. 81 Nationalrat, 29.4.1932, 2078, zit. n. Seliger 2010, 133. 82 ÄRZ 34 (1932), 83. 83 Regelung der Dienstverhältnisse der Abteilungsärzte in den vom Wiener Krankenanstaltenfonds betriebenen Anstalten, genehmigt mit Erlass des BMSV, 15.4.1933, Z. 25.654–1933, 5f. 84 Dienstanweisung für die Abteilungsärzte der Wiener öffentlichen Fondskrankenanstalten, strikte Einhaltung der einzelnen Bestimmung derselben, GZ A.V. 60.549-27, ÖStA, AdR, BMSV, Kt. 2.058. 85 Siehe zur Vergabe der Stipendien etwa  : Ärztliche Stipendien, BMSV, GZ 34-324-33, ÖStA, AdR, BMSV, Kt. 2.096.

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nung von Sekundarärzten allerdings durch das BMSV nur mehr auf Vorschlag der Direktion. Die Besetzung freier Sekundararztstellen musste aber »grundsätzlich nach dem Rang«, der sich nach der Dauer ihrer Dienstzeit richtete, erfolgen (§ 6). Die Bestellung erfolgte zunächst auf ein Jahr und konnte mit weiteren Einjahresverträgen bis zu einer Gesamtdauer von vier Jahren als Abteilungsarzt erstreckt werden. Danach konnte die Bestellung zum Abteilungsassistenten durch das BMSV erfolgen, ebenfalls mit Einjahresverträgen und einer Maximalverwendungsdauer von drei Jahren, wobei in der Regel eine Gesamtverwendungsdauer von insgesamt zehn Jahren in Ausbildung nicht überschritten werden durfte.86 Mit der bisherigen »Zwangsvorrückung« sei nun, so ein Bericht des »Montag« aber »aufgeräumt« worden, weil aus Sicht der Regierung »die Politisierung selbst vor den Krankenanstalten nicht mehr halt gemacht und Formen angenommen« habe, »die geeignet waren, den klaglosen, rein auf Krankenheilung eingestellten Betrieb ernstlich zu gefährden.«87 Wie die VjÄ anmerkte, stand aber das Ernennungsrecht der Spitalsdirektoren, wiewohl es ihnen im April 1933 entzogen worden war, auch danach weiterhin in Geltung, »sofern der Rangnächste nicht Jude ist«, denn  : »Qualifikation, jahrelange Arbeit als unbesoldeter Aspirant, ja sogar Kriegsinvalidität, sie zählen nicht, wenn ein Jude an der Tour ist«. Die VjÄ erinnerte daran, dass die »gleiche Behandlung aller vaterlandstreuen Bürger […] verfassungsrechtlich festgelegt« war, und auch die »autoritären Repräsentanten unseres Staates bei uns und auswärts die Unabänderlichkeit dieser These hervorgehoben« hätten  ; und sie fragte  : »Kann es unter diesen Umständen möglich sein, daß eine auch noch so unbedeutende und nur für wenige Jahre befristete Dienststelle einem Anwärter grundsätzlich nur deshalb versperrt bleibt, weil er Jude ist  ?«88 An den Spitälern des WrKAF wurden jedenfalls laut der VjÄ89 »seit dem 1. Juni 1933, von einer einzigen Ausnahme abgesehen, keine jüdischen AnwärterInnen mehr zu Aspiranten ernannt. Ebenso wurden in sämtlichen Fondsspitälern die jüdischen Aspiranten bei der Ernennung zum Sekundararzt übergangen, obwohl bis Oktober »etwa 100 Ernennung erfolgt« seien. In analoger Weise wurden jüdische Ärzte im Krankenhaus Lainz der Stadt Wien behandelt, »wo ebenfalls junge und daher bedeutend weniger gut ausgebildete Kollegen den rangälteren jüdischen Kollegen vorgezogen wurden«.90 Gegen diese neue Praxis wendete sich der Präsident des Spitalsärzte86 Regelung der Dienstverhältnisse 1933 (wie Fußnote 83). 87 Der Montag, 26.6.1933, 5, ÖStA, AdR, BMSV 1933, Kt. 2.097. 88 MVjÄ Nr. 7/Juli 1934, 1. 89 Siehe zu dieser  : Verein jüdischer Rechtsanwälte – Advokatenrunde – in Wien, Mitgliederverzeichnis 1937, ÖStA, AdR, BKA-I BPDion Wien VB Signatur VIII-2.850. 90 MVJÄ, Nr. 10/Oktober 1934, 1f.

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verbandes Eugen Petco, der im Jänner 1934 beim Sozialministerium eine Beschwerde über die »Vorgänge bei der Bestellung von Hospitanten und Aspiranten sowie bei der Ernennung von Sekundärzten und Assistenten« einbrachte91 und darauf aufmerksam machte, dass die im April 1933 vom Ministerium selbst erlassenen Dienstvorschriften außer Acht gelassen würden. Wenn das Ministerium es für notwendig erachte, »andere als durch die Dienstvorschriften normierte Gesichtspunkte obwalten zu lassen«, so solle es eine neue Dienstvorschrift erlassen, aber es erzeuge »eine ungeheure Rechtsunsicherheit, wenn z. B. Personen, die im Sinne der Dienstvorschriften gar nicht bewerbungsberechtigt sind (Aspiranten) zu Assistenten gemacht werden oder bei Sekundararzternennungen die Bestimmung, dass die Aspiranten dem Range nach zu ernennen sind, nicht angewendet wird«. Durch solche Vorgänge trete unter den Spitalsärzten »ein derartiges Maß von Verdrossenheit und Arbeitsunlust« auf, dass »diese Erscheinungen sich letzten Endes auf die Dienstfreudigkeit der Ärzte und dadurch auf die Behandlung der Kranken auswirken müssen«. Man solle daher »wieder zu den alten Normen zurückkehren oder die strittigen Punkte einvernehmlich durch eine bessere Neuerung […] ersetzen.« Die im Frühjahr 1933 begonnene systematische Diskriminierung der jüdischen Ärzte wurde jedoch unvermindert fortgesetzt. So titelte im Sommer 1934 das MVjÄ explizit  : »Schach dem Numerus nullus  !« und warnte davor, dass das »Anhalten dieser Praxis drei Folgerungen nach sich ziehen würde  : ein Gefühl mangelnder Gleichberechtigung, eine schwere materielle Schädigung und last but not least eine für die Volksgesundheit unheilvolle Beeinträchtigung der medizinischen Qualifikation der Präterierten«.92 Wie aus den Akten des BMSV hervorgeht, war jedenfalls mit 1. Juli 1933 eine Zusammenfassung der einschlägigen Agenden betreffend die Ärzte des WrKFA erfolgt, wodurch die Zentralstelle in der Lage war, »einen richtigen Überblick über die in den einzelnen Krankenanstalten herrschenden Verhältnisse« zu gewinnen. Nun konnte der »schon längere Zeit vergeblich angestrebte Ausgleich innerhalb der Spitalsärzteschaft« geschaffen werden, dürfe doch, so das BMSV, »als bekannt vorausgesetzt werden, daß in den letzten Jahren die Klagen der bodenständigen jungen Ärzteschaft über die zunehmende Überfremdung ihres Berufes immer lauter« geworden waren. Eine im September 1933 angestellte Zählung habe ergeben, dass das »Verhältnis der jüdischen zu den nichtjüdischen Ärzten ein für erstere äußerst günstiges« gewesen sei. So habe in zwei Spitälern, darunter im größten, dem Allgemeinen Krankenhaus, die Zahl der jüdischen Ärzte zwei Drittel des Gesamtstandes betragen. Wenn man noch 91 Schreiben Petkos 12.1.1934, Zl. 6/34, ÖStA, AdR, BMSV, Kt. 2.040. 92 MVjÄ Nr. 7/Juli 1934, 1.

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dazurechne, »dass auch bei den Krankenkassen und Sozialversicherungsinstituten unter Ausnützung der damals obwaltenden politischen Verhältnisse die Anstellung eines nichtjüdischen Arztes zu den Ausnahmen zählte«, sei es »verständlich, wenn die staatlichen Instanzen zumindest dort, wo sie Einfluß nehmen konnten, d.i. in den öffentlichen Krankenanstalten, zur Abhilfe schritten.« Die getroffenen Maßnahmen hätten sich aber im Rahmen der bestehenden Dienstvorschriften bewegt, wobei – »solange nicht ein erträgliches Verhältnis innerhalb der Spitalsärzteschaft hergestellt« sei – bei Bewerbungen um durch Zeitablauf freigewordene Dienstposten bei gleicher Eignung »regelmäßig auf arische Ärzte zurückgegriffen« werde. Handle es sich jedoch »um verdiente (beispielsweise Kriegsteilnehmer) und lang ansässige jüdische Bewerber«, so habe man dies stets berücksichtigt.93 In dieser »strengeren Praxis« könne aber »noch lange keine ungerechtfertigte Härte« erblickt werden, zumal der Anteil der Juden auch nach der letzten Zählung »noch immer erheblich« sei und nun im August 1934 insgesamt 16 Prozent (63 jüdische Ärzte von insgesamt 388) betrage.94 Der Stand der Abteilungsärzte und aspirierenden Hospitanten in den Spitälern des WrKAF zu Jahresbeginn 1935 wies jedenfalls 366 Ärzte aus, davon 58 Juden (15,8 Prozent),95 wobei es an drei Spitälern bereits keine jüdischen Ärzte mehr gab.96 Infolge der Nichtaufnahme und Nichtbeförderung von jüdischen Ärzten war nach den Angaben des VjÄ im Dezember 1934 die Zahl der jüdischen Ärzte in den Spitälern des WrKAF und am Spital der Gemeinde Wien jedenfalls um 50 Prozent gesenkt worden, und 50 Stellen blieben dort überhaupt unbesetzt, weil nichtjüdische BewerberInnen fehlten. Es hätten sich in diesem Zusammenhang auch Fälle ereignet,97 wo nichtjüdische Ärzte zu Stellen, die sie bereits bekleideten, »noch eine weitere dazubekamen«, wobei die »Stelle oft einem Kollegen weggenommen wurde, dessen einziges 93 So die Abt. 9 des BMSV, 8.8.1934, GZ 75.454/34  : Besorgnisse englischer medizinischer Kreise bezüglich der Stellung der Ärzteschaft in Österreich, ÖStA, AdR, BMSV, Kt. 2.181. 94 Im AKH ohne Einbeziehung der Ärzte an den Kliniken 38 Prozent (30 von 79), am Krankenhaus Wieden 46 Prozent (21 von 46), am Kaiser Franz Josef-Spital 12 Prozent (7 von 56), am Wilhelminenspital 4 Prozent (4 von 91) und an der Rudolfstiftung 2 Prozent (1 von 58), Stand der Abteilungsärzte des WrKAF, 31.7.1934, GZ 75.454/34  : Besorgnisse englischer medizinischer Kreise bezüglich der Stellung der Ärzteschaft in Österreich, ebd. 95 An der Rudolfstiftung nur mehr 1,8 Prozent (1 von 55) und am Wilhelminenspital 2,5 Prozent (2 von 80). 96 Das Kaiserin Elisabeth-Spital, das St. Rochus-Spital und die Krankenanstalt Erzherzogin Sophien Spitals-Stiftung. Nennenswerte Anteile jüdischer Ärzte verblieben nur noch am Kaiser Franz Josef-Spital (9 von 56, 16,1 Prozent), am AKH (28 von 76, 36,8 Prozent) und am Krankenhaus Wieden (18 von 44, 40,9 Prozent), Beilage zur Stellungnahme des BKA, 16.2.1935, GZ 4.565/35  : Stellungnahme des amerikanischen Judenkongresses zu den Vorgängen in Österreich, ebd. 97 MVjÄ Nr. 11/November 1934, 1.

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sicheres Einkommen« sie war, oder nichtjüdische Ärzte »erst überredet und offiziell aufgefordert« werden mussten, solche freigemachten Posten anzunehmen oder »aus der Provinz nach Wien beordert wurden und hier sofort mehrere Fixstellen zugewiesen erhielten«.98 Angesichts dieser Politik der Bundesregierung konnte der VjÄ bei seiner Jahresversammlung im Mai 193599 nur konstatieren, dass hinsichtlich der Jungärzte der dem Ministerium vorgebrachte »Hinweis auf die Gefahr mangelnder Ausbildung des Nachwuchses […] erfolglos geblieben« sei. Als Folge davon seien im AKH seit August 1935 nur zwei von 61 Stellen mit Juden besetzt worden, im Franz-Josef-Spital sieben von 40 und im Wilhelminenspital gäbe es unter 80 Hilfsärzten einen einzigen jüdischen Sekundararzt und einen Aspiranten. Im Mai 1935 gab der VjÄ bekannt, dass »250 junge Kollegen« ihr Studium absolviert hätten – »und liegen auf der Straße«, denn »von den bezahlten Stellen und Stipendien an den Spitälern des Staates und der Gemeinde Wien sind sie als Juden ausgeschlossen und als unbesoldete Hospitanten können sie nicht arbeiten, weil sie zum allergrößten Teile völlig mittellos sind«.100 Gegen diese Behandlung der jüdischen Jung- und Spitalsärzte wandte sich etwa Irene Harand in einem Artikel in ihrer Zeitschrift »Gerechtigkeit« unter dem Titel »Erworbene Rechte dürfen nicht verletzt werden«. Sie vertrat allerdings die Meinung, dass die derzeit stattfindende »Berufsumschichtung bei den Juden« nicht den Absichten der Regierung entspräche, sondern dem »Gehirn eines antisemitischen Bürokraten entsprungen« sei. Die Verweigerung der Zulassung der jungen jüdischen Ärzte zur Praxis in den Krankenhäusern sei jedoch »eine Schande vom menschlichen Standpunkt« und eine »ausgesprochene Verletzung der Gleichberechtigung«.101 Im Herbst 1935 wendete sich die VjÄ schließlich in einem Brief an Bundesminister Josef Dobretsberger, in dem sie abermals darauf aufmerksam machte, dass seit Mai 1933 in den Spitälern des WrKAF die Ernennung der Hilfsärzte »nicht mehr nach dem bis zu diesem Zeitpunkt eingehaltenen Prinzip der Anciennität durchgeführt«, sondern vielmehr »prinzipiell mit Übergehung aller vorhandenen jüdischen Anwärter« vorgenommen würde. Als Folge dieses Vorgehens würden jüdischen Ärzte, die »mehrere Jahre als Hospitanten unentgeltlich Dienst versehen« hatten, übergangen, »während nichtjüdische Anwärter unmittelbar oder ganz kurze Zeit nach ihrer Promotion ernannt« würden. Zahlreiche jüdische Spitalsärzte hätten daher nach »vier 98 MVjÄ Nr. 12/Dezember 1934, 1.  99 Die Stimme, 17.5.1935, 6. 100 MVjÄ Nr. 17/Mai 1935, 1, auch Nr. 20/August 1935, 1. 101 Abgedruckt in MVjÄ Nr. 15/März 1935, 9.

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jähriger Spitaltätigkeit die Anstalt als Hospitant wieder verlassen« müssen. Obwohl es also jüdischen Ärzten in vierjähriger Spitalstätigkeit nicht gelinge, Aspiranten oder Sekundarärzte zu werden, gäbe es gleichzeitig »systemisierte Hilfsarztstellen«, die nicht besetzt würden, weil für dieselben nur jüdische Anwärter vorhanden seien. Alle Eingaben an das Ministerium und alle übrigen Schritte hätten aber bisher keinerlei Erfolg gezeitigt. Die Vereinigung ersuchte daher den Minister erneut, »das schwere Unrecht, das loyalen Staatsbürgern nur aus dem Grunde zugefügt wird, weil sie Juden sind, ehestens aus der Welt zu schaffen.«102 Mitte Juli 1936 machte die VjÄ abermals darauf aufmerksam, dass zwar »in früheren Jahren jeder österreichische Staatsbürger nach seiner Promotion zum Doktor der gesamten Heilkunde sich einfach in einem beliebigen öffentlichen Spital zur Praxis, bzw. als Hilfsarzt anmelden konnte, worauf seine Ernennung zum Aspiranten, bzw. Sekundararzt genau turnusmäßig erfolgte«, dies nun aber seit dem 1. April 1933 »nicht mehr der Fall« sei. Denn weder müsse die Anmeldung eines aspirierenden Hospitanten entgegengenommen werden, noch gäbe es trotz der in Österreich verfassungsmäßig festgelegten Gleichberechtigung eine Möglichkeit, die Ernennung oder Beförderung durchzusetzen. Die Folge dieser »Neueinführung« sei, dass seit 1. April 1933 »bis auf ganz vereinzelte Ausnahmen keine Ernennungen von jüdischen Aspiranten und Sekundarärzten in den Fondsspitälern erfolgten«  ; ähnliches gelte auch für die städtischen Krankenanstalten. Daher sei eine Ausbildung unter diesen Umständen nur mehr »jenen möglich, welche über genügende Geldmittel verfügen, um an Kliniken oder Privatkrankenanstalten – ohne jede Aussicht auf Bezahlung – ihren Studien obliegen zu können«.103 1937 verschärfte sich die Lage der Jungärzte noch weiter, wie auch Jakob Ehrlich im Dezember 1937 in der Wiener Bürgerschaft ausführte, denn wenn »ein junger jüdischer Arzt keine Möglichkeit hat, sich in einem Privatspital auszubilden, ist er vollständig verloren«,104 und so seien der jüdischen Jugend »tatsächlich sämtliche Türen und Tore verschlossen«. Im Mai 1937105 gab es etwa im gesamten Allgemeinen Krankenhaus nur mehr einen einzigen jüdischen Hilfsarzt, im Franz-Josef-Spital einen Aspiranten und zwei Sekundarärzte, im Krankenhaus Wieden einen Assistenten und zwei Aspiranten, das Wilhelminenspital, Rochusspital und Elisabethspital waren in ihrer Hilfsärzteschaft »judenrein«. Insgesamt arbeiteten also in

102 103 104 105

Die Neue Welt Nr. 509/1.11.1935, 2. Die Neue Welt, Nr. 577/17.7.1936. StenProt WB 10, 17.12.1937, 80, WStLA. MVjÄ Nr. 41/Mai 1937, 4.

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sämtlichen Spitälern des WrKAF nur sieben jüdische Hilfsärzte, im Spital der Stadt Wien nur einer. Überdies führte die Erlassung einer neuen Dienstordnung 1937 zur Erfüllung von Wünschen der »arischen« Ärzte. Die Dienstordnung fixierte nämlich die bisherige Praxis, stellte klar, dass Aspiranten immer in einem unbesoldeten Dienstverhältnis standen und verlangte bei der Bewerbung nicht nur eine mindestens sechsmonatige Mitgliedschaft bei der VF, sondern nun auch die Vorlage des Taufscheines. Die Ernennung sowohl von Aspiranten wie auch Sekundarärzten stand hinkünftig (über Antrag des Direktors) im freien Ermessen des BMSV.106 Die Ernennung von Ärzten erfolgte also nicht mehr nach Anciennität, sondern aufgrund der Auswahl durch das Ministerium, das in der Praxis keinen einzigen jüdischen Arzt mehr bestellte. Die neue Dienstordnung nahm also der Anstaltsleitung die Kompetenz der Ernennung und übertrug sie in die des BM nach freiem Ermessen. Die VjÄ stellte im Jänner 1938 fest,107 dass auch das Jahr 1937 »im Zeichen einer fast völligen Ausschaltung der Jungärzte aus den öffentlichen Spitälern, d. h. aus ihrer Fortbildung« stand, für welche »notdürftig Ersatz im jüdischen Spital« geschaffen werden müsse. Sie gab der Hoffnung Ausdruck, dass die wirtschaftliche Not, welche die »wichtigste Triebfeder des Antisemitismus« sei, bald schwinden möge. Einige Ärzte teilten diese Hoffnung freilich nicht und reagierten angesichts der Zukunftslosigkeit des ärztlichen Nachwuchses mit Suizid.108 Für die Nationalsozialisten war diese massive »Entjudung« der Spitäler aber noch viel zu wenig weitgehend. Wie der NS-Historiker Reinhold Lorenz 1940 restrospektiv kritisierte, sei der »noch schwach glimmende Antisemitismus« der Christlichsozialen durch Schuschnigg letztlich völlig verloren gegangen, habe dieser doch gesagt  : »Wer sich zum Vaterland bekennt, ist uns willkommen  !« Es sei daher kein Wunder gewesen, dass »es in der Leopoldstadt hieß, Dollfuß sei gut gewesen, Schuschnigg jedoch sei aus Gold«. Daher hätten auch »Anläufe des Bürgermeisters Schmitz, durch Neuaufnahme junger Ärzte aus dem CV die ganz verjudeten Spitäler etwas ›christlicher‹ zu machen […], von den Betroffenen kaum ernst genommen werden« können. Der Vertreter der »Israeliten« in der Wiener Bürgerschaft hätte »allerdings die Stirn« gehabt, »selbst darüber große Beschwerde zu führen«.109

106 107 108 109

Dienstanweisung für die Abteilungsärzte des Wiener Krankenanstaltenfonds 1937. MVjÄ, NR. 49/Jänner 1938, 1. MVjÄ Nr. 45/September 1937, 1, Nr. 46/Oktober 1937, 3. Lorenz 1940, 151f.

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Entjudung« in den sonstigen Institutionen der Stadt Wien

Die »Säuberungen« betrafen nicht nur die Spitäler, sondern in Wien auch die Schulund Stadtärzte, denn nach dem Sturz des »Roten Wien« konnte Richard Schmitz, nun Bürgermeister, seine bereits angesprochenen Vorstellungen umsetzen, und auch Vizebürgermeister Josef Kresse war Antisemit, wie dies etwa in einer handschriftlichen Redeunterlage nach seiner Ernennung deutlich zum Ausdruck kam  : »Säuberung von zugereisten Elementen  : Advokaten, Ärzten, Sauberkeit nach jeder Richtung, von heut auf morgen nicht möglich, viel Schutt«.110 Desgleichen sollten in den Mutterberatungsstellen der Stadt Wien nach Ansicht Minna Wolfrings nur mehr katholische Ärzte und Ärztinnen tätig werden.111 Wie das MVjÄ im Mai 1934 berichtete, wurden im »Laufe der letzten Wochen […] 12 Schulärzte gekündigt« und acht Vertragsärzten für Armenbehandlung und Totenbeschau sowie vier Schulzahnärzten »die Verlängerung ihrer Dienstzeit verweigert«. Außerdem sei die »ganze Gruppe« der Schulärzte davor bereits »Gegenstand einer unerhörten Beschimpfung einer inzwischen verbotenen Zeitung« gewesen.112 Den jüdischen Schulärzten war nämlich unterstellt worden, »ganze Mädchenklassen dadurch geschändet« zu haben, »dass sie die Kinder unmotiviert sich entkleiden ließen«.113 Außerdem wurde den jüdischen Schulärzten vorgeworfen, die »Arier« auf diesen Stellen zu verdrängen – obwohl sich oft keine Nichtjuden auf derartige Stellen bewarben. Zudem handelte es sich bei den Schulärzten ohnedies meist nicht um pragmatisierte Stellen, sondern bloß um schlecht dotierte und sofort kündbare Vertragsarztpositionen. Hatte man bei Einrichtung des schulärztlichen Dienstes in Wien seinerzeit 1919 an die Ärzte appelliert, »Schularztstellen aus Idealismus gegen ein ganz kleines Entgelt anzunehmen, um dies neue Institution budgetmäßig zu ermöglichen«, so wurde nun kritisiert, dass sich unter den »so schlecht bezahlten Schulärzten und Schulzahnärzten« zahlreiche Juden befanden und legte dies »jetzt als Protektionswirtschaft und Stellenjägerei, wohl auch als Benachteiligung der arischen Ärzte«, aus.114 Das MVjÄ erklärte im Mai 1934 den großen Prozentsatz von jüdischen Schulärzten und Schulzahnärzten der Realität eher entsprechend so  : »es sind so viele Juden Schulärzte und Schulzahnärzte, weil die arischen Kollegen es nicht nötig haben, diese schlecht besoldeten und mit großer Arbeit verbundenen Stellen anzu110 111 112 113 114

Zit. n. Seliger 2010, 133. StenProt WB 15, 19.12.1934, 479, WStLA. MVjÄ Nr. 5/Mai 1934, 1–4  ; siehe auch schon MVjÄ Nr. 4/April 1934, 2. MVjÄ März 1934/Nr. 3, 1. Die Wahrheit, 27.4.1934, 3.

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nehmen«.115 Dennoch wies in den Diskussionen in der Wiener Bürgerschaft Schmitz Ende Dezember darauf hin, dass es bei den 48 Schulärzten (noch immer) 23 jüdische Ärzte (48 Prozent) gäbe.116 Im Sommer 1934 wurden in weiterer Folge in den Heil- und Fürsorgeinstitutionen der Gemeinde Wien 58 Vertragsärzte gekündigt, vorgeblich wegen sozialdemokratischer Betätigung, darunter laut dem VjÄ allerdings 56 (  !) Juden, wobei nur in sieben Fällen die Kündigungen aufgrund von Interventionen und Vorsprachen zurückgezogen wurden. Unter den Gekündigten, von denen manche nun »in bitterster Not« lebten, befanden sich auch Frontkämpfer oder Mitglieder »hochverdienter Familien«, manche waren invalid und Träger hoher Kriegsauszeichnungen.117 Zu Kündigungen kam es darüber hinaus auch im Bereich der Jugendämter, ebenfalls ohne dass tatsächlich eine sozialdemokratische Vergangenheit vorgelegen wäre.118 In besonderem Maße betraf die »Entjudung« in den städtischen Fürsorgeeinrichtungen Frauen. So wurden Gertrude Bien, Primaria der Kinderübernahmestelle der Gemeinde Wien, und Hilda Ridler-Lustig, Leiterin der Abteilung geschlechtskranker Kinder im Zentralkinderheim 1934, pensioniert, andere Ärztinnen, wie die Schulärztinnen Margarete Hilferding, die erste an der Universität Wien promovierte Ärztin, Frieda Fränkel-Grosz, Else Kaufmann, Irma Hift, und die in der Berufsberatung tätige Ilse Zimmermann, die 1935 Suizid beging,119 wurden gekündigt.120 »Entjudung« der Krankenkassen

Aber nicht nur im Spitals- und Fürsorgewesen, sondern auch im Bereich der Versicherungsanstalten traten klare antisemitische Tendenzen zu Tage, die im Zusammenhang mit der hohen Ärztezahl und der Verarmung großer Bevölkerungsschichten standen. So beklagte der Verband der Kassenärzte 1933, dass angesichts der aktuellen Zahl der Ärzte »an einem Brocken, der im Jahre 1914 einen Arzt ernährte, heute drei Ärzte herumzerren«, wobei »die katastrophale Verkleinerung des Brockens durch die Zeitkrise noch gar nicht in Betracht gezogen« sei.121 Schon im Juni 1934 hegte die VjÄ jedenfalls »Besorgnisse« wegen der angekündigten Reform der Sozialversicherung, nämlich dahingehend, »ob da nicht unter dem 115 116 117 118 119 120 121

MVjÄ Nr. 5/Mai 1934, 1–4. StenProt WB 38, 18.12.1935, 14711ff., WStLA. MVjÄ Nr. 10/Oktober 1934, 1f. MVjÄ Nr. 11/November 1934, 1. MVjÄ Nr. 20/August 1935, 5. Arias 2006, 34  ; auch http://www.meduniwien.ac.at/geschichte/hippo/hippo05.html. Mitteilungen des Verbandes der Kassenärzte 6 (1933), 148.

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Titel ›Ersparnisse durch Zusammenlegung‹ wieder jüdische Ärzte zum Handkuß kommen« würden.122 Im Juni 1934 erging dann das Bundesgesetz über besondere Maßnahmen betreffend die bei den Sozialversicherungsträgern (und deren Verbänden) bestehenden Dienstverträge.123 Die Kassen konnten nun bis 31. Dezember 1934 bzw. aufgrund Verlängerung der Maßnahme bis Ende März 1935124 Bedienstete mit unter zehn Dienstjahren »jederzeit« entlassen und solche über zehn Dienstjahren zwangspensionieren. Es waren also – in den Worten der ÄRZ – alle, »die in der Sozialversicherung irgendwie Dienste leisten, sei es als fixe Angestellte oder auf Grund von Vereinbarungen (Verträge) jederzeit kündbar«.125 Dieses »die Existenz der Ärzteschaft tief berührende Gesetz« sprach zwar nicht explizit von jüdischen Ärzten, die VjÄ mahnte allerdings umgehend, dass »auch bei der Handhabe dieses Gesetzes die Wahrung der staatsgrundgesetzlich gewährleisteten gleichen Rechte aller Bundesbürger zu achten sein« werde.126 Im Oktober 1934 berichtete sie jedoch bereits, dass die Tatsache des Mitgliederrückganges dazu benützt werde, »jüdische Kollegen aus ihren Kassenstellen zu entfernen«. Auch wenn »von den Maßgebenden scheinbar sachliche Gründe für dieses Vorgehen angeführt« würden, so müsse festgestellt werden, dass diesen Kündigungen »nicht allein budgetäre Rücksichten oder sonstige sozialpolitische Erwägungen zugrunde liegen«, sondern »in erster Linie die Zugehörigkeit der Betroffenen zum Judentum bestimmend« sei. Dies zeige sich klar darin, dass »an Stelle der Gekündigten zum Teil bereits nichtjüdische Anwärter bestellt wurden, beziehungsweise in Aussicht genommen sind«. Man hoffe darauf, dass »die letzten Regierungserklärungen richtunggebend sein und dazu führen« würden, »daß bisher begangenes Unrecht gutgemacht und neues Unrecht verhütet« werde.127 Auch in der Jahresversammlung der VjÄ im Mai 1935128 wurde davon ­berichtet, dass die Versicherungsanstalten, die »infolge ihrer Notlage« das Recht erhalten hatten, »die Ärzte ohne Angabe von Gründen zu pensionieren oder zu entlassen«, davon – wie befürchtet – massiv im antisemitischen Sinne Gebrauch gemacht hätten. In den Kündigungslisten fänden sich nämlich »fast nur jüdische Ärzte«, von denen nun »hunderte vor dem Verlust der Grundlagen ihrer Existenz standen«, während die Zulassung zur Kassenpraxis vom »freien Ermessen« abhänge. Wie dieses Ermessen geübt 122 123 124 125 126 127 128

MVjÄ Nr 6/Juni 1934, 1f. BGBl. II 66/1934. BGBl. II 410/1934. ÄRZ 36 (1934), 8.7.1934, F. 13/14, 212. MVJÄ Nr. 6/Juni 1934, 2. MVJÄ, Nr. 10/Oktober 1934, 1f. Die Stimme, 17.5.1935, 6.

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wurde, zeigt ein Protest der »Union österreichischer Juden« 1935 beim Sozialminister dagegen, dass für die Besetzung von zwei Sekundararztstellen bei der Arbeiter-Krankenversicherungskasse in Wien von den Bewerbern die Vorlage des Taufscheines verlangt wurde. Das gleiche Erfordernis fände sich in einer seitens der gleichen Anstalt erfolgten Ausschreibung von zwei Sprengelarztstellen. Da nach der Verfassung alle öffentlichen Ämter allen vaterlandstreuen Bundesbürgern ohne Unterschied des Glaubens zugänglich sein müssten, liege im vorliegenden Fall »eine Verletzung der Verfassung vor, wenn von den Bewerbern die Vorlage des Taufscheines, demnach der Nachweis der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession, begehrt« werde.129 Für das Bundeskanzleramt130 hatte freilich der auf dem Gebiet der Sozialversicherung »aus Ersparungsgründen unabweisbare Abbau von Ärzten […] ausschließlich nach sachlichen Gesichtspunkten« stattgefunden. Man habe einesteils durch den »Abbau der älteren Ärzte dem Nachwuchs den Eintritt in das Erwerbsleben ermöglicht«, anderenteils durch »Abbau der fachlich Mindergeeigneten« – all dies jedoch »unter voller Berücksichtigung der in Betracht kommenden sozialen Momente«. Der von verschiedenen Seiten erhobene Vorwurf, dass diese »Abbaumaßnahmen« nur Juden betroffen hätten, wurde als »vollkommen ungerechtfertigt« abgetan, was auch anhand der Zahlen des bisher größten Sozialversicherungsträgers, der Arbeiter-Krankenversicherungsanstalt für Wien, Niederösterreich und das Burgenland, gezeigt werden könne  : Vor Beginn der »Abbauaktion« seien 361 Ärzte angestellt gewesen, davon 141 (ca. 39 Prozent) ChristInnen, 198 (ca 55 Prozent) Juden/Jüdinnen und der Rest Konfessionslose, wobei dieses Verhältnis auch nach dem Abbau im Wesentlichen das gleiche geblieben sei. Neu angestellt worden seien 18 Ärzte christlichen und zwei Ärzte mosaischen Glaubens, womit das Verhältnis nun 42 Prozent zu 52 Prozent betrage, sodass also »noch immer mehr jüdische als nichtjüdische Ärzte« bei diesem Sozialversicherungsträger Beschäftigung fänden. Auswirkungen der »Doppelverdienerverordnung«

Nach den Angaben der VjÄ wurde für die Entfernung jüdischer Ärztinnen auch das »Doppelverdienertum vorgeschützt«.131 Die Verordnung »über den Abbau verheirateter weiblicher Personen im Bundesdienst« (»Doppelverdienerverordnung«) 1933132 129 Die Wahrheit, 5.4.1935, 1f. 130 Äußerung der Sektion I, 16.2.1935, zum Konzept einer Stellungnahme des BKA, 26.1.1935, GZ 4.565/35  : Stellungnahme des amerikanischen Judenkongresses zu den Vorgängen in Österreich, ÖStA, AdR, BMSV, Kt. 2.181. 131 MVjÄ Nr. 11/November 1934, 1. 132 BGBl. 545/1933  ; vgl. Bei 2012.

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normierte nämlich nicht nur ein absolutes Verbot der Aufnahme verheirateter Frauen in ein öffentlich-rechtliches Dienstverhältnis, sondern derartige Dienstverhältnisse endeten auch, wenn weibliche Bundesangestellte heirateten. Darüber hinaus waren bereits beschäftigte verheiratete Frauen bis spätestens Ende Februar 1934 u. a. dann »auszuscheiden«, wenn der Ehemann von einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft oder einem öffentlichen Fond bestimmte Mindest-Gehalts- oder Ruhegenusszahlungen erhielt. In der Praxis wurde das nach der VjÄ133 mit antisemitischer Tendenz so gehandhabt, dass z. B. zwei jüdische Zahnärztinnen gekündigt wurde, von denen »eine einen abgebauten Bankbeamten, die andere einen Kaufmann mit schlechtgehendem Geschäft zum Manne hat[te].« An deren Stelle seien aber nichtjüdische »Kolleginnen« getreten, »deren Männer in einem Fall ein Zahnarzt in fixer Kassenstelle und guter Privatpraxis, in einem anderen Fall ein höherer Beamter« waren. Diese Aussagen sind freilich nicht verifizierbar, weil keine Studien zur Praxis der Doppelverdienerverordnung vorliegen.

Emigration Da in Österreich Anfang der 1930er Jahre »die Anzahl der Ärzte in einem derartig ungünstigen Verhältnisse zur Gesamtzahl der Bevölkerung« stand, dass dieses nur noch von den USA übertroffen wurde, wo aber die Klientel in der Regel besser situiert war,134 überlegten viele jüdische Ärzte, ins Ausland auszuwandern.135 Hinsichtlich sozialistischer Ärzte führten freilich v. a. das Verbot und die Verfolgung der linken Opposition nach der Ausschaltung des Parlaments und im Besonderen nach der Niederschlagung des Februaraufstandes zur Emigration. Nach Pälastina, wo er bereits seit 1932 eine Orangenplantage besaß, emigrierte etwa der Sozialmediziner und Leiter des Berufsberatungsamtes, Zionist und exponierter Sozialdemokrat Sigismund Peller im April 1934. Auch Friedrike Fedora Auslander, Laborleiterin der österreichischen Heilmittelstelle, ging 1935 nach Palästina, wo sie eine pharmazeutische Fabrik leitete. Ein besonderer Braindrain erfolgte im Bereich der Psychotheraphie, wanderten doch 1934 die Individualpsychologen Alfred Adler und Leopold Erwin Wexberg in die USA aus, ihnen folgten 1935 Alfred Adlers Tochter Alexandra Adler und die Psychoanalytiker Felix und Helene Deutsch.136 An133 134 135 136

MVjÄ Nr. 11/November 1934, 1. Narbeshuber 1930, 55f. Siehe dazu ausf. mit weiteren Beispielen Hubenstorf 2004, 377ff. Ebd., 379.

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dere Ärzte gingen aufgrund der Ausschreibung einer Stelle im Ausland, wie z. B. der österreichische Facharzt für Kinderheilkunde Alphons Solé 1937, der sich in Kabul niederließ,137 oder kehrten von einer Auslandsreise nicht mehr zurück, wie der Leiter der Nervenabteilung im städtischen Versorgungsheim Lainz Martin Pappenheim, der eine Privatpraxis in Tel Aviv eröffnete und zu den Mitbegründern der Vereinigung für psychische Hygiene Palästinas gehörte. Pappenheims Schwester, die kommunistische Ärztin Marie Frischauf, verließ Österreich 1934 aus politischen Gründen.138 Junge sozialdemokratische bzw. kommunistische Ärzte setzten sich oft nach Spanien ab, wo sie als Interbrigade-Ärzte tätig waren, manchmal nach einer Internierung in Wöllersdorf, wie etwa 1935 Walter Fischer, ehemaliger Sprengelarzt der Arbeiterkrankenkasse am Wienerberg,139 bzw. nach einer Haft wie Fritz Jensen 1936, der zehn Monate inhaftiert war und sich danach kurzzeitig in der Sowjetunion aufgehalten hatte.140 1937 setzten Emanuel Edel, der noch als Medizinstudent in die Februarkämpfe 1934 involviert war,141 und Walter Freudmann142 ihren Kampf gegen den Faschismus ebenfalls in Spanien fort. Helene Rosenbach-Deutsch hingegen emigrierte 1934 aufgrund der Widerstandstätigkeit ihres Sohnes gegen das Dollfuß-Regime in die USA.143 In den meisten Ländern war freilich der Ärztestand ebenfalls »überfüllt«144 und insbesondere in den Städten bestand eine hohe Ärztearbeitslosigkeit. Daher gab es seit der Weltwirtschaftskrise in den Ärztezeitungen immer wieder Berichte über die (Un-)Möglichkeiten einer Berufsausübung im Ausland bzw. Warnungen hinsichtlich einer Auswanderung, war Österreich doch, so die ÄRZ im Mai 1933, »praktisch von der Welt abgesperrt, obwohl die vorzügliche Ausbildung des österreichischen Arztes allenthalben anerkannt wird, ebenso wie auch Sprachkenntnisse und wertvolle körperliche und geistige Eigenschaften bei den Bewerbern um solche Stelle vorhanden« seien.145 Wenngleich bei manchen Juden und Jüdinnen die Möglichkeit, ins Aus137 derstandard.at/2000038461713/Als-Oesterreicher-nach-Asien-und-Afrika-flohen. 138 Hubenstorf 2004, 378. 139 http://www.doew.at/erinnern/biographien/spanienarchiv-online/spanienfreiwillige-f/fischer-walter-dr. 140 Hubenstorf 2004, 379  ; Barilich 1991. 141 Fiala 2013, 81  ; Lugschitz 2012, 116  ; https://www.doew.at/erinnern/biographien/erzaehlte-geschichte/februar-1934/emanuel-edel-mein-erster-einsatz-war-im-fuchsenfeldhof. 142 Freudmann, Jensen und andere Ärzte begaben sich dann im August 1939 nach China ein, um im Kampf gegen den Faschismus und um dem chinesischen Volk in den schweren Stunden des Krieges in der Form zu helfen, wie das eben Ärzte tun können«, vgl. http://www.china-kultur.at/content/ Detail.aspx  ?CatalogItemID=29989. 143 Loder 2011, 142. 144 Narbeshuber 1930, 277. 145 Narbeshuber 1933, 145.

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land gehen zu können, ein Grund für die Wahl des Medizin- statt des Jusstudiums gewesen sein mag, wie dies beim Spanienkämpfer Josef Schneeweiß der Fall war,146 so gestaltete sich die Berufsausübung im Zielland doch mehr oder weniger schwierig, v. a. seit der »Machtergreifung« der Nationalsozialisten in Deutschland, weil die österreichischen Doktordiplome (wie auch die deutschen) nicht zur Ausübung der ärztlichen Praxis im Ausland berechtigten. So verlangte z. B. der Staat New York lange Zeit für die Ausübung der ärztlichen Praxis durch österreichische Ärzte zunächst nur den Nachweis einer fünfjährigen »klaglosen Praxis«. Diese Vorschrift wurde aber laufend verschärft, und schließlich ab Oktober 1936 für die Zulassung von AusländerInnen zur medizinischen Praxis und Zahnarztkunde die (auch den amerikanischen AbsolventInnen vorgeschriebene) Lizenzprüfung (»Regents’s Examination«) verlangt, weil die »Anfragen von österreichischen Ärzten bezüglich Zulassung zur Praxis in den Vereinigten Staaten ziemlich häufig« und die amerikanischen medizinischen Hochschulen »an und für sich bereits eine Überproduktion von Ärzten« aufwiesen, »welche Überfüllung dieses Berufes durch die in den letzten Jahren erfolgte grosse Zuwanderung von Ärzten aus Deutschland […] noch eine bedeutende Verschärfung erfuhr«.147 Auch für Kanada wurde 1933 klargestellt, dass die Niederlassungsmöglichkeiten für Ärzte »sehr ungünstig« seien, denn es war ein für die Registrierung vorgeschriebenes Examen vorgeschrieben, und vor der Registrierung ein wenigstens einjähriges Studium an einer einheimischen Universität, »um den Sprachschwierigkeiten und anderen Hindernissen […] begegnen zu können«. Der Besitz der kanadischen bzw. britischen Staatsbürgerschaft stellte jedoch keine Voraussetzung dar.148 Häufig finden sich in den MVjÄ auch Berichte über die medizinischen Verhältnisse und die Möglichkeiten der Ausübung des Arztberufes in Palästina. So wurde im Mai 1934 berichtet, dass es zwar bislang keine Niederlassungsbeschränkungen für ausländische Ärzte gegeben habe, nun aber aufgrund der außerordentlich großen Zahl der eingewanderten MedizinerInnen, besonders aus dem Deutschen Reich, die Zahl der zur Praxisausübung berechtigen Ärzte ab September dieses Jahres 25 Prozent der Neueinwandernden nicht übersteigen dürfe. Die übrigen Ärzte würden erst nach Erlangen der palästinensischen Staatsbürgerschaft, also nach zwei Jahren Sesshaftig146 Er berichtet, dass » letztlich ein Grund für die Berufswahl wichtig« war  : »Ich sah den Rechtsruck in Europa kommen. Ich wußte, dass eine Zeit der Unterdrückung der Arbeiterbewegung bevorstand. […] Als Arzt konnte ich ins Ausland gehen, als […] Jurist war ich auf unser kleines Land angewiesen«, Schneeweiss 1986, 36. 147 BMSV an Dekanat med. Fak., 3.12.1936, Zl. 40.572/I-1, GZ IV. 123.861/8/36  : Ausländische Ärzte, Zulassung zur Praxisausübung im Staate Neuyork, USA, ÖStA, AdR, BMSV, Kt. 2.280. 148 ÄRZ 35 (1933), 203.

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keit, zur Praxis zugelassen werden können. Die Zahl der jüdischen Ärzte in Palästina habe sich nämlich im Laufe des Jahres 1933 mehr als verdoppelt (von rund 500 auf ca. 1.000), und diese, insbesondere deutschen Ärzte, würden eine »scharfe Konkurrenz für die schon seit vielen Jahren im Lande ansässigen jüdischen Ärzte« darstellen, obwohl die Mehrzahl weder die hebräische noch die englische Sprache beherrsche. Im jüdischen Palästina käme bereits auf 250 Personen ein Arzt, in Wien erst auf die dreifache Zahl.149 Dennoch führte VjÄ mit der »Organisation der österreichischen Ärzte in Palästina« 1935 Verhandlungen wegen der »Unterbringung von jungen österreichischen Ärzten«.150 Frankreich eignete sich ebenfalls wenig für eine Emigration, da hier nicht nur die französische Staatsbürgerschaft für die Ausübung der ärztlichen Praxis verlangt wurde, sondern auch die vollständige Ableistung des Militärdienstes in Frankreich oder zumindest Gegenseitigkeit mit dem Herkunftsland. Auch die französischen Kolonien kamen 1933 nicht für eine Niederlassung in Frage, nur in den »Protektoraten« Marokko und Tunesien bestand diese Möglichkeit.151 Das unter französischer Mandatsherrschaft stehende Syrien war so restriktiv hinsichtlich ausländischer Ärzte, dass das österreichische Konsulat in Aleppo im September 1932 »Nord-Syrien« als ein für die Niederlassung österreichischer Ärzte »ungünstiges Gebiet« bezeichnete. Im benachbarten Irak wiederum war seit 1932 die Niederlassung ausländischer Ärzte in den drei größten Städten, nämlich Bagdad, Mossul und Basrah, verboten und nur in kleineren irakischen Städten gestattet.152 Sogar in denjenigen Gebieten, in denen noch in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren eine Niederlassung als Arzt relativ unproblematisch war, wurden bald die Voraussetzungen erschwert, wie etwa 1932 in Niederländisch-Indien153 und in Persien.154 Vor einer Niederlassung in Südafrika wurde 1933 überhaupt gewarnt, da dort eine »Überfüllung an Ärzten« bestehe und »Maßnahmen gegen Zuwanderung zu erwarten« seien.155 Desgleichen waren in Südamerika die Chancen für emigrierte Ärzte nicht rosig. Brasilien etwa erschwerte 1932 als Ausdruck einer neuen »nativistischen Politik« die Ausübung des ärztlichen Berufes, weshalb nach Ansicht der österreichischen Botschaft in Rio österreichischen Ärzten »künftighin von der Aus-

149 150 151 152 153 154 155

MVjÄ Nr. 5/Mai 1934, 6. Die Stimme, 17.5.1935, 6. ÄRZ 1933, 22.10.1933/F. 20, 290. ÄRZ 1932, 8.9.1932/F. 17, 203. Narbeshuber 1932, 54 ÄRZ 34 (1932), 155, 188. ÄRZ 35 (1933), 290.

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wanderung nach Brasilien entschieden« abgeraten werden sollte.156 Im Juni 1934 gab die österreichische Gesandtschaft in Rio de Janeiro dann bekannt, dass »derzeit in Brasilien keine Aussichten für österr. (überhaupt für ausländische) Ärzte bestehen«.157 Auch in Chile war es schon 1933 »praktisch unmöglich,« die Bewilligung zur Berufsausübung zu erhalten,158 und im Juli 1934 wurde berichtet, dass »in der letzten Zeit ausländische Ärzte das Land überschwemmen und den einheimischen Ärzten grosse Konkurrenz machen«, weshalb man dort beabsichtigte, den Arztberuf ausschließlich Chilenen vorzubehalten.159 Vor einer Auswanderung nach Paraguay160 wurde hingegen wegen der dort herrschenden »Abneigung gegen alle Deutschen und Österreicher« generell gewarnt. Angesicht dieser Verhältnisse ist es verständlich, dass die Emigration jüdischer Ärzte in der Zeit des »Ständestaates« »relativ begrenzt« war und die meisten trotz Antisemitismus und politischer Repressionen doch im Land blieben und versuchten, nicht nur als Ärzte, sondern auch »in begrenztem Umfang politisch weiterzuarbeiten«.161

Resümee Zur Jahreswende 1933/34 hielt die ZVjÄ fest  : »Wie sehr auch der Kampf hin und her tobt, wie sehr auch die einzelnen Faktoren und Parteien sich befehden, es gibt nur einen Punkt, in dem alle einig sind, das ist der Judenpunkt, die Gegnerschaft gegen die Juden. Man sieht nicht oder will nicht sehen, daß die Juden ein fleißiges, infolge ihrer kaufmännischen und anderen Begabung und infolge ihrer interterritorialen Beziehungen wichtiges, aufbauendes, staatstreues Element bilden, das der Gesamtheit von Nutzen sein kann. Man hängt sich an Schlagworte und eine Gruppe will der anderen beweisen, daß sie sich auf Antisemitismus und die anzuwendenden Methoden besser versteht«.162 In diesem Sinne kann die christlichsoziale Position, wie sie 156 Bericht der österr. Gesandtschaft 1.2.1932, BMSV GZ 17.976-32/Abt. 8  : Neuregelung der Ausübung des ärztl. Berufes in Brasilien, ÖStA, AdR, BMSV 1934, Kt. 2.137  ; siehe dort auch eine Abschrift des einschlägigen brasilianischen Dekrets. 157 Österr. Gesandtschaft in Rio de Janeiro an BKA, Wanderungsamt, 15.6.1934, Zl. 1508, BMSV GZ 55697/34/Abt. 8  : Unterkommen österreichischer Ärzte in Brasilien, ebd. 158 Österr. Generalkonsulat an BKA/Wanderungsamt 22.11.1933, Zl. 76.418-WA 33, BMSV GZ 37.078/34/Abt. 8  : Ausübung der ärztlichen Praxis in Peru und Chile, ebd. 159 BKA/Ausw. Angel. an BMSV, 18.7.1934, Zl. 207.892-14a/34, ebd. 160 Ebd. 161 Hubenstorf 2004, 377. 162 MVjÄ Nr. 1/Jänner 1934, 1.

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Richard Schmitz formulierte  : »Praktischer Tatantisemitismus ist wertvoller als radikaler Wortantisemitismus«163 als kleinster gemeinsamer Nenner der antisemitischen Parteien gesehen werden. »Die Tat«, eine nationalsozialistische deutsche Zeitschrift, kritisierte diesen Antisemitismus des »Ständestaates« freilich als zu wenig weitgehend und als einen »Antisemitismus auf Gummisohlen«. »Was für die Ärzte gilt«, so schrieb sie im Dezember 1934, »das gilt natürlich auch sonst im öffentlichen Leben. Sämtliche Beamten – oder sonst auf irgendeine Weise regierungsseitig kontrollierte Stellen werden langsam, aber systematisch, von jüdischen oder von Juden abstammenden Elementen gesäubert«, wobei man »möglichst jede Härte« vermeide  : »Man läßt eben die bestehenden Verträge ablaufen, aber man erneuert sie nicht. Wenn eine Stelle durch Tod oder Pensionierung frei wird, wird sie von einem Nichtjuden besetzt.« Und sie konstatierte kritisch  : »Man treibt sozusagen Antisemitismus auf lange Sicht. […] Darum machen sie sich den Antisemitismus lieber selbst zu eigen, damit man ihn nicht als ein Argument gegen sie gebrauchen kann. Mimikry ….   !«164 Für die VjÄ war »unser heimischer Antisemitismus« dieser Zeit freilich, so 1935 der Laryngologe Kurt Tschiassny,165 »feig und verlogen«, und weil er »ungesetzlich und sogar verfassungswidrig ist, kann er sich niemals offen bekennen, sondern drückt sich hinter Ausreden wie  : Sparmaßnahmen, Dienstesrücksichten, mangelnde Bodenständigkeit u. ä. Er ist hinterhältig und heimtückisch. Im Dunkel der Nacht von Notverordnungen und breitmaschigen Paragraphen, die ein Durchschlüpfen leicht ermöglichen reißt er seine unglücklichen Opfer und läßt sie, wen es etwa aus irgend einem Grunde unbequem wird, auch wieder aus den Pranken. Er ist kleinlich und berechnend. Wenn materielle Interessen ihm irgendwo entgegentreten, gibt er sich sofort preis«.166 Freilich erschien dieser Antisemitismus vielen österreichischen Juden dennoch als geringeres Übel im Vergleich zum Antisemitismus der Nationalsozialisten im Nachbarland. So schrieb z. B. Sigmund Freud Ende Februar 1934  : »Die Zukunft ist ungewiß, entweder ein österreichischer Fascismus oder das Hakenkreuz. Im letzteren Falle müssen wir weg  ; vom heimischen Faschismus wollen wir uns allerlei gefallen lassen, da er uns kaum so schlecht behandeln wird wie sein deutscher Vetter.«167 163 Schmitz 1932, 70. 164 Der jüdische Weg, 11.12.1934, zit. n. Maderegger 1973, 224. 165 Siehe die Biografie bei Scherz 2000  ; nach dem »Anschluss« war er Krankenbehandler im Spital der Israelitischen Kultusgemeinde, 1939 erfolgte die Emigration in die USA, er verstarb 1962 in Cincinatti. 166 Tschiassny 1935, 2–4. 167 Brief 20.2.1934, Freud 1968, 434.

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Der Oberrabbiner von Wien David Feuchtmann fasste die Lage 1937 wie folgt zusammen  : »Augenblicklich sehe ich nur dieses  : Solidarität der führenden Völker der Welt im Rüsten, Solidarität der kulturfeindlichen Mächte im Judenhaß, Solidarität der Juden im Leiden. Nirgendwo Solidarität im Kampfe gegen die zerstörende Gewalt von Rassenhaß und Vergiftung der Weltseele durch Lüge. Wo sind die Kämpfer für Gerechtigkeit, Wahrheit und Liebe  ? Weder in der alten noch in der neuen Welt höre ich aus den Stimmen der großen Völker einen Ruf nach Besinnung. Das muß zum Untergang der Kultur führen, unerbittlich.«168 Dass es gar keine Kämpfer für Gerechtigkeit gab, ist freilich in dieser Rigorosität zu kurz gegriffen. Es gab sie in Österreich vereinzelt durchaus, etwa in Form von Organisationen wie der IKG oder der VjÄ, von Einzelpersonen, wie etwa Robert Stricker, Jakob Ehrlich, Irene Harand u. a., und auch im Ausland, insbesondere in den USA. Aber sie alle konnten nichts ausrichten. Auf die »Judengegner« machten nämlich, wie es die VjÄ im März 1934 formulierte »weder wissenschaftliche Leistungen noch eine objektive Statistik, keine historische Tatsache und kein Verdienst um das Vaterland einen Eindruck«, denn für sie »steht am Anfang und am Ende aller Betrachtungen der Satz  : Der Jud’ ist schuld.«169 Darin, dass dieser Rassenhass zum »Untergang der Kultur« führen müsse, sollte Feuchtwang freilich recht behalten, wenngleich der Antisemitismus in Österreich vor 1938 nur ein – allerdings nicht gering zu schätzendes – Vorspiel des totalen Kulturbruchs im Nationalsozialismus170 darstellte.

Literatur und gedruckte Quellen Sekundärliteratur Arias, Ingrid, »… Und in Wirklichkeit war es Zufall, dass man am Leben geblieben ist …«. Das Schicksal jüdischer Ärztinnen in Wien 1938–1945, in  : Arias, Ingrid (Hg.), Im Dienste der Volksgesundheit. Frauen, Gesundheitswesen, Nationalsozialismus, Wien 2006, 31–92. Barilich, Eva, Fritz Jensen. Arzt an vielen Fronten (Biografische Texte zur Geschichte der Arbeiterbewegung 5), Wien 1991. Bei, Neda, Austrofaschistische Geschlechterpolitik durch Recht  : Die »Doppelverdienerverordnung«, in  : Reiter-Zatloukal, Ilse/Rothländer, Christiane/Schölnberger, Pia (Hg.), Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime, Wien u. a. 2012, 197–206. Fiala, Josef, Die Februarkämpfe 1934 in Wien Meidling und Liesing  : Ein Bürgerkrieg, der keiner war, Hamburg 2013. 168 Heilig 1936, Geleitwort. 169 MVjÄ Nr. 3/März 1934. 170 Siehe zu den NS-verfolgten ÄrztInnen 2015.

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Zahnbehandler 1933 bis 1938 Jüdische Zahnärzte im Wettstreit mit christlichen Zahntechnikern Vorgeschichte Dem in der ersten Hälfte des 19.  Jahrhunderts aufkommenden Berufsstand der Zahntechniker, die für die Anfertigung der Zahnprothesen zuständig waren, wurde schon ab 1842 mehr oder weniger verwehrt, im Mund des Patienten zu arbeiten. Die Zahnärzteschaft sah im Zahntechniker einen weisungsgebundenen Erfüllungsgehilfen, während sich einige Zahntechniker durch behördliche Einzelgenehmigungen durchaus das Recht erkämpfen konnten, im Widerspruch zu allen bestehenden Gesetzen und Vorschriften völlig legal als Zahnarzt arbeiten zu dürfen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts standen sich also zwei Berufsgruppen feindlich gegenüber  : die Zahnärzte und die Zahntechniker. Letztere verrichteten ihre Arbeit als im Mund des Patienten arbeitenden Zahnprothetiker halb- oder illegal bzw. nur mit Duldung der lokalen Behörden, deren Vertreter selbst Patienten der meist sehr preisgünstigen Zahntechniker waren. Mitten im Ersten Weltkrieg sagten die Zahntechniker dann den Zahnärzten den Kampf an  : In einem Leitartikel mit dem Titel »Krieg nach dem Kriege« versprachen sie nach Kriegsende »ihre Rechte« zu erkämpfen1 – mit Erfolg  : Ab dem 13. Juli 1920 durfte auch der Zahntechniker zahnärztliche Leistungen, wie Füllungen legen und sogar Wurzelbehandlungen, völlig gesetzeskonform vornehmen. Dafür hatten die Zahntechniker in Kauf zu nehmen, dass sie die erste und gleichzeitig auch letzte ihrer Zunft waren, die dies völlig legal tun durften, denn der gesamte Berufsstand wurde auf den »Aussterbeetat« gesetzt, d. h. die Zahntechnikerschule wurde am 1. Oktober 1923 geschlossen, es wurden nur mehr Zahntechniker, die zum genannten Stichtag bereits in Ausbildung waren, zugelassen.2 Ab dem 15. April 1921 war es den Zahntechnikern zusätzlich auch noch erlaubt, Extraktionen vorzunehmen. Nur die »Ausmeisselung«, eine komplizierte operative Entfernung eines Zahnes, blieb ihnen ver1 ZZZ 1/1916ff. (ZZZ = Der öst.-ung. Zahntechniker, ab 1.5.1899  : Zeitschrift für Zahntechnik, ab 1921  : Zeitschrift für Zahnersatzkunde, 1924 bis September 1925  : Der österreichische Dentist, ab Oktober 1925  : Zeitschrift für Zahntechniker und Zahnheilkunde). 2 ZZZ 6/1923, 7.

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wehrt. Dieses »Stemmen im Mund«, bei dem die Zahnwurzel mit einem Zahnmeissel und einem kleinem Hammer regelrecht herausgeschlagen wurde, war bei den PatientInnen extrem unbeliebt. Viele mieden regelrecht den Zahnarzt, der als einziger die »Ausmeisselung« vornehmen durfte, um dieser damals zwar lege artis durchgeführten, aber subjektiv als barbarisch empfundenen Behandlungsmethode zu entgehen. Somit standen sich ab 1920/1921 zwei Berufsgruppen gegenüber  : auf der einen Seite der Zahnarzt und dessen »kleiner Bruder«, der Auch-Zahnarzt,3 und auf der anderen Seite der »Befugte Zahntechniker«, der der sich 1938 nach dem Anschluss nach nunmehr deutschem Recht als »Dentist« bezeichnen durfte.4 Was die Religionszugehörigkeit anbelangt, so gab es unter den Zahnärzten einen erheblichen Anteil an Juden, wobei viele junge jüdische Studienaspiranten aus dem Osten der Monarchie nach Wien strömten, wo nicht nur die Wiener Medizinischen Schule ein internationales Prestige genoss, sondern auch die Aufstiegschancen besser waren und eine starke und angesehene jüdische Gemeinde (rund 10 Prozent der Bevölkerung) die Integration erleichterte  : So mancher frischgebackene jüdische Akademiker, der nur für das Studium nach Wien gekommen war, hatte sich in Wien in der Studienzeit gut eingelebt und blieb nach erfolgreichem Abschluss seiner universitären Ausbildung in Wien. So kam es, dass schon um die Jahrhundertwende knapp mehr als 60 Prozent der Zahnärzte Juden waren. In Ungarn dürften die Verhältniszahlen ähnlich gewesen sein. Glaubt man der »Banater Deutschen Zeitung« vom Jänner 1941, so gab es auch bei den ungarischen ZahnärztInnen einen Anteil von 65 Prozent Juden.5 Bei den aus dem Handwerksmilieu kommenden Zahntechnikern, die überwiegend aus Wien und Umgebung stammten, entsprach die Religionszugehörigkeit hingegen der der übrigen Bevölkerung Wiens (also rund 90 Prozent Christen und rund 10 Prozent Juden). Der Kampf der ZahntechnikerInnen gegen die (überwiegend jüdischen) ZahnärztInnen der Zeit vor 1918 wurde daher nicht ganz ohne antisemitische Untertöne geführt. Ein weiterer Grund dafür war, dass die ZahnärztInnen innerhalb der Ärztekammer nicht für sich selbst sprechen durften, sondern der Kampf gegen die ZahntechnikerInnen oblag vielmehr dem Referenten zur Bekämpfung des Kurpfuschertums, Heinrich Grün. Zum Entsetzen seiner zahnärztlichen KollegInnen trat der jüdische praktische Arzt Dr. Grün äußerst polemisch auf, was in Zahntechni3 Ein promovierter praktischer Arzt, der in einem Schnellsiedekurs die Kunst des Zahnziehens erlernt hatte und dies berufsmäßig auch ausüben durfte. 4 Es wurden nur Männer gefunden, das waren Gewerbetreibende, die »mit Erlaubnis im Mund des Patienten zu arbeiten, zur Ausübung der Zahnersatzkunde, Plombieren, Zahnextraktion unter Lokalanästhesie, zum Zwecke des Zahnersatzes berechtigt waren«, wie sie es in den Telefonbüchern anführten. 5 Banater Deutsche Zeitung, 1.1.1941, 6.

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kerInnenkreisen verständlicherweise sehr negativ aufgenommen und mit teilweise antisemitischen Repliken beantwortet wurde. Als praktischer Arzt war Grün ja im Gegensatz zu den ZahnärztInnen in keiner Weise auf eine Zusammenarbeit mit den ZahntechnikerInnen angewiesen. Als Grün, der auch Schriftführer der »Österreichischen Gesellschaft zur Bekämpfung des Kurpfuschertums« war, nach dem Zusammenbruch der Monarchie in den Wiener Gemeinderat wechselte und in der Ärztekammer seine Funktionen niederlegte,6 wurde ein Zahnarzt nicht nur Schriftführer, sondern sogar Präsident der Gesellschaft, nämlich Dr. Karl Panesch.7 Panesch schlug nun ganz andere Töne an, suchte und fand schnell den friedlichen Ausgleich mit den ZahntechnikerInnen und mutierte bald zum »Naturarzt«, einem überwiegend mit naturheilkundlichen Methoden heilenden Arzt. Er galt rasch als Autorität, und mit seiner Freizeitbeschäftigung, dem »Winterschwimmen«, also dem Baden in der eiskalten Donau in der Winterzeit, wurde er stadtbekannt. Der von ihm gegründete Verein »Verkühle dich täglich« fand durchaus Zulauf, und einige (wenige) Mitglieder folgten ihm tatsächlich sogar ins winterlich eiskalte Nass.8 Panesch legte sich also nicht mit den ZahntechnikerInnen, sondern mit denjenigen Ärzten an, die seiner Meinung allzu sehr »chemische Waffen« einsetzten, statt althergebrachte Naturheilmittel anzuwenden. Den alten Konflikt mit den ZahntechnikerInnen gab es zur Zeit seiner Präsidentschaft nicht mehr. Dieser standespolitische Friedensschluss wurde von den ZahnärztInnen mitgetragen. Viele prominente (jüdische) Zahnärzte hatten sich auch vorher schon für die überwiegend christlichen ZahntechnikerInnen, auf deren Dienste sie ja bei der Anfertigung von Zahnprothesen angewiesen waren, eingesetzt. Dazu muss bemerkt werden, dass die Herstellung einer Zahnprothese aus Kautschukmaterial ein sehr unangenehm riechender Vorgang war, der manchmal sogar auf der Toilette bewerkstelligt wurde, und auch das Polieren des nur sehr schlecht bearbeitbaren Kautschuks wurde als eine nervtötende und eintönige Arbeit beschrieben. Die Zahnärzteschaft hatte also an einer Auslagerung dieser unbeliebten und noch dazu schlecht bezahlten Tätigkeit aus ihrem Bereich durchaus großes Interesse.

6 Der Jg. 1919 des Lehmann-Adressbuches (mit dem Datenbestand des Jahres 1918) ist der letzte, in dem er als Funktionär dieses Vereins aufscheint. 7 Lehmann Adressbuch Jg. 1920, Bd. 1, Behörden, Vereine. 8 Fotoalbum, Privatbesitz Helfried Seemann.

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Zahnärzte und Zahntechniker 1933 bis 1938 Im Jahr 1935 gab es 980 ZahnärztInnen in Österreich, von denen 657 bzw. etwa zwei Drittel in Wien tätig waren. Die Zahl der »Befugten ZahntechnikerInnen« belief sich auf 2.029, von denen 1.053 bzw. die Hälfte in Wien arbeitete.9 Die Zahlen für 1938 lauteten  : 637 Zahnärzte in Wien, davon 209 »arisch« und 429 »nichtarisch« (für die Kassenpraxis  : 184 »arisch«, 337 »nichtarisch«) bei einer Gesamtbevölkerung von 1.874.130 Personen.10 Im gesamten Bundesgebiet waren 959 ZahnärztInnen gemeldet.11 Dieses scheinbar ganz exakte Zahlenmaterial gibt jedoch die Wahrheit nicht genau wieder, und zwar aus vier Gründen  : 1. Es gab auch sogenannte »Auch-Zahnärzte«, d. h. praktische Ärzte, die nur Extraktionen vornahmen, allerdings in einem regional sehr unterschiedlichen Ausmaß. 2. Wanderzahnärzte /-zahntechniker aus den größeren Städten besorgten entweder legal durch häufige Übersiedlungen oder illegal, aber durchaus mit Billigung der jeweiligen Bürgermeister, einmal in der Woche oder alle zwei Wochen, zumeist in Gasthäusern ordinierend, die prothetische Versorgung der Landbevölkerung. 3. Das Agentenunwesen (»Ratenagenten«) blühte, es gab also »Hausierer«, die auf Provisionsbasis PatientInnen für die ZahnbehandlerInnen keilten. Doppelagenten waren gleich für zwei Befugte ZahntechnikerInnen unterwegs, einen »billigeren« und einen »teureren«. 4. Es gab auch illegale Zweitordinationen von ZahnärztInnen, die als Strohmänner die Betriebsstätten der Zahntechniker zu Ordinationen aufwerteten und zu Deckmantelbetrieben machten, in denen auch »unbefugte« Zahntechniker-GesellInnen ihr Geld durch Kurpfuscherei verdienten. Sobald sich Schwierigkeiten mit den Behörden ergaben, übersiedelten diese Betriebe kurzfristig in ein anderes Gebiet.12 Was die politische Einstellung der ZahnbehandlerInnen und ZahnärztInnen anbelangt, so hatten sich im Jahr 1925 zwölf Zahnärzte und 62 Zahntechniker zur deutschnationalen Einstellung bekannt, die Verhältniszahl war also 12  :62.13 Für den Beginn des Jahres 1934 belaufen sich die entsprechenden Zahlen auf 1  :15714 und für das Jahr 1936 nur noch auf 0  :17.15 Hinsichtlich der konkreten Lebensführung gab es zwischen   9 Österreichisches Zahnärzteblatt (ÖZBl) 1936, 123. 10 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik/04/»Bürckel«-Materie, Kt. 156, Mappe 2355/1. 11 Dt.-öst. Ärztezeitung 4 (1938), 70. 12 ZZZ 6/1919, Titelseite ZZZ 9/1924, Titelseite  : ÖZBl 2/1936, 38. 13 Der Führer 1925, 47ff, 110. 14 Geschäftsweiser 1934, 237, 238ff. 15 Wegweiser 1936, 184f.

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Abb. 1  : Demonstration der ZahntechnikerInnen am 11. Oktober 1932 in Wien.

den überwiegend jüdischen ZahnärztInnen und den überwiegend christlichen »Befugten ZahntechnikerInnen« allerdings kaum Unterschiede. Die Mehrheit der Juden waren so »jüdisch« wie die Katholiken »katholisch« waren  : Sie interessierten sich für religiöse Themen eher nur in geringem Ausmaß. Viele ZahnärztInnen fühlten sich von den Presseberichten aus Deutschland, wo bereits ab 1933 Berufsverbote für Juden und deren Emigration auf der Tagesordnung standen, nicht betroffen, sie sahen sich als das Judentum nicht pflegende BürgerInnen, und daher sozusagen nicht als Juden, sie hatten das »Gefühl, das gilt nur für die [orthodoxen, Anm. d. Verf.] Juden im zweiten Bezirk«.16 Außerdem gab es zwischen Deutschland und Österreich einen politischen Konflikt durch die von Deutschland im Mai 1933 verhängte »Tausend-Mark-Sperre«, durch die bis zu ihrer Beseitigung im Juli 1936 der Tourismus in Österreich fast gänzlich zum Erliegen kam, und das Verbot der NSDAP im Juni 1933. Klagen über schlechten Geschäftsgang und das niedrige Einkommen der ZahntechnikerInnen waren seit den späten 1920er Jahren auf der Tagesordnung.17 Sogar ein Zahnarzt verwendete im Zusammenhang mit der »Bezahlung der Zahntechniker« den Ausdruck »Schandlohn«. Andere sprachen vom »Borgwesen, verursacht durch 16 Posch/Ingrisch/Dressel 2008, 183, 267ff. 17 ZZZ 8/1926, 23.

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Abb. 2  : Anonyme Ansichtskarte um 1938.

die schleppende Zahlungsweise der Patienten«,18 von »Zahntechniker[n] und Zahnärzte[n] im Kampf ums Dasein«.19 Die »Zahnärztliche Standeszeitung« vermerkte 1929, dass die »Anzahl der unbemittelten Patienten stieg, die Ambulanz des zahnärztlichen Instituts blieb auf Wochen hinaus gesperrt.«20 1930 wurde geklagt, dass die »deutliche Mehrheit der heimischen Zahnärzte und Zahntechniker […] ein mehr als bescheiden zu nennendes Dasein [führe]. Solange Ernährer und alle Mitglieder einer Familie sich der Gesundheit erfreuen, geht es leidlich, doch wehe, wenn eines krank wurde.«21 Ein Wiener Zahnarzt sprach 1931 von einer »schweren Zeit, in welcher wir leben«,22 die »Befugten ZahntechnikerInnen« von »einer Zeit, wo sich so viele nicht einmal das Notwendigste zum Leben verdienen können«.23 Die Weltwirtschaftskrise »verschont auch den Zahntechniker nicht, trifft ihn sogar härter als andere Berufs-

18 Zimmermann Mitteilungen [vor 1930], 1. 19 ZZZ 8/1928. 20 Zahnärztliche Standeszeitung 1928, Heft 1. 21 ZZZ 1/1930, 15. 22 Schreier 1931, III. 23 ZZZ 3/1931, 57.

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Abb. 3  : Anzeige des Dentalwarenhändlers Philipp Kornitzer Ende 1937.

gruppen, da die breiten Massen der Bevölkerung am frühesten dort zu sparen beginnen, wo sie im Interesse der Gesundheit nicht sparen dürften.«24 Darüber hinaus waren die Zahntechniker durch die Ambulatorien der Krankenkassen noch mehr betroffen als die Zahnärzte. Dadurch, dass seitens der Krankenversicherungsträger »die Zahnbehandlung und die Herstellung des Zahnersatzes in eigenen Zahnambulatorien und Laboratorien durchgeführt« wurde, erschien die »Erwerbsmöglichkeit der selbständigen befugten Zahntechniker schwerstens bedroht.«25 Die »Zahnärztliche Standeszeitung« sprach von Zahntechnikern »in großer Not«, wobei »diese Notlage […] aber nicht identisch mit der allgemein herrschenden, durch die Weltwirtschaftskrise begründeten Notlage« sei.26 Jedenfalls sei es »gefährlich, einen Stand bis zur Verzweiflung zu bringen«.27 Es kam schließlich im November 1931 zu einer Protestversammlung, in der von einer »sittenwidrige[n] Art der Anweisung der Kassenleistungen« und »teilweise unlautere[n] Reklame« durch die Ambulatorien die Rede war, die »sofort verboten werden« müsse.28 In weiterer Folge wurde den Zahntechnikern die Anfertigung jedweder Goldarbeit, also auch der Zahnersatzarbeiten, versprochen,29, die Proteste hielten aber an (siehe Abb. 1). Die ab 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise hatte insgesamt zu einem Absinken des Lebensstandards der Bevölkerung geführt. Das Bruttonationalprodukt war von 1929 bis 1933 um ein Viertel, die Indexziffer des allgemeinen Geschäftsganges von 100 auf unter 60 gesunken, die Löhne und Gehälter erreichten 1934 nur mehr 70 24 ZZZ 6+7/1931, 120. 25 ZZZ 8/1931, 144–146. 26 ZZZ 9/1931, 160f. 27 ZZZ 10/1931, 181. 28 ZZZ 11/1931, 219–222. 29 ZZZ 12/1931, 228f.

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Prozent des Niveaus von 1929, die Industrieproduktion fiel von 1929 bis zum Tiefpunkt 1933 um fast 40 Prozent,30 kurzum  : Der Lebensstandard hatte sich in den Jahren 1929 bis 1933 um ungefähr ein Drittel reduziert. Auch nach der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 und der Errichtung eines autoritären Regimes mit »diktatorischem Charakter« durch Engelbert Dollfuß änderte sich nichts an der wirtschaftlichen Notlage, denn die von vielen mit dem autoritären Staat verknüpften Erwartungen erfüllten sich in keiner Weise. Die »Zahnärztliche Standeszeitung« schrieb  : »So geht es nimmer. Die Zeiten werden immer schlimmer.«31 In einer Eingabe des »Reichsverbandes der befugten Zahntechniker Österreichs« war 1933 von einer »akute[n] Notlage eines namhaften Teiles der Angehörigen dieser Stände« die Rede, »denen seitens der Sozialversicherungsträger durch die von ihnen betriebenen Kassenzahnambulatorien Konkurrenz gemacht wird«.32 Paul Setscheny,33 der Präsident des Reichsverbandes der »Befugten Zahntechniker«, verspreche sich zu viel von seinen Interventionen bei der Regierung, denn man dürfe nicht glauben, dass es einer Regierung gelingen könne, lediglich durch Notverordnungen eine Besserung der wirtschaftlichen Verhältnisse herbeizuführen  : »Schlecht gehe es uns bereits seit 1918.«34 Auch 1934 wurde beklagt, dass »die wirtschaftliche Krise in all ihren bedrohlichen Formen und Folgen« in den letzten Jahren »in der Dentalbranche schon zahlreiche Opfer gefordert habe«.35 Es wurde moniert, dass sogar einem Zahnarzt bei einem Monatseinkommen von 600 bis 800 Schilling kein standesgemäßer Unterhalt als Akademiker mehr zukäme.36 Angesichts dessen erfolgte nun auch ein Verbot der Annahme unbezahlter Stellen durch ZahnärztInnen.37 Im Sommer 1934 wurde von einer »Not des österreichischen Dentistenverbandes«, einem »Aufschrei dieses Erwerbszweiges der freien Berufe«, einem »am Rande des Ruins stehenden Dentistenstand« gesprochen und die Schuld weiterhin den Ambulatorien gegeben  : »Der Feind sind die Zahnambulatorien der Krankenkassen  !«38 Die »Not der österreichischen Zahntechnikerschaft« sei »aufs höchste gestiegen und der größte Teil der befugten Zahntechniker steht mangels ausreichender Beschäftigung verzweiflungsvoll vor dem Nichts  !« Die Planungen zur Errichtung eines Zahnambu30 Maderthaner/Colpan 2012, 53–63. 31 ZZZ 6/1933, 125 32 ÖZBl 4/1934, 68f. 33 In den Jahren 1929 bis 1934 Präsident des Reichsverbandes der Befugten Zahntechniker. 34 ZZZ 7/1933, 132. 35 ÖZBl 1/1934, loser Einlagezettel. 36 ÖZBl 8/1934, 16. 37 ÖZBl 11/1934, 9. 38 ZZZ 5+6/1934, 30.

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latoriums würden »den gänzlichen Untergang und Ruin der im freien Berufe stehenden Zahntechniker bedeuten.«39 Die Lage verschlechterte sich 1935 weiter, weibliche Medizinstudierende wurden nun etwa darauf hingewiesen, dass für Frauen das Medizinstudium aussichtslos sei.40 Die »Wirtschaftslage der Zahnärzte und befugten Zahntechniker« sei »in den letzten Jahren immer schlechter geworden und hat bereits einen Grad erreicht, der dazu berechtigt, von einer akuten Notlage eines namhaften Teils der Angehörigen dieser Stände zu sprechen.« Weiters war von einem »Niedergang der Wirtschaft«, von einer »starke[n] Überfüllung des Berufes« die Rede und von der »Konkurrenz der Kassenzahnambulatorien«,41 die »in Österreich eine Ausnahmestellung mit unerhörten Rechten besitzen« würden.42 Die niedergelassenen, also in eigenen Ordinationen tätigen Zahnbehandler würden hingegen von den Krankenkasse arg benachteiligt. Die Abnahme der Zahl der »Nurzahnärzte« wurde als »Beweis für eine sich verschlechternde Wirtschaftslage«43 angesehen, denn die »Zahnheilkunde hat längst aufgehört, ein goldener Boden zu sein.44 Die Hoffnungen auf eine Besserung der Lage nach dem Stutz der »marxistische[n] Zwangsherrschaft in Österreich« und der Errichtung des »autoritäre[n], christliche[n] Ständestaates« seien einer »schwere[n] Enttäuschung« gewichen, denn es verschlechterte sich der »an sich genug traurige Zustand« weiter.45 Der alte Konflikt zwischen ZahntechnikerInnen und ZahnärztInnen spielte nun praktisch keine Rolle mehr. Nur sehr selten liest man Zeilen wie folgende  : »Wir als nur einfache Zahnpraktiker legen mehr Rücksicht und Pflege auf jene Erfordernisse, die gerade bei der Dentistik unerläßlich notwendig sind, also die feine künstlerische und manuelle Kunstfertigkeit. Zahnärzte wollen als Überärzte gelten.«46

Schlussbemerkung Zum Jahreswechsel 1937/38 wünschte der jüdische Dentalwarenhändler Philipp Kornitzer, der sich vom kleinen Vertreter zum Besitzer eines der größten Dentaldepots

39 ZZZ 2/1935, 19. 40 ÖZBl 2/1935, 38. 41 ZZZ 5/1935, 69. 42 ZZZ 8+9/1935, 107f. 43 ÖZBl 6/1936, 123. 44 ÖZBl 8/1936, 178. 45 ZZZ 6+7/1935, 94. 46 ZZZ 12/1937.

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Wiens am Neuen Markt (siehe Abb. 2) hinaufgearbeitet hatte47 und zu dessen Kundenkreis sehr viele (jüdische) Zahnärzte und christliche Befugte Zahntechniker gehörten,48 »Nur Gutes für 1938« (siehe Abb. 3).49 Kornitzers Wünsche blieben leider unerfüllt.

Abbildungen Abb. 1  : Demonstration der ZahntechnikerInnen am 11. Oktober  1932 in Wien, Bild  : ZZZ 10/ 1932, 201. Abb. 2  : Anonyme Ansichtskarte um 1938, Sammlung des Verf. Abb. 3  : Anzeige des Dentalwarenhändlers Philipp Kornitzer, Österreichisches Zahnärzteblatt, 1937, Heft 12, 256.

Literatur und gedruckte Quellen Arischer Geschäftsweiser Wiens 1934/1935, Wien 1934. Banater Deutsche Zeitung 1941. Der Führer (Deutscher Geschäftsweiser für Wien), Wien 1925. Deutsch-österreichische Ärztezeitung 1938. Lehmann-Adressbuch 1919, 1920. Maderthaner, Wolfgang/Colpan, Sema, Austrofaschismus und Krise. Zur Relevanz eines Deutungsmusters, in  : Wiener Geschichtsblätter, 67 (2012), Heft 1, 53–63. Der öst.-ung. Zahntechniker/Zeitschrift für Zahntechnik/Zeitschrift für Zahnersatzkunde/Der österreichische Dentist/Zeitschrift für Zahntechniker und Zahnheilkunde 1916, 1919, 1923, 1924, 1926, 1928, 1930, 1931, 1932, 1933, 1934, 1935, 1936, 1937. Österreichisches Zahnärzteblatt (ÖZBl) 1934–1937. Posch, Herbert/Ingrisch, Doris/Dressel, Gert. »Anschluß« und Ausschluss, Wien 2008. Schreier, Emil, Ein Tag im Operationsstuhl, Berlin 1931. Wegweiser zum arischem Kaufmann und Gewerbetreibenden, Wien 1936. Zahnärztliche Standeszeitung 1928. Zimmermann Mitteilungen [Prospekt des Münchner Dentaldepots], München [vor 1930].

47 ÖZBl 12/1937, 256. 48 Autopsie eines Teiles der erst vor wenigen Jahren im Antiquariatshandel aufgetauchten, umfangreichen und leider in der Zwischenzeit vermutlich verloren gegangenen Kundenkartei und Korrespondenz des Geschäftes Philipp Kornitzer durch den Verfasser. 49 Anzeige und Postkarte Sammlung Otmar Seemann.

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Archivalische Quellen Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA)  : Archiv der Republik (AdR)/04/ »Bürckel«-Materie, Kt. 156, Mappe 2355/1. Archiv der Republik (AdR), Bundesministerium für Soziale Verwaltung, Kt. 2134, 2178, 2221, 2276, 2328, 2390.

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»Volksfremde Elemente im Anwaltsberuf«* Antisemitismus und Advokatur 1918 bis 1938 Habsburgermonarchie und Erste Republik Wie Theodor Herzl 1896 in seiner Schrift »Der Judenstaat« feststellte, sei es ein weitverbreiteter »Irrtum«, dass für die Juden »unmäßige Handelslust« charakteristisch sei, denn dort, »wo sie aufsteigende Klassenbewegungen mitmachen« könnten, würden sie sich »eilig vom Handel entfernen«. »Weitaus die meisten jüdischen Kaufleute« ließen daher ihre Söhne studieren, woher auch »die sogenannte Verjudung aller gebildeten Berufe« käme.1 Insbesondere ein Universitätsstudium schien vielen Juden der geeignete Weg, aus einem »bedrängten kleinbürgerlichen Milieu in die höhere soziale Sphäre der Ärzte oder Hof- und Gerichtsadvokaten aufsteigen« zu können2 und dem »Makel des Händlertums« zu entrinnen.3 Tatsächlich lag – bei etwa zehn Prozent jüdischer Bevölkerung in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts – der Anteil jüdischer Studenten an der Wiener Universität in den 1880er Jahren bei 33 Prozent und Anfang des 20. Jahrhunderts bei fast 24 Prozent,4 1934 bei 19 Prozent,5 an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät 1880 bei über 22 Prozent, 1914 bei fast 26 Prozent6 und 1934 bei 15,8 Prozent.7 Obwohl die jüdische Bevölkerung Österreichs seit 1867 volle verfassungsrechtliche Gleichstellung genoss, hatten jüdische Juristen zunächst nur eingeschränkte Betätigungsfelder, weil eine staatliche juristische Karriere ohne Übertritt zum christlichen Glauben »praktisch unmöglich«8 war. Auch betrachteten »viele der übrigen Juden, Nichtjuden, Antisemiten, sogar die Konvertiten selbst […] Übergetretene weiterhin *  1 2 3 4 5 6 7 8

Ich danke Barbara Sauer für die kritische Durchsicht des Manuskripts. Herzl 1933, 7. Métall 1969, 3. Schorske 1982, 140. Beller 1993, 43. Posch/Ingrisch/Dressel 2008, 82. Beller 1993, 43. Posch/Ingrisch/Dressel 2008, 83. Beller 1993, 46  ; Wistrich 1999, 125  ; siehe für die Parallele zu Deutschland Ladwig-Winters 2007, 14.

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als Juden« und die jüdische Herkunft blieb oft lange im »öffentlichen Bewußtsein«.9 Die Laufbahn des Advokaten bot hier einen Ausweg, weshalb seit den 1880er Jahren ca. zwei Drittel der Rechtsanwälte und in den 1890er Jahren bereits über 85 Prozent der Konzipienten Juden bzw. jüdischer Herkunft waren.10 Seit 1918 wurden mit Berufung auf diese Disproportionalität vermehrt Forderungen nach einem Numerus clausus für Juden an den Universitäten und in den akademischen Berufen erhoben. Wie Ignaz Seipel, der spätere Bundesparteiobmann der Christlichsozialen11 und Bundeskanzler, Ende September 1920 in der Reichspost schrieb, drohten die »nach dem Umsturz in Scharen aus dem Osten zugewanderten Juden« nämlich, »die Söhne und Töchter des bodenständigen Volkes noch ganz zu verdrängen«. Sie würden »für die deutsche Studentenschaft eine so starke Konkurrenz« darstellen und die ohnehin schon große Gefahr vermehren, dass »gewisse akademische Berufe zu einer ausschließlichen Domäne der Juden werden«, weshalb »Abwehrmaßregeln« in Form eines Numerus clausus geboten seien, also einer »Nationierung des Besuches höherer Schulen nach dem Bevölkerungsschlüssel.« – »Dieser Antisemitismus« stelle jedoch nur einen »reine[n] Notwehrantisemitismus« dar, denn ein anderer sei »der großen Masse der Österreicher und besonders der Wiener überhaupt fremd«.12 Der Führer der Christlichsozialen Arbeiterbewegung Leopold Kunschak hatte schon 1919 in einem (unveröffentlichten) Gesetzesentwurf »über die Rechtsverhältnisse der jüdischen Nation« generell postuliert, diese vom »deutschen Mehrheitsvolk« zu trennen und u. a. einen Numerus clausus für Juden in allen akademischen Berufen und dem öffentlichen Dienst vorzusehen.13 Hinsichtlich der Rechtsanwaltschaft wurden seit der Jahrhundertwende allgemein die »Überfüllung« des Anwaltsstandes und die schlechte wirtschaftliche Situation der Anwaltskanzleien beklagt. Einerseits hatten sich nämlich für die 2.231 österreichischen Anwälte des Jahres 1918 die einträglichen Tätigkeiten infolge der nachkriegsbedingten Wirtschaftskrise verringert, andererseits gab es für die 1.647 Wiener Anwälte14 infolge der Verkleinerung des Staatsgebiets und des Wegfalls der vielen Zentralbehörden der Habsburgermonarchie nun erheblich weniger Verdienstmöglichkeiten. Trotzdem erhöhte sich die Zahl der Anwälte in Wien kontinuierlich und stieg von 1.647 im Jahr 1918 auf 1.962 im Jahr 1922, auf 2.267 im Jahr 1927 und  9 Rozenblit 1989, 149. 10 Gold 1966, 37. 11 Siehe dazu den Beitrag von Florian Wenninger in diesem Band. 12 Seipel1920, 2. 13 Staudinger 2002, 271f.; Rütgen 1989, 93. 14 Tagung der »Ständigen Vertreterversammlung der Rechtsanwaltskammern Österreichs«, 30.9.1934, in  : Nachrichtenblatt der österreichischen Rechtsanwaltschaft (NachrichtenBl) 1930, 64ff.

Antisemitismus und Advokatur 1918 bis 1938

auf 2.459 im Jahr 1933.15 Gleichzeitig verschärfte sich die ökonomische »Notlage des österreichischen Anwaltsstandes« weiter.16 Wie in einer Versammlung der »Wirtschaftlichen Organisation der Rechtsanwälte für Wien, Niederösterreich und Burgenland« 1927 festgestellt wurde, ergab sich die »Not des Anwaltsstandes« daraus, »daß das extensiv verkleinerte Wirtschaftsgebiet infolge der durch Wirtschafts- und Finanzkrisen verarmten Bevölkerung intensiv an Ergiebigkeit verloren hat, daß die Bevölkerungszahl zurückgegangen, die Zahl der Anwälte aber erheblich gestiegen ist und daß endlich eine Reihe von juristischen Nebenberufen teils neu erstanden, teils weiter ausgebaut wurde, daß endlich aus anderen Territorien und anderen Berufen ein neuer Zustrom in die Anwaltschaft erfolgt« war. Die »große Zahl der Anwälte« sei aber »nur ein Symptom der Not, nicht aber deren Ursache, zumindest nicht die einzige Ursache.«17 Die Lage war geprägt durch eine »starke Abnahme der Agenden«, der »Uneinbringlichkeit der Kosten in vielen Fällen« bzw. einem »meist sehr späten Eingang derselben«, der »Notwendigkeit, von den Honoraren […] den […] Klienten aus Entgegenkommen noch Nachlässe zu gewähren« und einer »unaufhörlich steigenden Zahl der mit Armenrecht geführten Prozesse«. Auch die Konkurrenz durch Winkelschreiber, die Vereinfachungen und Einsparungen im Verfahrensrecht, die generelle Teuerung, die Reduzierung des Anwaltstarifs um 10 Prozent im Jahr 1931 (zunächst »für die Zeit der ungünstigen Wirtschaftslage« bis Ende 1933 befristet18) verschlechterten die Lage der Rechtsanwälte zusätzlich. Die Weltwirtschaftskrise sollte ab 1929 die finanzielle Situation der Advokatur noch weiter verschärfen. Daher wurde in der Anwaltschaft seit 1918 nicht nur die Frage einer Beschränkung der Einwanderung von Kollegen aus den anderen Nachfolgestaaten sowie einer Konzipientensperre erörtert, sondern auch die eines Numerus clausus für die Eintragung in die Rechtsanwaltsliste aufgeworfen19  – wobei derartige Zugangsbeschränkungen

15 Siehe die Zusammenstellung der Zahlen bei Wagner 2008, 29f. Angesichts der geringen Zahl an Rechtsanwältinnen wird in diesem Beitrag beim Begriff »Rechtsanwälte« von einer gendergerechten Ausdrucksweise abgesehen. Eine geschlechtsspezifische Statistik liegt nicht vor, 1938 waren aber ingesamt 20 Rechtsanwältinnen von der Löschung aus der Rechtsanwaltsliste betroffe, darunter 16, weil sie als »Volljüdinnen« galten, vgl. Sauer/Reiter-Zatloukal 2010, 35. 16 Spitzer 1931, 37. 17 Aussprache über die Zweckmäßigkeit von Sperrmaßnahmen in der österreichischen Rechtsanwaltschaft. Versammlung der Wirtschaftlichen Organisation der Rechtsanwälte für Wien, Niederösterreich und Burgenland vom 19.2.1927, Österreichische Anwalts-Zeitung 4 (1927), 81–88, 81. 18 Verordnung (VO) des Bundesministers für Justiz, 25.11.1931, BGBl. 357/1931, über Änderungen des Rechtsanwaltstarifs  ; vgl. auch Spitzer 1931. 19 Tagung der »Ständigen Vertreterversammlung der Rechtsanwaltskammern Österreichs«, 30.9.1934, in  : NachrichtenBl 1930, 64ff.

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zur selben Zeit auch im Deutschen Reich diskutiert wurden.20 So sprach etwa der bekannte Wiener Rechtsanwalt Adolf Bachrach21 bereits im März 1919 diese Frage in seinem Vortrag über die »Stellung der Rechtsanwaltschaft im neuen Staate« in der »Wiener Juristischen Gesellschaft«22 an, wies derartige Vorschläge aber als »untunlich« zurück.23 Vielen österreichischen Anwälten erschien aber ein Numerus clausus oder »jedenfalls irgendeine Abart dieses Zunftprinzips« als »Rettungsanker« in der Krise.24 Ein dementsprechender, aber noch nicht explizit antisemitischer Vorschlag – die nach dem Anwalt Johann Mittler25 benannte Lex Mittler (»Notgesetz gegen die Überfüllung des Anwaltsberufes«) – sah 1926 etwa vor, dass jede Rechtsanwaltskammer berechtigt sein sollte, Neueintragungen in die Anwärterliste ihres Bereichs so lange auszusetzen, als die Zahl der Kammermitglieder nicht geringer war als die von 1914. Für den damaligen Vizepräsidenten der Wiener Kammer Siegfried Kantor war allerdings dieser Vorschlag für die gesetzliche Regelung der Anzahl der Rechtsanwälte »ein Zeichen großer politischer Unreife, ja […] Frivolität«, würde dann doch anstelle »der advokatorischen Listen-Autonomie […] ein von der Regierung beherrschter numerus clausus kommen«, der »die vollständige Neuaufstellung der Liste nach politischen Regierungserwägungen bringen« müsse. Die Anhänger des Numerus clausus »spielen mit dem Schicksal des Standes«, und die Erfüllung ihrer Bestrebungen führe »zur vollständigen Vernichtung der Advokatur«.26 Entscheide sich die Advokatur »einmal dafür […], den Grundsatz der freien Wahl der Zugehörigkeit zu diesem Berufe durch Ausnahmen durchlöchern zu lassen«, dann würden, so warnte Arthur Lenhoff, Rechtsanwalt und Universitätsdozent für Zivilrecht an der Universität Wien bis 1938,27 bald »ganz andere Ausnahmen« geschaffen werden, »als sie sich jetzt die Anreger der zeitweiligen Verhinderung der Aufnahme in die Kandidatenliste träumen lassen«.28 Die Wiener, die Steirische und die Vorarlberger Rechtsanwaltskammer lehnten daher 1927 auch die Einführung derartiger gesetzlicher Sperrmaßnahmen ab, während sich die Tiroler Kammer explizit dafür aussprach.29 Trotz stark divergie-

20 Krach 1991, 50ff  ; Rücker 2007, 131f. 21 ÖBL, http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_B/Bachrach_Adolf_1853_1932.xml. 22 Vgl. zu dieser Reiter-Zatloukal/Schölnberger 2017. 23 Bum 1919, 168. 24 Fliess 1933, 43f.; Wagner 2008, 89. 25 http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_M/Mittler_Johann_1879_1931.xml. 26 Aussprache (wie Fußnote 17), 84. 27 Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz 2014, 172ff  ; Sauer/Reiter-Zatloukal 2010, 228. 28 Aussprache (wie Fußnote 17), 87. 29 Wagner 2008, 91f.

Antisemitismus und Advokatur 1918 bis 1938

render politisch-ideologischer Ausrichtung wog somit die Standesautonomie für die Mehrheit der Kammern schwerer als andere Überlegungen.

»Überfüllung des Anwaltsstandes« und Numerus-claususDiskussionen im »Ständestaat« Wirtschaftliche Situation und rechtliche Ausgangslage

Die Anzahl der Rechtsanwälte stieg auch in der Zeit des »Austrofaschismus« weiter an und erreichte österreichweit mit 3.072 im Jahr 1937 einen Höchststand, in Wien vergrößerte sie sich von 2.459 im Jahr 1933 auf 2.521 im Jahr 1937. Aufgrund der NS-»Säuberungen« 1938 sank sie schließlich auf bloß 771.30 Gleichzeitig ging der Anteil von ÖsterreicherInnen mit mosaischem Glauben zurück, der nach der Volkszählung von 1934 2,8 Prozent der Gesamtbevölkerung und in Wien 9,4 Prozent ausmachte, womit ihr Anteil in der Hauptstadt im Vergleich zur Volkszählung von 1923 (10,8 Prozent) deutlich zurückgegangen war.31 Weiterhin lag der Prozentsatz von Juden in den freien Berufen hoch, und in Wien gab es nach der Statistik der zionistischen Zeitschrift »Der Jude« 1936 knapp 62 Prozent jüdische Anwälte.32 Wirtschaftlich ging es den Rechtsanwälten weiterhin schlecht. Es gab daher Vorschläge, der »Überfüllung« des Anwaltsstandes u. a. durch eine verschärfte Anwaltsprüfung entgegenzutreten.33 Auch verschlechterte die im Dezember 193334 verlängerte Reduktion des Anwaltstarifes um 10 Prozent die Situation v. a. für die kleineren und mittleren Kanzleien noch zusätzlich.35 Wie in der »Österreichischen Anwaltszeitung« 1935 beklagt wurde, führe der »fortschreitende wirtschaftliche Verfall des überwiegenden Teiles der österreichischen Rechtsanwaltschaft« mittlerweile dazu, dass »Selbstmorde angesehener – vor allem älterer – Anwälte, deren Kanzleien einst blühten, […] täglich vor[kämen]«, und auch »Ausgleiche und Konkurse von Standesgenossen« waren »keine Seltenheit« mehr.36 Im September 1938 vermerkte der Gauführer des Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes (NSRB), der Rechtsanwalt Dr. Hans Mann, in einem Schreiben an den früheren Justizminister Dr. Franz 30 Ebd., 29f. 31 Tietze 1933, 260  ; vgl. zum Problem der Zählungen die Beiträge von Peter Melichar und Andreas Weigl in diesem Band. 32 »Der Jude«, 14.1.1938, siehe Maderegger 1973, 220  ; Pauley 2002, 241–260, 244. 33 Braun 1931, 31. 34 BGBl. 657/1933. 35 Spitzer 1934, 39. 36 Spitzer 1935, 4f.

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Hueber retrospektiv zur »Lage der arischen Anwälte«, dass ein Großteil derselben »ein mehr als kümmerliches Dasein« gefristet habe. Nur diejenigen Anwälte, »die entweder selbst Systemleute waren oder aber es verstanden[,] mit dem System irgendwie ihren Frieden zu schließen und zu packeln«, seien als sogenannte »Paradegois« von Industrie, Banken usw. »einigermaßen beschäftigt« worden. Daneben habe es »vereinzelte Schwerverdiener unter den schwarzen Systemanwälten« gegeben.37 Von antisemitischen Parteien und Vereinen sowie Einzelpersonen wurde im »Ständestaat« nun zunehmend aggressiver ein »Numerus clausus« verlangt. So lautete ein Vorschlag Georg Glockemeiers 1936  : »1.000 jüdische Rechtsanwälte […] treten ihre Kanzleien an Arier ab, dafür werden an Stelle von 1.000 Ariern 1.000 Juden als Straßenkehrer, Kanalräumer, Maurer und dgl. eingestellt«, denn »volle Gleichberechtigung heißt nichts anderes als voller Numerus clausus«.38 Auch Leopold Kunschak propagierte 1936 seine diesbezüglichen Vorstellungen,39 und Emmerich Czermak, christlichsozialer Unterrichtsminister 1929 bis 1932, sprach sich für die »Einführung des numerus proportionalis« aus, »der auch eine Regelung der Berufsumschichtung innerhalb der jüdischen Bevölkerung herbeiführen könnte«. Besonders in Wien hätte freilich ein derartiger Numerus clausus gravierende Auswirkungen gehabt, und für Czermak war folglich auch »die Judenfrage eine ausgesprochene Wiener Frage«.40 Dem amerikanischen Botschafter in Deutschland zufolge habe auch tatsächlich ein langfristiger Plan der Regierung bestanden, die Zahl der Juden in diesen Berufen im Sinne des Numerus clausus auf ihren Prozentsatz an der Gesamtbevölkerung Österreichs zu reduzieren.41 Ein derartiger Numerus clausus war jedoch nach dem 1920 rezipierten Staatsgrundgesetz für die allgemeinen Rechte der Staatsbürger von 1867,42 dem Staatsvertrag von Saint Germain 191943 und der Verfassung von 1920 zunächst nicht möglich, weil er der darin verankerten Gleichheit aller StaatsbürgerInnen ohne Unterschied

37 Österrreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), NS-Zivilakten Kt. 38, Mappe 1.801  : Justizverwaltung im Lande Österreich, 9. 38 Glockemeier 1936, 84, 117. 39 Staudinger 2014, 45  ; Königseder 2005, 61. 40 Minister a.D. Dr. Czermak über aktuelle Zeitprobleme und den numerus proportionalis, in  : Mitteilungen des Verbandes deutsch-arischer Rechtsanwälte Österreichs (Mitt dt-a RA) 1933/27, 3. 41 So der amerikanische Botschafter in Deutschland, vgl. Pauley 1993, 330. 42 Art 2  : »Vor dem Gesetze sind alle Staatsbürger gleich.« Art. 14, Abs. 2  : »Der Genuß der bürgerlichen und politischen Rechte ist von dem Religionsbekenntnisse unabhängig  ; doch darf den staatsbürgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntniß kein Abbruch geschehen«, RGBl. 1867/142. 43 Art. 63, Abs. 1  : »Österreich verpflichtet sich, allen Einwohnern Österreichs ohne Unterschied der Geburt, Staatsangehörigkeit, Sprache, Rasse oder Religion vollen und ganzen Schutz von Leben und Freiheit zu gewähren, StGBl. 303/1920.

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u. a. der Religion entgegenstand.44 Die Verfassung 1934 normierte in weiterer Folge zwar noch die Gleichheit aller Bundesbürger vor dem Gesetz, schloss aber Ungleichbehandlungen aufgrund der Religion nicht mehr aus.45 Josef A. Tzöbl, zwischen 1932 und1934 u. a. christlichsozialer Bundesrat und ebenfalls ein Verfechter des Numerus clausus, sah diesen sogar explizit im Einklang mit dem Staatsvertrag von Saint Germain. Der »Ausschluss der Juden von öffentlichen Ämtern oder von bestimmten Berufen (Presse, Anwaltschaft, Ärzteschaft)« widerspreche diesem nämlich nicht, weil »die Juden nicht lediglich als Bekenntnis, sondern vornehmlich als Rasse und Volk zu behandeln« seien. Solange sich der Ausschluss »auf die Verhältniszahl beschränkt, die zwischen der deutschen und der jüdischen Bundesbürgerzahl besteht«, erachtete Tzöbl ihn als vertragskonform. Art. 67 des Staatsvertrages verlange »bloß die gleiche Behandlung aller Staatsangehörigen ohne Unterschied der Rasse, Sprache und Religion, nicht aber eine Bevorzugung, der der gegenwärtige Zustand in manchen Berufs- und Erwerbszweigen gleichkommt«.46 Die Nationalsozialisten freilich verlangten keinen Numerus clausus, sondern forderten die vollständige Entfernung der Juden auch aus der Anwaltschaft  : »Ebenso wie der Jude aus der Politik verschwinden muss, hat er auch in öffentlichen Ämtern, als Arzt, Lehrer oder Anwalt nichts zu suchen …«.47 Freilich ist anzumerken, dass von den Antisemiten im Zuge der Numerus-clausus-Diskussionen stets nur diejenigen Bereiche genannt wurden, in denen Juden überrepräsentiert waren, »nie aber jene, für die das Gegenteil galt«.48 So waren Juden nach wie vor von vielen Positionen im öffentlichen Dienst ausgeschlossen, und es gab unter den fast 160.700 BeamtInnen 1934 nur 700 Juden/Jüdinnen, Berufungen auf Professuren an den Universitäten waren weitgehend ausgeschlossen, es gab kaum Juden unter den Richtern usw.49

44 Siehe dazu den Beitrag von Ewald Wiederin in diesem Band. 45 Art. 16, Abs. 1  : »Alle Bundesbürger sind vor dem Gesetze gleich. Sie dürfen in den Gesetzen nur insoweit ungleich behandelt werden, als es sachliche Gründe rechtfertigen. Insbesondere sind Vorrechte der Geburt, des Standes oder der Klasse ausgeschlossen«, BGBl. II 1/1934. 46 Tzöbl 1936, 3. 47 Flugschrift 1931 »Was wollen die Nazi  ?«, zit. n. Rütgen 1989, 236. 48 Pauley 2002, 244f. 49 Ebd.

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»Überfremdung des Anwaltsstandes« und »Verband deutsch-arischer Rechtsanwälte«

Besonders tat sich in der Forderung nach einem Numerus clausus der im Februar 1933 von Viktor Tschadesch gegründete50 »Verband deutsch-arischer Rechtsanwälte« hervor, der den »Sammelpunkt der bodenständigen österreichischen Rechtsanwälte« bildete und sich zum Ziel gesetzt hatte, der »Überfremdung des Anwaltsstandes in Österreich entgegenzuwirken«.51 Er verfolgte einen »radikalen Rassenantisemitismus nach deutschem Vorbild« und stützte sich zur Legitimation seines Antisemitismus auch auf »führende Männer im öffentlichen Leben Österreichs«, wie z. B. Leopold Kunschak und Ignaz Seipel.52 Im Dezember 1933 hielt der Verband in Wien im »Deutschen Klub«, dem »Treffpunkt der Austro-Nazis«,53 eine »Arische Rechtsanwalts-Tagung« ab,54 die in Beschlüssen zur Einführung des Numerus clausus »im Sinne einer beschränken Zulassung volksfremder Elemente zum Anwaltsberuf«55 und in der Ausschaltung der Wiener Rechtsanwaltskammer bei einer etwaigen Vertretung in der künftigen Ständekammer gipfelte.56 Die »Standesverhältnisse« sollten »unter Berücksichtigung der zahlenmäßigen Stärke der bodenständigen Bevölkerung« neu geregelt werden und für die berufsständische Vertretung »im künftigen Ständestaat nur arische Rechtsanwälte […] zu betrachten sein«.57 Ende 1933 hatte der Verband bereits über 50058 und 1934 800 Mitglieder  – »so daß eines der wichtigsten Verbandsziele, der Zusammenschluß aller deutsch-arischen Standesangehörigen Österreichs, in bald erreichbare Nähe gerückt erscheint«.59 Im Juli 1934 beklagte der Verband, dass im Sprengel Wien, Niederösterreich und Burgenland unter den 2.459 Rechtsanwälten »kaum 500 Arier festzustellen« seien. In 50 Für die Statuten siehe ÖStA, AdR Bundeskanzeramt (BKA)-I Parteiarchive VF (Vaterländische Front) Gensekt 514-1-425 Kt. 108. 51 Zeitschrift für österreichisches Recht und vergleichende Rechtswissenschaft, Jänner 1938, 1 (1938). 52 Eine jüdische Abordnung beim Justizminister, Mitt dt-a RA, 1936/F. 16, 2. 53 Siehe zu diesem Erker/Huber/Taschwer 2017  ; auch Olechowski/Ehs/Staudigl-Ciechowicz 2014, 70ff m.w.N. 54 Mitt dt-a RA, 1933/F. 1, 2  ; siehe auch Zeitungsbericht 19.12.1933, ÖStA, AdR, BKA BKA-I BPDion Wien VB Signatur VIII-4.777. 55 Wiener Neueste Nachrichten, 12.2.1934, 1. 56 Mitt dt-a RA, 1933/F. 1, 2  ; siehe auch Zeitungsbericht 19.12.1933, ÖStA, AdR, BKA BKA-I BPDion Wien VB Signatur VIII-4.777. 57 Mitt dt-a RA, 1934/F. 2, 1. 58 Mitt dt-a RA, 1933/F. 1, 1. 59 Mitt dt-a RA, 1934/F. 2, 1  ; siehe auch das Mitgliederverzeichnisse zum 29.5.1935 und 1.7.1936, ÖStA, AdR, BKA BKA-I BPDion Wien VB Signatur VIII-4.777.

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Wien sei das Verhältnis noch ungünstiger, denn hier befänden sich unter den 2.139 Kammermitgliedern ca. 85 Prozent »jüdische« Rechtsanwälte60 – während die zionistische Zeitschrift »Der Jude« für das Jahr 1936 von 2.163 Rechtsanwälten in Wien, davon 1.341 Juden (62 Prozent), sprach.61 Angesichts dessen, dass der »deutsch-arische Teil der Rechtsanwälte« in Wien »kaum noch 15. v. H. der Gesamtzahl« ausmache, war nach Ansicht des Verbandes die Frage der »Zulassung zur Ausübung der Anwaltschaft nach dem Verhältnis der Bevölkerungszahlen [so] zu lösen, daß die in einem bestimmten Verhältnis zur Gesamtzahl der Bevölkerung festzusetzende Höchstzahl der Rechtsanwälte auf die deutsch-arischen und fremdblütigen Bewerber nach Maßgabe der Zahlen, wie sie auf die bodenständige Bevölkerung und die fremdblütigen Staatsbürger entfallen, aufzuteilen« sei.62 Durch die »Zuwanderung fremdländischer Elemente in der Umsturzzeit« habe der »einst so angesehen gewesene Stand der Rechtsanwälte« massiv an Reputation verloren. Die »deutschblütigen Angehörigen der freien Berufe« seien »gegenüber ihren sich im freien Wettbewerbe vielfach vollkommen skrupelloser Mittel bedienenden fremdblütigen Berufsgenossen bereits zu völliger Bedeutungslosigkeit herabgesunken […], so daß sie ein Dasein in Kummer und Elend fristen« müssten. Es sei die »scheinbare Gleichheit vor dem Gesetz […] in Wirklichkeit zu einer völligen Ungleichheit und Ungerechtigkeit ausgeartet, weil sich der dem wirtschaftlich schwächeren, bodenständigen Teile der Erwerbsstände gebührende Schutz durch die betonte Gleichbehandlung der fremdrassigen Elemente, die vielfach über die finanzielle Unterstützung internationaler Kreise verfügen, zu einer Begünstigung dieser fremdrassigen Eindringlinge auswirkt«.63 Der Verband richtete daher Ende September 1933 an Justizminister Kurt Schuschnigg die Aufforderung, die geforderte Neuregelung vorzunehmen und drückte ihre Hoffnung aus, dass dieser aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Anwaltsstand die »Nöte der deutsch-arischen Standesangehörigen aus eigener Wahrnehmung kennen« würde. Ende Dezember forderte der Verband sogar, eine neue Bestimmung in die Verfassung aufzunehmen  : »Die bodenständische deutsch-arische Bevölkerung bildet das Staatsvolk in Österreich. Dieses ist zu den öffentlichen und nichtöffentlichen Ämtern, zu Handel, Gewerbe und Großerzeugung, zu den freien Berufen sowie zur erwerbsmäßigen künstlerischen Betätigung nach dem Verhältnis seiner zahlenmäßi-

60 Die Zweiteilung der Wiener Kammer, Mitt dt-a RA, 1934/F. 4, 3f.; siehe auch die Wiener Neueste Nachrichten, 12.2.1934, 1, auch Pauley 1993, 167. Hier ist die Rede von bloß 320 »arischen« und 1.834 »jüdischen« Anwälten (also 82 Prozent). 61 »Der Jude«, 14.1.1938, siehe Maderegger 1973, 220  ; Pauley 2002, 244. 62 Mitt dt-a RA, 1934/F. 4, 3f. 63 Mitt dt-a RA, 1934/F. 2, 2.

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gen Stärke zuzulassen«.64 Auch in weiterer Folge richtete der Verband Eingaben an den Justizminister, der diese mit (vorgeblich) »großem Interesse zur Kenntnis« nahm.65 Der Verband setzte sich auch intensiv für die Förderung des »arischen« Rechtsanwaltsnachwuchses ein, denn während sich »die Stellengesuche der arischen Rechtsanwaltsanwärter nach Stößen häufen, weil diese Anwärter in den Kanzleien der arischen Rechtsanwälte keine Verwendung [finden, während …] die jüdischen Hochschulabsolventen nahezu ausnahmslos schon vom ersten Tage nach Beendigung ihrer Studien in der Praxis beschäftigt sind.«66 Die »arischen« Rechtsanwaltsanwärter seien aber auch »Opfer der aus der Überfüllung des Standes durch die Juden entstandenen Notlage«, denn die »jüdischen Standesangehörigen« würden »alle einträglichen Geschäfte, wie sie die ausgedehnten Beziehungen der jüdischen Geschäftswelt mit sich bringen«, wahrnehmen. Überdies sei »ein grosser Teil der bodenständigen, christlichen Geschäftswelt von jüdischen Anwälten vertreten«. Die »christlich-deutschen Rechtsanwälte« müssten sich daher »vielfach nur mit mindererträglichen Rechtssachen« befassen, wobei sich diese Zustände auch auf die »christlich-deutschen Absolventen« auswirkten, die »vielfach […] keine Beschäftigung in einer Anwaltskanzlei finden können«.67 Der Verband machte es daher auch allen Mitgliedern zur Pflicht, »sich nur deutsch-arischer Rechtsanwaltsanwärter zu bedienen und im Stellvertretungsverkehr, soferne nicht Verbandsmitglieder zur Verfügung stehen, jedenfalls nur deutsch-arische Rechtsanwälte mit ihrer Vertretung zu betrauen«.68 Der Verband machte für die aus seiner Sicht unhaltbaren Zustände »die rote Parteiherrschaft« verantwortlich, denn »ein großer Teil der jüdischen Rechtsanwälte« habe sich erst nach 1918 in Österreich »festgesetzt«.69 Aber auch von den »christlichen Vertretern des österreichischen Staatsvolks« sei der Grundsatz der Gleichheit »offenbar […] mißverstanden« worden, denn die »Vertreter der jüdischen Minderheit« seien bei den Anwälten und Ärzten »in der erdrückenden Mehrheit«.70 Auch nach Ansicht des Verbandes stünde der Staatsvertrag von Saint Germain dem Numerus clausus nicht entgegen, denn – so Tschadesch  : »Man sage mir, welches Recht diese Bestimmungen einer gewissen Minderheit geben, bestimmte Erwerbszweige zu 64 Ebd., 3. 65 Ebd. 66 Tschadesch 1934, 2. 67 Schreiben des Verbandes an Polizeikomm. Innere Stadt, 17.10.1935, ÖStA, AdR BKA BKA-I BPDion Wien VB Signatur VIII-4.777. 68 Bericht des geschäftsführenden Vorsitzenden über die Grazer Mai-Tagung, Mitt dt-a RA, 1934/F. 4, 2. 69 Tschadesch 1934, 2. 70 Mitt dt-a RA, 1933/F. 1, 2f.

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überfluten und die bodenständige Bevölkerung aus denselben zu verdrängen  ? Eine solche Auffassung würde die Ungleichheit des christlich-deutschen Staatsvolkes gegenüber einer vordringlichen Minderheit sanktionieren  !«71 Wie die jüdische Wochenschrift »Die Wahrheit« im März 1935 hervorhob, verkünde der Bundeskanzler zwar im Ausland, »die neue Verfassung sichere allen Staatsbürgern volle Gleichberechtigung«, zur gleichen Zeit trete aber »mit Wissen und Billigung der Behörden eine große Versammlung des Verbandes deutsch-arischer Rechtsanwälte Österreichs zusammen, um für die staatsbürgerliche Diskriminierung der Juden Stimmung zu machen«. Es sei auch »nicht zu übersehen«, dass dieser Verband den Finanzminister Dr. Karl Buresch und den Schöpfer der neuen Verfassung Minister Dr. Otto Ender zu ihren Mitgliedern zähle. Auf dieser Versammlung habe der Vorsitzende Tschadesch das »Recht« der »arischen Bevölkerung« propagiert, »sich nur durch arische Rechtsanwälte vertreten zu lassen«, was »Die Wahrheit« dahin gehend kommentierte  : »Wie es scheint, legt aber die christlich-arische Bevölkerung auf dieses Recht, das ihr ja von niemandem streitig gemacht wird, nur wenig Gewicht, sonst brauchte es ihr der christliche Rechtsanwalt, dessen Ariertum hoffentlich echter ist als das Deutschtum seines Namens, nicht so eindringlich in Erinnerung rufen.«72 Freilich hörte Tschadesch auch weiterhin nicht auf zu propagieren, dass sich ein »bodenständiger, deutscher Wiener« einen »arischen Anwalt« nehmen müsse.73 Als die »Union internationale des avocats, Bruxelles–Paris«, der älteste Weltverband der Rechtsanwälte, deren Vorsitzender übrigens der frühere Präsident der Wiener Kammer (1932–1935) Siegfried Kantor war, ihre jährliche Zusammenkunft in Wien stattfinden ließ, rief der Verband zum Boykott auf  : »Arische Rechtsanwälte beteiligen sich nicht an dem im September 1936 in Wien stattfindenden internationalen Anwaltskongreß. Wir schaffen einen Weltverband der arischen Rechtsanwälte.«74 Dazu führte der Verband in seinen Mitteilungen aus  : »›International‹ und ›jüdisch‹ oder ›jüdisch beeinflußt‹ sind gleichbedeutende Begriffe geworden. […] Kann es für uns von Interesse sein, einen Vortrag des früheren zionistischen Präsidenten der Wiener Kammer [Siegfried Kantor, Anm. d. Verf.] über Zivilprozeßrecht und sonstige Auslassungen von Vertretern der jüdischen Juristenwelt anzuhören  ? Für uns besteht kein Zweifel, daß die jüdische Anwaltschaft die Gelegenheit wahrnehmen wird, ihre zahlenmäßige Stärke durch eine rege Beteiligung an dem internationalen Anwalts71 Tschadesch 1934, 2. 72 Jüdische Wochenschrift Die Wahrheit, 1.3.1935, 1. 73 Bericht über die Verbandsversammlung 6.6.1937, ÖStA, AdR, BKA, BKA-I BPDion Wien VB Signatur VIII-4.777. 74 Mitt dt-a RA, 1.9.1936, 4.

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kongreß zu bekunden, und es erscheint uns nicht als ein Zufall, daß als Tagungsort gerade Wien ausgesucht wurde, wo das internationale Judentum seine Stellungen mit allen Mitteln zu halten versucht. […] Wir haben keine Interessen, die uns mit den jüdischen Rechtsanwälten des In- und Auslandes verbinden würden. Wir haben also auch keinen Grund, uns mit diesen ohne Notwendigkeit an einen Tisch zu setzen. […] Wir wüßten nicht, worüber wir uns mit den jüdischen Kongreßteilnehmern unterhalten sollten.«75 Den Veranstaltern der Konferenz warf der Verband einerseits vor, dass der »arische« Präsident der Wiener Rechtsanwaltskammer Otto Mayr (1935–193876) die Eröffnungsrede nicht hätte halten dürfen und auch nicht zum Vizepräsidenten des Kongresses gewählt worden sei, sondern vielmehr der frühere (und »zionistische Präsident«) der Kammer Kantor. Andererseits erhob der Verband den Vorwurf, dass die Union »bereits einmal in Österreich in höchst bezeichnender Weise aufgetreten« sei, weil sie sich während »der Feber-Unruhen des Jahres 1934 sehr angelegentlich für das Schicksal der sozialdemokratischen und kommunistischen Elemente interessierte«.77 Es seien nämlich, wie das »Neue Wiener Tagblatt« berichtete, »als Beauftragte eines internationalen juristischen Komitees« zwei französische Anwälte in Wien eingetroffen, um sich hier in den Gefängnissen über die Lage der im Zusammenhang mit den Februarereignissen in Haft befindlichen Rechtsanwälte zu informieren und das »Los der verhafteten Wiener Kollegen vom rein humanitären Standpunkt aus kennenzulernen«.78 Zu diesem Zweck hätten sie sich mit Präsident Kantor und dem (sehr bekannten und renommierten) Wiener Strafverteidiger Dr. Richard Preßburger79 in Verbindung gesetzt und die Gefängnisse besucht, wobei sie zum Ergebnis gekommen seien, dass die Häftlinge »korrekt behandelt« würden. Der Verband kritisierte jedoch, »wie sehr« sich die »Union internationale des avocats« für die verhafteten jüdischen Rechtsanwälte eingesetzt hatte und bezeichnete es als »nachgerade unverständlich […], auf Grund welcher Legitimation die Sendlinge des ›internationalen Komitees‹ überhaupt das Begehren stellten konnten, sich in den gerichtlichen und polizeilichen Gefangenenhäusern herumführen zu lassen«. Aus Sicht des Verbandes bestätigten die Vorfälle auch nachträglich die Ablehnung der Konferenz.80

75 Ein internationaler Anwaltskongreß, Mitt dt-a RA, 1936/F. 20, 1. 76 Wrabetz 2008, 157. 77 Der internationale Anwaltskongress in Wien im Spiegel der Presse, Mitt dt-a RA 1936/F. 20, 1ff. 78 Neues Wiener Tagblatt, 9.3.1934, abgedr. in  : Der internationale Anwaltskongress in Wien im Spiegel der Presse, Mitt dt-a RA 1936/F. 21, 1ff. 79 http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_P/Pressburger_Richard_1862_1938.xml. 80 Mitt dt-a RA 1936/F. 21, 1ff.

Antisemitismus und Advokatur 1918 bis 1938

Als Gegenveranstaltung plante der »Verband deutsch-arischer Rechtsanwälte« für den September 1937 einen »Weltkongress der arischen Rechtsanwälte« in Wien.81 Damit im Zusammenhang gab er – außer den Verbands-»Mitteilungen« – auch die »Zeitschrift für österreichisches Recht und vergleichende Rechtswissenschaft« (1938) heraus, »um das österreichische Schrifttum von dem jüdischen Einflusse zu befreien«.82 In der neuen Zeitschrift sollten daher nur »christliche, arische Schriftsteller« […] zur Sprache und zu Wort kommen«,83 auch wurde in dieser ebenfalls die Schaffung eines »Weltverbandes arischer und artverwandter Rechtsanwälte« angekündigt.84 Die Bildung dieses Vereins, der »die Zusammenfassung der arischen und artverwandten Rechtsanwälte sämtlicher Kulturstaaten des Erdballes« und die »Einflussnahme auf die Gesetzgebung und Rechtsprechung in Lehre und Leben in einem dem Rechtsempfinden der arischen und artverwandten Völker entsprechenden Sinne« bezweckte,85 wurde allerdings von der Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit untersagt, da die Einflussnahme auf die Gesetzgebung »zweifellos zur Betätigung auf politischem Gebiete führen« würde. Damit sei er als politischer Verein zu qualifizieren und stehe im Widerspruch zum Bundesgesetz über die »Vaterländische Front«, das diese zum einzigen Träger der politischen Willensbildung im Staat berufen hatte. Folglich war der Verein »seinem Zwecke und seiner Einrichtung nach gesetz- und rechtswidrig«.86 Außerdem war der Bundespolizeidirektion Wien natürlich bekannt, dass der Proponent der Vereinsgründung, Dr. Viktor Tschadesch, der Vorsitzende des »Verbandes deutsch-arischer Rechtsanwälte Österreichs«, auch Mitglied und Rechtsanwalt des »Kaufmännischen Interessenverbandes für Handel, Gewerbe und Industrie« war, der entgegen seiner Satzung die in Österreich verbotene NSDAP gefördert hatte87 und daher »wegen getarnter nat.soz. Betätigung« verboten worden war.88 Nach Vorlage geänderter Statuten erfolgte im September 1937 dann allerdings doch die Nichtuntersagung des Vereins, wenngleich dessen Tätigkeit überwacht werden sollte.89

81 Schreiben an das Vereinsbüro der BuPolDion in Wien 28.12.1936, ÖStA, AdR, BKA BKA-I BPDion Wien VB Signatur VIII-4.777. 82 ÖStA, AdR, BKA BKA-I Parteiarchive VF Gensekt 514-1-425, Kt. 108. 83 Schreiben des Verbandes an BReg z.H. Kurt Schuschnigg, 14.7.1937, ebd. 84 Zeitschrift für österreichisches Recht und vergleichende Rechtswissenschaft, Jänner 1938, 1. 85 Siehe für die Statuten, ÖStA, AdR, BKA-I BPDion Wien VB Signatur VIII-5.159  : Weltverband arischer und artverwandter Rechtsanwälte, kurz arischer Rechtsanwälte. 86 Bescheid 19.8.1937, BKA/GenDionöS Zl. 349.504-G.D. 2, ebd. 87 Bericht der BuPolDion Wien an BKA/G.D. 2., (12.)8.1938, ebd. 88 Bericht des Vereinsbüros der BupolDion Wien 9.8.1937, ebd. 89 Sicherheitsdirektor des Bundes für die bundesunmittelbare Stadt 30.9.1937, ebd.

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Der Verband gab weiters den sog. »Arischen Geschäftsweiser« heraus,90 in dem »erstklassige arische, christlich-deutsche Firmen ihre Ankündigungen erscheinen lassen« konnten.91 Gegen diesen hatten nun, so der Verbandsbericht vom Februar 1935, »verschiedene jüdisch-nationale Blätter einen wahren Sturmlauf unternommen« und in weiterer Folge habe sich auch der Ausschuss der Rechtsanwaltskammer in Wien dazu entschlossen, diejenigen Mitglieder, deren Namen in einem dieser Geschäftsweiser abgedruckt war, aufzufordern, »eine Veranlassung dahingehend zu treffen, daß die Aufnahme ihres Namens in künftigen Auflagen des Geschäftsweisers unterbleibe«. Die meisten Rechtsanwälte hätten aber, so der Verband, diese Geschäftsweiser ohnedies »überhaupt nicht zu Gesicht bekommen« und seien durch die Aufforderung der Kammer »einigermaßen überrascht« gewesen zu hören, dass ihr Name in einem dieser Nachschlagebücher abgedruckt worden sei. Der Verband lehnte die Aktion des Ausschusses in nachvollziehbarer Weise ab und teilte diesem mit, dass der »Geschäftsweiser« keineswegs zum »Zwecke einer standeswidrigen Anbietung (Reklame)« publiziert worden sei, sondern es sich nur um »ein für einen bestimmten Interessentenkreis herausgegebenes Nachschlagwerk handelt, dessen Auflegung unzweifelhaft einem bestehenden Bedürfnisse der bodenständigen, christlich-deutschen Bevölkerung entspricht«. Daher hätten aber »naturgemäß nur die Namen arischer Rechtsanwälte zum Abdruck gebracht werden« können.92 In der darauf folgenden Auseinandersetzung mit der Rechtsanwaltskammer in Wien sprach der Verband der Kammer im Mai 1935 dann generell das Recht ab, »einer Gruppe arischer Rechtsanwälte Aufträge zu erteilen, deren Befolgung eine entwürdigende Abkehr von den seitens der bodenständigen Bevölkerung als notwendig erachteten Maßnahmen zum Schutze ihrer berechtigten Interessen beinhalten« würde. Der Ausschuss habe ja schließlich auch keine Maßnahmen gegen die entgeltliche Aufnahme einzelner Mitglieder in verschiedene Werke von »ausgesprochenem Adreßbuchcharakter« wie in das Fachregister des amtlichen Teilnehmerverzeichnisses für das Fernsprechnetz Wien erhoben, und von »geradezu pikantem Reiz« sei die »Aufzählung einer Anzahl bestens bekannter Rechtsanwälte mit Anführung aller denselben zustehenden Titeln und Eigenschaften in dem Handbuch des internationalen Rechtes von K. Salaban, Deutsche Ausgabe 1928/29«.93

90 Zeitschrift für österreichisches Recht und vergleichende Rechtswissenschaft, Jänner 1938, 1. 91 Schreiben des Verbandes an Polizeikomm Innere Stadt, 17.10.1935, ÖStA, AdR BKA BKA-I BPDion Wien VB Signatur VIII-4.777. 92 Mitt dt-a RA, 11.2.1935/F. 7, 3. 93 Mitt dt-a RA, 11.5.1935/F. 10, 1.

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Die Kammer ihrerseits wehrte sich umgehend gegen diesen Vorwurf und wies darauf hin, dass gegen die Nennung im »Handbuch« bereits 1929 erfolgreich vorgegangen worden sei, wie auch hinsichtlich anderer Druckwerke. Das Telefonbuch stelle aber einen gänzlich anderen Fall dar, weil dieses ja die Aufnahme sämtlicher Fernsprechteilnehmer bezwecke und nicht bloß, auf einzelne Anwälte aufmerksam zu machen. Überhaupt war es nach Ansicht der Wiener Kammer nicht nur rechtens, Aufträge an einzelne Kammermitglieder ergehen zu lassen, sondern vielmehr auch »standeswidrig […], persönliche Eigenschaften, die für das Staatsbürgerrecht und das Berufsrecht der Bundesbürger völlig bedeutungslos sind, in öffentlichen Mitteilungen zu anwaltlichen Wettbewerbszwecken hervorzuheben oder deren Hervorhebung auch nur zuzulassen«.94 Der Verband verschärfte in Reaktion darauf seine Propaganda für die Schaffung einer eigenen »Kammer der bodenständigen arischen, christlich-deutschen Rechtsanwälte des Wiener Kammergerichtssprengels« zunehmend, weil die »arische Kollegenschaft […] nicht mehr den inneren Zusammenhang mit der bestehenden Wiener Kammer« finde.95 Darüber hinaus postulierte der Verband 1936, dass sich »arische Kollegen in Standesangelegenheiten nur dem Urteile arischer Standesangehöriger zu unterwerfen« hätten.96 Im Dezember 1936 rief der Verband seine Mitglieder überdies zum Boykott jüdischer Geschäfte auf  : »Denken Sie bei Ihren Einkäufen daran, daß Weihnachten ein christliches Fest ist  ! Decken Sie Ihren Bedarf nur bei arischen Firmen.«97 1937 betonte er dann seine generelle Zielsetzung  : »Pflege deutschen Rechtsempfindens im Sinne des Kampfes gegen die Überfremdung des österreichischen Rechtes in Lehre und Leben und entsprechend der Auffassung der bodenständigen Bevölkerung«, die unter den »Praktiken einer jüdischen Advokatenclique« zu leiden habe.98

»Ostjuden« -Hetze und antisemitische Einbürgerungspolitik Von den diversen antisemitischen Gruppierungen wurde aber nicht nur der ihrer Ansicht nach zu hohe Anteil von Juden unter den Rechtsanwälten kritisiert und ein Numerus clausus gefordert, sondern im Besonderen darüber geklagt, dass die Rechts94 Die Auseinandersetzung mit der Wiener Kammer. Die arischen Geschäftsweiser, Mitt dt-a RA. 1935/F. 11, 1f. 95 Z.B. ebd., 2. 96 Mitteilungen dt-a RA, 1936/F. 18, 1. 97 Mitteilungen dt-a RA 1936/F. 22, 7. 98 Schreiben des Verbandes an Vereins-Bureau der BuPolDion, 23.12.1937, ÖStA, AdR BKA BKA-I BPDion Wien VB Signatur VIII-4.777.

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anwaltschaft – ähnlich der Ärzteschaft99 – »in einem gänzlich unerträglichen Maße mit Ostjuden durchsetzt« sei, wie im März 1934 auch in den »Wiener Neusten Nachrichten« zu lesen war.100 Tatsächlich waren schon in der Monarchie Juden nicht nur aus Böhmen und Ungarn, sondern auch aus Galizien und der Bukowina nach Wien gekommen, um hier Rechtswissenschaften oder Medizin zu studieren. Die Fluchtbewegungen aus dem Osten während des Ersten Weltkrieges hatten dann einen massiven Anstieg der »Ostjuden« v. a. in Wien zur Folge, und infolge der Einbürgerungen aufgrund von Optionserklärungen für Österreich nach dem Staatsvertrag von St. Germain war auch die Zahl der orthodoxen Juden um etwa 20 Prozent gestiegen101 – dies trotz der, einem »praktischen Antisemitismus« geschuldeten, extrem restriktiven Einbürgerungspraxis der 1920er Jahre.102 Insbesondere 1918/19 waren StudentInnen aus den östlichen vormaligen Kronländern nach Wien gezogen, darunter viele Juden/ Jüdinnen, um hier ihre Studien abzuschließen, was die Ansuchen auf Anerkennung von bereits abgelegten Prüfungen dokumentieren.103 1934 wurde nun etwa in den »Wiener Neuesten Nachrichten« gefordert, man könne sich »nicht mehr damit begnügen, daß in Hinkunft Ostjuden nicht mehr eingebürgert werden sollen«, sondern man müsse sich auch bei den »überfüllten« Berufen der Anwälte und Ärzte sogar überlegen, ob eine »Überprüfung der Einbürgerung, wie auch der Zulassung zur Ausübung des Berufes vonnöten« sei, denn der Arzt sei »der Hüter der Volksgesundheit, der Rechtsanwalt […] Organ der staatlichen Rechtspflege«. Diese Frage sei »ganz unabhängig von der des numerus clausus, mit der man sich schon deshalb wird beschäftigen müssen, weil ein selbstbewußtes Volk nicht zulassen kann, daß eine ganze Reihe seiner wichtigen Berufe von den Juden monopolisiert werden, die […] doch immer wieder der Versuchung unterliegen, ihre jüdischen Sonderinteressen allem anderen überzuordnen«. Die Frage der Einbürgerungen von Rechtsanwälten (und Ärzten) war deshalb von Relevanz, weil für deren Berufsausübung die österreichische Staatsbürgerschaft Voraussetzung war.104

 99 Siehe dazu den Beitrag der Verf. in diesem Band. 100 Wiener Neueste Nachrichten, 29.3.1934, zit. n. Maderegger 1973, 200. 101 Hoffmann-Holter 1995, 277. 102 Ebd., 248ff. Zwischen 1920 und 1930 wurden österreichweit 93.535 Personen eingebürgert, wobei 68 Prozent davon in Wien optiert hatten. Von den Eingebürgerten waren 25.627 Juden, von diesen nahm Wien 24.891 Personen auf, womit fast 39 Prozent aller in Wien Eingebürgerten Juden waren, siehe ebd., 257. 103 So z. B. die Gesuche um Anerkennung der rechtshistorischen Staatsprüfung in Czernowitz 1919 von Srul Ostererm und Anton Norst, ÖStA, AVA, Justiz JM Allgemein Pers.Ger., Kt. 4.579. 104 Wiener Neueste Nachrichten, 29.3.1934, Abendausgabe, 1.

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Allerdings war bereits im November 1933 durch Regierungsverordnung die Einbürgerung von AusländerInnen zum Schutze des heimischen Arbeitsmarktes dahingehend erschwert worden, dass bis auf Weiteres die »Landesbürgerschaft […] an Ausländer nicht mehr verliehen werden« durfte, »es sei denn, dass die Bundesregierung die Verleihung im Einzelfalle als im Bundesinteresse gelegen bezeichnet.«105 Tatsächlich wurden Einbürgerungsansuchen von ausländischen Rechtsanwälten in der Regel mangels Bundesinteresses abgelehnt. Im Fall eines rumänischen Staatsbürgers aus Czernowitz, dessen Vater Österreicher durch Option war und der in Wien sein juristisches Doktorat erworben hatte, begründete die Behörde die Ablehnung der Einbürgerung explizit damit, dass die Zahl der Rechtsanwaltsanwärter ohnedies den Bedarf deutlich übersteige und der Gesuchsteller »die Einbürgerung offenbar nur anstrebt, um Rechtsanwaltsanwärter und später Rechtsanwalt in Wien zu werden«, weshalb sein Ansuchen nicht befürwortet werden könne.106

Regierungspolitik und Februar-Maßnahmen Trotz der massiv »antisemitischen christlichsozialen Programmatik«107 und der »antisemitischen Grundlage« des Landbundes108 blieben in der Zeit der Etablierung des christlichen »Ständestaates« 1933/34 die Rechtsgrundlagen für die Advokatur von der Regierung (zunächst) vollständig unangetastet. Zudem war Justizminister Kurt Schuschnigg – selbst Rechtsanwalt – bemüht, ganz offensichtlich und klar zu Tage tretende Brüche der Verfassung tunlichst zu vermeiden.109 Wie die »Arbeiter-Zeitung« Anfang April 1934 polemisierte, ließe sich die Regierung auch auf der einen Seite von der »jüdischen Großbourgeoisie in Österreich« finanzieren und habe einige »Regierungsjuden« in bedeutende Funktionen erhoben, darunter den Rechtsanwalt Desider Friedmann, Präsident der Kultusgemeinde seit 1933, der zum Mitglied eines der Vorberatenden Organe der Gesetzgebung, dem Staatsrat, ernannt wurde. Diese Personen brauche sie aber nur zur »Dekoration«, um auf der anderen Seite »desto umgestümer und konsequenter jüdische Ärzte, jüdische Bankangestellte aus der Ge105 BGBl. 523/1933  ; vgl. ausf. Reiter-Zatloukal 2011, 292f. 106 Siehe den Fall Martin Schattner, ÖStA, AVA, Justiz JM Allgemein Pers.Ger., Kt. 4.579, dort auch den Fall Julius Reisch aus Czernowitz  ; weiters den Fall des Tschechoslowaken Wilhelm Nach, Kt. 4.577. 107 Lichtblau 2009, 39–58, 5  ; siehe den Beitrag von Florian Wenninger in diesem Band. 108 Rütgen 1989, 188  ; siehe zum Landbund den Beitrag von Hanno Scheuch in diesem Band. 109 Für das Vermeiden derartiger Verfassungsbrüche hinsichtlich der Maßregelung von Richtern siehe Reiter-Zatloukal 2016/2, 424ff.

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meinde, aus den Krankenkassen und aus den Banken zu entfernen«. Während Hitler »mit offener Brutalität die Judenfrage zu einem zentralen Programmpunkte gemacht« habe, verfahre »Herr Schuschnigg nach heuchlerischen und verlogenen Methoden, um seine jüdischen Geldgeber im Ausland nicht zu verstimmen«.110 Verhaftungen und Anhaltungen

Gegen jüdische Rechtsanwälte konnte die Regierung tatsächlich deshalb nicht direkt vorgehen, weil sie ja nicht im Rahmen von staatlichen Anstellungsverhältnissen tätig waren. Allerdings betrafen die Folgen des Schutzbundaufstandes im Februar 1934, der u. a. in einem Verbot der Sozialdemokratie mündete,111 die Anwaltschaft durchaus. Die »Arbeiter-Zeitung« berichtete jedenfalls, dass »viele sozialdemokratische Rechtsanwälte« verhaftet worden seien.112 Da sich der »zersetzende Einfluss der Judenschaft«  – so die Diktion des Programms der Christlichsozialen Arbeiterbewegung von 1932113 – besonders in der Sozialdemokratie und im Kommunismus entfaltete, traf die Verfolgung der linken Opposition freilich in besonderem Ausmaß Rechtsanwälte jüdischer Herkunft. So springt bei Auswertung der Liste der nach den Februarereignissen 1934 in Haft genommenen Personen, auch wenn sie wohl nicht vollständig ist, ins Auge, dass unter den verhafteten »roten« Rechtsanwälten kein einziger zu finden ist, der nichtjüdischer Herkunft war.114 Das »Neue Wiener Tagblatt« berichtete etwa davon, dass Dr. Hugo Sperber115 und Dr. Egon Oskar Schönhof arretiert worden seien und im Polizeigefangenenhaus einsaßen.116 Sperber, auf der Verhafteten-Liste als »Verteidiger d[er] Schutzbündler« eingetragen,117 hatte nämlich mit einigen anderen Rechtsanwälten Kontakt aufgenommen, um die Vertretung der Angeklagten in den Standgerichtsfällen zu organisieren. Dazu kam es freilich gar nicht erst, weil er vor der Verhandlung einen Auftritt 110 Arbeiter-Zeitung, 4.4.1933, 4. 111 BGBl. 78/1934. 112 Arbeiter-Zeitung, 8.4.1934, 6. 113 »Für gesunden Fortschritt auf kulturellem, politischem und wirtschaftlichem Gebiete ist es von wesentlicher Bedeutung, daß die Führer der Arbeiterschaft in Abstammung und Denkart dem bodenständigen christlichem Volke angehören und daß der zersetzende Einfluß des Judentums aus dem Geistes- und Wirtschaftsleben verdrängt werde«, zit. n. Lugmayer 1924, 10. 114 Verzeichnis nach den Februarereignissen 1934 in Haft befindlichen Personen (o.D.) (sozialdemokratische Funktionäre und Mandatare, sowie am Februaraufstand Beteiligte), DÖW Nr. 5.924. 115 Siehe zu ihm etwa http://www.biographien.ac.at/oebl_13/16.pdf. 116 Neues Wiener Tagblatt, 9.3.1934, abgedruckt in  : Der internationale Anwaltskongress in Wien im Spiegel der Presse, Mitt dt-a RA 1936/F. 21, 1ff. 117 Und als Leiter der sog. »juristischen Sprechstunden«.

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mit dem offenbar als Pflichtverteidiger bestellten Dr. Anton Kraus hatte, der es »ablehnte, mit [… ihm] zusammenzuarbeiten«.118 Sperber war nach eigenen Angaben seit seinem 18. Lebensjahr (1903) Mitglied der Sozialdemokratischen Partei und hatte sich laut dem Vernehmungsprotokoll vom 4. März 1934 einer »illegalen Tätigkeit für die Sozialdemokratische Partei seit deren Auflösung vollkommen enthalten«. Aufgrund seiner beruflichen »Beschäftigungsintensität« hätte er zu »irgend einer inoffiziellen Betätigung« auch »nebenbei keine Gelegenheit gehabt«, die »Ereignisse nicht vorhergesehen« und generell »zu ihnen in keinem Verhältnis der Mitwisser- oder Urheberschaft« gestanden, sondern sei vielmehr von diesen »vollkommen überrascht« worden. Er fühle sich »an den vorgekommenen Ereignissen völlig unschuldig und erleide durch die Haft einen ungeheuren materiellen Schaden«.119 Daher ersuchte Sperber, seine Haft »nach Tunlichkeit abzukürzen«,120 welchem Begehren allerdings nicht stattgegeben wurde, und Sperber war noch bis 13. März 1934 in Haft. Schönhof121 war hingegen Kommunist, hatte bereits in den 1920er Jahren linke Angeklagte in politischen Prozessen vertreten, darunter den Parteivorsitzenden der KPÖ Johann Koplenig, der nach seinem Auftreten bei den Juli-Ereignissen 1927 wegen »versuchter Verleitung zum Aufstand« angeklagt worden war, und galt daher auch als »Anwalt der KPÖ«. Bei den Nationalratswahlen 1927 und 1930 kandidierte Schönhof sogar für die KPÖ122 (und ebenfalls 1930 trat sein Patensohn, der spätere Justizminister Christian Broda in die KPÖ ein123). Nach der Niederschlagung des Schutzbundaufstandes im Februar 1934 wurde er, wie »viele andere, die mit den Februarkämpfen nicht unmittelbar etwas zu tun hatten«, »vorbeugend« verhaftet, wobei in der Haftliste bei ihm festgehalten wurde  : »Kommunist. Rechtsanwalt«.124 Er kam im Anschluss an die Haft für zwei Jahre in das Anhaltelager Wöllersdorf und stand danach unter Polizeiaufsicht, wobei vor seinem Haus in der Hainburgerstraße auch ein Polizist postiert war, »der – wie Schönhof scherzend bemerkte – gleichzeitig auf ihn und den ebenfalls in der Hainburger Straße wohnhaften Bundespräsidenten Miklas aufpaßte«.125 Im Polizeigefangenenhaus trafen Sperber und Schönhof mit den Beauftragten des »internationalen juristischen Komitees« – wie berichtet – zusammen, die feststellten, 118 Sedlaczek 2013, 58. 119 Zit. n. Wrabetz 2005, 70. 120 Zit. n. ebd. 121 http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_S/Schoenhof_Egon_1880_1942.xml. 122 Weinert 2007, 5f. 123 Wirth 2011, 56. 124 Weinert 2007, 7. 125 Broda 1961, 39.

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dass die Gefangenen »überall korrekt behandelt« würden. Dies bestätigten auch Sperber und Schönhof, erklärten jedoch, dass sie neben dem Verlust der Freiheit »schwer die Ungewißheit ihres Schicksals und, wie sie sagten, die Unkenntnis der Ursache ihrer Verhaftung (empfänden).«126 Auf der Liste der nach den Februarereignissen 1934 in Haft befindlichen Personen befanden sich neben Sperber und Schönhof auch anderer Rechtsanwälte jüdischer Herkunft, darunter Dr. Valentin Rosenfeld und Dr. Robert Lazarsfeld. Valentin Rosenfeld, 1886 als Sohn des angesehenen Wiener Anwaltes Viktor Rosenfeld geboren, war in der Zeit der Habsburgermonarchie einer der »fähigsten und gefürchtetsten Anwälte der Stadt« sowie »erklärter Zionist und Sponsor des jüdischen Sportclubs Hakoa«.127 Er hatte nicht nur so bekannte Klienten wie Adolf Loos, der im Übrigen die Einrichtung seiner Villa in Hietzing entworfen hatte, sondern war auch in der Sozialdemokratie engagiert. In der Verhaftungsliste wurde er als »Kommunistenanwalt« bezeichnet.128 Dr. Robert Lazarsfeld, ein ebenfalls bekannter Sozialist, wurde in der Verhaftungsliste mit dem Kommentar »engste Verbindung mit Fam[ilie] Dr. Deutsch  ; weg. Begünstigung der Flucht Dr. Deutsch s. Frau [sic  !]« gekennzeichnet.129 Er und seine gleichzeitig verhaftete Frau Sophie hatten überdies nach der Flucht Otto Bauers diesen sowie dessen Ehefrau Helene in ihrer Wohnung aufgenommen und standen daher auch hinfort unter erhöhter Aufmerksamkeit des Regimes.130 Weitere verhaftete jüdische Rechtsanwälte waren  : Dr. Max Adler, Rechtsanwalt und Universitätsprofessor, der am 3. März wieder entlassen wurde  ; Dr. Isak Wachs, laut Verhaftetenliste »Rechtsanwalt d[er] Kommun[isten]«  ; Dr. Eduard Fliegel, ebenfalls »Rechtsanwalt d[er] Kommunisten«  ; Dr. Johann Dostal, »wegen Verd[achts] gem. § 81 Stg. d. St.A. [öffentliche Gewalttätigkeit durch gewaltsame Handanlegung oder gefährliche Drohung gegen obrigkeitliche Personen in Amtssachen, Anm. d. Verf.] angez[eigt]«  ; Dr. Otto Zeisl sen., »Schutzbundverteidiger« und verhaftet im »Auftrag Vizekanzler« (Emil Fey)  ; Dr. Ignaz Gruder, »Bezirksrat Innere Stadt« und »Schutzbundverteidiger«,131 sowie Emil Maurer,132 sozialdemokratischer Bezirksvorsteher von Neubau seit 1932. Verhaftet wurde aber etwa auch Dr. Helene Popper, die Ehefrau des Rechtsanwaltes Dr. Siegmund Popper.133 126 Der internationale Anwaltskongress in Wien im Spiegel der Presse, Mitt dt-a RA, 1936/F. 21, 2. 127 Long 2015, 100. 128 Reiter 2008, 334, 336, DÖW Nr. 5.924. 129 Verzeichnis (wie Fußnote 114). 130 Siems 2015, 65f. 131 Vgl. Wisshaupt 1967, 185  ; Gulick 1950, 379. 132 https://www.wien.gv.at/wiki/index.php/Emil_Maurer. 133 Und zwar wegen Hochverrats. Siegmund Popper flüchtete 1939 nach Italien, kehrte 1957 nach

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Rechtsanwälte und Rechtsanwaltsanwärter wurden zu dieser Zeit aber auch in die austrofaschistischen Anhaltelager gebracht, darunter etwa die bereits genannten Anwälte Egon Schönhof,134 Valentin Rosenfeld, Isak Wachs, Ignaz Gruder und Emil Maurer, wobei Maurer nicht nur aus Krankheitsgründen entlassen wurde, sondern auch deswegen, weil ihm »kein konkretes Verschulden« an den Vorgängen des 12. Februar nachgewiesen werden konnte.135 Ebenfalls »angehalten« wurden Arnold Eisler, der schon früh der Sozialdemokratie beigetreten war, als Anwalt Partei- und Gewerkschaftsangelegenheiten vertrat und bis 1934 Mitglied des Verfassungsgerichtshofes sowie Abgeordneter im Nationalrat war,136 und Heinrich Steinitz, Rechtsanwalt in Wien und Schriftsteller.137 Auch in einer Vollversammlung der Salzburger Rechtsanwaltskammer wurde das »Faktum« diskutiert, »daß einige Kammermitglieder ohne nähere Begründung und irgendwelchen Zusammenhang mit einer bestimmten Tat […] auf unbestimmte Zeit in ein Anhaltelager gebracht worden« seien.138 Wie der Präsident der »Ständigen Vertreterversammlung« auf deren Tagung Ende April 1934 betonte, könnte »sowohl durch diese Anhaltungen, als durch die nach den Februarereignissen erfolgten Verhaftungen, ganz abgesehen von den persönlichen Unannehmlichkeiten und schweren Gefahren für die Betroffenen, angesichts der durch die Umstände bedingten Plötzlichkeit und Unvorhersehbarkeit solcher Maßnahmen nicht nur für die unmittelbar Betroffenen, sondern auch für ihre doch ganz gewiß schuldlose Klientel, das größte Unheil entstehen«, und dieses sei auch »in vielen Fällen gewiß entstanden […], da der Betroffene keine Möglichkeit hatte, irgendeine Vorsorge zu treffen«. Das »Allerpeinlichste bei diesen Verbringungen in Anhaltelager und bei den Verhaftungen« sei aber gewesen, dass dadurch die Meinung entstand war, diese Maßnahmen seien deshalb angeordnet worden, weil die Anwälte »Personen von regierungsfeindlicher Haltung« verteidigt hätten. Nach Vorsprache im Justizministerium habe man aber erreichen können, dass die Freiheit der Verteidigung gewährleistet und die freie Berufsausübung gewahrt bleibe.139 Wien zurück und war dann auch bis kurz vor seinem Tod 1959 wieder als RA tätig. Helene Popper lebte 1947 in Schweden, vgl. Sauer/Reiter-Zatloukal 2010, 271f. 134 Vgl. zur Bezeichnungsfrage aus Anlass der Anhaltung Schönhofs Schölnberger 2015, 99. 135 Ebd., 140, 230. 136 http://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_E/Eisler_Arnold_1879_1947.xml. 137 Pal 2006   ; auch http://www.doew.at/erinnern/biographien/spurensuche/alle-biographischen-skizzen/heinrich-steinitz-1897-1942. 138 Putzer 1992, 11. 139 Amtliche Mitteilung der Rechtsanwaltskammer in Wien, NachrichtenBl 1934, Sondernummer, 7.8.1934.

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Nach Ansicht der »Arbeiter-Zeitung« hatte die Regierung freilich »zuerst sozialdemokratische Rechtsanwälte verhaften lassen, damit sie die Schutzbündler nicht verteidigen können«, dann die Verordnung über die Betätigungseinstellung erlassen (dazu gleich weiter unten), mit der »die Rechtsanwälte eingeschüchtert« werden sollten. Wohl darauf Bezug nehmend, hatte die »Union internationale des avocats« bei ihrer Visite in Wien dem Wunsch Ausdruck verliehen, »daß die Anwälte nicht lediglich deshalb zur Verantwortung gezogen werden, weil sie in politischen Prozessen Angehörige irgendeiner Partei vertreten haben« und »daß diesem Prinzip praktisch Rechnung getragen werde«. Die Union äußerte auch die Hoffnung, »daß den in Haft befindlichen Kollegen, sofern ihnen keine konkrete Straftat zur Last liegt, möglichst bald die Freiheit wiedergegeben werde, was schon im Interesse ihrer schwer betroffenen Angehörigen wünschenswert wäre.«140 Dies tat sie, einem weiteren Bericht der »Arbeiter-Zeitung« zufolge, durch Übergabe einer Denkschrift an Justizminister Schuschnigg am 17. März 1934, in der sie auch darauf hinwies, dass es allen international anerkannten Rechtsgrundsätzen widerspräche, Angeklagten das Recht auf Verteidigung zu nehmen, und den Minister aufforderte, »er möge durch eine öffentliche Erklärung die Rechtsanwälte darüber beruhigen, daß ihnen aus der Verteidigung angeklagter Sozialdemokraten kein Schaden erwachsen werde«. Schuschnigg richtete daraufhin ein  – Ende März veröffentlichtes  – Schreiben an die Union, in dem er erklärte, »daß die Freiheit der Verteidigung vollständig gewährleistet sei und daß den Rechtsanwälten aus der Ausübung ihres Berufes, soweit sie sich in den Grenzen der Gesetze halten, keinerlei Gefahr erwachsen werde«.141 Alle Anwälte konnten jedenfalls nach ihrer Entlassung aus der Haft bzw. Anhaltung die Rechtsanwaltschaft bis 1938 weiter ausüben. So verteidigte Sperber, nach Rosa Jochmann, »der humanste Mensch, den die Erde je getragen hat«,142 nach seiner Entlassung den Februarkämpfer Josef Gerl, der im Juli 1934 einen Sprengstoffanschlag auf die Donauuferbahn verübt und bei seiner Verhaftung einen Polizisten tödlich verletzt hatte, im standgerichtlichen Verfahren, das allerdings mit Gerls Hinrichtung am Würgegalgen endete.143 1935 vertrat Sperber weiters Angeklagte im Schutzbundprozess 1935. Auch Steinitz verteidigte bis 1938 noch zahlreiche sozialdemokratische Angeklagten, darunter etwa Hauptmann Rudolf Löw im Schutzbundprozess 1935 und Karl Hans Sailer im Sozialistenprozess 1936.

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Arbeiter-Zeitung, 18.3.1934, 3f. Arbeiter-Zeitung, 8.4.1934, 6. Zit. n. Hindels 1976, 30. Zu den Rechtsgrundlagen für das standgerichtliche Verfahren siehe Reiter-Zatloukal 2012b.

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Nach dem »Anschluss« wurden Sperber, Schönhof und Steinitz in den NS-Konzentrationslagern ermordet. Rosenfeld gelang die Flucht nach England, Wachs in die USA, Gruder nach Frankreich, wo sich seine Spur jedoch nach der Entlassung aus dem Internierungslager 1940 verliert. Maurer kam nach dem »Anschluss« mit dem »Prominententransport« in das KZ Dachau, von dort weiter in das KZ Buchenwald und konnte schließlich nach England emigrieren, von wo er 1946 zurückkehrte, wieder als Rechtsanwalt arbeitete und 1952 bis 1963 als Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde fungierte. Eisler konnte in die USA flüchten, er starb kurz vor seiner geplanten Rückkehr nach Wien 1947 in New York.144 »Betätigungseinstellung«

Neben den Verhaftungen und »Anhaltungen« kam es aber auch zu Verboten der Betätigung von Rechtsanwälten. Am 16.  Februar 1934 erging zu diesem Zweck eine Regierungsverordnung,145 nach der Rechtsanwälten (und Notaren), die wegen Betätigung für eine verbotene Partei bzw. aufgrund einer der zahlreichen Verordnungen zur Bekämpfung der politischen Opposition146 »rechtskräftig abgestraft« wurden, durch Verfügung des Bundesministers für Justiz die Ausübung der Berufes (Amt) untersagt werden konnte.147 Die Tatbestände, die eine derartige »Sicherungsmaßnahme« bzw. »Schutzmaßregel« nach sich zogen, betrafen neben Tätigkeiten für eine 144 Wrabetz 2005, 70  ; Sauer/Reiter-Zatloukal 2010, 120, 165f., 243f., 287f., 307, 330f., 351. 145 BGBl. 135/1934. 146 Es handelte sich einerseits um in der VO BGBl. 52/1934 angeführte Abstrafungen, nämlich gemäß  : § 6 der VO 7.3.1933 betreffend besondere Maßnahmen zur Hintanhaltung der mit einer Störung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit verbundenen Schädigungen des wirtschaftlichen Lebens, BGBl. 41/1933 (öffentliche Beleidigungen der Bundes-, Landesregierung, ausländischen Regierung oder von Regierungsmitgliedern, wenn durch die Tat die zur Wiederaufrichtung des wirtschaftlichen Lebens unentbehrliche öffentliche Ruhe, Ordnung und Sicherheit gefährdet wird)  ; VO 21.4.1933 zum Schutze der Wirtschaft gegen Arbeitseinstellungen (Streikverordnung), BGBl. 138/1933  ; VO 4.5.1933, womit ein Uniformverbot erlassen wird, BGBl164/1933  ; VO 19.5.1933 zur Hintanhaltung politischer Demonstrationen, BGBl. 185/1933  ; VO 26.5.1933 (KPÖ-Verbot), BGBl. 200/1933  ; VO 19.6.1933 (NSDAP-Verbot), BGBl. 240/1933  ; VO 16.6.1933 betreffend besondere Maßnahmen gegen den Mißbrauch fremden Eigentums zu politischer Propaganda, BGBl. 248/248  ; VO 7.7.1933 zur Abwehr wirtschaftlicher Schädigungen durch Terrorakte, BGBl. 295/1933  ; VO 11.7.1933 betreffend die öffentliche Vorführung von ausländischen Rundfunksendungen, BGBl. 300/1933  ; VO 4.11.1933, womit die Erzeugung, die Einfuhr und das Inverkehrsetzen von Feuerwerkskörpern, Stinkbomben und ähnlichen Erzeugnissen für die Verwendung im Inland beschränkt werden, BGBl. 500/1933  ; andererseits um Verstöße gegen das Parteiverbot der SdAPÖ, 12.2.1934, BGBl. 78/1934. 147 Rechtsanwaltsanwärter wurden demensprechend aus der Liste gestrichen, BGBl. 135/1934.

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der verbotenen Parteien (KPÖ, NSDAP, SDAPÖ) v. a. das Streikverbot und Uniformverbot, politische Demonstrationen, terroristische Akte, Missbrauch des Rundfunks, Stinkbombenwerfen u.dgl. Alle rechtskräftigen Ergebnisse eines Verwaltungsstrafverfahrens waren daher den Standesbehörden und dem Justizminister vorzulegen, die Verfügung musste innerhalb von zwei Monaten nach Rechtskraft ergehen. Sie war der zuständigen Rechtsanwaltskammer mitzuteilen, die dann einen Stellvertreter bestellte. Rechtsanwaltsanwärter wurden stattdessen von der Liste gestrichen und durften bis zum Ende der Geltungsdauer der Verordnung nicht wieder eingetragen werden. Den Kammern war also kein Einfluß auf den Gang derartiger Administrativverfahren eingeräumt worden, sie hatten lediglich die Löschungen vorzunehmen.148 Die Verordnung war zunächst mit Juni 1934 befristet, die Frist wurde aber in weiterer Folge bis Dezember 1934 und dann bis Dezember 1935 verlängert.149 Kritisiert wurde in Anwaltskreisen freilich u. a., dass derartige »Sicherheitsmaßregeln« wie die Betätigungseinstellung in der Praxis und in ihrer Wirkung sehr wohl als »Strafmaßregel empfunden werden können und sicherlich nicht anders wirken«.150 Allerdings sei die Maßnahme nach Lohsing »frei und offen« als Übergangsbestimmung bezeichnet worden, »d.  i. eine Bestimmung für die Zeit des Übergangs von einem System, das sich nicht bewährt hat, zu einem gründlichen Umbau des Staatswesens«. Ernst Lohsing, Rechtsanwalt und Rechtswissenschafter, gab daraufhin in der Anwaltszeitung »dem Wunsch Ausdruck, […] daß die Angehörigen des Anwaltsstandes sich ihrer Stellung als Organe der Rechtspflege bewußt sein und keinen Anlaß zur Handhabung dieser Verordnung bieten mögen«.151 Nicht von derartigen Sanktionen betroffen waren übrigens »Nur-Verteidiger«, die man Lohsing zufolge wohl »vergessen« hatte.152 Gegen die Anwendung der Verordnung sprach sich auch eine in Paris gegründete Kommission aus, »die aus bedeutenden Gelehrten, Schriftstellern und Künstlern zusammengesetzt war« und die »Ursachen des Februaraufstandes, seinen Verlauf, seine Folge und die gegenwärtige Lage in Österreich unparteilich erheben« wollte.153 Wie die »Arbeiter-Zeitung« berichtete, protestierte die Kommission nicht nur gegen »die willkürliche Verlängerung gewisser Inhaftierungen, die ohne jede Berechtigung geblieben« waren, sondern vor allem auch »gegen die eventuelle Anwendung einer Verordnung gegen die verteidigenden Anwälte, deren Lizenz ohne ihre Anhörung 148 Kübl 1967, 168. 149 BGBl. II 83/1934  ; BGBl. II 445/1934. 150 Hofmannsthal 1934, 149. 151 Lohsing 1934, 113. 152 Ebd. 153 Arbeiter-Zeitung, 8.4.1934, 4.

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aufzuheben, wenn sie beschuldigt werden, an den Unruhen teilgenommen zu haben«. »Wenn man«, so die Kommission, »die Tatsache, einen Beschuldigten zu verteidigen, damit gleichsetzt, sein Komplize zu sein, ist es illusorisch, von Recht und Freiheit der Verteidigung zu sprechen«.154 Nach den bisherigen Recherchen scheint die Verordnung hinsichtlich der Rechtsanwälte aber eher generalpräventive Zwecke verfolgt zu haben, findet sich doch im Aktenbestand des Justizministeriums zu den Rechtsanwälten kein einziger Fall eines solchen Berufsverbotes.155 »Säuberung« der Standesvertretungen

Im Unterschied zu diesen indirekt auf Anwälte jüdischer Herkunft zielenden Maßnahmen waren die Eingriffe der Regierung in die Rechtsanwaltskammern 1934/35 im Ergebnis klar antisemitisch. Mit einer Regierungsverordnung Ende März 1934156 wurden nämlich infolge des Verbots der SDAP am 12. Februar 1934 alle Mandate in den Ausschüssen der Kammern für erloschen erklärt, wenn die Inhaber zur Zeit ihrer Wahl der SDAP oder einer unter ihrem Einfluss stehenden Organisation angehört hatten oder ihr nachher beigetreten waren. Neuwahlen oder Ersatzwahlen durften nicht mehr stattfinden. Wegen ihrer sozialdemokratischen Einstellung gingen vier jüdische Ausschussmitglieder der Wiener Rechtsanwaltskammer ihrer Mandate auf diese Weise verlustig. »Der wahre Grund« jedoch war, Hugo Gold zufolge, »dass die Betroffenen Juden waren«. Damals habe nämlich die Regierung noch gezögert, »ihre antisemitische Einstellung klar zu bekennen«, und erst, »als sie sich mit der Zeit in ihrer Autorität sicher fühlte«,157 nämlich im Juli 1935, ordnete sie an, dass sämtliche Mandate der Kammerfunktionäre mit Ende des Jahres als erloschen zu gelten hätten.158

154 Ebd. 155 In einem Fall wurde dies offenbar in Erwägung gezogen, aber nicht weiter verfolgt, weil die strafbare Handlung vor Inkrafttreten der Verordnung stattgefunden hatte  : Dr. Rudolf Ableitinger hatte in Schrems am 7.1.1934 »in angeheitertem Zustand in politisch demonstrativer Weise die Hand zum Hitlergruss erhoben und Gäste angestänkert. Außerdem hatte er am 15.12.1933 in einem Gasthaus in Waidhofen/Thaya gerufen  : »Der Fey ist der grösste Fallot und Pülcher«, vgl. Rechtsanwälte und Notare, A-Z (Signatur II), ÖStA/AVA Justiz JM Allgemein Pers.Ger Kt. 4.575  ; im Unterschied dazu gibt es allerdings Fälle des temporären Berufsverbotes und der Streichung aus der Liste wegen Disziplinarverurteilungen  ; vgl. ebd, Kt. 4.575–4.580. 156 BGBl. 196/1934. 157 Gold 1971, 122. 158 BGBl. 300/1935.

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Die »neuen Standesfunktionäre« waren nun jedoch nicht mehr zu wählen, sondern von der Justizverwaltung zu bestellen. Die im November 1935 durchgeführte Neubestellung der Funktionäre gab zwar vor, den »nationalsozialistische[n] Einfluß, der sich in den Provinzkammern fühlbar gemacht hatte«, zu beseitigen,159 hatte aber Gold zufolge hinsichtlich der Wiener Kammer eine »ausgesprochen antisemitische Tendenz«.160 Nicht der nationalsozialistische, sondern vielmehr der jüdische Einfluss im Ausschuss der Kammer, in dem bisher die Hälfte der Mitglieder Juden gewesen waren, sei nämlich ausgeschaltet worden.161 Um »das Gesicht zu wahren« wurden jedoch von den zwölf jüdischen Anwälten des Ausschusses zwei erneut berufen, nämlich der Vizepräsident Paul Abel sowie Robert Ticho, die beide nach dem »Anschluss« nach England flüchten konnten.162 Die restlichen zehn wurden hingegen »übergangen« bzw. aus der Leitung der Kammer »ausgeschaltet«, darunter »altbewährte Ausschußmitglieder« und der Präsident,163 Siegfried Kantor, ein, laut Gold, »zionistisch eingestellter Glaubensjude«, der zwar ein »ausgezeichneter Präsident« gewesen sei, aber »trotz seiner leidenschaftlichen Hingabe an den Stand, diesem, den jüdischen Anwälten und sich selbst durch die Übernahme des Präsidiums in dieser Zeit [1932, Anm. d. Verf.] mehr geschadet als genützt« habe.164 Die Wahl Kantors sei nämlich von den Antisemiten als Provokation empfunden worden und dieser vielen nichtjüdischen Mitgliedern der Kammer untragbar erschienen. Dies wiederum hatte zur Gründung des »Verbandes deutsch-arischer Rechtsanwälte« geführt, der sich  – wie ausgeführt  – weigerte, mit jüdischen Kollegen in beruflichen Angelegenheiten zusammenzuarbeiten.165 Vereinspolitik

Infolge des Verbotes der SdAPÖ nach den Februarkämpfen 1934 wurden der Sozialdemokratie zuzuordnende Vereine behördlich aufgelöst. Dies betraf etwa auch die 1925 auf Betreiben Karl Ornsteins, eines der bedeutendsten Anwälte der Sozialdemokraten des ausgehenden 19. Jahrhunderts,166 gegründete »Vereinigung sozialistischer 159 160 161 162 163

Gold 1971, S. 122. Ebd., S. 122  ; Kübl 1950. Kübl 1950, 40f. Sauer 2013, 162–170. Gold 1971, 122f.; Kübl 1950, 41  ; für die Neubestellung der Salzburger Funktionäre siehe Putzer 1992, 11f. 164 Gold 1971, 122. 165 Vgl. Pauley 1993, 167. 166 Reiter-Zatloukal 2012b, 273–278.

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Anwälte«, deren Zweck die »Verbreitung der sozialistischen Weltanschauung unter den Rechtsanwälten, Eingliederung der Anwaltsarbeit in die sozialistische Rechtsund Wirtschaftsordnung, Einflussnahme auf die Rechtsentwicklung und Rechtspflege im Sinne des Sozialismus, sowie die Wahrung der anwaltlichen Berufsinteressen im Rahmen sozialistischer Grundsätze« war, weshalb auch die Mitgliedschaft in der SdAPÖ in den Statuten vorgesehen war.167 Seinem Vorstand gehörten nach den letzten Wahlen mehrheitlich Anwälte an, die 1938 als Juden im Sinne der NS-Rassengesetze aus der Rechtsanwaltsliste gelöscht wurden.168 Nachdem die Vereinstätigkeit ohnedies seit der Jahresversammlung 1933, als die Vorstandswahl wegen Beschlussunfähigkeit nicht vorgenommen werden konnte, ruhte, zeigte am 17. Februar 1934 der gewesene Obmann Richard Beer der Vereinsbehörde an, dass die Vereinigung nun »auch formell zu bestehen aufgehört habe«, da laut Statut Voraussetzung für die Mitgliedschaft die Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei gewesen war, sodass sämtliche Mitglieder infolge der Parteiauflösung die Mitgliedschaft nun verloren hatten. Das Vereinsvermögen stellte er »zur Verfügung der Vereinsbehörde«. Am 6. März 1934 wurde der Verein durch Bescheid des Sicherheitskommissärs des Bundes für Wien behördlich aufgelöst, das Vereinsvermögen mit Bescheid vom 14. Mai 1934 beschlagnahmt.169 Nicht aufgelöst wurde hingegen der 1919 gegründete »Verein jüdischer Rechtsanwälte«, der sich gegen die verschiedenen Angriffe auf die jüdischen Anwälte zur Wehr setzte und dessen Mitgliedschaft an das Bekenntnis zur »jüdischen Volkszugehörigkeit« gebunden war. Er trat für die »Hebung und Förderung der allgemeinen Standesinteressen der Rechtsanwälte unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen und beruflichen Interessen der jüdischen Angehörigen des Rechtsanwaltsstandes« ein.170 Jedoch blieb er, wie auch die Vertreter der jüdischen Bevölkerung

167 Statuten, siehe dazu  : Vereinigung sozialdemokratischer Rechtsanwälte, ÖStA, AdR, BKA-I BPDion Wien VB Signatur VIII-2.861. 168 Nämlich Richard Beer, Alfred Kahn, vgl. Sauer/Reiter-Zatloukal 2010, 193, Friedrich Welt, ebd., 362, Max Braun, ebd., 101, Armand Eisler, ebd., 119, Richard Engländer, ebd., 124, Siegfried Kelbl, ebd., 197f, Hans Kuffler, ebd.,217, Paul Pallester ebd., 262, Richard Pollak, Oswald Richter, ebd., 282, Oskar R. Lehnert, ebd., 226, Otto Zeisl, ebd., 372, Hugo Flesch, Richard Lemberger, ebd., 228, Hermann Frenkel, ebd., 139, Leopold Rosenmann. 169 Vereinigung sozialdemokratischer Rechtsanwälte, ÖStA, AdR, BKA-I BPDion Wien VB Signatur VIII-2.861. 170 Vormals »Advokatenrunde«. Vereinigung jüdischer Rechtsanwälte in Wien, ÖStA, AdR, BKA-I BPDion Wien VB Signatur VIII-2.850, dort auch die Statuten und eine gedruckte Mitgliederliste  : Verein jüdischer Rechtsanwälte in Wien, Wien 1937, 17ff.

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in den gesetzgebenden Körperschaften, erfolglos im Kampf gegen den »praktischen Tatantisemitismus«171 der Regierung.

Schlussbemerkung Die »Janusköpfigkeit«172 des austrofaschistischen Regimes zeigte sich besonders in seinem Umgang mit der jüdischen Bevölkerung, denn einerseits war diese verfassungsrechtlich weitgehend gleichgestellt, andererseits herrschte in der Praxis ein »Tatantisemitismus« vor. Ungeachtet der realen Manifestationen des Antisemitismus bestand allerdings weiterhin, wie der jüdische Rechtsanwalt Rudolf Braun 1936 festhielt, »von Gesetzes wegen grundsätzlich die Gleichheit aller Anwälte, mögen auch ihre wirtschaftlichen Verhältnisse und ihre berufliche Eignung unter Umständen große Verschiedenheiten aufweisen«, weil nach der Verfassung »niemandem wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, Nation oder Religion ein Nachteil erwachsen« dürfe. Eine »verschiedene Behandlung« sei nach Braun aber auch gar »nicht erforderlich«, da sie »in der Praxis von selbst [geschehe], indem das rechtssuchende Publikum sich diejenigen Anwälte auswählt, die ihm für seine Rechtsangelegenheiten am geeignetsten erscheinen«.173 Die freie Wahl des Rechtsanwalts bestand allerdings bereits bald nach dem »Anschluss« 1938 nicht mehr. Mit der fünften Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 27. September 1938 wurde Rechtsanwälten »nicht arischer Abstammung« die Berufsausübung untersagt.174 Die dritte Verordnung über Angelegenheiten der Rechtsanwälte, Rechtsanwaltsanwärter und Verteidiger in Strafsachen im Lande Österreich vom selben Tag ordnete darüber hinaus die Löschung von »Mischlingen« an, sah dafür aber Ausnahmen vor,175 und ermöglichte die Löschung von Rechtsanwälten, »die gegen die nationalsozialistische Bewegung und ihre Anhänger gehässig aufgetre171 172 173 174

Schmitz 1932, 70. Wohnout 1994, 5f. Braun 1936, 29. »Juden ist der Beruf des Rechtsanwalts verschlossen«, DtRGBl I S. 1.403ff  ; GBlLÖ 513/1938. Juden, die noch in der Liste der Rechtsanwälte eingetragen waren, mussten nun spätestens bis 31.12.1938 aus der Liste gelöscht werden, außer wenn ihre Familie seit 50 Jahren in Österreich ansässig war und sie Frontkämpfer waren. Bei diesen konnte von der Löschung »vorläufig abgesehen« werden, den Zeitpunkt der Löschung bestimmte der Reichsjustizminister, bis zur Entscheidung konnte aber die Berufsausübung untersagt werden. Bei Bedarf war es möglich, jüdische Konsulenten zur rechtlichen Beratung und Vertretung von Juden zuzulassen. 175 DtRGBl I S. 1.406  ; GBlLÖ 511/1938. Von der Löschung ausgenommen waren »Mischlinge«,deren Familien seit mindestens 50 Jahren in Österreich ansässig waren und selbst Frontkämpfer waren oder

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ten sind, die ihre Stellung oder ihren Einfluss dazu mißbraucht haben, um völkisch gesinnte Volksgenossen zu verfolgen, zurückzusetzen oder sonst zu schädigen, oder die in anderer Weise als Feinde der nationalsozialistischen Bewegung tätig gewesen sind.«176 All diese Bestimmungen galten auch für jüdische RechtsanwaltsanwärterInnen und VerteidigerInnen in Strafsachen. Die Zahl der Anwälte sank daher auf dem Gebiet Österreichs 1938 um insgesamt fast 43 Prozent.177

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Kamila Staudigl-Ciechowicz

Zum rechtlichen Rahmen für die Personalpolitik an den österreichischen Universitäten im Austrofaschismus Nach dem »Anschluss 1938« verlief die »Säuberung« der österreichischen Universitäten von politisch oder rassistisch unliebsamen Personen sehr schnell.* Bereits Ende April 1938 erfolgte eine Zwangsbeurlaubung von Professoren, Privatdozentinnen und Privatdozenten wurde die Lehrbefugnis entzogen. Dass diese Maßnahmen so schnell durchgeführt werden konnten, lag unter anderem an den im Austrofaschismus geänderten bzw. eingeführten Rechtsnormen.1 So ist eine zentrale These dieses Beitrages, dass im Austrofaschismus der Zu- und Durchgriff des Regimes auf alle Ebenen der Universität zumindest seinen Anfang nahm. Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage, inwiefern im austrofaschistischen Staat direkt oder indirekt judenfeindliche Rechtsnormen erlassen wurden. Ein Fokus liegt darauf, welche Bedeutung den nun geschaffenen weiten rechtlichen Handlungsspielräumen zukam, wurden diese doch in der Hochschulpolitik von 1933 bis 1938 aus unterschiedlichen Motiven und Überlegungen ausgenutzt, um  – nicht nur aber auch  – sich politisch unliebsamer Personen zu entledigen. In einem zweiten Schritt beleuchtet der Beitrag, ob bzw. wie die neuen Hochschulgesetze den Alltag an den Universitäten änderten. Dabei wird der Frage nachgegangen, gegen welche Personengruppen sich die neue Gesetzgebung richtete. Schwierigkeiten ergaben sich dabei bei der Zuordnung der einzelnen Fälle zu einer Kategorie, wie z. B. Fälle Max Adler und Julius Tandler zeigen, die beide als Sozialisten jüdischer Herkunft verfolgt wurden. Eine wesentliche Aufgabe der Universitäten lag in den Augen des Regimes in der Heranbildung »vaterländischer« christlicher Österreicherinnen und Österreicher unter dem Motto »Betonung christlicher Weltanschauung von der Volksschule bis zur Hochschule«.2 Die schrittweise Etablierung der neuen ideologischen Grundlagen setzte voraus, dass das Lehrpersonal an den Hochschulen dem »vaterlandstreuen«, christlichen Hochschullehrtypus entsprach. »Das Bildungsziel des neuen Oesterreich muß dem christlichen Erziehungsideal entsprechen, es muß auf die Erfassung des * Dieser Beitrag ist teilident mit Staudigl-Ciechowicz 2017, 205–221. 1 Vergleiche dazu Ash 2015, 108–128; Taschwer 2015b, 201–235; Reiter 1990; Weinert 1983. 2 Tages-Post, 27.4.1936, 6f.

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ganzen Menschen abzielen«3 – so definierte der Staatssekretär für Unterricht Hans Pernter bei der Rede anlässlich der Eröffnung der »Vaterländischen Schulausstellung« am 25. April 1936 in Linz die Ziele seines Ressorts. Folglich erfolgte eine schrittweise Vertreibung jener Lehrenden, deren »vaterländische« Einstellung nicht gewährleistet war. Die Signifikanz der politischen Verlässlichkeit zeigt sich bereits an den Maßstäben, die für die Verleihung von Titularprofessuren herangezogen wurden. Allein für die Verleihung des Titels eines ordentlichen Professors, der mit keinerlei Rechten verbunden war, wurden »Erhebungen über die moralische und staatsbürgerliche Haltung« der betreffenden Person durchgeführt.4 Ab dem Staatsstreich 1933 mussten viele Hochschullehrer und HochschulassistentInnen die österreichischen Universitäten verlassen.5 Personen nationalsozialistischer aber auch sozialistischer Gesinnung wurden von den Hochschulen ausgeschlossen, teils erfolgte dies mit der Begründung »staatsfeindlicher Handlungen«, teils mit jener erforderlicher Sparmaßnahmen. Dabei bemächtigte sich die autoritäre Regierung zunächst der vorhandenen Rechtsinstrumente. Insbesondere für den Abbau älterer Hochschullehrer benötigte die Regierung keine neuen Rechtsvorschriften. Das 1870 erlassene Pensionsgesetz sah nämlich vor, dass Universitätsprofessoren mit 65 in den Ruhestand versetzt werden konnten,6 mit der Vollendung des 70. Lebensjahres mussten sie in Ruhestand treten. Die Bestimmung nannte keine zusätzlichen Voraussetzungen für eine Pensionierung mit 65, es war aber unüblich, davon Gebrauch zu machen.7 Usus war vielmehr, dass Professoren mit 70 Jahren sogar noch ein sogenanntes Ehrenjahr genehmigt bekamen, und daher tatsächlich erst mit 71 Jahren in den Ruhestand traten. Diese Praxis endete mit dem Beginn des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes schlagartig  : Sowohl um politisch unliebsame Personen loszuwerden, als auch aus Sparüberlegungen wurde auf die frühzeitigere Ruhestandsversetzung zurückgegriffen. Problematisch aus der Sicht der Bundesregierung wurde es, wenn die unerwünschte Person das 65. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte – wie der Fall von Wenzel Gleispach zeigt.8 Gleispach war als Strafrechtler bestens in Österreich wie auch im Deutschen Reich vernetzt, was er nicht nur seinem Universitätsinstitut für Krimina3 Ebd. 4 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Allgemeines Verwaltungs-, Finanz- und Hofkammerarchiv (AVA) Unterricht Allgemein (ÖStA, AVA, Unterr. Allg.), Kt. 797, GZ 33.785-I/34, zur Verleihung von Titularprofessuren vgl. Staudigl-Ciechowicz 2017, 305f. 5 Vgl. dazu Ash 2015, 97–101  ; Taschwer 2015b, 161–199. 6 RGBl 47/1870  ; Näheres vgl. Staudigl-Ciechowicz 2017, 203–213. 7 ÖStA, AVA, Unterr. Allg., Kt. 797, Zl. 27.066-I/33. 8 Zu Gleispach vgl. Staudigl-Ciechowicz 2014c, 426–432  ; Kraus 1976.

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listik zu verdanken hatte, sondern auch dem von ihm gepflogenen weit bekannten »Radauantisemitismus«.9 Auch gehörte er jahrelang den universitären Machtzirkeln an, unter anderem als Disziplinaranwalt für die Universität Wien. Während seiner knapp zwanzigjährigen Tätigkeit an der Wiener Universität war Gleispach sieben Jahre lang Mitglied des Akademischen Senates und 1929/30 sogar Rektor. Gleichzeitig gehörte er der Führungselite des »Deutschen Klubs« an,10 einer antisemitischen Clique, in der er eine Vorstandsfunktion ausübte.11 Bereits im Oktober 1931 war mit dem Budgetsanierungsgesetz12 die Möglichkeit geschaffen worden, mit raschen Verfahren Bundesangestellte abzubauen – zu diesem Zeitpunkt waren allerdings Hochschulprofessoren von diesen Maßnahmen ausgeschlossen. Ein knappes Jahr später im Sommer 1932 wurde eine weitere Möglichkeit geschaffen, Bundesangestellte aus dem aktiven Dienst zu entheben, indem sie gegen Wartegeld beurlaubt wurden.13 Abermals waren Hochschulprofessoren von diesen Bestimmungen nicht betroffen. Im Mai 1933 wurden schließlich die ersten Maßnahmen eingeführt, die auch gegen Hochschulprofessoren angewendet werden konnten. So sollten alle öffentlich-rechtlichen Bundesangestellten, so auch die Hochschulprofessoren, einen neuen Diensteid leisten.14 Um die betroffenen Personen entsprechend für die Eidesablegung zu motivieren, wurden Mitte Mai die drohenden Konsequenzen bei Verweigerung des Diensteides mittels einer Regierungsverordnung kundgemacht.15 Demnach galt eine Verweigerung als Erklärung des Dienstaustrittes unter Verlust der Pensionsansprüche. Die fragliche Verordnung enthielt auch weitere Maßnahmen zur Disziplinierung »staats- und regierungsfeindlicher« Bundesangestellter, denen bei Verurteilung die Entlassung drohte, worüber eine eigens beim Bundeskanzleramt eingesetzte besondere Disziplinarkommission entschied. Zu Mitgliedern für den Senat der Hochschulprofessoren wurden im Juni 1933 die beiden Ordinarien der Wiener juridischen Fakultät Gustav Walker und Alfred Verdross bestellt.16 Auffallend ist, dass sowohl Walker, als auch Verdross trotz der politischen Umbrüche in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts ihre berufliche Position behielten, was eine

9 Näher dazu Staudigl-Ciechowicz 2014c, 452–460  ; Staudigl-Ciechowicz 2011. 10 Zum »Deutschen Klub« vgl. Staudigl-Ciechowicz 2014a, 70–72  ; Erker/Huber/Taschwer, 2017  ; sowie den Beitrag von Taschwer in diesem Band. 11 Mitteilungen des Deutschen Klubs 1930 Nr. 2, 1. 12 BGBl. 294/1931  ; Näheres vgl. Staudigl-Ciechowicz 2017, 180–183. 13 BGBl. 247/1932  ; Näheres vgl. Staudigl-Ciechowicz 2017, 218–221. 14 Vgl. Sedlak 2004  ; Sedlak 2006. 15 BGBl. 173/1933. 16 ÖStA, AVA, Unterr. Allg., Kt. 308, GZ. 17.648-I/5/33.

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gewisse politische Anpassungsfähigkeit vermuten lässt.17 Walker war in verschiedene außeruniversitäre Funktionen von der christlichsozialen Regierung berufen worden, so ab 1931 zum Richter des Verfassungsgerichtshofes und ab 1934 zum Mitglied des Staatsrates.18 Ähnlich verhielt es sich bei Verdross, der zwar 1933 den Posten des Justizministers ablehnte, aber seit 1935 zum Mitglied des Bundesgerichtshofes ernannt wurde.19 Im Juni 1933 erfolgte die Vereidigung der Universitätsprofessoren. Zwar berichteten Tageszeitungen vereinzelt von Hochschulprofessoren, die beabsichtigen würden, die Eidesabstattung zu verweigern, darunter Gleispach,20 am Tag der feierlichen Eidesablegung verlief jedoch alles nach Vorgabe und selbst Gleispach leistete seinen Eid.21 Wenige Wochen später publizierte er einen kritischen Aufsatz zum Diensteid und zu den neuen disziplinären Maßnahmen in der reichsdeutschen Zeitschrift »Verwaltungsarchiv«.22 Die Reaktion des österreichischen Unterrichtsministeriums ließ nicht lange auf sich warten. Bereits Anfang Oktober verkündete die »Wiener Zeitung« die Pensionierung Gleispachs und warf ihm »radikale, bösartige und taktlose Angriffe gegen die Heimat« vor.23 Im Laufe des Oktober 1933 teilte das Unterrichtsministerium Gleispach mit, dass er in den dauernden Ruhestand versetzt werden würde. Die Angelegenheit war insofern etwas heikel, da prinzipiell eine Versetzung in den Ruhestand eben erst ab dem 65. Lebensjahr vorgesehen war, Gleispach hingegen gerade erst 57 Jahre alt geworden war. Das Ministerium behalf sich damit, dass es aus verschiedensten, bis auf das späte 18.  Jahrhundert zurückgehenden Bestimmungen eine allgemeine Rechtsregel ableitete, wonach »die höchste Administrativbehörde gegen Anweisung des normalmäßigen Ruhegehaltes zu jeder Zeit aus Dienstesrücksichten« einen Staatsbeamten pensionieren könne.24 Unter anderem wurde diese Rechtsansicht damit begründet, dass für Hochschullehrer verfassungsrechtlich keine Unabsetzbarkeit normiert war, womit diese e contrario aus Dienstesrücksichten pensioniert werden konnten.25 Die Dienstesrücksicht ergab sich aus seiner regierungskritischen Publikation, denn 17 Zu Verdross vgl. Busch 2012. 18 Olechowski 2014, 410. 19 Busch 2012, 153. 20 Vorarlberger Landes-Zeitung, 13.6.1933, 4. 21 Neue Freie Presse, 11.6.1933, Morgenblatt, 7. 22 Gleispach 1933, vgl. dazu auch Olechowski/Staudigl 2012, 234–239. 23 Wiener Zeitung, 6.10.1933, 3. 24 ÖStA, AVA, Unterr. Allg., Kt. 797, Zl. 27.070-I/1/33. 25 Die gleiche Rechtsansicht wird auch in der Sammlung der Universitätsgesetze aus 1906 vertreten, vgl. Beck/Kelle 1906, 164 Fn. 1.

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seine Ausführungen wären geeignet, »in der Beamtenschaft Zweifel an der rechtlichen und sittlichen Verbindlichkeit des von ihr geschworenen Eides hervorzurufen und Agitationen in dieser Richtung zu fördern und dabei insbesonders die Handhabe zu einer Berufung auf eine wissenschaftliche Autorität zu liefern.«26 Von der Einleitung eines Disziplinarverfahrens sah das Unterrichtsministerium ab, schließlich ginge es nicht um eine Ahndung eines Fehlverhaltens, sondern das Unterrichtsministerium sei schlichtweg »zu der Ueberzeugung gelangt […], daß die weitere Eignung zum österr. Hochschullehramte in seiner Person nicht gegeben« erschien.27 Der tatsächliche Hintergrund für den Verzicht auf ein Disziplinarverfahrens dürfte allerding die Befürchtung gewesen sein, der Fall Gleispach würde nicht streng genug verhandelt werden, denn schließlich hatte das Ministerium zu diesem Zeitpunkt noch keine Durchgriffsmöglichkeiten betreffend Disziplinarverfahren gegen Lehrende an den Universitäten. Der Ausgang eines solchen Verfahrens wäre auch deswegen ungewiss gewesen, weil als Disziplinaranwalt an der Universität Wien zu diesem Zeitpunkt Ernst Schönbauer fungierte, der als Vortragender den »Deutschen Klub« frequentierte und selbst zur Ausschaltung des Nationalrates in Österreich im gleichen Zeitschriftenband wie Gleispach publiziert hatte.28 Dies legte die Vermutung durchaus nahe, dass Schönbauer Gleispachs Vorgehen nicht im Sinne des Unterrichtsministeriums verfolgt hätte. Den großen Einfluss Gleispachs auf die Hochschulkreise zeigt auch die Einladung zur Teilnahme an der außerordentlichen Konferenz der Rektoren Anfang Oktober 1933 – zu einem Zeitpunkt, zu dem Gleispachs Zwangspensionierung bereits im Gang war.29 Gleispach legte in Folge eine Beschwerde beim Verwaltungsgerichtshof gegen seine Pensionierung ein, die Verhandlung wurde jedoch erst im Oktober 1935 anberaumt – zu diesem Zeitpunkt schon vor dem 1934 anstelle des Verwaltungs- und Verfassungsgerichtshofs eingerichteten Bundesgerichtshof. Gleispach, der in der Zwischenzeit einen Ruf in das Deutsche Reich angenommen und sich gut in Berlin arrangiert hatte, zog seine Beschwerde kurz vor der Verhandlung mit der Begründung zurück, dass »gegenwärtig in Österreich keine obersten Gerichtshöfe des öffentlichen Rechtes mehr [bestehen], die auf einer nach dem Willen des Volkes entstandenen Verfassung beruhen würden.«30

26 ÖStA, AVA, Unterr. Allg., Kt. 797, Zl. 27.070-I/1/33. 27 Ebd. 28 Schönbauer 1933. 29 Universitätsarchiv Wien (UAW), Akademischer Senat G.Z. 187 ex 1933/34, 2a. Eine Kopie der Archivalie befindet sich auch im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) 20.369/8  ; vgl. auch Höflechner 1988, 482–484. 30 Bundesarchiv (Berlin-Lichterfelde), R/4901/24.649, fol. 2.986.

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In der Zwischenzeit wurden im Unterrichtsministerium eifrig Listen mit Namen von Hochschullehrern erstellt, die bereits das 65. Lebensjahr vollendet hatten oder es demnächst vollenden würden. Unter dem Deckmantel der Sparmaßnahmen war man bemüht, Professoren, die in das politische und gesellschaftliche Weltbild des Austrofaschismus nicht passten, von den Universitäten zu entfernen. Die autoritäre Regierung hatte jedenfalls vom Fall Gleispach gelernt und führte in den folgenden Monaten Bestimmungen ein, die es generell erleichterten, Hochschullehrer aus dem Dienst zu entfernen. Ende September 1933 wurde eine Regierungsverordnung betreffend Maßnahmen an Hochschulen erlassen.31 Sie ermächtigte den Unterrichtsminister zur Änderung der Organisationsstruktur, zu weitreichenden Personalmaßnahmen – von zeitlicher Beurlaubung bis zu Versetzungen  – und zur Erlassung von Prüfungsvorschriften. Diese Vorschriften richteten sich in erster Linie gegen die Hochschule für Bodenkultur und ihre Lehrenden, doch waren sie weit genug gefasst, dass sie auch Maßnahmen gegen Lehrende anderer Hochschulen legitimierten, allerdings mussten diese in (irgendeinem) Zusammenhang mit der Hochschule für Bodenkultur stehen. Am gleichen Tag erging eine Regierungsverordnung, die den zuständigen Bundesminister (in der Regel den Unterrichtsminister) ermächtigte, die Lehrverpflichtungen der Hochschulprofessoren neu festzusetzen bzw. abzuändern. Lagen »wichtige Gründe« vor, konnte sich der Bundesminister über etwaige früher getroffene Vereinbarungen hinwegsetzen.32 Dadurch wollte die Bundesregierung die »überflüssige« Doppelbesetzung »gewisser Lehrkanzeln« beseitigen.33 Der Ausdruck »abändern« wurde bewusst gewählt, da er weitgehend war und auch die Aufhebung der bestehenden Lehrverpflichtung ohne Zuteilung einer neuen umfasste.34 Eine Möglichkeit, unter dem Vorwand von Sparmaßnahmen Bundesangestellte gegen Wartegeld zu beurlauben, bot das bereits erwähnte Beurlaubungsgesetz aus 1932, das jedoch bislang nicht auf Hochschullehrer anwendbar war. Mithilfe einer Regierungsverordnung wurde dieser Umstand im Dezember 1933 geändert,35 zusätzlich verlängerte man das ursprünglich bis 1933 befristete Gesetz um ein weiteres Jahr. Die Verordnung ermöglichte die Beurlaubung von Hochschullehrern, die bereits mindestens 20 Dienstjahre aufwiesen, wofür ein Gutachten einer eigens geschaffenen außerordentlichen Personalkommission erforderlich war. Eine eigene Kommis31 BGBl. 445/1933. 32 BGBl. 444/1933. 33 Dorner-Brader 1984, 421. 34 Ebd., 422. 35 BGBl. 556/1933.

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sion wurde für Hochschullehrer eingerichtet, der seitens der Hochschulen Gustav Walker und Richard Meister angehörten.36 Meister war inneruniversitär bestens vernetzt und ein »katholischer Deutschnationaler, Antisemit und Antisozialist«.37 Da die Bestellung der Mitglieder dieser Kommission durch den zuständigen Bundesminister im Einvernehmen mit dem Bundeskanzler erfolgte, war sichergestellt, dass lediglich »staatstreue« Personen diese Funktion ausübten. Erfolgte eine Beurlaubung, so musste sie nicht eigens begründet werden, da es sich formell um Einsparungsmaßnahmen handelte. Das bezogene Wartegeld orientierte sich am Ruhegenuss, war also um einiges geringer als das Gehalt eines aktiven Hochschulprofessors. Ferner unterlag es, wie die Gehälter und Pensionen, der Kürzung durch das Budgetsanierungsgesetz. Eine spätestens Anfang 1934 erstellte Liste verzeichnete alle Professoren, die für die Pensionierung bzw. die Beurlaubung mit Wartegeld in Betracht kamen. Die meisten Personen wurden mit einem Vermerk »zu halten«, »pensionieren« oder Beurlaubung gegen Wartegeld versehen.38 Insgesamt umfasste die Liste für die Universität Wien 37 Namen. Demnach waren »zu halten« an der theologischen Fakultät Josef Lehner (65 Jahre)39, an der rechts- und staatswissenschaftlichen Gustav Walker (65), an der medizinischen Fakultät Alfred Fischel (65), Otto Fürth (66), Rudolf Maresch (65) und Roland Grassberger (66), an der philosophischen Fakultät Wilhelm Wirtinger (68), Adolf Franke (59), Franz E. Suess (66), Alfons Dopsch (65), Julius Schlosser (67), Ludwig Radermacher (66), Karl Luick (68) und Paul Kretschmer (67). Pensioniert werden sollten von der theologischen Fakultät Konstantin Hohenlohe (69), von der medizinischen Max Neuburger (65), Julius Tandler (64) und Emil Raimann (61) und von der philosophischen Fakultät Gustav Jäger (68), Carl Patsch (68), Rudolf Much (71) und Max Jellinek (65). Auf der Abschussliste stand auch Alexander HoldFerneck (58) mit der Bemerkung, dass er zu pensionieren sei, sobald der Verwaltungsgerichtshof über die Angelegenheit Gleispach entschieden habe. Da Hold-Ferneck wie auch Gleispach das Pensionsalter noch nicht erreicht hatte und somit die Fälle ähnlich gelagert waren, wollte man offenbar den Abschluss des Beschwerdeverfahrens von Gleispach vor der Setzung weiterer Schritte gegen Hold-Ferneck abwarten. Inwiefern die Verzögerungen im Gerichtsverfahren und die Zurückziehung der Beschwerde sich auf das Verbleiben Hold-Fernecks auswirkten ist schwer zu beurteilen, Fakt ist, dass er bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand Ende 1945 durchgehend an der Universität Wien lehrte und für das Studienjahr 1934/35 die Rektorswürde 36 ÖStA, AVA, Unterr. Allg., Kt. 797, GZ 23.423-I/1/34. 37 Taschwer 2015a. 38 ÖStA, AVA, Unterr. Allg., Kt. 797, GZ 3.680-I/34. 39 Die Altersangaben sind mit Stichtag 1.1.1934 berechnet.

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inne hatte.40 Konkret wurde bereits die Beurlaubung gegen Wartegeld an der medizinischen Fakultät für folgende Personen geplant  : Michael Eisler-Terramare (56), Alfred Fröhlich (62) und Erich Knaffl-Lenz (53) und an der philosophischen Fakultät  : Jakob Pollak (61), Heinrich Joseph (58), Viktor Bibl (63) und Robert Arnold (61). Weiters wurden ohne fixes Datum an der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät in Betracht gezogen  : Karl Gottfried Hugelmann (54, über 27 Dienstjahre), Stefan Brassloff (58, über 15 Dienstjahre), Emil Goldmann (61, über 17 Dienstjahre) sowie an der philosophischen Fakultät Heinrich Gomperz (60) und Alfred Wurzbach (54). Nachträglich gestrichen wurden von der Liste Wolfgang Pauli (64), der den Vermerk »zu halten« hatte, und Hans Przibram (59), der in die Gruppe der eventuellen Beurlaubungen fiel. Auffallend ist, dass viele dieser 37 Personen entweder Juden41 oder Nationalsozialisten42 waren bzw. als solche angesehen wurden. Zu der ersten Gruppe gehörten Fischel, Fürth, Neuburger, Tandler, Jellinek, Eisler-Terramare, Fröhlich, Pollak, Joseph, Arnold, Brassloff, Goldmann, Gomperz, Pauli, Wurzbach und Przibram. Zu der zweiten Gruppe zählten Dopsch, Luick, Raimann, Patsch, Much, Hold-Ferneck, Bibl und Hugelmann. Von den 37 aufgelisteten Personen wurden im Austrofaschismus 25 von der Universität entfernt, ein weiterer starb. Von den elf Verbliebenen waren sechs Juden im Sinne der Nürnberger Rassegesetze, was darauf hindeutet, dass Antisemitismus zumindest kein primär ausschlaggebender Grund für diese Abbaumaßnahmen war. Oftmals richteten sich die austrofaschistischen Maßnahmen freilich gegen jüdische Sozialdemokraten, wobei in diesen Fällen die Angriffe in erster Linie politisch ausgerichtet waren. Als Beispiele seien hier Julius Tandler,43 der in den Ruhestand versetzt wurde, aber auch Max Adler und Walter Schiff, gegen die Disziplinaruntersuchungen geführt wurden, genannt. Auch ist es kein Zufall, dass die Einsparungsmaßnahmen insbesondere auch politische Gegner aus nationalsozialistischen Kreisen trafen, so z. B. Hans Frisch, Professor an der Technischen Hochschule, und Viktor Bibl von der Universität Wien.

40 Vgl. zu ihm Staudigl-Ciechowicz 2014d, 526–533  ; Busch/Staudigl-Ciechowicz 2009, 117– 121. 41 Da hier entscheidend die Außensicht war, wurden bei der Einordnung insbesondere die »Gelben Listen« berücksichtigt, vgl. z. B. Wienbibliothek, Tagblattarchiv, Sachmappe TS1260. Zu den »Gelben Listen« vgl. Siegert 1981. 42 Dabei wurde nicht das formelle Kriterium der Parteizugehörigkeit herangezogen, sondern insbesondere die Mitgliedschaften in ideologisch entsprechenden Netzwerken, so dem »Deutschen Klub«, der »Bärenhöhle« u. dgl. 43 Vgl. Nemec/Taschwer 2013, 169.

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Diese Lösungen waren jedoch auf lange Sicht für die autoritäre Regierung nicht befriedigend. Kurz nach der Ermordung von Engelbert Dollfuß im Sommer 1934 wurde die Einführung neuer Maßnahmen erörtert. Bei den Ministerratsverhandlungen zum Entwurf eines neuen Maßnahmengesetzes meinte Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, es »sei ein offenes Geheimnis, daß es immer Professoren gegeben habe, die ihre Vorlesungen dazu benützt hätten, um politische Demonstrationen anzuknüpfen. Diese Lehrkräfte zu entfernen, habe die Unterrichtsverwaltung bisher nicht die gesetzliche Handhabe« gehabt.44 Des Weiteren müssten »einzelne Lehrkräfte tatsächlich ausgeschieden werden […], um den Ernst der Situation klar zu machen und zu zeigen, daß die Regierung gewillt ist, eine Sonderpolitik auf den Hochschulen nicht mehr zu dulden.«45 Das Maßnahmengesetz aus 1934 gab dem Unterrichtsminister dann tatsächlich weitreichende Ermächtigungen.46 Es sah Bestimmungen für alle Hochschulen vor, behandelte aber wiederum gesondert die Hochschule für Bodenkultur. Nationalsozialistische Vorfälle unter den Studierenden und Lehrenden dieser Hochschule veranlassten die Bundesregierung zur Einführung besonders rigoroser Maßnahmen. Demnach mussten alle vor Inkrafttreten des Gesetzes ernannten Professoren und habilitierten Privatdozenten der Hochschule für Bodenkultur vom Unterrichtsminister bestätigt werden, um weiter an der Hochschule verbleiben zu können. In der Ministerratssitzung vom 3. August 1934 bemerkte Bundeskanzler Schuschnigg zwar, dass es »sich um eine sehr weitgehende Maßnahme« handle, rechtfertigte dies jedoch damit, »daß bei der bezeichneten Hochschule eine Säuberungsaktion unbedingt notwendig sei. Im Institut seien zwei Sprengattentate verübt worden  ; dies wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht verschiedene Professoren und Assistenten direkt oder indirekt die Terroristen in Schutz genommen hätten.«47 Von 23 Professoren wurden sechs nicht bestätigt, ein Fünftel der Privatdozenten verlor die Lehrbefugnis.48 Für alle anderen Hochschulen sah das Maßnahmengesetz die Möglichkeit vor, Professoren in den zeitlichen Ruhestand zu versetzen und HochschulassistentInnen des Dienstes zu entheben. Dies wurde mit nicht näher definierten Einsparungs- und Reorganisationsmaßnahmen gerechtfertigt, einer konkreten Begründung bedurfte es nicht, was diese Bestimmung besonders gefährlich machte. Eine vorzeitige Pensionierung konnte auch verfügt werden, »wenn Ereignungen an einer Hochschule eine sol44 Enderle-Brucel 1988, 35. 45 Ebd. 46 BGBl. II 208/1934. 47 Enderle-Brucel 1988, 35. 48 Balas 1985, 15. Name und Geschlecht der betroffenen Personen gehen aus dem Beitrag nicht hervor.

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che Maßnahme aus staatlichen Rücksichten geboten erscheinen« ließen.49 In diesen Fällen war es der betroffenen Person gestattet, gegen die Maßnahme Einwendungen einzubringen. Was genau unter »staatliche Rücksichten« fallen konnte, wurde nicht erläutert, so dass diese Bestimmung durch ihre sehr vage Formulierung willkürliche Entscheidungen ermöglichte. Im Unterschied zu den bereits bestehenden Abbaumöglichkeiten ermächtigte das Maßnahmengesetz den zuständigen Bundesminister, Hochschulprofessoren eigenmächtig, ohne besonderes Verfahren in den zeitlichen Ruhestand zu versetzen, ohne dass ein bestimmtes Alter oder ausreichend Dienstjahre vorhanden waren. Somit hatte die Bundesregierung mit dem Maßnahmengesetz 1934 die Handhabe, jegliche unbequemen Hochschullehrer und HochschulassistentInnen von ihren Wirkungsstätten zu entfernen. Auf Grund des Maßnahmengesetzes und mit dem Hinweis auf Einsparungsmaßnahmen wurde etwa der Philosoph jüdischer Herkunft Heinrich Gomperz in den Ruhestand versetzt.50 Gomperz vermutete jedoch, dass wohl eher die Tatsache, dass er sich als Sozialdemokrat weigerte, der »Vaterländischen Front« beizutreten, für diesen Schritt ausschlaggebend war.51 Nach seiner Emigration erfuhr Gomperz, dass seine Zwangsemeritierung erfolgt war, um Dietrich von Hildebrand und dessen Weltanschauungslehre an der Universität Wien zu installieren.52 Auch im Bereich der PrivatdozentInnen wurden neue Bestimmungen eingeführt, die analog zu den Hochschulprofessoren den Abbau unliebsamer PrivatdozentInnen ermöglichten.53 Mit der Novellierung der Habilitationsnorm wurde der zuständige Minister ermächtigt, die Lehrbefugnis von PrivatdozentInnen aus Altersgründen bei Vollendung des 65. Lebensjahres oder aber bei Vorliegen von wichtigen Gründen des öffentlichen Wohles jederzeit aufzuheben. Weitere Gesetze folgten, die insbesondere die Disziplin unter den Studierenden zum Gegenstand hatten,54 und schließlich 1935 die Reste der Autonomie der Hochschulen noch weiter reduzierten.55 Durch die neuen Hochschulmaßnahmen hatte das Unterrichtsministerium nun verschiedene Instrumente, um die Universitäten zu kontrollieren. Gleiche Tendenzen zeigen sich auch im Disziplinarrecht der Bundeslehrer. Dem Akademischen Senat stand als oberster Behörde der Universität die Disziplinarge-

49 Art. III § 2 BGBl. II 208/1934. 50 ÖStA, AVA, Unterr. Allg., Kt. 797, GZ 35.173-I/34. 51 Feichtinger 2001, 146f. 52 Ebd., 147. 53 BGBl. II 34/1934  ; Näheres vgl. Staudigl-Ciechowicz 2017, 318–320. 54 BGBl. II 232/1934. 55 BGBl. 266/1935.

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richtsbarkeit über alle Angehörigen der Universität zu.56 An der Universität Wien war eine eigene Disziplinarkammer eingerichtet, die das Disziplinarverfahren durchführte und dem Akademischen Senat den Urteilsvorschlag vorlegte.57 Ein Disziplinaranwalt vertrat »das Interesse der Universität daran, daß die Professoren und Privatdozenten ihre Pflichten gewissenhaft erfüllen und das Ansehen ihres Standes wahren.«58 Als Höchststrafe konnte der Akademische Senat die Entlassung eines Professors verfügen. Erstmals wurde nun Ende Oktober 1934 ein eigenes Disziplinargesetz für die Hochschullehrer erlassen.59 Dieses ersetzte die universitären Disziplinarvorschriften der einzelnen Universitäten. Unter dem Vorwand der Modernisierung und Vereinheitlichung des Disziplinarrechtes übertrug die Bundesregierung dem Unterrichtsminister weitgehende Durchgriffsmöglichkeiten. So sicherte er sich ein direktes Weisungsrecht auf den Disziplinaranwalt, wodurch vermieden werden sollte, »daß etwa ein in falsch verstandener Kollegialität ergangenes zu mildes Urteil unangefochten bleibt oder eine Anzeige unterlassen wird«, wie Staatssekretär Pernter erläuterte.60 Von Jänner 1933 bis März 1938 wurden an der Universität Wien 33 Disziplinarfälle betreffend Hochschullehrer und Assistenten untersucht,61 wobei im Vergleich zur vorangegangenen Periode ein leichter Anstieg bei den Disziplinaranzeigen zu verzeichnen ist. Die meisten Disziplinaranzeigen endeten freilich mit einer Zurücklegung,62 da die Disziplinarkammer keinen Grund für die Einleitung eines Verfahrens sah bzw. die betreffende Person aus dem Verband der Universität ausschied und somit nicht mehr der Disziplinargerichtsbarkeit unterlag. In 13 Fällen wurde nach der Voruntersuchung ein Disziplinarverfahren eingeleitet, davon endeten zwei mit

56 § 19 RGBl. 63/1873 idF BGBl. 546/1922. 57 Zum Disziplinarrecht der Universität Wien vgl. Staudigl-Ciechowicz 2016  ; Staudigl-Ciechowicz 2017, 351–455. 58 § 16 Disziplinarordnung für Lehrpersonen der Wiener Universität 1929. 59 BGBl. II 334/1934. 60 Enderle-Burcel 1988, 534. 61 Die Berechnung basiert auf der Zahl der Personen, gegen die (zumindest) eine Voruntersuchung eingeleitet wurde, fanden gegen die gleiche Person zwei Untersuchungen im betreffenden Zeitraum statt, flossen beide Untersuchungen in die Berechnung. Die Anzahl der Verfahren als solcher ist geringer, da unter Umständen für mehrere Personen bei sachlichem Zusammenhang ein einziges Verfahren durchgeführt wurde. Zusätzlich gab es eine Untersuchung gegen unbekannte Täter. Zu den einzelnen Fällen vgl. ausführlich Staudigl-Ciechowicz 2017, wobei dort für die Berechnung der »austrofaschistischen« Fälle der Zeitraum ab Sommer 1933 herangezogen wurde  ; für die rechts- und staatswissenschaftliche Fakultät vgl. Staudigl-Ciechowicz 2014b. 62 Eine Auflistung findet sich bei Staudigl-Ciechowicz 2017, 842–848. Allerdings wurde bei der Disziplinarangelegenheit gegen Karl G. Hugelmann irrtümlich statt »Zurücklegung« »Einstellung« als Ausgang angegeben.

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einer Verurteilung als Dienstvergehen,63 und zwei wurden mit der Ordnungsstrafe der Verwarnung gemaßregelt.64 Unter den Disziplinarverfahren finden sich etliche politisch motivierte Untersuchungen unter anderem gegen Sozialdemokraten jüdischer Herkunft.65 Als Beispiele mögen hier die Disziplinaranzeigen gegen Walter Schiff und Max Adler dienen. Walter Schiff lehrte als Privatdozent mit dem Titel eines ordentlichen Professors an der Wiener rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät Politische Ökonomie und Statistik.66 Im April 1933 wurde gegen ihn vom ordentlichen Professor Felix Ehrenhaft eine Anzeige erstattet. Schiff wurde beschuldigt, »dass er einen gedruckten Aufruf für den Weltfrieden eigenmächtig in einen sowjetfreundlichen abgeändert habe«. Ehrenhaft warf Schiff vor, ihm den »Aufruf des ›Österreichischen Komitees gegen den drohenden Krieg‹ zur Unterfertigung vorgelegt zu haben, aus der Tagespresse erfuhr er dann, dass der Aufruf »eine Stellungnahme für den russischen Bolschewismus enthalte«. Da im Verlaufe der Voruntersuchung »weder der Tatbestand, noch die eventuelle Verschuldensfrage […] soweit geklärt werden konnte, um eine Weiterführung des Disziplinarverfahrens zu ermöglichen«,67 beschloss die Disziplinarkammer in der Sitzung vom 24. Mai 1934, die Anzeige zurückzulegen.68 Bereits im März 1934 hatte die Disziplinarkommission beim Unterrichtsministerium angefragt, ob gegen Schiff anlässlich des Februaraufstandes polizeiliche oder gerichtliche Untersuchungen geführt würden. Eine Mitteilung der Bundespolizeidirektion äußerte sich diesbezüglich verneinend, bemerkte jedoch gleichzeitig, dass Schiff »auch dermalen noch als radikaler Sozialdemokrat gilt«.69 Nach der Zurücklegung der Disziplinaranzeige informierte der Vorsitzende der Disziplinarkommission Walker das Unterrichtsministerium und wies explizit darauf hin, dass Schiff als Vizepräsident der staatswissenschaftlichen Staatsprüfungskommission nach wie vor tätig sei.70 Dies war aus Sicht des Unterrichtsministeriums jedoch nicht weiter problematisch, da »unabhängig von vorliegender Angelegenheit ohnehin in Aussicht genommen [war], die Lehrbefugnis Prof. Dr. Schiffs mit Rücksicht darauf, dass er bereits sein 65. Lebensjahr vollendet hat, nach Massgabe der novellierten Habilitationsnorm für erloschen zu erklären«71 63 Dabei handelt es sich um Josef K. Friedjung und Paul Krüger. 64 Carl Löwy und Kasimir Graff. 65 Vgl. auch Eichberger 2013  ; Staudigl-Ciechowicz 2017, 439–442. 66 Vgl. zu ihm Ehs 2014b, 618–620. 67 ÖStA, AVA, Unterr. Allg., Kt. 797, GZ 17.510-I/1/34. 68 UAW, Akademischer Senat Sonderreihe, S. 185.529, 37. 69 ÖStA, AVA, Unterr. Allg., Kt. 797, GZ 15.331-I/1/34. 70 UAW, Akademischer Senat Sonderreihe, S. 185.529, 38. 71 ÖStA, AVA, Unterr. Allg., Kt. 797, GZ 17.510-I/1/34.

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und Schiff von seinen Funktionen zu entheben. Weshalb die neue Bestimmung der Habilitationsnorm letztendlich gegen Schiff doch nicht angewendet wurde, lässt sich aus den Akten nicht erschließen. Die Idee zur Überprüfung des Engagements Schiffs beim Februaraufstand dürfte der Disziplinarkommission beim Fall Adler gekommen sein. Im März 1934 wurde der Akademische Senat vom Unterrichtsminister Schuschnigg »angewiesen«, eine Disziplinaruntersuchung gegen Max Adler durchzuführen.72 Adler hatte bereits mit antisemitischen und antisozialistischen Seilschaften in den 1920er Jahren zu kämpfen gehabt, als diese seine Berufung auf eine Professur verhinderten.73 Nun lehrte er als Privatdozent an der rechtswissenschaftlichen Fakultät.74 Ohne weitere Voruntersuchungen wurde Adler suspendiert und gegen ihn ein Disziplinarverfahren eingeleitet. Begründet wurde die Disziplinaranzeige mit der Verhaftung Adlers im Zusammenhang mit dem Februaraufstand 1934. Eine Anfrage bei der Bundespolizeidirektion ergab, dass gegen Adler keine Verdachtsmomente vorlagen und die Verhaftung auf seiner Stellung als »prominenter Sozialist« gründete.75 Da sich dadurch eine weitere Disziplinaruntersuchung erübrigte, beantragte der Disziplinaranwalt Ernst Schönbauer »die Zurücklegung der Anzeige und die Zurücknahme der Einstellung der Lehrbefugnis«.76 Seitens des Mitgliedes der Disziplinarkammer Robert Bartsch kam der Vorschlag, weitere »Verfehlungen« Adlers durch die Auswertung seiner »in letzter Zeit publizierten Arbeiten und sein[es] sonstige[n] Verhalten[s] auf Parteiversammlungen auf Grund von Zeitungsberichten« aufzudecken.77 Diese Idee dürfte akkordiert mit dem Unterrichtsministerium gewesen sein, denn die Erwähnung der Überprüfung von Adlers publizistischer Tätigkeit findet sich in einer Notiz des Unterrichtsministeriums vom März 1934.78 Diese Vorgehensweise lehnte der Disziplinaranwalt Ernst Schönbauer jedoch mit dem Hinweis ab, dass der Disziplinarausschuss nicht die Aufgabe eines »politischen Zensors« zu erfüllen habe.79 Die Einstellung der Disziplinaruntersuchung wollte die Disziplinarkammer von der Stellungnahme des Unterrichtsministers abhängig machen, die Einstellung der Lehrbefugnis wurde hingegen im Mai 1934 aufgehoben. Die Stellungnahme des Unterrichtsministers erfolgte erst Anfang März 1935. 72 Ebd. 73 Siegert 1971. 74 Vgl. zu ihm Ehs 2014a, 602–604  ; Staudigl-Ciechowicz 2017, 559f. m.w.N. 75 UAW, Akademischer Senat Sonderreihe, S.185.645, 9. 76 Ebd., 20. 77 Ebd. 78 ÖStA, AVA, Unterr. Allg., Kt. 797, GZ 8.597-I/1/34. 79 UAW, Akademischer Senat Sonderreihe, S. 185.645, 20.

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Kamila Staudigl-Ciechowicz

Zwar waren dem Unterrichtsministerium keine weiteren Verdachtsmomente in Bezug auf das erste Disziplinarverfahren Adlers bekannt, jedoch wurde der Auftrag erteilt, gegen Adler »aus einem anderen Anlasse eine Disziplinaranzeige zu erstatten«.80 Da mittlerweile das austrofaschistische Disziplinargesetz in Kraft war, unterstand der neue Disziplinaranwalt Ludwig Adamovich sen. den Weisungen des Unterrichtsministers. Eine von Pernter an den Disziplinaranwalt im Februar 1935 ergangene Weisung stellte klar, dass bei der »Stellung des Strafantrages auf die Entziehung der Lehrbefugnis anzutragen« sei und Adamovich »im Falle einer milderen Bestrafung jedoch die Berufung wegen des Strafausmasses zu ergreifen« habe.81 Auf diese Weise wollte die Bundesregierung Adler »elegant« loswerden. Überlegungen zur Widerrufung seiner Lehrbefugnis aus Gründen des öffentlichen Wohles wurden wegen der Befürchtung, dass diese Maßnahme vor dem Bundesgerichtshof nicht standhalten würde, verworfen.82 Als Grund für die neue Disziplinaranzeige diente folgender Vorfall  : Adler wurde vorgeworfen, im Februar 1935 anlässlich der Geldsammlung für das Dollfuß-Denkmal gesagt zu haben, »daß er für alle etwas habe, aber für Dollfuß nicht«.83 Adler wurde abermals von der Lehrtätigkeit suspendiert und eine Voruntersuchung gegen ihn eingeleitet. Er wies die gemachten Vorwürfe freilich zurück und bemerkte  : »Abgesehen davon, dass mir niemand die Unklugheit einer solchen Aeuesserung direkt gegenüber Funktionären der vaterländischen Front zutrauen durfte, wäre mir ein solcher Vorfall bei der Seltenheit[,] mit der ich in den letzten Jahren in meiner Kanzlei tätig bin, unbedingt erinnerlich gewesen.«84 Weitere Voruntersuchungen bestätigten die Aussage Adlers, so dass schließlich beide Disziplinaranzeigen zurückgelegt wurden. Neben politisch motivierten Untersuchungen finden sich auch persönliche Auseinandersetzungen, Überprüfungen ärztlichen Fehlverhaltens, strafrechtliche Gerichtsverfahren, wie auch Selbstanzeigen als Ausgangspunkte für Disziplinarverfahren. Selbstanzeigen zielten in der Regel darauf ab, Gerüchten ein Ende zu machen, so beispielsweise wenn Plagiatsvorwürfe in der wissenschaftlichen Community erhoben wurden. In diesem Fall konnte die Disziplinaruntersuchung der Reinwaschung von den Gerüchten und Vorwürfen dienen.85 All diese Verfahren zeichnen ein lebhaftes Bild des universitären Lebens und geben Zeugnis über den akademischen Antisemitismus. 80 UAW, Akademischer Senat Sonderreihe, S. 185.903, 8. 81 ÖStA, AVA, Unterr. Allg., Kt. 798, GZ 4.646-I/1/35. 82 Vgl. dazu Staudigl-Ciechowicz 2017, 319f. m.w.N. 83 ÖStA, AVA, Unterr. Allg., Kt. 798, GZ 4.646-I/1/35. 84 UAW, Akademischer Senat Sonderreihe, 185.903, 7. 85 Vgl. Staudigl-Ciechowicz 2017, 0374–376.

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Als Beispiel für diesen soll die 1937 von Hermann Barrenscheen, ordentlicher Assistent und Privatdozent am Institut für medizinische Chemie, eingebrachte Anzeige gegen den außerordentlichen Assistenten und Privatdozenten Alfred Friedrich dienen. Barrenscheen begründete seine Disziplinaranzeige wie folgt  : »Herr Dozent Dr. Friedrich hat sich widerholt Kollegen gegenüber, auch in Gegenwart dritter Personen, dahin geäussert, ich sei Judenstämmling. […] Ich möchte vorweg betonen, dass es mir fern liegt, in dem Vorwurf jüdischer Abstammung an sich eine Beleidigung zu erblicken, wenn es auch feststeht, dass in der heutigen Zeit ein derartiger Vorwurf […] geeignet sein kann, das Fortkommen erheblich zu erschweren bezw. unmöglich zu machen.«86 Barrenscheen erblickte aber im Verhalten Friedrichs insofern ein Disziplinarvergehen, als dieser seit jeher wusste, dass Barrenscheen »Alter Herr« bei einer Burschenschaft war. Dass Friedrich ihn trotzdem »wiederholt als ›Judenstämmling‹ bezeichnet« hatte, sah Barrenscheen als schwere Kränkung seiner Ehre an.87 Da es im Herbst 1937 zu einer Einigung zwischen Friedrich und Barrenscheen kam, wurde die Disziplinaranzeige zurückgelegt. Trotzdem gibt sie einen guten Einblick in den notorischen Antisemitismus an den Universitäten. Anhand der vorgeführten Beispiele zeigt sich, dass die hochschulrechtlichen Bestimmungen im Austrofaschismus nicht inhärent antisemitisch waren, jedoch war der Antisemitismus nach wie vor ein alltäglicher Bestandteil des akademischen Lebens. Dass es vergleichbar wenige Beispiele antisemitischer Maßnahmen gegen Professoren in diesem Zeitraum gibt, resultiert aus dem bereits davor herrschenden antisemitischen Klima an den Universitäten. Denn nur den wenigsten Wissenschaftlern jüdischer Herkunft war es vergönnt, eine Professur zu erreichen. Die Frage, inwiefern antisemitische Motive hinter den im Austrofaschismus getätigten Maßnahmen lagen, kann freilich nicht abschließend beantwortet werden. Fest steht jedoch, dass bereits vor 1933/1934 viele jüdische oder als jüdisch angesehene Wissenschafterinnen und Wissenschafter die österreichischen Universitäten verließen, da sie angesichts von deren Personalpolitik keine Karrieremöglichkeit sahen bzw. von antisemitischen Cliquen regelrecht systematisch verdrängt wurden. In der austrofaschistischen Hochschulgesetzgebung sind allerdings die vagen Begriffe gepaart mit weiten Auslegungsspielräumen und mangelnden Begründungserfordernissen als roter Faden festzumachen. Darüber hinaus war die austrofaschistische Bundesregierung in ihrer Personalpolitik stets bemüht, die »Säuberungen« als »Abbaumaßnahmen« – unabhängig von deren wahrer Motivation – möglichst unter dem Deckmantel der Einsparung durchzuführen. 86 UAW, Akademischer Senat Sonderreihe, S. 185.1113, 1. 87 Ebd.

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Lohnend wäre eine vertiefte Untersuchung hinsichtlich der an diesen Maßnahmen beteiligten universitären Akteure. Insbesondere die politischen und gesellschaftlichen Netzwerke von Meister und Walker könnten bei der Suche nach den Motiven für die Personalentscheidungen an den Hochschulen Aufschluss geben. Während Meister rezent durchaus im Fokus der Forschung stand,88 fehlen entsprechende Untersuchungen zu Walker, während die Relevanz Walkers für die wissenschaftliche Entwicklung der Wiener rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät jüngst erforscht wurde.89 Es bleibt zu hoffen, dass gezielte Untersuchungen zu seinem politischen Engagement folgen werden.

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Rechtlicher Rahmen für die Universitäts-Personalpolitik 1933 bis 1938

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»Eine wirklich befriedigende Lösung der Judenfrage  !« Antisemitische Personalpolitik an der Universität Wien vor und nach 1933 Ein literarisches Zeugnis zur Einleitung Der universitäre Antisemitismus während des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes ist auch in die österreichische Literaturgeschichte eingegangen  : in Gestalt von Franz Werfels Novelle »Eine blaßblaue Frauenschrift« (1941), die Axel Corti 1984 für einen kongenialen Fernseh-Zweiteiler adaptierte. Diese beeindruckende Großerzählung spielt im Oktober 1936 und berichtet von einigen aufwühlenden Tagen im Leben von Leonidas Tachezy, eines erfolgreichen Aufsteigers, der es bis zum Sektionschef im Unterrichtsministerium am Wiener Minoritenplatz gebracht hat. An seinem 50. Geburtstag wird Tachezy durch ein in blassblauer Frauenschrift verfasstes Gratulationsschreiben an seine lange zurückliegende Affäre mit der damaligen Philosophiestudentin Vera Wormser erinnert, deren Liebe er schmählich verraten hat. Dieses Abenteuer mit der jüdischen Frau droht ihn nun einzuholen  : Tachezy befürchtet aufgrund des Briefs, ein gemeinsames Kind mit Wormser zu haben. Die Nebenhandlung der Novelle, die eine Parabel auf Österreichs politischen Opportunismus ist,1 dreht sich um die Neubesetzung eines Ordinariats für Innere Medizin an der Universität Wien. Die Vertreter der Hochschule und des Ministeriums sind sich in ihren Absprachen am Minoritenplatz weitgehend einig, dass eine Berufung des (fiktiven) Herzspezialisten, Medizin-Nobelpreisträgers und achtfachen Ehrendoktors Alexander Bloch trotz dessen überragender Qualifikationen verhindert werden muss, da er jüdischer Herkunft ist. Unter dem Eindruck des Briefs und wegen seines schlechten Gewissens gegenüber der Jüdin Wormser setzt sich Tachezy zur Überraschung aller Beteiligten plötzlich für Bloch ein, als er in einer Sitzung meint  : »Früher war er zu jung für ein Ordinariat. Jetzt ist er zu alt. Und zwischendurch hatte er das Pech, Abraham [sic  !] Bloch zu heißen.«2 Sein Eintreten für Bloch bleibt

1 Für politische Ausdeutungen der Novelle vgl. u. a. Heer 1977 und Pape 2004. 2 Werfel 2011, 82. Mit »Abraham« spielt Werfel auf die jüdische Herkunft Blochs an.

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erfolglos, der Lehrstuhl für Innere Medizin soll an die »triumphierende Mediokrität«3 gehen, einen Mediziner namens Lichtl. Der war »bisher nur in der Provinz tätig, seine Publikationen sind nicht sehr zahlreich, man weiß nicht viel von ihm«, weshalb der Minister seine Berater sarkastisch fragt  : »Habt ihr kein größeres Kirchenlichtl auf Lager als diesen Lichtl  ?«4 Lichtl erhält – auch weil Tachezy seine Unterstützung für Bloch aufgibt – dennoch die Professur, Bloch hingegen wird am Ende der Novelle emeritiert und mit dem »großen goldenen Ehrenkreuz für Kunst und Wissenschaft« sowie dem Titel eines Hofrats abgespeist. Werfels Novelle ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern Belletristik, und einige der handelnden Personen  – wie vor allem Bloch  – sind Erfindungen. Dennoch ist der fiktionale Text für die universitätsgeschichtliche Forschung zum Thema Antisemitismus vor 1938 und auch für den folgenden Beitrag von hoher Relevanz. Vermutlich wegen der engen Bekanntschaft seiner Frau Alma Mahler-Werfel mit Kurt Schuschnigg hatte Franz Werfel gute Einblicke in die Diskussionen der austrofaschistischen Bürokratie. Entsprechend liefert »Die blaßblaue Frauenschrift« eine Art »dichte Beschreibung« (Clifford Geertz) der für die Zeitgeschichteforschung nur schwer rekonstruierbaren Verhandlungen zwischen der Universität Wien und dem Ministerium. Dass sich dieser »Historiker der Innenräume« – so Friedrich Heer über Franz Werfel – dabei auf reale Vorgänge bezog, zeigt sich auch daran, dass einige Figuren in der Novelle Entsprechungen in der Wirklichkeit hatten  : So etwa ist der Professor Schummerer dem »echten« Oswald Menghin nachempfunden, einem antisemitischen und national-katholischen Urgeschichte-Ordinarius, der im Studienjahr 1935/36 zudem Rektor der Universität Wien war. Und der mediokre Mediziner Lichtl, der statt Bloch berufen wurde, dürfte in Gustav Sauser sein reales Pendant gehabt haben. Sauser übernahm im Jahr 1936 die Anatomie-Professur des 1934 aus politischen Gründen pensionierten Julius Tandler, der ebenfalls ein Bekannter Alma Mahler-Werfels war. Die Novelle legt zudem nahe, dass der verantwortliche Unterrichtsminister – im Oktober 1936 war das Hans Pernter – in seiner Entscheidung nicht vordergründig von Antisemitismus geleitet war. Dieser kam in Werfels Darstellung eher von den Ministerialbeamten und vor allem seitens der Universität selbst. Tatsächlich drängt sich bei einem Überblick über den Antisemitismus an der Universität Wien in der Zwischenkriegszeit und nicht zuletzt für die Jahre von 1933 und 1938 der Eindruck auf, dass es vergleichsweise weniger die Politik und das Regime waren, die eine antise-

3 Ebd., 148. 4 Ebd., 79f.

Antisemitische Personalpolitik an der Universität Wien vor und nach 1933

mitische Politik forcierten,5 als die Universität selbst und deren Funktionärselite, die mehrheitlich deutsch- und katholisch-national geprägt war. Schließlich weist Werfels Text darauf hin, dass im Herbst 1936 – anders noch als in der Zeit vor dem Juliabkommen 1936 – auch außenpolitische Erwägungen beim Umgang mit jüdischen Lehrenden an der Universität eine Rolle spielten. Dass Bloch die Professur nicht erhielt, wurde in den Sitzungen letztlich damit begründet, dass seine Berufung »ein Faustschlag ins Gesicht« des großen Nachbarn wäre, der »die Hochschulen radikal von allen artfremden Elementen gesäubert hat«.6 Schließlich wollte man mit Blick auf Deutschland und »um unsere Unabhängigkeit zu verteidigen, diesen Leuten den Wind aus den Segeln nehmen«.7 Werfels Novelle zeigt damit, wie stark der Antisemitismus im Austrofaschismus von der wechselnden Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus abhing  : Auf eine Phase der Abgrenzung bis zum Juliabkommen 1936 folgte ein prekäres Arrangement mit NS-Deutschland, das entsprechende innenpolitische Folgen hatte und sich auch auf die Universitätspolitik auswirkte.

Rekapitulation  : Universitärer Antisemitismus 1918 bis 1933 Wie in anderen Beiträgen dieses Sammelbandes ausgeführt, waren die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg an der Universität Wien auf allen Ebenen von einer Art »anschwellendem Antisemitismus« gekennzeichnet.8 Widerstand gegen Studierende und Lehrende jüdischer Herkunft war dabei kein ganz neues Phänomen  : Spätestens seit den antisemitischen Bemerkungen des berühmten Chirurgen Theodor Billroth im Jahr 1875, der dafür Unterstützung aus dem deutschnationalen Lager erhielt, waren an der Universität Wien Übergriffe von Burschenschaftlern insbesondere auf jüdische Studierende regelmäßige Vorkommnisse auf akademischem Boden. Bei den Badeni-Unruhen 1897 und am Ende der Amtszeit von Karl Lueger, der 1907 als Wiener Bürgermeister eine christliche Heimholung der Hochschulen propagierte und Maßnahmen gegen die Berufung von jüdischen Professoren ergreifen wollte, erlebten diese antisemitisch motivierten Ausschreitungen erste Höhepunkte.9

5 Vgl. zum Antisemitismus des Regimes Königseder 2012. 6 Werfel 2011, 83. 7 Ebd. 8 Vgl. insbesondere die Beiträge von Tamara Ehs, Linda Erker, Johannes Koll und Klaus Taschwer. 9 Vgl. dazu die einschlägigen Beiträge in R athkolb 2013.

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Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der Habsburgermonarchie kam es zu einer weiteren Radikalisierung des Antisemitismus. Dessen vielleicht wichtigste Brutstätten wurden die Hochschulen des zum Kleinstaat geschrumpften Österreichs. Das lag indirekt auch daran, dass während und nach dem Ersten Weltkrieg Tausende jüdische Studierende aus den östlichen Kronländern zuwanderten und während des Ersten Weltkriegs für eine kurze Zeit sogar die Mehrheit der Inskribierten an der Universität Wien stellten.10 Dazu kam die politische und wirtschaftliche Krisensituation nach 1918, der erstarkende Deutschnationalismus und Widerstand gegen eine mögliche »bolschewistische« Wende.11 An der Universität Wien manifestierte sich der Antisemitismus auf der einen Seite ganz offen in Form von gewaltsamen Übergriffen insbesondere der deutschnationalen, ab Mitte der 1920er Jahre zunehmend von »hakenkreuzlerischen« Studenten gegen ihre linken KollegInnen und/oder KommilitonInnen jüdischer Herkunft. Diese Krawalle, die über die Jahre hinweg Dutzende Schwerverletzte forderten, trugen nicht wenig dazu bei, dass der Anteil von Studierenden jüdischer Konfession an der Universität Wien zwischen 1920 und 1933 von 42 Prozent auf 19 Prozent zurückging.12 Die Universitätsleitungen gingen nur in Ausnahmefällen – etwa während des Rektorats von Theodor Innitzer 1928/29 – gegen diese Gewaltexzesse vor.13 Auf der anderen Seite, also jener der Lehrenden, wurde ab etwa 1922 vor allem dank mehr oder weniger geheimer Absprachen unter Professoren an der Universität Wien eine antijüdische Personalpolitik vollstreckt. Möglich wurde das durch die Gründungen explizit antisemitischer Cliquen wie der »Fachgruppe Hochschullehrer« der »Deutschen Gemeinschaft«, die hochschulübergreifend agierte, des »Spann-Kreises« an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät oder der »Bärenhöhle« an der Philosophischen Fakultät. An den beiden zuletzt genannten Fakultäten gab es ab 1925 so gut wie keine Habilitationen oder Berufungen jüdischer und/oder linker WissenschaftlerInnen mehr. ForscherInnen wie die Physiker Karl Horovitz und Otto Halpern, die ZoologInnen Leonore Brecher und Paul Weiss oder der Philosoph Edgar Zilsel scheiterten bereits Mitte der 1920er Jahre bei ihren Bemühungen um die Erteilung der Lehrberechtigung aus vorgeschobenen Gründen, die mit der wissenschaftlichen Qualität wenig bis nichts zu tun hatten. Im besonders skandalösen

10 Vgl. den Beitrag von Linda Erker in diesem Band. 11 Für eine nach wie vor aktuelle, zeitgenössische Diskussion der Entstehungsbedingungen vgl. Coudenhove-K alergi 1929. 12 Vgl. den Beitrag von Linda Erker in diesem Band. 13 Vgl. Taschwer 2015, 133–136.

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Fall von Otto Halpern etwa war es der Verlust eines Institutsschlüssels als 21-Jähriger während des Studiums. Einige dieser Fälle wurden 1923 und 1924 auch in österreichischen Zeitungen breit thematisiert und führten sogar zu einer parlamentarischen Anfrage der SozialdemokratInnen. Linke Universitätslehrer wie Ludo Moritz Hartmann sahen in der Mobilisierung der Öffentlichkeit auch den einzigen Weg, gegen die von der konservativen Mehrheit der Professoren verantworteten Missbräuche der universitären Autonomie vorzugehen.14 Doch die Universität Wien wusste sich wiederum gegen diese Interventionen von außen zu schützen. Den Präzedenzfall dafür lieferte Mitte der 1920er Jahre der Urgeschichte-Dozent Josef Bayer, der Direktor der Prähistorischen, Anthropologischen und Ethnografischen Sammlungen des Naturhistorischen Museums war.15 Aufgrund einer Intervention durchwegs deutschnationaler Professoren der Universität Wien im Unterrichtsministerium im Juli 1924 sollte Bayer die Verantwortung über die Ethnografische Sammlung entzogen werden. Um sich gegen diesen Eingriff zu wehren, der vom Unterrichtsminister letztlich gutgeheißen wurde, verriet Bayer die Namen der gegen ihn intervenierenden, durchwegs deutschnationalen Wissenschaftler (unter anderem Othenio Abel, Viktor Christian, Ferdinand Hochstetter, Hermann Junker, Oswald Menghin, Rudolf Much und Richard Wettstein) an die Presse. Dort war dann prompt von »Hakenkreuzprofessoren«16 die Rede, von einer »Cliquenwirtschaft an der Wiener Universität«17 und von einer »Hakenkreuzhetze in der Wissenschaft«.18 Dieses öffentliche Vorgehen gegen politisch motivierte Eingriffe in die Wissenschaft unter dem Deckmantel der Autonomie ging im Fall von Bayer nach hinten los und kam diesen teuer zu stehen, denn prompt zeigten ihn die enttarnten Professoren an. Der Disziplinarausschuss der Universität Wien und in der Folge der Akademische Senat verurteilten Bayer im Juli 1925 wegen seines rufschädigenden Verhaltens zum lebenslangen Entzug der Lehrbefugnis. Das Ministerium bestätigte dieses harte Urteil zwar erst im August 1927 und in einer abgemilderten Version. Dennoch durfte Bayer aufgrund seiner »Denunziation« drei Jahre lang nicht mehr lehren. Dieser Präzedenzfall sowie die erfolglosen Einsprüche von Halpern und Horovitz gegen die Verweigerung der Venia legendi, die selbst wieder als Misstrauensbeweis gegenüber der Uni14 Vgl. Hartmann 1924. 15 Zum Fall Bayer vgl. Staudigl-Ciechowicz 2017, 763–770. Für die Originalquellen siehe Archiv der Universität Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe S 185, Kt. 288, Akt 321 (in Folge kurz  : UAW Akad. Senat S 185.321), GZ 256 ex 1924/25. 16 Der Abend, 26.7.1924 aus UAW Akad. Senat S 185.321. 17 Der Tag, 26.7.1924 aus UAW Akad. Senat S 185.321. 18 Neues 8 Uhr Blatt, 25.7.1924, 2.

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versität Wien ausgelegt wurden, schützten letztlich die universitäre Autonomie. Diese konnte in den folgenden Jahren für weitere Diskriminierungen missbraucht werden, ohne dass es dagegen noch öffentlichen Widerstand gegeben hätte. Etliche Opfer dieser antisemitischen Interventionen wie Halpern, Horovitz oder Weiss verließen schon in den 1920er Jahren das Land oder mussten sich außeruniversitäre Beschäftigung suchen wie etwa der bereits genannte Edgar Zilsel.19 Spätestens ab Ende der 1920er Jahre war für jüdische und linke NachwuchswissenschaftlerInnen klar, dass sie sich gar nicht erst um eine Habilitation zu bemühen brauchten, weil der Widerstand dagegen zu groß gewesen wäre. Wie verhielt sich die Politik – also konkret  : das Unterrichtsministerium – in dieser Situation  ? Im Wesentlichen blieb die universitäre Autonomie unangetastet, sprich  : Die Berufungsvorschläge der Universität wurden abgenickt, und bei den aus außerwissenschaftlichen Gründen gescheiterten Habilitationen gab es keinerlei Einsprüche. Im Fall von Otto Halpern etwa leitete das Ministerium den Rekurs an den Verwaltungsgerichtshof weiter, der das Verfahren nach über fünf Jahren im Sinne der Universität entschied. Auch im Fall der Übergriffe auf die Studierenden wurden von Seiten des Ministeriums zumindest bis Herbst 1932 keine nachhaltigen politischen Maßnahmen gesetzt, um dem antisemitischen Terror ein Ende zu bereiten. Über viele Jahre hinweg und insbesondere ab 1929 gab es sogar eine stillschweigende Unterstützung oder Verschärfung der antisemitischen Umtriebe, was an den jeweiligen Unterrichtsministern festzumachen ist  : Der christlichsoziale Politiker Emmerich Czermak, Minister von Mai bis September 1929 und von September 1930 bis Mai 1932 sowie Heinrich Srbik, Geschichte-Ordinarius an der Universität Wien und Unterrichtsminister von Oktober 1929 bis September 1930, gehörten nachweislich antisemitischen Geheimzirkeln an und waren federführend an einigen der besonders drastischen antisemitischen Interventionen beteiligt  : Czermak als Schriftführer der »Fachgruppe Hochschullehrer« der »Deutschen Gemeinschaft«, die unter anderem an der nachhaltigen Behinderung oder gar Zerstörung der Karrieren des genannten Josef Bayer, des Rechtswissenschaftlers Stephan Brassloff oder des Soziologen Max Adler beteiligt war. »Bärenhöhle«-Teilnehmer Srbik wiederum war unter anderem Wortführer bei der Verhinderung der Habilitation des Physikers Otto Halpern, und in seine Amtszeit als Minister fiel der Beschluss der antisemitischen Studentenordnung von Wenzel Gleispach, der zeitlich mit Srbiks ministeriellem Zwischenspiel Rektor der Universität Wien war. Resümieren wir die Zwischenkriegsjahre bis zum Studienjahr 1932/33, so wird offensichtlich, dass in der jungen demokratischen Republik Österreich die Autonomie 19 Vgl. den Beitrag von Tamara Ehs in diesem Band.

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der Universität Wien nicht zuletzt dazu missbraucht wurde, den jüdischen Anteil sowohl bei den Studierenden wie auch bei den Lehrenden zurückzudrängen. Die Einführung eines Numerus clausus oder anderer staatlich sanktionierter Maßnahmen, die dem Gleichheitsgrundsatz widersprochen hätten, hatte es dazu gar nicht erst gebraucht. Wie aber ging es dann unter der Kanzlerschaft von Engelbert Dollfuß und dem zunehmenden Verlust der universitären Autonomie weiter  ? Und wie wirkte sich die Verschiebung der Machtbalance zwischen Wissenschaft und Politik zugunsten der Politik – konkret  : in Richtung Regierung und Ministerium – auf den universitären Antisemitismus aus  ?

Weichenstellungen  : Das Studienjahr 1932/33 und die Innenpolitik Bevor wir diese Fragen beantworten, ist ein Blick auf das Studienjahr 1932/33 an der Universität Wien nötig, das von schweren wirtschaftlichen und innenpolitischen Krisen überschattet war. Zu letzteren trugen freilich auch einige Ereignisse an der Universität Wien bei. In den Monaten zuvor war Österreich in eine schwere Finanz- und Wirtschaftskrise geschlittert, nachdem die Creditanstalt im Mai 1931 ihre Zahlungsunfähigkeit angemeldet und die Bankenkrise auch auf die Realwirtschaft übergegriffen hatte. Im Mai 1932 übernahm Dollfuß die Regierungsgeschäfte und akzeptierte im Sommer die Auflagen der Völkerbund-Anleihe von 300 Millionen Schilling. Die harte Sparpolitik sah auch massive Kürzungen der Hochschulbudgets vor  : Im Herbst 1932 kündigte die Regierung die Streichung von 163 Professuren an, was in etwa einem Drittel der österreichischen Professorenstellen (von insgesamt 432) entsprach und damit zumindest auf dem Papier die radikalsten Kürzungen an den österreichischen Hochschulen im gesamten 20. Jahrhundert bedeutete.20 Unklar war zu diesem Zeitpunkt, ob, wie und wann diese Pläne umgesetzt werden sollten. Parallel dazu verschärfte sich die politische Lage an der Universität Wien. Rektor war im Studienjahr 1932/33 der Paläobiologe Othenio Abel, der wahrscheinlich einflussreichste antisemitische Professor an der Universität Wien in der Zwischenkriegszeit. Abel war Begründer der geheimen Professorenclique »Bärenhöhle«, sympathisierte offen mit dem Nationalsozialismus und trug dazu bei, dass ab dem Herbst 1932 die antisemitischen Übergriffe der nationalsozialistischen Studierenden auf jüdische HochschülerInnen neue Dimensionen der Gewalt annehmen konnten und Dutzende

20 Vgl. Höflechner 1988, 480 und dort auch Fußnote 56, freilich mit quellenfreiem Zahlenmaterial  ; zur Kritik der Sparmaßnahmen aus der Sicht der Universitäten vgl. Meister 1933.

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Verletzte forderten, darunter auch zahlreiche Studierende aus den USA.21 Die durch die Studierendenwahlen im Februar 1931 gestärkten NationalsozialistInnen, die an allen österreichischen Hochschulen die relative Mehrheit errungen hatten, dehnten ihre Attacken nach einem Bündnisbruch Anfang Dezember 1932 freilich auch auf ihre bisherigen Partner aus dem katholischen Lager aus. Das wiederum markierte den universitären Anfang vom innenpolitischen Ende der Bürgerblockregierungen der Zwischenkriegszeit, die das christlichsoziale und das deutschnationale Lager über Jahre geeint hatten. In den nächsten Wochen und Monate spitzen sich die Verhältnisse sowohl an der Universität Wien wie auch in der Innenpolitik zu  : Nach der Machtübernahme Hitlers in Deutschland am 30. Jänner 1933 fand am 2. Februar an der Universität Wien unter Beisein von Rektor Abel eine schlecht getarnte Siegesfeier der nationalsozialistischen Studierenden statt.22 Im März 1933 kam es zur Auflösung des Parlaments, Ende Mai eskalierten die Übergriffe an der Universität Wien endgültig, als die Regierung Dollfuß Stärke gegenüber dem an der Hochschule dominierenden Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) zeigen wollte. Dabei verhinderten nationalsozialistische Studierende gewaltsam die Teilnahme von Bundeskanzler Dollfuß und Unterrichtsminister Schuschnigg an einer Heldengedenkfeier vor dem »Siegfriedskopf« in der Aula der Universität. Gut drei Wochen später, am 19. Juni 1933, wurde die NSDAP verboten, was erneut zu Studentenunruhen führte. Daraufhin erteilte die Regierung der Polizei die Befugnis, ins Hochschulgebäude einzudringen. Damit setzte man sich zum ersten Mal seit langem über den gepflogenen Brauch der »räumlichen« Hochschulautonomie hinweg. Diese wurde Ende Juli 1933 endgültig aufgehoben, nachdem das Regime zum Unmut der Rektoren beschloss, ständige Hochschulwachen einzurichten.23 Diese Maßnahmen zeigten zunächst aber noch relativ wenig Wirkung  : Die Übergriffe gegen jüdische Studierende gingen auch noch im Herbst 1933 weiter, wenngleich auch etwas eingeschränkt. Dieser allmähliche Rückgang war aber zweifellos in erster Linie den Maßnahmen gegen die nationalsozialistischen Studierenden geschuldet. Mit anderen Worten  : Die Verbesserung der Situation für jüdische HochschülerInnen während der Kanzlerschaft von Dollfuß, der 1920 noch für einen Arier-Paragraphen beim Cartellverband (CV) und einen strengen Numerus clausus für jüdische Studierende an der Universität Wien eingetreten war,24 erweist sich bei genauerer 21 Vgl. Erker 2015. 22 Vgl. Der Wiener Tag, 3.2.1933 (Tagblattarchiv Mappe »Hochschulen«). 23 Vgl. Neue Freie Presse, 19.9.1933 (Tagblattarchiv Mappe »Hochschulen«). 24 Vgl. Taschwer 2015, 66 bzw. Reichspost, 24.9.1920 (Tagblattarchiv Mappe »Hochschulen«).

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Betrachtung als eine Begleiterscheinung der kurzfristigen ideologischen Distanzierungsversuche gegenüber den Nationalsozialisten und NS-Deutschland. Viele wichtige Wiener Intellektuelle in dieser Zeit machte der vergleichende Blick nach Deutschland sicher  : Dollfuß und seine Politik wurden als das geringere Übel wahrgenommen, und so wandte sich der aus Deutschland stammende Philosoph Moritz Schlick bereits am 1. Juni 1933 mit einer Unterstützungserklärung persönlich an Dollfuß.25 Etwas abgeklärter war Sigmund Freud, der am 20. Februar 1934 in einem Brief an seinen Sohn Ernst meinte, »vom heimischen Faschismus wollen wir uns einiges gefallen lassen, da er uns kaum so schlecht behandeln wird als sein deutscher Vetter. Schön wird er auch nicht sein.«26

Universitäre Personalpolitik nach 1933  : Einsparungen und »Säuberungen« Zwar gibt es neuerdings Ansätze, die Geschichte der Universitäten entlang einzelner politischer Umbruchsjahre – im Falles des Austrofaschismus  : 1934 – zu erzählen.27 Doch selbst für die kurzen fünf Jahre von 1933 bis 1938 ist gerade auch im Hinblick auf die Hochschulpolitik und die Auswirkungen des Regimes auf die Universität eine Binnendifferenzierung nötig, wie sie in den einschlägigen Monografien zum Austrofaschismus längst vorgeschlagen wurde.28 Auch für die Universität Wien lassen sich drei Abschnitte deutlich unterscheiden  : eine Konstituierungsphase, die von März 1933 bis Mai bzw. Juli 1934 reicht, eine zweite Phase der Konsolidierung bis Juli 1936 und eine dritte Phase des Niedergangs, die mit dem »Anschluss« im März 1938 endet. Diese drei Abschnitte unterscheiden sich jedenfalls hinsichtlich des Umgangs mit den NS-Sympathisanten in der Professorenschaft, die zugleich auch die rabiatesten Antisemiten waren. Das Verhältnis zu Lehrenden jüdischer Herkunft gestaltete sich dabei etwas komplizierter  : Für sie änderte sich durch die Maßregelungen der NS-Professoren wenig  ; denn parallel dazu waren es die als jüdisch geltenden Professoren, die von den staatlichen Einsparungsmaßnahmen überproportional stark betroffen waren und dann in der dritten Phase, also ab dem Juliabkommen 1936, frühe Opfer des sich längst abzeichnenden Nationalsozialismus wurden.

25 Vgl. Stadler 1982, 200f. 26 Freud 1968, 434. 27 Vgl. v. a. Ash 2015. 28 Vgl. etwa Tálos 2013.

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Die Veränderungen im Lehrkörper der Universität Wien zwischen 1933 und 1938 waren sehr viel tiefgreifender als lange gedacht. Weist das Personalstandsverzeichnis der Universität Wien mit Stichtag 1. November 1932 noch 107 besetzte Ordinariate und 74 Extraordinariate auf, also insgesamt 181 Professuren (nicht mitgezählt ist eine geringe Anzahl an Honorarprofessuren), so sinkt diese Zahl in den folgenden Jahren dramatisch ab  : Ein Jahr später sind es nur noch 162 Professuren (99 Ordinariate, 63 Extraordinariate), und mit Stichtag 1. Dezember 1934 geht diese Zahl auf 137 (87 Ordinariate, 50 Extraordinariate) zurück. Nachbesetzungen gab es nur in Ausnahmefällen. Für den 1. November 1937 weist das Personalverzeichnis 138 Professuren aus, davon 92 Ordinariate und 46 Extraordinariate. Vergleicht man die Anzahl der Professorenstellen Ende 1932 und Ende 1937, dann kommt man für die Zeit des Austrofaschismus auf einen Rückgang um fast ein Viertel, nämlich um 23,8 Prozent.29 Dieser Rückbau des Lehrkörpers der Universität Wien war zum einen schlichten Einsparungsmaßnahmen geschuldet, zum anderen wurden diese aber auch für einen politischen Umbau genützt. Zugleich – und das macht die Sache noch komplizierter – gelang es antisemitischen Professoren der Universität Wien allem Anschein nach, die ihnen verbliebene Mitsprachemöglichkeit für auffällig viele Entlassungen jüdischer KollegInnen zu nützen. Bereits Anfang 1933 hatte Richard Meister, der damalige Dekan der Philosophischen Fakultät und Mitglied der antisemitischen »Bärenhöhle«, bei der konkreten Durchführung der Einsparungen »eine dauernde Fühlungnahme« zwischen dem Ministerium und den akademischen Behörden eingefordert.30 Tatsächlich war es dieser langjährige einflussreiche Berater des Ministeriums, der gemeinsam mit dem Rechtswissenschaftler Gustav Walker die Universität bei der Erstellung der Listen beriet, die im Februar 1934 vorgelegt und die womöglich in ähnlicher Weise im Ministerium diskutiert wurden, wie in der »blaßblauen Frauenschrift« geschildert.31 Trotz des Autonomieverlusts der Universität blieb der Hochschule ein Mitspracherecht, das auch entsprechend genützt wurde. Auffällig ist jedenfalls, dass von den 22 Personen, die zur Entfernung (Pension oder Wartegeld) empfohlen wurden, immerhin 13 jüdischer Herkunft waren  – also überproportional viele, nämlich rund 59 Prozent. Das Ministerium folgte aber nicht in sämtlichen 13 Fällen den Empfehlungen. Acht von den tatsächlich pensionierten jüdischen Lehrenden gehörten 1934 zu den jüngsten 29 Vgl. Taschwer 2015, 178f. bzw. leicht verbessert in Erker (in Vorbereitung). 30 Meister 1933, 4. 31 Vgl. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Unterricht Allgemein, Kt. 797, GZ 23.423-I/1/34, vgl. auch Kamila Staudigl-Ciechowicz in diesem Band, die diese Quelle recherchiert hat.

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»Neo-Ruheständlern«  :32 der Zoologe Heinrich Joseph (58 Jahre), der Philosoph Heinrich Gomperz (60), die Germanisten Robert Arnold (61) und Max Jellinek (65), die Chemiker Jacques Pollak (61) und Wolfgang Pauli sen. (64), der Medizinhistoriker Max Neuburger (65) und – offiziell ebenfalls dieser Kategorie zugerechnet – der Anatom Julius Tandler (64), der freilich vor allem aus politischen Gründen zwangspensioniert wurde. In den übrigen Fällen darf vermutet werden, dass antisemitische Motive seitens der Universitätsvertreter eine wesentliche Rolle spielten, vor allem an der Philosophischen Fakultät und da wieder in den Geisteswissenschaften, die besonders viele der antisemitischen Cliquenmitglieder stellten  : Die Geisteswissenschaften waren bereits Ende 1935 zumindest auf Ebene der beamteten und aktiven Professoren »judenfrei«.33 Die Meister-Walker-Liste, die von der Universität kam, enthielt ursprünglich sogar weitere Namen von Professoren jüdischer Herkunft  : So etwa hätte auch der damals 59-jährige Biologe Hans Przibram pensioniert werden sollen. Er durfte aber vermutlich auch deshalb weitermachen, weil er 1934 gerade erst 13 Jahre lang remunerierter Extraordinarius gewesen war und daher nicht in das (Zwangs-) Pensionierungsschema passte. Parallel zu diesen Versetzungen in den Ruhestand, deren antisemitische Schlagseite wohl in erster Linie auf die Universität und nicht auf das Ministerium zurückgeht, kam es aber auch zur politischen Verfolgung regimekritischer, zumeist nationalsozialistischer Universitätslehrer, die ebenfalls pensioniert oder beurlaubt wurden. Die ersten Betroffenen dieser Maßnahmen waren die Rechtswissenschaftler Wenzel Gleispach, Max Layer und Leopold Zimmerl, die bereits im Studienjahr 1934/35 nicht mehr im Personalstand aufscheinen, weil sie sich kritisch zu den gesetzlichen Grundlagen der politischen Umbrüche ab März 1933 geäußert hatten. Nach dem gescheiterten Juliputsch 1934 – also nach Vorliegen der einzusparenden Professoren – wurde dann mit der Pensionierung von NS-Sympathisanten und illegalen NS-Mitgliedern ernst gemacht. Unter den ausgeschlossenen Professoren befanden sich etwa der Paläobiologe und ehemalige Rektor Othenio Abel, der Altorientalist Viktor Christian, der Geograf Fritz Machatschek und der Rechts- und Staatswissenschaftler Karl Gottfried Hugelmann. Der Osteuropa-Historiker Hans Uebersberger wiederum, »Bärenhöhle«-Teilnehmer und ebenfalls illegales NSDAP-Mitglied seit 1. Oktober 1932, kam seiner Pensionierung zuvor, indem er bereits am 1. April 1934 eine Professur in Breslau antrat. Ein Jahr später wechselte er an die Universität Berlin, wo er sich rühmte, »als erster in Wien entlassener nationalsozialistischer Rektor ein Märtyrer für den Nationalso32 Stichtag jeweils 1.1.1934. 33 Vgl. Taschwer 2015, 186.

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zialismus« gewesen zu sein.34 Dass dieses Selbstlob durchaus begründet war, zeigte sich Jahre später unter der NS-Herrschaft  : Am 17. Januar 1941 erhielt Uebersberger gemeinsam mit den anderen fünf frühpensionierten NS-Professoren – Othenio Abel, Wenzel Gleispach, Karl Gottfried Hugelmann, Max Layer und Fritz Machatschek – in dem während der Zeit des Austrofaschismus gebauten Auditorium maximum der Universität Wien die erstmals verliehene Ehrensenatorenwürde seiner Alma Mater.35 Wie bereits erwähnt, wurde ein Großteil der Stellen, die durch die sehr unterschiedlich motivierten Pensionierungen frei wurden, nicht nachbesetzt. Sollte es doch dazu kommen, hatte der zuständige Staatssekretär Hans Pernter eine klare Maxime  : »Jede freiwerdende Lehrkanzel muss, wenn der entsprechende Mann vorhanden ist, mit einem Hochschullehrer von vaterlandstreuer und womöglich auch noch besonders christlicher Gesinnung besetzt werden.«36 Besonders dem Cartellverband fiele »die wichtige Aufgabe zu, möglichst viel akademischen Nachwuchs zu stellen«.37 Was das konkret bedeutete, zeigte sich etwa bei der Nachfolge für Julius Tandler. Sein Lehrstuhl wurde am 1.  Oktober 1936 mit dem wenig qualifizierten Gustav Sauser nachbesetzt, der sich erst ein Jahr zuvor mit einer Arbeit über die Anthropologie der Ötztaler habilitiert hatte. Entscheidend war vermutlich, dass Sauser ehemaliger Studienkollege und Couleurbruder von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg war. Wie auch bei Sausers fiktionalem Alter Ego Lichtl in Werfels Roman spielte inhaltliche Kompetenz nur eine Nebenrolle.

Das Juliabkommen 1936 und die Folgen War die Personalpolitik an der Universität Wien ab Juli 1934 relativ strikt antinationalsozialistisch ausgerichtet, so blieben doch etliche NS-Sympathisanten und »Illegale«, wie etwa die späteren Rektoren im Nationalsozialismus Fritz Knoll und Eduard Pernkopf, unbehelligt. Und ähnlich wie beim Bruch zwischen den Christlichsozialen und den Deutschnationalen Ende 1932, so war die Universität auch bei der Annäherung zwischen den Austrofaschisten und den Nationalsozialisten im Laufe des Jahres 1936 in gewisser Weise Vorreiterin.38 Ein Protagonist dieses Prozesses war Oswald Menghin. Er war in den 1920er Jahren bereits in den Fall Josef Bayer involviert, sei34 Philipp 1966, 46. 35 Vgl. Völkischer Beobachter, 17.1.1941, vgl. Taschwer 2015, 84. 36 Pernter 1936, 47f. 37 Ebd., 48. 38 Für die Rolle der braun-schwarzen Intellektuellen im Wien der Zwischenkriegszeit vgl. insbesondere Rosar 1971 und zuletzt Wasserman 2014.

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nes Zeichens 1935/36 Rektor, CV-Mitglied (bei der Rudolfina), Mitglied der »Deutschen Gemeinschaft« und des »Deutschen Klubs«, Teilnehmer der »Bärenhöhle« und ab 1936 wirkliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Noch knapp vor dem Juliabkommen 1936 gelang es ihm, den Orientalisten und Nationalsozialisten Viktor Christian zu rehabilitieren, der seine Professur fortan wieder ausüben k­ onnte.39 Nach dem Juliabkommen zwischen Hitler und Schuschnigg, das unter anderem die Amnestierung von knapp 19.000 NationalsozialistInnen zur Folge hatte,40 fungierte Menghin zudem als Mitglied des Führerrates der Wiener »Vaterländischen Front« sowie im sogenannten Siebenerausschuss, dem Bindeglied zwischen der österreichischen Regierung und den Nationalsozialisten. An der Universität Wien war die Zeit rund um das Juliabkommen vor allem von der Ermordung des Philosophen Moritz Schlick gekennzeichnet, über die zahllose zeithistorische Berichte und Analysen vorliegen.41 Vor allem die öffentlichen Diskussionen nach dem Mord machen offensichtlich, wie korrumpiert und antisemitisch aufgeladen die vom katholisch-autoritären Regime kontrollierte Hochschul- und Medienlandschaft war. Unrühmlicher Höhepunkt war ein Text, der in der einflussreichen katholischen Wochenschrift »Schönere Zukunft« unter dem Pseudonym »Prof. Dr. Austriacus« wenige Wochen nach der Tat erschien.42 Der tatsächliche Verfasser dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach Johannes Sauter gewesen sein, seit 1927/28 Privatdozent für Gesellschaftslehre (1934 erweitert auf Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie) an der Universität Wien, dem im Juni 1933 zudem der Titel eines außerordentlichen Universitätsprofessors verliehen wurde. Am Ende von Sauters seitenlangem Pamphlet hieß es resümierend, dass im Fall Schlick »der unheilvolle geistige Einfluß des Judentums an den Tag« gekommen sei.43 Da Schlick freilich Protestant war und keine jüdischen Vorfahren hatte, musste etwas anders argumentiert werden  : »Es ist bekannt, daß Schlick, der einen Juden (Waismann) und zwei Jüdinnen als Assistenten hatte, der Abgott der jüdischen Kreise Wiens war. Jetzt werden die jüdischen Kreise Wiens nicht müde, ihn als den bedeutendsten Denker zu feiern.«44 Am Schluss hieß es wie folgt  : »Wir möchten 39 Vgl. Leitner 2010, 54f. 40 Vgl. Tálos 2013, 517. 41 Zuletzt etwa Lotz-Rimbach 2009. 42 Vgl. Zukunft 11 (41), 12.7./9.8.1936, 1f., nachgedruckt unter anderem in Stadler 1997, 924–929. 43 Ebd., 929. 44 Ebd. Der in Klammer angeführte Friedrich Waismann war übrigens Anfang 1936 bereits entlassen worden. Wenig später verlor auch Amalie Rosenblüth, Bibliothekarin am Institut für Philosophie, ihre Stelle. Beide waren jüdischer Herkunft. Neuer Bibliothekar wurde ein Schüler von Robert Reininger, nämlich Erich Heintel, der 1940 der NSDAP beitrat, 1960 Ordinarius für Philosophie an der Univer-

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aber doch daran erinnern, daß wir Christen in einem christlich-deutschen Staate leben, und daß wir zu bestimmen haben, welche Philosophie gut und passend ist. Die Juden sollen in ihrem Kulturinstitut ihren jüdischen Philosophen haben  ! Aber auf die philosophischen Lehrstühle der Wiener Universität im christlich-deutschen Österreich gehören christliche Philosophen  ! Man hat in letzter Zeit wiederholt erklärt, daß die friedliche Regelung der Judenfrage in Österreich im Interesse der Juden selbst gelegen sei, da sonst eine gewaltsame Lösung derselben unvermeidlich sei. Hoffentlich beschleunigt der schreckliche Mordfall an der Wiener Universität eine wirklich befriedigende Lösung der Judenfrage  !«45 Zum Nachfolger Moritz Schlicks wurde tatsächlich der katholische Philosoph Alois Dempf ernannt. Wie auch in diesem Fall gingen die wenigen zu besetzenden Ordinariate auch in der Zeit nach dem Juliabkommen an katholische Wissenschaftler oder aber bereits an NS-Sympathisanten. Die 1936 frei gewordene Professur für Kunstgeschichte erhielt Hans Sedlmayr, der von 1930 bis 1932 NSDAP-Mitglied war und der Partei dann wieder am 1. Jänner 1938 beitrat.46 Wegen der altersbedingten Pensionierung von Wilhelm Wirtinger war 1936 auch das Ordinariat für Mathematik neu zu besetzen, für das sich der renommierte Mathematiker Karl Menger Chancen ausrechnete. Menger, der eine jüdische Mutter hatte, unterlag dem weniger gut qualifizierten Karl Mayrhofer, der ein Jahr später – also noch vor dem »Anschluss« – Mitglied der NSDAP wurde.47 Menger wanderte 1936 in die USA aus und trat 1937 eine Professur an der University of Notre Dame in Indiana an. So wie Menger verließen viele jüdische und/oder linke WissenschaftlerInnen nach dem Juli 1936 Wien  : Der Kunsthistoriker Ernst Gombrich, der bis 1936 bei Ernst Kris am Kunsthistorischen Museum gearbeitete hatte, emigrierte nach London. Der Chemiker und spätere Nobelpreisträger Max Ferdinand Perutz verließ die Universität Wien nach seinem Abschluss ebenfalls 1936 in Richtung Großbritannien und ging nach Cambridge – ähnlich wie eine ganze Reihe anderer jüdischer Forscher, die beim Chemiker Hermann Mark arbeiteten, der ahnte, was politisch kommen würde und seinen Mitarbeitern rechtzeitig Stellen im Ausland verschaffen konnte.48 Der Philosoph Karl Popper wiederum emigrierte mit seiner Frau Anfang 1937 nach Neuseeland, ein Großteil seiner Familie überlebte die Shoah nicht. Dramatisch war die Emigration der damals 30jährigen Sozialpsychologin Marie Jahoda, die im sität wurde und bis lange nach seiner Emeritierung 1982 erfolgreich abstritt, Parteigenosse gewesen zu sein. 45 Ebd. 46 Vgl. Pfefferle/Pfefferle 2014, 303. 47 Vgl. ebd., 298. 48 Vgl. Feichtinger 2001.

Antisemitische Personalpolitik an der Universität Wien vor und nach 1933

Untergrund für die »Revolutionären Sozialisten« aktiv war. Jahoda wurde im November 1936 aus politischen Gründen am Institut für Psychologie verhaftet, kam erst dank Interventionen aus dem Ausland nach neunmonatiger Haft frei und musste binnen 24 Stunden nach England ausreisen. Zudem wurde Marie Jahoda die österreichische Staatsbürgerschaft entzogen.49 Die Umstände, unter denen diese ForscherInnen Österreich noch unter dem Kruckenkreuz-Regime verließen, waren von Fall zu Fall unterschiedlich. Gemeinsam war ihnen, dass sie aufgrund ihrer Herkunft und zum Teil aufgrund ihrer politischen Gesinnung lange vor dem »Anschluss« Österreichs keine Chance auf eine Karriere an der Universität Wien hatten. Die Emigration sollte sich für Jahoda und ihre KollegInnen letztlich als, wenn man so will, »Glücksfall« herausstellen. Wären diese WissenschaftlerInnen noch länger in Österreich geblieben, hätte das auch für sie – wie für so viele andere ForscherInnen – noch dramatischere Folgen gehabt.50

Literatur und gedruckte Quellen Der Abend 1924. Ash, Mitchell, Die Universität Wien in den politischen Umbrüchen des 19. und 20. Jahrhunderts, in  : Ash, Mitchell/Ehmer, Josef (Hg.), Universität  – Politik  – Gesellschaft, Göttingen 2015, 29–172. Coudenhove-Kalergi, Richard, Antisemitismus nach dem Weltkrieg, in  : Coudenhove-Kalergi, Heinrich Graf (Hg.), Das Wesen des Antisemitismus, Wien u. a. 1929, 15–42. Erker, Linda, »Jetzt weiß ich ganz, was das ›Dritte Reich‹ bedeutet – die Herrschaft schrankenloser, feiger Brutalität.« Eine Momentaufnahme der Universität Wien im Oktober 1932, in  : Dreidemy, Lucile/Hufschmied, Richard/Meisinger, Agnes/Molden, Berthold/Pfister, Eugen/Prager, Katharina/Röhrlich, Elisabeth/Wenninger, Florian/Wirth, Maria (Hg.), Bananen, Cola, Zeitgeschichte  : Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, 2 Bde., Wien u. a. 2015, 177–190. Erker, Linda, Die Universität Wien im Austrofaschismus. Zur politischen Vereinnahmung einer Hochschule – im Vergleich mit der Universität Madrid im Franco-Faschismus, Diss. in Vorbereitung. Feichtinger, Johannes, Die Wiener Schule der Hochpolymerforschung in England und Amerika. Emigration, Wissenschaftswandel und Innovation, Wien 2001, http://www.uni-graz.at/johannes.feichtinger/OESHpFProjekt.pdf (3.9.2017). Freud, Sigmund, Briefe 1873–1939, hg. von Freud, Ernst L./Meng, Heinrich, Frankfurt a.M. 1968.

49 Zur Verhaftung, dem Gefängnisaufenthalt und der Abschiebung vgl. Jahoda 1997, 54–62. 50 Ebd., 62.

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Hartmann, Ludo Moritz, Grundlagen der Universitätsreform. Vortrag, gehalten in der Vereinigung sozialistischer Hochschullehrer, in  : Der Kampf 17 (1924), 142–145. Heer, Friedrich, Nachwort, in  : Werfel, Franz, Eine blaßblaue Frauenschrift, Frankfurt a.M. 1977, 154–180. Höflechner, Walter, Die Baumeister des künftigen Glücks. Fragment einer Geschichte des Hochschulwesens in Österreich vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis in das Jahr 1938, Graz 1988. Jahoda, Marie, »Ich habe die Welt nicht verändert«. Lebenserinnerungen einer Pionierin der Sozialforschung, Frankfurt a.M. u. a. 1997. Königseder, Angelika, Antisemitismus 1933–1938, in  : Tálos, Emmerich/Neugebauer, Wolfgang (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur, 1933–1938, Wien 2012, 54–67. Leitner, Irene Maria, »Bis an die Grenzen des Möglichen«  : Der Dekan Viktor Christian und seine Handlungsspielräume an der Philosophischen Fakultät 1938–1943, in  : Ash, Mitchell/Niess, Wolfram/Pils, Ramon (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, 49–77. Lotz-Rimbach, Renate, Mord verjährt nicht  : Psychogramm eines politischen Mordes, in  : Stadler, Friedrich/Engler, Fynn Ole (Hg.), Stationen  : dem Philosophen und Physiker Moritz Schlick zum 125. Geburtstag, Wien u. a. 2009, 81–104. Meister, Richard, Die staatlichen Ersparungsmaßnahmen und die Lage der Wissenschaft, Wien 1933. Neue Freie Presse 1933. Neues 8 Uhr Blatt 1924. Pape, Matthias, »Depression über Österreich«. Franz Werfels Novelle »Eine blaßblaue Frauenschrift« im kulturellen Gedächtnis Österreichs, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 45 (2004), 141–178. Pernter, Hans, Grundfragen der Hochschulpolitik, in  : Krasser, Robert (Hg.), Der CV, der Träger des katholischen Farbstudententums und die neue Zeit, Schriften des OeCV 1/3 (1936), 43–51. Pfefferle, Roman/Pfefferle, Hans, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren, Wien 2014. Philipp, Werner, Nationalsozialismus und Ostwissenschaften, in  : Universitätstage 1966. Veröffentlichung der Freien Universität Berlin, Nationalsozialismus und die deutsche Universität, Berlin 1966, 43–62. R athkolb, Oliver (Hg.), Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2013. Reichspost 1920. Rosar, Wolfgang, Deutsche Gemeinschaft. Seyß-Inquart und der Anschluss, Wien u. a. 1971. Schönere Zukunft, 1936. Stadler, Friedrich, Vom Positivismus zur »Wissenschaftlichen Weltauffassung«, Wien u. a. 1982. Stadler, Friedrich, Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt a.M. 1997. Staudigl-Ciechowicz, Kamila, Das Dienst-, Habilitations- und Disziplinarrecht der Universität Wien 1848–1938. Eine rechtshistorische Untersuchung zur Stellung des wissenschaftlichen Universitätspersonals, Göttingen 2017.

Antisemitische Personalpolitik an der Universität Wien vor und nach 1933

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Archivalische Quellen Archiv der Universität Wien (AUW), Akademischer Senat, Sonderreihe S. 185, Kt. 288. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Allgemeines Verwaltungsarchiv, Unterricht Allgemein, Kt. 797. Wien Bibliothek, Tagblattarchiv, Mappe Hochschulen.

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Braun-schwarze Beziehungsgeflechte Zur Bedeutung antisemitischer Netzwerke im akademischen Milieu der Zwischenkriegszeit und zu ihren Nachwirkungen nach 1938 und 1945

Vorbemerkungen Wenn in den vergangenen Jahrzehnten an Österreichs Universitäten und Hochschulen von Antisemitismus die Rede war, dann geschah das zum einen meist im Zusammenhang mit der Zeit nach dem »Anschluss«. Zum anderen ging es in erster Linie um die Opfer und nur selten um die akademischen Antisemiten selbst. Selbst bei der Lektüre jüngerer Publikationen zum Thema kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich insbesondere an der Universität Wien in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts um eine Art Antisemitismus ohne Antisemiten handelte.1 Diese beim Namen zu nennen, ihre weitreichenden Einflüsse zu zeigen, oder auch zu thematisieren, warum es ausgerechnet im Wien der Zwischenkriegszeit zu einem so ausgeprägten Antisemitismus unter den Studierenden und der Professorenschaft kommen konnte, war lange tabu. Diese blinden Flecken der Forschung haben gewiss damit zu tun, dass die Lehrkräfte – anders als die randalierenden Studenten – ihren Antisemitismus vor 1938 und nach 1945 selten offen zur Schau stellten. Maßnahmen gegen Kolleginnen und Kollegen jüdischer Herkunft wurden im Gegensatz zum offenen Terror gegen jüdische oder linke Studierende in mehr oder weniger geheimen Netzwerken vollstreckt, die von der Universitätsgeschichte lange übersehen wurden. Zudem begründeten die Teilnehmer dieser Cliquen ihre antisemitischen Interventionen bei Habilitations- und Berufungsverhandlungen oft mit Scheinargumenten. Dazu kommt, dass diese Beziehungsgeflechte bis weit in die Zweite Republik hinein nachwirkten und auch auf diese Weise lange eine Befassung mit den Verfehlungen der früheren Lehrergenerationen erschwerten. Im Mittelpunkt dieses Texts stehen mehrere solcher braun-schwarzer Akademikergruppen der Zwischenkriegszeit, die aus antisemitischen Motiven gegründet wurden oder zumindest auch eine antisemitische Schlagseite hatten  : Die »Bärenhöhle« an der 1 Vgl. die Beiträge in R athkolb 2013, die zumeist von Opfern handeln oder von Tätern im anonymen Kollektiv.

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Universität Wien, die Fachgruppe Hochschullehrer der »Deutschen Gemeinschaft«, der »Spann-Kreis«, die »Leo-Gesellschaft« und der »Deutsche Klub« – daneben aber auch die Akademie der Wissenschaften, die bereits lange vor 1938 und lange nach 1938 als Teil dieser Netzwerke begriffen werden muss. Da es erhebliche personelle Überlagerungen zwischen diesen Cliquen gab, wurden diese umso wirkmächtiger, zum Teil auch über das akademische Milieu hinaus. Neben der Nennung der wichtigsten Mitglieder dieser Netzwerke wird zumindest angedeutet, wie sie ihren Judenhass erfolgreich in die Praxis umsetzten  : etwa durch die Übernahme von Leitungsfunktionen an der Universität, durch die Arbeit in universitären Gremien, aber auch durch Beziehungen zur antisemitischen Presse (insbesondere zur nationalsozialistischen »Deutschösterreichischen Tages-Zeitung« und zur rechtskatholischen »Reichspost«) sowie zum Unterrichtsministerium. Drei der Netzwerkmitglieder – Heinrich Srbik, Oswald Menghin und Emmerich Czermak – waren sogar Unterrichtsminister. Spezielles Augenmerk gilt zum einen der vermutlich 1922 gegründeten »Bärenhöhle«, die in der Zwischenkriegszeit die Philosophische Fakultät dominierte, und zum anderen der Zeit des Austrofaschismus mit dessen lange unterschätzter Sparpolitik an den Universitäten, der auch auffällig viele jüdische Professoren zum Opfer fielen. Schließlich soll auch noch angedeutet werden, wie sich diese Cliquen über die politischen Umbrüche der Jahre 1934, 1938 und 1945 hinweg erhielten, und wie die in der Zwischenkriegszeit geknüpften Beziehungen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein nachwirkten.

Antisemitische Vorgeschichten bis 1918 Wer den universitären Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit verstehen will, muss auch einen Blick auf die Zeit davor werfen – sowohl auf die Jahrzehnte vor und die Jahre kurz nach 1900 wie auch auf die Entwicklungen während des Ersten Weltkriegs. Tatsächlich spielten die Hochschulen in dieser Zeit eine wichtige Rolle, um einerseits »Antisemitismus« als Begriff zu etablieren und ihn andererseits mit Inhalt zu füllen  : Universitätsvertreter machten ihn durch entsprechende Äußerungen gesellschaftlich salonfähig,2 und parallel dazu häuften sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gewaltsame antisemitische Ausschreitungen von deutschnationalen Studierenden. Ein Höhepunkt dieser Krawalle waren die Badeni-Unruhen des Jahres 1897, die für etliche Teilnehmer politisch prägend wurden. So etwa mischte der junge Othenio Abel 2 Vgl. Pauley 1993, 68.

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dabei mit, der in den 1920er und 1930er Jahren einer der prononciertesten antisemitischen Professoren der Universität Wien war. Die Gewalt der Deutschnationalen rund um 1900 richtete sich freilich nicht nur gegen jüdische, sondern auch gegen »nicht deutsche« Studierende sowie katholische Couleurstudenten. Dieser Konflikt zwischen den Katholiken und den areligiösen Deutschnationalen wurde auch in Deutschland als »Akademischer Kulturkampf« ausgetragen. In Wien war er etwas entschärft, was auch an Bürgermeister Karl Lueger lag, der als eine Art Mediator zwischen den Christlichsozialen und den Deutschnationalen fungierte und dabei auch auf den Antisemitismus als einigenden Faktor zwischen den beiden Lagern setzte  : So ließ Lueger bereits 1895 verlauten, dass die Christlichsozialen eigentlich nichts von den Deutschnationalen trenne, »denn Erstere sind auch national gesinnt. Die Christlichsozialen werden nationales Wasser in ihren Wein gießen und die Deutschnationalen werden christliches Wasser in ihren Wein gießen und beides wird sich ausgleichen.«3 Im Jahr 1907, also unmittelbar vor dem Höhepunkt des »akademischen Kulturkampfs«, verlangte Lueger beispielsweise am österreichischen Katholikentag eine »christliche Heimholung der Universitäten« und kritisierte die starke Präsenz jüdischer Professoren an der Universität Wien. Zudem überbrückte eine Vereinsgründung einige der Differenzen  : Am 21.  Februar 1908 wurde der »Deutsche Klub« ins Leben gerufen, in dem sich fortan deutschnational eingestellte Männer – die meisten katholischer Konfession – trafen, unter ihnen auch zahlreiche Angehörige der Universitäten. Ziel der Vereinigung, für die sich die Altherren der Burschenschaften, der nationalen Korporationen, des »Kyffhäuserverbands«, der Sängerschaften und des Wiener Akademischen Turnvereins zusammenfanden, war es unter anderem, die aufgebrochenen Spannungen zwischen den verschiedenen Burschenschaften und Studentenverbindungen zu entschärfen. 4 Gemeinsam war ihren ein ausgeprägter Antisemitismus  : Die Aufnahme von Juden in den »Deutschen Klub« war zumindest inoffiziell untersagt.5 Dass die Mitglieder der verschiedenen Korporationen, Burschenschaften und Vereine wie eben dem »Deutschen Klub« bereits zu dieser Zeit von den Hochschulen aus Netzwerke bildeten, ist offensichtlich, auch wenn unmittelbare Zeugnisse davon und Analysen noch fehlen. Die Einschätzung des Schriftstellers Otto Friedländer, dass die Universitäten bereits vor 1914 »Festungen der Deutschnationalen« gewesen seien, die von dort aus »systematisch an die Eroberung der Ämter« gingen, scheint jedenfalls 3 Zit. n. Whiteside 1981, 133. 4 Vgl. Witzmann 1940, 18. 5 Vgl. Bauer 1939. Wilhelm Bauer war Professor für Geschichte an der Universität Wien. In den publizierten Vereinsstatuten 1919 findet sich ein solcher Paragraph allerdings nicht, wohl aber in späteren Versionen. Für eine erste umfassendere Geschichte des »Deutschen Klubs« vgl. Erker/Huber/ Taschwer 2017.

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plausibel  : »Zunächst wollen sie sicher nichts anderes, als den Kollegen, die zu ihren Verbindungen gehören, gute Stellungen verschaffen. Wer von ihnen einmal in einem Amt sitzt, der hat die Pflicht, dort auch andere Couleurbrüder unterzubringen und die selbstverständlich anderen Bewerbern vorzuziehen.«6 Das galt natürlich auch für die Universitäten selbst. Dennoch war es in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg WissenschafterInnen jüdischer Herkunft möglich, an der Universität Karriere zu machen. Im Vergleich zum Anteil an der Bevölkerung Wiens waren Lehrende jüdischer Herkunft auffällig gut repräsentiert, auch wenn offensichtlich ist, dass es nur vergleichsweise wenige bis ganz nach oben schafften  : Als Reaktion auf die antisemitischen Attacken Karl Luegers ermittelte der Rechtswissenschaftler Josef Redlich für das Studienjahr 1907/8 an den drei weltlichen Fakultäten der Universität Wien bei den DozentInnen einen jüdischen Anteil (getauft und konvertiert) von immerhin fast 46 Prozent (128 von 279). Bei den ordentlichen Professoren ging dieser Anteil freilich auf gut 16 Prozent (neun von 56) zurück.7

Die »Bärenhöhle«, ein geheimes Professoren-Netzwerk Der soziale Aufstieg vieler jüdischer oder jüdisch-assimilierter BürgerInnen um 1900 dank akademischer Bildung schürte gewiss auch in Wien Neid und verstärkte den bereits vorhandenen Antisemitismus.8 Verschärft wurde diese Haltung während des Ersten Weltkriegs und kurz danach durch den Zuzug zahlreicher jüdischer StudentInnen aus Galizien und der Bukowina sowie einer dramatischen politischen und wirtschaftlichen Krisensituation  : Ganz in der Tradition Luegers schlugen christlichsoziale Politiker daraus Kapital, wie etwa die späteren Bundeskanzler Ignaz Seipel und Engelbert Dollfuss. Beide setzten sich im September 1920 praktisch zeitgleich für einen Numerus clausus für Jüdinnen und Juden auch an Universitäten nach dem Bevölkerungsschlüssel, also von zehn Prozent, ein.9 Bald nach dem Ersten Weltkrieg machten sich auch Führungskräfte der Universität Wien öffentlich Gedanken, wie man sowohl bei den Studierenden als auch bei den Lehrenden den Anteil der Personen jüdischer Herkunft beschränken könnte. Am lautstärksten setzte sich die »Deutsche Studentenschaft«, die als undemokratische Stu6 Friedländer 1949, 182. 7 Kompiliert aus Redlich 2013, original vermutlich 1907. 8 Für das Motiv des sozialen Neids als Hauptgrund für den Antisemitismus in Deutschland vgl. Aly 2011. 9 Vgl. u. a. den Beitrag von Linda Erker in diesem Band sowie Taschwer 2015a, 65f.

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dentenvertretung jüdische Studierende grundsätzlich diskriminierte, für einen Numerus clausus für Juden ein. Der Geologe Karl Diener, Rektor im Studienjahr 1922/23, unterstützte diese Forderungen, gab aber zu bedenken, dass eine solche Beschränkung mit dem Gleichheitsgrundsatz schlecht vereinbar sei.10 Also mussten die Antisemiten ihre Ziele anders durchsetzen. Bei den Studierenden geschah das einerseits durch Verschärfungen bei den Zugangsbedingungen für ausländische Studierende insbesondere aus den ehemaligen östlichen Kronländern.11 Andererseits erzeugten insbesondere nationalsozialistische Studierende bereits im Laufe der 1920er Jahre eine pogromartige Atmosphäre, die zum Rückgang des Anteils jüdischer StudentInnen (nach Konfession) von über 42 Prozent im Studienjahr 1920/21 auf unter 18 Prozent 1932/33 beitrug.12 Bei den Lehrenden mussten andere Strategien angewendet werden. Hier waren es mehr oder weniger geheime Netzwerke aus Professoren, die nach 1918 innerhalb der Universität Wien aber auch jenseits davon mit Interventionen dafür sorgten, dass jüdische WissenschaftlerInnen kaum mehr Chancen auf Karrieren hatten. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg organisierten anscheinend auch die Universitätsprofessoren unter den Mitglieder des Deutschen Klubs antisemitische Interventionen, um Karrieren von jüdischen und/oder linken WissenschaftlerInnen zu verhindern. So etwa wurde 1919 der Antrag des linken, pazifistischen und »halbjüdischen« Biologen Paul Kammerer auf Verleihung des Professorentitels von einer Kommission abgelehnt, der »zufällig« gleich fünf Mitglieder des »Deutschen Klubs« angehörten.13 Das einflussreichste Netzwerk jedenfalls an der Philosophischen Fakultät nannte sich »Bärenhöhle«, war vermutlich ab 1922 an der Philosophischen Fakultät aktiv und operierte im Verborgenen – so verborgen, dass es bis vor kurzem unentdeckt blieb.14 Eine der wenigen Spuren zur »Bärenhöhle« legte der Paläontologe Kurt Ehrenberg in einer 1975 erschienenen Biografie seines Lehrers und Schwiegervaters Othenio Abel.15 Der renommierte Begründer der Paläobiologie habe dieses Netzwerk als eine Art politischer Zweckkoalition aus christlichsozialen und deutschnationalen Wissenschaftlern gegründet. Die seltsame Geheimbezeichnung leitete sich von einem paläontologischen Seminarraum ab, in dem Funde aus der Drachenhöhle bei Mixnitz 10 »Das Memorandum der deutschen Studentenschaft«, Reichspost, 10.12.1922, 1. 11 Zum »versteckten« Numerus clausus, der ebenfalls unter Diener eingeführt wurde, vgl. Taschwer 2015a, 68f. 12 Zur antisemitischen Studentenpolitik der Zwischenkriegszeit vgl. den Beitrag von Erker in diesem Band. 13 Vgl. Taschwer 2016, 187f. 14 Für eine erste umfassendere Darstellung dieser antisemitischen Kamarilla vgl. Taschwer 2015a, 102–127. 15 Ehrenberg 1975, 85f.

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untergebracht waren und der zwischen Stiege IX und VII im Hauptgebäude der Universität lag. Dort hielten die insgesamt 19 beteiligten Professoren ihre konspirativen Sitzungen ab, bei denen sie sich in universitätspolitischen Fragen abstimmten und die gefundene Linie »als Marschroute den übrigen Sympathisanten« im Professorenkollegium weitergaben.16 Die eindeutig antisemitische Ausrichtung des Netzwerks ist durch ein Zitat Abels bestätigt, der Anfang 1923 in einem Brief schrieb  : »[D]ass ich unsere antisemitischen Gruppen an der Universität so fest zusammengeschweißt habe, so dass wir eine feste Phalanx bilden, rechne ich mir wirklich zum Verdienst an«.17 Zu den Teilnehmern zählten bis auf Abel und den Mineralogen Hans Leitmeier nur Geisteswissenschaftler wie der Pädagoge und Altphilologe Richard Meister, der Urgeschichtler Oswald Menghin oder der Historiker Heinrich Srbik, um nur die prominentesten zu nennen. Spätestens seit 1922 übten die »Bärenhöhle«-Professoren einen nicht zu unterschätzenden Einfluss aus, was auch dadurch möglich wurde, dass sie regelmäßig Leitungsfunktionen an der Universität Wien übernahmen. So etwa waren sämtliche geisteswissenschaftlichen Dekane von 1922/23 bis 1934/35 – die Leitung der Fakultät wechselte jährlich zwischen den Geistes- und Naturwissenschaftlern  – »Bärenhöhle«-­Teilnehmer, nämlich Hermann Junker (1922/23), Hans Uebersberger (1924/25), Carl Patsch (1926/27), Oswald Menghin (1928/29), Richard Meister (1930/31), Heinrich Srbik (1932/33) und Dietrich Kralik (1934/35). Dazu kam Othenio Abel als »naturwissenschaftlicher Dekan« im Studienjahr 1927/28.18 Zudem brachten es in der Zwischenkriegszeit gleich drei »Bärenhöhle«-Teilnehmer, nämlich Uebersberger (1930/31), Abel (1932/33) und Menghin (1935/36), zu Rektors-Ehren. Srbik und Menghin fungierten sogar kurz als Unterrichtsminister, Menghin allerdings erst nach dem »Anschluss«. Srbik, der wohl nicht ganz zufällig während der Einführung der Gleispach’schen Studentenordnung 1929/30 das Ministerium leitete, war außerdem von 1939 bis 1945 Akademie-Präsident, »Bärenhöhle«-Kollege Richard Meister von 1951 bis 1963. Da die meisten personalpolitischen Entscheidungen an der Universität in entsprechenden Kommissionen vorbereitet wurden, ließen sich die »Bärenhöhle«-Teilnehmer regelmäßig in die entsprechenden Habilitations- und Berufungsgremien nominieren. Die antisemitische Kamarilla konnte auf diese Weise – und zum Teil auch mit Verstärkung durch die nationalsozialistische Presse19 – in vielen Fällen erfolgreich in16 Vgl. ebd., 86. 17 Brief an Pater Leonhard Angerer vom 19.1.1923. Ich danke Pater Dr. Amand Kraml für die Einsicht in den Briefwechsel zwischen Abel und Angerer im Kustodiatsarchiv der Sternwarte Kremsmünster. 18 Der Historiker Hans Hirsch, der im Studienjahr 1936/37 Dekan war, gehörte dem »Deutschen Klub« an und war erklärter Antisemit, vgl. Taschwer 2015a, 209 und 213f. 19 Vgl. Taschwer 2015b, 117–120.

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tervenieren und ab 1922/23 etliche Habilitationen aufstrebender NachwuchsforscherInnen jüdischer Herkunft auch und zumal in den Naturwissenschaften verhindern. Noch aussichtsloser war die Lage für junge jüdische und/oder linke ForscherInnen in den Geisteswissenschaften. Nachdem der Philosoph Edgar Zilsel nach negativen Gutachten zweier »Bärenhöhle«-Teilnehmer seine Bemühungen um eine Habilitation 1924 einstellte, versuchten es NachwuchsforscherInnen jüdischer Herkunft wie Karl Popper spätestens ab Ende der 1920er Jahre gar nicht mehr, da sie um ihre Chancenlosigkeit wussten. Eine realistische Einschätzung ihrer Lage lieferte der Physiker Franz Urbach, der eng mit Popper zusammenarbeitete, in einem Rückblick aus dem Jahr 1934  : »Als ich meine Studien (1921) begann, war in Österreich die akademische Laufbahn für einen Juden zwar etwas erschwert, aber durchaus zugänglich  ; als ich sie beendete (1926, also lange vor Ausbruch des deutschen Nationalsozialismus) war sie praktisch bereits fast unmöglich, und zwei Jahre nach dem Doktorat, als ich habilitationsreif war, war [daran] nicht mehr zu denken. Es war damals eine staatliche Anstellung für einen Juden so gut wie unerreichbar geworden, und besonders die Universität und technische Hochschule waren Zentren des schärfsten Antisemitismus.«20 Die »Bärenhöhle« zog selbstverständlich nicht nur bei den Habilitationen die Fäden, sondern natürlich auch bei den Berufungen von Professoren, was die reaktionäre antisemitische Mehrheit weiter stärkte. Bis auf ganz wenige Ausnahmen (wie der Altphilologe Alfred Kappelmacher) schaffte es an der Philosophischen Fakultät so gut wie kein Wissenschaftler jüdischer Herkunft und/oder linker Gesinnung ab Mitte der 1920er Jahre mehr, ein Ordinariat zu erhalten. Stattdessen wurden Professoren berufen, die sowohl »rassisch« wie auch politisch genehm waren und im Idealfall auch noch das »Bärenhöhle«-Netzwerk vergrößerten. Dazu zählten der Pädagogik-Ordinarius Richard Meister (1923), der eigentlich Gymnasiallehrer für Latein und Griechisch war und ohne Habilitation berufen wurde, der Ägyptologe Wilhelm Czermak (Ordinariat 1925) oder der Musikwissenschaftler Robert Lach (Ordinariat 1927). Zumindest in den Fällen von Meister und Lach ist offensichtlich, dass andere als wissenschaftliche Qualifikationen den Ausschlag gegeben hatten.

Andere antisemitische Cliquen der Zwischenkriegszeit Die Einflüsse der »Bärenhöhle«zeigten sich aber auch an anderen Orten, etwa an der Akademie der Wissenschaften. Die Gelehrtengesellschaft wurde auf diese Weise in den 1920er und 1930er Jahren selbst zu einem Teil der sich überlagernden antisemi20 Zit. n. Feichtinger 2001, 140.

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tischen Netzwerke. Bis auf den früh verstorbenen Historiker Gustav Turba und Hans Leitmeier wurden sämtliche Teilnehmer der »Bärenhöhle« bis spätestens 1939 korrespondierende oder wirkliche Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, 16 von 17 in der philosophischen-historischen Klasse. Zum Vergleich  : Ab 1919 wurde kein einziger in Österreich tätiger Geistes- oder Sozialwissenschaftler in diese Klasse zugewählt, der jüdischer Herkunft gewesen wäre.21 Der letzte war der Historiker Alfred Francis Pribram. Entsprechend wurden nach dem »Anschluss« aus dieser Klasse nur vier Prozent der heimischen Mitglieder ausgeschlossen, während an der Universität Wien insgesamt mehr als 40 Prozent der Lehrkräfte vertrieben wurden. Etliche Mitglieder der »Bärenhöhle« waren auch noch in anderen antisemitischen Akademiker-Netzwerken engagiert wie etwa der 1919 bis 1930 existierenden »Deutschen Gemeinschaft«.22 Dieser antisemitische, katholisch- und deutsch-nationale Geheimbund war ein wenig an die Freimaurer angelehnt, die 1919 in Österreich wieder zugelassen worden waren – allerdings mit einem politisch und ideologisch diametral entgegengesetzten Programm  : Dieses richtete sich gegen die sogenannten »Ungeraden«, zu denen Sozialisten und Kommunisten ebenso gehörten wie Liberale, Juden und/oder Freimaurer, deren Netzwerke selbst wieder zum Gegenstand antisemitischer Publikationen wurden. So etwa veröffentlichte der an der UB Wien tätige Bibliothekar und Historiker Paul Heigl 1927 unter dem Pseudonym Friedrich Hergeth eine umfassende Analyse der freimaurerischen und jüdischen Netzwerke des »Roten Wien«.23 Der »Deutschen Gemeinschaft« gehörten unter anderem der spätere Reichsstatthalter Arthur Seyß-Inquart an, Engelbert Dollfuß als Schriftführer, aber auch zahlreiche Professoren der Universität Wien wie Wilhelm Czermak und Oswald Menghin von der »Bärenhöhle« oder der einflussreiche Ökonom Othmar Spann. Diese Universitätsprofessoren, aber auch der spätere Unterrichtsminister und Österreichische Cartellverbands-Funktionär Emmerich Czermak, waren in der Fachgruppe Hochschullehrer der »Deutschen Gemeinschaft« organisiert, die ebenfalls – und zwar hochschulübergreifend  – antisemitische universitäre Personalpolitik betrieb. Leider sind bis dato nur drei Treffen dieser mafiösen Clique dokumentiert. Die von Czermak verfassten Protokolle vom 4. Dezember 1925, 4. Februar und 4. März 1926 haben es aber in sich, zeigen sie doch, wie diese Gruppe mit skrupellosen Diffamierungsund Einschüchterungskampagnen sowie in Zusammenarbeit mit der nationalsozi21 In die philosophisch-historische Klasse wurden in der Zwischenkriegszeit immerhin noch ein Rechtswissenschaftler jüdischer Herkunft neu aufgenommen  : Joseph Schey als k.  M., und Adolf Menzel stieg zum w. M. auf. Ich danke Kamila Staudigl-Ciechowicz für diese Hinweise. 22 Vgl. Rosar 1971. 23 Vgl. Hergeth 1927.

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alistischen Presse unter anderem verhinderte, dass der austromarxistische Jurist und Soziologe Max Adler sowie der jüdische Rechtswissenschaftler Stephan Brassloff Ordinariate an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät erhielten.24 An vorderster Front war dabei Othmar Spann engagiert, der auch noch über ein eigenes Netzwerk verfügte, dessen Bedeutung noch über antisemitische personalpolitische Fragen an der Universität hinausging  : Spann wollte mit seinem »Spann-Kreis« faschistische Politik machen und zwar auch jenseits der österreichischen Grenzen. Dieses Netzwerk umfasste über sein enges Zentrum hinaus dutzende Mitglieder, die loser und unverbindlicher organisiert waren, als die beiden zuletzt genannten Geheimzirkel. Der »Spann-Kreis« war dennoch auch universitätspolitisch gut verankert  : Nur so war es möglich, etliche seiner Schüler zu habilitieren und trotz weniger freier Stellen mit Professuren an Hochschulen zu versorgen.25 Während der Spann-Kreis an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät für antisemitische Verhältnisse sorgte, dürften an der Medizinischen Fakultät jüdische ÄrztInnen noch am ehesten eine Chance zumindest auf eine Habilitation gehabt haben. Dem entspricht auch die Tatsache, dass von den mehr als 250 Lehrpersonen, die in den ersten Wochen nach dem »Anschluss« von der Universität Wien vertrieben wurden, fast 60 Prozent DozentInnen der Medizinischen Fakultät waren. Zumindest laut Zeitungsberichten dürfte insbesondere bei Berufungen dieser Fakultät ein anderes Netzwerk eine wichtige Rolle gespielt haben  : die »Leo-Gesellschaft«.26 Dieser Verein war bereits 1892 gegründet worden, um eine spezifisch katholische Sicht auf die Wissenschaften unter anderem durch öffentliche Vorträge zu fördern. Auch der »Leo-Gesellschaft« gehörten ähnlich wie dem »Deutschen Klub« wichtige Persönlichkeiten des politischen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Lebens der Zwischenkriegszeit an, nur eben aus dem katholischen Lager  : Mitgliedern mit Beziehungen zur Universität Wien waren unter anderem die Theologen und christlichsozialen Politiker Theodor Innitzer (Rektor 1928/29) und Ignaz Seipel, der bereits genannte und mehrfach vernetzte Oswald Menghin, der Ethnologe Wilhelm Koppers, der Ägyptologe, Priester und »Bärenhöhle«-Teilnehmer Hermann Junker oder Hans Pernter, im Austrofaschismus zunächst Staatssekretär für Unterricht, ab 1936 Unterrichtsminister und zugleich einer der wichtigen Exponenten des Österreichischen Cartellverbands. Dieser erreichte den Höhepunkt seiner Macht an den Universitäten zwar erst nach 1945.27 24 Zur kommentierten Analyse dieser Protokolle vgl. Siegert 1971, 1974 und 1981. 25 Zur Rolle Spanns vgl. zuletzt Wasserman 2014, 74–105  ; zur erfolgreichen universitären »Vermittlung« seiner Schüler ebd., 91. 26 Vgl. »Die Kelsen gehen, die Gleispach bleiben«, Arbeiter-Zeitung, 11.7.1930. 27 Zur Rolle der Leo-Gesellschaft und des (Ö)CV an der Universität Wien vgl. zuletzt Huber 2017.

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Offensichtlich ist aber erstens, dass einige der bereits genannten Netzwerkmitglieder auch schon in den 1930er Jahren im (Ö)CV28 organisiert waren und dass dieser zweitens in dieser Zeit sehr wohl eine stark antisemitische Schlagseite hatte.

Universitärer Antisemitismus im Austrofaschismus Einige Teilnehmer der genannten antisemitischen Netzwerke waren so stark nationalsozialistisch exponiert, dass sie 1934 von den austrofaschistischen Machthabern zwangspensioniert wurden. Betroffen waren davon unter anderem Othenio Abel und der Altorientalist Viktor Christian. Der Osteuropa-Historiker Hans Uebersberger, »Bärenhöhle«-Teilnehmer und illegales NSDAP-Mitglied seit 1933, kam seiner Pensionierung zuvor, indem er am 1. April 1934 eine Professur in Breslau antrat. Es darf aber vermutet werden, dass diese Abgänge wenig an den antisemitischen Netzwerkaktivitäten der beteiligten Professoren änderte. Offensichtlich ist, dass es im Zuge der einschneidenden Einsparungen an den österreichischen Hochschulen zu überproportional häufigen (Früh-)Pensionierungen von Professoren jüdischer Herkunft kam. Und auch die Habilitationsmöglichkeiten jüdischer ForscherInnen verbesserten sich nach 1933 nicht, eher im Gegenteil.29 Im Zuge der Sparmaßnahmen im Austrofaschismus wurden an der Universität Wien rund ein Viertel jener 182 Professuren nicht nachbesetzt, die für Ende 1932 im Personalstandverzeichnis angeführt waren. Bereits Anfang 1933 hatte Richard Meister, der damalige Dekan der Philosophischen Fakultät, bei der konkreten Durchführung der Einsparungsmaßnahmen »eine dauernde Fühlungnahme« zwischen dem Ministerium und den akademischen Behörden eingefordert.30

Nachwirkungen der Beziehungsgeflechte nach 1938 und nach 1945 Hatten 1934 einige der exponierten Nationalsozialisten der »Bärenhöhle« aus politischen Gründen ihre Professur verloren, so machten einige der übrig Gebliebenen nach dem »Anschluss« im März groß Karriere wie Heinrich Srbik (als Präsident der Akademie der Wissenschaften 1939 bis 1945), Oswald Menghin (als Kurzzeit-Un28 Der ÖCV spaltete sich am 10.7.1933 vom deutschen Cartellverband ab. 29 Zum akademischen Antisemitismus im »Ständestaat« vgl. auch Feichtinger 2001, 143–160, und den Beitrag von Klaus Taschner und Linde Erker in diesem Band. 30 Meister 1933, 4.

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terrichtsminister 1938) oder Viktor Christian (als Dekan 1938 bis 1943 und danach als Prorektor). Entscheidendes Karrieresprungbrett dürfte dabei freilich der eingangs erwähnte »Deutsche Klub« gewesen sein, dessen Räumlichkeiten im Leopoldinischen Trakt der Hofburg auch während des Austrofaschismus Unterschlupf für bürgerliche und intellektuelle NS-Aktivisten bot. Der »Deutsche Klub« hatte sich insbesondere seit 1930 weiter radikalisiert, als sich die »Deutsche Gemeinschaft« auflöste und viele ihrer Mitglieder in den »Deutschen Klub« überwechselten, wo Arthur Seyß-Inquart immer wieder Leitungsfunktionen übernahm. Als er am 11. März 1938 zum Bundeskanzler und wenig später zum Reichsstatthalter ernannt wurde, hievte er etliche akademische Mitglieder des »Deutschen Klubs« in Spitzenpositionen  : Oswald Menghin wurde Unterrichtsminister, der neue Direktor des Burgtheaters, Mirko Jelusich, war ebenso Klubmitglied wie der neue Präsident der Akademie der Wissenschaften, Heinrich Srbik, oder der neue Direktor der Nationalbibliothek, Paul Heigl.31 Auch für die Leitungsaufgaben an der gleichgeschalteten Universität Wien griff die NSDAP auf bewährte Mitglieder des »Deutschen Klubs« zurück  : Rektor wurde der Botaniker Fritz Knoll, Klubmitglied seit 1935, sein Prorektor der Historiker Hans Hirsch, der bereits 1919 in der Mitgliederliste des »Deutschen Klubs« aufschien. Zum Dekan der Philosophischen Fakultät ernannte Fritz Knoll den bereits erwähnten Viktor Christian, zum Dekan der Medizinischen Fakultät den Anatomen Eduard Pernkopf, der zeitgleich mit Knoll im Jahr 1935 dem »Deutschen Klub« beigetreten war. Ernst Schönbauer, der neue Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, hatte 1934 einen Vortrag in der antisemitischen und »austro-nazistischen« Vereinigung gehalten. Diese Rekrutierung von Mitgliedern des »Deutschen Klubs« für Leitungspositionen an der Universität Wien war freilich keine Erfindung der Nationalsozialisten, sondern seit vielen Jahren hochschulpolitische Praxis  : Von 1908 bis 1938 waren von den 30 Rektoren der Universität Wien zumindest die Hälfte im deutschnationalen und antisemitischen »Deutschen Klub« organisiert.32 Zumindest in dieser entscheidenden personalpolitischen Frage gab es an der Universität Wien nach dem »Anschluss« also nicht wirklich einen Bruch, sondern im Gegenteil  : eine auffällige Kontinuität. Diese universitären Cliquen waren im Übrigen so stark, dass mitunter selbst das Reichserziehungsministerium kapitulieren musste  : So konnte Knoll im Jahr 1943 Eduard Pernkopf als seinen Nachfolger durchsetzen, was in Berlin gar nicht gut ankam. Man vertröstete das Ministerium damit, dass der von der NSDAP bevorzugte Kandidat Friedrich Plattner nach dem Krieg das Rektorat über31 Für eine vollständigere Liste der Klubmitglieder, die nach dem Anschluss Karriere machten, vgl. Erker/Huber/Taschwer 2017, 78f. 32 Vgl. Staudigl-Ciechowicz 2014, 71.

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nehmen solle, um »jeder Kliquenwirtschaft ein Ende zu setzen und die Universität zu der Stellung zu führen, die sie heute nicht hat«.33 Cliquenkontinuitäten gab es freilich auch nach dem Zweiten Weltkrieg, als man sowohl an die Universität wie auch im Unterrichtsministerium personalpolitisch wie auch ideologisch stark an den Austrofaschismus anknüpfte. Am Beginn der Zweiten Republik schlug dann für die weniger stark NS-belasteten Mitglieder der schwarz-braunen antisemitischen Netzwerke die große Stunde  : Insbesondere Richard Meister, »Bärenhöhle«-Teilnehmer und Mitglied des »Deutschen Klubs«, trug nach Kriegsende als Prorektor, Rektor (1949/50), Vizepräsident und Präsident der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (1951 bis 1963) zu einer glimpflichen Entnazifizierung seiner Kollegen bei. Ihm zur Seite stand an der Universität Wien Wilhelm Czermak, erster Dekan der Philosophischen Fakultät nach dem Zweiten Weltkrieg. Meister und Czermak wurden Ende 1945 in der Zeitung »Neuer Montag« prompt als die »Protektoren der Naziprofessoren« bezeichnet, da sie versuchen würden, »eine Reihe schwer belasteter Parteigenossen als Mitglieder der Fakultät zu halten, um in der Fakultät wieder eine national gesinnte Mehrheit zu schaffen, wie sie schon vor der »Machtergreifung« durch Hitler dort rücksichtslos geherrscht hat«. 34 Zugleich hatten Meister und seine Kollegen wenig Interesse daran, dass nach 1945 jene emigrierten jüdischen und linken WissenschaftlerInnen nach Österreich zurückgeholt wurden, die zum Teil bereits von den antisemitischen Cliquen-Teilnehmern vor 1938 weggeekelt worden waren. Dass diese Remigration bis auf ganz wenige Ausnahmen scheiterte, erleichterte naturgemäß die Fortsetzung der antisemitischen Traditionen an der Universität Wien, selbst wenn es unter den belasteten Netzwerkkollegen erhebliche Verluste gab  : Die meisten der noch aktiven ehemaligen Teilnehmer etwa der »Bärenhöhle« wurden in den Ruhestand versetzt. Anders war die Situation an der ÖAW, die unter Meister als Vizepräsidenten (ab 1945) und dessen Präsidentschaft (ab 1951) zu einem Sammelbecken der akademischen »Ehemaligen« avancierte. Die linkssozialistische Wochenzeitschrift »Neuer Vorwärts« fand dafür kurz nach der Wahl Meisters harte Worte und lieferte eine kleine Netzwerkanalyse nach  : »Die Mitglieder der ›Österreichischen Akademie der Wissenschaften‹, als der Körperschaft, die Österreichs wissenschaftliche Elite zu repräsentieren hätte, sind in ihrer Mehrheit noch immer die alten Protektionskinder der faschistischen Ära. Da 33 Vgl. »Bericht über die Rektorfrage an der Universität Wien«, verfasst von Kurt Knoll, Abschrift aus dem Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Gauakt Heinrich Srbik, BMI/ GA 49.317, Blatt 26f.; für eine Rekonstruktion der Ernennung Pernkopfs vgl. Taschwer 2015a, 222f. 34 »Protektoren der Naziprofessoren«, in  : Wiener Montag, 3.12.1945, 4  ; »Unhaltbare Zustände an der philosophischen Fakultät der Universität Wien«, in  : Wiener Montag, 10.12.1945, 3.

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sitzt noch ein Nadler drinnen, ein Knoll, ein Christian, ein Pernkopf und wie sie alle heißen, die, während ihre jüdischen Kollegen vergast wurden, sich als fanatische Nazi gebärdeten.« Meister selbst habe »seit mehr als zwanzig Jahren auf den Hochschulen und wo sich sonst Gelegenheit bietet, gegen alles intrigiert, was nach Demokratie riecht, und alles zu halten versucht, was ihn selbst im Notfall hält«.35 Dieser Notfall trat nicht ein, im Gegenteil  : Meister avancierte in den 1950er Jahren und frühen 1960er Jahren zur zentralen Persönlichkeit nicht nur der österreichischen Hochschulpolitik, sondern bestimmte in dieser Zeit auch die Schulpolitik ganz wesentlich mit. Das war auch deshalb möglich, weil Heinrich Drimmel, ein Schüler Meisters, 1954 Unterrichtsminister wurde und Drimmel in so gut wie allen Fragen seinen ehemaligen Lehrer vorab konsultierte. Ein Ergebnis dieser Zusammenarbeit war das Hochschul-Organisationsgesetz 1955, das vor allem von Meister verfasst wurde und für weitere 20 Jahre die verhängnisvolle Allmacht der Professoren zementierte, ehe es durch das UOG 1975 ersetzt wurde.36 Immerhin blieb Meister, der politisch sonst eher ein schwarz-brauner »Herr Professor Karl« war, in Schulfragen seinen Prinzipien treu  : Der Pädagogik-Ordinarius, der seine Berufung 1923 (samt exklusiver Beratungsfunktion im Unterrichtsministerium) vor allem seiner Ablehnung von Otto Glöckels Gesamtschulkonzept zu verdanken hatte, formulierte nach dem Hochschul-Organisationsgesetz 1955 noch das Schulorganisationsgesetz 1962 maßgeblich mit, die für die Bewahrung reaktionärer Zustände im Bildungssystem in der Zweiten Republik sorgten.

Resümee und Ausblick Die Befassung mit sozialen Netzwerken hat in den vergangenen Jahren nicht zuletzt dank der Entwicklungen im Internet einen veritablen Boom erfahren. Netzwerkanalysen wie die des US-Soziologen Mark Granovetter oder die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour und Kollegen erfreuen sich gerade auch für Untersuchungen wissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen großer Beliebtheit.37 Mit diesem Beitrag soll gezeigt werden, dass der Netzwerkansatz gerade auch zur Analyse antisemitischer Aktivitäten an Hochschulen hilfreich sein kann. Will man nicht nur von den Opfern des Antisemitismus berichten, sondern auch von den Antisemiten und der Umsetzsetzung ihrer rassistischen Ideologie, dann kommt man jedenfalls 35 »Was wird Hurdes tun  ?«, in  : Der neue Vorwärts, 15.7.1951. 36 Vgl. König 2012. 37 Für eine rezente Übersicht vgl. die Beiträge in Fangerau/Halling 2009.

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für das universitäre Milieu der Zwischenkriegszeit nicht umhin, die mehr oder weniger geheimen antisemitischen Netzwerke und ihre Interventionen in den Blick zu nehmen. Die hier vorgelegte Studie kann dafür nur ein Anfang sein, denn im Detail ist noch viel zu wenig über die Teilnehmer der Netzwerke (mitsamt den personellen Überschneidungen38), über ihre Treffen und Strategien, über ihre Opfern aber auch über die wissenschaftlichen Folgen ihres Tuns – etwa die Expansion der Geisteswissenschaften an der Universität Wien als Folge der disziplinären Zusammensetzung der »Bärenhöhle«-Teilnehmer – bekannt. Der hier verfolgte Netzwerkansatz stellt damit auch eine methodische Ergänzung zu jenen Studien dar, die in den letzten Jahren Universitätsgeschichte vor allem anhand von Kollektivbiografien und/oder entlang von markanten (universitäts)politischen Veränderungen schrieben.39 Zwar ist ein Teil der universitären Entwicklungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zweifellos den politischen Umbrüchen 1914, 1918/19, 1933/34, 1938 und 1945 geschuldet sowie einer mehr oder weniger strikten Sparpolitik seit 1900, die im Grunde bis heute anhält. Und insbesondere nach den Umbrüchen 1938 und 1945 kam es zu einem erheblichen Austausch bei den universitär tätigen WissenschaftlerInnen, die nach wie vor die entscheidende Bezugsgröße für die Qualität einer Universität sind. Doch ein erheblicher Teil des Niedergangs der Universität Wien in den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg war eben auch hausgemacht und passierte mehr oder weniger schleichend während der Zwischenkriegszeit  : Nicht wissenschaftliche Qualität war damals ausschlaggebend dafür, wer an der Universität Karriere machen konnte, sondern konfessionelle oder »rassische« Zugehörigkeit sowie politische Gesinnung. Und genau dafür sorgten die antisemitischen braun-schwarzen Beziehungsgeflechte.

Literatur und gedruckte Quellen Aly, Götz, Warum die Deutschen  ? Warum die Juden  ? Gleichheit, Neid und Rassenhass 1800– 1933, Frankfurt a.M. 2011. Arbeiter-Zeitung 1930. Ash, Mitchell G., Die Universität Wien in den politischen Umbrüchen des 19. und 20. Jahrhunderts, in  : Ash, Mitchell G./Ehmer, Josef (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft, Göttingen 2015, 29–172. Bauer, Wilhelm, »Nationales Zentrum in Wien. Die Entwicklung des Deutschen Klubs«, in  : Neue Freie Presse, 15.1.1939, 9. 38 Für eine erste vorbildliche Studie vgl. Budka/Jurman 2013 am Beispiel Hermann Junkers. 39 Vgl. zuletzt etwa die Arbeiten von König 2011  ; Pfefferle/Pfefferle 2014  ; Huber 2015  ; Ash 2015.

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Budka, Julia/Claus Jurman, Hermann Junker. Ein deutschösterreichisches Forscherleben zwischen Pyramiden, Kreuz und Hakenkreuz, in  : Bickel, Susanne/Fischer-Elfert, Hans-Werner/Loprieno, Antonio/Richter, Sebastian (Hg.), Ägyptologen und Ägyptologien zwischen Kaiserreich und Gründung der beiden deutschen Staaten (Beihefte zur Zeitschrift für ägyptische Sprache und Altertumskunde 1), Berlin 2013, 299–331. Ehrenberg, Kurt, Othenio Abels Lebensweg unter Benützung autobiographischer Aufzeichnungen, Wien 1975. Erker, Linda/Huber, Andreas/Taschwer, Klaus, Von der »Pflegestätte nationalsozialistischer Opposition« zur »äußerst bedrohlichen Nebenregierung«. Der Deutsche Klub vor und nach dem »Anschluss« 1938, in  : Zeitgeschichte 44 (2017), 78–97. Fangerau, Heiner/Halling, Thorsten, Netzwerke  : Allgemeine Theorie oder Universalmetapher in den Wissenschaften  ? Ein transdisziplinärer Überblick, Bielefeld 2009. Feichtinger, Johannes, Wissenschaft zwischen den Kulturen. Österreichische Hochschullehrer in der Emigration 1933–1945, Frankfurt a.M. u. a. 2001. Friedländer, Otto, Wolken drohen über Wien. Lebens- und Sittenbilder aus den Jahren vor dem ersten Weltkrieg, Wien 1949. Hergeth, Friedrich (= Paul Heigl), Aus der Werkstatt der Freimaurer und Juden im Österreich der Nachkriegszeit, Graz 1927. Huber, Andreas, Die Hochschullehrerschaft der 1930er- und 1940er-Jahre. Sozialstruktur und Karrierewege vor dem Hintergrund politischer Zäsuren, in  : Ash, Mitchell G./Ehmer, Josef (Hg.), Universität – Politik – Gesellschaft, Göttingen 2015, 649–696. Huber, Andreas, Katholisch-deutschnationale Eliten. Cartellverband, Deutscher Klub und ihre Mitglieder in der Hochschullehrerschaft der Universität Wien 1932–1950, in  : Kuhlemann, Frank-Michael/Schäfer, Michael (Hg.), Kreise – Bünde – Intellektuellen-Netzwerke, Bielefeld 2017, 189–220. König, Thomas, Irrfahrer und Dulder, Titanen und Halbgötter. Eine empirische Analyse eines Samples von HochschullehrerInnen von 1949 bis 1964, in  : Zeitgeschichte 38 (2011), 108–129. : Österreichische Hochschulpolitik in den König, Thomas, Die Entstehung eines Gesetzes   1950er-Jahren, in  : Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 23 (2012), 57–91. Meister, Richard, Die staatlichen Ersparungsmaßnahmen und die Lage der Wissenschaft, Wien 1933. Pauley, Bruce F., Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993. Pfefferle, Roman/Pfefferle, Hans, Glimpflich entnazifiziert. Die Professorenschaft der Universität Wien von 1944 in den Nachkriegsjahren, Göttingen 2014. R athkolb, Oliver (Hg.), Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2013. Redlich, Josef, Über die Situation für jüdische Gelehrte an den österreichischen Universitäten [verm. 1907], in  : R athkolb, Oliver (Hg.), Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20.  Jahrhundert, Göttingen 2013, 277–315. Reichspost 1922. Rosar, Wolfgang, Deutsche Gemeinschaft. Seyß-Inquart und der Anschluss, Wien u. a. 1971.

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Siegert, Michael, Warum Max Adler nicht Ordinarius wurde, in  : Neues Forum (November/Dezember 1971), 30f. Siegert, Michael, Numerus Juden raus. Professoren nehmen sich Freiheit der Wissenschaft, in  : Neues Forum (Jänner/Februar 1974), 35–37. Siegert, Michael, Die Gelbe Liste. Aus der Geheimgeschichte des Antisemitismus der 1. Republik Numerus Juden raus. Professoren nehmen sich Freiheit der Wissenschaft, in  : Forum (Juli/ August 1981), 22f. Staudigl-Ciechowicz, Kamila, Exkurs  : Akademischer Antisemitismus, in  : Olechowski, Thomas/Ehs, Tamara/Staudigl-Ciechowicz, Kamila, Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918–1938, Göttingen 2014, 67–77. Taschwer, Klaus, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert, Wien 2015 (= Taschwer 2015a). Taschwer, Klaus, Nachrichten von der antisemitischen Kampfzone. Die Universität Wien im Spiegel und unter dem Einfluss der Tageszeitungen, 1920–1933, in  : Grandner, Margarete/ König, Thomas (Hg.), Reichweiten und Außensichten. Die Universität Wien als Schnittstelle wissenschaftlicher Entwicklungen und gesellschaftlicher Umbrüche, Göttingen 2015, 99–126 (= Taschwer 2015b). Taschwer, Klaus, Das Fall Paul Kammerer. Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit, München 2016. Der neue Vorwärts 1951. Wandruszka Adam, »Siegfried« war der Arzt Georg Politzer, Die Presse, 27.7.1990. Wasserman, Janek, Black Vienna. The Radical Right in the Red City, 1918–1938, Ithaca 2014. Werfel, Franz, Eine blassblaue Frauenschrift, Frankfurt a.M. 2011 (orig. 1944). Whiteside, Andrew G., Georg Ritter von Schönerer. Alldeutschland und sein Prophet, Graz u. a. 1981. Wiener Montag 1945. Witzmann, Erich, Der Anteil der Wiener waffenstudentischen Verbindungen an der völkischen und politischen Entwicklung 1918–1938, Wien 1940.

Archivalische Quellen Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Gauakt Heinrich Srbik, BMI/ GA 49.317.

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Studierende der Universität Wien und ihr Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit Vorbemerkung »Ich erinnere mich insbesondere an die Ausdrücke ›Schmutzige Slaven‹, ›Balkanhunde‹. […] Ich antwortete  : ›Ich bin Jude.‹ Darauf versetze mir jemand von hinten einen Fusstritt ins Kreuz, so heftig, dass ich nur mit grösster Mühe das Gleichgewicht erhalten konnte (ich bin ein geübter Turner), und dann erhielt ich noch ­einige ­Stösse.«1 Diese Szene an der Universität Wien schilderte der aus dem heutigen Zagreb stammende Student Zdenko Vinski im Wintersemester 1932. Für ihn ging sie nochmals glimpflich aus, denn er fuhr fort  : »Ich drehte mich um und verlangte, dass derjenige, der mich geschlagen [hatte], sich melde, ich wolle ›mit ihm abrechnen‹. Es meldete sich aber keiner.«2 Auch noch Tage nach diesem Überfall randalierten nationalsozialistische Studenten an der Universität Wien weiter, beschimpften Studierende jüdischer Herkunft unflätig und attackierten sie brutal  : In größeren Gruppen fielen sie über ihre KommilitonInnen her, verprügelten sie mit Schlagringen oder Stahlruten, bedrängten sie mit Messern und traten die am Boden liegenden Opfer. Einige der zum Teil schwerverletzten Studierenden protokollierten wie auch Zdenko Vinski Tage danach die Ereignisse. Eine von ihnen war die Studentin Carola Koblitz  : »Wir kamen nur schrittweise in dem Gedränge vorwärts und waren plötzlich eingekeilt […,] und ehe wir uns noch der gefährlichen Situation, in der wir uns befinden, bewusst werden, ertönen wüste Pfuirufe, ich sehe Aktentaschen, Gummiknüttel und Stöcke auf meinen Begleiter herabsausen und fühle selbst dumpfe Schläge auf Schultern und Armen. […] Endlich gelingt es uns, dem geheiligten Boden akademischer Würde zu entfliehen. Mein Begleiter hat zwei klaffende Kopfwunden, aus denen das Blut fliesst, mein Mantel ist von oben bis unten blutbespritzt, meine Handschuhe rot und klebrig. Jetzt weiss * Die wissenschaftlichen Recherchen zu diesem Artikel wurden durch die finanzielle Unterstützung der Stadt Wien, konkret dem Wissenschafts- und Forschungsförderungsstipendium der Magistratsabteilung 7 – Kultur, möglich gemacht. 1 Archiv der Universität Wien, Akademischer Senat, Sonderreihe S 185, Kt. 295, Akt 513 (in Folge kurz  : UAW Akad. Senat S 185.513), Protokoll von Zdenko Vinski, 14.11.1932. 2 Ebd.

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ich ganz, was das ›Dritte Reich‹ bedeutet  – die Herrschaft schrankenloser, feiger Brutalität.«3 Unter dem Rektorat des Antisemiten Othenio Abel kam es im Oktober 1932 mit dieser Gewaltserie zu den bis dahin brutalsten Übergriffen auf jüdische Studierende an der Universität Wien in der Zwischenkriegszeit. Da auch US-amerikanische Studierende Opfer der Krawalle geworden waren und dies ihrem Konsulat meldeten,4 war Abel zu einem »Canossagang« zum amerikanischen Botschafter gezwungen.5 Für die nationalsozialistische »Deutschösterreichische Tages-Zeitung« stellte es eine »DemüAbb. 1  : Rektor Abel mahnt Burschenschafter tigung« dar, der man mit der Drohung nur gegen österreichische Jüdinnen und Juden antwortete  : »Aber die Zeit, in der solvorzugehen und ausländische Studierende zu verschonen. che Dinge unmöglich sein werden, steht vor der Tür  !«6 Einige Tage später erschienen in anderen Zeitungen Karikaturen des Rektors, in denen die Verletzung der »Gastfreundschaft« sowie ein zynischer Aufruf zur Mäßigung  – zumindest gegenüber ausländischen Studierenden  – zum Thema gemacht wurden.7

Die Tradition der Diskriminierung und Ausgrenzung Die Ausschreitungen im Oktober 1932 waren der vorläufige brutale Höhepunkt jahrelanger antisemitischer Übergriffe und verbaler Anfeindungen, betroffen davon

3 UAW Akad. Senat S 185.513, Protokoll von Carola Koblitz, 2.11.1932  ; vgl. zu den Ausschreitungen Erker 2015. 4 Akten in den National Archives in Washington D.C. belegen das intensive Interesse der US-AmerikanerInnen an den antisemitischen Ausschreitungen der 1920er und frühen 1930er Jahre an der Universität Wien  ; vgl. NARA, u. a. M 1209, 14. 5 Vgl. Der Morgen, 31.10.1932, 9. 6 Pauley 1993, 177  ; vgl. Taschwer 2015, 155f. 7 Vgl. u. a. Arbeiter-Zeitung, 30.10.1932, 17.

Studierende der Universität Wien und ihr Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit

Abb. 2  : Prozentueller Anteil der jüdischen Studierenden an der Universität Wien nach Konfession von 1903/04 bis 1932.

waren gleich mehrere Personengruppen  : gläubige Jüdinnen und Juden,8 nichtgläubige und keiner parteipolitischen Richtung angehörende Studierende, SozialistInnen, KommunistInnen und sogenannte »Liberale«. Für die von Brutalisierung und Politisierung dominierten Entwicklungen der Wiener Universität waren bereits die Jahre während des Ersten Weltkriegs und kurz danach sowie die heimkehrenden Studenten stark prägend. Vor allem die korporierten Studenten und zumal die ehemaligen Frontsoldaten unter ihnen knüpften an die akademische Feindschaft gegen Jüdinnen und Juden von vor 1914 an und machten sie nun – unter der Vorbildwirkung vieler ihrer antisemitischen Lehrer – an der Hochschule weiter salonfähig. 1919 kam es zur Gründung der »Deutschen Studentenschaft« als Dachorganisation deutscher Studierender an allen deutschsprachigen Universitäten Mitteleuropas, in der die österreichischen Universitäten als »Kreis VIII« eingegliedert waren.9 Beitreten durften nur deutschnationale, deutsch-völkische, ka8 Im Wintersemester 1932/33 wurden 2.451 der 12.870 Studierenden der Universität Wien als »israelitisch« geführt, vgl. UAW Rektorat, Stammzahl GZ. 70 aus 1932/33, Statistische Ausweise über die Inskriptionsergebnisse im laufenden Studienjahr. 9 Vgl. Lichtenberger-Fenz 1990, 34f.

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tholische und später auch nationalsozialistische Studierende. Obwohl jüdische KommilitonInnen ausgeschlossen waren, wurde die »Deutsche Studentenschaft« dennoch als die einzige offizielle Vertretung »aller« HörerInnen von den österreichischen Rektoren anerkannt.10 Ihre Mitglieder prägten gerade auch mit ihrem Antisemitismus die österreichische Hochschullandschaft  : So forderte die »Deutsche Studentenschaft« der Universität Wien, wie auch an anderen österreichischen Hochschulen, bereits 1920 einen Numerus clausus für Jüdinnen und Juden. Einer dieser »Deutschen Studenten« war Engelbert Dollfuß als Vertreter der katholischen Fraktion. Das Mitglied des Cartellverbands (CV) Franco-Bavaria, gegründet 1908, stellte gegenüber seinen jüdischen KommilitonInnen vor allem aus Galizien und der Bukowina klar  : »Hier hilft kein Herumdoktern, weg mit allen fremden Juden aus dem Osten, Beschränkung aller derer, die diesen den Weg vorbereitet haben, den sogenannten bodenständigen Juden, auf die ihnen […] nach ihren Köpfen gebührende Zahl  ! Nur so können wir unserer heimischen Jugend den akademischen Boden sichern«.11 Es gab viele prominente Vertreter, welche die Forderungen nach Zugangsbeschränkungen an den Universitäten unterstützten, einer von ihnen war der Wiener Rektor Karl Diener. Er betonte 1922 in der Tageszeitung »Reichspost«, dass der Abbau der »Ostjuden«, auf die bereits Dollfuß anspielte, im Programm jedes Rektors einer deutschen Hochschule einen herausragenden Platz einnehmen müsse. Der fortschreitenden »Levantisierung« der Hauptstadt, so Diener, müsse wenigstens an den Hochschulen Einhalt geboten werden.12 Die von Dollfuß und auch Diener geäußerte Angst teilte auch Ignaz Seipel, ebenfalls Mitglied im Cartellverband (Norica, gegründet 1883) und späterer Bundeskanzler. Der Prälat und Professor für Theologie an der Universität Wien stellte die alltägliche Diskriminierung von Jüdinnen und Juden in Österreich schon 1920 als reinen »Notwehrantisemitismus« in Zeiten wirtschaftlicher Knappheit dar und machte deutlich, dass die Jüdinnen- und Judenfeindschaft in großen Teilen seiner Partei zu den christlichsozialen Werten gezählt werden konnte.13 Antisemitismus war damals also in allen politischen Fraktionen der »Deutschen Studentenschaft« vertreten und kann daher nicht auf die deutschnationalen oder später die nationalsozialistischen Studierenden reduziert werden. Anders als an der Technischen Hochschule oder der Hochschule für Bodenkultur wurde an der Universität Wien Anfang der 1920er Jahre noch kein Numerus clausus durchgesetzt, wohl aber andere Maßnahmen, um den Anteil (ost)jüdischer Studie10 Vgl. Pauley 1993, 136f. 11 Reichspost, 24.9.1920, 5. 12 Vgl. Reichspost, 10.12.1922, 1  ; vgl. Arbeiter-Zeitung, 12.12.1922, 3. 13 Vgl. Reichspost, 23.9.1920, 2.

Studierende der Universität Wien und ihr Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit

render zu senken.14 Dies veranlasste wiederum deutschnationale und katholische Studierende, den aus ihrer Sicht als nötig empfundenen Kampf gegen Jüdinnen und Juden zu radikalisieren. Die Universität Wien wurde somit schon lange vor 1933 bzw. 1938 zur Kampfzone  : nicht (nur) im intellektuellen, sondern vielmehr im tatsächlich physischen Sinne.15 Wie Michael Gehler feststellte, ging im studentischen Denken »Antisemitismus und Antimarxismus meistens Hand in Hand, wobei sich katholische und nationale Verbindungsstudenten hierbei kaum in etwas nachstanden.«16 In einem weiteren Versuch, Jüdinnen und Juden als »Fremde« sichtbar zu machen, erließ der bereits damals mit dem Nationalsozialismus sympathisierende Strafrechtsprofessor Wenzel Gleispach als Rektor der Universität Wien im Frühjahr 1930 die sogenannte »Gleispach’sche Studentenordnung«. Er hatte dabei nicht nur die Rückendeckung der »Deutschen Studentenschaft«, sondern auch seiner Rektorenkollegen, des Akademischen Senats und des Ministeriums, das zu dieser Zeit von Heinrich Srbik geführt wurde. Er war antisemitischer Geschichte-Ordinarius der Universität Wien und Mitglied im »Deutschen Klub«.17 Dieser Erlass entsprach zwar nicht den jahrelangen Forderungen nach einer Zugangsbeschränkung für »jüdische« Studierende, doch er fasste alle Studierenden gleicher Abstammung und Muttersprache in einer sogenannten »Studentennation« zusammen. Statt nach Staatsbürgerschaft wurden die Studierenden nach ihrer Zugehörigkeit zu einem »Volk« eingeteilt und damit letztlich nach »rassischen« Kriterien.18 Bereits im Wintersemester 1928/29 war die Kategorie »Volkszugehörigkeit« als solche in den Nationalen – den Inskriptionsscheinen jener Zeit – eingeführt.19 1931 lag die Bestrebung darin, den Volksbürgergrundsatz auch in der Rechtsordnung zu verankern, um die »deutschen Studierenden« als geschlossene Volksgruppe vor der »Überflutung« durch die »fremden Juden« zu schützen.20 Die sozialistischen Studierenden sahen darin die Vollstreckung eines »blinden Antisemitismus deutschnationaler Studentenkreise«21 und kündigten der »Gleispach’sche Studentenordnung« den Kampf an, da der Erlass den Weg zur Unterteilung der Studierenden in verschiedene Wertkategorien weiter verfestigte.22 Wie auch in anderen 14 Beispielsweise wurden die Maturazeugnisse von angehenden Studierenden aus dem Osten besonders streng geprüft, was zu einem Rückgang führte, vgl. Taschwer 2015, 68f. 15 Vgl. Bauer 2016 sowie Hanak-Lettner 2015. 16 Gehler 1990, 107. 17 Vgl. Erker/Huber/Taschwer 2017. 18 Vgl. Posch 2008a, 63  ; vgl. Lichtenberger-Fenz 2004, 69. 19 Vgl. Posch 2008b, 143. 20 Vgl. Veiter 1938, 127. 21 Vgl. Tschadek 1931, 6. 22 Vgl. Brandstetter 2007, 63  ; vgl. Gall 1965, 90.

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hochschulpolitischen Bereichen wurden damit in der Zwischenkriegszeit bereits Entwicklungen vorweggenommen, auf die ab März 1938 die NationalsozialistInnen strukturell und ideologisch aufbauen konnten.23 Im Frühsommer 1931 wurde die »Gleispach’sche Studentenordnung« vom Verfassungsgerichtshof als rechtswidrig aufgehoben, allerdings aus rein formaljuristischen Gründen und nicht wegen einer prinzipiellen Ablehnung ihrer diskriminierenden Einteilung. Da die Wahlen an den Universitäten Anfang Februar 1931 noch nach Gleispachs »Studentenordnung« durchgeführt wurden, verweigerten linke Gruppen die Teilnahme, während nationalsozialistische Studierende versuchten ihre KollegInnen mit Krawallen einzuschüchtern. Knapp die Hälfte der Studierenden gab schlussendlich ihre Stimme ab. Mit 34 Prozent Abb. 3  : Nationalsozialisten mit Schmissen und (2.278 Stimmen) gewann der »NationalSchlagstock. sozialistische Deutsche Studentenbund« (NSDStB) knapp vor der katholischnationalen Studierendenvertretung mit 2.163 Stimmen.24 Der NSDStB setzte seine Erfolgsserie nicht nur an anderen österreichischen Hochschulen fort, sondern schaffte es auch, am 14. »Deutschen Studententag« im Juli 1931 in Graz den Vorsitz zu stellen.25 Die »Deutsche Studentenschaft« war somit in nationalsozialistischer Hand, eine Meldung, die Adolf Hitler der Überlieferung nach zu folgender Bemerkung veranlasste  : »Wenn eines mich an den Sieg der Bewegung glauben lässt, so ist es der Vormarsch des Nationalsozialismus in der Studentenschaft.«26

23 Vgl. Lichtenberger-Fenz 2004, 69. 24 Vgl. Tschadek 1931, 10. 25 Vgl. Höflechner 1988, 422. 26 Sauder 1983, 21, zit. n. Taschwer 2015, 148.

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Antisemitische Kontinuität an der Universität Wien (1933) Die Koalition zwischen den nationalsozialistischen und den katholisch-nationalen Studierenden wurde in den kommenden Monaten auch aufgrund des wachsenden Machtanspruchs der NationalsozialistInnen innerhalb und außerhalb der Universität sowie der Zuspitzung der innenpolitischen Lage in Österreich und Deutschland immer brüchiger. Zeitgleich mit Beginn des Wintersemesters und der offiziellen Amtsübergabe an den NS-Sympathisanten Othenio Abel begann Engelbert Dollfuß auf Basis des »Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetzes« zu regieren, was zu weiteren Spannungen führte.27 Nach einer Rede des Philosophie-Professors Hans Eibl, der die beiden Lager zumindest an der Universität wieder versöhnen wollte, kam es Anfang Dezember 1932 in den Wiener Sofiensälen zu einer ersten Konfrontation zwischen nationalsozialistischen Studierenden und ihren katholischen Kommilitonen.28 Nach weiteren gewaltsamen Ausschreitungen tags darauf im Zuge des traditionellen Samstags-Bummels verließen die katholisch-deutschen Studierenden die »Deutsche Studentenschaft«. Heinrich Drimmel, späterer austrofaschistischer Studentenführer, fasste die Bedeutung dieses Bruchs in seinen Erinnerungen 1975 zusammen  : »An diesem Tag zerriß etwas in Österreich, das niemals mehr geknüpft werden sollte  : die in der Ära des Bundeskanzlers Ignaz Seipel gelungene politische Allianz der Christlichen und der Deutschnationalen.«29 Dieser Riss hatte zwar innenpolitische Folgen, aber kaum Auswirkungen auf den von Antisemitismus geprägten Alltag vieler Studierender. Die »Hakenkreuzler« lebten ihren antisemitischen Terror gegen angebliche und tatsächliche Jüdinnen und Juden weiter aus. Neu war nur, dass die prügelnden NS-Studenten sich ab diesem Moment immer wieder Schlägereien mit ihren katholischen Kollegen lieferten. Antisemitisch motivierte Übergriffe wurden, wie schon in den Jahren zuvor, auch zu diesem Zeitpunkt in den Akten der universitätsinternen Disziplinarverfahren kaum explizit dokumentiert. Wenn überhaupt wurden sie unter »Störung der öffentlichen Ruhe und Ordnung« verbucht, antisemitisch motivierte Schlägereien waren anscheinend keine inkriminierenden Handlungen. Dem entspricht auch ein Zitat aus den Erinnerungen Anton Freuds, Neffe von Sigmund Freud, der die damalige

27 Vgl. RGBl. 307/1917. 28 Vgl. Höflechner 1988, 436. 29 Drimmel 1975, 169.

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Situation in folgenden Worten beschreibt  : »Antisemitismus war etwas Natürliches, sodaß man darüber nicht sprechen brauchte.«30 Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel bzw. den antisemitischen Alltag  : In den Disziplinarfällen der beiden angehenden Juristen Max H. und Franz F. wurden ihre Opfer als »Juden« bezeichnet. Der weitere Verlauf ihres Verfahren weist ihren Fall allerdings wieder als ganz »normal« aus  : Die beiden Studenten wurden im Frühjahr 1933 angezeigt, weil sie in einer Vorlesung des Juristen Ernst Schönbauers Studierenden das angesteckte Dreipfeilabzeichen der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei« heruntergerissen, jüdische KollegInnen mit Papierkügelchen und Apfelresten beworfen und die Meldungsbücher jüdischer Studenten mit Propagandamarken beklebt hatten.31 Sogar die sozialdemokratische »Arbeiter-Zeitung« widmete den Vorfällen eine Karikatur. Max H. und Franz F. erhielten für ihre Übergriffe eine Rüge und Verwarnung durch Rektor Abel, der ihre Taten aber in einem Schreiben herunterspielte und ihre Vergehen lediglich als Zeichen der Unreife von Mittelschülern, ja gar als kindische Lausbubenstreiche bagatellisierte.32 Weder Max H. noch Franz F. wurden außerhalb der Universität für ihre Übergriffe belangt  ; im Gegenteil  : Abel forderte den Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät sogar auf, kein universitätsinternes Verfahren gegen die beiden Studenten zu eröffnen und die Sache ruhen zu lassen. Die Aktionen von Max H. und Franz F. waren offensichtlich »normal«, denn der Antisemitismus an der Universität Wien gehörte zum Alltag. Wesentlich mehr Aufmerksamkeit erhielten die antisemitischen Ausschreitungen anderer Studierender im März und Mai 1933, also unmittelbar nach Ausschaltung des Parlaments durch die Austrofaschisten  : Nachdem die nationalsozialistischen Studenten gemeinsam mit den Studenten des »Waffenrings«, eines nationalsozialistischen »Kampfverbands«,33 im Rahmen einer Veranstaltung ihrer Gefallenen des Ersten Weltkriegs gedacht hatten,34 überfielen 40 von ihnen am 17. März – wie schon so oft zuvor – das Anatomische Institut in der Währinger Straße im 9. Wiener Gemeindebezirk. Neben KommilitonInnen attackierten sie auch zwei Mitarbeiter der Lehrkanzel von Julius Tandler, den außerordentlichen Professor für Anatomie, Anton Hafferl und den Assistenten Louis Bergmann. Beide versuchten sich schützend vor die »lin-

30 Freud 1993, 21. 31 Vgl. UAW Akad. Senat S 185.524 Schreiben 28.3.1933. 32 Vgl. UAW Akad. Senat S 185.524 Schreiben 28.3.1933. 33 Cermak 1990, 7. 34 Vgl. Reichspost, 12.3.1933, 11.

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ken« und (vermeintlich) jüdischen Studierenden zu stellen.35 Die Tagespresse berichtete ausführlich darüber.36 Fanny Stang (geborene Knesbach) war damals Medizinstudentin an der Universität Wien und erinnerte sich in ihrer Autobiografie aus dem Jahr 1988 ebenfalls an Ausschreitungen im März 1933.37 Plötzlich, so schrieb Stang, sah sie in der Vorlesung Tandlers in den oberen Hörsaalreihen Burschenschafter mit Kappen, die das Horst-Wessel-Lied sangen und begannen, die engen Gänge zwischen den Sitzreihen hinunter zu gehen, wobei sie »Juda verrecke« schrien. Sie schlugen auf »jüdisch« aussehende Studierende ein, als Tandler den Hörsaal betrat  : »Summing up the situation at a glance he took off his white coat and threw it on the table in front of him. Even the Nazis had frozen into silence. ›Gentlemen, unless all my students resume normal academic behaviour I shall stop all anatomy lectures this semester. You have five minutes to clear the theatre and restore order.‹«38 Tandler hatte mit seiner Intervention Erfolg  : »The largely imported Nazi groups made themselves scarce, no doubt encouraged by their medical comrades. The closure of Tandler’s lectures would have meant the

Abb. 4  : Karikatur der »Arbeiter-Zeitung« aus Anlass der Disziplinarverfahren gegen H. und F.

35 Vgl. Neue Freie Presse, 17.3.1933, 2. Für eine abweichende Darstellung der Ausschreitungen vgl. UAW Akad. Senat S 185.528. 36 Vgl. u. a. Arbeiter-Zeitung, 18.3.1933, 7. 37 Vgl. Kniefacz 2014. 38 Stang 1988, 100.

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anatomy exams could not be held and thus the loss of half a year for Jew and Aryan alike.«39 Nicht viele Professoren, wie Stang ergänzte, stellten sich wie Tandler den Ausschreitungen entgegen. Doch auch er konnte die nationalsozialistischen Studenten nicht daran hindern, am 9. Mai 1933 erneut »die Anatomie« zu überfallen. Nun mussten HörerInnen Tandlers, unter ihnen erneut US-amerikanische Studierende, das im ersten Stock gelegene Institut mithilfe von Feuerwehrleitern über die Fenster verlassen, da vor der Tür bereits nationalsozialistische Studierende auf sie warteten und sie verprügelten.40 Nachdem sich der US-amerikanische Gesandte erneut offiziell über die Zustände an den Universtäten beschwert hatte, kamen die Ausschreitungen sogar auf die Tagesordnung im Ministerrat der austrofaschistischen Regierung, die seit März ohne Parlament autoritär durchgreifen konnte. Am 10. Mai 1933 berieten die Minister, wie sie die Ausschreitungen auf universitärem Boden eindämmen könnten. Bis dahin stützten sich die Universitäten auf eine Art Gewohnheitsrecht, demzufolge die Polizei universitären Boden allenfalls nach Aufforderung des Rektors betreten durfte. Aufgrund der Ausschreitungen der nationalsozialistischen Studierenden im Mai wurde dieses Privileg auf politischer Ebene offiziell hinterfragt. Letztlich verblieb der Ministerrat aber dabei, dem Rektor eine Verwarnung zu erteilen und der Drohung, bei erneuten Ausschreitungen auch mit polizeilichen Mitteln einzugreifen.41

Austrofaschistische Programmatik Als Ende Mai 1933 Kanzler Dollfuß und Unterrichtsminister Kurt Schuschnigg aufgrund von NS-Ausschreitungen gegen katholische Studierende am Besuch einer »Helden«-Feier (in Erinnerung an Albert Leo Schlageter) an der Universität Wien gehindert wurden,42 betrat tatsächlich die Polizei nach einigen Jahren wieder universitären Boden. Wenig später wurde die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) verboten und auch die »Deutsche Studentenschaft« aufgelöst.43 Es darf bezweifelt werden, dass es dabei darum ging, die jüdischen Studierenden vor den po39 Ebd. 40 Vgl. Der Abend (Nachmittagsausgabe), 9.5.1933, 1f.; vgl. Nemec/Taschwer 2013. 41 Vgl. Enderle-Burcel 1983, 316–318. 42 Leo Schlageter war ein deutscher Soldat, der 1923 als »Held des Ruhrkampfes« von Franzosen im Zuge der französisch-belgischen Ruhrbesetzung erschossen worden war. Dass er auch frühes Parteimitglied in der NSDAP war, durfte für diese feierliche Instrumentalisierung offensichtlich nicht hinderlich gewesen sein. Vgl. Bauer 2012. 43 Vgl. BGBl. 240/1933 und Höflechner 1988, 471. Was nationalsozialistische Studierenden nicht

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gromartigen Übergriffen zu schützen. Vielmehr setzte die Regierung alles daran, die wachsende innenpolitische Macht der NationalsozialistInnen zu brechen. An Stelle der »Deutschen Studentenschaft« rief die Regierung die »Hochschülerschaft Österreichs« (HÖ) als neue Einheitsvertretung für alle Studierenden Österreichs ins Leben, die nach dem Führerprinzip organisiert war. Die am 1.  Oktober 1933 staatlich ernannten »Sachwalter« sollten als Verbindungsmänner zwischen der Regierung, der Universität und den Studierenden dienen. Der CV, der sich mittlerweile Österreichischer Cartellverband (ÖCV) nannte, diente als maßgeblicher Rekrutierungspool  : Die ersten beiden Sachwalter der Universität Wien, Josef Klaus und ab Jänner 1934 Heinrich Drimmel, gehörten der Verbindung Rudolfina (gegründet 1898) bzw. Nordgau (gegründet 1900) an. Die HÖ fühlte sich, wie ihre Vorgängerinstitution, offenkundig auch nicht für alle Studierenden gleichermaßen zuständig, da sie ihre Informationen über Sozialleistungen und -einrichtungen der Abteilung 7 »Wirtschaft und Fürsorge« zwar stets kostenfrei zustellte, allerdings nur an »nichtjüdische« HörerInnen.44 Diese eindeutig antisemitische Grundausrichtung wurde offensichtlich von der Vorgängerorganisation der »Deutschen Studentenschaft«, dem »Deutsch-akademischen Fürsorgeinstitut (Dafi)«, übernommen.45 Aber nicht nur über die Funktion des Sachwalters und ihm untergeordneten Fachgruppen an den Fakultäten versuchte man die Universität und ihre Studierenden neu zu führen und zu befrieden. Vielmehr wurden knapp zwei Wochen nach der Einführung des Amts des Studentenführers auch vorübergehende besondere Disziplinarkommissionen für Studierende im Bundesministerium für Unterricht eingerichtet und so der akademischen Behörde im großen Maße die Entscheidungskompetenz über die öffentliche Ruhe und Ordnung entzogen.46 Bis dahin gab es zwei Arten von Sanktionierungsmöglichkeiten von Studierenden  : Lehrende wie auch Studierende hatten zusätzlich zu einer strafrechtlichen Ahndung auch ein Disziplinarverfahren an ihrer Hochschule zu befürchten, falls ihre Tat eines Akademikers »unwürdig« war und somit die universitätsinterne Disziplinarordnung verletzte. Die Verlagerung eines großen Teils der Disziplinarverfahren (vor  allem der Verfahren wegen illegaler parteipolitischer Betätigung) hin zum Unterrichtsministerium bedeutete einen Eingriff in die akademische Tradition und in die Struktur der Hochschulgremien. Auf

daran hinderte noch im Juli 1933 einen Numerus clausus für Jüdinnen und Juden zu fordern. Vgl. Reichspost, 20.7.1933, 4. 44 Vgl. Wagner 2010, 204  ; vgl. o. A., »An alle Kollegen  !«, in  : Österreichische Hochschulzeitung, Jg. 3, Nr. 6, 20.12.1937, 9. 45 Vgl. Kultur- und Bildungsinstitut 1935, 34. 46 Vgl. BGBl. 474/1933  ; vgl. UAW Akad. Senat S 185.782 Schreiben 20.9.1934.

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Abb. 5  : Gesamtzahl der eröffneten Disziplinarverfahren gegen Studierende an der Universität Wien (wegen oppositioneller Aktivitäten wie auch aus »unpolitischen« Gründen).

diese verschärfte staatliche Lenkung reagierten die Universitätssenate erfolglos mit (schriftlichen) Protesten, sie wurden sukzessive entmachtet.47 Gleichzeitig mit der Einführung der »besonderen Disziplinarkommissionen« stiegt die Zahl der eröffneten Disziplinarverfahren deutlich an  : Schon im Jahr 1933 spiegelte sich dabei das Kräfteverhältnis zwischen den »linken« und den nationalsozialistischen Studierenden in der Anzahl der politisch motivierten Disziplinarverfahren von 1  :6 wider. 86 Prozent aller eröffneten Verfahren wegen (illegaler) parteipolitischer Betätigungen gingen 1933 auf das Konto der NationalsozialistInnen und in den Folgejahren setzte sich dieser Trend fort. Von nun an konnten Studierende bei politischem Fehlverhalten für das laufende und die zwei folgenden Semester verwiesen werden, die Höchststrafe für opposi47 Vgl. ÖStA, Allgemeines Verwaltungsarchiv – Finanz- und Hofkammerarchiv (AVA), Unterricht Allgemein (1848–1940), Sign. 2C1, Disziplinarkommission 1920–1936, Kt. 308, GZ. 36.999-I/33/1933.

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tionelle Betätigung war die Verweisung auf Lebzeiten. Eine weitere entscheidende Verschärfung im Bereich der Disziplinierung der Studierenden war die Ernennung Otto Skrbenskys zum Kommissär für die »Aufrechterhaltung der Disziplin unter den Studierenden an den Hochschulen« in direkter Folge des nationalsozialistischen Juli-Putschs 1934.48 Er löste die »besonderen Disziplinarkommissionen« im Ministerium ab und fällte, wie beispielweise auch im Fall von Bruno Kreisky, harte Urteile. Skrbensky sperrte den Jus-Studenten Kreisky 1935 wegen seiner politischen Aktivitäten, wie er schrieb »von der Zulassung zu allen mit dem Hochschulstudium im Zusammenhang stehenden Prüfungen und der Verleihung akademischer Grade sowie von jeder Benützung der Hochschuleinrichtungen an allen österreichischen Hochschulen«49 aus und versagte ihm auch knapp ein Jahr später die Erlassung der Strafe im Zuge eines Gnadengesuchs. Neben diesen immer härteren Repressionsmaßnahmen gegen HochschülerInnen versuchte man die Studierenden durch Vermittlung vaterländischer Inhalte im Rahmen des Studiums zu formen. Hier wurde auch der Anspruch der Austrofaschisten an die universitäre Bildung und die neue Programmatik deutlich  : Hochschulen sollten zu politischen Erziehungsanstalten umgebaut werden. Dem entsprach, dass die Teilnahme an vormilitärischen Wehrsportübungen und die Ableistung einer Schulungsdienstzeit in Hochschullagern in den wichtigsten hochschulpolitischen Neuerungen – dem Hochschulermächtigungsgesetz und dem -erziehungsgesetz aus dem Jahr 1935  – festgesetzt wurden.50 Wo diese Maßnahmen nicht erfolgreich waren, drohten – wie bereits skizziert – immer strengere Disziplinarstrafen gegen politisch oppositionelle Studierende und beispielweise die Inhaftierung im größten austrofaschistischen Anhaltelager, in Wöllersdorf.51

Antisemitismus unter »Regierungsstudenten« und deren Vorbilder Die brutalen antisemitischen Ausschreitungen gegen Studierende an der Universität Wien dürften mit dem Einsetzen der austrofaschistischen Repressionsmaßnahmen 1933/34 tatsächlich zurückgegangen sein. Das war in erster Linie eine Folge der Disziplinarverfahren gegen die NS-Studierenden, die nicht wegen ihres Antisemitismus, sondern als GegnerInnen der Regierung und der katholischen Studierenden sanktio48 Vgl. BGBl. II 232/1934. 49 Vgl. Pfefferle/Pfefferle 2014, 47. 50 Vgl. Vgl. BGBl. 266, 267/1935 sowie vgl. Ehs 2014. 51 Vgl. BGBl. 431/1933.

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niert wurden. Es gab in den Jahren nach der Ausschaltung des Parlaments jedenfalls keine direkten Maßnahmen, um den Antisemitismus an den Hochschulen einzudämmen. Dieser blieb vielmehr auch ein Teil der Grundhaltung vieler »Regierungsstudenten«,52 deren Vorbilder bzw. Anführer sich, ganz im Sinne der bereits aufgezeigten akademischen Tradition schon vor 1914, vor allem aber seit den 1920er Jahren, klar antisemitisch geäußert hatten und keinen Grund sahen, dies offiziell wie inoffiziell in den Jahren 1933 bis 1938 zu ändern.53 Bereits bei Richard Schmitz’ 1932 veröffentlichten Kommentar zum Parteiprogramm wird deutlich, dass der Antisemitismus bei vielen christlichsozialen Organisationen zur Grundeinstellung gehörte. Er war für Schmitz »seit den Anfängen der Bewegung ein Stück des christlichsozialen Wesens. Kein bloßes Agitationsmittel, sondern ein Teil des Programmes.«54 Ähnliches kann auch für die austrofaschistischen Studierenden behauptet werden, was sich beispielsweise mit einem Blick in die Verbandszeitschrift des CV »ACADEMIA« bestätigt. Im »CV der Katholischen Deutschen Studenten-Verbindungen« war bis Sommer 1933 auch der österreichische Teil des CV vertreten, er war die wichtigste katholische, farbentragende, nichtschlagende Studentenverbindung in Österreich. Im Herbst 1933, also nur ganz knapp nach dem Austritt der Österreicher, wurde hier eine interessante Abhandlung zur »Judenfrage« abgedruckt. Der Autor, ein Professor aus Breslau, ließ klare Sympathien für den »völkischen« Antisemitismus erkennen, um dann allerdings festzuhalten  : »Viel bedeutsamer ist die Stellung zur Judenfrage von der religiösen, kirchlichen Seite her.«55 Für den Verfasser war es offensichtlich, dass zwischen dem Christentum und dem Judentum der Kampf auf Leben und Tod auch noch 1933 so aktuell war »wie zwischen Christus und den jüdischen Gegnern seiner Zeit«.56 Dieser Ausschnitt ist einerseits deshalb interessant, weil der Antisemitismus  – im Gegensatz zum biologisch-rassischen Antisemitismus der NationalsozialistInnen – religiös und völkisch begründet wurde (wobei die Grenzen hier nicht immer klar zu ziehen sind). Andererseits zeigt er, dass trotz des Rückgangs antisemitischer Schlägereien die Diskriminierung von jüdischen Studierenden fortbestand, was eine intensivere Auseinandersetzung mit studentischen Zeitschriften der Jahre 1933 bis 1938 gewiss bestätigen würde.57 52 Gehler 1990, 322. 53 Vgl. Tálos 2013, 473–477. 54 Generalsekretariat 1932, 67. 55 Grundsätzliches zur Judenfrage, in  : Weiss 1933, 166–167, hier 166. 56 Ebd. 57 Z.B. die »Akademischen Nachrichten«, die Zeitschrift der Österreichischen Hochschülerschaft, der »Heimatschutzstudenten«, das »Jahrbuch der Österreichischen Hochschülerschaft« oder auch die »academia«.

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Aber nicht nur an studentischen Publikationen, auch an etlichen Funktionären im Hochschulbereich, nicht zuletzt aus dem (Ö)CV, lassen sich antisemitische Traditionen festmachen. Das gilt etwa für die ersten beiden Studentenführer bzw. Sachwalter der Universität Wien  : Der Jus-Student Josef Klaus war, noch bevor er austrofaschistischer Sachwalter an der Universität Wien wurde, als Mitglied der CV-Verbindung Rudolfina und Vertreter der »Fraktion der Katholisch-Deutschen Hochschülerschaft Österreichs« (KDHÖ) in der »Deutschen Studentenschaft« mit offenen antisemitischen Positionen aufgefallen. Als KDHÖ-Funktionär unterschrieb er 1932 einen »offenen Brief« gegen den Dekan der Medizinischen Fakultät Ernst Peter Pick.58 Der Grund des Schreibens  : Klaus und seine Gesinnungsgenossen wollten »als ihre Führer nur deutsche Lehrer anerkennen  !«59 Der Pharmakologe Pick war als »Jude« für sie nicht tragbar. Nach dem Juli-Abkommen des Jahrs 1936, das eine Annäherung zwischen NS-­ Deutschland und Österreich einleitete, wurde der Antisemitismus innerhalb der gleichgeschalteten Studentenvertretung und auch im ÖCV wieder expliziter. So ließ Emmerich Czermak, zwischen 1929 und 1932 mit Unterbrechungen christlichsozialer Unterrichtsminister und vor 1930 Mitglied der antisemitischen »Deutschen Gemeinschaft«, im Jahr 1936 bei einer Schulungstagung vor jungen CV-Mitgliedern verlauten  : »Die Judenfrage existiert daher sicherlich auch für uns CVer, aber wir haben sie im CV gelöst […]  : wir sind judenrein. Bei uns ist der Arierparagraph erfüllt […]. Für uns war es immer selbstverständlich, daß Halbjuden und jüdisch Belastete nicht in unsere Reihen gehören. Der sogenannte Rassenstandpunkt ist also durch uns praktisch richtig gehandhabt worden.«60 Im selben Jahr zeigte auch Heinrich Drimmel, oberster Sachwalter der HÖ und hochschulpolitischer Führer der Heimwehren,61 keine Berührungsängste mit dem nationalsozialistischen »Waffenring«, im Gegenteil  : Drimmel hatte sich bereits seit dem Juli-Abkommen 1936 bemüht, die »Waffenring«-Studenten in die Hochschülerschaft zu integrieren. Er sah sich selbst als Vermittler zwischen den waffentragenden studentischen Verbänden, die nach 1933 als »Prätorianergarde der Nationalsozialisten« galten.62 Diese Vereinigung innerhalb der HÖ kam allerdings nie zustande, da die »Nationalen« zu viel forderten. Sie verlangten, die vormals aufgelösten nationalen Verbindungen zu reaktivieren, was auch Drimmel nicht ermöglichen konnte.63 58 Vgl. Taschwer 2015, 152f. 59 Hubenstorf 1989, 269. 60 Czermak 1936, 61. 61 Vgl. Hartmann 2014. 62 Gehler 1990, 396. 63 Vgl. ebd., 322.

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Drimmels Engagement erwies sich für die Zeit nach dem »Anschluss« als vorteilhaft  : Im Gegensatz zu anderen austrofaschistischen Funktionsträgern wurde er nicht umgehend von den NationalsozialistInnen inhaftiert, was er nach eigenen Angaben auf genau diese guten Beziehungen zu den nationalen Studenten in den Jahren seiner Sachwalterschaft zurückführte.64 In der Zweiten Republik nahm er als Unterrichtsminister von 1954 bis 1964 einen noch prominenteren Platz im österreichischen Bildungswesen ein und blieb damit seinem Ressort verbunden – was sich übrigens in so mancher Kulanz gegenüber den ehemaligen NationalsozialistInnen zeigte.65 Auch in der »Österreichischen Hochschulzeitung« wurde nach dem Juli-Abkommen 1936 die »Judenfrage« in zwei aufeinanderfolgenden Kommentaren explizit behandelt – im Unterschied zu den Jahren zuvor, in denen so gut wie nie offen über das Thema geschrieben wurde.66 Ein namentlich nicht erwähnter Autor erhielt im November 1937 gleich am Titelblatt die Möglichkeit, wirtschaftlich, religiös und »rassisch« begründete Bedenken gegenüber Jüdinnen und Juden zu äußern. Als Lösung »der Spannungen« verwies er auf das Gleichnis vom wartenden Bettler vor den Toren Roms und zitierte damit den Philosophen Martin Buber, der den Jüdinnen und Juden den Weg in den Zionismus und nach Palästina empfahl.67 In der darauffolgenden Ausgabe knüpfte ein weiterer anonymer Autor am offenen Antisemitismus an und äußerte seine »Gedanken zur Judenfrage« vor allem aus wirtschaftlicher Perspektive. Neben den gängigen Stereotypen, in denen er von »jüdischen Banken« sprach, die den Finanzsektor dominierten, sah auch er »die Juden« als Teil eines »Fremdvolkes«, das dem »Wirtsvolk« (zu dem er sich zählte) die Arbeitsplätze wegnahm und deren »Schutzpatron« die Presse war. Obwohl der Text in einer Hochschulzeitung erschien, ging er auf »die Juden« an den österreichischen Universitäten eigentlich gar nicht ein.68 Vor dem Hintergrund der schrittweisen Annäherung an NS-Deutschland im Zuge des Juli-Abkommens 1936 bis hin zum Berchtesgadener-Abkommen im Februar 1938 erscheinen diese beiden Kommentare am Vorabend des »Anschlusses« als eine publizistische Anbiederung an NS-Deutsch-

64 Vgl. Hartmann 2014. 65 Vgl. Erker 2017, 183f. 66 Vgl. Pauley 1993, 328. 67 Im Original heißt es in der Zeitschrift  : »Das sind Möglichkeiten, bestehende Spannungen zu mildern oder ganz zu beseitigen. Eine Lösung der Judenfrage ist nur in einem Sinn denkbar. Diesen Weg zeigt vielleicht eine alte chassidische Legende  : ›Vor den Toren Roms sitzt ein aussätziger Bettler und wartet. Es ist der Messias, der dort auf dich wartet …«, zit. n. Österreichische Hochschulzeitung 3 (1937), Nr. 5 (20.11.1937), 1f. 68 Vgl. Österreichische Hochschulzeitung 3 (1937), Nr. 6 (6.12.1937), 6.

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land und nicht als das große publizistische Finale des Antisemitismus unter den »Regierungsstudenten«.

Die Gretchenfrage  ? In der Betrachtung der Zwischenkriegszeit wird deutlich, dass der Antisemitismus unter den Studierenden der Universität Wien lange vor 1938, aber eben auch vor 1933, viele Vorbilder sowohl in Studierenden-, Lehrenden- als auch Politikerkreisen hatte. Diskriminiert wurden Jüdinnen und Juden in den 1920er und frühen 1930er Jahren an den Hochschulen auf vielfältige Weise  : Man verwehrte ihnen den Zugang zur studentischen Vertretung und forderte ihre zahlenmäßige Beschränkung  ; darüber hinaus wurden sie von ihren KommilitonInnen verbal gedemütigt und waren regelmäßig Mittelpunkt unzähliger Schmäh- und Hetzschriften sowie Sündenböcke und Feindbild für deutschnationale, nationalsozialistische und katholische Studierenden innerhalb der »Deutschen Studentenschaft«. Nach deren Auflösung gingen die beinahe alltäglichen antisemitischen Krawalle, die im Studienjahr 1932/33 ihren Höhepunkt fanden, durch die zunehmende austrofaschistische Repressionspolitik gegen NS-Studierende und die Neuausrichtung der Hochschulen zurück. Der (brutale) Antisemitismus verlagerte sich für kurze Zeit zwischen 1934 bis 1938 allerdings nur auf die Hinterbühne,69 er wurde »inoffiziell«, aber nie verpönt.70 Walter Sokel erinnerte sich im Jahr 2008 an die letzten beiden Jahre vor dem »Anschluss« an die Universität Wien  : »Wir jüdischen, das heißt als nicht arisch geltenden Studenten, fanden uns isoliert, völlig auf uns allein angewiesen, ohne kameradschaftliche, ohne gesellschaftliche Beziehungen zu unseren sogenannten arischen Kommilitonen. […] Wir waren ghettoisiert.«71 Wie viele andere erfuhr auch Sokel, wie mit dem »Anschluss« 1938 die Situation für jüdische Studierende nun völlig eskalierte  : Der (Selbst-)Gleichschaltung der österreichischen Universitäten und der systematische Ausschluss von mehr als 2.230 Studierenden durch die NationalsozialistInnen auf Basis der 1935 erlassenen antisemitischen Nürnberger Gesetze zwangen Sokel endgültig, »seine« Alma Mater zu verlassen.72 Er flüchtete in die USA, konnte im Exil Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft studieren. 1953 promovierte er an der Columbia University 69 Vgl. Fleck/Müller 1992. 70 Vgl. Tálos 2013, 474. 71 Sokel 2008, Minute 5  :56–7  :39. 72 Vgl. Posch 2008c, 352.

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Abb. 6  : Prozentueller Anteil der jüdischen Studierenden an der Universität Wien (nach Konfession) 1933 bis 1938.

in New York, forschte danach zur Literatur des 20. Jahrhunderts und zur deutschen Geistesgeschichte. Mit seinen Arbeiten über Franz Kafka und Friedrich Nietzsche verbuchte er große Erfolge.73 2008 war er Ehrengast der Universität Wien, um hier am 70. Jahrestag des »Anschlusses« eine vielbeachtete Rede zu seiner Studienzeit im Dollfuß/Schuschnigg-Regime sowie seinen Erfahrungen als vertriebener Student der Universität Wien zu halten, aus der die zuvor zitierten Sätze stammen. Sokel fand in der Rede aber auch noch eine andere eindrückliche Beschreibung des stillschweigenden Antisemitismus unmittelbar vor dem »Anschluss«, nämlich als gespenstische Ruhe vor dem Sturm – ganz im Kontrast zu den anfangs zitierten Schilderungen von Zdenko Vinski und Carola Koblitz aus dem Jahr 1932. Sokel erinnerte sich  : »Was ich an der Universität vorfand, waren keine Schlägereien, keine Krawalle, keine physischen Angriffe mehr auf jüdische Studenten, sondern die Vorzeichen dessen, was später als Shoa so grau-

73 Vgl. Ingrisch/Posch 2015  ; Erker/Posch 2015.

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enhaft bekannt werden sollte. Ich meine damit eine stillschweigende, nicht offizielle, totale Ausgrenzung der Juden aus der Gemeinschaft.«74

Abbildungen Abb. 1  : Karikatur in Der Morgen 31.10.1932, 9. Abb. 2  : Prozentueller Anteil der jüdischen Studierenden an der Universität Wien nach Konfession von 1903/04 bis 1932, vgl. Goldhammer 1927, 39  ; Reichspost 3.3.1918, 7  ; soweit vorhanden vgl. UAW Rektorat, Stammzahl GZ. 70, Statistische Ausweise über die Inskriptionsergebnisse im laufenden Studienjahre zwischen 1903/04 und 1932  ; vgl. Taschwer 2015, 68. Für die Jahre 1917 bis 1921 sind keine Zahlen der jüdischen Studierenden überliefert. Abb. 3  : Nationalsozialisten mit Schmissen und Schlagstock. Leuchtrakete, Nr. 8, 1932, 4. Abb. 4  : Karikatur der »Arbeiter-Zeitung« aus Anlass der Disziplinarverfahren gegen H. und F., Arbeiter-Zeitung, 21.3.1933, 6. Abb. 5  : Gesamtzahl der eröffneten Disziplinarverfahren gegen Studierende an der Universität Wien (wegen oppositioneller Aktivitäten wie auch aus »unpolitischen« Gründen)  ; Eigene Erhebungen auf Basis der Sonderreihe 185 im Bestand Akademischer Senat des UAW, endgültige Ergebnisse werden in der Dissertation der Autorin veröffentlicht. Abb. 6  : Prozentueller Anteil der jüdischen Studierenden an der Universität Wien (nach Konfession) 1933 bis 1938, vgl. UAW Rektorat, Stammzahl GZ. 70 von 1932 bis 1938, Statistische Ausweise über die Inskriptionsergebnisse im laufenden Studienjahr, Erhebungen stets aus dem Sommersemester.

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Antisemitismus an der Universität Innsbruck Vom »Waidhofener Prinzip« zum »Ständestaat« (1896 bis 1938) Antisemitismus im »Ständestaat« Für die Jahre des Austrofaschismus 1933–1938 verschwindet der offene akademische Antisemitismus an der Oberfläche aus den Akten des Rektorats und der Fakultäten im Innsbrucker Universitätsarchiv. Emmerich Talos spricht in seinem Buch »Das austrofaschistische Herrschaftssystem«1 vom »inoffiziellen Antisemitismus« oder vom »alltäglichen Antisemitismus«. Mitchell G. Ash spricht ebenfalls 2013 in einem Beitrag über jüdische WissenschaftlerInnen an der Universität Wien2 von dem für jüdische Gelehrte im Vergleich zu 1938 »kleinen Einschnitt« des Jahres 1933/34  : Die Enthebung des Sozialdemokraten Julius Tandler war eine politische. Auch die Vertreibung von SozialwissenschaftlerInnen wie Paul Lazarsfeld oder von Marie Jahoda war antisozialistisch motiviert. Und Ash weiter  : »systematische Amtsenthebungen« wegen der Zugehörigkeit zum Judentum gab es an der Universität Wien während des »Ständestaats« nicht. Ash zitiert aus einem Brief Sigmund Freuds Tage nach der Niederschlagung des Arbeiteraufstandes im Februar 1934  : »Die Zukunft ist ungewiss  : entweder ein österreichischer Faschismus oder das Hakenkreuz. Im letzteren Falle müssen wir weg  : vom heimischen Faschismus wollen wir uns einiges gefallen lassen, da er uns kaum so schlecht behandeln wird wie sein deutscher Vetter. Schön wird er auch nicht sein.« Die Einschätzungen von Talos und Ash gelten auch für die Universität Innsbruck, wo allerdings schon vor 1933/34 erst gar keine linken politischen Gegner an der Hochschule vorhanden waren. Im Mittelpunkt der Innsbrucker politischen Universitätsakten steht nun ab 1933 der wenig erfolgreiche, und ab der »Juli-Befriedung« 1936 endgültig nur mehr zögerliche disziplinäre Kampf gegen »illegale« NS-Professoren und NS-Studenten.3 Es blieb dem Rektor des Studienjahrs 1935/36, dem Pharmakognosieprofessor Ludwig Kofler, vorbehalten, seinem Grazer Amtskollegen 1 Tálos 2013, 474, 477, 487. 2 Ash 2013, 109f.; zur isolierten Lage der politischen Linken an der Universität Innsbruck vgl. Goller/Oberkofler 2000. 3 Vgl. Freiberger 2014.

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am 6. Februar 1936 zu antworten  : »beehre ich mich mitzuteilen, dass an der Universität Innsbruck keine jüdische Studentenverbindung besteht, die das Farbenrecht auf akademischen Boden besitzt. Es wurde auch noch nie von Seiten jüdischer Studenten ein diesbezügliches Ansuchen eingebracht. Die Judenfrage ist auf der hiesigen Universität überhaupt nicht aktuell, da der Stand der jüdischen Hörer immer so gering ist, dass sie in keiner Weise hervortreten, und für sie selbst auch zur Organisation keine Veranlassung bzw. kein Bedürfnis besteht. Im vergangenen Wintersemester waren beispielsweise insgesamt nur 5 Juden inskribiert, hievon 3 Ausländer.«4 Ludwig Kofler, längst federführender »illegaler« NS-Aktivist, 1938 erster NS-Dozentenbund-Obmann, hatte es nichtsdestotrotz auch unter dem Regime der »Vaterländischen Front« in das Rektorsamt geschafft. Die völkische, dann 1938 vom NS-Gauverlag übernommene Innsbrucker »Neueste Zeitung« klagte am 12. Dezember 1936 schon in offener NS-Sprache darüber, dass die Hochschulstatistik für das Sommersemester 1936 »nicht nach der rassischen, sondern nur nach der konfessionellen Zugehörigkeit zählt«. Und selbst diese Zahlen seien »alles, nur nicht erfreulich«, erkläre sich doch daraus unter anderem die »starke jüdische Überfremdung des Ärztestandes«  : »Am judenreinsten ist die Innsbrucker Universität, wo unter 1679 Hörern nur sechs Israeliten gezählt wurden. Bezeichnend ist, dass von den übrigen Hochschulen der Einschlag des Judentums am stärksten an der Welthandelshochschule hervortritt, wo die Zahl der Israeliten fast ein Siebentel der Hörerzahl ausmacht, während zum Beispiel an der Tierärztlichen Hochschule nur zwei Israeliten studierten.«5 Der Antisemitismus längst »illegaler«, auch in Dollfuß-Schuschnigg Jahren fest in ihren Lehrstühlen sitzender NS-Professoren spielte im Universitätsalltag schon vor dem »Anschluss« eine Rolle. Ein Fall aus den »Ständestaats«-Jahren wurde aktenkundig  : 1937 bemühte sich der prekär beschäftigte Innsbrucker Botanik-Dozent Helmut Gams um einen pflanzengeographischen Lehrauftrag an der Universität Wien. Fritz Knoll, Monate später NS-Rektor der Universität Wien, schrieb als Fachkollege am 25. September 1937 an Helmut Gams, dass er sich hierfür verwenden wolle, aber  : »Es war mir sehr angenehm, dass Sie in Ihrem Briefe die Frage Ihrer Abstammung erörtert haben. Ich wurde schon öfters (hier und auch im deutschen Reiche) von Kollegen danach befragt, konnte aber nichts darüber aussagen. Um in dieser Hinsicht die richtige Aussage geben zu können, möchte ich Sie ersuchen, mir Ihren Stammbaum bis zu Ihren Urgroßeltern (einschließlich) zu senden. Unter der Angabe der Konfession aller dieser Vorfahren. Wenn ich die Leute darüber aufklären kann, wird es für Sie nur 4 Universitätsarchiv Innsbruck (UAI), Akten des Rektorats (R) 1284 aus 1935/36. 5 Zeitungsausschnitt einliegend UAI, R 742 aus 1937/38.

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von Nutzen sein.« Helmut Gams, dem im Herbst 1938 die Dozentur aus »rassischen Gründen« aberkannt werden sollte, bemühte sich postwendend so etwas wie eine deutsche »Ascendenz« zu belegen. Knoll, längst notorischer »Rassen-Antisemit«, war damit aber nicht zufrieden, schon am 29. September 1937 antwortet er Gams  : »Ihre Mitteilung hinsichtlich der Ahnen habe ich zur Kenntnis genommen. Ich erwarte aber trotzdem noch den von mir im letzten Brief erbetenen Stammbaumausschnitt.« Am 19. Oktober 1937 erklärte Knoll ohne weitere Begründung, dass Gams’ Wiener Lehrauftrag vorläufig nicht realisierbar sei.6 Die Innsbrucker akademischen Gremien wollten nach der »Machtergreifung« Ende Jänner 1933 aus NS-Deutschland flüchtende jüdische Studierende per Numerus clausus fernhalten – verbrämt auch mit antisozialistischen Ressentiments, das jüdisch-sozialistische Feindbild vor sich hertragend. Gegenüber jüdischen Studierenden, die aus NS-Deutschland geflüchtet waren, ging die Universität Innsbruck 1933 mit amtlicher Gehässigkeit vor. Der (krypto-nazistische) Medizinerdekan Karl Meixner wies etwa den Studenten Rolf Günther Meyer aus Remscheid zurück. Meyer klagte erfolglos am 7. Mai 1933 beim Unterrichtsministerium in Wien  : »Ende März fragte ich an der Innsbrucker Universität an, ob ich, da ich mosaischer Konfession bin, ohne Schwierigkeiten dort studieren könnte. […] Als ich mich beim Dekan der med. Fakultät (Prof. Dr. Meixner) meldete, wies er mich ohne triftige Begründung zurück, obgleich sich seine Handlung, wie er selbst sagte, auf kein Gesetz gründete.«7 Im Schatten der nazistischen »Machtergreifung« hatte am 22.  April 1933 ein Ausschuss der Universität Innsbruck in Anwesenheit der Dekane der »weltlichen« Fakultäten und der Studentenschaft über einen politischen Numerus clausus und über restriktive Inskriptionsbedingungen für jüdische Studierende beraten  : »Inländer haben Anspruch [auf Immatrikulation, Anm. d. Verf.], Ausländer nicht  ; Juden, komm[unistische] u[nd] sozialdemokr[atische] Agitatoren sind unerwünscht.« Zur Rolle der Studierenden wurde in diesem Rahmen vermerkt  : »Studentensch[aft] wird Dekanate nach Möglichkeit unterstützen, insbes[ondere] falsche Angaben über Bekenntnis. Agitatorische Betätigung.«8 So konnten im Sommersemester 1938 neben den sieben »aus rassischen Gründen« entlassenen Lehrenden die wenigen (vier) jüdischen Studierenden rasch ausfindig gemacht werden. Von den nach dem »Anschluss« 1938 an der Universität Innsbruck aus – in nazistischer Sprache – »rassischen Gründen« als »nicht den Nürnberger Gesetzen entsprechend« entlassenen Professoren waren berufen worden  : 1. 1915 der seit 6 UAI, Nachlass Helmut Gams, Kt. 1. 7 UAI, R 2086 aus 1932/33. 8 UAI, R 1557 aus 1932/33.

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1904 als Assistent in Innsbruck tätige experimentelle Pathologe Gustav Bayer, der sich im Wissen um die nahe Verfolgung am 15. März 1938 gemeinsam mit seiner Tochter selbst das Leben nahm, 2. 1916 der Physiologe Ernst Theodor Brücke, 3. 1921 im Zuge der Auflösung der Universität Czernowitz der Zivilrechtler Karl Wolff und 4. 1928 der Musikwissenschaftler Wilhelm Fischer.9 Eigentlich hatte sich die Universität Innsbruck nach 1918 geweigert, jüdische Gelehrte der aufgelösten Czernowitzer Hochschule »unterzubringen«. Abgesehen davon, dass Czernowitzer Professoren »nichtdeutscher Nationalität« – wie etwa der Kelsen-Schüler Leonid Pitamic (»Slawe«)  – von vornherein ausgeschlossen wurden, hieß es 1920 in einem Memorandum  : »Professoren jüdischen Stammes würden hier wegen der eigenartigen Tiroler Verhältnisse einen sehr schweren Stand haben  ; sie wären auch im Interesse eines ruhigen und ungestörten Wirkens der Fakultät nicht unbedenklich.«10 Das Schuschnigg-Pernter Ministerium versuchte in Innsbruck, das nach Aussage des späteren Innsbrucker NS-Rektors Harold Steinacker neben Graz als »Nazi-Hochburg« galt,11 pointiert katholische Nach-Berufungen durchzusetzen, so Arnold Herdlitzcka für das Römische Recht, Hans Bayer für die politische Ökonomie, Hubert Urban für die Psychiatrie und den in Köln entlassenen Kirchenrechtler Godehard Josef Ebers. Nur ein 1938 »aus rassischen Gründen« Entlassener war in den »Ständestaats«-Jahren ernannt worden  : 1933/34 der Zahnheilkundler Wilhelm Bauer, gegen dessen Habilitation Innsbrucker Burschenschaftler 1925 mit aller Härte mobil gemacht hatten. Bauer selbst hatte sich mit der Israelitischen Kultusgemeinde überworfen, da er sich nach deren Ansicht in verräterischer Haltung zum »Deutschtum« bekannt hatte. Bauer betonte seine Verankertheit im katholischen Milieu, zur »Familie des Cardinal-Erzbischofes Grafen Schönborn«. Bauer verwies auf seine Unterstützung für die »Heimwehr«. Am 19. Jänner 1925 erklärte Bauer gegenüber der »ehrenfesten Kammer der Deutschen Studentenschaft«  : »Auch nach dem Umsturz 1918 trat ich sowohl mit Leitartikeln in den ›Innsbrucker Nachrichten‹ als auch in öffentlichen Versammlungen im großen Stadtsaal neben Dr. [Richard] Steidle, [Josef ] Swienty u. a. für die völkische Sache ein.« Wegen Mitgründung eines »Hilfsvereins für Deutschböhmen und die Sudetenländer« sei ihm bis 1923 von den tschechoslowakischen Behörden die Einreise in die böhmische Heimat verwehrt worden  : »Zwanzig Jahre   9 Vgl. Oberkofler 1981, 142–149. 10 UAI, Kt. »Salzburger Universitätsfrage nach 1918«. 11 So ein Konzept von Rektor Harold Steinacker zur Stellung der Universität Innsbruck für den stellvertretenden Gauleiter vom August 1941, UAI, Nachlass Harold Steinacker, Kt. 1.

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habe ich mich stets national betätigt und nicht nationale Arbeit am ›grünen Tisch‹, sondern im Volke selbst geleistet«. Wilhelm Dannhauser antwortete öffentlich für die Innsbrucker Israelitische Kultusgemeinde  : »Dass [Wilhelm Bauer, Anm. d. Verf.] diese Gelegenheit dazu benützt, in einer zweideutigen Wendung seine ehemaligen Glaubensgenossen als Volksschädlinge hinzustellen, charakterisiert die Mentalität des ängstlichen Renegaten, der, geplagt von ewiger Furcht, erkannt zu werden, hinter einem antisemitischen Ausfall seine Abstammung zu verbergen sucht.« Die »deutscharischen Studenten« beider – der nationalen und der katholischen – Fraktion missbilligten ihrerseits davon unberührt am 12. Juni 1925 in den »Innsbrucker Nachrichten« den Habilitationsbeschluss und erklärten, dass »sie niemals gewillt sind, Dr. Bauer zu hören und werden es ihm persönlich auf die nachdrücklichste Weise zur Kenntnis bringen.«12

Vorgeschichte I  : Akademischer Antisemitismus in Innsbruck nach 1918. Die antisemitische Protestflut (1918–1923) Der Anteil jüdischer Studierender war in Innsbruck immer sehr gering. Er überschritt nur ausnahmsweise einen relativen Anteil von 1 Prozent in Richtung 1,5 bis 2 Prozent, sodass von einem »Antisemitismus [fast] ohne Juden« gesprochen werden kann. In einer 1923 von der Universitätsquästur für den Rektor zwecks Beratung antijüdischer Maßnahmen aufbereiteten »Statistik Israelitischer Hörer« seit dem Studienjahr 1900 wurde dieser geringe Studierendenanteil Semester für Semester ausgewiesen. In »Ständestaats«-Jahren sank die Frequenz israelitisch mosaischer Hörer deutlich Richtung weniger als 0,5 Prozent.13 Jährlich meldete die Universität die jüdischen Studierenden auch dem Rabbinat für Tirol und Vorarlberg.14 Das oft bemühte akademische »Berufs-Konkurrenz-Argument« war nur irrational hetzerisch an sogenannten objektiven Fakten orientiert. Schon am 4. Dezember 1918 hatte ein »deutschtirolischer« Ärzteausschuss wegen einer »Überflutung der deutschen Lande durch nicht völkische Ärzte (Nichtarier, Nichtdeutsche)« gefordert  : »Ärzte nichtdeutscher Nationalität, welche derzeit in den Universitätsinstituten bzw. 12 UAI, Medizinische Habilitationsakten 1869–1945, Akt »W. Bauer«. 13 Vgl. Gehler 1990, 93–98, 526f., sowie die Arbeiten über die Innsbrucker Studierenden Melanie Adler, Munisch Heuer, Irene Link, Käthe Frankl oder über Lydia Weiskopf, verfasst von Renate Erhart und Ingrid Böhler für die Online-Reihe »Vertriebene Wissenschaft« auf https://www.uibk.ac.at. 14 Vgl. die entsprechenden Namenslisten über viele Studiensemester im UAI, z. B. UAI R 1532 aus 1924/25, R 3526 aus 1924/25, R 1127 aus 1926/27, R 1195 aus 1927/28, R 1246 aus 1928/29 oder R 1000 aus 1932/33.

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Kliniken angestellt oder zu ihrer weiteren Ausbildung tätig sind, wären daher sofort zu entfernen.«15 Am 3. März 1919 verlangte ein Verein der Hochschulassistenten in Innsbruck vom Professorenkollegium der Medizinischen Fakultät, »Assistentenstellen nicht mit volks- oder rassenfremden Personen zu besetzen«.16 Im Februar 1920 löste eine Vorlesung von Karl Kraus in den Innsbrucker Stadtsälen massive Störversuche aus. Ein Ausschuss der Innsbrucker Studentenschaft, dem »deutsch-freiheitliche« und »katholisch-deutsche« Studenten angehörten, protestierte in einer Eingabe an den Akademischen Senat gegen den »Juden Karl Kraus« und gegen den sich mit Kraus solidarisierenden Philosophieordinarius Alfred Kastil  : »Professor Dr. Kastil hat es gewagt, nicht nur in der Vorlesung, sondern auch öffentlich das Vorgehen der Studentenschaft zu verurteilen. […] Die Studentenschaft erhebt gegen das Benehmen des Prof. Dr. Kastil feierlichen Einspruch, denn es wurde dadurch nicht nur das Ansehen unserer Alma mater schwer geschädigt, sondern auch ein Eingriff in die Rechte der Studentenschaft vorgenommen. Die Studentenschaft der Universität Innsbruck erklärt, dass im Falle einer Wiederholung einer derartigen Kritik gegen Prof. Dr. Kastil mit den schärfsten Mitteln vorgegangen wird.« Diese Drohung wurde vom Akademischen Senat nicht zurückgewiesen, vielmehr wurde einstimmig beschlossen, sie Kastil zur Kenntnis zu bringen. Kastil verzichtete dann 1933 vorzeitig aus Protest gegen die »braune Flut« an der Universität Innsbruck auf seine Lehrkanzel.17 Vergeblich wurde etwa am 18. Juli 1920 vom Wiener Unterrichtsministerium die Wahlordnung für einen allgemeinen Studentenausschuss der Universität Innsbruck zurückgewiesen, da es »untunlich« wäre, »dass der in Aussicht genommene Hochschulausschuss einerseits die Bezeichnung eines allgemeinen Studentenausschusses führt und berechtigt sein soll, von jedem Studierenden einen Semesterbeitrag einzuheben, andererseits das aktive und passive Wahlrecht auf Studierende deutsch-arischer Abstammung und deutscher Muttersprache beschränkt sein soll«.18 Im November 1922 beantragte der Vorstand der »Deutschen Studentenschaft Innsbruck« in einer Eingabe an den Akademischen Senat die Einführung eines Numerus clausus für jüdische Dozenten und Hörer  : »Der Akademische Senat möge beschließen, dass 1. nur Professoren deutscher Abstammung und Muttersprache zu 15 UAI, Akten der Medizinischen Fakultät 228 aus 1918/19. 16 UAI, R 182 und 484 aus 1918/19. 17 UAI, R 379 und 446 aus 1919/20  ; dazu Karl Kraus, in  : Die Fackel Nr. 531–543 (Mai 1920, XXII. Jahr), 141–144  ; vgl. Oberkofler 1982, 2–6. 18 UAI, R 644 aus 1919/20. Zu dieser frühen Innsbrucker Vorwegnahme der »rassen«-antisemitischen »Gleispach’schen« Studenten-Wahlordnung von Ende der 1920er Jahre, vgl. Lichtenberger-Fenz 1990.

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Rektoren, Dekanen und sonstigen Amtswaltern der akademischen Behörden gewählt werden können, 2. einen Numerus clausus, nach dem nur 5 % der gesamten Anzahl der Lehrenden jüdischer Abstammung sein können, 3. endlich den Numerus clausus, nach dem nur 5 Prozent der Gesamtzahl der Studierenden jüdischer Abstammung sein können.«19 Im Herbst 1923 – die Universität Innsbruck zählte im Wintersemester 1923/24 insgesamt 1565 Studierende – eskalierte diese Vorgangsweise. Rektor Hans Haberer, Professor der Chirurgie, trug den vier Dekanen folgenden »internen« (  !) Senatsbeschluss vom Juli 1923 vor  : »Der akademische Senat stellt fest, dass kein Ausländer ein Recht auf Immatrikulation oder sonstige Aufnahme an einer inländischen Universität hat. Es steht daher den Dekanen frei, die Aufnahme von Ausländern ohne Angabe von Gründen abzulehnen. Er empfiehlt den Dekanen auch im Interesse der Aufrechterhaltung der Ruhe an der Universität auf das Nachdrücklichste, jüdische Ausländer, soweit als nur durchführbar weiterhin nicht mehr zu immatrikulieren. Dies gilt in besonderen Maße von den sog. Ostjuden (aus Polen, Ukraine, Rumänien, Russland, Ungarn und der Tschechoslowakei) und von den Juden aus anderen Staaten, die einen numerus clausus für jüdische Studenten einführen. Auch die Neuaufnahme jüdischer Inländer wäre nach Möglichkeit zu vermeiden.« Vorgeschlagen wurden stille administrative Maßnahmen in Form verschärfter Überprüfung von Personalunterlagen im Zug der Immatrikulation. Der Senatsbeschluss beruhte auf einem NS-rassistische Überlegungen vorwegnehmenden Ausschussbericht vom Sommersemester 1923  : »Was die Zahl jüdischer Hörer anbelangt, können für eine Statistik nur jene in Betracht gezogen werden, die im Nationale sich zum jüdischen Glauben bekennen. Da eine Kontrolle nicht geübt wird, sind die für die Statistik herangezogenen jedenfalls das Mindestausmaß jüdischer Hörer an unserer Hochschule. Da zeigt sich nun, dass die Zahl jüdischer Hörer an unserer Universität in keinem Semester einen nennenswerten Hundertsatz ausmachte. An der juristischen Fakultät spielt sie überhaupt keine Rolle, Jahre hindurch zählten wir keinen oder 1–2 Israeliten. Stärker war bisher der Besuch der medizinischen Fakultät. Die höchste Ziffer ergab an allen drei weltlichen Fakultäten das Wintersemester 1922/23 mit 22, dem sofort das Wintersemester 1921/22 mit 21 folgt. Hievon entfallen in dieser Zeit auf die medizinische Fakultät 13 bzw. 10 Studenten jüdischen Bekenntnisses. Im laufenden Sommersemester zählen wir 20 solcher Hörer, wovon 12 die medizinische Fakultät besuchen. Mithin etwa 1,5 Prozent der Hörerschaft überhaupt. Dies würde an sich keinen Anlass zur Beunruhigung geben, wenn nicht von diesen 20 Hörern 12 in die Gruppe der so genannten Ostjuden fielen, 19 UAI, R 200 aus 1922/23.

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wovon 11 der medizinischen Fakultät zugehören. Bedenkt man weiter, dass gerade in diesen Staaten mehrfach ein numerus clausus für jüdische Studenten besteht, dass namentlich auch in Wien und Graz diese Elemente bei der Aufnahme Schwierigkeiten finden werden, so wäre es nicht ausgeschlossen, dass wir in Innsbruck, wo man bisher Ostjuden fallweise aufnahm, einen größeren Zuzug dieser Leute zu erwarten haben. Bedenkt man weiter, dass diese Kreise sofort hier Wohnungen zu erlangen wissen und sie so unseren einheimischen Studenten wegnehmen, dass der Raummangel in den Instituten und Kliniken in erster Linie uns wesensfremde Elemente, deren Vorbildung oft in Frage steht, zurückdrängen soll, so ist es auch aus diesem Grunde am Platze, der Aufnahme der Ostjuden, die nicht einmal in ihrer Heimat ankommen, Einhalt zu tun. Andererseits wäre es höchst unklug, diese Politik der Tat an die große Glocke zu hängen. Innsbruck ist ohnehin schon wegen antisemitischer Tendenzen im In- und Auslande oft schlecht beschrieben, die Zuwendungen aus Amerika, die unseren Instituten vielfach erst den Weiterbestand ermöglichten, unseren Studenten in der mensa academica und in anderen Belangen Erleichterung bringen, sind daran gebunden, dass kein Unterschied in Nationalität und Staatsangehörigkeit oder Religion gemacht wird. Der Hochschultag in Wien hat zwar beschlossen, dass Ostjuden in Österreich überhaupt nicht inskribiert werden sollen. Die Rektoren haben sich diesem Beschlusse nicht vollinhaltlich anschließen können und nur betont, dass sie sich bemühen werden, ihn nach besten Kräften zur Durchführung zu bringen.«20

Vorgeschichte II  : Der studentische Antisemitismus in Innsbruck seit dem »Waidhofener Prinzip«, seit der »BadeniKrise« (1896/97) Der Innsbrucker Akademische Antisemitismus konnte in der Ersten Republik ungebrochen an die militant »völkisch« »alldeutschen« Hetz-Kampagnen der 1890er Jahre, insbesondere seit der Formulierung des »Waidhofener Prinzips« (1896) bzw. seit den »Badeni-Krawallen« (1897) anschließen  : Florian Albrecht, Burschenschaft »Germania«, ein fanatischer »Schönerianer«, war in Wien vom Medizin-Studium ausgeschlossen worden. Er kam im Sommersemester 1896 mit ähnlich Gesinnten zum Studium nach Innsbruck. Albrecht hatte das »Waidhofener-Prinzip« »Ist der Jude satisfaktionsfähig oder nicht  ?« formuliert. Am 20. März 1896 erklärten Vertreter der Burschenschaften »Germania«, »Brixia« und der »Pappenheimer« in der Innsbrucker 20 Nach Sammelakt »Nicht-Immatrikulation von jüdischen Ausländern 1922/23« unter UAI, R 20 aus 1923/24.

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Rektoratskanzlei, dass Zeitungsmeldungen, wonach sie »den Juden die Satisfaction versagen«, zutreffend seien. Parallel brach in den 1890er Jahren die medizinische Studenten-Frequenz ein. Das »Konkurrenzdenken« wurde folglich von einem Diskurs über die »Überfüllung« der Ärzteberufe begleitet.21 Seit Mitte der 1890er Jahre folgte  – neben einiger antislawischer Agitation und neben den in Innsbruck besonders massiven, dann 1904 in den »Fatti di Innsbruck« eskalierenden antiitalienischen Demonstrationen – ein antisemitischer studentischer Protest dem nächsten, so etwa im Mai/Juni 1900 gegen die Ernennung des Prager Mediziners Richard Fuchs zum Assistenten bei der Pathologie  : »Sie [gemeint ist Prof. Moritz Loewit, Anm. der Verf.] haben einen jüdischen Assistenten aufgenommen, die ganze deutsche Studentenschaft Innsbruck ist dadurch beleidigt, Entlassung desselben, ein Lärm von Stöcken, Klopfen u[nd] Stimmen machte es unmöglich, deutlich zu verstehen. [… ] – Neuerlicher Lärm, Entlassen, jüdische Rasse etc.«22 Die Ernennung des experimentellen Pathologen Moritz Löwit selbst war 1886/87 als eine der letzten noch – im Zeichen von »1867« und von begrenzt wirksam werdender bürgerlich-liberaler Assimilation – ohne antisemitische Nebentöne oder gar Proteste über die Bühne gegangen, so wie die Berufungen der »Israeliten« Ludwig Mauthner und Isidor Schnabel (beide für Augenheilkunde, 1869 bzw. 1877), des neukantianisch ausgerichteten Philosophen Carl Sigmund Barach-Rappaport 1871, des Medizinischen Chemikers Wilhelm Franz Loebisch 1878 oder jene des Dermatologen Eduard Lang 1873.23 Im »Besetzungs-Vorschlag für die geburtshilflich-gynaekologische Lehrkanzel« findet sich im März 1887 aber bereits religiös motivierter Antisemitismus, indem der Prager Dozent Wilhelm Fischel von Anfang an aus dem Verfahren eliminiert wird  : »Von den Genannten musste, so sehr es die Gefertigten auch bedauern, der sehr verdienstvolle Prager Docent Dr. W. Fischel ausgeschieden werden und zwar aus Rücksicht seiner Confession, welche bei der Abhängigkeit des Professors der Geburtshilfe vom Landesausschusse Anstoß erregt und dem genannten Docenten im Vorhinein die Stellung unmöglich gemacht hätte.«24 Die Juristenfakultät agierte 1888/89 ebenfalls noch widersprüchlich. Sie nannte sowohl 1888 den Wiener Staatsrechtler Georg Jellinek als auch dann ein Jahr später 1889 den Münchner Strafrechtler Heinrich Harburger jeweils an erster Stelle. Bei 21 UAI, R 917 aus 1895/96  ; vgl. Goller 1995, 9–61. Zur »völkisch« antisemitischen Militarisierung in den Jahren 1896/97, bzw. zum Ende des 1867er-Verfassungsliberalismus an den Universitäten vgl. R athkolb 2013, 69–92  ; Urmann 2008, 151–164. 22 UAI, R 870 aus 1899/1900. 23 Nach Achrainer 2013, 223–227, 328–330  ; vgl. auch Bösche 2008. 24 UAI, Akten der Medizinischen Fakultät 371 aus 1886/87.

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Harburger wurde aber vom Juristendekan angemerkt, dass die »mosaische Religion« für Innsbruck ungünstig sei.25 Im Fall von Georg Jellinek erklärte der aus Innsbruck scheidende Professor des Staatsrechts und der Statistik Franz Juraschek am 30. Oktober 1887 im Vorfeld  : »Ich würde jedoch Georg Jellinek, Ludwig Gumplowicz, Isidor Singer – Privatdoc. für Statistik an der Universität Wien, schon wegen ihrer Confession gerade für eine Universität in Innsbruck nicht in Vorschlag bringen.« Minister Paul Gautsch erklärte dann am 14.  März 1888 in seinem Majestätsvortrag für die Innsbrucker Staatsrechtsprofessur, dass die Berufung von Jellinek »als eines Israeliten an die Innsbrucker Hochschule nicht opportun« erscheint.26 Im Mai 1900 protestierten die deutschnationalen Verbindungen nicht nur rabiat »rassisch« antisemitisch gegen die Bestellung des Assistenten Fuchs sondern gleichzeitig auch gegen die Berufung des Augenheilkundlers Stefan Bernheimer  : »Die deutsche Studentenschaft hat es von jeher nicht nur als ihr Recht, sondern vielmehr als ihre Pflicht betrachtet, in Dingen, die ihre Hochschule näher berühren oder die geeignet sind, den deutschen Charakter derselben zu schädigen, ihrer Meinung frei und offen Ausdruck zu verleihen. In Ausübung dieser Pflicht ergreift sie auch heute das Wort, um gegen die zunehmende Verjudung des Lehrkörpers der Innsbrucker Universität entschiedenen Protest einzulegen. Sie vermag nicht einzusehen, warum an einer Hochschule, an der unter 900 Hörern sich nur ein Jude befindet, eine jüdische Lehrkraft nach der anderen berufen wird. […] Wir […] bedauern die leider schon erfolgte Ernennung des jüdischen Professors für Augenheilkunde Dr. Bernheimer. Die Thatsache ist vollzogen und es wird sich schwerlich noch eine Änderung erreichen lassen. Für die Zukunft aber erwartet die deutsche Studentenschaft von ihren Professoren, dass sie als deutsche Männer entschlossen sein werden, die drohende Verjudung des Lehrkörpers hintanzuhalten und einer eventuellen neuerlichen Ernennung eines jüdischen Professors oder Assistenten mit aller Energie und allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln entgegenzutreten.«27

25 UAI, Akten der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät 30 aus 1889/90. 26 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Akten des Ministeriums für Cultus und Unterricht 5836 aus 1888 (Unterricht-Allg., Kt. 1047). 27 UAI, Reihe »Disziplinarakten 1848ff.«, Akt »Demonstrationen wegen Farbenverbots in der Aula und Resolutionen anlässlich der Ernennung des Herrn Prof. Dr. Bernheimer – 1900.«

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Vorgeschichte III  : Antisemitisch überlagerte Berufungsverfahren an der Universität Innsbruck seit 1900 In Berufungsfragen findet sich seit der Jahrhundertwende 1900 in den Innsbrucker Hochschulakten offen formulierter »rassischer« Antisemitismus  : Zwar wurden gelegentlich auch weiter Dozenten unter Hintanstellung rassistisch bzw. religiös motivierter Diskriminierung nach Innsbruck berufen, oft genug wiesen aber die Fakultätskollegien offen (»kommt als Jude für Innsbruck nicht in Frage«) oder verdeckt (»kommt aus lokalen Gründen nicht in Frage«) Kandidaten in antisemitischer Form zurück  : 1902 den Wiener Chemiker Josef Herzig, 1904 den Wiener Juristen Armin Ehrenzweig, 1909 den Prager Philosophen Oskar Kraus oder 1910 den Wiener Meteorologen Victor Conrad.28 Josef Herzig war 1902 mit dem Grazer Chemiker Friedrich Emich primo et aequo loco gereiht worden. In der Sitzung der philosophischen Fakultät wurde der Dekan am 10. Juli 1902 aber beauftragt, den Berufungsvorschlag mit folgendem Zusatzvermerk dem Unterrichtsministerium vorzulegen  : »Ferner wurde das gefertigte Decanat von der Facultät beauftragt, zum Ausdrucke zu bringen, dass nach ihrer Ansicht im Falle der Ernennung J. Herzig’s, welcher seiner wissenschaftlichen Qualification nach unter den ersten gereiht werden musste, nach den an der medicinischen Facultät in einem ähnlichen Falle gemachten Erfahrungen voraussichtlich die Ruhe an der Universität Störungen ausgesetzt sein dürfte.«29 Diese auf den Augenheilkundler Bernheimer Bezug nehmende Ergänzung wurde einstimmig bei zwei Enthaltungen angenommen. Der spätere Direktor des »Instituts für Österreichische Geschichtsforschung« in Wien Emil von Ottenthal hatte 1897, als in Innsbruck eine Professur für österreichische Geschichte vakant war, geäußert  : »Für die definitive Nachfolge würde doch wohl in erster Linie [Alphons] Dopsch in Frage kommen, da die beiden Juden trotz aller Tüchtigkeit hier wirklich unmöglich wären.« Gemeint waren der Czernowitzer Ordinarius für allgemeine Geschichte Sigmund Herzberg-Fränkel und der Wiener Dozent Alfred Pribram.30 Der Einwurf, dass Oskar Kraus »als Jude« für Innsbruck nicht in Frage komme, wurde 1909 von einem Gelehrten aus fortschrittlich-bürgerlichem Umfeld formuliert

28 Nach Oberkofler 1984, 413–423. 29 UAI, Akten der Philosophischen Fakultät 639 aus 1901/02. 30 Vgl. Oberkofler/Goller 1995, 59f.

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und in eigener Handschrift als Fakultätsreferent niedergeschrieben  : vom Brentano-, Hering- und Mach-Schüler Franz Hillebrand etwa  !31 Im November 1907 wurde der Antrag auf Aufnahme der Wiener Zivilrechtler Armin Ehrenzweig und Emanuel Adler in einen Dreiervorschlag vom Professorenkollegium mit einer Gegenstimme abgelehnt, weil es »der Anschauung« war, »dass den Herren Ehrenzweig u. Emanuel Adler die ungestörte Ausübung des Lehramtes in Innsbruck nicht gewährleistet ist«. Gegen Ehrenzweig war schon 1904 so argumentiert worden  !32 Der 1905 in Wien habilitierte Emil Goldmann (später 1938 als Professor der Universität Wien entlassen, Emigration nach Cambridge) wurde am 1.  Juli 1908 aus einem Vorschlag der Juristenfakultät für ein »Extraordinariat für deutsches Recht und österreichische Reichsgeschichte« bereits mit Hinweis auf ähnliche Fälle ausgeschlossen  : »Aus den schon des öfteren von der Fakultät namhaft gemachten Gründen erscheint es als untunlich, in diesem Vorschlage den Wiener Privatdozenten Dr. E. Goldmann zu berücksichtigen.«33 Ende 1911 wurde der Wiener Strafrechtler Alexander Löffler von der Innsbrucker Juristenfakultät gleichfalls – schon in der Präambel zum Vorschlag – ausgeschlossen  : Wenn »von dem durch eine langjährige höchst verdienstvolle wissenschaftliche und lehramtliche Tätigkeit gleich hervorragenden tit. Ordinarius Dr. Alexander Löffler (Wien) im Vorschlag abgesehen ist, so hat dies einzig nur in den besonderen Verhältnissen unserer Universität und des Landes Tirol überhaupt seinen Grund.«34 Der 1912 nach Graz berufene Konrad Zwierzina wollte im Mai 1912 für seine Innsbrucker Nachfolge auf der Lehrkanzel für deutsche Sprache und Literatur eigentlich auch die Germanisten Max Hermann Jellinek (Wien) und Samuel Singer (Bern) vorschlagen. Zwierzina verzichtete aber auf eine nähere Begründung mit dem Argument  : »Es ist in diesem Falle ein großer Nachteil für die Innsbrucker philosophische Fakultät, dass sie nach mir bekannter Tradition aus Zweckmäßigkeitsgründen, die die wissenschaftlichen Qualitäten in den Schatten rücken, Gelehrte jüdischer Konfession zur Ernennung nicht vorschlägt.«35

31 UAI, Akten der Philosophischen Fakultät 932 aus 1908/09, vgl. Goller 1989, 123f. 32 UAI, Akten der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät, Reihe »Sitzungsprotokolle«, Protokoll vom 5.11.1907. 33 UAI, Akten der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät 697 aus 1908/09. 34 ÖStA, AVA, Akten des Ministeriums für Cultus und Unterricht 8434 aus 1912 (Unterricht-Allg., Kt. 1052). 35 Vgl. Scheichl 2009, 13–15.

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Ausblick auf die Jahre nach der Befreiung 1945 Die alltägliche antisemitische Rede war längst tief im »normalen« akademischen Diskurs eingebrannt, so die Rede von »Teiljuden« oder von »1/4 Juden«. Im bürgerlich katholisch-nationalen Universitätsmilieu war es 1938 schon seit Jahrzehnten selbstverständlich von »Juden« und »Teiljuden« zu sprechen, sodass etwa die Philosophen Theodor Erismann und Franziska Mayer-Hillebrand als »Teiljude« bzw. als »1/4 Jüdin« markiert werden konnten. Die bürgerliche Universität übernahm die »Nürnberger Rassegesetze«  – schon lange vor 1938  – in ihre eigene Denkwelt. Der universitäre »Arier«-Diskurs führte dazu, dass großdeutsche und »völkisch alldeutsche« Professoren wie Burghard Breitner und Karl Meixner sich nach 1938 wegen ihrer »Abstammung« innerhalb ihres eigenen nazistisch bürgerlichen Hochschulmilieus rechtfertigen mussten.36 So wie andere reaktionäre Grundhaltungen blieb auch der Antisemitismus über 1945 hinaus virulent. Der soeben »entnazifizierte«, »national-katholische« Geographieordinarius Hans Kinzl äußerte etwa aus Anlass der Neubesetzung der nach der Berufung von Albin Lesky nach Wien im Jahr 1949 vakanten Innsbrucker Lehrkanzel für Klassische Philologie in der Philosophischen Fakultät, dass man keine »Jüdin« auf einer Innsbrucker Professur haben wolle, gemeint war Gertrud Herzog-Hauser.37 Nur fünf Jahre nach der Befreiung kam es zu einer ersten antisemitischen Affäre aus dem Umfeld des sich wieder organisierenden deutschnational »freiheitlichen« Studentenlagers an der Universität Innsbruck, einer im Dezember 1950 von einem »Bund Unabhängiger Studenten (BUS)« verdeckt organisierten Störung eines Filmabends der Israelitischen Kultusgemeinde in einem Universitätshörsaal. Gegen die Aufführung der Anti-NS-Filme »Der Prozess« und das »Duell mit dem Tod« zirkulierten am Universitäts- und Klinikgelände antisemitische Flugzettel  : »Studenten, Studentinnen  ! In den Räumen unserer Universität wird Propaganda getrieben  ! Die Filme ›Der Prozess‹ und ›Duell mit dem Tod‹ sind gerade noch gut genug, nachdem sie in der Öffentlichkeit schlechte Erfolge hatten, auf akademischem Boden aufgeführt zu werden. In Berlin demonstrieren jüdische DP gegen hochwertiges Künstlertum des Wiener Burgtheaters  ! Und wir sollen hier Propaganda zulassen  ? Studenten, Studentinnen  ! Sammelt Euch heute abend [12. Dezember 1950, Anm. d. Verf.] um 19.45 Uhr in der Universität, um diese Aufführungen zu verhindern.« Der volle aka-

36 Die brutale Vertreibung jüdischer Wissenschaftler und Studierender der Universität Innsbruck ist gesondert beschrieben in Goller/Tidl 2012. 37 Vgl. Cescutti 2009  ; Schissling 2014, 72–75, 220–223.

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demische Rehabilitation einfordernde BUS-Vorstand erklärte die Störung zur privat spontanen »Entrüstungs«-Aktion. In den Jahren um 1960 kam es wiederholt zu antisemitischen Pöbeleien aus dem rechten Studierendenmilieu. Anfang 1961 wurde der aus den USA stammende Medizinstudent Irwin Lichtenstein in der Innsbrucker Innenstadt von Mitstudierenden »mit Ausdrücken wie ›Saujude‹, ›Scheißjude‹ etc. bedacht.« Höhepunkt war die Schändung des jüdischen Friedhofs im November 1961 durch zwei Studierende, der eine seit Frühjahr laut Polizeibericht Mitglied der Burschenschaft »Brixia«, der andere war im Mai 1961 »wegen vereinsinterner Streitigkeiten« aus der Burschenschaft »Suevia« ausgetreten. Die Polizei fand bei ihm ein neonazistisches Hetzgedicht  : »Dann werdet auch Ihr, trotz Aktiven-Allüren, / das Feuer von Auschwitz behüten und schüren. / Wir werden, wenn auch ohne Mütze und Band, / Die Gasöfen füllen bis ganz an den Rand. / So werdet Ihr einstens bestimmt noch erkennen  :  / Man kann sie auch ohne Couleur ›Freunde‹ nennen.  / Nach diesem prophetisch-versöhnlichen Schluss / erheb’ ich, wie üblich, die Rechte zum Gruß / und verbleibe, obwohl ich das Band nicht mehr habe, / trotzdem Euer [Vorname], ehemals Schwabe.« Angesichts der nahen Olympischen Spiele von 1964 fürchtete die Innsbrucker Universität um ihr internationales »Ansehen«. Man war bemüht, die Vorfälle als Taten von (zum Teil alkoholisierten) Einzeltätern darzustellen. Politisch möglich waren sie auf der Basis restaurativ rückwärtsgewandter, weitgehend undemokratischer Rahmenbedingungen an der Universität, die ein Weiterwirken alltags-faschistischer und auch NS-propagandistischer Vorstellungen ermöglichten.38

Literatur und gedruckte Quellen Achrainer, Martin, Jüdisches Leben in Tirol und Vorarlberg von 1867 bis 1918, in  : Albrich, Thomas (Hg.), Jüdisches Leben im historischen Tirol, Bd. 2  : Von der bayerischen Zeit bis zum Ende der Monarchie 1918, Innsbruck 2013, 193–397. Ash, Mitchell G., Jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Universität Wien von der Monarchie bis nach 1945. Stand der Forschung und offene Fragen, in  : R athkolb, Oliver (Hg.), Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2013, 93–122.

38 Die studentischen Disziplinarakten »BUS-Affäre« (1950), Beleidigung des Studenten Irwin Lichtenstein (1960/61) und Schändung des jüdischen Friedhofs in Innsbruck (1961) liegen im UAI unter Sammelkarton »Disziplinarfälle nach 1945« (zeitlich geordnet).

Antisemitismus an der Universität Innsbruck

Bösche, Andreas, Zwischen Kaiser Franz Joseph I. und Schönerer. Die Innsbrucker Universität und ihre Studentenverbindungen, Innsbruck 2008. Cescutti, Eva, Gertrud Herzog-Hauser und die Klassische Philologie, in  : Korotin, Ilse/ Schrodt, Heide (Hg.), Gertrud Herzog-Hauser (1894–1953), Klassische Philologin, Universitätsdozentin und Schuldirektorin, Wien 2009, 17–25. Die Fackel 1920. Freiberger, Alexander, Die Universität Innsbruck im Austrofaschismus 1933–1938. Am Beispiel der Disziplinarverfahren gegen NS-Studierende, Dipl.-Arb. Innsbruck 2014. Gehler, Michael, Studenten und Politik. Der Kampf um die Vorherrschaft an der Universität Innsbruck 1918–1938, Innsbruck 1990. Goller, Peter, Die Lehrkanzeln für Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Universität Innsbruck (1848–1945), Innsbruck 1989. Goller, Peter, Medizinstudenten an der Universität Innsbruck (1869–1900), in  : Die Matrikel der Universität Innsbruck. Abteilung  : Medizinische Fakultät, Bd. 1  : 1869–1900, Innsbruck 1995, 9–61. Goller, Peter/Oberkofler, Gerhard, Emmerich Übleis (1912–1942). Kommunistischer Student der Universität Innsbruck – Antifaschist – Spanienkämpfer – Sowjetpartisan, Angerberg 2000. Goller, Peter/Tidl, Georg, Jubel ohne Ende. Die Universität Innsbruck im März 1938, Wien 2012. Lichtenberger-Fenz, Brigitte, »… Deutscher Abstammung und Muttersprache.« Österreichische Hochschulpolitik in der Ersten Republik, Wien u. a. 1990. Oberkofler, Gerhard, Bericht über die Opfer des Nationalsozialismus an der Universität Innsbruck, in  : Zeitgeschichte 8 (1981), 142–149. Oberkofler, Gerhard, Der »Fall Kastil«. Akademischer Antisemitismus und die Innsbrucker Kraus-Vorlesungen, in  : Kraus-Hefte 21 (1982), 2–6. Oberkofler, Gerhard, Studien zur Geschichte der österreichischen Rechtswissenschaft, Frankfurt a.M. 1984. Oberkofler, Gerhard/Goller, Peter (Hg.), Alfons Huber. Briefe 1859–1898. Ein Beitrag zur Geschichte der Innsbrucker Historischen Schule um Julius Ficker und Alfons Huber, Wien 1995. R athkolb, Oliver, Gewalt und Antisemitismus an der Universität Wien und die Badeni-Krise 1897. Davor und danach, in  : R athkolb, Oliver (Hg.), Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20. Jahrhundert, Wien 2013, 69–92. Scheichl, Sigurd Paul, 150 Jahre Germanistik in Innsbruck. Streiflichter zu Geschichte und Gegenwart des Instituts für Germanistik, Innsbruck 2009. Schissling, Christine, Die Geschichte der Klassischen Philologie an der Universität Innsbruck von 1816 bis 1964, Dipl.-Arb. Innsbruck 2014. Tálos, Emmerich, Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933–1938, Wien 22013. Urmann, Martin E., Isolierte Aufklärung, marginaler Liberalismus  ? Überlegungen zur intellektuell-ideologischen Geschichte der Universität Innsbruck im »langen« 19. Jahrhundert, in  : Nachklänge der Aufklärung im 19. und 20. Jahrhundert, Innsbruck 2008, 151–164.

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Archivalische Quellen Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Allgemeines Verwaltungsarchiv (AVA), Akten des Ministeriums für Cultus und Unterricht 1888, Kt. 1.047, 1912, Kt. 1.052. Universitätsarchiv Innsbruck (UAI)  : Akten der Medizinischen Fakultät 1886/87, 1918/19. Akten der Philosophischen Fakultät 1901/02, 1908/09. Akten der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät 1889/90, 1907/08, 1908/09. Akten des Rektorats 1895/96, 1899/1900, 1918/19, 1919/20, 1922/23, 1923/24, 1924/25, 1926/27, 1927/28, 1928/29, 1932/33, 1935/36, 1937/38. Disziplinarakten 1848ff. Disziplinarfälle nach 1945. Kt. »Salzburger Universitätsfrage nach 1918«. Medizinische Habilitationsakten 1869–1945. Nachlass Harold Steinacker, Kt. 1. Nachlass Helmut Gams, Kt. 1.

Johannes Koll

»Die Vernichtung der jüdischen Lehr- und Lerntätigkeit« Antisemitismus an den wissenschaftlichen Hochschulen in Wien bis zum »Anschluss« Österreichs Einleitung Im Februar 1930 richtete der zionistische Wiener Rechtsanwalt Oskar Grünbaum eine Denkschrift an die Rektoren der österreichischen Universitäten und Hochschulen, in der er sich über diverse Formen von Antisemitismus beschwerte. Hierin hieß es unter anderem  : »Gerade die Hochschulen wurden zur Stätte der hartnäckigsten und geradezu auf die Vernichtung der jüdischen Lehr- und Lerntätigkeit gerichteten Kämpfe. Die jüdische Studentenschaft sollte vollkommen entrechtet werden. Der in der deutschvölkischen Studentenschaft vereinigte Teil der Hörer nimmt für sich das alleinige Recht der Entscheidung aller studentischen Angelegenheiten in Anspruch. Den jüdischen Akademikern wurde das Mitbestimmungsrecht an der akademischen Selbstverwaltung bestritten. Den wehrhaften zionistischen Verbindungen wurde das Farbenrecht entzogen, das jüdische Volkstum wird in Anschlagskasten akademischer Vereinigungen öffentlich verunglimpft, widerliche Prügeleien […] wiederholen sich von Semester zu Semester. Immer lauter wird die Einführung der kulturfeindlichen Maßregel des Numerus Clausus gefordert.«1 Auch wenn Grünbaums Denkschrift seinerzeit so gut wie keine Beachtung fand und jahrzehntelang in der Versenkung verschwand, führte sie in vorbildlicher Weise vor Augen, wie vielfältig und umfassend die Schikanierung und Benachteiligung jüdischer Studierender in der Zwischenkriegszeit war  : Sie wies auf die Hetze hin, der Jüdinnen und Juden durch antisemitische Propaganda ausgesetzt waren  ; sie thematisierte die Gewaltexzesse, die regelmäßig die österreichischen Hochschulen überfluteten  ; und sie führte Momente an, die eine strukturelle Diskriminierung von jüdischen Studierenden bedeuteten – und damit im Widerspruch zur verfassungsmäßig garantierten Gleichheit der Staatsbürger standen. Hierzu gehörte neben der erwähnten 1 Zit. n. Koll 2015, 469f. Weitere Beschwerden der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über antisemitische Ausfälle in Österreich zu dieser Zeit sind im Bericht ihres Präsidiums und Vorstands aufgelistet 1932, 10–15  ; der überwiegende Teil nahm Bezug auf die Hochschulen.

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Forderung nach einem Numerus clausus die Tatsache, dass die Hochschulverwaltungen jüdischen Studierenden regelmäßig Räumlichkeiten zur Durchführung eigener Veranstaltungen verweigerten, deutschnationalen und katholischen Studentenverbindungen aber sehr wohl Räume und Anschlagskästen zusprachen. Zur strukturellen Diskriminierung gehörte auch das Bestreben, Jüdinnen und Juden prinzipiell die Zugehörigkeit zur »Deutschen Studentenschaft« (DSt) zu verwehren – und diesem Gremium gleichzeitig einen Alleinvertretungsanspruch gegenüber den akademischen Behörden zuzusprechen. Besonders Grünbaums Kritik an der strukturellen Diskriminierung ist vor dem Hintergrund von Bestrebungen zu sehen, an den österreichischen Hochschulen Studierendenordnungen zu erlassen, in denen die Vertretung studentischer Interessen nach »völkischen« Gesichtspunkten ausgerichtet werden sollte.2 Vorreiter waren die Technische Hochschule (TH) und die Hochschule für Bodenkultur (BOKU) in Wien. Ihren Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen um das Studierendenrecht mit der Verabschiedung der nach dem damaligen Rektor benannten Gleispachschen Studentenordnung an der Universität Wien. Sie scheiterte zwar in formaljuristischer Hinsicht im Juni 1931 durch ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofs. In politischer Hinsicht aber wurde das Ziel einer restriktiven Kontingentierung jüdischer Präsenz an den Hochschulen von katholischen, deutschnationalen und nationalsozialistischen Kräften weiter verbissen verfolgt, bis der Ausschluss der jüdischen Studierenden nach dem »Anschluss« Österreichs Realität wurde.3 So hatte sich an all den Punkten, die Grünbaum 1930 angesprochen hatte, zu Beginn der Dollfuß-Ära nichts geändert. Die »Machtergreifung« der NSDAP in Deutschland befeuerte sogar die antisemitische Agitation an den Hochschulen und verleitete beispielsweise die BOKU unmittelbar nach den Reichstagswahlen vom 5.  März 1933 zu einer »Anschlusskundgebung«, auf der ein nationalsozialistischer Studentenfunktionär in Anwesenheit von Prorektor Wilhelm Olbrich Adolf Hitler als »den Kanzler der Deutschen Nation in Österreich« anerkannt wissen wollte  ; einige Tage später folgte an derselben Hochschule ein Vortrag unter dem Titel »Der Einfluß der Juden auf die Kultur«.4 Jüdische Studierende sahen sich zu Beginn der austrofaschistischen Phase nach wie vor heftiger antisemitischer Propaganda ausgesetzt  ; weiterhin wurden sie angepöbelt und mitunter verprügelt  ; immer noch durften sie sich nicht als gleichberechtigte Bürger in der Gesellschaft und an den Hochschulen fühlen. 2 Grundlegend hierzu ist nach wie vor Lichtenberger-Fenz 1990. 3 Vgl. hierzu Koll 2017. 4 Ebner 2002, 72f.

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Zur Forschungslage Wie entwickelte sich die Situation der jüdischen Studierenden und Angestellten an den wissenschaftlichen Hochschulen des Wiener Raums unter dem Kruckenkreuz  ?5 Inwieweit unterschieden sich ihre Lage, ihre Position und ihre Entfaltungsmöglichkeiten in den Jahren 1933 bis 1938 von den vorangegangenen Jahren und Jahrzehnten  ? Die Beantwortung dieser Leitfragen stößt auf zwei Schwierigkeiten. Erstens ist die Forschung zur österreichischen Hochschulgeschichte des 20.  Jahrhunderts sehr stark auf die Universität Wien ausgerichtet.6 Zweitens konzentrieren sich jene geschichtswissenschaftlichen Studien, die die anderen Hochschulen zum Gegenstand haben, vorwiegend auf die NS-Zeit  ; die fünf Jahre unter den Bundeskanzlern Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg sind in dieser Hinsicht allenfalls punktuell aufgearbeitet worden. Für die austrofaschistische Periode darf derzeit nur die Hochschule für Bodenkultur als gut erforscht gelten, und zwar dank der Dissertation von Paulus Ebner. Er kommt zu dem Ergebnis, dass die BOKU schon bald nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Hochburg deutschnationaler Studenten wurde und durch »einen geradezu ungezügelten Antisemitismus, aggressiven Antimarxismus und eine Verherrlichung des […] [Ersten] Weltkrieges« charakterisiert war.7 Vergleichbares gilt für die Technische Hochschule  : Juliane Mikoletzky hat feststellen können, »dass die große Mehrheit der Hörer und Hörerinnen […] in der Zwischenkriegszeit mit deutschnationalen und antisemitischen Positionen sympathisierte und nicht wenige von ihnen den Ideen des Nationalsozialismus positiv gegenüber standen. Ein ähnliches Urteil wird man wohl auch über den Lehrkörper der Hochschule fällen müssen.«8 Und für die Hochschule für Welthandel ist Peter Berger zu dem Ergebnis gekommen, dass die meisten Professoren sich in der Öffentlichkeit mit politischen Äußerungen zurückhielten, unverkennbar aber deutschnationale Sympathien hegten.9 Für die 5 Außer Betracht bleiben hier die Universität Wien sowie die Akademien für Musik und darstellende Kunst sowie für bildende Künste. Zur Universität siehe die nächste Fußnote, zur Geschichte der künstlerischen Akademien in der NS-Zeit sei verwiesen auf Heller 1992 und Strouhal/Heller 2017 bzw. Pawlowsky 2015 und Pawlowsky 2017. 6 Aus der jüngsten Zeit ist zur Geschichte der Universität Wien zu verweisen auf Stadler 2015. Eine Geschichte der Universität Wien unter dem Gesichtspunkt des Antisemitismus bietet Taschwer 2015  ; vgl. auch R athkolb 2013, Klausinger 2013 und Kniefacz/Posch 2017. Die Universität Wien bildet auch den Schwerpunkt der Ausstellung »Die Universität. Eine Kampfzone«, die 2015/16 im Jüdischen Museum Wien stattfand, Hanak-Lettner 2015  ; siehe auch die einschlägigen Beiträge im vorliegenden Band. 7 Ebner 2002, 38  ; siehe auch Ebner 2017. 8 Mikoletzky 2003, 12, siehe jetzt auch Mikoletzky/Ebner 2016 und Mikoletzky 2017. 9 Berger 2017, 167.

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Tierärztliche Hochschule schließlich liegt zwar eine Dissertation aus dem Jahr 2012 vor.10 Sie bleibt jedoch in mancherlei Hinsicht unterhalb des aktuellen Standes der Zeitgeschichtsforschung und bietet für die Frage nach Antisemitismus keine weiterführenden Erkenntnisse. Aufgrund des unbefriedigenden Forschungsstands müssen viele Fragen für die wissenschaftlichen Hochschulen des Wiener Raums derzeit offen bleiben. Trifft auf die BOKU, die TH, die »Welthandel« und die Tierärztliche Hochschule Taschwers Beobachtung zu, dass unter dem austrofaschistischen Regime beispielsweise im Hinblick auf Zwangspensionierungen und -emeritierungen oder den Entzug von Lehrbefugnissen analog zur Situation an der Universität Wien stärkere Einschnitte zu verzeichnen waren als bisher angenommen  ?11 Wurden jüdische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bei Promotions-, Habilitations- und Berufungsverfahren benachteiligt  ? Wurden die regulären Lehrveranstaltungen sowie die obligatorischen Vorlesungen »zur weltanschaulichen und staatsbürgerlichen Erziehung über die ideellen und geschichtlichen Grundlagen des österreichischen Staates«, die den inländischen Studierenden zusammen mit vormilitärischen Übungen und der Teilnahme an einem Hochschullager ab dem Wintersemester 1935/36 durch das sogenannte Hochschulerziehungsgesetz auferlegt wurden,12 zur Verbreitung antisemitisch gefärbter Aussagen missbraucht  ?

Vom gewaltsamen zum latenten Antisemitismus Zu der prekären Forschungslage kommt, dass Antisemitismus für die austrofaschistische Phase in den Quellen weniger greifbar ist als für die Jahre davor und danach.13 Zum Hochschulbereich lassen sich hierfür drei Gründe benennen. Erstens hielten sich Professoren in der Öffentlichkeit mit eindeutig antisemitischen Äußerungen unter dem Kruckenkreuz stärker zurück als in der Ersten Republik oder in der NS-Zeit. Zweitens verschwand die Forderung nach einem Numerus clausus aus dem offiziellen hochschulpolitischen Diskurs, nachdem die DSt, die seit 1931 unter nationalsozialistischer Führung stand, im Jahr 1933 abgeschafft und durch die von der Regierung berufene und kontrollierte Sachwalterschaft ersetzt worden war.14 Drittens wurde An10 Kuen 2012, zur NS-Zeit siehe Fischer 2011. 11 Taschwer 2015, 191. 12 BGBl. 267/1935, hier § 2. 13 Die gesellschaftliche Latenz von Antisemitismus wurde schon bald nach dem Ende des Ersten Weltkriegs thematisiert  ; siehe Strasser 1919/1920. 14 Zur Auflösung der DSt siehe Wagner 2010, 93–95, zur Sachwalterschaft ebd., 99–163.

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tisemitismus dadurch weniger greifbar, dass die antijüdischen und antisozialistischen Gewaltorgien, die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zu unzähligen Verletzten und mehrmals zur temporären Schließung von Hochschulen geführt und dem Hochschulwesen einmal den zweifelhaften Titel einer »Hochburg des braunen Bolschewismus« einbracht hatten,15 durch eine Reihe von gesetzgeberischen Maßnahmen wie dem Hochschulerziehungs- und dem Hochschulermächtigungsgesetz16 und durch die Einrichtung einer Polizeiwache auf Hochschulboden deutlich eingedämmt werden konnten.17 Auch die den Hochschulen auferlegte Verpflichtung, ab dem Wintersemester 1933/34 den Polizeibehörden während der Inskriptionsphase die Namen der Studierenden aus dem Ausland bekannt zu geben, diente der Zurückdrängung von Gewalt  – wollte das Bundeskanzleramt doch vorwiegend nationalsozialistische Studenten aus Deutschland von den österreichischen Hochschulen fernhalten können.18 1935 wurden die Sicherheitsdirektoren sogar auf dem Verordnungsweg ermächtigt, ausländische Studierende in Einzelfällen »ohne weiteres Verfahren aus Gründen der öffentlichen Sicherheit als unerwünscht [zu] bezeichnen«  ;19 Immatrikulation und Inskription konnten damit hinfällig werden. Außerdem mussten sich ausländische Studierende schriftlich verpflichten, während des Studiums in Österreich für keine politische Partei aktiv zu werden, der hier eine Betätigung gesetzlich untersagt war.20 Zwar wurde der Hochschulbetrieb auch nach der Etablierung des austrofaschistischen Regimes verschiedentlich durch gewaltsame Angriffe auf Jüdinnen und Juden, durch Böller, Stinkbomben und Tränengas gestört. Gewalt entlud sich beispielsweise 15 Sturm über Österreich, 16.7.1933  ; zu den Gewaltexzessen an der Universität Wien siehe Taschwer 2015, passim und Bauer 2016, 149–157, an der TH Wien Mikoletzky/Ebner 2016, 122ff. 16 Letzteres ist abgedruckt in BGBl. 266/1935. 17 Für die Kosten und die Bereitstellung eines Wachzimmers hatte die jeweilige Hochschule aufzukommen. An der »Welthandel« umfasste die Hochschulwache zehn Polizeibeamte sowie eine Bereitschaft von 30 Mann  ; sie stand »zur Verfügung des Rektors«, konnte gegebenenfalls aber auch »aus eigenem Antrieb« eingreifen. Alles nach Universitätsarchiv der Wirtschaftsuniversität Wien, Protokolle über die Sitzungen des Professorenkollegiums der Hochschule für Welthandel (WUW-AR, Prof.Koll.), 22.9.1933, Bl. 5. 18 Neue Freie Presse, 29.9.1933, 4. 19 BGBl. 359/1935. 20 Neue Freie Presse, 24.3.1935, 7  ; diese Anordnung erstreckte sich auf die NSDAP, den Steirischen Heimatschutz, die Kommunistische Partei und die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). An der Hochschule für Welthandel sah man der Einschränkung der Zulassung von ausländischen Studierenden mit gemischten Gefühlen entgegen  : Da deren Studiengebühren dreimal so hoch waren wie die der inländischen Studierenden, befürchtete das Professorenkollegium »eine empfindliche Verminderung der Einnahmen«, WUW-AR, Prof.Koll., 22.9.1933, Bl. 2. Erleichtert nahm das Kollegium einen Monat später zur Kenntnis, dass nur drei ausländische Inskriptionswerber abgewiesen worden waren, ebd., 24.10.1933, Bl. 6.

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nach der Verhängung des Betätigungsverbots für NSDAP und Steirischen Heimatschutz durch die Bundesregierung im Frühjahr 193321 oder nach der Einsetzung von Otto Skrbensky als Bundeskommissär an der BOKU ein Jahr später,22 und im November 1937 wurden bei Unruhen an der TH, an der »Welthandel« und an der Universität Wien »Sieg Heil«-Rufe laut, die unangenehme Erinnerungen an antisemitische Ausschreitungen der Vergangenheit weckten und für die Zukunft nichts Gutes verhießen.23 Auch war es weiterhin so, dass Hochschulleitungen sich weigerten, antisemitische Agitation engagiert zu bekämpfen und Berichte über Ausschreitungen als »aufgebauscht« abwiegelten.24 Und nach wie vor verdrehte die NS-Presse die Verhältnisse, wenn sie Gewalt als »Selbsthilfe« der »deutschen Hörerschaft« gegen »provokatorisches Benehmen« von jüdischen Studenten darzustellen versuchte.25 Doch im Vergleich zu den 1920er und frühen 1930er Jahren ging die Anwendung von Gewalt gegen jüdische Studierende, die faktisch bis dahin geradezu vogelfrei gewesen waren, unter dem Austrofaschismus signifikant zurück. Nachdem auch katholische Studierende zunehmend Opfer von Prügeleien geworden waren und ab 1933 »der Honigmond zwischen nationalen und katholischen Studenten, wie er seit 1918 die Universitäten geprägt hatte«, endgültig vorbei war,26 wurde physische und psychische Gewalt von der Bundesregierung endlich als ein Problem erkannt und mehr oder weniger erfolgreich gelöst. Der Preis war zwar hoch, wurde doch die Hochschulautonomie durch die genannten Maßnahmen drastisch eingeschränkt. Für die jüdischen Studierenden aber führten die staatlichen Eingriffe in das Hochschulwesen zu einer deutlichen Verbesserung der Situation. Die relative Beruhigung an den Hochschulen, die ab dem Studienjahr 1934/35 im Großen und Ganzen wieder einen geregelten Lehr- und Forschungsbetrieb ermöglichte, war einer der Faktoren, die Bruce Pauley zu der Einschätzung veranlasst haben, die Regierungen Dollfuß und Schuschnigg hätten »die uneingeschränkte und einhel21 Siehe BGBl. 240/1933  ; die Maßnahme datiert vom 19.6.1933. Zu den Vorgängen an der BOKU am Folgetag siehe Ebner 2002, 74–81. 22 Vgl. Ebner 2002, 87. Die Einrichtung eines Bundeskommissärs, der an der BOKU weitgehend die Funktionen von Rektorat und Professorenkollegium übernahm, hatte Schuschnigg am 26.4.1934 dekretiert, BGBl. II 3/1934. Im Spätsommer wurde Skrbenskys Aufgabengebiet auf alle österreichischen Hochschulen ausgeweitet, siehe Grandner 2015, 522f. 23 Neue Freie Presse, 23.11.1937, 8 und Das Kleine Blatt, 25.11.1937, 4. 24 Rektor Oskar Primavesi (TH Wien) nach Arbeiter-Zeitung, 11.5.1933, 3. Sarkastisch fügte der unbekannte Verfasser des Artikels »Tränengasbomben an der Technik« hinzu  : »Da sollen die Radaumacher nicht weiter lärmen und prügeln, wenn ihnen die Hochschulbehörden so die Stange halten  !« 25 Deutsch-österreichische Tageszeitung, 11.5.1933, Wienbibliothek im Rathaus  – Tagblattarchiv (WBiR-TBA), TS 1262 zu gewalttätigen Ausschreitungen an der TH Wien. 26 Wagner 2010, 85.

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lige Unterstützung der österreichischen Juden« besessen, die jüdische Bevölkerung sei der Verfassung vom 1. Mai 1934 »wohlgesonnen« gegenübergestanden.27 Tatsächlich begrüßte das Wochenblatt der liberal und auf Assimilation ausgerichteten »Union Österreichischer Juden« die Auflösung der DSt, die Einführung der Sachwalterschaft und die Einrichtung von Hochschulwachen als längst überfällige Schutzmaßnahmen für die jüdischen Studierenden  – sah man in ihnen doch die Hoffnung, »daß die jüdische Jugend, die bisher infolge der Vorherrschaft einer österreichfremden Ideologie auf unseren Hochschulen schwer benachteiligt war, nun jene Rechte erlangen wird, auf die sie als staatsbejahendes und vaterlandstreues Element Anspruch hat.«28 An anderer Stelle warnte dieselbe Zeitung unter der Überschrift »Hitler ante portas«, restriktive Maßnahmen wie die Einschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit könnten dem »Antisemitismus der Tat« Vorschub leisten, wie er namentlich vom notorisch antijüdisch eingestellten christlichsozialen Nationalratsabgeordneten Leopold Kunschak vertreten wurde.29 Tatsächlich wirkten unter der Oberfläche antisemitische Mentalitäten und Diskri­ minierungsmechanismen fort,30 die nicht nur von Nationalsozialisten weiterhin forciert wurden. Für die politischen Eliten brachte Heeresminister Carl Vaugoin in der Ministerratssitzung vom 14. Juni 1933 unverblümt auf den Punkt, dass die scheinbare Konvergenz der Interessen von Bundesregierung und Judentum nicht mehr als ein prekäres, potentiell labiles Zweckbündnis war  : »Mir ist es sehr unsympathisch, daß die Judenblätter so begeistert über die Regierung schreiben. Wir haben beide das Interesse, daß der N[ational]s[ozialismus] uns nicht überrennt, aber man muß den Juden etwas sagen, daß wir es nicht für die Juden tun, wir tun es für die arische österreichische Bevölkerung.«31 Noch deutlicher brachte ein führender Funktionär der »Vaterländischen Front« (VF), der Einheitspartei des austrofaschistischen Regimes, deren negative Grundhaltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung auf den Punkt, wenn er einem jüdischen Kommerzialrat auseinandersetzte, dass man bei der Begründung des »christlich-deutschen Ständestaats« nur aus taktischen Gründen »noch nicht nach allen Seiten« ausschlage und sich vorläufig damit begnüge, darauf zu achten, dass kein Jude »irgendwo im Rampenlicht steht«.32 Das Streben nach einer 27 Pauley 1993, 318 und 320, zurückhaltender ist die Wertung bei Pauley 2002, 254–256. 28 Die Wahrheit, 4.10.1933, 7. 29 Die Wahrheit, 24.3.1933, 2  ; zum historischen Kontext siehe Häusler 1993, bes. 20–47  ; zu Kunschak Pelinka 1972, passim. 30 Vgl. Pauley 1993, 326–333  ; Freidenreich 1991, 186–196. 31 Zit. n. Enderle-Burcel 1983, 574, Fußnote  XIII  ; den Quellenhinweis verdanke ich Alexandra Neubauer-Czettl. Siehe auch ihren Beitrag in diesem Band. 32 Zit. n. Tálos 2013, 476.

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systematischen Ausgrenzung der Jüdinnen und Juden auf den verschiedensten gesellschaftlichen Gebieten hatte in Österreich nach wie vor Konjunktur. So ist es kein Zufall, dass das »Österreichische Jungvolk«, die Nachwuchsorganisation der VF, über die Einführung eines »Arierparagraphen« nachdachte, nicht einmal getaufte Juden aufnahm und am Vorabend des »Anschlusses« die Gründung eines separaten jüdischen Jugendverbandes forcierte. An den Wiener Mittelschulen wurden unter Bürgermeister Richard Schmitz durch die Trennung von katholischen und nichtkatholischen Schulklassen rein jüdische Parallelklassen begründet. Die Sport- und Turnfront der VF weigerte sich, gegen Satzungen von Vereinen vorzugehen, die den Ausschluss von Jüdinnen und Juden sanktionierten. Die staatlich geduldeten und geförderten antijüdischen Schikanen auf wirtschaftlichem und beruflichem Gebiet sind ohnehin hinlänglich belegt.33 Gegen die Akzeptanz der jüdischen Bevölkerung als gleichberechtigten, integralen Bestandteil der österreichischen Gesellschaft gerichtet waren bekanntlich auch etliche Äußerungen von katholischen Publizisten und Klerikern sowie von Medien und Politikern christlichsozialer Provenienz. So leisteten der Linzer Bischof Johannes Maria Gföllner mit seinem Gerede vom »schädlichen Einfluß des Judentums«, der auf »arischer und auf christlicher Seite« bekämpft werden müsse,34 und der aus Graz stammende Bischof Alois Hudal, Rektor der »deutschen Nationalkirche« in Rom »Santa Maria dell’Anima«, mit seiner Warnung vor »dem übermäßigen Eindringen der Juden in Mittel- und Hochschulen« und dem Plädoyer für einen »christlichen Nationalsozialismus«35 Wortbeiträge, die einer antijüdischen Haltung eine gefährliche gesellschaftliche Normalität und Alltäglichkeit verliehen und im Hinblick auf Antisemitismus die Erste Republik über den Austrofaschismus mit der NS-Zeit verklammerten. Die Untersuchung von Wiener Pfarrblättern hat Belege dafür geliefert, dass antijüdische Ressentiments in der Zwischenkriegszeit auch an der kirchlichen Basis höchst lebendig waren und unter dem Austrofaschismus sogar verstärkt zum Ausdruck gebracht wurden.36 Und das Presseorgan »Sturm über Österreich« stellte für die »Österreichischen Sturmscharen« klar  : »Antisemitismus heißt nicht, alle Juden aufhängen oder ausweisen, sondern sie auf den Einflußkreis zurückdämmen, der ihnen auf Grund ihres Bevölkerungsanteiles zukommt.«37 Der Obmann der Christ33 Zum Vorstehenden siehe ebd., 470–490  ; Mähr 2014, Kapitel 3 mit weiteren Beispielen. 34 Gföllner 1933, 12. Zu Recht warf man auf jüdischer Seite dem Bischof vor, »trotz aller Bemäntelungen krassen Antisemitismus« zu predigen  ; siehe Die Stimme, 2.2.1933, 7. 35 Hudal 1937, 87, 251. Zu Hudals Versuch, Christentum und Nationalsozialismus zueinander in eine positive Beziehung zu setzen, siehe Klieber 2006, 16–25. 36 Scholz 2002, 285. 37 Sturm über Österreich, 5.11.1933, 2.

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lichsozialen Partei Emmerich Czermak schließlich brandmarkte »den destruktiven und zerstörenden Einfluß des Judentums auf arische und christliche Völker«.38 In solchen Stellungnahmen, die im katholisch-christlichsozialen Lager auf einer problematischen Kontinuität der Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung aufbauten,39 wurde eine krude Kombination einer religiös konnotierten Judenfeindschaft und eines rassistisch aufgeladenen Antisemitismus artikuliert, die – mitunter entgegen der ursprünglichen Intention – der gesellschaftlichen Akzeptanz nationalsozialistischer Politik in die Hände spielte und deren nur mit Mühe unterdrückte explosive Kraft in den Pogromen des Jahres 1938 zum Ausbruch kommen sollte. An den Hochschulen äußerte sich die Persistenz antisemitischer Mentalitäten und Praktiken darin, dass Gelehrte, die in »völkischen« Kreisen als jüdisch angesehen wurden, unter dem Kruckenkreuz ungeachtet ihrer wissenschaftlichen Qualifikation und ihres akademischen Potentials genau so wenige Chancen auf die Berufung auf eine Professur hatten wie vor 1933. Im Alltag kam sie auch darin zum Ausdruck, dass jüdische Studierende nach wie vor Diskriminierungen ausgesetzt waren – etwa wenn sie im Winter 1933 an der TH Wien ein anderes Legitimationsbuch erhielten als die nichtjüdischen Studierenden,40 oder wenn ihnen im Wintersemester 1934/35 andersfarbige Teilnahmekarten ausgeteilt wurden, die sie von den Einrichtungen des Kultur- und Bildungsinstituts der Österreichischen Hochschülerschaft ausschlossen.41 Besonders bezeichnend für die Tatsache, dass Antisemitismus unter dem Austrofaschismus in latenter, subtilerer Form fortlebte, ist der Umstand, dass die Regierung im selben Augenblick, in dem sie 1936 das Tragen von Hakenkreuzabzeichen auf Hochschulboden untersagte, die Wahrnehmung von öffentlichen Funktionen an die sogenannte »vaterländische Gesinnung« und die Zustimmung der VF band.42

38 Czermak [1933], 16, im Original alles hervorgehoben. Die Publikation wurde in den vom Kultur- und Bildungsinstitut der Wiener Hochschulen herausgegebenen »Akademischen Nachrichten« (Februar 1934, 8) beworben, und zwar in derselben Ausgabe, in der der angehende Germanist Karl Sklaral ohne nähere inhaltliche Spezifikation im Zusammenhang mit der Forderung nach einer »Neugestaltung Österreichs« forderte  : »Auch die Judenfrage muß in Österreich einer gerechten Lösung zugeführt werden«, ebd., 5. 39 Hiermit hat sich Staudinger mehrfach auseinandergesetzt, u. a. 2002. 40 Arbeiter-Zeitung, 27.1.1933, 1f.; ebd., 28.1.1933, 4. 41 Maderegger 1973, 156, unter Berufung auf Die Neue Welt, 30.10.1934. 42 Siehe WUW-AR, Prof.Koll., 27.11.1936, Bl. 6.

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Jüdische Studierende im christlichen Ständestaat – implizite und explizite Exklusion In solch einem scheinbaren Detail liegt meines Erachtens ein Schlüssel zum Verständnis des Antisemitismus im Austrofaschismus  : Während ostentative Äußerungen von Antisemitismus im öffentlichen Raum in den Hintergrund traten, wurde umso nachdrücklicher ein Antisemitismus ex negativo artikuliert.43 Er bestand im Kern darin, dass durch die gebetsmühlenartige Betonung des katholischen Charakters der österreichischen Gesellschaft und ihrer angeblich ausschließlichen Zugehörigkeit zu dem, was als deutsche Kultur und Geschichte angesehen wurde, die nichtchristliche Bevölkerung unabhängig von deren Selbstverständnis sozusagen automatisch ausgeschlossen war. Die Segregation der Jüdinnen und Juden wurde somit mindestens ebenso oft implizit wie explizit gefordert. Schon die konstitutionellen Grundlagen des austrofaschistischen Staates standen der Exklusion von Jüdinnen und Juden nicht entgegen  : Ungeachtet der Tatsache, dass einzelne prominente Vertreter der jüdischen Gemeinde in Organe des Regimes wie den Staatsrat und den Bundeskulturrat berufen wurden,44 begründete die Mai-Verfassung von 1934 einen »christlichen, deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage«.45 Und während die Verfassungsänderung von 1929 trotz der Verstärkung autoritärer Elemente an der Gleichheit aller Bundesbürger vor dem Gesetz festgehalten hatte und Vorrechte aufgrund von Geburt, Geschlecht, Stand, Klasse und religiösem Bekenntnis weiterhin explizit ausgeschlossen waren,46 räumte die Verfassung von 1934 dem Staat die Möglichkeit zur Einschränkung staatsbürgerlicher Gleichheit aus nicht näher bezeichneten »sachlichen Gründen« ein. Außerdem wurde die Konfession nicht länger als einer der Faktoren anerkannt, die von einer Bevorrechtung ausgeschlossen waren. Die Mai-Verfassung bestimmte zwar in einem gesonderten Artikel, dass »der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Stellungen, Ämtern und Würden […] vom Religionsbekenntnis unabhängig [ist].« Sie band aber die Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Religionsausübung an die schwammig formulierte Voraussetzung, dass die Ausübung dieser Rechte »nicht mit der öffentlichen Ordnung oder den guten Sitten unvereinbar« war. In ihrer Gesamtheit enthielt die austrofaschistische Verfassung somit durchaus Mög43 Ähnlich Mähr 2014, Kapitel 3.4.2 mit aufschlussreichen Beispielen. 44 Heim 2009, 32. 45 BGBl. II 1/1934. An genau diese Formulierung erinnerte der erste Sachwalter der Hochschülerschaft Österreichs die Studierenden  : Von Stein [1934], [XII]. 46 Bundes-Verfassungsgesetz in der Fassung von 1929, Art. 7, in  : BGBl. 1/1930. Dieser Artikel wurde unverändert aus dem Bundes-Verfassungsgesetz vom 1.10.1920 übernommen, BGBl. 1/1920.

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lichkeiten zur Exklusion gesellschaftlicher Gruppierungen.47 Das antisemitische Potential einer diskriminierenden Verfassungsinterpretation machte der frühere christlichsoziale Bundesrat Josef A. Tzöbl klar, als er 1936 – stellvertretend für viele andere erzkonservative Kräfte – den Ausschluss der Juden von öffentlichen Ämtern oder von bestimmten Berufen wie Journalisten, Ärzten oder Anwälten nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Vertrags von St. Germain und der Mai-Verfassung sehen wollte, weil doch »die Juden nicht lediglich als Bekenntnis, sondern vornehmlich als Rasse und Volk zu behandeln sind«.48 Auch im Hochschulbereich blieb die Forderung nach einem Ausschluss der jüdischen Bevölkerung auf der Tagesordnung. So bestimmte Ende Oktober 1933 Josef Klaus, der wenig später als Sachwalter der Österreichischen Hochschülerschaft an der Universität Wien für die Abwehr aller gegen den Staat gerichteten Bestrebungen verantwortlich zeichnen sollte, die Universität dürfe nicht nur »reine wissenschaftliche Anstalt« sein, sondern müsse auch »eine religiöse und nationale Erziehungsstätte sein, um zu einer ›universitas catholica‹ zu werden, die wir alle anstreben.«49 Dass eine solche Vision antisemitische Konnotationen besaß, hatte Klaus ein Jahr vorher mit der Erklärung zu erkennen gegeben, »dass Professoren jüdischer Volkszugehörigkeit akademische Würdenstellen nicht bekleiden dürfen« und »die deutschen Studenten als ihre Führer nur deutsche Lehrer anerkennen  !«50 Beide Aussagen zusammen genommen bildeten eine Argumentationskette, in der die Identifizierung der österreichischen Gesellschaft mit Deutschtum und Katholizität den Ausschluss der Jüdinnen und Juden umfasste. Es wäre zwar methodisch nicht zulässig, jede Berufung auf den vorgeblich deutschen und katholischen Charakter der oftmals als »bodenständig« bezeichneten österreichischen Gesellschaft ausnahmslos als antisemitisch zu brandmarken. Doch zahlreiche weitere Quellen lassen erkennen, dass unter dem Austrofaschismus in Fortführung von Ansätzen aus Kaiserreich und Erster Republik ein nationalreligiös konnotierter Diskurs dominierte, der die Exklusion der jüdischen Bevölkerung und Studierenden implizierte.51 Dies gilt etwa für den ersten Sachwalter der Österreichischen Hochschülerschaft Karl von Stein, der im Februar 1934 ausschließlich die katholischen und völkischen Studierenden zu hochschulpolitischem Engagement aufforderte, mit keinem Wort 47 Verfassung 1934, in  : BGBl. II 1/1934, Zweites Hauptstück  : Allgemeine Rechte der Staatsbürger, bes. Art. 16 und 27, 2 und 4. Diese legistischen Einschränkungen übersieht Burger 2014, 142–145. 48 Tzöbl 1936, 63. 49 Reichspost, 29.10.1933, 8. 50 Zit. n. Hubenstorf 1989, 268f., Anm.  15. Mit »deutschen« Personen waren Österreicher mit Deutsch als Muttersprache gemeint. 51 Siehe hierzu auch Staudinger 2005 und Staudigl-Ciechowicz 2017, 113–122.

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aber die jüdischen Kommilitoninnen und Kommilitonen erwähnte.52 Es gilt auch für die Kundgebung der katholisch-deutschen Hochschüler vom Mai 1936, auf der der Kirchenjurist Johannes Hollnsteiner vor einem »anmaßenden Klüngel von nicht Volksverbundenen« warnte und der Staatssekretär (bald darauf Minister) des Unterrichtsministeriums Hans Pernter den Studierenden »die Parole der Glaubenstreue, der Vaterlandsliebe, des deutschen Mannestums, des Bekenntnisses zur Volksgemeinschaft und zur sozialen Gerechtigkeit« ans Herz legte.53 Zwei Monate vorher hatte Pernter im Presseorgan der Österreichischen Hochschülerschaft, der »Österreichischen Hochschulzeitung« (ÖHZ), den Studierenden in einem ähnlichen Sinn ins Stammbuch geschrieben  : »Das neue Österreich kann seiner Sendung getreu nur eine christliche Kulturpolitik im katholischen Geiste machen«, und insbesondere an den Hochschulen müsse »wieder das christliche Erziehungsideal Geltung haben«.54 Noch deutlicher wurde ein anderer Artikel in diesem Blatt, das sich dezidiert den Kampf »für die Erneuerung des Vaterlandes im Geiste Dollfuß’«55 auf die Fahnen schrieb  : Unter der Überschrift »Politische Aufgaben des Hochschülers« legte ein Wiener Historiker apodiktisch fest, »daß nur das christliche Volk Träger der Politik in Österreich sein kann«, und »der vom christlichen Geist getragene Akademiker ist sein berufener Führer.«56 Der Geschichtsprofessor und Benediktinerpater Hugo Hantsch schließlich, ein überzeugter Anhänger des Austrofaschismus und ebenso entschiedener Gegner des Nationalsozialismus, beschwor nicht lange vor dem »Anschluss« »das christlich-deutsche Kulturideal, die christlich-deutsche Kulturgesinnung« als »unerschütterliche Voraussetzung jeder Volkstumsarbeit im In- und Auslande«.57 Vor dem Hintergrund solcher diskursiver Exklusionsmechanismen konnte die ÖHZ dann den Beitrag der österreichischen Studierenden zur »Lösung der Judenfrage« in dem Drängen darauf sehen, »daß die verantwortlichen Stellen unseres Vaterlandes gerechten und billigen Wünschen weitgehend Rechnung tragen«, ohne zu »leidenschaftlichen Lösungsbestrebungen« greifen zu müssen.58 Sehr explizit wurde das Verhältnis zur jüdischen Bevölkerung von der ÖHZ im Rahmen von zwei publizistischen Initiativen thematisiert. Erstens druckte das Blatt 52 Von Stein 1934, 1f. 53 Neue Freie Presse, 11.5.1936, 6 (Hollnsteiner) und ÖHZ vom 15.5.1936, 3 (Pernter). Zum politisch-gesellschaftlichen Umgang mit Dollfuß nach dessen Ermordung siehe Dreidemy 2014. 54 Zit. n. Österreichische Hochschulzeitung (ÖHZ), 1.3.1936, 1. 55 ÖHZ, 15.1.1936, 2. 56 Novotny 1937. 57 Hantsch 1938, 1  ; der Artikel wurde von der ÖHZ aus der »Österreichischen Korrespondenz für volksdeutsche Arbeit« übernommen  ; zu Hantsch siehe Holeschofsky 2012. 58 ÖHZ, 5.3.1938, 1.

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zwei ausgewählte Zuschriften ab, die beide im Herbst 1937 unter dem Titel »Gedanken zur Judenfrage« erschienen.59 In diesen Artikeln wurden die Jüdinnen und Juden in dem üblichen essentialistischen Duktus der Zeit als »Fremde« bzw. »Fremdkörper« bezeichnet und als »Fremdvolk« dem »Wirtsvolk« der nichtjüdischen Bevölkerung diametral gegenübergestellt. Gleichwohl bemühten sich beide Autoren in Abgrenzung vom Nationalsozialismus und in Übereinstimmung mit der Ablehnung von »leidenschaftlichen Lösungsbestrebungen« in ihren politischen Empfehlungen um eine relativ moderate Position. Dem einen Artikel zufolge war zwar »der Traum von einem völlig reibungslosen Nebeneinander [von Juden und Nichtjuden] ausgeträumt«. Sein unbekannter Verfasser warnte aber davor, die Juden zu einem »Helotendasein« zu verdammen, und sprach sich dafür aus, nach dem Vorbild des Jüdischen Kulturbundes im »Dritten Reich« »ihre Rechte als Mitbewohner« zu sichern, »die freilich in dem ureigensten kulturellen Leben der Gemeinschaft notwendiger Weise beschränkt werden«  ; wie beim Zionismus erkennbar, entspreche dies nicht zuletzt Wünschen, die aus dem Judentum selbst kämen mit dem Ziel, eine eigene »Volksgemeinschaft« zu bilden. Der andere Artikel plädierte am Ende sogar für eine Art von fairem Wettstreit unter gleichen Bedingungen für Juden und Nichtjuden  : »[…] machen wir allgemein strengere Gesetze  ! […] wo der Jude tüchtiger und fleißiger ist, suchen wir ihn zu übertreffen. Wenn wir ihn auch aus moralischen Gründen ablehnen, dürfen wir uns bei seiner Bekämpfung nicht selbst der Moral begeben und wüst kämpfen und losschlagen.« Beide Autoren scheinen eine definitorische, soziale und rechtliche Segregation der jüdischen studierenden und nichtstudierenden Bevölkerung angestrebt zu haben. Zweitens nutzte die ÖHZ gezielt ausgewählte Meldungen zu Entwicklungen in anderen Ländern, um Antisemitismus zu kanalisieren. So wurde in tendenziöser Absicht berichtet, dass in Ungarn die Zahl der Juden »viel zu groß im Verhältnis zu allen anderen Ländern« sei und an Hochschulen der Sowjetunion die Juden nach »den Russen« stärker vertreten seien »als alle übrigen Nationalitäten zusammen« – ein Umstand, der »einen guten Wertmaßstab für das Eindringen der Juden in das Geistesleben eines Volkes« abgebe.60 In einer weiteren Ausgabe aus dem Jahr 1937 kritisierte die ÖHZ – mitten im Spanischen Bürgerkrieg – mit verächtlichem Unterton, dass bei den Theaterfestspielen in Moskau in Anwesenheit von Sympathisanten der Internationalen Brigaden eine besondere Verbindung zwischen jüdischer und spanischer Kunst hergestellt wurde  ; süffisant erwartete man einen Sieg von Generalissimus Fran-

59 ÖHZ, 22.11.1937, 1f.; ebd., 6.12.1937, 6  ; der letztgenannte Artikel stammt vermutlich von Walter Prutscher, damals Mitarbeiter im Büro des Sachwalters der TH Wien. 60 ÖHZ, 1.5.1937, 5  ; ähnlicher Tenor in ÖHZ, 20.2.1938, 6.

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co.61 Sogar das »Dritte Reich« wurde von der ÖHZ für eine antisemitische Notiz herangezogen  : Unter grotesker Verzerrung der tatsächlichen Verhältnisse wurden »die Behauptungen, daß es den Juden in Deutschland jämmerlich schlecht gehe«, zurückgewiesen, denn in Berlin könne man »überall auf das jüdische Element stoßen, dem es weder an dem nötigen Kleingeld noch an Großkapital fehle.«62 Über den Umweg von manipulativ eingesetzten Nachrichten über das Ausland konnte somit Antisemitismus weiterhin mühelos transportiert werden, ohne mit Blick auf das eigene Land auf rhetorische oder physische Brutalität zurückgreifen zu müssen. Neben solchen programmatischen Aussagen ist für das Bestreben, das Hochschulwesen ausschließlich unter christlichen Vorzeichen sehen zu wollen, auch die Tatsache bezeichnend, dass der Verwaltungsapparat der Sachwalterschaft, die sich nicht nur an der Universität Wien als »die Zusammenfassung der bodenständigen deutschen Hörerschaft« definierte,63 an den vier nichtuniversitären wissenschaftlichen Hochschulen des Wiener Raums – soweit erkennbar – keinen einzigen Studierenden des mosaischen Bekenntnisses umfasste.64 Für die jüdischen Studierenden konnte dieser Umstand nicht zuletzt finanzielle Konsequenzen nach sich ziehen. Denn die Sachwalter hatten ein Anhörungsrecht, wenn die Rektorate über die Befreiung von Kollegiengeldern befanden – für die ohnehin nur jene Personen in Frage kamen, »deren vaterlandstreue Haltung gewährleistet erscheint« und die der VF angehörten.65 Vor dem Hintergrund all dieser Belege ist nicht verwunderlich, dass in die »kulturelle Führerschulung«, die die Sachwalterschaft im Februar und März 1937 über »die Rassenfrage, die Idee der Nation und den Gedanken der christlichen Humanitas« veranstaltete, keine jüdischen Wissenschaftler eingebunden waren.66 Wie der Vortrag »Die Judenfrage«, der für die Schulungstagung der Hochschülerschaft vom Juni 1936 vorgesehen war,67 formuliert wurde, entzieht sich leider der Nachprüfbarkeit.

61 ÖHZ, 22.10.1937, 2. 62 ÖHZ, 5.2.1938, 2. 63 Aus der ÖHZ, 20.1.1938, hier zit. n. Wagner 2010, 128. 64 Siehe die Jahrbücher der Hochschülerschaft Österreichs für 1936/37 und 1937/38, 74f., 57. Für Auskünfte zu den dort genannten Personen danke ich Dipl.-Ing. Peter Wiltsche (BOKU), Mag. Dr. Paulus Ebner und MMag. Alexandra Wieser (Technische Universität Wien) sowie MMag. Zuzana Ráczová (Veterinärmedizinische Universität Wien)  ; eigene Recherchen zur Hochschule für Welthandel. An der TH Wien wurde nach dem ›Anschluss‹ zu zwei Funktionsträgern der zu diesem Zeitpunkt aufgelösten Sachwalterschaft in den Hörerindices »Mischling« im Sinne der Nürnberger Rassegesetze eingetragen. 65 Aus einem Erlass von Bundesminister Pernter zit. n. ÖHZ, 18.1.1937, 7. 66 Knoll [1936], 35  ; vgl. auch das Programm der »kulturellen Führerschulung« für das Vorjahr nach der ÖHZ, 1.3.1936, 7. 67 ÖHZ, 15.4.1936, 1.

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Wie schon das Zitat von Josef Klaus deutlich gemacht hat, führte ein auf Ausschluss der jüdischen Studierenden angelegtes Selbstverständnis im Grunde Ansätze weiter, die bereits vor der Etablierung des austrofaschistischen Systems im akademischen Milieu gepflegt worden waren. So hatte die katholisch-deutsche Studentenschaft der TH Wien 1932/33 ihr Selbstverständnis folgendermaßen klargemacht  : »Der katholische Student bekennt sich zur Überzeugung, daß das Volkstum […] die Grundlage für den Bestand der Lebens- und Blutgemeinschaft von Volk und Nation ist. Die Arbeit am deutschen Volkstum ist für den katholischen Studenten eine heilige, gottgewollte Aufgabe und Pflicht, eine geistig-kulturelle  : die Wiedergewinnung eines christlich-deutschen Kulturideals aus dem seelischen Jungbrunnen des Volkstums  ; eine praktisch-soziale  : die Überbrückung der Klüfte im deutschen Volk  ; eine allgemein-nationale  : die Erhaltung auslanddeutschen Volkstums.«68 Sehr explizit wiederum stellte der 1932 gegründete »Volksdeutsche Arbeitskreis österreichischer Katholiken«, der sich aus führenden Funktionären von katholischen Jugendverbänden wie dem »Reichsbund der christlich-deutschen Jugend Österreichs«, der »Christlich-deutschen Turnerschaft Österreichs«, dem »Cartell-Verband« oder dem »Bund Neuland« zusammensetzte und aus dessen Mitarbeiterkreis maßgebliche Beiträge zur Vorbereitung des »Allgemeinen Deutschen Katholikentags« in Wien vom September 1933 geleistet werden sollten, eine Verbindung zwischen Katholizismus und Antisemitismus her  : Er erhob eine Ausrichtung der österreichischen Bildungspolitik auf »das christlich-nationale Bildungsziel« zum Programm. Hiervon war die »nach Geist und Blut fremde Arteinheit« der Juden dezidiert ausgeschlossen  ; für sie war der »Entzug der politischen Rechte, Numerus proportionalis für akademische Berufe« vorgesehen.69 Der definitorischen Ausgrenzung der jüdischen Studierenden wurde auch nicht dadurch gegengesteuert, dass im selben Zeitraum die Zusammenarbeit zwischen katholischen und nationalsozialistischen Studierendenvertretern in der DSt beendet und diese Organisation anschließend durch die Bundesregierung aufgehoben wurde. Es gab an den Hochschulen zwar auch Stimmen, die in der »Symbiose des Österreichertums und des Katholizismus auch für alle anderen Konfessionen und Bekenntnisse eine Garantie eigenstaatlichen Lebens und friedlicher Aufwärtsentwick-

68 Katholisch-deutsche Studentenschaft [1933], 29. 69 Zitate nach Staudinger 2002, 275. Im Organisationskomitee des Katholikentags waren denn auch etliche Personen verzeichnet, die dem Dunstkreis des »Volksdeutschen Arbeitskreises österreichischer Katholiken« verbunden waren und bald darauf der illegalen NSDAP beitreten sollten  ; siehe die Listen in  : Allgemeiner Deutscher Katholikentag Wien 1933, 7–9. Dem Arbeitskreis stand der schon erwähnte Hugo Hantsch vor, der zugleich Referent für Volksdeutsche Arbeit des Generalsekretariats der VF war, Mähr 2014, 89f.

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lung« sehen wollten.70 Doch auch solche Stellungnahmen unterstrichen letztlich den ausschließenden Charakter des Katholizismus als staatstragender Religion in Österreich, liefen auf eine Segregation der jüdischen Studierenden hinaus und bestätigten die ausgesprochene oder unausgesprochene Weigerung, Jüdinnen und Juden den gleichen Stellenwert und die gleichen Rechte zuzugestehen wie den nichtjüdischen Hochschulangehörigen. Ganz in diesem Sinne war die sogenannte »Volkstumsarbeit«, die sich das dem Sachwalter unterstehende Kultur- und Bildungsinstitut der Hochschülerschaft Österreichs auf die Fahnen schrieb, ausschließlich auf christlich-katholische Traditionsbildung ausgerichtet  ; eine »liberale oder neutrale Volksbildung« wurde explizit abgelehnt, eine nichtkatholische Form der Wissensvermittlung wurde nicht einmal in Erwägung gezogen.71 Dazu kam, dass jüdische Studierende unter dem austrofaschistischen Regime so gut wie keine positive Förderung erhielten, während deutschnationale und katholische Organisationen zum gleichen Zeitpunkt sehr wohl von Hochschulleitungen und -verwaltungen protegiert wurden. An der Hochschule für Welthandel beispielsweise, die im Jahr 1935 nach der Universität Wien (18,6 Prozent) mit 13,5 Prozent den zweithöchsten Anteil an jüdischen Studierenden aufwies,72 waren jüdische Vereinigungen nach der Einsetzung eines Sachwalters gezwungen, ihre Wiederzulassung und die Nutzung eines Anschlagskastens einer Überprüfung unterziehen zu lassen. Diese Verpflichtung galt zwar auch für die farbentragenden Studentenverbindungen. Im Hinblick auf die jüdischen Studierenden pikant aber waren zwei Umstände  : Erstens nahm die Hochschule einige deutschnationale und katholische Vereinigungen wie die »Arbeitsgemeinschaft katholischer Studenten«, den »Gesellschaftsverein Deutscher Handelshochschüler« und die Verbindungen »Hansea« und »Wiking« von der Verpflichtung zur Beantragung einer Wiederzulassung ausdrücklich aus, und dass die nichtjüdischen farbentragenden Verbindungen wieder zugelassen würden, stand für Rektor Julius Ziegler unabhängig von einer Überprüfung von vornherein fest. Zweitens wurden die jüdischen Vereinigungen bei der Verpflichtung zur Beantragung ihrer Wiederzulassung in einem Atemzug mit den Interessenvertretungen von »nicht-deutschen Hörern« wie Ungarn, Bulgaren und Polen genannt.73 Dass der »Gesamtverband jüdischer Hochschüler Österreichs ›Judäa‹«, der »Weltverband der 70 Jilek [1936], 56. Der Autor war damals Landespressereferent der VF Niederösterreich und Leiter der Abteilung Presse- und Werbewesen der Hochschülerschaft Österreichs. 71 Jahrbuch der Hochschülerschaft Österreichs 1934–1935, 5–8. 72 Akademische Nachrichten vom Oktober 1935, 3  ; die Angaben zur »Welthandel« decken sich mit der Studierendenstatistik des dortigen Rektorats, WUW-AR, vorläufige Kt.-Nr. S 179. 73 Siehe die hochschulpolitischen Berichte von Rektor Ziegler als Beilagen zu Prof.Koll., 27.11.1933 und 11.1.1934 (WUW-AR).

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jüdischen Studentenschaften« und der »Verband der zionistischen Verbindungen und Vereine« schließlich wieder zugelassen waren oder blieben,74 ändert nichts an der Tatsache, dass Jüdinnen und Juden auch unter dem Austrofaschismus als eine distinkte Bevölkerungsgruppe angesehen wurden, die nicht in jene nationale Gemeinschaft integriert werden könne, als die die österreichische Gesellschaft landläufig gedacht und propagiert wurde. Um eine Reihe von deutschnationalen und katholischen Vereinigungen zu verbieten, bedurfte es der Intervention des Handelsministeriums, das die Aufsicht über die »Welthandel« führte  – von sich aus hätten Hochschulleitung und Professorenkollegium wohl kaum einen solchen Schritt unternommen.75 In der Folge wurden zwar auch hier die studentischen Wehrverbände aufgelöst. Dies geschah allerdings erst, nachdem die Bundesregierung ein entsprechendes Gesetz erlassen hatte.76 Auch in mindestens einem weiteren Fall war es der Staat, der gegen rechtsextreme Studentenorganisationen einschritt  : Im Mai 1937 verbot der Sicherheitsdirektor für Wien die Burschenschaft »Eisen«, die ihre Mitglieder in Wien vor allem an der TH und der BOKU rekrutiert hatte.77 Desungeachtet blieben bis zum »Anschluss« Österreichs etliche andere katholische und deutschnationale Studentenverbindungen unter Einschluss des »Kyffhäuserverbandes der Vereine deutscher Studenten« zugelassen.78 Mit der Tolerierung von rechtsgerichteten Organisationen, die ohnehin seit jeher das gesellschaftliche und politische Feld an den Hochschulen dominiert hatten und nach der Ausschaltung von sozialdemokratischen Interessenvertretungen im Gefolge der Niederschlagung des Februaraufstands von 1934 noch einmal ihre Hegemonie ausbauen konnten, blieben die Hochschulen bei gleichzeitigen kleinkarierten Schikanen gegenüber jüdischen Interessenvertretungen weiterhin Keimzellen für Antisemitismus. Auch ohne Gewaltexzesse wurde somit im Zusammenspiel von Studierenden, Professoren und Rektoren die Annäherung an das »Dritte Reich« ungeachtet des Bestrebens der austrofaschistischen Regierung, den staatszerstörenden Nationalsozialismus zu bekämpfen, unter der Oberfläche weiterbetrieben.79 74 Siehe die Einträge in den Jahrbüchern der Hochschülerschaft Österreichs 1934/35 (47), 1935/36 (X) 1936/37 (XXXVIIIf.) und 1937/38 (IXf.). 75 WUW-AR, Prof.Koll., 30.11.1934, Bl. 4 unter Bezugnahme auf einen Erlass des Bundesministeriums für Handel und Verkehr, 30.3.1934. 76 WUW-AR, Prof.Koll., 27.11.1936. Das erwähnte Gesetz datiert vom 10.10.1936 (BGBl. 335/1936, 841), es wurde der Hochschule drei Wochen später mitgeteilt. 77 Siehe den Bericht in der Neuen Freien Presse, 15.5.1937, 4. 78 Siehe die entsprechenden Einträge in den Vorlesungs- und Personalverzeichnissen der Hochschulen ab dem Studienjahr 1935/36. 79 Ähnlich Posch 2008, 95.

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An der Hochschule für Welthandel äußerte sich die unheilvolle Kumpanei von Professoren und antisemitisch eingestellten Studierenden darin, dass Rektor Ziegler und das Professorenkollegium dem jüdischen Doktoranden Josef Singer im Jahr 1933 jegliche Unterstützung verweigerten, als dieser kurz nach der »Machtergreifung« der NSDAP in Deutschland in den Anschlagskästen der »Völkischen Arbeitsgemeinschaft« viermal hintereinander mit einem Vergewaltiger und Mörder gleichgesetzt worden war, der zufälligerweise den gleichen Nachnamen trug.80 Die gezielte Diffamierung erhielt dadurch besonderes Gewicht, dass Josef Singer Obmann der »Judäa« war  ; außerdem war er polnischer Staatsbürger und galt damit in den Augen der »Hakenkreuzler« als besonders verachtenswerter »Ostjude«.81 Die Hochschule im Währinger Park unterließ es nicht nur, die Serie von antisemitischen Anschlägen zu unterbinden. Das Professorenkollegium weigerte sich auch, die Namen der für den Anschlagskasten Verantwortlichen bekanntzugeben, als Singer endlich beim Döblinger Bezirksgericht eine Klage wegen Ehrbeleidigung einbrachte. Dass das Kollegium in derselben Sitzung dem in Deutschland verbreiteten rechtsextremen »Tannenberg-Studenten-Bund« die Zulassung an der »Welthandel« erteilte, zeigt einmal mehr die gravierende politische Einseitigkeit und eine nicht zu leugnende antisemitische Grundeinstellung der Professorenschaft.82 Schlimmer noch  : Nachdem Singer am 20. März 1933 von Mitgliedern der DSt aus dem Hochschulgebäude herausgeprügelt und andere »jüdisch aussehende Hörer« beleidigt worden waren,83 drohte Ziegler »solchen Personen, die Anlaß zu Unruhen geben«, Maßnahmen »nach den geltenden Disziplinarvorschriften mit aller Strenge« an.84 Schließlich erteilte der Rektor Singer auch noch Hausverbot mit der »Begründung«, dass dieser jüdische Doktorand, der 1932 an der »Welthandel« den Titel des Diplomkaufmanns erworben hatte, »auf die deutschen Hörer durch sein bloßes Erscheinen in der Hochschule aufreizend wirken müßte und die Deutsche Studentenschaft Ruhe an der Hochschule versprochen hat, wenn Singer die Hochschule nicht betritt.«85 Mit anderen Worten  : Statt gegen die nationalsozialistischen Hetzer aufzutreten, machte die Hochschule das Opfer der antisemitischen Kampagne zu einem Täter und viktimisierte Singer zugleich ein weiteres Mal. Und dies sollte nicht das letzte Mal sein  : Selbst nachdem die beiden Natio80 Soweit nicht anders angegeben, siehe zum Folgenden WUW-AR, Präs. 33/1933 und den Artikel »Die Hochschule für Welthandel  : Eine Filiale des Dritten Reiches« in  : Der Morgen, 29.5.1933, 4. 81 Siehe WUW-AR, Studierendenkarteikarte und Prüfungsliste Doktorate, Inskriptionsnummer 15.270. 82 WUW-AR, Prof.Koll., 19.1.1933, Bl. 5 und 3 mit Beilage 4, Bl. 5. 83 Neues Wiener Tagblatt, 21.3.1933 (WBiR-TBA, TS 1261). 84 WUW-AR, Präs. 128/1933. 85 WUW-AR, Prof.Koll., 3.4.1933, Bl.  3. Offiziell wurde Singer keine Begründung mitgeteilt  ; siehe Schreiben Zieglers, 22.3.1933, WUW-AR, Präs. 129/1933.

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nalsozialisten, die für die inkriminierten Anschläge der »Völkischen Arbeitsgemeinschaft« verantwortlich zeichneten, vom Gericht verurteilt worden waren, weigerte sich Ziegler, das Hausverbot gegen Singer aufzuheben. Für den Rektor »erübrigte« sich ein solcher Schritt faktisch dadurch, dass Singer noch vor dem Revisionsverfahren, in dem das erstinstanzliche Urteil bestätigt wurde, nach Palästina emigrierte, »da ihm durch das Verhalten der Angeklagten das weitere Studium unmöglich gemacht wurde.«86 Abschließend ist darauf hinzuweisen, dass es in rechtsgerichteten Kreisen nicht unüblich war, jüdische Studierende durch die Gleichsetzung von Judentum und Sozialdemokratie zu schikanieren. An der »Welthandel« z. B. bezichtigten der Heimatschutz und die katholisch-deutsche Studentenschaft im Frühjahr 1934 die »Judäa«, in ihren Reihen Mitglieder der kurz vorher zwangsweise aufgelösten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei zu tolerieren. Sogleich leitete Rektor Ziegler eine Untersuchung gegen die jüdische Vereinigung ein und entzog ihr solange das Recht, auf Hochschulboden einen Anschlagskasten zu unterhalten, bis sie sich verpflichte, sozialdemokratische Mitglieder auszuschließen.87 Der Kampf von Dollfuß und Schuschnigg gegen die Sozialdemokratie und die Diffamierung von jüdischen Interessenvertretungen ließen sich auf diese Weise mühelos verbinden. Auch hier wurde die antijüdische Kumpanei von Professoren und katholisch-nationalen Studierenden wirksam.

Zusammenfassung Ebenso wenig wie in anderen Bereichen des gesellschaftlichen und politischen Lebens lässt sich die Entwicklung der Jahre 1933 bis 1938 an den Hochschulen isoliert betrachten. Sie stand vielmehr in einer Kontinuität, die weit ins 19. Jahrhundert zurück-

86 Keiner konkreten Zeitung zuzuschreibender Artikel »Naziskandal an der Hochschule für Welthandel«, 1.10.1933, nach  : WBiR-TBA, Hochschulen 1933. Erst 1949 konnte Singer seine Promotion an der »Welthandel« abschließen. Im Oktober 1985 wies der österreichische Verwaltungsgerichtshof (GZ 84/08/0030) Singers Klage auf Anrechnung von Pensionsversicherungszeiten für die Auswanderung wegen der Verfolgung aus Abstammungsgründen zurück. Bei dem Prozess wurde durch Zeugenaussagen bestätigt, dass Singer »von den Nazistudenten dauernd angepöbelt, tätlich angegriffen und mit dem Tode bedroht worden sei.« Das Urteil ist abrufbar unter Bundeskanzleramt, Rechtsinformationssystem, Verwaltungsgerichtshof, https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Vwgh/ JWT_1984080030_19851024X00/JWT_1984080030_19851024X00.html (2.5.2016). 87 WUW-AR, Prof.Koll., 8.3.1934, Bl.  4. Das Betätigungsverbot für die SDAP wurde am 12.3.1934 veröffentlicht im BGBl. I 78/1934.

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reichte88 und die Erste Republik mit der Anschlusszeit verklammerte.89 Inwieweit die Hochschulen auf dem Gebiet des Antisemitismus als Schrittmacher fungierten oder »nur« die Entwicklungen widerspiegelten, die in der Zwischenkriegszeit auch in anderen gesellschaftlichen Kontexten gang und gäbe waren, ist empirisch nicht eindeutig zu beantworten. Zu bedenken ist, dass ein Numerus clausus an den Hochschulen die Kontingentierung des Zugangs von Jüdinnen und Juden zu Berufsgruppen wie Ärzten oder Anwälten erheblich erleichtert hätte, und die Einschüchterung, die von antijüdischen Gewaltorgien an den Hochschulen ausging, wirkte weit über das akademische Milieu hinaus. Immerhin konnten im Austrofaschismus die Gewaltexzesse durch legislatorische und exekutive Maßnahmen, die anfangs auf die Bekämpfung der Sozialdemokratie und bald darauf auch des Nationalsozialismus gerichtet waren, signifikant zurückgedrängt werden. Unter der Oberfläche aber blieb Antisemitismus virulent. Besonders in der mentalen Konstruktion eines nationalreligiösen Deutschnationalismus, die auf die kategoriale Trennung der »bodenständigen« Bevölkerung von Jüdinnen und Juden abzielte, blieb er auf die Exklusion der Letzteren ausgerichtet. Wie im Allgemeinen90 war das Verhältnis des Austrofaschismus zur jüdischen Bevölkerung denn auch im Hochschulwesen letztlich durch Ambivalenzen gekennzeichnet. Nach außen hin trat Antisemitismus im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrzehnten weniger grobschlächtig auf. Gleichwohl blieb er gesellschaftlich wirksam und bereitete subkutan weiterhin den Boden für jene Radikalisierung, die ab März 1938 unter dem NS-Regime mit erschreckender Brutalität wirksam wurde. Zusammen mit großdeutschem Nationalismus bezog der Antisemitismus seine gesellschaftliche Breitenwirkung daraus, dass er auch unter dem Austrofaschismus Studierende, Professoren und Hochschulleitungen und -verwaltungen untereinander verband  ; und wie die eingangs erwähnten Auseinandersetzungen um die Einführung von »völkischen« Studierendenordnungen in den 1920er und frühen 1930er Jahren gezeigt hatten, waren auch Angehörigen der Bundesministerien, die die Fachaufsicht über die verschiedenen Hochschulen führten, antisemitische Einstellungen nicht fremd. Förderlich für das Fortleben des Antisemitismus war nicht zuletzt, dass sich zahlreiche rechtsradikale studentische Verbindungen der Protektion durch Professoren und Hochschul88 Hierzu einschlägig Wladika 2005, passim. 89 Dass Antisemitismus auch nach Auschwitz an österreichischen Hochschulen durchaus fortlebte, wurde nicht zuletzt an der sog. Affäre Borodajkewycz manifest, siehe hierzu die Studie von Kropiunigg 2015, die allerdings unter quellenkritischen Gesichtspunkten Defizite aufweist und durch die Auswertung relevanter Archivbestände zu ergänzen wäre. 90 Neben dem vorliegenden Sammelband vgl. bes. Königseder 2005, 54–57  ; Tálos 2013, 473–477  ; Mähr 2014, Kapitel 3.2.

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leitungen erfreuten, während jüdische Interessenvertretungen im Verwaltungsalltag der Hochschulen wie eh und je schikaniert wurden. Die Maßnahmen, mit denen die Bundesregierung ab 1933 in die Hochschulautonomie eingriff, zielten denn auch nicht auf eine überfällige Gleichbehandlung der jüdischen Hochschulangehörigen, sondern auf eine allgemeine Beruhigung der Situation an den Hochschulen, in deren Gefolge dann jüdische Studierende vor Gewalt wesentlich stärker geschützt waren als zuvor. Die legistische Glasur war jedenfalls in keiner Weise dazu angetan, die seit langem etablierte Asymmetrie zwischen jüdischen und nichtjüdischen Studierenden und Angestellten zu beseitigen. Im Gegenteil  : Die immer wieder erhobene Forderung nach Segregation bezweckte, die Asymmetrie zu zementieren. In all diesen Aspekten unterschied sich die Entwicklung an den vier wissenschaftlichen Hochschulen des Wiener Raums allenfalls graduell von der Situation an der Universität Wien, und es steht zu vermuten, dass eine Untersuchung zu den Hochschulen und Universitäten der anderen österreichischen Bundesländer und zu den künstlerischen Akademien zu ähnlichen Ergebnissen kommen würde. Für den Wiener Raum wird man jedenfalls von einer Landschaft des akademischen Antisemitismus sprechen können. Alleine die Ausschreitungen gegen jüdische Studierende gab den zeitgenössischen Medien Anlass zur Vermutung, dass es sich nicht um Einzelereignisse, sondern um planmäßig vorbereitete Aktionen handelte,91 die unter Beteiligung, wenn nicht gar unter Federführung von Studierenden aus NS-Deutschland an allen Hochschulen des Wiener Raums unter Einschluss der dortigen Universität durchgeführt wurden. Auch unter dem austrofaschistischen Regime sahen sich die jüdischen Hochschulangehörigen einem starken antisemitischen Lager gegenüber, das sich durch vertikale und horizontale Vernetzungen auszeichnete.

Ausblick Die Analyse des systemischen Charakters des akademischen Antisemitismus im Austrofaschismus bedarf freilich noch ebenso intensiver Detailforschung wie die Untersuchung jener Hochschulen, die im vorliegenden Aufsatz nicht angemessen berücksichtigt werden konnten. Welche Rolle spielte beispielsweise die Österreichische Rektorenkonferenz für die Abstimmung der Haltungen der Hochschulen zu den Eingriffen der Bundesregierung in die Hochschulautonomie und gegenüber jüdischen Studierenden, Dozenten und Verwaltungsangestellten  ? Immerhin äußerten 91 Arbeiter-Zeitung, 17.10.1933, 7 (»unter verschärfter Vorlagepflicht«)  ; ähnlich Reichspost, 17.10.1933, 5.

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die Hochschulleitungen den Wunsch nach »einer regeren Fühlungnahme der akademischen Behörden sämtlicher Hochschulen«,92 und tatsächlich war die Rektorenkonferenz unter der Führung der Universität Wien ein Forum für die Koordinierung der Hochschulpolitik unterhalb des Unterrichtsministeriums.93 Auch die Rolle, die der illegale NS-Dozentenbund an den Hochschulen bei der Vorbereitung des »Anschlusses« und der Agitation gegen Jüdinnen und Juden gespielt hat, liegt noch im Dunkeln. Und inwieweit stand die Personalpolitik an den Hochschulen nachweisbar unter antisemitischen Vorzeichen  ? Stärker als bisher sollte die wissenschaftliche Beschäftigung mit akademischem Antisemitismus Aktionen und Reaktionen von jüdischen Studierenden und ihren Interessenvertretungen einbeziehen. Schließlich wäre wünschenswert, den Wiener Raum mit anderen Regionen in Beziehung zu setzen. Neben den anderen Ländern des österreichischen Bundesstaates verspricht namentlich die Befassung mit den Nachfolgestaaten des Habsburgerreiches und dessen Nachbarländern in Mittel- und Osteuropa Aufschlüsse für eine Vergleichs- und Transfergeschichte.94 Erst hierdurch würde es möglich, den spezifischen Zuschnitt des Antisemitismus in Österreich historiographisch zu bestimmen.

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Außeruniversitäre Wissenschaft Verdrängt seit 1365 Hochschulantisemitismus »Als ich meine Studien (1921) begann, war in Österreich die akademische Laufbahn für einen Juden zwar etwas erschwert, aber durchaus zugänglich  ; als ich sie beendete (1926, also lange vor Ausbruch des deutschen Nationalsozialismus) war sie praktisch bereits fast unmöglich, und zwei Jahre nach dem Doktorat, als ich ›habilitationsreif ’ war, war [daran] nicht mehr zu denken. Es war damals eine staatliche Anstellung für einen Juden so gut wie unerreichbar geworden, und besonders die Universität und technische Hochschule waren Zentren des schärfsten Antisemitismus. Ich war so dem lautlosen österreichischen Hochschulantisemitismus ausgeliefert«1, berichtet der Physiker Franz Urbach. Er hatte sich mehrmals für vakante Stellen beworben, wurde jedoch immer wieder auch expressis verbis mit Verweis auf seine jüdische Abstammung abgelehnt. Dies ist kein bedauernswerter Einzelfall, sondern so lesen sich viele Wissenschafterbiographien jener Zeit. Besonders – Urbach schildert es – gegen Ende der 1920er Jahre verschärfte sich der Antisemitismus immens, wodurch »an den österreichischen Hochschulen eine Basis sowohl für den autoritären Ständestaat als auch den Nationalsozialismus geschaffen wurde«2 und die vorbereitende Funktion der Universitäten bei der Etablierung rassistischen Gedankengutes daher nicht zu unterschätzen ist. Der Akademische Senat unternahm etliche Vorstöße zur Einführung eines Numerus clausus für Juden und die »Deutsche Gemeinschaft« erstellte im Dezember 1925 eine sogenannte »Gelbe Proskriptionsliste«. Darauf waren zahlreiche Wissenschafter als »ungerade Hochschulprofessoren« angeführt, die es zu meiden, deren Vorlesungen es zu boykottieren, deren Beförderung es zu verhindern galt. Auf dieser Liste standen u. a. Sigmund Freud, Moritz Schlick und Hans Kelsen, die als Vertreter des »anarchischen Ungeradentums« angesehen wurden.3 »Ungeradentum« war Synonym für *  Überarbeitete und aktualisierte Fassung von Ehs 2011. 1 Urbach 1934. 2 Lichtenberger-Fenz 1977, 6. 3 Vgl. Rosar 1971, 29.

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alles, was man als »undeutsch« verabscheute  : Marxismus, Liberalismus, Freimaurerei, Homosexualität und eben Judentum.4 Welche fachlichen Auswirkungen die Kumulation jener antiliberalen, antipluralistischen und somit antidemokratischen Haltung hatte, nämlich den Ausschluss zahlreicher begabter und innovativer (Nachwuchs-)Wissenschaftler_innen, und damit die geistige Auslöschung gleichsam als Vorgriff auf die physische Vernichtung, zeigt sich beispielsweise an den Diskussionen um die Nachfolge Friedrich Wiesers, des Mitbegründers der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, an der Rechtsund Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien  : Die »Fachgruppe Hochschullehrer« der »Deutschen Gemeinschaft«, laut Oliver Rathkolb eine »Lobby […], die versuchte, rassistische und konservative Kriterien bei Lehrstuhlbesetzungen außerhalb des offiziellen Berufungsrahmens durchzusetzen«,5 beriet 1925 jene Besetzung, für die Wiesers Schüler Hans Mayer vorgesehen war. Aus dem Sitzungsprotokoll geht hervor, dass die »ungeraden« Bewerber fachlich weitaus qualifizierter waren, ja, dass sich unter den »Geraden« bei jener engen Definition eigentlich niemand mehr fand, der den Lehrstuhl übernehmen könnte  : »Die Lage ist nun, daß wir in der Nationalökonomie keinen Geraden habilitieren können, dagegen ein Ungerader habilitiert wird. Mayer scheint sexuell nicht normal, fühlt sich daher nicht sicher und verbündet sich daher mit den Ungeraden.«6 Diese Vorgänge an der Universität Wien verdeutlichen den schon in den 1920er Jahren herrschenden Antisemitismus und die damals gängigen Ausgrenzungsstrategien. Auch wenn in Österreich der Numerus clausus für Juden erst 1938 mit Übernahme des »Gesetzes gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen« vom 25. April 1933 verwirklicht wurde, war der genuin österreichische Vorstoß, die 1930 von Rektor Wenzel Gleispach erlassene Studentenordnung, doch nur aus formaljuristischen Gründen (Kompetenzmangel) vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben worden.7 Die Forderung war seit Ende des 19.  Jahrhunderts in studentischen Korporationen diskutiert worden und bildete in der Ersten Republik das zentrale

4 Siehe für die Diffamierungskampagnen Stadler 1997, 557f.; auch Siegert 1974, 35–37  ; Siegert 1981, 22f. 5 R athkolb 1989, 197. 6 Sitzungsprotokoll, 4.2.1925  ; Archiv der Society for the Protection of Science and Learning, 342/5, Bodleian Library Oxford. Für weitere Beispiele von Antisemitismus an der Wiener Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät siehe Ehs/Staudigl-Ciechowicz/Olechowski 2014a sowie mit Fokus auf die Jahre 1938 bis 1945 Ehs 2012. 7 Vgl. Staudigl-Ciechowicz 2015 sowie siehe Lichtenberger-Fenz 1990, 84f. und passim.

Außeruniversitäre Wissenschaft

Thema der »Deutschen Studentenschaft«, die auch für einen Numerus clausus unter Lehrenden eintrat und gegen die Berufung jüdischer Professoren protestierte.8 Juden und Jüdinnen wurden in der Ersten Republik mehr denn je als »Fremdkörper« angesehen. Das Ende des habsburgischen Vielvölkerstaates und die neue Einteilung in Nationalstaaten machten aus Österreich nicht nur vorgeblich einen »deutschen« Staat  – weshalb 1918 die »Republik Deutschösterreich« proklamiert worden war  –, sondern durch den Zusammenbruch der Monarchie war auch das zu verwaltende Staatsgebiet erheblich kleiner geworden, sodass man künftig weniger Beamte benötigte, wodurch zahlreiche Studierende (v. a. der Rechtswissenschaften) nach ihrem Abschluss zwar keinen entsprechenden Arbeitsplatz, dafür jedoch rasch einen Sündenbock fanden. Außerdem gab es immer weniger universitäre Planstellen »und Juden kamen dafür schon gar nicht in Frage«  ;9 nicht zuletzt hatte die Öffnung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät für Frauen für weitere Konkurrenz in jenen Studienrichtungen gesorgt. Die schlechte Wirtschaftslage sowie die hohe Arbeitslosigkeit und der Aufnahmestopp in den Bundesdienst verschärften die Lage zusehends.10 An der Universität Wien waren Juden und Jüdinnen in jenen Jahren tatsächlich überproportional vertreten, wie zum Beispiel die Volkszählung des Jahres 1923 belegt, als in Wien 201.513 Angehörige mosaischen Glaubens lebten (d.i. 10,8 Prozent der Wiener Bevölkerung), aber 42 Prozent aller Studierenden jüdischer Herkunft waren, bei den Medizinstudent_innen gar die Hälfte.11 Dieser hohe Anteil hat seinen Grund nicht nur in einer größeren Wertschätzung von Bildung,12 sondern auch im Zuzug jüdischer Studierender aus dem Osten, die von zahlreichen Universitäten, insbesondere in Polen, ausgeschlossen waren.13 Ende der 1920er Jahre war allerdings ein steter Rückgang an jüdischen Studierenden zu verzeichnen, was vor allem der systematischen Ausgrenzung an der Universität geschuldet war.14 Die Exklusion erfolgte dabei nicht mehr nur inoffiziell bei Prüfungen oder Berufungen, sondern   8 Die »Deutsche Studentenschaft« war 1919 in Würzburg auf großdeutscher-völkischer Ideengrundlage als »Gemeinschaft aller Studierenden deutscher Abstammung und Muttersprache« gegründet worden und fungierte als Dachorganisation von katholisch und deutschnationalen Studentenvereinigungen, vgl. Hein 1984, insb. 72f., sowie Klamper 1988.  9 Feichtinger 2001, 438. 10 Vgl. die Berichte von Gleispach und Hanausek 1927. 11 Vgl. Angaben in den Statischen Nachrichten (Sign. C 00045/L, Statistik Austria) und im Statistischen Handbuch für die Republik Österreich, 1920ff. (Sign. C00108/L, Statistik Austria), worin »Studierende nach Religionsbekenntnis« erhoben sind. 12 Nach Morgan 1997 lautete die wichtigste Forderung der Haskalah »[to] educate and govern men«. 13 Hierzu näher Ehs/Staudigl-Ciechowicz/Olechowski 2014b. 14 Vgl. die Zahlen bei Tietze 2008.

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ganz offiziell, denn »Antisemitismus war ein zentraler Bezugspunkt der Hochschulpolitik in der Ersten Republik«15 geworden. Insbesonders mit dem bereits erwähnten Numerus clausus  – Albert Lichtblau spricht treffend von »Apartheidsdenken«16  – sollte der Anteil jüdischer Studierender drastisch reduziert werden, damit »unsere hohen Schulen das bleiben, was sie uns bisher waren, ein Hort deutschen Geistes, deutscher Wissenschaft und deutschen Wesens«, schrieb Rektor Karl Diener 1922 in der Deutschösterreichischen Tages-Zeitung (DÖTZ), der deutschnationalen Zeitung.17 Das 1922 novellierte Organisationsgesetz, das österreichische Universitäten als »deutsche Forschungs- und Lehranstalten« deklarierte, hatte solchen Ideen zusätzlich Boden bereitet.

Das extramurale Exil  : Wiener Vereinswesen Nach dem Doktorat, spätestens nach der Habilitation war die Karriereleiter für Wissenschafter_innen jüdischer Herkunft meist zu Ende. Der Staatswissenschafter Eric(h) Voegelin greift dies in seinen Erinnerungen auf und merkt an, dass »mit Ausrufung der Republik der Antisemitismus zu einem allgegenwärtigen Phänomen an der Wiener Universität wurde. Als ich zu studieren anfing, war eine beträchtliche Anzahl der Ordinarien Juden. Sie vertraten die liberale politische Tradition der Monarchie. 1918 und in der Zeit danach wurden jedoch keine weiteren Juden zu Ordinarien ernannt  ; die jüngeren jüdischen Wissenschafter hatten somit keinerlei Chance, jemals über den akademischen Grad des Privatdozenten hinauszukommen.«18 Ein Dokument des »US-Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Scholars« aus dem Jahr 1938 bestätigt Voegelins Eindruck und führt aus, dass zahlreiche hervorragende Wissenschafter allein aufgrund des universitären Antisemitismus nicht berufen wurden und daher als Privatdozenten oder gänzlich außerhalb der Universität wirken mußten  : »[T])here are a great many men of very high standing as scholars who either have been only ›Privatdozenten‹ at a university and earned their living in some other profession or who have never had any academic position.«19 Als Privatdozent musste man seinen Lebensunterhalt anderswo verdienen. Denn selbst, wenn Wissenschafter_innen jüdischer Herkunft als Vortragende an der Uni15 Lichtenberger-Fenz 1989, 7. 16 Lichtblau 1995, 467. 17 Diener 1922. 18 Voegelin 1994, 24 (Hervorhebung im Original). 19 Zit. n. Helling 1988, 451.

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versität arbeiten durften, bezogen sie doch kein Gehalt, sondern lediglich bescheidene Kollegiengelder. Der Privatdozent für Rechtsphilosophie Felix Kaufmann (Dr. iur. 1919, Habilitation 1922) etwa, dessen Name schon früh auf antisemitischen Proskriptionslisten auftauchte, war österreichischer Repräsentant der »Anglo-Persian Oil Company«  ; Alfred Schütz und Joseph Herbert Fürth (beide Dr. iur. 1921) wiederum, die während ihrer Wiener Zeit selbst auf die Habilitation verzichten mussten und erst in den USA als Soziologe beziehungsweise als Ökonom arbeiten konnten, waren Sekretär des »Wiener Bankvereins« und Rechtsberater für die Privatbank Reitler & Co (Schütz) respektive Rechtsanwalt in der Kanzlei von Alexander Mintz (Fürth). Viele junge Wissenschafter_innen »tendierten aufgrund ihrer Situation politisch auch eher zur Linken, was in einem Zweizeiler der Zeit zum Ausdruck kam  : ›Weil ihn nicht zahlen tut der Staat, wird er ein roter Demokrat‹.«20 Tatsächlich wählten rund drei Viertel der Wiener Juden und Jüdinnen in der Zwischenkriegszeit sozialdemokratisch,21 fanden doch gerade Nachwuchswissenschafter_innen jüdischer Herkunft auch in der sozialdemokratisch geprägten Wiener Volksbildung eine Wirkungsmöglichkeit.22 Außeruniversitäre Wissenschaft und alternative Bildungs- und Forschungskonzepte beruhten im Roten Wien auf dem Vereinswesen. In vielen dieser Vereine bauten all jene Außenseiter_innen, die aufgrund ihrer »Rasse«, ihres Geschlechts oder ihrer »ungeraden« Ideen an der Universität keine Zukunft sahen, eine außeruniversitäre Wissenschaftskultur auf. Einige Zusammenschlüsse wurden explizit als »jüdische Vereine« gegründet, besonders nachdem die bislang bestehenden Vereine oftmals einen Arierparagraphen eingeführt und sich in der Ersten Republik ein weit verzweigtes völkisch-nationales Vereinswesen etabliert hatte.23 Eine der ersten jüdischen akademischen Verbindungen war die schon 1882 von aus »judenreinen« Korporationen Ausgeschlossenen gegründete »Kadimah«, die ein neues jüdisch-nationales Selbstbewusstsein vertrat und sich alsbald in den Dienst der zionistischen Bewegung stellte. Insgesamt konstituierten sich in Österreich bis zur Gleichschaltung der Jahre 1938/3924 29 jüdische Studenten20 Taschwer 2002, 87. 21 Vgl. Simon 2001. 22 Vgl. Ehs 2007. 23 Rütgen 1989, 376f. 24 Siehe dazu ausführlich Rothkappl 1996, insb. 85f.; wobei allerdings auch die schon durch den Austrofaschismus erfolgten ähnlichen Maßnahmen nicht vergessen werden dürfen  : Bereits am 14.2.1934 begann die Auflösung und Gleichschaltung zahlreicher Vereine, insbesondere der Arbeiter(kultur)organisationen. In jene »ständestaatliche« Zeit fällt auch die Gründung der bis heute weitgehend unbekannten »Jüdischen Volkshochschule«, die nebst ihrer Funktion der Ausgrenzung des Judentums durch Zuweisung eines eigenen, von der Umwelt abgesonderten Hauses, vor allem in Ablehnung alles

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und Altherrenverbände.25 Jüdische Wissenschafter_innen fanden sich in den Vereinen »Haruach« (Vereinigung jüdischer Forscher, Schriftsteller und Künstler), »Jabne« (Jüdisch-akademischer Kulturverband) oder im »Verein zur Förderung jüdischer Wissenschaft« zusammen  ; Studierende frequentierten z. B. die »Lese- und Redehalle jüdischer Hochschüler«, die bereits 1894 gegründet worden war. Einige Vereine agierten (auch) im Dienste des Zionismus, vor allem die studentischen Verbindungen. In den wissenschaftlichen Vereinigungen wurde der Zionismus jedoch meist abgelehnt  ; es ging dort vielmehr um die Möglichkeit außeruniversitärer Netzwerkbildung – jenseits aller konfessionellen Fragen. Für viele Nachwuchswissenschafter_innen, die meist aus Karrieregründen sogar konvertiert waren, aber letztlich aufgrund des nun rassisch verstandenen Antisemitismus nicht mehr auf eine universitäre Anstellung hoffen konnten, waren jene extramuralen, konfessionsindifferenten, allein auf den gelehrsamen Austausch ausgerichteten Zusammenkünfte oft die einzige Möglichkeit, auf der Höhe der wissenschaftlichen Forschung zu bleiben. Der bereits erwähnte Rechtsphilosoph Felix Kaufmann musste seinen Lebensunterhalt als Geschäftsmann verdienen und fand nur abends in den Privatseminaren und bei Vereinssitzungen oder nachts Zeit und Gelegenheit für seine wissenschaftliche Arbeit  ; der Rechtsanwalt Joseph Herbert Fürth gründete (gemeinsam mit Friedrich Hayek) als Antwort auf seine Außenseiterposition das Diskussionsforum »Geist-Kreis«, das »bald als Auffangbecken für universitäre Außenseiter, die […] außeruniversitären Beschäftigungen nachgingen« fungierte.26 Christian Fleck spricht diesbezüglich treffend vom »Paradox des Erfolgs unter widrigen Bedingungen.«27 Das rege Vereinsleben hatte Anteil, die widrigen universitären Bedingungen wenigstens teilweise zu kompensieren. Die meisten Wissenschafter_innen jüdischer Herkunft waren in mehreren vereinsmäßig geführten akademischen Gesellschaften zugegen, aber nur ganz wenige sowohl in den jüdischen wie auch in den allgemeinen, was wiederum die besondere Gratwanderung entlang von (aufgedrängten) Mehrfachidentitäten jüdischer Intellektueller respektive Wissenschafter_innen mosaischer Abstammung zwischen (erzwungener) Segregation und Integration veranschaulicht. Denn gerade für die assimilierten Juden und Jüdinnen des Bürgertums war nicht Religion (oder Nation oder gar »Rasse«) das zentrale Bezugssystem, sondern Bildung. Gegen den Hochschulantisemi»Linken« (das heißt Liberalen und Freigeistigen) die Erziehung zu einer vaterländischen jüdischen Haltung zum Ziel (gesetzt bekommen) hatte, siehe dazu Gaisbauer 1988. 25 Vgl. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Stillhaltekommissar, Wien IV Ac 31, Schachtel 567. 26 Ehs/Staudigl-Ciechowicz/Olechowski 2014a, 740f. 27 Fleck 1995, 98.

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tismus mit der Gründung explizit jüdischer Wissenschaftsvereine zu reagieren, hätte für sie bedeutet, das von außen aufgezwungene, rassische Bild vom Anderssein zu akzeptieren. In der Soziabilität des wissenschaftlichen Vereins hingegen fand weiterhin das Bekenntnis zur Wertewelt der Bürgerlichkeit Ausdruck. Einer der bekanntesten in die außeruniversitäre Wissenschaft Verdrängten ist Ludwig Mises, der an der Universität Wien niemals eine ordentliche Professur erhalten28 und aufgrund der Aussichtlosigkeit einer universitären Karriere schon früh begonnen hatte, seine Forschungsaktivität in Vereine zu verlagern. Deshalb fand die »Wiener Schule der Nationalökonomie« in den 1920er Jahren ihre Weiterentwicklung nicht mehr an der Universität, sondern in Mises’ Privatseminar, in der als Verein geführten »Nationalökonomischen Gesellschaft« und schließlich im 1927 gegründeten Verein »Institut für Konjunkturforschung«, dem Vorgänger des WIFO. Mises’ Schüler Fritz Kaufmann erinnert sich  : »Als 1923 das Privat-Seminar ins Leben gerufen wurde, war Mises bereits eine allgemein anerkannte, jedoch vielfach angefeindete wissenschaftliche Persönlichkeit. Diese Mises umgebende Feindseligkeit war offenbar ausschlaggebend für die sonst kaum verständliche Tatsache, dass ihm das volkswirtschaftliche Ordinariat der Wiener Universität zeitlebens versagt blieb, das ihm auf Grund seiner wissenschaftlichen Bedeutung zweifellos gebührt hätte.«29 Das von Mises gegründete »Institut für Konjunkturforschung« war als Verein geführt und konnte dank Finanzierung durch die »Rockefeller Foundation« vielen (Nachwuchs-)Wissenschafter_innen nicht nur eine Berufsperspektive bieten, sondern zahlreiche Wissenschafter_innen jüdischer Herkunft hatten in jenem ersten, extramuralen Exil durch die Kontakte zur internationalen scientific community und zu ausländischen Fördergeldern auch eine solide Basis für das zweite Exil gelegt. Jenes auf Grundlage des Wiener Vereinslebens geknüpfte internationale Netzwerk, das auf einer nach 1938 nie wieder erreichten wissenschaftlichen Exzellenz und Innovationskraft beruhte, deren Entwicklung durch die geistige Engführung an den Universitäten selbst kaum mehr möglich war und nur mehr außeruniversitär geschehen konnte, erleichterte es später vielen Emigrant_innen, im Ausland Fuß zu fassen.

28 Über die Gründe dafür, die nicht allein, jedoch maßgeblich auf Antisemitismus zurückzuführen sind, berichtet Hayek, siehe Kresge 1994, 59. 29 K aufmann 1981, 260.

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Marginalität Wissenschaftliche Vereine wie jene von Mises waren ungeachtet der Konfession oder »Rasse« allen zugänglich. Da Nichtjuden aber der universitäre Weg und auch Vereine mit Arierparagraphen offenstanden, waren sie in oben genannten Vereinen weniger häufig anzutreffen als Wissenschafter_innen jüdischer Herkunft. Doch diese »Wissenschaftskultur der Außenseiter« war gerade aufgrund ihres hohen Anteils jüdischer Mitglieder überaus innovativ. Untersuchungen zeigen, dass je neuer und innovativer ein Wissenschaftsgebiet war, desto höher auch der Anteil an Forscher_innen jüdischer Abstammung lag.30 Nicht nur hielten sie durch ihre extramurale Tätigkeit mit der wissenschaftlichen Entwicklung Schritt, sie revolutionierten sie sogar in vielerlei Hinsicht und erregten dadurch zunehmend das Interesse der internationalen scientific community. Zum Nexus zwischen dem außeruniversitären Wissenschaftsbetrieb in Vereinen und ihrem Innovationspotential meint Klaus Fischer, dass »sich die Bevorzugung der innovativen Disziplinen […] strukturell aus der sozial-kognitiven Situation der Kinder halbassimilierter Juden erklären läßt – aus einer Lage zwischen den Kulturen«.31 Er folgt damit der »marginal man«-These, die zuerst von Robert Park in die Diskussion eingebracht und Jahrzehnte später von Robert K. Merton wiederentdeckt wurde.32 Der wohl bekannteste »marginal man« ist Sigmund Freud, dem eine ordentliche Professur an der Universität Wien sehr lange verweigert geblieben war, der sich aber erfolgreich ein außeruniversitäres Netzwerk (»Mittwochsgesellschaft«, »Wiener Psychoanalytische Vereinigung«, internationale Kontakte etc.) aufgebaut hatte. Diese Marginalität hatte sowohl soziale als auch kognitive Folgen  :33 Die soziale Ausgrenzung von Juden, Frauen und Andersdenkenden, diese Nichtanerkennung als vollwertige Mitglieder der Wissenschaftsgemeinde bedeutete, seltener zitiert und zu Kongressen eingeladen, und für Studierende, bei Prüfungen strenger beurteilt zu werden sowie keinen Dissertationsbetreuer und später keine Habilitationsmöglichkeit vorzufinden. Die Flucht ins extramurale Exil war daher eine unter mehreren möglichen Antworten auf universitäre Ausgrenzung. Andere waren der völlige Rückzug aus der Wissenschaft oder das politische Engagement im Zionismus. Die kognitive Folge der Ausgrenzung zeigte sich oft als innovatives, unkonventionelles und höchst skeptisches 30 Vgl. zum Beispiel die bibliometrische Untersuchung zur Wirkung von emigrierten Naturwissen­ schaftern bei Fischer 1998, 89–116. 31 Ebd., 108. 32 Park 1928  ; Merton 1968. 33 Zum Folgenden siehe Fischer 1998, 112f.

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Denken, das Möglichkeiten, Methoden, Begriffe und Theorien in Betracht zog, die dem Blick der intramuralen universitären Gemeinschaft entgingen. Vereine als außeruniversitäre, nichtstaatliche Wissenschaftsorte konnten diesem Denken Heimat bieten und zugleich auf das grundlegende Problem in den 1920er Jahren hinweisen  : Die antiliberale und antidemokratische Grundeinstellung an den Universitäten korrespondierte mit jenen Strömungen in der Politik der Ersten Republik respektive bereitete diesen den Boden. Doch wissenschaftliche Innovation braucht (geistige) Freiräume und einen liberalen, demokratischen, das heißt (auch methoden-)pluralistischen Zugang. Die Universität Wien konnte dies nicht bieten. Ihre Außenseiter_innen schufen daher allmählich ein eng verflochtenes und sehr tragfähiges, schließlich auch internationales Netzwerk, das ihnen nicht zuletzt bei der Emigration unterstützend zur Seite stand.34

Nachwort Extramurale Exile verdrängter Wissenschaft gab es später und gibt es bis heute immer wieder, wie etwa das Schicksal Ostberliner Forscher_innen belegt, die nach der Wiedervereinigung entlassen wurden, als es an den Universitäten v. a. im sozial- und geisteswissenschaftlichen Bereich zu einem radikalen Austausch der Eliten kam. An der Humboldt-Universität Berlin wurden 75 Prozent der Professor_innen und 70 Prozent der wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen relegiert. Sie haben sich oft in außeruniversitären Vereinen zusammengefunden.35 Auch Österreich und vor allem die Universität Wien kennt dieses Phänomen der Verdrängung in den außeruniversitären Bereich  : So wurde beispielsweise das »Institut für Wissenschaft und Kunst« (IWK) 1946 dezidiert als Gegenuniversität zum engen geistigen universitären Leben der Nachkriegszeit gegründet.36 Für spätere Jahre ist etwa das »Institut für Höhere Studien« (IHS) anzuführen.37 Waren diese Forschungsstätten zuerst vor allem durch ausländische Fördergeber_ innen (z. B. Ford oder Rockefeller Foundation) und/oder parteinahe Einrichtungen finanziert, kam mit dem Forschungsorganisationsgesetz 1981 eine nicht unmaßgebliche Subvention seitens des Wissenschaftsministeriums zum Tragen. Unter dem Eindruck neoliberaler Austeritätspolitik wurde jedoch spätestens 2010 begonnen, die 34 Vgl. Ehs 2010. 35 Vgl. Bloch/Pasternack 2004, v. a. 58. 36 Vgl. R athkolb 2015, 25. In seinen Gründungsdokumenten verspricht das IWK »Aufgaben der For­ schung und Lehre [zu] übernehmen, die offensichtlich von anderen, sonst vielleicht berufeneren Stellen zur Zeit nicht geleistet werden oder nicht geleistet werden können«, IWK 1946, 4. 37 Vgl. Fleck 2000.

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Budgetposten für außeruniversitäre Einrichtungen extrem zu kürzen. Renommierte Forschungsinstitute mussten um ihren Bestand fürchten und sahen sich gezwungen, ihre Unabhängigkeit einzuschränken, sich in größere Einrichtungen einzugliedern bzw. an Universitäten, die jedoch selbst der Sparpolitik unterliegen, anzuschließen. All dies wurde im Jubiläumsjahr 2015 von der Universität Wien nicht thematisiert. Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 650-jährigen Gründungsjubiläum wurden lediglich Erinnerungen (re-)produziert, um ein formelles Gedächtnis zu manifestieren. Dabei beschäftigte sich die Universität zwar wie bei der Konferenz, auf der dieser Sammelband beruht, mit ihrer unrühmlichen Vergangenheit als Hort des Antisemitismus, doch dies vor allem im Hinblick auf ein makelloses Portfolio einer an unternehmerischen Strukturen orientierten Institution. Die Vergangenheit ist als überwunden markiert und damit neutralisiert.38 Jene Leistungsschau, die die Universität Wien im Jahr 2015 bot, blieb somit in der Geschichte verhaftet und verpasste die Möglichkeit und Chance, mehr als Symbolpolitik zu betreiben. Dadurch veranstaltete die Universität Wien zwar Tagungen, die sich mit den ins Exil vertriebenen Wissenschafter_innen befassten – immerhin große Namen, die man über den Umweg der Vergangenheitsbewältigung wieder für sich reklamieren kann  –, ließ in ihrem auf Imageförderung fokussierten Programm jedoch keinen Raum, den aktuellen Verdrängungswettbewerb zu thematisieren  : Wie unabhängig sind Forschung und Lehre  ? Verkauft sich die Universität an die Wirtschaft  ? Wer entscheidet, woran geforscht wird, und wie steht es um Mitbestimmung und Demokratie  ? Und wer profitiert letztendlich von der immer größer werdenden Zahl an prekär Beschäftigten, externen Lektor_innen und zeitlich befristeten Drittmittelfinanzierten  ?39 Dabei erfolgt universitärer Ausschluss heute nicht mehr über Antisemitismus bzw. kaum oder zumindest nicht offiziell über Rassismus oder Sexismus. Ausschluss erfolgt vielmehr über prekäre Arbeitsbedingungen und chronische Unterfinanzierung der Universitäten, über Strukturen unmittelbarer Verwertbarkeitslogik und einer grundsätzlichen Ökonomisierung von Wissen. Obwohl gerade die Universität Wien sehr stark vom wissenschaftlichen Nachwuchs getragen ist, ohne dessen hohe Leistungsbereitschaft der Betrieb in zahlreichen Studiengängen gar nicht aufrecht zu erhalten wäre, werden diesem kaum Perspektiven geboten. Entgegen der Aussagen der seinerzeitigen Vizerektorin Susanne Weigelin-Schwiedrzik40 spornt permanente 38 Vgl. Illmayer 2015. 39 Diese Fragen stellten lediglich die »Gehörgänge beim Uni Wien Prekärparcours«  : http://www.gehoergaenge.at/stationen/prekaerparcours-uni-wien/ (23.12.2017). 40 Vgl. Interview in der Tageszeitung Der Standard, 29.4.2014  : http://derstandard.at/1397522040137/ Unsicherheit-stachelt-zu-Hoechstleistungen-an (23.12.2017).

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Unsicherheit gerade nicht zu Höchstleistungen an. Falls junge Wissenschafter_innen heute an der Universität Wien mittels Selbstökonomisierung doch reüssieren, dann nur in einem sehr begrenzten, hochspezialisierten Bereich. Mit der Spezialisierung geht jedoch stets eine steigende Kritiklosigkeit gegenüber dem Gesamtzusammenhang einher und auch eine Individualisierung, in der Wissenschafter_innen als Konkurrent_innen um die nächste Drittmittelfinanzierung im Wettbewerb zueinander stehen – also exakt das Gegenteil einer »universitas«, einer Gemeinschaft. Der Ausschluss erfolgt heute demnach über immer unsicherere Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Nicht mehr Öffnung und Gleichheit sind das Ziel, sondern Elite und Exzellenz (Stichwort »Weltklasseuni«). Ein unternehmerischer Wettbewerbsdiskurs, der in Rankings Ausdruck findet, beherrscht die Wissenschaftspolitik. Die Universität Wien lebt von Enthusiast_innen ohne feste Löhne, ohne existenzielle Absicherung, von einem Heer »Neuer Selbständiger«, von »Unternehmer_innen ihrer selbst« (Michel Foucault), die sich praktischerweise den befristeten Arbeitsplatz selbst schaffen. Die Fixanstellung erhält am Ende jedoch nicht, wer inhaltlich am besten qualifiziert ist, sondern wer den längeren Atem hatte, die Prekarität moralisch und finanziell durchzustehen. Besonders betroffen von diesen Auswirkungen neoliberaler Reformen sind jene Wissensarbeiter_innen, die durch die Bildungsexpansion der sozialliberalen Ära an die Universitäten gekommen sind. Jene Arbeiterkinder, die sich für die Wissenschaft als Beruf entschieden, leben heute oft in sozioökonomisch schlechteren Situationen als ihre wesentlich geringer mit schulischem Kapital ausgestatteten Eltern.41 Das gesellschaftlich mehr vorhandene kulturelle Kapital ist weniger wert beziehungsweise von ihnen nicht entsprechend ökonomisierbar. Es ist nicht nur eine individuell frustrierende Erfahrung, selbst mit hochqualifizierter Bildung und Wissensarbeit stets nur einen Abwehrkampf gegen den sozialen Abstieg zu führen, sondern diese prekäre Arbeitsweise erlangt gesamtgesellschaftliche Relevanz  : Da sich an den akademischen Übergängen zum Doktorat oder zur Post-doc-Stelle stets die Frage stellt, ob man in der Wissenschaft bleibt, also diesen riskanten Weg weiter verfolgen will und kann, ist das verfügbare Volumen an ökonomischem Kapital höchst relevant. Denn nicht genehmigte Drittmittel und nicht erhaltene oder gering entlohnte Lehraufträge bedeuten für befristet Angestellte semesterweise finanzielle Durststrecken, die sich mit einem finanzkräftigen Elternhaus oder anderen unterstützenden Netzwerken (Sozialkapital) leichter überwinden lassen. Doch wer Wissensarbeit betreibt und wer der Wissenschaft verloren geht, ist nicht irrelevant. Wer was unter welchen Bedingungen forscht, lehrt oder lernt, wirkt sich 41 Vgl. Bourdieu 1987, 260f.

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auf das gesellschaftlich verfügbare Wissen und damit auf das politische Gemeinwesen an sich aus.42 Wäre die Erinnerungs- und Festkultur der Universität Wien 2015 nicht nur Historisierung und Werbekampagne gewesen, sondern die Wahrnehmung der Chance, sich als gesellschaftlicher Ort kritisch-reflexiven Wissens zu präsentieren, dann hätte man politisch Position beziehen und die 2002 erlangte »Autonomie« mitsamt ihren tatsächlichen Machtverhältnissen offenlegen können. Dann hätte man Traditionen des Ausschlusses und der Unterdrückung thematisieren können.

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Außeruniversitäre Wissenschaft

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BUNDESLÄNDER

Gerhard Baumgartner

Antisemitismus im Burgenland vor 1938

»Friedliches Zusammenleben« im Burgenland Die burgenländische Geschichtsschreibung betont seit den späten 1980er Jahren besonders den traditionell multiethnisch und multireligiös geprägten Charakter des Burgenlandes, in der Regel dargestellt als ein Erbe der Habsburgermonarchie, das insbesondere der speziellen sozialen und politischen Konstellation der ungarischen Reichshälfte im späten 19. Jahrhundert geschuldet sei.1 Konstitutives Element in diesem Narrativ ist der Topos vom jahrhundertelangen »friedlichen Zusammenleben« der Juden mit der christlichen Bevölkerung des Burgenlandes. Dieser Befund stützt sich in erster Linie auf zahlreiche autobiographische Bezeugungen von aus dem Burgenland stammenden Juden, die diese in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts retrospektiv verfassten, in der Regel im Zusammenhang mit Erinnerungen an ihre in burgenländischen Städten und Dörfern verbrachten Jugendjahre. Die Beschreibung des 1913 in Lackenbach geborenen Mordechai Grünsfeld betreffend die Situation in seiner Heimatgemeinde ist typisch für die Erinnerungsliteratur seiner Generation und findet sich – in ähnlicher Weisen und oft auch ähnlicher Diktion – in den meisten übrigen Judengemeinden des Burgenlandes  : »In der Schulzeit passierte nichts Außergewöhnliches, es war eine ganz normale Schulzeit.«2 »Einer hat die Religion des anderen geachtet. Auch wenn ein Leichenzug der Katholiken durch die Gasse kam, wo die Juden gewohnt haben, haben wir die Geschäfte geschlossen, bis der Leichenzug vorbei war. Dasselbe war bei einem jüdischen Leichenzug, dann haben die Christen die Geschäfte geschlossen. Man hat sich gegenseitig geehrt.«3 Häufig wird Antisemitismus im Burgenland der Zwischenkriegszeit in diesen Erinnerungen nicht nur nicht erwähnt, sondern explizit in Abrede gestellt. Das betrifft nicht nur seine Heimatgemeinde Lackenbach mit einer großen jüdischen Gemeinde, sondern auch den Schulstandort Stoob, wo Mordechai Grünsfeld in die Schule ging  :

1 Baumgartner 1991  ; Mindler 2011. 2 Tschögl/Tobler/Lang 2004, 15. 3 Ebd., 18.

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»Ich war der einzige Jude in der Schule. Aber ich habe kaum Antisemitismus gefühlt. im Gegenteil – ich habe mich mit den Mitschülern sehr gut verstanden.«4 Die in London lebende Natalie Gluck kam in einem 2001 entstandenen Interview über ihre Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre in der mittelburgenländischen Gemeinde Deutschkreutz verlebten Jugendjahre zu einer ähnlich positiven Einschätzung der Lage  : »Ich fühlte vor 1938 keinen Antisemitismus. Ich glaube, ich hatte eine sehr glückliche und ganz normale Kindheit. An unliebsame Ereignisse kann ich mich nicht erinnern.«5 Und wenn sich doch antisemitische Misstöne in die Erinnerung mischen, dann wurden sie von den Zeitzeugen oft heruntergespielt, wie etwa im Interview mit dem 1928 in Gols geborenen und aufgewachsenen Izach Roth  : »Zu uns sind fast jeden Tag vier, fünf Kinder aus der Nachbarschaft gekommen und haben mit mir gespielt. Meine Mutter hat sich um sie gekümmert, hat ihnen Essen und Süßigkeiten gegeben. Antisemitismus hab ich damals keinen gefühlt. Ein paar Mal habe ich gehört  : ›Jude, geh nach Palästina‹, weil man das halt so gesagt hat  !«6 Dabei gehörte Izach Roth mit seinen Eltern zu den ersten, in den Anschlusstagen 1938 sehr brutal aus dem Burgenland vertriebenen Juden. Diese Aussagen sind umso erstaunlicher, hält man sich vor Augen, dass die NSDAP in Gols in der Zwischenkriegszeit nicht nur bereits sehr früh in Erscheinung trat, sondern auch im regionalen Vergleich einen auffällig breiten Zulauf hatte. Die Einschätzungen der jüdischen Zeitzeugen aus dem Nord- und Mittelburgenland werden auch von jüdischen Zeitzeugen aus den südburgenländischen Judengemeinden bestätigt. So beschrieb etwa die 1921 in Güssing geborene und aufgewachsene Sofie Kobrinsky, geb. Rothstein, ihre Jugenderlebnisse wie folgt  : »In Güssing habe ich 16 gute Jahre verlebt, eine schöne Kindheit. Meine Freundinnen, meine Freunde – die christlichen – waren sehr gut zu mir, haben mich immer zu Weihnachten und zu Ostern eingeladen, das war sehr schön. Ich habe Matzes gebracht und sie haben mir gefärbte Eier geschenkt. Es war ein wunderbares Leben, bis Hitler einmarschiert ist.«7 »Die Lehrer haben mich sehr gern gehabt, auch in der Hauptschule. Es gab eine Lehrerin, die war nicht katholisch, sondern evangelisch. Und man hat gewußt, dass die Evangelischen antisemitisch eingestellt sind. Aber nicht diese Lehrerin […]. Also ich hab nichts gemerkt von Antisemitismus. Im März 1938 waren dann viele wie ausgewechselt.«8 4 5 6 7 8

Ebd., 16. Ebd., 43. Ebd., 51. Ebd., 63. Ebd., 64.

Antisemitismus im Burgenland vor 1938

In manchen Aussagen von jüdischen Zeitzeugen wird deutlich spürbar, wie man versuchte, die nicht mehr zu leugnenden negativen Erfahrungen entweder auszuklammern oder zu bagatellisieren  : »Ich war nicht dabei, als meine Eltern und mein jüngster Bruder aus Güssing wegmussten. Als ich später nach Wien kam, war meine erste Frage an meine Eltern  : ›Sagt mir, wie war das  ?‹ Das sagte mein jüngster Bruder  : ›Frag nicht, wir wollen nicht darüber sprechen. Danke Gott, daß du nicht dabei warst  !‹ Angeblich hat man sie angespuckt, das hat mir eine Christin erzählt. Und man hat gesagt  : ›Gott sei Dank sind wir von diesen dreckigen Juden erlöst  !‹ Meine Eltern wollten mir nichts sagen und mein jüngster Bruder auch nicht.«9 Die 1919 in Eisenstadt geborene Martha Mond, geb. Gabriel, brachte diese latente Realitätsverweigerung auf den Punkt  : »›Unser Pech war, dass wir den Antisemitismus nicht am eigenen Leib gespürt haben – oder fast nicht. Vielleicht wollten wir es auch nicht spüren. Wir haben Freunde gehabt, unser Vater war sehr geschätzt in jeder Gesellschaft. Sonst wäre es anders gewesen. Aber irgend etwas muss ich doch geahnt haben, denn ich wäre sehr gern Ärztin geworden, habe aber nicht Medizin studiert, weil ich mir gedacht habe  : ›Wer weiß. was da kommt  ? Man wird jüdische Ärzte nicht aufnehmen.‹ Mein zweites Interesse war Kunstgewerbe. ich hätte zwar lieber studiert, aber ich bin in die Kunstgewerbeschule gegangen, weil man diese Kenntnisse in jedem Land verwenden kann, das ist überall modern und überall gut. Es war im Unterbewusstsein eine Ahnung.«10 Im Gegensatz zum Burgenland sei der Antisemitismus in Wien viel deutlicher spürbar geworden, schildert die in Eisenstadt aufgewachsene Lore Lizbeth Waller, geb. Beck, die nach einem Umzug in die Bundeshauptstadt erstmals mit offenem Antisemitismus konfrontiert wurde  : »Einmal sind wir tanzen gegangen. – Und da hat mich ein junger Mann zum Tanzen aufgefordert und antisemitische Bemerkungen gemacht. Er wusste nicht, dass ich Jüdin bin […]. Das war der erste Antisemit, den ich kennen gelernt habe, von dem ich das gewußt habe. Von den anderen wusste ich es nicht. Gespürt habe ich es auch nicht. Das ist erst herausgekommen, als die Nazis kamen. Die Freunde meiner Mutter, die sich dann als antisemitisch oder als Nazis entpuppt haben, waren sehr höflich. Vor lauter Höflichkeit hat man nicht gewußt, dass das Antisemiten waren, wir haben es jedenfalls nicht empfunden.«11 »Ich wollte nach der Matura Kunstgeschichte studieren. Aber dann dachte ich mir  : ›Das dauert zu lang.‹ Ich war mir ziemlich sicher, dass die Nazis an die Macht kommen werden, deshalb hab ich dann an der Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt in Wien   9 Ebd., 66. 10 Ebd., 83. 11 Ebd., 124.

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Fotographie gelernt. Ich hatte furchtbare Angst, dass sie kommen würden, und sie sind gekommen.«12 Bekundungen offen antisemitischer Entgleisungen, wie die von Gertrude Hofer, geb. Gabriel, aus Eisenstadt oder Franz Spiegel aus Zurndorf, sind selten, ebenso wie Hinweise auf eine latent wahrgenommene antisemitische Atmosphäre im Burgenland  : »Antisemitismus habe ich bis zum März 1938 nicht persönlich gespürt. Aber ich war mir immer bewusst, dass er existiert. Mit den nichtjüdischen Mädchen in der Klasse waren wir gut, mit ein paar Burschen auch. Aber ich habe es gespürt, wenn auch nicht an meiner Person, so doch an der Atmosphäre. Es war etwas in der Luft.«13 »Eine andere Erinnerung habe ich an einen anderen Professor, der hieß Loidl. Das war unser Geschichtsprofessor, der war immer ein Graus und hat schon früher weiße Socken getragen und hat mit dem Hitlergruß gegrüßt, als in Österreich der Hitlergruß noch gar nicht verwendet worden ist. Er hat in einer Klasse einen Vortrag über Horst Wessel gehalten und hat gesagt, dass sich bei uns jetzt alles geändert hat.«14 »Man war sich des Antisemitismus immer bewusst, auch als Kind. Aber ich erinnere mich hauptsächlich an das, worüber ich meine Eltern sprechen hörte, weniger an persönliche Ereignisse. Der einzige persönliche Übergriff, den ich verspürt habe, war am Tag des ›Anschlusses‹. Ich war in Eisenstadt in der Schule. Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich einen meiner Lehrer – ich habe seinen Namen leider vergessen – mit einem kleinen Trupp von Braunhemden marschieren, die alle eine Hakenkreuzfahne trugen. Dann setzte man mich in einen Zug und schickte mich von der Schule aus heim nach Zurndorf. Ohne eine Erklärung. […] Vom Bahnhof in Zurndorf war es ein schön langer Weg zu uns und am Weg warfen ein paar Kinder Steine nach mir und schrien, ich kann mich an die Worte noch gut erinnern  : ›Dein Vater ist eingesperrt  ! Dein Vater ist im Gefängnis  !‹ Ich verstand das zuerst nicht. Erst als ich heimkam, erfuhr ich, was passiert war und dass er mitgenommen worden war. Meine Mutter saß auf der Eingangstufe unseres Hauses. Jemand hatte es ausgeräumt, nichts war mehr da. Sie hielt einen Aschenbecher mit ihren Händen umklammert und sagt, irgendetwas müsse sie retten und aufheben. Alles war von den Dorfbewohnern geplündert worden«.15 Dieser fast einhellige Befund überlebender Zeitzeugen über ein angeblich konflikt­ freies Zusammenleben zwischen Juden und Nichtjuden im Burgenland der Zwischenkriegszeit ist aus zwei Gründen verblüffend. Erstens wurden sämtliche Zeitzeugen 12 Ebd., 125. 13 Ebd., 95. 14 Ebd. 15 Ebd., 175f.

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im Jahre 1938 Opfer einer rigorosen Vertreibung ihrer Familien aus dem Burgenland, meist unter tatkräftiger Mithilfe ihrer ehemaligen Nachbarn und angeblichen ­Freunde.16 Zweitens war das Burgenland in der Zwischenkriegszeit keineswegs von der nationalsozialistischen Bewegung unberührt geblieben, sondern ganz im Gegenteil hatte die nationalsozialistische Bewegung in den Dörfern und Kleinstädten des Burgenlandes bereits relativ früh stabile Strukturen aufgebaut und eine breite Anhängerschaft gewonnen.17 Und drittens gehörten die 1921 an Österreich angegliederten Gebiete des Burgenlandes zu jenen ungarischen Komitaten, die in der ungarischen historischen Literatur bereits seit dem 19. Jahrhundert als Zentren des ungarischen Antisemitismus galten.

Kernland des ungarischen Antisemitismus Die Situation der Juden in Ungarn im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert wird in der europäischen Historiographie meist undifferenziert als eine Art friedlicher Koexistenz dargestellt, wobei die Haltung der ungarischen Bevölkerung gegenüber den Juden meist mit der toleranten Haltung der ungarischen Liberalen – die für eine völlige politische und gesellschaftliche Gleichstellung der Juden in allen Bereichen des öffentlichen Lebens eintraten – gleichgesetzt wird.18 Tatsächlich aber ist der verbreitete und tief verwurzelte Antisemitismus weiter ungarischer Bevölkerungskreise historisch bestens dokumentiert,19 in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung aber mit wenigen Ausnahmen20 nicht rezipiert. So war Antisemitismus im burgenländisch-westungarischen Raum, trotz der jahrhundertelangen Schutzherrschaft der großen Adelsfamilien der Esterházy und Batthyány, eine immer wiederkehrende Erscheinung. Tätliche Ausschreitungen gegen ansässige Juden sind in den meisten jüdischen Gemeinden seit dem 17. Jahrhundert belegt, wie etwa in der südburgenländischen Kleinstadt Rechnitz. Dort errichtete die ansässige Judengemeinde 1718 eine neue prachtvolle Synagoge mit über 400 Sitzplätzen. Für den stattlichen barocken Neubau sorgte der als »Judenkaiser« titulierte »der Römisch Kayserlichen Majestät Ober-Kriegs Faktor und Hof-Jud« Samson Wertheimer.21 Im Zusammenhang mit der Errichtung des Bauwerkes kam es zu heftigen 16 DÖW 1979. 17 Fritsch 1993. 18 Pietsch 1999. 19 K arsai 1992. 20 Fischer 1988. 21 Häusler 1980, 80–85.

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Auseinandersetzungen mit den Katholiken des Ortes, da diese gegen die Errichtung einer Synagoge in der Nähe ihrer Kirche protestierten. Die mit Unterstützung der Grundherrschaft errichtete Synagoge führte zur Verschlechterung der Beziehungen im Ort. 1720 beklagten sich die Juden bei ihrer Schutzherrin Gräfin Eleonore Batthyány, dass die Synagoge mit Steinen beworfen und die Gräber am jüdischen Friedhof wiederholt zertrampelt worden seien. Als während eines Brandes Juden zu Hilfe eilten, hätte man ihnen »die Köpfe eingeschlagen, auch unterschiedlich mit Hacken gehackt«.22 Die westungarischen Komitate galten bereits im 19. Jahrhundert als Kerngebiete des ungarischen Antisemitismus. Während es im Laufe der ungarischen Revolution 1848 in vielen Städten Ungarns durch die rechtliche und politische Gleichstellung von Juden und Christen zu einer beidseitigen Annäherung kam, sind aus den westungarischen Städten zahlreiche Ausschreitungen gegen Juden belegt. So erstürmten etwa in Szombathely Mitglieder der Nationalgarde im April 1848 die Synagoge und plünderten die Häuser und Weinkeller der jüdischen Bewohner der Stadt und in umliegenden Gemeinden. Der Komitatsrat verfügte die Ausweisung der Juden aus der Stadt und den umliegenden Gemeinden. Haus- und Grundbesitzer wurden verpflichtet, ihren Mietern und Pächtern bis zum St. Georgstag, am 24. April, bei Androhung einer hohen Geldstrafe die Verträge zu kündigen. Erst durch eine Intervention der Zentralregierung unter Ministerpräsident Graf Lajos Batthyány und der Entsendung von zwei Regierungsbeauftragten sowie einer Truppe Soldaten gelang es schließlich, die antisemitischen Maßnahmen rückgängig zu machen.23 Aus einem Vorort von Szombathely stammt auch die Galleonsfigur des ungarischen politischen Antisemitismus, der Advokat und spätere Parlamentsabgeordnete Győző Istóczy. Bestens vernetzt mit internationalen antisemitischen Kreisen  – er nahm 1882 als ungarischer Vertreter am Antisemitenkongress in Dresden teil – gründete er 1883 die »Országos Antiszemita Párt« (Landesweite Antisemiten-Partei), mit der er 1884 mit insgesamt 17 Abgeordneten ins ungarische Parlament einzog.24 In den 1880er Jahren erreichte die antijüdische Hetze ihren Höhepunkt. Auch aus den Komitaten Vas, Moson, Sopron und Pozson, aus deren westlichen Teilen 1921 das Burgenland geformt werden sollte, sind zahlreiche Übergriffe und gewalttätige Ausschreitungen belegt. So etwa aus Bratislava,25 Sopron,26 Körmend,27 Köszeg, 22 Langeder 1946, 79. 23 Waldapfel 1965, 465. 24 Magyar Zsidó Lexikon 1929, 47. 25 Pesti Hirlap, 5.10.1882, 4 (»Zsidóüldözés Magyarországon. A helyzet Pozsonyban«). 26 Kövér 2011, 639  ; Dunántúl 1883, 2. 27 Pressburger Zeitung, Abendblatt, 30.8.1883, 1.

Antisemitismus im Burgenland vor 1938

Szom­bathely28 und Rajka.29 In der burgenländischen Gemeinde Jois kam es ebenfalls zu antisemitischen Ausschreitungen, die in einem Mord an einer Joiser Jüdin gipfelten. Die Pressburger Zeitung berichtete darüber am 2. November 1882  : »Neuerliche Judenkrawalle. In Geoyß (Nyulas/Jois) im Wieselburger Komitate hat sich in der Nacht vom 31. v.M. ein schrecklicher Akt antisemitischer Ausschreitung begeben. Zwischen 8 und 9 Uhr Abends drang in Haufen Männer in das Haus des dortigen Moritz Steiner, plünderte und zerstörte dessen Warenlager und als Steiner und seine Gattin, die sich in hochschwangerem Zustande befand, flüchteten, wurde letztere auf offener Gasse erschossen. Frau Steiner war 26 Jahre alt, seit 6 Jahren verheiratet und hinterließ zwei arme Kinder im Alter von 2 und 5 Jahren. Wie uns von glaubwürdiger Seite mitgetheilt wird, hat bereits vor einigen Tagen ein Bursche der Frau Steiner, mit dem Revolver in der Hand, Zigarren abgefordert. Steiner machte hievon dem Vicenotär des Bezirks in Neusiedl die Anzeige, der ihm jedoch zur Antwort gab, ›ja, die Unschuldigen müssen mit den Schuldigen leiden‹, ohne daß er etwas verfügt hätte. Als das Volk sah, daß von Seite des Gerichtes nichts geschehe, wurden ins Haus des Steiner Petarden (Explosionsmittel) gelegt, welche nicht nur ihn, sondern auch die Nachbarn gefährdeten. Ueber Anzeige beim Stuhlrichter wurden endlich zwei Anstifter verhaftet, was im Orte eine derartige Aufregung hervorrief, daß die Leute schon Dienstag bei Tage über Steiner und dessen Frau mit dem Messer gingen und riefen  : ›Heute Nacht müssens Alle hin werden‹, bis Abend richtig die geschilderte Katastrophe eintrat.«30 Die Krawalle konnten erst durch einen Militäreinsatz niedergeschlagen werden. Auch im Zuge der Niederschlagung der Ungarischen Räterepublik 1919 und der Kämpfe rund um die Gebietsabtretungen nach dem Vertrag von Trianon 1920 schwappte neuerlich eine Welle antisemitischer Pogrome über Ungarn.31 Der blutigste Übergriff im burgenländisch-westungarischen Raum ereignete sich im August 1919 in der Kleinstadt Celldömölk im Komitat Vas, als eine aufgestachelte Menge sieben Juden aus ihren Häusern zerrte und grausam ermordete sowie andere schwer verletzte.32 Auch in Oberwart und Güssing war die jüdische Bevölkerung schweren Verfolgungen ausgesetzt. Bereits im Herbst 1918 wurden die jüdischen Geschäfte in Oberwart von einer aufgehetzten Menge geplündert.33 Im Herbst 1921 prokla28 Pressburger Zeitung, 19.7.1882, 3 (»Ueber die Unruhen in Steinamanger«). 29 Pressburger Zeitung (Abendblatt), 30.10.1882, 1f. (»Judenkrawalle im Wieselburger Komitat«). 30 Pressburger Zeitung, 2.11.1882, 1  ; Pesti Hirlap, 4.11.1882, 13 (»Újabb zsidóüldözés. A nyulasi rablás és gyilkosság«).; Kriszt 2012, 193–208. 31 Bödök 2011, 15–31. 32 Egyenlösèg, 2.11.1919, 1f. (»A Friedrich-kormány működése«). 33 Schlag 1977, 264.

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mierten ungarische Freischärler im südlichen Burgenland das Autonomiegebiet »Lajtabánság«, zu deutsch auch »Leitha-Banat« genannt. Die meisten Freischärler rekrutierten sich aus rechtsradikalen und rassistischen Kreisen. Die jüdische Bevölkerung von Güssing floh daher im Oktober 1921 vorsichtshalber für ein paar Wochen ins steirische Fürstenfeld.34 In der Zwischenkriegszeit setzten vor allem die Christlichsozialen auf einen Antisemitismus Lueger’scher Prägung, indem Bolschewisten, Sozialdemokraten und Juden gemeinhin alle in einen Topf geworfen wurden. Bereits 1919 war der Mythos von der jüdischen Weltherrschaft in Gestalt der Sozialdemokratie beschworen worden, um so den Kampf gegen die als »Judenrepublik« verunglimpfte neue Staatsform und die Sozialdemokratie zu legitimieren.35 Sogar im Liedgut der streng katholischen burgenländischen Kroaten hat der antisemitische Geist des politischen Katholizismus seine Spuren hinterlassen. So heißt es etwa in der – heute nicht mehr gesungenen – dritten Strophe der Hymne der burgenländischen Kroaten »Hrvat mi je otac«  : »Ne kupi se Cigan, Ne kupi se ni Žid  ! Hrvata kupte si, Hrvat je svim profit  ! Pridat ću jednu rič  : Ki je Judašević, Ki vam se kupit da  !«

(Zigeuner kauft man nicht, Man kauft sich keine Juden  ! Man kaufe sich Kroaten Der Kroate ist für alle ein Profit  ! Man merke sich ein Wort  : Wer ist der Judašević, Der sich kaufen lässt  !)

Diese Reime aus der Feder des Priesters Mate Meršić Miloradić, einem der führenden burgenländisch-kroatischen Intellektuellen des späten 19. und frühen 20.  Jahrhunderts zeigen deutlich, wie allgegenwärtig antisemitische Codes im Alltagsleben damals auch auf dem Lande waren. Seine protestantischen Kollegen standen dem katholischen Priester im Burgenland aber keineswegs nach, im Gegenteil. Die protestantischen Pfarrer und Lehrer des Burgenlandes waren für die Propaganda der Nationalsozialisten noch empfänglicher. Die evangelischen Schulanstalten im südburgenländischen Oberschützen galten in der Zwischenkriegszeit als Bastion der nationalsozialistischen Bewegung. Nicht nur zahlreiche Pfarrer betätigten sich schon lange vor dem Anschluss in der illegalen NSDAP,36 sogar der Superintendent 34 Halper 2012, 22  ; Rothstein 1988, 55. 35 Stuhlpfarrer 1974, 145. 36 Fritsch 1993, 73.

Antisemitismus im Burgenland vor 1938

der Evangelischen Kirche im Burgenland, Dr. Theophil Beyer, war ein bekennender Nationalsozialist, Studienkollege und guter Freund des späteren NS-Landeshauptmanns Tobias Portschy. In einer behördlichen Meldung aus der Verbotszeit heißt es über ihn  : »Schließlich muß ich noch bemerken, dass der evangelische Superintendent samt Familie als fanatischer Parteigänger der NSDAP gelten.«37 Der Stiefsohn des Superintendenten war der illegale Leiter der Gaupresse, sein Sohn befand sich vor 1938 im »Dritten Reich« und war nach dem Anschluß SA-Standartenführer und Schulinspektor.38 Der Vikar von Superintendent Beyer, Pfarrer Franz Böhm aus Oberwart, feierte das Osterfest 1938 mit dem Einzug von Parteiformationen in der Kirche,39 was seine Gemeindemitglieder allerdings nicht so sehr verwundert haben dürfte, war er doch auch SA-Standartenführer.

NSDAP Der Antisemitismus fiel also im Burgenland nicht einfach mit dem Auftreten der NSDAP von Himmel, vielmehr fanden die Nationalsozialisten hier einen wohlbestellten Acker40 vor, auf dem ihre Saat schnell aufgehen sollte. Laut Gerald Schlag rekrutierte sich die Anhängerschaft der NSDAP im Burgenland in ihren Anfängen aus Studenten und Akademikern, Bauern aus protestantischen Gemeinden sowie aus Beamten und Lehrern.41 Obwohl bereits seit den frühen 1920er Jahren in einzelnen burgenländischen Gemeinden nationalsozialistisch orientierte Ortsgruppen gegründet wurden, ist eine organisierte Durchdringung des Burgenlandes erst ab 1930 nachweisbar. Mit der Etablierung des Gaues Burgenland gelang dem späteren NS-Landeshauptmann Tobias Portschy dann 1935 endlich die straffe Organisation der Partei und die Rekrutierung breiter Bevölkerungsschichten.42 Zumindest an zwei Orten des Burgenlandes kam es im Jahre 1934 auch zu schweren Auseinandersetzungen und Kampfhandlungen zwischen den Sicherheitsbehörden und Nationalsozialisten. Während in Mörbisch im Februar 1934 eine großangelegte Verhaftungsaktion gegen illegale Nationalsozialisten eskalierte, kam es in Minihof-Liebau im Bezirk Jennersdorf zu einem regelrechten Gefecht zwischen putschenden Nationalsozialisten und Sicher37 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt-Inneres (BKA-I), Bgld. 22, Kt. 5046, Zl. 177.540/34. 38 Oberwarther Sonntagszeitung, 10.4.1938, 2. 39 Ebd., 3. 40 Fritsch 1993, 209. 41 Schlag 1983, 788. 42 Schmidt 2010, 6–9  ; Fritsch 1993, 13–30, 90–120.

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heitskräften. Sowohl in Mörbisch als auch in Minihof-Liebau gab es dabei je ein Todesopfer.43 Viele der in den letzten Jahrzehnten publizierten Ortschroniken burgenländischer Städte und Gemeinden dokumentieren, wie präsent die Agitation der NSDAP bereits lange vor 1938 im Leben der Burgenländerinnen und Burgenländer war. Die von Heribert Artinger im Jahre 2002 vorgelegte Chronik der Kleinstadt Rust gehört zu den herausragenden Beispielen dieses Genres. Sie dokumentiert die stetige Agitation und den von der NSDAP verbreiteten Terror, wie etwa die Sprengstoffanschläge auf die Telefonverbindung nach Rust44, die Verhaftung führender Nationalsozialisten,45 die nach Deutschland geflüchteten Mitglieder der »Österreichischen Legion« aus der Kleinstadt46 sowie einen Fememord aus dem Jahre 1938.47 Die nationalsozialistische Bewegung war zumindest seit Beginn der 1930er Jahre massiv im Burgenländischen Alltagsleben präsent, ebenso wie ihre hetzerische Propaganda. Und der von ihnen propagierte Rassismus und Antisemitismus wurde nicht nur öffentlich proklamiert, sondern von höchst angesehenen politischen und religiösen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens geteilt.48 Auch machte die NSDAP im Burgenland schon lange vor ihrer Machtübernahme aus ihren politischen Zielen und Absichten keineswegs ein Hehl. Schon Jahre vor dem Anschluss agitierte sie für einen Kaufboykott gegen jüdische Geschäfte49 und propagierte in ihrem illegalen Schulungsmaterial »Warum sind wir Judengegner«50 ihre kruden Ideen über eine angebliche jüdische Weltverschwörung sowie die angebliche Notwendigkeit der NS-Rassengesetze samt genauen Erläuterungen zu deren Anwendung.51 Bereits 1936 gab es einen Erlass der illegalen Gauleitung, das »Judenvorkommen« im Burgenland zu erfassen, die Anzahl der Juden im Ort, die Funktionsträger der jüdischen Gemeinden sowie deren Anschriften zu registrieren, wenn möglich mit Fotos der betreffenden Personen.52 Darüber hinaus führte der Rassenkundler Dr. Viktor Lebzelter 53 als Direktor des Naturhistorischen Museums schon 1935 Forschungen zum sogenannten »Atlas Deutscher Volkskunde« durch – gefördert durch die Forschungsgemeinschaft für den 43 Fritsch 1993, 70–89. 44 Artinger 2002, 192. 45 Ebd., 193. 46 Ebd., 223. 47 Ebd., 218. 48 Reiter-Zatloukal 2016, 419–469. 49 ÖStA, AdR, BKA-I 1938, Bgld. 22 Kt., 5049a, Weisungsblatt Nr. 10. 50 Kreis-Archiv Eisenstadt, Kt. VI–IX, Mappe A/IX/2. 51 Kreis-Archiv Eisenstadt, Kt. VI–IX, Mappe A/VI/11. 52 Kreis-Archiv Eisenstadt, Kt. I–V, Mappe A/IV/3, Weisungsblatt Der Gauleitung, 4. 53 Lebzelter 1931.

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deutschen Südosten  – und nahm dabei Schädelmessungen an 4.144 erwachsenen Burgenländerinnen und Burgenländern vor, darunter auch an 160 Jüdinnen und Juden.54 Angesichts dieser Befunde von einem »normalen« Verhältnis zwischen Juden und Christen zu sprechen, wie es viele Zeitzeugen taten, wirft doch die Frage hinsichtlich der Einschätzung konkreter historischer Situationen durch ZeitzeugInnen auf, vor allem wenn es sich dabei um Personen handelt, die diese Ereignisse als Kinder durchlebt hatten.

Märchen Antisemitismus war im Burgenland vor 1938 nicht nur präsent, er war Teil des kulturellen Kodes, der sich durch alle gesellschaftlichen Schichten und durch alle Volksgruppen zog. Diesen allgegenwärtigen Antisemitismus möchte ich hier anhand einiger Märchen der verschiedenen burgenländischen Volksgruppen illustrieren, um zu zeigen, wie antisemitische Topoi allen burgenländischen Kindern schon in der Kinderstube eingeimpft wurden, nicht nur den Kindern der deutschsprachigen Volksgruppe. Die hier vorgestellten Märchen stammen aus gängigen volkskundlichen Sammlungen, die keineswegs auf die Dokumentation antisemitischer Elemente abzielten, sondern auf die wissenschaftlich objektive Erfassung der sogenannten Volkskultur. Umso erschreckender ist ihr Befund. »Soldat pak zidov«/»Der Soldat und der Jude«55 »Einmal ist ein Soldat auf Urlaub gegangen und hat einen Juden getroffen. Der Jude hat gefragt  : ›Soldat, wo gehst du hin  ?‹ Er hat gesagt  : ›Ich habe Urlaub und gehe nach Hause.‹ Da hat der Jude angefangen zu lachen und hat gefragt  : ›Na, und wie geht es dir so beim Militär  ? Was machst du immer  ?‹ Und ihn hat der Zorn gepackt und er hat angefangen den Juden zu schlagen, und dann ist er nach Hause gegangen.Wie er aus dem Urlaub zurückgekommen ist, hat er eine Vorladung gehabt, daß er zum Gericht muß. Jetzt, wie er zum Gericht gekommen ist, ist auch der Jude gekommen, und da hat der Bürgermeister gefragt  : ›Na, was ist denn gewesen  ?‹ Da hat der Soldat gesagt  : ›Ich kann euch so viel sagen, er hat so allerlei Dinge zu mir gesagt. Mich hat der Zorn gepackt, und wenn ich so diesen Zorn bekomme, wer da vor mir steht, jeden schlage ich. Jetzt ist der Jude so erschrocken und ist davongelaufen. Der Soldat ist ihm nach und hat ihn auf einer Brücke erwischt  ; es ist da ein 54 Lebzelter 1941. 55 Gaal/Neweklowsky 1982, 189f.

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großes Wasser gewesen. Und wie er den Juden erwischt hat, hat er gesagt  : ›Jetzt knie nieder und sagt  : Jesus, Maria und Josef.‹ Der Jude hat gesagt  : ›Das kann ich nicht.‹ Jetzt hat er den Juden genommen und hat ihn ins Wasser geschmissen. Jetzt hat sich der Soldat gedacht, daß der Jude sowieso ertrunken ist, und daß draus nichts mehr sein wird. Wie er wieder zurückgekommen ist, hat er wieder eine Vorladung zu Gericht. Jetzt hat der Bürgermeister gefragt  : ›Na, was ist das gewesen, Soldat  ?‹ Der Soldat hat gesagt  : ›Was soll ich was reden, ich bin ja der Beklagte. Soll es der sagen, der mich klagt.‹ Da hat der Bürgermeister gesagt  : ›Na, Jude, sag was war  !‹ ›Ich kann nicht, ich kann nicht  !‹ Da hat er gesagt  : ›Ich kann ihn nicht verurteilen. Du mußt sagen, was war.‹ Der Soldat hat gesagt  : ›Ich werde es nicht sagen, soll er es sagen.‹ Er (der Jude) hat zum Bürgermeister gesagt  : ›Ich werde Euch etwas sagen, das andere kann ich nicht sagen, nur, daß der Josef dabei gewesen ist.‹ ›Ah‹, hat der Bürgermeister gesagt, ›jetzt wirst du mich dazunehmen. Ich heiße Josef, und du wirst sagen, daß ich dabei gewesen bin.‹ Und er hat den Juden genommen und hat ihn über die Stufen hinuntergeworfen, sodaß der Jude tot gewesen ist.«

Diese kroatische Erzählung wurde 1964 aufgezeichnet. Die Interviewpartnerin war damals 57 Jahre alt, war demnach im Jahre 1907 geboren und muss die Erzählung also in der Zeit des Ersten Weltkrieges oder in der Zwischenkriegszeit gehört haben. »Verböci suszter és a zsidók massiása / Schuster Verböci und der Messias der Juden«.56 »Ein Schuster namens Verböci hatte große Schulden bei einem Juden. Der Schuster überlegte, wie er die großen Schulden loswerden könnte. Dann ist er beim Juden irgendwie in den Rauchfang gekrochen. Vor dort rief er herunter  : ›Deiner Tochter Rebecca wird vom Schuster Verböci der Messias geboren werden  !‹ Da dachte der Jude nach. ›Hoj, Rebecca, hast du gehört  ?‹ – ›Ich habe es gehört, Vater  !‹ – ›Na dann‹, sagte er, ›gehen wir zum Schuster  !‹ Also machten sie sich zu zweit auf den Weg zum Schuster. Sagte der Jude  : ›Schuster Verböci, bei mir ist eine Erscheinung gewesen, dass meine Tochter Rebecca von dir den Messias gebären wird.‹ – ›Ja‹, sagte der Schuster, ›aber umsonst mach ich es nicht  ; aber wenn du mir meine Schulden erlässt, mach ich es‹ – ›Mit Freuden erlasse ich sie dir‹, sagte der Jude, ›und gebe dir noch was dazu, damit nur der Messias auf die Welt kommt  !‹ Na und natürlich, da war ein Divan, und sofort wurde der Messias gemacht.«57

56 Gaal 1988, 377f. 57 Übersetzung aus dem Ungarischen von Gerhard Baumgartner.

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Diese ungarische Erzählung aus Unterwart/Alsóör wurde 1962 aufgenommen, die Interviewpartnerin war zum Zeitpunkt der Aufnahme 61 Jahre alt. »Wir sind das Volk der Pharaonen«58 »Soviel wissen wir, und auch der Raschaj (= Pfarrer, Priester) sagt es in der Kirche, dass Gott dem Pharao so lange Plagen geschickt hat, bis er sich ergab und die Juden gehen ließ … Am Ende also ließ der Pharao die Juden ziehen, denn auch die übrigen Roma sagten ihm, er soll sie freigeben, sie würden auch ohne die Juden irgendwie weiterkommen. Soweit war es also, die Juden zogen ab und nahmen ihr Gold und Silber und alles mit, was der Pharao an teuren Sachen hatte. Trotzdem freuten sich die Roma – weg sind sie, Gott sei mit ihnen … Aber auch uns, seine Verwandtschaft, lud er schnell auf. Umsonst sagten wir, er solle doch wenigstens uns zu Hause lassen. Gott ist der Freund der Juden, und wer Gott zum Freund hat, der wird selig, und es muss auch jemand auf das Feuer Acht geben, während der Pharao fort ist. Alles umsonst. Er lud uns auf die Pferde, und dann los  ! Es gab auch ein Unglück, wie wir es vorausgesagt hatten. Durch die Wüste kamen wir noch irgendwie, aber die Juden waren schon mitten im Roten Meer. Der Moses hatte mit einem Stock auf das Wasser geschlagen, das Wasser teilte sich, und die Juden kamen trockenen Fußes hinüber. Aber nicht das Heer des Pharao  ! Auch seine Soldaten erreichten die Mitte des Wassers, aber Moses und seine Juden waren schon am anderen Ufer. Da nahm Moses wieder seinen Stock, schlug auf das Wasser, und das floss wieder zusammen über den Köpfen des Pharao und seiner Soldaten. Verloren der Pharao und sein ganzes Volk. Das heißt, nicht das ganze  ! Denn wir, wir Roma, das Hausvolk, waren am Ufer geblieben und warteten, wie die Dinge ausgehen würden. Mochte sich unser Herr Verwandter mit den geheiligten Soldaten Gottes alleine raufen. Als wir sahen, dass das Wasser über dem Kopf des Pharao zusammen schlug, dachten wir  : ›dschas khere‹ (›Wir gehen nach Hause‹) und kehrten um. Dann wollten wir aus unserer Mitte einen neuen Pharao wählen, und alles würde in Ordnung sein. Aber Gott hatte auch an uns gedacht. Ich mache noch ein zweites Wunder, sagte er sich, und ließ einen Wirbelsturm auf uns los. Der fegte Wagen und Pferde durcheinander. Als wir uns von dem Schrecken erholt hatten, war die ganze Verwandtschaft weg, die einen hatte der Sturm dahin, die anderen dorthin geweht. Seither sind wir über die ganze Erde verstreut. Dabei sind auch die Tapfersten unseres Volkes verloren gegangen. Noch ein Wort. Was ist aus den Juden geworden  ? Es wird erzählt, sie seien noch vierzig Jahre durch die Wüste gewandert, und keiner von den Alten hat die neue Heimat erlebt. Die einen erlagen der Sonnenhitze, die anderen dem Durchfall. Inzwischen leben die anderen Völker, die mit Gott nicht so und nicht so standen, weder seine Freunde noch seine Feinde, munter und vergnügt weiter. Und am Ende zerstreute Gott auch die Juden über die ganze Welt …« 58 Bartos 1976.

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Nur wenige Zeitzeugen reflektieren den burgenländischen Antisemitismus ihrer Jugendjahre. Eine Ausnahme bildete da der 1922 in Oberwart geborene Joseph Paul Weber, der seine Schulzeit und seine Mitschüler in denkbar schlechtester Erinnerung hat  : »[A]ber es wurde immer ärger, wie man mich dort behandelte. Die Schüler verprügelten mich und schimpften mich ›Saujud‹, damals ein üblicher Schimpfname. Meine Noten und meine Leistungen litten darunter sehr.«59 Joseph Paul Weber war in diesen Jahren einer der wenigen jüdischen Schüler am Evangelischen Realgymnasium in Oberschützen, einer Hochburg illegaler Nationalsozialisten in der Zwischenkriegszeit. Der Umstand, warum die meisten von ihnen diesen Aspekt ihrer Jugendjahre so offensichtlich ausklammern, könnte teilweise durch den Umstand begründet sein, dass die meisten jüdischen Familien mittelständische Familien waren, die in erster Linie mit anderen mittelständischen jüdischen Familien verkehrten, ihre Kinder also in einem etwas abgeschotteten Milieu aufwuchsen, in welchem diese Facetten der burgenländischen Alltagskultur nur abgeschwächt spürbar wurden. Einen meiner Meinung nach fruchtbareren Denkansatz hat Gert Tschögl schon zu Beginn seiner Forschungsarbeiten in den frühen 1990er Jahren vorgelegt, als er sich zum ersten Mal mit diesem Phänomen konfrontiert sah  :60 »Durch das Nichterwähnen und Verdrängen antisemitischer Tendenzen im Burgenland vor 1938 wird eine klare Abgrenzung zu den Ereignissen ab 1938 erreicht. Mit dieser eindeutigen Abgrenzung wird für die Vertriebenen ein Erinnern an eine Umgebung möglich, die Jahrhunderte Heimat jüdischer Kultur war.« Tschögls bis heute gültige Analyse führt uns deutlich vor Augen, dass sich mit Hilfe der Aussagen von Zeitzeugen die Erlebniswelt der jeweiligen Person oft erstaunlich genau und auch lebendig rekonstruieren lässt. Gleichzeitig wird aber auch klar, dass durch die Erinnerungen der Zeitzeugen notwendigerweise immer nur ein Teilaspekt der historischen Wirklichkeit fassbar wird. Erst die Zusammenschau mehrerer verfügbarer Quellen bringt uns der historischen Realität ein Stück näher.

Literatur und gedruckte Quellen Artinger, Heribert, Chronik der Freistadt Rust 1850–1950. Tagebuch der kleinsten Stadt Österreichs mit eigenem Statut, Graz 2002. Bartos, Tibor, Zigeunermärchen aus Ungarn, Berlin 1976. Baumgartner, Gerhard, Der nationale Differenzierungsprozess in den ländlichen Gemeinden

59 Tschögl/Tobler/Lang 2004, 382. 60 Tschögl 1991, 124.

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des südlichen Burgenlandes, in  : Moritsch, Andreas (Hg.), Vom Ethnos zur Nation, Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, Wien/München 1991, 93–155. Bödök, Gergely, Vörös és fehér. Terror, retorzió és számonkérés Magyarországon 1919–1921, in  : Kommentár 3 (2011), 15–31. Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW), Widerstand und Verfolgung im Burgenland, Wien 1979. Dunántúl 1883. Egyenlöség 1919. Fischer, Rolf , Entwicklungsstufen des Antisemitismus in Ungarn 1867–1939. Die Zerstörung der magyarisch-jüdischen Symbiose, München 1988. Fritsch, Otto, Die NSDAP im Burgenland, Diss. Wien 1993. Gaal, Károly, Aranymadár. A burgenlandi magyarok elbeszélökulturája, Szombathely 1988. Gaal, Karoly/Neweklowsky, Gerhard (Hg.), Erzählgut der Kroaten aus Stinatz (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderbd. 10), Wien 1982. Halper, Phillip, Die jüdische Gemeinde in Güssing. Vertreibung, »Arisierung« und Rückstellungen, Dipl.-Arb. Wien 2012. Häusler, Wolfgang, Probleme der Geschichte des westungarischen Judentums in der Neuzeit (Teil 2), in  : Burgenländische Heimatblätter 42 (1980), Heft 2, 80–85. Karsai, László, Kirekesztök. Antiszemita irások 1881–1992, Budapest 1992. Kövér, György, A tiszaeszlári dráma. Társadalomtörténeti látószögek, Budapest 2011. Kriszt, Roman, Antisemitische Ausschreitungen im Komitat Wieselburg 1882, in  : Burgenländische Heimatblätter, 73 (2012), Heft 4, 193–208. Langeder, Gertrud  , Die Beziehung zwischen Juden und Grundherrschaft im Burgenland, Diss. Wien 1946. Lebzelter, Viktor, Rassengeschichte der Menschheit, Salzburg 1931. Lebzelter, Viktor, Eine rassekundliche Übersichtsaufnahme des Burgenlandes  ; in  : Burgenlandatlas. Burgenland – Grenzland im Südosten, Wien 1941. Magyar Zsidó Lexikon (Hg.), Péter Ujvári, Budapest 1929. Mindler, Ursula, Grenz-Setzungen im Zusammenleben. Verortungen jüdischer Geschichte in der ungarisch/österreichischen Provinz am Beispiel Oberwart/Felsöör, Innsbruck u. a. 2011. Oberwarter Sonntagszeitung 1938. Pesti Hirlap 1882. Pietsch, Walter  , Zwischen Reform und Orthodoxie. Der Eintritt des modernen Judentums in die moderne Welt, Berlin 1999. Pressburger Zeitung 1882, 1883. Reiter-Zatloukal, Ilse, Die (Un)Abhängigkeit der Richter unter der austrofaschistischen und nationalsozialistischen Herrschaft, in  : BRGÖ 2016/2, 419–469. Rothstein, Bert, Der »Béla von Güssing« aus dem Burgenland (Österreich) erzählt seine 70-jährige Lebensgeschichte  : 1918–1988, Frankfurt 1988. Schlag, Gerald, Oberwart nach 1848, in  : Trieber, László (Hg.), Die Obere Wart, Oberwart 1977, 257–274. Schlag, Gerald, Burgenland, in  : Weinzierl, Erika/Skalnik, Kurt (Hg.), Österreich 1938–1945. Geschichte der Ersten Republik, Bd. 2, Graz u. a. 1983.

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Christian Klösch

Antisemitismus in Kärnten 1933 bis 1938 mit zwei Beispielen aus der Bezirksstadt Wolfsberg Vorbemerkung Erst mit der rechtlichen Gleichstellung durch die neue Dezemberverfassung begann ab 1867 der Zuzug von Juden und Jüdinnen aus den Kronländern der Monarchie nach Kärnten. Die meisten kamen aus Wien, Böhmen und Ungarn und siedelten sich überwiegend in Klagenfurt und Villach an. Sie gründeten kleine Geschäfte und Industriebetriebe  ; die jüdischen Familien blieben aber arm, sodass sich keine eigene Kärntner Kultusgemeinde konstituieren konnte. Am Bahnknotenpunkt Villach siedelten sich auch ein paar jüdische Verwaltungsbeamte und Ingenieure an. Die Zahl der Juden in Kärnten betrug in den Jahren um 1910 etwa 340 Personen.1 Trotz dieser geringen Zahl, findet man in der zeitgenössischen Presse immer wieder Warnungen vor dem Zuzug von Juden und Jüdinnen nach Kärnten. Das »Kärntner Wochenblatt« erhob 1905 gegenüber der Villacher Staatsbahnverwaltung den Vorwurf, dass diese »zur Verjudung der Stadt ihr Scherflein« beitrüge.2 Und das »Grazer Volksblatt« ätzte im Jahr 1900  : »Auch Wolfsberg das judenreine hat jetzt seinen Juden bekommen. Einer aus Graz hat sich dort eingekauft. Heil Wolfsberg  !«3 Die Bevölkerung kam im alltäglichen Leben mit Juden und Jüdinnen, als »Hausierer« und als Händler auf den Jahr- und Viehmärkten in Kontakt sowie als »Sommerfrischler« in den Fremdenverkehrsorten. Der beginnende Tourismus an den Kärntner Seen wurde daher nicht von allen im Land begrüßt. Für viele waren die »Fremden« Vorboten gesellschaftlicher und politischer Veränderungen und wurden als Bedrohung für die einheimische Kultur empfunden. Die »Reichspost« schrieb unter dem Titel »Verjudung der Sommerfrische« im Jahr 1906 über die Stimmungslage in Kärnten  : »Aus Ossiach wird uns geschrieben  : Kärnten mit seinen reichen Naturschätzen beginnt immer mehr[,] die allgemeine Aufmerksamkeit zu erregen. Namentlich die Juden kommen ins Land. Klagenfurt, Villach, Wolfsberg u. s. w. sind mit jüdischen Geschäften überschwemmt, ein Gelegenheitsausverkauf jagt den anderen, ein Basar 1 Vgl. Dangelmaier/Koroschetz 2015, 218. 2 Kärntner Wochenblatt, 20.10.1905, zit. n. ebd. 3 Grazer Volksblatt, 27.9.1900, 7.

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überbietet den anderen. Der Wörthersee ist zum Tummelplatz magyarischer Idiome geworden und der Millstättersee hat schon lange den Namen eines Judenaquariums erhalten. Jetzt soll mit dem Ossiachersee das Gleiche geschehen. In Bodensdorf hat sich schon eine ganze Kolonie von Juden niedergelassen und jüdische Kapitalisten beginnen[,] Villen zu bauen. Es wäre an der Zeit[,] wenigstens diesen schönen See vor der Verjudung zu bewahren.«4 Um die Jahrhunderwende gingen Antisemitismus und Antimodernismus in Kärnten Hand in Hand. Eine Spielart davon war auch der »Antiautomobilismus«  : Der deutschnationale Landtagsabgeordnete Otto Steinwender wetterte einmal in einer Sitzung des Kärntner Landtages über die Autofahrer  : »Wir sehen ja [,] welche Leute fahren  ; meist solche durch Inzucht heruntergekommene Herren, dann Juden, die auch ein heruntergekommener Volksstamm sind«.5 Die wenigen Juden, die in Kärnten einheimisch wurden, siedelten zum Großteil in Klagenfurt, wo seit 1886 eine eigene »Kultusinstitution«, aber keine eigene Kultusgemeinde bestand, da das Steueraufkommen zu gering blieb. Ab 1905 gab es im Haus Platzgasse 3 ein Bethaus. Nach langen Auseinandersetzungen mit der Kultusgemeinde in Graz, spalteten sich die Kärntner Juden und Jüdinnen im Jahr 1922 ab und durften ihre eigene Kärntner Kultusgemeinde in Klagenfurt gründen. 1934 lebten in Kärnten 269 jüdische Personen – weniger als noch 20 Jahre zuvor. Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 405.000 war der Anteil von Juden und Jüdinnen mit 0,07 Prozent verschwindend gering. In Klagenfurt lebten damals 180 Personen jüdischen Glaubens, in den übrigen Kärntner Bezirken waren es nur 89.6 Trotzdem war der Antisemitismus in der Bevölkerung Kärntens weit verbreitet und nährte sich auf Grund katholischer und deutsch-nationaler Traditionen und Geisteshaltungen. Der katholische Antisemitismus hatte eine lange Tradition im Antijudaismus des Mittelalters. In Kärnten gab es seit Jahrhunderten ein reges antijudaistisches religiöses Brauchtum, das gepflegt wurde und antijüdische Ressentiments in der Bevölkerung aufrechterhielt. Im Laufe der Zeit mutierte so der Antijudaismus zur Folklore, zum Teil der kulturellen Identität und Tradition der durch jährlich wiederkehrende Gedenktage in der Bevölkerung wach gehalten wurde. Auf dieser geistigen Grundhaltung konnte der rassisch geprägte Antisemitismus des 19. Jahrhunderts aufbauen und sich verbreiten.

4 Die Reichspost, 13.6.1906, 4. 5 Entner 2014, 152. 6 IKG Graz 1988, 138.

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Die antijüdische Folklore im Lavanttal und ihre historischen Wurzeln in den Pogromen der Jahre 1338 und 1348/49 in Wolfsberg In der Mitte des 14. Jahrhunderts kam es in ganz Mitteleuropa – in Folge der Ausbreitung der Pest – zu Pogromen gegen Juden. Im süddeutschen Raum verbreiteten sich dazu noch Gerüchte um angebliche Hostienschändungen durch Juden.7 Abt Johann von Viktring berichtete in seiner Chronik »Liber Certarum historiarum« über das Judenpogrom von 1338 in Wolfsberg, das offenbar besonders heftig gewesen war. Seine Erzählung bildete in den folgenden Jahrhunderten den Kern jener Legenden, die Aufnahme in das lokale Brauchtum gefunden haben  : Laut der Überlieferung wollte ein Franziskanerpater die Juden in Wolfsberg zum Christentum bekehren. Sie versprachen, sich erst dann bekehren zu lassen, wenn sie sich von der Gegenwart Jesu in der heiligen Hostie persönlich überzeugen könnten. Deshalb wollten sie untersuchen, ob die heilige Hostie wirklich der Leib Christi sei. Ein Minoritenpater verkaufte den Juden drei geweihte Hostien. Daraufhin sollen die Juden versucht haben, die Hostien mit Nadeln und Messern zu durchstechen, worauf Blut aus ihnen floss. Dann warfen sie die Hostien in das offene Feuer eines Herdes. Die Hostien flogen aber unversehrt aus dem Feuer heraus, durch ein offenes Fenster aus dem Haus hinaus und sammelten sich bei einem Stein im nahegelegenen Fluss der Lavant. Ein Hirte fand die Hostien, da sich seine Schaffe brüllend bei den Hostien sammelten und verharrten. Erst durch den herbeigeholten Abt des Benediktinerstiftes St. Paul ließen sich zwei der drei Hostien einfangen – die dritte aber flog in den Himmel hinauf.8 Als Reaktion auf den Hostienfrevel sollen daraufhin 70 Wolfsberger Juden und Jüdinnen hingerichtet worden sein, alle anderen aber wurden aus der Stadt und deren Umgebung vertrieben. Das Haus in dem sich der Vorfall abspielte, und sich gegenüber dem heutigen Rathaus an der Lavantbrücke befand, wurde nach der Vertreibung der Juden in eine Kirche umgewandelt und dem »heiligen Blut« geweiht. Offenbar war die Vertreibung der Juden nicht von langer Dauer, denn bereits wenige Jahre später berichtet eine weitere Legende von einem neuerlichen Pogrom, dass sich im Jahr 1348/49 abgespielt haben soll. Der Ablauf des Pogroms, das als »Prügelsonntag« überliefert ist, wird wie folgt erzählt  : Ein jüdischer Fleischergeselle liebte ein christliches Mädchen. Bei einem der Treffen vertraute er dem Mädchen an, dass die Juden planen würden, die Christen aus der Stadt Wolfsberg zu vertreiben. Als 7 Ebd., 73–75. 8 Vgl. Schober 1996, 130  ; Lavantthaler Bote, 1.10.1887, 1 (»Die Demolierung der Blutkirche in Wolfs­berg«).

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Zeichen dafür, dass sein Mädchen sich in Sicherheit bringen solle, wollte er am Tag der Vertreibung der Christen eine Wurst an die »Frauensäule« hängen. Das Mädchen erzählte dem Rat der Stadt von den Vorhaben der Juden, der nun seinerseits den Juden zuvorkommen wollte und deren Vertreibung beschloss. Vereinbarungsgemäß hängte der jüdische Geselle zur Warnung seines Mädchens die Wurst auf die Säule. Der Überfall der Juden sollte um Mitternacht erfolgen, die Christen jedoch wurden drei Stunden zuvor um 9 Uhr abends durch das Glockengeläut gewarnt, überfielen nun ihrerseits die Juden und trieben sie aus der Stadt. Die meisten Juden verließen die Stadt durch das »Schwarzviertel« Richtung Norden. Auf dem Abhang der Wölch gegenüber dem Ort Zellach sollen sie die erste Rast gehalten haben, die Gegend heißt heut noch »Judenleiten«. Die Juden suchten zunächst Zuflucht im steirischen Knittelfeld, von wo sie aber neuerlich vertrieben wurden. Schließlich ließen sie sich dauerhaft in Judenburg in der Steiermark nieder.9

Die Tradierung der beiden Wolfsberger Judenpogrome in der christlichen Folklore Das heute noch bekannteste Relikt ist der »Judenstein«. Der kleine Felsblock markiert jene Stelle, an der sich die drei Hostien nach der »Schändung« durch die Juden versammelt haben sollen. Der Stein trägt ein schmiedeeisernes Kreuz mit der Jahreszahl 1338. Ursprünglich befand sich der Stein im Flusslauf der Lavant im Ortsgebiet von Wolfsberg. Seit der Regulierung der Lavant im Jahr 1986, liegt der Stein zwar an seiner ursprünglichen Stelle, aber nicht mehr in der Lavant, sondern in Mitten eines dafür eigens angelegten Teiches. Seit 2000 erinnert in unmittelbarer Nähe des Teiches eine Gedenktafel, die auf Initiative des damaligen Gemeinderates der Grünen Ulrich Habsburg-Lothringen von der Stadtgemeinde Wolfsberg und dem katholischen Dekanat der Stadt errichtet wurde und an das Judenpogrom von 1338 mit folgendem Wortlaut erinnert  : »Dieser Judenstein soll an das schändliche Unrecht erinnern, das unseren jüdischen Mitbürgern von Christen zugefügt wurde. Der ›Judenstein‹ soll ein Zeichen der Versöhnung mit jenem Volke sein, aus dem für uns Christen der Erlöser geboren wurde.«10 Bis zu ihrer Demolierung im Jahre 1888 befand sich am heutigen Rathausplatz in der Nähe der Fleischbrücke die »heiligen Blutkirche«. Wie bereits erwähnt, soll der Legende nach, in diesem Haus die Hostienschändung stattgefunden haben. Nach   9 Vgl. die Schilderung bei Schober 1980, 41f. 10 Zit. n. Lauritsch 2000, 25.

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Abb 1  : Judenstein in der Lavant.

der Vertreibung der Juden wurde das Haus in eine Kirche umgebaut und dem »heiligen Blut« geweiht. Die Kirche war Jahrhunderte lang Zentrum der Verehrung des Wolfsberger Hostienwunders. Für diese Kirche soll Herzog Friedrich V., der durch Anrufung des heiligen Blutes einmal aus Seenot gerettet worden war, als Dank einen Kelch, Messgewand und silbernes Geschirr gestiftet haben.11 Die Kirche entwickelte sich im 18.  Jahrhundert zu einem vielbesuchten Wallfahrtsort. 1766 fand eine neuntägige Andacht statt, die von Spenden Einheimischer finanziert wurde. Im Andachtstext dazu heißt es  : »Zu diesem Ende wollen Wir auch betten am Tag der Erhöhung des Heiligen Bluts in disen 3. Heiligen Hostien, als da Jährlich fahlet den 19. August drey Ave Maria – Folgenden Inhalts  : Gelobt sey der Allerheiligste Altars Sacrament welche von den Juden so grausamerweiß ist zerstochen worden, daß die Heilige Blueth daraus geflossen. Ave Maria.«12 Überregional wurde die Blutskirche auch durch die Blut-Bruderschaft der Fleischhauer bekannt. Diese or-

11 »1338  : Judenverfolgung in Wolfsberg. Eine aufschlussreiche Urkunde aus dem Heimatmuseum Dieser«, in  : Unterkärntner Nachrichten, 12.8.1960. 12 Zit. n. Lauritsch 2000, 10f.

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ganisierte jährlich an einem Sonntag in der Fastenzeit für Fleischermeister und deren Gesellen aus der Steiermark und Kärnten eine Wahlfahrt nach Wolfsberg. Um 1700 entstand aus der Werkstatt eines unbekannten Malers ein fünfteiliges Tafelbild für die Heilige Blutkirche, das die Legende von der Hostienschändung darstellt. Daneben existierte auch noch eine silberne im Jahr 1772 hergestellte Blutsmonstranz13 in der die zwei Hostien eingearbeitet wurden, die der St. Pauler Abt 1338 aus der Lavant herausgeholt haben soll. Außerdem wurde noch eine Herdplatte jenes Ofens präsentiert, in dessen Feuer die Hostien von den Juden angeblich geworfen waren. Nach dem Abriss der Blutkirche, die 1888 dem Neubau des Rathauses weichen musste, wurden diese Gegenstände auf die anderen katholischen Kirchen in Wolfsberg aufgeteilt. In der Stadtpfarrkirche zum Heiligen Marcus wird seitdem die Blutsmonstranz aufbewahrt, während das Altarbild und die Herdplatte der von der Stadt Wolfsberg verwalteten Dreifaltigkeitskirche übergeben wurde. Das Pogrom von 1348/49 hinterließ seine Spuren auch in der lokalen christlichen Folklore. An dieses Ereignis erinnerte der »Prügelsonntag«, der jährlich am ersten Sonntag nach dem Dreikönigsfest im Jänner gefeiert wurde. An diesem Sonntag kamen die Burschen aus Nah und Fern mit einem Stock bewaffnet in die Stadt und erhielten von ihrem Mädchen eine Wurst geschenkt. Als Dank mussten die Burschen dem Mädchen nicht nur ein Jahr treu sein, sondern auch ihre Favoritin zu »Bratl und Wein« in ein Gasthaus einladen.14 Von diesem Brauch erzählt auch das 1891 erschienene »Kronprinzenwerk«. Darin wird außerdem folgender Brauch erwähnt  : »Zum Andenken an die Judenaustreibung wird noch heutigentags allabendlich die ›Neun Uhr Glocke‹ (Judenglocke genannt) geläutet. Mit derselben wurde 1339 [sic  !] das Signal zum Angriff auf die Juden zu deren Vertreibung aus der Stadt gegeben.«15 Damit war eine Glocke in der Stadtpfarrkirche gemeint, die auch noch – wie sich ein Zeitzeuge erinnert – in den 1940er Jahren allabendlich in Wolfsberg geläutet wurde. Während des Zweiten Weltkriegs wurden alle Glocken der Stadtpfarrkirche abgenommen.16 Die Legende, das die »Wandlerin«-Glocke heute noch existiert, hält sich hartnäckig. So meint die Autorin eines im Jahr 2001 erschienenen lokalen Sagenführers, dass »zum Gedenken an die

13 Vgl. http://www.pfarre-wolfsberg.at/markuskirche (23.12.2017). 14 Zit. n. Lautritsch 2000, 11. 15 Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild 1891, 102. 16 Die »Wandl« -Glocke scheint während des Zweiten Weltkriegs abgenommen und eingeschmolzen worden zu sein. Keine der fünf heute existierenden Glocken trägt mehr diesen Namen. Vier von ihnen wurden nach 1945 gegossen. Die fünfte wurde nach dem Ersten Weltkrieg im Andenken an die Kriegsopfer hergestellt, vgl. http://www.pfarre-wolfsberg.at/in-der-glockenstube/#jp-carousel-1445.

Antisemitismus in Kärnten 1933 bis 1938

Vertreibung der Juden heute noch um neun Uhr in der Dreifaltigkeitskirche die Glocken geläutet werden.«17

Antisemitismus in Wolfsberg in den 1930er Jahren Kärnten war – auch in Folge der Konflikte von 1918/19 – zwischen jugoslawisch und österreichisch orientierten KärntnerInnen eine Hochburg des Deutschnationalismus. Das deutschnationale Parteienspektrum bestand aus der großbürgerlichen Großdeutschen Volkspartei, dem bäuerlichen Landbund und der kleinbürgerlichen NSDAP und vor allem deren Vorfeldorganisationen, wie dem »Deutschen Turnerbund«, dem »Deutsch-österreichischen Alpenverein«, dem »Deutschen Schulverein«, alle Formationen waren antisemitisch geprägt. Aber auch die Lehrervereine, die in dieser Zeit wegen ihres Kampfs gegen die slowenische Volksgruppe starken Zulauf erhielten, waren Katalysatoren in der Verbreitung des rassischen Antisemitismus. Der Antisemitismus war aber kein Alleinstellungsmerkmal der Deutsch-Nationalen, er war auch in der christlich geprägten austrofaschistischen »Ständestaat«-Elite weitverbreitet, wie an zwei Beispielen aus der Bezirksstadt Wolfsberg gezeigt werden kann.

Die Affäre um eine Stellenausschreibung der Gemeinde Wolfsberg Nach der Ausrufung des »Ständestaates« wurden die demokratisch gewählten Gemeindemandatare durch regimetreue Vertreter ersetzt. In der Bezirksstadt Wolfsberg wurde so der Installateur Karl Kager (1896–1960) zum Gemeindeverwalter ernannt. In die Zeit seiner Amtsführung fällt auch die Affäre um eine Stellenbesetzung im Magistrat der Stadt Wolfsberg, die in der österreichischen Presse großes Aufsehen hervorrief. Am 17. April 1935 erschien in der »Grazer Tagespost« und zwei Tage später in dem traditionell nationalsozialistisch ausgerichteten Lavanttaler Lokalblatt »Unterkärntner Nachrichten« eine Stellenausschreibung für die Position des Stadtamtsleiters. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit erregte diese Annonce überregionales Interesse. Das besondere an der Ausschreibung war, das die ständestaatliche Gemeindeverwaltung, von den Bewerber und Bewerberinnen den »Nachweis der deutsch-arischen Abstammung« verlangte.

17 Zit. n. Schwiening 2002, 6.

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Christian Klösch Abb. 2  : Stellenausschreibung der Stadtgemeinde Wolfsberg 1935.

Im April 1935 waren im gesamten Lavanttal noch die Folgen des Putsches der Nationalsozialisten vom Juli 1934 zu spüren. Damals hatten sich ca. 1.500 Putschisten mehrere Tage lang heftige Kämpfe mit Bundesheereinheiten aus Klagenfurt und Stockerau sowie dem Kärntner Heimatschutz geliefert, die zwei dutzend Tote und mehrere dutzend Verletzte forderten. Mehrere hundert Lavanttaler Putschisten flüchteten hierauf nach Jugoslawien oder wurden in der Folge verhaftet und vor dem Militärgerichtshof abgeurteilt oder im Anhaltelager Wöllersdorf interniert. Die staatlichen Behörden verfolgten noch 1935 intensiv die Putschisten und deren Familien  – so wurden alleine im Lavanttal über 100 Liegenschaften von Putschteilnehmern beschlagnahmt.18 Es ist daher bemerkenswert, dass eine »ständestaatliche« Gemeindeverwaltung, die sich zu diesem Zeitpunkt noch immer in einem heftigen Abwehrkampf gegen die illegalen Nationalsozialisten befand, ideologisch dennoch eine zentrale Botschaft der Nationalsozialisten aufgriff und von den Bewerbern den Nachweis der deutsch-arischen Abstammung verlangte. Der Inhalt der Annonce war auch bald in Klagenfurt und Wien bekannt. In der Wiener Zeitung »Die Stunde« erschien bereits wenige Tage später, am 26.  April 1935 unter dem Titel »Gleichschaltung von Innen« ein scharfer Artikel gegen die Stadtverwaltung Wolfsberg, indem ihr »Illoyalität« und »mangelndes Verständnis […] für die Erklärung der Staatsführung« vorgeworfen wurde  : »Die unmiss18 Vgl. Klösch 2007.

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verständlichen und eindeutigen Erklärungen des Bundeskanzlers sowie anderer führender Männer des Staatslebens über Minderheitenschutz und Gleichberechtigung in Österreich haben manche Zweifel zerstreut. Sie haben ausgesprochen, dass es in Österreich keine Benachteiligung einer bestimmten Bevölkerungsschicht geben darf. […] Gewiss soll es keinen Privatunternehmer verwehrt sein, sich durch die Geltendmachung von Ansprüchen Alfred Rosenbergscher Prägung selbst anzuprangern  ; dass aber eine öffentlich-rechtliche Körperschaft sich dazu bereitfindet, eine hurtige Jagd nach der arischen Großmutter zu veranstalten, erscheint doch in der Tat bedenklich. Umso mehr, wenn mit solcher Plumpheit zu Werke gegangen wird, dass man der österreichische Bundesstaatsbürgerschaft nur die zweite Stelle unter den Erfordernissen einräumt, denen der Bewerber genügen muss. Es scheint fast, als ob man berühmte Vorbilder aus dem Dritten Reich nachzuahmen versucht, wo die gewünschte sachliche Qualifikation, wie Schulbildung und Unbescholtenheit (Moralitätszeugnis  !) erst an letzter Stelle verlangt werden.«19 Die Israelitische Kultusgemeinde Klagenfurt beschwerte sich bei der Landeshauptmannschaft in Klagenfurt und wies in ihrer Eingabe auf diese »dem Staatsgrundgesetz« widersprechende Passage hin. Die Landeshauptmannschaft Klagenfurt ließ sich Zeit, auf die Eingabe der IKG Klagenfurt zu reagieren. Erst mehrere Wochen später verlangte sie von der Stadtgemeinde Wolfsberg schriftlich Aufklärung in dieser Sache.20 Es vergingen aber wieder mehrere Wochen, bis die Stadtgemeinde Wolfsberg dazu in einem Brief datiert mit 21. Juni 1935 – zwei Monate nach der Schaltung der Annonce – Stellung nahm. Die Stadtgemeinde Wolfsberg zeigte sich darin uneinsichtig. Im Antwortschreiben behauptete man, »dass die Ausschreibung der fraglichen Stelle in einer Form erfolgte, wie sie allgemein üblich ist.« Darüber hinaus legte die Stadtgemeinde Wert auf die Feststellung, dass »es der Gemeinde anheimgestellt sein muss zu bezeichnen, welche Personen sie für die Bewerbung in Betracht gezogen wissen will.«21 Von der Landesregierung wurde die Stadtgemeinde Wolfsberg hierauf per »Erlass der Landeshauptmannschaft Kärnten vom 13.  Juli 1935 Zl. 9.258/Präs-1935« untersagt »in Hinkunft in Stellenausschreibungen derartige Bedingungen nicht mehr zu stellen.«22 Die ausgeschriebene Stelle war wohl zu dem Zeitpunkt, als der Erlass 19 Die Stunde, 26.4.1935, 2. 20 Kärntner Landesarchiv, Stadtarchiv Wolfsberg, Kt. G 158/1, Landeshauptmannschaft Klagenfurt an Stadtgemeinde Wolfsberg, 23.5.1935. 21 Ebd., Stadtgemeinde Wolfsberg an Landeshauptmannschaft Klagenfurt, 21.6.1935. 22 Österreichisches Staatsarchiv (StA), Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (BKA), BKA-I-Präsidium Signatur 22, Übertretungen und Exzesse, Kt. 5056, Zl. 335.934/Gd 35, bedenkliche Stelle in einer Stellenausschreibung, Sicherheitsdirektor Kärnten an Bundeskanzleramt, 6.9.1935.

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dem Gemeindeamt zugestellt wurde, schon längst mit dem gewünschten »arischen« Stellenbewerber besetzt gewesen. Dass diese Affäre aber nicht einen Einzelfall darstellte, sondern vielmehr davon ausgegangen werden kann, dass der gesamte damalige Wolfsberger Gemeindetag antisemitisch eingestellt war, zeigt ein Beschluss, der im November 1937 einstimmig gefasst wurde, aber der damaligen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt geblieben ist. Die Stadtgemeinde Wolfsberg beschloss in ihrer Sitzung am 4. November 1937, der im darauffolgenden Jahr bevorstehenden 600. Wiederkehr des Wolfsberger Judenpogroms von 1338, »gebührend« zu gedenken. Im Protokoll der Gemeindetagsitzung heißt es dazu folgend  : »Im Jahre 1938 werden es 600 Jahre sein, wo die Verunehrung der hl. Hostien durch die Juden stattgefunden hat. An dieses Ereignis erinnert heute noch der in der Lavant hinter der ehemaligen Steinmühle sich befindliche Judenstein, sowie verschiedene, in der hl. Dreifaltigkeitskirche angebrachte Bilder. Ebenso wurde aus dem damaligen Anlasse die Blutspitalskirche in unmittelbarer Nähe der Fleischbrücke errichtet, welche jedoch in neuerer Zeit aus Verkehrsrücksichten abgetragen wurde. Herr Gemeindevertreter Payer stellt den Antrag, der Gemeindetag solle beschließen, dass die Stadtgemeinde mit Rücksicht auf die 600-jährige Wiederkehr dieses historischen Ereignisses in irgend einer Form, die aus diesem Anlass geplanten bzw. stattfindenden Feierlichkeiten unterstütze, um diesen Tag entsprechend zu würdigen.«23 Außerdem wurde beschlossen, den »Judenstein in der Lavant«, der nach der »Verunehrung der heiligen Hostien durch die Juden« 1338 errichtet wurde »einer Renovierung« zu unterziehen.24 Der Bundesbahnschaffner Josef Payer, der diesen Antrag in den Gemeindetag einbrachte, war bereits seit 1918 als christlichsozialer Gemeinderat in Wolfsberg tätig, wo er sich besonders als »Armenvater, Friedhofsverwalter und Ortsschulrat« hervorgetan hatte. Aber auch in der katholischen Kirche war er aktiv, und zwar lange Jahre als Kirchenrat und im Zentralrat des »Dritten Ordens in Österreich«. Für sein kirchliches Engagement wurde er 1952 mit dem goldenen Verdienstkreuz »Pro ecclesia et pontifice« ausgezeichnet.25 Sein ausgeprägter Antisemitismus störte seinerzeit weder den christlichen »Ständestaat« der 1930er Jahre noch die katholische Kirche der 1950er Jahre.

23 Kärntner Landesarchiv, Stadtarchiv Wolfsberg, Buch 16r, 4. Sitzung des Gemeindetages, 5.11.1937, 22. 24 Ebd. 25 Unterkärntner Nachrichten, 4.10.1957, 2.

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Im August 1938 fanden  – nach bisherigen Recherchen  – keine von der Stadtgemeinde Wolfsberg oder der Kirche organisierten Feierlichkeiten anlässlich des Jahrestags des Judenpogroms statt. Allerdings erschien im August 1938 in der gleichgeschalteten Kärntner NS-Tageszeitung »Freie Stimmen« ein Artikel mit dem Titel »Kärnten wehrte sich schon vor 600 Jahren gegen die Juden […]. Die erste Judenaustreibung in Kärnten ging von Wolfsberg aus«, der einen direkten Zusammenhang zwischen den Judenpogromen des Mittelalters und der NS-Verfolgung der Juden im Jahr 1938 herstellte. Darin heißt es  : »Den Volksgenossen, denen es an Verständnis mangelt für Deutschlands Abwehr gegen die jüdische Rasse und der Meinung sind, dass diese Abwehr eine unerhörte Zeiterscheinung sei, ist zu empfehlen, den Blick in die Geschichte vergangener Jahrhunderte zu tun. Sie würden eines besseren belehrt werden  ; sie würden sehen, dass es notwendig und heilsam war, den Juden von Zeit zu Zeit die Flügel zu stutzen, um dadurch das eigene Volk, das in harter Arbeit das Land gerodet und urbar gemacht hat, vor der rücksichtlosen Auswucherung durch das jüdische Fremdvolk zu schützen.«26 Katholischer Antijudaismus, »ständestaatlicher« Antisemitismus und der Rassenantisemitismus der Nazis gingen in den 1930er Jahren fließend ineinander über und rechtfertigten sich gegenseitig. Als im Jahr 1938 die Nazis die Macht in der »Ostmark« übernahmen, gab es keine gesellschaftlichen Kräfte mehr, die den antijüdischen Pogromen, der Vertreibungspolitik der Nazis und letztendlich dem Holocaust etwas entgegensetzen konnten.

Abbildungen Abb. 1  : Judenstein in der Lavant, Foto Christian Klösch. Abb. 2  : Stellenausschreibung der Stadtgemeinde Wolfsberg 1935, Unterkärntner Nachrichten, 19. April 1935.

Literatur und gedruckte Quellen Dangelmaier, Nadja/Koroschetz, Werner, Nationalsozialismus in Kärnten. Opfer. Täter. Gegner, Innsbruck 2015. Entner, Brigitte, Von »Communicationen und der »Fremdenindustrie«. Anmerkungen zur frühen Tourismusgeschichte Kärntens, in  : Blätter für Technikgeschichte, 75/76 (2013/14), Wien 2014, 133–156. 26 Freie Stimmen, 18.8.1938.

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Freie Stimmen 1938. Grazer Tagespost 1935. Grazer Volksblatt 1900, 1906. Israelitischen Kultusgemeinde in Graz (Hg.), Geschichte der Juden in Südost-Österreich. Gedenkschrift herausgegeben anlässlich des Bedenkjahres 1988, Graz 1988. Klösch, Christian, Des Führers heimliche Vasallen. Die Putschisten des Juli 1934 im Kärntner Lavanttal, Wien 2007. Lauritsch, Andrea, Die Juden in Wolfsberg. Nationalsozialistische Judenverfolgung am Beispiel Wolfsbergs, Wolfsberg 2000. Lavantthaler Bote 1887. Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, Bd. 8  : Kärnten und Krain, Wien 1891. Die Reichspost 1906. Schober, Eduard, Das Lavanttal in den Stürmen der Zeit, Klagenfurt 1980. Schober, Eduard, Das Lavanttal, Wolfsberg 1996. Schwiening, Jürgen, Die Wandlern oder die Judenglocke in Wolfsberg, unveröff. Manuskript, 2002. Die Stunde 1935. Unterkärntner Nachrichten 1935, 1957, 1960.

Internetseiten http://www.pfarre-wolfsberg.at/markuskirche (2.12.2015). http://www.pfarre-wolfsberg.at/in-der-glockenstube/#jp-carousel-1445 (2.12.2015).

Archivalische Quellen Kärntner Landesarchiv (KLA), Stadtarchiv Wolfsberg. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bundeskanzleramt (BKA), BKA-I-Präsidium Signatur 22, Übertretungen und Exzesse, Kt. 5.056.

Christoph Lind

»… das rasche Anwachsen des Hakenkreuzlertums …« Antisemitismus in Niederösterreich 1933 bis 1938 Die Niederlage im Ersten Weltkrieg und das Ende des Vielvölkerstaates brachten für die österreichischen Juden, die nun als größte Minderheit in einem stark geschrumpften Staat lebten, einen großen Bruch. Für sie war – trotz aller antisemitischen Anfeindungen schon zu Zeiten der Monarchie – eine goldene Ära zu Ende gegangen. Die jüdischen Gemeinden des Landes, in Niederösterreich seit den 1850er Jahren durch Zuwanderung entstanden, hatten eine Blütezeit erlebt, und noch kurz vor Kriegsbeginn waren in Mödling, St. Pölten und Klosterneuburg drei neue, repräsentative Synagogen errichtet worden.1 Diese (wie natürlich auch die Friedhöfe, denn auch die Toten wollten »zu Hause« begraben werden) zeugten vom Zugehörigkeitsgefühl der niederösterreichischen Juden zu ihrer Heimat. Ihr Patriotismus drückte sich auch darin aus, dass fast alle Einweihungsfeiern von Synagogen rund um den Geburtstag Kaiser Franz Josephs am 18. August stattfanden und manche Gotteshäuser auch nach ihm benannt wurden.2 Dementsprechend zogen die österreichischen Juden nach dem Attentat von Sarajewo 1914 mit derselben Begeisterung ins Feld wie die (meisten) übrigen Untertanen des Kaisers. Diese Begeisterung schwand allerdings mit den Entbehrungen, die der Krieg mit sich brachte, und auch die Angriffe der Antisemiten nahmen ab 1915 wieder zu. In Österreich gab es zwar keine »Judenzählung« in der Armee, wie jene in Preußen-Deutschland von 1916, doch die Debatte um die jüdischen »Drückeberger«, die angeblich den Frontdienst zu vermeiden trachteten und »es sich richten« konnten, beherrschte den öffentlichen Diskurs.3 Im Dezember 1916, einen Monat nach dem Tod von Kaiser Franz Joseph, warnte ein liberaler Reichsratsabgeordneter die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) Wien, dass in christlichsozialen, deutschvölkischen und anderen nationalen Kreisen eine antisemitische Bewegung vorbereitet werde, die nach der Wiederherstellung »geordneter Verhältnisse« losbrechen sollte. In den letzten beiden Kriegsjahren verloren zudem die christlichsoziale und die alldeutsche 1 Lind 2013, 132, 145, 155. 2 Wie beispielsweise in St. Pölten, vgl. dazu Keil 2013. 3 Lichtblau 1995, 454f.

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Presse alle Hemmungen gegenüber erneuter antisemitischer Hetze und die Regierung setzte die Zensur nicht mehr durch. Nach dem Zusammenbruch der Monarchie stellte sich für die österreichischen Juden die Frage »Wer wird uns nun schützen  ?«4

»Wer wird uns nun schützen  ?« Die Frage war berechtigt. Zwar blieben die staatsbürgerlichen Rechte der Juden, wie sie seit der Verfassung von 1867, also seit über 50 Jahren, galten, unangetastet, aber jenseits der rechtlichen Bestimmungen wurde ihre Stellung in der neuen Republik immer prekärer. Dafür sorgten die Antisemiten im christlichsozialen, deutschnationalen und auch schon nationalsozialistischen Lager. Bereits 1919 zogen sie mit Josef Stockhammer (Werkstättentischler) und Rudolf Stieböck (Bezirksrichter) in den Gemeinderat von St. Pölten ein, Krems folgte 1924. Stärkste Partei in der nachmaligen Landeshauptstadt waren mit 26 Mandaten allerdings die Sozialdemokraten geblieben, was die christlichsoziale »St. Pöltner Zeitung«, ein Blatt mit langer antisemitischer Tradition, zu dem Kommentar veranlasste, dass diese ihre Stärke »ohne die Juden« niemals erreicht hätten – eine absurde Behauptung angesichts der geringen Zahl jüdischer Wahlberechtigter in der Stadt. Eine weitere antisemitische Stimme kam vom deutschvölkischen Politiker Georg Budik, der den »Zusammenschluss aller Deutschen und Arier […] zur gemeinsamen Bekämpfung des allen gemeinsamen Feindes« forderte, während einer der Wahlsieger, der Sozialdemokrat und nachmalige Stadtrat Stephan Buger, den Antisemitismus als Lüge bezeichnete, da Christlichsoziale und Deutschnationale ohnehin die »Hausherren« der Juden seien.5 Im Jahr darauf, am 3. Juli 1920, referierte Domkurat Josef Karas während einer Tagung des »christlich-deutschen Schutzvereins Ostmark« über »die jüdische Verseuchung Österreichs«, und am 8. September 1920 verlas der bekannte christlichsoziale Politiker und nachmalige (1921–1925) Landeshauptmannstellvertreter Josef Zwetzbacher im Rahmen des Katholikentages eine Resolution mit den Worten  : »Wir fordern die sittlich-religiöse Erziehung der Kinder in den Schulen und die Bewahrung des deutsch-christlichen Volkes vor den zersetzenden Einflüssen jüdischen Geistes. Wir wollen keinen

4 Pulzer 1997, 379f. 5 Schausberger 2012, 147  ; Gamsjäger 2010, 54f. Bezüglich der jüdischen Wahlberechtigten sei auf die 310 Personen verwiesen, die sich bei der Volkszählung von 1934 zum Judentum bekannten. Da diese Zahl auch Kinder und fremde Staatsangehörige einschloss, werden wohl ungefähr 250 St. Pöltner Juden wahlberechtigt gewesen sein.

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haßerfüllten Kampf gegen die einzelnen Juden, sondern volle wirkliche Scheidung des jüdischen vom deutsch-christlichen Volke.«6 Eine solche »Scheidung« versuchten die Antisemiten vermittels sogenannter »Arierparagraphen« durchzusetzen, die sie in die Statuten ihrer Vereine einfügten. Bereits 1878/79 regten Jaromir Tobiaschek, der später als Notar in Spitz arbeiten sollte, und einige Mitglieder des Kremser Fechtklubs bei den Wiener Burschenschaften »Libertas« und »Teutonia« an, keine Juden mehr aufzunehmen.7 Bald darauf, 1887, führte der Wiener Turnverein ebenfalls eine solche Bestimmung ein.8 Nach dem Ersten Weltkrieg übernahmen immer mehr Vereine diese üble Praxis, wie 1920 der Amstettner Männergesangsverein (gegründet 1862), und auch die Veranstaltungen des örtlichen »Deutschen Turnvereins« durften Juden nicht mehr besuchen.9 In St. Pölten hatten zumindest der Männergesangsverein, der Gesang- und Musikverein und der Touristenklub diese antisemitische Bestimmung eingeführt. Als diese drei Vereine 1925 öffentliche Subventionen beantragten, lehnte dies die sozialdemokratische Gemeinderatsmehrheit wegen des »Arierparagraphen« ab.10 Die Wiener jüdische Zeitung »Die Wahrheit« schrieb dazu  : »Die Frechheit der Hakenkreuzlerbuben läßt sich daraus am besten ermessen, daß die Vereine eine Kategorie von Bürger dieser Stadt ausschließen und gleichzeitig aus Geldern der Gemeinde, zu denen die ›unwürdigen‹ Gemeindebürger einen starken Prozentsatz beisteuern, eine Subvention verlangen. Das ist dasselbe dumm-freche Spiel, welches Hakenkreuzlergesindel im Alpenverein und überall dort treibt, wo es häufig unter falschen Vorspiegelungen jüdisches Geld einsteckt, um dann die Juden zu bekämpfen.«11

»Sommerfrische mit Pogromgelegenheit« Eine weitere Möglichkeit der »Scheidung« bestand im »Sommerfrischeantisemitismus«, also in der Ablehnung der Anwesenheit von Juden in Fremdenverkehrsorten. Diese Art der Ausgrenzung gab es ebenfalls seit der Zeit der Monarchie, aber auch  6 Gamsjäger 2010, 58. Zu Zwetzbacher, vgl. auch das Biographische Handbuch des NÖ Landtages 1861–1921, http://www.landtag-noe.at/images/personen_ausschuesse/1861-1921.pdf.  7 Polleross 1996, 75.  8 Dutzler 1995, 74. Im selben Jahr kam es bei einem Kreisturnfest in Krems zu antisemitischen Zurufen und Äußerungen.  9 Freihammer 1989, 5. 10 Gamsjäger 2010, 66. 11 Die Wahrheit, 30.1.1925, 9  ; die »Wiener Morgenzeitung« berichtete wortgleich, 4.1.1925. Zum Alpenverein vgl. zudem Achrainer 2009, 288–317.

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hier erlebte sie eine Radikalisierung nach 1918.12 So galten in Mank und Scheibbs Juden als unerwünscht und in Gresten kam es im Sommer 1922 zu Ausschreitungen gegen jüdische Sommergäste.13 In Spitz an der Donau beschloss die Gemeindevertretung 1923, dass sich jüdische Besucher nur noch für drei Tage in dem Ort aufhalten durften.14 Im Herbst 1925 berichtete der pensionierte Verwaltungsbeamte »E.L.« in der »Wahrheit« über antisemitische Pöbeleien der »Melker Hakenkreuzlerjugend« gegen Juden oder »jüdisch aussehende« Personen. Nach seiner Ankunft wurde er auf dem Weg vom Bahnhof zum Hauptplatz »sechsmal angestänkert, frech beschimpft und in rohester Weise bedroht«. Nach einem Kaffeehausbesuch wiederholten sich diese Pöbeleien. L. entschloss sich dazu, die Wachau künftig einfach nicht mehr zu besuchen.15 Zu äußerst schweren Übergriffen kam es im September 1925 im Waldviertel, wie uns wiederum die »Wahrheit« berichtet  : »In Schönberg am Kamp hat am letzten Sonntag ein regelrechter Judenpogrom stattgefunden. Schon während der letzten vierzehn Tage wurden dort Wiener Familien von Hakenkreuzlern aufs schwerste insultiert. Letzten Sonntag erhielten die Schönberger Hakenkreuzler Verstärkung aus Neustift und Langenlois und gingen daran, ihre Drohung, den Ort vollkommen judenrein zu machen, in die Tat umzusetzen. Gegen ½ 8 Uhr abends wurden alle Sommergäste, welche für Juden gehalten wurden, in der gemeinsten Weise beschimpft und sogar tätlich bedroht, so dass sie in ihre Wohnungen flüchten mussten. Die Flüchtenden wurden mit Steinen beworfen und durch die Straßen des Ortes getrieben. Die Häuser der Wiener Sommerfrischler wurden stundenlang blockiert, Fensterscheiben eingeschlagen, Gartenpfähle eingerissen und als Wurfgeschosse verwendet. Die Situation wurde stellenweise überaus kritisch, da die Ortspolizei nicht ausreichte, um die gefährdeten Sommergäste, die mit dem Erschlagen bedroht wurden, zu schützen. Am nächsten Tage verließen nicht nur alle jüdischen, sondern auch die meisten nichtjüdischen Sommergäste fluchtartig den Ort, an dem sie ihres Lebens nicht mehr sicher waren.«16 Drei Jahre später versandte die Gemeinde Schönberg Werbeprospekte, in der sie wörtlich mit den »antisemitischen Exzessen« von 1925 warb. Die »Wahrheit« 12 Vgl. Bajohr 2003. 13 Die Wahrheit, 12.10.1922, 10f. 14 Die Wahrheit, 10.8.1923, 10. Auf Betreiben der jüdischen Selbstschutzorganisation »Union« wurde diese Beschränkung von der Bezirkshauptmannschaft Krems und der Landesregierung wieder aufgehoben. Der Sommerfrischeantisemitismus führte auch dazu, dass Juden sich als konfessionslos oder evangelisch in ihren Urlaubsorten anmeldeten, wie dies zwei Familien in Gresten taten. Dieses Verhalten wurde von der »Union« ebenfalls scharf kritisiert. 15 Die Wahrheit, 2.10.1925, 11. 16 Die Wahrheit, 11.9.1925, 3f.

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berichtete darüber unter dem Titel »Sommerfrische mit ›Pogromgelegenheit‹  !«17 Die Nationalsozialisten bewarben zudem jene »Verkehrslokale«, von denen sie wussten, dass sie von Gleichgesinnten besucht oder betrieben wurden. Im reichsdeutschen Jahrbuch der NSDAP von 1931 sind hier für Niederösterreich das Hotel »Vöslauer Hof« (Vöslau), der Gasthof Pachinger, das Rettensteiner Brauhaus (Hollenstein an der Ybbs) und der Gasthof Purker (Krumau am Kamp) eingetragen.18 Eine Organisation, die sich in den frühen 1920er Jahren um den »Sommerfrischeantisemitismus« und den Antisemitismus im Allgemeinen ganz besonders bemühte, war der »Antisemitenbund«. Er wurde 1919 als Dachorganisation aller Antisemiten Österreichs gegründet und vertrat einen rassistischen Antisemitismus. Seiner Definition nach galt als Jude, wer eine jüdische Urgroßmutter oder einen jüdischen Urgroßvater hatte und nahm damit einen radikaleren Standpunkt ein als später das »Dritte Reich« mit den Nürnberger Gesetzen. Seine Forderungen bestanden unter anderem in Boykott und Kennzeichnung jüdischer Geschäfte, beruflicher Diskriminierung in allen Lebensbereichen, Ausweisung aller nach 1914 eingewanderten Juden und dem Verbot weiterer Zuwanderung. Der Bund verlangte zudem den Entzug des Stimmrechts, die Aberkennung des Rechts, öffentliche Ämter bekleiden zu dürfen, sowie die Verweigerung des Rechts auf Grundbesitz.19 Viele seiner Mitglieder gehörten zu den antisemitischen Protagonisten der folgenden 25 Jahre und stammten aus allen Parteien rechts der Mitte. Die ersten beiden Vorsitzenden des Bundes, Anton Jerzabek und Robert Körber, waren Mitglieder der christlichsozialen bzw. großdeutschen Partei. Jerzabek saß im Nationalrat, Körber wechselte später zur NSDAP und schrieb 1939 das Machwerk »Rassesieg in Wien«. Weitere prominente Mitglieder aus diesen beiden Lagen waren Leopold Kunschak und Josef Ursin. Auch Engelbert Dollfuß sprach 1920 als Führer der katholischen Studentenschaft wiederholt bei Treffen des Bundes. Zu den Rednern gehörten auch die Nationalsozialisten Walter Riehl und Walter Gattermeyer.20 Weit rechts stand auch Leo Haubenberger, der am 12. September 1919 eine der ersten Ortsgruppen des »Antisemitenbundes« im bekannten St. Pöltner Stadtkino Pittner gründete. Er forderte eine Regierung des deutschen Volkes nur durch Deutsche und das Verschwinden alles »Fremdvölkischen«.21 Folgerichtig rief er im nächsten Jahr die Fremdenverkehrsgemeinden dazu auf, Juden nicht mehr zur Sommerfri17 Die Wahrheit, 19.10.1928, 17. 18 Bajohr 2003, 197. 19 Pauley 1993, 233f. 20 Ebd., 233. 21 Gamsjäger 2010, 55.

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sche zu dulden.22 Haubenberger sollte zehn Jahre später (1932/33) die NSDAP als Abgeordneter im österreichischen Bundesrat vertreten. Nach dem Ende der NS-Herrschaft 1945 wurde auf Grundlage des Verbots- und des Kriegsverbrechergesetzes gegen ihn ermittelt.23 Die Amstettner Ortsgruppe entstand 1920 rund um den deutschnationalen Rassenantisemiten Wolfgang Mitterdorfer und den christlichsozialen Hans Höller.24 Höller war in der Ersten Republik Landtagsabgeordneter, Gemeinderat und Vizebürgermeister von Amstetten und dann während des »Ständestaates« Bürgermeister der Stadt. Mitterdorfer wiederum saß seit 1929 im Gemeinderat, wurde 1931 Mitglied der NSDAP und als SA-Standartenführer Kreisleiter im Bezirk. Nach dem »Anschluss« wurde er Nachfolger von Höller als Bürgermeister – es gab hier also eine gewisse antisemitische Kontinuität an der Spitze.25 Seine Blütezeit erlebte der Antisemitenbund in der Zeit vor 1924. In diesem Jahr forderte die Führung der österreichischen Nationalsozialisten ihre Mitglieder auf, sich nicht mehr für den Bund zu engagieren  ; gleichzeitig war um diese Zeit ein Rückgang des Antisemitismus wohl als Folge des Wirtschaftsaufschwunges zu beobachten. Erst mit dem Verbot der NSDAP im Jahr 1933 erlebte er eine Renaissance als Sammelbecken der illegalen Nazis.26

Das »rasche Anwachsen des Hakenkreuzlertums« Der Beitritt des oben erwähnten Amstettners Wolfgang Mitterdorfer zur NSDAP im Jahr 1931 geschah zu einer Zeit, als die Partei ihren großen Aufschwung in Niederösterreich erlebte. Sie konnte ihre personelle Organisation in nur wenigen Jahren verfünffachen und steigerte ihren Stimmenanteil von 4.012 bei der Landtagswahl von 1927 auf 110.808 bei den Wahlen von 1932. Das bedeutete, dass die NSDAP Wahlsieger war und auf Anhieb mit acht Mandaten zum ersten Mal in den Landtag und mit einem Landesrat auch in die Regierung einzog.27 22 Monatsschrift der Oesterreichisch-Israelitischen Union, Juni 1920  ; vgl. auch Die Wahrheit, 17.8.1923, 13. 23 Diese und weitere biographische Informationen zu Haubenberger finden sich auf der Website des österreichischen Nationalrats, http://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_00529/index.shtml (6.11. 2013). 24 Freihammer 1989, 4. 25 Stadtgemeinde Amstetten 1997, 42f. 26 Pauley 1993, 235–237. 27 Schausberger 2012, 151–154.

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In den Reden, die die NS-Abgeordneten im alten Landhaus in der Wiener Herrengasse bis zum Verbot der Partei 1933 hielten, kündigten sie bereits ihr Programm an, nämlich die »Verfolgung und Vernichtung von Juden, Kommunisten und Sozialdemokraten«.28 Das war nicht bloß Gerede, denn ab den frühen 1930er Jahren waren antisemitische Übergriffe deutlich im Steigen begriffen. So sprach die IKG Wiener Neustadt im März 1933, als sie sich einer Protestresolution der IKG Wien gegen den antijüdischen Hirtenbrief des Linzer Bischofs Johannes Maria Gföllner anschloss, bezeichnenderweise vom »raschen Anwachsen des Hakenkreuzlertums«.29 Es kam zu vermehrten Überfällen auf Einzelpersonen (Krems  : Arthur Neuner, 1930  ;30 Arthur Rephan, 1932  ;31 St. Pölten  : Lotte Kohn und ihre Nichte Rosa Stern, 1933),32 und jüdische Firmen waren natürlich ebenfalls das Ziel von Anschlägen, wie beispielsweise in St. Pölten am 23. Dezember 1933, als rechtzeitig vor Weihnachten  – unter der Parole »Kauft nicht bei Juden  !«  – in die Geschäfte von Moritz Frischmann, Albert Leicht und Richard Lustig Tränengasphiolen geworfen wurden.33 Bereits im Sommer 1933 war in Wiener Neustadt eine Gruppe von neun halbwüchsigen Burschen ausgeforscht worden, die über mehrere Monate hindurch Auslagen und Fensterscheiben jüdischer Geschäfte und Privatpersonen eingeschlagen hatten.34 Neben Geschäften und Wohnungen, bei denen die Täter wissen mussten, ob sie »jüdisch« waren oder nicht, richtete sich der Hass auch gegen die öffentlich sichtbaren Zeichen jüdischen Lebens in Niederösterreich. Aus der Zeit vor dem Verbot der NSDAP wissen wir von zwei derartigen Übergriffen. Im Juli 1932 beschmierten Nationalsozialisten die Türen und Fenster der Badener Synagoge mit Hakenkreuzen und malten auf den Gehsteig davor den Spruch »Achtung  ! Ihr Volk der Mazzesfresser  – wir kommen heut’ Nacht mit dem langen Messer  !«35 In der Karwoche 1933 wurde in St. Pölten die Synagoge mit den Worten »Heil Hitler  ! Das Ende Judas« beschmiert.36

28 Mulley 1989, 183. 29 Die Wahrheit, 17.3.1933, 1f. 30 Die Stimme, 27.11.1930, 6. 31 Die neue Welt, 7.10.1932, 3f.; Die Stimme, 6.10.1932, 2. 32 Polizeirapportbuch 1933, Eintragung vom 3.5.1933, 183f., Stadtarchiv (Sta) St. Pölten. 33 Polizeirapportbuch 1933, Eintragung, 23.12.1933, 375f., ebd. 34 Die Wahrheit, 4.8.1933, 7. 35 Die Wahrheit, 22.7.1932, 3. 36 St. Pöltner Zeitung, 20.4.1933, 10.

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»Trotz Verbot nicht tot  !« Im Juni 1933, wenige Monate, nachdem Hitler in Deutschland Reichskanzler geworden und Dollfuß in Österreich das Parlament ausgeschaltet hatte, begannen die Nationalsozialisten eine neue Propagandawelle, die von massivem Terror unterstützt wurde. Bereits im Mai hatte die Bundesregierung, auch angesichts der Erfolge der NSDAP bei den Kommunalwahlen in Zwettl, Gmünd, Stockerau, Stein und Heidenreichstein, alle Landtags- und Gemeinderatswahlen verboten. Der Landeshauptmann ordnete zudem die Durchsuchung aller Parteigebäude der NSDAP und der Wohnungen ihrer führenden Funktionäre an.37 Am 13.  Juni 1933 wurden dann 147 niederösterreichische NS-Funktionäre verhaftet. Die Nationalsozialisten waren aber nur schwer einzuschüchtern, und als um 15.30 Uhr desselben Tages Gendarmen aus Herzogenburg mit NS-Häftlingen nach St. Pölten kamen, um diese in das Kreisgerichtsgefangenenhaus zu überstellen, ereigneten sich folgende Szenen  : »Als die Gendarmeriebeamten mit den Häftlingen den Bahnhofplatz betraten, brachen die dortselbst versammelten nat. soz. Parteigänger in stürmische ›Heil Hitler  !‹-Rufe aus und schickten sich an, der Eskorte bis zum Kreisgerichte zu folgen. Es wurde das Überfallsauto entsendet. Die Demonstration wurde im Keime erstickt.« Dennoch kam es an diesem Tag in der Kremsergasse und in der Wienerstraße vor dem Gasthaus Kraus, wo NS-Mitglieder »die Angehörigen Freiw. Assistenzkörper, welche in der Wienerstraße spazierengingen, fortwährend mit Kickeriki-Rufen verspotteten«, zu wiederholten Provokationen der Staatsmacht durch die Nationalsozialisten, die mit der Räumung der beiden Straßen, Verhaftungen und Arreststrafen reagierte. Am nächsten Tag sammelten sich »jugendliche Nat. Soz. in der Andreas-Hoferstraße und im Stadtwalde an und riefen den polit. Häftlingen im Kreisgerichtsgefangenenhause in herausfordernder Weise Heil Hitler  !‹ zu. Gleichzeitig versuchten es einzelne von ihnen Bäume und Bänke mit kleinen Zetteln zu bekleben. Die Zettel wiesen das Hackenkreuz [sic  !] und die beiden Texte  : ›Trotz Verbot nicht tot‹ und ›Jetzt erst recht  !‹ auf.«38 Nur wenige Tage später, am 19. Juni 1933, überfielen SA-Leute in Krems eine Abteilung Hilfspolizisten (formiert aus christlich-deutschen Turnern) mit Handgranaten. Das Attentat forderte mehrere Schwerverletzte, von denen einer seinen Verletzungen erlag. Noch am selben Tag verbot der Ministerrat die NSDAP, ihre Mandate im Landtag und in den Gemeinderäten wurden aberkannt. Parteigrößen wie Dr. Emmo Lan37 K ammerhofer 1987, 234  ; vgl. auch Bundeskanzleramt 1933. 38 Polizeibericht über die wichtigsten Vorfälle am 13., 14. und 15.6.1933, Sta St. Pölten, Kt. Mag. Dion. 1923–1938.

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ger, später von 1938 bis 1945 Bürgermeister von St. Pölten, wurden verhaftet, andere wie der Landtagsabgeordnete Walter Rentmeister flohen nach Deutschland.39 Der ehemalige Gemeinderat Karl Hörhann (auch aus St. Pölten) ging ebenfalls ins »Altreich« und fand als SS-Führer in Dachau Verwendung.40 Im Sommer 1933 verschärfte sich der Nazi-Terror. Besonders aktiv traten sie im Mostviertel, im Waldviertel und in Teilen des Industrieviertels auf. Papier-Böller explodierten in Berndorf und Wiener Neustadt, und am 23.  Juli verübten fünf Jugendliche NS-Anhänger einen Sprengstoffanschlag auf das Wohnhaus von Landeshauptmannstellvertreter P. Josef Sturm.41 Tatsächlich waren sehr viele Jugendliche und junge Erwachsene Träger der NS-Aktivitäten, weshalb der niederösterreichische Sicherheitsdirektor bereits am 20. Juli 1933 ihre schärfere Überwachung sowie Hausdurchsuchungen vor allem bei Mitgliedern des »Nationalsozialistischen Schülerbundes« (NSS) angeordnet hatte.42 Bereits am folgenden Tag nahm das Polizeiamt des St. Pöltner Magistrates (die Polizei war noch nicht »verbundlicht«) zehn Hausdurchsuchungen vor. Bei einem gewissen Fritz Pailer fanden die Beamten unter anderem zwei Trommelrevolver, 36 Patronen, ein Bajonett und ein Kassabuch, das ein (leider) nicht vollständiges Mitgliederverzeichnis der St. Pöltner Hitlerjugend enthielt. Friedrich Binger besaß solche Listen für die SA (mitsamt Beschreibungen ihrer Verlässlichkeit) und des ihr nahestehenden »Vaterländischen Schutzbundes«. Auch die Wohnung von Gertrude Bruck, seit 1. März 1933 Ortsgruppenführerin des BDM (»Bund Deutscher Mädel«) wurde durchsucht. Beim Sohn des Gymnasialprofessors Fritz Trathnigg, Gilbert (er war Scharführer der SS und kommissarischer Kreispressereferent der Kreisleitung der NSDAP) wurde nur ein Feldspaten gefunden, weshalb er wegen Übertretung des Kriegsgerätegesetzes angezeigt wurde.43 Trotz der polizeilichen Repressionen gingen die Aktionen der Nationalsozialisten weiter, und es gab natürlich weitere Anschläge auf jüdische Einrichtungen. So entdeckte der Mödlinger Rabbiner Albert Schweiger am 2. August 1933 ein meterhohes Hakenkreuz in roter Ölfarbe auf seinem Gotteshaus.44 Die Nationalsozialisten machten auch vor den Toten nicht halt. In der Nacht vom 31. Oktober auf den 1. November 39 K ammerhofer 1987, 235f. 40 Sta St. Pölten, Kt. Mag. Dion. 1923–1938, Bericht des Magistrates St. Pölten, Polizeiamt, 9.1.1934. 41 K ammerhofer 1987, 236. 42 Schreiben des Sicherheitsdirektors für Niederösterreich betreff die Betätigung des Nationalsoz. Schülerbundes, 20.7.1933, Sta St. Pölten, Kt. Mag. Dion. 1923–1938. 43 Schreiben des Magistrates St. Pölten, Polizeiamt, an den Sicherheitsdirektor für Niederösterreich, 28.7.1933, Sta St. Pölten, Kt. Mag. Dion. 1923–1938. 44 Jüdische Front, 21.8.1933, 10.

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1933 – in den Tagen des christlichen Totengedenkens – schändeten sie den jüdischen Friedhof von Hohenau an der March. Sie verwüsteten mehr als drei Viertel der Grabsteine mit schweren Schlagwerkzeugen und warfen sämtliche Fensterscheiben der Zeremonienhalle ein.45 In Hohenau schrieb man die Tat den Mitgliedern eines ortsfremden Sportvereins zu – die jedoch nie ausgeforscht wurden. Immerhin forderte zu Allerseelen Pfarrer Jakob Kailich die Gläubigen dazu auf, nach der Messe mit ihm zuerst den jüdischen Friedhof und erst danach die Gräber der eigenen Verstorbenen zu besuchen. Nach dem »Anschluss« schlugen ihm die Nationalsozialisten übrigens die Fenster des Pfarrhauses ein.46 Ein weiteres hässliches Beispiel ist aus Krems überliefert. Im Sommer 1935 musste die IKG dort die Toten, die auf dem alten jüdischen Friedhof lagen, exhumieren, da er ständig geschändet wurde – es kam zum Diebstahl von Grabsteinen und besonders findige Nationalsozialisten gossen Schweineblut über die Gräber.47 Angesichts dieser »täglichen Nazibübereien« hatte sich die Bundesregierung am 23.  September 1933 dazu entschlossen, »Anhaltelager« zur Internierung politischer Häftlinge einzurichten. Das Jahr 1934 brachte dennoch eine neue nationalsozialistische Terror- und Propagandawelle.48 Flugblätter und Zeitschriften wurden verteilt, Hakenkreuze an Wände geschmiert und ebensolche als weithin sichtbare Zeichen abgebrannt. Zu den NS-Propagandamitteln gehörte auch das Böllerschießen, das Ende Jänner, Anfang Februar 1934 in St. Pölten fast jede Nacht zu hören war. Man konnte »regelmäßig solche Detonationen von Böllern, die im im Hammerpark, im Sparkassenpark, beim Judentempel, am Völklplatz und im Kaiserwald losgeschossen wurden«, hören.49

»Im Namen Gottes, des Allmächtigen …« Das Scheitern des Februaraufstands der österreichischen Sozialdemokraten wenige Tage später verhalf der illegalen NSDAP zu neuem Zulauf. Vom Frühjahr bis zum 45 Die neue Welt, 3.11.1933, 4  ; Die Stimme, 9.11.1933, 6. 46 Zelesnik 1971, 25. 47 Brief von Abraham Nemschitz an Robert Streibel, 13.1.1988, zit. n. Streibel 1992, 171  ; vgl. auch Moses 1994, 127. 48 K ammerhofer 1987, 236, 242. 49 St. Pöltner Zeitung, 8.2.1934, 11. Da die Polizei die Täter nicht fassen konnte, verhaftete sie die »geistigen Urheber der nationalsozialistischen Kampfmethoden gegen Österreich« und schickte den Angestellten Franz Dobravsky, den Rechtsanwalt Dr. Geiger, einen Redakteur der »St. Pöltner Nachrichten« mit Namen Hendl und den ehemaligen Gemeinderat Stahl in das Anhaltelager Wöllersdorf, während sich eine Reihe anderer Personen, darunter der nachmalige Reichsstatthalter und Gauleiter Dr. Hugo Jury (ebenfalls ein St. Pöltner, in »polizeilicher Untersuchung« befanden.

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Juliputsch erlebte das Land eine noch die dagewesene Gewaltwelle, darunter ein Sprengstoffattentat auf das Anwesen von Landeshauptmann Josef Reither in Langenrohr. Der NS-Putsch gegen die Regierung Dollfuß vom 25. Juli 1934 verlief in Niederösterreich ohne größere Zwischenfälle, SS und SA waren hier den Ordnungskräften und der Heimwehr weit unterlegen. Ende Oktober 1934 erhielt das Land unter der Enns dann eine neue, ständische Verfassung.50 Der »Bundesstaat Österreich« hatte »Im Namen Gottes, des Allmächtigen« bereits im Mai eine neue Verfassung erhalten. In dieser war zwar die Gleichberechtigung aller Staatsbürger festgeschrieben, die von Bundeskanzler Dollfuß, seinem Nachfolger Kurt von Schuschnigg oder dem Heimwehrführer Ernst Rüdiger von Starhemberg immer wieder betont wurde, andererseits duldeten sie aber sehr wohl antisemitische Agitation, solange sie nicht in einem Bekenntnis zum Nationalsozialismus gipfelte.51 Der »Ständestaat« schien für Österreichs Juden zudem die Unabhängigkeit des Landes gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschen Reich zu garantieren und auch Schutz vor den einheimischen Nationalsozialisten zu bieten. Da aber die klerikal-faschistische Diktatur wesentlich vom politischen Katholizismus getragen und mitbegründet wurde, blieb auch dessen antisemitische Agitation in sämtlichen Spielarten aufrechterhalten.52 Manche Politiker in untergeordneten Staatspositionen forderten zudem einen schärferen Antisemitismus, um dadurch dem Nationalsozialismus das »Wasser abzugraben«.53 Die Situation für die jüdischen NiederösterreicherInnen war also äußerst zwiespältig und die Existenz jüdischen Lebens im Land gefährdet wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Die Gewährleistung der Sicherheit durch den Staat war nicht mehr so eindeutig gegeben wie noch 20 Jahre früher, zu Zeiten der Monarchie oder auch noch, mit Abstrichen, in der Ersten Republik. Nur eine Versicherung gegen »Tumultschäden« abzuschließen, wie das die IKG St. Pölten im Februar 1933 getan hatte, würde nicht ausreichen.54 Wie nah die Bedrohung im wahrsten Sinne des Wortes war, zeigt sich auch daran, dass der Hausbesorger dieser Kultusgemeinde, Josef Schmied, am

50 K ammerhofer 1987, 258f. 51 Maderegger 1973, 82–116. 52 Vgl. Staudinger 1990, 264f. 53 Vgl. Maderegger 1973, 116. 54 Versicherungsvertrag, 15.2.1933 zwischen der IKG St. Pölten und der Anglo-Elementar-Versicherungs-AG, Sta St. Pölten, Kt. IKG Verträge 1897–1936. Im Februar 1933 hatte sich die IKG gezwungen gesehen, die Glasscheiben der Synagoge zum ersten Mal versichern zu lassen, da durch Steinwürfe eine Reihe von Scheiben zerbrochen worden waren.

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14. Mai 1934 wegen Betätigung für die NSDAP angezeigt und daraufhin, nachdem er noch gefährliche Drohungen ausgestoßen hatte, von der IKG entlassen wurde.55 Für die IKG St. Pölten und ihre 14 Schwestergemeinden in Niederösterreich galt es also, sich in irgendeiner Form mit dem faschistischen »Ständestaat« zu arrangieren. Jüdinnen und Juden konnten als Einzelpersonen, vor Allem wenn sie der ausgeschalteten linken Opposition nahestanden, natürlich ihre eigenen Wege gehen. Dies war dem in den IKG institutionalisierten Judentum kaum möglich. So lernte zumindest die Wiener jüdische Gemeinde im eigenen Interesse mit dem autoritären Regime zusammenzuarbeiten, und ihr Präsident Desider Friedmann wurde in den neu geschaffenen Staatsrat berufen. Inwiefern die niederösterreichischen IKG, deren politische Bedeutung ungleich geringer war als die der großen Wiener Kultusgemeinde, eine ähnliche Strategie verfolgte, ist derzeit kaum zu beantworten, dazu fehlt es schlicht (noch) an den Quellen. Es ist aber anzunehmen, dass sie sich in den großen Linien ihrer Politik an der Wiener IKG, ihrer großen Schwester, orientierte. Wien war ja bis zur Trennung der beiden Länder 1920/1922 die größte jüdische Gemeinde Niederösterreichs gewesen und die 15 »Land-IKG« hatten sich auch schon in früheren Jahren und Jahrzehnten in außerjüdischen politischen Belangen an ihr orientiert. Ein zarter Hinweis auf ein Arrangement mit dem Regime nach Wiener Vorbild wäre der Umstand, dass 1935, ein Jahr nach dem Mord an Bundeskanzler Dollfuß, die St. Pöltner Kultusgemeinde 100 Schilling an die »Vaterländische Front« für die Errichtung eines entsprechenden Denkmals am Domplatz spendete.56 Wie auch immer die IKG sich jeweils verhielten, zwei wichtige Organisationen, die »Union österreichischer Juden« und der »Bund jüdischer Frontsoldaten«, erklärten im Mai 1933 ihren Beitritt zur »Vaterländischen Front« und setzten damit für viele Juden des Landes ein deutliches Zeichen. Die »Union österreichischer Juden« war bereits in den 1880er Jahren gegründet worden und begann um 1900, sich auch in Niederösterreich zu organisieren, wo sie bald über Vertrauensmänner in mehr als 40 Orten verfügte.57 In der Zwischenkriegszeit verlor sie allerdings zu Gunsten der Zionisten an Bedeutung, die nun, obwohl sie ebenfalls schon am Beginn des Jahrhunderts in Niederösterreich, allerdings mit nur bescheidenen Ergebnissen, aktiv geworden waren, ihren großen Aufschwung erlebten. Die Zionisten beteuerten ihre Loyalität zur Regierung und ihre Bereitschaft zum Kampf für die österreichische Unabhängigkeit, 55 Schreiben Dr. Hugo Deutsch an die IKG St. Pölten, 15.5.1934  ; Schreiben der IKG St. Pölten an Josef und Anna Schmied, 18.5.1934, Sta St. Pölten, Polizei-Rapportbuch 1934  ; Sta St. Pölten, Kt. IKG Korrespondenz 1927, 1932–34. 56 Ausgabebuch der IKG St. Pölten 1935, Eintrag 19.8.1935, Sta St. Pölten, Kt. IKG Stimmzettel, Wahlangelegenheiten 1937. 57 Lind 2013, 254f.

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sahen ihre Mitglieder aber ungern in der »Vaterländischen Front«, da sie sich in nichtjüdischen politischen Belangen abstinent verhalten wollten – zudem waren sie eher links orientiert. Weniger Probleme damit, der »Vaterländischen Front« beizutreten, hatten die rechtsgerichteten »Zionisten-Revisionisten« von Wladimir Jabotinsky. Von seiner »Neuen Zionistischen Organisation« gab es eine Ortsgruppe in St. Pölten, die Mitglieder des vorbereitenden Komitees zu ihrer Gründung waren allesamt auch bei der »Vaterländischen Front«.58 Die wohl erfolgreichste jüdische Vereinsgründung jener Jahre war allerdings der bereits erwähnte »Bund jüdischer Frontsoldaten«. 1932 entstanden hatte er bereits ein Jahr später 8.000 Mitglieder, da er als überparteilicher Abwehr- und Schutzbund gegen den Antisemitismus konzipiert worden war. Die erste Ortsgruppe außerhalb Wiens etablierte sich im Oktober 1932 in Baden,59 es folgten 1934 Wiener Neustadt,60 1935 St. Pölten,61 Krems,62 Horn63 und Mödling64 sowie 1937 Stoc­kerauKorneuburg.65 Der Bund unterstrich den Einsatz jüdischer Soldaten im Ersten Weltkrieg und war patriotisch-österreichisch ausgerichtet, was ihn natürlich kompatibel zum »Ständestaat« machte. Diesem Ständestaat mussten sich die niederösterreichischen Juden angesichts der Bedrohung durch die Nationalsozialisten von innerhalb und außerhalb des Landes wohl oder übel anvertrauen, so sie nicht auswandern wollten. Eine wirkliche, realistische Alternative dazu gab es nicht. Dass dieses Vertrauen nicht gerechtfertigt war, zeigte sich 1938, als der »Ständestaat« vor den Nationalsozialisten kampflos – und ohne einen einzigen Schuss abzugeben – kapitulierte.

58 Schreiben Hermann Schwarz an den Magistrat St. Pölten, 17.2.1937, Niederösterreichisches Landesarchiv (NöLa), Reichsstatthalter Niederdonau (RSND), Kt. 151, Akt LA I/6b 396 1939-St. Pölten  : Neuzionistische Organisation. 59 Jüdische Front, 10.2.1934, 1. 60 Jüdische Front, 15.11.1934, 6. 61 Protokoll der Sitzung, 27.1.1935, NöLa, RSND, Kt. 127, Akt LA I/6b 1176 1938. 62 Jüdische Front, 15.3.1935, 4. 63 Schreiben Siegfried Adler an die BH Horn, 11.5.1935  ; Schreiben der BH Horn an das Gendarmeriepostenkommando Horn, 14.5.1935, NöLa, RSND, Kt. 125, Akt LA I/6b 1027 1938. 64 Jüdische Front, 1.12.1935, 7. 65 Jüdische Front, 1.5.1937, 7.

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Literatur und gedruckte Quellen Achrainer, Martin, »So, jetzt sind wir ganz unter uns  !« Antisemitismus im Alpenverein, in  : Loewy, Hanno/Milchram, Gerhard (Hg.), »Hast du meine Alpen gesehen  ?«. Eine jüdische Beziehungsgeschichte, Hohenems, Wien 2009, 288–317. Bajohr, Frank, »Unser Hotel ist judenfrei«. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20.  Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2003. Bundeskanzleramt, Büro des Bundesministers für Sicherheitswesen (Hg.), Das Braunbuch. Hakenkreuz gegen Österreich, Wien 1933. Dutzler, Armin, Anteil der Juden an den olympischen Spielen und am Sportgeschehen in Österreich zwischen 1896 und 1936, Dipl.-Arb. Wien 1995. Freihammer, Josef, Das Schicksal der Amstettner Juden, Amstetten 1989. Gamsjäger, Bernhard, St. Pölten 1918–1938, in  : Nasko, Siegfried/Rosner, Willibald (Hg.), St. Pölten im 20. Jahrhundert – Geschichte einer Stadt, St. Pölten, Salzburg 2010. Jüdische Front 1933–1935, 1937. Kammerhofer, Leopold, Niederösterreich zwischen den Kriegen. Wirtschaftliche, politische, soziale und kulturelle Entwicklung von 1918 bis 1938, Baden 1987. Keil, Martha (Hg.), Gott und Kaiser. 100 Jahre ehemalige Synagoge St. Pölten, St. Pölten 2013. Lichtblau, Albert, Antisemitismus – Rahmenbedingungen und Wirkungen auf das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden, in  : Tálos, Emmerich/Dachs, Herbert/Hanisch, Ernst/ Staudinger, Anton (Hg.), Handbuch des politischen Systems Österreichs. Erste Republik 1918–1933, Wien 1995. Lind, Christoph, Kleine jüdische Kolonien. Juden in Niederösterreich 1782–1914, Wien 2013. Maderegger, Sylvia, Die Juden im österreichischen Ständestaat 1934–1938, Wien, Salzburg 1973. Monatsschrift der Oesterreichisch-Israelitischen Union, Nr. 2, Juni 1920. Moses, Leopold, Spaziergänge. Studien und Skizzen zur Geschichte der Juden in Österreich, Wien 1994. Mulley, Klaus Dieter, Die NSDAP in Niederösterreich 1918 bis 1938. Ein Beitrag zur Vorgeschichte des »Anschlusses«, in  : Österreich in Geschichte und Literatur 33 (1989), 169–190. Die neue Welt 1932, 1933. Pauley, Bruce, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993. Polleross, Friedrich, »Ich will mich nicht gerne erinnern«. Juden und Antisemiten in der Marktgemeinde Pölla, in  : Polleross, Friedrich (Hg.), »Die Erinnerung tut zu weh«. Jüdisches Leben und Antisemitismus im Waldviertel, Horn u. a. 1996, 233–300. Pulzer, Peter, Der Erste Weltkrieg, in  : Meyer, Michael (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3, Umstrittene Integration 1871–1918, München 1997, 133–145. Schausberger, Norbert, Ins Parlament, um es zu zerstören. Das parlamentarische Agi(ti)eren der Nationalsozialisten in den Landtagen von Wien, Niederösterreich, Salzburg und Vorarlberg nach den Landtagswahlen 1932, Wien 2012.

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Internetseiten Biographisches Handbuch des NÖ Landtages 1861–1921, http://www.landtag-noe.at/images/personen_ausschuesse/1861-1921.pdf (27.1.2016

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Antisemitismus im Oberösterreich der Zwischenkriegszeit Jüdisches Leben bis 1918 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem jüdischen Leben in Oberösterreich, die von der historischen Forschung seit den 1970er Jahren gepflegt wird, lässt erkennen, dass Antisemitismus in Oberösterreich keineswegs ein Phänomen der Zwischenkriegszeit bzw. des 20. Jahrhunderts war.1 Jüdische Gemeinden gab es im Land ob der Enns bereits im Mittelalter, zu Beginn des 15.  Jahrhunderts beispielsweise in Linz,2 Steyr, Enns und Wels.3 Die Siedlungsdichte aber war (etwa im Vergleich mit dem späteren Niederösterreich) nur gering. Perioden der Toleranz wurden bereits damals durch solche der Vertreibung und Verfolgung abgelöst.4 Erst mit der Reichsverfassung 1849 und schließlich dem Staatsgrundgesetz von 1867 durften die Juden frei in den Städten siedeln und ihrem Beruf nachgehen.5 Die Verordnung Kaiser Franz Josephs, der im Jahr 1853 die »Besitzverhältnisse der Israeliten beschränkenden Vorschriften provisorisch wieder in Wirksamkeit treten« ließ, blieb in Oberösterreich bis 1867 in Kraft und hemmte dementsprechend die Entwicklung der jüdischen Gemeinden. Die Einrichtung der Linzer Kultusgemeinde war zwar bereits vor der Erlassung des Staatsgrundgesetzes erfolgt,6 genehmigt wurde sie von der Statthalterei jedoch erst im Jahr 1870.7 Im gleichen Jahr wurde in Steyr ein israelitischer Kultusverein errichtet, der nach langwierigen Streitigkeiten mit Linz im Jahr 1892 schließlich ebenfalls in eine Kultusgemeinde umgewandelt wurde.8 1 Für die letzten Jahre sind neben Sammelbiographien und universitären Arbeiten auch Filme, Ausstellungen und Einladungsprogramme von Bedeutung, vgl. Kirchmayr 2011, 4. 2 Dohle 1999, 409  ; Kosmata 1988, 37. 3 Zur mittelalterlichen Geschichte der Juden in Oberösterreich allgemein vgl. Kurrein 1932, 164–169 und Wilflingseder 1956, 40. 4 Verfolgungen etwa bei Dohle 1999, 410. 5 Schwager 1971, 57. 6 Lohrmann/Wadl/Wenninger 1982, 75f.; Dohle 1999, 411f. 7 Marckhgott 1985, 302. Sie sollte alle politischen Bezirke Oberösterreichs mit Ausnahme von Steyr und Kirchdorf umfassen. 8 Slapnicka 1978, 177f. Nicht in allen Städten war das jüdische Leben jedoch gleich stark. In Wels

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Gerade im späten 19. Jahrhundert wurden (wohl in Verbindung mit dem Aufblühen des jüdischen Gemeindelebens im Land ob der Enns und trotz des immer noch sehr geringen Anteils von Juden an der Gesamtbevölkerung9) antisemitische Strömungen deutlich spürbar. Zu ihrem Zentrum wurde Linz, das bis zur ersten Gemeinderatswahl nach Ausrufung der Republik als ausgesprochen nationale Stadt galt.10 Bereits im Jahr 1854 stellte der damalige Bürgermeister fest, dass es beim Erscheinen von Juden auf den Märkten regelmäßig zu Tätlichkeiten gekommen wäre.11 Trägermedien des Antisemitismus wurden in der Stadt publizierte Hetzschriften und ausgeprägt judenfeindliche Zeitungen, wie etwa die »Linzer Fliegenden Blätter«. Auch im »Linzer Volksblatt« polemisierten Redakteure mit christlichsozialem Hintergrund beständig gegen den »Judenliberalismus«. Im Jahr 1896 wurde schließlich ein autonomer »Christlichsozialer Verein für Oberösterreich« gegründet, der ab 1906 die Wochenzeitung »Linzer Post« herausgab, die gleich in der ersten Ausgabe ihre antisemitische Grundeinstellung programmatisch festhielt.12 Es war also auch ein religiös motivierter Antisemitismus, der sich um bzw. vor der Jahrhundertwende im Land ob der Enns verbreitete.13 Von Seiten der Kultusgemeinde und der »Österreichisch-Israelitischen Union«14 wurden gegen solche rassistischen Angriffe und Verunglimpfungen in unterschiedlichen Medien bei mehreren Gelegenheiten Anzeigen bei der zuständigen Staatsanwaltschaft eingebracht, die zumindest zum Teil erfolgreich waren und zur Verurteilung von Verantwortlichen bzw. verschärfter Zensur führten.15 z. B. lässt sich keine Vereinsbildung festzustellen, und es wurde etwa auch keine Synagoge errichtet. Gläubige Juden engagierten sich wohl in Linz, wo auch die orthodoxen Welser Juden begraben wurden.   9 Im Jahr 1880 waren nur 0,13 Prozent der Bevölkerung (und damit kaum mehr als 1.000 Personen) mosaischen Glaubens. 10 John 1992, 114–118. 11 R apberger 2013, 34. 12 Linzer Post Nr. 1, 1906  ; siehe Slapnicka 1984, 232f.; Blaschke 1999, 177. 13 Schon in den 1880er Jahren wurden etwa auch Juden in Wels zum Ziel von Anfeindungen, K alliauer 2008, 56f. 14 Gegründet im Jahr 1884 als Reaktion auf den Wahlsieg antisemitischer Politiker in Wien und Niederösterreich, hatte sie sich die Vertretung der jüdischen Interessen, die Förderung des Zusammenhalts unter den österreichischen Juden sowie die Bekämpfung von Vorurteilen und auch des Antisemitismus zum Ziel gesetzt, siehe dazu Wistrich 1999, 257–283. 15 So z. B. Linzer Fliegende Blätter, 27.2.1910, 3. Als absurdes Beispiel soll hier der Fall von Salomon Benesch dienen, dem publizitätswirksam Leichenschändung vorgeworfen wurde  : Er hätte ein nicht bezahltes Kleidungsstück einer Leiche ausgezogen, um es dann noch einmal verkaufen zu können. Die Verbreitung dieser »Vorwürfe« wurde schließlich als Ehrenbeleidigung mit juristischen Mitteln bekämpft. Auch mehrere Verhandlungen im Streit um »Judenmarken« brachten eine Verurteilung der

Antisemitismus im Oberösterreich der Zwischenkriegszeit

Die jüdische Bevölkerung in Oberösterreich gehörte bis in die Zwischenkriegszeit zu einem großen Prozentsatz dem gewerblichen Mittelstand an. Es vermag somit nicht zu überraschen, dass der Antisemitismus dieser Zeit neben religiösen Motiven auch auf wirtschaftliche zurückgriff. Gewinn- und Habsucht wurden zum standardisierten Vorwurf in judenfeindlichen Artikeln, so etwa in der »Oberösterreichischen Bürger- und Bauernzeitung«, die sich schließlich sogar in »Die Judenfrage«16 umbenannte. In den Medien inszenierte Verleumdungskampagnen sollten vornehmlich jüdische Geschäftsleute empfindlich treffen.17 Der sich nun immer stärker ausbreitende Antisemitismus setzte allerdings auch bisher liberale Vereine unter Druck, einen »Arierparagraphen« einzuführen. Die Folge war eine schleichende Verdrängung von Jüdinnen und Juden aus vielen Ebenen des öffentlichen Lebens.18 Um sich zu schützen, bildeten diese schon vor dem Ersten Weltkrieg eine abgesonderte Gemeinschaft, die auch im Alltag zumeist unter sich blieb. Vor allem aber die jüdischen Wirtschaftsbürger bemühten sich (bis 1938) dennoch nachhaltig um Integration und Assimilation und traten auch innerhalb der jüdischen Gemeinde dafür ein. Die antijüdische Stimmung blieb während des Ersten Weltkrieges schließlich ungebrochen und wurde durch dessen Auswirkungen sogar noch verstärkt. So kamen bis 1918 vor Allem aus Galizien und der Bukowina 7.763 Juden nach Oberösterreich,19 die nicht nur in den Städten, sondern auch in kleinen Dörfern auf dem Land untergebracht wurden,20 wodurch dem Antisemitismus auf dem Land weiter Vorschub geleistet wurde.21 Die judenfeindliche Propaganda wandte sich bald ebenfalls diesen »Ostjuden« zu, wurden sie doch als »Wirtschaftsschädlinge« abgestempelt,22 und selbst innerhalb der jüdischen Gemeinden,23 die sich zuerst für die Flüchtlinge Zeitschrift wegen »unbefugter Colportage«, wobei deren Vertreter im Gegenzug dem zuständigen k. k. Staatsanwalt vorwarfen, zu sehr für die Juden eingetreten zu sein. 16 Die »Oberösterreichische Bürger- und Bauernzeitung« erschien in Linz monatlich zwei Mal. Ab 1.5.1881 nannte sie sich »Tagwerker«, ab April 1882 erschien sie in Steyr als »Die Judenfrage«. Antiliberale Artikel wurden in der Folge zumindest zum Teil konfisziert, so z. B. Die Judenfrage, 15.8.1882, 4  ; 15.10.1883, 4. 17 Dem »Linzer Volksblatt« wird in den »Linzer fliegende Blättern« vom 27.10.1910, 1, beispielsweise vorgehalten, so große Abneigung gegen die oberösterreichischen Brauereien zu empfinden, dass man sogar jüdisches Bier empfehlen würde. 18 Tweraser 2010, 117f. 19 R apberger 2013, 53. 20 Siehe dazu z. B. die Tabelle für Steyr in Neuhauser-Pfeiffer/R amsmaier 1993, 61. 21 R apberger 2013, 53  ; Schwager 1971, 58. 22 Wagner 2008, 392. 23 Die beiden Kultusgemeinden in Linz und Steyr bestanden weiter. Der Unterschied in der Anzahl der Mitglieder manifestierte sich nicht zuletzt auch im Budget. Die Kultusgemeinde in Linz hatte für das

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engagierten,24 kam es zu Spannungen zwischen den Alteingesessenen und den nun Zuwandernden. Erst in den frühen 1920er Jahren hatten sich die Neuankömmlinge angepasst, oder aber sie waren aufgrund von Streitigkeiten wie auch aus profanen Gründen (so etwa der Wohnungsnot in Linz nach dem Ende des Krieges) zumeist nach Wien weitergezogen.

Antisemitismus im Alltag, in Politik und Kirche Auch in der Zwischenkriegszeit war der Antisemitismus im nunmehrigen Land Oberösterreich weiterhin wirtschaftlich bestimmt,25 was nicht zuletzt dazu führte, dass die latente antijüdische Stimmung gerade in Krisenzeiten stärker hervortrat.26 In diesem Sinn waren es besonders die Stereotype von den reichen, unehrlichen Juden, die den redlich arbeitenden, armen Einheimischen gegenüberstünden, die immer wieder bemüht wurden.27 Für die Jahre nach 1918 lassen sich schließlich einige Beispiele finden, die zeigen, dass der Antisemitismus wieder in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung rücken sollte. So verstärkte etwa der deutsch-österreichische Antisemitenbund sein Werben.28 Der Landbund-Abgeordnete Maximilian Pauly stellte sogar den Antrag, einen »Arierpragraphen« im Schulgesetz einzuführen. Das »Linzer Volksblatt« unterstützte diesen Vorstoß, da man ja keinesfalls »den Lehrerstand verjuden«29 wolle. Wie schon Ende des 19.  Jahrhunderts folgten diesem Beispiel auch nun wieder diJahr 1923 ein Etat von 30.000 Schilling, derjenigen in Steyr dagegen stand lediglich die Summe von 3.315 Schilling zur Verfügung. 24 Am 10.7.1916 wurde etwa das jüdische Landeshilfskomitee zur Unterstützung der jüdischen Flüchtlinge aus dem Osten gegründet. 25 Moser 1982, 264f. 26 Notgeld aus der Zeit nach dem Krieg war beispielsweise mit dem Hinweis versehen, dass die Juden an dieser Entwicklung Schuld trugen, vgl. Slapnicka 1974, 266. 27 Wagner 2008, 314. Zur judenfeindlichen Einstellung nach dem Krieg etwa Archiv der Stadt Linz (AStL StL), Materienbestand, Materie 11, Heimatrechtsakten, Sch. 68, 1918–1923, der Amtsleiter des Stadtbauamtes (Wohnungsamt), 16.2.1923  : Einem Juden sollte die Staatsbürgerschaft nur verliehen werden, wenn er sich verpflichtete, auf die Zuweisung einer Wohnung innerhalb der ersten fünf Jahre zu verzichten, da es »derartigen kapitalkräftigen Personen durch finanzielle Opfer leicht möglich ist, zum Nachteil der bodenständigen erwerbstätigen Bevölkerung Wohnungen zu erhalten bzw. die Ausstellung von Mietverträgen zu erkaufen«. 28 So z. B. Marktarchiv Weyer a. d. Enns, Nachlass Lothar Russegger, Spendenquittung deutsch-österreichischer Antisemitenbund. Auf der Quittung aus dem Jahr 1920 findet sich bereits das Hakenkreuz, vgl. Benz 2012, 33f. 29 Linzer Volksblatt, 21.7.1921, 1f.

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verse Vereine, so etwa im Jahr 1922 der Steyrer »Alpenverein«. Besonders aber in regionalen Medien wurden immer häufiger antijüdische Positionen vertreten.30 So berichtete beispielsweise das sozialdemokratische »Tagblatt« im Jahr 1921 über eine geplante Demonstration von Nationalsozialisten gegen jüdische Sommerfrischler in Eferding.31 Selbst die dortigen Sozialdemokraten sprachen sich gegen die Anwesenheit von reichen Fremden in ihrem Ort aus, dies allerdings unabhängig von jedweder Konfession und vielmehr bezogen auf die Tatsache, dass diese aufgrund ihres Vermögens bereit wären, für Unterkunft und Kost sprichwörtlich jeden Preis zu bezahlen. Der Aufenthalt für Juden wurde schließlich auf 24 Stunden beschränkt.32 Ähnlich weigerten sich auch Hinterstoder, Grein und Mondsee, Juden als Sommergäste aufzunehmen. Auf Beschwerde der »Österreichisch-Israelitischen Union«, die nach dem Ersten Weltkrieg ihren Namen in »Union deutsch-österreichischer Juden« geändert hatte, untersagte jedoch die oberösterreichische Landesregierung die Durchführung solcher durch Gemeinderatsbeschlüsse gefassten Entscheidungen.33 Hatten die Juden bereits in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg eine separate Gruppe gebildet, so verstärkte sich das in diesen Jahren hin zu einer gewollten Absonderung. Das jüdische Selbstbewusstsein und besonders das Vereinswesen erhielten zeitgleich aber großen Auftrieb, der sich etwa in einer jüdischen Jugendbewegung mit zum Teil auch zionistischen Ideen manifestierte.34 Bevor im Mai 1919 die ersten Gemeinderatswahlen stattfinden sollte, hatten in Linz unter anderem antisemitische Flugschriften, die anonym versendet worden waren, für Aufsehen gesorgt. Die Linzer Juden erkannten schließlich nur in der Sozialdemokratie und ihrem Wahlprogramm keine antisemitischen Inhalte, sodass die oberösterreichischen Juden schließlich dort ihre politische Heimat fanden. Auf der Kandidatenliste für Linz fanden sich schließlich auch drei Männer mosaischen Glaubens.35 Die Christlichsozialen nahmen das zum Anlass, um im Wahlkampf die Sozialdemokraten als »Judenschutztruppe« zu verunglimpfen.36 30 So z. B. antisemitische Parolen in der »Welser Zeitung« und im »Welser Anzeiger«. 31 Im »Tagblatt« vom 15.7.1921, 4f., wird eindeutig gegen diese rassisch bedingte Unterscheidung Stellung genommen. Als Grund für die Demonstration wird einzig und allein Judenfeindlichkeit angeführt, was allerdings »lächerlich« wäre, »da doch die eigentlichen großen Führer der Nationalsozialisten von jüdischen Hintermännern geführt werden.« Es folgt ein Angriff auf die deutschnationalen Parteien, denn erst durch deren Mithilfe wären die Juden so »groß« geworden. 32 Wiener Morgenzeitung, 26.7.1921, 4f. 33 Hirschfeld 1937, 99f. 34 Kurrein 1927, 60. 35 In der Landespolitik dagegen sucht man vergebens nach jüdischen Politikern, was aber wohl hauptsächlich auf die geringe Gesamtzahl oberösterreichischer Juden zurückzuführen ist. 36 Wagner 2008, 386.

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Die Gemeinderatswahlen in der Landeshauptstadt brachten der Sozialdemokratischen Partei mit 55,3 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit, wobei jedoch auch dieser Wahlerfolg nicht über die antijüdische Stimmung in der Bevölkerung hinwegtäuschen konnte.37 Noch im Sommer des gleichen Jahres sah sich die Kultusgemeinde nämlich etwa durch Schmierereien auf Mauern, Hetzartikel in Zeitungen wie auf Plakaten bzw. Stimmungsmache im Rahmen von Feierlichkeiten38 dazu veranlasst, Abordnungen zur Landesregierung und zum Bürgermeister zu schicken, die hier Abhilfe schaffen sollten. Der offene politische Antisemitismus konnte bis in die 1930er Jahre nicht zuletzt durch das Streben von Landeshauptmann Johann Nepomuk Hausers und auch seines Nachfolgers, Josef Schlegel, in Zaum gehalten werden. In einem Leitartikel im »Linzer Tagblatt« mit dem Titel »Antisemitismus« wurde etwa bestätigt, dass sich weder Hauser noch Schlegel jemals antisemitisch geäußert hätten.39 Dieses Urteil lässt sich jedoch nicht auf ihre Parteifreunde erstrecken. Als sich etwa Hubert Spitz, ein Jude und Bezirksobmann der Sozialdemokraten im Bezirk Linz-Land, bei den Teilnehmern einer Demonstration bedankte, titelte das »Linzer Volksblatt« mit den Worten »Der Jud bedankt sich«.40 Obwohl solche Äußerungen nicht häufig waren, entsprachen sie dennoch dem allgemeinen, aggressiven Tonfall der politischen Landschaft dieser Zeit,41 dessen sich mehr oder weniger alle Parteien bedienten. Selbst Sozialdemokraten wie etwa Franz Resch als Linzer Stadtrat oder Landeshauptmann-Stellvertreter Josef Gruber polemisierten auf diese Weise im Rahmen öffentlicher Auftritte.42 Stark antijüdisch traten schließlich die Großdeutsche Volkspartei und der Landbund,43 später auch die Heimwehren – in Oberösterreich besonders ge37 Ein Beispiel war die Weigerung, Wohnungen an Juden zu vermieten, vgl. Wagner 2008, 344. Ähnlich auch die Ausschreibung zur Neuvermietung der Haunoldsegger-Kaserne in Wels im Jahr 1919. Diese wurde in der Welser Zeitung für »deutsch-arische« Bewerber ausgeschrieben. Infolgedessen wurde auch das Anbot einer Wiener Firma abgelehnt, da es sich dabei um eine »Judenfirma« gehandelt hätte, K alliauer 2008, 57f. Dieser alltägliche Antisemitismus scheint sich allerdings primär auf Mitglieder der jüdischen Gemeinde erstreckt zu haben. Ernst Koref etwa, dessen Vater Jude war, machte Antisemitismus, dem er selbst begegnete, zumindest in seiner Autobiographie nie zum Thema, Koref 1980. 38 So z. B. bei der Sonnwendfeier. 39 Vgl. Slapnicka 1974, 265. 40 Linzer Volksblatt, 21.7.1921, 1f. Die Demonstration hatte sich gegen den Pfarrer von Ebelsberg gerichtet, Tagblatt, 19.7.1921, 4–5, das Linzer Volksblatt dagegen stand dem Katholischen Volksverein nahe. 41 Siehe etwa auch im Streit zwischen Sozialdemokratie und Kirche, Slapnicka 1974, 265. 42 Wagner 2008, 393. 43 Hänisch 1998, 60.

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prägt durch die Person Ernst Rüdiger von Starhembergs – nach außen auf. Starhemberg selbst bekundete in den Wahlkampfreden seine nationale, antimarxistische Einstellung, die ihm bei weiten Schichten der Bevölkerung große Popularität sicherte.44

Abb.: Datenblatt Ernst Koref.

44 Am 25.3.1930 meinte er  : »Das Endziel unserer Bewegung ist, einen freien Volksstaat zu schaffen, in dem jeder Volksgenosse das Recht auf Arbeit und Brot hat. Unter Volksgenossen meine ich jene, die die Rasseninstinkte der Deutschen haben, in deren Adern deutsches Blut fließt. Mit dem Volk meine ich nicht jene fremden, plattfüßigen Parasiten aus dem Osten, die uns ausbeuten. Wir wollen den deutschen Volksstaat auf christlicher Grundlage«, vgl. dazu Langoth 1951, 86. Die Aussagen Starhembergs erschienen ansonsten gemäßigter, besonders wenn er mit der ausländischen Presse sprach. Er betrieb also Effekthascherei, siehe dazu Pauley 1998, 226f  : Er durfte die »jüdischen Financiers der Heimwehren« nicht vergrämen. Die Form des Antisemitismus trennte jedenfalls die Heimwehren von der NSDAP. Die Heimwehren waren von diesem inneren Konflikt, zwischen jüdischen und antisemitischen Mitgliedern bzw teilweise auch Anführern, geprägt, vgl. Wiltschegg 1984, 264f. Davon zeugen etwa auch die Karteikarten des »Heimwehr-Geheimdienstes« rund um den Landesstabsleiter Friedrich Mayer. Man bediente sich des Vorurteils Jude – Kommunist – Sozialdemokrat und nahm gängige Stereotype des zeitgenössischen Antisemitismus auf. So wurde Ernst Koref beispielsweise nur kurz als »jüdischer Typ« beschrieben.

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Insgesamt zeichnete sich die oberösterreichische Landespolitik bis ins Jahr 1934 jedoch durch ein Klima der Zusammenarbeit zwischen den Parteien aus, das nicht nur entscheidend dazu beitrug, gewalttätige Zusammenstöße der bewaffneten Wehrverbände auf den Straßen zu verhindern, sondern sich auch auf die Juden erstreckte. Ein Beleg für Toleranz und Zusammenarbeit war etwa die Verleihung des Silbernen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik an den Präsidenten der israelitischen Kultusgemeinde in Linz, Benedikt Schwager, im Jahr 1928. Bis Ende der 1920er Jahre erschien für Oberösterreich auch das Verhältnis der Religionen zueinander, der Kultusgemeinde zur katholischen und evangelischen Kirche, relativ unbelastet. Das zeigte sich nicht zuletzt daran zeigt, dass bis 1928 rund 35  Prozent aller Eheschließungen mit jüdischer Beteiligung sogenannte Mischehen waren.45 Nach dem Börsenkrach 1929 kam es jedoch zu einem signifikanten Anstieg des wirtschaftlichen wie auch des religiös motivierten Antisemitismus.46 Dabei taten sich in Oberösterreich zunächst besonders Exponenten der evangelischen Kirche hervor. National gesinnte Geistliche gaben in ihren Predigten von den Kanzeln herab den Juden die Schuld an der wirtschaftlichen Misere der ausgehenden 1920er Jahre. Sie stammten oft aus dem nahen Deutschen Reich oder aus den ehemaligen Grenzgebieten der Habsburgermonarchie und hatten deutschradikale Ansichten mit in ihre neuen Gemeinden gebracht.47 Das wohl bekannteste Gesicht des evangelischen Antisemitismus in Oberösterreich war Pfarrer Gerhard Fischer aus Thening. Er nutzte die Festschrift zum 150-Jahre-Jubiläum seiner Gemeinde, um mittels antisemitisch und nationalsozialistisch durchsetzter Terminologie48 das »allermeist jüdische Weltgroßkapital« anzuprangern, das er für die steigende Arbeitslosigkeit verantwortlich machte. Fischer galt als Anhänger der rassistischen, antisemitischen und am Führerprinzip orientierten »Deutschen Christen« rund um Reichsbischof Ludwig Müller.

45 John 1992, 120. Siehe etwa als Beispiele Dr. Eugen Fernau aus Vöcklabruck, Zellinger 2006, 157f., oder aber bereits für Ende des 19. Jahrhunderts die Eltern von Ernst Koref, Koref 1980, 11. Korefs Vater, der jüdischer Abstammung war, hätte seine Mutter, eine Christin, nach christlichem Ritus geheiratet. 46 Moser 1982, 264f. 47 Als Gegenbeispiel soll hier Pfarrer Hellmuth Bergmann aus Hallstatt angeführt werden, der mit einer Jüdin verheiratet war. 48 Fischer 1933, 22f.: »Die Einigungsbewegung im Deutschen Reich, die die Rettung vom Bolschewismus brachte, ist, bei allen Fehlern, die jedem menschlichen, vor staatlichen Geschehen anhaften, von einer kraftvollen sittlich-religiösen Erneuerungsbewegung begleitet, die im Willen des Führers wurzelt.«

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Die 1930er Jahre Aufsehen erregte schließlich der im Jänner 1933 verfasste Hirtenbrief des Linzer Bischofs Johannes Gföllner, in dem dieser zwar den Nationalsozialismus als mit dem Christentum unvereinbar darstellte, gleichzeitig aber zu der Aussage kam, dass ein geistiger und ethischer Antisemitismus durchaus vertreten werden sollte. Der »zersetzende jüdische Einfluss auf das Wirtschafts- und Geistesleben«, schon im »Linzer Programm« der »Christlichen Arbeiter Österreichs« im Jahr 1923 thematisiert, spiegelte sich auch bei Gföllner wieder.49 Nicht zuletzt findet man eine vergleichbare Botschaft auch im katholischen »Linzer Volksblatt«  : »Nach katholischer Auffassung und Lehre gibt es nur eine einzige wirkliche endgültige Lösung der Judenfrage, das ist ihre Bekehrung zu Christus«.50 Die verschärfte Tonart überrascht angesichts des nach außen hin guten Einvernehmens der Religionen,51 war aber wohl nicht zuletzt auf die inzwischen wieder stärkere Stellung der katholischen Kirche zurückzuführen. Antisemitismus in Oberösterreich sollte schließlich auch in den 1930er Jahren vor allem ein regionales Phänomen bleiben.52 Besonders in einigen ländlichen Bezirken und Gemeinden spielte das sogenannte »Judenproblem« bis 1938 weiterhin keine Rolle.53 Während in anderen Bundesländern etwa Hochschulen zu Hochburgen des Antisemitismus wurden, stellte auch dieser spezielle Aspekt für Oberösterreich kein Problem dar.54 Selbst in den Städten, in denen die jüdischen Gemeinden sichtbar in Erscheinung traten, präsentierte sich die Situation durchwegs unterschiedlich. Für 49 Später wurde Gföllner für diese Aussagen als Hauptwortführer des Antisemitismus bezeichnet, der dadurch geholfen hätte, den Untergang der Juden vorzubereiten, Deutsche Rundschau, Baden-Baden, 87 (April 1961). 50 Linzer Volksblatt, 19.4.1934, 1  : Im bezeichneten Artikel unter der Überschrift »Der Zionismus« wurde zuerst den Zionisten Sympathie entgegengebracht – sie wären ja für Auswanderung und gleichzeitig gegen den Marxismus. Gleichzeitig wird diese Bewegung jedoch auch nicht als Allheilmittel gesehen, denn schließlich würden die mächtigen jüdischen Geschäftsleute mit Sicherheit nicht auswandern, wodurch ein »gesunder Antisemitismus« gegen diese rechtfertigt wäre. Auch das Problem der heiligen christlichen Stätten in Jerusalem, die nicht von den Juden kontrolliert werden sollten, wurde in diesem Zusammenhang andiskutiert. Die einzige Lösung würde daher in der Bekehrung der Juden zum Christentum bestehen. 51 Der jüdische Friedhof in Linz, der 1863 errichtet worden war, lag gleich neben dem katholischen Barbarafriedhof. Noch 1937 dachten die Linzer Juden daran, ihren Friedhof zu vergrößern und brachten dabei das gute nachbarschaftliche Verhältnis zur katholischen Glaubensgemeinde zum Ausdruck. 52 Gold 1971, 57. 53 Das bestätigt etwa ein Lagebericht der Bezirkshauptmannschaft Kirchdorf an der Krems an die Gestapo Linz, 27.9.1938  ; Oberösterreichisches Landesarchiv (OÖLA), Polit. Akten, Sch. 13  ; DÖW E 17.846. 54 Die JKU (Johannes Kepler Universität) in Linz wurde erst 1966 gegründet.

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Steyr etwa sprechen die Quellen dafür, dass die Mitglieder der dortigen Judengemeinde bis 1938 kaum mit offenem Antisemitismus konfrontiert wurden.55 Das erscheint umso bemerkenswerter, als Steyr von der Wirtschaftskrise besonders hart getroffen wurde und etwa noch 1936 5.439 von 22.000 EinwohnerInnen arbeitslos waren. Trotzdem kam es vor 1938 nur vereinzelt zu antisemitischen Anfeindungen. Die dortigen Juden waren in der Gesellschaft voll integriert, besonders etwa jüdische Rechtsanwälte genossen einen guten Ruf. Konkurrenzkämpfe mit Christen waren somit zumindest nach außen hin rein wirtschaftlicher Natur. Das änderte sich jedoch bereits vor dem Einmarsch, als Nationalsozialisten damit begannen, mit gezielten Provokationen und Propaganda gegen die Juden zu hetzen. Im Gegensatz dazu hatte die Linzer Gemeinde häufiger mit Antisemitismus zu kämpfen. Der vielleicht bekannteste Vorfall dieser Jahre, im Rahmen der Schwimmmeisterschaften 1931 in Linz,56 erscheint allerdings nicht als hausgemachtes Problem, sondern vielmehr als »importiertes«. Die Erfolge der jüdischen Schwimmerinnen und Schwimmer des Hakoah Sportverbandes waren zu diesem Zeitpunkt vielen (vor allem Wiener) Antisemiten ein Dorn im Auge. So konnten diese durchsetzen, dass die Schwimmmeisterschaften örtlich nach Linz verlegt wurden. Das Bad in Linz war jedoch ungeeignet für Meisterschaften und das Publikumsinteresse gering. Beides konnte den Erfolg der jüdischen Sportlerinnen und Sportler aber nicht verhindern. Nachdem bereits das am Ende der Bewerbe angesetzte Propaganda-Wasserballspiel aufgrund antisemitisch begründeter Verweigerung nicht stattfinden konnte, kam es nach dem Meeting zu Ausschreitungen, wobei weder die Wiener noch die Linzer Funktionäre einschritten. Auch einen Überfall auf dem Weg zum Bahnhof mussten die jüdischen Athletinnen und Athleten eigenständig abwehren, da die Polizei erst unmittelbar vor Abfahrt des Zuges eintraf. Dieser Vorfall, der gerade hinsichtlich des verzögerten Eingreifens der Sicherheitskräfte Raum für Spekulationen lässt, soll nun zum Anlass genommen werden, einen kurzen Blick auf Antisemitismus innerhalb der oberösterreichischen Sicherheitsbehörden zu werfen. Um 1931 waren diese in Linz christlichsozial geprägt. Offene antisemitische Strömungen sind jedoch bis zu diesem Zeitpunkt und auch in den folgenden Jahren innerhalb von Polizei wie Gendarmerie nicht nachzuweisen. Ein weiterer Vorfall, dokumentiert im »Linzer Tagblatt«,57 legte jedoch zumindest entsprechend 55 Steyrer Zeitung 114 (1989), Nr. 45. Das lässt sich aber wohl auch auf die geringe Größe der dortigen Gemeinde zurückführen  : Die Volkszählung des Jahres 1923 erfasste in Steyr lediglich 82 Menschen mosaischen Glaubens. 56 Vgl. dazu Baar 1959, 111f. 57 Tagblatt, 18.9.1931, 7.

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der medialen Berichterstattung Sympathien einiger Behördenvertreter für die NSDAP offen. Anlässlich des Strafprozesses gegen einen Juden, Ernst Samuely, kam es (provoziert von Nationalsozialisten und anlässlich einer Kommunistenversammlung) zu einer Saalschlacht, wobei Versammlungsteilnehmer und zwei Kriminalbeamte verletzt wurden. Die Polizei nahm daraufhin aber angeblich nur Kommunisten und Sozialdemokraten fest, jedoch keine Nationalsozialisten. Noch im selben Jahr wurden allen Polizeibeamten mittels Runderlass (und noch einmal am 8. März 1933 mittels Tagesbefehl) politisches Engagement und außerdienstliche parteipolitische Betätigungen untersagt.58 Die Einhaltung der entsprechenden Befehle wurde spätestens nach den Ereignissen des Februar 1934 verstärkt disziplinarrechtlich verfolgt. Richtete sich das zuerst gegen Sozialdemokraten, so ist ab Mitte Juli 1934 schließlich auch ein Anstieg der Verfahren gegen Nationalsozialisten festzustellen. Damit wollte man auf die zunehmende Gewalt reagieren und offenen Sympathien innerhalb der Exekutive entgegentreten. Bis 1938 stieg die Zahl der Sicherheitsbeamten, die der NSDAP nahestanden, jedoch stetig an.59 Die Gendarmerie war damit aber wohl ein Abbild der zerrissenen Gesellschaft. Auch in der Politik wurde die antisemitische Rhetorik nun schärfer. Der Heimatblock ging 1931 mit der Vorgabe in die oberösterreichischen Landtagswahlen, einen »Zusammenschluss aller deutschen Stämme zu einem deutschen Reich für ein religiöses Christentum« zu erreichen. Ein weiterer Punkt war die Schaffung des Begriffes »Volksbürger« statt dem bisherigen Staatsbürger. Nur wer »arischer« Abstammung wäre und sich zum deutschen Volkstum bekennen würde, sollte dementsprechend auch staatliche Ämter und politische Funktionen bekleiden können.60 Starhemberg trat im Wahlkampf außerdem für ein »Verhältnis« zwischen Heimatschutz und NSDAP ein, das gegenseitige Angriffe ausschließen und einen »Burgfrieden« bedeuten sollte.61 Diesen antisemitischen Tönen folgten jedoch keine konkreten Forde-

58 Winkler 1983, 146–152. 59 Die Zahl der illegalen Nationalsozialisten innerhalb der Gendarmerie erscheint jedoch trotzdem oder gerade wegen dieser Regelungen unerwartet hoch. So fanden sich z. B. innerhalb der Salzburger Gendarmerie im Jahr 1938 52 illegale Nationalsozialisten, damit 12 Prozent der Gesamtzahl, vgl. Fuchs 2006, 127f. Es bleibt zu sagen, dass Antisemitismus innerhalb der Sicherheitsbehörden nicht nur für Oberösterreich einer umfassenden Aufarbeitung bedarf. 60 Abgedruckt in  : Jahrbuch der österreichischen Arbeiterbewegung 1931, 37. 61 Neuigkeits-Weltblatt, 6.11.1931, 2. Bernaschek wies in einer Rede in Steyr am 10.5.1932 auf die Nähe Starhembergs zur NSDAP und die Gefährlichkeit dieser Partei hin, vgl. den Bericht Bundes-Polizeikommissariat Steyr (Zl. Ver. 464/32), 11.5.1932, DÖW 12.202. Starhemberg wollte auf diese Weise aber wohl vor allem den Wählerabfluss hin zur NSDAP unterbinden. Seine Wortexzesse gegen jüdische sozialdemokratische Politiker bestätigt auch Koref 1980, 149.

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rungen. Manche Teilorganisationen des Heimatschutzes, so z. B. in der Steiermark, waren daher mit Sicherheit weit radikaler als diejenige in Oberösterreich.62 Zwischen 1934 und 1938 fiel die geschickte nationalsozialistische und antisemitische Propaganda, die sich nach den Ereignissen in Folge des 12. Februar 1934, der Auflösung des Schutzbundes und der Sozialdemokratischen Partei, weiter verstärkt hatte, auch bei den Arbeitern auf fruchtbaren Boden. Wie schon in den Jahren davor war sie besonders gegen die jüdische Führung der Sozialdemokratie gerichtet,63 nun allerdings auch versetzt mit antiklerikalen Elementen. Die Landespartei- und Schutzbundleitung in Oberösterreich wurde von der Wiener Zentrale schon in den Jahren um 1930 immer wieder als radikal und nur allzu kampfbereit gesehen.64 In Linz dagegen hatten sich bereits seit dem Jahr 1927 und den Ereignissen nach dem Justizpalastbrand immer stärker auch antisemitische Misstöne geregt, besonders gegen die jüdische Parteiführung in Wien.65 Wie in der Miszelle »Die rote Firma zieht nicht mehr« in der konservativ-nationalen »Neuen Warte am Inn«66 dargestellt, wurde die Kluft zwischen den einfachen, notleidenden Arbeitern und ihren »besitzenden Führern« zunehmend erkennbar. Schon vor dem Bürgerkrieg verloren die Sozialdemokraten ständig Mitglieder an die NSDAP.67 Bis 1934 wurden die Schutzbundmitglieder und auch die Landespartei immer stärker radikalisiert, das Zeichen zum Losschlagen, das viele erwarteten, blieb jedoch aus. Auch die Reaktion oder besser Nichtreaktion der jüdischen Parteiführung auf den Pfrimer-Putsch und die Freisprüche für die Beteiligten löste bei der Arbeiterschaft Erstaunen aus. Von 1. Januar bis 4. Februar 1934 fanden in Oberösterreich 45 Versammlungen des Republikanischen Schutzbundes statt. Richard Bernaschek bestätigte in einem Bericht vom 5.  Februar 1934, dass die latente antisemitische Einstellung mit der Untätigkeit der jüdischen Parteispitze und damit der Partei in den vergangenen zehn Monaten zusammenhängen würde.68 Nach den Februarkämpfen festgenommene Schutzbündler sagten schließlich aus, viele Mitglieder hätten erklärt, »daß sie sich den Kommunisten anschließen werden und auch antisemitische Gedankengänge hät62 Vgl. dazu Königseder 2014, 63. 63 »Marxistische Juden haben euch um den Sozialismus betrogen«, vgl. Slapnicka 1975, 178f. 64 Körner versuchte bereits im Jahr 1933, Richard Bernaschek zu bremsen, DÖW 12057. Erfahrungen aus der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, der Zeit der Soldaten- und Arbeiterräte, prägten die Denkweise und auch die Einschätzungen dieses Zirkels bis in die 1930er-Jahre  ; zum Schutzbund in Oberösterreich siehe Ebner 2015. 65 Auch bei Richard Bernaschek fand sich antisemitisches Gedankengut, vgl. dazu Bunzl 1977. 66 Neue Warte am Inn, 11.1.1934, 1. 67 So z. B. Bericht der Kriminalabteilung Steyr, 21.4.1934 (Zl. Rh 864/34), DÖW 12.202. 68 Pauley 1998, 197. Selbst nach dem Bürgerkrieg wurde immer wieder der Vorwurf laut, Julius Deutsch und Otto Bauer hätten die Revolution erst gepredigt und dann im Stich gelassen.

Antisemitismus im Oberösterreich der Zwischenkriegszeit

ten bereits den Weg in die Reihen der Genossen gefunden.«69 Als Richard Bernaschek nach seiner geglückten Flucht aus dem Gefängnis in Moskau Pläne zur Wiederbelebung und Neuaufstellung der sozialdemokratischen Partei erstellte und als Parteiideologe zuerst Oskar Pollak vorgeschlagen wurde, soll er das laut Augenzeugenbericht mit dem Hinweis »Das ist ja auch wieder ein Jude, den kann man nicht nehmen  !«70 sofort abgelehnt haben. Nach den erfolglosen Kämpfen sollte bei vielen Sozialdemokraten das Gefühl des Im-Stich-gelassen-Werdens in Verbitterung umschlagen. Diejenigen, die in den darauffolgenden Jahren zu den Nationalsozialisten überwechselten, taten dies jedoch überwiegend nicht etwa aus antisemitischen Beweggründen, vielmehr war es dagegen z. B. die Hoffnung, den Kampf gegen den ideologischen Feind, die Heimwehren, auf diese Weise weiterführen zu können.71 In Oberösterreich galten Linz, Wels72 und das Innviertel in den 1930er Jahren als Bastionen der Nationalsozialisten. Deren in Linz produziertes Blatt, der »Österreichische Beobachter«, war voll antijüdischer Propaganda. Seit dem Juliabkommen 1936 wurden zunehmend Hetzkampagnen vor allem gegen jüdische Geschäftsleute unternommen. Die Gefährdung erschien so gegenwärtig, dass der Sicherheitsdirektor die Notwendigkeit sah, in einem Schreiben an Bezirkshauptmannschaften, Gendarmerie und Polizei vor möglichen nationalsozialistischen Aktionen gegen jüdische Geschäfte zu warnen.73 Im November 1937 begann der »Österreichische Beobachter« mit einem »Judenpranger«, wobei die Namen der Personen, die in jüdischen Geschäften einkauften, angeführt wurden. Auch in anderen Bereichen des täglichen Lebens hielt nun unter zunehmendem medialem Druck der offene Antisemitismus Einzug  : Der Direktor des Linzer Landestheaters etwa klagte, dass es ihm zunehmend unmöglich gemacht wurde, jüdische Schauspieler zu engagieren.74 Um so gut es ging unbehelligt zu bleiben und keine Kunden zu verlieren, assimilierten sich manche Familien (wie bereits bisher auch weiter) so sehr, dass sie es etwa vermieden, ihren Glauben nach außen zu tragen. Von manchen Linzer Geschäftsleuten wussten ihre Kunden bis 1938 nicht, dass sie mosaischen Glaubens waren.75 69 Tages-Post, 2.7.1934, 1  ; Slapnicka 1974, 265. 70 Slapnicka 1974, 265. 71 Ebner 2015, 53. 72 Nach 1933 wurden auch in Wels Juden vermehrt Opfer aggressiver Aktionen, vgl. dazu K alliauer 2008. 73 OÖLA, Polit. Akten, Judenstatistik 680/18, SD.Zl.13/000/1/A – 1937/Pol., Schreiben, 7.12.1937. 74 OÖLA, Landestheater, Kt. 2  : Arbeitsgemeinschaft (A–Z) u. Allgem. Korrespondenz (Rundschreiben und Anschläge) (= AG), Ordner-9, 1948/49  ; OÖLA, Personalakten, Kt. 20, Akt 345, Brantner Ignaz. 75 Wagner 2008, 87.

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Aber auch die jüdische Gemeinde als solche setzte auf ein Einvernehmen mit dem »Ständestaat«. So wurde etwa am 29. Juli 1934 im jüdischen Tempel in Linz ein Trauergottesdienst für Dr. Engelbert Dollfuß abgehalten. In den folgenden Jahren sollte sich die Stimmung schrittweise verschlechtern. Wie Karl Schwager, der Präsident der Linzer Kultusgemeinde, hielten wohl viele Juden die Ereignisse der Jahre bis 1937 zwar für bedenklich, man schenkte allerdings den offiziellen Beteuerungen der Regierung Glauben, dass diese die Existenz der jüdischen Gemeinden in Österreich schützen würde. Die zunehmende Radikalisierung76 führte aber schließlich dazu, dass 1938 alle Voraussetzungen erfüllt waren, um innerhalb kürzester Zeit auch die oberösterreichischen Jüdinnen und Juden der Verfolgung auszusetzen.

Ein kurzes Resümee Rückblickend muss nun festhalten werden, dass der Antisemitismus im späteren Oberösterreich in der Zeit der Monarchie wohl stärker war als in der Zeit unmittelbar danach.77 Verglichen mit anderen Bundesländern stand das Land in der Zwischenkriegszeit zwar nicht im Fokus des wachsenden Antisemitismus, er war aber dennoch auch hier präsent.78 Antisemitische Misstöne in zahlreichen Medien hetzten bereits in den 1920er Jahren die Bevölkerung gegen die Juden auf, während es den handelnden Personen in der Landesregierung gelang, zumindest den offenen politischen Antisemitismus relativ gesehen unter der Oberfläche zu halten. Die geringe Anzahl von Juden79 lässt auch vermuten, dass der in Oberösterreich tief verankerten Kirchenfrömmigkeit zumindest eine Teilschuld an der antisemitischen Stimmung gegeben werden kann.80 Harry Slapnicka spricht angesichts dieser geringen Größe 76 Spürbar wurde das etwa in den Schulen. Trotz abfälliger Bemerkungen von Lehrern und Mitschülern, Wagner 2008, 91, 345f., kam es weder in Volksschulen noch in Gymnasien zu besonderen antisemitischen Übergriffen, was aber wohl der geringen Anzahl jüdischer Schüler geschuldet war (1938 gab es ca. 30 Schüler jüdischer Konfession in Linzer Haupt- und Volksschulen, die erst im Mai 1938 abgetrennt und in einer eigenen Schule untergebracht wurden). 77 Slapnicka 1978, 178. 78 Schwager 1971, 58. 79 Die im Februar 1923 in Österreich durchgeführte Volkszählung ergab bei 6.534.481 EinwohnerInnen 220.208 Personen mosaischen Glaubens. Oberösterreich hatte zu diesem Zeitpunkt 876.074 EinwohnerInnen, davon waren lediglich 1.320 Juden. Im März 1938 lebten in Oberösterreich nur noch weniger als 800 Juden, und bei der nächsten Volkszählung, am 17. Mai 1939, waren nur mehr 216 übrig, davon nur 92 Glaubensjuden, vgl. Slapnicka 1978, 177. 80 Blaschke 1999, 190.

Antisemitismus im Oberösterreich der Zwischenkriegszeit

der jüdischen Gemeinde auch von einem »von der realen Erfahrung unabhängigen Antisemitismus«.81 Die Maßnahmen im Jahr 1938, die sich gegen die Juden richteten, wurden schließlich aber von der Bevölkerung oft mit Genugtuung aufgenommen,82 besonders in Linz waren antijüdische Maßnahmen in den ersten Wochen der NS-Herrschaft von besonderer Aggressivität geprägt. Die willkürlichen Verhaftungen endeten erst, als Reinhard Heydrich verfügte, dass solche nur mehr mit Genehmigung und durch befugte Personen durchgeführt werden sollten.83 Die Tragik der Juden in Oberösterreich unterschied sich somit (abgesehen vom vielleicht kleineren Kreis der Betroffenen) nicht von der in anderen Bundesländern.84

Abbildung Datenblatt Ernst Koref, Archiv des Traditionsregiments »k. k. Landwehrinfanterieregiment Linz Nr. 2, Archiv LIR 2, Linz  : Nachlass Friedrich Mayer (Heimwehr) C.II.f.1.

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Festspielstadt Salzburg  : weltoffen und antisemitisch

Anno 1933  : Richard Wagners 50. Todesjahr, das auch die österreichische Festspielstadt Salzburg in der Nachbarschaft des Obersalzbergs, der Sommerresidenz des deutschen Reichskanzlers und Wagner-Enthusiasten Hitler zu zelebrieren wusste, wobei die Tiraden des Musikgenies gegen das Judentum nicht der Rede wert zu sein schienen – doch warum  ? Solange Antisemitismus zum guten Ton des Bildungsbürgertums gehörte, blieb auch das gefeierte Idol ohne Makel. Ein Wiener Musikkritiker bemängelte allerdings das Salzburger Festspielhaus, in das Richard Wagner Einzug hielt  : weder Fest noch Bühne.1 Ungeachtet der räumlichen Widrigkeiten dirigierte Bruno Walter, der Deutschland verlassen musste, die Oper »Tristan und Isolde« in vier Festspielsommern. Im Jahr 1936 konnte unter Arturo Toscaninis Zepter ein weiteres Bühnenwerk Wagners in Szene gehen, selbst vom Wiener Musikkritiker Josef Reitler euphorisch bejubelt  : »Mit einer seit Monaten angefachten, ins Ungeheuerliche gewachsenen Spannung erwartet und, da nun der Traum zur Wirklichkeit geworden, mit beispiellosem Enthusiasmus begrüßt, haben unter Toscaninis Führung ›Die Meistersinger von Nürnberg‹ ihren Einzug in das Festspielhaus gehalten.« Zu guter Letzt behauptete Reitler, der Österreich im Gewaltjahr 1938 den Rücken kehren musste, dass Toscaninis Wagner ein großer Abend des Salzburger, des österreichischen Festspielgedankens gewesen sei.2 »Die Meistersinger von Nürnberg« mit ihrer finalen Beschwörung der »deutschen Meister Ehr« standen unter Toscanini letztmalig im August 1937 im Programm, womit sich die Festspielstadt unweit der Grenze zu Deutschland als mondäner Schauplatz des diktatorisch regierten Österreich, als künstlerischer Vorposten eines »besseren Deutschtums« und zugleich als Anti-Bayreuth zu positionieren vermochte.3 Mit dem Ende der Festspiele 1937 begann auf Toscaninis Geheiß der von Clemens Holzmeister geplante Neubau des Bühnentraktes – ein »Protzbau«, der nur dem internationalen, sprich jüdischen Festspielrummel diene, wetterte die nationalsozialis-

1 Holzer 1933, 14. 2 Reitler 1936, 1–3. 3 Salzburger Festspiele 1988  ; vgl. Fuhrich/Prossnitz 1990  ; Steinberg 2000  ; Novak 2005.

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tische Presse, die sich in der Illegalität als Anwalt der kleinen Leute, der Armen, der von den Spielen Ausgegrenzten zu profilieren versuchte.4 Das neue Salzburger Festspielhaus sollte am 23.  Juli 1938 feierlich eröffnet werden – mit dem Dirigenten Toscanini als Leitstern  : hohe Erwartungen, die an die Festspiele geknüpft, aber schon vor der Annexion Österreichs zunichte gemacht wurden. Ursache war das Abkommen vom 12. Februar 1938, Hitlers Diktat in Berchtesgaden, das speziell in der Grenzstadt Salzburg konträre Reaktionen bewirkte  : Bestürzung einerseits und Begeisterung andererseits. Noch im Februar 1938 verließ die jüdische Familie Hirsch ihren exponierten Wohnort – unbemerkt von der Öffentlichkeit. Davon sollte auch die Nachwelt jahrzehntelang nichts erfahren, weil unter dem NS-Regime die Matrikelbücher der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg, wo beispielsweise die Geburt des am 23. Juni 1922 in Salzburg geborenen Emil Hirsch ex lege registriert sein müsste, vernichtet wurde  : keine Namen und keine Daten – somit auch keine Shoah-Opfer  ? Der Jubel über Berchtesgaden hingegen ist gut dokumentiert, nachzulesen im deutschnationalen »Salzburger Volksblatt«, das im Abkommen vom 12. Februar 1938 die Legalität des Nationalsozialismus in Österreich erblickte.5 Wenige Tage danach kommentierte das »Salzburger Volksblatt« die angeblich aus Prag kommende Nachricht, Toscanini habe seine Mitwirkung bei den Salzburger Festspielen abgesagt. Das sei, so das »Salzburger Volksblatt«, eine Falschmeldung der ausländischen Presse, die Deutschland hasse. Toscanini habe nur seine Bedenken gegenüber dem Landeshauptmann geäußert. Der Pressekommentar schließt mit einem bornierten antisemitischen Witz, der die Auslandspresse zum Gespött zu machen hatte.6 Mit Bekanntwerden der »endgültigen Absage« Toscaninis modifizierte das »Salzburger Volksblatt« seine antisemitische Strategie  : Toscanini sei wegen seines Deutschenhasses ohnehin untragbar für die Festspiele gewesen. Außerdem sei mit »Toscaninis Erscheinung die Vorstellung eines gewissen Programmes des Philosemitismus verbunden« gewesen.7 Eine vage pejorative Bemerkung, mit der Toscaninis Vorliebe für Richard Wagner nicht gemeint sein kann. Bei den Festspielen dirigierte er allerdings eine Sinfonie Karl Goldmarks und die Reformationssinfonie von Felix Mendelssohn-Bartholdy – kein Programm, das zu antisemitischen Ergüssen taugt. Die Salzburger Presse zielte im Jahr 1938 vielmehr auf Stigmatisierung des Headliners  : Toscanini sei Freimaurer und Judenfreund. Seine Absage sei ein Boykott der Festspiele.8 4 Österreichischer Beobachter, April und Juni 1937, zit. n. Salzburger Festspiele 1988, 14. 5 Salzburger Volksblatt, 14.2.1938, 1f. 6 Salzburger Volksblatt, 18.2.1938, 5. 7 Salzburger Volksblatt, 4.3.1938, 5f. 8 Ebd.

Festspielstadt Salzburg  : weltoffen und antisemitisch

Toscanini, der 1934 den deutschen Boykott Österreichs durchbrochen hatte, dirigierte erstmals um die Jahreswende 1936/37 und ein weiteres Mal im April 1938 im jüdischen Palästina, Jerusalem und Tel Aviv.9 Seine Tourneen mit dem Palestine Orchestra (seit 1948 Israel Philharmonic Orchestra) entgingen nicht der selektiven Aufmerksamkeit des »Salzburger Volksblattes«, was sich in gezielten Spottversen seines Hauspoeten »Blasi« niederschlägt  : »Wo die Harfe Davids säuselt, donnert fürder dir Applaus. Toscanini, haargekräuselt, endlich fühlst du dich zuhaus.«10 Fünf Jahre zurückgedreht  – 10.  März 1933 im Salzburger Landtag  : Ein Abgeordneter der noch legalen NSDAP, die bei der Landtagswahl am 19. Mai 1932 auf Anhieb sechs Mandate erzielt hatte, klagte über die für einen Christen angeblich unzumutbare Plage im religiösen Zentrum Salzburgs  : »Ich will um elf Uhr in den Dom hineingehen, ich kann es aber nicht, die Tür ist verschlossen. Man kann nur um teures Geld hinein, da wird die Orgel gespielt und ebenso wird innerhalb und außerhalb der Kirche von den Juden Max Reinhardt und Moissi Theater gespielt und da sagen wir Nationalsozialisten, es sollte wieder einmal Jesus Christus kommen, der diese Krämer aus dem Tempel mit der Peitsche hinausjagt  ! Hier wäre die starke Hand der Regierung am Platze.«11 Ein vorgeblich bibelfester Nationalsozialist benutzte die Jesusgeschichte von der Tempelaustreibung zur Aufforderung an die Landesregierung, »die Juden« Max Reinhardt und Alexander Moissi vom Domplatz zu vertreiben – die x-te Wiederholung einer religiös begründeten antisemitischen Aggression während der kurzen Festspielgeschichte. Der Abgeordnete scheint aber 1933 vergessen zu haben, dass seine NSDAP mit ihrer Hetzkampagne gegen »den Juden« Moissi – seine katholische Taufe wird verschwiegen – schon 1931 einen durchschlagenden Erfolg verbuchen konnte, weil dem Aggressor niemand, weder die Direktion der Festspiele noch die Landesregierung, die Stirn zu bieten wagte. Dem Star des Reinhardt-Ensembles nutzte auch die öffentliche Beteuerung seiner Ehefrau nichts, ihr Mann und sie selbst seien »rein arischer Abstammung«.12 Anzunehmen ist, dass die antisemitische Hetze – nach der Redensart »den Sack schlägt man, den Esel meint man«  – insbesondere den Festspielgründer treffen sollte  : Reinhardt, der ebenso wie der mit Moissi in Salzburg befreundete Stefan Zweig zu den Attacken schwieg und sich anscheinend hinter den Kulissen nicht mehr zu behaupten vermochte. Gewiss ist, dass Moissi seine Leibrolle als Jedermann letztmalig im August 1931 spielte und dass diese zentrale Rolle fortan  9 Von der Lühe 1998, 153–190. 10 Blasi 1938, zit. n. Kerschbaumer 1988, 124. 11 Salzburger Landtag, 10.3.1933, zit. n. Fellner 1979, 99. 12 Salzburger Volksblatt, 2.10.1931, 5.

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nur Schauspieler besetzten, die als »Arier« galten – der Anfang vom Ende eines gemeinsamen Projektes von Christen und Juden. Der Festspielbezirk, der sich am Fuße des Mönchsberges wenige hundert Meter entlangzieht, gilt als Augenweide  : die Schaufassade des Doms mit Christus Salvator auf dem Giebel, flankiert von Moses und Elias auf tieferem Niveau, der vor der Fassade als »Jedermann«-Spielstätte dienende Domplatz mit der Mariensäule, seitlich die ehemalige Residenz der Fürsterzbischöfe und das Stift Sankt Peter, sein Benediktinerkloster, seine Kirche und Höfe, Sankt Peter Stiege  5/II als Sitz des »Antisemitenbundes« mit christlichsozialen und nationalsozialistischen Akteuren, angrenzend die fürsterzbischöflichen Stallungen mit dem Festspielhaus und der Felsenreitschule, davor der zu Ehren des Festspielgründers Max Reinhardt im Jubiläumsjahr 1930  – trotz Proteste von antisemitischer Seite – benannte Platz und zur Rechten die Aula Academica der Alten Universität mit ihrer römisch-katholischen Theologie  : eine ideologisch, religiös und emotional hoch aufgeladene Topografie in einer brüchigen Zeit, in der noch verstärkt durch den nahen Obersalzberg der Führer-Mythos wirkte. In der schmalen Bürgerstadt zwischen dem Festspielbezirk und der Salzach existierten bis März 1938 zwei Kaufhäuser mit jüdischen Eigentümern  : Samuel Löbl Schwarz am Alten Markt und Luser Nisson Ornstein in der Getreidegasse. Bis November 1938 wohnte eine jüdische Familie, die Witwe Rifka Grindlinger mit ihren vier Kindern, in der Judengasse, die ihren Namen nach ihren im Spätmittelalter vertriebenen BewohnerInnen und ihrer dort lokalisierten »Judenschul« oder Synagoge erhielt. Bis 1938 logierten wohlhabende jüdische Familien, Rabbiner und Kantoren aber mit Vorliebe unweit der 1901 erbauten Synagoge auf der rechten Seite der Salzach, speziell in den großstädtischen, im Stil der Wiener Ringstraße erbauten Faber- und Hellerhäusern, die schon wegen ihrer Wiener Bauherren im antisemitischen Salzburg als »Judenhäuser« galten. Der Boykott jüdischer Geschäfte im nationalsozialistischen Deutschland – im April 1933 weltweit wahrgenommen – fand im antisemitischen Salzburg seine Zustimmung  : und zwar sowohl bei der deutschnationalen als auch bei der christlichsozialen, von einem Priester geleiteten Presse13  – eine Bedrohung, aber keine Überraschung für die Jahrzehnte in Salzburg lebenden Jüdinnen und Juden inklusive der zu ihrem vermeintlichen Schutz zum christlichen Glauben konvertierten, deren Namen in Listen mit Boykottaufrufen stehen, die der im Sankt-Peter-Bezirk domizilierte »Antisemitenbund« in seiner auf Boykott und Vertreibung zielenden Zeitschrift »Der eiserne Besen« in den 1920er Jahren publizierte  : »Judenlisten«, die vermutlich anhand des städtischen Melderegisters und der amtlich registrierten religiösen Konversionen ak13 Salzburger Volksblatt, 1./2.4.1933, 1  ; Salzburger Chronik, 3.4.1933, 1f.

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tualisiert wurden, und jedenfalls bis zum Gewaltjahr 1938 in »arischen« Geschäften auflagen, wie aus Inseraten des »Antisemitenbundes« hervorgeht.14 Daran wird ersichtlich, dass sich der Antisemitismus in der Kleinstadt Salzburg sowohl pauschal gegen »die Juden« als auch gegen konkrete, namentlich bekannte Familien richtete. Beim Boykott jüdischer Geschäfte wollte es die seit Juni 1933 verbotene NSDAP aber nicht bewenden lassen. Im Laufe des ersten Halbjahres 1934 gerieten in Salzburg öffentliche und private Gebäude, darunter das erzbischöfliche Palais, das Kaufhaus Ornstein, das Festspielhaus und Reinhardts Schloss Leopoldskron ins Visier illegaler Nationalsozialisten. Die nach dem Terroranschlag auf Schloss Leopoldskron am 5.  Juni 1934 verhafteten Tatverdächtigen, Nachbarn Reinhardts, wurden per Gerichtsbeschluss »außer Verfolgung gesetzt«. In der Grenzstadt Salzburg sollte sich aber keiner seines Lebens mehr sicher fühlen. Ende August 1934 reiste Reinhardt erstmals seit den 1920er Jahren wieder nach Amerika. Am 21. Mai 1935 bewarb er sich in Los Angeles/Hollywood, wo schon seine beiden Söhne Wolfgang und Gottfried mit ihrer Mutter lebten, um die Staatsbürgerschaft der USA. Seine weiteren Amerika-Reisen in den Jahren 1935/36 und 1936/37 betrafen ebenso die Produktion eines Stückes im Auftrag des Zionisten Meyer W. Weisgal  : »Der Weg der Verheißung – The Eternal Road« (Libretto von Franz Werfel, Musik von Kurt Weill), ein Oratorium über das jüdische Volk angesichts des Terrors in Deutschland.15 Trotz der Anschläge illegaler Nationalsozialisten in Salzburg, die sowohl prominenten Juden als auch katholischen Würdenträgern galten, war die Salzburger Theologie weiterhin bemüht, ihren religiösen Antijudaismus der longue durée (Fernand Braudel) zu pflegen, der schon als Unterfutter des modernen Rassenantisemitismus diente. Ein Salzburger Theologe, der in der »Katholischen Kirchenzeitung« Bücher über die »Protokolle der Weisen von Zion« rezensierte, sah sich in seinem Glauben bestätigt, dass überall, wo revolutionäre und zersetzende Einflüsse am Werk seien, Juden beteiligt sein müssten.16 Ein anderer Theologe verstand es geschickt, sein Christentum gegen den als gottlos bezeichneten Nationalsozialismus in Deutschland abzugrenzen und zugleich die Verfolgung der Juden als Weissagung oder unabwendbares Gericht Gottes zu deuten, wobei sich der Apologet vorweg selbst exkulpiert  : »Nie kann ein Christ selbst als Rächer und Vollstrecker göttlichen Gerichts auftreten wollen. Das überlassen wir – den Heiden  ! Aber wir müssen es wohl geschehen lassen, was da geschieht, denn es ist Gottes Gericht  ! Wer darf rechten mit Gott  ?«17 14 Der eiserne Besen, 8.1.1926, 5  ; Salzburger Volksblatt, 15.3.1938, 12. 15 http://www.stolpersteine-salzburg.at/de/q  ?text=Oratorium (August 2015) (23.12.2017). 16 Mager 1934, 113f. 17 Dillersberger 1936, 244f.

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Die antijüdische Theologie dachte realitätsfremd, hoffte unter dem Schutz des Konkordats auf die Wiederkehr Christi, fern aller Ereignisse im eigenen Haus, obschon der Terror hörbar, sichtbar und hautnah war und die Attentäter keine »Heiden«, vielmehr Christen, vorwiegend Katholiken waren, die sich teils für »gottgläubig« erklärten und sich der gerichtlichen Verfolgung durch Flucht über die nahe Staatsgrenze in das Deutsche Reich zu entziehen wussten. Ihren in den »Judenlisten« stehenden Opfern konnte es schwerlich gelingen, in der Kleinstadt unbehelligt von existenzbedrohenden Anfeindungen zu leben. Der Abgang eines Betroffenen ist lediglich in der Polizeimeldekartei penibel registriert  – ein blinder Fleck in der öffentlichen Wahrnehmung. Im August 1935 emigrierte der Schneidermeister und Zionist Walter Weinstein, am 25. April 1903 in Salzburg geboren und dort nach österreichischem Recht heimatberechtigt, nach Palästina. Als Weinstein, mittlerweile israelischer Staatsbürger, im Jahr 1975, vier Jahrzehnte nach seinem Weggang aus Österreich, das Opferfürsorgereferat im Amt der Salzburger Landesregierung um Bestätigung seiner Emigration bat, bekam er amtlicherseits zu hören  : »Ergänzend zur Anfrage wird weiters mitgeteilt, dass sich befragte, ältere, gebürtige und ortsansässige Salzburger nicht erinnern können, dass bereits im Jahr 1935 ein antijüdischer Druck – wie Sie Ihre Ausreise bezeichnen – stattgefunden hat. Die beantragte Bescheinigung der Emigration kann daher nicht ausgestellt werden.«18 Was der gebürtige Salzburger Weinstein als Betroffener des Antisemitismus nach Jahrzehnten in der Ferne konnte, das wollten gebürtige Salzburger als ortsansässige Augen- und Tatzeugen nicht  : sich erinnern. Die beantragte Bestätigung hätte jedenfalls anhand des archivierten Meldescheins ausgestellt werden können  – kommentarlos. Für überlebende Opfer oder Hinterbliebene, die als österreichische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger Anspruch auf Opferfürsorge, aber ihren dauernden Aufenthalt im Ausland hatten, waren allerdings die österreichischen Vertretungsbehörden und das Amt der Wiener Landesregierung zuständig. Daher befinden sich auch die Opferfürsorgeakten von Hinterbliebenen und Überlebenden der Shoah aus Salzburg, sofern sie in ihren Exilländern Anträge gestellt hatten, entweder im Magistrat oder im Archiv der Bundeshauptstadt Wien – ein Faktum, das der bereits in den 1970er Jahren in Salzburg einsetzenden Antisemitismus- und Shoah-Forschung anscheinend unbekannt geblieben ist. Günter Fellner, der Ende der 1970er Jahre unter der Ägide der an der Universität Salzburg wirkenden Professorin Erika Weinzierl das Thema Antisemitismus in Salzburg von 1918 bis 1938 theoretisch fundiert und lückenlos aufgearbeitet hatte, 18 Salzburger Landesarchiv, Opferfürsorgeakten  : Abweisungen.

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bemerkt in seinem Beitrag »Die Verfolgung der Juden«, der im Jahr 1991 im Band 2 der Dokumentation »Widerstand und Verfolgung in Salzburg 1934‒1945« erschien  : »Das Ergebnis [der Verfolgung, Anm. d. Verf.] konnte nicht gründlicher sein  : 1945 lebte keines der Mitglieder der ehemaligen jüdischen Gemeinde mehr in Salzburg. Sie waren tot oder lebten verstreut in allen möglichen Ländern, in die sie auf abenteuerlichen Wegen gerade noch rechtzeitig hatten fliehen können. Trotz der relativ kleinen Zahl der Salzburger Juden ist es nicht möglich, deren persönliches Schicksal nachzuzeichnen.«19 Die Forschung konnte damals lediglich das in Salzburg archivierte und zugängliche Quellenmaterial inklusive einiger Opferfürsorgeakten benutzen, sodass es immerhin gelang, neun Opfer jüdischer Herkunft, zumeist evangelisch oder katholisch konvertiert und unter dem NS-Regime in Salzburg lebend, aus ihrer Anonymität zu holen  : beispielsweise den am 10.  März 1941 in Salzburg von der Gestapo verhafteten Heinrich Schönberg, der 59jährig am 1. Juni 1941 an Sepsis, an den Folgen einer im Polizeigefängnis unbehandelten Verletzung  – ohne Fremdeinwirkung laut offizieller Darstellung  – im Inquisitenspital starb.20 Unerwähnt blieb in der Dokumentation »Widerstand und Verfolgung in Salzburg 1934–1945«, dass der ehemalige Opernsänger Heinrich Schönberg der jüngere Bruder des prominenten Komponisten Arnold Schönberg war, obschon über dessen Vertreibung aus dem kleinen Salzburger Stiftsort Mattsee, der sich laut Pressebericht durch Beschluss des Gemeinderates am 20. Juni 1921 – nach rund 17tägigem Aufenthalt Schönbergs und seiner Familie – zur »judenreinen Sommerfrische« erklärt habe, in Salzburger und Wiener Tageszeitungen viel geschrieben wurde.21 Die Wiener christlichsoziale Reichspost behauptete beispielsweise, dass der als »Jude aus Prag« apostrophierte Komponist Schönberg »durch die Vermittlung des Schwiegersohnes unseres großdeutschen Landeshauptmannstellvertreters Ott« in Mattsee eingeschmuggelt worden sei.22 Nach der Lesart des vermutlich lancierten Presseberichts habe sich ein ausländischer Jude – Schönberg war gebürtiger Wiener, Österreicher – heimlich, das heißt unter Umgehung von Gesetzen, und auf Initiative des Schwiegersohnes eines namentlich genannten Politikers aus Salzburg in Mattsee Zutritt verschafft. Der Politiker Max Ott, der »Großdeutschen Volkspartei« zugehörig, war von 1912 bis 1919 und von 1927 bis 1935 Bürgermeister der Stadt Salzburg, 19 Fellner 1991, 432  ; vgl. Feingold 1993  ; Embacher 2002  ; Nadel 2005. 20 Fellner 1991, 473. 21 Neue Freie Presse, 30.6.1921, 5  ; Der Volksruf, 2.7.1921, 2  ; Salzburger Chronik, 5.7.1921, 1f.; Reichspost, 6.7.1921, 4. 22 Reichspost, 6.7.1921, 4.

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zwischendurch Stellvertreter des Landeshauptmannes von Salzburg. Seltsamerweise wird der Name seines Schwiegersohnes in den antisemitischen Presseberichten verschwiegen  : Heinrich Schönberg, der am 6. Jänner 1917 in der evangelischen Pfarre AB in Wien die Katholikin Berta Ott geheiratet hatte. Die beiden hatten eine Tochter, die am 3. Mai 1918 in Salzburg geborene und katholisch getaufte Margit. Die Familie wohnte rund zwei Jahrzehnte im Haus des Politikers Max Ott, genannt »Bürgermeisterhaus«, nahe dem Sitz der Salzburger Landesregierung. Die Villa Nora im Stiftsort Mattsee diente den Familien Ott und Schönberg als Sommerdomizil. Die ortskundigen Drahtzieher der antisemitischen Kampagne blieben im Dunkeln. Anzunehmen ist aber, dass christlichsoziale Antisemiten federführend waren, die ihre Sommerfrische nicht mit Juden teilen wollten, wobei ein in der großstädtischen Musikkultur bekannter jüdischer Name als Stigma fungierte. Gewiss ist jedenfalls, dass die Familie Arnold Schönberg im Juli 1921 aus Mattsee flüchtete und schon im Herbst 1933 das diktatorisch regierte Österreich verließ und in die USA emigrierte. Sechs Jahrzehnte später gilt die Vertreibung Schönbergs aus Mattsee als Kernpunkt des »Sommerfrischen-Antisemitismus« in Österreich.23 Heinrich Schönberg, im Schatten seines prominenten Bruders stehend, zählte zu den wenigen Juden inklusive der zum christlichen Glauben konvertierten, die in den 1920er und 1930er Jahren keinen offenen Anfeindungen ausgesetzt waren, andernfalls stünde der Name Schönberg in den »Judenlisten«, die der Salzburger »Antisemitenbund« publiziert hatte. Bis zum Frühjahr des Kriegsjahres 1941 währte der Schutz des vormals »großdeutschen« Bürgermeisters Max Ott. Da die Ehe seines Schwiegersohnes intakt blieb, musste dieser nicht das gleiche Schicksal erleiden wie der ebenfalls zum evangelischen Glauben konvertierte und 1938 mit Berufsverbot belegte Rechtsanwalt Dr. Ernst Langfelder. Er wurde nach erzwungener Ehescheidung – seine »arische« Frau erhielt hierauf eine Arbeitserlaubnis – aus Salzburg vertrieben, von Wien nach Minsk deportiert und ermordet. Der nicht vertriebene Heinrich »Israel« Schönberg, dessen Schwiegervater Max Ott am 23. April 1941 starb, war allerdings eines von mehreren Terroropfern der Gestapo in Salzburg. Seine 23-jährige Tochter Margit schrieb am 17. Juni 1941 aus dem nationalsozialistischen Salzburg an Arnold Schönbergs Ehefrau in Los Angeles einen berührenden Brief, der die Zensur zu durchlaufen hatte und daher wie eine literarische Camouflage zu lesen ist  : »Liebe Tante Trude  ! […] Heute muß ich Dir und Onkel Arnold nun die traurigste Nachricht vom Tode meines armen Vaters mitteilen. Papa hatte noch so viel durchzumachen, nach 2maliger Operation wurde der vergiftete Arm zuletzt noch abgenommen und einige Tage später, am 1. Juni, Pfingstsonntag ist mein Vati 23 Feingold 1993, 191–195  ; Waitzbauer 2002, 153–173  ; Henke 2004, 119–148.

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für immer von uns gegangen. Ich bitte Dich, Onkel Arnold dies mitzuteilen. Es wird ihn ja begreiflicherweise sehr erregen, deshalb habe ich auch den Brief nicht direkt an ihn adressiert. Gleichzeitig bitte ich Euch, uns nicht böse zu sein, daß wir nicht früher geschrieben haben – wir waren selbst so fassungslos traurig, daß wir einfach nicht dazu imstande gewesen wären. Telegramme sind uns ja leider unmöglich. Liebe Tante Trude, Du kannst Dir ja sicher denken, was dieses Unglück für uns – besonders für meine Mutti – ist. Vielleicht weißt Du, wie glücklich meine Eltern waren, das konnten sogar die vielen Enttäuschungen der letzten Zeit und all das Schwere, was Papa durchmachen mußte, nicht trüben. Er hat ja nicht nur physisch, sondern auch psychisch sehr gelitten. […] Nun nochmals alles Liebe Eure Gitti«24 Margit Schönberg, eine hochsensible junge Frau, die unter dem NS-Regime als »Halbjüdin« galt, zerbrach an ihrem gewaltbedingten Leiden, ging an ihrer Isolation psychisch zugrunde, konnte selbst nach der Befreiung Salzburgs nicht mehr geheilt werden. Sie starb 58-jährig in der Landesheilanstalt (heute Christian-Doppler-Klinik) und wurde auf dem Salzburger Kommunalfriedhof im Grab ihres Vaters Heinrich Schönberg beigesetzt, zwei Jahre danach ihre Mutter, die 93-jährige Witwe Berta Schönberg. Unter den Terroropfern aus Salzburg, die in der Dokumentation »Widerstand und Verfolgung in Salzburg 1934‒1945« namentlich aufscheinen, ist lediglich eines zu finden, das der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg und außerdem ihrem Vorstand angehört hatte  : Walter Schwarz, der am 1. September 1938 in der Gestapoleitstelle München zu Tode gekommen war  : »Suizid« laut Totenschein des Polizeiarztes.25 Schon dieses Beispiel zeigt, dass sich mangels jüdischer Matrikelbücher die Daten (Geburten, Trauungen, Aus- und Übertritte sowie Todesfälle) nur anhand des Melderegisters, der Heimatmatrik und sonstiger Archivalien rekonstruieren lassen – das bisherige Rechercheergebnis  : Vor dem Gewaltjahr 1938 ist die letzte Geburt eines jüdischen Kindes am 24. September 1933 registriert  : die 191. Geburt im Verlauf von 70 Jahren jüdischen Lebens in Salzburg. Dabei ist zu beachten, dass 153 Kinder in der Monarchie Österreich-Ungarn, 38 in der Ersten Republik, davon sieben Anfang der 1930er Jahre zur Welt kamen und dass rund 60 Prozent der in Salzburg geborenen Jüdinnen und Juden ihre Zukunft woanders, in der Großstadt Wien oder im Ausland gesucht hatten – Salzburg mit einer kleinen, schwindenden jüdischen Gemeinde. Zudem hatten nicht wenige Jüdinnen und Juden ihren Glauben gewechselt  : Dennoch waren sie Betroffene der Nürnberger Rassengesetze.

24 Margit Schönberg, Liebe Tante, http://www.stolpersteine-salzburg.at/de/q  ?text=schönberg. 25 Fellner 1991, 435.

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Auf dem 1893 in Salzburg-Aigen errichteten jüdischen Friedhof befindet sich das Grab Albert Pollaks, der sich als erster Jude nach dem Staatsgrundgesetz im Jahr 1867 in Salzburg angesiedelt hatte. Dort suchen wir jedoch vergeblich das Grab seiner Ehefrau, die Gräber ihrer in Salzburg geborenen Kinder und ihrer andernorts geborenen Enkelkinder. Zwei Töchter des Ehepaares Pollak haben nachweislich keine Gräber  : die am 11.  Mai 1870 in Salzburg geborene Irma, verehelichte Herz, und die am 16. Dezember 1872 in Salzburg geborene Anna, verehelichte Stuchly, beide Shoah-Opfer.26 Dank der Hilfe Wolf-Erich Ecksteins von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien – bekanntlich war das nationalsozialistische Wien der primäre Deportationsort – konnten die Daten fast aller Shoah-Opfer aus Stadt und Land Salzburg ermittelt werden. Darüber hinaus gelang es einem überparteilichen Personenkomitee im Einvernehmen mit der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg und unter Mithilfe der Stadt Salzburg, auch an diesem Ort das internationale Projekt des Künstlers Gunter Demnig zu realisieren. Von 2007 bis 2015 konnten im öffentlichen Raum 310 »Stolpersteine«, davon allein 93 für Opfer des Rassenantisemitismus, verlegt werden, und dies stets in Gegenwart des Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg Marko Feingold und seiner Ehefrau Hanna – aus Respekt vor allen Terroropfern. Ihre Biografien sind weltweit elektronisch abzurufen  : in Deutsch und Englisch (durchschnittlich 521 Besuche täglich im August 2015).27 Schlagzeilen machte das Projekt Gunter Demnigs, als etliche der auf Gehwegen der Stadt Salzburg platzierten »Stolpersteine«, die Antisemiten für »Judensteine« halten, mit schwarzem Lack besprüht wurden, um die Opfernamen unleserlich zu machen, um jegliche sichtbare Erinnerung an die Opfer auszulöschen, somit auch die Erinnerung an die unter Geheimhaltung verübten nationalsozialistischen Verbrechen, die der Auschwitz-Überlebende Primo Levi als Krieg gegen das Erinnern begriff.28

Literatur und gedruckte Quellen 0Der eiserne Besen 1926. Dillersberger, Josef, Der Sonntag des Antisemitismus, in  : Katholische Kirchenzeitung Salzburg, 30.7.1936, 244f. Embacher, Helga (Hg.), Juden in Salzburg, Salzburg 2002. Feingold, Marko M. (Hg.), Ein ewiges Dennoch. 125 Jahre Juden in Salzburg, Wien 1993. Fellner, Günter, Antisemitismus in Salzburg 1918–1938, Wien u. a. 1979. 26 http://www.stolpersteine-salzburg.at/de/q  ?text=Shoah. 27 http://www.stolpersteine-salzburg.at/. 28 Levi 1990, 28.

Festspielstadt Salzburg  : weltoffen und antisemitisch

Fellner, Günter, Die Verfolgung der Juden, in  : Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Salzburg 1934–1945. Eine Dokumentation, Bd. 2, Wien 1991, 432–473. Fuhrich, Edda/Prossnitz, Gisela (Hg.), Die Salzburger Festspiele, Bd. 1, 1920–1945, Salzburg 1990. Henke, Matthias, Antisemitische Erfahrung und kompositorische Reflexion Arnold Schönbergs, Mattsee und A Survivor from Warsaw, in  : John, Eckhard/Zimmermann, Heidy (Hg.), Jüdische Musik  ? Fremdbilder – Eigenbilder, Köln 2004, 119–148. Holzer, Rudolf, Salzburger Festspiele, in  : Reichspost, 6.8.1933, 14. Kerschbaumer, Gert, Faszination Drittes Reich. Kunst und Alltag der Kulturmetropole Salzburg, Salzburg 1988. Kerschbaumer, Gert, Opferbiografien, http://www.stolpersteine-salzburg.at/ (August 2015). Levi, Primo, Die Untergegangenen und die Geretteten, München u. a. 1990. Mager, Alois, Zur Judenfrage, in  : Katholische Kirchenzeitung Salzburg, 12.4.1934, 113f. Nadel, Stan, Ein Führer durch das jüdische Salzburg, Salzburg 2005. Nadel, Stan, Opferbiografien, http://www.stolpersteine-salzburg.at/ (15.8. 2015). Novak, Andreas, »Salzburg hört Hitler atmen«. Die Salzburger Festspiele 1933–1944, München 2005. Neue Freie Presse 1921. Reichspost 1921. Reitler, Josef, Die Meistersinger in Salzburg, in  : Neue Freie Presse, 9.8.1936, 1–3. Salzburger Chronik 1921, 1933. Salzburger Festspiele 1937 und 1938. Sonderheft der Salzburger Festspiele 1988 (Salzburg 1988). Salzburger Volksblatt 1931, 1933, 1938. Steinberg, Michael P., Ursprung und Ideologie der Salzburger Festspiele 1890–1938, München 2000. Der Volksruf 1921. Von der Lühe, Barbara, Die Musik war unsere Rettung  ! Die deutschsprachigen Gründungsmitglieder des Palestine Orchestra, Tübingen 1998. Waitzbauer, Harald, Arnold Schönberg ist in Mattsee unerwünscht, in  : Kriechbaumer, Robert (Hg.), Der Geschmack der Vergänglichkeit. Jüdische Sommerfrische in Salzburg, Wien 2002, 153–173.

Internetseite http://www.stolpersteine-salzburg.at (23.12.2017).

Archivalische Quellen Salzburger Landesarchiv (SLA), Opferfürsorgeakten  : Abweisungen.

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»Jetzt kommt der Jud im Steireranzug  !«1 Zum Antisemitismus in der Steiermark 1933 bis 1938 Da der Nationalsozialismus nicht ohne den industriellen Mord an rassistisch ausgegrenzten Menschen gedacht werden kann und der »autoritäre Ständestaat« häufig über einen antinationalsozialistischen Habitus »legitimiert« wird, muss der Antisemitismus als lagerübergreifendes und wegbereitendes Phänomen gerade in der Steiermark und seiner »Stadt der Volkserhebung« überprüft werden, wiewohl festzuhalten ist, dass die Führungsebene der autoritären »ständestaatlichen« Steiermark in ihrer persönlichen Haltung beim augenblicklichen Forschungsstand eher nicht als antisemitisch eingestuft wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass eine sensible Positionierung gegenüber antisemitischen Tendenzen in den eigenen Reihen herrschte. Das Fehlen eines Problembewusstseins in dieser Frage muss als Folge der Desensibilisierung des christlichsozialen Milieus durch die lange Tradition des lagerspezifischen Antisemitismus als Arbeitshypothese angenommen werden. Es ist dabei irrelevant, ob diese Desensibilisierung aus der langen Tradition des christlichen »Antijudaismus« oder aus der »modernen« Position des rassistischen Antisemitismus resultiert. Nachdrücklich wird festgehalten, dass die unterschiedliche Begrifflichkeit nicht als Strategie des vorliegenden Textes gelesen werden darf, den christlichen »Antijudaismus« zu exkulpieren bzw. diesen aus der Traditionslinie, die direkt in die Shoah führt, weg zu argumentieren. Herbert Rütgen hat in seiner frühen exemplarischen Studie »Antisemitismus in allen Lagern« (Graz 1989) unter Hinweis auf Otto Günthers »Christlichsoziale programmatische Gedanken« (Wien 1932) darauf verwiesen, dass spätestens 1932 angesichts des exorbitanten Aufstiegs der Nationalsozialisten der Antisemitismus als Strategie nicht mehr flächendeckend zum Einsatz gebracht wurde, da man in einer Verschärfung des Antisemitismus letztlich eine Schützenhilfe für die Nationalsozialisten sah. Das denunziatorische »Epitheton ornans« »jüdisch« kam nur mehr gegen die »liberalen Parteien«, die es de facto nicht mehr gab, zum Einsatz, während man 1 Ein Grazer Handwerksmeister, der aus Galizien zugezogen war, und durchaus erfolgreich seine kleine Firma führte, wurde beim Besuch einer Versammlung seiner Standesvertretung mit dieser Bemerkung attackiert, vgl. Salzmann 1991  ; zur Familie Salzmann siehe auch Kumar 2012 und Kumar 2013, 139–143.

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die Sozialdemokraten und die Nationalsozialisten als »gottlose« Parteien attackierte. Damit positionierte man sich auf einer Ebene, die Engelbert Dollfuß in seiner Trabrennplatz-Rede im September 1933 zur politischen Doktrin des sich über den schleichenden Staatsstreich formierenden »Austrofaschismus« erhob. Diese Zurücknahme des wortgewaltigen Antisemitismus auf der gesamtstaatlichen Ebene wird allerdings in der Steiermark charakteristisch unterlaufen. Anton Orel, der monomane Publizist einer rabiat antisemitisch konnotierten »katholischen Soziallehre« verlegte seinen Publikationsort für »Antisemitica« 1934 nach Graz in den dem Katholischen Pressverein der Diözese gehörenden Verlag Ulrich Moser. Die Pressvereinsanstalten wurden seit den späten 1920er Jahren von Karl Maria Stepan geleitet, der von Engelbert Dollfuß unmittelbar nach den Februarkämpfen zum Generalsekretär der »Vaterländischen Front« ernannt worden war.2 Orels für die Untersuchung relevanten Texte  – »Judaismus der weltgeschichtliche Gegensatz zum Christentum« (3. Aufl. Graz  : Moser 1934), »Wahre Ständeordnung  : ihr Geist, Wesen und Wirken. Grundsätzlich-praktische Klarstellung« (Graz  : Moser 1934) und »Gibt es jüdische Ritualmorde  ? Eine Sichtung und Erklärung des geschichtlichen Materials« (3. Aufl. Graz  : Moser 1934)  – erschienen also in einem Subverlag der Styria, in dem unter anderem theologische Fachliteratur verlegt wurde, wobei der dritte Band bereits Ende der 1920er Jahre von ihm unter dem Pseudonym Christian Loge publiziert worden war. »Der Grund der Diskretion dürfte wohl darin gelegen sein, dass Orel in dieser Hetzschrift, die sogar unter der Fülle antisemitischer Schriften jener Jahre einen Spitzenplatz einnahm, jede Rücksicht fallen ließ‹.«3 Unter dem neuen Verleger fühlte sich Orel sicher und bekannte sich öffentlich zu diesem Skandalbuch, das über Antrag der Harand-Bewegung und des »Jüdischen Volksbunds für Österreich« beschlagnahmt wurde, jedoch 1935 vom Bundeskanzleramt als »auf einwandfreien Grundlagen« und auf »reichhaltige[n] Quellenangaben« fußend relativiert wurde.4 Orel traf sich mit Karl Maria Stepan wohl in der Ablehnung der Christlichsozialen Partei und dürfte in Graz einen idealen Publikationsort für seine antisemitischen Pamphlete gesehen haben, da hier vor allem der Stocker Verlag5 und der aggressiv antisemitische Pfarrer Friedrich Ulrich mit seiner Zeitschrift »Der Säemann«, Evangelisches Kirchenblatt für Österreich Folge 1–6 (1921–1941), die als einzige überregionale evangelische Kirchenzeitung »weite Verbreitung im evangeli-

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Binder 1982. Rütgen 1989, 302. Weinzierl 1978  ; vgl. Rütgen 1989, 482, Anm. 3f. Siehe dazu den Beitrag von Hall in diesem Band.

Zum Antisemitismus in der Steiermark 1933 bis 1938

schen Österreich, insbesondere in den gebildeten bürgerlichen Kreisen, aber auch in der ländlichen Diaspora, sowie in den städtischen Industriegemeinden« fand.6 Angesichts der extremen wirtschaftlichen Schieflage der Pressvereinsanstalten muss angenommen werden, dass antisemitische Bücher grundsätzlich einen Verkaufserfolg erwarten ließen. Nur so ist eine auffällige Häufung einschlägiger Titel in diesem Verlagsunternehmen der katholischen Kirche zu verstehen. 1933 publizierte Gaston Ritter in der Styria »Das Judentum und die Schatten des Antichrist«, das 1938 nochmals bei Ulrich Moser herauskommen sollte und das das kirchliche Placet des steirischen Diözesanbischofs Ferdinand Pawlikowski trug. Mit Pawlikowskis-Placet erschien im folgenden Jahr von einem anderen Geistlichen, Professor Dr. Severin Grill, im Verlag Ulrich Moser »Der Talmud und Schulchan Arch. Eine theologische Studie für weitere Kreise«. Das ebenfalls wirtschaftlich schwer angeschlagene Benediktinerstift Seckau brachte schließlich 1934 in seinem Verlag Chrysostomus Baurs »Im christlichen Orient. Reiseerlebnisse« heraus, in dem das »Judentum« als das Übel der Welt schlechthin denunziert wurde, da es »durch systematisches und planmäßiges Verdächtigen, Hetzen und Verleumden, durch raffinierte Schlagworte« die »Christenvölker ihrer christlichen Führung« entfremdet und schließlich gar »in Gegensatz zu ihr« gebracht hätte, um diese »wirtschaftlich, politisch, moralisch und religiös zu spalten«.7 Das Anschwellen dieser vom steirischen Diözesanbischof mitgetragenen antisemitischen Pamphlet-Flut, die unter dem Generaldirektor der Pressvereinsanstalten und Generalsekretärs der »Vaterländischen Front« Karl Maria Stepan im Wesentlichen verlegt wurde, muss noch unter einem anderen Gesichtspunkt gesehen werden. Nach der Unterzeichnung des Konkordats berief die katholische Kirche ihre Geistlichen aus den Reihen der Christlichsozialen Partei ab, da man nunmehr gesichert durch ein weitgespanntes Schutzprogramm für die eigenen Interessen und die »Ausschaltung des Parlaments« keine Notwendigkeit mehr sah, ihre Vertreter in der Parteipolitik zu belassen. Gleichzeitig forcierte man aber sichtlich auf der Basis eines allgemeinen politischen Postulats Aspekte politischer Strategien, die man als systemnotwendig ansah und wo man sich in rarer Einigkeit mit der reformierten Kirchenlandschaft in Form einer antisemitischen »Ökumene« traf. Bruce F. Pauley hat darauf hingewiesen, dass die »Reichspost«, die »Schönere Zukunft« und der »Christlichsoziale Arbeiterverein« im Jahr 1933 »ihre antisemitischen Tiraden verschärften«, wobei er dies aus dem Konkurrenzkampf mit den Nationalsozialisten erklärte.8 Stimmt diese These, so wäre der Antisemitismus des »stände­ 6 Schubert 2005, 127  ; siehe dazu auch den Beitrag von Schweighofer in diesem Band. 7 Baur 1934, 61f. 8 Pauley 1993, 216–222, 327.

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staat­lichen« Milieus vergleichbar mit dessen Strategie, Österreich als den »besseren deutschen Staat« vom nationalsozialistischen Deutschen Reich abzugrenzen. Letztlich muss eine derartige Strategie als eine weitere Perforierung der Gesellschaft im Hinblick auf die nationalsozialistische »Machtergreifung« und -ausübung angesehen werden. Der Alttestamentler der Grazer Theologischen Fakultät und weitgehend in Rom als Rektor der »Anima« lebende Alois Hudal suchte schließlich in seinem Buch »Die Grundlagen des Nationalsozialismus. Eine ideengeschichtliche Untersuchung« (Leipzig 1937) den Widerspruch zwischen dem theologisch argumentierenden »Antijudaismus« katholischer Kreise mit dem rassistisch argumentierenden Antisemitismus der Nationalsozialisten aufzuheben, womit er zwar im Widerspruch mit einzelnen kirchlichen Lehrmeinungen, nicht aber mit dem Tenor der in der Styria und in anderen katholischen Verlagen publizierten antisemitischen Ausfällen stand. Hudal ist insofern für die Steiermark paradigmatisch zu lesen, als er die Affinität auch weiter Teile des christlichsozialen Milieus für Antisemitismus, Deutschnationalismus und Anschlussbekenntnis spiegelt. Hermann Kurahs hat dies in einer regionalgeschichtlichen Studie am Beispiel der jüdischen Geschichte Radkersburgs exemplarisch verdeutlicht.9 Dabei greift er die Formulierung des Antisemitismus als »kultureller Code« auf10 und verdeutlicht dies an der antisemitischen Vereinswelt in dieser steirischen Grenzregion zwischen 1918 und 1938. Charakteristisch dafür ist die lagerübergreifende Ausstrahlung der »Schutzvereine«, insbesondere etwa der »Südmark«, oder der Turnvereine, auch wenn es in diesem Milieu zwischen dem »Deutschen Turnerbund« und der »Christlich-deutschen Turnerschaft« zu heftigen Revierkämpfen kommen konnte. In diesem Umfeld traf man sich trotz unterschiedlicher parteipolitischer Ambivalenzen bereits unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg im »Antisemitismus der Tat«, um etwa gegen das »überwuchernde Ostjudentum« gemeinsam mobil zu machen.11 Die »Südmark« hielt 1919 fest  : »Es gibt eine große Anzahl von Vereinigungen, die sich Einzelzweigen der Südmarkarbeit widmen. 1. Auf dem Gebiete körperlicher Ertüchtigung  : die Turnvereine auf deutsch-arischer Grundlage. 2. Auf dem Gebiete des Heimatschutzes, der Liedkunstpflege und der Wartung des Schrifttums  : die Heimatschutzvereine, die Sängerschaften, die Schriftund Sprachvereine. 3. Auf dem Gebiete der Jugendbewegung  : alle Jugendbühnen auf judenreinem, völkischem Boden. 4. Für die wirtschaftlichen Belange  : judenfreie Wirtschaftsverbände, Bodenrechtler«.12  9 Kurahs, 2014. 10 Vgl. Lamprecht 2007, 23f.; Kurahs 2014, 145. 11 Rütgen 1989, 389. 12 Mitteilungen des Vereines Südmark, Juni 1919, 155.

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Das Entscheidende an dieser Kategorisierung war, dass man lagerübergreifend wirken wollte und dies bis in die 1970er Jahre auch partiell konnte. Selbst wenn einzelne Gruppierungen zwischen 1933 und 1938 aufgelöst und verboten wurden, hatte man semilegale Ausweichorte, um die Arbeit fortzusetzen. Paradigmatisch sei in diesem Kontext auf den Volksbildungsbereich verwiesen, in dem das Changieren deutschnationaler bis nationalsozialistischer, katholischer bis katholisch-deutschnationaler Strömungen vor und nach 1938 bzw. 1945 sichtbar gemacht werden kann. Getragen von der für die Steiermark charakteristischen Kohorte der »Epochenverschlepper«, formierte sich im deutschnationalen und antisemitischen Amalgam der Steiermark 1933 bis 1938 das Milieu der »Versöhnungspolitik« der »Österreichischen Volkspartei« um Alfons Gorbach und Josef Krainer sen. nach 1946/47. Diese Hypothese kann am Beispiel des Volksbildungswerkes St. Martin unter dem katholischen Geistlichen Josef Steinberger deutlich gemacht werden, der bis zum März 1938 und ab dem Mai 1945 die dominante Persönlichkeit des zentralen Bildungsprogramms für den ländlichen Raum war, in dem fachliche Ausbildung, »Volkstumsarbeit« und dezente politische Indoktrination im Sinne des christlichsozialen Bauernbundes Hand in Hand gingen. Geprägt von einem spezifisch katholischen Antiliberalismus wusste er sich einig mit den deutschnationalen Bildungsexperten im Antimarxismus und Antiurbanismus, wobei die Metropole in der Chiffre vom »jüdischen Wiener Einfluss« rassistisch kondensierte.13 Franz Maria Kapfhammer, eine zentrale Figur aus jenem Spektrum des »Bundes Neuland«, das den Brückenbau zu den Deutschnationalen/ Nationalsozialisten forcierte, verzichtete in seiner Hommage auf den Gründer von St. Martin auf dessen antisemitischen Ausfälle, denen er im Originalmanuskript mit Schere und Kugelschreiber vor der Drucklegung zu Leibe gerückt war.14 Steinbergers Rassismus war nicht nur gegen Juden gerichtet, sondern traf nahezu jeden Menschen, der nicht »deutsch« und »christlich« war, was er in der Metapher vom »europäische[n] Konsularbeamte[n] und eine[m] Zulukaffer« verdeutlichte.15 Wiewohl von den Nationalsozialisten aus dem Amt entfernt, kollaborierte Steinberger mit diesen, was umso leichter möglich war, da sein Nachfolger zu jenen illegalen Nationalsozialisten zählte, über die er vor dem März 1938 patronisierend seine schützende Hand hielt. Als wesentliche Achse der steirischen Versöhnungspolitik nach 1945 stattete er diesem nach dem Prinzip »manus manum lavat« seinen Dank ab. Die Grazer Universität und die Technische Hochschule waren wesentlich geprägt von einer Studentenschaft, die seit dem späten 19. Jahrhundert rabiat deutschnatio­ 13 Josef Steinnberger, Aufzeichnungen, Archiv Schloss St. Martin, zit. n. Binder 1984, 44. 14 K apfhammer 1970  ; vgl. Binder 1984, 52, Anm. 15. 15 Vgl. Binder 1984, 53, Anm. 21.

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nal, staatsilloyal, zunehmend antidemokratisch und vehement antisemitisch war. Diese Haltung spiegelt sich auch in der Positionierung der Gymnasiasten und Realschüler. Das schmale Segment des politischen Katholizismus innerhalb des Bildungsbürgertums war zwar durch den Antiklerikalismus bzw. Antikatholizismus der Mehrheit isoliert, traf sich ab den frühen 1890er Jahren aber in der Deutschtümelei und spätestens ab dem Zusammenbruch der Monarchie im Antisemitismus mit der Mehrheit. Um hier »verlorenes Terrain« gut zu machen, exponierte man sich gerade im Übergang von der Monarchie zur Republik als neue »Gralshüter« des rassistisch verstandenen »Deutschtums«  : »Zur Wahrung des deutschen Charakters der Grazer Universität und zur Fernhaltung jedes fremden Einflusses stellen wir an den hohen akademischen Senat das Ersuchen, bei der Besetzung von Ehrenstellen, Ämtern und freiwerdenden Lehrkanzeln für die Zukunft nur noch deutsch-arische Hochschullehrer berücksichtigen zu wollen.«16 Dies führte zu Bereichskoalitionen etwa in der »Südmark« in den 1920er Jahren, die erst zerbrachen, als die Majorität zunehmend nationalsozialistisch wurde. Weitgehend hingegeben dem politischen Katholizismus des »autoritären Ständestaates« verharrte man auch in diesem Segment in einem Antisemitismus, den man theoretisch aus dem »Antijudaismus« des Christentums ableitete, während man hypothetisch den rassistischen Ansatz von Joseph Arthur de Gobineau und dessen nationalsozialistischen Adepten ähnlich wie der Linzer Bischof Johannes Maria Gföllner ablehnte. In der Praxis des Alltagsantisemitismus wurde diese Trennlinie nicht eingehalten. Paradigmatisch kann diese Aussage durch das Einführen des »Arierparagraphen« bei den katholischen Studentenkorporationen belegt werden, da diese als konfessionelle Verbindungen ohnehin nur Katholiken aufnehmen durften und sich daher diese Positionierung nur als rassistisches Argument gegen Katholiken richten konnte, die aus vormals jüdischen Familien abstammten. Das dominant deutschnationale und antisemitische Milieu der Studentenschaft und Obermittelschüler war wesentlich dafür verantwortlich, dass die innerösterreichische Machtübernahme der Nationalsozialisten in Graz so rasant verlief, dass ihr nach dem »Anschluss« in Analogie etwa zu München oder Nürnberg der offizielle Titel »Stadt der Volkserhebung« verliehen wurde. In diesem Kontext hält Norbert Schausberger fest, dass der Antisemitismus an den österreichischen akademischen Ausbildungsstätten »die Studentenschaft dem Nationalsozialismus« in die Arme trieb.17 Es kam zu Ausschreitungen der »Deutschen Studentenschaft«, der bis 1933 16 Schreiben der Grazer CV-Verbindungen Carolina und Traungau an den Akademischen Senat der Universität Graz, 20.6.1919, Archiv der Universität Graz VA 1, Nr. 3. 17 Schausberger 1978, 161–167.

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bestehenden studentischen »Selbstverwaltung«, gegen jüdische Studentinnen und Studenten bzw. Professoren, »die von der Regierung nicht unterbunden wurden.« Ein Barde des »Heldenepos« der »illegalen« Nationalsozialisten hielt unter Verwendung von Bildmaterial der Grazer Polizei vor 1938 fest  : »Wie die Verbrecher wurden sie registriert«. Die Studenten an den österreichischen Hochschulen und vor allem die deutschnationalen waffenstudentischen »Korporationsstudenten, bei denen die Zugehörigkeit zu einer illegalen Parteiformation Pflicht war, gehörten zu den unentwegten Anhängern der Bewegung.«18 Auf dem Lande positionierte man sich als deutsche und christliche Erholungslandschaft, wobei sehr früh einzelne Orte Juden für unerwünscht erklärten, ohne dass die Regierung des »autoritären Ständestaates« eingriff. Die seit den 1920er Jahren zu beobachtende aggressive Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung wurde seitens des politischen Katholizismus vor und in seinen Resten nach dem März 1938 nicht weiter hinterfragt und nach 1945 angesichts des latenten eigenen Antisemitismus stillschweigend fortgeführt, wäre doch eine expressive Auseinandersetzung mit dieser Facette der eigenen Geschichte ein definitives Hindernis für die »Aussöhnungspolitik« gewesen. Dem »katholisch-deutschen« Heimatbegriff des »Austrofaschismus« folgte in einer anderen Form von spezifischer Ökumene nunmehr die »steirische« Heimat, die ganz selbstverständlich »christlich« und »deutsch« konnotiert war.19 Den »Austrofaschismus« personalisierte man einerseits, indem man Karl Maria Stepan auf dem Altar des »Antifaschismus« opferte und ihm eine Rückkehr in die Politik versagte, während man, etwa gezwungen durch sozialdemokratische Attacken, den »autoritären Ständestaat« auf seinen antinationalsozialistischen Habitus reduzierte. Der Nationalsozialismus wurde als totalitäres Regime gelesen, wobei der Totalitarismus genutzt wurde, die Frage nach der individuellen Verantwortung und Schuld nicht zu stellen. Über den lagerübergreifenden Antisemitismus breitete man den Mantel des Schweigens. Erst in der Waldheim-Debatte und im »Bedenk-Jahr« 1988 erinnerte man sich dieses Phänomens, beließ es aber weitgehend im nationalsozialistischen Kontext. Das Schweigen darüber in den Jahrzehnten der Zweiten Republik davor wurde auch dadurch möglich, dass man seitens der Sozialdemokratie und ihrer Publizistik primär des 12. Februar 1934 und nicht des März 1938 gedachte und man im Parteiorgan 1945/46 als Chefredakteur Heinz (von) Paller20 positionierte,

18 Reich von Rohrwig 1943, Bildtafel XIII (n. 400)  ; zum studentischen Milieu vgl. Binder 1989. 19 Binder 2002. 20 Zur generellen Situation der steirischen Sozialisten 1945 bis 1949 vgl. Sottopietra/Wirth 2005, 104–113. Zur Person siehe Venus 2005, 227–238.

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der als Schriftleiter der »Freien Stimmen« zu den journalistischen Wegbereitern des Nationalsozialismus in Kärnten gezählt hatte.

Literatur und gedruckte Quellen Baur, Chrysostomus, Im christlichen Orient. Reiseerlebnisse, Seckau 1934. Binder, Dieter A., Karl Maria Stepan. Versuch einer Biographie, in  : Zeitschrift des Historischen Vereins für Steiermark 73 (1982), 161–181. Binder, Dieter A., Volksbildung und Politik, in  : Liebmann, Maximilian/Binder, Dieter A. (Hg.), Hans Sassmann zum 60. Geburtstag, Graz u. a. 1984. Binder, Dieter A., Der Weg der Studentenschaft in den Nationalsozialismus, in  : Brünner, Christian/Konrad, Helmut (Hg.), Die Universität und 1938, Wien u. a. 1989, 75–93. Binder, Dieter A., Heimatsuchen. Versuch zur Kulturgeschichte eines Bundeslandes, in  : Ableitinger, Alfred/Binder, Dieter A. (Hg.), Steiermark. Die Überwindung der Peripherie, Wien u. a. 2002, 551–634. Grill, Severin, Der Talmud und Schulchan Arch. Eine theologische Studie für weitere Kreise, Graz 1934. Hudal, Alois, Die Grundlagen des Nationalsozialismus. Eine ideengeschichtliche Untersuchung, Leipzig 1937. Kapfhammer, Franz Maria, Josef Steinberger. Der Gründer von St. Martin. Leben, Wirken, Schriften, Graz u. a. 1970. Kumar, Victoria Maya, Auswanderung und Flucht steirischer Jüdinnen und Juden nach Palästina im Kontext der gesamtösterreichischen Alijah bis 1945, Diss. Graz 2012. Kumar, Victoria, In Graz und andernorts. Lebenswege und Erinnerungen vertriebener Jüdinnen und Juden, Graz 2013. Kurahs, Hermann, Verwehrte Heimat. Die jüdische Geschichte Radkersburgs vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Wien u. a. 2014. Lamprecht, Gerald, Fremd in der eigenen Stadt. Die moderne jüdische Gemeinde von Graz vor dem Ersten Weltkrieg, Innsbruck u. a. 2007. Mitteilungen des Vereines Südmark, Juni 1919. Orel, Anton, Judaismus der weltgeschichtliche Gegensatz zum Christentum, Graz 31934. Orel, Anton, Wahre Ständeordnung  : ihr Geist, Wesen und Wirken. Grundsätzlich-praktische Klarstellung, Graz 1934. Orel, Anton, Gibt es jüdische Ritualmorde  ? Eine Sichtung und Erklärung des geschichtlichen Materials, Graz 31934. Pauley, Bruce F., Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993. Reich von Rohrwig, Otto, Der Freiheitskampf der Ostmark-Deutschen. Von St. Germain bis Adolf Hitler, Graz u. a. 1943. Ritter, Gaston, Das Judentum und die Schatten des Antichrist, Graz 1934.

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Rütgen, Herbert, Antisemitismus in allen Lagern. Publizistische Dokumente zur ersten Republik. Österreich 1918–1938, Graz 1989. Der Säemann, Evangelisches Kirchenblatt für Österreich 1–6 (1921–1941). Salzmann, Harald, Ich bin in Graz als jüdischer Junge aufgewachsen. Als Jude in Graz und anderswo – Erinnerungen aus den Jahren 1921–1947, in  : Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, Bd. 21/22 (1991), 147–168. Schausberger, Nobert, Der Griff nach Österreich. Der Anschluss, Wien u. a. 1978. Sottopietra, Doris/Wirth, Maria, Die Länderebene der SPÖ, in  : Mesner, Maria (Hg.), Entnazifizierung zwischen politischem Anspruch, Parteienkonkurrenz und Kaltem Krieg. Das Beispiel der SPÖ, Wien u. a. 2005, 77–145. Schubert, Heinz, Pfarrer Friedrich Ulrich. Ein Grazer evangelischer Geistlicher als Kirchenpolitiker, Publizist und Antisemit, Dipl.-Arb. Graz 2005. Venus, Theodor, Kontinuitäten und Brüche in der sozialdemokratischen Tagespresse und im Journalismus 1938 bis 1945, in  : Mesner, Maria (Hg.), Entnazifizierung zwischen politischem Anspruch, Parteienkonkurrenz und Kaltem Krieg. Das Beispiel der SPÖ, Wien u. a. 2005, 187–265. Weinzierl, Erika, Antisemitismus in Österreich. Seine Wurzeln und sein Weiterbestehen. Vortrag auf dem Symposion »Zweimal Österreich – nach 1918 und nach 1945«, ca. 1978 (als Sonderdruck in der ÖNB Wien vorhanden).

Archivalische Quellen Archiv der Universität Graz VA 1, Nr. 3.

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Antisemitismus in Tirol 1933 bis 1938 Gedankenspiele und Fakten zu einer fast unveröffentlichten Normalität

Am Beginn des Vortrages im Rahmen der Konferenz »Antisemitismus in Österreich 1933–1938«, in deren Rahmen dieser Beitrag entstand, lud der Autor desselben das zahlreich anwesende Fachpublikum zu einer gedanklichen Zeitreise ein. Wo waren Sie, man schrieb das Frühjahr 2015, im Frühjahr 2000 gewesen  ? Für ganz junge oder nichtösterreichische TeilnehmerInnen der Konferenz war das vielleicht etwas zu viel verlangt, für alle anderen nach kurzer Recherchearbeit jedoch leicht zu beantworten  : Es war ein sehr politisches Frühjahr gewesen, alle hatten sich entweder für oder gegen die erste blau-schwarze Regierung (auch Kabinett »Schüssel-Haider« oder »Schüssel-Riess-Passer«) gestellt. Auf diesen kurzen Erinnerungsmoment folgte die Frage  : Wie denkt man heute zu diesem Thema  ? Hat sich in den 15 Jahren seither die Weltanschauung der Anwesenden substantiell geändert  ? Ist man der selbe politische Mensch  ? Der eine Grund für diese etwas ungewöhnliche Einleitung zu einem wissenschaftlichen Vortrag liegt in der spezifischen Quellenlage des Themas. Über den Antisemitismus in Tirol in der Zwischenkriegszeit wurde, auch vom Autor, schon einiges publiziert.1 Das, was alle diese Arbeiten verbindet, ist die Besonderheit, dass spätestens ab dem Verbot der  – in Tirol ja bei Wahlen schon besonders stark gewordenen2  – NSDAP im Juni 1933 eine lokale Form der publizistischen Selbstbeschränkung Platz griff  ; wenn man will, war es so ähnlich wie bei dem Phänomen, dass der ORF von Anfang 2000 bis zu den Ereignissen von Knittelfeld keine drei Haider-kritischen Minuten senden konnte oder wollte  ; so ähnlich verschwanden unter den strengen Augen der Selbstzensur Mitte 1933 gewisse Themen völlig aus der überschaubaren Tiroler Medienlandschaft  : einerseits natürlich NSDAP-freundliche Berichte und praktisch gleichzeitig auch der offen artikulierte Antisemitismus. Der lokal publizierte Judenhass zog sich für viereinhalb Jahre in sein Bleiletternschloss zurückgezogen, nur um dann 1938 mit doppelter Gewalt zurückzukehren. Der zweite Grund für die einleitende Frage lag im Umstand begründet, dass in Tirol über viele Jahre, mehr oder we1 Hofinger 1994  ; Streiflichter zum Antisemitismus in Tirol: Sturzflüge 5 (1986). 2 Bei Nachwahlen in Innsbruck im April 1933 erreichte die NSDAP 41,1 Prozent der Stimmen.

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niger über die gesamte Periode der Ersten Republik, die selben politischen Eliten am Werke waren  ; teilweise änderten sich die Namen der Protagonisten, manche Männer bestimmten aber über Jahrzehnte hinter den Kulissen die regionale Parteipolitik und die Geschicke der Kirche. Es gab auf der »rechten« Seite eine aus eigentlich verfeindeten konservativen und christlichsozialen Gruppen mühsam geflickte katholische Partei, die als »Tiroler Volkspartei« bei den Wahlen antrat (und diese stets mühelos gewann) sowie eine aus liberalen und deutschnationalen Kleinparteien variabel und ständig neu formierte Gruppe, die ihr WählerInnenpotenzial wegen dieser organisatorischen Probleme nie ausschöpfen konnte. Dazu auf der »linken« Seite einen fast erratischen sozialdemokratischen Wählerblock, der in Tirol immer um die 20 Prozente erreichte. In Tirol fanden im April 1929 die letzten Landtagswahlen vor 1945 statt. Die dominierende Kraft in der Tiroler Volkspartei war, aus Gründen der besseren Organisation und natürlich auch der demographischen Zusammensetzung des agrarisch dominierten Landes, der 1904 gegründete Tiroler Bauernbund. Unter den Gründungsmitgliedern im Südtiroler Sterzing war auch der Publizist und Priester Sebastian Rieger (1867 St.Veit/Defreggen–1953 Hall/Tirol), bekannter unter seinem nom de plume Reimmichl. Rieger schrieb Romane, gab lange die Wochenzeitung »Der Volksbote« heraus und nützte später die Popularität seiner Volkskalender, um auch in den Leseecken der bildungsfernen Schichten Tirols wahrgenommen zu werden. Anfang 1904, also kurz vor der Gründung des Bauernbundes, berichtet Rieger über ein langes Gespräch seines fiktiven »Bötl-Mannes« im Gespräch mit dem fiktiven Bauern »Hias«  : »›Bötl-Schreiber‹, sagte der Hias, ›letzthin seid Ihr, du und der Kemater, aber schon brennheiß über die Juden her gewesen, habt den Juden das Schlechteste alles nachgesagt und möchtet sie gar ausjagen, wie mir scheint. […] die Sache kommt mir jetzt alleweil bedenklicher vor […]. Ein Gescheiterer, als ich bin, hat mir gesagt, die Judenhetzerei sei unchristlich und gegen die Nächstenliebe. Mir will das fast einleuchten  ; es hat ja Unser Herr selber befohlen, den Nächsten zu lieben, und der Katechismus sagt ›unser Nächster sei jeder Mensch, Freund und Feind‹. ›Lieber Freund‹, erwiderte ich, ›was wir, der Kemater und ich, getan haben, ist keine Judenhetzerei, sondern nur Schutz für die Christen. […] Uebrigens will ich dir auf deine Bedenken eine genauere Antwort geben  ; fassen wir nur den Bock gleich bei den Hörnern. – Zuerst eine Frage  : Meinst du, daß wir etwas Erlogenes über die Juden ausgesagt oder übertrieben haben  ?‹ – ›Das weiß ich nicht‹, sagt der Hias, ›aber mir scheint es fast‹. ›Lieber Freund‹, erklär’ ich, ›viel zu wenig haben wir noch gesagt. […] Ueberall, wo gegen die Christen eine rechte Lumperei aufgeführt wird, sind die Juden im Spiel. Wo nur einmal mehrere Juden unter Christen hinkommen, da werden die christlichen Bürger und Bauern von Jahr zu Jahr ärmer, die Juden aber immer reicher

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und doch arbeiten die Juden nicht, sondern saugen durch ihren Wucher und Betrug wie ein Blutegel die Christen aus  ; wo die Juden in der Mehrheit sind, schinden sie den Christen bis aufs Blut wie in Galizien. Ueberall, wo einmal mehr Juden hinkommen, geht’s mit der Sittlichkeit abwärts. Die Juden sind die schlimmsten Verführer. Die Juden spotten am offensten und frechsten über unseren Glauben, sie drucken die religionsfeindlichsten und unflätigsten Schriften und Zeitungen und verpesten dadurch das christliche Volk«.3 Und es geht die gesamten ersten beiden Seiten so weiter. Rieger propagierte abwechselnd Pogromstimmung, Warenboykott und rassisch vorsortierte Nächstenliebe (»Vater und Mutter, Geschwisterte, Verwandte, Glaubensgenossen, Landsleute, und dann erst Türken, Juden und Heiden«). Dies ist ein schönes Beispiel für die Strategie der jungen christlichsozialen Politikergeneration in Tirol, sich auf die ersten allgemeinen freien Wahlen für Männer 1907 vorzubereiten. Das Thema Antisemitismus sollte nicht den deutschnationalen Parteien überlassen werden und neben der Abgrenzung (durch Anpassung) zum politischen Gegner war es auch eine klare Kampfansage an die elitär-konservativen Kreise im katholischen Lager, für die der Antisemitismus keine Priorität zu sein schien. Über 20 Jahre später, da schon für seine Volkskalender-Ausgabe 1925, adaptierte Rieger seinen wohl dazwischen bei vielen Gelegenheiten mündlich vorgetragenen antisemitischen Standard-Ausfall und schreibt über die ersten Jahre der Republik  : »Der Ewige Jude. Seit zweitausend Jahren liegt auf dem Judenvolk ein Fluch, der es nicht zur Ruhe kommen läßt. Zersplittert, zerfahren, rastlos, friedlos, glücklos irrt es unter den Nationen herum, sucht seinen Unfrieden und seine Zerrüttung auch den anderen Völkern aufzudrängen und bildet die Zuchtrute für alle Staaten und Gesellschaftskreise, die Gott verlassen haben. Nicht nur dem christlichen Gelde jagt der Jude nach, sondern er unterminiert auch absichtlich und planmäßig Glauben und Sitte, Frieden und Freundschaft, Glück und Ordnung bei den christlichen Völkern. Wo der Jude zukommt, zersetzt und verhetzt er alles. Die Sozialdemokratie ist mit Haut und Haar dem Judentum verschrieben, von dem sie auch geführt wird, und darum reißt sie in echt jüdischem Haß alles nieder, worauf seit zwei Jahrtausenden Wohlfahrt und Glück der Völker begründet waren.«4 Der Antisemitismus hat sich, wie alle hauptsächlich auf diffusen Ängsten beruhenden Vorurteile gegen Fremde, stets als außergewöhnlich wandelbar herausgestellt. Im Jahr 1925 waren die Juden in den Augen Riegers nun also die Patrone des neuen politischen Gegners, der Sozialdemokratie. 3 Der Volksbote, 20.3.1904, 1f. Scans unter http://digital.tessmann.it/tessmannDigital/Zeitungsarchiv/ Seite/Zeitung/36/1/20.03.1904/122078/1 (7.11.2017). 4 Reimmichlkalender 1925, 161.

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Dieser Geist, der durch die beiden Artikel weht, überstand in Tirol mühelos alle Zeiten und scheinbaren Umbrüche. Legendär ist in diesem Zusammenhang ein sehr ähnlich aufgebauter Artikel des Chefredakteurs der Tiroler Tageszeitung Rupert Kerer aus dem Jahr 1980.5 Sebastian Rieger alias Reimmichl blieb über die gesamte Dauer der Ersten Republik ein prägender geistiger Führer der christlichsozialen Wählerschaft und des Tiroler Bauernbundes – ohne selbst je ein politisches Amt zu bekleiden. In den Jahren 1933 bis 1938 hielt er sich zu diesem seinem Leibthema auffällig zurück  ; hier wird wohl die Staatsräson den zornigen Mann aus Osttirol dazu bewogen haben, die Wirkungsgrenzen seiner rassistischen Rundumschläge enger zu stecken. Szenenwechsel zur »antisemitischen Eventkultur« der ersten Jahre nach dem Ersten Weltkrieg  : Das abenteuerliche Programm des 1919 in Innsbruck gegründeten Tiroler Antisemitenbundes wurde schon in früheren Publikationen ausführlich besprochen.6 Interessanter ist die etwas eingehendere Betrachtung jener Gruppe von Männern, die nun in der neuen Staatsform Republik ihr Heil in der Verteufelung der Juden suchten. In Tirol herrschten nach dem Krieg aus mehreren Gründen völliges politisches Chaos und schon zu Beginn des Winters echter Hunger. Die Vordenker des Tiroler Antisemitenbundes (solche Vereine wurden zu dieser Zeit in mehreren Bundesländern gegründet) waren großteils bereits etablierte Politiker  ; dazu gesellten sich Persönlichkeiten aus dem kulturellen Hegemonialkonzept »Germanisierung” und ein paar Veteranen des Weltkrieges. Hinten drein ritten die Studenten, die sich sowohl aus den katholischen Verbindungen wie auch aus den deutschnationalen Burschenschaften und Corps korporativ dem Bund anschlossen. Das am leichtesten zu besetzende Thema im auch an realistischen Verbesserungsmöglichkeiten armen Tirol bot sich Ende 1919 in einer Total-Schuldzuweisung für alles, was in den Jahren zuvor schlecht gelaufen war, an die Juden. Dabei konnten die etwa 400 in Innsbruck gut integrierten Personen jüdischen Glaubens nicht wirklich als Projektionsfläche für den namenlosen Zorn der Tirolerinnen und Tiroler dienen  ; zudem waren deren Söhne auch an den Fronten gefallen und die Betriebe hatten im nun geteilten Tirol enorme Einbußen zu verkraften. Neben seiner Anpassungsfähigkeit ist vielleicht die zweite auf alle Formen des Antisemitismus zutreffende Eigenschaft jene, dass lokale positive Gegenbeispiele nie dazu beitragen, eine globale Stimmung oder Verschwörungstheorie nachhaltig zu erschüttern. Die junge Innsbrucker Israelitische Kultusgemeinde brachte es eigentlich schon auf den Punkt, als sie in einem Protestschreiben an die Landesregierung analysierte  : 5 Kirche, Antisemitismus, in  : Tiroler Tageszeitung, 16.2.1980. 6 Hofinger 1994, 88ff.

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Abb. 1  : Richard Steidle. Abb. 2  : Andreas Thaler. Abb. 3  : Sepp Straffner.

»Die Tiroler Landesregierung hat am 12. ds. im Wege der Presse an die Tiroler Bevölkerung die Mahnung ergehen lassen, Ruhe und Besonnenheit zu bewahren und sich zu keinerlei Ausschreitungen hinreißen zu lassen. – Das hat jedoch einige Herren, u. a. auch Landesräte, nicht abgehalten, noch am selben Tage eine Sitzung zwecks Gründung eines Pogrom Komitès einzuberufen. Im Verlaufe der Besprechung sollen mehrere Redner sich dafür ausgesprochen haben, die herrschende, wirtschaftliche Not politisch auszubeuten, insbesondere aber die latente Ernährungskrise und die damit verbundene Erregung der Bevölkerung zur Veranstaltung von Judenhetzen zu benützen.«7

7 Beschwerdebrief der Israelitischen Kultusgemeinde Innsbrucks an die Tiroler Landesregierung (ohne

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Zurück zu den Protagonisten des »Tiroler Antisemitenbundes«. Diese waren wie erwähnt etablierte Politiker, allen voran Richard Steidle (1881–1940), der als Landesrat von 1918 bis 1921 zum ersten Mal in der Landesregierung saß. Seine Aktivitäten waren breit gefächert, besonders für die 1920 gegründete »Tiroler Heimatwehr«, eine der Formationen, die dann in den Folgejahren unter seiner Führung österreichweit fusionierten. Steidle, ein extremer NS-Gegner, der in Innsbruck auch in nationalsozialistische Demonstrationen hatte schießen lassen. Es ist wohl die Taktik des Waffengängers, in einer akuten Versorgungsnotsituation statt zur Beruhigung zur Eskalation aufzurufen. Steidle wurde 1938 verhaftet und 1940 in Buchenwald ermordet. Obmann des Tiroler Antisemitenbundes war der Landwirtschaftsminister und Brasilien-Emigrant Andreas Thaler (1883–1939). Seine politische Tätigkeit reichte vom Ortsvorsteher über ein Tiroler Landtagsmandat bis zum österreichischen Landwirtschaftsminister. In den Versammlungen des Antisemitenbundes führte er durch das Programm und diente sowohl durch seine rustikale Erscheinung als auch Sprechweise als ultimativer Beweis, dass die antisemitische Bewegung aus dem Volke heraus entstanden sei. Politischen Vorteil konnte der Bauernbund daraus ziehen, dass die hungrigen Tiroler Bauern auf den äußeren Feind hingewiesen wurden, um das Versagen der eigenen Führung erträglicher zu machen. Nächster Protagonist des Bundes ist für die Schönerianer in der Großdeutschen Volkspartei Sepp Straffner (1875–1952). Er war Eisenbahner und wurde nach einigen Perioden im Tiroler Landtag auch in den Nationalrat gewählt, als dessen letzter Präsident er am 4. März 1933 zurücktrat. Auch in der konstituierenden Nationalversammlung 1919 brachte Straffner mit den Großdeutschen einen Mix aller bekannten antisemitischen Forderungen vor.8 Es hätte nicht überrascht, wenn die deutschnationalen Bewegungen in Tirol die Wortführer des Antisemitismus gegeben hätten. Sie waren allerdings als politische Gruppe zu wenig gewichtig und mussten den großen Parteien den Vortritt lassen. Der kirchliche Verbindungsmann im Antisemitenbund war der Prämonstratenser Dominikus Dietrich (1871–1951). Er trat auf den Versammlungen auf und publizierte in Serie sein immer gleiches Pamphlet, teilweise anonym,9 teilweise im Pius-Vereins-Blatt. Die Amtskirche hatte in Tirol wenig von den etablierten politischen Gruppen zu befürchten  ; bei einer Räte-Revolution wie im nahen München oder einer roten Regierung wie im fernen Wien schwanden die katholischen Einflüsse allerdings Datum  ; Ende 1919), unterschrieben von Landesrabbiner Dr. Josef Link und Kultusgemeindevorstand Wilhelm Dannhauser, Tiroler Landesarchiv (TLA) 624-XII 76c-1921 prs. 8 Albrich-Falch 2013, 38f. 9 Anonym 1920.

Antisemitismus in Tirol 1933 bis 1938

gelegentlich schneller, als man das für möglich gehalten hatte. Die Kirche hatte beim Thema Funktionalisierung der Judenfeindschaft im Volke auch die meiste Erfahrung. Da alle Couleurstudenten bei den Versammlungen Ordnerdienste verrichteten, waren aus der Reihe späterer Tiroler Funktionäre des »Ständestaates« der Bürgermeister der Stadt Innsbruck Franz Fischer, der Tiroler Landeshauptmann Josef Schumacher wie auch Bundeskanzler Kurt Schuschnigg Teil dieser prägenden Massenversammlungen. Als junge Männer standen sie im Innsbrucker Stadtsaal und applaudierten zu Forderungen, die weiter reichten als die Nürnberger Gesetze Jahre später. Ein für größere Universitäts-Städte, insbesondere Wien, »normaler« Konflikt, nämlich jener zwischen den jüdischen und den organisierten nichtjüdischen Studenten, fand in Innsbruck eigentlich nicht statt. Das hatte natürlich in erste Linie den Grund, dass die jüdische StudentInnengruppe so klein war,10 dass sie gar nicht als Gruppe wahrgenommen wurde  ; auf der Ebene der Assistenten- und Professorenberufungen warfen sich die deutschnationalen Burschenschaften jedoch mit voller Kraft in den imaginierten Abwehr-Kampf gegen Bestellungen, die ihren rassischen Ideen nicht genehm waren. Ein absurdes Beispiel ist dabei die Aufregung um den katholischen (aber aus jüdischer Familie stammenden) Zahnmediziner Wilhelm Bauer. Er deklarierte sich öffentlich als deutschgesinnt, nannte zu seiner Ehrenrettung gemeinsame Unternehmungen mit Richard Steidle und Dominikus Dietrich zum Schutze der Deutschböhmen vor den Tschechen, allein der studentische Mob auf der Universität glaubte die »Verjudung« der Innsbrucker Hochschule nur so vermeiden zu können, indem man gleich jede Anstellung einzeln zu verhindern trachtete. Wilhelm Bauer blieb trotzdem bis 1938 an der Universität und musste gleich nach dem »Anschluss« 1938 in die USA fliehen. Von seiner Enkelin erfuhr der Autor, daß er sein Leben lang kein Wort über eine jüdische Abstammung der Familie verloren hatte.11 Eine Stellvertreter-Rolle im der höheren Staatsräson geschuldeten publizistischen Vakuum der 1930er Jahre nimmt die breite Berichterstattung zu den künstlerisch wie inhaltlich äußerst dürftigen »Anderle-Spielen« in Rinn ein. Bei diesem von Kooperator Gottfried Schöpf verfassten Stück brillierte die Speckbacher-Theatergesellschaft von Rinn in mehr als 30 Aufführungen ab November 1935. Das religiös-volkstümliche Drama um eine erfundene Ritualmordlegende wurde vom katholisch-konservativen »Allgemeinen Tiroler Anzeiger« schon bei der Premiere als »Allerseelenspiel für den Menschen unserer Zeit« bezeichnet. Der bekannt antisemitische Theater-Re10 Den größten Anteil erreichten jüdische Studenten im WS 1932/33 mit knapp über 1 Prozent der Inskribierten (32 von 3.121). 11 E-Mail-Verkehr des Autors mit Pat Hynes, NJ, USA.

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dakteur Karl Paulin erkannte bei der dreißigsten Aufführung die Qualitäten des Stückes  : »Aus dem Volke geboren, für das Volk geschrieben, vom Volke dargestellt, das sind die Gründe, die dem Spiel vom ›Judenstein-Anderle‹ naturnotwendig immer neuen Reiz verleihen und seine ewige Dauer gewährleisten.«12 Bei solchen Arien der Bewunderung für ein Laienschauspiel, da stand für den Autor wohl sein eigenes Bedürfnis nach freiem antisemitischem Ausdruck im Vordergrund des Dichtens. Die Allianz Kirche und Antisemitismus ist hier in perfekter Form gelungen  : Ein Priester schrieb ein judenfeindliches und doch moralisches Stück. Am Anderle-Tag (dem Patrozinium der Kirche am 12. Juli) wurden gleich zwei Vorstellungen gegeben. Eine eigene Untersuchung wert wäre wohl die Tätigkeit des persönlich vermutlich unterhaltsamen, jedenfalls hoch sprachbegabten, wissenschaftlich aber völlig obskuren Albert Drexel (1889–1977). Sein 1936 in Innsbruck publiziertes Buch »Die Judenfrage in wissenschaftlicher Beleuchtung«13 ist ein gutes Beispiel für die gehemmte Lust in katholischen Kreisen, gleichzeitig in aller Konsequenz antisemitisch sein zu wollen und doch irgendwie einen halben Schritt vor den Parolen der Nationalsozialisten halt zu machen. Drexel war ein studierter Theologe, der über Jahre vom späteren apostolischen Administrator der Diözese Innsbruck, dem prononciert antisemitischen Sigismund Waitz, gefördert worden war. Über das Studium der Philosophie und der afrikanischen Sprachen in die missionarische Ausbildung geraten, eröffnete er in Innsbruck 1928 eine »missionswissenschaftliche Anstalt«, schon vorher (1924) ein »Afrikanisches Institut«, dem er dann 1935 ein »Institut für Rassenforschung« anschloss. In weiten Strecken seiner Publikation liest sich Drexel wie ein Standardwerk des rassischen Antisemitismus. Er sah »wirtschaftliche Überwucherungen«, erkannte rassetypische vorderasiatische psychologische Eigenschaften und wollte ständig eine von ihm herbeigeschriebene Judenfrage lösen. Nach 36 Seiten des Lavierens über ein Thema, bei dem man ständig das Gefühl hat, er würde gerne alles wieder so beim Namen nennen, wie man das in den 1920er Jahren hatte tun dürfen, schrieb er als ultima conclusio in gesperrter Schrift  : »Nur wer dies alles bedenkt und in seinen Entscheidungen und Handlungen berücksichtigt, wird gerecht und vornehm zugleich, menschlich und doch konsequent dem jüdischen Menschen und Volk das zubilligen, was ihm sittlich nicht vorenthalten werden darf, und das ihm verwehren oder nehmen, was er sich zum Schaden der Allgemeinheit, und im Bann und Geiste der Selbstsucht, Schlauheit und Anmaßung an sich gebracht hat oder an sich bringen will.«14 12 Allgemeiner Tiroler Anzeiger, 10.6.1936, 14. 13 Drexel 1936. 14 Ebd., 36.

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Es scheint, dass sich die Judenfeindschaft in Tirol in den 1930er Jahren bis auf wenige Ausnahmen tatsächlich in eine Art privaten Raum zurückgezogen hatte  ; die Gründe der Fast-nicht-Publikation lagen wohl einerseits im Unruhe stiftenden Aspekt radikal antisemitischer Hetze  – was den aktuellen Machthabern selten willkommen ist. Das Thema war zudem von den illegalen und daher medial tendenziell totgeschwiegenen Nationalsozialisten besetzt. »Bessere« Antisemiten als die Nazis zu sein, wäre den Ständestaatsfunktionären dann auch nicht gelungen. In den wenigen publizierten Schriften gehen die Autoren viel weniger weit, als sie das gewohnheitsmäßig um 1900 und 1920 durchaus getan hatten. Der Auswanderungsdruck auf die in Tirol lebenden Juden blieb erträglich. Nur einige jüngere Zionisten vertrauten der Ruhe nicht und gingen in den 1930er Jahren nach Palästina. Alle anderen erwartete im März 1938 eine in den Jahrzehnten zuvor von beinahe allen politischen und religiösen Eliten Tirols ideologisch mit vorbereitete Katastrophe.

Abbildungen Abb. 1  : Tiroler Hochland. Monatsschrift der Innsbrucker Nachrichten, Juli 1919. Abb. 2  : ebd. Abb. 3  : ebd.

Literatur und gedruckte Quellen Albrich-Falch, Sabine, Jüdisches Leben in Nord- und Südtirol von Herbst 1918 bis Frühjahr 1938, in  : Albrich, Thomas (Hg.), Jüdisches Leben im historischen Tirol, Bd. 3  : Von der Teilung Tirols 1918 bis in die Gegenwart, Wien ua. 2013, 11–186. Allgemeiner Tiroler Anzeiger 1936, 14. Anonym, Die Juden im Staate Deutschösterreich (handschriftlich in der U.B. Innsbruck dem Autor Dietrich zugeordnet), 1920. Drexel, Albert, Die Judenfrage in wissenschaftlicher Bedeutung (Monographien zu Rassenkunde 1), Innsbruck 1936. Hofinger, Niko, »Unsere Losung ist  : Tirol den Tirolern  !«. Antisemitismus in Tirol 1918–1938, in  : Zeitgeschichte 21 (1994), Heft 3/4, April 1994, 83–108. Reimmichlkalender 1925. Sturzflüge 5 (1986), Heft 15/16. Tiroler Tageszeitung 1980. Der Volksbote 1904.

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Archivalien u. a. E-Mail-Verkehr des Autors mit Pat Hynes, NJ, USA. Tiroler Landesarchiv (TLA) 624-XII 76c-1921 prs.

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Antisemitismus in Vorarlberg 1933 bis 1938

Am 10. April 1933 brachte das mit dem Nationalsozialismus sympathisierende »Vorarlberger Tagblatt« unter dem Titel »Gleichschaltung mit dem Reich  ?« die folgende Kurzmeldung aus Dornbirn  : »Am Samstag morgen bot sich Fußgängern vor einem Geschäft in der Marktstraße ein sonderbarer Anblick. Auf dem Gehsteig waren die in roter Farbe gemalten Worte zu lesen  : Kauft nicht bei Juden  !«1 Die antisemitische Schmieraktion galt, wie das christlichsoziale »Vorarlberger Volksblatt« knapp berichtete, dem »Wiener Kleider- und Konfektionsgeschäft« von Bernhard Schwarz.2 Schwarz war einer der wenigen Juden, die in den 1930ern in Dornbirn und überhaupt ganz Vorarlberg lebten. 1862 in Niederösterreich geboren, war er um die Jahrhundertwende nach Dornbirn gekommen, hatte sich dort als Schneider und Kaufmann niedergelassen und im Jahr darauf eine aus Wien stammende Frau (Olga Bergler) geheiratet.3 Um das Jahr 1930 verlegte Schwarz sein Schneidergeschäft in die Marktstraße 63, dem kommerziellen Zentrum Dornbirns,4 wo sich der beschriebene Vorfall zutrug. Die Schmieraktion vom 8.  April habe dem »Volksblatt« zufolge allgemein »Heiterkeit erregt«, wiewohl sie auf ein betagtes, kinderloses Ehepaar zielte, das angesichts seiner schwierigen wirtschaftlichen Situation noch mit über 70 ein Geschäft zu führen hatte. Olga Schwarz starb 1936 an einem Krebsleiden und im selben Jahr musste ihr Ehemann das Geschäft in der Marktstraße aufgeben. Bernhard Schwarz kam schließlich 1939 völlig mittellos in das städtische Armenhaus, wo er im Februar 1940 verstarb. Mit seinem Tod galt die Stadt den Nationalsozialisten zumindest offiziell als »judenfrei«.5 Ob der antisemitische Boykottaufruf vom April 1933 die prekäre Situation von Schwarz an seinem Lebensabend noch verschlimmerte, bleibt ungewiss. Die jede Sympathiebekundung oder gar Verurteilung vermeidende Presseberichter-

1 Vorarlberger Tagblatt, 10.4.1933, 4. 2 Vorarlberger Volksblatt, 11.4.1933, 5. 3 Eintrag Bernhard Schwarz, in  : Jüdisches Museum Hohenems, http://www.hohenemsgenealogie.at (28.9.2015). 4 Eintrag Marktstraße 65, in  : Stadtarchiv Dornbirn, http://lexikon.dornbirn.at/Marktstrasse-63.535 6.0.html (28.9.2015). 5 Böhler 2005, 186.

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stattung über die Boykottaktion zeigt allerdings, wie es um das gesellschaftspolitische Klima in Vorarlberg schon Anfang 1933 bestellt war.6 Der Vorfall macht auch eines deutlich  : Obwohl die Zahl der Juden und Jüdinnen in Vorarlberg in den 1930er Jahren äußerst gering war  – im ganzen Land registrierte die Volkszählung 1934 42 Personen jüdischen Glaubens und auch die Zahl der Konvertiten dürfte nicht allzu groß gewesen sein7  – so blieben sie auch schon vor dem »Anschluss« im März 1938 nicht vor antisemitischen Übergriffen verschont. Allerdings waren tätliche Attacken auf Vorarlberger Juden und Jüdinnen noch nicht an der Tagesordnung.8 Dazu war wohl auch die sichtbare Präsenz von als solchen »identifizierbaren« Juden zu gering.9 Dennoch waren antisemitische Äußerungen in der Form von Zeitungsartikeln, politischen Ansprachen, Flugblättern und Ansprachen von der Kanzel Teil des Alltags.10 Am Tag der Dornbirner Schmieraktion erklärte die Herausgebergesellschaft des »Vorarlberger Tagblattes«, ihre Zeitung sei »rein« und würde »keine erkennbare[n] jüdische Geschäftsanzeigen« abdrucken. Man könnte es als Zufall abtun, aber die Vorarlberger Buchdruckerei-Gesellschaft11 hatte ihren Sitz am anderen Ende der   6 Zur Zwischenkriegszeit in Vorarlberg jüngst Pichler 2015, 151–224.   7 Die Volkszählung von 1939 ergab für Tirol mit Vorarlberg 157 Juden im Sinne des Reichsbürgergesetzes von 1935 (RGBl. I 100/1935). 1934 hatten in Tirol 365 Personen der Israelitischen Kultusgemeinde angehört. Statistisches Handbuch für den Bundesstaat Österreich 16 (1936), 6  ; Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 58 (1939/40), 26, vgl. auch Albrich-Falch 2013, 14.   8 Auch wenn die Überlieferungslage äußerst dünn ist, können physische Übergriffe nicht ausgeschlossen werden. Ein dokumentierter und zugleich besonders drastischer Fall ist der Sprengstoffanschlag auf das Haus der jüdischen Familie Elkan in Hohenems durch illegale Nationalsozialisten am 23. Jänner 1934  ; Bundschuh 2006.   9 Diesen »Mangel« kompensierten die lokalen Antisemiten traditionell durch besonders drastische Erzählungen über die Situation in Wien und andernorts. Kurt Greussing hat dies auch schon für die antisemitische Presse der Jahrhundertwende festgestellt  : »Da es aus Vorarlberg selbst offenbar nicht genügend über Juden zu berichten gab, wurde reichlich auch aus […] anderen Gegenden zitiert«, Greussing 1992, 61. 10 Im »Vorarlberger Tagblatt« druckte man im März 1936 eine Liste von Bregenzer Einwohnern ab, welche die Schriftleitung als »Vorhut« einer angeblich drohenden »jüdische[n] Masseneinwanderung« zu identifizieren glaubte. »Vorarlberg hat an den 42 bei der Volkszählung 1934 verzeichneten Juden gerade genug«, hieß es im Artikel. Und weiter  : »Die alteingesessenen Alemannen werden gut tun, nach dem Rechten zu sehen, wenn sie sich nicht von den jüdischen Einwanderern verdrängen lassen wollen.« Vorarlberger Tagblatt, 18.3.1936, 1. 11 Die Buchdruckerei-Gesellschaft war 1914 als dezidiert »völkischer« Druckereiverlag durch Exponenten des deutschnationalen Lagers gegründet worden. Bis 1933 hatte sie ein ausgesprochenes Naheverhältnis zur Großdeutschen Volkspartei. Im Frühjahr 1933 vollzog sie, schneller noch als die Großdeutschen selbst, den Schwenk in Richtung NSDAP  . Zur Geschichte der Gesellschaft siehe Vogel 2004, 31–33, 299.

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Marktstraße, im Haus Nr. 12. Erst zu Beginn derselben Woche hatte die Buchdruckerei-Gesellschaft die Herausgabe der Zeitung von der Großdeutschen Volkspartei, mit der sie ein Nahverhältnis pflegte, übernommen.12 Erklärtes Ziel der geänderten Herausgeberschaft war es, das »Tagblatt« nun »allen deutschvölkischen und freiheitlichen Kreisen zur einwandfreien Benützung im Kampfe um unser Hochziel eines freien, einigen und dadurch großen Alldeutschland zur Verfügung« zu stellen. Damit vollzog man in der journalistischen Praxis die seit der »Machtübernahme« der Nationalsozialisten im Deutschen Reich sich immer stärker beschleunigende Amalgamierung von Großdeutschen und Nationalsozialisten in Vorarlberg. Freilich blieben die maßgeblichen Akteure dieselben. Wie schnell diese Annäherung vor sich ging, illustriert ironischerweise ein mit antisemitischer Argumentation gegen die »Innsbrucker Nachrichten« gerichteter Kommentar, der nicht einmal zwei Wochen zuvor, noch unter alter Herausgeberschaft, erschienen war.13 Die »Innsbrucker Nachrichten«, so stellte der Schreiber klar, seien keine großdeutsche Zeitung wie das »Tagblatt«, sondern ein nationalsozialistisches Organ. Und so sei es doch »seltsam, wenn ein nationalsozialistisch gerichtetes Blatt massenhaft Inserate von Judenfirmen bringt und deshalb überaus judenfreundlich eingestellt ist.«14 Vor diesem Hintergrund ist auch die kurz daraufhin publizierte Beteuerung zu verstehen, das »Tagblatt« selbst würde keine »jüdischen Geschäftsanzeigen« bringen. Die ehemaligen parteipolitischen Rivalitäten innerhalb des deutschvölkischen Lagers hatten sich binnen weniger Tage bereits überholt. Das lag im Fall Vorarlbergs nicht zuletzt am bestimmenden Miteigentümer der Vorarlberger Buchdruckereigesellschaft, dem Dornbirner Rechtsanwalt und langjährigen großdeutschen Funktionär Anton Zumtobel.15 Dieser war bis zur Übernahme des Blattes durch die NSDAP nach dem »Anschluss« maßgeblich für das »Vorarlberger Tagblatt« verantwortlich. Unter Zumtobels Herausgeberschaft führte das Blatt seinen etablierten antisemitischen Kurs weiter. Das Spektrum der antisemitischen Inhalte reichte von affirmativer Berichterstattung über die antijüdischen Aktionen im Deutschen Reich, über die Diffamierung jüdischer Künstler16 bis zum Kampf 12 Vorarlberger Tagblatt, 3.4.1933, 1. 13 Vorarlberger Tagblatt, 23.3.1933, 4. 14 Ebd. 15 Anton Zumtobel (1876–1947), langjähriges Mitglied und Parteiobmann der Deutschfreisinnigen Partei, ab 1930 der Großdeutschen Partei. Im Jahr 1933 Eintritt in die NSDAP. Zwischen 1919 und 1932 Abgeordneter zum Vorarlberger Landtag. Im Hauptberuf Rechtsanwalt, daneben zahlreiche Vereinsmitgliedschaften und (Ehren-)Ämter. 16 Beispielhaft sei nur ein Hetzartikel gegen Stefan Zweig erwähnt. Zweig wurde darin unterstellt, die deutsche Sprache nicht zu beherrschen, weshalb dessen »mauschelnde[r] Tonfall« durch den Verlag erst übersetzt werden müsste. Trotzdem höre man aus Zweigs Worten den »Tonfall Ostgaliziens«, Vorarlberger Tagblatt, 26.1.1933, 4.

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gegen die »verjudete« Sozialdemokratie in Wien.17 Berichte, die einen direkten geographischen oder persönlichen Bezug auf Vorarlberg aufweisen, demonstrieren in der Mehrzahl, wie Antisemitismus als wirtschaftliches Instrument gegen unliebsame Konkurrenz genützt wurde. Ein Dorn im Auge waren den deutschnationalen Schreibern dabei sowohl kleine Hausierer als auch große Versandfirmen, welche den als »bodenständig« apostrophierten Handelsunternehmen des Landes Konkurrenz machten. So berichtete Mitte April 1933 ein Korrespondent aus Bregenz in durchaus typischer Manier und gespickt mit antisemitischen Topoi über den Hausierhandel im Lande  : »Gegenwärtig scheint nun Vorarlberg für den Hausierverschleiß von Radiogeräten durch Reisende bei einem gewissen Volke, das seiner aufdringlichen Art wegen berühmt ist, besonders beliebt zu sein. Die fremdrassigen Hausierer jagen die Kunden irgendeinem Bankgeschäft zu hohen Zinsen schonungslos in die Hände. […] Es liegt daher im Nutzen des Käufers, der sich dadurch viel Aerger und Unannehmlichkeiten erspart, sich vor dem Ankaufe bei einem heimischen Fachgeschäfte zu erkundigen.«18 Noch häufiger fanden sich allerdings Klagen über die großen Versandhäuser, meist aus Wien. In den Artikeln und Kommentaren finden wir grundsätzlich zwei diskursive Strategien  : zum einen das Argument des Betrugs an den Kunden, wie im vorherigen Beispiel, zum anderen jenes des Betrugs an den Werktätigen und Produzenten als (Volks-)Gemeinschaft. Ersterem zufolge seien die angebotenen Waren durchwegs minderwertig, und die Käufer würden in betrügerische Finanzierungsinstrumente – selbstverständlich zu überhöhten Zinsen – gedrängt. Dem anderen zufolge würden die kapitalistischen Großproduzenten die Löhne und Preise drücken und so die mittelständischen Rohstoffhersteller und die »einheimischen« Arbeitnehmer in die Armut drängen. Vereint dienten beide Argumente zur Erklärung der krisenhaften Wirtschaftslage, die dem »jüdischen Großkapital« angelastet wurde.19

17 Berichte dieser Art bemühten in der Regel den Topos der angeblich durchwegs »jüdischen« Führerschaft der Sozialdemokraten. Einen Parteikongress kommentierte das Tagblatt Ende April 1933 entsprechend  : »Wie auf allen Parteitagen der Sozialdemokratie waren auch in Wien wieder Juden die Hauptredner, diesmal Dr. Danneberg und Dr. Bauer.« Vorarlberger Tagblatt, 21.4.1933, 4. 18 Vorarlberger Tagblatt, 13.4.1933, 5f. 19 Diese Argumentation fiel bei der kleinbürgerlichen Leserschaft des Tagblatts sicherlich auf fruchtbaren Boden  : »Der ›alte Mittelstand‹ (Kleinkaufleute, Handwerker, Kleinhändler) sieht sich durch die Monopolisierung von Handel und Industrie zurückgedrängt und bedroht. Der Kleinkaufmann fürchtet die Warenhäuser, nimmt […] Kredite auf, die ihn wieder in Schulden stürzen  ; die Angst vor der Inflation steckt ihm noch in die Knochen. Wo er in Berührung mit dem für ihn verhängnisvollen Bank- und Großkapital gerät, trifft der ›kleine Mann‹ auf Juden, die er sofort mit der ganzen jüdischen Gemeinschaft identifiziert. Daneben sieht er den jüdischen Konkurrenten innerhalb seiner eigenen

Antisemitismus in Vorarlberg 1933 bis 1938

Unter dem Titel »Achtung  ! Billige Waren, konkurrenzlose Preise  !«, warnte das »Tagblatt« Anfang Mai, dass auswärtige, meist ostösterreichische, Versandfirmen nur deshalb billiger seien, weil es sich um »große jüdische Geschäfte« handle, welche Zulieferer und Arbeiter ausbeuten würden. Die Meldung endete mit dem programmatischen Aufruf  : »Wenn wir den Ursachen der gegenwärtigen furchtbaren Not und Arbeitslosigkeit entgegentreten wollen, wenn uns die Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht täuschen soll, dann müssen wir uns vorerst von den Sklavenketten des jüdischen Großkapitals befreien, das unsere Arbeit nur geringschätzig wertet.«20 Einige Tage später folgte der nächste Artikel mit der Schlagzeile »Jüdische Frechheit«, der diesmal vor den angeblich minderwertigen Waren vermeintlich jüdischer Versandhäuser warnte  : »Wenn man die Namen der Firmen liest, ist man meist über die Rasse der Inhaber nicht mehr im Zweifel. Am empfindlichsten ist der Jude an seinem Geldsack, und wenn er hier getroffen wird, so tut ihm das viel weher, wie alles Schreiben und Reden gegen ihn. Geschrieben ist in dieser Sache schon viel worden, aber wie immer zu bemerken ist, bei vielen ohne Erfolg. So kann man auch immer noch national denkende Leute finden, die einen getauften Juden nicht mehr zu dieser Rasse zählen und mit ihm Geschäfte machen. Wenn alle nationalen Kreise ihre antisemitische Einstellung praktisch betätigen würden, so wäre jeder offizielle Boykott jüdischer Unternehmungen überflüssig.«21 Der vorletzte Satz, wonach ein Teil des nationalen Lagers zum Christentum konvertierte ehemalige Juden akzeptierte, verdient genauere Betrachtung. Tatsächlich fiel das deutschnationale Lager in Vorarlberg bis zur Jahrhundertwende, wie Werner Dreier in einer älteren Regionalstudie zum Antisemitismus festgestellt hat, publizistisch nicht durch offenen Antisemitismus auf.22 Jüngere Studien zeigen allerdings ein differenzierteres Bild.23 Definitiv veränderte sich diese Situation jedenfalls nach der Jahrhundertwende, denn »eine neue, radikal gestimmte Generation von jungen Politikern und Schreibern, darunter der spätere Chefredakteur des nationalsozialistischen ›Vorarlberger Tagblatts‹, Hans Nägele, brachte bald nach der Jahrhundertwende die sogenannten Deutschfreisinnigen, die Partei des liberalen Lagers, auf antisemitischen Kurs.«24 In ihren Leitsätzen von 1919 deklarierte sich die »Deutsche Volkspartei Klasse. Er begrüßt den antisemitischen Demagogen, der seine Schwierigkeiten auf die Juden ›zurückführt‹.«, Bunzl 1983, 41. 20 Vorarlberger Tagblatt, 6.5.1933, 6. 21 Vorarlberger Tagblatt, 17.5.1933, 6. 22 »Für Vorarlberg fehlen jegliche Belege für deutschnationale antisemitische Artikulation für die Zeit vor der Jahrhundertwende«, Dreier 1988, 143. 23 Weitensfelder 2008, 141. 24 Greussing 1996, 81–97.

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für Vorarlberg« – im Jahr darauf schloss sie sich der österreichischen »Großdeutschen Volkspartei« an – als »entschiedene Gegner des jüdischen Einflusses auf allen Gebieten des Staats-, Wirtschafts- und Geistesleben« und forderte »gesetzliche Maßnahmen gegen die Judengefahr.«25 Die Großdeutschen waren spätestens nach dem Ersten Weltkrieg, wie es Bernd Vogel auch für Vorarlberg festgestellt hat, »überzeugte Antisemiten« geworden.26 In ihrer Argumentation unterschied sich die Vorarlberger Landespartei keineswegs von der Gesamtpartei, von Regina Fritz als »Vertreterin eines biologistisch argumentierenden, rassischen Antisemitismus« charakterisiert.27 Es war der schon zuvor erwähnte Anton Zumtobel, der die Partei in der Phase von 1912 bis 1930 führte. Von 1919 bis 1932 vertrat er die Partei auch als Abgeordneter zum Landtag, ehe er im Mai 1932 sein Mandat niederlegte. Im Jahr darauf trat er der NSDAP bei. Zumtobel brüstete sich später damit, er persönlich habe die rapide Annäherung der Vorarlberger Großdeutschen an die NSDAP herbeigeführt – und es spricht einiges dafür, dass er tatsächlich maßgeblich daran beteiligt war. Am 8. Mai 1933 verkündete die Großdeutsche Landespartei ihren Austritt aus der Bundespartei und empfahl den Mitgliedern den Eintritt in die NSDAP, »da diese Bewegung die hauptsächlichen Forderungen der Großdeutschen Volkspartei, besonders den Anschlußwillen und den Antisemitismus gleichfalls vertritt.«28 Offen blieb die Antwort auf die Frage nach den im »Tagblatt« beklagten »national denkenden Leute[n], die einen getauften Juden nicht mehr zu dieser Rasse zählen und mit ihm Geschäfte machen«.29 Tatsächlich finden wir Personen mit jüdischem Familienhintergrund auch im Umfeld der Vorarlberger Buchdruckereigesellschaft. Zumtobels älterer Bruder August, der auf der anderen Seite der Marktstraße ein Modengeschäft besaß, heiratete im September 1922 die aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetretene Wienerin Josefine Hirschmann.30 Die beiden Kinder Sigrun und August Junior galten nach der Einführung der sogenannten »Nürnberger Rassengesetze« als Folge des »Anschlusses« als sogenannte »Mischlinge 1. Grades«. August Zumtobel stand politisch keineswegs in Opposition zu seinem jüngeren Bruder Anton. Die österreichischen Behörden schätzten beide Brüder nach dem Parteiverbot der NSDAP »als ›eingefleischte‹ Nationalsozialisten bzw. Sympathisanten« ein.31 Die 25 Zit. n. Vogel 2004, 27. 26 Ebd., 29. 27 Fritz 2012, 295. 28 Vorarlberger Tagblatt, 8.5.1933, 3. 29 Vorarlberger Tagblatt, 17.5.1933, 6. 30 Eintrag Josefine Hirschmann, in  : Jüdisches Museum Hohenems, http://www.hohenemsgenealogie.at (28.9.2015). 31 Böhler 2005, 186f.

Antisemitismus in Vorarlberg 1933 bis 1938

Ehe von August und der 20 Jahre jüngeren Josefine wurde 1935, also noch vor dem »Anschluss«, geschieden. War der Altersunterschied verantwortlich oder war die jüdische Herkunft nicht mehr opportun  ? Das muss mangels Quellen offenbleiben. Ein weiterer Miteigentümer der Buchdruckereigesellschaft, Gottfried Riccabona, Rechtsanwalt in Feldkirch und Ehrenmitglied der Großdeutschen Volkspartei, hatte mit Anna Perlhefter eine aus einem zum Katholizismus konvertierten ehemals jüdischem Elternhaus stammende Feldkircherin geheiratet. Im Gegensatz zu den Brüdern Zumtobel blieb Riccabona auf klarer Distanz zu den Nationalsozialisten und trat, auch aus beruflichen Gründen, in die »Vaterländische Front« ein. 1935 wurde er Präsident der Rechtsanwaltskammer für Vorarlberg. Im Übrigen hatte die Familie Riccabona nach dem »Anschluss« unter schwersten Repressalien zu leiden, die in der – glücklicherweise überlebten – KZ-Haft des Sohnes Max kulminierten.32 Der Wechsel von der GDVP zur NSDAP fand also durchaus nicht geschlossen statt, auch wenn es sich wohl nur um eine verschwindend kleine Minderheit handelte, die an der marginalisierten freisinnig-liberalen Tradition festhielt. Bereits ab dem Frühjahr 1933 wurden einzelne Ausgaben des »Tagblatts« zensuriert und schließlich die gesamte Zeitung unter Vorzensur gestellt. Überlegungen, die Zeitung gänzlich zu verbieten, kamen immer wieder auf, wurden aber nicht durchgeführt. Auch das Verbot der NSDAP im Juni 1933 brachte die Zeitung nicht von ihrem pronationalsozialistischen Kurs ab. Trotz Strafmaßnahmen der Landesregierung steigerte das Blatt seine Auflage schon 1935 auf 5.000 Exemplare (von etwa 4.000 im Jahr 1929).33 Von Seiten der Behörden glaubte man, der Zeitung durch rigide Zensur und Geldstrafen die wirtschaftliche Grundlage entziehen zu können, die »gesetzten Maßnahmen [der Regierung, Anm. d. Verf.] sollten aber bis 1938 nicht die […] gewünschte Wirkung zeitigen.«34 Freilich richteten sich die Maßnahmen der Landesregierung nicht gegen die antisemitische Berichterstattung des »Tagblatts« – glich doch diese in vielerlei Hinsicht jener der christlichsozialen Presse. Der Antisemitismus des christlichsozialen »Volksblatts« unterschied sich von jenem des »Tagblatts« höchstens in Nuancen.35 Die hysterischen Warnungen vor »jüdischen« Hausierern oder Großhandelsbetrieben waren auch im »Volksblatt« Teil des 32 Zur Familiengeschichte  : Melichar/Hagen 2017  ; zur Verfolgung von Max Riccabona im NS im Speziellen  : Hagen 2017 und Dreier 2006, 41–50. 33 Vogel 2004, 35. 34 Ebd., 301. 35 »Auffällig an der konservativen Berichterstattung ist ein gelegentlich manifest geäußerter Antisemitismus, der also keinesfalls nur bei Nationalsozialisten, sondern auch im christlichsozialen Lager anzutreffen war«, stellte Hermann Brändle anhand einer Analyse der Vorarlberger Presseberichterstattung zum Februar 1934 schon in den 1980er Jahren fest, Brändle 1983, 152.

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fixen Repertoires. Am 15. April 1933 klagte etwa der Obmann der Bregenzerwälder Schuhmachervereinigung unter der Überschrift »Notruf an die Bevölkerung«  : »Seit einigen Monaten wird das ganze Ländle und auch der Bregenzerwald mit Prospekten von Wiener-Schuh-Juden-Firmen überschwemmt und werden auch tatsächlich viele bestellt, weil sie ja um einen Schundpreis angeboten werden, aber nach Qualität in Wirklichkeit sogar teuer sind.«36 Auch hier war das Motiv die für den Kleinkaufmann und Handwerker bedrohliche Konkurrenz, die als jüdisch identifiziert wurde. Was diese Texte an der Oberfläche von jenen im »Tagblatt« unterscheidet ist, dass zumindest vordergründig weniger von »Rasse« die Rede zu sein scheint. Im Kern der Sache handelt es sich aber auch hier um einen »modernen« Antisemitismus, der Juden als wesenhaft mit den Erscheinungen der Moderne, dem Kapitalismus und Liberalismus, verbunden sah. Daneben finden sich im »Volksblatt« ebenfalls zahlreiche Belege für klassischen, christlich-geprägten Antijudaismus, nicht zuletzt in den regelmäßigen Beiträgen religiös-katholischen Inhalts. So beginnt ein Geleitwort zum Karfreitag, vom 13.  April 1933, also wenige Tage nach dem antisemitischen Vorfall in Dornbirn und zwei Tage vor dem obigen »Notruf«, mit den Worten  : »Vor 1900 Jahren  ! Im verachteten Judenlande führen sie einen Menschen zur Richtstätte und nageln ihn an das Sklavenkreuz. Dann ziehen sie wieder in die Stadt Jerusalem und feiern ihr Passahfest.«37 In diesen wenigen Aprilwochen 1933 finden wir sowohl im »Volksblatt« als auch im »Tagblatt« das ganze Repertoire des Vorarlberger Antisemitismus der 1930er Jahre in verdichteter Form wieder. Den christlichsozialen Antisemitismus der 1930er Jahre könnte man in Anlehnung an den Begriff des Konkurrenz-Faschismus des »Ständestaates« einen Konkurrenz-Antisemitismus nennen. Die Christlichsozialen hatten in der Auseinandersetzung mit den Nationalsozialisten Mühe und Not, ihre Spielart des Antisemitismus von jener des politischen Gegners zu unterscheiden. Es war nämlich im Kern ein rassistischer Antisemitismus, der gleich wie jener der Deutschnationalen von einer »rassischen Andersartigkeit« der Juden ausging. Auch die christliche Taufe konnte daran nichts mehr ändern.38 Vielleicht aus taktischen Gründen, möglicherweise auch als Zugeständnis an den Katholizismus, wurde das rassistische Element nicht überbetont, aber wenn es doch klar zu Tage trat, dann verleugnete man es als Beweggrund. Dass es sich dabei durchwegs um Schutzbehauptungen handelte, zeigen zwei Vorträge des Jesuitenpaters Arnold in Bregenz und Dornbirn Anfang

36 Vorarlberger Volksblatt, 15.4.1933, 7. 37 Vorarlberger Volksblatt, 13.4.1933, 1. 38 Vgl. Melichar 2006, 123.

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März 1936, die im »Volksblatt« äußerst positiv rezipiert wurden.39 Der Referent erklärte da zur »Judenfrage in katholischer Schau« vor der »Katholischen Volksgemeinschaft«  : »Versuche, das Judenproblem zu lösen, werden nur Teilversuche bleiben. Alle Lösungen gehören entweder zu der einen oder anderen Form des Antisemitismus  : 1. zum rassenpolitischen Antisemitismus, der die Juden verfolgt, weil sie zu einer anderen Rasse gehören. Dieser ist unchristlich und zu verurteilen, oder 2. zum staatspolitischen Antisemitismus, der das Judentum zurückdrängt, nicht weil die Juden zu einer anderen Rasse gehören, sondern weil ihr Einfluß auf den Staat schädlich ist. Soweit dieser Antisemitismus mit rechtlich und sittlich einwandfreien Mitteln den verderblichen Auswüchsen des Judentums zu Leibe rückt, ist es nur recht.«40 Außer Frage stand für Redner und Publikum, dass Juden eine andere, fremde »Rasse« darstellten. Aber nicht die »Rasse« der Juden sei das Problem, so der klerikale Agitator, sondern der »schädliche Einfluß« des Judentums. In einer dialektischen Verrenkung suchte man den rassistischen Kern des Ressentiments weiter zu verschleiern, indem in einem zweiten Schritt nicht das »Ursprüngliche des Judentums« sondern das »dekadente Judentum«, als Produkt des Liberalismus, zum Problem erklärt wurde. Dass man dennoch auch für das »ursprüngliche Judentum« im »Volksblatt« wenig übrig hatte, bezeugt unter anderem der Kommentar zum Karfreitag und entlarvt die scheinheilige Argumentation der konservativen Antisemiten. In alter christlichsozialer Manier erklärte man auch gleich die Liberalen zu den eigentlichen Verursachern der »Judenfrage«, wie der Berichterstatter aus Dornbirn, wo immerhin 600 Personen den Vortrag besuchten, zustimmend wiedergab  : »Sehr wahr war die Bemerkung des Referenten, daß das liberale Bürgertum einen Großteil der Schuld daran trägt, daß der Einfluß der Juden in Presse, Kino, Theater usw. so übermächtig wurde. Man schimpfte über die Juden, las aber zugleich gierig die jüdischen Zeitungen und unterstützte opferfreudig jüdisches Unternehmertum.«41 Eine ähnliche Strategie verfolgte man im Umgang mit den konkurrierenden Nationalsozialisten. Diese wurden mit Juden assoziiert – der Wiener Gauleiter Alfred Frauenfeld etwa habe stets einen »jüdischen Zahnarzt« konsultiert und sei »im koscheren Rothschildspital« behandelt worden42  – und deshalb deren Antisemitismus, im Gegensatz zum eigenen »staatspolitischen Antisemitismus«, als unglaubwürdig charakterisiert. Dieser wiederum sei, auch wenn er zunehmend aggressiver auftrat, rein defensiv. Zustimmend zitierte das 39 Dreier hat diese beiden Vorträge schon in seiner Regionalstudie zum Antisemitismus behandelt. Die Berichterstattung wird hier dennoch, in etwas ausführlicherer Form, wiedergegeben, Dreier 1988, 191. 40 Vorarlberger Volksblatt, 2.3.1936, 4. 41 Vorarlberger Volksblatt, 6.3.1936, 5. 42 Vorarlberger Volksblatt, 26.5.1934, 2.

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»Volksblatt« im Juni 1934 den polnischen Kardinal Aleksander Kakowski, der Juden kollektiv als Quelle des Atheismus, als Verbreiter von Pornografie und als »Christus-Lästerer« diffamierte. Der Antisemitismus sei deshalb »von den Juden zum großen Teile selbst erweckt« worden.43 Anhand dieser wenigen Beispiele wird deutlich, wie sehr die »Juden« in diesem Weltbild als Chiffre für die Moderne, ja für die aufgeklärte Welt schlechthin, standen. Einen subalternen Status als tolerierte Entrechtete, das war das Maximum an Akzeptanz, das Juden von den Konservativen zugebilligt wurde. Die Gleichberechtigung als Bürger von 1867 hingegen wurde zum ultimativen Fanal der modernen Welt und zur endgültigen Niederlage der Religion stilisiert. Von der »Lösung der Judenfrage«, des – wie es die »Volksblatt« Kommentatoren nannten – »brennendsten [Problems, Anm. d. Verf.] der Gegenwart«, erwartete man sich eine Reparatur der durch den Liberalismus hervorgerufenen Beschädigung von Staat und Gesellschaft. »Wir werden […] Mittel und Wege finden müssen, das jüdische Element in jene Grenzen zurückzuverweisen, die ihm nach seiner zahlenmäßigen Stärke gebühren«, so ein offiziös tönender »Volksblatt« Kommentar im April 1936, denn ein »sittlich angekränkeltes Judentum« habe »das Augenmaß für die Rolle verloren, die der Jude einnehmen darf, ohne die bodenständige Bevölkerung zurückzudrängen und zu beleidigen«.44 Das antisemitische Weltbild der Christlichsozialen unterschied sich nur im vordergründigen Bezug auf die Religion von jenem der Nationalsozialisten und Deutschnationalen. Denn auch diese begriffen die Juden, trotz der kleinbürgerlichen Lamentos gegen die jüdische Konkurrenz, nicht primär als »materiell-machtpolitische, sondern [als] eine geistige Gefahr.«45 In ihrer Essenz gleichen sich beide Spielarten des Antisemitismus darin, dass sie letztlich nichts »mit realen Interessenskonflikten zwischen lebenden Menschen und ebensowenig mit Rassenvorurteilen als solchen zu tun« hatten, sondern vielmehr alle Juden als eine homogene, verschwörerische Gruppe imaginierten, der man unterstellte »die übrige Menschheit zugrunde zu richten«.46 Shulamit Volkovs Feststellung, dass der Antisemitismus Ende des 19.  Jahrhunderts zu einem »kulturellen Code [… bzw.] zu einem Signum kultureller Identität, der Zugehörigkeit zu einem spezifischen kulturellen Lager« geworden sei,47 trifft auch für die Situation in Vorarlberg der Zwischenkriegszeit zu. Gerade ob der geringen Präsenz von Juden und Jüdinnen in der Region zeigt sich die tief verankerte kulturelle Dimension des An43 Vorarlberger Volksblatt, 15.6.1934, 3. 44 Vorarlberger Volksblatt, 9.4.1936, 2. 45 Wistrich 1989, 13. 46 Cohn 1998, 10. 47 Volkov 2000, 23.

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tisemitismus, die völlig unabhängig von realen zwischenmenschlichen Begegnungen existierte und des vereinzelten – ob imaginierten oder realen – jüdischen Hausierers höchstens als Kristallisationspunkt des Ressentiments bedurfte.48 Die schon in den 1930er Jahren auch in der Vorarlberger Lokalpresse immer wieder heraufbeschworene Zerstörung des Judentums sollte im antisemitischen Wahn, wie Wistrich es treffend formuliert hat, »die Menschheit mit einem Streich in ihren ursprünglichen Naturzustand zurückversetzen«.49 Über den Weg zur »Lösung« und über den Charakter des »Naturzustands« der Gesellschaft waren sich Nationalsozialisten und Christlichsoziale zwar uneinig, nicht aber über die Notwendigkeit der Zerstörung des Judentums. Darüber darf auch die im christlichsozialen Diskurs immer wiederkehrende Rede über eine »vernünftige Lösung der Judenfrage« nicht hinwegtäuschen. »Für die Faschisten«, schrieben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1944, »sind die Juden nicht eine Minorität, sondern die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches  ; von ihrer Ausrottung soll das Glück der Welt abhängen.«50 Dass der Antisemitismus sich Mitte der 1930er Jahre in Vorarlberg primär verbal äußerte, lag zwar wohl auch in der geringen Anzahl der Juden im Land, änderte aber letztlich nichts an seiner zentralen Rolle im politischen Diskurs. Mitte März 1936 hieß es im »Tagblatt«, man sei froh, sich der alten jüdischen Bevölkerung, »der Guggenheim, Menz, Reichenbach, Rosenthal, Sulzer, Steinbach usw.«, entledigt zu haben. Neue jüdische Einwanderer aus dem Deutschen Reich wolle man schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht. »Aber selbst wenn es keine Arbeitslosigkeit gäbe, selbst wenn es uns glänzend ginge, würden wir die jüdische Masseneinwanderung ablehnen und mit allen Mitteln zu verhindern suchen, denn für uns gilt der Ruf  : Vorarlberg den Vorarlbergern  !«. Das »Volksblatt« wollte im antisemitischen Wettbewerb offenbar nicht nachstehen. Am 9. April 1936 veröffentlichte es unter dem Titel »Vorarlberger Wort zur Judenfrage« folgenden Kommentar  : »Die Judenfrage in Vorarlberg hat im Laufe der letzten Jahrzehnte bekanntlich an Gewicht entscheidend eingebüßt, denn der praktische Antisemitismus des tüchtigen und fleißigen Alemannen hat das jüdische Element erfreulich stark zurückdrängen können.«51 Zwar war diese Behauptung falsch, denn verantwortlich für die Schrumpfung der Hohenemser Gemeinde waren die Öffnung der Schweiz und die bürgerliche 48 Tatsächlich reflektierte ein Teil der antisemitischen Autoren in der Lokalpresse immer wieder über die Tatsache, dass die Anzahl der Juden in Vorarlberg verschwindend gering war. Freilich galt das den Agitatoren als Bestätigung für die vermeintliche Notwendigkeit des Antisemitismus, anstatt ihnen dessen wahnhaften Charakter vor Augen zu führen. 49 Wistrich 1989, 13. 50 Horkheimer/Adorno 2003, 177. 51 Vorarlberger Volksblatt, 9.4.1936, 2.

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Gleichstellung in Österreich. Aber sie verweist doch auf Geschichte und Kontinuität des Antisemitismus in Vorarlberg. So wie der Antisemitismus der Ersten Republik seine geistigen Wurzeln im 19. Jahrhundert hatte, war dem zur Staatsdoktrin erhobenen Vernichtungsantisemitismus der Nationalsozialisten schon vor dem »Anschluss« längst der Weg bereitet.

Literatur und Quellen Albrich-Falch, Sabine, Jüdisches Leben in Nord- und Südtirol von Herbst 1918 bis Frühjahr 1938, in  : Albrich, Thomas (Hg.), Jüdisches Leben im historischen Tirol, Bd. 3  : Von der Teilung Tirols 1918 bis in die Gegenwart, Innsbruck u. a. 2013, 11–186. Böhler, Ingrid, Dornbirn in Kriegen und Krisen 1914–1945, Innsbruck u. a. 2005. Brändle, Hermann, Im Einklang. Der Februar 1934 im Spiegel der Vorarlberger Presse, in  : Pichler, Meinrad (Hg.), Nachträge zur neueren Vorarlberger Landesgeschichte, Bregenz 21983, 143–155. Bundesamt für Statistik (Hg.), Statistisches Handbuch für den Bundesstaat Österreich 16 (1936), Wien 1936. Bundschuh, Werner, Erinnerung an Dr. Hans Elkan am BG Dornbirn, in  : David 70 (2006), http://david.juden.at/kulturzeitschrift/66-70/70-bundschuh.htm (9.3.2015). Bunzl, John, Zur Geschichte des Antisemitismus in Österreich, in  : Bunzl, John/Martin, Bernd (Hg.), Antisemitismus in Österreich. Sozialhistorische und soziologische Studien, Innsbruck 1983, 9–88. Cohn, Norman, »Die Protokolle der Weisen von Zion«. Der Mythos der jüdischen Weltverschwörung, Zürich 1998. Dreier, Werner, »Rücksichtslos und mit aller Kraft«. Antisemitismus in Vorarlberg 1880–1945, in  : Dreier, Werner (Hg.), Antisemitismus in Vorarlberg. Regionalstudie zur Geschichte einer Weltanschauung, Bregenz 1988. Dreier, Werner, Max Riccabona im KZ Dachau. Worüber er nicht schreiben konnte, in  : Holzner, Johann/Hoiss, Barbara (Hg.), Max Riccabona. Bohemien  – Schriftsteller  – Zeitzeuge, Innsbruck 2006, 41–50. Fritz, Regina, Großdeutsche Volkspartei (Österreich), in  : Benz, Wolfgang (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, Berlin u. a. 2012, 294–296. Greussing, Kurt, Die Erzeugung des Antisemitismus in Vorarlberg um 1900, Bregenz 1992. Greussing, Kurt, Machtkampf und Weltanschauungsstreit nach 1867. Die politischen Lager Vorarlbergs und die Juden, in  : Grabherr, Eva (Hg.)  : »… eine ganz kleine Gemeinde, die nur von den Erinnerungen lebt  !«. Juden in Hohenems, Hohenems 1996, 81–97. Hagen, Nikolaus, Max Riccabona. Konzentrationslager Dachau, in  : Melichar, Peter/Hagen, Nikolaus (Hg.), Der Fall Riccabona. Eine Familiengeschichte zwischen Akzeptanz und Bedrohung im 20. Jahrhundert, Wien u. a. 2017, 344–369.

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Internetseite http://lexikon.dornbirn.at

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Von »anständigen« und »zersetzenden« Juden Antisemitische Theorie und Praxis in der bundesunmittelbaren Stadt Wien Einleitung Offiziell waren die Wiener Jüdinnen und Juden auch in den Jahren 1934 bis 1938 in ihrer Gleichberechtigung nicht beeinträchtigt. Die Verfassung 1934 bestätigte in Art. 27 volle Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Freiheit der privaten wie öffentlichen Religionsausübung. »Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Stellungen, Ämtern und Würden ist vom Religionsbekenntnis unabhängig.«1 Für den Schuldienst konnten durch Gesetz aber Ausnahmen von diesem Grundsatz aufgestellt werden. Vielfach unterstützte die jüdische Bevölkerung das autoritäre Regime als kleineres Übel gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland. Mit Jakob Ehrlich gehörte auch ein expliziter Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde der sogenannten »Wiener Bürgerschaft« an. Dennoch gab es nicht nur antisemitische Äußerungen politischer Repräsentanten der Stadt Wien, sondern auch konkrete Aktionen der Benachteiligungen. Im folgenden Beitrag sollen antisemitische Theorie – dargestellt am Beispiel der Haltung von Bürgermeister Richard Schmitz und anderer Funktionsträger gegenüber der jüdischen Bevölkerung – und Praxis – also diskriminierende Maßnahmen gegen Jüdinnen und Juden – gegenübergestellt werden.

Machtübernahme in Wien Am späten Nachmittag des 12. Februar 1934 erfolgte die Besetzung des Wiener Rathauses durch ein Kraftfahrjägerbataillon des Bundesheeres. Bürgermeister Karl Seitz und die sozialdemokratischen Stadträte wurden verhaftet und in das Polizeigefangenenhaus überstellt.2 Noch am gleichen Tag wurde durch Verordnung der Bundesregierung der Wiener Gemeinderat aufgelöst und die Funktionen des Bürgermeisters, 1 BGBl. 1/1934, Art. 27. 2 Vgl. ausführlich dazu Exenberger/Zoitl 1984, 6.

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des Stadtsenats und des Landtags für erloschen erklärt. Deren Aufgaben gingen an einen Bundeskommissär für Wien über,3 zu dem die Bundesregierung Schmitz, zu diesem Zeitpunkt als Bundesminister für soziale Verwaltung selbst deren Mitglied, ernannte. Zugleich verbot die Bundesregierung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei jegliche weitere Betätigung, löste ihre Organisationen auf und erklärte ihre Mandate für erloschen.4 Weiters verfügte sie die Auflösung der Wiener Gemeindeschutzwache.5 Schon Ende März erließ Schmitz eine neue Stadtordnung für Wien, die aus dem Bundesland eine bundesunmittelbare Stadt machte und dem vom Bundeskanzler zu berufenden Bürgermeister die gesamte Vollzugsgewalt übertrug. Ihm zur Seite standen drei vom Bürgermeister berufene Vizebürgermeister. Stadträte und Gemeinderat gab es nicht mehr, dafür eine in ihrem Mitwirkungsrecht stark beschränkte »Wiener Bürgerschaft«.6 Schon zuvor hatte Bundeskommissär Schmitz per Verordnung die gemeinderätliche Personalkommission aufgelöst und die Möglichkeit, in der Zeit bis 30.  Juni 1934 auch definitive Angestellte ohne Rücksicht auf Dienstfähigkeit und Dienstzeit von Amts wegen in den dauerhaften Ruhestand versetzen zu können, geschaffen.7 Damit sicherte er sich ein umfassendes Durchgriffsrecht auf dem Regime nicht genehme städtische Bedienstete. Im April 1934 wurde Schmitz schließlich zum Bürgermeister der Stadt ernannt  ; er verblieb außerdem bis Juli des Jahres als Bundesminister ohne Portefeuille in der Regierung.8

Die Haltung führender Wiener Kommunalpolitiker zum Antisemitismus Die grundsätzliche Einstellung Schmitz’ in der sogenannten »Judenfrage« lässt sich besonders gut am Beispiel einer Rede, die er im April 1932 im Nationalrat gehalten hat, nachzeichnen  : Erstens unterschied er zwischen religiösen und nichtreligiösen Jüdinnen und Juden  : Er konzedierte, dass »jener Teil des jüdischen Volkes, der sich an diese seine eigene Religion und Sittenordnung hält, auch mit den gläubigen Christen in weitem Umfange auf kulturellem Gebiet übereinstimmen kann. […] Man kann 3 4 5 6 7 8

BGBl. 77/1934. BGBl. 78/1934. BGBl. 79/1934. LGBl. 20/1934. LGBL. 9/1934. Für einen raschen Überblick über Schmitz’ Biographie vgl. Wien Geschichte Wiki  : Richard Schmitz sowie Parlament  : Richard Schmitz.

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aber nicht verheimlichen, daß die Mehrzahl der österreichischen Juden den Boden dieser Gemeinschaft verlassen hat, einem zersetzenden Freisinn, ob bürgerlicher oder sozialistischer Färbung, verfallen ist und den Bestrebungen der Kirche feindlich gegenübersteht.« Zweitens rechtfertigte er den Anstieg des Antisemitismus in den 1930er Jahren mit wirtschaftlichen Gründen und begründete dessen Radikalisierung, insbesondere in der jüngeren Generation und im akademischen Bereich, mit deren materieller Not  : »Hier muß ich daran erinnern, daß die wirtschaftliche Not zu allen Zeiten eine Haupttriebkraft zur Radikalisierung des Antisemitismus gewesen ist. […] Es ist heute hier bei uns ein Kampf um die nackte Existenz vorhanden. In solchem Kampfe kommt der Erhaltungstrieb […] natürlich ungehemmter und stärker zur Geltung als in anderen Zeiten.« Drittens unterstellte er der sozialdemokratischen Verwaltung die Bevorzugung jüdischer Akademiker  : »Unsere Ärzte, unsere Juristen, unsere Philosophen können nicht unterkommen, und da sehen sie nun, wie die sozialdemokratisch geleiteten Krankenkassen überwiegend jüdische Ärzte anstellen, wie die Zahl der jüdischen Rechtsanwälte und Mittelschullehrer im sozialdemokratischen Wien zunimmt. Wollen Sie es dann den jungen Ärzten, Philosophen und Juristen verargen, wenn sie sagen  : Warum ist es bei denen möglich und warum nicht bei uns  ?«9 Viertens distanzierte sich Schmitz von Rassenantisemitismus und kollektivem Hass  : »Als Katholiken kennen wir keinen Haß gegen das Judentum als religiöse Gemeinschaft oder gegen das Judentum als Volksgemeinschaft oder gegen das Judentum als eine Rassengemeinschaft. Wir dürfen nicht hassen, denn das Gebot der Nächstenliebe gilt für alle Menschen ohne Unterschied. […] Seit Luegers Zeiten haben die Christlichsozialen immer den Rassenantisemitismus abgelehnt, Lueger ist deswegen mit Schönerer in Konflikt geraten und mit allen kleineren Nachfahren Schönerers  ; dasselbe gilt selbstverständlich heute für uns.«10 Ein sehr ähnliches Argumentationsmuster verwendete Schmitz ein gutes Jahr später in einem Kommentar zum christlichsozialen Parteiprogramm von 1926, in dem unter anderem »die Uebermacht des zersetzenden jüdischen Einflusses auf geistigem und wirtschaftlichem Gebiet«11 thematisiert worden war. In diesem Zeitungsartikel erklärte er den Antisemitismus zum Bestandteil des »christlichsozialen Wesens« und des »geistigen Inhalts« der Partei. Als »Abwehrerscheinung« trete er nicht zu allen Zeiten und an allen Orten mit gleicher Stärke hervor. Der Eintritt wirtschaftlicher   9 Siehe zu den ÄrztInnen und RechtsanwältInnen den Beitrag von Ilse Reiter-Zatloukal in diesem Band. 10 Stenographische Protokolle, 4. Gesetzgebungsperiode, 77. Sitzung, 29.4.1932, 2077ff. 11 Zit. n. Schmitz 1933.

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Not, Mangel an Arbeitsgelegenheit und Verarmung könne »den in besseren Zeiten ruhiger gewordenen Antisemitismus jäh zu heftigen und leidenschaftlichen Formen auftreiben«. Der jüdische Einfluss auf das Kultur- und Wirtschaftsleben müsse »der Zahl der jüdischen Bevölkerung angepaßt« werden, dann »wäre wahrscheinlich viel weniger Grund zum Antisemitismus vorhanden«.12 Den im Parteiprogramm verwendeten Terminus »zersetzend« bezog er etwa auf jüdische Schriftsteller, die seiner Meinung nach »Grundbegriffe der christlichen Sittenordnung« entwürdigten, die Lockerung der Ehe förderten und die öffentliche Autorität unterminierten. Der Politiker beklagte in diesem Artikel den seiner Meinung nach geringen Einfluss »positivgläubiger« Juden, »deren Bestrebungen in mancher Hinsicht mit denen des christlichen Volkes parallel laufen könnten.« Einmal mehr brachte er die angebliche Bevorzugung jüdischer Ärzte, Lehrer, Professoren oder Rechtsanwälte durch sozialdemokratische Gemeindeverwaltungen ins Treffen, während junge christliche Akademiker vergeblich nach einer Stelle suchten. Immer jedoch müssten die Grenzen eingehalten werden, »die das Gesetz der christlichen Gerechtigkeit und das Gebot der christlichen Liebe gezogen haben.« Daher könne es für Christlichsoziale weder einen gewalttätigen noch einen Rassenantisemitismus geben.13 Vizebürgermeister Josef Kresse wiederum unterschied zwischen »anständigen« Juden, »die schon seit Jahrzehnten bei uns leben und hier eine Heimat gefunden haben«, und »zugereisten« Juden, die »unsere bodenständige Bevölkerung bei jeder Gelegenheit schädigen« und »durch Erschleichung von Empfehlungen hochstehender Persönlichkeiten und auf anderen Umwegen ihr Ziel [die Schädigung christlicher Gewerbetreibender, Anm. d. Verf.] zu erreichen verstehen«.14 1937 bezeichnete er das »unsaubere Treiben von Elementen, die sich in der Stadt breitmachen und schon viele gewerbliche Existenzen auf dem Gewissen haben«, als »Pestbeule« und verlangte die Revision der nach 1919 erfolgten Einbürgerungen, was ihm »tosenden, demonstrativen Beifall«15 in einer Versammlung des Gewerbebundes einbrachte. Wie Schmitz distanzierte auch er sich vom Rassenantisemitismus »im reichsdeutschen Sinn«.16 In die gleiche Kerbe schlug auch der Wiener Politiker Emmerich Czermak, von 1934 bis 1938 Präsident des Landesschulrates für Niederösterreich, der in einer öffentlichen Kundgebung zwischen jenen Juden unterschied, die »an revolutionären oder störenden Vorgängen verhältnismäßig stark beteiligt« seien, und solchen, »die 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Neue Freie Presse, 31.3.1936, 8. 15 Wiener Montagblatt, 26.4.1937. 16 Neue Freie Presse, 31.3.1936, 8.

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Abb.: Richard Schmitz mit seinen drei Vizebürgermeistern 1934.

klug und taktvoll genug sind, sich von solchen Dingen fernzuhalten«. Auch er plädierte für eine Segregation der Gesellschaft  : »Wir würden aufhören, ein christlicher Staat zu sein, wenn es nicht mehr gestattet sein sollte, […] über gewisse Beschränkungen der Juden auf Grund ihrer Zahl zu sprechen. Wir wollen die Juden nicht angreifen, ihnen gerne in jüdischen Dingen mehr Rechte, weitergehende Autonomie geben, als sie derzeit besitzen, dagegen die Gelegenheit, in unsere christlichen Dinge dreinzureden, nach Möglichkeit beseitigen.«17

Jüdische Hoffnungen Welche Haltung aber nahmen die Wiener Jüdinnen und Juden bzw. diese repräsentierende Organisationen zum sogenannten »Ständestaat« ein  : Die Bedrohung durch den Nationalsozialismus, die eine Reihe jüdischer EmigrantInnen aus dem Deutschen 17 Neue Freie Presse, 29.4.1936, 5f.

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Reich nach Wien geführt hatte, ließ das österreichische Regime, das in der Maiverfassung 1934 die formale Gleichberechtigung zusicherte, jedenfalls als das kleinere Übel erscheinen. Insbesondere bürgerlichen Zionisten und Orthodoxe setzten gewisse Hoffnungen auf das Regime. Die »Jüdische Presse«, ein orthodoxes Organ, erwartete sich von einem dezidiert religiös ausgerichteten Staat, dass »für die Bedürfnisse einer religiös eingestellten Judenheit in mancher Beziehung besser gesorgt sein wird als bisher.«18 Die bürgerlich-assimilierte »Union österreichischer Juden« erhoffte sich vom christlichen Prinzip der autoritären Verfassung mehr Toleranz und Nächstenliebe – schließlich wären die Grundprinzipien christlicher Ethik ident mit denen der »jüdischen Sittlichkeit und Glaubenslehre«.19 Manche jüdische Stimmen gingen noch weiter und betonten ihre ausdrückliche Sympathie für autoritäre Strukturen, etwa das revisionistische »Wiener Jüdische Familienblatt«, das die Demokratie verurteilte und eine »Zeit der Stabilisierung der Kraft, die Zeit einer Ordnung«20 begrüßte. Selbst mit dem »deutschen Staat« wusste man sich zu arrangieren  : Assimilierte Juden fühlten sich der deutschen Kultur verhaftet und definierten »deutsch« kulturell. Zionistische Gruppen sahen sich im »deutschen Staat« umso mehr als nationale Minderheit und beriefen sich auf den Vertrag von St. Germain, der Österreich zum Schutz nationaler Minderheiten verpflichtete.21 Unterschiedlich war die Bereitschaft zur Mitarbeit am neuen Staat. Die »Union« richtete mehrfach einen Appell an ihre Mitglieder, der »Vaterländischen Front« beizutreten. Der Bund Jüdischer Frontkämpfer fasste den einstimmigen Beschluss, korporativ der Sammelorganisation beizutreten, während zionistische Gruppen eher skeptisch einer Eingliederung in eine sich christlich-deutsch definierende Organisation gegenüberstanden.22

Die Wiener Bürgerschaft und ihre jüdischen Mitglieder Wie bereits erwähnt, wurde aufgrund der Stadtordnung vom 31. März 1934 an die Stelle des im Februar 1934 aufgelösten Gemeinderats die Wiener Bürgerschaft zur Mitwirkung an der Selbstverwaltung der Stadt Wien berufen. Sie bestand aus 64 Mitgliedern, die den Titel »Rat der Stadt Wien« führten und vom Bürgermeister nach 18 Jüdische Presse, 23.2.1934, 1. 19 Die Wahrheit, 17.7.1936, 1. 20 Wiener Jüdisches Familienblatt, 7 (1934), 4. 21 Vgl. Maderegger 1973, 89. 22 Vgl. Mertens 1988, 32.

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berufsständischen Prinzipien ausgewählt und ernannt wurden  : zwölf Mitglieder aus den Kreisen der kulturellen Gemeinschaften (drei Vertreter der römisch-katholischen Kirche, einer der evangelischen Kirche, einer der Israelitischen Kultusgemeinde, je einer aus Kunst und Wissenschaft, fünf aus dem Schul- und Erziehungswesen), weiters je zwölf Mitglieder aus den Berufsständen Industrie, Gewerbe sowie Handel und Verkehr, schließlich je vier Vertreter aus den Berufsständen Landwirtschaft, Geld- und Kreditwesen, freie Berufe und öffentlicher Dienst.23 Als Vertreter der Israelitischen Kultusgemeinde wurde der Rechtsanwalt Jakob Ehrlich, geboren 1877 in Bistriz, Mähren (heute  : Bistřice, Tschechische Republik) ernannt. Er hatte dem Wiener Gemeinderat bereits in der Periode 1919 bis 1923 als Mitglied der Jüdischnationalen Partei angehört und starb im Mai 1938 im KZ Dachau.24 Die Bevorzugung eines Zionisten lag auf der Hand, beanspruchten diese doch für die Juden den Status einer eigenen Nation – eine vielen Christlichsozialen sympathische Position. Der Bürgerschaft gehörte noch ein zweites Mitglied jüdischen Glaubens an  : der Bankier Leopold Langer, geboren 1852 in Tobitschau, Mähren (heute  : Tovačov, Tschechische Republik), gestorben 1938 in Wien, als Vertreter des Berufsstandes »Handel  – Arbeitgeber«. Er war Mitglied der »Union österreichischer Juden« und Mitglied im Präsidium des Gremiums Wiener Kaufmannschaft (1925–1935),25 Präsident des Börseschiedsgerichts, Zensor der Österreichischen Nationalbank, Mitglied zahlreicher Verwaltungsräte, Präsident der Hotel Imperial AG, der Hotel Bristol AG und bis 1927 Eigentümer des Bankhauses Langer.26 Während von allfälligen Wortmeldungen Langers nichts bekannt ist, meldete sich Ehrlich in den Sitzungen der Bürgerschaft mehrfach zu Wort. Zu Beginn thematisierte er die grundsätzliche Position der Juden im »christlich-deutschen« Staat  : Die jüdische Minderheit könnte sich der neuen Verfassungsrealität »in aufrichtiger Loyalität« unterordnen, »wenn man unter ›deutsch‹ nicht jenen nicht auf österreichischem Boden gewachsenen Rassendünkel versteht und unter ›christlich‹ das, was in der ganzen Welt als wahres Christentum angesehen wird.« Er urgierte für die jüdische Bevölkerung »uneingeschränkte Anerkennung ihrer vollen bürgerlichen Gleichberechtigung auch auf dem Gebiete der Stadtverwaltung sowie die Respektierung und Förderung ihres eigenen kulturellen Lebens.«27 Bürgermeister Schmitz versicherte 23 LGBl. 20/1934, § 14. 24 Nähere Angaben zur Biographie siehe Das neue Wien 1935, 68, sowie Wien Geschichte Wiki  : Jakob Ehrlich. 25 Das neue Wien 1935, 97. 26 Vgl. Melichar 2004, 333f. (siehe auch Anm. 833). 27 Zit. n. Seliger 2010, 135.

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ihm, »den Minderheiten innerhalb des Rahmens der Gesamtordnung das gleiche Recht zu gewährleisten. Von diesem Gesichtspunkt wird auch die Führung der Geschäfte der Stadtverwaltung immer geleitet sein.«28

Diskriminierende Maßnahmen durch die Stadt Wien In der Praxis gab es punktuell sehr wohl eine ungleiche Behandlung jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger durch die Stadt Wien. So lag der Anteil von Juden an den aktiven Beschäftigten der Stadt bei rund einem halben Prozent,29 weshalb Ehrlich  – erfolglos  – appellierte, bei Neueinstellungen in den Gemeindedienst »einen bescheidenen Teil dieses Segens auch unserer Jugend zugutekommen zu lassen, deren Los tatsächlich außerordentlich beklagenswert ist.«30 Schmitz entgegnete ihm, dass angesichts der angespannten Arbeitsmarktsituation »ein solcher Andrang junger Leute auf jede Stelle besteht, daß ihre Vergebung auf das eifersüchtigste [sic  !] überwacht wird«.31 Zwar räumte die Stadtverwaltung der Schaffung von Arbeitsplätzen für die Jugend Priorität ein, bei Anstellungen bekamen aber jene den Vorzug, die »wegen ihrer einwandfreien Gesinnung noch nicht das Glück hatten, in ein gesichertes Dienstverhältnis zu einem öffentlichen Dienstgeber zu kommen«. Ein Vorrecht gebühre daher »insbesondere der staatstreuen Jugend«.32 Im März 1934 unterzog die Stadt Wien die Verträge sämtlicher in ihrem Bereich tätigen Ärzte33 einer Überprüfung und verlängerte die Verträge vieler jüdischer Ärzte nicht mehr. Offiziell verloren diese ihren Arbeitsplatz, weil sie der nun verbotenen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei angehört hatten. Von den insgesamt 58 entlassenen Medizinern waren jedoch 56 jüdischer Herkunft und der Großteil von diesen war in der Partei nicht aktiv gewesen,34 was durchaus auch andere Schlüsse hinsichtlich der Motive zulässt. Offiziell beteuerte die Stadtverwaltung, nur solche Personen aus dem Dienst ausgeschieden zu haben, »die sich dem Willen der neuen Verwaltung entgegenstellten oder als Gefahr oder Hemmnis für die Durchsetzung der Ziele der neuen Zeit angesehen werden mußten.«35 28 Zit. n. ebd., 136. 29 Pauley 1993, 329. 30 Zit. n. Seliger 2010, 137. 31 Reichspost, 19.12.1935, 8. 32 Drei Jahre neues Wien 1937, 50. 33 Siehe auch den Beitrag von Ilse Reiter-Zatloukal in diesem Band. 34 Vgl. Pauley 1993, 329  ; Die Wahrheit, 30.3.1934, 4f. 35 Drei Jahre neues Wien 1937, 48.

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Diskriminierung erfuhren auch in Ausbildung befindliche jüdische Ärzte in Wiener Gemeindespitälern  : So wurde diesen die Facharztausbildung unmöglich gemacht, indem sie von den Wartelisten gestrichen wurden. Neben zivilen Urkunden wurde bei Bewerbungen für eine derartige Stelle auch der Taufschein verlangt. Diese Situation verschärfte sich, wie die Debattenbeiträge Ehrlichs zeigen, in den Folgejahren noch weiter.36 Der Bürgermeister hielt Ehrlich entgegen, dass die Zahl der bei der Stadtverwaltung angestellten Ärzte »mosaischer Konfession« 84 von 263, also 32 Prozent betrage. Bei den Schulärzten und Schulzahnärzten wäre der Anteil noch höher. In jedem Fall werde nach der »persönlichen Befähigung des einzelnen« entschieden.37 Im Juli 1937 sah sich die »Vereinigung jüdischer Ärzte« gezwungen, an alle jüdischen Maturierenden die eindringliche Warnung zu schicken, keinesfalls Medizin zu inskribieren. In seinem Aufruf beklagte der Verein, dass trotz der in der Verfassung garantierten Gleichheit vor dem Gesetz so wenig jüdische Ärzte wie möglich für den Dienst in Wiener Spitälern bestellt würden.38 Der Hinweis auf – historisch begründete – hohe Anteile von Jüdinnen und Juden in bestimmten Berufsgruppen war ein beliebter Vorwand für antijüdische Äußerungen und Maßnahmen. Die dabei gerne und ausgiebig zitierten Statistiken betrafen aber immer nur jene Bereiche, in denen diese überrepräsentiert waren, nie aber jene, für die das Gegenteil galt  : So gab es auch im Bundesdienst nur verschwindend wenig jüdische Beschäftigte. Es gab kaum Juden unter den Richtern39 und höheren Offizieren40 der Ersten Republik und keine jüdischen Schuldirektoren.41 Zwar fanden 200.000 Christen in jüdischen Firmen Arbeit, es wurden jedoch nur wenige Jüdinnen und Juden von Christen angestellt.42 Auch bei der Auftragsvergabe durch die Gemeinde Wien wurden jüdische Firmen übergangen. Laut Ehrlich kämen nur Mitglieder des Gewerbebundes zum Zug, in den jedoch so gut wie keine Juden aufgenommen würden. Der Gewerbebund organisierte außerdem Kampagnen unter dem Motto »Christen kauft bei Christen«, die 1937 mit einer Ausstellung unter Patronanz von Vizebürgermeister Kresse unterstützt wurde. Für Vertreter des Gewerbes war dies »eine reine Selbsthilfeaktion« gegen »Schmutzkonkurrenz«.43 Offenbar war für Bundeskanzler Kurt Schuschnigg damit 36 Vgl. Seliger 2010, 136ff. 37 Reichspost, 19.12.1935, 8. 38 Vgl. Wohnout 1994, 10. 39 Siehe den Beitrag von Ursula Schwarz in diesem Band. 40 Siehe den Beitrag von Erwin Schmidl in diesem Band. 41 Siehe den Beitrag von Stefan Spevak in diesem Band. 42 Vgl. Pauley 2002, 241ff. 43 Zit. n. Seliger 2010, 140.

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der Bogen überspannt. Sein inoffizielles publizistisches Sprachrohr, das »Neue Wiener Tagblatt«, wies Kresse öffentlich auf die Unvereinbarkeit seines politischen Amtes mit antisemitischer Propaganda angesichts der in der Verfassung garantierten Gleichheit hin.44 Kresse selbst behauptete, dass auch »etliche Juden« bei der Auftragsvergabe berücksichtigt würden, »weil sie eben zu den Anständigen zählen«.45 Im September 1934 erließ der Wiener Stadtschulrat eine Verordnung zur Einrichtung nach Konfession trennender Parallelklassen,46 was nicht nur für Proteste in der jüdischen Presse sorgte, sondern auch internationale Kritik erregte. Einzig die »Jüdische Presse«, das Organ der orthodoxen Juden, befürwortete diese Politik als ersten Schritt zur Errichtung religiöser Schulen.47 Zu Beginn des Schuljahres 1934/1935 wurde diese Maßnahme in einer Reihe von Hauptschulen und Gymnasien umgesetzt. Es erfolgte die Errichtung konfessioneller Parallelklassen, indem entweder ausschließlich jüdische Kinder oder in überwiegender Mehrheit jüdische mit konfessionslosen oder altkatholischen Schülerinnen und Schülern vereinigt wurden. Die Kultusgemeinde protestierte scharf gegen die »Zurücksetzung« jüdischer Schülerinnen und Schüler und erhob beim zuständigen Minister Hans Pernter und Bundeskanzler Schuschnigg Einspruch – mit dem Teilerfolg, dass die Trennung zumindest nicht auf weitere Schulen ausgedehnt wurde.48

Resümee Dieses kurze Streiflicht auf von antisemitischen Motiven inspiriertes Reden und Handeln in der bundesunmittelbaren Stadt Wien sollte zeigen  : Die in der Maiverfassung von 1934 garantierte Gleichstellung aller Bürgerinnen und Bürger wurde im offiziellen Wien durch zumindest punktuelle diskriminierende Maßnahmen unterlaufen. Die dabei gesetzten Maßnahmen entsprachen der schon vor Ausschaltung der Demokratie vertretenen Haltung von Bürgermeister Schmitz und anderer Funktionsträger, den bemäkelten überproportionalen Anteil der jüdischen Bevölkerung in bestimmten Bereichen abzusenken. Der jüdische Journalist und Publizist Bruno Heilig warnte die Christlichsozialen bereits 1933 vor den Konsequenzen ihrer Agitation. Antisemitische Propaganda führe 44 Vgl. Wohnout 1994, 15. 45 Neue Freie Presse, 31.3.1936, 8. 46 Siehe den Beitrag von Stefan Spevak in diesem Band. 47 Vgl. Pauley 2002, 256. 48 Bericht 1936, 48f.

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ihnen nicht einen neuen Anhänger zu, sondern verleite umgekehrt manchen, gleich zur radikalsten Antisemitenpartei – den Nationalsozialisten – zu wechseln  : »Indem unsere christlichsozialen Zeitungen Antisemiten erziehen, erziehen sie durchaus nicht Katholiken. […] Jeder neue Antisemit stärkt, weil er doch bei den Nationalsozialisten landet, letzten Endes die antikatholische Front.«49 In der Zeitung »Der Morgen« brachte er die Problematik ein Jahr später prägnant auf den Punkt  : »Die Beschäftigung oder Nichtbeschäftigung von Juden in irgend einem Beruf, ihre Aufnahme oder Nichtaufnahme in eine ständische Organisation ist ein Problem von zweifacher ungeheurer Bedeutung. Es handelt sich einerseits um die Frage der nackten Existenz, andererseits aber auch um eine moralische Angelegenheit. […] Durch die Kündigung von Juden nur wegen ihrer Eigenschaft als Juden wird dokumentiert, daß diese Eigenschaft von denen, die die Kündigung vorgenommen haben, als entscheidend angesehen wurde, und zwar als entscheidend im negativen Sinn.«50

Abbildung Richard Schmitz mit seinen drei Vizebürgermeistern 1934, Wienbibliothek, Tagblattarchiv, TF999088.

Literatur und gedruckte Quellen Bericht des Präsidiums und des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in den Jahren 1933–1936, Wien 1936 (= Bericht 1936). Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1934. Das neue Wien und seine Bürgerschaft. Eine Darstellung des ständischen Aufbaues in der Stadt Wien. Almanach für die bundesunmittelbare Stadt Wien, Wien 1935 (= Das neue Wien 1935). Drei Jahre neues Wien. Der Neuaufbau Wiens im berufständischen Staate. Drei Jahre Aufbauarbeit. Die Personalpolitik unter dem Bürgermeister Richard Schmitz 1934–1936, Wien 1937 (= Drei Jahre neues Wien 1937). Exenberger, Herbert/Zoitl, Helge, Februar 1934 in Wien. Chronik, Schauplätze, Gedenkstätten und Augenzeugenberichte, Wien 1984. Heilig, Bruno, Nicht nur die Juden geht es an …, Wien 1936. Jüdische Presse. Organ für die Interessen des orthodoxen Judentums 1934. Landesgesetzblatt (LGBl.) Wien. Maderegger, Sylvia, Die Juden im österreichischen Ständestaat 1934–1938, Wien u. a. 1973. 49 Heilig 1936, 42. 50 Ebd., 48.

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Melichar, Peter, Neuordnung im Bankwesen. Die NS-Maßnahmen und die Problematik der Restitution, Wien u. a. 2004. Mertens, Christian, Das jüdische Vereinswesen Wiens in der Zeit zwischen den Weltkriegen, Dipl.-Arb. Wien 1988. Neue Freie Presse 1935–1936. Parlament  : Richard Schmitz, http://www.parlament.gv.at/WWER/PAD_01743/index.shtml (11.9. 2015). Pauley, Bruce, Eine Geschichte des österreichischen Antisemitismus. Von der Ausgrenzung zur Auslöschung, Wien 1993. Pauley, Bruce, Politischer Antisemitismus im Wien der Zwischenkriegszeit, in  : Botz, Gerhard/ Oxaal, Ivar/Pollak, Michael/Scholz, Nina (Hg.), Eine zerstörte Kultur. Jüdisches Leben und Antisemitismus in Wien seit dem 19. Jahrhundert, Wien 22002, 241–259. Reichspost. Unabhängiges Tageblatt für das christliche Volk 1935. Schmitz, Richard, Der Antisemitismus im christlichsozialen Parteiprogramm, in  : Neuigkeitsweltblatt, 23.7.1933. Seliger, Maren, Scheinparlamentarismus im Führerstaat. »Gemeindevertretung« im Austrofaschismus und Nationalsozialismus, Wien u. a. 2010. Stenographische Protokolle der Sitzungen des Nationalrats der Republik Österreich 1932. Die Wahrheit. Jüdische Wochenschrift. Mit den Veröffentlichungen der »Union österreichischer Juden« und den Amtlichen Verlautbarungen der Israelitischen Kultusgemeinde Wien 1934, 1936. Wien Geschichte Wiki  : Jakob Ehrlich, https://www.wien.gv.at/wiki/index.php/Jakob_Ehrlich (11.9. 2015). Wien Geschichte Wiki  : Richard Schmitz, https://www.wien.gv.at/wiki/index.php/RichardSchmitz_ (Politiker,_1885–1954) (11.9.2015). Wiener Jüdisches Familienblatt 1934. Wiener Montagblatt 1937. Wohnout, Helmut, Die Janusköpfigkeit des autoritären Österreich. Katholischer Antisemitismus in den Jahren vor 1938, in  : Geschichte und Gegenwart. Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Gesellschaftsanalyse und politische Bildung 1 (1994), 3–16.

JUSTIZ

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»… daß die Justiz in Österreich zur Dirne geworden ist« Offener Antisemitismus in der Alltagsjustiz Anfang der 1930er Jahre

»Heute um 10.30 Uhr kam es im Innern des Anatomischen Instituts zu Meinungsverschiedenheiten zwischen nationalsozialistischen Studenten einerseits und jüdischen und sozialdemokratischen Hörern andererseits. Der Wirbel, an dem etwa 300 Studenten teilnahmen, artete schließlich in eine Rauferei aus, in deren Verlauf die Hochschüler mit Stöcken und Fäusten aufeinander einschlugen. Die jüdischen und sozialdemokratischen Mediziner waren stark in der Minderheit. Sie flüchteten schließlich in einem im Hochparterre gelegenen Laboratoriumsraum und verbarrikadierten sich hier, als die Nationalsozialisten Miene machten, in den versperrten Raum einzudringen. Einige Minuten später begaben sich die ins Laboratorium geflüchteten Studenten zum Fenster und sprangen oder kletterten auf die Währingerstraße hinunter.«1 So beschrieb die »Neue Freie Presse« am 9. Mai 1933 eine der zahlreichen Gewalttätigkeiten gegen jüdische Studierende an der Universität Wien durch Angehörige der NSDAP, die mit ca. 20, zum Teil erheblich verletzten Studierenden endete.2 Ein an diesem Tag angefertigtes Foto, das von der »Arbeiter-Zeitung« abgedruckt wurde,3 zeigt die Flucht der Studierenden aus dem Fenster des Anatomischen Instituts. Es ist eine aus zahlreichen Veröffentlichungen bekannte Quelle über die antisemitischen Übergriffe im Wien der 1930er Jahre.4 Unbeachtet blieb dabei aber die Frage nach dem Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden sowohl in diesem konkreten Fall als auch allgemein im Zusammenhang mit antisemitischen Gewalttätigkeiten der ­NSDAP. Im Rahmen der Untersuchung »Die Anfänge der Wiener SS«,5 auf der dieser Beitrag weitgehend basiert, wurde auch die Justizpraxis Anfang der 1930er Jahren anhand von über 160 Gerichtsprozessen untersucht. Als Quellenbasis dienten die Berichte der Bundes-Polizeidirektion Wien, Pressebeiträge und insbesondere die 1 2 3 4

Neue Freie Presse (NFP) (Abendblatt), 9.5.1933, 1. NFP, 10.5.1933, 5  ; Arbeiter-Zeitung (AZ), 10.5.1933, 3. AZ, 10.5.1933, 3. Vgl. zur »Gewalt in der Politik« in der österreichischen Zwischenkriegszeit die nach wie vor grundlegende Arbeit von Botz 1983. 5 Rothländer 2012.

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Gerichtssaalberichterstattung hinsichtlich politisch motivierter Straftaten im Zeitraum von Anfang April 1932 bis Ende Juni 1933. Im Zusammenhang mit Straftaten von Angehörigen der Wiener SS wurden darüber hinaus auch die Gerichtsakten eingesehen. Ausgangspunkte der Untersuchung waren einerseits die oben erwähnte Fotografie der flüchtenden Studierenden sowie die drastische Aussage des Wiener Bürgermeisters und Nationalratsabgeordneten Karl Seitz, der in einer Sitzung des Nationalrats am 20. Mai 1933 das parteiische Verhalten der Polizei und Justiz brandmarkte und Letzterer vorwarf, zur »Dirne« der Politik geworden zu sein.6 Die Beschwerden der SozialdemokratInnen gegen die NSDAP-freundliche Einstellung der Exekutive7 hatten sich nach den Landtags- und Gemeinderatswahlen im April 1932 zu häufen begonnen. Der Polizei wurde vorgeworfen, bei politischen Auseinandersetzungen scharf gegen SympathisantInnen der am linken Spektrum angesiedelten Parteien vorzugehen, AnhängerInnen der NSDAP hingegen, sofern sie überhaupt Verhaftungen vornahm, mit geringen Polizeistrafen zu belegen bzw. unbestraft wieder auf freien Fuß zu setzen. »Nie wieder dürfen solche Wahlen abgehalten werden«, forderte die »Neue Freie Presse« in ihrem Resümee des Wahlkampfes und verurteilte die Ausschreitungen und die »infame Verwilderung« scharf.8 War der Wahlkampf zunächst weitgehend durch Gewaltrhetorik und kleine Scharmützel bestimmt gewesen, hatte sich die Stimmung drei Tage vor der Wahl zunehmend radikalisiert. Zu blutigen Ausschreitungen mit zahlreichen, zum Teil schwer Verwundeten kam es im niederösterreichischen Krems, wo Nationalsozialisten eine christlichsoziale WählerInnenversammlung zu sprengen versuchten und erst das Bundesheer die Ruhe wiederherstellen konnte. In Judenburg führte ein sozialdemokratischer Wahlumzug zu einer Schlägerei mit nationalsozialistischen AnhängerInnen, bei der auch Schüsse fielen und mehrere Personen das Krankenhaus aufsuchen mussten. Der schwerste Zwischenfall des Wahlkampfes ereignete sich in Liesing, wo Karl Schafhauser, ein Angehöriger des Republikanischen Schutzbundes, von dem Wiener SS-Mann Heinrich Korb niedergestochen und getötet wurde. Zwar war die Zwischenkriegszeit in Österreich von Beginn an durch gewalttätige Zusammenstöße zwischen den verschiedenen politischen Richtungen geprägt gewesen, deren Ausmaß und Intensität hatte sich ab 1927 jedoch zum »latenten Bürgerkrieg« gesteigert.9 Die Kämpfe waren zunächst vornehmlich zwischen Heimwehr und Republi6 Die Rede ist abgedruckt in  : Wiener Zeitung (WZ), 22.10.1932, 3–6. 7 Vgl. zur nationalsozialistischen Unterwanderung im Bereich der Exekutive, insbesondere für die Zeit nach der Ausschaltung des Parlaments, Mähner 1990 und Winkler 1983. 8 NFP, 24.4.1932, 2. 9 Botz 1983, 188.

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kanischem Schutzbund ausgetragen worden. Ab 1932 löste die NSDAP die Heimwehr im »antimarxistischen Straßenkampf« ab.10 Hinzu kamen nun auch antisemitische Übergriffe und Gewalttätigkeiten gegen die jüdische Bevölkerung, bis die NSDAP ab Dezember 1932 auch gezielt zu geplanten terroristischen Aktionen überging. Mit den von der Wiener SS durchgeführten Bombenanschlägen auf jüdische Geschäfte am 12. und 13. Juni 1933 setzte sich der terroristische Kurs der NSDAP endgültig durch. Eine Woche später wurde der Partei am 19. Juni jede Betätigung untersagt. Eines der Kampffelder der NSDAP waren von Beginn an die Universitäten gewesen,11 an denen nationalsozialistische Angriffe zum studentischen Alltag geworden waren. Schon während des Wahlkampfes 1932 in Wien hatte die NSDAP diesen mit einer »judenfreien Woche« begangen, deren Auftakt das Verprügeln »missliebiger« Studierender an der Technischen Universität (TU) bildete.12 Während das Rektorat keinerlei Schritte gegen die Krawalle setzte, wurden zehn Studierende verletzt. In den folgenden Monaten eskalierte die Situation an den Universitäten immer weiter, was die tagelange Schließung der Hochschule zur Folge hatte – so auch am 9. Mai 1933, jenem Tag, an dem die Studierenden schließlich aus dem Fenster sprangen, um sich vor den nationalsozialistischen Angreifern in Sicherheit zu bringen. Am 8.  Oktober 1933, also bereits Monate nach dem Beginn der terroristischen Politik der NSDAP, mit dem das gesamte Bundesgebiet in den Ausnahmenzustand versetzt worden war, fand vor dem Schöffensenat unter Vorsitz des Oberlandesgerichtsrates Johann Powalatz das gerichtliche Verfahren zu den damaligen Ereignissen statt. Angeklagt waren nicht die für den Angriff verantwortlichen Nationalsozialisten, sondern zwei jüdische Studenten. Vor Gericht erklärte der Angeklagte Hans P.,13 dass er das Gebäude nicht hatte verlassen können, da die Nationalsozialisten die Ausgänge und die Aula besetzt hielten und »mit Glassplittern, Stahlruten und anderen Waffen« auf ihre GegnerInnen einschlugen. P. hatte sich daraufhin mit weiteren Studierenden im Röntgenzimmer des Instituts verbarrikadierte und war dann, als die Nationalsozialisten in das Zimmer einzudringen versuchten, aus dem Fenster gesprungen. Einigen Studierenden gelang es schließlich,14 ein vorbeifahrendes Feuerwehrauto anzuhalten und eine Feuerwehrleiter an sich zu nehmen, um ihre noch eingeschlossenen KommilitonInnen aus dem Gebäude zu befreien, darunter auch Hans P. Dagegen schritt aber die inzwischen aufmarschierte Sicherheitswache ein, die jede 10 Ebd. 11 Vgl. zu den antisemitischen Ausschreitungen an der Universität Wien Taschwer 2015, zur Universität Innsbruck Gehler 1989. 12 NFP, 26.4.1932, 2  ; Kleines Blatt, 26.4.1932, 4. 13 Vgl. dazu NFP, 20.10.1933, 8  ; AZ, 20.10.1933, 7. 14 NFP (Abendblatt), 9.5.1933, 1.

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weitere Hilfeleistung zu unterbinden versuchte – und das unter Einsatz von Gewalt. Auch Hans P. bekam dies bei dem Versuch, einer Kommilitonin über die Leiter zur Flucht zu verhelfen, zu spüren, da er währenddessen von Wachmann Johann Mahac mit dem Gummiknüttel verprügelt wurde. P. setzte sich daraufhin mit seiner Tasche und einem Sesselbein zur Wehr und konnte schließlich in einen Straßenbahnwagon flüchten, aus dem er von einem weiteren Wachmann heruntergezerrt und auf die Straße gestoßen, von Mahac erneut verprügelt und in der Folge wegen Verbrechens der öffentlichen Gewalttätigkeit verhaftet wurde. Ebenfalls in Haft genommen und wegen versuchter öffentlicher Gewalttätigkeit angezeigt, wurde ein Medizinstudent, der als Zeuge des Vorfalls auf die Wachstube mitgegangen war. Am 20. Oktober verurteilte Richter Powalatz Hans P. »unter Zubilligung mildernder Umstände« zu einem Monat schweren Arrests bedingt auf zwei Jahre. Der Student, der sich als Zeuge zur Verfügung gestellt hatte und daraufhin ebenfalls verhaftet worden war, wurde hingegen freigesprochen.15 Die unterlassene Hilfeleistung seitens der Polizeikräfte war nicht Gegenstand des Verfahrens. Powalatz war zunächst als Presserichter eingesetzt gewesen und hatte aufgrund seiner Urteile, aus denen sich ein parteiisches Verhalten nicht ablesen lässt, von allen politischen Seiten Kritik geerntet.16 Am 1.  März 1932 wurde er an das Landesgericht für Strafsachen Wien I versetzt. Zum Zeitpunkt der Verhandlung gegen die beiden jüdischen Studierenden war Powalatz in Sachen nationalsozialistischer Gewalttaten bereits bestens eingearbeitet, hatte er doch im September 1933 den Vorsitz im Verfahren gegen die SS-Männer Walter Leubuscher und Hans Muschik geleitet.17 Diese waren angeklagt, Max Grillmayr, einem der meistgesuchten SS-Terroristen, zur Flucht nach Deutschland verholfen zu haben, der maßgeblich an der Planung und Organisation der Bombenanschläge der Wiener SS vom 12. und 13. Juni auf das Café Produktenbörse, das Kaufhaus HAK und das Juweliergeschäft Futterweit beteiligt gewesen war. Dabei waren der Juwelier Norbert Futterweit und ein Passant getötet, neun weitere Personen verletzt worden. Muschik und Leubuscher waren am 13.  Juni im Zuge der Schließung des Salzburger »Braunen Hauses«18 dort verhaftet worden,19 nachdem bei Leubuscher neben 15 NFP, 20.10.1933, 8. 16 Vgl. etwa folgende Zeitungsberichte  : Freiheit  !, 28.10.1930, 3  ; AZ, 13.7.1930, 4  ; Reichspost (RP), 20.10.1931, 7  ; AZ, 11.2.1932, 4. 17 Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Landesgericht für Strafsachen (LGfS) Wien I, Vr 4349/33. 18 Muschik gehörte seit Jänner 1932 der SS an, Bundesarchiv Berlin (BArch) (ehem. BDC), SSO  : Hans Muschik. 19 Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR), Bericht der Polizeidirektion (PDion) Wien, 16.6.1933  ; RP, 15.6.1933, 7.

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drei Pistolen noch 62 Stück Munition, je ein Dolch und Stilettmesser, bei Muschik eine Pistole und ein Magazin mit Munition gefunden worden waren und sich die beiden »in auffallende Widersprüche« verstrickt hatten.20 Leubuscher gestand schließlich, sich als Fluchthelfer betätigt zu haben und gab auch detaillierte Informationen zu den Terroranschlägen preis, während Muschik jegliche Beteiligung abstritt. Beide mussten sich am 20. September 1933 vor Richter Powalatz verantworten, der Leubuscher zu fünf Monaten einfachen Kerker verurteilte21 und Muschik mangels Beweisen freisprach, wobei sich dieser bei Powalatz dann auch seine Pistole abholen durfte.22 Mit Muschik kam jener SS-Mann auf freien Fuß, der das Sprengstoffdepot der niederösterreichischen SS verwaltet hatte und später nach eigenen Angaben bei der »Erzeugung und Beschaffung von Sprengstoffen« für die von Grillmayr organisierten Anschläge mitgeholfen hatte.23 Dass die terroristischen Netzwerke zumeist nicht aufgedeckt wurden, hing ganz maßgeblich mit der weitreichenden Unterwanderung von Polizei und Justiz durch die NSDAP zusammen. So war in das Verfahren gegen Leubuscher und Muschik nicht nur der nationalsozialistische Kriminalbeamte Karl Dietrich involviert, der noch dazu mit der Untersuchung gegen die angeblichen Drahtzieher der Anschläge beauftragt worden war, sondern auch der Rechtsanwaltsanwärter Robert Scheickl. Dieser arbeitete unter dem Decknamen »Dr. Schindler« für den NS-Nachrichtendienst und war als einer der Schriftführer dem zuständigen Untersuchungsrichter zur Seite gestellt worden.24 Im Wiener Landesgericht fertigte Scheickl Abschriften von Gerichtsakten für den NS-Nachrichtendienst an, bis er nach dem Juliputsch 1934 schließlich enttarnt wurde.25 Den Vorsitz in seinem Fall führte wiederum Richter Powalatz, der den Strafakt der Landesleitung der NSDAP übergab.26 1937 trat er schließlich der NSDAP bei.27 Entsprechend wohlwollend äußerte sich nach dem »Anschluss« Erich Führer, einer der prominentesten nationalsozialistischen Rechtsanwälte, über Powalatz, der im Zusammenhang mit einem Prozess gegen die SA-Obergruppe »durch seine einwandfreie Leitung angenehm gegenüber den meist in sol-

20 ÖSTA/AdR, Bericht der PDion Wien, 16.6.1933. 21 NFP (Abendblatt), 19.9.1933, 4 und NFP, 20.9.1933, 10  ; RP, 20.9.1933, 8. 22 Ebd. 23 ÖStA, Gauakt, Zl. 11.179 24 WStLA, LGfS Wien I, Vr 4349/33. 25 Abschrift eines Berichts der (Bundespolizeidirektion) BPD Wien, 28.8.1934, ÖStA/AdR, Bundeskanzleramt-Inneres (BKA-I), allg., 22/gen., Zl. 241.172-St.B./1934. 26 Stadler 2007, 346. 27 Zu Powalatz vgl. ausf. ebd., 345–347.

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chen Prozessen tätigen jüdischen Richtern auffiel«.28 Im April 1939 wurde Powalatz, inzwischen zum Landesgerichtsdirektor aufgestiegen, zum Senatspräsidenten beim Landesgericht Linz ernannt.29 Powalatz war mit seiner Sympathie für die Ideen des Nationalsozialismus kein Einzelfall innerhalb der Wiener Richterschaft. Ab Herbst 1932 zeigte sich nämlich eine Änderung im Verhalten von Nationalsozialisten vor Gericht, die nun unter Duldung der Gerichte mit Abzeichen und/oder Uniform, die Hand zum Hitlergruß erhoben, in die Gerichtssäle einzogen  – so etwa anlässlich des Prozesses zum »Simmeringer Blutsonntag«,30 bei dem die nationalsozialistischen Belastungszeugen »entweder S.A.-Uniform oder wenigstens unter dem Mantel das Braunhemd trugen«.31 Das Ersuchen der Verteidiger, die Parteiabzeichen zu entfernen, blieb zumeist unbeachtet, wie beispielsweise durch Richter Rudolph Delapina, der einen derartigen Antrag des Verteidigers schlichtweg ignorierte.32 Zu einem »bemerkenswerten Zwischenfall« kam es laut »Neuer Freier Presse« am 1. März 1933,33 als Richter Alfred Amtmann einen jugendlichen Nationalsozialisten als Zeugen aufrief, der in SA-Uniform, »geschmückt mit Sturmabzeichen und Hakenkreuz« vor Gericht erschien, woraufhin der Verteidiger vor dessen Einvernahme beantragte, dass er das Hakenkreuz-Abzeichen ablegen solle, da im Gerichtssaal »jede Politik auszuschalten« sei. Amtmann lehnte den Antrag mit der Begründung ab, er könne »niemanden zwingen, das Hakenkreuz abzulegen, ebenso wenig, wie ich jemanden zwingen könnte, das Zeichen mit den drei Pfeilen im Gerichtssaal nicht zu tragen. Meinetwegen kann sich jeder aufhängen, was er will.« Das Verfahren im Zusammenhang mit den Vorfällen im Anatomischen Institut war kein Einzelfall. Immer wieder kam es im Zusammenhang mit Angriffen von Angehörigen der NSDAP auf jüdische BürgerInnen dazu, dass die Attackierten, die sich dagegen zur Wehr setzten bzw. anderen Hilfe zu leisten versuchten, sich wegen Missachtung der Anweisungen der Sicherheitskräfte vor Gericht verantworten mussten. Dies lässt sich etwa auch für die wiederholt von NS-Trupps attackierten BewohnerInnen der Judengasse feststellen. Diese war am 24. Mai 1932 während der Ausschreitungen anlässlich der konstituierenden Gemeinderatssitzung von einem Trupp Nationalsozialisten gestürmt worden. Sechs Tage später zettelte eine größere Gruppe nationalsozialistischer Studierender, die nach einer Demonstration vom Hohen 28 Deutscher Telegraf, 29.4.1938, 3. 29 Kleine Volks-Zeitung, 1.4.1938, 10. 30 Vgl. dazu ausf. Neck 1976 sowie Botz 1983, 202–207. 31 NFP, 17.3.1938, 8. 32 Kleines Blatt, 30.10.1932, 18. 33 NFP, 2.3.1933, 9.

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Markt in die Judengasse eingedrungen waren, erneut eine Schlägerei an.34 Die Geschäftsleute waren diesmal scheinbar besser vorbereitet und schlossen »auf die Rufe  : ›Hakenkreuzler kommen  !‹ […] rasch ihre Geschäfte, ließen die Rollbalken herab und versammelten sich auf der Straße«. Die Polizei hatte zwar inzwischen den Eingang vom Hohen Markt in die Judengasse abgeriegelt, jedoch drangen mehrere Nationalsozialisten vom Fleischmarkt und der Sterngasse in die Judengasse ein, wo es zu einer wüsten Prügelei kam. »Merkwürdigerweise«, so die zionistische Wochenzeitung »Die Stimme«, »kam auch diesmal die Polizei zu spät«.35 Verhaftet wurde der jüdische Kaufmann Nathan Asrilen, der sich mit einer Stange gegen die Angreifer zur Wehr gesetzt hatte. Am Tag darauf nahmen die NationalsozialistInnen die Konstituierung der Bezirksvertretung der Inneren Stadt zum Anlass, um erneut in die Judengasse einzumarschieren, wurden aber diesmal von der Polizei daran gehindert. Am 17. Juli fand der erste Prozess zu den Vorfällen in der Judengasse statt. Angeklagt war der jüdische Kaufmann Moritz Steiner.36 Dieser hatte am 24. Mai beim Anmarsch der Nationalsozialisten einen Feueralarm ausgelöst, weshalb er sich vor Richter Hans Bäcker wegen Betrugs und Sachbeschädigung verantworten musste. Der Angeklagte bestritt, den Feueralarm ausgelöst zu haben, jedoch sagte ein Zeuge gegen ihn aus. Nach den möglichen Gründen, warum Steiner diese Tat begangen haben könnte, antwortete der Zeuge, dass er dies wohl »aus Furcht […] vor den Demonstranten« getan habe. Bäcker fragte Steiner daraufhin, ob er »nicht gestehen [wolle]«, woraufhin der Kaufmann erneut abstritt, den Feuermelder eingeschlagen zu haben. Hätte er es getan, so würde er dies auch zugeben, »denn es wäre ja kein Verbrechen und nur zum Schutze der Judengasse gewesen«. Der Richter stellte sich jedoch auf den Standpunkt, dass »die Feuerwehr […] zum Feuerlöschen […], nicht zum Schutz vor Demonstranten« da sei, und verurteilte Steiner zu nicht weniger als zehn Tagen Arrest. In der Urteilsbegründung führte er an, dass kein Milderungsgrund vorgelegen habe. Drei Wochen zuvor hatte Bäcker im Verfahren gegen die Nationalsozialisten Stephan Stafa und Alfred Posch,37 die den Redakteur Ernst Klebinder verprügelt hatten, Stafa freigesprochen und Posch zu 20 Schilling Geldstrafe verurteilt. Am 8. Oktober stand dann Nathan Asrilen wegen leichter Körperverletzung vor Gericht, da er während des nationalsozialistischen Überfalls auf die Judengasse den 31-jährigen Philosophiestudenten Ernst Meißner mit einer Rollbalkenstange geschla-

34 NFP, 8.10.1932, 10. 35 Die Stimme, 2.6.1932, 1. 36 Die Stimme, 21.7.1932, 7  ; Kleines Blatt, 17.7.1932, 18. 37 RP, 26.6.1932, 1.

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gen hatte.38 Obwohl sich die Zeugenaussagen widersprachen, wurde Asrilen zu 40 Schilling oder acht Tagen Arrest verurteilt.39 Hingegen wurde der Nationalsozialist Wilhelm Hohenacker aufgrund widersprüchlicher Zeugenaussagen von Richter Walter Kunze freigesprochen.40 Hohenacker hatte am 24.  Mai bei einer Prügelei mit jüdischen PassantInnen auf der Augartenbrücke den Handelsangestellten David Z. geschlagen, der mit einer Gehirnerschütterung und Blutergüssen am linken Auge in die Unfallstation gebracht werden musste und zum Zeitpunkt des Prozesses noch immer in ärztlicher Behandlung stand. Zu 30 Schilling Geldstrafe oder drei Tagen Arrest verurteilt wurde hingegen der Nationalsozialist Josef Reisp, der ebenfalls am 24. Mai einen jüdischen Schneider mit einer Hundepeitsche verprügelt hatte.41 Eingestellt wurden auch die Untersuchungen gegen jene Nationalsozialisten, die am 15.  Oktober 1932 im Rahmen des Wiener Gauparteitages ein jüdisches Bethaus in der Sperlgasse überfallen hatten, während sich die damals verhafteten Juden Ende 1932 vor Gericht verantworten mussten. Verurteilt wurde etwa der durch eine Fußprothese körperlich behinderte Jona Leitner, ein Anrainer, der in seiner Erregung über die Gewaltaktion der Nationalsozialisten einen Sessel aus dem Fenster seiner Wohnung auf die Straße geworfen hatte, ohne dabei jemanden zu treffen.42 Gegen Leitner war zunächst ohne Anordnung einer Verhandlung im kurzen Wege eine Polizeistrafe von 30 Schilling oder drei Tagen Arrests erlassen worden. Nach der Einstellung der Verfahren gegen die Nationalsozialisten berief Leitner. Richter Amtmann verurteilte ihn daraufhin »unter Anwendung äußerster Milde« zu einer Geldstrafe von fünf Schilling oder zwölf Stunden Arrest. Eine Woche später fand ein weiterer Prozess im Zusammenhang mit den Vorfällen um das Bethaus statt.43 Vor Gericht stand der Angestellte Egon W., der sich wegen Einmengung in eine Amtshandlung zu verantworten hatte. Dieser hatte die Verhaftung eines Freundes beobachtet, der gegen die im Auto der Sicherheitswache befindlichen Nationalsozialisten demonstriert hatte. Laut Aussage von Egon W. hatte die Polizei diese geschützt und sei »gegen die Passanten, die nicht fortgehen wollten, mit dem Gummiknüttel losgegangen«. Egon W. meldete sich als Zeuge für seinen Freund und ging danach in ein Kaffeehaus. Dort habe ihn »[n]ach einer Weile« ein Wachmann aufgesucht, der ihn zu sich rief und ihm erklärte, dass er ihn wegen Einmengung in eine Amtshandlung anzeigen müsse. Der Angeklagte wurde freigesprochen, 38 ÖStA/AdR, Bericht der PDion, 30.5.1932  ; Kleines Blatt, 21.6.1932, 11  ; ebd., 20.9.1932, 10. 39 NFP, 8.10.1932, 10  ; Kleines Blatt, 8.10.1932, 10. 40 Kleines Blatt, 21.6.1932, 11  ; Kleines Blatt, 20.9.1932, 10. 41 Kleines Blatt, 25.9.1932, 17. 42 NFP, 15.12.1932, 14  ; ÖStA/AdR, Bericht der PDion Wien, 3.10.1932. 43 Kleines Blatt, 22.12.1932, 11.

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da nach Richter Franz Narz »eine Einmengung und Störung der Amtshandlung nicht erwiesen werden konnte«. Wie auch dieser Fall zeigt, wurden nationalsozialistische Täter oftmals überhaupt nicht der Staatsanwaltschaft angezeigt bzw. mit geringen Geldstrafen polizeilich abgemahnt, gewalttätige Aktionen von Nationalsozialisten erst gar nicht vor Gericht verhandelt, da die Täter angeblich nicht ausgeforscht werden konnten bzw. die Staatsanwaltschaft die Untersuchung einstellte. Lässt sich im Einzelfall als Entlastung für Fehlurteile in Prozessen gegen »Marxisten« noch ins Feld führen, dass die Rekonstruktion des Tathergangs für die Justiz aufgrund der ständigen tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen paramilitärischen Gruppen oftmals nicht oder nur schwer zu bewerkstelligen war, zeigt die vergleichenden Untersuchung der Spruchpraxis der Gerichte bei Verfahren gegen nationalsozialistische und jüdische Angeklagte klar die parteiische Einstellung erheblicher Teile der Wiener Richter- und Staatsanwaltschaft, ihre entschieden pronationalsozialistische und antisemitische Einstellung sowie die Verharmlosung und Inschutznahme nationalsozialistischer Täter. Die Justiz war in der Tat »in Österreich zur Dirne« der Politik geworden.

Literatur und gedruckte Quellen Arbeiter-Zeitung 1930, 1932, 1933. Botz, Gerhard, Gewalt in der Politik. Attentate, Zusammenstöße, Putschversuche, Unruhen in Österreich 1918 bis 1938, München 1983. Deutscher Telegraf 1938. Freiheit  ! 1930. Gehler, Michael, Vom Rassenwahn zum Judenmord am Beispiel des studentischen Antisemitismus an der Universität Innsbruck von den Anfängen bis in das »Anschluß«-Jahr 1938, in  : zeitgeschichte 16 (1989), 263–288. Kleine Volks-Zeitung 1938. Kleines Blatt 1932. Mähner, Peter, Die Rolle der Polizei in der Konstituierungsphase des Austrofaschismus, Dipl.-Arb., Wien 1990. Neck, Rudolf, Simmering – 16. Oktober 1932 (Symptom und Auftakt der österreichischen Tragödie), in  : Neck, Rudolf/Wandruska, Adam (Hg.), Beiträge zur Zeitgeschichte. Festschrift für Ludwig Jedlicka zum 60. Geburtstag, St. Pölten 1976, 95–112. Neue Freie Presse 1932–1933, 1938. Reichspost 1931–1933. Rothländer Christiane, Die Anfänge der Wiener SS, Wien u. a. 2012. Stadler, Wolfgang, »… Juristisch bin ich nicht zu fassen.« Die Verfahren des Volksgerichts Wien gegen Richter und Staatsanwälte 1945–1955 (Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des ös-

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terreichischen Widerstandes zu Widerstand, NS-Verfolgung und Nachkriegsaspekten 5), Wien u. a. 2007. Die Stimme 1932. Taschwer, Klaus, Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wien 2015. Wiener Zeitung 1932. Winkler, Elisabeth, Die Polizei als Instrument in der Etablierungsphase der austrofaschistischen Diktatur (1932–1934) mit besonderer Berücksichtigung der Wiener Polizei, Diss. Wien 1983.

Archivalische Quellen Bundesarchiv Berlin, ehemaliges Berlin Document Center, SS-Offiziersakten. Österreichisches Staatsarchiv (ÖStA), Archiv der Republik (AdR)  : Berichte der Bundes-Polizeidirektion Wien. Bundeskanzleramt-Inneres, Signaturenreihe Gauakten. Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Landesgericht für Strafsachen Wien.

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Antisemitismus in der Alltagsjustiz zwischen Juliabkommen 1936 und »Anschluss« 1938 Einleitung Das Juliabkommen, jener am 11. Juli 1936 zwischen der österreichischen Regierung unter Kurt Schuschnigg und dem reichsdeutschen, nationalsozialistischen Regime geschlossene bilaterale Vertrag mit dem erklärten Ziel der Entspannung und »Normalisierung« der Beziehungen, wurde durch ein »Gentlemen’s agreement« ergänzt.1 Dieses räumte dem deutschnationalen Lager einen größeren Bewegungsspielraum in Österreich ein und ermöglichte  – wenngleich auch die NSDAP weiterhin in Österreich verboten blieb – eine fortschreitende nationalsozialistische Unterwanderung, die in vielen Bereichen zu einer Verfestigung und Zunahme des bereits zuvor in Österreich vorhandenen Antisemitismus führte. Ob von dieser Entwicklung auch die Alltagsjustiz betroffen war, ist Thema des folgenden Beitrages. Während Untersuchungen zu verschiedenen Einzelbereichen der Justiz in den 1930er Jahren, so u. a. zur rechtlichen Stellung der Richter und zur politischen Justiz vorliegen,2 und auch Forschungen zu Antisemitismus in der Alltagsjustiz für die frühen 1930er Jahre vorhanden sind,3 fehlen solche für die Zeit zwischen Juliabkommen 1936 und dem »Anschluss« 1938. Um diese Lücke zu schließen wurde in einem ersten Schritt die Gerichtssaalberichterstattung österreichischer Tageszeitungen als Quelle herangezogen, insbesondere der »Neuen Freien Presse« und der »Reichspost«, sowie für den internationalen Aspekt »The New York Times«. Des Weiteren dienten jüdische Wochenschriften als Basis für die Untersuchung, so vor allem »Die Stimme«, das Organ des zionistischen Flügels der Juden Österreichs, »Die Wahrheit«, das Organ der assimilierten Juden, sowie die »Jüdische Front«, die Zeitschrift des »Bundes jüdischer Frontsoldaten Österreichs«. Bei der Auswertung dieser Quellen lag der Fokus auf dem Verhalten der Richterschaft und der Staatsanwaltschaft, wobei dieses in Hinblick auf zwei Fragenkomplexe analysiert wurde  : zum einen, ob Antisemi1 Vgl. dazu u. a. Volsansky 2001, 29–32. 2 Vgl. u. a. Reiter-Zatloukal 2007  ; Reiter-Zatloukal 2016  ; Schwarz 2007  ; Neugebauer 1977  ; Neugebauer 1987  ; Neugebauer 2014. 3 Vgl. Rothländer 2012, 244–250, sowie ihr Beitrag in diesem Band.

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tismus in Gerichtsentscheidungen in der Form zutage trat, dass Urteile gegen Juden härter ausfielen als gegen Nichtjuden bzw. Juden in Prozessen benachteiligt wurden, und zum anderen, ob die Staatsanwaltschaft antisemitisch motivierte Straftaten in ausreichendem Umfang verfolgte und zur Anklage brachte.4

Antisemitismus in der Richterschaft Aufgrund der bereits vorliegenden Untersuchungen lässt sich grundsätzlich feststellen, dass antisemitische Tendenzen in richterlichen Kreisen keine Seltenheit waren, zumindest Teile der Richterschaft zeigten gegenüber nationalsozialistischem Gedankengut eine mehr oder weniger deutliche Aufgeschlossenheit.5 Der Grund dafür lag unter anderem in der Herkunft und der Ausbildung der Richter.6 Sie stammten überwiegend aus bürgerlichen Kreisen mit zumeist großdeutscher Prägung und kamen im Laufe ihres Studiums zwangsläufig mit antisemitischem Gedankengut in Berührung, da die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät als Brutstätte des Antisemitismus galt.7 Ob diese in weiten Kreisen der Berufsrichter vorhandene antisemitische Grundtendenz sich auch in laienrichterlichen Kreisen festmachen lässt, kann nach derzeitigem Forschungsstand nicht gesagt werden.8 Zur Frage, ob sich diese zumindest in Teilen der Berufsrichterschaft vertretene antisemitische Grundhaltung im Verhalten gegenüber jüdischen Prozessparteien und in der Urteilsfällung niederschlug, zeigt sich die Gerichtssaalberichterstattung der österreichischen Tageszeitungen wenig ergiebig. In der »Neuen Freien Presse« und »Reichpost« erschienen zwar regelmäßig Berichte über aktuelle Gerichtsverfahren, das Hauptaugenmerk lag allerdings auf spektakulären Mordprozessen. Hinweise auf antisemitisches Agieren von Richtern konnte aus diesen Quellen kaum gewonnen werden, 4 Aufgrund der Komplexität des Themas und des hier zur Verfügung stehenden Rahmens kann ein nur grober und naturgemäß lückenhafter Einstieg in das Thema gegeben werden. Weitere Untersuchungen auf Basis von Archivmaterial sind in Vorbereitung. 5 Vgl. Reiter-Zatloukal 2016, 437–451  ; Holtmann 1978, 57  ; Schwarz 2007, 130–136, Mulley 2002, 267  ; Stadler 2007, 15–18. 6 »Richter« wird in diesem Beitrag nur in der männlichen Form verwendet, da es im Untersuchungszeitraum in der Richterschaft ausschließlich Männer gab. Die ersten Frauen wurden erst 1947 zu Richterinnen ernannt. Gleiches gilt für »Staatsanwalt«. 7 Vgl. u. a. R athkolb 1989, 197  ; Reiter-Zatloukal 2013a, 201  ; Mulley 2002, 264–268  ; siehe auch den Beitrag von Linda Erker und Klaus Taschwer in diesem Band. 8 Das laienrichterliche Element spielte vor allem im Strafverfahren eine bedeutende Rolle, denn die Schöffengerichte waren mit zwei Berufsrichter und zwei Laien und die 1934 anstelle der Geschworenengerichte eingeführten Schwurgerichte mit drei Berufsrichtern sowie drei Laien besetzt.

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anders als noch zu Beginn der 1930er Jahre, in denen einige Fälle von parteiischer Urteilsfindung in der Tagespresse aufgezeigt wurden.9 Ob die Tatsache, dass Berichte über parteiische Rechtsprechung im Untersuchungszeitraum so gut wie nicht vorhanden sind, mit den ab 1933 verhängten Einschränkungen auf dem Gebiet der Presse in Zusammenhang steht, bedürfte weiterer Forschungen.10 Abgesehen von den Tageszeitungen bieten auch die jüdischen Blätter nur wenige Anhaltspunkte bezüglich offenem Antisemitismus in der Alltagsjustiz, wobei auffällt, dass vor allem »Die Stimme« sehr wohl der Rechtsprechung Aufmerksamkeit widmete, allerdings nahezu ausschließlich jener im Ausland, allen voran jener in Polen und Rumänien. Mit Schlagzeilen wie beispielsweise »Drakonische Urteile gegen Juden in Rumänien«,11 »Judenhetze vom Richtertisch«12 oder »Polnisches Gericht spricht Pogrommörder frei«13 wurde das antisemitische Verhalten einzelner ausländischer Richter kritisiert. Die österreichische Justiz wird hingegen kaum thematisiert, es finden sich lediglich wiederholt Klagen allgemeiner Art, dass die »Behörden« nicht bzw. nicht ausreichend gegen antisemitische Vorfälle vorgingen,14 unmittelbare Kritik an der Rechtsprechung oder am Verhalten der Richterschaft wird nicht laut. Trotz dieser Zurückhaltung der Printmedien hinsichtlich kritischer Berichte über die österreichische Rechtsprechung lassen sich dennoch schlaglichtartig einige Fälle aufzeigen. Ein Fall, in dem ein jüdischer Täter härter bestraft wurde als nichtjüdische Täter in ähnlich gelagerten Fällen, trug sich Ende des Jahres 1936 zu. Im Konkreten ging es um das Zertrümmern von Fensterscheiben, d. h. das Verbrechen der öffentlichen Gewalt durch boshafte Sachbeschädigung (§ 85 StGB), die jeweiligen Prozesse fanden am Landesgericht für Strafsachen Wien I statt. Die Serie von Gewalttaten begann am 15.  Dezember  1937 als der zuvor unbescholtene 32jährige jüdische Kaufmann Ezechiel Michael Lebenschuss eine Auslagenscheibe der Reichsbahnzentrale für den deutschen Reiseverkehr in der Wiener Kärntnerstraße einschlug, wo ein überlebensgroßes Bild des deutschen Reichskanzlers Hitler ausgestellt war.15 Bei der Einvernahme nach seiner Verhaftung gab Lebenschuss zunächst an, er wisse nicht, warum er das getan habe, bei abermaliger Befragung ergänzte er, er habe es aus Zorn über die Rassentheorie der NSDAP getan, die an seinem geschäftlichen Ruin schuld sei.   9 Vgl. dazu Rothländer 2012, 244–250, sowie den Beitrag von Rothländer in diesem Band. 10 Zu den Einschränkungen im Bereich der Presse ab 1933 vgl. Duchkowitsch 2014, 358–370. 11 Die Stimme, 29.1.1937, 3. 12 Die Stimme, 18.6.1937, 7. 13 Die Stimme, 1.6.1937, 2. 14 Vgl. dazu weiter unten. 15 Neue Freie Presse, 5.2.1938, 5  ; Neues Wiener Tagblatt (Mittagsausgabe), 29.1.1938, 2  ; Agrarische Post, 5.2.1938, 10f.; Die Stimme, 31.1.1938, 1f., 7.2.1938, 1  ; Die Wahrheit, 11.2.1938, 3.

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Infolge der Boykottaufrufe seien seine Kunden ausgeblieben, weshalb er sein Lebensmittelgeschäft in der Hadikgasse in Hietzing (13.  Wiener Gemeindebezirk) hatte schließen müssen. Vor dem Untersuchungsrichter führte der Kaufmann noch aus, dass er die Tat nicht beabsichtigt hatte, er sei vielmehr aufgrund seiner geschäftlichen Schwierigkeiten beim Anblick des Bildes Hitlers in übermäßige Erregung geraten. Dies bestätigte auch ein psychiatrisches Gutachten, das Lebenschuss bescheinigte, »in starkem Affektzustand sehr depressiver Natur« – laut Gerichtsgutachter war er schon dem Zustand der Verzweiflung nahe  – gehandelt zu haben. Der Schöffensenat des Landesgerichts für Strafsachen Wien verurteilte Lebenschuss wegen boshafter Sachbeschädigung zu vier Monaten strengem Kerker, ein relativ hohes Strafausmaß, das – so die Begründung – abschreckende Wirkung haben sollte.16 Im Vergleich zu diesem harten Urteil im Fall des jüdischen Kaufmannes wurden zwei bereits vorbestrafte junge Männer, die eine ähnliche Straftat begangen hatten, äußerst milde bestraft, denn sie wurden nur zu jeweils drei Monaten schwerem Kerker verurteilt.17 Sie hatten sich am 16. Dezember 1937, d. h. einen Tag nach der Tat Lebenschuss’, nachdem sie von dem Vorfall erfahren hatten und in heftige Empörung geraten waren, mit Steinen bewaffnet an den Tatort begeben.18 Einer der Täter gab im Strafverfahren an, er sei darüber verärgert gewesen, dass »die Juden Geld haben und unsereiner arbeiten muß […] und sie stiften Unfrieden«.19 Aus diesem Grund planten die beiden Männer, mit einem Juden eine Rauferei anzufangen oder eine Fensterscheibe eines jüdischen Geschäftes einzuschlagen, wobei sie letzteres auch umsetzten und zwei Auslagenscheiben eines Damenmodesalons in der Kärntnerstraße durch Steinwürfe zertrümmerten. Diese antisemitisch motivierte Tat war der Anfang einer Serie von weiteren Ausschreitungen gegen jüdische Einrichtungen. Noch vor Weihnachten zertrümmerten Anhänger NS-naher Kreise mit Eisenstangen und Ziegelsteinen Auslagenscheiben in mehreren Wiener Einkaufstraßen, der Ottakringerstraße, der Neulerchenfelderstraße und der Siebensterngasse, die Täter konnten jeweils die Flucht ergreifen.20 Ein weiterer Sturm der Zerstörung setzte dann unmittelbar nach der Urteilsverkündung im Prozess gegen Lebenschuss am 4. Februar 1938 ein. Wieder waren vor allem Fensterscheiben jüdischer Geschäftsleute Ziel der antisemitisch motivierten Aktionen, diesmal in noch größerem Umfang, es waren insgesamt sieben Wiener Gemeindebezirke 16 Die Wahrheit, 11.2.1938, 3. 17 Ebd.; Neue Freie Presse, 6.2.1938, 19. 18 Neue Freie Presse 6.2.1938, 19  ; 7.2.1938, 3. 19 Neue Freie Presse 6.2.1938, 19. 20 Sport-Tagblatt 21.12.1937, 6.

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betroffen.21 Die Gewalttaten erfassten auch das jüdische Gotteshaus im 3. Wiener Gemeindebezirk, Hetzgasse 40, wo zum Zeitpunkt des Anschlages ein Gottesdienst mit 40 Teilnehmern stattfand.22 Einige der Anwesenden erlitten durch Glassplitter der infolge eines Steinhagels berstenden Fensterscheiben Verletzungen  ; eine durch die kaputten Scheiben geworfene Brandfackel konnte, bevor noch ärgerer Schaden angerichtet wurde, abgelöscht werden. Nach amtlicher Mitteilung in der »Neuen Freien Presse« vom 5. Februar 1938 »wurde eine Anzahl nationalsozialistischer Parteigänger wegen Einschlagens von Geschäftsauslagenscheiben in verschiedenen Bezirken Wiens festgenommen«.23 Darüber, wie mit den Verdächtigen weiter verfahren wurde, bzw. über etwaige Verurteilungen finden sich keine Berichte in den Printmedien. Zu Beginn des Jahres 1937 trug sich ein weiterer, wenngleich völlig anders gelagerter Fall zu, der geeignet ist, Licht auf die Einstellung einzelner österreichischer Richter zu antisemitischem Gedankengut zu werfen. Inhaltlich ging es in diesem Fall um einen in Österreich ausgetragenen Scheidungsprozess eines reichsdeutschen Ehepaares, wobei der Richter in seinem im Jänner 1937 gefällten Urteil ausführlich auf die Rassentheorie einging. Der Fall erregte weit über die Grenzen Österreichs hinaus Aufsehen, sogar »The New York Times« widmete ihm unter dem Titel »Austria redifines races – Court Divorces Non-Jew and Jewess on the Nazi Ethnological Basis« einen eigenen Artikel.24 Das Urteil schlug auch in der inländischen Presse hohe Wellen, allen voran in einigen Boulevardblättern, die unter Schlagzeilen wie »Eine Ehetrennung wegen Rassenverschiedenheit« oder »Rassenverschiedenheit als Scheidungsgrund« eingehend darüber berichteten.25 Ebenso ging die »Reichspost«, wenngleich wesentlich kürzer, in der Rubrik »Aus dem Gerichtsaal« auf das Urteil ein, wies gleichzeitig aber darauf hin, dass »dieser Prozeß eine vor einem österreichischen Gericht ausgetragene reichsdeutsche Angelegenheit« und daher »für österreichische Verhältnisse von geringem Interesse« sei.26 Etwas differenzierter sah dies die »Salzburger Chronik«, ein katholisches Blatt, das mit Besorgnis auf diesen Fall reagierte  : »Dem Gesetz nach ist es Sache des Richters, zu beurteilen ob und welche Momente zur Feststellung der Tatsache einer sogenannten ›unüberwindlichen Abneigung‹ hin21 Es waren Bezirke quer durch Wien betroffen  : Leopoldstadt, Landstraße, Mariahilf, Neubau, Rudolfsheim, Währing und Floridsdorf. 22 Die Stimme, 7.3.1938, 1. 23 Neue Freie Presse, 5.2.1938, 5. 24 The New York Times 29.1.1937, 3. Dieser Fall wird auch von Pauley 1993, 332, kurz erwähnt, der Quellennachweis mit 1.1.1937, 3, ist allerdings falsch. 25 Das Kleine Blatt, 28.1.1937, 10  ; Neuigkeits-Welt-Blatt, 28.1.1937, 17. 26 Reichspost, 28.1.1937, 10. Auch die jüdischen Blätter berichteten von diesem Fall  : Die Stimme, 29.1.1937, 3  ; sowie Die Wahrheit, 5.2.1937, 3f.

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reichen. Hierin wird der subjektiven Gefühlswelt des Richters immer ein großer Betätigungsraum zugestanden werden müssen. Daß aber ein österreichischer Richter die Grundlage der unüberwindlichen Abneigung in der Rassenverschiedenheit der beiden Eheleute erblickt, ist nicht ganz bedeutungslos. Es beweist nicht, daß der Richter ein Nazi sei, wie der Volksmund in diesem Falle vielleicht zu urteilen geneigt sein könnte, sondern es beweist, wie irgend ein fremdes, importiertes Gedankengut langsam in die österreichische Geisteswelt einzudringen droht.«27 In dem Ehescheidungsprozess ging es um die Auflösung des Ehebandes, die formelle juristische Auflösung der Ehe, wenngleich die Terminologie in der Presse uneinheitlich war  ; einerseits wurde von einer Scheidung gesprochen, andererseits von einer Trennung. Dies dürfte auf die unterschiedliche Begrifflichkeit im österreichischen und deutschen Recht zurückzuführen sein  ; in Österreich war nach der damaligen Rechtslage unter einer »Scheidung (von Tisch und Bett)« lediglich die Aufhebung der häuslichen Gemeinschaft zu verstehen (§§  93 und 103ff ABGB), unter einer »Trennung« jedoch die Auflösung des Ehebandes mit der Möglichkeit der Wiederverheiratung (§ 115 ABGB). Das Ehepaar – der Ehemann war ursprünglich Protestant, inzwischen jedoch konfessionslos geworden, die Ehefrau war Jüdin – hatte die Ehe 1933 in Berlin geschlossen, sodann seinen Wohnsitz nach Österreich verlegt und begehrte nun in Wien die Lösung des Ehebandes infolge der durch Rassenverschiedenheit verursachten gegenseitigen unüberwindlichen Abneigung. Der das Verfahren leitende Oberlandesgerichtsrat Dr. Hugo Mifka28 sprach die Auflösung des Ehebandes aus, wobei er von einer vorläufigen Scheidung Abstand nahm, da eine tatsächliche Trennung der Ehepartner bereits vorlag und durch Zeugen nachgewiesen wurde, dass der Mann Verhältnisse zu anderen Frauen hatte. In der Urteilsbegründung ging der Richter dann ausführlich auf die Rassenverschiedenheit ein und stellte fest, dass es tatsächlich solche Verschiedenheiten und Gegensätze gäbe und diese bestünden nicht nur allgemein, sondern »auch in diesem besonderen Fall, denn sie haben tatsächlich die Ehe beeinflusst. Die eigentlichen Wirkungen der Rassenverschiedenheit werden nicht nur durch die verschiedene äußere Erscheinung, sondern vor allem durch die andere Artung von Charakter, Geist und Seele bemerkbar, wobei insbesondere das letztere bei der durch die eheliche Gemeinschaft bedingten Nähe der Gatten zueinander besonders schwer empfunden wird.«29 Dass sich die Aufgeschlossenheit einiger Teile der Richterschaft gegenüber antisemitischem Gedankengut nicht auf die unteren Ebenen der Gerichtslandschaft Ös27 Zit. n. Die Wahrheit, 5.2.1937, 4. 28 Zu Mifka vgl. jüngst Enderle-Burcel 2017, 45f. 29 Das Kleine Blatt, 28.1.1937, 10.

Antisemitismus in der Alltagsjustiz

terreichs beschränkte, zeigt eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes Ende 1936.30 In diesem Fall ging es um die Gründung des betont nationalen Vereines »Ostmärkischer Volksverein« in Graz, der es als seine Aufgabe sah, zur Förderung des Volkswohles  – anstelle der Förderung von Sonderinteressen einzelner Schichten  – »den österreichischen Volkskörper mit gesundem deutschvölkischem Geiste zu erfüllen«.31 Das Bundeskanzleramt als oberste Vereinsbehörde hatte die Gründung dieses Vereines auf Grundlage von § 6 Vereinsgesetz 1867 untersagt,32 wogegen Rudolf Hirth, der Proponent der Gründung, Beschwerde bei dem Bundesgerichtshof einlegte – und das Höchstgericht gab der Beschwerde statt. Daraufhin fand am 14. Jänner 1937 in Graz die konstituierende Generalversammlung des »Ostmärkischen Volksvereines« mit Wahl des Ausschusses statt, und der Verein entwickelte sich zu einem weiteren Zentrum, von dem nun gezielte Infiltration antisemitischen Gedankengutes in die Bevölkerung ausging. Auch dieser Fall erregte auf internationaler Ebene Aufsehen und Besorgnis. »The New York Times« veröffentlichte unter der Schlagzeile »New pro-nazi body formed in Austria – Supreme Court overrules Dr. Schuschnigg’s Prohibition of East Mark Volksverein« einen langen Artikel dazu. Sie kommentierte die Gründung mit den Worten »a new era for the Austrian Nazis and their pronounced Nationalists backers has opend«,33 wobei sie die Entscheidung des Bundesgerichtshofes als besonders bedenklich einstufte  : »The most serious aspect of the foundation of the Volksverein which is intended to spread throughout the provinces, is that it was done in defiance of Chancellor Kurt Schuschnigg, whose chancellery forbade the organisation as politically dangerous and designed to serve Nazi purposes.«

Antisemitismus in der Staatsanwaltschaft Zur Stellung des Staatsanwaltes im Strafverfahren

Der zweite Bereich innerhalb der österreichischen Justiz, der in den Fokus der Untersuchung genommen wurde, ist der Wirkungsbereich der Staatsanwaltschaft. Dabei wurde vor allem der Frage nachgegangen, ob antisemitische Handlungen in ausreichendem Maße verfolgt wurden, d. h. ob die Staatsanwaltschaft ihrer Strafverfolgungs- und Anklagepflicht nachkam. Das österreichische Strafverfahren war auf 30 Zur Rolle des Bundesgerichtshofes zwischen 1934 und 1938 vgl. Reiter-Zatloukal 2013b. 31 Die Wahrheit, 22.1.1937, 1f., Reichspost, 19.1.1937, 2  ; Neue Freie Presse, 18.1.1937, 8. 32 Gesetz vom 15.11.1867 über das Vereinsrecht, RGBl. 134/1937, § 6  : »Wenn der Verein nach seinem Zwecke oder nach seiner Einrichtung gesetz- oder rechtswidrig oder staatsgefährlich ist, kann die Landesstelle dessen Bildung untersagen«. 33 The New York Times, 31.1.1937, 5.

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Grundlage der Strafprozessordnung (StPO) 1873 ein Anklageprozess, wonach die gerichtliche Verfolgung strafbarer Handlungen nur dann stattfinden durfte, wenn und solange dies ein berechtigter Ankläger begehrte.34 Berechtigter Ankläger war und ist auch heute noch – in Abhängigkeit der begangenen Straftat – entweder die Staatsanwaltschaft als öffentlicher Ankläger oder ein Privatankläger, wobei die Staatsanwaltschaft gem. §  34 StPO 1873 verpflichtet war, »alle strafbaren Handlungen, welche zu ihrer Kenntnis kommen und nicht bloß auf Begehren eines Betheiligten zu untersuchen und zu bestrafen sind, von Amtswegen zu verfolgen und daher wegen deren Untersuchung und Bestrafung durch das zuständige Gericht das Erforderliche zu veranlassen«.35 In dem in zwei Abschnitte gegliederten Strafverfahren oblag dem Staatsanwalt zum einen im Vorverfahren auf Grundlage der Ermittlungen die Entscheidung, ob Anklage erhoben wird, und zum anderen trat der Staatsanwalt im Hauptverfahren als Träger der Anklage als formale Prozesspartei auf. Im Folgenden liegt das Hauptaugenmerk der Untersuchung auf dem Vorverfahren, da in diesem etwaige Einflüsse antisemitischer Gesinnung der Staatsanwaltschaft auf die Strafverfolgung am deutlichsten zutage traten. In das strafrechtliche Vorverfahren waren neben der Staatsanwaltschaft die Sicherheitsbehörden involviert, die in der Praxis weit über die ihnen in § 24 StPO zur Aufgabe gemachte vorbereitende Beweissicherung hinauswirkten. Dies widersprach im Wesentlichen dem Grundkonzept der StPO, wonach Ermittlungen zur Aufklärung und Verfolgung des Verdachts einer strafbaren Handlung gem. §  181 StPO vom Untersuchungsrichter durchgeführt werden sollten, dessen Aufgabe es war, sich nach Verübung eines Vergehens oder Verbrechens sofort an den Tatort zu begeben und den Tatbestand zu erheben. Aus praktischen Gründen konnte sich dieses Konzept aber nie wirklich durchsetzen und war der Ausnahmefall. In vielen Fällen übernahmen deshalb die Sicherheitsbehörden »ein selbständiges Durchermitteln eines bekannt gewordenen Verdachtsfalles bis zum ›pfannenfertigen‹ Ergebnis, auf dessen Grundlage dann der Staatsanwalt entweder Anklage erhebt oder die Anzeige zurücklegt«.36 Aufgrund dieser starken Präsenz der Sicherheitsbehörden im Ermittlungsverfahren lässt sich aus heutiger Sicht schwer sagen, wem etwaige Versäumnisse und Nachlässigkeiten in diesem Abschnitt des Strafverfahrens zuzurechnen waren. Dass es Versäumnisse gegeben haben dürfte, lässt sich aus den in den jüdischen Blättern wiederholt 34 Gesetz, 23.5.1873, betreffend die Einführung einer Strafproceß-Ordnung, RGBl. 119/1873. 35 Zu den Aufgaben und der Stellung der Staatsanwälte im Strafverfahren vgl. auch Verordnung des Justizministeriums, 3.8.1854 »betreffend die innere Einrichtung und die Geschäfts-Ordnung der Staatsanwaltschaften«, RGBl. 201/1854  ; sowie Vollzugs-Vorschrift zur Strafproceß-Ordnung, 23.5.1873, RGBl. 152/1873. 36 Miklau 2001, 299  ; ähnlich Steiniger 2001, 27.

Antisemitismus in der Alltagsjustiz

erhobenen Vorwürfen, dass die »Behörden« bei antisemitischen Vorfällen nicht tätig würden, schließen, wobei die Berichterstatter offen ließen, ob damit die Sicherheitsbehörden, die Staatsanwaltschaften oder beide gemeint waren. Wenngleich diese diffuse Sachlage keine klare Zuordnung der Versäumnisse zulässt, so kann wohl davon ausgegangen werden, dass zumindest für einen Teil davon die Staatsanwaltschaft die Verantwortung trug. Zur Beantwortung der Frage, ob der Grund für dieses Nicht-Tätigwerden im Konkreten in der antisemitischen Grundhaltung einzelner Staatsanwälte lag oder möglicherweise die Ursache auch in der starken Arbeitsüberlastung der Staatsanwälte in den 1930er Jahren zu finden ist, bieten die untersuchten Quellen keine ausreichende Information. Fest steht jedenfalls, dass die Personalsituation in der Staatsanwaltschaft in der Zwischenkriegszeit äußerst angespannt war, dies bezeugen nicht nur wiederholte Klagen der Staatsanwaltschaft über den akuten Personalmangel, wie beispielsweise in der »Richterzeitung«, sondern auch Diskussionen im Ministerrat über die von Fachkreisen für die Aufrechterhaltung des reibungslosen Betriebes in der Staatsanwaltschaft für dringend notwendig erachtete Aufstockung der Zahl der Staatsanwälte.37 »Antisemitische Delikte« als Straftaten

Die Formen, in denen Antisemitismus in den 1930er Jahren zutage trat, waren äußerst vielfältig. Sie reichten von gehässigen Behauptungen, die Neid und Hass schürten, über Diffamierungen und Verhetzungen durch Reden oder durch Druckwerke aller Art bis zu Boykottaufrufen, Berufsdiskriminierungen und Sachbeschädigungen. So groß die Vielfalt an Erscheinungsformen des Antisemitismus war, so schwierig war zugleich, ihn auf rechtlicher Ebene zu erfassen und zu bekämpfen. Voraussetzung für die Erhebung einer Anklage und die Einleitung eines Strafverfahrens war und ist auch heute das Vorliegen einer strafbaren Handlung – und Antisemitismus als Geisteshaltung, als Gesinnung, stellt keine strafbare Handlung dar. Tritt Antisemitismus jedoch als Motiv für eine strafbare Handlung zutage, so liegt eine antisemitische Straftat vor. Rechtsgrundlage für die Verfolgung solch antisemitischer Straftaten boten vor allem folgende Straftatbestände des Strafgesetzbuches (StGB) 1852  :38 §  85 (Öffentliche Gewalttätigkeit durch boshafte Beschädigung fremden Eigentums), § 87 (Öffentliche Gewalttätigkeit durch boshafte Handlungen oder Unterlassungen unter besonders gefährlichen Verhältnissen), §§  122ff (Religionsstörung), §§  209f (Verleumdung), 37 Z.B. Österreichische Richterzeitung 6 (1937), 215  ; sowie Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik, Abt. IX Bd. 6, 23. 38 Kaiserliches Patent, 27.5.1852, RGBl. 117/1852.

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§  302 (Aufreizung zu Feindseligkeiten), §  303 (Beleidigung einer gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaft), §  306 (Beschädigung von Grabstätten) sowie die §§ 487ff (Vergehen und Übertretungen gegen die Sicherheit der Ehre) – Straftaten nach §§ 487ff waren allerdings Privatanklagedelikte, d. h. die Strafverfolgung oblag in diesen Fällen nicht der Staatsanwaltschaft, weshalb auf sie im Folgenden nicht näher eingegangen wird. Zahlen über antisemitische Straftaten liegen für den Untersuchungszeitraum keine vor, den Kriminalstatistiken lassen sich lediglich Informationen über die Zahl der Verurteilungen betreffend die jeweiligen Straftatbestände entnehmen, darüber, ob diese Taten antisemitisch motiviert waren, geben sie keinen Aufschluss.39 Ebenso wenig beantworten sie die Frage, wie viele Anzeigen erhoben und ob diese weiter verfolgt wurden. Dennoch lässt sich feststellen, dass das Ausmaß antisemitisch motivierter Taten zwischen Juli 1936 und März 1938 groß gewesen sein dürfte,40 wobei diese zumeist – ähnlich wie bereits zu Beginn der 1930er Jahre – in einer Art Wellenbewegung auftraten.41 Aus der Vielzahl antisemitisch motivierter Taten können im Folgenden lediglich schlaglichtartig einige Fälle beispielhaft beleuchtet und in Hinblick auf das Verhalten der Staatsanwaltschaft geprüft werden. Antisemitismus trat in den Jahren zwischen 1936 und 1938 am häufigsten in Form von Hetze gegenüber der jüdischen Bevölkerung zutage. Rechtsgrundlage für die Verfolgung solcher Taten bildete §  302 StGB 1852, der in etwa dem heutigen §  283 StGB entspricht, dem sogenannten Verhetzungsparagraphen. Gem. § 302 war, »wer Andere zu Feindseligkeiten wider die verschiedenen Nationen (Volksstämme), Religions- oder andere Gesellschaften, einzelne Classen oder Stände der bürgerlichen Gesellschaft oder wider gesetzlich anerkannte Körperschaften oder überhaupt die Einwohner des Staates zu feindseligen Parteiungen gegeneinander auffordert, aneifert oder zu verleiten sucht, ist, in so fern diese Täthigkeit nicht als eine schwerer verpönte strafbare Handlung darstellt, eines Vergehens schuldig, und soll zu strengem Arreste von drei bis zu sechs Monaten verurtheilt werden«. Das Wesen der strafbaren Handlung lag bei § 302 in einer Gefährdung des Friedens durch Schärfung der Gegensätze, die zwischen den in einem Staat lebenden Personen bestehen, wobei in der Praxis die Auslegung des Begriffes »Feindseligkeiten« Schwierigkeiten bereitete. Während die 39 Vgl. Bundesministerium 1936  ; sowie Statistisches Jahrbuch Österreich 1938  ; Statistisches Jahrbuch Wien 1937. 40 Einen allgemeinen Überblick über die verschiedensten antisemitischen Aktionen geben u. a. Maderegger 1973  ; Pauley 2002  ; Rütgen 1989. 41 Wohnout spricht in diesem Zusammenhang von »Wellen antisemitischer Phobien«, Wohnout 1994, 13. Zum Anstieg antisemitisch motivierter Taten im Frühling 1937, vgl. Jüdische Front, 1.3.1937, 4. Zum Antisemitismus und seinen Erscheinungsformen den frühen 1930er Jahren u. a. Rütgen 1989.

Antisemitismus in der Alltagsjustiz

höchstgerichtliche Rechtsprechung in zwei Entscheidungen aus den Jahren 1862 und 1900 darunter »nicht bloß feindseliges Handeln, vielmehr auch feindselige Gesinnung und Geneigtheit, diese zu betätigen«,42 verstand – denn durch eine »einschränkende Auslegung würde […] eine mit dem Systeme des Strafgesetzes unvereinbare Lücke […] herbeigeführt werden«43 – sah dies die herrschende Lehre in den 1920er und 1930er Jahren anders. Sie legte den Begriff »Aufreizung zu Feindseligkeiten« eng aus und verstand darunter nur eine Aufreizung zu einem feindseligen Verhalten, einem feindseligen Handeln oder Unterlassen.44 Die Erregung von Hass und ähnlichen Stimmungen, aus denen feindselige Handlungen entspringen können, stellte somit nach h. L. keine Aufforderung zu Feindseligkeiten dar. Sie kritisierte die Rechtsansicht des Obersten Gerichtshofes (OGH) als eine »seit jeher den Straftatbestand weit überspannende […], die heute auch mit der Verfassung unseres Staates unvereinbar erscheint«.45 War diese Aufreizung zu Feindseligkeiten gegen Juden gerichtet, so waren diese nach der h. L. als »Klasse« zu sehen, denn unter »Klassen« im Sinne des § 302 wurden »die durch andere Interessen, z. B. Besitz, Bildung, Herkommen miteinander verbundenen und dadurch von anderen abgegrenzten Personenkreise verstanden. […] Stadtbewohner und Landbewohner, Industrielle und Ackerbauer, […], Christen und Juden […] stellen verschiedene Klassen der Bevölkerung dar«.46 Um den Straftatbestand des § 302 zu erfüllen, war keine besondere Begehungsart gefordert, die Tat musste nicht öffentlich oder vor mehreren Leuten begangen worden sein.47 Aufforderung zum Boykott als Aufforderung zu einer Handlung, durch die jemandem ohne gerechtfertigten Anlass ökonomischer Schaden zugefügt werden soll, wurde als eine solche Aufreizung zu einem feindseligen Verhalten gesehen, der Aufruf zum Boykott erfüllte somit den Tatbestand des §  30248  – und solche Boykottaufrufe waren zwischen Mitte 1936 und Frühjahr 1938 keine Seltenheit. Neu waren sie allerdings nicht, sie waren bereits zu Beginn der 1930er Jahre nahezu jährlich, insbesondere in der Vorweihnachtszeit, aufgeflammt.49 Im Jahre 1937 steuerten sie jedoch einem Höhepunkt zu, als Wiens Vizebürgermeister Dr. Josef Kresse, der zu42 Entscheidungen, Bd. 2 (NF) Nr. 2.500. 43 Sammlung strafrechtlicher Entscheidungen Bd. 3, Nr. 1012. 44 Lammasch/Rittler 1938, 271f.; Altmann/Jacob 1928, 746–748, mit weiteren Nachweisen  ; Finger 1910, 619–621. 45 Altmann/Jacob 1928, 747  ; Lammasch/Rittler 1938, 407  ; Finger 1910, 620. 46 Finger 1910, 620  ; ähnlich Altmann/Jacob 1928, 747. 47 Vgl. dazu Altmann/Jacob 1928, 746–748. 48 Lammasch/Rittler 1938, 272  ; vgl. auch Plenarbeschlüsse und Entscheidungen Bd. 15 (1898), Nr. 1.988 und Nr. 1.989 sowie Entscheidungen Bd. 1 NF (1900), Nr. 2.350. 49 Vgl. den Beitrag von Stefan Eminger in diesem Band.

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gleich Vorsitzender des Wiener Gewerbevereines war, die Patronanz für eine Ausstellung unter dem Motto »Christen, kauft bei Christen  !« übernahm, die im Dezember im »Auge Gottes« in der Nußdorferstraße im 9. Wiener Gemeindebezirk stattfand und bei der die Besucher Rabattanweisungen erhielten, die zu einem billigeren Bezug von Waren bei den ausstellenden Firmen berechtigten.50 Der Gewerbeverein wies bereits im Oktober des Jahres in einem Zirkular auf diese für Dezember geplante Veranstaltung hin, worauf »Die Stimme« vom 8. Oktober 1937 konstatierte, dass diese Werbeveranstaltung »ein Verstoß gegen Verfassung und Strafgesetz« sei, und es müsse »entschiedenst verlangt werden, daß Regierung und Behörden gegen solche Gesetzesverletzungen einschreiten«  – ohne Erfolg.51 Auch die Presse trat  – laut jüdischen Zeitungen – gegen diese Aktion auf, ebenfalls erfolglos. Auf den Vorwurf, es handle sich um eine Boykottaufforderung, die sich gegen jüdische Gewerbetreibende richtet, konterten die Initiatoren der Ausstellung, »es hieße ja nicht ›Christen, kauft nur bei Christen  !‹, sondern ›Christen, kauft bei Christen  !‹ und die christliche Bevölkerung solle bloß auch der christlichen Gewerbetreibenden eingedenk sein, denen doch im christlichen Staat die gleichen Rechte zukämen wie der jüdischen Minderheit«.52 Gegen diesen in der Vorweihnachtszeit 1937 erhobenen Aufruf des Gewerbevereines ergriff die »Union österreichischer Juden« rechtliche Schritte, indem sie Anzeige bei der Staatsanwaltschaft Wien I erhob, diese wurde jedoch von der Staatsanwaltschaft zurückgelegt. Dies brachte der Union den Vorwurf des zionistischen Flügels der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien ein, dass es nicht zielführend sei, wenn eine so kleine Gruppe wie die Union den Rechtsweg beschreite, es müsste dies sinnvollerweise die jüdische Gemeinde als legitime Vertretung des Gesamtjudentums tun.53 Eine andere Darstellung dieses Falles findet sich in der jüdischen Wochenschrift »Die Wahrheit«, nach deren Bericht der Bezirksgruppe IX (Alsergrund) des Österreichischen Gewerbebundes aufgrund der Anzeige der Union eine hohe Geldstrafe wegen Aufrufs zum Boykott auferlegt wurde.54 Dies dürfte nicht den Tatsachen entsprochen haben, denn »Die Wahrheit« veröffentlichte kurz darauf auf Aufforderung des Rechtsanwaltes Dr. Anton Schachenhofer, der den Österreichischen Gewerbebund in dieser

50 In den jüdischen Blättern finden sich zahlreiche Berichte über Boykottaufrufe Ende 1937  ; vgl. u. a. Die Stimme, 19.11.1937, 1f.; 29.11.1937, 2  ; 1.12.1937, 2  ; 3.12.1937, 3  ; 13.12.1937, 2  ; 20.12.1937, 1  ; ebenso Die Wahrheit, 8.10.1937, 4  ; 10.12.1937, 2. 51 Die Stimme, 8.10.1937, 5. 52 Die Stimme, 13.12.1937, 3f. 53 Die Stimme 19.11.1937, 1f. 54 Die Wahrheit, 12.11.1937, 3f.

Antisemitismus in der Alltagsjustiz

Angelegenheit vertrat, die Berichtigung, dass sein Mandant infolge der von der Union erstatteten Anzeige wegen Verletzung des Gesetzes keine Geldstrafe erhalten hatte.55 Ob in den zahlreichen anderen Fällen von Boykottaufrufen, die nicht nur vom Gewerbebund ausgingen und die zum Teil auch mit Parolen wie beispielsweise »Christen, kauft nicht bei Juden  !« hetzten, überhaupt Anzeige erhoben wurde, liegt nach derzeitigem Forschungsstand im Dunkeln. Fest steht, dass abgesehen von dieser Art von Bemühungen, jüdische Gewerbetreibende und Kaufleute aus der Branche zu vertreiben, vor allem auch verbale Attacken gegen Juden bei Treffen antisemitisch orientierter Vereinigungen als Mittel zum Ausschluss  – auch aus verschiedensten anderen Berufsbranchen und dem gesellschaftlichen Leben überhaupt  – dienten.56 Feststellungen wie »der Gewerbebund hat es zuwege gebracht, seine Reihen von Juden rein zu halten«57 oder der Aufruf »zum Kampfe und Boykott gegen den ewigen Juden, diesen rassen- und geistesfremden Parasiten«58 sind nur zwei Beispiele einer Flut antisemischer Äußerungen. Mitte November 1937 stellte etwa »Die Stimme« in Bezug auf den »Antisemitenbund« fest, dass »die Redner ihren Hassgefühlen hemmungslos Ausdruck geben, ohne dass von behördlicher Seite dagegen irgendwie eingeschritten wird«.59 Neben der Anfachung und Verstärkung der antisemitischen Gesinnung durch Hetzreden wurde judenfeindliches Gedankengut auch durch Druckwerke aller Art verbreitet, die Palette reichte von Büchern und Broschüren über Zeitungsberichte bis hin zu Plakaten und Flugblättern. Mit Beginn des Jahres 1938 dürfte die Verbreitung solcher Druckwerke einen Höhepunkt erreicht haben, in einem Bericht der Zeitschrift »Die Stimme« wurde etwa beklagt, »dass auf der Straße antisemitische Sudelblätter der ärgsten Sorte verkauft werden«.60 Die Veröffentlichung solch antisemischer Schriften wurde von der – ansonsten streng zensurierten – Presse offenbar toleriert.61 Die rechtliche Erfassung dieser verbalen und schriftlichen antisemitischen Äußerungen allgemeiner Art dürfte für die Staatsanwaltschaft eine größere Herausforderung dargestellt haben als beispielsweise die Erfassung der bereits angesprochenen Boykottaufrufe, die sich weitgehend klar dem Straftatbestand des § 302 zuordnen und damit strafrechtlich verfolgen ließen. Bei der strafrechtlichen Verfolgung von Hetzreden und Hetze in Druckwerken ohne Boykottaufrufe lag das Hauptproblem 55 Die Wahrheit, 10.12.1937, 2. 56 Vgl. dazu Jüdische Front, 15.12.1935, 3  ; 14.3.1936, 3  ; 1.12.1936, 3  ; 1.5.1937, 6  ; 20.12.1937, 1. 57 Die Stimme, 8.11.1937, 3. 58 Die Neue Welt, 17.12.1937, 2. 59 Die Stimme, 17.11.1937, 3. 60 Die Stimme, 2.3.1938, 1. 61 Pauley 1993, 256.

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darin, dass sie in den meisten Fällen lediglich eine in einem Appell an Gefühle und Leidenschaften bestehende tendenziöse Aufreizung zum Hass und zur Verachtung darstellten und nicht zu einer Handlung, einem bestimmten Verhalten aufriefen. Nach h.L. war jedoch  – wie oben bereits dargelegt  – die Auslegung des Begriffes »Feindseligkeit« auf Handlungen oder Unterlassungen einzuschränken, denn eine weite Auslegung dieses Begriffes »ist für ein Strafgesetz übertrieben« und mache »die ohnedies schwierige Abgrenzung des nach § 302 strafbaren Tatbestandes geradezu unmöglich«.62 Foren für diese Hetzreden sowie Basis für das Entstehen unterschiedlichster Druckwerk mit judenfeindlichen Inhalten waren, neben dem bereits genannten Gewerbebund, verschiedenste Vereine mit antisemitischer Grundhaltung, deren Zahl ab Mitte 1936 zunahm. In den Quellen finden sich zahlreiche Klagen über das Nichteingreifen der Behörden in Fällen von Gründungen neuer antisemitischer Zusammenschlüsse respektive der Wiederbelebung bereits vorhandener Zusammenschlüsse dieser Art. Zu den Neugründungen zählte beispielsweise der Anfang 1938 ins Leben gerufene Geselligkeits- und Sportverein »Der Kaufmann« in Wien, der das Ziel verfolgte, in Werbeaufrufen und Versammlungen dem »bodenständigen christlich-deutschen Kaufmann« zu dienen.63 Daneben sind an weiteren neuen Zusammenschlüssen vor allem der 1937 gegründete »Ostmärkische Volksverein«64 sowie die im selben Jahr ins Leben gerufene »Panarische Union«65 zu nennen. Neben diesen Neugründungen erfuhren aber auch bereits bestehende antisemitische Organisationen Aufwind infolge der Erweiterung des Spielraumes für Nationalsozialisten in Österreich. Dies traf vor allem auf den »Antisemitenbund« (offizieller Titel  : »Deutsch-österreichischer Schutzverein Antisemitenbund«) zu,66 von dem unzählige antisemitische Aktionen ausgingen, die in den jüdischen Blättern wiederholt kritisiert wurden.67 Einen Höhepunkt in der Vielzahl judenfeindlicher Agitationen dieses Vereines stellte folgende Begebenheit in der Weihnachtszeit 1937 dar  : Der »Antisemitenbund« bot damals einen Christbaumschmuck zum Kauf an, der einen Galgen darstellte, auf dem zwei Raben saßen und an dem ein Jude hing.68 Diese Aktion rief über die Grenzen Österreichs hinaus peinlichstes Aufsehen hervor, die international bekannte 62 Altmann/Jacob 1928, 747. 63 Die Stimme, 31.1.1938, 5. 64 Vgl. dazu weiter oben. 65 Die Wahrheit, 4.6.1937, 2  ; Die Stimme, 1.6.1937, 2  ; weiters Benz 2012, 480f. 66 Zum Antisemitenbund vgl. u. a. Benz 2012, 33f. 67 U.a. Die Wahrheit, 15.10.1937, 1f.; 26.11.1937, 6  ; 3.12.1937, 5  ; 12.11.1937, 3f.; 26.11.1937, 6  ; 3.12.1937, 5f.; 17.12.1937, 5. 68 Die Wahrheit, 18.2.1938, 2.

Antisemitismus in der Alltagsjustiz

und weitverbreitete amerikanische Zeitschrift »Life« druckte ein großes Bild dieses Weihnachtsbaumanhängers ab mit dem Hinweis, dass ein Tiroler Holzschnitzer diesen bereits 1936 auf den Markt gebracht hätte und »this hair-raising conceipt was so popular […] that it has gone into mass production this year. It is sold by Austria’s Anti-Semiten Bund«.69 Rechtlich gesehen ließ sich dieses Vorgehen des »Antisemitenbundes« wohl dem Tatbestand des § 302 StGB (Aufreizung zu Feindseligkeiten) zurechnen, denn nach h.L. konnte die zur Erfüllung dieses Tatbestandes erforderliche Aufreizung zu Handlungen oder Unterlassungen nicht nur durch Worte erfolgen, sondern auch durch pantomimische Darstellungen, etwa des Hängens.70 Ob in diesem Fall rechtliche Schritte gegen den »Antisemitenbund« ergriffen wurden, liegt im Dunkeln. Von all den antisemitisch motivierten Taten, die sich Straftatbeständen zurechnen ließen, dürften für die Staatsanwaltschaft am greifbarsten antisemitisch motivierte Sachbeschädigungen gewesen sein, jedenfalls finden sich in den Quellen keine Belege dafür, dass diese Taten nicht ausreichend verfolgt und zur Anklage gebracht wurden. Diese zerstörerischen Gewaltakte richteten sich zum einen gegen jüdische Geschäfte und Bethäuser, vor allem in Form des Einschlagens von Fensterscheiben und des Aufschmierens von Schmähparolen,71 zum anderen gegen Friedhöfe, dort vornehmlich in Form des Umstürzens und Zertrümmerns von Grabsteinen und Grabplatten sowie des Eintretens von Friedhofstoren.72 Diese Taten ließen sich den Straftatbeständen des § 85 StGB (Von öffentlicher Gewalttätigkeit durch boshafte Beschädigung fremden Eigentums), § 87 (Von öffentlicher Gewalttätigkeit durch boshafte Handlungen oder Unterlassungen unter besonders gefährlichen Verhältnissen) und § 306 (Beschädigung von Grabstätten, Eröffnung von Gräbern, Hinwegnahme oder Mißhandlung an Leichen und Entwendung an derlei Gegenständen) zuordnen. Weitere Straftatbestände, die als Rechtsgrundlage für die Verfolgung antisemitischer Straftaten in Frage kamen, waren Religionsstörung (§ 122ff StGB) und Beleidigung einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft (§ 303). Gem. § 122 lit. b beging das Verbrechen der Religionsstörung, »wer eine im Staate bestehende Religionsübung stört, oder durch entehrende Misshandlung an den zum Gottesdienste gewidmeten Geräthschaften, oder sonst durch Handlungen, Reden, Druckwerken oder verbreiteten Schriften öffentlich der Religion Verachtung bezeigt«. Nach § 303 war, »wer öffentlich oder vor mehreren Leuten, oder in Druckwerken, verbreiteten 69 Life Magazin, 27.12.1937, 60. 70 Lammasch/Rittler 1938, 272. 71 Vgl. weiter oben. 72 Z.B. »Der Währinger jüdische Friedhof geschändet«, in  : Die Wahrheit, 28.8.1936, 2.

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bildlichen Darstellungen oder Schriften die Lehren, Gebräuche oder Einrichtungen einer im Staate anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft verspottet oder herabzuwürdigen sucht« strafbar. In der Praxis dürften – soweit sich das nach derzeitigem Forschungsstand beurteilen lässt – diese beiden Straftatbestände eine geringe Rolle bei der Verfolgung antisemitisch motivierter Straftaten gespielt haben. Der Grund dafür liegt möglicherweise darin, dass der überwiegende Teil der judenfeindlichen Taten weniger einer religiös begründeten Judenfeindlichkeit entsprang als vielmehr einem auf anderen Motiven basierenden Antisemitismus.

Resümee Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Auswertung der herangezogenen Quellen lediglich ein Stückwerk – vergleichbar mit einzelnen Puzzleteilen – ergeben hat, auf deren Grundlage sich in einem ersten Befund folgendes Bild ergibt  : Fälle von offenem Antisemitismus in der Justiz in der Form von härterem Vorgehen der Richter gegen Juden im Vergleich zu anderen Prozessparteien oder härteren Urteilen gegen Juden als gegen Nichtjuden sind zwischen Juli 1936 und März 1938 kaum wahrnehmbar. Eine antisemitische Grundhaltung war  – wie auch bereits in den frühen 1930er Jahren – in Teilen der Richterschaft jedoch zweifellos vorhanden. Etwas konkretere Auswirkungen antisemitischer Gesinnung dürften sich in der Staatsanwaltschaft festmachen lassen, und zwar in Form von einer gewissen Zurückhaltung und Milde bei der Verfolgung antisemitisch motivierter Taten. Dies kann aus den wiederholten Klagen, dass »die Behörden« – womit sowohl Sicherheitsbehörden als auch die Staatsanwaltschaften gemeint gewesen sein dürften  – in vielen Fällen nicht tätig wurden, geschlossen werden. Klagen über die Untätigkeit der Staatsanwaltschaft waren aber grundsätzlich nichts Neues, bereits in den frühen 1930er Jahren fanden sich wiederholt Beschwerden, antisemitisch motivierte Straftaten stünden an der Tagesordnung, »ohne daß ein Staatsanwalt mit der Wimper zuckt«.73 Diese Vorwürfe sind jedoch vor folgendem Hintergrund zu sehen  : Zum einen erwies sich die rechtliche Erfassung antisemitisch motivierter Taten in weiten Bereichen als äußerst schwierig, denn auch Lehre und Rechtsprechung verfolgten zum Teil keine einheitliche Linie, wie im Falle der Aufreizung zu Feindseligkeiten (§ 302 StGB) kurz angerissen wurde. Und zum anderen waren die Arbeitsbedingungen für Staatsanwälte aufgrund der äußerst angespannten Personalsituation infolge von Sparmaßnahmen und akutem Personalmangel in der Zwischenkriegszeit sehr schwierig. 73 Jüdische Front, 29.12.1932, 2  ; ähnlich 15.3.1935, 4  ; 15.12.1935, 4  ; 1.1.1936, 4.

Antisemitismus in der Alltagsjustiz

Alles in allem lässt sich auf Grundlage der in dieser Untersuchung ausgewerteten Quellen feststellen, dass der bereits in den frühen 1930er Jahren in der Alltagsjustiz auftretende Antisemitismus nach Abschluss des Juliabkommens nicht quantifizierbar zugenommen hat.

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Gabriele Schneider

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Antisemitismus in der Alltagsjustiz

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MIKROGESCHICHTLICHES

Hanns Haas

Juden im »Ständestaat« am Beispiel des politischen Bezirkes Horn/Niederösterreich Es fällt nicht leicht, einen punktgenauen Beitrag zu den Lebensbedingungen der Horner Juden respektive zum Antisemitismus im »Ständestaat« zu liefern, weil sich unter regionalgeschichtlicher Perspektive diese vier Jahre Zeitgeschichte im Zeitkontinuum nicht deutlich genug abheben. Das betrifft vor allem die wenigen lebensgeschichtlichen Interviews mit ehedem jüdischen Mitbürgern angesichts ihrer Konzentration auf das Drama der Entrechtung und Vertreibung 1938/39. Ich erweitere daher den Beobachtungszeitraum auf die gesamte Zwischenkriegszeit unter Einschluss der Arisierungen, in deren Zerrspiegel sich die Verhältnisse der 1930er Jahre schemenhaft abbilden. Inhaltlich konzentriere ich mich auf eine Rekonstruktion der Lebensbedingungen und Sozialbeziehungen der Juden als Diaspora in ihrer sozialen Umgebung und ergänze das diskursive Feld der zeitgenössischen Publizistik.

Der politische Bezirk Horn Kurz ist die wirtschaftliche und soziale Struktur des politischen Bezirkes Horn in der Zwischenkriegszeit darzustellen. Horn war eine stark agrarisch geprägte Region mit beinahe 60 Prozent der Berufstätigen in Land- und Forstwirtschaft. Doch Böden und Klima waren hier an der Grenzzone zum Weinviertel ertragreich und günstig, und der landwirtschaftliche Mittelbesitz sicherte unter den herrschenden Verhältnissen ein halbwegs einträgliches Einkommen. Das Siedlungsbild war vom räumlich geschlossenen Dorf geprägt, dem entsprach die kleinteilige Untergliederung des Bezirkes in 134 politische Gemeinden. Die inselartigen Städte und Zentralorte dienten in erster Linie dem Servicebedarf einer ländlichen Umgebung. Die wenigen Industriebetriebe konzentrierten sich auf die Urproduktion, speziell für Baumaterial, sowie auf die Verwertung landwirtschaftlicher Produkte. Die Bevölkerung stagnierte von 1910 bis 1951 bei knapp über 40.000 EinwohnerInnen. Zwei Hauptverkehrsadern, die Straße Wien–Prag sowie die Franz-Josefs-Bahn von Wien über Gmünd nach Prag bzw. Pilsen/Plzeň, durchschnitten den Bezirk  ; dazu kamen als Lokalbahnen die Linie Krems–Hadersdorf–Sigmundsherberg  ; und von dort aus weiter ins Weinviertel mit Anschluss zur Nordwestbahn in Retz  ; sowie eine Stichbahn von Retz nach Drosen-

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Hanns Haas

dorf an der Staatsgrenze zur Tschechoslowakei. Eine Nord-Süd-Verbindung zwischen der Stadt Horn und Drosendorf fehlte ebenso wie eine grenzüberschreitende Verbindung mit Mähren. Tabelle 1  : Bevölkerungsentwicklung im politischen Bezirk Horn. 1910 Horn Waldviertel

1934

1951

1961

1971

1981

1991

2001

41.496

41.052

40.913

38.288

36.863

34.599

32.465

32.400

279.024

266.932

257.288

245.384

243.216

232.489

224.005

224.402

Siedlung und Religionsausübung In diese agrarisch-traditionellen Strukturen lag eine jüdische Diaspora eingebettet, die seit 1848 größtenteils aus dem benachbarten Mähren sowie aus Wien zugewandert war, wobei viele Familien bereits in der dritten, einige in der vierten Generation hier ansässig waren. Schon 1859 ist der Pächter der Horner Straßenmaut Leonhard Winternitz genannt, 1864 in dieser Funktion Salomon Gutmann.1 1880 erreichte die Zahl der Bürger mosaischen Bekenntnisses im politischen Bezirk Horn 297 EinwohnererInnen oder 0,82 Prozent der Bevölkerung. Seither reduzierte die wirtschaftlich bedingte Abwanderung die jüdische Minderheit bei der Volkszählung 1934 auf 135 Personen, das waren 0,33 Prozent der Bevölkerung.2 Diese Verminderung folgt einem Gesamttrend in der Entwicklung des Judentums nördlich der Donau.3 Der nach Eggenburg zurückgekehrte Kaufmann Moritz Fürnberg bezifferte 1952 die Zahl der Bürger mosaischer Religionszugehörigkeit im Jahre 1938 mit 130, und nannte zusätzlich etwa 20 zum Christentum konvertierte Juden respektive solche ohne Bekenntnis.4 Zu den dauernd ansässigen jüdischen BürgerInnen kamen noch die unten erwähnten wenigen auswärtigen jüdischen Familien mit Besitz im politischen Bezirk 1 2 3 4

Schlossarchiv Rosenburg, Domainen-Direction Zl. 1859/347 und 1864/102. Spezialortsrepertorium 1915, 35  ; Volkszählung 1934, 23. Zeindl 2008, 12. Als die Bundesregierung 1952 Daten über die ausgewanderten »rassisch« Verfolgten und die Zahl der mosaischen Religionsangehörigen darunter benötigte, übermittelte der Bezirkshauptmann die von Fürnberg genannte Anzahl der aus dem Bezirk Horn unter Zwang Abgewanderten mit ca. 150, davon 20 nicht mosaischen Bekenntnisses, die Zahl der aus Österreich emigrierten Horner jüdischer Herkunft mit ca. 70 Personen. »Von diesen Personen sind bis jetzt 4 Personen in den Bezirk zurückgekehrt«, ließ Fürnberg protokollieren, Telegramm der nö. Sicherheitsdirektion an die Bezirkshauptleute, 19.11.1952, Bezirkshauptmannschaft (BH) Horn XI-124, Stammzahl 112/1953.

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Juden im »Ständestaat« am Beispiel des politischen Bezirkes Horn/Niederösterreich

Horn. Die Opferdatei des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands berichtet noch von dem in Gars lebenden Wiener Alfred Loschitz, der im Alter von sieben Jahren nach Theresienstadt deportiert wurde. Tabelle 2  : Bevölkerung mit israelitischem Glaubensbekenntnis im politischen Bezirk Horn.

Horn

1880

1890

1900

1910

1934

297

259

237

226

135

1890 lebte der Großteil der 135 BürgerInnen mit mosaischem Glaubensbekenntnis in den Zentren Horn (55), Eggenburg (33) und Weitersfeld (10)  ; sonst findet sich in 14 Märkten und Dörfern eine Diaspora von einer Person bis fünf Personen, also überwiegend Einzelfamilien. Somit waren in 112 von insgesamt 134 Gemeinden des Horner Bezirkes jüdische Bürger ansässig. Am 19. September 1938 wurden alle jüdischen BürgerInnen des politischen Bezirkes Horn nach Wien deportiert. Dennoch wurden im »Novemberpogrom« 1938 viele jüdische Geschäfte devastiert. Bei der Volkszählung vom 17. Mai 1939 registrierte man im Kreis Horn einschließlich der infolge des »Münchner Abkommens« vom 10. Oktober 1938 annektierten südmährischen Dörfer Ungarschitz/Uherčice, Hafnerluden/Lubnice, Fratting/Vratěnín und Kurlupp/ Chrlopy insgesamt nur noch zehn »Volljuden«, 26 »Mischlinge 1. Grades« und zwölf »Mischlinge 2. Grades«.5 Dem statistischen Bild entspricht der Aufbau einer religiösen Infrastruktur mit einer 1874 gebildeten Israelitischen Kultusgemeinde, welche für die Gerichtsbezirke Horn, Eggenburg, Geras, Haugsdorf, Oberhollabrunn, Ravelsbach und Retz zuständig war, aber seit Bildung der Retzer Kultusgemeinde 1896 nur noch den politischen Bezirk Horn umfasste.6 Dem Religionsdienst musste anfangs – seit 1871 – ein gemieteter Betsaal genügen, ehe die Gemeinde 1903 ein angekauftes Haus als Synagoge adaptierte. Die ersten Toten wurden 1866 weit abseits der Stadt Horn in einem Waldareal neben dem Preußenfriedhof bestattet. 1872 konnte in Stadtnähe auf dem Gelände einer abgekommenen Kirche der Jüdische Friedhof angelegt werden.7 Die Mitgliedschaft in der jüdischen Kultusgemeinde war für österreichische StaatsbürgerInnen mosaischen Glaubens obligatorisch, doch für viele nur noch eine reine Formalsache wegen der Geburts-, Heirats- und Sterbematrikel. Als Horner Religionslehrer wird 5 Statistisches Amt 1941. 6 R abl 1996, 185–191  ; Lind 2013, 51–53. 7 Wolf 1888, 42.

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Hanns Haas

1932/33 der Kremser Lehrer Samuel Neubauer genannt.8 Im Gymnasium gab es keinen mosaischen Religionsunterricht, da die erforderliche Zahl von 20 israelitischen Schülern nicht erreicht wurde. Man fand einen würdigen Ersatz. Der »Patriarch of the Jewish community [Hermann Mandl, Anm. d. Verf.] teaching Sunday school for us Jewish students«, erinnerte sich der Horner Realgymnasiast Egon Fischer an den Großvaters seines Schulfreundes Herbert Mandl.9 Im Haushalt Mandl waren 1938 »1 große und mehrere kleine Kisten hebräischer Bücher meist in großen Lederbänden« vorhanden, sie sollten im Auftrag Hermann Mandls nach Wien geschickt werden, während der sonstige Hausrat vor Ort zu versteigern war.10 Über die familiäre Glaubenspflege ist nur wenig bekannt. Nach örtlicher mündlicher Tradition waren die in Mold einen Gemischtwarenhandel betreibenden Schlesinger »strenggläubige Juden«. »An den jüdischen Feiertagen drehten sie kein Licht in der Wohnung auf. Deshalb verdienten sich die Kinder von Mold immer wieder einen Kreuzer für das Anzünden der Kerzen im Geschäft.«11 Die Eggenburger Familie Fischer »lebte streng religiös. Sie aßen nur Gänse- und Kalbfleisch«, erinnerte sich eine Zeitzeugin Maria Steiner aus St. Bernhard.12 Die zeitweise in ihrer Rosenburger Villa lebende Bertha Ehrenstein jedoch »war überhaupt nicht religiös«. Ihr aus einem slowakischen jüdischen Traditionsmilieu stammender Gatte Julius Ehrenstein hielt am koscheren Essen fest und besuchte an hohen Festtagen die Horner Synagoge. Mehrere Male begleitete ihn Tochter Ernestine in die Synagoge. 13 Die als Erwachsene in Wien lebende Ernestine Ehrenstein heiratete einen links orientierten Zionisten. Zionistische Vereine sind aus dem politischen Bezirk Horn nicht bekannt. Eine gewisse Binnenorientierung der jüdischen BürgerInnen zeigte sich im Heiratskreis, der im Wesentlichen das Wald- und Weinviertel und Südmähren umfasste. Konvertiten finden sich in erster Linie bei den »freien Berufen«, wie der evangelische Horner Rechtsanwalt Dr. Georg Perger oder der katholische Horner Gemeindearzt Dr. Bruno Langbank.14 Die sonst bekannten Fälle von Religionswechsel waren durch interreligiöse Heirat bedingt. Der St. Bernharder Kaufmann Adolf Schön »ließ  8 Zeindl 2008, 33.   9 Brief Dr. Egon Fischers, 1.1.1996, zit. n. Zeindl 2008, 53. 10 Schreiben an Leopoldine Meister, Horn, 2.5.1939, NÖLA Arisierungsakten Hermann Mandl, Horn. 11 Rudolf Scheidl, Rassische Verfolgung der Juden in Horn und Bezirk, unveröff. Manuskript, 20, zit. n. Zeindl 2008, 104. Die Ansässigkeit der Familie Schlesinger in Mold bis 1938 ist quellenmäßig nicht belegt. 12 Maria Steiner, St. Bernhard, Interview mit Gabriele Nechwatal, Nechwatal 1990, 69. 13 Ernestine Freilich, geb. Ehrenstein, Interview mit Hans Haas (H.H.) 12.7.2000, Wien, Hotel Bristol. 14 R abl 1989, 16  ; »Bruno und Ehefrau Felicia [sic  !] Langbank sind 1906 aus der mosaischen Glaubensgemeinschaft ausgetreten«, Staudacher 2005.

Juden im »Ständestaat« am Beispiel des politischen Bezirkes Horn/Niederösterreich

sich taufen und hatte eine Christin geheiratet, ihre Kinder ließen sie taufen und erzogen sie christlich«.15 Adolf Schön war schon 1937 verstorben und auf dem Horner Israelitischen Friedhof beerdigt. Sein Sohn Alfons und die Tochter Erna Schön überlebten mit der christlichen Mutter in Wien. »Gott sei Dank haben wir alle zwei Arbeit, der liebe Gott hat uns nicht vergessen, er hat unser Bitten und Flehen erhört«, schrieb Erna Schön am 29. Dezember 1938 an Karl Traschler in St. Bernhard.16 Marianne Mainhall, die Tochter des Eggenburger Pferdehändlers Adolf Kellner und seiner Gattin Sidonie, konvertierte zum Katholizismus und heiratete den Wiener Johann Mainhall.17 Friedrich Adler, der Sohn des Horner Schneiders Siegfried Adler, heiratete in den 1930er Jahren die beim Nachbarn Josef Stiedl beschäftigte Schneiderin Anna Prumüller.18 Aber seine Schwester Lieselotte, genannt Else, musste auf ihre »große Liebe«, den Horner Fidi Krippl verzichten, weil Vater Siegfried Adler die Verbindung unterbrach.19 Sie konnten sich »nicht offen sehen lassen«.20 Auch aus Thunau am Kamp ist eine interreligiöse Lebensbeziehung überliefert. Mischu Schatter, geboren am 6. September 1903 in Polen, mosaischer Religion, verließ 1939 mit seiner Lebensgefährtin Josefine Baudler Österreich  ; die beiden heirateten am 24. Juli 1945 in Haifa.21 Malvine Lang, jüdischer Herkunft und evangelischer Religionszugehörigkeit, war die Gattin des bekannten Stadtbaumeisters Anton Lang, der in Gars-Manigfall eine Sommervilla besaß.22 Sie wurde wie alle Juden des Kreises Horn am 19. September 1938 aus dem politischen Bezirk Horn vertrieben und 1942 nach Izbica deportiert. In Gars zurück blieb ihr beinahe vollständig erblindeter und tauber Gatte, den sie bis dahin umsorgt hatte. Der folgend im Garser Kloster der Barmherzigen Schwestern verpflegte Anton Lang wurde am 14. Februar 1940 entmündigt. Er verstarb am 28. Februar 1940 in Gars.23 Die Hälfte des Besitzes Lang fiel unter die Kategorie jüdisches Eigentum und hatte nach Auskunft des Garser Bürgermeisters einen Verkehrswert zwischen 6.000 und 7.000 Reichsmark.24 Das Haus mit Garten Hornerstraße 225 wurde von den Erben des Baumeisters Anton Lang im Juni 1940 15 Scheidl (wie Fußnote 11), zit. n. Zeindl 2008, 116. 16 NÖLA, Arisierungsakten Schön, St. Bernhard. 17 Linsbauer 2006, 533. 18 Stiedl 2014, 340  ; BH Horn, IX Sonderablage Rückstellungsakten Siegfried und Rudolf Adler, Horn. 19 Churanek 2003, 188–190. 20 Stiedl 2014, 342. 21 Bericht des Garser Bürgermeisters an die BH, 13.12.1952 »Daten über die Auswanderung rassisch verfolgter Personen aus Österreich i.d. Jahren 1938–1945«, Marktarchiv Gars, Mappe 1945. 22 Zeindl 2008, 71. 23 Entscheidung über die Entmündigung, Marktarchiv Gars, Mappe 1945. 24 Schreiben des Bürgermeisters an das Zentral-Tax-und Gebührenbemessungsamt, 1.6.1939, ebd.

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im Wege einer Versteigerung verkauft.25 Die mit einem zum Katholizismus konvertierten Juden verheiratete Therese Tramer, geborene Obenaus, behielt zwar ihre von den Eltern geerbte Garser Villa und wohnte hier auch im Sommer, während ihr Gatte Gars meiden musste. Als in der Nacht vom 29. auf den 30.  Juni 1939 ihre Villa mit Ölfarbe als »Judenvilla« beschmiert wurde und sie dagegen Beschwerde führte, äußerte sich der Garser Bürgermeister gegenüber dem Landrat  : »Da der Bürgermeister solche Vorfälle, die dem gesunden Gefühl der Bevölkerung entspringen, nicht verhindern kann, sondern bloss die Täter bei Ergreifung derselben einer Bestrafung zuführen kann, wurde ihr bedeutet, dass es in diesem Falle das Beste wäre, den Besitz zu verkaufen.«26 Therese Tramer durfte mit Billigung des Reichsstatthalters für Niederdonau 1943 immerhin noch ein Mansardenzimmer benützen, das ihr der Garser Bürgermeisterstellvertreter Heinrich Hinterecker 1943 entziehen wollte.27 Die übrigen Räume der Villa wurden gegen ihren Willen vermietet. Der Eggenburger Moritz Fürnberg heiratete im August 1937 die aus Eggenburg stammende Helene Kernerknecht, die sich laut Eggenburger mündlicher Überlieferung nach dem »Anschluss« scheiden ließ.28 Moritz Fürnberg gelang die Flucht, er kehrte 1949 nach Eggenburg zurück, wo er sein Geschäft wiederaufbaute.29

Zugehörigkeit nach Wirtschaftssektoren Was die Zugehörigkeit zu Wirtschaftssektoren anbelangt, so dominierten die Handelsbetriebe  ; laut »Österreichischem Zentralkataster sämtlicher Handels, Industrie- und Gewerbebetriebe« waren 1903 im Bezirk Horn 43 Handelsbetriebe mit jüdischen InhaberInnen registriert, 1908 beinahe gleichbleibend 40. Im Bereich Industrie, Handwerk und Gewerbe waren 1903 sieben, 1908 neun Betriebe gemeldet.30 1930 waren in der Stadt Horn nach Angaben in den Wohnlisten 62 Personen mit mosaischer Religion eingetragen  ; bei den Professionen dominierten auch in Horn die Handels- und Gewerbebetriebe.31 Neun der 22 Haushaltsvorstände waren Eigentümer des Hauses 25 Garser Bürgermeister Leopold Höchtl, 28.12.1945 an die BH Horn, ebd.; NÖLA, Arisierungsakten, Lang, Gars am Kamp. 26 Schreiben an den Landrat Horn, 13.7.1939, BH Horn II-438-1939, liegt bei XI-1944. 27 Bescheid Vs-2-568/8-1943 an den Landrat Horn, 8.5.1943, liegt bei BH Horn, XI-1944  ; weitere Unterlagen Marktarchiv Gars, Mappe 1945. 28 Zeindl 2008, 57. 29 Gasper 1996, 169  ; Linsbauer 2006, 542f. 30 Zentralkataster 1903/1908  ; Zeindl 2008, 45. 31 R abl 1989, 15.

Juden im »Ständestaat« am Beispiel des politischen Bezirkes Horn/Niederösterreich

oder der Wohnung unter ihrer Adresse.32 Entsprechend dem agrarischen Charakter des Bezirkes fanden sich viele Landproduktenhändler für Getreide, Häute und Felle, Pferde und Vieh. Der Horner Produktenhändler Jakob Kummermann handelte mit Getreide und Futtermitteln. Sein Geschäftskreis umfasste den ganzen Horner Boden von Mold bis St.  Marein und Neukirchen sowie die Manhartsberggemeinden Stockern und Reinprechtspölla.33 Die Eggenburger Firma Sigmund Schick war »die grösste und leistungsfähigste Häutehandlung des ganzen Waldviertels. […] Dieser Geschäftsbetrieb ist [laut Aussage des kommissarischen Verwalters 1938, Anm. d. Verf.] auch für die Stadt Eggenburg von grosser Wichtigkeit«.34 Die Produkten- und Pferdehändler wiederum konzentrierten sich auf Weitersfeld am Rande des Weinviertels.35 Hermann Hauser und Ludwig Hauser hatten jeder in Weitersfeld einen Gemischtwarenhandel und eine kleine Landwirtschaft  ;36 auf gemeinsame Rechnung betrieben die beiden einen Pferdehandel.37 Die jüdischen Familien der Stadt Eggenburg lebten vor 1938 als »Kaufleute, Viehhändler, Leder- und Fellhändler, Beamte, einer von ihnen war Rechtsanwalt, ein anderer Bauingenieur. Sie waren [nach kleinstädtischen Maßstäben, Anm. d. Verf.] wohlhabend und hatten auch Hausbesitz.«38 Der Eggenburger Betrieb Heinrich und Berta Fischer belieferte mit seinen drei bis vier Beschäftigten die ländlichen Schuhmacher mit Leder und den im Betrieb erzeugten Schuhoberteilen. In Horn bestand die Lederhandlung Pollatschek und Schlesinger schon durchgehend seit den 1870er Jahren. Sie versorgte die Schuhmacher bis weit in den Zwettler Bezirk hinein, beispielsweise Johann Voglhuber in Eichhorns bei Franzen, heute ein devastierter Ort am Truppenübungsplatz. Voglhuber »hat immer gesagt, er ist mit denen mehr zufrieden als wie mit den anderen«, erinnerte sich seine Tochter.39 Einen größeren Geschäftskreis hatte auch der Pferdehandel Kellner in Eggenburg. Mit diesen Professionen setzten die südmährischen Diasporagemeinden eine schon schon durch viele Generationen über die mährische Landesgrenze hinweg 32 Ebd., 16. 33 Debitorenlisten 1938, NÖLA, Arisierungsakten Kummermann, Horn. 34 Der kommissarische Verwalter Karl Ertl, 5.7.1938 an die Prüfstelle für kommissarische Verwalter, Betriebsbeschreibung, Niederösterreichisches Landesarchiv NÖLA, Arisierungsakten Schick, Eggenburg. 35 Z.B. Hermann Hauser, geb. 1874, Pferdehandel und Pferdehandelsgewerbe als Zweigniederlage des Hauptbetriebes Weitersfeld Nr. 89 in Weitersfeld Nr.58. Löschung 22.7.1938, BH Horn Zl.XII1938-862  ; Bernhard Hirschenhauser Rohproduktenhandel Weitersfeld Nr. 40, Löschung 9.7.1938, BH Horn Gewerbeakten Zl.XII-1938-805. 36 Weitersfeld Nr. 89 und 132. BH Horn IX-144/-1947 Sonderablage Rückstellungsakten, Anmeldung entzogener Vermögen. 37 BH Horn IX-96-1947 Sonderablage Rückstellungsakten, Anmeldung entzogener Vermögen. 38 Gaspar 1996, 163. 39 Stefanie Pischinger, geb. Voglhuber, Interview mit H.H., Rosenburg, 11.8.2000.

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betriebene Handelstätigkeit fort.40 Der »Handelsjude« Abraham Fürnberg kaufte seit den 1830er Jahren bis 1861 von der Herrschaft bzw. Gutswirtschaft Horn-Rosenburg die Felle der verendeten Schafe.41 Der »Israelit« Schlesinger erwarb 1863 die ausgemusterten Rosenburger Schafe.42 Die Schafwolle der Hoyos-Sprinzenstein’schen Landgüter Horn-Rosenburg und Drosendorf ging allerdings durch Jahrzehnte an den Wiener Großhändler (von) Lippmann. Ein neuer Erwerbszweig war der Holzhandel, in dem es der Eggenburger Heinrich Stein zu Wohlstand und Ansehen brachte. »Die Firma Heinrich Stein in Eggenburg ist die größte [Holzhandelsfirma, Anm. d. Verf.] nicht nur hier am Platze, sondern überhaupt des Wein- und Waldviertels. Außerdem hat vorgenannte Firma sehr viel in das Altreich und teilweise auch in die Schweiz exportiert«, informierte der kommissarische Verwalter 1938 die Behörde.43 Die räumlich nächsten Grossisten waren jedoch in den Gerichtsbezirken Hollabrunn und Waidhofen an der Thaya. Die Rosenburger Sparholzmühle unterhielt in den Jahren 1936 bis 1937 beste Geschäftskontakte mit jüdischen Grossisten, beispielsweise mit den Wiener Firmen Diamant, Grünhut, Spitzer und Goldstein, mit Auspitz in Groß-Siegharts und mit Samuel Barth in Waidhofen an der Thaya. Karoline Barth hatte auch in Horn ein Haus, Thurnhofgasse 9, das die Waldviertler Volksbank am 15. Oktober 1938 um 15.000 RM erwarb. 44 Neben diesen wenigen größeren Betrieben befassten sich die Kleinhändler draußen in den Dörfern mit Pferdehandel sowie mit dem Sammeln von Federn, Wolle, Hadern und Unschlitt bei zumeist recht dürftigen Einkünften. Als Beispiel ist der Federnhändler Ignatz Fürnberg zu nennen. Die Gemeinde Theras verweigerte Fürnberg und seiner Frau Josefine, die ein Gemischtwarengeschäft hatte, wegen der im Verarmungsfalle den Gemeinden zufallenden Sozialhilfe die Einbürgerung. Fürnberg erhielt dennoch im Rekursverfahren das Heimatrecht in Theras, wo er seit 1891 gelebt hatte, und weil seine bisherige südmährische Heimatgemeinde Schaffa/Šavov nach der Vollzugsanweisung der Staatsregierung vom 3. Jänner 1919 zum deutschösterreichischem Staat gehörte.45 Das Ehepaar Ehrenstein betrieb in seiner 1920 er40 Teufl 1996, 171. 41 Schlossarchiv Rosenburg, Domainen-Direction Zl.1861/60 ebenda IV,5, Exhibitenprotokoll 1838, Zl.254. 42 Ebd., Domainen-Direction 1863/190. 43 Der kommissarische Verwalter der Firma Stein, Alois Bitzinger, an den Staatskommissär der Privatwirtschaft Pg. Rafelsberger, Wien, 8.7.1938, NÖLA, Arisierungsakten Stein, Eggenburg. 44 BH Horn, IX Sonderablage, Rückstellungsakten, Barth Karoline (Zl. fehlt auf dem Akt von 1946)  ; zur Waldviertler Volksbank siehe Böhmer 1999, 150. 45 Niederösterreichische Landesregierung an die BH Horn, 22.7.1920, XIa-1767/2, BH Horn, Abteilung Staatsbürgerschaft, K.1926 II.3-14. Schon im April 1919 löschten beide ihre Gewerbeberechtigung.

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worbenen Rosenburger Villa mehrere Jahre eine Pfeidlerei. Bertha Ehrenstein nähte die Hemden und Schürzen, die blauen »Fiata«, Fürtuche, die ihr Mann Julius, im Amtsdeutsch »Handelsvertreter« bzw. »Wäscheerzeuger«, »von Dorf zu Dorf« verkaufte.46 »Er ist mit dem roten Pinkel,  – da hat er einen Stock gehabt hinten, da hat er immer den Pinkel darauf gehabt, so ist er zu den Bauern« gegangen.47 In den 1930er Jahren betrieben Heinrich und Gabriele Kertesz in Rosenburg einen Handel mit »diversen Gebrauchsgegenständen nur durch Postversand« mit Feuerwerkskörpern, Juxartikeln und Spielzeug.48 Ein Gemüsehändler wie Walter Hauser konnte sich nur im Markt Geras ansiedeln. Übrigens hatten auch die größeren Händler erst im Laufe von mehreren Generationen den Sprung vom dörflichen Kleinhandel in die Kategorie des städtischen Mittelbetriebes geschafft, beispielsweise Kummermann aus Stockern und die Brüder Mandl aus Röhrenbach nach Horn, sowie der Holzhändler Stein aus Rodingersdorf nach Eggenburg. 1930 waren 60 Prozent der in Horn gemeldeten BürgerInnen mosaischer Religion bereits vor 1919 in Horn ansässig gewesen.49 Generell war das mitten in einem ertragreichen Getreide- und Weinbaugebiet liegende Eggenburg mehr begütert als die Verwaltungs- und Schulstadt Horn, was sich auch auf die wirtschaftliche Lage der Juden bezog. Alle diese Händler leisteten eine wichtige Vermittlerfunktion zwischen der agrarischen Produktion und der urban-industriellen Welt und auch umgekehrt durch die Vermittlung von industriellen Erzeugnissen in die Dörfer hinaus.50 Die jüdische Ansiedlung begann 1848 mit der Landkrämerei der Schlesinger in Altenburg. In weiterer Folge finden sich in den Dörfern weit verbreitet Gemischtwarenhandlungen in jüdischem Besitz. 51 Die Horner Schlesinger betrieben eine Ladenkette mit Geschäften in Horn, Frauenhofen, Altenburg, Dietmannsdorf an der Wild, Brunn an der Wild und Oberndorf bei Raabs. Mit gemeinsamem Einkauf konnten sie günstige Preisangebote offerieren.52 Der Gemischtwarenhandel war oft kombiniert mit anderen Gewerben wie dem Landproduktenhandel. Händler mit Likör, Schnaps und Branntwein sind in Horn genannt,53 aber nirgends ein Wirt. Es gab im ganzen 46 Karoline Rudolf, Interview mit H.H., Rosenburg, 3.6.1990. 47 Ludmilla Burger, Interview mit H.H., Rosenburg, 29.12.1989. 48 Brief des Gemeindeamtes Rosenburg an die Bezirksleitung der NSDAP in Horn, 7.5.1938, Gemeindearchiv Rosenburg, Bauakten Haus Nr. 25. 49 R abl 1989, 15. 50 Eminger 2008, 299–343. 51 Z.B. Hilda Neumann Gemischtwarenhandelsgewerbe Ober Höflein, Löschung 9.7.1938, BH Horn XII-1938-808. 52 R abl 1989, 16. 53 Theodor Pollatschek, Horn, Thurnhofgasse 2  ; dazu Stiedl 2014, 332.

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Bezirk Horn nur zwei Landpächter, und zwar in Heinrichsreith und in Wolfsbach – ein sonst im mährischen Gutsland weit verbreiteter Wirtschaftstyp.54 Zwei ehedem landtäfelige Güter waren in jüdischem Eigentum, das Gut des Marcel Herczeg in Zogelsdorf und das weitläufige Gut des Ehepaares Emil und Irma Roth in Kattau.55 Kattau wurde 1938 von der Deutschen Ansiedlungsgesellschaft gekauft und 1946 bis 1955 als »Deutsches Eigentum« von der russischen Besatzungsmacht verwaltet.56 Als »landwirtschaftliches Judenvermögen« wurde vom Landrat 1939 auch Hausbesitz und Garten »der Volljüdin Sara Maria Suttner« in Ober-Höflein angeführt.57 Im Vergleich zu den Händlern findet man nur wenige jüdische Handwerker. Da war beispielsweise der Schuster Leopold Stein in Etzmannsdorf am Kamp  ; dann eine Schneiderin, ein Regenschirmmacher, ein Radiomechaniker und ein Fotograf in Horn  ; ein Goldschmied in Horn und Eggenburg. Das Hochzeitskleid ließ man beim örtlichen jüdischen Schneider anfertigen.58 Dazu kamen einige kleinere Fabrikanten. Die seit 1912 bestehende Farb- und Lackfabrik der Gebrüder David und Hermann Mandl in Horn beschäftigte bis zu 30 Arbeiter.59 Seit 1932 war Hermann Mandl alleiniger Gewerbeinhaber der Firma Gebrüder Mandl. Sein Verkaufslokal hatte der Farbenhändler Mandl im Kellergewölbe eines Hauses am Horner Schützenplatz. »Eine armselige Bude würde man heute sagen, aber damals waren die Geschäfte überall so«, erinnerte sich der Zeitzeuge Hana Schwabenitzky. Bei Mandl konnte man auch Petroleum kaufen, das Fass stand vor dem Haus, und daraus pumpte Hermanns Gattin Adele händisch die gewünschte Menge heraus.60 In den 1930er Jahren erzeugte die Firma Brüder Mandl Mühlsteine für Getreide sowie Getreideschälmaschinen nach eigenem Patent Hermann Mandls.61 »Die Firma ist [1937, Anm. d. 54 Zeindl 2008, 75. 55 Rückstellung Herzceg, Amt der nö. LReg. Zl. L.A. IV/6-1091/1-V-1950, BH Horn IX Sonderablage Rückstellungsakten Roth, Kattau  ; Linsbauer 2006 539f.; dazu Eminger 2005. 56 BH Horn IX-11/19-1950 Sonderablage Rückstellungsakten, Anmeldung entzogener Vermögen  ; Die Gemeinde Kattau wollte 1939 das Schloss von der Deutschen Ansiedlungsgesellschaft erwerben, es fehlten aber die Mittel. BH Horn II-204-1939. 57 Der Landrat an die Bürgermeister, 8.11.1938, über »Landwirtschaftliches Judenvermögen«, Marktarchiv Gars, Mappe 1945. Dieser Besitz ist in den Rückstellungsakten nicht erwähnt. 58 R atzenböck/Morawek/Amann 1988, 194f. 59 R abl 1989, 198. Hermann Mandl war seit 1931 Einzelinhaber der protokollierten Firma Brüder Mandl. Der Gewerbeschein Hermann Mandls für die Erzeugung von »Farben, Lacken und anderen chemischen Produkten« am Standorte Horn, Magazinstraße Nr. 5 datiert mit 1932. BH Horn, XII/164 a 866-1938. 60 Schwabenicky 2001, 229. 61 Gewerbeschein Hermann Mandls zur »Erzeugung chemisch gebundener Mühlsteine und Mühlsteinmassen«, 6.10.1935, BH Horn XII 1313/3-1935  ; Genehmigung der Betriebsstätte in Horn, Magazinstraße Nr.5 BH Horn, XII/164 a 866-1938.

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Verf.] in gutem Aufschwung«.62 Mandl hatte bis 1937 bereits etwa 100 niederösterreichische Mühlen mit seinen Steinen ausgestattet. Der Geschäftskreis reichte bis in die Tschechoslowakei und nach Deutschland. Allerdings beschäftigte der Spezialbetrieb lediglich zwei bis vier Arbeiter. Mandl war auch der niederösterreichische »Vertreter der Handelsgenossenschaft der Schleifsteinhauer in Gosau«, die bei ihm stets eine größere Menge Gosauer Ware zum Verkauf einlagerte.63 Die Firma Brüder Mandl wurde in der NS-Ära liquidiert. Beide Betriebe Mandl (Farbenerzeugung und Mühlsteinproduktion) wurden durch die zwangsweise Einstellung des Geschäftes unter dem kommissarischen Leiter Ing. Viktor Küffel zugrunde gerichtet. Der einzige Kaufinteressent verstand nichts von der Branche. In wenigen Monaten reduzierte sich das von Hermann Mandl nach Abzug aller Schulden und Kredite angegebene Betriebsvermögen von RM 4.083.19 auf Null, der Betrieb wurde liquidiert.64 Da Mandl »aus Zeitungsberichten« erfahren hatte, dass er »als Jude kein Gewerbe betreiben darf«, legte er am 31. Dezember 1938 beide Gewerbescheine zurück, nicht aber die »Conzession und Betriebsgenehmigung für diese Gewerbe in den bisherigen Gebäuden« – er hoffte vergeblich auf eine Rückkehr an seine Wirkstätte.65 Hermann und Adele Mandl wurden am 18. September 1942 in Maly Trostinec ermordet. David Mandl konnte im Juli 1939 nach Palästina auswandern. Die Liegenschaft Mandl wurde von der Sparkasse der Stadt Horn erworben. In jüdischem Besitz befand sich auch die Eggenburger Firma »Möfa« Möbelfabrikation & Vertriebsgesellschaft m.b.H.66 Erwähnenswert ist noch die Fisch- und Gemüsekonservenerzeugung, die Marianne Mainhall im Hause ihrer Mutter Sidonie Kellner in Eggenburg betrieb. In der Urproduktion ist der Steinbruch von Leopold Popper-Podhragy in Roggendorf zu nennen. Popper-Podhagry galt als »Halbjude«. Es gelang ihm 1939 die Flucht über Frankreich nach England, wo er bei Kriegsbeginn interniert wurde. 1950 erhielt er das Granitwerk Roggendorf zurück.67 Arisiert wurde weiters das Kalk- und Schotterwerk von Caroline und Hermann Steinschneider in Brunn an der Wild.68 Den Steinschneider gehörte dort im Umkreis (Neukirchen an der Wild, Fürwald und Feinfeld) auch land62 R auscher 1931, 103. 63 Schriftwechsel 1938 mit der Kreisleitung Horn wegen des vom kommissarischen Verwalter Ing. Küffel verwalteten Lagers, NÖLA Arisierungsakten Hermann Mandl, Horn. 64 Bericht des Abwicklers Richard Aigner, ebd. 65 BH Horn XII-2/13-1939. 66 Linsbauer 2006, 541. 67 Erkenntnis der Rückstellungskommission Wien GZ 50 RK 1094/48-22. Der in Salzburg wohnhafte Popper-Podhagry konnte »infolge Schwierigkeiten bei der Überschreitung der Demarkationslinie« den Besitz nicht selbst übernehmen, daher wurde zur Sicherung der Arbeitsplätze ein öffentlicher Verwalter bestellt, BH Horn IX/130, Zl. 762/1950. 68 Zeindl 2008, 50  ; Thinschmidt/Thinschmidt/Schrimpf 2000, 390.

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wirtschaftlicher Besitz, der 1941 von der Deutschen Ansiedlungsgesellschaft gekauft und parzellenweise an örtliche Bauern resp. Fuhrwerksunternehmer weiter veräußert wurde.69 In dem sonst im Waldviertel und speziell in den Bezirken Horn, Waidhofen/Thaya und Zwettl maßgeblichen Bauwesen gab es sonst keine Betriebe im Besitz von Juden.70 Es fehlten auch die in den politischen Bezirken Waidhofen a.d. Thaya und Gmünd so wichtigen Textilfabrikanten.71 Die jüdischen Unternehmer waren begehrte Arbeitgeber in einer ohnehin von der Moderne vernachlässigten Region. Die dort beschäftigten Arbeiter erinnerten sich gerne an ihre Arbeitgeber, beispielsweise Sigmund Seitz bei Kummermann.72 Frau Teplan, die »arische Hausgehilfin« beim Eggenburger Häutehändler Sigmund Schick, ist 1938 »mit den Juden nach Wien gezogen«.73 Die städtischen Unternehmer bildeten zusammen mit den größeren Holz-, Häute und Getreidehändlern die besser Situierten unter den Juden. Sie waren auch die eigentlichen Aktivisten und Träger der Kultusgemeinde. Dieser Schicht gehörte kein Konvertit an. Die soziale Palette ergänzten drei Gemeindeärzte und ein Sanitätsrat sowie zwei Dentisten und ein Apotheker.74 In den Gemeindekrankenhäusern von Horn und Eggenburg waren keine jüdischen Ärzte oder sonstiges jüdisches Personal beschäftigt. Dr. Friedrich Zandl blieb, »obwohl er Halbjude war«, auf Drängen des Eggenburger Bürgermeisters Eduard Kranner im Krankenhausdienst.75 Dazu kamen eine Handvoll Advokaten in Horn und Eggenburg, ein Versicherungsbeamter in Horn, der Betriebsleiter der Möbelfabrik »Möfa« in Eggenburg sowie der Vorstand der Länderbank Adolf Hirsch und seine Gattin Sidonie in Eggenburg  ;76 aber keine Lehrer, keine Staats- und Gemeindebeamten, auch nicht Gutsbeamte oder Beschäftigte. Zu den hier ansässigen jüdischen Bürgern kamen noch die zumeist nur saisonal hier wohnenden Besitzer von Sommervillen  ; beispielsweise Helene Daches, Margit Grossmann und Lajos Falusi in Buchberg, Baumeister Anton Lang in Gars, sowie der Kohlengroßhändler Franz und seine Gattin Helene Kovacs sowie die Familie Ehrenstein-Freilich in Rosenburg.77 69 Teilerkenntnis der Rückstellungskommission, 16.2.1950 Rk 90/49, sowie 19.1.1950 Rk 12/19/22, BH Horn IX 22/39 Sonderablage Rückstellungsakten. 70 Eigner 2006, 354. 71 Jurij 1987, 147f. 72 R abl 1989, 200. 73 Schreiben des kommissarischen Verwalters Karl Ertl an den Kreiswirtschaftsberater Hans Smersch, 23.10.1938, NÖLA, Arisierungsakten Schick, Eggenburg. 74 Haas 2015. 75 Aufzeichnung Eduard Kranners nach 1945. Nachlass Kranner, Sammlung Linsbauer, Eggenburg. 76 Zeindl 2008, 51  ; Linsbauer 2006, 541, 543. 77 BH Horn, IX Sonderablage Rückstellungsakten Helene Daches, Margit Grossmann und Lajos Falusi/ Buchberg gegen Karl und Leopoldine Brunner, Haus Nr. 34 Buchberg, Zl. 98 Kat. Gemeinde Buch-

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Es gab aber auch arme Juden und Luftexistenzen wie den in der Horner Hofmühle im Taffatal eingemieteten Altwarenhändler Emanuel Stein. Ihm standen nur Handkarren zur Beförderung des Altmetalls zur Verfügung.78 Ihm folgte unter derselben Adresse der Altwarenhändler und Friedhofswärter Leopold Stein.79 Aus Österreich ausgewiesen wurde 1923 der zwei Jahren zuvor von Schaffa nach Harth mit seiner Familie übersiedelte Josef Meißner, der vom Verkauf der von ihm erzeugten Birkenbesen und davon lebte, was er erbettelte oder geschenkt erhielt.80 Der Weitersfelder Wanderhändler Richard Guttmann erhielt noch am 5. Mai 1938 eine »Wandergewerbebewilligung« zum »Einsammeln von Hadern und Fellen« auf ein Jahr. Da mag auch seine Konversion zum katholischen Glauben im Jahre 1926 mitgespielt haben, die vom Gendarmeriepostenkommando Weitersfeld in der Stellungnahme vom 24. März 1938 extra hervorgehoben wurde.81 Die Gewerbeberechtigung zum Handel mit Schnitt- und Textilwaren des Leib Backenroth, geboren 1897, wurde am 8. Juli 1938 gelöscht.82 Einen Schnitt durch die Besitzstruktur zogen die Arisierungen bzw. Rückstellungsverfahren nach 1945. Im politischen Bezirk Horn wurden 55 arisierte Eigentumstitel, Häuser, Liegenschaften, Erbteilforderungen, Bankkonten usf. ihren jüdischen Eigentümern, gesetzlichen Erben bzw. als sogenanntes erbenloses Vermögen einer »Sammelstelle« rückgestellt.83 Einige Rückstellungsfälle betrafen seinerzeit auswärts lebende Bürger. (z. B. Helene Daches/ Buchberg  ; Roth/Kattau  ; Ehrenstein/Rosenburg). Der Lebensstil der jüdischen StaatsbürgerInnen entsprach ihrer sozialen Position. Die anlässlich der Vermögensanmeldung 1938 aufgelisteten Wohnungs- und Haushaltsinventare dokumentieren für Gewerbeinhaber und Freiberufler ein zeittypisches bürgerliches Ambiente, mit Nähmaschine, Anrichte, Tafelsilber, Speiseservice, Bildern, gelegentlich sogar einem Klavier. Im Speisezimmer der Familie Otto und Adele Hauser in Gars stand eine »Göthestatue«, alles »jüdisches Gerümpel« in der Diktion des Garser Ortsgruppenleiters Josef Zarbouch.84 Recht dürftig hingegen war das Inventar der Gemischtwarenhändler, beispielsweise jenes von Anna Hirschenhauser in berg, Bauarea 88/3. Gutachtliches Gutachten über angemessenen Mietzins von 1938 bis jetzt [1951], ebd. IX/130, Stammzahl 228/1951. 78 Schwabenicky 2001, 229  ; Emanuel Stein war 1930 mit seiner Familie unter der Adresse Taffatal 6 gemeldet. R abl 1989, 29. 79 Stiedl 2014, 335. 80 Bericht des Postenkommandos Geras, 27.12.1923 und anschließende Entscheidung der BH Horn, BH Horn, 1886/A/27Abteilung Staatsbürgerschaft K.1926 II.3-14. 81 BH Horn XII-502/22-1939. Guttmann erhielt erstmals 1926 die Gewerbeberechtigung. 82 BH Horn, XII-803-1938. 83 Eigene Berechnungen nach BH Horn IX Sonderablage Rückstellungsakten. 84 Inventarliste Otto Hausers, 21.11.1939, und Schreiben des Kreiswirtschaftsberaters an die Landeshauptmannschaft Niederdonau, 4.3.1939, NÖLA, Arisierungsakten, Hauser, Gars am Kamp.

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Messern.85 Was die Umgangssprache anbelangt, so waren die jüdischen BürgerInnen vermutlich an ihre christliche Umgebung weitgehend assimiliert, wobei umgekehrt einzelne jiddische Ausdrücke die Regionalsprache bereicherten. Die schriftliche Ausdrucksform im Amtsverkehr bezeugt durchwegs die Kenntnis zeitgenössischer gehobener bürgerlicher Standards, was man von den Eingaben der Ariseure 1938 nicht erwarten durfte.

Die Juden im sozialen Feld Die jüdische Bevölkerung war eng mit der Gesamtgesellschaft vernetzt. Beruf, Profession und Wirtschaft erforderten permanente Kontakte. Das betraf sowohl die Ärzte und Rechtsanwälte, Produktenhändler, Gemischtwarenhändler, Marktfahrer, Hausierer und die kleinen Handwerker. Die Ärzte kannten die örtlichen und familiären Verhältnisse über drei Generationen hinweg. Die jüdischen Unternehmer spielten eine nicht unwichtige Rolle im regionalen Wirtschaftsleben. Der Horner Produktenhändler Kummermann belieferte regelmäßig die Rosenburger Sparholzmühle mit Getreide. Seine sonstigen weitläufigen Geschäftsbeziehungen dokumentieren die im Rahmen der Arisierung zusammengestellten Lieferantenlisten. Die Eggenburger Konservenerzeugung Mainhall verarbeitete regionale landwirtschaftliche Produkte wie Gurken. Der Holzhandel verlangte permanente Kontakte mit Waldbesitzern und Förstern, der Viehhandel mit Bauern und Gutsverwaltern. Kontaktintensiv war auch der Handel mit Häuten und Fellen, da musste man ein Netzwerk von örtlichen und regionalen Einkäufern aufbauen, der das eigentliche Betriebskapital bildete.86 Die Gemeinsamkeit von Profession und Beruf wirkte verbindend. Der Horner Schneider Josef Stiedl und sein jüdischer Nachbar, der Konfektionär Siegfried Adler, abonnierten gemeinsam die ihrem sozialpolitischen Selbstverständnis gemäße Tageszeitung »Neues Wiener Tagblatt«.87 Johann Löwy, der Sohn des Eggenburger Viehhändlers Hugo Löwy lernte bei Ignaz Weninger in Eggenburg die Fleischhauerei.88 Einige junge Rosenburgerinnen fanden Beschäftigung beim örtlichen Versandhändler 85 NÖLA Arisierungsakten, Hirschenhauser, Messern. 86 Ansuchen um Genehmigung der Erwerbung des Betriebes Schick durch Karl Ertl, 11.6.1938, NÖLA, Arisierungsakten Schick, Eggenburg. 87 Stiedl 2014, 338. 88 Linsbauer 2006, 525  ; Johann und sein Bruder Rudolf überlebten den Holocaust in der Emigration, ihre Eltern Hugo und Elsa/Elisabeth Löwe sowie ihre Schwester Albertine wurden am 15.2.1942 nach Izbica deportiert  ; Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer.

Juden im »Ständestaat« am Beispiel des politischen Bezirkes Horn/Niederösterreich

Kertesz  ; Hilda Krivanek, eine Tochter des Rosenburger Grünzeughändlers, war dort Buchhalterin,89 später Hilda Lackner, Tochter eines Eisenbahners, »Mädchen für alles«.90 In den Ferien verdiente auch die Schülerin Angela Schöffmann, Tochter eines Herrenschneiders, bei Kertesz ein paar Schilling mit Adressenschreiben. Regelmäßig vermittelten die Kertesz Rosenburger Jugendliche auf Wiener Dienstposten als Kinder- und Hausmädchen. Ludmilla Kresker lernte bei dieser Gelegenheit in einem von der Familie bezahlten Kurs koscher kochen.91 Die Rosenburgerin Antonia Wurzer übte bei den Horner Schlesinger Klavier, als sie die Horner Handelsschule besuchte.92 Die jüdischen Firmen hatten einen guten Ruf als Ausbildungsstätten. Mehrere Unternehmer begründen ihre fachliche Kompetenz zur Gewerbeausübung mit ihrer Einschulung und Praxis in den örtlichen jüdischen Betrieben. So der Schweinehändler Wilhelm Brehm im Ansuchen um den Nutzviehhandel in Eggenburg als Ersatz für den jüdischen Betrieb Löwy, da er »vom Jahre 1924 bis 1929 im Nutzviehhandel des Hugo Löwy beschäftigt war und dort alle einschlägigen Verrichtungen, wie Ein- und Verkäufe zu tätigen hatte«.93 Ernst Einzinger wurde kommissarischer Verwalter im Fruchthandel Kummermann, wo er nach einem einjährigen Handelskurs »als Buchhaltungspraktikant« und anschließend bis 1915 als Buchhalter »in Dienst« gewesen war.94 Der am 2. April 1937 nach dem Ableben des Horner Fuhrwerksunternehmers Ludwig Pollatschek als Geschäftsführer des Horner Witwenbetriebes Rosa Pollatschek behördlich anerkannte Johann Greilberger hatte seinen Befähigungsnachweis für das Lohnfuhrwerk durch die jahrelange Praxis im Betrieb Pollatschek seit 1926 erworben.95 Auf dem Firmenauto ließ er 1938 in großer Schrift seinen Namen und »in verschwindend kleinen Buchstaben« Rosa Pollatschek anbringen, »um auf diese Weise die ausgesprochen jüdische Firma zu tarnen«.96 Als Ariseur kam Greilberger mangels politischer Unterstützung nicht in Frage. Der Betrieb wurde vom kommissarischen Leiter Viktor Küffel am 13. Oktober 1938 liquidiert. Auch die Alltagskontakte zwischen Christen und Juden waren situationsbedingt recht intensiv. In den eng verbauten Städten und Märkten wie Horn, Eggenburg 89 Antonia Klimond, Interview mit H.H., Rosenburg, 3.1.1990. 90 Angela Koretzky, geb. Schöffmann, Interview mit H.H., Rosenburg, 16.7.1996. 91 Ludmilla Burger, geb. Kresker, Karl Meyer und Resi Patta, Interview mit H.H., Rosenburg, 2.9.1998. 92 Antonia Klimond, Interview mit H.H., Rosenburg, 3.1.1990. 93 Ansuchen, 6.5.1938, BH Horn XII/174 a, 697, 1938. 94 Lebenslauf, 19.7.1938, NÖLA Arisierungsakten Kummermann, Eggenburg. 95 Schreiben Rosa Pollatscheks an die BH Horn, 24.3.1937, und Amtsvermerk über eine Vorsprache derselben, 10.4.1937 samt amtlicher Erledigung auf dem Schriftstück, BH Horn XII-686 1-13-1937. 96 Nö. Fuhrwerkerzunft, Bezirksleitung Horn, an die BH Horn, 14.5.1938  ; BH Horn XII-686 1-131937.

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und Gars am Kamp lebte man nebeneinander, Haus an Haus, ohne Konzentration auf einzelne Viertel. Viele jüdische Familien, wie die Schön in St. Bernhard oder die Schlesinger in Altenburg waren in den Bauerndörfern seit mehreren Generationen ansässig. Eine im Rahmen der schulischen Oral-History-Projekte in den 1980er Jahren befragte Waldviertler Zeitzeugin kannte die familiären Zusammenhänge der jüdischen Familien in einem weiten Rayon von Horn und Eggenburg.97 Der Horner Schneider Josef Stiedl erinnerte sich präzise an »die jüdischen Familien in Horn« mit allen geschäftlichen und familiären Details.98 Der Horner Kürschner Rudolf Churanek kannte selbstverständlich alle Horner Geschäftsleute, auch die paar jüdischen, mit allen ihren geschäftlichen und familiären Details.99 Die Arbeiter Leopold Lehr und Konrad Pechhacker wohnten im Familienbetrieb des Eggenburger Schuhoberteilerzeugers Fischer. Als Berta Fischer 1938 ihr Geschäft veräußern musste, verpflichtete sie den Käufer, den Oberteilarbeiter Leopold Lehr und den Lehrbuben Fritz Teplan zu behalten.100 Am engsten dürften die Kontakte unter den gleichaltrigen Jugendlichen gewesen sein, vor allem in der direkten Nachbarschaft wie bei Stiedl und Adler in der Wiener Straße in Horn  ; sie unternahmen gemeinsame Radfahrausflüge ins Waldviertel.101 Die Eggenburger Firma »Möfa« hatte eine eigene Jugendfußballmannschaft mit jüdischen und christlichen Mitgliedern.102 Die jüdischen Kinder gingen hier in die Volks- und die Hauptschulen in Eggenburg und Horn sowie in die Horner Gymnasien. Manche blieben freiwillig im katholischen Religionsunterricht in der Klasse sitzen. Die aus dem Kremser Gymnasium überlieferten Gehässigkeiten konnten sich im katholischen Schulmilieu Horn unter dem langjährigen Gymnasialdirektor Wilhelm Miklas, dem späteren Bundespräsidenten, nicht ausleben. Das Horner Gymnasium »galt allgemein als die niederösterreichische Mittelschule, die dem Nationalsozialismus am fernsten stand und gegen ein Eindringen seiner Ideen immun sei«.103 Fritz Miklas, der Sohn des Bundespräsidenten, war einer der besten Freunde des schon genannten Eggenburger Jugendlichen Egon Fischer, der ebenso wie sein Bruder Ernst das Horner Realgymnasium absolvierte und wochentags in Horn lebte. Ein weiterer Freund war Herbert Mandl aus der Familie des Horner Kleinfabrikanten.104 Im Eg 97 Maria Steiner, St. Bernhard, Interview mit Gabriele Nechwatal, Nechwatal 1990, 66–70.  98 Stiedl 2014, 331–340.  99 Churanek 2014, 41–66. 100 Vertrag mit Salberger, 2.7.1938, NÖLA Arisierungsakten, Berta und Ida Fischer, Eggenburg. 101 Stiedl 2014, 339. 102 Linsbauer 2006, 542. 103 Domandl 2001, 44. 104 Brief Dr. Egon Fischers, 1.1.1996, zit. bei Zeindl 2008, 53.

Juden im »Ständestaat« am Beispiel des politischen Bezirkes Horn/Niederösterreich

genburger »Club der Bürgersöhne« waren 1925 unter den 50 Mitgliedern keine Juden als reguläre Mitglieder verzeichnet. Doch unter den unterstützenden Mitgliedern finden sich die Söhne des Lederhändlers Fischer und des Häutehändlers Sigmund Schick.105 Der gesellige Eggenburger Holzhändler Heinrich Stein fehlte bei keiner Gruppenreise der Eggenburger Geschäftsleute und Gewerbetreibenden, beispielsweise 1928 ins Waldviertel und 1932 nach Brünn. Beim Ausflug nach Brünn waren auch die Geschwister Elsa und Egon Fischer, Kinder des Leder- und Schuhoberteilerzeugers Heinrich Fischer mit von der Partie und auf dem Gruppenbild.106 Stein leistete wie selbstverständlich seinen Beitrag zur Anschaffung der Kirchenglocken. Die über das Geschäftliche hinausreichenden Beziehungen überdauerten gelegentlich die Zeitumbrüche. Der nach Montevideo emigrierte Samuel Barth, vor 1938 Grossist in Horn und Waidhofen an der Thaya und ein guter Kunde der Rosenburger Kunstmühle Sparholz, gratulierte der Seniorin Charlotte/Karoline Sparholz 1951 zum 75. Geburtstag und berichtet nicht ohne Stolz, dass sich seine weit verzweigte Familie in der Fremde wirtschaftlich etabliert habe. Barth war noch 1951 auf die »Waldviertler Zeitung« abonniert  ; Woche für Woche verfolgte er die Ereignisse im verlorenen Lebensfeld, alle Geburtstage, Todesfälle und geschäftlichen Ereignisse. Aber es blieb ein bitterer Nachgeschmack, das schreckliche Schicksal bekannter Familien und Geschäftspartnern – »wie ich gehört habe, soll Erlich Retz und die Söhne vergast worden sein«.107 Die Kontakte der jüdischen Bewohner untereinander waren schichtspezifisch gegliedert. Die Rosenburger Kleinhändler Ehrenstein pflegten Beziehungen zum örtlichen Versandhändler Kertesz, nur selten zum begüterten und noblen Kohlenhändler Franz Kovács. Ihren engsten Kontakt hatten sie mit dem nicht jüdischen Nachbarn Franz Moser, übrigens ein Freimaurer. »Die waren sehr nett zu uns, da waren wir sehr oft eingeladen und sie waren bei uns«, erinnerte sich Tochter Ernestine  ;108 »mit den Moser waren wir befreundet«.109 Ernestine Freilich erlebte Anfang der 1920er Jahre unbeschwerte Tage in Rosenburg. Obzwar das einzige jüdische Kind in der Klasse, erfuhr sie »keinen Unterschied« in der Behandlung, nicht durch MitschülerInnen, nicht durch den strengen Lehrer Julius Herud, dessen Gattin ihr Klavierunterricht erteilte. Als die Jugendliche 1930 den Sommer in Rosenburg verbrachte, war der Kontakt zur Umgebung gelockert. Die Freundinnen von früher waren teils verzogen, 105 Linsbauer 2006, 521. 106 Gaspar 1996, 166, 179. 107 Brief, 1.7.1951, Briefwechsel Karoline (Charlotte) Sparholz, Rosenburg. 108 Ernestine Freilich-Ehrenstein, Interview Horst Unterkoflers anhand eines Fragebogens von H.H., Tel Aviv, 2.7.1998  ; Franz Moser gehörte als Jahrgang 1885 zur Generation der Ehrensteins. 109 Ernestine Freilich-Ehrenstein, Interview mit H.H., Wien, Hotel Bristol, 12.7.2000.

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teils auswärts beschäftigt. Die Söhne des Mühlenbesitzers beachteten sie nicht, was sie, »ein gut aussehendes Mädel«, etwas kränkte. Abends ging sie mit dem Schwimmlehrer spazieren, er wollte aber nicht, dass man sie sieht, was sie im lebensgeschichtlichen Interview doch auf unterschwelligen Antisemitismus zurückführte. 110

Zivilgesellschaftliche Integration  ? Der zivilgesellschaftliche Bereich zeigt durchgehend zwei Gesichter  : Als Teil des Wirtschaftsbürgertums waren Juden akzeptiert  ; nicht aber als Angehörige einer gesellschaftlichen Minderheit. Diese Ambivalenz zieht sich durch alle »bürgerlichen« Gruppierungen. Dem am 14.  Juni 1919 in Horn vereinigten siebenköpfigen »Ausschuss« zur Bildung einer Interessensvertretung »der Gewerbe, Industrie und der landwirtschaftlichen Großbetriebe« des Waldviertels gehörte auch der Horner Farbwarenfabrikant J. Mandl an.111 Auch der im Frühjahr 1919 parallel zum Soldatenrat und zum Arbeiterrat gegründete »Horner Bürgerrat«, ein Zusammenschluss von Gewerbetreibenden, Beamten und Festbesoldeten deutschnationaler und christlichsozialer Gesinnung, nahm eine zwiespältige Haltung zu den jüdischen Mitbürgern bzw. zu Juden insgesamt ein.112 Anfangs schloss er Juden per Statut von der Mitgliedschaft aus. Als sich jedoch bei einer »Werbung von Haus zu Haus bei einigen Werbern auch Nichtarier zum Beitritte meldeten«, namentlich die »Brüder Mandl«, akzeptierte sie der Bürgerrat im Interesse der gemeinsamen Sache als einfache Mitglieder, aber ohne »die Wählbarkeit als ausführendes Organ im Bürgerrat«. Das widersprach der Gesamtlinie der niederösterreichischen Bürgerbewegung, die in ihren Satzungen vom 14.  November 1919 nur »arischen deutschen Männern und Frauen« die Mitgliedschaft gewährte.113 In seiner Ideologie orientierte sich ohnehin auch der Horner Bürgerrat an zeitgenössischen antisemitischen Denkmustern. Der Obmann des Bürgerrates, der Horner Schotterwerksbesitzer Ing. Viktor Küffel und späterer »kommissarische Verwalter« jüdischer Betriebe, erwirkte vom Bürgermeister Adolf Wizlsperger die Zusage, eine weitere jüdische Ansiedlung zu hintertreiben. Dazu wörtlich im Protokoll des Bürgerrates vom 17. Dezember 1919  : »Ing. Küffel berichtet, daß er beim 110 Ernestine Freilich-Ehrenstein, Interview mit H.H., Tel Aviv, 2.7.1998, und Wien, Hotel Bristol, 12.7.2000. 111 Rundschreiben, 1.7.1919, Landesbürgerrat. Bezirksorganisation Horn 1918/20, Stadtarchiv Horn, NÖ. Landesbürgerrat. 112 Verhandlungsschriften aus den Beratungen des Bürgerrates Horn, 24.4.1919, Stadtarchiv Horn. 113 Satzungen des NÖ. Landesbürgerrates, Entwurf, in Rundschreiben Nr. 6 des nö. Landes-Bürgerrates, 14.11.1919, Stadtarchiv Horn, NÖ. Landesbürgerrat.

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Bürgermeister angefragt habe, ob sich die jüdischen Elemente[,] die in Horn wieder erscheinen, hier wohnen, sich ankaufen u[nd] gewiß d[en] Schleichhandel fördern, nicht entfernen ließen[,] da eine Erstarkung der jüd[ischen] Kolonie in Horn nicht wünschenswert ist. Der Bürgermeister bemerkt darauf, daß er von der Wohnungsgeberin die Kündigung d[er] jüd[ischen] Mieter veranlassen werde. Der Obmann ersucht nachträglich um d[ie] Genehmigung, da er die Vorsprache ohne vorherige Anfrage beim B[ürger] R[at] gemacht [habe]. Wird gutgeheißen.«114 Einer gängigen antisemitischen Denkfigur entsprach auch die Identifikation der bolschewistischen Gefahr mit dem Judentum. Vor allem der Stadtpfarrer Robert Breitschopf lieferte dem Bürgerrat seit Mitte des Jahres 1919 diese Welterklärung  : »An der Spitze dieser Bewegung stehen wie in Rußland und Ungarn auch bei uns Juden und so wird der jahrtausendlange Haß gegen alles Christliche auch bei uns durchbrechen und der Bolschewismus wird zur Herrschaft kommen«.115 Als Repräsentanten der regionalen Wirtschaft jedoch waren jüdische Unternehmer willkommen. Im vierköpfigen Ehrenausschuss der Niederösterreichischen Landesausstellung, Viertel Ober dem Manhartsberg vom 8. bis 16. September 1928, saß der Horner landwirtschaftliche Produktenhändler Jakob Kummermann, »Vorstand der Kultusgemeinde Horn«.116 Auch in den Gruppen-Ausschüssen der einzelnen Wirtschaftszweige der Landesausstellung fanden sich drei Horner jüdischer Konfession, der Lederhändler Ferdinand Pollatschek, der Spirituosenerzeuger Ludwig Pollatschek und der Farbenfabrikant David Mandl. Zu den genannten Namen kamen als Aussteller der Horner Photograph Ludwig Gutmann, die Horner Textilienhändler Leopold Adler und Friedrich Adler und das Eggenburger Kaufhaus Anna Fürnberg. In wirtschaftlichen Interessensvertretungen waren jüdische Unternehmer und Gewerbetreibende ex lege tätig, einige auch in exekutiven Funktionen. In Neupölla, schon im benachbarten politischen Bezirk Zwettl, war der jüdische Kaufmann Alois Biegler bis in die 1930er Jahre Ortsobmann der Gewerbegenossenschaft.117 Der Horner Fruchthändler Jakob Kummermann war 1915 amtlicher Kommissär der Kriegs-Getreideverkehrsanstalt für den Gerichtsbezirk Horn  ;118 1918 war Kummermann für den Kartoffelankauf im Approvisionierungsspengel Weitersfeld/Drosendorf zuständig.119 Diese Funktion diente der Aufbringung der staatlicherseits geforderten Kontingente 114 Verhandlungsschriften aus den Beratungen des Bürgerrates Horn, 17.12.1919, Stadtarchiv Horn. 115 Verhandlungsschriften aus den Beratungen des Bürgerrates Horn, 5.1.1920, ebd. 116 NÖ. Landesausstellung 1928. Die weiteren Ehrenausschussmitglieder waren der Zitternberger Nadelfabrikant Emil Hanebeck sowie die Rosenburger Müller Johann Mantler und Josef Sparholz. 117 Polleross 1996, 113. 118 Amts-Blatt der k. k. Bezirkshauptmannschaft Horn 30, Nr. 29, 22.7.1915. 119 Eggenburger Volkspost, 16.8.1918.

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an agrarischen Produkten. Spenden jüdischer Gemeindebürger für die Feuerwehren waren selbstverständlich.120 Eine Mitgliedschaft in den Feuerwehren und beim Roten Kreuz ist nicht überliefert. Die Rosenburger Ehrenstein waren Mitglieder des örtlichen Verschönerungsvereins, über den sie die Sommerwohnungen ihrer Villa annoncierten.121 Eine schmale Brücke zur bürgerlichen Umwelt bildete der Österreichpatriotismus. Der zum Christentum konvertierte Arzt Dr. Bruno Langbank »fühlte sich in der Offiziersuniform am wohlsten«, erinnerte sich Schneider Stiedl.122 Auch das Anlegen von Trachtenkleidung bezeugte seinen Integrationswunsch.123 Der Eggenburger Holzhändler Heinrich Stein betonte, dass er »als Kriegsteilnehmer während des ganzen Weltkrieges seinem Vaterlande treu diente, was alle seine Schul- und Kriegskameraden bestätigen können«.124 Mit seiner patriotischen Pflichterfüllung begründete der Garser Kaufmann Otto Hauser die Bitte vom 16.  Juli 1938 an Gauleiter Josef Bürckel, »daß wir hier in Gars im Vaterhause [seiner hier geborenen Frau, Anm. d. Verf.] verbleiben können«  : »Ich habe aktiven Militärdienst vom 15.3.1915 bis 19.3.1919 geleistet beim k. u. k. I.R. 95[.] Den ganzen Weltkrieg an der russischen Front mitgemacht, durch Schrapnellschuß verwundet, an Ruhr und Typhus erkrankt. Dekoriert mit der bronz[enen] Tapferkeitsmedaille [,] Eis[ernes] Verd[dienst] Kreuz u[nd] Karl-Truppenkreuz und wurde als Zugsführer entlassen.«125 Der Eggenburger Großhändler Sigmund Schick erinnerte in seinem Schreiben vom 6. Dezember 1938 an Kreisleiter Hugo Jury um eine monatliche Unterstützung aus dem eigenen Vermögen an die patriotische Pflichterfüllung seiner Söhne  : »Zwei Söhne, welche im Geschäft tätig waren, sind Kriegsfreiwillige und mehrfach ausgezeichnete Frontkämpfer, haben also bestimmt dem Vaterland ihren Tribut gezollt, da einer derselben sogar 120 Am Rosenburger Gemeinwesen partizipierte Kertesz durch eine namhafte Spende zur eben gegründeten Feuerwehr. Für den Wiederaufbau einer von einem Brand beinahe ganz zerstörten Waldviertler Ortschaft spendete er am 23.3.1921 den Betrag 50 Schilling, also gleich viel wie der gut situierte Bauer Johann Hauer, Unterschriftenliste der Gemeinde Rosenburg, 23.3.1921, Gemeindearchiv Rosenburg-Mold. 121 Verschönerungsverein Rosenburg, undatierte Einladung und Anwesenheitsliste einer Hauptversammlung, vor 1931, »Herr und Frau Ernstein«, handschriftlich  : »derzeit Wien«, Gemeindearchiv Rosenburg-Mold. 122 Stiedl 2014, 336. 123 Ebd., 335. Juden wurde am 6.7.1938 durch den Reichsstatthalter das Tragen von »Landestrachten« verboten, Rundschreiben der BH Horn an »alle Herren Gemeindeverwalter«, 27.7.1938, Marktarchiv Gars, Mappe 1945. 124 Heinrich Stein, 29.12.1938, an Gauleiter Joseph Bürckel, NÖLA Arisierungsakten Heinrich Stein, Eggenburg. 125 NÖLA Arisierungsakten Hauser, Gars.

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Kriegsinvalide ist.«126 Diese patriotische Brücke, besser dieser Steg, war bis zuletzt intakt. Als der Horner Kaufmann Kummermann am 11.  März 1938 am örtlichen jüdischen Friedhof beerdigt wurde, trugen sechs Veteranen den Sarg.127 Auch die Seniorin Karoline/Charlotte Sparholz des gleichnamigen Rosenburger Mühlbetriebes erwies Kummermann die letzte Ehre. Bei den politischen Vereinen und Parteien kamen für Juden allenfalls die – hier marginalen – Sozialdemokraten in Frage, für die kleinbürgerlichen Juden aber wohl eher nicht. Als »Kommunist« und »Volksbeglücker« wurde in der Landzeitung der Eggenburger Rechtsanwalt Dr. Heinrich Klein bezeichnet.128 Seine Einlieferung in die Haftanstalt Stein am 2.  Mai 1938 erfolgte allerdings im Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit. Der langjährige Zentralsekretär des Politbüros der KPÖ, Siegfried/Friedel Fürnberg war ein Sohn des Eggenburger Goldarbeiters Jacob Fürnberg. Die Familie war allerdings schon 1904 nach Wien übersiedelt. Christliche und deutschnationale Vereine, auch Gesangs- und Turnvereine, schlossen statutenmäßig oder in praxi Juden von der Mitgliedschaft aus. Da war es schon eine Ausnahme, dass eine Horner Jugendliche jüdischen Glaubens, die Tochter des Notars Dr. Pann, Liesl Pann, zum Deutschen Turnerball eingeladen wurde.129

Zur Politik Was die politische Szenerie anbelangt, so war der politische Bezirk Horn seit der Wahlrechtsreform für den Reichsrat von 1907 überwiegend christlichsozial, wenn auch in den Städten und Märkten, teils sogar in den Landgemeinden unter größeren Bauern, Wirten und Sägewerksbesitzern eine starke deutschnationale respektive deutschliberale Minorität nicht fehlte.130 Die Sozialdemokraten erfassten die Eisenbahner und die Industriearbeiter in den wenigen größeren Betrieben. Bei der Landtagswahl vom 24.  April 1932 als letzter demokratischer Wahl der Ersten Republik stimmten im Verwaltungsbezirk Horn 51,8 Prozent für die Christlichsozialen, 1,6 Prozent für die Großdeutsche Volkspartei, 6,9 Prozent für die Ständische Bauernvereinigung und 21,0 Prozent für die Nationalsozialisten und 18,8 Prozent 126 NÖLA Arisierungsakten Sigmund Schick, Eggenburg. 127 Stiedl 2014, 331. 128 Zeindl 2008, 60  ; NÖLA Arisierungsakten Klein, Eggenburg. 129 Stiedl 2014, 335. 130 Reichsratswahlen 1907, Wahlergebnisse nach Parteirichtungen. Land  : Niederösterreich. Wahlbezirke 1–64, Summarien. Stadt Horn, 215 Christlichsoziale und 214 Deutsche Volkspartei  ; Stadt Eggenburg 342 Christlichsoziale und 198 Deutsche Agrarier.

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für die Sozialdemokraten.131 Judenfeindschaft war in beiden bürgerlichen Lagern endemisch und diffundierte über die Medien durch Jahrzehnte ins breite Volk, durch Amalgamierung mit der katholisch vermittelten Judenfeindschaft. Wortführer im deutschnationalen Lager waren mit ihren örtlichen Korrespondenten der vom Horner Verlag Berger herausgegebene »Bote aus dem Waldviertel« sowie die Kremser »Landzeitung«. In den beiden Zeitungen war die Judenfeindschaft erschreckend direkt und nahe. Die »Landzeitung« griff mit ihren Beispielen und Namen direkt in die Lebenswelt ein. Ich nenne als Beispiel die Kontroverse über eine Autobuslinie von Gars am Kamp ins mittlere Kamptal nach Krumau am Kamp, die in der xenophoben Wahrnehmung der »Landzeitung« zur »Judenlinie« wurde, weil sie aus dem ohnehin schon »verjudeten« Gars neue Gäste brachte. Ihr Rat  : »Lieber keine Verbindung und allfällig ein paar Touristen weniger, als daß uns diese östlichen Sitten und Gebräuche eingeschleppt werden.«132 In Gars selbst konnte sich dieser »Sommerfrischenantisemitismus« nicht mit ganzer Konsequenz durchsetzen, anders als in den Kamptalgemeinden Langenlois und Zöbing, die sich in den 1920er Jahren zu »judenreinen« Gemeinden deklarierten (1924 Langenlois).133 Der Antisemitismus der »Landzeitung« radikalisierte sich in den frühen 1930er Jahren und wurde auch im »Ständestaat« kaum gemildert. Es blieben der angriffige, persönliche Ton, die direkte Bezugnahme auf örtliche und regionale Verhältnisse. Die christlichsoziale »Eggenburger Zeitung«, respektive »Eggenburger Volkspost«, hingegen änderte ihren Ton im Laufe der Zwischenkriegszeit. In den ersten Nachkriegsjahren schwamm auch sie auf der Welle des Antijudaismus. Mit Schreckensmeldungen verwandelte sie die heimische Welt in eine Kulturkampfszene. »In eingeweihten Kreisen spricht man davon, daß die Absicht bestehen soll, in Dreieichen einen jüdischen Tempel zu errichten, um so für die Söhne und Töchter Israels im Waldviertel ein Zentrum zu schaffen.«134 Ganz unmittelbar nahm sie ihre Beispiele aus der Alltagswelt. »Die Juden sollen sich im Jordan baden aber nicht in unserem schönen Kamp, und wenn man sie doch duldet, doch nicht in der Nähe der belebten [Garser Kamp-] Brücke.135 Man könnte die Beispiele beinahe endlos fortsetzen. Doch schon an der Wende von den 1920er zu den 1930er Jahren wurden die auf das Regionale und Persönliche bezogenen judenfeindlichen Artikel rarer, und sie fehlten unterm »Ständestaat« völlig in der Berichterstattung. Nur selten thematisierten allgemein ge131 132 133 134 135

Landtagswahlen 1932, 57, 63. Landzeitung 2. und 9.3.1932, zit. n. Polleross 1996, 113. Galler/Habres 2013, 142. Eggenburger Volkspost, 13.8.1920. Eggenburger Volkspost, 11.6.1920.

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haltene Artikel das Thema »Judenfrage« mit der bekannten Unterscheidung zwischen dem grundsätzlich abgelehnten rassistischen Antisemitismus und einem Antijudaismus, der gegen eine angebliche jüdische Dominanz in Ökonomie und Geistesleben argumentierte. Solche judenfeindliche Äußerungen sind 1933 nur noch selten, etwa bei einer Versammlung der christlichsozialen Partei in Eggenburg am 19. Mai 1933 mit einer Verbeugung vor Karl Lueger, »der das österreichische Volk aus der Knechtschaft des Judentums herausgeführt […] hat  !«136 Dann doch noch ein »theoretischer« Artikel der »Eggenburger Zeitung« vom 16. August 1937, der sich zwar gegen den »Rassenantisemitismus« wendet, aber nicht gegen »einen Antisemitismus, der darauf abzielt, die Übermacht des zersetzenden jüdischen Einflusses auf geistigem und wirtschaftlichen Gebiete zu bekämpfen«. Auf dieser Linie liegt auch der Bericht vom 3. April 1933 über den Judenboykott in Deutschland, mit dem Bedauern, dass davon auch konvertierte Juden betroffen würden. Auch der Bezirksführer der »Vaterländischen Front« Landesrat Johann Steinböck, der spätere niederösterreichische Landeshauptmann, bediente sich dieses Stereotyps gegen die jüdischen »Preisdrücker«, die früher den Weinbauern die Maische gegen einen Schundpreis abgenommen hätten  : »Gegen die Niederlassung ausländischer Juden in Österreich werden wir uns mit allen Mitteln wehren.«137 Andererseits fiel auf der »Vaterländischen Woche« im Juni 1935 keine antijüdische Parole, oder sie gelangte wenigstens nicht in die Zeitung.138 Der Rückblick auf hundert Jahre Geschichte feierte zwar den Sieg über Sozialdemokratie und Parlamentarismus (»Die ewigen Wahlen entzweiten das Volk…«), aber er kam ohne judenfeindliche Bemerkung über die Runden. Man gewinnt den Eindruck, dass die reale nationalsozialistische Bedrohung die Judenfeindschaft des politischen Katholizismus dämpfte. Denn zum Hauptthema wurde seit 1933 der illegale Nationalsozialismus mit den vielen Berichten über Hakenkreuzschmierereien unter Nennung von Tätern und Hintermännern  ; während die hier marginale Sozialdemokratie nicht allzu viel Aufmerksamkeit beanspruchte. Riesige Heimwehraufmärsche sowie der Aufbau einer tendenziell flächendeckenden Organisationsstruktur des »Heimatschutzes« und der »Vaterländischen Front« sollten das System im breiten Volk verankern. Affirmativ orientierte sich die auf vollen Touren anlaufende ständestaatliche Propaganda an einem christlich-katholischen Selbstverständnis  ; dazu kamen der Österreichpatriotismus und eine intensive Pflege regionaler Kultur, in der Trachtenerneuerung, der Revitali-

136 Eggenburger Zeitung, 26.5.1933. 137 Eggenburger Zeitung, 11.3.1938. 138 Eggenburger Zeitung, 14.6.1935.

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sierung von »Waldviertler Nationaltänzen«, dem Ausbau des Horner Höbarthmuseums und der Ortsbildpflege im Zeichen des Denkmalschutzes.139

Politische Integration im »Ständestaat«  ? Gleich vorweggenommen, eine direkte Partizipation in ständestaatlichen Organisationen war im politischen Bezirk Horn wohl ausgeschlossen. Bei einem Schulungskurs in Horn im Februar 1938 bekräftigte der Landessekretär der »Vaterländischen Front« Friedrich Eckert, dass Juden »keine Stelle in der Organisation der VF innezuhaben« möglich war.140 Das entsprach einer vom Generalsekretariat der VF schon 1934 eingenommenen Position, einzelne Juden zwar als einfache Mitglieder zu dulden, ihnen aber »keinerlei führende Rolle« einzuräumen.141 Entsprechend dazu sind die Zeugnisse für eine Beteiligung an ständestaatlichen Einrichtungen eher sporadisch. Ich liste die wenigen Beispiele auf. Möglicherweise akzeptierte die Jugendorganisation »Jung Vaterland« den achtjährigen Arnold Schwager während seines Besuches in Horn bei den Großeltern Adler als Mitglied. Stolz präsentierte sich der Bub dem Fotografen in seiner schmucken Uniform. Doch in Wien wurde er vom Verein nicht akzeptiert, und so trat er in die jüdische Bewegung »Beitar« ein.142 Der – zum Katholizismus konvertierte – Sanitätsrat Dr. Bruno Langbank versah 1934 gemeinsam mit dem katholisch-christlich orientierten Medizinalrat Dr. Arnold Hartl den Sanitätsdienst beim »Vaterländischen Staffellauf des Österreichischen Heimatdienstes« durch den Bezirk Horn.143 Sanitätsrat Langbank finden wir sodann als Ehrengast bei der Muttertagfeier des Mutterschutzwerkes in Horn 1935, an der auch Bundespräsident Miklas teilnahm.144 Dafür spielten sicherlich persönliche Kontakte eine Rolle. Langbank war der langjährige und geschätzte Hausarzt der Horner Gutsfamilie  ; Graf Rudolf Hoyos-Sprinzenstein »besuchte ihn nachher [als ihn die Nationalsozialisten vertrieben hatten, Anm. d. Verf.] noch in der Nähe von Wien«.145 Den Höhepunkt der sozialen Anerkennung jüdischer Systemtreue bildete die Teilnahme des »Jüdischen Frontkämpferbundes«, wenn auch als Schlusslicht, an der von den 139 Haas 2016, 52–61. 140 Eggenburger Zeitung, 18.2.1938, zit. n. Zeindl 2008, 128. 141 Tálos 2013, 476f. 142 Schwager 2014, 319f. 143 Eggenburger Zeitung, 6.6.1934. Durch die Stadt Horn begleitete den Staffellauf die Ferialverbindung »Waldmark« unter Leitung des Verbindungs-Seniors Kirchschläger, R abl 1997. 144 Eggenburger Zeitung, 24.5.1935. 145 Hoyos 2001, 66.

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»Ortsgruppen unseres Gerichtsbezirkes« der »Vaterländischen Front« und den Ämtern beschickten »Aufstellung« vom Meierhof bis zum Schloss aus Anlass des eintägigen Kanzlerbesuchs Kurt von Schuschniggs beim Staatsratspräsidenten Rudolf Graf Hoyos-Sprinzenstein beim Herbstmanöver 1937.146 Wie locker und zweideutig die religiöse Toleranz des ständestaatlichen Regimes auch war, so konnte man sich gegebenenfalls darauf berufen, dass weder Bundeskanzler Schuschnigg noch Kardinal Theodor Innitzer in ihren öffentlichen Reden und bekannt gewordenen mündlichen Äußerungen antisemitische Töne anschlugen und als höchste Würdenträger im Staate »die Juden als gleichberechtigte Bürger und Oesterreicher behandeln«. Mit diesem Argument rekurrierte der Holzhändler Stein am 30.  Oktober 1937 gegen eine seiner Meinung nach antisemitisch beeinflusste Entscheidung des Eggenburger Gemeinderates in Bezug auf die Errichtung eines Holzplatzes und ergänzte, dass er »in Horn unter Leitung des sehr geschätzten Herrn Bundespräsidenten Wilhelm Miklas studiert [hatte] und in dieser Anstalt als guter Oesterreicher herangebildet worden« war.147 Stein konnte tatsächlich einen Erfolg verbuchen  ; sogar Landesrat Steinböck wurde mit der Angelegenheit befasst, wobei aber eine Stellungnahme nicht überliefert ist. Die Bezirkshauptmannschaft entsprach seinem Rekurs und gestattete die Errichtung des Holzlagerplatzes. Doch die Stadtgemeinde Eggenburg brachte prompt eine Berufung ein, und jetzt, am 15.  März 1938, drei Tage nach dem »Anschluss«, kamen neben sachlichen Argumenten gegen einen Holzlagerplatz – Feuergefahr und Stadtverschandelung – die antisemitischen Grundtöne unverblümt zutage, wenn es heißt  : »Schließlich sei noch hervorgehoben, daß Heinrich Stein Jude ist und als solcher nicht nur den Unwillen der Bevölkerung seit Jahren schon wiederholt durch sein freches Verhalten hervorgerufen hat, sondern auch mehrmals in Strafprozesse verwickelt worden ist. Bei Abwägung der Interessen der Stadtgemeinde einerseits und des frechen Juden andrerseits erscheinen die oben angeführten sachlichen Gründe sicherlich geeignet, die höhere Instanz zu einer Änderung des angefochtenen Bescheides im Sinne des nachfolgenden Antrages zu veranlassen.«148 Die Behörde entsprach dem Antrag, die Genehmigung wurde zurückgenommen.

146 Eggenburger Zeitung, 10.9.1937. 147 BH Horn XII-1547/5/1937. 148 Schreiben, 15.3.1938 an die Bezirkshauptmannschaft Horn, BH Horn XII-509/10-1938.

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Ein dramatisches Ende Trotz des »latenten Antisemitismus« war es doch so, dass sich die Juden im Bezirk Horn vor 1938 »durchaus integriert fühlten«.149 Die lebensgeschichtlichen Interviews berichten von einer »behüteten« Kindheit in Horn,150 von schönen Ferienwochen bei Horner Verwandten und in den Sommerhäusern.151 Umso dramatischer war die Wende 1938. Über Nacht waren die Juden aus der »Volksgemeinschaft« ausgegrenzt, die MitbürgerInnen scheuten die öffentliche Begegnung, ließen sie in ihrer Not im Stich. »Plötzlich hatten die Juden keine Freunde mehr, weil jeder Angst hatte. Es war furchtbar. Das, was die Juden vorher für die anderen getan hatten, war jetzt vergessen«, berichtete eine Hornerin über diese Kehrtwendung.152 In ihrer Not haben der Geraser Kaufmann Rudolf Gutmann, seine Gattin und seine einzige Tochter am 13. März 1938 Selbstmord verübt.153 Welche Antriebskräfte aber wirkten in dieser dramatischen Situation  ? Hatte sich in der Ausgrenzung und Verfolgung eine bis dahin nur mühsam zurückgestaute Judenfeindschaft der schweigenden Mehrheit entladen oder handelte es sich um nationalsozialistische Gewaltausübung, die die Bevölkerung aus Gleichgültigkeit, vielleicht sogar aus ängstlicher Anpassung stillschweigend hinnahm und im Taumel der Anschlusseuphorie gar nicht so richtig zur Kenntnis nahm  ? So viel ist evident  : Die Verfolgung ging von den zur Macht gelangten illegalen Nationalsozialisten aus, die sich als zweite und vielfach bestimmende politische Kraft neben (und oft auch gegen) die politische Administration etablierten. 80 Horner Juden wurden verhaftet und für einige Tage in »Schutzhaft« genommen. Wenn auch Exzesse und öffentliche Demütigungen unter dem Beifall der PassanteInnen wie in Wien ausblieben, so kam es vereinzelt zu tätlichen Übergriffen, wie in Rosenburg, wo zwei jugendliche Hitlerjungen das betagte Ehepaar Ehrenstein durch den Park prügelten.154 Die Villa des konfessionell gemischten Ehepaares Tramer in Gars am Kamp wurde mit Ölfarbe als »Judenvilla« beschmiert. Als die – nichtjüdische – Besitzerin dagegen Beschwerde führte, äußerte sich der Garser Bürgermeister gegenüber dem Landrat  : »Da der Bürgermeister solche Vorfälle, die dem gesunden Gefühl der Bevölkerung entspringen, nicht verhindern kann, sondern bloß die Täter bei Ergreifung derselben einer Bestra149 150 151 152 153

Zeindl 2008, 136. Adler 2014, 12. Ernestine Freilich-Ehrenstein, Interview mit H.H., Wien, Hotel Bristol, 12.6.2000. R abl 1989, 17. Schreiben des Gendarmeriepostenkommandanten von Geras an die BH Horn, 30.5.1938, BH Horn, Gewerbeakten XII-693/1-1938. 154 Katharina Landauer Rosenburg, Interview mit H.H., 28.3.1997.

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fung zuführen kann, wurde ihr bedeutet, dass es in diesem Falle das Beste wäre, den Besitz zu verkaufen.«155 Die Rosenburger Kovács verloren das Recht auf Benützung ihres privaten Badehauses im Kampfluss. Auf Beschluss der Garser Gemeindeverwaltung wurde Juden der Besuch öffentlicher Parkanlagen und der Strandbäder sowie die Benützung der Tennisanlagen verboten.156 Weil der Garser Hotelier Isidor Wosniczak Juden die Benützung seiner Badeanstalt erlaubte, wurde sie ihm entzogen. Der Horner Israelitische Friedhof wurde am 17./18. April und am 9. Mai 1938 geschändet, 81 Grabstätten und Namenstafeln umgeworfen, einige zerbrochen.157 Parallel zu den Schikanen und Übergriffen lief eine Propagandamaschine, um durch Drohungen die lebensweltlichen Beziehungen der Juden mit der umgebenden Bevölkerung aufzulösen, gab es doch immer noch unerwünschte und öffentlich kritisierte »Grenzüberschreitungen«  : Da wurde die Frauenhofener Gemischtwarenhändlerin Schlesinger weiter vom Bäcker und Selcher beliefert und von der Dorfbevölkerung »durchs Hintertürl« frequentiert.158 Da musste der zuständige Sigmundsherberger Ortsgruppenleiter »persönlich den Kunden verbieten, beim Juden [Fürnberg in Kainraith, Anm. d. Verf.] einzukaufen«.159 Da bedauerte der Rosenburger Chauffeur Karl Graf die Schikanen und die Vertreibung des örtlichen Versandhändlerehepaares Kertesz. »Um Gottes Willen, die haben niemand etwas getan« – »es waren ja schon alte betagte Leute und ruhig«, erinnerte sich die Tochter Anni, verheiratete Ammerer im lebensweltlichen Interview.160 Auch vorsichtige Unterstützungsleistungen sind noch überliefert. So half die Hornerin Leopoldine Maurer den nach Wien abgeschobenen Kummermanns bei der Versteigerung der Familienhabe. Mittlerweile begann der Exodus der jüdischen Bevölkerung. Der Garser Dentist Otto Mahler löste noch im Mai seine Praxis auf und ging nach Wien, um dem aus St. Leonhard nachdrängenden Otto Hapta Platz zu machen.161 Der in Rodingersdorf wirkende Zahntechniker Arthur Grünwald stellte Ende März 1938 seine Praxis ein und übergab sie einem nichtjüdischen Kollegen. Bis 17. Mai 1938 hatten sechs Mitglieder der Horner Kultusgemeinde die Stadt verlassen.162

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Schreiben an den Landrat Horn, 13.7.1939, BH Horn II-438-1939, liegt bei XI-1944. Niederösterreichische Landzeitung, 1.6.1938, 11. R abl 1990, 59. Niederösterreichische Landzeitung, 22.6.1938, 11. Rechtsanwalt Dr. Josef Korn, Wien, an die Landeshauptmannschaft Nieder-Donau. Dienststelle für den Vermögensverkehr, 11.3.1939, NÖLA Arisierungsakten Fürnberg, Kainraith. 160 Anni Ammerer, Interview mit H.H., 26.7.1993. 161 Haas 2015, 269f. 162 Bericht an die Israelitische Kultusgemeinde Wien, R abl 1989, 17.

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Schließlich wurde im Auftrag der Kreisleitung die ganze jüdische Bevölkerung des Kreises Horn von den Sammelstellen Horn – hier die Synagoge – und Eggenburg am 19. September 1938 unter Zwang nach Wien abgeschoben. Im Trubel der Ereignisse wurde ihr Verschwinden gar nicht so richtig wahrgenommen, »plötzlich waren sie alle weg«.163 Die Exzesse des Novemberpogroms richteten sich gegen den Besitz der schon vertriebenen Juden durch Zertrümmerung von Fensterscheiben und Beschmieren der Hauswände.164 Auch der sonst dem NS-System gegenüber negativ eingestellte Gymnasialprofessor Hans Kapitan verlor die jüdischen Bürger aus den Augen und aus dem Sinn  : »Die [Juden] sind alle von selbst verschwunden und man hat nichts mehr gehört von ihnen«, mit Ausnahme von zwei Familien Mandl.165 Diese Gleichgültigkeit war nicht zwingend die Folge von Judenfeindschaft, sie drückte aber doch tradierte Distanz aus. Die Juden waren zwar Teil der eigenen Lebenswelt, aber nicht »eigen« im Identitätssinn. »Die Juden aus Horn und den Gemeinden des Bezirkes waren nach 1945 kein Gesprächsthema, weder im Alltag noch wurde im Geschichtsunterricht ein Wort verloren«.166 Auch die Ämter und Behörden litten unter Amnesie. Auf eine Anfrage der Landesregierung von 1952 reduzierte sich im politischen Bezirk Horn die »Zahl der rassisch verfolgten Personen, die Österreich in den Jahren 1938 bis 1945 verlassen mussten« auf 46, davon 44 mosaischer Religion, zwei ohne Religion und »hievon umgekommen« auf 22. Nur die Gemeinden Horn, Eggenburg, Poigen, Thunau, Sigmundsherberg, Altenburg, St. Bernhard und Weitersfeld hatten der Bezirkshauptmannschaft vertriebene Juden gemeldet, die übrigen nicht geantwortet.167 Und wie steht es mit den Arisierungen  ? Bieten sie einen Hinweis auf das Zusammenleben zur Zwischenkriegszeit  ? Gewiss, die zur Macht gelangten nationalsozialistischen Illegalen bewiesen spontan ihre antisemitische Grundhaltung in Wort und Tat. Die vorwiegend aus Eggenburger Illegalen bestehende Horner Kreisleitung veranlasste in den jüdischen Betrieben so rasch wie möglich die Einsetzung von zumeist illegalen Nationalsozialisten als »kommissarische Verwalter«, und diese verschleuderten schamlos die Sachwerte. Ingenieur Küffel – schon 1919 antisemitischer Funktionär des Bürgerrates – war kommissarischer Verwalter in fünf Horner jüdischen Betrieben und einem Frauenhofener Gewerbeunternehmen. »Es sei sowieso nicht mehr viel da« 163 Streibel 1991. 164 Während im benachbarten Bezirk Zwettl, wo die Juden vorläufig noch nicht ausgewiesen wurden, die Exzesse, z. B. in Neupölla, damals einsetzten. 165 R abl 1986, 8. 166 Steininger 2001, 59. 167 Meldung an die Sicherheitsdirektion für das Land Niederösterreich, 12.2.1953, BH Horn XI-124, Stammzahl 112-1953.

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vom Vermögen des Holzhändlers Heinrich Stein, bekam ein Kontrolleur der Vermögensverkehrsstelle vom kommissarischen Verwalter Alois Bitzinger am 13. Mai 1939 zu hören  ;168 dabei war von Bitzinger selbst am 24.  März 1938 alleine das Holzlager mit 41.375 RM bewertet worden, wozu noch Darlehenskonten-Hypotheken von 21.861 RM, Außenstände mit 77.050 RM und Wechsel mit 24.149 RM kamen. Die Partei belohnte sodann in Eggenburg einige verdiente Parteigenossen für ihre Meriten um die »Bewegung« mit den städtischen Gewerben und Geschäften. In einem brisanten Fall, wo der Bewerber um die Arisierung eines Gewerbes keine einschlägige fachliche Qualifikation vorweisen konnte, wurde die Besetzungspraxis offenkundig  : »Der Kreisleiter erblickt seine Aufgabe in erster Linie darin, den wertvollen Kämpfern auch in beruflicher Hinsicht den gerechten Lohn zuteil werden zu lassen. Es gilt in diesem Falle nicht das formale Recht oder die formale Eignung, sondern der politische und sittliche Charakter des Menschen«.169 Die Interessenten scheuten sich nicht, im Rahmen ihrer Ansuchen um Gewerbeberechtigung auf die Ausbildung in jüdischen Betrieben hinzuweisen. Wenn sie selbst oder jemand aus ihrem persönlichen Umkreis das Unternehmen arisieren wollten, galt es als solid und nützlich. Seine »Bestellung zum kommissarischen Verwalter für die Horner Firma Jakob Kummermann, Fruchthandel« begründete Ernst Einzinger am 7. Juli 1938 mit dem Argument  : »Das Geschäft ist sehr ausgedehnt und besonders in der Bauernschaft sehr verwurzelt, da es schon sehr lange besteht und sehr gut geführt wurde.«170 Andererseits sollten negative Stereotype die angeblich unlauteren Geschäftspraktiken der jüdischen Konkurrenz bloßstellen. Der Holzhandel Stein soll liquidiert werden, heißt es in einem Schreiben der Ortsgruppe Eggenburg der NSDAP an den Staatskommissar in der Privatwirtschaft, Prüfstelle »kommissarische Verwalter«, vom 7. September 1938  : »Denn es sind in Eggenburg außer dem Juden Stein noch zwei arische Holzhändler, die unter den Verkaufspraktiken des Juden sehr schwer zu leiden hatten und trotz allen Anstrengungen nicht hoch kommen konnten, weil der Jude sie nicht hochkommen ließ  !«171 Auf die jüdische Konkurrenz als Hemmnis des eigenen Fortkommens berief sich auch der Eggenburger Adolf Bischof, »da die jüdische Fa. Stein das Kohlengeschäft an sich gerissen hatte« und seine Mutter den Kohlenhandel 1925 aufgeben musste.172 Die 168 Bericht des Rechtsanwalts Fritz Habietinek an die Vermögensverkehrsstelle, Eingangsstempel 20.6.1939  ; NÖLA Arisierungsakten Stein, Eggenburg. 169 Brief Hans Smersch »im Auftrag des Kreisleiters«, 19.9.1938 an die Gauwirtschaftsberatung, Abteilung Vermögensverkehrsstelle z.H. Pg. Dr. Wickl, NÖLA Arisierungsakten Fischer, Eggenburg (Beurteilung Otto Traumüllers). 170 NÖLA Arisierungsakten Kummermann, Horn. 171 NÖLA Arisierungsakten, Heinrich Stein, Eggenburg. 172 Ansuchen um die Erteilung des Holz- und Kohlenhandels, 21.5.1938. Gewerbeberechtigung wurde

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NSDAP Bezirksleitung Eggenburg urgierte am 10.  Mai 1938 gegenüber der Kreisleitung Horn die »Bestellung eines kommissarischen Verwalters« für die »Judenfirma Richard Fürnberg, Keinreith [sic  !]«. Denn »Richard Fürnberg ist Volljude. Betreibt in Kainreith einen Gemischtwarenhandel. Mit seinen schlauen und listigen Geschäftspraktiken schädigt er die Landbevölkerung schwer.«173 Nur widerwillig gewährten die kommissarischen Verwalter den aus den Kontoren verdrängten Eigentümern die allernötigsten Subsistenzmittel und nur auf massives Betreiben der Vermögensverkehrsstelle überwiesen sie den nach Wien vertriebenen Eigentümern weiterhin die monatlichen Zahlungen. Im Falle der Frauenhofener und Altenburger Gemischtwarenhändlerinnen verweigerte die Kreisleitung im Schreiben an die Vermögensverkehrsstelle vom 17.  Oktober 1939 überhaupt Überweisungen aus dem Erlös der Geschäftsauflösung, weil die dafür zuständigen kommissarischen Verwalter eingerückt waren  : »Die Juden sollen warten, bis unsere Pg. von der Front kommen. Hoffentlich werden diese Bestien noch früher an die Wand gestellt.«174 Kaum blieb die vierteljährige Aufenthaltsmeldung des nach Theresienstadt verschleppten Ehepaares Kertesz aus, stellte die Rosenburger Gemeindeverwaltung die Zahlung der Leibrente ein.175 Wo es ging, hintertrieben die örtlichen Nationalsozialisten die von der Vermögensverkehrsstelle gewährte Zusendung des Hausrats. Von den Immobilien des Eggenburger Holzhändlers Stein blieb nach der Entfremdung durch den kommissarischen Verwalter nur Ramsch übrig. Der kommissarische Verwalter Alois Bitzinger hatte den ganzen Dachboden seines Eggenburger Stadthauses mit arisierten Sachwerten vollgestopft.176 Den Haus- und Grundbesitz in Horn, Eggenburg und Weitersfeld schanzte die Partei überwiegend den Stadtverwaltungen zu. Vor ihrer zwangsweisen Abschiebung nach Wien mussten die Ehegatten Ludwig und Elisabeth Hauser eine »Blanco-Vollmacht unter der Drohung der damaligen Gestapo-Organe in Weitersfeld unterfertigen«. Mit dieser Vollmacht erwarb die Gemeinde Weitersfeld die Liegenschaft der Hauser um den Kaufpreis von 2.000 RM, während Ludwig Hauser bei der Anmeldung seines Vermögens den Wert mit 10.000 RM beziffert hatte.177 Als Verkäu-

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mit 8.6.1938 genehmigt, doch Adolf Bischof zog sein Ansuchen am 12.8.1938 zurück, da sein Bruder August dieselbe Gewerbeberechtigung erlangt hatte, BH Horn XII/174 a-1938  ; den Nachweis seiner Befähigung zum Kohlenhandel erbrachte er durch die Tätigkeit im Betrieb seiner Mutter, BH Horn, XII/174a-1938. NÖLA Arisierungsakten Fürnberg, Kainreith. NÖLA, Arisierungsakten Ernestine Schlesinger, Frauenhofen. Gemeindeamt Rosenburg-Mold, Bauakten Rosenburg Nr. 25. Linsbauer 2006, 439. BH Horn IX-172/213 Rückstellungsakten Sonderablage Teilerkenntnis 57 Rk 31/47/51.

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fer für Eggenburger Liegenschaften bestimmte die Horner Kreisleitung im Oktober 1938 den Eggenburger Sparkassenbeamten und nunmehrigen Kreiswirtschaftsberater Hans Smersch zum Abwesenheitskurator, obwohl die Adresse der nach Wien abgeschobenen Eigentümer amtsbekannt war. Die Sache ging freilich daneben, denn die lächerlich geringen Verkaufserlöse reichten nicht annähernd zur Begleichung der hypothekarisch sichergestellten Steuerverbindlichkeiten, der Judenvermögensabgabe und der Reichsfluchtsteuer, und so musste die Stadt Eggenburg noch in der NS-Zeit die Differenz auf den amtlich geschätzten Preis der Liegenschaften Stein/Holzhandel, Fischer/Lederhandel und Schuhoberteilerzeugung, Schick/Häute- und Fellhandel, Löwy/Nutzviehhandel und Fürnberg/Kaufhaus nachzahlen.178 Nicht viel anders verlief die Arisierung in Horn, wobei die NSDAP ein arisiertes Objekt als Parteihaus und die NSKK Motorgruppe Niederdonau das Geschäftshaus Siegfried Adler/Wienerstraße 39 nutzten, ohne dass der in Aussicht genommene Ankauf durch seine Gewährleute oder die Sparkasse Horn zustande kam.179 Das Gebäude der Israelitischen Kultusgemeinde mussten die Funktionäre vor der Abschiebung nach Wien der Stadtgemeinde schenken (Schenkungsvertrag vom 19. September 1938), Sonst profitierten neben der Stadtverwaltung und einigen Gewerbetreibenden vor allem bisherige Geschäftskonkurrenten von der Liquidation der jüdischen Betriebe, ohne selbst als Ariseure aufzutreten, z. B. in Horn der Spediteur Robert Zaruba von der Liquidierung des Fuhrwerksunternehmens Pollatschek und der Fruchthändler Leopold Ölknecht sowie die Horner Lagerhausgenossenschaft von der Liquidierung Kummermann.180 Dabei wurde der Frucht- und Futtermittelhandel Kummermann auf Verlangen der Horner Kreisleitung liquidiert, obwohl nach Ansicht der NSDAP Gauleitung Niederdonau sowohl »das Lagerhaus Horn als auch die Fa. Ölknecht den Anforderungen des Fruchthandels gegenwärtig nicht mehr gewachsen sind und sich bei diesen bereits unliebsame Stauungen ergeben«.181 Mit den Arisierungen wurde eine relevante Verbindung zwischen der Politik und den Lebensperspektiven der Menschen hergestellt. Bei der Arisierung der Gemischt178 NÖLA, Arisierungsakten der genannten Betriebe. 179 Das Geschäftshaus ging laut Elfter Verordnung des Reichsbürgergesetzes, 25.11.1941, am 27.11.1941 in den Besitz des Reiches über, NÖLA Arisierungsakten Siegfried Adler, Horn Wienerstraße 39. 180 Robert Zaruba, Horn hatte allerdings in Wien III, Klumgasse 12 ein Mietzinshaus arisiert. Mitteilung des Magistratischen Bezirksamtes für den III. Bezirk an die BH Horn, 15.2.1947. Der Horner Bezirkshauptmann Viktor Sadnik antwortet am 3.3.1947, dass Zarubas Wiener Hausverwalter am 13.3.1946 die Pflichtanmeldung eingebracht habe, BH Horn IX-112-1947 Sonderablage Rückstellungsakten, Anmeldung entzogener Vermögen. 181 Schreiben der Gauleitung an die Vermögensverkehrsstelle, 31.8.1938. Die Gauleitung berief sich auf eine Information des kommissarischen Verwalters Ernst Einzinger, NÖLA Arisierungsakten Kummermann, Horn.

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warenhandlungen, der Nutzviehgewerbe und der Garser Apotheker in den Märkten und Dörfern kamen daher mehrheitlich Neuzugänge der Partei, sogenannte »Märzveilchen«, zum Zuge. Nach bisherigen Forschungen wurden im Bezirk Horn 56 arisierte Eigentumstitel, wie Häuser, Liegenschaften, Warenlager, Pachtrechte und Bankkonten rückgestellt  ; davon 18 Objekte von Gemeinden, zehn vom Deutschen Reich (Militär und Entziehung des Eigentums der emigrierten oder in die Lager deportierten jüdischen StaatsbürgerInnen entsprechend der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz von 1941), vier von der Deutschen Ansiedlungsgesellschaft, einer von der Waldviertler Volksbank und einer vom Gauleiter Hugo Jury (Möbel). An Private gingen acht Stadthäuser in Horn, Eggenburg und Gars sowie zehn Häuser am Land (vorwiegend Gemischtwarenhandlungen)  ; pachtweise war eine Liegenschaft (Steinbruch) vergeben. Von diesen insgesamt 19 privaten Ariseuren sind elf in den NS-Registrierungslisten von 1946ff. als Nationalsozialisten eingetragen, davon zwei als illegal. Bei sieben privaten Ariseuren ist keine NS-Mitgliedschaft nachgewiesen  ; ein Arisierungsfall konnte nicht politisch zugeordnet werden. Drei Warenlager (je eine Uhrmacherwerkstatt, Textilien und Leder/Felle) wurden von insgesamt vier Ariseuren rückgestellt, von denen drei Parteimitglieder waren. Das Warenlager für Leder und Felle Fischer/Eggenburg wechselte 1938 viermal den Besitzer, wobei zwei Beteiligte illegal und zwei seit 1938 Parteimitglieder waren. Weitere laufende Archivrecherchen werden dieses Soziogramm der Ariseure verfeinern. Eine freie Handlungsverfügung der jüdischen Verkäufer war schon durch die allgemeine Zwangslage nach dem »Anschluss« nicht mehr gegeben, was ja auch den Rückstellungsgesetzen als Rechtsgrundlage diente. In einigen Fällen ist der kombinierte Druck von Partei und Ariseur dokumentiert. So ermächtigte die Sigmundsherberger Ortsgruppe der NSDAP mit Schreiben vom 27. Mai 1938 den Interessenten Ignaz Moder, »bei der Kreisleitung Horn wegen Ankaufs eines jüdischen Gemischtwarenhandels in Altenburg vorzusprechen.« Die Rückstellungskommission sah 1952 in dieser Intervention einen Beweis, dass die Schwestern Emma, Auguste und Josefine Schlesinger »nur einer der Kreisleitung genehmen Person und nicht einer von ihnen auserwählten Person verkaufen konnten«, weshalb der Erwerber Moder nicht »als redlicher Erwerber« galt. Außerdem bezahlte Moder für die Liegenschaft nur 11.000 RM, obwohl er wusste, dass ein Schätzgutachten die Liegenschaft mit mindestens 16.000 RM bewertete.182 Im Falle der Gemischtwarenhandlung Hirschenhauser in Messern betrieb die Deutsche Ansiedlungsgesellschaft aggressiv die Arisierung, um 182 BH Horn IX-68/1-1952 Sonderablage Rückstellungsakten Schlesinger, Altenburg  ; dazu Scheidl 1988, 31f.

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einen Aussiedler des Truppenübungsplatzes unterzubringen. Der Käufer ist in diesem Falle nicht der NSDAP beigetreten. Der Garser Kaufmann Hauser wurde durch Vorladung vor die Kreisleitung zum raschen Verkauf von Geschäft und Haus an die Klingelhuber genötigt – der Fall wird unten dokumentiert. Auch dem »Halbjuden« Alfons Schön in St.  Bernhard wurde die Geschäftskonzession für den Lebensmittelhandel entzogen. Dazu 1946 von der Gendarmerie befragt, schob ein Zeuge dem anderen die Schuld zu  : Der Horner Kaufmann Adolf Thüringer wollte »im Juni oder Juli des Jahres 1938« die Funktion des kommissarischen Verwalters bei Schön nur widerwillig angenommen haben, und gegenüber dem Kreisleiter Karl Hoffmann vergeblich eingewendet haben, »daß ich mit Alfons Schön gut befreundet bin«. Der 1938 in der Kreisleitung für wirtschaftliche Angelegenheiten zuständige Hans Smersch schob alle Verantwortung auf Kreisleiter Hoffmann, der 1945 Selbstmord begangen hatte.183 Der Verkaufserlös landete stets auf Sperrkonten ohne Zugriffsmöglichkeit der Bestohlenen. Von seinem am 24. März 1938 durch den kommissarischen Verwalter Bitzinger bilanzierten Reinvermögen von 209.767 RM erhielt der Holzhändler Stein an Versorgungsgeld und Übersiedlungskosten in die USA keine 4.000 RM. In den Rückstellungsverfahren nach dem Krieg sah es wieder ganz anders aus, da spielten einige Ariseure den guten Nachbarn, der mit den jüdischen Eigentümern schon länger wegen des Kaufs verhandelt und aus alter Verbundenheit beste Konditionen eingeräumt habe  – was sich aber nur selten nachweisen ließ. Besonders widersprüchlich waren die Aussagen im Falle der Arisierung des Garser Geschäftshauses Otto und Adele Hauser, geborene Schlesinger, durch den örtlichen Lederhändler Karl Klingelhuber. Anlässlich der »Anmeldung entzogenen Vermögens« am 28.  Dezember 1945 behauptete Klingelhuber, dass er mit Otto und Adele Hauser »in guten familiären Beziehungen stand, ferner wir schon 10 Jahre in Geschäfts Beziehungen standen, ausserdem bin ich ihm während seiner Krankheit mit Rat und Tat zur Seite gestanden, und wir schon dadurch seit 1936 über den Kauf des Hauses verhandelten«.184 Die Arisierungsakten bieten freilich ein anderes Bild. Da zeigt sich, dass die Eheleute Hauser keineswegs verkaufen wollten und Otto Hauser sogar am 16. Juli 1938 an Gauleiter Bürckel petitionierte, dass sie im »Vaterhaus« seiner Frau bleiben dürften, wo die Familie Schlesinger doch bereits seit 80 Jahren in Gars ansässig sei. »Nun wir brotlos geworden sind, da niemand bei mir kaufen darf, kommt mein kommissarischer Leiter mit der Weisung, mein eigenes Haus und Geschäft

183 NÖLA, Arisierungsakten Schön Alfons und Erna, St. Bernhard. 184 Karl Klingelhuber, Anmeldung über den Ankauf von jüd. Hausbesitz, 28.12.1945, NÖLA Arisierungsakten Hauser, Gars.

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zu räumen.«185 Klingelhuber drängte auf einen raschen Besitzwechsel  ; am 20.  Juli 1938 stellte er das »Ansuchen um Genehmigung der Erwerbung«. Jetzt ging es ganz rasch. »Um eine schnelle Arisierung durchzuführen, hat die Kreisleitung den Volljuden Otto Hauser vorgeladen«, berichtete im Rückblick der Kreiswirtschaftsrat an die Landeshauptmannschaft Niederdonau, Vermögensverkehrsstelle. Unter diesem Druck stellte Otto Hauser am 8. August 1938 das »Ansuchen um Genehmigung der Veräußerung«. Jetzt musste Klingelhuber nur noch die Konkurrenz eines zweiten Bewerbers um das Haus, ebenfalls ein illegales Parteimitglied, ausschalten. Klingelhuber hatte die besseren Karten. Der Kreiswirtschaftsberater unterstützte ihn im Schreiben an die Vermögensverkehrsstelle vom 4. September 1938  : Da er »für die Übernahme des jüdischen Besitzes als illegaler Pg. in politischer, beruflicher und charakterlicher Beziehung vollkommen einwandfrei ist, wird er von der Kreisleitung als Übernehmer bestimmt.«186 Am 26. Oktober 1938 erfolgte die Unterzeichnung des Kaufvertrages mit dem Ehepaar Hauser. Die Hauser mussten am 19. September 1938 Gars verlassen. Die Zusendung des in Gars verbliebenen Hausrats erreichten die Hauser nur gegen massiven Widerstand der Garser NSDAP. Otto Hauser wurde am 14. Juni 1942 nach Majdanek deportiert Adele Hauser, geb. Schlesinger nach Sobibor.187 Immerhin gibt es beim Vermögenstransfer auch Zeugnisse humaner Gesinnung. Als Beispiel das Ehepaar Karl und Leopoldine Brunner  ; für die Liegenschaft in Buchberg am Kamp haben sie über den offiziellen Kaufpreis von 4.000 RM »unter Umgehung gesetzlicher Vorschriften einen Teil des Kaufpreises [von 2.000 RM] den Verkäuferinnen [Helene Daches und Lina Falusi] verbotener Weise in die Hände geschmuggelt«, was diese im Rückstellungsverfahren ausdrücklich bestätigten.188 Doch wie immer neutral oder (versteckt) gewaltsam der Besitzwechsel erfolgte, alle Ariseure waren Nutznießer der Situation, nicht zwingend aus Judenfeindschaft, sondern aus Gelegenheit, aus Habsucht, einige aus einer schwierigen Lage, wie die Zwangsaussiedler aus dem Truppenübungsplatz Döllersheim/Allentsteig – wobei zu ergänzen ist, dass aus denselben Motiven das Eigentum der aufgelösten oder ent185 NÖLA Arisierungsakten Hauser, Gars. Moses und Seligmann Schlesinger, zuständig nach Schaffa/ Šavov, waren nachweislich schon 1878 in Gars am Kamp ansässig, Schreiben des Bürgermeisters von Schaffa an das Garser Bürgermeisteramt, 4.7.1878, Marktarchiv Gars, Mappe 1945. 186 NÖLA Arisierungsakten Hauser, Gars. Moses und Seligmann Schlesinger. 187 Datenbank Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands. Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaustopfer. Im Arisierungsakt ist die Deportation Otto Hausers nach Izbica vermerkt, BH Horn, Rückstellungsakten Sonderablage IX.619/9, Teilerkenntnis der Rückstellungsoberkommission beim OLG Wien 5.2.1952. 188 BH Horn IX-668/57-1950, Rückstellungsakten Sonderablage  ; Teilerkenntnis der Rückstellungskommission Rk47/47/44.

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rechteten Klöster Altenburg, Geras und Klosterneuburg sowie der Kirchenstiftungen, jenes der Gewerkschaften, Genossenschaften und der schon 1934 beraubten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei sowie Landgüter prominenter Vertreter des »Ständestaates« (Hoyos-Sprinzenstein) teilweise oder ganz beschlagnahmt wurden und blitzschnell Käufer fanden. Sogar Vermögensentzug ohne jeden politischen Hintergrund auf Seiten der Beraubten, einfach durch Instrumentalisierung politischer Macht, ist überliefert. »Wer konnte, griff zu«.189

Tabellen Tabelle 1  : Bevölkerungsentwicklung im politischen Bezirk Horn, STAT bzw. STA.AT Volkszählungsergebnisse 1910–2001. Tabelle 2  : Bevölkerung mit israelitischem Glaubensbekenntnis im politischen Bezirk Horn, Special-Ortsrepertorium 1892  ; Spezialortsrepertorium 1915  ; Volkszählung 1934.

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Juden im »Ständestaat« am Beispiel des politischen Bezirkes Horn/Niederösterreich

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Hanns Haas

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Interviews Interview von Hanns Haas mit  : Anni Ammerer, o. O., 26.7.1993. Ludmilla Burger, geb. Kresker, Karl Meyer und Resi Patta, Rosenburg 2.9.1998. Ludmilla Burger, Rosenburg, 29.12.1989. Ernestine Freilich-Ehrenstein, Wien, Hotel Bristol, 12.7.2000, Tel Aviv, 2.4.1998. Antonia Klimond, Rosenburg, 3.1.1990. Angela Koretzky, geb. Schöffmann, Rosenburg, 16.7.1996. Katharina Landauer, Rosenburg, 28.3.1997. Stefanie Pischinger, geb. Voglhuber, Rosenburg, 11.8.2000. Karoline Rudolf, Rosenburg, 3.6.1990. Interview von Horst Unterkofler anhand eines Fragebogens von Hanns Haas mit  : Ernestine Freilich-Ehrenstein, Tel Aviv, 2.7.1998.

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Peter Melichar

Otto Ender und die Juden – ein Fall für die Antisemitismusforschung  ? Vorbemerkung Wer war Otto Ender  ? Warum ist es von Interesse, was er über Juden dachte und welches Verhältnis er zu ihnen hatte  ? Ender – heute selbst in seinem Heimatland Vor­arlberg weitgehend vergessen – war in den 1920er und 1930er Jahren ein mächtiger und machtbewusster Politiker.1 Er war  – vergleichbar mit Franz Rehrl (Salzburg), Anton Rintelen (Steiermark) und Franz Stumpf (Tirol)  – einer jener Landeshauptmänner, die für lange Zeit die Politik eines Landes zu prägen vermochten. 1933 war er überhaupt der dienstälteste Landeshauptmann, außerdem noch ab Sommer 1933 Bundesminister im Kabinett des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß. Das Amt des Kanzlers hatte Ender selbst schon inne gehabt, wenngleich nur für ein halbes Jahr, vom Dezember 1930 bis zum Juni 1931  ; die Regierung Ender trat im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Creditanstalt zurück. Otto Ender war Jurist, hatte eine Rechtsanwaltskanzlei in Bregenz eröffnet und gab dieses Standbein auch noch nicht auf, als er längst schon Berufspolitiker war. Seit seinem Studium war er Mitglied des Cartellverbandes und der christlichsozialen Partei. Die antisemitische Tradition dieser Partei war allseits bekannt. In Vorarlberg war sie allerdings etwas weniger dominant als anderswo, was lediglich daran lag, dass hier in den 1920er Jahren nur noch sehr wenige Juden lebten.2 Vorarlberg hatte zwar mit der jüdischen Gemeinde von Hohenems eine der ältesten Kultusgemeinden Österreichs, doch die ohnehin nie sehr große Gemeinde hatte viele Mitglieder durch Abwanderung verloren, nachdem im benachbarten St. Gallen in den 1860er Jahren eine Israelitische Kultusgemeinde gegründet worden war. Die Volkszählung von 1934 registrierte gerade noch 42 Personen israelitischer Konfession.3 Keiner der wohlhabenden Industriellen oder Großhändler in Vorarlberg war Jude, es gab auch keinen jüdischen Großgrundbesitz. Auch die politische Opposition hatte keine Juden in ihren Reihen, zumindest nicht unter den prominenten Mandataren. Lediglich Samuel 1 Vgl. zu Otto Ender  : Melichar 2012 und Melichar 2015. 2 Vgl. zu Vorarlberg in der Zwischenkriegszeit  : Dreier 1986 und neuerdings  : Pichler 2015. 3 Bundesamt für Statistik, Vorarlberg 1935, 3.

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Spindler, Sekretär der Textilarbeitergewerkschaft und ab 1933 Obmann des Bildungsausschusses der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei galt seiner Herkunft nach als »jüdisch«, da er eine jüdische Mutter hatte. Er selbst war Mitglied der evangelischen Religionsgemeinschaft.4 Der Antisemitismus in Vorarlberg war also einer fast ohne Juden.5 Otto Ender hatte während seiner Kanzlerschaft im Frühjahr 1931 den bis dahin weitgehend unbekannten Landwirtschaftsfunktionär Engelbert Dollfuß als Landwirtschaftsminister in seine Regierung geholt. Dollfuß revanchierte sich, indem er zwei Jahre später  – mittlerweile selbst Bundeskanzler  – Ender anbot, als Minister ohne Portefeuille in sein Kabinett mit dem Auftrag einzutreten, eine berufsständische Verfassung auszuarbeiten. Ender nahm das Angebot an, blieb allerdings Landeshauptmann. Er lieferte Verfassungsentwürfe, die dann im Ministerrat diskutiert und von Verfassungsexperten redigiert wurden. Am 1. Mai 1934 trat schließlich diese von Ender auch publizierte und kommentierte Verfassung in Kraft.6 Etwa ein Jahr nach seinem Eintritt in die Regierung, noch vor der Ermordung von Dollfuß, trat Otto Ender am 10. Juli von seinem Ministeramt zurück, wurde vom Bundeskanzler als Präsident des Rechnungshofes vorgeschlagen und als solcher von Bundespräsident Wilhelm Miklas schon am 14. Juli angelobt.7

Die Suche nach dem Juden Margulies – Antisemitismus auf Regierungsebene  ? Als Otto Ender als Minister ohne Portefeuille im Kabinett des Bundeskanzlers Dollfuß zwischen Vorarlberg und Wien hin- und herpendelte, wurde ihm zugetragen, dass im Sozialministerium ein Jude angestellt worden sei. Der Informant war der – mit Otto Ender nicht näher verwandte – Kinderarzt Reinhold Ender, der die vermeintliche Tatsache wiederum vom Leiter der Landestuberkulosenheilstätte, dem Arzt Fritz Schinle (1892–1962), erfahren hatte. 4 Vgl. zu Samuel Spindler (1882–1942)  : Dreier 1988b, 13–14  ; Böck 1989 und Böck 1990  ; Pichler 2008, 216–237. 5 Vgl. vor allem Dreier 1988a, 132–249  ; Dreier 1992  ; zur Vorgeschichte  : Greussing 1992  ; Greussing 1996, 81–97. 6 Ender 1934. 7 Huebmer 1957, 190, 194. Ender wurde 1938 nach dem »Anschluss« des Amtes enthoben, war einige Monate, von März bis September 1938 inhaftiert, blieb jedoch ansonsten – von einem Aufenthaltsverbot in Vorarlberg abgesehen – unbehelligt. Nach 1945 war er nicht mehr als Politiker tätig und starb 1960.

Otto Ender und die Juden – ein Fall für die Antisemitismusforschung  ?

Bundesminister Otto Ender schrieb also an Schinle am 8. Jänner 1934 einen Brief folgenden Wortlauts  : »Sehr geehrter Herr Direktor  ! Lieber Cartellbruder  ! Herr Kinderarzt Dr. Ender teilt mir mit, dass nach Deinen Angaben ein griechischer Jude namens Margulies beim Bundesministerium für soziale Verwaltung in den Bundesdienst aufgenommen worden sei. Es würde mich ausserordentlich interessieren, von Dir darüber näheres zu erfahren und ich bitte Dich, mir gleich zu berichten, aber nach Wien an folgende Adresse  : Bundesminister Dr. Ender, Bundeskanzleramt, Wien I, Ballhausplatz.«8 Fritz Schinle antwortete neun Tage später, am 17. Jänner 1934  : Er sei kein »grundsätzlicher Antisemit«, aber Margulies, den man bei einem Schiurlaub in Zug bei Lech kennengelernt habe, sei ein »Vertreter jenes so eindeutig betonten, durchaus unsympathischen Judentypus«, der »Gefühle der Abwehr lebendig« mache. Schinle berichtete, dass Margulies – soweit er gehört habe – eine Stelle in »irgendeinem Dienstzweige des Sozialministeriums« erhalten habe, vermutlich über seinen Freund Reitlinger, der ein Neffe des Industriellen Reitlinger9 und eben auch als Vertragsangestellter im Sozialministerium tätig sei. Im Wintersportort Zug sei man »über diese Berufung des wirklich nicht sehr sympathischen Juden entrüstet« gewesen und sagte, »es sei nicht zu glauben, dass in einer Zeit, die tausenden von alteingesessenen Oesterreichern kein Brot geben könne, ausgerechnet dieser Jude einen Posten bekomme, der zudem wirtschaftlich recht gut gestellt sei.«10 Daraufhin wandte sich Otto Ender am 22. Jänner 1934 an den Sektionschef Josef Halusa  :11 »Ich habe kürzlich in einer kleinen Gesellschaft behauptet, dass Dr. Dollfuss keine Juden anstelle. Da wurde mir von einem Namensvetter Dr. Reinhold Ender entgegengehalten, gerade im letzten Sommer sei im Sozialministerium ein türkischer Jude, namens Margulies, angestellt worden  ; er wisse das von Dr. Schinle. Es ist hie und da gut, einen Fall restlos zu klären und so habe ich mich dann an Dr. Schinle gewendet und von ihm das beiliegende Schreiben erhalten. Kannst Du mir aufklären, wo diese Anstellung stattgefunden hat und wer zu derselben kompetent war.«12   8 Vorarlberger Landesarchiv (VLA), Nachlass Otto Ender (NL Ender), Schachtel 10, Mappe Wehrbund. Otto Ender an Dr. Schienle [sic  !], Direktor der Landestuberkulosenheilstätte Gaisbühel, 8.1.1934.   9 Friedrich Reitlinger war Eigentümer der Jenbacher Berg- und Hüttenwerke, vgl. Meixner 1999a, Meixner 1999b und Meixner 2002. 10 VLA, NL Ender, Schachtel 10, Mappe Wehrbund. Dr. Schinle an Otto Ender, 17.1.1934. 11 Dr. Josef Kuno Halusa (1878–1951) war seit 1908 Beamter des k. k. Ministeriums für öffentliche Arbeiten, wechselte 1917 in das neu gegründete Ministerium für Soziale Fürsorge, wurde 1919 Ministerialrat, 1923 Sektionschef im Sozialministerium und 1937 pensioniert, vgl. Enderle-Burcel/ Follner 1997, 151f. 12 VLA, NL Ender, Schachtel 10, Mappe Wehrbund. Otto Ender an Sektionschef Dr. Halusa (Bundesministerium f. soziale Verwaltung), 22.1.1934.

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Eine knappe Woche später, am 24. Jänner 1934, erteilte Sektionschef Halusa die Auskunft, »dass ein Herr Margulies weder im Bundesministerium für soziale Verwaltung selbst, noch bei einer diesem nachgeordneten Dienststelle angestellt ist«. Gleiches gelte für Reitlinger. Man könne aber nicht ausschließen, dass die beiden bei einem Sozialversicherungsträger13 in Stellung seien. In diesem Falle »könnte aber wegen ihrer Aufnahme der Bundesregierung ein Vorwurf nicht gemacht werden, da es sich hier nicht um staatliche Einrichtungen handelt, sondern um autonome Gebilde, die hinsichtlich ihrer Geschäftsführung lediglich der Aufsicht unseres Ministeriums unterliegen, bezüglich der Bestellung ihrer Beamten dagegen vom Ministerium vollkommen unabhängig sind. Bloß die Bestellung der leitenden Beamten bedarf der Genehmigung durch das Sozialministerium.«14 An diesen – für sich genommen belanglosen – Vorgang knüpfen sich einige Fragen. Erstens  : Warum entwickelte der Landeshauptmann und Bundesminister Otto Ender ein so »außerordentliches Interesse« an der vermeintlichen oder tatsächlichen Anstellung eines Juden in einem Bundesministerium  ? Zweitens  : Wie ist die Bemerkung zu verstehen, Bundeskanzler Engelbert Dollfuß stelle keine Juden an  ? Wie ist das anders aufzufassen, als dass es tatsächlich eine informelle Regelung oder Vereinbarung unter den Regierungsmitgliedern gab, die die Aufnahme von Juden in den Ministerialdienst oder Staatsdienst überhaupt ausschloss  ? Drittens  : Was könnte Otto Ender bewegt haben, die Durchsetzung einer solchen Regelung zu betreiben, indem er sich auf die Suche nach verantwortlichen Beamten macht, die gegen sie verstoßen haben könnten. Zwar gab es in der Ersten Republik eine Vielzahl diskriminierender antisemitischer Praktiken und immer wieder Versuche, antisemitische Verordnungen und Gesetze zu initiieren  ; doch alle diese Versuche scheiterten, etwa die immer wieder von diversen antisemitischen Gruppen geforderte – und in Ungarn 1920 realisierte15 – Einführung eines offiziellen Numerus clausus, der die Zahl der Juden in bestimmten Ausbildungen oder Berufen begrenzen sollte. Die einzige Form offener – durch die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes legitimierte – Diskriminierung war die fortgesetzte Ablehnung zahlreicher Optionsanträge von Juden, mit denen diese die österreichische Staatsbürgerschaft erlangen wollten.16 Zwar ist von vielen Regierungsmitgliedern 13 Die Sozialversicherungsträger, darunter die Hauptanstalt für Angestelltenversicherung, die Arbeiter-Unfallversicherung etc., sind im Amtskalender aufgelistet, vgl. Österreichischer Amtskalender 1933, 827–830. 14 VLA, NL Ender, Schachtel 10, Mappe Wehrbund. Sektionschef Dr. Halusa, BM f. soziale Verwaltung, an Otto Ender, 24.1.1934. 15 Schlarp 2005, 349–382. 16 Vgl. dazu den Beitrag »Juden zählen« von Peter Melichar in diesem Band und Pauley 1993, 129–131  ; Melichar 2006, 117–121.

Otto Ender und die Juden – ein Fall für die Antisemitismusforschung  ?

und Bundeskanzlern bekannt, dass sie antisemitische Ansichten äußerten, aber dass es eine Art Schattengesetz gab, das nirgendwo publiziert, dennoch aber offenbar  – eventuell nur mündlich – festlegte, Juden von der Dienststellung in der Ministerialverwaltung auszuschließen, ist bislang unbekannt. Die Schlussfolgerung, es habe eine derartige informelle Regelung der Regierungsmitglieder gegeben, ist jedoch tatsächlich zwingend. Wie kann man sonst erklären, warum Ender zwei Briefe verfasste, um den Sachverhalt zu klären, darunter einen an den ranghöchsten Beamten im Sozialministerium  ? Warum hätte sonst dieser Sektionschef dienstbeflissen eine Fahndung nach diesem Juden einleiten und mangels Fahndungserfolges auch noch entschuldigend erklären sollen, dass die Sozialversicherungsträger – abgesehen von der Bestellung der leitenden Beamten – in ihrer Personalgebarung autonom seien  ? Otto Ender – der nüchtern und praktisch veranlagte Advokat – ging einer Sache gewiss nicht ohne einen guten Grund nach, um sie, wie er sagte, »restlos zu klären«.

Hilfe für Benno Karpeles Etwa zur selben Zeit – er war seit kurzem Minister im Kabinett Dollfuß – versuchte Otto Ender, einem Mann zu helfen, der eine bemerkenswerte Vergangenheit und eine jüdische Herkunft hatte, nämlich Benno Karpeles (1868–1938). Er war der Sohn von Moriz Karpeles (1835–1903), einem Mitbegründer der Spedition Schenker & Co.17 Er promovierte 1893 mit einer sozialstatistischen Studie über die Arbeiter der mährisch-schlesischen Kohlenreviere,18 lernte in London noch den alten Friedrich Engels kennen und kam mit Viktor Adler, dem Gründer der sozialdemokratischen Partei in Österreich, in Kontakt. Karpeles wurde Redakteur der »Arbeiter-Zeitung« und Vertreter der österreichischen Gewerkschaften bei der »Zweiten Internationalen«.19 Zwischen 1898 und 1914 war er in der sozialdemokratischen Genossenschaftsbewegung engagiert,20 ab 1909 Gründer und Leiter der Hammerbrotwerke. 1918/19 wurde er als Gründer und Herausgeber zweier ebenso legendärer wie kurzfristiger Zeitungen bekannt  : Erstens gab er die Wochenzeitschrift »Der Friede« heraus, zweitens grün17 Vgl. zur Geschichte von Schenker & Co.: Matis/Stiefel 1995 und Matis/Stiefel 2002. 18 Vgl. K arpeles 1894. 19 Nach dem Zerfall der von Karl Marx 1864 initiierten Internationalen Arbeiterassoziation, wurde 1889 die »Zweite Internationale« in Paris gegründet. Im Gegensatz zur 1919 in Moskau gegründeten »Dritten Internationale« der Kommunisten, war die »Zweite Internationale« sozialdemokratisch orientiert, vgl. Rosdolsky 1973  ; Schickl 2012. 20 K arpeles 1913.

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dete er die Tageszeitung »Der neue Tag«.21 Er gewann prominente Autoren (Joseph Roth, Karl Tschuppik, Alfred Polgar, Egon Erwin Kisch), musste jedoch beide Projekte nach verhältnismäßig kurzer Zeit aufgrund finanzieller Probleme liquidieren. Er wandte sich nun erstmals dem Unternehmen seiner Familie zu, wurde 1926 Gesellschafter von Schenker & Co. in Berlin, war Aufsichtsrat mehrerer Konzerngesellschaften und pflegte einen mondänen Lebensstil. Durch einen Zufall kam er in Kontakt mit Therese von Konnersreuth, die in den 1920er Jahren großes Aufsehen erregte, weil ihr nachgesagt wurde, sie trage Wundmale und käme ohne Nahrungsaufnahme aus. Karpeles ließ sich von der Frau tief beeindrucken, hatte ein religiöses Erweckungserlebnis und konvertierte zum katholischen Glauben. Er berichtete davon in einem von Rudolf Olden 1933 herausgegebenen Band »Propheten in Deutscher Krise«.22 Im Herbst 1933 schrieb Karpeles – inzwischen nach der »Machtergreifung« Hitlers nach Österreich zurückgekehrt – an den Minister Otto Ender, mit der Bitte, ihm den Kontakt mit Richard Stepski zu vermitteln  ; Stepski war ein in Linz ansässiger Industrieller und leitender Funktionär mehrerer Industrieverbände.23 Ender schrieb daraufhin am 11. Oktober 1933 an Stepski  : »Sehr geehrter Herr Präsident  ! Beim Verband der österreichischen Papierindustrie soll die Stelle eines Generalsekretärs erledigt sein. Es möchte sich ein gewisser Herr Dr. Benno Karpeles […] bewerben. Karpeles ist Konvertit, und zwar ein Konvertit im ersten Sinn. Ich weiss, dass Dr. Seipel24 sich seinerzeit für diesen sehr intelligenten Mann interessiert hat. Auch Hofrat Wirth25 hat mich auf ihn aufmerksam gemacht.«26 Richard Stepski antwortete wenig später, er könne zwar den fraglichen Posten eines »Generalsekretärs der von mir geleiteten Verbände der österreichischen Papier-, Zellulose-, Holzstoff- und Pappenindustrie« nicht 21 Wirtz 1997, 38f. 22 K arpeles 1933b. 23 Dr. Richard Stepski (1879–1973) war Präsident des Verbandes der österreichischen Papier-, Zellulose-, Holzstoff- und Pappenindustrie, Obmann des Landesverbandes der oberösterreichischen und salzburgischen Papierindustrie, Mitglied des Hauptverbandes der Industrie Österreichs und des industriellen Verbandes für Oberösterreich, Geschäftsführer des Neuen Papierfabriksverbandes in Wien. Er hatte zahlreiche Verwaltungsratsmandate in Industrieaktiengesellschaften, war Präsident der Bank für Oberösterreich und Salzburg, vgl. Compass. Personenverzeichnis 1933, 1214. 24 Ignaz Seipel (1876–1932), Prälat und Universitätsprofessor für Moraltheologie, war in der Zwischenkriegszeit bis zu seinem Tod der intellektuelle Führer der Christlichsozialen. Zweimal war er Bundeskanzler (1922–1924 und 1926–1929). 25 Hofrat Dr. Josef Carl Wirth  , 1919 bis 1926 Leiter der Amtlichen Nachrichtenstelle, 1926–1934 Chefredakteur der Tageszeitung »Die Stunde«, vgl. Teichl 1951, 409. 26 VLA, Handakten Landeshauptmann Otto Ender, Schachtel 5, Mappe Korrespondenz 1933 H–L, Bundesminister Otto Ender an Direktor Stepski, Präsident der Bank für Oberösterreich, 11.10.1933.

Otto Ender und die Juden – ein Fall für die Antisemitismusforschung  ?

vergeben, machte aber Hoffnung auf eine »andere passende Stelle«, auch ein Treffen mit Karpeles sei schon anvisiert. Mehr als dieses Treffen kam allerdings offenbar nicht zustande. Zwischen Ender und Karpeles wurden noch einige Briefe gewechselt, Ender urgierte nochmals bei Stepski, die Sache scheint jedoch im Sande verlaufen zu sein. Hier jedoch stellt sich die Frage  : Warum engagierte sich Ender für Benno Karpeles  ? Weil er ein konvertierter Jude war  ? Weil er sich für eine Versöhnung zwischen Sozialdemokraten und Katholiken einsetzte  ? Weil er eine Broschüre verfasst hatte, die sich als »Beitrag zur Diskussion über die berufsständische Neuordnung«27 verstand  ?

Was Otto Ender wirklich über Juden dachte Wenn es zu antisemitischen Äußerungen oder Aktionen in Vorarlberg kam, dann richteten die sich in den 1920er und 1930er Jahren meist gegen Sozialdemokraten, ganz selten gegen jüdische Unternehmer oder Privatpersonen.28 Die Sozialdemokraten waren allerdings angesichts ihrer notorischen Schwäche für den Landeshauptmann Otto Ender kein wirklicher Gegner. Dennoch wurden Funktionäre der Sozialdemokraten, die nicht in Vorarlberg geboren worden waren, mehrfach als Juden bezeichnet. 1910 und dann nochmals 1918/19 wurde der sozialdemokratische Gewerkschaftssekretär Samuel Spindler Opfer antisemitischer Angriffe.29 1911 war es im Zusammenhang mit einem Wahlkampf zu einer von gehässigem Antisemitismus geprägten Affäre gekommen, in der Karl Drexel, Priester und Politiker, später berühmt als »Feldkurat von Sibirien«, eine zentrale Rolle spielte. Drexel hatte damals die Information, sein Gegenkandidat Hermann Leibfried sei Jude, an das »Vorarlberger Volksblatt«, das Organ der Christlichsozialen, weitergeleitet, worauf Leibfried umgehend als »fremder jüdischer Sozialdemokrat schlimmster Sorte« tituliert wurde und wegen Ehrenbeleidigung klagte.30 Der Antisemitismus hatte auch in Vorarlberg Konjunkturen, etwa gab es im Zusammenhang mit der Anschlussbewegung an die Schweiz 1919 wiederholt antisemitische Argumentationen der Anschlussbefürworter, die sich selbstverständlich nicht auf die wenigen Vorarlberger Juden, sondern auf die Juden in der Sozialdemokratie 27 K arpeles 1933a. 28 Vgl. dazu den Beitrag von Nikolaus Hagen in diesem Band. 29 Vgl. Greussing 1992, 92f. 30 Karl Drexel (1872–1954) war ab 1902 Landtagsabgeordneter in Vorarlberg bis 1914, von 1907 bis 1911 Abgeordneter zum Reichsrat  ; nach dem Ersten Weltkrieg war er Bundesrat 1920 bis 1923 und Nationalratsabgeordneter 1923 bis 1931. Von Drexel sind aus späterer Zeit keine antisemitischen Äußerungen bekannt, vgl. zur »Affäre Leibfried«  : Mittersteiner 1994, 71–73.

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und überhaupt in Wien bezogen. Sonst fielen die prominenteren Vorarlberger Christlichsozialen selten durch antisemitische Parolen auf. Im Wahlkampf zu den Landtagswahlen 1928 hielt der Landeshauptmann Ender zwei Reden, in denen er seine antisemitische Position klar und ausführlich darlegte.31 Die erste der beiden Reden – »Die Führung im Lande« – hielt er auf der Hauptversammlung des christlichsozialen Volksvereins in Dornbirn  : Nach gründlichen Ausführungen über die Modernisierungen (Wasserschutzbauten, Kraftwerksbauten, Straßenbau), Probleme (die Entsiedelung der Bergtäler) und die wirtschaftliche Situation in Vorarlberg – kam er plötzlich im Zusammenhang mit dem Föderalismus auf ein Thema zu sprechen, das ihm besonders am Herzen lag  : die Einheit bzw. Einheitlichkeit des Landes, seiner Bevölkerung und der politischen Elite. Das alles wähnte er in großer Gefahr  : »Unser Landtag hat ein gesundes parlamentarisches System und unser Parlamentarismus im Landtag ist deshalb gesund, weil die Vertretung des Volkes getragen ist von einer einheitlichen Heimatliebe und ein einheitliches Ziel, das Wohl unseres Volkes, vor Augen hat. Wenn Landtag und Volksvertretung gesund bleiben sollen, so müssen wir jede Abbröckelung abwehren. Auch unsere bisher immer so starke Partei, auch unsere christlichsoziale Partei, hat alle Ursache, aufzupassen und abzuwehren, wenn die Gefahr der Abbröckelung droht.«32 Man hat den Eindruck, Landeshauptmann Ender meinte, um den an und für sich langweiligen Wahlkampf etwas zu dramatisieren, irgendeine Bedrohung heraufbeschwören zu müssen. Aber um welche Gefahr konnte es sich handeln  ? Ohne Umschweife kam Otto Ender auf die Juden zu sprechen  : »Das ist die Stärke unseres fremden Gastvolkes, das es versteht, Spaltung hineinzutragen. Der jüdische Geist war immer stark im Trennen und Spalten. Er hat versucht, die Christen abzutrennen von ihrer Glaubensgemeinschaft.«33 Selbstverständlich  – es war ja Wahlkampf  – zielte Ender mit seinen Ausführungen auf die sozialdemokratische Partei und die ihr nahestehenden Vereine, etwa die »Freidenkerbewegung«, die »zum Abfall von der Kirche« rufe. Das mache sie »nur zu dem einen Zwecke, dass das fremde Volk leichter herrschen kann, wenn wir gespalten sind. Wozu das Bestreben, unsere christliche Familie zu spalten und zu zerstören  ? Warum unsere Familie und der Ehe die Weihe des sakramentalen Charakters zu nehmen und sie zu einem losen bürgerlichen Vertrag herabzuwürdigen  ? Doch nur zum Zwecke, daß man diese christliche Ehe so leichter spalten und eine Scheidung herbeiführen kann. Je mehr alles gespalten wird, desto sicherer erliegt das christliche Volk in sei31 [Ender] 1928a  ; [Ender] 1928b. Auf die zweite dieser Reden (»Antwort an Dr. Danneberg«) hat schon Dreier hingewiesen, vgl. Dreier 1988a, 240 (Anm. 134). 32 [Ender] 1928c. 33 Ebd.

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nem Lande der Herrschaft des fremden Gastvolkes.« Die »Aktion der Kinderfreunde« ziele nur darauf, »uns den Träger der Zukunft aus der Familie« zu reißen, »das Kind.« Wie die meisten Punkte, die Ender in seinen Ausführungen berührte, hatten auch die Bemerkungen über die Eheproblematik und die »Kinderfreunde« einen harten Kern  : Es stieg die Zahl der Ehescheidungen, und das ungelöste Problem der Wiederverheiratung Geschiedener führte in ein schier unlösbares juristisches Chaos. Und die sozialdemokratischen Phantasien von der Erschaffung eines »Neuen Menschen«34 mögen zwar reizvolle Konzepte für Intellektuelle gewesen sein, im Alltag der Kindererziehung waren sie zuweilen problematisch, weniger, weil hier künftige Parteisoldaten gezüchtet werden sollten, sondern aufgrund einer Projektion politischer und sozialer Konflikte aus der Welt der Erwachsenen auf Kinder und Jugendliche. Völlig absurd aber war es, einzelne Juden, irgendein jüdisches Kollektiv im Besonderen oder gar eine jüdische Gesamtheit im Allgemeinen für die bestehenden Probleme mit der Eherechtsreform oder den zunehmenden Problemen mit der angeblich verwahrlosten Jugend35 verantwortlich zu machen. Tatsächlich waren von dem Chaos der österreichischen Scheidungs- und Wiederverehelichungsproblematik vor allem die Katholiken betroffen.36 Die Entstehung der »Kinderfreunde« wiederum war den Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt geschuldet. Die immer größer werdende Zahl berufstätiger Frauen machte Einrichtungen zur Beaufsichtigung von Kindern wünschenswert bzw. notwendig. Das betraf Angehörige aller Konfessionen genauso wie Konfessionslose. Dass gerade die »Kinderfreunde« der Sozialdemokraten37 als Bedrohung der christlichen Familie angesehen und als »jüdisch« klassifiziert wurden, hatte vermutlich am allerwenigsten mit der jüdischen Herkunft des sozialdemokratischen Theoretikers und Pädagogen Otto Felix Kanitz38 zu tun, sondern eher damit, dass die Kinderfreunde 34 Vgl. zu Max Adlers Überlegungen zur sozialistischen Erziehung unter dem Schlagwort vom »Neuen Menschen«, Adler 1924. 35 Die »verwahrloste Jugend« war ein Schlagwort, das schon in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg in Umlauf kam. Nach 1918 wurde sowohl von katholischen Priester-Schriftstellern, etwa von Johannes Ude »Die Verwahrlosung der Jugend« beklagt, der Begriff aber auch von linken Pädagogen eingesetzt, um auf die großen sozialen Probleme und Kriegsfolgen hinzuweisen, die auch Kinder und Jugendliche in Mitleidenschaft zogen, vgl. Ude 1916, bis 1925 mehrfach neu aufgelegt  ; vor allem aber der »Klassiker« des Pädagogen und Psychoanalytikers August Aichorn »Verwahrloste Jugend«  : Aichhorn 1925. 36 Vgl. zur unendlichen Geschichte der Eherechtsreform  : Harmat 1999. 37 Der 1908 in Graz entstandene Verein »Die Kinderfreunde« wurde 1921 der sozialdemokratischen Partei eingegliedert. Sie hatten in den 1920er Jahren schon über 50.000 Mitglieder, die in 182 Ortsgruppen organisiert waren, vgl. Fadrus 1930, 238–249, 294–301. 38 Während der Obmann der Kinderfreunde, der Journalist und Politiker Max Winter (1870–1937), protestantischer Konfession war, konvertierte Otto Felix Kanitz (1894–1940, ermordet im KZ Bu-

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die katholische Hegemonie im Feld der Kinderbetreuung und -erziehung bedrohten. Denn in den Ballungsräumen waren die Angebote der Kinderfreunde für alle attraktiv, nicht nur für dezidiert sozialdemokratische Familien. Der Landeshauptmann nahm noch weiteres ins Visier  : den Internationalismus, der den Vorarlbergern das »alemannische Nationalbewußtsein«, das »Volksbewußtsein« rauben wolle, unter »Führung des Fremdvolkes« seien Gewerkschaften zu sozialdemokratischen Parteizwecken missbraucht worden.39 Ender konstatierte eine »gastvölkische Infektion« und warnte  : »Vergessen wir nicht, daß wir auch unsere Jugend haben müssen. Nur dann werden wir bestehen können, werden wir ein föderalistisches, alemannisches, rassenbewußtes und ein christliches Volk bleiben, das Abwehrkraft genug hat, gegen den jüdischen Spaltpilz, den Klassenkampf.«40 Einige Tage später war einer der wichtigsten sozialdemokratischen Politiker der Zwischenkriegszeit, Robert Danneberg,41 in Vorarlberg und hielt ebenfalls eine Rede. Danneberg, selbst jüdischer Herkunft, allerdings 1909 aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten und seither konfessionslos,42 ging unter anderem auch auf die antisemitischen Äußerungen Enders ein und bemerkte, es sei einfach, auf Wahlversammlungen gegen Juden zu schimpfen, während man insgeheim mit ihnen zusammen Geschäfte mache. »Dr. Ender ist der Meinung, der Klassenkampf sei eine sozialdemokratische und eine jüdische Erfindung, aus dem zersetzenden Geiste des ›Gastvolkes‹ entstanden, um das Wort ›Juden‹ zu vermeiden. Herr Dr. Ender tut in seiner Rede sehr antisemitisch. Mein Gott, wie bei den Christlichsozialen alles Schwindel ist, so ist es der Antisemitismus natürlich erst recht. Und im Munde Dr. Enders nimmt er sich besonders putzig aus.«43 Und Danneberg hielt Ender neben der kostspieligen Rettung der den Christlichsozialen nahestehenden »Agrarbank«44 chenwald) als Kind zum Katholizismus, wurde jedoch 1920 konfessionslos. Er leitete 1919 die erste große Ferien-Aktion der »Kinderfreunde«, wurde Leiter der Schönbrunner Erzieherschule, war Herausgeber der Zeitschrift »Die sozialistische Erziehung« und galt als austromarxistischer Theoretiker im Bereich der Pädagogik, vgl. K anitz 1924 und K anitz 1929. 39 [Ender] 1928c. 40 Ebd. 41 Robert Danneberg (1885–1942, ermordet im KZ Auschwitz), Jurist, gehörte 1918 bis 1934 dem Wiener Gemeinderat an, 1920 bis 1932 fungierte er als Landtagspräsident. 1919/20 war er außerdem Abgeordneter zur Nationalversammlung und 1920 bis 1934 Nationalratsabgeordneter, vgl. K ane 1980  ; Pacher 2014. 42 Staudacher 2009, 99. 43 [Danneberg] 1928, 4. 44 Vgl. Die »Agrarbank für die Alpenländer« in Innsbruck geriet  – wie viele andere Provinzbanken  – 1925/26 in eine schwere Krise und wurde lediglich durch politische Interventionen gerettet. Besonderes Interesse an der Rettung der Agrarbank durch Fusion mit der Hauptbank für Tirol und Vorarlberg,

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auch noch vor, ein Verwaltungsratsmandat einer Firma innegehabt zu haben,45 in der – wie er sich ausdrückte – »das ›Gastvolk‹ eine sehr große Rolle« spielte.46 Robert Danneberg verzichtete auf den Hinweis, dass der von Ender als »Patentjude«47 bezeichnete Friedrich Engels nicht jüdischer Herkunft war. Die sozialdemokratische Taktik, vor allem den christlichsozialen Antisemiten vorzuwerfen, sie würden selbst gerne Geschäfte mit Juden machen, war ihrerseits nicht frei von antisemitischen Konnotationen  : Sie übernahm die Verteufelung jüdischer Bankiers und Spekulanten (als Agenten des Finanzkapitals) und leistete damit der antisemitischen Generalisierung selbst Vorschub, anstatt sie zu hinterfragen und zu kritisieren. Wenige Tage später antwortete Ender auf Dannebergs Rede anlässlich einer Wählerversammlung in Rankweil am 26. Februar 1928. Er meinte, er habe mit dem Hinweis darauf, dass »die sozialdemokratischen Führer in Oesterreich durchwegs nicht dem christlich deutschen Volk in Oesterreich entstammen, sondern unserem »Gastvolk« offenbar »den Finger auf eine schwere Wunde gelegt«. Dannebergs Bemerkung, Landeshauptmann Ender wolle den Ausdruck »Juden« vermeiden, provozierte diesen zur Ankündigung, er wolle »heute einmal ganz klar und deutsch über diesen Punkt« reden. Er begann mit der Frage  : »Was halte ich von Juden  ?« Nach einem Loblied auf Fleiß, Familiensinn und Geschäftstüchtigkeit der Juden, sagte er  : »Man braucht die Juden weder zu hassen noch zu verachten. Beides ist ungerecht und sicher nicht christlich. Ich bin aber auch im Laufe meines Lebens zu der festen Ueberzeugung gekommen, dass es eine Wahrheit ist und bleibt  : die Juden sind eine eigene Rasse, eine eigene Nation und kaum vermischbar mit anderen Völkern. Die Fälle, wo ein Jude oder eine Jüdin sich einfügt und von Gottes Gnade wirklich zu christlichem Leben geführt wird, sind selten. Sie leben nach Art der Nomaden zerstreut auf der ganzen Welt, unter allen Völkern, und trotzdem beseelt sie ein instinktives Gefühl internationaler Zusammengehörigkeit.«48 Ist es ein Paradox, dass Ender gerade jenen Wert, der hatte der Vorarlberger Politiker Jodok Fink, eine gewichtige Persönlichkeit der Christlichsozialen Partei, vgl. dazu Natmessnig/Weber 1999, 134. 45 Verbindungen zu einer jüdischen Firma wurden Ender in der sozialdemokratischen Presse öfters vorgehalten. Sie konnte von mir bislang nicht identifiziert werden. 46 [Danneberg] 1928, 1–4. 47 Ender hatte in seiner Rede Marx und Engels als »Patentjuden« bezeichnet  : »Was leistet die Sozialdemokratie nicht an Zerstörung des Verantwortungsgefühles im Volke. Sie kennen alle die Lehre von Marx und Engels, der ersten Patentjuden, die auf diesem Gebiete gearbeitet haben. Sie kennen die Lehre, daß an allen Verbrechen, und an allem Schlechten schuldig ist […]. Nicht der Verbrecher ist schuld, daß er auf die Verbrecherlaufbahn getrieben wurde, nicht der Säufer ist schuld, wenn er alles vertrinkt und seine Familie darben läßt, nein schuldig ist nur die Gesellschaftsordnung«, [Ender] 1928c, 3. 48 [Ender] 1928b, 2.

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in seiner persönlichen Hierarchie ideeller Güter einen der höchsten Ränge einnahm, dem jüdischen Volk zuschrieb  ? Einigkeit, Einheitlichkeit, Zusammengehörigkeit und die Fähigkeit, soziale, kulturelle und politische Kräfte zu bündeln, faszinierten den Landeshauptmann. Im politischen Alltag hatte er oft damit zu tun, die auseinanderstrebenden Separat-Interessen seiner Landsleute zu neutralisieren. Gerade weil er die Einigkeit seiner politischen Klientel oft vermisste, schätzte er die den Juden ganz allgemein (im antisemitischen Diskurs oft in abwertender Weise) zugeschriebene Eigenschaft, als Gemeinschaft aufzutreten. Juden, so der antisemitische Chor, würden immer zusammenhalten, sich gegenseitig fördern. Aber handelte es sich dabei nicht um eine Fiktion  ? Tatsächlich gab es keine Einheit der Juden, weder in sozialer und kultureller noch in politischer oder religiöser Hinsicht. Ender kritisierte selbst noch einen anderen »großen Irrtum«, nämlich die Annahme, Juden könnten »Bürger werden, z. B. in Oesterreich, in Deutschland, Frankreich, in England. Dann, nahm man an, sei der Betreffende ein Deutscher, ein Franzose, ein Engländer.« Das verwarf Ender völlig und präzisierte  : »Der Jude wird nie Deutscher, nie Franzose und nie Engländer. Er ist und bleibt eben Jude und sollte von rechtswegen Bürger nur sein in Jerusalem. In den Bestrebungen des Zionismus steckt Wahrheit. Alles andere ist Unwahrheit. Der Jude ist Jude, und ist bei uns nicht als deutscher Mitbürger, sondern in Wahrheit ist er Gast in unserem Lande.«49 Damit griff Otto Ender ein Argument auf, das ein wichtiges Werkzeug des völkischen Antisemitismus war  : In dessen Logik wurde scharf zwischen einem als juristische Konstruktion verstandenen Staat und dem als biologische Einheit begriffenen Volk unterschieden. Während man per Bescheid die Staatsbürgerschaft eines Staates erwerben konnte, war es in dieser Vorstellung unmöglich, die biologische Herkunft zu hintergehen. Auf ähnliche Weise behauptete Ernst Jünger die Unmöglichkeit, dass Juden Deutsche werden konnten, und formulierte die Alternative, Juden könnten oder sollten in Deutschland nur als Juden leben oder eben nicht.50 Es ist bemerkenswert, dass Ender Juden als Bürger Österreichs (oder Deutschlands, Frankreichs etc.) nicht anerkennen wollte. Als Rechtsanwalt, der er auch war, hätte er in einem Verfahren ihre Rechtsstellung als Staatsbürger akzeptieren müssen, als Politiker konnte er dagegen plädieren und auf eine Unterminierung oder gar Aberkennung und Entziehung der mühsam erreichten staatsbürgerlichen Gleichstellung 49 Ebd. 50 »Im gleichen Maße jedoch, in dem der deutsche Wille an Schärfe und Gestalt gewinnt, wird für den Juden auch der leiseste Wahn, in Deutschland Deutscher sein zu können, unvollziehbarer werden, und er wird sich vor seiner letzten Alternative sehen, die lautet  : in Deutschland entweder Jude zu sein oder nicht zu sein«, Jünger 1930, 845.

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hinarbeiten. Es hatte übrigens vom josephinischen Toleranzpatent 1781 über die Kodifizierung des Staatsbürgerschaftsrechtes im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811, die Revolution von 1848 bis in die 1860er Jahre gedauert, bis Juden in den Ländern des Habsburgerstaates vor dem Gesetz als gleichwertige Staatsbürger anerkannt waren. Noch 1859 musste Joseph Wertheimer die »Regelung der staatsbürgerlichen Stellung der Juden in Österreich« fordern.51 Diverse Sonderrechte bezüglich der Niederlassung, des Grundbesitzes oder der Gewerbeausübung hatten Juden noch lange benachteiligt und den Erwerb der Staatsbürgerschaft erschwert oder vereitelt. All das für zahlreiche Übertritte von Juden zum katholischen oder protestantischen Bekenntnis  ; die Taufe kam »einem Einbürgerungsverfahren gleich«.52 Indem Otto Ender »den Juden« als Gast, die Juden insgesamt als »Gastvolk«53 bezeichnete, die Bevölkerung von einer »gastvölkischen Infektion« bedroht sah, legte er nahe, in Umkehrung die eigene Bevölkerung als Gastgeber, als Wirt, mithin als »Wirtsvolk« zu begreifen. Damit griff er den Diskurs vom Juden als Parasiten – als unerwünschten, verhassten Gast – auf, den man – den Anforderungen moderner Hygiene entsprechend – ausrottete, vertilgte, vernichtete. Es war kein Zufall, dass Ender unmittelbar im nächsten Satz sich gezwungen sah, eine Klarstellung zu formulieren  : »Ich gehöre nicht zu jenen, die lieber heute als morgen eine Judenverfolgung einleiten würden.« Selbstverständlich war Ender als guter Christ nicht für Judenverfolgungen, sein Denken führte jedoch zwangsläufig zur Möglichkeit einer Verfolgung. Das Bild vom Parasiten legte das nahe. Aus dieser selbstverschuldeten Ambivalenz, in der die Stilisierung von Mitmenschen zu gefährlichen Parasiten mit der christlichen Nächstenliebe in Konflikt geriet, musste der pragmatische Realpolitiker, der Otto Ender stets war, einen Ausweg anbieten. Welche Lösungsmöglichkeiten sah nun der pragmatische Realpolitiker für das Problem, das im politischen Diskurs gemeinhin als »Judenfrage«54 behandelt wurde 51 Joseph von Wertheimer (1800–1887), Privatgelehrter und Schriftsteller, war ein Pionier der Kindergartenbewegung und engagierte sich für die Gleichstellung der Juden im Habsburgerstaat, vgl. Wertheimer 1842 und Wertheimer 1859. 52 Burger 2012, 52. 53 Dem Terminus »Gastvolk« begegnet man nicht allzu häufig, allerdings erschien 1930 in erster und 1933 in zweiter Auflage ein Pamphlet von Erwin Volckmann mit dem Titel »Gastvolk und Wirtsvölker oder Judenfrage und Judengefahr«, vgl. Volckmann 1933. Auch Max Weber verwendete den Begriff, allerdings bezogen auf das Judentum im Altertum, vgl. R aphael 1981, 224–262. 54 Die große Zahl an Publikationen zur »Judenfrage«, die den ersten bedeutenden Schriften von Bruno Bauer (1842) und Karl Marx (1844) dazu folgten, zeigt, dass das Verhältnis zwischen Juden und Nichtjuden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auf unterschiedlichste Weise Bedeutung erlangte. Sowohl religiöse, wirtschaftliche und kulturelle Interessenskonflikte und Differenzen wurden von Autoren jüdischer und nichtjüdischer Herkunft behandelt. Insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg

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und nicht weniger bedeutete, als einen ganzen Komplex an Fragen, den einerseits das Zusammenleben von Nichtjuden und Juden aufwarf, den aber andererseits der Antisemitismus selbst generierte  ? Wo sah Otto Ender die Ursachen  ? »Es gibt auf Erden«, führte er aus, »zwölf Millionen Juden. Es könnten beim besten Willen nicht alle in Jerusalem sein. Sie müssen sich anderswo auch aufhalten, und vielleicht gibt es keinen anderen Weg, als sie als Gäste überall zu dulden. Ein Unglück ist es natürlich immer, wenn die Zahl der Gäste in einem Lande oder in einer Stadt gar zu groß wird. Das Unglück ist umso größer, weil der Jude von Haus aus dazu neigt, seine Ueberlegenheit zu zeigen. So kommt es dann, dass wir hie und da den Eindruck haben, er sei arrogant. Und noch aus einem anderen Grunde hat es schlimme Folgen, wenn dieses Gastvolk auf engerem Raum zu zahlreich wird  : Der Jude neigt nämlich außerordentlich stark dazu, in kontrollierende Stellung zu gehen, also auch die Kontrolle seines Wirtsvolkes zu übernehmen. Er kontrolliert heute in fast allen europäischen Staaten die Finanzen und sein Bestreben ist, auch die Kontrolle des Parlaments zu übernehmen und selbst die Kontrolle der Regierung.«55 Für Ender war also eine zu großen Zahl von Juden und deren Machtstellung,56 insbesondere im Finanzsektor und in der Politik, die Hauptursache des Problems. Für die jüdische Überlegenheit macht er einen ganzen Katalog an Tugenden verantwortlich (Sparsamkeit, Unternehmungslust, Fleiß und Unermüdlichkeit) und belehrte seine Zuhörerschaft, dass man diesbezüglich durchaus von Juden lernen solle. Aber er sprach sich klar dagegen aus, dass sie politische Führungspositionen erlangen können sollten, weder als Mitglieder noch als Mandatare von Vertretungskörpern oder Regierungen. Man müsse nicht glauben, sagte Ender, »dass Vorarlberg der Kontrolle des Gastvolkes nicht unterstellt wäre.«57 Die Juden, so führte er aus, kontrollierten über die sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten auch den Vorarlberger Landtag und damit Vorarlberg. Er bezeichnete 13 Mitglieder des österreichischen sozialdemokratierfuhr die Auseinandersetzung um die »Judenfrage« eine Radikalisierung, insbesondere in politischer Hinsicht. Allein aus dem Umfeld des politischen Katholizismus im Österreich der Ersten Republik veröffentlichten 1919 Johannes Ude (»Die Judenfrage«), 1925 Bischof Sigmund Waitz (»Die Judenfrage im Lichte katholischer Lehre«), 1926 Josef Eberle (»Katholiken und Judenfrage«), 1928 Alois Mager (»Die religiöse Seite der Judenfrage«), 1934 Emmerich Czermak (»Ordnung in der Judenfrage«) und 1936 Albert Drexel (»Die Judenfrage in wissenschaftlicher Beleuchtung«) einschlägige Texte. 55 [Ender] 1928b, 2. 56 Werner Dreier hat darauf hingewiesen, dass schon im November 1918 ein antisemitischer Artikel im christlichsozialen Vorarlberger Volksblatt erschienen war, der unterstellte, die Bundesregierung sei von Juden kontrolliert, vgl. Dreier 1988a, 172  ; der Artikel im Volksblatt  : Vorarlberg den Vorarlbergern, in  : Vorarlberger Volksblatt, 27.11.1918, 1f. 57 [Ender] 1928b, 2.

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schen Bundesparteivorstands als Juden, unter denen aber zumindest drei selbst nach NS-Kriterien nicht als Juden gegolten hätten.58 Damit sprach sich Ender im Grunde für eine Aberkennung wesentlicher politischer Rechte aus und trat auch – ohne es eigens zu erwähnen – für einen Numerus clausus ein. Wie anders hätte man die Zahl der Juden in den Aufsichtsräten von Banken und Industrieaktiengesellschaften, aber auch in den diversen politischen Gremien, Kommissionen und Körperschaften verringern können  ?

Zusammenhänge und Erklärungen Zusammenfassend ist festzuhalten  : Otto Ender bezeichnete erstens Juden als eigene Rasse, als eine Nation  ; er sagte zweitens, glaubwürdige Konvertiten seien selten, er betonte drittens, der Jude könne kein Deutscher, Franzose, Engländer etc. werden, Juden seien und blieben Gäste, eben ein Gastvolk. Viertens behauptete Ender, Juden lebten zwar zerstreut auf der ganzen Welt, trotzdem seien sie beseelt von einem »instinktiven Gefühl internationaler Zusammengehörigkeit«. Damit unterstellte er eine jüdische Einheit und Einigkeit, die er, weil für ihn diese Einigkeit eine große Bedeutung hatte, als äußerst bedrohlich stilisierte. Fünftens warf er den Juden vor, danach zu trachten, die christliche Bevölkerung zu spalten, Uneinigkeit zu säen. Ender lehnte sechstens zwar eine Judenverfolgung ab, stellte eine solche Verfolgung damit zumindest als Option in den Raum. Er konstatierte siebentens eine bereits bestehende Kontrolle des Wirtsvolkes durch das Gastvolk, womit er achtens die Juden zum bedrohlichen, weil übermächtigen Parasiten stilisierte. Ender plädierte neuntens dafür, den Juden wichtige politische Rechte zu entziehen, sie sollten von der Politik gänzlich und zumindest teilweise aus bestimmten Machtpositionen in der Wirtschaft ausgeschlossen werden. Der Befund ist klar  : Otto Ender hatte in seinen beiden Reden von 1928 die meisten, um nicht zu sagen alle, antisemitischen Stereotype eingesetzt. Man könnte entschuldigend sagen, es handelte sich um Wahlkampfreden. Dem ist entgegen zu halten  : Seine Rede und ihre Argumentation war durchdacht, er übernahm nicht nur irgendwelche Phrasen. Zwar verwendete er diverse antisemitische Stereotype und Versatzstücke, aber wie er das machte, scheint in der Form durchaus 58 Ender zählte namentlich auf  : Dr. [Otto] Bauer, Dr. [Arnold] Eisler, Dr. [Robert] Danneberg, [Matthias] Eldersch, Dr. [Hugo] Breitner, Dr. [Wilhelm] Ellenbogen, Dr. [Friedrich] Adler, [Friedrich] Austerlitz, Dr. [Julius] Deutsch, [  Max] Klein, [Karl] Leuthner, [Emmy] Freundlich und [Adelheid] Popp. Karl Leuthner, Adelheid Popp und Matthias Eldersch hatten jedoch keine jüdischen Vorfahren, ebd.

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selbstgemacht und originell. Und es gibt darüber hinaus auch Belege dafür, dass es sich bei diesen Denkfiguren nicht um tagesaktuelle Erfindungen handelte. Im Jahre 1910 hatte Ender im Rahmen der 16. Generalversammlung des »Christlich-Sozialen Volksvereines für Vorarlberg« am 3. Februar in Götzis eine große, programmatische Ansprache über den »Schutz des Volkstums« gehalten. Dabei ging es in erster Linie um die verhältnismäßig große italienische Minderheit in Vorarlberg. Ender kritisierte die vom Liberalismus geförderte »möglichste Völkervermischung und ein gewisses Weltbürgertum« und sah in diesen Phänomenen vielmehr »eine Bedrohung des Volkstums und völkischer Eigenart«. Mit einer Zweisprachigkeit verband er nicht nur eine Verteuerung der Verwaltung, sondern er meinte auch, dass sie »zu Gegensätzen, Kämpfen führte und Volkskraft sowie -wohlstand« verzehren würde. Er sprach sich überhaupt gegen Vermischung aus und kam in diesem Zusammenhang auf die Juden zu sprechen  : »Für die körperlichen und geistigen Eigenschaften ist es nicht gut, wenn Romanen und Germanen zusammenheiraten, die Nachkommen sind physisch und moralisch gefährdet. Das ist gerade eine Ursache der Widerstandsfähigkeit des Judenvolkes, daß sie durch Gesetz und religiöse Anschauungen ferngehalten werden von der Blutmischung und so die Rassenreinheit erhalten.«59 Auch wenn derartige Ansichten, durch die politische Praxis – etwa der Abschiebung von Italienern nach dem Ersten Weltkrieg im November 191860 – immer wieder verwirklicht und verfestigt, eindeutig rassistisch und fremdenfeindlich waren, ist die daraus abgeleitete Behauptung, Ender habe in einem Naheverhältnis zum Nationalsozialismus gestanden oder gar mit ihm kokettiert und sei ein »Sympathisant« gewesen, zumindest diskussionswürdig.61 Jedenfalls ist es lohnenswert, Otto Enders Verhältnis zum Nationalsozialismus in einer künftigen Arbeit genauer zu untersuchen.

59 Ender 1910, 5. 60 Kaum war Otto Ender am 3.11.1918 als Landeshauptmann angelobt worden, ließ er alle Personen, die in Orten Südtirols oder des Trentinos heimatzuständig waren, abschieben und deren Unterstützung durch die Fürsorgekassen einstellen. Bis zum 10.12.1918 wollte man die »italienischen Kolonien« abschaffen, vgl. Weigl 2012, 31. 61 Für Enders Verhältnis zum Nationalsozialismus wird meist auf ein Zitat aus seiner Rede vom 1.5.1933 verwiesen. Dort sagte er  : »Was gesund ist am Hitlertum wollen wir aufgreifen und soweit auch verwirklichen, als es für unsere Vorarlberger und unsere österreichischen Verhältnisse passt«, Ender 1933, 3. Anlässlich eines Vortrags im Jüdischen Museum in Hohenems habe ich auf eine Passage der Ender-Rede unmittelbar vor diesem Zitat hingewiesen, in der Ender die nationalsozialistische Bewegung als »krankhafte Psychose« charakterisiert. Die darauf folgende Diskussion motivierte den Sozialwissenschaftler Kurt Greussing zu einer schriftlichen Reaktion (Brief vom 10.7.2015 an den Verfasser), in der er seinen Standpunkt pointiert so formulierte  : »War also Ender 1933 ein Nazi  ? – Nein. War er ein Sympathisant der Nazis  ? Ja – jedenfalls was Deutschland betraf.«

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Die eingangs gestellte Frage, was es mit Enders Suche nach dem Juden Margulies, den man dann schließlich doch nicht finden konnte, auf sich hat, ist so zu beantworten  : Der informell hergestellte Konsens, Juden nicht in Ministerien aufzunehmen, wäre durch den vermeintlichen Fall in Frage gestellt oder bedroht gewesen. Nach dem Ausscheiden der Sozialdemokraten aus der Regierungsverantwortung im Jahr 1920 war die Neigung der österreichischen Verwaltung, Juden nicht aufzunehmen bzw. ihren Aufstieg zu erschweren, nicht von der Hand zu weisen. »Seitdem die Habsburger aufhörten zu regieren«, konstatierte der unter dem Pseudonym Sozius schreibende Eli Rubin, »hat man in Oesterreich weder einen jüdischen Richter, noch einen jüdischen Notar ernannt, weder einen Juden in den Staatsdienst, noch in den Dienst der Länder übernommen.«62 Das konnte nicht auf dem Verordnungswege erreicht werden, dagegen sprachen verschiedene politische, nicht zuletzt auch außenpolitische Rücksichten. Dass es Praktiken gab, die ungeschriebenen Gesetzen oder Regelungen, einer antisemitischen Schattenverfassung folgten, blieb schon den Zeitgenossen nicht verborgen. Berthold Molden hat 1927 in der »Neuen Freien Presse« unmissverständlich von einem »nichtamtlichen Antisemitismus« gesprochen, einem »gesellschaftlichen Sichabschließen, das auch die den Antisemiten erwünschte Folge hat, daß ihre Leute Juden nicht individuell kennen lernen und unverändert das parteimäßige Bild von ihnen festhalten  ; Erschwerung des Zutrittes zu öffentlichen Stellungen im Einzelfall, Warnung vor Geschäften mit Juden und, wenn man nicht die Lächerlichkeit fürchtet, Warnung von ihren schriftstellerischen und künstlerischen Erzeugnissen, kurz gesagt, vor dem jüdischen Einfluß. Denn es handelt sich ja außer um die Abwehr der Konkurrenz und Unterbindung von Einfuhr aus dem jüdischen Lager und von Ausfuhr hinein, um Reinhaltung des heimischen Wesens  ; wie die einen behaupten, weil es das höherwertige ist, wie die anderen sagen, einfach weil es das heimische ist.«63 Vor allem jüdische Zeitungen und jüdische Autoren wiesen immer wieder daraufhin, wie wenige Juden in den öffentlichen Dienst aufgenommen wurden, etwa bei Ernennungen von Sekundarärzten in staatlichen Krankenanstalten.64 Der Wiener Rechtsanwalt und sozialdemokratische Bezirksfunktionär Oskar Trebitsch sprach 62 Sozius 1933, 7. Mehrere Beiträge im vorliegenden Band bieten Hinweise. 63 Molden 1927. 64 Ein Memorandum der Jüdischen Volkspartei, in  : Die Stimme, 10.8.1933, 5  : »Bei den vor kurzem erfolgten Ernennungen von Sekundarärzten bei den staatlichen Krankenanstalten […], wurden alle laut Dienstordnung anspruchsberechtigten jüdischen Bewerber übergangen. Diese Maßnahme bedeutet nicht nur eine Verletzung des Rechtes der betroffenen jungen jüdischen Aerzte, sondern die Vernichtung ihrer Existenz, da die Ausübung des ärztlichen Rufes in seinen wichtigsten Formen an absolvierte praktische Betätigung im Spitalsdienst gebunden ist«, vgl. dazu auch Scherz 2000  ; Aicher 2012  ; siehe dazu auch den Beitrag von Ilse Reiter-Zatloukal in diesem Band.

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1933 von einer »Ghetto-Ordnung« und meinte weiters, dass »via facti et administrationis ein Zustand herbeigeführt worden« sei, »der freilich endlich einmal beendet werden müßte, daß nämlich in den letzten 10 Jahren Juden und Judenstämmlingen praktisch der Eintritt in den Dienst des Bundes, der Länder und Gemeinden so gut wie ausnahmslos versagt wurde. Es wäre sehr belehrend, wenn zur Widerlegung dieser Behauptung die Angaben darüber veröffentlicht würden, wie viele Juden seit 1923 in den richterlichen und in den Verwaltungsdienst des Bundes, wie viele in das Heer und die Gendarmerie, in die Verkehrsunternehmungen des Bundes, wie viele in die Landesverwaltungen und bei den Gemeinden aufgenommen wurden. – Wäre nicht diese Zurücksetzung der Juden erfolgt, so wäre auch die Verjudung der Rechtsanwaltschaft geringer.«65 Otto Ender war kein Einzelfall. Seine gegen Juden gerichteten Argumente und Vorwürfe greifen teils auf katholisches, teils völkisches Gedankengut zurück. Sein Schutz- und Abwehrargument  – übrigens auch einsetzbar gegen Italiener,66 Touristen,67 Nationalsozialisten68 oder Freidenker69 – entstammt einer »Rhetorik der Reaktion«, einem vom amerikanischen Soziologen Albert O. Hirschman untersuchten Arsenal von Gedankenfiguren und Sprachregelungen zum Zwecke der Abwehr von Modernisierungen. Es handelt sich dabei um ein etwas abgewandeltes Versatzstück aus dem Umfeld der »Gefährdungsthese«  : Bestehendes, so die These, müsse bewahrt werden, da durch Reformen das bisher Erreichte gefährdet werde.70 Gefährdet sah Ender weniger abstrakte Werte wie die »Freiheit« oder Institutionen wie den »Wohlfahrtsstaat« und die »Demokratie«, sondern das »Volk«, dessen spezifische Kultur und seine Einigkeit, für die gerade in Vorarlberg seit den 1880er Jahren – vor dem Hintergrund der Bestrebungen, ein höheres Maß an Selbständigkeit zu erreichen – ein alemannisch konstruierter Überbau als Schutzschirm errichtet worden war.71

65 Trebitsch 1934, 177. 66 Melichar 2015, 129f. 67 Ebd., 132f. 68 Melichar 2012, 194f. 69 Ebd., 195f. 70 Vgl. Hirschman 1992, 97f. 71 Markus Barnay hat in seiner Studie »Die Erfindung des Vorarlbergers« gezeigt, dass  – gegen den Einspruch namhafter Historiker  – vor allem die 1906/1907 gestartete Initiative von Otto Enders Vorgänger als Landeshauptmann, Adolf Rhomberg, eine eigene »politische Landesstelle« zu erlangen, maßgeblich dafür war, dass eine umstrittene alemannische Ethnizität im Vorarlberger Geschichtsbild durchgesetzt wurde, vgl. Barnay 1988, 278ff.

Otto Ender und die Juden – ein Fall für die Antisemitismusforschung  ?

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JÜDISCHE POSITIONEN

Georg Gaugusch

Der Antisemitismus im Großbürgertum

Die Struktur der österreichischen Oberschicht zwischen 1850 und 1938 Zum Verständnis antisemitischer Phänomene am oberen Rand der Gesellschaft ist es notwendig, sich vor Augen zu führen, wie dieser gegliedert war und auf welche Art und Weise die verschiedenen Gruppen interagierten oder die Interaktion bewußt vermieden. In der sozialen Pyramide nahm die Aristokratie, das heißt jene adelige Gesellschaft, aus der sich in der Monarchie die Kämmerer, Sternkreuzordensdamen und höchsten Hofbeamten rekrutierten, die Spitze ein. Diese Schicht, deren Vermögen im Wesentlichen aus oft durch Fideikommisse vor Veräußerung geschütztem Großgrundbesitz bestand und die aufgrund der durch sie mitbestimmten protektionistischen Agrarpolitik des österreichisch-ungarischen Staates ihr Vermögen auch im 19. und frühen 20. Jahrhundert halten konnte, war durch diese Strukturen imstand Verbindungen mit dem wirtschaftlich immer mächtiger werdenden Bürgertum zu vermeiden. Wenn man bedenkt, daß die Eheschließung eines Aristokraten mit einer Bürgerlichen zur Folge hatte, daß die Nachkommen dieses Paares für die nächsten drei Generationen davon ausgeschlossen waren, die Kämmererwürde zur erlangen, wird klar, daß eine solche Ehe nicht attraktiv war.1 Daß, anders als in Frankreich und vor allem England, auch der ökonomische Druck auf diese Schicht nie groß wurde, verstärkte diese Tendenz weiter, wobei betont werden muß, daß diese Abgrenzung die Folge eines seit dem Mittelalter anhaltenden Prozesses war, der erst durch die Entwicklungen des 20. Jahrhunderts ein Ende gefunden hat. Als nach der Revolution von 1848 Reformen einsetzten, die den von mittelalterlichen Strukturen geprägten österreichischen Staat in die Gegenwart katapultieren sollten, setzte auch ein wirtschaftlicher Transformationsprozeß ein, durch den jüdische Kaufleute und Industrielle überproportional profitieren konnten. Der Grund, warum gerade Juden ökonomisch erfolgreicher waren als ihre christlichen Mitbewerber, ist 1 Um die Kämmererwürde zu erlangen, musste der Bewerber nachweisen, dass seine 16 Ururgroßeltern adelig waren. Bereits Norbert Elias hat darauf hingewiesen, dass in dieser, eindeutig nur auf soziale Abgrenzung abzielenden Vorgehensweise, das Vorbild für den nationalsozialistischen Ariernachweis zu erblicken ist, vgl. Elias 1997, 112, 132.

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hauptsächlich darin zu suchen, daß sie, von den bestehenden Strukturen ausgeschlossen, zwangsläufig neue Wege beschreiten mußten. Zwischen 1850 und 1910 bildete sich so eine neue Schicht, die sich ihrem sozialen Gewicht nach zwischen die Aristokratie und das Bürgertum schob und an der Juden und Familien jüdischer Herkunft überproportional beteiligt waren. Diese Schicht, das Großbürgertum, bildete in der Folge die Hauptprojektionsfläche für fast jede Form des Antisemitismus und alle jene Momente, die als Grundlage für ihren wirtschaftlichen Erfolg gesehen werden können (Liberalismus, Internationalität, »civilité« und Bildung, Leistungswille für den eigenen Vorteil, Mobilität etc.), wurden im Zuge des immer radikaler werdenden Antisemitismus zunehmend negativ konnotiert und gegen sie verwendet. Bei der Entwicklung des Großbürgertums spielten assimilatorische Prozesse, wenn überhaupt, nur eine sehr untergeordnete Rolle, denn an wen hätten sich die neuen gesellschaftlichen Akteure assimilieren können  ? Die Lebenswelten der Aristokratie, mit Ausnahme einiger weniger öffentlichkeitswirksamer Aspekte, blieben ihnen verschlossen, und die Muster des alten Bürgertums, das durch die Entwicklungen des 19.  Jahrhunderts immer mehr ökonomisch unter Druck kam und das auch nicht verstehen wollte oder konnte, daß seine althergebrachten Strukturen verantwortlich für das wirtschaftliche Zurückfallen waren, erschienen kaum nachahmenswert. Nachstehend sollen nun die Folgen dieser Strukturen und antisemitische – oder als antisemitisch deutbare  – Erscheinungen in allen drei Gruppen untersucht und beleuchtet werden sowie welche Folgen sich im Großbürgertum ausbildeten. Viele als antisemitisch deutbare Phänomene der Zeit zwischen 1918 und 1938 sind älteren Ursprungs, weswegen es notwendig erscheint, einige Prozesse der Monarchie näher zu betrachten und daraufhin zu überprüfen, ob Antisemitismus in ihnen eine Rolle gespielt hat oder nicht.

Kaiserliche Auszeichnungen Im Gegensatz zum Deutschen Kaiserreich oder Rußland wurden jüdische Staatsbürger in Österreich von den höchsten Staatskreisen, dem unmittelbaren administrativen Umfeld des Kaisers, anscheinend nicht diskriminiert2 – oder anders ausgedrückt, sie wurden, so wie alle anderen nichtaristokratischen Staatsbürger auch, als Menschen einer niedrigeren Klasse betrachtet. Ritualisiertes Verhalten, genau bestimmte Höflichkeitsformen, feine Abstufungen an Würde und Affektkontrolle bestimmten den gesellschaftlichen Verkehr der Angehörigen verschiedener Gruppen untereinander. 2 Zum offen antisemitisch agierenden preußischen Hof vgl. Drewes 2013, 197ff.

Der Antisemitismus im Großbürgertum

Jedermann wurde seinem gesellschaftlichen Rang gemäß behandelt. Es erscheint vor diesem Hintergrund interessant, ob die Zugehörigkeit zum Judentum bei der höchsten Auszeichnung, die der Kaiser zu vergeben hatte, der Nobilitierung, überhaupt eine Rolle spielte oder gar ein Hindernis war. Daß Juden, ob jüdischer Konfession oder bereits zum Christentum konvertiert, in den erblichen Adelsstand erhoben wurden, hatte in Österreich eine verhältnismäßig lange Tradition. Die Verleihung eines Wappens und Prädikats an Jakob Bassevi 1622 blieb zwar im 17.  Jahrhundert ein solitäres Ereignis, doch schon im 18. Jahrhundert wurden mit Israel Hönig (1789), Joachim Popper (1790) und den Brüdern Wertheimer (1791, 1792 und 1796) Angehörige des jüdischen Glaubens in den Adelstand erhoben, die erste Freiherrenstandserhebung an einen Juden folgte 1798 mit jener an Nathan Adam Arnstein. So gesehen, waren die vielen Adelsverleihungen an Juden in Österreich und (seit 1867) auch in Ungarn durch Kaiser Franz Joseph nur die Fortsetzung einer lang geübten Praxis und trug dem sozialen und wirtschaftlichen Gewicht der Ausgezeichneten Rechnung. Interessant ist, daß in den Adelsakten praktisch nie, und in den Akten der Kabinettskanzlei meist nur in versteckter Form, auf die Zugehörigkeit zur jüdischen Religion hingewiesen wurde. Einige Beispiele sollen das illustrieren  : Mit Allerhöchster Entschließung vom 24.  April 1869 erfolgte über Vorschlag des ungarischen Finanzministers die Verleihung des Ordens der Eisernen Krone 3. Klasse an Maximilian Springer und Gustav Schlesinger, die beide damals in Wien lebten. Im diesbezüglichen Antrag wird die jüdische Konfession der beiden Ausgezeichneten mit keinem Wort erwähnt, beide kamen, gemäß den damaligen Statuten des ihnen verliehenen Ordens, um die Erhebung in den österreichischen Ritterstand ein, die ihnen auch nicht verwehrt wurde.3 Am 12. Juni 1871 suchte der ungarische Handelsminister um Verleihung des selben Ordens an die beiden in Wien wohnhaften jüdischen Zuckerindustriellen Maximilian Gerson und Leopold Lippmann an, auch hier wurde die Konfession nicht erwähnt.4 Beispiele für einen mehr oder weniger versteckten Hinweis auf die Konfession finden sich anläßlich anderer Auszeichnungen in verschiedener Form  : so zum Beispiel 1885 im Antrag auf die Erhebung in den ungarischen Adelstand des Budapester Rechtsanwalts Dr. Géza Schulhof, wo mit keinem Wort seine Konfession, jedoch unter seinen vielen Leistungen zu lesen ist, dass er Mitglied des Rabbi-Meizel-Ver-

3 Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (HHStA Wien), Allerh. Kabinettskanzlei Vortrag 1.342/1869 (Vortrag vom 22.4.1869, Erledigung laut Entwurf am 24.4.1869). 4 HHStA Wien, Allerh. Kabinettskanzlei Vortrag 1.987/1871 (Vortrag vom 13.6.1871, Erledigung laut Entwurf am 15.6.1871).

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eins und Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde in Budapest sei.5 Als Leopold Popper 1869 den Orden der Eisernen Krone 3. Klasse verliehen bekam, wurden seine Verdienste, ohne explizit auf das Religionsbekenntnis einzugehen, detailliert angeführt und abschließend bemerkt  : »Außerdem soll Popper vielfache Beweise seiner philantropischen und humanitären Gesinnungen gegeben, namentlich zur Erhaltung und Errichtung von Schulen und Armenpfleganstalten materielle Opfer gebracht, und endlich auch seinen bedeutenden Einfluß unter seinen Glaubensgenossen stets zur Unterstützung gemäßigter politischer Tendenzen verwendet haben«.6 An dieser Herangehensweise änderte sich über die Jahre wenig, denn als beispielsweise mit 31. Juli 1900 über Anregung des Justizministers die Erhebung des Lundenburger jüdisch-konservativen Großindustriellen Hermann Kuffner in den Adelstand beantragt wurde, erfolgte eine genaue Beschreibung seiner Person und Angehörigen, jedoch ohne in irgendeiner Weise auf die Konfession der Familie einzugehen.7 Der Wiener Hof und seine oberste Administrationsebene waren sicher nicht frei von antisemitischen Strömungen, diese müssen aber im Kontext ebenfalls vorhandener antitschechischer, antideutscher oder antiliberaler Strömungen beurteilt werden, und ganz offenbar war man, was die Verleihung von Auszeichnungen anging, bemüht, keine der nationalen und ideologischen Gruppen eine Zurücksetzung fühlen zu lassen. Nach dem Ende der Monarchie fiel dieses ausgleichende Element der Staatsführung weg, die Kräfte, deren antikonsensuelles Wirken schon im 19. Jahrhundert zunehmend spürbar wurde, konnten sich nach 1918 wesentlich freier entfalten. Besteht nun die Möglichkeit, den Grad des Antisemitismus in der Wiener Gesellschaft zu messen und wenn ja, wie ist das Ergebnis zu interpretieren  ?

Die Aus- und Eintritte in das Judentum 1914 bis 1938 Im ehemaligen Matrikenamt der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde befanden sich bis 2014 zwei Bestände, durch die es möglich wurde, die Ein- und Austritte aus oder in das Judentum zu quantifizieren  : die Austrittsbücher und das Proselytenprotokoll. Wertet man beides aus, ergibt sich das in der folgenden Graphik dargestellte Bild.8

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HHStA Wien, Allerh. Kabinettskanzlei Vortrag 4.364/1885. HHStA Wien, Allerh. Kabinettskanzlei Vortrag 353/1869. HHStA Wien, Allerh. Kabinettskanzlei Vortrag 2.132/1900. Vgl. auch Brugger/Keil/Lichtblau/Lind/Staudinger 2013, 503, wo die Aus- und Eintritte anhand der Berichte der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde ausgewertet wurden.

Der Antisemitismus im Großbürgertum

Abb. 1

Betrachtet man zuerst die Graphik der Austritte, fallen drei Spitzen ins Auge  : jene zu Ende des Ersten Weltkriegs 1919 bis 1922, der kleine Anstieg um das Jahr 1923 und, an Ausmaß alle anderen übertreffend, die Austritte des Jahres 1938. Während sich bei der letztgenannten Spitze jede Erklärung erübrigt, so bedürfen doch die anderen beiden einer kritischen Deutung. Bei Durchsicht der Austrittsbücher für den Zeitraum 1919 bis 1923 fällt auf, daß sich hier vor allem die Nachkommen der »alten« Wiener Familien vom Judentum abwenden, also vornehmlich die Mitglieder des jüdischen gehobenen Bürgertums, soweit sie nicht bis dahin schon ausgetreten waren. Diese Entwicklung gipfelte im Jahr 1919 und setzte sich bis 1922 stetig schwächer werdend fort. Diese dem Ersten Weltkrieg folgende Austrittswelle beschränkte sich, wie schon Leo Goldhammer 1927 feststellen mußte, keinesfalls nur auf das Judentum, denn auch die Austritte aus der katholischen Kirche, und, in abgeschwächter Form, jene aus der evangelischen Kirche AB stiegen zwischen 1918 und 1920 beträchtlich an.9 Die plötzliche Steigerung 1923 – die Austritte nahmen um 25 Prozent zu – ist verwunderlich und harrt eines Erklärungsmodells.10 Von 1924 bis 1937 bleiben die Aus  9 Vgl. Goldhammer 1927, 30. Die Austritte aus der Evang. Kirche AB wurden anhand der Austrittsbücher in der Evang. Stadtpfarre AB (Wien I., Dorotheergasse 18) untersucht. 10 Im Jahr 1923 stiegen auch die Austritte aus der römisch-katholischen Kirche stark an (1922  : 9.268, 1923  : 23.369). Die Austritte bei den Protestanten verdoppeln sich ebenfalls.

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tritte auf annähernd gleichem Niveau mit schwach fallender Tendenz, die Schwankungen sind ohne statistische Relevanz. Interessant ist, daß die Ereignisse des Jahres 1934 nicht nur keinen Anstieg der Austritte bewirkten, sondern sich im Gegensatz dazu die negative Tendenz in diesem Jahr verstärkt. Läßt man die Überlegung zu, daß diese Kurve mit dem Ausmaß der antisemitischen Grundstimmung in der österreichischen Bevölkerung direkt korreliert, muß man den Schluß ziehen, daß die Jahre 1934 bis 1937 keinen für die jüdische Bevölkerung verstärkt fühlbaren Antisemitismus hervorgebracht haben – oder, anders ausgedrückt, jene Wiener Juden, die die Kultusgemeinde bis dahin noch nicht verlassen hatten, fühlten sich durch die politischen Veränderungen auch nicht veranlaßt, ihre Religion zu verlassen. Und jene, die der Kultusgemeinde schon früher den Rücken gekehrt hatten, fühlten sich durch antisemitische Propaganda und Agitation einzelner Gruppen vermutlich nur am Rande berührt, sie hatten sich durch Konversion zu einer der christlichen Religionen oder Verbleib in der Konfessionslosigkeit ein ganz eigenes Ausweichmodell geschaffen. Das geradezu ostentative Ignorieren der Religion sollte zu einer weit verbreiteten Geisteshaltung in der ehemals jüdischen Oberschicht werden. Vergleicht man die Kurve der Austritte mit jener der Eintritte in das Judentum, die zwischen 1914 und 1937 nur geringen Schwankungen unterliegt, sticht das Jahr 1934 ins Auge, in dem die Eintritte in das Judentum um rund 57 Prozent steigen (1933 treten 355 Personen, 1934 560 in das Judentum ein). Hier zeigt ein Blick in das Proselytenprotokoll der IKG für dieses Jahr eine Häufung an Lehrern und Angestellten der Stadt Wien bei den Eintritten, wobei es sich fast ausschließlich um Rücktritte handelt. Bei den Frauen stechen Berufe wie »städtische Kindergärtnerin« oder »städtische Beamtin« hervor, während bei den Männern vor allem im Februar und März 1934 Lehrberufe dominieren. Das Ausbleiben der Austritte und die gleichzeitige Häufung der Rücktritte 1934 läßt einen wesentlichen Schluß zu  : Es kommt durch die Errichtung des neuen Regimes offenbar zu einer Rekonfessionalisierung, die jedoch nicht notwendigerweise eine römisch-katholische war. Ob oder wie stark eine nach außen getragene Konfessionslosigkeit mit einer Sympathie für die 1934 verfemte Sozialdemokratie verbunden wurde, sollte noch eingehend untersucht werden. Nachdem aber auch die dem Sozialismus ferne stehenden Teile des jüdischen Großbürgertums als konfessionsfern zu beschreiben sind, erscheint dieser Schluß zumindest fragwürdig. Zusammenfassend kann man sagen, daß in den Jahren 1918 bis 1920 eine Entkonfessionalisierung eintrat, die mit der Etablierung des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes zum Stillstand kam und teilweise wieder rückgängig gemacht wurde. Wie wirkte sich diese Entwicklung nun auf den oberen Rand der Bevölkerung aus  ?

Der Antisemitismus im Großbürgertum

Das ehemals jüdische Großbürgertum in den 1920er und 1930er Jahren Wie bereits dargelegt, bestand die Wiener Oberschicht neben der Aristokratie auch in den 1920er Jahren zu einem überwiegenden Teil aus Familien, die ihre Wurzeln im mittel- und westeuropäischen Judentum hatten.11 Viele der Nachkommen der nach 1848 nach Wien eingewanderten und vermögend gewordenen jüdischen Kaufleute und Fabrikanten hatten aber bereits spätestens in den frühen 1920er Jahren den Glauben ihrer Vorfahren verlassen und waren zu einer der christlichen Konfessionen konvertiert. Daneben wurde in Wien seit der Jahrhundertwende, wesentlich verstärkt durch die Flüchtlingswellen des Ersten Weltkriegs, eine andere jüdische Gruppe als dominierend wahrgenommen, jene der armen Zuwanderer aus Galizien. Der Unterschied zwischen den aus Böhmen, Mähren und Westungarn stammenden und bereits ganz in modernen westeuropäischen Kulturbegriffen aufgegangenen alten jüdischen Familien Wiens und den neuen, mehr traditionellen, osteuropäischen Mustern verpflichteten Zuwanderern war eklatant und verstärkte in den etablierten Schichten die Entfremdung vom Judentum noch weiter. Unabhängig davon gelang es manchen der aus Galizien nach Wien Gekommenen im Zuge des Ersten Weltkriegs, ebenfalls Wohlstand zu erlangen, wobei in der zeitgenössischen Presse, war diese nun offen antisemitisch oder nicht, diesen sogenannten »Kriegsgewinnlern« eine ganz überwiegend negative Berichterstattung zu Teil wurde. Dies änderte aber nichts daran, daß diese für Wien neue Schicht die gleichen Rechte einforderte, die sich die eingesessenen Wiener Juden mühsam erkämpft hatten. Gleichzeitig mutierte die Struktur der österreichischen Oberschicht in den 1920er Jahren stark, weil die Aristokratie zunehmend ökonomisch unter Druck geriet und jenen Lebensstil, wie er vor der Zerstörung Österreich-Ungarns üblich war, in nur sehr eingeschränkter Form weiter fortführen konnte. Nichtsdestotrotz verkehrte die Aristokratie gesellschaftlich weiter ausschließlich untereinander, aber es war nicht mehr möglich, sich vollkommen von der ökonomischen Realität abzukapseln. Auch waren, zumindest aus Sicht der am »Social Life« Interessierten, Aristokratie und Diplomatie nicht mehr die ausschließlich neidig beäugten Gruppen, vielmehr rückten Film- und Bühnenstars sowie vermögende Industrielle und deren Frauen in den Mittelpunkt des Interesses. Diese Entwicklung läßt sich anschaulich an der Berichterstattung des »Wiener Salonblatts« nachvollziehen, einer 1870 gegründeten Wiener Wochenzeitung, die sich fast ausschließlich mit dem »High Life« befaßte. Bis zum Ersten Weltkrieg wurde praktisch nur über die 11 Vgl. Sandgruber 2013, 151 (57,6 Prozent der 929 Millionäre waren jüdischer Herkunft).

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Aristokratie, den Klerus und die Diplomatie, zumeist in sehr zurückhaltender, fast möchte man sagen nobler Art und Weise berichtet  : Wesentliche Ereignisse aus Sicht des »Salonblatts« waren neben Pferderennen, Bällen, diplomatische Empfängen vor allem die großen Hochzeiten der Aristokratie, aber auch Wohltätigkeitsveranstaltungen und das Leben der europäischen Herrscherhäuser. Die Veränderungen des Ersten Weltkriegs waren für das »Salonblatt« daher existenzbedrohend, und so wurde das Erscheinen im Herbst 1919 von vier auf zwei Ausgaben im Monat reduziert, gleichzeitig mußte man sich dem veränderten Publikumsgeschmack anpassen. Neben der Aristokratie rückte auch das Großbürgertum in den Fokus der Berichterstattung, wobei die Religion kaum eine Rolle spielte und auch wenig thematisiert wurde. Spätestens zu Beginn der 1920er Jahre sind hier zwei jüdische Gruppen präsent, über die gleichermaßen berichtet wird  : zum einen der Kreis der »alten« Familien, die ihrem eigenen Judentum, so sie der jüdischen Religion überhaupt noch angehörten, ferne standen, zum anderen der Kreis der fast ausschließlich als jüdisch wahrgenommenen »Kriegsgewinnler« und Spekulanten, deren mitunter exzessiver Lebensstil, trotz aller Anfeindungen, von der Allgemeinheit mit neidiger Faszination verfolgt wurde. Persönlichkeiten wie zum Beispiel Camillo Castiglioni und Sigmund Bosel, beide aus kleinen Verhältnissen, waren ähnlich prominent wie die Besitzerin des Kaufhauses Zwieback auf der Kärntner Straße, Ella Zirner, oder die Industriellenfamilie Gutmann, die schon seit Generationen in Wien lebte. Die Todesanzeige der Rifke Resel Eidinger im Wiener Salonblatt vom 28. Mai 1921 symbolisiert deutlich den gesellschaftlichen Wandel.12 Nicht nur, daß die galizisch-jüdischen Vornamen »Rifke Resel« nicht, wie es in Wien meist gehandhabt wurde, mit Regina oder Rosalia umschrieben wurden, sondern es wurde um die fromme Mutter getrauert, eine Formulierung, die sonst kaum zu finden ist. Der die Todesanzeige unterzeichnende Nathan Eidinger (1878–1945), war im Zuge des Ersten Weltkriegs als Getreidehändler und Gründer der Österreichischen Getreide- und Spirituszentrale reich geworden und in den Augen der Zeitgenossen ein Profiteur des Ersten Weltkriegs. Er selbst setzte sich stark für die unterdrückten rumänischen und russischen Juden ein und war ein großer Förderer jüdischer Institutionen im In- und Ausland. In den 1920er Jahren besaß er die Aktienmehrheit am fashionablen Cottagesanatorium und lebte am Wiener Stubenring. Die Entscheidung, die Todesanzeige für seine noch in der weit weniger eleganten Leopoldstädter Malzgasse wohnhaften Mutter nicht nur in der »Neuen Freien Presse«, sondern auch im »Salonblatt« zu schalten, ist als gesellschaftliches Statement zu verstehen, das allerdings nicht an die Kreise der Aristokratie gerichtet war, sondern sich 12 Wiener Salonblatt 11/1921, 28.5.1921, 7.

Der Antisemitismus im Großbürgertum Abb. 2

an die Vertreter der alten Wiener jüdischen Oberschicht wandte. Diese lehnte den gesellschaftlichen Verkehr mit Vertretern des galizischen Judentums mit einer Vehemenz ab, daß hier von einem jüdischen Antisemitismus gesprochen werden kann, dem neben rassistischen und religiösen auch snobistische Motive innewohnten.13 Ehen zwischen Vertretern beider jüdischer Gruppen kamen kaum vor und wenn doch, wurden diese verschleiert. Auch hier sollen Todesanzeigen als Beispiel dienen  : Die Familie May stammte, so wie die bereits erwähnte Familie Kuffner, ebenfalls aus dem südmährischen Lundenburg und gehörte dort offensichtlich zu den schon im Biedermeier ökonomisch besser gestellten Familianten. Zwei der vier Söhne des 1827 verstorbenen Friedrich May, Abraham und Hermann, gründeten die Firma Gebrüder A. & H. May und schufen eines der größten Zuckerfabriksimperien der österreichischen Reichshälfte. Sowohl die Söhne Abrahams als auch jene Hermanns wurden zwischen 1901 und 1914 in den erblichen Adelstand erhoben, und die Familie gehörte zweifellos zu den größten und vermögendsten Industriellendynastien Mitteleuropas. Fast alle Enkel der beiden Gründer traten um das Jahr 1919 aus dem Judentum aus, einige wurden evangelisch, manche katholisch, viele blieben konfessionslos. Betrachten wir vor diesem Hintergrund die Todesanzeige des am 23. Jänner 1931 verstorbenen Isidor von May in der »Neuen Freien Presse« vom 27. Jänner 1931. Er war als einziger seiner engeren Familie in der jüdischen Religion verblieben und wurde am 26. Jänner 1931 in der monumentalen Familiengruft auf dem Wiener Zentralfriedhof (israelitische Abteilung) beigesetzt. Auf der Todesanzeige, die erst einen 13 Vgl. zum Beispiel zu dieser Geisteshaltung Clare 2001, 109f., Zweig 1955, 20, der die Abgrenzungsmechanismen der betont westeuropäischen Familie Brettauer gegen den aus der mährischen Provinz stammenden Vater des Schriftstellers beschreibt.

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Tag nach der Beerdigung in der Zeitung geschaltet wurde, findet sich keinerlei Hinweis auf die Konfession des Verstorbenen, vielmehr ist nur von einer »Familiengruft auf dem Wiener Zentralfriedhof« die Rede. Sowohl seine Frau, als auch die beiden Töchter, Lily und Franziska (Franzi), waren noch zu Lebzeiten ihres Vaters aus dem Judentum ausgetreten. Franzi von May wurde katholisch und heiratete 1923 in der Pfarrkirche in Velehrad bei Ungarisch Hradisch Wilhelm Ritter von Gutmann, den ebenfalls katholischen Nachkommen der bekannten jüdischen Großindustriellenfamilie, eine Verbindung, die über die Todesanzeige auch der Öffentlichkeit kommuniziert wurde. Verschwiegen wird allerdings, daß die bloß als Lily May erwähnte Tochter mit dem aus Lipowice stammenden russisch-jüdischen Geschäftsmann Lazar Rapaport verheiratet war. Eine derartige Verbindung galt als Mesalliance und wurde entsprechend nicht kommuniziert. Für die Nationalsozialisten waren derartige Feinheiten zweitrangig, sowohl Isidors Witwe Therese als auch ihre beiden Töchter Lily

Der Antisemitismus im Großbürgertum

Rapoport und Franziska von Gutmann wurden während des Zweiten Weltkriegs ermordet.14 Augenscheinlich war in der Welt des Wiener Großbürgertums, das über weite Strecken jüdische Wurzeln oder einen jüdischen Hintergrund hatte, kaum Platz für einen offenen Antisemitismus kleinbürgerlicher oder katholischer Prägung. Der katholische Antijudaismus und seine Stereotype faßte wiederum in der Welt der österreichischen Aristokraten kaum Fuß, weil diese, obwohl tendenziell antimodernistisch und bewußt katholisch, nicht unmittelbar zu den ökonomischen Verlierern des 19. Jahrhunderts zu zählen sind. Die sozialen Verwerfungen des 19. Jahrhunderts berührten die Welt der österreichischen Aristokratie nur am Rande und dementsprechend kam es, anders als in Preußen, wo der Lebensstandard des staatstragenden aristokratischen Kleinadels im Vergleich zu jenem urbaner Gruppen im 19. Jahrhundert fühlbar zurückfiel, zu keiner starken antisemitischen Grundstimmung. Diese Grundtendenzen wirkten auch noch nach dem Ersten Weltkrieg weiter und wurden im Zuge der 1920er und 1930er Jahre von einer Entwicklung überprägt, die eher snobistische als antisemitische Züge hat. Die arrivierten Gruppen, und hier vor allem die Nachkommen des jüdischen Großbürgertums, welcher Religion sie auch immer angehörten, lehnten alles »Galizische« ab und weigerten sich beharrlich, mit den aus ihrer Sicht kulturell oder sozial nicht vergleichbaren neuen Schichten als »Juden« in einen Topf geworfen zu werden. Die »Veröstlichung« Wiens wurde gerade auch von dieser jüdischen Seite als negative Folge des Ersten Weltkriegs wahrgenommen – ohne daß es die politischen Entwicklungen und das Erstarken des Nationalsozialismus geschafft hätten, dieses Denken zu hinterfragen. So schrieb der römisch-katholische Stefan Herz-Kestranek, Sohn reicher Eltern jüdischer Herkunft, 1941 aus der Emigration im spanischen Bilbao  : »Unsere werten Reisegenossen sind, wie schon erwähnt, verschiedenster Nationalität, aber ihr Ursprung ist derselbe  ! Ob Franzosen, ob Deutsche, ob Ungarn, ob Spanier, jiddisch sprechen sie alle« und führte in einem weiteren Brief aus, daß »die miesen [jüdischen] Emigranten in der 3. Klasse« zu finden seien.15 Diese Aussagen als antisemitisch zu werten, greift jedenfalls zu kurz, vielmehr tritt hier die Diskrepanz zweier Lebenskulturen ans Licht  : Auf der einen Seite der in einer anerzogenen Affektkontrolle lebende, aus seiner Sicht kultivierte Großbürger und auf der anderen Seite die Massen, deren Umgangs- und Kleidungsformen nicht den damaligen Vorstellungen von »civilité« entsprachen.

14 Zur Familie May vgl. Gaugusch 2016, 2213–2224. 15 Vgl. Herz-Kestranek/Arnbom 1997, 154–156.

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Resümee Bevor ein soziales Phänomen, eine Aussage oder ein Geschehen am oberen Rand der Gesellschaft als antisemitisch gedeutet werden kann, muß die Frage gestellt werden, ob nicht eher soziale Abgrenzungsmechanismen als Erklärung des Beobachteten hinreichen. Aus der historischen Perspektive ergibt sich hier das Problem, das sich die Empfindlichkeit gegenüber antisemitisch deutbaren Aussagen im deutschsprachigen Raum durch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs deutlich vergrößert hat. Mit diesem verfeinerten Sensorium, historische Ereignisse zu beurteilen, wird dann wenig zielführend, wenn das Ereignis aus seinem vermutlich auch antisemitischen Kontext gezogen wird. In den 1920er und 1930er Jahren waren in praktisch allen europäischen Staaten, aber auch in den USA, antisemitische Kräfte stark fühlbar, die Diskriminierung reichte von den ungarischen und rumänischen antijüdischen Gesetzen der frühen 1920er Jahre bis hin zur mitunter brutalen Ausgrenzung jüdischer Personen im evangelikal-christlichen Gesellschaftsleben der USA. Nachdem die Austritte aus dem Judentum 1934/1935 in Wien nicht signifikant ansteigen, kann davon ausgegangen werden, daß der Antisemitismus des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes im Rahmen dessen blieb, was als »normal« empfunden wurde, jedenfalls versprach die Emigration, weder ins nahe Ausland noch nach Übersee, keine Verbesserung der individuellen Situation – und eine Übersiedlung nach Palästina wurde von den meisten Wiener Juden bis zu den Ereignissen des Jahres 1938 kaum als Option betrachtet.

Literatur und gedruckte Quellen Brugger, Eveline/Keil, Martha/Lichtblau, Albert/Lind, Christoph/Staudinger, Barbara, Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2013. Clare, George, Letzter Walzer in Wien, Wien 2001. Drewes, Kai, Jüdischer Adel, Frankfurt a.M. 2013. Elias, Norbert, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1997. Gaugusch, Georg, Wer einmal war  : Das jüdische Großbürgertum Wiens 1800–1938, Bd. 2  : L–R, Wien 2016. Goldhammer, Leo, Die Juden Wiens, Wien 1927. Herz-Kestranek, Miguel/Arnbom, Marie-Theres  : … also hab ich nur mich selbst  !, Wien u. a. 1997. Sandgruber, Roman, Traumzeit für Millionäre, Graz 2013. Wiener Salonblatt 1921. Zweig, Stefan, Die Welt von Gestern, Frankfurt a.M. 1955.

Der Antisemitismus im Großbürgertum

Archivalische Quellen Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (HHStA Wien), Allerh. Kabinettskanzlei Vortrag 353/1869  ; Vortrag 1.342/1869  ; Vortrag 1.987/1871  ; Vortrag 4.364/1885  ; Vortrag 2.132/1900.

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Otto Weininger Ein Fall von jüdischem Antisemitismus  ? Am 3.  Oktober 1903 ereignet sich in Wien ein Skandal. Der 23jährige Dr. Otto Weininger erschoss sich im Sterbehaus Beethovens in der Garnisongasse im 9. Wiener Gemeindebezirk. Weininger hatte einige Monate zuvor seine philosophische Dissertation unter dem Titel »Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung« im Verlag Wilhelm Braumüller publiziert und damit eine enorme (positive wie negative) Aufmerksamkeit des Publikums erregt. Die Thesen Weiningers sowie der wirkungsvoll inszenierte Freitod und ein nachfolgender Plagiatsprozess verhalfen dem Werk zum beispiellosen Erfolg. Die Auflagen beweisen dies  : 1904, ein Jahr nach der Ersterscheinung, gab es bereits die 6. Auflage, 1922 die 24., im Jahr 1932 erschien die 28. und letzte Auflage vor dem Zweiten Weltkrieg.1 Otto Weininger erblickte 1880 in einer Wiener jüdischen, weitgehend assimilierten Familie das Licht der Welt. Beide Eltern waren bereits in Wien geboren worden, die väterlichen Großeltern stammten aus der ungarischen Slowakei und Mähren, die mütterlichen aus Böhmen und Mähren, Länder der Monarchie, die als typische Herkunftsgebiete der Wiener Juden gelten können. Der Vater Leopold Weiniger war ein hoch gebildeter, künstlerisch vielseitiger Mann, der als Goldschmied im In- und Ausland hohes Ansehen genoss.2 Kurz vor seinem Tod, im Jahr 1902, konvertierte Sohn Otto zum Protestantismus. Was war der sensationelle Inhalt des Werkes »Geschlecht und Charakter«, der die Zeitgenossen mehrerer Generationen in einem heute nicht mehr verständlichen Ausmaß bewegte  ? Es waren nicht nur die rückwärtsgewandten Zeitgenossen, sondern gerade die »Modernen«, die das Werk fasziniert lasen. Karl Kraus und die von ihm herausgegebene »Fackel« spielten zum Beispiel bei der Interpretation von Weinigers

1 Die umfassendste und im Urteil sehr ausgewogene Studie zu Otto Weiningers Werk stammt von Le Rider 1985  ; über die Auflagen von Weiningers Werk ebd., 237  ; zu Weiningers Werk vgl. auch den Sammelband Leser/Le Rider 1984  ; Heindl 1989  ; siehe auch die wichtigen Ausführungen bei Mayer 1975, 121f.; Wagner 1982, 69–82, 149–162. 2 Biografische Angaben u. a. bei Le Rider 1985, passim  ; Abrahamsen 1946, passim  ; Schwarz 2014, 24.

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Werk eine Sonderrolle und sollten damit bei den »Fackel«-Lesern (und nicht nur bei diesen) bis zu Kraus’ Tod im Jahr 1936 meinungsbildend wirken.3 Der junge Autor hatte es sich zum Ziel seiner Dissertation gesetzt, wie er zu B ­ eginn seines Vorworts stolz ankündigte, »das Verhältnis der Geschlechter in ein neues, entscheidendes Licht zu rücken«.4 Dazu vertritt er kurz zusammengefasst drei Grund­ thesen, die er – gekonnt – zueinander in Beziehung setzt  : Die erste naturwissenschaftliche These betrifft die Geschlechtseigenschaften von Mann und Frau, die Weininger in der Biologie angelegt sieht. Die »physische Bisexualität« eines jeden Menschen sei, so Weininger, der bestimmende Faktor für den Geschlechtscharakter, der je nach Anlage eines Individuums mehr männlich oder mehr weiblich sein könne. Als nächsten Schritt übersetzt Weininger diese naturwissenschaftliche Theorie mit den Methoden der Psychophysik in das Geistig-Physische. »In den Geschlechtsorganen und in der Funktionsweise des Geistes« komme »ein- und dieselbe Realität zum Ausdruck  : der sexuelle Charakter«.5 Daraus entwickelt er die Grundlage für eine Charakterologie der Geschlechter. In einer dritten Grundthese, die allerdings in der Dissertation noch nicht enthalten ist und erst für die Publikation geschrieben wurde, überträgt er die Geschlechtscharaktere auf die Eigenschaften von Völkern und versucht, somit eine Psychologie von Völkern zu entwerfen, die er schließlich auf Juden und »Arier« reduziert. In einem ersten Teil  – bezeichnender Weise »Die sexuelle Mannigfaltigkeit« genannt – geht Weininger, wie erwähnt, von einer physischen Bisexualität eines jeden Menschen aus. Dieses Kapitel wurde zu seiner Zeit allgemein anerkannt. Allerdings war es nicht mehr ganz neu.6 Die Experten wussten, dass Weininger das nahezu gesamte damalige Instrumentarium der Naturwissenschaften zur Beweisführung für die physische Bisexualität der Menschen heranzog, was ihm zweifelsohne gelang  : Es handelt sich um eine große Kompilation aller zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Werke, die sich mit der Erklärung der Unterschiede zwischen Mann und Frau auseinandersetzten und folgte damit einem charakteristischen Zug der Zeit. Wie stark sich der junge Weininger diesem naturwissenschaftlichen Verständnis verpflichtet fühlte, zeigt die mathematische Formel, mit der er die bekanntlich sehr feinen psychischen Affinitäten zwischen Mann und Frau einzufangen sucht. Ausgehend von der bisexuellen Anlage des Individuums zeigt er das Beispiel eines Mannes, der zu drei Viertel aus männlichen Eigenschaften und einem Viertel weiblichen Geschlechtsmerkmalen 3 4 5 6

Le Rider 1985, 223f. Zit. wird nach der letzten Auflage Weininger 1980. Siehe v. a. Kapitel V über die Charakterologie, ebd., 63–78  ; Le Rider 1985, 63. Ebd., 29f.

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bestehe. Dieser, so expliziert Weininger, suche als sein sexuelles Kompliment eine Frau, die aus einem Viertel männlicher und drei Viertel weiblicher Eigenschaften zusammengesetzt sei. Daraus entwickelt er folgende Formel  :7 ¾ M + ¼ W = I ¼ M + ¾ W = K ௞ A A == Ǥ ݂ሺ‫ݐ‬ሻ ௔ି௕

I = Individuum K = sexuelles Komplement M = Anteil Mann W = Anteil Weib A = Kraft der sexuellen Attraktion k = Affinitäten zwischen zwei Individuen a = Anteil von M bei einem Partner b = Anteil von W bei einem Partner f = Reaktionszeit

Mit dieser kühlen Formel wurde die Erotik kühn ihres geheimnisvollen Charakters entkleidet. So sehr die These für uns heute unhaltbar, wenn nicht lächerlich klingt, sie mag in der damaligen Öffentlichkeit als Erleichterung empfunden worden sein. Denn von der damaligen Wissenschaft wurden zahllose Erklärungsmodelle angeboten, um die Unterschiedlichkeit der Geschlechter zu ergründen. Die allgemeine Verwirrung, die damit sowohl über die Eigenschaften von Mann und Frau als auch über das Wesen der Erotik ausgelöst wurde, war groß.8 Angesichts dieser Unsicherheit mag die einfache naturwissenschaftliche Formel Weiningers den Zeitgenossen anscheinend klare, belegbare Sachverhältnisse angeboten haben. Als nächsten zweiten Schritt übersetzt Weininger, wie bereits dargelegt, diese naturwissenschaftlichen Theorien ins Psychisch-Geistige. Auf seinen Ausgangspunkt wurde bereits hingewiesen  : In den Geschlechtsorganen und in der Funktionsweise des Geistes und der Psyche komme ein- und dasselbe Phänomen, nämlich der sexuelle Charakter, zum Ausdruck. Die Sexualität, ob männlich oder weiblich, sei der primäre Faktor, der den Charakter eines jeden Menschen bestimme. Das Weib sei allerdings dazu verdammt in dieser »natürlichen« Sexualität für immer zu verharren, der Mann aber habe darüber hinaus noch andere Bestimmungen  : »W ist nichts als Sexualität«, so definiert Weininger, »M ist sexuell und noch etwas darüber«.9 Weininger leitet also die Psyche von der Physis und alle geistig-psychischen Elemente in bestechender logischen Abfolge von den sexuellen Eigenschaften ab  : das 7 Heindl 1989, 83, auch Le Rider 1985, 70. 8 Ebd., 64–76  ; Wagner 1982, 149f. (über die Begrifflichkeit der Erotik). 9 Weiniger 1980, 113f.

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männliche und weibliche Bewusstsein, die Begabung, das Gedächtnis, Logik und Ethik, das Wertesystem, die Ästhetik, das Ichbewusstsein und die Anlage zur Genialität. In zwölf Kapiteln kommt er, sich fast zwanghaft steigernd, zu dem Schluss  : Durch die naturgegebene sexuelle Anlage lebt M/der Mann bewusst, W/das Weib unbewusst, es habe kein Gedächtnis, ohne Gedächtnis keine Identität und daher keine Geschichte und auch kein »intelligibles Ich« (im Sinne von Kant). Daraus resultiere ihre absolute Unfähigkeit, Logik, Ethik und Moral zu begreifen. Folglich gehe der Frau auch selbstverständlich jede Begabung für Genialität ab. Letztendlich sei das Weib der »absolute Un-Sinn« der Weltgeschichte.10 Eine der Schlussfolgerungen, die Weininger daraus zog, lautete  : »Die Frauen haben keine Existenz und keine Essenz, sie sind nicht, sie sind nichts. Man ist Mann oder man ist Weib, je nach dem, ob man wer ist oder nicht.«11 Diese Aussage anders formuliert lautet  : Entweder man ist männlichen Geschlechts, dann besitzt man Charakter, oder man ist weiblichen Geschlechts, dann besitzt man keinen Charakter. Frauen, so meint Weininger, könnten daher nicht einmal böse oder unmoralisch sein. Davor schütze sie ihre »natürliche« Inferiorität. Der so auf die Naturwissenschaften fixierte Weininger verlässt allerdings seine bevorzugte Wissenschaft, wenn es im philosophisch-psychologischen Teil darum geht, die »Minderwertigkeit des Weibes« und die absolute »Überlegenheit des Mannes« zu beweisen. Auch der Methode der Psychologie wollte er sich nicht bedienen, weil er die zeitgenössische Psychologie für eine »eminent weibliche Psychologie« hielt, die den Mann in seiner Wesenheit nicht zu erfassen imstande sei. Denn, so lautete Weiningers Behauptung  : »Das absolute Weib ist zerlegbar  ; der Mann ist in alle Ewigkeit auch durch die beste Charakterologie nicht völlig zerlegbar, geschweige denn durchs Experiment  : in ihm ist ein Wesenskern, der keine Zergliederung mehr zulässt. W ist ein Aggregat und daher dissoziierbar, spaltbar.«12 Als Beweisführung zieht der junge Dissertant die Aussagen der Autoritäten der Philosophie, der Literatur und Musik heran. Er zitiert von Plato angefangen bis Kant, Schopenhauer und Nietzsche die deutsche Literatur von der Klassik bis ins späte 19. Jahrhundert, aus dem Kreis der Musiker ist Richard Wagner sein Favorit. Weiningers Belesenheit ist bestechend. Auf ca. 450 Seiten kommen ca. 600 Autorennamen vor, am häufigsten gebraucht er die Worte der »deutschen Dichter und Denker«  :13 Kant, Goethe, Schiller, Schel10 Ebd., 343  ; Weininger bezieht sich auf das damals berühmte und vielgelesene Werk von Paul Moebius, Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, das 1903 bereits in fünfter Auflage erschienen war. 11 Weiniger 1980, 383. 12 Ebd., 277  ; Heindl 1989, 87. 13 Ebd., 83f.

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ling, Schopenhauer, Nietzsche, Eichendorff, Novalis etc. Ihre negativen Aussagen über Frauen werden – mitunter vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen – bevorzugt herangezogen. Dagegen scheint sich Weininger mit der literarisch-philosophischen österreichischen Tradition kaum auseinander gesetzt zu haben. Wir finden diesbezüglich jedenfalls kaum Zitate. Waren ihm diese nicht frauenfeindlich genug  ? Jacques Le Rider hat bewiesen, dass der Antifeminismus in Wien um die Jahrhundertwende eine durchaus schicke Modeerscheinung war.14 Nike Wagner erweitert diese These, indem sie eine lange Reihe von Zitaten antifeministischer Schriften aus dem deutschen Sprachraum bringt.15 In diesen atmosphärischen Kontext passen auch die zeitgenössischen Darstellungen der männermordenden Mädchen, weiblichen Vampire, Sirenen, Bacchantinnen, Mänaden, die die Kunst und Kultur des Fin de Siècle prägten.16 Der fast pathologische Antifeminismus, den Weininger zum Ausdruck bringt, war also nicht neu. Er war ein Charakteristikum der Zeit. Freilich war er selten so harsch formuliert wie in Weiningers Ausführungen, die die Spitze der frauenfeindlichen Thesen bildeten und wahrscheinlich auch deshalb mit Enthusiasmus aufgenommen wurden. Sind sie als Antwort auf den Höhepunkt der ersten Frauenbewegung und den ersten Feminismus zu sehen, der in der österreichisch-ungarischen Monarchie in dieser Zeit eine beachtliche Stärke erreicht hatte  ? Da Weiningers Konzeption der Geschlechter auf Polarität aufgebaut ist und die Bilder in grellem Schwarz-Weiß gemalt sind, wird die Antiutopie des Weibes zur Utopie des Mannes. Der Mann ist schlechthin der ideale Mensch, dem alle jene Eigenschaften eigen sind, die der Frau auf Grund ihrer »natürlichen« (Nicht-)Veranlagung versagt sind  : Individualität, Gedächtnis, Liebe, Aufmerksamkeit, vor allem Wille, die ihn zum Heldentum, zum »großen Mann«, sogar zum »Genie« prädestinierten.17 Nur das männliche Prinzip könne frei, logisch, ethisch und moralisch, wahr, aufrichtig, pflichtbewusst, treu, rein, tugendhaft, weise, heilig, unsterblich sein.18 Einer der Gipfelpunkte bildet der Satz  : »Der tiefststehende Mann steht noch unendlich hoch über dem höchststehenden Weib.«19 In dieser hypertrophen Verklärung des männlichen Prinzips fällt Weiningers Passion für »das Genie« auf, das in wissenschaftlichen oder künstlerischen Werken zum Ausdruck käme. Selbstverständlich ist Genialität, wie ausgeführt, an das Geschlecht 14 Le Rider 1985, 142–156. 15 Wagner 1982, 72–84. 16 Dijkstra 1986, passim. 17 Weininger 1980, 378  ; dazu Heindl 1989, 83. 18 Da diese Attribute im Zusammenhang mit den Begriffen Mann, großer Mann, Genie, Geistesheld wie ein roter Faden das Buch durchziehen, wird auf einzelne Seitenzitate verzichtet. 19 Weininger 1980, 342.

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Mann gebunden. Genialität sei eine »Art von höherer Männlichkeit« im Sinne von Thomas Carlyles Buch »On Heroes, Hero-worship and the Heroic in History«, das von Weininger besonders verehrt wird. Nach Carlyle ist der Held, der große Mann, gekennzeichnet von Wahrhaftigkeit, von Wagemut, Ernst und Sendungsbewusstsein.20 Allerdings grenzt Weininger das Genie von dem sogenannten politischen Helden sorgfältig ab. Während Genies »ewige Werte« kreierten, produziere der »große Mann der Tat«, der Politiker, nur Macht. Daher seien die großen Männer, er nennt Wallenstein, Mirabeau, Napoleon, Bismarck sowie andere Politiker und Feldherren keine Genies, sondern männliche Prostituierte, die sich dem Volk verkauften, sie seien sogar Verbrecher.21 Soweit kurz gefasst die Dissertation von Otto Weininger. Er war offensichtlich sehr stolz auf sein Werk und schickte das Manuskript an Sigmund Freud. Freud bemerkte sofort die wissenschaftliche Schwäche, nämlich die sprunghafte Vermengung von naturwissenschaftlicher und philosophisch-literarischer Methode. Freud gab dem jungen Mann den fachlichen Rat  : Die Minderwertigkeit der Frau und die Überlegenheit des Mannes zu begründen, bedürfe es genauso des naturwissenschaftlichen Beweises, wie den für die Bisexualität (des ersten Teiles der Dissertation). Weiniger befolgte den Rat nicht. Aber er fügte für die nachfolgende Publikation ein Kapitel von kaum 50 Seiten dazu. Und dieses war tatsächlich radikal neu und ungewöhnlich – nicht nur in Weinigers Theoriengebäude. Weininger übertrug nämlich die von ihm entwickelten Geschlechtscharaktere von Mann und Frau auf die europäischen Völker und suchte bei diesen nach männlichen und weiblichen Zügen. Dabei glaubte er mit Hilfe seiner polarisierenden Manier bei den »Ariern«, besonders bei den Germanen, stark ausgeprägte Züge der Männlichkeit, dagegen bei den Juden stark ausgeprägte Züge der Weiblichkeit zu erkennen. Wir ahnen, was in Weinigers Logik folgen musste  : Er verband seinen Männlichkeitskult mit einer Heroisierung der »Arier«/Germanen und deren Nachfolger, die Deutschen, denen er die absolute Verkörperung von Größe und Genialität zuschreibt. Seinen krassen Antifeminismus übertrug er auf die Juden und formulierte daraus einen extremen Antisemitismus. Allerdings räumt er ein, dass er vom Judentum nicht als Rasse, nicht als Volk und schon gar nicht von einem religiösen Bekenntnis spreche, sondern von der platonischen Idee des Judentums, so wie er auch vom »Weib an sich« und dem »Mann an sich« gesprochen habe (in Anlehnung an Kants »Ding an sich«). Weininger betont ausdrücklich, dass er mit seiner These keine neue Judenverfolgung beabsichtige, und er bekennt sich in diesem Zusammenhang ausdrücklich als Jude  – als protestantischer Jude, war er doch ein Jahr zuvor 20 Fasbender 1989, 170. 21 Weininger 1980, 300–303  ; siehe Heindl 1989, 85.

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zum Protestantismus konvertiert. Weininger schlägt allerdings eine neue Einordnung der Menschen vor  : »Es gibt Arier, die jüdischer sind als mancher Jude, und es gibt wirklich Juden, die arischer sind als gewisse Arier«.22 Diejenigen, die das Judentum hassten, wären am stärksten von ihm geprägt. Die menschlichen Eigenschaften, die man hasse, müsse man erkennen und auch in sich selbst sehen. Als Beispiel zieht er Richard Wagner heran, der in der Meinung Weiningers sehr viel Jüdisches an sich gehabt haben musste, um zu seinem heftigen Judenhass zu gelangen.23 Möglicherweise waren familiengeschichtliche Erfahrungen die Ursache, dass Weininger den Antisemiten Wagner in die Nähe des Judentums rückte. Sein Vater, ein feingebildeter Mann, war ein begeisterter »Wagnerianer« und hatte ihn zu den Festspielen nach Bayreuth mitgenommen. Weininger bleibt uns allerdings die Erklärung schuldig, welche prägenden Faktoren für ihn die männlichen und weiblichen Unterschiede der Völker bewirkten. War es die Geisteshaltung, die in seiner Theorie der Geschlechterdifferenzen auch im Sexuellen begründet sein musste  ? Die Biologie war es jedenfalls nicht. Mit diesen Aussagen, so meint Jaques Le Rider, könne man »Weininger nicht einfach als Rassisten abtun«, denn er entziehe sich des Biologismus und des Darwinismus. Weininger kommt auch in seinen Thesen bezüglich der Unterschiede der Völker zu der üblichen Polemik  : Wie das »Weib an sich« so habe der »Jude an sich« »keine eigene Persönlichkeit, keinen Eigenwert«. Jeder sich der Ausschweifung hingebende Mann habe etwas Jüdisches an sich, denn die Sexualität sei (wie bei den Frauen) das natürliche Element des Juden. Der Jude habe keine Seele und kenne kein Bedürfnis nach Unsterblichkeit.24 Auch die Tatsache, dass die Juden in der Neuzeit keinen Staat gebildet hatten, dient Weininger als Beweis für den weiblichen Charakter der Juden  :25 »Dass der Jude nicht erst seit gestern sondern mehr oder weniger von jeher staatsfremd ist, deutet bereits darauf hin, dass dem Juden wie dem Weibe die Persönlichkeit fehlt, was sich allmählich in der Tat herausstellen wird. Denn nur aus dem Mangel des intelligiblen Ich kann, wie alle weibliche, so auch die jüdische Unsoziabilität abzuleiten sein […]. So wenig, wie es in der Wirklichkeit eine ›Würde der Frauen‹ gibt, so unmöglich ist die Vorstellung eines jüdischen ›Gentleman‹. Dem echten Juden gebricht es an Vornehmheit, welche Würde des Eigenen und Achtung des fremden Ich zur Folge hat. Es gibt keinen jüdischen Adel und dies ist umso 22 Weininger 1980, Kapitel  : Das Judentum, 404–441  ; Analyse im Kapitel »Ein antisemitischer Jude« bei Le Rider 1985, 189–218  ; Zitat ebd., 194. 23 Zum Folgenden ebd., 194f. 24 Weininger 1980, 411f. 25 Dazu auch Schwarz 2014, 31.

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bemerkenswerter, als doch unter den Juden Jahrtausende lang Inzucht besteht. So erklärt sich denn auch weiter, was man jüdische Arroganz nennt  : aus dem Mangel an Bewusstsein eines Selbst und dem gewaltigen Bedürfnis nach Steigerung des Wertes der Person durch Erniedrigung des Nebenmenschen, denn der echte Jude hat wie das Weib kein Ich und darum auch keinen Eigenwert.«26 Und weiter  : »Der Jude sei die Macht des Negativen«, »das Stiefkind Gottes auf Erden«. Angesichts dieser Theorien wäre »Geschlecht und Charakter« als Frühwerk eines hoch begabten und hoch gebildeten, aber extrem neurotischen, irre geleiteten jungen Mannes abzutun, der an sich selbst zerbrach und »Geschlecht und Charakter« wäre zu vergessen – wenn nicht der enorme Erfolg des Werkes gewesen wäre  ! Dazu trug sicher zunächst die Plagiatsaffäre bei. Die Psychiater Wilhelm Fließ, Paul Julius Moebius und andere klagten den toten Weininger auf Plagiat und bezogen Sigmund Freud in die Affäre mit ein, den sie verdächtigten, Zwischenträger zwischen ihren und Weiningers Thesen gewesen zu sein. Die Affäre war allerdings Aufsehen erregend  : Ehrenwerte Professoren klagten einen jungen Dissertanten, zu dessen Ehrenrettung schließlich niemand Geringerer als Karl Kraus antrat, der in der »Fackel« für Weininger Partei ergriff. Otto Weininger erreichte posthum einen Bekanntheitsgrad im Publikum, der die Verkaufsziffern seines Buchs in die Höhe schnellen ließ. Die höheren Weihen der Wissenschaft in der Öffentlichkeit waren damit dem jungen Weininger sicher. Die Kritik, die von Seiten der Frauenbewegung und der Psychoanalyse kam, mochte die Verehrung für Weininger noch angefacht haben. Denn beide waren moderne Erscheinungen, die vom durchschnittlichen Publikum, aber sogar von Karl Kraus, leidenschaftlich abgelehnt wurden. Die Essayistin und Gallionsfigur der unabhängigen österreichischen Frauenbewegung Rosa Mayreder ergriff die Feder und analysierte Otto Weinigers Thesen mehrfach. Zum Beispiel setzte sie sich in den Essays »Zivilisation und Geschlecht« und »Zur Kritik der Weiblichkeit« sehr ausgewogen, aber trotzdem mit höchst kritischen Urteilen mit den Inhalten von »Geschlecht und Charakter« auseinander.27 Auch andere Vertreterinnen aus verschiedenen Richtungen der Frauenbewegung erhoben ihre Stimme, um Weiningers Frauenverachtung anzuprangern. Sigmund Freud, Alfred Adler, Karl und Charlotte Bühler widmeten Weiningers Werk kritische Rezensionen.28 Verehrer Weiningers ergriffen dagegen enthusiastisch für ihn Partei. Weininger hatte den Nerv der Zeit getroffen.29 Das 26 Weininger 1980, 411f. 27 Gedruckt in Kerekes/Millner/Orosz/Teller 2005, 36–39, 164f. 28 Le Rider 1985, 225. 29 Viele zeitgenössische Für- und Gegenstimmen zu Weiningers Buch sowie ähnliche Schriften aus Österreich und Ungarn in Kerekes/Millner/Orosz/Teller 2005, die den Zeitgeist diesseits und jenseits der Leitha wiedergeben und die Rezeption Weiningers verständlich machen.

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Problem der Geschlechter sowie die Judenfrage waren die »heißen Themen« der intellektuellen Gesellschaft. Die sogenannte Geschlechterfrage blieb allerdings aus der Sicht der meisten Männer auf die Frauen reduziert. Obwohl Weiningers Buch als unoriginelle Kompilation erkannt wurde, obwohl ihm Paul Moebius die Kompilierung veralteter Thesen zum Vorwurf machte,30 und trotz der Plagiatsaffäre sollte der Erfolg von »Geschlecht und Charakter« sowohl bei Zeitgenossen wie auch später nicht verebben. Gelehrte Geister, bekannte, berühmte Schriftsteller waren von »Geschlecht und Charakter« fasziniert. Von der Rolle, die Karl Kraus und die »Fackel« bei der Verbreitung des Werkes spielte, war schon die Rede. Die »modernen« Zeitgenossen Alban Berg, Arnold Schönberg, Egon Schiele und Oskar Kokoschka folgten den Urteilen der »Fackel«.31 Die nachfolgende Generation der Künstler und Schriftsteller, Egon Friedell, Hugo Wolf, Franz Kafka, Robert Musil, Alfred Kubin, Albert Paris Gütersloh, Anton Wildgans, Georg Trakl, der Philosoph Ludwig Wittgenstein sowie der Anthroposoph Rudolf Steiner waren nachweislich von Weininger beeinflusst. In den 1920er und 1930er Jahren erlebte »Geschlecht und Charakter« neue Höhepunkte, was die eingangs erwähnten Auflagen der deutschen Ausgabe beweisen. Das Buch blieb bald nicht mehr auf die österreichisch-ungarische Monarchie beschränkt, sondern wurde in Europa verbreitet. Es wurde in Russland und Polen bekannt und bereits 1906 ins Englische übersetzt. Eine intensive Aufnahme erlebte es in Italien, besonders in der Zeit des Faschismus. »Sesso et Carattere« wurde 1933 und 1943 neu aufgelegt. Sogar noch nach dem Zweiten Weltkrieg fühlte sich eine ansehnliche Reihe von neuen Literaten von Weiningers Werk angezogen, in Österreich beispielsweise Franz Theodor Csokor, Elias Canetti, Helmut Eisendle, um nur einige wenige Namen zu nennen. Weininger war zum Klassiker geworden, wie dies Canetti in seinen Erinnerungen bestätigte.32 Auch Heimito von Doderer deklarierte sich als Freund und Verehrer Weiningers, ebenso Ernst Jünger, und sogar Thomas Bernhard beschäftigt sich mit ihm.33 Die Frage, ob die Reaktion von Bernhard lobend oder spöttisch gemeint war, muss offen bleiben. Wie ist diese Resonanz zu erklären  ? Weininger zieht, wie bereits angedeutet, als Beweis für seine Thesen die gesamte abendländische Philosophie und Literatur heran, von den griechischen Philosophen bis Feuerbach, Schopenhauer und Nietzsche, von Sophokles und Euripides bis Goethe und Schiller, das heißt, Weininger beruft sich 30 Le Rider 1985, 65. 31 Zur Rezeptionsgeschichte eingehend ebd., 220–243. 32 Ebd., 230. 33 Sehr ausführlich ebd., 239f.

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auf das gesamte Bildungsgut des Gymnasiums.34 Die Leser von damals hatten es so mit altbekannten und hochgeachteten Autoritäten zu tun, die die Jünglinge während ihres Gymnasialstudiums durch acht Jahre begleitet hatten, und deren Worte, Ideen und Ideale sie von ihrem zehnten Lebensjahr an kannten. Aus der Fülle der wohlbekannten Autoren konnte sich jeder Leser aussuchen, von welchem Lieblingsschriftsteller oder Favoriten aus Philosophie und Literatur er überzeugt werden wollte. Wichtig hinsichtlich des Erfolgs von »Geschlecht und Charakter« erscheint mir, dass die von Weininger zu Helden erhobenen Gestalten reine »Geisteshelden«, in seiner Diktion »Genies«, sind. »Geisteshelden« lagen dem bürgerlichen Intellektuellen, dem klassischen Leser von Weiningers Werk nahe, mit ihnen konnte er sich identifizieren, weil er als Mann der Genialität (selbstverständlich) zumindest nahekam.35 Sie boten ihm überdies Kompensation für politische Ohnmacht und das banale alltägliche Leben in einer Welt, deren extrem männlich-heldenhaftes Gebaren darauf hindeutete, dass sie sich auf einen Krieg vorbereitete. Die antifeministischen und antisemitischen Theorien gehörten – das wurde durch die Belege der Schriftsteller, Dichter und Philosophen deutlich – längst zur abendländischen Tradition, sie feierten zur Zeit der Jahrhundertwende neue Triumphe. Weininger geheimnisvoller Erfolg lag in seinem Geschick, die antifeministischen mit den antisemitischen Tendenzen seiner Zeit in einer einprägsamen Form zu verbinden und zu einer großen Synthese zusammenzufassen, um sie gegen die beiden großen Emanzipationsbewegungen der Zeit, der Frauen und der Juden, zu richten. Die Frage bleibt zu beantworten, ob Weininger als jüdischer Antisemit zu bezeichnen ist, der sich letztlich aus jüdischem Selbsthass umgebracht habe. Diese Ansicht erscheint mir nicht einleuchtend. Weininger lebte in einer germanisch-christlichen Geisteswelt, in der er das männliche Prinzip verkörpert sah und nicht das jüdische, das er mit dem weiblichen (von ihm verachteten) Prinzip verband. Das war seine primäre These. Auch die Theorie vom »jüdischen Selbsthass« erscheint konstruiert. Weininger selbst erklärt in seinem letzten, im Dezember 1903 erschienenen Essay »Über die letzten Dinge« den Selbsthass aus der radikalen Trennung von Seele und Körper, aus der Ablehnung von Sinnlichkeit und Sexualität. Dies war autobiografisch. Aber bei diesem Bekenntnis stellt sich die Frage  : Was ist daran typisch jüdisch  ? Weininger stellte expressis verbis den Selbsthass moralisch höher als die Selbstliebe36 und zog daraus für sich selbst radikale Schlüsse, weil er ein konsequenter Ethiker war. Er erlöste sich als Jude vom Weib in sich durch Freitod. Die von ihm erstellte These, in 34 Heindl 1989, 84. 35 Ebd., 85. 36 Le Rider 1985, 203.

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der erstmals Antifeminismus und Antisemitismus eine Verbindung eingingen, fand seitdem in verschiedenen politischen Formen eine unheilvolle Forstsetzung, als Koalition von Antifeminismus mit verschiedenen Rassenideologien (unter die selbstverständlich der Antisemitismus aber nicht nur dieser fällt). Die heute in Europa in der Flüchtlingsfrage bei rechten Gruppierungen mit Vehemenz aufgeflammte Verknüpfung von Antifeminismus und Fremdenfeindlichkeit ist ein schlagendes Beispiel dafür. Wo ausschließende Elite-Ideologien am Werk sind, werden in der Regel Frauen in den verfemenden Ausschluss miteinbezogen.1

Literatur und Quellen Abrahamsen, David, The Mind and Death of a Genius, New York 1946. Carlyle, Thomas, On Heroes, Hero-Worship and the Heroic in History, in  : Collected Works, Centenary Edition, London 1897–1905 (reprint  : New York 1969). Dijkstra, Bram, Fantasies of Feminin Evil in Fin-de-Siècle Culture, New York 1986. Fasbender, Thomas, Thomas Carlyle. Idealistische Geschichtssicht und visionäres Heldenideal, Würzburg 1989. Heindl, Waltraud, Geschlecht oder Charakter. Otto Weiningers Kultfiguren, in  : Amann, Klaus/ Lengauer, Hubert (Hg.), Österreich und der große Krieg 1914–1918. Die andere Seite der Geschichte, Wien 1989, 81–88. Kerekes, Ámalia/Millner, Alexandra/Orosz, Magdolna/Teller, Katalin (Hg.), Mehr oder weniger Weininger. Eine Textoffensive aus Österreich/Ungarn, Wien 2005. Le Rider, Jaques, Der Fall Otto Weiniger. Wurzeln des Antifeminismus und Antisemitismus. Mit der Erstveröffentlichung der Rede an Otto Weininger von Heimito von Doderer, Wien u. a. 1985. Leser, Norbert/Le Rider, Jaques (Hg.), Otto Weiniger. Werk und Wirkung, Wien 1984. Mayer, Hans, Außenseiter, Frankfurt a.M. 1975. Moebius, Paul, Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes, Halle 51903. Schwarz, Egon, Wien und die Juden. Essays zum Fin de Siècle, München 22014. Wagner, Nike, Geist und Geschlecht. Karl Kraus und die Erotik der Wiener Moderne, Frankfurt a.M. 1982. Weininger, Otto, Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung, Erstausgabe  : Wien und Leipzig 1903, Neuausgabe  : Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Im Anhang Weiningers Tagebuch, Briefe August Strindbergs sowie Beiträge aus heutiger Sicht von Stopzyk, Annegret/Dischner, Gisella/Calasso, Robert, München 1980. Weininger, Otto, Über die letzten Dinge, Wien und Leipzig 1903.

1 Eingehend diskutiert wurde diese Frage in der Konferenz »Gender, Language and Politics«, die am 22./23.10.2015 im Rahmen der Veranstaltungen 650 Jahre Universität Wien stattfand.

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Angesichts von Hass und Hetze Jüdische Strategien gegen den Antisemitismus Als einzige größere Stadtgemeinde Europas konnte die Wiener Israelitische Kultusgemeinde vor 1938 ihre Einheit bewahren. Es ist kein Zufall, wenn im 19. Jahrhundert in Wien keine »Jüdische Gemeinde« begründet wurde. Von Juden und Jüdinnen sollte nicht die Rede sein. Gefordert war die »Assimilation«. Jahrzehntelang war die »Union österreichischer Juden« die stärkste Fraktion der Wiener Kultusgemeinde. Bis 1932 sollte ihre Vormacht halten. 1920 errang sie in den ersten Nachkriegswahlen 20 der 36 Mandate. Die Mehrheitsverhältnisse änderten sich aber bald, und zwangen die verschiedenen Parteien zu wechselnden Koalitionen. 1924 bildete die »Union« gemeinsam mit den bürgerlichen »Allgemeinen Zionisten« und der orthodoxen »Adass Jisroel« einen Wahlblock ohne die neubegründete sozialdemokratische Partei, die religiös-sozialen ZionistInnen der »Misrachi« und die orthodoxe »Beth El«. Bereits 1928 verschob sich das elektorale Bündnis wieder. Die Union und der politische Arm der antizionistischen Orthodoxie innerhalb der Kultusgemeinde, die »Adass Jisroel«, konnten gemeinsam 18 der 36 Mandate erzielen.2 Beide jüdische Fraktionen grenzten sich gegen jegliche zionistische – besser gesagt – national-jüdische Selbstdefinition ab. Die Union bezeichnete sich als »›nichtjüdischnationale‹ Partei« und stolz erklärte sie  : »nicht österreichische Juden, sondern jüdische Österreicher«3 vertreten zu wollen. Nicht, dass die Union keine selbstbewusste jüdische Position einnehmen wollte, auch war sie keineswegs eine Befürworterin einer Politik, die gemeinhin als »assimilatorisch« bezeichnet wird, doch bekannte sie sich zum österreichischen Staat und hoffte auf staatsrechtliche Gleichstellung, auf Emanzipation im Zuge zivilisatorischen Fortschritts. Dem Antisemitismus versuchte die Union vor Gericht oder durch Interventionen und Beschwerden bei Politikern zu begegnen. Sie baute in der Auseinandersetzung gegen Diskriminierung und Ressentiment auf die Institutionen des Staates. Die Union suchte außerhalb der Gemeinde ein Bündnis mit liberalen Kräften im *  Der vorliegende Beitrag fußt im Wesentlichen auf R abinovici 2000. 2 Freidenreich 1991, 219. 3 Festschrift 1937, 61, 65.

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Kampf gegen den Antisemitismus. Sie rief ihre Klientel auf, bei Nationalratswahlen für liberale Parteien zu stimmen. Ihr Vertrauen in den österreichischen Liberalismus wurde jedoch enttäuscht. Auf Bundesebene unterstützten im Laufe der Ersten Republik immer mehr Juden und Jüdinnen die Sozialdemokratie,4 während sie sich innerhalb der Kultusgemeinde zionistischen Positionen zuwandten. Der Niedergang der Union folgte dem Scheitern der emanzipatorischen Utopie in einer antisemitischen Gesellschaft. Zuletzt musste die Union, die einst auf ein Bündnis mit liberalen Parteien gesetzt hatte, bei antiliberalen Politikern wie Johann Schober und Ignaz Seipel Schutz vor rabiatem Antisemitismus erflehen.5 1932 verlor die Union die Vorherrschaft in der Kultusgemeinde. Zuvor hatten sich der Block aus liberaler Union und orthodoxer, antizionistischer »Adass Jisroel« in ein Wahlbündnis mit den nichtzionistischen SozialdemokratInnen begeben. Die sozialdemokratische Fraktion war noch 1928 aus zionistischen und nichtzionistischen Mitgliedern zusammengesetzt gewesen. Die jüdischen SozialistInnen bekannten sich zur österreichischen Sozialdemokratie und zur jüdischen ArbeiterInnenschaft in Palästina. 1929 aber trennten sich die Strömungen. Streitgrund war das Budget der Kultusgemeinde. Die Regierungskoalition unter dem Vorsitz der Union hatte beschlossen, Gelder dem Yischuv, dem jüdischen Siedlungswerk in Palästina, zu überweisen. Die sozialistischen ZionistInnen unterstützten diese Spenden, während ihre nichtzionistischen GenossInnen stattdessen die Gelder eher für Wiener Sozialbedürfnisse verwendet wissen wollten.6 Die Auseinandersetzungen hatten sich also verschoben. War 1924, nach einer Phase revolutionärer Klassenkämpfe in ganz Mitteleuropa, eine bürgerliche Regierung aus Union, Orthodoxie und ZionistInnen gebildet worden, so vereinten sich 1928 Union und »Adass Jisroel« zu einer bürgerlichen, österreich-patriotischen Koalition. Die soziale Frage wurde von jener nach Identität oder Selbstbestimmung abgelöst. 1932 schlossen sich der Wahlblock aus Union und »Adass Jisroel« zu einem nichtjüdischnationalen Bündnis mit den nichtzionistischen SozialdemokratInnen zusammen, der politische Diskurs hatte sich gewandelt. Die zionistischen SozialistInnen konnten 1932 beinah so viele Stimmen erringen, wie 1928 die sozialdemokratische Liste aus ZionistInnen und NichtzionistInnen gemeinsam erreicht hatte. Jene sozialistischen Juden und Jüdinnen, die innerhalb der Kultusgemeinde wählten, hatten in überwältigender Mehrheit zionistisch gestimmt. Alle zionistischen Fraktionen gewannen hinzu und errangen den Vorsitz der Kul4 Freidenreich 1991, 10. 5 Festschrift 1937. 6 Freidenreich 1991, 103–109.

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tusgemeinde. Die oppositionelle Union klagte, dass die »Machtergreifung« der ZionistInnen »auf einer Zurückdrängung des Einflusses des in Österreich beheimateten positiv-religiös und vaterländisch-fühlenden Teiles der Angehörigen der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde beruht«, und es sei »untragbar, dass einer einzigen Gruppe jüdisch-nationaler Glaubensgenossen, die zum größten Teile ihr Mandat dem aktiven Wahlrecht der ausländischen Juden und Jüdinnen verdankt, die Sorge für das Wohl der Wiener Juden und Jüdinnen überantwortet wird.«7 Tatsächlich rekrutierte sich die Union zum Teil aus angestammten Wiener Familien, in der Mehrheit aus sogenannten »westjüdischen«, also österreichischen, ungarischen, tschechischen Familien, während viele der ZionistInnen »Ostjuden«, etwa aus Galizien, waren. Unter den Juden und Jüdinnen, die aus dem Osten Europas nach Wien gekommen waren, hatten bereits Jahre vorher die ZionistInnen die Mehrheit errungen. Auch unter den Orthodoxen verlor die Union zusehends an Kraft. Leo Landau schilderte in einem Bericht aus dem Jahre 1959 die politischen Machtkämpfe innerhalb des »Polnischen Tempels«. In den 1920er Jahren gehörten die Mitglieder des Tempelvereins noch der Union an. Drei Mitglieder wurden ausgeschlossen, weil sie Zionisten waren. Leo Landau, der im Vorstand des Tempelvereins saß, machte nach einer heftigen Auseinandersetzung diesen Beschluss rückgängig und bekehrte das Bethaus zum Zionismus. In der Folge wurde Landau 1930 der Präsident des Verbandes aller privaten Tempel-Vereinigungen von Wien und der Obmann des Verbands der konservativen Bethäuser mit Ausnahme derer der »Adass Jisroel«.8 Die Wahlsiege der zionistischen Fraktionen und die Niederlagen der Liberalen waren mit der Demokratisierung der Wahlbestimmungen aufs Engste verbunden. Das aktive Wahlrecht war 1920 noch an Steuerpflicht und Staatsbürgerschaft gekoppelt und wurde gegen den Widerstand der Liberalen zusehends erweitert und auf die nicht eingebürgerten Mitglieder ausgedehnt. Aber als die zionistischen Fraktionen in der Gemeinde endlich ein allgemeines aktives und passives Wahlrecht, unabhängig von Steuerleistung und Geschlecht, durchgebracht hatten, war der autoritäre »Ständestaat« in Österreich bereits errichtet. Die Reformen hätten durch die Obrigkeit bewilligt werden müssen. Die Gemeinde scheute vor diesem Schritt zurück, und deswegen durften Frauen und Angestellte der Kultusgemeinde weiterhin nicht gewählt werden. Interessant ist hierbei die Position der nichtzionistischen Sozialdemokratie, die zwar das allgemeine aktive Wahlrecht befürwortete, doch nicht das passive 7 Bericht des Präsidiums und des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde Wien über die Tätigkeit in den Jahren 1933–1936, Wien 1936, 26f., zit. n. Rosenkranz 1978, 311. 8 Landau, Leo, Wien von 1909 bis 1939, Mitglied des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde, Bericht aufgenommen von Dr. Ball-Kaduri, 28.1.1959 und 22.2.1959, Yad Vashem-01/244, 6.

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für Frauen, sich vielmehr der orthodoxen Auslegung der religiösen Bestimmungen anpasste. Nach diesen Vorschriften, der »Halacha«, waren Frauen von Gemeindeämtern ausgeschlossen. Die nichtzionistische Sozialdemokratie, die liberale Union und die antizionistischen Orthodoxie der »Adass Jisroel« wollten die Kultusgemeinde nur als religiöse Körperschaft den religiösen Geboten unterworfen wissen. Deshalb, forderte die »Adass Jisroel« zwei Jahre nach dem Wahlsieg der zionistischen Fraktionen, 1934, von der Regierung des »Ständestaats«, dass nur Juden und Jüdinnen mit streng religiösen Lebenswandel der jüdischen Gemeinde vorstehen dürften.9 Die zionistisch-orthodoxe »Misrachi«, die ebenfalls das passive Frauenwahlrecht ablehnte, war zwar national-jüdisch eingestellt, forderte jedoch gleichzeitig von der jüdischen Nation wiederum die Unterwerfung unter das religiöse Recht. Allein die säkularen zionistischen Gruppierungen stellten sich hinter die elektoralen Frauenforderungen.10 Die ZionistInnen plädierten für eine völlig andere Art, dem Antisemitismus und den Diskriminierungen entgegenzutreten. Einer der führenden Persönlichkeiten, Robert Stricker, hatte 1920 als zionistischer Nationalratsabgeordneter den Antrag auf Anerkennung der jüdischen Nationalität eingebracht. Stricker schränkte zwar ein, dass es dem jüdischen Menschen weiterhin freistehen müsse, sich zur deutschen oder zur jüdischen Nationalität zu bekennen, dennoch löste dieser Vorschlag bei der Union einen Sturm der Entrüstung aus. Sie fürchteten, solche Vorstellungen könnten den Antisemitismus in seinen Dissimilationswünschen bestärken. Der antisemitische Mandatar Leopold Kunschak forderte tatsächlich, allerdings unabhängig von dem zionistischen Antrag, ein Gesetz zur Diskriminierung der Juden und Jüdinnen als fremde Minderheit.11 Es brauchte nicht die zionistischen Forderungen, um die judeophoben Phantasien zu beflügeln  – im Gegenteil  : Die zionistische Bewegung reagierte auf die antisemitische Realität Österreichs. Zionismus war in Österreich und Deutschland keine Absage an das, was die Mehrheit als »deutsche Kultur« bezeichnet hätte, sondern eine Suche nach jüdischem Selbstbewusstsein.12 Es könnte, davon waren die zionistischen Persönlichkeiten überzeugt, auf eine »jüdische Frage« nur eine selbstbewusste Antwort der Juden und Jüdinnen geben. Die Antisemiten würden sich nicht durch Wohlverhalten oder durch Staatsbürgerschaftstreue überzeugen lassen. Den Feinden des Judentums wollte, wer ZionistIn war, gleichwertig gegenübertreten. Ein jüdischer Staat schien in einer Welt der Nationalstaaten nur konsequent. Solch eine Heimstatt sollte in Palästina entste 9 Maderegger 1973, 51. 10 Siehe Freidenreich 1991. 11 Gold 1966, 49. 12 Weltsch, 1981, 73–77.

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hen, aber eigentlich eher für die bedrängten Geschwister im Osten Europas als für den Eigenbedarf. Viele Wiener ZionistInnen drängte es die längste Zeit nicht, nach Palästina auszuwandern. Oft fühlten sie sich Österreich ebenso verbunden wie der Idee eines »Judenstaates«. Unter den ZionistInnen gab es verschiedenste Richtungen. Ob Kulturzionismus, der eine binationale Gesellschaft und keinen Staat, mit den arabischen Bewohnern anstrebte  ; ob nationalistischer Revisionismus  ; ob die bürgerlich liberale oder die marxistisch-sozialistische Variante  : Alle setzten das jüdisch-nationale Bewusstsein dem Assimilationsdruck der antisemitischen Gesellschaft entgegen. In Österreich wollten sie hingegen gleichberechtigte Individuen einer anerkannten nationalen Minderheit sein. Es wurde streng programmatisch zwischen Zukunftspolitik in Palästina und der Gegenwartsarbeit für jüdische Interessen in Österreich, der sogenannten Landespolitik, unterschieden. Die Position eines mächtigen »Bunds«, also einer eigenständigen jüdisch-nationalen Arbeiterbewegung, die nichtzionistisch war, blieb auf Osteuropa beschränkt. Im deutschsprachigen Raum war diese politische Stellung jedoch weitgehend unbesetzt.13 Der linke Zionismus gewann die meisten sozialistischen Gemeindemitglieder. Die Union lehnte das Projekt einer Besiedlung Palästinas nicht ab. Auch in der Union lebte die Hoffnung eines »Wiederaufbaus von Erez Israel«. Ihr jüdisches Selbstverständnis war aber ein anderes. Sie setzte weiterhin auf die Emanzipation als Überwindung der antijüdischen Ressentiments. Auch zionistische Gruppierungen bekämpften antisemitische Diskriminierung. Sie wollten staatsbürgerliche Gleichstellung und politische Integration in Österreich, aber sie erwarteten sich nicht Schutz durch Emanzipation. Der Unterschied war, dass die Union sich als »nicht-jüdischnational« definierte. Jedes noch so patriotische Bekenntnis eines Juden oder einer Jüdin blieb jedoch in den Augen der österreichischen, antisemitischen Gesellschaft zumeist bloß ein »mosaisches«, das nie als »bodenständig« empfunden wurde. Die zionistische Bewegung verzichtete in Reaktion darauf, als Teil des Staatsvolkes anerkannt zu werden. Sie forderten im Gegenteil eine Rückbesinnung auf die jüdische Identität. Die Union kämpfte gegen den politischen Antisemitismus in Österreich mit aufklärerischen Schriften und auch vor Gericht an. Das irrationale Ressentiment sollte mit Appellen an die Vernunft aus der Welt geschafft werden. Die Union versuchte zudem, die Differenzen der verschiedenen Formen der Judeophobie auszuleuchten. In einem 1932 erschienenen Werk unterschied die Union den taktischen Antisemitismus Karl Luegers penibel vom rabiaten Judenhass.14 Der antisemitische Theoretiker 13 Vgl. Bunzl 1975. 14 Union 1932, 7.

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August Rohling wurde in ihrer Festschrift als Kronzeuge gegen die Rassenantisemiten zitiert.15 Die zionistische »Wiener Morgenzeitung«, von Robert Stricker geleitet, attackierte ebenso den Radauantisemitismus.16 An einem Konflikt aus dem Jahre 1934/35 lässt sich der Gegensatz zwischen dem zionistischen und dem nichtzionistischen Lager der Kultusgemeinde genau studieren. Ein Erlass der Regierung trennte zwischen nichtjüdischen und jüdischen SchülerInnen an einem Teil der allgemeinen Wiener Schulen.17 Jüdische Sammelklassen sollten eingerichtet werden. Ein vom Präsidium der Kultusgemeinde am 19. September 1935 erhobener Protest zeigte kaum politische Wirkung. Die Reform wurde zwar abgebrochen, aber die bereits erfolgte konfessionelle Segregation in den Schulen blieb aufrecht. Deshalb wechselte die zionistische Gemeindeführung ihre Taktik. Sie beschloss, nicht mehr die Rückkehr zum gemeinsamen Unterricht zu fordern, sondern die Errichtung eigenständig jüdischer Schulen zu propagieren. Diesmal mit Erfolg  ; noch im selben Jahr konnte eine jüdische Volksschule eröffnet werden.18 Raul Hilberg erinnert sich in einem Interview aus dem Jahre 1992 an seine damalige Schulzeit  : »Sie dürfen ja nicht vergessen, dass es schon vor dem Anschluss für die jüdische Bevölkerung hier sehr schwer war. Es gab damals etwa das Gerücht, es würden für die jüdischen Schüler eigene Schulbänke eingerichtet. Meine Eltern gaben mich deshalb in ein jüdisches Gymnasium, denn meine Mutter sagte, wenn man auf einer jüdischen Bank sitzen muss, ist es doch gleich besser, in ein jüdisches Gymnasium zu gehen. Damals war ich neun Jahre alt«.19 Hilbergs Mutter war von denselben Gedanken erfasst worden, die viele aus der Gemeinde und letztlich auch die Gemeindeführung angesichts des sozialen Antisemitismus und der politischen Diskriminierung umtrieb. Die Union aber beharrte auf der gemeinsamen, österreichischen Schule und fürchtete nicht bloß die Diskriminierung durch den Staat, sondern ebenso den jüdisch-nationalen Charakter einer selbständigen Bildungsanstalt.20 Die orthodoxe »Adass Jisroel« begrüßte den Erlass der Regierung und sah darin eine Vorstufe zu einer rein konfessionellen, jüdischen Schule.21 Die »Adass Jisroel« verstand sich als jüdisch ihrer Konfession und als österreichisch ihrer Nation nach. Der Volksbegriff der jüdischen Religion entsprach ihrer Meinung nach nicht dem modernen Nationsbegriff. 15 Festschrift 1937, V.–VIII. 16 Gold 1966, 50. 17 Siehe dazu den Beitrag von Stephan Spevak in diesem Band. 18 Rosenkranz 1978, 14. 19 Interview mit Raul Hilberg in  : Die Presse, Wien, 5.12.1992. 20 Festschrift 1937, 66. 21 Jüdische Presse, Wien, 5.10.1934.

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Die »Adass Jisroel« versuchte mit der Betonung der religiösen Werte, dem christlichsozialen Antisemitismus zu begegnen und versuchte zu erklären, dass Judentum keine Rasse und keine Nation, sondern bloß ein Glaube sei. Union und »Adass Jisroel« konnten sich nicht durchsetzen. Die Regierung ging auf die Forderungen nach Beibehaltung der gemeinsamen Schule nicht ein. Aber nicht nur die Regierung erteilte der Union eine Abfuhr. 1936 erzielten die zionistischen Fraktionen einen überragenden Wahlerfolg. Die Union war nicht mehr die stärkste der jüdischen Parteien. Die »Allgemeinen Zionisten B«, eine liberal-bürgerliche Strömung innerhalb der zionistischen Gruppierungen, stellte den Präsidenten, Desider Friedmann, den Vizepräsidenten, Robert Stricker, und den Amtsdirektor und ersten Sekretär, Josef Löwenherz, der bisher Vizepräsident gewesen war.22 Die Behauptungen vieler Überlebender, erst im März 1938 sei der Antisemitismus spürbar geworden, ist verständlich, weil darin sich die damalige, durchaus verständliche Hoffnung ausdrückt, als ÖsterreicherInnen anerkannt gewesen zu sein, doch letztlich ist sie im Lichte der historischen Daten nicht haltbar, sondern eine Konstruktion ex post. Jenseits aller innerjüdisch politischen Querelen organisierten sich deshalb viele Juden und Jüdinnen, ob zionistisch oder nicht, in Vereinen, die nicht nur mit Worten die antisemitische Bedrohung abwehren wollten. Der »Bund ehemaliger jüdischer Frontsoldaten«,23 dessen Mitglieder immer ihre Vaterlandstreue hervorstrichen und an ihr festhielten, organisierte militante Schutztruppen, um sich gegen nazistische Anschläge zur Wehr setzen zu können. Der Bund ehemaliger jüdischer Frontsoldaten wurde 1932 gegründet. Bereits ein Jahr später zählte die Organisation 8.000 Mitglieder. An den folgenden Feiertagen schützten 800 der ehemaligen Soldaten Bethäuser vor dem Ansturm nationalsozialistischer Schlägertrupps. Manche wurden bei den Zusammenstößen verletzt, andere verhaftet.24 In seiner Hymne vereinte der Bund österreichischen Patriotismus mit jüdischem Selbstbewusstsein  : »Schart Euch um unsre Bundesfahne Die stets an den heiligen Schwur Euch mahne  : Für Glaube und Heimat – Gut und Blut  !25

22 Landau, Leo, Wien von 1909 bis 1939, Mitglied des Vorstandes der Israelitischen Kultusgemeinde, Bericht aufgenommen von Dr. Ball-Kaduri, 28.1.1959 und 22.2.1959  ; Yad Vashem01/244, 8  ; Rosenkranz 1978, 14. 23 Siehe dazu den Beitrag von Erwin Schmidl in diesem Band. 24 Gold 1966, 62. 25 Hymne des Bundes jüdischer Frontsoldaten Österreichs (Text  : Alfred Winzer  ; Musik  : Kurt Pahlen)

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Der Schriftsteller Leo Perutz trat dem »Bund der Legitimistischen Jüdischen Frontsoldaten« bei, was nicht so sehr seine habsburgische Nostalgie bezeugte, sondern als selbstbewusste, österreichisch-jüdische Antwort auf republikanischen Nationalismus, gegen die Klischees vom unehrenhaften Juden und den antisemitischen Rassismus verstanden werden muss. Der einstige Sozialdemokrat, der zu Ende des Ersten Weltkrieges gegen die Militärjustiz der Habsburger geschrieben hatte, wollte sich um eine Einigung zwischen Sozialdemokraten und Legitimisten bemühen.26 In Berlin patrouillierten übrigens noch 1931 Mitglieder des konspirativ arbeitenden »Jüdischen Abwehr Dienstes«, an dem der »Reichsbund jüdischer Frontsoldaten« (RjF) führend beteiligt war, und versuchte, jüdische Menschen vor Nazischlägern zu beschützen.27 Der deutsch-jüdische RjF setzte auch auf Aufklärungsschriften28 und Veranstaltungen. Die Vereinigung bediente sich beider Wege, der Strategie militanter Verteidigung wie ebenso jene der Aufklärung gegen irrationale Ressentiments. Der RjF vermeinte 1932, mit seinen Veranstaltungen hätte er »bereits eine tiefe Bresche in die Judenfeindschaft geschlagen.«29 Dem Vorurteil, Juden und Jüdinnen seien zur Auseinandersetzung zu feige und nicht »satisfaktionsfähig«, versuchten mehrere jüdische Organisationen in Österreich entgegenzuwirken. Im Sportverein »Hakoah« etwa wollten jüdische Jugendliche beweisen, dass Juden und Jüdinnen auch körperlich erfolgreich sein konnten.30 Über die zionistischen schlagenden Studentenverbindungen schrieb Arthur Köstler  : »Das Ziel dieser Burschenschaften war, der Welt zu beweisen, dass die Juden im Duellieren, Saufen, Singen und Bramarbasieren nicht weniger ihren Mann zu stellen verstanden als jeder andere auch. Es dauerte nicht lange, da wurden sie nach den Gesetzen der Überkompensation päpstlicher als der Papst. Die Gründer der ersten zionistischen Burschenschaft Kadimah (hebräisch  : ›vorwärts‹) übten sich sechs Monate lang volle acht Stunden im Tag in der Kunst des Säbelfechtens im ›DeutschHoch-Stil‹  ; dann zogen sie zum erstenmal in voller Wichs in der Aula der Wiener Universität auf. Als sich die Teutonen, Saxonen, Gothen und Vandalen von ihrem Staunen erholt hatten, fing eine wüste Schlägerei an. Die Schlägerei hatte eine Serie

aus einer Broschüre des Bund Jüdischer Frontsoldaten  ; gewidmet Josef Löwenherz von Alfred Winzer, YadvaShem 030/4. 26 Perutz, Leo, Tagebuch, 13.2. und 20.2.1938, zit. n. Eckert 1989, 242. 27 Ginzel 1984, 37. 28 Reichsbund 1932. 29 Dunker 1977. 30 Bunzl 1987  ; siehe auch den Beitrag von Matthias Marschik in diesem Band.

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von Duellen zur Folge, in deren Verlauf die Kadimahner ihren Gegnern beträchtliche Schmisse beibrachten.«31 Alle jüdischen Strategien gegen den Antisemitismus waren allerdings zum Scheitern verurteilt, da die Diskriminierten in diesem ihrem Bemühen nicht von der Mehrheitsgesellschaft unterstützt wurden. Am 25. September 1935 schickte die Israelitische Kultusgemeinde Wien an ihre Gemeinderabbiner ein Schreiben, das eigens durch einen Stempel als »Vertraulich« gekennzeichnet war  : »Aus den jüdischen Zeitungen dürfte Ihnen bekannt sein, dass die Vorstände der Synagogengemeinden in Deutschland im Hinblicke auf die kommenden Feiertage Aufrufe an die Gemeindemitglieder erlassen haben, in welchen diese ersucht werden, an den Feiertagen und besonders auf dem Wege zu und von den Andachtsstätten ein entsprechendes Benehmen an den Tag zu legen. Insbesondere wird ersucht, nach Beendigung des Gottesdienstes das Verweilen vor den Ausgängen zu unterlassen und jede Ansammlung vor den Bethäusern zu vermeiden.«32 Wenn auch in Österreich, so das Schreiben, nicht deutsche Zustände herrschten, fühle die Kultusgemeinde doch das Bedürfnis eine ähnliche Mahnung auszusprechen, die sich nicht so sehr auf die Feiertage, »als vielmehr auf das Verhalten von Juden auf der Straße und in öffentlichen Lokalen überhaupt« bezögen  : »Es muss unter den heutigen Verhältnissen alles vermieden werden, was übelwollenden Elementen, und leider gibt es auch bei uns solche, Anlass geben könnte, sich abfällig über die Juden und Jüdinnen zu äußern oder unliebsame öffentliche Erörterungen herbeizuführen. So wäre insbesondere die Aufforderung zu richten, sich überall eines ruhigen zurückhaltenden Auftretens zu befleissen, jedes überlaute Benehmen auf der Strasse und in Lokalen zu vermeiden und auch in Kleidung, etc. sich die unter den heutigen Umständen gebotene und den Verhältnissen entsprechende Zurückhaltung aufzuerlegen.« Nicht erst nach dem »Anschluss« 1938 musste die Wiener Kultusgemeinde auf den Nationalsozialismus und auf seine Auswirkungen reagieren. Seit der Machtübernahme in Deutschland hatte sich die jüdische Gemeinde mit den Folgen der nazistischen Regierungspolitik auseinanderzusetzen. Die Unterdrückung der deutschen Juden und Jüdinnen wirkte direkt auf die IKG Wien. Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich strömten nach Österreich und mussten nun unterstützt werden. Andererseits verschärfte die antijüdische Diskriminierung in Deutschland auch die antisemitische Hetze und die berufliche Ausgrenzung in Österreich. Die »Machtergreifung« der Na31 Koestler 1953, 100. 32 Rundschreiben der Israelitischen Kultusgemeinde, unterzeichnet von Desider Friedmann und Emil Engel, Vertraulich, an alle Gemeinderabbiner  ; Wien, 25.9.1935  ; aus den Akten von Benjamin Murmelstein in den Central Archives of the History of the Jewish People P151/8.

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zis schien die Stellung der zionistischen Fraktionen zu bestätigen und zu bestärken. Im »Dritten Reich« hatten die jüdischen Gemeindeorganisationen kurz nach 1933 noch versucht, ihre Zugehörigkeit zu Deutschland hervorzustreichen. In den Veröffentlichungen der jüdischen Gemeinschaft im Deutschen Reich war zunächst das Bestreben herauszulesen, sich nicht an den Rand drängen zu lassen. Der Vorstand der Synagogen-Gemeinde in Hannover forderte seine »verehrlichen Gemeindemitglieder« 1933 auf  : »dass wir als gute Deutsche an dem Festtage der Deutschen Arbeit am 1. Mai ds. Jrs. ausnahmslos – soweit vorhanden – die neue Reichsflagge schwarzweiß-rot aushängen.«33 Das Verhalten der deutschbewussten Juden und Jüdinnen als bloße Illusion der Assimilierten oder als Anbiederung abzutun, wäre zynisch und ahistorisch. Die Beteuerungen deutscher Identität waren authentisch, standen aber im klaren Widerspruch zur nationalsozialistischen und völkischen Ideologie. Den Nazis erschien ein jüdischer Anspruch auf das Deutschtum, also einer jüdischen Person auf die »arische« Nation, als dreist und anmaßend. Am schnellsten konnte sich der Zionismus von den politischen Enttäuschungen des Nazismus erholen. Der deutsche Zionismus hatte nie den Wunschtraum einer Assimilation oder Symbiose gehegt. Nun wurden auch frühere Gegner des Zionismus zu Verfechtern der Palästinabesiedlung.34 Politisch mussten die jüdischen Fraktionen sich nach der Niederschlagung der Demokratie und der Arbeiterbewegung der ständestaatlichen Regierung, dem, angesichts des nationalsozialistischen Deutschlands, kleinerem Übel, unterwerfen. Viele Wiener Juden und Jüdinnen hatten die Sozialdemokratie, wie bereits erwähnt, unterstützt, doch nun war die Sozialdemokratie von der Heimwehr vernichtet worden. Die einzig verbliebene Rettung vor Hitler wähnten viele Juden und Jüdinnen im österreichischen »Ständestaat«.35 Die Regierung orientierte sich an Verhältnissen anderer autoritärer und faschistischer Staaten. Die Diktatur war nicht wie in anderen Staaten als Programm einer rechtsextremistischen Bewegung an die Macht gelangt. Das bürgerliche Zentrum schaffte im Verein mit den faschistischen Heimwehrverbänden jene demokratische Republik ab, die es bereits 1918 nicht gewollt hatte. In Österreich vollzogen Kanzler und Regierung selbst den Staatsstreich. Anderswo mussten die Tugenden einer liberal-humanistischen Bourgeoisie gebrochen werden, bevor die Barbarei an die Macht gelangte. Nicht so in Österreich  ; der Wechsel von Demokratie zur Tyrannei erfor-

33 Ginzel 1984, 45. 34 Pulzer 1986, 12. 35 Freidenreich 1991, 195.

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derte keinen Kampf innerhalb des christlichsozialen Lagers, sondern bloß die blutige Unterwerfung der Arbeiterbewegung. Mit der »Machtergreifung« des Austrofaschismus mussten die Mandatare sozialistischer Listen aufgrund einer Verordnung vom 16. Februar 1934 aus dem Vorstand ausgeschlossen werden. Vier verschiedene, zionistische und nichtzionistische sozialdemokratische Gruppierungen wurden verboten. Die zionistischen Arbeiterbewegungen durften unter der Auflage weiterarbeiten, sich allein um die Auswanderung nach Palästina zu bemühen. Viele junge Menschen, die aus jüdischen Familien stammten, aber sich oft aus ideologischen Gründen nicht mehr dem Judentum zurechneten, engagierten sich 1934 im Aufstand des österreichischen Proletariats gegen den Austrofaschismus. Andere beteiligten sich ab 1936 an dem Kampf der spanischen, demokratisch gewählten Volksfrontregierung gegen Franco.36 Der Ständestaat gewährte den Juden und Jüdinnen Schutz vor Hitler, gleichzeitig jedoch wurde die antisemitische Diskriminierung so heftig, dass die Regierung der Vereinigten Staaten intervenierte und Nahum Goldmann am 13. November 1934 bei Mussolini für die Juden und Jüdinnen Österreichs vorsprach.37 Der jüdische Flüchtlingsstrom aus dem »Dritten Reich« zwang die Wiener Kultusgemeinde zu fürsorglichen Maßnahmen. Die jüdische Administration hatte sich um die Künstler und Intellektuellen zu kümmern, die nach Österreich geflohen waren und nun ohne Beschäftigung waren. 1933 schon errichtete Oskar Teller eine »Jüdische Kulturstelle und Volkshochschule.« Die Institution, unter dem Eindruck deutscher Zustände gegründet, unterstützte ebenso viele Wiener Juden und Jüdinnen. Hier konnten jüdische Kulturschaffende in Österreich noch Anstellung finden.38 Von öffentlichen Stellen und aus dem Bank- und Versicherungswesen wurden Juden und Jüdinnen verdrängt. In seinen Erinnerungen berichtet ein ehemaliger Mitarbeiter der Kultusgemeinde, dass er bis 1934 als stellvertretender Direktor die juristische- und Finanzabteilung der Wiener Städtischen Versicherungsanstalt leitete. Am 14. Februar 1934 wurde er, weil er Jude war, und nicht aus politischen Gründen, seines Dienstes enthoben. 18 Monate lang wagte es keine Versicherungsanstalt, den qualifizierten Fachmann zu engagieren.39 Die Politik des Unterrichtsministers und Parteiobmanns der Christlichsozialen, Emmerich Czermak, versperrte der jüdischen Intelligenz den Zugang zu Lehre, Forschung und Kunst. Andererseits setzte die Regierung in einem typisch österreichi36 Lustiger 1989. 37 Freidenreich 1991, 195–203  ; Rosenkranz 1978, 14f.; Gold 1966, 64. 38 Rosenkranz 1978, 14f. 39 K apralik 1981, 61.

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schen Kompromiss einen jüdischen Repräsentanten, den Präsidenten der Kultusgemeinde, Desider Friedmann, in den Staatsrat.40 Im Juliabkommen 1936 schloss das autoritäre System unter Kurt Schuschnigg ein Abkommen mit dem »Dritten Reich«. Österreichs Regierung verpflichtete sich, alle Propaganda gegen den Nationalsozialismus zu unterdrücken, amnestierte die inhaftierten Nationalsozialisten und nahm als sogenannten »nationalen« Minister Edmund Glaise-Horstenau auf. Die zionistische Bewegung in Palästina war durch Zeitungsberichte über die antijüdischen Vorkommnisse und diskriminierenden Maßnahmen in Österreich Anfang 1936 alarmiert. Am 22. Jänner sprachen zwei aus Österreich stammende zionistische Funktionäre in Jerusalem beim österreichischen Generalkonsul Dr. Ivo Jorda vor. Sie protestierten gegen verschiedene Gleichschaltungstendenzen in Österreich mit dem »Dritten Reich« und beschwerten sich über antijüdische Artikel in der »Reichspost«. Die jüdischen Vertreter konfrontierten den Diplomaten mit der damals jüngsten Entlassungswelle jüdischer Angestellter aus öffentlichen Ämtern und der Absetzung des jüdischen Präsidenten der Advokatenkammer.41 Der Generalkonsul stellte dazu fest, dass die Neukonstituierung der Ständekammern keine antijüdische Maßnahme darstelle, sondern bloß dazu diene »den Angriffen der Nazis gegen die ›Judenregierung‹ die Spitze abzubrechen«.42 Jorda stellte fest  : »Als Jude wäre ich froh, dass die Mehrheit der Mitglieder in der Kammer erhalten bleibt, um den Preis des Opfers, dass an der Spitze nicht gerade Juden stehen.«43 Zudem, so der Generalkonsul, wolle die österreichische Regierung schließlich an Desider Friedmann als Staatsrat festhalten. Angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung und der austrofaschistischen Verhältnisse engten sich die Reaktionsformen der jüdischen Fraktionen und Organisationen ein. In einer Rede zu Beginn des jüdischen Jahres 5697, im Herbst 1936, brachte der Gemeinderabbiner Benjamin Murmelstein den innerjüdischen Konsens auf den Punkt  : »Das große Leid, welches über Israel gekommen ist, die großen Aufgaben, die unser harren, haben jede wirkliche Trennung zwischen den einzelnen Gruppen und Parteien im Judentum illusorisch gemacht. Keiner ist unter uns, der nicht die Bedeutung des Palästinaaufbaues voll und ganz würdigen würde, keiner der nicht bereit wäre für dieses heilige Werk Opfer zu bringen. Keiner ist unter uns, der nicht als seine jüdische Pflicht ansehen würde, dem Vaterlande treu ergeben und liebevoll zu dienen. Alle sind wir bereit, die internationalen Rechte des Judentums auf sein 40 Freidenreich 1991, 193. 41 Siehe dazu den Beitrag von Ilse Reiter-Zatloukal in diesem Band. 42 Zionist Archives S 25-9817. 43 Ebd.

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Land, die bürgerlichen Rechte des Einzelnen zu verteidigen.«44 Die Rede war ein Aufruf zur Einheit, zur Unterstützung des zionistischen Projekts und der österreichischen Eigenständigkeit. Die jüdischen Institutionen unterstützten eine Zufluchtsstätte in Palästina, setzten aber ihr ganzes Vertrauen, trotz antijüdischer Maßnahmen auf die ständestaatliche Regierung. Sie verfolgten eine Politik patriotischen Wohlverhaltens, um Schutz vor den nationalsozialistischen Verbrechen in Deutschland und dem populären heimischen Antisemitismus zu finden. Die jüdischen Organisationen wehrten sich, wenn jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Polen illegal in andere Staaten einzuwandern versuchten. Am 15.  November 1937, kurz vor der nationalsozialistischen Machtübernahme, traten Gemeinden aus ganz Europa zu einer Konferenz in Wien zusammen. Hier sollten die wichtigsten Maßnahmen für die zahlreichen Flüchtlinge aus dem »Dritten Reich« und aus Polen beschlossen werden. Eine zentrale Kartothek in Paris wurde eingerichtet. Die Flüchtlinge waren nun einzeln erfasst. So konnte ihnen individuell bei Aufbringung der Reisekosten geholfen werden. Die Konferenz versuchte, Mittel zur humanitären Hilfeleistung aufzutreiben und die »wilde Emigration einzudämmen«.45 Es ging um die Organisation »geordneter«, gegen »wilde Emigration«. Ohne zuvor eingeholter Zustimmung des Fürsorgekomitees des Ziellandes sollte kein Flüchtling sein Land verlassen dürfen, es sei denn er würde dort behördlich ausgewiesen. Wer dennoch und, wie es hieß, »ohne zwingende Gründe« aus seinem Staat flüchtete, sollte, sofern die Person »ohne Gefährdung nach Deutschland zurückkehren könnte«, wieder retour geschickt werden. Auf Kosten der zentralen Hilfsorganisation.46 Illegale Flucht, so die Überlegungen der jüdischen Organisationen, würde die Aufnahmebereitschaft der Staaten bremsen, würde die Grenzen für illegale und legale Immigration gleichermaßen versperren. Einige Monate später konnte es für die Wiener Gemeinde keinen Zweifel mehr über die »Gefährdung« der jüdischen Männer und Frauen im »Deutschen Reich« geben – Flucht, ob legal oder illegal, war zum einzigen Ausweg geworden. Am 19. Februar 1938, nach einem Treffen des österreichischen Bundeskanzlers Schuschnigg mit Hitler in Berchtesgaden, wenige Wochen vor dem »Anschluss«, schrieb der Präsident des zionistischen Landeskomitees in Wien, Oskar Grünbaum, einen Brief an die Londoner Exekutive. Er scheint bemüht gewesen zu sein, Österreich in der Welt nicht zu 44 Murmelstein, Benjamin  : Berg und Ebene. Zum Beginn des Jahres 5697 (Autograph-Redemanuskript), Central Archives of the History of the Jewish People P151/12. 45 Rosenkranz 1978, 17. 46 Ebd., 18.

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schaden  : »Die Regierung glaubt die Situation meistern zu können, wenn keine Panik erzeugt und kein Boykott erfolgen wird. […] Ich ersuche Sie daher hoefl. in ihrem Kreisen darauf hinzuweisen, dass tatsächlich alle Zeitungsnachrichten über Diskriminierungen der Juden seit der Aussprache in Berchtesgaden unwahr sind und dass die Verbreitung unwahrer Nachrichten über Österreich die Situation der Regierung nur erschweren würde.«47 Zugleich berichtete Grünbaum, dass der Zionistische Landesverband allein in den letzten Monaten mehr als 500 Mitglieder geworben habe  : »Seit dem Eintritt der neuen Situation sind die Versammlungen überfüllt, so dass der Saal immer wegen Überfüllung polizeilich gesperrt werden muss.«48 Bereits im Austrofaschismus hatte die jüdische Gemeinde gelernt, im jüdischen Interesse mit einem autoritären Staat zusammenzuarbeiten. Eine demokratisch kritische Öffentlichkeit existierte seit Jahren nicht mehr. Als der Nationalsozialismus in Österreich die Macht übernahm, traf er auf eine jüdische Institution, die bereits eingeübt war, sich staatlichen Stellen zu unterwerfen. Eine jüdisch eigenständige, logistische Vorbereitung auf eine Machtübernahme des Nationalsozialismus wurde nicht in Angriff genommen. Um Missverständnissen vorzubeugen  : Die Juden und Jüdinnen hätten gewiss nicht allein gegen den deutschen Einmarsch und die österreichischen Antisemiten kämpfen können. Doch jegliche geheime Vorkehrung unterblieb, weil die Kultusgemeinde sich der vermeintlichen Standhaftigkeit der österreichischen Regierung anvertraute. Kein Nachrichtennetz wurde aufgebaut, kein Einsatzplan für den Ernstfall überlegt, keine Notzentrale eingerichtet, keine geheimen Treffpunkte abgemacht, keine Evakuierungsmaßnahmen für bestimmte Institutionen oder Personen anvisiert, keine Flucht vorbereitet, keine Transferierung von finanziellen oder kulturellen Werten oder Dokumenten vorgenommen. Die jüdische Gemeindeführung unterstützte Schuschnigg gegen Hitler. Als die österreichische Regierung eine Volksbefragung über den Fortbestand Österreichs anberaumte, um dem Druck aus Berlin entgegenzuwirken, brachte die Kultusgemeinde eine große Wahlspende auf.49 Sie setzte ihre einzige Hoffnung auf den Weiterbestand des österreichischen Staates und mühte sich, durch patriotisches Wohlverhalten und Bürgertreue ihre Existenz zu sichern. Die jüdische Gemeinschaft war, allen antisemitischen Phantasien zum Trotz, kein eigenständiger Fremdkörper in der österreichischen Bevölkerung, der sich unabhängig zur Wehr setzen konnte, sondern blieb, teils beinahe integriert, teils bereits assimiliert, eine heterogene Minderheit innerhalb der österreichischen Bevölkerung. 47 Oskar Grünbaum an die Zionistische Exekutive, London, 19.2.1938, Zionist Archives S 25–9817. 48 Ebd. 49 Safrian 1988, 41.

Jüdische Strategien gegen den Antisemitismus

Literatur und gedruckte Quellen Bunzl, John, Klassenkampf in der Diaspora. Zur Geschichte der jüdischen Arbeiterbewegung, Wien 1975. Bunzl, John, Hoppauf Hakoah. Jüdischer Sport in Österreich von den Anfängen bis in die Gegenwart, Wien 1987. Dunker, Ulrich, Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten 1919–1938. Geschichte eines jüdischen Abwehrvereins, Düsseldorf 1977. Eckert, Britta/Müller, Hans-Harald (Hg.), Leo Perutz 1882–1957. Eine Ausstellung der deutschen Bibliothek, Wien u. a. 1989. Festschrift zur Feier des 50-jährigen Bestandes der Union Österreichischer Juden, Wien 1937. Freidenreich, Harriet Pass, Jewish Politics in Vienna 1918–1938, Indianapolis 1991. Ginzel, Günther Bernd, Jüdischer Alltag in Deutschland 1933–1945, Düsseldorf 1984. Gold, Hugo, Geschichte der Juden in Wien, Tel Aviv 1966. Jüdische Presse 1934. Kapralik, Charles J., Erinnerungen eines Beamten der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde 1938–39, in  : Bulletin des Leo Baeck Instituts 58 (1981), 52–78. Koestler, Arthur, Pfeil ins Blaue. Bericht eines Lebens 1905–1931, Wien u. a. 1953. Lustiger, Arno, Schalom Libertad  ! Juden im spanischen Bürgerkrieg, Barcelona 1989. Maderegger, Sylvia, Die Juden im österreichischen Ständestaat 1934–1938, Wien 1973. Die Presse 1992. Pulzer, Peter, Der Anfang vom Ende  ; in  : Paucker, Arnold (Hg.), Die Juden im Nationalsozialistischen Deutschland 1933–1943, Tübingen 1986. R abinovici, Doron, Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt a.M. 2000. Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (Hg.), Die jüdischen Gefallenen des deutschen Heeres, der deutschen Marine und der deutschen Schutztruppen 1914–1918. Ein Gedenkbuch, Berlin 1932. Rosenkranz, Herbert, Verfolgung und Selbstbehauptung. Die Juden in Österreich 1938–1945, Wien 1978. Safrian, Hans/Witek, Hans, Und keiner war dabei. Dokumente des alltäglichen Antisemitismus in Wien 1938, Wien 1988. Union österreichischer Juden (Hg.), Aus der Bibliothek Karl Luegers. Die gesellschaftliche Stellung der Juden von Joseph Kolkmann, Königlich preußischer Kreisrichter, Löbau 1876 mit einer Vorbemerkung von Chaim Bloch, Anhang  : Beim Nestor des Antisemitismus, Wien 1932. Weltsch, Robert, Die deutsche Judenfrage. Ein kritischer Rückblick, Regensburg 1981.

Archivalische Quellen Central Archives of the History of the Jewish People P151/8, P151/12, Akten von Benjamin Murmelstein. Yad Vashem-01/244  ; 030/4.

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Autorinnen und Autoren Marie-Theres Arnbom – Dr. phil., ist Historikerin, Autorin, Kuratorin und Kulturmanagerin. Sie veröffentlicht Bücher und Beiträge zu zeit- und kulturhistorischen Themen, die sie als Kuratorin auch an Museen in Szene setzt, und schreibt Programmhefte und Artikel für große Konzertveranstalter. 2004 gründete sie das Kindermusikfestival St. Gilgen als wesentlichen Bestandteil des Musiksommers im Salzkammergut. Zuletzt erschienen  : Wolfgangsee (2010)  ; Die Welt der Operette. Glamour, Stars und Showbusiness (2011)  ; Damals war Heimat. Die Welt des Wiener jüdischen Großbürgertums (2014)  ; Die Villen von Bad Ischl (2017). Akteulle Ausstellungen zum Thema »90 Jahre Wiener Frauenkunst« (Museum Zinkenbacher Malerkolonie 2016) und »Franz Lehár und seine jüdischen Librettisten« (Stadtmuseum Bad Ischl 2018). Kurt Bauer – Geb. 1961, Dr. phil., freier Historiker und Buchautor  ; Forschungsschwerpunkte  : Zwischenkriegszeit, NS-Geschichte, politische Gewalt. Zuletzt erschienen  : Nationalsozialismus. Ursprünge, Anfänge, Aufstieg und Fall (UTB-Taschenbuch 2008)  ; Hitlers zweiter Putsch. Dollfuß, die Nazis und der 25. Juli 1934 (Residenz Verlag 2014)  ; Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938–1945 (S. Fischer Verlag 2017). Homepage  : http://www.kurt-bauer-geschichte.at/ Gerhard Baumgartner – Mag. Dr., wissenschaftlicher Leiter des DÖW (Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes), Historiker und Journalist  ; Lehrbeauftragter der FH-Joanneum in Graz, CEU – Central European University in Budapest und der Donauuniversität Krems, wissenschaftlicher Projektleiter des Forschungsvereins »Kanzlei« in Wien, Gründungsmitglied der Burgenländischen Forschungsgesellschaft, Mitarbeiter der Österreichischen Historikerkommission, Projektleiter des Forschungsprojektes »Holocaustopfer unter den österreichischen Roma und Sinti«, sendungsverantwortlicher Redakteur für Fernsehsendungen des ORF Burgenland  ; Lektor an den Universitäten Salzburg, Klagenfurt, Wien, Budapest, Research Fellow an der Universität Tel Aviv und Senior Fellow 2012 bis 2013 am Wiener Wiesenthal Institut für Holocaustforschung  ; dauerndes Mitglied der österreichischen Delegation zur IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance)  ; ausgezeichnet mit dem Burgenländischen Kulturpreis für Wissenschaft und Forschung 1993, dem Comenius Preis für Europäische Unterrichtsmedien 2003 und dem Goldenen Ehrenzeichen des Landes Burgenland 2008  ; Internationaler Bildungsexperte und Projektevaluator der ETF (European Training Foundation) Turin und der DG XII

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Autorinnen und Autoren

in Brüssel 1995 bis 2006  ; seit 1990 Mitherausgeber der ÖZG (Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften)  ; Forschungsschwerpunkte  : Ethnische und religiöse Minderheiten in Mittel und Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert, Europäische Sozial- und Kulturgeschichte im 19. und 20. Jahrhunderts  ; Nationalitätenprobleme der Habsburgermonarchie, Österreichische Minderheitenpolitik nach 1945, Nationalismustheorie, burgenländische und westungarische Regionalgeschichte. Homepage  : https://www.doew.at/mitarbeiterinnen/mag-dr-gerhard-baumgartner/magdr-gerhard-baumgartner-kurzbiographie Dieter A. Binder – Geb. 1953, lehrt seit 1983 am Institut für Geschichte der Karl-Franzens-Universität und seit 2003 als Leiter des Lehrstuhls für Kulturwissenschaften an der Andrássy Universität Budapest. Arbeitsschwerpunkte sind neben geschlossenen Gesellschaften Fragen der politischen Geschichte und Kulturgeschichte des österreichischen Raumes  ; zuletzt erschienen  : Skrivna družba. Zgodovina in simbolika prostozidarjev, Celje 2008  ; Die Freimaurer. Ursprung, Rituale und Ziele einer diskreten Gesellschaft. Freiburg/Basel/Wien 42008  ; (gem. mit Heinz Peter Wassermann) Die steirische Volkspartei oder die Wiederkehr der Landstände, Graz 2008  ; Die Freimaurer. Geschichte, Mythos, Symbole, Wiesbaden 2009. 32012  ; (gem. mit Eugen Lennhoff/Oskar Posner) Internationales Freimaurer Lexikon, München 62011  ; (Hg. gem. mit Helmut Konrad/Eduard Staudinger), Die Erzählung der Landschaft, Wien u. a. 2011  ; (Hg. gem. mit Heidemarie Uhl) 20 Jahre Militärhistorische Denkmalkommission, Wien 2014. Homepage  : https://www.andrassyuni.eu/mitarbeiter/prof-dr-dieter-a-binder-20.html Susanne Blumesberger – Mag.a Dr.in phil., MSc. Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft/Germanistik an der Universität Wien  ; 1999 bis 2014 Mitarbeiterin des Projekts »biografiA. datenbank und lexikon österreichischer Frauen« am Institut für Wissenschaft und Kunst  ; seit 2007 an der Universitätsbibliothek im Bereich digitale Langzeitarchivierung beschäftigt  ; Leitung der Abteilung Phaidra Unidam  ; Lehrbeauftragte der Universität Wien für Kinder- und Jugendliteratur  ; Obfrau der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung (ÖG-KJLF), Obfrau-Stellvertreterin des Vereins zur Förderung und Vernetzung frauenspezifischer Informations- Dokumentationseinrichtungen in Österreich (FRIDA)  ; Mitherausgeberin der Fachzeitschrift »libri liberorum. Zeitschrift der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung« und der Schriftenreihe »Kinder- und Jugendliteraturforschung in Österreich«  ; zahleiche Fachpublikationen im Bereich Kinder- und Jugendliteratur, Exilliteratur und Frauenbiografieforschung. Homepage  : www.blumesberger.at

Autorinnen und Autoren

Martina Cuba – Studium der Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte an der Universität Wien  ; seit 2002 Bibliothekarin und Leiterin der Fachbereichsbibliothek Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien, von 2002 bis 2011 Lehrtätigkeit an der Universität Wien, seit 2005 Lehrtätigkeit im Universitätslehrgang Library and Information Studies, seit 2013 Seminare für den Österreichischen Bibliothekenverbund (OBVSG) und den Brainpool Nationalbibliothek Wien  ; ihr derzeitiger Forschungsschwerpunkt ist die Bibliotheks- und Sammlungsgeschichte des Institutes Theater-, Film- und Medienwissenschaft  ; Dissertation zum Thema »Die Gründung eines theaterwissenschaftlichen Forschungsapparates im Nationalsozialismus. Zur Sammlungsgeschichte der Bestände am Zentralinstitut für Theaterwissenschaft 1943–1945« 2017 abgeschlossen  ; Publikation  : »Wissenschaft nach der Mode  ?«. Die Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943 (gem. mit Birgit Peter) Wien 2008. Christoph Ebner – MMMMag. Dr., Studien  : Geschichte und Politologie, Alte Geschichte, lateinische Philologie und Rechtswissenschaften an der Universität Wien. 2011 promovierte er mit der Arbeit »Familia gladiatoria pugnabit« über die rechtshistorischen und auch gesellschaftlichen Dimensionen der römischen Arenakämpfe in Republik und Kaiserzeit. Seine Arbeit wurde im Dezember 2011 mit dem Kardinal Innitzer-Förderungs-Preis aus dem Bereich der Geisteswissenschaften ausgezeichnet. Christoph Ebner war von 2007 bis 2011 am Institut für Römisches Recht und Antike Rechtsgeschichte der Universität Wien tätig, seit Oktober 2011 ist er Angehöriger des Bundesministeriums für Landesverteidigung und Sport und forscht als Historiker im Heeresgeschichtlichen Museum/Militärhistorischen Institut in Wien. Seine Publikationen beschäftigen sich mit gesellschafts-, mentalitäts- und rechtsgeschichtliche Fragestellungen der griechisch/römischen Antike wie auch mit der österreichischen Regional- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Tamara Ehs – Studium der Politik-, Kommunikations- und Rechtswissenschaften an der Universität Wien, Sciences Po Lille und European Academy of Legal Theory Brüssel  ; weitere Studienaufenthalte an der Universität Oxford und der London School of Economics, Dr.in phil.; seit 2016 politische Bildnerin v. a. für Erstwähler_innen im Rahmen der IG Demokratie  ; davor Politikwissenschafterin am Institut für Rechts- und Sozialgeschichte der Universität Salzburg, am IFK Wien, an der Harvard Law School, an den Instituten für Rechts- und Verfassungsgeschichte sowie für Politikwissenschaft der Universität Wien sowie Visiting Scholar an der New York Public Library  ; zudem Lehraufträge an der Hebräischen Universität Jerusalem, Comenius Universität Bratislava, Freie Universität Berlin und an den Universitäten

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Autorinnen und Autoren

Salzburg, Graz und Wien  ; Trägerin des Wissenschaftspreises der Lupac-Stiftung des österreichischen Parlaments 2015  ; seit 2017 Vorstandsmitglied der IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen. Homepage  : http://www.ig-elf.at/ Stefan Eminger – Mag. Dr., geb. 1967, studierte Geschichte und Deutsche Philologie in Wien  ; bis 2005 Lehrbeauftragter am Institut für Zeitgeschichte der Univ. Wien, danach Leiter des Referates für Zeitgeschichte im NÖ Landesarchiv  ; Forschungsschwerpunkte  : Lokale und regionale Zeitgeschichte, Geschichte Niederösterreichs im 20. Jahrhundert, Geschichte der Ersten Republik Österreich, Geschichte des Nationalsozialismus  ; Publikationen u. a.: Das Gewerbe in Österreich 1930–1938. Organisationsformen, Interessenpolitik und politische Mobilität (StudienVerlag 2005)  ; (gem. mit Ernst Langthaler/Oliver Kühschelm/Peter Melichar) Hg. von »Niederösterreich im 20. Jahrhundert« (drei Bände, Böhlau 2008), (gem. mit Ernst Langthaler) Taschenbuches »Niederösterreich. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart« (Haymon 2012). homepage  : http://members.aon.at/eminger/index.html Gertrude Enderle-Burcel – HR Prof.in Dr.in, 1970 bis 1979 Studium der Germanistik, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Wien  ; seit1979 im Österreichischen Staatsarchiv im Rahmen der Österreichischen Gesellschaft für historische Quellenstudien mit der Edition der Ministerratsprotokolle der Ersten Republik und Zweiten Republik befasst  ; 1988 bis 1995 Mitarbeiterin an verschiedenen großen Forschungsprojekten, u. a. bei einem internationalen Bankforschungsprojekt der London School of Economics und bei einem Forschungsprojekt des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung über die Finanzpolitik Österreichs im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit  ; 2003 bis 2013 Stellvertretende Leiterin der neu gegründeten Stabsabteilung im Österreichischen Staatsarchiv mit dem Schwerpunkt Öffentlichkeitsarbeit  ; initiierte und organisierte eine Vortragsreihe »Aus der Werkstatt der Forschung« im Österreichischen Staatsarchiv  ; 2003 bis 2006 Organisation (mit jeweils eigenen wissenschaftlichen Beiträgen) von drei großen internationalen Konferenzen (2004 Wien  ; 2005 Bratislava  ; 2006 Abschlusskonferenz  : Session »Cold War and Neutrality  : East-West economic relations in Europe«  ; XIVth International Economic History Congress (IEHC in Helsinki)  ; 2004 Beginn der Edition der Tagesnotizen von Adolf Schärf (derzeit 1953 in Arbeit)  ; 2009 Initiierung und Leitung eines Forschungsschwerpunktes »Verwaltung in Umbruch 1938/1945«. Die Publikationsliste  – www.oegq.at  – zeigt die Schwerpunkte, die sich im Wesentlichen drei Feldern zuordnen lassen  : Editionstätigkeit zu Quellen der Ersten

Autorinnen und Autoren

und Zweiten Republik sowie zur Parteiengeschichte  ; biographische Forschungen zu Österreichs Eliten in Politik und Verwaltung  ; wirtschaftshistorische Forschungen zu Themen der Ersten und Zweiten Republik. Linda Erker – Mag.a, Historikerin, Projektmitarbeiterin am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Koordinatorin des Zeitgeschichtetag 2018  ; 2011 bis 2015 Universitätsassistentin (Forschungsschwerpunkt für Gewalt, Diktaturen und Genozide mit dem Dissertationsprojekt »Die Universität Wien im Austrofaschismus; Zur politischen Vereinnahmung einer Hochschule – im Vergleich mit der Universität Madrid im Franco-Faschismus«, ausgezeichnet mit dem Theodor-Körner-Preis 2015)  ; 2015/2016 Mitarbeiterin der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (Abteilung für Restitutionsangelegenheiten) sowie im FWF-Projekt »Antisemitismus nach der Shoah. Ideologische Kontinuitäten und politische Umorientierung im ›Ehemaligen-Milieu‹ in Nachkriegsösterreich (1945–1960)« (Leitung  : Margit Reiter)  ; 2008 bis 2016 Vorstandsmitglied im Verein gedenkdienst. Aktuelle Publikationen  : (gem. mit Veronika Duma/Veronika Helfert/Hanna Lichtenberger) Hg., Perspektivenwechsel. Geschlechterverhältnisse im Austrofaschismus, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften (ÖZG) 3/2016  ; (gem. mit Andreas Huber/Klaus Taschwer) Von der »Pflegestätte nationalsozialistischer Opposition« zur »äußerst bedrohlichen Nebenregierung«. Der Deutsche Klub vor und nach dem »Anschluss«, in  : zeitgeschichte 44 (2017) 2, 78–97; Die Rückkehr der »Ehemaligen«. Berufliche Reintegration von früheren Nationalsozialisten im akademischen Milieu in Wien nach 1945 und 1955, in  : zeitgeschichte 44 (2017) 3, 175–192. Homepage  : http://www.univie.ac.at/zeitgeschichte/linda-erker Georg Gaugusch – Dipl.-Ing., geb. 1974 Wien, studierte von 1995 bis 2003 Technische Biochemie an der TU Wien, seit 1994 Prokurist und seit 2005 geschäftsführender Gesellschafter der Firma Wilhelm Jungmann & Neffe in Wien  ; seit 1992 Mitarbeiter in der Heraldisch-Genealogischen Gesellschaft »Adler« in Wien  ; seit Mitte der 1990er Jahre intensive Beschäftigung mit dem jüdischen Großbürgertum Mitteleuropas im 19. und frühen 20. Jahrhundert und genealogische Aufarbeitung der Verbindungen zwischen rund 500 jüdischen Familien in diesem Raum  ; seit Ende der 1990er Jahre zahlreiche Publikationen zu diesem Thema, darunter Arbeiten über die Familien Kuffner, Wittgenstein, Lieben (Ausstellung im Jüdischen Museum Wien 2004 bis 2005) und Bloch-Bauer (Neue Galerie New York 2006)  ; im Jahr 2011 Publikation des ersten Teils (A–K) von »Wer einmal war«, eines Handbuchs der bedeutenden jüdischen Familien Wiens 1800 bis 1938 im Amalthea-Verlag, 2016 erschien der die Buchstaben L–R umfassenden 2. Band.

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Autorinnen und Autoren

Johanna Gehmacher – Ao. Univ.-Prof.in, Historikerin, lehrt und forscht am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Sie ist Mitherausgeberin der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften und (gem. mit Univ.-Prof. Dr.in Gabriella Hauch) Leiterin des Forschungsschwerpunktes Frauen- und Geschlechtergeschichte der historisch-kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien  ; Forschungsschwerpunkte  : Frauen- und Geschlechtergeschichte, Theorien der Biografieforschung, Theorien des Nationalismus und Geschichte und Nachgeschichte des Nationalsozialismus. Seit Juli 2013 leitet sie das vom FWF finanzierte Projekt »Engagement und Professionalisierung. Käthe Schirmacher (1865–1930) – Selbstentwürfe zwischen radikaler Frauenbewegung und völkischem Nationalismus«. Homepage  : http://www.univie.ac.at/zeitgeschichte/johanna-gehmacher/ Peter Goller – Mitarbeiter am Archiv der Universität Innsbruck, 2001 Habilitation für Wissenschaftsgeschichte, Publikationen zur Geschichte der Universität Innsbruck und zur Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. Hanns Haas – Em. Univ. Prof. Dr. Hanns Haas, geb. 1943, Horn, NÖ, Studium Geschichte und Germanistik in Wien und Salzburg, 1968 Dissertation zum Thema »Österreich-Ungarn als Friedensproblem«  ; 1978 Habilitation im Fach Österreichischer Geschichte an der Univ. Salzburg  ; Forschungs- und Lehraufenthalte in Frankreich, Tschechien und Italien. Forschungsschwerpunkte  : Nationalbewusstsein und Volksgruppenfrage, Internationale Beziehungen zur Zwischenkriegszeit, Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert, Regional- und Mikrogeschichte. Nikolaus Hagen – Mag. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck  ; laufendes Dissertationsprojekt zur »Kultur- und Identitätspolitik im Gau Tirol-Vorarlberg 1938–1945«  ; Mitarbeit an Ausstellungs- und Forschungsprojekten in Vorarlberg, Liechtenstein und Tirol  ; Verfasser von Beiträgen zur jüdischen Geschichte Tirols und Vorarlbergs. Forschungsschwerpunkte  : Antisemitismus, jüdische Geschichte, NS-Kulturpolitik. Homepage  : http://www.nikolaushagen.at/ Murray G. Hall – Studium der Germanistik, Romanistik und Anglistik an der Queen’s University, der Universität Freiburg und der Universität Wien. Promotion 1975, Habilitation 1987, seit 2000 Ao. Univ.-Prof. am Institut für Germanistik der Univ. Wien  ; Mit-Begründer der Gesellschaft für Buchforschung in Österreich; Mit-Hg. der Reihe Buchforschung. Beiträge zum Buchwesen in Österreich (Harrassowitz)  ; Schwerpunkte der Forschung und Lehre  : Robert Musil, Literatur der

Autorinnen und Autoren

Zwischenkriegszeit, Prager deutsche Literatur, Schriftstellernachlässe, Buchhandelsund Verlagsgeschichte, Bibliotheksgeschichte, Provenienzforschung  ; Buchpublikationen  : Der Fall Bettauer (1978); Österreichische Verlagsgeschichte 1918–1938 (2 Bde.); Handbuch der Nachlässe und Sammlungen österreichischer Autoren (gem. mit Gerhard Renner, 1992, 1995); Der Paul Zsolnay Verlag (1994); »… allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern …«. Eine österreichische Institution in der NSZeit. (2006, gem. mit Christina Köstner) sowie zahlreiche Einzelpublikationen zur österreichischen Verlags- und Buchhandelsgeschichte im 19. und 20.  Jahrhundert  ; Korrespondierendes Mitglied der Historischen Kommission des Börsenvereins des deutschen Buchhandels und »Patron of Honour« des internationalen Antiquariatsverbands ILAB  ; arbeitet derzeit an einer Geschichte der deutschsprachigen Verlage in den böhmischen Ländern 1919–1945 (www.boehmischeverlagsgeschichte.at). Homepage  : www.murrayhall.com Waltraud Heindl – Hofrätin Univ. Prof.in Dr.in, arbeitete am und leitete 1997 bis 2001 das Österreichische Ost- und Südosteuropa-Institut, Habilitation an der Universität Wien für Geschichte der Neuzeit, lehrte (und lehrt) an den Universitäten Wien, Klagenfurt, Innsbruck und Fribourg  ; Leiterin einer Reihe von Projekten im historisch-kulturwissenschaftlichen Bereich, Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Rom, Fellow des Wilson Centers in Washington D. C. und des Collegiums Budapest in Budapest  ; Gründungsmitglied der Zeitschrift »L’Homme. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft«, Mitglied des Editorial Board des »Austrian History Yearbook«. Forschungsgebiete  : Verwaltungs- und Bürokratiegeschichte, Bildungsgeschichte sowie Genderforschung, dazu zahlreiche Publikationen, auch in englischer und französischer Sprache, u. a.: Bürokratie und Beamte in Österreich 1780–1848, Bd. 1  : Gehorsame Rebellen, Wien 22013; Bd. 2  : Josephinische Mandarine (1848–1914), Wien 2013  ; (gem. mit Marina Tichy) Frauen an der Universität Wien ab 1897, Wien 2 1993  ; (gem. mit Edith Király/Alexandra Millner) Hg., Frauenbilder, feministische Praxis und nationales Bewusstsein in Österreich-Ungarn 1867–1918, Tübingen und Basel 2006; bearbeitete fünf Bände der Edition »Die Protokolle des österreichischen Ministerrates 1848–1867«; Hg. einiger Bände von »L’Homme«. Niko Hofinger – Ab 1992 Studium der Zeitgeschichte und Politikwissenschaft in Innsbruck  ; erste Projektmitarbeit bei Michael Gehler (Geschichte Tirols nach 1945) und Thomas Albrich (Geschichte der Juden in Tirol)  ; seit 1994 Entwicklung forschungsrelevanter Datenbanken  ; seit 1995 Entwicklung von Webseiten mit kultu-

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rell-historischen Inhalten  ; seit 1995 Mitarbeit/Konzeption von Ausstellungen oder Multimedia-Inhalten in Ausstellungsteams. Publikationen (Auswahl)  : »Unsere Losung ist  : Tirol den Tirolern  !«, Antisemitismus in Tirol 1918–1938, in  : Zeitgeschichte 21 (1994), Heft 3/4, 83–108  ; »… man spricht nicht gerne von dem Prozeß, es sind noch zu viele Fremde da.« Die Halsmann-Affäre in Innsbruck 1928–31, in  : Michael Gehler/Hubert Sickinger (Hg.), Politische Skandale und Affären in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim, WienThaur-München 1995, 21996, 148–187  ; »Wir lebten wie sie, aber abseits von ihnen.« Alltag und Ausgrenzung der Tiroler Juden bis 1938 (gem. mit Martin Achrainer), in  : Ansichtssachen. 61 Gründe Innsbruck zu verlassen oder dazubleiben, hg. v. Michael-Gaismair-Gesellschaft/Almuth Magis/Bernhard Nicolussi Castellan, Innsbruck 1996, 30–36  ; Lebensgeschichten statt Opferlisten. Die Biographische Datenbank zur jüdischen Bevölkerung in Tirol und Vorarlberg im 19. und 20.  Jahrhundert  – Forschungsbericht (gem. mit Martin Achrainer/Thomas Albrich), in  : Geschichte und Region/storia e regione 6 (1997), 277–294  ; Die Turteltaubs  : Eine Großfamilie zwischen jüdischer Tradition und österreichischem Alltag (gem. mit Martin Achrainer), in  : Thomas Albrich (Hg.), »Wir lebten wie sie …«. Jüdische Lebensgeschichten aus Tirol und Vorarlberg, Innsbruck 1999, 147–164  ; Eine kleine Gemeinde zwischen Erinnerung und jüdischem Alltag. Die Israelitische Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg in Innsbruck nach 1945, in  : Eleonore Lappin (Hg.), Jüdische Gemeinden  – Kontinuitäten und Brüche, Berlin/Wien 2002  ; Die jüdische Abteilung am Westfriedhof in Innsbruck nach 1945, in  : Thomas Albrich (Hg.)  : Judenbichl. Die jüdischen Friedhöfe in Innsbruck, Innsbruck 2010. Homepage  : http://www.altneuland.at/nikohofinger_de.html Konstantin Kaiser – 1966 bis 1968 Tätigkeit für die »Galerie Junge Generation« in Innsbruck  ; Studium Jus, Psychologie, Kunstgeschichte und Philosophie in Innsbruck und Wien, Dissertation  : »Zur Weltanschauung Heinrich Heines. Geschichtlichkeit und künstlerische Subjektivität«  ; 1969 bis 1972 Mitglied der künstlerisch-politisch-philosophischen »Gruppe Hundsblume« (erster österreichischer Autorenverlag), Theaterstatist, Nachtportier, Bauarbeiter, Studienrichtungsvertreter, Verwaltungsbeamter  ; seit 1983 freischaffender Literaturwissenschaftler, Lektor und Schriftsteller in Wien  ; 1983 Mitbegründer und später Sekretär der »Theodor Kramer Gesellschaft«  ; seit 1988 Redakteur der Buchreihe »Antifaschistische Literatur und Exilliteratur  – Studien und Texte« (bisher 24 Bde.)  ; seit 1984 Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift »Zwischenwelt« (bis 2000 unter dem Namen »Mit der Ziehharmonika«) und seit 1990 des gleichnamigen Jahrbuches der Theodor Kramer Gesellschaft  ; langjährige Arbeit am »Lexikon der österreichischen Exilliteratur«  ; Lehraufträge an den

Autorinnen und Autoren

Universitäten Klagenfurt, Innsbruck, Graz  ; 2002 Mitbegründer und erster Präsident der »Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung«. Essays, Rezensionen, Gedichte, Prosa, Glossen in den Zeitungen und Zeitschriften »Wiener Tagebuch«, »Aufrisse«, »Die Presse«, »morgen«, »Falter«, »Wespennest« (alle Wien), »Literatur und Kritik«, »Salz« (Salzburg), »WochenZeitung« (Zürich), »Fenster«, »INN« (beide Innsbruck) und im ORF. Buchveröffentlichungen zuletzt u. a.: Vom Weggehen. Zum Exil von Kunst und Wissenschaft (Mit-Hg. 2006)  ; In welcher Sprache träumen Sie  ? Österreichische Lyrik des Exils und des Widerstands (MitHg. 2007)  ; Gedichte. Mit einer Einleitung von Daniela Strigl (2007)  ; Jaffa Zins, Scheindele. Gedichte (Hg. und Übersetzer 2007)  ; Ohnmacht und Empörung (Schriften 2008)  ; Für und wider in dieser Zeit (Glossen, gem. mit Siglinde Bolbecher 2014); KindheitsZyklus (Gedichte 2016); Rote Tränen. Die Zerstörung der Arbeiterkultur durch Faschismus und Nationalsozialismus (Mit-Hg. 2017). Preise  : Theodor-Körner-Preis 1985, Förderungspreis der Stadt Wien 1988, Bruno Kreisky-Anerkennungspreis 2002, Preis der Stadt Wien 2007, Goldenes Ehrenzeichen der Stadt Wien 2009. Homepage  : www.theodorkramer.at [1] Gert Kerschbaumer – Dr. phil., Studium der Germanistik und Geschichte an der Universität Salzburg, BHS-Lehrer und Lehrbeauftragter am Institut für Germanistik in Salzburg, Publikationen über NS-Kultur, Kunstraub, Stefan Zweig  ; Experte des Stadtarchivs Salzburg im Rahmen des Projektes »Die Stadt Salzburg im Nationalsozialismus«, Vortrag »Respekt vor allen Opfern des nationalsozialistischen Terrors« (2012)  ; Projekt »Stolpersteine in Salzburg«, ca. 350 Opferbiografien  : http://www. stolpersteine-salzburg.at/. Rupert Klieber – MMag. DDr., Ao. Univ.-Prof. am Institut für Historische Theologie der Universität Wien, Fachbereich Kirchengeschichte. Doppelstudium Geschichte und katholische Theologie in Salzburg und Wien  ; ab 1989 am Institut für Kirchliche Zeitgeschichte am Internationalen Forschungszentrum in Salzburg  ; seit 1994 am Institut für Kirchengeschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, Habilitation im Fach Kirchengeschichte 1998  ; Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Zeitgeschichte bzw. des Politischen Katholizismus, der neuzeitlichen Frömmigkeitsgeschichte sowie der Kirchlichen Sozial- und Religiösen Alltagsgeschichte. Preis  : erster Preis der Wissenschaftsförderung des Landes Salzburg 1992  ; Leopold-Kunschak-Preis 1993  ; Kardinal-Innitzer-Preis 1999.

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Selbstständige Publikationen und Redaktionen  : Politischer Katholizismus in der Provinz. Salzburgs Christlichsoziale in der Parteienlandschaft Alt-Österreichs, Wien/ Salzburg 1994  ; Bruderschaften und Liebesbünde nach Trient. Ihr Totendienst, Zuspruch und Stellenwert im kirchlichen und gesellschaftlichen Leben am Beispiel Salzburg (1600–1950), Frankfurt/Berlin u. a. 1999  ; (Hg.) Impulse für eine Religiöse Alltagsgeschichte des Donau-Alpen-Adria-Raumes, Wien 2005  ; (Hg.) Inkulturation. Historische Beispiele und theologische Reflexionen zur Flexibilität und Widerständigkeit des Christlichen, Münster 2006  ; (Hg.) Österreichs Kirchen im 20. Jahrhundert – eine Bibliographie, Sonderbd. 1 der Österr. Historischen Bibliographie, Graz 2007  ; (Hg.) Das Priesterkolleg St.  Augustin »Frintaneum« in Wien 1816 bis 1918. Kirchliche Elite-Bildung für den Donau-Alpen-Adria-Raum, Wien 2008  ; Jüdische/ christliche/muslimische Lebenswelten der Donaumonarchie 1848–1918, Wien 2010. Leitung in laufenden Forschungsprojekten   : Nationales und interdisziplinäres Projekt  : »Pius XI. und Österreich«  ; Internationales Projekt »Frintaneum«  : widmet sich der kirchlichen Elitebildung im Donau-Alpen-Adria-Raum  ; Edition mehrerer Bände eines biographischen Lexikon zu den Mitgliedern des Wiener Priesterkollegs St. Augustin/»Frintaneum« (1816–1918)  ; internationales Projekt »Bischöfe der Donaumonarchie 1804–1918«  : Erarbeitung eines mehrbändigen Handbuches zu den Amtsbiographien aller römisch- und griechisch-katholischen Bischöfe der Habsburgermonarchie  ; Institutsprojekt »Kirchliche Sozial- und Religiöse Alltagsgeschichte des Donau-Alpen-Adria-Raumes«. Homepage  : https://kg-ktf.univie.ac.at/ueber-uns/#c49965 Christian Klösch – Mag. Dr., Historiker, Studium der Geschichte und Philosophie in Graz und Wien  ; 1999 bis 2004 Mitarbeiter der Österr. Historikerkommission  ; seit 2005 Mitarbeiter der Kommission für Provenienzforschung und der Verkehrsabteilung am Technischen Museum Wien  ; Herbert-Steiner-Preis 2006  ; Lehraufträge an der Universität Klagenfurt und der Universität Wien (weitere Informationen  : www. christiankloesch.at) Forschungsschwerpunkte   : Austrofaschismus und Nationalsozialismus, österreichische Emigration in den USA, Verkehrsgeschichte Österreichs, Kärntner Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts. Literatur (Auswahl)  : »Des Führers heimliche Vasallen«. Die Putschisten des Juli 1934 im Kärntner Lavanttal, Wien 2007  ; (gem. mit Kurt Scharr/Erika Weinzierl, »Gegen Rassenhass und Menschennot«. Leben und Werk einer ungewöhnlichen Widerstandskämpferin. Irene Harand (1900–1975), Innsbruck 2004  ; Das »Dritte Lager« in Niederösterreich 1918–1996, in  : Stefan Eminger u. a. (Hg.), Niederösterreich im 20.  Jahrhundert, Bd. 1  : Politik in der Gesellschaft, St. Pölten 2008, 565–601  ;

Autorinnen und Autoren

»Mein letzter Stolz ist  : Ich war auch dabei  !« Ein Sittenbild zur Kontinuität nationalsozialistischer Mentalitäten und persönlicher Seilschaften im Kärnten der Zweiten Republik, in  : Friedrich Stadler u. a. (Hg.), Das andere und künftige Österreich im Neuen Europa. In memoriam Felix Kreissler (1917–2004), Wien 2006, 227–243  ; zuletzt erschienen  : »Lagerstadt Wolfsberg« Flüchtlinge – Gefangene – Internierte. Dokumentation zur Ausstellung im Museum im Lavanthaus & Stadtgalerie Wolfsberg 2013/2014. Homepage  : https://www.technischesmuseum.at/person/mag-dr-christian-kloesch Johannes Koll – PD Mag. Dr.; im Anschluss an das Magister- und Promotionsstudium an der Universität zu Köln Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Niederländische Philologie der Kölner Universität sowie am Zentrum für Niederlande-Studien der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster  ; zwischen 2005 und 2007 Gastprofessor für die Geschichte des Benelux-Raums am Institut für Geschichte und an der Abteilung Nederlandistik der Universität Wien. Danach arbeitete Johannes Koll am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien als Postdoc in zwei Forschungsprojekten  : Zunächst beschäftigte er sich mit der Biografie des österreichischen Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart (1892–1946). Seit 2012 hat er im Rahmen des Gedenkprojekts der WU Wien die Vertreibung von Studierenden von der Wiener Hochschule für Welthandel nach dem »Anschluss« Österreichs untersucht (http://gedenkbuch.wu.ac.at). Im Dezember 2013 habilitierte er sich für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Wien mit einer Studie über Seyß-Inquart als Reichskommissar für die besetzten Niederlande (1940–1945). Seit 2015 leitet Johannes Koll das neu eingerichtete Universitätsarchiv der WU Wien und ist als Senior Scientist dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte dieser Universität verbunden. Überdies obliegt ihm an der Universitätsbibliothek der WU Wien die wissenschaftliche Leitung des Provenienzforschungsprojekts. Als Gastwissenschaftler war er am Netherlands Institute for Advanced Study in the Humanities and Social Sciences (NIAS), am Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas und am Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie (NIOD) tätig. Er war unter anderem Stipendiat der Gerda Henkel Stiftung und des Deutschen Historischen Instituts Warschau. Publikationen (Auswahl)  : Arthur Seyß-Inquart und die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden (1940–1945), Wien u. a. 2015  ; (Hg.) »Säuberungen« an österreichischen Hochschulen 1934–1945. Voraussetzungen, Prozesse, Folgen, Wien u. a. 2017  ; Wider den Antisemitismus an Österreichs Hochschulen. Eine vergessene Denkschrift von 1930, in  : Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015), 451–

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474  ; Biographik und NS-Forschung, in  : Neue Politische Literatur. Berichte über das internationale Schrifttum 57 (2012), 67–127. Homepage  : https://www.wu.ac.at/geschichte/institut/personal/koll-personal/ Angelika Königseder – 1985–1990 Studium der Politischen Wissenschaften, Neuere und Neueste Geschichte in München  ; 1996 Promotion zum Thema »Flucht nach Berlin. Jüdische Displaced Persons 1945–1948«  ; 1996 bis 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Antisemitismusforschung, TU Berlin  ; seit 2011 freiberufliche Historikerin, Lektorin und Ausstellungskuratorin. Forschungsschwerpunkte  : Nationalsozialismus, Judenverfolgung und Holocaust, Vorurteilsforschung (auch gegenüber Sinti und Roma, Muslimen u. a. Minderheiten), Antisemitismus (insbes. in Deutschland und Österreich), Genozidforschung (insbes. Kambodscha), jüdische Nachkriegsgeschichte in Deutschland und Justiz im Nationalsozialismus. Publikationen in Bezug auf den Tagungsvortrag  : Österreich – Ein Land der Täter  ?, in  : Wolfgang Benz/Juliane Wetzel (Hg.), Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit. Regionalstudien 2, Berlin 1998  ; Faschistische Bewegungen in Österreich vor 1938, in  : Hermann Graml/Angelika Königseder/Juliane Wetzel (Hg.), Vorurteil und Rassenhass. Antisemitismus in den faschistischen Bewegungen Europas, Berlin 2001  ; Antisemitismus 1933–1938, in  : Emmerich Tálos/Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938, Wien 2005. Christina Köstner-Pemsel – Studium der Germanistik und Romanistik in Wien und Turin. Diplomarbeit über die Geschichte des kommunistischen Globus Verlags. 2003 bis 2005 FWF-Projekt Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek in der NS-Zeit (Dissertation). Kuratorin der Ausstellung »Geraubte Bücher. Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit« (gem. mit Margot Werner). Bibliothekarin und Provenienzforscherin an der Universitätsbibliothek Wien. Zuletzt erschienen  : Bibliotheken in der NS-Zeit. Wien 2008 (gem. mit St. Alker und M. Stumpf ) und NS-Provenienzforschung an Österreichischen Bibliotheken. Anspruch und Wirklichkeit. Graz/Feldkirch 2011 (gem. mit B. Bauer und M. Stumpf ). Christoph Lind – Wintersemester 1991 Beginn des Studiums der Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Wien. Sponsion 1998 am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. 1998 bis 2001 freier wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für jüdische Geschichte Österreichs (Injoest). Promotion 2001 am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. 2001 bis 2005 Projekt »Juden in Nieder-

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österreich 1938–1945« am Injoest. 2005 bis 2008 Projekt (des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung, FWF) »Juden in Niederösterreich 1782-1938« am Injoest. 2008 Gründungsmitglied des Instituts für historische Intervention (IHI)  ; weiterhin freier Mitarbeiter des Injoest. 2009 bis jetzt Projekt »Neugestaltung des alten jüdischen Friedhofs St. Pölten«. 2009 bis 2012 Projekt »Hermann Leopoldi. Ein Wiener Volkssänger jüdischer Herkunft« (Gesamtedition der Noten  ; Biographie  ; Kurator der Ausstellung »Die drei Wien des Hermann Leopoldi« in der Wienbibliothek im Rathaus, gemeinsam mit Georg Traska). 2011 bis 2016 »AKM und Austro Mechana im Wandel von ›Arisierung‹ und Neugründung«. 2013 Wissenschaftspreis des Landes Niederösterreich. 2014 erneut Mitarbeiter am Injoest. 2014/15 Projekt »Haus der Geschichte Niederösterreichs«. Seit 2015 Projekt »Koscher im Krieg«. Rituelle Kost im Ersten Weltkrieg. Homepage  : www.injoest.ac.at Matthias Marschik – Dr. phil., geb. 1957, Studium der Psychologie und Philosophie in Wien, Habilitation aus Zeitgeschichte in Linz. 2013 bis 2016 Wiss. Mitarbeiter der Univ. für Angewandte Kunst in Wien im Rahmen des FWF-Projektes »Jüdische Sportfunktionäre im Wien der Zwischenkriegszeit«. Derzeit Wiss. Mitarbeiter der Univ. Wien und Lehrbeauftragter der Universitäten Wien, Salzburg und Klagenfurt. Zahlreiche Publikationen zu Alltags- und Sportkulturen, zum Thema zuletzt  : Jüdischer Sport in Metropolen. Schwerpunktheft Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 27/1 (2017) (gem. mit Susanne Helene Betz, Sema Colpan, Bernhard Hachleitner, Alexander Juraske und Georg Spitaler)  ; »Der Herr Kommerzialrat«. Theodor Schmidt und Rudolf Klein. Sporträume als Orte jüdischer Selbstvergewisserung in der Ersten Republik, in  : Wiener Geschichtsblätter 71/4 (2016), 299–324  ; Jewish Difference in the Context of Class, Profession and Urban Topography  : Studies of Jewish Sport Officials in Interwar Vienna (gem. mit Sema Colpan und Bernhard Hachleitner), in  : Austrian Studies 24 (2016), 140–155  ; Sportliche Avancen  – Frauensport in Wien 1934–1938 (gem. mit Johanna Dorer), in  : Österr. Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 27/3 (2016), Schwerpunktheft  : Perspektivenwechsel  : Geschlechterverhältnisse im Austrofaschismus, 94–116  ; Leo Schidrowitz. Autor und Verleger, Sexualforscher und Sportfunktionär (gem. mit Georg Spitaler), Berlin 2015. Homepage  : http://homepage.univie.ac.at/matthias.marschik/ Anita Mayer-Hirzberger – Studium der Musikwissenschaft und Kunstgeschichte an der Karl-Franzens-Universität in Graz und Trompete an der Musikhochschule Graz. 2008 habilitierte sie sich mit der Schrift »… ein Volk von alters her musikbe-

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gabt«. Der Begriff »Musikland Österreich« im Ständestaat an der Musikuniversität Wien, wo sie als Ao. Univ.-Prof.in für Historische Musikwissenschaft am Institut für Analyse, Theorie und Geschichte der Musik tätig ist. Ihre derzeitigen Forschungsschwerpunkte sind  : Musik und Politik, Identitäts- und Denkmalforschung, Konstruktivität der Musikgeschichtsschreibung. Homepage  : https://www.mdw.ac.at/imi/anita_mayer_hirzberger. Peter Melichar – Studium in Wien (Geschichte, Philosophie), Dr. phil. 1993. Mitarbeit an Großausstellungen (Die ersten 100 Jahre, 1988  ; ostarrichi-Österreich, 1996  ; Buchstäblich Vorarlberg, 2013  ; Der Fall Riccabona, 2016) und Forschungsprojekten (Sozialgeschichte des Bürgertums). 1999 bis 2002 Mitarbeiter der Österreichischen Historikerkommission und der Kommission »Schweiz – Zweiter Weltkrieg« (UEK)  ; Mitarbeit an der Edition der Ministerratsprotokolle  ; ab 2004 Mitherausgeber der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften. Seit 2009 Kurator für Geschichte im vorarlberg museum. Publikationen zur Geschichte des Bürgertums, zur Sozialgeschichte der Armee Österreich-Ungarns, zur Geschichte der Intellektuellen, zu diversen Aspekten der Wirtschaftsgeschichte (z. B. Arisierungen, Unternehmer, Bankiers) und zum Politiker Otto Ender. Homepage  : http://www.clio-online.de/forscherinnen=9550 (Auswahlbiographie) Christian Mertens – Mag. phil., Studium der Geschichte und Politikwissenschaft in Wien (Diplomarbeit  : Das Jüdische Vereinswesen Wiens in der Zeit zwischen den Weltkriegen, 1988). Nach freiberuflicher wissenschaftlicher und journalistischer Tätigkeit 1991 bis 1999 Politischer Referent, seit 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Wienbibliothek (u. a. Mitarbeit am Wien Geschichte Wiki, Provenienzforschung, Mit- und Alleinkurator mehrerer Ausstellungen), zahlreiche Veröffentlichungen zu historischen und politischen Themen. Homepage  : www.wienbibliothek.at. Alexandra Neubauer-Czettl – Mag.a phil., 1995 bis 2000 Diplomstudium der Geschichte und Germanistik an der Universität Wien  ; seit 2000 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Österreichischen Gesellschaft für historische Quellenstudien bei der Edition der Ministerratsprotokolle der Ersten und Zweiten Republik, Mitarbeit an diversen Projekten, Veranstaltungen und Publikationen  ; 2001 bis 2005 auch Assistentin am Institut für Allgemeine Pädagogik/Wirtschaftsuniversität Wien  ; 2006 bis 2008 DOC-Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Publikationen (Auswahl)  : Staatliche Sportförderung in Österreich in der Ersten Republik (Wien 2001, zugleich Dipl.-Arb. Univ. Wien 2000)  ; Edition der Minis-

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terratsprotokolle der Ersten Republik, Kabinett Ramek, Bd. 3 (Wien 2002) und 4 (Wien 2005)  ; Kabinett Schuschnigg, Bd. 7 (Wien 2011) und 8 (2013)  ; (gem. mit Gertrude Enderle-Burcel/Edith Stumpf-Fischer (Hg.), Brüche und Kontinuitäten 1933 – 1938 – 1945. Fallstudien zu Verwaltung und Bibliotheken (Wien 2013). Homepage  : www.oegq.at Birgit Peter – Studium der Theaterwissenschaft und Philosophie an der Universität Wien, Dissertation und Habilitation zur Zirkusgeschichte. Leiterin des Archivs und der Sammlungen am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien  ; Forschungsschwerpunkte und Publikationen u. a.: Zirkus, Fachgeschichte, rare Dokumente und verdrängte Theatergeschichte  ; Projektleitung des FWF Projekts Sammlungsideologie und Geschichtsschreibung. Publikationen zum Thema  : Beiträge zu Der liebe Augustin (1931–1938), Oscar Tellers »Jüdisch-politisches Cabaret« (1928–1938), »Simplicissimus« (1912–1938), in  : Wolfgang Benz (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7  : Film, Theater, Literatur und Kunst, Berlin 2015  ; Antiziganismus, Antislawismus und Antisemitismus als Karrierestrategie. Über einen theaterwissenschaftlichen »Gründungsvater«, in  : Oliver Rathkolb (Hg.), Der lange Schatten des Antisemitismus. Kritische Auseinandersetzungen mit der Geschichte der Universität Wien im 19. und 20.  Jahrhundert (Zeitgeschichte im Kontext 8), Göttingen 2013, 173–181  ; Imago und Vergessen. Wienbilder und ihre unsichtbaren Urheber, in  : Frank Stern/Barbara Eichinger (Hg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien u. a. 2009, 439–461. Homepage  : https://tfm.univie.ac.at/wo-finde-ich-was/archiv-und-sammlungen/ Doron R abinovici – Autor und Historiker, 1961 in Tel Aviv geboren, lebt seit 1964 in Wien. Er verfasst Kurzgeschichten, Romane, Essays, dramatische Arbeiten und wissenschaftliche Studien. 1994  : Projekt für das Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst »Zwischen altem Reich und Neuer Welt  : die Perzeption der USA in Österreich ab 1914«  ; 2000  : Promotion mit einer Dissertation über die Reaktion der jüdischen Gemeindeleitung auf die nationalsozialistische Verfolgung und Vernichtung  ; Lehrtätigkeit an der Universität für angewandte Kunst in Wien  ; mehrere Gastprofessuren. Publikationen (Auswahl)  : Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938–1945. Der Weg zum Judenrat, Frankfurt a.M. 2000  ; Neuer Antisemitismus  ? Eine globale Debatte (hg. gem. mit Ulrich Speck/Natan Sznaider), Frankfurt a.M. 2004  ; Der ewige Widerstand. Über einen strittigen Begriff, Graz 2008; Herzl Reloaded. Kein Märchen (gem. mit Natan Sznaider), Berlin 2016. Homepage  : www.rabinovici.at/

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Margit Reiter – Lehrt und forscht als Dozentin für Zeitgeschichte und FWF Senior Research Fellow am Institut für Zeitgeschichte an der Universität Wien. War u. a. Gastforscherin am Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) an der TU Berlin und am Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas (BKVG) an der FU Berlin  ; Senior Fellow am Zentrum für Holocaust-Studien am IfZ München sowie Gastprofessorin an den Universitäten Salzburg und Wien. Forschungsschwerpunkte  : Israel-Kritik und (linker) Antisemitismus, Antiamerikanismus, NS-Nachgeschichte, Familiengedächtnis (»Kinder der Täter«), Gedächtnisgeschichte der Linken, personelle NS-Kontinuitäten nach 1945. Zahlreiche Publikationen (Auswahl)  : Unter Antisemitismus-Verdacht. Die österreichische Linke und Israel nach der Shoah (2001), Die Generation danach. Der Nationalsozialismus im Familiengedächtnis (2006), Europa und der 11. September 2001 (2011). Derzeit  : Projektleiterin des FWF-Projekts  : Antisemitismus nach der Shoah. Ideologische Kontinuitäten und politische Reorientierung im »Ehemaligen«-Milieu nach 1945 in Österreich. Homepage  : homepage.univie.ac.at/margit.reiter. Ilse Reiter-Zatloukal – Dr.in iur., Ao. Univ.-Prof.in am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien  ; Forschungsschwerpunkte  : Rechts- und Verfassungsgeschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, insbes. im »Austrofaschismus« und Nationalsozialismus  ; Anwaltsgeschichte und Justizpraxis des 19. und 20.  Jahrhunderts  ; Geschichte des Migrationsrechts, insbes. Ausweisung und Emigration  ; Geschichte des europäischen Staatsbürgerschaftsrechts, insbes. Praxis des Staatsangehörigkeitsentzugs im 20. Jahrhundert  ; Geschlechtergeschichte. Laufende Forschungsprojekte  : Ärzte und Ärztinnen in Österreich 1933–1945. Entrechtung, Vertreibung, Ermordung  ; NS-Rechtswahrerbund in Österreich 1938– 1945. Preise  : Preis des »Forum Anwaltsgeschichte e.V.«, Mainz (2009)  ; Teaching Award der Universität Wien 2013 (Rechts- und Sozialwissenschaften)  ; agpro Forschungs­ preis 2014. Publikationen  : http://homepage.univie.ac.at/ilse.reiter-zatloukal/Publikationsverzeich nis%20Reiter.pdf  ; Mit-Hg.in der Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs – BRGÖ. Homepage  : http://homepage.univie.ac.at/ilse.reiter-zatloukal/ Christiane Rothländer – Dr.in phil., Studium der Geschichte und Germanistik an der Universität Wien  ; seit 2004 u. a. Universitätsassistentin, Projektbearbeiterin und Lehrbeauftragte am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte sowie am

Autorinnen und Autoren

Institut für Geschichte der Universität Wien  ; seit 2014 Mitglied des Teams zur Neugestaltung der österreichischen Ausstellung im Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau. Letzte Veröffentlichungen zum Thema  : Die Anfänge der Wiener SS, Böhlau, Wien u. a. 2012  ; Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherung an das Dollfuß-/ Schuschnigg-Regime, hg. gem. mit Ilse Reiter-Zatloukal/Pia Schölnberger, Wien u. a. 2012. Hanno Scheuch – Studium der Geschichte/Philosophie und der Rechtswissenschaften an den Universitäten Wien und Cambridge (Großbritannien)  ; Vertragsassistent am Juridicum Wien  ; danach Tätigkeiten im Banken- und Versicherungsbereich  ; seit 1996 leitender Beamter in einer internationaler Organisation in Wien mit Schwerpunkt auf Entwicklungsfinanzierung  ; Mitglied des Board of Advisers, International Development Law Organization, Rom und Mitglied Chartered Institute of Arbitrators, London  ; Beiträge u. a. in  : Historical Journal, Mitteilungen des Staatsarchivs, Savigny Zeitschrift für Rechtsgeschichte. Stefan Schima – Mag. phil., Mag. Dr. iur., Ao. Univ.-Prof. am Institut für Rechtsphilosophie der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien  ; Absolvent des Instituts für österreichische Geschichtsforschung  ; Lehrtätigkeit an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät und der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und im Rahmen der Lehrgänge »Kanonisches Recht für Juristen« und »Muslime in Europa«. Forschungsschwerpunkte  : Österreichisches Religionsrecht, Europäisches Religionsrecht, Katholisches Kirchenrecht, Geschichte der Staat-Kirche-Beziehung, Rechtsgeschichte der religiösen Minderheiten, Rechtsgeschichte des Papsttums. Homepage  : http://rechtsphilosophie.univie.ac.at Erwin A. Schmidl – Studium der Geschichte, Völkerkunde und Kunstgeschichte an der Universität Wien  ; Dissertation (Österreicher im Burenkrieg 1899–1902)  ; Dr. phil. sub auspiciis praesidentis 1981  ; 2001 Univ.-Doz. für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte (Universität Innsbruck). Berufliche Tätigkeit  : seit 1981 wissenschaftlicher Beamter im Bundesministerium für Landesverteidigung  : bis 1995 im Heeresgeschichtlichen Museum, 1996 bis 2001 im Militärwissenschaftlichen Büro, 2001 bis 2014 Leiter des Fachbereichs Zeitgeschichte am Institut für Strategie und Sicherheitspolitik der Landesverteidigungsakademie Wien  ; seit 2014 Leiter dieses Instituts  ; Hofrat.

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Zahlreiche Publikationen, Vorträge und Ausstellungen zur Militär- und politischen Geschichte insbesondere des 19. und 20.  Jahrhunderts  ; u. a. über die Entwicklung internationaler Friedensoperationen und österreichische sowie europäische Sicherheitspolitik nach 1945 Homepage  : http://www.bundesheer.at/wissen-forschung/publikationen/person.php? id=7 bzw. https://www.uibk.ac.at/zeitgeschichte/mitarbeiterinnen/schmidl.html.de Gabriele Schneider – 1981 bis 1985 Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien (Mag.a iur. 1986), 1982 bis 1983 Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Wirtschaftsuniversität Wien, Gerichtspraxis in Wien, ab 1986 Universitätsassistentin am Institut für Österreichische und Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien, 1991 Promotion (Dr.in iur.)  ; 2001 bis 2008 in der Privatwirtschaft tätig, 2003 Mitgründung einer Rechtsanwaltskanzlei, seit 2008 Assistenzprofessorin am Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte der Universität Wien  ; Forschungsschwerpunkte  : Stiftungsrecht, Armenrecht, Frauen in der Justiz. Homepage  : http://rechtsgeschichte.univie.ac.at/mitarbeiterinnen/gabriele-schneider/ Ursula Schwarz – Mag.a Dr.in, Historikerin, Mitarbeit an Projekten zum Thema NS-Strafjustiz und Personalpolitik bei Richtern und Staatsanwälten 1938 bis 1945, Autorin zahlreicher Publikationen zum Thema NS-Strafjustiz sowie des Lexikons der Wiener Gemeindebauten (gem. mit Peter Autengruber). Neueste Publikation  : Salzburg im Nationalsozialismus  : Krieg, Terror, Nachwirkungen. 1938–1945 und die Nachkriegszeit, in  : Oskar Dohle/Alfred Höck/Franz Wieser (Hg.), Salzburg nach 1816  : Schicksalszeiten auf dem Weg zur Demokratie, Salzburg 2017, 131–163. Homepage  : https://www.doew.at/mitarbeiterinnen/dr-ursula-schwarz Astrid Schweighofer – MMag.a Dr.in, geb. 1979 in Neunkirchen (NÖ)  ; 1998 Matura am BG Neunkirchen  ; 1999 Auslandsaufenthalt in Paris  ; Studium Geschichte/ Französisch Lehramt (1999–2004) und Evangelische Fachtheologie (1999–2008) an der Universität Wien  ; Doktoratsstudium Evangelische Theologie (2008–2013)  ; 2012/13 Unterrichtspraktikantin in den Fächern Geschichte/Französisch am B 9 Wasagasse  ; seit 2008 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst der Evangelisch-Theologischen Fakultät Wien (Assistentin i. A.; Post-Doc-Assistentin). Print- und Hörfunkausbildung an der Katholischen Medienakademie in Wien  ; Praktika im journalistischen Bereich (FURCHE, APA-Innenpolitik, Ö1)  ; freie Mitarbeiterin beim ORF-Hörfunk, Abteilung Religion (seit Februar 2007)  ; Erstellung von Unterrichtsmaterialien im Rahmen des Projektes »Ö1 macht Schule« (seit 2013).

Autorinnen und Autoren

Forschungsschwerpunkte  : Geschichte des Protestantismus und des Judentums in der Habsburgermonarchie  ; Evangelischer Antisemitismus in der späten Habsburgermonarchie  ; Konversionen vom Judentum zum Protestantismus in Wien um 1900  ; Anfänge, Formierung und Einflüsse des Gnesioluthertums und des Flacianismus (Schwerpunkt  : Südostmitteleuropa) Monographie  : Religiöse Sucher in der Moderne. Konversionen vom Judentum zum Protestantismus in Wien um 1900 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 126), Berlin u. a. 2015. Homepage  : http://etfkg.univie.ac.at/ueber-uns/team/astrid-schweighofer/ Otmar Seemann – Promotion 1971, 1974 bis 2013 freiberuflich niedergelassener Zahnarzt  ; 1999  : Hon.-Prof.; seit 2008 Öffentlichkeitssprecher der Wiener Landeszahnärztekammer  ; langjähriges Vorstandmitglied des Zahnärztlichen Interessenverbandes Österreichs und der Österreichischen Gesellschaft für Zahnheilkunde, Zweigverein Wien  ; seit 1974 Sammeltätigkeit, Hauptschwerpunkt  : Dokumente zu den Lebensläufen Wiener Zahnärzte von 1600 bis 1950 sowie zu den Standesvertretungen der Zahnärzte und der Zahntechniker bzw. Dentisten. Kamila Staudigl-Ciechowicz – Mag.a Dr.in LL.M., geb. 1984 in Krakau (Polen), Studium Rechtswissenschaften und Geschichte an der Universität Wien (Mag.a iur. 2008, Dr. iur. 2017)  ; Universitätslehrgang Kanonisches Recht für Juristen an der Universität Wien (LL.M. 2014)  ; seit 2005 am Wiener Institut für Rechtsgeschichte tätig, zuerst Studienassistentin, 2009 bis 2012 Projektmitarbeiterin am FWF-Projekt (Projektleitung Thomas Olechowski) »Die Wiener Rechts- u. Staatswissenschaftlichen Fakultät 1918–1938«; 2012–2017 Univ.Ass.in  ; 2010 bis 2012 Research Assistant bei der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften  ; Vorsitzende der Wahlkommission der Hochschülerinnen- und Hochschülerschaft an der Universität Wien. Publikationen (Auswahl)  : Das Dienst-, Habilitations- und Disziplinarrecht der Universität Wien 1848–1938 (Göttingen 2017), Die Wiener Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät 1918–1938 (Göttingen 2014, gem. mit Thomas Olechowski/ Tamara Ehs). Forschungsschwerpunkte  : Österreichische und polnische Verfassungsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Wissenschaftsgeschichte (insb. Strafrecht und Privatrecht), Uni­ versi­täts(rechts)geschichte (Dienstrecht, Disziplinarrecht, Antisemitismus, akademische Netzwerke), europäische Privatrechtsgeschichte (Kindschaftsrecht, Handelsrecht, Zwischenkriegszeit). Homepage  : http://www.staudigl-ciechowicz.at/

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Autorinnen und Autoren

Stefan Spevak – Mag. phil., Dr. phil., MAS, geb. 1968 in St Pölten  ; Studium der Geschichte, Psychologie/Philosophie sowie der historischen Hilfswissenschaften in Wien (1987–1997)  ; seit 1992 Mitglied des Instituts für österreichische Geschichtsforschung (IÖG)  ; Mitarbeit an zahlreichen Forschungsprojekten, u. a. bei der Historikerkommission der Republik Österreich (NS-Vermögensentzug im Bereich katholische Kirche, 1999–2001) und am IÖG (Germanenrezeption in rechtsextremen Zeitschriften, 2001–2006)  ; daneben Deutschlektor bzw. Gymnasiallehrer in Paris und Wien (1997–2006)  ; seit 2006 Archivar am Wiener Stadt- und Landesarchiv, zuständig für die Bestandsbereiche Bildung, Jugend und Kultur  ; seit 2011 Lektor am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien (Schwerpunkt  : Quellenkunde, Zeitgeschichte, Fachdidaktik). Herausgeber- und Autorenschaft zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen, u. a. Stefan Spevak, Das Jubiläum »950 Jahre Österreich«. Eine Aktion zur Stärkung eines österreichischen Kultur- und Staatsbewusstseins im Jahr 1946, Wien u. a. 2003. Christian H. Stifter – Zeithistoriker  ; Studium der Geschichte und Philosophie an der Universität Wien  ; Direktor des Österreichischen Volkshochschularchivs  ; Herausgeber der Fachzeitschrift »Spurensuche«  ; Redaktionsmitglied der Zeitschrift »zeitgeschichte« sowie Beiratsmitglied der Wissenschaftsjury des Theodor-Körner-Fonds. Forschungsschwerpunkte  : Kalter Krieg in Österreich  ; Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik in Österreich im 20. Jahrhundert  ; Geschichte der Wissenschaftspopularisierung, Volks- und Erwachsenenbildung im 19./20. Jahrhundert. Zuletzt erschienen  : Zwischen geistiger Erneuerung und Restauration. US-amerikanische Planungen zur Entnazifizierung und demokratischen Reorientierung und die Nachkriegsrealität österreichischer Wissenschaft 1941–1955, Wien u. a. 2014. Homepage  : www.vhs.at/vhsarchiv Emmerich Tálos – Studium der Kath. Theologie und der Geschichte in Wien und Tübingen sowie (postgraduate) der Politikwissenschaft am Institut für Höhere Studien/Wien  ; ab 1983 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Wien  ; Lehrbeauftragter an der Wirtschaftsuniversität Wien sowie der Donau-Universität Krems  ; formell im Ruhestand seit 2009 Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zu den Arbeitsschwerpunkten  : Sozialstaat Österreich, Wohlfahrtstaatsvergleich, Sozialpartnerschaft, politische Entwicklung im 20. Jahrhundert, Austrofaschismus  ; zuletzt erschienen  : Das austrofaschistische Österreich 1933–1938 (unter Mitarbeit von Florian Wenninger), Wien 2017. Homepage  : https://staatswissenschaft.univie.ac.at/

Autorinnen und Autoren

Klaus Taschwer – Studierte Sozialwissenschaften an der Universität Wien und ist seit 2007 Wissenschaftsredakteur bei der Tageszeitung »Der Standard«  ; arbeitete davor als freier Journalist und »Zwischenschaftler«  ; lehrte an den Unis Wien und Klagenfurt und der FH Eisenstadt  ; gründete und gab von 1997 bis 2009 das Wissenschaftsmagazin »heureka  !« heraus. Er war zudem Mitbegründer und Ko-Leiter des Universitätslehrgangs »SciMedia« für Wissenschaftskommunikation und 2013 erster Journalist-in-Residence am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin  ; schreibt neben journalistischen Artikeln in der Freizeit Texte mit Fußnoten, vor allem zur Wissenschaftsgeschichte Österreichs im 20.  Jahrhundert, zuletzt »Hochburg des Antisemitismus. Über den wissenschaftlichen Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert« (2015) und »Der Fall Paul Kammerer. Das abenteuerliche Leben des umstrittensten Biologen seiner Zeit« (2016). Homepage  : https://independent.academia.edu/KlausTaschwer Martin E. Urmann – Martin E. Urmann, Studium der Germanistik, Geschichte und Psychologie in Innsbruck, Dr. phil., zahlreiche Auslandsaufenthalte zu Studienzwecken (Schweden, Italien, Frankreich)  ; arbeitet und publiziert zur europäischen Wissenschaftsgeschichte, bes. im Bereich des hermetischen Wissens in der Frühen Neuzeit (prisca sapientia-Ideologie)  ; derzeit zu Anciennitätskonstruktionen in den Universalwissenschaften des Barock. Publikationen zur Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft im 19.  Jahrhundert, zur Innsbrucker Universitätsgeschichte (Julius v. Ficker, Alfons Huber), zur Biographik, im Bereich der Literaturhistorik und zur Bildungsgeschichte Tirols im 19. Jahrhundert. Lebt und arbeitet als freiberuflicher Publizist in Meran und Innsbruck. Andreas Weigl – Univ.-Doz., Mag. phil., Mag.Dr.rersocoec., geb. 1961 in Wien  ; Studium der Wirtschaftsinformatik und Geschichte an der Universität Wien. 1984 bis 2008 Tätigkeit in der amtlichen Statistik und der Magistratsdirektion der Stadt Wien, darunter 1998 bis 2005 stellvertretender Leiter des Statistischen Amtes, seit 2008 Mitarbeiter des Wiener Stadt- und Landesarchivs, Leiter wissenschaftlicher Projekte und Kooperationen, 2010 bis 2011 Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Stadtgeschichtsforschung, ab 2011 Vorsitzender des Österreichischen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung  ; seit 2001 Privatdozent am Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität Wien mit Schwerpunkt historische Demographie, Stadtgeschichte, Konsumgeschichte, Sozialgeschichte der Medizin. Zuletzt erschienen  : Alfred Pfoser/Andreas Weigl (Hg.), Im Epizentrum des Zusammenbruchs. Wien im Ersten Weltkrieg, Wien 2013  ; Andreas Weigl, Bevölkerungs-

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Autorinnen und Autoren

geschichte Europas. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Wien u. a. 2012  ; Andreas Weigl/Peter Eigner/Ernst Gerhard Eder (Hg.), Sozialgeschichte Wiens 1740–2010. Soziale und ökonomische Ungleichheiten, Wanderungsbewegungen, Hof, Bürokratie, Schule, Theater (Geschichte der Stadt Wien 8), Innsbruck u. a. 2015. Homepage  : [email protected] Florian Wenninger – Geb. 1978, Mag. Dr. phil., Studium der Politikwissenschaft und der Zeitgeschichte, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte bilden u. a. österreichische Republiksgeschichte, Geschichtspolitik und Geschichtsdidaktik  ; Redaktionsmitglied der Zeitschrift Zeitgeschichte und Mitorganisator der Reihe Momentum – Kongress für kritische Wissenschaft  ; seit 2013 Koordinator eines Forschungsprojektes zur politischen Repression in Österreich 1933 bis 1938  ; Forschungsaufenthalte an der Carnegie Mellon University/School of Computer Science in Pittsburgh (2015) und als Marshall Plan Foundation Fellow an der University of California Berkeley/Institute of European Studies (2016). Mehrere Veröffentlichungen und Herausgeberschaften, zuletzt gem. mit Lucile Dreidemy, Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime 1933–1938. Vermessung eines Forschungsfeldes, Wien u. a. 2013 und gem. mit Peter Autengruber/Birgit Nemec/Oliver Rathkolb, Umstrittene Wiener Straßennamen. Ein kritisches Lesebuch, Wien u.a 2014. Homepage  : http://www.univie.ac.at/zeitgeschichte/florian-wenninger/ Ewald Wiederin – 1979–1983 Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Wien  ; 1984 Universitätsassistent am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Wien  ; 1995 Habilitation für die Fächer Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht und öffentlich-rechtliche Rechtsvergleichung  ; 1995–1996 Referent im Verfassungsdienst des Bundeskanzleramtes  ; 1997 Ao. Univ.-Prof. an der Universität Wien  ; 2000 Univ.-Prof. für Allgemeine Staatslehre, Verwaltungslehre, Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht an der Universität Salzburg  ; seit 2009 Univ.-Prof. für öffentliches Recht an der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte  : Staatsorganisationsrecht, Allgemeines Verwaltungsrecht, Verwaltungsverfahrensrecht, Geschichte des öffentlichen Rechts. Homepage  : http://staatsrecht.univie.ac.at/team/wiederin-ewald/ Michael Wladika – MMag. Dr., geb. 1961 in Wien  ; Jurist und Historiker  ; seit Juli 1999 als Provenienzforscher für die Museen der Stadt Wien tätig  ; unter anderem 1999/2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historikerkommission der Republik

Autorinnen und Autoren

Österreich  ; mehrere Projekte und Vorträge zum Thema historische Fotografie, Nationalsozialismus, NS-Kunstraub und Rückstellungsrecht  ; seit Mai 2008 von der Republik Österreich und der Leopold Museum Privatstiftung bestellter Provenienzforscher für die Leopold Museum Privatstiftung  ; im April 2008 Förderungspreis des »Karl von Vogelsang-Staatspreises für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften« für das Werk »Hitlers Vätergeneration. Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k. u. k. Monarchie«, Wien u. a. 2005. Zuletzt erschienen  : Zehn Jahre Provenienzforschung, Erbensuche und Restitution in den Museen der Stadt Wien – Eine vorläufige Bilanz«, in  : Gabriele Anderl/ Christoph Bazil/Eva Blimlinger u. a. (Hg.); »… wesentlich mehr Fälle als angenommen«, Wien u. a. 2008, 263–280  ; Oliver Rathkolb/Maria Wirth/Michael Wladika/ Vera Ahamer, Die »Reichsforste« in Österreich 1938–1945  : Arisierung, Restitution, Zwangsarbeit und Entnazifizierung. Studie im Auftrag der Österreichischen Bundesforste AG, Wien u. a. 2010  ; Das Ende der liberalen Ära und der Beginn der politischen Massenparteien. Christichsoziale und Deutschnationale, in  : Wolfgang Kos/ Ralph Gleis, Experiment Metropole, Wien 2014, 272–281  ; Gerhard Milchram/Michael Wladika, »Es konnte festgestellt werden, dass tatsächlich Verwüstungen und Plünderungen sowohl durch SS-Truppen als auch durch Russen und Landbewohner stattfanden.« Bergungen und Rückbergungen der Städtischen Sammlungen (Museen der Stadt Wien), in  : Pia Schölnberger/Sabine Loitfellner (Hg.), Bergung von Kulturgut im Nationalsozialismus. Mythen-Hintergründe-Auswirkungen, Wien u. a. 2016, 219–248  ; Eintrag zu Josef Ursin sen. und jun., in  : Österreichische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Österreichisches Biographisches Lexikon 1915–1950, 67. Lieferung, Wien 2016, 137–139  ; »Mit dem Schwure, den ›Neuen Richard Wagner-Verein zu Wien‹ … zu lenken und uns niemals und mit niemandem zu vermengen, der nicht Wagnerianer und Schönerianer ist, zeichnen wir in alter Lieb und Treu …«. Die verspätete Wagner-Rezeption der Schönerianer, der Neue Richard Wagner-Verein und Schönerers Pilgerfahrten nach Bayreuth, in  : Hannes Heer/Christian Glanz/ Oliver Rathkolb (Hg.), Richard Wagner und Wien. Antisemitische Radikalisierung und das Entstehen des Wagnerismus, Wien 2017, 259–280. Helmut Wohnout – Dr. phil., Min. Rat, Studium der Geschichte an der Universität Wien und der Georgetown University, Washington D.C., 2011 Habilitation für das Fach Österreichische Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz. Abteilungsleiter im Bundeskanzleramt, Geschäftsführer des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich, zahlreiche Publikationen, darunter  : Regierungsdiktatur oder Ständeparlament  ? Gesetzgebung im autoritären Österreich, Wien u. a. 1993.

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Personenregister A Abel Othenio 502, 755, 757f, 761f, 770, 773f, 778, 786, 791f Abel Paul 720 Ableitinger Rudolf 719 Abraham a Sancta Clara 418, 424 Adam Walter 162 Adamovich Ludwig sen. 101, 106, 744 Adler Alexandra 673 Adler Alfred 673, 1006 Adler Emanuel 818 Adler Friedrich 1027, 1041 Adler Friedrich 1075 Adler Guido 402, 407 Adler Leopold 1041 Alder Lieselotte (Else) 1027 Adler Max 714, 731, 738, 742–744, 756, 777 Adler Melanie 811 Adler Rudolf 1027 Adler Siegfried 909, 1027, 1036, 1053 Adler Viktor 42, 119, 362–364, 574, 1065 Alexander III. 63 Altmann Siegfried 223, 236 Alban Stolz 488 Albrecht Florian 1814 Alder Lieselotte 1027 Ammerer Anni 1049 Amtmann Alfred 996, 998 Angerer Hans 299, 313, 316 Apsler Alfred 602 Ardninger Heinrich 340 Arnold Robert 738, 761 Arnstein Nathan Adam 1087 Aspetsberger Friedbert 417 Asrilen Nathan 997f Auerbach Theobald 626f, 629 Auernheimer Raoul 404 Auslander Friederike Fedora 673 Austerlitz Friedrich 119, 208, 1075 B Baar Arthur 509 Baar-Barenfelds Eduard 578

Bach Alexander 71 Bach Felicia 602 Bachrach Adolf 698 Backenroth Leib 1035 Bäcker Hans 997 Bahr Hermann 453, 502 Bálasz Béla 437 Bangha Bela 244 Bär Israel, siehe Beer Barach-Rappaport Carl Sigmund 815 Barnert Emil 299–301 Barrenscheen Hermann 745 Barth Karoline 1030 Barth Samuel 1030, 1039 Bartsch Robert 743 Bassermann Albert 446 Bassevi Jakob 1087 Batthyány Graf Lajos 874 Baudler Josefine 1027 Bauer Bruno 1073 Bauer Elvira 430 Bauer Helene 714 Bauer Otto 52, 99, 119, 335, 363f, 366, 370–373, 574f, 714, 924, 966, 1075 Bauer Wilhelm 502, 771, 810f, 959 Baur Chrysostomus 945 Bayer Gustav 810 Bayer Hans 810 Bayer Josef 755f, 762 Bayer Konrad 422 Bebel August 341, 362 Beck Josef 265 Beck Lore Lizbeth, siehe Waller Becke Friedrich 503 Beer (Ber) Israel 646 Beer Richard 721 Beethoven Ludwig van 403, 406f, 1099 Bekker Paul 406 Benesch Salomon 914 Benjamin Walter 445 Benndorf Wolfgang 482 Beran Emanuel 600 Beran Hugo 265, 590, 599f

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Personenregister Beran Rosa 600 Beran Walter 265 Berg Alban 410, 1107 Berger Johann Nepomuk 77, 79, 90, 918 Berger-Waldenegg Egon 278, 578f Berggrün Moses 355 Berghof Herbert 449 Bergmann Hellmuth 920 Bergmann Louis 792 Bernaschek Richard 923–925 Bernhard Thomas 1107 Bernheimer Stefan 816f Bertram Adolf 241 Bettauer Hugo 56, 204, 562f Bettelheim Ernst 629 Beyer Theophil 877 Bibl Viktor 738 Bichlmair Georg 172f, 203, 244 Bick Josef 451f, 479–482, 484 Biegler Alois 1041 Bien Gertrude 670 Bienenfeld Hedy 509, 511, 526 Billroth Theodor 753 Binger Friedrich 905 Birnbaum Nathan 43 Bischof Adolf 1051f Bismarck Otto von 1104 Bittner Georg 567 Bittner Margarete 567, 568 Bitzinger Alois 1030, 1051f, 1055 Blaas Ludwig 578f Blenk Gustav 479 Bloch Alexander 751,753 Bloch Josef Samuel 43, 79f, 83f, 86–89, 202 Blühdorn Rudolf 578f Bohatta-Mopurgo Ida 430 Böhm Anton 177, 211 Böhm Franz 877 Börne Ludwig 419 Börner Wilhelm 502 Borodajkewycz Taras 211, 842 Bosel Siegmund 343, 1092 Brandhofer Kaspar, siehe Reuss Leo Brassloff Stefan 738, 756, 777 Braun Max 721 Braun Rudolf 722

Braunias Karl Ludwig 578–580 Brecher Leonore 754 Brehm Wilhelm 1037 Breisky Walter 303 Breitner Burghard 819 Breitner Hugo 119, 366, 448, 1075 Breitschopf Robert 1041 Bresanyt Carl 331 Broch Hermann 497 Brod Jakob 363 Broda Christian 624, 713 Bruck Gertrude 905 Brücke Ernst Theodor 810 Bruckner Anton 402f, 405, 407f Brunner Karl 1034, 1056 Brunner Leopoldine 1034, 1056 Brunner Sebastian 76–78, 86, 202 Bry Curt 449 Buber Martin 800 Buchberger Karl 578 Budik Georg 898 Buger Stephan 898 Bühler Charlotte 1006 Bühler Karl 1006 Bünker Otto 267 Bürckel Josef 1042, 1055 Buresch Karl 156f, 705 Buttinger Joseph 365, 372 C Canetti Elias 497, 1107 Carlyle Thomas 1104 Castiglioni Camillo 343f, 1092 Chamberlain Houston Stuart 227 Christian Viktor 500, 503, 755, 761, 763, 778f, 781 Churanek Rudolf 1038 Clessin Heinrich 299, 313 Cohn Margarete, siehe Bittner Colerus Egmont 428 Conrad Otto 291, 299f, 317 Conrad Victor 817 Cornaro Helene 601 Corsten Hermann 456–458 Corti Axel 751 Coudenhove-Kalergi Richard 162 Csokor Theodor 497, 1107

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Personenregister Czermak Emmerich 23, 125, 155, 170f, 206, 211, 220f, 229, 250, 416f, 700, 756, 770, 776, 799, 831, 980, 1074, 1121 Czermak Wilhelm 502, 775f, 780 Czibulka Alfons von 433 Czwiklitzer Richard 482, 497 D Daches Helene 1034f, 1056 Danneberg Robert 52, 99, 119, 158, 366f, 372, 966, 1068, 1070f, 1075 Dannhauser Wilhelm 811, 958 Dantine Wilhelm sen. 265, 269 Daus Ilse 437 Dawison Bogumil 446 Deckert Joseph 86f, 202 Deiner Elise 599 Delapina Rudolph 996 Demnig Gunter 940 Dempf Alois 764 Deutsch Felix 673 Deutsch Helene 673, 714 Deutsch Judith 521f Deutsch Julius 52, 119, 367, 369, 373, 515, 924, 1075 Deutsch-Edel Sabine 590, 600f Diener Karl 314, 316, 773, 788, 854 Dietrich Dominikus 958 Dietrich Karl 995 Dillersberger Josef 251 Dinghofer Franz 295f, 313f, 474, 623 Dobretsberger Josef 666 Doderer Heimito von 111, 127, 1107 Dollfuß Engelbert 23, 49, 125, 141, 153f, 162, 170, 178f, 352, 368, 375, 410, 415, 574, 577, 668, 690, 739, 744, 757–759, 776, 788, 791, 794, 834, 841, 901, 904, 907f, 926, 944, 1062, 1064 Donabaum Josef 451 Dopsch Alfons 737f, 817 Dostal Johann 714 Drescher Martin 473f Drexel Albert 251, 960, 1074 Drexel Karl 1067 Dreyfus Armand 156 Drimmel Heinrich 211, 278, 323, 358, 781, 791, 795, 799–801 Drucker Leo 520

Drumont Édouard 227 Dvorak-Stocker Ilse 476 Dvorak-Stocker Wolfgang 476 E Eberle Josef/Joseph 112, 177, 244 Ebers Godehard Josef 810 Eberstaller Richard 624 Ebner-Eschenbach Marie von 495 Eckardt Karl 262 Ecker Franz 453f Eckert Friedrich 1046 Edel Emanuel 674 Eder Hans 265, 268f Ehrenberg Kurt 502, 773 Ehrenhaft Felix 742 Ehrenstein Bertha 1026, 1030f, 1034, 1042, 1048 Ehrenstein Ernestine 1026, 1039f Ehrenstein Julius 1026, 1030f, 1034, 1039, 1042, 1048 Ehrenzweig Armin 817f Ehrlich Bettina 437 Ehrlich Jakob 181, 183, 187f, 286, 317, 596f, 667, 679, 977, 983–985 Ehrlich Robert 317 Eibl Hans 791 Eichendorff Joseph 1103 Eichhorn Friedrich 660 Eickstedt Egon 252 Eidinger Nathan 1092 Eidinger Rifke Resel 1092 Einstein Albert 494 Einzinger Ernst 1037, 1051, 1053 Eisendle Helmut 1107 Eisenmenger Johann(es) Andreas 67, 77, 85f, 488 Eisenstädter (Eshek) Fritz 646 Eisler Armand 119, 574, 721 Eisler Arnold 119, 473, 574, 715, 717, 1075 Eisler-Terramare Michael 738 Eldersch Matthias 119f, 623, 1075 Elias Herbert 184 Ellenbogen Wilhelm 119, 661, 1075 Emich Friedrich 817 Ender Otto 23, 28, 119f, 125, 577, 705, 1061–1078 Ender Reinhold 1062f Endlich Quirin 39 Engel Friedrich 106

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Personenregister Engels Friedrich 262, 362, 1065, 1071 Engländer Richard 721 Entz Gustav 263f Erber Josef 299 Erismann Theodor 819 Erntner Hans 299 Errhalt Richard 660 Ertl Josef 299 Ertl Karl 1029, 1034, 1036 Eugen von Savoyen 433 Exner Wilhelm 495 Eysler Edmund 406 F Fadrus Viktor 588 Falusi Lajos 1034 Falusi Lina 1056 Fanta Leopold 629 Feichtegger Josef 354 Fein Robert 512, 521f Feingold Marko 940 Feingold Hanna 940 Feld Friedrich 437, 440 Fernau Eugen 629, 920 Ferstel Malvine 592 Feuchtmann David 679 Fey Emil 375, 639, 714, 719 Figl Leopold 420 Fincsus Erich 521 Fink Jodok 1071 Fischel Alfred 495, 737 Fischel Wilhelm 738, 815 Fischer Berta 1029, 1038 Fischer Egon 1026, 1038f Fischer Ernst 1038 Fischer Franz 959 Fischer Gerhard 266f, 920 Fischer Heinrich 1029, 1039, 1053f Fischer Ida 1038 Fischer Johann/Zyrill 203–206, 208, 227 Fischer Walter 674 Fischer Wilhelm 810 Flatscher Rudolf 479, 484 Flesch Hugo 721 Fliegel Eduard 714 Fließ Wilhelm 1106

Foppa Hermann 323, 325 Franco Francisco 1121 Frank Felix 291, 299, 311, 313, 316, 623 Frank Karl 604 Franke Adolf 737 Fränkel-Grosz Frieda 670 Frankfurter Arnold 645 Frankfurter Salomon 286 Frankl Käthe 811 Franz Eugen 449 Franz II./I., Kaiser 69 Franz-Joseph, Kaiser 44, 82, 405, 897, 913, 1087 Frauenfeld Alfred E. 247, 350, 452, 971 Frei Bruno 365 Freilich-Ehrenstein Ernestine 1026, 1039f Frenkel Hermann 721 Freud Anton 791 Freud Ernst 759 Freud Sigmund 128f, 678, 759, 791, 807, 851, 858, 1104, 1106 Freudmann Walter 674 Freundlich Emmy 119, 1075 Freund-Zinnbauer Alfred 265f Frey Erik 446f Frey Karl 299 Fried Alfred Hermann 495 Fried Edgar 527 Fried Erich 421 Friedell Egon 1107 Friedjung Heinrich 42 Friedjung Josef Karl 661, 742 Friedl Georg 188 Friedländer Franz 645 Friedländer Johann 637, 644f Friedländer Otto 771 Friedmann Desider 181, 188f, 286, 711 Friedmann Moriz 640 Friedmann Sigmund (Edler von) 640–642, 646, 1117, 1119, 1122 Friedrich Alfred 745 Friedrich I. Barbarossa, Kaiser 65 Friedrich II. der Große von Preußen 433 Friedrich II., Herzog 65 Friedrich II., Kaiser 65 Friedrich V., Herzog 889 Frisch Hans 738

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Personenregister Frischauf Marie 674 Frischmann Moritz 903 Fröhlich Alfred 738 Fröhlich-Bum Lili 482 Fuchs Richard 815 Führer Erich 995 Fulda Ludwig 435 Funder Friedrich 210–212, 219, 223 Fundulus Wilhelm 583 Fürnberg Abraham 1030 Fürnberg Anna 1041 Fürnberg Ignatz 1030 Fürnberg Jacob 1043 Fürnberg Josefine 1030 Fürnberg Moritz 1024, 1028 Fürnberg Richard 1049, 1052 Fürnberg Siegfried (Friedel) 1043 Fürth Joseph Herbert 855f Fürth Otto 495, 737f Furtmüller Karl 588 Futterweit Norbert 351, 547, 994 G Gabriel Gertrude, siehe Hofer Gabriel Martha, siehe Mond Gams Helmut 809 Gans Johann 479–481, 483f Gasser Othmar 625 Gattermeyer Walter 901 Gautsch Paul 816 Geckl Anton 355 Geist Salomon 629 Geramb Viktor (von) 428, 491 Gerl Josef 716 Gerö Josef 581f Gerson Max(imilian) 656, 1087 Gewing Max 354 Geyer Rudolf 502 Gföllner Johannes Maria 23, 50, 173f, 176, 203, 244– 246, 416, 830, 903, 921, 948 Ginzkey Franz Karl 126, 421, 427, 434 Girardi Alexander 407 Glaise-Horstenau Edmund 158, 494, 1122 Glanz Egon 303 Gleispach Wenzel (Wenzeslaus) 105, 117, 491, 732–737, 756, 762, 789, 852

Glöckel Otto 384, 492f, 588, 600, 605 Glockemeier Georg 700 Gluck Natalie 870 Gluck Willibald 402 Gmeyner Anna 437 Gobineau Joseph Arthur de 948 Goebbels Joseph 350, 388, 445, 622 Goerlitz Theo L. 431 Goethe Johann Wolfgang von 1102, 1107 Goldmann Emil 738, 818 Goldmann Nahum 1121 Goldmark Karl (Carl) 402, 932 Goldner Lucie 521, 525f Goldscheid Rudolf 491, 502 Gombrich Ernst 764 Gomperz Theodor 185, 738, 740, 761 Gorbach Alfons 947 Göring Hermann 119, 213, Gottlieb Gerda 521 Graedener Hermann 427 Graf Anni 1049 Graf Karl 1049 Graff Kasimir 742 Grailer Iring 313, 320 Grassberger Roland 737 Grätz Heinrich 78 Gregor Joseph 446, 451–453, 455–462 Gregorig Josef 225 Greilberger Johann 1037 Grengg Maria 427 Grill Severin 945 Grillmayr Max 994f Grindlinger Rifka 934 Grogger Paul 427 Grossmann Margit 1034 Grossmann Otto 644 Gruber Josef 209, 918 Gruber Josef 489 Gruber Max von 501 Gruder Ignaz 714f, 717 Grünbaum Oskar 823f, 1123f Grünberger Alfred 368 Grünsfeld Mordechai 869 Grünwald Arthur 1049 Grütz Herbert 629 Gumplowicz Ludwig 816

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Personenregister Guido, Legat 64 Gundlach Gustav 240 Günther Hans 252 Gütersloh Albert Paris 1107 Gutmann Franziska 1095 Gutmann Ludwig 1041 Gutmann Rudolf 1048 Gutmann Salomon 1024 Gutmann Wilhelm Ritter von 1094 Guttmann Béla 5098 Guttmann Richard 1035

H Haasbauer Anton 427f Haase Theodor 260 Haberer Hans 813 Habsburg-Lothringen Otto 352 Habsburg-Lothringen Ulrich 888 Hadamovsky Franz 498, 500 Hafferl Anton 792 Hahndel Robert 629 Hainisch Michael 296, 491 Hainzl Josef 281 Halpern Otto 754–756 Halusa Josef Kuno 1063f Hammerschlag Peter 449 Hampel Ernst 313, 325 Handel-Mazetti Enrica 427f Handler Franz 583 Hanebeck Emil 1041 Hantsch Hugo 834, 837 Harand Irene 25, 175, 178, 246, 607, 666, 679 Harburger Heinrich 815f Hartl Arnold 1046 Hartl Edwin 421 Hartleb Karl 332 Hartmann Ludo Moritz 490f, 502f, 577f, 755 Haubenberger Leo 901f Hauer Johann 1042 Hauser Adele 1035, 1055f Hauser Elisabeth 1052 Hauser Hermann 1020, 1029 Hauser Johann Nepomuk 918 Hauser Ludwig 1029, 1052 Hauser Otto 1035, 1042, 1055

Hauser Walter 1031 Häusler Heinrich 593 Haydn Joseph 402f Hayek Friedrich 856f Hecht Robert 368, 573f, 637, 644 Hecke Wilhelm 490 Heigl Paul 452, 474, 481, 483, 776 Heilig Bruno 986 Heine Heinrich 419f Heintel Erich 763 Heinzelmann Johannes 267f, 270 Heller Franz 336 Heller Ludwig 583 Hemala Franz 211 Herczeg Marcel 1032 Herdlitzcka Arnold 810 Hergeth Friedrich 474, 776, siehe auch Heigl Paul Hertz Friedrich 501f Hertzka Emil 562 Herud Julius 1039 Herz Irma, siehe Pollak Herzberg-Fränkel Sigmund 817 Herzfeld Emmerich 578 Herzig Josef 817 Herz-Kestranek Stefan 1095 Herzl Theodor 42, 45, 695 Herzog David 262 Herzog-Hauser Gertrud 819 Heuer, Munisch 811 Heydrich Reinhard 927 Hiemer Ernst 430 Hift Irma 670 Hilberg Raul 1116 Hildebrandt Dietrich von 178 Hilferding Margarete 670 Hillebrand Franz 819 Hilsner Leopold 82f Hinner Alois 589f, 599f Hinterberger Heinrich 455 Hinterecker Heinrich 1028 Hirsch Adolf 1034 Hirsch Emil 932 Hirsch Hans 774, 779 Hirsch Sidonie 1034 Hirschberg Walter 500 Hirschenhauser Anna 1035

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Personenregister Hirschenhauser Bernhard 1029 Hirschfeld Ludwig 120 Hirschl Berthold 601 Hirschmann Albert O. 1078 Hirschmann Josefine 968 Hirth Rudolf 1007 Hitler Adolf 44, 205, 326, 349f, 375, 390, 420, 422, 424, 427f, 432, 434, 493, 543, 622, 643f, 712, 790, 824, 829, 870, 931, 1003f Hochstetter Ferdinand 755 Hochstimm Susi 437 Hoernes Moritz 502 Hofbauer Clemens Maria 202 Hofer Gertrude 872 Hoffinger Max 578 Hoffmann Karl 1055 Hofinger Josef 479 Hofmannsthal Hugo von 459 Hohenacker Wilhelm 998 Hohenlohe Konstantin 737 Hohlbaum Robert 428 Hold-Ferneck Alexander 737f Höller Hans 902 Hollnsteiner Johannes 834 Holter Kurt 481 Holubek Franz 83–86 Holzmeister Clemens 931 Holzner Johann 417 Hönig Israel 1087 Hörhann Karl 905 Horky Robert 446 Hornykewitsch Miron 242 Horovitz/ Horowitz Karl 502, 754756 Hoyer Viktor 581–583 Hoyos-Sprinzenstein Rudolf Graf 1046f, 1057 Hradetzky Gregor 522 Hrůzová Agneža 82 Hudal Alois 23, 50, 128, 177, 203, 212, 247–249, 252f, 830, 946 Hueber Franz 623, 700 Huffnagl Karl 466, siehe Paumgartten Karl Hugelmann Karl Gottfried 738, 741, 761f Hugenberg Alfred 324

I Iltis Hugo 502 Innitzer Theodor 50, 170, 173–175, 203, 243f, 252, 352, 446, 754, 777, 1047 Innozenz IV. 63, 65 Istóczy Győző 874 Itzinger Karl 340 J Jabotinsky Wladimir Ze’ev 221, 909 Jäger Gustav 502, 737f, 755 Jahoda-Lazarsfeld Marie 602, 605, 807 Jaques Heinrich 40 Jellinek Adolf 43 Jellinek Georg 815f Jellinek Max Hermann 599, 737f, 761, 818 Jelusich Mirko 427f, 779 Jensen Fritz 661, 674 Jerusalem Erwin 629 Jerusalem Wilhelm 491 Jerzabek Anton 217, 225, 298f, 901 Jochmann Rosa 716 Jodl Friedrich 492, 502 Jokl Anna Maria 440, 497 Jokl Norbert 497 Jorda Ivo 1122 Joseph Heinrich 738, 761 Joseph II., Kaiser 67–69 Jünger Ernst 1072, 1107 Junker Hermann 502, 755, 774, 777 Juraschek Franz 816 Jury Hugo 906, 1042, 1054 K Kadmon Stella 448f Kafka Franz 802, 1107 Kager Karl 891 Kahn Alfred 721 Kailich Jakob 906 Kainz Josef 447, 455, 461 Kakowski Aleksander 972 Kammerer Paul 773 Kammerhofer Konstantin 281f Kampitsch Julius 544 Kamprath Franz 50 Kandl Hermann 191, 296, 314

1158

Personenregister Kanitz Otto Felix 1069 Kant Emanuel 1102, 1104 Kantor Siegfried 698, 705f, 720, 934 Kapfhammer Franz Maria 947 Kapitan Hans 1050 Kappelmacher Alfred 775 Karas Josef 898 Karbach Oskar 220f, 250, Kargl August 542f Karl I., Kaiser 82, 300 Karl IV., Kaiser 416 Karpeles Benno 1065–1067 Karpeles Moriz 1065 Kastil Alfred 812 Kauer Robert 268f, 624 Kaufmann Else 670 Kaufmann Felix 855f Kaufmann Fritz 857 Kautsky Karl 362f Kautsky Karl jun. 661 Kelbl Siegfried 721 Kellner Adolf 1027, 1029 Kellner Sidonie 1027, 1033 Kellner Viktor 599 Kelsen Hans 98, 101, 103f, 106f, 810, 851 Kerber Robert 122 Kerer Rupert 956 Kernerknecht Helene 1028 Kersche Gregor 660 Kertesz Gabriele 1031, 1049, 1052 Kertesz Heinrich 1031, 1036, 1039, 1049, 1052 Kienböck Viktor 211, 297, 368 Kindermann Heinz 446, 462, 492 Kinzl Hans 819 Kisch Egon Erwin 1066 Klang Heinrich 572, 629 Klaus Josef 211, 218, 795, 799, 837 Klebinder Ernst 105, 997 Klein Franz Eugen 449 Klein Heinrich 1043 Klein Max 119, 1075 Kleiner Max 469 Klein-Löw Stella 602 Kleinmann Gustav 646 Klimann Thomas 313 Klingelhuber Karl 1055f

Knaffl-Lenz Erich 738 Knesbach Fanny, siehe Stang Knoll Fritz 762, 779, 781, 808f Knozer Nikolaus 592 Kobatsch Rudolf 502 Koblitz Carola 785f, 802 Kobrinsky Sofie 870 Koch Hans 242 Koch Jakob Ernst 266f Kofler Ludwig 807f Kogon Eugen 211 Kohn Lotte 903 Kokoschka Oskar 1107 Köllinger Anton 624 Koloseus Ludwig 625 Kompert Leopold 79 König Alfred 521 Königsgarten Hugo F. 449 Konrath Anton 406 Koplenig Johann 713 Koppers Wilhelm 777 Korb Heinrich 992 Korbel Eduard 373 Körber Robert 224f, 592, 901 Koref Ernst 918–920 Körner Ignaz Hermann 513, 527 Körner Theodor 924 Kornitzer Philipp 689, 691f Kovacs Franz 1034, 1039 Kovacs Helene 1034 Krainer Josef sen. 947 Kralik Dietrich 502, 774 Kralowsky Emil 573, 575 Kramer Theodor 420 Kranewitter Franz 417 Kranner Eduard 1034 Krasser Robert 23, 222, 588, 593 Kraus Anton 713 Kraus Karl 420, 812, 1099f, 1106f Kraus Oskar 817 Kraus Werner 445 Krautmann Edmund 300 Kreisky Bruno 371, 797 Krenek Ernst 120f, 400, 404, 408–410 Kresker Ludmilla 1037

1159

Personenregister Kresse Josef 23, 186–188, 542f, 546, 548–550, 669, 980, 985f, 1011 Kretschmer Paul 625,737 Kretschmer Rudolf 625 Kreuzhakler Christian 434, siehe Springenschmid Karl Krippl Fidi 1027 Kris Ernst 764 Krivanek Hilda 1037 Kronauer Josef 300 Krüger Paul 742 Krupnik Julius 546 Krupnik Olga 546 Kubin Alfred 1107 Küffel Viktor 1033, 1037, 1040, 1050 Kuffler Hans 721 Kuffner Hermann 1088 Kummer Rudolf 480 Kummermann Jakob 1029, 1031, 1034, 1036f, 1041, 1043, 1049, 1051, 1053 Kunschak Leopold 23, 49, 51, 117, 168–170, 186, 199f, 204, 208, 214f, 221–223, 225f, 229, 286, 299, 696, 700, 702, 829, 901, 1114 Kunze Walter 998 Kuranda Iganz 76–78, 86 Kux Viktor 568f L Lach Robert 502, 775 Lachs Minna 602f Lackner Hilda 1037 Lahr Karl 626 Landau Leo 1113, 1117 Lang Anton 1027, 1034 Lang Eduard 815 Lang Malvine 1027 Langbach Bruno 1026 Langbach Felicia 1026 Langbank Bruno 1026, 1042, 1046 Langenbucher Hellmut 432 Langer Emmo 904f Langer Leopold 983 Langer Robert 629 Langer Ruth 521 Langfelder Ernst 938 Langoth Franz 325 Lantschner Hellmut 516

Lanzer Robert 629 Last Adolf 590f Last Irma 590f, 594, 600 Laube Heinrich 419 Lavery Emmet 446 Layer Max 761f Lazar Auguste 437f, 440 Lazarsfeld Paul 807 Lazarsfeld Robert 714 Lazarsfeld Sophie 714 Lebenschuss Ezechiel Michael 1003 Lebzelter Viktor 878 Lederer Joe 437 Lehár Franz 407, Lehmann-Haupt Carl 128 Lehner Josef 737 Lehnert Oskar R. 721 Lehr Leopold 1038 Leibfried Hermann 1067 Leicht Albert 903 Leichter Käthe 390 Leichter Otto 277 Leitmeier Hans 774, 776 Leitner Jona 998 Leitner Maria 437 Lemberger Richard 721 Lengsfelder Hans 445 Lenhart Heinrich 544 Lenhoff Arthur 106, 698 Lennkh Albin 578f Leo XIII. 240 Leopold I., Kaiser 66 Lesky Albin 819 Leubuscher Walter 994f Leuthner Karl 118120, 1075 Lev Rafael 646 Lichtenstein Irwin 820 Liebenberg Johann Andreas 435 Liechtenstein Aloys Prinz von und zu 199 Lienbacher Georg 79, 91 Link Irene 811 Link Josef 958 Lipp Carl 544 Lippmann Leopold 1030, 1087 Liptak Heinrich 269 Lischka Viktor 299, 317

1160

Personenregister List Rudolf 424f Liszt Franz 405, 409 Lobe Mira 437 Loebisch Wilhelm Franz 815 Loewi Guido 637 Loewi Otto 637 Loewit Moritz 815 Löffler Alexander 818 Loge Christian, siehe Orel Anton Löhner-Beda Fritz 557 Löhr Friedrich 498 Lohsing Ernst 718 Loos Adolf 714 Lorenz Emil 492 Lorenz Reinhold 613, 668 Lortzing Albert 407 Loschitz Alfred 1025 Lothar Ernst 446 Low Geoffrey siehe Loewi Guido Löw Robert 626f, 629 Löw Rudolf 626, 646, 716, siehe auch Lev Rafael Löwe Elisabeth 1036 Löwenherz Josef 1117f Löwit Moritz 815 Löwy Albertine 1036 Löwy Carl 742 Löwy/Löwe Elisa/Elisabeth 1036 Löwy Friederike (Fritzi) 525f Löwy/Löwe Hugo 1036f Löwy Johann 1036f, 1053 Löwy Rudolf 1036 Lueger Karl 43, 119f, 200, 454, 489, 495, 542, 587, 771f, 1045, 1115 Lugmayer Karl 499 Luik Karl 737 Lustig Richard 903 Luther Martin 67 Lux Paul 625 M Mach Ernst 491 Machatschek Fritz 761f Mager Alois 244, 1074 Mahac Johann 994 Mahler Gustav 29, 402–407 Mahler Margarete 660, siehe auch Schönberger

Mahler Otto 1049 Mahler-Werfel Alma 403, 752 Mainhall Johann 1027 Mainhall Marianne 1027, 1033 Mairinger Hans 493 Mandl Adele 1032, 1033 Mandl David 1031–1033, 1040f Mandl Fritz 369 Mandl Herbert 1026, 1038 Mandl Hermann 1031-1033, 1038, 1040 Mandl J. 1040 Mann Hans 699 Mantler Johann 1041 Maresch Rudolf 737 Maria Theresia 66, 68 Mark Hermann 764 Martinek Walther 417f Masaryk Thomas Garrigue 83, 502 Mataja Viktor 220, 491 Matthias, Kaiser 416 Maurer Emil 714f, 717 Maurer Leopoldine 1049 Mauthner Hans Martin 513 Mauthner Ludwig 815 May Abraham 1093 May Franziska (Franzi) von 1094 May Friedrich 1093 May Hermann 1093 May Isidor von 1093 May Lily 1094, siehe auch Rapoport May Therese 1094 Mayer-Hillebrand Franziska 819 Mayer Friedrich 919 Mayer Hans 852 Mayer Maximilian 493 Mayr Michael 154, 215, 295f Mayr Otto 706 Mayreder Rosa 491, 1106 Mayrhofer Karl 764 Meisl Hugo 509, 513, 518, 520f Meißner Ernst 997 Meissner Johannes 624 Meißner Josef 1035 Meister Richard 737, 746, 760f, 774f, 778, 780f Meixner Karl 809, 819 Meldt Fritz 264

1161

Personenregister Mell Max 423 Mendelson Paul 270 Mendelssohn-Bartholdy Felix 406, 420, 932 Menger Karl 764 Menghin Oswald 177, 389, 498, 501f, 752, 755, 762f, 770, 774, 776–779 Menzel Adolf 104, 776 Menzel Wolfgang 419f Messner Joseph 409 Metternich Klemens Wenzel Lothar von 76 Meyer Rolf Günther 809 Meyszner August 281f Mierendorf Carlo 349 Mifka Hugo 1006 Miklas Fritz 1038 Miklas Wilhelm 253, 524, 713, 1038, 1046f, 1062 Millenkovich-Morold Max von 405 Miloradić Mate Meršić 876 Miltschinsky Viktor 299, 301, 610f Mintz Alexander 855 Mirabeau 1104 Mises Ludwig von 857f Missong Alfred 253f Mitterdorfer Wolfgang 902 Mitterwurzer Friedrich 445 Mittler Johann 698 Moder Ignaz 1054 Moebius Paul 1102, 1107 Moissi Alexander 461, 933 Molden Berthold 1077 Mommsen Theodor 502 Mond Martha 871 Mörzinger Johann 176 Moser Franz 1039 Moser Ulrich 944f Mosley Oswald 32 Mostar Gerhart Herrmann 449 Mozart Wolfgang Amadeus 402f, 406 Much Rudolf 502, 737f, 755 Muckermann Hermann 172 Mühlmann Wilhelm 252 Muhr Othmar 269f Müller Alois 582 Müller Friedrich 625 Müller Ludwig 920 Müller Rudolf 629

Müller-Guttenbrunn Adam 445 Müller-Preis Ellen 512, 520 Murmelstein Benjamin 1122 Muschik Hans 994 Musil Robert 1107 Mussolini Benito 278, 417, 575, 1121 Mütz Rudolf 512 N Nadler Josef 120, 123f, 781 Nägele Hans 967 Nagler Heribert 405 Napoleon Bonaparte 1104 Narz Franz 999 Naumann Rudolf 583 Nemecek Ottokar 501 Neubacher Hermann 211 Neubauer Samuel 1026 Neuburger Max 737f, 761 Neumann Alexander 513, 521 Neumann Grete 521 Neumann Hilda 1031 Neumann Julius 642 Neumann Käthe 597 Neumann Therese 1066 Neumayer Rudolf 163 Neuner Arthur 903 Neurath Otto 135 Neurath Paul 437 Neustädter-Stürmer Odo 229, 578 Nietzsche Friedrich 802, 1102f, 1107 Novalis 1103 O Ofner Julius 103 Olbrich Wilhelm 824 Olden Rudolf 1066 Ölknecht Leopold 1053 Orel Anton 300, 944 Orel Herbert 225 Ornstein Karl 724 Ornstein Luser Nisson 934 Ortner Heinz 444 Ortner Hermann Heinz 444 Osio Alois 629 Österreicher Johannes 178, 244

1162

Personenregister Ott Berta 938 Ott Max 938 Otte Viktor 299 Ottenthal Emil von 817 Ottokar Přemysl 65 P Pacelli Eugenio 253 Pailer Fritz 905 Pallester Paul 721 Panesch Karl 685 Pann Liesl 1043 Papen Franz von 248, 390, 429 Pappenheim Marie, siehe Frischauf Pappenheim Martin 674 Pappo Manfred 504 Patsch Carl 737f, 774 Pattai Robert 223 Paul Ludwig 154 Pauli Hertha 437 Pauli Wolfgang 738, 761 Paulin Karl 251, 960 Pauly Max 296, 299 Pauly Maximilian 916 Paumgartten Karl 340, 365, 466–471, 464–476 Pawlikowski Ferdinand 203, 244, 945 Payer Josef 894 Payr Heinrich 299 Pechhacker Konrad 1038 Peller Sigismund 673 Perger Georg 1026 Perlhefter Anna 969 Pernkopf Eduard 762, 779–781 Pernter Hans 252, 403, 732, 741, 744, 752, 762, 777, 834, 986 Perutz Leo 1118 Perutz Max Ferdinand 764 Petco Eugen 664 Petschenka Matthias 589, 599, 601 Pfalz Anton 502 Pfitzner Hans 406, 408 Pfrimer Walter 281–283 Pichl Eduard 559 Pick Alois 637 Pick Ernst Peter 799 Pick Gustav 407

Pfiffl Gustav 210 Pirchegger Simon 203 Pitamic Leonid 810 Pius XI. 244 Plato 1102 Plattner Friedrich 779 Plutzar Friedrich 497f, 500 Pohl Otto 577f Polgar Alfred 1066 Pollak Albert 940 Pollak Anna 940 Pollak Irma 940 Pollak Jacques 761 Pollak Jakob 738 Pollak Karl 573, 576 Pollak Oskar 925 Pollak Richard 721 Pollatschek Ferdinand 1041 Pollatschek Ludwig 1037, 1041 Pollatschek Rosa 1037 Pollatschek Theodor 1031 Popp Adelheid 119f, 1075 Popper Helene 714f Popper Joachim 1087 Popper Karl 603, 764, 775 Popper Lepold 1088 Popper Siegmund 714 Popper-Podhragy Lepold 1033 Portschy Tobias 877 Posch Alfred 997 Powalatz Johann 993–996 Preßburger Richard 706 Pribram Alfred Francis 776, 817 Prodinger Hans 323 Prohászka Ottokár 111 Prüger Josef 434 Prumüller Anna 1027 Przibram Hans 738, 761 Pugel Theodor 591f, 594 Putschek Martin 266 R Raab Julius 52, 366, 542, 545, 549, 550, Radermacher Ludwig 737 Ramek Rudolf 216f, 303, 318f, 472 Rapaport/Rapoport Lazar 1094 Rapoport/Rapaport Lily 1094

1163

Personenregister Rath Ari 186 Ratzinger Georg 488 Rauter Hanns Albin 281f Rebbert Joseph 488 Redlich Hans 403f Redlich Josef 295–297, 335, 772 Rehrl Franz 1061 Reich Willi 409 Reichel Anton 482 Reicher Franz 635, 639 Reichwein Leopold 398f, 401 Reinhardt Gottfried 935 Reinhardt Max 445f, 933–935 Reinhardt Wolfgang 935 Reininger Robert 502, 763 Reisch Julius 711 Reisp Josef 998 Reiss Teofil 646 Reither Josef 907 Reitler Josef 931 Reitlinger Friedrich 1063f Reitter Luzie 389 Rendi Simon 354 Rendl Georg 444 Renner Karl 120, 302, 311, 473, 574f Rentmeister Walter 905 Rephan Arthur 903 Resch Franz 918 Resch Josef 215, 319, 472f Retz Erlich 1039 Reuss Leo 447 Rhomberg Adolf 1078 Riccabona Gottfried 969 Riccabona Max 969 Richter Elise 456f Richter Helene 444, 456–458 Richter Karl 307 Richter Oswald 721 Ridler-Lustig Hilda 670 Riebl Ignaz 591, 601 Riedel Otto 266 Rieger Sebastian 954–956 Riehl Walter 299, 558f, 901 Rinaldini Joseph 400f, 408 Ringler-Kellner Ilse 435 Rintelen Anton 578, 604, 1061

Ritter Gaston 226, 945 Röbbeling Hermann 444 Roger Kurt 402 Rohan Karl Anton 111, 127 Rohling August 84–86, 202, 238, 488, 1116 Röhm Ernst 243 Rolland Romain 455 Rosenbach-Deutsch Helene 674 Rosenberg Alfred 247f, 421, 427, 893 Rosenblum Malka 603 Rosenblüth Amalie 763 Rosenfeld Friedrich siehe Feld Rosenfeld Max 239 Rosenfeld Valentin 714f, 717 Rosenfeld Viktor 714 Rosenmann Leopold 721 Roth Emil 1032 Roth Irma 1032 Roth Izach 870 Roth Joseph 280, 1066 Rothemund Eduard 430 Rothstein Sofie, siehe Kobrinsky Sofie Röttinger Heinrich 480 Rubatscher Maria Veronika 428 Rubin Eli 1077 Ruge Arnold 419 S Sailer Karl Hans 716 Salten Felix 404, 437 Samuely Ernst 923 Saramago José 421 Saßmann Hanns 444 Sauser Gustav 752, 762 Sauter Johannes 763 Saxl Fritz 498 Schachenhofer Anton 1012 Schafhauser Karl 992 Schalk Anton 306 Schattanek Karl 628 Schatter Mischu 1027 Schaukal Richard 115 Scheickl Robert 995 Schelling 1102f Schemms Hans 431 Schey Joseph 776

1164

Personenregister Schick Sigmund 1029, 1034, 1039, 1042 Schidrowitz Leo 520 Schiele Egon 1107 Schiff Walter 738, 742 Schiller Friedrich 77, 1102, 1107 Schinle Fritz 1062f Schlegel Josef 918 Schlesinger Adele, siehe Hauser Schlesinger Auguste 1054 Schlesinger Emma 1054 Schlesinger Gustav 1087 Schlesinger Josefine 1054 Schlesinger Viktor 447 Schlick Moritz 759, 763f, 851 Schlosser Julius 737 Schlusth Alfred 299 Schmidt Franz 407 Schmidt Guido 159, 581, 579, 581 Schmidt Theodor 509, 527 Schmidt Wilhelm 114, 172, 247, 249f, 252–254 Schmied Josef 907 Schmitz Richard 352, 546, 588, 608, 668f, 830, 977, 981, 983, 986 Schmollinger Georg 299 Schnabel Isidor 815 Schneeweiß Josef 675 Schneider Ernest 223, 225 Schneider Konstantin 482f Schneider Maria 323, 385 Schnitzler Arthur 155, 447 Schober Johann(es) 161, 216f, 295, 305307, 319, 326, 637 Schöffmann Angela 1037 Schön Adolf 1026f Schön Alfons 1055 Schön Erna 1027 Schönbauer Ernst 333, 338, 345, 363, 735, 743, 779, 792 Schönberg Arnold 28, 402, 409, 560562, 937f, 1107 Schönberg Berta 560, 939 Schönberg Heinrich 937f Schönberg Margit 939 Schönberger Margarete 660 Schönerer Georg Ritter von 42–45, 83f, 114, 156, 168, 214, 223, 260, 309, 559, 979, 1149 Schönherr Karl 428 Schönhof Egon Oskar 712–715, 717

Schönpflug Fritz 634 Schopenhauer 1102f, 1107 Schöpf Gottfried 959 Schreyvogl Friedrich 444, 446 Schrott Herbert 238 Schubert Franz 402f, 406 Schubert Kurt 178, 634 Schulhof Géza 1087 Schulien Michael 249 Schüller Richard 128, 573–575, 577f Schumacher Josef 959 Schumy Vincenz 122, 331–333, 336 Schürff Hans 157, 216, 296, 313 Schuschnigg Kurt 23, 121f, 139, 153, 158, 161, 169f, 179–183, 185–188, 252f, 268, 288, 352, 403, 446, 546, 549, 552, 574, 591, 608, 615, 623, 668, 703, 711f, 716, 732, 739, 743, 752, 758, 762f, 794, 825, 841, 907, 959, 985f, 1007, 1047, 1123f Schuster Franz 660 Schütz Alfred 855 Schwabenitzky Hana 1032 Schwager Arnold 1046 Schwager Benedikt 920 Schwager Karl 926 Schwarcz Joseph H. 436 Schwarz Bernhard 963 Schwarz Emanuel 509, 520 Schwarz Karl 572 Schwarz Olga 963 Schwarz Samuel Löbl 934 Schwarz Walter 939 Schwarzwald Eugenie 440, 576 Schwarzwald Hermann 573, 576 Schweiger Albert 905 Schwelle Rupert 625 Sedlmayr Hans 764 Seipel Ignaz 49, 99, 201, 211, 215, 308, 314, 335, 368, 473, 696, 702, 772, 777, 788, 791, 1066, 1112 Seitz Karl 120, 296, 366, 371, 472, 491, 588, 977, 992 Seitz Sigmund 1034 Seka Otto 626 Semetkowski Walter 492 Setscheny Paul 690 Sever Albert 52, 298, 364 Seyß-Inquart Arthur 211, 267, 452, 498, 776, 779 Sibilia Enrico 242

1165

Personenregister Simon Joseph 373 Singer Isidor 816 Singer Josef 840f Singer Samuel 818 Sklaral Karl 831 Skrbensky Otto 797, 828 Slama Franz 623 Smersch Hans 1053, 1055 Smitka Johann 640 Sokel Walter H. 357, 801f Solé Alphons 674 Solvis Siegmund 573, 576 Sommer Anton 635, 645 Sommer Emil 638, 642, 645f Sonnenthal Adolph von 443–446, 454, 461 Sonnenthal Hermine 454 Sonnenthal Siegmund 454 Soos Julius Edler von 85 Soyfer Jura 415, 422f Spann Othmar 427, 754, 770, 776f Sparholz Charlotte/Karoline 1039, 1043 Sparholz Josef 1041 Spath Franz 548 Sperber Hugo 712–714, 716f Spiegel Franz 872 Spindler Samuel 1061f, 1067 Spitz Hubert 918 Spitzer Max 550 Spitzmüller Alexander 157 Springenschmid Karl 428, 434 Springer Maximilian 1087 Springer Sigi 370 Srbik Heinrich 491, 502, 756, 770, 774, 778–780, 789 Stafa Stephan 997 Stang Fanny 793f Starhemberg Ernst Rüdiger 162, 224, 278, 280, 282, 369, 403, 515, 518, 524, 527, 907, 919, 923 Stebich Max 423f Steidle Richard 117, 213, 225, 279f, 578, 810, 957–959 Stein Emanuel 1035 Stein Heinrich 715 Stein Heinrich 1030, 1039, 1042, 1047, 1051 Stein Karl von 833 Stein Leopold 1032, 1035 Steinacker Harold 810 Steinberger Josef 947

Steinböck Johann 1045, 1047 Steiner Maria 1026 Steiner Moritz 875, 997 Steiner Richard 629 Steiner Rudolf 1107 Steinitz Heinrich 715–717 Steinlechner Arnold 627 Steinschneider Caroline 1033 Steinschneider Hermann 1033 Steinwender Otto 886 Stephan Karl Maria 944 Stepski Richard 1066f Stern Bianca 600 Stern Rosa 903 Stiassny Ernst 223, 230, 638, 642 Stiborsky Willi 467 Stieböck Rudolf 898 Stiedl Josef 1036, 1038, 1043 Stocker Leopold 333, 339f, 343f, 465, 468–471, 472–476 Stockhammer Josef 898 Stockinger Friedrich 158f Stoecker Adolf 488 Stradal Emmy 384f Strafa Stephan 997 Straffner Sepp 295, 313, 324, 957f Stranik Erwin 432 Straus Oscar 406 Strauß Johann 402f Strauss Richard 405f, 453, 455, 458–461 Streittner Beatus siehe Springenschmid Karl Stricker Robert 55, 310–312, 679, 1114, 1116f Strisower Leo 502 Stroppe Theodor 355 Strzygowski Josef 492, 497 Stuchly Anna, siehe Pollak Anna Stumpf Franz 1061 Sturm Josef 905 Sucher Bernhard 439 Suess Eduard 491, 495 Suess Franz E. 737 Sulzer Salomon 444 Suttner Maria 1032 Swienty Josef 810 Szepesy Kornel 629 Szeps Moritz 83, 495

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Personenregister T Taglicht Israel 242 Tamele Gustav 625 Tandler Julius 180, 366, 491, 661, 731, 737f, 752, 761f, 792–794, 807 Teichl Robert 452, 456f Teller Oscar 447f, 1141 Tenschert Roland 409 Teplan Fritz 1038 Tezner Friedrich 118 Thaler Andreas 117, 957f Therese (Resl) von Konnersreuth, siehe Neumann Therese Thieberger Richard 602 Thimig Hugo 454, 459 Thomas Adrienne 437 Thür Hermann 265 Thüringer Adolf 1055 Ticho Robert 720 Tietze Hans 497 Tietze-Conrat Erica 497 Tintara Edgar 626 Tisch Siegfried 445 Tobiaschek Jaromir 899 Tongel Emil van 324 Torberg Friedrich 509, 567 Toscanini Arturo 931–933 Trakl Georg 1107 Tramer Therese 1028, 1048 Traschler Karl 1027 Trathnigg Fritz 905 Trathnigg Gilbert 905 Trebitsch Oskar 1077 Trenker Luis 428 Tressler Otto 444 Trinks Ulrich 259, 272 Tschadesch Viktor 702, 704f, 707 Tschiassny Kurt 678 Tschuppik Alfred 1066 Turba Gustav 502, 776 Tzöbl Josef A. 701, 833 U Ude Johannes 1069, 1074 Uebersberger Hans 502, 761f, 774, 778 Ujvary Liesl 423

Ulrich Friedrich 265, 267, 270, 944 Urbach Franz 775, 851 Urban Hubert 810 Urbanitzky Grete 423 Ursin Josef 295–301, 304, 312f, 315–318, 324, 326, 901, 1149 V Valberg Robert 446 Vaugoin Carl 155, 162, 639, 829 Veiter Theodor 211 Verdross Alfred 733f Vesper Will 484 Viktor Christian 500, 502, 755, 761, 763, 778f, 781 Vinski Zdenko 785, 802 Voegelin Eric(h) 119, 129, 854 Vogelsang Karl von 198, 213, 537, 542 Voglhuber Johann 1029 Voglmayer Eduard 299 W Waber Leopold 53, 117, 301, 303, 305f, 307f, 312f, 318, 320, 326, 623 Wache Karl 429, 480f Wachs Isak 714f Wächter Otto Gustav 492, 580, 625 Wagner Karl 493 Wagner Otto 299 Wagner Richard 404, 419f, 449, 502, 931f, 1102 Wahle Karl 629 Waismann Friedrich 763 Waitz Sigismund 203, 244, 960, 1074 Walker Gustav 733f, 737, 742, 746, 760 Wallenstein 1104 Waller Lore Lizbeth 871 Wallis Alfons 402, 406f Walter Bruno 403, 407, 931 Waneck Friedrich 313 Wassermann Jacob/Jakob 111, 436, 448 Weber Joseph Paul 882 Weber Max 1073 Webern Anton von 410 Wechsler Ernst 641 Wedding Alex 436, 438 Weidenhoffer Emanuel 156 Weill Kurt 935

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Personenregister Weinheber Josef 42f, 424 Weiniger Leopold 1099 Weininger Otto 1099–1109 Weinstein Walter 936 Weisgal Meyer W. 935 Weiskirchner Richard 47 Weiskopf Franz Carl 436, 438 Weiskopf Lydia 811 Weisl Wolfgang (von) 646 Weiß Ernst 512, 520 Weiß Lazar 157 Weiss Paul 754 Weißkirchner Richard 228 Welt Friedrich 721 Wenedikter Richard 304 Weninger Ignaz 1036 Wenter Joef 444 Werfel Franz 751–753, 935 Wertheimer Joseph von 1073 Wertheimer Josef Samuel 1087 Wertheimer Hermann 1087 Wertheimer Johann 1087 Wertheimer Samson 873 Wertheimer Zsigo 509, 526 Wessel Horst 872 West Arthur 421 Wetjen Johannes 264 Wettstein Richard 755 Wexberg Leopold Erwin 673 Wieser Friedrich 852 Wiesinger Albert 78f, 202 Wildgans Anton 1107 Wilhelm I., Kaiser 83 Wilke Fritz 263 Wimmer Friedrich 498 Wingelbauer Hubert 644 Winkler Franz 162, 333 Winkler Viktor 500 Winkler Wilhelm 138 Winkler-Hermaden Viktor 492f Winter Ernst Karl 178, 227, 381, 404 Winter Max 1069 Winternitz Leonhard 1024

Winterstein Paul 578f Winterstein Robert 623, 630 Wirth Joseph Carl 1066 Wirtinger Wilhelm 737, 764 Wise Herbert 612 Wittgenstein Karl 495 Wittgenstein Ludwig 1107 Wizlsperger Adolf 1040 Wolf Hubert 249 Wolf Hugo 402, 405, 1107 Wölfel Josef 266 Wolff Karl 810 Wolfring Minna 669 Wollheim Oskar Heinrich 573, 576 Wormser Vera 751 Wosniczak Isidor 1049 Wotawa August 291, 299, 314 Wurzbach Alfred 738 Wurzer Antonia 1037 Z Zacher Josef 209 Zandl Friedrich 1034 Zarboch Rudolf 313, 323 Zarbouch Josef 1035 Zaruba Robert 1053 Zehetmayer Hans 300 Zeidler Viktor 299, 313 Zeisl Otto 714, 721 Zernatto Guido 188 Ziegler Julius 838, 840f Zilsel Edgar 497, 754, 756, 775 Zimmerl Leopold 761 Zimmermann Ilse 670 Zirner Ella 1092 Zuckmayer Carl 182 Zumtobel Anton 965, 968 Zumtobel August 968 Zur Mühlen Hermynia 381f, 390f, 437f Zweig Freundlich Jakob 106 Zweig Stefan 443, 445, 451, 455, 459f, 933, 965 Zwetzbacher Josef 898f Zwierzina Konrad 818

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