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German Pages 725 [740] Year 2020
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor
Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Tobias Nicklas (Regensburg) · Janet Spittler (Charlottesville, VA) J. Ross Wagner (Durham, NC)
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Samuel Vollenweider
Antike und Urchristentum Studien zur neutestamentlichen Theologie in ihren Kontexten und Rezeptionen
Mohr Siebeck
Samuel Vollenweider, geboren 1953; Promotion und Habilitation in Zürich; 1988/89 Gastdozent in Kyoto und Nishinomiya (Japan); 1989–2000 Professor für Neues Testament in Bern; 2000–19 Professor für Neues Testament in Zürich, seither emeritiert. orcid.org/0000-0002-7841-2182
ISBN 978-3-16-159287-4 / eISBN 978-3-16-159288-1 DOI 10.1628/978-3-16-159288-1 ISSN 0512-1604 / eISSN 2568-7476 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruckpapier gedruckt und von der Großbuchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.
Zum Andenken an Ulrich Luz (1938–2019) „Was aber hast du, das du nicht empfangen hättest?“ (1 Kor 4,7)
Vorwort Vor rund 60 Jahren ist eine programmatische Aufsatzsammlung von Günther Bornkamm unter dem Titel „Studien zu Antike und Urchristentum“ erschienen. In diesem zweiten Band seiner „Gesammelten Aufsätze“ zeigen sich die Markenzeichen eines Gelehrten, der zu den bedeutsamsten Schülern von Rudolf Bultmann zählt: Kundiges Interesse an der griechischen und hellenistischen Antike verbindet sich mit konzentriertem Horchen auf die urchristliche Botschaft. In den seither vergangenen Jahrzehnten ist die Einbettung des frühen Christentums in seiner antiken Umwelt zu einer Selbstverständlichkeit der neutestamentlichen Wissenschaft geworden. Als Gewinn ist es vor allem zu erachten, dass Griechentum bzw. Hellenismus und Bibel bzw. Judentum nicht mehr gegeneinander ausgespielt zu werden brauchen. In der globalisierten Welt der frühen römischen Kaiserzeit geben Juden und Christen zu erkennen, wie die Prozesse des Aufeinandertreffens von Kulturen vielfältige Formen kultureller Koexistenz und Fusion erzeugen. Gerade im Licht kulturtheoretischer Ausdifferenzierung stellt sich das traditionsreiche Gegenüber von „Athen“ und „Jerusalem“ nicht als blockierende Alternative, sondern als hermeneutisch produktives Spannungsfeld dar. Die hier vorgelegten Studien versuchen dementsprechend, die frühchristlichen Texte und ihre Theologien in ihren antiken Kontexten wahrzunehmen und ihre facettenreiche Wirkungsgeschichte zu würdigen. Die Arbeiten, zwischen 2002 und 2019 entstanden, sind inhaltlich nur zurückhaltend überarbeitet worden; auch auf neuere Literatur wurde bloss gelegentlich hingewiesen. Überaus viele Anregungen habe ich empfangen vom „Kolloquium Antike und Christentum“, einer regelmässigen Lehrveranstaltung im Rahmen des „Zen trum Altertumswissenschaften Zürich“ (ZAZH), in dem Historiker, Philologen und Theologen seit vielen Jahren gemeinsam kaiserzeitliche Texte lesen und diskutieren. Unter meinen Gesprächspartnern nenne ich eigens die Professoren Christoph Riedweg, Victor Walser und Stefan Krauter. Mein grosser Dank gebührt zwei Mitarbeitenden, die an der Aufbereitung der Studien für den Aufsatzband massgeblich beteiligt waren: Lea Schuler, MTh, hat die Vereinheitlichung der Skripte vorangetrieben, Micha Baumgartner, BTh, hat die Register erstellt. Für die Aufnahme in die traditionsreiche Reihe der „Wissenschaftlichen Untersuchungen zum Neuen Testament“ danke ich Professor Jörg Frey, meinem langjährigen Kollegen an der Zürcher Theologischen Fakultät. Er hat das Werden des Buchs mit wachem Interesse verfolgt und mich durch seinen exegetischen wie judaistischen Rat kundig unterstützt.
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Vorwort
Besonderen Dank schulde ich dem Verlag Mohr Siebeck und seinem Team, das den Band professionell betreut hat: Elena Müller (Programmleitung), Tobias Stäbler (Lektoratsassistenz) und, mit unbestechlichem Blick, Matthias Spitzner (Herstellung). Mein Dank gebührt sodann Dr. Henning Ziebritzki, Geschäftsführer, der das Buchprojekt in seiner Zeit als Cheflektor Theologie angeregt hat. Zürich, Auffahrt 2020
Samuel Vollenweider
Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI
Zur neutestamentlichen Theologie Ein achter Tag. Jesu Auferstehung als ein Kristallisationspunkt neutestamentlicher Gotteslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Vom israelitischen zum christologischen Monotheismus. Überlegungen zum Verhältnis zwischen dem Glauben an den einen Gott und dem Glauben an Jesus Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Christozentrisch oder theozentrisch? Christologie im Neuen Testament . . 33 „Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20). Überlegungen zum Stellenwert der kosmischen Christologie für das Gespräch zwischen Schöpfungstheologie und moderner Kosmologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 „Der Name, der über jedem anderen Namen ist“. Jesus als Träger des Gottesnamens im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Ganzheitlich oder doch dualistisch? Über wenig attraktive Alternativen in der neutestamentlichen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Leben aus dem Tod. Neutestamentliche Perspektiven auf Lebensfülle und Lebensminderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Das Urchristentum als Religionsgemeinschaft der Entgrenzung . . . . . . . . . . 121 Wahrnehmungen der Schöpfung im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Weltdistanz und Weltzuwendung im Urchristentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
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Inhaltsverzeichnis
Paulus und seine Briefe Göttliche Einwohnung. Die Schekina-Motivik in der paulinischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Weisheit am Kreuzweg. Zum theologischen Programm von 1 Kor 1 und 2 . . . 185 Kreuzfeuer. Paulus und seine Konflikte mit Rivalen, Feinden und Gegnern 201 Politische Theologie im Philipperbrief? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Lob am jüngsten Tag. Zum Hintergrund der Gerichtserwartung im Philipperbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Sich freuen auf Einheit. Ein ökumenischer Impuls aus Philippi . . . . . . . . . . 249
Frühchristliche Texte und ihre antiken Kontexte „Einer ist der Mittler“ (1 Tim 2,5). Mittleraussagen der neutestamentlichen Briefliteraturin ihren frühjüdischen und hellenistischen Kontexten . . . . . . 257 Hymnus, Enkomion oder Psalm? Schattengefechte in der neutestamentlichen Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Auferstehung als Verwandlung. Die paulinische Eschatologie von 1 Kor 15 im Vergleich mit der syrischen Baruchapokalypse (2 Bar) . . . . . . . . . . . . . . . 299 „Mitten auf dem Areopag“. Überlegungen zu den Schnittstellen zwischen antiker Philosophie und Neuem Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 Barbarenweisheit? Zum Stellenwert der Philosophie in der frühchristlichen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Toren als Weise. Berührungen zwischen dem Äsoproman und dem 1. Korintherbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Bildungsfreunde oder Bildungsverächter? Überlegungen zum Stellenwert der Bildung im frühen Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Lebenskunst als Gottesdienst. Epiktets Theologie und ihr Verhältnis zum Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Inhaltsverzeichnis
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Zu Hermeneutik und Exegese Streit zwischen Schwestern? Zum Verhältnis von Exegese und Religionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441 Die historisch-kritische Methode – Erfolgsmodell mit Schattenseiten. Überlegungen im Anschluss an Gerhard Ebeling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Heilvolle Wende? Exegese im Zeichen der Kulturwissenschaften . . . . . . . . . 477 Aussergewöhnliche Bewusstseinszustände und die urchristliche Religion. Eine alternative Stimme zur psychologischen Exegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487
Rezeptionen biblischer Texte Paulus zwischen Exegese und Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 „Archetyp der Vollkommenheit“. Die Lebenswende des Paulus nach der patristischen Lektüre von Phil 3 (Johannes Chrysostomos und Augustin). Ancient Perspectives im Gespräch mit der „New Perspective“ . . . . . . . . . . . 523 Der Logos als Brücke vom Evangelium zur Philosophie. Der Johannesprolog in der Relektüre des Neuplatonikers Amelios . . . . . . . . 543 Luzifer – Herrlichkeit und Sturz des Lichtengels. Eine Gegengeschichte zu Demut und Erhöhung von Jesus Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 Der Erlöser im Tarnanzug. Eine Studie zur Christologie des Physiologus, zu seiner Datierung und zur Rezeptionsgeschichte von Psalm 24 (= 23 LXX) 587 Paulus in Zürich. Zur Briefauslegung von Heinrich Bullinger . . . . . . . . . . . . 651
Ein persönliches Postskript Wider die Langeweile. Neutestamentliche Wissenschaft in neuzeitlichen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stellenregister (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Autoren- und Autorinnenregister (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sach- und Personenregister (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
681 685 707 715
Abkürzungen Die Abkürzungen für Zeitschriften, Serien, Lexika und Quellenwerke richten sich mit Ausnahme der im Folgenden genannten nach: S. M. Schwertner, IATG3 – Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin 32014. Die Abkürzungen für biblische, ausserkanonische, frühjüdische und frühchristliche sowie rabbinische Schriften orientieren sich an denjenigen der RGG4. Die Verweise auf antike Autoren lehnen sich an den Abkürzungen des Lexikons der Alten Welt, Zürich 1965 (LAW), und am Neuen Pauly (DNP) an, diejenigen für die griechischen christlichen Schriftsteller am Patristic Greek Lexicon von G. W. H. Lampe, Oxford 1961 (PGL). Sie lassen sich grösstenteils auch mit Hilfe des Stellenregisters identifizieren. AcA: Ch. Markschies / J. Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Tübingen Bd. 1: Evangelien und Verwandtes (2 Teilbde.), Tübingen 2012. Bauer / Aland, Wb: W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. von K. / B. Aland, Berlin 6 1988. EChr: Early Christianity, Tübingen. FGrHist: F. Jacoby (Hg.), Die Fragmente der griechischen Historiker, Berlin / Leiden. KfA: N. Brox u. a. (Hg.), Kommentar zu frühchristlichen Apologeten. NIDNTTE: M. Silva (Hg.) New International Dictionary of New Testament Theology and Exegesis. Second Edition, 5 Bde., Grand Rapids 2014. RhG: L. Spengel (Hg.), Rhetores Graeci, 3 Bde., Leipzig 1853–1856 (= Frankfurt 1966). SAPERE: R. Hirsch-Luipold / R. Feldmeier / H.-G. Nesselrath (Hg.), Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam REligionemque pertinentia. Schriften der späteren Antike zu ethischen und religiösen Fragen, Darmstadt / Tübingen. TLG: Thesaurus Linguae Graecae. A Digital Library of Greek Literature: http://stephanus. tlg.uci.edu/ […] Text in spitzen Klammern bezeichnet Nachträge zum Text der ursprünglichen Veröffentlichung.
Zur neutestamentlichen Theologie
Ein achter Tag Jesu Auferstehung als ein Kristallisationspunkt neutestamentlicher Gotteslehre Abstract An Eighth Day. The Resurrection of Jesus as a Nucleus of the New Testament Doctrine of God The essay poses the question of the connection between the speaking of Jesus’ resurrection and the biblical doctrine of God. Is there even a bridge from the early Christian confession of Jesus’ resurrection to the later Trinitarian theology? The starting point is the early Christian metaphor of the “eighth day” as a symbol of Easter. The essay outlines the broad dimensions in which the New Testament statements about the resurrection of Jesus can be located (retrospective; prospective; present). The old confessional formulas of faith (pistis- formulas) show that the statements about the resurrection also include statements about God. Complementary to this are the statements about Jesus’ exaltation to God. Both the statements about the resurrection and the exaltation of Jesus form building blocks for the later doctrine of the Trinity.
Der vorliegende Aufsatz versucht sich an der Frage nach dem inneren Zusammenhang zwischen dem Reden von Jesu Auferstehung und der Gotteslehre. Zugespitzt formuliert: Gibt es eine Brücke vom urchristlichen Bekenntnis von Jesu Auferstehung zur nachmaligen Trinitätstheologie?1 Es geht also um das Ausmessen eines Gewölbebogens, der von zwei Grundpfeilern christlicher Theologie gebildet wird. Dabei spielen Zahlen eine gewisse Rolle, namentlich die Dreizahl. Wir nehmen den Ausgang von einer frühchristlichen Metapher, dem „achten Tag“ als Sinnbild von Ostern, und zeichnen sodann die weitgespannten Dimensionen nach, in denen sich die neutestamentlichen Aussagen über die Auferweckung Jesu lokalisieren lassen. Den Übergang zur Gotteslehre, zur Theo- logie, gewinnen wir zum einen über die Bekenntnisformulierungen selber, die Pistisformeln, zum anderen über die hymnischen Aussagen von der Erhöhung
1 Passend zu diesem Brückenschlag führt der vorliegende Essay zwei unterschiedliche Vorträge zusammen: Meine Abschiedsvorlesung an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich vom 19. Dezember 2018 (die mit dem „achten Tag“ als Zukunftsperspektive für den emeritus kokettierte) und einen Vortrag im Herausgeberkreis der ZThK bei der Jahrestagung in Sindlingen vom 19. Februar 2019 (zum Thema „Der eine Gott? Zu Fragen der Identität des biblischen Gottes und der Trinitätstheologie“), die von einer anregenden Diskussion getragen war.
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Ein achter Tag
Jesu. Wir fragen schliesslich, ob sich entlang beider Linien Brücken zur späteren Trinitätslehre abzeichnen.
1. Arithmosophische Einstimmung: ein „achter Tag“ Frühchristlicher Überzeugung zufolge geschieht Jesu Auferstehung nicht einfach nur am ersten Wochentag, der zum „Herrentag“ (Apk 1,10; Did 14,1; IgnMagn 9,1) geworden ist.2 Sie wird seit dem zweiten Jahrhundert zugleich am „achten Tag“ situiert und öffnet damit die Pforten zu einer neuen Weltzeit.3 Dabei ist das Reden vom „achten Tag“ in den Kontext jüdisch-christlicher Auseinandersetzungen eingebettet. Es zeigt, in welch hohem Ausmass sich die Christusanhänger, die selber zunächst vornehmlich dem Judentum entstammen, einen reichhaltigen symboltheologischen Pool mit ihren jüdischen Zeitgenossen teilen und gerade deshalb auch um ihn streiten. So lässt der Barnabasbrief Gott selber diese Worte sprechen:4 „‚Nicht die jetzigen Sabbate sind mir willkommen, sondern der, den ich gemacht habe, an dem ich, nachdem ich das All zur Ruhe gebracht habe, den Beginn eines achten Tages schaffen werde, den Beginn einer anderen Welt.‘ Deshalb begehen wir Christen freudig den achten Tag, an dem auch Jesus von den Toten auferstanden und erschienen und in die Himmel aufgestiegen ist.“
Offenkundig bildet der Auferstehungstag eine Antithese zum Sabbat. Mit der Achtzahl wird eine Unterbrechung der zyklischen Abfolge der Wochentage markiert. Die frühen Christen laden den achten Tag mit kosmologischer Symbolik auf. Ähnlich drückt sich Justin in seinem Dialog mit dem Juden Tryphon aus.5 2 Zur nicht geklärten Genese des Sonntags vgl. G. A. Rouwhorst, Der Sonntag als originär christliche Schöpfung? Ein liturgiegeschichtlicher Blick in die Anfänge der Kirche, BiLi 86 (2013) 164–172. Die Spätdatierung wird etwa vertreten von C. Leonhard, The Jewish Pesach and the Origins of the Christian Easter (SJ 35), Berlin 2006, 139 f. 3 Zur Motivik des „achten Tags“ vgl. W. Rordorf, Der Sonntag. Geschichte des Ruhe‑ und Gottesdiensttages im ältesten Christentum (AThANT 43), Zürich 1962, 271–280 (wonach die Symbolik der Achtzahl an der Taufe haftet); R. Staats, Ogdoas als ein Symbol für die Auferstehung, VigChr 26 (1972) 29–52 (mit Herleitung aus der frühen judenchristlichen Eschatologie). Vgl. ferner J. Moltmann, Gott in der Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 1985, 279–298. 4 Barn 15,8 f. Beim Verfasser des Barnabasbriefs handelt es sich wahrscheinlich um einen Heidenchristen, vgl. dazu F. R. Prostmeier, Der Barnabasbrief (KAV 8), Göttingen 1999, 131 f. 5 Justin, dial. 138,1 f: „Denn der gerechte Noah und die anderen Überlebenden der Sintflut, nämlich Noahs Frau, seine drei Söhne und die Frauen seiner Söhne, acht an Zahl, waren ein Symbol des achten Tags, an welchem unser Christus von den Toten auferstanden und erschienen ist; seiner Bedeutung nach ist er allerdings immer der erste Tag. Christus, obwohl der Erstgeborene aller Schöpfung (Kol 1,15), ist auch der Anfang eines zweiten Geschlechtes geworden, der Wiedergeborenen durch Wasser, Glaube und Holz, dem Geheimnis des Kreuzes.“ Vgl. 24,1; 41,4; dazu Leonhard, Pesach (s. Anm. 2) 137 f.
1. Arithmosophische Einstimmung: ein „achter Tag“
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Die kosmologische Dimension ist ihrerseits als Variation eines Motivs anzusprechen, das im antiken Judentum fest mit dem Sabbat verbunden ist, dem krönenden Abschluss des Sechstagewerks.6 Tatsächlich ist auch die Symbolik des achten Tags im selben zeittheologischen Kontext eingebettet. Der wohl trefflichste Beleg dafür findet sich in einer Schrift, in deren Überlieferungsprozess sich jüdische und christliche Rezeptionen bis ins Unkenntliche überkreuzen, nämlich im nur slawisch erhaltenen zweiten Henochbuch.7 Auch hier kommt Gott selber zu Wort: „Und ich segnete den siebenten Tag, an dem ich von allen meinen Werken ruhte. Am achten Tag aber setzte ich denselben achten Tag ein, damit er der erste werde, der ersterschaffene meiner Woche, und damit sie wiederkehren im Bild der siebentausend, und damit er zum Anfang der achttausend werde, einer Zeit der Zahllosigkeit und endlos: weder Jahre, noch Monate, noch Wochen, noch Tage, noch Stunden …“
Der achte Tag wird in Henochs Offenbarung zum Platzhalter der Ewigkeit, die die Zeit mit ihren Zyklen transzendiert. Die Achtzahl wird offenkundig zum Vehikel nicht nur für räumlich-kosmologische, sondern auch für zeitliche Grenzüberschreitungen. So erstaunt es nicht, dass die Ogdoas im antiken Christentum über literarische Zusammenhänge hinaus auch Liturgie, Kunst und Architektur umgreift.8 Am Oktogon orientieren sich namentlich Kultbauten, darunter besonders Baptisterien und Grabkirchen. Spätestens hier wird deutlich, dass die Achtzahl längst nicht mehr nur jüdisch-christliche, am Sabbat haftende Traditionen transportiert, sondern eine weitgespannte antike Symbolik repräsentiert und aktualisiert.9 Diese reicht von der Architektur, beispielsweise dem Athener 6 Vgl. E. Lohse, Art. σάββατον κτλ., ThWNT 7 (1964) 1–35, hier: 19 f; 32. Vgl. zum Sabbat als erstem Tag bzw. Geburtstag der Welt z. B. Aristobul, frg. 5 (PVTG 3, 224 = JSHRZ 3.2, 276); Philon, spec. 2,59; opif. 89; 100 ff; M. Hengel, Judentum und Hellenismus (WUNT 10), Tübingen 31988, 301–303. 7 2 Hen 33,1 f (JSHRZ 5.7, 929 f; übs. Ch. Böttrich). Manches spricht dafür, die jüdische Grundschrift von 2 Hen noch vor der Tempelzerstörung, also im ersten Jahrhundert n. Chr., zu datieren, vgl. A. A. Orlov, Enoch, Slavonic Apocalypse of (2 Enoch), in: J. J. Collins / D. C. Harlow (Hg.), The Eerdmans Dictionary of Early Judaism, Grand Rapids 2010, 587–590, hier: 589. Neu entdeckte koptische Fragmente sprechen dafür, dass 2 Hen weiter verbreitet war, als es die sonst nur slawische Überlieferung vermuten lässt; vgl. J. L. Hagen, No Longer „Slavonic“ Only. 2 Enoch Attested in Coptic from Nubia, in: A. A. Orlov / G. Boccaccini (Hg.), New Perspectives on 2 Enoch. No Longer Slavonic Only (Studia Judaeoslavica), Leiden 2012, 7–34. 8 Nur am Rand sei auf die gnostischen Texte verwiesen, die die Ogdoas geradezu zelebrieren: Die achte (und ggf. neunte) Sphäre wird den sieben von den Planeten gebildeten, negativ gewerteten Sphären gegenübergestellt. Vgl. z. B. OgdEnn (NHC 6.6, 55): „Wir müssen mit unserem ganzen Denken und unserem ganzen Herzen und unserer Seele zu Gott beten und ihn um die Gabe der Achtheit bitten, dass sie zu uns gelange.“ 9 Vgl. F.-J. Dölger, Zur Symbolik des altchristlichen Taufhauses, I. Das Oktogon und die Symbolik der Achtzahl, AuC 4 (1934) 153–187; ein kunterbuntes Sammelsurium stellt zusammen W. Heinz (Hg), Kulturgeschichte der Achtzahl, Paderborn 2015. Vgl. sodann K. Schneider, Art. Achteck, RAC 1 (1950) 72–74; F. W. Deichmann, Art. Baptisterium, aaO. 1157–1167.
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Ein achter Tag
„Turm der Winde“, über die Oktave der pythagoreischen Musiktheorie bis wieder zur Kosmologie, zur achten Sphäre der Fixsterne, die die sieben Planetensphären mit ihren regulären Kreisläufen umschliesst. Dazu kommen die Schnittstellen, die der Sonnentag der sich in der Kaiserzeit etablierenden Planetenwoche dem christlichen Herrentag bietet.10
2. Urgestein: das Kerygma von der Auferstehung Jesu Christi Schon in einer allerersten Näherung wird deutlich, dass das Reden von Jesu Auferstehung die Gestalten neutestamentlicher Theologie massgeblich organisiert. Die Evangelien erzählen zwar vom Leben und Wirken Jesu, aber sie tun es so, dass alles auf die Geschehnisse in Jerusalem zuläuft, auf die Passion mit ihrem finalen Ausgang, der Auferstehung. Dass Jesus auferweckt worden ist, ist die Voraussetzung dafür, dass von ihm als vollmächtigem Wundertäter, als autoritativem Lehrer und als einzigartigem Boten Gottes erzählt wird. Es hat nie einen Strom der Jesusüberlieferung abseits von Passion und Auferstehung gegeben. Die Briefliteratur präsentiert Jesus als Auferstandenen und entwickelt auf dieser Grundlage anthropologische, ekklesiologische, ethische und eschatologische Lehrinhalte. Auch am Ende des Kanons ist es Jesus als der Erste und Letzte, der Totgewesene und nun in alle Ewigkeit Lebendige (Apk 1,17 f), der das Wort nimmt und als siegreiches Widderlamm in das Endzeitgeschehen eingreift. Das ist soweit unstrittig. Zugleich ist man gut beraten, nicht alle neutestamentlichen Theologumena durch das österliche Nadelöhr zu führen. Die Jesuserzählungen bilden eigene Schwerpunkte aus, ebenso die ethischen Überlieferungen – man denke nur an die Bergpredigt mit ihren weisheitlichen Hintergründen –, und Entsprechendes gilt etwa auch von der Christologie. Wir haben also ein zentrales Massiv vor uns, dem manch andere Bergrücken mit eigener Tektonik benachbart sind. Dem literarischen und historisch-theologischen Befund entspricht, wieder in einer weitgezoomten Optik, das Wenige, was wir historisch eruieren können. Die Bewegung, die Jesus von Nazaret initiiert hat, reiht sich ein in andere, mehr oder weniger endzeitlich orientierte Bewegungen in frühjüdischer Zeit. Die Exekution ihrer Leitfiguren hat nicht immer, aber meistens zu ihrer Auflösung geführt. Anders die Jesusgruppe: Sie entwickelt schon bald nach dem Tod des Nazareners eine geradezu atemberaubende Dynamik, in der sie schliesslich im Spiel komplexer Prozesse zu einer weltumspannenden Religion mutiert.11 10 Vgl. F.-J. Dölger, Die Planetenwoche der griechisch-römischen Antike und der christliche Sonntag, AuC 6 (1950) 202–238; M. Wallraff, Christus verus sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike (JbAC.E 32), Münster 2001, 89–96; zum „achten Tag“ in der griechisch-christlichen Literatur der Spätantike vgl. 106 f. 11 Vgl. dazu B. Schliesser, Vom Jordan an den Tiber. Wie die Jesusbewegung in den Städten des Römischen Reiches ankam, ZThK 116 (2019) 1–45.
3. Drei Dimensionen des Redens von Jesu Auferstehung: Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart 7
Am Anfang dieser Expansion steht die Überzeugung der Jesusanhänger, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat.12 Die Metaphorik ist plastisch: Das Erwecken (ἐγείρειν) setzt das Bild von Toten als Schlafenden voraus. Benachbart ist das Aufrichten eines Liegenden (ἀνιστάναι), das im Aufstehen resultiert.13 Beide Metaphern sind in unserer Zeit bereits traditionell mit theologischen Inhalten konnotiert; sie setzen einen externen Akteur voraus, nämlich Gott.14 Die entsprechenden Vorstellungen verdichten sich in bestimmten bekenntnisartigen Formulierungen, wonach Gott Jesus von den Toten auferweckt hat (vgl. Röm 10,9; 1 Thess 4,14). Ergänzt werden sie teilweise durch die Aussage, Jesus sei einigen Anhängern erschienen (vgl. 1 Kor 15,3–8). Später werden in den Evangelien einige dieser Ostererscheinungen in Erzählung umgesetzt. Nun bildet ein solcher Bekenntnissatz selber schon ein kleines Element erzählender Sprache, ein Mini-N arrativ. Es enthält extrem komprimierte Aussagen. Im Folgenden wird versucht, deren Bedeutung entlang von drei Dimensionen herauszustellen. Wir orientieren uns an den drei Modi der Zeit, an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Erkenntnisleitend ist die Überlegung, dass es Ostern mit ganz neuen Erfahrungen von Zeit zu tun hat, symbolisiert im „achten Tag“. Da bietet sich das schon in der Antike gut bekannte Dreizeitenschema an.
3. Drei Dimensionen des Redens von Jesu Auferstehung: Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart 1. Zunächst gilt unsere Aufmerksamkeit der Brücke, die die Auferstehung Jesu in die Vergangenheit schlägt. Jesus verkündigt die Botschaft vom Nahekommen des Gottesreiches, worin Gottes endzeitliche Liebe soziale, kultische und geschlechtliche Grenzen aufbricht und eine neue Gemeinschaft erschafft. Wenn nun die Anhänger Jesu ihn als Auferstandenen bekennen, besagt das: Seine Mission ist trotz seiner Exekution und der Zerschlagung seiner Bewegung nicht gescheitert. Sie wird vielmehr in Geltung gesetzt und erfährt einen neuen Impuls. In den
12 Eine Skizze dazu habe ich vorgelegt: Ostern – der denkwürdige Ausgang einer Krisenerfahrung, in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 105–123. 13 Zur unterschiedlichen Perspektive von Auferweckungs‑ und Auferstehungsaussage vgl. H.-J. Eckstein, Die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu. Lukas 24,34 als Beispiel früher formelhafter Zeugnisse, in: ders. / M. Welker (Hg.), Die Wirklichkeit der Auferstehung, Neukirchen 2002, 1–30, hier: 6. 14 Auch die Aussagen, wo Jesus Christus als Subjekt fungiert, referieren meist auf Gott als Handelnden. Dies zeigt etwa das Verhältnis von Protasis und Apodosis im frühen Beleg 1 Thess 4,14: „Wenn wir nämlich glauben, dass Jesus gestorben und auferstanden ist, so wird Gott auch die Verstorbenen durch Jesus mit ihm zusammen heraufführen.“ Besonders deutlich ist der Charakter eines passivum divinum in der Formulierung ἠγέρθη (Röm 6,4; 4,25; Lk 24,34).
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1960er Jahren hiess es plakativ: Die Sache Jesu geht weiter.15 Die Minimalaussage muss um wenigstens zwei Aspekte ergänzt werden: Zum einen hat sich Jesus selber wahrscheinlich eine bedeutsame Rolle im künftigen Gottesreich zugeschrieben. Wenn er nun als Märtyrer stirbt, nimmt ihn Gott bei sich auf und er wird ins Recht gesetzt. Es geht also nicht nur um die Sache Jesu, sondern auch um ihn selber. Zum anderen handelt es sich nicht nur um Progression, sondern auch um Anamnese. Jesu Auferstehung löst Erinnerungsarbeit aus. Im Erinnern wird der dahingegangene Jesus wieder lebendig.16 Der Blick lässt sich weiten: Jesu Mission ist eingebettet in die Geschichte des biblischen Israel. Mit seinem Kommen realisieren sich prophetische Erwartungen: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Armen wird eine frohe Botschaft verkündigt (Mt 11,5 f par. Lk 7,22 f). Der urchristlichen Glaubensüberzeugung zufolge kumuliert sich Israels Verheissungsgeschichte in der überraschenden Auferstehung Jesu. Bestätigt wird dies durch die vielfachen Referenzen auf die Schrift, die mit der Auferweckungsaussage einhergehen. „Er ist auferweckt worden am dritten Tag nach den Schriften“ (1 Kor 15,4; vgl. Lk 24,32). Unsere Leitmetapher vom „achten Tag“ fügt sich hier gut ein: Der achte Tag, mit dem etwas ganz Neues beginnt, steht in Kontinuität mit dem Siebentagewerk, das die Geschichte Israels umgreift. Das Moment der kreativen Retrospektive, die zugleich ein geschichtliches Kontinuum wie Neues heraufrufende Ereignisse im Blick hat, lädt dazu ein, sie mit einer der drei christlichen „Kardinaltugenden“ von 1 Kor 13,13 korrelieren: mit dem Glauben. Tatsächlich haben sich die Christusanhänger schon sehr früh als eine Bewegung verstanden, in der Glauben ein zentrales Element bildet, und damit unterscheiden sie sich von anderen jüdischen Gruppierungen.17 Glauben hat elementar mit Vertrauen auf Gottes Verheissungstreue zu tun, umfasst aber auch kognitive, inhaltlich bestimmte Elemente. Mit Bekenntnisaussagen wie „Jesus ist auferweckt worden“ vergewissern sich die Christusgläubigen dessen, was ihre geschichtliche Identität ausmacht. Die traditionellen Formeln lassen sich als Keimzellen der grossen Glaubensbekenntnisse ansprechen, die die 15 W. Marxsen, Die Sache Jesu geht weiter (GTB 112), Gütersloh 1975. Vgl. ders., Die Auferstehung Jesu als historisches und als theologisches Problem, Gütersloh 31965, 25–35. 16 Zum Stellenwert der Erinnerung in der Jesusforschung vgl. J. Schröter, Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa, Retter der Welt (Biblische Gestalten 15), Leipzig 2017, 41–45. 17 Zur Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament vgl. H. Weder, Die Entdeckung des Glaubens im Neuen Testament, in: ders., Einblicke ins Evangelium. Exegetische Beiträge zur neutestamentlichen Hermeneutik, Göttingen 1992, 137–150, hier 138; B. Schliesser, Was ist Glaube? Paulinische Perspektiven (ThSt.NF 3), Zürich 2011, besonders 116–118; ders., Faith in Early Christianity. An Encyclopedic and Bibliographical Outline, in: J. Frey / B. Schliesser / N. Ueberschaer (Hg.), Glaube. Das Verständnis des Glaubens im frühen Christentum und in seiner jüdischen und hellenistisch-römischen Umwelt (WUNT 373), Tübingen 2017, 3–50. Vgl. ders., Glaube als Ereignis. Eine exegetisch-theologische Studie zu einer vernachlässigten Dimension des paulinischen Glaubensverständnisses, erscheint in: ZThK 117 (2020).
3. Drei Dimensionen des Redens von Jesu Auferstehung: Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart 9
Kirchen im Lauf der Jahrhunderte ausgebildet haben. Sie sagen, woher Christen und Christinnen kommen und was sie miteinander verbindet. 2. Mit unserer Leitmetapher vom achten Tag, der selber endzeitlich grundiert ist, korrespondiert die Dimension der Zukunft, die sich mit der Hoffnung als christlicher Tugend verbinden lässt: Jesu Auferstehung ist als punktuelle Neuschöpfung mit endzeitlichem Expansionspotential anzusprechen. Wenn die Jesusanhänger von seiner Auferweckung reden, fassen sie diese nicht als ein isoliertes Geschehen auf, sondern platzieren sie in einem umfassenden Drama, in dem das endzeitliche Gottesreich anbricht. In einer apokalyptischen Raum‑ und Zeitkonfiguration bildet Jesu Auferweckung den Auftakt zu einer Serie von Endzeitereignissen, darunter die Auferstehung der Toten und mit ihr die Transformation der gegenwärtigen in eine neue Weltzeit. Die Bezeichnung von Jesus als „Erstgeborener aus den Toten“ (Kol 1,18; Apk 1,5) und als „Erstling der Entschlafenen“ (1 Kor 15,20.23; vgl. 6,14; Röm 8,11) setzt das Verständnis seiner Auferstehung als Antizipation der nahen Totenauferstehung überhaupt voraus. Kaum produktiv ist die Frage, ob es sich bei dieser eschatologischen Einbettung um die früheste Konzeption der Auferstehung Jesu handelt, oder ob dieser Rang der Figur des Märtyrers zukommt, der nach seinem Tod von Gott aufgenommen und lebendig gemacht wird.18 Gerade das prononciert eschatologisch orientierte Profil der Jesusbewegung rückt auch die Figur des von Gott ins Recht gesetzten Märtyrers von vornherein in ein endzeitliches framework. Im Übrigen tut die neutestamentliche Wissenschaft gut daran, sich von ihrer alttestamentlichen Schwester dazu ermutigen zu lassen, auch das Gewicht von (nur wenig) später zu datierenden Theologumena hermeneutisch zu würdigen, statt sich auf das ganz Ursprüngliche zu fixieren.19 3. Die dritte Dimension führt uns mitten hinein in das Gottesverständnis der frühen Christen. Unser Ausgangspunkt sind erneut die alten Bekenntnisaussagen, die sogenannten Pistisformeln,20 die die urchristliche Briefliteratur 18 So etwa J. Becker, Die Auferstehung Jesu Christi nach dem Neuen Testament. Ostererfahrung und Osterverständnis im Urchristentum, Tübingen 2007, 100 f; M. Wolter, Auferstehung der Toten und Auferstehung Jesu, in: E. Gräb-S chmidt / R. Preul (Hg.), Auferstehung (MJTh 24 / MThSt 116), Leipzig 2012, 49 f. Anders etwa J. Frey, Biblisch-theologische Reflexionen zum Bekenntnis zur Auferstehung Jesu Christi, in: J. Herzer / A. Käfer / J. Frey (Hg.), Die Rede von Jesus Christus als Glaubensaussage. Der zweite Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses im Gespräch zwischen Bibelwissenschaft und Dogmatik (UTB 4903), Tübingen 2018, 325–349), 331 f. 19 Zum Innovationscharakter der urchristlichen Auferstehungsverkündigung vgl. Ch. Jacobi, Auferstehung, Erscheinungen, Weisungen des Auferstandenen, in: J. Schröter / Ch. Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 490–504, hier: 500 f: „Die Vorstellung einer sofortigen Auferstehung einzelner Märtyrer und die endzeitliche Auferweckung der Gerechten zum Leben sind in israelitisch-jüdischer Literatur nicht miteinander verbunden. In dieser Hinsicht ist der frühchristliche Glaube an die in Jesus vorweggenommene Totenauferstehung innovativ.“ 20 Den Terminus hat eingeführt W. Kramer, Christos Kyrios Gottes Sohn. Untersuchungen zu Gebrauch und Bedeutung der christologischen Bezeichnungen bei Paulus und den vorpaulinischen Gemeinden (AThANT 44), Zürich 1963, 15–40. Zu ihrem Verständnis haben
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entweder eingliedrig oder mehrgliedrig überliefert.21 Sie antworten nicht nur auf die Frage, was mit Jesus geschehen ist, sondern auch auf die Frage, wer Gott ist – und hier greift der Zeitaspekt der Gegenwart. Tatsächlich aktualisieren die Formeln selber altes biblisches Traditionsgut, das sprachlich analog gestaltet ist. Israel hat die Frage, wer Gott ist, so beantwortet, dass es fundamentale, begründende Ereignisse nennt, in denen es Gott erfahren hat: die Rettung aus Ägypten im Exodus (Ex 6,7; 20,2; Dtn 5,6; 6,12; Lev 19,36), also die Erwählung, und die Erschaffung der Welt (Gen 14,19; Ps 115,15). Zudem spricht manches dafür, dass antike Juden auch Gottes Macht, Tote zu erwecken, unter seine Attributionen bzw. Prädikationen aufgenommen haben.22 Die Jesusanhänger rücken nun Christi Auferweckung in den Rang solcher begründenden Setzungen, in Entsprechung zu Schöpfung, Erwählung und Totenauferstehung, die selbstverständlich ihrerseits in Geltung bleiben. Insofern bündeln die Bekenntnisaussagen auch die beiden anderen von uns ins Spiel gebrachten Dimensionen, die retrospektiv erschlossene Verheissungstreue Gottes einerseits, die endzeitliche Antizipation andrerseits. Im Zentrum der Neudefinition Gottes steht sein Wirken am getöteten Jesus. Es geht also um die spezielle Beziehung zwischen Gott und Jesus. Mit dem Terminus Relation deutet sich schon eine Fluchtlinie an, die später die trinitarischen Reflexionen befeuern wird, zumal bei Augustin. Diese orientieren sich allerdings nicht an den Auferweckungsaussagen selber, sondern vor allem am ewigen Verhältnis zwischen Vater und Sohn, worin der je eine auf den anderen verweist. Formativ sind hierfür v. a. Texte aus dem Johannesevangelium, sekundiert vom „johanneischen“ Logion in der synoptischen Tradition (Mt 11,25–27 par. Lk 10,21 f). Im Blick auf die Auferweckungsaussagen fällt auf, dass sich Gottes Selbstbestimmung fest mit dem Namen Jesu verbindet: Gott ist derjenige, der Jesus von den Toten erweckt hat. Reziprok zu dieser exklusiven Beziehung verhält sich die Mission Jesu. Sie ist gänzlich transparent für Gottes Wirken: das entscheidend beigetragen K. Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums (StNT 7), Gütersloh 1972, 27–48; ders., Art. Glaubensbekenntnis(se) IV. Neues Testament, TRE 13 (1984) 392–399; Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin 21978, 14–22; P. Hoffmann, Der Glaube an die Auferweckung Jesu in der neutestamentlichen Überlieferung, in: ders., Studien zur Frühgeschichte der Jesus-Bewegung (SBAB.NT 17), Stuttgart 1994, 188–256, hier: 188–211; P.-G. Klumbies, Die Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext (FRLANT 155), Göttingen 1992, 111–126. Vgl. dazu meinen Artikel: Frühe Glaubensbekenntnisse, in: Schröter / Jacobi, Jesus Handbuch (s. Anm. 19) 504–515. 21 Es begegnen Formulierungen mit Gott als Subjekt und mit finitem Verb (Röm 10,9b; 1 Kor 6,14; 15,15; 1 Thess 1,10), mit partizipialer Verbform (Röm 4,24; 8,11; 2 Kor 4,14); als Subjekt fungiert Christus, mit partizipialer Verbform (Röm 6,9; 8,34) oder mit finitem Verb (Röm 6,4; vgl. Lk 24,34; Mk 8,31). 22 Achtzehnbittengebet, 2. Ben. (Bill. 4.1, 211); JosAs 20,7; 4Q521 frg. 7,6; vgl. Röm 4,17; 2 Kor 1,9. Zweifel daran, dass das totenerweckende Handeln Gottes in die für die Auferweckungsformeln konstitutive Kategorie fällt, äussert Becker, Auferstehung (s. Anm. 18) 96 f Anm. 6.
4. In der Tiefe: Gottes Konfrontation mit dem Tod
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Kommen seines Reichs (Mk 1,15 parr.), das Offenbarwerden seiner endzeitlichen Liebe zu den Verlorenen und Bedrängten (Lk 6,20–23 par.), zeichenhaft zur Darstellung gebracht in Heilungen und Exorzismen (Lk 11,20 par.). Das Stichwort der Beziehung gibt uns also Anlass, die dritte und grösste der christlichen Tugenden, die Liebe, ins Spiel zu bringen. Es ist die Liebe Gottes, die prominente neutestamentliche Texte zwar nicht speziell für sein Auferweckungshandeln, wohl aber umfassender für die Sendung und das Sterben Jesu zugunsten der Welt in Anspruch nehmen (Joh 3,16; Röm 5,8; 1 Joh 4,10). Wir stellten die Kernaussage der alten Bekenntnisaussagen, deren historischer und theologischer Stellenwert kaum zu überschätzen ist,23 unter das Stichwort der Gegenwart. Einerseits wird Gott eine bedeutsame Prädikation zugeschrieben. Andrerseits geht es um Jesus Christus, der in einer doppelten Hinsicht zur Sprache kommt: explizit als von den Toten Auferweckter bzw. Auferstandener, implizit als zu Gott Erhöhter. Wir nehmen dies zum Anlass, von zeitlichen zu räumlichen Kategorien überzugehen.
4. In der Tiefe: Gottes Konfrontation mit dem Tod Das von den alten Bekenntnisaussagen skizzierte Handeln Gottes am getöteten Jesus weist auf ein Geschehen in der Tiefe: Indem Gott Jesus von den Toten auferweckt, kommt es zu einer punktuellen Konfrontation zwischen Gott und dem Tod. Das Auferweckungsbekenntnis treibt die breite alttestamentlich-jüdische Traditionsentwicklung voran, an der sich beobachten lässt, wie der Gott Israels sich zunehmend auch die Sphären von Unterwelt und Tod erschliesst.24 Ganz in den Bahnen apokalyptischer Theologie identifiziert Paulus die österliche Überwindung des Todes als Kampf mit dem mächtigsten, „letzten Feind“ (1 Kor 15,26; vgl. 15,54 f). Die Rede vom „Tod des Todes“ verdankt sich biblischer Sprache (vgl. Apk 20,14; 21,4). Ihre expressivste Verbildlichung gewinnt sie im Theologumenon der Hadesfahrt Christi, das sich um die Wende zum zweiten Jahrhundert 23 Es ist namentlich Hans Conzelmann, der das Gewicht des „Kerygma(s) der ältesten Gemeinden“ herausgestellt hat: Was glaubte die frühe Christenheit? (1955), in: ders., Theologie als Schriftauslegung. Aufsätze zum Neuen Testament (BEvTh 65), München 1974, 106–119; ders., Grundriss der Theologie des Neuen Testaments (UTB 1446), Tübingen 51992 (bearbeitet von A. Lindemann), 31–140; besonders XVII; 7 f; 46–57. 24 Zur in der alttestamentlichen Theologiegeschichte beobachtbaren „Kompetenzausweitung“ JHWHs (ein m. E. unglücklich gewähltes modisches Schlagwort) vgl. B. Janowski, JHWH und die Toten. Zur Geschichte des Todes im alten Israel, in: A. Berlejung / B. Janowski (Hg.), Tod und Jenseits im alten Israel und in seiner Umwelt (FAT 64), Tübingen 2009, 447–477); K. Bieberstein, Jenseits der Todesschwelle. Die Entstehung der Auferweckungshoffnungen in der alttestamentlich-frühjüdischen Literatur (aaO. 423–446); G. Eberhardt, JHWH und die Unterwelt. Spuren einer Kompetenzausweitung JHWHs im Alten Testament (FAT II/23), Tübingen 2007. Vgl. B. Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019, 88–92; 491–499.
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ausbildet.25 Zumal in der ostkirchlichen Ikonographie ist es fest mit dem Auferstehungsgeschehen verbunden. Gottes Konfrontation mit dem Tod lässt sich aber auch ganz anders erzählen: nicht als triumphaler Akt der Überwindung, sondern als Eingehen in den Tod, als Passion. Jesus stirbt den Evangelien von Markus und Matthäus zufolge entehrt von den Menschen und verlassen von Gott. Wenn der von Barmherzigkeit bewegte Gott Jesus aus dieser Situation des verdichteten Tods rettet, rücken Gott und Tod einander unheimlich nahe. Die Theologie spitzt das später dahingehend zu, dass sich Gott selber dieser Situation aussetzt und dass er sich mit dem getöteten Jesus identifiziert. Konsequent ist diesen Weg m.W. erst die neuere Dogmatik gegangen. Namentlich Eberhard Jüngel verfolgt im Gespräch mit Hegels Religionsphilosophie eine Argumentation, die Jesu Auferweckung geradewegs zum Schlüssel für das Verständnis des dreieinigen Gottes macht.26 Für das Reden vom Tod Gottes lassen sich immerhin auch ältere Spuren ausmachen, die über das Luthertum zurückführen bis zu den Theopaschiten und Patripassianern, bei letzteren allerdings noch nicht im Zeichen trinitarischer Ausdifferenzierung. Die neutestamentliche Theologie selber kann diesen entscheidenden Schritt, der eine direkte Brücke schlägt zwischen dem Bekenntnissatz von Jesu Auferstehung und dem Trinitätsdogma, so nicht mitmachen. In den Aussagen über Gott selber bleibt die Kluft hart und verstörend zwischen Jesu Schrei samt seinen letzten Worten, die gerade die unendliche Distanz zwischen Gott und seinem Sohn in den Worten des Klagepsalms 22 zur Sprache bringen (Mk 15,34.37 par. Mt 27,46.50), und dem rettenden Gotteshandeln, das das Kerygma bekennt. Mit exegetischen Mitteln kommt man aber doch ein Stück weiter, indem man der entgegengesetzten Richtung Aufmerksamkeit schenkt, die in die Höhe führt, zur Bewegung von Jesus zu Gott hin – eine Bewegung, in der Gott wiederum den aktiven Part spielt.
25 IgnMagn 9,2; EvPetr 1,41 f; vorbereitet von 1 Petr 4,6; 3,19 f (?); Mt 12,40; Apk 1,18. Eine grosszügige Perspektive entwirft M. Frenschkowski, Hinabgestiegen in das Reich der Toten. Jenseitsmythen, Christologie und der Weg der Seele, in: Herzer, Rede (s. Anm. 18) 255–286. Die wichtigste Studie legte vor A. Grillmeier, Der Gottessohn im Totenreich. Soteriologische und christologische Motivierung der Descensuslehre in der älteren christlichen Überlieferung, in: ders., Mit ihm und in ihm. Christologische Forschungen und Perspektiven, Freiburg 1975, 76–174. 26 E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 82010, 495–505; vgl. 512–514. „Auferweckung Jesu von den Toten besagt, dass Gott sich mit diesem toten Menschen identifiziert hat“ (497). Vgl. M. Moxter, Konkreter Monotheismus, ZThK 116 (2019) 342–369, hier: 366– 368 („Den Gegensatz des lebendigen Gottes und des getöteten Christus festzuhalten, schreibt sich seit Paulus in den Sinn des Auferstehungsglaubens ein. Um dieser Erinnerung zu entsprechen, ist Trinitätstheologie nötig“, 368).
5. In der Höhe: Jesus Christus zur Rechten Gottes
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5. In der Höhe: Jesus Christus zur Rechten Gottes Die urchristlichen Texte sprechen davon, dass Jesus aus der Tiefe des Todes zu Gott erhöht worden sei (vgl. besonders Röm 1,4; 8,34; 10,9; Phil 2,9–11; 1 Thess 1,10; Kol 1,18; Eph 1,20–23; 1 Tim 3,16; Hebr 1,3 f u.ö.; 1 Petr 3,21 f; Mt 28,18; usw.). Die Erhöhungsaussage tritt komplementär neben diejenige von der Auferweckung. Beide Figuren, Auferweckung und Erhöhung, konvergieren darin, dass zwischen Gott und Jesus Christus eine exklusive Beziehung spielt, die von Wechselseitigkeit gekennzeichnet ist: Während sich Gott in Todesnähe begibt, bekommt Jesus umgekehrt Teil an Gottes Hoheit. An der Seite Gottes erhält Jesus Anteil an dessen Privilegien: an seinem heiligen Namen, an seiner Weltherrschaft und an seiner Schöpferwürde; mit Gott zusammen wird er von den Christusanhängern gottesdienstlich verehrt, in der Endzeit sogar von den Bewohnern aller Welten (vgl. Phil 2,10 f; Apk 5,13). Eine enorme Wirkung üben royale Überlieferungen orientalischer wie hellenistischer Provenienz aus, die ihrerseits offen sind für messianische Akzentuierungen. Die urchristliche Traditionsbildung verdankt sich namentlich der formativen Kraft von Bibeltexten, zumal von Ps 110,1 für Jesu sessio ad dexteram Dei.27 Im Kern geht die Figur der Erhöhung mutmasslich schon auf die Christophanien zurück, die Anhängerinnen und Schülern Jesu bald nach seiner Kreuzigung zuteilwurden. Unter neuzeitlichen Verstehensbedingungen gibt es gewichtige Gründe dafür, diese als Visionen zu kennzeichnen, d. h. als einen Typ von altered states of consciousness mit visuellen und vielleicht auch auditiven Komponenten.28 Die entscheidende Frage, die damit aufgeworfen wird, ist aber nicht, wie sich das Sehen abspielt, sondern was sich im Schauen 27 Die klassische Studie dazu stammt von M. Hengel, „Setze dich zu meiner Rechten!“ Die Inthronisation Christi zur Rechten Gottes und Psalm 110,1, in: ders., Studien zur Christologie. Kleine Schriften, Bd. 4 (WUNT 20), Tübingen 2006, 281–367. Vgl. sodann D. Sänger (Hg.), Heiligkeit und Herrschaft. Intertextuelle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110 (BThSt 55), Neukirchen 2003; M. von Nordheim, Geboren von der Morgenröte? Psalm 110 in Tradition, Redaktion und Rezeption (WMANT 117), Neukirchen 2008. 28 Zur Scheindifferenz zwischen „objektiver“ und „subjektiver“ Visionshypothese äussert sich kurz und bündig Wolter, Auferstehung (s. Anm. 18) 45–48. Zur religionspsychologischen Typologie vgl. meinen Aufsatz: Aussergewöhnliche Bewusstseinszustände und die urchristliche Religion. Eine alternative Stimme zur psychologischen Exegese, in: G. Theissen / P. von Gemünden (Hg.), Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung des frühen Christentums, Gütersloh 2007, 73–90. Mit dem Reizwort „Vision“ verbinden sich in der neutestamentlichen Wissenschaft epische Debatten, in jüngerer Zeit v. a. in der angloamerikanischen Welt. Vgl. die dezidierte Stellungnahme zugunsten eines „unique event“, im Sinn von „things that actually took place in the real world of space and time“, von N. T. Wright, Christian Origins and the Question of God, Bd. 3: The Resurrection of the Son of God, Minneapolis 2003, 656–659 u.ö.; ähnlich auch Ch. Bryan, The Resurrection of the Messiah, Oxford 2011, 14–17; 35–41; 59 f; 159–172. Ein Bekenntnis zu einer „literal resurrection of Jesus“ (213–219) verbindet D. C. Allison mit einer differenzierten Sichtung von Visionen von Verstorbenen und ähnlichem, Resurrecting Jesus. The Earliest Christian Tradition and Its Interpreters, New York 2005, 269–299; 364–375. Hier findet sich auch eine analytisch zugespitzte Auseinandersetzung mit Wright’s „orthodoxer“ Position (345–350; vgl. 292).
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zeigt: Der lebendig gemachte Meister zeigt sich seinen Jüngern bekleidet mit göttlichem Glanz, zu Gott selber erhöht.29 In relativ kurzer Zeit bilden sich auf dieser Grundlage die Konturen urchristlicher Gotteslehre heraus. Sehr holzschnittartig lässt sich das Bild einer Ellipse mit zwei Brennpunkten zeichnen, für das sich in der Forschung der Terminus „christologischer Monotheismus“ eingebürgert hat: die Koexistenz von profiliertem Monotheismus und „hoher“ Christologie. Im Neuen Testament ist ein zum Nachdenken anregender dreifacher Befund zu konstatieren:30 Erstens finden sich Texte, die ganz selbstverständlich die einzigartige Position Gottes herausstellen (z. B. Mk 10,17 f parr.; 12,28–34 mit Referenz auf Dtn 6,4 f). Es gibt zweitens Texte, die eine – nach detaillierter Interpretation rufende – Parataxe steiler theo-logischer und steiler christologischer Aussagen bieten (z. B. 1 Kor 8,5 f; Joh 10,30–39; Apk 1,8 und 1,17 f; 21,6 und 22,13). Drittens ist auf Texte zu verweisen, die dezidiert christozentrische Linien in einem theozentrischen Fluchtpunkt zusammenlaufen lassen (z. B. 1 Kor 15,23–28; 3,22; Phil 2,9–11 mit Referenz auf Jes 45,23; Hebr 12,18–29). Die grundsätzliche Orientierung am einen und einzigen Gott teilen die Christusgläubigen mit dem Judentum, dem sie ja ursprünglich entstammen. Israel weiss sich durch sein Bekenntnis zum einen Gott von den Völkern unterschieden. Gleichzeitig mit dem in persischer und frühhellenistischer Zeit massgeblich werdenden Monotheismus entwickeln sich auch Systeme der Angelologie rasant. Engelgestalten und andere hypostatische Figuren wie die Weisheit bzw. der Logos reduzieren aber nicht etwa die Hoheit des einen Gottes, sondern steigern sie sogar. Wieviel Raum das antike Judentum in seinen verschiedenen Spielarten einer „zweiten Macht“ im Himmel eingeräumt hat, ist umstritten.31 29 Wir lassen hier die Frage offen, ob die Erscheinungen des Auferstandenen vom Himmel her auch als Erfahrungen des Geistes gedeutet wurden: So M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen 2011, 157. 30 Vgl. dazu meine Skizze: Christozentrisch oder theozentrisch? Christologie im Neuen Testament, in: E. Gräb-S chmidt / R. Preul (Hg.), Christologie (MJTh 23 / MThSt 113), Leipzig 2011, 19–40. 31 So beschreibt P. Schäfer, Zwei Götter im Himmel. Gottesvorstellungen in der jüdischen Antike, München 2017, „die Rückkehr zwar nicht vieler, aber doch immerhin zweier Götter in den jüdischen Himmel“ (10). Im Kern ist diese These auch früher vielfach vertreten und diskutiert worden. Leider nimmt Schäfer weder Bezug auf die „New religionsgeschichtliche Schule“ der 1980/90er Jahre, die den jüdischen Monotheismus um Engel und andere Hypostasen erweitert und „abgeflacht“ hat, noch auf die von Exegeten geführte Diskussion rund um Monotheismus, Christologie und Binitarismus. Zu ersterem vgl. die Hinweise in meinem Aufsatz: Zwischen Monotheismus und Engelchristologie. Überlegungen zur Frühgeschichte des Christusglaubens, in: Vollenweider, Horizonte (s. Anm. 12) 3–27, zu letzterem besonders H.-J. Klauck, „Pantheisten, Polytheisten, Monotheisten“ – eine Reflexion zur griechisch-römischen und biblischen Theologie, in: ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum (WUNT 152), Tübingen 2003, 3–53; L. Hurtado, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids 2003; ders., How on Earth did Jesus Become a God? Historical Questions about Earliest Devotion to Jesus, Grand Rapids 2005; samt der daran
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Entscheidend ist aber die Beobachtung, dass die beiden herausragendsten Privilegien Gottes m.W. den Mittelwesen und Hypostasen kaum eingeräumt werden: Anbetung und Weltherrschaft gebühren allein dem einzig Einen. Vergleicht man den jüdischen und den judenchristlichen Monotheismus miteinander, lassen sich zwei religionsgeschichtliche Feststellungen treffen. Erstens hat es unter den Christusgläubigen neben einem dezidierten christologischen Monotheismus – greifbar im Neuen Testament bei Paulus, im Johannesevangelium oder im Hebräerbrief – auch andere Linien gegeben, die mit markant weniger „hohen“ christologischen Figuren gearbeitet haben. Die wenigen erhaltenen Fragmente judenchristlicher Evangelien lassen ahnen, wieviel hier untergegangen ist. Zweitens ist es keineswegs ausgemacht, dass die kultische Verehrung Christi die entscheidende Differenz zwischen jüdischem und judenchristlichem Monotheismus bildet. Noch bis ins vierte Jahrhundert hinein richten sich die (wenigen erhaltenen) gottesdienstlichen Gebete weitgehend nur an Gott selber, nicht an Christus, den Mittler. Womöglich sind es nicht so sehr Gebetspraxis und Liturgie, sondern andere gottesdienstliche und katechetische Praxen wie Schriftauslegung und Lehrpredigt, die als Treiber für die christologische Reflexion in Betracht kommen.
6. Vom achten Tag zum dreieinigen Gott? Wir sind sowohl auf der Linie der Auferweckungszeugnisse wie auf derjenigen der Erhöhungsaussagen zur Figur einer singulären Relation zwischen Gott und Jesus gelangt, die sich in den urchristlichen Gottesgedanken eingeschrieben hat. Nun zeichnet sich die spätere christliche Gotteslehre durch ihr triadisches Profil aus. Wir haben deshalb zu fragen, wie es zur Mutation eines binären Verhältnisses zu einem triadischen bzw. trinitarischen Beziehungsmuster gekommen ist. Aus neuzeitlich-historischer Sicht ist zunächst ein elementarer Sachverhalt klarzustellen: Das Neue Testament dokumentiert nicht die orthodox gewordene Trinitätslehre. Was es bietet, ist bestenfalls eine prototrinitarische Theologie oder, etwas weniger anspruchsvoll formuliert, eine implizit trinitarische Struktur.32 anschliessenden Diskussion, etwa: J. Frey, Eine neue religionsgeschichtliche Perspektive: Larry W. Hurtados Lord Jesus Christ und die Herausbildung der frühen Christologie, in: C. Breytenbach / J. Frey (Hg.), Reflections on Early Christian History and Religion (AJEC 81), Leiden 117–169; R. Bauckham, Devotion to Jesus Christ in Earliest Christianity. An Appraisal and Discussion of the Work of Larry Hurtado, in: C. Keith / D. T. Roth (Hg.), Mark, Manuscripts and Monotheism, FS L. W. Hurtado (LNTS 528), London 2015, 176–200. Vgl. zu den „zwei Mächten im Himmel“ A. Orlov, The Glory of the Invisible God. Two Powers in Heaven. Traditions and Early Christology (Jewish and Christian Texts in Context and Related Studies 31), London 2019. 32 Eine Maximalversion wird etwa vertreten von R. Feldmeier / H. Spieckermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre (Topoi Biblischer Theologie 1), Tübingen 22017, 125; 240–245; D. Coffey, Deus Trinitas. The Doctrine of the Triune God, Oxford 1999, 11–15
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Meines Erachtens ist noch mehr Zurückhaltung geboten: Die neutestamentlichen Schriften offerieren Impulse, die auf vielfältigen Wegen schliesslich Jahrhunderte später im trinitarischen Dogma münden. Um lineare Prozesse handelt es sich keineswegs. Wir haben nicht nur eine mäandrierende Flusslandschaft vor uns, sondern auch Gegenströmungen und in Sackgassen oder in unterirdische Schluchten endende Verläufe. 1. Unser Interesse gebührt zunächst den triadischen Formeln, die in der Rezeptionsgeschichte als Zeugen für die Trinitätslehre in Anspruch genommen worden sind (z. B. 2 Kor 13,13). Auf ein liturgisches Setting weist zurück der Missionsbefehl (Mt 28,19; vgl. Did 7,1). Im Blick auf konvertierte Heiden legt es sich nahe, die Taufe im bzw. auf den Namen Jesu (Apg 2,38 usw.) mit dem Namen Gottes zu verbinden. Der Geist schliesslich bietet sich an, weil er traditionell eng verbunden ist mit der Taufe, sei es Jesu (Mt 3,16 parr.), sei es der Glaubenden (vgl. 1 Kor 6,11; Gal 3,27 und 4,6; Apg 1,5). Andere triadische Formeln haben keinen liturgischen Hintergrund. Aufschlussreich ist die Passage 1 Kor 12,4–6 mit der Abfolge von Geist, Herr und Gott: Sie bietet einerseits eine Verhältnisbestimmung von Vielfalt und Einheit, von Differenz und Identität. Andrerseits sind die benannten Grössen als Klimax arrangiert; die vielfältigen Phänomene werden immer weiter gefasst: Gnadengaben; Dienstleistungen; Wirkungen schlechthin. Die universale Dimension wird durch die Formel „alles in allem“ herausgestrichen. Die markante Stufung mit ihrer subordinatianischen Fluchtlinie ist in der Wirkungsgeschichte fast durchwegs ausgeblendet worden.33 Aufzählungen dieser Art, die für die Christen fundamentale Grössen vor Augen stellen, sind prinzipiell offen. Dies zeigt anschaulich die Siebenerliste in Eph 4,4–6, wo im Zeichen der Eins Geist, Herr und Gott mit Leib, Hoffnung Glaube und Taufe zusammengerückt werden. Ähnlich verhält es sich im („this New Testament doctrine of the Trinity is functional rather than ontological in character“, 11; „Whatever I have to say about the immanent Trinity must be validated from that source [d.i. das Neue Testament, S. V.]“, 31). Eine „prototrinitarische“ Position nimmt auch ein Th. Söding, Art. Trinität, I. I. Biblisch-theologisch, LThK 310 (2001) 239–242, hier: 241 („Die ntl. Theol. redet in so eminenter u. elaborierter Weise v. Vater. Sohn u. Hl. Geist. dass der christolog. u. pneumatolog. ‚Aufwand‘, den die alte Kirche mit der T.Theologie trieb, zwingend geboten schien“). Zurückhaltender formuliert J. Schröter, Trinitarian Belief, Binitarian Monotheism, and the One God. Reflections on the Origin of Christian Faith in Affiliation to Larry Hurtado’s Christological Approach, in: Breytenbach / Frey, Reflections (s. Anm. 31) 171–194 („‚proto-Trinitarian‘ perspective or a ‚Trinitarian horizon‘ of the New Testament“, 194). Von der „implizit trinitarischen Struktur des neutestamentlichen Zeugnisses“ spricht F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments (UTB 3500), Tübingen 32011, Bd. 2, 290–308, vom Verhältnis „Intuition – Ratio“ J. Dochhorn, Altes und Neues Testament, in: V. H. Drecoll (Hg.), Trinität (ThTh 2), Tübingen 2011, 11–79 („es ist doch schon erstaunlich viel davon da“, 68). Speziell auf die johanneische Theologie bezieht sich M. Theobald, Gott, Logos und Pneuma. „Trinitarische Rede“ von Gott im Johannesevangelium, in: H.-J. Klauck (Hg.), Monotheismus und Christologie (QD 138), Freiburg 1992, 41–87. 33 Vgl. die Zusammenstellung bei W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (EKK 7), Bd. 3, Zürich / Neukirchen 1999, 201–203.
6. Vom achten Tag zum dreieinigen Gott?
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Präskript der Johannesapokalypse, wo Gott, die sieben Geister und Jesus Christus aufgeboten werden (Apk 1,4 f). 2. Schon bei einem summarischen Blick in das zweite und dritte Jahrhundert konstatiert man ein Nebeneinander überaus verschiedener archaischer Christologien, die auf je ihre Weise mit der Einheit des Göttlichen, mit Gottes monas und monarchia, befasst sind. Die Pluralität theologischer Entwürfe, die alle sowohl mit zeitgenössischer philosophischer Terminologie wie mit exegetischen Referenzen auf Bibeltexte arbeiten, ist eindrücklich.34 Vieles von diesen experimentierenden Formen von Theologie ist untergegangen oder nur noch in Bruchstücken und Referaten erhalten. Beispiele dafür sind Monarchianer bzw. Modalisten oder engelchristologische Entwürfe. Aus dieser unübersichtlichen Landschaft ragen die Systeme der Logos-Christologie heraus mit ihrem mehr oder weniger deutlichen subordinatianischen Gefälle, die also von einer Stufung des Göttlichen ausgehen und in enger Abstimmung mit zeitgenössischen Systemen der Prinzipienlehre, vornehmlich platonischen, stehen. Zwar hat sich der Typ der Logos-Christologien im späten dritten Jahrhundert durchgesetzt, aber wieder in einer eigentümlichen Brechung, für die jedenfalls im griechischen Osten das Œuvre von Origenes steht: Seine theologische Hinterlassenschaft erlaubt sowohl eine subordinatianische wie eine nizänische Auslegung. Die Kontroversen des vierten Jahrhunderts lassen sich zu guten Teilen auch als Widerstreit von Origenesrezeptionen verständlich machen.35 Für unsere Fragestellung ist der Befund insofern wichtig, als der alexandrinische Theologe nicht nur als philosophisch trainierter Systematiker, sondern mehr noch als Bibelausleger gewirkt hat. Sein Werk und seine Rezeptionen transportieren die biblischen Impulse weiter und halten sie gerade mit und in ihren Spannungen lebendig. Vor allem zeigt sich daran, in welch hohem Ausmass sich neutestamentliche Aussagen deutungsoffen ausnehmen: Auch sie lassen sich sowohl nizänisch als auch subordinatianisch lesen. Mehr noch: Die Monarchianer mit ihrer anderen Basisüberzeugung erinnern daran, dass weit mehr Optionen als die besagte Alternative offenstehen. Der Befund schärft die Aufmerksamkeit dafür, dass die altkirchlichen wie die vielfach daraus entwickelten dogmengeschichtlichen Kategorien bei unseren urchristlichen Texten oft nicht greifen. Sie können sogar das hermeneutische Geschäft behindern.
34 Einen Eindruck davon vermittelt R. M. Hübner, Der paradox Eine. Antignostischer Monarchianismus im zweiten Jahrhundert (SVigChr 50), Leiden 1999; dazu der Klassiker: A. Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 1: Von der apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451), Freiburg 1990/2004. 35 Vgl. Ch. Markschies, Theologische Diskussionen zur Zeit Konstantins. Arius, der „arianische Streit“ und das Konzil von Nicaea, die nachnizänischen Auseinandersetzungen bis 337, in: ders., Alta Trinità beata. Gesammelte Studien zur altkirchlichen Trinitätstheologie, Tübingen 2000, 99–195, besonders 109 f.
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Ein achter Tag
7. Tertium datur: die Inklusion des Geistes Im vielfältigen weiten Raum der theologischen Entwürfe des zweiten und dritten Jahrhunderts gibt es genug Platz für binitarische wie für triadische Konzeptionen. Die Hauptachse, entlang der sich das theologische Nachdenken über Gott vorantastet, bildet die Beziehung zwischen Gott und Christus, zwischen Vater und Sohn. Was in der Alten Kirche der Fall ist, lässt sich auch in der neutestamentlichen Theologie beobachten: Der Heilige Geist hinkt der theologischen Systembildung ein Stück weit hinterher. Es gibt aber einige wichtige Impulse, die verständlich machen, wie christologischer Monotheismus auch Schnittstellen für die Göttlichkeit des Geistes bereithält. Sie haben einerseits mit dem Wesen dessen zu tun, was die frühen Christen Geist nennen und als was sie ihn erfahren, andererseits aber auch mit der symboltheoretischen Attraktion der Zahlen gerade im Raum antiker Theologien und Kosmologien: Es gibt es ein Gefälle, das von der Zweizahl mit ihrem inhärenten Dualismus zur Dreizahl führt, die eben das Eine und die Zwei in sich vereint. Jedenfalls ist schwer zu verkennen, wie zahlreiche religionsphilosophische Systembildungen der Kaiserzeit vorzüglich mit Triaden operieren. Sie tun dies selbstverständlich auf der Basis der ursprünglichsten Triade, die es in der Lebenswelt überhaupt gibt, der Dreiheit von Vater, Mutter und Kind. Im Blick auf die frühchristlichen Texte ist zunächst an Aussagen zu erinnern, die die Auferweckung Jesu und überhaupt von Toten spezifisch auf das Geisteswirken zurückführen (Röm 8,11; 1,4; vgl. 1 Kor 15,44 f)36 und also Gott durch seinen Geist handeln lassen. Besonderes Interesse verdienen sodann Interferenzen zwischen christologischen und pneumatologischen Aussagen. Paulus blendet den „Geist Gottes“ und den „Geist Christi“ ineinander (Röm 8,9 f); Christus und der Geist geraten gelegentlich in das Verhältnis einer Perichorese (vgl. Röm 8,26 und 34; 2 Kor 3,17; 1 Kor 6,17; 15,45).37 In den johanneischen Abschiedsreden kündigt Jesus den Geist-Parakleten als seine eigene nachösterliche „Verdoppelung“ an (Joh 14,16 f; vgl. 1 Joh 2,1).38 Zugleich zeichnet sich das Vierte Evangelium durch eine deutliche Unterscheidung und Relationierung von Gott, Sohn/Logos und Geist/Paraklet aus. Die johanneische wie paulinische Literatur lädt dazu ein, die innere Dynamik zwischen Gott und Christus, Vater und Sohn, selber 36 Formative Kraft geht hier von Ez 37,4–14 aus. Vgl. auch Apk 11,11; 1 Petr 3,18; TestAbr (A) 18,11 („Gott sandte den Geist des Lebens auf die, die gestorben waren, und sie wurden wieder lebendig gemacht“). Vgl. D. C. Allison, The Testament of Abraham (CEJL), Berlin 2003, 366 f; Wolter, Paulus (s. Anm. 29) 164 f. 37 Vgl. Wolter, aaO. 169–172. 38 So J. Zumstein, Das Johannesevangelium (KEK 2), Göttingen 2016, 535. Zu den ‚personalen‘ Zügen des Geistes, „weithin in Analogie zur Person Jesu formuliert“, vgl. J. Frey, Die johanneische Theologie als Klimax der neutestamentlichen Theologie, in: ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den Johanneischen Schriften, Bd. 1 (WUNT 307), Tübingen 2013, 803–833, hier: 829 f; zu den „Ansätzen eines prototrinitarischen Denkens“ vgl. 826–831.
8. Kinder des achten Tags
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als Geistgeschehen zu pointieren. Umgekehrt geben die Parakletsprüche das Medium zu erkennen, das überhaupt erst die elaborierten Spitzenaussagen der johanneischen Christologie ermöglicht: die Gabe des Geistes, „der euch in der ganzen Wahrheit leiten wird“ (Joh 16,13; vgl. 14,26).39 Dieser schreibt sich selber ein in die einzigartige Beziehung zwischen Vater und Sohn. Weil zwischen ihnen Einheit wie Differenz waltet, wird Jesus zum exklusiven ‚Exegeten‘ und Hermeneuten Gottes (1,18). Trotz all dieser Impulse führt von den Gestalten neutestamentlicher Christologie und Pneumatologie kein Königsweg zur nachmaligen orthodox gewordenen Trinitätslehre. Abgesehen von den zahlreich historischen und kirchenpolitischen Kontingenzen hat das Unvorhersehbare der theologiegeschichtlichen Entwicklung auch mit einer besonderen Eigenschaft des Geistes zu tun: Auch wenn er zum Objekt von Reflexion und Adoration wird, bleibt er doch die Kraft, die a tergo wirkt, ein Medium, das sich der Objektivierung auch immer wieder entzieht. Der Dritte im Bunde bleibt eben der, der „weht, wo er will“ (Joh 3,8).
8. Kinder des achten Tags Wir kehren von den erhabenen triadischen Höhen wieder zur Schöpfungswelt mit ihrem Tagewerk zurück. Es überrascht nicht, dass sich das Symbol des „achten Tags“ auch zu einer säkularen Version mutiert hat,40 nämlich auf anthropologischer Ebene. Im Anthropozän macht man sich an die Erschaffung künstlicher Lebewesen: Die Mittel einer „synthetischen Biologie“ sollen es Biologen, Chemikern und Informatikern am „achten Tag“ ermöglichen, das Leben zum zweiten Mal zu erschaffen und es zu optimieren.41 Gegenüber diesem neoprometheischen Projekt vermittelt die altchristliche Metapher des „achten Tags“ eine doppelte Botschaft. Sie erinnert zum einen an heilsame Grenzen, die menschlicher Produktivität gesetzt sind: Am Ostertag handelt allein und ausschliesslich Gott selber. Zum anderen geht es um das Sich-Aufrichten eines Menschen, der sich für andere Menschen hingegeben hat. Seine Wiederkehr soll anderen Menschen und überhaupt der Welt zugute kommen. Insofern hat der „achte Tag“ für alle Nachfolgerinnen und Nachfolger Christi mit der Übernahme von Verantwortung für das Sechstagewerk zu tun. 39 Auch das von uns schon berührte „johanneische“ Logion in der synoptischen Tradition (Mt 11,27c) weist in genau diese Richtung. 40 Recht viel Aufsehen hat 2015 das vierte Album „Achter Tag“ der Saarländer Hip-Hop-Crew Genetikk verursacht. 41 Vgl. S. Carrà, Stepping Stones to Synthetic Biology, Cham 2018, besonders 87 f („The Eighth Day of Creation“); 165 f („Resurrecting Prometheus“). Grundlage dafür sind die Umwälzungen der Molekularbiologie im 20. Jahrhundert: H. F. Judson, The Eighth Day of Creation. Makers of the Revolution in Biology. Expanded Edition, New York 1996; deutsche Übersetzung: Der 8. Tag der Schöpfung. Sternstunden der neuen Biologie, Wien 1980.
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Ein achter Tag
Wir schliessen mit einer Reminiszenz an einen Roman von Thornton Wilder: „The Eighth Day“ von 1967. Es gibt zu denken, dass es der implizite Autor selber offen lässt, ob die nachstehend zitierte engagierte Meinungsäusserung des philosophierenden Arztes Dr. Gillies am 31. Dezember 1899, am Vorabend eines neuen Jahrhunderts, eine verheissungsvolle Ära oder aber eine verhängnisvolle Zeit ankündigen soll:42 „Die Schöpfung ist noch nicht zu Ende. Die Bibel sagt, Gott schuf den Menschen am sechsten Tag und ruhte dann, aber jeder dieser sechs Tage dauerte viele Millionen Jahre. Jener Ruhetag muss recht kurz gewesen sein. Der Mensch ist nicht ein Ende; er ist ein Anfang. Wir stehen am Beginn der zweiten Woche. Wir sind Kinder des achten Tags.“
42 Thornton Wilder, Der achte Schöpfungstag, dt. Übersetzung, Frankfurt 1968, 22 f; englische Originalausgabe: The Eighth Day, London 1967, 16 („Man is not an end but a beginning. We are at the beginning of the second week. We are children of the eighth day“). Zum einen wird Dr. Gillies’ Rede negativ charakterisiert. Der evolutionär trainierte Arzt „log nach besten Kräften drauflos. Er hegte keinen Zweifel, dass das kommende Jahrhundert zu grässlich sein werde, um auch nur daran zu denken – nämlich so wie alle früheren“ (24). Auf der anderen Seite bekennt eine Zuhörerin: „,Ich könnte mich nicht aufrecht halten, wenn ich’s nicht glauben würde‘“ (25).
Vom israelitischen zum christologischen Monotheismus Überlegungen zum Verhältnis zwischen dem Glauben an den einen Gott und dem Glauben an Jesus Christus Abstract From Israelite to Christological Monotheism. Considering the Relationship between Faith in One God and Faith in Jesus Christ In contrast to the Old Testament history of theology, central early Christian convictions developed very early, namely the “high” Christology. The article deals with monotheistic statements in the Jesus tradition, in Paul and in the Gospel of John. It is shown that there have been significant mutations in the basic outline of Jewish monotheism.
Wer sich von der alttestamentlichen zur neutestamentlichen Wissenschaft hinwendet,1 hat es nicht nur mit einem um zwei Drittel schmaleren Buch und mit annähernd hundert statt tausend Jahren, sondern noch mehr mit erheblich einfacheren Überlieferungsverhältnissen zu tun.2 So jedenfalls empfand es einer der grossen Altmeister des Alten Testaments und der Semitistik, Julius Wellhausen. In einem Brief von 1910 äussert er sich zu seinen seit einigen Jahren unternommenen Studien in einer neuen Disziplin:3 „Ich suche mich auf einem Gebiet zu beschäftigen, wo man ohne eigentlich gelehrte Arbeit auskommen kann und nur etwas offne Augen haben muss, nämlich auf dem Gebiete des Neuen Testaments.“
Die nachstehenden Zeilen bewegen sich in einem Gelände, das einem durchaus offene Augen abverlangt, führt es doch in komplexe theologische, religions1 Der Aufsatz geht auf meinen Vortrag vom 21. Oktober 2001 am Heidelberger Symposion zum Gedenken an Gerhard von Rad zurück. Neuere Literatur konnte nicht mehr hinreichend eingearbeitet werden, dies gilt zumal für L. W. Hurtado, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids 2003; W. Popkes / R . Brucker (Hg.), Ein Gott und ein Herr. Zum Kontext des Monotheismus im Neuen Testament (BThSt 68), Neukirchen 2004. Zu vergleichen ist in manchen Punkten mein Aufsatz: Christozentrisch oder theozentrisch? Christologie im Neuen Testament, Abdruck in diesem Band: 33–52. 2 Während beispielsweise die Pentateuchforschung sehr turbulent verläuft, hält sich die Zweiquellentheorie der synoptischen Evangelien seit über einem Jahrhundert trotz zahlreicher Attacken als Standardmodell. 3 Das Zitat aus dem Brief vom 8. März 1910, bei nachlassender Gesundheit, stammt aus: R. Smend, Beziehungen zwischen alttestamentlicher und neutestamentlicher Wissenschaft, in: ders., Bibel, Theologie, Universität. Sechzehn Beiträge (KVR 1582), Göttingen 1997, 46–58, hier: 247 A. 11.
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Vom israelitischen zum christologischen Monotheismus
wissenschaftliche und rezeptionsgeschichtliche Zusammenhänge hinein. Dabei verdichtet sich das Thema des neutestamentlichen Monotheismus insbesondere im Verhältnis zwischen dem Glauben an den einen Gott und dem Glauben an Jesus Christus.
1. Ein Kontrapunkt zwischen Altem und Neuem Testament Die alttestamentliche Debatte um Entstehung und Stellenwert des Monotheismus verbindet sich in besonderer Weise mit dem Lebenswerk von Gerhard von Rad, nach dessen Auffassung Israels Glaube an den einen und einzigen Gott auf die begründenden Anfänge, die um das Erste Gebot kreisen, zurückreicht, auch wenn reflexive Formen des Monotheismus erst spät auftauchen.4 Bekanntlich haben literarische Beobachtungen und archäologische Entdeckungen eine grundlegende Revision des theologischen Modells von Rads erzwungen. Die lebhafte Diskussion der alttestamentlichen Exegese findet seit einiger Zeit auch im Bereich der neutestamentlichen Wissenschaft ihr Pendant.5 Stellt sich dort das Problem der Einzigkeit von JHWH angesichts der anderen Götter und Göttinnen im vorexilischen Israel und seiner Umwelt, so hier die spezifische Frage nach dem Verhältnis des einen Gottes Israels zu Jesus Christus, dem die frühen Judenchristen gottgleiche Würde zumessen. Die neutestamentliche Debatte hat zum einen mit einer neuen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Frühjudentum und Frühchristentum zu tun, zumal mit dem langwierigen und vielschichtigen Prozess ihres Auseinandergehens, des Parting of the Ways. Die in der älteren Forschung oft pejorativ getönte Beschreibung der Grenzziehung zwischen Israel und der Kirche musste in vielen Punkten revidiert werden. Zum andern hat sich 4 G. von Rad unterscheidet zwischen dem ersten Gebot („Die gesamte Kultgeschichte Israels ist ja ein einziger Kampf um die Gültigkeit des ersten Gebotes“) und dem reflexiven Monotheismus („insofern Israels Monotheismus dann gewissermassen eine Erkenntnis war, die Israel nicht ohne die lange Zucht des ersten Gebotes geschenkt worden ist“): Theologie des Alten Testaments, München 101992, Bd. 1: Die Theologie der geschichtlichen Überlieferungen Israels, 223. Vgl. zum Ganzen M. Köckert, Von einem zum einzigen Gott. Zur Diskussion der Religionsgeschichte Israels, BThZ 15 (1998) 137–175; H.-P. Müller, Art. Monotheismus und Polytheismus. II, RGG4 5 (2002) 1459–1462; K. Schmid, Differenzierungen und Konzeptualisierungen der Einheit Gottes in der Religions‑ und Literaturgeschichte Israels, in: M. Oeming / K. Schmid (Hg.), Der eine Gott und die Götter (AThANT 82), Zürich 2003, 11–38; U. Becker, Von der Staatsreligion zum Monotheismus, ZThK 102 (2005) 1–16 („Der Monotheismus ist ein Produkt des Judentums“, 14). 5 Dabei bestätigt sich leider auch hier die schonungslose Beobachtung von R. Smend, Beziehungen (s. Anm. 3) 52: „[…] nach Neutestamentlern, die Nennenswertes zum Alten Testament hervorgebracht haben, wird man lange suchen müssen.“ Um so mehr sind Kooperationen zu begrüssen, vgl. z. B. W. Dietrich / U. Luz, Universalität und Partikularität im Horizont des biblischen Monotheismus, in: Ch. Bultmann / W. Dietrich / Ch. Levin (Hg.), Vergegenwärtigung des Alten Testaments, FS R. Smend, Göttingen 2002, 371–411.
1. Ein Kontrapunkt zwischen Altem und Neuem Testament
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die Wahrnehmung der religionsgeschichtlichen Pluriformität des Judentums zur Zeit des zweiten Tempels markant verfeinert, vor allem durch die fortschreitende Erschliessung der Qumranrollen und die verstärkte Berücksichtigung der jüdischen Mystik.6 Die Aktualität der Frage nach der Tragweite des biblischen Monotheismus sowohl im Alten wie im Neuen Testament verstärkt sich schliesslich durch die zunehmende Pluralisierung der spätmodernen Gesellschaften. Das religiöse Erbe des Glaubens an den einen und einzigen Gott scheint sich mit den heute geltenden kulturellen Normen nicht mehr reibungslos zu vertragen, von den weltpolitischen Verwerfungen rund um den gern beschworenen Konflikt zwischen abendländisch-aufgeklärten und islamisch-theokratischen Kulturkreisen ganz zu schweigen. In einer ersten, noch sehr schematischen Näherung lässt sich hinsichtlich der monotheistischen Problemstellung in alttestamentlicher und neutestamentlicher Exegese eine eigentümliche Feststellung treffen: Eine Mehrheit der Alttestamentler neigt heute zu Spätdatierungen von Texten und Konzeptionen. Das gilt besonders hinsichtlich der Herausbildung des Monotheismus als einer herausragenden Schöpfung des exilisch-nachexilischen Israel. Demgegenüber scheint es sich im Urteil vieler Exegeten mit der herausragenden Innovation des Neuen Testaments, mit der Christologie, geradezu umgekehrt zu verhalten: Die entscheidenden Weichenstellungen gehören in die Frühzeit! Was von Rad für den alttestamentlichen Monotheismus, genauer für Israels Bindung an das Erste Gebot als dessen ‚Keimzelle‘ in Anspruch nahm, kann im Neuen Bund für die Christologie Geltung beanspruchen: Von Anfang an zeichnen sich im Urchristentum die Konturen einer ‚hohen‘ Christologie heraus, nämlich in der ersten Osterverkündigung, die auf die Christusvisionen der Jünger zurückgeht. Manches weist sogar auf die Botschaft und das Selbstverständnis Jesu von Nazaret zurück. Und doch dauert es lange, bis diese ‚Keimzelle‘ eine sachgemässe Explikation findet – im Johannesevangelium gegen Ende des ersten Jahrhunderts, ja im Grund erst im trinitarischen und christologischen Dogma der Alten Kirche. Natürlich wird die Frühdatierung wesentlicher Züge der ‚hohen Christologie‘ in der neutestamentlichen Disziplin heftig debattiert. Im Folgenden fragen wir nach dem Verhältnis dieser ‚revolutionär‘ entstandenen Christologie zum Monotheismus. Ein erster Blick gilt dem Stellenwert des monotheistischen Bekenntnisses bei Jesus von Nazaret.
6 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Zwischen Monotheismus und Engelchristologie. Überlegungen zur Frühgeschichte des Christusglaubens, in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 3–27.
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2. Der eine Gott in der Jesusüberlieferung Schon eine flüchtige Durchmusterung der Botschaft Jesu zeigt: Die Einzigkeit Gottes ist kein Thema, auf das Jesus besonderes Gewicht gelegt hat. Er steht hier wie in so vielen anderen Dingen ganz ungebrochen im Kontext des zeitgenössischen palästinischen Judentums. Immerhin werden in der synoptischen Tradition drei Konstellationen sichtbar, in denen die Einzigkeit Gottes eigens artikuliert wird.7 1. Das Gespräch Jesu über das Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28–34) streicht mit dem Zitat von Dtn 6,4 f die Einzigkeit Gottes heraus.8 Die Überlieferung reflektiert das Miteinander von monotheistischem Bekenntnis und rationaler Ethik, die das griechischsprachige Judenchristentum dem Diasporajudentum verdankt. Die Gottesliebe geht mit der Erkenntnis des einen Gottes einher (vgl. V. 30.33). Die Zusammenfassung des Gesetzes in den beiden Liebesgeboten expliziert die Botschaft Jesu in einem ‚aufgeklärten‘ hellenistischen Kontext.9 Umgekehrt lässt sich auch kein zwingender Einwand gegen eine Rückführung auf Jesus benennen.10 Die Fokussierung des Toragehorsams auf die Liebe entspricht jedenfalls einem Grundzug seiner Verkündigung. 2. Inhaltlich dichter nimmt sich die Referenz auf Gottes Einzigkeit in der Perikope vom reichen Mann aus (Mk 10,17–22 parr.). „‚Guter Meister, was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?‘ Jesus antwortete: ‚Warum nennst du mich gut? Niemand ist gut ausser Gott, dem Einen.‘“
Wenn Jesus auf den Kniefall und die ehrende Anrede des Fragers von seiner Person weg hin zu Gott weist, scheint er dem Modell des vorbildlichen Boten zu entsprechen.11 Offenbar wird die Jesusnachfolge damit konsequent unter das Zeichen 7 Vgl. dazu besonders J. Gnilka, Zum Gottesgedanken in der Jesusüberlieferung, in: H.-J. Klauck (Hg.), Monotheismus und Christologie (QD 138), Freiburg 1992, 144–162; J. Schlosser, Le Dieu de Jésus (LeDiv 129), Paris 1987, besonders 22 f. 8 Die Parallelen Mt 22,37 und Lk 10,27 zitieren lediglich Dtn 6,5, verzichten also auf das schemac (Dtn 6,4b = Mk 12,29). Nur bei Mk (12,32) findet sich die Antwort des Schriftgelehrten mit dem Misch-‚Zitat‘ von Dtn 6,4 f; 4,35 und Jes 45,21. Vgl. zum Überlieferungsproblem A. Ennulat, Die „Minor Agreements“. Untersuchungen zu einer offenen Frage des synoptischen Problems (WUNT II/62), Tübingen 1994, 285 f, der für einen deutero-mk Text plädiert. 9 Es ist gerade der Rückgriff auf den hellenistisch-jüdischen einen Gott in Mk, der G. Bornkamm nach einer weniger hellenisierten Fassung ohne Zitat von Dtn 6,4 hinter Mt und Lk suchen lässt: Das Doppelgebot der Liebe, in: ders., Geschichte und Glaube, Gesammelte Aufsätze, Bd. 3 (BEvT 48), München 1968, 37–45. 10 Vgl. die vorsichtigen Überlegungen bei G. Theissen / A . Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 32001, 344 f; auch C. A. Evans, Mark 8:27–16:20 (WBC 34B), Nashville 2001, 261. M. Hengel / A. M. Schwemer, Der messianische Anspruch Jesu und die Anfänge der Christologie, Tübingen 2001, 75, erkennen im Doppelgebot das messianische Wissen Jesu um den wahren Willen Gottes. 11 Vgl. besonders die „refusal“-Tradition im Mund von Engeln (Tob 12,16–22; Apk 19,10;
2. Der eine Gott in der Jesusüberlieferung
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von Gott selbst gestellt. Die anschliessende Zusammenstellung der Gebote zeigt, dass das Thema von Gottes Einheit auch vom Dekalog her eingebracht wird. Zugleich kommt das „Eine“ wieder in demjenigen, was dem gesetzestreuen Mann noch fehlt, zur Sprache (V. 21); es steht hier in Gegenposition zu den „vielen Gütern“ (V. 22). Unsere Perikope arbeitet darüber hinaus mit Elementen des pathos: Jesus gewinnt den Mann lieb, dieser gerät in Trübsal und Traurigkeit. Offenbar mutet der Kairos dem Reichen über die Erfüllung der Gebote hinaus die ungeteilte Hingabe des Herzens an Gott zu, die sich im Besitzverzicht äussert. Vielleicht darf man noch einen entscheidenden Schritt weiter gehen: Die aufgelisteten Gebote lassen sich im Wesentlichen der zweiten Tafel des Dekalogs zuschreiben.12 Wenn die erste Tafel demgegenüber mit dem „Einen“ von V. 21 identifiziert wird, fehlt dem Reichen die Hingabe an Gott. Unsere Jesusgeschichte steht dann in der Wirkungsgeschichte der vom Deuteronomium bestimmten Korrelation von Erstem Gebot (Dtn 5,7–10), Einzigkeit Gottes (6,4) und Liebesgebot (6,5).13 Von da her lässt sich eine Brücke zum Doppelgebot der Liebe in Mk 12,28–34 schlagen: Mit dem Verweis auf die Einzigkeit Gottes referiert Jesus auf die Gottesliebe, das erste Hauptgebot. Zugespitzt formuliert mangelt es dem Reichen an der Gottesliebe als der Grundlage aller Gebote.14 Die geradezu beiläufige Erwähnung der Armen, denen der Besitzverzicht zugute kommt, und der Verweis auf den Schatz im Himmel stützen diese Fokussierung des Gehorsams auf die unbedingte Hingabe, die dem Einen gebührt und die sich in der Jesusnachfolge konkretisiert. 3. Während beide Jesusgeschichten das Leben unter dem Schirm des einen Gottes beleuchten, rücken die beiden anderen Referenzen auf den „einen Gott“ die Spannung, die sich zwischen dem monotheistischen Glauben und der Jesuszugehörigkeit aufbaut, in den Vordergrund. In der Polemik um die Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12 par.) erscheint die Rede vom einen Gott im Mund der Jesusgegner (V. 7):15 22,8 f; ApkZef 10 [JSHRZ 5.9, 1218]; AscJes 7,18–23), aber auch Apg 10,25 f. Das Gegenbild ist die Verweigerung des Niederwerfens vor anmassenden Würdenträgern (vgl. Est 3,2 ff; 4,17d/e). 12 Das Gebot der Elternehrung wird allerdings sowohl der zweiten wie der ersten Tafel zugeordnet; der zweiten aus eher inhaltlichen, der ersten aus eher formalen Gründen (vgl. Philon, decal. 106–120; spec. 2,224). 13 Vgl. E. Aurelius, Der Ursprung des Ersten Gebots, ZThK 100 (2003) 1–21, hier: 18 („Die einzige, aber umfassende, die ganze Person beanspruchende Forderung der Gottesliebe steht nicht im Dekalog, aber fasst ihn zusammen und schliesst auch alle folgenden Mahnungen, Gebote und Gesetze in sich ein“); 21. 14 In diese Richtung geht etwa J. Ernst, Das Markusevangelium (RNT), Regensburg 1981, 296 f; anders Evans, Mk (s. oben Anm. 10) 98. R. Pesch, Das Markusevangelium (HThK 2), Bd. 2, Freiburg 41991, stellt richtig eine Beziehung zur Gottesliebe her (138), richtet aber mit der negativ gewerteten „finster-entschlossene[n] Gesetzesobservanz“ eine nicht sachgemässe Antithese auf (141). 15 Zur Analyse vgl. H.-J. Klauck, Die Frage nach der Sündenvergebung in der Perikope von der Heilung des Gelähmten (Mk 2,1–12 parr.), in: ders., Gemeinde – Amt – Sakrament, Würzburg 1989, 286–312.
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Vom israelitischen zum christologischen Monotheismus
„‘Wie kann dieser Mensch so reden? Er lästert Gott. Wer kann Sünden vergeben ausser dem einen Gott?‘“
Die Vollmacht des Menschensohns zur Sündenvergebung sprengt die im Judentum, etwa im Tempelkult vollzogenen deklaratorischen Entsühnungsriten.16 Wahrscheinlich hat die nachösterliche Gemeinde Jesu eigenen Zuspruch der göttlichen Sündenvergebung (V. 5c) zur vom Menschensohn selber auf Erden vollzogenen Sündenvergebung zugespitzt (V. 10) und damit eine Antithese zum jüdischen Gottesglauben konstatiert (V. 7).17 Das Thema wird folgerichtig in der Passionsgeschichte wieder aufgenommen, wo Jesus dem Synhedrium seine Wiederkunft als Menschensohn zur Rechten der Macht sitzend und mit den Wolken des Himmels kommend ankündigt (Mk 14,61–64). Auch hier nehmen seine Gegner „Blasphemie“ wahr.18 Wie immer es um mögliche historische Reminiszenzen rund um den Jesusprozess steht,19 die frühchristliche Beanspruchung der Throngemeinschaft des Menschensohns mit Gott kollidierte mit dem monotheistischen Gottesglauben des Judentums und verschärfte das Auseinandergehen der Wege. Wir ziehen eine erste Bilanz. Es hat den Anschein, dass nur der zweitgenannte Text (Mk 10,17–22) mit grosser Wahrscheinlichkeit echtes Jesusgut wiedergibt. Gleichwohl kann man von hier aus konstruktiv weitergehen und die Einzigkeit Gottes als fundamentales Implikat der Reich-Gottes-Botschaft Jesu beanspruchen (so etwa H. Merklein).20 Das von Jesus proklamierte und partiell auch inszenierte neue Gotteshandeln, worin gerade auch die Randständigen und Ausgestossenen in das Gottesreich integriert werden, bedarf hiernach des Fundaments der Selbigkeit und Einzigkeit Gottes. Gerade wenn Gott in so neuer Weise wirkt, hängt alles daran, dass er mit sich identisch bleibt – als der Gott Israels, der Väter (vgl. Q: Mt 8,11 f par.), und als der Gott, dessen Wirken auch in der Schöpfung manifest ist (vgl. Mt 6,19–34 par.). Wir werden am Schluss auf diesen entscheidenden Punkt zurückkommen.
16 Vgl. O. Hofius, Vergebungszuspruch und Vollmachtsfrage, in: ders., Neutestamentliche Studien (WUNT 132), Tübingen 2000, 57–69; ders., Jesu Zuspruch der Sündenvergebung, aaO. 38–56. 17 Ähnlich mit Verweis auf analoge Debatten im JohEv J. Marcus, Mark 1–8 (AncB 27), Doubleday 2000, 222. 18 Zur Reichweite der „Blasphemie“ vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (EKK 1), Bd. 4, Düsseldorf / Neukirchen 2002, 181–183. 19 Allzu zuversichtlich ist D. L. Bock, Blasphemy and Exaltation in Judaism and the Final Examination of Jesus (WUNT II/106), Tübingen 1998, 209–233. 20 H. Merklein, Die Einzigkeit Gottes als die sachliche Grundlage der Botschaft Jesu, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus (WUNT 105), Bd. 2, Tübingen 1998, 154–173, hier: 168; ähnlich G. Theissen, Die Religion der ersten Christen, Gütersloh 32003, 50–55; 62.
3. Paulinische Theologie angesichts der Einzigkeit Gottes
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3. Paulinische Theologie angesichts der Einzigkeit Gottes Es erstaunt nicht, dass für den jüdischen Schriftgelehrten und hellenistischen ‚Philosophen‘ Paulus der Monotheismus Israels das selbstverständliche Fundament seines gesamten Nachdenkens über Gott bildet.21 Dies gilt einmal für die Basisprinzipien seiner Missionsverkündigung, die im Einklang mit dem Grundtenor jüdisch-hellenistischer Theologie dem polytheistischen Pandämonium seiner Adressatinnen und Adressaten die Proklamation des einen und einzigen Gottes gegenüberstellt (vgl. 1 Thess 1,9 f; Gal 4,8 f; auch Röm 1,18 ff). Allerdings macht gerade ein Text wie 1 Thess 1,9 f zugleich deutlich, dass die Verkündigung der Einzigkeit Gottes mit derjenigen Jesu Christi als Gottessohn einhergeht. Tiefer in den nicht hintergehbaren Zusammenhang zwischen Theo-logie und Christologie führen uns aber drei Textkomplexe, die im Folgenden kurz exploriert werden. 1. Es ist von kaum zu unterschätzender Bedeutung, dass sich Paulus in seiner dicht gedrängten Darlegung des Evangeliums vom Offenbarwerden der Gottesgerechtigkeit (Röm 3,21–31) auf den einen Gott zurückbezieht (3,29 f).22 Gottes universales rechtfertigendes Wirken an Juden wie Heiden gründet in seiner Einzigkeit, die sich einer partikularen Bindung an Israel allein widersetzt. Die Anspielung auf Dtn 6,4 und damit auf das soteriologische Fundament des Gottesglaubens Israels ist unübersehbar, aber die Stossrichtung der Argumentation zielt auf das universale Schöpfungswirken Gottes und schliesst damit die Völkerwelt in sein Heilswirken ein. Es ist der Christusglaube, der Juden und Heiden verbindet und damit die ethnischen Gemarkungen übersteigt. Es ist wohl kein Zufall, dass Paulus gleich anschliessend Abraham ins Zentrum rückt (4,1 ff), der ja in jüdischer Tradition nicht nur als der exemplarisch Glaubende, sondern auch als der erste Proselyt und damit als paradigmatischer Monotheist porträtiert wird. Da sich die soteriologische Zuspitzung des Eingottglaubens ganz dem Christusglauben verdankt, gewinnt der monotheistische Basissatz eine christologische Signatur. 2. In das Zentrum christlichen Glaubens führt uns das wiederum in Anlehnung an Dtn 6,4 formulierte Bekenntnis von 1 Kor 8,6, wonach der eine Gott und der eine Herr Jesus Christus koexistieren. Den vielen Göttern und Herren 21 Zum Folgenden vgl. besonders T. Holtz, Theo-logie und Christologie bei Paulus, in: ders., Geschichte und Theologie des Urchristentums (WUNT 57), Tübingen 1991, 189–204; K.-W. Niebuhr, Jesus Christus und der eine Gott Israels. Zum christologischen Gottesglauben in den Paulusbriefen, in: ders. u. a., Glauben Christen und Muslime an denselben Gott? (FuH 34), Hannover 1995, 10–29; W. Schrage, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes. Zum „Monotheismus“ des Paulus und seiner alttestamentlich-jüdischen Tradition (BThSt 48), Neukirchen 2002. 22 Vgl. hierzu besonders E. Grässer, „Ein einziger ist Gott“ (Röm 3,30). Zum christologischen Gottesverständnis bei Paulus, in: ders., Der Alte Bund im Neuen (WUNT 35), Tübingen 1985, 231–258, hier: 255–258.
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der polytheistischen Umwelt stellt der Apostel den „Vater“ als den einen Gott und Jesus Christus als den einen Herrn gegenüber. Die schlichte Parataxe überlässt es den Auslegern, das Verhältnis der beiden für die urchristliche Religion zentralen Grössen, Gott und Jesus Christus, zu bestimmen. Unverkennbar ist die Vorordnung des einen Gottes durch die Erstplatzierung und die den Anfang und das Ziel anvisierenden Präpositionen. Umgekehrt gibt aber auch die weitreichende Analogisierung von monotheistischem Bekenntnis und christologischer Akklamation zu denken. Dem Kontext von 1 Kor 8,1–5 zufolge teilt Paulus zwar auf der Fluchtlinie griechisch-hellenistischer Aufklärung mit den Korinthern die Erkenntnis des einen Gottes (V. 4), misst aber erst der Liebe, die „uns“ von Gott her bewegt, die wahre Gotteserkenntnis zu (V. 2b/3): „Für uns“ ist das Miteinander von Gott und Jesus massgeblich (V. 6). Es hat den Anschein, dass der Apostel die ursprünglich deuteronomistische Korrelation von Erstem Gebot (Dtn 5,7–10), Einzigkeit Gottes (6,4) und Liebesgebot (6,5), der wir bereits in der Jesustradition begegnet sind, zum Zug bringt. Die aufgeklärte philosophische Einsicht, dass nur ein einziger Gott sei, als deren berühmtester Vertreter Xenophanes fungiert, wird damit sowohl mit der genuin jüdischen Tradition wie mit der christlichen, besonders im Gottesdienst aktualisierten Erfahrungswirklichkeit konfiguriert. 3. Die christozentrische Theologie des Paulus zielt in ihrem Kern letztlich auf die Würdigung des einen und einzigen Gottes. Voraussetzung für das komplexe Zueinander von Theo-logie und Christologie ist jene eigentümliche frühchristliche Figur der Reziprozität, wonach sich auf der einen Seite die Bedeutsamkeit Jesus Christi allein durch seine Transparenz für Gott bemisst, auf der anderen Seite aber Gottes Identität durch seine Bindung an Jesus bestimmt wird.23 Bei Paulus ist hierfür auf drei exemplarische Texte zu verweisen. Das Christuslob von Phil 2,6–11, das Jesus nicht weniger als Teilhabe am heiligen Gottesnamen, universale Weltherrschaft und Empfang von Anbetung aus allen drei Welten zuschreibt, hebt letztlich auf die Verherrlichung des einen und einzigen Gottes ab. Da die zweite Strophe des Textes (V. 9–11) den monotheistischen Spitzensatz Jes 45,23 christologisch konfiguriert, wird die Hoheit Christi im Horizont der unvergleichlichen Hoheit des einen Gottes selbst geortet: Nicht nur ist es Gott selbst, der in V. 9–11 als alleinwirkendes Subjekt zum Zug kommt, sondern die Doxa des Christus weist der Klimax des Christuslobs in V. 11c zufolge ganz auf die Doxa Gottes, des Vaters, zurück. Der endzeitliche Ausblick von 1 Kor 15,23–28 stellt 23 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Zwischen Monotheismus und Engelchristologie (s. Anm. 6) 24 f. Die zentrale urchristliche Gottesprädikation „der Jesus auferweckt“ greift auf die für Israel konstitutiven Elemente (Exodus, Erwählung, auch Totenerweckung) zurück und tritt diesen nicht nur ergänzend zur Seite, sondern beansprucht einen primären Rang. „Gott, der Jesus von den Toten auferweckt hat“ (Röm 4,24; 8,11; 10,9; 1 Kor 6,14; 1 Petr 1,21; usw.) ist die christologische Fassung der jüdischen Prädikation „der die Toten auferweckt“ (Röm 4,17; 2 Kor 1,9; Hebr 11,19; Joh 5,21; vgl. Achtzehngebet 2; Ps 71,20; 2 Makk 7,22 f; Tob 13,2; Sap 16,13; JosAs 20,7; TestGad 4,6). Vgl. meinen Aufsatz: Ein achter Tag. Jesu Auferstehung als ein Kristallisationspunkt neutestamentlicher Gotteslehre, Abdruck in diesem Band: 3–20.
4. Die Einheit von Vater und Sohn im Vierten Evangelium
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noch deutlicher heraus, dass die Christusherrschaft umfangen und umgrenzt ist von der Gottesherrschaft:24 Christus, der Sohn, wird sein Reich schliesslich dem Vater übergeben (V. 24a.28); Gott wird „alles in allem“ sein. Damit nimmt der Apostel die jüdische Überzeugung auf, dass sich die Anerkennung der Einheit und Einzigkeit Gottes von Dtn 6,4 erst in der Endzeit verwirklicht (vgl. Sach 14,9). 4. Wir begnügen uns mit einem knappen Hinweis auf Röm 9–11, wo Paulus wie kaum sonst in seinen erhaltenen Briefen in eine Gundsatzdiskussion um Gottes Gottsein eintritt. Während es im Eingang dieser Passage, nämlich in Röm 9,5b, schwer zu entscheiden ist, ob sich die Eulogie auf Jesus Christus oder aber auf Gott bezieht, endet die gesamte Argumentation in betont monotheistischen Aussagen, zunächst in rhetorisch gehobenem Stil (11,28–32), dann in einer ausgreifenden Doxologie (11,33–36). Es ist kein Zufall, dass der Apostel in seinem Ringen mit der Israelthematik die theozentrische Tiefenstruktur seiner Theologie aktualisiert. Der Gott, „von dem und durch den und auf den hin das ganze All ist“ (V. 36), hat sich umgekehrt so sehr mit der Gestalt Jesu Christi verbunden, dass „ganz Israel“ allein in der Begegnung mit dem Parusiechristus, dem „Retter aus Zion“ von Jes 59,20 f, gerettet wird (V. 26 f). Auch hier zeigt sich noch einmal, wie sehr die Transparenz des Christus für den einen Gott gerade mit der Selbstbindung Gottes an Jesus einhergeht.25 Spätere theologiegeschichtliche Kategorien wie „Subordinatianismus“ werden diesem komplexen Beziehungsgefüge zwischen Christozentrik und Theozentrik nicht hinreichend gerecht.
4. Die Einheit von Vater und Sohn im Vierten Evangelium Im Grund rückt erstaunlich spät, nämlich erst im Umfeld des Johannesevangeliums, der Anspruch der hohen Christologie voll in den Brennpunkt der Kontroverse zwischen dem synagogalem Judentum und den Christusgläubigen.26 In drei Schlüsselszenen attackieren die Juden den johanneischen Christus, weil er die Einzigkeit Gottes verletzt, und arbeiten auf seine Tötung hin. Die Sabbatheilung am Teich von Betesda provoziert den Vorwurf, dass Jesus „Gott seinen eigenen Vater nennt und sich selber Gott gleich macht“ (5,16–18). Jesus kontert diesen Angriff mit dem Verweis auf seine gänzliche Dependenz vom Vater. Sein eigenes und Gottes Wirken wird im Verhältnis von Abbild und Urbild beschrieben Vgl. die analogen Figuren in 1 Kor 3,23b und Röm 14,9–12.
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25 Texte wie Röm 5,6–11; 8,31–39; 2 Kor 1,18–22 zeigen, wie sehr Paulus im Christusgeschehen
das rettende Wirken Gottes wahrnimmt. 26 Vgl. dazu besonders M. Theobald, Gott, Logos, Pneuma. „Trinitarische“ Rede von Gott im Johannesevangelium, in: Klauck (Hg.), Monotheismus (s. Anm. 7) 41–87; Th. Söding, „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Die johanneische Christologie vor dem Anspruch des Hauptgebotes (Dtn 6,4 f), ZNW 93 (2002) 177–199.
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(5,19–30), wie es zumal an den göttlichen Prärogativen von Totenauferweckung und Gericht erkennbar wird. In 10,30–39 ist es die Affirmation der Einheit von Vater und Sohn, die für die Juden als eklatanter Erweis der Gotteslästerung empfunden wird, „weil du als ein Mensch dich zu Gott machst“ (V. 33; vgl. 36). Der johanneische Christus reagiert nicht nur mit dem als argumentum a minore ad maius benützten Schriftwort Ps 82,6,27 sondern mit dem Hinweis auf sein Tun der Werke des Vaters. Die gegenseitige Immanenz von Vater und Sohn (V. 38; vgl. 14,10 f; 17,21.23) belegt die von uns oben festgestellte grundlegende Reziprozität im Verhältnis von Gott und Christus. Schliesslich taucht in der Passionsgeschichte der Blasphemievorwurf noch einmal auf, nicht zufällig angesichts der ‚königlichen‘ Präsentation Jesu (19,1–7). Es ist augenfällig, wie das Vierte Evangelium auf den Vorwurf, Jesus Christus verletze die Einzigkeit Gottes, mit einer kühnen Christologie antwortet: Einerseits ist Jesus, der Mensch aus Nazaret, vollkommen transparent für Gott, der ihn in die Welt gesandt hat und durch ihn wirkt. Andrerseits gehört der Sohn so sehr auf die Seite Gottes, dass sie sich geradezu gegenseitig auslegen; Jesus teilt so auch das Prädikat „Gott“ (1,1.18; 20,28; vgl. 1 Joh 5,20). Aus der Perspektive johanneischer Theologie wird eben durch die so bestimmte, exklusive Relationalität zwischen Gott und Jesus die Einzigkeit Gottes gewahrt.
5. Ein Lebensnerv biblischer Theologie Die frühen Christen haben sich unter dem Eindruck ihrer überwältigenden Erfahrungen des auferstandenen Christus, in denen sie das Wirken des Gottesgeistes identifizierten, hart an den Rand des vom Judentum entwickelten monotheistischen Glaubens führen lassen. Mit ihrem schon früh erhobenen Anspruch, dass der auferweckte Jesus auf die Seite Gottes gehöre, glaubten sie die Einheit und Einzigkeit Gottes nicht zu verletzen, sondern umgekehrt eben als lebendige zu akzentuieren.28 Bekanntlich haben das Judentum und später der Islam den christlichen Versuch, Gottes Einheit als trinitarische Selbstdifferenzierung zu denken, entschieden abgelehnt. Für die antiken Christen war es aber gerade die 27 Ps 82 hat eine eigentümliche Nachwirkung in 11QMelch ii 10 f, wo Melchisedek mit dem richtenden Gott mitten unter Göttlichen, d. h. Engeln, identifiziert wird; offenbar wird der Sturz V. 6 f auf Belials Rebellion gedeutet. Meines Wissens gibt es aber sonst kaum Hinweise darauf, dass Ps 82 in den jüdischen Debatten rund um den Monotheismus eine nennenswerte Rolle gespielt hat. Eine eindringliche Auslegung des Psalmenworts in Joh 10 unternimmt H.-J. Klauck, „Pantheisten, Polytheisten, Monotheisten“ – eine Reflexion zur griechisch-römischen und biblischen Theologie, in: ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum (WUNT 152), Tübingen 2003, 3–53, hier: 47–51; vgl. 25–29. 28 Vgl. M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament (GNT 11), Göttingen 1998, 330–333 („Die hohe Christologie entsteht an der Erfahrung und Reflexion des einen Gottes. Sie ist eine Explikation des Monotheismus“, 332).
5. Ein Lebensnerv biblischer Theologie
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Trinitätslehre, die den messerscharfen Grat zwischen dem strikten Monotheismus, der Gott karg und steril macht, und dem Polytheismus, der auf Streit und Zwist im Göttlichen hinausläuft, zu beschreiten versucht.29 Ich möchte schliessen mit dem Verweis auf das Gespräch Jesu mit den Sadduzäern (Mk 12,18–27 parr.), das gleichsam in nuce ein Programm biblischer Theologie enthält.30 Die Klimax der Debatte besteht im Rückbezug Jesu auf die Treue des Gottes Israels, die auch vor dem Tod nicht Halt macht. In der Selbstvorstellungsformel von Ex 3,6 („ich bin der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs“) tut Gott seine Macht, seine dynamis, kund, die nicht mehr – wie im überwiegenden Teil der hebräischen Bibel – nur die Lebenden, sondern nun auch die Gestorbenen umgreift: Die Schrift selbst bezeugt die über den Tod hinausweisende Bundestreue Gottes! Die theozentrische Begründung der Totenauferstehung weist vielleicht über den Christusglauben der Gemeinde auf einen Kern echten Jesusguts zurück (vgl. Q: Mt 8,11 f par.). Für die neutestamentliche Theologie ist es aber entscheidend, dass Jesu Wort an die Sadduzäer im Kontext seiner Passion und Auferstehung steht. Die Überwindung des Todes, die Gott zu einem Gott der Lebenden wie der Toten macht, gründet auf der Auferweckung Jesu von den Toten. Der eine Gott bestimmt sich dadurch, dass er Jesus auferweckt hat; gerade darin erweist er seine Treue. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs hat sich also durch Jesus Christus neu definiert – in analoger Weise, wie sich der Gott des Auszugs in Ex 3 als der Gott der Väter zu erkennen gibt. Wir sind damit wieder bei Gerhard von Rad angelangt, der uns so eindringlich gelehrt hat, „die Aufnahme des Alten Testaments im Neuen als einen Vorgang zu begreifen […], der vom und im Alten Testament schon vorbereitet wurde“.31
29 Die von Klauck, „Pantheisten“ (s. Anm. 27) aufgeworfene „‚ketzerische‘ Frage“, ob der christliche Monotheismus nicht sinnvoll im Gegenüber von zersplittertem Polytheismus und starrem Monismus zu interpretieren wäre, darf sich auf beste orthodoxe Theologie berufen: Gregor von Nazianz hat genau diesen Gedanken formuliert (or. 23,8 [SC 270, 298]; 25,16 [SC 284, 194 ff]). 30 Vgl. zur Identität Gottes besonders B. S. Childs, Die Theologie der einen Bibel, Bd. 2: Hauptthemen, dt. Übs. Freiburg 1996, 14–52 (mit dem Hinweis auf Gottes Einzigkeit 39 f) und B. Janowski, Der eine Gott der beiden Testamente. Grundfragen einer Biblischen Theologie, ZThK 95 (1998) 1–36 („der Ernstfall der Biblischen Theologie“, 17). Einen zentralen Stellenwert hat die Sadduzäerperikope bei R. Feldmeier / H. Spieckermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre (Topoi Biblischer Theologie 1), Tübingen 22017 (Titel; 515–524). 31 Von Rad, Theologie (s. Anm. 4), Bd. 2: Die Theologie der prophetischen Überlieferungen Israels, 342.
Christozentrisch oder theozentrisch? Christologie im Neuen Testament Abstract Christocentric or Theocentric? Christology in the New Testament The essay deals with a special profile typical of some forms of “Christological monotheism” in early Christianity. It is shown how Paul, the Epistle to the Hebrews, the Revelation of John and the Gospel of John elaborate in different ways both the central position of Jesus Christ as manifestation of God and the central position of God Himself as well. In the view of early Christians, the monotheistic faith culminates in the idea of the coexistence of God as Father and Christ as Son. Christological monotheism thus prepares the foundations for the doctrine of the Trinity that will be developed later.
Die antiken Christen haben im 4. Jahrhundert ihren trinitarischen Glauben als den schmalen, aber entscheidenden und heilsrelevanten Weg zwischen Judentum und Heidentum, zwischen Monotheismus und Polytheismus, wahrgenommen. Gregor von Nazianz, einer der massgeblichen Architekten der Trinitätslehre, hat diese Überzeugung programmatisch mit der Selbstkonstituierung Gottes als Dreiheit begründet. Er kontrastiert die Dreiheit sowohl mit der sterilen Einheit wie mit der ausufernden Vielheit.1 „Wir verehren eine Dreiheit aus vollkommenen Dreien, weil sich die Einheit um ihres eigenen Reichtums willen bewegt, über die Zweiheit hinaus schreitet […] und sich als Dreiheit begrenzt, um ihrer Vollkommenheit willen. Als Allererste schreitet sie hinaus über die polare Zweiheit, damit die Gottheit weder leer und öde bleibt noch ins Grenzenlose verströmt. Denn das erste ist nicht freigebig, das andere aber ungeordnet, das erste jüdisch, das zweite griechisch-polytheistisch (τὸ μὲν γὰρ ἀφιλότιμον, τὸ δὲ ἄτακτον · καὶ τὸ μὲν Ἰουδαϊκὸν παντελῶς, τὸ δὲ Ἑλληνικὸν καὶ πολύθεον).“
An anderer Stelle formuliert er wie folgt:2 „Nicht um drei getrennte Urprinzipien handelt es sich, damit die Gottheit nicht griechisch sei oder polytheistisch. Noch ist sie ein einziges Urprinzip, ein jüdisches, enges und neidisches, kraftloses (μήτε ἀρχὰς τρεῖς, ἵνα μὴ Ἑλληνικὸν, ἢ τὸ πολύθεον·μήτε μίαν μὲν, Ἰουδαϊκὴν δὲ στενήν τινα, καὶ φθονερὰν, καὶ ἀδύνατον).“ Greg. Naz., or. 23,8 (SC 270, 298 f). Greg. Naz., or. 25,16 (SC 284, 194–197). Zur Korrelation von Zweiheit und Anarchie bei Gregor vgl. sodann or. 29,2 (SC 250, 178–181 = FC 22, 170–173) sowie S. Vollenweider, Neuplatonische und christliche Theologie bei Synesios von Kyrene (FKDG 35), Göttingen 1985, 123 f. 1 2
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Christozentrisch oder theozentrisch?
Wenn Gregor den Weg von der Einheit (μονάς) über die Zweiheit (δυάς) zur Dreiheit (τριάς) nachzeichnet, dann handelt es sich um eine (theo‑)logische Operation, nicht um die Beschreibung eines theogonischen Prozesses. Der gebildete Kirchenvater greift dabei zurück auf die „arithmetische Theologie“ des Platonismus seiner Zeit,3 der sich seinerseits in der Definition der archai die reiche neupythagoreische Zahlenmystik angeeignet hat. In der „arithmetischen Theologie“ steht die Einheit für die Transzendenz des höchsten Prinzips. Wie entsteht aber die Vielheit aus der Einheit? Die Zwei geht aus der Eins hervor, etwa im Modus einer Emanation bzw. einer Selbstdifferenzierung. Als das Andere der Einheit ist die Zweiheit gekennzeichnet von einer eigentümlichen Ambivalenz. Sie steht im Zeichen der Unendlichkeit, der die Griechen generell misstrauisch gegenüber standen (horror vacui). Die Zweizahl wird korreliert mit Bewegung, Werden, Veränderung und Relation, aber auch mit Übermut (!), Teilung, Gegensatz, Materie und Dissipation.4 Erst mit der Genese der Dreiheit normalisieren sich gleichsam die Verhältnisse; das Dritte steht für die Rückwendung zum Urprinzip, es beendet die Dissipation ins Unendliche und vollzieht die Formgebung. Seit altpythagoreischer Zeit ist die Dreiheit die Zahl des Alls, sie schliesst Anfang, Mitte und Ende in sich. Sie korreliert mit Wohlgestalt und Vollkommenheit, Erkenntnis und Frömmigkeit; in ihr entfaltet sich das Eine in vollkommener Gestalt.5
Für Gregor handelt es sich bei der Dreiheit nicht mehr um ein aus dem Einen emanierendes und deshalb metaphysisch subordiniertes Derivat, sondern um die Trinität des christlichen Glaubens in ihrer neunizänischen Gestalt. Interessant ist nun die Korrelation zwischen den Zahlprinzipien und den vorfindlichen religiösen Überzeugungen: Während im jüdischen Monotheismus das Eine gleichsam in sich selber gefangen bleibt,6 droht im heidnischen Polytheismus die Dissipation ins Unendliche – Homers fröhliches Göttertreiben illustriert die Am wichtigsten ist das Werk, das unter dem Namen des Neuplatonikers Jamblich figuriert: Theologumena Arithmetica(e). Ich orientiere mich im Folgenden an dieser Schrift, die viele ältere Überlieferungen fortschreibt. Der Zusammenhang von Arithmogonie und Kosmogonie geht bereits auf die alten Pythagoreer zurück, vgl. Ch. Riedweg, Pythagoras. Leben, Lehre, Nachwirkung, München 2002, 103–120. 4 Ps.-Jambl., theol. 2 p. 7,14–14,12 de Falco; vgl. Joh.Lyd., mens. 2,7 p. 23,19–25,2 Wünsch. Nach dem Plotinschüler Amelios (3. Jh.) erzeugt auf der Ebene der Seele die Einheit die Dreiheit als erste Zahl, die Zweiheit selber sei der Fluss (ῥύσις), Prokl., in remp. 2,31:22–32:2 Kroll. Amelios ist dafür bekannt, dass er als nichtchristlicher Philosoph den Johannesprolog interpretiert hat (bei Euseb, praep. 11,19:1–4 [GCS 43.2, 45]). Vgl. dazu meinen Aufsatz: Der Logos als Brücke vom Evangelium zur Philosophie. Der Johannesprolog in der Relektüre des Neuplatonikers Amelios, Abdruck in diesem Band: 543–564. 5 Vgl. die Überlieferung bei Aristot., cael. 1: 268a9–13 (die drei als „Zahl des Alls“) und bei Plut., Fab. 4,7 („preisen die Kraft der Dreizahl“); dazu R. Mehrlein, Art. Drei, RAC 4 (1959) 269–310, besonders 270. 6 In systematisch- theologischer Perspektive liesse sich erwägen, ob das Verständnis von Gott als einzig-einem nicht solipsistisch sei. Sogar hinsichtlich des trinitarischen Gottes stellt E. Jüngel die – rhetorische – Frage: „Gott als sublimster Egoist?“ Weil aber die interne Selbstbezogenheit Gottes so beschaffen ist, dass sie zugunsten eines Anderen als Gott erfolgt, gilt: „Der ewige Gott ist also als solcher auf den Menschen bedacht“ (Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 82010, 513 f). 3
1. Christologischer Monotheismus
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damit gegebene Unordnung aufs Anmutigste. Der christliche Trinitätsglaube aber schliesst die Vorzüge von beidem, von Einheit und Differenz, in sich.7 Was die arithmetische Theologie als theogonen emanativen Prozess beschreibt und was Gregor als theo-logische Operation vollzieht, versuchen wir schlichter als theologiegeschichtliche Bewegung in der Frühzeit des Christentums zu verfolgen – den Weg vom biblisch-jüdisch überkommenen Monotheismus über eine Art Binitarismus zur trinitarischen Theologie. Es ist reizvoll, die Frage nach dem inneren Zusammenhang zwischen der Trinitätstheologie und dem monotheistischen Theorem aufzuwerfen in einer Zeit, in der das Spannungsfeld zwischen monotheistischem Glauben und religiösem Pluralismus weit über universitäre Kreise hinaus zunehmend Interesse findet. In diesem Kontext stelle ich einige tastende Überlegungen vor.
1. Christologischer Monotheismus Seit einiger Zeit sind Genese und Tragweite des Monotheismus in den Fokus kulturtheoretischer wie religionswissenschaftlicher Diskussionen geraten. Dies ist nicht nur bei der israelitischen Religionsgeschichte und der nachexilischen biblisch-jüdischen Literatur der Fall, sondern auch im Bereich von Frühjudentum und Urchristentum.8 Im frühen Christentum hat man es mit einer eigentümlichen Spannung zu tun: Die Christusgläubigen verstehen sich auf der einen Seite als getreue Monotheisten, die im Kontrast zu den Heiden ihrer Umgebung auf den einen „lebendigen und wahren Gott“ setzen (1 Thess 1,9), bilden aber auf der anderen Seite schon sehr früh vielfältige Formen einer ‚hohen Christologie‘ aus, die Jesus eine nahezu göttliche Position zuschreibt. Obschon wir den ‚steilsten‘ christologischen Elementen (um weiter mit räumlichen Metaphern zu arbeiten) erst in den letzten beiden Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts 7 Die altchristliche Trinitätslehre gibt also eine eindeutige Antwort auf die von H.-J. Klauck gestellte „‚ketzerische‘ Frage“, ob der christliche Glaube nicht einen guten Mittelweg zwischen Polytheismus und Monotheismus gehe: „Pantheisten, Polytheisten, Monotheisten“ – eine Reflexion zur griechisch-römischen und biblischen Theologie, in: ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum (WUNT 152), Tübingen 2003, 3–53, hier: 53. Zur Frage, ob der „Binitarismus“ eine Alternative zum Monotheismus darstellt und ob er Zwiespalt (stasis) in Gott hineinträgt, vgl. die Überlegungen von M. Moxter, Konkreter Monotheismus, ZThK 116 (2019) 342–369, hier: 349–352 und v. a. 357 f. 8 Vgl. U. Mell (Hg.), Der eine Gott und die Geschichte der Völker. Studien zur Inklusion und Exklusion im biblischen Monotheismus (BThSt 123), Neukirchen 2011; R. G. Kratz / C. Björn (Hg.), One God, One Cult, One Nation. Archaeological and Biblical Perspectives (BZAW 405), Berlin 2010; L. Bormann (Hg.), Schöpfung, Monotheismus und fremde Religionen. Studien zu Inklusion und Exklusion in den biblischen Schöpfungsvorstellungen (BThSt 95), Neukirchen 2008; G. Palmer (Hg.), Fragen nach dem einen Gott. Die Monotheismusdebatte im Kontext (RuA 14), Tübingen 2007; L. T. Stuckenbruck / W. E. S. North (Hg.), Early Jewish and Christian Monotheism (JSNT.SS 263), London 2004.
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Christozentrisch oder theozentrisch?
begegnen – explizite theos-Prädikationen Jesu Christi;9 johanneische Christologie –, führen uns die hauptsächlichen „starken“ christologischen Vorstellungen bereits zurück in die ersten beiden Jahrzehnte nach Ostern. So ist es der Fall in der paulinischen Briefliteratur, die wesentlich auf dem Fundament christologischer Überzeugungen der frühen Gemeinden ruht, und, noch weiter zurück, möglicherweise in den österlichen Vergegenwärtigungen Christi. Prädikationen wie Kyrios und Gottessohn, der richtende Menschensohn, das Schema von Präexistenz und Erhöhung zusammen mit der Schöpfungsmittlerschaft rücken Christi Position nahe an diejenige der Gottheit. Der erhöhte Jesus gewinnt Anteil an den exklusiven Gemarkungen, die die Einzigkeit des Gottes Israels ausmachen – am heiligen Gottesnamen, am Schöpfertum, an der Weltherrschaft, am heilsschaffenden Wirken und schliesslich an der kultischen Verehrung durch die Frommen, die dereinst durch alle Welt ergehen wird.10 Entgegen den Annahmen früherer Exegeten, zumal der Religionsgeschichtlichen Schule, geht der urchristliche Kyrioskult also nicht auf den Einfluss heidnischer Religionen zurück, sondern ist als eine bedeutungsvolle Transformation der monotheistischen Basisüberzeugung der frühsten Christen zu erachten. Es gibt kaum Anzeichen einer christologischen Entwicklung, die von vermeintlich gut jüdischen funktionalen Konzeptionen hinführt zu solchen hellenistisch-substantialistischer Art. Vielmehr begegnen schon erstaunlich früh Postulate ‚hoher‘ Christologie.
Wie sich die frühe Christologie zum weiterhin affirmierten Monotheismus verhält, ist eine der grossen Fragen der neutestamentlichen Theologie. Das Spannungsverhältnis versucht man etwa mit Klassifikationen wie „christologischer Monotheismus“, „binitarischer Monotheismus“ oder auch „Duotheismus“ zu umreissen.11
9 Zur Prädikation von Jesus Christus als θεός vgl. Hebr 1,8 f (Schriftzitat; dazu unten Teil 2.2); Tit 2,13; 2 Petr 1,1; IgnEph 18,2; IgnSm 1,1. Zu Röm 9,5 s. Anm. 29; zum JohEv s. unten Teil 2.4. 10 Vgl. meine Skizzen: Vom israelitischen zum christologischen Monotheismus. Überlegungen zum Verhältnis zwischen dem Glauben an den einen Gott und dem Glauben an Jesus Christus, in: P. Hanson / B. Janowski / M. Welker (Hg.), Biblische Theologie (Altes Testament und Moderne 14), Münster 2005, 123–133, Abdruck in diesem Band: 21–31; Zwischen Monotheismus und Engelchristologie. Überlegungen zur Frühgeschichte des Christusglaubens, in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 3–27. 11 Vgl. zum Ganzen L. W. Hurtado, Lord Jesus Christ, Grand Rapids 2003; ders., The Binitarian Shape of Early Christian Worship, in: C. C. Newman / J. R. Davila / G. S. Lewis (Hg.), The Jewish Roots of Christological Monotheism (JSJ.S 63), Leiden 1999, 187–213; R. Feldmeier / H. Spieckermann, Der Gott der Lebendigen (Topoi Biblischer Theologie 1), Tübingen 22017, 93–97. – Zum „Duotheismus“ als Nebeneinander zweier göttlicher Gestalten vgl. G. Theissen, Monotheistische Dynamik im Neuen Testament, KuI (2005) 130–143, hier: 130 im Anschluss an B. Lang, Art. Monotheismus, NBL 2 (1995) 834–844, hier: 838.
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2. Eine Tour rund um vier Gipfelmassive neutestamentlicher Christologie Hält man sich die markantesten Gestalten neutestamentlicher Christologie vor Augen, so fällt auf, dass sich ausgerechnet in ihnen ein betont theozentrisches Profil abzeichnet.12 Womöglich kann man noch stärker pointieren: Ihre Tiefenstruktur bildet geradezu das monotheistische Bekenntnis; die christozentrische Perspektive ruht auf einem theozentrischen Wurzelwerk.13 Blickt man von der klassischen Trinitätslehre des 4./5. Jahrhunderts zurück auf die vielfältigen Formen archaischer Christologien der ersten Jahrhunderte, muss man viele unter ihnen als subordinatianisch klassifizieren. Insbesondere die Auslegungsgeschichte zeigt, welchen erheblichen exegetischen Aufwand es die Theologie kostete, diesbezüglich schwierige neutestamentliche Passagen zu entschärfen. Freilich wird man den frühchristlichen Texten nicht gerecht, wenn man sie mit dem Etikett der Subordination belegt, weil dieses die Dynamik der Relationen zwischen Gott und Jesus Christus nicht hinreichend beschreibt. Vor allem werden durch eine derartige Klassifikation die Verhältnisse in einer Weise vereindeutigt, die sich von den Texten her gerade nicht nahe legt. Die Rückprojektion von Kategorien, die sich im Lauf von komplexen Normierungsprozessen erst allmählich herausgebildet haben (wie orthodox versus heterodox), ist anachronistisch und oft nicht einmal heuristisch angemessen.
In den folgenden Abschnitten werde ich jeweils zunächst die These voranstellen, die dann in einigen exegetischen Skizzen begründet wird. 2.1 Paulus Der Umschlag von Christozentrik in Theozentrik begegnet bei Paulus markant in seiner Eschatologie,14 nämlich im Christuslob von Phil 2,6–11 und im apokalyptischen Ausblick von 1 Kor 15,23–28. Passagen, worin christologische durch i. e. S. theologische Aussagen übergipfelt (1 Kor 3,22; 11,3) oder umfangen (1 Kor 8,6) werden, bestätigen das Bild. Wenn Paulus in Röm 9–11 das Gottsein Gottes spezifisch mit der Erwählung Israels korreliert, argumentiert er pointiert theo- logisch; die Eulogie 9,5 und der Gotteshymnus 11,33–36 bilden eine Inklusion. 1. Die theologisch dichte Passage Phil 2,6–11,15 bei der die jüngere Forschung hinsichtlich ihrer vorpaulinischen Herkunft wieder vermehrt Zweifel anmeldet, 12 Vor allem W. Thüsing hat die „Theozentrik“ in die Mitte seiner Studien gestellt: Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments, Bd. 3: Einzigkeit Gottes und Jesus-Christus-Ereignis, Münster 1999, besonders 370–420. 13 Insofern stellt „Theozentrik“ gleichsam eine weichere, schwächere Form eines monotheistischen Gottesverständnisses dar. 14 Vgl. dazu W. Schrage, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes. Zum „Monotheismus“ des Paulus und seiner alttestamentlich-jüdischen Tradition (BThSt 48), Neukirchen 2002. 15 Vgl. zum Folgenden meine beiden Skizzen: „Der Name, der über jedem anderen Namen ist“. Jesus als Träger des Gottesnamens im Neuen Testament, in: I. U. Dalferth / Ph. Stoellger
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Christozentrisch oder theozentrisch?
ist von einer eigentümlichen Doppelbewegung gekennzeichnet. In ihrem ersten Teil (V. 6–8) ist der – namentlich nicht genannte – Christus das Subjekt. Dieser gibt aber im Lauf seines in die Tiefe führenden Wegs sukzessiv seine Handlungskompetenz ab: Das „sich Leermachen“ (V. 7a), das wahrscheinlich im Ablegen der „Gottesgestalt“ (V. 6a) und dem Anziehen der „Knechtsgestalt“ (V. 7a) besteht, steigert sich mit dem „sich selbst Erniedrigen“ und dem „Gehorchen bis zum Tod“ (V. 8). Mit dem Kreuzestod ist die denkbar niedrigste Form der Selbstaufgabe erreicht. Genau an diesem Punkt, gleichsam im Nichts, kommt es zum göttlichen Wirken, zur Erhöhung Jesu über alles Mass, die in der Zusprache des heiligen Gottesnamens kulminiert. Der Kyriostitel fungiert dabei als Äquivalent für das Tetragramm. In dieser zweiten Partie des Christuslobs rangiert Gott als Subjekt. Was der präexistente Christus von sich gewiesen hat – das Ergreifen der „Gottgleichheit“ (V. 6b) – wird ihm nun von Gott geschenkt.16 Mehr noch: Mit dem Zusprechen des Gottesnamens und damit der Position der Weltherrschaft, der die Akklamation durch die Wesen aller drei Welten respondiert, gewinnt Christus Anteil an Gottes eigener Position.17 Die Partie von V. 9–11 zielt auf das Bekenntnis, das die Christusglaubenden bereits jetzt sprechen, in das die gesamte Schöpfung aber erst in der Endzeit einstimmen wird: Jesus Christus ist der Kyrios (V. 11a). Der Fokus unseres Textes hat sich damit vom Wirken Gottes zum hoheitlichen Status Christi verschoben. Der Schluss des Christuslobs lenkt den Blick indes nochmals definitiv zu Gott selber: Die Klimax „zur Ehre Gottes des Vaters“ (V. 11b) gehört nicht mehr in den Text der Exhomologese aller Wesen, sondern qualifiziert das Huldigungsgeschehen von V. 10–11a, also das „sich Beugen“ und „Bekennen“. Das letzte Wort gilt gleichsam Gott selber. Dies bedeutet zugleich, dass die ‚Selbstlosigkeit‘, die Jesu Weg im ersten Teil kennzeichnet und die ihn im zweiten Teil als Empfänger der Gottesgaben charakterisiert, mit seiner Versetzung in eine gottgleiche Position nicht aufgehoben, sondern validiert wird. Spezielle Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die Anspielung auf Jes 45,23 in V. 10 f:18 Das Schriftwort zählt zu den prominenten monotheistischen Texten des Alten (Hg.), Gott nennen. Gottes Namen und Gott als Name (RPT 35), Tübingen 2008, 173–186, hier: 180–184, Abdruck in diesem Band: 73–85, hier 80–83; Hymnus, Enkomion oder Psalm? Schattengefechte in der neutestamentlichen Wissenschaft, NTS 56 (2010) 208–231, hier: 224 f, Abdruck in diesem Band: 275–297, hier 290 f. 16 Seit altkirchlicher Zeit gibt es eine exegetische Alternative bei der Deutung des „nicht für Raub Erachtens“ (V. 6): Bezeichnet das „Gleichsein mit Gott“ eine res rapta, wird Jesus in V. 9–11 das, woran er als Präexistenter nicht wie an einer Beute festhielt, (wieder) geschenkt, bezeichnet es aber eine res rapienda, die er nicht usurpieren wollte, gewinnt er nun ein bedeutungsvolles Surplus über das hinaus, was er als Präexistenter bereits hatte: Erst jetzt überschreitet er die Grenze, die die Geschöpfe und Gott trennt, und kommt ganz auf die Seite Gottes zu stehen. 17 Konkret ist an das Mitsitzen auf Gottes Thron zu denken, vgl. Ps 110,1 und seine Rezeption in Mk 12,36 parr.; 14,62 parr.; Apg 2,33 f; 5,31; Röm 8,34; Eph 1,20; Kol 3,1; Hebr 1,3.13; 8,1; 10,12; 12,2; 1 Petr 3,22; Ps.-Mk 16,19; anders Apg 7,55 f: Stehen zur Rechten Gottes. 18 In der Übersetzung der Septuaginta Deutsch (hg. W. Kraus / M. Karrer, Stuttgart 22010, 1270) lautet der Vers: „Wahrlich, Gerechtigkeit wird aus meinem Munde kommen, meine Worte
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Testaments (vgl. Jes 45,21 f). Anders als in Röm 14,11, wo Gott selber wie im Septuaginta- Text als Empfänger der Huldigung fungiert, handelt es sich in Phil 2,10 f um Jesus Christus, den das Bekenntnis aller Schöpfungsbewohner adressiert. Der Befund deutet auf eine gezielte exegetische Platzierung von Jesus im monotheistischen Glaubensbekenntnis der frühen Christusgläubigen.
2. Die eschatologische Belehrung in 1 Kor 15,20–28 handelt von der Auferstehung aller als Folge der Auferstehung Jesu (V. 20–22). Paulus verbindet damit eine Zukunftsschau, die die markante apokalyptische Dimension seiner Theologie hervortreten lässt (V. 23–28). Die Passage blickt auf nahe endzeitliche Ereignisse voraus – die Parusie Christi, verbunden mit der Auferstehung der Glaubenden, und das „Ende“ – und arbeitet mit zwei Psalmversen (Ps 110,1; 8,7). Im Zentrum des chiastischen Arrangements von V. 24–2819 steht die Überwindung des Todes (V. 26),20 die entweder durch den Sohn oder aber durch Gott vollzogen wird.21 Am Schluss des endzeitlichen Dramas, in dem die widergöttlichen angelischen Mächte unterworfen werden, ist es nun aber der Sohn selber, der sich Gott unterwirft, „damit Gott alles in allem sei“ (V. 28),22 dies deckt sich mit dem „Übergeben des Königtums“ an Gott in V. 24a. Paulus scheint eine Überlieferung aufzunehmen, die mit einem messianischen Zwischenreich zwischen Jesu Wiederkunft und der endgültigen Etablierung der Gottesherrschaft rechnet,23 deutet diese Zwischenzeit aber auf die bereits mit Ostern angebrochene werden nicht rückgängig gemacht werden, denn vor mir wird sich jedes Knie beugen, und jede Zunge wird bekennen …“ 19 Die Passage lässt sich wie folgt strukturieren: A telos (V. 24aα) – B Unterordnung des Sohns (V. 24aβ) – C Überwindung der Mächte (V. 24b) – D Ps 110,1 (V. 25) – E Überwindung des Todes (V. 26) – D’ Ps 8,7 (V. 27a) – C’ Überwindung der Mächte (V. 27b) – B’ Unterordnung des Sohns (V. 28ab) – A’ Gott „alles in allem“ (V. 28c). 20 Vgl. dazu W. Schrage, Paulinische Eschatologie im 1. Korintherbrief, in: ders., Studien zur Theologie im 1. Korintherbrief (BThSt 94), Neukirchen 2007, 191–195 („V 26 ist der Schlüssel und Skopus von Kap. 15“, 191). 21 Irgendwo zwischen V. 24c und V. 27b kommt es zum Subjektwechsel, wo das „Unterwerfen“ von Ps 8,7 nicht mehr durch Christus, sondern durch Gott vollzogen wird; am wahrscheinlichsten in V. 27a, evtl. aber bereits in V. 25b. In V. 27b/28 erscheint explizit Gott selber als „Unterwerfender“. Das Problem verkompliziert sich auch noch dadurch, dass Paulus vermutlich eine apokalyptische Überlieferung verwendet (worauf u. a. das auffällige Absolutum „der Sohn“ in V. 28b weist), die bereits die beiden Psalmenverse kombiniert und die Subjekte möglicherweise anders als Paulus selber bestimmt hat. Zu den Interpretationsproblemen vgl. D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010, 489–492. 22 Zur Wendung „alles in allem sein“ vgl. D. Zeller, Die Formel εἶναι πάντα ἐν πᾶσιν (1 Kor 15,28), ZNW 101 (2010) 148–152: „Unsere Wendung setzt in 1 Kor 15,28 Gott nicht stoisch mit dem All gleich, sondern artikuliert seine universale heilvolle Herrschaft, und zwar im Unterschied zu den hier betrachteten Vergleichstexten in eschatologischer Perspektive“ (152). 23 Vgl. neben Apk 20,1–6 auch 4 Esr 7,28 f (der Messias stirbt nach 400 Jahren); 2 Bar 30,1 (der Messias kehrt vor der Totenauferstehung in die Herrlichkeit Gottes zurück). Zum letztgenannten Text vgl. meinen Aufsatz: Auferstehung als Verwandlung. Die paulinische Eschatologie von 1 Kor 15 im Vergleich mit der syrischen Baruchapokalypse (2 Bar), Abdruck in diesem Band: 299–320.
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Christozentrisch oder theozentrisch?
Zeit, in der der erhöhte Christus im Verbund mit Gott die Gegenmächte bekämpft, und rechnet wohl mit der Simultanität von Christusparusie und Totenauferstehung (V. 51 f: „im Nu, in einem Augenblick, beim Ton der letzten Posaune“, vgl. 1 Thess 4,16 f). Bei Gottes Alles-Sein denkt er an die endzeitliche, alle Schöpfung erfüllende Königsherrschaft Gottes, die ganz im Sinn der jüdischen Endzeiterwartung erst vollgültig die Einheit Gottes von Dtn 6,4, dem Grundbekenntnis Israels, verwirklicht (vgl. Sach 14,9).24 Auch in unserer Passage mündet die Christozentrik (V. 20–22!) in Theozentrik. Damit sind innerhalb des 1. Korintherbriefs Brücken zu 3,23 und 11,3 geschlagen. 3. Besondere Aufmerksamkeit verdient das vermutlich bereits traditionelle Doppelbekenntnis in 1 Kor 8,6. Paulus schreibt sowohl Gott wie Jesus Christus Einzigkeit zu, unter Rückgriff auf das schemac von Dtn 6,4.25 Er ordnet dem einen Gott als Vater (Jesu Christi) den einen Herrn, Jesus Christus (als seinen Sohn), zu. Mit dem „einen Gott“ knüpft der Apostel aber, nicht anders als das zeitgenössische Judentum, auch an die henotheistischen Entwicklungen in der Philosophie an.26 Das an die avancierte platonische Metaphysik angelehnte Spiel der Präpositionen stellt heraus, dass Gottes Wirken dasjenige Christi umgreift: Jenem schreibt das Bekenntnis das Schöpfertum insgesamt zu, diesem das neue Schöpfungshandeln an den Glaubenden (vgl. 2 Kor 5,17). Die Vorordnung des einen Gottes wird auch durch die Erstplatzierung und die den Anfang und das Ziel anvisierenden Präpositionen signalisiert. 4. Noch stärker als der 1. Korintherbrief lässt der Römerbrief eine theozentrische Fluchtrichtung erkennen.27 In der theologischen Entfaltung der Gottesgerechtigkeit (1,17) summiert die Passage 3,21–31 die bisherige Argumentation und steuert mit V. 29 f markant auf das Bekenntnis zum einen Gott zu, der an Juden so gut wie an Heiden sein universales rechtfertigendes Wirken ergehen Zur Wirkungsgeschichte von Sach 14,9 vgl. das Material bei Bill. 3, 472. Dtn 6,4 lautet in der Fassung der LXX (s. Anm. 18): „Höre, Israel: Der Herr, unser Gott, ist ein (einziger) Herr (ἄκουε Ισραηλ κύριος ὁ θεὸς ἡμῶν κύριος εἷς ἐστιν)“. O. Hofius schlägt vor, 1 Kor 8,6 „als eine christliche Exegese von Dtn 6,4 lxx“ zu verstehen: „Einer ist Gott – Einer ist Herr“, in: ders., Paulusstudien, Bd. 2 (WUNT 143), Tübingen 2002, 167–180. Es empfiehlt sich aber, das traditionell feste Syntagma εἷς θεός V. 6aα (trotz Hofius, 167 Anm. 4) nicht aufzutrennen in Subjekt und Prädikat, sondern beides attributiv zu deuten: Im Unterschied zu den vielen sogenannten Göttern und Herren „gibt es für uns (nur) einen Gott, den Vater, […] und (nur) einen Herrn, Jesus Christus“; mit Zeller, 1 Kor (s. Anm. 21) 290 f; ders., Die Christologie des Neuen Testaments in ihrer hellenistischen Rezeption, in: ders., Neues Testament und hellenistische Umwelt (BBB 150), Hamburg 2006, 141–159, hier: 148. Mit Hofius, aaO. 173, handelt es sich beim Personalpronomen „uns“ um einen dativus iudicantis und beim „Vater“ nicht einfach um den Schöpfer („Allvater“), sondern spezifisch um den Vater Jesu Christi, aaO. 176 f. 26 Der klassische Text, der eine reichhaltige religionsphilosophische Entwicklung initiiert, stammt von Xenophanes, FVS 21 B 23: „Ein einziger Gott (εἷς θεός), unter Göttern und Menschen am grössten, / weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken.“ 27 Vgl. dazu J. Flebbe, Solus Deus. Untersuchungen zur Rede von Gott im Brief des Paulus an die Römer (BZNW 158), Berlin 2008, besonders 444–457. 24 25
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lässt.28 Es ist kein Zufall, dass sich in Kap. 9–11 das theozentrische Profil verstärkt, nicht nur wegen der speziellen Adressierung an ein jüdisches Forum, sondern weil es in der Israelthematik in besonderem Mass um das Gottsein Gottes geht. So bilden die Eulogie von 9,5 („Gott, der über allem waltet, er sei gepriesen in Ewigkeit“)29 und der abschliessende Gotteshymnus (11,33–36) eine Inklusion. Der Hymnus kommt ganz ohne eine Referenz auf Jesus Christus aus, was gerade auch im Vergleich der Präpositionenreihe von V. 36 mit 1 Kor 8,6 auffällt.30 Die theozentrische Perspektive kündigt sich bereits durch die universalisierende Stossrichtung in 11,28–32 an. Sie wird später wieder aufgenommen in 15,7–12, einem Abschnitt, der nicht nur die Ermahnung bzgl. der „Starken“ und „Schwachen“ (14/15) summiert, sondern auch die gesamte Argumentation des Briefs (ab 1,18) bilanzieren will:31 Das Rechtfertigungswirken Gottes auch an den Heiden gipfelt in der endzeitlichen Verherrlichung Gottes durch die Glaubenden, die im Gottesdienst bereits ein Stück weit vorweggenommen wird (vgl. 15,5 f; Phil 2,10 f). 2.2 Der Hebräerbrief Der Hebräerbrief wird dominiert von einer soteriologisch orientierten christozentrischen Perspektive. Im einleitenden Teil wird erst die unvergleichliche Hoheit des Sohns (1,5–14), dann seine Menschlichkeit (2,5–18) herausgestellt, beide Male im Kontrast zu den Engeln. Der Hauptteil kreist um das Hohepriestertum Christi (Kap. 7–10). Der programmatische Eingang des Schreibens rückt aber Christi Position und Amt in den umfassenden Horizont des redenden Gottes (1,1–4). Auf Gott hin zielt denn auch das mittlerische Wirken Christi, führt dieser doch das wandernde Gottesvolk in die himmlische Gottesstadt, zum lebendigen Gott selber (11,10.16; 12,22 f). In 12,25–29 haben wir es abschliessend nochmals mit dem redenden Gott zu tun, dessen numinos-majestätische Erhabenheit sich im „verzehrenden Feuer“ verdichtet. Die christologische Orientierung, die den
28 Vgl. hierzu besonders E. Grässer, „Ein einziger ist Gott“ (Röm 3,30). Zum christologischen Gottesverständnis bei Paulus, in: ders., Der Alte Bund im Neuen (WUNT 35), Tübingen 1985, 231–258, hier: 255–258. 29 Die Prädizierung ὁ ὢν ἐπὶ πάντων θεός scheint sich zwar im Mikrokontext auf den Christus zu beziehen (V. 5a), dürfte aber doch eher eine vom Vorhergehenden abzusetzende und an Gott selber gerichtete Doxologie einleiten. Beim Abwägen der Argumente kommt man freilich nicht zu einem überzeugenden Resultat, wie etwa das Gegenüber der beiden jüngeren grossen englischsprachigen Kommentare zeigt: J. D. G. Dunn, Romans 9–16 (WBC 38B), Dallas 1988, 528 f (Gott); R. Jewett, Romans (Hermeneia), Minneapolis 2007, 566–569 (Christus). 30 Zum Abschluss von Röm 11 vgl. besonders G. Bornkamm, Der Lobpreis Gottes, in: ders., Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien (BEvTh 16), München 51966, 70–75. 31 Vgl. M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen 2011, 401–404 („herausragende Bedeutung, die Röm 15,7–12 innerhalb des Römerbriefs zukommt“, 403).
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Christozentrisch oder theozentrisch?
mittleren Hauptteil charakterisiert (4,14–10,18), wird von der theozentrischen Perspektive des ersten und dritten Hauptteils (1,5–14; 10,19–12,29) umgriffen.32 1. Der Hebräerbrief ist der herausragende neutestamentliche Repräsentant einer Theologie des Wortes Gottes.33 Das Exordium (1,1–4) stellt sein Leitthema mit rhetorischer Brillanz heraus: das Reden Gottes, das die steilen christologischen Aussagen überwölbt. Die Hoheit Christi, in dem sich Gottes Wort endzeitlich kundgemacht hat, manifestiert sich in seiner Weltherrschaft, seiner Schöpfungsmittlerschaft, seinem Teilhaben an der göttlichen Herrlichkeit und seinem Sitzen zur Rechten Gottes.34 Bei seinem „überragenden Namen“ ist wohl an den Sohn zu denken. Seine Hoheit wird in einer Reihe von Schriftzitaten entfaltet (1,5–14), von denen einige Gott zum oder vom Sohn reden lassen. Legt man die Schriftworte als Sprechakte des „lebendigen Gottes“ – einer im Hebr prominenten Gottesbezeichnung – aus, dann verdankt sich die hoheitliche Position Jesu gerade dem göttlichen Reden. Ähnlich gründet auch das Hohepriestertum Christi im göttlichen Sprechen (5,5 f.10; 7,11 ff). Christus ist nach Ausweis der Schrift der Sohn (V. 5), Empfänger von Huldigung (V. 6), wird sogar vokativisch als θεός (V. 8 f) sowie als Kyrios (V. 10) prädiziert; er ist der Schöpfungsmittler (V. 10–12) und sitzt zur Rechten Gottes (V. 13). In alle dem überragt er die Engel in unvergleichlichem Mass. Das Gegenbild entwirft 2,5–18: Der Sohn nimmt Anteil an der menschlichen Existenzweise – an Fleisch und Blut, der Herrschaft des Todes unterworfen – und ist darin für eine begrenzte Zeitspanne den Engeln unterlegen (Ps 8,6).
2. Die Schlusspassage im dritten Hauptteil (12,18–29) bestätigt die theozentrische Fluchtlinie des Hebräerbriefs.35 Die Glaubenden sind in heilvolle Nähe zum Berg und zur Stadt des „lebendigen Gottes“ versetzt. Ihren Zugang zum hoheitlich erhabenen Gott verdanken sie dem hohepriesterlichen Wirken Jesu, dem Mittler des neuen Bundes. Die Adressaten der brieflichen Predigt werden nochmals 32 Zum Verhältnis von Theozentrik und Christozentrik im Hebr vgl. besonders die eindringliche Analyse von K. Backhaus, Per Christum in Deum. Zur theozentrischen Funktion der Christologie im Hebräerbrief, in: ders., Der sprechende Gott. Gesammelte Studien zum Hebräerbrief (WUNT 240), Tübingen 2009, 49–75. Er beobachtet, dass Hebr „gerade in den rezeptionsleitenden Spitzensätzen mit grosser Sorgfalt seine christologischen Aussagen theozentrisch verschränkt und absichert“ (62 f). Fragwürdig ist demgegenüber die These, dass Hebr auf eine „theo-logische Desorientierung“ mit „christologischer Darlegung“ reagiert (56), zumal jene religionsgeschichtlich mit platonischem Einfluss, der den Abstand zwischen den Christusgläubigen und Gott verschärfe, begründet wird. Die Reichweite (mittel‑)platonischer Theologie wird hier m. E. überschätzt. Es ist eher erst die theologische Leistung von Hebr, Gottes Erhabenheit und Hoheit gegenüber den Menschen herauszuarbeiten und gerichtsrelevant zu machen. 33 Vgl. neben 1,1–4 besonders 4,12 f; 12,18–29 und das dezidiert theo-logische Glaubensverständnis in 4,2 f; 11,1–12,3; dazu M. Karrer, Der Brief an die Hebräer (ÖTKB 20), Bd. 1, Gütersloh 2002, 56–60 („Der wichtigste Bogen des Wortes ragt in die Christologie“, 57). 34 Zum Verhältnis von Gottes Reden und Christi Sohnschaft in Kap. 1/2 vgl. D. Wider, Theozentrik und Bekenntnis. Untersuchungen zur Theologie des Redens Gottes im Hebräerbrief (BZNW 87), Berlin 1997, 11–71. 35 Hebr schlägt von 12,25–29 die Brücke zurück zum Redeanfang 1,1 f: K. Backhaus, Der Hebräerbrief (RNT), Regensburg 2009, 450 („Theo-Logie im strengen Wortsinn“).
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davor gewarnt, den redenden Gott (V. 25) zu missachten; in Gottesfurcht und Scheu begegnen sie Gott als „verzehrendem Feuer“ (V. 29; vgl. 10,31). Sie wissen sich darin verbunden mit Christus (5,7–10), der der alles verbrennenden Heiligkeit Gottes ihre tödliche Seite nimmt, indem er den Glaubenden einen Zugang zu Gott verschafft hat. 2.3 Die Johannesapokalypse In vielerlei Hinsicht vergleichbar mit der theologischen Dynamik von Hebr ist die Johannesapokalypse. Jesus Christus hat in ihr eine prominente Stellung. So präsentiert sie sich als von diesem ausgehende „Offenbarung“ (1,1). Er selber kommt zu Wort in ihrem ersten Teil (1,11.17–20; 2,1–3,22) und in ihrem Ende (22,6–20). Ihre Christologie arbeitet mit plastischen Bildern – dem Lamm Gottes; dem würdig inthronisierten, zur Weltherrschaft berufenen Sieger (19,11–16); beiläufig ist auch vom Wort Gottes (19,13), vom „Anfang der Schöpfung Gottes“ (3,14) und vom Erstgeborenen von den Toten (1,5) die Rede. Vor allem aber wird Christus porträtiert als hoheitlicher Menschensohn (1,12–18), der auch die Züge des Hochbetagten von Dan 7,9 trägt. Ihm gebührt zusammen mit Gott der Lobpreis der Engel und Geschöpfe (5,13; 7,10). Die Throngemeinschaft mit Gott geht so weit, dass Christus auch die Prädikationen des „Ersten und Letzten“ des „A und Ω“ teilt (1,17; 2,8; 22,13). Als „König der Könige und Herr der Herren“ ist Christus vielleicht sogar Träger des heiligen Gottesnamens (19,16; vgl. V. 12). Unbeschadet dieser markanten hohen Christologie zeichnet sich die Apk durch ihre theozentrische Fluchtlinie aus, erkennbar in ihren programmatischen Prädikationen, die den heiligen Gottesnamen von Ex 3,14 variieren. Im Unterschied zu Jesus nimmt Gott selber nur selten das Wort; wo dies aber der Fall ist, hat es grösstes Gewicht (1,8; 21,5–8). Die Thronsaalszene in Kap. 4/5 stellt, hierin mit Hebr vergleichbar, die unvergleichliche majestätische Hoheit Gottes heraus, die den umfassenden Horizont für das messianische Wirken Christi ausspannt. Gott steht denn auch am Ursprung des kaskadenartig sich entfaltenden Offenbarungsprozesses (1,1 ff).36 Die dominierende Stellung Gottes in der Geschichte, die sich von der Weltschöpfung bis in die unter massiven Katastrophen hereinbrechende Endzeit erstreckt, ist ein gemeinsames Merkmal jüdischer und christlicher Apokalypsen; Gott selber vollzieht dann auch den letzten Kampf gegen das Böse (20,7–10) und das jüngste Gericht (20,11–15). Dominiert im Vordergrund die Christozentrik, so verdankt sie sich gerade der Theozentrik im Hintergrund.37 36 Das zugrundeliegende Schema hat die Abfolge Gott → Christus → Engel Christi → Johannes → Gemeinden (bei den „Knechten“ von 1,1 handelt es sich um die Christen überhaupt, vgl. 2,20), wird aber gern variiert. 37 Vgl. zum Ganzen Th. Söding, Gott und das Lamm. Theozentrik und Christologie in der Johannesapokalypse, in: K. Backhaus (Hg.), Theologie als Vision. Studien zur Johannes-Offenbarung (SBS 191), Stuttgart 2001, 77–120; K. Huber, Einer gleich einem Menschensohn. Die
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1. Das briefliche gestaltete Präskript der Offenbarung präsentiert eine Gottesprädikation, die absichtsvoll entgegen allen Regeln der griechischen Grammatik nicht dekliniert wird: Der Seher wünscht den sieben Gemeinden Asiens Gnade und Friede von „der ist und der war und der kommt“ (1,4). Am Ende des Präskripts wird in 1,8 diese formelhafte Prädikation noch einmal wiederholt, diesmal mit expliziter „ich bin“-Selbstvorstellung und verbunden mit der Prädikation des „A und Ω“, dem „Ersten und Letzten“ aus dem Jesaiabuch (44,6; 48,12). Wir haben eine Dreizeitenformel vor uns, die auch in der zeitgenössischen paganen Literatur vielfach belegt ist, in der Offenbarung aber intertextuell auf ein zentrales Schriftwort bezogen ist: auf die Selbstvorstellung Gottes in Ex 3,14, die die Geschichten vom Gott der Väter mit der Geschichte von Auszug und Sinai verknüpft. In der Fassung der Septuaginta ist aus dem hebräischen „ich bin, der ich bin“ der „Seiende“ geworden. Bereits die jüdische Wirkungsgeschichte von Ex 3,14 hat das unveränderliche Sein Gottes in die drei Zeitmodi, in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, extrapoliert.38 Johannes nimmt aber an der Dreizeitenformel eine bedeutsame Variation vor: Der Modus der Zukunft steht nicht im Zeichen des „Werdens“, sondern des „Kommens“. Mit dieser besonderen Akzentuierung antizipiert er das zentrale Thema seines ganzen Werks, nämlich das endzeitliche Kommen Gottes und seines Christus, wie es besonders im summierenden Schlussteil der Offenbarung, in 22,6–20, zugesprochen und erbeten wird (V. 7.12.20: „ich komme bald – V. 20b: „komm, Herr Jesus“). Die Zukunft bekommt gleichsam ein Gesicht. Die wiederholten Referenzen im Offenbarungstext auf diese initiale Selbstprädikation Gottes zeigen, dass dieses „Kommen“ bereits im Gang ist. So wird dieses im Dankgebet von 11,17 nicht eigens genannt, da es sich nunmehr bereits ereignet (ebenso in 16,5). Noch bedeutsamer ist die christologische Qualifizierung des Kommens Gottes durch die Übertragung der Formel von Gott als „A und Ω“, als „Erstem und Letztem“ (1,8; 21,6) auf Jesus Christus selber (1,17; 2,8; 22,13).39 Die gegenseitige Zuordnung von Theo-logie und Christologie wird sodann durch die Christophanie der Berufungsvision dokumentiert (1,12–18):40 Jesus trägt nicht nur die Merkmale des Menschensohns aus Dan 7,13, sondern laut V. 14 auch diejenigen Christusvisionen in Offb 1,9–20 und Offb 14,14–20 und die Christologie der Johannesoffenbarung (NTA.NF 51), Münster 2007, 284–289. 38 Zum ganzen Komplex vgl. S. M. McDonough, YHWH at Patmos. Rev. 1:4 in Its Hellenistic and Early Jewish Setting (WUNT II/107), Tübingen 1999; ferner meine Studie: Name (s. Anm. 10) 176–178. 39 Zu den gottheitlichen Zügen Jesu Christi bereits im brieflichen Eingang von Apk (1,4–8) vgl. O. Hofius, Das Zeugnis der Johannesoffenbarung von der Gottheit Jesu Christi, in: ders., Neutestamentliche Studien (WUNT 132), Tübingen 2000, 221–240, hier: 221–225. 40 Der Christus der Berufungsvision trägt ausserdem Züge angelomorpher (Dan 10,1–19), königlicher (1 Makk 10,89; JosAs 5,5) und hohepriesterlicher (Ex 28,4.27. 15–20; 39,29; Sap 18,24; Sir 45,8; 50,11) Herkunft.
2. Eine Tour rund um vier Gipfelmassive neutestamentlicher Christologie
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des „Alten“ aus Dan 7,9.41 Bemerkenswert bleibt freilich die Reservierung der triadischen Zeitenformel für die Gottheit selber: Im Kommen Christi ist es Gott selber, der kommt und der gerade so die Einheit der Zeit repräsentiert. 2. Gott spricht explizit am Anfang und am Ende der Offenbarung. Seine Selbstvorstellung in 1,8 summiert in äusserster Dichte biblische Gottesprädikationen und beschliesst sie mit einem Titel, der das Programm der Apokalypse in nuce enthält: Gott als pantokrator.42 Mit der Gottesrede in 21,5–8 befinden wir uns auf dem Höhepunkt der Offenbarung; Gottes neuschöpferisches Handeln wird als geschehen proklamiert (V. 5 f). Mit der Bezeichnung „der, der auf dem Thron sitzt“, wird Bezug genommen auf die Thronsaalszene in Kap. 4/5.43 Die Szene in Kap. 4 entwirft die himmlische Struktur von innen nach aussen; um den Mittelpunkt, den Thronenden, lässt sich eine Vielzahl konzentrischer Kreise erkennen: der Thron; die vier Wesen; das Gläserne Meer; die sieben Gottesgeister; die 24 Ältesten; die Engelheere der 10’000 mal 10’000; schliesslich die dreistöckige Welt von Himmel, Erde und Unterwelt. Das literarische Arrangement, das in der reichen Tradition der Thronsaalszenen steht, hat die Aufgabe, die unvergleichliche Hoheit Gottes herauszustellen. Dem dienen auch die typisch apokalyptischen Umschreibungsformeln („ähnlich wie“, V. 3). Gottes traditionelle Menschengestalt wird kaum noch angedeutet; unser Text ist zurückhaltender als die Prätexte von Jes 6, Ez 1 und Dan 7. Während Kap. 4 mit seiner unaufhörlichen himmlischen Liturgie die Ewigkeit und Zeitenthobenheit der Gotteswelt markiert, bringt Kap. 5 eschatologische Dynamik in die himmlischen Hallen. Die beiden Szenen sind einander eng zugeordnet;44 man kann geradezu von einem Diptychon sprechen. Am Ende adressiert die Doxologie der Kreaturen aller Schöpfungsbereiche Gott, den „auf dem Thron Sitzenden“, zusammen mit dem Lamm (5,13; vgl. 7,10). Jesus wird damit ganz auf die Seite Gottes gerückt; er teilt mit diesem den Thron (5,6).45 Zugleich wird sein messianisches Handeln 41 Vgl.
dazu Huber, Einer (s. Anm. 37) 152–155. pantokratōr (von 10 neutestamentlichen Belegen zählt die Apk 9!) gibt die Septuaginta die hebräischen Gottesnamen Zebaot und Schaddaj wieder, fügt sie aber vielfach über die hebräische Vorlage hinaus in den Text ein. „This shows that the concept of God’s power was reinforced by the translators of the LXX, and sometimes even introduced […]. This should probably be understood as a Jewish reaction to the idea of a comprehensive global power, introduced by Alexander the Great and adopted by the Hellenistic monarchies and, finally, by the Roman Empire“, R. Feldmeier, Art. Almighty, DDD2 (1999) 20–23, hier: 20 f. 43 Zum „kultischen Motivraum in Off 4–5“ vgl. F. Tóth, Der himmlische Kult. Wirklichkeitskonstruktion und Sinnbildung in der Johannesoffenbarung (ABG 22), Leipzig 2006, 196–318, besonders 314 f („Vom Tempel her, vom Gottesthron, wird […] letztlich die gesamte universale Schöpfungswelt von der Gottes‑ bzw. Christusherrschaft her eingeholt“). 44 Zur gegenseitigen Zuordnung von Kap. 4 (bzw. Theologie) und Kap. 5 (bzw. Christologie) vgl. G. Schimanowski, Die himmlische Liturgie in der Apokalypse des Johannes (WUNT II/154), Tübingen 2002, 275–277. 45 Vgl. dazu M. Hengel, Die Throngemeinschaft des Lammes mit Gott in der Johannes apokalypse, in: ders., Studien zur Christologie. Kleine Schriften, Bd. 4 (WUNT 201), Tübingen 2006, 368–385. 42 Mit
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Christozentrisch oder theozentrisch?
(19,11–16) in der göttlichen Bevollmächtigung und Einsetzung begründet. Die Thronsaalszene bildet den Ausgangspunkt für die drei Siebenerzyklen der Johannesoffenbarung. 2.4 Das Vierte Evangelium Schliesslich stellt das Johannesevangelium den Kronzeugen dar für das Ineinander und Miteinander von christozentrischer und theozentrischer Perspektive.46 Anders als in den bisher beschriebenen Texten wird nun auch die monotheistische Konfiguration, innerhalb derer die Christusgeschichte artikuliert wird, explizit benannt. Die beiden Brennpunkte der johanneischen Christologie bilden einerseits die hoheitliche Position Jesu Christi und andrerseits dessen schlechthinnige Abhängigkeit von Gott, verbildlicht im Modell der Botensendung. Diese Christologie verletzt den jüdischen Monotheismus.47 Religionsgeschichtlich bleibt es erstaunlich, dass erst im Umfeld des Johannesevangeliums der Anspruch der hohen Christologie mit den Glaubensüberzeugungen des synagogalen Judentums kollidiert. Für die frühere Zeit kann man es allenfalls vermuten, es gibt aber kaum Evidenzen.48 1. In drei Schlüsselszenen attackieren die „Juden“ den johanneischen Christus, weil er die Einzigkeit Gottes verletzt, und arbeiten auf seine Tötung hin. Die Sabbatheilung am Teich von Betesda provoziert den Vorwurf, dass Jesus „Gott seinen eigenen Vater nennt und sich selber Gott gleich macht“ (5,16–18). Jesus kontert diesen Angriff mit dem Verweis auf seine gänzliche Dependenz vom Vater. Sein eigenes und Gottes Wirken wird im Verhältnis von Abbild und Urbild beschrieben (V. 19–30), wie es zumal an den göttlichen Prärogativen von Totenauferweckung und Gericht erkennbar wird. V. 23 schliesst die Verehrung Gottes mit derjenigen Christi irreversibel zusammen. In 10,30–39 ist es die Affirmation der Einheit von Vater und Sohn, die für die Juden als eklatanter Erweis der Gotteslästerung gilt, „weil du als ein Mensch dich zu Gott machst“ (V. 33; vgl. 46 Die neueren Lehrbücher widmen der Korrelation von johanneischer Christologie und Theologie jeweils einen eigenen Abschnitt, vgl. etwa F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Die Vielfalt des Neuen Testaments. Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 3 2011, 608–611; U. Wilckens, Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Geschichte der urchristlichen Theologie, Teilband 4, Neukirchen 2005, 234–236 („Hier wird das spezifisch johanneische Anliegen der Radikalität erkennbar, mit der Theologie und Christologie in wechselseitiger Einheit zusammengedacht werden“, 236). 47 Vgl. J. Frey, Die johanneische Theologie als Klimax der neutestamentlichen Theologie, in: ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den Johanneischen Schriften, Bd. 1 (WUNT 307), Tübingen 2013, 813–833: „So sehr Johannes intensiv jüdische messianische Diskurse aufnimmt, geht seine Darstellung doch über das hinaus, was innerjüdisch noch akzeptabel wäre oder gar unanstössig“ (818). 48 Vgl. Theißen, Dynamik (s. Anm. 11) 142 f („Erst im JohEv finden wir deutliche Spuren einer Debatte darüber, ob die Christen nicht mit ihrer Christologie den Monotheismus verletzen. Die Antwort auf diesen Vorwurf ist im Neuen Testament immer subordinatianisch.“).
3. Auf der Suche nach Urgestein
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V. 36). Der johanneische Christus reagiert nicht nur mit dem als argumentum a minore ad maius benützten Schriftwort Ps 82,6, sondern v. a. mit dem Hinweis auf sein Tun der Werke des Vaters. Er rekurriert auf die gegenseitige Immanenz von Vater und Sohn (V. 38). Schliesslich taucht in der Passionsgeschichte der Blasphemievorwurf noch einmal auf, nicht zufällig angesichts der ‚königlichen‘ Präsentation Jesu (19,1–7).49 2. Die reziproken Immanenzaussagen (neben 10,38 vgl. 14,10 f; 17,21.23) führen uns in das Zentrum des johanneischen christologischen Monotheismus, der auf den Vorwurf, Jesus verletze die Einzigkeit Gottes, reagiert. Einerseits ist Jesus, der Mensch aus Nazaret, gänzlich transparent für Gott, der ihn in die Welt gesandt hat und durch ihn wirkt (6,37 f.44.65; 8,28 f). Der Vater ist „grösser“ (14,28); er ist es, der Jesus verherrlicht (8,54); Jesus nennt ihn „meinen Gott“ (20,17). Andrerseits gehört der Sohn so sehr auf die Seite Gottes, dass sich beide geradezu gegenseitig auslegen (1,18); beide sind sie „eines“ (10,30). Jesus präsentiert sich mit der göttlichen Offenbarungsformel „Ich bin“ (8,28; usw.) und ist vor aller Schöpfung (1,1 f; 17,5.24; vgl. 8,58). Jesus Christus hat so auch teil am Prädikat „Gott“ – herausgehoben in Form einer Inklusion, die das gesamte Evangelium überspannt (1,1c.17 f und 20,28; vgl. 1 Joh 5,20). Aus der Perspektive johanneischer Theologie wird durch die so bestimmte, exklusive Relation zwischen Gott und Jesus die Einzigkeit Gottes überhaupt erst zur Geltung gebracht (5,23!). Das Johannesevangelium bietet so eine radikale und genuin christliche Redefinition des überkommenen Glaubens an den einen und einzigen Gott.
3. Auf der Suche nach Urgestein 1. Die Figur der reziproken Immanenz, wie sie das Vierte Evangelium bezeugt, lässt sich als Paradigma für die späteren trinitarischen Reflexionen in Anspruch nehmen: Vater und Sohn definieren sich wechselseitig. Ihnen zur Seite tritt das gern als „Aerolith aus dem johanneischen Himmel“ etikettierte Jesuswort aus der Logienquelle Q (Mt 11,27 par. Lk 10,22), das wahrscheinlich in die Frühgeschichte der johanneischen Christologie zurückweist:50 „Alles wurde mir von meinem 49 Zum Ganzen vgl. Th. Söding, „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Die johanneische Christologie vor dem Anspruch des Hauptgebotes (Dtn 6,4 f), ZNW 93 (2002) 177–199; K. Scholtissek, „Ich und der Vater, wir sind eins“ (Joh 10,30). Zum theologischen Potential und zur hermeneutischen Kompetenz der johanneischen Christologie, in: G. van Belle / J. G. van der Watt (Hg.), Theology and Christology in the Fourth Gospel (BEThL 184), Louvain 2005, 315–345. 50 Vgl. dazu M. Theobald, Das sogenannte „johanneische Logion“ in der synoptischen Überlieferung (Mt 11,25–27; Lk 10,21 f.) und das Vierte Evangelium. Erwägungen zum Ursprung der johanneischen Christologie, in: A. Dettwiler / U. Poplutz (Hg.), Studien zu Matthäus und Johannes / Études sur Matthieu et Jean, FS J. Zumstein (AThANT 97), Zürich 2009, 109–133. Im Anschluss an U. Luz identifiziert Theobald „unter der christologischen Oberfläche […] eine
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Vater übergeben, und niemand erkennt den Sohn ausser der Vater, und niemand erkennt den Vater ausser der Sohn und der, dem der Sohn es offenbaren will.“ So wechselseitig und exklusiv sich die Reziprozität von Vater und Sohn ausnimmt, ist sie doch von einem klaren Gefälle markiert: Die Linie führt vom Vater zum Sohn, von diesem zu den Gläubigen. 2. Tastet man sich bei der Frage nach dem Verhältnis von Theozentrik und Christozentrik noch ein Stück weiter zurück, stösst man auf urchristliches Formelgut.51 Unter den Pistisformeln sind erstens die Auferweckungs‑ bzw. Auferstehungsformeln zu nennen. Als ihr Subjekt fungiert einerseits Gott, dessen Handeln finit, partizipial oder relativisch beschrieben wird (z. B. Röm 10,9 bzw. 4,24 bzw. 1 Thess 1,10). Sie variieren jüdische Bekenntnisse, die vom heilvollen Handeln Gottes beim Exodus sprechen, aber auch von seinem die Toten auferweckenden Handeln.52 Laut den Formeln definiert sich Gott selber durch sein exklusives Wirken am toten Jesus. Belegt ist andrerseits aber auch die Auferstehungsaussage, als deren Subjekt Jesus (bzw. Christus, der Kyrios und der Sohn) figurieren (z. B. Lk 24,34; Röm 4,25; 6,9; 1 Thess 4,14; Mk 8,31). Ich lasse hier die Frage offen, ob sich die Formeln des Auferweckens (als Gotteshandeln) und des Auferstehens (dessen Subjekt Jesus Christus bildet) in ein entwicklungsgeschichtliches Nacheinander stellen lassen. Immerhin ist es unverkennbar, dass die Eigenständigkeit Christi im Lauf der Zeit mehr Gewicht erhält (z. B. Joh 10,17 f). Übrigens begegnen wir auch bei den Dahingabeformeln sowohl Gott wie Christus selber als Subjekt (Röm 8,32 bzw. Gal 2,20). 3. Wir werfen an dieser Stelle einen Blick auf die synoptischen Evangelien. Vordergründig betrachtet dokumentieren sie nicht die „steile“ Christologie, die uns in der Briefliteratur begegnet, also Elemente wie himmlische Präexistenz,53 Schöpfungsmittlerschaft und Gottesprädikationen. Der Rahmen eines Jesus-Lebens arrangiert sich nicht leicht mit einer Story, die im Himmel beginnt und dort wieder endet – sogar im Vierten Evangelium bleibt der Prolog eigenartig isoliert. Die Engführung über christologische Hoheitstitel wird aber dem Design narrativer Christologie nicht gerecht. Die Evangelien sind grundlegend von der singulären Hoheit Jesu Christi bestimmt – dessen, dem „alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden“ (Mt 28,18) und der bereits zu Lebzeiten allein die Macht hat, Sünden zu vergeben (Mk 2,10 parr.).54 Zugleich ist Jesu Wirken und Ergehen weisheitliche Matrix“ (120). – Das geflügelte Wort vom „Aerolithen“ geht auf K. Hase (1876) zurück; vgl. Theobald, aaO. 110. 51 Vgl. P.-G. Klumbies, Die Rede von Gott bei Paulus in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext (FRLANT 155), Göttingen 1992, 111–126. 52 Exodus: Ex 20,2; Num 15,41; endzeitliches Auferwecken aller Toten: Achtzehnbittengebet Ben. 2 (Bill. 4.1, 211); Röm 4,17; 2 Kor 1,9. 53 Der Nachweis derselben etwa durch L. Schenke, Gibt es im Markusevangelium eine Präexistenzchristologie?, ZNW 91 (2000) 45–71, ist mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. 54 Vgl. die Differenzierung zwischen impliziter und expliziter Christologie bei H. Baarlink, Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? Implizite und explizite Christologie
4. Ein fehlendes Drittes: der Geist
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jeweils transparent für das Wirken Gottes, etwa im Kommen des Gottesreichs (Mk 1,15 par.), in Heilungen und Exorzismen (vgl. Mt 12,28 par.) und schliesslich auch und besonders in Passion und Ostern. So beziehen sich die Leidensankündigungen auf ein göttliches „muss“ zurück (Mk 8,31). Obschon die Synoptiker Jesu Wirken demnach deutlich als Gotteshandeln entfalten, wollen die Kategorien von Theozentrik und Christozentrik in diesem Bereich nicht so recht greifen.55 Auch für die Monotheismusdebatte tragen sie wenig aus. Immerhin beziehen sich das Gespräch Jesu über das Doppelgebot der Liebe (Mk 12,28–34, mit Zitat von Dtn 6,4 f) und die Perikope vom reichen Mann (Mk 10,17–22 parr.) auf das Bekenntnis zum einen Gott zurück, während sich die Polemik um die Heilung des Gelähmten (Mk 2,7 par.) und Jesu „blasphemische“ Ankündigung vor dem Synhedrium, als Menschensohn zur Rechten der Macht mit den Wolken des Himmels wieder zu kommen (Mk 14,61–64 parr.), im Spannungsfeld zwischen Jesusüberlieferungen und jüdischen Überzeugungen bewegt. 4. Mit den zuletzt genannten Jesusworten befinden wir uns dicht an jenem Graben, der die österliche Zeit von der vorösterlichen Zeit trennt. Vieles deutet darauf hin, dass bereits die ersten Urchristen dem auferweckten und erhöhten Jesus eine Hoheitsposition zugemessen haben, die ihn in die unmittelbare Nähe Gottes rückt. Dies gilt im Besondern von jenen Jüngerinnen und Jüngern, die als Osterzeugen in Erscheinung getreten sind. Diese haben mutmasslich in ihren österlichen Visionen Jesus Christus geschaut als von Gott Auferweckten und zu ihm Erhöhten. Gott selber hätte ihn also an seine Seite gerückt und ihm Anteil gegeben an seiner Majestät als Schöpfer, Weltenkönig und Vollender. Wir lassen an dieser Stelle die Frage offen, ob sich von dieser urchristlichen Basisüberzeugung her eine Brücke über den ‚Ostergraben‘ hinweg auftut, die uns zum Vollmachtsanspruch und Selbstbewusstsein des historischen Jesus selber führt.56 Wir wenden uns vielmehr einer späteren Zeit zu, die sich genötigt sieht, nicht nur von zweien, sondern vielmehr von dreien zu reden, um die Beziehungsfülle des lebendigen Gottes angemessen zur Sprache zu bringen.
4. Ein fehlendes Drittes: der Geist Bisher haben wir uns ausschliesslich mit dem Relationsgefüge zwischen Gott und Jesus, zwischen Vater und Sohn, beschäftigt. Der Trinitätsglaube hat es aber auch im Markusevangelium. in: ders., Verkündigtes Heil. Studien zu den synoptischen Evangelien (WUNT 168), Tübingen 2004, 48–97. 55 Einen entsprechenden Vorstoss unternimmt J. Dechow, Gottessohn und Herrschaft Gottes. Der Theozentrismus des Markusevangeliums (WMANT 86), Neukirchen 2000. 56 Vgl. dazu M. Konradt, Stellt der Vollmachtsanspruch des historischen Jesus eine Gestalt „vorösterlicher Christologie“ dar? ZThK 107 (2010) 139–166.
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mit einem Dritten im Bunde, mit dem Geist, zu tun. Nun dokumentiert das Neue Testament zwar triadische Formeln bzw. Formulierungen57 und stellt gelegentlich Gott, Christus und Geist in bemerkenswerter Weise zusammen.58 Von den triadischen Formulierungen führt freilich kein direkter Weg zur Trinitätslehre des 4. Jahrhunderts. Ähnlich steht es auch mit den vielfältigen Gestalten der urchristlichen Pneumatologie. Um den zwar nicht garstigen, aber doch spürbar klaffenden Graben zwischen dem Neuen Testament und dem späteren Trinitätsglauben zu überbrücken, eröffne ich im Folgenden zwei Ausblicke, einen theologiegeschichtlichen und einen hermeneutischen.59 1. Hält man sich die prominenteren Gestalten der christologischen bzw. trinitarischen Theologien zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert vor Augen, so sind die Unterschiede zu den urchristlich-neutestamentlichen Bildungen mit Händen zu greifen. Zugleich kann man aber vielfach zeigen, wie bisher noch offene, dynamische christologische Vorstellungen vereindeutigt werden.60 Auf der einen Seite zeigt die Logos-Christologie,61 die sich im Lauf des 2./3. Jahrhunderts zur dominierenden Christologie entwickelt, dass die vielfach offenen Relationsbestimmungen der neutestamentlichen Texte in klarere Differenzierungen und hierarchisch arrangierte Verhältnisse überführt werden, gefördert durch die platonische Geistmetaphysik. Sie konvergiert mit den zeitgenössischen philosophischen Überzeugungen: Das Göttliche differenziert sich in eine komplexe Vielheit aus, die auf jeder Ebene spezifische Verhältnisse von Transzendenz und Manifestation konstituiert. Das Grundschema ist dasjenige der Subordination. Auch die gnostischen Entwürfe bewegen sich auf dieser Linie; die Figuren der triadischen Selbstentfaltung des Göttlichen reflektieren zu guten Teilen analoge Entwicklungen im Mittleren Platonismus. Auf der anderen Seite scheinen die Formen des modalistischen Monarchianismus,62 die auf die Einheit und Einzigkeit Gottes fokussieren, die theozentrische 57 Besonders 1 Kor 12,4–6; 13,13; Mt 28,19; Apk 1,4 f (wo es sich aber eher um eine Enneade handelt!). 58 Besonders Eph 4,4–6, wo noch andere Grössen hinzukommen. Gewisse prototrinitarische Strukturen gibt Eph auch sonst zu erkennen, vgl. 2,14–18; 1,3–14; dazu M. Theobald, Mit den Augen des Herzens sehen. Der Epheserbrief als Leitfaden für Spiritualität und Kirche, Würzburg 2000, 86; 90. 59 Zur biblisch-theologischen und hermeneutischen Fragestellung nach trinitarischen Figuren im Neuen Testament vgl. Hahn, Theologie (s. Anm. 46) Bd. 2, 289–308 („Die implizit trinitarische Struktur des neutestamentlichen Zeugnisses“); Th. Söding, Ein Gott – Ein Herr – Ein Geist. Die neutestamentliche Basis der Trinitätstheologie und ihre liturgische Bedeutung, in: B. Groen / B. Kranemann (Hg.), Liturgie und Trinität (QD 229), Freiburg 2008, 12–57. 60 Einen Eindruck von der christologischen Variationsbreite des 2./3. Jh. bietet die Skizze von A. Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 1, Freiburg 31990, 133–220. 61 Vgl. L. Abramowski, Der Logos in der altkirchlichen Theologie, in: C. Colpe / L. Honnefelder / M. Lutz-Bachmann (Hg.), Spätantike und Christentum, Berlin 1992, 189–201. 62 Vgl. M. Hübner, Εἷς θεὸς Ἰησοῦς Χριστός. Zum christlichen Gottesglauben im zweiten Jahrhundert – ein Versuch, in: ders., Der paradox Eine. Antignostischer Monarchianismus im zweiten Jahrhundert (VigChr.S 50), Leiden 1999, 207–240; ders., Der antivalentinianische
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bzw. monotheistische Linie des ersten Jahrhunderts fortzuführen, allerdings ohne erkennbaren Anschluss an jüdische Überzeugungen. Im Horizont modalistisch-monarchianischer Figuren kommt es auch zu – sehr populären – Sonderbildungen, die nur indirekt an neutestamentlichen Texte anschliessen, etwa das polymorphe Erscheinen Christi in den Petrusakten63 oder das eigentümliche Ineinanderblenden von Vater und Sohn (mitsamt den Gläubigen!) in den Oden Salomos.64 Im Gravitationsfeld der monotheistischen Basisüberzeugung nehmen engelchristologische Konzeptionen, deren Status allerdings nicht eben klar ersichtlich ist, Muster älterer urchristlicher angelomorpher Christologumena auf.65 Wieder kommt es dabei zu Vereindeutigungen von vorher noch offeneren, „schwebenden“ Vorstellungen. Ähnliches gilt für die auch nur schwer zu greifenden adoptianischen Modelle des 2./3. Jahrhunderts.66 Man kann also keineswegs von einer auch nur einigermassen geradlinigen Entwicklung sprechen, die von den hohen Christologien urchristlicher Zeit in das 4. Jahrhundert führt. Wenn es umgekehrt richtig sein sollte, dass die Trinitätslehre neunizänischer Gestalt in manchen Aspekten Impulse des ersten Jahrhunderts produktiv aufnimmt, so hat dafür wahrscheinlich die Schriftexegese, nun nicht nur des Alten, sondern auch des Neuen Testaments, eine entscheidende Rolle gespielt. 2. Zum Schluss lassen wir uns auf zwei systematisch orientierte Denkfiguren ein, die die Pneumatologie einbeziehen.67 Zum einen könnte man versuchen, die elementare innere Dynamik zwischen Gott und Christus, Vater und Sohn, wie sie in den neutestamentlichen Texten erkennbar ist, selber als Geistgeschehen zu identifizieren. Für eine derartige pneumatologische Definition von Relationalität ist Augustins Bestimmung des Geistes als vinculum caritatis eine prominente Zeugin. Ihre neutestamentliche Basis ist freilich schmal; die vermittelnde Position des Geistes legt sich immerhin nahe angesichts der bei Paulus zu Charakter der Theologie des Noet von Smyrna, ebd. 95–129. Wichtig bleibt der klassische Lexikonartikel von A. von Harnack, Art. Monarchianismus, RE 13 (1903) 303–336, besonders 311–324. 63 ActPetr 20 f (deutsch in: NTApo 62, 257 ff); vgl. dazu H.-J. Klauck, Christus in vielen Gestalten. Die Polymorphie des Erlösers in apokryphen Texten, in: ders., Die apokryphe Bibel. Ein anderer Zugang zum frühen Christentum, Tübingen 2008, 303–374. 64 Vgl. besonders OdSal 7 (hg. M. Lattke, Oden Salomos [NTOA 41], Bd. 1, Freiburg 1999, 96–99; dazu die Notiz von W. Bauer, NTApo 42, 584: „Vater und Sohn fliessen im ‚Herrn‘ ineinander“). Die v. a. syrisch überlieferten OdSal datieren aus dem 2. Jh. 65 Vgl. dazu die Hinweise in meiner Skizze: Monotheismus (s. Anm. 10) 20 f; Grillmeier, Jesus (s. Anm. 60) 150–157. 66 Zum neutestamentlichen Befund vgl. H. Löhr, Art. Adoption. IV: NT, EBR 1 (2009) 395– 400; zur Dogmengeschichte R. Heintz, Art. Adoptionism, ebd. 402 f. – Zu berücksichtigen sind hier auch die ‚Trennungschristologien‘, die zwischen dem göttlichen Christus und dem angenommenen Menschen Jesus scharf unterscheiden; vgl. dazu die Hinweise bei Ch. Markschies, Kerinth. Wer war er und was lehrte er?, JAC 41 (1998) 48–76, hier: 71 f. 67 Zur neutestamentlichen Grundlegung vgl. J. Frey, Vom Windbrausen zum Geist Christi und zur trinitarischen Person, in: ders., Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie. Kleine Schriften, Bd. 2 (WUNT 368), Tübingen 2016, 645–676.
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beobachtenden Zuschreibung des Geistes sowohl an Gott wie an Christus (vgl. besonders Röm 8,9).68 Zum anderen ist zu bedenken, dass mit der Referenz auf den Geist die Ermöglichungsbasis theologischer Aussagen über die Gottheit selber artikuliert wird. Hierfür stellt das bereits oben gewürdigte Wort in Mt 11,27c eine einladende Basis bereit: Dass sich Gott als Vater des Sohns und Jesus als Sohn des Vaters zu erkennen geben, ist selber schon ein Offenbarungsgeschehen, das sich – nun über das Q-Logion hinausgehend – konstruktiv mit den urchristlichen Überzeugungen vom Wirken des heiligen Geistes verbinden lässt. Eine zentrale Position kommt hier der johanneischen Pneumatologie zu, insbesondere den Abschiedsreden (Joh 13,31–16,33). Der Geist-Paraklet ermöglicht die pneumatische Interpretation der Jesusüberlieferung (vgl. 14,26; 16,13–15), wie sie das Vierte Evangelium entfaltet.69 Die Offenbarungsreden des johanneischen Christus verdanken sich aus der Sicht des johanneischen Kreises dem Wirken des nachösterlichen Geistes, der selber sowohl die Entzogenheit als auch die Gegenwart Jesu bleibend vereint. Der Geist schreibt sich so selber ein in die einzigartige Relationalität zwischen Vater und Sohn, die die johanneische Christologie auszeichnet und die Jesus zum exklusiven ‚Exegeten‘ Gottes macht (1,18). Zugespitzt formuliert: Mit den Zweien ist immer schon ein Drittes im Bunde.70 Das Dritte aber gibt sich als Platzhalter für die Anderen zu erkennen, für die Glaubenden, „damit auch ihr dort seid, wo ich bin“ (Joh 14,3; vgl. 17,24; 1 Joh 3,2). So bekommt das Viele Raum im Herzen des lebendigen Einen.
68 Vgl. dazu M. Wolter, Der heilige Geist bei Paulus, JBTh 24 (2009/2011) 93–120, hier: 108–111. 69 J. Zumstein, Die Deutung der Ostererfahrung in den Abschiedsreden des Johannesevangeliums, ZThK 104 (2007) 117–141. 70 Auch aus diesem Grund spricht man besser nicht von Ditheismus, Duotheismus oder Binitarismus – Phänomene, die m.W. in der Religionsgeschichte kaum begegnen. Ausserdem lernen wir aus der eingangs notierten „arithmetischen Theologie“, dass in der Zweizahl immer auch die latente Gefahr lauert, einen Dualismus zu erzeugen: Aus dem Nebeneinander wird ein Gegeneinander.
„Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20) Überlegungen zum Stellenwert der kosmischen Christologie für das Gespräch zwischen Schöpfungstheologie und moderner Kosmologie Abstract “The Firstborn before All Creation” (Col 1:15–20). Reflections on the Significance of Cosmic Christology in the Dialogue between Creation Theology and Modern Cosmology The so-called hymn in the Epistle to the Colossians (Col 1:15–20) shows an interesting correlation between its two parts (‘strophes’): What is the relationship between creation and history? How is the tension between cosmic harmony and quarrel (which requires reconciliation) to be understood? The essay argues for interpreting reconciliation and resurrection as keys to Christ’s mission as Mediator of Creation. The cosmic Christology of Colossians challenges theology to determine the relationship between creation and new creation in dialogue with scientific cosmology.
Wer sich auf den Dialog zwischen Schöpfungstheologie und Kosmologie einlässt, betritt ein Spiegelkabinett, in dem sich der Betrachter vielen (Selbst‑)Täuschungen ausgesetzt sieht. „Schlimm […] erging es dem Greifswalder Professor Otto Zöckler (1833–1906). Zöckler war ein frommer und sehr orthodoxer Theologe, hatte aber eine unglückliche Liebe zur Naturwissenschaft. Unter anderem verfasste er den ‚Entwurf einer Naturtheologie vom offenbarungsgläubigen Standpunkt aus‘. Bei einem Rektoratsdinner in Greifswald kam er neben seinen liberalen Fakultätskollegen Johann Wilhelm Hanne (1813–1889) zu sitzen, der die Gelegenheit ausnutzte. ‚Wo liegt eigentlich der Himmel?‘ fragte er Zöckler mit argloser Miene. ‚Weit, sehr weit – noch hinter dem Sirius‘, war dessen Antwort. ‚So. Und wie rasch ist Christus gen Himmel gefahren?‘ Zöckler witterte jetzt Gefahr und meinte vorsichtig, so schnell wie eine Kanonenkugel könne der Herr wohl geflogen sein. ‚Dann fliegt er noch‘, erklärte Hanne sachlich.“1
Die nachstehende Textarbeit am Christuslob im Kolosserbrief versucht, einen antiken religiösen Text in Wechselwirkung mit neuzeitlichen kosmologischen Fragestellungen und Erkenntnissen zu bringen. Eine Brücke zwischen alter und neuer Kosmologie zu schlagen ist ein riskantes Verfahren, zumal der Versuch mit dem Verzicht auf den ‚langen Marsch‘ durch die Wüsten der Wissenschaftstheorie und der analytischen Philosophie einhergeht. Die Gefahr von Kurzschlüssen ist, H. von Campenhausen, Theologenspiess und ‑spass (KVR 1536), Göttingen 71988, 44 f.
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„Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20)
wie die Greifswalder Geschichte demonstriert, geradezu erschreckend gross. Es ist allein der kühne Anspruch urchristlicher Texte, in Christus den Schöpfungsmittler wahrzunehmen, der zum Entwickeln von Überlegungen im Widerspiel von einfallsreicher Mutation und unnachgiebiger Selektion provoziert.
1. Ein Preislied auf Jesus Christus Das Christuslob in Kol 1,15–20 stellt ein bemerkenswertes Zeugnis kosmischer Christologie dar. Der Text lässt sich angemessen in zwei Strophen gliedern: V. 15a–18a haben die in Christus begründete Schöpfung zu ihrem Thema, V. 18b–20c die von ihm in Gang gebrachte Neuschöpfung und Versöhnung der Welt. Zwischen beiden Strophen sind zahlreiche Entsprechungen struktureller und terminologischer Art zu konstatieren. Andrerseits stehen die beiden Strophen in einem asymmetrischen Verhältnis, vor allem ist die zweite augenscheinlich kürzer als die erste. I 15 a Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, b der Erstgeborene vor aller Schöpfung, 16 a denn in ihm wurde alles erschaffen b in den Himmeln wie auf Erden, c Sichtbares und Unsichtbares, d Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; e alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. 17 a Und er ist vor allem b und alles hat in ihm Bestand. 18 a Er ist das Haupt des Leibes, der Kirche. II 12 b Er ist der Ursprung, c der Erstgeborene von den Toten, d damit er in allem der Erste sei. 19 Denn es gefiel der ganzen Fülle in ihm zu wohnen, 20 a und durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen, b Frieden schaffend durch das Blut seines Kreuzes, c auf Erden wie in den Himmeln.
In der neutestamentlichen Wissenschaft hat sich seit längerem die Überzeugung eingebürgert, dass der Verfasser des Kolosserbriefs in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts n. Chr. ein Traditionsstück verwendet, das er seiner eigenen Argumentation zugrunde legt. Allerdings häufen sich seit einiger Zeit die Zweifel an überlieferungsgeschichtlichen Hypothesen dieses Typs. Zum einen stellen sich erhebliche methodische Probleme, innerhalb eines recht kurzen Briefs mit hinlänglicher Sicherheit ältere Stücke von den Verfassertexten unterscheiden zu können. Zum anderen wird die Bestimmung des Textes als „Hymnus“, die meist mit der Annahme eines kultischen Sitzes im urchristlichen Gottesdienst, nämlich dem „Singen von Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern“ (Kol 3,16;
1. Ein Preislied auf Jesus Christus
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Eph 5,19) einhergeht, bestritten. In den nachstehenden Zeilen begnüge ich mich mit der Annahme, dass es sich um einen Text in feierlicher, gehobener Sprache handelt, dessen Gattung als „Christuslob“ bestimmt und deshalb ein Stück weit kontextunabhängig ausgelegt werden kann.2 Mit Vorbehalt lässt sich durchaus von einem Hymnus sprechen.3 Die Gliederung in Strophen und Zeilen, die für griechische Prosatexte in gehobenem Stil gebräuchlich ist, verdankt sich neuzeitlicher Rekonstruktion und sollte im Interpretationsvorgang immer wieder zur Disposition gestellt werden.4
2 Es gibt auch keine zwingenden Gründe, innerhalb des Textbestands V. 15–20 mit Interpolationen durch den Verfasser von Kol zu rechnen. Die Argumente bzgl. des Kreuzesbluts V. 20b oder bzgl. der Engelklassen V. 16(c/)d sind wenig überzeugend. Im Folgenden versuche ich, anders als die meisten Ausleger, auch die Explikation des „Leibes“ durch „die Kirche“ in V. 18a nicht als umdeutenden Zusatz zu verstehen. 3 Versteht man „Hymnus“ nicht im spezifischen Sinn als metrisch gebundene Textsorte, sondern überhaupt als Lob eines göttlichen Wesens, verbunden mit verdichteter theologischer Reflexion und überschwänglichem Stil, dann fällt unser Text klar in diese Kategorie. Vergleichbar sind sowohl Psalmen in alttestamentlich-jüdischer Tradition wie hellenistische Prosahymnen. Der heute beliebte Rekurs auf die Klassifikationen der antiken Rhetorik, genauer auf epideiktische Gattungen wie das Enkomion oder den Epainos, führt deshalb nicht weiter, weil im griechisch-hellenistischen Verständnis ein Lob auf ein göttliches Wesen eben einen „Hymnus“ darstellt! So arbeitet im 3. Jh. n. Chr. Menander Rhetor, laud. 1 (p. 331,19 f Sp.) mit der Unterscheidung, ob sich der Epainos auf Sterbliches (Städte oder Lebewesen) oder auf Göttliches bezieht, im zweiten Fall „nennen wir dies Hymnen“, wiederum je nach Göttern unterteilt (ἔπαινος δέ τις γίνεται, ὁτὲ μὲν εἰς θεούς, ὕμνους καλοῦμεν, καὶ τούτους αὖ διαιροῦμεν κατὰ θεὸν ἕκαστον [hg. Russell / Wilson]). Zum alttestamentlichen Hintergrund vgl. besonders H. Spieckermann, Alttestamentliche „Hymnen“, in: W. Burkert / F. Stolz (Hg.), Hymnen der Alten Welt im Kulturvergleich (OBO 131), Fribourg 1994, 97–108). Von der Frage der Textsorte strikt zu trennen ist diejenige der Verwendung im christlichen Gottesdienst, also nach einem kultischen Sitz im Leben. Hier kommt man kaum zu sicheren Urteilen. Die Belege für die frühchristliche Hymnendichtung sind schmal; ins 2. Jh. führt Meliton, frg. 17 zurück (p. 85 Hall). Am bekanntesten ist Plinius’ Aussage, die Christen hätten die Gewohnheit, sich an einem bestimmten Tag vor Sonnenaufgang zu versammeln und „Christus wie einem Gott einen Wechselgesang zu singen“ (convenire carmenque Christo quasi Deo dicere, Plin., ep. 10,96:7). Zur Diskussion vgl. M. Hengel, Das Christuslied im frühesten Gottesdienst, in: W. Baier u. a. (Hg.): Weisheit Gottes – Weisheit der Welt, FS J. Ratzinger, St. Ottilien 1987, Bd. 1, 357–403 und meine Rezension zu R. Brucker, ‚Christushymnen‘ oder ‚epideiktische Passagen‘? (FRLANT 176), Göttingen 1997, in: BZ 42 (1998) 278–282. Vgl. zum Thema meinen Aufsatz (hier mit stärkerer Zurückhaltung bzgl. der Gliederung in Strophen und Zeilen): Hymnus, Enkomion oder Psalm?, Abdruck in diesem Band: 275–297. 4 Von der ursprünglichen Gestalt des Christuslobs wissen wir leider nichts Bestimmtes. Hat der von seinen rhetorischen Interessen geleitete Verfasser des Kolosserbriefs bestimmte Elemente des Hymnus weggelassen (was die Kürze von Strophe II erklären könnte) oder hat er bestimmte Zufügungen vorgenommen (so nehmen viele Forscher am Schluss von V. 18a und auch in V. 20b Zufügungen wahr, dazu oben Anm. 2)? Die vielen Unsicherheiten, die sich hier einstellen, führen mich dahin, den uns überlieferten Text auszulegen und nicht mit dem beliebten Schema, das die Interpretation durch eine scharfe Scheidung von Tradition und Redaktion (durch den Verfasser des Kol) steuert, zu arbeiten (wie es z. B. H. J. Gabathuler, Jesus Christus. Haupt der Kirche – Haupt der Welt [AThANT 45], Zürich 1965, tut).
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„Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20)
Die erste Strophe stellt die Würde Christi durch den Rekurs auf die Schöpfung heraus, und zwar mittels kosmologischer Prädikationen.5 Es reihen sich Aussagen, die den Christus in den Rang göttlicher Würde erheben: Ebenbild Gottes, Erstgeborener aller Schöpfung,6 Grundlage der Schöpfung und aller Engelwesen, Welterhalter, Weltenherrscher („Haupt“), schliesslich die Plerophorie der „Alles“-Termini (πάντα usw.) und vor allem die ausgefeilte Verwendung der Präpositionen.7 Die Sprache, in der sich unser Christuslob ausdrückt, verdankt sich griechischsprachigen Diasporajuden, die in beträchtlichem Ausmass ihre angestammte Religion im Horizont griechisch-hellenistischer Philosophie und Kultur zum Ausdruck bringen.8 In diesem Zusammenhang kommt der Gestalt der Weisheit, der sophia, die in frühjüdischer Zeit fast in den Rang einer göttlichen Hypostase einrückt,9 grösste Bedeutung zu. Texte wie unsere Hymnenstrophe verdanken sich sozusagen der Heirat der von Haus aus orientalischen Weisheit mit dem griechischen Logos, und sie erlauben es, den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs mit dem Gott der Philosophen zu identifizieren. Im Christentum wird die zwischen dem transzendenten Gott und der Welt vermittelnde 5 Das Subjekt muss, wie bei anderen hymnusartigen Texten, die uns nur in sekundären literarischen Kontexten erhalten sind, erschlossen werden, entspricht aber dem Kontext in Kol 1,13 f („der Sohn seiner Liebe“). 6 πρωτότοκος πάσης κτίσεως sollte übersetzt werden als „Erstgeborener vor der ganzen Schöpfung“, analog zum folgenden πρὸ πάντων und im Blick auf die Traditionsgeschichte der Weisheit als Schöpfungsmittlerin – hierin im Unterschied zum πρωτότοκος ἐκ τῶν νεκρῶν (V. 18c), der das erste – allerdings fundierende – Glied einer Reihe bezeichnet (vgl. V. 18d πρωτεύων sowie als traditionsgeschichtlichen Hintergrund 1 Kor 15,20.23; Apk 1,5). Vgl. dazu W. Michaelis, Art. πρωτότοκος κτλ., ThWNT 6, 872–882, hier: 879 f und besonders O. Hofius, „Erstgeborener vor aller Schöpfung“ – „Erstgeborener aus den Toten“, in: ders., Paulusstudien, Bd. 2 (WUNT 143), Tübingen 2002, 215–233, hier: 224. 7 Hinter dem reflektierten Einsatz der Präpositionen (ἐν αὐτῷ, δι᾽ αὐτοῦ, εἰς αὐτὸν, πρὸ πάντων, τὰ πάντα ἐν αὐτῷ), der auch andere Schöpfungsmittlertexte auszeichnet (im NT besonders 1 Kor 8,6; Hebr 2,10; Joh 1,1–4; vgl. aber auch die streng theo-logische Doxologie Röm 11,36), steht eine reiche philosophische „Metaphysik der Präpositionen“; vgl. dazu H. Dörrie, Präpositionen und Metaphysik, in: ders., Platonica minora (STA 8), München 1976, 124–136 und meinen Aufsatz: Christus als Weisheit, in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 29–51, hier: 45 f. 8 Gegenüber dieser weithin akzeptierten Ortung in einem griechischsprachigen Judentum, das manche Affinitäten zum alexandrinischen Judentum aufweist (vgl. Aristobul; Sap; Philon), rekurrieren P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 2, Göttingen 2 2012, 5–11 und Ch. Stettler, Der Kolosserhymnus (WUNT II/131), Tübingen 2000 nahezu exklusiv auf alttestamentliche und palästinisch-jüdische Traditionen. Die reflektierte Verwendung der Präpositionen weist aber eindeutig in ein Milieu mit starken Kulturkontakten zur hellenistischen Umwelt (Stettlers Referenz [aaO. 153–159] auf rabbinisch-exegetische Spekulationen rund um Gen 1,1 bietet nicht eine näher liegende traditionsgeschichtliche Alternative auf, sondern belegt die Rezeption von Schöpfungsmittlerkonzeptionen auch in frührabbinischem Milieu, also ein Analogiephänomen). Überaus problematisch ist die Strophenaufteilung in der Hypothese Stuhlmacher / Stettler, wonach Strophe II bereits mit V. 18a beginnt, weil damit die programmatische Korrespondenz zwischen dem „Erstgeborenem vor aller Schöpfung“ und dem „Erstgeborenem aus den Toten“ unterbewertet wird. 9 Prov 8,22–31; Sir 24,1–22; Sap 7,22–8,1; vgl. Philon, all. 1,43; fug. 108–112; migr. 5 f; ebr. 30 f.
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Grösse sogar eigens kultisch verehrt und mit Hymnen verherrlicht – ein Vorgang, der im stärker monotheistisch orientierten Judentum nicht im selben Ausmass möglich gewesen ist. In der zweiten Strophe wird Christus als Urheber der neuen Schöpfung gepriesen, die mit seiner Auferstehung von den Toten anbricht. Die Stationen des Weges Christi werden, wenn überhaupt, nur gerade angedeutet, aber nicht in linearer Sequenz. Zentral sind dabei Jesu Auferstehung und Erhöhung (V. 18c/d). Anders als viele Ausleger halte ich es für wahrscheinlich, dass schon das tradierte Christuslob vom Kreuzestod (V. 20b) gesprochen hat.10 Schliesslich ist zu bedenken, ob V. 19a/(b), wonach die „gesamte Fülle“, d. h. wohl Gott, in Christus zu wohnen geruht, auf die Inkarnation zu beziehen ist:11 Die Menschwerdung als „Einwohnung“ auf Erden leitet dann ähnlich wie in Phil 2,6–8 sogleich zum Kreuzesgeschehen über. Strophe II bezieht sich jedenfalls auf die geschichtlichen Ereignisse um Jesus von Nazaret und nimmt darin ein kosmosweites Versöhnungsgeschehen wahr. Wie in der politischen Welt zerstrittene Parteien versöhnt werden, stiftet hier Christi Tod und Auferstehung auf Erden wie im Himmel Versöhnung. Theologiegeschichtlich lässt sich rekonstruieren, wie die Explikation der Christusgeschichte mit einer Integration der umfassendsten Perspektiven jüdisch-hellenistischer Weltdeutung einhergeht. Sachlich kommt damit in der Christusgeschichte dasjenige zum Austrag, was „die Welt im Innersten zusammenhält“. G. von Rad hat im Blick auf die sapientiale Literatur Israels von der Weisheit als dem „Ordnungsgeheimnis“ der Welt gesprochen.12 Die Gestalt der Weisheit wird dabei durch die Christusgeschichte in einer spezifischen Weise interpretiert.13 Die personifizierte oder gar hypostasierte Weisheit ist als solche so offen und unbestimmt, dass sie erst durch andere Grössen definierbar wird: durch die Verbindung mit dem Gott Israels und das heisst, mit der Dimension der Geschichte; durch die Verbindung mit dem Gesetz, der Tora; im griechischsprachigen Judentum durch die Verbindung mit dem Logos; später durch die Verbindung mit der gnostischen Erkenntnis. Im Christentum kommt die Vereindeutigung der Weisheit durch die Gestalt und Geschichte Jesu zustande. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Jesusgeschichte nicht in ihrer durch die Evangelien bezeugten weiten Bandbreite zum Ausdruck kommt, sondern lediglich in äusserster Konzentration auf die Ereignisse von Kreuz, Auferstehung und Erhöhung. 10 „Frieden schaffend“ ist dann am einfachsten transitiv, also auf V. 20c bezogen, zu deuten („befriedend“); ebenso Stettler, Kolosserhymnus (s. Anm. 8) 269 f. Belege für transitives „Befrieden“ z. B. CorpHerm frg. 24,6; vgl. in der Deutung von Kol 1 Euseb, comm. 1,54* in Is. (GCS Eus. IX, 67:7 f); comm. in Ps. (PG 23, 1024); frg. Luc. (PG 24, 536). – Das erneute δι᾽ αὐτοῦ in V. 20c geht wohl auf einen Abschreiberfehler zurück. 11 Ebenso Stettler, Kolosserhymnus (s. Anm. 8) 263 f mit Verweis auf Kol 2,9 (als „den ältesten und sachgemässen Kommentar zu 1,19“) und Lk 1,35; vgl. auch Joh 1,14a. 12 G. von Rad, Weisheit in Israel, Neukirchen 31985, 193 f u.ö. 13 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Christus als Weisheit (s. Anm. 7) 41–43.
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„Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20)
Diese exklusiv wirkende Orientierung am Ostergeschehen in der paulinischen Literatur ist dabei nicht als Ausblendung der Geschichte des irdischen Jesus von Nazaret anzusprechen, sondern als deren Verdichtung.
2. Kosmologische Relevanz eines Hymnus? Es ist unbestreitbar, dass unser Hymnus die kosmische Bedeutung Christi in einem Ausmass herausstreicht, das über alles, was im Neuen Testament sonst zu konstatieren ist, hinausgeht (vgl. sonst 1 Kor 8,6; Hebr 1,2 f; Joh 1,1–14; ferner Apk 3,14; dazu Kol 3,11; Eph 1,23). Die Frage erhebt sich, inwieweit der kosmischen Prädikation Christi auch kosmologische Implikationen innewohnen. Im Kolosserbrief selbst werden die hymnischen Aussagen vor allem gegen eine Beeindruckung der Gemeinde durch die Gravitationskräfte angelisch-kosmischer Wesenheiten aufgeboten. Die alles durchdringende Wirklichkeit und Herrschaft Christi (z. B. 2,9 f.19 f) soll die Glaubenden vor einer Verehrung von Engeln und Elementen (2,8.20) abhalten und so eine angstfreie Offenheit für die vom Christus durchwaltete Welt ermöglichen. Eine eigentlich kosmologische Lehrbildung wird hier so wenig wie sonst im Neuen Testament erkennbar. Ein Hymnus ist nicht auf Erkennen, sondern auf Anerkennen angelegt. Er drängt damit nicht auf eine Feststellung, sondern auf eine Einstellung. Die Wahrheit, von der er bewegt ist, ist nicht die widerspruchsfreie Richtigkeit eines systematischen Satzes oder einer mathematischen Gleichung, sondern die befreiende Zustimmung zur Präsenz und Weltherrschaft Gottes und seines Christus. Ein Hymnus zielt nicht auf Spekulation, sondern auf das Gotteslob.14 Er ist nicht an der Frage des Ursprungs interessiert, sondern hebt auf die Gegenwart ab. Trotzdem greift die scharfe Unterscheidung von Lobpreisen und Erkennen, die diejenige von Glauben und Wissen variiert, bei antiken religiösen Texten zu kurz; sie ist im Ansatz eine neuzeitliche Figur. Vorneuzeitliche religiöse Texte, zumal wenn sie ein gewisses reflexives Niveau erkennen lassen, artikulieren ihre theologischen Anliegen gern in weltbildhaften Gestalten, die ihr eigenes Gewicht haben und nicht ohne Verzerrung ausgefällt werden können. In der Terminologie der „Entmythologisierung“ formuliert: Der mythische Horizont, den antike religiöse Texte voraussetzen und aktualisieren, darf im Zug der Interpretation nicht eliminiert werden. Die Beobachtung, dass etwa biblische Texte ihr Verkündigungsanliegen auf weite Strecken hin in weltbildhafter Gestalt wahrnehmen, sollte zur Vorsicht raten gegenüber einem theologischen Programm, das ihr Sachanliegen als solches aus ihrer weltbildhaften, ‚mythologischen‘ Gestalt befreit, um es gleichsam ‚weltfrei‘ in die Gegenwart zu importieren. Es muss vielmehr darum gehen, 14 Vgl. H. Weder, Der Raum der Lieder. Zur Hermeneutik des Hymnischen im Neuen Testament, EvTh 53 (1993) 328–341.
2. Kosmologische Relevanz eines Hymnus?
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dieses wieder in gegenwärtige Kontexte hinein auszulegen, in Entsprechung zur inkarnatorischen Bewegung Gottes. Deshalb hat sich theologisch verantwortete Rede von Schöpfung und Ökologie heute der Herausforderung durch die allgegenwärtigen Weltbilder der modernen Naturwissenschaften zu stellen. Der christliche Glaube ist geradezu darauf angewiesen, sich in diesem umfassenden Horizont zu explizieren. Im Vollzug dieser Explikationen hängt dann freilich alles daran, die theologische Unterscheidung von Gott und Welt so zu aktualisieren, dass der Verkündigungsinhalt von seiner weltbildhaften Gestalt klar unterscheidbar bleibt. Mit der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert können Physik, Biologie und Anthropologie nicht länger als Adiaphora gelten, denen gegenüber man, um Karl Barths Formulierung aufzunehmen, in der Haltung „einer grundsätzlichen Treulosigkeit des Glaubens“ verharren kann.15 Die Frage nach der Tragweite kosmologischer Implikationen frühchristlicher Texte ist deshalb immer wieder neu aufzuwerfen. Zugespitzt formuliert: Erst wo die Schöpfungsmittlerschaft Christi im Horizont moderner Kosmologie interpretiert wird, tut man dem ganzen Anspruch der Texte Genüge. Um der damit einhergehenden Überforderung ein Stück weit entgegenzuwirken, kann es sich nur um tastende Schritte handeln – im Bewusstsein sowohl um die theologische Ambivalenz jeglicher Kontextualisierung wie um den prinzipiell offenen Diskurscharakter naturwissenschaftlicher Weltbilder.16 Wir halten fest, dass unser Christuslob in Kol 1 keine Kosmologie treiben will. Zugleich aber lassen sich hymnische und kosmologische Sprache in der Antike nicht scharf scheiden. Texte, denen es um die Welterklärung zu tun ist, können sich durchaus zu hymnischen Formulierungen erheben, und umgekehrt greifen Hymnen auf kosmologische Deskription bzw. Spekulation zurück. Das heisst, dass auch ein Hymnus zu denken gibt. Indem er das Göttliche preist und so das zurückerstattet, was sein Sprecher empfangen hat, deutet er auch die Welt im Licht des Göttlichen. Zwar haben sich unter neuzeitlichen Verhältnissen Wissenschaft und Hymnus weit voneinander entfernt. Wenn aber heutige Physiker ihre mathematischen Formeln in menschliche Sprache zu übersetzen beginnen, kommt ein Deutungsprozess in Gang, der über die Ebene reiner Deskriptionen hinausdrängt und unausweichlich mit Metaphern und Elementen mythischer Herkunft arbeitet. Die grossen kosmologischen Modelle moderner Physik basieren immer auch auf weltanschaulichen Fundamenten und artikulieren insofern einen letztlich mythischen Horizont.17 K. Barth, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III.2, Zollikon 1948, 7 f. letzterem vgl. D. Evers, Raum – Materie – Zeit. Schöpfungstheologie im Dialog mit naturwissenschaftlicher Kosmologie (HUTh 41), Tübingen 2000, 391–393. 17 Es ist interessant, dass der traditionelle Zusammenhang von Ontologie und Protologie, der die meisten antiken Kosmologien auszeichnet, auch in der modernen Physik wieder einen zentralen Stellenwert hat: Es sind dieselben Theoriemodelle, die die elementaren Bausteine der Welt und die Prozesse der ersten Sekundenbruchteile des Universums zu beschreiben versuchen. 15
16 Zu
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3. Zum Verhältnis der beiden Strophen Eine der spannendsten Fragen, die sich an das Christuslob in Kol 1,15–20 stellen lässt, ist diejenige nach dem Verhältnis der beiden Strophen zueinander.18 Gerade ihre (partielle) Analogie ruft nach einer Verhältnisbestimmung. 3.1 Sequenz von Schöpfung und Geschichte Zunächst kann man feststellen: Strophe I blickt auf die Weltschöpfung zurück, freilich so, dass der Rückgang auf den Ursprung das gegenwärtige Gegründetsein der Welt in Christus ans Licht bringt. Strophe II dagegen bringt nur wenig zurückliegende Zeitgeschichte pointiert als Neuschöpfungsgeschehen zum Ausdruck. Damit sind die beiden Strophen in klarer zeitlicher Sequenz anzuordnen. Man könnte sie auf die – einmalig erfolgte und seither beständige – Schöpfung und auf die – einmalige – Geschichte deuten. Die Differenz zwischen beiden Strophen lässt sich noch stärker nuancieren. Strophe I wirkt ausgesprochen statisch. Es finden sich zwar manche Verben (sechs an der Zahl), aber nur gerade das ἐκτίσθη V. 16a ist ereignishaft und steht ganz im Schatten des perfektischen ἔκτισται (V. 16e). Die Strophe malt eine Welt vor Augen, die ganz im gottgleichen Christus ruht, ihre durch Präpositionen ausgedrückten Bewegungen wirken kreisförmig. So sehr auf den Anfang Bezug genommen wird, so sehr scheint die so ins Sein gerufene Welt zeitenthoben zu sein. Und wenn in V. 18a noch geheimnisvoll von der Kirche die Rede ist, so deutet diese, greift man nicht zu diachronen Erklärungsmodellen, auf eine vorzeitliche Grösse, die seit Anbeginn von Gott erschaffen worden ist.19 Strophe II wirkt völlig anders. In das zeitlose Bild kommt Bewegung. Geschehenshafte Verbformen dominieren (γένηται, εὐδόκησεν, κατοικῆσαι, ἀποκαταλλάξαι, εἰρηνοποιήσας). Dramatische Ereignisse werden auf knappstem Raum angedeutet, und man muss sich vorstellen, dass die Hörerschaft vieles zu ergänzen wusste.
3.2 Weltharmonie oder Streit – eine Spannung zwischen den beiden Strophen Eine Frage drängt sich manchen Leserinnen und Lesern auf: Wie ist es möglich, dass eine ganz vom göttlichen Christus durchwaltete Welt, wie sie in Strophe I geschildert wird, nun doch einer Versöhnung bedarf, wie sie in Strophe II zur Sprache kommt? Offenbar befindet sich die Welt als ganze vor dem göttlichen Versöhnungshandeln in einem Zustand heillosen Streites. Etwas zugespitzt formuliert: Was Strophe I als schlechthin Gegebenes preist – durch-Christus-Sein und auf-Christus-hin-Sein (V. 16e), im Himmel wie auf Erden (V. 16b) –, das 18 Vgl. dazu besonders M. Wolter, Der Brief an die Kolosser (ÖTBK 12), Gütersloh 1993, 89 f; J. McCarthey, Le Christ cosmique et l’âge de l’écologie, NRTh 116 (1994) 27–47, hier: 42 f; Stettler, Kolosserhymnus (s. Anm. 8) 314–336. 19 Vgl. dazu unten bei Anm. 26.
3. Zum Verhältnis der beiden Strophen
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verdankt sich in der Strophe II allererst dem Versöhnungsgeschehen (V. 20a), das der Erde wie dem Himmel zugute kommt (V. 20c). Es ist nicht leicht, die Aussagen der beiden Strophen zu integrieren. Ein Sündenfall oder eine kosmische Katastrophe, die die heile Welt von Strophe I zerbrochen und zur Notwendigkeit der Versöhnung von Strophe II geführt hätten, wird nicht einmal angedeutet.20 Es gibt jedenfalls nicht das geringste Signal dafür, dass die Leserschaft diesen fundamentalen universalgeschichtlichen Bruch aus ihrer theologischen ‚Enzyklopädie‘ von selbst ergänzen soll. Eine andere erwägenswerte Antwort auf die gestellte Frage kann uns ein Modell antiker Kosmologie geben, das in einem sehr wirkungskräftigen philosophischen Traktat jener Zeit erhalten ist: die pseudoaristotelische Schrift De mundo (περὶ κόσμου),21 die in mancherlei Hinsicht ein überaus verbreitetes antikes Weltbild zum Ausdruck bringt. Sie arbeitet mit theologischen Figuren, die augenfällig an Kol 1,15–20 erinnern. Auf der einen Seite wird die göttliche Ordnung, die in der Welt waltet, aufs höchste gepriesen und gleichwohl ist die irdische, sublunare Sphäre von Streit und Gegensätzen erfüllt. So stammt einer altehrwürdigen „väterlichen“ Tradition zufolge alles aus Gott und ist durch Gott;22 eine grosse Harmonie bewegt das Universum. Zugleich aber ist die Welt seinsmässig gestuft. „Deshalb scheinen die Erde und die Dinge auf ihr, weil ihr Abstand von der erhaltenden Kraft Gottes so sehr gross ist, kraftlos zu sein und nicht zu einander stimmend und voll von vieler Wirrnis.“23 Es ist 20 Aus traditionsgeschichtlichen Erwägungen setzen den Sündenfall voraus z. B. J. D. G. Dunn, The Epistles to the Colossians and to Philemon (NIGTC), Grand Rapids 1996, 102 f; Stettler, Kolosserhymnus (s. Anm. 8) 327; 345; auch Hofius, „Erstgeborener“ (s. Anm. 6) 225 f. 21 Die Schrift De mundo, die aus dem 1. Jh. n. Chr. stammen könnte, integriert in ihr platonisch-aristotelisches Profil starke stoische und neupythagoreische Elemente. Ausgaben: W. L. Lorimer, Paris 1933; Übersetzungen: H. Strohm, Werke in deutscher Übersetzung 12.I/II. Meteorologie. Über die Welt, Berlin 31984; O. Schönberger, Aristoteles. Über die Welt (Reclams Universal-Bibliothek 8713), Stuttgart 2001. In manchem nimmt der Traktat Bezug auf denjenigen Hintergrund, den v. a. E. Schweizer für die Auslegung des Kol aufgeboten hat (Bedeutsamkeit der Elementendynamik; „Weltangst“): Der Brief an die Kolosser (EKK 12), Zürich / Neukirchen 21980, zum Hymnus besonders 67 f. – Zur Würdigung von De mundo vgl. die klassischen Darstellungen von A. J. Festugière, La révelation d’Hermès Trismégiste, Bd. 2, Paris 1949, 460–518; M. P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion (HAW 5.2), Bd. 2, München 31974, 297 f. Vgl. zu dieser Schrift J. C. Thom (Hg.), Cosmic Order and Divine Power. Pseudo-Aristotle, On the Cosmos (SAPERE 23), Tübingen 2014; sowie meinen Aufsatz: „Einer ist der Mittler“ (1 Tim 2,5), Abdruck in diesem Band: 257–274. 22 6: 397b13–16: „Nun gibt es bei allen Menschen ein uraltes, aus Väterzeiten stammendes Wort, dass alles von Gott her und durch Gott besteht und dass kein Wesen für sich allein, sich selbst genügend, existieren kann, wenn es der erhaltenden Kraft beraubt ist, die von der Gottheit ausgeht (ἀρχαῖος μὲν οὖν τις λόγος καὶ πάτριός ἐστι πᾶσιν ἀνθρώποις ὡς ἐκ θεοῦ πάντα καὶ διὰ θεὸν συνέστηκεν, οὐδεμία δὲ φύσις αὐτὴ καθ᾽ ἑαυτήν ἐστιν αὐτάρκης, ἐρημωθεῖσα τῆς ἐκ τούτου σωτηρίας).“ 23 397b30–32 (διὸ γῆ τε καὶ τὰ ἐπὶ γῆς ἔοικεν, ἐν ἀποστάσει πλείστῃ τῆς ἐκ θεοῦ ὄντα ὠφελείας, ἀσθενῆ καὶ ἀκατάλληλα εἶναι καὶ πολλῆς μεστὰ ταραχῆς), übs. Strohm. Zur Elementendynamik vgl. 5: 396b23–397a5, wonach die ordnende „einzige alldurchdringende Kraft“ (μία
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„Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20)
aufschlussreich, dass nach dieser Schrift Gott nicht mehr selbst in der Welt wirkt, sondern dass eine Kraft, eine dynamis, analog dem Schöpfungsmittler jüdischer und christlicher Konzeptionen die Welterhaltung leistet.24 Unterhalb des Mondes ist die gottgestiftete Harmonie nur gebrochen wirksam; die Elemente sind in einem dauernden, unversöhnlichen Widerstreit befangen. Dies hindert nicht, dass die Weltharmonie umfassend und unter Rückgriff auf Hymnen gepriesen werden kann.25 Zu einer anderen Wahrnehmung lädt das Christuslob von Kol 1 ein: Auch auf Erden kommt es zu einem Versöhnungsgeschehen, das die Gottferne überwindet. Der hierarchisch konzipierte Stufenkosmos der Antike wird durch das Geschehen von Versöhnung und Auferstehung bis in die letzte Tiefe von göttlicher Heilsgegenwart erfüllt. 3.3 Versöhnung und Auferstehung als Schlüssel zur Schöpfungsmittlerschaft Christi Der traditionsgeschichtliche Rückgriff auf die antike Differenzierung zwischen irdischer und himmlischer Welt vermag noch nicht wirklich, die von uns konstatierte Spannung zwischen den beiden Strophen verständlich zu machen. Unser Hymnus spricht bedeutsam in beiden Strophen von Himmel und Erde, schliesst also beide Welten zusammen, sowohl im Hinblick auf die seit Urbeginn statthabende Welterhaltung wie im Hinblick auf das endzeitliche Versöhnungshandeln (V. 16b.20c). Es ist deshalb ratsam, die Spannung nicht länger isoliert auf der Ebene der Konzeptualisierung zu thematisieren, sondern die Textgenese als solche in den Blick zu nehmen. Traditionsgeschichtlich gesehen lässt sich die Behauptung wahrscheinlich machen, dass sich die Vorstellungen der Schöpfungsmittlerschaft Christi aus den Erhöhungsvorstellungen herausgebildet haben. Die frühsten Christen sprachen zunächst nur von der Erhöhung des auferstandenen Jesus zu gottgleicher Würde. Wenig später wurde im Zug einer Extrapolation das göttliche Wesen Christi bereits im Anfang wahrgenommen. Die zweite Strophe διὰ πάντων διήκουσα δύναμις) „die einander feindlichsten im Weltall vorhandenen Wesenheiten nötigt, miteinander übereinzukommen, und so dem Ganzen Heil und Dauer erwirkt (τάς τε ἐναντιωτάτας ἐν αὐτῷ φύσεις ἀλλήλαις ἀναγκάσασα ὁμολογῆσαι καὶ ἐκ τούτων μηχανησαμένη τῷ παντὶ σωτηρίαν)“. 24 Welterhaltung (σωτηρία!: 396b34; 397b16; 398a4). Diese Dynamis war denn auch der Grund dafür, dass De mundo teilweise in engste Nachbarschaft zum alexandrinischen Judentum gerückt wurde, so wieder M. Pohlenz, Philon von Alexandreia. Anhang, in: ders., Kleine Schriften, Hildesheim 1965, Bd. 1, 305–383, hier: 376–383; ders., Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Bd. 1, Göttingen 82010, 361 f. 25 Vgl. besonders 7: 401a28 ff mit dem Zitat eines orphischen Zeushymnus (Orph. frg. 21a; vgl. 168): „Zeus ist der erste und Zeus ist der letzte, der Herrscher des Blitzes,/ Zeus ist Haupt, Zeus Mitte, aus Zeus ist alles geschaffen./ Zeus ist der Erde Grund und auch des sternfunkelnden Himmels,/ Zeus ist Mann und Zeus ist auch unsterbliches Mädchen,/ Zeus ist der Windhauch durchs All, Zeus Andrang rastlosen Feuers,/ Zeus ist Wurzel des Meers, Zeus Sonne und Leuchte des Mondes./ Zeus ist Fürst, Zeus König des Alls, im Glanze des Blitzstrahles;/ Alles ja birgt er in sich und bringt es zum heiteren Lichte/ wieder empor aus der Reine des Hauptes, wundersam wirkend.“
3. Zum Verhältnis der beiden Strophen
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unseres Hymnus hat demnach gleichsam die erste erzeugt, und entsprechend darf es nicht verwundern, wenn die Aussagen der zweiten Strophe ihren Reflex in der ersten finden. Der überlieferungsgeschichtlichen bzw. ideengeschichtlichen Beobachtung entspricht so etwas wie ein theologisches Gefälle: Nur vom Standpunkt des Glaubens aus, den die irdische Geschichte Jesu provoziert, lässt sich der Christus in kosmischer Dimension wahrnehmen. Liest man den Hymnus von seinem Ende, von der zweiten Strophe, her, dann lassen sich die beiden Strophen nicht mehr so leicht in einer zeitlichen Sequenz anordnen. Offenbar werden die Zeiten ein gutes Stück weit ineinandergeblendet. Die zeitenthoben anmutenden ontologischen Prädikationen der ersten Strophe weisen dergestalt auf kontingente Ereignisse zurück oder voraus, ohne die sie gar nicht sagbar wären. Ihnen eignet so etwas wie ein Überschuss, der sich eigentlich erst mit dem in der zweiten Strophe gefeierten Christusereignis realisiert. Zugespitzt formuliert kann man sagen, dass die Schöpfungsmittlerschaft Christi, so sehr sie in den Raum protologischen Redens gehört, auf Zukünftiges verweist. Die Zeitenthobenheit der Allaussagen der ersten Strophe wäre dann zu relativieren. Ihre Wahrheit würde erst eingelöst durch das, wovon in der zweiten Strophe die Rede ist. Dazu passt es auch, dass von der „Kirche“ bereits in der ersten Strophe die Rede ist (V. 18a). Sie ist in Kol 1,18 zu einer protologischen Grösse geworden, die bereits in den Ursprung eingeschrieben ist, obschon sie eigentlich die eschatologische Gemeinschaft der Christusgläubigen darstellt.26 Im Grund ist es nicht erstaunlich, dass Gemeinden, die Texte dieser Art generieren, die Zeiten ineinanderblenden. Ihre Loblieder bilden die Welt nicht einfach ab, sondern antizipieren gleichsam das, worauf die Welt erst noch zugeht. Auch die zweite Strophe borgt ihr Licht eigentlich von dem, was noch aussteht. Die Gemeinden singen ihre Hymnen von der kosmischen Versöhnung in einer Welt, die auch post Christum exaltatum weiterhin und weithin durch Streit und 26 Traditionsgeschichtlich spielen hier Vorstellungen eine massgebliche Rolle, in denen die Kirche bereits eine präexistente Grösse darstellt; vgl. 2 Clem 14,1 f; Hermas 8,1; ferner TractTrip (NHC 1.5, 57:33 ff); ExcThdt 41,2. Zu dieser Konzeption führt neben Himmelsstadtkonzeptionen v. a. das jüdische Theologumenon, wonach die gesamte Schöpfung auf Israel zielt, das im Frühchristentum zum Motiv der vorzeitlichen Erwählung der Glaubenden mutiert. Vgl. dazu O. Hofius, „Erwählt vor Grundlegung der Welt“ (Eph 1,4), in: ders., Paulusstudien, Bd. 2 (s. Anm. 6) 234–246 (mit dem besonderen Hinweis auf JosAs 8,9). Hofius möchte aber in Kol 1,18a gerade nicht die präexistente Kirche finden (aaO. 226 A. 50), der Versteil gilt deshalb als Zwischenstrophe und antizipiert die zweite Strophe (218). Wenn man V. 18a aber konsequent im Kontext der ersten Strophe deutet und zugleich für die Genetivapposition τῆς ἐκκλησίας nicht auf eine Interpolationshypothese rekurriert, drängt sich m. E. eine protologische Deutung der Kirche auf. Als Christi „Leib“ ist dann nicht das gesamte Weltall, sondern die präexistente Kirche anzusprechen, die allerdings auf den Kosmos hin offen ist. Dabei spielt der Verfasser mit den kosmischen Assoziationen des Leibes (vgl. den oben Anm. 25 zitierten Zeushymnus), aber er identifiziert Kosmos (Schöpfung) und Leib (Kirche) nicht, sondern bestimmt deren Verhältnis vielleicht eher im Bild eines inneren und äusseren Kreises. Unter dieser Prämisse ist es nicht mehr nötig, dem Kolosserhymnus und dem Kolosserbriefverfasser (vgl. 2,10) prinzipiell verschiedene Konzeptionen zuzuschreiben.
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„Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20)
Unfriede gekennzeichnet ist. Insofern greift der Hymnus über die vorfindliche Welt auf die Vollendung des Alls voraus. 3.4 Die universale Tragweite einer singulären Geschichte Interpretiert man den Hymnus von Kol 1 unter der Perspektive des Ineinanderblendens der Zeiten, mithin nicht in streng chronologischer Sequenz, dann bringt er zum Ausdruck, wie eine bestimmte, singuläre Geschichte, eine story, universale Tragweite gewinnt. Diese Geschichte, angedeutet in der zweiten Strophe, kristallisiert sich gleichsam in den ontologischen Aussagen der ersten Strophe aus. Die durch Jesu Tod und Auferstehung erwirkte Versöhnung des Kosmos leuchtet nun aus, was es um die Erhaltung und Bewahrung des Weltganzen durch den in Christus schaffenden Gott überhaupt zu tun ist. Man kann sogar formulieren: Die kontingente Christusgeschichte ermöglicht eine partielle Wahrnehmung der Innendimensionen des kontinuierlich erfolgenden Schöpfungswirkens Gottes. Die Christusgeschichte wäre einem Schlüsselloch vergleichbar, welches einen Blick auf das göttliche Wirken in der Welt freigibt. Mit Grund wird Christus gleich zu Beginn als das offenbarende „Bild des unsichtbaren Gottes“ verherrlicht (V. 15a). Wenn in der ersten Strophe das „Ordnungsgeheimnis“ der Welt durch den Namen des Christus identifizierbar wird, so wird die kosmische Funktion des Christus offenbar zurückbezogen auf diejenige singuläre Geschichte, die in der zweiten Strophe skizziert wird. Die kristallisierten Systemaussagen der ersten Strophe sind wieder und wieder auf die kontingenten Ereignisse der zweiten Strophe hin zu verflüssigen. Was es um Welterhaltung und Gegründetsein des gesamten Kosmos im göttlichen Christus zu tun ist, das kommt im Geschehen von Kreuz und Auferstehung zum Austrag. An diesem Punkt lässt sich das Gespräch zwischen theologischer und naturwissenschaftlicher Kosmologie provozieren.
4. Welterhaltung als theologisches und kosmologisches Thema Das Christuslob in Kol 1 ist ein Text, in dem es primär um Welterhaltung, nicht um Weltschöpfung oder endzeitliche Neuschöpfung geht. Welterhaltung kommt dabei zunächst nicht unmittelbar als Problem einer weit ausgreifenden spekulativen Theo-Kosmologie zu Gesicht, sondern vorzüglich als lebensweltliches Problem. Der Kolosserbrief als Ganzes bietet die kosmische Christologie auf, um bestimmten Formen der Bewältigung von Weltangst entgegenzutreten. Dabei muss man sich klarmachen, dass unter vorneuzeitlichen Verhältnissen lebensweltlich-existentielle und weltbildhaft-kosmologische Dimension untrennbar ineinandergreifen. Die kosmische Christologie von Kol 1 ist ein Versuch, die primär lebensweltlichen Probleme der Menschen im Imperium Romanum mit einer weitreichenden,
4. Welterhaltung als theologisches und kosmologisches Thema
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auf kosmologische Zusammenhänge zurückgreifenden Antwort zu bearbeiten; dies durchaus in Entsprechung zu anderen Formen von Religion und Philosophie, die sich ebenso bewusst auf das Ganze beziehen. Der kosmische Christus steht für diejenige Verlässlichkeit des Weltganzen, die durch zahllose Erfahrungen in Frage gestellt ist, und er leistet diese Art der Welterhaltung so, dass er selbst in die Zerrissenheit der Welt eingeht und in der Tiefe Frieden schafft. Die Thematik der Welterhaltung hat sich im Übergang zur Neuzeit nachhaltig verschoben.27 Etwas generalisierend kann man sagen, dass für zahlreiche antike Kosmologien – zumal des Alten Orients – die durch göttliche Mächte geleistete ständige Bewahrung der Welt vor dem Zerfall und Ordnungsverlust im Zentrum steht. Mythos und Kult vergegenwärtigen diesen Zusammenhang. Die Welt bedarf im Prinzip fortgesetzter göttlicher Einwirkung. Im späten Israel, bezeugt durch den priesterlichen Schöpfungsbericht (Gen 1,1–2,4a), sowie in bestimmten Formen griechisch-philosophischer Kosmologie kommt es zu einer bedeutsamen Transformation der Welterhaltungskonzeptionen. Der Weltbestand ist nun garantiert durch die kontinuierliche Präsenz Gottes, sei es durch eine unerschütterliche Zusage wie im priesterschriftlichen Schöpfungsbericht (Gen 2,1–3 und 9,8–17), sei es durch die Teilhabe des Kosmos an der Ewigkeit Gottes wie in platonisch-aristotelischer Sichtweise. Die Entwicklung neuzeitlicher Kosmologien hat bekanntlich einen weiteren folgenreichen Schritt vollzogen. Die göttliche Welterhaltung, die in alten Kosmologien wieder und wieder zu leisten war, und die in Gen 1 und in griechischer Kosmologie dem Weltganzen als kontinuierlich gewährte zugrunde lag, erwies sich nun überhaupt als überflüssig. Die Welt besteht aus sich selbst, und nicht einmal mehr die Kraft der Gravitation bedarf göttlicher Einwirkung, wie es Newton noch postuliert hat. Moderne Kosmologien sind grundsätzlich nicht auf die Annahme eines welterhaltenden Gottes angewiesen, und ihre avanciertesten Modelle lassen selbst die Weltentstehung, den Urknall, durch sich selbst verstärkende Fluktuationen im präkosmischen Vakuum zustande kommen. Die lebensweltlichen Fragen der Weltsicherung haben sich demgegenüber auf regionales, nämlich auf ein planetares Niveau verschoben und sind nicht mehr mit kosmologischen Theoriebildungen verknüpft.
Im Gespräch zwischen Schöpfungstheologie und moderner Kosmologie kommt der Welterhaltung, der creatio continua, herausgehobene Bedeutung zu, zumal sie eine grundlegende Differenz zwischen herkömmlicher religiöser und neuerer naturwissenschaftlicher Sichtweise vor Augen rückt, die sich als die Alternative zwischen Fremderhaltung und Selbsterhaltung der Welt beschreiben lässt. Das Thema der Welterhaltung gibt ausserdem zwei Fenster frei, die den Blick auf andere wesentliche Bereiche ermöglichen: erstens auf die Kosmogonie, die Weltschöpfung selbst, und zweitens auf das Entstehen von Neuem, mithin auf das überaus schwierige Thema der Evolution. Der Zusammenhang lässt sich dahingehend formulieren, dass Theologie versucht, dasjenige, was in naturwissenschaftlicher Perspektive als dynamische Kontinuität erscheint, auf seinen kontingenten göttlichen Grund hin zu erhellen. Dabei ist der abstrakte 27 Zum Folgenden vgl. A. Benz / S . Vollenweider, Würfelt Gott? Ein ausserirdisches Gespräch zwischen Physik und Theologie, Düsseldorf 32015, 89–95.
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„Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20)
Kontingenzbegriff, der der spätmittelalterlichen nominalistischen Theologie entstammt, christologisch zu pointieren. In gewisser Weise handelt es sich bei dieser These um einen bewussten Rückgriff auf eine alte Weltsicht, der zufolge der Weltbestand von göttlichen Mächten wieder und wieder zu sichern war. Zugleich aber ist die Selbsterhaltung, die Autopoiesis der Welt und ihrer Ordnungen, wie sie sich der Neuzeit in zuvor kaum denkbarer Weise erschlossen hat, in ihrem ganzen Gewicht zu würdigen.28 Der Christushymnus in Kol 1 lässt sich so lesen, dass er die beiden benannten Pole – Angewiesenheit der Welt auf Gottes Schaffen und Weltkontinuität – in ein Verhältnis bringt. In seiner ersten Strophe feiert er das – allerdings durch den göttlichen Christus gewährte – Kontinuum des Weltbestands. In seiner zweiten Strophe schliesst er das Kontinuum wieder für die Kontingenz göttlichen Erhaltungswirkens auf. Man kann das so deuten, dass die Christusgeschichte paradigmatisch zum Ausdruck bringt, was es heisst, dass Gott seine Schöpfung Moment um Moment am Sein erhält und bewegt. Was sich auf der Ebene ‚natürlichen‘ Erkennens, dessen limitierteste, aber auch schärfste Form das naturwissenschaftliche Erkennen darstellt, zeigt, nämlich die ununterbrochene Kontinuität des Weltbestandes, das wird auf der Ebene religiösen, ‚pneumatischen‘ Erkennens zu einem Geschehen, das dem unaufhörlichen Schöpferwirken Gottes aus dem Nichts heraus entströmt. Kontinuität etabliert sich hiernach wieder und wieder vor einem von Diskontinuität ausgezeichneten Hintergrund. Etwas mythologischer: Das Reich der Strukturen wird von Gott immer neu aus dem Abgrund des Nichts heraufgerufen. Auf die Zeit bezogen: Gegenwart kommt derart nicht mehr als Erzeugnis der Vergangenheit in den Blick. Es ist vielmehr Gott, der aus dem Nichts ständig neue Gegenwart erschafft, freilich so, dass er an das Vergehende anknüpft. Zukunft erscheint nicht mehr im Modus des futurum, sondern im Modus des adventus. In dieser Perspektive liegt die Versuchung nahe, nun doch Spalten oder wenigstens Risse im Weltgefüge zu entdecken, wo die besagte Kontinuität des Weltbestands etwas brüchig wird und also die göttliche Welterhaltung gleichsam an einem Zipfel zu fassen wäre. Das hat sich längst als Irrweg erwiesen, nur schon deshalb, weil der Gottheit dann ja nurmehr die Lücken blieben. Aussichtsreicher dürfte es sein, sich nach Entsprechungen und Gleichnissen auf der Ebene der Phänomene selbst umzusehen, statt die göttlichen Einwirkungen als solche verifizieren zu wollen. Dazu ermutigen könnte die Erinnerung daran, dass der Kolosserhymnus geradezu programmatisch am Anfang Christus als Bild, als Ikone, des unsichtbaren Gottes nennt. Offenbar spiegelt die Schöpfungsmittlerschaft Chris28 Vgl. dazu besonders Evers, Raum (s. Anm. 16) 374–376 („Unter Bezug auf die neuzeitliche Kosmologie müssen wir den Prozess des Kosmos als ein irreduzibles und kontingentes Werden verstehen, das in der Perspektive des Glaubens in der Treue Gottes als der Bedingung seiner Möglichkeit begründet ist und in seinem Neues hervorbringenden Vollzug als Antwort auf die schöpferische Gegenwart Gottes verstanden werden kann“, 376).
5. Christusförmigkeit des Kosmos?
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ti der Welt die Gleichnisfähigkeit für Gott zu. Zu fragen ist also, ob die dem Auge des Geistes erschlossene Tiefendimension des fortgesetzten göttlichen Schaffens auf der Ebene der Phänomene in Gestalt von Entsprechungen und Gleichnissen zur Darstellung kommt. Für eine derartige Perspektive steht nicht erst Karl Barth Pate, sondern bereits etwa Dionysios Areopagites (um 500 n. Chr.) und auch schon Jesus, der Gleichniserzähler.29 Von da her wäre zu fragen, ob die kosmischen Phänomene in der Wahrnehmung des Glaubens etwas von dem an ihnen wirkenden göttlichen Grund zu erkennen geben, sogar und gerade dann, wenn sie der Sichtweise der Naturwissenschaften unterworfen werden. So könnte beispielsweise die Entdeckung virtueller Teilchen, die das Universum in grossem Ausmass durchdringen, zeigen, dass die so kristallhart wirkende Materie innerhalb sehr kleiner Zeiträume einem Prozess von fortwährendem Entstehen und Vergehen unterliegt.30 Das makroskopische Universum gleicht in dieser Sichtweise einem Eisberg, der nicht nur aus einem unendlichen Ozean virtueller Materie und Energie herausragt, sondern sich in ständiger Fluktuation aus diesem Ozean heraus neu bildet und wieder auflöst. Am Grund des Seienden stossen wir auf einen wirbelnden Tanz von entstehenden und vergehenden Teilchen, die sich freilich dem hehren Gesetz der Notwendigkeit, dem Satz von der Erhaltung der Energie, beugen müssen – das Spiel einer überschäumenden Kreativität am Fundament allen Seins, in einem Reich des Virtuellen, das nicht mehr Wirklichkeit zu heissen verdient und doch mehr ist als das Gespensterreich blosser, irrealer Möglichkeiten. Natürlich ist nicht gemeint, dass wir im Vakuum die creatio continua mit Händen greifen können, so wenig wie es sich bei der Entstehung des Universums aus einer Fluktuation im präkosmischen Vakuum um die Schöpfung aus dem Nichts handelt. Wohl aber lassen sich Phänomene der Natur, selbst in ihrer naturwissenschaftlichen Präparation, in der Wahrnehmung des Glaubens als Entsprechungen und Gleichnisse des Schöpferwirkens Gottes in Anspruch nehmen, das sich laut Kol 1,15 in Christus als „Bild Gottes“ offenbart.
5. Christusförmigkeit des Kosmos? Aus dem Meer möglicher Analogien greifen wir einen Aspekt neuzeitlichen kosmologischen Wissens heraus und fragen danach, inwieweit er für die Wahrnehmung des Glaubens – und nur um diese kann es hier gehen – von der 29 Im antiken Christentum gibt es interessante Ansätze zu einer kosmischen Christologie, zumal in der Deutung von Kreuz und Auferstehung. So identifizierte Justin das Kreuz mit der Weltseele in Platons Timaios, die sich in Form eines X um die Erde spannt, nämlich in den zwei Kreisen der Ekliptik und des Äquators (Justin, apol. 1,60 [vgl. Platon, Tim. 36b/c]; zum Ganzen vgl. H. Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung, Zürich 1957, 73–100.). Überall gibt die Schöpfung das Kreuz zu erkennen, in jedem Baum, im menschlichen Organismus, in der Ausspannung der drei Raumdimensionen. Die Symbole des kosmischen Weltbaumes und des Lebensbaumes, die in so vielen Religionen auftauchen, gewannen für die frühen Christen im Kreuz Gestalt. Noch nahe liegender war es, die Auferstehungsmacht auch in natürlichen Phänomenen zu orten (vgl. 1 Kor 15,36–38), so in den Rhythmen von Tag und Nacht, von Saat und Frucht, und sogar im Wundervogel Phönix (1 Clem 24 f). 30 Vgl. dazu Benz / Vollenweider, Gott (s. Anm. 27) 80–89.
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„Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20)
Christusgeschichte her eine besondere Beleuchtung empfängt: die fundamentale Bedeutung der Zeit. In der tanzenden Welt der Quanten, an der Basis des Universums, gibt es noch kaum das Moment einer irreversiblen Zeit, in der Vergangenheit und Zukunft wesenhaft unterschieden sind. Nicht von ungefähr sind es besonders Freundinnen und Freunde fernöstlicher Religionen, die das ‚Tao der Physik‘ zelebriert haben.31 Anders steht es in der makroskopischen Welt, in der sich der Pfeil der Zeit deutlich bemerkbar macht. Die auf der Differenz von Vergangenheit und Zukunft beruhende Irreversibilität der Zeit ist fundamental für das Verständnis thermodynamischer und biologischer Prozesse. Die kosmische Evolution ist geradezu davon gekennzeichnet, dass es in ihr zur Entstehung von Neuem kommt. Das Entstehen von Neuem hat eine nicht minder eindrückliche Kehrseite: die Entropiezunahme, der zunehmende Zerfall von Ordnung, der die Evolution des Universums begleitet. Neuere Erkenntnisse zur Tragweite des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik besagen, dass die Zunahme von Entropie mit einer Steigerung von Komplexität und Ordnung einhergehen kann. So ermöglicht die universale Zunahme von Unordnung im Lauf der kosmischen Evolution die lokale Auftürmung von komplexer Ordnung, z. B. in der Biosphäre unseres Planeten. Der hoch organisierte „Turmbau“ lebendiger Systeme ist insofern um den Preis gesteigerter Entropie erkauft. Von der Irreversibilität der Zeit her ergeben sich interessante Gesprächsmöglichkeiten mit der biblischen Überlieferung und im besonderen mit der um Kreuz und Auferstehung zentrierten Christusgeschichte. Tatsächlich rückt die Osterbotschaft eine irreversible Sequenz vor Augen. Die Bewegung vom Tod zum Leben, vom Kreuz zur Auferstehung ist unumkehrbar. Das Ostergeschehen lässt es zur grundsätzlichen Scheidung von Vergangenheit und Zukunft kommen. Vom eschatologischen Verständnis des frühen Christentums herkommend könnte man die Auferstehung Christi als Quellgrund alles Neuen charakterisieren. Der grosse ostkirchliche Theologe Johannes von Damaskus (um 700) hat die Inkarnation des Gottessohns trefflich umschrieben als das „Neueste von allem Neuen, das einzig Neue unter der Sonne“,32 in bewusster Antithese zum biblischen Predigerbuch, das sich mit seinem „nichts Neues unter der Sonne“ an der Zyklizität der Zeit orientiert (Pred 1,9 f). Die von Offenheit und Einmaligkeit geprägten evolutionären Prozesse, in denen es immer wieder zur Entstehung von Neuem kommt, lassen sich dann als Entsprechungen und Bilder der Auferstehung Christi, der „neuen Schöpfung“, deuten. Sie verdanken sich dem 31 Vgl. z. B. F. Capra, Das Tao der Physik, dt. Übs. Bern 21984; G. Zukav, Die tanzenden Wu Li Meister. Der östliche Pfad zum Verständnis der modernen Physik, dt. Übs. Reinbek 1981. Zu solchen Ansätzen kritisch S. Restivo, The Social Relations of Physics, Mysticism, and Mathematics, Dordrecht 1983, 1–156. 32 Joh. Dam., exp. fid. orth. 45,44 (PTS 12, 108: τὸ πάντων καινῶν καινότατον, τὸ μόνον καινὸν ὑπὸ τὸν ἥλιον).
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eschatologischen Neuen, dem „ein für allemal“, sind von diesem aber strikt zu unterscheiden. Das kosmische Neue bleibt als solches zutiefst ambivalent, wie das Beispiel von genetischen Mutationen in Gestalt von Missbildungen nur zu deutlich zeigt. Aber auch die Kehrseite der Entstehung von Neuem, die Entropiezunahme, kehrt auf der Ebene der Christologie wieder. Es ist ja gerade der Kreuzestod, der die Auferstehung zeitigt. Der Zerfall von Ordnung, symbolisiert im Kreuz, lässt es zu neuer Ordnung kommen, symbolisiert in der Auferstehung. Während die alte Welt zerfällt, gewinnt im Auferstehungswunder der Keim eines neuen Seins, der Anfang einer neuen Schöpfung Gestalt. Der Kreuzestod Christi steht für den „Entropiepreis“, um den die neue Ordnung „erkauft“ ist.33 Die theologische Tradition hat in der Tat von Sühnetod und Loskauf gesprochen. Es lässt sich hier an den Hymnus von Kol 1 erinnern: Während seine erste Strophe eine zeitenthobene Welt vor Augen malt, die im göttlichen Christus ruht, setzt die zweite Strophe eine der Entropie unterworfene Welt voraus: den Zerfall der Welt in Dissonanz und Desorganisation. Man könnte sagen, dass Vernichtung und Zerfall im Kreuzesgeschehen noch einmal kumuliert werden. Die Entropiezunahme wird massiv gesteigert. Erst aufgrund dieses Durchgangs durch eine Katastrophe kommt es zur Etablierung einer neuen Ordnung, zu Neuschöpfung und „Versöhnung“.34 Dabei ist zu beachten: In der Evolution des Universums und der Lebewesen wird lokale Entstehung von Ordnung mit der globalen Zunahme von Entropie erkauft. Im Christusereignis wird dagegen die im Prinzip global zu verstehende Ordnung der „neuen Schöpfung“ durch eine lokale Steigerung von Entropie, eben das Kreuz, erwirkt. Aber es gilt auch das Umgekehrte: Im Kreuzesgeschehen zeigt sich der umfassende, globale Zerfall der alten Welt und ihrer Mächte.35 Das Auferstehungswunder geschieht an einem eng umgrenzten Ort, nämlich an Jesus, und vermittelt durch ihn im kleinen Kreis seiner Anhänger. Diese verstehen sich als Anfang einer neuen Menschheit, während die alte Weltzeit im Vergehen begriffen ist. Dieses einzigartige, singuläre Entstehen einer neuen Ordnung ist dann aber potentiell auf die Durchdringung des Ganzen hin angelegt. Wagt man es, auf diese Weise in evolutionären Prozessen die Gestalt und die Geschichte Christi wahrzunehmen, so zeigt das Kreuz eine besondere Affinität zur Vergangenheit, die Auferstehung zur Zukunft. Das Kreuz steht für den 33 Vgl. von Christi Kreuzestod als „teurem Preis“ 1 Kor 6,20; 7,23; 1 Petr 1,18 f; 1 Clem 7,4. Zum Sühnetod vgl. Röm 3,25; 8,3; Eph 5,2; Hebr 9,26; 10,12; 1 Joh 2,2 usw. 34 Das Thema des Durchgangs durch eine Krise, der auf ein neues Niveau von heilvoller Ordnung führt, wird in den biblischen Traditionen vielfach variiert. Israel, das Gottesvolk, muss immer wieder lernen, sein mitgebrachtes Gottes‑ wie Selbstverständnis hinter sich zu lassen und sich dem Neuen, das jetzt an der Zeit ist, zu öffnen. Jesus ermutigt die Jünger auf dem Nachfolgeweg, das Kreuz wie er zu tragen, sich selbst aufzugeben und derart von der alten Welt, die im Vergehen ist, in die neue Welt hinüber zu schreiten. 35 Vgl. besonders Joh 12,31; 16,11; Kol 2,15; Eph 1,20–22; Apk 12,1–17.
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„Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20)
Abgrund des Nichts, welcher dem Entstehen von Neuem voraufgeht und ihm zugrundeliegt. Es lässt Bestehendes zu Vergangenheit werden. Es löst Strukturen auf, und insofern steht es für das Ende der Herrschaft von Vergangenheit über die Gegenwart. Auf der anderen Seite steht das Kreuz auch für die Bewahrung der Vergangenheit. So zeigt der auferstandene Jesus in den Ostergeschichten seine Wundmale: Der Auferstandene bleibt der Gekreuzigte (vgl. Lk 24,39 f; Joh 20,20.25.27). Das Neue tilgt das Bisherige nicht einfach, sondern bewahrt und integriert es. In der Evolution des Universums und des Lebens knüpft es immer an das Bisherige an; das Alte wird zum Baustoff für das Neue. So gesehen repräsentiert das Kreuz die von Gott in Treue und Mitleiden bewahrte Vergangenheit. Die Auferstehung Christi rückt demgegenüber das Verhältnis der Zukunft zur Gegenwart vor Augen. Die Auferstehung symbolisiert die Zukunftsdimension, die Gott dem von ihm Bewahrten zukommen lässt. Sie lässt sich wieder in Interferenz mit modernem Wissen bringen. Die kosmische Evolution unterliegt wahrscheinlich keinen teleologischen Steuerungsmechanismen. Es gibt nicht vorgegebene Ziele, die nur noch angesteuert werden müssen, wovon Teilhard de Chardin noch ausgehen konnte. Die Evolution scheint sich blind voranzutasten. Die Reichweite der Erkenntnis Darwins wird heute mit guten Gründen erheblich ausgedehnt. Die Folgen, die sich für die gesamte theologische Tradition, vom Artikel der Providentia Gottes bis hin zur Eschatologie ergeben, sind kaum abzuschätzen. Es müsste jedenfalls dies eine mitbedacht werden: Für „natürliches“ Erkennen ist Neues in der Evolution zufallsabhängig. Die Emergenz von hochorganisierter Komplexität verdankt sich einem ganz unvorhersehbaren Spiel von Zufall und Notwendigkeit. Für die Wahrnehmung des Glaubens zeichnet sich gleichwohl eine unwiderstehliche Bewegung hin zum „Komplexeren“, in theologischer Sprache: zu umfassender geschöpflicher Ordnung hin ab – eine Bewegung, deren Verlauf nicht prognostizierbar ist und die im Rückblick doch mehr ist als nur ein Prozess, der auch anders hätte ablaufen können. Auch hier ist wieder die Orientierung am Ostergeschehen erhellend. Auf der einen Seite ist die Auferstehung gegenüber dem Kreuz als schlechthin kontingent zu denken.36 Das Auferstehungswunder war nicht prognostizierbar; der Karfreitag stemmt sich gegen die Sicherheit eines teleologischen Prozesses. Auf der anderen Seite entspricht es im Rückblick einer tiefen ‚Logik‘ des Glaubens, dass der Tod zum Leben, dass das Kreuz zur Auferstehung führt. Den offenbar nicht zielgerichtet verlaufenden kosmischen Prozessen liegt in der Perspektive religiöser Wahrnehmung doch eine wunderbar anmutende Bewegung hin zur Vollendung zugrunde, die besonders in hymnischen Texten antizipiert wird. Der im Gotteslob erfolgende Ausblick auf die Vollendung verdankt sich freilich 36 Das gilt wahrscheinlich auch historisch sowohl für Jesus wie für seine Jünger. Der Nazarener konnte trotz der gegenteiligen Versicherung der Evangelien kaum mit seiner Auferweckung und Erhöhung rechnen.
5. Christusförmigkeit des Kosmos?
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seinerseits einer Retrospektive, nämlich der Erfahrung schon geschehener Neuschöpfung.37 Unsere Textarbeit am Christushymnus von Kol 1 hat uns zu einem abenteuerlichen Freibeuterzug auf der Suche nach Vestigien des kosmischen Christus in der weiten Welt der modernen Naturwissenschaften geführt. Es ist legitim, zu fragen, ob hier nicht Schranken zwischen Wissen und Glauben oder zwischen Empirie und Hermeneutik sorglos eingerissen werden, die unter neuzeitlichen Bedingungen nicht mehr zu überwinden sind. Wir beenden unsere Überlegungen deshalb mit einem antiken Text, einem geheimnisvollen Jesusspruch aus dem apokryphen Thomasevangelium:38 „Jesus spricht: Ich bin das Licht, das über allem ist. Ich bin das All. Aus mir ist das All hervorgegangen. Und zu mir ist das All gelangt. Spaltet ein Stück Holz – ich bin da. Hebt den Stein auf, und ihr werdet mich dort finden.“
37 Vgl. meinen Aufsatz: Wahrnehmungen der Schöpfung im Neuen Testament, ZPTh 55 (2003) 246–253, Abdruck in diesem Band: 139–147. 38 EvThom 77 (NHD3 136). Der ganz ungnostische Charakter dieser Logien verdient Beachtung!
„Der Name, der über jedem anderen Namen ist“ Jesus als Träger des Gottesnamens im Neuen Testament Den Namen Gottes denen nennen, Die ihn nicht mit dem Herzen kennen, Ist Missetat. Ludwig Tieck, William Lovell, VI 14
Abstract “The Name That Is above Every Name.” Jesus as Bearer of the Name of God in the New Testament The holy name of God (tetragrammaton) has an enormous significance in the Jewish tradition, but also in Hellenistic theosophy the divine names are very important. The essay asks about the innovation of the early Christians who declared Jesus to be the exclusive co-bearer of the name of God (Kyrios title). Especially the Revelation of John, the Epistle to the Hebrews and the praise of Christ in Phil 2:9–11 are examined. In spite of its significance, “divine name Christology” is only one line among some others in early Christian theology.
Der neuplatonische Philosoph und Theurg Jamblich hat um das Jahr 300 unserer Zeitrechnung in seinem grundlegenden religionsphilosophischen Werk De mysteriis eine bemerkenswerte Aussage zu den Namen der Götter formuliert. Auf die Frage des Porphyrios in seinem Brief an Anebon,1 warum die theurgischen Akteure eine Vorliebe für barbarische, sinnlose Götternamen pflegten, etwa diejenigen Ägyptens, gibt er die Antwort, dass die göttlichen Namen die Ebene menschlicher Diskurse übersteigen.2 1 Porph., Aneb. 2,10a p. 22,1 f Sodano (τί δὲ καὶ τὰ ἄσημα βούλεται ὀνόματα καὶ τῶν ἀσήμων τὰ βάρβαρα;). Vgl. dazu H. D. Saffrey, Analyse de la réponse de Jamblique à Porphyre, connue sous le titre: de mysteriis, RSPhTh 84 (2000) 489–511; ders., Les livres IV à VII du De Mysteriis de Jamblique relus avec la Lettre de Porphyre à Anébon, in: H. J. Blumenthal / E. G. Clark (Hg.), The Divine Iamblichus. Philosopher and Man of Gods, Bristol 1993, 144–158; B. Nasemann, Theurgie und Philosophie in Jamblichs De mysteriis, Stuttgart 1991 (Beiträge zur Altertumskunde 11), 13–22. Eine nicht erhaltene Schrift von Porphyrios scheint sich laut der Suda mit den „göttlichen Namen“ beschäftigt zu haben (περὶ θείων ὀνομάτων, P. 45 [6; 45 Smith]). 2 Jambl., myst. 7,4–5 Des Places. – Zu Jamblichs theurgischer ‚Semiotik‘ vgl. E. C. Clarke, Iamblichus’ „De mysteriis“. A Manifesto of the Miraculous, Ashgate 2001, besonders 26 f; U. Criscuolo, Proclus et les noms des dieux, in: N. Belayche u. a. (Hg.), Nommer les dieux. Théonymes, épithètes, épiclèses dans l’Antiquité, Brepols 2005, 57–68, hier: 65 ff; und die Beiträge in: Blumenthal / Clark (s. Anm. 1). Vgl. I. Tanaseanu-D öbler, Theurgy in Late Antiquity.
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„Der Name, der über jedem anderen Namen ist“
„Man muss so die göttlichen Namen von allen Konzeptionen und logischen Schritten freimachen, […] Es ist gerade ein intelligibler und göttlicher symbolischer Ausdruck göttlicher Ähnlichkeit, den man den Namen zugrunde legen muss. Ist uns dieser Ausdruck gänzlich unerkennbar, so bezeugt gerade dies seine Erhabenheit. Denn er ist so überlegen, dass er nicht dem Erkenntnisbereich zuzuteilen ist.“3
Folgerichtig bezieht sich Jamblich auf die Konzeption einer heiligen Sprache zurück, die von „heiligen Völkern“ wie den Assyrern und den Ägyptern kultiviert worden sei. Die „barbarischen Namen“ sind herausragende und konzentrierte Träger göttlicher Kräfte, scharf abgehoben von der griechischen Sprache mit ihrer Vieldeutigkeit, Vielfältigkeit und Wörterfülle. Der syrische Philosoph ruft mit seinem Lob der barbarischen Beständigkeit zum Bewahren dieser uralten Tradition auf und kontrastiert sie eindrücklich mit der Neuerungsgier und der Verwegenheit der so unsteten Griechen (καινοτομία καὶ παρανομία), bei denen die Namen ihrer Unveränderlichkeit verlustig gehen.4 Wir wollen uns in der vorliegenden Studie mit einer bestimmten Kultur des Umgangs mit Gottesnamen beschäftigen,5 die eine eigenartige und durchaus The Invention of a Ritual Tradition (Beiträge zur europäischen Religionsgeschichte 1), Göttingen 2012, 24–26; 95–111; 237–242; A. Lecerf, Jamblique: Universalisme et noms barbares, in: Ph. Hoffmann / L. G. Soares Santoprete (Hg.), Langage des dieux, langage des démons, langage des hommes dans l’Antiquité (Recherches sur les rhétoriques religieuses 26), Turnhout 2017, 181–208; J. Opsomer, § 118. Iamblichos und seine Schule, in: Ch. Riedweg / Ch. Horn / D. Wyrwa (Hg.), Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (Ueberweg.Antike 5), Basel 2018, 1349–1383, hier: 1375–1379. 3 AaO. 7,4 p. 255,6–14 (ἀφαιρεῖν μὲν οὖν χρὴ πάσας ἐπινοίας καὶ λογικὰς διεξόδους ἀπὸ τῶν θείων ὀνομάτων, […]. ὅσπερ δέ ἐστι νοερὸς καὶ θεῖος τῆς θείας ὁμοιότητος συμβολικὸς χαρακτήρ, τοῦτον ὑποθετέον ἐν τοῖς ὀνόμασιν. καὶ δὴ κἂν ἄγνωστος ἡμῖν ὑπάρχῃ, αὐτὸ τοῦτό ἐστιν αὐτοῦ τὸ σεμνότατον · κρείττων γάρ ἐστιν ἢ ὥστε διαιρεῖσθαι εἰς γνῶσιν). Vgl. sodann 7,5 p. 257,15–19 (ἔχει δὲ καὶ τὰ βάρβαρα ὀνόματα πολλὴν μὲν ἔμφασιν πολλὴν δὲ συντομίαν); p. 259,5–260,2 (καινοτομία καὶ παρανομία der Griechen). 4 AaO. 7,5 p. 257,9–260,2. Vgl. dazu CorpHerm 16,2: „… damit der überhebliche, kraftlose und gleichsam aufgeputzte Stil der Griechen nicht die Erhabenheit, Kraft und wirkungsvolle Fügung der Worte (τὸ σεμνὸν καὶ στιβαρόν, καὶ τὴν ἐνεργητικὴν τῶν ὀνομάτων φράσιν) zunichte macht. Denn die Griechen, mein König, haben eine Darstellungsweise, die ohne Argumentationskraft nur auf sprachliche Wirkung angelegt ist; und das ist die Philosophie der Griechen: Wort-Getöse (λόγων ψόφος). Wir aber benutzen nicht nur Wörter, sondern eine Ausdrucksweise, die bestimmt ist von der darzustellenden Realität (ἡμεῖς δὲ οὐ λόγοις χρώμεθα, ἀλλὰ φωναῖς μεσταῖς τῶν ἔργων)“ (übs. Colpe / Holzhausen). Die Chaldäischen Orakel, die für die nachplotinischen Neuplatoniker den Rang einer ‚heiligen Schrift‘ einnahmen, verbieten deshalb das Verändern der Götternamen: „Verändere niemals die fremdsprachigen (Götter‑) namen (ὀνόματα βάρβαρα μήποτ’ ἀλλάξῃς)!“ (frg. 150 Des Places = 58,14 Kroll). Zur ethnographischen Perspektive vgl. meinen Aufsatz: Barbarenweisheit? Zum Stellenwert der Philosophie in der frühchristlichen Theologie, Abdruck in diesem Band: 343–355. 5 Zur Thematik jüdischer und christlicher Gottesnamen vgl. F. Niewöhner / A. Seigfried, Art. Name Gottes, HWPh 6 (1984) 389–398; A. Ruck-S chröder, Der Name Gottes und der Name Jesu. Eine neutestamentliche Studie (WMANT 80), Neukirchen 1999; Belayche (Hg.), Nommer (s. Anm. 2); Ch. Zimmermann, Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten neutestamentlichen Gottesbezeichnungen vor ihrem frühjüdischen und paganen Sprachhorizont (AJEC 69), Leiden 2007.
1. Der Seiende und der Kommende
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delikate Mischung aufweist: einerseits die Bindung an eine uralt-orientalische Tradition des Gottesnamens, dem Markenzeichen eines „heiligen Volkes“, und andrerseits die eigentümliche „Neuerung“, die einen alltäglichen Personennamen mit der Aura eines göttlichen Namens ausstattet. Die Rede ist natürlich von den frühen Christen. Nur am Rand sei daran erinnert, dass der Vorwurf der ungebührlichen „Neuerung“ zu den Standardvorwürfen der nichtchristlichen Antike gegen die junge Christenbewegung zählt.6 Im Folgenden wird das Thema anhand einiger exemplarischer Texte aufgearbeitet, ausgehend von zwei relativ späten Schriften des neutestamentlichen Kanons, der Johannesapokalypse und dem Hebräerbrief. Während die Apokalypse mit einer subtilen Auslegungstradition des Gottesnamens arbeitet, stellt der Hebräerbrief programmatisch die Übereignung eines göttlichen Namens an den erhöhten Jesus Christus heraus. In die Frühzeit christlicher Theologie führt der sogenannte Hymnus im Philipperbrief, der eine eigentümliche Korrespondenz zwischen dem Gottesnamen und dem Namen Jesu herstellt. Schliesslich versuchen wir, eine Bilanz zu ziehen.
1. Der Seiende und der Kommende – zu einer theologischen Formel in der Johannesapokalypse (1,4) Im brieflich gehaltenen Präskript der Johannesoffenbarung findet sich ein auffälliger Gottesname, der als Ursprung für Gnade und Frieden in Anspruch genommen wird (1,4): „Gnade sei euch und Friede von Dem, der ist und der war und der kommt“ (χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ ὁ ὢν καὶ ὁ ἦν καὶ ὁ ἐρχόμενος).
Für griechischsprachige Leserinnen und Leser nimmt sich allein schon der Verzicht auf die Deklination eigenartig aus.7 Der Gottesname gewinnt damit ein hieratisches Kolorit, das sehr genau der von Jamblich gerühmten „Inflexibilität“ der Barbaren beim Gebrauch der göttlichen Namen entspricht. Die Formel wird am Ende des Präskripts, in V. 8 nochmals aufgenommen, nunmehr explizit als Selbstprädikation Gottes, des Herrn, gekennzeichnet; wir haben eine Inklusion vor uns. Für das Verständnis der hier auf Gott angewandten Dreizeitenformel ist entscheidend, dass sie in der Wirkungsgeschichte von Ex 3,14, der berühmten 6 Vgl. W. Nestle, Die Haupteinwände des antiken Denkens gegen das Christentum, ARW 37 (1941/42) 51–100, hier: 90–92 (abgedruckt in: J. Martin / B. Quint [Hg.], Christentum und antike Gesellschaft [WdF 649], Darmstadt 1990, 17–80, hier: 69 f). 7 Zur Sprache der Apk vgl. neben dem knappen Überblick des Klassikers W. Bousset, Die Offenbarung Johannis (KEK 716), 31966, 159–177 besonders D. E. Aune, Revelation, Bd. 1 (WBC 52A), Dallas 1997, clx–ccvii. „It appears […] that John regarded the entire threefold predication […] as an indeclinable divine name“ (Aune, aaO. 24; vgl. clxxvii).
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„Der Name, der über jedem anderen Namen ist“
Selbstvorstellung Gottes im brennenden Dornbusch, steht.8 Die Septuaginta hat die geheimnisvoll klingende hebräische Wendung „Ich bin, der ich bin“ bekanntlich mit einem Rekurs auf die griechisch-hellenistische Philosophie gedeutet: „Ich bin der Seiende“ (ἐγώ εἰμι ὁ ὤν). Es lag in der Folge nahe, das Reden vom unveränderlichen Sein Gottes in die Zeitextension zu transponieren und auszufalten auf die drei Zeitmodi, auf Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Damit gewinnt die jüdische und in der Folge auch die christliche Theologie den Anschluss an die in der Antike beliebten „Dreizeitenformeln“.9 Die Apokalypse scheint also auf ihre Weise den Gottesnamen, das Tetragramm, auszulegen. Bei aller scharfen Distanz, die der Verfasser der Apokalypse gegenüber seinem kulturellen und speziell religiösen Umfeld an den Tag legt, wird gerade hier erkennbar, wie er von seinem judenchristlichen Standpunkt her seine Botschaft in seinem globalen mediterranen Kontext zu artikulieren sucht. Dabei stechen zwei Punkte besonders hervor: Erstens variiert der Seher von Patmos die sonst üblichen Zukunftslexeme. Er spricht nicht vom „zukünftigen Sein“, wie es der Standardtyp der Formeln belegt, sondern vom „Kommen“. Damit rückt er das Hauptthema der Offenbarung ins Zentrum, die vom Kommen Gottes handelt (vgl. 1,1; 2,16; 3,11; 22,7.12.20) – von seinem endgültigen Kommen mit der Schaffung eines neuen Himmels, einer neuen Erde und der Herabkunft des himmlischen Jerusalem, aber auch von seinem hilfreichen Zur-Seite-Stehen mitten in den Bedrängnissen, die die Frommen in der zu Ende gehenden Weltzeit treffen. Das Kommen Gottes wird von der Apokalypse narrativ inszeniert. Beim Ertönen der Siebten Posaune (11,15–19) preisen die angelischen vierundzwanzig Ältesten erneut Gott in der Sprache der Zeitenformel. Im Dankgebet V. 17 fehlt aber die Referenz auf das „Kommen“, da dieses schon im Gang ist. Die himmlische Szene eignet die Weltherrschaft bereits Gott und seinem Gesalbten zu (11,15); Gott hat seine Macht (δύναμις) ergriffen und seine Königsherrschaft aufgerichtet. Ähnlich fehlt das dritte Glied in 16,5 beim Ausgiessen der Dritten Schale. Zweitens stellt der Seher von Patmos zwischen dem Kommen Gottes und der Person Jesu Christi eine bedeutsame Beziehung her. Das Kommen Gottes 8 Für alles Folgende vgl. die gründliche Studie von S. M. McDonough, YHWH at Patmos. Rev. 1:4 in Its Hellenistic and Early Jewish Setting (WUNT II/107), Tübingen 1999; sodann Aune, Revelation, Bd. 1 (s. Anm. 7) 30–33. 9 Die wichtigsten Zeugnisse, ausgiebig besprochen bei McDonough, YHWH (s. Anm. 8) 41– 57; 187–192, sind die Inschrift auf der mit Isis korrelierten Athene-Statue von Sais bei Plut., Is. 9: 354c (ἐγώ εἰμι πᾶν τὸ γεγονὸς καὶ ὂν καὶ ἐσόμενον καὶ τὸν ἐμὸν πέπλον οὐδείς πω θνητὸς ἀπεκάλυψεν), die prophetische Überlieferung aus Dodona bei Pausan. 10,12:10 (Ζεὺς ἦν, Ζεὺς ἐστίν, Ζεὺς ἔσσεται· ὦ μεγάλε Ζεῦ), die Aion-Inschrift aus Eleusis (IG II.2 [Att.] 4705,7–12: Αἰὼν ὁ αὐτὸς ἐν τοῖς αὐτοῖς αἰεὶ φύσει θείᾳ μένων κόσμος τε εἷς κατὰ τὰ αὐτά, ὁποῖος ἔστι καὶ ἦν καὶ ἔσται, ἀρχὴν μεσότητα τέλος οὐκ ἔχων, μεταβολῆς ἀμέτοχος, θείας φύσεως ἐργάτης αἰωνίου πάντα) sowie die Reflexe von Ex 3,14 in Sib 3,15 f (αὐτὸς ἀνέδειξεν αἰώνιος αὐτὸς ἑαυτόν ὄντα τε καὶ πρὶν ἐόντα, ἀτὰρ πάλι καὶ μετέπειτα) und TgPsJ Dtn 32,39 („ich bin der, der ich bin und der ich war, und ich bin der, der ich sein werde“: )אנה הוא דהוי והוית ואנא הוא דעתיד למהוי.
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realisiert sich im Kommen des Christus. Bereits im Präskript wird Gottes Kommen auf den Christus hin zugespitzt. Der Prophetenspruch in 1,7 rückt mit der Mischanspielung sowohl auf den mit den Wolken des Himmels Kommenden von Dan 7,13 wie auf den beklagten Durchbohrten von Sach 12,10 die Gestalt Jesu vor Augen (vgl. Mt 24,30). Es ist kein Zufall, dass im Schlussteil der Apokalypse, wo sich die Situationsbezüge noch einmal markant verdichten, das Kommen Jesu leitmotivisch ins Zentrum rückt (22,7.12.20). In 22,20 bündelt sich mit der Anspielung auf das urchristliche maranata (vgl. 1 Kor 16,22) die gesamte Botschaft der Offenbarung. Der christologischen Fokussierung des Kommens Gottes gesellt sich der Transfer göttlicher Attribute auf Jesus zur Seite: Jesus zeigt nicht nur, wie in der Berufungsvision (1,14), die Züge des „Alten“ aus Dan 7,9, sondern stellt sich auch unter Rückgriff auf das Jesaiabuch als Träger des „Ersten und Letzten“, des „A und Ω“ vor (1,17; 2,8; 22,13).10 Vielleicht darf man noch einen Schritt weitergehen: Wenn die Selbstvorstellung Jesu in 1,17 f diejenige Gottes in 1,4.8 variiert, so haben wir im Dreischritt von „Leben“ – „Tod“ – „neues, ewiges Leben“ die christologische Variation der theo-logischen Dreizeitenformel vor uns (verkürzt in 2,8). Jesu Sein als „Erster“ und „Lebender“ liesse sich dann leicht auf seine Präexistenz, die von der Apk auch sonst bezeugt wird (3,14; vgl. 19,13), deuten. Wie auch immer: Es ist unverkennbar, dass der Seher von Patmos die Gestalt Christi in den heiligen Gottesnamen selber einzeichnet. Der Modus des Kommens Gottes, des „Herrn und Pantokrators“,11 wird durch Jesus Christus repräsentiert. Es wäre geradezu angebracht, die Formulierung des Untertitels dieser Zeilen „Jesus als Träger des Gottesnamens“ auf den Kopf zu stellen: Der hochheilige Gottesname wird zum Träger der Gestalt und Geschichte Jesu! Nur am Rand ist anzumerken, dass die Apokalypse mit ihrem regen Interesse an der Namensgebung, an der ‚Theonomastik‘, Jesus wahrscheinlich auch direkt als Träger des göttlichen Namens porträtiert (19,12): Der Parusiechristus, der Reiter auf dem weissen Pferd, trägt nicht nur den hehren Namen „das Wort Gottes“ (V. 13) und die Hoheitstitel „König der Könige und Herr der Herren“ (V. 16), sondern auf seinen Diademen einen Namen, „den niemand kennt als er selbst“ (vgl. 2,17; 3,12). Im Blick auf die reiche jüdische Tradition des mächtigen und zugleich geheimen Gottesnamens liegt es nahe, dabei an das Tetragramm zu denken.12
10 Vgl.
Jes 44,6; 48,12; ferner 41,4. κύριος ὁ θεὸς ὁ παντοκράτωρ als „bevorzugter Gottesbezeichnung“ in der Apk vgl. Zimmermann, Namen (s. Anm. 5) 259–269, wo insbesondere die „polemische Absetzung vom Titel αὐτοκράτωρ der römischen Kaiser“ unterstrichen wird (266 ff). 12 Demgegenüber verbietet H. Giesen, Die Offenbarung des Johannes (RNT), Regensburg 1997, „jede Frage danach, auf welchen Namen der Vf genauerhin anspielt“ (422). Zu literarkritischen Operationen sieht sich U. B. Müller, Die Offenbarung des Johannes (ÖTBK 19), Gütersloh 1984, 323 f, im Anschluss an ältere Autoren genötigt (V. 13b als Glosse). 11 Zu
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2. Ein vorzüglicher Name (Hebr 1,1–2,18) Der monumental gestaltete Eingang in den Hebräerbrief (1,1–2,18) versammelt eine ganze Reihe von für unsere Fragestellung zentralen Elementen. In seinem Kern bietet er eine synkrisis, einen rhetorisch gestalteten Vergleich, zwischen Jesus Christus und den Engeln. Die Funktion unseres Textes ist es, zugleich die göttliche und die menschliche ‚Natur‘ Jesu vor Augen zu führen. Der Rückgriff auf die Engel dient dabei der Kontrastierung, wird doch Jesus porträtiert sowohl als einer, der kraft seiner gottgleichen Würde den Engeln überlegen ist, wie als einer, der unter ihnen steht und am menschlichen Geschick Anteil hat. In dieser Komparation, die sich von 1,4 bis 1,14 erstreckt, fungiert 1,4 als Themenangabe: „Er ist so viel grösser geworden als die Engel, wie er ererbt hat einen erhabeneren Namen als sie.“
In der Folge wird bis zum Ende von Kap. 2 eine fortlaufende Kollektion von Schriftworten, eine ‚Katene‘, entfaltet, die von der überragenden Position Christi zeugt. Unsere Aufmerksamkeit gilt im Besonderen drei Punkten: erstens dem vorzüglichen Namen von V. 4; zweitens der damit verbundenen Bestimmung der Identität von Jesus Christus; und drittens der Funktion der Schriftworte. 1. Es fällt auf, dass unser Text den „erhabeneren Namen“ nicht ausdrücklich nennt. In der Exegese gilt es daher als strittig, ob es um den Gottesnamen selbst geht, d. h. faktisch um den Kyriostitel, oder um einen anderen Namen. Obschon sich eine Identifizierung des Namens mit dem Gottesnamen bzw. dem Herrentitel für unsere Fragestellung geradezu verführerisch aufdrängt,13 spricht doch entschieden mehr für einen anderen Namen, nämlich für den gleich im Folgenden genannten: den „Sohn“ (V. 5; vgl. V. 8).14 Durch die Sohnschaft, bezeugt durch die klassischen Bibelworte Ps 2,7 und 2 Sam 7,14, ist der Christus ausgezeichnet gegenüber aller Kreatur, auch gegenüber den Himmelswesen rund um den göttlichen Thron. Zugleich wird damit Gott als Vater identifiziert; Jesus steht als Sohn in einzigartiger Relation zum Vater. Nur im Vorbeigehen sei darauf hingewiesen, dass das Johannesevangelium von der Relation zwischen Vater und Sohn ausgehend eine eigentümliche Namenstheologie entwirft: Jesus offenbart
13 So J. H. Ulrichsen, Διαφορώτερον ὄνομα in Hebr. 1,4, StTh 38 (1984) 65–75; H.‑F. Weiss, Der Brief an die Hebräer (KEK 1513), Göttingen 1991, 153 f. 14 Für diese Lesart spricht auch der „Erstgeborene“ von V. 6 sowie der bereits in 1,2 eingeführte „Sohn“ als der „Erbe“ des Alls. So die Mehrheit der Ausleger, vgl. z. B. H. W. Attridge, The Epistle to the Hebrews (Hermeneia), Philadelphia 1989, 47 f; E. Grässer, An die Hebräer (EKK 17), Bd. 1, Zürich / Neukirchen 1990, 66 f; P. Ellingworth, The Epistle to the Hebrews (NIGTC), Grand Rapids 1993, 105 f; Ruck-Schröder, Name (s. Anm. 5) 221 f; M. Karrer Der Brief an die Hebräer (ÖTBK 20), Bd. 1, Gütersloh 2002, 116.
2. Ein vorzüglicher Name (Hebr 1,1–2,18)
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den Namen Gottes (17,6.26) und hat selber den Namen Gottes erhalten (17,11 f), denn sie beide sind eins.15 2. Obschon der Hebräerbrief eine markante ‚hohe Christologie‘ vertritt, unter Einschluss von Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft (1,2 f!), gilt sein Hauptinteresse der Erhöhung, die mit der Position der umfassenden Weltherrschaft einhergeht. Die Erhöhung fungiert als Leitmotiv bereits am Anfang mit dem Hinweis auf das Ererben des Alls (V. 2) und dem Sitzen zur Rechten Gottes in V. 3 (wo die Umschreibung des Gottesnamens durch „Grösse“ Beachtung verdient). Die Namensverleihung gehört standardmässig zum Inthronisationsakt, auf den die Engel mit Proskynese respondieren (V. 6 nach Dtn 32,43LXX und Ps 97,7). Nun bleibt es aber nicht beim Sohnesnamen. Dieser wird vielmehr durch weitere göttliche Namen bzw. Titel amplifiziert, wie es der antiken Tradition der Polyonymie göttlicher Wesen entspricht: V. 8 spricht Jesus als „Gott“ an (nach Ps 45,7 LXX); V. 10 fügt den „Herrn“, wieder als Anrede, hinzu (nach Ps 102,26LXX), sekundiert von V. 13 mit dem Zitat aus dem Eingang des für die Urchristen zentralen Psalms 110. In dichter Folge werden also die drei entscheidenden Titel der frühsten Christologie aufgeboten. Die Stossrichtung ist deutlich: Jesus Christus wird als Träger der Gottesnamen bzw. der Hoheitstitel präsentiert; ihm ist die Weltherrschaft übertragen, wie er bereits als Präexistenter am Schöpfungswerk teilhat. Jesus teilt also genau jene Merkmale, die die Einzigkeit des Gottes Israels ausmachen:16 den besonderen Namen; die Schöpferwürde; die Weltherrschaft; die Retterfunktion – auch diese markiert eines der grossen Themen im Hebräerbrief (vgl. schon V. 3) – und schliesslich das Empfangen von Anbetung. 3. Es fällt auf, wie sich der Verfasser des Hebräerbriefs an einer katenenartigen Folge von Schriftworten orientiert. Wir halten für den weiteren Fortgang unserer Untersuchung fest, dass der Bibelauslegung eine kaum zu ermessende Tragweite für die Überzeugung, wonach es sich bei Jesus um die Manifestation Gottes und den Träger des Gottesnamens handelt, zukommt. Die gottgleiche Würde Jesu wurde erst gleichsam ‚entdeckt‘ durch die christologische Relektüre der Schrift, im Besonderen durch die Identifizierung Jesu mit dem Kyrios der griechischen Übersetzungen der hebräischen Bibel. Damit lenken wir zum dritten Textkomplex über, der für unsere Fragestellung der Spitzentext bleibt und dem vorliegenden Aufsatz auch seinen Namen verliehen hat: dem Christuslob im Philipperbrief.
15 Vgl. zur johanneischen Theologie des Namens Ruck-Schröder, Name (s. Anm. 5) 203–213; L. W. Hurtado, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids 2003, 381–389. Zum Verhältnis von Vater und Sohn im johanneischen Schrifttum vgl. Zimmermann, Namen (s. Anm. 5) 115–127. 16 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Zwischen Monotheismus und Engelchristologie, in: S. Vollen weider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 3–27, hier: 6 f.
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„Der Name, der über jedem anderen Namen ist“
3. „Der Name, der über jedem anderen Namen ist“ (Phil 2,9–11) In Phil 2,6–11 haben wir eine ungemein verdichtete christologische Passage vor uns, die sich in ihrem zweiten Teil um den Gottesnamen dreht. In V. 9–11 wird der erst präexistente und dann bis in den Tod erniedrigte Jesus mit dem „Namen, der über jedem anderen Namen ist“, ausgezeichnet. Die Ausstattung mit diesem Namen geht einher mit der Einsetzung in die höchste denkbare Position, die Weltherrschaft, und mit dem Empfang von Proskynese und Akklamation. Der so erhöhte Jesus teilt also die einzigartige Stellung Gottes. Gerade die Beobachtung, dass sich der Hymnus17 in seinem zweiten Teil derart stark am Namen Gottes orientiert, ist m. E. ein starkes Argument dafür, dass er in eine dezidiert judenchristliche Matrix einzuzeichnen ist. Das gilt selbst dann, wenn er von Paulus selbst herstammen sollte,18 ist doch auch dieser als griechischsprachiger Judenchrist gut mit den genuin jüdischen Traditionen rund um den heiligen Gottesnamen und den göttlichen Thronsaal vertraut. Es ist kein Zufall, dass wir uns mit dieser Einordnung von Phil 2,9–11 in denselben religionsgeschichtlichen Feldern bewegen, in denen sich gerade auch die von uns zuvor berücksichtigten Texte, die Apokalypse und der Hebräerbrief, situieren lassen. Das Interesse an den ‚numinosen‘ Dimensionen der Gottesnamen kennzeichnet später auch die jüdische Mystik, wie sie in den Hekalot-Texten fassbar ist. Diese kreisen im Besonderen um den heiligen Gottesnamen und seine zahlreichen Variationen, bis hin zu Theurgie und Beschwörung. Im Mittelalter kulminieren diese Strömungen in den Systemen der Kabbala, die die Fülle der Gottheit und ihrer Namen im Schema der Sefirot anordnen.
Der Text von Phil 2,9–11 gibt Anlass, in einem ersten Schritt die eigentümlichen Referenzen auf die Namen zu untersuchen. Ein zweiter Gang gilt der Anspielung auf das Jesaiabuch. Der dritte Teil fragt nach dem Verhältnis von Christusverehrung und Monotheismus. 1. Das Christuslob erzählt davon, wie Gott den getöteten Jesus über alle Massen erhöht. Die Erhöhung geht, ganz analog zu Hebr 1,4, einher mit der Verleihung des höchsten Namens.19 Es lässt sich kaum daran zweifeln, dass damit der 17 Die formgeschichtliche bzw. rhetorik-theoretische Frage, ob man im Neuen Testament von Hymnen sprechen darf, ist derzeit äusserst umstritten. Versteht man „Hymnus“ nicht im spezifischen Sinn als metrisch gebundene Textsorte, sondern umfassender als Lob eines göttlichen Wesens, verbunden mit verdichteter theologischer Reflexion und überschwänglichem Stil, fällt Phil 2,6–11 in diese Kategorie – ganz unabhängig von der schwierigen Frage, ob ein derartiger Text seinen Sitz im Leben im Gottesdienst, also im urchristlichen Kult, hat. 18 So etwa M. Brucker, ,Christushymnen‘ oder ‚epideiktische Passagen‘? Studien zum Stilwechsel im Neuen Testament und seiner Umwelt (FRLANT 176), Göttingen 1997, 310–315; M. Bockmuehl, A Commentary on the Epistle to the Philippians (BNTC), London 1997, 117–120. 19 Zum traditionsgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Phil 2 und Hebr 1/2 vgl. O. Hofius, Der Christushymnus Philipper 2,6–11 (WUNT 17), Tübingen 21991, 75–102; Weiss, Hebr (s. Anm. 13) 135 f.
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heilige Gottesname gemeint ist.20 Um den gleich im Anschluss daran ausdrücklich genannten Namen „Jesus“ kann es sich nicht handeln, da dieser ja nicht erst bei der Erhöhung verliehen worden ist. Mit dem Gottesnamen ist freilich nicht eigens das Tetragramm gemeint, sondern dessen Äquivalent, der Kyriostitel. Vieles spricht dafür, dass bereits im frühjüdischen Bereich das Tetragramm als „Herr“ wiedergegeben wurde, was im griechischsprachigen Judentum zur Wahl des Lexems Kyrios führte.21 In Phil 2 kommt der Kyriostitel explizit in V. 11 zur Sprache. Für die Wendung „der Name, der über jedem anderen Namen ist“ (V. 9) gibt es aufschlussreiches Vergleichsmaterial in jüdischen Texten, nicht zufällig besonders in liturgischem und mystischem Kontext.22 Die Teilhabe des erhöhten Jesus am heiligen Gottesnamen bzw. seinem titularen Äquivalent rückt diesen auf die Seite Gottes. Allerdings will beachtet sein, dass frühjüdische Texte auch andere Wesenheiten wie herausragende Engelfürsten oder göttliche Hypostasen am Gottesnamen partizipieren lassen.23 Nun bringt das Christuslob gleich anschliessend in V. 10a einen weiteren Namen ins Spiel, nämlich Jesus. Man beachte, dass es diesen Namen bisher – jedenfalls in der uns im Philipperbrief erhaltenen Fassung – nicht genannt hat. Die Formulierung „im Namen Jesu“ ist freilich nicht eindeutig: Handelt es sich um einen explikativen Genetiv (genetivus appositivus) – „der Name Jesus“ – oder um einen genetivus possessionis – „der Name, den Jesus hat“, nämlich der Gottesname? Ich halte die erstere Deutung für viel wahrscheinlicher, obschon sie im unmittelbaren Kontext schwieriger ist. Das mit Präposition verbundene Syntagma „Name Jesu (Christi)“ ist geläufige urchristliche Sprache und meint durchweg den Eigennamen Jesus.
Die Spitze unseres Textes ist dann so zu bestimmen, dass der heilige Gottesname bzw. sein Äquivalent, der Kyriostitel, und der Eigenname Jesus eine Fusion eingehen. Beide finden sich denn auch in der Akklamation, die von allen Kreaturen 20 Zur Diskussion vgl. Hofius, Christushymnus (s. Anm. 19) 27 f; 109–113; P. T. O’Brien, The Epistle to the Philippians (NIGTC), Grand Rapids 1991, 237 f; G. F. Hawthorne / R. P. Martin, Philippians, rev. ed. (WBC 43), Nashville 2004, 126. 21 Vgl. zusammenfassend D. Zeller, Art. Kyrios, DDD (21999) 494; M. Rösel, Adonaj – warum Gott ‚Herr‘ genannt wird (FAT 29), Tübingen 2000, 5–7. 22 Vgl. die bei Hofius, Christushymnus (s. Anm. 20) verzeichneten Belege. Eigens hinzuweisen ist auf die Hekalot-Texte, die grossenteils in Verherrlichung und Beschwörung kreisen um den „Namen der Herrlichkeit seines Königtums“ (שם כבוד מלכותו, § 314 [Hekalot-Rabbati]; vgl. § 384; 516; 555; 939 u.ö.), „den grossen, mächtigen und furchtbaren Namen“ (§ 330; 551; 594; 638 u.ö.). So spricht der hohe Engelfürst über den Gehinnom (Maase-Merkaba, § 587): „Dein grosser Name ist rein und erhoben über alle Oberen und über alle Unteren. Das Vorrecht der Erde ist dein Name, und das Vorrecht des Himmels ist dein Name. Engel erheben sich im Himmel, und Gerechte sind sicher durch die Nennung deines (Namens), und dein Name schwebt über allem.“ Die höchsten Engelklassen – Ofannim, Serafim, Throntiere, Merkaba-Räder – singen in Getöse (aaO., § 591): „Heilig ist dein Name in den Himmeln der Himmel, hoch und erhaben über allen Kerubim. Geheiligt werde dein Name in deiner Heiligkeit, gross gemacht in Grösse, mächtig gemacht in Macht“ (übs. P. Schäfer). 23 Die wichtigsten Belege für Engel als Träger des Gottesnamens (besonders Jaoel, Metatron, Anafiel, auch Michael) sind aufgeführt bei Vollenweider, Monotheismus (s. Anm. 16) 11.
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des Himmels, der Erde und der Totenwelt gesprochen wird (V. 11b): „Herr ist Jesus Christus!“ Die Formulierung „im Namen Jesu“ besagt also, dass Jesus unter Anrufung seines Namens als Weltenherrscher und als Träger des Gottesnamens die Proskynese empfängt.24 Offenbar kommt es zu einer Perichorese des hochheiligen Gottesnamens und des ganz gewöhnlichen Alltagsnamens eines jüdischen Zeitgenossen. Das heisst nicht weniger, als dass Gott aufgrund seines Handelns am getöteten Jesus seinen Namen fortan untrennbar mit dessen Name verbindet, während umgekehrt der Jesusname an der Macht des Gottesnamens teilhat. Mutatis mutandis entspricht dieses Modell gegenseitiger Namensteilgabe dem Reziprozitätsverhältnis, dem wir im Hebräerbrief und Johannesevangelium begegneten und das für die trinitarische Lehrbildung der Alten Kirche so produktiv sein sollte: der Relation von Vater und Sohn, worin der je eine auf den je anderen verweist. 2. Das Christuslob von Phil 2 spielt deutlich auf einen Prophetentext, auf Jes 45,23, an. Das streng auf Gott selbst bezogene Wort wird aber auf Jesus bezogen: statt „für mich“ ergeht das Bekenntnis „im Namen Jesu“ und gilt nun dem „Herrn Jesus Christus“. Die christologische Adaptation fällt um so mehr auf, wenn man den Jesaia-Vers in seinem grösseren Kontext liest: Jes 45 ist einer der monotheistischen Spitzentexte der hebräischen Bibel, dessen cantus firmus das Deuterojesaiabuch durchzieht:25 „Ich bin der Herr und keiner sonst; ausser mir ist kein Gott.“
Die frühen Christen scheinen mit voller Absicht die Gestalt Christi in das Gravitationsfeld des monotheistischen Gottesglaubens einzuzeichnen.26 Wir können darüber hinaus auch annehmen, dass die enorme Bedeutung, die gerade dem Namen Gottes bei Deuterojesaia zukommt (42,8; 48,9.11; 50,10; 51,15; 52,6; 54,5; 57,15), die am Namen orientierte christologische Relektüre der Schrift zusätzlich befördert hat. 3. Das Christuslob von Phil 2,6–11 lässt sich als prominenter neutestamentlicher Zeuge in Anspruch nehmen für die These, dass sich in der Namengebung des biblischen Gottes ein eigentümliches monotheistisches Programm erkennen lasse. Unser Text arbeitet geradezu exemplarisch das heraus, was auf den ersten Blick unvereinbar scheint: Das Miteinander und Zueinander von Gottes Einzigkeit und von Jesu einzigartiger Hoheit. Bereits in seinem ersten Teil, in V. 6–8, zeichnet der Hymnus die Kenosis des Christus vor dem Hintergrund der einzigartigen Position Gottes. Die eigenartige Formulierung, dass es Christus nicht Christus ist hier wie auch sonst im Urchristentum bereits zu einem Eigennamen geworden. Jes 45,5; vgl. 43,11; 44,6–8; 45,5–7.21; 64,3. 26 Vgl. Hurtado, Lord (s. Anm. 15) 77 f; sowie meinen Aufsatz: Vom israelitischen zum christologischen Monotheismus, in: P. Hanson / B. Janowski / M. Welker (Hg.), Biblische Theologie (Altes Testament und Moderne 14), Münster 2005, 123–133, Abdruck in diesem Band: 21–31. 24
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für einen „Raub“ hielt, gottgleich zu sein, dürfte der Abwehr des Ditheismusvorwurfs dienen (vgl. Joh 5,18).27 Der zweite Teil des Christuslobs (V. 9–11) macht Gott allein zum Handelnden; Jesus wird demgegenüber als schlechthinniger Empfänger gezeichnet, wie er analog auch in seiner Selbstentäusserung als Gehorsamer porträtiert wird. Vor allem aber lenkt die Klimax des Christuslobs, die Wendung „zur Ehre Gottes, des Vaters“ (V. 11c), wieder zurück auf den Einen und Einzigen.28 Ihm gilt letztlich das lobpreisende Bekennen aller Schöpfung. Unser Text versucht also beides, die unvergleichliche Würde Jesu und die Einzigkeit Gottes, einander zuzuordnen und kann damit als ‚Leitfossil‘ des schon früh im ersten Jahrhundert sich herausbildenden ‚christologischen Monotheismus‘ identifiziert werden. Phil 2,6–11 belegt, wie jüdische Jesusanhänger ihre Treue zum überkommenen monotheistischen Gottesglauben Israels mit ihrer umstürzenden Überzeugung von Jesu Teilhabe an Gottes Macht und Hoheit zu vereinen suchen. Umgekehrt kann es nicht erstaunen, dass das zeitgenössische Judentum diesen Versuch, den Kyrios Jesus unter dem Mantel des einen und einzigen Gottes zu orten, entschieden als Lehre von zwei Mächten und damit als Ditheismus abgelehnt hat.29
4. JHWH, Kyrios, Jesus Wir konnten in einzelnen Texten verfolgen, wie der heilige Gottesname Israels auf die Gestalt und Geschichte Jesu hin geöffnet wird und wie Jesus seinerseits zum Träger von Gottesnamen bzw. von Hoheitstiteln wird. Vor allem die Übertragung des Herrentitels, des qere des Tetragramms, auf Jesus ist von grösster Bedeutung. Der Eingang des Hebräerbriefs zeigt, dass die Schriftauslegung hier als Generator wirkte. Die Jesusanhänger haben schon sehr früh eine christologische Relektüre der Schrift gepflegt. Schriftworte wie Ps 110, der meistzitierte Text des Alten Testaments im Neuen Testament, präsentierten eine Brücke, die zur Identifizierung des Kyrios der griechischen jüdischen Bibel mit dem Kyrios Jesus Christus einlud. Bei zahlreichen Zitaten des Alten Testaments im Neuen ist nicht von vornherein klar, ob der Kyrios auf Gott selbst oder aber auf Jesus zu 27 Vgl. dazu meine Studie: Der „Raub“ der Gottgleichheit, in: Vollenweider, Horizonte (s. Anm. 16) 263–284. 28 Vgl. zum Verhältnis von „Christozentrik“ und „Theozentrik“ insbesondere W. Thüsing, Gott und Christus in der paulinischen Soteriologie, Bd. 1: Per Christum in Deum (NTA.NF 1), Münster 31986, 46–60. 29 Zur Thematik vgl. A. F. Segal, Two Powers in Heaven (SJLA 25), Leiden 1977. Das Johannesevangelium setzt sich in drei Schlüsselszenen gegen den jüdischen Vorwurf, Jesus verletze die Einzigkeit Gottes (Joh 5,18–18; 10,30–39; 19,1–7), zur Wehr, indem es die exklusive Einheit von Vater und Sohn herausstellt. Vgl. dazu Th. Söding, „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30). Die johanneische Christologie vor dem Anspruch des Hauptgebotes (Dtn 6,4 f), ZNW 93 (2002) 177–199.
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beziehen ist; bei manchen von ihnen ist die Referenz auf Jesus offenkundig und gewollt, wie etwa die Anspielung auf Joel 3,5 in Röm 10,13 zeigt:30 „Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.“ (vgl. 10,9)
Trotz der Omnipräsenz des weitgehend als Name fungierenden Kyriostitels im Urchristentum lässt sich nicht von einer distinkten ‚Namenschristologie‘ sprechen, die man als bessere Option gegenüber den mehr griechisch-hellenistischen Spielarten der Christologie zu privilegieren hätte, weil sie dem Judentum näher stünde.31 Das Bewusstsein, dass es sich beim Kyrios um den Platzhalter des Tetragramms handelt, dürfen wir zwar bei den Jesusanhängern jüdischer Herkunft voraussetzen. Es fällt aber auf, dass Jesus selten explizit und gewichtig als Träger des Gottesnamens porträtiert wird; Phil 2 bildet hier eher die Ausnahme als die Spitze eines Eisbergs. Es hat den Anschein, dass andere christologische Figuren die theologische Entwicklung viel stärker vorangetrieben haben. So ist es der Fall bei der Gottessohn-Christologie, die auf die singuläre und exklusive Relation von Vater und Sohn abhebt, oder bei der Logos-Christologie, die einerseits die jüdische Weisheitstradition, andrerseits die griechisch-hellenistische Logos- Philosophie adaptierte. Mit dem Kyrios verbanden sich in der mediterranen Antike zahlreiche andere Felder, etwa politische, so dass die spezifische Relation zum Gottesnamen der hebräischen Bibel oft gar nicht mehr aktualisiert wurde. Nicht von ungefähr hat die Religionsgeschichtliche Schule die Konjunktur des Kyriostitels erst der Produktivität des hellenistischen Christentums zuschreiben wollen und sich deshalb auf die orientalischen Kultgottheiten, nicht aber auf den Heiligen Israels berufen.32 Unbeschadet all dieser Vorbehalte sehen wir uns einer eindrücklichen Dreiheit von Namen gegenüber: JHWH, Kyrios, Jesus. Es ist vielleicht nicht ganz abwegig, in diesen drei einander zugeordneten und einander inkludierenden Namen drei zentrale Dimensionen des göttlichen Wesens zu identifizieren: Bringt das Tetragramm die Erhabenheit und Transzendenz Gottes zum Ausdruck, wovon zumal die mystischen Texte des Judentums eindrücklich zeugen, so fokussiert der Kyriostitel auf die machtvolle und alles erfüllende Präsenz Gottes in der Welt mitsamt der politischen Antithese zu all ihren Herrschern. Der Jesusname erinnert 30 Vgl. dazu D. B. Capes, Old Testament Yahweh Texts in Paul’s Christology (WUNT II/47), Tübingen 1992, 116–123; C. J. Davis, The Name and Way of the Lord (JSNT.S 129), Sheffield 1996, 129–131. 31 Bei den Vertretern einer New Religionsgeschichte spielt die am Namen orientierte Christologie eine nicht unbedeutende Rolle; vgl. J. E. Fossum, The Name of God and the Angel of the Lord (WUNT 36), Tübingen 1985, 76–191; 241–296; 336 f u.ö.; Ch.A. Gieschen, Angelomorphic Christology (AGJU 42), Leiden 1998, 70–78; 227; 253–255; 272 f; 296 f; 337–339; 350. Für die frühe altkirchliche Literatur vgl. insbesondere die Diskussion der Namenschristologie im Hirten des Hermas, dazu A. Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 1, Freiburg 3 1990, 144–147; N. Brox, Der Hirt des Hermas (KAV 7), Göttingen 1991, 418 f; 427 f; C. Osiek, Shepherd of Hermas (Hermeneia), Minneapolis 1999, 34 f. 32 Vgl. W. Bousset, Kyrios Christos (FRLANT 4), Göttingen 41921 (= 61967), 77–104.
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schliesslich die Nähe und Liebe des zu seinen Geschöpfen kommenden guten Gottes, dokumentiert in den Erzählungen der Evangelien. Die Stichworte ‚Jesus‘ und ‚Evangelien‘ lenken uns zum Schluss auf Jesus von Nazaret zurück. Es kommt ja nicht von ungefähr, dass ihn seine ersten Anhänger zum Träger des Gottesnamens machten. In seinem Gebet rangiert die Bitte um die Heiligung des Gottesnamens an erster Stelle (Mt 6,9 par.). Jesus steht hier ganz in der Tradition jüdischer Gebete, etwa des Qaddisch.33 Und wie dieses betet er um das Kommen des Königreiches Gottes. Nun hat Jesus die Königsherrschaft Gottes nicht nur erhofft, sondern in seinem eigenen Wirken zeichenhaft und fragmentarisch Ereignis werden lassen. Rudolf Otto hat diesbezüglich trefflich formuliert:34 „Nicht Jesus ‚bringt‘ das Reich […], sondern das Reich bringt ihn mit.“ Was von der zweiten Bitte des Unservater gilt, kann um so mehr von der ersten gelten: Die Jesusgeschichte bringt die Tragweite der Heiligung des Gottesnamens an den Tag. Das Erste Evangelium hat seine Jesuserzählung deshalb bedeutungsvoll unter den Namen des Immanuel gestellt (Mt 1,23).35
33 „Erhöht und geheiligt sei Sein grosser Name in der Welt, die Er nach seinem Willen geschaffen hat. Sein Königreich komme während eures Lebens und eurer Tage und des Lebens des ganzen Hauses Israel, bald in naher Zeit“ (übs. nach L. Trepp, Der jüdische Gottesdienst, Stuttgart 1992, 154). 34 R. Otto, Reich Gottes und Menschensohn, München 31954, 75. 35 Vgl. U. Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen 1993, 42–44.
Ganzheitlich oder doch dualistisch? Über wenig attraktive Alternativen in der neutestamentlichen Anthropologie Abstract Holistic or Dualistic? On Not Very Attractive Alternatives in New Testament Anthropology Very often biblical anthropology is called “holistic” and distinguished from dualistic Greek-Hellenistic concepts. In reality the issue is more complicated. Especially in the New Testament there are models where dichotomous or even dualistic figures interact with holistic figures, as in Paul’s case. The essay deals with the significance and meaning of dualistic figures in anthropology that are characteristic of the imperial period (mind body opposition).
Es zählt zu den stabilen Einsichten neuzeitlicher theologischer Anthropologien, dass die Bibel grundsätzlich von einem im Ansatz ganzheitlichen Verständnis des Menschen ausgeht. Vor allem das Alte Testament und, in seinem Gravitationsfeld, das Judentum lassen eine Sicht personaler Identität erkennen, die sich über das spezifisch anthropologische Modell hinaus auch sozial, ethisch und eschatologisch artikulieren lässt.1 Die Theologie hat sich mit Hilfe der holistischen Figuren befreit von der Dominanz überkommener Konzeptionen, die einen Dualismus von Körper und Geist oder von Sinnlichkeit und Vernunft voraussetzen. Nicht selten hat sich mit dem Lob der biblischen Ganzheitlichkeit eine Verurteilung von dualisierenden bzw. dichotomischen Anthropologien verbunden, 1 Der Klassiker ist hier H. W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments (1973), neu herausgegeben von B. Janowski, Gütersloh 2010 (besonders 29–31); zur Würdigung vgl. Janowski, hier: 373–414, besonders 394 f sowie B. Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, ThLZ 139 (2014) 535–554, hier: 536–540. Vgl. z. B. H.-H. Schrey, Art. Leib/Leiblichkeit, TRE 20 (1990) 638–643, hier: 638 f („Die Frage, ob das Alte Testament dichotomisch oder trichotomisch denke, also eine strikte Unterscheidung zwischen Seele und Geist mache, ist müssig, da sie der Denkart des Alten Testaments fremd ist. Geist, Seele und Leib meinen jeweils den ganzen Menschen in je verschiedener Hinsicht“); R. Albertz, Art. Mensch II. AT, TRE 22 (1992) 464–474, hier: 465 („Die anthropologische Begrifflichkeit des Alten Testaments weist auf ein ganzheitliches Menschenverständnis, das durchaus Parallelen in den antiken semitischen Kulturen besitzt, sich aber deutlich vom dichotomischen [Seele-Leib] bzw. trichotomischen [Geist-Seele-Leib] Menschenbild der philosophisch-christlichen Tradition des Abendlandes unterscheidet“). Vgl. die differenzierende Darstellung von B. Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019, 518; 544 f; zum „embodiment“ 137 f; 540.
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die seit dem Griechentum bzw. dem Hellenismus die spätantike, mittelalterliche und noch frühmoderne Geistesgeschichte mitbestimmt haben.2 In jüngerer Zeit ist das Modell des „ganzen Menschen“ sogar weiträumig in den verschiedenen anthropologischen Entwürfen und Diskursen der antiken Mittelmeerwelt identifiziert worden.3 Das Neue Testament selber ist in diesem Diskurszusammenhang verschiedenartig beurteilt worden. Es liess sich mit einigem exegetischen Aufwand doch in die holistische Hauptlinie einreihen. Oder man nahm interne Unterscheidungen vor, die etwa die Jesusüberlieferung in ihren synoptischen Spielarten von den dualisierenden Zugkräften im Johannesevangelium oder in der Briefliteratur absetzen. Dabei bot es sich an, noch einmal die stark von der griechisch-hellenistischen Kultur her bestimmte Rezeption neutestamentlicher Texte in Antike, Mittelalter und Vormoderne im Kontrast zu ihrem biblisch-jüdischen Ursprungskontext zu problematisieren. Mehr oder weniger deutlich verbinden sich derartige Alternativen mit bestimmten Wertungen.
1. Jenseits der Stereotype Die eben skizzierte Sichtung biblischer Anthropologien ist mit Absicht holzschnittartig entworfen. Wie überall in den Geistes‑ und Kulturwissenschaften erzeugen Stereotype den berechtigten Ruf nach Differenzierung. Im Folgenden wird versucht, den überkommenen Schematismus von Holismus versus Dualismus ein Stück weit zu relativieren und nach geeigneteren und textnäheren Beschreibungen zu suchen.4 Vorweg deute ich vier Gesichtspunkte an, die für die Problemanalyse hilfreich sein können. Erstens: Statt einer Antithese von Holismus versus Dichotomie bietet sich fast von selber das Modell eines dynamischen Feldes an. Anthropologische 2 Repräsentativ etwa: K. Schöpflin, Art. Seele. II. AT, TRE 30 (1999) 737–740, hier: 739 f; G. Dautzenberg, Art. Seele. IV. NT, aaO. 744–748, hier: 745; 747. R. Leonhardt, Grundinformation Dogmatik (UTB 2214), Göttingen 32011, 262 f. 3 Vgl. den Sammelband von B. Janowski (Hg.), Der ganze Mensch. Zur Anthropologie der Antike und ihrer europäischen Rezeptionsgeschichte, Berlin 2012 (bzw. 2011). Hier besonders B. Janowski, Der „ganze Mensch“. Zur Geschichte und Absicht einer integrativen Formel, 9–21, mit besonderem Fokus auf den Relationen und auf der Unterscheidung von Leibsphäre und Sozialsphäre, d. h. dem Konzept einer „konstellativen Anthropologie“. Vgl. zum letzteren: ders., Konstellative Anthropologie. Zum Begriff der Person im Alten Testament, in: Ch. Frevel (Hg.), Biblische Anthropologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament (QD 237), Freiburg 2010, 64–83. 4 „Holismus“ und „holistisch“ wird in diesem Aufsatz synonym zu „Ganzheit“ und „ganzheitlich“ verwendet, und zwar als Antonym zu „Dualismus“. Im Kontrast zu dessen anderem möglichen Antonym, dem (anthropologischen) „Monismus“, liegt beim „Holismus“ ein weites semantisches Spektrum und eine ‚weichere‘ Konzeption vor, die mehr Differenz zulässt und vor allem Relationalität einschliesst. Zum Gegensatz von anthropologischem Dualismus und Monismus vgl. W. Pleger, Handbuch der Anthropologie. Die wichtigsten Konzepte von Homer bis Sartre, Darmstadt 2013, 55–93.
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Reflexionen haben es unausweichlich immer mit beziehungsreichen Differenzen zu tun – etwa mit dem Verhältnis von Einzelnem und Gemeinschaft, dem von Lebendigsein und Totsein, und natürlich mit der ‚psychophysischen‘ Polarität. Zur Frage steht nun, wie stark derartige Differenzen gewichtet werden, und hier gibt es erhebliche Unterschiede. Fragen wir nach dem Stellenwert von Differenzen und besonders nach demjenigen von Dualen, so rückt umgekehrt die Frage nach der personalen Einheit ins Blickfeld – ein ‚Ganzes‘ setzt ja einen bestimmten Beziehungszusammenhang zwischen Verschiedenem voraus, der ein verbindendes Eines artikuliert. Der klassische Bibeltext zur Menschenschöpfung, Gen 2,7, arbeitet beispielsweise mit einer markanten Polarität: Der Mensch ist Staub vom Erdboden und beseelt vom göttlichen Lebensatem. Genau so ist er aber ein ganzes „lebendiges Wesen“.5 Der Dual von Körper und Lebensgeist führt also nicht notwendig zu einer dichotomischen Anthropologie. Erst dann, wenn das personale Zentrum des Menschen, sein Selbst, ganz in der einen Hälfte verortet wird, haben wir eine im Ansatz dual(istisch) entworfene Anthropologie vor uns. Im Horizont antiker Religionen ist es naheliegend, die Doppelnatur des Menschen mit zwei Welten zu korrelieren: der himmlischen Welt der Götter bzw. Engel einerseits und der irdisch-sinnlichen Welt andrerseits. Wie der Mensch in diesem Raumgefüge zu situieren ist, wird ganz verschieden beantwortet. Ein in der späteren Antike prominent gewordenes Anthropologumenon, das eine reiche Rezeptionsgeschichte erzeugt hat, ist das Bild des „Amphibiums“: Der Mensch steht zwischen beiden Welten und hat an beiden teil; er ist ein Grenzgänger und Zwischenwesen. Die in der Fussnote6 aufgeführten exemplarischen Texte zeigen deutlich, wie anthropologische Konzeptionen über distinkte Kulturen hinweg 5 Vgl. B. Janowski, Der ganze Mensch. Zu den Koordinaten der alttestamentlichen Anthro pologie, ZThK 113 (2016) 1–28, hier: 6–8 („Zu den Charakteristika alttestamentlicher Anthropologie zählt zunächst der die personale Identität konstituierende Zusammenhang von Leib und ‚Leben(skraft)‘“, 6). Ein Dualismus von Leib und Seele liegt hier nicht vor, vgl. Janowski, Anthropologie 2019 (s. Anm. 1) 50–52. 6 Philon zufolge steht der Mensch an der Grenze zwischen geistiger und körperlicher Welt, opif. 135 („der Mensch steht auf der Grenze zwischen der sterblichen und unsterblichen Natur [τὸν ἄνθρωπον θνητῆς καὶ ἀθανάτου φύσεως εἶναι μεθόριον], da er an beiden so viel, wie nötig ist, teilhat, und er ist zugleich sterblich und unsterblich geschaffen, sterblich in Bezug auf seinen Körper, unsterblich hinsichtlich seines Geistes“); dazu D. T. Runia, On the Creation of the Cosmos according to Moses (Philo of Alexandria Commentary Series 1), Leiden 2001, 321 (der Mensch als „borderline creature“); vgl. 327; vgl. sodann Greg. Nyss., hom. opif. 16 (PG 44, 181 B/C): „Ein Mittleres ist der Mensch, zwischen göttlicher, unkörperlicher Natur und unvernünftigem, tierischem Leben.“ Systematisch reflektiert wird der Gedanke besonders bei Hierokles, carm. aur. 1,5; 2,4; 20,2; 23,1–11 Köhler („als ein Mittleres zwischen so Verschiedenem wird der Mensch angesehen als ein ‚Doppellebiges‘, vom Oberen das Letzte, vom Unteren das Erste [μεσότης δὲ τῶν οὕτω διεστηκότων ὁ ἄνθρωπος ἐνορᾶται ἀμφίβιός τις ὢν καὶ ἔσχατος μὲν τῶν ἄνω, πρῶτος δὲ τῶν κάτω]”, 23,2) und bei Nemesios, nat. hom. 1, besonders 2,24 ff Morani („wie auf der Grenzscheide zwischen geistiger und sinnlicher Wesenheit [ὥσπερ ἐν μεθορίοις ἐστὶν νοητῆς καὶ αἰσθητῆς οὐσίας]“); vgl. 5,9; 6,7; 15,3 ff („kleiner Kosmos [μικρὸς κόσμος]“). Stark dualisiert erscheint das Schema im hermetischen Poimandres, CorpHerm 1,15 (es „ist der Mensch im Gegensatz zu allen [anderen] Lebewesen auf der Erde zweifachen Wesens: sterblich wegen seines Körpers, unsterblich aber wegen des wesenhaften Menschen“).
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als plausibel empfunden werden und selber als Grenzgängerinnen anzusprechen sind: Philon von Alexandria ist als platonischer Philosoph frommer Jude, der Bischof Nemesios von Emesa (um 400) steht ganz in griechischer literarischer Tradition,7 bei Hierokles (5. Jh.) hat die Forschung lange Zeit darüber diskutiert, ob er als Alexandriner zwischen heidnischem und christlichem Neuplatonismus vermittelt.
Zweitens: Beschäftigt man sich mit Texten der frühen Kaiserzeit, bewegt man sich in einer kulturtheoretisch zu beschreibenden Konstellation, die mit dem Stichwort Hellenisierung verbunden ist. In der jüngeren Exegese hat man sich abgewandt von dem „Judaism-Hellenism-Divide“, der fragwürdige kulturelle Alternativen aufrichtet und die Ausleger zu einem ‚Bekenntnis‘ drängt. Im Zug der hellenistischen Globalisierung, die den gesamten Mittelmeerraum über Jahrhunderte hinweg tiefgreifend transformiert und auch das Judentum in all seinen Spielarten umfassend tangiert (womöglich sogar: generiert), verbreiten sich auch dual orientierte Anthropologumena, die auf das klassische Griechenland, namentlich auf die Orphik und auf Platon, zurückgehen.8 So begegnet die Unterscheidung von Körper und Seele (bzw. Geist) auch im jüdischen Kernland und in aramäisch-hebräischer Literatur, etwa in den Henochbüchern und in rabbinischen Texten, vom Diasporajudentum samt der Septuaginta ganz zu schweigen.9 Drittens: Mit den angedeuteten grossräumigen Kulturtransformationen verbunden spielt die Individualisierung für die Anthropologien eine weitreichende Rolle. Seit der späthellenistischen Zeit gibt es, offenkundig das erste Mal in der abendländischen Geschichte, die Möglichkeit ganz individueller Optionen 7 Zu diesem Autor vgl. J. Söder, Der Mensch als personifizierte Freiheit bei Nemesios von Emesa, in: L. Jansen / Ch. Jedan (Hg.), Philosophische Anthropologie in der Antike, Heusenstamm 2010, 363–380; D. De Brasi, Eine Neubewertung des Körpers. Anthropologie und Glauben in den Schriften zur menschlichen Natur des Nemesios von Emesa und Gregor von Nyssa, in: D. de Brasi / S. Föllinger (Hg.), Anthropologie in Antike und Gegenwart. Biologische und philosophische Entwürfe vom Menschen, München 2015, 377–395. 8 Vgl. z. B. U. Poplutz, De immortalitate animae. Antike Vorgaben und das Neue Testament, HBl 1.2 (2005) 42–54; J. N. Bremmer, The Rise of the Unitary Soul and its Opposition to the Body. From Homer to Socrates, in: Jansen / Jedan, Anthropologie (s. Anm. 7) 11–29; ders., Die Karriere der Seele. Vom antiken Griechenland ins moderne Europa, in: Janowski, Mensch (s. Anm. 3) 497–524. Ein instruktiver Text ist der pseudo-platonische Axiochos; vgl. die mit Essays versehene Ausgabe: I. Männlein-Robert u. a. (Hg.), Ps.-Platon. Über den Tod (SAPERE 20), Tübingen 2012. Zu beachten ist, dass Zweinaturen-Anthropologien tief in den Alten Orient zurückreichen; vgl. W. Burkert, Die orientalisierende Epoche in der griechischen Religion und Literatur (SbHAW.PH 1984.1), Heidelberg 1984, 117, im Blick auf das Atramḥasis-Epos: „Hier bereits, rund 1000 Jahre vor Homer, liegt eine dualistische Anthropologie vor, die ‚Geist‘ und ‚Lehm‘ im Menschen, das göttliche und das körperliche Element einander gegenüberstellt.“ 9 Locus classicus ist Sap 9,15: „ein vergänglicher Leib nämlich beschwert die Seele, und das irdische Zelt belastet den um vieles besorgten Geist“ (φθαρτὸν γὰρ σῶμα βαρύνει ψυχήν, καὶ βρίθει τὸ γεῶδες σκῆνος νοῦν πολυφρόντιδα). Zur Septuaginta vgl. M. Rösel, Der hebräische Mensch im griechischen Gewand. Anthropologische Akzentsetzungen in der Septuaginta, in: B. Janowski / K. Liess (Hg.), Der Mensch im Alten Israel (HBS 59), Freiburg 2009, 69–92.
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für die Lebensführung, jedenfalls im urbanen Raum, zunächst für Eliten, dann zunehmend auch für Mittelschichtangehörige. Natürlich darf man auch Individualisierungsprozesse nicht linear bzw. progressiv beschreiben. So entwurzelt der Übergang von der selbständigen Polis zum Grossreich die Menschen keineswegs; gerade im ersten und zweiten Jahrhundert n. Chr. entwickeln sich in den prosperierenden Städten neue gemeinschaftliche Formen des Wir-Empfindens, etwa im Vereinsleben (collegia). Der Einzelne spielt im Fall des Christentums als Konversionsreligion eine ausschlaggebende Rolle, so sehr auch das mitinvolvierte „Haus“ einerseits, die neue Gemeinschaft andrerseits ihr eigenes Gewicht entfalten. Die gesellschaftliche Individualisierung schlägt sich selbstverständlich auch in anthropologischen Entwürfen nieder; in der Eschatologie begegnet sie etwa in den Spielarten des Beurteilungsgerichts, das über die Einzelnen ergeht. Einige Formen religiöser Philosophie schreiben dem Einzelnen schliesslich einen herausragenden Stellenwert zu; dem Thomasevangelium zufolge spricht Jesus die Einzelnen selig, und der Neuplatoniker Plotin zelebriert die „Flucht des Einzelnen zum Einzigen“, zum einen Göttlichen.10 Viertens: Besonderer Aufmerksamkeit bedarf das Verhältnis von Kategorien, die sich stärker an Substanzen orientieren, zu solchen relationaler Art. Es ist hinreichend bekannt, dass das neuzeitliche Interesse – in Absetzung von überkommenen, von Haus aus metaphysisch aufgeladenen Konzeptionen – den Beziehungen gilt, die sich ihrerseits eher hermeneutisch bzw. dialogisch oder aber funktional bzw. systemisch bestimmen lassen. Auch hier wird man den antiken Texten mit scharfen Alternativen nicht gerecht: Substanzialistisch entworfene Anthropologien schliessen relationale Dimensionen keineswegs aus. Partizipation ist beispielsweise nicht nur ein Schlüsselbegriff der paulinischen Theologie, sondern auch des Platonismus.11 Im Folgenden unternehmen wir eine tour d’horizon, die einige neutestamentliche Stationen aufsucht, vor allem: das Dreigestirn von Jesus, Johannes und Paulus. Im Fokus stehen Aussagen, die sich mindestens auf den ersten Blick nicht eben ganzheitlich ausnehmen. Wir fragen danach, ob sie die Dualisierung so weit treiben, dass sie nicht mehr leicht oder gar nicht mehr in das 10 Vgl. EvThom 49,1 („Selig sind die einzelnen, die Erwählten. Denn ihr werdet das Königreich finden“); 16,4; 75; zu Interpretationsnuancen vgl. S. Gathercole, The Gospel of Thomas. Introduction and Commentary, Leiden 2014, 278–282. – Plotin, enn. 6,9,11:49–51 („Abscheiden von allem andern was hienieden ist, ein Leben das nicht nach dem Irdischen begehrt, Flucht des Einsamen zum Einsamen [φυγὴ μόνου πρὸς μόνον])“; vgl. zur Gebetsbeziehung des „Einsamen zum Einsamen“ 5,1,6:8–12. 11 Gerade bei Platon hat man sich auch zu hüten vor Simplifikationen. So unterscheidet sich sein Spätwerk markant von den frühen oder ‚klassischen‘ Dialogen (wie dem Phaidon). Vgl. J. Müller, Leib-Seele-Dualismus? Zur Anthropologie beim späten Platon, in: De Brasi / Föllinger, Anthropologie (s. Anm. 7) 59–96. Vgl. ders., Art. Dualismus (Leib-Seele-Relation), in: Ch. Horn / J. Müller / J. Söder (Hg.), Platon-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2009, 263–266.
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biblisch-theologische Paradigma eines „ganzen Menschen“ einzugliedern sind.12 Faktisch werden wir es mit Texten zu tun haben, die die Differenz von Geist bzw. Seele und Fleisch bzw. Körper mehr oder weniger stark artikulieren. Am Rand ist immer mitzubedenken, dass schon im Alten Testament, und vollends im antiken Judentum, die Verhältnisse differenziert wahrzunehmen sind und duale Figuren mit solchen holistischer Art in Wechselwirkung stehen.13 Die Qumrantexte dokumentieren beispielsweise Bilder des „gespaltenen“ Menschen und des Gegensatzes von „Fleisch“ und „Geist“, die einigen Paulustexten auffällig nahe stehen.14
2. Ein neutestamentlicher Rundgang 2.1 Der Seele und Körper in die Hölle wirft: Jesus Unsere erste Station machen wir bei der Jesusüberlieferung. Das Matthäusevangelium bietet in seiner Aussendungsrede einen Spruch, der angesichts von Verfolgung und möglichem Martyrium die Angst zum Thema macht (Mt 10,28): „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, die Seele aber nicht töten können. Fürchtet euch mehr vor dem, der Seele und Leib in der Hölle verderben kann (τὸν δυνάμενον καὶ ψυχὴν καὶ σῶμα ἀπολέσαι ἐν γεέννῃ).“
Das Logion stammt aus der Logienquelle (vgl. Lk 12,4 f). Wahrscheinlich war es schon in der voraufgehenden mündlichen Überlieferung verbunden mit der nachfolgenden Spruchreihe, die komplementär und sogar überbietend nicht Furcht und Endzeit, sondern Vertrauen und Schöpfung aufbietet (Mt 10,29–31 par.). Offenkundig setzt das Jesuswort die Unterscheidung von Seele und Körper voraus.15 Es ist kein Zufall, dass Verfolgung, Martyrium und gewaltsames Geschick der Frommen schon Jahrhunderte zuvor die jüdische Eschatologie in engem 12 Immer wieder auf Paulus zu sprechen kommt M. Welker in seinem Versuch, „dual und dualistisch strukturierte Anthropologien [zu] vermeiden, wie sie für die überwiegende Mehrzahl der anthropologischen Entwürfe immer noch Standard sind“: Anthropologie der Artikulation und theologische Anthropologie, in: Ch. Polke u. a. (Hg.), Niemand ist eine Insel. Menschsein im Schnittpunkt von Anthropologie, Theologie und Ethik, FS W. Härle (TBT 156), Berlin 2011, 219–232 (Zitat: 226). 13 Vgl. die Anzeige bei: Ch. Frevel, Die Frage nach dem Menschen. Biblische Anthropologie als wissenschaftliche Aufgabe – Eine Standortbestimmung, in: ders., Anthropologie (s. Anm. 3) 29–63, hier: 35–37 („Das biblische Menschenbild gibt es nicht“). 14 Vgl. H. Lichtenberger, Der „gespaltene Mensch“. Menschenbilder in Qumran, in: Janowski, Mensch (s. Anm. 3) 223–233 sowie unten Anm. 43; ferner H.-J. Fabry u. a., Anthropologische Texte aus Qumran und ihre Bedeutung für einen Entwurf qumranischer Anthropologie, in: Frevel, Anthropologie (s. Anm. 3) 332–347. 15 Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (EKK 1), Bd. 2, Zürich / Neukirchen 1990, 126 f.
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Verbund mit der Anthropologie mutiert haben.16 Der zweite Teil des Spruchs V. 28b variiert das „Töten“ von V. 28a zum „Verderben“. Das lässt sich als rhetorische Steigerung lesen und ist anschlussfähig für verschiedene eschatologische Optionen (die in vielen Texten der jüdisch-christlichen Literatur durchaus koexistieren): „Verderben“ ist entweder als Synonym für das Töten zu taxieren oder, m. E. viel wahrscheinlicher, zu beziehen auf die Höllenpein, und zwar im status resurrectionis:17 Wenn „Seele und Leib“ in der Hölle platziert werden, setzt das ihre Wiedervereinigung aufgrund der Totenauferstehung voraus.18 Interessant ist die Reformulierung in Lk 12,4 f: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, darüber hinaus aber nichts tun können. Ich will euch zeigen, wen ihr fürchten sollt: Fürchtet den, der, nachdem er getötet hat, die Macht hat, in die Hölle zu werfen (φοβήθητε τὸν μετὰ τὸ ἀποκτεῖναι ἔχοντα ἐξουσίαν ἐμβαλεῖν εἰς τὴν γέενναν). Ja, ich sage euch: Den fürchtet!“ Lukas verzichtet in beiden Spruchteilen auf die Nennung der Seele, unterstreicht aber dasjenige, was nach dem Töten des Leibes geschieht (zweimaliges „danach“). Er umschifft auf diese Weise die Aussage, dass Gott die Seele verderben bzw. auslöschen kann. Eine Brücke zum sonst bei Lukas beobachtbaren Interesse am individuellen postmortalen Leben ist allerdings nicht erkennbar. Zu beachten ist ferner, dass der lukanische Kontext den Fokus von der „Furcht“ auf die Heuchelei rückt.
Ausschlaggebend für unsere Fragestellung ist das Folgende: Der Mensch ist einerseits dual – oder präziser: polar – organisiert. Angesichts des drohenden Martyriums wird die Seele gegenüber dem Körper privilegiert; das Selbst ist in jener zentriert. Andrerseits wird die im Sterben aktualisierte Scheidung von Seele und Körper durch das endzeitliche Handeln Gottes wieder aufgehoben. Insofern zielt der Spruch auf den „ganzen“ Menschen, der lediglich episodisch auseinanderdividiert wird.
16 So werden Körper und Seele in den Martyriumsberichten von 2 Makk 6,30 und 4 Makk 13,13–15 unterschieden. Im Wächterbuch von 1 Hen (22) ist es vor allem das Problem des gewaltsamen Geschicks der Frommen, das die Ausdifferenzierung der eschatologischen Erwartungen mit der Separierung der Seelen bzw. Geister in den entsprechenden „Kammern“ generiert. Ein ähnlicher Befund begegnet öfter in paganer Literatur; vgl. Sextus, sent. 363b; locus classicus ist der Spruch des Sokrates „Mir wird wohl weder Meletos noch Anytos einen Schaden zufügen. Sie könnten es auch gar nicht“ (Platon, apol. 30c/d; zitiert bei Epiktet, ench. 53,4 und öfter im 2. Jh. n. Chr., auch bei Christen, vgl. U. Brandt, Kommentar zu Epiktets Encheiridion, Heidelberg 2015 [WKLGS], 324). Dazu kommt Platons Phaidon als Diskurs im Gefängnis über die Seelenunsterblichkeit. 17 Vgl. zur Alternative W. D. Davies / D. C. Allison, A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel according to S. Matthew (ICC), Bd. 2, London 2004, 206 f. 18 D. Zeller, The Soul That Cannot Be Killed by Men (Matt 10:28), in: W. J. C. Weren / H. van de Sandt / J. Verheyden (Hg.), Life beyond Death in Matthew’s Gospel. Religious Metaphor or Bodily Reality? (BToSt 13), Louvain 2011, 95–105, behauptet, dass ein „ruin of the soul“ unmöglich ist für griechisches Denken (102 f). Diese Alternative ist zu rigide, wie Platon, Kriton 47b–e, zeigt (auf die Seele werden folgende Verben bezogen: διαφθεροῦμεν / ἀπώλλυτο / διεφθαρμένου), zitiert etwa bei Epiktet, diss. 4,1:163 (zur Übersetzung von ἀπόλλυται hier vgl. L. Willms, Epiktets Diatribe Über die Freiheit [4.1] [WKGLS], Bd. 2, Heidelberg 2012, 928–930).
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2.2 Ecce homo, Geist und Fleisch: Johannes Unser nächster Halt ist das Johannesevangelium. Leider erschliesst es sich nicht leicht für anthropologische Fragestellungen.19 Zwei Zugänge bieten sich an. Der eine besteht in der Jesusgeschichte selber, die mehrfach mit der beziehungsvollen Differenz von vorfindlicher und offenbarter Person Jesu operiert: Dem Sohn Josefs steht das vom Himmel herabgekommene Brot gegenüber (6,42; vgl. 1,45 f; 7,27 f). Der Kontrast gipfelt im Wort des Pilatus über den gefolterten und spottgekrönten Angeklagten (19,5):20 „Da, der Mensch (ἰδοὺ ὁ ἄνθρωπος)!“
Rudolf Bultmann hat in der punktgenauen Identifizierung von Mensch und Offenbarer das johanneische Paradoxon schlechthin erkannt.21 Wir notieren nur am Rand, dass dabei das johanneische Interesse an der jüdischen Herkunft Jesu unterbestimmt ist (vgl. Joh 1,45–47; 6,42; 7,27 f; 19,19) und damit eine Story im Gefüge einer umfassenden History (4,22) ausgeblendet wird – Logos und Sarx berühren sich eben nicht nur in einem ausdehnungslosen Punkt. Das Pilatuswort ecce homo ruft geradezu nach einer anthropologischen Amplifikation. Der andere Zugang nimmt seinen Ausgangspunkt von den markanten antithetischen Wesensbestimmungen, die Joh sowohl in Bezug auf Christus wie in Bezug auf die an ihn Glaubenden vornimmt. Prägnant geschieht letzteres in Jesu Dialog mit Nikodemus (3,1–12, hier v. a. V. 3–8; vgl. 1,13; 8,47): Die Zeugung von oben bzw. aus dem Geist kontrastiert mit der Zeugung aus dem Fleisch (V. 6): „Was aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist.“
Das Menschsein wird über die jeweilige Herkunft bestimmt. Diese Herkunft selber wird wesentlich durch das Kommen Christi, seine Selbstoffenbarung und sein Sprechen konstituiert, also durch einen schöpferischen Akt (und nicht durch vorzeitliche Setzung). Führt man die beiden genannten Zugänge zusammen, so wird deutlich, dass der johanneische Christus den Menschen eine radikal
19 Zu Konstruktionsmöglichkeiten vgl. U. Schnelle, Neutestamentliche Anthropologie. Jesus – Paulus – Johannes (BThSt 18), Neukirchen 1991, 134–170; E. Reinmuth, Anthropologie im Neuen Testament, Tübingen 2006, 137–185. 20 Zur christologischen, soteriologischen und kosmologischen Dimension des Pilatusworts vgl. Th. Söding, Ecce homo. Die johanneische Ikone des Menschen, ZThK 114 (2017) 119–137: Joh gibt zu bedenken, „dass der Sohn Gottes in seiner Familie Mensch geworden ist und als Messias, der in Bethlehem geboren wurde, aus Nazareth kommt. An beiden Eckpunkten zeigt sich genau jenes Geheimnis Jesu, das den Bekannten als den Unbekannten und den Unbekannten als den Bekannten entdecken lässt“ (128). 21 „Im Sinne des Ev[an]g[e]listen ist damit die ganze Paradoxie des Anspruches Jesu zu einem ungeheuren Bilde gestaltet. In der Tat: solch ein Mensch ist es, der behauptet, der König der Wahrheit zu sein! Das ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο ist in seiner extremsten Konsequenz sichtbar geworden“: R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (KEK 212), Göttingen 121986, 510; vgl. 40.
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andere Identität zuspielt, als sie sich in ihren bleibenden vorfindlichen Lebenszusammenhängen von selber zuschreiben können. Für unsere Fragestellung ergeben sich einige interessante Schlussfolgerungen: 1. Johannes baut eine überaus scharfe dualistische Konfiguration auf. Die Sphären des Geistes und des Fleisches stehen sich ohne jegliche Vermittlung gegenüber. Traditionsgeschichtlich wird die aus dem Alten Testament bekannte Unterscheidung von Geist als Gotteskraft und Fleisch als geschöpflicher ephemerer Beschaffenheit zum radikalen Dual gesteigert.22 In grosser Nähe zu dieser Figur von gegensätzlichen Sphären, die Kosmologie und Anthropologie übergreifen, stehen nicht nur jüdisch-hellenistische Texte, sondern gerade auch solche aus Qumran. Menschsein wird in diesem Typ von „sphärischer Anthropologie“ durch Teilhabe charakterisiert.23 2. Konterkariert wird diese im Ansatz dualistische Konstellation durch den „ganzen“ Menschen: Joh schreibt dem ganzen Menschen entweder den einen oder aber den anderen Ursprung zu. Offenbar ist eine Scheidung von Geist und Fleisch innerhalb des menschlichen Selbst nicht im Blickfeld. 3. Der Herkunftsort des Menschen wird konstituiert durch eine Relation:24 Laut V. 8 verdankt er sich der souveränen Schöpfermacht des Geistes. In der Rede Jesu, die an den Dialog mit Nikodemus anschliesst (V. 13–21), wird dieser Sachverhalt christologisch reformuliert (V. 13–17) und auf den Glauben hin zugespitzt (V. 15–18): Die Zeugung aus Gott, ein in der Antike verbreitetes Anthropologumenon, steht im Zeichen der Relation von Wort und Glaube. 4. Die neue Herkunft entspricht einer neuen Zukunft: Den aus Gott Gezeugten wird ewiges Leben zugesagt (V. 15 f), jenseits des Gerichts (V. 18–20). Diese Zukunft wird in den Abschiedsreden zum Thema (14,2 f; 17,24; vgl. 12,32). Die steile kognitive Operation, die der johanneische Christus seiner Hörerschaft zumutet, führt mich zu zwei Interpretationsproblemen, die sich hier nur andeuten lassen. 22 Religionsgeschichtlich ist man gut beraten, für die entsprechende Matrix nicht mit Alternativen wie „jüdisch“ oder „hellenistisch“ oder „(früh‑)gnostisch“ zu operieren. Vgl. J. Frey, Auf der Suche nach dem Kontext des vierten Evangeliums. Zur religions‑ und traditionsgeschichtlichen Einordnung, in: ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den johanneischen Schriften (WUNT 307), Tübingen 2013, 45–87, besonders 74–78. 23 Ein Stück weit entspricht die partizipationistische Perspektive dem Typ von jüdischer Anthropologie, den T. L. Putthoff verankert im Verständnis eines „malleable self “ („an intrinsically transformative entity“; „in early Jewish anthropology the self is believed to possess an intrinsic mimetic potential, such that it shares or partakes in the ontological state of the space it contacts or inhabits“): Ontological Aspects of Early Jewish Anthropology. The Malleable Self and the Presence of God (The Brill Reference Library of Judaism), Leiden 2017, 214; 223. 24 Vgl. J. Zumstein, Das Johannesevangelium (KEK 2), Göttingen 2016, 140: Es „ist das Sein des Menschen durch seine Herkunft (ἐκ) determiniert. […] Wenn also der Mensch die Sphäre des Fleisches für seine einzige Grundlage und für seinen einzigen Horizont hält, ist er der Finsternis und dem Tod ausgeliefert. Um authentisches Leben zu empfangen, braucht er eine neue „Herkunft“ (= eine neue Geburt [ἐκ]), die nicht dem Bereich des Fleisches, also dem der immanenten Welt verfügbaren Bereich angehört.“
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Zum einen: Im Blick auf die dualistische sphärische Anthropologie bricht die grundsätzliche Frage nach dem johanneischen Verständnis der Welt auf: Mit dem „Fleisch“ verbinden sich äusserst negative Konnotationen (neben 3,6 besonders 6,63: „Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch vermag nichts“). Inwieweit kommt die Inkarnation des Gottessohns (σάρξ 1,14) dem Fleisch und, damit verbunden, der Welt (κόσμος als Menschenwelt oder als Schöpfung schlechthin) überhaupt zugute?25 In eine positive Richtung weisen neben dem Prolog auch 3,16 („also hat Gott die Welt geliebt“, im Anschluss an das Nikodemusgespräch!) sowie die eucharistische Brotrede (6,51–55). Sodann ist an den finalen Gebetswunsch des sich verabschiedenden Jesus zu erinnern (17,21.23: „… damit die Welt glaubt/erkennt“). Zum anderen: Die Diskussion im ersten Johannesbrief (3,9 f; Kap. 4/5; vgl. 3 Joh 11) zeigt, dass sich der johanneische Kreis drängenden Fragen nach der ethischen Verifizierung des Erzeugtseins aus Gott gegenübersieht. Im Blick auf beide Problemanzeigen stimmt die summierende Aussage in 1 Joh 5,19 recht nachdenklich: „Wir wissen, dass wir aus Gott gezeugt sind, und die Welt als ganze im Argen liegt.“
Wir begnügen uns damit, die beunruhigende Fragestellung offen zu halten – gerade auch im Blick auf die jüngeren welt‑ und gesellschaftspolitischen Turbulenzen –, und begeben uns an unsere dritte Haltestelle, zu Paulus. 2.3 Die Entdeckung des „inneren Menschen“: Paulus Es ist unübersehbar und unbestritten, dass der Apostel vielfach in die Matrix einer im Ansatz ganzheitlichen Anthropologie, die sich vom Alten Testament an das antike Judentum vererbt hat, eingebettet ist. Das klassische Dictum von Rudolf Bultmann, dass der Mensch nicht ein sōma hat, sondern sōma ist, hat hier sein gutes Recht.26 Namentlich der 1. Korintherbrief rückt gegen die Anhänger eines in Korinth offenbar trendigen Spiritualismus den inneren Zusammenhang von Personalität und Leiblichkeit ins Zentrum: Die Glaubenden sind Teil einer Gemeinschaft, die ihrerseits als Christi Leib proklamiert wird (1 Kor 12,12–31). In ihrem Alltagsverhalten bilden sie ihre Christusgemeinschaft leiblich ab (6,12–20); ihre Freiheit inkarniert sich in der Liebe (8,1–13; 10,23–33). Auch in der nahen endzeitlichen Zukunft ist es ihr Leib, an dem Gottes schöpferisches Wirken ergeht (15,35–58).27 Umso auffälliger sind aber nun Figuren und Formulierungen in 25 Zuversichtlich ist etwa J. Frey, Zu Hintergrund und Funktion des johanneischen Dualismus, in: ders., Herrlichkeit (s. Anm. 22) 409–482. 26 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984, 195. Miteinzubeziehen ist dabei der gesamte Abschnitt „Die anthropologischen Begriffe“ (192–226). 27 Vgl. zum letzteren meinen Aufsatz: Auferstehung als Verwandlung. Die paulinische Eschatologie von 1 Kor 15 im Vergleich mit der syrischen Baruchapokalypse (2 Bar), in:
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den Paulusbriefen, die nicht nur auf den ersten Blick eine gegenläufige Tendenz dokumentieren, sondern bereits in der Wirkungsgeschichte zu „platonischen“ und „gnostischen“ Lektüren geführt haben. 2.3.1 Geist, Seele, Körper (1 Thess 5,23) Wir stellen zunächst fest, dass in Paulus’ literarischer Hinterlassenschaft die Seele im klassisch anthropologischen Sinn wenigstens einmal explizit erwähnt wird – die Psyche hat sonst im Neuen Testament (leider) kaum Gastrecht gefunden.28 Am Schluss von 1 Thess äussert Paulus einen Gebetswunsch (5,23): „Er aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch; Geist, Seele und Leib mögen euch unversehrt und untadelig erhalten bleiben (ὁλόκληρον ὑμῶν τὸ πνεῦμα καὶ ἡ ψυχὴ καὶ τὸ σῶμα ἀμέμπτως … τηρηθείη) bis zur Ankunft unseres Herrn Jesus Christus.“
Viel spricht dafür, dass der Briefautor einen traditionellen Segenswunsch variiert, der gern am Briefschluss zu stehen kommt und das gemeinschaftliche Pneuma fast synonym mit einem Personalpronomen aufbietet („die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit eurem Geist“, Gal 6,18; Phil 4,23).29 Es ist aufschlussreich, dass die Erweiterung zur dreiteiligen („trichotomischen“) Formel mit dem Ausblick auf die nahe Wiederkunft Christi zusammenhängt, also eschatologisch auf das Gericht hin ausgerichtet wird (die Parusie‑ und Gerichtsperspektive hat auch sonst Gewicht im 1 Thess). Erneut ist es die Eschatologie, die anthropologische Differenzierungen provoziert. In diesem Fall kommt der Gebetswunsch unserer Leitfrage sogar einladend entgegen, da er eine ‚holistische‘ Stossrichtung hat: Pneuma, Seele und Körper mögen „vollständig/unversehrt“ (ὁλόκληρον) bleiben.30 Teile und Ganzes sind hier spannungsfrei korreliert (was bei der Dreizahl tendenziell leichter fällt als bei der Zweizahl). Paulus nimmt ganz selbstverständlich eine verbreitete triadische anthropologische Figur auf; das Pneuma ist dabei als jüdisch-christliche Variation des Geistprinzips (Nūs usw.) anzusprechen.31 M. Konradt / E. Schläpfer (Hg.), Anthropologie und Ethik im Frühjudentum und im Neuen Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen (WUNT 322), Tübingen 2014, 463–490, Abdruck in diesem Band: 299–320. 28 Selbstverständlich abgesehen von den Zusammenhängen, wo „Psychisches“ als Gegenpol zum „Pneumatischen“ firmiert, z. B. von der falschen Weisheit Jak 3,15 (ἐπίγειος, ψυχική, δαιμονιώδης). Zum Befund vgl. Th.K. Heckel, Body and Soul in Saint Paul, in: J. P. Wright / P. Potter (Hg.), Psyche and Soma. Physicians and Metaphysicians on the Mind-Body Problem from Antiquity to Enlightenment, Oxford 2000, 117–131. Zur Problemstellung vgl. Th. Krüger, „Ach ja die Seele“. Der Verlust der Seele – ein Gewinn für die theologische Anthropologie?, HBl 1.2 (2005) 34–41. 29 Vgl. dazu Ch. Masson, Sur I Thessaloniciens v, 23. Note d’anthropologie paulinienne, RThPh 33 (1945) 97–102. 30 Das Prädikat bezieht sich auf alle drei anthropologischen Komponenten. 31 Vgl. dazu A. J. Malherbe, The Letters to the Thessalonians (AB 32 B), New York 2000, 338 („Paul’s trichotomy in l Thessalonians is the earliest occurrence of that precise formulation“). Dabei ist zu bedenken: „That Paul was not interested in precise anthropological classification
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Mit den beiden im Folgenden zu besprechenden grossen Textpassagen aus dem 2. Korintherbrief und aus dem Römerbrief haben wir es demgegenüber mit überaus komplexen Interpretationsproblemen zu tun. Im Folgenden können nur ein paar willkürlich anmutende Schneisen geschlagen werden. 2.3.2 Tönerne Gefässe, innerer Mensch, Zelt und Wanderschaft (2 Kor 4,7–10) Wer wie etwa Ludwig Feuerbach die Leibfeindlichkeit und Weltverneinung schon des ursprünglichen Christentums herausstellen wollte, wurde hier fündig.32 In einer theologisch auffallend dichten Passage des 2. Korintherbriefs, deren umgreifender Kontext das Wesen des apostolischen Dienstes herausstellt (2,14–7,4), findet sich ein ganzes Cluster von anthropologischen Aussagen, die direkt oder indirekt auf die in der kaiserzeitlichen Antike weit verbreiteten Figuren von zwei Welten zurückgreifen.33 In zahlreichen Spielarten dieser dualisierenden Konfiguration gehört das wahre menschliche Selbst so klar auf die eine Seite, dass es meist berechtigt ist, von anthropologischem Dualismus zu sprechen. Das gilt zu guten Teilen auch von Paulus selber, allerdings in jeweils sehr charakteristischer Variation. Für zahlreiche Metaphern lassen sich in der Umwelt illustrative Analogien finden, sowohl in der hellenistischen wie in der jüdischen, und hier besonders in der apokalyptischen Literatur:34 Der Leib als Tongefäss; die Bedrängnisse der Weisen (Peristasenkataloge); der „innere Mensch“; Vergängliches und Unvergängliches; der Leib als Haus und Zelt; der Leib als Gewand (etwa der Seele); Diesseits als Fremde, Jenseits als Heimat, u. a. m. Für die religionsgeschichtliche Komparatistik sind vielfache Kontexte zu berücksichtigen: platonische Geistmetaphysik und Psychologie, stoische Ethik (zumal im Umgang mit Lebenskontingenzen) und Psychagogik bzw. Selbsterziehung; antike ars moriendi;35 apokalyptische Theologie (hier ist namentlich die syrische Baruchapokalypse zu nennen).
appears from the different ways in which he uses anthropological terms to describe the entire person“ (339). 32 Vgl. L. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, hg. W. Schuffenhauer, Berlin 1956, Bd. 2, Anhang 16 und 17, 479–485: („Das Christentum machte den Menschen zu einem ausserweltlichen, übernatürlichen Wesen“ [479]; „Der Zölibat und das Mönchtum […] sind sinnliche Erscheinungen, notwendige Folgen von dem supernaturalistischen, extramundanen Wesen des Christentums“ [480]; „diese Gesinnung der Absonderung vom Leben, vom Leibe, von der Welt, diese erst hyper-, dann antikosmische Tendenz ist echt biblischen Sinnes und Geistes“ [481]). 33 Zur Fragestellung vgl. besonders D. E. Aune, Anthropological Duality in the Eschatology of 2 Cor 4:16–5:10, in: T. Engberg-P edersen (Hg.), Paul beyond the Judaism/Hellenism Divide, Louisville 2001, 215–239. 34 Unter den Kommentaren bietet die reichhaltigste Zusammenstellung von Umwelttexten H. Windisch, Der zweite Korintherbrief (KEK 96), Göttingen 1924 = 1970. Besonnene Sortierungen nimmt Th. Schmeller vor, Der zweite Brief an die Korinther (EKK 8), Bd. 1, Neukirchen / Ostfildern 2010. 35 Vgl. M. Vogel, Commentatio mortis. 2 Kor 5,1–10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi (FRLANT 214), Göttingen 2006.
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Unsere Passage gliedert sich in drei Hauptabschnitte, die vielfach miteinander verbunden sind (4,7–15; 4,16–18; 5,1–10). Vorgängig ist die Frage zu klären, um wen es sich bei der durchgehenden ersten Person Plural handelt. Klar ist, dass Paulus von sich selbst als Apostel spricht, allenfalls im Verbund mit seinen Mitarbeitern.36 Es gibt aber gute Gründe für die (alte) These, dass Paulus sich selber so darstellt, dass sich auch die Leserschaft und damit die Christenmenschen darin zu erkennen vermögen.37 In 4,7–12 dominiert der Kontrast von Irdisch-Vergänglichem und Göttlich- Lebendigem, also ein im Ansatz markantes Schema zweier Welten und ihrer Repräsentation im Menschen. Aber schon V. 7 nimmt eine weitreichende Variation vor: Beim Schatz, den die tönernen Gefässe – Metapher für den Leib – bergen, handelt es sich nicht um das geistige Selbst, sondern um den Träger des apostolischen Diensts, der das Evangelium verkündigt. In ihm kommt die Kraft Gottes, seine Dynamis, zum Zug (V. 7b). Wir können von einer Figur des Externen, vielleicht sogar des Exzentrischen, sprechen. Der folgende Peristasenkatalog (V. 8 f) bringt deshalb nicht die Unerschütterlichkeit des wahren Selbst – wie in popularphilosophischen Texten –, sondern das Getragensein durch Gott zum Ausdruck. In V. 10–12 unterläuft Paulus das duale Schema vollends: Beides, Tod und Leben, kommt an seinem sterblichen Leib zum Austrag (V. 10 f); V. 12 verteilt den Dual von Tod und Leben sogar auf Briefautor und Adressaten. V. 14–16 arbeiten mit der Gegenüberstellung von äusserem und innerem Menschen bzw. von Zeitlichem und Ewigem. „Darum verzagen wir nicht: Wenn auch unser äusserer Mensch verbraucht wird, so wird doch unser innerer Mensch Tag für Tag erneuert.“
Der „innere Mensch“, eine Figur platonischen Ursprungs, ist in der Antike anschlussfähig für verschiedenartige anthropologische Konzeptionen.38 Was sie verbindet, trifft auch für Paulus zu: Der äussere Mensch hat es mit der 36 Für das Letztgenannte spricht sich insbesondere aus: L. P. M. Berge, Faiblesse et force, présidence et collégialité chez Paul de Tarse. Recherche littéraire et théologique sur 2 Co 10–13 dans le contexte du genre épistolaire antique (NT.S 161), Leiden 2015. Zur Diskussion vgl. die knappe Darstellung bei Th. Schmeller, „Wir“ meint uns. Konfessionelle Zugänge zum Zweiten Korintherbrief?, in: U. Luz / Th. Söding / S. Vollenweider (Hg.), Exegese – ökumenisch engagiert. Der „Evangelisch-Katholische Kommentar“ in der Diskussion über 500 Jahre Reformation, Ostfildern / Neukirchen 2016, 81–87. 37 Es fällt auf, dass sich jeweils am Schluss der einzelnen Gedankengänge ausdrücklich inklusive Formulierungen finden (4,14 f; 5,10). 38 Zum „inneren Menschen“ gibt es viele Spezialuntersuchungen. Vgl. H. D. Betz, The Concept of the ‚Inner Human Being‘ (ὁ ἔσω ἄνθρωπος) in the Anthropology of Paul, in: ders., Paulinische Theologie und Religionsgeschichte. Gesammelte Aufsätze, Bd. 5, Tübingen 2009, 23–52; Th. K. Heckel, Der Innere Mensch (WUNT II/53), Tübingen 1993; Ch. Markschies, Art. Innerer Mensch, RAC 18 (1997) 266–312; A. Weissenrieder, Verkörperung des inneren Menschen? 2. Korinther 4,16 im Lichte antiker medizinischer und philosophischer Traditionen, in: G. Etzelmüller / A. Weissenrieder (Hg.), Verkörperung als Paradigma theologischer Anthropologie (TBT 172), Berlin 2016, 183–218. Janowski, Anthropologie 2019 (s.
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irdisch-leiblichen Konstitution zu tun, der innere Mensch mit dem geistigen Aspekt – die Beschwörung des ganzen Menschen unter jeweils zwei Aspekten wird dem Text nicht gerecht.39 Und wie in platonischen Zusammenhängen korreliert mit dem äusseren Mensch das Sichtbare und Vergängliche, mit dem inneren aber das Unsichtbare und Ewige (V. 18). Eine aufschlussreiche Variation des Topos nimmt nun aber V. 16b vor: Der innere Mensch wird „Tag für Tag erneuert“ (es handelt sich um ein Passivum divinum). Die Zukunftsdimension, die Paulus bereits in V. 14 mit dem Ausblick auf die Totenauferstehung artikuliert hat, kommt auch hier zum Ausdruck: das Neues erschaffende endzeitliche Wirken Gottes (Jes 43,18 f; 2 Kor 5,17; Gal 6,15). So wie der äussere Mensch, ausgesetzt in seiner Sphäre, bewegt wird, wird auch der innere von der ihm zugeordneten Sphäre bewegt. Dieser gewinnt damit ein eschatologisches Profil; er wird, wenn man die Formulierung wagen darf, exzentrisch und relational formatiert: Er hat sein Zentrum in der Zukunft, und er verdankt sich ganz dem fortgesetzten schöpferischen Wirken Gottes. Das „Ewige“, von dem V. 17 f spricht, ist eben zugleich das, was das Zeitliche, das „Vorübereilende“, bald verwandeln wird. Schliesslich arbeitet der Abschnitt 5,1–10 mit dualen Figuren. Der schwierige Text spielt nun die bisher im Hintergrund gehaltenen endzeitlichen Dimensionen ein: Himmelshaus und Himmelsgewand, Metaphern für die Auferstehungsleiblichkeit (V. 1–4; vgl. 1 Kor 15,53 f). Für unsere Fragestellung von Interesse ist der Nebengedanke in V. 3 f, wonach der temporäre leiblose Zustand nach dem Tod, metaphorisch das Nacktsein, als Unbehagen auslösende Option empfunden wird – ganz im Unterschied zur oft positiv gewerteten Befreiung der nackt gewordenen Seele vom Körper in philosophischer Literatur.40 „Wir“ sehnen uns vielmehr nach der Bekleidung, d. h. der Auferstehung. Man darf hier ein genuin jüdisches, holistisches Anliegen identifizieren.
Der Geist vergewissert die Glaubenden schon jetzt dieser Zukunft (V. 5; vgl. 1,22; Röm 8,23). Mit V. 6–8 steigert der Apostel die Dualisierung: Im Leib ist man in der Fremde, beim Herrn ist man in der Heimat. (Wie sich die ersehnte jenseitige Christusgemeinschaft zur Auferstehungserwartung verhält, ist ein delikates Problem, das sich auch in Phil 1,23 stellt.) Nirgends sonst reiht sich Paulus so sehr Anm. 1) 533–539, identifiziert die „Verinnerlichung der Selbst‑ und Gottesbeziehung“ über Griechenland hinaus auch in Ägypten und in der hebräischen Literatur (Dtn 6,4–9; Psalmen). 39 Für Bultmann, Theologie (s. Anm. 26) 204, ist der „innere Mensch“ das vom Pneuma verwandelte „eigentliche Ich, aber im Gegensatz zum körperlichen Leib“. 40 Den Hintergrund dafür bildet die Vorstellung des Leibs (oder verschiedenartiger Leiber) als „Gewand“ der Seele (dazu: A. Kehl, Art. Gewand [der Seele], RAC 10 [1978] 945–1025); sie verbindet sich mit der positiv gewerteten Nacktheit im Gymnasium und Wettkampf. Vgl. z. B. OrChald frg. 116 Des Places („Denn nicht erreichbar ist das Göttliche den Sterblichen, die Körperliches denken, sondern nur denen, die nackt aufwärtseilen zur Höhe“); Porph., abst. 1,31:3–5 („wir müssen die vielen Gewänder ausziehen, zumal dieses sichtbare und fleischliche […]; nackt und kleiderlos wollen wir hinaufsteigen zur Rennbahn, zum Wettlauf an den olympischen Spielen der Seele“).
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unter die Repräsentanten des spätantiken Programms der Weltflucht, der fuga saeculi, ein.41 Immerhin geben V. 9 f ein Gegengewicht zu erkennen: die in der Gegenwart eingeforderte Verantwortung, die das Leben in der Fremde und in der Heimat egalisiert. Der Ausblick auf das jüngste Gericht bringt den ganzen Menschen wieder ins Spiel; ausschlaggebend sind hier die Taten, das, was „jeder Einzelne getan hat mittels seines Leibes“. Die Dualisierung, v. a. diejenige von V. 6–8, wird offenkundig relativiert. Darin konvergiert der Apostel durchaus mit antiken Philosophen, die ethische Bewährung und Pflichterfüllung gerade angesichts des attraktiven Sterbens einfordern. Am dualistischen Gesamtgefälle unseres Texts ändert der ethisch-eschatologische Turn aber wenig. 2.3.3 Das gespaltene Ich und seine Erlösung: Röm 7,7–8,17 Das siebte und achte Kapitel des Römerbriefs konfrontiert uns mit einem Text, der die Exegese in Abgründe und Labyrinthe hinabführt, aber auch weite Ausblicke eröffnet.42 Wieder blenden wir zahlreiche Auslegungsfragen aus, insbesondere zur Funktion des Gesetzes, und folgen einigen wenigen thematisch einschlägigen Pfaden. Der „ganze Mensch“ steht hier wie nirgends sonst im Neuen Testament auf dem Prüfstand. Der Fall wäre besonders dramatisch, wenn das „Ich“ von Kap. 7 auf den christlichen Menschen gedeutet würde. Aber auch bei einer retrospektiven Lektüre des „Ichs“ wären Gespaltenheit und Zerrissenheit ein zentrales Kennzeichen des Menschen, soweit sich dieser nicht zu Christus bekehrt hat. Es gibt zwei Hauptargumente dafür, Röm 7,7–25 auf das nichtchristliche bzw. vorchristliche menschliche Sein zu beziehen. Zum einen richtet 7,5 f eine scharfe temporale Sequenz auf: „damals im Fleisch“ – „jetzt aber“, „in der neuen Wirklichkeit des Geistes“.43 Das Diptychon von Röm 7/8 entfaltet diese beiden Seinsweisen, „einst“ und „jetzt“; Röm 7,5 f fungiert als Themaangabe. Zum andern fehlt in Röm 7,7–25 genau das, was die Christenmenschen schlechterdings ausmacht: der Geist – er kommt erst in Kap. 8 zum 41 Vgl. meinen Aufsatz: Weltdistanz und Weltzuwendung im Urchristentum, in: H.G. Nesselrath / M. Rühl (Hg.), Der Mensch zwischen Weltflucht und Weltverantwortung. Lebensmodelle der paganen und der jüdisch-christlichen Antike (STAC 87), Tübingen 2014, 127–145, Abdruck in diesem Band: 149–165. 42 Eine knappe und sehr instruktive Darstellung der wichtigsten Auslegungsprobleme bietet St. Krauter, Einführung. Perspektiven auf Römer 7, in: ders. (Hg.), Perspektiven auf Römer 7 (BThSt 159), Neukirchen 2016, 1–15. 43 Für die religionsgeschichtliche Einbettung der paulinischen (und teilweise johanneischen) Antithese von „Geist“ und „Fleisch“ ist man gut beraten, sich vor einer Alternative zwischen hellenistisch-jüdischem und palästinischem Weisheitsdualismus zu hüten; zu letzterem mit besonderem Blick auf Qumran vgl. oben Anm. 14 sowie J. Frey, Die paulinische Antithese von Fleisch und Geist und die palästinisch-jüdische Weisheitstradition, in: ders., Von Jesus zur neutestamentlichen Theologie (WUNT 368), Tübingen 2016, 265–300; M. Goff, Being Fleshly or Spiritual. Anthropological Reflection and Exegesis of Genesis 1–3 in 4 QInstruction and First Corinthians, in: C. K. Rothschild / T. W. Thompson (Hg.), Christian Body, Christian Self. Concepts of Early Christian Personhood (WUNT 284), Tübingen 2011, 41–59.
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Zug (und im Leitthema 7,6). Trotzdem ist man nicht gut beraten, wenn man das Drama des unerlösten Menschen zur blossen rhetorischen Konstruktion erklärt. Der Text arbeitet intensiv mit Erfahrungen, die Menschen gemacht haben und immer noch machen, und dies durchaus auch als Christusgläubige. Zu diesen anthropologischen Mustern zählen besonders die Erfahrung der „Akrasie“, d. h. der Willensschwäche,44 und die Erfahrung der Attraktion des Verbotenen.45 Die Kunst einer angemessenen Interpretation von Röm 7 besteht m. E. darin, das Modell der Retrospektive auf die nichtchristliche Vergangenheit so zu erweitern, dass die Selbstbeschreibung des Ichs auch für Erfahrungen christlicher Leser resonanzfähig ist. Anthropologisch hiesse das, dass die Glaubenden zwar dem Teufelskreis von Sünde, Gesetz und Tod entrissen, aber trotzdem noch den Gravitationswellen dieses vergangenen Konflikts ausgesetzt sind, solange sie in der gegenwärtigen Weltzeit „im Fleisch“ leben. Die machtvolle Hilfe des Geists und die gemeinschaftliche Orientierung an Lebensregeln bewahren sie davor, sich wieder an die aus der Vergangenheit andrängenden Turbulenzen zu verlieren.
Der erste Hauptteil von Röm 7,7–25, nämlich V. 7–13, geht narrativ vor. Paulus erzählt die Geschichte eines „Ichs“, die einerseits als rhetorisches Stilmittel anzusprechen ist – es handelt sich um die Technik der prosopopoeia bzw. fictio personae –, andrerseits durchaus persönlichen Erfahrungen des Briefautors die Stimme leiht.46 Indem Paulus hier Gesetzgebung (Ex 20) und Sündenfall (Gen 2/3) ineinander blendet,47 macht er deutlich, dass im „Ich“ Adam zu Wort kommt,48 44 Zur Akrasie-Thematik vgl. J. Müller, Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes. Zur christlichen Tradition des Handelns wider besseres Wissen, ZNW 100 (2009) 223–246; St. Krauter, Is Romans 7:7–13 about akrasia?, in: Rothschild / Thompson, Body (s. Anm. 43) 113–122. 45 Für die Anziehungskraft des Verbotenen vgl. neben der Paradiesgeschichte (Gen 2,16 f; 3,1– 3) Ovid, amores 3,4:17 („ständig begehren wir Verbotenes und trachten nach dem, was versagt ist [nitimur in vetitum semper cupimusque negata]“), und den „Blaubart“ der Grimm’schen Märchen. St. Krauter, „Wenn das Gesetz nicht gesagt hätte, …“. Röm 7,7b und antike Äusserungen zu paradoxen Wirkungen von Gesetzen, ZThK 108 (2011) 1–15, zeigt, dass es auch antike Belege dafür gibt, dass Verbote überhaupt erst auf die Idee bringen, das Verbotene zu tun (Röm 7,7 f). 46 Vgl. G. Theissen / P. von Gemünden, Der Römerbrief. Rechenschaft eines Reformators, Göttingen 2016, die für eine „introspektive Lektüre“ des Röm plädieren; zu Röm 7 vgl. 425–437. 47 Dieser Lektüre zufolge weist das Gesetz „du sollst nicht begehren“ (Röm 7,7c) über die ersten Worte des zehnten Dekaloggebots (Ex 20,17; Dtn 5,21) zurück auf das Paradiesgebot von Gen 2,17 (vgl. 3,6), das die Tora vom Sinai in nuce enthält. Anders M. Wolter, Der Brief an die Römer (EKK 6), Neukirchen / Ostfildern 2014, 431 f. 48 Das Klassikerzitat dazu: „Es gibt nichts in unsern Versen, was nicht auf Adam passt, und alles passt nur auf Adam […]“, E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 41980, 188 zu Röm 7,7–13. Für eine Beziehung des „Ichs“ speziell auf Eva gibt es, gegen Krauter (s. Anm. 45), keine Indizien. Wolter, Röm, Bd. 1 (s. Anm. 47) 431 f bezieht Röm 7,7 ff auf den „idealtypischen Juden“. Die Hauptschwierigkeit dieser Deutung ist einerseits das „Sterben“ des „Ichs“ in 7,9–11: Diese spezifisch narrative Referenz lässt sich viel plausibler von der Sündenfallgeschichte her erklären (vgl. 5,12) als vom generellen Lehrsatz, dass Sünde den Tod zur Folge hat. Am Prätext von Gen 2/3 kommt man in der Auslegung von Röm 7 ohnehin nicht herum; ab V. 11 f wird das etwa auch von Wolter, aaO. 438 f konzediert. Bei der Deutung des „Ichs“ auf „den Juden“ allein blendet man andrerseits die wahrscheinliche Absicht des Autors aus, die Leserschaft sich selber in der Geschichte des „Ichs“ wiedererkennen zu lassen (zumal dann, wenn man, wie Wolter 44 f, judenchristliche Adressaten grundsätzlich ausschliesst).
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der für das Menschsein schlechthin steht – das entspricht dem universalen Programm des Römerbriefs: Paulus adressiert alle Völker, Juden wie Griechen (1,16). Das „Ich“, das der Apostel sprechen lässt, schliesst Heiden und Juden schlechthin ein,49 die alle von Adam herkommen. Die Leserschaft hat mit dieser umfassenden menschheitlichen Perspektive schon in 5,12–21 Bekanntschaft gemacht (vgl. 8,20). Namentlich die short story in V. 9–11 vom Leben ohne Gesetz, vom Kommen des Gebotes, vom Betrug durch die dämonische Sündenmacht und vom Sterben des Ichs setzt auf Seiten der Leser Bekanntschaft mit der Paradiesgeschichte voraus. Für unsere Fragestellung interessanter sind V. 14–25, wo Paulus deskriptiv formuliert. Hier arbeitet er mit anthropologischen Dualen, die auf den überkommenen Gegensatz von Geistselbst (bzw. Seele) und Körper zurückgreifen. Sie erfahren bei ihm erneut bedeutsame Variationen. Wir haben wieder eine multikulturelle Konstellation vor uns. Im Vordergrund steht der philosophische Diskurs über die Akrasie, d. h. die Willensschwäche, das Auseinanderklaffen von Absicht und Tun, verdichtet im Paradigma des Medea-Konflikts.50 Im Hintergrund steht die ursprünglich platonische Konfiguration der Gefangenschaft des Geistselbst und seiner Befreiung,51 die etwa Philon in weitem Umfang rezipiert.52 Die gesamte Metaphorik des Sterbens, die bei Paulus den Transfer vom alten zum neuen Sein kennzeichnet 49 Diese Hypothese ist auch vertretbar, wenn man die Adam-Bezüge minimalisieren will, so etwa J. Schröter, Der Mensch zwischen Wollen und Tun. Erwägungen zu Römer 7 im Licht der „New Perspective on Paul“, in: P. G. Klumbies / D. du Toit (Hg.), Paulus. Werk und Wirkung, FS A. Lindemann, Tübingen 2013, 195–223 („Das ‚Ich‘ in V. 9 ist demnach ein idealtypisches ‚Ich‘, denn es geht um eine urbildliche Erfahrung, die für das Menschsein an sich kennzeichnend ist“, 211). 50 Zum Medea- Konflikt und seinen verschiedenen antiken Deutungen vgl. G. Theissen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie (FRLANT 131), Göttingen 1983, 213–223; R. von Bendemann, Die kritische Diastase von Wissen, Wollen und Handeln. Traditionsgeschichtliche Spurensuche eines hellenistischen Topos in Römer 7, ZNW 95 (2004) 35–63; Wolter, Röm, Bd. 1 (s. Anm. 47) 448–451. 51 Man braucht dabei nicht so weit zu gehen wie E. Wasserman, The Death of the Soul in Romans 7. Sin, Death, and the Law in Light of Hellenistic Moral Psychology (WUNT II/256), Tübingen 2008. Sie platziert Röm 7 (im Kontext von 6–8) im „Platonic model of the soul locked in a struggle between reason and emotions, higher and lower faculties, virtue and vice“ (115), und operiert mit einem Gegensatz zwischen der cartesianischen „unified person“ und der „Platonic divided soul“ („Romans 7 beyond the Bultmann-Käsemann Debate“, 145–148). Die Problematisierung des neuzeitlichen theologischen Personbegriffs – die sich ein Stück weit mit unserer Relativierung des holistischen Paradigmas deckt – sollte nicht den Blick darauf verstellen, dass die Platoniker das Selbst, den „inneren Menschen“, exklusiv im Geist, dem Nūs, verorten, und dass das „Ich“ von Röm 7 auch konsequent dieser Seite zugeschlagen wird. Problematisch ist sodann die Frontstellung gegen die Deutung der Sünde als (apokalyptischer) kosmischer Macht, die Ernst Käsemann seinerzeit so markant herausgearbeitet hat. Vgl. dazu B. R. Gaventa, The Shape of the „I“. The Psalter, the Gospel, and the Speaker in Romans 7, in: dies. (Hg.), Apocalyptic Paul. Cosmos and Anthropos in Romans 5–8, Waco 2013, 77–91. 52 Vgl. zu diesem religionsphilosophischen Hintergrund G. H. van Kooten, Paul’s Anthropology in Context. The Image of God, Assimilation to God, and Tripartite Man in Ancient Judaism, Ancient Philosophy and Early Christianity (WUNT 232), Tübingen 2008, 357–392.
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(vgl. Gal 2,19 f; Röm 6,1–23), ist ohne diesen Hintergrund nicht verständlich zu machen. Bei der Versklavung spielen ausserdem neben naheliegenden alltäglichen Erfahrungen in der reichsrömischen Gesellschaft auch spezifisch jüdische Konnotationen hinein, nämlich die auch positive Pointierung der Knechtschaft (8,25b; 7,6): Menschsein heisst immer, einer Herrschaft unterstellt zu sein (6,16–7,4 beschreibt den Herrschaftswechsel). Es kommt hinzu die Einwohnungsmotivik (die Sünde wohnt im Menschen und übernimmt seine Steuerung, V. 17.20), die wieder ein Kulturen übergreifendes umfassendes Muster, die Besessenheit (possession), artikuliert und in Kap. 8 ihr positives Gegenbild hat, nämlich die Einwohnung des Geistes bzw. Christi (V. 9–11).53 Wir blicken zunächst auf das zu einem Teufelskreis eskalierende Drama. Die Aufspaltung des Ichs und sein Handlungskompetenzverlust bauen sich sukzessiv auf. Laut V. 14 ist das Ich „verkauft“ unter die Sünde und (deshalb?) fleischlich. In V. 17 und 20 gibt das Ich seine Handlungskompetenz an die Sünde ab, die im Menschen Wohnung genommen hat (davon hat Paulus zuvor in V. 7–13 erzählt). Deren Wohnung wird in V. 18 im Fleisch, nicht mehr im Ich, geortet. Auf der negativen Seite werden sodann die „Glieder“, die Organe für leibliche Aktivitäten, platziert (V. 23; vgl. 7,5). Schliesslich wird das Gefängnis bestimmt: „dieser Leib des Todes“ (8,24b). Hier schreibt Paulus das, was er sonst vom Fleisch (σάρξ) sagt, sogar dem Körper (σῶμα) zu (ebenso 6,6: „Leib der Sünde“; vgl. 8,13 „Töten der Taten des Körpers “). Nehmen wir uns nun die andere Seite des Duals vor. Das Ich schliesst offenbar auf der positiven Seite den inneren Menschen ein (V. 22). Dieser orientiert sich an der Tora. Er dürfte mit der Vernunft, dem Nūs von V. 23b, identisch sein. Variiert wird das in V. 25b: „Mit der Vernunft diene ich dem Gesetz Gottes.“54
Blicken wir auf das dramatisch entwickelte Bild des nicht-christlichen bzw. vorchristlichen Menschen, so lassen sich drei Feststellungen treffen: (1.) In summierenden Aussagen wird der „alte Mensch“ als ganzer von Fleisch und Tod beherrscht (Röm 6,6) – hier konstatieren wir Ganzheitlichkeit in einer negativen Lesart. (2.) In der Retrospektive fächert sich der alte Mensch auf: Hier die Sarx und mit ihr das todbringende Gesetz der Sünde; dort der Nūs, der innere Mensch, und mit ihm die Tora Gottes; dazwischen das „Ich“, dessen Kern aber doch auf die gute Seite gehört und das sich von den „Gliedern“ und schliesslich vom „Leib des Todes“ unterschieden weiss. (3.) Wir dürfen annehmen, dass für Paulus dieses auf der Seite des Gottesgesetzes stehende Ich diejenige Grösse bildet, an der das Heilshandeln Gottes schöpferisch tätig wird. In Röm 8,1–17 wird erkennbar, dass die Dualität, die den „alten Menschen“ tragisch bestimmt hat, im „neuen Menschen“ (so Kol 3,10) zwar tiefgreifend variiert, aber nicht eliminiert wird. An die Stelle des verlorenen Ichs tritt nun das „wir“ derer, denen die Gabe des Geistes geschenkt ist. Die Sprachformen der Teilhabe 53 Vgl. meinen Aufsatz: Göttliche Einwohnung. Die Schechina-Motivik in der paulinischen Theologie, in: B. Janowski / E. E. Popkes (Hg.), Das Geheimnis der Gegenwart Gottes. Zur Schechina-Vorstellung in Judentum und Christentum (WUNT 318), Tübingen 2014, 203–217, Abdruck in diesem Band: 169–183. 54 Obwohl V. 25b an seinem vorfindlichen Ort notorische Interpretationsschwierigkeiten erzeugt, empfiehlt es sich aus grundsätzlichen methodischen Überlegungen doch, ihn nicht als Randbemerkung eines späteren Lesers auszuscheiden.
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rücken in den Vordergrund; ähnlich wie Joh 3 artikuliert Paulus eine sphärische Anthropologie: Die Glaubenden haben Anteil am Geist und werden nicht mehr vom Fleisch beherrscht (V. 4–8). Komplementär treten Einwohnungsaussagen hinzu: Der Geist bzw. Christus nimmt Wohnung in den Glaubenden (V. 9–11). Sie lassen sich wieder in der Fluchtlinie einer exzentrischen Anthropologie deuten. Zugleich aber leben die Glaubenden weiterhin in einem sterblichen Körper (Röm 8,11; 6,12), der zwar nicht mehr der unumschränkten Herrschaft der Sarx unterworfen ist, aber ihren bedrohlichen Impulsen ausgesetzt bleibt. Formulierungen wie das „Kreuzigen des Fleisches mit den Leidenschaften und Begierden“ (Gal 6,24) geben zu denken. Sie deuten so gut wie etwa die auf Selbstdisziplinierung zielende Agon-Metaphorik (1 Kor 9,24–27) auf ein Ethos hin, das – durchaus vergleichbar mit philosophischen Praktiken der Lebenskunst – eine Distanznahme zu Affekten einübt. Dabei geht es nicht um Unterdrückung, sondern um Transformation. Etwas plakativ formuliert: Der Geist schmilzt die archaischen Mächte der Sexualität und Aggression zu den ‚innovativen‘ Kräften der Liebe (ἀγάπη) und der Ausdauer (ὑπομονή) um. „Ganzheit“ ist demgegenüber erst von der Vollendung zu erwarten, wenn Gott die sterblichen Leiber verwandelt in den Status der Herrlichkeit (Röm 8,11; vgl. Phil 3,21; 1 Kor 15,35–57). Diese eschatologische Perspektive eröffnet Paulus im zweiten Teil des Kapitels (8,18–39). In der Gegenwart aber haben die Glaubenden an beiden Weltzeiten Anteil, an der vergehenden wie an der anbrechenden. Anders als in philosophischen Anthropologien sind die Menschen in dieser Sichtweise nicht so sehr Lebewesen, die Oberes und Unteres verbinden, sondern weit mehr Vergangenheit und Zukunft. Über räumliche Aspekte hinaus bekommt die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ein besonderes Gewicht. Bevor wir uns an einem Ausblick versuchen, lohnt es sich, einem weiteren, nunmehr vierten neutestamentlichen Zeugen Gehör zu schenken, der durchaus zu Recht als Antipode des Paulus firmiert. 2.4 Ganzwerden als Weg des Glaubens: Jakobus Der Jakobusbrief bewegt sich in einem Milieu, das ausgesprochen stark alttestamentlich-jüdische Traditionen fortschreibt, ohne sich aber gegen popularphilosophische Einflüsse abzuschotten. In seinem ersten grösseren Abschnitt (1,2–18) arbeitet er das Wesen des Glaubens heraus und ruft zur Ganzheitlichkeit auf (1,3 f):55 55 Vgl. K.-W. Niebuhr, Jakobus und Paulus über das Innere des Menschen und den Ursprung seiner ethischen Entscheidungen, NTS 62 (2016) 1–30: „Für wenige neutestamentliche Textzusammenhänge ist das Modewort ‚Ganzheitlichkeit‘ so geeignet wie für den Jakobusbrief “ (5). Zu Vollkommenheit und Gespaltenheit in Jak 1,2–8 vgl. sodann M. Konradt, Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief. Eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption (StUNT 22), Göttingen 1998, 267–274. „Gerechtsein setzt nichts weniger als eine
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„Ihr wisst, dass die Erprobung eures Glaubens Ausdauer bewirkt. Die Ausdauer aber werde begleitet von einem vollkommenen Werk; so werdet ihr vollkommen und ganz (τέλειοι καὶ ὁλόκληροι), und es wird euch nichts fehlen.“
Der Lehrer findet unter seinen Adressaten Zweifel und Dissipation vor. Er vergleicht den Zweifler mit der unsteten Meeresbrandung und warnt ihn vor der Erwartung, irgendetwas von Gott zu erhalten (1,8): „Er ist ein Mann mit gespaltener Seele (ἀνὴρ δίψυχος), unstet und haltlos auf all seinen Wegen.“56
Zuspruch und Warnung des Jakobusbriefs lassen sich so lesen, dass der Autor auf gesellschaftliche Bewegungen reagiert, die ihrerseits die Entwicklung und Ausarbeitung dualisierender Anthropologien in seiner Umwelt begünstigen. Wonach wir mit unserer Fragestellung auf der Suche waren – das zu klärende Verhältnis von Ganzheitlichkeit und Entzweiung –, macht der Weisheitslehrer zum ethischen Programm. Er denkt dabei vornehmlich an Versuchungen. Sein Gegenmittel auf dem Weg zur Vollkommenheit besteht in Gebet und ungeteiltem Glauben.
3. Ein zweifacher Ausblick Wir haben eine Reihe exemplarischer Texte wahrgenommen, in denen auf ganz verschiedene Weise holistische und dualistische Figuren in Wechselwirkung treten. Ganzheitlichkeit kommt neuzeitlichem Empfinden offenkundig entgegen, während sich entlang ‚dichotomischer‘ Fluchtlinien schwierige geschichtliche Erfahrungen kumulieren – Leibfeindlichkeit und Abwertung der Sexualität verfolgen die abendländische Kulturgeschichte und mit ihr das Christentum wie ein Schatten. Umso mehr ist es geraten, Zugänge zu einer kulturhermeneutischen Beurteilung dualisierender Faktoren in der Anthropologie zu suchen. Ich öffne hier lediglich zwei Fenster. Zum einen ist es verlockend, die urchristlichen Aussagen in ein übergreifendes kulturtheoretisches Paradigma einzuzeichnen, das sich mit den Stichworten „Europa und die Entdeckung des Selbst“ charakterisieren lässt.57 Zu denken ist ganzheitliche Lebenshingabe an Gott voraus, mit der der Christ dem Geschenkcharakter des Lebens entspricht“ (301). 56 Zum Hintergrund der Spaltseele, zumal zum rabbinischen Doppelherz, vgl. D. C. Allison, James (ICC), London 2013, 186–190. 57 Vgl. dazu die folgenden Monographien und Sammelbände: Ch. Taylor, Sources of the Self. The Making of the Modern Identity, Cambridge, Mass. 1989; J. Assmann (Hg.), Die Erfindung des inneren Menschen. Studien zur religiösen Anthropologie, Gütersloh 1993; J. Assmann / G. Stroumsa (Hg.), Transformations of the Inner Self in Ancient Religions (SHR 83), Leiden 1999; Rothschild / Thompson, Body (s. Anm. 43); Ch. Gill, The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought, Oxford 2006; R. Sorabji, Self. Ancient and Modern Insights about
3. Ein zweifacher Ausblick
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speziell an die mit der griechischen Kultur verbundene „Entdeckung des Geistes“,58 die mit Modellen zweier Welten Hand in Hand geht und spätestens im Übergang zur späten Antike Konzeptionen eines Selbst generiert, das einer ganz anderen Welt als der vorfindlichen zugeordnet wird. Das antike Christentum lässt sich, bereits in seinen Ursprüngen, nicht von dieser kulturenüberspannenden Drift isolieren, auch wenn es ganz spezifische Formationen hervorgebracht hat und nicht einfach im „Geist der Spätantike“ eingeebnet werden kann. Ähnliches gilt für das antike Judentum. In ganz verschiedenen Spielarten werden Zuordnungen holistischer und dualistischer Figuren erkennbar. Es bildet sich eine für den mediterran-abendländischen Kulturraum charakteristische Zweinaturen-Anthropologie heraus. Zum andern bieten sich Perspektiven an, die von modernen Modellen evolutionärer Anthropologie ihren Ausgangpunkt nehmen. Die Zweinaturen- Anthropologie lässt sich so ins Spiel bringen, dass sie im Blick auf die Anthropogenese – die Menschwerdung (!) – die Ambivalenz unserer Herkunft im Blick auf mögliche Zukunft thematisiert. Deutet man das „Fleisch“, die Sarx jüdisch- christlicher Theologie, auf das biologische Erbe des Menschen, das wir aus unserer Millionen von Jahren dauernden Hominidenvergangenheit mit uns tragen, dann bricht die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der homines sapientes auf. Neutestamentliche Texte verorten die an Christus glaubenden Menschen im Spannungsfeld zweier Gravitationsfelder. Sie stellen das Gewicht umfassender Transformationsprozesse heraus, in denen der „alte Mensch“ zum „neuen Menschen“ verwandelt wird und der Geist zum Zug kommt.59 Im Fokus stehen archaische Programme und Muster unseres biologischen Erbes, der Sarx, die von der Selbsterhaltung über die Zentrierung um die Gruppe bis zur Entfesselung von Aggression, Gier und Sexualität reichen. Die Eigendynamik dieses sarkischen Fundus kollidiert mit den Ansprüchen einer planetaren Oikumene, die auf Menschlichkeit, Solidarität und Nachhaltigkeit beruht. Die alte Rede von zwei Naturen hält das Wissen darum wach, dass das Projekt Menschwerdung gefährdet ist und bleibt. Hoffnung hat es in der Tat mit dem (noch) Unsichtbaren zu tun (Röm 8,24 f).
Individuality, Life, and Death, Chicago 2006; P. Remes / J. Sihvola (Hg.), Ancient Philosophy of the Self, Dordrecht 2008. 58 Klassiker: B. Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen 92009. 59 Anregend wie immer: G. Theissen, Das transformative Menschenbild der Bibel. Die Erfindung des „inneren Menschen“ und seine Erneuerung im Urchristentum, in: Janowski, Mensch (s. Anm. 3) 269–287.
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Ganzheitlich oder doch dualistisch?
Nachtrag Die im letzten Abschnitt entworfenen Überlegungen bedürfen der Differenzierung. In Ethnoarchäologie und Social Anthropology mehren sich die Anzeichen dafür, dass es in der Entstehungsgeschichte der Menschheit eine längere Phase zwischen zwei Epochen der Ungleichheit gegeben hat: Von erheblichen Hierarchien gekennzeichnet sind sowohl die fernere Vergangenheit, erkennbar an den nächsten Verwandten, den afrikanischen Menschenaffen, wie auch der Zustand, der sich mit dem Übergang zur Landwirtschaft etabliert und die Bildung städtischer Kulturen ermöglicht. Demgegenüber traten die ersten modernen Menschen als kleine egalitäre Gruppen von Jägern und Sammlern in Erscheinung, geprägt von einer „altruistischen“ Kultur des Teilens, des Kooperierens und vielleicht sogar mit Formen der Geschlechtergleichheit.60 Trotzdem ist Vorsicht vor einer Idealisierung des „verlorenen Paradieses“ geboten.61 Bereits in Jäger‑ und Sammlergruppen können sich flache Hierarchien markant verstärken, zumal im Fall von Clanbildung (die ihrerseits den Übergang zur Landwirtschaft befördert). Auch Jäger und Sammler praktizieren die Abgrenzung gegen aussen, verbunden mit Gewalt; wiederum intensiviert die Clanbildung die Formen von Ungleichheit. Dazu kommen andere „dunkle“ Elemente: Umweltzerstörung begegnet bereits bei steinzeitlichen Jägern, die systematisch Feuer gelegt haben. Der Erfolgszug der modernen Menschen geht ursächlich einher mit einer massiven Dezimierung der eiszeitlichen Megafauna, etwa im Fall der Höhlenbären und der Mammuts. Auch bei anderen Tierarten wie bestimmten Schildkrötenpopulationen gibt es frühe Spuren von beträchtlicher Überjagung. Noch nicht geklärt ist schliesslich die Frage, ob das Aussterben der nächsten Verwandten des homo sapiens, zumal der Neandertaler, nicht auch mit gewaltsamer Verdrängung verbunden war. Aufs Ganze gesehen dokumentiert unser archaisches Erbe jene eigentümliche Ambivalenz, die wir oben mit dem neutestamentlichen Verständnis des „Fleisches“, der sarx, korreliert haben.
60 Vgl. dazu K. Flannery / J. Marcus, Creation of Inequality. How Our Prehistoric Ancestors Set the Stage for Monarchy, Slavery, and Empire, Cambridge, Mass. 2012, 3–18; 66 f; 92 f; 547–549; W. Scheidel, The Great Leveler. Violence and the History of Inequality from the Stone Age to the Twenty-First Century, Princeton 2017, 25–42; T. A. Kohler u. a., Greater Post-Neolithic Wealth Disparities in Eurasia than in North America and Mesoamerica, Nature 551 (2017) 619–622. 61 Dieser Gefahr entgeht nicht ganz der überaus anregende Entwurf von C. van Schaik / K. Michel, Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät, Reinbek 2016, z. B. 59 f; 91 ff. Überhaupt fällt in der evolutionären Anthropologie der Rückgriff auf biblische Metaphern auf: „Genesis und Exodus“ (Flannery / Marcus, Creation 3–18); „Adam und Eva“, „Kain und Abel“ (van Schaik / Michel, Tagebuch 37–77; 78–87); die vier apokalyptischen Reiter (Scheidel, Leveler 5–9; 436–441).
Leben aus dem Tod Neutestamentliche Perspektiven auf Lebensfülle und Lebensminderungen Abstract Life out of Death. New Testament Perspectives on Abundance and Diminution of Life Sometimes the New Testament is contrasted with the Old Testament: the latter is the book of a religion of this world, the former the book of a religion of the hereafter. But the biblical finding is far more complex. It is true that a perspective beyond death plays a central role in early Christianity (which also contributed to its success). But eschatological life and earthly life are connected in many respects according to the New Testament. The essay explores the figure of “life out of death” especially in the Jesus tradition, in Paul and in the Gospel of John.
In biblischer Perspektive lässt sich das Thema „Leben“ von seinem Gegensatz, vom Tod her, in schärferen Konturen wahrnehmen. Diese Verhältnisbestimmung legt sich zum einen vom Neuen Testament her nahe. Was immer hier an Lebensphänomenen in den Blick gerät, steht meist in einer irgendwie gearteten Beziehung zum Tod – sei es zum menschlichen Sterben generell, sei es spezifisch zum Tod von Jesus Christus. Zum andern stellt die Relation von Leben und Tod auch eine gute Grundlage für das Gespräch mit dem Alten Testament bereit, wo die Todesthematik erst im Lauf einer längeren Entwicklung virulent wird. Grundsätzlich ist bei diesem Thema zu berücksichtigen, dass die Grenze zwischen Leben und Tod in der Antike anders verläuft als in unserer neuzeitlichen Perspektive.
1. Eine sachgemässe biblische Antithese? 1.1 Buch des Diesseits, Buch des Jenseits Das Verhältnis beider Teile des christlichen Kanons wird nicht selten so bestimmt, dass das Alte Testament ein Buch des Diesseits darstelle, das Neue hingegen ein Buch des Jenseits. So hat etwa Friedrich Nietzsche das „Zusammenleimen“ der beiden Testamente als „vielleicht die grösste Verwegenheit und ‚Sünde wider den Geist‘, welche das literarische Europa auf dem Gewissen hat“, bezeichnet. Hier im „jüdischen ‚alten Testament‘“ manifestiert sich ein Buch
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Leben aus dem Tod
von „ungeheuren Überbleibseln dessen, was der Mensch einstmals war“, dort im „neuen Testament, einer Art Rokoko des Geschmacks in jedem Betrachte“, wo „sich viel von dem rechten zärtlichen dumpfen Betbrüder‑ und Kleinen-Seelen- Geruch“ findet, kündigen sich die „Prediger des Todes an“ an, die „noch nicht einmal Menschen geworden“ sind und die Vielen mit dem „‚ewigen Leben‘ aus diesem Leben weglocken“.1 In jüngerer Zeit hat Jan Assmann das Frühchristentum mit seinem Jenseitsglauben in scharfen Gegensatz zum Alten Testament mit seiner diesseitigen Orientierung an der Geschichte gestellt und geradezu als Rückkehr nach Ägypten gefeiert. Die christlichen Grundüberzeugungen von der Unsterblichkeit der Seele und einer jenseitigen Vergeltung sind „von Ägypten aus in die christliche Religion eingedrungen“.2 Will man die Antithese zuspitzen, so wirkt die nüchterne Diesseitigkeit des Alten Testaments geradezu unheimlich modern, während sich im Neuen Testament die spätantike-mittelalterliche Verneinung des vorfindlichen Lebens zugunsten des Himmels und Jenseits ankündigt. Die Schwächen der so skizzierten Antithese liegen auf der Hand. Nicht wenige alttestamentliche Texte belegen, wie Israel zunehmend Gottes Treue auch über die Todesschwelle hinweg festzuhalten sucht, um schliesslich ausgreifende apokalyptische Visionen zu entwerfen.3 Umgekehrt setzen sich die meisten frühchristlichen Texte stärker mit konkreten lebensweltlichen Problemen ihrer Adressaten auseinander als mit dem Jenseits. Ausserdem ist im Einzelnen genauer zu differenzieren zwischen Erwartungen eines eigentlich postmortalen Lebens und anderen Formen eschatologischer Hoffnung.4 Trotzdem ist die an der Todesbewältigung orientierte Entgegensetzung der beiden Testamente nicht einfach falsch. Ich versuche in den nachstehenden Zeilen ihre particula veri herauszustellen und gleichzeitig zu zeigen, dass sich das Verhältnis von Diesseitsbezug und Jenseitsbezug in den neutestamentlichen Texten viel komplexer ausnimmt.
1 Collage aus Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 3. Hauptstück Nr. 52, in: G. Colli / M. Montinari (Hg.), Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 6.2, Berlin 1968, 70, und „Von den Predigern des Todes“, in: Also sprach Zarathustra, in: Nietzsche Werke, Bd. 6.1, Berlin 1968, 51–53. 2 J. Assmann, Tod und Jenseits im Alten Ägypten, München 2001, xiii; vgl. 13; 22; 521–525. 3 Zur innerbiblischen Entwicklung vgl. W. Dietrich / S. Vollenweider, Art. Tod. II: Altes und Neues Testament, TRE 33 (2001) 582–600; speziell zu den Psalmen B. Janowski, Konfliktgespräche mit Gott, Neukirchen 2003 („Vom Leben zum Tod“, 53 ff; „Vom Tod zum Leben“, 225 ff); ders., De profundis. Tod und Leben in der Bildsprache der Psalmen, in: Der Mensch vor Gott, FS H. Lichtenberger, Neukirchen 2003, 41–64. Vgl. ders., Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019, 88–92; 491–495. 4 Zu scharf kontrastiert aber G. Dautzenberg, Art. Leben. IV, TRE 20 (1990) 526–530, hier: 527 („Die Lebensthematik steht ausser im Johannesevangelium und im ersten Johannesbrief keineswegs im Mittelpunkt urchristlichen Interesses und urchristlicher Theologie, sondern im Schatten der Reich-Gottes‑ und der Auferstehungsverkündigung“), zumal nahezu alles Material unter der Überschrift „Leben als eschatologischer Heilsbegriff “ (527 ff) subsumiert wird.
1. Eine sachgemässe biblische Antithese?
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Dies ermöglichst sodann einen Brückenschlag zur Diesseitigkeit, wie sie im Alten Testament dominiert. 1.2 Das Frühchristentum als Jenseitsreligion? Es ist im Ganzen kaum zu übersehen, dass sich die Verkündigung eines ewigen bzw. endzeitlichen Lebens als eine, wenn nicht die zentrale Botschaft des antiken Christentums ausnimmt, das hier die Erbschaft der frühjüdischen Apokalyptik antritt. Der wohl stärkste Eindruck, den die frühen Christen bei ihren Zeitgenossen hinterliessen, war die Todesbereitschaft ihrer Märtyrer.5 Zu den elementaren Glaubenssätzen ihres Lehrsystems zählt der Glaube an ein Jenseits bzw. eine andersweltliche Zukunft.6 Gegenüber dem hoffnungslos vom Tod überschatteten Leben präsentiert die christliche Verkündigung eine Alternative (1 Thess 4,13 f; 1 Kor 15,17–19; Hebr 2,14 f; Mt 4,16 und Lk 1,79 nach Jes 9,1). Wir wissen, dass die durchschnittliche Lebenserwartung für die Bevölkerung des Römischen Reichs weniger als dreissig Jahre betrug; die Kindersterblichkeit war ausgesprochen hoch.7 Antike Grabinschriften beklagen oft die Frühzeitigkeit und Willkürlichkeit des Todes; Jenseitshoffnungen kommen dabei recht selten zu Wort.8 Auch im jüdischen Bereich werden weniger häufig als man auf den ersten Blick erwarten könnte, Jenseits‑ oder Auferstehungshoffnungen geäussert.9 Das Auftauchen und die Verbreitung des Christentums markiert hier eine deutliche
5 Vgl. z. B. über die – negativ gewertete! – Todesbereitschaft der Christen Epiktet, diss. 4,7:6 und M. Aurel 11,3:2 (falls deren Nennung hier keine Glosse darstellt). Diese obstinatio erweist sich aber nach dem bekannten Wort Tertullians zugleich als enormer Attraktor und Multiplikator (apol. 50,14 f: semen est sanguis Christianorum; vgl. Diognet 7,7–9). Vgl. zum Ganzen H. von Campenhausen, Das Martyrium in der Mission, in: H. Frohnes / U. W. Knorr (Hg.), Kirchengeschichte als Missionsgeschichte, Bd. 1, München 1974, 71–85. 6 Vgl. Hebr 6,2; Apg 17,31 f; 1 Thess 1,10. Für die Apologeten zählt die Erwartung einer postmortalen Existenz zu den Basissätzen der christlichen Religion: Justin, apol. 1,11:2; 12:1–3; 18:1–4; dial. 5,3; Athenag., leg. 12,3; 31,4; Tatian, or. 13. 7 Vgl. J. Wiesehöfer, Art. Lebenserwartung, DNP 6 (1999) 1213–1215. 8 Vgl. die umfassende Untersuchung von I. Peres, Griechische Grabinschriften und neutestamentliche Eschatologie (WUNT 157), Tübingen 2003, besonders 31 ff. 9 Zur jüdischen Welt vgl. P. W. van der Horst, Das Neue Testament und die jüdischen Grabinschriften aus hellenistisch-römischer Zeit, BZ 36 (1992) 161–178, hier: 171 ff; ders., Ancient Jewish Epitaphs (CBET 2), Kampen 21996 (1991), 114–126. J. S. Park, Conceptions of Afterlife in Jewish Inscriptions (WUNT II/121), Tübingen 2000, findet, dass „a significant number of people who considered themselves to be Jews either denied, or held to a minimal conception of, afterlife“ (202). Demgegenüber bringen die – von Christen überlieferten und seligierten! – literarischen Texte vermehrt Hoffnungen über den Tod hinaus zum Ausdruck, vgl. R. Bauckham, Life, Death and the Afterlife in Second Temple Judaism, in: R. N. Longenecker (Hg.), Life in the Face of Death (MNTS 3), Grand Rapids 1998, 80–95 („in the late first or early second century C. E., belief in life after death had become dominant within Judaism“, 80).
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Leben aus dem Tod
Zäsur.10 Die christliche Botschaft nimmt in vielfacher Weise die Sehnsucht antiker Menschen nach einem postmortalen bzw. jenseitigen Leben auf. Allerdings lässt sich die Resonanz der frühchristlichen Religion in der mediterranen Welt nicht einfach auf der Schiene des Jenseitsglaubens erklären. Gerade unser frühster erhaltener christlicher Text, der 1. Thessalonicherbrief, zeigt, dass die Christen Thessalonikis zwar endzeitliche Erwartungen teilten (1,10; vgl. 2,12.19; 3,13; 5,23), sich aber trotzdem von Todesfällen irritieren liessen (4,13– 18). Im Zentrum der paulinischen Erstverkündigung stand neben der primär die Lebenden betreffenden Wiederkunft Christi offenbar nicht die Totenauferstehung, sondern der christologisch variierte monotheistische Gottesglaube (1,9 f). Die Attraktivität des frühen Christentums für Aussenstehende hat auch sonst wesentlich mit dem Monotheismus, mit einem ethischen Orientierungswissen und einem einladenden Gemeinschaftsangebot zu tun. Gerade die vielen paränetischen Elemente des 1 Thess zeigen die Bedeutung lebensweltlicher Orientierung, sowohl im schwierigen Verhältnis zur Umwelt wie in den gemeinschaftsinternen Bezügen (vgl. 4,1–12). Diese kleinen Beobachtungen zeigen: Im Zentrum der frühchristlichen Botschaft steht nicht einfach die Erwartung des jenseitigen Lebens; die Relationen von Leben und Tod sind komplexer. Dies betrifft vor allem zwei Punkte. Erstens steuert die Erwartung eines jenseitigen Lebens die diesseitige Lebensführung markant. Die Begegnung mit dem Tod bzw. mit dem jenseitigen Leben wirkt auf das diesseitige vorfindliche Leben zurück, beispielsweise in der Konversion, die als vorweggenommenes Ereignis von Sterben und Wiedergeburt erfahren wird. An diesem Punkt konvergiert das Frühchristentum durchaus mit anderen religiösen Tendenzen der antiken Welt. So zielen Mysterienkulte, wenn sie überhaupt den Jenseitshoffnungen eine wichtige Bedeutung einräumen, doch primär auf die diesseitige Lebensbewältigung.11 Auch philosophische Systeme mit expliziter Jenseitsorientierung üben das gute Leben hier und jetzt ein.12 Nur 10 Vgl. F. Graf, „Allen Lebewesen gemeinsam“. Geburt und Tod in der Antike, in: E. P. Fischer (Hg.), Geburt und Tod (Neue Horizonte 98/99), München 1999, 205–236, hier: 223: „Es ist […] bloss eine kleine Minderheit antiker Menschen, welche sich ihren Tod zum Tor eines besseren Lebens machten“; auch A. Samellas, Death in the Eastern Mediterranean (50–600 A. D.) (STAC 12), Tübingen 2002, 292: „In contrast to Judaism and paganism, Christianity adopted an unambiguously confrontational stance towards death“ (vgl. 11–26), allerdings mit dem wichtigen Hinweis auf die Sperrigkeit der christlichen Totenauferstehungsbotschaft. 11 Vgl. W. Burkert, Antike Mysterien, München 21991, 27–34 (mit Verweis auf die Charakterisierung des Christentums als „Gräberreligion“ durch seine Gegner, z. B. Liban., or. 62,10); zurückhaltender D. Zeller, Art. Mysterien/Mysterienreligionen, TRE 23 (1994) 504–526, hier: 519 f; H. Kloft, Mysterienkulte der Antike (Beck’sche Reihe. Wissen 2106), München 1999, 96– 99; F. Graf, Art. Mysterien, DNP 8 (2000) 615–626, hier: 623 f; R. L. Gordon, Art. Mysterienreligion, RGG4 5 (2002) 1640. 12 Hier ist v. a. der Platonismus zu nennen; Basistext ist Platons Verständnis der Philosophie als eines vorweggenommenen Sterbeprozesses (Phaid. 64a; 67d; usw.). Sodann stellen Systeme, die bzgl. Jenseitsleben distanziert (Jüngere Stoa) oder sogar entschieden negativ (Epikureer) eingestellt sind, die Beschäftigung mit dem Tod ins Zentrum, etwa in Form der Prämeditation.
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am Rand sei angemerkt, dass diese Rückwirkung des Jenseitsglaubens auf die diesseitige Lebensgestaltung mutatis mutandis auch für das alte Ägypten gilt.13 Zweitens wird das Verhältnis von Leben und Tod im Neuen Testament elementar durch den Bezug auf einen spezifischen Tod bestimmt, nämlich auf Jesu Tod und Auferweckung (vgl. 1 Thess 1,10; 4,14; 5,10). Auf das diesseitige, vorfindliche Leben fallen, wenn man so will, zugleich der Schatten des Kreuzestodes und das Osterlicht. Beides, die Rückwirkung der Erwartung ewigen Lebens auf das diesseitige vorfindliche Leben wie die Bedeutung des Todes Christi für Tod und Leben, wollen wir in drei exemplarischen Textzusammenhängen verfolgen: in der Jesusüberlieferung, in den paulinischen Briefen und im Johannesevangelium.
2. Leben aus dem Tod 2.1 Die Jesusüberlieferung 1. In der synoptischen Überlieferung gibt es einige Texte, die sich ausdrücklich mit der Verheissung ewigen Lebens beschäftigen.14 Der reiche Mann erkundigt sich bei Jesus nach den Bedingungen für das Gewinnen ewigen Lebens und wird auf die Einhaltung der Gebote verwiesen (Mk 10,17–22 par.). Lukas stilisiert auch die Frage nach dem grössten Gebot auf die Lebensthematik hin (10,25–28). Das geglückte, erfüllte Leben, das die alttestamentliche Tradition vom Toragehorsam erwartet,15 wird auf das Leben der zukünftigen Welt gedeutet (vgl. Mk 10,30 par.). Ähnlich steht es mit den Sprüchen vom Eingehen in das Gottesreich bzw. ins Leben (Mk 9,43.45 par.; vgl. Q 13,24–27; Mt 7,14.21):16 Sie blicken ursprünglich wohl auf die nahen endzeitlichen Ereignisse aus, werden aber mit fortschreitender Zeit auf das unmittelbar nach dem Tod zu erwartende Los bezogen.17 Vom endzeitlichen Leben handelt schliesslich das Sadduzäergespräch 13 Vgl. Assmann, Tod (s. Anm. 2) 19 f; 526 f; E. Hornung, Verfall und Regeneration der Schöpfung, ErJb 46 (1977) 411–449, hier: 446 f; ders., Zeitliches Jenseits im alten Ägypten, ErJb 47 (1978) 269–307. 14 Vgl. J. Zumstein, Art. Leben. II.2, RGG4 5 (2002) 136(f): „In der synoptischen Tradition ist v. a. der Aspekt des Zugangs zum ewigen Leben zentral.“ Zum Hintergrund vgl. die rabbinischen Bezugnahmen des „Lebens“ auf die Endzeit in Bill. 1, 808–810; 4.2, 820; 830; 833. Vgl. ferner D. Vetter, Die Lehren vom Tod und von der „kommenden Welt“ im talmudischen Schrifttum, in: ders., Das Judentum und seine Bibel, Würzburg 1996, 196–226, hier: 219 ff. 15 Vgl. Dtn 30,15–20 und den programmatischen Ps 1. Zur Fortwirkung in der jüdischen Tradition vgl. F. Avemarie, Tora und Leben Untersuchungen zur Heilsbedeutung der Tora in der frühen rabbinischen Literatur (TSAJ 55), Tübingen 1996. 16 Exegetischer Konvention zufolge wird ein bestimmter Q-Text durch das Sigel „Q“ mit der entsprechenden Lukas-Stelle bezeichnet. 17 Zu vergleichen ist besonders das Interesse von Lk am individuellen postmortalen Geschick (z. B. Lk 23,43; 12,16–21; 16,9; 20,36.38; 21,19; Apg 7,55–59; 14,22). Dazu J. Dupont, Die individuelle Eschatologie im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte, in: Orientierung an Jesus, FS J. Schmid, Freiburg 1973, 37–47.
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Leben aus dem Tod
(Mk 12,18–27 par.), das die Selbstvorstellungsformel Gottes von Ex 3,6 auf die Auferstehungsverheissung bezieht. All dies deutet in die Richtung einer Verjenseitigung genuin diesseitiger alttestamentlich-jüdischer Lebenszusagen. Freilich ist hier auch die andere Seite zu beachten. All unsere Texte stehen im Kontext der Nachfolge der Jesusjünger, die auf der Ebene der Evangelienrezipienten für das christliche Gemeindeleben transparent ist. Die Nachfolgeparänese im Anschluss an das Gespräch mit dem reichen Mann stellt klar, dass der Besitzverzicht nicht nur ewiges Leben in der zukünftigen Welt, sondern bereits jetzt neue Gemeinschaftsformen erwirkt (Mk 10,29 f par.). In der lukanischen Fassung des Sadduzäergesprächs wird die engelgleiche Lebensform der Auferstandenen wahrscheinlich schon auf die ehelose Nachfolge bezogen (20,36). Die Nachfolge der Jünger auf dem Weg Jesu rückt die Lebensverheissung in den Horizont seines Todes und seiner Auferstehung. 2. Die Nachfolgethematik wird in einigen Paradoxien charakteristisch auf das Ineinander von Leben und Tod zugespitzt. Das Oxymoron „Lass die Toten ihre Toten begraben“ (Q 9,60) knüpft das Leben auf dem Weg Jesu an den radikalen Bruch mit Familie und Pietät. Die ursprünglich wohl aus der Feldherrn- Ermahnung stammende Sentenz „Wer sein Leben festhält, wird es verlieren, und wer sein Leben aufs Spiel setzt, wird es finden“ (Q 17,33 par. Mk 8,35; vgl. Joh 12,25) zielt auf die Situation des Martyriums oder des Gerichts, in der das Geschick Jesu, nämlich Tötung und endzeitliche Errettung, auch auf seine Anhänger zukommt.18 Zugleich aber qualifiziert die Lebenszusage den Nachfolgeweg insgesamt. Ähnliches gilt für den Doppelspruch vom „die Welt gewinnen“ und vom Tauschmittel (Mk 8,36 f). Liest man ihn vor dem Hintergrund von Ps 49, dann stellt er vor die Alternative von Unterwelt und Entrückung, auf die bereits der nachexilische Psalm weist. Aber trotz endzeitlicher Stossrichtung geht die ursprünglich weisheitliche Beziehung auf das diesseitige Leben nicht notwendig verloren: Auf dem Weg der Nachfolge zählt die Bindung an Jesus mehr als Reichtum und Gewinn. Das Moment des Lebensgewinns, des Findens von ‚erfülltem Leben‘, das von Haus aus in der orientalischen Weisheitsliteratur gepflegt wird, legt sich auch für das Verständnis des Weisheitslehrers Jesus nahe. 3. Die implizite österliche Dimension des irdischen Lebens wird in der Jesusüberlieferung am deutlichsten durch die Wundergeschichten herausgestellt, die wiederum als Identifikationsangebote für die Evangelienleserinnen und ‑leser fungieren. Die in ihnen inszenierten Grenzüberschreitungen sind transparent für die Glaubenserfahrungen der frühen Christen, etwa in der Konversion. Für unsere Fragestellung nach Leben und Tod sind insbesondere die
18 Vgl. dazu M. Ebner, Jesus – ein Weisheitslehrer? (HBS 15), Freiburg 1998, 110–122; auch P. Kristen, Familie, Kreuz und Leben. Nachfolge Jesu nach Q und dem Markusevangelium (MThSt 42), Marburg 1995, 138–140.
2. Leben aus dem Tod
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Totenerweckungserzählungen aufschlussreich.19 Die Errettungstaten an der Tochter des Jairus (Mk 5,21–43 par.) und am Jüngling von Nain (Lk 7,11–17) überbieten die alttestamentlichen Erzählungen aus dem Elia‑ und Elisazyklus (1 Kön 17,17–24; 2 Kön 4,18–37). Sie zeigen zugleich die sozialen und ökonomischen Dimensionen, die die Welt des Todes mitkonstituieren. Der Wundertäter Jesus realisiert mit seinem partiellen Sieg über den Tod nicht nur eine alttestamentliche Verheissung,20 sondern weist auch bedeutungsvoll auf sein eigenes Geschick voraus. Es ist vor allem die johanneische Lazaruserweckung, die im Kontext von Passion und Auferstehung Jesu zu lesen ist (Joh 11,21–27.45–53).21 Alles in allem zeigt sich: Wo die Jesusüberlieferungen Lebensfülle und Lebensminderungen zur Sprache bringen, blenden sie auffallend oft endzeitliche und diesseitig-kreatürliche Aspekte des Lebens ineinander. Die Lebensphänomene werden auf der Ebene der Evangelientexte implizit oder explizit im Horizont des Todesweges Jesu und seiner Auferweckung geortet. 2.2 Die österliche Dialektik von Sterben und Leben bei Paulus Die Nachfolgethematik der Jesusüberlieferungen hat ihr Pendant in der paulinischen Konzeption der Konformität mit Christus. Tod und Leben sind fundamentale Kategorien der paulinischen Anthropologie, die wir nur kurz streifen können. Dabei gilt hier im Besonderen, dass es die präziser zu fassende Rede von Tod und Sterben ist, die die Perspektiven auf das Leben zu erhellen vermag. Im Ganzen zeigt sich die grundlegende Rolle von Relationen, die die Lebensphänomene konstituieren (vgl. Röm 6,1–23; 14,7–9). Leben erscheint wesentlich als Partizipation, zumal in Form der Zugehörigkeit zu Machtbereichen.22 Etwas schematisch lässt sich die eigentümliche österliche Dialektik von Leben und Sterben bei Paulus in drei Dimensionen rekonstruieren. 1. Der Umschlag vom Leben zum Tod konstituiert die Sphäre Adams. Mit der Sünde Adams kommt der Tod in die Welt (Röm 5,12–21; 1 Kor 15,21 f). Die Relektüre der Paradiesgeschichte in Röm 7,7–24 stellt heraus, dass die Lebensgabe Gottes durch die Sünde verspielt wird. Sünde erscheint nicht mehr nur als Gebotsübertretung,23 sondern als – vom Gesetz provozierter – Drang zur Selbsterhaltung abseits der göttlichen Lebensgabe; sie unterbricht die lebensspendende 19 Vgl. S. M. Fischbach, Totenerweckungen. Zur Geschichte einer Gattung (FzB 69), Würzburg 1992; ferner Ch. Uehlinger, Totenerweckungen – zwischen volkstümlicher Bettgeschichte und theologischer Bekenntnisliteratur, in: Auferstehung hat einen Namen, FS H.J. Venetz, Luzern 1998, 17–28. 20 Vgl. die Anspielung auf Jes 26,19 in Lk 7,22 par. (Q). 21 Vgl. z. B. J. Frey, Die johanneische Eschatologie, Bd. 3 (WUNT 117), Tübingen 2000, 404; 410 f; 414. 22 Vgl. z. B. U. Schnelle, Transformation und Partizipation als Grundgedanken paulinischer Theologie, NTS 47 (2001) 58–75; ders., Paulus, Berlin 2003, 463–465. 23 Allerdings kehren sich neuere Trends in der Paulusforschung von dieser augustinisch-re-
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Leben aus dem Tod
Relation zum Schöpfer. Adams Abkehr vom göttlichen Lebensstrom resultiert im Tod (Röm 7,9–11) und reisst die gesamte Schöpfung in die Vergänglichkeit (8,18–22). 2. Der Tod Christi markiert die Befreiung aus der Todessphäre Adams, rituell inszeniert durch die Taufe. Die Glaubenden sind kraft ihrer Anteilhabe am Tod Christi der Sündenmacht entnommen; im Glauben empfangen sie das von der Schrift verheissene ewige Leben (Gal 3,12; Röm 10,5; als Realisierung der Verheissung von Lev 18,5). Die Partizipation am endzeitlichen Leben (Röm 6,1–13; Gal 2,19 f; 5,24) unterliegt freilich noch den Bedingungen irdischer Existenz, die durch die der Vergänglichkeit unterworfene Leiblichkeit repräsentiert wird. Deshalb muss die Freiheit von der Sündenmacht immer neu aktualisiert werden und Bewährung finden (Röm 6,12–23; 8,4–13; Gal 5,16–6,10). Erst in der Vollendung wird die definitive Überwindung des Todes auch die Verwandlung der Leiblichkeit in göttliche Herrlichkeit mit sich bringen (Röm 8,17–25.28–30; 1 Kor 15,20–28.35–57; Phil 3,20 f). 3. In der Leidensgemeinschaft mit dem gekreuzigten Christus begegnet den Glaubenden das neue Leben in der Gestalt des Todes, wie es der Apostel selber in Leiden und Todesnot exemplarisch vergegenwärtigt (2 Kor 4,10–12; vgl. die Peristasenkataloge).24 In gewisser Weise blendet Paulus hier Adams Tod und Christi Tod ineinander (vgl. 2 Kor 5,14c mit 1 Kor 15,22; Röm 5,15–17). Während der „äussere Mensch“ der Zerstörungskraft der Todesmacht ausgesetzt ist, strömt dem „inneren Menschen“ das neue Leben zu (2 Kor 4,16). In der Feier des Abendmahls wird dieses Leben, das den Tod bleibend in sich integriert hat, vergegenwärtigt (1 Kor 11,23–26). Ähnlich wie in den Nachfolgestoffen der Jesusüberlieferung begründet die Gemeinschaft mit dem getöteten und auferstandenen Christus auch die Gemeinschaft der Menschen untereinander. Zusammenfassend lassen sich bei Paulus beide Momente unserer Fragestellung identifizieren: Zum einen stehen das endzeitliche ewige Leben und das diesseitige vorfindliche Leben der Glaubenden in eigentümlicher Wechselwirkung. Zum andern partizipieren Leben wie Sterben der Glaubenden an Christi Tod und Auferstehung. Die Christusrelation wird damit nicht nur als Signatur des Lebens „in Christus“, sondern geradezu als Quell und Fundament des Lebens in Anspruch genommen (Röm 14,7–10; vgl. Phil 1,21).
formatorischen These entschieden ab, vgl. z. B. K. Finsterbusch, Die Thora als Lebensanweisung für Heidenchristen (StUNT 20), Göttingen 1996. 24 J. Becker, Paulus (UTB.W 2014), Tübingen 31998, 187–189 unterscheidet in der paulinischen Leidensbewältigung fünf Leitgedanken: Kehrseite des apostolischen Dienstes, Konformität mit Jesu Kreuz, paradoxe Erfahrung des Lebens im Sterben, Ewigkeitsrelation und exemplarischer Charakter des apostolischen Leidens. Zu den „mystischen“ Aspekten vgl. meinen Aufsatz: Grosser Tod und Grosses Leben, in: Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 215–235.
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2.3 Johanneische Perspektiven auf das Leben Allein im johanneischen Schrifttum rückt das „Leben“ in den Rang eines Leitmotivs ein, gelegentlich in geradezu definitorischer Präzision.25 In Jesu Gestalt verdichten sich klassische Lebenssymbole wie das Wasser, das Brot und das Licht. Gott und das Leben gehen zuhauf (vgl. 5,26); der johanneische Christus präsentiert sich als die Lebensgabe schlechthin (11,25; 14,6; vgl. 1 Joh 5,11.20). Für unsere am Verhältnis von Leben und Tod orientierte Fragestellung lassen sich zwei bemerkenswerte Beobachtungen machen. 1. Anders als in den synoptischen und paulinischen Texten rückt das irdische Sterben bzw. der irdische Tod der Glaubenden fast in den Raum des Bedeutungslosen. In der Schlüsselpassage 11,24–26, dem Gespräch Jesu mit Marta, kann das Sterben die schon in der Gegenwart erschlossene Gabe endzeitlichen Lebens nicht mehr tangieren (vgl. 5,24; 6,50 f; 14,19; 1 Joh 3,14). Joh blendet dabei Gegenwart und Endzeit so ineinander, dass die noch ausstehende Zukunft das hier und jetzt aufbrechende wahre Leben nicht mehr entscheidend überbieten wird (vgl. 5,24–29; 3,15). Das den Glaubenden verheissene Eingehen in die himmlische Welt (12,32; 14,2 f; 17,24) ist insofern als Prolongation der gegenwärtigen Heilserfahrung anzusprechen (vgl. 14,22 f). Lediglich die Antwort auf die Frage der Griechen in 12,24–26 bewahrt einen Rest des alten Nachfolgeparadoxons (Q 17,33 par. Mk 8,35).26 Dem geringen Gewicht des menschlichen Sterbens entspricht es, dass im Johannesevangelium auch Jesu eigenes Leben von seinem Tod nicht tangiert zu werden scheint.27 2. Der Gegenbegriff zum Leben ist bei Joh an anderer Stelle zu orten, nämlich in der Abwesenheit Jesu. Gerade die Abschiedsreden (13,31–16,33) zeigen, dass die Dialektik von göttlicher Anwesenheit und Abwesenheit das entscheidende Profil des johanneischen Lebensverständnisses zum Ausdruck bringt. „Leben“ verdankt sich der schöpferischen Relation des präsenten Gottessohns zu den Glaubenden. Mit dessen Weggang droht der tödliche Verlust der Gottesbeziehung. Der Tod Jesu wird als Entzogenheit des Lebens thematisiert. Dieser Verlust der Gottesbeziehung bringt genau das auf den Punkt, was die biblische Sprache mit Sterben und Tod umkreist, zumal Joh die Todesterminologie lediglich in 8,21.24 übertragen verwendet. Die Abschiedsreden versichern nun die Glaubenden der Wiederkehr des bleibend Weggegangenen. Sie blenden dabei Ostern, Pfingsten und Parusie ineinander, ohne sie gänzlich zu identifizieren. Die göttliche Gegenwart kehrt in ihrer Lebensfülle wieder (14,23). 25 Vgl. neben Joh 1,4 besonders 17,3: „Dies ist das ewige Leben: dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den du gesandt hast.“ 26 Vgl. zum Logienhintergrund R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium (HThK 4), Bd. 2, Freiburg 31980, 481–484. 27 Vgl. R. Bultmann, ThWNT 2 (1935) Art. ζάω κτλ., ThWNT 2 (1935) 833–877, hier: 872: Jesus hat „wohl eine ψυχή und gibt sie dem Tode hin (10,11.15.17), während seine ζωή vom Tode nicht unterbrochen wird“.
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Im Vorbeigehen ist noch festzuhalten, dass die johanneische Schule den Übergang vom Tod ins Leben, den das Evangelium exklusiv am Hören und Glauben festmacht (Joh 5,24), am Kriterium der Liebe und damit der Gemeinschaft verifiziert (1 Joh 3,14 f). Ähnliches liess sich auch im synoptischen und paulinischen Traditionsbereich beobachten.
3. Ertrag Die vorangegangenen Überlegungen zum Johannesevangelium lassen sich ein Stück weit für eine umfassende neutestamentliche Perspektive in Anspruch nehmen. Die Lebensphänomene weisen letztlich auf die Gottesbeziehung zurück. Leben ist geradezu als Verdichtung der schöpferischen Relation Gottes zu seinen Geschöpfen anzusprechen, als Emanation Gottes.28 So kulminiert das Gespräch Jesu mit den Sadduzäern in der Gottesprädikation „ein Gott der Lebenden“ (Mk 12,27 par.). Dieser Identifizierung Gottes als Quelle des Lebens (Ps 36,10) entspricht es, wenn umgekehrt das menschliche Leben relational bestimmt wird, vornehmlich als „leben für Gott, zugunsten von Gott“ im Sinn eines dativus commodi. So begegnet es in der lk Deutung des „Gottes der Lebenden“ (20,38) und ganz besonders in den bekannten Sätzen des Paulus (Röm 14,8 f):29 „Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn. Denn Christus ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende.“
Die apostolische Relativierung von Leben und Sterben zugunsten der Gottesbeziehung lässt sich zum Schluss auch auf unsere gesamtbiblische Fragestellung übertragen. Es ist zwar richtig, dass das Neue Testament im Unterschied zum Alten die Lebensphänomene spezifisch im Blick auf die Todesthematik zur Sprache bringt. Wir haben gesehen, dass das Leben dabei implizit oder explizit auf Tod und Auferstehung Jesu bezogen wird. Diese eschatologisch-christologische Signatur des neutestamentlichen Lebensverständnisses lässt sich nun ein Stück weit theo-logisch aufschlüsseln: Wenn es bei Ostern entscheidend um den Sieg Gottes über die Todesmacht geht (1 Kor 15,54 f; vgl. Jes 25,8),30 so besagt dies, dass die neutestamentliche Botschaft die schöpferische Gegenwart Gottes im ganz Anderen, im Nichts des Todes, proklamiert. Dieser konzentrierten Engführung göttlicher Präsenz steht nun die Fülle der Bereiche gegenüber, die 28 Dementsprechend ist der Tod als Beziehungsabbruch zu deuten; vgl. dazu E. Jüngel, Tod, Gütersloh 41990, 43–45; 155–160. 29 Vgl. ferner Röm 6,10 f; 4 Makk 7,19; 16,25. 30 M. Wolter (mündlich) weist auch auf 1 Kor 15,34 hin: Die Auferstehungsleugner „wissen nichts von Gott“.
3. Ertrag
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das Alte Testament als Räume göttlicher Gegenwart in Anspruch nimmt: die Schöpfungswelt mit ihren Ordnungen, der in der Psalmenfrömmigkeit gefeierte Tempelkult, die Geschichte des an der Gerechtigkeit orientierten Gottesvolks. Altes und Neues Testament würden dann je auf ihre Weise dazu einladen, die Lebensphänomene für die heilvolle Gegenwart Gottes zu entschlüsseln: dort in den weiten Weltbezügen, hier angesichts der Todesmacht in all ihren Gestalten. Das Frühchristentum ortet dabei, ganz im Einklang mit der frühjüdischen Apokalyptik, die „Fülle des Lebens“ in der endzeitlichen Überwindung der Todesmacht. Anders als die Apokalyptiker finden aber die frühen Christen zu Gestalten „erfüllten Lebens“ zurück.31 Hat sich mit Ostern die entscheidende Wende schon mitten in der Geschichte ereignet, so kommt „erfülltes Leben“ in einem gelassenen Umgang mit allen möglichen Gegenerfahrungen zum Zug. Die österliche „Fülle des Lebens“, die den Tod bleibend verschlungen hat, schafft Raum für Wege „erfüllten Lebens“, die Lebens‑ und Todeserfahrungen zu integrieren suchen. Die urchristlichen Gemeinden, die sich als vom Tod in das Leben Versetzte deuten, gestalten das „neue Leben“ in gemeinschaftlichen Formen, die von der Liebe, der lebensschöpferischen Kraft par excellence, bestimmt sind.32 Besonders die Sakramente von Taufe und Abendmahl verdichten auf unterschiedliche Weise das dem Christusereignis entsprechende Ineinander von Tod und Leben. Zugleich bringen beide das unumkehrbare Nacheinander von Tod und Leben zum Ausdruck, das der Überwindung der Todesmacht in der Auferstehung Jesu entspringt. Die irreversible österliche Sequenz von Tod und Leben kehrt dabei das für die gegenwärtige Weltzeit charakteristische Gefälle vom Leben zum Tod (vgl. Pred 9,1–12; Sap 2,4 f) um. Die Entdramatisierung des Sterbens,33 die sich Ostern verdankt, gibt dem Leben mitten in all seinen Grenzen und Minderungen einen unschätzbaren Wert. Sie schafft in den folgenden Jahrhunderten auch einen Anschluss für die breite Tradition hellenistischer Philosophie, die sich sowohl gegenüber dem Sterben wie gegenüber den vergänglichen Lebensgütern in der Haltung der adiaphoria, einer inneren Distanznahme, einübt.34 Die Relativierung von Tod und Leben entspringt dabei nicht einer reservierten Gleichgültigkeit, sondern der 31 Ich nehme hier die Unterscheidung von K. Schmid auf: Fülle des Lebens oder erfülltes Leben? Religionsgeschichtliche und theologische Überlegungen zur Lebensthematik im Alten Testament, in: E. Herms (Hg.), Leben. Verständnis, Wissenschaft, Technik (VWGTh 24), Gütersloh 2005, 154–164. 32 Zum inneren Zusammenhang von Leben und Liebe vgl. besonders 1 Joh 3,14–16; 4,9; sodann Dtn 30,6.20; Sir 4,12; Lk 10,25–28; Jak 1,12; zum christologischen Hintergrund Joh 3,16; Eph 2,4; usw. 33 Vgl. besonders G. Klein, Aspekte ewigen Lebens im Neuen Testament, ZThK 82 (1985) 48–70, hier: 68–70. 34 Ansätze zur Rezeption der Adiaphoria bzgl. Tod und Leben finden sich bereits in Röm 14,7–9 und Phil 1,21 ff. Vgl. dazu J. L. Jaquette, Discerning What Counts. The Function of the Adiaphora Topos in Paul’s Letters (SBL.DS 146), Atlanta 1995; A. Reichert, Letzter Feind oder Adiaphoron? Zum Verständnis des Todes bei Paulus, in: Herms, Leben (s. Anm. 31) 277–285.
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elementaren Erfahrung, an einem grösseren, unzerstörbaren Leben teilzuhaben. In den Worten des Paulus: „Wir sind wie Sterbende, und siehe: wir leben!“ (2 Kor 6,9). Auf einem eigentümlichen Rundgang entlang der Grenze von Leben und Tod führt uns so das Neue Testament wieder zur nüchternen Diesseitigkeit des Alten Testaments zurück.
Das Urchristentum als Religionsgemeinschaft der Entgrenzung Abstract Early Christianity as a Community of Culture Crossing The essay explores phenomena of cultural border crossings in early Christianity. Besides Ephesians, where Christ tears down the wall between two ethnic groups (Eph 2:14–18), the formula of Gal 3:28 (ethnos, status and gender) and the border traffic between life and death in eschatology are of particular interest. In addition, there is a unique crossing of borders, which opens access to God (esp. in Hebrews). With regard to Jesus Christ as the incarnated mediator, the essay finally poses the question of the limits that shape human existence.
1. Der Mauerfall (Eph 2,14–18) Denn Er ist unser Friede, der die beiden zu einem gemacht hat und die Trennwand des Zauns beseitigt hat, die Feindschaft, in seinem Fleisch, 15 (der) das Gesetz der Gebote mit ihren Anordnungen vernichtet hat, damit er die zwei in sich zu einem neuen Menschen schafft, indem er Frieden stiftet, 16 und die beiden in einem Leib mit Gott versöhnt durch das Kreuz, indem er die Feindschaft getötet hat in sich. 17 Und als er kam, verkündigte er Frieden euch, den Fernen, und Frieden den Nahen, 18 denn durch ihn haben wir den Zugang, beide in einem Geist, zum Vater. 14
Über die Grenzen von Raum und Zeit hinweg porträtiert der Epheserbrief in einem dramatischen Bild das Christentum als Religionsgemeinschaft der Entgrenzung (2,14–18). Mit einer Anspielung auf die Heilsankündigung von Jes 57,19 erinnert der Verfasser die Christusgläubigen heidnischer Herkunft daran, wie sie durch den Tod Christi Anteil an der lebensschaffenden Sphäre Gottes erhalten haben. Christus wird in Form eines Loblieds als Herrschergestalt gezeichnet, die im Kosmos umfassenden Frieden aufrichtet.1 Er schafft aus der Zwei, der Zahl 1 Vgl. zur Gattung E. Faust, Pax Christi et Pax Caesaris (NTOA 24), Freiburg / Göttingen 1993, 315–324; zustimmend M. Theobald, Mit den Augen des Herzens sehen. Der Epheserbrief als Leitfaden für Spiritualität und Kirche, Würzburg 2000, 84 f; G. Sellin, Der Brief an die Epheser (KEK 98), Göttingen 2008, 207 f. Hingegen empfiehlt es sich nicht, an einen bereits aus der Tradition überkommenen Bekenntnistext zu denken; „es gibt keine deutlichen sprachlichen und stilistischen Gründe, welche darauf hinweisen“, U. Luz, Der Brief an die Epheser
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der Zerspaltung und der Dissipation ins Unbegrenzte, die Eins, die in einem neuen Menschen und in einem einzigen Leib Gestalt gewinnt.2 Der Christus fügt die Nahen, die Judenchristen, und die Fernen, die Heidenchristen, zu einer neuen Menschheit zusammen. Als königlicher Herrscher wirkt er Versöhnung, indem er die ethnische Feindschaft überwindet.3 Im Angelpunkt des Geschehens steht ein Mauerfall: Christus beseitigt „die Trennwand des Zauns“, die zwischen Israel und den Völkern steht. Die Metapher der Mauer nimmt Bezug auf die Tora, durch die sich Israel als Volk des heiligen Gottes von den umgebenden Völkern abgetrennt wusste.4 Der Verfasser des Epheserbriefs denkt bei der Trennungsmauer speziell an das Ritualgesetz.5 Die Fortsetzung unseres Textes stellt dabei heraus, dass der Fall der Mauer einem neuen Bauwerk zugute kommt, dem Haus Gottes, dem Christusgläubige jüdischer wie heidnischer Herkunft zugehören (V. 19–22). Die Metaphorik greift auf das Bürgerrecht der Christen an der himmlischen Stadt aus und gipfelt schliesslich im geisterfüllten Tempelbau.6 Sein Fundament bilden Apostel und Propheten, seinen Eckstein aber stellt Jesus Christus dar. Im Zentrum dieser einzigartigen Grenzüberschreitung, die zu einer Neuschöpfung führt, steht der Kreuzestod Jesu: Die Überwindung der Feindschaft geschieht „in seinem Blut“, „an seinem Fleisch“. Durch seinen Tod gewinnen die Glaubenden den Zugang zu Gott in einem Geist. Die Entgrenzung (NTD 188.1), Göttingen 1998, 136. Neben dem prophetischen Wort aus Jes 57, das bereits ab V. 13 einwirkt (zusammen mit Jes 52,7), greift der Verfasser v. a. auf das Christuslob von Kol 1,15–20 zurück. Der erhabene Stil von Eph 2, der den Eindruck des ‚Hymnischen‘ mit sich bringt, verdankt sich dem Modell des Herrscher-Enkomions; man braucht für V. 14–18 nicht auf einen schon vorgegebenen Hymnus von Christus als kosmischem Friedensstifter, den der Verfasser von Eph geschichtlich akzentuierte, zurückzugreifen (so etwa wieder A. T. Lincoln, Ephesians [WBC 42], Dallas 1990, 126–132; 139 f; 159 f). 2 Zur Metaphysik der Zahlen, die im Hintergrund steht, ist zu verweisen auf die pythagoreischen Gegensatztafeln (dazu W. Burkert, Weisheit und Wissenschaft. Studien zu Pythagoras, Philolaos und Platon [Erlanger Beiträge zur Sprach‑ und Kunstwissenschaft 10], Nürnberg 1962, 45 f; 53–57). Auch Philon rezipiert das platonisch-pythagoreische Traditionsgut, vgl. Sellin, Eph (s. Anm. 1) 211 und zum Ganzen Faust, Pax (s. Anm. 1) 129–137. In den Theologumena arithmetica(e) unter dem Namen von Jamblich wird die „Zweiheit“ identifiziert mit Bewegung, Werden, Veränderung und Relation, aber auch mit Übermut, Teilung, Gegensatz, Materie und Dissipation (2 p. 7,14 ff de Falco; vgl. Porph., Pyth. 50). 3 V. 16b („tötend“) ist Näherbestimmung von V. 16a, speziell des Kreuzestods, steht also in Parallele zu V. 15c („Frieden stiftend“) und kommt nicht als Wiederaufnahme der übergeordneten Partizipien (V. 14b; 15a) in Betracht (anders Sellin, Eph [s. Anm. 1] 202 Anm. 73). 4 Dahinter steht insbesondere das prägnante Bild aus dem Aristeasbrief (139; vgl. 142): „Da nun der Gesetzgeber […] alles klar erkannte, umgab er uns mit undurchdringlichen Wällen und eisernen Mauern, damit wir uns mit keinem anderen Volk irgendwie vermischen, (sondern) rein an Leib und Seele bleiben und – befreit von den törichten Lehren – den einzigen und gewaltigen Gott überall in der ganzen Schöpfung verehren.“ 5 Vgl. R. Schnackenburg, Der Brief an die Epheser (EKK 10), Zürich / Neukirchen 1982, 115. 6 Die dreifache ekklesiologische Metaphorik – Haus, Bürgergemeinde, Tempel – ist sehr bemerkenswert.
1. Der Mauerfall (Eph 2,14–18)
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des Gottes Israels, die sich in der exilischen Literatur Bahn schafft,7 kommt dank Christi Kommen allen Menschen zugute. Die knappe Passage aus dem zentralen Teil des Epheserbriefs, die durch ihre christologische Konzentration samt ihren trinitarischen Fluchtlinien heraussticht,8 sammelt wie in einem Brennpunkt zahlreiche Aspekte, die sich im Neuen Testament zum Thema „Grenzen“ und „Entgrenzung“ finden lassen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass das Zirkularschreiben aus der kleinasiatischen Paulusschule auch durch seine Form eine Grenzüberschreitung vollzieht: Die Pseudepigraphie macht sich die briefliche Form, die ja eine räumliche Distanz zwischen dem abwesenden Verfasser und den Adressaten überbrückt (vgl. 1 Kor 5,3), so zunutze, dass der dahingegangene „Paulus“ nun über die Zeiten hinweg zu seinen Gemeinden spricht. Mit seiner Proklamation der Einheit der Kirche ist der Epheserbrief ein Kronzeuge der kirchlichen Ökumene, mit seiner universalistischen Perspektive ein Hoffnungsträger für eine versöhnte Menschheit.9 Die entgrenzte Gemeinschaft der Glaubenden verdankt sich dem grenzüberschreitenden Wirken Gottes. Diese Binnenperspektive wird durch die Aussenperspektive weithin bestätigt, nämlich durch die kritischen Beobachter des Christentums zur Zeit der Alten Kirche: Ihnen zufolge überschreiten die Christen traditionelle Grenzen und erschüttern die bestehenden Ordnungen, von Masslosigkeit und Überhebung getrieben.10 Sie stellen das gesellschaftliche und religiös-kultische Fundament des römischen Reichs in Frage. Im Folgenden werde ich mich für meine Skizze des Urchristentums als einer Religionsgemeinschaft der Entgrenzung an den vom Epheserbrief ausgespannten Dimensionen orientieren. Wir werden den Vorgängen der Grenzüberschreitung sowohl auf der Ebene der Reflexion wie auf der Ebene der religiösen Praxis nachgehen. Zugleich ruft das Lob der Entgrenzung geradezu unausweichlich nach seinem Gegenteil, nach dem Lob der Grenze: Die überwundene Grenze gewinnt im Zeichen des Christus eine neue Würde. Schliesslich wird auch zu konstatieren sein, dass Prozesse der Entgrenzung mit der Emergenz neuer Grenzen 7 Vgl. dazu B. Janowski, Unterscheiden – Überschreiten – Entgrenzen. Zum Umgang mit Grenzen im Alten Testament, in: F. Schweitzer (Hg.), Kommunikation über Grenzen (VWGTh 33), Gütersloh 2009, 32–54, hier: 52. 8 Zu den trinitarischen Aspekten vgl. Theobald, Augen (s. Anm. 1) 86; 90. – Für Sellin, Eph (s. Anm. 1) 206 handelt es sich bei unserer Passage um „die sachliche Mitte dieser Schrift“. 9 B. H. Dunning, Strangers and Aliens no Longer. Negotiating Identity and Difference in Ephesians 2, HThR 99 (2006) 1–16 interpretiert unsere Passage im Kontext des „ancient discourse of citizens, strangers and resident-aliens“: „While the Jew-Gentile binary is not the difference that makes a difference except from a Jewish point of view, the alien/citizen distinction is a category that would resonate deeply across the Roman Empire.“ 10 Vgl. z. B. Lukian, Peregr. 13; Celsus, frg. 3,78 (bei Orig., Cels. 3,78); dazu W. Nestle, Die Haupteinwände des antiken Denkens gegen das Christentum, in: J. Martin / B. Quint (Hg.), Christentum und antike Gesellschaft (WdF 649), Darmstadt 1990, 17–80, hier: 43–47; 65–72.
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einhergehen und dass sich überschrittene Grenzen sogar unter der Hand wieder restallieren können.11 Wir verzichten an dieser Stelle darauf, das Unternehmen noch massiv auszuweiten und die gesamte Geschichte und Literatur des Urchristentums unter dem Stichwort der Entgrenzung und Grenzüberschreitung zu rekonstruieren. Tatsächlich erzählen die Evangelien von Jesu Leben als einem fortgesetzten Überschreiten überkommener Grenzen – sozialen, kultischen, ethnischen und religiösen. Dieser Prozess setzt sich aus der Perspektive der Apostelgeschichte in der Urkirche sogar noch verstärkt fort.12 Demgegenüber konzentrieren wir uns auf die Frage, wie das Frühchristentum die Thematik der Grenzüberschreitung explizit und programmatisch in seinem ‚Mythos‘ proklamiert und in seinen Riten inszeniert hat.
2. Eine Triade von Grenzüberschreitung: Ethnos, Status, Geschlecht In traditionsgeschichtlicher Perspektive arbeitet die Passage von Eph 2 unter anderem mit dem Baustein der sogenannten Entdifferenzierungsformeln des Typs von Gal 3,28:13 „Da gibt es nicht Jude oder Grieche, Sklave oder Freier, männlich oder weiblich. Alle seid ihr nämlich einer in Christus Jesus.“
Anstatt von einer festen Formel spricht man im Hinblick auf die Kategorienbildung der antiken Rhetorik besser von einem bestimmten Typ von Sentenzen.14 Eine Sentenz beansprucht Geltung durch Feststellung von Sachverhalten oder durch Normierung; sie basiert auf kulturellem oder gruppenspezifischem 11 Vgl. dazu besonders M. Wolter, Verstehen über Grenzen hinweg nach dem Neuen Testament, MJTh 18 (2006) 53–81: Es lässt sich „die Beobachtung machen, dass diese Überwindung von Grenzen zur Aufrichtung neuer Grenzen führt“ (53 u.ö.). 12 J. Schlosser, Der Gott Jesu und die Aufhebung der Grenzen, in: U. Busse (Hg.), Der Gott Israels im Zeugnis des Neuen Testaments, Freiburg 2003, 58–79 versucht, Jesus selber als einladenden Grenzüberschreiter zu charakterisieren („durch sein Wirken und durch seine Verkündigung, die sein Gottesbild widerspiegeln, hat Jesus die Aufhebung der Grenzen entweder schon verwirklicht zugunsten der Sünder und der Verstossenen, oder, was die Heiden betrifft, entscheidend vorbereitet und ermöglicht“, 77). Vgl. sodann M. Harun, Überschreitung religiöser und kultureller Grenzen. Reflexion über die Apostelgeschichte, BiKi 59 (2004) 18–24. 13 Neben Gal 3,28 sind zu vergleichen: Gal 5,6; 6,15; 1 Kor 7,19; 12,13 und Kol 3,11. Zur Wirkungsgeschichte von Gal 3,28 vgl. W. Schrage, Skizze einer Auslegungs‑ und Wirkungsgeschichte von Gal 3,28, in: ders., Kreuzestheologie und Ethik im Neuen Testament (FRLANT 205), Göttingen 2004, 267–291 und unten Anm. 50. 14 Vgl. dazu R. A. Ramsaran, Paul and Maxims, in: J. P. Sampley (Hg.), Paul in the Greco- Roman World. A Handbook, Harrisburg 2003, 429–456, besonders 437–440. Die Unterscheidung von „gnomic maxim“, „gnomic sentence“ und „moral sententia“ ist allerdings mit Problemen befrachtet; Ramsaran klassifiziert unser Material (Gal 5,6 u. a.) unter dem zweitgenannten Typ (448).
2. Eine Triade von Grenzüberschreitung: Ethnos, Status, Geschlecht
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Konsens.15 Durch Kürze, Antithese und Variation hat sie eine herausragende rhetorische Funktion in der Argumentation. Der Apostel Paulus arbeitet mit einem Typ programmatischer Sentenzen, der wahrscheinlich auf das antiochenische Judenchristentum zurückgeht und die soteriologische Irrelevanz der Herkunft herausstellt.16 Den vollständigsten negativen Katalog bietet Gal 3,28. Es ist von besonderem Interesse, dass die überbietende, positive Antithese jeweils variabel ist: Das offene virtuelle Feld lässt sich je nach pragmatischem Kontext und Argumentation aktualisieren. Wir lassen an dieser Stelle die Frage auf sich beruhen, ob die beobachtete Asymmetrie die Differenz zwischen dem statisch-fixen alten Äon und dem dynamisch-schöpferischen neuen Äon abbildet.17 Die Identität der Christusgläubigen wird markiert durch ontologische Kategorien – „einer in Christus“ (Gal 3,28; vgl. Kol 3,11)18 und „neue Schöpfung“ (Gal 6,15) –, oder durch das spezifische Ethos – „Glaube, wirksam durch Liebe“ (Gal 5,6) und „Halten der Gebote Gottes“ (1 Kor 7,19). Für das Verständnis der negativen Auflistung ist deren Universalität von grosser Tragweite; mit Ethnos, Status und Geschlecht wird das Koordinatensystem der alten Weltzeit ausgespannt.19 Auch aus neuzeitlicher Perspektive ist die Kennzeichnung umfassend, handelt es sich doch um Verhaltensmuster, die tief im archaischen Erbe der Hominiden verankert sind – Zugehörigkeit zu einer Gruppe, interne Rangordnung, sexuelle Rolle. Die frühen Christen erheben den Anspruch, in ihrer Gemeinschaft 15 Vgl. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literatur-
wissenschaft, Stuttgart 31990, 431–434: „Die Sentenzen beanspruchen Geltung teils als Feststellungen von Sachverhalten […], teils als Pflicht-Normierungen […], die als Gebote oder Verbote auftreten können“ (432 = § 873); J. Engels, Art. Sentenz, HWRh 8 (2007) 847–867. 16 Zum antiochenischen Hintergrund vgl. z. B. J. Becker, Der Brief an die Galater (NTD 18 8.1), Göttingen 1998, 59 f. J. M. Gundry-Volf, Christ and Gender. A Study of Difference and Equality in Gal 3,28, in: Ch. Landmesser / H.-J. Eckstein / H. Lichtenberger (Hg.), Jesus Christus als die Mitte der Schrift, FS O. Hofius (BZNW 86), Berlin 1997, 439–477, arbeitet in Auseinandersetzung mit neueren Entwürfen (A. C. Wire; D. Boyarin) heraus, dass Differenz dabei keineswegs überhaupt eliminiert wird („The point is not that differences should not exist in the eschatological community, but that they should not and do not ‚count‘“; „Paul adiaphorizes difference without erasing it; indeed adiaphorization positively entails the nonerasure of difference“, 456 f). 17 Zu beachten ist die pneumatologische Formulierung in 1 Kor 12,13, wo der von Haus aus negative Katalog in die positive Hälfte eingegliedert wird: „Denn durch einen Geist wurden wir ja alle in einen Leib hineingetauft, ob Juden oder Griechen, ob Sklaven oder Freie; und alle wurden wir getränkt mit einem Geist.“ 18 Vgl. Gundry-Volf, Christ (s. Anm. 16) 472: „Eph 2,15 (cf. 4,24), which speaks of the ‚new person‘ […] created in Christ and connects the idea with the body of Christ, offers possibly the best New Testament parallel to the ‚one person‘ of Gal 3,28d.“ 19 Die Zusammenstellung weist zurück auf den Kontext antiker anthropologischer Klassifizierungen, etwa bei Philon, spec. 1,211: „Wenn du Gott etwa für die Menschen dankst, so danke nicht nur für die Gattung, sondern auch für ihre Unterarten und unentbehrlichen Teile (μὴ μόνον περὶ τοῦ γένους ἀλλὰ καὶ περὶ τῶν εἰδῶν καὶ ἀναγκαιοτάτων μερῶν), Männer und Frauen, Hellenen und Barbaren, Festland‑ und Inselbewohner.“ Vgl. dazu R. M. Grant, Neither Male nor Female, BR 37 (1992) 5–14.
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markanten Grenzverschiebungen Raum zu geben, die bis in das stammesgeschichtliche Fundament mit seinem affektiven und instinktiven Wurzelgeflecht hinabreichen.20 Das Programm einer Überwindung ethnischer, sozialer und geschlechtlicher Grenzen zugunsten einer neuen Menschheit kann im Raum der frühkaiserzeitlichen Gesellschaft auf hohe Resonanz zählen.21 Utopien, wie sie etwa in der viel gelesenen Romanliteratur auftauchen, spielen mit der Imagination eines exotischen Volks oder einer Stadt, deren Bürgerrecht allen, auch Barbaren und Sklaven, zukommt und wo die Geschlechterrollen verschoben sind.22 Märchenhafte Stoffe und urzeitliche Ideale bietet bereits die altgriechische Epik; die Komödie steuert Schlaraffenfülle, Frauenemanzipation und Güterverteilungsgerechtigkeit bei. Überaus anschaulich nimmt sich die ethnographische Utopie aus, wo etwa Frauen gleiche Rechte geniessen und männliche Rollen übernehmen.23 Leider ist uns nur wenig von der hellenistisch-römischen Romanliteratur überkommen, so dass die expliziten Belege für ethnische, soziale und geschlechtliche Gleichheit nicht allzu zahlreich sind. Eine hübsche Miniatur stellt die Personifikation der Tugend als ideale Stadt in Lukians – von subversiver Ironie durchtränktem! – Dialog „Hermotimos“ dar (22–24):24 In der schwer zugänglichen Stadt, in der man allein aufgrund tugendhafter Haltungen Bürgerrecht gewinnen kann, walten Friede und Eintracht, Wohlordnung, Gleichheit und Freiheit (22). Ihre Einwohner kommen allesamt aus der Fremde; niemand wird dort als Bürger geboren; sie ist besiedelt von „vielen Barbaren und Sklaven (βαρβάρους ἐμπολιτεύεσθαι πολλοὺς καὶ δούλους), Missgestalteten, Kleinwüchsigen und Armen“ (24). Weder Status noch 20 Eine
noch elementarere Ebene indiziert die Verhaltensforschung: Grenzziehung als Besetzen von Territorien und damit Ressourcensicherung, vgl. Th. Kappe, Anmerkungen zu einer Biologie der Grenze, in: M. Bauer / Th. Rahn (Hg.), Die Grenze. Begriff und Inszenierung, Berlin 1997, 133–136. 21 Vgl. die reiche Darstellung von H. D. Betz, Der Galaterbrief, dt. Übs. München 1988, 333–353. 22 Vgl. dazu J. Ferguson, Utopias of the classical World, London 1975 (Aspects of Greek and Roman Life), 102–110; 123–129; R. Günther / R. Müller, Sozialutopien der Antike, Leipzig 1987, besonders 75–88; 191 („die Erschliessung der exotischen Welt des Orients durch die Alexanderzüge führte zur Entstehung des utopischen Reiseromans, in dem die Motive des Goldenen Zeitalters ihre Wiederauferstehung feierten, verbunden mit religiösen und philosophischen Vorstellungen von einer gerechten Gesellschaft, die sich in der Zwischenzeit entwickelt hatten“). – Eine hilfreiche Zusammenstellung und Übersetzung von Fragmenten aus der utopischen Romanliteratur bietet B. Kytzler (Hg.), Im Reiche des Eros. Sämtliche Liebes‑ und Abenteuerromane der Antike, München 1983, Bd. 2, 667–714. – Zur Entwicklung des Utopie- Begriffs, besonders zu dessen Verzeitlichung, die sich erst in den 1930er Jahren anbahnt, vgl. L. Hölscher, Art. Utopie, in: O. Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1990, 733–788, hier: 768 ff. 23 Zu verweisen ist auf die amazonenartigen Sauromaten bei Ps.-Hippokrates, progn. 17 und bei Herodot 4,110–117 (wo auch das – i.Ü. schaurige – Volk der Issodonen zu beachten ist: „die Frauen haben gleiche Rechte wie die Männer [ἰσοκρατέες δὲ ὁμοίως αἱ γυναῖκες τοῖσι ἀνδράσι], 4,26:2); dazu R. Bichler, Von der Insel der Seligen zu Platons Staat. Geschichte der antiken Utopie, Teil I (Alltag und Kultur im Altertum 3), Wien 1995, 111 f; 120–123. 24 Zu literarischen Bezügen zur Pinax des Ps.-Kebes, wo die Tugend als Stadt allegorisiert wird, vgl. P. von Möllendorff (Hg.), Lukian. Hermotimos oder Lohnt es sich, Philosophie zu studieren? (TzF 74), Darmstadt 2000, 205–210.
2. Eine Triade von Grenzüberschreitung: Ethnos, Status, Geschlecht
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Aussehen, weder Vermögen noch Herkunft zählen etwas. Alle Bürger geniessen dieselben Rechte; „Schwächere oder Stärkere, Adel oder niedrige Herkunft, Sklaven oder freie Bürger gibt es in dieser Stadt nicht, und es wird auch niemand so bezeichnet (τὸ δὲ χείρων ἢ κρείττων ἢ εὐπατρίδης ἢ ἀγενὴς ἢ δοῦλος ἢ ἐλεύθερος οὐδὲ ὅλως εἶναι ἢ λέγεσθαι ἐν τῇ πόλει)“ (24).25 Lukian spielt auch mit der Assoziation von sagenhaften fernen Völkern – in Hyperborea und Indien (27) –, die in Friede, Glückseligkeit und Weisheit leben.26
Philosophische Konzeptionen, vornehmlich kynisch-stoischer Provenienz, entwerfen eine ideale Gemeinschaft. Die stoische Kosmopolis besteht allein aus den Weisen; Selbsterziehung und Tugend vermitteln das Bürgerrecht.27 Das Paradigma ist freilich individualistisch orientiert. Die kosmopolitische Entgrenzung erzeugt eine neue Grenzziehung, nämlich diejenige zwischen innerem Wesen und äusserer Faktizität. Ethnos, Status und Geschlecht gehören dem Bereich der adiaphora zu. Während in stoischer Perspektive die äusseren Verhältnisse von der wahren Identität kaum tangiert werden, transportiert die genuin kynische Tradition ein emanzipatorisches Potential, allerdings ganz auf den individuellen Lifestyle bezogen.28 25 Diese Nicht-Sprachregelung entspricht sehr genau der kynisch-stoischen Losung bei Dion, or. 15,32: „so dürfen wir auch bei den Menschen nicht zwischen ‚edel‘ oder ‚edelgeboren‘ und ‚frei‘ trennen […] und genauso wenig zwischen ‚von niedriger Abkunft‘ oder ‚unedel‘ und ‚Sklave‘“ (vgl. 10,4: „sind schlechte Menschen nicht schädlich für die, die sie besitzen und mit ihnen verkehren, gleich, ob Phryger oder Athener, Freie oder Sklaven?“). 26 Wir notieren an dieser Stelle noch eine amüsante Form von antikem Multi-Tasking, die die hellenistische Lust an den paradoxa fingiert hat: Der Romancier Iambulos (ca. 3. Jh. v. Chr.; überliefert von Diod. Sic. 2,55–60) erzählt in seinem Bericht von einer glückseligen paradiesischen Sonneninsel, deren Bewohner nicht nur körperlich gleich ausgestattet sind (56:2) und in Eintracht – Homonoia – leben (58:1), sondern auch eine zweigeteilte Zunge haben: So vermögen sie „zu ein und derselben Zeit perfekt mit zwei Zungenhälften zu reden. […] Mit dem einen Zungenteil reden sie zu dem einen Gesprächspartner, mit dem anderen wiederum gleichermassen zu einem anderen“ (56:5 f). Natürlich zählt ‚kommunistische‘ Frauen‑ und Kindergemeinschaft zu den Merkmalen der Inselbewohner (58:1), ebenso Euthanasie, Diätetik und gruppenbezogene Gütergemeinschaft. – In anderen Schilderungen utopischer Gemeinwesen fehlen die uns spezifisch interessierenden Charakterzüge. Zu verweisen ist immerhin auf die von Frieden und Eutopie ausgezeichnete Stadt „Eusebēs“ bei Theopomp von Chios aus dem 4. Jh. v. Chr. (Aelian, var. hist. 3,18). Von Krates, dem Schüler des Diogenes, stammt ein Gedichtfragment über die ideale Stadt Pērē („Bettelsack“), friedlich und zufrieden, ohne Toren und Wüstlinge (PPF 10 B 4 bei Diog. Laert. 6,85). Krates war verheiratet mit Hipparchia, die ebenfalls die kynische Lebensform übernahm und programmatisch mit den Männern gleichzog (Diog. Laert. 6,96–98). Die Ebenbürtigkeit von Frauen und Männern zählt zu den Eckwerten des Kynismus. 27 Eine exemplarische Schilderung der Politeia des Stoikers Zenon bietet Plutarch (fort. Alex. 1,6: 329a/b [= SVF 1, 262]): In diesem Gemeinwesen „wohnen wir nicht mehr nach Städten und Völkern getrennt, […] sondern wir erachten alle Menschen als Landsleute und Mitbürger; es herrscht eine Lebensart und Ordnung“; Alexander wird als philosophischer Weltherrscher porträtiert (1,8: 330d), „um herauszustellen, dass alles auf Erden einem Logos und einer Gemeinschaft gehorche und alle Menschen ein Volk seien“, geleitet von einem Gesetz. Vgl. dazu auch Faust, Pax (s. Anm. 1) 306–313. 28 Vgl. besonders F. G. Downing, A Cynic Preparation for Paul’s Gospel for Jew and Greek, Slave and Free, Male and Female, NTS 42 (1996) 454–462, wo die kynischen Züge herausgearbeitet – und auch überstrapaziert – werden (zu Gal 3,28: „to draw practical social
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Die idealisierenden Schilderungen religiöser Gruppen im griechischsprachigen Judentum und Christentum greifen durchwegs auf den Motivkomplex von Utopie und Goldenem Zeitalter zurück. Gütergemeinschaft wird den Essenern (Jos., bell. 2,122; Philon, prob. 76 f; apol. bei Eus., praep. 8,11:4), Therapeuten (Philon, contemp. 13–18) und Urchristen (Apg 2,44 f; 4,32.34 f) zugeschrieben, Sklavenlosigkeit den Essenern (Jos., ant. 18,21; Philon, prob. 79; apol. aaO.) und Therapeuten (Philon, cont. 70).
Umgekehrt steht es mit denjenigen vorfindlichen Gemeinschaftsformen in der kaiserzeitlichen Gesellschaft, die in soziologischer Perspektive das nächste Analogon zu den frühchristlichen Gemeinden bilden, den Vereinen. Diese zeichnen sich durch ein differenziertes Verhältnis von sozialer Homogenität und Heterogenität aus; insbesondere ärmere Vereine zeigen eine bemerkenswerte Gleichheit ihrer Mitglieder.29 Dabei geht die Egalität mit einer deutlichen hierarchischen Binnenstrukturierung einher, die die gesellschaftliche Stratifikation abbildet. Mitglieder beider Geschlechter begegnen v. a. in religiösen Vereinen der römischen Welt.30 Auf ethnisch heterogene Collegia trifft man bei gewissen Kultvereinen und Berufsvereinen, gleichwohl stellt ein breites ethnisches Spektrum eher die Ausnahme dar.31 consequences from this philosophical conclusion would be Cynic“, 460); ders., Cynics, Paul and the Pauline Churches, London 1988 (= 1998), besonders 1–25. 29 Th. Schmeller, Hierarchie und Egalität. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung paulinischer Gemeinden und griechisch-römischer Vereine (SBS 162), Stuttgart 1995, stellt fest: „Die soziale Struktur von Vereinen ist durch eine Verbindung hierarchischer und egalitärer Elemente gekennzeichnet“ (50), wobei Vereine mit höherem Prestige stärker hierarchisch organisiert seien, i.U. zur ausgeprägten Egalität armer Vereine (51 f). Allerdings hält sich auch hier die Egalität in Grenzen: Im Verein der Verehrer der Diana und des Antinous in Lanuvium (südlich von Rom) erfahren beispielsweise Vereinsbeamte eine Sonderbehandlung in Form von Speisezuteilungen und verlangen – unter Androhung von Geldstrafen – Respekt von den Vereinsmitgliedern; die Gleichheit besteht darin, dass theoretisch jedes Mitglied, also auch ein Sklave, Vereinsvorsitzender werden kann. Vgl. E. Ebel, Die Attraktivität früher christlicher Gemeinden (WUNT II/178), Tübingen 2004, 68–72 (Ämter); 39–41 (zur Mitgliedschaft von Sklaven). Freigelassene und Sklaven sind in Vereinen verschieden stark vertreten; in Berufsvereinen sind nur wenig Sklaven nachweisbar (Schmeller, aaO. 40; 45 f). Vgl. I. Dittmann- Schöne, Die Berufsvereine in den Städten des kaiserzeitlichen Kleinasiens (Theorie und Forschung 690), Regensburg 2001, 31–34 („in den Berufsvereinen mischten sich in der Regel alle juristischen Statusgruppen der Bevölkerung einer Stadt“, 31); 50; 110 f („die meisten der durch Grabinschriften und Namenslisten bekannten Mitglieder in den Berufsvereinen waren Freie, eine gewisse Zahl besass sogar das römische Bürgerrecht. Nur wenige sind eindeutig als Sklaven anzusehen. Da wir aber nicht über vollständige Mitgliederlisten verfügen, bleibt unbekannt, wie hoch der Anteil der Sklaven wirklich gewesen ist“). Einen ähnlichen Befund notiert A. Stöckle, Art. Berufsvereine, PRE.S 4 (1924) 185: „Sklaven als gleichberechtigte Mitglieder eines Vereins scheinen nach den äusserst dürftigen Quellenbelegen in den griechischen Vereinen eine sehr geringe Rolle gespielt zu haben, dasselbe gilt für die Freigelassenen.“ 30 Frauen begegnen eher im römischen als im griechischen Bereich, v. a. in religiösen und zumal Begräbnisvereinen, nicht aber in Berufsvereinen; vgl. Schmeller, Hierarchie (s. Anm. 29) 48. Zu Frauen in griechischen Vereinen vgl. F. Poland, Geschichte des griechischen Vereinswesens (Preisschriften der Fürstlich Jablonowskischen Gesellschaft 38), Leipzig 1909, 289–298. 31 Zum „Verhältnis von Einheimischen und Fremden in den Vereinen“ vgl. Stöckle, Berufsvereine (s. Anm. 29) 184 f und Schmeller, Hierarchie (s. Anm. 29) 48: Häufig begegnet „Beteiligung
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Die urchristlichen Gemeinden zeichnen sich im Vergleich mit Vereinen durch ein Entgrenzungsprogramm aus, das den Status einer Selbstdefinition hat. Ebenso einzigartig ist ihr globaler Netzwerkcharakter. Zugespitzt lässt sich formulieren: In den Gemeinden inkarnieren sich die mit der idealen Stadt verbundenen utopischen Hoffnungen ein Stück weit in einer konkreten Sozialgestalt.32 Das Ausmass der faktischen sozialen Realisierung differiert freilich räumlich wie zeitlich. Holzschnittartig gezeichnet scheint die Egalität beim Ethnos einigermassen stabil, beim Geschlecht eher labil zu sein. Hinsichtlich des Sozialstatus darf man wenigstens von innergemeindlicher Solidarität sprechen. Wir fokussieren im Folgenden auf die Koordinaten der ersten Triade. 1. Die Grenzziehung zwischen „Jude“ und „Grieche“ basiert auf der Identitätsdefinition des Judentums in der östlichen Mittelmeerwelt. Sie variiert die Abgrenzungsformel ‚Griechen versus Barbaren‘,33 die sich im Neuen Testament lediglich in Röm 1,14 (vgl. Kol 3,11) findet.34 Die urchristliche Tradition rezipiert die jüdische Selbstdefinition, beschreibt also die alte Weltzeit in prononciert jüdischen Kategorien. Mit dem Kommen Christi wird laut unseren Sentenzen diese Grenze irreversibel überschritten; das Ethnos verliert seine soteriologische Dignität. Die Überschreitung und Bearbeitung dieser Grenze hat für das Urchristentum geradezu den Status eines Paradebeispiels; die Verhältnisbestimmung von „Jüdischem“, „Heidnischem“ und „Christlichem“ erzeugt elementare Ausdifferenzierungsprozesse in der frühen Kirche. Der Modus dieser Grenzüberschreitung, worin Heiden die volle Teilhabe am Gottesverhältnis Israels gewinnen, wird innerhalb der urchristlichen Bewegung äusserst kontrovers diskutiert. Die Erzählliteratur inszeniert die Grenzüberschreitung in eindrücklichen Stories, zumal in Jesu Begegnung mit der Syrophönizierin (Mk 7,24–28 von Fremden an griechischen und römischen Vereinen verschiedenen Typs“, wobei die Herkunft besonders in Kult‑ und Berufsvereinen mit ausländischen Beziehungen eine Rolle spielt. „Aufs Ganze gesehen ist für religiöse Vereine die Mitgliedschaft von Fremden häufiger bezeugt als für Berufsvereine“ (45). – Ein exemplarischer Blick auf die Kultvereine der römischen Kolonie Philippi zeigt ein differenziertes Bild: Zu den Mysten des Dionysoskults zählen Thraker, Griechen und Römer, während der Kult des römischen Silvanus fast ausschliesslich von Römern – wozu auch romanisierte Griechen und Thraker zählen – betrieben wird. Mitgliederlisten lassen sich für die Frage nach der ethnischen Zusammensetzung nur bedingt auswerten, da die Namen gern gräzisiert oder romanisiert werden. 32 Texte wie Gal 4,26; Phil 3,20 f; Hebr 12,22 f und Apk 21/22 arbeiten neben der alttestamentlich-jüdischen Motivik der Gottesstadt auch mit hellenistischen Polis-Idealen. Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass die Selbstbezeichnung der Gemeinden als ekklesia, das Bürgerrechtsverständnis und die Einheitsparänese (mit dem Aufruf zur homonoia/concordia) eine unverkennbare politische Dimension aufweisen. 33 Vgl. dazu J. Jüthner, Hellenen und Barbaren (Das Erbe der Alten 8), Leipzig 1923, besonders 89–92; J. Vogt, Kulturwelt und Barbaren. Zum Menschheitsbild der spätantiken Gesellschaft (AAWLM.G 1967.1), Wiesbaden 1967, 32 f. 34 R. Jewett, Romans (Hermeneia), Minneapolis 2007, 140 nimmt in 1,14 eine „revolutionary antithesis“ wahr, da „Griechen“ und „Barbaren“ so prononciert mit τε καί verbunden werden (vgl. 131).
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par.) und in der Bekehrung des Kornelius durch Petrus (Apg 10,1–11,18). Die Kehrseite bildet die gegenseitige Selbstabgrenzung von Synagoge und Christusgläubigen und damit das Auseinandergehen von Judentum und Christentum. Beim Parting of the Ways handelt es sich um einen überaus vielfältigen und komplexen Vorgang, der sich bis tief in das zweite Jahrhundert – oder noch länger – hinein erstreckt und irreversible Verwerfungslinien hervorgerufen hat.35 Unsere Sentenzen zeichnen sich durch eine radikale Selbstdefinition der Christusgemeinschaften aus: „Juden“ und „Griechen“ markieren die Ganzheit der alten Weltzeit; sie stehen im Gegensatz zur Neuschöpfung Gottes. Paulus seinerseits vertieft diese Kontrastierung soteriologisch und kreuzestheologisch.36 Innerhalb des Urchristentums konnte die Grenzüberschreitung zwischen Juden und Heiden auch ganz anders bestimmt werden. So hat die Jerusalemer Urgemeinde unter Jakobus wohl eher an konzentrische Kreise gedacht; die gebürtigen Heiden würden eingegliedert in das christusgläubige Gottesvolk jüdischer Herkunft. Um die Jahrhundertwende bildet sich schliesslich die Formel der drei Völker heraus; den Juden und Griechen stellen sich die Christen als tertium genus zur Seite.37 Grenzüberschreitungen zwischen Ethnien sind als solche kein spezifisch christliches Programm. Die Entstehung der hellenistischen Grossreiche geht mit Prozessen ethnischer Integration einher. Das universalistische Postulat ist allerdings hellenozentrisch fundiert; den griechischen Kulturträgern ist eine Mission an den Barbaren aufgetragen.38 Dasselbe gilt für die Romanisierung der Mittelmeerwelt, die sich ihrerseits auf ein markantes Zentrum, auf die Weltstadt Rom, zurückbezieht.39 Auch jüdische Kreise propagierten den Anschluss an die 35 Vgl. hierzu die Dokumentation von J. D. G. Dunn (Hg.), Jews and Christians. The Parting of the Ways A. D. 70 to 135 (WUNT 66), Tübingen 1992. 36 Die Orientierung an „Juden“ und „Griechen“ formt den ersten grossen Abschnitt von Röm (1,16 als propositio; 1,18–3,30; mit Extension bis 11,36 [vgl. 2,9 f; 3,9.29; 9,24; 10,12; auch 3,1–4; 11,28 f]) und die Argumentation in 1 Kor 1,18–25. 37 Zu den „drei Geschlechtern“ s. KerPetr frg. 5 Dobschütz (vgl. klT 3 [21908], 15; NTApo 62, 40 [frg. 2.d]); Aristeid., apol. 2; 15; Diognet 1,1; vgl. dazu Jüthner, Hellenen (s. Anm. 33) 90–95; ferner meinen Aufsatz: Are Christians a New „People“? Detecting Ethnicity and Cultural Friction in Paul’s Letters and Early Christianity, EChr 8 (2017) 293–308, hier: 297–299. 38 Typisch ist Plutarchs Oszillieren im oben Anm. 27 genannten Alexanderlob zwischen einer hellenozentrischen Sicht – die Griechen kultivieren die Barbaren; metaphorisiert: „Grieche“-Sein heisst wahrhaft Erzogen-Sein – und einer universalistischen, nicht mehr ethnozentrischen Perspektive. Beides steht spannungsvoll nebeneinander etwa in 1,6: 329c („alle sollen die Erde als ihr Vaterland, […] die Guten als ihre Volksgenossen, die Bösen aber als Fremde ansehen; Griechisches und Barbarisches seien nicht nach Kriegsmantel und Lederschild, Dolch und Obergewand zu unterscheiden, denn an der Tugend erkenne man Griechisches, an der Schlechtigkeit Barbarisches“). 39 Das Imperium Romanum schien sich über alle Grenzen der bewohnbaren Welt hinweg auszudehnen. Vgl. die markanten dicta bei Vergil, Aen. 1,278 f (Jupiter: „Keine Grenzen in Zeiten und Räumen setzte ich diesen. Herrschaft ohne Ende [imperium sine fine] verleihe ich ihnen“); Ovid, fast. 2,683 f (auf das Terminalienfest bezogen: „Andere Völker haben ein Land mit klaren Grenzen; der Bereich der Stadt Rom deckt sich mit dem der ganzen Welt [Romanae spatium est
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globale Weltkultur; die Makkabäerkrise illustriert die Konflikte, die für Juden mit dem Verzicht auf Partikularität einhergehen.40 Die politische Panegyrik der hellenistischen Monarchien und der römischen Kaiserzeit feiert den Herrscher als rettenden Überwinder der zerrissenen Menschheit.41 Die Proklamation des Friedensstifters Christus in Eph 2, der die ethnisch zerspaltene Menschheit versöhnt und die zentrifugalen Kräfte zum Zentrum zurückführt, lässt sich auch als Kontrastpropaganda zur imperialen Ideologie mit ihrem Friedensprogramm lesen. Wenn der gefesselte Paulus im Schlussteil seines Schreibens zum Kampf gegen die „Weltherrscher dieser Finsternis“ aufruft (Eph 6,12), wird das Konfliktpotential überaus deutlich benannt.42 Wie bereits angedeutet, geht jede Grenzüberschreitung rekursiv mit einer Neubestimmung der überwundenen Grenze einher. Die Grenze zwischen Israel und den Heiden gewinnt in der urchristlichen Symbolwelt eine neue Tragweite. Christusgläubige heidnischer Herkunft adoptieren die jüdische Tradition: Sie lesen die Schrift als Altes Testament und schlüpfen gleichsam in die biblischen Erzählungen hinein, die nun ihre eigene Herkunft und Gegenwart redefinieren (vgl. 1 Kor 9,10; 10,11). Erleichtert wird das Einzeichnen der Heidenchristen in die Geschichte Israels durch das universale Rahmenwerk der Schrift, zumal im Buch Genesis, und durch die Universalisierung des Gesetzesverständnisses, die die partielle Angleichung von Israeliten und Heiden ermöglicht.43 Spätestens dann, wenn die frühen Christen zugleich den Status des Gottesvolks exklusiv beanspruchen, stellt sich das dornige Problem der Grenzziehung gegenüber dem Judentum. Die ‚Kommunikation über Grenzen‘ bricht an diesem Punkt schliesslich ab. Umso mehr ist auf die Würdigung Israels beim Apostel Paulus zu achten: Der Römerbrief korreliert das grundsätzliche soteriologische Statement „es ist kein Unterschied zwischen Jude und Grieche“ (3,22; 10,12) mit der erwählungsgeschichtlichen Formel „dem Juden zuerst“ (1,16; 2,9 f; vgl. 3,2), die auch die Argumentation in Röm 9–11 leitet. Paulus schreibt Israel eine singuläre Würde ohne urbis et orbis idem]) und in Aristeides’ Romrede (or. 26,100–102: „Das Sprichwort ‚die Erde ist aller Mutter und aller gemeinsames Vaterland‘ habt ihr am vortrefflichsten bewiesen […]; ihr machtet den ganzen Erdkreis gleichsam zu einer einzigen Familie“). 40 Vgl. das in 1 Makk 1,11 formulierte Kulturprogramm, der dezidierten Antithese zum „Zaun“ des Aristeasbriefs (s. oben Anm. 4): „Zu dieser Zeit traten Verräter am Gesetz in Israel auf, die viele (zum Abfall) überredeten. Sie sagten: ‚Wir wollen einen Bund mit den fremden Völkern schliessen, die rings um uns herum leben; denn seit wir uns von ihnen abgesondert haben, geht es uns schlecht.‘“ 41 Vgl. das von Faust, Pax (s. Anm. 1) 290–306; 317–324 zusammengestellte Material. 42 Vgl. dazu Faust, Pax (s. Anm. 1) 442–470; 481–483. 43 Es ist v. a. Paulus, der unter dem Einfluss des griechischsprachigen Judentums den Nomos in den Rang einer universalen anthropologischen Ordnung erhebt, sowohl im Römerbrief (vgl. 2,14 f; 7,7 ff) wie auch im Galaterbrief (3,23–4,10); vgl. zu letzterem J. Schröter, Die Universalisierung des Gesetzes im Galaterbrief, in: ders., Von Jesus zum Neuen Testament (WUNT 204), Tübingen 2007, 171–201.
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Privilegien zu.44 Die einzigartige Erwählungsgeschichte Israels wird durch die Entgrenzungsgeschichte der Kirche nicht eingeebnet, sondern überhaupt erst zu universaler Geltung gebracht. Die Grenzüberschreitung von Judentum und Heidentum erzeugt auf der anderen Seite neue Grenzen: Die Gemeinschaft der Christusgläubigen grenzt sich von den Nichtchristen ab; ihre Geschichte lässt sich zu guten Teilen als konfliktreiche Suche nach ihrer angemessenen Selbstbegrenzung beschreiben. Zugleich kultiviert sie ihr Einheitsideal; bereits in den neutestamentlichen Texten wird Häresie mit innergemeindlicher Spaltung konnotiert, also mit neuen Grenzziehungen.45 2. Hinsichtlich der beiden anderen Grenzüberschreitungen fassen wir uns kürzer. Die Sprengkraft der programmatischen sozialen Entdifferenzierung lässt sich nur hinreichend einschätzen, wenn man das ungeheure Gewicht, das dem gesellschaftlichen Status im pyramidalen Sozialsystem des Imperium Romanum in allen Lebensbereichen zukommt, mitbedenkt. Die Stabilität der hierarchischen Ordnung wird nur marginal tangiert von der relativ grossen sozialen Mobilität, die sich in den markanten gesellschaftlichen Aufstiegs‑ und Abstiegsbewegungen abzeichnet. Sozialgeschichtlich bedeutungslos bleiben sowohl die utopische Imagination, die etwa auf das von Gleichheit erfüllte Goldene Zeitalter zurückgreift,46 wie auch die kynisch-stoische Unterscheidung von Nomos und Physis, die die Sklaverei als eigentlich unnatürlichen Zustand taxiert.47 Die Aufwertung von Sklavinnen und Sklaven zu ebenbürtigen Geschwistern im Raum der urchristlichen Gemeinden hat deshalb grosse Tragweite, auch wenn sie nicht notwendig mit Freilassung einhergeht.48 Zugleich lässt sich beobachten, wie die als überwunden proklamierte Grenze ihrerseits durch Metaphorisierung aktualisiert wird. Der als inferior taxierte Sklavenstatus wird zum Modell des christlichen Ethos im Umgang mit Macht und Besitz: „Knechtschaft“ und „Sklaverei“ werden positiv besetzt (Mk 10,42–44 parr.; 1 Kor 9,19; 2 Kor 4,5); sogar Jesus 44 Theobald, Augen (s. Anm. 1) 93 erkennt in unserem Leittext, Eph 2, die früheste Rezeption von Röm 9–11 (vgl. Eph 2,12 mit Röm 9,4 f, Eph 2,9 mit Röm 11,18, Eph 3,6 mit Röm 11,17). Zur Diskussion über das Verhältnis von Eph 2 zu Röm 9–11 vgl. ferner T. K. Heckel, Juden und Heiden im Epheserbrief, in: O. Merk (Hg.), Kirche und Volk Gottes, FS J. Roloff, Neukirchen 2000, 176–194. 45 Vgl. 1 Tim 1,4; 6,4; 2 Tim 2,14.23; Tit 3,2.9; Apg 18,30; 1 Clem 2,6; 14,2; 46,5.9; 51,1; Herm 17,9; 73,2.4 f; 75,4; 76,2; 108,4; angelegt bereits in 1 Kor 1,10 f; 11,13; 12,25; Phil 1,15. 46 Die spätmarxistische These von Günther / Müller, Sozialutopien (s. Anm. 22), wonach „die Utopie ihre revolutionäre Sprengkraft gerade aus der Ablehnung des Kompromisses“ beziehe und eine „mobilisierende Wirkung“ hatte, „die unmittelbar zur Aktion führte“ (191 u.ö.), ist nicht haltbar. 47 Vgl. dazu die Hinweise bei S. Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung (FRLANT 147), Göttingen 1989, 85–96. 48 Im Philemonbrief schliesst Paulus Sklave und Herr in der Gemeinschaft der Geschwister zusammen, während er seinen Freilassungswunsch nur gerade andeutet (V. 15–20). Das Prinzip des „Bleibens“ rückt in 1 Kor 7,19–24 den sozialen Status in den Bereich der Adiaphora, ohne dass damit die Option der Freilassung ausgeschlossen würde (um diese geht es wahrscheinlich in V. 21b).
2. Eine Triade von Grenzüberschreitung: Ethnos, Status, Geschlecht
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Christus wird als Diener und Sklave porträtiert (Phil 2,7; vgl. 2 Kor 8,9; Mk 10,45 parr.; Joh 13,4 f.13 ff).49 Zugleich ist die Emergenz neuer Grenzen zu konstatieren: die Herausbildung innergemeindlicher Macht‑ und Autoritätsstrukturen; vor allem aber die Gestaltung der Gemeinden nach Massgabe der konservativen Ordnung des „Hauses“. 3. Die dritte Entgrenzung schliesslich betrifft die Geschlechterrollen. Die Wendung „(da gibt es nicht) männlich und weiblich“ greift auf den priesterschriftlichen Bericht von der Erschaffung der Menschen zurück (Gen 1,27lxx). Gottes neue Schöpfung überwindet Differenzen, die der alten Schöpfung von Anfang an eingestiftet sind. Zu denken ist an eine Art transsexueller, angelischer Existenz, die offenbar bereits in der Gegenwart ihren Anfang nimmt.50 Die Korintherkorrespondenz zeigt, dass die mit dieser Konzeption einhergehende Redefinition der Geschlechterrollen zum Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen geworden ist.51 Im Effekt ist es in der Grosskirche weitgehend zu einer Retablierung der überkommenen Rollen gekommen, die sogar hinter den Standards der kaiserzeitlichen Städte zurückbleibt.52 Einem kurzen frauenfreundlichen Frühling sollte bekanntlich ein langer patriarchaler Winter folgen. Wiederum erzeugt die Entgrenzung eine markante Metaphorisierung, bei der das traditionell inferior gewertete Glied gewürdigt wird: Unter Rezeption der jüdischen Gottesvolkmetaphorik wird die Kirche als weibliche Grösse, als Braut, porträtiert (2 Kor 11,2; Eph 5,25–32; Apk 19,7; 21,2.9; vgl. Mk 2,19 f parr.). Wir unternehmen im Folgenden einen äusserst kursorischen Ausblick auf eine zweite Triade von Grenzüberschreitungen. Was sich bereits bei den Geschlechtsdifferenzen abzeichnete, rückt nun in das Zentrum: Die Grenzen der gegenwärtigen Weltzeit werden überschritten. 49 Komplementär tritt der „Knechtschaft“ als ethischem Modell ein von Haus aus aristokratisches Herrschaftsideal zur Seite, das Grosszügigkeit, Milde und Wohltäterschaft umgreift; vgl. G. Theissen, Die Religion der ersten Christen, Gütersloh 42008, 130–135. 50 Damit sind einerseits zu vergleichen Mk 12,25 parr., andrerseits diejenigen – m. E. bereits zur Rezeptionsgeschichte von Gal 3,28 zählenden – Logien, die die sexuelle Differenz gegenüber der anfänglichen Einheit abwerten (EvThom 11,4; 22; 37; grEvÄg frg. 1–3; 2 Clem 12,2). Zur altkirchlichen Wirkungsgeschichte vgl. P. N. Hogan, „No Longer Male and Female“. Interpreting Galatians 3:28 in Early Christianity (LNTS 380), London 2008, mit aufschlussreicher Bilanz: „In the first four centuries of Christianity, this phrase from Gal. 3:28, ‚There is no longer male and female, you are all one in Christ Jesus,‘ is understood by almost all commentators as a statement about Christian perfection“, 200 f. 51 Es fällt auf, dass Paulus in 1 Kor 12,13 die geschlechtliche Entdifferenzierung ausblendet. Man kann nur eine Vermutung formulieren: Gegenüber seiner Erstverkündigung in Korinth, die das Egalitätsprogramm von Gal 3,28 umfasst und die Frauenemanzipation gefördert hat, krebst der Apostel angesichts des hinter 1 Kor 11,2–16 stehenden gottesdienstlichen Konflikts ein Stück weit zurück. Vgl. die Diskussion verschiedener Hypothesen bei H. Merklein / M. Gielen, Der erste Brief an die Korinther (ÖTK 7), Bd. 3, Gütersloh 2005, 138 f. 52 Vgl. die Hinweise bei K. Thraede, Art. Frau, RAC 8 (1972) 197–269, hier: 239–243; H. Omerzu, „Es gibt nicht mehr männlich und weiblich“. Zur Bedeutung von Frauen im frühen Christentum, in: S. Schmitt (Hg.), Frauen und Kirche, Stuttgart 2002, 11–33.
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Das Urchristentum als Religionsgemeinschaft der Entgrenzung
3. Eine zweite Triade: Grenzüberschreitungen in die kommende Weltzeit 1. Das von Gal 3 aufgespannte Koordinatensystem ist unvollständig: Wir haben mit mindestens einer weiteren elementaren Grenzziehung zu rechnen, die im Urchristentum aufgebrochen wird, nämlich mit derjenigen zwischen Lebenden und Toten.53 Der 1. Thessalonicherbrief zeigt, dass die Frage nach dem Heil auch der Verstorbenen für die frühen Christen von erheblicher Tragweite war (4,13–18; 5,10). Wenn der 1. Korintherbrief wenig später die Totenauferstehung als Metamorphose interpretiert (15,50–57), schliesst er beide, Tote und Lebende, als Verwandelte in der Gestalt der zukünftigen Weltzeit zusammen. Schliesslich klärt die sich gegen Ende des ersten Jahrhunderts ausbildende Konzeption der Hadesfahrt Christi auch den soteriologischen Status der vorchristlichen Gerechten. Die Osterbotschaft hat die Grenzen zwischen Leben und Tod irreversibel verrückt; sie steigert die von der alttestamentlichen Theologiegeschichte errungene Überschreitung der Todesgrenze.54 Aufgrund ihrer Teilhabe an Tod und Auferstehung Christi überschreiten die Glaubenden die Todesgrenze bei ihrer Bekehrung. Gal 3,28 verbindet das Entgrenzungsprogramm explizit mit der Taufe. Der Taufritus inszeniert die Grenzüberschreitung als Passage, die durch den Tod zu neuem Leben führt. Auch das Abendmahl stellt aufgrund seiner die Gegenwart mit der Endzeit verschränkenden symbolischen Handlungen ein Schwellenritual dar. Rituale lassen sich überhaupt als normierte und institutionalisierte Formen der Grenzüberschreitung schlechthin beschreiben.55 Umgekehrt lässt sich beobachten, dass die überwundene Grenze zwischen Tod und Leben neu aktualisiert wird.56 So wird durch die Gegenüberstellung von ‚einst‘ und ‚jetzt‘ die christliche Identität und das ihr entsprechende Ethos an die Konversionserinnerung gebunden, an den Übertritt vom Tod zum Leben.57 Vor allem aber rücken namhafte Zeugnisse urchristlicher Theologie das gegenwärtige Leben in den Todesschatten des Kreuzes, sei es in Gestalt der Nachfolge auf dem 53 Ich folge einem versteckten Hinweis von W. Harnisch, Einübung des neuen Seins. Paulinische Paränese am Beispiel des Galaterbriefs, in: ders., Die Zumutung der Liebe (FRLANT 187), Göttingen 1999, 149–168, hier: 155 Anm. 17. 54 Vgl. dazu Janowski, Unterscheiden (s. Anm. 7) 46. 55 Zu diesem Aspekt von Taufe und Abendmahl vgl. Theissen, Religion (s. Anm. 49) 171–181; J. Schröter, Das Abendmahl (SBS 210), Stuttgart 2006, 163 f. Zum Zusammenhang von Grenzen und Ritual s. A. Grabner-Haider, Grenzüberschreitungen in der Religion, in: W. Hogrebe / J. Bromand (Hg.), Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie, Sektionsbeiträge, Bonn 2002, 237–244, hier: 237 f. 56 Für die Evangelien zeigt dies M. Ebner, Überwindung eines „tödlichen“ Lebens. Paradoxien zu Leben und Tod in den Jesusüberlieferungen, JBTh 19 (2004) 79–100. 57 Vgl. Röm 6,9–11.13.21–23; 1 Kor 6,9–11; Kol 2,13 f; Eph 2,2 ff; 2,13; 5,8; 1 Petr 2,10; Joh 5,25; dazu P. Tachau, „Einst“ und „Jetzt“ im Neuen Testament (FRLANT 105), Göttingen 1972, wo die Analysen in der Exegese unseres Leittextes, Eph 2, gipfeln (hier „wird der Charakter des Schemas ποτέ – νῦν am deutlichsten sichtbar“, 134–143 [Zitat: 134]).
3. Eine zweite Triade: Grenzüberschreitungen in die kommende Weltzeit
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von den Evangelien erzählten Leidensweg Jesu, sei es in Gestalt der dem Leiden ausgesetzten christlichen Existenz in den paulinischen Peristasenkatalogen (1 Kor 4,11 f; 2 Kor 4,8 f; 6,4–10; 11,23–29 u. a.). Die Glaubenden werden damit wieder diesseits der Todesgrenze situiert. In der Verrückung der Grenzen zwischen Leben und Tod trifft sich das frühe Christentum einerseits mit den Mysterienkulten und der Orphik, andrerseits mit der Philosophie, die jedenfalls in platonischer und auch in stoischer Tradition das Sterben ein Stück weit antizipieren will. Durchaus in Analogie mit dem Christentum zielt die Grenzüberschreitung in den Mysterien wie bei den Philosophen umgekehrt wieder darauf, dem Leben in der Gegenwart, diesseits des Todes, Bedeutung zu verschaffen.
2. In den Systemen der antiken Philosophie verdichten sich die Reflexionen zur Grenzthematik in anthropologischen und kosmologischen Zusammenhängen,58 wie es ähnlich auch im Alten Testament zu beobachten ist.59 Der Mensch wird als Wesen der Grenze bzw. des Zwischen definiert, etwa als Grenzgänger zwischen geistiger und sinnlicher Welt.60 Die kosmologische Prinzipienlehre arbeitet mit dem Gegensatzpaar des Begrenzten und Unbegrenzten. In den Systemen der Gnosis gewinnt die Grenze (ὅρος) einen hohen Stellenwert, da sie die Differenz zwischen göttlicher Lichtwelt und materiellem Kosmos markiert.61 Im Valentinianismus hat die Aufrichtung des Horos die Funktion, das All gegenüber den Turbulenzen, die mit dem Fall der Sophia einhergehen, zu stabilisieren. Der Horos wird mit dem Kreuz identifiziert, das zugleich trennt und heilt; als solcher fungiert er auch als „Löser“, „Freisprecher“, „Grenzsetzer“ und „Zurückführer nach dem Kampf “.62 Offenbar wird die platonische Prinzipienlehre, in der die Dissipation der unbegrenzten Zweiheit im Akt der Rückwendung auf den Ursprung begrenzt wird, mythologisch inszeniert.
In der urchristlichen Symbolwelt verschränken sich Anthropologie und Kosmologie. Sowohl der Epheserbrief wie die Entdifferenzierungsformeln entwerfen einen „neuen Menschen“, der nicht mehr den Grenzziehungen der alten Weltzeit unterworfen ist. Zugleich aber treffen in den Glaubenden alte und neue Weltzeit 58 Vgl. die Hinweise bei F. P. Hager, Art. Apeiron, HWP 1 (1971) 433–436; M. Gatzemeier, Art. Grenze, HWP 3 (1974) 873–875 sowie R. Zill, Art. Grenze, in: R. Konersmann (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, 135–146, hier: 139–141. 59 Vgl. Janowski, Unterscheiden (s. Anm. 7) 34–40. 60 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Der Menschgewordene als Ebenbild Gottes, in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 53–70, hier: 67 f. 61 In der Schule des Basilides wird die Grenze mit der „Feste“ von Gen 1 identifiziert (Hippolyt, ref. 7,23:1 f; vgl. 26:9 vom Grenzgeist; in 27:7 werden heiliger Geist und Grenze sogar identifiziert). 62 So die Valentinianer nach Iren., haer. 1,2:2; 3:1 (Zitat); 3:3; 4:1; Hippolyt, ref. 6,31:5–8; 34:7; ExcThdt 22,4; 42,1–3. ExpVal (NHC 11.2) 23,32–28,29 bietet eine längere, schwer verständliche Passage über das Verhältnis von Monogenēs-Nus und Horos. Die ActJoh enthalten eine längere Passage zum Lichtkreuz, das als „Grenze des Alls“ (διορισμὸς πάντων) bezeichnet wird. Vgl. zum Ganzen A. Böhlig, Zur Vorstellung vom Lichtkreuz in Gnostizismus und Manichäismus, in: ders., Gnosis und Synkretismus, 1. Teil (WUNT 47), Tübingen 1989, 135–163, wo auch auf die platonischen Elemente hingewiesen wird, zumal auf die Weltseele.
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Das Urchristentum als Religionsgemeinschaft der Entgrenzung
aufeinander und konstituieren eine zeitlich wie räumlich bestimmte Grenze: Christen führen eine liminale Existenz.63 3. Das Bestimmen und das Überschreiten von Grenzen betrifft besonders das Feld des Erkennens. Neben der Philosophie kultiviert auch die Theologie die Reflexion auf die Reichweite ihres eigenen Tuns. Das Urchristentum betreibt wiederum eine markante Grenzüberschreitung: Evangelien, Briefe und Apokalypsen berufen sich auf Offenbarungswissen, das jetzt in der Endzeit nicht den Weisen und den Engeln, sondern den Einfältigen und Törichten zugeht (vgl. Lk 10,21.24 par.; 1 Petr 1,12; 1 Kor 2,9 f; vgl. Mk 4,11 f).64 Der Anspruch ist massiv, so sehr das Offenbarungswissen rational eingeholt und auf seine Lebenstauglichkeit hin validiert wird. Umso mehr verdient die paulinische Kreuzestheologie Beachtung, die als dichte Reflexion auf die Möglichkeit wie die Grenze von Theologie anzusprechen ist. Sie arbeitet das Ineinander von Grenzaufhebung und Grenzsetzung beispielhaft auf.65 Im Galaterbrief ruht der Blick auf dem Ethnos, im 1. Korintherbrief sowohl auf dem Ethnos wie auf dem Status. Juden und Griechen, die den Kosmos chiffrieren, stehen in scharfem Kontrast zu den „Geretteten“ und „Berufenen“ (1,18b.24). Das, was in der kulturellen Wertung nichts gilt – das Törichte, Schwache, Geringe und Verachtete –, wird von Gott erwählt (1,26–28). Das göttliche Handeln unterläuft die Grenzziehungen der vorfindlichen Weltzeit und schafft Neues (1,28b). Das Kreuz markiert nun die Grenze zwischen der alten und der neuen Weltzeit. An ihm als Kanon nimmt sowohl das Selbstverständnis wie die Verhaltensnormierung der Christen Mass (vgl. 1 Kor 1,18; Gal 6,14–16; 5,24; 2 Kor 12,9 f; 13,4). Darüber hinaus legt der 1. Korintherbrief den Fokus spezifisch auf die Reichweite des Erkennens (1,18–2,16). Der Logos vom Kreuz provoziert das Denken zum Überschritt über die Ordnung der vorfindlichen Welt hinaus und bindet das Denken zugleich unausweichlich an sich zurück. Der 1. Korintherbrief treibt mit seiner Korrelation von Weisheitsrede für die Vollkommenen (2,6–16) und blossem Logos vom Kreuz (1,18–2,5; 3,1 ff) die Dialektik von Entgrenzung und Grenzziehung auf die Spitze. 63 Der v. a. in der ethnologischen Literatur gängige Begriff wurde eingeführt von Ch. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus (FRLANT 185), Göttingen 1999. 64 Einen besonderen Komplex untersucht St.E. Witmer, Divine Instruction in Early Christianity (WUNT II/246), Tübingen 2008, nämlich „the conviction current among some early followers of Jesus that they had been, and were being, taught by God, in fulfilment of OT prophetic promises“ (1). 65 Wolter, Verstehen (s. Anm. 11) 71–76 zeigt, „dass die paulinische Kreuzestheologie der profilierteste und konsequenteste und am weitesten tragende […] Versuch ist, ein christliches Wirklichkeitsverständnis zu formulieren, das einerseits alle bestehenden Grenzen beseitigt und andererseits scharfe neue Grenzen zieht, die sich nur um den Preis der Übernahme oder Preisgabe des christlichen Glaubens überschreiten lassen“ (71). Vgl. meinen Aufsatz: Weisheit am Kreuzweg. Zum theologischen Programm von 1 Kor 1 und 2, in: A. Dettwiler / J. Zumstein (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament (WUNT 151), Tübingen 2002, 43–58, Abdruck in diesem Band: 185–199.
4. Zugang zu Gott
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4. Zugang zu Gott Wir schliessen mit dem summarischen Verweis auf die entscheidende Entgrenzung, die das Kommen Christi urchristlicher Theologie zufolge mit sich gebracht hat, nämlich die Gottesnähe.66 Für unseren Leittext, Eph 2, gipfelt der durch Christi Kreuzestod geschehene Mauerfall im geistgewirkten „Zugang zu Gott“. In der Gottesgegenwart sammeln sich alle von uns berücksichtigten Koordinaten. Ethnos, Status und Geschlecht verlieren ihr Privileg der Gottesnähe. Das Neue Testament bringt die wunderbare Grenzüberschreitung Gottes in Jesus Christus in einem vielstimmigen Chor zur Sprache, besonders prägnant im Johannesevangelium, wo sich die Herrlichkeit Gottes mitten in der in sich verschlossenen Welt offenbart (vgl. Joh 1,1–18). Mit dem Kommen des Sohns erschliessen sich den Menschen die Lebensgaben Gottes, seine Gnade und seine Wahrheit. Umgekehrt arbeiten die johanneischen Abschiedsreden (13,31–16,33) die Abwesenheit und Ferne Christi auf – die mit dem Weggehen Jesu wieder aufgerichtete Grenze zwischen irdischer und göttlicher Sphäre (vgl. 12,35 f; 7,33 f; 8,21; 13,33.36) wird durch sein erneutes Kommen abermals überschritten (14,19 f.28 f; 16,16–19). Im Wirken des Parakleten geschieht die Wiederkunft des bleibend Entzogenen (14,16 f.26; 15,26 f; 16,7–11.13–15). Wie kaum ein anderer Text arbeitet der Hebräerbrief die Grenze zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre auf, die in der Metaphorik des Tempelkults angelegt ist.67 Die Heiligkeit und Erhabenheit Gottes gewinnt Kontur vor dem Traditionshintergrund der frühjüdischen Mystik, die sich m. E. plausibel als ein Faktor in der religionsgeschichtlichen Matrix für den Hebräerbrief in Anspruch nehmen lässt. Vor Gottes numinosem Angesicht kann nichts bestehen (besonders 4,12 f; 12,25–29). Der Anspruch des deus tremendus (vgl. 10,31; 12,29) liegt auch dem paränetischen Rigorismus des Hebräerbriefs zugrunde (6,4–6; 10,26–31; 12,16 f). Umso grössere Tragweite gewinnt das Hohepriestertum Christi, da dieser den Glaubenden trotzdem einen Zugang zu Gott verschafft (zum priesterlichen Amt der Interzession s. 7,25; 9,24; vgl. Röm 8,34). Christus ermöglicht den Glaubenden ein προσέρχεσθαι in den himmlischen Tempel (4,16; 7,25; 10,19–22; 11,6; 12,22), getragen von παρρησία (3,6; 4,16; 10,19.35).
Zugleich gewinnt im urchristlichen Glauben die Grenze zwischen Gott und Welt neues Gewicht, weil sie nicht mehr als Schranke, sondern als mediatrix fungiert. Die Grenze wird nun markiert von der Gestalt des gekreuzigten und auferstandenen Christus, dem „Mittler zwischen Gott und Menschen“ (1 Tim 2,5); sie wird also christologisch redefiniert. Mit dieser Bestimmung des Menschgewordenen als Mass aller Dinge rückt die urchristliche Botschaft auf erstaunliche Weise jenen alten griechischen Weisheitsmaximen nahe, die sich mit dem 66 Zugleich lassen wir unsere beiden vorher besprochenen Triaden in der Siebenzahl kulminieren. 67 Zur biblischen Tempelsymbolik und ‑kritik vgl. A. Schart, Die Entgrenzung des heiligen Raumes, PTh 86 (1997) 348–359.
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Das Urchristentum als Religionsgemeinschaft der Entgrenzung
Namen des Orakels von Delphi verbunden haben und wohltuende menschliche Grenzen benennen:68 „Erkenne dich selbst“ „Nichts im Übermass“ „Mass ist das Beste“
68 Vgl. M. Giebel, Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte (Reclams Universal-Bibliothek 18122), Stuttgart 2001, 48–51; B. Snell (Hg.), Leben und Meinungen der sieben Weisen (TuscBü), München 41971, 12 f; J. Althoff / D. Zeller (Hg.), Die Worte der Sieben Weisen (TzF 89), Darmstadt 2006, 5–9; 119–124.
Wahrnehmungen der Schöpfung im Neuen Testament Abstract Awareness for Creation in the New Testament The essay examines the various aspects in which the New Testament references creation: “New creation” in Paul; continuous creation in Jesus’s sayings; tracing the creator from creation (Areopagus speech in Acts); cosmic Christology (Colossians), eschatology and new creation (apocalypticism). Finally, New Testament impulses for an Easter theology of creation are discussed.
Auf den ersten Blick nimmt sich die Schöpfung nicht als ein zentrales neutestamentliches Thema aus, zumal im Vergleich mit dem Alten Testament, wo der Beginn der Priesterschrift und damit der Bibel überhaupt programmatisch auf Gottes Schöpfungswirken zurückgreift.1 Allerdings kommt die Schöpfung – unbeschadet aller Stürme der neueren alttestamentlichen Exegese – nur gerade als späte Erscheinung der israelitischen Religionsgeschichte in Betracht.2 Das Frühchristentum seinerseits setzt den alttestamentlich-jüdischen Schöpfungsglauben weitgehend diskussionslos voraus, sodass dieser nur in bestimmten Konstellationen aktualisiert wird. Im Folgenden wird versucht, anhand einiger Textkomplexe exemplarischen Referenzen auf das Thema Schöpfung nachzugehen.3 Dabei zeigt sich, dass dieses vornehmlich zur Bestimmung Gottes als des Schöpfers zur Sprache kommt. So ist es der eine Gott, dessen Schöpfertum sowohl in seinem eschatologischen, in Jesus Christus entfalteten Wirken wie in seinem uranfänglichen, den Kosmos, alle Völker und alle Wesen umfassenden Walten zum Zug kommt.
1 Eine erste Einführung zum Thema bieten G. Friedrich, Ökologie und Bibel, Stuttgart 1982; O. H. Steck, Welt und Umwelt (BiKon), Stuttgart 1978; K. Löning / E. Zenger, Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheologien, Düsseldorf 1997. 2 Vgl. R. G. Kratz / H . Spieckermann, Art. Schöpfung. II, TRE 30 (1999) 258–283. 3 Vgl. den Überblick von C. Breytenbach, Art. Schöpfung. III, TRE 30 (1999) 283–292; sowie J. Becker, Geschöpfliche Wirklichkeit als Thema des Neuen Testaments, in: ders., Annäherungen. Zur urchristlichen Theologiegeschichte und zum Umgang mit ihren Quellen (BZNW 76), Berlin 1995, 282–319. Vgl. M. Konradt, Schöpfung und Neuschöpfung im Neuen Testament, in: K. Schmid (Hg.), Schöpfung (ThTh 4), Tübingen 2012, 121–184.
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Wahrnehmungen der Schöpfung im Neuen Testament
1. „Neue Schöpfung“ Entscheidend für das Verständnis des neutestamentlichen Redens von der Schöpfung ist die Erfahrung des neuen Schöpferwirkens Gottes, das in der Konversion der Christinnen und Christen ergeht und rituell durch die Taufe inszeniert wird. In den paulinischen Briefen finden sich einige bemerkenswerte Formulierungen, die alle in je verschiedener Weise die Überwindung von Differenzen, die die gegenwärtige Weltzeit ausmachen, thematisieren (Gal 6,15): „Denn weder Beschnittenheit gilt (fortan) etwas noch Unbeschnittenheit, sondern neue Schöpfung.“
Die neue Identität der Glaubenden, die aus ihren bisherigen Lebenszusammenhängen und kulturellen Selbstverständlichkeiten herausgerissen und in eine neue Gemeinschaft integriert werden, wird als Akt göttlichen Schaffens bestimmt. Das Lexem „neue Schöpfung“ bezieht sich auf die Erwartung einer umfassenden Neugestaltung der gesamten Welt zurück, wie sie späte Teile des Jesaiabuchs erhoffen (Jes 65,17; 66,20). In der Konversionssituation wird jedoch spezifisch auf den Identitätswechsel von Individuen fokussiert.4 Im Galaterbrief ist die Proklamation der „neuen Schöpfung“ programmatisch plaziert, da sie die Polemik gegen die Beschneidung stützt und eine fundamentale Alternative zur Orientierung an den Gemarkungen von Judentum und Heidentum eröffnet. In Gal 3,28 erinnert Paulus umfassender an die urchristliche Tradition, wonach ethnische, soziale und sexuelle „identity markers“ überwunden werden: „Da ist nicht mehr Jude noch Grieche, Sklave noch Freier, Männliches und Weibliches. Denn ihr seid alle einer in Christus Jesus.“
Die Wendung „Männliches und Weibliches“ greift auf den alttestamentlichen Bericht von der Erschaffung der Menschen zurück (Gen 1,27 LXX). Gottes neue Schöpfung überwindet sogar Differenzen, die der alten Schöpfung von Anfang an eingestiftet sind. Zu denken ist an eine Art transsexueller, angelischer Existenz, die offenbar bereits in der Gegenwart ihren Anfang nimmt.5 Paulus selbst hat in der eigenen Bekehrung das grundlos ergehende Schöpferwirken Gottes erfahren. In seiner apostolischen Existenz kommt derjenige Gott zum Zug, der aus Finsternis Licht schuf (2 Kor 4,6). Was bei ihm selbst der Fall ist, gilt von allen Christusgläubigen (2 Kor 5,17):6 4 Vgl. U. Mell, Neue Schöpfung (BZNW 56), Berlin 1989; M. Wolter, Rechtfertigung und zukünftiges Heil (BZNW 43), Berlin 1978, 76 f. 5 Vgl. als Aussage von den Auferstandenen Mk 12,25 par., von Lk 20,35 f bereits für die Gegenwart reklamiert. 6 Vgl. K. Kertelge, „Neue Schöpfung“ – Grund und Massstab apostolischen Handelns (2. Kor 5,17), in: M. Evang u. a. (Hg.), Eschatologie und Schöpfung, FS E. Grässer (BZNW 89), Berlin 1997, 139–144.
2. Creatio continua
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„Ist jemand in Christus, so ereignet sich hier neue Schöpfung.7 Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“
Die umfassende Schöpfungsdimension wird durch die Anspielung auf Jes 43,18 f vergegenwärtigt. Von besonderem Interesse ist es, dass Paulus mit dem Neuschöpfungsgedanken auch eine neue Weise der Wahrnehmung verbindet (2 Kor 5,16): „Somit erkennen wir von jetzt an niemanden mehr nach dem Fleisch; wenn wir auch Christus nach dem Fleisch erkannt haben, so erkennen wir ihn jetzt nicht mehr so.“
Am Modellfall des Christus wird eine Weise der Wahrnehmung verabschiedet, die sich am Vorfindlichen und damit an den Massstäben und Normen der alten Weltzeit orientiert. Im Fall des gekreuzigten Jesus wäre zu denken an Schande und Schwäche, also an die denkbar niedrigste und verächtlichste Position für einen Menschen im sozialen Universum der hellenistisch-römischen Mittelmeerwelt (vgl. 1 Kor 1,18–2,5). Die neue Wahrnehmung, die als Wahrnehmung nach der Weise des Geistes (κατὰ πνεῦμα) charakterisiert werden kann, bekommt demgegenüber Gottes überraschendes Wirken zu Gesicht. Diese fokussiert nicht auf das Faktische und die Herkunft, sondern auf das, was Gott in der Gegenwart neu erschafft (vgl. 1 Kor 1,28; Röm 4,17), also auf der Erschaffung des Auferstehungslebens aus dem Nichts des Todes heraus. Vom Paradigma der Christuserkenntnis her erscheinen nun auch die Schwestern und Brüder sowie der Apostel selbst in einem neuen Licht. Wenn man diese pneumatische Wahrnehmung auch für die Schöpfungswirklichkeit als ganze in Anspruch nehmen darf,8 dann wird verständlich, wie die frühen Christen dazu kommen, von Jesus Christus als Schöpfungsmittler zu sprechen (dazu unten).
2. Creatio continua Bei Jesus von Nazaret lassen sich bemerkenswerte Wahrnehmungen der Schöpfung beobachten. Offenbar gewinnt gerade im Horizont der nahegekommenen Gottesherrschaft die creatio continua eine einzigartige Bedeutung.9 In den Augen von Jesus war die Schöpfungswelt, konkret die agrarische Welt Galiläas, offenbar in erstaunlicher Weise transparent für Gottes Liebe – die Sonne, die über allen 7 Die gewählte Übersetzung bringt m. E. den Ereignischarakter und die kosmische Dimension besser zum Ausdruck als die übliche „so ist er ein neues Geschöpf “; die Differenz zwischen κτίσμα und κτίσις ist zu beachten. 8 Vgl. F. Hahn, „Siehe, jetzt ist der Tag des Heils“. Neuschöpfung und Versöhnung nach 2. Korinther 5,14–6,2, in: ders., Studien zum Neuen Testament, Bd. 2: Bekenntnisbildung und Theologie in urchristlicher Zeit (WUNT 192), Tübingen 2006, 313–322. 9 Vgl. H. D. Betz, Kosmogonie und Ethik in der Bergpredigt, in: ders., Studien zur Bergpredigt, Tübingen 1985, 78; 110; ders., The Sermon on the Mount (Hermeneia), Minneapolis 1995, 317.
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Wahrnehmungen der Schöpfung im Neuen Testament
aufgeht, der Regen, der über alles niederströmt (Mt 5,45; vgl. 10,29–31 par. [Q]).10 Seine Gleichnisse nehmen die Natur unbefangen als Bildspender für die Gottesherrschaft in Anspruch. Die Sprüche vom Sorgen (Lk 12,22–31 par. [Q]) laden zum rückhaltlosen Vertrauen auf den über seiner Schöpfung waltenden Gott ein. Die naheliegenden Gegenerfahrungen werden aber nicht ausgeblendet; Gottes Nähe wird gerade angesichts des morgen schon zerstörten Grases und der verkauften Spatzen festgehalten (vgl. Lk 12,6 f par. [Q]). Zum Spiegel der Güte Gottes wird die Natur erst im Licht des nahegekommenen Gottesreichs.11 Da Gottes Güte auf eine verheissungsvolle Zukunft vorausweist, gewinnt die Gegenwart im Horizont des nahegekommenen Reiches eine herausragende Bedeutung. Zugleich ist aber ein zunächst befremdlicher, mit den Schöpfungstraditionen kontrastierender Zug in den Jesusüberlieferungen zu beachten. Die Wahrnehmung der Schöpfungswirklichkeit verbindet sich mit einer tiefgreifenden Distanzierung von den natürlichen, sozialen und kulturellen Vorfindlichkeiten menschlicher Existenz. Gerade die Ermunterung zur Sorglosigkeit (Lk 12,22–31 par.) ist vor dem Hintergrund einer „wanderradikalen“ Existenz zu verstehen: Im Verzicht auf Wohnsitz, Familie und Besitz bietet sich eine Lebensform an, die nicht anders als im Fall der Lilien und Raben transparent für Gottes Schöpfungswirken ist.12 Allerdings zeichnet sich auch eine anthropologisch relevante Differenz ab: Während die Tiere die ihnen zukommenden ökologischen Nischen bewohnen, ziehen der Menschensohn und die Seinen unbehaust – wie Platons Eros –13 umher (Lk 9,57–60 par. [Q]). Wir stossen hier auf einen – sit venia verbo – asketischen Zug des frühen Christentums, der in einem engen Zusammenhang mit den zeitgenössischen Formen der Weltentsagung steht, sich aber auch charakteristisch von ihnen unterscheidet (wie schon die Zeitgenossen Jesu feststellten, Lk 7,34 par. [Q]; Mk 2,18 f par.). Die ‚asketischen‘ Dimensionen, die das Christentum in dieser oder jener Form von Anfang an begleiten und nahezu bruchlos zum späteren Mönchtum überleiten, werden manchmal allzu schnell heruntergespielt. Man beraubt sich m. E. damit der Möglichkeit, die spezifisch christliche Weise des Umgangs mit dem allgemeinen anthropologischen Phänomen 10 Vgl.
ferner Mk 10,6–8 par.; 2,27; 7,37 (!). Es gehört zu den klassischen Deutungsschwierigkeiten der Verkündigung Jesu, deren weisheitliche und eschatologische Seiten zu korrelieren. Vgl. die Darstellung von G. Theissen / A. Merz, Der historische Jesus, Göttingen 32001, 332–339. Gegenüber der stark am Schöpfungsgedanken orientierten Interpretation der jesuanischen Weisheit durch H. v.Lips, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament (WMANT 64), Neukirchen 1990, 240–257 meldet M. Ebner, Jesus – ein Weisheitslehrer? (HBS 15), Freiburg 1998, 12–15 schwere Bedenken an (vgl. 168–171 zu Mk 2,27). 12 Vgl. G. Theissen, Wanderradikalismus, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 31989, 79–105; Ebner, Jesus (s. Anm. 11) 270 f mit dem betonten Hinweis auf die anstössige „Faulheit“ von Raben und Lilien (272–275). Ohne die Provokation abzuschwächen, wird man besser von Rezeptivität sprechen; vgl. H. Weder, Die „Rede der Reden“, Zürich 21987, 212–215. 13 Platon, symp. 203d. 11
3. Von der Schöpfung zum Schöpfer
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der Distanznahme herauszuarbeiten14 und sie in den grösseren Zusammenhang einer Humanökologie einzuordnen, die den Menschen in seiner unhintergehbaren Sonderstellung gleichwohl als ‚Teil‘ der Natur zu verstehen sucht.15
3. Von der Schöpfung zum Schöpfer Da der Glaube an Gott den Schöpfer zu den unumstrittenen Basisüberzeugungen der frühen Christen zählt, werden Weltschöpfung und Welterhaltung nur selten und beiläufig thematisiert. Eine herausragende Ausnahme stellt die berühmte Areopagrede des lukanischen Paulus dar (Apg 17,16–34; vgl. 14,15–17). Sie ist ein Meisterwerk des Lukas, insofern sie in reflektierter Weise biblische und hellenistische Überzeugungen in Wechselwirkung bringt: Tempel‑ und Kultkritik; Belebung der Schöpfung mit Leben und Geist; Ursprung der Menschheit; Ordnung der Räume und Zeiten; Nähe Gottes und Gotteskindschaft. Dies wird allein schon im Zitat des stoisierenden Dichters Arat sichtbar, das sich an der Stelle im Redenschema findet, wo sonst die Bibel zitiert wird (V. 28). Der lukanische Paulus formuliert hier als erster Christ ein Programm „natürlicher Theologie“, wonach sich die Erkenntnis Gottes aus der Betrachtung des Kosmos erschliesst. Von besonderem Interesse ist es, dass der Verkündiger des „unbekannten Gottes“ auch die die Grenzen ihrer Konsensfähigkeit benennt: die eschatologische Erwartung (V. 31 f).16 Bekanntlich hat die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften diese von Haus aus griechische Figur, die in der Alten Kirche und im Mittelalter in den Rang eines fundamentaltheologischen Basissatzes rückte, nachhaltig destruiert. Gleichwohl sollte die Areopagrede als exemplarisches Stück einer kontextuellen Theologie gewürdigt werden, d. h. als Versuch, die Plausibilität der Verkündigung des biblischen Gottes, des Herrn über Schöpfung und Geschichte, auch im Kontext griechisch-hellenistischer Bildung zu artikulieren. Die Wahrnehmung Gottes als Schöpfer in den Weiten der kosmischen Ordnungen bringt dann nicht die raum‑ und zeitlose Erkenntnis eines absoluten Subjekts zum Ausdruck, sondern verdankt sich einem Ort im Binnenraum der 14 Vgl. I. Eibl‑Eibesfeldt, Der vorprogrammierte Mensch (dtv 4177), München 51984, 278; R. N. Bellah, Religiöse Evolution, in: C. Seyfarth / M. Sprondel (Hg.), Seminar Religion und gesellschaftliche Entwicklung (stw 38), Frankfurt 1973, 267–302, hier: 270 f; 284–89. 15 Vgl. G. Picht, Ist Humanökologie möglich?, in: C. Eisenbarth (Hg.), Humanökologie und Frieden (FBESG 34), Stuttgart 1979, 1–123; M. Huppenbauer, Theologie und Naturethik (FSy 9), Stuttgart 2000. 16 Aus diesem Grund sollte die Areopagrede auch nicht in Antithese zu Röm 1,18–23 gestellt werden. Apg 17, Röm 1 (vgl. 1 Kor 1,21) sowie Sap 13,1–9 variieren in je verschiedener textpragmatischer Stossrichtung eine grundlegende Figur jüdisch-christlicher Theologie. Vgl. dazu A. Lindemann, Die Christuspredigt des Paulus in Athen, in: ders., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche, Tübingen 1999, 241–251; H.-J. Klauck, Magie und Heidentum in der Apostelgeschichte des Lukas (SBS 167), Stuttgart 1996, 97–111.
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Wahrnehmungen der Schöpfung im Neuen Testament
Schöpfung. Die elementaren Erfahrungen von Führung, Bewahrung und Errettung, wie sie im lukanischen Doppelwerk erzählt werden, provozieren ein Wiedererkennen Gottes auch im Kosmos.17
4. Jesus Christus als Signatur der Schöpfung Wir sahen, dass im Neuen Testament von der Schöpfung primär im Zusammenhang des neuen Schaffens Gottes die Rede ist, also in Bezug auf jene Erfahrungen, die die Glaubenden hier und jetzt mit Gott und seinem Geist machen. Hymnische Texte extrapolieren diese Erfahrung in kosmische Dimensionen: In Aufnahme der kosmologisch orientierten jüdisch-hellenistischen Weisheitstheologie wird Christus als Grundfigur der Schöpfung identifiziert (1 Kor 8,6; Kol 1,15–20; Hebr 1,2 f; Joh 1,1 ff). Man wird hierin den bedeutsamsten Beitrag des Neuen Testaments zu einer biblischen Theologie der Schöpfung erkennen dürfen.18 Der Johannesprolog (Joh 1,1–18) greift auf den Anfang der Genesis, auf das uranfängliche Schöpfungswerk Gottes zurück, um das Gewicht der Jesusgeschichte auszuloten.19 Die Schöpfungstheologie markiert gleichsam das Portal, durch das der johanneische Jesus als Licht der Welt schreitet, um unter den Menschen Glauben zu wecken. Zum Johannesprolog gesellt sich das hymnusartige Christuslob in Kol 1,15–20, das unter Rückgriff auf Traditionen griechisch-hellenistischer Kosmologie, erkennbar im differenzierten Spiel mit den Präpositionen, um das Verhältnis von Schöpfung und Erlösung kreist.20 Der Autor des Kolosserbriefs, der wohl mit einem ihm überkommenen Traditionsstück arbeitet, gibt zu verstehen, dass die kosmische Präsenz Christi nur aufgrund der im Glauben erfolgenden Versetzung an einen bestimmten Ort wahrnehmbar ist (1,12–14.21–23), nämlich in der Kirche als dem in den Kosmos hineinwachsenden Leib Christi. Weisheitstheologie und philosophische Kosmologien werden durch die Christusbotschaft in Arbeit genommen und kritisch gedeutet.21 Zum Grundsätzlichen vgl. Ch. Link, Die Welt als Gleichnis (BEvTh 73), München 21982. Zum Hintergrund vgl. meinen Aufsatz: Christus als Weisheit, in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 29–51. 19 Vgl. dazu in Auseinandersetzung mit moderner Physik H. Weder, Widerspiegelung der Kreativität. Neutestamentliche Überlegungen zur kosmologischen Dimension religiöser Sprache und Erkenntnis, in: J. Audretsch / H. Weder (Hg), Kosmologie und Kreativität (ThLZ.F 1), Leipzig 1999, 47–80, hier: 60–66; 72–79. 20 Eine andere traditions‑ und religionsgeschichtliche Verortung dieses Christuslobs schlagen vor P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 2, Göttingen 22012, 5–11; Ch. Stettler, Der Kolosserhymnus (WUNT II/131), Tübingen 2000. Als problematisch an dieser Hypothese erweist sich v. a. die Strukturierung, die die Korrespondenz zwischen „Erstgeborenem vor aller Schöpfung“ und „Erstgeborenem aus den Toten“ nicht hinreichend bewertet. Vgl. demgegenüber O. Hofius, „Erstgeborener vor aller Schöpfung“ – „Erstgeborener aus den Toten“, in: ders., Paulusstudien, Bd. 2 (WUNT 143), Tübingen 2002, 215–233. 21 Zur Tragweite von Kol 1,15 ff im Gespräch mit modernen kosmologischen Perspektiven vgl. 17 18
5. Die Schöpfung im Schatten der Endzeit
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Die kreative Rezeption zeitgenössischer Weltbilder22 durch den alten Hymnus gibt einen Fingerzeig für die Herausforderungen unserer Gegenwart. Die Bemühung um einen Entwurf neuzeitlicher Schöpfungstheologie kann sich m. E. der kritischen Auseinandersetzung mit modernen naturwissenschaftlichen Konzeptionen nicht entziehen.23 Es gibt heute keine von neuzeitlicher Wissenschaft unberührte Erfahrung von Welt, auf die man sich im Interesse einer Schöpfungstheologie berufen könnte. Dies gilt auch für scheinbar elementare Erfahrungen wie Geburt und Sterben, Liebe und Krankheit, Natur und Leiblichkeit. Die Reflexion könnte sich dann, um Zentralbegriffe von Naturwissenschaft und Theologie zu nennen, auf das Verhältnis zwischen Evolution und Eschatologie konzentrieren. Sie beide zu identifizieren, hiesse die biblische Unterscheidung von Gott und Welt zu verraten.24 Sie beide voneinander zu isolieren, hiesse sich der Fleischwerdung des Logos zu verschliessen.
5. Die Schöpfung im Schatten der Endzeit Die Schöpfungsthematik gewinnt in der frühjüdischen und frühchristlichen Apokalyptik einen herausragenden Stellenwert.25 Teilweise wird ein scharfer Kontrast zwischen der von Gott gestifteten Schöpfungsordnung und der gegenwärtigen Erfahrung durchdringender Heillosigkeit aufgebaut. Im Neuen Testament ist v. a. die apokalyptische Passage Röm 8,18–30 von weitreichender schöpfungstheologischer Bedeutung, die in Kontraposition zur Verdunkelung der Schöpfungswahrnehmung infolge der Sünde in Röm 1,18–25 steht. Trotz seiner endzeitlichen Perspektive lässt sich der Text auch als Zeugnis ökologischer Sensitivität, soweit eine solche im Kontext der antik-mediterranen meinen Aufsatz: „Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“, in: J. Hübner / I.-O. Stamatescu / D. Weber (Hg.), Theologie und Kosmologie (RuA 11), Tübingen 2004, 61–80, Abdruck in diesem Band: 53–71. 22 Vgl. zur Bandbreite antiker Weltbilder den Sammelband von D. Zeller (Hg.), Religion und Weltbild (MRB 2), Münster 2002 sowie F. Stolz, Weltbilder der Religionen, Zürich 2001. 23 Zum Dialog zwischen Physik und Theologie vgl. besonders die reflektierte Arbeit von D. Evers, Raum – Zeit – Materie (HUTh 41), Tübingen 2000. Ein produktives Gespräch ist allerdings von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn die Exegese grundsätzlich alle kosmologischen Dimensionen ihrer Texte bestreitet, so etwa A. Vögtle, Das Neue Testament und die Zukunft des Kosmos (Kommentare und Beiträge zum Alten und Neuen Testament), Düsseldorf 1970. 24 Dies ist m. E. das Grundproblem des interessanten Entwurfs von G. Theissen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1984. Vgl. zum Thema J. Polkinghorne / M. Welker (Hg.), The End of the World and the Ends of God. Science and Theology on Eschatology, Harrisburg 2000; A. Benz / S. Vollenweider, Würfelt Gott? Ein ausserirdisches Gespräch zwischen Physik und Theologie, Düsseldorf 32015. 25 Hinzuweisen ist besonders auf die Sequenz von Weltuntergang und Neuschöpfung, vgl. Apk 21,1–8; 2 Petr 3,1–14; auch Hebr 12,25–27.
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Wahrnehmungen der Schöpfung im Neuen Testament
Mittelmeergesellschaft überhaupt erschwinglich war, in Anspruch nehmen.26 Paulus blendet hier das Geschick der gesamten Schöpfung und das Geschick der Menschen, repräsentiert durch Adam bzw. die Kinder Gottes, ineinander. So wie der Urmensch Verhängnis über die Schöpfung gebracht hat, so wird nun mit den neuen Menschen, den Gotteskindern, Verheissung über der Welt aufgehen. An die Stelle der Abschottung gegenüber dem Leiden der Mitgeschöpfe tritt eine Art von Empathie, die Paulus als Transparenz für die schöpferische Wirksamkeit Gottes pointiert. Der Text führt über den Menschen und seine zentnerschwer auf ihm lastende Verantwortung hinaus: Die Hoffnung, welche die Glaubenden bewegt, richtet sich auf die alles verwandelnde Schöpfermacht Gottes, auf seinen Geist. Damit stellt Paulus der fatalen Zentrierung auf unsere Handlungskompetenz die Transparenz für die göttliche Kreativität entgegen.27 Unser Text bricht am entscheidenden Punkt eine gefährliche anthropozentrische Sackgasse auf. Die Befreiung, von welcher er spricht, richtet ein scharfes Gegenbild zum neuzeitlichen Verständnis von Subjektivität auf. Zwar operiert Paulus mit dem Moment einer Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung, aber schliesst die anthropozentrische Perspektive wieder für die Gemeinschaft aller Lebensformen auf.28 Insofern aktualisiert Albert Schweitzers Plädoyer für die „Ehrfurcht vor dem Leben“ einen Aspekt des rezeptionsästhetischen Potentials von Röm 8,18 ff.
6. Österliche Schöpfungstheologie Wir schliessen mit dem Hinweis auf eine Form österlicher Schöpfungstheologie, die Paulus in seiner Debatte mit den korinthischen Verächtern der Auferstehungshoffnung zu bedenken gibt. In 1 Kor 15,35–58 entfaltet der Apostel sein Verständnis der Auferstehung der Toten als neuer Schöpfung, die mit Jesu Auferstehung anbricht.29 Er konstatiert eine bemerkenswerte Analogie zwischen ‚alter‘ und ‚neuer‘ Schöpfung, die sich ihm sowohl durch die Natur (V. 36–41) wie durch die Schrift (V. 45–49), also durch die ‚beiden Bücher Gottes‘, nahe legt. Im Saatkorngleichnis (V. 36) scheint Paulus vom Christusgeschehen her 26 Zur ökologischen Problematik vgl. P. Stuhlmacher, Die ökologische Krise als Herausforderung an die Biblische Theologie, EvTh 48 (1988) 311–329; speziell zur Tierschutzthematik Vgl. E. Grässer, Das Seufzen der Natur. Auf der Suche nach einer „biblischen Tierschutzethik“, JBTh 5 (1990) 93–117; kritisch zu einer ökologischen Relektüre z. B. Becker, Wirklichkeit (s. Anm. 3) 307 A. 24. 27 Vgl. die kritischen Überlegungen zur Rede vom „Bewahren der Schöpfung“ im Blick auf Paulus bei O. Wischmeyer, ΦΥΣΙΣ und ΚΤΙΣΙΣ bei Paulus, in: dies., Von Ben Sira zu Paulus. Gesammelte Aufsätze zu Texten, Theologie und Hermeneutik des Frühjudentums und des Neuen Testaments (WUNT 173), Tübingen 2004, 207–228, hier: 226 ff. 28 Auch in 1 Kor 3,23 wird die anthropozentrische Sichtweise aufgebrochen, hier zugunsten des in Christus gegenwärtigen Gottes. 29 Vgl. dazu G. Sellin, Der Streit um die Auferstehung der Toten (FRLANT 138), Göttingen 1986, 210 ff.
6. Österliche Schöpfungstheologie
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rückwärts in die Natur zu schauen. Ostern stimuliert offenbar die Wahrnehmung für Gottes Schöpfungswalten aus dem Nichts inmitten dieser alten Schöpfung. Dies legt sich nicht nur aus dem grösseren Kontext nahe, worin Paulus die Auferstehung Jesu mit derjenigen aller Glaubenden (15,1–19) und sogar schlechthin aller Menschen (15,22) verknüpft, sondern auch durch die christologische Pointierung des Korngleichnisses in Joh 12,24. Obschon es dem Apostel nicht um eine naturtheologische Erkenntnis geht, gewinnt er doch eine österliche Wahrnehmung der gegenwärtigen Schöpfungswirklichkeit: Der Glaube nimmt dort göttliche Kreativität wahr, wo das natürliche Erkennen nichts als selbstverständliche Kontinuität zu sehen bekommt. Das Verhältnis von Diskontinuität und Kontinuität ist für das Verständnis der paulinischen Konzeption der neuen Schöpfung von entscheidender Bedeutung (vgl. Röm 4,17). Diese theologische Figur führt uns zurück zur Erfahrung gegenwärtigen Schöpfungswirkens Gottes, die die neutestamentlichen Perspektiven auf Welt und Kosmos weitreichend prägt.
Weltdistanz und Weltzuwendung im Urchristentum Abstract Denying the World and Affirming the World The essay discusses the Early Christian tensions between renouncing the “world” (fuga saeculi/mundi) and integration into the “world” (or rather responsibility for the world). The classical ancient Christian text for this citizenship of two worlds is the Epistle to Diognetus. The Jesus movement, Paul, the Revelation of John and Gnosticism are dealt with. A special interest is directed to the ambivalences in John’s Gospel and to the Letters to the Colossians and to the Ephesians: In different ways there is here a peculiar coexistence of openness to the world and distance to the world.
Das Christentum hat wie kaum eine andere Religion der Menschheit das gesamte Spektrum zwischen Weltflucht und Weltverantwortung artikuliert. Zwischen dem einen Pol, den wir etwa mit dem modernen liberalen Protestantismus assoziieren können, und dem anderen Pol, markant repräsentiert von den bizarren Erscheinungen des östlichen Mönchtums, reihen sich zahlreiche Erscheinungsformen. Wir unternehmen es an dieser Stelle, einen Einblick in die ältesten Texte des antiken Christentums zu geben. Dabei verbinden sich holzschnittartige Skizzen und generelle Überlegungen mit einigen exemplarischen Textwahrnehmungen.
1. Zum Auftakt: Bürger zweier Welten Die gewiss brillanteste Porträtierung der antiken Christen als Wanderer zwischen zwei Welten1 stammt aus dem sogenannten Diognetbrief, einer protreptischen Werbeschrift für das Christentum wohl aus dem späten zweiten Jahrhundert. In einer überaus eleganten rhetorischen Antithesenreihe hat ihr unbekannter Verfasser die klassischen Formulierungen geschaffen (5,1–6,7):2 1 So der Titel einer Aufsatzsammlung von Ch. Markschies, Zwischen den Welten wandern. Strukturen des antiken Christentums, Frankfurt 22001. 2 „Das Verhältnis der Christen zur Welt ist […] gekennzeichnet durch eine gewisse Distanz. Eine Distanz, die nicht durch den Rückzug der Christen aus der Welt, durch Weltflucht bedingt ist“: R. Brändle, Die Ethik der „Schrift an Diognet“. Eine Wiederaufnahme paulinischer und johanneischer Theologie am Ausgang des zweiten Jahrhunderts (AThANT 64), Zürich 1975, 169. Die Übersetzung orientiert sich an: A. Lindemann / H. Paulsen (Hg.), Die Apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe, Tübingen 1992.
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Weltdistanz und Weltzuwendung im Urchristentum
5 1 „Die Christen nämlich sind weder durch ein Land noch durch eine Sprache noch durch Sitten von den übrigen Menschen verschieden. […] 5 Sie bewohnen jeder sein Vaterland, aber wie Nichtbürger; sie haben an allem Anteil wie Bürger, und alles erdulden sie wie Fremde. Jede Fremde ist für sie Vaterland, und jedes Vaterland Fremde (πατρίδας οἰκοῦσιν ἰδίας, ἀλλ᾽ ὡς πάροικοι · μετέχουσι πάντων ὡς πολῖται καὶ πάνθ᾽ ὑπομένουσιν ὡς ξένοι · πᾶσα ξένη πατρίς ἐστιν αὐτῶν, καὶ πᾶσα πατρὶς ξένη). […] 8 Sie existieren ,im Fleisch‘, aber sie leben nicht ,nach dem Fleisch‘. 9 Auf Erden weilen sie, aber im Himmel haben sie Bürgerrecht (ἐπὶ γῆς διατρίβουσιν, ἀλλ᾽ ἐν οὐρανῷ πολιτεύονται). 10 Sie gehorchen den erlassenen Gesetzen, und mit der ihnen eigenen Lebensweise überbieten sie die Gesetze. 11 Sie lieben alle, und von allen werden sie verfolgt. 6 1 Um es einfach zu sagen: Was im Körper die Seele ist, das sind in der Welt die Christen. 2 Über alle Glieder des Körpers hin ist die Seele verteilt, ebenso die Christen über die Städte der Welt. 3 Es wohnt zwar die Seele im Körper, aber sie stammt nicht aus dem Körper. Auch die Christen wohnen in der Welt, aber sie stammen nicht aus der Welt (καὶ Χριστιανοὶ ἐν κόσμῳ οἰκοῦσιν, οὐκ εἰσὶ δὲ ἐκ τοῦ κόσμου). […] 7 Zwar ist die Seele vom Körper umschlossen, doch hält sie den Körper zusammen. Auch die Christen werden zwar wie im Gefängnis in der Welt festgehalten, doch halten sie selbst die Welt zusammen.“
Dem Diognetbrief zufolge teilen Christen die irdische Existenz mit allen anderen Menschen, bilden aber gleichwohl ein eigenartiges und geradezu paradoxes Volk: Sie sind Bürger zweier Welten. Das liesse sich allenfalls noch stoisch deuten, aber unser Autor stellt pointiert heraus: Sie sind Fremde in der irdischen Welt und Bürger in der himmlischen.3 In der Sprache paulinischer Theologie, deren Diktion der Diognetbrief aufnimmt:4 „Wir führen zwar unser Leben im Fleisch (ἐν σαρκί), unseren Kampf aber führen wir nicht nach Massgabe des Fleisches (κατὰ σάρκα)“ (2 Kor 10,3).5 Johanneisch formuliert: Sie sind in der Welt, aber nicht von der Welt (vgl. Joh 17,11–16; 15,19). Ihr Ethos entspricht nicht nur den gängigen Standards, sondern überbietet diese sogar – und trotzdem, oder vielleicht eher: genau deshalb sind sie auf Kollisionskurs mit ihrer Umwelt. Mehr noch: Die Christen werden mit der Seele identifiziert, die nicht nur im Leib wohnt, sondern
3 Dabei ist für den Vf. der Schrift an Diognet zu unterstreichen: „Er wendet sich an Menschen, die nicht als πάροικοι bzw. als ξένοι, sondern als πολῖται leben. Natürlich möchte er sie für den christlichen Glauben gewinnen, aber das muss nicht die Verleugnung der eigenen kulturellen Identität bedeuten, wenigstens nicht grundsätzlich“: H. E. Lona, An Diognet (KfA 8), Freiburg 2001, 163. Zur Himmelsbürgerschaft in Diogn vgl. D. Schinkel, Die himmlische Bürgerschaft. Untersuchungen zu einem urchristlichen Sprachmotiv im Spannungsfeld von religiöser Integration und Abgrenzung im 1. und 2. Jahrhundert (FRLANT 220), Göttingen 2007, 159–182. 4 Zur Rezeption paulinischer Theologie vgl. A. Lindemann, Paulinische Theologie im Brief an Diognet, in: ders., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche, Tübingen 1999, 280–293; Lona, Diognet (s. Anm. 3) 166 f; 205–207. 5 Neben den Paulusbriefen dürfte auch die programmatische Fremdlingschaft aus dem 1. Petrusbrief einwirken (1,1.17; 2,11); vgl. dazu R. Feldmeier, Der erste Brief des Petrus (ThHK 15.1), Leipzig 2005, 9–12; ders., Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief (WUNT 64), Tübingen 1992.
2. Begriffsklärungen
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ihn sogar am Leben erhält.6 Ins Platonische gewendet: Sie sind (wie) die unsterbliche Seele im Gefängnis des vergänglichen Körpers. Unser Text bezieht urchristliche Theologie und zeitgenössische Philosophie kongenial aufeinander.7 Er arbeitet prägnant die doppelte Loyalität der Christusgläubigen heraus, also das komplexe Verhältnis von Integration und Separation, von Inkulturation und Deviation der frühchristlichen Gemeinschaften. Er stellt die Christen zwischen „Weltverantwortung“ und „Weltflucht“.8
2. Begriffsklärungen Mit den beiden Stichworten „Weltflucht“ und „Weltverantwortung“ verbinden sich in der heutigen Rezeption meist Werturteile: Das erstere ist negativ, das letztere aber positiv konnotiert. Sieht man näher zu, handelt es sich um ein von Haus aus theologisches Gegensatzpaar, dessen Glieder aus denkbar verschiedenen Epochen stammen. Die „Weltverantwortung“ bildet sich in der Theologie des 20. Jahrhunderts heraus,9 mit Schnittstellen zur Philosophie, und lässt sich mit „globaler Verantwortung“ und „Nachhaltigkeit“ assoziieren. Altehrwürdig nimmt sich hingegen die „Weltflucht“ aus.10 Reden die antiken Christen von der fuga saeculi/mundi,11 so rezipieren sie neben neutestamentlicher Sprache (2 Petr
6 Man braucht hierfür nicht notwendig die Weltseele zu bemühen, vgl. Lona, Diognet (s. Anm. 3) 181. 7 Vgl. dazu Lona, Diognet (s. Anm. 3) 207–210. 8 Eine identische Titelformulierung bietet E. Dassmann, Weltflucht oder Weltverantwortung. Zum Selbstverständnis frühchristlicher Gemeinden und zu ihrer Stellung in der spätantiken Gesellschaft, JBTh 7 (1992) 189–208. Eine Variante: K. Alt, Weltflucht und Weltbejahung. Zur Frage des Dualismus bei Plutarch, Numenios, Plotin (AAWLM.G 8), Stuttgart 1993. 9 Vgl. H. Hühn / M. Seils, Art. Weltverantwortung, HWPh 12 (2007) 527–531. Besonders zu nennen ist U. Duchrow, Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre (FBESG 25), Stuttgart 1970. Der Duden verzeichnet (die) „Weltverantwortung“ übrigens nicht. 10 Vgl. H. Hühn, Art. Weltverachtung; Weltflucht, HWPh 12 (2007) 521–527. 11 In der lateinisch- christlichen Literatur begegnet neben dem fugere mundum gern auch das fugere saeculum (als eigene Schrift des Ambrosius: De fuga saeculi [CSEL 32.2, 161–207], mit starkem intertextuellem Bezug auf Philons De fuga). Für den expliziten Rückbezug auf den Neuplatonismus (s. unten bei Anm. 13) ist zu verweisen besonders auf Aug., civ. 9,17, der Plotins Parole lobt: illud Plotini, ubi ait (enn. 1,6,8:16–25, unter Berufung auf Homer, Od. 10,269 [φεύγωμεν, mit dem die Heimat suchenden Osysseus] „fugiendum est igitur ad carissimam patriam, et ibi pater, et ibi omnia. quae igitur, inquit, classis aut fuga? similem deo fieri“). Für das fugere saeculum bezieht sich Augustin mehrfach auf Ambrosius zurück (c. ep. Pel. 4,30 [CSEL 60, 561; 563]; c. Iul. 2 [PL 44, 689]; persev. [PL 45, 1003]). Das fugere mundum findet sich etwa bei M.Vict., comm. 1 in Gal. 2,20 (CSEL 83.2, 124) und bei Ambros., expl. Ps. 36,79:4 (CSEL 64, 134). In der griechisch-christlichen Literatur gibt es m.W. kein prägnantes begriffliches Pendant.
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Weltdistanz und Weltzuwendung im Urchristentum
1,4; 2,20)12 spirituelle Termini platonischer Provenienz. Platons „Flucht nach dort“ ist zusammen mit der „Angleichung an Gott“ zu einer zentralen Losung neuplatonischer wie christlicher Anthropologie und Soteriologie geworden.13 Plotins „Flucht des Einsamen zum Einsamen“, das Schlusswort der porphyrianischen Redaktion der Enneaden, steht für das spirituelle Programm des Aufstiegs zum göttlichen Ur-Einen.14 Die platonische Tradition hat insbesondere Philon von Alexandria dazu angeregt, die verstreuten Bibeltexte, die von „Fliehenden“ berichten, zu einem grossangelegten Mosaik der Flucht weg von den Leidenschaften hin zu Gott, der „Zuflucht des Alls“, zusammenzufügen.15 Er deutet die Leviten und ihre Asylstädte (Num 35) auf diejenigen, die „aus dem irdischen Leben zu Gott flüchten“.16 Seine Schrift De fuga et inventione, die ihren Ausgangspunkt bei der Flucht Hagars (Gen 16,6b) nimmt, hat das christliche Theologumenon von der „Weltflucht“ in hohem Ausmass bereichert.17 Im Blick auf das Neue Testament ist man gut beraten, von der theologischen Emphase, die das Gegenüber von „Weltflucht“ und „Weltverantwortung“ markiert, abzurücken und sich mit der begrifflichen Polarität von „Weltdistanz“ und „Weltzuwendung“, so der Titel unserer Zeilen, zu begnügen. „Weltflucht“ im monastischen Sinn ist im ersten Jahrhundert noch nicht zu konstatieren, selbst wenn Tendenzen in diese Richtung weisen. Auch für die „Weltverantwortung“ fehlt in 12 2 Petr 1,4: „Dadurch hat er uns auch die kostbaren und überaus grossen Verheissungen geschenkt, durch die ihr Anteil an der göttlichen Natur bekommen sollt, wenn ihr dem Verderben, das durch die Begierde in der Welt wirksam ist, entflohen seid (γένησθε θείας κοινωνοὶ φύσεως ἀποφυγόντες τῆς ἐν τῷ κόσμῳ ἐν ἐπιθυμίᾳ φθορᾶς)“; 2,20: „Wenn sie nämlich dem Schmutz der Welt durch die Erkenntnis unseres Herrn und Retters Jesus Christus entkommen sind (ἀποφυγόντες) …“ 13 Die für die platonische Schultradition zentrale Stelle im Werk Platons stellt Theaitetos 176a/b dar: Man „muss auch versuchen, von hier so schnell als möglich dorthin zu fliehen. Diese Flucht ist aber nichts anderes als Gott möglichst ähnlich zu werden (διὸ καὶ πειρᾶσθαι χρὴ ἐνθένδε ἐκεῖσε φεύγειν ὅτι τάχιστα. φυγὴ δὲ ὁμοίωσις θεῷ κατὰ τὸ δυνατόν), und ihm ähnlich werden bedeutet gerecht und fromm werden, verbunden mit Einsicht“. Zur mittelplatonischen Rezeption vgl. Alkinoos, epit. 28,1; Philon, fug. 63 (dazu unten Anm. 15); Clem., strom 2,133:3. 14 Plotin, enn. 6,9,11:49–51: „Das ist das Leben der Götter und göttlicher, seliger Menschen, Abscheiden von allem andern was hienieden ist, ein Leben das nicht nach dem Irdischen begehrt, Flucht des Einsamen zum Einsamen (ἀπαλλαγὴ τῶν ἄλλων τῶν τῇδε, βίος ἀνήδονος τῶν τῇδε, φυγὴ μόνου πρὸς μόνον).“ Zur „Flucht“ vgl. 1,6,8:16 (dazu oben Anm. 11); 1,8,6:9; 8:29; zur Relation des „Einsamen zum Einsamen“ im Gebet vgl. 5,1,6:8–12. – Zur Verortung Plotins in der „Vorbereitung des Neuplatonismus“ (so der Titel einer wichtigen Monographie von W. Theiler, Berlin 1934 [= 1964]) vgl. Alt, Weltflucht (s. Anm. 8). 15 Zentral ist fug. 1–118, wo Gott als καταφυγὴ τῶν ὅλων (75; vgl. somn. 1,63), als Quelle des Lebens und der Weisheit, zu der man hinflüchten kann (56; 97; 197 f), prädiziert wird. Die Passage aus dem Theaitetos (s. Anm. 13) wird in 63 explizit zitiert. Obschon sie sich auf der Textoberfläche nur auf die Ortsbestimmung der Gegensätze bezieht, handelt es sich um den entscheidenden Prätext, der die gesamte Schrift bestimmt. Zur „Flucht“ vor den Leidenschaften hin zu Gott vgl. ferner all. 2,91; 3,172.194; sacr. 119 f. 16 Philon, fug. 87–118; ebr. 94; sacr. 118–135 (mit Verweis auf Num 3,12 f). 17 Zur Nachwirkung bei Ambrosius und, durch diesen vermittelt, bei Augustin s. oben Anm. 11.
2. Begriffsklärungen
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unserem Zeitraum schlicht der globale Referenzrahmen. Die Christen zählen noch nicht zu den Eliten, die in den Städten oder sogar reichsweit als Träger von politischer und gesellschaftlicher Macht in Frage kommen. Die „Bürgerschaft“ in den vorfindlichen Städten dieser Welt, von der die Schrift an Diognet ausgeht, schliesst auch für mittelständische Schichten keine politische Mitwirkung oder gar „Weltgestaltung“ ein. Wir beobachten allenfalls im Nahbereich Grade des Engagements, also im Bereich der Gemeindeorganisation, d. h. auf der Ebene des Vereins, der ja in der Antike vielfach die städtische Sozialstruktur abbildet. Verantwortung, ihrerseits ein erst frühneuzeitlicher Begriff, lässt sich in diesem Bereich geltend machen. „Weltverantwortung“ nimmt sich demgegenüber plerophor aus und reduziert sich im frühen Christentum auf symbolische Repräsentation bzw. auf „Stellvertretung“. Die zitierte Passage der Schrift an Diognet erhebt einen derartigen Anspruch, wenn sie der Existenz der Christen geradezu die Welterhaltung zuschreibt.18 Die Linien lassen sich bis zurück in die urchristliche Ekklesiologie und in die ökumeneweite Mission des Paulus ziehen. Mit der flacheren Semantik von „Weltdistanz“ und „Weltzuwendung“ dürfte es eher gelingen, die zahlreichen Aspekte unseres Themas angemessen zu beschreiben. „Weltflucht“ wäre dann als programmatische Steigerungsform von „Weltdistanz“, „Weltverantwortung“ als programmatische Steigerungsform von „Weltzuwendung“ zu pointieren. Ich werde mich im Folgenden an einer dreistelligen Relation orientieren: Auf der einen Seite steht eine Gruppe (etwa die Christen) oder das individuelle Selbst, auf der anderen Seite die Umwelt – wie immer diese näher zu bestimmen ist –, darüber schliesslich eine transzendente Referenzgrösse, seien es Gott, Reich Gottes, der Himmel, die ideale Welt oder das (himmlische?) Vaterland. Der Term „Umwelt“ lässt sich dann verschieden bestimmen: Die Bandbreite reicht vom Körper über den sozialen Nahraum – etwa die Ebene der Ortsgemeinde – und den sozialen Universalraum – Menschheit bzw. universale Kirche – bis hin zum ganzen Kosmos bzw. der Schöpfung. Entsprechend lassen sich auch die anderen beiden Stellen variieren. Unsere Passage aus der Werbeschrift an Diognet zeigt anschaulich, wie sich Christen auf alle drei Grössen beziehen und somit ihren eigenen Ort definieren. Dabei wird die Welt als ganze erst im folgenden Abschnitt in den Blick genommen, nämlich im Lob des Gottessohns als Baumeister und Schöpfer des Alls (7,2). Bei der Ortsbeschreibung der Christen spielt das Ethos, also die 18 Zur Zuschreibung einer kosmisch/politischen Rolle der Christen vgl. H. I. Marrou, A Diognète (SC 33bis), Paris 21965, 146–171. Mit hineinspielen dürfte auch die jüdische Tradition, wonach die Welt um Israels willen geschaffen worden sei (für Nachweise s. meine Monographie: Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt [FRLANT 147], Göttingen 1989, 102 f Anm. 370; 380 Anm. 473). Sie ist unter Umdeutung auf das (neue) Gottesvolk vom Christentum rezipiert worden und wirkt etwa in der Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth nach, der den Bund als den „inneren Grund der Schöpfung“ reklamiert.
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Verhaltensnormierung, eine entscheidende Rolle, weil es die jeweilige Loyalität bzw. Konformität festschreibt. Mit dem Hinweis auf das Verbot der Kinderaussetzung und auf die Sexualethik werden pinselstrichartig Grenzziehungen im Bereich des Verhaltens benannt, die die Identität der Christen konstituieren (5,6 f).19
3. Schlaglichter auf urchristliche Entwicklungen Ein komplexes Verhältnis von Weltzuwendung und Weltdistanz begegnet bereits in den Anfängen der christlichen Religion und Theologie. An diesem Punkt haben sich bekanntlich grosse Debatten entzündet,20 die von Franz Overbeck21 und Friedrich Nietzsche bis Max Weber22 und Rudolf Bultmann23 reichen. Klar ist: Das Christentum gehört diesbezüglich in das viel weitere Feld der antiken 19 Vgl. zum Ersteren die umfassende Darstellung von Ch. Tuor-Kurth, Kindesaussetzung und Moral in der Antike. Jüdische und christliche Kritik am Nichtaufziehen und Töten neugeborener Kinder (FKDG 101), Göttingen 2010. 20 Vgl. die Literaturhinweise in Hühn, Weltverachtung (s. Anm. 10), 524. 21 F. Overbeck, Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie (1873), in: E. W. Stegemann / N. Peter (Hg.), Franz Overbeck. Werke und Nachlass, Bd. 1: Schriften bis 1873, Stuttgart 1994, 155–256, hier: 214–220 („einen weltflüchtigeren Glauben als den der ältesten Christen an die baldige Wiederkehr Christi und den Untergang der gegenwärtigen Weltgestalt kann es doch nicht wohl geben“, 215). Overbeck zufolge mutiert dieser endzeitliche Glaube aufgrund der Parusieverzögerung zur „asketischen Betrachtung und Führung des Lebens, welche in der That eine Metamorphose des urchristlichen Glaubens an die Wiederkehr Christi ist“ (216). 22 M. Weber, Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen religiöser Weltablehnung, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, 536–573; ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. J. Winckelmann, Tübingen 51972, 181–385, hier Kap. V: Religionssoziologie, 245–381: § 10: Die Erlösungswege und ihr Einfluss auf die Lebensführung: 321–348 (hier besonders 330–334: Weltflüchtige mystische Kontemplation); § 11: Religiöse Ethik und „Welt“, 348–367; § 12: Die Kulturreligionen und die Welt, 367–381. Weber stellt das „weltablehnende Frühchristentum“ (379–381) zusammen mit dem „alten Buddhismus“ etwa der „Weltzugewandtheit des Judentums“ und der „Weltangepasstheit des Islam“ gegenüber. 23 R. Bultmann, Der Mensch und seine Welt nach dem Urteil der Bibel (1957), in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. 3, Tübingen 41993, 151–165, hier: 165 („die eschatologische Existenz ist nicht die Flucht aus der Welt, sondern die Haltung des ὡς μή und in solcher Haltung Dienst an der Welt in der Liebe“, identifiziert mit der „Verantwortung für die Welt in der Liebe“). Demgegenüber schreibt Bultmann etwa der Gnosis oder auch der Stoa eine Flucht aus der Wirklichkeit bzw. Geschichtlichkeit zu, kontrastiert mit der Verantwortung: Geschichte und Eschatologie, Tübingen 31979, 6; 105 f; 171–184. Bultmann zufolge muss scharf unterschieden werden zwischen der ‚Weltflucht‘ einerseits und der ‚Entweltlichung‘ andrerseits; letztere kennzeichnet den christlichen Glauben und führt gerade in die existential erfasste Entscheidungssituation hinein, öffnet also zur als Schöpfung wahrgenommenen Welt und zur damit gegebenen Verantwortung. 1 Kor 7,29–31 gilt dafür als Paradetext; vgl. ders., Das Verständnis von Welt und Mensch im Neuen Testament und im Griechentum (1940), in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. 2, Tübingen 51968, 59–78, hier: 75 f; ders., Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984, 352 f.
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Kulturgeschichte. Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass sich das römische Imperium, eine hochgradig globalisierte Gesellschaft, während des ersten und zweiten Jahrhunderts in einem einigermassen friedlichen und ökonomisch prosperierenden Status befindet, also gerade noch nicht zum age of anxiety (E. R. Dodds) mutiert ist.24 Mit umso mehr Interesse nimmt man die weltdistanzierenden Tendenzen zur Kenntnis, die sich zwar bereits im klassischen Griechenland beobachten lassen, aber um die Zeitenwende deutlich zunehmen. Im Fall des Urchristentums spielen Entwicklungen im Bereich des Frühjudentums, also einer speziellen Subkultur unter dem Dach der hellenistisch-römischen Globalkultur, eine besondere Rolle. Wir werden im Folgenden immer wieder auf eine Koexistenz verschiedener Perspektiven und Normierungen stossen, die das breite Spektrum zwischen Weltzuwendung und Weltdistanz ausfüllen, und wir werden ihr Verhältnis genauer zu bestimmen haben. Auch an diesem Punkt fügt sich das Frühchristentum in den weiteren Horizont des antiken Mittelmeerraums ein. Der zeitgenössische Platonismus lässt sich etwa darauf hin untersuchen, wie er das Verhältnis von zwei durch normative Texte vorgegebenen Perspektiven integriert: die weltaffirmierende Sicht des Timaios und die weltdistanzierte Sicht des Phaidon. 1. Eine spannungsvolle Koexistenz von Weltzuwendung und Weltdistanz zeichnet schon die von Jesus initiierte Bewegung aus. Dokumentiert wird sie vor allem von der – hypothetisch rekonstruierbaren – Logienquelle, die den Grossevangelien von Matthäus und Lukas zugrundeliegt. Sehr holzschnittartig gezeichnet: Jesus und seine Anhänger demonstrieren auf der einen Seite eine geradezu entfesselte Hingabe an die Welt, konkret: an ihre ländlich geprägte galiläische Umwelt. Jesus hat sich marginalisierten Kreisen zugewandt – Besessenen, Kranken, Armen, Zöllnern, „Sündern“, Samaritanern, Prostituierten, Frauen und Kindern –, offenbar ohne vorgängige Busse und Umkehr zu fordern (vgl. Mk 2,15–17 parr.; Lk 19,1–10).25 Gestalt gewinnt diese vorbehaltlose Zuwendung, in welcher der Nazarener Gott selbst am Werk weiss, in der Mahlgemeinschaft, die ihrerseits das endzeitliche messianische Mahl antizipiert.26 Das Gebot der Feindesliebe wird schöpfungstheologisch untermauert und zeugt von einem erstaunlichen Vertrauen auf den gütigen Schöpfergott (Lk 6,27 f.35 par. Mt 5,43 ff.; Mk 2,27; 7,37). Jesus und seine Anhänger gelten als Fresser und Säufer (Lk 7,34 par. Mt 11,19). Dazu kommt die Korrelation mit der Gottesbeziehung, wie sie 24 E. R. Dodds, Pagan and Christian in an Age of Anxiety. Some Aspects of Religious Experience from Marcus Aurelius to Constantine, Cambridge 1965; dt. Übs.: Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst. Aspekte religiöser Erfahrung von Mark Aurel bis Konstantin, Frankfurt 1985. 25 Zur Offenheit Jesu auch für Unreine und zum Ethos der Nachfolge vgl. J. Schröter, Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt (Biblische Gestalten 15), Leipzig 62017, 196–205; 245–254. 26 Vgl. Mk 2,19a parr.; Lk 7,34 par.; Mk 6,30 ff parr.; Lk 14,15 par.; 15,22 ff, zur Vorwegnahme des endzeitlichen Mahls (Jes 25,6–8) vgl. auch Lk 13,28 f par.
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die Figuren der Adoption durch Gott und der Nachahmung Gottes (Lk 6,32.36 par. Mt 5,46–48) zum Ausdruck bringen. Mit alledem kontrastiert auf der anderen Seite eine scharfe Distanznahme gegenüber der vorfindlichen Umwelt: Der Menschensohn und die Seinen sind in ein schutzloses Wanderleben gerufen (Mk 10,28 parr.); die Jünger verweigern sich einer der elementarsten sozialen Normen, der Begräbnispflicht (Lk 9,57–62 par. Mt 8,19–22). Schliesslich treibt Jesus einen Keil in die Zelle damaliger Gesellschaften, in die Grossfamilie:27 Der Ruf in die Nachfolge geht einher mit der Entzweiung innerhalb der Familie (Lk 14,26 par. Mt 10,37; Lk 12,51–53 par. Mt 10,34–36; vgl. Mk 3,21; 6,4) und konstituiert eine neue ‚Familie‘ (Mk 3,31–35 parr.; 10,28–30 parr.). Die Jesusgruppe bricht mit der vorfindlichen Welt und lebt im Angesicht des hereinbrechenden Reiches Gottes, wo es kein Heiraten und kein Besitzen mehr geben soll (Mk 12,25 parr.; Mt 19,10–12). Es hat den Anschein, dass das Gottesreich, das sich in der Erwartung Jesu und seiner Anhänger jetzt in der Gegenwart zu manifestieren beginnt, beides simultan steigert: Weltzuwendung und Weltdistanz. Christen späterer Jahrhunderte konnten sich auf das eine oder das andere berufen. Vielleicht darf man die Verhältnisbestimmung noch zuspitzen: Die Wahrnehmung der Schöpfungswirklichkeit verdankt sich im Jesuskreis geradezu der tiefgreifenden Distanzierung von den natürlichen, sozialen und kulturellen Vorfindlichkeiten menschlicher Existenz. 2. Im Bereich des sich herausbildenden urbanen Christentums wird die Bandbreite möglicher Optionen ausgedehnt. Wichtig ist hier v. a. die Korrespondenz des Apostels Paulus, der selber eine komplexe Wechselwirkung weltzugewandter und weltdistanzierter Perspektiven dokumentiert. Dabei reagiert er auch auf Verhältnisse in seinen Gemeinden. In der Gemeinde Korinths scheint es beispielsweise auf der einen Seite eine stark asketisch orientierte Gruppe gegeben zu haben; hier gibt Paulus ein Stück weit Gegensteuer (vgl. 1 Kor 7,1–40). Auf der anderen Seite haben korinthische Christen ihren vorchristlichen Lifestyle weitergeführt, wogegen der Apostel zur Distanznahme aufruft (vgl. 1 Kor 6,1–20; 5,1–13). Dabei setzt Paulus nicht einfach auf mehr „Weltoffenheit“ oder mehr „Weltdistanz“, sondern transponiert sein Ja und sein Nein hinsichtlich der Welt auf eine andere, nämlich christologische Ebene. Die Fluchtlinien werden insbesondere in 1 Kor 3,21–23 erkennbar: Die Orientierung in der Welt, konkret das Verhalten in der städtischen Umwelt, basiert auf der Freiheit der Glaubenden: „Alles ist euer.“ Diese im Ansatz autonom entworfene Freiheit, deren stoisches Profil unverkennbar ist,28 wird bei Paulus von Christus, 27 In diesem Zusammenhang hat sich M. Weber in seiner „Theorie der Stufen religiöser Weltablehnung“ (s. Anm. 22) prägnant geäussert: „Wenn die Erlösungsprophetie Gemeinschaften auf rein religiöser Grundlage schuf, so war die erste Macht, mit welcher sie in Konflikt geriet, und welche durch sie Entwertung zu befürchten hatte, die naturgegebene Sippengemeinschaft“ (542), mit Zitat von Mt 10,34. 28 Vgl. D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010, 172.
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dem Gekreuzigten und Auferstandenen, normiert: „Ihr aber gehört Christus.“ Dieser „weltoffenen“ Position steht eine eschatologische Perspektive entgegen: Angesichts der nahen Endzeit gilt im Hinblick auf die irdischen Verhältnisse des Menschen die Regel des „als ob nicht“ (1 Kor 7,29–31). Der Typ eines von Distanz bestimmten Verhaltens im sozialen Nahraum begegnet wiederum auch bei den kaiserzeitlichen Stoikern;29 spezifisch christlich ist die endzeitliche Konfiguration, die man, will man es etwas steil theologisch pointieren, letztlich auch wieder auf eine Orientierung an Jesus Christus, nun als dem Wiederkehrenden, hinausläuft. Bestätigt wird diese Rückbindung an Christus durch V. 32–35, wo nun die Relation zum Kyrios zum entscheidenden Kriterium ethischen Handelns wird. Zu verweisen ist schliesslich auf eine programmatische Stellungnahme im Römerbrief (12,2): „Fügt euch nicht ins Schema dieser Welt (μὴ συσχηματίζεσθε τῷ αἰῶνι τούτῳ), sondern verwandelt euch durch die Erneuerung eures Sinnes, dass ihr zu prüfen vermögt, was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“
Da die vorfindliche Welt bald vergeht und weil sie seit Adams Fall von der Sünde pervertiert ist (vgl. Röm 5,12; 8,20), gilt es, sich von ihr zu distanzieren. Zu denken ist etwa an die in der noch gegenwärtigen Weltzeit geltenden sozialen Standards: Der Orientierung an Ethnos, Status und Gender steht die Ausrichtung auf die Christuswirklichkeit als neuer Schöpfung gegenüber (Gal 3,28).30 Es ist aber interessant, dass hier in Röm 12 die negative Sprachregelung aufgefangen und überboten wird durch eine affirmative Rhetorik, der wir auch im Diognettext begegnet sind: Verwandlung und Erneuerung; vor allem aber die Orientierung am „Guten und Wohlgefälligen und Vollkommenen“ – kulturelle Standards, die in der damaligen Gesellschaft weithin konsensfähig waren (vgl. Phil 4,8) und hier mit dem Willen Gottes identifiziert werden. 3. Eine dritte gleichsam klassische urchristliche Position vertritt die Johannes apokalypse am Ende des ersten Jahrhunderts: Ihr Verfasser fordert eine konsequente Distanznahme der Gemeinden von ihrer Umwelt, konkret: vom Leben der kleinasiatischen Küstenstädte (vgl. die Sendschreiben, Kap. 2/3). Er geht also auf Kollisionskurs mit der heidnischen wie mit der jüdischen Umwelt.31 Bruchzonen bilden besonders der pagane Opferkult, namentlich der Kaiserkult, und das Sexualverhalten (vgl. besonders 2,6.14 f.20 f; 3,17; 13,4.14–16). Johannes vertritt demgegenüber eine exklusive, asketische Ethik; er grenzt die Christen 29 Vgl. dazu die Dokumentation in: S. Vollenweider (Hg.), Epiktet. Was ist wahre Freiheit? (SAPERE 22), Tübingen 2013, besonders 148 f. 30 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Das Urchristentum als Religionsgemeinschaft der Entgrenzung, in: F. Schweitzer (Hg.), Kommunikation über Grenzen, VWGTh 33, Gütersloh 2009, 55–71, Abdruck in diesem Band: 121–138. 31 Vgl. dazu etwa J. Frey, Was erwartet die Johannesapokalypse? Zur Eschatologie des letzten Buchs der Bibel, in: ders. / J. A. Kelhoffer / F. Tóth (Hg.), Die Johannesapokalypse. Kontexte – Konzepte – Rezeption, WUNT 287, Tübingen 2012, 473–551, hier: 521–524.
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rigoros gegen aussen ab, verwirft Reichtum und Weltzugewandtheit (vgl. 3,5.18; 14,4 f; 16,15; 21,8; 22,14) und schärft die Bereitschaft zum Martyrium ein (vgl. 2,10; 6,9; 12,11.17; 17,6; 20,4). In seiner Perspektive stehen hinter den Friktionen zwischen den Christusgläubigen und ihren Nachbarn mythische Mächte: Der Kampf zwischen dem Christus und seinem Gegenspieler, dem römischen Reich, was in letzter Instanz auf den Kampf zwischen Gott und dem Satan hinausläuft. Der Pol „Welt“ wird dabei umfassend negativ besetzt: Im Unterschied zu zahlreichen anderen Stellungsbezügen christlicher wie jüdischer Provenienz hat sich in der Apokalyptik die Welt als ganze umfassend verfinstert. Der Seher Johannes ruft seine Mitchristen auf, durchzuhalten und die neue Welt Gottes zu erwarten. 4. Die Gnosis, die sich erst im 2. Jahrhundert erkennbar ausbildet, zieht mehrere der bisher skizzierten Linien aus. Die negative Qualifizierung der Welt als ganzer wird nochmals verschärft: Diese ist, anders als in der griechischen Philosophie, nicht mehr transparent für die geistig-göttliche Sphäre – die Perspektive des platonischen Phaidon wird also in den Bereich der Kosmologie extrapoliert. Gegenüber dem Hauptstrom jüdischer wie christlicher Theologie wird der Schöpfungsglaube suspendiert; die Weltentstehung geht auf das Wirken inferiorer Instanzen zurück. Massiver lässt sich die Weltdistanzierung nicht mehr zuspitzen; Askese ist die konsequente Verhaltensnormierung. Wir notieren aber am Rand, dass die Beobachterperspektive einen nochmals anderen Befund zutage fördert: Die bekannte These von Adolf von Harnack, dass es sich bei der Gnosis um eine radikale Form der Hellenisierung des Christentums handelt, hat jedenfalls an dem Punkt einen Wahrheitskern, wo sich die Gnostiker gesellschaftlich als Exponenten einer urbanen und kosmopolitischen Religiosität mit intellektuellem Profil zu erkennen geben.32 Von Seiten der Grosskirche wurde diese kulturelle Offenheit als Preisgabe christlicher Identität perhorresziert, etwa als Vermeidung des Martyriums. Soweit unsere Skizze urchristlicher Positionen zum Verhältnis von „Weltflucht“ und „Weltverantwortung“. Ich werde im Folgenden zwei kurze Fallstudien präsentieren, die die Koexistenz von Weltzuwendung und Weltdistanz exemplarisch dokumentieren. Zum einen handelt es sich um das Johannesevangelium, zum anderen um zwei Briefe, die auf die Paulusschule zurückgehen.
4. Lichtwerdung und Verfinsterung: das Johannesevangelium Das gegen Ende des ersten Jahrhunderts verfasste Johannesevangelium gilt als ein klassischer Text für unsere Fragestellung. Es zeichnet sich nicht nur durch 32 Vgl. zur alexandrinischen Gebildetenreligion A. Fürst, Christentum als Intellektuellen- Religion. Die Anfänge des Christentums in Alexandria (SBS 213), Stuttgart 2007, 19–33; 94–102; 106–110.
4. Lichtwerdung und Verfinsterung: das Johannesevangelium
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einen scharfen Dualismus zweier Sphären aus – Licht und Finsternis, Leben und Tod, Wahrheit und Lüge, oben und unten, Glaube und Unglaube, Gott und Teufel –, sondern lässt uns auch eine Trägerschaft erkennen, der man gern das Sektenetikett anzuhängen pflegt.33 Da es sich um einen erzählenden Text handelt, empfiehlt es sich, seiner Jesusgeschichte nachzufolgen und die entscheidenden Weichenstellungen wahrzunehmen. 1. Das Eingangsportal in die Erzählung vom Leben, Sterben und Auferstehen Jesu ist denkbar weit: Der Prolog (1,1–18), offenbar entworfen als ein Proömium, als eine Leseanweisung für alles Folgende, entwirft den Horizont einer Schöpfung, die sich dem Wirken Gottes und seines Logos verdankt und vom göttlichen Leben durchdrungen ist. V. 5 zufolge konstituiert sich mit dem Aufstrahlen des Lichts aber auch die Finsternis. Die dualen Sphären bestehen nicht einfach an sich, sondern sind erst das Resultat des göttlichen Wirkens. Im Fortgang des Evangeliums wird dies in Erzählung umgesetzt: Das Offenbarungswort Jesu erschafft auf der einen Seite Glaubende und provoziert auf der anderen Seite zunehmend Ablehnung, die erst jetzt als Sünde gerichtsrelevant wird (vgl. 3,13–21; 3,36; 5,24; 9,41; 12,46). Dem Prolog, V. 5, zufolge kann die Finsternis das Licht nicht erfassen, weil sie ‚blind‘ ist. Wahrscheinlich muss man aber sogar aktivisch übersetzen:34 Die Finsternis kann das Licht nicht „überwältigen“ (vgl. 12,35). Es handelt sich dann wieder um eine grosse Linie, die das gesamte Evangelium strukturiert. Die Lichtmetaphorik wird im Lauf der Erzählung sukzessiv entfaltet und auf das Wirken von Jesus hin zugespitzt (8,12; 9,5).35 Im Prolog selber steht dem Strahlen des Lichts der Widerstand des Kosmos entgegen. Bereits in diesem Text changiert ὁ κόσμος zwischen Universum und Menschenwelt. Die weite Perspektive, die den Prolog kennzeichnet, setzt sich auch in der folgenden Jesuserzählung fort. Die Sendungsaussage in 3,16 f bildet hierfür geradezu den Locus classicus. Immer im Blick ist freilich auch die Ablehnung der in Jesus Christus geschehenden Gottesoffenbarung. Sukzessiv baut sich eine Gegenperspektive auf, die die Welt nicht mehr als umfassenden Horizont und als Empfängerin des göttlichen Lebens, sondern umgekehrt als Gegenmacht entwirft.
33 Dagegen m.R. etwa U. Schnelle, Antidoketische Christologie im Johannesevangelium (FRLANT 144), Göttingen 1987, 258 („konventikelhafte Weltflucht lag ihm [sc. dem joh. Christentum – Anm. d. Vf.] fern“); R. Metzner, Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium (WUNT 122), Tübingen 2000, 311 f („Für die johanneische Literatur wären auf alle Fälle ihre weltoffenen Tendenzen zu bedenken, die ein Verständnis der johanneischen Gemeinde als ein elitäres Konventikel gerade ausschliessen“). 34 Vgl. zur Diskussion M. Theobald, Das Evangelium nach Johannes (RNT), Bd. 1, Regensburg 2009, 115–117. 35 Vgl. J. Frey, Zu Hintergrund und Funktion des johanneischen Dualismus, in: ders., Die Herrlichkeit des Gekreuzigten. Studien zu den Johanneischen Schriften, Bd. 1 (WUNT 307), Tübingen 2013, 409–482, hier: 438–450.
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2. Diese Gegenbewegung kulminiert in den Abschiedsreden Jesu (Kap. 13– 17). Szenisch werden diese dominiert von Nacht und Finsternis, von Verrat und Verleugnung, von Angst, Bedrängnis und Trauer. Ihr grosses Thema ist die Abwesenheit Jesu, welche die Situation der Adressaten des Evangeliums überschattet. Zugleich versichern Jesu Reden die Glaubenden seiner mit Ostern erfolgenden Wiederkunft im heiligen Geist.36 Die – nachösterliche – Gegenwart steht also im Zeichen des zugleich weggegangenen und wiedergekehrten Christus. Das Spannungsfeld von Weltzuwendung und Weltdistanz lässt sich besonders in 15,18–25 identifizieren (V. 18 f): „Wenn euch die Welt hasst, so bedenkt, dass sie mich vor euch gehasst hat. Wärt ihr von der Welt (εἰ ἐκ τοῦ κόσμου ἦτε), würde die Welt das ihr Eigene lieben. Da ihr aber nicht von der Welt seid (ἐκ τοῦ κόσμου οὐκ ἐστέ), sondern ich euch aus der Welt heraus erwählt habe, darum hasst euch die Welt.“
Die Jünger werden wie der Christus selber als solche qualifiziert, die zwar in der Welt, aber nicht von der Welt sind, eine uns bereits von der Schrift an Diognet her vertraute Identitätsbestimmung. Ihnen schlägt der Hass der Welt entgegen.37 Der Hass ist die Gegenkraft zur Liebe, die unter den Glaubenden selber massgeblich ist (15,9–17). V. 19 variiert den Kontrast bedeutsam: Die Jünger, denen der Hass entgegenschlägt, sind nicht einfach die, welche nicht aus der Welt sind, sondern die, welche der Christus erwählt hat. Das dynamische Erwählungsmotiv überlagert die im Ansatz statische Dualität von „aus der Welt / nicht aus der Welt sein“. Am Ende seiner Reden spricht Jesus seinen Jüngern ein tragendes Verheissungswort zu (16,33b): „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“
Die Situation der Christen wird mit einem Stichwort verdichtet: θλῖψις, d. h. Not, Drangsal. Der in die Passion gehende Jesus verheisst den Seinen aber seinen Sieg über die Gegenmacht, den Teufel (12,31; 14,30; 16,11), und damit den endzeitlichen Frieden (14,27; 16,33a). Beim Abschiedsgebet Jesu (Kap. 17) handelt es sich um das grosse Gegenstück zum Prolog, das in die Zukunft ausblickt und den Jüngern die Schau seiner österlichen Herrlichkeit verheisst.38 Innerhalb des Abschnitts V. 9–19 sind V. 14–16 für unsere Frageperspektive von enormer Bedeutung: 36 So
die fünf Parakletsprüche:14,16 f. 26; 15,26 f; 16,7–11. 13–15. Vgl. dazu E. E. Popkes, Die Theologie der Liebe Gottes in den johanneischen Schriften. Zur Semantik der Liebe und zum Motivkreis des Dualismus (WUNT II/197), Tübingen 2005, 359 f („Die dabei aufgebaute Antithetik möchte nicht zu einer definitiven Abkehr von der Welt aufrufen, sondern sie will die bei den Adressaten vorhandenen negativen Welterfahrungen versprachlichen, reflektieren und überwinden …“). 38 Zum Verständnis der „Herrlichkeit“ in Joh 17 vgl. J. Frey, „… dass sie meine Herrlichkeit schauen“ (Joh 17,24). Zu Hintergrund, Sinn und Funktion der johanneischen Rede von der δόξα Jesu, in: ders., Herrlichkeit (s. Anm. 35) 639–662, hier: 653–655. 37
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„Ich habe ihnen dein Wort gegeben, und die Welt hat sie gehasst, weil sie nicht von der Welt sind, wie auch ich nicht von der Welt bin. Ich bitte nicht, dass du sie aus der Welt hinwegnimmst, sondern dass du sie vor dem Bösen bewahrst. Sie sind nicht von der Welt, wie ich nicht von der Welt bin (ἐκ τοῦ κόσμου οὐκ εἰσὶν καθὼς ἐγὼ οὐκ εἰμὶ ἐκ τοῦ κόσμου).
V. 9 beschränkt die Fürbitte Jesu auf die Jünger; der Kosmos im Sinn der gottlosen Welt, die Jesus und die Seinen ablehnt, geht leer aus. Die Weite, die der Prolog und die Sendungsaussage von 3,16 f dokumentieren, wird spürbar eingeengt.39 Dazu kommt, dass sich die Zukunftshoffnung auf das jenseitige Sein der Glaubenden in der Einheit von Vater und Sohn zu beschränken scheint (V. 24). Es gibt aber ein Gegengewicht: V. 15 stellt heraus, dass die Jünger nicht aus der Welt auswandern – hier wird wohl die apokalyptische Erwartung umgebrochen, dass die Christen in den endzeitlichen Wirren entrückt werden.40 Jesus bittet vielmehr darum, dass sie von der Gegenmacht nicht verschlungen werden.41 V. 18 geht noch einen Schritt weiter: „wie du mich in die Welt gesandt hast, so sende auch ich sie in die Welt.“ Die Welt bleibt also trotz ihrer Selbstverschliessung Adressatin der Sendung des Gottessohns selber wie der Mission seiner Jünger (vgl. V. 21: „damit die Welt glaubt“). 3. Das Vierte Evangelium hinterlässt einen ambivalenten Eindruck. Man darf davon auszugehen, dass insbesondere die Abschiedsreden ein Fenster auf die Situation der Adressaten und Trägerkreise öffnen, die mit Drangsal und Angst charakterisiert wird. Historisch gesehen wissen wir wenig über die johanneischen Gemeinden; zu denken ist an schmerzhafte Erfahrungen, die mit der Ablösung von der jüdischen Synagogengemeinschaft zu tun haben, aber darüber hinaus auch an Konflikte mit der paganen Umwelt. Die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe dokumentieren Friktionen dieser Art. So gesehen schreibt das Johannesevangelium gegen Erfahrungen der Bedrängnis durch die als feindlich erlebte Welt an, wenn es seine weiten Perspektiven entwirft. Die Stossrichtung seiner Jesuserzählung besteht dann darin, die Weltdistanz der johanneischen Glaubenden in aller Schärfe herauszustellen und doch festzuhalten an einem Letztbezug auf die Welt als Gottes Schöpfung. Die Gnosis wird an diesem Punkt eine ganz andere Richtung einschlagen.
39 Zu einer innerjohanneischen „starken antimissionarischen Strömung“ und ihrer „Tendenz zur Abkehr von der Welt“ vgl. Ch. Dietzfelbinger, Der Abschied des Kommenden. Eine Auslegung der johanneischen Abschiedsreden (WUNT 95), Tübingen 1997, 318. 40 Dazu C. K. Barrett, Das Evangelium nach Johannes (KEK.S), dt. Übs., Göttingen 1990, 493. Zur johanneischen Umformung vgl. J. Zumstein, L’évangile selon saint Jean (13–21) (CNT 4b), Genf 2007, 177 („Toute idée de fuite du monde est battue en brèche“). 41 Vgl. 1 Joh 5,18, wo „die Welt als ganze im Argen liegt“. Zur Ablehnung der Weltflucht zugunsten von „speziellen Schutzmassnahmen“ für die Jünger vgl. U. Busse, Das Johannesevangelium. Bildlichkeit, Diskurs und Ritual (BEThL 162), Louvain 2002, 231.
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5. Der Raum des Kosmokrators: Kolosser‑ und Epheserbrief Mit den beiden Briefen, die sich der Produktivität der kleinasiatischen Paulusschule oder, wohl besser pluralisch, der Paulusschulen verdanken, begegnen wir zum Schluss nochmals der spannungsvollen Koexistenz von Weltoffenheit und Weltdistanz. Beide Briefe schreiben Figuren und Impulse der paulinischen Theologie kongenial fort. Im Aufbau des Kolosserbriefs hat das Christuslob in 1,15–20 eine zentrale Stellung. Es stellt die universale Machtstellung des Schöpfungsmittlers und Kosmokrators Jesus Christus heraus. Das All ist „durch ihn und auf ihn hin geschaffen“; „alles hat in ihm seinen Bestand“ (V. 16 f). Christi Inkarnation, worin „die ganze Fülle der Gottheit“ leibhaftig in ihm Wohnung nimmt (V. 19; vgl. 2,9 f), kommt der in sich zerstrittenen Welt zugute:42 Weil er die Welt durch seinen Kreuzestod versöhnt und befriedet hat, ist sie zu einem Raum geworden, in dem auch die Menschen zu ihrem Wohl eingebettet sind und den sie nicht mehr als bedrohlich erfahren.43 Der Christus hat die Welt damit – wieder? – zu dem gemacht, was sie von Urbeginn an ist: gute Schöpfung Gottes. Der in hymnischer Diktion verfasste Text, der die Transparenz des Universums für den Christus herausstellt, hat in der argumentativen Strategie des Briefverfassers eine spezifische Funktion: Die alles durchdringende Wirklichkeit und Herrschaft Christi wird einer bestimmten Form des Christentums im kleinasiatischen Raum, die sich im Spannungsfeld von jüdischer Religion und lydisch-phrygischen Kulten herausgebildet hat, entgegengesetzt. Offenbar hat diese nur in groben Umrissen erkennbare Religionsform bestimmte rituell-asketische Praktiken kultiviert, die mit der Verehrung von Engeln einhergehen (vgl. 2,8.16.18.23). In unserem Brief werden geradezu einige Taburegeln wiedergegeben: „,Das darfst du nicht anfassen, das nicht kosten, das nicht zu dir nehmen!‘“, wogegen der Verfasser einwendet, dass es sich doch um „lauter Dinge, die dazu da sind, gebraucht und aufgebraucht zu werden“, handelt (2,21 f). Das alles scheint auf die Formel „aufgeklärte Weltoffenheit versus asketische Weltdistanz“ hinauszulaufen.
42 Zum kosmologischen Hintergrund, wonach die irdische, mindestens sublunare Sphäre von Streit und Gegensätzen erfüllt ist, vgl. meinen Aufsatz: „Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20). Überlegungen zum Stellenwert der kosmischen Christologie für das Gespräch zwischen Schöpfungstheologie und moderner Kosmologie, in: J. Hübner / I.-O. Stamatescu / D. Weber (Hg.), Theologie und Kosmologie (RuA 11), Tübingen 2004, 61–80, Abdruck in diesem Band: 53–71. 43 Zum Wechsel vom Unbehaust-Sein zur „Erschliessung eines Geborgenseins mitten in der Welt“ vgl. N. Walter, Geschichte und Mythos in der urchristlichen Präexistenzchristologie, in: ders., Praeparatio Evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments (WUNT 98), Tübingen 1997, 281–292, hier: 289.
5. Der Raum des Kosmokrators: Kolosser‑ und Epheserbrief
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Der Sachverhalt ist aber komplexer. Der Kolosserbrief fordert selber eine radikale Distanznahme von der vorfindlichen Welt: Die Christusglaubenden sind nicht mehr „im Kosmos“ (2,20).44 Vielmehr gilt (3,1 f): „Seid ihr nun mit Christus auferweckt worden, so sucht nach dem, was oben ist, dort, wo Christus ist, zur Rechten Gottes sitzend. Trachtet nach dem, was oben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist!“
Die räumliche Orientierung überlagert die temporale Perspektive, die im ältesten Christentum noch dominierte. Das „Suchen des Oberen“ wird in der Folge entfaltet als „Töten der Glieder auf Erden“ (3,5 f). Die radikale Metaphorik lässt sich schwer anders als asketisch deuten, auch wenn nur die Enthaltung von handfesten Lastern im Blickfeld ist. Wir haben hier den interessanten Fall vor uns, dass sich mit dem „synkretistischen“ Christentum von Kolossä und demjenigen des Verfassers des Kol zwei Religionsformen, die beide zugleich kosmologisch und asketisch orientiert sind, entgegen stehen – in der Antike ein nicht seltenes Phänomen. In unserem Fall liesse sich an die Differenz zwischen einer rituellen und einer ethischen Konfiguration denken, aber wir kennen die kolossische „Philosophie“ (2,8) zu wenig, um hier zu sicheren Schlüssen zu kommen. Spannend bleibt die Frage nach der Koexistenz von Weltdistanz und Weltzuwendung im Kol selber. Die erstere lässt ein markantes Ethos erkennen, das das christliche Verhalten und überhaupt die christliche Identität vom präbaptismalen way of life scheidet. Umgekehrt zeigt sich die Weltzuwendung neben der universalistischen Makroperspektive insbesondere in der Haltung zu den vorgegebenen sozialen Lebensordnungen, wie sie die Haustafel in 3,18–4,1 dokumentiert, also im Nahbereich. Wenn wir versuchen, die beiden Weltperspektiven in eine griffige systematische Formel zu bannen, könne man sagen: Erst die scharfe Distanzierung von den rituellen, ethnischen und sozialen Standards dieser Welt eröffnet den weiten Raum der Christuswirklichkeit, welche die Welt durchdringt (2,19; vgl. 3,11b) und erlaubt einen pragmatischen Umgang mit den faktischen Lebensverhältnissen, wie sie etwa in der sozialen Keimzelle der mediterranen Gesellschaft, im Oikos, vorgegeben sind. Auf den Epheserbrief, der seinerseits eine Relektüre des Kolosserbriefs darstellt, gehen wir nur summarisch ein. Wiederum lässt sich eine auffällige Koexistenz von Weltoffenheit und Weltdistanz konstatieren. Auf der einen Seite wird Christus als Friedensstifter und Weltherrscher gefeiert, der sich die widergöttlichen kosmischen Engelmächte definitiv unterworfen und die kosmosweite 44 Zur Verschiebung gegenüber Paulus vgl. M. Dübbers, Christologie und Existenz im Kolosserbrief. Exegetische und semantische Untersuchungen zur Intention des Kolosserbriefes (WUNT II/191), Tübingen 2005, 207 Anm. 48 (es kann „das Stichwort κόσμος geradezu zum Synonym für die sündhafte Welt werden“); N. Frank, Der Kolosserbrief im Kontext des paulinischen Erbes. Eine intertextuelle Studie zur Auslegung und Fortschreibung der Paulustradition (WUNT II/271), Tübingen 2009, 244.
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Weltdistanz und Weltzuwendung im Urchristentum
Kirche zur Einheit gefügt hat (1,20–23; 2,14–18). Auf der anderen Seite ruft der Verfasser zum spirituellen Kampf gegen die Kosmokratoren der Finsternis auf und zeichnet das Bild einer entfesselten kosmischen Schlacht (6,10–13). Das Verhältnis beider Aussagereihen ist nicht leicht zu bestimmen.45 Wir begnügen uns mit der Mutmassung, dass ähnlich wie im Fall von Kol die hymnische Emphase, die der kosmosweiten Kirche gilt, geradezu ein Gegengewicht im sozialen Nahraum fordert: Die Bewährung des christlichen Ethos im Gegenüber zum way of life der kleinasiatischen Städte konstituiert geradezu die christliche Identität. Diese ortet der Verfasser im Bauwerk Gottes, an dem die Christusgläubigen als Bürger Anteil haben (2,19–22): „Ihr seid also nicht mehr Fremde ohne Bürgerrecht, ihr seid vielmehr Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes, aufgebaut auf dem Fundament der Apostel und Propheten – der Schlussstein ist Christus Jesus selbst. Durch ihn wird der ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn; durch ihn werdet auch ihr mit eingebaut in die Wohnung Gottes im Geist.“
Es ist die Kirche, in der die aus dem Heidentum stammenden Christen (2,11a.12b) mit den „Heiligen“, d. h. den Judenchristen,46 zu einem „neuen Menschen“ zusammengeschlossen werden (2,15 f; vgl. 4,24). Im Raum der Kirche selber, ausgespannt in kosmische Dimensionen, sind die Glaubenden aufgerufen, ihre Weltverantwortung wahrzunehmen (4,17–5,20), konkret wiederum im vorfindlichen Oikos, wie die Haustafel erweist (5,21–6,9). Das ‚Haus‘ im Nahbereich wird damit in die Architektur des Gottesbauwerks integriert.
6. Schluss Ich formuliere vier schlichte Einsichten: 1. Das Urchristentum zeigt ein spannungsvolles Nebeneinander von weltzugewandten und weltdistanzierten Zügen. Es unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von zahlreichen anderen religiösen bzw. philosophischen Strömungen in der antiken Welt. 2. Die „Weltzuwendung“ greift auf vielen Ebenen. Sie reicht von der theologischen Affirmation des alttestamentlichen Schöpfungsglaubens über das 45 R. Schwindt, Das Weltbild des Epheserbriefes. Eine religionsgeschichtlich-exegetische Studie (WUNT 148), Tübingen 2002, gibt zu bedenken, dass Eph trotz seinem Nein zu Weltflucht und Weltverachtung (vgl. 360) aufgrund seiner „Ouranisierung des Christusgeschehens unter Einbindung der Ekklesia und der mythischen kosmischen Potenzen“ (521) in erheblichem Ausmass dem „weltzerreissenden gnostischen Dualismus“ in die Hände gearbeitet hat (520–523). Zur Figur der Entgrenzung in Eph 2,14–18 vgl. Vollenweider, Urchristentum (s. Anm. 30) 55–57. 46 Zur Deutung der „Heiligen“ auf die Judenchristen vgl. G. Sellin, Der Brief an die Epheser (KEK 98), Göttingen 2008, 232 f; zur Haus‑ und Tempelmetaphorik ebd. 234–236.
6. Schluss
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Engagement in der Mission bis zur karitativen Praxis im sozialen Nahraum der Gemeinden. 3. Die „Weltdistanz“ formiert sich im Mythos, im Ritus und im Ethos der urchristlichen Religion. Sie bildet das mutmassliche Gegengewicht zur „Weltzuwendung“. 4. Es hat den Anschein, dass die von Jesus bzw. dem Kyrios Christos bei seinen Anhängern provozierte Distanzierung von der Welt, konkret vom Lebensstil der mediterranen Städte, erst die Basis schafft, um eine neue Haltung der Weltzuwendung zu ermöglichen. Erst die Weltdistanz öffnet zur Weltzuwendung, und damit verbunden, zur Wahrnehmung der Welt als Schöpfung. Weltdistanz und Weltzuwendung stehen insofern nicht nur in einem komplementären, sondern sogar in einem konsekutiven Verhältnis. Schliessen möchte ich mit einem Spruch aus den Erzählungen der osteuropäischen Chassidim. Er trägt in Martin Bubers Version den Titel „Die zwiefältige Welt“:47 „Rabbi Baruch sprach einmal: ‚Was für eine gute und lichte Welt ist das doch, wenn man sich nicht an sie verliert, und was für eine finstere Welt ist das doch, wenn man sich an sie verliert!‘“
M. Buber (Hg.), Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 121992, 192.
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Paulus und seine Briefe
Göttliche Einwohnung Die Schekina-Motivik in der paulinischen Theologie Abstract Divine Dwelling. Shekina in Pauline Theology Notions of divine dwelling among men (shekina) are to be found in Paul’s letters (e. g. 2 Cor 6, 1 Cor 3, Eph 2). Besides the inhabitation in the church there is also divine inhabitation in individuals. The essay is particularly interested in the correlation between the dwelling of Christ and the dwelling of the Spirit. Behind this are ideas of mantic inspiration and of “possession” in general, which can be found in numerous cultures. Finally, it is asserted that “dwelling”/inhabitation is only one of the many theological figures by which early Christians interpreted Christ’s presence in the world.
Gottes Wohnungsnahme unter den Menschen bildet ein Theologumenon, das zu einem bedeutsamen Baustein der Biblischen Theologie jüngerer Zeit avanciert ist.1 In besonderem Mass eignet es sich für einen Brückenschlag zwischen Judentum und Christentum. In den nachstehenden Zeilen versuche ich, seine Tragfähigkeit in einem speziellen Teilbereich, nämlich in den paulinischen Briefen, zu prüfen. Unser Rundgang besteht in drei exegetischen Teilen, die durch den Gedanken der Präsenz von Mächten mit einem göttlichen Status zusammen gehalten werden. Schon eine flüchtige Durchmusterung des Vokabulars lässt erkennen, dass Paulus auf das göttliche „Einwohnen“ in einem ekklesiologischen, einem pneumatologischen und einem christologischen Kontext zu sprechen kommt. Ich werde mich zunächst an einzelnen Textzusammenhängen orientieren,2 um im letzten, vierten Teil eine Gesamtperspektive zu gewinnen. 1 Vgl. B. Janowski, „Ich will in eurer Mitte wohnen“. Struktur und Genese der exilischen Schekina-Th eologie, in: ders., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, Neukirchen 22004, 119–147; ders., Gottes Weisheit in Jerusalem. Sirach 24 und die biblische Schekina-Theologie, in: H. Lichtenberger / U. Mittmann-R ichert (Hg.), Biblical Figures in Deuterocanonical and Cognate Literature, Yearbook 2008, Berlin 2009, 1–29; P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, Göttingen 32005, 158; 188; Bd. 2, 1999, 7; 10; 234–236; K. Lehmkühler, Inhabitatio. Die Einwohnung Gottes im Menschen (FSÖTh 104), Göttingen 2004, 16 f; 19–52; in systematischer Perspektive 287–336. Vgl. den Sammelband: B. Janowski / E. E. Popkes (Hg.), Das Geheimnis der Gegenwart Gottes. Zur Schechina-Vorstellung in Judentum und Christentum (WUNT 318), Tübingen 2014; hier besonders: B. Janowski, Die Einwohnung Gottes in Israel. Eine religions‑ und theologiegeschichtliche Skizze zur biblischen Schekina-Theologie, 3–40. 2 Die Übersetzungen orientieren sich meist an der Zürcher Bibel, Zürich 2007 (22012).
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Göttliche Einwohnung
1. Göttliches Wohnen in der Gemeinschaft der Glaubenden 1. Wir beginnen mit einer notorisch als schwierig wahrgenommenen Passage im 2. Korintherbrief (6,16): „Wie verträgt sich der Tempel Gottes mit den Götzen? Denn wir sind der Tempel des lebendigen Gottes (ἡμεῖς γὰρ ναὸς θεοῦ ἐσμεν ζῶντος), wie Gott gesagt hat (Lev 26,11 f): ‚Ich werde bei ihnen wohnen (ἐνοικήσω ἐν αὐτοῖς) und unter ihnen wandeln, und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein.‘“
Die christliche Gemeinde wird mit dem Tempel des lebendigen Gottes identifiziert; als Schriftbeleg wird ein Vers aus dem Heiligkeitsgesetz (Lev 26,11 f) angeführt, arrangiert in einer Katene von Schriftzitaten. Die gesamte Passage 6,14– 7,1 drängt zur Absonderung von den Ungläubigen; in ihrem Zentrum steht die Selbstidentifikation der christlichen Gemeinde mit dem Tempel. Der Abschnitt stellt die Auslegung deshalb vor grosse Probleme, weil er einerseits aus dem Kontext herauszufallen scheint, andrerseits unter dem Verdacht einer nicht-paulinischen Interpolation steht – das Problem der Integrität verbindet sich also mit demjenigen der Authentizität.3 Die kultische Metaphorik, die markant an einige Qumrantexte erinnert,4 begründet mit ihrer Heiligkeitskonzeption die strikte Abgrenzung der Christusgläubigen von ihrer satanischen Umwelt. Trotz der Sperrigkeit unserer Verse ist die Exegese gut beraten, diese als authentische paulinische Aussagen im vorgegebenen Kontext zu interpretieren und von der relativ aufwendigen Interpolationshypothese abzusehen.5 Der Apostel suggeriert seinen von ihm entfremdeten Adressaten, dass es nur eine einzige Alternative gibt: Gemeinschaft mit ihm oder aber mit den Ungläubigen (6,11–13; 7,2–4). 2. Wir nehmen diesen Text zum Anlass, beiläufig auf Überlieferungen der Paulustradition hinzuweisen, in denen das göttliche Einwohnen unter den Glaubenden weit offener wahrgenommen wird. Ein geradezu universalistisches und dynamisches Kontrastprogramm scheint der Epheserbrief zu entwerfen:6 Die 3 Vgl. Th. Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther (EKK 8), Bd. 1, Neukirchen / Ostfildern 2010, 369–371. Schmeller hält den Abschnitt für einen paulinischen Text, der aus einem ursprünglich anderen Kontext stammt (nämlich zwischen Kap 9 und 10) und den der Redaktor von 2 Kor an dieser Stelle eingefügt hat (378–382). Das vom Apostel geschriebene oder jedenfalls rezipierte Textstück trage das Profil der Jerusalemer Urgemeinde, „um die Gemeinschaft zwischen Paulus und der Urgemeinde zu demonstrieren“ (382). 4 Vgl. G. Klinzing, Die Umdeutung des Kultus in der Qumrangemeinde und im Neuen Testament (StUNT 7), Göttingen 1971, 172–182. Nicht eigens genannt wird unsere Passage in: St. Beyerle / J. Frey (Hg.), Qumran aktuell. Texte und Themen der Schriften vom Toten Meer (BThSt 120), Neukirchen 2011. 5 Mit M. Vahrenhorst, Kultische Sprache in den Paulusbriefen (WUNT 230), Tübingen 2008, 206 f; M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen 2011, 30 f. Die zugespitzte Gegenthese vertritt z. B. H. D. Betz, der den Abschnitt sogar für ein antipaulinisches Fragment (!) hält: Der Galaterbrief, dt. Übs. München 1988, 554–557. 6 Zum Programm von Eph vgl. meinen Aufsatz: Das Urchristentum als Religionsgemeinschaft der Entgrenzung, in: F. Schweitzer (Hg.), Kommunikation über Grenzen (VWGTh
1. Göttliches Wohnen in der Gemeinschaft der Glaubenden
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Kirche schliesst als Leib Christi die „Fülle dessen, der alles in allem erfüllt“, also Gottes, in sich (1,22 f): „… alles hat er (Gott) ihm (Christus) unter die Füsse gelegt, und ihn hat er als alles überragendes Haupt der Kirche gegeben; sie ist sein Leib, die Fülle dessen, der alles in allem erfüllt.“
In 2,19–22 wird die Kirche aus Juden und Heiden mit dem Tempel Gottes korreliert, in dem Gott im Geist Wohnung nimmt: „Ihr seid vielmehr Mitbürger der Heiligen und Hausgenossen Gottes, aufgebaut auf dem Fundament der Apostel und Propheten – der Schlussstein ist Christus Jesus selbst. Durch ihn wird der ganze Bau zusammengehalten und wächst zu einem heiligen Tempel im Herrn, durch ihn werdet auch ihr mit eingebaut in die Wohnung Gottes (κατοικητήριον τοῦ θεοῦ) im Geist.“
Der Gegensatz zu 2 Kor 6 muss freilich relativiert werden: Eph situiert die Glaubenden nicht weniger entschieden in einem kosmischen Kampf zwischen Licht und Finsternis (6,10–17; vgl. 5,8.11). 3. Wir kehren zurück zum Apostel. Die Identifikation der Gemeinde mit dem Gottestempel verbindet sich ähnlich wie in 2 Kor 6 auch in 1 Kor 3,16 f mit kultmetaphorischen Reinheitsvorstellungen:7 „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und dass Gottes Geist in euch wohnt (ναὸς θεοῦ ἐστε καὶ τὸ πνεῦμα τοῦ θεοῦ οἰκεῖ ἐν ὑμῖν)? Wer den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören; denn der Tempel Gottes ist heilig – und das seid ihr.“
Während Paulus im vorherigen Abschnitt (3,10–15) für die apostolischen Mitarbeiter und womöglich überhaupt für die Christenmenschen eine Trennung von Person und Werk im göttlichen Gericht herausstellt, sagt er hier Übeltätern bzw. Irrlehrern rundweg das Verderben an.8 Das göttliche Einwohnen sondert also auch hier einen heilvollen Raum des Lebens ab von einem todgeweihten Raum. Es kann als sicher gelten, dass Paulus an unserer Stelle urchristliche, vielleicht sogar urgemeindliche Tradition wiedergibt.9 Die Jerusalemer Gemeinde 33), Gütersloh 2009, 55–71, hier: 55–57, Abdruck in diesem Band: 121–138; sowie H. Lichtenberger, Das Motiv der Einwohnung in der Ekklesiologie des Epheserbriefs, in: Janowski / Popkes, Geheimnis (s. Anm. 1) 219–229. 7 Zur Kult-Metaphorik vgl. besonders den Exkurs bei Vahrenhorst, Sprache (s. Anm. 5) 148– 152; sodann Y. Liu, Temple Purity in 1–2 Corinthians (WUNT II/343), Tübingen 2013. 8 Zur Gerichtsthematik von V. 16 f im Kontext von 3,5–4,5 vgl. M. Konradt, Gericht und Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und Funktion von Gerichtsaussagen im Rahmen der paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1 Thess und 1 Kor (BZNW 117), Berlin 2003, 278–284; J. M. Barclay, Believers and the „Last Judgment“ in Paul. Rethinking Grace and Recompense, in: H.-J. Eckstein (Hg.), Eschatologie – Eschatology (WUNT 272), Tübingen 2011, 195–208, hier: 207 f. 9 Als urgemeindliche Überlieferung wird 1 Kor 3,16 f identifiziert bei J. Becker, Die Gemeinde als Tempel Gottes und die Tora, in: D. Sänger / M. Konradt (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament, FS Ch. Burchard (NTOA 57), Göttingen / Fribourg
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der „Heiligen“ hat sich selber als Gottestempel gedeutet – hierin wiederum mit Qumran vergleichbar –,10 ihre Leiter gelten als dessen „Säulen“ (Gal 2,9). Die Vorstellung von der Kirche als einem sündenfreien Raum teilt Paulus mit seiner Tradition.11 Die Formel „wisst ihr nicht“ indiziert christliches Konsenswissen. Nun bietet 1 Kor 3,16 gegenüber 2 Kor 6 eine bedeutungsvolle Variation: Der Gottestempel wird charakterisiert als ein Raum, in dem der heilige Geist waltet. Näher entfaltet wird dies nicht. Urchristlicher Spiritualität und Theologie zufolge macht sich im Gottesgeist Gott selber erfahrbar. Die Geistgabe selber geht ihrerseits mit einer bestimmten Normativität einher. Die kultische Metaphorik erlaubt eine ethische Zuspitzung;12 „Heiligkeit“ bemisst sich an dem, was im Raum desjenigen Gottes, der Jesus Christus von den Toten auferweckt hat, massgeblich ist (1 Kor 6,11.14). Das Stichwort Geist gibt uns den Anlass, die Brücke zu einem zweiten Komplex zu schlagen.
2. Geisteinwohnung 1. Was 1 Kor 3,16 in Bezug auf das Kollektiv der christlichen Gemeinde nur gerade konstatiert, wird wenig später in 6,19 individuell artikuliert: Illegitimer sexueller Kontakt kontaminiert den Leib, der spezifisch als Tempel des in den Glaubenden wirkenden Gottesgeistes verbildlicht wird. „Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch wirkt und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?“
In unserer Passage (6,12–20) häufen sich Verweise auf christliches Basiswissen – dreimal fragt Paulus „wisst ihr nicht?!“ (V. 15.16.19). Interessant nimmt sich insbesondere das Ineinanderblenden von christologischen und pneumatologischen Perspektiven aus (V. 15 f); es ist der Geist, der die Teilhabe an Christus und seinem Leib ermöglicht (V. 17). Im Hintergrund zeichnet sich wiederum eine von Haus aus kultmetaphorische Konfiguration ab; die Reinheit kraft der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft kontrastiert mit den sexuellen Interaktionen 2006, 9–25. Becker rückt die Urgemeinde recht weit ab vom Tempelkult („mit der Pneumatologie aus 1 Kor 3,16 f tritt man in eine andere Welt“, 23). 10 Vgl. Klinzing, Umdeutung (s. Anm. 4) 50–93; Vahrenhorst, Sprache (s. Anm. 5) 46–49; 149. 11 Vgl. H. Umbach, In Christus getauft – von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus (FRLANT 181), Göttingen 1999, besonders 313–315. 12 M. Gielen spricht von einer „Spiritualität der Kreativität, die in den vielfältigen Handlungsbezügen des Alltags auf die Führung des einzelnen und der Gemeinde durch den Geist vertraut“: „Löscht den Geist nicht aus, verachtet prophetisches Reden nicht!“ Zur Grundlegung einer christlichen Spiritualität bei Paulus, in: dies., Paulus im Gespräch. Themen paulinischer Theologie (BWANT 186), Stuttgart 2009, 131–157, hier: 144.
2. Geisteinwohnung
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einiger Korinther. Bei diesen geht es nicht etwa um einen programmatischen „gnostischen Libertinismus“ – so eine These der älteren Forschung –, sondern viel schlichter um das postbaptismale Fortführen des paganen way of life.13 Mit dem Verweis auf Gott als Besitzer der Glaubenden (V. 19b/20) verschiebt sich die Metaphorik vom Kult zu Eigentumsverhältnissen, also zum rechtlich-merkantilen Bereich. Wir halten an dieser Stelle vor allem die Fokussierung der Tempelsymbolik auf Individuen fest. 2. Die Metaphorik des göttlichen Wohnstattnehmens findet im Römerbrief eine eigentümliche Profilierung. Die Beschreibung der Freiheit der Glaubenden in Röm 8,1–17 arbeitet mit der Antithese zweier Mächte, von Geist und Fleisch. Der Geist ist es, der die Identität der Glaubenden konstituiert. Im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen V. 9–11. „Ihr aber lasst euch nicht vom Fleisch bestimmen, sondern vom Geist, wenn wirklich der Geist Gottes in euch wohnt (εἴπερ πνεῦμα θεοῦ οἰκεῖ ἐν ὑμῖν). Wer aber den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm. Wenn aber Christus in euch ist, dann ist der Leib zwar tot um der Sünde willen, der Geist aber ist Leben um der Gerechtigkeit willen. Wenn aber der Geist dessen in euch wohnt, der Jesus von den Toten auferweckt hat, dann wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch euren sterblichen Leib lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt.“
Die Passage gibt eine Reihe aufschlussreicher Korrelationen zu erkennen: a. Die Teilhabe der Glaubenden am Geist Gottes („im Geist“) wird in V. 9a als Wohnen des Geistes in den Glaubenden artikuliert.14 Wir konstatieren eine bemerkenswerte Inversion der lokalen Metaphorik, auf die zurückzukommen ist. Zugleich wird deutlich, dass die Geistpräsenz individuell, also nicht nur kollektiv akzentuiert wird.15 b. Der Geist Gottes wird in V. 9b als Geist Christi identifiziert, ähnlich wie in 1 Kor 6 eine christologische (V. 15–17) und eine pneumatologische Figur (V. 19) 13 Vgl. R. Kirchhoff, Die Sünde gegen den eigenen Leib. Studien zu porne und porneia in 1 Kor 6,12–20 und dem sozio-kulturellen Kontext der paulinischen Adressaten (StUNT 18), Göttingen 1994, 110 f; 196 f; und die Diskussion bei D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010, 229–234. 14 Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund vgl. meinen Aufsatz: Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden. Überlegungen zu einem ontologischen Problem in der paulinischen Anthropologie, in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 163–192, hier: 169–172. 15 Vgl. zum Hintergrund R. Jewett, The Question of the ‚Apportioned Spirit‘ in Paul’s Letters, in: G. N. Stanton / B. W. Longenecker / St.C. Barton (Hg.), The Holy Spirit and Christian Origins, FS J. D. G. Dunn, Grand Rapids 2004, 193–206. – Auf medizinische Vorstellungen von der Präsenz des Pneuma im Organismus verweist T. W. Martin, Paul’s Pneumatological Statements and Ancient Medical Texts, in: J. Fotopoulos (Hg.), The New Testament and Early Christian Literature in Greco-Roman Context, FS D. E. Aune (NT.S 122), Leiden 2006, 105–126. Die medizinischen Texte zeigen aber m. E. die Fremdheit, mit der die christliche Pneumatologie ihre antiken Rezipienten konfrontierte, vgl. dazu T. Paige, Who Believes in „Spirit“? Πνεῦμα in Pagan Usage and Implications for the Gentile Christian Mission, HThR 95 (2002) 417–436.
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kombiniert werden. Ebenso verbindet sich die Korrelation auch hier mit einem Eigentumsanspruch oder besser: mit einer Zugehörigkeitsaussage. c. V. 10 variiert die Geistespräsenz zur Christuspräsenz. Das Ineinanderblenden von Geist und (erhöhtem) Christus, dem wir bereits in 1 Kor 6,17 begegnet sind, findet sich vielfach in den paulinischen Briefen (vgl. 1 Kor 15,45; 2 Kor 3,17). d. V. 11 pointiert die Christuspräsenz als Präsenz des Geistes Gottes, der Jesus von den Toten auferweckt hat. Dieser Geist hat anthropologische Relevanz: Er stellt nicht nur die Quelle des pneumatischen Lebens der Glaubenden in der Gegenwart dar, sondern verbürgt auch die zukünftige Auferstehung der Leiber.16 e. Schliesslich stellt der Kontext klar, dass der so umschriebene Geist konstitutiv ist für das Ethos der Christusgläubigen. Die Einwohnung des Geistes in den einzelnen Gläubigen hat ein auffallendes Gegenbild in Röm 7, wo einem gängigen exegetischen Verständnis zufolge das Sein des unerlösten Menschen retrospektiv geschildert wird. Hier ist es die Sünde, die im Menschen „wohnt“ und das Böse wirkt (7,17–20). Das Bildfeld weist nicht zufällig auf Besessenheit, hier durch die dämonisch personifizierte Sündenmacht. In der Jesusüberlieferung findet sich ein eigentümliches Pendant, nämlich die hübsche exorzistische Belehrung in der Logienquelle (Lk 11,24–26 par.), die warnend von der Rückkehr des unreinen Geistes in das gefegte und geschmückte Haus berichtet. Nur am Rand ist hinzuweisen auf sehr verbreitete, ausgesprochen volkstümliche anthropologische Modelle, in denen der Mensch bewohnt wird von Geistern verschiedener Provenienz. Zu erinnern ist etwa an die altchristliche monastische Literatur, aber auch an den Hirten des Hermas. Insbesondere die Testamente der zwölf Patriarchen arbeiten in starkem Ausmass mit der Einwohnungsmotivik. Neben der traditionellen endzeitlichen Einwohnung Gottes im Tempel (TestLev 5,2)17 sticht das Gegenüber von Gottes Wohnen und Beliars Wohnen ins Auge (TestDan 5,1). Den Bösen wird „der Teufel bewohnen wie sein eigenes Gefäss“ (TestNaf 8,6), umgekehrt „wohnt der Herr“ im Mann mit gutem Sinn „und erleuchtet seine Seele“ (TestBen 6,4). Gott nimmt insbesondere Wohnung bei denjenigen, die sich sexuell zu beherrschen in der Lage sind (TestJos 10,2–4).18 TestXII artikulieren die Pneumatologie also in einem dualistischen Rahmenwerk; im Menschenherz streiten gute und böse Geister, Licht und Finsternis. Röm 7/8 bietet demgegenüber das Modell der zeitlichen Sequenz von Vorher und 16 Zum Zusammenhang von Geist und Leben, der in der Auferstehung Jesu wirksam ist, vgl. M. Wolter, Der heilige Geist bei Paulus, in: J. Frey / D. Sattler (Hg.), Heiliger Geist (JBTh 24), Neukirchen 2011, 93–119. 17 Bei TestNaf 8,3 dürfte es sich um eine christliche Bildung handeln. 18 Vgl. dazu M. Konradt, „Fliehet die Unzucht!“ (TestRub 5,5). Sexualethische Perspektiven in den Testamenten der zwölf Patriarchen, in: ders. / E. Schläpfer (Hg.), Anthropologie und Ethik im Frühjudentum und im Neuen Testament (WUNT 322), Tübingen 2014, 249–281.
2. Geisteinwohnung
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Nachher, freilich so, dass gerade auch die Gegenwart der Glaubenden von einer Gleichzeitigkeit des Nichtgleichzeitigen bestimmt ist (vgl. Röm 8,5–8). Der Kontext unserer kleinen Passage in Röm 8 zielt in dieselbe Richtung, wie es Röm 7 in Bezug auf die im Unerlösten wirkende Sünde tut: Die Glaubenden werden nicht nur im Kraftfeld des Geistes geortet, sondern auch ihr Verhalten ist als Resonanz auf dessen Wirken anzusprechen. Ein gutes Stück weit wird der Geist zum Handlungssubjekt. Geist wie Fleisch erscheinen als die das Verhalten bestimmenden Mächte (V. 5–7); die Glaubenden als Gotteskinder sind „vom Geist Gottes getrieben“ (V. 14; vgl. Gal 5,18). Gleich im Anschluss daran ist es der Geist der Kindschaft, in dem die Glaubenden Gott als Vater anrufen (V. 15 f). An diesem Punkt ist die analoge Argumentation in Gal 4,6 aufschlussreich: Der Geist des Gottessohns selber ruft in den Herzen der Glaubenden Gott als Vater an. Es zeichnet sich geradezu ein Subjektwechsel ab; das menschliche Subjekt wird dezentriert zugunsten der göttlichen Macht.19 Auch die Interzession, die das Pneuma laut der anschliessenden Passage (Röm 8,26 f) ausübt, lässt sich noch in diesem Einwohnungskontext verorten: Der Geist nimmt sich unserer Schwachheit an. Das Bildfeld interferiert nun aber mit einer anderen Szenerie, nämlich einer himmlischen. Wenn der Geist die Übermittlung des Gebets ausübt, übernimmt er eine Funktion, die im jüdischen Bereich sonst vornehmlich Engeln vor dem Gottesthron zusteht. Er wird zum Hermeneuten des menschlichen Herzens. Wir halten am Rand fest, dass noch das gottentsprechende Beten des Geistes, seine unsagbaren Seufzer, den Widerhall jenes Seufzens darstellt, das die gesamte unerlöste Schöpfung durchdringt (8,22)20 – das Leiden wird also nicht überstiegen. Insofern stellt der Geist, der in der Tiefe der Menschenherzen Wohnstatt nimmt und doch mit Gott verbunden bleibt, die Kommunikation zwischen Tiefe und Höhe, zwischen Erde und Himmel sicher. 3. Die „unaussprechlichen Seufzer“ des Geistes haben uns bereits in einen Bereich geleitet, der die Motivik des göttlichen Einwohnens noch von einer anderen Seite her artikuliert: pneumatische und ekstatische Phänomene, wie sie uns in Glossolalie und Prophetie begegnen. Paulus beschäftigt sich mit ihnen in 1 Kor 14. Es spricht viel dafür, in der Zungenrede eine Himmelssprache, genauer eine Engelsprache zu erkennen, an der die Menschen Anteil gewinnen.21 Laut der 19 Vgl.
Vollenweider, Geist (s. Anm. 14) 189 f. Vgl. S. Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt (FRLANT 147), Göttingen 1989, 383 f. 21 Zum Hintergrund vgl. H.-J. Klauck: Mit Engelszungen?, in: ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum (WUNT 152), Tübingen 2003, 145–167; ders., Von Kassandra bis zur Gnosis, aaO. 119–144; C. Tibbs, Religious Experience of the Pneuma. Communication with the Spirit World in 1 Corinthians 12 and 14 (WUNT II/230), Tübingen 2007, 215–268; 269–277; D. Zeller, Offene Fragen zum urchristlichen ‚Reden im Geist‘, in: W. Kraus (Hg.), Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte (BZNW 163), Berlin 2009, 231–246 (wonach die Zungenrede nicht als „hellenistische Version der Prophetie“ in Betracht komme und nicht auf Korinth beschränkt sei); ders., 1 Kor (s. Anm. 13) 433–437 (Exkurs); U. Luz, Die korinthische 20
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Göttliche Einwohnung
paulinischen Darstellung wird in diesem Prozess der diskursive Verstand, der Nūs, weitgehend ausgeschaltet (V. 2.4.14). Im Unterschied dazu bietet die Prophetie, die von Haus aus auch von Gott eingegebene Rede ist, verständliche Rede, leistet also die Integration von Pneuma und Verstand. Sie erweist sich damit als die ekklesiologisch bessere Option. Urchristlich-prophetische Aktivität hat erhebliche missionarische Effekte. Die prophetische Aufdeckung der Herzenstiefen, die an nichtgläubigen Gottesdienstbesuchern geschieht, resultiert V. 23–25 zufolge im Gottesbekenntnis der Betroffenen:22 „Wahrhaft, Gott ist in eurer Mitte!“ Die Passage zu Prophetie und Glossolalie, die zum angemessenen gottesdienstlichen Verhalten anleiten will, gibt recht deutlich den weiten Horizont zu erkennen, der beides, Zungenrede wie Prophetie, verständlich macht: das Modell der mantischen Inspiration, das sich in je spezifischen Variationen kulturübergreifend beschreiben lässt. Die Spannweite, die allein der antike Mittelmeerraum zu erkennen gibt, ist erheblich, sie reicht vom Orakelwesen des delphischen Typs über den dionysischen Enthusiasmos und die Sibyllistik bis zur subtilen Inspiration von Dichtern und Denkern. Auch in religionspsychologischer Perspektive haben wir mit einem breiten Spektrum von Phänomenen zu rechnen, das sich von rasender Besessenheit über verschiedenartige Trancezustände bis zur reinen literarischen Topik erstreckt.23 Ein für die Antike klassisches Interpretationsmodell bietet Platons Beschreibung des Enthusiasmos, die Orakeltradition und dichterische Inspiration einander angleicht:24 „Sämtliche grossen Epiker schaffen all ihre schönen Dichtungen nicht aus einer blossen Kunstfertigkeit heraus, sondern weil sie gottbegeistert und besessen sind (οὐκ ἐκ τέχνης ἀλλ᾽ ἔνθεοι ὄντες καὶ κατεχόμενοι), und mit den grossen Lyrikern geht es ebenso. […] Wenn ihnen (den Begeisterten) nämlich der Gott die Vernunft raubt und sie und die Orakelverkünder und göttlichen Seher als seine Diener gebraucht, so geschieht es deshalb, damit wir, die ihnen zuhören, auch wissen, dass nicht sie selbst, die ja gar nicht bei Sinnen sind, so kostbare Dinge sagen, sondern dass es der Gott selbst ist, der redet und durch ihren Mund zu uns spricht.“ Gemeindeprophetie im Kontext urchristlicher Prophetie, in: ders., Theologische Aufsätze (WUNT 414), Tübingen 2018, 179–189 („Glossolalie von Anfang an ein vielgestaltiges und vieldeutiges Phänomen“, 187; vgl. 188 f). 22 Anspielung auf Jes 45,14, wo Angehörige von Fremdvölkern sprechen. Wolter, Geist (s. Anm. 16) 117, stellt fest, „dass Paulus der christlichen Gemeinde etwas zuschreibt, was er von den einzelnen Christen niemals sagt, dass nämlich Gott selbst in ihr anwesend ist“. Zum Hintergrund vgl. St.J. Chester, Divine Madness? Speaking in Tongues in 1 Corinthians 14.23, JSNT 27 (2005) 417–446 mit dem Hinweis auf den „göttlichen Wahnsinn“. 23 Vgl. meinen Aufsatz: Aussergewöhnliche Bewusstseinszustände und die urchristliche Religion. Eine alternative Stimme zur psychologischen Exegese, in: G. Theissen / P. von Gemünden (Hg.), Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung des frühen Christentums, Gütersloh 2007, 73–90, Abdruck in diesem Band: 487–503. 24 Platon, Ion 533e; dt. Übs. R. Rufener.
3. Christuseinwohnung
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Gegenüber diesem irrationalistischen Paradigma göttlicher Inspiration äussert später Plutarch, der delphische Priester, schwerwiegende Bedenken: Der Gott behandle seine Propheten doch nicht als Bauchredner, das sei unter seiner Würde.25 Plutarch selber favorisiert synergistische Modelle. Es ist nun aufschlussreich, dass wir ausgerechnet beim jüdischen Religionsphilosophen Philon von Alexandria dem extremsten irrationalistischen Modell prophetischer Inspiration begegnen.26 Wahrscheinlich hat sein dezidiert theozentrisches Gottesverständnis zusammen mit der Existenz einer Sammlung inspirierter heiliger Schriften die Radikalisierung des mantischen Modells ermöglicht. Nicht zufällig stossen wir auch für den anderen Charakterzug der Glossolalie, das Lautwerden einer Himmelssprache, wieder im jüdisch-hellenistischen Raum auf die wichtigsten Analogien: Das apokryphe Testament Hiobs erzählt von den Töchtern Hiobs, die kraft ihrer wunderbaren Gürtel „begeistert in engelhafter Sprache reden und einen Hymnus zu Gott hinauf senden gleich dem Hymnengesang der Engel“.27 Im Unterschied zur urchristlichen Glossolalie handelt es sich bei dieser Engelsprache freilich nicht eo ipso um unverständliche Rede. Ausserdem kommt sie zwar unter Trance, aber nicht unter völliger Ausschaltung diskursiver Kompetenzen zustande. Wir beenden unseren kleinen Exkurs. Er zeigt, dass die Einwohnungsmotivik in intensiver Wechselwirkung steht mit anderen eigenständigen Motivfeldern, die sich kulturübergreifend erheben lassen. Wenden wir uns nun wieder Paulus zu, so knüpfen wir an die Beobachtung an, dass der Apostel die Einwohnung des Geistes mit derjenigen des Christus korreliert. Die Perichorese von Geist und erhöhtem Christus, ein gängiges urchristliches Theologumenon,28 führt uns zu einem dritten Kontext, dem für unsere Fragestellung grosse Tragweite zukommt.
3. Christuseinwohnung 1. Nicht anders als bei der pneumatischen Einwohnung lässt sich auch bei ihrem christologischen Pendant eine kollektive und eine individuelle Variante erheben. Neben dem prozessualen Bild von Gal 4,19, das nicht Wohnmetaphorik, sondern Gynäkologie aufbietet – die Formung des Christusembryos im Raum der Gemeinde, dem auf Seiten des Apostels der Geburtsschmerz entspricht –, sind 2 Kor Plut., def. or. 9: 414e; vgl. Vollenweider, Geist (s. Anm. 14) 170 f.
25
26 Vgl. her. 263–266; som. 1,118 f; spec. 4,49; Mos. 1,283. – Die reiche Einwohnungsmetaphorik
bei Philon verdiente eine eigene Untersuchung. 27 TestHi 48,2; 49,1; 50,2. Vgl. P. W. van der Horst, Images of Women in the Testament of Job, in: M. A. Knibb / P. W. van der Horst (Hg.), Studies on the Testament of Job (MSSNTS 66), Cambridge 1989, 93–116. 28 Vgl. speziell für das paulinische Christentum M. Fatehi, The Spirit’s Relation to the Risen Lord in Paul. An Examination of Its Christological Implications (WUNT II/128), Tübingen 2000, besonders 275–308; Wolter, Paulus (s. Anm. 5) 169–172.
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Göttliche Einwohnung
13,3 und 5 aufschlussreich. Christi Präsenz in der Gemeinde steht in Wechselwirkung mit dessen individueller Präsenz im Apostel selber: „Ihr verlangt ja einen Beweis dafür, dass Christus in mir spricht (τοῦ ἐν ἐμοὶ λαλοῦντος Χριστοῦ), der sich euch gegenüber nicht als schwach erweist, sondern stark ist unter euch. […] Macht an euch selbst die Probe, ob ihr im Glauben seid, prüft euch selbst! Erkennt ihr nicht an euch selbst, dass Jesus Christus in euch ist? Wenn es nicht so ist, taugt ihr nichts.“
Dabei kommt es zu einer eigentümlichen Rollenverteilung, die das Gesamtprofil des 2. Korintherbriefs kennzeichnet, verdichtet in den Kapiteln 10 bis 13: Der gekreuzigte und auferstandene Christus ist so unter den Glaubenden gegenwärtig, dass seine Schwäche auf die Seite des Apostels, seine Auferstehungsmacht aber auf die Seite der Gemeinde zu stehen kommt; die Kreuzförmigkeit des apostolischen Dienst arbeitet dem österlich bestimmten Leben im gemeindlichen Raum zu. Tatsächlich stellt die Christusförmigkeit des Apostolats ein Hauptthema des Briefs (oder eines seiner Teile) dar, verdichtet in 12,9 f: „Und er (sc. Christus, der Herr) hat mir gesagt: ‚Du hast genug an meiner Gnade, denn die Kraft findet ihre Vollendung am Ort der Schwachheit.‘ So rühme ich mich lieber meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir Wohnung nehme (ἵνα ἐπισκηνώσῃ ἐπ᾽ ἐμὲ ἡ δύναμις τοῦ Χριστοῦ).“
Paulus rühmt sich hier seiner Schwäche, um einer anderen Macht Raum zu geben29 – einer Macht, deren Stärke gerade in ihrer Schwäche besteht: die Dynamis des Christus als des Gekreuzigten. Etwas holzschnittartig zugespitzt: Paulus überbietet die anabatische Himmelfahrtsmystik von 12,1–5 durch die katabatische Christusmystik. 2. Tatsächlich hat Paulus sein apostolisches Wirken als Wirksamwerden des in ihm einwohnenden Christus gedeutet.30 Er tritt als Herold seines Herrn in Erscheinung, der zur Versöhnung einlädt (2 Kor 5,20). Je nach Kontext und Argumentation stehen dabei machtvolle Zeichen und Wunder im Fokus (Röm 15,18 f; 2 Kor 12,12), von Haus aus eigentlich Effekte des Pneuma, oder aber Manifestationen von Schwäche und Niedrigkeit (2 Kor 1,5; 4,10–13; 10,7–11; Gal 6,17; Phil 3,10). Nur am Rand ist festzuhalten, dass sich gerade hier die Einwohnungsmotivik mit epiphanialer Topik verbindet, ein Zusammenhang, auf den wir zurückzukommen haben. Besondere Aufmerksamkeit verdient Gal 2,19 f, wo Paulus sein eigenes Sterben im Bekehrungsgeschehen mit dem Leben zugunsten Gottes kontrastiert: 29 Vgl. H. Windisch, Der zweite Korintherbrief (KEK 96), Göttingen 1924 (= 1970), 392: Deutlich „ist hier die ‚Macht des Christus‘ als eine Hypostase vorgestellt, die der Sophia, dem Logos, der Schekhina und der δόξα vergleichbar, sich auf den Menschen niederlässt“. 30 Vgl. zum Hintergrund J. M. G. Barclay, „By the Grace of God I Am What I Am “. Grace and Agency in Philo and Paul, in: ders. / S. J. Gathercole (Hg.), Divine and Human Agency in Paul and His Cultural Environment (LNTS 335), London 2006, 140–157; ders., Grace and the Transformation of Agency in Christ, in: F. E. Udoh (Hg.), Redefining First-Century Jewish and Christian Identities, FS E. P. Sanders (Christianity and Judaism in Antiquity Series 16), Notre Dame 2008, 372–389.
3. Christuseinwohnung
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„Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich für Gott lebe. Ich bin mitgekreuzigt mit Christus: Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir (ζῇ δὲ ἐν ἐμοὶ Χριστός); sofern ich jetzt noch im Fleisch lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich hingegeben hat.“
In seiner kreuzförmigen apostolischen Existenz kommt das Auferstehungsleben des Christus zum Zug; die Einwohnung Christi betreibt die Dezentrierung des Subjekts (V. 20). Das Stichwort der Damaskuserfahrung, worin laut Gal 1,16 „Gott seinen Sohn in mir (ἐν ἐμοί) offenbart“, gibt Anlass, eine Hypothese zu formulieren, die „Geistmystik“ und „Christusmystik“ einander zuzuordnen versucht:31 Während das Reden von Geisteinwohnung allgemein christliche Erfahrung und christliches Wissen reflektiert, bringt sich im Reden von der Christuseinwohnung die spezifische Berufungserfahrung des Apostels zu Gehör. Er ist ein von Christus Ergriffener (Phil 3,12).32 Allerdings gilt es, die Kontrastierung nicht zu forcieren. Wenn sich Paulus als ein von Christus Erfüllter, gleichsam als Χριστοφόρος, präsentiert, dann stellt er seinen Lesern ein Modell zur Verfügung, mit dem sie sich identifizieren und an dem sie sich ausrichten können. „Geistmystik“ und „Christusmystik“ stehen also in enger Wechselwirkung, ist doch Christus als Geist in den Glaubenden gegenwärtig. Die individuelle Christuseinwohnung wird so zu einem geläufigen Element christlicher Sprache.33 3. Es ist Zeit, eine auffällige Leerstelle zu benennen: Was sich in den echten Paulinen nicht findet, ist dasjenige, was wir von der frühjüdischen Traditionsbildung in ihrer urchristlichen Relektüre her unbedingt erwarten würden: Die Interpretation des Kommens Christi, seiner Inkarnation, als Einwohnungsgeschehen, sei es Gottes selber, sei es des präexistenten Gottesssohns. Diesen uns aus dem Johannesprolog bekannten Schritt vollziehen explizit erst die Paulusschüler. Dem Kolosserbrief zufolge nimmt die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig Wohnung in Jesus Christus (Kol 2,9 f; 1,19).34 Auch nach dem Epheserbrief durchdringt Gott das All mit seiner Fülle, die in Christus und seinem Leib, der Kirche, zur Manifestation kommt (1.10.23; 4,1).35 Wir lassen die Frage offen, ob die von uns konstatierte Leerstelle einfach zufälliger Natur ist – auch das wäre 31 Zur Berechtigung, bei Paulus von Mystik zu sprechen, vgl. die Überlegungen von U. Luz, Paul as Mystic, in: Stanton, Spirit (s. Anm. 15) 131–143; G. Theissen, Paulus und die Mystik. Der eine und einzige Gott und die Transformation des Menschen, ZThK 110 (2013) 263–290. 32 Phil 3,12c bezieht sich nochmals auf die biographische Passage V. 4b–9a zurück, zumal auf die Bekehrungsschilderung (V. 7–9a). 33 Vgl. z. B. Eph 3,17; IgnEph 15,3; hier auch von der Einwohnung Gottes im Leib, IgnPhld 7,2; Tatian, or. 15; von den Herzen Barn 6,15 f; Diognet 11,4; PGL 703a. Die Tempelsymbolik wird mit der platonischen Angleichung an Gott korreliert bei Silv 12 (NHC 7.4, 108,14–34: „Lass ihn [sc. Christus] eingehen in den Tempel, der in dir ist“), mit Anspielung auf 1 Kor 3,17. 34 Die Schekina-Bezüge werden besonders herausgestellt bei Ch. Stettler, Der Kolosserhymnus. Untersuchungen zu Form, traditionsgeschichtlichem Hintergrund und Aussage von Kol 1,15–20 (WUNT II/131), Tübingen 2000, 252–265; 340 f. 35 Vgl. oben bei Anm. 6.
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Göttliche Einwohnung
ernsthaft zu bedenken – oder ob sie mit der dezidiert österlichen Theologie des Apostels einhergeht: Obschon der Apostel mit seiner urchristlichen Tradition die Überzeugung von der Inkarnation Christi teilt (vgl. Gal 4,4 f; Röm 8,3; Phil 2,6–8; 2 Kor 8,9), ruht der Fokus seiner Christusfrömmigkeit auf dem von Gott auferweckten Gekreuzigten.
4. Bilanz und Ausblick Wir versuchen, einige grundsätzliche Überlegungen zum Stellenwert der Einwohnungstopik zu formulieren. 1. Die Durchmusterung der paulinischen Briefe hat ergeben, dass sich das Reden vom „Einwohnen“ Gottes, Christi und des Geistes an zwei Punkten markant verdichtet, nämlich in Bezug auf die Kirche als ganze und in Bezug auf die einzelnen Glaubenden. In der ekklesiologischen Perspektive dominiert die überkommene biblisch-jüdische Tempelmetaphorik und damit eine Heiligkeits‑ und Reinheitskonzeption, die auf Abgrenzung gegenüber der Umwelt und ihren Standards zielt. Zugleich ermöglicht die Tempelsymbolik die Identitätsbestimmung christlicher Gemeinden als herausragendem oder sogar exklusivem Ort göttlicher Präsenz. Paulus erscheint hier weitgehend als Rezipient gemeinchristlichen Traditionsguts. Dies besagt keineswegs, wie es in der Exegese nur zu oft behauptet worden ist, dass dieses Traditionsgut in seiner Theologie lediglich einen peripheren Stellenwert beanspruchen kann. Das Bild der Gemeinde als sündenfreiem Raum kraft ihrer Teilhabe an Gottes Heiligkeit ist eine der tragenden Säulen der paulinischen Ekklesiologie. Paulus’ Reden vom kollektiven Wohnen des Geistes in der Gemeinde (1 Kor 3,16; Röm 8,9a) geht auf jüdische Schekina-Überlieferungen zurück.36 Die auf die Einzelnen fokussierte Einwohnungsmotivik erweist sich demgegenüber als weit unbestimmter und offener; sie ist anschlussfähig für zahlreiche thematische Amplifikationen. In ihrer pneumatologischen Brechung ragt die anthropologische Selbstdeutung heraus – die Glaubenden führen eine „liminale“ Existenz zwischen alter und neuer Weltzeit, zwischen den überkommenen kulturellen Standards ihrer sarkischen Herkunft und den Ansprüchen der geistgewirkten „neuen Schöpfung“.37 Der Geist fungiert damit als Brückenbauer in horizontaler wie in vertikaler Dimension. Paulus selber akzentuiert sein Geistverständnis von seiner Christologie her – der Geist ist der Geist des Gekreuzigten. 36 Die rabbinischen Überlieferungen vom Einwohnen des Geistes scheinen allerdings traditionsgeschichtlich sekundär zu sein gegenüber dem Einwohnen der Schekina; vgl. P. Schäfer, Die Vorstellung vom Heiligen Geist in der rabbinischen Literatur (StANT 28), München 1972, 140–143 (mit dem Hinweis auf die Sonderstellung des babylonischen Talmud). 37 Zur Kategorie vgl. Ch. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive (FRLANT 185), Göttingen 1999.
4. Bilanz und Ausblick
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In ihrer christologischen Brechung weist die Einwohnungsmetaphorik hingegen stärker auf das apostolische und missionarische Wirken von Paulus selber zurück. 2. An mindestens zwei Punkten zeigt sich, wie die Einwohnungsmetaphorik in Wechselwirkung mit anderen Bildfeldern gerät, die traditionsgeschichtlich in unterschiedliche und weiter gespannte kulturelle Kontexte verweisen. Zum einen ist das Modell mantischer Inspiration zu nennen, oder noch mehr verallgemeinert: das religionsgeschichtlich universale Feld von ‚Besessenheit‘ (possession), das in der modernen Kulturanthropologie grosses Interesse findet.38 Hier stossen wir religionspsychologisch auf Trancezustände, die als Subjektwechsel gedeutet werden – der deus internus vergegenwärtigt sich.39 Zum anderen wird die Einwohnung gerade in der paulinischen Theologie komplementiert durch Partizipationsfiguren. Dem Christus oder dem Geist in den Glaubenden korrespondiert deren Existenz in Christus bzw. im Geist. Paulus’ Reden von der Konformität der Glaubenden oder spezifisch des Apostels mit Christus hat hier ihren wichtigsten Haftpunkt. Partizipationsvorstellungen weisen wieder weit über die Einwohnungsvorstellungen hinaus; religionsgeschichtlich gehen sie zu guten Teilen auf ursprünglich platonische Figuren zurück, die etwa auch bei Philon rezipiert und transformiert werden. Diese Beobachtungen sind deshalb wichtig, weil sie die begrenzte Reichweite der von Haus aus biblischen Schekina- Überlieferungen in Erinnerung rufen. 3. Wir weiten den Blick. Es empfiehlt sich nicht, Biblische Theologie primär allein von der Schekina her zu konstruieren. Vielmehr gilt es, sich die eindrückliche Pluralität von neutestamentlichen Figuren vor Augen zu führen, die alle auf ihre Weise die göttliche Gegenwart zur Sprache bringen. Der Schekina-Motivik in ihrer räumlichen und sozialen Variationsbreite gesellen sich etwa epiphaniale Figuren bei, die wiederum zusammen mit ihrer theophanen Variation kulturübergreifenden Kontexten zugehören. Göttliches Einwohnen ist so gesehen eine besondere Gestalt von göttlicher Präsenz, die sich durch Stabilität und Intimität auszeichnet. Zu erinnern ist weiterhin an Figuren im Bereich der Angelologie, die ihren Ausgangspunkt beim altorientalischen Botenmodell nehmen, nämlich bei der Transparenz des Sendenden im Gesandten: Im Engel ist die Gottheit selber präsent. Das Frühchristentum hat Jesus Christus ein gutes Stück weit auch angelomorphe Züge verliehen.40 Vom Amt des Boten bietet sich wiederum ein Brückenschlag zu weitgestreuten Vermittlungsmodellen an, die aus dem poli38 Vgl. den Überblick bei H. Zinser, Art. Besessenheit, HRG 2 (1990) 131–135; ferner E. Bourguignon (Hg.), Religion, Altered States of Consciousness, and Social Change, Columbus 1973; F. D. Goodman, Trance, Gütersloh 1992; dies., Die andere Wirklichkeit, dt. Übs. München 1994; dies., Art. Besessenheit. I, RGG4 1 (1998) 1359 f. 39 Vgl. zum Hintergrund J. Haussleiter, Art. Deus Internus, RAC 3 (1957) 794–842. 40 Vgl. meine Hinweise in: Zwischen Monotheismus und Engelchristologie. Überlegungen zur Frühgeschichte des Christusglaubens, in: Vollenweider, Horizonte (s. Anm. 14) 3–27.
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Göttliche Einwohnung
tisch-diplomatischen Bereich stammen. So richtet Paulus an Christi statt den Dienst der Versöhnung aus (2 Kor 5,20). Einen besonderen Stellenwert haben sodann sakramentale und anamnetische Figuren, in denen sich der Christus vergegenwärtigt. Das Lukasevangelium inszeniert sogar eine stilgerechte verborgene Epiphanie: Die Emmausjünger erkennen den auferstandenen Herrn erst beim Brechen des Brots (Lk 24,30 f). Das Matthäusevangelium dehnt seinerseits die im gottesdienstlichen Geschehen verdichtete Gegenwart Christi auf den gesamten Weg der Nachfolge, die Gemeinschaft der Glaubenden, aus: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20; vgl. 1,23; 28,20). Jesus rückt damit an die Stelle, die der jüdische Glaube der mit dem Volk mitwandernden Schekina zumisst.41 Noch weiter greifen kosmologisch-biologische Modelle aus, die die Gegenwart Gottes im Kosmos und im Lebensstrom herausstellen (vgl. die Areopagrede, Apg 17,27 f). Aussagen dieser Art berühren sich dementsprechend mit solchen, die einer pantheistisch orientierten Religiosität entstammen.42 Es ist nicht ratsam, gegenüber dieser unhintergehbaren Pluralität des Redens von Gottes Gegenwart ein bestimmtes Modell zu privilegieren. Interessant ist vielmehr ihre gemeinsame Stossrichtung. Die vielfältigen Figuren versuchen, das so paradoxe wie kreative Spannungsfeld zu bearbeiten, das die neutestamentliche Verkündigung aufbaut: die Ortung der Gegenwart des einen und einzigen Gottes „in einem Winkel“ (Apg 26,26), im Wirken Jesu von Nazaret, und damit die Verankerung des Redens vom lebendigen Gott ausgerechnet in dessen Gegenteil, im Abgrund des Kreuzestodes. Diesem elementaren Spannungsverhältnis kann offenkundig nur eine breite Pluriformität von Versprachlichungen gerecht werden. 4. Möglicherweise sind wir gut beraten, zu unserem Interesse an „Vorstellungen“, an „Konzeptionen“, an „Traditionskomplexen“ in Distanz zu treten. Gewiss haben derartige traditionsgeschichtliche Sortierungen den heuristischen Vorteil, dass sie in der unendlichen Vielfalt religiöser Symbolisierung phänomenologische Orientierung und historische Genealogisierung ermöglichen. Es besteht aber auch die Gefahr, dass sie den Zugang zur Bildersprache, zur Kreativität und Lebendigkeit von Metaphern, verstellen. Es könnte ja sein, dass gerade das so schlichte wie dichte Reden vom göttlichen „Wohnen“ und „Zelten“ einen hermeneutischen Mehrwert hat diesseits aller Konzeptualisierung und Konventionalisierung durch die mannigfaltigen imposanten Traditionsströme, die sich mit der Schekina verbinden. Gerade die so prägnante wie schlichte Metapher des „Wohnens“ Gottes erinnert von fern an eine gute alte evangelische Überzeugung: Die Sprache selber bietet der Gotteseinwohnung eine Stätte an. Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (EKK 1), Bd. 3, Zürich / Neukirchen 1997, 53. Eine eigentümliche Variation, die vielleicht schon den Christus patibilis späterer manichäischer Texte vorbereitet, bietet EvThom 77,2: „Spaltet ein Stück Holz – ich bin da. Hebt den Stein auf, und ihr werdet mich dort finden“ (AcA 1.1, 518). 41 42
4. Bilanz und Ausblick
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5. Wir schliessen aber nicht mit einem Lob des Wortes (Joh 1,14a!), sondern mit einem nachdenklichen Ton. Es handelt sich um ein Moment, das die biblische, jüdische und christliche Schekina-Theologie von ihren Anfängen an begleitet, aber in diesen Zeilen bisher kaum zu Wort gekommen ist: Das Wohnung Nehmen hat seine Kehrseite, das Wegziehen und Abscheiden (vgl. Ez 10). Die Metapher des Zeltens hält den Exodus in Erinnerung. In den Evangelien ist es den Jüngern auf dem Verklärungsberg nicht verstattet, ihre Zelte aufzuschlagen (Mk 9,5 parr.). Der Menschensohn ruft sie aus der Himmelshöhe zurück auf seinen von Unruhe erfüllten Weg (Lk 9,58 par.): „Die Füchse haben Höhlen, und die Vögel des Himmels haben Nester (κατασκηνώσεις), der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.“
Weisheit am Kreuzweg Zum theologischen Programm von 1 Kor 1 und 2 Abstract Wisdom in Front of Crossroads. The Theological Program of 1 Corinthians 1 and 2 The Pauline word of the cross (1 Cor 1–2) unfolds an epistemological meta-theory referring to the conditions that make theology possible. The entire argumentation can be read as a dialogue with the dominant Greek-Hellenistic world-view. Within his own horizon of apocalyptic-sapiential theology Paul focuses on how the cross issues a critique of every form of thinking which does not reflect its own limitations in time and space. The word of the cross is correlated, therefore, to the expectation of a judgement about the teachers and preachers of the gospel.
1. Einleitung Zu Beginn des 1. Korintherbriefs wird wie kaum sonst in der Bibel reflektiert über die Bedingungen der Möglichkeit von Theologie. Paulus’ Argumentation in 1 Kor 1/2 gilt als locus classicus der theologia crucis. Man muss sich allerdings ernsthaft fragen, ob dieser aus der lutherischen Tradition stammende Begriff nicht auf ein Oxymoron hinausläuft. Theologie setzt einen Logos voraus, der mittels begrifflicher Sprache Aussagen über Gott in ein kohärentes System bringt. Das „Wort vom Kreuz“ aber bricht mit der ihm eigenen radikalen Umwertung jedes theologische System auf.1 Christliches Nachdenken über Gott lebt geradezu von dieser Spannung, ist doch das Kreuz ohne die Theologie stumm, die Theologie ohne das Kreuz aber taub. Im programmatischen Anfang seines Briefs an die Korinther arbeitet Paulus dieses paradox anmutende Spannungsfeld prägnant heraus. Die nachstehenden Zeilen versuchen, seine schwierige und komplexe Gratwanderung zu würdigen. 1 Kor 1,18–2,16 entfaltet eine kriteriologische Metatheorie. Nicht zufällig konvergiert die programmatische Themenformulierung in V. 17 f mit derjenigen des Römerbriefs am Ende des Proömiums (1,16 f). Es ist die „Kraft Gottes“ (δύναμις θεοῦ), die in Gestalt des Evangeliums (Röm 1,16) bzw. in Gestalt des Wortes vom Kreuz (1 Kor 1,18) den Glaubenden Rettung und Heil schafft.2 1 Zur Differenzierung vgl. P. Bühler, Kreuzestheologie und Soteriologie – zwischen Neuem Testament und systematischer Theologie, in: A. Dettwiler / J. Zumstein (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament (WUNT 151), Tübingen 2002, 265–281. 2 Im Abschnitt 1 Kor 1,10–4,21 kommt der δύναμις θεοῦ eine Klammerfunktion zu (1,18; 2,5;
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Weisheit am Kreuzweg
Der zentralen Position der „Macht Gottes“ entspricht es, wenn die Glaubenden als Empfänger von Leben und Gerechtigkeit identifiziert werden (vgl. 1 Kor 4,7; Röm 10,3). Sie haben deshalb keinen Anlass, sich ihrer selbst zu rühmen. Die Abwehr des Sich-selbst- Rühmens zugunsten eines Sich-Gottes oder Sich-Christi-Rühmens verschränkt Rechtfertigungs‑ und Kreuzestheologie (vgl. Röm 3,27; 15,17; Phil 3,3 mit 1 Kor 1,29.31; 3,21; 4,7). Zugleich identifiziert Paulus als Ort angemessenen Rühmens Leiden und Kreuz (Gal 5,14; 2 Kor 11,30; 12,5.9).
Die Kreuzestheologie des 1. Korintherbriefs und die Rechtfertigungstheologie des Römer‑ und Galaterbriefs zeigen, wie Paulus sein zentrales Anliegen, die Verkündigung des Evangeliums, in verschiedenen Kontexten zu explizieren sucht.3 Im Zentrum seines Evangeliums steht Jesus Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene, in dem „Gottes Kraft“ offenbar wird. Für seine Gemeinde in der hellenistischen Grossstadt Korinth interpretiert er dieses in der Konfiguration von Weisheit und Torheit. Allerdings ist das „Wort vom Kreuz“ nicht einfach deckungsgleich mit dem „Evangelium“, sondern erhebt darüber hinaus einen kriteriologischen Anspruch, indem es die theologische Reflexion im Blick auf ihre Übereinstimmung mit dem Evangelium prüft.4 Gerade weil das „Wort vom Kreuz“ in seinem Gegensatz zur σοφία λόγου, zur „beredten Weisheit“ (1,17b),5 eine fundamentaltheologische Funktion hat, gilt es, auf seine kontextuelle und situative Einbindung zu achten. Der Abschnitt 1,18–2,5 darf nur schon angesichts zahlreicher Stichwortverbindungen nicht von seinem umfassenden Zusammenhang isoliert werden. Anlass für den ersten grossen Briefteil, der von 1,10 bis 4,21 reicht, ist das
4,20; auch 1,24); vgl. M. Becker, Theologie zwischen Rezeption und Verkündigung, in: ders. / W. Fenske (Hg.), Das Ende der Tage und die Gegenwart des Heils, FS H.-W. Kuhn, Leiden 1999, 201–227, hier: 212. – Zur Traditionsgeschichte der „Macht Gottes“ vgl. P. J. Gräbe, The Power of God in Paul’s Letters (WUNT II/123), Tübingen 2000, 17–39. Zur systematischen Tragweite von Röm 1,16 f vgl. M. Beintker, Die Souveränität des Evangeliums. Einige Erwägungen im Anschluss an Römer 1,16, in: M. Trowitzsch (Hg.), Paulus, Apostel Jesu Christi, FS G. Klein, Tübingen 1998, 259–272. 3 Zum Sachzusammenhang vgl. H. Conzelmann, Der erste Brief an die Korinther (KEK 135), Göttingen 31997, 59; Th. Söding, Kreuzestheologie und Rechtfertigungslehre, in: ders., Das Wort vom Kreuz (WUNT 93), Tübingen 1997, 153–182. 4 Ähnlich P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992, 320. Vgl. R. B. Hays, First Corinthians (Interpretation), Louisville 1997, 27: „The Cross becomes the starting point for an epistemological revolution.“ 5 Zur Bestimmung der σοφία λόγου vgl. W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (EKK 7), Bd. 1, Zürich / Neukirchen 1991, 158–160. Im Brennpunkt der Kontroverse zwischen Paulus und den Exponenten der korinthischen Gemeinde steht die Weisheit, nicht die Rhetorik als solche (dazu unten). Paulus spricht „hier die Sprachform insofern an, als in ihr eine gewisse Denkweise beschlossen ist“, H. Weder, Neutestamentliche Hermeneutik (ZGB), Zürich 21989, 344. Demgegenüber bestimmt S. M. Pogoloff, Logos and Sophia. The Rhetorical Situation of 1 Corinthians (SBL.DS 134), Atlanta 1992, 108–113, die σοφία λόγου lediglich als „clever or skilled or educated or rhetorically sophisticated speech“, „cultured speech“, was mit Statusverbesserung einhergeht. Die spezifische, sowohl hellenistisch wie jüdisch relevante kognitive Semantik von sophia wird so aber eingeebnet.
2. Ein Skandal als Programm (1 Kor 1,18–26)
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Parteienwesen in Korinth (1,10–17).6 Die Argumentation in 1,18 ff hat eine spezifische pragmatische Funktion, obschon sie von den aktuellen Gemeindeproblemen auffällig schweigt. Offenbar rücken einzelne Gruppen ihre Leitfiguren als Träger der geschätzten höheren Weisheit in den Vordergrund. Einen Fingerzeig für die paulinische Stossrichtung bietet der Übergang von 3,4 zu 3,5–17, zumal die beiden Ausführungen von 1,18 ff und 3,5 ff durch 3,18–23 in gehobener Tonlage summiert werden: Der von Leitfiguren bestimmten Gruppenbildung in Korinth stellt Paulus die Transparenz der Verkündiger für das Evangelium als δύναμις θεοῦ entgegen (3,5–7), das inhaltlich als Wort vom Kreuz ausgelegt wird (1,18–2,5). Nicht von ungefähr rekurriert er mehrfach auf das Gericht Gottes, worin die Transparenz der Verkündiger für das Evangelium geprüft wird (3,8b.10b–15; 4,4 f; auch 3,16 f.20; evt. 1,8).
Der Fehler der Korinther besteht also darin, dass sie sich an Menschen anstatt an Gott, der in Jesus Christus offenbar ist, orientieren.7 Der Apostel treibt seine Kritik an der Fixierung auf Leitfiguren aber noch ein entscheidendes Stück weiter, gewinnen diese doch ihren besonderen Status als Träger einer spirituellen Weisheit: Er demaskiert eine solche Weisheit als „Weisheit dieser Welt“, da sie in seinen Augen das Kreuz ausblendet. Natürlich haben die Korinther den Kreuzestod Jesu nicht geleugnet, ihn aber wahrscheinlich nur als Durchgangsstadium seines Wegs in den Himmel verstanden. Das Kreuz wird auf eine Episode reduziert, verblasst also gegenüber der jenseitig-himmlischen Wirklichkeit, die von der Weisheit erschlossen wird. Demgegenüber stellt der 1. Korintherbrief einen gross angelegten Versuch dar, die Gotteserfahrung durch das Nadelöhr des Kreuzes, dem Realsymbol von Tod und Leiden, zu führen und zu zeigen, wie sie im alltäglichen Gemeindeleben zu bewähren ist.
2. Ein Skandal als Programm (1 Kor 1,18–26) Ich gehe im Folgenden davon aus, dass Paulus in 1 Kor 1/2 den Zusammenstoss des Evangeliums von Jesus Christus mit dem ‚Zeitgeist‘ auslotet. Es geht beim ‚Zeitgeist‘ um die grundlegenden Orientierungsmassstäbe einer Epoche, die sich im Stichwort „Weisheit“ bündeln.8 Die Auseinandersetzung des Apostels mit der Theologie der korinthischen Pneumatiker ist in dieser Perspektive 6 Vgl. etwa die knappe Analyse bei A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT 9.1), Tübingen 2000, 33 f, wo das Thema allerdings spezifisch in der „Beschreibung der besonderen Beziehung zwischen Paulus und der korinthischen Gemeinde“ und dem Problem der Weisheit identifiziert wird. M. Mitchell, Paul and the Rhetoric of Reconciliation (HUTh 28), Tübingen 1991, 1–19; 182 f; 296 f möchte sogar den ganzen Brief als Auseinandersetzung mit dem „factionalism“ lesen. 7 In 1,25 dominiert die Opposition Gott – Menschen (vgl. V. 29 Rühmen; ferner 2,5.11; 3,3b.4). Sie variiert die Basis-Opposition von Gott – Welt; dazu H. Merklein, Der erste Brief an die Korinther (ÖTBK 7), Bd. 1, Gütersloh 1992, 171 f. 8 Ganz anders etwa die Ausgangsposition von R. Pickett, The Cross in Corinth. The Social Significance of the Death of Jesus (JSNT.S 143), Sheffield 1997, 38 f; 44 f, für den hinter 1 Kor 1–4
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transparent für eine Auseinandersetzung des Evangeliums mit dominanten Formen antiker ‚Weltanschauung‘ überhaupt, wie Paulus an der universalisierenden Gegenüberstellung von Griechen und Juden zu erkennen gibt. Die von den Korinthern zelebrierte Weisheit wird von Paulus auf die „Weisheit dieser Welt“ schlechthin entschränkt. Dies erlaubt es, die ersten Kapitel des 1. Korintherbriefs auch im Blick auf die die Neuzeit konstituierenden Denk‑ und Lebensvoraussetzungen zu lesen.9 Der λόγος τοῦ σταυροῦ, das Wort vom Kreuz, erscheint nach der in 1,18 und 3,19 formulierten These zugleich als Torheit und als Kraft Gottes. Torheit stellt er in der Perspektive der „Weisheit dieser Welt“ dar. Paulus signalisiert damit, dass er eine Auseinandersetzung mit dem in seiner Zeit dominierenden griechisch- hellenistischen Denken führt, das natürlich auch in Korinth massgeblich war.10 Nur am Rand wird auch das herkömmliche jüdische Modell genannt. Während die Griechen als Sucher der Weisheit erscheinen,11 werden die Juden als Sucher von Zeichen identifiziert (1,22). Den Griechen kann das Kreuz Christi nur als Torheit erscheinen, den Juden nur als Ärgernis. Für die Christen, also „für uns, die Geretteten“ (1,18) bzw. „für die Berufenen, Juden wie Griechen“, ist es Gottes Kraft und Gottes Weisheit (1,24). Die von den Griechen verachtete Torheit wird im Raum des gekreuzigten Christus zur Weisheit Gottes, während sich das für jüdisches Empfinden Anstössige als Kraft Gottes manifestiert.12 Die keine theologische Auseinandersetzung steht. Ginge es lediglich um die Geltung soziokultureller Normen, hätte sich Paulus die Sache einfacher machen können! 9 Vgl. dazu F. Voss, Das Wort vom Kreuz und die menschliche Vernunft. Eine soteriologische Untersuchung zum 1. Korintherbrief (FRLANT 199), Göttingen 2002, 292–296. 10 Zwar haben sich die korinthischen Pneumatiker mutmasslich nicht an philosophischer Rationalität oder an Ordnungskonzeptionen orientiert, sondern an ‚übernatürlicher‘ Pneuma-Offenbarung und esoterischer Weisheit. Immerhin zeigt gerade Philon, dass sich an Ordnungen orientierte Rationalität und pneumatischer „Enthusiasmus“ gar nicht auszuschliessen brauchen. Paulus selbst zögert jedenfalls nicht, die korinthische Weisheit auf die von den Griechen gesuchte Weisheit schlechthin zu entschränken. Vgl. P. Lampe, Theological Wisdom and the „Word about the Cross“, Interp. 44 (1990) 117–131: „Paul focuses on their theo-sophy“ (120). 11 Obschon „Griechen“ in Kombination mit „Juden“ „im weiteren Sinn alle unter der Einwirkung der griechischen, d. h. heidnischen Kultur stehenden Menschen“, also Heiden meint (Bauer / Aland, Wb 508), zielt Paulus doch spezifisch auf das Selbstverständnis der hellenisierten Antike. 12 In 1,18–25 werden zwei semantische „Reihen“ erkennbar, „Kraft/Schwäche“ und „Weisheit/ Torheit“, die sich zunächst gut mit den beiden Populationen „Juden“ und Griechen“ korrelieren lassen (auch in V. 20 weist der „Weise“ auf die Griechen, der „Schriftgelehrte“ auf die Juden, während „der Forscher dieser Weltzeit“ entschränkt). Die universalisierende ethnische Zuordnung wird aber doppelt gebrochen: Zum einen fungiert die „Kraft Gottes“ (1,18.24; vgl. 2,5) als übergreifender Leitbegriff (vgl. Röm 1,16; ferner 2 Kor 13,4), die „als solche nie in menschliche Verfügungsgewalt übergeht“ (Schrage, 1 Kor, Bd. 1 [s. Anm. 5] 173). Zum andern dominiert die auf die Korinther zielende Orientierung an der Weisheit, die auch durch die Schriftzitate getragen wird (Jes 29,14 in 1,19; Hi 5,13 in 3,19; Ps 94,11 in 3,20; zu ihrer Funktion vgl. H. H. D. Williams, The Wisdom of the Wise. The Presence and Function of Scripture within 1 Cor. 1:18–3:23 [AGJU 49], Leiden 2001, 47–101; 301–330).
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Glaubenden gesellen sich den Juden und Griechen hier nicht als tertium genus hinzu,13 sondern markieren die Gegenwart neuer Schöpfung inmitten der alten Welt (vgl. Gal 6,15; 3,28). Auf der von Paulus gewiesenen Spur lässt sich das Weisheitsstreben der Griechen ein Stück weit verallgemeinern. Die Weisheit dieser Welt orientiert sich an dem, was in „dieser Welt“ Wert und Geltung hat, also an kulturellen Normen. „Weisheit“ lässt sich verstehen im Sinn eines Einordnens alltäglicher Erfahrung und vereinzelten Wissens in einen grossen Ordnungszusammenhang, in ein von Werten und Hierarchien bestimmtes System des Seienden. Die einzelnen Phänomene werden in den Zusammenhang eines umfassenden Ganzen hinein gestellt, verdichtet im Begriff „dieser Welt“. Im antiken Horizont erfolgt die Orientierung gern an Zeitinvariantem: an kosmischen Gesetzen, die besonders in der regulären Bewegung der Himmelskörper erkennbar ist; an alter Weisheit zumal aus dem Orient, die an alle Völker weitergegeben wird; an der Hochschätzung des „Alten“, während das „Neue“ suspekt bleibt; an Gott als unveränderlichem transzendentem Gipfel der Seinspyramide, an dessen überlegener Position der Betrachter kraft seines Geistes teilzuhaben beansprucht. Diesem Seinssystem entspricht endlich die hierarchisch gegliederte Gesellschaft des Imperium Romanum mit der unerhörten Geltung von sozialem Status und Herkommen. ‚Zeitgeist‘ und ‚Mentalität‘ formieren so eine umfassende kulturelle Matrix, welche das soziale Leben der antiken Mittelmeerwelt ganz selbstverständlich bestimmt. Wir wissen zu wenig von der Theologie der korinthischen Pneumatiker, um sie in diese holzschnittartig umrissene kulturelle Matrix einzeichnen zu können. Sie scheinen zwar die an kosmischen Ordnungen ausgerichtete Rationalität zu übersteigen zugunsten einer ekstatischen Erkenntnis (vgl. 12,1 ff; 14,1 ff). In paulinischer Perspektive bleibt aber auch die korinthische Weisheit im Gravitationsfeld der „Welt“, des gegenwärtigen Äons. Zu denken ist an die Orientierung am Himmlisch-Jenseitigen (vgl. 2,6 ff; 6,13a; 15,45 f), an individualistisch konzipierte Freiheits‑ und Autonomie-Ideale (9,1.19; 4,8; 6,12a; 8,1 ff; 10,23a) und an die Tendenz zur Cliquenbildung (1,10 ff; vgl. 11,18 ff), schliesslich an die Ablehnung einer kosmisch-leiblichen Eschatologie (15,12b). Viele korinthische Christen scheinen sich trotz ihrer neuen Identität in Jesus Christus ganz selbstverständlich an den sozialen und kulturellen Normen ihrer Umwelt orientiert zu haben (vgl. 6,1; 6,12 ff; 8,10; 11,21). Paulus erkennt darin nicht nur „Aufblähung“ (4,6.18 f; 5,2; 8,1), sondern die „Aushöhlung“ des Kreuzes Christi (1,17b). Nun nennt der Apostel neben den Griechen beiläufig auch die Juden und bringt damit diejenige universale Perspektive ins Spiel, die auch die ersten Kapitel des Römerbriefs auszeichnet. Während die Griechen das – primär räumlich strukturierte – Weltsystem im Spiegel ihrer Weisheit zu schauen suchen, sind die 13 Zu den Christen als „drittem Geschlecht“ vgl. KerPetr frg. 5 Dobschütz (vgl. klT 3 [21908], 15; NTApo 62, 40 [frg. 2.d]); Aristeid., apol. 2; 15; Diognet 1,1.
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Juden aus auf „Zeichen“ (σημεῖα). Bei diesen ist an in der Geschichte ergehende Machtmanifestationen Gottes zu denken, wie etwa der Sprachgebrauch von Josephus belegt.14 Etwas schematisch formalisiert: Suchen die Griechen die Epiphanie des Göttlichen im Raum, im Kosmos, so die Juden in der Zeit, in der Geschichte. Dem allem stellt Paulus das Kreuz Christi entgegen, also den Kreuzestod eines verurteilten Verbrechers, was sich im Horizont des ersten Jahrhunderts n. Chr. ausgesprochen einfältig und anstössig ausnimmt.15 In der Sicht des Apostels kommt Gott unter den Bedingungen der gegenwärtigen Weltzeit ganz anders als erwartet zur Erscheinung. Die ‚Weisheit dieser Welt‘ sucht Gott im räumlich konzipierten System des Seienden als Ursache und als Spitze des Ganzen zu identifizieren. Es sind Gipfel‑ und Grenzerfahrungen, in denen sich das Göttliche dem Erkennen erschliesst. Manche Korinther spezialisierten sich offenbar auf solche spirituellen Erfahrungen (vgl. Kap. 14). Dieser exklusiven Verortung Gottes in der Höhe setzt das Evangelium die Offenbarung Gottes in der Tiefe entgegen. Analoges gilt für die Perspektive, die Paulus den Juden zuschreibt: Gott müsste hier erscheinen in einem Unterbruch der Geschichte, in einem machtvollen Selbsterweis. Wiederum steht dem das Kreuz entgegen. Ausgerechnet ein Gekreuzigter, über dem nach Dtn 21,22 f der Fluch Gottes waltet, wird als der Gesalbte Gottes identifiziert.16 Setzt Paulus so das Wort vom Kreuz der beredten Weisheit dieser Welt gegenüber, so könnte dies auf eine weitgehend negative, apophatische Redeweise hinauslaufen. Gott ist dann so schlechthin anders, dass man über ihn nur im Modus von Paradoxen sprechen könnte. Vielleicht wäre es dann besser, das radikale Andersseins Gottes auszuhalten, indem man überhaupt verstummt. Paulus selbst scheint aber einen anderen Weg zu weisen. Gott ist anders anders! Das Evangelium drängt über schiere Paradoxe hinaus. Der Apostel versucht nämlich, die Erfahrung der Glaubenden als Zeugin für Gottes überraschende Gegenwart in der Welt in Anspruch zu nehmen. Er nimmt damit ein ureigenes Anliegen des weisheitlichen Denkens auf. Dies zeigt sich einmal in V. 21, wo Paulus Schöpfung und Kreuz in ein Verhältnis zu bringen sucht. Das zeigt sich sodann in V. 24, 14 Vgl. K. H. Rengstorf, Art. σημεῖον, ThWNT 7 (1964) 199–261, hier: 222 f; 258; W. Weiss, „Zeichen und Wunder“ (WMANT 67), Neukirchen 1995, 24–33; 69 f. Die Zeichen erschöpfen sich nicht in ihrer Legitimationsfunktion (so ist es der Fall in der synoptischen Zeichenforderung, Q: Lk 11,16.29–32 par.; Mk 8,11–13 par.). 15 Zur damit notwendigen Auseinandersetzung der frühchristlichen Theologie mit der griechisch-hellenistischen Philosophie vgl. K. Rosen, Von der Torheit für die Heiden zur wahren Philosophie, in: R. von Haehling (Hg.), Rom und das himmlische Jerusalem, Darmstadt 2000, 124–151. 16 Vgl. dazu H. Merklein, Das paulinische Paradox des Kreuzes, in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, Bd. 2 (WUNT 105), Tübingen 1998, 285–302, hier: 286–289. Zur dornigen christlich-jüdischen Frage vgl. ders., Impliziert das Bekenntnis zum Gekreuzigten ein Nein zum Judentum?, in: K. Wengst / G. Sass (Hg.), Ja und nein, FS W. Schrage, Neukirchen 1998, 111–126.
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wo er Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit deutet. Und es zeigt sich schliesslich in V. 25, wo er die göttliche und die weltliche Dimension komparativisch in Beziehung zueinander setzt. Im Folgenden soll dies näher untersucht werden. Im schwierigen V. 21 spricht Paulus von der Möglichkeit einer natürlichen Theologie, auch hier in augenfälliger Entsprechung zu Röm 1,19–23.17 Obschon die Welt transparent ist für Gottes schöpferische Weisheit, sind die Menschen blind und starren gebannt in den trügerischen Spiegel ihrer eigenen Weisheit,18 die sich etwas handstreichartig als egozentrierte Wahrnehmung der Welt deuten lässt. In diesem verkrümmten Spiegel unserer eigenen Weisheit kommt Gottes Weisheit nicht mehr in ihrer eigenen Kraft zur Erscheinung, sondern wird von unseren eigenen Projektionen verstellt. So manifestiert sie sich in einer ganz unvermuteten, abseits unserer Projektionen aufgehenden Gestalt: im Kreuz, also im toten Winkel des menschlichen Erkenntnislichts, in der Schattenzone der ‚Weisheit dieser Welt‘. Gottes Weisheit lässt sich also in genau jenem Bereich finden, der in der natürlichen Theologie ausgeblendet wird – im Bereich von Leiden, Tod und Vergänglichkeit.19 Eine weitere Bezugnahme des Wortes vom Kreuz auf unsere Welterfahrungen bzw. Gotteserfahrungen findet sich in V. 24, wo Christus als θεοῦ δύναμις καὶ θεοῦ σοφία prädiziert wird. An diesem Punkt weiss sich Paulus mit den Korinthern gewiss einig. Aber wieder ist es in seiner Perspektive erst das Wort vom Kreuz, das ein dem Evangelium angemessenes Verständnis von Christus als „Gotteskraft“ und „Weisheit“ ermöglicht. Begründet wird diese Prädizierung in chiastischer Bezugnahme durch die Komparative von V. 25, worin gleichsam im Schnittpunkt des Kreuzes die weisere Weisheit und stärkere Kraft Gottes im Erfahrungsbereich der Glaubenden identifiziert wird. Die Figur des eschatologischen Komparativs gibt m. E. einen deutlichen Hinweis darauf, dass für Paulus das Kreuzeswort nicht einfach auf das paradoxe Anderssein Gottes abhebt, sondern weite vom Glauben ermöglichte Erfahrungsdimensionen erschliessen will.20 Diese Annahme wird durch die beiden folgenden Argumentationsgänge bestätigt.
17 Zu beachten ist die Semantik von Weisheit und Torheit (vgl. Sap 13,1); vgl. dazu R. H. Bell, No One Seeks for God. An Exegetical and Theological Study of Romans 1.18–3.20 (WUNT 106), Tübingen 1998, 95–97. 18 Die Wendung ἐν τῇ σοφίᾳ τοῦ θεου ist am ehesten lokal zu verstehen: Der Kosmos ist gleichsam in die Weisheit Gottes eingebettet, wogegen διὰ τῆς σοφίας auf die Menschenweisheit geht. Ähnlich deutet z. B. Schrage, 1 Kor, Bd. 1 (s. Anm. 5) 179 f. 19 Vgl. zum schöpfungstheologischen Hintergrund Ch. Link, Schöpfung (HST 7.2), Gütersloh 1991, 467 f; 580–582. 20 Anders Lindemann, 1 Kor (s. Anm. 6) 48: „die Komparative in V. 25 bezeichnen faktisch Gegensätze.“
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3. Aufbietung von Augenzeugen (1 Kor 1,26–2,5) Beide Abschnitte (1,26– 21; 2,1–5) sind insofern in ihrer Aussagefolge 1,18–25 verwandt, als sie zuerst negativ-kritisch, dann aber positiv formulieren. Ihre Bedeutsamkeit besteht nicht zuletzt darin, dass Paulus der Glaubenserfahrung die Verifizierung des Wortes vom Kreuz zutraut.21 Die Erfahrung der Glaubenden zeugt von Wahrheit dessen, was in der Rede vom Kreuz zur Sprache kommt (vgl. Gal 3,1–4). Letztlich liegt dies im Wirken des Geistes begründet. Das erste Exemplum sind die Korinther selbst (1,26–31).22 Paulus benennt die κλῆσις der Korinther, d. h. ihren Status, worin sie der Ruf Gottes getroffen hat, mit Begriffen, die in der hellenistisch-römischen Gesellschaft ausgesprochen negativ konnotiert sind. Die Korinther sind grösstenteils keine Eliten, wie sie sonst gern in der Weisheitsliteratur aufgeboten werden.23 Im Gegenteil, Paulus kann sie mit dem „Nichts“ identifizieren (V. 27 f: μωρά, ἀσθενῆ, ἀγενῆ, ἐξουθενημένα, μὴ ὄντα),24 an dem Gottes Schöpfermacht tätig wird. V. 28c weitet markant aus und beansprucht für das Entstehen der Gemeinde die eschatologische creatio ex nihilo (vgl. Röm 4,17). Mit der Bevorzugung des ‚Unteren‘ und Verachteten nimmt Paulus die alttestamentlich-jüdische, aber auch im paganen Raum bekannte Tradition der Umkehrung der Verhältnisse am Zeitenende auf (vgl. z. B. Lk 1,52 f). Das Muster der Umkehrung wird allerdings überschritten, geht es doch um den göttlich gewirkten Durchbruch auf ein fundamental neues Niveau. Darauf deutet neben der Erwählungsterminologie (Dtn 7,7 f) vor allem V. 29, der in Anlehnung an Jer 9,22fLXX (vgl. 1 Sam 2,10LXX) das Rühmen der Sarx ausschliesst.25 „Sich Rühmen“ meint bei Paulus ein vertrauendes sich Verlassen auf etwas.26 Man kann sich auf das Eigene verlassen, was der Apostel σάρξ nennt, oder aber auf den Grund des Lebens, auf Gott bzw. Christus (vgl. Phil 3,3). Im Geschehen neuer Schöpfung (V. 28 und 30) erschliesst Christus alles das, auf was Griechen und Juden aus sind, „Weisheit“ und „Gerechtigkeit“. Paulus mutet den Menschen zu, sich dem Nichts auszusetzen, um daraus neues Sein und neues Leben zu erfahren. Dies zielt auch gegen die Überschätzung der Lehrer, sind doch auch sie vor Gott nichts (3,7). Die apostolische Existenz im Todesschatten (4,9–13) bezeugt auf ihre Weise die grundlegende Relation zu Gott als dem allein Erschaffenden (2 Kor 4,7b).27 Zum rezipientenorientierten Aspekt von 1,26 ff vgl. Becker, Theologie (s. Anm. 2) 216 f. Lindemann, 1 Kor (s. Anm. 6) 49 liegt hier „der eigentlich zur Verhandlung stehende Gegenstand vor“, nicht einfach ein exemplum. 23 So besonders König Salomo, der sich in Sap sogar an seine royalen Kollegen wendet (1,1; 6,1 ff). 24 Die Neutra widerspiegeln einerseits die verächtliche Redeweise der top down-Perspektive, treiben andrerseits die Generalisierung voran. 25 Zu Jer 9,22 vgl. Williams, Wisdom (s. Anm. 12) 103–132. 26 Vgl. dazu R. Bultmann, Art. καυχάομαι κτλ., ThWNT 3 (1938) 646–653; H. Weder, Das Kreuz Jesu bei Paulus (FRLANT 125), Göttingen 1981, 160 f. 27 Zum Hintergrund vgl. H. von Lips, Die „Leiden des Apostels“ als Thema paulinischer Theologie, in: P. Müller / Ch. Gerber / Th. Knöppel (Hg.), „… was ihr auf dem Weg verhandelt habt“, FS F. Hahn, Neukirchen 2001, 117–128. 21
22 Für
3. Aufbietung von Augenzeugen (1 Kor 1,26–2,5)
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In 2,1–5 präsentiert sich Paulus selbst als weiteres exemplum (vgl. 1 Kor 9,1 ff),28 indem er an sein Wirken in Korinth erinnert mit dem Mangel an gewaltiger Rede (λόγος) und aufsehenerregender Weisheit (σοφία). Das Geheimnis Gottes29 konnte er „nur“ in Form der Rede vom gekreuzigten Christus zur Sprache bringen, in Schwäche, Furcht und Zittern. Aber eben so, ohne alle Überredungskunst, gelangte dieses Wort zu seinen Adressaten und wurde zu einem ungemein plausiblen Erweis von Geist und Kraft (V. 4). Was meint Paulus? Einmal wird hier die πειθώ, die Überredungs‑ bzw. Überzeugungskunst der Rede, verworfen. Paulus bezieht Position in einer längst schon klassischen Debatte der hellenistisch- römischen Welt.30 Wenn er die imponierende Gewalt rhetorischer Rede ablehnt zugunsten des Kerygmas vom gekreuzigten Christus, dann greift er auf die Kritik der Philosophen an den Sophisten zurück.31 Und wie die Philosophen weiss er dabei sehr effektvolle rhetorische Mittel einzusetzen.32 Entscheidend ist nur, dass die Botschaft vom Gekreuzigten nicht durch die Eloquenz verstellt wird.33 Der „Beweis des Geistes und der Kraft“ (V. 4) hebt nicht primär auf wunderbare Krafterweise bei seiner Wirksamkeit in Korinth ab (vgl. dazu 2 Kor 12,12; Röm 15,18 f), sondern auf die Wirkung des paulinischen Evangeliums (1,26 ff);34 die Korinther sind als Gemeinde der Glaubenden selbst dessen Frucht. V. 5 benennt wiederum die eigentliche Antithese: Weisheit von Menschen steht der Wirksamkeit Gottes entgegen (vgl. 1,25.29; 2,11; 3,3b.4). Die σοφία λόγου bzw. σοφία ἀνθρώπων eliminiert die Offenheit gegenüber Gott, weil sie etwas ‚Selbstgemachtes‘ in den Vordergrund rückt, während der Glaube transparent ist für Gottes dynamis.
28 Vgl. dazu B. Dodd, Paul’s Paradigmatic ‚I‘. Personal Example as Literary Strategy (JSNT.S 177), Sheffield 1999, 33–63 (zu 1 Kor 1–4). 29 Die Lesart μυστήριον ist vorzuziehen gegenüber μαρτύριον. 30 Vgl. dazu H. von Arnim, Leben und Werke des Dio von Prusa, Berlin 1898, 4–114; zusammenfassend H. I. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, dt. Übs. (dtv 4275) München 1977, 396–400 und G. Kennedy, The Art of Persuasion in Greece, Princeton 1963, 321–330. 31 Die Definition der Rhetorik als πειθοῦς δημιουργός wird in der Antike verschiedenen Autoritäten zugeschrieben: Korax und Teisias (Anon. Rhet., proleg.: Rhet. Graec. 14, 26:20 f Rabe; epitom.: Rhet. Graec. 3, 611:11 Walz; vgl. O. A. Baumhauer, Art. Korax 3, DNP 6 [1999] 734 f); Gorgias (FVS 82 A 28 = Plat., Gorg. 453a); Isokrates (frg. 1 M./B. [ἐπιστήμη πειθοῦς]; vgl. Quint., inst. 2,15:4). Im Blick auf diese Tradition ist es verführerisch, in 1 Kor 2,4a trotz Fehlanzeige in den Handschriften ἐν πειθοῖ σοφίας zu lesen. 32 Auf die von Paulus gepflegte Kunst des Erzählens, des Redens und des Dichtens weist hin Th. Söding, Das Geheimnis Gottes im Kreuz Jesu (1 Kor 2,1 f. 7 ff), in: ders., Wort (s. Anm. 3) 71–92, hier: 85–91. 33 Auf die Komplementarität der rhetorischen Strategien in 1,18–2,5 und 2,6–3,4 macht S. Vos, Die Argumentation des Paulus in 1 Kor 1,10–3,4, in: R. Bieringer (Hg.), The Corinthian Correspondence (BEThL 125), Louvain 1996, 87–119, hier: 106 ff aufmerksam. 34 S. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus (WUNT 134), Tübingen 2001, 160–170, insistiert mit Recht auf dem Aspekt des Wunderbaren, während sein Vorschlag, V. 4 vom Mysterium V. 6 ff her zu lesen, überaus kompliziert wirkt.
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4. Sprung in den Abgrund (1 Kor 2,6–16) In dieser bekanntermassen schwierigen Passage,35 worin die in 1,24 f sowie 1,30ba formulierte These von Christus als Weisheit Gottes entfaltet wird,36 baut Paulus eine doppelte, überaus scharfe Differenz auf: Zum einen wird unterschieden zwischen der Weisheit dieser Weltzeit und der verborgenen, nun offenbaren Weisheit Gottes (V. 6–8); zum andern wird der Geist Gottes gegen den Geist des Menschen abgegrenzt. Von entscheidender Bedeutung ist der Übergang des Leitbegriffs von der Weisheit (2,6–9) zum Geist (2,10–16). V. 10a gibt den Grund für den thematischen Wechsel an: Es ist die Gabe des göttlichen Geists, der die verborgene Weisheit erschliesst. Damit verweist er die Korinther wieder in den Raum ihrer Erfahrungen.37 In der Geisterfahrung kommt all das, was Weisheit ausmacht, zu ihrer Erfüllung. Offenbar wird die schillernde Gestalt der Sophia erst durch den Geist vereindeutigt, der wiederum als Geist Christi auf den Gekreuzigten zurückweist.38 Im ersten Teil aktualisiert Paulus aus der jüdischen Weisheitstradition ein besonderes Moment.39 Während es in 1,21 um das Motiv der nahen Weisheit, die nicht erkannt wird und deshalb das Gericht nach sich zieht, geht (vgl. Röm 1,18 ff), dominiert nun das Motiv der verborgenen Weisheit, die offenbar wird (vgl. Röm 11,33 f; vgl. ferner 10,6–8).40 Inhaltlich wird die verborgene Weisheit mit τὰ ὑπὸ τοῦ θεοῦ χαρισθέντα ἡμῖν identifiziert (V. 12), entsprechend dem Schriftzitat von V. 9 („was Gott denen, die ihn lieben, bereitet hat“).41 Es sind also nicht abseitige, urtümliche himmlische Geheimnisse, die 35 Ich gehe davon aus, dass Paulus hier nicht die Sprache oder die Vorstellungen seiner Gegner übernimmt, sondern eigenständig formuliert, auch wenn seine Rhetorik auf die Korinther und ihre Weisheitsbegeisterung zielt. Die „Weisheit für Vollkommene“ ist zwar im Kreuz zentriert, greift aber m. E. in weite Zusammenhänge apokalyptischen Wissens aus, zu dem Paulus Zugang hat (vgl. dazu 2 Kor 12,3 ff; 1 Kor 14,2.18; 15,51; Röm 11,25 sowie Dan 2,28–30) und hier auch andeutet (V. 8–10). Das Kreuz bleibt aber das Kriterium aller höheren Weisheit (vgl. 1 Kor 13,1–3). Vgl. zur „geistlichen Erkenntnistheorie“ des Abschnitts P. Stuhlmacher, Zur hermeneutischen Bedeutung von 1 Kor 2,6–16, ThBeitr 18 (1987) 133–158. 36 Vgl. G. D. F. Fee, The First Epistle to the Corinthians (NIC), Grand Rapids 1987, 98. 37 Die Briefadressaten sind im „wir“ / „uns“ von V. 10.12.16 miteingeschlossen (in Anknüpfung an das Schriftzitat V. 9); dazu Lindemann, 1 Kor (s. Anm. 6) 67 f. 38 Möglicherweise variiert das zweifache Bildfeld die voranstehende Zweiheit von σοφία und δύναμις (1,24; 2,4 f). Zur Wechselwirkung von δύναμις und πνεῦμα vgl. 2,4 (!); Röm 15,13.19; 1,4; 1 Thess 1,5; Gal 3,5. 39 Vgl. zur Typologie H. von Lips, Weisheitliche Traditionen im Neuen Testament (WMANT 64), Neukirchen 1990, 171–181; 336–340. 40 Paulus scheint sich in 2,6–10 an ein gedankliches Muster anzulehnen, das wenig später in Gestalt des sogenannten Revelationsschemas begegnet (vgl. Kol 1,26 f; Eph 3,4–7.8–11; Röm 16,25 f; usw.). Das Schema korreliert die Kontingenz der Jesusgeschichte und den zeitenübergreifenden Heilswillen Gottes. Damit steht es in gewisser Spannung zum Modell von Weissagung und Erfüllung. Vgl. M. Wolter, Verborgene Weisheit und Heil für die Heiden, ZThK 84 (1987) 297–319; von Lips, Weisheit (s. Anm. 39) 351 f. 41 Zum Rätsel des Zitats vgl. zuletzt Williams, Wisdom (s. Anm. 12) 157–209, der mit Zitat von Jes 64,3, Anspielung auf Jes 65,17 und Echo von Dan 2,19–23 auszukommen glaubt.
4. Sprung in den Abgrund (1 Kor 2,6–16)
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das Herzstück dieser Weisheit ausmachen, sondern das Wunder des Gnadengeschenkes Gottes, das in dem Namen Jesu Christi beschlossen ist. In ihrem Zentrum ist die verborgene Weisheit mit dem blossen Wort vom Kreuz identisch.42 Im zweiten Teil (2,10 ff) rückt der Geist in die Mitte der Ausführung, ein für die Korinther wiederum äusserst attraktives Thema. Paulus wendet sich von der Sophialogie zur Erkenntnistheorie samt der ihr entsprechenden Anthropologie und knüpft so wieder an die Glaubenserfahrung seiner Adressaten an. Jene verborgene Weisheit wird durch das Pneuma vermittelt, das die Glaubenden empfangen haben und immer wieder neu empfangen. Der Apostel greift dabei auf den philosophischen Topos zurück, dass Gleiches nur durch Gleiches erkannt wird (V. 11).43 Mit dem Hinweis auf dieses Erkenntnisprinzip und die grundsätzliche Differenz von Welt-/Menschengeist und Gottesgeist, an dem die Glaubenden Anteil haben,44 setzt der Apostel seine höhere (bzw. tiefere) Weisheit, welche die Abgründe Gottes umkreist, nochmals von der menschlichen Weisheit ab. Im Zentrum dieser höheren, ‚mystischen‘ Erkenntnis stehen τὰ ὑπὸ τοῦ θεοῦ χαρισθέντα ἡμῖν (V. 12), also wieder das im Kreuz Christi gründende Heil. Man könnte dahingehend formulieren, dass das Kreuz des Christus am Grund der „Tiefen Gottes“ aufgerichtet ist, trägt doch der alles ergründende Geist im Verständnis des Paulus die Züge des gekreuzigten Christus. Mit 2,13–16 rückt die Kommunikation der Geistesoffenbarung in den Mittelpunkt. Wiederum dominiert, nochmals verschärft, der Gegensatz von natürlichem und pneumatisch erworbenem Wissen, nun auf Personen übertragen. Die auffällige Schärfe der Distanzierung zwischen „Psychischem“ und „Pneumatischem“, die in 15,44–49 wiederkehrt, überbietet die hellenistisch-jüdische Religionsphilosophie vom Typ Philons und weist auf die Gnosis voraus.45 Es ist nicht zu verkennen, dass die Argumentation mit 2,14/15 in eine gefährliche 42 Vgl. dazu G. Theissen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie (FRLANT 131), Göttingen 21993, 341–389. 43 Vgl. z. B. CorpHerm 11,20: „Wenn du dich nicht selbst Gott angleichst, kannst du über Gott nicht nachdenken. Nur dem Ähnlichen ist das Ähnliche denkbar (τὸ γὰρ ὅμοιον τῷ ὁμοίῳ νοητόν).“ Zum Grundsatz vgl. A. Schneider, Der Gedanke der Erkenntnis des Gleichen durch Gleiches in antiker und patristischer Zeit, in: Abhandlungen zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, FS C. Baeumker (BGPhMA.S 2), Münster 1923, 65–76; C. W. Müller, Gleiches zu Gleichem. Ein Prinzip frühgriechischen Denkens (KPS 31), Wiesbaden 1965. 44 Das Zuordnungsverhältnis von Pneuma und Pneuma ist in 1 Kor 2,11 f konträr zu demjenigen von Röm 8,16 konzipiert, wo es um die Berührung von menschlichem und göttlichem Pneuma geht: Das Zeugnis von Geist zu Geist geht hier von einem Organ im Menschen aus, das die Botschaft des göttlichen Geistes aufzunehmen vermag (vgl. 1 Kor 14,14 f), weil es durch diesen geradezu konstituiert wird. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden, in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 163–192, hier: 177 ff. 45 Vgl. M. Winter, Pneumatiker und Psychiker in Korinth (MThS 12), Marburg 1975, 96–157; U. Wilckens, Zu 1 Kor 2,1–16, in: C. Andresen / G. Klein (Hg.), Theologia Crucis – Signum Crucis, FS E. Dinkler, Tübingen 1979, 501–537, hier: 524–537; H.-W. Kuhn, The Wisdom Passage in 1 Corinthians 2:6–16 between Qumran and Proto-Gnosticism, in: D.K Falk / F. García
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Sackgasse gerät.46 Sie droht eine in sich abgeschlossene, selbst-referentielle Geistwelt zu präsentieren, wo kein äusseres Urteilen mehr möglich ist – in neuzeitlichem Psycho-Jargon: eine Pneuma-„Kiste“. Pneumatiker wären ganz unter sich und keinen externen Kriterien mehr unterstellt.47 Dafür sensibilisiert die Wirkungsgeschichte: Gut 1200 Jahre später begründete Papst Bonifaz VIII. mit diesen Versen die Überlegenheit des Papsttums über das Kaisertum und damit seinen Weltherrschaftsanspruch!48 Es handelt sich dabei um einen fatalen Missbrauch der Ausführungen des Apostels, die im 1. Korintherbrief ja gerade davon bestimmt sind, das Kreuz zum Kriterium aller Geistesoffenbarungen zu machen. Unsere Verse zeigen eine Schieflage und spielen den Korinthern einen Ball zu, der die gute Absicht des Paulus durchkreuzen könnte.
Gleichsam als Gegengewicht fungiert V. 16: Die Antwort auf die alttestamentliche Frage ‚wer hat den Sinn des Herrn erkannt, dass er ihn belehre?‘ (Jes 40,13LXX) lautet ‚Niemand!‘ Der νοῦς Χριστοῦ erinnert deutlich genug an den Gekreuzigten. Hier wird wieder ein externes Kriterium für die pneumatische Erkenntnis laut, das im nachstehenden Kontext nochmals variiert wird, nämlich im Argument von den Früchten (3,1 ff). Diesem Gegengewicht entspricht dann 4,3–5: Die Pneuma-„Kiste“ wird vom göttlichen Gericht, das über die Verkündiger ergeht, aufgebrochen (vgl. 3,13–15). Zugleich zeigt die komplexe Passage, wie Paulus mit für uns nicht mehr greifbaren Urteilen der Korinther über seine Person umgeht: Einerseits spricht er diesen die Urteilsfähigkeit ab, weil sie nicht Pneumatiker sind (so in 2,13–15), andrerseits, weil sie dem Urteil des Endgerichts nicht vorgreifen sollen. Aber zugleich nennt er im 1. Korintherbrief immer wieder die im Kreuz Jesu verdichteten Kriterien, woran er und sein Werk geprüft sein wollen: Am Aufbau (οἰκοδομή) der Gemeinde und an der Offenheit für die Liebe, die mitten in Alltag und Erdenwelt die Herzen verwandeln will.
5. Out of Africa (1 Kor 3,1–4) Auf die inspirierte Weisheitsrede folgt eine Schocktherapie. Paulus geht rhetorisch äusserst geschickt vor. Mit 2,6–16 hat er die Korinther in Begeisterung versetzt, sie auf eine Himmelfahrt zur Schau der Abgründe Gottes mitgerissen. Nun lässt er sie auf die Erde zurückstürzen. Sie kommen gar nicht als Pneumatiker, als vom Geist Erleuchtete und Getriebene in Betracht, sondern als „Fleischmenschen“, im vorliegenden Kontext also solche, die sich an in ‚dieser Welt‘ Martínez / E. M. Schuller (Hg.), Sapiential, Liturgical and Poetical Texts from Qumran (StTDJ 35), Leiden 2000, 240–253, hier: 244–247. 46 Vgl. Merklein, 1 Kor, Bd. 1 (s. Anm. 7) 243: „V. 15b zeigt die Grösse, aber auch die Gefährlichkeit und Verwundbarkeit der paulinischen Position.“ 47 Vgl. zum Sachproblem die an 1 Kor 1,4–4,21 orientierte Studie von M. Pöttner, Realität als Kommunikation, Münster 1995, besonders 279–283; 368–370. 48 S. dazu Schrage, 1 Kor, Bd. 1 (s. Anm. 5) 277.
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geltenden Autoritäten orientieren. Dies führt nach Paulus zu Eifersucht und Streit. Mit dem „trojanischen Pferd“ von 2,6–16 holt er die Korinther in 3,1 ff auf die Ebene von Alltag und Gemeinschaft zurück und identifiziert im Vorkommen von Eifersucht und Streit (vgl. 1,11) die Wirksamkeit des Fleisches.49
6. Bilanz: zur Kreuzestheologie in 1 Kor 1–4 1. In religionsgeschichtlicher Perspektive steht die paulinische Argumentation im Horizont einer apokalyptischen Theologie, in der sapientiale Motive und Themen eschatologisch umgebrochen werden.50 Das Christusereignis stellt die Wende dar, die „diesen Äon“ (1,20; 2,6–8; 3,18) bzw. „den Kosmos“ (1,20 f. 27 f; 2,12; 3,19) von der jetzt die Gegenwart berührenden Vollendungszukunft scheidet. Auch die Umkehrungsthematik in 1,27 f ist traditionsgeschichtlich gesehen endzeitlich konnotiert. Deshalb ist die grosse Brücke, die von unserem stark systematisch bestimmten Abschnitt am Anfang des Briefs zum letzten grossen Lehrtext, Kap. 15, führt, in der Auslegung immer mitzubedenken. Während sich die Korinther – wahrscheinlich – an der Protologie und an der Differenz von Himmel und Erde orientieren,51 schärft Paulus die Wahrnehmung für die Differenz der Weltzeiten inmitten der Gegenwart. Er sensibilisiert damit für die Dimension des Todes bzw. des Nichts, die sich zwischen den Weltzeiten aufspannt. An genau diesem (Un‑)Ort steht das Kreuz Christi. 2. Markiert das Kreuz die Krisis, die über „dieser Weltzeit“ ergeht, so stellt es alle Gestalten des Erkennens, die sich am gegenwärtigen Kosmos des Seienden orientieren, in Frage. Der Logos vom Kreuz rückt die Schattenzonen der Wissens‑ und Orientierungssysteme einer jeden Zeit ins Bewusstsein, dasjenige also, was in ihrem totem Winkel liegt. Indem er diese spezifischen Ausblendungen benennt, stellt er die Machtförmigkeit des jeweiligen Erkenntnisstrebens heraus und nimmt darin eine Verneinung Gottes als des Lebensgrunds wahr (vgl. Röm 1,21 f).52 Gegenüber dem Herrschaftsanspruch der instrumentellen Vernunft, die sich selbst ausserhalb ihres kreatürlichen Orts stellt, gibt Paulus seine eigene, paradigmatische Existenz im Schatten dieser Weltzeit zu bedenken (vgl. 1 Kor 4,8 und 4,9–13). Damit bringt er alle konkreten Formen der Negativität zu Gehör, die 49 Von einem „trojanischen Pferd“ spricht P. Lampe in Bezug auf 1,18–2,16: Ad ecclesiae unitatem. Eine exegetisch-theologische und sozialpsychologische Paulusstudie, Habil. Bern 1989, 55 f; vgl. 107 f. 50 Zum Hintergrund vgl. M. N. A. Bockmuehl, Revelation and Mystery in Ancient Judaism and Pauline Christianity (WUNT 36), Tübingen 1990, besonders 124–126; 157–166; 225–230; Kuhn, Passage (s. Anm. 45) 248–253 (mit Verweis auf 1QH 20,11–13; 6,12 f; 1QS 11,5–9). 51 Hinter 1 Kor 15,42–49 zeichnet sich eine um Gen 1/2 kreisende Auslegungsdebatte ab; die Korinther gehen offenbar von der Priorität des Himmlisch-Pneumatischen-Urbildlichen aus. 52 Zur „Machtförmigkeit“ von Denken und Wissenschaft vgl. C. F. von Weizsäcker, Der Garten des Menschlichen, Frankfurt 1980, 199 f u.ö.
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das Leben begleiten – Leiden und Vergänglichkeit als die Kennzeichen des alten unerlösten Äons (vgl. Röm 8,18–22), die in der metaphysischen Theoriebildung ausgeblendet werden. 3. Trotzdem ist der Logos vom Kreuz kein lebensfeindlicher Richter menschlicher Weisheitssuche, als wäre er ausschliesslich das Prinzip einer „negativen Dialektik“.53 Durch sein Nadelöhr hindurchgeführt, geben die Lebensgüter der menschlichen Wahrnehmung ihre gleichsam eigene, nicht mehr instrumentalisierte Seite zu erkennen. Die tödliche Krisis, die im Logos vom Kreuz reflektiert wird, öffnet zur grossen Weite der Schöpfung, die von der Weisheit Gottes durchdrungen ist (1,21; vgl. 8,6; 10,26; Röm 1,19–21).54 Die Lebensfreundlichkeit dieses Logos ermöglicht es, das Evangelium an vielfältigen, im Glauben eröffneten Lebenserfahrungen zu verifizieren. Mehr noch: Seine Schärfe erzeugt denjenigen offenen Raum, in dem die Liebe das gemeinschaftliche Leben jenseits des Zwangs zur Selbsterhaltung, d. h. frei von der „Sünde“, formt und gestaltet. Der Logos vom Kreuz stellt so im 1. Korintherbrief die Basis für die Ermunterung zu Rücksichtnahme, Integration und Einheit dar, worin sich für Paulus der Aufbau der Kirche als Leib Christi realisiert. Und schliesslich birgt die Verkündigung des bleibend gekreuzigten Christus (1,23; 2,2) die grosse Verheissung der Auferstehung. Man kann dies sogar in der Disposition des 1. Korintherbriefs wiederfinden: Das Sein der Glaubenden in ihren konkreten Lebensvollzügen (Kap. 5–14) entfaltet sich gleichsam zwischen Kreuzestod (Kap. 1–4) und Auferstehung (Kap. 15). 4. Das Kreuz Jesu bleibt bei aller Metaphorisierung und Symbolisierung das brutum factum eines Marterinstruments, an dem das Denken zerbricht. Die wohl verwirrendste Eigenschaft des Logos vom Kreuz ist deshalb seine eigene Selbstaufhebung, die er fortwährend betreibt; andernfalls würde „das Kreuz des Christus leer gemacht“ (1,17b). Er ruft zwar nach systematischer Theologie, stellt diese aber zugleich immer wieder in Frage.55 Er ist ein ständiger Begleiter des theologischen Erkennens, entzieht sich aber jeder Bemächtigung. Er bleibt so immun gegenüber jeder Funktionalisierung. Die Gefahr, dass sich die „Weisheit dieser Welt“ des Logos vom Kreuz bemächtigt, ist in der Tat riesig. Er erscheint dann entweder im Modus einer blossen Paradoxie und wird damit sterilisiert. Oder er gerät in die Position einer Kontradependenz, was beispielsweise zum 53 Auch nach D. Sänger „bedarf es der Klärung, was unter Kreuzestheologie positiv zu verstehen ist“: Der gekreuzigte Christus – Gottes Kraft und Weisheit (1 Kor 1,23 f), in: U. Schnelle / Th. Söding (Hg.), Paulinische Christologie, FS H. Hübner, Göttingen 2000, 159–177, hier: 162. Auf keinen Fall darf man dabei wie H. Schlier, Kerygma und Sophia, in: ders., Die Zeit der Kirche, Freiburg 21958, 206–232, bei der „normativen apostolischen Paradosis“, die dem Evangelium zeitlich und sachlich vorausgehe, bzw. beim „Kerygma und seiner legitimen jeweiligen präzisen Entfaltung, dem Dogma“, landen (Zitate: 216; 231)! 54 Vgl. H. Merklein, Die Weisheit Gottes und die Weisheit der Welt (1 Kor 1,21), in: ders., Studien zu Jesus und Paulus, Bd. 1 (WUNT 43), Tübingen 1987, 376–384. 55 Hierzu grundsätzlich U. Luz, Theologia crucis als Mitte der Theologie im Neuen Testament, in: ders., Theologische Aufsätze (WUNT 414), Tübingen 2018, 7–27.
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Modell einer Umkehrung der Verhältnisse führt, etwa auf der Linie des reversal- Schemas von 1 Kor 1,26–28.56 Gerade die Holocaustdebatten der jüngeren Zeit signalisieren die Gefahr, die von der Instrumentalisierung eines Logos, der sich auf sprachlos machendes Leiden bezieht, ausgeht. Deshalb ist es von grosser Tragweite, dass die Gefährdung des Logos vom Kreuz im Kontext von 1 Kor 1–4 durch die Referenz auf das göttliche Gericht thematisiert wird. Da das Kreuz in der neutestamentlichen Theologie nicht zuletzt für das – stellvertretend an Jesus ergehende – Gottesgericht steht, überrascht es nicht, dass auch die Verkündigung im Gericht darauf hin geprüft wird, ob sie dem Evangelium Raum gibt oder ob sie das Kreuz Christi „leer macht“ (1,17b). Theologie, die sich am Logos vom Kreuz orientiert, ist eine theologia viatorum57 – sie steht im Zeichen Abrahams, der nach jüdischem Glauben die imposanten Tempel der babylonischen ‚Weisheit dieser Welt‘ zurückliess58 und hinauszog im Glauben „an den Gott, der die Toten lebendig macht und das, was nicht ist, ins Sein ruft“ (Röm 4,17).
56 Vgl. dazu die Warnungen von G. Strecker, Das Kreuz Jesu Christi im Neuen Testament – ein Kriterium für die Authentizität der Verkündigung und die Praxis der Kirche?, in: F. W. Horn (Hg.), Bilanz und Perspektiven gegenwärtiger Auslegung des Neuen Testaments, FS G. Strecker (BZNW 75), Berlin 1995, 248–272. 57 Vgl. dazu W. Schrage, Der gekreuzigte und auferweckte Herr. Zur theologia crucis und theologia resurrectionis bei Paulus, in: ders., Kreuzestheologie und Ethik im Neuen Testament (FRLANT 205), Göttingen 2004, 9–22. 58 Vgl. die breite, bereits frühjüdische haggadische Tradition bei L. Ginzberg, The Legends of the Jews, Philadelphia 1909–1955 (= 1967–69), Bd. 1, 189–203.
Kreuzfeuer Paulus und seine Konflikte mit Rivalen, Feinden und Gegnern Abstract Crossfire. Paul and His Conflicts with Rivals, Enemies and Opponents The article deals with Paul’s opponents. As Philippians shows, there is a broad spectrum of phenomena: rivals and opponents whom the apostle does not consider threatening, external gentile opponents, and, finally, opponents who in Paul’s view are destroying the congregation. With regard to the latter, the historical question of a united front, that is, of an orchestrated anti-Pauline mission, is discussed. In regard to the adversaries in 2 Corinthians, there is much to suggest that Paul’s use of the stereotype of blaming the sophists restricts the ability of scholars to reconstruct those opponents historically.
In der Geschichte des Christentums sind Leben und Werk des Paulus von Anfang an mit einer eigentümlichen Ambivalenz verbunden. Er ist selber zu einem σημεῖον ἀντιλεγόμενον (Lk 2,34) geworden, zu einem „Zeichen, das Widerspruch auslöst“. Indem der Apostel seine Wirksamkeit als Christenverfolger in seine „Geburtsgeschichte“ eingeschrieben hat (1 Kor 15,8 f; vgl. Gal 1,13; Phil 3,6), zählt die Kontroverse gleichsam zu seiner apostolischen DNA. Die Opposition gegen sein Evangelium begleitet nicht nur seine Lebenszeit, sondern erstreckt sich auch noch tief in das zweite und dritte Jahrhundert.1 Auch dort, wo man sich auf Paulus beruft, steht seine Auslegung nur zu oft im Zeichen der Auseinandersetzung. Seine Briefe selber sind Dokumente von Kontroversen, in denen die schärfsten Waffen der antiken Streitkultur zum Einsatz kommen, wie etwa die 1 Vgl. die Darstellung von M. Konradt, Antipaulinismus und Paulinismus im neutestamentlichen Schrifttum, in: F. W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 552–557, sowie ders., Antipauliner oder Zeugen eines nichtpaulinischen Christentums? Kritische Überlegungen zum Verhältnis des Jakobusbriefes und des Matthäusevangeliums zur paulinischen Tradition, in: J. Schröter / S. Butticaz / A. Dettwiler (Hg.), Receptions of Paul in Early Christianity (BZNW 234), Berlin 2018, 675–728. Für nach-neutestamentliche Entwicklungen vgl. A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum. Das Bild des Apostels und die Rezeption der paulinischen Theologie in der frühchristlichen Literatur bis Marcion (BHTh 58), Tübingen 1979, 101–109; 367–371; G. Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel. Band 2: Antipaulinismus im frühen Christentum (FRLANT 130), Göttingen 1983; J. Wehnert, Antipaulinismus in den Pseudoklementinen, in: T. Nicklas / A. Merkt / J. Verheyden (Hg.), Ancient Perspectives on Paul (NTOA 102), Göttingen 2013, 170–190. Zum apostolus haereticorum (Tert., Marc. 3,5:4 [CCSL 1, 513 = SC 399, 74]) vgl. J. Ulrich, Der „Apostel der Häretiker“. Beobachtungen zur Paulusrezeption Tertullians, in: P. G. Klumbies / D. du Toit (Hg.), Paulus. Werk und Wirkung, FS A. Lindemann, Tübingen 2013, 565–581.
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Charakterisierung von Opponenten als Lügenapostel und Satansdiener (2 Kor 11,13–15) oder als Hunde und Kastraten (Phil 3,2). Es fällt nicht leicht, hinter den Petarden von paulinischer Rhetorik und Polemik die historischen Profile der Gegner zu rekonstruieren. Die Gefahr von Rückprojektionen ist erheblich, etwa wenn Züge der von Luther angefeindeten Schwärmer oder Papisten auf die Paulusgegner übertragen werden.2 Erschwerend kommt hinzu, dass die Opponenten je nach Brief und Gemeindesituation verschieden aussehen und sich nicht leicht miteinander identifizieren lassen. Auch innerhalb der einzelnen Briefe ist möglicherweise mit unterschiedlichen Gruppen zu rechnen. In den nachstehenden Zeilen gehe ich zunächst vom Philipperbrief aus, wo sich je ganz verschiedene Grenzziehungen im Umgang mit anderen Christusverkündigern finden. Anschliessend werfen wir einen Blick auf die Gegnerbilder im Galaterbrief und im zweiten Korintherbrief.
1. „Neid und Streitlust“ (Phil 1,15–18) Im einleitenden Teil des Philipperbriefs kommt Paulus auf verschiedene Haltungen zu seiner Person zu sprechen, und zwar speziell im Hinblick auf seine Situation als Gefangener.3 Seine „Ketten“ scheinen einen erheblichen missionarischen Erfolg zu zeitigen, der auch andere, „Brüder“ und, so dürfen wir ergänzen, Schwestern, stimuliert (1,12–14). Paulus konstatiert aber eine markante Differenz hinsichtlich der Motivation seiner verkündigenden Mitchristen. Auf der einen Seite zeigen sich „Neid“ und „Streitlust“ (V. 15), die eine „unlautere“ Gesinnung erweisen (V. 17: οὐχ ἁγνῶς). Paulus etikettiert diese Motivation mit dem Terminus ἐριθεία, einem nicht sicher identifizierbaren Stichwort.4 Da es an unserer Stelle als Antonym zur „Liebe“ fungiert, legt sich „Selbstsucht“ nahe (was sich durch einen Seitenblick auf Phil 2,3 bestätigen lässt). Summiert wird der negative Katalog durch das Stichwort „Vorwand“ (V. 18: πρόφασις), also durch „Schein“. Auf der anderen Seite kommen „guter Wille“ (V. 15: εὐδοκία) und „Liebe“ (V. 16: ἀγάπη) zu stehen; summiert durch „Wahrheit“ (V. 18). Paulus greift in diesem kleinen Diptychon offenkundig auf Elemente der Freundschafts-Sprache 2 Dies war das Memento von K. Berger, Die impliziten Gegner. Zur Methode des Erschliessens von „Gegnern“ in neutestamentlichen Texten, in: D. Lührmann / G. Strecker (Hg.), Kirche, FS G. Bornkamm, Tübingen 1980, 373–400; Abdruck in: ders., Tradition und Offenbarung. Studien zum frühen Christentum, Tübingen 2006, 281–307, hier: 295. Vgl. die methodischen Überlegungen bei W. Pratscher, Gegner der paulinischen Mission, in: Horn, Paulus Handbuch (s. oben Anm. 1) 257–266, hier: 257. 3 Ohne weitere Begründung gehe ich davon aus, dass es sich beim Philipperbrief um ein integrales Schreiben handelt. 4 Vgl. Bauer / Aland, Wb 626 („Was es in uns. Lit. bed., kann nur vermutet werden“); C. Spicq, Lexique théologique du Nouveau Testament, Fribourg 1991, 580 f. Zur Diskussion vgl. J. Reumann, Philippians (AYB 33 B), New Haven 2008, 181 f.
1. „Neid und Streitlust“ (Phil 1,15–18)
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zurück.5 Wahre Freunde und scheinbare Freunde, die nicht notwendig Feinde sein müssen, lassen sich auf diese Weise unterscheiden. Im Fall des negativen Pols liegt es auf der Hand: Neid, Streitlust, Vorwand und Selbstsucht stehen im Widerspruch zu echter Freundschaft. Beim positiven Pol lassen sich zwar nicht ganz direkte pagane Parallelen zum „guten Willen“ und zur Agape nachweisen, aber nahe Analogien wie „Bereitwilligkeit“ (προθυμία) und natürlich „Freundschaft/Zuneigung“ (φιλία) haben denselben Stellenwert. Für das Gesamtverständnis des Philipperbriefs ist die Beobachtung wichtig, dass Paulus nicht nur Sprachelemente der Freundschaft einspielt, sondern auch solche aus der politischen Sphäre. Neid, Streitlust und Selbstsucht bilden wesentliche Triebkräfte städtischer Politik. Dasselbe gilt für die Seite der Tugenden: Ein vorbildlicher und loyaler Bürger zeigt guten Willen (προθυμία) und Zuneigung (φιλία). Die negativen Motive ihrerseits reichen in der paulinischen Literatur weit über die Charakterisierung von Mitarbeitern hinaus. Briefliche Ermahnungen warnen vor Lastern wie Neid, Rivalität, Selbstsucht und Falschheit. Selbstsucht führt sogar direkt in die Hölle (Röm 2,8; Gal 5,20). Paulus erklärt dies alles für unerheblich. Was allein zählt, ist die Verkündigung Christi „auf jede Weise“ (V. 18). Der Gefangene rückt alles unter denselben Schirm: Sie alle verkündigen Christus; das Evangelium macht sie zu Brüdern (V. 14). Die Gemeinschaft, die Jesus Christus stiftet, reicht tiefer als die Ebene der Motivationen. Der Apostel zeigt hier eine erstaunliche Grossherzigkeit; dass seine Mitgenossen nur „das Ihre suchen, nicht die Sache Jesu Christi“ (2,21), spielt keine Rolle. Offenkundig sind in dieser Passage Lehrer in der Art von Phil 3,2 ff oder des Galaterbriefs nicht im Blick. Es gibt eine gemeinsame Basis sowohl im Lebensvollzug wie in der theologischen Orientierung, die Spannungen persönlicher Art und Motivationsantriebe dem Bereich der adiaphora zuschlägt. Diese werden durch εἴτε – εἴτε markiert. Indifferenz heisst allerdings nicht Gleichgültigkeit, weder beim Apostel noch sonst bei den antiken Ethikern. Paulus’ Einstellung wird zu einer Quelle der Freude. Beide Linien, die Orientierung an Christus wie an der Indifferenz, setzen sich vertieft fort in der folgenden Passage, namentlich in V. 19–26.6 Leider sind die brieflichen Andeutungen so knapp, dass wir nicht wissen können, was sich genau innerhalb und ausserhalb des Gefängnisses abgespielt hat.7 Um was geht es hinsichtlich jener, die „meinen, sie könnten mich, den Gefesselten, in Bedrängnis bringen“ (V. 17)? Man hat vermutet, dass Paulus’ Berufung auf sein römisches Bürgerrecht zu Debatten innerhalb der lokalen Vgl. das Material bei Reumann, Phil (s. Anm. 4) 206. Die adiaphora werden auch wieder mit εἴτε – εἴτε markiert. 7 Einen Bezug zur Dissonanz der beiden Frauen in 4,2 f (vgl. unten bei Anm. 15) kann ich nicht erkennen; anders etwa (auch aus literarkritischen Gründen) Ch. Kähler, Konflikt, Kompromiss und Bekenntnis. Paulus und seine Gegner im Philipperbrief, KuD 40 (1994) 47–64, hier: 58–61. 5 6
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Gemeinde geführt hat.8 Aber die Textaussagen geben keine greifbaren Hinweise dafür her. Wir müssen uns mit der Feststellung begnügen, dass der Apostel die Intention der genannten Kollegen als Aggression gegen ihn als Gefangenen gedeutet hat. Wie sie selber wirklich agiert haben, ist nicht bekannt. Auch für die Lokalisierung des Gefängnisses helfen uns die Andeutungen nicht. Dissens und Spannungen innerhalb einer Gemeinde und speziell im Verhältnis zu Paulus sind gut vorstellbar für Ephesus, ein paulinisch gewordenes Zentrum: Man kann Spannungen zwischen den – unbekannten – Gemeindegründern und dem überaus erfolgreichen Zuzüger imaginieren. Als ebenso attraktiv bietet sich die Option Rom an, wo der erste Clemensbrief „Eifersucht und Neid“ als Triebkräfte für die Martyrien der Apostel, Petrus und Paulus, nennt (5,3–7). Im Ganzen zeigt sich: Paulus distanziert sich von seinen eigenen Meinungen zugunsten einer Haltung grossmütiger Toleranz. Indem er etwas viel Grösseres anvisiert, gibt er einer theologischen Bewegung Raum: Er kehrt sich von seiner subjektiven Haltung ab und wählt eine göttliche Perspektive. Die positive Kehrseite seiner Indifferenz ist die Verherrlichung Gottes und seines Christus. In 1 Kor 15,9–11 findet sich eine interessante Analogie zu dieser theologischen Figur. Paulus bezeichnet sich auf der einen Seite als den „geringsten unter den Aposteln“. Auf der anderen Seite „habe ich mehr als sie alle gearbeitet“. Beides, Defizit wie Leistungsausweis, zählt letztlich nicht; zentral ist allein die Verkündigung. Wieder werden die nicht den Ausschlag gebenden Dinge mit εἴτε – εἴτε markiert. Wie in Phil 1 ist „freundliche Konkurrenz“ im Blick.9 Ebenso wie hier wendet sich der Blick weg von den Menschen zum göttlichen Wirken. Paulus äussert die Überzeugung, dass nicht er selber, sondern die „Gnade Gottes mit mir“ die Arbeit geleistet hat. Noch mehr als in Phil 1 fällt die enorm kompetitive Haltung auf. Sie ist typisch für Paulus’ Persönlichkeit, verstärkt durch die Umgebungen, in denen er lebte.
2. Verdammungswürdige Widersacher (Phil 1,28–30) Wir wenden uns nun einer Passage zu, wo Paulus zu einer geschlossenen Haltung gegenüber „Widersachern“ aufruft (ἀντικείμενοι, Phil 1,28; vgl. 1 Kor 16,9). In einem Satz, dessen syntaktische Struktur nicht ganz klar ist, erwartet der Apostel für diese Gegner eine endzeitliche Vernichtung,10 während die philippischen So J.-F. Collange, L’épître de saint Paul aux Philippiens (CNT 10a), Neuchâtel 1973, 25 f;
8
51 f.
9 Zur Unterscheidung von „freundlicher“ und „feindlicher Konkurrenz“ vgl. Th. Schmeller, Paulus und die Konkurrenz, WiWei 67.2 (2004) 163–178. 10 Zu ἀπώλεια vgl. Mt 7,13; Röm 9,22; 2 Petr 2,1; Apk 17,8; A. Oepke, Art. ἀπώλεια, ThWNT 1 (1933) 395 f; NIDNTTE 1, 359 f und den Exkurs „The Fate of the Wicked according to Paul“ bei P. Holloway, Philippians (Hermeneia), Minneapolis 2017, 107 f.
2. Verdammungswürdige Widersacher (Phil 1,28–30)
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Christen auf „Rettung“ hoffen dürfen. Es gibt kaum Zweifel daran, dass es sich bei diesen Gegnern um Repräsentanten der paganen Umgebung der Gemeinde Philippis handelt, und hier wohl besonders um römische Amtsträger. Der Terminus selber ist nicht ein Träger einer spezifisch politischen oder militärischen Semantik, sondern bietet ein weites Spektrum „biblischer“ Sprache an (vgl. z. B. Ex 23,22; Jes 66,6). Die Philipper sollen sich nicht einschüchtern lassen von ihren Gegnern. Es ist wahrscheinlich am einfachsten, die aufgerufene Furchtlosigkeit mit den „Zeichen“ von Verderben und Rettung zu identifizieren: An der aufrechten Haltung der Christen angesichts ihrer Widersacher zeigt sich der genannte doppelte endzeitliche Ausgang. V. 29 gibt eine besondere Begründung für diese furchtlose Einstellung: Die Glaubenden sind eingeladen, ihr (mögliches) Leiden als Gottesgabe zu deuten, ein Leiden, das Christus zugutekommt. Dabei verbindet der Apostel das Leiden seiner Adressaten mit seinem eigenen Ringen. Die christologisch geprägte Figur des „Leidens für“ deutet an, dass beide Leidensgestalten, das ekklesiale wie das apostolische, transparent sind für Christi eigenes Leiden. Bestimmt man die ἀντικείμενοι von V. 28 im breiten Sinn von „Gegnern Gottes und seines Volkes“, so ist es attraktiv, eine Brücke zu 2,15 zu schlagen. Hier werden die Christen als „Lichter in der Welt“ angesprochen, „mitten unter einem verkehrten und verdrehten Geschlecht“. Die betreffenden Gruppen werden überaus allgemein gekennzeichnet, befördert durch die Anspielungen auf apokalyptische Traditionen und speziell auf Dan 12,3 – eine der im Philipperbrief relativ seltenen Bezugnahmen auf das Alte Testament. Das „verkehrte Geschlecht“, von dem auch die Jesusüberlieferung spricht (Mt 17,17 par. Lk 9,41; vgl. Apg 2,40), bezieht sich nicht mehr auf Israel (so Dtn 32,5; Jes 57,4), sondern auf die Menschheit als ganze. Alle diejenigen, die sich ausserhalb der christlichen Gemeinschaft befinden, sind „Verlorene“ und gehören der Finsternis an. Diese beiden Referenzen auf nichtchristliche Gegner, die zerstreut im Philipperbrief begegnen, wirken auf den ersten Blick recht marginal. Das Bild verändert sich aber markant, wenn man den Brief als eine implizite Reflexion über die Identität einer christlichen Gemeinschaft in der römischen Kolonie von Philippi liest. Die programmatische Ermahnung von 1,27 rückt die Gemeinde als eine politische Körperschaft vor Augen, die sich durch eigene Regeln und eine eigene Bürgerschaft auszeichnet. Die Forschung hat vielfach zu Recht unterstrichen, dass der Philipperbrief die Kirche als eine Art idealer Gemeinschaft entwirft, in deren Raum sich das Christenleben abspielt.11 Es ist naheliegend, 11 Vgl. zu dieser Thematik meinen Aufsatz: Politische Theologie im Philipperbrief?, in: D. Sänger / U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes (WUNT 198), Tübingen 2006, 457–469, Abdruck in diesem Band: 227–238; A. Standhartinger, Die paulinische Theologie im Spannungsfeld römisch-imperialer Machtpolitik. Eine neue Perspektive auf Paulus, kritisch geprüft anhand des Philipperbriefs, in: F. Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt (VWGTh 29), Gütersloh 2006, 364–382.
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dass ein Gemeinwesen, das sich von äusseren Feinden gefährdet fühlt, Einheit und Solidarität der Mitbürger mobilisiert, sind sie doch zu gemeinsamer Verteidigung verpflichtet. Diese Bereitschaft wird nicht nur in 1,27–2,4 in eingefordert, sondern auch in der beanspruchten Tadellosigkeit der Gotteskinder in 2,15: Nur auf diese Weise bieten sie den Gegnern keine Einfallsmöglichkeit. In 1,28 wird die Standhaftigkeit derjenigen, die ihr Gemeinwesen gegen äussere Feinde verteidigen, sogar als Erweis der Errettung gekennzeichnet – „und das von Gott her.“
3. Bissige Hunde, Kastraten und Kreuzesfeinde (Phil 3,2–21) Wir wenden uns nun der letzten Passage zu, wo Dissidenten im Blick sind; es ist zugleich die am meisten konfrontative Stellungnahme. Die Ausführung hat Leute im Blick, die als „Hunde“, „schlechte Arbeiter“, „Verschnittene“ (V. 2) und „Feinde des Kreuzes“ (V. 18) geschmäht werden. Die gesamte Passage stellt vor viele Fragen; wir konzentrieren uns auf einige wenige Punkte. Es gibt gute Gründe dafür, die anvisierten Gegner mit judenchristlichen Missionaren zu identifizieren, deren Profil uns auch aus dem Galaterbrief bekannt ist. Wir kommen unten darauf zurück. Seine Einschätzung dieser Rivalen fällt äussert negativ aus; der Apostel zieht alle Register polemischer Rhetorik. Ihr endzeitliches Geschick, das „Verderben“ (3,19), teilen sie mit den heidnischen Gegnern (1,28). Im ganzen Abschnitt fällt auf, wie Paulus zielgerichtet auf ein Selbstporträt zusteuert, das sich durchaus als Selbstlob, als Gestaltung einer periautologia, fassen lässt.12 Das Ziel einer Selbstdarstellung, die die Briefadressaten zu einer entsprechenden Deutung ihrer eigenen Identität einlädt (3,15–17), schliesst aber eine Referenz auf reale Kontrahenten keineswegs aus.13 Gerade weil sie eine vitale Bedrohung der paulinischen Gemeinden bilden, hat Paulus vor ihnen öfter gewarnt (3,18). In diesem Kontext fällt wiederum die politische Semantik auf, nämlich in der Klimax, wo in feierlichem Stil das „Irdische“ mit dem „Bürgerrecht im Himmel“ kontrastiert wird (V. 19–21). Die Gegner von Kap. 3 sind weder Rivalen unter dem einenden Dach des gemeinsamen Evangeliums noch äussere 12 Vgl. Ch. Gerber, ΚΑΥΧΑΣΘΑΙ ΔΕΙ, ΟΥ ΣΥΜΦΕΡΟΝ ΜΕΝ … (2 Kor 12,1). Selbstlob bei Paulus vor dem Hintergrund der antiken Gepflogenheiten, in: C. Breytenbach (Hg.), Paul’s Graeco-Roman Context (BETL 277), Louvain 2015, 213–251, hier: 238–242; z. T. im Anschluss an B. Dodd, Paul’s Paradigmatic ‚I‘. Personal Example as Literary Strategy (JSNTS 177), Sheffield 1999, 171–195. 13 In diese Richtung tendieren aber, je mit eigener Begründung E.-M. Becker, Polemik und Autobiographie. Ein Vorschlag zur Deutung von Phil 3,2–4a, in: O. Wischmeyer / L. Scornaienchi (Hg.), Polemik in der frühchristlichen Literatur (BZNW 170), Berlin 2011, 233–254 (gibt es keine Anzeichen dafür, dass Paulus „reale Gegner oder Konkurrenten oder konkrete Konflikte im Blick hätte“, 247); Gerber, ΚΑΥΧΑΣΘΑΙ (s. Anm. 12) 240 („dann wird die Frage, welche Gegner aktuell in Philippi oder sonst im Bereich der paulinischen Mission agieren, obsolet“).
4. Ein kurzer Blick auf Konkurrenten in anderen Briefen
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Feinde, sondern Zerstörer der Gemeinschaft und Verräter am Evangelium (vgl. Gal 1,6 f) mitten im Raum der Gemeinde. Für jedes Gemeinwesen handelt es sich um den gefährlichsten Typ von möglichen Gegnern. Dabei arbeitet der gesamte Argumentationsgang mit einer „Umwertung aller Werte“. Die Rhetorik ist stark von Pathos getragen, insbesondere in den Formulierungen von V. 7/8. Der Apostel bietet sich der Leserschaft dar als Muster für christliches Verhalten (V. 17). Voraussetzung dafür ist der Verzicht auf alle Vorteile und Privilegien, die an Ethnos und Status hängen. Paulus schliesst dabei die Exzellenz, die die Gegner seiner Darstellung zufolge für sich beanspruchen können, mit seiner eigenen Herkunft zusammen (V. 4 f): Er beschreibt seine Lebenswende als Sprung vom Niveau „meiner eigenen Gerechtigkeit“ zur „Gerechtigkeit von Gott her aufgrund des Glaubens“ (V. 9). Die agonale Metapher des Rennens in V. 12–14 baut ein impressives Gegenbild auf zu den ethnischen Privilegien von V. 4–7, die im „Fleisch“ wurzeln (V. 3); Bewegung ist das Bessere als Status. Das dynamische Moment, das mit dem Fahrenlassen aller Privilegien einhergeht, gründet in der Christusgemeinschaft, in der Teilhabe an Christi Auferstehungsmacht wie an seinem Leiden (V. 10). Paulus bezieht sich also wie in Kap. 1 auf eine externe göttliche Grösse. Unsere Passage endet mit einem Preis auf Christi „Macht, mit der er sich auch das All zu unterwerfen vermag“ (V. 21).
4. Ein kurzer Blick auf Konkurrenten in anderen Briefen Wir orientieren uns in den folgenden Zeilen wieder an den drei Typen von Rivalen bzw. Gegnern, denen wir im Philipperbrief begegnet sind. Vorsorglich ist hier aber zu notieren, dass eine Dimension von Opposition gegen Paulus ausgeblendet wird, da sie sich fast nicht fassen lässt, nämlich eine solche in den vom Apostel selber gegründeten Gemeinden. Bei einer solchen internen Paulusgegnerschaft, die aus ganz verschiedenen Gründen spontan entstanden sein mag, kann es sich um Episoden und temporäre Phänomene handeln, sie kann sich in ganz unterschiedlicher Stärke bilden und eher gruppendynamische Prozesse zwischen Subgruppen der Gemeinde als stabile Opposition zum Ausdruck bringen. In Korinth könnte man solche Haltungen allenfalls in der Kephas-Partei finden.14 Später hören wir von einem „Beleidiger“ (2 Kor 2,5 ff; 7,12). Sicher haben die von aussen kommenden Gegner bei einem Teil der Korinther die Distanzierung von Paulus verstärkt. Mehrheitlich wird man aber davon ausgehen können, dass Dissonanzen innerhalb der Gemeinden auf ganz andere Ursachen
So etwa Lüdemann, Paulus, Bd. 2 (s. Anm. 1) 120–123.
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als auf die Einstellung zum Gemeindegründer zurückgingen. Ein Beispiel dafür wäre die Rivalität zwischen Euodia und Syntyche (Phil 4,2).15 1. Im grossen Ganzen bestätigen sich die am Beispiel des Philipperbriefs gemachten Beobachtungen in den anderen Paulusbriefen. Mit Rivalen im Sinn von „freundlicher Konkurrenz“ unter dem gemeinsamen Schirm der Christusverkündigung haben wir es wenigstens im 1. Korintherbrief zu tun. Den Vergleich mit anderen Aposteln, denen Paulus einerseits nachsteht, sie andrerseits aber markant übertrifft, haben wir bereits angesprochen (1 Kor 15,9–11). In dieselbe Kategorie dürfte das Verhältnis zwischen Paulus und Apollos, dem alexandrinischen Besucher in Korinth, fallen (1 Kor 3,4–4,6).16 Blendet man die Spannungen innerhalb der Korinther Gemeinde und die Inanspruchnahme von Autoritäten durch einzelne Fraktionen aus, so geben Paulus’ Hinweise wenig Anhalt für weitreichende Vermutungen über Dissonanzen in der Beziehung zwischen ihm selber und Apollos (vgl. 1 Kor 16,12).17 Selbst wenn man mit einer ernsten Rivalität zwischen beiden zu rechnen haben sollte, befinden wir uns immer noch auf einer von beiden geteilten Plattform, nämlich dem Fundament Jesu Christi (3,11). Mit dem Verhältnis von „Pflanzer“ und „Bewässerer“, von Gemeindegründer und Aufbau-Arbeiter (3,6–11), ist es sicher besser bestellt als mit demjenigen zwischen dem gefangenen Paulus und den als übel gekennzeichneten Rivalen von Phil 1,15–18. Apollos gehört eher in die Kategorie derjenigen positiv bewerteten Mitarbeiter des Apostels, die ihm nicht untergeordnet sind, sondern unabhängig und doch kollegial verbunden das gleiche Werk betreiben. 2. Vertretern der zweiten Kategorie, nämlich äusseren Feinden wie Repräsentanten der staatlichen Institutionen oder synagogaler Gemeinschaften begegnen wir öfter in den Briefen (vgl. 1 Thess 2,14–16; „Ungläubige“ in 2 Kor 6,14 f). Sie interessieren uns hier aber nicht, da sie im Unterschied zu Phil 1,28–30 von vornherein klar als Aussenstehende gekennzeichnet werden (οἱ ἔξω, 1 Kor 5,12 f; 1 Thess 4,12). 3. Am meisten Interesse ziehen die Gegner im engeren Sinn auf sich, also christliche Missionare mit einem Verkündigungsprofil, das Paulus als dem seinen diametral entgegengesetzt porträtiert. Fassbar sind sie neben Phil 3 im Galaterbrief, im 2. Korintherbrief sowie in Röm 16,17 f. Der Umgang des Apostels mit diesen Lehrern ist trotz einiger Nuancen durchwegs hart und kompromisslos, wie wir am Beispiel von Phil 3 gesehen haben. Nicht zufällig finden wir in den einschlägigen Briefpassagen auch die deutlichsten Hinweise auf das 15 Anderweitige Hypothesen, die hier mit Paulusgegnerschaft rechnen, weist zu Recht zurück Holloway, Phil (s. Anm. 10) 182 Anm. 5. Vgl. auch oben Anm. 7. 16 Vgl. die informative Darstellung von J. Wehnert, Apollos, in: T. Georges / R. Feldmeier / F. Albrecht (Hg.), Alexandria (Civitatum Orbis MEditerranei Studia 1), Tübingen, 2013, 403–412; ferner D. P. Ker, Paul and Apollos – Colleagues or Rivals?, JSNT 77 (2000) 75–97. 17 Vgl. meinen Aufsatz: Apollos of Alexandria. Portrait of an Unknown, in: B. Schliesser / J. Rüggemeier (Hg.), Alexandria – Hub of the Hellenistic World (WUNT), Tübingen 2020 (im Druck).
5. Eine orchestrierte Gegenmission?
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Verdammungswirken Gottes an ihnen, das im jüngsten Gericht ergeht (2 Kor 11,15; Gal 5,10b; Phil 3,18 f).18 Die Gerichtsankündigung wird komplementiert durch dämonologische Zuschreibungen, werden doch die Gegner mit Satan und seinem Reich assoziiert (2 Kor 11,13–15; vgl. Röm 16,20).
5. Eine orchestrierte Gegenmission? Die historische Frage, ob wir mit einer einigermassen einheitlichen Gegnerfront rechnen dürfen, gegen die sich Paulus in verschiedenen Gemeinden zur Wehr setzt, begleitet die neuzeitliche Paulusforschung.19 Leider lässt sie sich kaum schlüssig beantworten, da ausser den überaus parteiischen paulinischen Hinweisen keine anderen Quellen zur Verfügung stehen. In wissenschaftsästhetischer Perspektive wäre ein Einheitsmodell am attraktivsten, weil es dem Sparsamkeitsprinzip folgt.20 Ein solches Modell ist vertretbar, wenn man den Galaterbrief und Phil 3 in wesentlichen Zügen konvergieren lässt. Widerstand setzt vor allem der 2. Korintherbrief einer Einheitsdeutung entgegen.21 Die Frage hängt auch davon 18 Vgl. dazu M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen 2011, 221 Anm. 101, zu den „Stigmatisierungen der jeweiligen Gegner“: „Paulus will auf diese Weise die Adressaten der Briefe davon abhalten, sich mit ihnen einzulassen. Er suggeriert zu diesem Zweck die Möglichkeit, dass das künftige Unheilsgeschick der Gegner in diesem Fall auch auf diejenigen übergreifen könnte, die sich ihnen anschliessen.“ 19 Dazu nur zwei Reminiszenzen von gelungener Wissenschaftsprosa: W. Wrede, Paulus (RV I.5/6), Tübingen 1907, 40; 44: „Der Heidenmission des Paulus trat in der entstehenden Kirche selbst eine Gegenströmung von grösster Macht in den Weg. Sie ging aus von der Missionsauffassung der sogenannten Urgemeinde, d. h. der Judenchristen in Jerusalem. Wie ein Bleigewicht hat sich diese Auffassung an den vorwärtsschreitenden Apostel gehängt und ihm einen Kampf aufgenötigt, in dem seine Arbeit viel Kraft verzehren musste, aber freilich auch wahrhaft erstarkte. [ …] das Judenchristentum organisierte in den eigenen Gemeinden des Paulus eine förmliche Gegenmission“; H. Lietzmann, Geschichte der Alten Kirche, Bd. 1, Berlin 41961, 108 f: „Allen seinen Schritten folgen ‚Judaisten‘, […] immer haben diese Sendboten Fühlung mit Jerusalem und machen es den Gemeinden glaubhaft, dass Jakobus und die Urapostel hinter ihnen stünden […] Aber wer genauer zusieht, lernt es, zwischen den Zeilen seiner Briefe zu lesen, und erkennt hinter den Satansdienern und Lügenaposteln und falschen Brüdern die Schatten der Grossen von Jerusalem. Paulus stand in seiner neuen Christenwelt einsam und hatte die schlimmsten Gegner im Rücken.“ – Zur mit F. Ch. Baur einsetzenden Forschungsgeschichte vgl. J. L. Sumney, Studying Paul’s Opponents. Advances and Challenges, in: St.E. Porter (Hg.), Paul and his Opponents (Pauline Studies 2), Leiden 2005, 7–58. 20 Forschungsgeschichtlich ist eine solche Position allerdings zur Minderheitsmeinung geworden. „Die Mehrzahl der Exegeten sieht jetzt in den einzelnen paulinischen Briefen Auseinandersetzungen mit jeweils verschiedenen Gegnern“, R. Bieringer, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief, in: ders. / J. Lambrecht (Hg.), Studies on 2 Corinthians (BETL 112), Louvain 1994, 181–221, hier: 183. In jüngerer Zeit spricht sich für ein Einheitsmodell aus G. Theissen, Die Gegenmission zu Paulus in Galatien, Philippi und Korinth, in: W. Kraus (Hg.), Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte, FS U. B. Müller (BZNW 163), Berlin 2009, 277–306. 21 So rechnet die umfassende Monographie zu den Gegnern von J. L. Sumney, Identifying Paul’s Opponents (JSNT.S 40), Sheffield 1990, 303–311, mit wenigstens zwei Fronten: „the
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ab, wie der Umfang unseres Wissens über die Geschichte(n) des Urchristentums taxiert wird. Je mehr man mit weiten weissen Flächen rechnen muss, desto mehr hat man auf unifizierende Hypothesen zu verzichten und sich mit mehr oder weniger zusammenhangslosen Einzelphänomenen zu begnügen. Zu denken gibt auf alle Fälle der eigenartige Sachverhalt, dass in mindestens zwei paulinischen Zentren, in Korinth und in den galatischen Gemeinden, Lehrer mit dezidiert jüdischem Profil auftauchen und nicht unerhebliche Resonanz erzeugen. Unter den erhaltenen Paulusbriefen scheint nur gerade der 1. Thessalonicherbrief, also das relativ frühste Schreiben des Apostels, keine Irritationen über die Wirksamkeit von Dissidenten auszudrücken.22 Dazu gesellt sich der 1. Korintherbrief, da sich die den 2. Korintherbrief bestimmenden Auseinandersetzungen hier erst am Horizont abzuzeichnen beginnen.23 Die übrigen Briefe verweisen mit markanten Statements auf Gegner. Der Befund legt es m. E. doch nahe, das Ausmass unseres historischen Unwissens nicht zu überschätzen und mit einer relativ einheitlichen Gegnerfront zu rechnen. Eine solche „Gegenmission“ würde der Wirksamkeit des Paulus zuwiderlaufen und ihre Resultate zu revidieren suchen. In den folgenden Zeilen wird versucht, skizzenartig zu prüfen, ob sich der Befund, der sich in Phil 3 abzeichnet, mit Informationen der anderen Briefe korrelieren lässt. Methodisch empfiehlt sich bei diesem Vorgehen ein restriktives Vorgehen; viele der für Gegner in Anspruch genommenen Kennzeichen sind viel eher Produkte paulinischer Rhetorik, Argumentation und Theologie. Zugleich dürfen wir, im Einklang mit Tendenzen der neueren Forschung, eine pikante Galerie von Gespenstergegnern getrost schliessen. „Gnostiker“, „göttliche Männer“ und vollends „pneumatische Libertinisten“ haben den Status von valablen exegetischen Hypothesen verloren.
Corinthian ‚super-apostles‘ and the Philippian ‚dogs‘ who may have originated from the Galatian teachers“ (309). 22 Dabei ist aber zu beachten, dass 1 Thess 2,1–12 in der Forschung öfter auf „Gegner“ bezogen worden ist. Richtig daran ist nur, dass V. 3–6 mit Topoi von scheinbaren Philosophen arbeitet. Auf diese Spur hat geführt A. J. Malherbe, Gentle as a Nurse. The Cynic Background to I Thess 2, in: ders., Light from the Gentiles. Hellenistic Philosophy and Early Christianity (NT.S 150), Leiden 2014, 53–67. „We find, then, no opponents combatted in 1 Thessalonians“, Sumney, Identifying (s. Anm. 21) 227. 23 Die externen Gegner des 2 Kor hat man in den „anderen“ von 1 Kor 9,2 finden wollen, so z. B. Lüdemann, Paulus, Bd. 2 (s. Anm. 1) 124; vgl. 108; 113. Kritisch dazu W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (EKK 7), Bd. 2, Düsseldorf / Neukirchen 1995, 289 f; D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010, 301.
6. „Die Beschneidung“ im Philipperbrief und im Galaterbrief
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6. „Die Beschneidung“ im Philipperbrief und im Galaterbrief 1. Wir kommen nochmals auf den Philipperbrief zu sprechen, der in Kap. 3 deutliche Hinweise auf judenchristliche Missionare bietet.24 Entscheidend ist das Stichwort Beschneidung in V. 2c, das sicher mit deren theologischem bzw. ekklesiologischem Selbstverständnis zu tun hat, ganz unabhängig von der Frage, ob sie diese explizit von Heiden gefordert haben. Die Beschneidung bringt als Würdetitel die Erwählung Israels als Eigentumsvolk Gottes zum Ausdruck; Paulus dreht das Ehrenzeichen zum Schandmal um („Zerschneidung“), hier einem antijüdischen Stereotyp folgend (vgl. Gal 5,12). Wahrscheinlich spielt der Apostel mit dem ebenso polemischen Topos in V. 19, nämlich mit „Bauch“ und „Schande“, auch auf den Stellenwert von Speisegeboten und Beschneidung in ihrer Verkündigung an.25 Ihre exzellente jüdische Herkunft kontert Paulus mit seiner eigenen ethnischen Vorzüglichkeit (V. 5–7). Die „Arbeiter“ (V. 2b) weisen auf christliche Missionare; auch die heftige Invektive macht Christusanhänger wahrscheinlicher als nichtchristliche Juden. Mehr kann man unserem Abschnitt kaum entnehmen; weder die Vollendungsterminologie (V. 13–15) noch die Bürgerrechtsthematik in V. 19 f lässt sich zuverlässig für die Gegner reklamieren. Es hat den Anschein, dass Paulus nicht auf reale Aktivitäten solcher Missionare reagiert, sondern dass er einen „preemptive strike“ führt, also mit der zukünftigen Möglichkeit derartiger Interventionen rechnet.26 In jedem Fall wäre Philippi für Wandermissionare des aus dem Galaterbrief bekannten Typs, die mit einer dezidiert jüdischen Symbolik und Theologie operieren, ein hartes Pflaster
24 Die ältere Forschung wird so präzis wie schonungslos gemustert von G. Klein, Antipaulinismus in Philippi. Eine Problemskizze, in: D.-A. Koch / G. Sellin / A. Lindemann (Hg.), Jesu Rede von Gott und ihre Nachgeschichte im frühen Christentum, FS W. Marxsen, Gütersloh 1989, 297–313. Seine „Summa“: „Es handelt sich um Judaisten“; nahe „liegt ein Zusammenhang mit den Falschbrüdern von Gal 2,4“ (313). 25 So eine von vielen Forschern geteilte Annahme. Gegen sie spricht nicht, dass mit dem „Bauch“ auch ein bekannter polemischer Topos, besonders gegen die Epikureer gerichtet, zum Einsatz kommt. Zu letzterem vgl. K. O. Sandnes, Belly and Body in the Pauline Epistles (MSSNTS 120), Cambridge 2002, der die polemische Tradition allerdings unnötig als Alternative zur Deutung auf jüdische Rituale statuiert (159–164). 26 Weder das dreifache βλέπετε („gebt acht“ bzw. „hütet euch vor“) in V. 2 noch der Hinweis auf Wiederholung in V. 1 noch die schon vielfach ergangene Rede von solchen „Kreuzesfeinden“ in V. 18 lassen sich in Anspruch nehmen für die Annahme, Gegner seien schon auf dem Plan.
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gewesen.27 Viel eher handelt es sich also bei den Gegnern um „phantom opponents“.28 2. Das deutlichste Profil lässt sich bei den Gegnern erkennen, die Paulus im Galaterbrief attackiert. Es dürfte sich um Christen handeln,29 da sie dem Apostel zufolge ein „Evangelium“ verkünden – dass es sich um ein „anderes“ Evangelium handelt (1,6–9; vgl. auch 6,12c), signalisiert einen prägnanten Unterschied zu der von Paulus selber vertretenen Botschaft.30 Auf ihre Herkunft aus einem dezidiert judenchristlichen Milieu weist ihre Forderung an die galatischen Heidenchristen, sich beschneiden zu lassen (5,2; vgl. 6,12 f) und bestimmte kultische Gebote (vgl. 4,10) einzuhalten.31 Es ist naheliegend, dass ihre grundsätzliche Orientierung an der Tora auch ihr Bundesverständnis formiert; der Konnex von Erwählung und Beschneidung Abrahams (Gen 17,9–14), des ersten Konvertiten, dürfte gerade angesichts von bekehrten Heiden einen paradigmatischen Stellenwert bekommen haben (vgl. 3,6–18). Man scheint Paulus in Abhängigkeit von den Uraposteln gesetzt und damit in eine inferiore Rolle gerückt zu haben – beides weist dieser emphatisch zurück (1,1.11 f.16 f).32 All dies ist gut bekannt und in 27 Die römische Kolonie zeigt bis tief in das dritte Jahrhundert keine Spuren jüdischer Besiedlung; eine Synagoge ist bekanntlich erst bezeugt für das dritte oder vierte Jahrhundert; vgl. zusammenfassend P. Pilhofer, Philippi, Bd. 1: Die erste christliche Gemeinde Europas (WUNT 87), Tübingen 1995, 231–234; dazu die Inschrift 387a Pilhofer2. Die legendarische Erzählung in Apg 16,13–16 bestätigt indirekt diese Einschätzung, da sie lediglich von einer jüdischen Gebetsstätte ausserhalb der Stadt zu berichten weiss. Bei der philippischen Gemeinde handelt es sich fast sicher um eine weitestgehend griechische Bevölkerung. Das Argument, Paulus warne mit seinem Hinweis auf das himmlische Politeuma davor, Schutz zu suchen im Gefüge eines jüdischen Politeuma, macht im römischen Philippi kaum Sinn. Wenn die „Feindschaft“ gegenüber dem Kreuz (3,18) neben ihrer theologischen Dimension auch einen religionspolitischen Aspekt hat, ist sie eher als Reminiszenz an die wahrscheinlich in Galatien verfolgte Strategie der Gegner zu deuten, bei den Konvertiten mit dem geschützten Status jüdischer Gemeinschaften zu werben (vgl. Gal 6,12; 5,11) – jedenfalls unter der Voraussetzung einer Datierung von Phil nach Gal. Es ginge dann nicht um ein aktuelles Angebot in Philippi; anders K.W. Niebuhr, Heidenapostel aus Israel. Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen (WUNT 62), Tübingen 1992, 96 f; D. K. Williams, Enemies of the Cross of Christ. A Rhetorical Analysis of the Terminology of the Cross and Conflict in Philippians (JSNTS 223), Sheffield 2002, 247 f. 28 So die Formulierung von M. Hooker, Philippians. Phantom Opponents and the Real Source of Conflict, in: I. Dunderberg / Ch. Tuckett / K. Syreeni (Hg.), Fair Play. Pluralism and Conflicts in Early Christianity, FS H. Räisänen (NT.S 103), Leiden 2001, 377–395. 29 Anders etwa die Hypothese von N. Walter, Paulus und die Gegner des Christusevangeliums in Galatien, in: ders., Praeparatio evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments (WUNT 98), Tübingen 1997, 273–280, wonach es sich bei den Gegnern um nichtchristliche Juden handelt. 30 Vgl. M. de Boer, Galatians (NTLi), Louisville 2011, 50–62, besonders 51: „it is highly probable that the new preachers want to replace Paul’s (version of the) gospel of Christ with their own (version).“ 31 Die Forderung, Speisegebote zu befolgen, wird bestritten von Sumney, Identifying (s. Anm. 21) 155 f, dagegen m. R. Theissen, Gegenmission (s. Anm. 20) 287 Anm. 27. 32 Dabei ist es gut möglich, dass die Gegner vordergründig Paulus nicht angreifen; vgl. Theissen, Gegenmission (s. Anm. 20) 286: „Die Gegner greifen also Paulus nicht frontal an,
6. „Die Beschneidung“ im Philipperbrief und im Galaterbrief
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der Forschung weithin konsensfähig. Es gibt keinen schwerwiegenden Einwand dagegen, die Gegner des Galaterbriefs in die Nähe von denen des Philipperbriefs zu rücken; was sich in Philippi lediglich als eine für Paulus bedrohliche Möglichkeit am Horizont abzeichnete, ist in Galatien der Fall.33 Manches spricht ausserdem dafür, dass das gegnerische Werben für den Anschluss an das toratreue Bundesvolk mit der Aussicht auf Minimierung von Konflikten mit staatlichen Instanzen verbunden war (6,12). Attraktiv ist schliesslich die Vermutung, die Verkündiger hätten den Galatern eine faszinierende Lehre von einer durch die Zeiten konstituierten Weltordnung vermittelt, in die sich die Konvertiten aufgrund ihres umfassenden Toragehorsams einfügen würden (4,10).34 Viele andere für Theologie und Programm der Gegner namhaft gemachte Indizien müssen demgegenüber ausscheiden, beispielsweise der Anspruch, durch toragemässe Eingliederung in das Bundesvolk das Christentum erst richtig zu vollenden (vgl. 3,3) oder die Verknüpfung von Geistesgabe und Beschneidung (vgl. 3,1–5.14). Die äusserst negative Rolle, die „Falschbrüder“ (2,4) und „einige von Jakobus“ (2,11) im narrativen Briefteil spielen, scheint eine Brücke von den damaligen Opponenten der liberalen Heidenmission zu den aktuellen Gegnern zu suggerieren. Die Vermutung, dass die galatischen Lehrer genealogisch auf die seinerzeitigen Hardliner zurückgehen, hat einiges für sich.35 Es würde sich so gesehen bei ihnen nicht um ‚hellenistische Judenchristen‘ handeln,36 sondern um Leute, die sich im Gravitationsfeld der Jerusalemer Urgemeinde bewegten. Ob es hier verschiedene Fraktionen gegeben hat, ob Jakobus selber zwischen ihnen und etwa den antiochenischen Christen zu vermitteln versuchte, ob sich die urgemeindliche sondern vereinnahmen ihn. […] Paulus kündigt den Konsens auf, nicht seine Gegner“, im Anschluss an Sumney, Identifying (s. Anm. 21) 159. Dafür, dass die Gegner aber faktisch gegen Paulus arbeiteten und sein Werk zu revidieren suchten, spricht der Sachverhalt, dass Paulus in Jerusalem offenbar aufgelaufen ist: Die Dissonanz zwischen toratreuen Judenchristen und dem Heidenapostel muss sich bereits aufgebaut haben und reicht womöglich doch schon in die Zeit von Konzil und Zwischenfall zurück. 33 Dieser Punkt spricht m. E. eher dafür, Phil 3 zeitlich später als Gal anzusetzen. Das Argument (und damit die Entstehungsabfolge von Phil und Gal) liesse sich, worauf mich J. Schröter hinweist, auch anders drehen: In Philippi ist noch nicht eingetreten, was Paulus dann in Galatien konstatieren muss. Der letztere Fall setzt drei events voraus: Paulus empfängt Nachrichten über Gegner, die schon irgendwo (wo?) agieren; er befürchtet dasselbe in Philippi; es geschieht in Galatien. Sparsamer ist die erstgenannte Hypothese, die mit zwei events auskommt (die Galaterkrise erzeugt Paulus’ Befürchtung); sie verdient m. E. den Vorzug. 34 So die ansprechende Hypothese von D. Lührmann, Tage, Monate, Jahreszeiten, Jahre (Gal. 4,10), in: R. Albertz (Hg.), Werden und Wirken des Alten Testaments, FS C. Westermann, Göttingen 1980, 428–445. Die Frage, ob die „Elemente“ auch in diesen umfassenden Tora-ontologischen Zusammenhang gehören, können wir hier offenlassen; negativ M. C. de Boer, The Meaning of the Phrase ta stoicheia tou kosmou in Galatians, NTS 53 (2007) 204–224; ders., Gal (s. Anm. 30) 252–256. 35 So etwa Lüdemann, Paulus, Bd. 2 (s. Anm. 1) 144–152. 36 So etwa Th. Söding, Die Gegner des Apostels Paulus in Galatien. Beobachtungen zu ihrer Evangeliumsverkündigung und ihrem Konflikt mit Paulus, in: ders., Das Wort vom Kreuz. Studien zur paulinischen Theologie (WUNT 93), Tübingen 1997, 132–152, hier: 145 f.
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Orientierung an der gesamten Tora im Lauf der Jahrzehnte verstärkt hat, nicht zuletzt aufgrund der im Vorfeld des Jüdischen Kriegs zunehmenden religiösen und religionspolitischen Spannungen, bleibt unserem Wissen entzogen. 3. Am Rand ist hinzuweisen auf die überaus allgemein gehaltene Warnung vor Unruhe stiftenden Lehrern am Ende des Römerbriefs (16,17–20), die man nicht für eine Interpolation halten muss.37 Die meisten Züge ihrer Charakterisierung entsprechen dem, was wir aus anderen Briefen kennen: die überaus negative Zeichnung, die politischen Assoziationen (V. 17: „Spaltungen“),38 die Reduktion auf den „Bauch“ (V. 18), schliesslich die Dämonisierung (V. 20). Wir wissen nicht, ob Paulus kurz vor dem Abschluss seines Briefschreibens sehr unspezifische Nachrichten aus Rom erhalten hat. Die Warnung stellt jedenfalls eine vorsorgliche Massnahme dar, ähnlich wie in Phil 3. Über das Profil der Gegner lässt sich dem Text nichts entnehmen; auf der Basis des von uns verfolgten Einheitsmodells legt es sich nahe, davon auszugehen, dass der Apostel diejenige Front anvisiert, mit deren Bekämpfung er auch sonst befasst ist.39
7. „Satansdiener“ im 2. Korintherbrief Hinsichtlich der Gegner im 2. Korintherbrief kumulieren sich die Aporien, noch einmal verstärkt durch Briefteilungshypothesen und entsprechend rekonstruierte Interaktionen im Verhältnis zwischen dem Apostel und der Gemeinde.40 Für das oben favorisierte Einheitsmodell der Paulusgegner stellt insbesondere die Absenz des Geltendmachens von Tora-Geboten, namentlich der Beschneidung, für Heiden ein Problem dar. Handelt es sich überhaupt um Gegner eines ähnlichen Typs wie im Galater‑ und Philipperbrief? Im Folgenden halten wir uns wieder an das Sparsamkeitsprinzip:41 Es sind nur wenige belastungsfähige Informationen, die uns der Briefverfasser an die Hand gibt, um das Profil der Gegner zu detaillieren.42 Dass es sich um christliche Missionare handelt, darf man Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer (EKK 6), Bd. 1, Neukirchen / Ostfildern 2014, 26 f. Vgl. R. Jewett, Romans (Hermeneia), Minneapolis 2007, 989 Anm. 31 39 So auch U. Wilckens, Der Brief an die Römer (EKK 6), Bd. 3, Zürich / Neukirchen 1982, 144 f. Vgl. zur Frage von aktuellen Gegnern in Rom ferner St.E. Porter, Did Paul Have Opponents in Rome and What Were They Opposing?, in: ders., Opponents (s. Anm. 19) 149–168. 40 Vgl. dazu das hilfreiche Referat von Bieringer, Gegner (s. Anm. 20). 41 An diesem Punkt mit J. Schröter, Der versöhnte Versöhner. Paulus als unentbehrlicher Mittler im Heilsvorgang zwischen Gott und Gemeinde nach 2 Kor 2,14–7,4 (TANZ 10), Tübingen 1993, 7. 42 In den nachstehenden Zeilen folge ich zunächst ein Stück weit Th. Schmeller, der mit nüchterner und präziser Analyse einige exegetische Sackgassen identifiziert, das wenige Übrigbleibende zusammenstellt und zu einem hyperbolischen Schluss gelangt: „Die Gegner lassen sich nicht greifen, weil es sie nicht gab“: Der Konflikt in Korinth. Sozialgeschichtliche Überlegungen zu den Gegnern im zweiten Korintherbrief, in: W. Stegemann / R. E. DeMaris (Hg.), Alte Texte in neuen Kontexten. Wo steht die sozialwissenschaftliche Bibelexegese?, Stuttgart 37
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dem Stichwort „Evangelium“ (11,4; hier auch „Jesus“, „Geist“) sowie den Titeln „Apostel“, „Arbeiter“ und „Diener Christi“ (11,5.13.23; 12,11) entnehmen.43 Auf jüdische Herkunft weisen die „Hebräer“, „Israeliten“ und „Nachkommen Abrahams“ (11,22). Schliesslich hatten sie Empfehlungsbriefe vorzuweisen (3,1), die wohl in Jerusalem ausgestellt worden sind.44 Das ist im Grund schon alles. Züge der theologischen Position und des religionspolitischen Programms lassen sich den Ausführungen von Paulus kaum entnehmen. Bei der Annahme, dass sich die Gegner auf Moses „Herrlichkeit“ berufen oder sonst eine Art von „Herrlichkeitstheologie“ vertreten hätten, handelt es sich lediglich um ein Postulat. Das meiste von dem, was die Forschung unter dem Etikett hellenistisch-jüdischer Wandermissionare verhandelt hat, samt Theios-Anēr-Christologie und entsprechendem Selbstverständnis,45 hält einer nüchternen Prüfung kaum stand. Auch ihre Kennzeichnung als Charismatiker oder Pneumatiker hat wenig Anhalt an den Texten selber. Sogar hinsichtlich des Selbstlobs, d. h. der sophistischen Kultur der self-promotion, ist man gut beraten, es nicht zu schnell den Gegnern zuzuschreiben.46 „Die Gegner des Paulus bleiben für uns in vielem ein Rätsel“ (Th. Schmeller).47 Zudem ist vielfach mit Interferenzen zwischen den externen Opponenten und gemeindeinterner Paulusablehnung zu rechnen, die sich zwischen der Abfassungszeit des 1. Korintherbriefs und der Eskalation des korinthischen Konflikts aufgebaut hat. Weil Paulus das Gespräch ausschliesslich mit den
2015, 33–52 (Zitat: 49). Vgl. ders., Paulus und seine Gegner im 2. Korintherbrief. Die Inszenierung einer Kontroverse, in: M. Ebner (Hg.), Kontroverse Stimmen im Kanon (QD 279), Freiburg 2016, 108–137; ders., Der zweite Brief an die Korinther (EKK 8), Bd. 2, Neukirchen / Ostfildern 2015, 149–171. 43 Zur Identität der „Superapostel“ und der „Falschapostel“ hat etwa schon H. Lietzmann das Richtige gesagt: „Es geht nicht an, diese ψευδαπόστολοι von den im vorhergehenden und folgenden bekämpften Gegnern zu trennen“, An die Korinther I–II (HNT 9), Tübingen 41949, 148; vgl. Schmeller, 2 Kor, Bd. 2 (s. Anm. 42) 154–156. 44 Es ist nicht wahrscheinlich, dass die Empfehlungsbriefe von 3,1 lediglich die verbreitete Praxis, von der vorher besuchten Gemeinde weiter empfohlen zu werden, widerspiegeln (so etwa Schröter, Versöhner [s. Anm. 41] 56 f). Ein so üblicher Brauch kann die erhebliche Irritation von Paulus nicht erklären, die ihn dazu führt, die Empfehlungsbrief-Motivik mittels der Antithesen von Stein und Herz, von Buchstabe und Geist (3,1–6) zur Kontrastierung der Herrlichkeit des Neuen Bundes und seines Apostolats mit derjenigen des Alten Bundes und des Mosedienstes zu amplifizieren (3,4–4,6). 45 Einflussreich v. a. D. Georgi, The Opponents of Paul in Second Corinthians. A Study of Religious Propaganda in Late Antiquity, Edinburgh 1987, 229–313. In diese Richtung tendiert auch U. Schnelle, Der 2. Korintherbrief und die Mission gegen Paulus, in: D. Sänger (Hg.), Der zweite Korintherbrief. Literarische Gestalt – historische Situation – theologische Argumentation, FS D.-A. Koch (FRLANT 250), Göttingen 2012, 300–322, hier: 316–318; ders., Die ersten 100 Jahre des Christentums 30–130 n. Chr. Die Entstehungsgeschichte einer Weltreligion (UTB 4411), Göttingen 2015, 284 f. 46 Vgl. das caveat von Gerber, ΚΑΥΧΑΣΘΑΙ (s. Anm. 12) 219 f. 47 Schmeller, 2 Kor, Bd. 2 (s. Anm. 42) 170.
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tonangebenden Exponenten der Korinther Gemeinde führt, ist es noch schwieriger, die Gegner selber irgendwie zu fassen.48 7.1 Philosophen versus Sophisten Wichtig ist vor allem die folgende Beobachtung: Eines der zentralen Bezugsfelder, in dem Paulus die Dreiecksbeziehung von Gemeinde, Gegnern und sich selbst zur Darstellung bringt, ist der Komplex der Sophistenschelte,49 die auf die traditionsreiche Entgegensetzung von Philosophie und Rhetorik zurückgeht. Die breite Palette von Vorwürfen, Anschuldigungen und Selbstverteidigungsmanövern, die die Hauptteile des 2. Korintherbriefs beherrscht, zählt zum Ensemble der Auseinandersetzung zwischen Philosophie und Sophistik (bzw. Fachwissenschaften), die mit dem Aufkommen der zweiten Sophistik die Agenda von Denkern und Rednern weithin bestimmt. Schon im 1. Korintherbrief spielt der Gegensatz von Rhetorik und philosophischer Weisheit eine wichtige Rolle (1 Kor 1,17 ff). Man darf die im 2. Korintherbrief dokumentierte Konfrontation auch als ein Indiz dafür in Anspruch nehmen, dass sich die zweite Sophistik nicht erst mit dem zweiten Jahrhundert Bahn bricht, sondern schon um die Mitte des ersten Jahrhunderts entwickelt.50 Viele der Friktionen zwischen Paulus, den Korinthern und den Gegnern gehören in dieses Setting von polemischen Topoi,51 die nicht einfach für das, was faktisch der Fall gewesen sein mag, in Anspruch genommen werden können.52 So steht es etwa mit dem „Verhökern“ bzw. dem 48 Für Schmeller sind sie weitgehend zu von Paulus generierten Schemen geworden: „Paulus schuf sich die Gegner zu grossen Teilen selbst. Er überzeichnete und polemisierte, und es ist kein Wunder, dass das Ergebnis eine Chimäre ist“, Konflikt (s. Anm. 42) 49; vgl. ders., 2 Kor, Bd. 2 (s. Anm. 42) 171; ders., Paulus (s. Anm. 42) 114. 49 Hierzu grundlegend B. Wyss aufgrund einer systematischen Aufarbeitung des Lexems σοφιστής in der griechischen Literatur: Der gekreuzigte Sophist, EChr 4 (2014) 503–527; vgl. dies., Σοφιστής in der Kaiserzeit. Gescholtener Lehrer oder gefeierter Redner?, in: dies. / R. Hirsch-Luipold / S.-J. Hirschi (Hg.), Sophisten in Hellenismus und Kaiserzeit. Orte, Methoden und Personen der Bildungsvermittlung (STAC 101), Tübingen 2017, 177–212. Wyss verfolgt, wie ein Gegner als „Sophist“ beschimpft wird, den man für intellektuell ebenbürtig und deshalb für gefährlich hält. Unabhängig von der vorliegenden Studie wird der Vergleich zwischen der von Wyss untersuchten Anti-Sophisten-Polemik und dem Umgang von Paulus mit seinen Gegnern überzeugend vorangetrieben durch M. Becker, A Template for Picturing Rivals? Paul’s Depictions of Opponents and the Elements of Anti-Sophistic Polemic, BN 180 (2019) 105–129. 50 Zu dieser Frühdatierung vgl. S. Swain, Hellenism and Empire. Language, Classicism, and Power in the Greek World AD 50–250, Clarendon, 1996, speziell 2–5; T. Whitmarsh, The Second Sophistic, Cambridge 2005, 3–5, ders., Greece. Hellenistic and Early Imperial Continuities, in: D. S. Richter / W. A. Johnson (Hg.), The Oxford Handbook of the Second Sophistic, Oxford 2017, 11–23. 51 In die Mitte der Problemlage gerückt besonders von Schmeller, 2 Kor, Bd. 2 (s. Anm. 41) 164–170; ders., Konflikt (s. Anm. 41) 40–48; ders. Paulus (s. Anm. 41) 111–113. 52 Wyss, Σοφιστής (s. Anm. 49) 178 spricht vom Bild des Sophisten als „einem schillernden Hologramm“.
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schnöden Gewinnstreben (vgl. 2 Kor 2,17), mit der Frage des Unterhaltsverzichts, also der Finanzierung von Lehrleistungen (2,17; 11,20; 12,16) und überhaupt mit der Selbstbereicherung (etwa des Paulus an der Kollekte, 12,14–18). Vor allem der Stellenwert der Rhetorik hat hier ihren Ort: Man wirft den Anderen vor, leeres Wortgetöse zu erzeugen, während das eigene Geschäft in genuiner Wahrheitssuche besteht – Schein steht gegen Sein, Schaumschlägerei gegen kunstlose Authentizität. Die paulinischen Notizen 11,6 und 10,10 f sind deshalb nicht einfach zum Nennwert zu nehmen (dazu unten). Sodann ist auch der ganze Komplex des „Rühmens“ im Kontext der öffentlichen Inszenierung durch Auftritt und Redekunst, also der Selbstdarstellung, zu verorten, die von philosophischer Seite problematisiert wird. Worteschwall und Aufblähung kommen Schlichtheit und Wahrheitsfindung entgegenzustehen. Ein schönes Beispiel für das Gesagte ist die Kontrastierung von Pfau und Eule in einer Rede Dions von Prusa, die die unterschiedlichen Geschäfte von Sophisten und Philosophen illustriert.53 Dass ausgerechnet die unansehnliche und unbeholfene „Eule“ selber, also der philosophierende Dion, eine brillante Rhetorik zum Zug kommen lässt, vervollständigt das Bild. Mit dem schillernden Charakter des Sophisten verbindet sich sodann auch gern das Bild des Gestaltenwandlers Proteus, mit dem Unwahrhaftigkeit, Wankelmut und Opportunismus assoziiert wird. In Korinth hat man dem Apostel offenbar vorgeworfen, nicht verlässlich zu sein (vgl. 1,13.17).54 Die philosophische Tradition setzt dagegen auf die Übereinstimmung von Lehre und Leben. Schliesslich ist zu verweisen auf die „Rhetorik des Unbestimmten“,55 die etwa im 2. Korintherbrief das Gegnerbild kennzeichnet:56 Eine solche begleitet
53 Dion, or. 12,1–16 (zur Eule vgl. or. 72,13–16), wo auch auf eine Fabel Äsops zurückgegriffen wird. Vgl. H.-J. Klauck / B. Bäbler (Hg.), Dion von Prusa. Olympische Rede, oder Über die erste Erkenntnis Gottes (SAPERE 2), Darmstadt 22002, 164 f. Synesios, Dion 3,3 f, unterscheidet dementsprechend zwei verschiedene Stiltypen bei Dion, vor seiner Konversion zur Philosophie den prunkenden des Pfaus, danach einen zurückhaltenden und sachlichen Stil. Auf or. 12 hat bereits verwiesen H. Windisch, Der zweite Korintherbrie (KEK 96), Göttingen 1924 (= 1970), 332; vgl. H. D. Betz, Der Apostel Paulus und die sokratische Tradition (BHTh 45), Tübingen 1972, 64–66. Zur äsopischen Tradition vgl. H.-G. Nesselrath (Hg.), Dion von Prusa. Der Philosoph und sein Bild (SAPERE 13), Tübingen 2009, 157 f Anm. 240. 54 Eine entsprechende Kritik zeichnet sich bereits im 1. Korintherbrief ab (vgl. 9,22). Zum proteischen „allen alles werden“ vgl. S. Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt (FRLANT 147), Göttingen 1989, 216 f. 55 So M. Vogel, ,,Seine Briefe sind gewichtig und gewaltig“ (2 Kor 10,10). Polemik im 2. Korintherbrief, in: Wischmeyer / Scornaienchi, Polemik (s. Anm. 13) 183–208, hier: 192 u.ö.; vgl. zu den Gegnern im Galaterbrief D. Sänger, Literarische Strategien der Polemik im Galaterbrief, in: ebd., 155–178, hier: 177 („Um wen es sich näherhin handelt, wird verschwiegen. Die Gegner bleiben im anonymen Dunkel“). 56 Für Röm 16,17 f stellt Wilckens, Röm, Bd. 3 (s. Anm. 39) 143 die Anonymität und Unschärfe der Falschlehrer heraus, die „zum Stil solcher Polemiken“ zählt.
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gern die antike Polemik gegen Sophisten; diese erscheinen als apersonaler anonymer Schwarm.57 Für das Verständnis der Kommunikation zwischen Paulus und den Korinthern wichtig ist der Sachverhalt, dass die Topoi gegenseitig austauschbar und entsprechend auch gegenseitig appliziert worden sind. So wie sich Philosophenschulen wechselseitig der Sophisterei bezichtigt haben, ist wahrscheinlich auch von korinthischer und/oder von gegnerischer Seite Paulus als Typ des Scharlatans bzw. Sophisten perhorresziert worden, während man für sich selber die bessere Position reklamiert hat.58 Dies betraf wohl nicht nur das Thema Unterhalt und Finanzen, sondern auch das Verhältnis von Wahrheitsrede und Geschwätzigkeit. 7.2 Spurensuche nach den historischen Gegnern Das erhebliche Ausmass von Topik und Stereotypie, das die Apologetik des 2. Korintherbrief kennzeichnet, hat Folgen für das historische Rekonstruktionsgeschäft. Diejenigen Forscher, die die Gegnerbilder in hohem Ausmass der Produktivität des Briefautors zuschreiben, neigen verständlicherweise dazu, die historischen Fragen ganz zu suspendieren. Dazu gibt es aber keine Nötigung. Ich versuche, über die angedeuteten Aporien hinaus doch einen Schritt zugunsten des hier verfolgten moderat einheitlichen Modells der Gegner zu wagen. Für ein solches spricht v. a. die jüdische Provenienz der Gegner: Die „Hebräer“ müssen zwar nicht notwendig aus dem Heiligen Land stammen, aber die auffällig archaisierende kulturelle Bezeichnung, die die Gegner mit Paulus teilen (11,22 f; vgl. Phil 3,5), weist am ehesten in ein vom palästinischen Judentum und seinen Sprachen geprägtes Milieu,59 so sehr sich dieses auch weitreichend hellenisiert hat. In diesen gerade auch von der Apokalyptik bestimmten Traditionshorizont Vgl. Wyss, Sophist (s. Anm. 49) 512. Vgl. Schmeller, Paulus (s. Anm. 42) 113: „Paulus konnte seine Gegner als eine negative Spielform von Philosophen, nämlich als harte, herrschsüchtige Kyniker hinstellen, deren Behandlung sich die Gemeinde unbegreiflicherweise gefallen liess. Umgekehrt konnte er selbst das Ziel antisophistischer Kritik werden.“ 59 Vgl. zu Ἑβραῖος κτλ. M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften, Bd. 3 (WUNT 141), Tübingen 2002, 68–192, hier: 111 f („Weder in 2. Kor 11,22 noch in Phil 3,5 kann Ἑβραῖος kaum etwas anderes heissen als ein Ἑβραϊστί, d. h. ein die Heilige Sprache bzw. Aramäisch sprechender Palästinajude oder ein Diasporajude, der in seiner Herkunft und Bildung aufs engste mit dem Mutterland verbunden ist“); ders., Zwischen Jesus und Paulus. Die „Hellenisten“, die „Sieben“ und Stephanus, ebd. 1–67, hier: 19 f (bedeutet „den aus Palästina – d. h. dem Heiligen Land – stammenden oder mit Palästina besonders verbundenen Juden“); Niebuhr, Heidenapostel (s. Anm. 59) 106 f; D.-A. Koch, Abraham und Mose im Streit der Meinungen. Beobachtungen und Hypothesen zur Debatte zwischen Paulus und seinen Gegnern in 2 Kor 11,22–23 und 3,7–18, in: ders., Hellenistisches Christentum. Schriftverständnis, Ekklesiologie, Geschichte (NTOA 65), Göttingen 2008, 71–89, hier: 72–76; M. Tiwald, Hebräer von Hebräern. Paulus auf dem Hintergrund frühjüdischer Argumentation und biblischer Interpretation (HBS 52), Freiburg 2008, 144–158; 177 f. Anders, aber ohne Begründung, Wolter, Paulus (s. Anm. 42) 441 Anm. 16. 57 58
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gehört auch eine Kultur des Umgangs mit „Visionen und Offenbarungen“ (12,1), auf die sich die Gegner wie Paulus selber verstehen. Die Prädikate „Israeliten“ und „Nachkommen Abrahams“ (11,22) signalisieren Erwählung und Verheissung. Die mutmasslichen Selbstbezeichnungen passen gut zu dem, was sich aus dem Galaterbrief erheben lässt. Die Spuren führen am ehesten doch in das Umfeld der Urgemeinde von Jerusalem, das man sich nicht notwendig als uniform vorzustellen hat. Die Empfehlungsbriefe (3,1) weisen die Missionare noch nicht als „Visitatoren“ aus, signalisieren aber doch einen gewissen Rückhalt auf Seiten der dortigen Entscheidungsträger. Erhebliche Probleme bereiten einem Einheitsmodell der Gegner zwei andere Punkte, nämlich die fehlende Beschneidungsforderung und die rhetorische Kompetenz der Gegner. Beide Einwände sind indessen nicht unüberwindbar. Unter den Gründen dafür, dass in Korinth offenbar keine umfassende Tora-Observanz eingefordert worden ist, mögen solche taktischer bzw. propädeutischer Natur eine Rolle gespielt haben. Der von Josephus berichtete Fall der Konversion des Königs von Adiabene zum Judentum zeigt mögliche Optionen und Stufen.60 Auch in Phil 3 wird, aus welchem Grund auch immer, aus dem Würdeattribut der Gegner keine Verhaltensnorm für Heiden abgeleitet. Implizit steht eine solche doch im Raum, was die Heftigkeit der paulinischen Invektive ein Stück weit erklärt. 7.3 Asianische Prunkredner in Korinth? Schwieriger zu beurteilen ist die Rhetorik, mit der die Gegner die Korinther beeindruckt zu haben scheinen (2 Kor 11,6; 10,10 f). Sie passt am wenigstens zu dem, was wir im Umfeld der Jerusalemer Urgemeinde, bei Fischern und Zimmerleuten, erwarten würden.61 In 11,6 präsentiert sich Paulus im direkten Vergleich mit seinen Gegnern (V. 5)62 als „Amateur“ in der Redekunst, der dafür aber Erkenntnis bietet. Dass sich der Apostel als rhetorischer Laie gibt (11,6), ist in dieser Konstellation zunächst als Bescheidenheitstopos zu lesen,63 der selber einen 60 Jos., ant. 20,34–48. Vgl. Theissen, Gegenmission (s. Anm. 20) 287, der aber für Korinth eine andere religionspolitische Position der römischen Administration voraussetzt als etwa für Philippi (296–300) und deshalb die fehlende Beschneidungsforderung anders deutet. Der historische Stellenwert des Claudius-Edikts wird hier m. E. weit überschätzt. 61 Vgl. Schmeller, Konflikt (s. Anm. 42) 36: „Was die Gemeinde an den Gegnern fand, vermisste sie an Paulus. Das spricht dafür, dass die Gegner in die kulturelle Welt des Hellenismus gehörten, die Erwartungen des Publikums an Redner kannten und sie besser als Paulus erfüllen konnten, und es spricht dagegen, dass sie galiläische Bauern und Fischer waren.“ 62 Der Vergleich mit den Gegnern setzt sich fort im Thema des Unterhaltsverzichts, wo Paulus auch wieder eine Alternative markiert. Um eine eigentliche Synkrisis handelt es sich aber keineswegs, so wenig wie in 10,12 und 12,1 (mit Schmeller, 2 Kor, Bd. 2 [s. Anm. 42] 179). Zur kontroversen Salärfrage vgl. L. Aejmelaeus, The Question of Salary in the Conflict between Paul and the „Super Apostles“ in Corinth, in: Dunderberg, Fair Play (s. Anm. 28) 343–376. 63 So mit vielen Autoren, etwa Th.J. Bauer, Einen missglückten Auftritt retten. 2 Kor 10,10 f. und die rhetorische Kultur der frühen Kaiserzeit, in: F. R. Prostmeier / H. E. Lona (Hg.),
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rhetorischen Kunstgriff bildet:64 Paulus stellt der Briefleserschaft umso prominenter das entscheidende Argument vor Augen, nämlich seine Überlegenheit im Bereich der theologischen Erkenntnis. Nun ist oft beobachtet worden, dass der Apostel trotz seines Statements rhetorische Stilmittel raffiniert und gezielt einzusetzen weiss – zumal im vorliegenden Kontext der „Narrenrede“. Gerade die Eigenwilligkeit der paulinischen Rhetorik, die nicht den Standardregeln gehorcht, sichert ihr besondere Wirkung. Die Topik, die die Selbstdarstellung des Paulus als rhetorischer Laie bestimmt, ist aber nur die eine Hälfte der Angelegenheit. Die Exegese hat m. E. viel zu wenig auch bei der anderen Hälfte, der Zuschreibung von rhetorischer Kompetenz an die Gegner, gefragt, inwieweit hier nicht ‚Realien‘, sondern Stereotype zum Zug kommen. Wenn die Annahme richtig ist, dass der Apostel im vorliegenden Zusammenhang weiträumig mit der Topik der Sophistenschelte arbeitet, ist es geradezu zwingend, dass die Gegner auf die Seite von sophistischen Professionals zu stehen kommen, die lediglich mit erkenntnisarmer Rede und Scheininhalten punkten können. Tatsächlich hat man in den Auseinandersetzungen rund um die zweite Sophistik auch Orakeldeuter, Priester, Propheten, Wundertäter und andere Angehörige fremder Kulte als „Sophisten“ denunziert65 – also Personen, bei denen es sich um alles andere als um professionelle Redner handelt. Für Lukian ist ausgerechnet der Galiläer Logos der Vernunft – Logos des Glaubens, Berlin 2010, 77–108, hier: 101 f; Schmeller, Paulus (s. Anm. 42) 126. Nicht überzeugend argumentiert dagegen R. S. Schellenberg, Rethinking Paul’s Rhetorical Education. Comparative Rhetoric and 2 Corinthians 10–13 (SBLECL 10), Atlanta 2013, 286–294. 64 Lehrreich ist wiederum Dions Gleichnis von Eule und Pfau (or. 12,15; vgl. oben Anm. 53): „Ich muss euch indes frei heraus sagen, dass ihr, die ihr in so grosser Zahl hier erschienen seid, euch gerade darum bemüht, einem Mann zuzuhören, der weder schön ist von Gestalt noch kräftig, dessen beste[n] Lebensjahre bereits hinter ihm liegen, der so gut wie kein Können oder Wissen zu vermitteln verspricht, weder auf hoch achtbaren noch auf geringerwertigen Gebieten. Er beherrscht weder die Seherkunst noch die sophistische Technik, hat weder rednerische noch schmeichlerische Fähigkeiten (τέχνην δὲ ἢ ἐπιστήμην οὐδεμίαν ὑπισχνουμένου σχεδὸν οὔτε τῶν σεμνῶν οὔτε τῶν ἐλαττόνων, οὔτε μαντικὴν οὔτε σοφιστικὴν ἀλλ᾽ οὐδὲ ῥητορικήν τινα ἢ κολακευτικὴν δύναμιν), ist auch kein wortgewaltiger Schreiber und hat überhaupt nichts vollbracht, was des Lobes oder eures Eifers würdig wäre. […] Ihr müsst vielmehr Nachsicht üben, da ihr ja einem Mann zuhört, der ein blutiger Laie ist und ein langatmiger Schwätzer (ἀνδρὸς ἰδιώτου καὶ ἀδολέσχου)“ (übs. Klauck 55; vgl. 117 Anm. 79 [„systematische Selbstverkleinerung, die Dion hier betreibt“, mit Verweis auf or. 42,2]). Ähnlich äussert sich Dion in or. 32,39 („sie sind grosse, mächtige Sophisten und Zauberer. Was ich zu sagen habe, ist den Worten nach bescheiden und gering, allerdings nicht dem Inhalt nach. Die Worte an sich sind nicht bedeutend, aber sie haben es mit sehr Bedeutendem zu tun“); 35,1; 42,3 (ἰδιώτης); vgl. dazu auch Betz, Apostel (s. Anm. 53) 64–66; G. Mussies, Dio Chrysostom and the New Testament (SCHNT 2), Leiden 1972, 178 f; L. Aejmelaeus, Schwachheit als Waffe. Die Argumentation des Paulus im Tränenbrief (2. Kor. 10–13) (SESJ 78), Göttingen 2000, 126 f; Schmeller, 2 Kor, Bd. 2 (s. Anm. 42) 209. Für das Stilmittel hat H. von Arnim, Leben und Werke des Dio von Prusa, Berlin 1898, 444 f, die Bezeichnung προσποίησις ἰδιωτισμοῦ geprägt. 65 Mit zahlreichen Belegen Wyss, Sophist (s. Anm. 49) 504–511 („Alle Beispiele zeigen deutlich, dass die Bezeichnung σοφιστής für numinoses Personal nicht an eine bestimmte Weltanschauung der Autoren gebunden war“, 511).
7. „Satansdiener“ im 2. Korintherbrief
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Jesus ein „gekreuzigter Sophist“.66 Den Topos auch auf „hebräische“ Wanderprediger zu applizieren, wäre keineswegs ungewöhnlich. Diese Überlegung wird gestützt durch die indirekte Weise, mit der Paulus den Gegnern rhetorische Kompetenz zuschreibt. Er kommuniziert ja lediglich mit den Korinthern, und hier namentlich mit tonangebenden Leuten, die sich an ähnlichen Bildungsstandards wie er selber orientieren. Offenbar artikulieren beide Seiten, Briefverfasser wie Rezipienten, Figuren und Muster der rhetorischen Topik, die mit dem Kontrast von Sophisten und Philosophen arbeitet. Das Gegensatzpaar von rhetorischem Amateur und Prunkrednern spiegelt so gesehen nicht die ‚Realien‘, sondern die jeweiligen Stereotype, und zwar auf beiden Seiten. Wir wissen nicht genau, worin die Attraktion der Besucher und ihrer Verkündigung für die Korinther bestand. Es muss sich nicht zwingend um sophistische Meisterschaft gehandelt haben. Denkbar ist auch ein ganz anderer Typ von rednerischer Performanz, etwa in Gestalt einer „barbarischen Philosophie“, die durchaus eine eigene – keineswegs schulgemässe – Rhetorik mit sich führt. Aber nicht einmal eine solche ist zwingend. Die Gegner können auch in anderer Hinsicht imponiert haben. Die Vermutungen der älteren Forschung, die den „Hebräern“ Vertrautheit mit Jesusüberlieferungen samt jüdischen Auslegungstraditionen zuerkannte, hätten hier ihr relatives Recht, auch wenn Aussagen wie 5,16 und 10,7 dafür keine Andockstelle hergeben. Allzu tief sollte man zudem das Bildungsniveau auch derjenigen Jesusanhänger, die sich um die Urgemeinde scharen, nicht ansetzen67 – weder die theologische Produktivität der frühesten Judenchristen noch die erhebliche geschichtliche Wirkung des Herrenbruders Jakobus lassen sich sonst verständlich machen. Im Gegenzug muss man sich vergegenwärtigen, dass das Bild von christlichen asianischen Prunkrednern, die aus dem Nichts in Korinth auftauchen, um dann sogleich wieder für immer zu verschwinden, selber auch wenig Plausibilität hat. Sie wären wirklich Chimären!68 Predigten im Stil asianischer Rhetorik sind uns jedenfalls erst aus erheblich späterer Zeit überliefert, nämlich im Hebräerbrief und, nochmals nach fast einem Jahrhundert, in Melitons Passa-Homilie. Auch die zweite Passage, die auf hohe rhetorische Kompetenz der Gegner hinweisen könnte, nämlich 10,10 f (vgl. 10,1), transportiert eine doppelbödige Botschaft. Die Skizze des suboptimalen Auftritts des Apostels, in markantem 66 Lukian, Peregr. 13. Vgl. P. Pilhofer u. a. (Hg.), Lukian. Der Tod des Peregrinos. Ein Scharlatan auf dem Scheiterhaufen (SAPERE 9), Darmstadt 2005, 64 f; 104–107. 67 Der legendäre Bericht Hegesipps vom Verhör der Judasenkel durch Domitian (Euseb, hist. 3,20:1–7) signalisiert einerseits niedrige Bildung: Die Brüder „hätten ihre Hände vorgezeigt und als Beweis dafür, dass sie selber arbeiteten, die Härte ihres Körpers und die Schwielen, die sich infolge der stetigen Arbeit auf ihren Händen gebildet hatten, vorgewiesen“. Andrerseits stehen sie in Rom vor dem Kaiser! Vgl. die Übersetzungsausgabe von F. Schleritt, Hegesipp, Göttingen 2016, 41–46. 68 So von den Paulusgegnern Schmeller, 2 Kor, Bd. 2 (s. Anm. 42) 170; ders., Konflikt (s. Anm. 42) 49; ders., Paulus (s. Anm. 42) 114.
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Kontrast zu seinem schriftstellerischen Können, wird sogleich in der folgenden Aussage konterkariert (V. 11): Bei seinem nächsten Besuch „kann“ Paulus in direkter Kommunikation dasselbe, was er abwesend als Briefschreiber „kann“. Zudem nimmt die Passage kaum Bezug auf die Gegner, besagt also nichts über deren Vorzüge. Um einem naheliegenden Missverständnis vorzubeugen: Es soll nicht bestritten werden, dass sich Paulus etwa bei seinem ‚Zwischenbesuch‘ einen missglückten Auftritt geleistet hat69 und auch sonst nicht durchwegs überzeugt hat. Aber seine literarische Hinterlassenschaft und sein enormer missionarischer Erfolg sprechen trotzdem für eine erhebliche rednerische Kompetenz. In Entsprechung zu diesem mehrdeutigen textlichen Befund ist auch im Blick auf die andere Seite, die Gegner, festzuhalten: Selbstverständlich ist es möglich, ihnen rhetorische Kunstfertigkeit und intime Vertrautheit mit Bildungsstandards der hellenistisch-römischen Kultur zu bescheinigen. Aber die wenigen Andeutungen, die der 2. Korintherbrief diesbezüglich macht, spiegeln vor allem das zwischen Briefautor und Adressaten spielende gegenseitige Artikulieren von rhetorischen Topoi und Figuren auf der Basis ihrer gemeinsamen Bildungsressourcen. Dem historischen Porträt der Gegner fügen sie so wenig einen markanten Pinselstrich hinzu70 wie sie umgekehrt einen ungenügenden Leistungsnachweis von Paulus’ rednerischem Können dokumentieren.
8. Eine hermeneutische Zwischenüberlegung Versuchen wir, eine Bilanz zu ziehen. Der 2. Korintherbrief setzt einem moderaten Einheitsmodell der Gegner zwar keine unüberwindbaren Hindernisse entgegen. Ernüchternd nimmt sich aber das geringe Mass an verlässlichen Informationen aus:71 Wir erfahren nur wenig über die Gegner. Ein Stück weit resultiert diese Sichtweise, die in der jüngeren Exegese an Zustimmung gewinnt, allerdings aus der methodischen Entscheidung, inhaltliche Positionen der Gegner nicht durch „mirror reading“ zu erheben. Je weniger man die paulinische Argumentation einer Hermeneutik der Kontra-Dependenz unterwirft, wonach der Apostel im Reaktionsmodus operiere, desto mehr schrumpft das Ausmass der für die Gegner in Anspruch zu nehmenden Theologumena.72 Vgl. Bauer, Auftritt (s. Anm. 63), besonders 91 f. nehme hier das Anliegen von Gerber auf, wonach der Einsatz der „rhetorischen Pharmaka“ von Paulus gerade bei der „Rekonstruktion der jeweiligen Gegnerschaft mehr als bislang berücksichtigt werden sollte“: ΚΑΥΧΑΣΘΑΙ (s. Anm. 12) 249. 71 Ausserdem wissen wir, etwa im Fall von Korinth, leider nicht, wieviel Kenntnisse über seine Gegner wir Paulus überhaupt zuschreiben können. 72 Schmeller ist deshalb zum Urteil gelangt, dass sich Paulus und die korinthischen Gegner sowohl in ihrer Theologie wie in ihrem Selbstverständnis sehr ähnlich waren: „Wir erfahren also nicht etwa deshalb so wenig über sie, weil sie Paulus so fremd waren, sondern gerade deshalb, 69
70 Ich
8. Eine hermeneutische Zwischenüberlegung
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Erschwerend tritt der Sachverhalt hinzu, dass es im 2. Korintherbrief nicht zu einer fundamentaltheologischen Auseinandersetzung mit den Gegnern kommt73 – im Zentrum stehen vielmehr Auseinandersetzungen um die Missionsgebiete (vgl. 10,12–16) und um die Exklusivität der Beziehung zwischen Gründer und Gemeinde. Allerdings ist umgekehrt zu fragen, ob sich die Verhältnisse in den übrigen Briefen wirklich so anders ausnehmen. Das mit der Gegner-Invektive eingeleitete Selbstporträt von Paulus in Phil 3 lässt sich jedenfalls nicht als inhaltliche Auseinandersetzung mit gegnerischen Positionen lesen. Offenbar bieten die polemischen Stilmittel im 2. Korintherbrief und im Philipperbrief, ob sie nun dem epideiktischen oder dem apologetischen Genre angehören, keine Plattform für eine inhaltliche Debatte. Selbst im Galaterbrief dürfte sich das Ausmass der spezifischen Auseinandersetzung mit den Überzeugungen der Gegner in Grenzen halten. Sie greift vor allem in der Frage, welcher Stellenwert Abrahams Beschneidung zukommt. Es empfiehlt sich, methodisch sorgfältig zu unterscheiden zwischen der Frage danach, wo sich Paulus mehr oder weniger explizit mit gegnerischen Positionen auseinandersetzt, und der Frage, wo der Apostel die konfrontative Ausgangslage zum Anlass nimmt, eine eigene theologische Agenda zu verfolgen. Selbstverständlich spielen in diesem zweiten Fall Vorstellungen, die Paulus selber über die theologischen Einstellungen seiner Kontrahenten hat, eine Rolle. So sieht er sich im Galaterbrief angesichts der gegnerischen Berufung auf Abraham genötigt, grundsätzlich über das Verhältnis von Christus und Gesetz, von Rechtfertigung und Glaube nachzudenken.74 Seine theologische Reflexion ist dann nicht mehr als reaktiv, sondern vielmehr als kreativ zu charakterisieren. Erst recht ist der Apostel dort gefordert, wo er sich wie im Römerbrief gegen Verdrehungen seiner eigenen Lehre zur Wehr setzen muss (vgl. Röm 3,8.31; 6,1.15; 7,7a). Hier kämpft er weil sie ihm so nahe standen“ (Paulus [s. Anm. 42] 110; vgl. 136; ders., 2 Kor, Bd. 2 [s. Anm. 42] 157; 170 f; ders., Konflikt [s. Anm. 42] 49; vgl. Vogel, Briefe [s. Anm. 55] 201: „faktische weitgehende Nichtunterscheidbarkeit der Gegner von Paulus“). Sollte der exegetische Sachverhalt damit zutreffend erfasst sein, stellen sich drängende historische Fragen. Wo und wie sind diese Leute christlich sozialisiert worden? Geht man von einem prägnanten Verständnis ihrer „hebräischen“ Herkunft aus, würden sie tatsächlich viel mit Paulus, der selber in den theologischen Milieus des Mutterlands zuhause ist, teilen, unbeschadet ihres möglicherweise anderen Verständnisses des „Evangeliums“ (11,4). 73 Vgl. Bieringer, Gegner (s. Anm. 20) 217 („Schwierigkeit, dass es Paulus nicht darum ging, die Inhalte der gegnerischen Lehre zu beschreiben, ja nicht einmal darum, sie zu widerlegen“). Anders z. B. Koch, Abraham (s. oben Anm. 59). 74 Vgl. Sänger, Strategien (s. Anm. 55) 160 f, für den wir es im Galaterbrief mit „zwei unterschiedlich ausgestalteten, genauer noch: miteinander unvereinbaren Konzeptionen hinsichtlich der Funktion, Bedeutung und Begründungsstruktur des Glaubens zu tun“ haben. Ähnlich S. Butticaz, La crise galate ou l’anthropologie en question (BZNW 229), Berlin 2018, 226 f : Der Apostel ist „échangeant la question socio-identitaire de ses adversaires (Comment être membres à part entière du peuple juif?) pour une interrogation centralement anthropologique (Qu’est-ce qui détermine la relation de l’être humain – de tout homme – face au Dieu Juge?)“.
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noch mehr als im Galaterbrief gleichsam auf eigenem Terrain. Die gegnerischen Positionen selber spielen dabei nur eine Nebenrolle. Dieser Typ von Gedankenführung, der nicht mehr der Logik der Kontra- Dependenz gehorcht, begegnet auch im 2. Korintherbrief. Ein Beispiel dafür ist Paulus’ Kontrastierung des Mosedienstes mit seinem eigenen apostolischen Dienst (2 Kor 3,7–18). Es ist weder möglich noch sinnvoll, gegnerische Mosevorstellungen oder sogar entsprechende Skripte im Texthintergrund zu postulieren. Der Apostel entwickelt in 3,1–4,6 eine fulminante Theologie der Herrlichkeit, der er im folgenden Briefteil (4,7–5,10) eine Theologie der Verborgenheit zur Seite stellt. Beides hat mit gegnerischen Positionen nichts zu tun. Aber die briefliche Pragmatik funktioniert nur dann, wenn die Rezipienten „Mose“ in einen Zusammenhang mit den Gegnern bringen können (vgl. 2,17; 3,1). Ganz ohne Anhalt an der geschichtlichen Wirklichkeit geht das schwerlich; hier passt es gut zum Profil der „hebräischen“ Lehrer. Insofern haben die impliziten Annahmen, die die Briefe über die theologischen Positionen der Gegner transportieren, durchaus einen heuristischen Wert für die historische Fragestellung. Ähnlich steht es in Phil 3, wo der Autor seine Leserschaft dazu animiert, einen Bezug zwischen den „Hunden“ (V. 1) und der von ihm selber abgetanen „Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt“, herzustellen. Die Hypothese, wonach Paulus ‚judaistische Gegner‘ anvisiere, kann an diese Korrelation andocken.
9. Ertrag: Apostel wie Gegner im Kreuzfeuer Wir kommen zum Schluss auf eine Frage zurück, die sich eingangs am Beispiel des Philipperbriefs gestellt hat: Während sich Paulus in Phil 1 tolerant gibt, nimmt er in Phil 3 eine strikte Grenzziehung vor.75 Wo handelt es sich für ihn lediglich um Rivalität bzw. um (mehr oder weniger) „freundliche“ Konkurrenz und wo um eine elementare Streitfrage, sozusagen um den status confessionis? Sieht man für die Erklärung der differenten Stellungnahmen in demselben Schreiben von Verlegenheitsauskünften wie Nachrichten-Updates, Stimmungsschwankungen u.ä. ab, so lässt sich im Blick auf Paulus’ Verständnis des Evangeliums sagen: Wo ein „anderes“ Evangelium verkündigt wird als das von ihm selber vertretene, gibt es keinen Spielraum. Dies ist seinem Zeugnis zufolge der Fall in Galatien (Gal 1,6 f) und in Korinth (2 Kor 11,4), und analog, wenigstens virtuell, auch in Philippi, nicht aber dort, wo er den Philipperbrief verfasst (1,15.17 f). Was macht nun die Andersheit des Evangeliums aus, die laut Gal 1,7 einen Selbstzerstörungseffekt mit sich bringt? Die Antwort muss differenziert ausfallen: Angesichts der in den galatischen Gemeinden aktiven Lehrer spielen offenkundig Inhalte 75 Eine literarkritische Operation als Erklärung für diese inhaltliche Spannung wird hier nicht verfolgt.
9. Ertrag: Apostel wie Gegner im Kreuzfeuer
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eine zentrale Rolle, nämlich der Stellenwert der Reichweite von Torageboten für die Zugehörigkeit zum Gottesvolk. In Korinth ist hingegen, wenigstens vordergründig, nicht Fundamentaltheologie angesagt, sondern Beziehungsarbeit: Auf dem Spiel steht das singuläre ‚evangelische Narrativ‘ der Gemeinde, das in der exklusiven Beziehung zwischen ihr und ihrem Gründer besteht. Diese wird von den Fremdmissionaren zerrüttet (vgl. 2 Kor 11,1–3, wo Paulus geradezu als Brautführer erscheint).76 Am Gefangenschaftsort des Philipperbriefs stellen sich beide Probleme nicht: Weder erfolgt hier eine an der Tora orientierte Verkündigung noch handelt es sich um eine vom Apostel selber gegründete Gemeinde, deren Beziehung zu ihm durch Nebenbuhler gestört wird. In Korinth geht das eine ins andere über: Innere Dissonanzen („Spaltungen“), die den Grund des gemeinsamen Evangeliums vorerst nicht erschüttern, mutieren später unter dem Einfluss von externen Akteuren zu bedrohlichen Rissen im Fundament – jedenfalls in der Sichtweise von Paulus. Ungeachtet der markanten Überschreibung der historischen ‚Fakten‘ durch die Pragmatik und Rhetorik, die der Briefverfasser verfolgt, sollte die historische Frage nach den Gegnern wachgehalten werden. Unsere Analysen zu den drei wichtigsten Briefen, in denen externe Akteure eine Rolle spielen, haben ergeben, dass ein moderates Einheitsmodell vertretbar bleibt, auch wenn die Produktivität des Briefautors Paulus hinsichtlich der Gegnerbilder als hoch taxiert werden muss. Im Hintergrund der Auseinandersetzungen zwischen Paulus und seinen judenchristlichen Opponenten stehen wahrscheinlich konträre Interpretationen der Vereinbarungen des Apostelkonzils.77 Historisch legen sich genealogische Beziehungen zwischen den Gegnern und den seinerzeitigen „Falschbrüdern“ (Gal 2,4; vgl. 2 Kor 11,26) sowie „einigen von Jakobus“ beim Antiochenischen Zwischenfall (Gal 2,12) nahe. Man braucht bei den Opponenten nicht direkt an Jerusalemer Emissäre zu denken (im Sinn von „apostolischen Visitatoren“). Umgekehrt wird die Gegenmission auch nicht völlig unabhängig von der Urgemeinde aufgegleist worden sein. Da wir deren Aktivitäten und Entwicklungen nicht kennen, kann man nur vermuten – nicht zuletzt im Blick auf die Verhaftung von Paulus –, dass sich Jakobus und sein Kreis angesichts der zunehmenden politischen und religiösen Spannungen in Palästina mehr denn je an der Tora orientiert und sich von der paulinischen Heidenmission distanziert haben (vgl. Apg 21,28), um ihren eigenen fragilen Status als Glied der jüdischen Gemeinschaft zu sichern. Es scheint sich jedenfalls spätestens in den 50er Jahren eine Paulusopposition aufzubauen, deren Spuren sich nachher auch in anderen frühchristlichen Schriften wie der Johannesapokalypse, dem Matthäusevangelium oder dem Jakobusbrief abzeichnen. Vgl. Schmeller, 2 Kor, Bd. 2 (s. Anm. 42) 204–207. Basisinformationen bietet dazu D.-A. Koch, Geschichte des Urchristentums, Göttingen 2014, 223–245. 76 77
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Wir kehren zu unserem Ausgangspunkt, nämlich zur Vielfalt von Rivalen und Gegnern im Spiegel des Philipperbriefs, zurück. In den Schreiben des Apostels zeigt sich eine aufschlussreiche Variation der Bilder und Figuren, die er wider seine Gegner aufbietet. Während Paulus im Galaterbrief primär ein christomorphes Verständnis von „Israel“ als dem Gottesvolk entwirft (vgl. Gal 6,15 f), orientiert er sich im Philipperbrief eher an der „Stadt“ als bedrohtem und verheissungsträchtigem Gemeinwesen.78 Immer aber geht es zentral um sein Verhältnis zu der jeweils von ihm gegründeten Gemeinde. Im 2. Korintherbrief zeigt Paulus, jedenfalls in Kap. 10–13, an der christologisch begründeten Dialektik von Schwäche und Stärke, was die Korinther an ihm haben und in welche Richtung er diese bewegen möchte. Die Bindung der Gegnerthematik an seine eigene Person, an sein Selbstverständnis als Apostel Jesu Christi, macht das Authentische wie das Befremdliche seines Umgangs mit ihnen aus. Paulus bildet in dieser Hinsicht auch für heutige Leserinnen und Leser ein σημεῖον ἀντιλεγόμενον.
78 Dabei zeigt Phil 3,2 („wir sind die Beschneidung“), dass die Israel-Thematik mitinvolviert ist, wie umgekehrt die Freiheitsmotive im Galaterbrief auch städtisch-politische Topoi zum Zug bringen (Gal 2,4; 4,26).
Politische Theologie im Philipperbrief? „Er hatte Sinn dafür, wo die Macht zu finden ist und wo eine Gegenmacht zu etablieren ist.“ Jacob Taubes1 für Jürgen Becker
Abstract Political Theology in Philippians? The essay examines the political aspects of Paul’s proclamation in Philippians. Paul is not an apostle of radical opposition to the Roman Empire. But because his ecclesiological and Christological rhetoric contains elements of the political rhetoric of his time, his message has an implicit political dimension. His perception of the community as a kind of city (politeuma) or of Christ as kosmokrator contains elements of criticism of the existing political structures. This also applies to his understanding of the Day of Christ. Paul therefore regards Christian churches as a better alternative to Rome and its cities.
Seit einiger Zeit hat eine Pauluslektüre stark an Boden gewonnen, die den Apostel im Kontext des römischen Reichs und seiner Gesellschaft situiert. Den öffentlichkeitswirksamsten Auftritt kann die anti-imperiale Paulusdeutung für sich in Anspruch nehmen, die in einigen programmatischen, von Richard Horsley herausgegebenen Aufsatzbänden zu Wort kommt.2 Unter Berufung auf die New Perspective on Paul wird die paulinische Theologie nicht mehr im Gegenüber zum Judentum, sondern vielmehr im Gegenüber zum Imperium Romanum rekonstruiert. Der Apostel wird als prononcierter Gegner des Kaiserreichs verstanden. Abgesehen von diesem Typ von engagierter Pauluslektüre, die in vielem J. Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, München 1993, 26. R. A. Horsley (Hg.), Paul and Empire. Religion and Power in Roman Imperial Society, Harrisburg 1997; ders. (Hg.), Paul and Politics. Ekklesia, Israel, Imperium, Interpretation, FS K. Stendahl, Harrisburg 2000; ders. (Hg.), Paul and the Roman Imperial Order, Harrisburg 2004. – W. Popkes hat diesen Typ politischer Paulusdeutung vor einiger Zeit mit wohltuender kritischer Distanz auch im deutschen Sprachraum bekannt gemacht: Zum Thema ‚Anti-imperiale Deutung neutestamentlicher Schriften‘, ThLZ 127 (2002) 850–862. Zur problematischen Methodologie der anti-imperialen Lektüren vgl. Ch. Heilig, Hidden Criticism? The Methodology and Plausibility of the Search for a Counter-Imperial Subtext in Paul (WUNT II/392), Tübingen 2015. 1 2
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an ältere progressive, befreiungstheologische Ansätze anknüpft,3 macht auch die Veränderung der exegetischen Grosswetterlage ihren Einfluss auf das Verständnis der Paulusbriefe markant geltend:4 Mit der Verschiebung des Fokus weg von Theologie und Traditionsgeschichte hin zu Kulturanthropologie und Sozialgeschichte ist das Interesse an den gesellschaftlichen Kontexten des paulinischen Evangeliums sprunghaft gewachsen, etwa in der Frage nach der Bedeutung des Patronats oder von Vereinen für die jungen heidenchristlichen Gemeinden. Die folgenden Zeilen beschäftigen sich mit der Frage, ob der Philipperbrief einer politischen Lektüre offen steht, genauer: einer vom Briefschreiber Paulus intendierten politischen Lektüre.5 Mit gutem Grund erinnert Jürgen Becker daran, dass „die Rede vom (himmlischen) ‚Bürgerrecht‘ (Phil 3,20) […] aus der allgemeinen politischen Sprache stammt“.6 Das himmlische Politeuma firmiert sogar als Markenzeichen der anti-imperialen Paulusexegese.7 Natürlich provoziert insbesondere der Status der Stadt Philippi als römische Kolonie, als colonia iulia augusta philippensis, die Frage nach einer politischen message des Apostels an seine Gemeinde. Im Folgenden gehe ich, getragen von einem zunehmend starken Trend in der Philipperbriefforschung, von der Einheit des Briefdokuments aus.
1. Ein Leitmotiv des Philipperbriefs: dem Evangelium entsprechendes ‚Bürgerleben‘ (1,27–2,4) Mit 1,27 leitet Paulus von personbezogener Information zu einer thematischen Darstellung über, die um den Anspruch des Evangeliums kreist (1,27–2,18). Leitwortartig ruft er zum πολιτεύεσθαι in Entsprechung zum Evangelium auf 3 Vgl.
z. B. N. Elliott, Liberating Paul. The Justice of God and the Politics of the Apostle, Maryknoll 1994; J. D. Crossan, In Search of Paul. How Jesus’s Apostle Opposed Rome’s Empire with God’s Kingdom, San Francisco 2004; U. E. Eisen, „Ich vernichte die Streitwagen …“. Aspekte paulinischer Herrschaftskritik und ihre alttestamentlichen Wurzeln, ZNT 14 (2004) 31–39. 4 Für politische Bezüge der paulinischen Theologie interessieren sich auch insbesondere D. Georgi, Theocracy in Paul›s Praxis and Theology, engl. Übs. Minneapolis 1991; H. Sonntag, ΝΟΜΟΣ ΣΩΤΗΡ. Zur politischen Theologie des Gesetzes bei Paulus und im antiken Kontext (TANZ 34), Tübingen 2000; B. Blumenfeld, The Political Paul. Justice, Democracy and Kingship in a Hellenistic Framework (JSNT.SS 210), Sheffield 2001. Hinzuweisen ist auf eine Monographie zu Röm 13,1–7, die das komplexe Feld politischer Theorien und Theologien des frühen Prinzipats für die Auslegung dieses belasteten Texts aufarbeitet: St. Krauter, Studien zu Röm 13,1–7. Paulus und der politische Diskurs der neronischen Zeit (WUNT 243), Tübingen 2009. 5 Vgl. dazu auch A. Standhartinger, Die paulinische Theologie im Spannungsfeld römisch-imperialer Machtpolitik. Eine neue Perspektive auf Paulus, kritisch geprüft anhand des Philipperbriefs, in: F. Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt (VWGTh 29), Gütersloh 2006, 364–382. Mit Recht stellt M. Tellbe, Paul between Synagogue and State. Christians, Jews, and Civic Authorities in 1 Thessalonians, Romans, and Philippians (CB.NT 34), Stockholm 2001, fest: „With regard to its terminology, Philippians is one of Paul’s most political letters“ (276). 6 J. Becker, Paulus. Apostel der Völker (UTB 2014), Tübingen 31998, 454. 7 R. A. Horsley, Introduction: Paul’s Counter-Imperial Gospel, in: ders., Paul and Empire (s. Anm. 2) 140 („but our government is in heaven“).
1. Ein Leitmotiv des Philipperbriefs
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(1,27a). Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass das Lexem, das der Apostel sonst nicht verwendet, in unserem Kontext nicht allgemein auf den „Lebenswandel“ (περιπατεῖν) abhebt, sondern eine prägnante, spezifische Semantik zum Zug bringt: „Bürger sein“, „sich als Bürger verhalten“, „als Bürger leben“.8 Peter Pilhofer hat auf einige interessante Inschriften aufmerksam gemacht, in denen die „Würdigkeit“ im Blick auf die Polis gepriesen wird.9 Der Apostel nimmt dabei Bezug auf das Evangelium, das den Massstab der Würdigkeit vorgibt. Er transponiert das für Christen in Anspruch zu nehmende „Bürgerleben“ vom politischen auf ein transzendentes Niveau. Es geht in Phil 1,27 also nicht um das angemessene Wahrnehmen des römischen Bürgerrechts, das die überwiegende Mehrzahl der Christen von Philippi ohnehin nicht ihr Eigen nennen konnte,10 sondern um das Wahrnehmen des dem Evangelium entsprechenden himmlischen Bürgerrechts (3,20 f). In den beiden folgenden Abschnitten 1,27–30 und 2,1–4, die vielfach aufeinander bezogen sind, formuliert Paulus einen markanten Aufruf zur inneren Einheit. In welchem Mass die Einheitsparänese auf aktuelle Dissonanzen in der Gemeinde Philippis Bezug nimmt, lässt sich schwer rekonstruieren. Beim Dissens zwischen Euodia und Syntyche (4,2 f) scheint es sich lediglich um eine Rivalität zwischen zwei einflussreichen Frauen zu handeln; die Notiz gibt kaum den Schlüssel für eine Gesamtdeutung von Phil her. Dieser gibt keine klar erkennbaren Textsignale dafür zu erkennen, dass soziale Dissonanz in der Gemeinde von Philippi ein brennendes Problem gewesen wäre.11 Paulus’ Ermahnung dürfte eher prophylaktisch die zersetzende Wirkung einer Bedrängnis von Seiten der 8 Zur Diskussion vgl. P. T. O’Brien, Commentary on Philippians (NIGTC), Grand Rapids 1991, 146 f; M. Silva, Philippians (BECNT), Grand Rapids 22005, 80 f. – Die politische Semantik wird insbesondere durch zahlreiche Inschriften bezeugt (z. B. Ehreninschrift aus Athen IG II.2 3625 Z. 6: πολιτευσάμενον πᾶσαν πολιτείαν ἄριστα). 9 P. Pilhofer, Philippi, Bd. 1: Die erste christliche Gemeinde Europas (WUNT 87), Tübingen 1995, 136–139. In einem philippischen Ehrendekret aus Gazoros ist davon die Rede, dass ein Wohltäter „in einer des Königs und seiner Mitbürger würdigen Weise (ἀξίως τοῦ τε βασιλέως καὶ τῶν πολιτῶν)“ gewirkt hat (Nr. 543 Z. 9 f in der Sammlung von P. Pilhofer, Philippi, Bd. 2: Katalog der Inschriften von Philippi [WUNT 2119], Tübingen 2009, 655). Pilhofer erinnert an die inschriftlich sehr häufig begegnende Kombination ἀξίως τῆς (ἡμετέρας) πόλεως (z. B. in Oropos: IG VII 387 Z. 6; oder im thessalischen Larisa: IG IX.9 520 Z. 9). Ich weise ferner hin auf eine hübsche Inschrift aus dem taurischen Chersonesos, wonach einer „sein Bürgerleben würdig der erwiesenen Gunst (sc. der Einbürgerung) geführt hat (πολίτας ποιηθεὶς […] ἀξίως ἐπολιτεύσατο τᾶς χάριτος ταύτας, IosPE I.2 691 Z. 6; zit. nach der Fassung in der digitalen Datenbank PHI#7)“. 10 Vgl. P. Oakes, Philippians. From People to Letter (MSSNTS 110), Cambridge 2001, 55–76; dazu meine Rezension in: BZ 46 (2002) 151 f. 11 Anders z. B. N. A. Dahl, Euodia and Syntyche and Paul’s Letter to the Philippians, in: L. M. White / O. L. Yarbrough (Hg.), The Social World of the First Christians, FS W. A. Meeks, Minneapolis 1995, 3–15; D. Peterlin, Paul’s Letter to the Philippians in the Light of Disunity in the Church (NT.S 79), Leiden 1995; auch R. S. Ascough, Paul’s Macedonian Associations (WUNT II/161), Tübingen 2003, 139–144. Auf den Konflikt zwischen Gemeindeexponent(inn)en und Paulus fokussiert C. B. Kittredge, Community and Authority. The Rhetoric of Obedience in the Pauline Tradition (HThS 45), Cambridge, Mass. 1998, 101–110.
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Umwelt einerseits12 und von befürchteten Turbulenzen im Gefolge von judaistischen Gegnern andrerseits (3,2 ff) ins Visier nehmen. Für unsere Fragestellung entscheidend ist die Beobachtung, dass der Apostel sein Anliegen im Kontext griechisch-hellenistischer Traditionen artikuliert, die um das Thema der homonoia, der Eintracht, kreisen. In Griechenland ist ὁμόνοια seit dem peloponnesischen Krieg ein ideenpolitisches Schlagwort erster Güte, das über zahlreiche Sinnverschiebungen hinweg bis in die Kaiserzeit hinein eine politische Semantik transportiert, belegt nicht nur durch literarische Texte, sondern auch durch zahlreiche Inschriften und Münzen.13 Ähnlich wie im 1. Korintherbrief 14 macht sich Paulus auch im Philipperbrief diesen Typ politischer Rhetorik zu eigen, der mit einem relativ breiten terminologischen Arsenal operiert. Auf den ersten Blick scheint sich zwar ein anderer Verständnisschlüssel anzubieten, nämlich die Freundschaftsthematik. „Eine Seele“ zu teilen, an „einem Geist“ teilzuhaben variiert die alte Freundschaftstopik, wonach Freunde alles teilen, sogar das Selbst.15 Man hat aus diesem Grund den Philipperbrief oft vorzugsweise von der Rhetorik der Freundschaft her interpretiert.16 Unsere Fragestellung legt aber eine andere Lektüre nahe: Der Apostel transponiert die – im Ansatz auf Individuen bezogene – Freundschaftstopik auf das Ganze der Gemein12 Allerdings kann der Versuch von Oakes, Philippians (s. Anm. 10) 99–102, die Einheitsparänese durch ökonomische Not zu erklären, nicht überzeugen. 13 Vgl. die breite Übersicht bei K. Thraede, Art. Homonoia (Eintracht), RAC 16 (1994) 176–289; ferner G. Thériault, Le culte d’Homonoia dans les cités grecques, Québec 1996; P. R. Franke (/ M. K. Nollé), Die Homonoia-Münzen Kleinasiens und der thrakischen Randgebiete, Saarbrücken 1997. 14 Vgl. M. M. Mitchell, Paul and the Rhetoric of Reconciliation (HUTh 28), Tübingen 1991; ferner L. L. Welborn, On the Discord in Corinth. 1 Corinthians 1–4 and Ancient Politics, JBL 106 (1987) 85–111; dazu mein Aufsatz: Viele Welten und ein Geist, in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 193–213. 15 Ich erinnere lediglich an Lukians Skythen Toxaris, für den Orestes und Pylades als die Gesetzgeber der Freundschaft gelten, „wie man jegliches Geschick mit den Freunden teilen muss (ὡς χρὴ τοῖς φίλοις ἁπάσης τύχης κοινωνεῖν, 5)“, miteinander und füreinander. Das „Hohelied der Freundschaft“ bietet zahlreiche Exempla für das berühmte Sprichwort communia esse amicorum inter se omnia (lat. seit Terenz, adelph. 804). Geradezu leitmotivisch fungieren Termini wie κοινωνεῖν, ὑπὲρ ἀλλήλων (z. B. 6 f). Freunde sind, soweit es möglich ist, eins geworden, ein einziger Leib (53). 16 Die Diskussion über die Tragweite der Freundschaft für Briefform und Thema von Phil ist uferlos. Vgl. z. B. L. M. White, Morality between Two Worlds. A Paradigm of Friendship in Philippians, in: D. L. Balch / E. Ferguson / WA. Meeks (Hg.), Greeks, Romans, and Christians, FS A. J. Malherbe, Minneapolis 1990, 201–215; A. J. Malherbe, Paul’s Self-Sufficiency (Philippians 4:11), in: ders., Light from the Gentiles. Hellenistic Philosophy and Early Christianity (NT.S 150), Leiden 2014, 325–338; J. Reumann, Philippians and the Culture of Friendship, Trinity Seminary Review 19 (1997) 69–83; ders., Philippians, Especially Chapter 4, as a „Letter of Friendship“, in: J. T. Fitzgerald (Hg.), Friendship, Flattery, and Frankness of Speech. Studies on Friendship in the New Testament World (NT.S 82), Leiden 1996, 83–106; J. T. Fitzgerald, Philippians in the Light of Some Ancient Discussions of Friendship, aaO., 141–160.
1. Ein Leitmotiv des Philipperbriefs
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schaft.17 Genau dies entspricht nämlich einem markanten Zug der auf Homonoia zielenden politischen Rhetorik: Seit Aristoteles, vielleicht sogar schon seit Solon, wird das Modell der Freundschaft auch auf die Polis und ihre Eintracht übertragen.18 So führen zahlreiche antike Schriften die Überschrift περὶ ὁμονοίας.19 Im Blick auf die Ideengeschichte der Homonoia-Topik gibt unser Textabschnitt Anlass zu drei interessanten Beobachtungen: 1. In der Entwicklung des Homonoia-Gedankens zeigt sich immer wieder die charakteristische Tendenz, den von Haus aus neutralen – und nicht zufällig von der Sophistik propagierten – Begriff der „Eintracht“, also des Konsensprinzips, durch Rekurs auf normierende Grössen zu vereindeutigen. Homonoia weist so etwa zurück auf die Eunomia, auf die gesetzmässig geordnete Struktur eines Gemeinwesens. Die politische Philosophie hat ihrerseits die Homonoia zwischen Menschen, Gruppen und Städten in der kosmischen Harmonie wurzeln lassen. Paulus bezieht die Homonoia auf das Evangelium zurück. Es ist das Christusgeschehen, das die ihm eigentümliche Form von Einheit in der Gemeinschaft erzeugt. Wir kommen darauf unten nochmals zurück. Nur am Rand sei angemerkt, dass auch der Terminus „Evangelium“ noch einmal politische Assoziationen transportiert. 2. Einer der Hauptimpulse der auf Homonoia zielenden Rhetorik hebt auf die Notwendigkeit der Einheit im Gegenüber von Feinden ab. So muss sich Athen im Kampf gegen die spartanische Bedrohung einen. Die griechischen Städte bedürfen der Homonoia im Widerstand gegen die Barbaren. Paulus formuliert Phil 1,27–30 seinen durch militärisch-agonistische Metaphern angereicherten Aufruf zur Einheit im Kontext der Bedrohung durch Gegner, die sowohl den Philippern wie ihm selbst Leiden verursachen.20 Es spricht viel dafür, in den Widersachern 17 Vgl. dazu besonders B. Winter, Seek the Welfare of the City. Christians as Benefactors and Citizens, Grand Rapids 1994, 81–104. Allerdings ist zu beachten, dass mindestens im antiken Raum individuelle und korporative Sphären nicht scharf voneinander abzugrenzen sind; Freundschaften spielen in der Politik eine entscheidende Rolle (Hetairien; Übertragung der Freundschafts‑ und Feindschaftsregeln auf Beziehungen zwischen Städten); vgl. H.-J. Gehrke, Art. Freundschaft. I, DNP 4 (1998) 670 f. Zumal im Vereinsleben spielt die auf Homonoia zielende Rhetorik eine markante Rolle; auch Apg 4,32 und die paulinischen Briefe sind auf dieser Linie einzuzeichnen. In späterer Zeit ist insbesondere auf 1 Clem (z. B. 20,11) und Ignatius (z. B. Magn 6,1) zu verweisen. 18 Vgl. die Hinweise zu Aristoteles, dem ersten Theoretiker der Freundschaft, und zur Stoa bei Thraede, Art. Homonoia (s. Anm. 13) 186–188. Ob Solon bereits die Übertragung der Philia-Motivik auf das politische Niveau bezeugt, wie E. Katz Anhalt, Solon the Singer. Politics and Poetics, Lanham 1993, 144–148 behauptet, scheint mir zweifelhaft; vgl. demgegenüber die Fehlanzeige bei Ch. Mülke, Solons politische Elegien und Iamben (BzA 177), München 2002 (trotz 402). 19 Die berühmtesten Texte sind die Städtereden Dions von Prusa, or. 38–41. 20 Zur militärischen Semantik vgl. E. M. Krentz, Military Language and Metaphors in Philippians, in: B. H. McLean (Hg.), Origins and Method, FS J. C. Hurd (JSNTS.SS 86), Sheffield 1993, 105–127; die Kombination von Agonmetaphorik und Soldatensprache arbeitet
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Politische Theologie im Philipperbrief?
die pagane Umwelt und ihre Repräsentanten zu identifizieren.21 Der Christusglaube hat bei den Philippern primär soziale Ausgrenzung und ökonomische Not zur Folge, bei Paulus sogar Haft und Todesbedrohung. Im Stichwort „Rettung“ (1,28) schwingt auch die Dimension der Erhaltung des Gemeinwesens mit. 3. Zur Topik der Einheitsermahnung zählt die Verurteilung von Habsucht und Ehrsucht zugunsten eines gemeinschaftlichen Ethos. Dieses setzt auf Selbstbeschränkung, auf Bescheidung, Masshalten und Verzicht. Durch die Freundschaftstopik verstärkt sich dieser Zug. Paulus greift in Phil 2,1–4, also in demjenigen Abschnitt, wo Einheit ad intra reflektiert wird, auf dieses Muster politischer Ethik zurück. Selbstbeschränkung wird vom Prinzip der Liebe her radikalisiert und wieder auf das Evangelium, konkret auf das Christusgeschehen, bezogen (2,5 ff). Gegen Selbstsucht und Ruhmsucht wird die Haltung der Niedrigkeit, der Demut aufgeboten, die es allererst erlaubt, sich an die Stelle des Anderen versetzen zu lassen. Die Radikalisierung der für Eliten charakteristischen Ethik der Selbstbeschränkung zeigt sich etwa darin, dass die zumeist negative Semantik der ταπεινοφροσύνη markant umgewertet wird. Wir ziehen einen vorsichtigen Schluss. Die Dominanz politischer Rhetorik in unserem Abschnitt aus dem Philipperbrief ist unübersehbar. Sie lässt sich so deuten, dass Paulus die christliche Gemeinde als Gemeinwesen, als polis zeichnet, die in Einheit der äusseren Bedrohung widersteht und sich dabei auf das Evangelium von Jesus Christus zurückbezogen weiss. Die Frage, ob diese ekklesiologische Beanspruchung politischer Sprache bereits eine politische Antithese impliziert, stellen wir noch zurück.
2. Die Weltherrschaft des Kyrios Jesus Christus (2,5–11) Im anschliessenden Abschnitt bezieht Paulus seinen Aufruf an die Philipper zur Einheit auf den Christusweg zurück. Das Christuslob in 2,5–11 ist in jüngerer Zeit verstärkt vor dem Hintergrund von Herrschaftskategorien und speziell dem Kaiserkult gedeutet worden.22 Wie immer die Entstehung unseres Stücks zu reheraus U. Poplutz, Athlet des Evangeliums. Eine motivgeschichtliche Studie zur Wettkampfmetaphorik bei Paulus (HBS 43), Freiburg 2004, 298–304. 21 Zur Identifikation des Leidens vgl. besonders Oakes, Philippians (s. Anm. 10) 77–99; ders., God’s Sovereignty over Roman Authorities, in: ders. (Hg.), Rome in the Bible and the Early Church, Carlisle 2002, 126–141, hier: 128 f. 22 Zur Diskussion vgl. D. Seeley, The Background of the Philippians Hymn (2:6–11), Journal of Higher Criticism 1 (1994) 49–72; S. Vollenweider, Der „Raub“ der Gottgleichheit, in: ders., Horizonte (s. Anm. 14) 263–284; Oakes, Philippians (s. Anm. 10) 129–210; A. Yarbro Collins, The Worship of Jesus and the Imperial Cult, in: C. C. Newman / J. R. Davila / G. S. Lewis (Hg.), The Jewish Roots of Christological Monotheism (JSJ.S 63), Leiden 1999, 234–257; ders., Psalms, Philippians 2:6–11, and the Origins of Christology, BibInt 11 (2002) 361–372; Tellbe, Paul
2. Die Weltherrschaft des Kyrios Jesus Christus (2,5–11)
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konstruieren ist, entbirgt es im Vollzug einer kontextuellen Lektüre einigen politischen Sprengstoff. Drei verschiedene Momente sind festzuhalten: 1. Die Beanspruchung der Kyrioswürde für Jesus Christus (2,9–11) thematisiert die Legitimität von Herrschaft. Kyriostitel, Akklamation und Proskynese zählen zu den Markenzeichen des Prinzipats. Auch wenn die Rede von der weltumspannenden Herrschaft des Christus im restlichen Teil des Philipperbriefs keine erkennbare Rolle spielt, steuert sie aufgrund ihrer zentralen Position im Briefganzen die Lektüre massgeblich mit. Ganz unabhängig davon, welche Funktion man dem Kaiserkult in Philippi zumisst, verweist unsere Stelle doch auf einen anderen, soteriologisch schlechthin entscheidenden Kult. 2. Der erste Teil des Christuslobs (V. 6–8) lässt sich so deuten, dass er die für die Würde der κυριότης ausschlaggebende Qualifizierung des Herrschaftsträgers nachzeichnet. Die Haltung der Demut, also der von Paulus in 2,1–4 geforderten Bereitschaft, sich in die Position des Anderen versetzen zu lassen, wird in V. 6–8 paradigmatisch in der Gestalt des Christus verbildlicht. Im Schema des hellenistisch-römischen Fürstenspiegels verzichtet der vorbildliche Herrscher auf das Auskosten seiner Position zugunsten des Wohls seiner Untertanen. Er widersteht der Gefahr von Hochmut und Arroganz. Seine Selbstbeschränkung und sein Dienst am Gemeinwesen können bis zum Tod führen. In der Gestalt des Christus wird dieser Qualitätsanspruch an den Herrscher wiederum in einer radikalen Weise neu bestimmt. Das Christuslob zeichnet das Bild eines Statuswechsels, der die herkömmliche Ordnung von „Ehre“ und „Schande“ verkehrt.23 Mit den klimaktisch angeordneten Stichworten Sklave, Tod und Kreuz wird herausgestellt, was herrscherliche „Tugend“ eigentlich besagt. 3. Wir haben wahrscheinlich noch einen weiteren Gesichtspunkt einzubeziehen. Das Christuslob in 2,6–11 hat die Funktion, die in 2,1–4 eingeforderte Haltung gleichsam „archetypisch“ zu begründen. Christus ist als Urbild auch Vorbild. Dies gilt offenkundig für die Haltung der Selbsthingabe. Gilt es aber auch für die Einheit, die als Leitthema des Abschnitts charakterisiert werden kann? Mir scheint eine bejahende Antwort möglich zu sein. Das Thema Einheit wird in V. 9–11 zwar ganz anders bearbeitet: Es geht hier um die Einheit nicht der Glaubenden, sondern vielmehr Gottes. Genauer geht es, wie die christologische Relektüre des monotheistischen Basistextes von Jes 45,23 erweist, um das von Einheit bestimmte Verhältnis des einen Gottes zu Jesus Christus, die in ihrer Throngemeinschaft und in ihrer Namensgemeinschaft manifest wird. Nun zählt es zur geläufigen Topik imperialer Ideologie, dass der Herrscher Einheit (s. Anm. 5) 253–259; Eric M. Heen, Phil 2:6–11 and Resistance to Local Timocratic Rule, in: Horsley, Paul (s. Anm. 2) 125–153; Standhartinger, Theologie (s. Anm. 5). 23 J. H. Hellerman, Reconstructing Honor in Roman Philippi (SNTS.MS 132), Cambridge 2005, liest Phil 2,5 ff sogar insgesamt als cursus pudorum. Da das Christuslob aber keine fortlaufende Sequenz von Positionen vor Augen führen will, lässt es sich nur eingeschränkt vom Moment der Karriere (cursus honorum) her interpretieren.
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Politische Theologie im Philipperbrief?
stiftet. Alexander wird etwa als der universale König porträtiert, der alles Widerstehende in die umfassende Einheit einer globalen Polis zusammenfügt, Barbaren und Griechen.24 Augustus hat sich als Friedensfürst feiern lassen, der aus Zwist und Krieg Eintracht schafft. Auch der Homonoia-Gedanke verbindet sich überaus eng mit hellenistischer und frühkaiserzeitlicher Herrschaftsideologie.25 Auf jüdischer Seite lässt sich umgekehrt beobachten, wie die griechisch-hellenistische Homonoia-Topik mit der Einzigkeit des Gottes Israels korreliert wird: Der Einzigkeit Gottes entspricht bei Philon und Josephus die Einheit des Gottesvolks.26 Der Schluss sei erlaubt: Auch das Christuslob in Phil 2 präsentiert die Kyriosherrschaft von Jesus Christus als implizite Grundlage für die Einheit der Christengemeinde. Blicken wir auf Phil 2 zurück, so ergibt sich ein deutliches Bild: Das Christuslob artikuliert in hohem Ausmass Elemente politischer Rhetorik und Philosophie. Es stellt vor Augen, was die einzig legitime Herrschaft im Himmel und auf Erden charakterisiert, und es ruft dazu auf, dieser Herrschaft auch im solidarischen Gemeinschaftsleben zu entsprechen.
3. Das Politeuma im Himmel (3,20 f) Am Ende von Phil 3 verdichtet sich die politische Sprache noch einmal markant. Von einem Hymnenfragment dürfen wir nicht mehr unbesehen ausgehen, da auch Paulus der bewusste Einsatz gehobener hymnisch anmutender Prosa mit entsprechendem Vokabular zuzutrauen ist. Aus der politischen Welt stammt einmal der σωτήρ, der vom Himmel her die gemeinschaftliche Ordnung neu errichtet.27 Das Lexem πολίτευμα seinerseits dürfte im vorliegenden Kontext eine politische Semantik widerspiegeln, deren exakte Eingrenzung allerdings nicht leicht fällt.28 Der Terminus selbst ist sehr vieldeutig; er umschliesst politische, 24 Vgl. Plut., fort. Alex. 1,6: 329a-d (Hersteller der Kosmopolis, Versöhner); 1,9: 330d (ἑνὸς ὑπήκοα λόγου τὰ ἐπὶ γῆς καὶ μιᾶς πολιτείας, ἕνα δῆμον ἀνθρώπους ἅπαντας ἀποφῆναι βουλόμενος). 25 Vgl. die Hinweise bei Thraede, Art. Homonoia (s. Anm. 13) 224 ff. Die Unifizierung des Erdkreises gehört zum römischen Programm, vgl. die Romrede von Aelius Aristides (or. 26,100– 102). 26 Vgl. Thraede, aaO. 239. 27 Vgl. F. Jung, ΣΩΤΗΡ. Studien zur Rezeption eines hellenistischen Ehrentitels im Neuen Testament (NTA.NF 39), Münster 2002, besonders 309–316; 348 f; Ascough, Associations (s. Anm. 11) 157–160. 28 Zur Diskussion vgl. G. Lüderitz, What is the Politeuma?, in: J. W. van Henten / P. W. van der Horst (Hg.), Studies in Early Jewish Epigraphy (AGJU 21), Leiden 1994, 183–225; A. M. Schwemer, Himmlische Stadt und himmlisches Bürgerrecht bei Paulus (Gal 4,26 und Phil 3,20), in: M. Hengel / S. Mittmann / A. M. Schwemer (Hg.), La Cité de Dieu. Die Stadt Gottes (WUNT 129), Tübingen 2000, 195–243; schliesslich die umfassende Studie von D. Schinkel, Die himmlische Bürgerschaft. Untersuchungen zu einem urchristlichen Sprachmotiv
3. Das Politeuma im Himmel (3,20 f)
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religiöse, berufliche und ethnische Vereinigungen.29 Am plausibelsten nimmt sich eine spezifische Bezugnahme auf das Bürgerrecht aus, das Christinnen und Christen im Himmel zukommt. Zugleich ist die lokale Dimension des Gemeinwesens mitzuhören, die Paulus ja durch die Herkunft des Retters und das doch betonende ὑπάρχειν signalisiert. Der Anschluss an die reiche jüdische Tradition der Himmelsstadt, des himmlischen Jerusalem, ist damit gegeben (vgl. Gal 4,21– 31); wahrscheinlich listet das „Lebensbuch“ von Phil 4,3 die Bürgerschaft dieses Politeuma auf. Schwieriger zu identifizieren ist die irdische Antithese. Im näheren Kontext (3,2 ff) legt sich der Gegensatz zu einem jüdischen Politeuma, konkret der „Sozialgestalt jüdischer Diasporagemeinden“, nahe.30 Dieses wird durch „Irdisches“, nämlich die jüdische Lebensform mit Toragehorsam und Beschneidung, konstituiert, wie die paulinische Verzerrung in V. 19 zu erkennen gibt.31 Projiziert auf Philippi warnt Paulus dann seine Gemeinde, durch einen Transfer in die relativ geschützte Gemarkung eines jüdischen Politeuma den Friktionen mit der Umwelt auszuweichen.32 Das Problem dieser eleganten Deutung ist das fast vollständige Fehlen von Hinweisen auf die Existenz einer jüdischen Ethnie in Philippi. Paulus hätte lediglich ein hypothetisches Gegenbild zum himmlischen Politeuma und somit eine weitgehend irreale Gefahr im Blick. Anders steht es mit einer möglichen Antithese zum römischen Bürgerrecht.33 Die Analogie zwischen Kolonie und Erde einerseits, zwischen Bürgerort und Himmel andrerseits, samt der Relation zur herrscherlichen Rettergestalt, liegt auf der Hand. Es ist anzunehmen, dass die Teilhabe an der tribus Voltinia bei den philippischen Christen sehr hohe Wertschätzung genoss, auch wenn sie faktisch nur wenigen zukam. Allerdings nimmt der gesamte Abschnitt 3,2–4,1 keinen expliziten Bezug auf die Situation der philippischen Christen inmitten der der römischen Kolonie und damit auf eine mögliche Antithese von römischen und himmlischen Bürgerrecht. Die einzige Möglichkeit, diesen Deutungstypus durchzuhalten, liegt im Postulat einer doppelbödigen Lektüre. In Kap. 3 stellt im Spannungsfeld zwischen religiöser Integration und Abgrenzung im 1. und 2. Jahrhundert (FRLANT 220), Göttingen 2007, 68–122. 29 Speziell auf die Organisationsform der „voluntary associations“ verweist Ascough, Associations (s. Anm. 11) 77 f; 146–149. 30 Zitat: K.-W. Niebuhr, Heidenapostel aus Israel. Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen (WUNT 62), Tübingen 1992, 102. 31 Die Deutung von Phil 3,19 auf jüdische identity markers ist allerdings überaus kontrovers; vgl. dazu einerseits die rhetorische Analyse bei D. K. Williams, Enemies of the Cross of Christ (JSNT.S 223), 217–228, andrerseits die Gegenargumente bei M. Bockmuehl, The Epistle to the Philippians (BNTC), London 1997, 231 f. 32 So Niebuhr, Heidenapostel (s. Anm. 30) 96 f; Tellbe, Paul (s. Anm. 5) 264 f. 33 So etwa zuletzt Schinkel, Bürgerschaft (s. Anm. 28) 115: „Der Konflikt besteht in der Konkurrenz zwischen christlichem Bekenntnis und ‚römischer Mentalität‘. Das Problem in der christlichen Gemeinde besteht höchst wahrscheinlich in einem soziokulturellen Akkulturationsdruck.“
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Politische Theologie im Philipperbrief?
sich Paulus unter Rückgriff auf Elemente epideiktischer Rhetorik als Vorbild für die dem Evangelium angemessene Lebensform dar (besonders V. 17), wie der Philipperbrief ja überhaupt betont mit Exempeln arbeitet (2,6–11. 19–24. 25–30). Anstatt auf sarkische Vorzüge wie jüdische εὐγένεια und toragemässe Perfektion setzt Paulus auf Christus, das heisst auf das Prozessgeschehen von Tod und Auferstehung (V. 2–11). Anstelle von statischer Vergangenheit setzt er auf Dynamik und offene Zukunft (V. 12–16). Anstelle von Status und Ethnos setzt er auf die schöpferische und verwandelnde Kraft Gottes (V. 17–21). Ob wir im Gefolge einer solchen Lektüre auch noch die „Feinde des Kreuzes“ (V. 18 f) doppelbödig sowohl auf die judaistischen Gegner wie auf die paganen „Feinde“ von 1,28, die auch Verderben zu gewärtigen haben, deuten dürfen, sei hier offengelassen. Abschliessend stellen wir fest, dass die Rede vom himmlischen Gemeinwesen der Christen zwar mit einer virtuellen Antithese zu einem irdischen Pendant operiert, diese aber kaum artikuliert.
4. Der Tag Christi (1,6.10; 2,15 f) Spuren politischen Vokabulars lassen sich im Philipperbrief über das bisher Zusammengestellte hinaus noch reichlich finden. Zu erwähnen wäre etwa der in 4,7.9 herausgehobene Begriff Friede, der wiederum eine Alternative zur römischen Prinzipatsideologie präsentiert, die den Frieden gern im Verbund mit homonoia/concordia für sich reklamiert. Besonderes Interesse im Gesamten des Philipperbriefs verdient der Tag Christi (1,6.10; 2,15 f), fungiert er doch nach Ausweis des Proömiums als Leitmotiv (vgl. 2,9–11; 3,21; 4,5.17). Anders als vom Gefälle der alttestamentlichen Traditionsbildung her zu erwarten wäre, verbindet Paulus mit dem Tag Christi gern positive Erwartungen (vgl. 1 Kor 1,8; 2 Kor 1,14), nämlich eine Auszeichnung seines apostolischen Wirkens oder eine auch ihm zugute kommende Würdigung seiner Gemeinden. Im Hintergrund steht die öffentliche Würdigung von Wohltätern durch die Stadtbehörden oder – in brieflicher Gestalt – durch den Herrscher, die das politische und öffentliche Leben nach Ausweis der endlosen Zahl von Ehreninschriften markant prägt. Es ist kein Zufall, dass der Topos des Empfangens von Ehren durch politische Amtsträger sogar in die Ermahnung von Röm 13,3 Eingang gefunden hat. Paulus setzt im Philipperbrief auf die Ehrung durch einen Anderen. Sein Brief ermuntert die Philipper, in ihrer Bedrängnis durchzuhalten, um in Bälde vor dem Thron Christi ausgezeichnet zu werden. Der Apostel kehrt damit die in Geltung stehende Ordnung von Schande und Ehre grundlegend um. Der Ort, an dem er und seine Gemeinden Lob empfangen, ist zugleich der Ort, wo die universale Herrschaft Christi offenbar wird (2,9–11) und wo die Christen ihr Bürgerrecht in der Gottesstadt wahrnehmen (3,20).
5. Apostel in Ketten (1,7 ff.12 ff)
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5. Apostel in Ketten (1,7 ff.12 ff) Wir lassen zum Schluss den Blick auf dem in Ketten liegenden Apostel ruhen. In seinem Gefangenschaftsbrief stellt Paulus die produktive Seite seiner Gefangenschaft, die in der Verteidigung (1,7.15) und Verbreitung seines Evangeliums (1,13 f) zum Zug kommt, heraus. Auch in Philippi stiess er heftig mit den römischen Behörden zusammen (Apg 16,19–9; 1 Thess 2,2; vgl. Phil 1,30). Er weiss sich denn auch im Leiden mit den Philippern eng verbunden (1,7.29 f; 2,17 f; 3,17 f; 4,9.14). Es fällt nun auf, dass er sein Leiden und mögliches Sterben ganz in den Schatten der Christuswirklichkeit stellt. Anders als in der Apostelgeschichte fällt nicht das leiseste kritische Wort über seine möglichen Exekutoren. Es ist gewiss nicht nur der Gefängniszensur anzulasten, dass die römischen bzw. städtischen Instanzen gar nicht ins Gesichtsfeld geraten:34 Des Apostels Leben und Sterben liegt ganz in Gottes Händen (1,20 f). Auch noch in seinem abwägenden Vergleichen von Leben und Sterben (1,21–26) blendet Paulus souverän die Faktizität des anstehenden Prozessverfahrens aus, da über sein Geschick an anderem Ort entschieden wird.35 Wir versuchen eine Gesamtbilanz zu ziehen. Die Beantwortung der Frage, ob der Philipperbrief politische Theologie treibt, hängt wesentlich davon ab, was mit dem zugkräftigen Begriff gemeint ist.36 Wenn politische Theologie spezifisch auf das Verhältnis von Christinnen und Christen zum jeweiligen Herrschaftssystem fokussiert, also in kratologischem Sinn auf die Machtfrage, dann wird die Antwort negativ ausfallen müssen. Die Interpretation sollte sich mit Vorteil davor hüten, bei jedem potentiell politischen Schlagwort unter der Hand eine virtuelle Antithese zu postulieren. Eine Hermeneutik der Insinuation verbietet sich nicht nur aus methodischen Gründen, sondern auch im Blick auf ihre unreflektierte Neigung zur Figur der Kontra-Dependenz: Die symbolische Welt der Urchristen wird in deren Gravitationsfeld immer schon in Absetzung von und in Entgegensetzung zu der realen und ideologischen politischen Welt rekonstruiert. Der Philipperbrief bietet m. E. aber nur wenige für die damalige Leserschaft erkennbare Signale, dass er ein Gegenprogramm zum römischen Herrschaftssystem entwirft. Es ist also gar nicht nötig, sich über Phil hinaus auf das Minenfeld von Röm 13,1–7 zu begeben, um das Bild von Paulus als radikalem Exponenten des Widerstands gegen Rom zu demontieren. Anders steht mit einem Begriff von politischer Theologie, der nicht nur auf das Herrschaftssystem, sondern darüber hinaus auf das breite Spektrum von 34 Standhartinger, Theologie (s. Anm. 5) erinnert zu Recht an die Gefährdungsmomente, die die briefliche Korrespondenz unter Haftbedingungen mit sich bringt, und interessiert sich deshalb besonders für die Kompetenz der Adressaten, Andeutungen zu erkennen. 35 Vgl. Oakes, God’s Sovereignty (s. Anm. 21) 132 f. 36 Zur Begriffsbestimmung vgl. M. Schuck, Art. Politische Theologie, RGG4 6 (2003) 1471– 1474 sowie E. Herms, Art. Politik. I: Sozialwissenschaftlich, aaO. 1449–1451.
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Politische Theologie im Philipperbrief?
Willensbildung, von Entscheidungen und Handlungen sozialer Kollektive abhebt. Wir haben gesehen, dass Paulus vor allem seine ekklesiologische Reflexion vielfach im Kontext der politischen Sprache und der sozialen wie politischen Ideale seiner Zeit artikuliert. Zwei Punkte scheinen mir hier von Gewicht zu sein. Erstens bezieht sich der Apostel dabei meist gar nicht auf die Gesamtgestalt des römischen Reichs oder auf seinen Repräsentanten, den Kaiser, sondern auf näher liegende, mikropolitische Strukturen, vornehmlich auf die Stadt, handle es sich nun um die klassische griechische Polis oder um eine römische Kolonie.37 Dies ist nicht weiter auffällig. Gerade im Raum des östlichen Mittelmeers bleibt die Stadt zur Zeit des frühen Prinzipats die hauptsächliche Referenzgrösse politischer Prozesse wie politischer Reflexion,38 wie die Reden Dions von Prusa anschaulich belegen. Zweitens gilt es, der Komplexität des Verhältnisses des Apostels und seiner Gemeinden zu den politischen Strukturen hinreichend Rechnung zu tragen. Häufig bietet sich an der Stelle des Modells der Antithese dasjenige der Überbietung an, also der besseren Alternative: Die christlichen Ekklesien verwirklichen das, was eine Polis eigentlich sein sollte – homonoia, isonomia, eleutheria, usw. Das Überbietungsschema hält es im Prinzip offen, ob es zwischen den Städten und den Ekklesien zu einem Wettstreit um das Bessere kommt, oder ob ihr gegensätzlicher Status unausweichlich in eine Kollision mündet. Im Philipperbrief lässt sich beides beobachten. Das Stichwort der Stadt erlaubt uns abschliessend einen assoziativen Brückenschlag zur späten Moderne. Wenn es richtig ist, dass die Polis als eine markante Leitfigur der paulinischen Ekklesiologie anzusprechen ist, dann zeichnen sich weitreichende Folgen für ein Zeitalter ab, in dem der gesamte Planet im Begriff ist, zu einer globalen Stadt zu mutieren. Das Erbauen von Städten markiert die Entstehung von Hochkulturen und legt damit den Grundstein für das Projekt der Neuzeit. Es gibt zu denken, dass die biblische Urgeschichte ausgerechnet Kain als ersten Städtebauer einführt (Gen 4,17),39 und dass sie ihre Erzählungen mit dem Turmbau der Grossstadt Babel beendet.
Vgl. S. R. F. Price, Response, in: Horsley, Paul (s. Anm. 2) 181–183. Price, aaO. 178: „Cities formed the backbone of the empire.“ 39 Im Unterschied zur heutigen Exegese beurteilt die jüdische Tradition Kains Städtegründungen sehr negativ, vgl. z. B. BerR 23,1 f. 37 38
Lob am jüngsten Tag Zum Hintergrund der Gerichtserwartung im Philipperbrief für Ulrich B. Müller
Abstract Praise on Judgement Day. The Background to the Expectation of the Last Judgement in the Letter to the Philippians The essay is interested in one aspect of Paul’s eschatology, especially in the Letter to the Philippians: the appreciation by God, namely the receiving of honor and recognition before the heavenly throne. The sporadic allusions are based on the following scenario: Christians, and especially the apostle, receive public recognition in front of the assembled heavenly hosts and the blessed. The pattern is the public tribute of municipal benefactors by a high-ranking official or even the Sovereign himself. In the background is the ancient system of euergetism.
Im Proömium seines Briefs an die Philipper (Phil 1,3–11) gibt der Apostel Paulus einer eigentümlichen Zeitverschränkung Raum. Dankend blickt er in V. 5 auf den guten Fortgang des Evangeliums bis in die Gegenwart zurück, um dann seiner Zukunftshoffnung Ausdruck zu geben, die im Τag Jesu Christi kulminiert (V. 6). Im zweiten Teil, der die Gestalt einer Fürbitte annimmt, ist es wiederum ein Ausblick auf die Zukunft (V. 10), der den Gebetsbericht abschliesst, gefolgt von einer doxologischen Formulierung in V. 11b. Der zweimalige Hinweis auf die Endzeit spiegelt die Struktur der gesamten Danksagung, wie sie der Jubilar, Ulrich B. Müller, in seinem Kommentar beobachtet hat:1 „Entsprechend der Zweiteilung des ganzen Proömiums finden sich zwei inhaltliche Schwerpunkte im Text: der Dank an Gott angesichts des überaus positiven Einsatzes der Gemeinde für das Evangelium (V. 3–6) – die Fürbitte an ihn, dass die Gemeinde weiterhin wachse in ihrem Glaubensstand bis zur Vollendung (V. 7–11).“
Da ein Proömium gern Leitmotive und Intentionen des Briefcorpus zu antizipieren pflegt, kann es nicht überraschen, dass endzeitliche Perspektiven auch im weiteren Fortgang des Briefes – jedenfalls soweit man mit seiner Einheitlichkeit rechnen will – signalisiert werden. Sie ziehen sich von den Schlusszeilen im grossen Christuslob (2,10 f) über den erneuten Hinweis auf den Tag Christi in U. B. Müller, Der Brief des Paulus an die Philipper (ThHK 11.1), Leipzig 22002, 48.
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Lob am jüngsten Tag
2,15 f und die Wiederkehr Christi samt der Unterwerfung des Alls in 3,20 f hin bis zur Versicherung des Nahekommens Jesu (4,5b) und zur abermaligen Nennung der „Frucht“ als endzeitlichem Gewinn auf dem Konto der Gemeinde (4,17). Müller rückt mit guten Gründen auch das bekannteste Leitmotiv des Briefes, die Freude, in eben diesen Kontext:2 „In diesem eschatologischen Zusammenhang ist das Motiv zu sehen, das schon immer als Charakteristikum des Philipperbriefes aufgefallen ist: das der Freude. […] Es ist die Freude über die siegreich bestandene Bewährung des Glaubens, die jetzt schon die innere Haltung der Gemeinde bestimmt und einen Vorgriff auf den eschatologischen Jubel darstellt. […] Der eschatologische Bezug der Freude ist aber besonders deutlich in 4,1, wenn die Gemeinde, die im Herrn feststeht, vorgreifend als ‚Freude‘ und ‚Kranz‘ des Apostels erscheint; sie wird am Tage Christi der Gegenstand seines eigenen Rühmens sein (2,16). Sie selbst aber soll sich schon in der Gegenwart, ihres Heilsstandes und ihrer Bewährung gewiss, freuen; denn ‚der Herr ist nahe‘ (4,4 f.).“
Wir unternehmen es im Folgenden, auf das Motiv der Ehrung am jüngsten Tag in der paulinischen Korrespondenz ein Schlaglicht zu werfen.3
1. Würdigung am Tag Christi 1. Das Proömium des Philipperbriefs endet in V. 9–11 wie im 1. Korintherbrief (1,7 f) mit dem endzeitlichen Ausblick auf den Tag Christi.4 Paulus setzt auf die Liebe und die Erkenntnis, die Reinheit und die Gerechtigkeit seiner philippischen Gemeinde, die an jenem Tag offenbar wird. Vom „Tag Christi“ ist exklusiv in Phil die Rede, während die Korintherkorrespondenz vom „Tag des Herrn Jesu (Christi)“ spricht (1 Kor 1,8; 2 Kor 1,14), analog dazu steht der Verweis auf die „Ankunft“ Jesu (1 Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,28; 1 Kor 15,23). Daneben kann der Apostel auch traditionell auf den „Tag des Herrn“ Bezug nahmen (1 Thess 5,2; 1 Kor 3,13 [?]; 5,5; Röm 2,16; vgl. 2 Thess 2,2; 2 Petr 3,10.18; Apg 2,20 [Joel 3,4]).5 Auffällig ist die Inversion, die mit der christologischen Beanspruchung des „Herrentags“ einher geht: der „Tag Christi“ wird im Unterschied zur alttestamentlichen Semantik des „Tags JHWHs“6 positiv konnotiert; für die Glaubenden und zumal für den Apostel handelt es sich um einen Tag der Freude. Der Philipperbrief fokussiert dabei freilich auf einen besonderen Aspekt, dem wir in den folgenden Zeilen nachspüren werden, nämlich dem Ruhm vor Gott AaO. 30. Zur „Freude“ s. unten bei Anm. 27. 4 Im 1 Kor weist diese eschatologische Perspektive voraus auf die Abhandlung über die Totenauferstehung in Kap. 15. Ebenso bereitet 1 Thess 1,10 die eschatologische Belehrung 4,13–5,11 vor. 5 Zu Bezugnahmen auf den „Tag des Herrn“ in den Pseudepigraphen vgl. PsSal 15,12; TestLev 3,2; weiteres bei M. Konradt, Gericht und Gemeinde (BZNW 117), Berlin 2003, 152 f. 6 Vgl. dazu E. Jenni, Art. Tag, THAT 1 (1971) 707–726, hier: 723–726; umfassend N. Wendebourg, Der Tag des Herrn (WMANT 96), Neukirchen 2003. 2 3
1. Würdigung am Tag Christi
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bzw. dem Lob durch Gott.7 In Phil 1,11 wird diese Thematik vorerst nur gerade durch die doxologische Formel „zur Ehre und zum Lob Gottes“ angedeutet.8 Es ist aufschlussreich, dass ein Nebenstrom in der handschriftlichen Überlieferung u. a. dazu tendiert, Paulus selber zum Empfänger des Lobs zu machen.9 Diesen Schritt vollzieht der Apostel aber erst in 2,16. 2. Im locker arrangierten Abschnitt Phil 2,12–18, der die mit 1,27 anhebende Ausführung über den Anspruch des Evangeliums beendet, beziehen sich V. 14– 16 wiederum auf die endzeitliche Erwartung des Tags Christi. Paulus gibt seiner Hoffnung Ausdruck, dass ihm die philippische Gemeinde an diesem Tag zum Ruhm gereichen werde.10 Ihre Bewährung inmitten einer feindlichen Welt, vergleichbar mit Gestirnen inmitten von Dunkelheit, schützt seine apostolische Arbeit vor dem „Leerlauf “ (vgl. 1 Thess 3,5; Gal 2,2; Jes 49,4).11 Im 1. Korintherbrief wird der endzeitliche Ruhm eigens mit dem Unterhaltsverzicht verbunden, den der Apostel in Korinth vorexerziert hat (9,15 f; vgl. 2 Kor 11,10). Sein Ruhm wird durch den „Kranz“ augenfällig verbildlicht, den er an jenem Tag zu erhalten hofft (1 Kor 9,25) und mit dem er wiederum die Gemeinde identifiziert (Phil 4,1).12 Paulus sehnt sich in seinen apostolischen Mühen einer endzeitlichen Auszeichnung durch den Parusiechristus entgegen. Umgekehrt gereicht der Apostel seinen Gemeinden zum Ruhm, schon in der Gegenwart wie wohl auch künftig vor dem himmlischen Forum (Phil 1,26; 2 Kor 1,14; vgl. 5,12). Die imaginierte endzeitliche Szene gewinnt durch 1 Thess 2,19 f deutlicheres Profil: Die Gemeinde wird sich am Tag der Parusie Christi als Hoffnung und Freude, als Ruhmeskranz 7 Explizit begegnet diese Akzentuierung auch in 2 Kor 1,14: Gegenstand der der Gemeinde aufgetragenen Erkenntnis ist es, dass „wir euer Stolz sind, gleich wie auch ihr unser Stolz seid am Tag unseres Herrn Jesus“. 8 Die meisten Kommentatoren, darunter U. B. Müller, deuten den Genetiv εἰς δόξαν καὶ ἔπαινον θεοῦ zu Recht als Gen. obj., d. h. Gott fungiert als Empfänger von Ehre und Lob; vgl. nur Ps 35,28 und 1 Chron 16,27. Demgegenüber plädiert W. Schenk, Die Philipperbriefe des Paulus, Stuttgart 1984, 123–127 für einen Gen. subj., unter Berufung auf Röm 2,7.10.29; ebenso J. Reumann, Philippians (AYB 33 B), New Haven 2008, 135–137; 159 f. 9 Besondere Aufmerksamkeit erheischt die Lesart von 𝔓46 (g) mit Dativus commodi: εἰς δόξαν θεοῦ καὶ ἔπαινον ἐμοί, die von einigen Kommentatoren für ursprünglich erachtet wird. M. Bockmuehl, The Epistle to the Philippians (BNTC), London 1997, 70 f verteidigt den Mehrheitstext zu Recht („Rhetorically, it would certainly be anticlimactic and counterproductive to end the passage in praise of Paul rather than of God“, 71). 10 Vom καύχημα, dem Gegenstand des Rühmens, hat Paulus bereits in 1,26 gesprochen: Die Philipper können sich ihres Seins in Christus rühmen, Paulus ist der Gehilfe zu diesem Ruhm. 11 Der „Leerlauf “ von Phil 2,16 wird bei M. Brändl, Der Agon bei Paulus (WUNT II/222), Tübingen 2006, 248–262; 415 f vornehmlich vom jesaianischen Gottesknecht von Jes 49,1–6 her interpretiert. 12 Zur Metaphorik des Kranzes vgl. W. Grundmann, Art. στέφανος κτλ., ThWNT 7 (1964) 615–635, besonders 628 zur Verwendung bei Paulus. Zwei neuere Arbeiten untersuchen die agonistischen Kontexte: U. Poplutz, Athlet des Evangeliums. Eine motivgeschichtliche Studie zur Wettkampfmetaphorik bei Paulus (HBS 43), Freiburg 2004, 313–318; Brändl, Agon (s. Anm. 11) 89–328; 417 f; zur Gemeinde als Ruhmeskranz 320–322.
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Lob am jüngsten Tag
und Ehre (δόξα) für den Apostel erweisen.13 Mit dem Lexem παρουσία verbindet sich eine semantische Assoziation, die uns als Wegweiser in der folgenden Spurensuche dienen wird und gerade auch für 1 Thess 2 beachtet sein will: Die „Ankunft“ des Christus assoziiert nicht nur den alttestamentlich-jüdischen Tag des Herrn, sondern ist auch als hellenistischer quasitechnischer Begriff für den Besuch eines Herrschers oder hohen Beamten in einer Stadt anzusprechen (vgl. 3 Makk 3,17).14 Die nach Massgabe politisch-festlicher Konventionen modellierte Szenerie, die Paulus vor Augen hat, lässt sich also in Umrissen rekonstruieren: Der wiederkehrende Christus verleiht dem Apostel im Blick auf dessen Wohltaten zugunsten der himmlischen Stadt einen Ehrenpreis.
2. Städtische Ehrung von Wohltätern 1. Die profane Inszenierung der Ehrung verdienter Bürger, die ihrerseits stark von religiösen Momenten bestimmt ist, dürfen wir zum allgemeinen Erfahrungsschatz städtischer Bewohner des römischen Reichs zählen. Phil 4,8 reiht den ἔπαινος – näherhin all das, was Lob verdient – unter den konsensfähigen Gütern ein. Es ist gewiss kein Zufall, dass Paulus gerade in einem politischen Zusammenhang auf die Prämierung von gutem Tun durch die Magistraten zu sprechen kommt. In Röm 13,3 f verweist er auf die staatliche Macht, die dem, der Gutes tut, ihr Lob (ἔπαινος) zuspricht. Umgekehrt wird dem Übeltäter der Strafvollzug durch die Behörden angedroht. A. Strobel hat auf die kaiserlichen Schreiben an Städte hingewiesen, die das Verhalten der Untertanen loben, über die provinziale Elite hinaus auch die Bürgerschaft schlechthin.15 Besonders interessant sind die von W. C. van Unnik beigebrachten antiken Stimmen, in denen 13 Auf eine „sachliche Spannung“ macht T. Holtz, Der erste Brief an die Thessalonicher (EKK 13), Zürich / Neukirchen 21990, 121 aufmerksam: „Hoffnung“, „Freude“ und „Ruhmeskranz“ können als eschatologische Heilsbezeichnungen im strengen Sinn „nur auf Christus, nicht auf die Gemeinde gegründet sein“, i.U. zu „Lohn“ und „Lob“. 14 Vgl. hierzu das Material in den einschlägigen Lexika: J. H. Moulton / G. Milligan, The Vocabulary of the Greek Testament. London 1930, 497; A. Oepke, Art. παρουσία κτλ., ThWNT 5 (1954) 856–869, hier: 857 f; W. Radl, EWNT 3 (1983) 102–105; C. Spicq, Léxique théologique du Nouveau Testament, Fribourg 1991, 1185–1187. A. Deissmann, Licht vom Osten, Tübingen 4 1923, 314–320, der programmatisch auf die hellenistische Terminologie aufmerksam gemacht hat, gewinnt den Papyri „einen eigenartig schönen Kontrasthintergrund zu den Bildworten des Apostels Paulus“ ab, wenn die Städte mühevoll die Ehrengaben wie den teuren Kranz zu bereiten haben, während Christus den Kranz verleiht (315). Die Kontrastierung ist forciert; ich formuliere eine Gegenhypothese: Zum Parusieprogramm zählen gerade auch Preisverleihungen durch den Magistraten oder Herrscher. – Auch 2 Tim 4,8 weist mit dem Zusammenhang von Kranzverleihung und ἐπιφάνεια deutlich auf den Kontext eines ehrenvollen Akts am Ankunftstag eines göttlichen Herrschers. 15 A. Strobel, Zum Verständnis von Rm 13, ZNW 47 (1956) 67–93, hier: 79–85. Vgl. ferner ders., Furcht, wem Furcht gebührt. Zum profangriechischen Hintergrund von Rm 13,7, ZNW 55 (1964) 58–62. – Zur jüngeren politischen Diskussion um Röm 13 vgl. St. Schreiber,
2. Städtische Ehrung von Wohltätern
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Belobigung und Bestrafung durch Herrscher oder Magistraten wie bei Paulus und in 1 Petr 2,14 parallelisiert werden.16 Die Belege lassen sich leicht vermehren.17 Die Ehrung, die den um die Stadt verdienten Wohltätern gilt,18 erfolgt von oben nach unten. Noch zahlreicher sind umgekehrt diejenigen inschriftlichen Zeugnisse, in denen eine Stadt selber ihre Wohltäter preist; wenn der Rat samt dem Dēmos die besonderen Prestigeträger für ihr gutes Tun lobt, ergeht die Ehrung von unten nach oben. Während Röm 13 und 1 Petr 2,14 eher an unspezifische Ehrungen von Kollektiven denkt, handelt es sich beim Lob von Einzelnen mit Sicherheit um herausragende Wohltäter. Offenbar steht bei der endzeitlichen Auszeichnung des Apostels durch den Kyrios die Ehrung von Wohltätern durch eine höher gestellte Persönlichkeit Pate. 2. Mit dem Interesse an einer Fallstudie kehren wir nach Philippi zurück und werfen einen knappen Blick auf die zahlreichen städtischen Ehreninschriften für Privatpersonen und für öffentliche Amtsträger sowie für religiöse Beamte (insbesondere des Serapis), überwiegend in lateinischer Sprache abgefasst.19 Mit einer bemerkenswerten Ausnahme20 ehren niedrige stehende Personen bzw. Gruppen jeweils die höher rangierten. Nur zwei offizielle Ehrungen werden ausführlicher dokumentiert. Ein Bürger und Beamter hellenistischer Zeit wird als Wohltäter gefeiert, da er in einer Notlage für Getreidelieferungen zu festen Preisen gesorgt hat.21 Εinem Wohltäter gilt ein Dekret der Volksversammlung aus Imperium Romanum und römische Gemeinden, in: U. Busse (Hg.), Die Bedeutung der Exegese für Theologie und Kirche (QD 215), Freiburg 2005, 131–170. 16 W. C. van Unnik, Lob und Strafe durch die Obrigkeit. Hellenistisches zu Röm 13,3–4, in: E. Ellis / E. Grässer (Hg.), Jesus und Paulus, FS W. G. Kümmel, Göttingen 1975, 334–343. 17 Das Schema des Erteilens von Lob und Strafe wird nicht nur auf Behörden, Kaiser und Feldherren, sondern auch auf die Gesetze angewandt; sie loben die Guten und strafen die Bösen. Vgl. die Belege bei S. Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung (FRLANT 147), Göttingen 1989, 357 A. 358. Leider bieten „alter“ und „Neuer Wettstein“ keine in Frage kommenden Parallelen zu dem uns interessierenden Sachverhalt. 18 Vgl. dazu besonders B. W. Winter, The Public Honouring of Christian Benefactors. Romans 13.3–4 and 1 Peter 2.14–15, JSNT 34 (1988) 87–103 („This epigraphic evidence c1early demonstrates along with literary evidence that not only did rulers praise and honour those who undertook good works which benefited the city, but at the same time they promised likewise to publicly honour others who would undertake similar benefactions in the future“). Die These von Winter, dass Röm 13,3 f christliche Individuen spezifisch dazu ermuntert, der Stadt Wohltaten zukommen zu lassen, ist m. E. unwahrscheinlich; Paulus verweist lediglich auf die unübersehbare allgemeine Tatsache, dass das Tun von Gutem vielfaches öffentliches Lob findet. Das duale Muster – Guttun und Lob versus Übeltun und Strafe –, ein deutlicher Indikator für Verallgemeinerung, wird bei Winter nicht berücksichtigt. – Zum antiken Wohltätersystem vgl. zusammenfassend H.-J. Gehrke, Art. Euergetismus, DNP 4 (1998) 228–230, wo speziell auch auf die kompetitiven Elemente hingewiesen wird. 19 Das Material legt P. Pilhofer vor: Philippi, Bd. 2: Katalog der Inschriften von Philippi (WUNT 119), Tübingen 2000 (vgl. dazu meine Rezension BZ 46 [2002] 149 f); 22009. – Ich danke Eva Ebel für kundige Beratung. 20 Pilhofer, Nr. 432 bietet die Inschrift eines Gutverwalters, vielleicht selber ein Sklave, für einen Sklaven. 21 Pilhofer, Nr. 543.
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dem 2. Jh. v. Chr.:22 Die ekklesia, die sonst nicht in den philippischen Inschriften genannt wird, „hat es für gut befunden, ihn zu belobigen (ἐπαινέσαι)“ für seine Wohltaten, zumal in Notzeiten. Leider werden wir also für die uns speziell interessierenden Zusammenhänge – Lob und Ehre durch höher gestellte Amtsträger – in Philippi nicht fündig. Es ist Aufgabe der künftigen Forschung, die einschlägigen Realien für dieses sehr bestimmte Setting herauszuarbeiten.23
3. Lob und Tadel im spirituellen Bereich Im Folgenden beschäftigen wir uns anhand von drei Leittexten mit der Übertragung des Lobs und seines Gegenteils auf die spirituelle und die eschatologische Ebene. 1. Philon legt im Rahmen seiner expositio legis das duale Schema von Lob und Strafe seiner Schrift De praemiis et poenis zugrunde.24 Einige aufschlussreiche Beobachtungen lassen sich machen. So wird deutlich, dass das Schema von Haus aus in einen agonistischen Kontext gehört: Zum Wettkampf gehört die Ehrung des Siegers und die Blamage des Verlierers; Lob und Tadel stehen sich gegenüber, Ehre und Schande.25 Wir die Terminologie nun spiritualisiert, so verschieben sich Tadel bzw. Schande zur Strafe. Lob und Ehrenpreise beziehen sich auf die seelischen Tugenden und ihre Güter, die von den Patriarchen verbildlicht werden. Wir hören von „Ehrenpreisen“ (ἆθλον, βραβεῖον, γέρας), vom Siegerkranz und der Ehrverkündigung (κήρυγμα)26 – und auch von der Freude als einem herausgehobenen Ehrenpreis!27 Die Exegese Philons zeigt nicht nur die Ausdruckskraft der agonistischen Metaphorik, sondern auch ihre breite Rezeption im Raum des griechischsprachigen Judentums, wie sie daneben besonders vom 4. Makkabäerbuch dokumentiert wird (9,8; 17,11–16). Pilhofer, Nr. 348. Die Ehrung durch den Herrscher persönlich erfolgt in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle auf schriftlichem Weg. 24 Das Programm wird in poen. 3 formuliert: Die für die Guten ausgesetzten Belohnungen kontrastieren mit den für die Schlechten angedrohten Strafen (τοῖς ἀγαθοῖς ἆθλα καὶ τοῖς πονηροῖς ἐπιτίμια), entfaltet in 4–78. Nach einer Lücke werden auch Segen und Fluch abgehandelt (79–172). Die Kohärenz besteht u. a. darin, dass Flüche auch als Strafen erscheinen (162). 25 Philon spricht vom „heiligen Wettkampf “ (4; vgl. 13.15); auf die einen Teilnehmer warten „Kampfpreise und öffentliche Belobigungen und die übrigen Auszeichnungen, wie sie Siegern zuteil werden“ (6), auf die anderen „Schimpf und Spott“ (5), eine „schimpfliche Niederlage“ (6). Zur agonistischen Metaphorik vgl. Poplutz, Athlet (s. Anm. 12) 184–186. 26 Vgl. 13.16.22.27.31.47.52.57 usw., dazu den Güterkatalog in 118. Zur Siegerehrung vgl. besonders auch agr. 111–123. 27 27; 31 (χαρὰ τὸ ἆθλον), natürlich unter Berufung auf Isaak (Gen 17,17–19; 18,12; 21,6): „das Lachen ist aber ein vom Körper gegebenes offenbares Zeichen der unsichtbaren Freude des Herzens.“ 22 23
3. Lob und Tadel im spirituellen Bereich
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2. Mit Röm 2,26–28 steuern wir einen endzeitlichen Kontext an, wie die zahlreichen Verweise auf das Gottesgericht und den „Tag des Herrn“ in Kap. 2 nahelegen.28 V. 29 spricht vom „Juden im Verborgenen“, der Lob nicht von Menschen, sondern von Gott empfängt.29 Der von uns beobachtete Dual ist auch hier im Horizont, verweist doch V. 27 umgekehrt auf das scharfe Gericht am vorfindlichen Juden. Zugleich wird explizit auf den Vorgang des Rühmens Bezug genommen (2,17.23). Das Kennen dessen, „worauf es ankommt“, erweist sich wie in Phil 1,10 als Grund für die Ehrung durch Gott. Wir brauchen an dieser Stelle auf die schwierige Frage, ob der „verborgene Jude“ als hypothetische Figur oder aber als Platzhalter für die Heidenchristen zu charakterisieren ist, nicht einzugehen. Wichtig ist vielmehr die Beobachtung, dass Paulus mit einer bisher nicht relevanten Antithese arbeitet, nämlich derjenigen zwischen Manifest-sein und Verborgen-sein, die dem Kontrast zwischen dem Forum der Menschen und demjenigen Gottes entspricht. Beide Male ist eine öffentliche Szene im Blick, wie sowohl das Lob – das kaum nur ganz intim und privat dem Empfänger übermittelt wird – wie die Bestrafung (V. 27) nahelegen. Der irdischen Szene, die im Raum des Vorfindlichen und Äusseren spielt, steht eine himmlische Szene entgegen, in der Ruhm und Ehre anderen Regeln gehorchen. Es ist offenkundig, dass Paulus hier ein weit verbreitetes Schema endzeitlich variiert. Dieses Schema kontrastiert äusseren Schein mit innerem Sein; Hypokrisie um äusserlicher Anerkennung willen steht der Wahrhaftigkeit und Authentizität entgegen.30 3. Es ist mehrfach aufgefallen, dass sich in der Bergpredigt eine eigentümliche Parallele zu Röm 2,28 f finden lässt, nämlich die Belehrung Mt 6,1–18 (mit Ausnahme von V. 7–15).31 Im Vollzug der religiösen Praktiken von Almosen, Gebet 28 Dazu kommt die Parallele von 1 Kor 4,5 und die Verwandtschaft mit Mt 6,1–18 (zu beidem s. unten); vgl. ferner O. Hofius, EWNT 2 (1981) 41–43. – R. Jewett, Romans (Hermeneia), Minneapolis 2007, 237 bestreitet die eschatologische Referenz von V. 29, scheint aber bei V. 27 doch das jüngste Gericht vorauszusetzen (234). Sein Argument, das Lob von Menschen sei dann unerklärbar, greift nicht: Der verborgene Jude orientiert sich eben am die Wahrheit herausstellenden künftigen Gotteslob, nicht am aktuellen Menschenlob. 29 Dem „Lob“ entsprechen in V. 7 und 10 δόξα, τιμή, εἰρήνη und ἀφθαρσία. 30 Der „Neue Wettstein“ verweist zu Röm 2,17 ff auf die Kritik an oberflächlichen Philosophenschülern bei Epiktet, diss. 2,19:19–28 (II/1, Berlin 1996, 85 f) und zu V. 29 auf die Diskussion von ethnischer bzw. kultureller Identität ebd. 2,9:19–21 (97). Speziell auf die stoische Ablehnung der „Anerkennung der Eigenschaften und des Wertes eines Menschen von Seiten der Umwelt“ erinnert A. Fridrichsen, Der wahre Jude und sein Lob. Röm. 2,28 f (1922), in: ders., Exegetical Writings (WUNT 76), Tübingen 1994, 186–194 (Zitat: 194). J. M. G. Barclay, Paul and Philo on Circumcision. Romans 2.25–9 in Social and Cultural Context, in: ders., Pauline Churches and Diaspora Jews (WUNT 275), Tübingen 2011, 61–79, fokussiert unter Berufung auf Mt 6,1–18 (dazu unten) und Joh 12,43 (und 5,44) auf konkrete christlich-jüdische Konflikte („an apparently general remark about human motivation is intimately linked to social reality, since it is the ability, or inability, to forego the approval of the Jewish community [or ‚Pharisees‘] which is at stake“, 72). Das Problem dieser Hypothese besteht in der betont allgemeinen und, im Fall von Paulus, sogar universalen Diktion in Mt 6 und Röm 2. 31 Vgl. dazu besonders E. Schweizer, „Der Jude im Verborgenen …, dessen Lob nicht von Menschen, sondern von Gott kommt“. Zu Röm 2,28 f und Mt 6,1–18, in: ders., Matthäus und
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und Fasten hängt alles daran, nicht auf die öffentlich und manifest ergehende Anerkennung durch Menschen zu setzen, sondern auf die Vergeltung durch den ins Verborgene sehenden Gott. Stoff und Komposition sind, abgesehen von V. 1, wahrscheinlich vormatthäisch.32 Die Warnung vor Heuchelei und Scheinfrömmigkeit in der Öffentlichkeit konvergiert mit der paulinischen Polemik gegen den vorfindlichen, äusserlichen Juden. Im Fall der Almosen wird speziell die auf öffentliche Anerkennung zielende Wohltätigkeit, der wir mehrfach begegnet sind, verurteilt. Anders als in Röm 2 wird die Anerkennung durch Gott mit der Metaphorik des Lohns expliziert,33 was sich gut zum ausgeprägten jüdischen Hintergrund fügt.34
4. Bilanz 1. Unser Interesse galt dem Stellenwert, den die Anerkennung Gottes, sein Lob und seine Ehrung, in der endzeitlichen Erwartung des Paulus innehat. Das den vereinzelten Anspielungen zugrunde liegende Szenario besteht darin, dass die Christen oder aber spezifisch der Apostel vor Gottes Thron, d. h. vor dem Forum der himmlischen Heerscharen und der Vollendeten, öffentliche Anerkennung finden. Das Modell bildet die öffentliche Ehrung von städtischen Wohltätern durch eine hochgestellte Amtsperson oder sogar den Herrscher selber. Im Hintergrund steht das antike System des Euergetismus. 2. Während die geläufigere Metaphorik des Verdiensts aus der Arbeitswelt stammt und lohnabhängige Arbeitnehmer im Blick hat, rückt beim Lob ein agonistisches Setting – Wettkampf und competition – in den Vordergrund, das von Haus aus eher aristokratische Kontexte reflektiert. Bei näherem Zusehen zeigt sich aber, dass die metaphorischen Felder nicht nur anschlussfähig sind, sondern ineinander übergehen und sich ein gutes Stück weit gegenseitig interpretieren.35 seine Gemeinde (SBS 71), Stuttgart 1974, 86–97; W. D. Davies / D. C. Allison, A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel according to Saint Matthew (ICC), Bd. 1, London 1988, 576 f: „Yet the similarities do show us that the convictions expounded in Mt 6:1–6, 16–18 belonged to common Christian tradition and were expressed in a similar fashion in different communities. No doubt this was the case because those same convictions were held by pious Jews; that is, we are dealing with a point at which Jewish tradition entered the Christian church“. 32 Vgl. Davies / Allison, Mt (s. Anm. 31) 574 f; U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (EKK 1), Bd. 1, Düsseldorf / Neukirchen 52002, 419 f. 33 Dabei wird in V. 2.5.16 sogar die von Haus aus juristische Regel bzgl. der Bestrafung auf die Belohnung ausgeweitet: bis de eadem re ne sit actio. Vgl. H. D. Betz, The Sermon on the Mount (Hermeneia), Minneapolis 1995, 346. 34 Allerdings lassen sich zur Passage als ganzer kaum treffende religionsgeschichtliche Parallelen identifizieren, vgl. die Sichtung im diesbezüglich sehr reichen Kommentar von Betz, Sermon (s. Anm. 33) 338–347. 35 Vergleichbar ist die Jenseitsschilderung bei Platon, Phaid. 113d/e, wo es von den Mittleren in der Übersetzung von R. Rufener (BAW.GR, Zürich 1958) heisst: „für ihre guten Werke
4. Bilanz
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So kann Paulus seine Rede vom „Lohn“ in 1 Kor 3,8 durch das „Lob“ von Seiten Gottes in 4,5 reformulieren.36 Die Ehrung der Sieger durch einen Preis bzw. einen Kranz hat meist nicht nur eine symbolische, sondern auch eine materielle Dimension,37 die mit dem „Lohn“ korreliert. In der Jenseitsimagination ist besonders an Ehrenplätze zu denken (vgl. Mk 10,37 par.). Die agonistisch geprägte Metaphorik des Kranzes hat in der frühjüdischen Eschatologie, die sich sonst primär an der Lohnkategorie orientiert, vielfach Niederschlag gefunden.38 Trotzdem sollten die metaphorischen Konfigurationen sorgfältig unterschieden werden. 3. Die Belobigung durch Gott gilt zum einen allen Glaubenden, wie besonders die Zuschreibung „einem Jeden“ in 1 Kor 4,5 unterstreicht. Auch die vereinzelten übrigen Referenzen auf das göttliche Loben scheinen allen zu gelten. Anders steht es mit der gelegentlich von Paulus geäusserten Hoffnung, sich als Apostel und Knecht vor dem Gottesthron seiner Gemeinde(n) rühmen zu können und Gottes bzw. Christi Anerkennung zu finden (1 Thess 2,19 f; 2 Kor 1,14; Phil 2,16). 4. Das beschriebene endzeitliche Szenario lässt sich nicht vollständig gegen die Gerichtserwartung isolieren.39 Der „Tag Christi“ setzt die Traditionsgeschichte des „Tags des Herrn“ voraus, gerade auch dort, wo er sich mit einer positiven Semantik verbindet. Die Bekundung öffentlichen Lobs für Wohltäter geht häufig mit der Androhung von Strafe für Übeltäter einher. Dies gilt auch bei der Übertragung von öffentlicher Ehrung oder Bestrafung auf ein spirituelles oder eschatologisches Niveau. Es ist zwar richtig, dass sich die verstreuten paulinischen Aussagen zum Gericht nicht zu einem kohärenten oder gar geschlossenen Gesamtbild synthetisieren lassen.40 Man hat gleichwohl mit einer virtuellen Konfiguration basaler eschatologischer Erwartungen zu rechnen, deren Elemente Paulus je nach Situation und argumentativer Strategie verschieden zu aktualisieren versteht. Die gleichsam klassische Beurteilung des individuellen Lebensertrags vor dem Richterthron Gottes (vgl. Röm 2,16; 1 Kor 4,5; 2 Kor 5,10) und werden sie belohnt; ein jeder nach seinem Verdienst (τῶν τε εὐεργεσιῶν τιμὰς φέρονται κατὰ τὴν ἀξίαν ἕκαστος).“ τιμή deckt ein semantisches Feld ab, das von Ehre und Preis bis zu Belohnung und Entgelt reicht. 36 Der Rückgriff auf eine andere Semantik hat im Kontext eine klare Funktion: Paulus setzt sich in 4,1–5 gegen die Beurteilung durch Andere, speziell die Korinther, zur Wehr, und spricht allein dem Herrn kraft seiner endzeitlichen Kardiognosie das Recht zur Beurteilung zu. Es geht nicht mehr um Werke wie in 3,5–15. 37 Vgl. dazu Poplutz, Athlet (s. Anm. 12) 60–63. 38 Vgl. die Belege bei Brändl, Agon (s. Anm. 11) 315–317; Konradt, Gericht (s. Anm. 5) 185 A. 855. 39 Dazu neigt Konradt, Gericht (s. Anm. 5) 186 (vgl. 230 f): „Aber dass diese Anerkennung den Charakter einer gerichtlichen Beurteilung trägt, ist mit keinem Wort gesagt und nicht ohne weiteres einzulesen. Festzuhalten ist also: Mit einem Gerichtsszenarium haben l Thess 2,19 f und 3,13 nichts zu tun.“ 40 Dies hat die eindringliche Analyse der Forschungsgeschichte durch Konradt, Gericht (s. Anm. 5) 1–19 klar herausgestellt.
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Lob am jüngsten Tag
die Ehrung des erfolgreichen Missionars vor dem himmlischen Forum (Phil 2,16; 2 Kor 1,14; 1 Thess 2,19) bilden derartige Elemente, die in den vorfindlichen Texten nicht nur eine argumentative Hilfsfunktion, sondern auch hermeneutische Selbständigkeit beanspruchen dürfen. Zusammengehalten werden sie aber durch eine Basisüberzeugung: das Offenbarwerden vor dem göttlichen Thron im endzeitlichen Geschehen. 5. Weit stärker als die Semantik von Lohn und Verdienst ist diejenige von Lob und Ruhm in den für die griechisch-hellenistische und römische Kultur charakteristischen Codes von Ehre und Schande verankert. Auch ohne der trendigen kulturanthropologischen Universalisierung dieses Duals aufzusitzen, ist die enorme Gravitation von Ehre, von Prestige, Status, öffentlicher Anerkennung und competition in der reichsrömischen Gesellschaft und Kultur kaum zu überschätzen. Wenn Paulus vom „Rühmen“ spricht, sei es Gottes oder Christi – oder eben seiner Gemeinde(n) vor Gott –, muss sein Reden vor diesem Hintergrund interpretiert werden.41 Anders als die eher statisch angelegte eschatologische Metaphorik von Lohn und Verdienst bieten „Lob“ und „Ehre“ dem Empfänger die Möglichkeit, das Zugesprochene dem Geber zurückzuspielen, Gott also seinerseits wieder die alleinige Ehre zu geben (vgl. 1 Kor 4,7). Paulus’ so riskanter wie souveräner Umgang mit dem γένος ἐπιδεικτικόν lebt geradezu davon, jener Bewegung, die von sich selbst weg auf Gott hin führt, Raum zu geben. Mit dem Hinweis auf die doxologische Tiefenströmung in der paulinischen Theologie kehren wir zum Jubilar zurück, ist es doch umso mehr würdig und recht, ihn mit dem Nachdenken über Ruhm, Lob und Anerkennung seinerseits zu ehren!
Vgl. mein Hinweis in: Art. Paulus. I.–III., in: RGG4 6 (2003) 1035–1065, hier: 1050.
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Sich freuen auf Einheit Ein ökumenischer Impuls aus Philippi „Macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, einander verbunden in ein und derselben Liebe, einmütig und auf das eine bedacht!“ (Phil 2,2)
Abstract Looking Forward to Unity. An Ecumenical Impulse from Philippi The essay explores the Pauline call to unity. The Letter to the Philippians contributes to ecumenical dialogue in two ways: First, despite its rhetoric of unity, it keeps a space open for diversity. Second, the letter associates unity with the affection of joy. The apostle cares a lot about mobilizing constructive “ecumenical” emotions.
Unter den Briefen des Apostels Paulus sind es vor allem der Galaterbrief und der Römerbrief, die einer ökumenisch interessierten Lektüre wesentliche Impulse vermitteln. Gerade weil sie in früheren Zeiten gern kontroverstheologisch ausgelegt wurden, geben sie Anlass dazu, entscheidende theologische Figuren im gegenseitigen Dialog zu diskutieren und herkömmliche Frontstellungen zu überwinden. Das betrifft die Rechtfertigungslehre so gut wie die Ekklesiologie und das Verständnis des Apostolats. Die entscheidenden Grenzlinien in der Vielzahl der Interpretationen verlaufen längst nicht mehr entlang der konfessionellen Gemarkungen. Beim Philipperbrief verhalten sich die Dinge von Grund auf anders. Zwar lässt sich die Unterscheidung zweier Gestalten von Gerechtigkeit im dritten Kapitel durchaus an die einstigen Kontroversen rund um die Rechtfertigung andocken. Aber die Passage Phil 3,2–21 steht so sehr im Zeichen einer biographischen Retrospektive des jüdischen Christuszeugen Paulus, dass sich ihr Spannungspotential nur auf Umwegen vom jüdisch-christlichen Diskurs in einen früher kontroverstheologischen1 und heute ökumenischen Diskurs transponieren lässt. Was der Philipperbrief hauptsächlich an ökumenischen Impulsen auszulösen vermag, weist gerade in einen anderen Bereich – dorthin, wo es nicht 1 Zu erinnern ist etwa an Luthers Deutung der „Feinde des Kreuzes“ (Phil 3,18) auf den Papst. Vgl. E. Ellwein (Hg.), D. Martin Luthers Epistel-Auslegung, Bd. 3, Göttingen 1973, 218 f; 230.
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Sich freuen auf Einheit
darum geht, überkommene Differenz zu bearbeiten, sondern umgekehrt Einheit darzustellen oder zu erzeugen. Der herausragende neutestamentliche Botschafter der Einheitsthematik ist zwar der Epheserbrief. Es lohnt sich aber, auch auf den Philipperbrief zu achten, wo im Unterschied zum Epheserbrief nicht die universale Kirche, sondern eine lokale Einzelgemeinde im Blick ist. Ich möchte in den folgenden Zeilen versuchen, zu verstehen, wie Paulus Einheitstopik einsetzt und dabei auch Momente von Dissonanz thematisieren muss. Wir werden dabei auch auf die „Freude“ zu sprechen kommen, das prominente Markenzeichen des Philipperbriefs.
1. Berufung zur Einheit Obschon Paulus in seinem Gefängnis keine beunruhigenden Nachrichten von seiner Lieblingsgemeinde erhalten hat, ruft er die Philipper mit Nachdruck zur Einheit auf. Trotz gewisser persönlicher Rivalitäten (vgl. 4,2) unterscheidet sich die Lage in Philippi markant von Korinth, wo sich Paulus mit akuten Spaltungen auseinandersetzen muss (1 Kor 1,10–13). Der Aufruf zur Einheit findet sich gleich zu Beginn des zentralen Abschnitts im Philipperbrief, wo der Apostel die Christenmenschen als Bürger einer himmlischen Stadt (3,20 f) zu einer irdischen Lebensführung nach Massgabe des „Evangeliums des Christus“ anhält (1,27): „Eins ist wichtig: Ihr sollt als Bürger eurer Stadt leben, wie es dem Evangelium von Christus entspricht, damit ich, ob ich nun komme und euch sehe oder ob ich wegbleibe, von euch erfahre, dass ihr in einem Geist gefestigt seid und eines Sinnes den Kampf für den Glauben an das Evangelium fortführt.“
Mit dem „einen Geist“ und noch mehr mit dem „einen Sinn“ – wörtlich: „mit einer Seele“ – spielt Paulus eine in der Antike sehr geläufige politische Topik ein, die das „als Bürger leben“ konsequent weiter entfaltet. Staatsmänner, Redner und politische Philosophen setzten entschlossen auf die Rhetorik der „Eintracht“ (concordia), wenn das Gemeinwesen von zentrifugalen Tendenzen bedroht erschien. Die urchristliche Literatur hat sich in verschiedenen Brechungen auf diesen Typ von politischer Rhetorik eingelassen, etwa im von der Apostelgeschichte gemalten Bild der Urgemeinde. Wir haben einen Kontrastentwurf zum imperial gesteuerten Einheitsprogramm vor uns: Nicht der Kaiser mit seiner Militärmaschine und seiner kulturellen soft power, sondern der Christus und die Gemeinschaft seiner Zeugen bringen die Eintracht hervor.2 Dabei lässt unsere Passage nur zu deutlich erkennen, dass die Kollision dieser beiden 2 Vgl. meinen Aufsatz: Politische Theologie im Philipperbrief?, in: D. Sänger / U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes (WUNT 198), Tübingen 2006, 457–469, Abdruck in diesem Band: 227–238. – Die Übersetzungen orientieren sich an der Zürcher Bibel von 2007 (22012).
1. Berufung zur Einheit
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Einheitsprogramme mit Konflikten, mit Bedrängnis und Leiden für die Christinnen und Christen einhergeht (1,28–30). Im gleich anschliessenden Abschnitt (2,1–4) stimmt der Apostel geradezu beschwörende Töne an. Jetzt rücken die konfliktuösen Aussenbeziehungen der Gemeinde in den Hintergrund; es geht nun um die von innen her drohenden Störfaktoren, um Selbstsucht, Arroganz und Leerläufe. Vor allem aber schärft Paulus den Blick für das innere Leben der Gemeinschaft: „dasselbe sinnen“, „dieselbe Liebe“, „das eine sinnen“. Wenn er erneut die „gemeinsame Seele“ aufruft, blendet er auch noch das antike Ideal vollkommener Freundschaft in das Bild der Gemeinde ein. Die Einheit in Liebe bildet sich ab im Ethos der Selbstbeschränkung – der Demut als grundsätzlicher Haltung wie auch der ganz konkreten Aufmerksamkeit für den Anderen. Für den gefangenen Briefautor ist der Gedanke an dieses einende Band ein Quell der Freude (2,1–4):3 „Wenn es denn in Christus Ermahnung gibt, Zuspruch der Liebe, Gemeinschaft mit dem Geist, Zuwendung und Erbarmen, dann macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, einander verbunden in ein und derselben Liebe, einmütig und auf das eine bedacht! Tut nichts zum eigenen Vorteil, kümmert euch nicht um die Meinung der Leute. Haltet vielmehr in Demut einander in Ehren; einer achte den andern höher als sich selbst! Habt nicht das eigene Wohl im Auge, sondern jeder das des andern.“
Die ökumenischen Impulse, die von Paulus’ Beschwörung der Einheit ausgehen, liegen auf der Hand. Um eine molekularbiologische Metapher zu verwenden: Die Ausrichtung auf die Einheit macht geradezu die DNA der ökumenischen Bewegung aus; sie ist der Gegenpol zur Erfahrung von kirchlicher Spaltung und von konfessioneller Entfremdung. In ihrem Ringen um die Einheit der christlichen Gemeinschaft(en) kann sich die Ökumene auf viele neutestamentliche Texte berufen. Der Philipperbrief leistet in diesem vielstimmigen Chor einen ganz besonderen Beitrag. Erstens sticht seine emotionale Färbung hervor: Das Reden von Einheit ist eingebettet in die besondere Beziehung des „gefesselten“ Apostels zu seiner Lieblingsgemeinde; deren Einssein ist Gegenstand von Sehnsucht und Hoffnung. Das ist gerade heute, in „spätökumenischen“ Situationen der Ernüchterung und des sich Abfindens mit versöhnter Verschiedenheit, in Erinnerung zu rufen: In der Einheit geht es um das ganze Herz und die ganze Seele! Paulus versteht es, „ökumenische Affekte“ zu stimulieren. Wir kommen unten darauf zurück. Zweitens weist ausgerechnet die Einheit über sich selbst hinaus. Gleich anschliessend an unsere Textpassage stellt der sogenannte Christushymnus von 2,5–11 das Urbild christlicher Selbstbeschränkung plastisch vor Augen. Die 3 Zur Freude vgl. P. von Gemünden, Der Affekt „Freude“ im Philipperbrief und seiner Umwelt, in: J. Frey / B. Schliesser (Hg.), Der Philipperbrief des Paulus in der hellenistisch- römischen Welt (WUNT 353), Tübingen 2015, 223–253; A. Inselmann, Zum Affekt der Freude im Philipperbrief. Unter Berücksichtigung pragmatischer und psychologischer Zugänge, aaO. 255–288.
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Sich freuen auf Einheit
katholische Theologie spricht in diesem Zusammenhang gern von „Proexistenz“: Christi Weg in den Kreuzestod offenbart eine Form des Seins für Andere. Auch wenn Phil 2 nicht eigens vom „Lösegeld zugunsten von Vielen“ (Mk 10,45 par. Mt 20,28; 1 Tim 2,6) spricht, kommt Christi Tod doch der Welt zugute – den Himmlischen, Irdischen und Unterirdischen, die ihn als Herrn preisen (2,10 f). Diese Lebensform ist für alle „in Christus Jesus“ massgeblich (Phil 2,5!), zumal für die Mitarbeiter: Timotheus, der „Gleichgesinnte“ (2,19–24); Epaphroditus, der aus dem Tod Erweckte (2,25–30); Paulus als Gefangener, Priester und Todgeweihter (1,24 f; 2,17; 3,10). Was immer sich die Ökumene von der ihr zugrundeliegenden und ihr vorausliegenden Einheit erhofft: Diese ist nicht Selbstzweck, sondern kommt allererst Anderen zugute, womöglich sogar der Schöpfung als ganzer – Kirche ist eben Licht der Welt (vgl. Phil 2,15), Salz der Erde. Das wussten wir zwar immer schon, aber es gerät im Gewirbel ökumenischer Betriebsamkeit nur zu leicht an den Rand der Aufmerksamkeit. Das dritte schliesslich sind Erfahrungen des Leidens, die das Einswerden der Gemeinde begleiten und die der Philipperbrief nicht selten anspricht. Der Apostel, selber offenbar in Todesgefahr, denkt primär an soziale Marginalisierung und ökonomische Not, die Christen in ihrem städtischen Umfeld erfahren. Im Binnenraum der Gemeinde rufen sie umgekehrt nach Zusammenhalt und Solidarität. Ganz abgesehen von der sozialpolitischen Aktualität dieses Programms, gerade in heutigen Tagen angesichts von Flüchtlingsnot und Abschottungspolitik, darf man vielleicht fragen, ob wir das auch auf schmerzhafte Erfahrungen infolge verneinter Einheit übertragen dürfen, wo sich Familien und Partnerschaften an bestehenden kirchentrennenden Strukturen reiben.
2. Chancen und Grenzen der Vielfalt Nun ist die Ökumene bekanntlich mit Einheit in Verschiedenheit beschäftigt. Auch an diesem Punkt bietet es sich an, den Philipperbrief auf entsprechende Impulse hin abzuhorchen. Allerdings sind seine Signale nicht rundum hilfreich. Wir fragen: Wie geht Paulus mit ekklesiologischer Verschiedenheit um, namentlich mit Meinungsverschiedenheit und mit Dissidenz?4 Im Philipperbrief ergibt sich ein dreifacher Befund: Erstens: Wie in manchen Gruppen ist es auch in Philippi zu Rivalitäten gekommen, hier zwischen zwei offenbar tonangebenden Frauen. Paulus ruft sie zur Eintracht auf, unter deutlichem Rückbezug auf seine vorherige Ermahnung (4,2): „Euodia ermahne ich, und Syntyche ermahne ich: Seid eines Sinnes im Herrn!“ 4 Vgl. dazu Th. Schmeller, Paulus und die Konkurrenz. Vom Ehrgeiz, WiWei 67.2 (2004) 163–178. Vgl. meinen Aufsatz: Kreuzfeuer. Paulus und seine Konflikte mit Rivalen, Feinden und Gegnern, Abdruck in diesem Band: 201–226.
2. Chancen und Grenzen der Vielfalt
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Leider wissen wir nichts über den Konflikt; er betrifft treue Mitarbeiterinnen des Apostels („deren Namen im Buch des Lebens stehen“) und scheint mit geeigneter Vermittlung lösbar zu sein (4,3). Es ist offenkundig: Wir befinden uns hier noch nicht im Raum ökumenischer Verschiedenheit – auch wenn es bei Gelegenheit reizvoll erscheint, miteinander streitende Kirchenleitungen an die beiden in unnötige Konflikte verwickelten Damen zu erinnern. Zweitens: Unser Brief lässt eine durchaus tolerante Haltung erkennen gegenüber christlichen Akteuren, die nicht mit Paulus und seinem Kreis zusammenarbeiten. Der Apostel nennt im Zusammenhang mit der erheblichen Resonanz, die seine Verkündigung des Evangeliums im „ganzen Prätorium“ – in Ephesus oder in Rom – erzeugt, einige Leute, die „Christus bloss aus Neid und Streitlust verkündigen“, „zum eigenen Vorteil, in unlauterer Gesinnung“ (1,12–18). Paulus beurteilt seine Rivalen so negativ, weil sie ihn selber dezidiert ablehnen. Er übt sich aber in Gleichmut, der dem Evangelium zugutekommt: „Doch was soll’s! Es geht doch einzig darum, dass so oder so, vorgetäuscht oder wahrhaftig, Christus verkündigt wird.“
In eine ähnliche Richtung weist die generalisierende Kontrastierung des hingebungsvollen Mitarbeiters Timotheus mit „allen anderen“: Diese „sind ja nur mit ihren eigenen Dingen beschäftigt, nicht mit der Sache Jesu Christi“ (2,21). Offenbar setzt sich Paulus hier mit Konkurrenten auseinander, beurteilt sie indes nicht als Zerstörer des Evangeliums. Wohl aber stellt er ihre persönliche Lauterkeit in Frage. Im ökumenischen Gespräch hat ein solcher Vorwurf nichts zu suchen. Echte und unechte Antriebsfedern, intrinsische und extrinsische Motivation sind nicht entlang der Konfessionsgrenzen gestreut; erst recht kann sich niemand anmassen, sie bei anderen festzustellen. Der Verdacht auf Unlauterkeit ist nur dann angebracht, wenn er selbstkritisch ins Spiel gebracht wird, d. h. im Blick auf die eigenen Motive. Halten wir an dieser Stelle fest, dass Paulus anderwärts sogar noch ein Stück grossherziger urteilen kann: Er fühlt sich zwar anderen Aposteln überlegen, setzt diese aber nicht herab (1 Kor 15,9–11; vgl. 3,5). Paulus ist ungemein kompetitiv; er will mehr als alle anderen geleistet haben (vgl. Gal 1,13 f; Phil 3,4b). Aber auch da greift wieder das Indifferenzprinzip: „Ob nun ich oder jene: So verkündigen wir, und so seid ihr zum Glauben gekommen“ (1 Kor 15,11). Dass er auch noch seine Anstrengungen ganz der Gnade Gottes zuschreibt, zeigt, wie er sich selber von seinem Ehrgeiz distanziert (V. 10). Drittens zieht der Apostel strikte Grenzen. Das dritte Kapitel arbeitet mit dem Gegensatz zweier Gerechtigkeiten, den Paulus anhand seiner eigenen Biographie drastisch vor Augen stellt. Er spitzt alles auf die Verkündiger zu (3,2.18 f): Hier die „Hunde“, die „schlechten Arbeiter“, die „Feinde des Kreuzes“, das Sinnen auf Irdisches, auf „Bauch“ und „Schande“. Dort der Apostel mitsamt den Bürgerinnen und Bürgern der Himmelsstadt. Das Bild der Gegner ist so negativ wie im zweiten Korintherbrief (11,13–15) oder im Galaterbrief (1,7–9) – obschon sie in
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Sich freuen auf Einheit
Philippi wahrscheinlich gar nicht aktiv geworden sind. Ein solcher Text verhält sich sperrig gegenüber jeder ökumenischen Verständigung. Allenfalls kann man ihn im Blick auf einstige Kontroversen therapeutisch lesen. Dabei fällt auf, dass der Philipperbrief ebenso scharfe Grenzen zwischen der Gemeinde und den Nichtchristen, den Heiden, zieht (2,15; vgl. 1,28). Sein Impuls löst erneut eine selbstkritische Kehre aus: die Frage, ob wir „Kinder Gottes“ denn tatsächlich „leuchten als Lichter in der Welt“, „ohne Makel inmitten eines verkehrten und verdrehten Geschlechts“.
3. Freude auf Einheit Wir kehren abschliessend zur überströmenden Freude zurück, die Paulus selber in eine endzeitliche Fluchtlinie rückt (4,1; 1,18 f.25 f). Er verspricht sich vollkommene Freude, wenn die Philipper „eines sinnen“ (2,2); die entsprechende Mahnung an die beiden Frauen (4,2) ist vom Aufruf zur Freude gerahmt (V. 1.4). Ich halte die Art und Weise, wie Paulus bei seinen Adressaten Emotionen mobilisiert, für den heute bedeutsamsten ökumenischen Impuls des Philipperbriefs. Er wehrt ökumenischer Resignation. Mehr noch: Der Leitstern der ökumenischen Bewegung, ihre Sehnsucht nach Einheit, steht quer zu den Haupttrends der späten Moderne. Einheitsprojekte haben in Politik und Gesellschaft weiträumig an Attraktivität eingebüsst, vor allem, aber nicht nur in der Gestaltung Europas. Der Kontrast zu früheren Zeiten, namentlich zum Aufbruch nach dem Zweiten Weltkrieg wie nach der Überwindung des Kalten Kriegs, ist eklatant. Der Philipperbrief ermuntert die Kirchen dazu, ihr nicht zeitkonformes Verlangen nach Einheit lebendig zu halten. Auch wenn Paulus nur eine kleine, lokale Gemeinschaft vor Augen hat: Sein antizyklischer Impuls der Freude kommt nicht nur der Ökumene, sondern, in freiem Anschluss an die Konstitution Gaudium et spes des Zweiten Vatikanums,5 hoffentlich auch der Welt zugute.
5 Zweites Vatikanum. Römisch-katholische Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute: „Gaudium et spes“ vom 7. Dez. 1965 (DH 4301).
Frühchristliche Texte und ihre antiken Kontexte
„Einer ist der Mittler“ (1 Tim 2,5) Mittleraussagen der neutestamentlichen Briefliteratur in ihren frühjüdischen und hellenistischen Kontexten Abstract “One Mediator between God and Humankind” (1 Tim 2:5). New Testament Statements on Divine Mediation in Its Early Jewish and Hellenistic Contexts The article deals with concepts of divine mediation and divine agency in early Christian texts and in early Jewish and Hellenistic literature as well. Namely Jesus Christ is portrayed as the mediator between God and humankind or between God and the world as a whole. A special focus is on New Testament texts and on the (pseudo‑)Aristotelian tractate “about the world” (de mundo).
Unter den christlichen Theologen hat sich Augustin von Hippo in ganz besonderem Ausmass mit dem Thema der Mittler und der Vermittlung zwischen Gott und Menschen beschäftigt. Seine Theologie organisiert sich geradezu um die christologisch profilierte Mittlerschaft.1 Seine Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie, und hier speziell mit dem Neuplatonismus des Plotinschülers Porphyrios, gipfelt in der Feststellung, dass die Geistphilosophen wohl dasselbe Ziel wie die Christen anvisierten, nämlich die eine Gottheit, dass sie aber nicht um den wahren Weg dorthin wüssten.2 Sie vertrauen sich trügerischen Mittlern an, nämlich den als Dämonen perhorreszierten Göttern. In ihrem Hochmut verkennen sie den Weg der Demut, der von Jesus Christus, dem Mittler zwischen Gott und Menschen, repräsentiert wird. Für die Bestimmung des allein authentischen Mittlers beruft sich Augustin selbstverständlich auf zentrale neutestamentliche Texte. 1 Tim 2,5 zählt so gut dazu wie Joh 1,14, Phil 2,5–11 oder Passagen aus dem Hebr. Im ganzen Duktus der Argumentation fällt 1 Vgl. dazu die Hinführung von V. H. Drecoll, Art. Christologie. 2.2: Der Christus humilis, in: ders. (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 438–445, hier: 442; sodann Th. Fuhrer, Augustinus, Darmstadt 2004, 144–148; dies., Die Platoniker und die civitas dei, in: Ch. Horn (Hg.), Augustinus. De civitate dei (Klassiker Auslegen 11), Berlin 1997, 87–108, hier: 92–95; ferner S. Vollenweider, Neuplatonische und christliche Theologie bei Synesios von Kyrene (FKDG 35), Göttingen 1985, 60 f. 2 Aug., conf. 10,42:67; civ. 9,9.15.17; 10,26–29. Augustin bezieht sich insbesondere auf Porphyrios’ Werk De regressu animae, von dem nur noch das, was er selber referiert, überliefert ist (Porph., frg. 283 Smith). Zum Ausmass der Porphyrios-Rezeption vgl. Drecoll, Augustin Handbuch (s. Anm. 1) 80–85, der selber eine minimalistische Hypothese favorisiert.
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„Einer ist der Mittler“ (1 Tim 2,5)
auf, dass zwischen spätantiken Christen und Heiden offenbar in theo-logischer Hinsicht ein weit reichender Konsens besteht. Der Dissens betrifft die Mediation, und hier nicht so sehr die theoretischen Formationen als vielmehr das religiöse Verhalten, also den Bereich kultischer und alltagspraktischer Normen und Richtlinien.3 Ich möchte im Folgenden den von Augustin gewiesenen Spuren nachgehen. „Mittlerschaft“ verwende ich dabei als eine unscharfe, aber heuristisch wertvolle beschreibungssprachliche Kategorie. Natürlich verdankt sie sich dem quellensprachlichen μεσίτης bzw. mediator. Es ist hinlänglich bekannt, dass die Semantik von μεσίτης spezifisch rechtliche Aspekte artikuliert.4 Ein Mittler ist hiernach ein Neutraler, ein Schiedsrichter, ein Depositar, ein Zeuge und Bürge, und darüber hinaus ein Verhandlungsbevollmächtigter. Eine markante Metaphorisierung begegnet offenbar erst im jüdisch-hellenistischen Bereich; sie wird vom Christentum noch entscheidend vorangetrieben und ausgeweitet. Wenn Augustin also christliche und pagane Differenzen unter dieser Kategorie verhandelt, arbeitet er mit einer christlichen Sprachregelung, die wir in diesem Format nicht für die Antike schlechthin in Anschlag bringen sollten. Im Folgenden verstehe ich Mittlerschaft als Sammelbegriff. Basis ist immer eine zweipolige Relation bzw. ein Dual, in dem zwischen beiden Positionen eine Wechselbeziehung besteht. Es geht also um „zwei“, deren Verhältnis sich selber als „drittes“ konstituiert. So besehen koordiniert Mittlerschaft mehrere voneinander nicht scharf abtrennbare Aspekte: (1.) Repräsentation bzw. Gottespräsenz, d. h. die Vergegenwärtigung des Göttlichen in einem Medium, das Menschen zugänglich ist. Komplementär dazu ist an die Repräsentation des Menschlichen zuhanden des göttlichen Bereichs zu denken. (2.) Durch ein Medium vermittelte Kommunikation zwischen göttlicher und menschlicher Welt.5 (3.) Interaktion, englisch mit agency bezeichnet, betrifft Handlungsvollzüge, von Seiten des Göttlichen her etwa Interventionen, von Seiten der Menschen her etwa Riten. So weit gefasst eröffnet sich ein breites Spektrum möglicher Mittlungen:6 3 Vgl. die Überlegungen von A. Fürst, Monotheism between Cult and Politics, in: St. Mitchell / P. Van Nuffelen (Hg.), One God. Pagan Monotheism in the Roman Empire, Cambridge 2010, 82–99, hier: 87 f; ders., Christentum im Trend. Monotheistische Tendenzen in der späten Antike, ZAC 9 (2006) 496–523. 4 Vgl. die Hinweise in den Wörterbüchern: A. Oepke, Art. μεσίτης κτλ., ThWNT 4 (1942) 602–629, hier: 603–605; J. H. Moulton / G. Milligan, Vocabulary of the Greek New Testament Illustrated from the Papyri and Other Non-literary Sources, London 1914–1929, 399; C. Spicq, Lexique théologique du Nouveau Testament, Freiburg 1991, 987–990. 5 Klassisch ist die Beschreibung des Eros bzw. des Daimonischen als Vermittelndes (μεταξύ) durch Platon, symp. 202b–204c (μεταξὺ θνητοῦ καὶ ἀθανάτου […] ἑρμηνεῦον καὶ διαπορθμεῦον θεοῖς τὰ παρ᾽ ἀνθρώπων καὶ ἀνθρώποις τὰ παρὰ θεῶν, 202e). 6 Vgl. für das Frühjudentum die Übersicht von L. W. Hurtado, Art. Mediator Figures, EDEJ (2010) 926–929 (namentlich: prinicipal angels, personified divine attributs). Weit über die Vermittlungsthematik hinaus führt die Frage nach dem Verhältnis von göttlicher und menschlicher Handlungskompetenz. Vgl. dazu den Sammelband von J. M. G. Barclay / S. J. Gathercole
3. Freude auf Einheit
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Priester und Charismatiker, Herrscher und Messias, Apostel und Amtsträger, Boten und Engel, Zwischenwesen und Hypostasen, Tora und Schekina, Kult und Tempel, Seele und Urmensch – mehr noch: überhaupt Medien schlechthin, etwa Briefe, Bücher und Riten. Was wir im frühen Christentum deutlich beobachten können ist die Konzentration von Mittlungen auf Jesus Christus als dem paradigmatischen Mittler. Alles zuvor Aufgezählte – König und Prophet, Weisheit und Geist, Engel und Priester – wird Christus zugeordnet oder sogar ganz von ihm absorbiert. Weil wir es mit zahllosen Phänomenen und Texten zu tun haben, konzentriere ich mich im Folgenden auf einen einzigen Aspekt, nämlich auf das Verhältnis von Einzigkeit und Vermittlung. Es fällt auf, dass einige klassische Mittlertexte mit der Einzigkeit Gottes befasst sind.7 In 1 Tim 2,5 und 1 Kor 8,6 wird die Einzigkeit nicht nur Gott, sondern auch seinem Mittler zugeschrieben. Die Einzigkeit des Vermittlers scheint also die Einzigkeit Gottes zu duplizieren oder, vorsichtiger formuliert, in den Nahbereich zu übersetzen. Auch Gal 3,19 f arbeitet mit der Korrelation von Einzigkeit und Mittlerschaft, hier allerdings im Modus einer Problemanzeige.8 Man kann die Konfiguration auch in Hebr 7,23 f ausmachen.9 Es gesellt sich das Christuslob Phil 2,5–11 hinzu, wo Gottes Einzigkeit mit Christi Hoheitsstellung koordiniert wird.10 Hier geht es allerdings nur in einem sehr weiten Sinn um Mittlung. Schliesslich stellt das Weisheitslob in der jüdischen Weisheitsliteratur die Einzigkeit der Sophia als der Mittlerin heraus,11 (Hg.), Divine and Human Agency in Paul and His Cultural Environment (LNTS 335), London 2006, darin besonders: G. Boccaccini, Inner-Jewish Debate on the Tension between Divine und Human Agency in Second Temple Judaism, aaO. 9–26. 7 Für die Typologie wichtig ist die Monographie von D. Staudt, Der eine und einzige Gott. Monotheistische Formeln im Urchristentum und ihre Vorgeschichte bei Griechen und Juden (NTOA 80), Göttingen 2012. 8 Zur schwierig zu deutenden Formulierung (ὁ δὲ μεσίτης ἑνὸς οὐκ ἔστιν, ὁ δὲ θεὸς εἷς ἐστιν), die m. E. wahrscheinlich die Einzigkeit Gottes mit der Vielzahl der bei der Gesetzgebung am Sinai vermittelnden Engel kontrastiert, vgl. Ch. Heil, „Angeordnet durch Engel durch die Hand eines Mittlers“ (Gal 3,19). Das paulinische Konzept von der Vermittlung der Tora, in: A. Taschl-Erber / I. Fischer (Hg.), Vermittelte Gegenwart. Konzeptionen der Gottespräsenz von der Zeit des Zweiten Tempels bis Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. (WUNT 367), Tübingen 2016, 229–243. 9 Hebr 7,23 f „die Vielzahl abwertend gegen die Einzahl, vgl 1,2 10,1 f “ (H. Braun, An die Hebräer [HNT 14], Tübingen 1984, 218): Der erheblichen Zahl (οἱ μὲν πλείονες) der sterblichen Levitenpriester steht Jesus (ὁ δὲ) als ewiger gegenüber, „εἷς, erwartbar als Gegensatz zu den πλείονες V. 23, wird gar nicht mehr genannt: wichtig ist die dualistische Höherrangigkeit“ (Braun, aaO. 219). 10 Zur monotheistischen Profil von Phil 2 vgl. meinen Aufsatz: Der „Raub“ der Gottgleichheit. Ein religionsgeschichtlicher Vorschlag zu Phil 2,6(–11), in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 263–284, hier: 283 f. 11 Vgl. Sir 24,5: „Den Kreis des Himmels umkreiste ich allein (μόνη); Sap 7,22: „In ihr ist nämlich ein Geist: vernunftvoll, heilig, einzig, vielteilig (μονογενές πολυμερές), fein“; 7,27: „eine seiend (μία δὲ οὖσα) vermag sie alles und bei sich bleibend erneuert sie alles.“
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„Einer ist der Mittler“ (1 Tim 2,5)
wahrscheinlich im Anschluss an Prädikationen aus der Isis-Theologie.12 Im Fall der Sapientia Salomonis begegnet der Akzent auf der Einzigkeit der Mittlerin nicht zufällig in einer Schrift, die dezidiert gegen die heidnische Vielgötterei Stellung bezieht (13,1–16,14), geht also von spezifisch jüdischen Prämissen aus. Mit den Stichworten Sophia und Isis wird eine besondere Fragestellung signalisiert: Es ist lohnend, angesichts von Einzigkeitsaussagen auf Prozesse von Identitätsbestimmung und Abgrenzung zwischen Christusanhängern, Juden und Heiden zu fokussieren. Im Folgenden wird ein Rundgang durch einige einschlägige Texte unternommen. Ein zweiter Teil versucht, im Anschluss an Augustins Themenvorgabe einige Thesen zu formulieren. Schliesslich öffnet ein Ausblick auf einen repräsentativen hellenistischen religionsphilosophischen Text ein Fenster auf Mittlerkonzeptionen abseits von biblischen, jüdischen und christlichen Bereichen.
1. Texte 1.1 Ein einziger Mittler (1 Tim 2,4–7) Es ist nahliegend, unsere Textarbeiten mit 1 Tim 2,4–7 zu eröffnen. Der übergreifende Kontext handelt von den Regeln, die im Haus Gottes gelten (2,1–3,16), und näherhin von gottesdienstlichen Anordnungen (2,1–15), hier vom Gebet für alle Menschen (V. 1–7). Die steile theologische These, dass Gott alle Menschen retten und zur Erkenntnis seiner Wahrheit führen will, also auf Konversion zielt, wird mit einer doppelten εἷς-Prädikation begründet. Das ganze Textstück gipfelt in V. 7, wo der pastorale Paulus sich selber in das Heilsgeschehen einschreibt, eine für die Pastoralbriefe und, darüber hinaus, für die Paulus-Schultraditionen charakteristische Figur (vgl. 1 Tim 1,12–17; 2 Tim 1,6–14; Tit 1,1–3; Kol 1,24–2,5; Eph 3,1–13). Vielfach hat man in V. 5/6, ggf. nur in V. 5, ein Zitat identifiziert, das der Verfasser des 1 Tim hier einfliessen lässt.13 Handelt es sich um ein liturgisches Stück, dann bietet sich die Kategorie Akklamation an. Man kann die εἷς μεσίτης- Akklamation weiter beschreiben als Variation der Kyrios-Akklamation, wie wir 12 Für das Einssein der Sophia ist besonders auf Isis-Prädikationen zu verweisen (so Isidor, hymn. Is. 1,23 f: ὅτι μούνη εἶ σύ, wo die ökumenische Vielnamigkeit der Göttin durch einen ägyptischen Namen konterkariert wird); Isis-Aretalogie aus Kyrene lin. 6 (μι᾽ οὖσ᾽ ἐπιβλέπω); vgl. dazu H. Conzelmann, Die Mutter der Weisheit, in: ders., Theologie als Schriftauslegung. Aufsätze zum Neuen Testament (BEvTh 65), München 1974, 167–176, hier: 172 Anm. 36: „Mόνη ist Motivwort der Isis-Theologie, in mehrfacher Variation.“ 13 So etwa G. Holtz, Die Pastoralbriefe (ThHK 13), Berlin 51992, 60 f; K. Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums (StNT 7), Gütersloh 1972, 72 f; 142 f; J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus (EKK 15), Zürich / Neukirchen 1988, 110 f; W. D. Mounce, Pastoral Epistles (WBC 46), Nashville 2000, 77; 87 (creed, V. 5/6a); Ph. H. Towner, The Letters to Timothy and Titus (NICNT), Grand Rapids 2006, 179 f.
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sie etwa in 1 Kor 12,3 (vgl. 16,22) vor uns haben, und man kann dann allenfalls darüber debattieren, ob sich diese primär gegen hellenistisch-orientalische Kyrioskulte richtet. Nun ist der Nachweis von festem gottesdienstlichem Überlieferungsgut, das gleichsam mit Copy-Paste-Verfahren in Brieftexte importiert wird, mit bekannten methodologischen Problemen verbunden.14 Es ist m. E. besser, bei jedem Einzeltext zu prüfen, ob er die Identifikation einer εἷς-Akklamation erlaubt. Lässt sich ein gottesdienstliches Setting wahrscheinlich machen, ist es sinnvoll, von einer Akklamation zu sprechen, die ja eine bestimmte Person direkt adressiert,15 hier eine göttliche. Bleibt der gottesdienstliche Sitz im Leben aber im ganz hypothetischen Modus, verzichtet man besser auf die Kategorie der Akklamation. In unserem Textstück spricht der Kontext, der vom Gebet handelt, zwar eher für die genannte Hypothese, wirklich belastbar ist diese aber nicht. Wie auch immer: Die εἷς-Prädikation Gottes verdankt sich in unserem frühchristlich- paulinischen Milieu genetisch klar dem schemac von Dtn 6,4. Dazu passt auch der traditionsgeschichtliche Zusammenhang von Einzigkeit Gottes und Bekehrung (vgl. 1 Thess 1,9 f). Gottes Einzigkeit wiederholt sich nun in der Einzigkeit des Mittlers Jesus Christus. Auf der Mittlerfigur liegt das Gewicht unserer Passage. Auffällig ist die Betonung des Menschen; Jesus als Vermittler wird also im Blick auf seine Herkunft nicht auf der Seite Gottes, sondern auf der Seite der Menschen verortet.16 Der gleich anschliessende Relativsatz erklärt diesen auffälligen 14 Zu verweisen ist auf die Diskussion über den Status urchristlicher Hymnen; dazu mein Aufsatz: Hymnus, Enkomion oder Psalm? Schattengefechte in der neutestamentlichen Wissenschaft, NTS 56 (2010) 208–231, Abdruck in diesem Band: 275–297; R. Brucker, „Hymnen“ im Neuen Testament?, VF 58 (2013) 53–62; C. Leonhard / H. Löhr (Hg.), Literature or Liturgy? Early Christian Hymns and Prayers in their literary and liturgical Context in Antiquity (WUNT II/363), Tübingen 2014. 15 Hilfreich ist die Definition von Th. Klauser, Art. Akklamation, RAC 1 (1950) 216–233, hier: 216: „Unter Akklamationen versteht man die oft rhythmisch formulierten u[nd] sprechchorartig vorgetragenen Zurufe, mit denen eine Volksmenge Beifall, Lob u[nd] Glückwunsch, oder Tadel, Verwünschung u[nd] Forderung zum Ausdruck bringt.“ Paradebeispiel für eine Akklamation ist der Ruf der ephesinischen Silberschmiede in Apg 19,28.34 („Gross ist die Artemis der Epheser!“). Vgl. sodann H.-U. Wiemer, Akklamationen im spätrömischen Reich, AKuG 86 (2004) 27–73; A. Chaniotis, Acclamations as a Form of Religious Communication, in: H. Cancik / J. Rüpke (Hg.), Religion des Imperium Romanum. Koine und Konfrontationen, Tübingen 2009, 199–218; Ch. Roueche, Art. Acclamations, in: R. S. Bagnall u. a. (Hg.), The Encyclopedia of Ancient History, Bd. 1, Chichester 2013, 27. – Grossflächig wird das Thema behandelt im Klassiker von E. Peterson, Εἷς θεός. Epigraphische, formgeschichtliche und religionsgeschichtliche Untersuchungen zur antiken „Ein-Gott“-Akklamation (FRLANT 24), Göttingen 1926, hg. Ch. Markschies / Ch. Johannes: Erik Peterson. Ausgewählte Schriften 8, Würzburg 2012. Hier wird der Stellenwert von Petersons Erstlingswerk auch speziell im Hinblick auf die Monotheismus-Debatte ermittelt: B. Nichtweiss, „Akklamation“. Zur Entstehung und Bedeutung von „Heis Theos“, aaO. 609–636, hier: 632–636; ebenfalls zu Peterson Staudt, Gott (s. Anm. 7) 303–308. 16 M. M. Mitchell, Corrective Composition, Corrective Exegesis. The Teaching on Prayer in 1 Tim 2:1–15, in: K. P. Donfried (Hg.), 1 Timothy Reconsidered (ACEP / SMBen.BE 18), Louvain 2008, 41–62, stellt einen intertextuellen Bezug zu 1 Kor 8,6 fest und identifiziert „1 Tim 2:5 … as a corrected version of 1 Cor 8:6“ (auch Eph 4,5 f nehme 1 Kor 8,6 auf). Die Übereinstimmungen
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Akzent: Der Realgrund für seine Mittlerschaft wird in seiner Selbsthingabe verankert, einer Variation der traditionellen Formulierung von Mk 10,45.17 Ob diese als Platzhalter für eine „Pistisformel“ fungiert, können wir offenlassen.18 Für unsere Fragestellung halten wir dreierlei fest: Erstens besteht eine Analogie von Einzigkeit Gottes und Einzigkeit des Mittlers; man wird sie als Kausalbeziehung deuten können. Zweitens gibt der Mikrokontext dieser duplizierten Einzigkeit eine ökumenische Dimension: sie gilt allen Menschen schlechthin. Die Generalisierung ist ausgesprochen stark: „alle Menschen“; Mittler „der Menschen“; „für alle“; der Apostel als Lehrer „der Völker“. Und drittens: Unsere Passage ist nicht polemisch zu deuten, sie richtet sich weder gegen gnostische Thesen noch, wie in jüngerer Zeit behauptet, gegen den Kaiserkult.19 Sie leistet vielmehr die Selbstdefinition von Anhängern eines sich auf den Völkerapostel Paulus berufenden universalistischen Christentums. Insbesondere die Mittler-Akklamation, wenn wir bei diesem Terminus bleiben wollen, stellt heraus, auf welcher religiösen und kultischen Grundlage die Christen Gott anrufen und verehren. Diese beziehen damit Position auf dem ökumeneweiten Marktplatz der religiösen Angebote und ihrer Mittlergestalten. 1.2 Ein einziger Gott, ein einziger Herr (1 Kor 8,6) Der zweite Basistext für unsere Fragestellung ist 1 Kor 8,6. Paulus setzt sich in diesem Teil des 1. Korintherbriefs auseinander mit dem Problem des Essens von Opferfleisch, und er arbeitet das Verhältnis von Erkenntnis und Liebe heraus. Für den Apostel besteht ein Zusammenhang zwischen der wahren Gotteserkenntnis, die Liebe und Neuschöpfung umgreift, und dem doppelten Bekenntnis zum einen Gott und zum einen Herrn Jesus Christus. In Entsprechung zu 1 Tim 2,5 wird Einzigkeit sowohl Gott wie dem Herrn Jesus Christus zugeschrieben. Explizit wird eine Antithese zur polytheistischen Welt formuliert: Im Unterschied zu den vielen sogenannten Göttern und Herren „gibt es für uns (nur) einen Gott, den Vater, […] und (nur) einen Herrn, Jesus Christus“.20 Wiederum bildet die Keimzelle für die Einzig-Proklamation das schemac von Dtn 6,4. Ob man hier von erzwingen diesen Schluss aber nicht, zumal im Blick auf die ‚ökumenische‘ Bandbreite von heis- Formulierungen. 17 Zum Hintergrund vgl. Roloff, 1 Tim (s. Anm. 13) 111 f; 122 f; zur Typologie fest geprägter urchristlicher Überlieferungen s. S. Vollenweider, Art. Frühe Glaubensbekenntnisse, in: J. Schröter / Ch. Jacobi (Hg.), Jesus Handbuch, Tübingen 2017, 504–515. 18 So Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin 21978, 34 f. 19 So M. Gill, Jesus as Mediator. Politics and Polemic in 1 Timothy 2:1–7, Oxford 2008, besonders 163 f. 20 Mit Vielen lese ich also „einzig“ attributiv, und trenne das traditionell feste Syntagma εἷς θεός nicht auf in Subjekt und Prädikat (so O. Hofius, „Einer ist Gott – Einer ist Herr.“ Erwägungen zu Struktur und Aussage des Bekenntnisses 1 Kor 8,6, in: ders., Paulusstudien, Bd. 2 [WUNT 143], Tübingen 2002, 167–180); Vater bzw. Jesus Christus sind Appositionen.
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Akklamationen sprechen kann, ist noch mehr als in 1 Tim 2,5 zu fragen; man ist besser beraten, V. 6 als „bekenntnisartigen Satz in einem lehrhaften Setting“ zu klassifizieren, was lobende Sprachformen und liturgische Verwendung durchaus einschliessen kann. Deutlich wird erneut, dass sich Gottes Einzigkeit (V. 6a) samt seinen Relationen (V. 6b) in der Einzigkeit des Herrn (V. 6c) und seinen Relationen wiederholt. Die Parataxe lässt sich näherhin als Hypotaxe bestimmen: Paulus ordnet dem einen Gott als Vater (Jesu Christi) den einen Herrn, Jesus Christus (als seinen Sohn), zu. Mit dem „einen Gott“ knüpft der Apostel, nicht anders als das zeitgenössische Judentum, auch an die henotheistischen Entwicklungen in der Philosophie an.21 Wir kommen darauf zurück. Beachtenswert ist insbesondere das Spiel der Präpositionen,22 das sich an die avancierte platonische Metaphysik anlehnt und das wir auch aus dem griechischsprachigen Judentum kennen. Zugleich markieren die spezifischen Relationen die Differenz zwischen Gott und Christus: Gottes Wirken umgreift dasjenige Christi; Gott ist der Schöpfer schlechthin. Diesem schreibt das Bekenntnis das Schöpfertum insgesamt zu, jenem aber das neue Schöpfungshandeln an den Glaubenden (vgl. 2 Kor 5,17). Die Vorordnung des einen Gottes wird also durch die Erstplatzierung und die den Anfang und das Ziel anvisierenden Präpositionen signalisiert. Wir halten wiederum drei Ergebnisse fest: Erstens begegnen wir erneut der Analogie zwischen der Einzigkeit Gottes und der Einzigkeit seines Vermittlers, nämlich des Kyrios. Zweitens wird diese doppelte Einzigkeit hier in V. 5/6 nicht theoretisch statuiert, sondern affirmativ proklamiert: „Für uns …“23 Das fügt sich sehr gut in das Spektrum dessen ein, was häufig als Henotheismus oder als Monolatrie beschrieben wird: nämlich, dass die „Einzigkeit“ elativischen, sogar superlativischen, nicht aber exklusiven Charakter hat. Es wird nicht bestritten, dass es andere gibt (eben: V. 5, besonders 5b), aber für die spezifische Gottesbeziehung, die die Sprecher und Adressaten beanspruchen, kommen die anderen nicht in Betracht. Drittens nimmt die Reihung der Präpositionen das Anliegen der zeitgenössischen Geistmetaphysik auf: Sie stellt zugleich die Vielfalt des Göttlichen wie seine Stufung heraus, korreliert also Differenz und Hierarchie. Man kann nun darüber hinaus erwägen, inwiefern die christologische Amplifikation der Einzigkeit Gottes eine Korrektur vollzieht an einem als programmatisch proklamierten Monotheismus, wie ihn bestimmte Korinther vertreten 21 Dazu unten bei Anm. 36 sowie D. Zeller, Der eine Gott und der eine Herr Jesus Christus. Religionsgeschichtliche Überlegungen, in: ders., Neues Testament und hellenistische Umwelt (BBB 150), Hamburg 2006, 47–59; spezifisch zur heis-Formel Staudt, Gott (s. Anm. 7) 66–70. 22 Dazu vgl. H. Dörrie, Präpositionen und Metaphysik, in: ders., Platonica minora (STA 8), München 1976, 124–136; ferner meinen Aufsatz: Christus als Weisheit. Gedanken zu einer bedeutsamen Weichenstellung in der frühchristlichen Theologiegeschichte, in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 29–51, hier: 45 f. 23 Es handelt sich wahrscheinlich um einen dativus iudicantis, vgl. Hofius, Einer (s. Anm. 20) 173 f; ebenso D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010, 290 Anm. 62.
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haben mögen (V. 4). Anders als die mit dem Gestus der Überlegenheit auftretende korinthische Aufklärung rechnet Paulus durchaus mit wirkkräftigen numinosen Mächten in dieser Welt, und gerade deshalb ist die Liebe umso wichtiger. Ihr korrespondiert die Orientierung am gestorbenen Christus wie an seinem Leib, die auf die οἰκοδομή der Gemeinschaft zielt. In Analogie dazu bringt die Berufung auf das „Nützliche“, das „Angebrachte“ (συμφέρον), die steile Form der ἐξουσία, der von etlichen Korinthern beanspruchten vollmächtigen Freiheit, in die Kehre (1 Kor 6,10; 10,23). Auf dieser Linie lässt sich die Dynamik in 1 Kor 8,4– 6 als origineller Beitrag im antiken Monotheismus-Diskurs auswerten: Das monolatrische Profil der bekenntnisartigen Aussage von V. 6 bricht die aufgeklärte und exklusive monotheistische Spitzenthese von V. 4 auf. Sie ist deshalb „realistischer“, weil sie mit der Wirklichkeit der noch unerlösten Welt rechnet und ihr die aufbauende Macht der Liebe, in der sich die christliche Freiheit inkarniert, entgegensetzt. Es ist einladend, weitergehende Fragen anzuschliessen: Macht Paulus seinen heidenchristlichen Adressaten das attraktive Angebot, ihre eigene heidnische, aber abgetane religiöse Erfahrung mit derjenigen von Jesus Christus zu vermitteln – diese würde nun massgeblich sein für die Christenmenschen, ohne dass jene für nichtig erklärt würde? Rangiert der eine Herr Jesus Christus hier sogar als Platzhalter des Pluralen, des Vielen? Fragen dieser Art zeigen nun aber so sehr neuzeitliche und nicht antike Befindlichkeiten an, dass man sie leider verneinend beantworten muss. Die von uns als elativisch und monolatrisch beschriebene Figur zielt ja keineswegs auf die Würdigung von göttlicher Pluralität, sondern geht mit der Dämonisierung der „sogenannten“ „vielen Götter“ und „vielen Herren“ von V. 5 einher (vgl. 10,14.21; 12,2). Insofern bleiben wir auf den Schienen eines exklusiven Monotheismus, auch wenn dieser christologisch modifiziert und bekenntnisartig situiert wird. 1.3 Siebenfache Einzigkeit (Eph 4,4–6) Nur einen kurzen Blick werfen wir auf Eph 4,4–6, wo eine im gesamten Neuen Testament (und weit darüber hinaus) einzigartige Kumulation von Einheitsformeln begegnet.24 Die Reihung steht im Kontext eines Aufrufs des gefangenen Paulus zur Einheit (V. 1–3) und einer christologischen wie ekklesiologischen Grundlegung (V. 7–16). Die Reihe selber wirkt nicht hierarchisch strukturiert, sondern eher kontextorientiert organisiert;25 das letzte Glied fungiert trotzdem 24 Zum Stellenwert der Zahl Eins im Eph vgl. G. Sellin, Adresse und Intention des Epheserbriefs, in: ders., Studien zu Paulus und zum Epheserbrief (FRLANT 229), Göttingen 2009, 164–178, hier: 176 f. Ch. Gerber spricht von der „doppelte[n] Vision von ‚Eins-heit‘, der Einheit der jüdischen und nichtjüdischen Menschen und der im Alltag erfahrbaren Einheit der Glaubenden (4.1–6)“: Die alte Braut und Christi Leib. Zum ekklesiologischen Entwurf des Epheserbriefs, NTS 59 (2013) 192–221, hier: 218. 25 „Die Reihenfolge der Glieder entspricht inhaltlich dem Kontext, nicht aber der Logik solcher Formeln“, G. Sellin, Der Brief an die Epheser (KEK 98), Göttingen 2008, 308.
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als Klimax. Interessant ist die Triadisierung: vielleicht bereits in V. 1–3, v. a. dann aber in V. 4–6: Ein Leib, ein Geist, eine Hoffnung bilden die erste, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe die zweite Trias; die beiden Triaden krönt die Siebenzahl: der eine Gott; die präpositional entfalteten Relationen sind wiederum triadisch strukturiert. Von einem festen Traditionsstück ist nicht auszugehen, vielmehr dürfte der Autor des Epheserbriefs selber formulieren und ad hoc Einheitsattribute zuschreiben. Man spricht also auch hier besser nicht von Akklamationen. Die Keimzelle der εἷς-Reihung ist am Schluss zu fassen, worin Gott bzw. dem Allvater die Einzigkeit attribuiert wird. Traditionsgeschichtlich führt dies wieder zum monotheistischen Bekenntnis des Judentums zurück. Eine Alternative zur philosophischen Überlieferung,26 namentlich zum Platonismus und zur Stoa, braucht man daraus nicht zu konstruieren. Mit der Amplifikation der Einzigkeit auch auf andere für die Christen wertvollen Güter und mit der Metaphysik der Präpositionen bewegen wir uns in schon bekanntem Terrain.27 Für unseren Zusammenhang ist wichtig, dass sich die rhetorische Beschwörung des Einen und Einzigen in einer ekklesiologischen Reflexion findet.28 Sie weist wiederum in die Richtung der Identitätsbestimmung der frühen Christen in ihrer Umwelt. Diese erfährt der Verfasser des Eph durchaus als bedrohlich (6,10–20); nicht zufällig findet sich zu Beginn unserer Passage der Hinweis auf den Gefangenenstatus (4,1; vgl. 3,1) – Indizien für eine markante Distanzierung vom römischen Reich und seiner politischen Einheitsrhetorik. 1.4 Der hohepriesterliche Mittler (Hebr) Den Hebräerbrief brauchen wir hier nur gerade zu streifen.29 Stärker als in den von uns bisher anvisierten Texten trägt der Mittler hier rechtliche Züge (Bund, Zeugenschaft), wird aber in ein kultisches Setting eingestellt. Mit dem Kult ist Mittlung geradezu paradigmatisch im Spiel. Hier sei lediglich eine – keineswegs neue – These formuliert: Der Verfasser des Hebr arbeitet wie kein anderer neutestamentlicher Theologe die Erhabenheit Gottes hinaus, und zwar durchaus auch die Dimensionen des deus tremendus (10,31; 12,29). Genau darum hat der Hohepriester Christus einen einzigartigen Stellenwert: Als Mittler verschafft er den Glaubenden einen Zugang zum himmlischen Tempel und damit zu Gott.
26 Sellin, Eph (s. Anm. 25) 308–315 stellt das einschlägige Material zusammen, darunter besonders hervorstechend M. Aurel 7,9:2: „Es gibt nämlich nur einen Kosmos, der aus allem, was existiert, besteht, nur einen Gott, der in allem ist, nur eine allen denkenden Wesen gemeinsame Vernunft, nur eine Wahrheit …“ 27 Vgl. oben Anm. 22. 28 Vgl. U. Luz, Der Brief an die Epheser (NTD 188.1), Göttingen 1998, 151; 154 f. 29 Vgl. dazu W. Kraus, Jesus als „Mittler“ im Hebräerbrief, in: Taschl-Erber / Fischer, Gegenwart (s. Anm. 8) 293–315, der die Mittlung im Hebr dezidiert anders bestimmt.
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1.5 Der Mittler zwischen Gott und gesamter Schöpfung (Kol 1,15–20) Der letzte Text, den wir an dieser Stelle noch zu würdigen haben, ist das Christuslob in Kol 1,15–20. Es bietet zwar nicht die Attributionen bzw. Prädikationen der Einzigkeit, die unsere Auswahl bisher steuerten, rangiert aber mit guten Gründen als Paradetext christologischer Mittlung.30 Die Hypothese eines älteren Überlieferungsstücks, etwa eines kultisch verwendeten Hymnus, braucht an dieser Stelle nicht diskutiert zu werden. Die Passage selber ist deutlich zweigeteilt (V. 15–18a/V. 18b–20), die Korrespondenzen zwischen beiden Partien sind überaus dicht. In der Argumentation des Verfassers des Kolosserbriefs hat das Christuslob einen fundamentalen Stellenwert: Gegenüber der Attraktivität der kosmischen Mächte, auf die sich offenbar die kolossische ‚Philosophie‘ berufen hat, stellt es die alles durchdringende Wirklichkeit und Herrschaft Christi heraus.31 Christus wird als Schöpfungsmittler präsentiert. Der Rückgriff auf hellenistisch-jüdische Weisheitsspekulation ist mit Händen zu greifen. In Kol 1 begegnen wir wiederum einer ausdifferenzierten Theologie der Präpositionen. Für unsere Fragestellung besonders interessant ist nun die ikonische Dimension, die uns bisher nicht begegnet ist: Der Christus wird als „Bild des unsichtbaren Gottes“ prädiziert (V. 15). Mit der Bildmetapher rückt ein Mittlungsfeld ins Zentrum, dessen Stellenwert für die antike Welt kaum zu überschätzen ist und den wir mit der Kategorie der Repräsentation beschreiben können.32 Die Linien führen vom Kult und dem Status von Götterbildern über Herrschaftsträger samt der royalen Inszenierung bis zum Urmenschen und zur christologischen Variation der Gottebenbildlichkeit. Das gesamte Christuslob lässt sich lesen als ikonische Vergegenwärtigung des unsichtbaren Gottes.33 Neben dem „Bild“ am Anfang unseres Textes hat der Schluss besondere Bedeutung und markiert möglicherweise sogar das Achtergewicht: Tod und Auferstehung Christi erwirken Versöhnung und Frieden. Das weist nochmals in andere Zusammenhänge, die ihrerseits auch zum umfassenden Theorem der Mittlung zählen: die Überbrückung von Gegensätzen, die Mediation zwischen oppositionellen Parteien (vgl. den apostolischen 30 Vgl. dazu A. Taschl-E rber, „Erstgeborener der ganzen Schöpfung“. Der exklusive „Mittler“ im Brief an die Gemeinde in Kolossä, in: dies. / Fischer, Gegenwart (s. Anm. 8) 245–292; sodann Vollenweider, Hymnus (s. Anm. 14) 225–227. 31 Zum „hymne au Christ (Col 1.15–20) comme matrice théologique déterminante“ vgl. A. Dettwiler, La lettre aux Colossiens. Une théologie de la mémoire, NTS 59 (2013) 109–128, hier: 116–119. 32 Ich begnüge mich hier mit dem exemplarischen Verweis auf je ein althistorisches und ein kulturhermeneutisches Buch: T. S. Scheer, Die Gottheit und ihr Bild. Untersuchungen zur Funktion griechischer Kultbilder in Religion und Politik (Zet. 105), 2000; Ph. Stoellger / Th. Klie (Hg.), Präsenz im Entzug. Ambivalenzen des Bildes (HUTh 58), Tübingen 2011. 33 In ganz anderer Weise geschieht eine eikonische Repräsentation auch im JohEv, hier in szenischer Dramatik, also in bewegter Bildabfolge. Vgl. J. Frey, „Wer mich sieht, sieht den Vater“. Jesus Christus als Bild Gottes im Johannesevangelium, in: Taschl-Erber / Fischer, Gegenwart (s. Anm. 8) 179–208.
2. Monotheismus und Mittlerschaft
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Herold von 2 Kor 5,18–21), also das weite Feld politischer Semantik. Ein Text wie Eph 2,14–18 mit seiner Variation des Herrscherlobs zeigt, dass diese Mittlung wiederum in einer royalen Konfiguration einzuzeichnen ist.34
2. Monotheismus und Mittlerschaft Wir haben eine Reihe von zumeist bekenntnisartigen Textpassagen durchmustert, in denen monotheistische Aussagen explizit mit solchen der Mittlung korreliert werden. Affirmationen dieser Art scheinen sehr typisch bereits für das frühe Christentum zu sein, und das wird sich in Bekenntnissen sowie in Hymnen und Gebeten weiter fortsetzen. In der antiken Religionsgeschichte gibt es zu diesen Sprachformen m. W. keine Parallelen. Umso wichtiger sind die Kontexte und Diskurse, in denen sich diese Sprachformen artikulieren. Diese lassen sich nach zwei Richtungen hin entfalten, im Blick auf jüdische und im Blick auf hellenistische Kulturkontexte (die sich selbstverständlich nicht separieren lassen). 1. Mit der Attribution oder Prädikation Gottes als einzigem positionieren sich die frühen Christen offensichtlich als dezidierte Monotheisten, nehmen also eine von Juden prominent besetzte Position ein. Dabei korrelieren die Christusanhänger monotheistische Aussagen mit christologischen Aussagen. Wir beschreiben diese spezielle Formation des Monotheismus als christologischen Monotheismus. Allerdings wird die Stellung Christi dabei recht unterschiedlich bestimmt: Während ein Bekenntnis wie 1 Tim 2,5 f den Akzent auf sein Menschsein legt, stellen Texte wie Phil 2,5–11 oder das Johannesevangelium die gottgleiche Position des erhöhten Menschgewordenen heraus. Wie auch immer: Es zeigt sich eine Tendenz dahin, die Einzigkeit Gottes in der Einzigkeit des Mittlers abzubilden; der monotheistischen Exklusivität entspricht die christologische Exklusivität.35 2. Komplementär dazu stellt sich die urchristliche Religion und Theologie aber auch in umfassenden hellenistisch-kaiserzeitlichen Kontexten dar, in denen markante Trends, von der Einheit und Einzigkeit des Göttlichen zu reden, zu beobachten sind. Klassifikationen sind bekanntermassen prekär; mit Vorbehalten kann man von Henotheismen sprechen, d. h. von Monotheismen, die göttliche Pluralität nicht ausschliessen, also so etwas wie einen inklusiven Monotheismus artikulieren.36 Dabei empfiehlt es sich, zwei Erscheinungsformen klar zu 34 Zum Paradigma des Herrscherlobs vgl. E. Faust, Pax Christi et Pax Caesaris. Religionsgeschichtliche, traditionsgeschichtliche und sozialgeschichtliche Studien zum Epheserbrief (NTOA 24), Freiburg / Göttingen 1993. 35 Für die christologische Exklusivität bildet Apg 4,12 die Paradestelle: „in keinem anderen ist das Heil; denn uns Menschen ist kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen.“ 36 Zum Themenkreis, der in jüngerer Zeit verstärkt Aufmerksamkeit gefunden hat, vgl. die Sammelbände von P. Athanassiadi / M. Frede (Hg.), Pagan Monotheism in Late Antiquity,
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unterscheiden (und zugleich Wechselwirkungen in Rechnung stellen):37 Auf der einen Seite geht es um Formen von religiösem, speziell kultischem Henotheismus, also um Monolatrie oder um Theokrasie, wie sie von Inschriften, Gemmen, Papyri u. a. dokumentiert werden. In den kaiserzeitlichen Religionen nimmt die Tendenz, „einen Gott“, heis theos, anzurufen, markant zu,38 etwa im Serapis‑ oder Isiskult. Hier lässt sich in der Tat von Akklamationen sprechen. Es liegt eine Steigerung des Formeltyps vor, den die Silberschmiede in Ephesus laut Apg 19,28.34 proklamieren: „Gross ist die Artemis der Epheser!“ Grösse wird zum Einzigartig- Sein gesteigert. Auf der anderen Seite geht es um philosophische Diskurse, in denen die göttliche Einheit systemtheoretisch reflektiert wird; das nimmt bei den Vorsokratikern seinen Ausgang, zumal bei Xenophanes,39 und gewinnt später an Terrain insbesondere in der kaiserzeitlichen Philosophie, die zur Religionsphilosophie mutiert. Hypostasendifferenzierung geht mit Mittlung einher. Wir haben hier also beides zusammen, ein welttranszendentes Prinzip und eine vermittelnde Grösse, plural oder singularisch vorgestellt. Diese göttliche Konfiguration wird aber nicht kultisch adressiert; wir befinden uns auf einer reflexiven, nicht rituellen Ebene. Beide Typen von Referenzen auf den heis theos, popular religion und philosophische Theologie, funktionieren elativisch, im einen Fall monolatrisch oder identifikatorisch, im anderen Fall hierarchisch. Wenn die frühen Christen vom einzigen Gott und vor allem vom einzigen Mittler sprechen, artikulieren sie sich auch in diesen Kontexten und verstärken sogar entsprechende Trends. Man kann die christlichen Redeformen vom heis theos und vom heis mesitēs also in die kaiserzeitliche Religionsgeschichte einzeichnen; analoges gilt vom griechischsprachigen Judentum. Judentum und Christentum repräsentieren besonders deutlich Trends, die im kaiserzeitlichen Mittelmeerraum zunehmen; sie treten Oxford 1999; St. Mitchell / P. Van Nuffelen (Hg.), Monotheism between Pagans and Christians in Late Antiquity (Interdisciplinary Studies in Ancient Culture and Religion 12), Leuven 2010; dies. (Hg.), One God (s. Anm. 3), hier speziell zum Verhältnis von einem Gott und vermittelnden Wesenheiten: A. Chaniotis, Megatheism. The Search for the Almighty God and the Competition of Cults, 112–140; N. Belayche, Deus deum … summorum maximus (Apuleius). Ritual Expressions of Distinction in the Divine World in the Imperial Period, 141–166 (zum Verhältnis von heis theos und heis Zeus Sarapis: 157 f); P. Van Nuffelen (Hg.), Rethinking the Gods. Philosophical Readings of Religion in the Post-Hellenistic Period (Greek Culture in the Roman World), Cambridge 2012; G. Lindner, Emotion und Ergriffenheit. Henotheistische Tendenzen in der griechischen Religion, in: G. Németh / D. Bajnok (Hg.), Miscellanea Historiae Antiquitatis. Proceedings of the First Croatian-Hungarian PhD Conference on Ancient History, Hungarian Polis Studies 21, Budapest 2014, 21–36. 37 Zur Begriffsklärung vgl. die hilfreiche Differenzierung von M. V. Cerutti, Pagan Monotheism? Towards a Historical Typology, in: Mitchell / Van Nuffelen, Monotheism (s. Anm. 36) 15–32. 38 Zu Akklamationen vgl. oben Anm. 15. 39 FVS 21 B 23, usw. Vgl. W. Drechsler / R. Kattel, Mensch und Gott bei Xenophanes, in: M. Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog (BZAW 345), Berlin 2004, 111–129.
2. Monotheismus und Mittlerschaft
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teilweise sogar als Trendsetter auf, die spätestens im dritten Jahrhundert so etwas wie einen second paganism auf nichtjüdischer bzw. nichtchristlicher Seite generieren. Warum wird „Einheit“, „Einzigkeit“ so trendy? Woher stammt diese obsession for unity in der hellenistischen und noch mehr in der späten Antike?40 Für eine vorläufige Antwort empfiehlt es sich, wenigstens zwei Faktoren berücksichtigen, einen theoretischen und einen politischen: Zum einen zieht Einheit als umfassendes Ordnungsprinzip philosophische und theologische Reflexion an; das spielt auf der ontologischen und epistemologischen Ebene so gut wie auf der handlungstheoretischen Ebene – im religiösen Leben, in der Verhaltenssteuerung, schliesslich in der Psychagogik, wo es zur Entdeckung des einen ‚Selbst‘ kommt. Zum andern ist Einheit attraktiv als Markenzeichen der hellenistisch-römischen Globalkultur; sie greift über Sprache, Politik und Ökonomie hinaus auch auf der Ebene der Religionen und speziell des Kults. Bei Partialkulturen unter dem Dach dieser unifizierenden Globalkultur verbindet sich das Einheitstheorem mit spezifischen Identitätsbestimmungsprozessen. Auf diesen letzten Punkt zu fokussieren ist ausgesprochen lohnenswert. Mit ihren Affirmationen der Einzigkeit Gottes und seines Sohnes versuchen die frühen Christen, ihre Identität zu bestimmen, also darüber Auskunft zu geben, wer sie sind und woher sie kommen. Nach innen nimmt dies die Form der Selbstaufklärung an. Die von uns durchmusterten Texte dokumentieren elaborierte Formen theologischer Reflexion. Gottes Einzigkeit wird zugleich exklusiv und christologisch reflektiert. Nach aussen stellen sich die Gemeinden auf den Marktplätzen der kaiserzeitlichen Ökumene auf; mit der Proklamation des einen Gottes und seines einen Mittlers treten sie in Konkurrenz zu anderen religiösen und weltanschaulichen Angeboten, von denen einige ebenfalls Einzigkeit proklamieren – aber elativisch, wie eben z. B. die ökumenische Göttin Isis. Auf diesem Feld spielt der Kyrios-Titel eine besondere Rolle: Der Herr Jesus Christus beansprucht die definitiv bessere Option zu sein als andere „Herren“, besser zumal als der römische Kaiser. Wir halten an dieser Stelle aber nochmals fest, dass es keine paganen Belege für einen heis kyrios zu geben scheint. Wir kommen zu einem abschliessenden dritten Teil: Er will einen anregenden Ausblick auf eine religionsphilosophische Position in der frühen Kaiserzeit geben, die weder jüdisch noch christlich ist und doch Tendenzen dokumentiert, die für antike Juden und Christen besonders charakteristisch sind.41 40 Für Paulus hat D. Boyarin, A Radical Jew. Paul and the Politics of Identity, Berkeley 1994, den „drive for unity“, die „passion for unity“ erklärt als Kind zweier Eltern: „Paul was impelled by a vision of human unity that was born of two parents: Hebrew monotheism and Greek longing for universals“ (228; vgl. 106; 147). 41 Zum Folgenden vgl. auch meinen Aufsatz: „Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20). Überlegungen zum Stellenwert der kosmischen Christologie für das Gespräch zwischen Schöpfungstheologie und moderner Kosmologie, Abdruck in diesem Band: 53–71.
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3. Der Grosskönig und seine Mittlerin Beim pseudo-aristotelischen Traktat De mundo handelt es sich um eine Schrift, die möglicherweise im ersten Jahrhundert n. Chr. entstanden ist42 und die eine einzigartige Kombination von Figuren philosophischer Kosmologie und Theologie bildet. Sie arbeitet auf peripatetischer Grundlage mit platonischen und stoischen Elementen. Der letzte Teil des Werks beschäftigt sich mit der Gotteslehre (Kap. 6/7). Herausgearbeitet wird die Differenz zwischen Gott selber, seiner essentia (οὐσία), und seiner ihn an den Kosmos vermittelnden und diesen durchdringenden Kraft (δύναμις). Göttliche Transzendenz und Immanenz werden korreliert. Das geht so weit, dass man mit Blick auf Aristobul und Philon sogar einen jüdischen Verfasser vermutet hat.43 Was unsere Schulschrift besonders kennzeichnet und auch ein Indiz für eine Datierung nicht vor der späthellenistischen Zeit an die Hand gibt, ist der Rückgriff auf altehrwürdige Tradition, der sich mit einem Anspruch auf Ökumenizität verbindet. Nicht von ungefähr begegnen in diesem Zusammenhang theologische Präpositionen:44 „Es gibt da ein altes, allen Menschen von den Vorfahren überliefertes Wort, dass alles von Gott und durch Gott besteht und kein Wesen für sich allein und aus sich selbst existiert, wenn es von der lebenserhaltenden Kraft der Gottheit abgeschnitten ist (ἀρχαῖος μὲν οὖν τις λόγος καὶ πάτριός ἐστι πᾶσιν ἀνθρώποις ὡς ἐκ θεοῦ πάντα καὶ διὰ θεὸν συνέστηκεν, οὐδεμία δὲ φύσις αὐτὴ καθ᾽ ἑαυτήν ἐστιν αὐτάρκης, ἐρημωθεῖσα τῆς ἐκ τούτου σωτηρίας).“
42 Zu Einleitungsfragen sowie zum philosophischen Milieu vgl. J. C. Thom, Introduction, in: ders. (Hg.), Cosmic Order and Divine Power. Pseudo-Aristotle, On the Cosmos (SAPERE 23), Tübingen 2014, 3–17 („a date around the turn of the era seems reasonable“, 7). Zur religionsphilosophischen Stossrichtung vgl. ders., The Cosmotheology of De mundo, ebd. 107–120; I. Kupreeva, § 28.6 De mundo, in: in: Ch. Riedweg / Ch. Horn / D. Wyrwa (Hg.), Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (Ueberweg.Antike 5), Basel 2018, 284–294. Bereits der Altmeister der griechischen Religionsgeschichte hat vielfach auf De mundo hingewiesen: M. P. Nilsson, The High God and the Mediator, HThR 56 (1963) 101–120; ders., Geschichte der griechischen Religion (HAW 5.2), Bd. 2: Die hellenistische und römische Zeit, München 31974, 297 f; ders., Griechischer Glaube, Bern 1950, 134–136. 43 Exemplarisch dafür steht M. Pohlenz, Philon von Alexandreia. Anhang, in: ders., Kleine Schriften, Hildesheim 1965, Bd. 1, 305–383, hier: 376–383. Die Hypothese hat sich selber mittlerweile so sehr überlebt, dass sie in einer jüngeren Besprechung der Autorenfrage von J. Kraye nicht einmal mehr eine Fussnote wert ist: Disputes over the Authorship of De mundo between Humanism and Altertumswissenschaft, in: Thom, Order (s. Anm. 42) 181–197. 44 6: 397b13–16. Die Übersetzungen lehnen sich im Folgenden an die Ausgabe von O. Schönberger an: Aristoteles. Über die Welt (Reclams Universal-Bibliothek 8713), Stuttgart 2001. Zu beachten ist Z. 14 die Textvariante für διὰ θεόν: διὰ θεοῦ (Ausgabe von W. L. Lorimer, Paris 1933, 81 z.St.), an der Bedeutung ändert sich nichts, wenn man „durch“ übersetzt (hier setzt Thom, Order [Anm. 40] 43, mit „because of god“ einen leicht anderen Akzent); vgl. die v.l. in 1 Kor 8,6d (für δι᾽ οὗ hat Hs. B δι᾽ ὅν); Hebr 2,10 stellt beides nebeneinander: Christus, δι᾽ ὃν τὰ πάντα καὶ δι᾽ οὗ τὰ πάντα.
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Die offene, aber programmatische Grundlegung der Theo-logie erlaubt es dem Verfasser, pantheistische Aussagen aufzunehmen („einige der alten Denker lehrten, alles sei voll von Göttern“) und zugleich innergöttliche Differenzierungen einzuführen. Die zentrale Figur, die allein als ihrem Gegenstand angemessen gelten darf, ist die Unterscheidung von Gottes Essenz, seiner οὐσία, und seiner Kraft, seiner δύναμις.45 Auf diese Weise durchdringt die Gottheit schlechthin alle Seinsbereiche:46 „Besser also ist die Annahme, die zudem Gott gemäss und am schicklichsten ist, dass die im Himmel gegründete Kraft auch den allerfernsten, ja, mit einem Wort, allen Wesen Ursache ihrer Erhaltung ist (ἡ ἐν οὐρανῷ δύναμις ἱδρυμένη καὶ τοῖς πλεῖστον ἀφεστηκόσιν […] καὶ σύμπασιν αἴτιος γίνεται σωτηρίας).“
Dieser dynamis47 wird ausdrücklich Einzigkeit zugesprochen.48 Während sie Gott im Kosmos präsent hält, ist er selber weltenthoben – figuriert im Bild des Grosskönigs, der für alle unsichtbar in einem fernen und vielfach geschützten erhabenen Palast residiert, umgeben von Dienstbeauftragten, darunter Späher, und reichsweit verteilten Verwaltern.49 Auffällig ist der mühelose Übergang von 45 „Denn
wirklich ist Gott zwar Erhalter und Schöpfer (σωτήρ … καὶ γενέτωρ) von allem, was irgendwie in dieser Welt vollendet wird, doch nimmt er dabei nicht die Mühe eines Geschöpfes auf sich, das selbst Hand anlegen und sich plagen muss; nein, er bedient sich einer unerschöpflichen Kraft, durch die (δυνάμει χρώμενος ἀτρύτῳ, δι᾽ ἧς) er auch das scheinbar Fernste beherrscht“ (6: 397b19–24). Zum „mühelosen“ Walten vgl. 6: 398b10–22; 400b8–11. – Zum Stellenwert der Unterscheidung von usia (397b20; vgl. 398b7) und dynamis vgl. A. Tzvetkova- Glaser, The Concepts οὐσία and δύναμις in De mundo and Their Parallels in Hellenistic-Jewish and Christian Texts, in: Thom, Order (s. Anm. 42) 133–152. „Die These von einem Gott, der alle Dinge in der Welt bewegt, während er selbst unbewegt ist […], hat klar aristotelischen Tenor“, Kupreeva, De mundo (s. Anm. 42) 292. 46 6: 398a1–6. Die Bewahrung (σωτηρία) impliziert die Ewigkeit des Kosmos (4: 396a30–32; 5: 397b5–8). 47 Die Herkunft der weltdurchwaltenden dynamis ist nicht leicht zu bestimmen. H. Strohm verweist auf Aristoteles: „Der letztere lieferte dem Anonymus ein Denkmittel, das in der mantischen Theorie zu Hause ist“ und auch bei Plutarch identifizierbar ist, Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung 12.I/II. Meteorologie. Über die Welt, Berlin 31984, 268; vgl. 333. 48 5: 396b27–34: „… die ganze Erde und das Meer, Äther, Sonne und Mond und den ganzen Himmel ordnet eine alles durchdringende Kraft (διεκόσμησε μία διὰ πάντων διήκουσα δύναμις), die aus gesonderten und verschiedenen Grundstoffen, aus Luft, Erde, Feuer, Wasser den ganzen Kosmos erbaut, ihn mit einer einzigen Kugelschale umschlossen, die gegensätzlichsten Wesenheiten in ihm zur Eintracht miteinander gezwungen hat (ἀναγκάσασα ὁμολογῆσαι) und durch sie die Erhaltung des Ganzen bewirkt (ἐκ τούτων μηχανησαμένη τῷ παντὶ σωτηρίαν).“ Gleich im Anschluss wird die „Eintracht der Elemente“ und „Gleichheit der Anteile“ zelebriert (396b34 f: ἡ τῶν στοιχείων ὁμολογία, τῆς δὲ ὁμολογίας ἡ ἰσομοιρία); zur Traditionsgeschichte von Gleichgewicht und concordia discors vgl. Strohm, Aristoteles (s. Anm. 47) 327 f. Das Einssein wird mehrfach unterstrichen (6: 399a12 μία δὲ ἐκ πάντων ἁρμονία, vgl. 399a17). Die Affirmation von Einheit und Harmonie, die die weltdurchwaltende Kraft kennzeichnet, stammt aus stoischer Tradition und wird auch in der jüdischen Weisheitstradition rezipiert, vgl. besonders Sap 7,22 und oben Anm. 11. 49 6: 398a10–398b6. Zum verbreiteten Gleichnis vom Grosskönig und seiner Reichsverwaltung vgl. Strohm, Aristoteles (s. Anm. 47) 339 mit Kritik an Pohlenz’ jüdischer Herleitung.
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der Einzahl zur Mehrzahl der Mittler: Mit der Metapher vom Grosskönig – der sich als „Herr und Gott“ anreden lässt (δεσπότης καὶ θεὸς ὀνομαζόμενος) – geht diejenige vom Hofstaat einher; die Vermittlung mutiert damit zum Plural. Dass wir uns auch bei diesem Metaphernkomplex in einem weitgespannten religionsphilosophischen Diskurszusammenhang bewegen, zeigt ein Seitenblick auf Philon von Alexandria. Es ist längst aufgefallen, dass er – wie schon sein „Vorläufer“ Aristobul –50 vielfach auf den Kraftbegriff für die Mittlung zwischen Gott und der Welt zurückgreift,51 insbesondere auch verbunden mit der Unterscheidung von Essenz und Wirkkraft.52 Wie Ps.-Aristoteles arbeitet auch Philon mit dem Bild der dem König unterstellten Satrapen; mittels der vielen „Kräfte“ (δυνάμεις) sichert Gott den Zusammenhalt der Welt.53 Kaum zu belegen ist hingegen bei ihm die singularische dynamis.54 Wohl aber schreibt der Alexandriner in anderen Zusammenhängen die Mittlung einer einzelnen Hypostase zu, namentlich der Weisheit oder dem Logos, hier durchaus mit dem Akzent der Einzigkeit.55 Bei ihm, dem jüdischen Monothe50 Vgl. Aristobul, frg. 1 (PVTG 3, 217): Anthropomorphismen beziehen sich ἐπὶ τῆς θείας δυνάμεως; frg. 2 (a. a. O., 223): Orpheus bezeuge, „dass das All von der göttlichen Macht durchwaltet wird (διακρατεῖσθαι θείᾳ δυνάμει τὰ πάντα), dass es (durch sie) entstanden ist und dass Gott über allem steht“; Aratos zeige, „dass in allem die Macht Gottes wirkt (διὰ πάντων ἐστὶν ἡ δύναμις τοῦ θεοῦ)“; frg. 1 (a. a. O., 220) das göttliche „Herabsteigen“ auf den Berg geschah, „damit alle die Kraft Gottes (τὴν ἐνέργειαν τοῦ θεοῦ) schauen sollten“ (im Referat von Clemens, strom. 6,32:4 wiedergegeben als „Kundgebung der göttlichen Macht [θείας δυνάμεως], die durch die ganze Welt dringt und das unnahbare Licht verkündet“). Zur Diskussion vgl. Tzvetkova- Glaser, Concepts (s. Anm. 45) 135–137 und besonders Ch. Riedweg, Jüdisch-hellenistische Imitation eines orphischen Hieros Logos. Beobachtungen zu OF 245 und 247 (sog. Testament des Orpheus) (Classica Monacensia 7), Tübingen 1993, 89–95. 51 Zum gesamten Komplex von Logos, Sophia und Dynameis vgl. C. Termini, Philo’s Thought within the Context of Middle Judaism, in: A. Kamesar (Hg.), The Cambridge Companion to Philo (Cambridge Companions to Philosophy), Cambridge 2009, 95–123, hier: 98–101 („The powers open a unique window through which we can view and understand the mechanisms of Philonic theology […] Philo also safeguards monotheism by continually interchanging the entities of Logos, Sophia, and powers, as well as their functions and titles“, 101); R. Radice, Philo’s Theology and Theory of Creation, aaO. 124–145, hier: 135–140 (Radice hält, by the way, De mundo für authentisch aristotelisch!); Tzvetkova-Glaser, Concepts (s. Anm. 45) 137–140 (mit einem caveat: „the systematic identification of Logos and δύναμις“ begegnet erst in christlichen Texten, 140). 52 Diese Konvergenz war früher der Hauptgrund, De mundo in einem hellenistisch-jüdischen Milieu zu verorten; vgl. oben Anm. 43. 53 Zu den Satrapen vgl. z. B. spec. 1,45: „unter Deiner Herrlichkeit (Ex 33,18) verstehe ich aber die dienstbaren Kräfte zu Deiner Seite (τὰς περὶ σὲ δορυφορούσας δυνάμεις)“; decal. 61 (vgl. 178) in monotheistischem Kontext: Es ist töricht ist, „die Ehren, die dem Grosskönig gebühren, den Satrapen, seinen Statthaltern (τοῖς ὑπάρχοις σατράπαις) zu erweisen“. 54 Eine besondere Linie ist die Unterscheidung zweier Dynameis Gottes, der kreativen und der königlichen, die mit den beiden Gottesbezeichnungen, „Gott“ und „Herr“, korreliert wird (mut. 28 f; Mos. 2,99 f). 55 Einige wenige Belege müssen genügen: Philon zufolge hat Gott „seine rechte Vernunft, seinen erstgeborenen Sohn, zum Leiter eingesetzt, damit sie die Fürsorge für diese heilige Herde wie ein Unterbeamter und Vertreter des Grosskönigs übernehme“ (agr. 51: τὸν ὀρθὸν αὑτοῦ λόγον
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isten,56 begegnet also wie in De mundo die problemlose Koexistenz von Einzahl und Vielzahl der Vermittlung. Mutatis mutandis entspricht dies auch dem Befund in wenig späteren religionsphilosophischen Entwürfen, etwa in der Unterscheidung des Platonikers Numenios zwischen dem ersten, transzendenten Gott und der nächstfolgenden Hypostase, die in „zweiten“ und „dritten Gott“ ausdifferenziert wird und doch als „ein Gott“ gilt.57 Indem der Platonismus in Analogie zur intelligiblen bzw. göttlichen Einheit auch dem Kosmos Einssein zuschreibt,58 bietet sich der Anschluss an das vor allem von der Stoa zelebrierte Einheitstheorem des „einen Universums“ von selber an. Wir kehren zurück zum Traktat De mundo. Mit der Reflexion über das Verhältnis von Gottes Transzendenz und Immanenz gehen Attributionen bzw. Prädikationen einher, die die Essenz Gottes schlechthin ausmachen: Er ist der Eine, dessen Vielnamigkeit seine Ökumenizität vor Augen stellt und dessen Wirken durch theologische Präpositionen beschreibbar ist.59 „Einer ist Gott, doch trägt er viele Namen (εἷς δὲ ὢν πολυώνυμός ἐστι), weil er nach all dem Geschehen genannt wird, das er selbst immerfort erneuert. Nennen wir ihn doch καὶ πρωτόγονον υἱόν, ὃς τὴν ἐπιμέλειαν τῆς ἱερᾶς ταύτης ἀγέλης οἷά τις μεγάλου βασιλέως ὕπαρχος διαδέξεται – zum „Vertreter“ auch somn. 1, 241); „Einsamkeit liebend ist die göttliche Weisheit; wegen des einzigen Gottes, dessen Eigentum sie ist, liebt sie das Alleinsein“ (her. 127: φιλέρημος μὲν γὰρ ἡ θεία σοφία, διὰ τὸν μόνον θεόν) „Gottes Logos ist Einsamkeit liebend und alleinstehend (her. 234: φιλέρημος καὶ μονωτικός); Gott und Epistēmē/Weisheit (Spr 8,22) erzeugen den Kosmos als „den einzigen und geliebten wahrnehmbaren Sohn“ (ebr. 30: τὸν μόνον καὶ ἀγαπητὸν αἰσθητὸν υἱόν). – Zur einenden und welterhaltenden Kraft des Logos (vielfach analog zur dynamis von De mundo) vgl. ferner fug. 112. Zum Logos als Erstling vgl. besonders B. L. Mack, Logos und Sophia. Untersuchungen zur Weisheitstheologie im hellenistischen Judentum (StUNT 10), Göttingen 1973, 141–154 („als Sohn Gottes ist der Logos der Hohepriester und das Band des Kosmos“, 147 f). 56 Programmatisch ist Philons monotheistisches „Bekenntnis“ am Schluss von opif. (170– 172). Nicht ‚hypostatisch‘ ist die „weltschöpferische göttliche dynamis“ von opif. 21; Gott wird „von keinem Helfer beraten“ (23) – „a clear indication that Philo’s theological scheme of God, Logos and powers (and also the implications of his extended image) in no way imperils God’s unity. He alone is creator“, D. T. Runia, Philo of Alexandria. On the Creation of the Cosmos according to Moses (Philo of Alexandria Commentary Series 1), Leiden 2002, 146. 57 Numenios schreibt laut frg. 11,11–14 des Places dem höchsten Gott Einfachheit zu; der zweite Gott (zu seinem Ursprung hin orientiert) und der dritte Gott (dem Kosmos belebend zugewandt) sind „eins“ (ἐστὶν εἷς). Analoge Unterscheidungen finden sich auch bei Alkinoos, didaskalikos 10,2 f. 58 Vgl. Alkinoos, didaskalikos 12,3: „Der Urheber hat den Kosmos […] auch einzigartig (μονογενῆ) geschaffen und der Zahl gemäss gleich der Idee, da sie eine ist.“ Dies geht zurück auf Platons Schilderung der Weltschöpfung, Tim. 31b: „Damit nun der Kosmos auf Grund seiner Einzahl (κατὰ τὴν μόνωσιν) dem ganz vollkommenen lebenden Wesen gleich sei, deshalb bildete der Schöpfer nicht zwei und auch nicht unendlich viele Kosmen, sondern allein nur dieser Himmel da ist entstanden, und so besteht er als einziger jetzt und in Zukunft (εἷς ὅδε μονογενὴς οὐρανὸς γεγονὼς ἔστιν καὶ ἔτ᾽ ἔσται).“ Vgl. O. F. Summerell / Th. Zimmer (Hg.), Alkinoos. Didaskalikos (Sammlung wissenschaftlicher Commentare), Berlin 2007, 32 f. 59 7: 401a12–15. Zur hymnischen Tradition der Vielnamigkeit vgl. Strohm, Aristoteles (s. Anm. 47) 349 und besonders den Zeushymnus von Kleanthes (SVF 1, 537), V. 1; dazu J. C. Thom (Hg.), Cleanthes’ Hymn to Zeus (STAC 33), Tübingen 2005, 34; 47 Anm. 22.
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Zeus und den ‚Durchwaltenden‘, indem wir die Namen nebeneinander gebrauchen, als wollten wir sagen ‚der, durch den wir leben‘ (δι᾽ ὃν ζῶμεν).“
Es erstaunt nicht, dass der Verfasser von De mundo seine Theologie schliesslich kulminieren lässt in einem Zeushymnus, der auch jenen Formeltyp bietet, der in der Johannesapokalypse eingespielt wird, hier im Anschluss an das Jesajabuch, nämlich die Prädikation Gottes als „Erster und Letzter“.60 Der Autor zitiert den Hymnus aus einem für ihn autoritativen orphischen Text:61 „Darum heisst es nämlich in den Orphischen Gedichten treffend: ‚Zeus entstand als erster und Zeus als letzter, der Blitzherr; Zeus ist Haupt, Zeus Mitte, durch ihn ist alles geschaffen (Ζεὺς πρῶτος γένετο, Ζεὺς ὕστατος ἀρχικέραυνος· Ζεὺς κεφαλή, Ζεὺς μέσσα, Διὸς δ᾽ ἐκ πάντα τέτυκται).‘“
Abschliessend kehren wir zum Anfang unserer Studie zurück, zu Augustin. Wir können die vom Kirchenlehrer entworfene Konfiguration von Ziel und Weg ein Stück weit mutieren: So gut wie die jüdische Weisheitstheologie kennt auch die antike Religionsphilosophie in ihren avancierten Formen nicht nur das eine Ziel, sondern ebenso den Mittler, den einen Weg, der zu Gott führt. In der welterhaltenden „Kraft“ von De mundo konvergiert vieles von dem, was christliche Theologie Jesus Christus als Gottessohn und Logos zuschreibt. Speziell stossen wir auch hier auf das Einssein des transzendenten Gottes, das Einssein seiner „Kraft“ und auf seine ökumenische Vielnamigkeit. Aber, Augustin hat zugleich recht: Für beide, Weisheitstheologie und Religionsphilosophie, ist diejenige spezifische Mittlerschaft nicht erschwinglich, die nach christlicher Überzeugung erst einen Weg zu Gott bahnt: die Menschwerdung, die im Kreuzestod resultiert. Augustin spitzt das sogar noch zu – und blendet seine eigene Erfahrung, seine Wendung von der platonischen Religionsphilosophie zum Evangelium ein: Erst im Tiefpunkt der Menschwerdung von Jesus Christus schlägt der Höhenweg der Philosophen, ihre superbia, um zum Weg der Demut, zur humilitas.
60 „Erster und Letzter“: Apk 1,17; 2,8; 22,13, nach Jes 44,6 (hier nahe zum MT, während LXX den „Letzten“ nur umschreibt‚ ähnlich 48,12); indirekt auch Kol 1,15.18. Zum „Haupt“ vgl. die kosmische Ekklesiologie in Kol (1,18) und Eph (1,22; 4,15; 5,23). 61 7: 401a28–401b7 = Orph. frg. 21a Kern (vgl. frg. 168) = frg. 31 Bernabé; ebenfalls Pap. Derveni (col. 17); vgl. G. Betegh, The Derveni Papyrus. Cosmology, Theology and Interpretation, Cambridge 2004, 36 f; 126 f; 138; M. E. Kotwick (Hg.), Der Papyrus von Derveni. Griechisch- deutsch (TuscBü), Berlin 2017, 88 ff (§ 55 ff).
Hymnus, Enkomion oder Psalm? Schattengefechte in der neutestamentlichen Wissenschaft Abstract Hymn, Encomium or Psalm? Shadowboxing in New Testament Exegesis For much of the 20th cent., scholars tried to reconstruct various cultic hymns beneath the surface of New Testament texts. With the rise of rhetorical criticism, the focus of research has shifted to the properties of epideictic rhetoric. Exegetes, therefore, often tend to contrast “encomia” with “hymns” or “psalms”. To avoid any shadow boxing, one has to consider which descriptive language would fit best the texts. A brief examination of ancient hymnic traditions and their treatment in rhetoric demonstrates that while encomia interact strongly with hymns each genre has its own characteristics; hymns, whether in poetry or prose, consist especially of praise of divinities and are addressed to divinities. Future formgeschichtliche analysis has to distinguish carefully between “hymn” (in a narrow sense), “hymnic praise” and “encomium” (which does not refer particularly to divine beings). In early Christian literature, as far as it relates to the textual surface, we find beside hymns to God only few hymns directed to Christ. Nevertheless, Christ’s divine status is praised with rich hymnic rhetorical devices. This astonishing tension corresponds exactly with what we call “Christological monotheism”.
1. Zwischen Formgeschichte und Rhetorik „Verstanden werden kann dieses Kyrios-Bekenntnis [sc. Phil 2,6–11, S. V.] nur von der frommen Einfalt stillster Andacht. Man lasse alle Kommentare beiseite und bitte einen anatolischen Christen, den Urtext dieses Bekenntnisses einmal leise vorzulesen, in dem psalmodierenden Rhythmus, in dem der christliche Osten die Perikopen der griechischen Bibel im Halbdunkel seiner Kirchen liest: ein Teil der Untertöne des alten Psalms wird dann wieder lebendig, wir werden frei vom Elend der Historie, und wir kommen in einen kultischen Kontakt mit den armen Heiligen Macedoniens, die die ersten Eigentümer des Schatzes waren.“
In geradezu beschwörendem Ton stellt uns Adolf Deissmann in seinem Paulusbuch das Gewicht urchristlicher Kulttexte vor Augen.1 Die Bibelwissenschaften des 20. Jahrhunderts haben mit viel Elan hinter den biblischen Texten Über1 A. Deissmann, Paulus, Tübingen 21925, 150. Deissmann selber schreibt einem Text wie Phil 2,6–11 freilich paulinische Verfasserschaft zu. Scharfe Kritik am „Christuskult“ übte D. E. von Dobschütz, Aus der Umwelt des Neuen Testaments, ThStKr 95 (1923/24) 314–332, hier: 328–330 („das Urchristentum ist im höchsten Grade unkultisch“) (freundlicher Hinweis von K. Haacker).
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lieferungsstücke identifiziert, die sich als unmittelbarer Niederschlag kultischer Praxis verstehen und so einem bestimmten „Sitz im Leben“ zuweisen liessen. Das Interesse der Formgeschichte, die mit der Orientierung der Religionsgeschichtlichen Schule am urchristlichen Kult einherging, richtete sich auf die Bestimmung von Kriterien, die die Rekonstruktion älterer kleiner Formen gottesdienstlicher Herkunft ermöglichen sollten: gehobener Stil, strophische Gliederung, sprachlicher Rhythmus, Relativ‑ und Partizipialstil, aber auch Kontextüberschuss und theologisches Sondergut. Angeregt von der alttestamentlichen Wissenschaft, die den kultischen Hintergrund des Psalters und seiner Gattungen entdeckte, hat sich auch die neutestamentliche Exegese nicht davon abhalten lassen, ihren ungleich sperrigeren und widerständigeren Texten authentische Dokumente des gottesdienstlichen Lebens zu entlocken.2 Bei allem Bewusstsein um den hypothetischen Charakter dieses Zugriffs fand man in der frühchristlichen Literatur eine stattliche Reihe von zumeist fragmentarischen Liedern und Hymnen, deren Auflistung schliesslich zum festen Bestand von Lehrbuch und Proseminar- Manual gehören sollte.3 Bereits beim Philologen Josef Kroll nehmen sich die wenigen erhaltenen oder rekonstruierten Fragmente christlicher Hymnodik wie verstreute Inseln einer versunkenen gewaltigen urchristlichen Hymnendichtung aus, die von der Alten Kirche erfolgreich verdrängt worden ist.4 Martin Hengel hat schliesslich das inspirierende Bild des Urchristentums als geistgetriebener Kultgemeinde, die eine neue messianische Psalmendichtung erschuf, plastisch vor Augen gestellt.5 2 Dabei fällt auf, dass die Detailarbeit erst ab den 1960er Jahren geleistet wird. Vgl. G. Schille, Frühchristliche Hymnen, Berlin 1965; J. Schattenmann, Studien zum neutestamentlichen Prosahymnus, München 1965; R. Deichgräber, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit (StUNT 5), München 1967; R. P. Martin, Carmen Christi. Philippians ii.5–11 in Recent Interpretation and in the Setting of Early Christian Worship (MSSNTS 4), Cambridge 1967 (21983); ders., New Testament Hymns, ExpT 94 (1982/83) 132–136; K. Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums (StNT 7), Gütersloh 21973; J. T. Sanders, The New Testament Christological Hymns (MSSNTS 15), Cambridge 1971; Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1978, 40–49; Nachzügler: G. Kennel, Frühchristliche Hymnen? Gattungskritische Studien zur Frage nach den Liedern der frühen Christenheit (WMANT 71), Neukirchen 1995. Im Rückblick zeigt sich: Zählt man am Anfang enorm viele Hymnen (Schille kommt auf rund 30 neutestamentliche Texte), reduziert sich deren Zahl mit der Zeit erheblich (Kennel beschränkt sich exemplarisch noch auf zwei). 3 Vgl. exemplarisch H. Conzelmann / A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament (UTB 52), Tübingen 142004, 136–142. 4 J. Kroll, Die christliche Hymnodik bis zu Klemens von Alexandreia. Nachdruck der Ausgabe von 1921/22 (Libelli 140), Darmstadt 21968, mit dem Verweis auf die ungezügelte Hypothesenfreudigkeit im 19. Jh. („Was hat man nicht alles von ‚Bruchstücken aus Kirchenliedern‘ z. B. bei Paulus gefabelt“, 12 A.1). 5 M. Hengel, Das Christuslied im frühesten Gottesdienst (1987), in: ders., Studien zur Christologie. Kleine Schriften, Bd. 4 (WUNT 201), Tübingen 2006, 205–258; vgl. auch M. Daly- Denton, Singing Hymns to Christ as to a God, in: C. C. Newman / J. R. Davila / G. S. Lewis (Hg.), The Jewish Roots of Christological Monotheism (JSJ.S 63), Leiden 1999, 277–292.
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Die erheblichen methodischen Schwierigkeiten dieses klassischen formgeschichtlichen Unternehmens sind offenkundig.6 Das Misstrauen gegenüber dem direkten Rückschluss von den Texten auf kultische und liturgische Handlungen hat sich etwa auch im Blick auf Gebetstexte oder auf die Abendmahlsüberlieferungen verstärkt.7 Im Bereich der Hymnen weckt allein schon die enorme Divergenz der verschiedenen Rekonstruktionsvorschläge Unbehagen. Erschwerend kommt hinzu, dass man meist Interpolationen der älteren Stücke durch die neutestamentlichen Autoren behaupten muss, während man umgekehrt die Möglichkeit, dass Zeilen ausgelassen wurden, ausblendet. Das Argument von Spannungen auf der theologischen Ebene, die eine Unterscheidung von überkommener Überlieferung und vorfindlichem Text nahelegen, ist tendenziell der Gefahr von Überbelichtung ausgesetzt. Die Wahrnehmung mangelnder gedanklicher Kohärenz und Inkonsistenz entspringt oft eher dem Herantragen neuzeitlicher Kategorien an die antiken Texte, als dass sie deren Dekonstruktion erlauben könnte. Schliesslich ist auch das ausschlaggebende Argument, das auf der sprachlichen Ebene spielt, in Schieflage geraten. Die jüngere Wiederentdeckung der antik-rhetorischen Kategorien durch die Exegese rückt die Interpretation der zu erklärenden Phänomene in ein anderes Licht. Stilistische Beobachtungen sind als solche kein hinreichender Grund, diachrone Überlieferungsprozesse zu postulieren; möglicherweise lassen sie sich methodisch anspruchsloser lediglich als Indizien für einen Stilwechsel auf der Ebene des vorliegenden Texts deuten. Auch bei anderen Auffälligkeiten wie Sondervokabular und über den unmittelbaren Kontext hinausgreifenden Vorstellungselementen ist zu prüfen, ob man mit dem Verweis auf die Änderung des Stilmodus nicht auskommt. Ohne das Recht der Rückfrage nach möglichen vorliterarischen Formen und nach kultischen Hintergründen grundsätzlich aufgeben zu müssen, ist man methodisch besser beraten, zunächst auf der Ebene der vorfindlichen Texte literarische Form und argumentative bzw. narrative Funktion zu bestimmen.8 So kristallisiert sich eine spezifische Fragestellung heraus: Gibt ein Text Hinweise, die seine Beschreibung mit der Kategorie des „Hymnus“ nahelegen? Wir haben uns damit der Frage zu stellen, was wir mit „Hymnus“ bezeichnen wollen.
6 Vgl. insbesondere die exzellente Arbeit von R. Brucker, ‚Christushymnen‘ oder ‚epideiktische Passagen‘? Studien zum Stilwechsel im Neuen Testament und seiner Umwelt (FRLANT 176), Göttingen 1997; ferner M. Peppard, ‚Poetry‘, ‚Hymns‘ and ‚Traditional Material‘ in New Testament Epistles or How to do Things with Indentations, JSNT 30 (2008) 319–342; J.-N. Aletti, Les passages néotestamentaires en prose rythmée, in: D. Gerber / P. Keith (Hg.), Les hymnes du Nouveau Testament et leurs fonctions, Paris 2009, 239–263. 7 Vgl. H. Löhr, Studien zum frühchristlichen und frühjüdischen Gebet (WUNT 160), Tübingen 2003, 63–66; 365 f; 513 f; J. Schröter, Die Funktion der Herrenmahlsüberlieferungen im 1. Korintherbrief, ZNW 100 (2009) 78–100. 8 So konsequent ein jüngerer Sammelband: Gerber / Keith, Hymnes (s. Anm. 6).
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Hymnus, Enkomion oder Psalm?
2. Was ist ein „Hymnus“? Parallel zum wachsenden Misstrauen gegenüber einem Rückschluss auf festes liturgisches Überlieferungsgut hat sich die Verunsicherung in Bezug auf die Gattungsbestimmung verstärkt. Anstelle des „Hymnus“, bei dem die kultische Funktion im Vordergrund steht, bemüht man heute gern das „Enkomion“, also eine Klassifikation aus dem Bereich der rhetorischen Theorie.9 Auf der anderen Seite bevorzugt man aus religionsgeschichtlichen Gründen gegenüber dem als zu griechisch empfundenen Hymnus den „Psalm“ als angemessene Kategorie.10 Offenkundig ist es die unklare Bestimmung der Beschreibungssprache, die zur Aufrichtung von verwirrenden und möglicherweise falschen Alternativen führt – und damit zu wenig ergiebigen exegetischen Schattengefechten. Im Folgenden formuliere ich einige Leitplanken für einen den Texten angemessenen Umgang mit der Kategorie des „Hymnus“. Eine Begriffsbestimmung des von Haus aus griechischen Terminus muss m. E. wenigstens drei Bedingungen erfüllen: (1.) Sie hat die grosse Bandbreite des antiken Sprechens von ὕμνος κτλ. zu berücksichtigen, die eine inter‑ und transkulturelle Polyvalenz dokumentiert. (2.) Sie hat sich an den spezifischen Eigentümlichkeiten des griechischen Hymnus zu orientieren. (3.) Sie hat sich zugleich abzustimmen auf den in Religionswissenschaft, Theologie und Altertumswissenschaften eingebürgerten Terminus, der sich seinerseits der markanten interkulturellen Anschlussfähigkeit des griechischen Begriffs verdankt. Während es sich beim ersten Eckpunkt um eine objektsprachliche Angelegenheit handelt, bewegen wir uns mit dem zweiten und dritten Punkt weitgehend auf einer beschreibungssprachlichen Ebene. 2.1. Antike Terminologie und Klassifizierungen 1. Die Semantik des griechischen Lexems ὕμνος κτλ. ist breit und überaus unscharf.11 Immerhin verdichtet sie sich früh in der Bedeutung „Lied für einen Gott“, „Gesang, der Götter als Inhalt und Gegenüber hat“. Bereits Platon unterscheidet den Hymnus, der Götter adressiert, vom Enkomion, dem Preislied auf
9 So besonders K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 344– 346; vgl. 239–242; ders., Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW II/25.2 (1984) 1031–1432, hier: 1173–1194. 10 So Hengel, Christuslied (s. Anm. 5) 247; 253. Einflussreich war v. a. die Gattungsbestimmung „Psalm“ von E. Lohmeyer (s. unten Anm. 67). 11 Vgl. die umfassenden Darstellungen R. Wünsch, Art. Hymnos, PRE 9.1 (1914) 140–183; M. Lattke, Hymnus. Materialien zu einer Geschichte der antiken Hymnologie (NTOA 19), Fribourg 1991, 1–10; K. Thraede, Art. Hymnus (1), RAC 16 (1994) 915–946; W. Burkert, Griechische Hymnoi, in: W. Burkert / F. Stolz (Hg.), Hymnen der Alten Welt im Kulturvergleich (OBO 131), Göttingen 1994, 9–17; W. D. Furley / J. M. Bremer (Hg.), Greek Hymns, Bd. 1 (STAC 9), Tübingen 2001, 1–64.
2. Was ist ein „Hymnus“?
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einen Menschen.12 Die rhetorische Theorie bleibt an diesem Punkt über die Jahrhunderte hinweg eindeutig und stabil:13 Epideiktisches Reden, also das Lob, wird im Hinblick auf das Objekt differenziert; gilt das Lob den Göttern, handelt es sich um einen Hymnus; die übrigen Arten des Lobs richten sich auf Sterbliches.14 Allein schon diese kleine Beobachtung signalisiert, dass die in der Exegese beliebte Kontrastierung von Hymnus und Enkomion der antik-rhetorischen Sprachregelung zuwiderläuft. Diese steht freilich ihrerseits in Spannung zur dehnbaren Semantik von ὕμνος κτλ., die weit über göttliche Wesen hinausgreift. Ausserdem ist bei der genannten Differenzierung zu beachten, dass die Grenzen zwischen Göttern und Menschen flexibel sind; so gelten Hymnen nicht nur Göttern, sondern auch Heroen und deifizierten Menschen, zumal Herrschern. 12 Platon, rep. 10: 607a: „doch sollst du wissen, dass wir von der Dichtung nur Götterhymnen und Loblieder auf die tüchtigen Männer in die Stadt aufnehmen dürfen (εἰδέναι δὲ ὅτι ὅσον μόνον ὕμνους θεοῖς καὶ ἐγκώμια τοῖς ἀγαθοῖς ποιήσεως παραδεκτέον εἰς πόλιν).“ Auf dieser Linie lässt sich leg. 7: 801e wie folgt übersetzen (vgl. S. Pulleyn, Prayer in Greek Religion [Oxford Classical Monographs], Oxford 1997, 46 A. 19): „es wäre nun gewiss am richtigsten, für die Götter Hymnen, also Loblieder verbunden mit Gebeten, anzustimmen, und nach den Göttern müssten es dann die Daimonen und die Heroen sein, denen man mit Lobliedern verbundene Gebete darbringt, wie sie ihnen allen gebühren (μετά γε μὴν ταῦτα ὕμνοι θεῶν καὶ ἐγκώμια κεκοινωνημένα εὐχαῖς ᾄδοιτ’ ἂν ὀρθότατα, καὶ μετὰ θεοὺς ὡσαύτως περὶ δαίμονάς τε καὶ ἥρωας μετ’ ἐγκωμίων εὐχαὶ γίγνοιντ’ ἂν τούτοις πᾶσιν πρέπουσαι).“ Allerdings unterscheidet Platon anderwärts nicht scharf zwischen Hymnen, Enkomien und Gebeten. 13 Dabei rangiert der Hymnus entweder als Spezialfall des Oberbegriffs Enkomion/Epainos oder auf gleicher Ebene wie diese. Belege: Theon (1./2. Jh.), progymn. 8 (109,20 Spengel, RhG, Bd. 2; engl. Übs. G. A. Kennedy: WGRW 10, 50) vom ἐγκώμιόν: τούτου δὲ τὸ μὲν εἰς τοὺς ζῶντας ἰδίως νῦν ἐγκώμιον καλεῖται· τὸ δὲ εἰς τοὺς τεθνεῶτας ἐπιτάφιος λέγεται, τὸ δὲ εἰς τοὺς θεοὺς ὕμνος. – Alex. Ammon. (2. Jh.), frg. 4,14 Spengel (RhG, Bd. 3): ὕμνον δέ φασιν ἔπαινον εἶναι θεοῦ. – Menand. Rhet. (3./4. Jh.), laud. 1: 331,18–20 Spengel (3 f Russell / Wilson): ἔπαινος δέ τις γίνεται, ὁτὲ μὲν εἰς θεούς, ὕμνους καλοῦμεν. – Aphthon. (4./5. Jh.!), progymn. 35,27 Spengel (21 Rabe; engl. Übs. G. A. Kennedy: WGRW 10, 108): ἐγκώμιόν […] διενήνοχε δὲ ὕμνου καὶ ἐπαίνου τῷ τὸν μὲν ὕμνον εἶναι θεῶν, τὸ δὲ ἐγκώμιον θνητῶν. – Ps.-Aristeid., rhet. 1,12,2:6 (505,4 f Spengel, RhG, Bd. 2): τῶν τοίνυν ἐπαινετικῶν τὸ μέν τι ἔπαινος καλεῖται, τὸ δὲ ὕμνος, τὸ δὲ ἐγκώμιον. – Ps.-Ammon. (byz.), voc. diff. 482 (Nickau, zit. nach: TLG): ὕμνος ἐγκωμίου διαφέρει. ὁ μὲν γὰρ ὕμνος ἐστὶ θεῶν, τὸ δὲ ἐγκώμιον ἀνθρώπων. – Etym. Gud. (byz.) 540,42 Sturz (zit. nach: TLG): ὕμνος· ἐγκωμίου διαφέρει, καθὸ ὁ μὲν ὕμνος ἐπὶ θεοῦ λέγεται· τὸ δὲ ἐγκώμιον ἐπὶ ἀνθρώπου. – Die Bindung des Hymnus an Gott belegt auch die Definition Augustins, enarr. Ps. 148,17 (CCSL 40, 2177): hymnus ergo tria ista habet, et cantum, et laudem, et dei. laus ergo dei in cantico, hymnus dicitur (zum hier genannten Kriterium des Gesangs vgl. unten Anm. 54). – Die Adressierung an eine Gottheit hat zur Folge, dass das Element der Gebetshaltung den Hymnus charakteristisch vom Enkomion unterscheidet: Vgl. Schol. Lond. Dion. Thrax 451,6 Hilgard (zit. nach: TLG): ὕμνος ἐστὶ ποίημα περιέχον θεῶν ἐγκώμια καὶ ἡρώων μετ᾽ εὐχαριστίας; Etym. Gud. 540,46 Sturz: ὕμνος· ἔστιν ὁ μετὰ προσκυνήσεως καὶ εὐχῆς κεκραμένης ἐπαινῷ λόγος εἰς θεόν („Hymnus: eine Rede an einen Gott in Gestalt von Anbetung, verbunden mit Bitte und Lob“). 14 Menand. Rhet. aaO. teilt weiter in Städte (samt Ländern) sowie Lebewesen. Die Letzteren schliessen Vernünftiges, also Menschen, und Unvernünftiges zusammen. Dieses gliedert sich seinerseits in Festlandwesen und Wasserwesen, die Ersteren wiederum in Geflügelte und Fusswesen. Eine Glosse schliesst auch Blumen und Pflanzen ein (332,18).
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Bevor wir zur rhetorischen Theorie zurückkehren, ist an die interkulturelle Anschlussfähigkeit des griechischen Wortfelds zu erinnern. Bekanntlich hat das griechischsprachige Judentum seine Psalmen auch als „Hymnen“ bezeichnet und damit in den Zusammenhang des griechisch-hellenistischen Lobs göttlicher Wesen gestellt.15 Dies geschieht gelegentlich in der Septuaginta, häufig bei Josephus und exklusiv bei Philon.16 2. Die Rhetoriktheorie bietet relativ wenig Material zum Hymnus, da er von Haus aus kein Redegenus darstellt. Die einzige substanzielle Abhandlung bietet Menander Rhetor, etwa um 300 n. Chr., im Rahmen seiner Darstellung der epideiktischen Rhetorik.17 Diese gliedert sich in Lob und Tadel. Bezieht sich das Lob auf Götter, handelt es sich um Hymnen (331,15–20 Sp.). Es folgt eine Glosse, die die je nach Gottheit unterschiedenen Gattungen von Hymnen differenziert.18 Interessanter ist Menanders Vollständigkeit beanspruchende Klassifizierung von acht Typen, der eine unsystematische Koordination von funktionalen und inhaltlichen Kriterien zugrunde liegt.19
Wir halten für unsere Fragestellung drei Beobachtungen fest: (1.) Bei rund der Hälfte der Klassen besteht eine grosse Nähe zum Gebet. Dazu passt es, dass beim hymnos physikos, der den Typ des philosophischen Hymnus repräsentiert, das Fehlen des Bittgebets eigens festgehalten wird (337,25 f). (2.) Der philosophische Hymnus, der auf dem höchsten Stilniveau spielt, nimmt eine prominente Position ein (336,24–337,32). (3.) Das Vorhandensein zahlreicher Mischformen wird konstatiert (343,27–344,4). 15 Die griechischen Pseudepigraphen verweisen gern auf den Hymnengesang, insbesondere in Bezug auf die Engel. Den Zusammenhang von Hymnen und Psalmen zeigt das Syntagma ὕμνους ψάλλειν (TestAbr [A] 12,20; HistRech 16,1; PsSal 3,1; ebenso Philon, somn. 1,37). David figuriert in der jüdisch-hellenistischen Überlieferung als ὑμνογράφος (vgl. Philon, gig. 17; 4 Makk 18,15; dazu einige altkirchliche Belege [vgl. PGL s. v.], austauschbar mit ὑμνολόγος und ὑμνοποιός). 16 Vgl. die Übersicht bei G. Delling, Art. ὕμνος, ThWNT 8 (1969) 492–506, hier: 499 f. – Josephus rückt „Hymnen“ und „Psalmen“ nahe zusammen (ant. 6,166–168.214; 7,80; 9,269; 12,323.349; vgl. TestHiob 14,2). 17 Das Œuvre unter Menanders Namen besteht aus zwei Lehrbüchern wohl verschiedener Verfasser. Vgl. D. A. Russell / N. G. Wilson (Hg.), Menander Rhetor, Oxford 1981, xxxviii; ferner E. Krentz, Epideiktik and Hymnody. The New Testament and Its World, BR 40 (1995) 50–97, hier: 62–71; F. Gascó, Menander Rhetor and the Works Attributed to Him, ANRW II/34.4 (1998) 3110–3146, hier: 3113–3115; A.-M. Favreau-L inder, L’hymne et son public dans les traités rhétoriques de Ménandros de Laodicée, in: Y. Lehmann (Hg.), L’hymne antique et son public, Turnhout 2007, 153–167. Zu den epideiktischen Traktaten findet sich fast gar nichts bei M. Heath, Menander. A Rhetor in Context, Oxford 2004, 93–213. 18 331,20–332,7: Apollons Päane und Hyporchēmata, Dionysos’ Dithyramben und Iobakchen, Aphrodites Erōtikoi, schliesslich die an andere Götter gerichteten Hymnen. Zur literarkritischen Analyse vgl. Russell / Wilson, Menander (s. Anm. 17) 227 f. 19 Unterschieden werden in 333,1–344,14 herbeirufende (κλητικοί) und verabschiedende (ἀποπεμπτικοί), naturphilosopische (φυσικοί) und mythische, genealogische und fiktionale, erbittende (εὐκτικοί) und verbittende (ἀπευκτικοί) Hymnen, vervollständigt durch Kombinationen von zweien, dreien oder rundweg allen.
2. Was ist ein „Hymnus“?
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2.2 Griechische Hymnen Im Bereich griechischer Hymnen ist ein weites Feld in den Blick zu nehmen, in formaler, inhaltlicher wie zeitlicher Hinsicht. Ich orientiere mich für meinen Überblick an vier Wegmarken: Sprachgestalt, Struktur, Funktion und Reflexion. Das Augenmerk gilt spezifischen Eigenarten des griechischen Hymnus; Generelles stellen wir vorderhand zurück. 1. Für griechisches Empfinden ist der Hymnus recht zäh an das Metrum gebunden, stellt also Dichtung dar. Dies geht so weit, dass Josephus der hebräischen Poesie, ihren „Oden an Gott und Hymnen“, klassische Metren zuschreibt. Philon seinerseits setzt deren Kenntnis auch bei Mose und vor allem bei den Therapeuten voraus.20 Hymnen orientalischer Herkunft kleiden sich wie im Fall der Isis gelegentlich in antike Verse;21 auch Zauberhymnen mühen sich um metrische Gestaltung.22 Demgegenüber sind für unsere Fragestellung nach „neutestamentlichen Hymnen“ Prosahymnen von grossem Interesse. Sie stehen in starker Wechselwirkung mit der Fortentwicklung der epideiktischen Redekunst, zumal des Enkomions; ihr Markenzeichen ist ein feierlicher, dem Thema angemessener Stil.23 Freilich handelt es sich um ein Genre, das sich sichtbar erst im Kontext der zweiten Sophistik, also ab dem späten ersten Jahrhundert n. Chr., entwickelt.24 Platons Lobreden auf den Eros zeigen, wie das Enkomion bereits im vierten Jahrhundert v. Chr. auch göttliche Wesen zu seinem Gegenstand macht, hier allerdings ohne direkten Anschluss an die hymnische Tradition.25 Zwischen Platon und Aristeides’ Reden auf Götter um die Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. lassen sich nur verstreute Spuren von Prosahymnen nachweisen,26 v. a. eingebunden in andere literarische Gattungen.27 20 Jos., ant. 7,305 (David); 2,346; 4,303 (Mose); vgl. Philon, Mos. 1,23; cont. 29.80.84; D. R. Vance, The Question of Meter in biblical Hebrew Poetry (SBEC 46), Lewiston 2001, 47–51. 21 W. Peek, Der Isishymnus von Andros und verwandte Texte, Berlin 1930. 22 Vgl. PGM 2, 237–266. 23 Zu den „Postulaten der griechischen Kunstprosa“ (Schmuck der Redefiguren; Nähe zur Poesie; Rhythmik) vgl. E. Norden, Die antike Kunstprosa, Leipzig 31915 (= Darmstadt 91983), 50–63; ferner A. Dihle, Art. Prosarhythmus, DNP 10 (2001) 434–437. 24 Vgl. dazu neben der klassischen Passage bei Norden, Kunstprosa (s. Anm. 23) 843–846 v. a. L. Pernot, La rhétorique de l’éloge dans le monde gréco-romain (EAug 137/38), Paris 1993, 82–84; 216–238; ders., Hymne en vers ou hymne en prose?, in: Lehmann, Hymne (s. Anm. 17) 169–188. 25 Vgl. besonders die Rede Agathons, Platon, symp. 194e–197e; zum Schluss wird das Lob dem Gott dargebracht. Vgl. R. Velardi, Le origini dell’ inno in prosa tra V e IV secolo A. C., in: A. C. Cassio (Hg.), L’inno tra rituale e letteratura nel mondo antico, Rom 1993, 205–231. 26 Die Produktion von Prosahymnen beginnt antiken Referaten zufolge mit dem Herakles- Lob des Matris von Athen (ca. 3. Jh. v. Chr.), der auch als Thebaner ὑμνογράφος vorgestellt wird (FGrHist 39 T 1a); vgl. dazu Th.M. Banchich, Matris (39), Brill’s New Jacoby (online). Ptolemaios Chennos (1. Jh. n. Chr.; bei Photios, bibl. 190, 148a/b) listet weitere – uns ganz unbekannte – „Hymnographen“ bzw. städtische Hymnendichter auf. 27 So etwa der Hymnus auf die Philosophie bei Cic., Tusc. 5,5. Ein Lob der Erde, allerdings nicht mit deutlicher Textzäsur, bietet Plin., nat. hist. 2,154. Aufschlussreich ist der Befund bei Ps.-Aristot., de mundo, wohl aus dem späten 1. Jh. n. Chr.: Das Schlusskapitel (7) arbeitet mit
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Immerhin bezeugt Quintilian, dass die rhetorische Theorie nunmehr auch das Lob der Götter einbezieht.28 Seit dem ersten Jahrhundert v. Chr. finden im Rahmen festlicher Anlässe musische Agone statt, in denen nicht nur metrische, sondern auch prosaische Hymen vorgetragen werden.29 Im Rahmen des Götter‑ und Kaiserkults agierten nach Ausweis einiger kleinasiatischer Inschriften theologoi, denen im Unterschied zu den hymnodoi die Rezitation von Prosahymnen oblag.30 Neben der Agonistik wurden Festreden auch vor Rats‑ und Volksversammlungen und bei öffentlichen Banketten vorgetragen. Gleichwohl thematisiert der Rhetor Aristeides, dem wir immerhin zehn solcher Hymnen verdanken, seine metabasis eis allo genos ausdrücklich als Neuerung.31 Noch im vierten Jahrhundert hält es Libanios für bemerkenswert, dass ein Redner einen „Hymnus ohne Metrum“, in seinem Fall auf Artemis, verfasst.32 Es ist kein Zufall, dass der einzige erhaltene Prosahymnus aus hellenistischer Zeit, der die Einwirkung epideiktischer Rhetorik erkennen lässt, eine Isis-Aretalogie, also ein Importprodukt, darstellt.33
Gerade die spärlichen Überlieferungen legen den Schluss nahe, dass der Prosahymnus bis in die Kaiserzeit ganz im Schatten des metrischen Hymnus steht. Er stellt keineswegs ein etabliertes Genre dar, das der urchristlichen Hymnodik den Weg bereitet hätte.34 Erst mit der Literatur des zweiten Jahrhunderts n. Chr. erschliesst sich der Prosahymnus dasjenige Terrain, das bislang dem metrischen Hymnus vorbehalten war; so findet er sich etwa bei Epiktet, bei Apuleius und später bei Julian.35 Die Breitenwirkung der Konjunktur epideiktischer Rede seit dem zweiten Jahrhundert zeigt sich daran, dass Menander den Prosahymnus gleichberechtigt neben den gedichteten hymnischen Sprachformen, etwa der Polyonymie Gottes, aber ein eigentlicher Hymnus findet sich m. E. erst im orphischen Zitat (401a28–b7 = Orph. frg. 21a). 28 Quint., inst. 3,7:6–9 (de laude, ohne den Terminus hymnus); vorangegangen war bereits Aristot., rhet. 1,9: 1366a30. 29 Vgl. Pernot, Rhétorique (s. Anm. 24) 47–50; A. Hardie, Statius and the Silvae (ARCA 9), Liverpool 1983, 97–99; Gascó, Menander (s. Anm. 17) 3131. 30 Vgl. M. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion (HAW 5.2), Bd. 2, München 31974, 379–381; E. L. Bowie, Greek Sophists and Greek Poetry in the Second Sophistic, ANRW II/33.1 (1989) 209–258, hier: 213; 221. 31 Aristeides, or. 45,1–14. Zu den Hymnen (or. 37–46) vgl. D. A. Russell, Aristides and the Prose Hymn, in: ders. (Hg.), Antonine Literature, Oxford 1990, 199–219; J. Goeken, Pourquoi furent composés les hymnes en prose d’Aelius Aristide?, in: Lehmann, Hymne (s. Anm. 17) 189–204. 32 Liban., or. 5,2. – Noch im 5. Jh. bezeugt Marinos, Procl. 1,15–17 S./S. für den paganen Kult Hymnen mit und ohne Metrum. 33 Y. Grandjean, Une nouvelle Arétalogie d’Isis à Maronée (EPRO 49), Leiden 1975; Pernot, Rhétorique (s. Anm. 24) 47; 220. 34 Anders Krentz, Epideiktik (s. Anm. 17) 71–84; A. Yarbro Collins, Psalms, Philippians 2:6–11, and the Origins of Christology, BibInt 11 (2003) 361–372. 35 Epiktet, diss. 1,16:16 f; zu Apuleius, met. 11,2:1–4 und 11,25:1–6 (ohne Bitte) vgl. S. Jacques, Le discours d’Isis et la deuxième prière de Lucius dans les Métamorphoses d’Apulée, in: Lehmann, Hymne (s. Anm. 17) 507–520. – Julians Preisreden auf Helios (or. 4) und auf die Göttermutter (or. 5) stellen nicht als ganze Hymnen dar, diese finden sich jeweils erst in der Schlusspassage (4,43 f; 5,20); anders D. Borrelli, Sur une possible destination de l’hymne aux dieux chez l’empereur Julien, in: Lehmann, Hymne (s. Anm. 17) 243–258.
2. Was ist ein „Hymnus“?
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stellt und ihn sogar privilegiert. Der Rhetoriklehrer unterstreicht, dass für Prosa strengere Stilregeln gelten als für Poesie.36 Dem modernen Leser fällt dabei auf, dass es sich bei nicht wenigen Beispielen, die aus nichtpoetischen Klassikern stammen (vorzüglich aus Platon, sodann aus Thukydides und Isokrates), überhaupt nicht um Textpassagen handelt, die wir heute als ‚hymnisch‘ oder gar als Hymnus charakterisieren würden – wieder ein Indiz für die zuvor festgestellte breite Semantik von ὕμνος. Eine didaktische Hilfe für die Wahrnehmung von Kunstprosa bildet die kolometrische Darstellung (κατὰ κῶλα καὶ κόμματα). Im Layout griechischer Textausgaben sollte sie allerdings m. E. äusserst sparsam eingesetzt werden.37
Innerhalb des breiten Spektrums epideiktischer Rede lässt sich der Prosahymnus formal nur schwer vom Enkomion (bzw. anderen Typen des Enkomions) abgrenzen, sieht man von der genannten inhaltlichen Differenzierung im Blick auf das Objekt bzw. den Adressaten ab. Als Signale spezifisch hymnischer Sprache, die auf die Kulttradition sowie auf bestimmte Platonpartien zurückgehen, fungieren kurze Kola, einfache nicht-periodische Strukturen, Asyndeton, Polysyndeton, Anapher und erhabenes Vokabular, zusammen mit Partizipial‑ und Relativstil.38 2. Der griechische Hymnus hat, obschon dies der antik-rhetorischen Beschreibung entgangen ist, einen dreiteiligen Aufbau: Anrufung, Preis und Bitte.39 Die Klimax kann im dritten Teil liegen; Anruf und Preis etablieren die für das menschliche Anliegen notwendige Kommunikationsbasis. Das Hauptgewicht kann sich aber auf den Mittelteil verschieben. So ist der dritte Teil optional – er kann fehlen oder er nimmt ganz die Gestalt des Danks an.40 Hymnen kommunizieren mit der Gottheit sowohl in der zweiten Person (Du-Stil) wie in der dritten Person (Er-Stil);41 lediglich im dritten Teil dominiert die zweite Person. Die Sprechrichtung zum Göttlichen hin gilt auch bei der dritten Person. Der Hymnus organisiert seinen Bauplan unter Rückgriff auf ein reiches Set von Bausteinen. Partizipial‑ und Relativsätze, typische Merkmale hymnischer Sprache, finden 1: 333,30–334,21; 338,28–339,10; 343,29–32; vgl. Aristeid., or. 45,13; Isokr., or. 9,8–11. Vgl. Peppard, Poetry (s. Anm. 6). 38 Vgl. z. B. K. Keyssner, Gottesvorstellung und Lebensauffassung im griechischen Hymnus, Stuttgart 1932, 22–48; Russell, Aristides (s. Anm. 31) 200 f. 39 Die Entdeckung der Dreiteiligkeit geht zurück auf C. Ausfeld, De Graecorum precationibus quaestiones, JCPh.S 28 (1903) 503–547. Zur Typologie vgl. besonders H. Meyer, Hymnische Stilelemente in der frühgriechischen Dichtung, Diss. Köln 1933, 3–8; K.-D. Dorsch, Götterhymnen in den Chorliedern der griechischen Tragiker, Diss. München 1983, 6–12; Furley / Bremer, Hymns (s. Anm. 11) 50–64. 40 Die Bitte tritt in den homerischen Hymnen meist ganz zurück; sie fehlt z. B. auch in Kallim., hymn. 2; 3; 4; Mesomedes, hymn. 2; 5; Aristeid., or. 39; 40; 41; 42; 43 (der Hymnus steht ganz im Zeichen des Danks; ebenso Liban., or. 5); Synes., hymn. 8; 9. Nach Menander fehlt die Bitte beim naturphilosophischen Hymnus (337,25 f). 41 Die erste Person, der Selbstruhm der Gottheit, findet sich selten in griechischen Hymnen; er ist häufig in denjenigen des Alten Orients (bis zu den Isis-Aretalogien), nicht aber in Israel. – Der manchmal behauptete Gegensatz von „rhapsodischen“ (Er-Stil) und „kultischen“ (Du-Stil) Hymnen wird relativiert von Furley / Bremer, Hymns (s. Anm. 11) 42 f. 36 37
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Hymnus, Enkomion oder Psalm?
sich im mittleren, prädikativen bzw. argumentativen Teil; er stellt Mythos und Wesen der Gottheit heraus. 3. Von Haus aus haben Hymnen einen kultischen Sitz im Leben. Sieht man aber von einigen Inschriften ab, sind sie uns grösstenteils in literarischer Gestalt überliefert. Hier muss dann nochmals zwischen Hymnen, die mehr oder weniger unmittelbar auf kultische Vollzüge zurückweisen, und literarischen Hymnen, die sich davon ganz emanzipiert haben, unterschieden werden; dabei gibt es zahlreiche Wechselwirkungen. Wie kultisch ist ein hymnisches Gedicht, das an einem Symposion zusammen mit einer Libation rezitiert wird? Wie nah steht der Prooimion-Hymnus an einem rhapsodischen Wettbewerb oder das Chorlied in einer Tragödie dem städtischen, mit Opferhandlungen verbundenen Götterkult? Bereits im Bereich antiker Hymnologie stellen sich dem in der Exegese beliebten Kurzschluss von der literarischen direkt auf die kultische Ebene Schwierigkeiten entgegen. Holzschnittartig gesprochen lassen sich Hymnen funktional differenzieren – sie nehmen kultische, didaktische oder/und ästhetische Funktionen wahr. Im Blick auf literarische Hymnen ist ihre Platzierung und Funktion in grösseren literarischen Gattungen wie Drama, Roman oder Traktat zu beachten.42 Deshalb gilt es, die beiden Kommunikationsebenen des Hymnus sorgfältig zu unterscheiden: Einerseits adressiert er die Gottheit, andrerseits interagieren Sänger und Gemeinde bzw. Autor und Leserschaft. 4. Schliesslich ist auf die Attraktivität des Hymnus für die philosophische und theologische Reflexion hinzuweisen, die sich von Kleanthes, vielleicht schon von Empedokles, bis Proklos durchhält.43 Das Nachdenken über Gott erreicht geradezu seine höchste Stufe, wenn es sich über die diskursive Reflexion zum hymnischen Lob aufschwingt.44 Der philosophische Hymnus verdankt sich einerseits der allegorischen Hermeneutik, andrerseits der Personifikation von Abstracta, etwa der Tugend, der Gesundheit oder der Philosophie. Gerade in letzterem Fall sind Enkomion und Prosahymnus fast nicht mehr unterscheidbar.
42 Zu Hymnen in narrativen Gattungen vgl. G. Rispoli, La présence de l’hymne dans le roman grec antique, in: Lehmann, Hymne (s. Anm. 17) 259–273 sowie die Beiträge von M. L. Delbridge und A. Enermalm in M. Kiley u. a. (Hg.), Prayer from Alexander to Constantine, London 1997, 171–180. 43 Vgl. M. Meunier, Hymnes philosophiques, Paris 1935; D. Furley, Types of Greek Hymns, Eos 81 (1993) 21–41; G. Zuntz, Griechische philosophische Hymnen, Tübingen 2005; speziell zu Kleanthes (SVF 1, 537) vgl. J. Thom, Cleanthes’ Hymn to Zeus (STAC 33), Tübingen 2005; P. A. Meijer, Stoic Theology, Eburon 2007, 209–228. 44 Proklos zufolge steht zuoberst der apophatische theologische Hymnus, gerichtet an das Eine, wie ihn der platonische Parmenides repräsentiert (in Parm. 6, 1191:34 f C.).
2. Was ist ein „Hymnus“?
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2.3 Hymnen als religionswissenschaftlicher Gegenstand 1. Hymnen eignen sich für den Kulturvergleich.45 Neben charakteristischen Unterschieden zwischen griechischen und orientalischen Hymnen, die Eduard Norden bahnbrechend herausgearbeitet hat,46 gibt es ein breites Inventar an Formelementen, die sich im mediterranen Raum und weit darüber hinaus kulturübergreifend erheben lassen. Das Feld reicht von Strukturen – wie der Abfolge von Anrufung und Preis – bis zu den Merkmalen hyperbolischer Sprache im Partizipial‑ und Relativstil. Für unseren Bereich drängt sich die alttestamentliche Gebetsdichtung auf, an die Hermann Gunkel die Kategorie des Hymnus herangetragen hat.47 Mittlerweile hat man Abstand genommen von reinen Urformen oder von festen Gattungsmerkmalen zugunsten der Beschreibung der Einzeltexte, die lediglich durch ein Feld zumeist optionaler Elemente wie Lobaufforderung, Begründungspartikel, Partizipialstil und Sprechrichtung zu Gott in zweiter oder dritter (!) Person verbunden sind.48 Markenzeichen der Hymnen ist ausserdem ihre „gleichsam magnetische Kraft, theologische Reflexion anzuziehen“;49 dies verbindet sie nicht nur mit der griechischen, sondern etwa auch mit der ägyptischen Hymnik. Die Öffnung des formgeschichtlichen Rasters kommt uns im Bereich des frühen Judentums und Christentums insofern entgegen, als sie es erlaubt, ein breites Spektrum von Texten einzubeziehen, freilich mit der Gefahr, in der überwältigenden Erscheinungsfülle Unterscheidungskriterien ganz zu verlieren. Die frühjüdische Literatur enthält eine reiche Zahl von Psalmen, Hymnen und Gebeten, die sich angemessen mit den in der alttestamentlichen Formgeschichte erhobenen Kategorien beschreiben lassen.50 Aus griechischer Perspektive handelt es sich bei ihnen so gut wie bei den Liedern des Psalters um Prosahymnen aus dem Schatz
45 Vgl. besonders F. Stolz, Vergleichende Hymnenforschung, in: Burkert / Stolz, Hymnen (s. Anm. 11) 109–119; G. Freyburger / L. Pernot, Préface, in: Lehmann, Hymne (s. Anm. 17) I („Païen ou chrétien, rituel ou artistique, en vers ou en prose, sérieux ou parodique, parlé ou chanté, l’hymne est omniprésent dans les mondes antiques“). 46 E. Norden, Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede, Berlin 1913 (= Darmstadt 1974), besonders 220–223; 239. 47 H. Gunkel, Einleitung in die Psalmen, Göttingen 41985; ferner F. Crüsemann, Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel (WMANT 32), Neukirchen 1969. 48 Vgl. H. Spieckermann, Alttestamentliche „Hymnen“, in: Burkert / Stolz, Hymnen (s. Anm. 11) 97–108; ders., Hymnen im Psalter, in: E. Zenger (Hg.), Ritual und Poesie (HBS 36), Freiburg 2003, 137–161. 49 So Spieckermann, Alttestamentliche „Hymnen“ (s. Anm. 48) 104; ders., Hymnen im Psalter (s. Anm. 47) 140 („Theologiegeneratoren par excellence“). 50 Übersichten bieten J. H. Charlesworth, A Prolegomenon to a New Study of the Jewish Background of the Hymns and Prayers in the New Testament, JJS 33 (1982) 265–285; R. D. Chesnutt / J. Newman, Prayers in the Apocrypha and Pseudepigrapha, in: Kiley, Prayer (s. Anm. 42) 38–42. Zu Qumran vgl. E. Chazon, Psalms, Hymns and Prayers, EDSS 2 (2000) 710–715; A. K. Harkins, The Community Hymns Classification, DSD 15 (2008) 121–154.
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Hymnus, Enkomion oder Psalm?
barbarischer Frömmigkeit und Weisheit. Ihnen lassen sich die bereits genannten Isisaretalogien zur Seite stellen.51 2. Es steht ausser Zweifel, dass das Urchristentum in hohem Ausmass an der Tradition frühjüdischer Gebets‑ und Hymnendichtung partizipiert, wie überhaupt am reichen Arsenal an Gottesprädikationen, den Bausteinen dieser Redeformen.52 Zugleich rezipiert es nicht weniger als das zeitgenössische Judentum die lobpreisenden Sprachformen seiner hellenistischen Umwelt. Man ist gut beraten, gerade in diesem Bereich grundsätzlich von erheblichen kulturellen Austauschprozessen auszugehen und an den Einzeltexten zu eruieren, welche konkrete Gestalt die formalen und inhaltlichen Elemente hymnischer Sprache annehmen. Spezielle Aufmerksamkeit verdient bei ihrer Formbestimmung die Wahl der Beschreibungssprache. In griechischer Sprache formulierte bzw. übersetzte Psalmen und Lieder alttestamentlich-jüdischen (wie überhaupt orientalischen) Typs sind aufgrund ihres fehlenden quantitierenden Metrums als – gehobene – Prosa anzusprechen, für deren Beschreibung die antike Rhetorik geeignete Instrumente bereitstellt. Umgekehrt spiegelt ihre Sprachgestalt mehr oder weniger stark Struktur und Stil semitischer Poesie, folgt also den Regeln für Vers, Rhythmus und Klang, die die Alttestamentler und Orientalisten mit viel Mühe erheben.53 Anstatt die Beschreibungssprachen programmatisch gegeneinander auszuspielen, versucht man besser, sie ergebnisorientiert an den Einzeltexten zu testen und zu ermitteln, ob sie komplementär oder alternativ funktionieren. 3. Wir kehren zurück zur Religionswissenschaft. Ein Punkt bedarf besonderer Klärung, nämlich das Verhältnis des Hymnus zum Gebet.54 Von Haus aus gehören beide eng zusammen (das ebenfalls komplexe Verhältnis zur Magie klammern wir aus). Die Abgrenzung ist delikat, da auch das Gebet ähnlich strukturiert sein kann und mit preisenden Elementen arbeitet.55 Beiden eignet die Sprechrichtung zum göttlichen Wesen. Zwei Kennzeichen erlauben eine Unterscheidung, Anders Peek, Isishymnus (s. Anm. 21) 159, der sich nur am griechischen Hymnus orientiert. Vgl. G. Delling, Geprägte partizipiale Gottesaussagen in der urchristlichen Verkündigung, in: Studien zum Neuen Testament und zum hellenistischen Judentum, Göttingen 1963, 401–416; Ch. Böttrich, Die neutestamentliche Rede von Gott im Spiegel der Gottesprädikationen, BThZ 16 (1999) 59–80; ders., „Gott und Retter“. Gottesprädikationen in christologischen Titeln, NZSTh 42 (2000) 217–236. 53 Vgl. dazu W. G. E. Watson, Classical Hebrew Poetry (JSOT.SS 26), Sheffield 1984; K. Seybold, Poetik der Psalmen, Stuttgart 2003; J. F. Hobbins, Regularities in Ancient Hebrew Verse, ZAW 119 (2007) 564–585. 54 Vgl. dazu besonders Pulleyn, Prayer (s. Anm. 12) 39–55; ferner F. Heiler, Das Gebet, München 31921, 157–190; P. Wülfing, Hymnos und Gebet, Studii Classice 20 (1981) 21–31; Furley / Bremer, Hymns (s. Anm. 11) 3 f; Löhr, Gebet (s. Anm. 7) 437–439. 55 Nicht empfehlenswert ist die Definition des Hymnus als „sung prayer“ (so J. M. Bremer, Greek Hymns, in: H. S. Versnel / E. T. van Straten (Hg.), Faith, Hope and Worship [SGRR 2], Leiden 1981, 193–215, hier: 193); vgl. die Selbstkorrektur in Furley / Bremer, Hymns (s. Anm. 11) 3. 51
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2. Was ist ein „Hymnus“?
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nämlich Sprachtyp und Kommunikationstyp. Der Hymnus arbeitet erstens mit einer kunstvollen Diktion – stilistisch, poetisch und metrisch geformt – und ist deshalb auch Gegenstand rhetorischer Analyse geworden. Die Sprache des Gebets ist oft viel schlichter. Zweitens hat der Hymnus in kommunikativer Hinsicht sein Gravitationszentrum im Gotteslob, in der Anbetung.56 Er bedarf so nicht notwendig einer Gebetsbitte. Die Interaktion mit der Gottheit unterscheidet sich charakteristisch vom Gebet; der Hymnus ehrt die Gottheit mit gehobener, feierlicher Sprache (τιμή). Er stellt selber eine Gabe an die Gottheit dar und kann deshalb auch auf ein Opfer verzichten, das im paganen Raum üblicherweise mit dem Gebet verbunden ist. Die idealtypische Differenzierung von Hymnus und Gebet wird freilich durchkreuzt von ihrer intensiven Wechselwirkung. 4. Die grosse Nähe des Hymnus zum Gebet trotz seines spezifischen Profils bildet einen fundamentalen Eckwert auf unserem langen Weg zu einer Eingrenzung des Phänomens. Der Hymnus hat, kultisch oder literarisch, die Funktion, die Gottheit zu vergegenwärtigen – in griechischen Hymnen gern mit dem Ruf nach ihrem epiphanialen Kommen verbunden. Die Leistung hymnischer Sprache besteht in der Repräsentation der Gottheit. Insofern zählt die Epiklese, die Invokation,57 zu den unverzichtbaren Elementen eines Hymnus, bestehe sie auch nur in der schlichten Nennung des Götternamens. Ein Hymnus hat also eine mindestens virtuelle kletische Dimension. Das Moment der Repräsentation bezieht sich sowohl auf seine kultische, seine didaktische wie seine ästhetische Funktion. Das heisst: Auch ein literarischer Hymnus zielt darauf, in seinen Lesern bzw. Hörern eine bestimmte, dem Gegenstand angemessene Einstellung zu erzeugen. Er versetzt sie aus ihrer normalen Welt heraus in einen Raum, der durch die Gegenwart des angerufenen Wesens bestimmt ist. Dies gilt von Sapphos Hymnus auf Aphrodite, die Macht der Liebesgöttin, nicht weniger also von Kleanthes’ Lob des Zeus, die alles zum Graden richtende kosmische Intelligenz, oder von Ciceros Anrufung der Philosophie, der weisen Führerin zum Leben.58 Natürlich schert an diesem Punkt eine besondere Gattung aus, der parodische Hymnus. 5. So legt sich folgende Sprachregelung nahe: Ein Hymnus besteht in lobendem bzw. preisendem Sprechen oder Singen von und zu göttlichen Wesen (Sprechrichtung). Seine Sprechhandlung zielt auf die Repräsentation der Gottheit. 56 Eine hübsche Differenzierung zwischen Psalmgebeten und Hymnen nimmt Johannes Chrysostomos in seiner Auslegung von Kol 3,16 vor (hom. 9,2 in Col. [PG 62, 363 = 11, 453 M.]): „Die Psalmen enthalten alles, die Hymnen indes wiederum nichts Menschliches (οἱ ψαλμοὶ πάντα ἔχουσιν, οἱ δὲ ὕμνοι πάλιν οὐδὲν ἀνθρώπινον). Wenn man in den Psalmen kundig geworden ist, wird man auch die Hymnen verstehen, da sie eine göttlichere Sache (θειότερον πρᾶγμα) sind. Die himmlischen Mächte singen Hymnen, nicht Psalmen (αἱ γὰρ ἄνω δυνάμεις ὑμνοῦσιν, οὐ ψάλλουσιν)“, mit Zitat von Sir 15,9 („nicht angemessen ist das Gotteslob im Mund des Sünders“, wo Chrys. ὕμνος statt αἶνος [hebr.: ]תהלהliest). 57 πρόσρησις im Prosahymnus (Aristeid., or. 45,8). 58 Sappho, frg. 191 L./P.; Kleanthes, SVF 1, 537; Cic., Tusc. 5,5.
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Hymnus, Enkomion oder Psalm?
Unsere relativ enge Anbindung des Hymnus an das Gebet nimmt mit Absicht eine bedeutsame Weichenstellung vor, die die zu erwartenden Resultate ein gutes Stück weit kanalisiert.
3. Ein neutestamentlicher Rundgang Anders als das Alte Testament oder als griechische Sammlungen enthält das Neue Testament keine Dichtungen oder Reden, bei denen es sich als ganze um „Hymnen“ oder „Gebete“ handelt. Wir haben es vielmehr mit anderen literarischen Gattungen zu tun, die allenfalls Hymnen enthalten. Eine grundlegende methodische Entscheidung besteht darin, primär auf der Ebene der vorfindlichen Texte danach zu fragen, ob ein Hymnus vorliegt oder nicht. Davon zu unterscheiden ist die Frage, ob unsere Texte allenfalls Gebrauch von Hymnen machen, die sich in ihrer schriftlichen oder geprägten mündlichen Gestalt rekonstruieren lassen. Und noch einmal ist davon die Frage abzusetzen, ob diese postulierten Hymnen ursprünglich eine kultische Funktion hatten. Bewegen wir uns auf der Ebene der vorfindlichen Texte und arbeiten mit der oben vorgeschlagenen Sprachregelung, dann können wir nur dort einen Hymnus erwarten, wo der Makrotext selber Signale bietet, die seiner kletischen Dimension Raum geben. Der Leser wird ein Stück weit aus dem Erzähl‑ oder Argumentationszusammenhang hinausversetzt und in die Bewegung des Hymnus, die auf die Repräsentation des göttlichen Wesens zielt, hineingenommen. Es bedarf dafür nicht notwendig einer Epiklese, auch ein Ausruf, eine Zitationsformel oder eine anderweitige Zäsur auf der Textoberfläche, die den Übergang zum Hymnus indiziert, ist ausreichend.59 Aus ökonomischen Gründen stellt die folgende Durchmusterung repräsentative Texte zusammen, ohne Vollständigkeit zu beanspruchen. Dabei stellen sich Fragen der Abgrenzung zu anderen liturgisch geprägten Formen, etwa zu Eulogie oder Doxologie, die aber im Unterschied zu den Hymnen eine v. a. biblisch-jüdische Sonderbildung darstellen.60 Besonders schwierig ist die Differenzierung gegenüber Homologie und Bekenntnisformeln, da wir mit vielfachen Wechselwirkungen zu rechnen haben.61 Ich orientiere mich in schlichter bibelkundlicher Weise an der kanonischen Folge der Schriften und erlaube mir lediglich aus didaktischen Gründen, den Johannesprolog für den Schluss der tour d’horizon aufzusparen. 59 Dieses Kriterium wurde oben auch der Analyse einiger griechischer Prosahymnen zugrunde gelegt (bei Anm. 27; 35). 60 Eulogien: Röm 1,25; 9,5; 2 Kor 11,31; auch Lk 1,68; am Briefeingang 2 Kor 1,3 f; Eph 1,3–14; 1 Petr 1,3–5. – Doxologien: Lk 2,14; 19,38; Mt 6,13add.; Röm 11,36; 16,25–27; Gal 1,5; Phil 4,20; Eph 3,21; 1 Tim 1,17; 6,16; 2 Tim 4,18; Hebr 13,2; 1 Petr 4,11; 5,11; Jud 24 f; 2 Petr 3,18; Apk 1,6; 5,13 f; 7,10.12; 19,1; Did 8,2; 9,2–4. Vgl. G. Wainwright, Doxology, London 1980, 182–217. 61 Zur Differenzierung vgl. W. Gloer, Homologies and Hymns in the New Testament, PRSt 11 (1984) 115–132.
3. Ein neutestamentlicher Rundgang
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1. Das Lukasevangelium bietet uns mit seinen zwei Liedern, die in den Schatz christlicher Hymnodik eingegangen sind, mit dem Magnificat (Lk 1,46–55) und dem Benedictus (1,68–79), ‚Psalmen‘, die ganz in alttestamentlicher Tradition stehen. Sie lassen sich unschwer als Hymnen, verbunden mit Elementen des Danklieds des Einzelnen, identifizieren;62 beide bieten die von uns gewünschte Textabgrenzung durch den Übergang in direkte Rede (V. 46a. 67b). Beim Magnificat, einem hochorganisierten Patchwork biblischer Sprache, führt das zweifache begründende ὅτι (V. 48a.49a) von der Einleitung zum Hauptteil, der das Heilshandeln Gottes in dritter Person mit Prädikationen und mehrfachem Parallelismus membrorum preist. Der Hymnus, in dem Gott fast durchwegs als Subjekt agiert, respondiert auf die Engelankündigung von der Geburt des Messias, ist also kontextuell sinnvoll platziert. Auch das mit einer Eulogie eingeleitete Benedictus arrangiert biblische Phrasen, allerdings in komplexerem Satzbau; Gottesprädikationen dominieren nur den ersten Teil (V. 68–75). In seinem Kontext verschränkt es Johannesgeburt und Jesusgeburt. Beide Hymnen stehen genau an dem Ort, wo Israels Verheissungsgeschichte in seine Erfüllungsgeschichte übergeht. Für beide reklamiert eine überwältigende Mehrheit der Exegeten vorlukanische Herkunft, im Fall des Benedictus gern unter Ausschluss redaktioneller Verse oder Versteile. Wie erfolgreich wäre ein erneuter Versuch, die beiden Hymnen als Dichtungen des auctor ad Theophilum zu beschreiben? Man müsste zeigen können, dass sich das Sondervokabular der Psalmen-Mimesis des mit der Septuaginta so vertrauten Lukas verdankt. Umgekehrt zeigt gerade ein Gebet wie Apg 4,24–30, wie sehr Lk auch mit älterem Material arbeitet. Es handelt sich zwar nicht im Ganzen um einen Hymnus,63 da sich das Lob nach der Anrufung lediglich auf V. 24–25a erstreckt. Es macht einem Psalmzitat mit Auslegung Platz, um dann erst in V. 28 wieder kurz aufgenommen zu werden. Anrufung (V. 29) und Bitten (V. 30) bilden den Schlussteil.
2. In Röm 11,33–36 findet sich ein Lobpreis, der nicht nur Paulus’ Ausführung über Gottes Gerechtigkeit und Israel beschliesst (Kap. 9–11), sondern überhaupt den ersten Teil des Briefs. Wir haben einen Gotteshymnus vor uns, bei dem die Anrufung bruchlos in den Preis übergeht und in einer Doxologie gipfelt.64 Die Dreizahl strukturiert das Ganze in mehrfacher Hinsicht. Bemerkenswert ist die Mischung von hellenistischen und biblisch-jüdischen Elementen; am meisten 62 Zur Analyse, die in Bezug auf die Gattungsfrage weitgehend einmütig ausfällt, vgl. T. Kaut, Befreier und befreites Volk (BBB 77), Frankfurt 1990; U. Mittmann-R ichert, Magnifikat und Benediktus (WUNT II/90), Tübingen 1996; R. J. Dillon, The Benedictus in Micro‑ and Macrocontext, CBQ 68 (2006) 457–480; M. Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 99 f; 110–112; Th.P. Osborne / N. Siffer, Les „hymnes“ du récit de l’enfance de l’évangile de Luc, in: Gerber / Keith, Hymnes (s. Anm. 6) 281–308. 63 So Berger, Gattungen (s. Anm. 9) 1151; ders., Formgeschichte (s. Anm. 9) 239. 64 Vgl. dazu besonders G. Bornkamm, Der Lobpreis Gottes, in: ders., Das Ende des Gesetzes. Paulusstudien (BEvTh 16), München 51966, 70–75.
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sticht das erstere bei der Präpositionenreihe in V. 36a sowie bei der Interjektion hervor, das zweite bei der Doxologie (V. 36b), den Schriftzitaten (V. 34 f) und den Parallelismen membrorum (V. 33b.34 f). Es spricht viel dafür, dass Paulus das Gotteslob eigens für den Abschluss des Briefteils verfasst hat; die Bezüge zumal zu Kap. 9–11 und hier insbesondere zu 11,25–32 sind überaus dicht. Es gibt kaum überzeugende Gründe, einen vorgegebenen hellenistisch-jüdischen Hymnus, den Paulus mit den Schriftzitaten anreichert, zu postulieren.65 Auffällig ist die strikt durchgehaltene theozentrische Perspektive ohne jede Referenz auf Jesus Christus, gerade auch im Vergleich der Präpositionenreihe von V. 36 mit 1 Kor 8,6. Sie ist nicht nur dem Gespräch mit Israel, das Paulus in Röm 9–11 führt, geschuldet (vgl. 9,5), sondern markiert auch eine fundamentale Achse in der Architektur seiner Theologie.66 3. Mit Phil 2,6–11 haben wir einen prominenten Repräsentanten der hypothetischen urchristlichen Hymnen vor uns, in den Worten seines Entdeckers, Ernst Lohmeyer: „ein Stück urchristlicher Psalmdichtung“.67 Je nach Wahl der Beschreibungssprache lassen sich vielfältige Kunstmittel benennen, die die Passage aus ihrem Kontext, der seinerseits auch schon artifizielle Formgebung aufweist (2,1–4), herausheben. Es stechen hervor der antithetische und synonyme Parallelismus membrorum, chiastische Strukturen, progressives Enjambement und Anadiplosis. Sie signalisieren den erheblichen Einfluss alttestamentlich-jüdischer Psalmensprache. Wendet man sich der Gesamtstruktur zu, gibt es für die Anordnung der einzelnen Kola zwar viel Spielraum, die Zweiteilung der Passage sticht aber markant heraus. Syntaktisch handelt es sich um zwei relativ komplex gebaute Perioden. Statt von einem Gedicht mit „Strophen“ spricht man besser von kunstvoller Prosa.68 Handelt es sich um einen Hymnus? Legen wir unsere Sprachregelung zugrunde, so haben wir zwar eine in feierlicher Sprache gehaltene Erzählung vom Handeln und Ergehen eines göttlichen Wesens vor uns – gleichsam einen Mythos –, es fehlt aber der kletische Aspekt. V. 6–8 bilden einen Relativsatz, der seinerseits abhängig ist von einem elliptischen Relativsatz (V. 5b). Es gibt kein Textgliederungssignal, das zu der für den Hymnus typischen Sprechrichtung zum göttlichen Wesen hin überleitet. Anders stellt sich die Sachlage dar, wenn man hinter dem vorfindlichen Textzusammenhang einen Hymnus postuliert, auf dessen invokativen Anfang der Briefautor verzichtet hätte (um allenfalls noch Interpolationen hinzuzufügen). In diesem Fall bieten sich noch einmal Alternativen an: paulinisch oder vorpaulinisch, didaktisch oder/und kultisch. Die m. E. sparsamste Hypothese geht davon aus, dass Paulus, ein hervorragender Stilist, den So wieder R. Jewett (Hermeneia), Romans, Minneapolis 2007, 713 f. Vgl. J. D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Edinburgh 1998, 28–33. 67 E. Lohmeyer, Kyrios Jesus. Eine Untersuchung zu Phil. 2,5–11, SHAW.PH 1927/28.4, Darmstadt 21961, 7; vgl. 9: „ein judenchristlicher Psalm.“ 68 Mit Brucker, Christushymnen (s. Anm. 6) 306 f. 65 66
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Text selber verfasst hat, wenn auch nicht unbedingt eigens für sein Schreiben an die Philipper. Sprachliche Argumente für vorpaulinische Herkunft unterschätzen die Modulationskapazität epideiktischer Sprache, inhaltliche Argumente unterschätzen die Kontextverbundenheit des Stücks, auch seines zweiten Teils. Handelt es sich nicht um einen Hymnus, um was dann? Konjunktur hat unter Berufung auf die Rhetorik das Enkomion.69 Der Nachteil dieser Beschreibung besteht darin, dass die Bezüge zum Hymnus in der gesamten Bandbreite seiner Phänomene auf einen Schlag gekappt werden. Mit der Bezeichnung Enkomion platziert man Phil 2 in einem Genre hellenistischer Rhetorik, das zwar in Wechselwirkung mit dem Hymnus steht, aber seinen Schwerpunkt an einem anderen Ort ausgebildet hat.70 Mehr noch: Legt man konsequent die Beschreibungssprache der rhetorischen Theoretiker zugrunde, handelt es sich bei einem Enkomion auf ein göttliches Wesen, das von seiner Haltung, seinen Taten und seinem Geschick (samt seiner Interaktion mit einem anderen göttlichen Wesen) berichtet, just um einen Hymnus! Das Fehlen der Epiklese oder der Bitte spielt hier keine Rolle, da die antike Beschreibung des Hymnus seine strukturelle Dreiteilung nicht kennt.71 Klassifiziert man also Phil 2 dezidiert als Enkomion im Kontrast zum Hymnus, kombiniert man zwei verschiedene Beschreibungssprachen – eine antike und eine moderne –, ohne dies eigens auszuweisen. Ich schlage eine Formbestimmung in einer Beschreibungssprache vor, die die Bezüge sowohl zur rhetorischen Typologie wie zur alttestamentlichen Metasprache offen hält: ein hymnisches Christuslob. Unser Text bietet alles, was man von einem Hymnus erwarten darf, unter Einschluss äusserst verdichteter theologischer Reflexion – ausser dem einen: die direkte Sprechrichtung zu Jesus Christus. In seinem Kontext stellt er eine Digression dar, die den Philippern ein verheissungsvolles exemplum christlicher Selbsterniedrigung präsentiert. Das Christuslob hat im Briefganzen, wenn man von einem einheitlichen Dokument ausgeht, eine zentrale Position; es rückt die Lebensform, die im Raum des Christus massgeblich ist (2,5), plastisch vor Augen. Weil die einzig legitime Herrschaft im Himmel und auf Erden dem Christus gebührt, ruft es dazu auf, dieser Herrschaft auch im solidarischen Gemeinschaftsleben zu entsprechen.72
69 Berger, Gattungen (s. Anm. 9) 1178–1189; J. Reumann, Philippians (AYB 33 B), New Haven 2008, 339; 364–366. 70 Auch der Vorschlag, wir hätten einen Epainos vor uns (Brucker, Christushymnen [s. Anm. 6] 319), leidet unter dieser Verkürzung. Zudem bildet die (auf Aristoteles zurückgehende) Differenzierung zwischen Enkomion und Epainos eine – keineswegs konsistent gehandhabte – Sonderlehre innerhalb der rhetorischen Theoriebildung; vgl. dazu Pernot, Rhétorique (s. Anm. 24) 118–123. 71 S. oben bei Anm. 39. 72 Vgl. S. Vollenweider, Politische Theologie im Philipperbrief?, in: D. Sänger / U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes (WUNT 198), Tübingen 2006, 457–469, Abdruck in diesem Band: 227–238.
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4. Mit Kol 1,15–20 haben wir einen weiteren Text vor uns, der alle Kriterien hymnischer Rede erfüllt, wiederum abgesehen von der kletischen Dimension. Sein „Entdecker“ ist, von einigen Vorgängern abgesehen, nicht zufällig Eduard Norden, der Vater der neueren Hymnologie.73 Die Struktur der Passage ist deutlich zweigeteilt, die Korrespondenzen zwischen beiden Partien sind überaus dicht. Wiederum handelt es sich um einen Prosatext mit zahlreichen Kennzeichen hymnischer Sprache – rückverweisende Pronomina, Partizipialstil, polysyndetisches καί, kurze Kola, universale Prädikationen u. a. Syntaktisch ist das Ganze Teil eines monströs langen Satzes, dessen Anfang man letztlich in V. 9 zu suchen hat. Die Textstrukturierung im Einzelnen führt zu keinen konsensfähigen Ergebnissen – verkompliziert durch Interpolationshypothesen –; deutlich ist nur, dass die beiden Partien abgesehen von ihrem jeweiligen Anfang überhaupt nicht symmetrisch gebaut sind.74 Die Nötigung, ein älteres Überlieferungsstück zu postulieren, hält sich m. E. wieder in Grenzen, ganz abgesehen davon, dass dessen Rekonstruktion methodisch fast nicht mehr kontrollierbar ist. Hinsichtlich der inhaltlichen Spannungen zwischen dem hymnischen Teil und der Argumentation im Briefkontext, v. a. in 2,9–15, dürfte sich eine hermeneutische anstelle einer literarkritischen Erklärung als methodisch weniger aufwendig erweisen.75 Das Sondervokabular wiederum lässt sich auch mit der Wahl des Stilniveaus erklären, also rhetorisch statt überlieferungsgeschichtlich. Für die Klassifizierung bietet sich wie bei Phil 2 das „hymnische Christuslob“ an. Gegenüber dem „Enkomion“76 bietet diese Nomenklatur erneut den Vorzug, dass sie einerseits die hymnische Sprachgestalt und die traditionell mit dem Hymnus verbundene Thematik festhält – insbesondere die ausserordentliche Norden, Theos (s. Anm. 45) 250–254; 261. Das je verschiedene, subjektiv anmutende Textlayout in den neueren Auflagen von Nestle / Aland26/27/28 demonstriert augenfällig den Widersinn kolometrischer Gliederung in einer Textausgabe. 75 Vgl. dazu meinen Aufsatz: „Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20), in: J. Hübner / I.-O. Stamatescu / D. Weber (Hg.), Theologie und Kosmologie (RuA 11), Tübingen 2004, 61–80, Abdruck in diesem Band: 53–71. Die Hypothese von Interpolationen innerhalb des Textbestands V. 15–20 (v. a. Kreuzesblut V. 20b oder Engelklassen V. 16c/d) drängt sich nicht wirklich auf. Für die Explikation des „Leibs“ durch „die Kirche“ in V. 18a bietet sich die Alternative einer betont protologischen Deutung der Kirche an; der Verfasser spielt mit den kosmischen Assoziationen des Leibes, ohne aber den Kosmos mit dem Leib zu identifizieren. 76 So Berger, Formgeschichte (s. Anm. 9) 345; 372; M. Wolter, Der Brief an die Kolosser (ÖTBK 12), Gütersloh 1993, 71 f; U. Luz, Der Brief an die Kolosser (NTD 188.1), Göttingen 1998, 201. Demgegenüber halten an der Kategorie des Hymnus fest V. A. Pizzuto, A Cosmic Leap of Faith. An Authorial, Structural, and Theological Investigation of the Cosmic Christology in Col. 1:15–20 (CBET 41), Leiden 2006, 103–111; M. E. Gordley, The Colossian Hymn in Context (WUNT II/228), Tübingen 2007, 170–203; J. Sánchez Bosch, Der Hymnus Kol 1,15–20 in seinem früheren und seinem späteren Kontext, in: P. Müller (Hg.), Kolosser-Studien (BThS 103), Neukirchen 2009, 23–32; A. Dettwiler, Démystification céleste. La fonction argumentative de l’hymne au Christ (Col 1,15–20) dans la lettre aux Colossiens, in: Gerber / Keith, Hymnes (s. Anm. 62) 325–340. 73 74
3. Ein neutestamentlicher Rundgang
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Nähe zum philosophischen Hymnus77 –, andrerseits den Anschluss an die alttestamentlich-jüdische Dichtung, zumal an das Weisheitslob, sicherstellt. Das Christuslob hat in der Argumentation eine entscheidende Funktion: Gegenüber der Attraktivität der kosmischen Mächte, auf die sich offenbar die kolossische ‚Philosophie‘ berufen hat, stellt es die alles durchdringende Wirklichkeit und Herrschaft Christi, des Schöpfungsmittlers, heraus. 5. 1 Tim 3,16 gilt mit Blick auf Struktur und Gleichklang der Zeilen als besonders klares Exempel hymnischer Dichtung,78 obschon auf der Ebene des vorfindlichen Textbestands kein entsprechendes kletisches Signal erkennbar ist. Tatsächlich legt sich in diesem Fall die Hypothese der Übernahme eines vorgegebenen Stücks durch den Briefverfasser nahe – darauf weist v. a. der schwierige relativische Anschluss. Das Stichwort ὁμολογουμένως deutet freilich eher auf eine kunstvoll gestaltete Bekenntnisformel als auf einen Hymnus, so sehr die beiden Gattungen Lobpreis und Homologie in Wechselwirkung stehen (vgl. 1 Kor 8,6). Fast undenkbar für einen Hymnus ist die durchgehende Passivform der Verben, weil dieser geradezu davon lebt, seinen Gegenstand und Adressaten als Subjekt zu würdigen. Wiederum markiert die christologische Partie eine zentrale Position im Briefganzen, wird doch die Kirche als Haus Gottes, das sich am abwesenden Paulus zu orientieren hat, christologisch im „Geheimnis der Frömmigkeit“ verankert (V. 14–16a). 6. Der Verfasser der Apokalypse hat gegen zwanzig in liturgischer Sprache gestaltete Passagen verfasst, die in ihrem jeweiligen Kontext die irdischen Ereignisse aus himmlischer Perspektive deuten. Obschon sie alle mit hymnischen Formelementen arbeiten, sind nur 19,5.6–8 und 15,3 f, ein Patchwork der Psalmensprache, als Gotteshymnen alttestamentlichen Typs anzusprechen,79 während die übrigen mit anderen Formen wie Akklamation und Doxologie in Wechselwirkung stehen. Wir notieren am Rand, dass Christus als Empfänger zweier „Würdig“-Akklamationen (5,9 f.12) und, zusammen mit Gott, zweier Doxologien (5,13; 7,10) fungiert. Der Hymnus von Kap. 19 stellt den Höhepunkt der himmlischen Gesänge dar, weil er unmittelbar die Wiederkunft Christi präludiert: Das Zu Recht herausgestellt von Gordley, Hymn (s. Anm. 76) 229 f. Z. B. G. W. Knight, The Pastoral Epistles (NIGTC), Grand Rapids 1992, 182 f (creed or hymn); W. D. Mounce, Pastoral Epistles (WBC 46), Nashville 2000, 215 f; J. Herzer, „Das Geheimnis der Frömmigkeit“ (1 Tim 3,16), ThQ 187 (2007) 309–329. 79 Berger, Formgeschichte (s. Anm. 6) 242 (mit Verweis auch auf das parodische Element 13,4). Demgegenüber verweist man zumeist summarisch auf „Hymnen“, z. B. H.-P. Jörns, Das hymnische Evangelium (StNT 5), Gütersloh 1971; D. E. Aune, Revelation, Bd. 1 (WBC 52 A), Dallas 1997, 314–317; G. Schimanowski, Die himmlische Liturgie in der Apokalypse des Johannes (WUNT II/154), Tübingen 2002, 32 f; 159 f; 281 f; ders., „Connecting Heaven and Earth“. The Function of the Hymns in Revelation 4–5, in: R. S. Boustan / A. Y. Reed (Hg.), Heavenly Realms and Earthly Realities in Late Antique Religions, Cambridge 2004, 67–84; F. Tóth, Der himmlische Kult (ABG 22), Leipzig 2006, 202–211; 450–455; M. Morgen, Comment louer Dieu, „Celui qui siège sur le trône ‚et l’Agneau‘“?, in: Gerber / Keith, Hymnes (s. Anm. 62) 209–237. 77 78
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Hymnus, Enkomion oder Psalm?
hymnisch provozierte Kommen des Herrn überwindet die sphärische Dualität von Himmel und Erde, auf der das szenische Arrangement von Kap. 4–19 beruht. 7. Den Johannesprolog (Joh 1,1–18) können wir an dieser Stelle nicht einmal ansatzweise würdigen. Angesichts der Unsicherheit, ob es sich bei Texten dieser Art um Kunstprosa oder um Dichtung handelt, stellt sich erneut die Frage nach der angemessenen Beschreibungssprache. Joh 1 zeichnet sich jedenfalls durch eine schlichte, aber vom Erhabenen (ὕψος) bestimmte Diktion aus, an bestimmten Stellen unterbrochen durch Sätze mit gewöhnlicherem Erzählstil, die auf das narrativ angelegte Evangelium vorausweisen (V. 6–8.15). Die Stellung am Anfang des Evangeliums weist die Passage als Proömium aus,80 das von Haus aus eigentlich einen eröffnenden Hymnus bildet. Zahlreiche Dichtungen setzen mit einem Hymnus ein; bei Prosawerken gibt es m.W. zwar keine eröffnenden Hymnen, wohl aber Epiklesen, die Gott um Beistand anrufen. Am nächsten steht Joh 1 das Buch Sirach, das mit einem Weisheitshymnus einsetzt. Wir dürfen beim Johannesprolog von einem Logoshymnus sprechen, der den Namen Jesu erst am Schluss nennt (V. 17). Es ist wenig wahrscheinlich, dass der Hymnus unabhängig von der Evangelienlesung und damit ohne Zusätze je kultisch verwendet worden ist; bei den Weisheitshymnen in Sir und Sap ist gottesdienstlicher Gebrauch gewiss nicht der Fall. Der hymnische Prolog hat die Aufgabe, die mythischen Dimensionen der irdischen Jesusgeschichte, die das Evangelium erzählen wird, auszuspannen. Unser exegetischer Durchgang versuchte, formgeschichtlich zwischen Hymnus im engeren Sinn und hymnischem Lob zu differenzieren. Wir stehen nun vor einem eigentümlichen Ergebnis: Das Neue Testament dokumentiert einige Gotteshymnen, aber nahezu keine Christushymnen. Dieser Befund steht quer zur klassischen Untersuchung von Reinhard Deichgräber, wonach der im Urchristentum seltene „Gotteshymnus weitgehend vom Christushymnus verdrängt worden ist“.81 Zugleich hat sich aber auch gezeigt, dass die urchristlichen Texte auf eine Fülle von hymnischen Sprachmitteln aus ihrer Umwelt zurückgreifen, um Christus als gottgleiches Wesen zu preisen, und diese hymnischen Figuren stehen in ihrem Kontext oft an zentraler Stelle. Lässt sich dieser spannungsvolle Befund erklären?
80 So explizit Basil., hom. 16,1 (PG 31, 472 C: τὸ προοίμιον τῆς εὐαγγελικῆς συγγραφῆς). – Zur lektüreleitenden Funktion des literarischen Prologs vgl. M. Theobald, Die Fleischwerdung des Logos (NTA.NF 20), Münster 1988, 267–271; J. Zumstein, Der Prolog, Schwelle zum vierten Evangelium, in: ders., Kreative Erinnerung (AThANT 84), Zürich 22004, 105–126; H. Weder, Ursprung im Unvordenklichen. Eine theologische Auslegung des Johannesprologs (BThSt 70), Neukirchen 2008, 144–148. 81 Deichgräber, Gotteshymnus (s. Anm. 2) 60; 106. Er übergeht dabei die Cantica von Lk 1, „weil es sich um ursprünglich jüdische Hymnen handelt“ (21; 118 A. 3) – eine in methodischer Hinsicht prekäre Vorentscheidung!
4. Monotheismus und hymnisches Christuslob
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4. Monotheismus und hymnisches Christuslob Wir sind ausgegangen von der geradezu romantischen Vermutung, dass der grösste Teil einer einst reichen frühchristlichen Hymnodik untergegangen sei. Betroffen wären davon insbesondere die Christushymnen. Die Hypothese hat am Neuen Testament selber kaum Anhalt. Nun bietet auch die patristische Literatur der ersten drei Jahrhunderte auffällig wenige Preislieder auf Christus, und diese sind ihrerseits nicht zufällig in quantitierendem Metrum gehalten und haben meist rein literarische Funktion.82 Mehr hymnisches Material enthalten gnostische bzw. gnosisnahe Texte und die christlichen Apokryphen; die Zahl der Christushymnen hält sich allerdings, sieht man von den in vielfacher Hinsicht singulären Oden Salomos ab, in recht engen Grenzen.83 Kol 3,16 und Eph 5,19 belegen zwar einen inspirierten gemeindlichen Liedergesang, kaum aber spezifische Christushymnen.84 Offen lassen wir die Frage, wie stark man den bekannten Hinweis von Plinius auf Lieder „für den Gott Christus“ belasten kann.85 Im Ganzen legt der Befund nicht die Hypothese eines Verdrängungsprozesses nahe, sondern muss als einigermassen repräsentativ ernst genommen werden. Der Hauptempfänger von Hymnen bleibt auch im frühen Christentum Gott selber, nicht sein menschgewordener Sohn. Ja, die hymnischen Passagen, 82 So Clemens, paed. 3,101:3; Method., symp. 284–292; PapOxy 15:1786 (mit Notenzeichen! C. H. Cosgrove, The Earliest Christian Hymn with Musical Notation, EL 120 [2006] 257–276); Weiteres bei Th. Wolbergs, Griechische religiöse Gedichte der ersten nachchristlichen Jahrhunderte, Bd. 1 (BKP 40), Meisenheim 1971; W. Christ / M. Paranikas, Anthologia graeca carminum christianorum, Leipzig 1871 (= Hildesheim 1963), darunter das schwer datierbare Abendlied φῶς ἱλαρόν. Vgl. ferner J. den Boeft / A. Hilhorst (Hg.), Early Christian Poetry (VC.S 22), Leiden 1993; J. Szövérffy, Latin Hymns, Turnhout 1989. – Mit der Zeit setzt sich die akzentuierende, rhythmische Versform durch; vgl. Norden, Kunstprosa (s. Anm. 23) 841–867; A. Dihle, Die griechische und lateinische Literatur der Kaiserzeit, München 1989, 391 f; 581–590. 83 Von besonderem Interesse sind Sib 6, ActThom 72.80 und der ‚Tanzhymnus‘ ActJoh 94–96, in dem Christus in erster Person spricht. Zusammenstellung des Materials bei Lattke, Hymnus (s. Anm. 11) 243–267. 84 Im Gefolge von 1 Kor 14,15.26 beziehen sich Kol 3,16 und Eph 5,19 auf geistgewirkte „Psalmen, Hymnen und Oden“; während diese in Kol Gott gelten, sind sie in Eph an den Herrn, d. h. an Christus, gerichtet. Auch im letzteren Fall weist die Formulierung nicht notwendig auf direkt und exklusiv an Christus adressierte Hymnen, zumal es sich um eine geprägte biblische Wendung handelt. 85 Laut Plinius (ep. 10,96:7) singen Christen „Christus als Gott einen Wechselgesang“ (so nach der wahrscheinlichsten Deutung: carmenque Christo quasi deo dicere). Das Statement des paganen Beobachters kann auch an Christus adressierte Homologien bzw. Doxologien sowie Gebete in dessen Namen meinen. Zur Diskussion vgl. J. C. Salzmann, Lehren und Ermahnen (WUNT II/59), Tübingen 1994, 133–148. – An vereinzelten späteren Zeugnissen ist zu nennen ein Auszug aus einer antihäretischen Schrift bei Euseb, hist. 5,28:5, der summarisch auf viele „Psalmen und Oden“ verweist, mit denen Brüder „von Anfang an das Wort Gottes, Christus, theologisch gepriesen hätten“. Dem steht aaO. 7,30:10 die Nachricht über Paulus von Samosata, den Lehrer des psilos anthropos, entgegen, er habe „die Psalmen auf unseren Herrn Jesus Christus verboten, weil sie zu neu und erst von neueren Dichtern (!) verfasst worden wären“.
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Hymnus, Enkomion oder Psalm?
die Christi Würde preisen, spiegeln vielfach die Ehre der Gottheit zurück – so in Phil 2,9–11 und in 1 Tim 3,16.86 Die hier zu beobachtende Theozentrik pflegen wir mit der Kategorie des christologischen Monotheismus zu beschreiben. An dieser Stelle lohnt sich ein Seitenblick auf die frühchristlichen Gebete, zumal wir ja Hymnus und Gebet einander eng zugeordnet hatten. Von der frühchristlichen Literatur bis tief ins vierte Jahrhundert zeigt sich ein erstaunliches Phänomen: Die uns erhaltenen gottesdienstlichen Gebete werden nach Ausweis der alten Kirchenordnungen und Liturgien ausschliesslich an Gott adressiert, nicht an Christus, so sehr dieser die im Gebet aktualisierte einzigartige Gottesbeziehung eröffnet und trägt.87 Nicht von ungefähr rät Origenes in seiner Abhandlung zum Gebet dazu, Gebete allein an Gott zu richten, nicht an den, der selber betet.88 Der altkirchliche Befund deckt sich in erheblichem Umfang auch mit der urchristlichen Literatur: Jesus Christus ermöglicht als Mittler und Begründer die Gebetskommunikation mit Gott, wird aber selber nur gelegentlich zum Gebetsempfänger.89 Ausnahmen bestätigen die Regel.90 Die ab dem Ende des ersten Jahrhunderts begegnende Zueignung der Doxologien an Christus allein zeigt aber, dass dieser zunehmend auch als liturgischer Adressat in den Vordergrund rückt.91 Unser Bild der um den Christuskult organisierten urchristlichen Gemeinden92 bedarf offenkundig der Verfeinerung. Möglicherweise ist es nicht primär der Kult im engeren Sinn, der als ‚Brutkammer der hohen Christologie‘ anzusprechen ist. Gerade in Lob und Gebet partizipiert die Gemeinde am reichen liturgischen Gut Israels und damit an seiner betont monotheistischen Orientierung, auch dort noch, wo sie selber vom Geist erfüllt Psalmen erschafft. Wenn die Christen Jesus gottgleiche Würde zuschreiben, dann vornehmlich im Modus seiner Teilhabe an Gottes einzigartiger Position – an seinem Namen, seinem Schöpfertum und seiner Weltherrschaft. In anbetenden Sprachgestalten tritt Christus deshalb Von den sechs Passivformen in 1 Tim 3,16 sind mindestens drei passiva divina. J. A. Jungmann, Die Stellung Christi im liturgischen Gebet (LWQF 19/20), Münster 21962, XV*; 125–131; vgl. B. E. Bowe / J. Cableaux, Post New Testament Christian Prayers, in: Kiley, Prayer (s. Anm. 42) 250–253. Von Bedeutung sind insbesondere die Gebete in Const. App. 7/8, für die oft synagogale Herkunft beansprucht wird; etwa P. W. van der Horst / J. H. Newman, Early Jewish Prayers in Greek (CEJL), Berlin 2008. 88 Orig., or. 15,1–4. Unbeschadet dessen bezeugt sein Werk auch das Gebet an Christus. 89 Vgl. K.-H. Ostmeyer, Kommunikation mit Gott und Christus. Sprache und Theologie des Gebets im Neuen Testament (WUNT 197), Tübingen 2006, 115 f; 263 f; 309; 369 f. 90 2 Kor 12,8; Apg 7,59 f; Joh 14,14. Dank an Christus: 1 Tim 1,12. – Gebet an Gott und Christus 1 Thess 3,11(–13); 2 Thess 2,16 f. 91 An Christus gerichtet: 2 Tim 4,18; 2 Petr 3,18; Meliton, pasch. 10; 65; evtl. Hebr 13,21; 1 Petr 4,11; Apk 1,6. Trinitarisch: MartPol 14,3; 22,3; erst die neunizänische Theologie bzw. Liturgie stellt die Doxologie von „durch den Sohn im Geist“ auf μετά – σύν um. 92 Repräsentativ: L. W. Hurtado, Lord Jesus Christ, Grand Rapids 2003; ders., The Binitarian Shape of Early Christian Worship, in: Newman, Roots (s. Anm. 5) 187–213. 86 87
4. Monotheismus und hymnisches Christuslob
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zugunsten der Gottheit selber in den Hintergrund. Demgegenüber ist eher an Schriftauslegung und Lehrpredigt zu denken, in denen sich die christologische Reflexion in hymnischen Sprachformen ein Stück weit verselbständigt und auf ein Neuland hinauswagt, das Jahrhunderte später die Gestalt der trinitarischen Gottesverehrung und Theologie annehmen wird.
Auferstehung als Verwandlung Die paulinische Eschatologie von 1 Kor 15 im Vergleich mit der syrischen Baruchapokalypse (2 Bar) Abstract Resurrection as Transformation. Pauline Eschatology in 1 Cor 15 Compared with the Syriac Apocalypse of Baruch (2 Bar) The article offers a comparison of Paul’s teaching about resurrection in 1 Cor 15 and the passage about the resurrection of the dead in 2 Baruch (Syriac Apocalypse of Baruch, 2 Bar), ch. 49–52. The focus is on some remarkable parallels (resurrection is understood as transformation of the bodies) and on differences regarding eschatology as well.
Traditionsgemäss hat die Eschatologie ihren Ort am Ende der christlichen Dogmatik. Die finale Platzierung der Lehre von den „letzten Dingen“ geht zu guten Teilen auf den 1. Korintherbrief zurück, nämlich auf sein 15. Kapitel. Die hier entworfene eschatologische Anthropologie endet freilich nicht beim Ausblick auf das Dannzumal, sondern ruft die Adressatenschaft mit der Aufforderung zur Standfestigkeit im bilanzierenden Vers 58 in die Gegenwart zurück. Sogar der apokalyptisch-endzeitliche Diskurs über die Anthropologie mündet in der Ethik. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich in ihrem ersten Teil auf das besagte Kapitel und schlagen die Brücke zur syrischen Baruchapokalypse (2 Bar).1 Der zweite Teil wird sich allgemeiner mit dem Stellenwert der Verwandlungstopik befassen. Als zentrale These ergibt sich erstens, dass die Kategorie der Verwandlung diejenigen von Sterben und Leben übergreift, und zweitens, dass Paulus die entscheidenden Grenzen zwischen Leben und Tod – und demzufolge zwischen irdischer und endzeitlicher Existenz – verflüssigt, indem er sie in die gegenwärtige Weltzeit hineinzieht.
1 Die Übersetzungen von 2 Bar orientieren sich an: A. F. Klijn, Die syrische Baruch-Apokalypse (JSHRZ 5.2), Gütersloh 1976, 103–184. Allerdings scheint diese einzige neuere deutsche Übersetzung nicht direkt aus dem syrischen Text (der eine Übertragung aus dem Griechischen bildet [und seinerseits wahrscheinlich auf ein semitisches Original zurückgeht]), sondern aus dem Niederländischen gefertigt worden zu sein („Übersetzung aus dem Niederländischen: Wolfgang Bunte“, 104); leider lässt sich hier keine Sicherheit mehr gewinnen (nach freundlicher Auskunft von H. Lichtenberger). Zu einem möglicherweise damit zusammenhängenden Übersetzungsproblem in der JSHRZ-Ausgabe vgl. unten bei Anm. 48. Von Klijn stammt auch die englische Übersetzung in OTP 1, 615–652.
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Auferstehung als Verwandlung
1. Die Totenauferstehung in 1 Kor 15 Das 15. Kapitel des 1. Korintherbriefs ist die erste ausführlichere Darstellung der Totenauferstehung in der christlichen Literatur. Sieht man von den Traktaten von Athenagoras und Tertullian um die Wende vom zweiten ins dritte Jahrhundert sowie dem gnostischen Rheginusbrief (NHC 1.4) ab, lassen sich dem paulinischen Lehrstück erst wieder nachnizänische Schriften zur Seite stellen. Bemerkenswert an unserem Text ist insbesondere, wie der Apostel die notorischen Probleme hellenistischer Rezipienten mit der Auferstehungserwartung, in unserm Fall einer Gruppe von Korinthern (V. 12), mit dem Rückgriff auf markante apokalyptische Traditionskomplexe bearbeitet, die streckenweise auch von der syrischen Baruchapokalypse dokumentiert werden. Allerdings ist es nicht möglich, in 1 Kor 15 ältere apokalyptische Überlieferungen von ihrer paulinischen Überformung zu unterscheiden – Paulus ist selber zu sehr apokalyptischer Theologe, als dass sich seine Texte auf dem Weg einer überlieferungsgeschichtlichen Dekonstruktion in Tradition und Redaktion scheiden liessen. In methodischer Hinsicht ist man auch gut beraten, für das Verständnis der Textpassage nur mit einem Minimum an korinthischen Vorgaben zu rechnen, die die Argumentation des Apostels steuern würden.2 Die gewiss auffälligen Berührungen zwischen 1 Kor 15,45– 49 und dem exegetischen Œuvre Philons brauchen nicht auf vom Alexandriner Apollos vermittelte korinthische Wissensbestände zurückgeführt werden. Auch weitreichende Hypothesen über einen auf einer gemeinsamen philosophischen Grundlage geführten Diskurs zwischen dem Briefverfasser und den korinthischen Adressaten lassen sich schwer plausibel machen.3 Wir können hinsichtlich der Adressaten leider nicht mit sehr viel mehr Prämissen operieren als mit dem von Paulus bezeugten Faktum einer kritischen Distanz zur Überzeugung von der Totenauferstehung (V. 12) und mit der Annahme eines relativ stark hellenistisch geprägten Spiritualismus, der die Leiblichkeit transzendieren will.4
2 Zur begrenzten Reichweite der Hypothesenbildung vgl. die Zusammenstellung von W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (EKK 7), Bd. 4, Düsseldorf / Neukirchen 2001, 15–17. 3 Anders J. R. Asher, Polarity and Change in 1 Corinthians 15. A Study of Metaphysics, Rhetoric, and Resurrection (HUTh 42), Tübingen 2000, der sowohl bei den Korinthern mit ihrem Verständnis von polarity wie bei Paulus’ Korrektur mittels der Kategorie change philosophische, besonders platonische Einflüsse postuliert („the most likely source of Paul’s use of change must be found in Greek philosophy“, 205; 208 f). Platonische Zusammenhänge propagiert auch V. Songe-Møller, „With what Kind of Body will they come?“ Metamorphosis and the Concept of Change. From Platonic Thinking to Paul’s Notion of the Resurrection of the Dead, in: T. K. Seim / J. Økland (Hg.), Metamorphoses. Resurrection, Body and Transformative Practices in Early Christianity (Ekstasis. Religious Experience from Antiquity to the Middle Ages 1), Berlin 2009, 109–122. 4 Quer dazu steht die idiosynkratisch anmutende Hypothese von S. Schneider, Auferstehen. Eine neue Deutung von 1 Kor 15 (FzB 105), Würzburg 2005, wonach Paulus gegen die Glaubenskrise von korinthischen Christen (mit traditioneller Zukunftserwartung) die Gegenwartsmächtigkeit der Auferstehung herausstreiche.
1. Die Totenauferstehung in 1 Kor 15
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Während der erste Teil des Kapitels das Dass der Totenauferstehung herausstellt (V. 12–34), beschäftigt sich der zweite Teil (V. 35–57) mit dem Wie. Ich möchte im Folgenden die klassische Frage nach dem Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität zwischen dem irdischen und dem auferstandenen Leib stellen.5 Das Reden von Auferstehung ist ja nur dann sinnvoll, wenn es sich einerseits bei Verstorbenen und Auferstehenden um dieselben Subjekte handelt und sich andrerseits deren zukünftige Leiblichkeit markant von der gegenwärtigen unterscheidet. Es geht also sowohl um die Identitätsfrage wie um das Vergeltungsprinzip. Neben 1 Kor 15 sind für den Vergleich mit 2 Bar einige andere paulinische Texte zu berücksichtigen. Verfolgt man eine im Ansatz systematische Fragestellung, verlangen die verschiedenen Bildfelder, mit denen Paulus argumentiert, besondere Umsicht; man muss ihre Wahl plausibel machen, ohne sie aber zu pressen. Es handelt sich in 1 Kor 15 und in sachverwandten Texten um Metaphern aus der Landwirtschaft, aus der Biologie und Astronomie sowie aus dem Bereich des Alltagslebens und des Bauwesens. Der erste Gang zur Beantwortung der Frage nach der Auferstehungsleiblichkeit von V. 35, nämlich V. 36–44, orientiert sich an der Schöpfungswelt, der zweite Gang in V. 45–49 bietet den Schriftbeweis. Der Apostel schlägt also, in der Terminologie späterer Zeit gesprochen, die beiden Bücher Gottes auf. Der Akzent ruht zunächst offenkundig auf der Diskontinuität. Das Korngleichnis V. 36–38 arbeitet mit einer konventionellen Metapher,6 fokussiert aber augenfällig auf das Sterben und das göttliche Neuschaffen („wie Gott will“, V. 38). Diese Pointierung steht nicht nur zum neuzeitlichen biologischen Wissen, sondern durchaus auch zum gemeinantiken Verständnis in Spannung.7 Zugespitzt formuliert: Paulus dokumentiert eine christologisch sensibilisierte Wahrnehmung der Schöpfung; die bekannte Parallele Joh 12,24 wendet das Gleichnis explizit ins Christologische. Die Gleichnisdeutung stellt demzufolge eine radikale Diskontinuität zwischen Jetzt und Dann heraus. Die Perspektive auf biologische und astronomische Felder in V. 39–41, die sich an den Schöpfungstagen der biblischen Urgeschichte orientiert, trägt für unsere 5 Vgl. dazu den Exkurs bei D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010, 526–528 (mit besonderem Akzent auf 2 Bar 49–52). 6 Vgl. dazu neben den rabbinischen Parallelen in Bill. 3, 475 (sowie 1, 552; 897) und 1 Clem 24,5; 3 Kor 3,26–28 besonders H. Braun, Das „Stirb und werde“ in der Antike und im Neuen Testament, in: ders., Gesammelte Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt, Tübingen 31971, 136–158; P. v. Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt. Eine Bildfelduntersuchung (NTOA 18), Fribourg 1993, 299–305. 7 Ein Fragment von Plutarch pointiert die Entstehung einer neuen Pflanze aus einem Korn als Umwandlung, aber gerade nicht als Sterben und Neuwerden: „Das gesäte Korn muss sich zuerst in der Erde verbergen und verfaulen, um so seine Kraft an die es umhüllende Erde abzugeben (τὸ μὲν γὰρ σπέρμα δεῖ καταβληθὲν κρυφθῆναι πρῶτον εἴσω τῆς γῆς καὶ σαπῆναι, καὶ οὕτως ἑαυτοῦ διαδοῦναι τὴν δύναμιν εἰς τὴν περικρύψασαν αὐτὸ γῆν)“, frg. 104 Sandbach (BSGRT; Bd. 7, 66).
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Auferstehung als Verwandlung
Fragestellung wenig aus.8 V. 42–44 arbeiten in einer Serie scharfer Antithesen die Diskontinuität heraus. Diese Kontrastierung setzt sich im Schriftbeweis V. 45– 49 fort. Hier fällt auf, dass sich Paulus nicht explizit auf den ersten Menschenschöpfungsbericht von Gen 1,26 f bezieht, obschon er für das Verständnis des Kontexts, innerhalb dessen sich unsere Passage orientiert, fundamental ist. Verständlich ist das im Zeichen der Kontrastierung: Das Erste steht so sehr im Schatten des Zweiten, dass ihm die Gottebenbildlichkeit nur eingeschränkt zugeschrieben werden kann. V. 49 argumentiert mit dem Gegensatz zweier „Bilder“: Der eikon des Irdischen (vgl. Gen 5,3) steht die eikon des Himmlischen, des Zweiten, gegenüber. Andere Texte schreiben die Gottebenbildlichkeit exklusiv dem endzeitlichen Menschen, dem Christus, zu (2 Kor 4,4; vgl. 3,18; Röm 8,29; ferner Kol 1,15; Hebr 1,3).9 Es ist unübersehbar, dass Paulus auf Figuren zurückgreift, die aus dem exegetischen Œuvre Philons von Alexandria bekannt sind10 und die den Menschen als borderline creature entwerfen.11 Die doppelte Menschenschöpfung in Gen 1/2 wird hier nicht durch Quellenscheidung, sondern durch ontologische Differenzierung bearbeitet. All. 1,31–32 stellt den himmlischen, im Ebenbild Gottes geschaffenen Menschen von Gen 1,26 dem irdischen, aus Staub gebildeten Menschen von Gen 2,7 gegenüber.12 Der Passage aus der „Allegorischen Erklärung“ lässt sich trotz einiger Unterschiede diejenige aus dem Werk „Über die Weltschöpfung“ zur Seite stellen (opif. 134–135): Der Mensch von Gen 2,7 zählt zur sinnlich wahrnehmbaren Welt, besteht aus Körper und Seele, ist sexuell differenziert und von Natur sterblich; derjenige von Gen 1,26 stellt die Idee des Menschen dar, intelligibel und unkörperlich, vor allem aber: in der Textabfolge „früher“ (πρότερον).13 Es spricht manches dafür, dass für Philon die textliche Priorität der Anthropogonie von Gen 1 mit 8 Zu beachten ist der Akzent, der auf der Vielfältigkeit der Leiblichkeit ruht. Im Korngleichnis selber begegnete dies in V. 38b. – Zum Stellenwert von Gen 1 für 1 Kor 15 vgl. besonders C. Janssen, Anders ist die Schönheit der Körper. Paulus und die Auferstehung in 1 Kor 15, Gütersloh 2005, 152–159. 9 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Der Menschgewordene als Ebenbild Gottes. Zum frühchristlichen Verständnis der Imago Dei, in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 53–70. 10 Die klassische Studie dazu legte G. Sellin vor: Der Streit um die Auferstehung der Toten. Eine religionsgeschichtliche und exegetische Untersuchung von 1 Korinther 15 (FRLANT 138), Göttingen 1986, besonders 92–194. 11 Zitat von D. T. Runia, On the Creation of the Cosmos according to Moses (Philo of Alexandria Commentary Series 1), Leiden 2001, 321; vgl. 327. 12 „Gen 2:7 is one of the biblical texts that Philo cites or alludes to most frequently in his writings“, Runia, Creation (s. Anm. 11) 328. 13 In all. 2,5 ist der Mensch von Gen 2,7 „der zweite Mensch“, wiederum im Sinn einer exegetischen Referenz, nicht einer ontologischen Reihung. B. Schaller, Adam und Christus bei Paulus. Oder: Über Brauch und Fehlbrauch von Philo in der neutestamentlichen Forschung, in: R. Deines / K.-W. Niebuhr (Hg.), Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen (WUNT 172), Tübingen 2004, 143–153, hier: 150 f, diagnostiziert in der Herleitung der paulinischen Typologie von Adam und Christus aus der philonischen Exegese der Anthropogonie „ein Paradebeispiel für den Fehlbrauch von Philo in der neutestamentlichen Wissenschaft“ (151). Die Kritik schiesst über das Ziel hinaus: Die ontologisch gewichtete Zählung von 1 Kor 15 resultiert zwar vielleicht erst aus der eschatologischen Hermeneutik des
1. Die Totenauferstehung in 1 Kor 15
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einer impliziten ontologischen Höherstellung einhergeht. Obschon der alexandrinische Religionsphilosoph in vielerlei Hinsicht eine Sonderstellung in der jüdischen Literatur beanspruchen kann, dürfte er gerade hinsichtlich der Verhältnisbestimmung der beiden Menschenschöpfungsberichte in den Grundzügen eine viel weiter gestreute jüdisch-hellenistische Auslegungstradition der prominenten biblischen Urgeschichte repräsentieren.14 Eine solche dürfte Paulus auch ohne Vermittlung des Apollos bekannt gewesen sein. Seine eigene eschatologische Relektüre von Gen 1/2 stellt die exegetischen Standards auf den Kopf: Er führt explizit eine ontologisch gewichtete Zählung durch, korreliert das „Erste“ mit Gen 2,7 und überbietet es mit dem „Zweiten“, gedeutet auf den Christus, dem im Effekt nun die Gottebenbildlichkeit von Gen 1,26 zugeschrieben wird.
Umgekehrt lassen sich in V. 36–49 auch Elemente der Kontinuität identifizieren. Das ist natürlich bereits im Blick auf die argumentationsleitende Frage des ganzen Abschnitts der Fall: Das σῶμα als personbildende Leiblichkeit markiert die Identität der zur Auferweckung Berufenen. Das σῶμα hält die Antithesen von V. 42–44 zusammen. Im Schriftbeweis ist es die Beziehung zum ersten bzw. zweiten Menschen, die die Kontinuität repräsentiert, spezifiziert im „Tragen“ der jeweiligen Imago (V. 49). Mit dem „Tragen“ blendet Paulus eine Kleidermetapher ein, auf die er nachher zurückkommt (V. 53 f; vgl. auch schon V. 38). Beim σῶμα πνευματικόν handelt es sich m. E. um eine von der exegetischen Argumentationslogik geforderte Gelegenheitsbildung, nicht um eine tragende Konzeption. Es bildet den Gegenbegriff zum σῶμα ψυχικόν, das direkt aus Gen 2,7 erschlossen wird. Für das Verständnis des „geistigen Leibs“ ist ein doppelter Aspekt zu beachten: Zum einen geht es um einen Leib, der vom Geist bestimmt und beherrscht wird (vgl. Röm 8,13), nicht von der Sarx bzw. von der Sünde (vgl. Röm 6,6). Zum anderen ist eine leibliche Substantialität im Blick:15 Im Unterschied zum „fleischlichen Leib“ (vgl. Röm 6,12; 7,24; 8,10 f) besteht der Auferstehungsleib aus himmlischem Stoff, aus dem Licht, das die Herrlichkeit Gottes und seiner Engel ausmacht.16 2 Bar 49–51 bieten insofern eine anschauliche Explikation der in 1 Kor 15 nur gerade angedeuteten Konzeption. Die Veranschaulichung durch den Glanz der Himmelskörper in V. 40 f geht also über einen Vergleich hinaus, zumal die astrale Dimension seit Dan 12,2 f zum Standardrepertoire der Auferstehungsvorstellungen gehört. Mit dem Verweis auf die Doxa der Gestirnkörper baut Paulus vorweg eine Brücke zu seiner Ausführung über die Herrlichkeitsleiber der künftigen Weltzeit.
Wir kommen zum Argumentationsgang von V. 50–57. Hier verschieben sich die Verhältnisse, weil nun nicht mehr nur die bereits Verstorbenen, sondern auch die noch Lebenden im Blick sind. Stehen „Fleisch und Blut“ bzw. „Verderblichkeit“ versus „Gottesreich“ und „Unverderblichkeit“ noch für die Diskontinuität, Apostels, aber die Kontrastierung des himmlischen und irdischen Menschen auf der Grundlage der beiden Schöpfungsberichte rückt Philon und Paulus nahe zusammen. 14 Dafür bietet quaest. Gen. 1,8 einen Hinweis, wo platonisierende Auslegungen „einigen“ zugeschrieben werden. 15 Man braucht hierfür m. E. nicht spezifisch die stoische Kosmologie zu bemühen, wie es T. Engberg-P edersen, Cosmology and Self in the Apostle Paul. The Material Spirit, Oxford 2010, 8–38, vorschlägt (besonders 26–31). 16 Hierin mit D. B. Martin, The Corinthian Body, New Haven 1995, 132.
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Auferstehung als Verwandlung
so setzt die Bekleidungsmetaphorik von V. 53 f im Ansatz Kontinuität voraus: Die endzeitliche Vollendung erscheint als Bekleidung mit einem himmlischen Gewand (vgl. schon V. 49).17 Man darf an dieser Stelle die Brücke schlagen zur eschatologischen Belehrung von 2 Kor 5,2–4, wo Paulus mit demselben Baustein arbeitet. In einer eigentümlichen und durchaus schrägen Kombination der Bildfelder von Kleidung und Bauwesen ist hier wahrscheinlich sogar die Überkleidung im Blick.18 Es zeigt sich: Die Auferstehungsleiblichkeit zeichnet sich durch ein eigentümliches Miteinander von Diskontinuität und Kontinuität aus. Dies gilt offenbar auch für den Verwandlungsvorgang, der laut dem Geheimnis von V. 51b Verstorbene wie Lebende umgreift. V. 52 scheint zwar die Verwandlung auf die Lebenden allein zu beziehen, aber in V. 53–55 sind wieder alle im Blick; der Lehrsatz V. 53 generalisiert. Das bedeutet: Das Ineinander von Diskontinuität und Kontinuität, das das Verhältnis von Jetzt und Dann ausmacht, gilt auch für den Transfer der noch Lebenden in die endzeitliche Vollendung, charakterisiert also die Transformation schlechthin. So wird die Bekleidung konterkariert durch das „Verschlungenwerden“ des Todes im Schriftzitat V. 54d. V. 57 schliesslich gibt uns zusammen mit der Architektur des ganzen Kapitels und speziell mit den Bezügen auf den „zweiten“, „himmlischen“ Menschen den Schüssel dafür in die Hand, wie Kontinuität und Diskontinuität aufeinander zu beziehen sind: die Christusrelation, die durch den Geist repräsentiert wird (V. 45: der zweite Mensch als lebendigmachender Geist). Wir kommen darauf zurück.
2. Vergleichende Perspektiven auf 2 Bar 49–52 Die ausführlichste und inhaltlich dichteste Passage, in der sich 2 Bar mit der Totenauferstehung beschäftigt, findet sich in 49–52. Die Kontaktstellen zwischen dieser Passage und 1 Kor 15,35–58 sind augenfällig und längst auch beschrieben worden.19 So wird die Frage nach der Auferstehungsleiblichkeit explizit gestellt und beantwortet. Tote und Lebende sind im Blick. Die Auferstehung mündet 17 Vgl. dazu N. A. Dahl / D. Hellholm, Garment-Metaphors. The Old and the New Human Being, in: A. Y. Collins / M. M. Mitchell (Hg.), Antiquity and Humanity. Essays on Ancient Religion and Philosophy, FS H.-D. Betz, Tübingen 2001, 139–158; J. H. Kim, The Significance of Clothing Imagery in the Pauline Corpus (JSNT.SS 268), London 2004, 193–209; 231 f. 18 Vgl. die Diskussion bei Th. Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther (EKK 8), Bd. 1, Neukirchen / Ostfildern 2010, 292 f, wo auch auf die Schwierigkeit der Vermittlung mit 1 Kor 15,52 hingewiesen wird (289 f). 19 Vgl. dazu den Beitrag von M. Henze, „Then the Messiah will begin to be revealed“. Resurrection and the Apocalyptic Drama in 1 Corinthians 15 and Second Baruch 29–30, 49–51, in: M. Konradt / E. Schläpfer (Hg.), Anthropologie und Ethik im Frühjudentum und im Neuen Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen (WUNT 322), Tübingen 2014, 441–462, hier: 441–462; ferner F. J. Murphy, The Structure and Meaning of Second Baruch (SBL.DS 78), Atlanta 1985, 68–70 („a certain community of thought shared by the two“) sowie Bill. 3, 474.
2. Vergleichende Perspektiven auf 2 Bar 49–52
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in einer Verwandlung.20 Umrisshaft wird ein breiteres Setting von Endzeitereignissen erkennbar; die Totenauferstehung ist eingebettet in eine umfassende eschatologische Geschehensfolge. Zugleich gibt es, ganz abgesehen vom christlichen Koordinatensystem und der speziell christologischen Perspektive des Paulus, erhebliche Differenzen: 1. 2 Bar orientiert sich an der (später im Christentum klassisch gewordenen) Abfolge Auferstehung – Gericht – Verwandlung.21 Zunächst werden die irdischen Körper in ihrer ursprünglichen Gestalt wiederhergestellt (50,2–4); erst nach dem Gericht erfolgt die Verwandlung. Paulus stellt demgegenüber die Simultaneität von Auferstehung und Verwandlung heraus („in einem Augenblick“, V. 52). Obschon der Apostel Auferstehung und Verwandlung ineinanderblendet, setzt er doch voraus, dass die Verwandlung ihren Ausgang an den toten Körpern nimmt.22 Ein Seitenblick auf die vielfach analoge Lehraussage von 1 Thess 4,16 f bestätigt die Annahme: Nur wenn die Auferstehung an den irdischen Leibern geschieht, ist die hier vorgenommene Analogisierung zwischen den Toten als zu Auferweckenden und den noch Lebenden, die beide in die Luft entrückt werden, sinnvoll. 2. 2 Bar hat den doppelten Ausgang der endzeitlichen Geschicke vor Augen; die Transformation geschieht an beiden Gruppen. Die alles entscheidende Weichenstellung wird im jüngsten Gericht vorgenommen.23 Bei Paulus bildet die Auferstehung hingegen als solche das Heilsgeschehen; ein Gericht ist an dieser Stelle nicht im Blick. Das hat unter anderem damit zu tun, dass Paulus die Auferstehung der Glaubenden aufs engste mit derjenigen des Christus, dem rettenden Ereignis par excellence, korreliert (15,20–23.49). Demgegenüber stehen in 2 Bar das Wirken des Messias und die Totenauferstehung nicht in direktem Zusammenhang.24 20 2 Bar wird diesbezüglich besonders hervorgehoben von H. C. Cavallin, Leben nach dem Tode im Spätjudentum und im frühen Christentum. I. Spätjudentum, ANRW II/19.1 (1979) 240–345, hier: 266 f. 21 2 Bar ist an diesem Punkt sehr systematisch: „Denn sicher gibt die Erde ihre Toten dann zurück, die sie jetzt empfängt, um sie aufzubewahren; dabei wird sich an ihrem Aussehen nichts verändern. Denn wie sie sie empfangen hat, so wird sie sie auch wiedergeben, und wie ich sie ihr übergab, so wird sie sie auch auferstehen lassen“ (50,2); vgl. Sib 4,181 f („Gott selber wird abermals die Gebeine und den Staub der Männer formen, er wird die Sterblichen wieder aufrichten, wie sie vordem waren“), dazu P. M. Bogaert (Hg.), L’Apocalypse syriaque de Baruch (SC 144/145), Paris 1969, Bd. 2, 92, mit dem Hinweis darauf, dass die präzise Sequenz von Auferstehung, Gericht und Verwandlung im Judentum nicht breit bezeugt ist („Nous n’avons trouvé dans la littérature rabbinique aucun texte faisant état explicitement d’une telle distinction“). 22 Ein Indiz dafür könnten die auffälligen Demonstrativpronomina in V. 53 f sein. – Die scharfe Kontrastierung zwischen 1 Kor 15 und 2 Bar, die F. Back, Verwandlung durch Offenbarung bei Paulus. Eine religionsgeschichtlich-exegetische Untersuchung zu 2 Kor 2,14–4,6 (WUNT II/153), Tübingen 2002, 196, vornimmt, wird dadurch ein Stück weit relativiert. 23 48,27; 50,4; vgl. das Summar im Baruchbrief, 85,7–15. 24 Vgl. dazu J. Holleman, Resurrection and Parousia. A Traditio- historical Study of Paul’s Eschatology in 1 Corinthians 15 (NT.S 84), Leiden 1996, 128–130 („In 2 Apoc. Bar. the
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Auferstehung als Verwandlung
3. Anders als beim Apostel wird das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in 2 Bar sequentiell aufgearbeitet: Die Auferstehung aus der Erde ermöglicht das Wieder-Erkennen; das Aussehen hat sich nicht geändert (50,2–4). Erst in einem zweiten Schritt erfolgt die Transformation, die wesentlich die Umkehrung der irdischen Verhältnisse bringt. Das Moment des Wiedererkennens ist ein geläufiger Topos in den eschatologischen Erwartungen,25 allerdings nicht in den neutestamentlichen Texten. 4. Die Transformation selber hat in 2 Bar zwei Aspekte: Zum einen schafft sie – in Analogie zu 1 Kor 15 – die Angleichung an die unvergängliche Welt, artikuliert also das Moment der Diskontinuität. Zum anderen aber steigert sie das, was schon zuvor der Fall war, d. h. das verderbte Aussehen der Bösen und den Glanz der Gerechten – das deutet auf Kontinuität. Die Frage von 49,2 f und die Antwort Gottes in 51,1–3 sind nicht ganz eindeutig, bieten aber jeweils beide Aspekte.26 5. 2 Bar führt ein an Individuen orientiertes Szenario vor und unterstreicht die Pluralität von Erscheinungsformen, die die Verwandlung im Anschluss an die Auferstehung mit sich bringt.27 Demgegenüber zeigt Paulus in 1 Kor 15 kein
resurrection takes place at the departure; in Paul it occurs at the arrival oft he heavenly eschatological agent. Nevertheless, 2 Apoc. Bar. coordinates the expectation of the resurrection, that of the final judgement, and that of the activity of the eschatological agent, into one systematized structure“, 128). Allerdings ist die Interpretation von 2 Bar 30,1, worauf sich Holleman bezieht, nicht gesichert (s. unten bei Anm. 49/50); M. Henze, Jewish Apocalypticism in Late First Century Israel. Reading ‚Second Baruch‘ in Context (TSAJ 142), Tübingen 2011, 293–305, kommt gerade zu einem entgegengesetzten Schluss; zur Zuordnung von Messias und Totenauferstehung vgl. ders., Resurrection (s. Anm. 19) 459. 25 Vgl. dazu G. Stemberger, Der Leib der Auferstehung. Studien zur Anthropologie und Eschatologie des palästinischen Judentums im neutestamentlichen Zeitalter (AnBib 56), Rom 1972, 86–91; eine detaillierte Exegese von 50,4 im Kontext von 50,1–51,6 und 48,31–36 bietet L. I. Lied, Recognizing the Righteous Remnant? Resurrection, Recognition and Eschatological Reversals in 2 Baruch 47–52, in: Seim / Økland, Metamorphoses (s. Anm. 3) 311–335. 26 2 Bar 49,2 f: „In welcher Art Gestalt sollen die Lebendigen weiterleben, die an deinem Tag (noch) leben? Oder wie wird ihr Glanz fortdauern, der danach ist? Sollen sie das heutige Aussehen etwa wieder annehmen und werden sie anlegen die Glieder von Fesseln, die jetzt in Bosheit sind“; 51,2 f: „Das Aussehen derer, die hier frevelhaft gehandelt haben, wird schlimmer gemacht werden, als jetzt es ist […]. Die Herrlichkeit von denen, die sich jetzt rechtschaffen gezeigt haben […] – ihr Glanz wird dann verherrlicht sein in unterschiedlicher Gestalt. Ins Licht ihrer Schönheit wird verwandelt sein das Ansehen ihres Angesichts.“ 27 Die Vielzahl der auferstandenen Leiber wird in 2 Bar ausdrücklich hervorgehoben („ihr Glanz wird dann verherrlicht sein in unterschiedlicher Gestalt [“]ܗܝܕܝܢ ܢܫܬܒܚ ܙܝܘܗܘܢ ܒܫܘܚܠܦܐ, 51,3; vgl. V. 10). In unserem Textabschnitt aus 1 Kor 15 findet sich die Individualisierung lediglich im Korngleichnis selber (V. 38) und im Blick auf die Vielfalt der Leiber in der jetzigen Schöpfung (V. 39–41); dazu vgl. Ch. Burchard, 1 Korinther 15 39–41, ZNW 75, 1984, 233–258 (Abdruck in: ders., Studien zur Theologie, Sprache und Umwelt des Neuen Testaments [WUNT 107], Tübingen 1998, 203–228, hier: 236–238). Von dieser Vielfalt führt keine explizite Brücke zur Vorstellung verschiedener Herrlichkeitsgrade der Auferstandenen, vgl. Schrage, 1 Kor, Bd. 4 (s. Anm. 2) 292 f mit dem Hinweis auf entsprechende Auslegungen seit der Alten Kirche.
2. Vergleichende Perspektiven auf 2 Bar 49–52
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Interesse an individuellen Auferstehungsleibern, sondern hat die Gruppe der Christenmenschen als ganze im Blick.28 6. 2 Bar ist interessiert am Verhältnis von „Ersten“ und „Letzten“ (51,13),29 was speziell auf Verstorbene und Lebende zu beziehen ist. Ein analoges Interesse findet sich bei Paulus in V. 51 f, wo die Verwandlung Entschlafene und Lebende verbindet. Die Verhältnisbestimmung variiert diejenige von 1 Thess 4,13–18, wo es explizit um die soteriologische Egalisierung von Verstorbenen und Lebenden geht.30 7. Paulus bezieht sich explizit auf die Menschenschöpfung in Gen 2 zurück und implizit auf die Konzeption einer doppelten Menschenschöpfung; dies fehlt in 2 Bar. Demzufolge begegnet hier auch nicht die Korrelation des zweiten, neuen Menschen mit dem Geist. 8. 2 Bar bietet umgekehrt ‚haggadische‘ Elemente an: Die Guten werden zur Engelgleichheit verherrlicht und schauen himmlische Dinge; die Bösen werden umgekehrt zu Schreckgestalten und erleiden Pein (51,5.10 f). 9. Der Ausblick auf die zukünftige Auferstehung hat Folgen für die ethische Belehrung. 2 Bar setzt konsequent auf einen entschlossen Tora-Gehorsam, der die Zugehörigkeit zu den in Herrlichkeit Auferweckten sichert (14,5; 15,6; 19,3; 32,1; usw.).31 Es gilt, sich rechtzeitig, also noch in dieser Weltzeit, für Gott und sein Gesetz zu entscheiden. Noch prononcierter als 4 Esr stellt 2 Bar die Wahlfreiheit, an der auch Adam teilhatte, vor Augen (56,10 f; vgl. 85,7). Demgegenüber arbeitet Paulus in 1 Kor 15 die ethische Relevanz der Auferstehung nicht heraus.32 Auch sonst hat im 1 Kor das österliche Bekenntnis keine direkte Relevanz für die Ethik – 6,14 f argumentiert primär christologisch. Immerhin zielt der eschatologische Ausblick in 7,29–31 auf den angemessenen Umgang mit der rasch zu Ende gehenden Zeit (vgl. Röm 13,11–14). Vor allem aber stellt die Erwartung des Endgerichts bei Paulus die stärkste Massierung von eschatologischen 28 Vgl. Back, Verwandlung (s. Anm. 22) 197 f, wo allerdings (anders als 71) zu scharf kontrastiert wird („Ihre endzeitliche Existenzweise wählen sie [sc. die Christen, S. V.] sich nicht selbst. Sie ist für sie von Gott vorgesehen“). Auch die Frommen von 2 Bar empfangen ihr verheissenes neues Sein von Gott, allerdings aufgrund ihrer in Freiheit ergehenden Wahl noch im gegenwärtigen Leben (dazu unten bei Anm. 42 und 43). 29 Vgl. 30,2 („all die vielen Seelen werden nun zugleich erscheinen als eines Sinnes eine Schar. Die Ersten freuen sich, die Letzten aber sind nicht traurig“); dazu Bogaert, Apocalypse (s. Anm. 21), Bd. 2, 66 mit dem Verweis auf 4 Esr 13,16–19.22–24 („wisse also, dass die Übriggebliebenen weitaus seliger sind als die Gestorbenen“), wo aber die eine Gruppe gegenüber der anderen privilegiert wird. 30 Vgl. zum Hintergrund A. F. J. Klijn, I Thessalonians 4.13–18 and Its Background in Apocalyptic Literature, in: M. D. Hooker (Hg.), Paul and Paulinism, FS C. K. Barrett, London 1982, 67–73. 31 Vgl. Ch. Münchow, Ethik und Eschatologie. Ein Beitrag zum Verständnis der frühjüdischen Apokalyptik, Göttingen 1981, 96–111. 32 Wie eingangs angedeutet, zieht immerhin der abschliessende V. 58 eine ethische Konsequenz aus der eschatologischen Belehrung. Markanter sind die ethischen Dimensionen der Auferstehungserwartung in Röm 6, dazu unten S. 483.
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Auferstehung als Verwandlung
Begründungsmustern für das christliche Verhalten dar (3,13–15.16 f; 11,29–32; vgl. 1 Thess 4,3–8; 2 Kor 5,9 f; Röm 14,10–12)33 – von hier lässt sich mühelos eine Brücke zu 2 Bar schlagen. 10. Die Funktion der Passagen im jeweils Ganzen der Texte ist nicht identisch. Bei Paulus dient die Belehrung über die Auferstehungsleiblichkeit dem umfassenderen Nachweis der Denknotwendigkeit der Auferstehung, teilweise sogar verbunden mit polemischer Rhetorik (V. 36!). Abgesehen vom Geheimnis in V. 51 handelt es sich um die Argumentation eines Lehrers. In 2 Bar dient die Belehrung dem seelsorgerlichen Anliegen, die Gültigkeit der göttlichen Verheissungen trotz der Zerstörung Jerusalems herauszustellen. Gott selber spricht, und der Adressat Baruch soll es ins Gedächtnis seines Herzen einschreiben. Etwas plakativ zugespitzt: Bei Paulus ist mehr die Identitätsthematik im Fokus, in 2 Bar mehr die Vergeltungsthematik. Paulus klärt auf, Baruch vergewissert und tröstet. Paulus’ Hinweis auf ein „Geheimnis“ in V. 51, das er seiner Leserschaft enthüllt, rückt den Apostel wiederum in grosse Nähe zum apokalyptischen Seher von 2 Bar. Beide Autoren präsentieren sich als Offenbarungsempfänger und ‑vermittler.
3. Traditionsgeschichtliche und systematische Erwägungen zu Gemeinsamkeitenzwischen Paulus und 2 Bar Wir weiten die Perspektive. Zwischen den paulinischen Briefen und 2 Bar gibt es über die skizzierten Übereinstimmungen hinsichtlich des Auferstehungsverständnisses hinaus eine Serie von bemerkenswerten Berührungspunkten.34 Die nachstehende makroskopische Auflistung bedarf allerdings einer mikroskopischen Analyse, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Methodisch gesehen muss unterschieden werden zwischen einer im Ansatz genealogisch interessierten traditionsgeschichtlichen Fragestellung, die sich für mögliches gemeinsames Überlieferungsgut interessiert, und einem komparatistischen bzw. systematischen Zugang, der die theologischen Profile des Apostels und von 2 Bar in den Fokus rückt und sie im weiten Horizont apokalyptischer Literatur des ersten Jh. n. Chr. lokalisiert. Die letztgenannte Sichtweise übergreift die erstere, muss sich aber immer wieder die Frage gefallen lassen, inwieweit systematisch-theologische Kategorisierungen den einzelnen Texten gerecht werden. Dies gilt besonders für 2 Bar, wo wir mit einem überlieferungsgeschichtlich überaus
33 Vgl. zum Zusammenhang M. Konradt, Gericht und Gemeinde. Eine Studie zur Bedeutung und Funktion von Gerichtsaussagen im Rahmen der paulinischen Ekklesiologie und Ethik im 1 Thess und 1 Kor (BZNW 117), Berlin 2003. 34 Vgl. die Zusammenstellung bei Bogaert, Apocalypse (s. Anm. 21), Bd. 1, 405–409.
3. Traditionsgeschichtliche und systematische Erwägungen zu Gemeinsamkeiten
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komplexen Werdegang zu rechnen haben.35 Die einzelnen Texteinheiten lassen sich nur beschränkt in eine Gesamtperspektive einbetten. 1. 2 Bar wie Paulus teilen die grundsätzliche Orientierung an einem Zwei-Welten-Modell, sowohl im Feld der Schöpfungstheologie wie der Ethik: Im Kontrast zur vorfindlichen Welt zeichnet sich die himmlische Welt, die zugleich die zukünftige Welt sein wird, durch Unvergänglichkeit und Unverderblichkeit aus.36 Die Konzentration von 2 Bar auf dieses Kategorienensemble ist innerhalb der uns bekannten apokalyptischen Literatur des antiken Judentums einzigartig,37 sekundiert von 4 Esr.38 Wir haben eine aufschlussreiche Kombination von apokalyptischem und hellenistisch-platonischem Dualismus vor uns, die sich beispielsweise auch im Hebräerbrief findet. Mit der Verwandlungsbegrifflichkeit wird der Übergang von der einen in die andere Welt beschrieben und damit spezifisch die Totenauferstehung.39 2. Anders als 4 Esr adressiert 2 Bar ganz Israel samt seiner Konvertiten.40 Dies gilt in gewisser Weise auch für Paulus.41 Er richtet sich zwar spezifisch an Christusgläubige jüdischer wie nicht-jüdischer Herkunft, versteht sich aber als Verkündiger einer Botschaft, die allen Menschen gilt, also auch ganz Israel im Die Situation verkompliziert sich auch noch durch die nach wie vor ungelöste Frage nach dem literarischen Verhältnis zwischen 2 Bar und 4 Esr; dazu vgl. die Skizze bei L. I. Lied, Recent Scholarship on 2 Baruch: 2000–2009, Currents in Biblical Research 9 (2011) 238–276, hier: 246 f. 36 Vgl. 2 Bar 28,5 („wird Er, der unvergänglich ist, Vergängliches verachten und was mit dem Vergänglichen geschieht, so dass er nur nach jenen Dingen sieht, die unvergänglich sind?“); 40,3 („ewig wird seine Herrschaft dauern, bis dass die Welt dieser Vergänglichkeit [ ]ܥܠܡܐ ܕܚܒܐܠein Ende finden wird und die vorhergesagten Zeiten sich vollenden“); 44,8 f („was aber in Zukunft sein wird, ist sehr gewaltig. Denn alles wird vorbeigehen, was vergänglich ist, und alles Sterbliche wird dahingehen“); 21,19; 43,2; 44,9; 74,2; 85,5; ferner 31,5. – Für Paulus vgl. neben 1 Kor 15 (V. 42.50.52–54) besonders auch 2 Kor 4,17 f; 5,4; Röm 8,21. In der Peschitta wird ܚܒܠauch für 1 Kor 15,42.53 verwendet. Zur Textsemantik von ἀφθαρσία und φθορά vgl. W. Verburg, Endzeit und Entschlafene. Syntaktisch-sigmatische, semantische und pragmatische Analyse von 1 Kor 15 (FzB 78), Würzburg 1996, 179–184, fokussiert auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. 37 Vgl. dazu Henze, Apocalypticism (s. Anm. 24) 281 f („A favorite way for our author to draw a distinction between the two eons is by contrasting the corruptible with the incorruptible, the former being the most prominent characteristic of this world and the latter of the world to come“, 281; „The focus on the corruptible supports the paraenetic thrust of the work, calling, in essence, for a change of behavior of those addressed“, 282 Anm. 83) 38 Vgl. 4 Esr 4,11 (mit vielen Varianten); 7,15 f.31.88.96 f.113 („der Tag des Gerichtes aber ist das Ende dieser Welt und der Anfang der unsterblichen kommenden Welt, in der die Vergänglichkeit vorüber ist“); 8,53; 14,13. Vgl. ferner Sap 2,23; 2 Hen 65,10 („alles Vergängliche vergeht, aber das Unvergängliche kommt“); 8,5 f; LibAnt 28,10; TestAbr (A) 1,7. 39 Vgl. auch Stemberger, Leib (25) 117, wonach die Position von 2 Bar den Höhepunkt einer längeren Entwicklung darstellt (vgl. 85–96). 40 Vgl. für 2 Bar zusammenfassend Bogaert, Apocalypse (s. Anm. 21), Bd. 1, 409–413; Henze, Apocalypticism (s. Anm. 24) 372 („it was not written by a dissident figure for a dissident community. Indeed, it avoids all sectarian tendencies that arguably contributed to the downfall of Second Temple Judaism and instead aims to be inclusive, showing genuine concern for recent converts and the Jewish communities in the Diaspora“). 41 Dies ist jedenfalls eine programmatische These der New Perspective on Paul, vgl. J. D. G. Dunn, Paul. Apostate or Apostle of Israel?, ZNW 89 (1989) 256–271. 35
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Auferstehung als Verwandlung
Blick hat. Ausserdem fokussiert er in Röm 9–11 trotz der Figur der Scheidung innerhalb des Gottesvolks auf „ganz Israel“ (Röm 11,25 f). Bereits das Proömium von Röm bettet Paulus’ eigenes Wirken dezidiert in die Geschichte Gottes mit Israel, seinem Volk, ein (1,1–7). 3. Zusammen mit 4 Esr lassen 2 Bar und Paulus die Unheilsgeschichte der Menschheit und der Schöpfung überhaupt bei Adam ihren Anfang nehmen.42 Zwar handelt es sich um eine viel weiter verbreitete Figur, die auf die Frage unde malum mit einer Relektüre von Gen 3 antwortet. In unseren drei Textbereichen ist aber ein profiliertes Theologumenon auszumachen, das urgeschichtliches Verhängnis mit der zugleich geltend gemachten menschlichen Schuldfähigkeit und der Willensfreiheit vermittelt.43 Es unterscheidet sich markant von den Narrationen, wie sie die Adam und Eva-Literatur prägen, und von den generellen Ätiologien des Bösen, die gern auch beide Ureltern oder insbesondere Eva ins Visier nehmen. 4. Eine weitere Übereinstimmung zwischen 2 Bar und 1 Kor 15 besteht in der avancierten Zwei Äonen-Eschatologie,44 auch hier wieder im Verbund mit 4 Esr und in markantem Unterschied zu den meisten übrigen apokalyptischen Texten. Demgegenüber ist die Konzeption eines ‚messianischen Zwischenreichs‘ zwischen gegenwärtiger und kommender Weltzeit, wie es 4 Esr 7,26–29 und Apk 20,4–6 dokumentieren, weder bei Paulus noch in 2 Bar explizit im Blick. In überlieferungsgeschichtlicher Perspektive stellt sich allerdings die Frage, ob nicht beide doch auf Traditionen, die das messianische Reich zeitlich terminieren, zurückgreifen. In dieser Hinsicht ist 2 Bar deutlicher als der Apostel.45 Zwar ist die gegenüber 42 1 Kor 15,21 f; Röm 5,12–14; 7,7–13; 2 Bar 17,2–18,2; 23,4; 48,42–47; 54,15–19 („somit ist Adam einzig und allein für sich der Grund; wir alle aber wurden Stück für Stück zu Adam für uns selbst“); 56,5–10. Eva ist – anders als in 4 Esr – mit im Blick (48,42), bei Paulus ist dies wohl nicht der Fall (anders St. Krauter, Eva in Röm 7, ZNW 99 [2008] 1–17). Zu Adam im 4 Esr vgl. den Exkurs in M. E. Stone, Fourth Ezra (Hermeneia), Minneapolis 1990, 63–66; zu 2 Bar vgl. Henze, Resurrection (s. Anm. 19) 455 f sowie – im Vergleich mit 4 Esr – ders., Apocalypticism (s. Anm. 24) 166–170 („the author of 2 Bar places greater emphasis on the personal responsibility of the individual than does 4 Ezra“, 169); speziell zum Stellenwert der Entscheidungsfreiheit in 4 Esr und 2 Bar vgl. meine Studie: Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt (FRLANT 147), Göttingen 1989, 157 f. 43 Im Vergleich mit 4 Esr streicht 2 Bar die Willensfreiheit stärker heraus (85,7; 56,10 f; vgl. 15,6; 54,21; 84,4 f); dazu passt es, dass sich 2 Bar auch nicht auf das „böse Herz“ bezieht (4 Esr 3,20.26; 4,3; 7,48). 2 Bar betont so trotz des Adamgeschicks die Selbstverantwortlichkeit: „Zwar sündigte einst als erster Adam und hat damit vorzeitigen Tod gebracht für alle, doch hat von denen, die aus ihm geboren sind, ein jeder auch sich selbst zukünftige Strafe bereitet“ (54,15). 44 Vgl. 2 Bar 15,7; 83,8; dazu W. Harnisch, Verhängnis und Verheissung der Geschichte. Untersuchungen zum Zeit‑ und Geschichtsverständnis im 4. Buch Esra und in der syr. Baruchapokalypse (FRLANT 97), Göttingen 1969, 89–240, zusammenfassend 240–247; Murphy, Structure (s. Anm. 19) 31–67; 135; Henze, Apocalypticism (s. Anm. 24) 281 f (allerdings mit dem folgenden Hinweis: „But in general, direct juxtapositions of this world and the next are sparse“, 281). Zu 4 Esr s. den Exkurs in Stone, Fourth Ezra (s. Anm. 42) 92 f. 45 Paulus denkt in 1 Kor 15,23 f zwar nicht an ein ‚Zwischenreich‘; vgl. W. Schrage, Das messianische Zwischenreich bei Paulus, in: M. Evang (Hg.), Eschatologie und Schöpfung, FS
3. Traditionsgeschichtliche und systematische Erwägungen zu Gemeinsamkeiten
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der Zwei-Äonen-Vorstellung traditionsgeschichtlich ältere, mehr ‚diesseitige‘ messianische Eschatologie in der Wolkenvision (73 f) wenig aussagekräftig; das Nebeneinander von inhaltlich spannungsvollen endzeitlichen Konzeptionen ist der Normalfall in der apokalyptischen Literatur. Spannender ist die spezifische Frage, ob es angesichts der zahlreichen Berührungspunkte zwischen 1 Kor 15,20–28 und 2 Bar46 auch zwischen der Selbstunterwerfung des Messias unter Gott in 1 Kor 15,28 und dem Geschick des Messias in 2 Bar einen Zusammenhang gibt.47 In 2 Bar 30,1 heisst es:48 „Und danach wird geschehen: Vollendet sich die Zeit der Ankunft des Messias und kehrt er in Herrlichkeit zurück ()ܐܬܚܘܒܫܬܒ ܟܘܦܗܢܘ, dann werden alle jene auferstehen, die in der Hoffnung auf ihn eingeschlafen sind.“49 E. Grässer (BZNW 89), Berlin 1997, 343–354. Vielleicht liegt aber in der von ihm aufgegriffenen eschatologischen Überlieferung eine derartige Konzeption vor: Das Zeitsignal in V. 23bβ deutet auf eine eigene Etappe zwischen Christi Auferstehung einerseits (V. 23bα) und der Vollendung andrerseits (V. 24aα) hin. Paulus hätte dann die endzeitlichen Ereignisse zu einem einzigen Akt verdichtet (V. 52a). 46 Die Bezüge sind vielfach beobachtet worden, vgl. z. B. L. J. Kreitzer, Jesus and God in Paul’s Eschatology (JSNT.SS 19), Sheffield 1987, 69–80; 87–91; 168 f. 47 Vgl. Henze, Resurrection (s. Anm. 19) 455–457, wo auch der messianische Kampf gegen die Weltmächte mitberücksichtigt wird (2 Bar 39,7–40,2; 1 Kor 15,24 f). 48 In der deutschen Übersetzung von Klijn liegt wohl ein fataler Übersetzungsfehler vor („und kehrt er dann in die Herrlichkeit zurück“, JSHRZ 5.2, 142), der womöglich aus dem Umweg über das Holländische resultiert (dazu s. Anm. 1), falls es sich nicht einfach um einen Druckfehler handelt: Mit der Präposition b (dazu Th. Nöldeke, Kurzgefasste syrische Grammatik, bearb. A. Schall, Darmstadt 1966, § 248) wird kaum die Zielangabe der Rückkehr ausgedrückt (dafür steht vielmehr l, lwt, für griechisch εἰς), sondern vielmehr deren Modalität (für griechisch ἐν i. S. eines umgebenden Zustands, etwa der Kleidung; allerdings vermischen sich εἰς und ἐν im nachklassischen Griechisch); ἐν (τῇ) δόξῃ gibt m.W. kaum je die Richtung an – bei 1 Tim 3,16d handelt es sich aufgrund der fünfmaligen Iteration von ἐν um einen Grenzfall (ἀνελήμφθη ἐν δόξῃ, syrisch: )ܒܫܘܒܚܐ. – Mindestens etwas missverständlich ist die Übersetzung von Bogaert, Apocalypse (s. Anm. 21), Bd. 1, 483 („il retournera dans la gloire“). 49 Der syrische Text bietet kein Übersetzungsproblem, lässt aber Spielraum hinsichtlich der zeitlichen Zuordnung der drei genannten Geschehnisse (Ankunft des Messias, seine Rückkehr, Auferstehung der Toten); am plausibelsten ist es wohl, den Hauptsatz erst mit dem Dritten, der Totenauferstehung, beginnen zu lassen; mit Bogaert, Apocalypse (s. Anm. 21), Bd. 1, 483 („Et après cela, quand sera accompli le temps de l’avènement du Messie et qu’il retournera dans la gloire, tous ceux qui se sont endormis en espérant en lui ressusciteront“); A. F. Klijn, OTP 1, 631 („And it will happen after these things when the time of the appearance of the Anointed One has been fulfilled and he returns with glory, that then all who sleep in hope of him will rise“); Henze, Apocalypticism (s. Anm. 24) 294; 296 („And it will be after these [things], when the time of the advent of the Messiah will be fulfilled and when he will have returned in glory, then all who have fallen asleep in hope of him will be rising“); anders V. Ryssel, APAT 2, 423 („Und danach, wenn die Zeit der Ankunft des Messias sich vollendet, wird er in Herrlichkeit [in den Himmel] zurückkehren. Alsdann werden alle die, die in der Hoffnung auf ihn entschlafen sind, auferstehen“); D. M. Gurtner, Second Baruch. A Critical Edition of the Syriac Text (Jewish and Christian Texts in Context and Related Studies 5), New York 2009, 67 („And it will be after these things, when the time of the appearance of the Messiah is fulfilled, that he will return in glory. Then all who have fallen asleep in hope of him will rise“). Die Formulierung in V. 1b lässt offen, wohin die Rückkehr erfolgt (intransitives [ ܗܦܟvgl. 3,7] „rediit, revertit [Gen 3,19]“: C. Brockelmann, Lexicon Syriacum, Halle 21928, 179b; vgl. M. Sokoloff, A Syriac Lexicon, Winona Lake 2009, 350a; für die Zielangabe erwartet man die Präposition l [wie Gen 3,19: )]ܬܗܦܘܟ ܐܠܪܥܐ.
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Wir lassen die Frage offen, ob es sich beim Schlussteil des Satzes um eine christliche Glosse auf der Linie von 1 Thess 4,16 („Tote in Christus“) und 1 Kor 15,23 handelt. Unklar ist insbesondere die Destination des Messias (V. 30aβ). Kehrt er zu den Seinen auf die Erde zurück, obschon seine – dann episodische – Absenz zuvor nicht berichtet worden ist?50 Oder kehrt er heim zu Gott?51 Für die letztgenannte Option spricht 40,3, wo die zweite grosse Vision (36 f) gedeutet wird, zusammen mit einer terminierenden Umdeutung von Dan 7,27 („seine Königsherrschaft ist eine ewige Königsherrschaft“): „Ewig wird seine Herrschaft dauern, bis dass die Welt dieser Vergänglichkeit ein Ende finden wird und die vorhergesagten Zeiten sich vollenden“. Das messianische Reich wäre demzufolge zeitlich limitiert.52 Folgt man dieser Option, dürfte es sich bei 30,1aβ kaum um eine christliche Glosse, etwa eine Reminiszenz an die Himmelfahrt, handeln, da die Absenz des Christus ausgerechnet bei der Totenauferstehung gar nicht zu erwarten wäre. – In 1 Kor 15,28 realisiert sich die vollendete Gottesherrschaft im Gefolge der Selbstunterwerfung des Sohns unter den Vater, also dann, wenn Gott „alles in allem“ ist. Mit dieser finalen theozentrischen Figur schliesst er sich der jüdischen Überzeugung an, dass sich die Anerkennung der Einheit und Einzigkeit Gottes von Dtn 6,4 erst in der Endzeit verwirklicht (vgl. Sach 14,9).53 Während 2 Bar räumliche Metaphern benützt („Ankunft“,54 „Zurückkehren“), liegen in 1 Kor 15,24–28 funktionale Termini vor („Unterwerfen“), angeregt durch Ps 8,7 und 110,1. Beide teilen die Erwartung, dass die Herrlichkeit, die dem Messias eignet – bei Paulus mit Ostern, bei 2 Bar beim Übergang von der messianischen Zeit in die künftige Weltzeit – auch den Gerechten zukommen wird.55
5. Wir stellen in der Folge einige weitere, über die Eschatologie hinausführende Motivkonvergenzen zwischen der paulinischen Korrespondenz und 2 Bar zusammen, die für sich gesehen zwar lediglich die beide verbindende frühjüdische Matrix schlechthin dokumentieren, aber in ihrer Kumulation doch auf ein spezifisches gemeinsames Substrat hindeuten. So begegnet bei beiden eine ausgeprägt
50 So etwa Henze, Apocalypticism (s. Anm. 24) 296 sowie – deutlich zurückhaltender – ders., Resurrection (s. Anm. 19) 451 f. 51 So nach Ryssel (s. Anm. 49) auch R. H. Charles, APOT 2, 498 („after His reign the Messiah will return in glory to heaven“); Bill. 4.2, 809; 1170; Bogaert, Apocalypse (s. Anm. 21), Bd. 2, 65; I 416 f; Stemberger, Leib (s. Anm. 25) 92 f. Man braucht daraus nicht zwingend johanneisch zu schliessen, dass der Messias zuvor im Himmel präexistiert hat (so Charles z.St., fragend Klijn z.St., unter Hinweis auf den präexistenten Messias von 4 Esr); m. E. reicht der Sendungsgedanke: Gott hat den Messias gesandt und nimmt ihn nun zu sich. 52 Henze, Apocalypticism (s. Anm. 24) 297–305 favorisiert hingegen vorsichtig eine ‚zweistufige Messianologie‘, in der der Messias auch in der zukünftigen Welt eine wichtige Rolle spielt. Als ein Argument dafür verweist er auf die Parallelität mit 1 Kor 15,23–28 (305; 328 f). V. 28 passt aber gerade nicht in seine eschatologische Rekonstruktion von 2 Bar. Demgegenüber stellt Henze, Resurrection (s. Anm. 19) 456 (vgl. 458), auch für 2 Bar fest: „the messianic kingdom is an interim kingdom.“ 53 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Christozentrisch oder theozentrisch? Christologie im Neuen Testament, in: E. Gräb-S chmidt / R. Preul (Hg.), Christologie (MJTh 23 / MThSt 113), Leipzig 2011, 19–40, hier: 24 f, Abdruck in diesem Band: 33–52. 54 Dabei entspricht die „Ankunft des Messias“ ( )ܡܐܬܝܬܗ ܕܡܫܝܚܐder Wendung „ἐν τῇ παρουσίᾳ αὐτοῦ“ in 1 Kor 15,23 (Peschitta: )ܒܡܐܬܝܬܗ. Vgl. Henze, Resurrection (s. Anm. 19) 451. 55 ܬܫܒܘܚܬܐ2 Bar 48,49; 51,10.16; vgl. ܫܘܒܚܐPeschitta Phil 3,21; 2,11.
3. Traditionsgeschichtliche und systematische Erwägungen zu Gemeinsamkeiten
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briefliche Gestalt der apokalyptischen Lehren;56 beide Male finden wir eine dezidierte Lokalisierung der Gottesstadt im Himmel im Gegenüber zur Erde;57 beide referieren auf Topoi wie die Schöpfung aus dem Nichts,58 die durch die Sünde verzerrte Erkenntnis Gottes aus der Schöpfung59 oder ein ungeschriebenes Gesetz;60 beide legen einen starken Akzent auf die Langmut Gottes61 oder auf die Freude im Leiden.62 Beide lassen schliesslich ein pointiertes Gottesverständnis erkennen – den Gebeten Baruchs stehen etwa die doxologischen Sprachformen in den Briefen gegenüber.63 Umgekehrt lassen sich in ebenfalls makroskopischer Optik erhebliche Differenzen benennen, die als systemrelevant gelten müssen. Wir benennen an dieser Stelle lediglich die drei markantesten: 1. Der Stellenwert des Gesetzes und der Werke wird ganz unterschiedlich bestimmt. 2 Bar ist als grossangelegter Versuch zu taxieren, jüdische Identität im Angesicht der Zerstörung Jerusalems mittels des Rekurses auf den Toragehorsam zu bestimmen. Die Tora wird als Quelle des „Lebens“ identifiziert (38,2; 77,15 f; vgl. Sir 17,11; 45,5); sie verschränkt jetzige und kommende Welt (59,2; 77,15). Bei Paulus nimmt sich die Sachlage komplizierter aus, zumal unter Berücksichtigung der Debatten rund um ‚alte‘ und ‚neue Perspektive‘; schwer zu übersehen ist aber, dass vielfach der Christusglaube an die Stelle rückt, die in jüdischer Theologie die Toratreue besetzt, und dass der Apostel Gesetz und Leben dissoziiert (vgl. Gal 3,21 f; Röm 7,10 f; 8,2 f). 2. Im eschatologischen Gesamtaufriss ist für Paulus das entscheidende Ereignis bereits geschehen, nämlich Tod und Auferstehung Christi, während 2 Bar wie überhaupt die gesamte jüdisch-apokalyptische Tradition mit der nahen künftigen Wende rechnet. 3. Die Anthropologie unterscheidet sich markant; sie kann im 2 Bar als optimistisch bestimmt werden, etwa im Rekurs auf die trotz Adams Fehltritt weiterhin 56 Vgl. den Brief Baruchs: 77,18–87,1; der Brief ist bestimmt zur Verlesung in den Synagogen (86,1; vgl. 1 Thess 5,27; Kol 4,16); zur „apocalyptic Epistolography“ vgl. Henze, Apocalypticism (s. Anm. 24) 350–371; zum Verhältnis von Brief und Apokalypse innerhalb von 2 Bar vgl. Gurtner, Second Baruch (s. Anm. 49) 24–26. 57 2 Bar 4,1–8; 6,9; Murphy, Structure (s. Anm. 19) 87 f; 114; 140; Henze, Apocalypticism (s. Anm. 24) 78–83. Zur Hypothese, wonach die Jerusalem-Konzeption auf christliche Herkunft von 2 Bar hinweise (R. Nir), vgl. die Diskussion bei Lied, Scholarship (s. Anm. 35) 256; 261–263; Henze, aaO. 69 f. 58 2 Bar 14,17; 21,4; 48,8; 56,4; 54,1.3; Röm 4,17; 1 Kor 1,28. 59 2 Bar 54,17 f; Röm 1,19 f; 1 Kor 1,21. 60 2 Bar 57,2 (dazu Bogaert, Apocalypse [s. Anm. 21], Bd. 2, 110); Röm 2,14 f. 61 2 Bar 24,2; 21,20 f; 48,29; 59,6; 85,8; 12,4; Röm 2,4; 9,22. 62 2 Bar 52,6; 2 Kor 6,10; 7,4; 12,10; Phil 2,17 f. 63 Gebete: 2 Bar 21; 48,1–25; 54. Vgl. besonders auch die Anrufung der Macht Gottes in 48,2– 10 (mit der Schöpfung durch das Wort, V. 8; wie 14,17; 21,4; 56,4). – Zum dezidiert theo-logischen Profil von 1 Kor vgl. T. Jantsch, „Gott alles in allem“ (1 Kor 15,28). Studien zum Gottesverständnis des Paulus im 1. Thessalonicherbrief und in der korinthischen Korrespondenz (WMANT 129), Neukirchen 2011, 302–314; 410–412.
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gegebene Wahlfreiheit, während Paulus’ Perspektive auf den Menschen zwar nicht als pessimistisch, aber doch als zwiespältig zu charakterisieren ist. Zurück zu den Kontaktstellen! Die genealogische Frage, wie sich die Berührungsflächen traditionsgeschichtlich bestimmen lassen, sei hier lediglich gestellt. Klar ist: Paulus wie der eine Generation spätere 2 Bar basieren auf einem gemeinsamen, von erheblichen Übereinstimmungen bestimmten Substrat frühjüdischer Eschatologie. Die Kumulation identischer oder wenigstens ähnlicher Züge ist auffällig, zumal sie nahezu ein halbes Jahrhundert überspannt. Wir wissen nicht genau, woher die apokalyptische Orientierung des Paulus eigentlich kommt; sie gehört sicher schon in seine vorchristliche Zeit, ist aber umgekehrt auch nicht das, was man bei einem griechischsprachigen Diaporajuden aus Tarsus primär erwarten würde (so sehr natürlich auch die Diaspora die apokalyptischen Bewegungen mitträgt). Sie steht mutmasslich in engem Zusammenhang zu seinem Status als Pharisäer.64 Das Paulus und 2 Bar gemeinsame eschatologische Profil ist spezifisch, das gilt namentlich für den uns interessierenden Zusammenhang von Unvergänglichkeit und Umwandlung. Die Charakterisierung der zukünftigen Welt als „unvergängliche“ teilt Paulus auch mit der „älteren Schwester“ von 2 Bar, nämlich mit dem 4. Esrabuch. Es gibt eine grössere Anzahl weiterer Kontaktstellen aller drei Textkomplexe; zugleich weisen aber die Berührungen zwischen Paulus und 4 Esr vielfach in ganz andere Richtungen, etwa in der Anthropologie oder teilweise im Gesetzesverständnis.65 Ich will die Frage hier offenlassen, ob sich die eschatologische Matrix, die Paulus und 2 Bar teilen, präziser verorten lässt, und melde lediglich ein Desiderat an. Eine Detailbeobachtung, die zum nächsten Teil überleitet, ist an dieser Stelle noch festzuhalten: Die Verwandlungsterminologie bleibt, soweit ich sehe, in 2 Bar eher isoliert. Sie haftet konzeptionell am Transfer von der vergänglichen in die unvergängliche Welt. Ausserhalb unserer Passage ist „Verwandlung“ durchwegs negativ besetzt und beschreibt die Tendenz vom Besseren zum Schlechteren:66 Wenn das Ende kommt, verwandelt sich alles, was in dieser Welt positiv bzw. 64 Vgl. M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften, Bd. 4 (WUNT 141), Tübingen 2002, 68–192 (Abdruck von: ders. / U. Heckel [Hg.], Paulus und das antike Judentum, [WUNT 58], Tübingen 1991, 177–291), hier: 142–147; ders., Paulus und die frühjüdische Apokalyptik, aaO. 302–417, hier: 343. – In der älteren Literatur wird 2 Bar gern als protorabbinisch charakterisiert (so auch J. H. Charlesworth, Foreword, in: Gurtner, Second Baruch [s. Anm. 49] xi) oder wenigstens in die Nähe der Pharisäer gerückt (vgl. Bogaert, Apocalypse [s. Anm. 21], Bd. 1, 445–447; vgl. 381 f; 386 f; 400; auch Henze, Resurrection (s. Anm. 19) 452 f. Zu Parallelen mit der rabbinischen Literatur, insbesondere mit PesR vgl. M. Henze, Art. Baruch, Second Book of, in: J. J. Collins / D. C. Harlow (Hg.), The Eerdmans Dictionary of Early Judaism, Grand Rapids 2010, 426–428, hier: 427 f. 65 Vgl. dazu den – nicht primär genealogisch interessierten – Beitrag von J. M. G. Barclay, Constructing a Dialogue. 4 Ezra and Paul on the Mercy of God, in: Konradt / Schläpfer, Anthropologie (s. Anm. 19) 3–22. 66 Vgl. 21,14–17; gehäuft im Brief: 86,10–23 (meist: )ܗܦܟ.
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dominant war, in sein Gegenteil. Mehr noch: Eine Welt, die veränderlich und vergänglich ist, zeigt ein entropisches Gefälle (21,15 f): „Denn stets verwandelt sich ( )ܡܬܚܠܦdie menschliche Natur. Denn wie wir einmal waren, sind wir doch längst nicht mehr, und wie wir jetzt sind, werden wir einst doch nicht bleiben.“
Bei Paulus hingegen hat die Transformation einen ganz anderen Stellenwert, wie im Folgenden auszuführen ist.
4. „Verwandlung“ als tragende theologische Figur bei Paulus In 1 Kor 15 erlaubt es die Transformationskategorie, Verstorbene wie Lebende soteriologisch gleichzustellen und in der zukünftigen Weltzeit zu situieren. Paulus löst damit ein Dilemma, mit dem er sich in 1 Thess 4 auseinander gesetzt hat, und das auch in 2 Bar sowie in 4 Esr diskutiert wird. In unserem Zusammenhang hat die Egalisierung die Funktion, das christliche Reden von einer Totenauferstehung plausibel zu machen. Man braucht die in 1 Kor 15 verwendete Transformationskategorie in Bezug auf die Auferstehenden nicht als Innovation in der paulinischen Eschatologie zu reklamieren.67 Zwar wird die Terminologie in der Belehrung über die Auferstehung von 1 Thess 4,13–18, die in 1 Kor 15,50–58 geradezu einer Relektüre zugeführt wird, nicht verwendet. Aber die Entrückung, die den noch Lebenden zuteilwird, geht, wie zahlreiche Texte der jüdisch- christlichen Literatur nahelegen, Hand in Hand mit einem Verklärungsprozess, einer Verwandlung in himmlische Gestalt.68 Ähnliches dürfte für die Auferstehungskonzeption auch schon in 1 Thess 4 gelten (vgl. 2,12: „Gott, der euch in seine Herrschaft und Herrlichkeit [δόξα] ruft“). Neu ist aber in 1 Kor 15, wie das „Mysterium“ V. 51 signalisiert, dass die Verwandlung zur entscheidenden Schlüsselkategorie wird, die Verstorbene und noch Lebende übergreift und mit Christus verbindet.
Um den Stellenwert der Figur der Transformation in der paulinischen Theologie überhaupt zu ermessen, ist es sinnvoll, sich an einer Typologie zu versuchen und die verschiedenen objektsprachlichen Belege, die sich im Umfeld der Wortfamilien μορφή, σχῆμα, ἀλλάσσειν u.ä. finden lassen, zu sortieren.69 So etwa U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin 2003, 673 f. Back, Verwandlung (s. Anm. 22) 195 zufolge benötigt 1 Thess 4 die Verwandlungskategorie nicht, da die Einholung des Messias durch die noch lebenden wie die auferstehenden Christen nicht zum Übertritt in die himmlische Welt führt, sondern zur Rückkehr auf die Erde. Aber V. 17 artikuliert so deutlich die himmlischen Momente der Entrückung (Wolken, Luft, ἁρπαγησόμεθα), dass ein Fortbestehen der irdischen Körperlichkeit schwer vorstellbar ist. 69 Zu vergleichen ist die Kategorisierung von Back, Verwandlung (s. Anm. 22), wo neben der (uns hier interessierenden) „Verwandlung als Voraussetzung für die Aufnahme von Menschen in die himmlische Welt“ (u. a. 66–72 mit Hinweis auf 2 Bar 49–51) auch „Verwandlung als Zeichen des Charismas von Menschen in dieser Welt“ dargestellt wird. 67 68
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1. Eschatologisch: Neben unserer Stelle 1 Kor 15 sind aufzulisten Phil 3,20 f und Röm 8,29 f. Beide Passagen öffnen weitere wichtige Fenster. Phil 3,21 spricht nicht nur von der endzeitlichen Verwandlung, sondern auch von der Gleichgestaltung mit dem Herrlichkeitsleib Christi. Die Teilhabe am Geschick Christi ist damit im Blick, und zwar, wie vorher V. 10 herausgestellt hat, auch mit seinem Todesleib. Nimmt man V. 12–14 hinzu, vollzieht sich die Existenz der Glaubenden, oder spezieller: des Apostels, zwischen der Symmorphie mit Christi Tod, konkretisiert in der Leidensgemeinschaft, und der Symmorphie mit seiner Auferstehung. Auf diesem Weg (vgl. V. 13–15) ist es schon hier und jetzt gegeben, die Macht (δύναμις) seiner Auferstehung „kennenzulernen“ (V. 10). So eindeutig die Gleichgestaltung mit Christi Herrlichkeitsleib noch in (naher) Zukunft liegt, so markant wirkt die Auferstehungsmacht doch bereits auf die Gegenwart und treibt den Apostel als Läufer auf seinem Weg ins endzeitliche Ziel an. Röm 8,29 f spricht den Glaubenden die zukünftige Symmorphie mit der Eikōn des Sohns zu. Man darf das auf V. 17 zurückbeziehen, wo das Mitleiden mit Christus in die Gegenwart, das Mitverherrlichkeitwerden in die Zukunft fällt. Der Kettenschluss in V. 30 zeichnet diese Verherrlichung aber in die bereits geschehene heilvolle Ereignisreihe von Berufung und Rechtfertigung ein. Wieder wird sie ein Stück weit in die Gegenwart gezogen. 2. Kognitiv-existentiell: 2 Kor 3,18 ist die einzige Passage, die die Verherrlichung bereits in der Gegenwart situiert, nämlich in der Metamorphose der Glaubenden in Christi Eikōn aufgrund der Spiegelschau seiner Herrlichkeit. Der Passage Eindeutigkeit abzugewinnen, ist bekanntlich schwierig. Sie dürfte sich auf die Glaubenden überhaupt beziehen („wir alle“), mindestens auch auf die Adressaten des Briefs und nicht auf den Apostel bzw. die Verkündiger allein.70 Die Apposition „von Herrlichkeit zu Herrlichkeit“ signalisiert den vom Geist gewirkten prozessualen Charakter. Wiederum sind Querverbindungen im Kontext aufschlussreich: 4,4.6 rückt die Lichtherrlichkeit des Christus in den Horizont der Neuschöpfung und bezieht sich wohl auf die Konversionserfahrung des Paulus. 4,16–18 situiert die überwältigende Fülle der künftigen Doxa im unsichtbaren Bereich und bezieht sich damit auf den „inneren Menschen“, der „Tag für Tag erneuert wird“. Die in der Gegenwart anhebende Verwandlung vollzieht sich also gerade nicht am Körper, sondern am „Inneren“, am vom Körper unterschiedenen Selbst als dem Personzentrum der Glaubenden. Zuvor hatte der Peristasenkatalog V. 8–12 die Teilhabe an Jesu Sterben auf der Seite des Apostels, das Leben Jesu aber auf der Seite der Adressaten geortet. Röm 12,2 lässt sich zunächst hier einordnen. Der negativ gewerteten Gleichgestaltung mit der gegenwärtigen Weltzeit steht die Metamorphose entgegen, die durch die Erneuerung des Nūs zustande kommt. Sie setzt das kritische Erkennen 70 Vgl. zur Diskussion E. Grässer, Der zweite Brief an die Korinther (ÖTBK 8), Bd. 1, Gütersloh 2002, 142 f; Schmeller, 2 Kor, Bd. 1 (s. Anm. 18) 224 f.
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frei und ermöglicht ethische Autonomie, die im Verständnis des Paulus als Christonomie zu charakterisieren ist. Die Transformation vollzieht sich auch hier nicht am Körper, sondern am Selbst. 3. Ethisch: Röm 12,2 lässt sich ebenso hier auflisten, da die Verwandlung nicht nur kognitiv, sondern auch auf der Ebene des Verhaltens zum Zug kommt, wie die anschliessenden Mahnungen zeigen. Hinzu gesellt sich das mit der Transformationsmotivik korrelierte Feld der Christuspartizipation. 4. Christuspartizipation: An dieser Stelle ist auch die Christuspartizipation in unsere Sortierung einbeziehen, der wir schon in Phil 3 begegnet sind. Der hierfür einschlägige Paradetext Röm 6 geht mit der Figur der Teilhabe der Glaubenden an Christi Auferstehungsleben bekanntlich behutsam um und vermeidet, anders als die spätere paulinische Schultradition, die Proklamation der bereits geschehenen Totenauferstehung. Wir beobachten einmal eine deutliche ethische Pointierung (V. 4); sie wird thematisch entfaltet in V. 12–23. Die kognitive Selbstbeurteilung als „Lebende zugunsten Gottes“ (V. 11) zielt ebenfalls auf ethische Bewährung (ebenso V. 13). Demgegenüber wird die endzeitliche und damit leibliche Teilhabe an der Auferstehung in V. 5/8 angesprochen und in V. 22/23 auf das ewige Leben bezogen. Als Gegenstück zur Partizipation an Christi Auferstehung rangiert die Partizipation an Christi Tod (Röm 6,3–8; vgl. Phil 3,10). Sie lässt sich ihrerseits untergliedern in den ein für allemal erfolgten Tod des alten Menschen, rituell inszeniert in der Taufe, andrerseits in den existentiellen bzw. apostolischen Lebensvollzug in dieser Weltzeit, wo die Befreiung bzw. Erlösung des Leibes noch aussteht. Als Gegenstück zur Christuspartizipation als ganzer ist schliesslich die Partizipation am alten, ersten Menschen, an Adam, zu nennen (Röm 5,12–21; vgl. 1 Kor 15,45–49). 5. Konversion: Sowohl die Religionsgeschichte, auf die noch einzugehen ist, wie die paulusinternen Kontexte lassen es als sinnvoll erscheinen, die Neuschöpfungsaussagen am Rand in unsere Typologie mit einzubeziehen, obschon sie eine klare Sonderstellung innehaben. Die Konversion wird als neue Schöpfung aus dem Nichts gezeichnet (Röm 4,17); ihr Profil ist im Ansatz theo-logisch, nicht christologisch. Es gibt aber Passerellen von ihr zur Transformationsmotivik. Auf den Zusammenhang von 2 Kor 3,18 mit 4,6 ist bereits verwiesen worden. Gal 3,26–28 arbeitet mit der Kleidermetaphorik („Christus anziehen“); Gotteskindschaft und Erbe-Sein korreliert die neue Identität der Glaubenden mit der Anwartschaft auf die zukünftige Verherrlichung (Gal 4,6 f; Röm 8,14–17). Die Sentenz von 2 Kor 5,17 definiert geradezu die „neue Schöpfung“ durch deren Ortung „in Christus“. Sachlich gesehen spielt sich beim Konvertiten ein Transformationsgeschehen ab, das strukturell vergleichbar ist mit den bisher analysierten Zusammenhängen. Es ist aber nicht zu übersehen, dass die bekannten Entdifferenzierungsformeln vom Typ von Gal 3,28 (vgl. 5,6; 6,15; 1 Kor 7,19; 12,13; Kol 3,11) zunächst in ein anderes theologisches Koordinatensystem als das hier verfolgte einzuzeichnen sind.
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6. Christologisch: Es handelt sich wohl um einen Zufall, dass Paulus in der überlieferten Korrespondenz (abgesehen von Phil 3,21) die in Auferstehung und Erhöhung geschehende Transfiguration von Jesus Christus nicht explizit anspricht.71 Nochmals in ein anderes Feld gehört m. E. die Metamorphose im Christuslob von Phil 2,5–11,72 obschon der Apostel selber in 3,21 eine Brücke zwischen der endzeitlichen Gleichgestaltung der Glaubenden mit dem Herrlichkeitsleib Christi und dessen eigener Erhöhung schlägt. Ich breche die Sortierung ab und öffne für nur einen Augenblick (1 Kor 15,52!) ein Fenster in weite Zusammenhänge: Die Transformationsmotivik gehört in den umfassenderen Horizont der Partizipationsfiguren, die für die paulinische Theologie konstitutiv sind. Transformation kommt durch Partizipation zustande. Der Stellenwert der Teilhabe-Thematik hat in jüngerer Zeit wieder die ihr gebührende Aufmerksamkeit unter den Exegetinnen und Exegeten gefunden.73 Dafür kann man sich auf eine eindrückliche Wolke von Zeugen berufen, die von Ed Sanders und Ernst Käsemann über Albert Schweitzer bis hinauf zur ostkirchlichen und antik-griechischen Paulusrezeption reicht.
5. Religionsgeschichtliche Kontexte Transformationen und Metamorphosen finden sich in der Literatur und Vorstellungswelt der antik-mediterranen Kultur in geradezu verwirrender Vielfalt. Erst innerhalb von diesem Resonanzraum lassen sich die paulinischen Texte angemessen wahrnehmen. So lässt sich unsere Passage 1 Kor 15,35–57 in einem innerjüdisch und später binnenchristlich geführten Diskurs über die Auferstehungskörper situieren.74 Dabei zeigt sich, dass Auferstehung immer mit irgendeiner Art von Verwandlung einhergeht und nie nur schlichte Restitution bedeutet. Entscheidend ist es, Texte und Vorstellungen innerhalb des überaus breiten Spektrums, das von einer ideal-diesweltlichen Leiblichkeit bis hin zu einer astralen Unsterblichkeit reicht, zu orten. Einer der frühsten Belege für die
71 Zur synoptischen Verklärung Christi (Mk 9,2–8) und ihrem traditionsgeschichtlichen Hintergrund vgl. S. S. Lee, Jesus’ Transfiguration and the Believers’ Transformation. A Study of the Transfiguration and Its Development in Early Christian Writings (WUNT II/265), Tübingen 2009. 72 Vgl. meinen Aufsatz: Die Metamorphose des Gottessohns. Zum epiphanialen Motivfeld in Phil 2,6–8, in: Horizonte (s. Anm. 9) 285–306. 73 Vgl. U. Schnelle, Transformation und Partizipation als Grundgedanken paulinischer Theologie, NTS 47 (2001) 58–75; zur „morphic language“ G. H. van Kooten, Paul’s Anthropology in Context. The Image of God, Assimilation to God, and Tripartite Man in Ancient Judaism, Ancient Philosophy and Early Christianity (WUNT 232), Tübingen 2008, besonders 69–91. 74 Vgl. die Dokumentation von Stemberger, Leib (s. Anm. 25).
6. Beschluss
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Auferstehungserwartung, nämlich Dan 12,2, zeigt bereits deutlich, wie fluid und vielfältig sich die entsprechenden Vorstellungen ausnehmen.75 Wir formulieren im Folgenden vier Postulate, die die Sortierung der Verwandlungsmotivik zu befolgen hat. Eine sachgerechte Selektion muss sich erstens am Kriterium des Transfers, des Übergangs von der einen Welt zur anderen, orientieren, also entlang von räumlichen bzw. zeitlichen Achsen. Zweitens ist durchwegs mit einer erheblichen Interferenz von Feldern zu rechnen. So ist es beispielsweise nötig, Gottebenbildlichkeitstopos und Transformationsfiguren zu unterscheiden, obschon sie gern in Wechselwirkung treten. Über die im engeren Sinn frühjüdische Literatur hinaus spielen drittens auch philosophische Kontexte eine massgebliche Rolle, obschon wir sie genealogisch nicht leicht detaillieren können.76 Die Figur des einmaligen oder aber fortgesetzten Sterbens inmitten des vorfindlichen Lebens lässt sich m. E. ohne Referenz auf den Platonismus nicht verständlich machen.77 Dasselbe gilt für die Kategorie der Unverderblichkeit wie im Fall von 1 Kor 15 und 2 Bar. Auch apokalyptische Theologie hat teil an der hellenistischen Globalisierung. Viertens lässt sich die in unserer Typologie etwas isolierte Kategorie der Konversion bzw. der neuen Schöpfung aus religionsgeschichtlicher Perspektive kontaktfreundlicher machen. So geht z. B. in JosAs 18 die Konversion explizit mit einer Verwandlung einher. Die Figur von Gal 3,28 „weder männlich noch weiblich“ lässt sich ihrerseits korrelieren mit der Angelomorphie, die den Teilhabern an der neuen Welt Gottes zukommt (vgl. Mk 12,25 parr.; 2 Bar 51,5.10.12). Zahlreiche jüdische und christliche Texte dokumentieren die Verwandlung von Menschen in Engelwesen, am prominentesten in der Henoch-Tradition.
6. Beschluss Vergleichen wir Paulus rückblickend mit der syrischen Baruchapokalypse, so ist deutlich, dass diese wie das 4. Esrabuch die grosse und entscheidende Zäsur im Übergang von dieser Weltzeit in die künftige ortet. Durch die Sequenz von Totenauferstehung, Gericht und Verwandlung wird die Kontinuität mit der alten 75 Vgl. A. Chester, Resurrection and Transformation. in: F. Avemarie / H. Lichtenberger (Hg.), Resurrection, Transfiguration and Exaltation in Old Testament, Ancient Judaism and Early Christianity (WUNT 135), Tübingen 2001, 47–77, hier: 59–70; Ders., Messiah and Exaltation. Jewish Messianic and Visionary Traditions and New Testament Christology (WUNT 207), Tübingen 2007,137–144. 76 Für die Gleichgestaltung hat das van Kooten, Anthropology (s. Anm. 73) plausibel gemacht. 77 Demgegenüber ist beim gängigen Verweis auf die „Mysterien“ Zurückhaltung angebracht. Die Mysterienkulte selber haben bekanntlich keine Theologien entwickelt; was uns zugänglich ist, sind neben der weitgestreuten Mysterienmetaphorik philosophische, v. a. platonische Interpretationen.
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Auferstehung als Verwandlung
Weltzeit hergestellt; an diesem Punkt haben das Gesetz und die von ihm provozierten Werke eine Scharnierfunktion. Für Paulus – wie überhaupt für die urchristliche Theologie – besetzt das Christusereignis diesen Platz. In Tod und Auferstehung Jesu Christi ist es zur entscheidenden Wende gekommen, die den Beginn der neuen Weltzeit initiiert. Aufgrund ihrer Teilhabe an Christus haben die Glaubenden die gottverneinende Macht des Todes bereits hinter sich gelassen. Sie sind zwar weiterhin der Sterblichkeit ausgesetzt, haben aber zugleich teil an der Auferstehungsmacht des Christus. Paulus zieht also die entscheidende Grenze zwischen Leben und Tod ein Stück weit in die gegenwärtige Welt hinein; die scharfen Grenzen verflüssigen sich zugunsten eines prozessualen Geschehens. Mit der Vollendung und dem ‚Tod des Todes‘ wird schliesslich auch der irdische Leib zum Herrlichkeitsleib umgestaltet. Die Verflüssigung der Grenzen zwischen Leben und Tod schlägt sich auch im Identitätsverständnis nieder. Die Transformation der an Christus teilhabenden Menschen wird sich zwar erst endzeitlich vollenden, hat aber hier und jetzt begonnen. Die Glaubenden haben bereits den Geist Gottes empfangen, seine Fülle aber realisiert sich erst in der endzeitlichen Erschaffung eines pneumatischen Leibes. Es ist der Geist des Gekreuzigten und Auferstandenen, der nun die Brücke von der Gegenwart in die noch ausstehende Zukunft schlägt;78 das Pneuma markiert also die Kontinuität zwischen dieser und jener Weltzeit (vgl. Röm 8,23; 2 Kor 1,22; 5,5). Zugleich bildet das Geschehen von Tod und Auferstehung Christi den fundamentalen Archetyp für die Metamorphose der Glaubenden in die Herrlichkeitsgestalt (vgl. Röm 8,29; Phil 3,21). Tastet man sich auf dieser Linie hermeneutisch noch ein Stück weiter vor, so lässt sich den vielfältigen Transformationsprozessen auch innerhalb dieser Weltzeit eine österliche Signatur zuschreiben. Der Apostel selber legt in seiner Version des Korngleichnisses den Akzent ganz auf Tod und Neuschöpfung (1 Kor 15,36–38). Man darf das vielleicht zum Anlass nehmen, das Entstehen von Neuem im Universum behutsam als österliches Gleichnis zu lesen, das über das kosmische Gefälle zu Zerfall (φθορά) und wachsender Entropie verheissungsvoll hinausweist.
78 Zum betont christologischen Profil der paulinischen Pneumatologie vgl. neben 1 Kor 15,45 6,17; 2 Kor 3,17; Röm 8,9–11; ferner das Nebeneinander von Röm 8,26 und 34; dazu mein Art. Paulinische Spiritualität, in: F. W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 422–425. Kritisch zu dieser Verhältnisbestimmung von Christologie und Pneumatologie z. B. J. W. Yates, The Spirit and Creation in Paul (WUNT II/ 251), Tübingen 2008, 104 („Paul’s association of Christ with the life-giving spirit may tell us more about Paul’s understanding of the divinity of Christ, than of the supposed Christ-identity of the spirit“).
„Mitten auf dem Areopag“ Überlegungen zu den Schnittstellen zwischen antiker Philosophie und Neuem Testament Abstract “In Front of the Areopagus.” Considerations on the Interfaces between Ancient Philosophy and the New Testament In light of the Areopagus speech of Acts 17 this essay queries which historical and hermeneutical aspects are to be considered when one deals with the relationship of ancient philosophy and early Christian literature. With that, different perspectives must be joined: Both, Christian reception of philosophical contents and methods on one hand and approaches for an explicit dialogue or controversy on the other hand, can be drawn into the discourses in the overarching context of Hellenistic culture, in which both philosophy and Christianity present themselves as guides to an extensive orientation of life.
Die plastische Erzählung der Apostelgeschichte, in der der lukanische Paulus auf dem Areopag den massgeblichen Philosophen Athens die Wahrheit des „unbekannten Gottes“ verkündigt (17,16–34), ist zu einer Schlüsselszene für das Selbstverständnis des antiken Christentums und darüber hinaus für das kulturelle Gedächtnis Europas geworden.1 Durch Lokalkolorit, Handlungsabfolge, Gesprächsführung, Topoi und Dichterzitat gibt Lukas seiner Leserschaft zu verstehen, dass es zwischen antiker Weisheit und christlicher Botschaft Schnittstellen gibt, die dem Evangelium jene bedeutungsvolle Funktion für Wahrheitserkenntnis und Lebensorientierung sichert, die auch die Philosophie beansprucht. Die verschiedenen Facetten zwischen Konvergenz und Differenz, zwischen „Anknüpfung“ und „Widerspruch“, die die Inszenierung auf dem Areopag charakterisieren, setzen sich in den vielfältigen Konfigurationen fort, die urchristliche Verkündigung und philosophisches Denken in ihrem je spezifischen Anspruch auf die „Wahrheit“ aufeinander beziehen und voneinander trennen – Athen und 1 Für die Rezeptionsgeschichte von Apg 17 fehlt m.W. eine Monographie für die Alte Kirche und überhaupt eine umfassende Darstellung. Einige Hinweise zur antiken Wirkungsgeschichte bietet M. Fiedrowicz, Die Rezeption und Interpretation der paulinischen Areopag-Rede in der patristischen Theologie, TThZ 111 (2002) 85–105. É. Beurlier, Saint Paul et L’Aréopage, RHLR 1 (1896) 344–366 äussert sich nur zur Tribunalfrage; gar keine wirkungsgeschichtlichen Informationen bietet M. R. Fairchild, Art. Areopagus, EBR 2 (2009) 694–697. Mit zur Wirkungsgeschichte von Apg 17 zählen Produktion und Rezeption des Corpus Dionysiacum sowohl in der östlichen wie in der westlichen Kirche.
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„Mitten auf dem Areopag“
Jerusalem, Gott der Philosophen und Gott der Väter, Erkennen und Glauben. Sie erstrecken sich von den Perspektiven, die die christlichen Apologeten des zweiten Jahrhunderts eröffnen, über die grossen mittelalterlichen Debatten rund um das Verhältnis der Philosophie zur Theologie und die konfessionellen Kontroversen des 16./17. Jahrhundert bis hin zur Enthellenisierungsdiskussion der Neuzeit. Beispielhaft dafür stehen die Turbulenzen, die 2006 die Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI. mit ihrem kontroverstheologischen Profil erzeugt hat. Für das Selbstverständnis aussereuropäischer Kirchen und ihre Suche nach angemessenen Formen christlicher Inkulturation schliesslich geht die Überwindung eurozentrischer Strukturen Hand in Hand mit der theologischen Dekonstruktion von Antike und Christentum. Die spannungsreiche Begegnung zwischen Evangelium und Philosophie in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung bildet zwar nur einen Teilaspekt der komplexen Wechselwirkungen zwischen hellenistisch-römischer Kultur und urchristlicher Religion, die das antike Christentum als Ganzes hervorbringen, stellt aber mit ihrer Fokussierung auf konvergierende oder konkurrierende Geltungsansprüche vor eine Vielzahl von hermeneutischen Fragen. Es ist nicht zuletzt die Theologie selber, die in ihrem Namen und ihrer Geschichte Blaise Pascals programmatische Unterscheidung zwischen dem Gott der Philosophen und dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs wachhält. In den nachstehenden Zeilen soll es lediglich um einen einzelnen Aspekt dieser umfassenden Problemkonstellation gehen. Ich beschäftige mich mit der Frage, welche Gesichtspunkte historischer, exegetischer und hermeneutischer Natur zu beachten sind, wenn wir die grosse Frage nach dem Verhältnis zwischen antiker Philosophie und frühchristlicher Theologie aufwerfen und ihre Schnittstellen identifizieren. Im ersten, einleitenden Teil zeigt sich, dass die Beschränkung auf das erste Jahrhundert die Verhältnisbestimmung zugleich vereinfacht und verkompliziert. In den folgenden Teilen wird versucht, die Bezüge durch drei einfache Muster zu beschreiben – Rezeption, Dialog, Diskurs. Am Schluss werden wir nochmals kurz auf die Areopagrede zurückkommen, die jeweils auch den Untertiteln als Mottospender dient.
1. „Täglich unterhielt er sich mit den Vorübergehenden“ – kulturgeschichtliche und methodische Überlegungen Die Texte, die im Neuen Testament überliefert sind, dokumentieren noch nicht die Typen von Auseinandersetzung mit der Philosophie, die ab dem zweiten Jahrhundert in Gestalt der apologetischen Werke neue Genres in der christlichen Literaturgeschichte initiieren. Umgekehrt sind sie aber auch nicht einfach kontaktlos zur zeitgenössischen Philosophie. Insbesondere zur Stoa und zum
1. „Täglich unterhielt er sich mit den Vorübergehenden“
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Platonismus führen zahlreiche Brücken.2 Ein besonders herausragendes Indiz dafür ist die patristische Rezeptionsgeschichte einzelner Passagen, die die in den urchristlichen Schriften angelegten Schnittstellen identifiziert und ausweitet. Die nähere Bestimmung solcher Schnittstellen wirft allerdings erhebliche Fragen auf. Ich nenne vier Punkte. 1. Das Profil der philosophischen Kontexte, die für neutestamentliche Texte relevant sind, muss so genau wie möglich beschrieben werden. Philosophie ist in der kaiserzeitlichen Gesellschaft ein überaus vieldimensionales Unternehmen; das Spektrum reicht von elitären Philosophenschulen über Wanderprediger und Gruppen verschiedener sozialer und religiöser Konturen – fassbar beispielsweise in jenen Strömen, die die „Platonic Underworld“ hermetischer und gnostischer Zirkel bilden –3 bis zu unscharfem weltanschaulichem Material, das weit von seinem Ursprung entfernt in ganz andere Kreise und soziale Niveaus diffundiert. Von Haus aus philosophisches Gut wie Lehrsätze und Sentenzen werden durch Schule, Bildung und Markt weit herum gestreut. Es ist schwierig, generelles weltanschauliches Standardwissen als Teil eines umfassenden kulturellen Commonsense von spezifischen Figuren und Doktrinen distinkter philosophischer Herkunft zu unterscheiden. 2. Im Bereich des frühen Christentums bewegen wir uns im Raum einer Subkultur, die in mehr oder weniger starker Wechselwirkung mit frühjüdischen Milieus steht. Die erhaltene Literatur des griechischsprachigen Judentums zeigt, dass Philosophie nicht nur in Gestalt philosophischer Topoi und Figuren, sondern teilweise sogar wie im Fall Philons durch den Import umfassender Systembildung rezipiert wird. Empfängt das Christentum philosophisches Gut durch jüdische Vermittlung, ist es bereits im Vorfeld zu entscheidenden Filterungs‑ und Transformationsvorgängen gekommen, die den Transfer in die eigene Textproduktion und Reflexion massgeblich steuern. 3. Innerhalb des Neuen Testaments gibt die Briefliteratur die stärkste Verdichtung möglicher oder wahrscheinlicher Schnittstellen mit der antiken Philosophie zu erkennen. Dieser signifikante Sachverhalt wirft die Frage nach der Rolle auf, die philosophische Prämissen und Topoi in den nur schwer erschliessbaren Kommunikationsprozessen zwischen Briefverfassern und Empfängern gespielt haben. Die Diskussion über die paulinische Korintherkorrespondenz zeigt, dass Modelle, die Paulus lediglich auf korinthische Schlagwörter und Parolen reagieren lassen, den Stellenwert philosophischer Überzeugungen viel geringer einschätzen als solche, die Paulus selber als philosophischen Lehrer porträtieren. 4. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf den gesamten Mittelmeerraum des späten Hellenismus und der frühen Kaiserzeit haben in den letzten Jahrzehnten 2 Zur Forschungsgeschichte vgl. für die Stoa M. L. Colish, Stoicism and the New Testament, ANRW II/26.1 (1992) 334–379. 3 Vgl. J. Dillon, The Middle Platonists. 80 B. C. to A. D. 220, Ithaca 21996, 384–396; 450–452.
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erlaubt, ältere Frontstellungen abzubauen und durch produktivere Fragestellungen zu ersetzen. Zu denken ist insbesondere an die Abkehr vom „Judaism/Hellenism Divide“,4 der die Debatten im 19. und v. a. im 20. Jahrhundert dominiert hat, etwa in der scharfen Alternative zwischen „hellenistischem Synkretismus“ und „weisheitlich-apokalyptischem Judentum“. Der Ausgangspunkt von einer umfassenden antik-mediterranen Globalkultur, die sich in zahlreiche miteinander wechselwirkende ethnische und soziale Partialkulturen ausdifferenziert, erlaubt es, die Kontexte, in die die urchristlichen Texte eingebettet sind, angemessener zu beschreiben. Allerdings ist man auch bei der kulturwissenschaftlichen Rekontextualisierung unserer Texte gut beraten, die Trennschärfe, die die ältere Analyse der religionsgeschichtlichen Hintergründe ausgezeichnet hat, nicht leichtfertig zu verspielen. Wir versuchen im Folgenden, anhand eines schlichten Schematismus drei Typen von Verhältnisbestimmungen zwischen urchristlicher Literatur und antiker Philosophie zu unterscheiden.5 Bei der Rezeption ist davon auszugehen, dass philosophische Themen und Funktionen durch mehr oder weniger direkten Import oder auf dem Weg kultureller Diffusion Eingang finden in unsere Texte. Beim Dialog sind im Ansatz explizite christliche Bezugnahmen auf die Philosophie im Blick; als Optionen bieten sich Anerkennung, Überbietung und Ablehnung an. Das Stichwort Diskurs bezieht sich schliesslich auf umfassende Konzeptionen der Lebensorientierung sowohl auf Seiten der Christengemeinden wie der Philosophenschulen, die auf dem weltanschaulichen Marktplatz der antiken Städte in Konkurrenz zueinander treten, ohne dass es zu Interferenzen kommen muss. Selbstverständlich bestehen Wechselwirkungen zwischen diesen drei Aspekten. Mehr noch: Die zuletzt genannte Diskurs-Perspektive steht für übergreifende kulturelle Zusammenhänge, die allererst spezifische Rezeptionen und potentielle Dialoge ermöglichen.
2. „Wie auch einige von euch sagten“ – Rezeption Die Herkunft der von Haus aus philosophischen Topoi, die uns in den urchristlichen Texten begegnen, lässt sich nicht präzis identifizieren.6 Dennoch kann man mehr oder weniger deutlich eine traditionsgeschichtlich zu beschreibende 4 Vgl. den programmatischen Band von T. Engberg-P edersen (Hg.), Paul beyond the Judaism/Hellenism Divide, Louisville 2001. 5 Eine etwas anders angelegte Typologie bietet D. T. Runia, Ancient Philosophy and the New Testament. ‚Exemplar‘ as Example, in: A. B. McGowan / K. H. Richard (Hg.), Method and Meaning, FS H. W. Attridge, Atlanta 2011, 347–361. 6 Die bezeichnende Ausnahme bildet das Zitat aus Aratos’ Phainomena, das sich Apg 17,28 findet, wohl vermittelt durch ein Florilegium. In der vom Neuen Testament unabhängigen griechischen Literatur findet sich das entsprechende Zitat nur noch bei Aristobul, frg. 4 (= PVTG 3, 223).
2. „Wie auch einige von euch sagten“ – Rezeption
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Abhängigkeit verzeichnen, also eine Art ‚Genealogie‘ im Unterschied zur phänomenologisch zu erhebenden Analogie. Meist erfolgt die Rezeption auf dem Weg kultureller Diffusion. Im Folgenden werden wir uns mit Zusammenhängen beschäftigen, in denen es um Inhalte (Topik), Methode (Didaktik) oder Funktion (Auftritt) geht. 2.1 Topik 1. Am meisten Aufmerksamkeit haben seit alters die zahlreichen Topoi, Themen, Motive und Denkfiguren gefunden, die die urchristlichen Texte mit der zeitgenössischen Philosophie verbinden. Das Spektrum ist differenziert, es reicht von der Gotteslehre und Christologie über die Kosmologie und Anthropologie bis zur Ethik und Politik.7 Die Bezüge erschöpfen sich nicht in peripheren Anleihen, sondern geben streckenweise die Rezeption umfassenderer Kontexte zu erkennen.8 Dabei kommt es meist zu einem markanten Transfer in eine grundsätzlich andere theologische Konfiguration, der mit einer Umdeutung der ursprünglichen Topik Hand in Hand geht. Das Gesagte gilt in besonderem Mass für die Briefliteratur. Wir vergegenwärtigen uns den Sachverhalt anhand einiger klassischer Beispiele bei Paulus.9 Er platziert im Römerbrief gezielt eine Serie philosophisch einschlägiger Figuren, die er in das Rahmenwerk seiner apokalyptischen Eschatologie einzeichnet und damit neu kontextualisiert. So arbeitet er in 1,19 f mit dem bekannten Muster antiker natürlicher Theologie, das den Urheber aus seinen Werken erschliesst,10 konvertiert es aber zu einem Argument für die Universalität der menschlichen Verblendung. Das von Haus aus naturrechtliche Schema des universalen Gesetzes, das im Inneren der Menschen eingeschrieben ist (2,14 f),11 zielt auf die Egalisierung von Juden und Heiden vor Gottes Thron. Das Elend des unerlösten 7 Am Rand ist allenfalls auch die Logik mit zu berücksichtigen, vgl. M. Mayordomo, Argumentiert Paulus logisch? Eine Analyse vor dem Hintergrund antiker Logik (WUNT 188), Tübingen 2005, 23–26. 8 Vgl. das bekannte Votum von G. Bornkamm, Gesetz und Natur (Röm 2,14–16), in: ders., Antike und Christentum. Gesammelte Aufsätze, Bd. 2 (BEvT 28), München 21963, 93–118, hier 111: Paulus ist der Lage, „die Gedanken der griechischen Tradition, und zwar nicht nur eklektisch und mit blossen Anleihen an ihr Vokabular, sondern durchaus in ihrem inneren Zusammenhang und ihrem sachlichen Gefüge, aufzunehmen“. Deutlich zurückhaltender z. B. T. Paige, Art. Philosophy, in: G. F. Hawthorne / R. P. Martin (Hg.), Dictionary of Paul and His Letters, Leicester 1993, 713–718 („While Paul may have used philosophical vocabulary for his apologetic or didactic purposes, he was not constrained by the content or method of the philosophies in vogue“, 718). 9 Vgl. die Dokumentation von J. P. Sampley (Hg.), Paul in the Greco-Roman World. A Handbook, Harrisburg 2003. 10 Dies gilt auch im Fall einer literarischen Vermittlung durch Sap; vgl. J. A. Linebaugh, Announcing the Human. Rethinking the Relationship Between Wisdom of Solomon 13–15 and Romans 1.18–2.11, NTS 57 (2011) 214–237. 11 Vgl. dazu J. W. Martens, Romans 2.14–16. A Stoic Reading, NTS 40 (1994) 55–67.
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Menschen wird in 7,14–25 illustriert mit dem dramatischen Kolorit, das einer dualistisch orientierten philosophischen Deutung des Konflikts der Medea entstammt.12 Mit dem „inneren Menschen“ (7,22; vgl. 2 Kor 4,16; Eph 3,16) referiert Paulus auf ein klassisches Muster ursprünglich platonischer Provenienz,13 das nun auf jeweils verschiedene Art in den apokalyptischen Äonenumbruch transponiert wird. Die Metaphorik vom Sterben und Neuwerden bereits im diesseitigen Leben (Kap. 6–8) ist ohne Anlehnung an platonische Sprachformen, die ihrerseits mit Mysterienterminologie operieren, schwer denkbar. Wahrscheinlich gilt dies überhaupt für eine Grundfigur der paulinischen Theologie, nämlich die Partizipation der Menschen an umfassenden Sphären.14 Im dritten grossen Teil von Röm stellt 12,1 f programmatisch die ethische Autonomie der Glaubenden heraus,15 fundiert diese aber im neuen Äon, der im Zeichen von Jesus Christus steht. 13,1–7 bietet ein Stück politischer Philosophie, das die entsprechenden Diskurse der Zeit Neros spiegelt.16 In noch stärkerem Ausmass dokumentiert die Korintherkorrespondenz die Präsenz popularphilosophischer Topoi, Themen und Motive, die wir nicht nur dem Konto der heidenchristlichen Korinther, sondern auch dem theologischen Erkenntnisinteresse des Apostels gut zu schreiben haben. In christologischer Perspektive ist die Parataxe des einen Gottes und des einen Herrn Jesus Christus (1 Kor 8,6) von grösstem Gewicht; sie verschränkt das monotheistische Bekenntnis mit der subtilen Metaphysik der Präpositionen, wie sie sich in der hellenistischen Philosophie entwickelt hat (vgl. Röm 11,36).17 Das Bekenntnis selber ist eingebettet in eine Debatte über Freiheit und Sklaverei 12 Zu (allerdings anderen) platonischen Bezügen vgl. E. Wasserman, The Death of the Soul in Romans 7. Sin, Death, and the Law in Light of Hellenistic Moral Psychology (WUNT II/256), Tübingen 2008. 13 Vgl. Ch. Markschies, Art. Innerer Mensch, RAC 18 (1998) 216–312; H. D. Betz, The Concept of the ‚Inner Human Being‘ (ὁ ἔσω ἄνθρωπος) in the Anthropology of Paul, in: ders., Paulinische Theologie und Religionsgeschichte. Gesammelte Aufsätze Bd. 5, Tübingen 2009, 23–52. 14 Vgl. U. Schnelle, Transformation und Partizipation in paulinischer Theologie, NTS 47 (2001) 58–75; zur „morphic language“ G. H. van Kooten, Paul’s Anthropology in Context. The Image of God, Assimilation to God, and Tripartite Man in Ancient Judaism, Ancient Philosophy and Early Christianity (WUNT 232), Tübingen 2008, besonders 69–91. 15 Vgl. zum ganzen Kapitel P. F. Esler, Paul and Stoicism. Romans 12 as a Test Case, NTS 50 (2004) 106–124; auffallend zurückhaltend H. D. Betz, Das Problem der Grundlagen der paulinischen Ethik (Röm 12,1–2), in: ders., Paulinische Studien. Gesammelte Aufsätze Bd. 3, Tübingen 1994, 184–205. Zu Röm 12–15 vgl. R. M. Thorsteinsson, Stoicism as a Key to Pauline Ethics in Romans, in T. Rasimus / T. Engberg-P edersen (Hg.), Stoicism in Early Christianity, Peabody 2010, 15–38; ders., Roman Christianity and Roman Stoicism. A Comparative Study of Ancient Morality, Oxford 2010, 89–104. 16 Vgl. St. Krauter, Studien zu Röm 13,1–7. Paulus und der politische Diskurs der neronischen Zeit (WUNT 243), Tübingen 2009, 225 f; 250; 277 f. 17 Vgl. H. Dörrie, Präpositionen und Metaphysik, in: ders., Platonica minora (STA 8), München 1976 124–136; S. Vollenweider, Christus als Weisheit. Gedanken zu einer bedeutsamen Weichenstellung in der frühchristlichen Theologiegeschichte, in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 29–51, hier: 47–49; D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010, 291.
2. „Wie auch einige von euch sagten“ – Rezeption
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(1 Kor 8–10; vgl. 7,17–24), die sich offenkundig auf einen weit gespannten Diskurs der hellenistisch-römischen Kultur zurückbezieht.18 In dieser Konfiguration ist auch die Stossrichtung der Belehrung über den Umgang mit Ehe und Sexualität einzuzeichnen (1 Kor 7,29–35),19 transponiert in einen apokalyptischen Zeithorizont (V. 29a). Einen markanten Einfluss der politischen Philosophie gibt die Einheitsrhetorik zu erkennen, die den 1. Korintherbrief so gut wie den Philipperbrief thematisch strukturiert. Diese führt freilich weit über philosophische Kontexte hinaus.20 Beim Einheit wie Differenz schaffenden Pneuma bietet sich zunächst ein attraktiver Brückenschlag zur stoischen Kosmologie an.21 Sieht man aber genauer zu, treten die Analogien in den Schatten so erheblicher Differenzen, dass man nicht leicht an einen philosophischen Reflex denken kann: Griechen assoziieren mit πνεῦμα, „bewegter Luft“, nur schwer die personale Wirksamkeit des Geistes oder seinen anthropologischen Status;22 sie müssen den Terminus beim Transfer in den christlichen Soziolekt neu kodieren. Im Besonderen bietet der Bereich der Ethik Kontaktflächen für die Rezeption philosophischen Traditionsguts. Die Christonomie der Glaubenden wird speziell im Galaterbrief herausgearbeitet (Gal 5,13–6,10); die Popularphilosophie stellt dafür nicht nur die grundlegende Figur der ethischen Autonomie, die Freiheit und Gesetz miteinander korreliert,23 sondern auch eine Fülle konkreter ethischer Maximen und Regeln bereit. Eigens zu nennen sind neben vielen einzelnen Motiven wie der agonistischen Metaphorik die Tugend‑ und Lasterkataloge. Auch die Haustafeln lassen sich hier verzeichnen, obschon die antike Ökonomik nicht nur in den Zuständigkeitsbereich der Philosophie fällt. 2. Die anhand der paulinischen Korrespondenz exemplarisch skizzierten Berührungen zwischen urchristlicher Theologie und philosophischer Theoriebil18 Zum Kontext vgl. die Dokumentation in: S. Vollenweider (Hg.), Epiktet. Was ist wahre Freiheit? (SAPERE 22), Tübingen 2013. 19 Vgl. W. Deming, Paul on Marriage and Celibacy. The Hellenistic Background of 1 Corinthians 7 (MSSNTS 83), Cambridge 1995. 20 Vgl. M. M. Mitchell, Paul and the Rhetoric of Reconciliation. An exegetical Investigation of the Language and Composition of 1 Corinthians (HUTh 28), Tübingen 1991; S. Vollenweider, Politische Theologie im Philipperbrief?, in: D. Sänger / U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes (WUNT 198), Tübingen 2006, 457–469, Abdruck in diesem Band: 227–238. 21 Vgl. T. Engberg-P edersen, The Material Spirit. Cosmology and Ethics in Paul, NTS 55 (2009) 179–197; der Ansatz wird weiter entwickelt in: ders., Cosmology and Self in the Apostle Paul. The Material Spirit, Oxford 2010; auch H. Scherer, Geistreiche Argumente. Das Pneuma- Konzept des Paulus im Kontext seiner Briefe (NTA.NF 55), 2011, 110–115; 258–260; M. Ebner, Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen. Das Urchristentum in seiner Umwelt Bd. 1 (GNT 1.1), Göttingen 2012, 287. Zur Diskussion vgl. R. Hirsch-Luipold, Rez. T. Engberg-P edersen, Cosmology and Self in the Apostle Paul (2010), EChr 3 (2012) 122–133. 22 Vgl. T. Paige, Who believes in „Spirit“? Πνεῦμα in pagan Usage and Implications for the Gentile Christian Mission, HThR 95 (2002) 417–436. Der Lateiner Seneca (besonders ep. 41,2) ist ein Sonderfall. 23 Vgl. dazu die Hinweise bei M. Konradt, Die Christonomie der Freiheit. Zu Paulus’ Entfaltung seines ethischen Ansatzes in Gal 5,13–6,10, EChr 1 (2010) 60–81.
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dung lassen sich ohne Mühe auch in der übrigen Brief literatur aufweisen. Für die vom Kolosserbrief empfohlene Orientierung am „Oberen“ (3,1 f) ist herkömmlicherweise die Philosophie zuständig. Das Christuslob in 1,15–20 greift ähnlich wie 1 Kor 8,6 auf die philosophische Differenzierung der göttlichen Prinzipien und das damit verbundene Arrangement der Präpositionen zurück. Die am kosmischen Leib orientierte Christologie des Kolosserbriefs arbeitet insgesamt mit kosmologischen Figuren stoischer wie platonischer Provenienz (vgl. 2,19.17). Um die Tragweite dieser ‚genealogischen‘ Herkunftsbestimmung angemessen einschätzen zu können, muss in diesem Fall die Vermittlung durch jüdische Milieus, hier insbesondere durch die jüdische Weisheitstheologie, in Rechnung gestellt werden. Beim Epheserbrief zeigen die zahlreichen Parallelen zum Œuvre Philons von Alexandria, wie hoch die vorauslaufende Rezeption philosophischen Guts durch das Judentum zu veranschlagen ist – das Spektrum reicht von der arithmetischen Theologie über die Metaphysik der Hypostasen bis zur Kosmologie. Besonders prägnant nimmt sich die theologische Konfiguration des Hebräerbriefs aus, artikuliert er doch, im Ansatz mit Philons Religionsphilosophie vergleichbar, Gottes Transzendenz und die Vermittlung zwischen Oberem und Unterem mithilfe eines mittelplatonischen Modells,24 das es auch erlaubt, überkommene religiöse Traditionen hermeneutisch zu aktualisieren. Im Blick auf die übrigen Briefe, etwa die Pastoralbriefe oder den 1. Petrusbrief, drängt sich allerdings erneut die Schwierigkeit in den Vordergrund, methodisch angemessen zwischen weit gestreuten kulturellen Wissensbeständen einerseits und Reflexen distinkter philosophischer Herkunft andrerseits differenzieren zu können.25 Neben der möglichen Präsenz von einzelnen Philosophumena in den eben genannten Briefen stellt sich beispielsweise die Frage, ob der Verfasser des 2. Petrusbriefs für seine Entfaltung der v. a. biblisch-jüdisch orientierten kosmologischen Eschatologie auf das spezifische stoische Lehrstück von der Ekpyrosis zurückgreift oder sich, m. E. weit wahrscheinlicher, lediglich auf rudimentäre Bestände hellenistischer Elementenphysik bezieht.26 Die „Teilhabe an der göttlichen Natur“ zusammen mit der „Flucht“ vor der kosmischen Verderblichkeit (1,4) verweist ihrerseits auf platonische, nicht auf stoische Zusammenhänge.
24 W. Eisele, Ein unerschütterliches Reich. Die mittelplatonische Umformung des Parusiegedankens im Hebräerbrief (BZNW 116), Berlin 2003; K. Backhaus, Der Brief an die Hebräer (RNT), Regensburg 2009, 54–56; zu Hebr 8,5 vgl. Runia, Philosophy (s. Anm. 5). 25 Zu 1 Petr vgl. die spezifischen Hinweise von R. Feldmeier, Der erste Brief des Petrus (ThHK 15.1), Leipzig 2005, zu „Unverderblichkeit“ und „Seelenrettung“ (49–51; 58–60). 26 Die erstgenannte These wird vertreten von J. A. Harrill, Stoic Physics, the Universal Conflagration, and the Eschatological Destruction of the „Ignorant and Unstable“ in 2 Peter, in: Rasimus / Engberg-Pedersen, Stoicism (s. Anm. 15) 115–140. Ähnlich J. Frey, Der Brief des Judas und der zweite Brief des Petrus (ThHK 15.2), Leipzig 2015, 176; 205 f; 325; 333–338; ders., Second Peter in New Perspective, in: ders. u. a. (Hg.), 2 Peter and the Apocalypse of Peter. Towards a New Perspective (BiInS 174), Leiden 2019, 7–74, hier: 36 f.
2. „Wie auch einige von euch sagten“ – Rezeption
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3. In den erzählenden neutestamentlichen Texten ist von vornherein mit weniger leicht identifizierbaren Schnittstellen zur zeitgenössischen Philosophie zu rechnen.27 Die Missionsreden des Paulus (Apg 14; 17) geben Anlass, beim lukanischen Doppelwerk als Ganzem nach philosophischen Reminiszenzen zu fragen. Lukas setzt bei seiner Leserschaft ein Bildungsniveau voraus, das in jedem Fall auch ein elementares philosophisches Training durchlaufen hat. So arbeitet seine Behandlung von Armut und Reichtum mit Elementen kynischen Gedankenguts.28 Vor allem aber steht das Johannesevangelium im Fokus des Interesses, zumal der in seiner rezeptionsgeschichtlichen Tragweite gar nicht zu überschätzende Prolog (1,1–18).29 So anschlussfähig sich der Logosbegriff für hermeneutische Fragestellungen und für die historischen Debatten zwischen Theologie und Philosophie seit der Alten Kirche ausnimmt, so unsicher ist es um seine philosophiegeschichtliche Genealogie bestellt. Erstens hat bereits die jüdisch-hellenistische Weisheitstheologie die Identifikation von Sophia und Logos vorgenommen. Traditionsgeschichtlich kann man sich mit guten Gründen auf dieses vermittelnde kulturelle Milieu beschränken. Zweitens täuscht die schillernde Logosprädikation leicht darüber hinweg, dass „der Logos“ hauptsächlich in der Stoa, nicht aber in den anderen Schulrichtungen die Achse des metaphysischen bzw. kosmologischen Systems bildet.30 Drittens bleibt der Logos als hypostatisches Prinzip im Vierten Evangelium auffällig isoliert. Johanneische Kontaktflächen zu anderen stoischen Traditionen, etwa in der Pneumatologie, im Wahrheitsverständnis oder im Umgang Jesu mit den Affekten lassen sich nur mit Mühe und unter anspruchsvollen Zusatzannahmen postulieren.31 Immerhin könnte es sich lohnen, für das Verständnis der eigentümlichen johanneischen Bildhermeneutik, für die „Rätselrede“ und die Symbolisierung, das Feld der philosophischen Interpretation religiöser Traditionen, von Mythen, Kulten und Bildern, zu berücksichtigen. 27 Zu Jesus selber und möglichen Kynikerbeziehungen vgl. bei Anm. 39. Die Arbeiten in P. K. Moser (Hg.), Jesus and Philosophy. New Essays, Cambridge 2009, verfolgen keine traditionsgeschichtliche Fragestellung. 28 So N. Neumann, Armut und Reichtum im Lukasevangelium und in der kynischen Philosophie (SBS 220), Stuttgart 2010; vgl. ders., Lukas und Menippos. Hoheit und Niedrigkeit in Lk 1,1–2,40 und in der menippeischen Literatur (NTOA 68), Göttingen 2008. 29 Zur Interpretation vgl. H. Weder, Ursprung im Unvordenklichen. Eine theologische Auslegung des Johannesprologs (BThS 70), Neukirchen 2008. 30 Zum philosophischen Stellenwert des Logos vgl. W. Löhr, Art. Logos, RAC 23 (2010) 327–435, hier: 328–341. 31 Pneuma: G. Buch-H ansen, „It is the Spirit that Gives Life“. A Stoic Understanding of Pneuma in John’s Gospel (BZNW 173), Berlin 2010. – Wahrheit: P. G. Kirchschläger, Nur ich bin die Wahrheit. Der Absolutheitsanspruch des johanneischen Christus und das Gespräch zwischen den Religionen (HBS 63), Freiburg 2010. – Gefühle: H. W. Attridge, An „Emotional“ Jesus and Stoic Tradition, in: Rasimus / Engberg-Pedersen, Stoicism (s. Anm. 15) 77–92; G. Buch-Hansen, The Emotional Jesus. Anti-Stoicism in the Fourth Gospel?, aaO. 93–114.
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2.2 Didaktik und Bildung Philosophie besteht nicht nur in Inhalten, sondern auch in Formen des Lehrens und Lernens. Die urchristlichen Texte dokumentieren zahlreiche Genera, die den Philosophen für Traditionsübermittlung und Instruktion zur Verfügung stehen.32 Was wir schon bei Topoi und Themen festgestellt haben, gilt hier in noch höherem Mass: Lehren und Lernen als entscheidendes Element der Bildung (Paideia) reicht in weite Felder des kaiserzeitlichen Stadtlebens hinein und beschränkt sich nicht allein auf die Philosophie. Die auch urchristlich belegten Sprachformen und Textsorten sind dementsprechend äusserst vielfältig; sie reichen von Traktaten über Reden bis zu Briefen;33 an kleinen Formen ragen besonders die Sentenzen, die Chrien bzw. Apophthegmen und die Hymnen heraus. Typisch für die hellenistisch-römische Zeit sind Protreptik, Paränese und Psychagogik; man orientiert sich an Exempla und adaptiert die Inhalte konsequent und reflektiert im Blick auf die Adressatenschaft. Literarisch ragen die Diatribe34 und die Profilierung mittels Paradoxa heraus, letztere prägnant greifbar in den Peristasenkatalogen stoisch-kynischer Provenienz. In der Philosophie gewinnen zunehmend exegetische Formen an Raum; es werden nicht nur autoritative Texte, die die Schultradition konstituieren, ausgelegt, sondern auch überkommene religiöse Überlieferungen literarischer oder kultisch-ritueller Art. Schliesslich ist an die Rolle der Pseudepigraphie zu erinnern, deren „Sitz im Leben“ abermals besonders die Schulinstitution bildet. Die frühchristliche Literatur kennt und benützt alle diese verschiedenen Formen; das Mass an – möglichen – philosophischen Konnotationen variiert dabei erheblich. Die Briefe stehen hier wiederum mehr im Fokus als etwa Evangelien oder Apokalypsen. So dokumentiert Matthäus zwar eine exzellente didaktische Kompetenz, greift aber kaum auf ein speziell philosophisches Lehrinstrumentarium zurück.35 32 V.a. A. J. Malherbe hat die ethische Belehrung und pastorale Seelsorge, die Paulus mit den Moralphilosophen seiner Zeit verbindet, herausgearbeitet: Moral Exhortation. A Greco- Roman Sourcebook, Philadelphia 1986; ders., Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis 1989, 67–77 („Paul’s adoption, and sometimes adaptation, of the philosophical tradition, reveal to us his awareness of the philosophic pastoral methods current in his day“, 68); ders., Hellenistic Moralists and the New Testament, ANRW II/26.1 (1992) 267–333; ders., Greco-Roman Religion and Philosophy and the New Testament, in: E. J. Epp / G. W. MacRae (Hg.), The New Testament and Its modern Interpreters (SBL.CP), Philadelphia 1989, 3–26. Eine zu scharfe Distanz zum antiken Bildungsideal baut E. A. Judge auf, The Reaction against Classical Education in the New Testament, in: ders., The First Christians in the Roman World (WUNT 229), Tübingen 2008, 709–716. 33 Auffällig ist das Fehlen des Dialogs, der erst ab dem zweiten Jahrhundert rezipiert wird; vgl. B. R. Voss, Der Dialog in der frühchristlichen Literatur (STA 9), München 1970. Immerhin findet sich eine Miniatur in der Areopagrede. 34 Vgl. dazu T. Schmeller, Art. Diatribe. NT, EBR 6 (2013) 782–784. 35 Anders S. K. Stowers, Jesus the Teacher and Stoic Ethics in the Gospel of Matthew, in:Rasimus / Engberg-Pedersen, Stoicism (s. Anm. 15) 59–76, und, für die Quelle der Bergpredigt, H. D. Betz, The Sermon on the Mount (Hermeneia), Minneapolis 1995, 70–80 u.ö.
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2.3 Auftritt 1. Frühchristliche Gemeinden in städtischer Umgebung lassen sich in soziologischer Perspektive nicht nur mit Vereinen vergleichen. Der besondere Stellenwert, den die Christen der Lehre und dem Lernen zumessen, rückt auch die Schule in den Fokus, zumal diejenige des philosophischen Typs. Allerdings haben sich nicht alle philosophischen Richtungen schulartig organisiert – dies betrifft lediglich die „dogmatischen“ Linien, nicht aber etwa Kyniker und Skeptiker –, und die spezifische institutionelle Form ist überaus variabel, ganz abgesehen von der sozialen Stratifikation.36 Im frühchristlichen Raum lassen sich schultypische Phänomene mindestens in den paulinischen Gemeinden und im johanneischen Kreis beobachten.37 In den erstgenannten zeigt sich besonders in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts und im Übergang zum zweiten Jahrhundert neben institutionellen Merkmalen (wie der deutlichen Unterscheidung von Lehrern und Schülern sowie, im Fall von Past, der Lehramtssukzession) auch der überragende Stellenwert des Schulgründers und der von ihm initiierten Tradition, fassbar insbesondere in der Pseudepigraphie (Kol, Eph; Past). Freilich muss man von einer Mehrzahl von solchen Schulen ausgehen und die jeweiligen Organisationsstrukturen sind noch im Fluss. Im johanneischen Bereich ist die Vergleichbarkeit mit Philosophenschulen viel geringer; ob sich die oberflächlichen Analogien zwischen den „Jesusfreunden“ und dem Garten Epikurs geschichtlichen Berührungen verdanken,38 ist m. E. allein schon aus sozialgeschichtlichen Gründen zweifelhaft. Generell markiert der faktische Status der Gemeinden als Kultvereine einen erheblichen Unterschied zu Philosophenschulen; das gilt trotz einiger bemerkenswerter Analogien (wie der kultischen Verehrung des Gründers) auch für den Garten Epikurs. Die Schwierigkeit, spezifische philosophische Einflüsse von einer weit allgemeineren kulturellen Koine unterscheiden zu können, stellt sich auch in diesem Fall; organisatorische Strukturen nach Massgabe des Schulmodells bilden sich etwa auch im medizinischen und juristischen Bereich heraus. Umgekehrt haften Elemente didaktischer oder inhaltlicher Art wie Protreptik 36 Zu den Philosophenschulen vgl. H. Flashar / G. Wörler, Einleitung, in: H. Flashar (Hg.), Die hellenistische Philosophie (Ueberweg.Antike 4), Basel 1994, 5; A. A. Long / D. N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, dt. Übs. Stuttgart 2000, 1–6; T. Dorandi, Organization and Structure of the Philosophical Schools, in: K. Algra u. a. (Hg.), The Cambridge History of Hellenistic Philosophy, Cambridge 1999, 55–62; T. Schmeller, Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit (HBS 30), Freiburg 2001, 46–92. Vgl. sodann: Ch. Horn, § 3. Anknüpfung an die Schultradition, in: Ch. Riedweg / Ch. Horn / D. Wyrwa (Hg.), Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (Ueberweg.Antike 5), Basel 2018, 15–18; speziell zu Athen M. Haake, § 4. Institutionelle Rahmenbedingungen, aaO. 31–36. 37 Vgl. dazu besonders Schmeller, Schulen (s. Anm. 36); T. Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134), Berlin 2006. 38 So Ebner, Stadt (s. Anm. 21) 287; 289.
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und Psychagogik ihrerseits nicht ausschliesslich an Schulstrukturen, wie das Beispiel der Kyniker zeigt. 2. Unabhängig von dieser spezifischen institutionellen Form stehen die christlichen Missionare in der öffentlichen Wahrnehmung den umherziehenden philosophischen Verkündigern nahe. Dies ist besonders bei Paulus der Fall; es spricht viel dafür, dass er sich mit seinem programmatischen Verzicht auf Unterhalt durch die Gemeinden – mit der Ausnahme Philippis – von den in dieser Hinsicht oft am Tropf reicher Patrone hängenden „Kollegen“ unterscheiden lassen will. Er tritt aber klar erkennbar als Lehrer auf und bildet in und neben den Gemeinden einen Mitarbeiterkreis mit deutlich schulartigen Zügen. Der Hinweis auf sein tägliches Wirken im „Lehrhaus des Tyrannus“ in Ephesus (Apg 19,9) enthält zugleich eine wertvolle historische Information wie einen typischen Zug der späteren Paulusanamnese. Der Typ des öffentlichen und, an Bedeutung ungleich gewichtiger, halböffentlichen Auftritts als Lehrer führt uns freilich einmal mehr weit über die speziell philosophischen Gemarkungen hinaus. Wenn die Evangelien, hier insbesondere Matthäus, Jesus als Lehrer und seine Anhänger als „Schüler“ porträtieren, legen sich nicht primär philosophische Assoziationen nahe: Mit den Bezügen zu Anhängerkreisen und Schulen von Schriftgelehrten und Rabbinen befinden wir uns wieder in distinkten jüdischen Milieus, für die die Philosophenschulen lediglich als ein formativer Faktor neben anderen in Frage kommen. An dieser Stelle ist an die besonderen Schwierigkeiten zu erinnern, die galiläische Jesusbewegung trotz ihres spezifischen partialkulturellen Profils als einen Typ von kynischen Wanderphilosophen zu identifizieren.39 3. In unserem Zusammenhang verdient schliesslich ein bestimmtes Paradigma besondere Aufmerksamkeit: Sokrates als exemplarisches Bild des Philosophen schlechthin.40 Am Vorbild oder geradezu: Urbild des Sokrates haben sich nahezu alle Richtungen der antiken Philosophie orientiert. Für die christlichen Rezeptionen bietet besonders die Passion des Philosophen die Möglichkeit eines Brückenschlags zu den Märtyrern und zu Jesus selber. Die Kolorierung des Paulusbilds durch sokratische Züge begegnet nicht nur in der Areopagszene, sondern bereits bei Paulus selber, zumal in seiner Situation der Gefangenschaft (Phil 1,21–26; vgl. 2 Kor 5,1–10). Auch die oben genannte Korrelation von Freiheit und Unterhaltsverzicht führt letztlich zu Sokrates zurück. 39 Zur Diskussion vgl. H. D. Betz, Jesus and the Cynics. Survey and Analysis of a Hypothesis, in: ders., Antike und Christentum. Gesammelte Aufsätze Bd. 4, Tübingen 1998, 32–56; M. Ebner, Kynische Jesusinterpretation – „disciplinated exaggeration“? Eine Anfrage, BZ 40 (1996) 93–100. 40 Vgl. K. Döring, Exemplum Socratis. Studien zur Sokratesnachwirkung in der kynisch- stoischen Popularphilosophie der frühen Kaiserzeit und im frühen Christentum (Hermes.E 42), Wiesbaden 1979; E. R. Wilson, The Death of Socrates (Profiles in History), Cambridge 2007; speziell zum Neuen Testament H. D. Betz, Der Apostel Paulus und die sokratische Tradition (BHTh 45), Tübingen 1972; E. A. Judge, St Paul and Socrates, in: ders., Christians (s. Anm. 32) 670–683.
3. „Einige spotteten, einige aber schlossen sich an“ – dialogische Perspektiven
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3. „Einige spotteten, einige aber schlossen sich an“ – dialogische Perspektiven Anders als im zweiten Jahrhundert, wo die Apologeten „das Beste“ der griechischen Philosophie „für uns“ beanspruchen, kommt es in der Anfangszeit der christlichen Bewegung kaum zu einer expliziten Auseinandersetzung. Die Ausnahme bildet der Besuch des lukanischen Paulus in Athen; in gewisser Weise inszeniert die Areopagerzählung den Dialog zwischen Philosophie und Evangelium, allerdings im Modus der Überbietung (Apg 17,23b).41 Wir kommen am Ende unserer Überlegungen darauf zurück. Zwei weitere neutestamentliche Texte lassen sich unter der Fragestellung lesen, ob es hier zu so etwas wie einem verweigerten Dialog kommt, zu einer Antithese von Christusverkündigung und Philosophie. 1. Die negative Qualifikation der „Philosophie“ in Kol 2,8 lässt sich nur unter erheblichem Vorbehalt als Polemik gegen die antike Philosophie taxieren.42 φιλοσοφία wird hier korreliert mit Verführung, leerem Trug, Menschenüberlieferung und den „Weltelementen“; die Antithese dazu bildet der Raum des Christus, in dem „die verborgenen Schätze der Weisheit (σοφία) und der Erkenntnis“ beschlossen sind (2,2; vgl. 1,26–28). Der – quellensprachlich unscharfe – Begriff „Philosophie“ wird also ausgesprochen negativ konnotiert, was in der zeitgenössischen Literatur selten vorkommt.43 Viel häufiger wird ein Typ von Philosophie gegen einen anderen Typ ausgespielt, etwa in Schuldebatten oder in der Gegenüberstellung von griechischer und barbarischer Philosophie,44 oder dort, wo sie selber der Rhetorik subsumiert wird. Vor allem wird authentische Philosophie kontrastiert mit Hypokrisie;45 natürlich stellen die Philosophen selber ein dankbares satirisches Sujet dar, etwa bei Lukian und im Äsop roman. Der Verfasser des Kolosserbriefs schreibt diese negative „Philosophie“ 41 Die Figur der Überbietung hat zur Folge, dass Paulus seine Dialogpartner über Erkenntnisse belehrt, die ihnen nicht nur längst bekannt sind, sondern die zu guten Teilen von ihnen selber herstammen. Mit dem „Körnerpicker“ (V. 18) wird ihm vorweg die Quittung ausgestellt! 42 Vgl. m.R. schon Clem., strom. 1,50:5 (nur anti-epikureisch); 8,62:1 („Paulus macht offenbar der Philosophie in seinen Briefen keine Vorwürfe, sondern verlangt nur, dass, wer die Höhe des Gnostikers erreicht hat, nicht mehr auf die Stufe der griechischen Philosophie herabsinke“). 43 Die bei Bauer / Aland, Wb 1717, sensu malo aufgelisteten beiden Stellen sind Fehlanzeigen: Corp. Herm. frg. 23,68 stellt Philosophie und Magie sensu bono zusammen („Philosophie und Magie nähren die Seele“); 4 Makk 5,11 kontrastiert eine geschwätzige Philosophie mit einer um Wahrheit und Nutzen bemühten Philosophie. 44 Letzteres begegnet zugunsten der „barbarischen“ Weisheitstradition bei Tatian, or. 1–3 oder bei Jambl., myst. 7,5 (258 f Des Places), hier allerdings ohne quellensprachliche Referenz auf „Philosophie“. 45 So z. B. Dion, or. 70,10 („es gibt wohl kaum ein Mittel zu verhindern, dass jemand sich als Philosoph ausgibt, damit prahlt und sich und die anderen betrügt [φῆσαι φιλοσοφεῖν καὶ ἀλαζονεύεσθαι καὶ αὑτὸν ἐξαπατῆσαι (!) καὶ τοὺς ἄλλους]“); Dio Cass. 52,36:3 f („vor denen, die sich als Philosophen ausgeben, hüte dich“).
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seinen Gegnern zu. Angesichts der exegetischen Aporien, die bei der Rekonstruktion der kolossischen ‚Irrlehre‘ entstehen, hält man sich am besten an die elementare Regel, den Gegnern nur diejenigen Merkmale zuzuschreiben, die einerseits nicht primär polemisch kalibriert sind und andrerseits nicht paulinische Theologie fortschreiben.46 Genau letzteres ist der Fall bei den aus Gal bekannten „Weltelementen“.47 Aber auch die „Philosophie“ kommt kaum als Zitat bzw. Selbstbeschreibung der kolossischen Lehre in Betracht, sondern stellt eher eine vom Verfasser von Kol ad hoc gebildete Variation zu jener Grösse dar, die Paulus selber als „Weisheit dieser Welt“ charakterisiert (1 Kor 1,20 f; 3,19). Die kolossische „Philosophie“ orientiert sich an den Massstäben der Menschen und der Welt statt an Christus und an Gott; sie unterscheidet sich von echter Sophia (2,3) so sehr wie die „selbstgemachte Gottesverehrung“ (ἐθελοθρησκία, 2,23) von wirklicher Frömmigkeit. Mit anderen Worten: Der Verfasser reaktualisiert Paulus’ Unterscheidung zweier Weisheiten, um der von ihm attackierten Spielart des Christusglaubens die Orientierung am „Unteren“ statt am „Oberen“ (vgl. 3,1 f) zuzuschreiben. 2. 1 Kor 1–4 dokumentiert einen überaus dichten Diskurs über das angemessene Verständnis von christlicher Weisheit und Philosophie. In der Korinther Gemeinde scheint es bei mindestens einer tonangebenden Gruppe ein ausgesprochenes Interesse an einer rhetorischen Weisheit gegeben zu haben, die im Schnittpunkt von griechischer und jüdischer Religionsphilosophie steht und wahrscheinlich mit der brillanten Verkündigung des Alexandriners Apollos zusammenhängt. Paulus reagiert auf diese Entwicklung, indem er seinem Aufruf an die Gemeinde, ihre Spaltungen zu überwinden (1,10–4,21), eine weit ausgreifende Reflexion über zwei einander entgegengesetzte Typen von Weisheit zugrunde legt (1,18–2,16, umrahmt von 1,17 und 3,1–4). Er treibt die Generalisierung in 1,18–25 so weit voran, dass er „Juden“ und „Griechen“ als herausragende Repräsentanten „dieser Welt“ kontrastiert mit der Wirklichkeit des Evangeliums, in dem Gottes Macht zum Zug kommt (1,18; vgl. 1,24; 2,5).48 Die Griechen stehen im Vordergrund, da sie nach „Weisheit suchen“. Damit ist die Philosophie,49 die 46 Mit diesem Standpunkt verträgt sich die Hypothese gut, die Lokalisierung der gegnerischen Lehre in Kolossae selber als fiktionales Element zu identifizieren. Vgl. dazu N. Frank, Der Kolosserbrief und die „Philosophia“. Pseudepigraphie als Spiegel frühchristlicher Auseinandersetzungen um die Auslegung des paulinischen Erbes, in: J. Frey u. a. (Hg.), Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen (WUNT 246), Tübingen 133–154, hier 136–142 (wonach die Gegnerkritik in 2,8 bewusst „in einer so grundsätzlichen Weise formuliert ist, dass sie auf ein weites Spektrum möglicher Konflikt‑ und Bedrohungskonstellationen hin übertragbar ist“, 140). 47 Mit U. Luz, Der Brief an die Kolosser (NTD 188.1), Göttingen 1998, 217 f. 48 Zum Folgenden vgl. meinen Aufsatz: Weisheit am Kreuzweg. Zum theologischen Programm von 1 Kor 1 und 2, in: A. Dettwiler / J. Zumstein (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament (WUNT 151), Tübingen 2002, 43–58, Abdruck in diesem Band: 185–199. 49 Vgl. z. B. Platon, rep. 5: 475b („der Philosoph trachtet nach der Weisheit, und zwar […] nach der ganzen“); Alkinoos, epitome 1,1 (φιλοσοφία ἐστὶν ὄρεξις σοφίας); Diog. Laert. 3,63 (von
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quellensprachlich auch Theosophie u. a. umfasst und als Markenzeichen griechischer Kultur gilt, im Blick.50 Die Antithese von Weltweisheit und Kreuzeswort verkompliziert sich dadurch, dass Paulus mit zwei unterschiedlichen traditionellen Gegensatzpaaren arbeitet. Zum einen handelt es sich um die Gegenüberstellung von Rhetorik und Philosophie, die auf das klassische Griechenland zurückgeht und im Zug der zweiten Sophistik revitalisiert wird (also erst eine Generation später).51 Der Apostel setzt der Weisheitsrede aber nicht die Philosophie, sondern Kreuz (1,17b; 2,1) und Gotteskraft (2,4 f) entgegen. Zum andern greift er zurück auf eine Figur der jüdischen Apokalyptik, die die verborgene und offenbarte göttliche Weisheit mit derjenigen der Weisen kontrastiert (vgl. Dan 2,27 f.30; 5,11.14 f; Röm 11,33 f). Dieses Gegensatzpaar überlagert dasjenige von Rhetorik und Philosophie. Der Effekt dieser Überlagerung besteht darin, dass Redekunst und Weltweisheit auf die eine Seite, Geist und göttliche Weisheit auf die andere Seite zu stehen kommen; jeder der beiden Pole hat traditionsgeschichtlich gesehen einen Bezug zur Philosophie. Deutlich ist dies zu fassen beim negativen Pol: Die Weltweisheit orientiert sich an den Ordnungen und Strukturen der gegenwärtigen Weltzeit – wozu auch Status, Prestige (1,26) und menschliche Autoritätsträger (Parteienführer: 1,12; 3,5) zählen.52 Dies entspricht der Weltkonstruktion der Philosophen nach Massgabe unveränderlicher Ordnungen sowie ihrer Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Elite.53 Der positive Pol scheint demgegenüber kaum anschlussfähig zu sein für das Anliegen der Philosophie. Die inhaltlich als Wort vom Kreuz profilierte Weisheit Gottes bestimmt sich von der δύναμις θεοῦ her, die im Geschehen neuer Schöpfung aus dem Nichts (1,27–30) bzw. im Entstehen von Glauben (1,26a; 2,4 f) wirksam ist. Sie Platon ἰδίᾳ δὲ σοφίαν καὶ τὴν φιλοσοφίαν καλεῖ, ὄρεξιν οὖσαν τῆς θείας σοφίας); Philon, congr. 79 f („die Philosophie ist die Beschäftigung mit der Weisheit, die Weisheit aber die Wissenschaft von den göttlichen und menschlichen Dingen und deren Ursachen. So dürfte […] die Philosophie auch die Sklavin der Weisheit sein“); Alex., in Aristot. met. Γ (CAG 1, 238:4: ἡ σοφία, ἣν καὶ φιλοσοφίαν ὀνομάζει); Jambl., Pyth. 159. Auch ζητεῖν und συζητητής gehört in dieses Umfeld, vgl. M. Lautenschlager, Abschied vom Disputierer. Zur Bedeutung von συζητητής in 1 Kor 1,20, ZNW 83 (1992) 276–285. 50 Vgl. H. D. Betz, The Gospel and the Wisdom of the Barbarians. The Corinthians’ Question behind Their Questions, in: ders.: Theologie (s. Anm. 13) 88–97 („‚seeking‘ wisdom constituted a common goal for the Greek intellectual culture, by the first c. A. D. shared by the Romans as well as by Hellenistic Judaism“, 94). Betz denkt, dass Paulus dem Terminus Philosophie ausweicht, weil dieser zu stark mit „scientific study of primary principles and causes“ und Erwerb der Eudaimonia assoziiert werde. 51 Zum Hintergrund vgl. E. Krentz, Logos or Sophia. The Pauline Use of the Ancient Dispute between Rhetoric and Philosophy, in: J. T. Fitzgerald / Th.H. Olbricht / L. M. White (Hg.) Early Christianity and Classical Culture, FS A. J. Malherbe (NT.S 110), Leiden 2003, 277–290. 52 Vgl. M. Konradt, Die korinthische Weisheit und das Wort vom Kreuz. Erwägungen zur korinthischen Problemkonstellation und paulinischen Intention in 1 Kor 1–4, ZNW 94 (2003) 181–214 („Soziale und theologische Aspekte der Problemkonstellation sind in ihrer inneren Vernetzung zusammenzuhalten“, 213). 53 Zur epistemological hubris vgl. P. W. Gooch, Paul, the Mind of Christ, and Philosophy, in: Moser, Jesus (s. Anm. 27) 84–105.
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ortet die Neues schaffende „Kraft Gottes“ im Bereich des Niedrigen, Verachteten und Schwachen, also in der Schattenzone der ‚Weisheit dieser Welt‘. Das Kreuz markiert den toten Winkel des philosophischen Erkenntnislichts, es steht im Zeichen der „Torheit“. Paulus bleibt aber nicht bei dieser schroffen Antithese stehen. In seiner an die „Vollkommenen“ adressierten Weisheitsrede (2,6–16) reklamiert er für die Verkündigung des Evangeliums all das, was sich ein guter Teil der kaiserzeitlichen Philosophie als Weisheitsliebe nur wünschen kann: Enthüllung des Verborgenen (V. 7), übersinnliche Erkenntnis (V. 9), Erforschen der Tiefen Gottes (V. 11), epistemologisch basiert im Prinzip der Erkenntnis des Gleichen durch Gleiches (V. 11), das niveauentsprechende Erkennen (V. 13–15), schliesslich die Referenz auf den Nūs (V. 16). Allerdings legt dieser Text der philosophischen Rezeption auch enorme Hindernisse in den Weg: Die für die antike Philosophie konstitutive Bewegung des Aufstiegs scheidet vollständig aus zugunsten des katabatischen Offenbarungsvorgangs – erkennbar auch in der Ortung Gottes in der Tiefe (V. 10) –; das menschliche wie das göttliche Pneuma nimmt sich befremdlich aus. Mehr noch: Der Apostel signalisiert auch in dieser Rede an die „Vollkommenen“, dass die verborgene Weisheit Gottes in ihrem vitalen Zentrum identisch ist mit dem blossen Wort vom Kreuz (V. 12: „das, was uns Gott geschenkt hat“ [vgl. V. 9]; V. 16: Christi Geist). Die Auseinandersetzung zwischen Paulus und den Korinthern über den Status einer christlichen Weisheit zeigt einerseits, dass sich beide Seiten im umfassenden Kontext der für die Kaiserzeit typischen philosophischen Gotteserkenntnis situieren lassen. Andrerseits formuliert Paulus ein markantes Differenzkriterium zwischen weltlicher und christlicher Weisheit: Das Kreuz polt die gesamte Konfiguration des Zusammenhangs von Gott, Welt und Menschen um. An der Christologie kommt es zum Bruch zwischen Weltweisheit und Gottesweisheit, zwischen Philosophie und Evangelium. 3. Der Dialog lebt erst im Lauf des zweiten Jahrhunderts auf, wo sich das Christentum selber als eine – das Heidentum überbietende – Philosophie zu definieren beginnt. Die Aussenwahrnehmung sieht freilich anders aus – jedenfalls dort, wo es nicht zur Konversion kommt. Es sind Philosophen, die die neue Religion (immerhin!) zum Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit machen, um sie heftig zu attackieren.54 Dialogisch angelegte Aussenperspektiven sind ausgesprochen selten. So entdeckt im dritten Jahrhundert ein Plotinschüler, Amelios, den Johannesprolog als Dokument einer für ihn durchaus attraktiven barbarischen Weisheit.55 54 Vgl. J. G. Cook, Some Hellenistic Responses to the Gospels and Gospel Traditions, ZNW 84 (1993) 233–254; ders., The Interpretation of the New Testament in Greco-Roman Paganism (STAC 3), Tübingen 2000. 55 Vgl. meinen Aufsatz: Der Logos als Brücke vom Evangelium zur Philosophie. Der Johannesprolog in der Relektüre des Neuplatonikers Amelios, in: A. Dettwiler / U. Poplutz (Hg.), Studien zu Matthäus und Johannes / Études sur Matthieu et Jean, FS J. Zumstein (AThANT 97),
4. „Was für eine neue Lehre?“ – Diskurs und Komparatistik
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4. „Was für eine neue Lehre?“ – Diskurs und Komparatistik Unter dieser Fragestellung weiten wir die Perspektive und verbinden damit eine methodologische Überlegung. In der älteren Forschung wurde der Sachverhalt unter dem Stichwort Analogie verhandelt, um das engere traditionsgeschichtliche, ‚genealogisch‘ angelegte Spender-Empfänger-Modell auf umfassendere Vergleiche hin zu öffnen. Dieses im Ansatz statische Modell lässt sich durch neuere diskursanalytische Theoriebildungen verflüssigen. Bei ‚Diskursen‘ handelt es sich um argumentative Dialoge über die Wahrheit von Behauptungen und die Legitimität von Normen.56 Urchristliche Stimmen beteiligen sich dieser Sicht zufolge an breiten Diskursen, die in der kaiserzeitlichen Gesellschaft des ersten Jahrhunderts geführt werden – grosse weltanschauliche Themen wie Freiheit und Schicksal, Sterben und Jenseits, Kriterien guter Lebensführung zählen ebenso dazu wie die konkreten Problemfelder von Ehe und Sexualität, von Kindererziehung, Freundschaft, Partnerverlust und Altwerden, von politischem Engagement und Berufswahl. Allerdings muss sich der trendige Diskursbegriff mit einigen Vorbehalten konfrontieren lassen. Erstens täuscht er leicht darüber hinweg, dass wir es in der Antike nicht mit derjenigen starken Präsenz von Medien zu tun haben, die für die Gutenberg-Epoche und besonders die digitalisierte Spätmoderne charakteristisch ist. Es fällt dementsprechend nicht immer leicht, für die postulierten Diskurse bis hinein in die verschiedenen Subkulturen überzeugende textliche Evidenzen beizubringen. Zweitens sind erhebliche soziale wie kulturelle Differenzen unter den Diskursgemeinschaften zu konstatieren. In unserem Fall pflegen die philosophischen Schulen Spezialdiskurse, die zwar seit späthellenistischer Zeit die Schulgrenzen deutlich überqueren – was ihnen das Etikett Eklektizismus verschafft –, aber relativ wenig ‚Interdiskurse‘ mit Trägern besonderer Partialkulturen wie etwa der jüdischen57 oder dann der christlichen. Die Diskurse verlaufen vielfach nicht nur asymmetrisch, sondern bilden sogar Einbahnstrassen. Drittens, und dieses Bedenken wiegt schwer, lassen sich die Texte aufgrund ihrer jeweils sehr spezifischen impliziten Systematiken und ihrer Sondersprachen nicht leicht vergleichen; ihre Analogisierbarkeit muss erst auf dem Umweg über aufwendige Konstruktion hergestellt werden.58 Dieses Zürich 2009, 377–397, Abdruck in diesem Band: 543–564. Porphyrios, ebenfalls Schüler Plotins, scheint sich demgegenüber sehr negativ über Joh 1 geäussert zu haben (adv. Christ. frg. 86 Harnack), vgl. Cook, Interpretation (s. Anm. 54) 148–150. 56 Zur Hochkonjunktur des Diskursbegriffs in den letzten Jahrzehnten vgl. die summarischen Bemerkungen von K. Gründer, Vorbemerkungen, HWPh 9 (1995) 84–86. 57 Die Bezugnahmen hellenistischer bzw. römischer Philosophen auf die ursprünglich jüdische griechische Bibel sind recht überschaubar; vgl. J. G. Cook, The Interpretation of the Old Testament in Greco-Roman Paganism (STAC 23), Tübingen 2004 („What remains unexplained is why it [sc. the LXX, S. V.] attracted so little attention from Greco-Roman intellectuals“, 345). 58 Das Paradebeispiel aus unserem Bereich stellen die innovativen Studien von T. Engberg- Pedersen dar, insbesondere: Paul and the Stoics, Edinburgh 2000; zur weiteren Diskussion
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Präparationsverfahren macht kulturwissenschaftliche Theoreme anfällig für den Vorwurf der Beliebigkeit. Methodisch ist die Exegese gut beraten, ihren diskursanalytischen Affirmationen durch klassische Verfahren wie Begriffsgeschichte und Motivanalyse stärkere historische Plausibilität zu verschaffen. Im Folgenden benenne ich drei Punkte, die im Blick auf die eben verhandelte Fragestellung Aufmerksamkeit verlangen. 1. Die kaiserzeitliche Philosophie gibt in vielfacher Hinsicht Anlass, sie mit dem entstehenden Christentum zu korrelieren. Mehr als in klassischer und frühhellenistischer Zeit bietet sie eine umfassende Lebensorientierung, treibt also eine ars vivendi so gut wie eine ars moriendi.59 Philosophie und Christentum entfalten sich in einem globalen Kulturraum mit bisher nicht bekannten Graden von Individualisierung und Pluralisierung. Den Einzelnen, primär Eliten, aber zunehmend auch Mittelschichtsangehörigen, steht eine Vielzahl von Life Styles offen, für die sich Experten und praktizierende Gruppen anbieten. Dabei kommt es zu einer auffälligen Konvergenz zwischen Philosophie einerseits und jüdisch- christlicher Religion andrerseits: Auch in der Philosophie spielt die Konversion eine tragende Rolle; sie geht mit einem Identitätswechsel und einem damit verbundenen Ethos einher.60 Die Entscheidung für die Philosophie bedeutet, bisherige kulturelle Standards zu verabschieden und sich auf einen neuen Way of Life einzulassen. Das Bildungsideal (Paideia), das die griechisch-römische Kultur überhaupt auszeichnet, gewinnt durch die Orientierung an der Konversion als Lebensbruch ein sehr bestimmtes Profil. Auch aus dieser Perspektive nehmen sich die Analogien im Bereich des „Auftritts“, nämlich die Selbstorganisation in Gestalt von ‚Schulen‘, keineswegs überraschend aus.61 Die gelegentlich von der Forschung festgestellte Nähe zwischen christlichen Gemeinschaftsformen und
vgl. ders., The Relationship with Others. Similarities and Differences between Paul and Stoicism, ZNW 96 (2005) 35–60 (in Auseinandersetzung mit Esler, Paul [s. Anm. 15]); ders., Cosmology (s. Anm. 21). Der Nachweis von textlich klar nachweisbaren Rezeptionen tritt in den Hintergrund zugunsten von strukturalen Entsprechungen. Im erstgenannten Buch reguliert das „I→X→S-Modell“ (d. h. Wechselwirkungen zwischen Individuum, Gott bzw. Logos und Gemeinschaft) die Präparation des stoischen und paulinischen Textmaterials (33–44). 59 Vgl. P. Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, dt. Übs. Berlin 1991. 60 Vgl. die klassische Darstellung von A. D. Nock, Conversion. The Old and the New in Religion from Alexander the Great to Augustine of Hippo, Oxford 1933, 164–186; ferner Ch. Schäublin, Konversionen in antiken Dialogen?, in: ders., Aus paganer und christlicher Antike. Ausgewählte Aufsätze zur Klassischen Philologie (1970–1997), Basel 2005, 125–140; I. Tanaseanu-D öbler, Konversion zur Philosophie in der Spätantike. Kaiser Julian und Synesios von Kyrene, Stuttgart 2008, 11–22; E. A. Judge, Conversion in the Ancient World, in: ders., Jerusalem and Athens. Cultural Transformation in Late Antiquity (WUNT 265), Tübingen 2010, 261–263; J. E. Spittler, Art. Conversion II. Greco-Roman Antiquity, EBR 5 (2012) 710–712. 61 Betont von S. K. Stowers, Does Pauline Christianity Resemble a Hellenistic Philosophy?, in: Engberg-Pedersen, Divide (s. Anm. 4) 81–102.
4. „Was für eine neue Lehre?“ – Diskurs und Komparatistik
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epikureischem Freundeskreis hat viel eher mit der Durchschlagskraft kultureller Muster als mit realen geschichtlichen Kontakten zu tun.62 2. Angesichts der benannten Analogien überrascht es nicht, dass bereits in hellenistischer Zeit Exponenten des Judentums ihre althergebrachte Religion als Philosophie präsentieren. Mose wird als Kulturbringer gefeiert, der längst vor den Griechen die Philosophie entdeckt hat. Josephus kann deshalb auch die innerjüdischen Gruppen und Strömungen als philosophische Schulrichtungen porträtieren. In der Areopagerzählung nehmen die Athener Philosophen mit Paulus als potentiellem Kollegen Kontakt auf; ab dem zweiten Jahrhundert stellt sich das Christentum bei Apologeten wie Gnostikern entsprechend dar.63 Die Interpretatio Graeca von Religion als Philosophie zeigt exemplarisch, wie sich Juden und Christen in hellenistisch-römischer Zeit auf eine weitreichende kulturelle Kontextualisierung ihrer überkommenen Traditionen eingelassen haben. Das Terrain dafür präpariert hat das enorme Interesse der Griechen an der „Barbarenphilosophie“.64 3. Mit dem Verständnis der Philosophie als Lebenskunst und Psychagogik rückt die Ethik in den Vordergrund, die die grundlegenden Überzeugungen für die Lebensführung relevant macht. Es überrascht nicht, dass sich im moralisch- ethischen Bereich die meisten Übereinstimmungen zwischen frühem Christentum und hellenistischer Philosophie namhaft machen lassen. Man darf aber nicht übersehen, dass gerade die Ethik hellenistischer Philosophen auf einem ontologischen Fundament aufruht, das die erhaltenen Texte nicht immer hinreichend deutlich erkennen lassen65 – auch das macht die Philosophie vergleichbar mit dem antiken Judentum so gut wie mit dem Christentum. Die Lebenskunst setzt ein Vertrauen auf den Lebensgrund voraus, der in Physik und Metaphysik zum Gegenstand der Reflexion wird. Möglich wird die ‚soteriologische‘ Funktion der Dogmatik überhaupt erst dadurch, dass die Philosophie ab dem ersten Jahrhundert v. Chr. und verstärkt mit dem Beginn der Spätantike, d. h. ab dem späten dritten Jahrhundert, das Thema der Religion bearbeitet.66 Sie verstärkt nicht 62 Hierin mit C. Glad, Paul and Philodemus. Adaptability in Epicurean and Early Christian Psychagogy (NT.S 81), Leiden 1995 („a widespread and shared communal practice among Epicureans and early Christians“, 9; vgl. 335 f). 63 Vgl. W. Löhr, Christianity as Philosophy. Problems and Perspectives of an Ancient Intellectual Project, VigChr 64 (2010) 160–188. 64 Zu dieser vgl. T. Kobusch, Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, Darmstadt 2006, 51–57; A. Dihle, Die griechische Philosophie zur Zeit ihrer Rezeption durch Juden und Christen, in: R. Hirsch-Luipold / H. Görgemanns / M. von Albrecht (Hg.), Religiöse Philosophie und philosophische Religion der frühen Kaiserzeit. Literaturgeschichtliche Perspektiven (STAC 51), Tübingen 2009, 3–19, hier: 3–7. 65 Vgl. M. Frede, Epilogue, in: Algra, History (s. Anm. 36) 779–781. 66 Vgl. dazu D. Frede / A. Laks (Hg.), Traditions of Theology. Studies in Hellenistic Theology, Its Background and Aftermath (PhAnt 89), Leiden 2001; R. Hirsch-Luipold, Die religiös- philosophische Literatur der frühen Kaiserzeit und das Neue Testament, in: ders., Philosophie (s. Anm. 64) 117–146; P. Van Nuffelen (Hg.), Rethinking the Gods. Philosophical Readings
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nur ihre Kompetenz für den gesamten Bereich der Theologie – von der henotheistisch profilierten Prinzipienlehre67 über die Kosmologie und Psychologie bis zur Eschatologie –, sondern bietet mit ihrer Psychagogik und Soteriologie auch Hilfestellung im Umgang mit Lebenskontingenzen (coping), die in der späteren Antike bedrohlich zunehmen. Vor allem erklärt sie das Feld der traditionellen Religionen mit ihren Texten, Mythen und Riten zu ihrem Kerngeschäft; sie profiliert sich weithin als Religionsphilosophie und setzt dafür auch die exegetischen Techniken ein, die sie für die Interpretation ihrer autoritativen philosophischen Texte, besonders von Platon und Aristoteles, entwickelt hat.68 In Form der neuplatonischen Theurgie stellt sie sich schliesslich sogar im Feld kultischer Performanz auf. Die Konvergenzen zwischen Philosophie und christlicher Theologie decken bereits im ersten Jahrhundert ein weites Spektrum ab. 4. So sehr sich aus der Perspektive von Diskurs und Kontext die urchristliche Religion als Einzelphänomen in einem gleichermassen globalen wie pluralen Kulturraum einzeichnen lässt, so sehr sticht die Eigenwilligkeit und Sperrigkeit der Grammatik, die ihre eigenen Diskurse bestimmt, ins Auge. Die älteren Versuche der Theologie, fundamentale Differenzen zwischen „Athen“ und „Jerusalem“ zu konstatieren, haben hier ihr bleibendes Recht. Es ist kein Zufall, dass entscheidende Schlüsselbegriffe der hellenistischen Philosophie wie Eudaimonia und Aretē im neutestamentlichen Vokabular fast ganz fehlen. Versucht man, die Gesamtkonfiguration der Spielarten frühchristlicher Theologie zu denjenigen der kaiserzeitlichen Philosophie in ein Verhältnis zu setzen, spielen insbesondere die elementaren Koordinaten von Raum und Zeit eine gewichtige Rolle. Während sich bei der symbolischen Konstruktion des Raums nennenswerte Übereinstimmungen abzeichnen – man denke nur an das Weltbild des Epheserbriefs –,69 stellt die christliche Eschatologie in der Repräsentation von Zeit vor einen tiefen Graben. Auf der Linie von 1 Kor 1/2 wäre dann zu fragen, ob es nicht die Christologie selber ist,70 die Verkündigung eines Gekreuzigten als endzeitlichem Erweis der δύναμις θεοῦ, die die Grunddifferenz zwischen Philosophie und Evangelium markiert. Aber damit sind wir bereits im Feld systematischer Konstruktion angelangt, die der Vielfalt der überlieferten Texte nicht hinreichend gerecht zu werden vermag. of Religion in the Post-Hellenistic Period, Cambridge 2011; für die hellenistische Zeit J. Mansfeld, Theology, in: Algra, History (s. Anm. 36) 452–478. 67 Vgl. die Dokumentationen von P. Athanassiadi / M. Frede (Hg.), Pagan Monotheism in Late Antiquity, Oxford 1999; St. Mitchell / P. van Nuffelen (Hg.), One God. Pagan Monotheism in the Roman Empire, Cambridge 2010. 68 Zur „exegetischen Phase“ der hellenistischen Philosophie vgl. P. Hadot, Art. Philosophie. E. Hellenismus, HWPh 7 (1995) 592–599, hier: 596 f. 69 R. Schwindt, Das Weltbild des Epheserbriefes. Eine religionsgeschichtlich-exegetische Studie (WUNT 148), Tübingen 2002. 70 Vgl. dazu X. Tilliette, Le Christ de la philosophie. Prolégomènes à une christologie philosophique (CFi 155), Paris 1990.
5. „Gott zu suchen“ – Bilanz
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5. „Gott zu suchen“ – Bilanz Wir kehren zur Areopagerzählung zurück. Sie setzt viele der von uns benannten Perspektiven in Szene. Lukas situiert sein Programm einer kontextuellen Theologie im traditionsbewussten Athen; Paulus und die Philosophen begegnen sich auf Augenhöhe (dass der christliche Verkündiger seinen Dialogpartnern gegenüber im Gestus der Überlegenheit auftritt, ist für das antike Empfinden weniger befremdlich als für das moderne pluralistische); sein Vortrag arbeitet mit zentralen Einsichten der philosophischen Aufklärung und Theologie; er selber wird als neuer Sokrates stilisiert.71 Die Rede auf dem Areopag erlaubt auf weite Strecken hin ein double Reading – sie lässt sich sowohl aus biblisch-jüdischer wie aus hellenistisch-philosophischer Perspektive lesen und bietet damit ein Paradigma von ‚Interdiskursivität‘: Tempel‑ und Kultkritik; Erkenntnis Gottes aus der Welt; Belebung des Kosmos mit Leben und Geist; Ursprung der Menschheit; Ordnung der Räume und Zeiten; Nähe Gottes und Gotteskindschaft – alle diese Theoreme lassen sich sinnvoll in beiden Konfigurationen einzeichnen, mehr noch: sie konstituieren ein übergreifendes Koordinatensystem. Prägnant wird die Konvergenz durch das Dichterzitat von V. 28 herausgestellt, an der Stelle, wo in den anderen Reden der Apostelgeschichte die Schrift zu Wort kommt. Zugleich markiert unser Text sehr genau den Ort, wo der Dialog abbricht: Gericht und Totenauferstehung (V. 31 f; vgl. V. 18), also die Eschatologie. Dazu kommt die sokratische Szene als Ganze, die den Tod des Verkündigers einer neuen, unbekannten Gottheit in den Horizont rückt: Der Athener Diskurs findet nicht in einem herrschaftsfreien Raum statt, sondern dort, wo der Gerichtshof tagt.72 Er steht somit in einem grossräumigen religionspolitischen Spannungsfeld, das Lukas in seinem Historienwerk von Anfang bis Ende explizit artikuliert (vgl. Lk 1,51 f; Apg 28,31). Der letztgenannte politische Akzent, den eine Überlegung zu den Schnittstellen zwischen Neuem Testament und antiker Philosophie nicht unberücksichtigt lassen darf, gibt uns Anlass zu einem abschliessenden Denkanstoss. Seit einiger Zeit ist ein reges Interesse von Seiten der Philosophie am Apostel Paulus zu beobachten, namentlich bei Jacob Taubes, Alain Badiou, Giorgio Agamben und Slavoj Žižek.73 Paulus interessiert als ein Denker, der eine Vernunft jenseits 71 Zur hermeneutischen Frage nach dem Verhältnis von historischem und erinnertem Paulus vgl. J. Schröter, Konstruktion von Geschichte und die Anfänge des Christentums. Reflexionen zur christlichen Geschichtsdeutung aus neutestamentlicher Perspektive, in: ders. / A. Eddelbüttel (Hg.), Konstruktion von Wirklichkeit (TBT 127), Berlin 2004, 201–219, hier: 213–217. 72 Vgl. C. K. Rowe, The Grammar of Life. The Areopagus Speech and Pagan Tradition, NTS 57 (2011) 31–50, hier: 37 f; 49 f. 73 Vgl. zu diesem Trend B. Bourgine, Saint Paul et la philosophie. Crise du multiculturalisme et universel chrétien, RTL 40 (2009) 78–94; L. Bormann, Die Radikalität des Paulus. Die neuen philosophischen Paulusinterpretationen und die neutestamentliche Wissenschaft, in:
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der griechischen Ontologie entdeckt, mehr noch: der eine Antiphilosophie betreibt, die im Zeichen einer ontologischen Subversion steht.74 Die Textauslegung dieser kritischen Sympathisanten Pauli ist wild und nimmt keine Rücksicht auf zünftige exegetische Standards. Sie erhebt aber einen provokativen Anspruch auf die Wahrheit der Texte des Neuen Testaments – eine scheinbar antiquierte Fragestellung, die angesichts des imponierenden Aufgebots kulturwissenschaftlicher Hermeneutik durch heutige Exegeten ins Abseits geraten ist. Unsere Beschäftigung mit den Beziehungen zwischen antiker Philosophie und urchristlicher Verkündigung könnte sich einen reichen Ertrag von der folgenden Einsicht versprechen: Die Philosophie, auch und gerade in ihrer antiken Variante, hält die Erinnerung daran wach, dass das Neue Testament zu denken gibt, dass es nicht nur auf existentielle Nachfolge zielt, sondern auch Nachdenken entfesseln will. Das hebt, neben manch anderem, das Urchristentum von den zahlreichen devianten endzeitlichen Gruppierungen ab, mit denen es soziologisch häufig verglichen wird. Das jüngere Interesse am Neuen Testament, das manche Philosophen in ihrer Frontstellung gegen die Beliebigkeit des spätmodernen Relativismus eint, steht ganz im Zeichen jener von Haus aus urphilosophischen Frage, die der Statthalter Roms, der Repräsentant ‚dieser Welt‘, an den johanneischen Christus gerichtet hat: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38)
M. Brasser (Hg.), Paulus und die Politik, Freiburg 2009, 134–155; H. Seubert, Politische Theologie bei Paulus? Ein neuerer philosophischer Diskurs, VF 55 (2010) 60–70. 74 So A. Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, dt. Übs. München 2002, 90. „Was ihn in Athen in Schwierigkeiten bringt, ist kurz gesagt seine Antiphilosophie“, 53.
Barbarenweisheit? Zum Stellenwert der Philosophie in der frühchristlichen Theologie Abstract Barbarian Wisdom? On the Significance of Philosophy in Early Christian Theology The article deals with the relevance of philosophy in early Christianity. The argument focuses on texts of the early Apologists (esp. Tatian), and of the New Testament (esp. Acts of Apostles, Paul) and offers thereby a culturalist interpretation of early Christian and late antique discourses about philosophy.
Macht man sich auf, über das Verhältnis von Philosophie und christlicher Theologie zu handeln, so wird man mit zahlreichen Konfliktzonen und Verwerfungslinien konfrontiert. Da begegnen einem Mägde und Herrinnen (philosophia ancilla theologiae), Kurtisanen und Exorzisten, Freier und Händler. Strittig durch die Jahrhunderte ist nicht nur das Verhältnis von Theologie und Philosophie als solcher, sondern auch der Zusammenhang mit der jeweiligen Konfession und damit das Potential theologischer Standardkontroversen. Klassische Spannungsfelder sind zu bearbeiten – Rationalität und Offenbarung, Natur und Gnade, Vernunft und Glaube, Schöpfung und Schrift. Es kommen historische Debatten hinzu, so etwa die Frage nach dem Status der „Hellenisierung“, sowohl im antiken Christentum der ersten drei Jahrhunderte als auch speziell im sensitiven Bereich des ersten Jahrhunderts, also in Bezug auf die Schriften des neutestamentlichen Kanons und die damit evozierte Autoritätsfrage. Angesichts all dieser komplexen Felder kann der vorliegende Aufsatz nur eine recht willkürlich anmutende schmale Spur verfolgen. Der erste Teil beschäftigt sich mit den sogenannten christlichen Apologeten, der zweite mit exemplarischen Texten des Urchristentums.
1. Christen im Outfit der Philosophen: die Apologeten Wir beginnen mit einem Blick auf das zweite Jahrhundert, und hier eher auf dessen zweite Hälfte. Philosophiegeschichtlich befinden wir uns in einer markanten Veränderung der Gesamtkonstellation, die zum Abbau der bisher zu beobachtenden Pluralität philosophischer Stile und Schulrichtungen zugunsten
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Barbarenweisheit?
des kaiserzeitlichen Platonismus führt. Für die retrospektive Wahrnehmung dominieren im christlich-theologischen Bereich die Apologeten,1 die als erste explizit die φιλοσοφία für das Wesen des Christentums in Anspruch nehmen.2 Wählt man eine makroskopische Optik, so kommt es in der Begegnung und Auseinandersetzung christlicher Lehrer mit den zeitgenössischen Formaten der Philosophie zu einer erstrangigen Innovation: Auf der kulturellen Bühne tritt erstmals der Christusgläubige im Philosophenmantel auf, als Repräsentant von neuen Bildungsinstitutionen. Das frühe Christentum artikuliert seine soziale und religiöse Identität im kulturellen Kontext antiker Intellektualität. Dies geschieht besonders in der Rezeption und Transformation von stoischen und platonischen Lehrelementen. Dabei mag man den Akzent mehr auf den Brückenschlag legen, also auf den Kulturkontakt, oder aber auf die Kontroverse, also auf defensive Strategien (was eben dem Sammelnamen „Apologeten“ entspricht). Es ist m. E. durchaus zutreffend, einen grossen Bogen von der Areopagrede des Neuen Testaments über die Apologeten und die Alexandriner bis zu den grossen Kappadokiern und schliesslich zum Corpus Dionysiacum zu schlagen. Faktisch haben wir bei den Apologeten ein überaus breites theologisches Spektrum vor uns, bei dem man die beiden gegensätzlichen Ränder sehr klar bestimmen kann. Idealtypisch liegt auf der einen Seite die Annäherung Justins an die Philosophen und Intellektuellen, also die Inklusion:3 „Was immer sich bei ihnen trefflich gesagt findet, gehört uns Christen.“ Den anderen Pol, die Exklusion, markiert Tertullians geflügeltes Wort:4 „Was haben Athen und Jerusalem miteinander zu tun?“ Die neuere Forschung hat hinreichend ausgearbeitet, dass sich die idealtypischen Positionen nicht auf die beiden genannten Autoren projizieren lassen, sondern dass diese jeweils differenziert je nach Kontext, Argumentation und Rhetorik mit Anknüpfung oder Abgrenzung arbeiten. So greift Tertullian intensiv auf stoische Kategorien zurück,5 während ausgerechnet Justin als Märtyrer endet, dessen Akten uns noch erhalten sind.6 Was bei beiden Autoren gern begegnet, ist die Figur der Überbietung: Das Christentum enthält gerade in seinem Kern all das, worauf die Philosophie aus ist, und zwar in 1 Vgl. die Gesamtdarstellung von M. Fiedrowicz, Apologie im frühen Christentum. Die Kontroverse um den christlichen Wahrheitsanspruch in den ersten Jahrhunderten, Paderborn 2000. 2 Zum Programm vgl. W. Löhr, Christianity as Philosophy. Problems and Perspectives of an Ancient Intellectual Project, VigChr 64 (2010) 160–188. 3 Justin, apol. 2,13:4 f (ὅσα οὖν παρὰ πᾶσι καλῶς εἴρηται ἡμῶν τῶν Χριστιανῶν ἐστι). 4 Tertullian, praescr. 7,7–10 (quid ergo Athenis et Hierosolymis? quid academiae et ecclesiae? quid haereticis et Christianis?), mit Bezug auf Kol 2,8 und die Areopagszene Apg 17,15 ff. Zum Umgang mit den Philosophen im Apologeticum (47,1–14) vgl. T. Georges, Tertullian. Apologeticum (KfA 11), Freiburg 2014, 661–682. 5 M. L. Colish, The Stoic Tradition from Antiquity to the Early Middle Ages, Leiden 21990, 9–29. 6 Acta Iustini et septem sodalium (= Mart. Just.)
2. Tatian: ein Lob der barbarischen Weisheit
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vollendeter Form. Die Figur der Überbietung integriert Inklusion und Exklusion, Anknüpfung und Widerspruch. Sie behauptet sich dominant in der antik-christlichen Theologie und geht schon auf das erste Jahrhundert zurück. Mehr noch, sie ist ein zentrales Element bereits in dem Strom der jüdisch-hellenistischen Literatur, der sich explizit mit seiner paganen Umwelt auseinandersetzt, hier wiederum namentlich in der apologetischen Textproduktion.
2. Tatian: ein Lob der barbarischen Weisheit Im Folgenden möchte ich auf einen besonderen Repräsentanten der christlichen Apologeten fokussieren, auf Tatian und seine Oratio ad Graecos. Spannend nimmt er sich nur schon deshalb aus, weil bei ihm die Exklusion, die Konfrontation, den Hauptton angibt. Noch mehr Interesse weckt aber der Grund für seinen Positionsbezug: Er attackiert die griechisch-hellenistische Paideia dezidiert im Namen einer anderen kulturellen Formation, nämlich vom Standpunkt einer Philosophie der Barbaren aus.7 „Seid nicht so absolut feindlich eingestellt gegenüber den Barbaren, ihr Griechen (μὴ πάνυ φιλέχθρως διατίθεσθε πρὸς τοὺς βαρβάρους, ὦ ἄνδρες Ἕλληνες), und neidet ihnen nicht ihre Überzeugungen! Welches Tätigkeitsfeld bei euch hat nämlich nicht seinen Bestand von Barbaren gewonnen? […] Deshalb hört auf damit, eure Nachahmungen als Erfindungen zu bezeichnen! […]Lasst also diesen Dünkel fallen und schiebt nicht zierliche Worte vor, die ihr euch von euch selbst loben lasst und als Fürsprecher die eigenen Leute besitzt. […] Aus diesem Grund habe ich eurer „Weisheit“ eine Absage erteilt, auch wenn ich in ihr eine recht respektable Figur machte (ἀπεταξάμεθα τῇ παρ᾽ ὑμῖν σοφίᾳ, κἂν εἰ πάνυ σεμνός τις ἦν ἐν αὐτῇ). […] Was nämlich habt ihr Grossartiges in der Philosophie hervorgebracht? Wer von den ach so ernsten Herren hat Prahlerei vermieden?“
Die Alternative ist auch die an Alter ehrwürdigere:8 „Jetzt aber glaube ich, dass es sich für mich ziemt zu erweisen, dass unsere Philosophie älter ist als die Dinge, die bei den Griechen betrieben werden.“ 7 Zitate im Folgenden aus: Tatian, or. 1–2; nach der Übersetzung von H.-G. Nesselrath, in: H.G. Nesselrath (Hg.), Gegen falsche Götter und falsche Bildung. Tatian, Rede an die Griechen (SAPERE 28), Tübingen 2016. Eingesehen wurde auch die Ausgabe von: J. Trelenberg, Tatianus Syrus. Oratio ad Graecos – Rede an die Griechen (BHTh 165), Tübingen 2012. Zur kulturkritischen Position von Tatian und zur „Vielschichtigkeit“ seiner Terminologie vgl. J. Lössl, Bildung? Welche Bildung? Zur Bedeutung der Ausdrücke „Griechen“ und „Barbaren“ in Tatians „Rede an die Griechen“, in: F. R. Prostmeier (Hg.), Frühchristentum und Kultur (KFA.E 2), Freiburg 2007, 127–153; P. Gemeinhardt, Tatian und die antike Paideia. Ein Wanderer zwischen zwei (Bildungs‑)Welten, in: Nesselrath, aaO., 247–266. Für einen Vergleich mit einem anderen prominenten Syrer, mit Lukian, vgl. H.-G. Nesselrath, Two Syrians and Greek Paideia. Lucian and Tatian, in: G. A. Xenis (Hg.), Literature, Scholarship, Philosophy, and History. Classical Studies in Memory of Ioannis Taifacos, Stuttgart 2015, 129–142. 8 AaO. (s. Anm. 7) 31,1; detailliert ausgeführt 36–41.
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Barbarenweisheit?
Die Apologie9 findet einen programmatischen Schluss (42): „Dies ist es, was ich, der nach der Weise der Barbaren philosophierende Tatian, für euch, ihr Griechen, zusammengestellt habe; geboren wurde ich im Land der Assyrer und lernte zuerst eure Bildung kennen, danach aber die, die zu verkünden ich mich jetzt anheischig mache. Da ich aber erkannt habe, wer Gott ist und was die von ihm gestaltete Schöpfung, stelle ich mich euch bereitwillig zur Prüfung meiner Überzeugungen zur Verfügung – wobei mir der Lebenswandel gemäss den Geboten Gottes (stets) unverleugnet bleiben wird.“
Der gebürtige Syrer markiert mit der Referenz auf die Barbaren eine Gegengrösse zur herrschenden „Leitkultur“. Dabei setzt er eine ganze Reihe von Figuren ein, die wir sowohl aus der hellenistisch-jüdischen wie aus der christlichen zeitgenössischen Literatur kennen:10 den Altersbeweis; das „Diebstahl“-Theorem; die Berufung auf die Heureten, die „Finder“ oder eben „Erfinder“ der Kultur; das Postulat einer Urphilosophie, die es noch vor der Ausdifferenzierung bzw. Partikularisierung gegeben hat. Das alles wird eingespannt in das Programm einer überlegenen „barbarischen“ Gegenkultur, die der Theologe mit der christlichen identifiziert.11 Dabei fällt auf, wie andere barbarische Ethnien wie etwa die zeitgenössischen Juden weitgehend ausgeblendet werden.12 Deren Texte zählt der Verfasser ganz selbstverständlich zur eigenen, christlichen Tradition. In Tatian begegnen wir dem Exponenten einer Subkultur oder besser: einer Partialkultur unter dem Dach der hellenistisch-römischen Globalkultur, die deren Gravitationszentrum Widerstand entgegensetzt zugunsten ihrer eigenen Überlieferung. Wir werden also Zeugen zwar nicht eines clash of civilizations, wohl aber der Friktion von kulturellen Systemen, zwischen Globalkultur und Partialkulturen, und zwar einer Friktion im Zeichen von Asymmetrie. Die aggressive Haltung gegenüber der so ungemein erfolgreichen „Leitkultur“ lässt sich leicht als Kompensationsmechanismus deuten. Unbeschadet ihrer Kontrapositionierung sind Partialkulturen doch Teil der Globalkultur; Tatian partizipiert seinerseits weitreichend an platonischen wie stoischen Philosophumena.13 Es ist hinlänglich bekannt, wie ungemein stark die Gravitation der hellenistisch-römischen Bildung die Menschen der damaligen globalisierten Mittelmeerwelt, insbesondere ihre urbanen Eliten, bestimmt hat. Aus welchen Ethnien Zur Gattungsfrage vgl. die Diskussion bei Trelenberg, Tatianus (s. Anm. 7) 230–240. Für Einzelnachweise vgl. Trelenberg, Tatianus (s. Anm. 7) passim. 11 Tatian bietet also nicht das Schema des „dritten Geschlechts“ auf, wie es etwa bei Aristeides, apol. 2 (griechische Version) begegnet (dazu unten Anm. 12; 30). 12 Die Juden zählen für Tatian, anders als bei Aristeides, zu den Barbaren (Trelenberg, Tatianus [s. Anm. 7] 230). Neben Mose zählen auch die Propheten zu „uns“ (καθ’ ἡμᾶς, 36,3; 20,6). 13 Wir notieren an dieser Stelle, dass Tatian in den Lehrbüchern der Theologie‑ und Philosophiegeschichte als Promotor der creatio ex nihilo zu Ehren gekommen ist. Er hat, wohl gegen Gnostiker, das Geschaffensein der Materie gelehrt (5,3). Vgl. G. May, Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der Creatio ex nihilo (AKG 48), Berlin 1978, 151–154; E. J. Hunt, Christianity in the Second Century. The Case of Tatian, London 2003, 130–133. 9 10
2. Tatian: ein Lob der barbarischen Weisheit
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Literaten und Philosophen, Dichter und Wissenschaftler herstammen, ist weitgehend unerheblich für die sprachliche und literarische Gestalt ihrer Werke. Dabei gibt es allerdings Interpretationsspielraum, etwa für Lukian, den Syrer.14 Umso instruktiver sind die wenigen erhaltenen Stimmen, die sich auf eine ethnische Gegenkultur berufen und dabei selbstbewusst den Wettstreit der Kulturen proklamieren. Zu ihnen zählt ein griechischer Text aus dem Corpus Hermeticum, der vorgibt, der originale ägyptische Brief zu sein, welchen Hermes’ Schüler Asklepios an Ammon, den ägyptischen Götterkönig, geschrieben habe und der nicht ins Griechische übersetzt werden solle – offenkundig eine massive Fiktion!15 „Denn die Griechen, mein König, haben eine Darstellungsweise, die ohne Argumentationskraft nur auf sprachliche Wirkung angelegt ist; und das ist die Philosophie der Griechen: Wort-Getöse (λόγων ψόφος). Wir aber benutzen nicht nur Wörter, sondern eine Ausdrucksweise, die bestimmt ist von der darzustellenden Realität (ἡμεῖς δὲ οὐ λόγοις χρώμεθα, ἀλλὰ φωναῖς μεσταῖς τῶν ἔργων).“
Zu unseren Kulturkontrasttexten zählt schliesslich ein Abschnitt im religionsphilosophischen Traktat De mysteriis des Syrers Jamblich, also eines prominenten Neuplatonikers in der Zeit nach Porphyrios. Er beruft sich auf eine heilige Sprache, die von „heiligen Völkern“ wie den Assyrern und den Ägyptern kultiviert worden sei. Ihre „barbarischen Namen“ gelten als herausragende und konzentrierte Träger göttlicher Kräfte, scharf abgehoben von der griechischen Sprache mit ihrer Vieldeutigkeit, Vielfältigkeit und Wörterfülle. Jamblich ruft mit seinem Lob der barbarischen Beständigkeit zum Bewahren dieser uralten Tradition auf und kontrastiert sie mit der Neuerungsgier und der Verwegenheit der so unsteten Griechen, ihrer καινοτομία καὶ παρανομία, wo die Namen ihrer Unveränderlichkeit verlustig gehen.16 Fügen wir an dieser Stelle hinzu, dass es umgekehrt auf Seiten der Griechen ausgesprochen trendy war, sich auf die altersgraue barbarische Weisheit zu berufen. Das hat seinen Anhalt bei Platon, nimmt spätestens mit dem zweiten Jahrhundert n. Chr. markant zu und wird im späten Neuplatonismus schliesslich zu einem umfassenden philosophiegeschichtlichen Archäopanoptikum ausgebaut, einem eindrücklichen Monument im Gegenüber zur christlichen Neuerungssucht. Marinos stellt uns in seiner Biographie Proklos, den Schulleiter
14 Vgl.
Nesselrath, Syrians (s. Anm. 7). 16,2 (Brief des Asklepios an den König Ammon: Erinnerungspfeiler), übs. J. Holzhausen in: C. Colpe / J. Holzhausen, Das Corpus Hermeticum deutsch. Übersetzung, Darstellung und Kommentierung in drei Teilen (CP 7), Stuttgart 1997, Bd. 1, 207. 16 Jamblich, myst. 7,5 (257,9–260,2 des Places), vgl. dazu meinen Aufsatz: „Der Name, der über jedem anderen Namen ist“. Jesus als Träger des Gottesnamens im Neuen Testament, in: I. U. Dalferth / Ph. Stoellger (Hg.), Gott nennen. Gottes Namen und Gott als Name (RPT 35), Tübingen 2008, 173–186, Abdruck in diesem Band: 73–85. 15 CorpHerm
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Barbarenweisheit?
der Platonischen Akademie Athens, als ökumenischen Hierophanten vor, der die Götterfeste aller Völker feiert.17
3. Die Urchristen: native Philosophers? Zurück zu den Christen. Wir suchen das erste Jahrhundert auf, die Zeit der entstehenden urchristlichen Literatur. In einem ersten Teil versuche ich mich an einer Skizze der Problemlage.18 Im zweiten Teil stelle ich zunächst drei fundamentale Texte vor, um dann das an Tatian getestete Modell kultureller Friktionen auch hier auszuprobieren. Mit der Verhältnisbestimmung zwischen Philosophie und Urchristentum, literarisch fassbar im Neuen Testament, sind zahlreiche Trendwenden in der Forschungsliteratur verbunden. Grob gezeichnet ist das Vertrauen darauf, dass sich hier ein produktives und hermeneutisch attraktives Verhältnis beschreiben lässt, zurzeit wieder stark am Wachsen. Das vollzieht sich durchaus im Gegenzug zu früheren betont distanzierenden Positionen: Die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts wollte die Schlichtheit des Evangeliums von der philosophischen Metaphysik separieren; die Religionsgeschichtliche Schule war mehr an Kult und Synkretismus als an disziplinierter Philosophie interessiert; die kerygmatische Theologie nahm Abstand von der hellenististischen Philosophie; die Biblische Theologie und die Orientierung am Judentum gingen einher mit der Marginalisierung griechischer Einflüsse. In der Gegenwart hat sich das Interesse an unserer Fragestellung wieder verstärkt,19 manchmal arg einseitig. Unterstützt wird das Unternehmen durch optimistische Überlegungen zur Bildungskultur auch der urchristlichen Gemeinden;20 die Renaissance des Kulturbegriffs in Theologie und Geisteswissenschaften trägt das Ihre dazu bei. 17 Marinos, Procl. 19: „Der allerfrömmste Mann brachte diese Einsicht ständig zur Sprache, der Philosoph habe nicht nur Kulte einer einzigen Stadt und regionaler Herkunft zu praktizieren, sondern sei Priester aller Welt“ (καὶ γὰρ πρόχειρον ἐκεῖνο εἶχεν ἀεὶ καὶ ἔλεγεν ὁ θεοσεβέστατος ἀνὴρ ὅτι τὸν φιλόσοφον προσήκει οὐ μιᾶς τινoς πόλεως οὐδὲ τῶν παρ’ ἐνίοις πατρίων εἶναι θεραπευτήν, κοινῇ δὲ τοῦ ὅλου κόσμου ἱεροφάντην: H. D. Saffrey / A.-Ph. Segonds, Marinus. Proclus ou sur le bonheur [CUFr], Paris 2001, 23). – Zum literarischen Genre vgl. I. Männlein-Robert, Biographie, Hagiographie, Autobiographie – Die Vita Plotini des Porphyrios, in: Th. Kobusch / M. Erler (Hg.), Metaphysik und Religion. Zur Signatur des spätantiken Denkens (BzA 160), München 2002, 581–609, besonders 602 ff. 18 Vgl. zum Folgenden meinen Aufsatz: „Mitten auf dem Areopag“. Überlegungen zu den Schnittstellen zwischen antiker Philosophie und Neuem Testament, EChr 3 (2012) 296–320, Abdruck in diesem Band: 321–342. 19 Repräsentativ hierfür: T. Engberg-P edersen, Paul and the Stoics, Edinburgh 2000; G. Buch-Hansen, „It is the Spirit that gives Life“. A Stoic Understanding of Pneuma in John’s Gospel (BZNW 173), Berlin 2010. 20 Beispielhaft verweise ich auf die presidential address von Udo Schnelle am Kongress der Studiorum Novi Testamenti Societas (SNTS) in Szedeg, 2014: Das frühe Christentum und die Bildung, NTS 61 (2015) 113–143.
3. Die Urchristen: native Philosophers?
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Grundsätzlich unterscheiden muss man zunächst zwischen Genealogien und Strukturanalogien. Genealogisch fragen heisst, zu prüfen, wo und wie neutestamentliche Autoren Topoi, Themen, Motive und Denkfiguren der zeitgenössischen Philosophie rezipiert haben – und inwieweit diese von den Adressaten erkannt worden sein könnten. Dabei ist nochmals zu differenzieren: Einerseits geht es um generelle kulturelle Diffusion, also um ursprünglich philosophische Inhalte, die zum kulturellen Gemeingut, zu jedweder Art von Commonsense, werden. Andrerseits ist mit gezielten Rückgriffen auf philosophisches Gedankengut zu rechnen. Inhaltlich erstrecken sich die Anleihen von der Gotteslehre und Christologie über die Kosmologie und Anthropologie bis zur Ethik und Politik. Die Bezüge erschöpfen sich nicht in peripheren Anleihen, sondern geben streckenweise die Rezeption umfassenderer Kontexte zu erkennen.21 Dabei kommt es meist zu einem markanten Transfer in eine grundsätzlich andere theologische Konfiguration, der mit einer Umdeutung der ursprünglichen Topik Hand in Hand geht (das ist einer der wesentlichen Unterschiede zur späteren christlichen Apologetik). Neben den Inhalten spielen Methoden, also didaktische Prozesse und Bildungsvorgänge, eine wichtige Rolle. Als Drittes kommen die Momente der Selbstorganisation und des Auftritts dazu, etwa die Bildung von Schulen oder die Funktion von Wanderverkündigern und ortsansässigen Lehrern. Methodisch von alledem zu unterscheiden ist die im Ansatz phänomenologische Beschreibung von Strukturanalogien zwischen christlicher Theologie und hellenistischer Philosophie (am besten setzt man beides in die Pluralform). Auf den kulturellen Marktplätzen der globalisierten Antike findet ein lebendiger Wettstreit von Vertretern weltanschaulicher Angebote aller Art statt. Nicht nur Eliten, sondern auch Angehörigen der Mittelschicht steht es frei, sich für einen besonderen way of life zu entscheiden. Neben den jüdischen Gemeinschaftsformen sind es insbesondere die philosophischen Schulen und die Christengemeinden, die eine umfassende Lebensorientierung anbieten.22 Das entsprechende Bildungsangebot schliesst Formung sowohl in kognitiver wie in emotionaler Dimension ein; Philosophie und Glaube sind mit der Kunst des guten Lebens wie des guten Sterbens beschäftigt. Nicht erst im zweiten Jahrhundert schliesst dies auch das Feld der Religionen, ihrer Mythen, Riten und Gemeinschaftsformen ein.23 End21 Vgl. das Memento von G. Bornkamm, Gesetz und Natur. Röm 2,14–16, in: ders., Studien zu Antike und Christentum. Gesammelte Aufsätze Bd. 2 (BEvTh 28), München 31970, 93–118, hier: 101–111 (Es darf „nicht übersehen werden, wie sehr Paulus in der Lage ist, die Gedanken der griechischen Tradition, und zwar nicht nur eklektisch und mit blossen Anleihen an ihr Vokabular, sondern durchaus in ihrem inneren Zusammenhang und ihrem sachlichen Gefüge, aufzunehmen“, 111). 22 J. C. Thom, Popular Philosophy in the Hellenistic Roman World, EChr 3 (2012) 279–295; vgl. das klassische Werk von P. Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, dt. Übs. Berlin 1991. 23 R. Hirsch-Luipold, Die religiös-philosophische Literatur der frühen Kaiserzeit und das Neue Testament, in: ders. / H. Görgemanns / M. von Albrecht (Hg.), Religiöse Philosophie
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lich lässt sich mit Hilfe von Diskursanalysen aufzeigen, wie sehr Philosophen und christliche Lehrer wie Schriftsteller an übergreifenden kulturellen Diskursen teilnehmen und ihre spezifischen Lehrangebote entsprechend formatieren. Im Folgenden konzentriere ich mich auf drei Texte, in denen das Stichwort „Philosophia“ indirekt oder explizit quellensprachlich verarbeitet wird.
4. Einmal mehr: ein date auf dem Areopag (Apg 17) Den ersten Text können wir lediglich summarisch streifen,24 aber es wäre bei diesem Thema ein Frevel, ihn einfach zu überspringen. Es handelt sich um die berühmte Areopagrede in Apg 17,16–34. Sie ist nur schon deshalb bedeutend, weil sie vieles, was die apologetische Literatur des zweiten Jahrhunderts entfalten wird, antizipiert. Zugleich nimmt die Rede des lukanischen Paulus in Athen jüdisch-hellenistische Figuren auf, die ihrerseits die Begegnung von Philosophie und der überkommenen Lehre der Väter dokumentieren. Lukas verleiht seinem Paulus sokratisches Kolorit; im traditionsbewussten Athen begegnen sich der Apostel und die Philosophen auf Augenhöhe. Namentlich werden Epikureer und Stoiker genannt; die exemplarische Auswahl ist aufschlussreich. „Da stellte sich Paulus hin, mitten auf dem Areopag, und sprach: Männer von Athen! Ihr seid – allem Anschein nach – besonders fromme Leute! Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer anschaute, fand ich auch einen Altar, auf dem geschrieben stand: Dem unbekannten Gott (ἀγνώστῳ θεῷ). Was ihr da verehrt, ohne es zu kennen, das verkündige ich euch.“ (Apg 17,22 f)
Der Verkündiger klärt seine Dialogpartner über den „unbekannten Gott“ auf, agiert also im Überlegenheitsmodus. Freilich stammen seine Statements zu guten Teilen von den aufzuklärenden Philosophen selber her! Von besonderem Interesse ist es, dass unser Text sehr genau den Ort markiert, wo der Dialog abbricht: bei der Topik von Gericht und Totenauferstehung, also bei der Eschatologie.
5. Warnung: die Philosophie-Falle (Kol 2,8) Der zweite Text ist der einzige im Neuen Testament, der ausdrücklich von der philosophia spricht, nämlich Kol 2,8, und zwar in dezidiert negativer Fassung.25 und philosophische Religion der frühen Kaiserzeit. Literaturgeschichtliche Perspektiven (STAC 51), Tübingen 2009, 117–146; H. Görgemanns, Religiöse Philosophie und philosophische Religion in der griechischen Literatur der Kaiserzeit, a. a. O. 47–66. 24 Vgl. dazu C. K. Rowe, The Grammar of Life. The Areopagus Speech and Pagan Tradition, NTS 57 (2010) 31–50; K. Rothschild, Paul in Athens. The Popular Religious Context of Acts 17 (WUNT 341), Tübingen 2014; Vollenweider, Areopag (s. Anm. 18). 25 Zum Anliegen des Kol vgl. A. Dettwiler, La lettre aux Colossiens. Une théologie de la mémoire, NTS 59 (2013) 109–128.
6. Zwischen zwei Gravitationsfeldern: Weltweisheit und Gottesweisheit (1 Kor 1/2)
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„Gebt Acht, dass es niemandem gelingt, euch einzufangen durch Philosophie, durch leeren Betrug, der sich auf menschliche Überlieferung beruft, auf die kosmischen Elemente und nicht auf Christus.“
Man muss zunächst festhalten: Es geht nicht um Polemik gegen die antike Philosophie. φιλοσοφία wird hier gleichgesetzt mit Verführung durch leeren Trug, durch Menschenüberlieferung und die „Weltelemente“; die Antithese dazu bildet der Raum des Christus, in dem „die verborgenen Schätze der Weisheit (σοφία) und der Erkenntnis“ beschlossen sind (2,2 f). Der Verfasser des Kolosserbriefs, wahrscheinlich ein Paulusschüler, schreibt diese negative „Philosophie“ seinen Gegnern zu, die eine bestimmte von ihm für falsch und gefährlich gehaltene Lehre vertreten und die Gemeinde in Kolossä bedrohen. Wir wissen leider nicht, um was genau es sich bei dieser Lehre handelt; mutmasslich geht es um eine Kombination von christlichen, jüdischen und indigen-kleinasiatischen Elementen.26 Manches spricht dafür, dass es erst der Verfasser des Kolosserbriefs ist, der diese Lehre „Philosophia“ nennt. Er tut dies im Anschluss an seinen Lehrer Paulus, der selber negativ von der „Weltweisheit“ gesprochen hat – wir kommen gleich darauf zurück. Die kolossische „Philosophie“ orientiert sich am Unteren, an den Massstäben der Menschen und der Welt statt am „Oberen“, an Christus und an Gott; ihr steht die echte Weisheit gegenüber (2,3).
6. Zwischen zwei Gravitationsfeldern: Weltweisheit und Gottesweisheit (1 Kor 1/2) Damit sind wir bei einem letzten klassischen Text angelangt. Paulus arbeitet im ersten Hauptteil des 1. Korintherbriefs programmatisch die Differenz zweier Formen von Weisheit heraus (1,18–31): Der „Weisheit dieser Welt“ steht die „Weisheit Gottes“ gegenüber. In unserer Passage greift er zu auffallend universalen Figuren: „Dieser Weltzeit (Äon)“ steht Gottes Welt gegenüber, „Juden und Griechen“ werden mit den Christusgläubigen kontrastiert. Genauer: Die „Weisheit dieser Welt“ kollidiert mit der „Torheit der Verkündigung“, die zugleich als „Gottes Kraft und Weisheit“ bestimmt wird. Nun spielt Paulus zuerst ethnische Kategorien ein, gefolgt von sozialen: „Juden“ und „Griechen“ stellen die herausragenden Repräsentanten „dieser Welt“ dar. Die Juden suchen „Zeichen“, d. h. göttliche Machterweise in der Geschichte, die Griechen suchen „Weisheit“, die Christen aber verkündigen den gekreuzigten Christus – Anstoss für Juden, Torheit für Griechen. Die Griechen stehen textstrukturell im Vordergrund, denn „Weisheit“ ist das Leitmotiv des gesamten Abschnitts, der sich bis 2,16 oder sogar bis 3,4 erstreckt. 26 Vgl. C. E. Arnold, The Colossian Syncretism. The Interface between Christianity and Folk Belief at Colossae (WUNT II 77), Tübingen 1995.
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Damit ist die Philosophie, die quellensprachlich auch Theosophie u. a. umfasst und als Markenzeichen griechischer Kultur gilt, im Blick. Offensichtlich arbeitet der Apostel mit einer Figur der jüdischen Apokalyptik, die die erst verborgene und dann offenbarte göttliche Weisheit mit der selbstgemachten, menschlichen ‚Weisheit‘ der sogenannten Weisen kontrastiert (vgl. Dan 2,27 f.30; 5,11.14 f; Röm 11,33 f). Für Paulus orientiert sich die Weltweisheit an den Ordnungen und Strukturen der gegenwärtigen Weltzeit – dazu zählen Status, Prestige, menschliche Autoritätsträger und Macht. Dies entspricht der Weltkonstruktion der Philosophen nach Massgabe unveränderlicher Ordnungen sowie ihrer Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Elite. Der positive Pol, die Gottesweisheit, scheint hingegen zunächst kaum anschlussfähig zu sein für das Anliegen der Philosophie. Inhaltlich wird sie als Wort vom Kreuz vorgestellt.27 Das Kreuz, das Exekutionsgerät für Rebellen, Verbrecher und Sklaven, markiert im antiken Koordinatensystem sozusagen die absolute Negativität – die Klimax sozialer Schande und Entehrung sowie die Gottferne.28 Zugleich ist das Kreuz ein privilegierter Ort: hier manifestiert sich die Kraft Gottes (δύναμις θεοῦ), die im Geschehen neuer Schöpfung aus dem Nichts und im Entstehen von Glauben wirksam ist.29 Nach Paulus stellt Gottes Wirklichkeit demnach die Massstäbe der Welt auf den Kopf. Gottes Kraft wirkt im Bereich des Niedrigen, Verachteten und Schwachen – man könnte sagen: in der Schattenzone der ‚Weisheit dieser Welt‘. Das Kreuz markiert den toten Winkel des philosophischen Erkenntnislichts, es steht im Zeichen der „Torheit“. Erst in einem zweiten Anlauf, gleichsam in einem δεύτερος πλοῦς, steigert sich Paulus zu einer „Weisheitsrede für die Vollkommenen“ (2,6–16). Hier beansprucht er für die Verkündigung des Evangeliums all das, was sich kaiserzeitliche Philosophie als Weisheitsliebe nur wünschen kann: Enthüllung von Verborgenem, übersinnliche Erkenntnis, Erforschen der Tiefen Gottes, basierend auf dem Prinzip der Erkenntnis des Gleichen durch Gleiches. Dass dieser Text der philosophischen Rezeption auch enorme Hindernisse in den Weg legt, sei hier nur am Rand angemerkt.
27 Vgl. meinen Aufsatz: Weisheit am Kreuzweg. Zum theologischen Programm von 1 Kor 1 und 2, in: A. Dettwiler / J. Zumstein (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament (WUNT 151), Tübingen 2002, 43–58, Abdruck in diesem Band: 185–199, sowie: Areopag (s. Anm. 18) 311–313, hier in diesem Band: 334–336. 28 Für die soziale Ächtung des Kreuzestodes ist exemplarisch auf Cic., rab. perd. 16 zu verweisen. Im jüdischen Bereich kommt wahrscheinlich zur Schande (Mk 15,29–32 parr.) die Gottferne dazu (Mk 15,34 par.), zumal wenn die Pfählung von Dtn 21,23 („ein Gehängter ist von Gott verflucht“) wie in Qumrantexten auf die Kreuzigung bezogen wird (4 Q169 [= 4 QpNah] 3+4 I 7 f; 11 Q69 [= 11 QTemp] 64,6–13; vgl. Gal 3,13). 29 Schöpfungsbezüge samt dem Verständnis von Christinnen und Christen als „neuer Schöpfung“ (vgl. Gal 6,15; 3,28) finden sich in 1 Kor 1,21.24.28.30; vgl. meinen Aufsatz: Weisheit (s. Anm. 27) 49–51.
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Was nun an 1 Kor 1,18–25 auffällt, ist der Rückgriff auf ethnische Kategorien: Juden, Griechen, „wir“, also Christen. Wir stossen hier das erste Mal auf die Konzeption der drei Völker, der tria genera, die wenig später in der apologetischen Literatur weiter ausgebaut wird:30 Die gesamte Menschheit wird aufgrund ihrer Religionen in drei repräsentative Ethnien ausdifferenziert: Griechen (und überhaupt Heiden), Juden und nun eben die Christen als tertium genus. Damit bietet sich wieder das von uns schon eingesetzte kulturtheoretische Modell an: Paulus bezieht Position in einem Diskurs über Weisheit; er stellt die Weisheit, die die Christen beanspruchen, derjenigen der Griechen gegenüber. Alternative Weisheit gegen etablierte Weisheit; Weisheit von aussen (ethnisch) und unten (sozial) versus Weisheit in der Zentralposition.31 Wie kommt Paulus zu seinem ethnisch orientierten Kulturmodell? Die Antwort ist einfach: Er greift als Diasporajude auf die jüdische Tradition zurück: Das Judentum hat sich in der hellenistisch-römischen Welt selber als altes Kulturvolk präsentiert. Alle – oder jedenfalls die meisten – Figuren, die wir schon gestreift haben, finden sich hier: Altersbeweis, Kulturfinder-Genealogie, usw. Man muss m. E. dabei über die griechischsprachige und die speziell apologetische Literatur hinausgehen: Gerade die sperrigen Texte der frühjüdischen Apokalyptik gehören in dieses Setting der Kulturfriktionen. Die Offenbarungsweisheit der Apokalyptiker mit ihren enzyklopädischen Stoffen lässt sich als Gegenprogramm zur Hellenisierung ab dem späten vierten Jahrhundert v. Chr. lesen und dechiffrieren. Dem imposanten Wissen der Hellenen wird die alte Überlieferung der Väter entgegengestellt, pseudepigraphisch formatiert. Die wahre Weisheit verdankt sich dann etwa dem vorsintflutlichen Henoch. Dazu passt es, dass die
30 Zu den drei Ethnien mit den Christen als dritter vgl. KerPetr frg. 5 Dobschütz (vgl. klT 3 [21908], 15; CCSA 15, 157; NTApo 62, 40 frg. 2.d: „Denn das, was Griechen und Juden betrifft, ist alt, wir aber sind die Christen, die ihn als drittes Geschlecht auf neue Weise verehren [ἡμεῖς δὲ οἱ καινῶς αὐτὸν τρίτῳ γένει σεβόμενοι Χριστιανοί]; hier ist allerdings καινῶς … τρίτῳ γένει angemessener zu übersetzen mit „d’une manière nouvelle, selon un troisième type“, M. Cambe, CCSA 15, 156); Aristeid., apol. 2 (vier Geschlechter in der syrischen und armenischen Version, drei Geschlechter mit weiterer Unterteilung in der griechischen Version); vgl. 16,4 (Syr.: „wahrhaft neu ist dies Volk und eine göttliche Mischung ist in ihm“ [nach der Zählung von SC 470, 244 f: 16,3]); Diognet 1,1. Weiteres bei H. E. Lona, An Diognet (KfA 8), Freiburg 2001, 78 f; B. Pouderon / M.-J. Pierre (Hg.). Aristide. Apologie, SC 470, Paris 2003, 322 f; M. Lattke, Aristides. Apologie (KfA 2), Freiburg 2018, 68–71; M. Wolter, „Ein neues Geschlecht“? Das frühe Christentum auf der Suche nach seiner Identität, in: M. Lang (Hg.), Ein neues Geschlecht? Entwicklung des frühchristlichen Selbstbewusstseins (NTOA 105), Göttingen 2014, 282–298; sowie meinen Aufsatz: Are Christians a New „People“? Detecting Ethnicity and Cultural Frictions in Paul’s Letters and in Early Christianity, EChr 8 (2017) 293–308. 31 Zum entsprechenden ‚Weisheitsdiskurs‘ vgl. meinen Aufsatz: Toren als Weise. Berührungen zwischen dem Äsoproman und dem 1. Korintherbrief, in: P. G. Klumbies / D. du Toit (Hg.), Paulus. Werk und Wirkung (FS A. Lindemann), Tübingen 2013, 3–20, Abdruck in diesem Band: 357–374.
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gefallenen Engel als Vermittler bösen Wissens perhorresziert werden;32 sie bringen den Menschen nicht nur das Kriegshandwerk und die Astrologie, sondern auch – die Schminkkunst! Sie fungieren demnach als negative Kulturbringer. Zurück zum 1. Korintherbrief: Die Christen sind ja nun nicht einfach ein Ethnos wie ein anderes. Das Dreierschema wird von einem dualen Schema überlagert: Verlorene und Gerettete. Die Christen, also konvertierte Juden und Heiden, verstehen sich selber als eine Neuschöpfung Gottes. Was die alte Weltzeit, „diesen Äon“ ausmacht, hat hier keine Geltung mehr. „Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau“ (Gal 3,28). Die Identität der Glaubenden wird nicht mehr durch Ethnos, Status und Gender konstituiert, sondern durch das neue Schöpfungshandeln Gottes. Den Übergang vom einen zum anderen markiert das Kreuz, es betreibt die Annihilation der bestehenden Wertekonfiguration.33
7. Beschluss Ich habe versucht, zu zeigen, wie sich Repräsentanten von Partialkulturen unter Berufung auf eine ihnen eigene Weisheit von der etablierten Weisheit der Globalkultur, von der „Philosophie“ (was immer dann darunter fällt), absetzen. Trotzdem ist unverkennbar, dass sie diese alternative Weisheit im Kontext der dominierenden Leitkultur artikulieren, etwa mittels der Figur der Anknüpfung und Überbietung. Gemeinsam ist also das Dach eines auf weite Strecken hin geteilten Bildungsideals. In der späten Antike könnte man das die Herausbildung des Selbst, the making of the self, nennen. Aber das wäre das Thema eines anderen Projekts!
32 1 Hen 7,1; 8,1–3; 10,7; 16,3; u.ö. Zum Hintergrund vgl. G. W. E. Nickelsburg, 1 Enoch 1 (Hermeneia), Minneapolis 2001, 191–193 („Excursus: The Origin of the Asael Myth“) mit speziellem Hinweis auf den Prometheusmythos; L. T. Stuckenbruck, The Origins of Evil in Jewish Apocalyptic Tradition. The Interpretation of Genesis 6:1–4 in the Second and Third Centuries B. C. E., in: ders., The Myth of Rebellious Angels. Studies in Second Temple Judaism and New Testament Texts (WUNT 335), Tübingen 2014, 1–35, hier: 31 f. 33 E. Thomassen, Gnosis and Philosophy in Competition, in: Ch. Riedweg (Hg.), PHILOSOPHIA in der Konkurrenz von Schulen, Wissenschaften und Religionen. Zur Pluralisierung des Philosophiebegriffs in Kaiserzeit und Spätantike (Philosophie der Antike 34), Stuttgart 2017, 61–74, hier: 64, zeigt, dass sich auch Gnostiker als eine nicht-ethnische Gruppe von den Völkern unterschieden wissen. Definitionskriterium ist hier aber nicht die Zugehörigkeit zum Gekreuzigten, sondern der Pneuma-Besitz. Vgl. zum philosophischen Anspruch gnostischer Gruppen auch W. Löhr, Christian Gnostics and Greek Philosophy in the Second Century, EChr 3 (2012) 349–377.
Nachtrag
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Nachtrag Erst nachträglich bemerke ich, wie sehr sich der Aufsatz in seinem Titel wie in seinem Interesse am Zusammenhang von ethnicity und kultureller Selbstwahrnehmung berührt mit dem Aufsatzband von G. Stroumsa, Barbarian Philosophy. The Religious Revolution of Early Christianity (WUNT 112), Tübingen 1999, hier besonders: Philosophy of the Barbarians. On Early Christian Ethnological Representations, 57–84, zu Tatian 66–69. Keine Rolle spielt die Passage 1 Kor 1,18–31.
Toren als Weise Berührungen zwischen dem Äsoproman und dem 1. Korintherbrief für Andreas Lindemann
Abstract Fools as Wise. Interfaces between the Life of Aesop and 1 Corinthians The article deals with the antique Vita Aesopi (1st or 2nd cent. C. E.) in a culturalist perspective. Within the antique discourses on “wisdom” (sophia) the Life of Aesop promotes a wisdom “from below” (Aesop is a slave) and a wisdom “from outside” (Aesop is a barbarian wise). These features might be compared to the wisdom-theology found in Paul’s First Letter to the Corinthians where the Christian gospel as the “wisdom of God” is put in contrast to the “wisdom of this world”.
Der Apostel Paulus stellt im ersten Hauptteil des 1. Korintherbriefs programmatisch den Kontrast zwischen der „Weisheit dieser Welt“ und der „Weisheit Gottes“ heraus, um die in Korinth offenbar grassierende Orientierung an „Parteien“ und gruppenspezifischen Autoritäten zu problematisieren.1 Dabei arbeitet er in der Passage 1,18–31 mit auffallend universalen Figuren: „Dieser Weltzeit“ steht Gottes Welt gegenüber, „Juden und Griechen“ werden mit einem „wir“, also den Glaubenden kontrastiert. Auf der einen Seite rangiert die „Weisheit dieser Welt“, auf der anderen die „Torheit der Verkündigung“, die aber zugleich als „Gottes Kraft und Weisheit“ (1,24; vgl. V. 30) bestimmt wird. Der Gegensatz korreliert mit sozialen Zuschreibungen: Auf der Seite der Christen gibt es nicht viele Weise, Mächtige und Vornehme (V. 26). Der Transfer vom einen zum anderen Pol wird erwählungsgeschichtlich und sogar schöpfungstheologisch beschrieben (V. 27– 29). Paulus identifiziert in der Ausrichtung mancher korinthischer Christen an 1 Die Untergliederung des Hauptteils 1,10–4,21 fällt deshalb nicht ganz leicht, weil der Apostel mit Hilfe von Antizipationen und Rückbezügen argumentiert. „Sophia“, „Logos“ und „Kreuz“ in 1,17 nehmen die Leitbegriffe von 1,18–2,16 vorweg. 3,1–4 zieht den Schluss aus der „Weisheitsrede für die Vollkommenen“ von 2,6–16, bezieht sich aber mit den namentlich genannten Leitfiguren in V. 4 einerseits auf 1,12 f zurück und leitet andrerseits zur Korrelation von apostolischer Synergie und Gerichtsrelevanz in 3,5–22 über. Auch 4,1–5 hat eine Scharnierfunktion. – A. Lindemann, Der Erste Korintherbrief (HNT 9.1), Tübingen 2000, 33 f stellt 1,10–17 mit 1,18–25 zusammen, während D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010, 85 f, die Exposition 1,10–17 der Argumentation 1,18–2,5 vorangehen lässt.
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Toren als Weise
prestigeträchtigen Leitfiguren und attraktiven Gruppierungen ein Streben nach „Weisheit“, das mit der für die Glaubenden konstitutiven Verkündigung von Jesus Christus als Gekreuzigtem kollidiert. Mit den Worten unseres Jubilars, Andreas Lindemann, formuliert:2 „Die Christen in Korinth können und sollen aus den in ihrer Gemeinde vorhandenen sozialen Gegebenheiten, also aus ihrer eigenen Erfahrung die theologische Einsicht ableiten, dass der Massstab der ‚Weisheit‘ vor Gott nicht gilt.“
Gottes Wirklichkeit stellt die Massstäbe der Welt „gerade auf den Kopf “.3 Auch in der „Weisheitsrede für die Vollkommenen“ (2,6–16) orientiert sich der Apostel an der Umkehrung aller Werte, die sich letztlich dem schöpferischen Wirken Gottes in Tod und Auferstehung Christi verdankt. Das „Wort vom Kreuz“ bindet das theologische Denken immer wieder an jene geschichtliche Kontingenz zurück, die der christliche Glaube bekennend und erzählend in Erinnerung behält: an das brutum factum des Kreuzestodes Jesu. Paulus versucht sich an einer Meta-Reflexion über Weisheit; in Analogie zu unserem Terminus „Wissenschaftstheorie“ formuliert bietet er eine „Weisheitstheorie“.
1. Antike Weisheitsdiskurse? So radikal der Apostel im Eingang des 1. Korintherbriefs Weltweisheit und Evangelium kontrastiert, so attraktiv ist es umgekehrt, nach dem kulturellen Kontext zu fragen, in dem man den paulinischen Text überhaupt erst angemessen interpretieren kann. Die paulinische Argumentation setzt unverkennbar ein reges Interesse mancher korinthischer Christen an der „Weisheit“ voraus; der Apostel selber präsentiert sich trotz seiner spürbaren Zurückhaltung gegenüber der Sophia-Wortgruppe als Weisheitslehrer und in 2,6–16 sogar als Mystagoge zur göttlichen Weisheit. Lässt sich die Kommunikation zwischen Paulus und seinen Adressaten vor dem Hintergrund späthellenistischer und frühkaiserzeitlicher „Diskurse“ über die Weisheit schärfer erfassen?4 Die bisherige Forschung hat viel religionsgeschichtliches Material zusammengetragen, das allerdings eher die traditionsgeschichtliche Genese von 1 Kor 1/2 verständlich macht
2 A. Lindemann, „Juden, Griechen und die Kirche Gottes“. Die paulinische Ekklesiologie und die Lebenswirklichkeit der ἐκκλησία in Korinth, in: ders., Glauben, Handeln, Verstehen. Studien zur Auslegung des Neuen Testaments, Bd. 2 (WUNT 282), Tübingen 2011, 226–252, hier: 234. 3 Lindemann, 1 Kor (s. Anm. 1) 52, im Anschluss an H. Hübner; vgl. 50. 4 Das trendige kulturwissenschaftliche Schlagwort „Diskurs“ steht für argumentative Dialoge über die Wahrheit von Behauptungen und die Legitimität von Normen. Zur Hochkonjunktur des Diskursbegriffs in den letzten Jahrzehnten vgl. die summarischen Bemerkungen von K. Gründer, Vorbemerkungen, HWPh 9 (1995) 84–86.
1. Antike Weisheitsdiskurse?
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als dass es aktuelle Diskurse belegt. Gegenüber dem älteren Rekurs auf die Gnosis oder auf die „Mysterienreligionen“ hat sich der Fokus auf den hellenistisch-jüdischen Bereich verschoben; das Spektrum reicht von der „dualistischen Weisheit“ über die „verborgene und offenbare Weisheit“ bis hin zur „apokalyptischen Weisheit“.5 Andere Ausleger haben speziell auf die überkommene Antithese von Rhetorik und Philosophie verwiesen, die unsere Passage, zumal in 2,1–5, weithin steuert.6 Eine aktuelle Debatte hat man spezifisch in 2,6–16 identifiziert, wo sich Paulus erkennbar auf Sprache und Vorstellungswelt seiner korinthischen Gegner einlasse.7 Die Gestalt des alexandrinischen Lehrers Apollos, der in Korinth offenbar eine meinungsbildende Rolle spielte, hat darüber hinaus Hypothesen stimuliert, die die korinthische Weisheitsdiskussion mit innergemeindlichen Gruppenprozessen in Zusammenhang bringen. Wirklich plausibel lassen sich aber aktualisierende Rekonstruktionen, die mit den Annahmen einer Weisheitshypertrophie der Korinther und/oder einer theologisch-missionarischen Rivalität zwischen Apollos und Paulus arbeiten, nicht machen.
In Ergänzung zu religionsgeschichtlich-genealogischen und binnengemeindlich- kommunikationstheoretischen Zugängen zur paulinischen Argumentation bieten sich kulturwissenschaftlich orientierte Perspektiven an. Mein Aufsatz präsentiert dafür einen kleinen Baustein. Der Apostel selber nennt zwei kulturtheoretisch einschlägige Eckpunkte, die für seinen weisheitstheoretischen Gedankengang konstitutiv sind: In 1,18–25 operiert Paulus mit ethnischen, in V. 26–31 mit sozialen Kategorien. Beide Kategorien sind bekanntlich fundamental für die Beschreibung kultureller Identität, sowohl von Gruppen wie von Individuen.8 Nehmen wir zunächst die ethnische Akzentuierung in den Blick. Auf den ersten Blick scheint Paulus so etwas wie eine Weisheit „von aussen“ zu favorisieren, im Kontrast zur „Weisheit dieser Welt“, die die Zentrumsposition besetzt. Es handelt sich um eine Weisheit, die von „uns“, d. h. den Christen, vertreten wird, im Gegenüber zu „Juden“ und „Griechen“.9 Diese beiden Ethnien stehen für die in der gegenwärtigen Welt geltenden Massstäbe, also für die grundlegenden kulturellen Orientierungen; sie bilden zusammen „die Verlorenen“ 5 Einen instruktiven Rundgang „zum religionsgeschichtlichen Hintergrund von 2,6–16“ bietet Zeller, 1 Kor (s. Anm. 1) 144–150. 6 Vgl. wiederum Zeller, 1 Kor (s. Anm. 1) 96–104 zur „rhetorische[n] Weisheit als Gegenpol zum Evangelium“. 7 Über Hypothesen dieser Art äussert sich Lindemann, 1 Kor (s. Anm. 1) 60 kurz und bündig: „Bei näherem Hinsehen gibt es keinen Grund, den Text nicht, wie alle anderen Abschnitte des 1 Kor auch, primär von Paulus her und nicht von der Perspektive der Adressaten oder gar (vermeintlicher) ‚Gegner‘ her zu deuten.“ 8 Folgt man dem Katalog von Gal 3,28, so wäre als drittes Element auch das Geschlecht (gender) zu beachten. Dieses spielt aber für 1 Kor 1/2 keine Rolle. Gender-spezifische Perspektiven auf Weisheit und Philosophie könnten etwa diejenigen Dokumente bieten, die K. Brodersen herausgegeben hat: Theano. Briefe einer antiken Philosophin, Reclams Universal-Bibliothek 18787, Stuttgart 2010. 9 In. V. 23b stehen für die „Griechen“ die „Heiden“, hier übernimmt Paulus die gängige jüdische Sprachregelung. Zur Frage, ob die ἔθνη hier „alle Völker“ einschliesslich der Juden oder doch spezifischer die „Griechen“ meinen, s. Lindemann, 1 Kor (s. Anm. 1) 47.
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(V. 18) im Unterschied zu den „Geretteten“. Paulus überlagert also die ethnographische durch eine soteriologische Beschreibung; faktisch operiert er aber mit einem Schema von drei Ethnien, die die gesamte Menschheit abbilden (vgl. 1 Kor 10,32). Auf dieser Linie identifiziert die spätere christliche Literatur die Christen als „drittes Geschlecht der Menschen“.10 Die Christen bieten im Gegenüber zu den dominierenden Kulturträgern eine „Weisheit von aussen“, eine Perspektive aus der Peripherie, von den Rändern her, die im Zentrum als „Torheit“ wahrgenommen wird. Zu fragen ist, ob sich die christliche „Weisheit“ bzw. „Philosophie“ ein Stück weit mit anderen Weisheitsprogrammen, die eine Alternative zur griechisch-hellenistischen „Leitkultur“ formulieren, vergleichen lässt. Die immense Gravitationswirkung der hellenistischen und dann römischen Globalisierung auf die Bildungsträger aller Ethnien hat allerdings zur Folge, dass überhaupt nur wenig „Kontra-Weisheit“ erkennbar wird – der Normalfall ist vielmehr die weitreichende Assimilation an die Globalkultur oder die Synthese, in der etwa die orientalische Weisheit die hellenische ergänzt oder überbietet. Eine kritische Position lässt besonders die selbstbewusst vorgetragene Philosophie der „Barbaren“ erkennen, die sich nicht nur als Quelle griechischer Philosophie und als deren Überbietung, sondern auch als deren Antithese präsentiert.11 Man kann sodann die Texte der frühjüdischen Apokalyptik und die gnostischen Systembildungen ein Stück weit als Gegenentwurf zur dominierenden griechisch-hellenistischen Philosophie und ihrer Wirklichkeitsdeutung lesen. Es spricht manches dafür, auch die paulinische Literatur aus dieser Perspektive wahrzunehmen (vgl. Kol 2,8).12 Die zweite Akzentuierung ist eine soziale; der Apostel korreliert den mehrheitlich minderen sozialen Status der korinthischen Gemeinde mit dem Niedrigen „der Welt“ und dem Nichtseienden, das Gott erwählt. Auf der anderen Seite steht Jesus Christus, der „Weisheit für uns von Gott her geworden ist“. Im Blick auf diese soziale Konnotation handelt es sich um eine Weisheit „von unten“. Auch für diesen Sachverhalt ist die antike Dokumentation prekär, nur schon deshalb, weil in der weitgehend analphabetischen reichsrömischen Gesellschaft das für Weisheit und Philosophie vorauszusetzende erhebliche Bildungsniveau 10 KerPetr frg. 5 Dobschütz (= klT 3 [21908], 15; NTApo 62, 40 [frg. 2.d]); Aristeides, apol. 2; 15; Diognet 1,1; vgl. meinen Aufsatz, Weisheit am Kreuzweg. Zum theologischen Programm von 1 Kor 1 und 2, in: A. Dettwiler / J. Zumstein (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament (WUNT 151), Tübingen 2002, 43–58, hier: 47, Abdruck in diesem Band: 185–199; M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen 2011, 308. Zur Thematik vgl. meinen Aufsatz: Are Christians a New „People“? Detecting Ethnicity and Cultural Friction in Paul’s Letters and Early Christianity, in: EChr 8 (2017) 293–308. 11 Vgl. die „barbarische“ Weisheitstradition bei den Syrern Tatian, or. 1–3, und Jamblich, myst. 7,5 (258–259 Des Places). 12 Vgl. meinen Aufsatz „Mitten auf dem Areopag“. Überlegungen zu den Schnittstellen zwischen antiker Philosophie und Neuem Testament, EChr 3 (2012) 296–320, hier: 310–313, Abdruck in diesem Band: 321–342.
1. Antike Weisheitsdiskurse?
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im Normalfall nur für Eliten erschwinglich ist. Immerhin gibt es in den Städten gerade auch unter den Sklaven viele Bildungsträger, die etwa erzieherisch tätig sind.13 Überlieferungen der Kyniker lassen sich streckenweise als „Weisheit von unten“ lesen. Eine Persönlichkeit wie der freigelassene Sklave Epiktet zeigt umgekehrt, dass auch Herkunft „von unten“ mit der Übernahme aristokratischer Werte einhergehen kann;14 seine Lehre hat unter Angehörigen der Oberschicht enorme Resonanz gefunden. Bei den meisten überlieferten antiken Texten befinden wir uns also immer schon in einem sozialen Raum, in dem die Perspektiven von Eliten dominieren. Die etwas plakative Raummetapher „von unten“ kann demnach lediglich – aber immerhin! – meinen, dass auch eine Perspektive von unten mitthematisiert wird, gleichsam als eine Platzhalterin für aussertextliche Wirklichkeiten und Diskurse.15 Unserer Fragestellung nach Versionen einer „alternativen“ antiken Weisheit kommt ein Text entgegen, der in der neutestamentlichen Wissenschaft bisher nur am Rand wahrgenommen worden ist:16 Der Äsoproman handelt von einem Weisen, der als Barbar „aussen“ und als Sklave „unten“ zu situieren ist. Seiner Vita gilt im Folgenden unsere Aufmerksamkeit. Vorsorglich unterstreiche ich aber bereits jetzt, dass es im Rahmen der hier versuchten kulturwissenschaftlich interessierten Fragestellung keine ausschlaggebende Rolle spielt, ob die Korinther oder Paulus selber diesen Roman oder entsprechende Überlieferungen gekannt haben. Man darf die – genealogisch ausgerichtete – Frage getrost verneinen. Wichtig ist allein die Beobachtung, dass es in der uns interessierenden Zeit Zeugnisse für einen Weisheitsdiskurs gibt, die trotz einer grundsätzlich anderen Konstellation an einigen Punkten mit urchristlichen Überzeugungen konvergieren. Wir können annehmen, dass kulturelle Vorgaben dieser Art die Rezeption des Evangeliums in der urbanen Mittelmeerwelt, wenn nicht überhaupt erst ermöglicht, so doch stimuliert haben. 13 Vgl. M. Ebner, Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen. Das Urchristentum in seiner Umwelt, Bd. 1 (GNT 1.1), Göttingen 2012, 35. 14 Vgl. zur Beurteilung der Sklaverei durch Epiktet E. Ebel, Ein ehemaliger Sklave spricht über Sklaverei und Freilassung. Zum sozialgeschichtlichen Hintergrund von Epiktets Diatribe über die Freiheit, in: S. Vollenweider (Hg.), Epiktet. Was ist wahre Freiheit? (SAPERE 22), Tübingen 2013, 79–96. 15 Vgl. K. Hopkins, Novel Evidence for Roman Slavery, PaP 138 (1993) 3–27 („Roman masters needed slaves in order to be masters, and they needed stories about slaves in order to work through and recreate some of the problems which their own social superiority inevitably caused“, 21). 16 Vgl. unten Anm. 30. Der Äsoproman wird beispielsweise in den bisher erschienenen Bänden des „Neuen Wettstein“ (Mt 1–10; Mk; Joh; Briefe und Apk) nicht berücksichtigt (Stand: 2019). – Ausführlicher mit unserem Text befasst sich R. von Bendemann, Zwischen „Doxa“ und „Stauros“. Eine exegetische Untersuchung der Texte des sogenannten Reiseberichts im Lukasevangelium (BZNW 101), Berlin 2001, 360–381; mit Datierung ins 2./3. Jh. (nicht: 1. Jh.) (360). In jüngerer Zeit nehmen Bezug auf den Äsoproman: M. Froelich / Th.E. Phillips, Throw the Blasphemer off a Cliff. Luke 4.16–30 in Light of the Life of Aesop, NTS 65 (2019) 21–32; ferner St. Reece, ‚Aesop‘, ‚Q‘ and ‚Luke‘, NTS 62 (2016) 357–377, hier: 369 f.
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2. Der Fabeldichter als Verkörperung der Weisheit Äsop ist als Fabeldichter in das kulturelle Gedächtnis des Abendlands eingegangen. Weniger bekannt ist seine anonym überlieferte Lebensbeschreibung, die erst spät mit den Fabelsammlungen zusammengestellt worden ist. Die Vita Aesopi (VitAes) erzählt von der erstaunlichen Karriere Äsops, der als zunächst stummer Sklave im Haushalt seines Herrn seine Schlagfertigkeit entfaltet, dann dem Volk der Samier klugen politischen Rat gibt und, nunmehr freigelassen, als herausragender Weiser mit orientalischen Königen verkehrt und entsprechende Ehren empfängt. In Delphi wird er schliesslich das Opfer einer Intrige und kommt gewaltsam ums Leben. Die Schrift bietet viele literarische Berührungsflächen mit der urchristlichen Literatur. Ich nenne fünf Punkte. 1. Das Leben Äsops zählt zur Gebrauchsliteratur und bietet demzufolge keinen festen Text, sondern eine Vielzahl von Versionen und Rezensionen, die die Prozesse unablässiger Fortschreibung abbildet. Die textliche Instabilität ist so erheblich, dass man fast zögern muss, von Äsops Vita im Singular zu sprechen. Überliefert sind neben einigen Papyri drei Versionen, von denen zwei in die vorbyzan tinische Zeit zurückführen.17 Die seit langem bekannte Version W ist ihrerseits in zwei deutlich unterschiedenen Fassungen bezeugt.18 Sie war wiederum die Vorlagen von mehreren frühneugriechischen „Metaphrasen“, d. h. Umschreibungen in einen besser verständlichen Stil.19 Überlieferungsgeschichtlich am ältesten ist die umfangmässig längste Version G, die weitgehend nur von einer teilweise defekten Handschrift dokumentiert wird. Es ist diese Rezension, die Vita G, die die erste uns greifbare Fassung des Äsopromans bietet und die dem Folgenden als Textbasis zugrunde liegt.20
2. Die Vita G scheint in das erste (oder zweite) Jahrhundert n. Chr. zu gehören;21 den Terminus ante quem markiert ein Papyrus aus dem späten zweiten bzw. 17 Ausgabe: B. E. Perry (Hg.), Aesopica. A Series of Texts Relating to Aesop or Ascribed to Him or Closely Connected with the Literary Tradition that Bears His Name, Bd. 1, Urbana 1952 (= 2007). 18 Den Text von einer dieser beiden Fassungen bietet G. A. Karla (Hg.), Vita Aesopi. Überlieferung, Sprache und Edition einer frühbyzantinischen Fassung des Äsopromans (Serta Graeca 13), Wiesbaden 2001. 19 Ausgabe: H. Eideneier (Hg.), Äsop – Der frühneugriechische Roman (Serta Graeca 28), Wiesbaden 2011. 20 Soweit nicht anders vermerkt, folge ich der Ausgabe von: F. Ferrari (Hg.), Romanzo di Esopo, mit italienischer Übersetzung und Anmerkungen von G. Bonelli / G. Sandrolini, Classici della BUR, Mailand 1997. Eine oft nicht akkurate dt. Übersetzung bietet G. Poethke, Das Leben Äsops, hg. W. Müller (Sammlung Dieterich 348), Leipzig 1974. Der fluide Text von VitAes regt offenbar wilde Nacherzählungen an: A. Bronnen, Aisopos. Sieben Berichte aus Hellas, Berlin 1961 (dazu A. Beschorner, Zu Arnolt Bronnens „Aisopos“, in: N. Holzberg [Hg.], Der Äsop-Roman. Motivgeschichte und Erzählstruktur [Classica Monacensia 6], Tübingen 1992, 155–161) und H. J. Schädlich, Gib ihm Sprache. Leben und Tod des Dichters Äsop, Reinbek 2000. Zu Einleitungsfragen vgl. M. J. Luzzatto, Art. Aisop-Roman, DNP 1 (1996) 359–360. 21 In diesem Punkt übereinstimmend (und im Anschluss an Perry) z. B. Ferrari, Romanzo (s.
2. Der Fabeldichter als Verkörperung der Weisheit
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frühen dritten Jahrhundert. Die Vita Aesopi ist damit Zeitgenossin der urchristlichen Literatur; die Papyri-Funde deuten auf ihre recht weite Verbreitung. 3. Ähnlich wie bei den Evangelien ist mit älteren Überlieferungen zu rechnen, die allerdings über viele Jahrhunderte zurück in die Vergangenheit reichen. Ihre Gestalt lässt sich überhaupt nicht mehr rekonstruieren. Die Hypothese eines altgriechischen „Volksbuchs“ wird heute nicht mehr vertreten. Der historische Äsop selber bleibt weitgehend im Dunkeln; die frühesten Bezeugungen stammen aus dem fünften Jahrhundert v. Chr. und bieten einige biographische Eckpunkte, die auch für die Vita wichtig sind. Die überlieferungsgeschichtlichen Prozesse gehen mit einer Wechselwirkung zwischen mündlichen Traditionen und Textproduktionen einher; „sekundäre Oralität“ dürfte eine erhebliche Rolle spielen. 4. Für die Gattungsbestimmung hat man sich die fliessenden Übergänge zwischen Roman und Biographie (samt der aktantenzentrierten Geschichtsschreibung) zu vergegenwärtigen.22 Die für die Biographie typische Orientierung am Werdegang einer einzelnen Persönlichkeit, insbesondere der Entfaltung eines ἦθος, verbindet sich in der Äsopvita mit den übergreifenden Handlungssequenzen und Spannungsbögen, die die Textorganisation des Romans kennzeichnen.23 Die Analogie zu den Evangelien liegt auf der Hand. Liest man diese als Kontrast-Viten, legen sich auch inhaltliche Brückenschläge zur narrativen Inszenierung einer „verkehrten Welt“ in der Äsopvita nahe.24 5. Die Nähe zur urchristlichen Literatur, und hier speziell zum Markusevangelium, stellt sich vor allem durch die Sprache ein, die man als Volksliteratursprache kennzeichnen kann.25 Die Vita G ist in einem elementaren Koinē-Griechisch Anm. 20) 5; 18; L. Kurke, Aesopic Conversations. Popular Tradition, Cultural Dialogue, and the Invention of Greek Prose, Princeton 2011, 4; 12; 18 f; 42. 22 N. Holzberg, Der antike Roman. Eine Einführung, München 1986, 22–26 verhandelt unsere Schrift im Rahmen der „romanhaft-fiktionalen Biographie“, zusammen mit Xenophons Kyrupädie, dem Alexanderroman und Philostrats Apollonios. Der von N. Holzberg herausgegebene Sammelband (s. Anm. 20) bespricht VitAes fast nur als Roman (aber IX: „fiktionale Biographie“). Karla, Vita (s. Anm. 18) 2 f, spricht sich aus für eine „fiktionale Biographie mit Elementen des komisch-realistischen Romans“. 23 Vgl. die programmatische narrative Analyse von N. Holzberg, Der Äsop-Roman. Eine strukturanalytische Interpretation, in: ders., Äsop-Roman (s. Anm. 20) 33–75. 24 Zu Mk und Lk/Apg als Kontrast-Viten aus der Flavierzeit vgl. M. Ebner, Von gefährlichen Viten und biographisch orientierten Geschichtswerken. Vitenliteratur im Verhältnis zur Historiographie in hellenistisch-römischer und urchristlicher Literatur, in: Th. Schmeller (Hg.), Historiographie und Biographie im Neuen Testament und seiner Umwelt (NTOA 69), Göttingen 2009, 34–61. 25 Zur Unterscheidung von Literatursprache, literarischer Koine und Volksliteratursprache (letztere im Unterschied zur hellenistischen Alltags‑ und Umgangssprache) vgl. M. Reiser, Syntax und Stil des Markusevangeliums im Licht der hellenistischen Volksliteratur (WUNT II/11), Tübingen 1984, 32–34; ders., Der Alexanderroman und das Markusevangelium, in: H. Cancik (Hg.), Markus-Philologie. Historische, literargeschichtliche und stilistische Untersuchungen zum zweiten Evangelium (WUNT 33), Tübingen 1984, 131–163, hier: 135. Beiläufig verweist Reiser auch auf VitAes (Syntax 37; Alexanderroman 161: „Die Vita Homeri und der Aesoproman sind nächst dem Alexanderroman die wohl engsten Analogien zur Gattung der
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verfasst, das zugleich durch Import aus der Literatursprache samt dem Wortschatz der Neuen Komödie wie durch Rückgriff auf die gesprochene Sprache – Vulgarismen und Obszönitäten – charakterisiert ist. Es ist durchaus damit zu rechnen, dass der schlichte Stil einen gewollten Kontrapunkt zur artifiziellen Literatursprache der Bildungsträger setzt.26 Für unsere Fragestellung ist es nun entscheidend, dass der Werdegang Äsops mit dem Gewinn und der Entfaltung der Weisheit einhergeht.
3. Vom Freak zum Weisen Wie oft in der antiken Literatur bietet der Werkanfang eine programmatische Leseanleitung, hier in Form eines Porträts (1): „Äsop, der dem Leben grösste Nützlichkeit erweist, der Fabeldichter, dem Zufall nach Sklave, der Herkunft nach Phryger aus dem phrygischen Amorion, abscheulich anzusehen, hässlich, mit hängendem Bauch und groteskem Kopf, plattnasig, verkrümmt, dunkel, verstümmelt, verkrüppelt, verformt, kurzarmig, verdreht, breitlippig, misslich … und zu alledem ein noch grösseres Defizit als die Unförmigkeit: die Stummheit, er war zahnlos und überhaupt nicht in der Lage zu sprechen.“
Äsop wird ein hoher Ehrentitel zugesprochen: Er ist herausragender Wohltäter des Lebens (πάντα βιωφελέστατος);27 die Leserschaft muss dabei an seine Fabulierkunst denken. Die Eingangspassage setzt aber nun in einer langen Serie den Kontrapunkt. Zunächst wird Äsop als Sklave und als Nichtgrieche vorgestellt.28 Allein schon durch diese Kombination rückt er an das untere Ende der sozialen Skala. Vor allem aber wird er als Ausbund an Hässlichkeit porträtiert.29 Aus der Perspektive der antiken Physiognomik deutet alles auf einen höchst
Evangelien. So dürfte die literarische Tradition, in der das Markusevangelium steht, keine andere sein als die der hellenistischen Volksliteratur“). Vgl. unten den Nachtrag: 374. 26 So Holzberg, Äsop-Roman (s. Anm. 23) 39 Anm. 35; Kurke, Conversations (s. Anm. 21) 42 („deliberate choice“). Zur Rolle von „the Life’s everyday realism and chronotopes“ im Äsop roman vgl. P. Avlamis, Isis and the People in the Life of Aesop, in: Ph. Townsend / M. Vidas (Hg.), Revelation, Literature, and Community in Late Antiquity (TSAJ 146), Tübingen, 2011, 65–101. 27 Ich notiere hier den auffälligen Sachverhalt, dass das Lemma βιωφελής in der griechischen Literatur mit Abstand am meisten ausgerechnet bei Philon bezeugt ist (19mal). 28 Während es über die Herkunft Äsops viele divergente Überlieferungen gibt – fast immer aber übereinstimmend bzgl. der barbarischen Abstammung –, ist der Sklavenstatus seit Herodot 2,134:3 fest. Bei der Frage, warum Äsop Sklave war, herrscht wieder Vielfalt vor: unbestimmter, schierer Zufall (τύχη, so VitAes G/W), Kriegsgefangenschaft oder sogar freiwillige Selbstversklavung (so die Suda 335). 29 Zur (wenig fixierten) Äsop-Ikonographie vgl. R. Hilpert, Bild und Text in Heinrich Steinhöwels „leben des hochberümten fabeldichters Esopi“, in: Holzberg, Äsop-Roman (s. Anm. 20) 131–154, hier: 146 f; Kurke, Conversations (s. Anm. 21) 224–226.
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unvorteilhaften Charakter.30 Zugleich assoziiert die Leserschaft aber mit Sicherheit die Figur von Sokrates, bei dem hässliches Äusseres und edles Inneres zusammentreffen. In Platons Symposion vergleicht Alkibiades Sokrates mit handelsüblichen aufklappbaren Satyrfiguren, die ein Götterbild enthalten (ἔνδοθεν ἀγάλματα ἔχοντες θεῶν), und mit dem Satyr Marsyas, bekannt als Flötenvirtuose (215a–c; 221d–222a). Sokrates gilt ähnlich wie Äsop als stumpfnasig und fischäugig, hat wulstige Lippen und einen Hängebauch.31 Die Porträtierung von antiken Philosophen greift gern auf die Figur des äusserlich abstossenden, innerlich aber edlen Philosophen zurück. Symbolgestalt dafür ist etwa die Eule.32
Die Vita lässt die Öffentlichkeit immer wieder mit Entsetzen auf die Gestalt Äsops reagieren. Erst zum Schluss wird das entscheidende Defizit genannt: Äsop ist stumm. Da er als exzellenter logopoiós weltberühmt ist und in der ersten Zeile auch so tituliert wird, steigert der Autor die Lesererwartungen massiv: Wie wird aus dem stummen Wesen, das fernab zur Landarbeit abkommandiert wird, der grosse Erzähler, der an Königshöfen verkehrt? Die Vorgeschichte (2–19) berichtet zunächst davon, wie sich der stumme Sklave erfolgreich gegen eine Intrige seiner Mitsklaven zur Wehr setzt (2–3). Seine Versiertheit (πολυπειρία), die die Leser bereits als erste Demonstration seiner späteren Schlauheit erkennen, gibt dem Erzähler Anlass, die Episode mit einer klassischen weisheitlichen Einsicht zu kommentieren (vgl. Spr 26,27): „Wer gegen andere Böses sinnt, kommt selber zu Schaden“ (3,31 f).
30 Vgl.
D. F. Watson, The Life of Aesop and the Gospel of Mark. Two Ancient Approaches to Elite Values, JBL 129 (2010) 699–716, hier: 701 („The Hellenistic audience of the text should therefore expect him to display a low and ignoble character“). Zum eikonismós in der Physiognomik vgl. B. J. Malina / J. H. Neyrey, Portraits of Paul, Louisville 1996, 108–127; A. Touwaide, Art. Physiognomik, DNP 9 (2000) 997 f; zum gesamten Hintergrund R. Garland, The Eye of the Beholder. Deformity and Disability in the Graeco-Roman World, London 1995 (22010) („In short, ethnic deformity exemplified the critical difference between the Graeco-Roman Self and the Other“, viii) 31 Vgl. M. Schauer / St. Merkle, Äsop und Sokrates, in: Holzberg, Äsop-Roman (s. Anm. 20) 85–96, hier: 91 (im Anschluss an Jedrkiewicz); Kurke, Conversations (s. Anm. 21) 333–335 (mit der viel zu kühnen These, das Sokratesbild des platonischen Alkibiades sei „borrowed from popular representations of Aesop“, 333!). 32 Für das Bild des Philosophen als hässliche Eule beruft sich Dion auf eine Äsop zugeschriebene Fabel. Dion stellt die Eule dem Pfau gegenüber, jene ist weiser (zumal als Vogel der Athene), aber auch unansehnlich (or. 12,1–16). Er ordnet sich selber der Eule zu, während der Pfau die prunkenden Sophisten verbildlicht. In or. 72, wo es um die äussere Erscheinung (σχῆμα) geht, zählt Dion wieder unter Berufung auf die Eulenfabel Sokrates, Äsop und Diogenes zu deren Geschlecht – und, soweit es das Aussehen betrifft, sich selber und seine Zuhörer (13–16). Vgl. dazu H.-G. Nesselrath (Hg.), Dion von Prusa. Der Philosoph und sein Bild (SAPERE 13), Tübingen 2009, 159 Anm. 249 (Dion ist hier „der moderne Äsop, der wie die Eule dazu bestimmt ist, ungehört zu bleiben, obwohl er die Gabe der Redekunst besitzt“).
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Die entscheidende Wende im Leben Äsops bahnt sich an, als er einer verirrten Isispriesterin gastfreundlich den Weg weist (4–8).33 Äsop nimmt in der Priesterin die Epiphanie der Göttin selber wahr.34 Das später erfolgende Gebet der Priesterin an Isis stellt Äsop als exzellentes Exempel der Frömmigkeit heraus (5,4–7): „Diadem der gesamten Oikumene, vielnamige Isis, erbarme dich über diesen Arbeiter, elend und fromm, deswegen, weil er nicht an mir, sondern an deiner Gestalt fromm gehandelt hat.“
Der Erzähler schaltet sich mit einer deutenden Bemerkung ein (5,12 f):35 „Isis, die Herrin, erhörte das Gebet, denn schnell kommt das fromme Wort den Göttern zu Ohren.“
Während Äsop seine wohlverdiente Siesta hält – eine idyllische und geradezu paradiesische Szene, bei der die Anleihen an literarische Vorbilder und mythologische Stoffe mit Händen zu greifen sind –, treten Isis und die Musen zusammen auf und wirken ein Heilungs‑ und Sprachenwunder: Isis schenkt die Sprache selber, die Musen fügen die Trefflichkeit der Rede hinzu, nämlich das beste Finden der Sujets und das Gestalten griechischer Mythen. Isis’ Heilungsgabe geschieht im Blick auf Äsops Ungestalt, die durch seine Frömmigkeit „besiegt“ wird. Mit Isis und den Musen wird gleichsam ein ökumenisches Programm formuliert; Äsop wird weit im Orient herumkommen und gilt zugleich als Archeget einer besonderen griechischen Literaturgattung.36 Äsop findet seine ersten Worte, er benennt seine Utensilien und erkennt in der Redegabe den Dank für seine Frömmigkeit.37 Der Erzähler selber summiert etwas später, nach einer erneut überwundenen Gefahr, das Geschehene (11,10 f): „Alles, was Äsop von den Göttern erhalten hatte, geriet ihm zum Guten.“
Wir haben es im Sprachenwunder mit einer Schlüsselszene des Romans zu tun. Die Götter schaffen die amorphe Missgestalt zu einem Träger göttlicher Reden 33 Die Vita W spricht von Isispriestern, deren (nicht mitgeteiltes) Gebet zur Epiphanie der Tyche führt. Gegen Holzbergs Vermutung, die Tyche könnte wie in den Komödien ursprünglicher sein gegenüber Isis (Äsop-Roman [s. Anm. 23] 45 Anm. 59) spricht die einfache Überlegung, dass sich Isispriester selbstverständlich an Isis wenden. Die Tyche ist so gesehen nicht lectio difficilior, sondern rationalistische Umdeutung. 34 4,11 (θεασάμενος τὸ τῆς θεοῦ σχῆμα ἀνθρώπινον περικείμενον, θεοσεβὴς ὑπάρχων προσεκύνησεν); die Priesterin nimmt dies in ihrem Gebet an Isis auf (5,7). 35 Holzberg, Äsop-Roman (s. Anm. 23) 43–45, arbeitet die Funktion der wenigen gezielten auktorialen Bemerkungen in diesem Romanteil heraus und leitet sie vom ersten Akt der Neuen Komödie her. 36 Die Musen haben auch im Fortgang der Erzählung eine wichtige Funktion; so löst Äsop ein Buchstabenrätsel „teilhabend an göttlicher Gnade und das Verstehen empfangend von den Musen“ (78,10 f). Es handelt sich um Sondergut der Vita G. In Delphi flüchtet sich Äsop in ein kleines Musenheiligtum. 37 8,7: „Deshalb ist es gut, fromm zu handeln. Ich bin zuversichtlich, von den Göttern weiterhin Gutes zu empfangen.“
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um.38 Bei der Musenweihe assoziiert die Leserschaft die Inspiration der grossen griechischen Dichter. Kraft dieser Gabe ist Äsop später befähigt, göttliche Dinge zu erkennen.39 Die Szene spielt aber noch einen anderen symbolischen Bezug ein: Äsop gilt ja als der Dichter, der den Tieren die Sprache verleiht.40 Er selber ist aus einer stummen Kreatur zum sprechenden Wesen geworden. Die äsopische Fabelkunst verdankt sich der Sprachbegabung durch die Götter. Wenn wir uns einen kurzen assoziativen Seitenblick auf 1 Kor 1/2 gestatten, so drängt sich zunächst eine Analogie in den Vordergrund: Erst durch göttliches Wirken gewinnen Menschen am sozialen Rand die Kraft zu Verkündigung und Erkenntnisrede (1 Kor 1,28b; 2,4 f).41 Die erheblichen Differenzen liegen auf der Hand: Der Apostel arbeitet mit der Figur der Schöpfung „aus dem Nichts“; die Gottesgabe ist nicht Belohnung für vorbildliche Frömmigkeit; menschlicher Weisheit steht Gottes Kraft (dynamis) gegenüber. Wir kehren zu Äsop zurück. Die Unterscheidung zwischen groteskem Äusseren und innerem Wert wird im Folgenden immer wieder inszeniert und sogar gesteigert.42 „Sieh nicht auf meine äussere Gestalt, sondern prüfe die Seele (μή μου βλέπε τὸ εἶδος, ἀλλὰ μᾶλλον ἐξέταζε τὴν ψυχήν), rät der auf dem Sklavenmarkt feilgebotene Äsop seinem künftigen Herrn (26,26 f). „Viele haben ein grässliches Aussehen, aber einen verständigen Geist“ (πολλοὶ γὰρ μορφὴν κακίστην ἔχοντες νοῦν ἔχουσι σώφρονα, 88,10 f). Die Leitmetapher ist jeweils das unansehnliche Gefäss, das eine kostbare Substanz in sich trägt (26; 88; anders das Gegnerwort in 55: „wie sein Aussehen, so ist auch seine Seele“). Auch Paulus arbeitet in 2 Kor 4,7 mit der Gefässmetapher, stellt allerdings die Externität der in ihm bzw. in den Christen wirksamen Gotteskraft heraus. Er überlagert das dualistische anthropologische Schema von Geist versus Körper mit demjenigen von Gott und Mensch. Besonders dramatisch sind die Ausrufe von Einzelnen oder Kollektiven, die Äsop nicht nur ἀμορφία u.ä. zuschreiben, sondern ihn als „Abschaum“ (περικάθαρμα, 14; 30 f), als „Fehlleistung der Natur“ (ἦν ὅλος ἁμάρτημα φύσεως [cj.]) und als Monstrosität (τέρας 30; 38 Es handelt sich laut 7,9 f eigentlich um eine restitutio ad integrum: Isis „schnitt das Rauhe der Zunge weg, das ihn am Sprechen gehindert hatte“; vgl. Mk 7,35. Angesichts des sprachfähigen Äsop formuliert der Sklavenhalter in 11,18–20 eine Hypothese: „Wenn die Götter aus Zorn einem Menschen für kurze Zeit die Sprache genommen haben, ihm sie jetzt aber versöhnt wieder schenken, was ja faktisch geschehen ist: nennst du das ein ‚Wunderzeichen‘?“ Die Vita gibt aber keine Erklärung für die Behinderung Äsops. 39 Vgl. Holzberg, Äsop- Roman (s. Anm. 23) 52. Auch Xanthos’ Erklärung, als Philosoph nicht zuständig zu sein für theologische Fragen (36,11; 86,2–7), wird von Holzberg zu Recht als Erinnerung der Leser an die göttliche Begabung Äsops, der für solches zuständig ist, gelesen. 40 Dem entspricht die Fabeleinleitung „als die Tiere noch dieselbe Sprache wie die Menschen hatten“, die nicht zufällig mehrfach im Roman begegnet (καθ᾽ ὃν καιρὸν ὁμόφωνα ἦσαν τὰ ζῷα τοῖς ἀνθρώποις, 97; 99; 133; vgl. fab. 302,1). Der äsopischen Überlieferung zufolge hat Zeus diesen Urzustand beendet und die Sprache allein für die Menschen reserviert (Kallim., frg. 192). 41 Wenn Paulus sich in 2,1–5 Schwäche und Furcht zuschreibt, platziert er sich weit unten. Dasselbe gilt von seiner Affirmation, nichts ausser dem gekreuzigten Christus wissen zu wollen: Beides, Nichtwissen und Kreuz, sind deutlich niedrig kodiert. 42 Vgl. 7; 11; 14; 16; 19; 24; 33; 37; 87; 99; 121.
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88; 98) perhorreszieren. Man fühlt sich auch hier wieder an Paulus’ Rhetorik erinnert, der die apostolische Lebensform als „letzten Dreck“ präsentiert (1 Kor 4,13).43
Es entspricht dieser extremen Position in der sozialen Rangordnung, dass ihn seine Mitsklaven als Toren wahrnehmen und verspotten (18):44 „Nie haben wir einen Törichteren (οὐδένα μωρότερον) als dieses Menschlein gesehen!“
Äsop erweist sich aber gerade in seinen eigenartigen Handlungen als der Schlauere; seine Genossen müssen es anerkennen: „das Menschlein hat ein kluges Köpfchen“, „Menschlein dieses Schlags haben das im Kopf, was ihnen am Aussehen fehlt“ (19). Für die Leserschaft nimmt sich eine weitere Meinungsäusserung eines Mitsklaven als Prolepse der gewaltsamen Tötung am Ende der Vita aus: „Wehe, das Menschlein verdient das Kreuz!“45 Der zweite grosse Romanteil handelt von Äsops Streichen im Haus des Philosophen Xanthos (20–91). In einer Abfolge von Parodien wird der Romanheld als kynischer Philosoph gezeichnet, der als vermeintlich „unnützer Sklave“46 durch seine Praxis die Scheinphilosophie seines Herrn entlarvt. So muss er diesem auch die Kunst beibringen, törichte Befehle zu vermeiden (μωρὰ μὴ διατάττεσθαι, 51).47 Obwohl Äsop durch die zahlreichen Inszenierungen seine Findigkeit (τὸ φρόνιμον αὐτοῦ, 34) erweist – er deutet Träume und versteht die Mantik, er löst scheinbar unlösbare Zetemata und Rätsel48 – hält sich die Vita G in diesem Teil mit der Weisheitsterminologie noch auffallend zurück.49 Dies ändert sich mit dem ersten öffentlichen Auftritt Äsops vor den Samiern, wo er zum Ratgeber der Stadt mutiert (88). 43 Die Belege aus VitAes stützen die nüchterne Entscheidung von Lindemann, 1 Kor (s. Anm. 1) 110, περικαθάρματα τοῦ κόσμου und πάντων περίψημα nicht mit kultischer Semantik aufzuladen. Lindemann zitiert M. P. Nilsson, wonach es sich hier um „die schlimmsten Scheltwörter der griechischen Sprache“ handle: M. P. Nilsson Geschichte der griechischen Religion (HAW 5.2), Bd. 1, München 31967, 103. 44 Vgl. 54,23 (ὑπόμωρος). Im Schlussteil vergleicht sich Äsop mit der einfältigen (μωρά) Tochter, die auch noch den letzten Rest Verstand verliert (131). 45 19,26 f (οὐᾶ, σταυροῦ ἄξιον τὸ ἀνθρωπάριον, allerdings handelt es sich bei σταυροῦ um eine Konjektur). 46 Zum ἀχρεῖος δοῦλος (54,3) vgl. Achilleus Tatios 5,17:8 (τῶν ἀχρειοτάτων οἰκετῶν) und besonders Mt 25,30; Lk 17,10! 47 Halten wir zuhanden der Johannesforschung fest, dass sich in 62 eine Fusswaschung mit Statusumkehr findet – hier aber als plumpe, gegen Äsop gerichtete List des Xanthos, die natürlich scheitert. 48 Ich notiere an dieser Stelle, dass Äsop in 34–37 ein Gärtnerrätsel löst, das dem Gleichnis von der selbstwachsenden Saat (Mk 4,26–29) diametral zuwiderläuft: Warum sprosst nur das Unkraut αὐτόματα (37,16)? Die ganze Passage ist auch deshalb lesenswert, weil Äsop die (stoisierende) Providenztheorie seines Herrn (35,18) sowie dessen scheinfromme philosophische Epochē (36,11; s. Anm. 39) ins Leere laufen lässt. 49 Vgl. Kurke, Conversations (s. Anm. 21) 160 f, die im gezielten Umgang mit der Sophia- Terminologie die sehr alte Tradition der Weisheit als vor‑ bzw. nichtphilosophischer, vornehmlich politischer Wissenskompetenz identifiziert.
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Der letzte Handlungsbogen dieses Romanteils bereitet schon die zweite grosse Wende im Leben Äsops vor, die er der Deutung eines öffentlichen Zeichens (σημεῖον ἐπιλύσασθαι) verdankt (81–91). Noch einmal wird der Kontrast zwischen dem scheusslichen Äussern und dem inneren Geist scharf herausgearbeitet (87 f). Nun ist aber der Zeitpunkt gekommen,50 wo der Sklave zum weisen politischen Ratgeber mutiert. Äsop erwirkt mit Hilfe des samischen Volks seine Freilassung (89 f). In seiner ersten Rede rät er diesem, um der Freiheit und der eigenen Gesetze willen Widerstand gegen die von aussen drohende Versklavung zu leisten (91). Wir stehen damit bereits im dritten Teil des Romans (92–100), wo Äsop den Samiern in ihrer Konfrontation mit dem lydischen König Kroisos beisteht. Er trägt erstmals eine – mythische – Fabel vor, nämlich die Prometheus in den Mund gelegte Zweiwege-Lehre (94):51 Freiheit und Sklaverei stehen sich gegenüber. Das Leitmotiv der Eleutheria hat sich zuvor schon in den Vordergrund geschoben (74; 80). Vor allem aber präsentiert er nun vor seiner Gesandtschaftsreise zu Kroisos seine erste Tierfabel, die von den Wölfen und den Schafen handelt (97). Beide Fabeln fungieren als Mittel indirekter Belehrung; die Samier ziehen daraus jeweils den richtigen Schluss (95,1; 98,1). Der vierte Teil der Vita zeigt Äsop in seinem souveränen Umgang mit den Königen von Babylon und Ägypten (101–123). Er hat die Klimax seines Lebens erreicht. Seine abstossende Erscheinung ist nur noch gelegentliches Thema (121). Weisheit und Philosophie fungieren als Leitbegriffe (101–103; 123 f). Blicken wir an dieser Stelle auf die Vita zurück. Sie erzählt das Leben Äsops als Entwicklungsroman. Sein sozialer Aufstieg geht mit der Entfaltung von praktischer Weisheit Hand in Hand:52 Aus dem sprachlosen phrygischen Sklaven wird über die Phasen des schlauen Überlebenskünstlers, pfiffigen Rätsellösers und kynischen Provokateurs der wortgewaltige Ratgeber, hochgeachtet in Hellas und im Orient. Man muss fragen, ob auf dieser Laufbahn die Weisheit selber nicht ihr Profil verändert.53 Mutiert sie von einer „Anti-Weisheit“, die quer zu 50 So 88,21: „Weisheit besteht geradezu darin, auf den angemessenen Zeitpunkt zu zielen (ὅρος γὰρ σοφίας ἐστὶν τὸ καιρὸν σκοπεῖν [bei Perry als Glosse taxiert]).“ Zu dieser weisheitlichen Grundregel vgl. Pred 3; Sir 7,36; 28,6; Sap 7,18. 51 Das klassische Muster ist dafür Hes., erg. 287–292. 52 Vor allem Kurke, Conversations (s. Anm. 21) 159–201, liest die Vita vor dem Hintergrund einer postulierten „anthropology of sophia“, die bis in das 5. Jh. v. Chr. zurückreicht; die Klimax des gestuften Aufstiegs bildet die (vor‑ bzw. nichtphilosophische) politische Weisheit. Die besagte Anthropologie mit sophistischen Wurzeln sei verbunden mit Modellen der Kulturentstehung; die Äsopvita breche diese Kulturstufen auf einen individuellen Lebenslauf herunter. Ich befürchte, dass die überaus attraktive Konstruktion auf einer Mehrzahl von wenig tragfähigen Einzelhypothesen ruht. 53 Kurke, Conversations (s. Anm. 21) 40–47, kontrastiert die Weisheit Äsops, deren Typ sich bis in das 6. Jh. v. Chr. zurückverfolgen lässt, als „sophia from below“ (40) mit einer „high wisdom“, die mit den sieben Weisen und Delphi verbunden sei; jene parodiere diese (202–237). Bereits A. Hausrath, Aesopische Fabeln (TuscBü), München 21944, 114–120, stellte die neue,
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den dominierenden kulturellen Wertmassstäben steht und deren Träger durch Parodie lustvoll vorführt, zu einer etablierten Weisheit, die unter den Mächtigen und Vornehmen wohl gelitten ist?54 Immerhin bleibt Äsop eine Anstoss erregende Missgestalt, „ein Rätsel und eine Monstrosität unter den Menschen“ (98,7 f: αἴνιγμα καὶ τέρας τῶν ἀνθρώπων). Vor allem aber ist die Story noch nicht zu Ende – wir haben den letzten Teil des Romans in unsere Fragestellung mit einzubeziehen.
4. Äsops Passion Äsops Aufenthalt in Delphi (124–142) endet in einem Fiasko. Die Vita G stellt die Interpretation leider vor ein grosses Rätsel: Sie bietet zwar einige Andeutungen, die die Passion ein Stück weit verständlich machen, aber beantwortet die Grundfrage kaum, warum der Weise gewaltsam ums Leben kommt. Ohne klar erkennbaren Grund55 schmäht der Besucher die Delpher als Nachkommen von Sklaven und tritt damit das Drama los, das in seinem Tod endet. Sein Sterben selber ist noch einmal als Leerstelle anzusprechen: Äsop, den die Delpher zum Abhang geschleift haben, um ihn hinabzustossen (140), stürzt sich unter Anrufung Apollons selber in die Tiefe (142), kommt also der Exekution zuvor. Die Forschung hat versucht, dem Schlussteil des Romans im Kontext des Gesamtwerks Sinn abzugewinnen. Das am Vorbild der Tragödie orientierte Modell von N. Holzberg lässt Äsop an seiner eigenen Hybris scheitern;56 immerhin finde dieser ganz am Ende wieder zur früheren Verständigkeit zurück. Das Gegenmodell bietet L. Kurke auf: Äsop gewinnt an der berühmten Orakelstätte seinen letzten grossen Wettstreit um die Weisheit, den er gegen Apollon und die delphische Theologie führt.57 Das Problem beider Modelle besteht schlicht darin, volkstümliche, in Prosa gehaltene Weisheit Äsops und anderer der „professionellen, der alten Zeit verhafteten Weisheit der Priester und Philosophen“ gegenüber, hier verbunden mit der Hypothese des alten „Volksbuchs“. 54 Wenn der ehemalige Sklave Äsop seinem Adoptivsohn rät, Sklaven gut zu behandeln (109,14 f), übernimmt er die Position der Ober‑ bzw. Mittelschicht. Vgl. N. Oettinger, Achikars Weisheitssprüche im Licht älterer Fabeldichtung, in: Holzberg, Äsop-Roman (s. Anm. 20) 3–22, hier: 21; Watson, Life (s. Anm. 30) 714 („The story holds out no real possibility for reform“). 55 Nur ganz knapp wird zuvor berichtet, dass Äsop bei seinem ersten Auftritt nicht hinreichend Wertschätzung empfängt, konkret: kein Honorar kriegt (124,8 – anders als in Samos und anderwärts, 101,2.4). 56 Holzberg, Äsop-Roman (s. Anm. 23) 65; 69–75. Von einer Korruption der Weisheit Äsops durch den Umgang mit den Herrschern geht auch A. M. Patterson aus: Fables of Power. Aesopian Writing and Political History, Durham 1991, 30 f („Aesop deprived the fable, his supernatural endowment, of its power to save himself “). Watson, Life (s. Anm. 30) 705 deutet sogar den Todessturz symbolisch („Just as Aesop has risen from low status to high, he is now symbolically cast down from his high place“). 57 Kurke, Conversations (s. Anm. 21) 185–190 (mit überzogener Kritik an Holzbergs „moralizing [even Christianizing]“ Interpretation). „Aesop may lose his life, but he wins the contest
4. Äsops Passion
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dass der – implizite – Autor fast keine entsprechenden Interpretationsangebote offeriert. Er stellt – mit der Tradition – lediglich heraus, dass es sich um einen ungerechten Tod handelt – nach Äsops Tod kommt eine Seuche über das Land, auf die die Delpher mit Bussleistungen antworten müssen. Zugleich handelt es sich um keinen edlen Tod: Äsop klammert sich wie die meisten Menschen so lange wie möglich ans Leben, droht seinen Gegnern prophetisch mit schlimmen Folgen und verflucht sie sogar. Die Vita bietet ihrer Leserschaft indes nicht das geringste Signal für eine Lektüre, die Äsops Passion in Antithese zum vorbildlichen Ende des Sokrates stellt.58 Dass Äsop seine sprichwörtliche Klugheit verloren hat, konstatieren sowohl der Betroffene selber wie seine Anhängerschaft (130 f). Es scheint sich aber dabei um nichts anderes als um die nicht näher motivierte Wahl ausgerechnet Delphis als Besuchsort zu handeln (131,20 f; 141). Wir hören ganz beiläufig vom Zorn Apollons, der sich von Äsop nicht genügend geehrt fühlt und deshalb die Intrige der Delpher initiiert oder wenigstens fördert (100; 127). Der Erzähler rekurriert sonst aber nirgends auf die Figur der ira dei und des Götterneids; zudem ruft Äsop unmittelbar vor seinem Tod Apollon als Zeugen seines ungerechten Todes an (142). Der Äsoproman läuft so gesehen auf ein open end hinaus und signalisiert seiner Leserschaft lediglich einige unbestimmte Interpretationspotentiale. Er lässt eine realistische, „weisheitliche“ Perspektive erkennen, die sehr stimmig in Delphi situiert wird: Sterbliche Menschen sind Lebenskontingenzen ausgesetzt.59 Gerade ein Weiser wie Äsop stösst an diese Grenzen; er ist der Typ des Wohltäters (βιωφελέστατος, 1!), der sich am Ende selber nicht zu helfen weiss (130,4– 6; vgl. Mk 15,30 f). Der Roman inszeniert diese Grenzerfahrung mit der Weisheit vor allem durch den Einsatz der Fabeln, für die „Äsop“ seit altgriechischer Zeit steht. Zur Deutung seiner eigenen misslichen Situation bietet der logopoiós im Gefängnis zunächst zwei Sexstories an (129–131), die seine Tränen und seinen Verlust an Klugheit verbildlichen. Vor allem erzählt er den Delphern vier Tierfabeln, um sie von ihrer Anklage auf Tempelraub und Blasphemie abzubringen (133–141). Im Unterschied zur Leserschaft sind die Adressaten auf der Erzählebene freilich nicht in der Lage oder nicht willens, die von den Fabeln intendierte Applikation auf die gegebene Situation zu leisten. Für dieses Unvermögen nennt die Vita zwar keinen
of sophia“ (187). Kurke postuliert ein altes Schema des stufenweisen Weisheitsaufstiegs (s. Anm. 52), das in der theoria an einer religiösen Stätte gipfle und in der Äsoptraditon kritisch gegen Delphi und seine Kultpolitik umgepolt werde. 58 Anders die Hypothese von Schauer / Merkle, Äsop (s. Anm. 31) 93–96. Auch die Annahme, der platonische Sokrates setze sich kritisch von Äsops Verhalten angesichts seiner Hinrichtung ab (89 f), projiziert faktisch die Version der VitAes in das 4. Jh. zurück. 59 In 128 erinnert Äsop die Delpher an ihre eigene Weisheit: „Sterblich Geborene, sinnt nicht über die Götter hinaus“; „Wie sollte ich als sterblicher Mensch dem, was sein soll, entfliehen?“
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Grund, aber erlaubt vielleicht doch eine weitreichende Deutung.60 Bei der in einer Abfolge von Weisheitsphasen organisierten Laufbahn Äsops fällt auf, dass er sein Proprium, die Fabel, erst als Freier vorträgt (mythische Fabel 94; Tierfabel 97). Zuvor hatte er als Sklave andere weisheitliche Techniken entwickelt. Offenbar wird die Fabel als literarisches Genre gerade nicht in der Sklavenwelt situiert.61 Im Gegenteil, in Delphi kommt es zur Kollision von Fabel und Sklaverei. Die vom ehemaligen Sklaven Äsop als erbärmliche Sklaven gescholtenen Delpher lassen sich nicht auf die Deutungsarbeit, die das Genre der Fabel trägt, ein und töten den Dichter. Äsop scheitert in Delphi an der Fabel (M. Baumbach). Den Delphern auf der Erzählebene steht aber die Leserschaft des Äsopromans gegenüber. Sie versteht das, was die Delpher nicht verstehen können oder wollen. Damit verschiebt sich der rezeptionsästhetische Fokus vom getöteten Äsop auf sein literarisches Vermächtnis, auf seine Fabeln. In ihnen lebt Äsop weiter, sie appellieren an die hermeneutischen Ressourcen ihrer Leser.62 Ihre Strukturierung mittels Promythion bzw. Epimythion und ihre stereotypen Formeln bieten Andockstellen für die Deutungsarbeit der Rezipienten. Man kann den Sachverhalt nicht besser als mit den Worten des Sophisten Philostrat formulieren:63 „Äsop hat das ganze Menschenleben als Fabeln (Mythen) gestaltet; er hat den Tieren Anteil an der Sprache (logos) gegeben, um eine Lehre (logos) daraus zu ziehen.“
5. Beschluss: anstössige Weisheit Unser Ausflug in den frühkaiserzeitlichen Äsoproman hat uns zwar nicht zu einem authentischen Zeugnis einer „Weisheit von aussen“ oder einer solchen „von unten“ geführt. Wir haben es aber mit einem Text zu tun, der die weithin bekannte paradoxale Gestalt des äusserlich abstossenden, innerlich aber edlen Weisen in einer sonst nicht bekannten Radikalität porträtiert. Der Äsoproman stellt seinen Protagonisten als Paradigma einer alternativen Weisheit vor, die in der Gesellschaft mit Schande, Torheit und Lächerlichkeit konnotiert ist. Die Vita arbeitet die Umkehrung der Werte mit allen zur Verfügung stehenden literarischen Mitteln heraus64 – die Zeichnung einer verkehrten Welt aus der Neuen 60 Ich folge hier einer attraktiven Überlegung, die M. Baumbach im Frühling 2011 auf einer Tagung in Zürich präsentiert hat. Vgl. ferner: M. Baumbach, Art. Aesop, DNP.S 8 (2013) 1–8. 61 Dies ist auffällig, da die Fabel herkömmlich den niedrigsten Rang unter den Genera der philosophischen Didaktik einnimmt. „Aesopic fables are humble in content and style, just as Aesop himself is poor, lowly, and marginal“, Kurke, Conversations (s. Anm. 21) 2. 62 Vgl. Kurke, Conversations (s. Anm. 21) 189 (“the end of Vita G functions as […] fable itself does, offering its audience implicit connections that require their own interpretative activity to draw the moral“). 63 Philostratos, imag. 1,3:1 (Αἰσώπῳ πάντα τὰ τῶν ἀνθρώπων ἐκμεμύθωται, καὶ λόγου τοῖς θηρίοις μεταδέδωκε λόγου ἕνεκεν). 64 Vgl. Holzberg, Äsop-Roman (s. Anm. 23) 74 f.
5. Beschluss: anstössige Weisheit
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Komödie, die Provokation des Establishments durch kynische Prediger, die Verspottung von Philosophen und Rhetoren durch die Satire, die Burlesken des Schelmenromans. Der phrygische Sklave Äsop rückt in einem mehrphasigen Prozess des Weisheitserwerbs von aussen und von unten in das Zentrum des gesellschaftlichen Wertsystems vor, um schliesslich einen gewaltsamen Tod zu erleiden. Er vereinigt beides spannungsvoll in seiner eigenen Person: alternative und etablierte Weisheit. Die Analogien zum frühen Christentum liegen auf der Hand. Der Apostel Paulus stellt sich selber und seine Mitglaubenden als Exponenten einer ‚Weisheit‘ vor, die nach den herrschenden kulturellen Massstäben als Torheit gilt und Anstoss erregt (1 Kor 1,18–25; 3,18–20). Aber auch er schlägt Brücken in das kulturelle Zentrum: Paulus’ „Weisheitsrede“ für die Vollkommenen (2,6–16) kontrastiert nicht nur Gottesweisheit und Weltweisheit, sondern antwortet in vielerlei Hinsicht auf die Anliegen und Interessen der kaiserzeitlichen Philosophen.65 Christen wissen um das Gute, Wahre und Gerechte (Phil 4,8; Röm 12,2 f); sie teilen mit ihren heidnischen Nachbarn nicht nur kulturelle Werte, sondern suchen diese auch in ihrer ethischen Praxis zu übertreffen. Die Theologiegeschichte des antiken Christentums zeugt von der fortgesetzten spannungsvollen Dynamik zwischen alternativer und etablierter Weisheit. Der Komplex „Weisheit als Torheit“ (und umgekehrt) ist zu unterscheiden von demjenigen, der in der Narrenrede von 2 Kor 11,16–12,13 begegnet, obschon beide natürlich zusammenhängen.66 In 2 Kor führt sich der Apostel absichtsvoll als Narr auf, in 1 Kor 1/2 ist die Torheit Prädikat des Worts vom Kreuz als solchem. Dazu kommt eine spezifische Positionierung gegenüber der rhetorischen, „etablierten“ Form weisheitlicher Rede: 2 Kor 10–13 betreibt virtuos einen bestimmten Typ von paradoxaler Rhetorik; 1 Kor 1/2 distanziert sich programmatisch von einer rhetorisch stilisierten Weisheit. Die narrative Form des Äsopromans bringt es hingegen mit sich, dass Torheit und Narrenposse Hand in Hand gehen:67 Die Story inszeniert die weisere Torheit Äsops in einer Serie von Schelmenstücken; das jeweilige Ergebnis gibt dem scheinbar törichten Handeln des Weisen recht. Auch hinsichtlich der Rhetorik wählt die Äsopvita mit ihrem niedrigen Stil eine dezidierte Antithese zur etablierten Literarizität.68 Vgl. Vollenweider, Areopag (s. Anm. 12) 313. Die Wortwahl ist instruktiv: Die Narrenrede operiert mit der Wortgruppe φρήν κτλ., nicht mit μωρός κτλ. 67 Die Differenzierung zwischen Anstössigkeit und Narrenposse empfiehlt sich auch bei anderen Zeugnissen aus der hellenistischen Umwelt. Dion rechnet sich zwar dem unansehnlichen Typ der Eulen-Philosophen zu (s. Anm. 32), beurteilt aber seinen eigenen Auftritt kritisch: „Wir selber sind Narren (ἠλίθιοι)!“, d. h. keine echten „Eulen“ wie Sokrates und Diogenes (or. 72,16). Anders als in 2 Kor 10–13 wird der Auftritt als Narren negativ gewertet. Umgekehrt wird die abendliche Darbietung eines Spassmachers (γελωτοποιός), d. h. eines Narren, in Lukians Symposion (18 f) nicht als (para‑)philosophische Performance wahrgenommen, zumal er mit einem grossmäuligen Kyniker (vgl. 12) handgreiflich wird. Immerhin: Der Komödiant ist ausgesprochen hässlich (ἄμορφός τις); vgl. Watson, Life (s. Anm. 30) 702. 68 Vgl. oben bei Anm. 26. 65 66
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Wir schliessen mit einer literarischen Gegenüberstellung, die sich geradezu gebieterisch aufdrängt: Der Äsoproman legt sowohl durch seine narrative Form wie durch seinen Protagonisten einen Vergleich mit den Evangelien, und hier besonders mit dem Markusevangelium, nahe. Zwar porträtiert dieses anders als Paulus den gekreuzigten Christus nicht als Anstoss und Torheit für die nichtgläubigen Menschen. Jesus erscheint auch nicht wie Äsop als Ungestalt. Aber die Konvergenzen sind doch mit Händen zu greifen und gehen weit über das volksliteratursprachliche Stilniveau hinaus: Beide Biographien erzählen den Lebenslauf eines Weisen und Lehrers, der an den Rändern der hellenistisch-römischen Kulturwelt agiert und schliesslich exekutiert wird. Beide Weise arbeiten mit populären, aber in der kulturellen Wertordnung niedrig taxierten Gattungen bildlicher Rede – Gleichnis und Fabel. Schliesslich lassen beide Biographien, Äsopvita und Markusevangelium, ihre Story in ein open end münden, das nach der Deutungsarbeit der Rezipienten ruft. Die Leserschaft des Markusevangeliums wird durch die Botschaft des Engels im leeren Grab (16,7) aufgerufen, den auferstandenen Jesus erneut in „Galiläa“ aufzusuchen und ihn zu begleiten. Im Erzählen der Jesusgeschichte kommt es zur Nachfolge. Äsop seinerseits hinterlässt seinen Lesern das Universum seiner Fabeln, die nach Aktualisierung und Verifikation im Hier und Jetzt rufen.
Nachtrag In seinen jüngeren Publikationen hält es M. Reiser für wahrscheinlich, dass die Vita Äsops wie andere ähnliche Schriften (namentlich der Alexanderroman) erst in Reaktion auf die christliche Literatur entstanden ist: M. Reiser, Die Stellung der Evangelien in der antiken Literaturgeschichte, ZNW 90 (1999) 1–27 („Erst das Christentum schuf mit den Evangelien echte Volksliteratur höchster Qualität“, 5); ders., Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments. Eine Einführung (UTB 2197), Paderborn 2001, 27 („es ist nicht unwahrscheinlich, dass entsprechende pagane Literatur, die kaum vor dem 4. Jahrhundert entstand [Alexander‑ und Äsoproman, Äsopfabeln], erst durch die christlichen Vorgänger angestossen wurde“); 34 („eine Art pagane Konkurrenzliteratur zu den Evangelien und anderer christlicher Volksliteratur“); 93 („Werke wie der Alexanderroman und der Äsoproman konnten erst entstehen, als dieser Stiltyp durch das Christentum etabliert war“). M. E. wird hier die Breitenwirkung christlicher Texte in der nicht-christlichen frühen Kaiserzeit erheblich überschätzt – jedenfalls dann, wenn man nicht zu Spätdatierungen greift, die sich aus wiederum anderen Gründen kaum halten lassen (s. bei Anm. 21; Papyrusfunde führen bei der Äsopvita in das 2./3. Jahrhundert n. Chr. zurück).
Bildungsfreunde oder Bildungsverächter? Überlegungen zum Stellenwert der Bildung im frühen Christentum Abstract Adherents of Education or Critics of Education? Considering the Significance of Education in Early Christianity The article examines the significance of education in early Christianity. A special interest lies in the upheaval that began around the middle of the 2nd cent. at the latest. With the help of a cultural studies model it is shown how early Christians in the course of time appropriated the standards of the Greek-Hellenistic Paideia in order to finally become themselves the hegemonic culture that defines the canon of education. „Kein Gebildeter komme heran, kein Weiser, kein Kluger. Denn bei uns wird dies als schlecht angesehen. Wenn aber einer ungelehrt, wenn einer unvernünftig, wenn einer ungebildet, wenn einer unmündig ist, er soll getrost kommen.“
Mit diesen Worten eines fiktiven christlichen Gemeindeleiters stellt Celsus in seiner Schrift gegen die Christen deren Bildungsferne und sogar Bildungsfeindlichkeit heraus.1 Der Topos, der durchaus Anhalt an einigen biblischen Texten hat (vgl. 1 Kor 1,26; Mt 11,25), zählt fortan zum festen Inventar der antiken antichristlichen Polemik,2 zumal im Blick auf die Jesusjünger. Die in ihm angelegte Frontstellung ist in jüngerer Zeit wieder zum Gegenstand einer angeregten Diskussion geworden. Es sind die markanten Umbrüche in der modernen Bildungslandschaft mit der Relevanz neuer Medien, mit der Umgestaltung der universitären Einrichtungen und mit dem dramatischen Schwund von biblisch-religiösem Hintergrundwissen in weiten Kreisen der Bevölkerung, die die 1 Celsus, frg. 3,44a (bei Orig., Cels. 3,44 [SC 136, 104]); vgl. dazu H. E. Lona, Die „Wahre Lehre“ des Kelsos (KfA.E 1), Göttingen 2005, 197–200 (hiernach übs.); vgl. 38 f; sodann C. Andresen, Logos und Nomos. Die Polemik des Kelsos wider das Christentum (AKG 30), Berlin 1955, 167–171; K. Pietzner, Bildung, Elite und Konkurrenz. Heiden und Christen vor der Zeit Constantins (STAC 77), Tübingen 2013, 17–20; 205–228; J. Arnold, Der Wahre Logos des Kelsos. Eine Strukturanalyse (JbAC.E 39), Münster 2016, 141 f. 2 Vgl. dazu besonders W. Nestle, Die Haupteinwände des antiken Denkens gegen das Christentum, in: J. Martin / B. Quint (Hg.), Christentum und antike Gesellschaft (WdF 649), Darmstadt 1990, 17–80, hier: 45 f; 72; J. G. Cook, The Interpretation of the New Testament in Greco-Roman Paganism (STAC 3), Tübingen 2000, 263–265 („The charge that the disciples were crude and ignorant was a topos in the pagan critique of Christianity“, 263); vgl. 36; 70 f; 84; 88; 140 f; 292; ders., The Interpretation of the Old Testament in Greco-Roman Paganism (STAC 23), Tübingen 2004, 109; 116; 252; Pietzner, Bildung (s. Anm. 1) passim. Zu Julian vgl. z. B. Galil. 1 frg. 23 M. (bei Kyrill, Iuln. 4,29 [GCS.NF 20, 302]: πρὸς ἄνδρας ἀμαθεῖς).
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neutestamentliche Wissenschaft provoziert haben. Tatsächlich mehren sich die Stimmen, die im Gegenzug zur angedeuteten Frontstellung das Urchristentum als „Bildungsreligion“ zu entwerfen suchen. Im vorliegenden Beitrag werden Recht und Grenzen dieser neutestamentlichen „Bildungsinitiative“ eruiert. In einem ersten Teil sichten wir hierfür einschlägige Wahrnehmungen und Argumente. Ein zweiter Teil erinnert an eine klassische Gegenposition, gegen die die Bildungsinitiative anrennt. Zwei weitere konstruktive Überlegungsgänge versuchen, die für die Erarbeitung des Themas nötige Differenzierung voranzutreiben. Ein fünfter Teil wird die urchristliche bzw. frühchristliche Literatur materialiter darauf hin befragen, ob und wie sie dem Bildungsparadigma entgegenkommt.
1. Die neue „Bildungsinitiative“ Ich skizziere zwei repräsentative Positionen in der deutschen Neutestamentlerzunft, den Protestanten Udo Schnelle und den Katholiken Thomas Söding. Udo Schnelle stellt in seiner presidential address am Kongress der Studiorum Novi Testamenti Societas in Szeged 2014 die positiven Korrelationen von frühem Christentum und Bildung heraus, im Gegenzug zum „tief in das kollektive Gedächtnis der Exegese eingebrannt[en]“ Gedanken, wonach „die grosse Mehrzahl der frühen Christen […] aus der Unterschicht“ stamme und „deshalb auch literatur‑ und bildungsfern“ gewesen sei.3 Schnelle erinnert nun mit gutem Recht an eine ganze Reihe entgegenstehender Faktoren. Viel von dem, worum sich antike Bildung dreht, finde auch im Urchristentum Resonanz, etwa Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsbildung. In den Städten sei der Alphabetisierungsgrad höher als früher angenommen, und das komme auch den Gemeinden zugute. In diesen spiele Lehren und Lernen eine erhebliche Rolle, nicht nur, aber besonders in der Bibelauslegung. Besondere Aufmerksamkeit findet bei Schnelle die Textproduktion, die etwa bei den Evangelien oder den Briefen sowohl innovative Züge wie eine markante literarische Qualität erkennen lasse. Es kämen hinzu das Entstehen einer neuen Glaubenssprache, die Bildung von Schulen, die Teilnahme an philosophisch-religiösen Diskursen der damaligen Welt, und anderes mehr. All das weise auf ein erhebliches Bildungsniveau früher Christen hin. Noch einen Schritt weiter geht Thomas Söding, wenn er das Christentum als „Bildungsreligion“ identifiziert.4 Sitz im Leben seiner Annäherungen sind Aktivi3 U. Schnelle, Das frühe Christentum und die Bildung, NTS 61 (2015) 113–143 (Zitate: 113 f). Er verweist für ein aktuelles Beispiel auf J. Christes, Art. Bildung, DNP 2 (1997) 663–673, hier: 671. 4 Th. Söding, Das Christentum als Bildungsreligion. Der Impuls des Neuen Testaments, Freiburg 2016 (Zitate: 9; 55); vgl. ders., Neues Denken. Das Urchristentum als Bildungsreligion (Universitätsreden 30), Bochum 2010.
2. Bildungsfernes Urchristentum
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täten im Raum der Universität und in der Religionspädagogik. Söding zufolge ist das Christentum eine Religion, die auf Bildung setzt. Das Neue Testament biete hierfür entscheidende „Impulse“, die es nicht zuletzt seiner Herkunft aus dem Judentum, ebenfalls einer „Bildungsreligion“, verdanke. Das Urchristentum übe ein „neues Denken“ ein, rezipiere weitreichend Traditionen seiner Umwelt, und entwickle Elemente eines genuinen Bildungsgedankens. Neben dem Hinweis auf die Lern‑ und Lehrkultur der Gemeinden wird speziell auf Jesus als Lehrer verwiesen, zumal als Schöpfer der Gleichnisse, und an die Didaktik des johanneischen Christus. Beim Schlüsseltext der Bergpredigt und bei Paulus samt seiner Schule verfolge man die Entstehung einer Theologie der Bildung. Der entscheidende bildungspolitische Impuls des Neuen Testaments sei hermeneutischer Natur: Das Recht auf Bildung ist „im Menschsein selbst begründet […], biblisch gesagt: in der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen, neutestamentlich gesagt: in der Gotteskindschaft, die aus der Liebe Gottes in Jesus Christus zu jedem Menschenkind erwächst“.5 Soweit die These. Bevor wir einzelne der in Anspruch genommenen Phänomene durchmustern, ist hier summarisch festzustellen: Die heutigen Anwälte eines bildungsfreundlichen Urchristentums arbeiten mit einem sehr grosszügig entworfenen Bildungsverständnis. Was immer in den frühchristlichen Schriften an Lehren und Lernen, an Textproduktion und Textrezeption in Erscheinung tritt, wird unter diesem Label verhandelt. Das ist natürlich möglich. Aber die Kehrseite dieser Sprachregelung besteht darin, dass die Kategorie selber nicht mehr wirklich griffig ist. Wir vergegenwärtigen uns nun die Position, von der sich die Vertreter des bildungsfreundlichen Christentums absetzen.
2. Bildungsfernes Urchristentum: Franz Overbecks Einspruch gegen eine christliche Bildungsreligion Am markantesten ist die genannte Position bei Franz Overbeck, Kollege und Freund von Friedrich Nietzsche, greifbar.6 Der Basler Theologe scheidet in seiner programmatischen Abhandlung „Über die Anfänge der patristischen Literatur“, die auf eine öffentliche Vorlesung im Jahr 1881 zurückgeht, konsequent zwischen dem weltdistanzierten Urchristentum und dem Christentum, das sich im zweiten Jahrhundert zu formieren beginnt.7 Unser Interesse gilt jetzt nicht Söding, Christentum (s. Anm. 4) 51. Allerdings beziehen sich weder Schnelle noch Söding in ihren vorher genannten Publikationen auf Overbeck, sondern – natürlich – auf Friedrich Nietzsche. 7 F. Overbeck, Über die Anfänge der patristischen Literatur (1882), in: H. Cancik / H. Cancik-L indemaier (Hg.), Franz Overbeck. Werke und Nachlass, Schriften bis 1898 und Rezensionen, Stuttgart 2010, 19–101. Zur Überlieferungslage vgl. M. Tetz, Overbeckiana, Teil 2: 5 6
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seiner Theologiekritik, die das Verhältnis von Christentum und Moderne einer schonungslosen Analyse unterzieht,8 sondern seinem formgeschichtlichen und literatursoziologischen Ansatz, der eine scharfe sachliche wie chronologische Grenze aufrichtet zwischen der christlichen „Urliteratur“ und den Gestalten von Weltliteratur, die das Christentum seit den Apologeten und Alexandrinern zu rezipieren und zu produzieren beginnt.9 Seinem eigenen Zeugnis zufolge hat Overbeck in der 1882 publizierten Schrift lediglich „einen entsetzlich simplen Gedanken ausgeführt, dass es nämlich zu einer lebensfähigen christlichen Litteratur nur gekommen ist in den Formen der schon vorhandenen“, nämlich in den Gattungen der griechisch-römischen Literatur.10 Overbecks Scheidungsmodell hat die erst im Entstehen begriffene literaturgeschichtliche Beschreibung des frühen Christentums nachhaltig beeinflusst, nicht so sehr schon bei Harnack selber – zu Overbecks grossem Verdruss –,11 sondern später etwa in Philipp Vielhauers „Geschichte der urchristlichen Literatur“.12 Die Grundthese selber Der wissenschaftliche Nachlass Franz Overbecks (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel 13), Basel 1962, 160–164; daselbst auch eine Notiz zu Overbecks Abhandlung „Über die Anfänge der Kirchengeschichtsschreibung (1892)“: 164–167. 8 Vgl. dazu N. Peter, Im Schatten der Modernität. Franz Overbecks Weg zur „Christlichkeit unserer heutigen Theologie“, Stuttgart 1992, besonders 18–24; ders., Art. Overbeck, Franz Camille, TRE 25 (1995) 563–568. Programmatisch ist vor allem die Schrift „Ueber die Christlichkeit unserer heutigen Theologie (1873)“, abgedruckt in: E. W. Stegemann / N. Peter (Hg.), Franz Overbeck. Werke und Nachlass, Bd. 1: Schriften bis 1873, Stuttgart 1994, 167–256; vgl. die Einleitung 155–165. 9 Dafür ein exemplarisches Zitat: Es „erscheint aber das Neue Testament nur als der vornehmste Rest einer christlichen Urliteratur, welche der mit der Kirche allein am Leben gebliebenen Literatur einst vorausgegangen ist. […] Denn am Kanon der neutestamentlichen Schriften hält Jedermann unter uns den Todtenschein der Literatur, von welcher hier die Rede ist, in der Hand“, Anfänge (s. Anm. 7) 52. Zu Entstehung und Weiterentwicklung des Programms der „Anfänge der patristischen Literatur“ vgl. J.-Ch. Emmelius, Altchristliche Literatur und kritische Historie bei Franz Overbeck, Vier Studien (Peter Lang Edition), Frankfurt 2016, 211–317 („Overbecks Sicht auf die altchristliche Literatur […] ist das Resultat eines schrittweisen Erarbeitungsprozesses“, 211). Zu Overbecks Verständnis der Kanonisierung vgl. F. Bestebreurtje, Kanon als Form. Über die Geschichtsschreibung des Neuen Testaments bei Franz Overbeck (EHS.G 1009), Bern 2005, besonders 179–182. 10 So Overbeck in einem Brief, abgedruckt bei Cancik / Cancik-Lindemaier, Overbeck (s. Anm. 7) 19. 11 Vgl. die Notiz von Overbeck auf der Innenseite des Deckblatts seines Handexemplars, abgedruckt bei Tetz, Nachlass (s. Anm. 7) 161 sowie bei Cancik / Cancik-Lindemaier, Overbeck (s. Anm. 7) 91; die Rezension von Harnack ebd. 100 f. Vgl. ferner Emmelius, Literatur (s. Anm. 9) 231–233; 309–317. 12 Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975, 1–4 („Die form‑ und religionsgeschichtliche Forschung hat Overbecks Kategorie der ‚christlichen Urliteratur‘ – unbewusst und ungewollt – bestätigt“, 4); vgl. 59; 281; 284 f. Vgl. ders., Franz Overbeck und die neutestamentliche Wissenschaft, in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament (TB 31), München 1965, 235–252, hier: 246–249 zur Entdeckung der Formgeschichte („Overbeck gebührt der Ruhm der zeitlichen Priorität. Er hat es lange vor Gunkel ausgesprochen, dass es sich bei der Urliteratur nicht um Literatur im strengen Sinne, d. h. vom Willen des Schriftstellers geformte Literatur handelt […] In diesem Sinne ist die Formgeschichte der Urliteratur ihre ‚Paläontologie‘“,
3. Bildungstheoretische Überlegungen
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ist, aus heutiger Sicht, in vielerlei Hinsicht unhaltbar – sie muss etwa die bis in die byzantinische Zeit ungemindert fortgesetzte Produktion ‚apokrypher‘ christlicher Texte mit einem Gewaltstreich als „Abnormität“ wegwischen,13 und sie vereinfacht die Kanonisierungsprozesse über Gebühr. Vor allem konstruiert sie einen Kontrast zwischen der Urzeit und der Folgezeit, also ein Dekadenzmodell, das eher die Modernitätsdebatten des späten 19. Jahrhunderts widerspiegelt, als dass es die Verhältnisse des ersten und zweiten Jahrhunderts angemessen beschreibt.14 Aber, und das ist der entscheidende Punkt, Overbecks literaturgeschichtliche Beobachtung, wonach sich ab dem zweiten Jahrhundert das Christentum neue Formen von Literarizität erschliesse, enthält eine für unsere Fragestellung entscheidende particula veri. Zugleich ist offenkundig, wie sich im frühen 21. Jahrhundert bestimmte Diskurse zurückbeziehen auf solche, die am Ende des 19. Jahrhunderts geführt wurden. Zu denken ist an die Stichworte Modernität und Christentum, Theologie und Kultur.
3. Bildungstheoretische Überlegungen Es empfiehlt sich, unsere Fragestellung nach dem Verhältnis von Bildung und frühem Christentum mit einer elementaren Sortierung aufzufächern. Die folgenden Zeilen orientieren sich an vier Koordinaten, um die Vielzahl der zur Debatte stehenden Phänomene einzufangen: Kompetenzen; Institutionen; Medien; Projekte. Sobald man sich an dieser Ausdifferenzierung versucht, wird deutlich, dass es vorteilhaft ist, sich vergleichend auf einen Komplex zu beziehen, der historisch und kulturell vorgegeben ist und nicht erst sozusagen freischwebend konstruiert werden muss. Gemeint ist die vielgestaltige Bildungslandschaft der hellenistisch-römischen Mittelmeerwelt, in der sich das frühe Christentum entwickelt hat. Unser modernes Verständnis von Bildung verdankt sich zu guten Teilen dem klassisch-humanistischen Bildungsideal des 18./19. Jahrhunderts, das sich seinerseits in vielfachen Brechungen auf das antike Bildungsverständnis zurückführt.15 Dabei gilt es zu beachten, dass die Paideia spätestens seit Platon 248 f). Zu Overbecks Pionierleistung vgl. M. Tetz, Über Formengeschichte in der Kirchengeschichte, ThZ 17 (1961) 413–431; zur von uns besprochenen Schrift von 1882 vgl. 424–427. Zur „Patristik als Literaturgeschichte“ vgl. ders., Altchristliche Literaturgeschichte – Patrologie, ThR.NF 32 (1967) 1–42, hier: 11–14; mit hartem Urteil über die Rezipienten versehen („Es liegt an der ungeschichtlichen Konzeption Harnacks und seiner Schüler, dass sie dem von Overbeck aufgeworfenen Problem einer Formengeschichte nicht wirklich standhalten konnten“, 25). Zur Rezeption Overbecks bei Vielhauer und Tetz vgl. Emmelius, Literatur (s. Anm. 9) 243–247. 13 Overbeck, Anfänge (s. Anm. 7) 48 Anm. 4. 14 Zur aktuellen Diskussion vgl. die Überlegungen von Ch. Markschies, Haupteinleitung, in: AcA 1.1, 1–180, hier: 107–109. 15 Die Gebrüder Grimm notieren in ihrem Wörterbuch zum Lemma „Bildung“ schlicht cultus animi, humanitas (DWb 2, 23). Vgl. zum Ganzen die Darstellung von E. Lichtenstein, Art. Bildung, HWPh 1 (1971) 921–937 sowie zu den Korrelationen (Autonomie, Werte, gutes Leben
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wie eine Ellipse zwei Brennpunkte in sich beschliesst: einerseits den Bereich der Erziehung im engeren Sinn mit dem Erwerb von Wissen, Können und Haltung, andrerseits die Formung des Erwachsenen, die den Gebildeten als einen Menschen ausweist, der Probleme als solche zu erkennen und Behauptungen adäquat zu beurteilen vermag.16 Mit dieser methodischen Entscheidung, sich an einem historisch gewordenen Bildungssystem zu orientieren, werden natürlich die Ergebnisse ein Stück weit vorweg kanalisiert. Wir werden deshalb im Einzelnen zu prüfen haben, ob sich etwa im Fall des Frühchristentums attraktive Alternativen anbieten. Wenn wir uns grundsätzlich am antiken Ideal der Paideia orientieren, ist es selbstverständlich, dass wir hier mit Komplexität, mit Differenzen und Kontroversen, mit historischen Verschiebungen und anderem zu rechnen haben. Es kann sich also nur um idealtypische Annäherungen unter einer heuristischen Zielrichtung handeln. Bei Kompetenzen, einem in der heutigen Pädagogik reichlich strapazierten Stichwort, wird vorausgesetzt, dass Bildung auf die Entwicklung von Fertigkeiten setzt, die vor allem im sprachlichen Bereich anfallen, aber, wie das Septett der artes liberales zeigt, auch solche anderer Art umschliesst. Bei Institutionen ist namentlich an schulische Einrichtungen auf allen Ebenen zu denken. In unserem Fall stellen sich hier Fragen, die im Bereich der Formgeschichte gestellt werden, etwa nach dem Sitz im Leben. Medien sind anzusprechen als Mittler in Lehr‑ und Lernprozessen,17 sie leisten Informationsvermittlung und sind zugleich Träger von Interaktionsprozessen. Konkret kommen für unseren Bereich in Betracht Wort (also mündliche Tradition u.ä.), Schrift und Bild. Schliesslich ist von Projekten auszugehen: Bildung dient der Persönlichkeitsformung, sie ermöglicht die Übernahme von gesellschaftlichen und politischen Rollen. Es gibt aber auch philosophische Projekte. Hier ist namentlich zu denken an die Selbstbildung,18 d. h. das methodisch vorgehende Bilden des Selbst im Hinblick auf das u. a.) K. Meyer, Bildung (Grundthemen Philosophie), Berlin 2011. Eine zentrale Weichenstellung markiert Meister Eckharts Interpretation von 2 Kor 3,18 (in eandem imaginem transformamur), verbunden mit Gen 1,26. Vgl. dazu G. Picht, Das Wesen des Ideals, in: ders., Wahrheit – Vernunft – Verantwortung. Philosophische Studien, Stuttgart 1969, 203–228. 16 Formuliert in Anlehnung an: O. Gigon / L. Zimmermann, Platon. Lexikon der Namen und Begriffe (BAW.GR), Zürich 1975, 81. Vgl. ferner R. Kamtekar, Plato on Education and Art, in: G. Fine (Hg.), The Oxford Handbook of Plato, Oxford 2008, 336–359; D. Fonfara, Pädagogik, in: Ch. Horn / J. Müller / J. Söder (Hg.), Platon-Handbuch. Leben, Werk, Wirkung, Stuttgart 2009, 240–245. 17 Zu Medien in der antiken Bildungswelt vgl. B. Dreyer, Medien für Erziehung, Bildung und Ausbildung in der Antike, in: J. Christes / R. Klein / Ch. Lüth (Hg.), Handbuch der Bildung und Erziehung in der Antike, Darmstadt 2006, 223–250, hier besonders 230 f zu Text‑ bzw. Schriftmedien, Wort als mündliches Medium und Bildmedien. 18 Vgl. zum Verständnis der Selbstbildung v. a. P. Gemeinhardt, Bildung in der Vormoderne – zwischen Norm und Praxis, in: ders. (Hg.), Was ist Bildung in der Vormoderne? (SERAPHIM 4), Tübingen 2019, 3–38, hier: 12–16; 21 f (mit dem Hinweis darauf, dass zwar nicht alles, was als Paideia firmiert, Selbstbildung darstellt, dass aber Erziehung und Sozialisation offen sind für Projekte der Selbstbildung). Vgl. ders., Wege und Umwege zum Selbst. Bildung
4. Ein kulturtheoretischer Blick auf die Bildungslandschaften
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Göttliche19 als ein Prozess, der das ganze Leben begleitet und in Gestalt einer ars moriendi sogar über seine Grenzen hinausführt. Auf dieser Linie, aber weit über die Philosophie hinaus, hat Werner Jaeger in seinem epochalen Werk das Programm der griechischen Paideia als „die Formung eines höheren Menschen“ gekennzeichnet.20
4. Ein kulturtheoretischer Blick auf die Bildungslandschaften An dieser Stelle erweist es sich als sinnvoll, die Sortierung der Phänomene zu ergänzen durch eine elementare kulturtheoretische Perspektive.21 Man kann versuchen, das frühe Christentum als Subkultur, oder neutraler: als Teilkultur unter dem Dach der hellenistisch-römischen Globalkultur zu beschreiben, die ihre eigenen Normen und Identitätskonstruktionen pflegt. Am deutlichsten sind Subkulturen in der reichsrömischen Gesellschaft unter ethnischem Vorzeichen zu fassen – darunter fällt auch das Judentum in seinen verschiedenartigen Gestalten –, aber auch religiöse Gemeinschaften wie die Christen lassen sich darunter subsumieren. Es ist kein Zufall, dass sich diese zeitweilig als „drittes Geschlecht“ neben Griechen und Juden, also ethnomorph, präsentiert haben. Man teilt wesentliche Basiswerte mit der Mehrheitskultur, folgt aber an bestimmten Punkten abweichenden und für entscheidend gehaltenen Normen, und dies eher implizit als explizit. Unter bestimmten Umständen kann eine Subkultur punktuell zu einer Gegenkultur mutieren.22 Das ist dann der Fall, wenn eine ganze und Religion im frühen Christentum, in: J. Rüpke / G. Woolf (Hg.), Religious Dimensions of the Self in the Second Century CE (STAC 76), Tübingen 2013, 259–277. 19 Vgl. dazu grundlegend die Abhandlung von G. Picht, Der Sinn der Unterscheidung von Theorie und Praxis in der griechischen Philosophie, in: ders., Wahrheit (s. Anm. 15) 108–140, mit dem Verweis auf Platons Politeia (6: 500b–501c), wo „zum erstenmal in der Geschichte des Denkens die Metapher des Bildens für die Formung menschlicher Haltung entfaltet wird“ (118). Für Picht läuft eine Untersuchung des griechischen Bildungsbegriffs hinaus auf „eine Untersuchung der Unterscheidung von Theorie und Praxis“ (109). 20 W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Berlin 1973, Bd. 1, 5; vgl. 25; 133; Bd. 2, 139; 268 u.ö. 21 Zur im Folgenden skizzierten Perspektive vgl. meinen Aufsatz: Barbarenweisheit? Zum Stellenwert der Philosophie in der frühchristlichen Theologie, in: Ch. Riedweg (Hg.), PHILOSOPHIA in der Konkurrenz von Schulen, Wissenschaften und Religionen. Zur Pluralisierung des Philosophiebegriffs in Kaiserzeit und Spätantike (Philosophie der Antike 34), Stuttgart 2017, 147–160, Abdruck in diesem Band: 343–355. 22 Für die Konzeptualisierung von countercultures war v. a. die Jugendbewegung der 1960er und 1970er Jahre zündend; vgl. Th. Roszak, Gegenkultur. Gedanken über die technokratische Gesellschaft und die Opposition der Jugend, dt. Übs. Düsseldorf 1971, mit dem Verweis auf die Urchristen und auf 1 Kor 1,19.22.27 (76 f); J. M. Yinger, Countercultures. The Promise and the Peril of a World Turned Upside Down, New York 1982, hier besonders 6 f („countercultural movements are attempts drastically to reorganize the normative bases of order, the culture“) und 42–44 zur Sprachregelung von „alternative culture“, „subculture“ und „counterculture“; F. Musgrove, Ecstasy and Holiness. Counter Culture and the Open Society, London 1974 = Aldershot
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Reihe von prinzipiellen Werten und Normen der Mehrheitsgesellschaft in Frage gestellt wird, oder anders: wenn man sich explizit und programmatisch auf solche Standards bezieht und ihnen eigene Normen entgegensetzt. Und auch jetzt gilt wieder: auf einem überaus breiten Fundament von weiterhin und weithin geteilten Standards und Werten. Das Aufeinandertreffen von Kulturen kann also zu sehr verschiedenartigen Resultaten führen; das Spektrum reicht von Assimilation und Absorption über Integration und Fusion bis hin zu Separation und Marginalisierung.23 Das ist jetzt sehr schematisch gezeichnet, könnte aber gerade beim Bildungsthema helfen, einige Akzente zu setzen. Ohne politische Sensibilitäten reizen zu wollen, darf man im Blick auf die uns interessierende antike Epoche bei der Mehrheitskultur durchaus von einer „Leitkultur“ sprechen (die selber, wie schon notiert, keineswegs uniform gezeichnet werden darf).24. Es ist hinlänglich bekannt, wie ungemein stark die Gravitationskraft der hellenistisch-römischen Bildung die Menschen der damaligen globalisierten Mittelmeerwelt, insbesondere ihre urbanen Eliten, bestimmt hat. Wir können im Frühchristentum des ersten und zweiten Jahrhunderts eine ganze Palette von Bildungsphänomenen beobachten, von denen sich einige gelegentlich und indirekt auf das Bildungssystem der Mehrheitskultur beziehen – wir kommen unten darauf zurück. Im zweiten und dritten Jahrhundert zeichnet sich aber im Zusammenhang mit sozialen Transformationen eine Veränderung ab (wobei sich der hier zu beobachtende Aufbruch nicht global, sondern punktuell vollzieht): Es treten christliche Intellektuelle auf,25 die Schulen gründen und Diskurse initiieren, die die christliche Religion explizit als Alternative zur herrschenden Kultur mitsamt ihrem Bildungssystem präsentieren. Um einem naheliegenden 1974, besonders 19–39 („The counter culture is a revolt of the unoppressed. lt is a response not to constraint, but to openness“); K. Goffman / D. Joy, Counterculture through the Ages. From Abraham to Acid House, New York 2004, besonders 25–44 (Abraham und Prometheus als „mythic counterculture rebels”). Kritisch zum Konzeptionsbündel M. Sexl, Gegen Kultur – eine Polemik in: T. Heimerdinger / E.-M. Hochhauser / E. Kistler (Hg.), ‚Gegenkultur‘, Würzburg 2013, 15–50. – In Exegese und Theologie hat v. a. das Modell der Kirche als „Kontrastgesellschaft“ Resonanz gefunden: G. Lohfink, Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? Zur gesellschaftlichen Dimension des christlichen Glaubens, Freiburg 1982; aktualisierte Neuausgabe: Wie hat Jesus Gemeinde gewollt? Kirche im Kontrast, Stuttgart 2015, hier besonders 172 ff; 219 ff. 23 Zur Beschreibung antiker Kulturkonflikte vgl. C. Dougherty / L. Kurke, Introduction, in: dies. (Hg.), The Cultures within Ancient Greek Culture. Contact, Conflict, Collaboration, Cambridge 2003, besonders 1–5; F. G. Naerebout / H. W. Singor, Antiquity. Greeks and Romans in Context, engl. Übs. New York 2014, 270–281; 311 f. 24 Es darf zumal im Blick auf den Göttinger Sonderforschungsbereich 1136 „Bildung und Religion“ daran erinnert werden, dass das Reizwort „Leitkultur“ vom Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi, selber aus Syrien eingewandert, 1998 erstmals öffentlich lanciert worden ist; vgl. Th. Thiemeyer, Leitkultur – Von den Tücken eines Begriffs, Merkur vom 31. 08. 2017. 25 Vgl. H. Leppin, Intellektuelle Autorität unter frühen Christen. Auch zur Frage der Hellenisierung des Christentums, in: Gemeinhart, Bildung (s. Anm. 25) 305–329; speziell für Alexandria vgl. A. Fürst, Christentum als Intellektuellen-Religion. Die Anfänge des Christentums in Alexandria (SBS 213), Stuttgart 2007.
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Missverständnis vorzubeugen: „Alternativ“ bezieht sich hier lediglich auf einige für vital erachtete Punkte. Exemplarisch ist dafür hinzuweisen auf zwei Programme: Man konnte den (jüdischen und) christlichen Monotheismus als konsequente Philosophie proklamieren. Oder man hat das Christentum als Bildung für alle, nicht nur für Eliten, präsentiert. Markant begegnet die Kontrastierung bei Tertullian oder, noch ätzender, beim Syrer Tatian, der mit seinem Lob der barbarischen Weisheit sogar ethnische Grenzziehungen vornimmt. Andere Theologen folgen eher dem Muster der Integration. Aber auch hier ist das Moment der Grenzziehung im Spiel: Wenn etwa Justin, selber Träger des Philosophenmantels und doch zum Märtyrer geworden, das Beste der paganen Tradition für die Christen beansprucht, steht die Integration im Modus der Überbietung.26 Später wird dies zu Stufenmodellen führen. Aber trotz der genannten partiellen gegenkulturellen Positionsbezüge zeigen diese neuen christlichen Literaturen umgekehrt gerade die Gravitationskraft der überkommenen Paideia. Eben deshalb unterliegen sie für Overbeck einer Hermeneutik des Verdachts. Die altchristlichen Theologen setzen, so gut sie es vermögen, ihre sprachlichen, rhetorischen und literarischen Kompetenzen in Szene. Unbeschadet ihrer Kontrapositionierung sind Subkulturen eben doch Teil der Globalkultur. So haben die antiken Christen gar nicht erst ein eigenes Schulsystem etabliert.27 Auch in der Weiterentwicklung der altchristlichen Literatur bleiben diese Charakteristika erhalten: Auf der einen Seite begegnet das von der Konkurrenz beflügelte „Lagerdenken“,28 auf der anderen Seite sorgen Stufenmodelle, die etwa zwei Bildungssysteme hierarchisch anordnen und im selben Ziel konvergieren lassen, für lebensweltlich praktizierbare Vermittlung.29
26 Zu Justins „search for Christian παιδεία“ vgl. P. Gemeinhardt, In Search of Christian Paideia. Education and Conversion in Early Christian Biography, ZAC 16 (2012) 88–98, hier: 90–92; ders. Wege (s. Anm. 18) 261–264; sodann S. Parvis / P. Foster (Hg.), Justin Martyr and His Worlds, Minneapolis 2007. Zu den Fragen rund um Justins Schule vgl. unten Anm. 38. 27 Vgl. Ch. Markschies, Lehrer, Schüler, Schule. Zur Bedeutung einer Institution für das antike Christentum, in: ders., Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen 2007, 47–66; P. Gemeinhardt, Non vitae sed scholae? Pagane und christliche Ansichten über Schule, Lehrer und das Leben, in: ders. / S. Günther (Hg.), Von Rom nach Bagdad. Bildung und Religion von der römischen Kaiserzeit bis zum klassischen Islam, Tübingen 2013, 1–27, hier: 18–24. 28 Vgl. dazu J. Stenger, Transformationen des Bildungsbegriffs im griechischen und lateinischen Christentum der Spätantike, in: Gemeinhart, Bildung (s. Anm. 25) 331–350, besonders 333 f. 29 Vgl. zu den Optionen, die sich für christliche Gebildete ergaben, P. Gemeinhardt, Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung (STAC 41), Tübingen 2007, 511 u.ö. („Die drei idealtypischen scholae christianae repräsentieren […] die Kritik paganer Bildung durch christliche Träger dieser Bildung selbst, die Integration christlicher Normen und Werte in die antike Kultur und schliesslich die Rezeption moderater literarischer Kompetenzen für christliche Bildungsinteressen. Religionssoziologisch gesehen erweist sich das Christentum damit in spezifischer Weise als Teil seiner Welt“).
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Im nächsten und letzten Teil kehren wir zurück zur urchristlichen Literatur, deren Trägergruppen sich selber noch nicht so explizit und programmatisch als Gegenüber zur vorfindlichen Leitkultur gedeutet haben.
5. Urchristliche Bildungsphänomene Im Folgenden orientiere ich mich an den vier Koordinaten, die oben vorgestellt wurden. Auch da sind nur Umrisse möglich, bei denen im Einzelnen wieder differenziert werden müsste. Ganz ausgeklammert werden Aspekte der Erziehung im engeren Sinn, wie sie etwa in 2 Tim 3,15 fassbar werden.30 5.1 Kompetenzen Die Rede ist hier sowohl vom Herstellen von Kompetenzen wie vom Mobilisieren von Kompetenzen bzw. vom Appellieren an Kompetenzen. Die aufzulistenden Bildungsphänomene halten sich in Grenzen. a. Zentral ist die Fähigkeit zur Schriftdeutung, in gottesdienstlichem wie katechetischem Setting, die in den Gemeinden eingeübt wird. Die Orientierung an Textmedien macht die Besonderheit der Christen in der Landschaft religiöser Vereine aus, natürlich abgesehen von den ein Stück weit auch als collegia organisierten Synagogen. b. Zurückhaltung empfiehlt sich bei der Einschätzung der Kompetenzen zu ethischer Urteilsbildung und ähnlichem in den paulinischen Gemeinden. Es ist zwar richtig, dass es bei Paulus Ansätze dazu gibt, die Gläubigen zu ethischer Autonomie, genauer: zu an Christus orientierter Autonomie bzw. zur Christonomie, zu erziehen (vgl. Phil 4,8, Röm 12,2 und 1 Thess 5,21).31 Aber die Asymmetrie sowohl zwischen dem Apostel und seinen Gemeinden wie auch zwischen diesem und seinen Mitarbeitern dominiert doch das Gesamtbild. c. Auch hinsichtlich des Mobilisierens von allgemeinem Bildungsgut wird man die Texte besser nicht über Gebühr belasten. Paulus erweist sich hier m. E.
30 Zu 2 Tim 3,15 („du kennst von Kind auf [ἀπὸ βρέφους] die heiligen Schriften“), wo der Sohn einer jüdischen Mutter adressiert wird, vgl. R. Deines, Bildung im hellenistischen Judentum, in: Gemeinhart, Bildung (s. Anm. 25) 245–267, hier: 257 Anm. 29, sowie unten bei Anm. 46. 31 Vgl. die Fallstudie von M. Konradt, Die Christonomie der Freiheit. Zu Paulus’ Entfaltung seines ethischen Ansatzes in Gal 5,13–6,10, EChr 1 (2010) 60–81. Im Blick auf den „Pädagogen“ in Gal 3,22 versucht M. Eisele herauszustellen, wie das Gesetz zur Einsicht in das neue Sein der Christen verhilft, „so wie ein Erwachsener im Gespräch mit seinem geschätzten Pädagogen“: Vom „Zuchtmeister Gesetz“ zur „erziehenden Gnade“ (Gal 3,24 f.; Tit 2,11 f.). Religiöse Erziehung in der Paulustradition, BZ 56 (2012) 65–84, hier: 67–76 (Zitat: 76).
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weniger ergiebig32 als Lukas,33 der etwa auf geflügelte Worte anspielt, die man mit Euripides und Arat assoziiert (Apg 26,14; 17,28) und die auf einen Wiederkennungseffekt zielen. Der auctor ad Theophilum adressiert ein Publikum, das sich sowohl durch ein gewisses Mass an Wohlstand wie an Bildung auszeichnet.34 Exemplarisch steht dafür die Zeichnung der Urgemeinde am Anfang der Apostelgeschichte mit ihrer Gütergemeinschaft, die bei der antiken Leserschaft eine Fülle von Bildungsreminiszenzen abruft. Dazu gesellt sich selbstverständlich die Areopagrede mit ihren sokratischen Konnotationen. 5.2 Institutionen a. Offenkundig haben Lehren und Lernen in den christlichen Gemeinden einen erheblichen Stellenwert. Diese verdanken ihren Charakter als scholastic communities35 zunächst wesentlich ihrem Ursprung aus dem Judentum.36 Neben Apos32 Vgl. die Hinweise bei T. Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134), Berlin 2006, besonders 457–486. Sehr weit geht D. L. White, Teacher of the Nations. Ancient Educational Traditions and Paul’s Argument in 1 Corinthians 1–4 (BZNW 227), Berlin 2017, mit der These eines „scholastic community model which Paul establishes in 1 Cor 1–4“ (184). White zufolge ist es evident, „that Paul drew liberally from the educational traditions dominant in the ancient Mediterranean world, modifying them for literary, rhetorical, and evangelistic ends“ (188). Die Perspektive ist so interessant wie überzogen (etwa 184: „Paul’s ethical instructions tend to read much like Ben Sira’s classroom notes“); zu 1 Kor 1–4 vgl. unten bei Anm. 66. 33 Vgl. dazu J. R. Backes, Die Nazoräerschule. Bildung und Identität bei Lukas, in: ders. / E. Brünenberg-Busswolder / Ph. Van den Heede (Hg.), Orientierung an der Schrift. Kirche, Ethik und Bildung im Diskurs, FS Th. Söding (BThSt 170), Göttingen 2017, 173–188. Backes arbeitet wie Söding (vgl. Anm. 4) und Schnelle (vgl. Anm. 3) mit einem sehr weit gefassten Bildungsbegriff. Vgl. sodann die Explorationen von S. A. Adams, Luke and Progymnasmata. Rhetorical Handbooks, Rhetorical Sophistication and Genre Selection, in: M. R. Hauge / A. W. Pitts (Hg.), Ancient Education and Early Christianity, London 2016, 137–154; D. R. MacDonald, Luke’s Antetextuality in Light of Ancient Rhetorical Education, aaO. 155–163. 34 Das gesamte Feld wird bearbeitet von M. Becker, Lukas und Dion von Prusa. Das lukanische Doppelwerk im Kontext paganer Bildungsdiskurse (Studies in Cultural Contexts of the Bible 3), Paderborn 2020. Vgl. dazu die Miniatur: ders., Der Vergleich des Lebens mit einem Gastmahl als Verhaltensanweisung. Lk 14,7–11 und 22,26–27 im Lichte von Texten Epiktets und Dions von Prusa, ZNW 107 (2016) 206–231. 35 Der Terminus stammt von E. A. Judge, The Early Christians as a Scholastic Community, in: ders., The First Christians in the Roman World. Augustan and New Testament Essays (WUNT 229), Tübingen 2008, 526–552. In zwei weiteren Aufsätzen macht Judge aufmerksam auf das Spannungsfeld zwischen überkommener Paideia in den hellenistischen Städten und den Erziehungskonzeptionen in den christlichen Gemeinden, erkennbar etwa bei Paulus („The value-system upon which Greek education had been built up is deliberately overthrown“): ders., The Reaction against Classical Education in the New Testament, aaO. 709–716 (Zitat: 716); ders., The Conflict of Educational Aims in the New Testament, aaO. 693–708. Vgl. ferner C. S. Smith, Pauline Communities as ‚Scholastic Communities‘. A Study of the Vocabulary of ‚Teaching‘ in 1 Corinthians, 1 and 2 Timothy and Titus (WUNT II/335), Tübingen 2012, 3–14; 377–391. 36 Vgl. B. Ego / Ch. Noack, Lernen und Lehren als Thema alt‑ und neutestamentlicher
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teln und Propheten spielen Lehrer zunehmend eine wichtige Rolle (vgl. 1 Kor 12,28), sowohl wandernde wie lokale. Die Abgrenzung von Zuständigkeiten fällt nicht immer leicht. Zu beobachten sind seit dem späten ersten Jahrhundert vermehrt Rivalitäten zwischen Amtsträgern, die auch Lehrfunktionen ausüben, und Lehrern als eigenem Stand. b. Wie zutreffend es ist, von eigentlichen christlichen Schulen schon im ersten Jahrhundert zu sprechen, ist Gegenstand von engagierten Debatten.37 Es gibt Hinweise auf Schulen im Bereich der paulinischen Gemeinden – etwa in Ephesus – wie auf entsprechende Erscheinungen im johanneischen Bereich. Das Ausmass an institutioneller Gestalt ist allerdings nicht deutlich zu rekonstruieren. Erst im zweiten Jahrhundert verdichten sich die Anzeichen dafür, dass sich christliche Schulen als Zirkel von Lehrern und Schülern organisieren, die sich eng am Modell philosophischer Schulen orientieren.38 Sie lassen sich mehr oder weniger in die etablierte hellenistisch-römische Bildungslandschaft einbetten. c. Besonderer Aufmerksamkeit bedarf das Verhältnis zu jüdischen Bildungsinstitutionen. Etwas plakativ kann man sagen: Wo sich neutestamentliche Texte mehr oder weniger explizit auf ein Bildungssystem beziehen und sich davon auch absetzen, handelt es sich meist um ein solches jüdischer Provenienz – in unserer Terminologie also selber schon gegenüber dem Institutionenkomplex einer Teilkultur. Prägnant ist hier die Bergpredigt, der wohl wichtigste Bildungstext im Neuen Testament. Auf ihn nimmt der Missionsbefehl bzw. „Bildungsauftrag“ am Schluss des Matthäusevangeliums (28,19 f) denn auch Bezug. Er bezieht Position gegen die „Schriftgelehrten und Pharisäer“ (5,20; vgl. 23,2 ff). Auch sonst sind die Evangelien primär in diesem Kontext zu verorten, wie etwa das Porträt von Jesus als Lehrer39 und seiner Anhänger als Schüler (μαθηταί) oder die Kontrastierung von Weisen bzw. Klugen und Einfältigen (Mt 11,25 par.) zeigen. Die Frage, ob man das antike Judentum als Bildungsreligion schlechthin bezeichnen will, stellen wir vorderhand zurück. Im positiven Fall ist es wichtig, sein Verhältnis Wissenschaft, ZNT 21.11 (2008) 3–16 („die Jesus‑ und Osterbewegung war auch eine Lehr‑ und Lerngemeinschaft, in der Lehren mit neuen ‚inkongruenten Perspektiven‘ und das Lernen einer riskanten ‚devianten‘ Lebensführung in einem wechselseitigen Anregungsprozess standen.“, 11). 37 Vgl. die Übersicht bei Schnelle, Christentum (s. Anm. 3) 131–135. Besonders überzeugend fällt die Sortierung und Beurteilung durch Th. Schmeller aus: Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit (HBS 30), Freiburg 2001. 38 Vgl. die Diskussion zur Schule Justins: J. Ulrich, What Do we Know about Justin’s „School“ in Rome?, ZAC 16 (2012) 62–74 („zeigt, wie sehr Justin bemüht ist, sich in seiner Lehre auf Augenhöhe mit konkurrierenden Schulen zu bewegen“); T. Georges, Justin’s School in Rome. Reflections on Early Christian „Schools“, ZAC 16 (2012) 75–87. Zur Frage des Niveaus vgl. die Einschätzung von Markschies, Lehrer (s. Anm. 27) 114–116 (Justin als „Beispiel eines philosophischen Unterrichts, der wahrscheinlich eher dem der Salon‑ oder Popularphilosophen entspricht“, 114); vgl. ders., Theologie (s. Anm. 27) 88–91. 39 Vgl. dazu V. Tropper, Jesus Didáskalos. Studien zu Jesus als Lehrer bei den Synoptikern und im Rahmen der antiken Kultur‑ und Sozialgeschichte, Frankfurt 2012.
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zum hellenistisch-römischen Bildungssystem angemessen zu bestimmen.40 Wir haben es dann wieder mit dem komplexen Verhältnis zwischen Institutionen einer Teilkultur und denjenigen der Globalkultur zu tun, wo sich sowohl Differenzen wie Konvergenzen ausmachen lassen. Als Brückenbauer fungieren zumal Josephus und Philon, die beide das Judentum mit seiner an der Tora orientierten Lebensform als Bildungsinstitution deuten.41 Die griechischsprachige jüdische Literatur zeigt, wie produktiv man die hellenistischen Bildungswerkzeuge rezipiert hat,42 beispielsweise in der Sapientia Salomonis oder im vierten Makkabäerbuch.43 5.3 Medien Erneut ist hier der ganze Komplex der Schrift und der autoritativen Texte zu notieren. Sein Stellenwert erinnert am meisten an die Bedeutung, die die klassisch gewordene Literatur im hellenistisch-römischen Bildungskanon beansprucht: Texte, die ganz wesentlich daran beteiligt sind, die Identität ihrer Leser zu gestalten. Bücher formen ihre Leserschaft, indem sie ihnen in ihren Textlandschaften Raum gewähren. Ich frage im Folgenden danach, wie es mit den für die Christen relevanten Schriften im Blick auf die Standards der hellenistisch-römischen Bildung bestellt ist. Vgl. dazu die folgenden beiden Sammelbände: J. M. Zurawski / G. Boccaccini (Hg.), Second Temple Jewish Paideia in Context (BZNW 228), Berlin 2017; die Spannweite der Bildungskonzeptionen umreisst hier J. M. Zurawski, Jewish Education and Identity. Towards an Understanding of Second Temple Paideia, aaO. 267–278. Sodann G. J. Brooke / R. Smithuis (Hg.), Jewish Education from Antiquity to the Middle Ages (Ancient Judaism and Early Christianity / AGJU 100), Leiden 2017. Vgl. ferner unten bei Anm. 63 und 64. 41 Bei Josephus vgl. besonders die Ausführung über die zwei Arten der Erziehung, Ap. 2,171–178 (ἁπάσης παιδείας τρόποι); dazu J. M. G. Barclay, Flavius Josephus. Translation and Commentary, Bd. 10: Against Apion, Leiden 2007, 267; Deines, Bildung (s. Anm. 30) 260 f; Gemeinhardt, Bildung in der Vormoderne (s. Anm. 18) 3–5; zur Rezeption bei Euseb vgl. M. Hardwick, Contra Apionem and Christian Apologetics, in: L. H. Feldman / J. R. Levison (Hg.), Josephus’ Contra Apionem. Studies in Its Character and Context with a Latin Concordance to the Portion Missing in Greek (AGJU 34), Leiden 1996, 369–402, hier: 388 („Moses’ skill as a lawgiver was matched by his sagacity in combining moral principles with education in living out the precepts of the Law“). – Zu Philon vgl. Deines, Bildung (s. Anm. 30) 258–260 sowie G. Sterling, The School of Moses in Alexandria. An Attempt to Reconstruct the School of Philo, in: Zurawski / Boccaccini, Paideia (s. Anm. 40) 141–166, hier namentlich im Vergleich mit dem neuplatonischen Schulbetrieb in Athen. 42 Vgl. A. Klostergaard Petersen, Dissolving the Philosophy-Religion. Dichotomy in the Context of Jewish Paideia. Wisdom of Solomon, 4 Maccabees, and Philo, in: Zurawski / Boccaccini, Paideia (s. Anm. 40) 185–204. 43 Vgl. zu 4 Makk besonders D. A. deSilva, The Author of 4 Maccabees and Greek Paideia. Facets of the Formation of a Hellenistic Jewish Rhetor, in: Zurawski / Boccaccini, Paideia (s. Anm. 40) 205–238; T. Rajak, Paideia in the Fourth Book of Maccabees, in: Brooke / Smithuis, Education (s. Anm. 40) 63–84, hier mit besonderem Augenmerk auf dem Einfluss der zweiten Sophistik (71–75). 40
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a. In der Einschätzung des Alten Testaments kumulieren sich die kulturellen Differenzen zwischen Christen und Nichtchristen. Die antichristliche Polemik trifft auch die Bibel der Juden. Selbst dort, wo diese gegenüber den Christen aufgewertet werden, wie bei Julian, reicht die mosaische Genesis längst nicht an Platons Timaios heran.44 Demgegenüber nehmen sich vereinzelte positive Wahrnehmungen von externen Beobachtern, etwa im Blick auf die Rhetorik des „Erhabenen“ im ersten Kapitel der Genesis,45 marginal aus. b. Wichtiger ist für unsere Fragestellung die entstehende christliche Literatur selber, die ihre Autorität durch gottesdienstliche und katechetische Verwendung gewinnt. Wir fragen danach, wie resonanzfähig sich diese Literatur im hellenistisch-römischen Bildungsraum ausnimmt. Dafür belasse ich es hier bei zwei ganz generellen Feststellungen. Erstens ist Overbecks scharfe Scheidung von Urliteratur und Bildungsliteratur heute überholt. Die im Neuen Testament vertretenen Gattungen – Evangelium, Apostelgeschichte, Brief, Apokalypse – lassen sich lesen als Variationen bestehender Textsorten der hellenistischen Welt, die ihrerseits die jüdische einschliesst. Die frühen Christen vermitteln ihre Botschaft ganz selbstverständlich im Medium vorgegebener Gattungen. Zweitens, und hier dürfte Overbeck richtig liegen, steht kein eigentliches Bildungsprogramm hinter den Überresten der urchristlichen Literatur. Diese Feststellung gilt jedenfalls dann, wenn man sich, wie oben vorgeschlagen, am Bildungsverständnis der hellenistisch-römischen Leitkultur orientiert. Immerhin beginnen sich im Corpus der Pastoralbriefe die Umrisse eines christlichen Bildungsprogramms abzuzeichnen, das über die Erziehung im engeren Sinn, also die Formung von Charakter und Verhalten durch Zucht und Übung, hinaus die Glaubenden zu einem Leben in Frömmigkeit formen will (Tit 2,11–14; 2 Tim 3,14–17 sowie 2,23–25).46 Nicht zufällig begegnen hier auch die deutlichsten Belege für eine παιδεία, deren Semantik nicht nur von der „Zucht“ bestimmt ist.47
44 In Contra Galilaeos rückt Julian einerseits Heiden und Juden zusammen gegen die Christen, die von beiden Traditionen nur das Schlechteste rezipieren (Galil. 1 frg. 3 M.; bei Kyrill, Iuln. 1,2:9 [GCS.NF 20, 97]), wertet aber andrerseits Mose ab gegenüber Platon (1 frg. 6; bei Kyrill, Iuln. 1,2:18 [GCS.NF 20, 110]). 45 Zur Würdigung des Anfangs der Genesis durch Ps.-Longinos, subl. 9,9 vgl. Cook, Interpretation of the OT (s. Anm. 2) 32–34. Einen Brückenschlag zwischen Homer und Gen 1 bzw. Ex 14/15 beobachtet M. D. Usher, Theomachy, Creation, and the Poetics of Quotation in Longinus Chapter 9, CP 102 (2007) 292–303, hier: 298–301 („The creation story in Genesis […] is not only a poetic moment of cosmogony that appealed to Longinus’ sense of the sublime, it is also […] a cousin of the theomachies he quotes (and notably conflates) from Homer“, 300). 46 Vgl. dazu Eisele, Zuchtmeister (s. Anm. 31) 77–83; Söding, Christentum (s. Anm. 4) 191– 199 („Tit 2,11–14 ist ein theologischer Schlüsseltext, der verstehen lässt, warum und in welchem Sinn das Christentum eine Bildungsreligion ist. Die wenigen Verse enthalten das ganze neutestamentliche Evangelium“, 195). Vgl. Smith, Communities (s. Anm. 35) 81–84; 392. 47 So 2 Tim 3,16; Tit 2,12; zu vergleichen sind ausserdem Apg 22,3 und Röm 2,20.
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In ein ähnliches Spannungsfeld führt uns die Beurteilung des sprachlichen Ausdrucks, des Stils.48 Die Gestalten des frühchristlichen Griechisch lassen sich einzeichnen in ein Spektrum, das von der Volksliteratursprache bis zur literarischen Koinē reicht. Den Ansprüchen, die die Bildungstradition mit Referenz auf ihre zu Klassikern erklärten Autoren erhebt, entsprechen sie nicht. Dies gilt zumal dann, wenn man die Normierung von Sprache und Stil, die sich mit der zweiten Sophistik intensiviert, bereits in das erste Jahrhundert verlegt.49 Umgekehrt ist zu konstatieren, dass weder die urchristlichen Autoren noch ihre Leserschaften die Erwartung hegten, dass ihre Gebrauchsliteratur den etablierten oder sich etablierenden Regeln für die Bildungsliteratur zu genügen hatte. Eine ganz andere Frage ist die nach der literarischen Qualität frühchristlicher Texte, die sich auch unabhängig von der Stilkritik der etablierten Literaten beurteilen lässt. Zugespitzt formuliert: Wenn auch nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der redaktionsgeschichtlichen, narratologischen und rhetorischen Forschungsarbeiten der neutestamentlichen Wissenschaft innerhalb der letzten fünfzig Jahre richtig ist, haben wir es mit raffiniert gestalteter Literatur zu tun. Auf Autorenseite können wir etwa bei Lukas, bei Paulus und zumal beim Verfasser des Hebräerbriefs mit literarischen und rhetorischen Kompetenzen rechnen, die eine Schulbildung wenigstens mittleren Niveaus voraussetzen.50 Der Briefwechsel von Paulus mit den Korinthern zeigt allerdings, dass es zwischen dem literarischen Medium und dem persönlichen, mündlichen Auftritt nochmals erhebliche Differenzen geben konnte (vgl. 2 Kor 11,6; 10,10 f).51 48 Der Klassiker zu dieser Fragestellung ist E. Norden, Die antike Kunstprosa vom VI. Jahrhundert v. Chr. bis in die Zeit der Renaissance, Bd. 2, Leipzig 31918, 451–573; speziell zu den Paulusbriefen 492–510, eigens mit Verweis auf Overbeck (492). Zu beachten ist der Nachtrag (3 f), der die Auseinandersetzung bilanziert zwischen ihm und C. F. G. Heinrici, Zum Hellenismus des Paulus, in: ders., Der zweite Brief an die Korinther (KEK 86), Göttingen 1900, 436–458. Zur Beurteilung der Sachlage vgl. H. D. Betz, The Problem of Rhetoric and Theology according to the Apostle Paul, in: ders., Paulinische Studien, Tübingen 1994, 126–162, hier: 129 f; sodann M. Reiser, Paulus als Stilist, SEÅ 66 (2001) 151–165; ders., Sprache und literarische Formen des Neuen Testaments. Eine Einführung (UTB 2197), Paderborn 2001, 2–90. Zu Stilformen des „Erhabenen“ im Neuen Testament vgl. Ch.C. Caragounis, New Testament Language and Exegesis. A Diachronic Approach (WUNT 323), Tübingen 2014, 271–298; 299 f („great flashes of grandeur and sublimity, thus, often attaining a high score on the scoring board of ancient rhetoric“); 309–311. – Zur Stigmatisierung der Bibelsprache vgl. Pietzner, Bildung (s. Anm. 1) 373–378. 49 Vgl. S. Swain, Hellenism and Empire. Language, Classicism, and Power in the Greek World AD 50–250, Clarendon, 1996, 2–5; differenzierte Diskussion bei T. Whitmarsh, Greece: Hellenistic and Early Imperial Continuities, in: D. S. Richter / W. A. Johnson (Hg.), The Oxford Handbook of the Second Sophistic, Oxford 2017, 11–23, hier: 11–14. 50 Vgl. die Übersicht bei T. Vegge, Antike Bildungssysteme im Verhältnis zum frühen Christentum, ZNT 21.11 (2008) 17–26, hier: 23–25, speziell auch zu Paulus; vgl. ders., Paulus (s. Anm. 32) 457–486. 51 Bei den Aussagen von Paulus über seine eigene Redekompetenz wie über die seiner Gegner (2 Kor 11,6; 10,10 f) muss man allerdings mit der Möglichkeit rechnen, dass sie nicht einfach „Fakten“ wiedergeben, sondern mit rhetorischen Topoi aus dem Umfeld der „Sophistenschelte“ arbeiten. Vgl. dazu meinen Aufsatz: Kreuzfeuer. Paulus und seine Konflikte mit Rivalen,
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Die Schlussfolgerung legt sich nahe: Innerhalb ihres partialkulturellen Raums zeichnet sich die urchristliche Literatur durch Kunst, Raffinesse und Eigenwilligkeit aus; sie erfordert erhebliche Lesekompetenzen. Gemessen an den Bildungsstandards der hellenistisch-römischen Welt als ganzer, die wesentlich von Eliten portiert werden, muss man sie demgegenüber als medioker qualifizieren. Diese Einschätzung der frühchristlichen Literatur ändert sich kaum vor dem dritten oder sogar nicht vor der Wende zum vierten Jahrhundert. Erst dann haben sich die Bildungsniveaus von Repräsentanten paganer und christlicher Eliten egalisiert.52 Typisch dafür ist, dass es sich manchmal sogar als schwierig erweist, spätantike Literaten eindeutig in einem paganen oder christlichen Milieu zu lokalisieren.53 Pointiert ausgedrückt: Die Christen werden im Lauf dieses Prozesses selber zu Trägern der hegemonialen Kultur. Unter der Regentschaft von Kaiser Julian kommt es sogar zu einem schweren Konflikt zwischen verschiedenen Exponenten der Leitkultur, der sich entscheidend um das Bildungsverständnis dreht. Ein weiteres, nun aber rekursives Symptom für den angesprochenen Entwicklungsschub ist das pagan revival im späten vierten Jahrhundert, mobilisiert durch das Verbot heidnischer Kulte durch die christlichen Kaiser. 5.4 Projekte Wir begnügen uns auch hier mit holzschnittartigen Hinweisen. Persönlichkeitsbildung spielt im Neuen Testament keine Rolle. Das hängt nur schon damit zusammen, dass wir es hier nicht mit Personen zu tun haben, die sich über ihre Laufbahn, den cursus honorum, definieren. Auch Selbsterziehung und Selbstbildung sind nicht im Fokus der frühchristlichen Literatur. Unsere Texte adressieren nicht Individuen, und das, obwohl es sich bei den frühen Christen allesamt um Konvertiten handelt. Diese fügen sich ja in eine neue Gemeinschaft ein. Die gemeinschaftliche, kommunale Orientierung bietet der klassischen, auf das Feinden und Gegnern, in: J. Schröter / S. Butticaz / A. Dettwiler (Hg.), Receptions of Paul in Early Christianity. The Person of Paul and His Writings through the Eyes of His Early Interpreters (BZNW 234), Berlin 2018, 649–676, hier: 669–672, Abdruck in diesem Band: 201–226. 52 Charakteristisch dafür sind die Umbrüche in der spätantiken Bildungslandschaft, die teilweise als „dritte Sophistik“ (ab dem Beginn des vierten Jahrhunderts) bezeichnet werden und die mit der Rezeption der gesamten Bandbreite der rhetorischen Paideia durch die christlichen Eliten verbunden sind. Vgl. zur „dritten Sophistik“ L. Pernot, La rhétorique de l’éloge dans le monde gréco-romain (CEAug 137). Bd. 1, Paris 1993, 14; ders., Greek and Latin Rhetorical Culture, in: Richter, Handbook (s. Anm. 4952) 205–215, hier: 211 f; R. C. Fowler / A. J. Quiroga Puertas, A Prolegomena to the Third Sophistic, in: R. C. Fowler (Hg.), Plato in the Third Sophistic (Millennium Studies 50), Berlin 2014, 1–30. 53 Neben Synesios von Kyrene wäre hierfür zu verweisen auf Macrobius um 400, den Verfasser der Saturnalia und eines Kommentars zu Ciceros Somnium Scipionis. Vgl. dazu A. Cameron, The Last Pagans of Rome, Oxford 2011, 231–272, der Macrobius gerade nicht als ‚bekennenden Heiden‘ verstehen will.
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Individuum zielenden Selbstbildung keine direkte Schnittstelle.54 Dabei ist zu beachten: Das Bildungssystem adressiert die Einzelnen durchaus als Repräsentanten ihrer Schicht, also aufgrund ihres Status. Die psychagogische Formung der hellenistischen und kaiserzeitlichen Philosophien zielt ihrerseits nicht auf die unverwechselbare Individualität und Persönlichkeit, sondern auf den Menschen als Träger des überpersönlichen Logos.55 Es ist typisch für das antike Christentum, dass etwa die stoische Psychagogik m.W. erst in der monastischen Literatur breiter rezipiert wird.56 Eine ars vivendi oder eine ars moriendi sucht man in der Bibel vergeblich – allenfalls lassen sich Spuren im Lukasevangelium ausmachen.57 Um eine ‚Kunst‘ kann es sich im Neuen Testament nur schon deshalb nicht handeln, weil es hier nicht um das ‚Bilden‘ der eigenen Persönlichkeit geht, das Formen des inneren Götterbilds, sondern um das Mitgehen auf dem abgründigen Weg Jesu, wie im Fall der Evangelien, oder um die Teilhabe an Tod und Auferstehung Christi, wie im Fall der Paulusbriefe. Hier macht sich das ‚exzentrische‘ Profil der neutestamentlichen Anthropologien bemerkbar. Das Subjekt der „Bildung“, die an den Glaubenden ergeht, ist der vom Kreuz gezeichnete Jesus, der selber sein Leben nicht als Kunstwerk gestaltet. Umso herausfordernder nimmt sich die eigentümliche Begriffsgeschichte der „Bildung“ aus, die ja genau von der Formung, die durch die Teilhabe am erhöhten Christus zustande kommt, ihren Ausgangspunkt nimmt (2 Kor 3,18) und sich mit Platons Metaphorik des Bildens verbindet.58 Auch die spezifische Begrifflichkeit des ‚Glücks‘ (εὐδαιμονία) hat in die Bibel keinen Eingang gefunden. Was hier aber präsentiert wird, ist von Haus aus weisheitlicher Natur und damit „bildungsoffen“: Wegweisung für ein Leben in Übereinstimmung mit Gott und seiner Ordnung. Hier bieten sich Brücken, nicht 54 Der Gemeinschaftsbezug der Erziehung spielte im alten Griechenland eine noch weit grössere Rolle. Mit den Umbrüchen des Hellenismus rückt die Persönlichkeit des Einzelnen in das Zentrum, auf die die Paideia zielt. Vgl. H. I. Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, dt. Übs. 71977 (dtv-wr 4275), 189–194 („Wie der Koroplast seine Tonfiguren formt und schmückt, so muss jeder Mensch sich zur Aufgabe setzen, seine eigene Statue zu formen“, 191). 55 Vor der Verwechslung mit dem neuzeitlichen Individualismus warnt deshalb mit Recht Jaeger, Paideia (s. Anm. 20), Bd. 1, 8–14. Noch weiter geht mit der These eines „dezidierten Antiindividualismus“ Ch. Horn, Wie viel Individualismus erlaubt die antike Ethik der Lebenskunst?, in: G. Ernst (Hg.), Philosophie als Lebenskunst. Antike Vorbilder, moderne Perspektiven, Berlin 2016, 259–282 (Zitat 281). 56 Zur Psychagogik vgl. etwa P. Rabbow, Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike, München 1954; P. Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, dt. Übs. Berlin 1991, besonders 13–23; J. Seilars, Stoische geistige Übungen, in: Ernst, Philosophie (s. Anm. 55) 109–126. 57 Hinzuweisen ist hier vor allem auf Ansätze zu einem christlichen Entwurf der ars vivendi, mit speziellem Fokus auf der Situation angesichts des nahenden Todes wie in den Erzählungen vom reichen Kornbauer (Lk 12,16–21) und vom armen Lazarus und dem Reichen (Lk 16,19–21) sowie in den individual-eschatologischen Aussagen zum „Heute“ (Lk 23,43; vgl. 4,21; 2,11; 5,26; 19,9). 58 Vgl. oben Anm. 15 zu Meister Eckhart und Anm. 19 zu Platon.
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mehr und nicht weniger, zur griechischen Paideia an – auch in den Fragen nach dem Glück (wie bei den Seligpreisungen) oder nach dem guten Leben, auf die zumal Jesus als Lehrer Antworten erteilt. Ein schönes Beispiel für die sapientiale Lebensorientierung ist das Weisheitsbuch von Ben Sira, das ein Programm jüdischer Erziehung und Bildung entfaltet. Basis dafür ist die alttestamentliche Überzeugung, wonach Gottesfurcht den Anfang der Weisheit bildet (Spr 1,7; 9,10; 15,33; Ps 111,10; vgl. Sir 1,14).59 Nicht von ungefähr ist das Bibelwort timor Domini initium sapientiae auch zum Leitspruch mancher Universitäten geworden.60
6. Drei Thesen zum Schluss Im Folgenden versuchen wir, einem mittleren Weg zwischen den Positionen der „Bildungsfreunde“ und denjenigen der „Bildungsverächter“ im Blick auf das Frühchristentum zu folgen. 1. Die frühchristliche Literatur dokumentiert ein breites Spektrum von Bil dungsphänomenen. Dennoch lässt sie sich nicht für eine „Bildungsreligion“ in Anspruch nehmen. Ihr fehlt ein Bildungsprogramm, d. h. eine explizite Be zugnahme auf das von der hellenistisch-römischen Globalkultur entworfene Bildungssystem, das seinerseits auch am Ursprung unserer neuzeitlichen Bil dungskonzeptionen steht.61 Eine solche ausdrückliche Bezugnahme auf den Bildungskosmos und seine Institutionen beginnt sich erst etwa ab der Mitte des zweiten Jahrhunderts abzuzeichnen, auch wenn sich vielleicht erste Umrisse im lukanischen Doppelwerk und im Corpus pastorale ausmachen lassen. Man kann lediglich von bildungsaffinen Impulsen sprechen, die das Neue Testament dem sich entwickelnden Christentum auf den Weg gibt.62 An diesem speziellen Punkt ist der überaus scharfen Kontrastierung zwischen urchristlicher und patristischer Literatur, die Overbeck vorgenommen hat, Recht zu geben. 59 Vgl. dazu H. Spieckermann, Bildung – Gottesfurcht – Gerechtigkeit. Die Prologe der Weisheitsbücher, in: ders., Lebenskunst und Gotteslob in Israel. Anregungen aus Psalter und Weisheit für die Theologie (FAT 91), Tübingen 2014, 41–54. 60 So das Motto der University of Aberdeen. Das Bibelwort ziert als Inschrift die goldene Kette des Rektors der Universität Zürich. Vgl. zum Letzteren die Dekanspredigt zum 150-jährigen Jubiläum der Universität am 28. April 1983 von O. H. Steck, Zürich uni 14.4 (1983) 2–5. 61 Die Wege führen dabei über die Pflege humanistischer Kultur, die gerade auch im Reformationszeitalter intensiviert worden ist. Insofern ist vielfach das reformatorische Bildungsverständnis Ausgangspunkt für die Neugründung des Schul‑ und Universitätswesens. Vgl. die Skizze von Th. Schlag, Reformation als Bildungsbewegung und ihre Bedeutung für religiöse Bildung in der pluralen Gesellschaft, in: P. Opitz (Hg.), 500 Jahre Reformation. Rückblicke und Ausblicke aus interdisziplinärer Perspektive, Berlin 2018, 111–130. 62 Von „Impulsen“ spricht auch Söding, Christentum (s. Anm. 4), Untertitel und passim („weil dort die entscheidenden Impulse gesetzt werden, dass die christliche Religion auf Bildung setzt, und weil dort, im Kontext der ganzen Bibel, grundlegend geklärt wird, was in einem christlichen Sinn als Bildung gelten darf “, 10; vgl. 275–282).
6. Drei Thesen zum Schluss
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2. Besonderer Aufmerksamkeit bedarf die Einbettung in und die partielle Distanznahme von jüdischen Milieus mit ihrer Textkultur. Man darf beim antiken Judentum – in der vorgeschlagenen Terminologie: auf der Ebene einer besonderen Teilkultur – von einem eigentlichen sich entwickelnden Bildungssystem sprechen,63 das sich allerdings markant von demjenigen der Globalkultur unterscheidet. Unbeschadet einer weitreichenden Rezeption hellenistischer Bildungswerkzeuge, die vom Üben der progymnasmata bis zum Einsatz einer ausgefeilten Rhetorik reichen,64 sind namhafte Differenzen auszumachen. Diese haben zu tun erstens mit dem sprachlichen Medium, wo es im Lauf der frühen Kaiserzeit zu einem Abschied von der Weltsprache, dem literarischen Griechisch, kommt. Hier setzen sich die Besonderheiten einer spezifischen Teilkultur durch. Zweitens bleibt das Moment der Bildung des „Selbst“ im Hintergrund, weil es vom Modell der „Gottesfurcht“ überlagert wird. Das zunehmend von Heiden bestimmte Christentum hat zwar den sprachlichen Sonderweg des Judentums nicht mitgemacht, teilt aber mit diesem die Entscheidung dafür, die Formung des Selbst ganz an die Gottesbeziehung zurückzubinden. Was immer es hier an Gestalten von literarischer Bildung oder von autonomer Selbstverwirklichung geben mag, alles steht unter dem Vorzeichen der Frömmigkeit und der Bindung an den Kanon der heiligen Schriften. 3. Nichtsdestoweniger gibt es eine begrenzte Zahl von bereits neutestamentlichen Texten, die über binnenchristliche und jüdische Kulturräume hinausweisen und ansatzweise mindestens indirekt auf den Gesamtkomplex griechisch- hellenistischer Paideia fokussieren. Entsprechend produktiv und formativ nimmt sich ihre Rezeptionsgeschichte aus. Exemplarisch verweise ich auf drei neutestamentliche Passagen, die alle nicht zufällig mit dem Unternehmen der Philosophie befasst sind.65 a. Paulus arbeitet im ersten Hauptteil des 1. Korintherbriefs programmatisch die Differenz zweier Formen von Weisheit heraus (1,18–31): Der „Weisheit dieser Welt“, repräsentiert von den Griechen, steht die als Torheit erscheinende „Weisheit Gottes“ der Christen gegenüber. Das ethnische und soziale Profil seiner Argumentation – im Blick sind drei Völker sowie soziale Niveaus – lädt zur 63 Vgl. die zusammenfassende Darstellung von A. Samely, Educational Features in Ancient Jewish Literature. An Overview of Unknowns, in: Brooke / Smithuis, Education (s. Anm. 40) 147–200, besonders 69–73; 155–157. 64 Interessant sind die Versuche, die Formung der rabbinischen Literatur mit der Zweiten Sophistik und ihrem Revival der Rhetorik zu korrelieren. Vgl. dazu R. Hidary, Rabbis and Classical Rhetoric. Sophistic Education and Oratory in the Talmud and Midrash, Cambridge 2018, 1–40, besonders 18–23. 65 Zum Folgenden vgl. meine Überlegungen in zwei Aufsätzen (beide abgedruckt in diesem Band: 357–374; 321–342): S. Vollenweider, Toren als Weise. Berührungen zwischen dem Äsoproman und dem 1. Korintherbrief, in: P. G. Klumbies / D. du Toit (Hg.), Paulus. Werk und Wirkung, FS A. Lindemann, Tübingen 2013, 3–20; ders. „Mitten auf dem Areopag“. Überlegungen zu den Schnittstellen zwischen antiker Philosophie und Neuem Testament, EChr 3 (2012) 296–320.
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Bildungsfreunde oder Bildungsverächter?
kulturtheoretischen Deutung ein. Plakativ formuliert: Gegen die etablierte Weisheit im Zentrum der Globalkultur bietet der Repräsentant einer Partialkultur eine alternative Weisheit auf, die ethnisch von aussen und sozial von unten kommt. Wir haben ein Kontrastmodell vor uns.66 In dessen Zentrum steht der schmählich gekreuzigte Christus, der dem Ideal des nach Massgabe des Guten und Schönen geformten und gebildeten Menschen diametral entgegensteht. b. Die Areopagrede der Apostelgeschichte (Kap. 17) entwirft das Setting eines philosophischen Dialogs, der allerdings monologisch funktioniert und schliesslich abbricht. Wir haben ein Überbietungsmodell vor uns. Hinsichtlich der Frage, ob das lukanische Doppelwerk über die Athener Szene und das Proömium von Lk 1,1–4 hinaus eine christliche Bildungsinitiative lanciert, ist m. E. eher Skepsis angebracht. c. Schliesslich ist der Johannesprolog zu nennen (Joh 1,1–18). Es ist eine offene Frage, ob der Logos, der im Ganzen des Evangeliums eigenartig isoliert bleibt, eine Leerformel darstellt – frei nach Harnack: einen Lockvogel –67 oder ob wir ihn als so etwas wie eine Telosformel bestimmen können, die dann etwa mit der alētheia, der Wahrheit, zu korrelieren wäre. Die Ambivalenzen, die gerade in diesen drei Texten fassbar sind, setzen sich in den späteren christlichen Bildungsdiskursen fort. Sie dokumentieren die erheblichen Spannungen zwischen paganem und christlichem Bildungssystem, die sich in das christliche Erbe eingeschrieben haben.68 Aufgrund ihrer Herkunft sind Christenmenschen offenbar beides zugleich, Bildungsfreunde und Bildungskritiker. Dass sie sich heute dezidiert für das erstere engagieren, in einer Zeit, in der es nicht nur zu markanten Transformationen im Bildungsverständnis kommt, sondern auch zu einem massiven Abbruch der Traditionsweitergabe, leuchtet spontan ein. Auch an diesem Punkt lassen sich die Vorgänge im frühen 21. Jahrhundert mit denen in der späten Antike durchaus vergleichen.
66 An diesem Punkt übereinstimmend mit K. Ehrensperger, Embodying the Ways in Christ. Paul’s Teaching of the Nations, in: dies., Searching Paul. Conversations with the Jewish Apostle to the Nations (WUNT 429), Tübingen 2019, 181–194, im Blick auf 1 Kor 1–4 wie auf Röm („Paul refutes the dominant perception with the alternative interpretation of his own bodily experience and his respective teaching of the nations in Christ, which is embedded in the Jewish perception of the world as God’s creation“, 194). Zur These von D. L. White, speziell im Blick auf 1 Kor 1–4, s. Anm. 32. 67 Vgl. A. von Harnack, Über das Verhältnis des Prologs des vierten Evangeliums zum ganzen Werk, ZThK 2 (1892) 189–231. Dazu M. Theobald, Die Fleischwerdung des Logos. Studien zum Verhältnis des Johannesprologs zum Corpus des Evangeliums und zu 1 Joh (NTA.NF 20), Münster 1988, 26–33 („Der Prolog – ein metaphysischer Lockvogel? A.v. Harnacks Kritik der Kritik“, 26). Erst Theobald spricht von einem „Lockvogel“. 68 Vgl. dazu auch J. von Ehrenkrook, Christians, Pagans, and the Politics of Paideia in Late Antiquity, in: Zurawski / Boccaccini, Paideia (s. Anm. 40) 255–265.
Lebenskunst als Gottesdienst Epiktets Theologie und ihr Verhältnis zum Neuen Testament Abstract The Art of Living as Worship. Epictetus’ Theology and Its Relationship to the New Testament The essay deals with the question of analogies, convergences, parallels and differences between the theological texts of Epictetus and the New Testament writings, especially the Pauline Letters. A special interest is given to the receptions of the enchiridion in monastic circles, which turn the text of Epictetus into a Christian text. An appendix evaluates the significance of Epictetus in the “New Wettstein”, a modern, comprehensive collection of “parallels” between the New Testament and its Greco-Roman environs.
Bereits eine schlichte Lektüre der Texte Epiktets rückt diesen mehr als jeden anderen kaiserzeitlichen Philosophen in die Nähe zur urchristlichen Literatur. Dies beginnt mit seiner Sprache. Arrian, literarisch selber ein Attizist, hat das Koinegriechisch der von ihm redigierten Lehrvorträge Epiktets getreulich bewahrt. Zumal der Diatribenstil lässt sich in bestimmten Partien der Paulusbriefe wiedererkennen.1 Weiterhin repräsentiert Epiktet geradezu paradigmatisch die hellenistisch-kaiserzeitliche Popularphilosophie, die sich durch ihr besonderes Interesse an einer lebensweltlich handhabbaren Ethik auszeichnet und damit dasselbe Terrain bearbeitet, das auch die Ausbreitung der urchristlichen Religion begünstigt hat. Epiktet bietet eine besonders glaubwürdige und authentische Verkörperung der Philosophie als existentiell realisierter Lebenskunst. Brückenschläge zum Christentum erlaubt sodann der spezifische Typ der hellenistischen Religiosität, die zumal bei Epiktet ein streckenweise theistisches Profil vor dem Hintergrund des allgemein-stoischen Pantheismus annimmt. Das Feld der Religion, ihrer Riten, Mythen und Themen, hat seinerseits das besondere Interesse kaiserzeitlicher Philosophen gefunden.2 Schliesslich markiert der Stoiker durch 1 Zum Problemkreis der „Diatribe“ s. Th. Schmeller, Art. Diatribe, EBR 6 (2013) 782–784; ders., Einführung in die Schrift, in: in: S. Vollenweider (Hg.), Epiktet. Was ist wahre Freiheit? (SAPERE 22), Tübingen 2013, 3–24, hier: 17 f. 2 Vgl. dazu R. Hirsch-Luipold, Die religiös-philosophische Literatur der frühen Kaiserzeit und das Neue Testament, in: ders. / H. Görgemanns / M. von Albrecht (Hg.), Religiöse Philosophie und philosophische Religion der frühen Kaiserzeit. Literaturgeschichtliche Perspektiven (STAC 51), Tübingen 2009, 117–146; J. C. Thom, Popular Philosophy in the Hellenistic- Roman World, EChr 3 (2012) 279–295.
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Lebenskunst als Gottesdienst
seine Herkunft aus dem Sklavenstand ein soziales Niveau, das sich von den eher elitären Szenen der meisten Philosophenschulen erkennbar unterscheidet und sich wiederum mit dem sozialen Status urchristlicher Lehrer vergleichen lässt. Allerdings gilt dies nur für seine Person; sein Schulbetrieb in Nikopolis scheint sich deutlich an Angehörige der Oberschicht gerichtet zu haben. Die Frage nach dem Verhältnis Epiktets zum Neuen Testament wurde im 20. Jahrhundert meist aufgrund bestimmter Konzeptualisierungen der neutestamentlichen Theologie und Religion einerseits und der philosophischen Theoriebildung und Psychagogik andrerseits aufgeworfen. Wir werden diese Kontrastmodelle prüfen, stellen ihnen aber einen rezeptionsgeschichtlichen Zugang voran, der auf die vorfindliche Wirkungsgeschichte Epiktets im antiken Christentum fokussiert und damit ein bedeutendes Gegengewicht zu den modernen Systemkonstruktionen darstellt. Die Orientierung an der faktischen Rezeptionsgeschichte unseres Philosophen illustriert augenfällig, wie die Verhältnisbestimmungen von Christentum und Stoa bzw. von Theologie und Philosophie ihrerseits erheblichen historischen Wandlungen unterliegen. Erst in einem nächsten Schritt wenden wir uns neuzeitlichen Versuchen zu, die komplexen Wechselwirkungen zwischen Antike und Christentum zu beschreiben. Sie verbinden sich nicht zufällig mit grundlegenden hermeneutischen Fragen, insbesondere nach der Relation von Philosophie und Religion oder nach derjenigen von Kultur und Evangelium. Wir beschäftigen uns sodann exemplarisch mit der theologischen Partie, die unsere Diatribe über die Freiheit enthält, und fragen dabei nach Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen epiktetischer Philosophie und urchristlicher Theologie. Ein spezieller Blick gilt einem Vergleich zwischen Epiktet und Paulus. Schliesslich fragt der letzte Teil nach der persönlichen Religion von Epiktet. In einem Anhang wird die Verwertung Epiktets im „Neuen Wettstein“, einer umfassenden Quellentextsammlung zum antiken Hintergrund des Neuen Testaments, dokumentiert.
1. Paulus statt Sokrates: antike christliche Relektüren der Texte Epiktets Man nimmt durchaus überrascht davon Kenntnis, dass Epiktets Werk in der christlichen Antike zunächst wenig explizite Wirkungen gezeitigt hat.3 Die anerkennende Äusserung von Origenes, wonach Epiktets Texte auch auf einfache 3 Zur Wirkungsgeschichte vgl. besonders das von M. Spanneut präsentierte Material: Art. Epiktet, RAC 5 (1962) 599–681, hier: 616–628 (nichtchristliche Rezeption); 628–678 (christliche Rezeption). Vgl. ferner das summierende Urteil von ders. (Hg.), Commentaire sur la paraphrase chrétienne du Manuel d’Epictète (SC 503), Paris 2007, 19 f: „Épictète semble avoir été reçu très tôt dans le monde chrétien“; „la pénétration d’Épictète dans le monde chrétien, par citation ou allusion, est, dans l’ensemble, assez modeste“.
1. Paulus statt Sokrates: antike christliche Relektüren der Texte Epiktets
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Leute einen positiven Effekt ausübten, bleibt die Ausnahme.4 Umso interessanter nimmt sich die Rezeption des „ethischen Handbüchleins“ Epiktets, des Encheiridion, aus: Epiktets Text mutiert hier zu einem christlichen Text; der Name unseres Philosophen geht dabei spurlos unter! Diese Relektüre Epiktets, die zugleich als Usurpation anzusprechen ist, fächert sich auf in drei griechische Fassungen, die allesamt in die Zeit des Übergangs von der Spätantike in die frühbyzantinische Epoche gehören und auf Adressaten im monastischen Umfeld zielen.5 Sie zeigen einerseits, wie nichtchristliche philosophische Texte in erheblichem Umfang an die eigene – hier vor allem monastische – Tradition vermittelt werden können. Andrerseits werden bestimmte Bruchlinien erkennbar, wo die christliche Rezeption auf je eigenen Wegen die paganen Überlieferungen und Implikationen zu umschiffen oder zu bewältigen versucht. 1.1 Gottesmann und Engel statt Diogenes und Herakles: die Encheiridion-Version von Ps.-Neilos Der ursprüngliche Text des Encheiridion wird in dieser unter dem Namen des Mönchvaters Neilos von Ankyra (um 400) firmierenden Fassung auf weite Strecken hin bewahrt. Es kommt aber zu einigen charakteristischen Variationen.6 1. Epiktet spricht in seinem Vergleich des Lebens mit einem Gastmahl, wo es bestimmte Tischregeln zu beachten gibt (vgl. Lk 14,7–14), nicht nur vom kontrollierten Warten auf das einem Zukommende, sondern auch von der gelegentlich noch besseren Option des Verzichts (ench. 15). Wer sich so verhält, wird „nicht nur ein Tischgenosse der Götter sein, sondern auch an ihrer Macht teilhaben. Denn so taten es Diogenes, Herakles und ähnliche Männer, und darum waren sie mit Recht göttlich und wurden mit Recht göttlich genannt.“ Die christliche Version (21 fin.) spricht demgegenüber davon, man werde „nicht nur ein Gottesmann sein, sondern sogar wie ein Engel (τότε οὐ μόνον ἄνθρωπος ἔσῃ θεοῦ, ἀλλὰ καὶ ὡς ἄγγελος)“. Die Terminologie ist biblisch bzw. christlich variiert;7 der Verweis auf die göttlichen Männer fehlt ganz.
4 Orig., Cels. 6,2 (= test. 26 Schenkl): „Man kann jedenfalls wahrnehmen, dass sich Platon nur in den Händen von Leuten findet, die als Gelehrte gelten, während Epiktet auch von gewöhnlichen Leuten bewundert wird, die in sich den Drang fühlen, gefördert zu werden, und den günstigen Einfluss bemerken, den seine Lehren ausüben.“ 5 Die Texte mit Einleitungen bietet G. Boter (Hg.), The Encheiridion of Epictetus and Its Three Christian Adaptations. Transmission and Critical Editions (PhA 82), Leiden 1999. Zur zeitlichen Ansetzung vgl. 157; 206; 260 Anm. 2. 6 Vgl. die Zusammenstellung von Boter, Encheiridion (s. Anm. 5) 158–160. 7 Der ἄνθρωπος θεοῦ ist Standardausdruck der LXX für den „Gottesmann“ (Mose; Propheten). Für „wie ein Engel“ vgl. z. B. Mk 12,25 par.; Apg 6,15; ActPaulThekl 3; von Christus EpApost 14; AscJes 9,30.
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Lebenskunst als Gottesdienst
2. Bestimmte Praktiken und Verhaltensregeln werden ausgeblendet, da sie nicht dem christlichen Ethos entsprechen: So fehlen die Abschnitte zur Mantik, zur Sexualität oder zu den öffentlichen Spielen.8 3. Interessant sind insbesondere die Umformungen in der Schlusspassage. Die Sätze über Sokrates (ench. 51,3) fehlen (Neilos 71a/71b), ebenso die eher technische Belehrung über die Dreiteilung der Philosophie (ench. 52 – Neilos 71a/71b). Instruktiv ist vor allem das Fehlen der den gesamten Traktat summierenden, aus Zitaten bestehenden Kernsätze (ench. 53,1–3 – Nil 71b). Eliminiert wird sowohl der Vers des Kleanthes, der von Zeus und dem personifizierten Schicksal spricht (SVF 1, 527; vgl. 2, 975), wie der Vers des Euripides mit dem Wissen um „das Göttliche (τὰ θεῖα)“ (frg. 965 N.). Das letzte Sokrateswort wird verkürzt in den Mund derer gelegt, die Paulus imitieren (ench. 53,4): Aus der sokratisch-epiktetischen Affirmation „Anytos und Meletos können mich zwar töten, aber schaden können sie mir nicht“ (Platon, apol. 30c/d) wird in der christlichen Version das Folgende: „Auch Paulus lebte auf diese Weise, indem er auf sich selber achtete und auf nichts anderes als den Logos achtete. Du, auch wenn du noch nicht Paulus bist, solltest leben, als wolltest du Paulus sein: ‚Man kann mich zwar töten, mir aber nicht schaden.‘“9
In unserer Version fehlen weitgehend die Namen von griechischen Philosophen und mythologischen Figuren. Die Ausführung über die Frömmigkeit (ench. 31) bleibt erhalten, aber es wird konsequent vom Plural „Götter“ auf „Gott“ umgestellt. Es wird deutlich, wie mindestens zwei fundamentale Referenzgrössen ersetzt werden: Für Sokrates und andere Klassiker rückt Paulus ein; polytheistische Aussagen werden monotheistisch umgeschrieben. Auffällig ist aber auch das Fehlen von Bezügen auf die Bibel. Manches bleibt stehen, was moderne Leser als wenig christlich empfinden mögen.10 1.2 Der eine Gott statt der vielen Götter: die Version des Vaticanus Gr. 2231 (Vat.) Diese Version des Encheiridion bleibt dem Ursprungstext am nächsten;11 manches bleibt stehen, was bei Ps.-Neilos ausgelassen wird. Anders steht es natürlich 8 Mantik: ench. 32 – Neilos 38c/39; Sexualität: ench. 33,8 – Neilos 45/46; ench. 41 – Neilos 60; Spiele: ench. 33,10 – verkürzt und verboten bei Neilos 47. 9 Die Äusserung zu Paulus variiert die epiktetische über Sokrates (ench. 51,3: „Du aber, auch wenn du noch kein Sokrates bist, solltest so leben, als ob du Sokrates sein wolltest“), die zwischen 71a und b weggelassen wird. 10 Das summierende Urteil von Boter, Encheiridion (s. Anm. 5) 160, ist zu normativ orientiert: „All in all we may conclude that the attempt to adapt Ench to orthodox Christian purposes can be regarded as a failure“; ähnlich auch Spanneut, Epiktet (s. Anm. 3) 664 ( „bisweilen überrascht uns seine Duldsamkeit gegenüber dem Text. Er hat den Bann aufrechterhalten, mit welchem die Stoiker das Mitleid belegen“). 11 Boter, Encheiridion (s. Anm. 5) 259: „the text is even less consistently christianized than
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um die obligatorische Ersetzung polytheistischer durch monotheistische Terminologie (z. B. ench. 31 – Vat. 37) und paganer Autoritäten durch christliche. .12 Wir berücksichtigen lediglich den Schlussteil (ench. 53 – Vat. 73): Im Gebet des Kleanthes wird anstelle von Zeus und Schicksal Gott angerufen: „Führe mich, o Gott und (du) alles durchdringende schöpferische und bewegende Ursache, an den Ort, der mir einst von euch bestimmt wurde …“13
Die Sätze des Euripides und des platonischen Sokrates werden bewahrt, wobei die Götter durch „Gott“ und die bei Platon namentlich genannten Sokratesgegner durch „böse Menschen“ ersetzt werden. 1.3 Der Heiland und der Heilige Geist anstelle von Zeus und Schicksal: die Enchiridii Paraphrasis Christiana (Par.) Diese Version unter dem handschriftlichen Titel „Unterweisungen“ (ὑποθῆκαι), die zu Unrecht als „Paraphrase“ bezeichnet wird, ist deutlich christlicher gehalten als die beiden anderen. Vor allem finden sich hier nun auch zahlreiche Schriftbezüge, die ein grundlegend verändertes Referenzsystem signalisieren.14 Wir beschränken uns auf einige wenige Hinweise. 1. Verschiedene Auslassungen oder Veränderungen decken sich mit Ps.-Neilos, so die Umstellung auf den einen Gott oder der Verzicht auf die Belehrung über die Mantik; statt vom Opfern ist vom Almosengeben die Rede.15 Anders als bei Ps.-Neilos (43) fehlt die Nennung des Schwörens. Anstelle von Sokrates figurieren „Apostel und Märtyrer“ bzw. „der Apostel“.16 Die Sokrates-Mimesis, die ench. 51,3 empfiehlt, wird in par. 69 auf Paulus übertragen (vgl. Ps.-Neilos 71b), verbunden mit dem Zitat von 2 Tim 4,7. Die Adressaten sind nun nicht mehr „Philosophen“, sondern „Anachoreten“ oder „Hesychasten“ (ench. 22; 46 – par. 29,1; 60,1), und aus der „Philosophie“ ist ein „tugendvoller Lebenswandel“ geworden (ench. 22 – par. 29,1). 2. Charakteristisch ist wiederum die Umformung des Schlussteils (ench. 53 – par. 70–71), wo die Hinweise auf antik-pagane Klassikertexte unkenntlich gemacht werden: Das epiktetische generelle „Bereithalten“ wird spezifiziert im Nil, not to speak of Par [= Enchiridii Paraphrasis Christiana, S. V., dazu unten]“; detailliert nachgewiesen 259–262. 12 Paulus ersetzt Sokrates (ench. 5,3 – Vat. 7,3), diverse Väter ersetzen Diogenes, Herakles, Sokrates; Salomo ersetzt Chrysipp. 13 Diese Redefinition des Schicksals ist nicht speziell christlich, sie stammt vielmehr aus dem Encheiridion-Kommentar des Neuplatonikers Simplikios (6. Jh.), 71,11–13 (p. 452 H.; vgl. ders., in Aristot. phys. 4,13 [CAG 9, 755:5]). 14 Detaillierte Nachweise bei Boter, Encheiridion (s. Anm. 5) 206–211. 15 Mantik: ench. 32 – par. 38, wo dafür mit Bezug auf Mt 6,7 f.10 vom Gebet gehandelt wird! – Opfer: ench. 31,5 – par. 37. 16 Ench. 5 – par. 7,2; 60,3 (sc. Paulus).
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Blick auf widrige Umstände („Peristasen“) und Versuchungen. Das Gebet des Kleanthes (SVF 1, 527) lautet nun so: „Führe uns, o Heiland, du und der Heilige Geist, wo und wie es (euch) recht ist …“ (par. 70,1 f).
Der euripideische Vers wird elegant transformiert und mit dem ersten Platonzitat verschränkt: „Wer aber freiwillig und gehorsam Gott folgt, gilt bei uns als weise und bei Gott als befreundet. Wir beten aber darum, dass uns das, was mit Gott befreundet ist, zuteil werde“ (70,3 f: ὅστις δὲ ἑκὼν εὐπειθῶς ἕπεται θεῷ, σοφὸς παρ᾽ ἡμῖν καὶ θεῷ δὲ προσφιλής· ὃ γὰρ τῷ θεῷ φίλον, τοῦτο ἡμῖν γενέσθαι εὐχόμεθα).
Das zweite Platonzitat über diejenigen, die wohl töten, nicht aber schaden können, wird um einige Peristasen erweitert und gipfelt im Jesuswort Mt 10,28a: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Körper töten, die Seele aber nicht töten können.“ Diese dritte christliche Relektüre des Encheiridion geht in einigen Punkten erheblich weiter als die anderen beiden.17 Dies ändert aber nichts daran, dass der grösste Teil des Handbüchleins unter gelegentlichen Adaptationen übernommen wird. An dieser Stelle weisen wir auf die besonders interessante griechische Kommentierung dieser Paraphrasis hin, die in frühbyzantinischer Zeit entstanden ist.18 Der anonyme und leider sehr unvollständige Kommentar orientiert sich konsequent am Modell einer „christlichen Philosophie“ (praef. 1; 8). Die Bibel spielt freilich keine formative Rolle. Am stärksten sind die biblischen Bezugnahmen in der Exegese des Gleichnisses vom Steuermann (ench. 7), das in allen drei Versionen ziemlich wortgetreu wiedergegeben wird (Ps.-Neilos 12a/b; Vat. 10; par. 10).19 Die Schifffahrt hat zum Ziel die „allein wahre Heimat“, wo „mit Christus Herkunft und Genossen und das Gemeinwesen der Heiligen“ zu finden sind (comm. 10,6). Hier bezieht sich der Kommentator auf die Gottesstadt des Neuen Testaments.20 Wir bilanzieren unsere Exkursion in die Rezeptionsgeschichte des Encheiridion Epiktets mit einer schlichten Einsicht: Die Bestimmung von spezifisch 17 Boter, Encheiridion (s. Anm. 5) 206: „The author of Par shows much more intellectual independence, theological acumen and philosophical insight than his two Christian colleagues“; Spanneut, Commentaire (s. Anm. 3) 25: diese Instruktionen christianisieren den Text „en profondeur, plus que les deux autres adaptateurs, avec une note personnelle plus affirmée“. 18 Ausgabe: Spanneut, Commentaire (s. Anm. 3). 19 Par. und Vat. fügen dem Epiktet-Text eine Schlusspartie hinzu, die das Bild der gefesselten Schafe im Gleichnis auf den Greis appliziert. Für uns wichtiger ist die nur von par. gebotene Variation dessen, was der Weise zu „lassen“ hat: statt von dem „Frauchen“ und dem Kind bei Epiktet ist hier die Rede von „Brüdern oder Freunden oder Verwandten oder dem Haus“ (10,4) – wahrscheinlich ein Reflex des Nachfolgeworts Mk 10,29; Mt 19,29; Lk 18,29. 20 Phil 3,20; Eph 2,19 und Hebr 11,14–16 (vgl. 12,22–24).
2. Der neuzeitliche Epiktet: Nachbar oder Antipode des Christentums?
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Christlichem, das mit stoisch-epiktetischer Philosophie kontrastiert, unterliegt erheblichen historischen Wandlungen. Die christliche Usurpation – am deutlichsten indiziert durch das Ausblenden des ursprünglichen Autors – generiert ein neues Referenzsystem: An die Stelle der Klassiker treten die Schrift und die Väter; die vielen Götter weichen dem einen Gott; bestimmte lebensweltliche Verhältnisse werden vom christlichen Ethos korrigiert. Wir notieren speziell, dass es sich bei unseren Texten hauptsächlich um monastische Relektüren Epiktets handelt, die den Weisen und Philosophen aktualisierend auf den Mönch, speziell den Anachoreten, beziehen. Die Nähe Epiktets zu kynischem Traditionsgut dürfte die monastische Rezeption noch befördert haben, spannen sich doch einige Brücken von der Askese der Kyniker zum östlichen Mönchtum.
2. Der neuzeitliche Epiktet: Nachbar oder Antipode des Christentums? Unter Absehung von späteren byzantinischen sowie humanistischen und frühneuzeitlichen Rezeptionsspuren springen wir aus der späten Antike direkt in die Moderne. Zur Bestimmung des Verhältnisses von Epiktet und Neuem Testament bieten sich zwei verschiedene Modelle an, die untereinander auch in Wechselwirkung treten können: Dependenzmodell und komparatistisches Modell. Unser Interesse gilt zunächst dem ersteren, das sich primär mit einem möglichen Einfluss des Frühchristentums auf den hauptsächlich zu Beginn des 2. Jahrhunderts lehrenden Philosophen beschäftigt. Für jede mögliche Modellbildung ist festzuhalten: Epiktet hat Kenntnis von den Christen: In seinem Lehrgespräch über die Furchtlosigkeit (diss. 4,7:5–6) reiht er die „Galiläer“ unter diejenigen ein, die aufgrund von Wahnsinn, Geistesstörung und Gewohnheit zu einer Furchtlosigkeit finden, die wir heutzutage etwa mit Selbstmordattentätern verbinden. Die christliche Demonstration der Todesverachtung im Amphitheater tadelt auch Marc Aurel (11,3:2).21 2.1 Epiktet reagiert auf das Christentum: das Dependenzmodell Dieses Modell geht davon aus, dass sich bestimmte Züge in Epiktets Philosophie christlichem Einfluss verdanken, sei es im Modus der Übernahme oder aber der Antireaktion. Exemplarisch für diese heute weitgehend überholte Verhältnisbestimmung steht die Rektoratsrede von Theodor Zahn aus dem Jahr 1894.22 21 Kaum als Reflex auf das Christentum kommen Epiktets Bemerkungen zur „Taufe“ in diss. 2,9:20 f in Betracht: Sie nehmen eher Bezug auf jüdische als auf christliche Täufergruppen; vgl. A. A. Long, Epictetus. A Stoic and Socratic Guide to Life, Oxford 2002, 17; 110 Anm. 9. 22 Nicht zugänglich ist mir das ebenso hier zu klassifizierende Werk des Holländers K. Kuiper, Epictetus en de Christelijke Moraal, Amsterdam 1906, das bei A. Bonhöffer, Epiktet und
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Lebenskunst als Gottesdienst
Der konservative Theologe stellt nicht nur erhebliche Widersprüche im Denken Epiktets fest,23 sondern rechnet auch mit einem markanten Einfluss christlicher Gedanken, etwa beim Eid, bei der Gotteskindschaft, bei Herakles als Heiland oder beim gottgesandten apostelgleichen Kyniker.24 2.2 Geläuterte Religion: Bonhöffers vergleichendes Modell Die Monographie „Epiktet und das Neue Testament“ von Adolf Bonhöffer aus dem Jahr 1911 markiert das wohl definitive Ende der Dependenzmodelle. In einer detaillierten Auseinandersetzung stellt der Philologe heraus, dass es keine überzeugenden Indizien für eine Abhängigkeit Epiktets vom Neuen Testament gibt – wie auch umgekehrt keine nennenswerten stoischen Einflüsse auf das Urchristentum geltend gemacht werden können. Die bisher in Anspruch genommenen Übereinstimmungen erweisen sich teilweise als konstruiert, teilweise als Resultat von Konvergenzen, die bei näherem Zusehen doch jeweils sehr verschiedene kulturelle Kontexte zum Ausdruck bringen. Bonhöffer arbeitet – wie manche bereits vor ihm – mit einem vergleichenden Modell, das vor allem in seiner „systematischen Vergleichung Epiktets und des Neuen Testaments“ greifbar wird.25 Bonhöffer ist sich der Gefahr einer nicht angemessenen Systematisierung bewusst. Während sich die neutestamentliche Theologie erst noch entwickelt, ruht Epiktets Denken zwar „durchweg auf einem ganz genau umrissenen und ins einzelne hinein fest formulierten System, der alten orthodoxen Lehre der Stoa“,26 wird aber von „seiner eigenen vom stoischen Geist durchdrungenen Persönlichkeit“ formiert und repräsentiert (340). Bonhöffer arbeitet Analogien wie Kontraste heraus. Zu den Gemeinsamkeiten zählen die „geläuterte Religiosität“, die Verbindung von Religion und Moral, der Idealismus und sittliche Ernst (341–354), zu den Kontrasten der Gegensatz von Vernunft und Offenbarung oder von Diesseitigkeit und Jenseitigkeit (354–357). Offenkundig wurzelt Bonhöffer in der zeitgenössischen liberalen Theologie, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gemeinsam mit den anderen Geisteswissenschaften ein ‚kulturprotestantisches‘ Profil aufweist. Gemessen am liberal-theologischen Jesusbild das Neue Testament (RVV 10), Giessen 1911 (= Berlin 1964), eingehend besprochen wird. Kuiper zufolge reagiert Epiktet polemisch auf die christlichen Texte und Theologien; dieser wird also zu einem frühen auctor adversus Christianos. 23 Th. Zahn, Der Stoiker Epiktet und sein Verhältnis zum Christentum, Erlangen 21995, 18 f; 23–26. 24 Zahn, aaO. 28–33. Eine vernichtende Kritik stammt von P. Wendland, Rez. Th. Zahn, Der Stoiker Epiktet, ThLZ 19 (1895) 493–495: Zahn missverstehe Epiktet nicht nur häufig, sondern zeige eine „völlig unzureichende Kenntnis der kynischen und stoischen Literatur“ (495). 25 Bonhöffer, Epiktet (s. Anm. 22) 339–390. 26 Diesen Nachweis lieferte der Gelehrte bereits früher: A. Bonhöffer, Epictet und die Stoa. Untersuchungen zur stoischen Philosophie, Stuttgart 1890 (= 1968); ders., Die Ethik des Stoikers Epiktet, Stuttgart 1894 (= 1968).
2. Der neuzeitliche Epiktet: Nachbar oder Antipode des Christentums?
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bleibt für Bonhöffer der epiktetische Theismus defizitär: „Mit dem allem soll aber nun keineswegs gesagt sein, dass die Religiosität Ep’s der neutestamentlichen vollauf ebenbürtig sei.“ Es „erreicht auch die Frömmigkeit Ep.’s, so echt sie empfunden ist, doch die Höhe der christlichen nicht.“27 So weht „ein wärmerer Geist der Menschenliebe durch das Neue Testament […] als selbst durch die Reden eines Ep.“ (382). Kritisiert wird auch die vornehmlich Eliten adressierende Stoa, die „durch ihre historische Gebundenheit an die Lehrformen des aristokratischen Partikularismus gehindert war, ihre universelle Mission zu erfüllen“ (388). Umgekehrt zeigt Epiktet in manchen Lebensbereichen eine natürlichere Einstellung – dies erweisen „ein frisches und gesundes Interesse an dem Weltgeschehen und am Tun und Treiben der Menschheit“, die „Freude an den Werken der Technik und der Kunst“, die Einstellung zu Leiblichkeit und Sexualität (366 f) sowie das „positive Interesse an der Menschheit“ (377). Erstaunlich wenig gewichtet wird die „Diesseitigkeit“ Epiktets, die sich markant mit der Jenseits‑ und Endzeitbezogenheit des Urchristentums kontrastieren liesse. Es ist Rudolf Bultmann, der Bonhöffers Verhältnisbestimmung einer fundamentalen Kritik unterzieht.28 Mit ihm meldet sich bereits jene Generation von Neutestamentlern aus der Religionsgeschichtlichen Schule und der Dialektischen Theologie zu Wort, die mit der liberalen Theologie brechen wird.29 In einer raschen Replik auf Bultmanns Kritik stellt Bonhöffer seinerseits seine Position noch einmal deutlich heraus. Gegenüber der ziemlich negativen Wahrnehmung Epiktets durch den Theologen gibt er zu bedenken, dass dessen Kritik durchaus und zu noch grösseren Teilen just auch das neutestamentliche Christentum träfe.30 Bonhöffers Vergleich von Epiktet und Neuem Testament läuft auf die Konstatierung einer grundsätzlichen Verschiedenheit hinaus, die aber Gemeinsamkeiten nicht ausschliesst. Auch wenn sich Urchristen und Epiktet auf Augenhöhe treffen, zeichnen sich erstere doch durch ein Mehr an genuiner Religiosität aus. Beide Typisierungen verraten deutlich ihren kulturgeschichtlichen Hintergrund zu Beginn des 20. Jahrhunderts – die Wertschätzung der ‚genialen‘ religiösen ‚Persönlichkeit‘ und des ‚sittlich‘ orientierten Weltverhältnisses. Bonhöffer, Epiktet (s. Anm. 22) 344. R. Bultmann, Das religiöse Moment in der ethischen Unterweisung des Epiktet und das Neue Testament, ZNW 13 (1912) 97–110. 177–191 (Bonhöffers Buch scheint „sowohl in der Anlage wie in der Erfassung des Problems verfehlt zu sein“, 97). 29 In Bultmanns Positionsbezug gegen Bonhöffer tritt dies allerdings noch nicht deutlich hervor. So bestimmt er als „Zentralpunkt der Differenz“ zwischen Epiktet und Neuem Testament „ein ganz verschiedenes Individualitätsgefühl […], ein ganz verschiedenes Persönlichkeitsbewusstsein“ (aaO. 182; vgl. 186–190). Nicht anders als Bonhöffer steht Bultmann dem Religionsverständnis der liberalen Theologie noch nahe, vgl. seine Bemerkung über den Unterschied zum frostigen Seneca: „Epiktets Frömmigkeit verbreitet eine sonnige Heiterkeit, Wärme und Frieden um sich“ (110). Die Gegensätze werden in der späteren Darstellung „Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen“, Zürich 1949 (41976) viel schärfer gezeichnet, s. unten bei Anm. 32. 30 D. Bonhöffer, Epiktet und das Neue Testament, ZNW 13 (1912) 281–292, hier: 288 f. 27 28
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2.3 Ein Zwischenhalt: methodische Überlegungen Der Grundansatz von Bonhöffer, von zwei im Ansatz sehr verschiedenen kulturellen Bildungen auszugehen, nämlich der stoischen Philosophie und ihrer besonderen, individuellen Brechung bei Epiktet einerseits, der urchristlichen Religion und ihrer theologischen Reflexion etwa bei Paulus andrerseits, hat sich als plausibel und wegweisend erwiesen. Wo immer die beiden Kulturgestalten komparatistisch auf einander bezogen werden, orientiert man sich an diesem Basismodell.31 Die Umbrüche in den Geistes‑ und Kulturwissenschaften seit der Mitte des 20. Jahrhunderts haben freilich die Koordinaten, entlang denen das Wirklichkeitsverständnis und die Ethik der Stoiker wie der Christen rekonstruiert werden, tiefgreifend verändert. So hat sich auf der Seite der neutestamentlichen Theologie die urchristliche Eschatologie in den Vordergrund geschoben, die die Kontrastierung zur griechisch-hellenistischen Philosophie noch einmal anders konturiert.32 31 Grunddifferenzen bei gleichzeitigen Konvergenzen werden herausgearbeitet etwa bei J. C. Gretenkord, Der Freiheitsbegriff Epiktets, Bochum 1981, 261–305; H.-J. Klauck, Dankbar leben, dankbar sterben. Εὐχαριστεῖν bei Epiktet, in: ders., Gemeinde, Amt Sakrament. Neutestamentliche Perspektiven, Würzburg 1989, 373–390; ders. Die religiöse Umwelt des Urchristentums, Bd. 2: Herrscher‑ und Kaiserkult, Philosophie, Gnosis (KStTh 9,2), Stuttgart 1996, 85–88; 92; L. E. Galloway Freedom in the Gospel. Paul’s Exemplum in 1 Cor 9 in Conversation with the Discourses of Epictetus and Philo, Leiden 2004; N. Huttunen, Paul and Epictetus on Law. A Comparison (LNTS 405), London 2009; ders., The Human Contradiction. Epictetus and Romans 7, in: A. Mustakallo (Hg.), Lux Humana, Lux Aeterna. Essays on Biblical and Related Themes, FS L. Aejmelaeus, Helsinki 2005, 324–333; F. Blischke, Die Begründung und die Durchsetzung der Ethik bei Paulus (ABG 25), Leipzig 2007, 380 f; 408–423; U. Schnelle Paulus und Epiktet – zwei ethische Modelle, in: F. W. Horn / F. Wilhelm (Hg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik (Contexts and Norms of New Testament Ethics 1) (WUNT 238), Tübingen 2009, 137–158; I. Ramelli, Philosophen und Prediger. Dion und Paulus – pagane und christliche weise Männer, in: H.-G. Nesselrath (Hg.), Dion von Prusa. Der Philosoph und sein Bild (SAPERE 13), Tübingen 2009, 183–210; L. Willms Epiktets Diatribe Über die Freiheit (4,1). Einleitung, Übersetzung, Kommentar (WKGLS), 2 Bde., Heidelberg 2011/12, 431 f u.ö. Auch eine neuere Gesamtdarstellung von Epiktet liegt auf dieser Linie: Long, Epictetus (s. Anm. 21) 3 („Epictetus has also been misunderstood because his appeals to theology, which are ubiquitous, have been consciously or unconsciously read in the light of Christianity. In my opinion, Epictetus’ deepest ideas are remote from the main Christian message, notwithstanding notable parallels between some things he says and the New Testament“); 143–147; 176. 32 Bereits Bultmann, Moment (s. Anm. 28) 185–188 stellt u. a. das Fehlen eines Geschichtsbewusstseins in der Philosophie fest, „Etwas Neues ist nie gekommen“ (185). Auf dieser Linie urteilt er später: „der Stoiker meint, seine Zeitlichkeit eliminieren zu können; seine ‚Entweltlichung‘ ist ‚Entzeitlichung‘“ (Urchristentum [s. Anm. 29] 161). Ich selber habe versucht, die Differenz zwischen Stoikern und Urchristen am ineinander verschränkten Verhältnis der drei Zeitmodi herauszuarbeiten und in die Kosmologie zu extrapolieren: Während die Gegenwart in der Perspektive der Christen von der endzeitlichen Zukunft tangiert wird, steht sie bei den Stoikern im Bann der Vergangenheit. Dem sich ewig wiederholenden Kosmos steht die sich vorerst partikular realisierende neue Schöpfung entgegen: S. Vollenweider Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt (FRLANT 147), Göttingen 1989, 44–53; 404 f; vgl. unten S. 425 f.
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In jüngerer Zeit hat das Interesse an einem umfassenden ‚Systemvergleich‘ deutlich abgenommen.33 Methodisch gesehen erweist sich das komparatistische Geschäft als überaus komplex. Ich weise auf wenigstens drei Punkte hin, wo ein umsichtiges historisches und hermeneutisches Urteil gefordert ist: 1. Ein Vergleich kommt nur dort angemessen zum Zug, wo beide Seiten in optimam partem interpretiert werden, wo also Abstinenz gegenüber vorschnellen Verurteilungen eingeübt wird. Die neutestamentliche Exegese hat während der letzten Jahrzehnte auf einem anderen Feld, nämlich in der Einschätzung des Frühjudentums, geradezu einen Paradigmenwechsel vollzogen: Anstatt das Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels als dunkle Folie zu entwerfen, von der sich das entstehende Christentum strahlend abhebt, wird es nun in seinem eigenen Selbstverständnis und unter Verzicht auf Werturteile rekonstruiert. Es legt sich nahe, diesen Typ einer interessierten und aufmerksamen Hermeneutik auch der Wahrnehmung hellenistischer Philosophen zugutekommen zu lassen. 2. Der Versuch, überaus vielfältige geschichtliche Kulturerscheinungen auf basale Figuren hin zu typisieren, muss die Grenzen seiner Reichweite explizit reflektieren und sich mit der dienenden Rolle einer heuristischen Kunst bescheiden. Sowohl die sokratisch modellierten und praktisch ausgerichteten Lehrgespräche Epiktets wie die Briefe und Erzähltexte des Neuen Testaments bleiben widerständig gegenüber aller Systematik. 3. Gerade weil umfassende geisteswissenschaftliche Rekonstruktionen unausweichlich im Kontext ihrer eigenen Zeit stehen, müssen sie konsequent darauf 33 Eine Ausnahme stellt der neuere Versuch dar von T. Engberg-P edersen, Paul and the Stoics, Edinburgh 2000, stoische Philosophie und paulinische Theologie idealtypisch zu vergleichen, statt sich von der Frage nach historischen Beeinflussungen engführen zu lassen. Die Basis dafür stellt ein komplexes theoretisches Modell bereit, das die Wechselwirkung zwischen Individuum, Gemeinschaft und dem Göttlichen bzw. dem Logos beschreibt (33–44). Der Erkenntnisgewinn der Studie reicht genau so weit, wie die Leserschaft bereit ist, diesem Modell Plausibilität zuzuerkennen. – In seinem folgenden Buch führt Engberg-Pedersen einen Vergleich speziell zwischen Epiktet und Paulus durch (Cosmology and Self in the Apostle Paul. The Material Spirit, Oxford 2010, 106–138). Er konzentriert sich dabei auf die Gotteserkenntnis und stellt neben Differenzen erhebliche Übereinstimmungen fest. Problematisiert werden die bisher geläufigen Differenzkriterien von self-sufficiency (resp. human agency) versus dependence (resp. divine agency), und, damit zusammenhängend, von philosophy versus apocalypticism. Bezüglich des erstgenannten Duals ist Engberg-Pedersen m. E. im Recht, beim zweitgenannten aber kaum (vgl. die vorherige Anm.). Die Gotteserkenntnis ihrerseits hat bei den beiden Denkern einen derart unterschiedlichen Stellenwert, dass sie schwer vergleichbar ist, zumal sie bei Paulus christologisch vermittelt ist. Ausserdem lädt die Konvergenzformel knowledge (of God) as alignment with God nicht primär die Stoiker, sondern vielmehr die Platoniker mit ihrer ὁμοίωσις θεῷ zum Gespräch mit Paulus; Epiktet dürfte gerade an diesem Punkt platonische Motive rezipiert haben (vgl. unten Anm. 98), was vielleicht auch für Paulus gilt (so G. H. van Kooten, Paul’s Anthropology in Context. The Image of God, Assimilation to God, and Tripartite Man in Ancient Judaism, Ancient Philosophy and Early Christianity [WUNT 232], Tübingen 2008). Auch bei anderen Thesen des Buchs legen sich statt stoischer eher platonische Bezüge nahe, vgl. die Rezension von R. Hirsch-Luipold, EChr 3 (2012) 122–133.
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hin befragt werden, ob sie die historischen Phänomene noch angemessen vergegenwärtigen und nicht ungebührlich verzerren. So ist es nicht ratsam, Figuren, die sich erst im Lauf der christlichen Theologiegeschichte herausgebildet haben – beispielsweise die Kontrastierung von Selbsterlösung und Gnade – an philosophische Texte, die in ganz anderen Kontexten zu situieren sind, heranzutragen. Umgekehrt zeigen uns die anfänglich vorgestellten christlichen Rezensionen des Encheiridion, dass Grenzziehungen zwischen den beiden Bereichen ihrerseits erheblichen geschichtlichen Variationen unterliegen. 2.4 Diskursmodelle Angeregt von philosophischen Diskurstheorien lassen sich urchristliche und philosophische Texte der frühen Kaiserzeit darauf hin befragen, inwieweit sie aktuelle ‚Diskurse‘ dokumentieren und ihrerseits bestimmte Positionen beziehen.34 Sie sind also engagiert in argumentativen Dialogen über die Wahrheit von Behauptungen und die Legitimität von Normen. Das klassische Geschäft von Exegeten und Philologen, die Sortierung von ‚Parallelen‘, stellt einschlägiges Material für die Identifizierung von Themen und für die Rekonstruktion von Rezeptionserwartungen zusammen.35 Auf dem weltanschaulichen Markt der frühen Kaiserzeit, einer für antike Verhältnisse hochgradig globalisierten Welt, bieten sich sowohl Philosophien wie Religionen als Führerinnen zur Lebenskunst und als Weg zum Glück an.36 Ihre Diskurse handeln von den fundamentalen Fragen der Lebensorientierung – Schicksal und Freiheit; Leben, Tod und Jenseits – und von den ethischen und praktischen Problemstellungen rund um Ehe, Besitz, Sklaverei, Freundschaft und Alter.37 Sie lassen sich etwa mit Hilfe von Theorien sozialer oder personaler Identität profilieren.38 34 Zur Hochkonjunktur des Diskursbegriffs in den letzten Jahrzehnten vgl. die summarischen Bemerkungen von K. Gründer, Vorbemerkungen, zu: HWPh 9 (1995) 84–86. 35 So spielen Epiktets Texte im „Neuen Wettstein“ eine prominente Rolle; s. unten S. 430–437. 36 Zur Philosophie als exercice spirituelle vgl. P. Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, dt. Übs. Berlin 1991 (Frankfurt 22005). Zu den methodischen Problemen bei der Identifizierung von Schnittstellen zwischen antiker Philosophie und Neuem Testament vgl. meinen Aufsatz: „Mitten auf dem Areopag“, EChr 3 (2012), 296–320, hier: 298–300, Abdruck in diesem Band: 321–342, hier: 322–324. 37 Instruktiv ist in unserem Zusammenhang der folgende Sammelband: T. Rasimus / T. Engberg-P edersen (Hg.), Stoicism in Early Christianity, Peabody 2010. Behandelt werden u. a. Fragen der Ethik und des Gesetzes bei Paulus, die Darstellung Jesu als Lehrer bei Mt, der ‚emotionale‘ Jesus im Johannesevangelium, die Weltbrand-Eschatologie (2 Petr), das Thema der Sklaverei und der Willensfreiheit. 38 So spielt Epiktet bei V. H. T. Nguyen, Christian Identity in Corinth. A Comparative Study of 2 Corinthians, Epictetus and Valerius Maximus (WUNT II/243), Tübingen 2008, eine wichtige Rolle in der Rekonstruktion der Interaktionen zwischen den Korinthern und Paulus. Auch die „Weltdistanz“, die zum Vergleich von Urchristen und Epiktet einlädt, wäre heute auf der Basis von Theorien sozialer Identität zu reformulieren. Vgl. H. Braun, Die Indifferenz gegenüber der Welt bei Paulus und bei Epiktet, in: ders., Gesammelte Studien zum Neuen Testament und
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Es ist attraktiv, Epiktets Lehrgespräch über die Eleutheria in den zeitgenössischen Diskursen über die Freiheit zu verorten,39 an denen sich auch Exponenten von Partialkulturen wie der jüdischen und der christlichen beteiligten. Zu beachten ist dabei, dass die Freiheitsdiskurse auch implizit oder explizit politische Akzente setzen, etwa im Verhältnis zur imperialen Ideologie.40 Wir beschäftigen uns im Folgenden exemplarisch mit dem spezifisch theologischen Profil des Freiheitsverständnisses Epiktets. Zugrunde gelegt wird die Annahme, dass sein Verständnis von Freiheit zwar ein deutlich erkennbares individuelles Kolorit aufweist, sich aber grundsätzlich doch in die klassische stoische Konfiguration einzeichnen lässt.41
3. Der göttliche Grund der Freiheit nach diss. 4,1:85–110 3.1 Grundlegende Unterscheidungen Epiktet geht in seinem Lehrgespräch von einer weithin konsensfähigen Definition von Freiheit aus: die Freiheit, zu leben, „wie man will“ (§ 1).42 Die Argumentation steuert über mehrere Gänge auf ein Verständnis von Freiheit zu, das seiner Umwelt, Tübingen 31971, 159–167. 343 f; W. Schrage, Die Stellung zur Welt bei Paulus, Epiktet und in der Apokalyptik. Ein Beitrag zu 1 Kor 7,29–31, in: ders., Kreuzestheologie und Ethik im Neuen Testament, Göttingen 2004, 59–86; R. Weber, Die Distanz im Verhältnis zur Welt bei Epiktet, Jesus und Paulus, in: B. Kollmann W. Reinbold / A. Steudel (Hg.), Antikes Judentum und frühes Christentum, FS H. Stegemann, Berlin 1998, 327–349. 39 Als besonders herausragende Texte der frühen Kaiserzeit sind neben Epiktet, diss. 4,1, und Paulus, Röm 6–8; Gal 4/5; 1 Kor 9/10, zu nennen: Dion, or. 14–15; 80; Philon, prob.; verschiedene Texte von Seneca; sodann Cicero, parad. 33–41 (omnes sapientes liberos esse et stultos omnes servos); Persius, sat. 5; Ps.-Andron. Rhod., pass. 9,7. Nicht erhaltene Traktate „Über die Freiheit“ oder „Über Knechtschaft (und Freiheit)“ werden u. a. Antisthenes (Diog. Laert. 6,16) und Kleanthes (Diog. Laert. 7,175 = SVF 1, 481) zugeschrieben. Wichtige Quellentexte stellt Willms, Epiktet (s. Anm. 31) 63–83; 89 zusammen. Sein Versuch, eine „stoische Urschrift“ namentlich aufgrund von Übereinstimmungen zwischen Epiktet und Philon zu postulieren, ist m. E. wie viele andere literarkritische Modelle, die auf die Quellenkritik des 19. Jh. zurückgehen, zum Scheitern verurteilt: Die Parallelen erweisen sich als so partiell, dass sie mit der Annahme von gemeinsamem Traditionsgut ausreichend erklärt werden können. Die methodisch viel anspruchsvollere Hypothese einer gemeinsamen Quelle lässt sich nicht plausibilisieren (vgl. dazu bereits Vollenweider, Freiheit [s. Anm. 32] 28 f). 40 Münzen, Inschriften und Literatur belegen die Zugkraft des ideenpolitischen Schlagworts „Freiheit“; so beanspruchte der Prinzipat, die res publica und ihre libertas wiederhergestellt zu haben. 41 Vgl. M. Forschner, Epiktets Theorie der Freiheit im Verhältnis zur klassischen stoischen Lehre (Diss. IV 1), in: Vollenweider, Epiktet (s. Anm. 1) 97–117, hier: 101. Anders jetzt E. Asmis, Choice in Epictetus’ Philosophy, in: A. Yarbro Collins / M. M. Mitchell (Hg.), Antiquity and Humanity. Essays on ancient Religion and Philosophy, FS H. D. Betz, Tübingen 2001, 385– 412, die Epiktet eine neue Freiheitskonzeption zuschreibt („Epictetus, in sum, offers a new concept of human freedom, according to which the power of choice [sc. prohairesis, S. V.] confers on each person the freedom to determine one’s own character“, 412). 42 Diese gängige Formel begegnet z. B. auch bei Paulus: Gal 5,17; Röm 7,15–19.
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sich für die vom Meister in die Unterredung einbezogenen virtuellen Schüler mit überraschenden Entdeckungen verbindet: Der soziale Status mit all seinen Implikationen trägt nicht nur nichts bei zum Erwerb der Freiheit, sondern entpuppt sich sogar als „schönste und glänzendste Sklaverei“ (§ 40). Dies gilt zumal dort, wo einer nur noch den Kaiser als „Herrn über alle“ über sich weiss (§ 12 f). Zentral für den Befreiungsprozess ist das unablässige Einüben jener kognitiven Operation, welche die allgemeinen Vorstellungen (προλήψεις) mit den konkreten Lebensverhältnissen konfiguriert (ταῖς ἐπὶ μέρους οὐσίαις, § 41 f).43 „Suche, und du wirst finden!“ (§ 51).44 Wer nicht von selber dank der dem Logos entsprechenden natürlichen Fähigkeiten zur Wahrheit gelangt, kann sich an bewährten Wahrheitszeugen orientieren (§ 51 f); faktisch ist hier der aktuell Lehrende mindestens mitgemeint. Epiktet steuert die Unterredung, die in diesem Teil (§ 51–75) besonders stark als sokratischer Dialog gestaltet ist,45 auf seine elementare Formel der Unterscheidung dessen, was „uns zuhanden“ und „uns nicht zuhanden“ ist, zu (§ 65, τὰ μὲν ἐφ᾽ ἡμῖν ἐστιν, τὰ δ᾽ ἐπ᾽ ἄλλοις, vgl. diss. 1,1).46 Am Körper selber wird, geradezu hautnah, der Bereich des Fremden, des ἀλλότριον, erfahrbar (§ 76–80), plastisch verbildlicht im Gleichnis eines bepackten Esels, den man notfalls auch „lassen“ muss, ganz zu schweigen vom Zubehör und Gepäck (§ 79 f). Bereits in diesem Abschnitt macht sich ein entscheidender Bezugstext, ein Prätext, bemerkbar, der später explizit zu Wort kommen wird: das Gebet des Kleanthes. Wird der Esel von anderen requiriert (angareia), so gilt: „Lass ihn gehen, widerstrebe nicht und murre nicht – andernfalls wirst du den Esel genauso einbüssen, nur mit Schlägen“. Im „genauso … nur“ (wörtlich „nichts desto weniger“, οὐδὲν ἧττον) spielt Epiktet an auf Kleanthes’ Vers „Wenn ich aber nicht (folgen) wollte, wäre ich ein feiger Schwächling und müsste euch nichtsdestoweniger (οὐδὲν ἧττον) folgen“ (ench. 53,1).
43 Zum Verständnis der Prolepsen im Kontext der Oikeiosislehre vgl. M. Forschner, Die stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach‑ und Moralphilosophie im altstoischen System, Darmstadt 21995, 151–156 (πρόληψις als „ein umrisshafter, unbestimmter, undifferenzierter Vorgriff “, der von einem bestimmten Begriff bzw. einer Definition zu unterscheiden ist; Epiktet ist „hier wohl altstoischem Gedankengut verpflichtet“, 153). Vgl. ders., Theorie (s. Anm. 41) 111. 44 Zum Bezug zur Jesustradition (Mt 7,7; usw.) vgl. Willms, Epiktet (s. Anm. 31) 263–265 sowie H. D. Betz, A Commentary on the Sermon on the Mount, including the Sermon on the Plain (Hermeneia), Minneapolis 1995, 501–504 und unten bei Anm. 128. Die Sentenz ist so weit gestreut, dass sie keine Benutzung des Neuen Testaments durch Epiktet belegt. 45 Auf das sokratische Design der Dissertationes hat besonders Long, Epictetus (s. Anm. 21) 67–96 u.ö. hingewiesen („Socrates, rather than any Stoic philosopher or even the Cynic Diogenes, is Epictetus’ favoured paradigm, not only as a model for life but also as a practitioner of philosophical conversation“, 4), hier auch verbunden mit Kritik an Bonhöffer (166 f; 176). 46 Zu Herkunft und Hintergrund der Formel vgl. R. F. Dobbin, Epictetus, Discourses Book I, Oxford 1998, 65–68; Willms, Epiktet (s. Anm. 31) 328–337.
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Mit der Aufforderung, unablässig die elementare Unterscheidung von „Eigenem“ und „Fremdem“ zu üben (§ 81), die wiederum im Bereich von Körper und Besitz die Freiheit von Angst und Begehren eröffnet, ist die Plattform für die uns interessierende theologische Deutung etabliert.47 Bereits § 82 hat vorausweisenden Charakter: Die Bestimmung über das Wesen des Guten und Schlechten fällt in den Bereich des Eigenen. „Wer kann es dir wegnehmen, wer kann dich behindern? Ebenso wenig kann man Gott behindern.“ Dies wird in § 90 wieder aufgenommen.48 3.2 Das Gleichnis von der Burg und das Basisprinzip (§ 85–90) Im Abschnitt § 85–110 arbeitet Epiktet mit drei aufeinander folgenden Gleichnissen, die jeweils fliessend in allgemeine Aussagen übergehen: Burg, Reisegesellschaft und Festversammlung. Die Befreiung von der Furcht wird verbildlicht mit der Zerstörung der inneren Burg (akropolis), dem Sitz der Tyrannen. Die Metapher überrascht zunächst, da man die innere Festung eher als positives Sinnbild für die uneinnehmbare Position des Denkvermögens erwartet hätte.49 Sie hat hier aber den Charakter der Zwingburg, die man niederreissen oder wenigstens entvölkern soll. Mit dem erneuten „Lassen“ des Körpers und seiner Teile, von Besitz, Ehrungen, Kindern, Geschwistern und Freunden (vgl. § 66 f) wechseln wir wieder auf die Sachebene (die eher an einen defensiven Rückzug denken lässt). Über das Bildelement von den Leibwächtern, die ihren bedrohlichen Charakter verloren haben, fokussiert der Meister nun auf den Willen, der von keinem Zwang mehr behindert wird (§ 88), und damit auf die Leitdefinition am Anfang der Unterweisung (§ 1). Wir stehen vor einem Scharnier der Argumentation, weil 47 Die Strukturierung unseres Lehrgesprächs durch das Nacheinander eines ‚profanen‘ bzw. ‚säkularen‘ Teils als Tradition (§ 6–90) und eines ‚theologischen‘ Teils als Interpretation (§ 91– 131) durch D. Nestle, Eleutheria. Studien zum Wesen der Freiheit bei den Griechen und im Neuen Testament, Bd. 1: Die Griechen (HUTh 6), Tübingen 1967, 125–128; 134 (zustimmend Gretenkord, Freiheitsbegriff [s. Anm. 31] 195 f), hat keinen Anhalt am Text (bereits § 89 f stellt eine theologische Klimax dar, die durch die Unterscheidung von „Eigenem“ und „Fremdem“ eng mit der ab § 62 entfalteten Argumentation verbunden ist) und arbeitet mit (redaktionsgeschichtlichen) Kategorien, die sich bei Epiktet nicht bewähren (das richtige Applizieren der allgemeinen Vorstellungen auf die konkreten Lebensumstände in § 41 f ist eine spezifisch epiktetische Konzeption, ohne dass sie deswegen unstoisch wäre; vgl. oben Anm. 43). 48 Dieser Verweis auf Gott unterscheidet sich von diss. 1,1:23, wonach Zeus als höchster Repräsentant des „Fremden“ die eigene Prohairesis nicht bezwingen (νικῆσαι) kann. Dazu M. Graver, Not even Zeus. A Discussion of A. A. Long, Epictetus: A Stoic and Socratic Guide to Life, Oxford Studies in Ancient Philosophy 25 (2003) 345–361, hier: 348 f. 49 Prägnant ist vor allem die Äusserung Marc Aurels: „Deshalb ist die von Leidenschaften freie Denkkraft eine feste Burg (ἀκρόπολίς ἐστιν ἡ ἐλευθέρα παθῶν διάνοια); denn nichts Stärkeres hat der Mensch“ (8,48:3), als Leitmotiv bei Hadot, Philosophie (s. Anm. 36) 156–184. Vgl. Sen., ep. 82,5. Negativ konnotiert ist die Festung etwa auch bei Philon, fug. 148 („Zwingburg der Lust“), positiv Abr. 150 vom Ort der Augen, dem königlichen Sinn, spec. 3,184 vom Kopf, spec. 4,49 von der Seele.
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nun das theologische Bekenntnis „Ich habe mein Streben Gott anheim gestellt“ eine neue Dimension der wahren Freiheit eröffnet und zur Formulierung des Basisprinzips führt (§ 89–90).50 Das Bekenntnis selber verdichtet den stoischen Gedanken der Einfügung in die göttliche Weltordnung.51 Beim „Streben“ (ὁρμή) handelt es sich um einen gängigen Terminus für die menschlichen Antriebe, also den Bereich der Willensbewegungen, des θέλειν und βούλεσθαι (vgl. § 99), die vom Logos geformt werden müssen.52 Die folgenden kurzen Sätze in § 89/90 formulieren in äusserster Zuspitzung; die Rhetorik arbeitet mit provokanten Paradoxien. Der Wille Gottes determiniert den Willen des Subjekts nicht nur vollumfänglich, sondern bestimmt auch seine Intentionalität – das Ich „will“ Peristasen wie Fieber, Tod und Folter. Die scheinbare Fremdbestimmung wird schliesslich aufgefangen durch die Analogisierung mit Zeus selber (vgl. § 82).53 Das Basisprinzip besteht also in der vollständigen Konvergenz des Willens des (menschlichen) Subjekts mit dem Willen Gottes, eine Konvergenz, die im Zeichen der wahren Freiheit steht. Es reflektiert die traditionelle Figur des stoischen Determinismus, der einerseits zwar die Willensfreiheit ganz im Geflecht
50 Auffällig ist die perfektische Formulierung des Bekenntnisses, die sich auch im vorangegangenen Satz spiegelt (οὐπώποτε, mit zwei Verben im Aorist). Spielt Epiktet hier an auf seinen Status als einer von denen, die die Wahrheit gesucht und gefunden haben (§ 51)? 51 Das Verb προσκατατάσσειν, das bei Epiktet nur in diss. 4,1 begegnet, meint die Einordnung unter eine übergeordnete Grösse (vgl. unten § 91.98) und berührt sich mit κατατάσσειν, das in ench. 31,1 die Eusebeia, das angemessene Verhalten gegenüber den Göttern, beschreibt und mit „gehorchen“, „sich fügen“ und „freiwillig folgen“ expliziert wird. Besonders prägend ist das Sokrateswort in Platons Apologie 28e (τάξις), das diss. 1,9:24 unter dem Einfluss von leg. 12: 945a (εἰς τάξιν κατατάξῃ) reformuliert wird: „Gott hat uns einen bestimmten Platz und eine bestimmte Lebensform zugewiesen (κατατέταχεν), die wir nicht verlassen sollen“; vgl. 3,14:114 (εἰς τοιαύτην ὑπηρεσίαν κατατεταγμένος); 2,1:39; 1,13:4 (von einer übergeordneten Stellung). Unsere Formulierung in § 89–99 drückt mit dem zusätzlichen Compositum πρoς‑ auch noch jene dynamische Richtungsbestimmung aus, die aus dem Prätext des Kleanthes stammt („führe mich […] dahin“, § 131). προσκατατάσσειν (LSJ 1516a: „subjoin, append; assign; attach“) begegnet nur gelegentlich in der griechischen Literatur (Polyb. 3,20:1 [Reden hinzufügen]; Philon, opif. 131 [Süsswasser der Erde zuweisen; vgl. 38]; Cornut., nat. deor. 32,3 [Feuchtes in Äther überführen]; OGIS 56,27 [hinzugefügte Priester]). Vgl. Willms, Epiktet (s. Anm. 31) 489 f. 52 Zenon hat einen Traktat περὶ ὁρμῆς ἢ περὶ ἀνθρώπου φύσεως verfasst (Diog. Laert. 7,4 = SVF 1, 41); vgl. ferner M. Pohlenz, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Bd. 2, Göttingen 61991, 52; 77; 80 f. Textintern sind die Bezüge der ὁρμή auf das θέλειν durch den voranstehenden wie den nachfolgenden Satz deutlich. 53 Für diese Analogie bietet diss. 2,17:22–25 eine instruktive Parallele: „Mit einem Wort: Wolle nichts anderes, als was Gott will. Wer wird dich dann noch behindern, wer dich zwingen? Ebenso wenig wie (man) Zeus (zwingen kann)! Wenn du einen solchen Führer hast und mit ihm eines Willens und eines Wunsches bist, was fürchtest du dann noch an Fehlschlägen?“ Epiktet rät auch hier dazu, sich nicht zu binden an Reichtum, Armut, Gesundheit, Ehre, Vater, Heimat, Freunde und Kinder, die alle nicht unserem Verfügungsbereich zugehören.
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der kosmischen Kausalketten aufhebt, andrerseits aber das Freiheitspathos steigert.54 Offenkundig spiegelt Epiktet hier absichtsvoll zwei verschiedene Modi von Freiheit ineinander, diejenige des Entscheidens (Freiheit als Immer-auch- anders-Können) und diejenige des Wollens (die in der nachmaligen lateinischen Theologie bei Marius Victorinus und besonders bei Augustin zur Entfaltung der Willensmetaphysik geführt hat). Die Passage ist so stark von paradoxaler Rhetorik bestimmt, dass man sie nicht vorschnell mit frühchristlichen Texten kontrastieren sollte. Epiktet am nächsten steht die Szene in Getsemane, wo Jesus Gottes Willen seinem eigenen vorordnet: „Abba, Vater, alles ist dir möglich. Lass diesen Kelch an mir vorübergehen! Doch nicht, was ich will, sondern was du willst“ (Mk 14,36; vgl. Mt 26,39; Lk 22,42).55 Die nur bei Markus vorkommende Allmachtsformel hält die – nicht realisierte – Möglichkeit offen, dass Jesu eigener Wille, dem Leiden zu entgehen, sich verwirklichen liesse. Der Vers, der in der altkirchlichen Zweinaturenchristologie intensiv debattiert worden ist, scheint es im Kontrast zu Epiktet bei einem ‚produktiven‘ Gegenüber von zwei Willensbewegungen zu belassen – eine Asymmetrie von erheblichem anthropologischem Gewicht. Der Unterschied des Genre will freilich beachtet sein: Während Epiktet in einem argumentativen Text das Resultat einer geradezu lebenslänglich vollzogenen Übung (askesis) in präsentischen Paradoxien versprachlicht, markiert die Getsemane-Erzählung der Evangelien eine Station auf dem Passionsweg Jesu, der die vollständige Konvergenz der beiden Willensbewegungen narrativ zur Darstellung bringen wird: Jesus ergibt sich als leidender Gerechter in den Gotteswillen bis zum Tod am Kreuz. Keine direkte Relevanz für die von uns hier diskutierte Thematik hat die Problematisierung der Einheit des menschlichen Willensbereichs.56 Sowohl Epiktet (diss. 2,17:18 f; 2,26:1 u.ö.) wie Paulus (Röm 7,15–19) sprechen vom inneren Zwiespalt des Menschen und orientieren sich dabei an einer in der Antike verbreiteten Figur, die auf die Gestalt der euripideischen Medea zurückführt. Die zugrunde liegenden anthropologischen Konzeptionen sind zwar denkbar verschieden: Dem grundsätzlich monistischen Ansatz Epiktets steht der dualistische 54 Zugespitzt bei R. S. Braicovich, Freedom and Determinism in Epictetus’ Discourses, CQ 60 (2010) 202–220, der Epiktets handlungspsychologisches Freiheitsverständnis konsequent deterministisch deutet. Zur allgemeinen Diskussion des stoischen Determinismus vgl. P. Steinmetz, Die Stoa, in: H. Flashar (Hg.), Die hellenistische Philosophie (Ueberweg.Antike 4). Bd. 2, Basel 1994, 491–716, 610–612; B. Guckes, Stoische Ethik – eine Einführung, in: dies. (Hg.), Zur Ethik der älteren Stoa, Göttingen 2004, 7–29, hier: 12–17. Speziell im Zusammenhang mit Epiktet: Long, Epictetus (s. Anm. 21) 220–222 („the autonomous person as someone who voluntarily complies with a predetermined situation“, 222) sowie Forschner, Theorie (s. Anm. 41) 117 f. 55 Die Übersetzung biblischer Texte richtet sich meistens nach der Zürcher Bibel 2007. 56 Der optimistischen Anthropologie Epiktets lässt sich dann diejenige des Paulus gegenüberstellen, die zwar nicht pessimistisch ist, aber Sünde nicht im kognitiven Bereich, sondern im Willensbereich platziert; vgl. z. B. Schnelle, Paulus und Epiktet (s. Anm. 31) 156 f.
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des Paulus gegenüber.57 Es fällt aber auf, dass beide das für die Medea-Rezeption traditionelle Schema des Gegensatzes von Erkennen und Trieb, von Vernunft und Leidenschaft, durch eine weit radikalere Deutung überlagern: Der Zwiespalt im Inneren ist überhaupt nur retrospektiv durchschaubar geworden; erst das Ereignis der Befreiung lässt es zur Erkenntnis der Sklaverei kommen. Dabei sprechen beide von der Unfreiheit gut traditionell als dem „Tun, was ich nicht will“.58 Freiheit wird präsentiert als Anerkennung dessen, was ohnehin nicht zur Disposition steht und nicht anders sein kann, als es der Fall ist. Das klassische Bild der Stoiker stellt der an einen Wagen festgebundene Hund dar, der entweder aus eigenen Stücken mitgeht oder aber mitgeschleift wird.59 3.3 Das Gleichnis von der sicheren Reisegesellschaft (§ 91–98) Das Gleichnis von der Reisegesellschaft changiert zwischen Bildrede und eigentlicher Rede: Mit οὕτως (§ 91) wird das Bild eingeführt, ebenfalls mit οὕτως erfolgt der Wechsel zur Sachebene, nämlich zur kosmischen Position des Verständigen (§ 92.98), dessen Selbstgespräch wieder auf der Bildebene spielt (§ 92–97). Mit seinen Hinweisen auf hoch gestellte Personen, besonders den Status des Freunds des Kaisers, wird Bezug genommen auf frühere Passagen (§ 8–15; 45–50). Das Selbstgespräch endet ironisch in einer Aporie – selbst in der Einöde gibt es keinen Schutz vor negativen Mächten (§ 97). Erst der Anschluss an Gott ermöglicht eine sichere Reise. Die Philosophie spielt hier ihre in hellenistischer und kaiserzeitlicher Zeit zentral gewordene Rolle als Ratgeber für den Umgang mit jederzeit drohenden Kontingenzen und antwortet auf ein Anliegen, das auch die zeitgenössischen Religionen, das Christentum so gut wie Mysterienreligionen und magische Praktiken bearbeiten. Die traditionelle und überaus reiche Metaphorik des Wegs deckt ein breites Spektrum ab. Die hauptsächliche Konnotation, die auch bei Epiktet reichhaltig begegnet, ist diejenige des Zusammenhangs von Weg und Ziel. So spricht unser Lehrgespräch summierend vom Weg zur wahren Freiheit (§ 131).60 Das Reisegleichnis in diss. 2,23:36–39 rät dazu, Raststätten wieder zu verlassen, um zur Heimatstadt zu gelangen (εἰς τὴν πατρίδα ἐπανελθεῖν).61 Auch wo Gott (2,7:10 f) oder der wahre Kyniker (3,22:26) den rechten Weg weisen, ist das Ziel im Blick.62 57 Zum Verhältnis zwischen Epiktet und Röm 7 vgl. Huttunen, Contradiction (s. Anm. 31), ferner Vollenweider, Freiheit (s. Anm. 32) 350–352. 58 Vgl. oben bei Anm. 42. Das Versklavtsein wird bei Epiktet deswegen nicht so ausweglos wie bei Paulus wahrgenommen, weil es wesentlich auf falschem Denken beruht. 59 Chrysipp (?), SVF 2, 975; vgl. Pohlenz, Stoa (s. Anm. 52), Bd. 1, Göttingen 82010, 106; Steinmetz, Stoa (s. Anm. 54) 611 f; weiteres bei Vollenweider, Freiheit (s. Anm. 32) 75 f. 60 Vgl. 4,4:39 vom Weg zur wahren εὔροια. 61 Auch hier wird explizit der Bezug zur Freiheit hergestellt (§ 42), verbunden mit dem „mit ganzem Herzen“ zu sprechenden Gebet des Kleanthes. 62 Vgl. ferner 1,16:18; 2,2:16; 2,12:3; 3,26:3 f; 4,2:4; 4,6:5.9; 4,9:16.
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Ähnlich steht es mit der christlichen Wegmetaphorik.63 In unserem Zusammenhang geht es dagegen ausschliesslich um das sichere Reisen – in der Sprache heutiger Lebensratgeber: der Weg ist das Ziel. Für die Reisegemeinschaft mit Gott bietet 2,17:23 eine bemerkenswerte Parallele, da hier neben der Konvergenz des Wollens auch die Analogie mit Zeus figuriert (§ 22).64 Das Leben lässt sich generell mit einer Reise vergleichen.65 3,13:9–11 stellt heraus, dass nur die Philosophie, nicht aber der Kaiser, sicheren Reiseschutz verleihen kann (vgl. § 3). Es gibt durchaus neutestamentliches Vergleichsmaterial: Die Nachfolge auf Jesu Weg, wie ihn die Evangelien darstellen, ist transparent für den Lebensweg der Christusgläubigen (Mk 8,27–10,52, besonders 8,34). Dieser ist freilich auch wieder auf ein Ziel hin orientiert, nämlich auf die Passion und das Kreuz. Epiktets göttlicher Reisegesellschaft am nächsten kommen wir mit der Topik des „Mitseins“ Jesu bzw. Gottes mit den Glaubenden (Mt 28,20; vgl. 1,23; 18,20; Joh 14,16 f [vom Geist]), welche die gesamte biblische Tradition des Mitgehens Gottes mit seinem Volk, insbesondere während der Wüstenwanderung, summiert. Obschon der Lebensweg die Stoiker in widrige Umstände und die Christen in das Martyrium führen mag, gibt die Gemeinschaft mit Gott ultimative Sicherheit. Der Vergleich führt uns also wieder in den Bereich der Passionsgeschichte! Während für die Christen der Gottessohn und somit der in diesem präsente Gott selber den Weg des Leidens geht, sieht sich der Stoiker gewiesen an Vorbilder, die paradigmatisch das Ringen mit den Widrigkeiten des Lebens vor Augen stellen, zumal an Herakles und Sokrates. Zwar ist auch ihr Gott im Kosmos gegenwärtig, aber da er das harmonisch gefügte Ganze repräsentiert, ist er den immer nur einzelne Teile betreffenden Turbulenzen nicht ausgesetzt. 3.4 Das Gleichnis von der Festversammlung (§ 99–110) Das Gleichnis von der Reisegesellschaft endet in einem radikalen Rückzug aus dem Bereich des Ungewissen, der nicht einmal in der Einsamkeit der Einöde haltmacht, sondern gleichsam in die Unweltlichkeit versetzt. Dieser Reduktionsbewegung auf einen einzigen Punkt, der mit Gott identifiziert wird, kommt nun eine expandierende Bewegung entgegenzustehen, die in die Weite des Kosmos und die universale Gemeinschaft hinaus weist. Mit dem erneuten Rückgriff auf das theologische Bekenntnis und das Prinzip von § 89 baut Epiktet sukzessive ein neues Gleichnis auf, das sich mit kosmologischen Deutungen verbindet. Im Fokus stehen nun die Willensbewegungen Gottes und sein ordnendes Wirken im Kosmos. Die Basisunterscheidung von 63 Vgl. den Überblick (auch zur Umwelt) von W. Michaelis, Art. ὁδός κτλ., ThWNT 5 (1954) 42–118 sowie die bei Willms, Epiktet (s. Anm. 31) 709 genannte Literatur. 64 Vgl. oben Anm. 53 65 Diss. 2,5:10 von der Seereise, wo „einiges an mir liegt, anderes aber nicht“; vgl. ferner 2,16:24; 1,9:9; 2,17:37 f; in 3,24:93 wird die Abreise mit dem Sterben verglichen.
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„Eigenem“ und „Anderem“ wird theologisch akzentuiert: Im Bereich des Eigenen figuriert die freie Selbstbestimmung, die prohairesis,66 der Bereich des Anderen wird der Gottheit und ihrem Walten, dem „Kreislauf des Alls“, zugemessen (§ 100): Körper, Besitz sowie Haus, Kinder und Frau (vgl. § 66 f; 87; 107; 111). Alles, wovon sich der Verständige innerlich als dem Bereich des Fremden getrennt hat, kommt ihm nun wieder zu – im Modus der Gabe.67 Die geradezu schöpfungstheologischen Fragen von § 102 stellen heraus, dass alles gütige Gabe des Gottes ist68 – freilich gegeben nur auf Zeit. Epiktet arbeitet gern mit der Metaphorik der städtischen Götterfeste bzw. der Schau der kosmischen Phänomene.69 Ihr gesellt sich das gleichfalls traditionelle, auf Pythagoras zurückgehende Bild des Jahrmarkts, der verschiedene Rollenangebote bereithält, zur Seite; den Philosophen ist das schlichte Schauen (theoria) zugedacht (2,14:23–29).70 Das Bild vom Kosmos als einem prächtigen Fest mit Versammlung und Umzug (πανήγυρις, πομπή), das zur Schau einlädt und alles feierlich zu einem Ganzen zusammenfügt („die gegenseitige Verbindung und Gemeinschaft“, § 102), bringt am pointiertesten das theologische Fundament des epiktetischen Freiheitsverständnisses zum Ausdruck. Die Welt ist die vollkommene Repräsentation der den Kosmos durchwaltenden Gottheit. Ihre Schau ruft nach Verehrung und Dankbarkeit, nach Anbetung und Lobpreis (§ 105 f).71 In seinem Lehrgespräch über die „Pronoia“ deutet Epiktet sein eigenes Amt als das Singen von Gotteshymnen:72 „Denn was kann ich, ein hinkender alter Mann, sonst noch, ausser Gott zu preisen? Wenn ich eine Nachtigall wäre, würde ich wie eine Nachtigall, und wenn ich ein Schwan wäre, 66 Zur Prohairesis vgl. Forschner, Theorie (s. Anm. 41) 106–109; ferner W. O. Stephens, Stoic
Ethics. Epictetus and Happiness as Freedom, London 2007, 16–25 („Prohairesis as self “) und die Diskussion von Engberg-Pedersen, Cosmology (s. Anm. 33) 2010, 212–214 („true human self “) mit Long, Epictetus (s. Anm. 21) 28–30; 207–220 („volition“). 67 Zur Semantik des Gebens vgl. Willms, Epiktet (s. Anm. 31) 528–532. 68 Es ist nicht ganz klar, ob „mein Vater“ in § 102, der dem Sprechenden all „das“ gegeben hat, den irdischen oder den göttlichen Vater meint. Zwar spricht Epiktet von Gott gern als Vater (diss. 1,3; 3,11:5 u.ö.). Da aber in § 102 von „meinem Vater“ mehrfach ein τίς, d.h der Schöpfer, unterschieden wird, ist eher an den irdischen zu denken (wie in § 8; vgl. § 43); anders Willms, Epiktet (s. Anm. 31) 534 f. 69 Vgl. zum Hintergrund H. Rausch, THEORIA. Von ihrer sakralen zur philosophischen Bedeutung (Humanistische Bibliothek R. 1, 29), München 1982, und das Material bei Vollenweider, Freiheit (s. Anm. 32) 37–39. Es fällt auf, dass Epiktet das Teilhaben am kosmischen Fest meist assoziiert mit der Notwendigkeit, auch heiter Abschied nehmen zu können (neben unserer Passage vgl. 3,5:10; 2,16:32 f; 3,13:14–16). 70 Ihren klassischen literarischen Niederschlag hat die Festmetaphorik gefunden im Schlussteil von Plutarchs De tranquillitate animi (20: 477 c–f), angereichert mit platonischer Abbildtheorie und Mysterienterminologie. 71 Vgl. diss. 1,6:19–21 (Über die Vorsehung); 3,26:30. 72 Diss. 1,16:20 f, Übs. R. Nickel (Epiktet, Teles und Musonius. Wege zum Glück [BAW.GR], Zürich 1987).
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wie ein Schwan singen. Nun bin ich aber ein vernunftbegabter Mensch. Also muss ich Gott preisen. Das ist meine Aufgabe. Ich erfülle sie und werde meinen Posten nicht verlassen, so lange es mir gegeben ist, und ich fordere euch auf, mit einzustimmen.“
Mit dem Hinweis auf den zugewiesenen Posten (τάξις) und die Befristung („so lange es gegeben ist“), schiebt sich freilich bei Epiktet notorisch die Situation des Abschiednehmens in den Vordergrund, wie auch in unserer Passage (4,1:101.104– 110).73 Die Konvergenz des göttlichen und des menschlichen Wollens kulminiert im guten, befriedeten Abschiednehmen-Können vom festlich bewegten Kosmos. Sogar das göttliche Geben steht im Zeichen des Entzugs. Erst wer sich auch in diese Bewegung des Abschiednehmens einzufügen weiss, ist vom Tadeln und Hadern zum Loben und Preisen, von der Theomachie zur Frömmigkeit, gelangt. Entscheidend ist auch hier das Gewahrwerden der „eigenen Kräfte“, also des Bereichs des Eigenen (§ 109): In einem Zwischengedanken deutet Epiktet auch die Tugenden, die dem Denkvermögen und der Prohairesis zugeordnet sind, als gute Gottesgaben – Grossmut, vornehme Gesinnung, Tapferkeit und die Freiheit selber (vgl. § 103) Mit § 110 wendet der Sprecher den Blick wieder zu denjenigen Gaben, die dem Bereich des Anderen, der festlich bewegten Welt, zugehören. Die Befristung gilt dem gelassenen Umgang mit den äusseren Gütern; man soll sich nicht an sie hängen. Wir wenden uns dem Neuen Testament zu. Bilder von der Welt reichen von der geruhsamen agrarischen Welt Galiläas in den Jesusgleichnissen über das schöpfungstheologische Christuslob des Kolosserbriefs (1,15–20) bis zu den katastrophischen Imaginationen der Johannesapokalypse. Es empfiehlt sich, Vergleiche mit urchristlicher Literatur strikt auf bestimmte metaphorische Signaturen zu beschränken. Zum einen ist an die Festmetaphern des Neuen Testaments zu erinnern, die allerdings nicht explizit vom Freiheitsthema berührt sind. In ihnen geht es um das kommende Gottesreich, das im Bild des Festmahls oder Hochzeitsfests verbildlicht wird.74 Selbstverständlich sind bei Juden und Christen nicht die öffentlichen städtischen Feste mit ihren kultischen Performationen im Blick, sondern private Feiern, die im Fall des christlichen Abendmahls rituelle Gestalt annehmen. Die Metaphorik des Festmahls zielt dabei nicht nur auf die Zukunft: In der Mahlgemeinschaft nehmen die Jesusanhänger das Kommende schon ein gutes Stück weit vorweg. Beziehen sie sich damit auf die nahe Zukunft – die zugleich das Ende der Welt mit sich bringt –, so antizipiert der Philosoph das Abschiednehmen im Sterben bereits hier und jetzt in der Übung 73 Zu erinnern ist an den feierlichen Schluss von Mark Aurels Selbstgespräch: „Geh nun heiter weg, denn auch der, der dich entlässt, ist heiter (ἵλεως)“ (12,36:4). 74 Jesu Mahlgemeinschaft: Mk 2,15 f par. (Zöllnermahl); Mt 11,19 par. (Jesus wird ein Schlemmer und Zecher gescholten); Mt 8,11 f par. (Endzeitmahl, vgl. Jes 25,6); Lk 14,13 f. – Hochzeitsfest: Mt 22,1–10 par. (Gleichnis vom Hochzeitsmahl); 25,1–13; Mk 2,18–20 par.; Joh 2,1–11; 3,29; Apk 19,9.
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des „Lassens“, des sich Freimachens von den Relationen, die nicht im eigenen Kompetenzbereich liegen. So steht die christliche Erwartung des Kommenden der stoischen Vorwegnahme des Vergehens gegenüber. Eigens verwiesen sei auf die endzeitliche „Festversammlung“ (πανήγυρις) von Hebr 12,22 f, zu der die Glaubenden bereits in der Gegenwart „hinzugetreten“ sind: Sie hat ihren Ort im himmlischen Jerusalem, der Gottesstadt mit ihrer Bürgerliste, gemeinschaftlich verbunden mit den Engelheeren. Wahrscheinlich haben die Christen in ihren Gottesdiensten die Teilhabe an dieser himmlischen Wirklichkeit als schon teilweise gegenwärtig gefeiert. Zum andern wenden wir uns den kosmologischen Aspekten der Freiheit zu, die Paulus in der apokalyptischen Passage Röm 8,18–22 herausarbeitet. Die Schöpfung erscheint im Bild einer Schwangeren, die sich nach dem Offenbarwerden der Gotteskinder sehnt. Brachte die verhängnisvolle Wahlfreiheit des Urmenschen, d. h. Adams (5,12–21), Tod und Leerlauf über die Schöpfung, so streckt sich diese nun seufzend, aber von Hoffnung bewegt, der endzeitlichen „herrlichen Freiheit der Gotteskinder“ entgegen, um in Bälde selber verwandelt zu werden. Der Kontrast zu Epiktets feierlich bewegter Welt, die sich den Freien erschliesst, ist denkbar gross. Hier wird der Kosmos zum Ort der Epiphanie der Gottheit, dort transformiert sich die Schöpfung im Umbruch der Äonen. An dem Punkt, wo Paulus die Hoffnung, und damit die nahe zukünftige Vollendung, situiert, steht bei Epiktet das heitere Abschiednehmen, die Antizipation des nahen Endes. Zugespitzt formuliert: Steht die Gegenwart bei Paulus im Zeichen der auf Zukunft hin offenen Hoffnung, so steht sie bei Epiktet im Zeichen des dankenden Abschieds von dem, was immer schon dazu bestimmt ist, Vergangenheit zu werden. Gleichwohl sollte das beide Freiheitsverkündiger Verbindende nicht übersehen werden: Freiheit hat einen Ort im Weltganzen; die menschliche Freiheit lässt sich geradezu als Resonanz auf den Kosmos bzw. auf die Schöpfung deuten. Damit markieren beide eine tiefe Antithese zum neuzeitlichen Verständnis von menschlicher Freiheit: Dieses begreift Freiheit als Inbegriff der Subjektivität, die der zum Objekt gewordenen Welt gegenübersteht, mehr noch: die sich dieser bemächtigt, um sie zum Gegenstand ihres unumschränkten Gestaltungswillens zu machen. Die in jüngerer Zeit sich ankündigende globale ökologische Krise zeigt die Schattenseiten der subjektivistischen Engführung des Freiheitsverständnisses. 3.5 Beten mit den Worten des Kleanthes (§ 131) Das Lehrgespräch wendet sich mit § 111, der Aufforderung zum täglichen Einüben der ars bene vivendi (vgl. § 170), der Applikation der gewonnenen Einsichten auf die Situation der Schüler zu (§ 111–177). In § 128–131 werden die Kerngedanken noch einmal summiert – das angemessene Verständnis der Freiheit
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als „Tun, was man will“, die Unterscheidung von Eigenem und Fremdem, die Zuordnung von Körper und Besitz zum Bereich des Letzteren. § 131 beschliesst diese Zusammenfassung mit feierlichem Ton und zitiert nun explizit die ersten beiden Verse des Prätexts, der die theologische Passage von Anfang an gesteuert hat: das Gebet des Kleanthes:75 „Dieser Weg führt zur Freiheit, er ist die einzige Befreiung von der Sklaverei: einmal aus ganzer Seele dies sagen zu können: Führe du mich, Zeus, und auch du, Pepromene,/ dahin, wo es von euch für mich bestimmt ist.“
Epiktet nimmt an drei weiteren Stellen seiner Lehrgespräche Bezug auf die Verse des Kleanthes (2,23:42; 3,22:95; 4,4:34).76 Durchweg wird der Text den Schülern als reminder für jedwede Lebenssituation empfohlen. Mit seiner Hilfe lernen sie, den Weg zur Freiheit einzuüben.
4. Vergleichende Perspektiven auf Epiktet und Paulus Epiktets Diatriben laden nicht nur zu einem Vergleich mit den urchristlichen Texten, die später im Neuen Testament zusammengestellt wurden, im Allgemeinen ein, sondern speziell mit den Briefen des Apostels Paulus. Unter allen Repräsentanten der Frühgeschichte des Christentums ist uns dieser am besten bekannt nicht nur als historische Persönlichkeit, sondern auch als profilierter Theologe und erfolgreicher Lehrer. Aus diesem Grund konzentrieren sich die meisten komparatistischen Studien auf diese beiden markanten und originellen Gestalten aus der frühen Kaiserzeit, auf ihr Denken und ihr Selbstverständnis, ihre Religiosität und ihre Radikalität. Im Folgenden nehmen wir einige Elemente der Freiheitsdiatribe zum Anlass, die beiden herausragenden Repräsentanten der neustoischen Philosophie einerseits und des Urchristentums andrerseits in ein Gespräch zu verwickeln. Dabei sehen wir von einem Systemvergleich ab und begnügen uns mit einigen Perspektiven, die sich aufgrund von diss. 4,1 nahelegen.77 75 Zum Stellenwert des Kleanthesgebets (SVF 1, 527) im Werk Epiktets vgl. Nestle, Eleutheria (s. Anm. 47) 132 f; B. Wehner, Die Funktion der Dialogstruktur in Epiktets Diatriben (Philosophie der Antike 13), Stuttgart 2000, 118–123 und besonders Willms, Epiktet (s. Anm. 31) 710– 717 (mit breiter Diskussion der Frage, ob das Sprechen des Gebets das Zeichen der Freiheit oder aber der Weg zu ihr sei [so Wehner, aaO. 121 Anm. 128]). Die vollständigere Fassung bietet erst ench. 53, hier als ständig griffbereite ‚eiserne Ration‘ am Ende (53,1; der lateinische Text findet sich bei Sen., ep. 107,11). Das Gebet muss klar unterschieden werden vom grossen Zeushymnus desselben Verfassers (s. dazu unten Anm. 111). 76 Vgl. oben vor Anm. 47. 77 Nicht berücksichtigt wird etwa die Analogie zwischen Epiktets Porträtierung des wahren Kynikers als gottgesandtem Boten (3,22:46 f; dazu M. Billerbeck [Hg.], Epiktet vom Kynismus [Diss. III 22] [PhAnt 34], Leiden 1978) und Paulus’ Selbstverständnis als Apostel Jesu Christi, die beide auf die Ehe verzichten, den Körper in ihrem Dienst verzehren und von Widrigkeiten (‚Peristasen‘) heimgesucht werden.
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Der Ausgangspunkt bei Epiktet-Texten hat die Konsequenz, dass sich bestimmte paulinische Denkfiguren perspektivische Verzerrungen gefallen lassen müssen – der Verfremdungseffekt offeriert umgekehrt den Vorteil, gut Bekanntes noch einmal anders wahrnehmen zu können. 4.1 Eine elementare Unterscheidung 1. Epiktet fordert in unserer Freiheitsunterredung zu einer elementaren Unterscheidung auf, der in theologischer Sprachregelung geradezu ein ‚soteriologischer‘ Rang zukommt: die Unterscheidung zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“.78 Ihr Stellenwert wird durch die Identifikation mit dem Gesetz Gottes bzw. des Zeus unterstrichen.79 „Worin besteht das göttliche Gesetz? Das Eigene wahren, sich ums Fremde nicht abmühen (τὰ ἴδια τηρεῖν, τῶν ἀλλοτρίων μὴ ἀντιποιεῖσθαι), sondern dieses als Gegebenes zu gebrauchen, als nicht Gegebenes aber nicht zu erstreben, und wenn etwas weggenommen wird, es gelassen und umgehend zurückzugeben und zwar sogleich, im Dank für die Zeit, solange es zum Gebrauch war.“ (2,16:28)
Den Philosophen ist geradezu aufgetragen, „Exegeten der göttlichen Gesetze“ zu werden – nicht derer der Gemeinwesen (4,3:12).80 Die Diatribe 3,24 über das „Sich nicht in Mitleidenschaft Ziehen-lassen von dem, was nicht in unserer Macht steht“ arbeitet die angemessene Haltung des Philosophen in vielen Aspekten heraus. Diese zielt auf die Einfügung in die umfassende kosmische Ordnung, in der sich das Göttliche manifestiert (2,24:10 f), und kann geradezu als Kennzeichen der Frömmigkeit gelten. Ihr Gegenteil ist die Theomachie, der Widerstreit gegen die Götter (ebd. 21.24), die mit knechtischem und niedrigem Wesen einhergeht (ebd. 42 f). Wie in der Freiheitsdiatribe (4,1:154–158.159–161) rangieren Sokrates und Diogenes als herausragende Repräsentanten dieser Frömmigkeit (3,24:60–73). Insbesondere Diogenes verdichtet in seiner kosmopolitischen Existenz die Korrelation von Freiheit und Gehorsam gegenüber Gott und seinem Gesetz.81 Die Unterredung lässt diese Einstellung in Vgl. oben bei Anm. 46. vor allem 2,16:27 f; 3,11:1 f („wie durch das Gesetz verordnete Strafen für die, die sich der göttlichen Verwaltung widersetzen“); 4,7:33–35. Vgl. in unserer Freiheitsdiatribe 4,1:158 f (Diogenes und Sokrates geben dem Gesetz höchste Priorität). 80 In 1,13:5 werden die Gesetze der Toten kontrastiert mit den Gesetzen der Götter. Zur Nomologie Epiktets und v. a. zum Verhältnis von göttlichem Gesetz und positivem Recht vgl. Willms, Epiktet (s. Anm. 31) 894–896. 81 Auf das göttliche Gesetz rekurriert Epiktet auch in anderen, aber verwandten Zusammenhängen: 1,26:2 (das „Gesetz des Lebens“ [νόμος βιωτικός] lautet: das, was der Natur entspricht, tun [τὸ ἀκόλουθον τῇ φύσει πράττειν]); 1,29:3 f („Wenn du etwas Gutes willst, so nimm es von dir selber“); 13 („Das Stärkere soll dem Schwächeren immer überlegen sein“, hier auf die Prohairesis bezogen), ähnlich 3,17:6. 78
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einem Gebetstext kulminieren, der zugleich als Tag und Nacht zu bedenkender Übungstext für Epiktets Schülerschaft fungiert (ebd. 95–102).82 „Willst du, dass ich länger da sei? Ich will bleiben als ein Freier, als ein Edler, wie du es wolltest. Du hast mich ja in meinem Bereich unüberwindlich gemacht. Aber hast du mich jetzt nicht mehr nötig? So soll es gut sein! Bis jetzt bin ich geblieben wegen dir, nicht wegen eines anderen; und jetzt gehe ich dir gehorsam weg. ‚Wie gehst du weg?‘ Wieder so, wie du es wolltest, als ein Freier, als dein Diener, als einer, der deine Gebote und Verbote wahrgenommen hat. Solange ich aber hier in deinem Bereich bin, wie willst du mich? […] Ist mir ein Leben nach der Natur gegeben, so verlange ich keinen anderen Ort als den, wo ich bin, und keine anderen Menschen als die, unter denen ich bin.“
Der Aufruf zur Vergegenwärtigung dieser elementaren Einsicht basiert auf einem kosmologisch-theologischen Prinzip, das im Ansatz narrativ entworfen ist. Ein Fragment Epiktets bietet eine prägnante Zusammenfassung:83 „Von allem, was existiert, hat Gott einen Teil in unsere Verfügungsgewalt gegeben, den anderen Teil nicht. In unserer Macht steht das Schönste und Wichtigste, wodurch Gott selbst glücklich ist: der Gebrauch unserer Eindrücke und Vorstellungen. Denn wenn diese Möglichkeit richtig genutzt wird, bedeutet dies Freiheit, Glück, Heiterkeit, Würde, aber auch Recht, Gesetz, Selbstbeherrschung und Tüchtigkeit in jeder Form. Alles andere aber hat Gott nicht in unsere Macht gegeben. Daher ist es notwendig, dass wir in Übereinstimmung mit Gott gelangen und uns, indem wir die Dinge dementsprechend unterscheiden, auf jede nur erdenkliche Weise um die Dinge kümmern, die in unserer Macht stehen, die Dinge aber, die nicht in unserer Macht stehen, dem Kosmos überlassen und freudig übergeben, ob er nun unsere Kinder, unsere Heimat, unseren Körper oder sonst etwas von uns fordert.“
Das Fragment summiert eine Denkfigur, die in diss. 1,1 breiter ausgeführt wird84 und für den Redaktor Arrian mit gutem Grund programmatischen Stellenwert besitzt.85 Ein im Ansatz mythisches Szenario wird entworfen: Die Götter, unter ihnen namentlich Zeus, der selber das Wort an Epiktet richtet, geben den Menschen ein Stück von sich selber, „das Stärkste und alles Beherrschende“, nämlich den „richtigen Gebrauch der Vorstellungen und Eindrücke“. Göttliche Macht stösst aber an ihre Grenzen: der Bereich des Äusseren, „das bisschen Körper und Besitz“, abschätzig als raffiniert vermengter Lehm bezeichnet,86 zählt nicht Vgl. dazu Wehner, Funktion (s. Anm. 75) 116–118. Epiktet, frg. 4 (übs. Nickel). Dieses bei Stob. 2,8:30 erhaltene Stück aus der nicht erhaltenen Schrift „Über die Freundschaft“ soll laut dem Anthologisten ein Stück von Musonius (frg. 39 Hense), dem Lehrer Epiktets, wiedergeben (dasselbe gilt auch von frg. 5–8) – eine Quellenangabe, die angesichts der spezifisch epiktetischen Konzeption starkem Zweifel unterliegt (vgl. auch Long, Epictetus [s. Anm. 21] 34 Anm. 11). 84 Diss. 1,1:7–13. Zur fiktiven Ansprache von Zeus vgl. Wehner, Funktion (s. Anm. 75) 127 f. 85 Zur überlegten Komposition Arrians im ersten Buch vgl. Ph. de Lacy, The Logical Structure of the Ethics of Epictetus, CP 38 (1943) 112–125. 86 Der „Lehm“ (πηλός, vgl. dazu auch Willms, Epiktet [s. Anm. 31] 401 f; 518) haftet an der Menschenschöpfung durch Prometheus (vgl. Kallim., frg. 192,3; Lukian, Prom. es 2; Philostr., 82 83
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zum Bereich dessen, was in eigener Macht steht.87 Epiktet betont in anderen Zusammenhängen, dass Gott auch in diesem Bereich zur Wirkung kommt, als schicksalsmächtiger Geber einer Gabe, die allerdings nur auf Zeit gewährt wird.88 Insgesamt bestätigt sich, was wir schon in der Freiheitsdiatribe festgestellt haben: Wenn der Mensch die elementare Unterscheidung zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“ vollzieht und damit die ihm geschenkte Freiheit aktualisiert, steht er in einem doppelten Gottesbezug: Im „Eigenen“ hat er Teil an der Selbstmächtigkeit Gottes; im „Fremden“ steht er dann in Resonanz mit Gott, wenn er sich rückhaltlos dem kosmischen Walten des Schicksals anheimstellt. 2. Wir wenden uns Paulus zu. Auch er proklamiert eine fundamentale soteriologisch relevante Unterscheidung, nämlich diejenige zwischen Gott und Mensch. Ihren prägnantesten Ausdruck findet diese Unterscheidung in der Überzeugung, dass Gott den Menschen allein aufgrund seines Glaubens gerecht spricht. Es geht also um die paulinische Rechtfertigungslehre,89 die in der propositio des Römerbriefs programmatisch vorgetragen wird (Röm 1,16 f): „Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; eine Kraft Gottes ist es zur Rettung für jeden, der glaubt, für die Juden zuerst und auch für die Griechen. Gottes Gerechtigkeit nämlich wird in ihm offenbart, aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: ‚Der aus Glauben Gerechte aber wird leben‘ (Hab 2,4).“90
Paulus bestimmt den Glauben als Antwort auf die Gotteskraft (δύναμις θεοῦ), die das Evangelium ausmacht. Im Glauben partizipieren die Menschen an der Macht Gottes, die in Tod und Auferstehung Christi wirksam ist. Mit dieser Resonanz auf das göttliche Wirken verbindet sich die Absage an das Prinzip, Gerechtigkeit durch das Tun von Gesetzeswerken zu erlangen (Röm 3,28): „Wir halten fest: Gerecht wird ein Mensch durch den Glauben, unabhängig von den Taten, die das Gesetz fordert.“
Auf diesem Weg gelangt Paulus zur Unterscheidung zweier Gerechtigkeiten, einer „eigenen“, die auf der Basis des Gesetzes zustande kommt, und einer göttlichen, die auf der Basis des Christusglaubens gegeben wird (Röm 10,3–8; Phil 3,9). Auch dort, wo der Apostel nicht in den Figuren von Gerechtigkeit und Rechtfertigung argumentiert, stellt er sein basales Prinzip, alles Gott zuzuschreiben gymn. 16; Äsop, sent. 27 P.); man sollte also nicht „Kot“ übersetzen (so Capelle; Nickel). Zugleich nimmt Epiktet Bezug auf die Menschenschöpfung des Timaios (41/42). 87 Der Lehmkörper, die Fremdbestimmung und die Grenzen göttlicher Macht sind uns auch in diss. 4,1:100 begegnet. 88 Vgl. unten bei Anm. 97. 89 Vgl. dazu die Darstellung bei M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen 2011, 342–350. 90 Der Römerbrief bestimmt in der anschliessenden Passage die Ursünde als Verwechslung von Schöpfer und Geschöpf und dementsprechend als Weigerung, Gott die ihm gebührende Ehre zu geben (1,18–23; vgl. 3,23).
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und menschliches Verhalten ausschliesslich als Responsion auf Gottes Wirken zu pointieren, klar heraus. So sagt er vom Evangelium (2 Kor 4,7): „Wir haben diesen Schatz aber in irdenen Gefässen, damit die Überfülle der Kraft Gott gehört und nicht von uns stammt (ἵνα ἡ ὑπερβολὴ τῆς δυνάμεως ᾖ τοῦ θεοῦ καὶ μὴ ἐξ ἡμῶν).“
Die Unterscheidung zwischen Gott und Mensch wird zugespitzt in den rhetorischen Fragen von 1 Kor 4,7: „Denn wer gibt dir einen Vorzug? Was aber hast du, das du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich, als hättest du es nicht empfangen?“
Die Haltung des Glaubens lässt sich als Gewissheit umschreiben: Er besteht sowohl im Vertrauen auf Gottes Macht wie im Wissen darum, dass Gott seine heilvolle Macht in Jesus Christus offenbart hat. 3. Es liegt auf der Hand, dass Epiktet und Paulus ihre fundamentalen Unterscheidungen – Eigenes und Fremdes bei ersterem, Mensch und Gott bei letzterem – in einer jeweils ganz anderen Konfiguration vollziehen. Gleichwohl gibt es ein paar bemerkenswerte Berührungen, die zugleich die Differenzen deutlicher ins Licht rücken. Drei Momente sind besonders beachtenswert: (1.) Beide Denker fokussieren auf eine Unterscheidung zwischen einem menschlichen und einem göttlichen Bereich. Bei Epiktet wird der Bereich eigener Kompetenz positiv gewürdigt, bei Paulus aber negativ konnotiert („Rühmen“ eigenen Tuns, Festhalten an einer „eigenen Gerechtigkeit“). Für Epiktet ist der Bereich des Eigenen ein Fenster für die Präsenz des auch den Kosmos durchwaltenden Gottes, für Paulus stellt er eine Sackgasse dar, aus der nur ein im Bereich des „Fremden“ zum Zug kommendes göttliches Wirken befreien kann, nämlich die Erlösung durch Christus (vgl. Röm 7,24–8,2; Phil 3,7–11). Umgekehrt ist der Bereich des „Fremden“ bei Epiktet ambivalent konnotiert – er ist zwar göttlich durchwaltet, führt aber in die Versklavung –, während er bei Paulus ganz im Zeichen Christi und damit des endzeitlichen Lebens steht. (2.) Epiktets Basisüberzeugung verdankt sich zwar einer kognitiven Operation, geht aber mit existentiellen Vollzügen einher – sowohl auf der Ebene der emotionalen Orientierung wie auf derjenigen der praktischen Verhaltensregulierung. Paulus’ Glaubensüberzeugung entspringt der umfassenden Erfahrung einer religiösen Wirklichkeit – in seiner eigenen Sichtweise: von „Gottes Gnade“ –, verbindet sich aber mit dem bestimmten Wissen, dass Gott in Jesus Christus handelt. Die Basisüberzeugung, dass Gott in Christus eine neue Schöpfung ins Sein ruft, bestimmt die Identität der Christen als Glaubende (Gal 6,15; 2 Kor 5,14–17).91 Glaube meint zwar nicht einfach ein Fürwahrhalten, beinhaltet aber ein dezidiert kognitives Element, das sich im Lauf der Kirchengeschichte insbesondere in Bekenntnisformulierungen niedergeschlagen hat. (3.) Epiktet und Paulus berufen sich für die Gültigkeit ihrer Überzeugungen Zum Glauben als „Wirklichkeitsgewissheit“ vgl. Wolter, Paulus (s. Anm. 89) 86–96.
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beide auf ein göttliches Zeugnis, mehr noch: auf Gottes Gesetz. Bei Epiktet handelt es sich um eine prägnante Metapher, die sich unmittelbar aus der stoischen Physik bzw. Theologie herleitet: Der göttliche Logos-Nomos weist den Menschen in denjenigen Bereich ein, wo er seine Freiheit kraft der Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu aktualisieren hat. Bei Paulus ist der Bezug auf das göttliche Gesetz komplexer, da dieses weitgehend mit einem distinkten literarischen Corpus, der (griechischen) Bibel, insbesondere der Tora, identifiziert wird. Gerade der Römer‑ und der Galaterbrief zeigen, dass die von Christus her gedeutete Schrift die Rechtfertigungsbotschaft selber bezeugt.92 Zugleich kann sich der Apostel aber auch auf das (ungeschriebene) Gesetz im Inneren der Menschen, d. h. auch der Heiden, berufen, also einen von Haus aus stoischen Gedanken aufgreifen (Röm 2,14–16; vgl. V. 28 f). (4.) Das paulinische Verständnis des Evangeliums situiert sich in einem prägnanten zeitlichen Schema: „Als sich aber die Zeit erfüllt hatte, sandte Gott seinen Sohn …“ (Gal 4,4). Die paulinische Theologie weist eine grundlegende narrative Dimension auf, die das frühjüdisch-urchristliche Geschichtsverständnis, insbesondere in seiner apokalyptischen Formation, widerspiegelt. Paulus selber legt den Akzent auf das „Jetzt“ (vgl. Röm 3,21.26), in dem sich Gottes Verheissungen realisieren (vgl. 2 Kor 6,2). Das stoische Rahmenwerk, innerhalb dessen sich Epiktet orientiert, ist demgegenüber statisch und stabil konstruiert. Immerhin erzeugt das mythologische Setting, mit dessen Hilfe der Philosoph seine Basisunterscheidung theologisch begründet, ein narratives Element, das den gegenwärtigen Zustand auf eine urzeitliche Setzung durch Gott bzw. Zeus zurückführt. Hält man sich Epiktets eigentümliche ‚persönliche Religion‘ vor Augen, wird man narrative Bezüge dieser Art nicht vorschnell auf unzeitliche physikalisch-kosmologische Gesetzmässigkeiten hin ‚entmythologisieren‘ dürfen. 4.2 Vom Selbst zur Welt Die Basisüberzeugungen unserer beiden Denker lassen sich jeweils in einige interessante Richtungen hinaus extrapolieren: 1. Wir konzentrieren uns zunächst auf die epiktetische Festsetzung eines „eigenen“ Bereichs, der unter keinerlei fremde Bestimmung fällt. An diesem Ort berühren sich Gott und Mensch; das eigene wahre Selbst wird als Ausfluss oder Partikel Gottes identifiziert.93 Der Identifikation von Gott und Selbst gesellen sich Figuren zur Seite, die eher die dichte Relation zwischen beiden thematisieren. 92 Vgl. die programmatische Aussage Röm 3,21: „Jetzt aber ist unabhängig vom Gesetz die Gerechtigkeit Gottes erschienen – bezeugt durch das Gesetz und die Propheten –, die Gerechtigkeit Gottes, die durch den Glauben an Jesus Christus für alle da ist, die glauben.“ Als herausragendes Exempel gilt Abraham (Röm 4,1–25; Gal 3,6–18). In der oben zitierten Passage Röm 1,16 fungiert speziell Hab 2,4 als Zeuge des Evangeliums (ebenso Gal 3,11). 93 Vgl. diss. 1,1:10; 17:27 (hier explizit mit der Freiheit korreliert); 2,8:10; u.ö.
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So spricht Epiktet dem Selbst die Gotteskindschaft zu und erinnert dabei an die traditionelle Redeweise von Gott als Vater.94 Mit der Gottesverwandtschaft, die im Logos festgemacht wird, korrelieren die Teilhabe an der Kosmopolis, die Freiheit und der Dienst am Weltganzen, beispielhaft repräsentiert von Sokrates.95 Noblesse oblige: Der göttliche Status des Selbst schliesst ein entsprechendes Ethos mit ein.96 „Du trägst einen Gott mit dir herum, du Elender, und merkst es nicht!“ (diss. 2,8:12). Zu beachten ist freilich: Gerade Epiktets spezifische Frömmigkeit bringt es mit sich, dass die Identität des kosmischen Pneuma mit der menschlichen Vernunft den Gabe-Charakter der letzteren nicht aufhebt. So heisst es in unserer Unterredung (4,1:103):97 „Nachdem du alles von einem anderen erhalten hast, auch dich selbst, beschwerst du dich und machst dem Geber Vorwürfe, wenn er dir etwas wegnimmt?“
Das göttliche Geben zielt dabei auf dreierlei: auf das Wahrnehmen der Selbstverantwortung,98 auf das Akzeptieren des ständig möglichen Entzugs und vor allem auf Dankbarkeit. Bei Paulus hat die basale Unterscheidung von Gott und Mensch, die seine Theologie bestimmt, keineswegs die anthropologische Konsequenz, dass den in Christus befreiten Menschen lediglich eine erneuerte Geschöpflichkeit zugeschrieben wird. Die Glaubenden werden vielmehr als Träger des göttlichen Geistes (pneuma) identifiziert; der Geist Gottes nimmt in ihnen Wohnung.99 Dabei changiert die Beschreibung der Geistteilhabe: Zum einen nimmt der Geist so Wohnung in den Glaubenden, dass er eine fremde Macht bleibt, zum anderen wird der göttliche Geist geradezu zu ihrem eigentlichen Selbst und zum Ursprung ihres Tuns. Er ist dies aber immer nur im Modus der Gabe, also 94 Vgl.
diss. 1,3:1; 13:3 f; 19:9 f. 1,9:1 f.6.16 (ὑπηρεσία, 22: Sokrates); 1,19:9 (Freiheit). 96 Diss. 2,8:11–29; 1,12:32–35. 97 Vgl. 2,8:23 („Er hat dich dir selbst übergeben [παραδέδωκέ σοι σεαυτόν] und spricht: ‚Ich hatte keinen treueren als dich‘“); 1,17:27 f (τὸ ἴδιον μέρος, ὃ ἡμῖν ἔδωκεν ἀποσπάσας ὁ θεός); 3,3:10 (vom „Eigenen“: Zeus „hat es mir ganz anheim gestellt; er hat es mir so gegeben, wie er es selbst hat [ἐπ᾽ ἐμοὶ αὐτὸ ἐποίησεν καὶ ἔδωκεν οἷον εἶχεν αὐτός], nicht zu hindern, nicht zu zwingen, nicht zu hemmen“); vgl. Willms, Epiktet (s. Anm. 31) 541 (sowie 598–600 zum Reflexivpronomen 2. Ps. Sing.). 98 Dies vor allem in 1,6:40–42 („er hat alles in unsere Hand gelegt, ohne sich selbst irgendein Recht vorzubehalten, uns zu hindern oder aufzuhalten. Obwohl ihr über diese Möglichkeiten frei und selbstverantwortlich verfügt, nutzt ihr sie nicht und merkt gar nicht, was ihr bekommen habt und wer es euch gegeben hat, sondern ihr sitzt da, klagt und stöhnt“); 4,10:14–17 (in Gebetsform!); 12:11 f. „Under this conception of Zeus, Epictetus makes God a paradigm of virtue in a sense that is humanly applicable“, Long, Epictetus (s. Anm. 21) 172, der darin auch einen Reflex der platonischen Angleichung an Gott erkennt (170 f). 99 Individuelle Einwohnung des Geistes: Röm 8,9–11.14–16; Gal 4,6; 1 Kor 14,14; kollektiv: 1 Kor 6,19. Vgl. dazu S. Vollenweider, Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden. Überlegungen zu einem ontologischen Problem in der paulinischen Anthropologie, in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 163–192. 95 Diss.
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aufgrund einer beständigen Relation. Dementsprechend werden die Glaubenden als Gotteskinder adressiert (Röm 8,14–16.29; Gal 4,6). Das Verhältnis von göttlichem und menschlichem Geist ist demnach sowohl bei Epiktet wie bei Paulus von Relationalität bestimmt. Sie ist aber nur bei letzterem konstitutiv für das anthropologische Gesamtverständnis und verbindet sich mit einer Story, nämlich mit der Sendung Christi und der dieser korrespondierenden Verleihung des Geistes. Die Gotteskindschaft gründet deshalb nicht in der Schöpfung bzw. wie bei den Stoikern in der Natur, sondern in einer Adoption (υἱοθεσία, Röm 8,15.23; Gal 4,5; 2 Kor 6,18). Sie erstreckt sich gegenwärtig vorerst auf den „inneren Menschen“ (2 Kor 4,16), auf das Selbst, wird in der nahen Vollendung der Schöpfung aber auch den Körper umfassen (Röm 8,23): Dieser wird in einen „pneumatischen Leib“ transformiert (1 Kor 15,42–49; vgl. Phil 3,21). 2. Epiktet ortet im Bereich des „Fremden“ das kosmische Wirken Gottes, der alles aufs Beste zusammenfügt.100 Zugleich handelt es sich aber um denjenigen Bereich, der geradewegs in die Sklaverei führt, wenn der Mensch sich nicht auf sein „Eigenes“ besinnt. Die Ambivalenz, die den Bereich dessen charakterisiert, was nicht unserer eigenen Macht untersteht, begegnet im Körper geradezu hautnah. Meist dominiert eine auffällig pejorative Redeweise.101 Epiktets Verhältnisbestimmung von Geist und Körper nimmt gelegentlich ein dualistisches Profil an, das der im Ansatz monistisch konstruierten stoischen Anthropologie ein Stück weit entgegen steht.102 Der Weisheitslehrer empfiehlt ein radikales inneres Disengagement in Bezug auf die ‚Umwelt‘ – d. h. den gesamten Bereich, der sich vom Körper über den Besitz und die sozialen Netzwerke bis zur Welt als ganzer erstreckt. Zugleich aber erschliesst sich dem, der bleibend frei geworden ist, wiederum die Fülle des Weltganzen, das für das kosmische Walten der Gottheit transparent wird. Ganz im Sinn der stoischen Sozialethik erwartet Epiktet von seinen – meist den Eliten entstammenden – Schülern, dass sie die ihnen zugemessenen Positionen im Gemeinwesen auf der Basis der verinnerlichten philosophischen Überzeugungen verantwortlich wahrnehmen. Auch bei Paulus finden sich zunächst bemerkenswerte Figuren der Distanzierung von der vorfindlichen Welt. Dies gilt einmal für den Bereich des Körperlichen. Ähnlich wie Epiktet die ihm überkommene monistische Anthropologie dualistisch variiert, arbeitet der Apostel auf dem jüdischen Fundament einer im 100 Neben unserer Diatribe (4,1:99–106) vgl. besonders 1,1:7–13; 12:7–10.15–17; 19:9–13; 2,10:3– 5; 16:32–47; 17:22–24; frg. 3. 101 Zur ambivalenten Sicht des Körpers vgl. Dobbin, Epictetus (s. Anm. 46) 70–72; Willms, Epiktet (s. Anm. 31) 342 f; 550 f. 102 Vgl. neben unserer Unterredung (4,1:100.104.161) z. B. diss. 1,1:9–13; 3:3–5 (δύστηνά μου σαρκίδια); 4:23 f; 2,19:26 (ἐν τῷ σωματίῳ τούτῳ τῷ νεκρῷ); frg. 23 (Körper als „Sack“); 26. In der Forschung wird die Frage debattiert, ob die Jüngere Stoa unbeschadet ihrer monistischen Systemkonstruktion ein gutes Stück weit von der platonischen Anthropologie beeinflusst wurde; vgl. z. B. A. Jagu, Epictète et Platon. Essai sur les relations du stoïcisme et du platonisme à propos de la morale des Entretiens, Paris 1946, 88–95; 154 f; Long, Epictetus (s. Anm. 21) 158; 208.
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Ansatz ganzheitlichen Anthropologie mit dualistischen Figuren teilweise platonischer Provenienz, die eine scharfe Differenz zwischen dem irdisch-fleischlichen Körper und dem geistigen Selbst aufrichten (Röm 7,18.23 f; 6,12; 8,10.13; vgl. 1 Kor 9,7; 2 Kor 4,10.16).103 Vor allem aber ruft er in einer berühmten Passage des 1. Korintherbriefs seine Gemeinden in Bezug auf die vielfältigen Umweltbeziehungen zur Haltung eines „als ob nicht“ (ὡς μή) auf (1 Kor 7,29–31): „Die Zeit drängt. Darum sollen künftig auch die, die eine Frau haben, sie haben, als hätten sie sie nicht, die weinen, sollen weinen, als weinten sie nicht, die sich freuen, sollen sich freuen, als freuten sie sich nicht, die etwas kaufen, sollen kaufen, als behielten sie es nicht, und die sich die Dinge dieser Welt zunutze machen, sollen sie sich zunutze machen, als nutzten sie sie nicht. Denn die Gestalt dieser Welt vergeht.“
Der Rückgriff des Apostels auf Verhaltens‑ und Einstellungsregeln, die offenkundig der stoisch-kynischen Ethik entstammen, situiert sich aber in einem eschatologischen Rahmenwerk: „Die Zeit drängt“ (V. 29); „die Gestalt dieser Welt vergeht“ (V. 31). Im Zusammenhang der Gesamtargumentation erfährt diese endzeitliche Motivierung der ethischen Regeln, die bei Paulus auch sonst begegnet (vgl. Röm 13,11–14; 2 Kor 5,9 f), ihrerseits eine Rückbindung an seine Christologie (V. 32.35.39), d. h. an seine Überzeugung, dass sich mit dem Kommen von Jesus Christus die Zeit „erfüllt“ hat (Gal 4,4). Im Raum der Gemeinde, die den Leib des Christus repräsentiert (1 Kor 12,12–27; Röm 12,3–8), kommt es zum selbstlosen Engagement für die Mitmenschen (vgl. Phil 2,1–4). Auch bei Paulus führt die Distanzierung von der vorfindlichen Welt zurück in die Verantwortung für das Gemeinwesen, die von der Liebe (ἀγάπη) getragen ist. 3. Wir beschliessen diesen vergleichenden Teil mit einem Blick auf die Wahrnehmung des Weltganzen. Epiktet teilt die stoische Überzeugung, dass der Kosmos in unüberbietbarer Weise aufs Beste gefügt ist, und erkennt darin die Güte des diesen durchwaltenden Gottes.104 Wer frei geworden ist und zur Gegenwart erwacht, feiert das Leben als ein Fest, das nach Dankbarkeit und Lobpreis ruft. Auch die unablässige Veränderung, die im Kosmos vor sich geht, und seine zyklische Erneuerung durch den Weltenbrand restituiert seine grundlegende 103 Dabei muss bei Paulus unterschieden werden zwischen der katastrophalen Verfassung des unerlösten Menschen, wo der Körper völlig von der Sünde beherrscht wird (Röm 6,6; 7,24), und der Situation der Glaubenden: Bei diesen ist der Leib zwar der Herrschaft der Sünde entrissen, aber aufgrund seiner ‚sarkischen‘ Natur, d. h. seines biologischen Erbes, sterblich (Röm 6,12; 8,10 f; Phil 3,21) und weiterhin der gefährlichen Macht der alten Weltzeit, namentlich der sarx, ausgesetzt. 104 Zur stetigen Veränderung, die auch in der Freiheitsdiatribe thematisiert wird (4,1:106) vgl. 2,1:18; 3,24:10; auf die Ekpyrosis selber, wo nur noch Zeus mit sich selber zusammen ist, wird angespielt 3,13:4–7. Zur stoischen ‚Eschatologie‘ (samt der ‚ewigen Wiederkehr‘) vgl. A. A. Long, From Epicurus to Epictetus. Studies in Hellenistic and Roman Philosophy, Oxford 2006, 256– 282 („the conflagration is providential since, sub specie aeternitatis, it preserves the present world by constantly reconstituting it“, 271) und die Texte in: A. A. Long / D. N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare, dt. Übs. Stuttgart 2000, 327–333; 367–373.
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Ordnung und bringt nichts „Neues“.105 Insofern reproduziert die Gegenwart ein ‚immer schon‘ und steht im Zeichen der Vergangenheit: „So war, ist und wird die Natur des Kosmos sein, und es ist ausgeschlossen, dass das Geschehende anders geschieht, als es jetzt der Fall ist. An diesem Wandel und an dieser Veränderung nehmen nicht nur der Mensch und die übrigen Lebewesen auf der Erde teil, sondern auch das Göttliche. […] Wer sich dazu bereitfindet, seine Aufmerksamkeit auf diese Vorgänge zu richten und sich selbst dazu zu bringen, das Notwendige freiwillig zu akzeptieren, der wird ein ganz und gar vernünftiges und harmonisches Leben haben.“ (frg. 8)106
Auch bei Paulus verändert sich für die frei Gewordenen die Wahrnehmung des Kosmos: Im Vertrauen auf Christus wird die Welt, die derzeit noch von widergöttlichen und bedrohlichen Mächten erfüllt ist, zu einem Raum, den die schöpferische Kraft Gottes verheissungsvoll zu verwandeln begonnen hat. Die Zukunft gewinnt damit eine ausgezeichnete Bedeutung; sie wird zur Quelle von Neuem, das bereits die Gegenwart tangiert (vgl. 2 Kor 5,17; 6,2). So steht Epiktets heiterem Abschied bei Paulus die Hoffnung (ἐλπίς) gegenüber, die sich der neuen Welt Gottes entgegenstreckt (Röm 8,18–39).107
5. Theismus oder Pantheismus? Wir kehren zu Epiktet zurück, um abschliessend nach dem Profil seines Gottesverständnisses zu fragen. Es ist offenkundig, dass er wie kein anderer Stoiker theistische Vorstellungen dokumentiert.108 Er ruft das kosmische Prinzip als „Zeus“ an (1,6:37) und prädiziert es als „Gott“ und als „Vater“. Auf der anderen Seite teilt er in seinem Werk den überkommenden stoischen Pantheismus, insbesondere die Identifizierung des göttlichen Prinzips, des Logos, mit dem menschlichen Denkvermögen. Dieses ist Reflex der Gotteskindschaft, an der alle Träger des Logos teilhaben. Dabei ist zu bedenken: Die überkommene Alternative der Kategorien ‚theistisch‘ versus ‚pantheistisch‘, die sich ihrerseits der jüdisch-christlichen Theologie verdanken, ist nicht in der Lage, den textlichen Befund angemessen 105 Der kosmologischen Pivilegierung der Gegenwart gegenüber der Zukunft entspricht die Mahnung, die Gegenwart nicht zu verspielen, wenn man sich in Hoffnung und Furcht auf die Zukunft ausrichtet. 106 Übs. Nickel. Wie frg. 4 soll auch dieser Text auf Musonius (frg. 42 H.) zurückgehen (vgl. oben Anm. 83). 107 Die Stoiker bringen der Hoffnung erhebliches Misstrauen entgegen, während etwa Plutarch „eine heitere und helle Hoffnung“ in Hinsicht auf die Zukunft zusammen mit der dankbaren Erinnerung an das Vergangene zu loben weiss – so der Schlusssatz in tranq. 20: 477 f. 108 Vgl. dazu Long, Epictetus (s. Anm. 21) 143: „More emphatically than any other Stoic in our record, Epictetus speaks of Zeus or God in terms that treat the world’s divine principle as a person to whom one is actually present and who is equally present to oneself as an integral aspect of one’s mind“; vgl. 147.
5. Theismus oder Pantheismus?
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wiederzugeben.109 Dies gilt nicht nur für manche anderen kaiserzeitlichen Schriften, sondern auch für andere religionsgeschichtliche Felder: Im hinduistischen Bereich gehen ‚Theismus‘ und ‚Monismus‘ Hand in Hand, der Amida-Buddhismus korreliert ‚theistische‘ und genuin buddhistische, ‚atheistische‘ Kategorien. Dem stoischen Changieren zwischen pantheistischen und theistischen Figuren lässt sich eine weitere Beobachtung zuordnen: Die Gebetsform hat in Epiktets Werk einen ausserordentlichen Stellenwert.110 Die Gebete, die den Selbstgesprächen zur Seite treten, zeigen ihrerseits einen ‚meditativen‘ Charakter, da sie zur Übereinstimmung zwischen dem göttlichen Willen und dem Philosophierenden verhelfen. Wo Epiktet Gott zum Menschen sprechen lässt, ruft dieser den Menschen wieder zum Gewahrwerden und Gebrauch der eigenen Kräfte auf. Die Stoa hat in hohem Ausmass religiöse Traditionen assimiliert, die von der Mantik bis zur durch Allegorese fruchtbar gemachten Mythologie reichen. Die erhaltenen Texte des Kleanthes, zumal sein grosser Zeushymnus, zeigen die Möglichkeit, die pantheistisch-monistische Grundstruktur mit Elementen persönlicher Frömmigkeit zu kombinieren.111 Trotzdem stellt sich die Frage nach der ‚persönlichen Religion‘ Epiktets. Leider lässt uns die zeitgenössische Religionswissenschaft an diesem Punkt im Stich, da sie die Terminologie von „persönlicher Religion“, personal religion u.ä., aufgrund ihrer beschränkten Operabilität weiträumig umgeht. Üblicherweise wird Epiktets persönliche Religion vor dem Hintergrund der stoischen Religiosität diskutiert. Wir formulieren abschliessend eine andere Hypothese, ohne sie detailliert weiter zu verfolgen, und postulieren eine bestimmte religiöse Haltung und Praxis Epiktets zunächst ganz unabhängig von der philosophischen Schulung.112 Sie lässt sich zwar biographisch nicht verifizieren. Anders wieder G. Reale, Saggio introduttivo, in: C. Cassanmagnago / G. Reale (Hg.), Epitteto. Tutte le opere. Testo greco a fronte, Mailand 2009, 9–57, hier: 31–36: Er behauptet im Anschluss an Jagu, Epictète (s. Anm. 102), eine „nuova concezione di dio e del divino in Epitteto“; Epiktet breche mit dem stoischen Pantheismus zugunsten einer theistischen Scheidung von Gott und Welt. Die scharfe Gegenthese vertritt K. Algra, Epictetus and Stoic Theology, in: Th. Scaltsas / A. S. Mason (Hg.), The Philosophy of Epictetus, Oxford 2007, 32–55: Der „quasi- theism“ (51) muss pantheistisch dekonstruiert werden (es gibt „no substantial rift between Epictetus and orthodox Stoicism“, 52); der Grund für den Quasitheismus liegt im lebenspraktisch interessierten Schulbetrieb (52–55). Beide Thesen sind m. E. zu einseitig. 110 Vgl. dazu Wehner, Funktion (s. Anm. 75) 106–135 und besonders K. M. Landefeld, Die Gebetslehre Epiktets. Form, Inhalt und Funktionen der Gebete Epiktets im Kontext der antiken Gebetstradition (Orbis antiquus 54), Münster 2020, 165–192. Dass Epiktet die Gebetsverse griffbereit hält, in Analogie zu Selbstermahnungen (Algra, Epictetus [s. Anm. 109] 47–52), spricht überhaupt nicht gegen deren Gebetscharakter, wie die Frömmigkeitsgeschichte eindrücklich belegt. 111 Zum Verhältnis von Religion und Philosophie – und damit auch zur Form von Hymnus und Gebet – bei Kleanthes vgl. J. C. Thom, Cleanthes’ Hymn to Zeus (STAC 33), Tübingen 2005, 20–27. 112 Auf religiöse Riten bezieht sich Epiktet beispielsweise in 2,18:13 (Dankopfer; vgl. 20.29); 3,21:14 f (Reinigungsfunktion von Ritualen); 4,4:47 (Opfer); vgl. ferner Long, Epictetus (s. Anm. 21) 178 f zu Elementen von „popular religion“. 109
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Zu vermuten ist aber, dass er wie viele andere Menschen seiner Zeit nicht nur selbstverständlich an den kultischen Performationen des städtischen Lebens teilgenommen, sondern auch ein individuelles religiöses Verhältnis zu einer Gottheit gepflegt hat. Es gibt in der Antike verstreute literarische Hinweise auf solche Phänomene persönlicher Religion. Zu nennen sind insbesondere die hellenistischen Romane, deren Protagonisten mit ihren Schutzgottheiten – natürlich ist hier aus gegebenem Anlass die Liebesgöttin die prominente Adresse! – eine sehr persönliche Beziehung pflegen, sowohl an kultischen Stätten wie in ‚freier‘ Begegnung. Hingewiesen sei insbesondere auf die Isis-Beziehung des Helden in Apuleius’ Metamorphosen oder an Kallirhoë’s Begegnungen mit Aphrodite bei Chariton. Natürlich sind die entsprechenden Schilderungen und Reden (v. a. in Gebetsform) fiktiv, aber sie lassen sich grundsätzlich als Reflex wirklicher Sachverhalte deuten. Weit verbreitete Kulte wie derjenige der Isis, aber auch Mysterienreligionen bieten Plattformen für individuelle religiöse Einstellungen und Praktiken. Individuelle persönliche Gebete sind uns aus antiker Zeit m.W. allerdings kaum erhalten, da das schriftliche Medium eher Formulare privilegiert; Votiv‑ und Grabinschriften hingegen kommen dieser Fragestellung stärker entgegen. Schliesslich erinnere ich an Ailios Aristeides, dessen eigenartige Beziehung zu Asklepios in seinen hieroi logoi trotz aller literarischen Überformung ein deutliches Profil aufweist. Legen wir diese Hypothese zugrunde, dann dürfte es sich bei Epiktet um eine persönliche Beziehung zu Zeus gehandelt haben. Obschon der Göttervater gewiss weniger Anhalt für die Entwicklung einer individuellen Frömmigkeit bietet als andere Götter, könnte die Herkunft Epiktets aus dem Sklavenmilieu hierfür den Ausschlag gegeben haben. Zeus hat insbesondere im römischen Bereich durch die Fusion mit Iuppiter Liber eine bestimmte Rolle in der Sklavenreligion gespielt.113 Ziehen wir dazu Epiktets Freiheitspathos in Betracht, könnte sich seine Religiosität auf den Zeus Eleutherios gerichtet haben. Die stoische Philosophie hätte ihm dann die Möglichkeit gegeben, seine Frömmigkeit nicht nur umfassend zu reflektieren, sondern auch in die pantheistische Dimension hinein zu entwickeln.
6. Epilog: von der Aktualität Epiktets Es leidet keinen Zweifel, dass Epiktet als Meister der Lebenskunst und des Wegs zum Glück auch neuzeitliche Menschen in seinen Bann zu schlagen vermag. Ich nenne zum Schluss drei Punkte, wo sich unser Philosoph ausgesprochen 113 Vgl. dazu F. Bömer, Untersuchungen über die Religion der Sklaven in Griechenland und Rom, Bd 1: Die wichtigsten Kulte und Religionen in Rom und im lateinischen Westen (FASk 14.1), Wiesbaden 21981, 110–140.
6. Epilog: von der Aktualität Epiktets
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modern ausnimmt und zugleich quer zu allen neuzeitlichen Selbstverständlichkeiten steht. Zum ersten geht es um das Anerkennen von Grenzen. Epiktet tritt uns entgegen als ein Lehrer, der dem Menschen enorm viel zutraut, nämlich unumschränkter Meister seines eigenen Lebensentwurfs und Schicksals zu werden. Zugleich markiert er eine scharfe Gegenposition zur Moderne: Weiss diese der menschlichen Handlungskompetenz kaum mehr Schranken zu setzen, so ruft Epiktet dazu auf, sich mit den vorhandenen Umständen nicht nur abzufinden, sondern sich mit ihnen sogar zu befreunden. Dass Freiheit in hohem Ausmass auch mit Selbstbegrenzung, oder ganz schlicht: mit Mass, zu tun hat, ist eine Erkenntnis, die für antike Menschen leichter erschwinglich war als für heutige Zeitgenossen. Die bedrohliche Entdeckung der Endlichkeit zahlreicher Ressourcen scheint aber einen Gesinnungswandel zu erzwingen. Zum zweiten wird man durch Epiktet an die Macht des menschlichen Denkens erinnert. Er lässt sich gut als einer der Väter der kognitiven Therapie in Anspruch nehmen. Seine Analysen stellen die fatalen Folgen von Urteilen und Meinungen heraus, die das Erleben und Verhalten von Menschen hintergründig steuern. Der Lebensmeister gibt zu bedenken, dass man die Welt und sich selber durch andere Interpretationen nicht nur anders wahrnehmen, sondern auch verändern kann. Seine Psychagogik setzt auf die Macht des Denkens, Emotionen zu entfesseln und Motivationen auf ein einziges Ziel hin auszurichten. Epiktet stellt eine authentische Verkörperung der alten, heute an Plausibilität verlierenden Einsicht dar, dass Wissen und Bildung mit Persönlichkeitsentwicklung und Sinngebung einhergehen. Der dritte Punkt schliesslich betrifft den Umgang mit der eigenen Sterblichkeit und Endlichkeit. Die Diesseitsbezogenheit Epiktets und seiner stoischen Tradition bildet bereits in der Antike einen Kontrapunkt zur christlichen wie platonischen Ausrichtung auf eine eschatologische bzw. jenseitige Existenz. Eine Religiosität, die nicht auf ein irgendwie geartetes persönliches Weiterleben nach dem Tod setzt, darf bei neuzeitlichen Menschen besonderes Interesse beanspruchen, zumal wenn sie sich mit einer kosmotheistischen Perspektive verbindet. Eine nochmals ganz andere Frage ist die, ob Epiktet auch als Mentor für ein selbstbestimmtes Sterben in Frage kommen kann. Sein Gleichnis vom Steuermann mag uns auch hier als ein nachdenklich machendes Schlusswort dienen:114 „Wenn der Steuermann ruft, so lass das alles liegen, eile zum Schiff und dreh dich dabei nicht um. Bist du aber alt, so entferne dich niemals mehr weit vom Schiff, damit du nicht etwa ausbleibst, wenn er dich ruft.“
114 Ench. 7, übs. Steinmann; vgl. oben bei Anm. 19. Zum Verständnis des Gleichnisses ist die Mahnung von W. Kamlah, Der Ruf des Steuermanns. Die religiöse Verlegenheit dieser Zeit und die Philosophie, Stuttgart 1954, 87, zu bedenken: „Wer also heute Epiktet verstehen will, muss ihn radikaler vernehmend verstehen, als er sich selbst verstand.“
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7. Anhang: Epiktet im „Neuen Wettstein“115 Beim „Neuen Wettstein“ handelt es sich um eine Sammlung von Paralleltexten aus der griechisch‑ und lateinischsprachigen Umwelt des Neuen Testaments. Seine noch im Prozess befindliche Herausgabe baut auf dem Novum Testamentum Graecum auf, das der Basler Pfarrer und Gelehrte J. J. Wettstein 1751/52 in Amsterdam veröffentlicht hatte.116 Dieses bietet neben einem Apparat zur neutestamentlichen Textkritik einen zusätzlichen umfangreichen Apparat mit über 30’000 Parallelstellen aus der griechischen und lateinischen Literatur, den Kirchenvätern und der rabbinischen Überlieferung. Man benützt diese Datenbank noch heute mit grossem Gewinn. Im frühen 20. Jahrhundert verfolgte ein Netzwerk von Neutestamentlern das Projekt, weit über Wettsteins Sammlung hinaus ein ‚Corpus Hellenisticum‘ zu schaffen, anfänglich in Leipzig, dann in Halle. Zur Publikation kam es allerdings nicht. Das Ziel wird heute zweigleisig weiterverfolgt.117 Neben dem überaus ambitionierten Programm des u. a. in Jena domizilierten Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti, das den jüdischen Sektor in hellenistisch-römischer Zeit (unter Ausschluss von Qumran und Rabbinica) möglichst umfassend erschliessen soll, arbeitet ein Team in Halle die literarischen Zeugnisse der gesamten griechisch-römischen Umwelt (unter Einschluss der jüdisch-hellenistischen Texte) gezielt selektiv auf: Vom „Neuen Wettstein“ sind bereits mehrere Bände erschienen, nämlich – in der Reihenfolge des Erscheinens – zur Briefliteratur und Johannesapokalypse (1996), zum Johannesevangelium (2001), zum Markusevangelium (2008) und schliesslich zum ersten Teil des Matthäusevangeliums (2013).118 Ausstehend sind noch die Bände zum zweiten Teil des Matthäusevangeliums, zum Lukasevangelium sowie zur Apostelgeschichte. Der „Neue Wettstein“ stellt zu den einzelnen neutestamentlichen Stellen eine Fülle antiker Parallelen in deutscher Übersetzung mit knappen Hinweisen zu Kontext und Inhalt bereit, aufbauend auf dem Material des 115 Ich danke lic. theol. Matthias Maywald für die Sichtung des hier gebotenen Materials und seine inhaltliche Bewertung. 116 J. J. Wettstein, Novum Testamentum Graecum, Amsterdam 1751/52 (= Graz 1962). Vgl. dazu G. Seelig, Religionsgeschichtliche Methode in Vergangenheit und Gegenwart (ABG 7), Leipzig 2001. 117 Zu Geschichte und Stand der Projekte vgl. N. Walter, Zur Chronik des Corpus Hellenisticum von den Anfängen bis 1955/58, in: W. Kraus / K.-W. Niebuhr (Hg.), Frühjudentum und Neues Testament im Horizont Biblischer Theologie. Mit einem Anhang zum Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti (WUNT 162), Tübingen 2003, 325–344; K.-W. Niebuhr, Das Corpus Hellenisticum. Anmerkungen zur Geschichte eines Problems, in: aaO. 361–379, und die entsprechenden Websites. 118 G. Strecker / U. Schnelle (Hg.), Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus. Bd. II: Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, Berlin 1996; Bd. I/1 (unter Mitarbeit von M. Lang und M. Labahn): Texte zum Markusevangelium, ebd. 2008; Bd. I/2 (unter Mitarbeit von M. Lang und M. Labahn): Texte zum Johannesevangelium, ebd. 2001; Bd. I/1.2: Texte zum Matthäusevangelium, Teilband 1 (unter Mitarbeit von M. Lang): Matthäus 1–10, ebd. 2013.
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‚Alten Wettstein‘ und selbstredend ohne jeden Anspruch auf ‚Vollständigkeit‘. Die programmatische Ausscheidung der Wettstein’schen Materialien, die den neutestamentlichen Text „ausschliesslich in sprachlicher Hinsicht beleuchten“,119 ist allerdings methodologisch sehr problematisch und in den neueren Bänden auch viel zurückhaltender vorgenommen worden.120 Das katenenartige Arrangement ermöglicht der Leserschaft, sich zu jeder Bibelstelle umgehend ein Bild der in Frage kommenden ‚Parallelen‘ zu verschaffen. Der Preis dafür ist freilich die Fragmentierung der Bezugstexte in Einzelbelege.121 Die damit notwendig verbundene Ausblendung der literarischen Kontexte wird durch erläuternde Hinführungen jeweils ein Stück weit aufgefangen. Mit rund 250 Treffern sind die von Epiktet überlieferten Texte in den bisher vorliegenden fünf Bänden in ansehnlichem Umfang berücksichtigt.122 Wir halten uns im Folgenden an die kanonische Reihenfolge der neutestamentlichen Schriften, die auch dem „Neuen Wettstein“ zugrundeliegt, wobei Markus als wahrscheinlich ältestes Evangelium vorangestellt wird.123 7.1 Markusevangelium Im Markusevangelium (mit insgesamt knapp 40 Belegen) nehmen die Parallelen zwischen dem Auftritt von Jesus samt seinen Nachfolgern und dem des Kynikers bzw. des wahren Philosophen den bedeutsamsten Raum ein. In der Gestalt des heimatlosen Gottesgesandten liegen ja tatsächlich auffällige Berührungspunkte zwischen urchristlichen und kynischen „Wanderradikalen“ vor, die trotz ihrer verschiedenen Milieus – dort das ländliche Palästina, hier die urbanen Zentren des östlichen Mittelmeerraums – in der amerikanischen Forschung sogar zur Hypothese geführt haben, bei der Jesusbewegung habe es sich um galiläisch-jüdische Kyniker gehandelt.124 Die Nähe betrifft nicht nur die „nackte“ So das Vorwort zu Bd. II/1, XV. Zu weiteren Problemen wie der Selektion und der Kriterien, die für die Aufnahme von Material über dasjenige von Wettstein hinaus gelten, vgl. H.-J. Klauck, Wettstein, alt und neu. Zur Neuausgabe eines Standardwerks, BZ 41 (1997) 89–95. 121 Zum zuerst erschienenen Doppelband (II/1 und 2), moniert Klauck, aaO. 94 f, dass Epiktets Kyniker-Diatribe 3,22 vielfach breit zitiert wird, „aber verteilt auf 12 verschiedene Stellen“. 122 Instruktiv ist das Ranking in der Indexierung: Die eben genannte diss. 3,22 führt zusammen mit dem Encheiridion die Rangliste an (je ca. 26 Referenzen). Schon secundo loco steht die Freiheitsdiatribe 4,1 (ca. 19), gefolgt von 3,24 („Sich nicht in Mitleidenschaft ziehen lassen von dem, was nicht in unserer Macht steht“, s. dazu oben nach Anm. 80) (ca. 15). Bestimmte für das Neue Testament wichtige Passagen führen z. B. im Fall von 3,24 zu Kumulationen (§ 14–16; 60–66: Herakles, Sokrates, Diogenes). 123 Im Folgenden gebe ich jeweils meist nur die Seitenzahlen der betreffenden Bände des „Neuen Wettstein“ in Klammern wieder. 124 Zur Diskussion vgl. M. Ebner, Kynische Jesusinterpretation – „disciplinated exaggeration“? Eine Anfrage, BZ 40 (1996) 93–100; H. D. Betz, Jesus and the Cynics. Survey and Analysis of a Hypothesis, in: ders., Antike und Christentum. Gesammelte Aufsätze, Bd. 4, 119 120
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Lebensweise des Kynikers (9),125 sondern auch die auf der Beziehung zu Gott beruhende ‚geistliche‘ Verwandtschaft, die die ‚wahren‘ Geschwister verbindet (158).126 Zurückhaltender wird man urteilen hinsichtlich der Beziehung zwischen dem nahe gekommenen Königreich Gottes und dem Königtum des Kynikers (39). Interessant nehmen sich einige andere Berührungspunkte aus: Sokrates’ Selbstrettung durch das Sterben in unserer Diatribe (4,1:163–165) im Verhältnis zu Jesu Weisung zur Rettung des Lebens gerade durch dessen Verlieren (Mk 8,35) (416), die Elternehrung (337), das Kennen der Gebote (496 f), das Fehlen dessen, was zum wahren Leben führt (493 f) und agrarische Metaphern (162; 179). Eher peripher sind wohl die Kontaktflächen zwischen Jesu exklusiver Zuschreibung des Guten an Gott allein und Epiktets Überlegungen zum Guten (504 f) – hier wären Assoziationen mit dem Platonismus verlockender –, zum höchsten Gebot (579 f), zu Tod und Auferstehung (570) und zur Identität Jesu bzw. des Lehrers (392 f). Zum Ruf des Centurio in Mk 15,39 (ἀληθῶς οὗτος ὁ ἄνθρωπος υἱὸς θεοῦ ἦν: „Dieser Mensch war wirklich Gottes Sohn“) bieten sich Referenzen auf die generische Gottessohnschaft des Weisen bzw. des vernünftigen Menschen überhaupt (diss. 1,3:1 f; 9:5 f) wie auf Heroen (2,16:44: Herakles) an, die für die doppelbödige Prädikation des markinischen Heiden am Kreuz zu beachten sind (745 f): Das pagane Syntagma „ein Sohn Gottes“ in der erzählten Szene lesen die christlichen Adressaten als das christologische Bekenntnis zu dem „Sohn Gottes“. Einige Punkte betreffen die im Vergleich mit dem markinischen Jesus ‚konservativere‘ Einstellung Epiktets zu überliefertem religiösem Brauchtum (327 f; 552). Hinweise auf bestimmte Metaphern wie Gefäss und Reinigung (330 f) oder Münzen (558) sind wohl hilfreicher als diejenigen zum Nachfolgeruf (51 f), zum Lehrer (55; 57), zur Menschenmenge (64), zur Sündenvergebung (113), zum ‚Verwerfen‘ (394), zum Balsam (663) und zum Dornen‑ bzw. Rosenkranz (724). 7.2 Matthäusevangelium Der erste Teilband (Mt 1–10) enthält die für den Vergleich mit Epiktet überaus wichtige Bergpredigt (Mt 5–7, mit rund 40 Treffern).127 Obschon das Matthäusevangelium (im Unterschied zum lukanischen Doppelwerk) nicht mit spezifisch stoischen Theoremen arbeitet, fällt enorm viel Material aus dem viel weiter gespannten Bereich der hellenistischen Ethik an, das im „Neuen Wettstein“ nur Tübingen 1998, 32–56; unkritisch B. Lang, Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, München 2010. 125 Diss. 3,22:45 f.53 f bzw. Mk 1,4–8 (Johannes der Täufer). 126 Diss. 3,22:81 f bzw. Mk 3,31–35. Eine Differenz wird 492 angezeigt zwischen Epiktets abfälliger Bemerkung über Kinder (in derselben Diatribe: 77–79) und Jesu Spruch über das Kind als Glaubensvorbild (Mk 10,13–16). 127 Es überrascht nicht, dass die „Goldene Regel“ von Mt 7,12 mit 41 Textstücken besonders viel Raum einnimmt (699–713). Epiktet spielt hier aber keine Rolle.
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exemplarisch wiedergegeben werden kann.128 Epiktets Texte kumulieren sich in drei Bezugsfeldern. Erstens wird der Umgang mit Feinden (Mt 5,44) reichhaltig dokumentiert (501–503; vgl. 504–507): Wer Philosophie treibt – zumal in der Nachfolge der Kyniker –, muss nicht nur mit Beleidigung, Zank und Streit, sondern auch mit Schlägen rechnen.129 Sokrates’ Haltung ist vorbildlich (4,5:1 f; 1,25:31). Mehr noch: Der von Zeus gesandte Kyniker „muss sich prügeln lassen wie ein Esel und, wenn er geprügelt wird, auch noch diejenigen lieben, die ihn prügeln, als ob er ein Vater oder Bruder von allen wäre“; seinen Körper gibt er als das Schwächere hin, während sich sein Inneres nicht tangieren lässt (3,22, 54.100 f). Zum ‚utilitaristischen‘ Umgang mit Bösem (alles wird durch den Zauberstab des Hermes zu etwas Nützlichem) kommt die kognitive Umwertung: Böses entsteht aus Unwissen. Auch wenn wir inhaltlich recht weit von Jesu Aufforderung, ausgerechnet die Feinde zu lieben, entfernt sind, deuten die konvergierenden Handlungsanweisungen doch auf ‚interkulturelle‘ ethische Verständigungspotentiale hin. Ein zweiter Komplex haftet am „Dein Wille geschehe“ des Unservaters (Mt 6,10) (606–609; vgl. 611). Hier nimmt die Figur der Konformität zwischen göttlichem und menschlichem Willen breiten Raum ein, die für Epiktets Psychagogik so kennzeichnend ist.130 Die dritte Verdichtung betrifft das Sorgen (Mt 6,25–34), in dem der Bergprediger und der Philosoph in grösste Nähe zueinander geraten (653 f; 655; 660–663). Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Mahnung, sich der Bewegung des Sorgens für die irdischen Lebensvollzüge zu widersetzen, sondern auch im Blick auf die Begründung: Die Güte des die Schöpfung erfüllenden Gottes lädt ein zur Haltung eines unbegrenzten Vertrauens.131 Beide Lehrer insistieren auf der umso dringlicheren Sorge um das wirklich Wichtige im Leben – das Reich Gottes bzw. das mit dem Logos verbundene Selbst. Beide Lehrer berücksichtigen auch die dunklen Seiten der Welterfahrung: jeder Tag hat genug an seiner eigenen Plage (Jesus);132 der Zeitpunkt, vom Leben Abschied zu nehmen, will rechtzeitig erkannt sein (Epiktet). Einen gegenüber Jesus besonderen Akzent setzt Epiktet mit dem Aufruf zum beständigen Dank. Zwischen Bergpredigt und Epiktet-Texten gibt es darüber hinaus zahlreiche Berührungspunkte, die jeweils ganz verschieden zu taxieren
128 Für die Bergpredigt bietet der Kommentar von Betz, Sermon (s. Anm. 44) eine reichhaltige Fundgrube. 129 Abgedruckt werden diss. 1,25:28–31; 3,12:10; 3,20:9–12; 22:53–56.100–102; 4,5 (= „An die Streitsüchtigen und Grimmigen“):1 f. 24; ench. 42. 130 S. oben bei Anm. 54. 131 An Epiktet- Texten werden abgedruckt neben der zentralen diss. 1,16 („Über die Vorsehung“):1–8.15–21: diss. 1,9:19 f; 2,23:5 f; 3,5:7–11; 3,13:13 f; 3,26:27 f; 4,10:14–16. 132 Zu Mt 6,34 wird 669 eine sprachlich (nicht inhaltlich) nahe Wendung zitiert (diss. 2,19:18 f): „Was verspottest du mich, wo ich schon Übel genug habe (πρὸς τοῖς ἐμοῖς κακοῖς) […] Mir reichen meine Übel (ἀρκεῖ ἐμοὶ τὰ ἐμὰ κακά).“
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sind: der gottgegebene Friede (294 f);133 das Schwurverbot (445); das Gegenüber von innerer Haltung und äusserer Demonstration (Mt 6,1–6) (550 f; 554) samt dem inneren Kämmerchen (562); die Warnung davor, „zwei Herren zu dienen“ bzw. „zwei Rollen zu spielen“ (647 f); Baumetaphern für die richtige Einstellung (742) (Mt 7,24–27 bzw. diss. 2,15:8–10); „Suchen und Finden“ (695);134 Gott als Vater (599 f). Neben der Bergpredigt nimmt die Aussendungsrede (Mt 10) bedeutsamen Raum ein. Über die zentrale Sendungsmotivik hinaus, wo natürlich Epiktets gottgesandter Kyniker (diss. 3,22) ausgiebig zur Sprache kommt (847–850; vgl. 761 f; 172), ist eigens zu verweisen auf die Relativierung, der das Töten des Körpers unterzogen wird (Mt 10,28) (864; 871–874): Furcht ist hier die falsche Haltung, wie Epiktet besonders anhand eines geflügelten Sokratesworts (apol. 30c/d) herausstreicht (ench. 53,4 u.ö.) (865). Schliesslich sei die hübsche Bezugsstelle zum hierarchiebewussten Wort des Hauptmanns von Mt 8,8 f notiert, wo Epiktet das Leben als einen in Rangordnungen eingepassten Kriegsdienst vorstellt (753: diss. 3,24:34–36; vgl. 754 f: 3,22:3–8). 7.3 Johannesevangelium Mit etwa 70 Treffern erweist sich Epiktet auch als ergiebig für das Vierte Evangelium, obschon dieses – trotz neueren Einspruchs –135 kaum breite Schnittstellen zur stoischen Philosophie anbietet, vom Logos des Prologs einmal abgesehen. Zu letzterem wird nur gerade eine Epiktet-Passage aufgeführt, die allerdings die Aussage von der Fleischwerdung stärker hervortreten lässt (diss. 2,8:1 f) (11; vgl. 57).136 Wenig überraschend findet sich eine markante Verdichtung der Textbezüge im Feld der Christologie, wo der Philosoph an der Stelle von Jesus, dem Gottessohn, steht. So ist Jesu Weggang als Bedingung für das Kommen des erinnernden „Parakleten“ (16,7; vgl. 14,26) vergleichbar mit dem an Sokrates erkennbaren Gewicht, das der Tod eines Menschen dem Gedächtnis seiner Worte und Taten verschafft (diss. 4,1:169) (736). Die innere Macht des Philosophen, sich Gutes oder Böses zuzufügen, korreliert mit der exusia des Sohns, sein Leben einzusetzen und es wieder zu nehmen (Joh 10,18) (541). Wie Jesus (Joh 2,25) kennt auch Musonius, Epiktets Lehrer, das Innere des Menschen (138). Zu Jesu Hingabe des Lebens für die Freunde (Joh 15,13) wird selbstverständlich das Freundschaftsethos, das vom Philosophen vorbildlich gelebt wird, aufgeboten (720; vgl. 590 f: Menschenliebe; 597: Tod für das Vaterland). Darüber hinaus entspricht der 133 Diss. 3,13:9–15 bietet mit seiner Antithese zwischen kaiserlichem und göttlichem Frieden auch eine wichtige Textstelle zum Verständnis von Joh 14,27 und Phil 4,6! 134 Dazu oben bei Anm. 53. 135 Vgl. dazu die Beiträge in Rasimus / Engberg-Pedersen, Stoicism (s. Anm. 37) 77–114; dazu kritisch Vollenweider, Areopag (s. Anm. 36) 305 f. 136 Dazu kommen zwei spezifisch sprachliche Bezüge zum οὐδὲ ἕν in 1,3 (26 f).
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„Einziggeborene vom Vater“ (Joh 1,14) dem Herakles Epiktets, der Zeus wirklich für seinen Vater hielt und sich entsprechend verhielt (diss. 3,24:14–16) (57; vgl. 742). Bei der johanneischen Prädikation Gottes als Geist (πνεῦμα, Joh 4,24) nimmt man nicht ohne Erstaunen zur Kenntnis, dass Epiktet zwar Gott bzw. das Gute als „Vernunft (νοῦς), Wissen (ἐπιστήμη) und rechten Logos (λόγος ὀρθός) bestimmt (diss. 2,8:1 f.9–11), aber keine theologische Pneuma-Passage bietet (231 f). Die Fehlanzeige ist wohl als Indiz dafür zu werten, dass die jüngere Stoa für die Vermittlung zwischen Physik und Theologie bzw. persönlicher Frömmigkeit nicht mit der Pneuma-Terminologie operiert. Diese bietet sich somit kaum als Schnittstelle zur urchristlichen Pneumatologie an.137 Die Gotteskindschaft, an der Jesus den Seinen Anteil gibt (Joh 1,12; vgl. 10,34 f) lädt ein zu mehreren Bezugnahmen auf Epiktet, für den die Menschen als Logosträger wesenhaft Söhne Gottes bzw. Zeus’ sind (49; 559). Anders als bei Epiktet (694; 742) ist für Joh allerdings Jesus exklusiv der von oben kommende, im Uranfang gezeugte Gottessohn (Joh 1,1; 14,18; 17,1). Diese Basisdifferenz gilt auch für den Leib als Tempel (Joh 2,21) (136). Die Sendungsmotivik, im Vierten Evangelium neben Jesus auch auf Johannes den Täufer bezogen (Joh 1,6 f), haftet bei Epiktet am Kyniker-Philosophen, und hier besonders in der Funktion als Zeuge, zumal bei Diogenes und Sokrates (37–40; 316; 325 f). Das „Es ist vollbracht!“ legt das Evangelium dem sterbenden Jesus in den Mund (Joh 19,30), während Epiktet den Philosophen allabendlich nach dem vollbrachten Nötigen fragen lässt (829 f, unter Berufung auf Pythagoras). Für den Zusammenhang von Wahrheit und Freiheit (Joh 8,31–36) bieten sich zentrale Epiktet-Texte an, darunter natürlich besonders unsere Freiheitsdiatribe (432–434; 446; vgl. 69). Trefflich sind ähnlich formulierte sprachliche Äusserungen: „Ertappt beim Ehebruch“ (411), „Was hat das mit dir und mir zu tun?“ (98), der feststehende Entschluss (Joh 19,22) (821), das „Ausstrecken der Arme“ bei Gekreuzigten (857 f), Jesu „Was kümmert es dich?“ (Joh 21,22) (858 f) und vielleicht auch das „ἐγώ εἰμι“ (366). Der Stellenwert der Freundschaft mit dem Kaiser (Joh 19,12) (806–808) und die Hirtenmetaphorik mit sehr spezifischen Einzelmotiven (528 f; 536) runden das Bild ab. Manches ist kaum auszubeuten – ein grösserer Kontrast zwischen dem Thomasbekenntnis „Mein Herr und mein Gott!“ (Joh 20,28) und der von Epiktet zitierten gedankenlosen Redensart „Ach, Herr Gott!“ ist kaum denkbar (854); von Jesu Auferstehungs‑ und Gerichtsansage in Joh 5,28 f führt kein Weg zum „göttlichen Gesetz“ (diss. 3,24:42 f) und zur Selbstschädigung in unserer diss. 4,1:119 (311, wo aber wenigstens der Kontrast von diesseitigem und jenseitigem „Gericht“ zu notieren ist). Eine Prise Humor offeriert immerhin das Waschen der Eselshufe (643), das gerade nicht wie Jesu Fusswaschung in Joh 13 mit einer Status-Umkehrung einhergeht. 137 Anders Engberg-Pedersen, Cosmology (s. Anm. 33) 8–74, der Paulus (und Johannes) vor dem Hintergrund der stoischen Pneuma-Lehre interpretiert.
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7.4 Briefe und Apokalypse Wie zu erwarten bietet die Briefliteratur viele Impacts, darunter gut 70 allein für das Corpus Paulinum, das sowohl durch sein urbanes Setting wie durch seine besondere Nähe zur philosophischen Ethik einschlägiges Material für die Komparatistik bereithält. Die Textbezüge liessen sich leicht vervielfachen, zumal der „Neue Wettstein“ in diesem ersterschienenen Band noch nicht seinen optimalen Formstand erreicht hat. Das Spektrum reicht von eigentlichen Anleihen bei der philosophischen Tradition bis zu Gemeinplätzen wie der medizinischen Einschätzung des Weins (930), der Unerträglichkeit hässlicher Worte (αἰσχρολογία, 743) und dem harten Leben der Wettkämpfer (326). Fragen lässt sich, ob der Philosophenmantel (1010 f) zum Verständnis von 2 Tim 4,13 beiträgt, oder ob sich die Notiz zur Kastration nicht auf die Verwendung desselben Verbums (Gal 5,12) beschränkt (569), oder welcher Zusammenhang zwischen der „Last“ von Gal 6,5 und dem zu packenden Henkel von ench. 43 besteht (589). Der Doppelband identifiziert aber vor allem grosse und gewichtige Schnittstellen; vieles haben wir oben bereits gestreift: Die als Gottesdienst pointierte Sendung des Apostels und diejenige des Kynikers (1 f; 526); beider Ehelosigkeit (291); die (im Kontext ironisierte) Königsherrschaft der Christen (1 Kor 4,8) und des Kynikers (266); die Diskrepanzen zwischen Wissen und Tun (85 f) bzw. zwischen Sein und Schein; 96 f); die Überwindung des Verfallenseins an die Sünde (137), korreliert mit dem überwundenen Widerspruch zwischen Wollen des Guten und Tun des Schlechten – also dem Konflikt der Medea – (146 f);138 die Thematik von Freiheit und Sklaverei (281; 296; 322; 566 f; 571 f); das „Bleiben“ am gegebenen Ort (295 f); die Haltung innerer Distanz zu allem Vorfindlichem (297 f; 300);139 der Weise inmitten von widrigen Umständen (Peristasen) (269; 435 f; 456 f); die platonisierende Befreiung aus den Fesseln des Körpers (443); die Parallele von Falschaposteln und schmarotzenden Scheinphilosophen (498); die Gefahren der Selbsttäuschung (582 f); die Mahnung, bei sich selber das „Werk“ zu tun (588); die ethische Profilierung der Gotteskindschaft im Blick auf Sklaven (Phlm 16 und diss. 1,13:3 f) (1068). Neben dem Philosophen rückt wieder Herakles in die Position ein, die für die Christen Jesus hat, so hinsichtlich seiner selbstgewählten Armut (2 Kor 8,9 und diss. 3,26:31 f) (469). In der Einschätzung des Gesetzes wird eine deutliche Differenz notiert (540: „Was ist das Gesetz?“, Gal 3,19 und diss. 2,16:28). Nur am Rand finden sprachliche Konvergenzen Beachtung, so etwa beim „so bin ich nichts“ von 1 Kor 13,2 (371). Eine Trouvaille ist die Anekdote zu Empfehlungsbriefen (425). Zur Haustafel von Kol 3,18–4,1 bietet sich die stoische Pflichtenlehre an (755 f). Für die Pastoralbriefe wird verwiesen auf die Mythendeutung (817), den Massstab der „gesunden“ Anschauung (829 f), das (schwer auszuhaltende) ruhige Dazu oben bei Anm. 57. Dazu oben bei Anm. 46; 100.
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Leben (845), die innere Schönheit (853), das Lob der Besonnenheit (863) und schliesslich auf den Wert des regelkonformen Kämpfens (979). Auch für den Hebräerbrief (12,1) wird die agonistische Metaphorik verzeichnet (1211 f); dazu kommt die Tragweite der Frömmigkeit (Hebr 11,6 und ench. 31,1) (1180 f). Für die katholischen Briefe heben wir neben der epidemischen Fehlbarkeit (Jak 3,2) (1294) die „Freundschaft mit Gott“ heraus, die in Jak 2,23 Abraham zugeschrieben wird, bei Epiktet dem Philosophen (1288 f). Ein hübsches Fundstück ist die Dreckliebe des Schweins (2 Petr 2,22 und diss. 4,11:28 f) (1417). Schliesslich bietet die Johannesapokalypse einige wenige Bezüge: das Nein zum halbherzigen Engagement (Apk 3,15) (1497), die Tischgenossenschaft und Mitherrschaft mit den Göttern (1498 f) und der Einsatz des Verstands (νοῦς, Apk 13,18) (1572). 7.5 Bilanz Der grosszügig bemessene Einbezug von Texten Epiktets im „Neuen Wettstein“ lässt neben eher peripheren Übereinstimmungen in der Diktion, die sich vor allem dem literarischen Koinegriechisch und teilweise dem Diatribenstil verdanken, einige inhaltliche Verdichtungen erkennen. An erster Stelle sind die Analogien zwischen dem Philosophen, insbesondere dem „wahren Kyniker“, und dem Jesus der Evangelien bzw. dem Apostel der Briefe zu nennen. Diese paradigmatische Position wird bei Epiktet gern Diogenes, Sokrates und dem – vergöttlichten – Herakles zugemessen. Im Blick auf die Gotteslehre provoziert Epiktets personal religion Brückenschläge zum neutestamentlichen Verständnis Gottes als des Schöpfers, etwa in der Bergpredigt. Die Perspektiven auf die Anthropologie schärfen den Blick für Konvergenzen wie für Kontraste; dies zeigt sich insbesondere im Freiheitsverständnis. Der Bereich der Ethik bietet zahlreiche Schnittstellen, die aber oft nicht auf das Konto spezifisch stoischer Lehrbildung gehen. Im Gesamten bestätigen der ‚Alte‘ und der „Neue Wettstein“, dass Epiktets Werk einen kaum zu überschätzenden Stellenwert für das kontextsensitive Verständnis des Frühchristentums und seiner Texte hat.
Zu Hermeneutik und Exegese
Streit zwischen Schwestern? Zum Verhältnis von Exegese und Religionsgeschichte1 Abstract Rivalry between Sisters? The Relationship between Exegesis and Religious Studies This article deals with the complex relationship between New Testament exegesis, namely theological exegesis, and “Religionsgeschichte” (history of religions; religious studies). Although historical and theological perspectives differ in various respects, both are in need of a hermeneutical access in order to reach a deeper understanding of early Christianity and its texts.
1. Theologie wider Religionswissenschaft Der Streit zwischen Theologie und Religionswissenschaft hat das gesamte 20. Jahr hundert begleitet,2 er ist aber in den letzten Jahren zunehmend spürbar geworden, weil er Hand in Hand geht mit der Umpflügung der überkommenen Universitätsstrukturen. Auch dort, wo sich beide, Theologie und Religionswissenschaft, im Zeichen der Kulturwissenschaften eine neue Identität zulegen, erzeugt das von Wissenschaftspolitik und Umverteilung von Forschungsgeldern beherrschte Umfeld wiederum etliche Grabenkämpfe. Umso wichtiger sind Unternehmungen zu reflektierter Verhältnisbestimmung.3 Vielfach lassen einen diese Versuche aber etwas ratlos zurück. Dies gilt zumal dann, wenn man die beiden Fachkomplexe ganz auseinanderdividiert, oder aber, wenn man auf Harmonie im Zeichen der Komplementarität setzt.4 Auch eine Beschreibung ihrer je verschiedenen Pers1 Der Aufsatz geht zurück auf einen Vortrag, der am 1. Februar 2008 auf der ZThK-Tagung zum Thema „Biblische Hermeneutik“ in München und am 20. Januar 2009 in Leipzig gehalten wurde. 2 Vgl. G. Ebeling, Studium der Theologie. Eine enzyklopädische Orientierung (UTB 446), Tübingen 1977, 41: „Die religionswissenschaftliche Fragestellung als solche fügt sich der Theologie nicht einfach ein. Sie tritt mehr und mehr zu ihr in Konkurrenz.“ 3 Die Dringlichkeit signalisiert der Forschungsbericht von Ch. Bochinger, Theologie als Gegenstand der Religionswissenschaft – Religionswissenschaft als Gegenstand der Theologie, VF 53 (2008) 7–16 („Obwohl zum Verhältnis zwischen Theologie und Religionswissenschaft fortlaufend neue Literatur erscheint, ist dieses vorrangig durch gegenseitige Ausblendung charakterisiert“, 8). Das gesamte Heft versucht, die Thematik unter der Fragestellung „Theologie als Gegenstand der Religionswissenschaft“, also aus religionswissenschaftlicher Sicht, zu bearbeiten. 4 Vgl. zum Spektrum E. Arens, Zwischen Konkurrenz und Komplementarität. Zum Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft, Orien. 70 (2006) 116–120: „Das Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft bewegt sich offenbar zwischen feindlicher Konkurrenz,
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pektiven auf ihr Thema fällt nicht leicht.5 Auf Anhieb erscheint es zwar als einladend, die Differenz von „innen“ und „aussen“ zur Charakterisierung ihrer je eigenen Blickrichtung geltend zu machen:6 Christliche Theologie nähme ihren Ausgangspunkt beim christlichen Glaubenszeugnis, während sich die Religionswissenschaft grundsätzlich einer grösstmöglichen Distanz zu ihren Phänomenen verschriebe. Die räumlich-perspektivische Metapher „innen/aussen“ verdeckt aber nur zu leicht den Sachverhalt, dass auch die Religionswissenschaft unausweichlich an eine bestimmte Beobachterposition gebunden ist,7 während umgekehrt die Theologie geradezu davon lebt, in verschiedenen Formen die Distanz zu ihren Gegenständen zu suchen. Jeder Versuch, die je verschiedene Perspektive von Theologie und Religionswissenschaft zu bestimmen, bewegt sich in einem Minenfeld. Um im Feld der Metaphern zu bleiben, drängen sich für die Beschreibung des spannungsvollen Verhältnisses beider Wissenschaften genealogische Figuren auf. Manche Probleme lassen sich als Folge eines Mutter-Tochter-Konflikts verständlich machen.8 Zu weiten Teilen, aber längst nicht ausschliesslich, hat sich die Religionswissenschaft im Lauf des 19. Jahrhunderts innerhalb Theologischer Fakultäten herausdifferenziert und zunehmend emanzipiert.9 Beziehungen zwischen Müttern und Töchtern zählen, wenigstens in modernen Gesellschaften, zu den kompliziertesten. Probeweise lässt sich freilich das Muster auch umkehren: Die Religionswissenschaft kann für sich reklamieren, eigentlich die ältere Wissenschaft zu sein; sie versammelt in ihrer Ahnengalerie antike Historiker, Geographen und Philosophen, die sich interessiert und in kritischer Distanz mit den religiösen Gebräuchen und Überzeugungen Griechenlands oder anderer Völker
friedlicher Koexistenz und freundlicher Konvivenz“ (118). Bochinger, Theologie (s. Anm. 3) 9 empfiehlt anstelle des „fruchtbaren ‚Dialogs“ beider Wissenschaften eine Klärung der Differenzen – „dazu gehört auch ein Hinweis darauf, wo solche Differenzen überhaupt bestehen und wo sie vielleicht nur herbeigeredet werden“. Seine Position trifft sich weitgehend mit derjenigen von Ebeling, Studium (s. Anm. 2) 53. 5 Aus theologischer Perspektive bietet Th. Sundermeier, Was ist Religion? Religionswissenschaft im theologischen Kontext (TB 96), Gütersloh 1999, vier graphisch dargestellte Modelle der Verhältnisbestimmung an: kontaktloses Nebeneinander; sich überschneidende Kreise; konzentrische Kreise; schliesslich zwei Ellipsen mit einem gemeinsamen Brennpunkt (223– 225; 241 f). Vgl. die Skizze der gegenseitigen Wahrnehmung bei K. Hock, Einführung in die Religionswissenschaft (Einführung Theologie), Darmstadt 22006, 162–170. 6 Vgl. die differenzierte Verhältnisbestimmung bei F. Stolz, Grundzüge der Religionswissenschaft (UTB 1980), Göttingen 2001, 35–44; I. U. Dalferth, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, ThLZ 126 (2001) 3–20, hier: 8 f. 7 Vgl. A. Feldtkeller, Theologie und Religion (ThLZ.F 6), Leipzig 2002, 106–108. 8 Vgl. F. Stolz, Der Gott der Theologie und die Götter der Religionswissenschaft, in: ders., Religion und Rekonstruktion, Göttingen 2004, 287–304, hier: 287. 9 Vgl. die Hinweise bei Dalferth, Theologie (s. Anm. 6) 3 f. – Die Entwicklung der Religionsphilosophie zur Religionsgeschichte wird untersucht bei H. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997, 14–43.
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auseinandersetzen.10 Christliche und auch schon jüdische Theologie ihrerseits ist umgekehrt nicht selten zu charakterisieren als Gegenentwurf zu einer kritischen paganen Aussenbeschreibung. So reagieren die frühchristlichen Apologeten und zumal Origenes in Contra Celsum auf zeitgenössische Beobachtungen, die mit einer negativen Wertung einhergehen. Will man sich überhaupt auf familienpsychologische Genealogien einlassen, dann fährt man diplomatisch wohl am besten, wenn man von einem Streit zwischen Schwestern spricht – und man kann dann immer noch entscheiden, wer von ihnen die ältere sei. Angesichts der Schwierigkeiten, die sich einer angemessenen Verhältnisbestimmung von Religionswissenschaft und Theologie entgegenstemmen, empfiehlt es sich, den Theorieanspruch zu reduzieren. Wir wollen uns im Folgenden auf die Frage nach dem Verhältnis von biblischer Exegese und Religionsgeschichte beschränken. Bei Theologie wie Religionswissenschaft haben wir es je mit einem komplexen Ensemble von Disziplinen zu tun, deren Verhältnis ihrerseits klärungsbedürftig ist.11 Exegese und Religionsgeschichte stellen demgegenüber überkommene Fachrichtungen mit einigermassen bewährten methodischen Standards dar. Exegetinnen und Exegeten arbeiten heute ganz selbstverständlich mit religionsgeschichtlichen Fragestellungen wie Materialien, und umgekehrt ist die Rekonstruktion der frühjüdischen oder frühchristlichen Religion angewiesen auf einen sachgemässen, eben exegetischen Umgang mit den hierfür relevanten Quellen, zu denen prominent die Texte der Bibel zählen. Wir begnügen uns also vorerst damit, über diejenigen Erfahrungen nachzudenken, die das tägliche Geschäft der Bibelwissenschaftler ausmachen.
2. Konsequente Religionsgeschichte Auch mit der genannten engeren Fokussierung bewegen wir uns weiterhin in einem enormen Spannungsfeld. Im Bereich des Neuen Testaments besteht seit gut hundert Jahren eine schwer überbrückbare Kluft zwischen dem Unternehmen einer neutestamentlichen Theologie und demjenigen einer urchristlichen Religionsgeschichte.12 Es kommt erschwerend dazu, dass auch die neutestamentliche Exegese zu weiten Teilen längst als Theologiegeschichte oder 10 Mit Herodot, dem Vater der Geschichtsschreibung und insofern auch der Religionsgeschichte (etwa Ägyptens), gelangen wir immerhin ins 5. Jh. v. Chr. Vgl. die Hinweise bei H.J. Klimkeit, Art. Religionswissenschaft, TRE 29 (1998) 61–67, hier: 63 f; K. Rudolph, Art. Religionswissenschaft. I, RGG4 7 (2004) 400–403, hier: 400 f. 11 Vgl. Dalferth, Theologie (s. Anm. 6) 7 f. Dalferths Beschreibung der Theologie als praktischer Disziplin und soteriologisch ausgerichteter Wissenschaft lässt sich allerdings nicht problemlos auf die Exegese Alten wie Neuen Testaments übertragen. 12 Das Programm „von der Theologie zur Religionsgeschichte“ stammt von W. Wrede, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie (1897), in: G. Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (WdF 367), Darmstadt 1975, 81–154. Zu
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sogar als Religionsgeschichte operiert. Das Problem gibt sich als eine Altlast desjenigen Aufbruchs, der mit der Religionsgeschichtlichen Schule an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verbunden ist, zu erkennen. Die so genannte Religionsgeschichtliche Schule hat an mindestens drei Punkten der Exegese weitreichende Innovationen eröffnet:13 erstens die Wendung weg von der lehrbegrifflich entworfenen Theologie zur Religion und speziell zum Kult, zweitens die Wendung vom Kanon zur urchristlichen Literatur und drittens die Wendung von der Wahrnehmung des alttestamentlich-biblischen Umfelds zu derjenigen des ‚Spätjudentums‘, des hellenistischen Orients und generell der späten Antike.14 Das Programm als solches nahm vornehmlich Stellung gegen die Schutzzonen, die kirchliche Theologie und Tradition für die biblischen Schriften beansprucht hatten, und setzte auf rückhaltlose historische Deskription. Die konsequente Anerkennung des geschichtlichen Charakters des Urchristentums ist freilich nur die eine Seite. Wohl die meisten Anhänger der Religionsgeschichtlichen Schule haben ihr Unternehmen auch als eine der Neuzeit angemessene Aktualisierung des Christentums verstanden15 – die Zurückhaltung von W. Wrede stellt hier eher die Ausnahme dar. Die Deskription geht einher mit einer normativen Ausrichtung. Das Christentum besetzt dabei explizit die Spitzenposition in der geschichtlichen Aufwärtsentwicklung der Religionen. Dies wird bei E. Troeltsch, dem „Systematiker und Dogmatiker“ der Religionsgeschichtlichen Schule, differenziert diskutiert,16 bei anderen Autoren aber, wie jüngeren Entwicklungen vgl. das Referat bei R. von Bendemann, „Theologie des Neuen Testaments“ oder „Religionsgeschichte des Frühchristentums“?, VF 48 (2003) 3–28. 13 Das Programm stellt beispielsweise H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments (FRLANT 1), Göttingen 1903, klar heraus: Geschichtliches (10 f); Mythisches (14 f); Christentum als synkretistische Religion (95; vgl. 1) und zugleich (mit Pfleiderer) das Ziel aller Religionen. 14 Der Begriff „Religionsgeschichtliche Schule“ hat sich zwar eingebürgert, verzeichnet allerdings das Phänomen; zutreffender ist der Begriff ‚Bewegung‘. Dazu vgl. G. Lüdemann / M. Schröder, Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation, Göttingen 1987, 7–12; 15 ff. Reserve gegenüber dem Schulbegriff haben bereits die ersten Repräsentanten und Zeitzeugen bekundet, vgl. H. Gressmann, Albert Eichhorn und die Religionsgeschichtliche Schule, Göttingen 1914, 25 f; A. Deissmann, Der Lehrstuhl für Religionsgeschichte, Berlin 1914, 12 („Man sollte statt von Schule lieber von der religionsgeschichtlichen Methode reden, die von ‚Schülern‘ und Autodidakten, Angeregten und Selbständigen in Arbeitsstuben aller sonstigen theologischen Richtungen gehandhabt wird und nichts anderes ist, als eine bereits vom 18. Jahrhundert erkannte Konsequenz oder besser Vertiefung der historischen Methode überhaupt: vollste Hineinstellung des Christentums in seine Umwelt“) und E. Troeltsch (dazu unten bei Anm. 16). – Keiner der Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule findet Eingang in: A. Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft, München 1997. 15 Vgl. U. Berner, Religionswissenschaft und Theologie. Das Programm der Religionsgeschichtlichen Schule, in: H. Zinser (Hg.), Religionswissenschaft. Eine Einführung, Berlin 1988, 216–238: „Die Auffassung, dass ‚in aller wirklichen und lebendigen Religion göttliche Offenbarung sei‘ [zit. Bousset], gehört zu den Axiomen der Religionsgeschichtlichen Schule“ (218). 16 Vgl. E. Troeltsch, Die Dogmatik der „religionsgeschichtlichen Schule“ (1913), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 21922, 500–524 (Zitat 500). Troeltsch favorisiert „jene
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etwa bei W. Bousset in den sehr wirkmächtigen „Religionsgeschichtlichen Volksbüchern“, pathetisch vorgetragen:17 Es „ist aber der christliche Gottesglaube wiederum nur die klarste Ausprägung all dessen, was in der langen Geschichte der Religionen mühsam nach Gestaltung gerungen hat.“
Zwar distanzieren sich die Religionsgeschichtler von der dogmatisch normierten Theologie, aber sie setzen auf „Offenbarung“. So stellt Religionsgeschichte das heraus, was sich in Empfindung, Gefühl und Ahnung des Rätselhaften kundgibt. Die Gestalt Jesu als eines überragenden prophetischen Führers markiert den Gipfel des Gottesglaubens, während die dogmatische Christologie verworfen wird. Die Religionsgeschichtliche Schule hat mit dieser meist implizit vollzogenen Korrelation von deskriptiver Methode und normativem Anspruch ein äusserst breitenwirksames Programm betrieben. Mit seiner Bindung an den Historismus bzw. an den Fortschrittsglauben des späten 19. Jahrhunderts sowie an eine Form von romantisch inspiriertem Theismus hat es aber den weltanschaulichen Zusammenbruch im Gefolge des Ersten Weltkriegs nicht überlebt. Es ist interessant, dass sich Adolf von Harnack gegenüber dem Aufbruch der Religionsgeschichte reserviert verhalten hat.18 Zwar steht er mit dem Programm der konsequenten historischen Methode ganz auf der Seite der ReligionsgeDeutungen, die in der Religion die Offenbarung tiefster Wahrheit und in ihrer Entwickelung den Fortschritt zu geläuterter religiöser Erkenntnis sehen“ (502). Dabei unterscheidet er eine „besondere auf die Geschichte des Christentums selbst gerichtete historische Forschung“ von einer „religionsphilosophische[n] oder prinzipiell theologische[n] Interessenrichtung“ (502– 505; 513), die sich beide in der „Darlegung einer normativen christlich-religiösen Gesamtanschauung“, d. h. „einer religionsgeschichtlich orientierten Dogmatik“, treffen (505; 509). Troeltsch signalisiert wie andere (vgl. Anm. 14) Reserve gegenüber dem Schulbegriff (502–505); man könne „gar nicht von einer religionsgeschichtlichen Schule, sondern nur von einer mehr oder minder radikal gehandhabten religionsgeschichtlichen Methode reden“ (503). 17 W. Bousset, Unser Gottesglaube (RV 5.6), Tübingen 1908, 12. Vgl. ders., Das Wesen der Religion (Lebensfragen 28), Tübingen 41920, 173–176; 195 („im Christentum ist nicht nur ein höchster Punkt der Entwicklung gegeben, in ihm scheinen auch alle bisherigen Linien zusammenzulaufen“). 18 Vgl. dazu A. von Scheliha, Symmetrie und Asymmetrie der Wissenschaftskulturen. Theologie – Religionswissenschaft – Kulturwissenschaften um 1900. Adolf von Harnacks Position im wissenschaftstheoretischen Diskurs, in: K. Nowak / K.-V. Selge (Hg.), Adolf von Harnack. Christentum, Wissenschaft und Gesellschaft (VMPIG 204), Göttingen 2003, 163–187, hier: 166–171. Gegenüber dem Zugriff der Religionsgeschichtlichen Schule auf das Neue Testament blieb Harnack durchwegs ablehnend, vgl. Ch. Markschies, Adolf von Harnack als Neutestamentler, in: K. Nowak / O. G. Oexle (Hg.), Adolf von Harnack. Theologe, Historiker, Wissenschaftspolitiker (VMPIG 161), Göttingen 2001, 365–395, hier: 392 f. In seiner zeitgenössischen Beschreibung der Religionsgeschichtlichen Schule hat Gressmann, Eichhorn (s. Anm. 14) das treffende Bonmot über Wellhausen und Harnack geprägt: „Beide betrachten die Religionsgeschichtler zwar eher als ihre ungeratenen Söhne, aber sie können die Vaterschaft nicht ableugnen“ (26). Gerade die „Vorlesungen über das Wesen des Christentums“ zeigen, dass sich die Bedeutung der Religionsgeschichte „aus der fundamentalen Bedeutung, die Harnack der Geschichte überhaupt zuschreibt“, ergibt (H. Weder, Theologie und Religionswissenschaft, ThLZ 125 [2000] 1233–1244, hier: 1241).
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schichtler. Er zieht aber in seiner legendären Rektoratsrede vom 3. August 1901 gerade die entgegengesetzte Konsequenz angesichts der universalen Evolution der Religionen: Das Christentum enthält so sehr alles in sich, dass man auf das Studium der übrigen Religionen verzichten kann. „Wer diese Religion nicht kennt, kennt keine, und wer sie sammt ihrer Geschichte kennt, kennt alle.“19 Im Fall des Urchristentums und des Neuen Testaments haben wir es zu tun mit „eine[r] ungeheure[n] Reduction, die den Kern aller Religion enthüllt und in Kraft setzt“.20 Die religionsgeschichtliche Kennzeichnung des Urchristentums als „synkretistische Religion“ war Harnack sowohl aus theologischen wie aus methodischen Gründen ein Greuel; als ‚Reductionsphänomen‘ sollte es gerade nicht in den Sumpf orientalischer oder volksreligiöser Erscheinungen eingetaucht werden. Harnack hat so auch die Errichtung religionswissenschaftlicher Lehrstühle innerhalb der theologischen Fakultäten abgelehnt, u. a. deshalb, weil er die Behandlung religiöser Themen besser im Bereich der Philologien aufgehoben sah.21 Für den religionsgeschichtlichen Aufbruch ist der geisteswissenschaftliche Kontext in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von grosser Tragweite: die Herausbildung der morgenländischen Philologien und die völkerkundliche Horizonterweiterung. Hinzuweisen ist insbesondere auf die Wechselwirkungen mit der klassischen Philologie, vorbereitet von H. Usener und seinen Schülern (etwa A. Dieterich), dann bei Gelehrten wie R. Reitzenstein, E. Norden und P. Wendland. Gerade der Zusammenhang mit den Philologien bestätigt das von uns eingeführte Gleichnis von den beiden Schwestern, nun aber hinunter auf die Ebene der Einzeldisziplinen projiziert. Religionsgeschichte und neuzeitliche Bibelexegese nehmen tatsächlich in derselben Konstellation ihren Ausgang: Beide setzen nicht nur das Entstehen kritischer Methoden voraus, wie sie sich in der Aufklärung herausbilden, sondern den Historismus des 19. Jahrhunderts. Erst hier verfestigen sich auch die disziplinären Grenzen zwischen exegetischen und systematischen Fächern. Ein bemerkenswerter Gelehrter wie Johann Jakob Wettstein zeigt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie Exegese und Religionsgeschichte noch koexistieren: Sein „Novum Testamentum Graecum“ stellt nicht nur viele Varianten der griechischen Handschriften zusammen – was 19 A. von Harnack, Die Aufgabe der theologischen Fakultäten und die allgemeine Religionsgeschichte, Berlin 31901 (Abdruck in: ders., Reden und Aufsätze, Bd. 2, Giessen 21906, 159–187), 11. Zum biographischen Hintergrund vgl. A. von Zahn-Harnack, Adolf von Harnack, Berlin 1936, 294–299. 20 Harnack, aaO. 13 21 Harnack, aaO. 9 f. So hat Harnack die 1914 erfolgende Übertragung des Ordinariats für Religionsphilosophie und Religionsgeschichte an die Philosophische Fakultät samt der Berufung des Theologen Ernst Troeltsch begrüsst; vgl. V. Gerhardt / R. Mehring / J. Rindert, Berliner Geist. Eine Geschichte der Berliner Universitätsphilosophie bis 1946, Berlin 1999, 217–221. Ein Plädoyer gegen die „Säkularisation eines Theologischen Lehrstuhls“ bietet Deissmann, Lehrstuhl (s. Anm. 14) (Zitat: 5), der die Stellung seines Fakultätskollegen Harnack zum religionsgeschichtlichen Lehrstuhl, in welcher Fakultät auch immer, so charakterisiert: „Sie ist höflich, aber kühl“ (7).
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zuvor seine Amtsenthebung als Basler Pfarrer zur Folge hatte! –, sondern auch eine bis heute nicht übertroffene Sammlung von Parallelstellen aus der antiken Literatur.22
3. Die neuere Exegese im Bann der Religionsgeschichte Wer Kommentare des 19. Jahrhunderts mit solchen des 20. Jahrhunderts vergleicht, ist verblüfft von der enormen Verschiebung der Auslegungsinteressen. Die Erstgenannten zeichnen sich durch eine heute kaum mehr erschwingliche Sorgfalt in ihren sprachlichen Beobachtungen aus. Zu einer geschichtlichen Situierung der urchristlichen Texte im Kontext der Religionen des frühen römischen Kaiserreichs kommt es dagegen erst im 20. Jahrhundert, wie es die religionsgeschichtliche Bewegung nicht allein, aber doch besonders wirkungsvoll angestrebt hat. Durch die dominierende Stellung der Schule Rudolf Bultmanns in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich das Erbe der Religionsgeschichtlichen Schule in der deutschsprachigen Exegese weithin durchgesetzt, wenngleich in erheblichen Mutationen. Auch die Entwicklung neuerer Methoden wie der Formgeschichte und der Traditionsgeschichte gehört in deren Ausstrahlungsbereich. Seit den 1980er Jahren lässt sich beobachten, wie die Religionsgeschichte in mehreren Innovationsschüben der neutestamentlichen Wissenschaft erneut namhafte Impulse gibt, allerdings weitgehend im angloamerikanischen Raum und zumeist ohne Anlehnung an die seinerzeitige deutschsprachige Religionsgeschichte. Dies gilt erstens vom sogenannten Third Quest in der Jesusforschung.23 Indem das Verständnis des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels einer tiefgreifenden Revision unterzogen wird, verändert sich das Bild Jesu erheblich. Darüber hinaus greift der Third Quest entschlossen über die kanonischen Texte hinaus und bezieht Thomasevangelium und Logienquelle in die Jesusforschung ein. Zweitens ist hinzuweisen auf die New Perspective on Paul, die ihrerseits mit einer grundlegenden Transformation unseres Bildes vom Frühjudentum einhergeht.24 Die Qumrantexte spielen hier eine markante Rolle. Drittens hat die 22 J. J. Wettstein, Novum Testamentum Graecum, Amsterdam 1751/52 (= Graz 1962). Zu diesem Gelehrten vgl. G. Seelig Religionsgeschichtliche Methode in Vergangenheit und Gegenwart (ABG 7), Leipzig 2001, besonders 110–121. 23 Der Third Quest wird übersichtlich dargestellt von G. Theissen / A. Merz, Der historische Jesus, Göttingen 32001, 21–31. Moderne Jesusbücher basieren auf der kritischen Auseinandersetzung mit diesem Trend, vgl. z. B. J. Schröter, Jesus von Nazaret. Jude aus Galiläa – Retter der Welt (Biblische Gestalten 15), Leipzig 62017, 31–34; 40 f. 24 Zur Debatte um die New Perspective vgl. J. D. G. Dunn, The New Perspective on Paul. Collected Essays (WUNT 185), Tübingen 2005; M. Bachmann, Lutherische und neue Paulusperspektive (WUNT 182), Tübingen 2005; Ch. Landmesser, Umstrittener Paulus. Die gegenwärtige Diskussion um die paulinische Theologie, ZThK 105 (2008) 387–410.
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Religionsgeschichte in einem weiten Sinn, nämlich als Wissenschaft von der Antike, dem trendigen Rhetorical Criticism Pate gestanden, werden doch neutestamentliche Texte gelesen im Blick auf ihre Verwendung rhetorischer Strategien, wie sie von den antiken Handbüchern inventarisiert werden. Es lässt sich viertens auch die Entdeckung der Wirkungsgeschichte einbeziehen, die im Fall der ältesten Rezeptionen wiederum in die Altertumswissenschaft, zumal die Patristik, ausgreift. Fünftens arbeitet die in Amerika sehr prominente Kulturanthropologie in breitem Ausmass mit antikem Material; dasselbe gilt von den Wechselwirkungen mit einschlägigen Disziplinen wie der Soziologie und der Wirtschaftsgeschichte. Vorsorglich sei notiert, dass die Exegese selbstverständlich auch von Umbrüchen ganz anderer Art bestimmt war, etwa dem Einbezug literaturwissenschaftlicher Perspektiven wie der Rezeptionsästhetik und der Entdeckung des Lesers. Im Ganzen stellt sich der Eindruck ein, die Exegese arbeite heute in weiten Teilen religionsgeschichtlich, sowohl was die Kontexte der urchristlichen Religion betrifft ‑Frühjudentum und hellenistisch-römische Welt – als auch in der Rekonstruktion des Urchristentums selber. Die beiden Schwestern teilen sich dasselbe Handwerk. Wir fragen jetzt danach, was dies für die neutestamentliche Theologie bedeutet.
4. Neutestamentliche Theologie im Gegenüber zur Religionsgeschichte Wir halten uns an das Paradepferd neutestamentlicher Theologie, an die Gattung des Lehrbuchs. Es fällt auf, dass in jüngerer Zeit gerade im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl von vorzüglichen Lehrbüchern erschienen ist, die sich alle auf diese oder jene Weise als Theologie profilieren und sich damit auch explizit vom Unternehmen einer Religionsgeschichte des Urchristentums abgrenzen.25 Sie arbeiten ganz selbstverständlich auch religionsgeschichtlich, orientieren sich 25 Innerhalb der letzten gut zehn Jahre sind im deutschen Sprachraum u. a. erschienen: P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, Göttingen 32005; Bd. 2, 2 2012 (zur Theologiegeschichte und Religionswissenschaft vgl. Bd. 1, 3); H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments, 3 Bde., Göttingen 1990–1995; U. Wilckens, Theologie des Neuen Testaments, 3 Bde. in 7 Teilbd., Neukirchen / Göttingen 2002–2017 (zu „rein historische[n] Darstellungen der Gegenwart“ vgl. Bd. 1: Geschichte der urchristlichen Theologie. Teilbd. 1: Geschichte des Wirkens Jesu in Galiläa, 32008, 48–50); F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments, 2 Bde., Tübingen 32011 (zum Verhältnis zur Religionswissenschaft vgl. Bd. 1, 18); U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments (UTB 2917), Göttingen 32016 (zum Verhältnis zur Religionswissenschaft vgl. 34–37). Bei J. Schröter erfolgt eine grundsätzliche Rückbeziehung der Theologie auf den Kanon: Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments, in: ders., Von Jesus zum Neuen Testament (WUNT 204), Tübingen 2007, 355–377. Neutestamentliche Theologie ist mit der Frage befasst, „worauf sich christliches Wirklichkeitsverständnis gründet und wie dieses in den Schriften des Neuen Testaments grundgelegte Verständnis im Diskurs über die Interpretation der Wirklichkeit geltend gemacht werden kann“ (in: Vorwort, aaO., v).
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aber am Kanon und stellen sich in ihrer Konzentration auf das Glaubenszeugnis dem Wahrheitsanspruch der neutestamentlichen Texte. Allerdings ist weithin ein schmerzliches hermeneutisches Defizit zu konstatieren: Das Interesse daran, die Botschaft der neutestamentlichen Texte in unseren heutigen spätmodernen Kontexten zu artikulieren,26 geniesst keine Priorität; Theologie besteht zu guten Teilen in Explorationen der Theologiegeschichte.27 Umgekehrt hat G. Theissen vor kurzem eine eindrückliche Religionswissenschaft des Urchristentums vorgelegt.28 Bei allen Vorzügen leidet das Unternehmen freilich darunter, dass es mit der adressatenbezogenen Gegenüberstellung von religionswissenschaftlicher „Aussenperspektive“ und neutestamentlich- theologischer „Binnenperspektive“ arbeitet; Theologien seien an künftige Pfarrer gerichtet, während sich die Religionswissenschaft des Urchristentums an eine Leserschaft „unabhängig von ihrer religiösen oder nicht-religiösen Einstellung“ richte. Solange Theologie aber als akademische Fachrichtung eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung wahrnimmt, ist sie doch gerade auch auf diese Adressatenschaft verwiesen, was nicht zuletzt mit der Reichweite der von ihr kultivierten historischen Perspektiven zu tun hat. Abseits der Lehrbücher drängt sich Eindruck auf, die heisse Auseinandersetzung zwischen theologischer Exegese und Religionsgeschichte habe weitgehend einer kalten Übernahme ersterer durch letztere, gleichsam einem friendly takeover, Platz gemacht, zumal im weiten Raum der internationalen Bibelwissen26 Weder, Theologie (s. Anm. 18) 1235 f identifiziert den Lebensnerv neutestamentlicher Theologie darin, den Sachanspruch der Texte wahrzunehmen: „Verstanden ist das Neue Testament erst, wenn die heutigen Leser auf seinen Sachanspruch reagiert haben.“ 27 Der Theologiegeschichte stellt Hahn, Theologie (s. Anm. 25) eine nach der inneren „Einheit fragende Theologie des Neuen Testaments“ zur Seite, die in Bd. 2 thematisch entfaltet wird (Bd. 2, 23 f). Hahn möchte hingegen verzichten auf die „systematisch-theologische Aufgabe in dem Sinn, dass die neutestamentliche Botschaft im Zusammenhang mit den Fragestellungen der Folgezeit und den Problemen der Gegenwart durchdacht wird“; auch die „Notwendigkeit der aktualisierenden Applikation“ entfällt: Eine religionswissenschaftliche Alternative zur neutestamentlichen Theologie? Ein Gespräch mit Heikki Räisänen, in: ders., Studien zum Neuen Testament, Bd. 1 (WUNT 191), Tübingen 2006, 151–162 (Zitate: 162). Der Unterschied zwischen Theologiegeschichte und Theologie wird bei J. Becker dahingehend bestimmt, dass es Aufgabe der letzteren ist, „das dem Urchristentum zugrunde liegende Wirklichkeitsverständnis (also die Auffassung von Gott, Welt und Mensch) zu entfalten, insoweit über es im Urchristentum explizit oder implizit kommuniziert wurde und insoweit es in Umrissen rekonstruiert werden kann“: Theologiegeschichte des Urchristentums – Theologie des Neuen Testaments – Frühchristliche Religionsgeschichte, in: C. Breytenbach / J. Frey (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments (WUNT 205), Tübingen 2007, 115–133, hier: 121. 28 G. Theissen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 42008, besonders 13 f. Zur Beurteilung dieser „Theorie des Christentums für die Gebildeten unter seinen Verächtern“ vgl. die Besprechung von F. Stolz, Das Urchristentum – die Aussenansicht eines Insiders, EvTh 61 (2001) 476–480 (Zitat 476) und von A. Lindemann, Zur „Religion“ des Urchristentums, ThR 67 (2002) 238–261, hier: 246–261 („Im Ergebnis drängt sich mir freilich der Eindruck auf, dass Th.s Buch über weite Strecken eine Art vorsichtiger ‚Apologie‘ zu sein scheint“, 260).
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schaften. Dogmatiker, Ethiker und Praktologen versprechen sich von der Exegese je länger desto weniger Erkenntnisgewinn für ihr eigenes Geschäft. Angesichts des dramatischen Verlusts ihrer gesamttheologischen Verantwortung empfiehlt es sich, erneut auf die theologische Stimme von Rudolf Bultmann zu achten, der von der Religionsgeschichtlichen Schule herkommt und sich zugleich auf das Anliegen der theologischen Auslegung konzentriert hat. Bultmann verdankt der Religionsgeschichte die Wahrnehmung der mythischen Dimensionen der urchristlichen Theologie, die ihn vor die Notwendigkeit der Entmythologisierung, verstanden als Interpretation des Mythos, gestellt hat. Allerdings ist eine gewisse Einseitigkeit nicht zu verkennen: Der hermeneutische Aufwand kommt bei ihm vornehmlich den neutestamentlichen Texten zugute. Demgegenüber fungiert der supponierte gnostische Mythos bzw. der hellenistisch-synkretistische oder ‚spätjüdische‘ Hintergrund nicht selten als negative Folie für die Botschaft des Evangeliums oder des Apostels. Während die Exponenten des religiösen Kontexts in die Objektivierung und Substantialisierung des Mythos verstrickt sind, brechen die neutestamentlichen Texte, insbesondere Johannes und Paulus, zu einem geschichtlichen Existenzverständnis durch. Diese Kontrastierungsfunktion religionsgeschichtlicher Analyse hat sich besonders in der Bultmannschule durchgesetzt. Wir notieren aber am Rand, dass Bultmann streckenweise auch nichtchristliche Religionen, zumal die Gnosis, in bonam partem der existentialen Interpretation zuführt.29
5. Der Anspruch neutestamentlicher Theologie Im Folgenden wird der Versuch unternommen, theologische Exegese im Gegenüber zur religionsgeschichtlichen Perspektive zu beschreiben.30 Grundsätzliche Feststellungen verbinden sich dabei mit praktischen Aspekten des exegetischen Handwerks. 1. Es ist zunächst die Ebene zu bestimmen, auf der eine sinnvolle Verhältnisbestimmung zwischen theologischer Exegese und religionsgeschichtlicher Analyse zu erfolgen hat.31 Mit Vorteil ist davon abzusehen, die Diskussion mit 29 Vgl. etwa die dichte Beschreibung der Gnosis von R. Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen, Zürich 1949 (= 41976), 181–192. 30 Mutatis mutandis beziehen sich die nachstehenden Überlegungen auch auf die alttestamentliche Theologie. Vgl. dazu H. Spieckermann, Das neue Bild der Religionsgeschichte Israels – eine Herausforderung der Theologie?, ZThK 105 (2008) 259–280 („Theologie kann sich in keiner ihrer Disziplinen des Wahrheitsanspruchs ihres Gegenstandes entheben, so unpopulär die Frage im heutigen wissenschaftlichen Diskurs auch sein mag“, 275). 31 Hilfreich ist die Zusammenstellung falscher Alternativen (mit jeweils wahrem Kern), die von G. Theissen vorgelegt wird: Theologie und Religionswissenschaft. Gegenseitige Inspiration und Irritation zweier komplementärer Wissenschaften, NedThT 59 (2005) 124–141, hier: 130–134.
5. Der Anspruch neutestamentlicher Theologie
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einem im Ansatz positivistischen Verständnis religionswissenschaftlicher Arbeit zu führen, wie es in neuerer Zeit im Bereich der neutestamentlichen Forschung etwa bei H. Räisänen32 oder, weit gröber, bei G. Lüdemann erkennbar wird.33 Die Auseinandersetzung ist im Zeichen der späten Moderne auf einem Theorieniveau zu führen, das durch wenigstens drei Postulate bestimmt wird. Einzufordern sind erstens grundsätzliche Selbstreflexivität, d. h. die Reflexion auf die eigene Position und Perspektive, zweitens hermeneutisches Bewusstsein, d. h. die Anerkennung dessen, dass Rekonstruktion immer auch mit Interpretation einhergeht, und drittens Zulassung von Pluralität, d. h. grundsätzliche Anerkennung einer Mehrheit (nicht: Beliebigkeit) von Interpretationen. Ein so orientierter wissenschaftlicher Zugang zu den religiösen Phänomenen lässt sich als kulturwissenschaftlich reformulierte Religionsgeschichte umschreiben. Diese unterscheidet sich von der Religionsgeschichte älteren Typs durch ihre gesteigerte Differenzierungsfähigkeit, durch ihre Sensibilisierung gegenüber Theorieeinseitigkeiten und ihre Distanz zu reduktionistischen Operationen. In der täglichen exegetischen Arbeit schliesst die Wahl dieser Ebene ein paar Regeln ein, die sich zwar trivial ausnehmen, aber doch leicht gebrochen werden. Religionsvergleichende Analyse hat die nicht-christlichen Texte mit derselben Vorsicht und Umsicht zu behandeln, die sie den neutestamentlichen ganz selbstverständlich zukommen lässt. Interpretationsspielräume sind jeweils auch in bonam partem auszumessen.34 Die Wahrnehmung von mediterran-antiken Texten hat sich immer ganz besonders auf deren Andersartigkeit und Fremdheit einzustellen.
32 H. Räisänen,
Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative (SBS 186), Stuttgart 2000. Zwar hat Räisänen gegenüber einem naiven Objektivitätsideal „die Person des Forschers“ mit im Blick (81–84). Sein „dialektisches Modell“, das die „Darstellung des frühchristlichen Denkens […] als ein Ergebnis der Wechselwirkung von Tradition, Erfahrung und Interpretation beschreiben“ will, ist aber als Gemeinplatz zu taxieren; insbesondere der Erfahrungsbegriff ist weitgehend ungeklärt (102 f). Religionswissenschaft wird mit der Aussenperspektive, Theologie mit der – distanzierungsunfähigen – Innenperspektive korreliert (66; 72 f; 74–77). Die hermeneutische Position von Bultmann gerät zur Karikatur (22–24 [„das geschichtliche Verstehen wird von der aktualisierenden Interpretation verschlungen“]; 92); Gablers Unterscheidung von biblischer und dogmatischer Theologie wird kurzgeschlossen mit der Abfolge von Rekonstruktion und Aktualisierung (12; 31; 37). In seiner Besprechung stellt Lindemann, „Religion“ (s. Anm. 28) m.R. fest: „Erstaunlich dabei ist, dass die betonte, bisweilen auch recht polemische Abgrenzung vom ‚kirchlich-theologischen‘ Vorgehen immer wieder in den Vordergrund tritt, während doch eher zu erwarten wäre, dass die eigene Position eingehender vorgestellt wird. Worin inhaltlich, d. h. im sachlichen Ergebnis die im Buchtitel angezeigte Alternative besteht, wird im Grunde nicht recht sichtbar“ (246). 33 G. Lüdemann, Ketzer. Die andere Seite des frühen Christentums, Stuttgart 1995; ders., Der grosse Betrug. Und was Jesus wirklich sagte und tat, Lüneburg 1998; ders., Das Urchristentum. Eine kritische Bilanz seiner Erforschung, Frankfurt 2002. 34 Es ist Räisänen, Theologie (s. Anm. 32) 82 f zugute zu halten, dass er „fair play“ für die Forschung am Urchristentum und seiner Umwelt fordert.
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2. Die so umschriebene Religionsgeschichte ist ihrerseits im Theorieensemble einer kulturwissenschaftlich reformulierten Religionswissenschaft zu verankern.35 Bei aller begründeten Skepsis gegenüber dem hype, mit dem sich cultural turns verbinden, lassen sich doch einige attraktive Vorzüge benennen, die aus der Umstellung auf Kulturwissenschaften resultieren:36 Dazu zählen die bereits genannte Reflexivität auf die eigene, kulturgeschichtlich vermittelte Position – also die Wahl von Meta-Ebenen –, das Postulat einer unhintergehbaren Pluralität von Interpretationen, die Zusammenführung von sonst separierten Perspektiven – mit der Folge, „Religion“ einzuzeichnen in kulturelle Systeme –, schliesslich die Sensibilisierung für Peripherien, etwa in der Redimensionierung literarischer Hochtexte zugunsten anderer Medien oder Phänomene wie Riten und „Alltagsreligion“. In der Tat ist die Exegese weithin längst über eine auch nur halbwegs isolierte Religionsgeschichte hinausgeschritten. Im Bereich der mediterranen Antike ist Religion nicht als ausdifferenziertes Teilsystem gegenüber dem Ganzen der Kultur beschreibbar; sie lässt sich gar nicht abtrennen von Recht und Wissenschaft, von Politik und Philosophie. Deshalb wird ihr nur ein breiter altertumswissenschaftlicher Zugang gerecht, eben: eine Kulturwissenschaft der Antike.37 3. Es ist für die theologische Exegese ratsam, wenn sie genau den Punkt benennt, wo sie in ihrem Rekonstruktions‑ und Interpretationsgeschäft den von den Kulturwissenschaften gepflegten – im Prinzip unendlichen – Regress auf Metaebenen unterbricht und eine Position markiert, die durch das christliche Glaubenszeugnis vermittelt und damit an die kanonischen Texte gebunden ist. 35 Zur Redefinition von Religionswissenschaft als kulturwissenschaftlicher Disziplin vgl. H. G. Kippenberg, Was sucht die Religionswissenschaft unter den Kulturwissenschaften?, in: H. Appelsmeyer / E. Billmann-Mahecha (Hg.), Kulturwissenschaft, Weilerswist 2001, 240–275; B. Gladigow, Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft (Religionswissenschaft heute 1), Stuttgart 2005; A. Koch, Die Religionswissenschaft als Theorienschmiede der Kulturwissenschaften, in: dies. (Hg.), Watchtower Religionswissenschaft, Marburg 2007, 33–52; M. von Brück, Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft, aaO. 73–93. Einen Kopfsprung mit überzogenem Theorieanspruch versuchen H. G. Kippenberg / K. von Stuckrad, Einführung in die Religionswissenschaft, München 2003, 11–16: „Was wir brauchen, ist die Umleitung der kulturwissenschaftlichen Ströme in das Bett der Religionswissenschaft“ (13). Vgl. ferner Arens, Konkurrenz (s. Anm. 4) 119 zum „Modell kulturwissenschaftlich orientierter Konvergenz“. 36 Vgl. dazu meine Überlegungen: Heilvolle Wende? Exegese im Zeichen der Kulturwissenschaften, in: P. Lampe / M. Mayordomo / M. Sato (Hg.), Neutestamentliche Exegese im Dialog, FS U. Luz, Neukirchen 2008, 111–120, Abdruck in diesem Band: 477–485. Eine gute Präsentation der kulturwissenschaftlichen Perspektiven bieten H. Böhme / P. Matussek / L. Müller, Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will (rowohlts enzyklopädie), Reinbek 22002, besonders 104–108. 37 Während sich die amerikanische Exegese schon lange auf die Kulturanthropologie beruft, betritt man im deutschsprachigen Bereich Neuland. Vgl. Ch. Strecker, „Turn! Turn! Turn! To Everything there is a Season“. Die Herausforderung des cultural turn für die neutestamentliche Exegese, in: W. Stegemann (Hg.), Religion und Kultur (ThAkz 4), Stuttgart 2003, 9–42; ders., Die liminale Theologie des Paulus (FRLANT 185), Göttingen 1999; K. Neumann, Das Fremde verstehen – Grundlagen einer kulturanthropologischen Exegese, 2 Bde., Münster 2000.
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Ihr Positionsbezug, der die reflexive Endlosschlaufe aufhebt, gibt sich seinerseits ausdrücklich als perspektivisch, als partikular und als geschichtlich kontingent zu erkennen. Insofern ist diese Art von Unterbruch nicht als Ausstieg aus der Selbstreflexivität, sondern vielmehr als Erdung zu verstehen. Neutestamentliche Exegese tut gut daran, ihre Position klar zu markieren und es dem wissenschaftlichen – und allenfalls bildungspolitischen – Markt zu überlassen, ob die von ihr gewählte Perspektive die Wahrnehmung ihrer Phänomene bereichert oder aber verdunkelt. Beispielsweise hat sich der Evangelisch-Katholische Kommentar bereits in den späten 1960er Jahren mit seinem ökumenischen Programm auf dieser Linie bewegt und deshalb konsequent die Wirkungsgeschichte mit einbezogen.38 Grundsätzlich braucht man beim Positionsbezug nicht allein an christliche oder gar konfessionelle Standpunkte zu denken. Beispielsweise wurde Walter F. Otto als Interpret der homerischen Epen zum Erneuerer der altgriechischen Religion;39 Platonausleger üben das Kerngeschäft philosophischer Kunst aus;40 Religionswissenschaftler outen sich umgekehrt als ernsthafte Anhänger fernöstlicher Religionen.41 Religionswissenschaftliche bzw. kulturwissenschaftliche Zugänge zur Religion sind gerade aufgrund ihrer Sensibilität in Bezug auf den Übergang von deskriptiver zu normativer Ebene in der Lage, verschiedene Varianten von Positionsbezügen zu identifizieren. Der religionswissenschaftlichen Diagnose liegt die Haltung einer vorsichtigen ἐποχή zugrunde, die sich allenfalls verbindet mit der Warnung vor dem befremdlichen Absturz hinab in den Kreis der believers. Am Rand ist mitzubedenken, dass die Religionswissenschaft ihrerseits spätestens dort zu einem Positionsbezug genötigt wird, wo sie etwa gesellschaftliche Beratungsfunktionen übernimmt. Politiker erwarten im Umgang mit religiösen Konflikten von ihr konkrete Hilfestellung für ihre Entscheidungen.
Für die theologische Exegese entsteht beim genannten Positionsbezug ein im Ansatz antagonistisches Verhältnis zur Religionswissenschaft. Versteht man den Antagonismus in anatomischem und physiologischem Sinn, spricht nichts grundsätzlich gegen die Möglichkeit, dass es sich um ein konstruktives Verhältnis handelt. 38 Im EKK besteht seit seiner Begründung die Regel, dass ein evangelischer Kommentar von einem Katholiken gegengelesen wird und umgekehrt. Auslegungsdifferenzen, die sich aufgrund der verschiedenen konfessionellen Perspektiven ergeben, werden eingearbeitet und dokumentiert, gelegentlich sogar in Form einer eigenen Anmerkung, wie hinsichtlich des Amtsverständnisses bei R. Schnackenburg, Der Brief an die Epheser (EKK 10), Zürich / Neukirchen 22003, 195 f, durch den evangelischen Partner, Eduard Schweizer. 39 Vgl. W. F. Otto, Die Götter Griechenlands. Das Bild des Göttlichen im Spiegel des griechischen Geistes, Frankfurt 1947 (= 2002); ders., Theophanie. Der Geist der altgriechischen Religion (rowohlts deutsche enzyklopädie 1151), Hamburg 1956. 40 Vgl. z. B. G. Picht, Platons Dialoge „Nomoi“ und „Symposion“, Stuttgart 1990. 41 Auf der Homepage des Münchener Religionswissenschaftlers M. von Brück heisst es: „Über seine wissenschaftliche Tätigkeit hinaus hat sich Michael von Brück zum Zen‑ und Yogalehrer ausbilden lassen“ (https://www.religionswissenschaft.uni-muenchen.de/personen/ehem/ vbrueck/index.html; Zugriff am 06. 08. 2019).
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4. Theologische Exegese und Religionsgeschichte kultivieren je auf ihre Weise den Umgang mit der Wahrnehmung des Fremden. Es ist nicht so, wie manchmal suggeriert wird, dass der Religionswissenschaft die Anwaltschaft für das Fremde zustehe, während es die Theologie mit dem ihr Vertrauten zu tun hätte.42 Beide kultivieren je für sich ein differenziertes und komplexes Miteinander beider Wahrnehmungsweisen. Gewiss schafft die von der Religionswissenschaft betriebene Distanzierung Raum für das Wahrnehmen des Fremden und stellt die Differenz kultureller Konfigurationen deutlich heraus. Aber Wahrnehmung des Fremden gibt es nicht ohne simultanes Wiedererkennen von Vertrautem, also nur im Verbund mit Interpretation, und das heisst, im Gravitationsfeld des hermeneutischen Zirkels. Es kommt ein Weiteres hinzu: Gerade die Religionswissenschaft stösst unausweichlich auf anthropologische Tiefenstrukturen, die sich im Lauf der Jahrmillionen dauernden Entstehungsgeschichte der Hominiden herausgebildet haben.43 Sie hat es hier in besonderem Mass mit Phänomenen des Vertrauten zu tun, so befremdlich sich diese auch ausnehmen mögen. Umgekehrt besetzt das Herausstellen des Fremden, des Anderen, auch in der Theologie eine zentrale Rolle, nämlich in ihrem Reden von Gott. Die Dialektische Theologie hat mit Grund gerade bei diesem Punkt angesetzt. Zugleich aber hat das Wiedererkennen des Vertrauten in der Theologie seine eigene Tragweite; es reicht vom Identifizieren des alten Adam – gleichsam der theologischen Variante soziobiologischer Deskription – bis zum Wiedererkennen eigener lebensgeschichtlicher Erfahrungen in den biblischen Erzählungen. Historisch-kritische Exegese kultiviert seit langem das Pathos, ihre Objekte vor der Vereinnahmung durch kirchliche, gesellschaftliche oder individuelle Interessen und Moden zu schützen. Zugleich aber hat sie es mit Texten zu tun, die sich tief in das kulturelle Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben haben. Der Exegese ist deshalb aufgetragen, sich wirkungsgeschichtlich zu sensibilisieren und so ihren Beitrag zur Pflege des kollektiven Gedächtnisses zu leisten. Als Religionsgeschichte hat sie das Ineinander und Miteinander von Fremdsein und Vertrautsein zu bearbeiten. Als theologische Auslegung gibt sie jener eigentümlichen Bewegung Raum, die die Fremdheit der Texte steigert und diese zugleich 42 Vgl. Stolz, Grundzüge (s. Anm. 6) 36; 44; ders., Theologie und Religionswissenschaft – Das Eigene und das Fremde, in: ders., Religion (s. Anm. 8) 271–286, hier: 281 ff. Dalferth, Theologie (s. Anm. 6) 19 f beschreibt das wechselseitige Verhältnis von Theologie und Religionswissenschaft anhand der Kategorie des Fremden: „Sie bringen jeweils Anderes gegenüber den Beschreibungen der jeweiligen Disziplin so zur Geltung, dass das Andere als Anderes, das Fremde als Fremdes im Blick bleibt. Religionswissenschaftliche Beschreibungen fungieren im Horizont der Theologie so als eine Phänomenologie des Fremden als Fremden, und theologische Deutungen haben im Horizont der Religionswissenschaft die Funktion einer Erinnerung an alternative Horizonte zum Verständnis des Lebens.“ 43 Vgl. dazu besonders W. Burkert, Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion, München 1998; ders., Fitness oder Opium? Die Fragestellung der Soziobiologie im Bereich alter Religionen, in: F. Stolz (Hg.), Homo naturaliter religiosus. Gehört Religion notwendig zum Mensch-Sein?, Bern 1997, 13–38.
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überholt durch ein immer noch grösseres Sich-Vertrautmachen. Sie ist mit der Einwohnung des – bleibend – Fremden befasst und verspricht sich davon einen Lebensgewinn.44 Das Spiel der Wahrnehmung von Fremdem und Vertrautem lässt sich beispielsweise am Umgang des Paulus mit der Glossolalie in 1 Kor 14,1–25 beobachten.45 Die religionsgeschichtliche Analyse hilft, die Felder zu umreissen, in die die Phänomene der Zungenrede einzuzeichnen sind: das Reden der Götter, das Sprechen der Engel, die Magie mit ihren voces mysticae, die Einwohnung göttlicher Mächte bei Orakelpriesterinnen. Die Religionswissenschaft steuert empirische Befunde neuzeitlicher glossolaler Bewegungen bei, allenfalls auch psychiatrische Dossiers. Schliesslich greift sie nicht nur auf kinderpsychologisches Material zurück, sondern auch auf die Phylogenese, also auf stammesgeschichtliche Stufen der archaischen Sprachentstehung. Das Ineinander von Verfremdung und Analogisierung – als einer Form, Vertrautes wieder zu finden – ist offenkundig. Die Exegese arbeitet ihrerseits heraus, wie Paulus bei aller Hochschätzung der Glossolalie vernünftiges Denken und verständliches Reden privilegiert – das kommt neuzeitlicher aufgeklärter Kultur entgegen.46 Die theologische Auslegung schliesslich wird alles Gewicht legen auf das Band, das Paulus zwischen Vernunft und Liebe spannt, und sie kann das zum Anlass nehmen, kritisch zur neuzeitlichen Rationalität Stellung zu beziehen und sich damit zur Anwältin des Fremden zu machen. Sie wird sich angesichts der paulinischen Hochschätzung der Prophetie sogar darauf einlassen, nachzudenken über vollmächtiges Reden, das verständlich ist und doch die Grenzen der Vernunft sondiert. 5. Theologische Exegese nimmt ihren Ausgangspunkt bei dem eigentümlichen Anspruch, den die im Kanon zusammengeführten biblischen Texte erheben. Wer sich auf diese Texte einlässt, wird in den Prozess einer Metamorphose hineingezogen.47 Sie werden unter der Hand vom Objekt zum Subjekt, das an seinen 44 Vgl. die Erwägungen „Der fremde Gast“ bei H. Weder, Neutestamentliche Hermeneutik (ZGB), Zürich 21989, 428–435. 45 Zur Deutung der urchristlichen Glossolalie vgl. besonders G. Theissen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie (FRLANT 131), Göttingen 21993, 269–340; H.-J. Klauck, Von Kassandra bis zur Gnosis. Im Umfeld der frühchristlichen Glossolalie, in: ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum (WUNT 152), Tübingen 2003, 119–144; ders., Mit Engelszungen? Vom Charisma der verständlichen Rede in 1 Kor 14, aaO. 145–167. 46 Vgl. dazu Weder, Hermeneutik (s. Anm. 44) 30–42; ders., Die Gabe der ἑρμηνεία (1 Kor 12 und 14), in: ders., Einblicke ins Evangelium, Göttingen 1992, 31–44; ferner meinen Aufsatz: Viele Welten und ein Geist. Überlegungen zum theologischen Umgang mit dem neuzeitlichen Pluralismus im Blick auf den 1. Korintherbrief, in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 193–213. 47 Ebeling, Studium (s. Anm. 2) 17 beschreibt die Sachlage pointiert: „Das Neue Testament transzendiert sich als Buch in ein Geschehen hinein, dessen verschiedene Dimensionen einen einzigen Wirklichkeitszusammenhang bilden. Es ist textgewordenes Wortgeschehen, das darauf zielt, dass aus dem Text wieder lebendiges Wort hervorgeht.“ Für Ch. Levin, Das Alte Testament auf dem Weg zu seiner Theologie, ZThK 105 (2008) 125–145, ist der „Ausgangspunkt der Erwägungen zur theologischen Bedeutung der Schrift“ nicht „die Exegese, sondern nur die
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Hörern und Lesern zu arbeiten beginnt. Die Botschaft der Texte bringt die Hörer und Leser in die Kehre und spielt ihnen eine neue Identität zu. Dieser Prozess führt durch Krisis zur Ktisis, er stösst ins Nichts und lässt daraus neue Schöpfung werden. Mit seiner Passage durch Tod und Auferstehung bringt er eine christomorphe Dynamik zum Zug; er lässt sich mit dem Wirken des heiligen Geistes assoziieren. Nun handelt es sich keineswegs ein Proprium der biblischen Texte, dass sie vom Objekt ästhetischer Betrachtung oder gelehrter Analyse zum Subjekt zu mutieren vermögen. Wo immer sich Leser und Hörer mit ganzer Existenz ihren Texten hingeben, rücken diese selber ins Zentrum und nehmen ihre Rezipienten in Beschlag. Dies gilt nicht nur von religiösen Schriften, sondern ein gutes Stück weit auch von Werken der erzählenden Literatur und der Dichtung. Mehr noch: Die Subjektwerdung von Texten nimmt sich als solche überaus ambivalent aus; man denke nur an die Manuale, die zum Handgepäck heutiger Selbstmordattentätern zählen. Das für unsere Denkfigur Pate stehende antike Modell der göttlichen Einwohnung, das die Dezentrierung des Subjekts prägnant beschreibt, zeigt deutlich, wie nahe sich Inspiration und Besessenheit stehen.48 Es kommt also alles auf das Sachanliegen der betreffenden Texte an, die in die bestimmende Subjektrolle einrücken. Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang auf den Apostel Paulus zu hören. In seiner Auseinandersetzung mit der urchristlichen Zungenrede, einer pointierten Form von pneumatischer Inspiration, formuliert er drei Kriterien, die das dem Evangelium entsprechende Geisteswirken normieren: Glaube, Hoffnung und Liebe (1 Kor 13,13). Der Umschlag vom „Buchstaben“ zum „Geist“, oder anders gewendet: vom antiken Bibeltext zum heute ergehenden Wort, bemisst sich vor allem an der Liebe als der einzigartigen Fähigkeit, sich an den Ort des Anderen versetzen zu lassen. Erst die spezifische Form der Dezentrierung des Subjekts, die die Liebe auszeichnet, schafft Raum für das lebensfreundliche Gotteswort. So stellt für Paulus der im Zeichen des Evangeliums gestiftete Bund zwischen Liebe und Vernunft sicher, dass das Geisteswirken dem gemeinschaftlichen Leben zugute kommt (1 Kor 13/14; vgl. 8,1–3; Röm 12,1 f).
Theologische Exegese assistiert diesem Prozess, im besten Fall mag sie ihn auszulösen, im Regelfall wird sie ihn eher kognitiv vorbereiten, begleiten und vor allem kritisch überprüfen. Sie ist also nicht Predigt und schon gar nicht Prophetie. Sie kommt vielmehr an jenem Punkt zum Zug, wo die Interpretation, die in religionsgeschichtlicher bzw. kulturgeschichtlicher Perspektive einen Text in seiner Zeit zum Reden bringt, umschlägt zur Interpretation, die der Text am Hörer und Leser vollzieht. Dabei stellen sich gewichtige hermeneutische Fragen: Wie lässt sich der Umschlag von historischer, aber durchaus selbstreflexiv geführter Interpretation in gegenwartsbezogene theologische Auslegung angemessen beschreiben? Gibt es einen Weg, der über die unfruchtbare Alternative hinausführt, sie beide weitgehend zu identifizieren – so die von Gadamer herkommende Erfahrung des Wortes […]: dass es die Kraft hat, die Welt sub specie Evangelii zu erschliessen“ (129). 48 Vgl. dazu die oben Anm. 45 aufgelisteten Studien zur Glossolalie, dazu meinen Aufsatz: Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden, in: Vollenweider, Horizonte (s. Anm. 46) 163–192, hier: 169–172.
6. Bruchlinien – Theologie als kulturwissenschaftlicher Störenfried
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theologische Hermeneutik – oder aber voneinander zu separieren, etwa in das Nacheinander von explicatio und applicatio?49 Lässt sich schliesslich die Mitarbeit des Lesers an der Sinnwelt des Textes so nachzeichnen dass sie sich nicht in – tendenziell beliebiger – Konstruktion erschöpft, sondern vielmehr als Phänomen schöpferischer Resonanz auf die Texte als Repräsentanten des Externen identifizierbar ist? Für Antworten auf diese Fragen ist die Exegese auf elementare Hilfestellung durch die Systematische Theologie und ihre hermeneutische Kompetenz angewiesen.
6. Bruchlinien – Theologie als kulturwissenschaftlicher Störenfried Auf dem Weg, den die Theologie ein gutes Stück zusammen mit den Kulturwissenschaften geht, zeichnen sich wenigstens zwei Stationen ab, wo sie sich zu schwerwiegenden, aber hoffentlich produktiven Einreden genötigt sieht. 1. Die Theologie tut gut daran, ihr eigenes kulturkritisches Erbe in den zeitgenössischen Diskursen geltend zu machen. Die biblische Überlieferung ist massgeblich bestimmt von tiefster Distanz zu den Selbstverständlichkeiten und Vorgegebenheiten ihrer Zeit. Die Distanznahme zur vorfindlichen kulturellen Konfiguration bricht in der alttestamentlichen Schriftprophetie auf und kulminiert in der neutestamentlichen Eschatologie, wo der „Gestalt dieser Welt“ (Röm 12,2) die neue Christuswirklichkeit entgegensteht. Das „Wort vom Kreuz“ arbeitet die Differenz zwischen „dieser Weltzeit“ und der „neuen Schöpfung“ in kaum überbietbarer Schärfe heraus (1 Kor 1,18–2,5). Diese eigentümliche Form von Kulturkritik wird ihrerseits selbstverständlich wieder zum interessanten Objekt kulturwissenschaftlicher Analyse; sie lässt sich dann etwa mit anderen kulturdistanzierten Phänomenen in der antik-mediterranen Gesellschaft zusammenstellen, etwa der kynischen Bewegung. Es kommt hinzu, dass sich Kulturwissenschaften gerade durch ihre historische Thematisierung kultureller Differenzen kulturkritisch verhalten.50 Wenn die Theologie ihre eigene kulturkritische Tradition aktualisiert, bringt sie freilich einen ganz anderen Anspruch ins Spiel und 49 Die Überlegungen von K. Neumann, Die Geburt der Interpretation. Die hermeneutische Revolution des Historismus als Beginn der Postmoderne (FSy 16), Stuttgart 2002, 144–156, bewegen sich im Dreieck von Objektivismus, ‚neuer Hermeneutik‘ und postmodernem Ansatz des ‚offenen Texts‘. Er plädiert für eine kulturanthropologisch bestimmte Hermeneutik, eine „‚Hermeneutik des Fremden‘“, die von der Begegnung der Kulturen bestimmt ist (149 f). Der Preis für diesen Ansatz ist nicht nur die scharfe Trennung zwischen explicatio und applicatio, sondern auch das Risiko, dass beides, kulturanthropologische Analyse und engagierte Auslegung, zum Projektionsfeld unserer gerade aktuellen Moden und Trends verkommt. 50 Vgl. Böhme / Matussek / Müller, Orientierung (s. Anm. 36) 104; R. Konersmann, Kulturkritik, Frankfurt 2008 („Kulturkritik […] ist ein Modus der Diversifikation […] auf der Ebene der Zeichen“, 23).
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unterbricht den unendlichen Prozess kulturwissenschaftlicher Selbstreflexivität. An diesem Punkt ist die Theologie m. E. widerständig gegenüber einer Transformation in eine Form von Kulturwissenschaft, so sehr sie ihren unverzichtbaren Part in deren Diskursen zu spielen hat. 2. Es ist unübersehbar, dass die Kulturwissenschaften in hohem Mass ein konstruktivistisches Wirklichkeitsverständnis pflegen. Programmatisch geben sie Repräsentationsmodellen, wonach Theorie Realität abzubilden habe, und essentialistischen Konzeptionen, die mit „Wahrheit“ und externer „Wirklichkeit“ operieren, den Abschied. Der konstruktivistische Ansatz ist in der späten Moderne von der Wissenssoziologie über den Dekonstruktivismus bis zur Hirnforschung fast durchwegs dominierend.51 Wir sind Konstrukt unserer Konstrukte. Von Seiten der Theologie her müsste dieser Ansatz m. E. kritisch bedacht werden.52 Nicht von ungefähr hat die Figur des Externen in ihrem überkommenen Selbstverständnis eine kaum überschätzbare Tragweite. Anstatt sich auf einen Flirt mit dem Konstruktivismus einzulassen, könnte die Theologie an die gute alte Option erinnern, menschliche Produktivität als kreative Rezeptivität im Horizont der gegenwartserschaffenden Wirksamkeit Gottes zu entwerfen. Zu denken ist etwa an eine Übertragung der paulinischen Rechtfertigungslehre in das Feld der Erkenntnistheorie.
7. Bilanz 1. Exegese und Religionsgeschichte sind historisch miteinander verbunden und methodisch aufeinander angewiesen. Jede systematische Verhältnisbestimmung von Theologie und Religionswissenschaft ist darauf hin zu befragen, ob sie auch die Besonderheiten der Bibelwissenschaften hinreichend zur Geltung bringt, d. h. ob sie die konstitutive Rolle wahrnimmt, die die religionsgeschichtliche Fragestellung für die Exegese hat. 2. Wo die Exegese ihre spezifisch theologischen Fragestellungen zum Zug bringt, mutiert die Koordination von Exegese und Religionsgeschichte zu einem 51 Innerhalb der neutestamentlichen Exegese wird eine radikale konstruktivistische Wirklichkeitstheorie sehr prononciert vertreten von P. Lampe, Die Wirklichkeit als Bild. Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Epistemologie und Wissenssoziologie, Neukirchen 2006. Konsequenterweise muss die Theologie auf dieser Linie darauf verzichten, die Realität Gottes zu affirmieren (91–93). 52 Vgl. dazu die Erwägungen von M. Moxter, Wie stark ist der „schwache“ Realismus?, in: J. Schröter / A. Eddelbüttel (Hg.), Konstruktion von Wirklichkeit (TBT 127), Berlin 2004, 119–133 („Fazit: Wie die Wirklichkeit immer schon interpretiert ist, so ist sie auch in unseren Interpretationsprozessen nicht unwirksam. Deshalb kann sich die Wirklichkeit, welche die neutestamentlichen Texte zu deuten versuchen, zwar nicht unabhängig von den Deutungen, wohl aber in ihnen zeigen: als Prozess anhaltender Umdeutung, als Kontinuität der Neuinterpretation bzw. als Korrektur von Kommunikation durch Kommunikation“, 133).
7. Bilanz
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antagonistischen Verhältnis, das entweder in Konflikte ausmündet oder aber synergetisch das Verstehen bereichert. Als klärungsbedürftig erweist sich besonders die Differenz zwischen ihrer eigenen gegenwartsbezogenen Interpretation und der historisch ausgerichteten Interpretation im Horizont einer hermeneutisch reflektierten antiken Kulturwissenschaft. 3. Die Exegese ist für ihre Selbstreflexion elementar angewiesen auf die hermeneutische Kompetenz der Systematischen Theologie, die ihre Fragestellungen und Problembestimmungen in aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskursen zum Zug bringt. Umgekehrt ist die neutestamentliche Exegese gut beraten, in ihrem eigenen Interpretationsgeschäft der Systematischen Theologie weit entgegen zu kommen; das geeignete Genre ist derzeit weniger das Lehrbuch als der Essay oder die Einzelauslegung. Wir schliessen mit einem Zitat von R. Bultmann aus seinem Buch „Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen“. Bultmann hat in seiner Zeit konzis formuliert, wo theologische Exegese und Religionsgeschichte einander berühren, ohne miteinander identisch zu sein:53 „Die Behauptung der Wahrheit des Christentums ist, wie die irgend einer Religion oder Weltanschauung, immer Sache persönlicher Entscheidung, und die Verantwortung für diese kann der Historiker niemandem abnehmen; er hat auch nicht – wie man gerne sagt – die historischen Phänomene, die er beschreibt, hintendrein noch zu ‚werten‘. Wohl aber kann er die Entscheidungsfrage als solche klären. Denn seine Aufgabe ist es, die Phänomene der vergangenen Geschichte aus den Möglichkeiten menschlichen Existenzverständnisses zu interpretieren und damit diese zum Bewusstsein zu bringen als die Möglichkeiten auch gegenwärtigen Existenzverständnisses. Er soll, indem er vergangene Geschichte lebendig werden lässt, zum Bewusstsein bringen: tua res agitur, Es geht um dich selber.“
Bultmann, Urchristentum (s. Anm. 29) 8.
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Die historisch-kritische Methode – Erfolgsmodell mit Schattenseiten Überlegungen im Anschluss an Gerhard Ebeling Abstract Historical Critical Exegesis – a Successful Model with Drawbacks. Reconsidering a Hermeneutical Thought of Gerhard Ebeling The essay deals with a programmatic hermeneutical article by the Zurich theologian Gerhard Ebeling written in 1950 about the significance of the historical critical exegesis for the church and theology in Protestantism. Entering into a dialogue with Ebeling, a view is taken on some aspects of the relevance of historical criticism in recent exegesis.
Der hier vorgelegte Essay1 würdigt in seinem ersten Teil den berühmten Aufsatz von Gerhard Ebeling aus dem Jahr 1950 zum Thema. Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem Stellenwert der historisch-kritischen Methode in der jüngeren Exegese, ohne sich an einer Rekonstruktion der Genese der historischen Kritik in der frühen Moderne mit all ihren Rückbezügen auf Antike, Humanismus und Reformation zu versuchen. Es fehlen also etwa exegetische Versuche und Besinnungen zum Programm von Ernst Troeltsch. Schon gar nicht geht es um eine hermeneutisch anspruchsvolle Reflexion über den Geltungsanspruch der historischen Kritik im weiten Raum der Geschichts‑ und Sprachwissenschaften. Ich beschränke mich darauf, aufgrund einer Momentaufnahme einige Beobachtungen, Aporien und Fragen, die sich aus der exegetischen Arbeit ergeben, zu präsentieren. Im dritten Teil kehren wir noch einmal zu Ebeling, dem doctor theologiae et ecclesiae, zurück.
1. Ein programmatischer Aufbruch Vor fast siebzig Jahren hat Gerhard Ebeling die Wiedergründung der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“ (ZThK) nach dem Zweiten Weltkrieg mit einem programmatischen Aufsatz eingeleitet: „Die Bedeutung der historisch-kritischen 1 Der vorliegende Aufsatz steht in enger Verbindung mit dem unten Anm. 27 genannten von K. Backhaus, der viele von mir im mittleren Teil nur angedeutete Linien theologiegeschichtlich und methodologisch substantiiert. Beide wurden vorgetragen an der Herausgebertagung der ZThK am 21. Februar 2017.
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Die historisch-kritische Methode – Erfolgsmodell mit Schattenseiten
Methode für die protestantische Theologie und Kirche“.2 Der Aufsatz geht auf den Hauptvortrag der ersten Herausgebertagung der „auferstandenen“ ZThK am 15./16. Oktober 1949 in Bad Kreuznach zurück; es gibt kein Protokoll und keinen Bericht.3 Im Titel von Ebelings programmatischem Aufsatz im ersten Heft der ZThK ist, um den ehemaligen Mitherausgeber Johannes Wallmann zu zitieren,4 „auf glückliche Weise beides miteinander verbunden: das Insistieren auf die unaufgebbare Notwendigkeit der historischen Methode in der Theologie, für die einzutreten das ursprüngliche Motiv der Zeitschriftengründung war, und die […] Doppeladressierung an Theologie und Kirche.“
Ebeling hat namentlich ein Pedant zum seinerzeitigen Auftakt zur Zeitschrift von 1891 vorgelegt, nämlich zum Aufsatz von Julius Kaftan, dem Ritschlianer: „Theologie und Kirche“.5 Halten wir bei dieser Gelegenheit fest, dass gleich der zweite Aufsatz in der neu aufgegleisten Zeitschrift von Rudolf Bultmann stammt: „Das Problem der Hermeneutik.“6 Ebelings Aufsatz selber zeichnet sich ebenso durch einen dezidiert hermeneutischen Zugriff aus: Er situiert die historisch-kritische Methode im hermeneutischen Prozess als ganzem:7 Es „kommt alles darauf an, dass die historisch-kritische Methode aus dieser fälschlichen Verkümmerung zu einer bloss handwerklichen Technik befreit und so verstanden wird, dass sie das Ganze des hermeneutischen Prozesses in sich beschliesst.“
Selbstverständlich betrifft die historische Formatierung alle Fächer der Theologie, nicht nur die historischen. Aber in der Bibelexegese und zumal im Neuen Testament verdichten sich die Probleme, weil es hier in besonderem Ausmass um den Stellenwert des Normativen im Auslegungsgeschäft geht. Ebeling, der bei Bultmann in Marburg studiert hat,8 ist von einem erstaunlichen Vertrauen in die historisch-kritische Methode getragen. Er diagnostiziert, 2 G. Ebeling, Die Bedeutung der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie und Kirche (ZThK 47, 1950, 1–46), abgedruckt in: ders., Wort und Glaube, Bd. 1, Tübingen 31967, 1–49 (danach zitiert). Eine englische Übersetzung stammt von James Leitch: The Significance of the critical historical Method for Church and Theology in Protestantism, in: G. Ebeling, Word and Faith, Philadelphia 1963, 17–61. 3 J. Wallmann, Die Wiedergründung der Zeitschrift für Theologie und Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg, ZThK 100 (2003) 497–519, hier: 510 f; 498. Die Tagung fand statt im Hotel Quellenhof; „Herr Siebeck war ein sehr nobler Gastgeber“, schreibt Ebeling an seine Eltern. Zitiert nach: A. Beutel, Gerhard Ebeling. Eine Biographie, Tübingen 2012, 172 Anm. 263. – Zu späteren Entwicklungen in der Herausgeberschaft der ZThK vgl. Beutel, aaO. 375–378. 4 Wallmann, aaO. 513. 5 Zu Kaftans Aufsatz und zum Verhältnis von Theologie und Kirche vgl. M. Beintker, Der Dienst der Theologie an der Kirche, ZThK 100 (2003) 520–532. 6 R. Bultmann, Das Problem der Hermeneutik, ZThK 47 (1950) 47–69; abgedruckt in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. 2, Tübingen 51968, 211–235. 7 Ebeling, Bedeutung (s. Anm. 2) 36. 8 Bereits im ersten Semester seines Studiums, in Marburg, lässt sich Ebeling intensiv auf Bultmann ein: vier Std. Galater‑ und Römervorlesung, zwei Std. Theologische Enzyklopädie;
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und das ist die Spitzenthese des Aufsatzes, eine Konvergenz zwischen der reformatorischen Rechtfertigungslehre und der historischen Methode:9 Es steht „die Bejahung der historisch-kritischen Methode in einem tiefen inneren Sachzusammenhang mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre.“
Ebelings Zeitdiagnose, die mit der Neugründung der Zeitschrift einhergeht, fokussiert auf die These, dass die gegenwärtige protestantische Theologie – gemeint ist wesentlich die dialektische Theologie – sich nur angemessen auf die reformatorische Theologie einlassen kann, wenn sie die neuprotestantische Theologie des 19. Jahrhunderts nicht einfach überspringt:10 „Der Protestantismus des 19. Jahrhunderts hat durch die prinzipielle Entscheidung für die historisch-kritische Methode in veränderter Situation dem römischen Katholizismus gegenüber die reformatorische Entscheidung des 16. Jahrhunderts festgehalten und bekräftigt.“
Das heisst, dass sich die derzeitige Theologie, so Ebeling, auf das Auslegungsproblem konzentriert und damit die historisch-kritische Methode zu ihrem eigenen genuinen Anliegen macht:11 „Denn historisch-kritische Theologie ist nicht identisch mit liberaler Theologie. Sie ist aber das unentbehrliche Mittel, um die Kirche an die in der iustificatio impii wurzelnde Freiheit zu erinnern.“
Ebeling korreliert also den Historismus mit der ihm eigenen relativistischen Drift und das „sola fide der reformatorischen Rechtfertigungslehre“ mit seiner „Ablehnung aller vorfindlichen Sicherungen der Vergegenwärtigung, seien sie ontologischer, sakramentaler oder hierarchischer Art“.12 Beide konvergieren, und hier ist Bultmanns hermeneutisches Programm mit Händen zu greifen, im „Verständnis der Vergegenwärtigung im Sinne echt geschichtlicher, personaler Begegnung“.13 Die zentrale These lautet:14 „Nach reformatorischem Verständnis sind sowohl die Offenbarung wie der Glaube in ihrer echten Geschichtlichkeit entdeckt, und das heisst allerdings: Der Glaube ist der ganzen Anfechtbarkeit und Zweideutigkeit des Historischen preisgegeben. Nur so und nur darum kann es im Glauben und nur im Glauben zur echten Begegnung mit der geschichtlichen vgl. G. Ebeling, Mein theologischer Weg (Hermeneutische Blätter Sonderheft), Zürich 2006, 7; Beutel, Ebeling (s. Anm. 3) 12–15. Vgl. sodann Wallmann, Wiedergründung (s. Anm. 3) 506 f (mit Anm. 30). 9 Ebeling, Bedeutung (s. Anm. 2) 43 f; vgl. 46 („Betonung des inneren Sachzusammenhangs zwischen der reformatorischen Rechtfertigungslehre und der historisch-kritischen Methode“). 10 Ebeling, aaO. 41. 11 Ebeling, aaO. 48. 12 Ebeling, aaO. 44 f. 13 Ebeling, aaO. 45. 14 Ebeling, ebd.
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Offenbarung kommen. Wie auf der ganzen Linie der reformatorischen Theologie, so ist auch hier im Hinblick auf das Verhältnis zur Geschichte das Ja zur Ungesichertheit nur die Kehrseite der Heilsgewissheit sola fide. Und so ist die Frage berechtigt, ob eine Theologie, die sich dem Anspruch der historisch-kritischen Methode entzieht, überhaupt noch weiss von dem genuinen Sinn der reformatorischen Rechtfertigungslehre, selbst wenn die Formeln des 16. Jahrhunderts aufs korrekteste wiederholt werden.“
Das ist eine eindrückliche und zugleich erstaunliche, um nicht zu sagen: eigenartige These. Sie ist, soweit ich sehe, kaum rezipiert worden,15 und auch Ebeling hat sie, in dieser Form jedenfalls, nicht weitergeführt. Immerhin hat er diesen seinen Aufsatz zehn Jahre später an den Anfang seiner Aufsatzsammlung „Wort und Glaube“ gestellt und ihm also weiterhin einen prinzipiellen Stellenwert zugemessen. Er fügt sich nahtlos in das dezidiert vertretene Programm des systematischen Theologen ein, Auslegung als Fundamentaltheologie zu entwerfen.16 Man muss die These, um sie überhaupt würdigen zu können, vor ein paar naheliegenden Missverständnissen schützen. Selbstverständlich ist die These nicht trivial. Sie postuliert nicht eine wie auch immer geartete genealogische Beziehung zwischen Reformation und Neuzeit, wie sie zumal im Gefolge des Reformationsgedenkens nicht nur in Fachzeitschriften, sondern auch in Feuilletons diskutiert wird. Eine solche hätte sich insbesondere mit den Entwicklungen im 18. Jahrhundert zu befassen – eine auffällige Leerstelle in Ebelings Aufsatz. Die These geht auch über den bekannten Sachverhalt hinaus, dass die reformatorische Konzentration auf die Schriftauslegung mit Sachkritik einhergeht, also mit der kritischen Prüfung von Schriftzeugen, ob sie „Christum treiben“. Und selbstredend ist vorausgesetzt – aber hier nicht von Interesse –, dass beide, Reformatoren und Aufklärer, eingebettet sind in die humanistische Kultur und Bildung, die die Kunst der kontrollierten Textherstellung und ‑auslegung mit Rückgriff auf das antike Erbe gepflegt und weiter entwickelt hat. Ebeling denkt auch kaum speziell an Vertreter der Aufklärung, die sich für ihren Gebrauch der sich bildenden historisch-kritischen Methode auf Luther berufen hätten17 – dafür hätte sich kaum ausgerechnet die als überaus kirchlich wahrgenommene Rechtfertigungslehre angeboten.
15 Im Gegenteil überwiegt die Kritik. Es „ist die Immunisierungsstrategie der Theologie gegen das historische Bewusstsein auf die Spitze getrieben“; die These erweist sich „als wenig hilfreich“: J. Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart (HUTh 46), Tübingen 2004, 304 mit Anm. 165. Lauster konstatiert in Ebelings Œuvre in dieser Hinsicht auch ein eigentümliches Changieren, 305 (dazu unten Anm. 37). 16 Vgl. dazu G. Ebeling, Studium der Theologie. Eine enzyklopädische Orientierung (UTB 446), Tübingen 1975 (= 22012), 172 f. 17 Vgl. die Bestandesaufnahme bei A. Beutel, Martin Luther im Urteil der deutschen Aufklärung. Beobachtungen zu einem epochalen Paradigmenwechsel, ZThK 112 (2015) 164–191.
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All dies ist für den Kirchengeschichtler und Hermeneutiker Ebeling so selbstverständlich, dass es nur knapp angetönt wird. Ihm geht es um eine ganz spezielle Figur im analog, nicht genealogisch bestimmten Band zwischen Reformation und Neuzeit, eben um die innere Affinität von Rechtfertigungslehre und historischer Methode. Weil der eruierbare Befund hinsichtlich der nachweisbaren historischen Zusammenhänge zwischen Reformation und Neuzeitgenese „offensichtlich sehr kompliziert“ ist, meldet er das Desiderat einer „Wiederaufnahme und Weiterführung der Arbeiten von Dilthey und Troeltsch“ an. An zwei Punkten mögen sich heutige Leserinnen und Leser mit Irritationen konfrontiert sehen. Erstens: Es lässt sich schwer übersehen, dass Ebelings These mit einem bekannten Theorem philosophischer Provenienz kollidiert, das der Subjektivität seit dem Anbruch der Neuzeit einen völlig neuen Stellenwert zuschreibt. Gemeint ist, holzschnittartig formuliert, die in der „cartesianischen Wende“ verortete Selbstkonstitution des neuzeitlichen Subjekts.18 Dass das Schema selber die Verhältnisse über Gebühr vereinfacht, braucht uns hier nicht zu beschäftigen, da es sich nur um eine Annäherung handelt. Die Emanzipation von überkommener Autorität und Tradition, die das Movens des neuzeitlichen kritischen Zugriffs auf Natur und Geschichte ausmacht, steigert diesem Theorem zufolge die Autonomie des Subjekts. Das kritische Geschäft neuzeitlicher Wissenschaft schafft mit der Distanz, die es sowohl zu den Geltungsansprüchen von Tradition und externer Autorität wie zu seinen Objekten selber aufbaut, Raum nicht etwa für das verbum externum, sondern für eigene Selbstvergewisserung. Auf der Objektseite gäbe es dann nicht das sich selber mitteilende, womöglich sogar epiphan werdende Andere, sondern ein Präparat, das aus dem wissenschaftlichen Verfahren resultiert. Zugespitzt formuliert: Entlang dieser Fluchtlinie ginge es nicht um die Selbstaufgabe des Subjekts, nicht um eine quasi-kenotische Bewegung, den Glauben „der ganzen Anfechtbarkeit und Zweideutigkeit des Historischen“ preiszugeben,19 sondern gerade um das Gegenteil. Ebelings lectio reformatoria der Genese der Moderne bürstet also die Verhältnisse, wir dürfen vermuten: ganz intentional, gegen den Strich. Zweitens: Auffallend ist die ungeheure Zuversicht von Ebeling, dass der Distanzgewinn, der durch die historisch-kritische Methode angepeilt wird, dem zugutekommt, was man die bewegende Wahrheit der Texte nennen könnte. Recht betrieben führt gerade die historisch-kritische Methode mit ihrem Programm, den Ursprungssinn des fremd gewordenen Texts freizulegen, zur Begegnung mit der Sache selber, um die es in diesem Text geht, nämlich mit dem 18 Repräsentativ etwa: H. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung (stw 79), Frankfurt 1974, besonders 178–225; Ch. Link, Subjektivität und Wahrheit. Die Grundlegung der neuzeitlichen Metaphysik durch Descartes (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemeinschaft 33), Stuttgart 1978, besonders 18–22; 299–321. 19 So Ebeling, Bedeutung (s. Anm. 2) 45.
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anredenden Gotteswort – natürlich im Medium des Glaubens. Ich will das nochmals durch ein Zitat unterstreichen:20 Es „schafft gerade das Verfahren, das die historische Quelle in ihrer Historizität und das heisst in ihrem Abstand von der Gegenwart kritisch bis an die Grenze des Erklärbaren durchsichtig macht und damit zugleich die Vorurteile des Auslegers selbst kritisch zurechtrückt und ihm die eigene historische Bedingtheit seines Vorverständnisses durchsichtig macht, die notwendige Voraussetzung für die Reinheit der Begegnung mit dem Text, damit aber auch für die Möglichkeit, sich von ihm etwas sagen zu lassen.“
Dieses Zutrauen zur historischen Kritik, das Ebeling seinerzeit gegen einen starken kirchlichen Strom so prononciert herausstellt, verdankt er sicher zu guten Teilen Rudolf Bultmann und seinem Lebenswerk. In dessen Schule, in den 1950er und 60er Jahren, ist diese Überzeugung prononciert vertreten worden, mit enormem Pathos und mit programmatischer Emphase.21 Für uns Nachgeborene ist diese Zuversicht nicht mehr leicht erschwinglich. Man nimmt aber mit Interesse die vibrierende Aufbruchsstimmung wahr, die in Ebelings programmatischem Aufsatz zur Sprache kommt – und auch das gerüttelte Mass von zu bewältigender Arbeit, das der achtunddreissigjährige Gelehrte seiner Generation vor Augen stellte. Es ist offenkundig, dass Ebeling mit der Wiedergründung der ZThK ein entsprechendes wissenschaftspolitisches Anliegen verfolgt. Darauf weisen die Überlegungen zum Mitherausgeberkreis, soweit sie uns noch zugänglich sind. Es sollte dabei nicht um die Bindung an eine spezifische theologische Richtung gehen, wohl aber um die Orientierung an den Grundprinzipien historischer Kritik.22 Insofern stand der Rückgriff auf die Anfänge der alten ZThK für ein Programm:23 „Wir stehen unter dem Eindruck der Verpflichtung, das Erbe der historisch-kritischen Forschung zu wahren und fortzusetzen.“
Zum Verständnis von Ebelings Aufsatz gilt es also, sich die zeitgeschichtliche Situation seiner Entstehung zu vergegenwärtigen. Mit der wiedergegründeten Zeitschrift und ihrem Programm antwortet der Gelehrte auf die Gravitationswellen, die Bultmanns Entmythologisierungsprojekt hervorgebracht haben, und legt das publizistische Fundament für einen neuen Aufbruch im Zeichen der hermeneutischen Theologie. Ebeling, aaO. 36.
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21 Beispiel: E. Käsemann, Vom theologischen Recht historisch-kritischer Exegese, ZThK 64
(1967) 259–281, mit heftiger Polemik gegen den kirchlichen Doketismus im Umgang mit der Schrift, aber auch mit Widerspruch zur ‚existentialen Verkürzung‘ bei Bultmann. 22 Vgl. Wallmann, Wiedergründung (s. Anm. 3) 503–505. 23 So das Einladungsschreiben vom 17. 12. 1948 an die zuerst vorgesehenen Mitherausgeber, abgedruckt bei Wallmann, Wiedergründung (s. Anm. 3) 514; vgl. das Faltblatt mit Ankündigung des ersten Heftes der ZThK 1950, das vor dessen Erscheinen als Programm vom Verlag versandt worden ist, abgedruckt aaO. 518. Zur Situierung vgl. Beutel, Ebeling (s. Anm. 3) 170–173.
2. Von den 1950er in die 2010er Jahre
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2. Von den 1950er in die 2010er Jahre Wir lassen der Retrospektive auf die Zeit vor fast siebzig Jahren einen summarischen Blick auf die Entwicklungen folgen, die schliesslich in die Gegenwart münden. In den 1950er und 1960er Jahren hat sich, jedenfalls im deutschsprachigen evangelischen Raum, in der theologischen Ausbildung das exegetische Proseminar etabliert, in dem der Kanon der historisch-kritischen Methode systematisch eingeübt wird. Der historischen Kritik wird damit eine nicht gerade absolute, aber doch weitreichende Flughoheit über das Geschäft der Bibelauslegung zugesprochen. Von der hier trainierten methodischen Disziplin sollten, so die Intention, auch die übrigen theologischen Fächer, jedenfalls die historisch arbeitenden, profitieren. Auch wenn das hermeneutische Paradigma von Bultmann, an das sich auch Ebeling mit all den angedeuteten Variationen anschliesst, in Geltung steht, so etabliert sich doch faktisch ein diesem diametral zuwiderlaufendes Programm, das sich seinerseits einer längeren Entwicklung verdankt: die Unterscheidung von Exegese und Applikation. Das ist ein Stück weit im Schema des Proseminars selber angelegt: Zuerst die Rekonstruktion, dann die Interpretation; zuerst die Verfremdung, dann die Begegnung; zuerst die Distanz, dann die Nähe. Das zumal von Ebeling für zentral erachtete hermeneutische simul mutiert unter der Hand zur Sequenz. Ich notiere hier eine interessante Beobachtung, die damals schon die Zeitgenossen gemacht haben. Man könnte sie die exegetische Unschärferelation nennen: Je schärfer die an der historisch-kritischen Methode orientierte Exegese ihr Objektivitätsideal formatiert, desto wilder gebärden sich die Applikationen. Ich komme darauf zurück. Spätestens mit den 1970er Jahren kommt es nun zu den Umbrüchen, die schliesslich in das münden, was wir mit dem Etikett der Spätmoderne zu klassifizieren versuchen: Pluralisierung, Globalisierung, Selbstreflexivität und anderes. All diese Umwälzungen markieren den teilweise schleichenden, teilweise aber auch ruckartigen Verlust der Deutungshoheit der historischen Kritik über die Bibelinterpretation selber und, streckenweise, über die historisch arbeitenden Disziplinen in der Theologie. Allein schon die Terminologie signalisiert den Umbruch:24 An die Stelle des überkommenen Singulars der „historisch-kritischen Methode“ bevorzugt man heute pluralische Formulierungen; ein „Ensemble“ oder eine „Polyphonie“ halten die Grenzen viel weiter offen.25 Im Folgenden 24 Zu Ursprung und Spektrum der Terminologie von „historisch-kritischer Methode“ und Exegese vgl. J. Kelhoffer, Conceptions of „Gospel“ and Legitimacy in Early Christianity (WUNT 324), Tübingen 2014, 10–15. 25 Zur „Polyphonie“ vgl. G. Theissen, Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik (Beiträge zum Verstehen der Bibel 23), Münster 22015, besonders 21–135.
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werden einige der in die Gegenwart führenden Bewegungen holzschnittartig skizziert. Im binnenexegetischen Raum sind drei Komponenten zu nennen, die die gesamte Grosswetterlage einschneidend und irreversibel verändert haben. Die erste besteht in den grossen Umwälzungen, die sich mit den Stichworten Entkonfessionalisierung (oder positiver: Ökumenizität), Internationalisierung und Spezialisierung in den exegetischen Wissenschaften umschreiben lassen. Man kann verfolgen, wie die historisch-kritische Methode, die zwar nie nur, aber doch in besonderem Mass ein Werkzeug der protestantischen deutschsprachigen – samt englischsprachiger und skandinavischer – Exegese war, expandiert, wie sie sich pluralisiert und wie sie damit zugleich an Profil verloren hat. Herausragend nimmt sich im Vergleich der frühen 1950er Jahre mit der jüngeren Gegenwart der Stellenwert der Ökumene aus: Der Kontrast zwischen Ebelings Zeitdiagnose und den Entwicklungen, die sich mit dem Zweiten Vatikanum angebahnt haben, ist erheblich. Das Dynamit, das die historische Kritik im kirchlichen Raum bereitstellt, hat im 20. Jahrhundert auf katholischer Seite stärker seine Wirkung entfaltet als im evangelischen. Heute unterscheiden sich erfreulicherweise katholische und evangelische Exegese nicht mehr erkennbar. Konfessionelle Akzente oder Prägungen zeichnen sich, wenn überhaupt, eher in übergreifenden Fragestellungen oder in aktuellen kirchenpolitischen Positionsbezügen ab. Die zweite Komponente könnte man umschreiben als Integration von Alterität. Gemeint ist die Öffnung des Methodenkanons der historisch-kritischen Exegese für „alternative“ Zugänge, also solche, die ihrem Selbstverständnis nach entweder antithetisch oder komplementär zu den etablierten Methoden standen. Während diese ein anspruchsvolles Objektivitätsideal verfolgten, verstanden sich jene als engagierte Auslegungszugänge zur Bibel: als befreiungstheologische, feministische oder jüdisch-christliche Lektüren – um nur diese drei zu nennen, die man etwa in der Trias von Gal 3,28 wieder finden kann.26 Es zeigt sich: Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hat sich der Graben zwischen etablierten Methoden und alternativen Lektüreformen zwar nicht einfach geschlossen, aber verringert und vor allem verschoben. Alternatives hat sich etabliert und objektiviert, und umgekehrt hat Etabliertes Selbstreflexivität entwickelt und sich damit ein Stück weit subjektiviert. Schliesslich nenne ich die dritte Komponente, die sich teilweise mit der zweiten überlappt: Die Zusammenführung von Diachronie und Synchronie. Was der historisch orientierte Methodenverbund nicht im Blick hatte, die Dimension der
26 So Theissen, aaO. 198 f. Der hier integrierte Text ist ursprünglich erschienen als: ders., Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt. Pluralismus und Lektüre der Bibel, in: J. Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität (VWGTh 8), Gütersloh 1995, 127–140.
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Textempfänger, der Leser, der Rezipienten, wird nun sukzessive und nicht immer spannungsfrei in das historische Paradigma überführt und integriert.27 Ganz generell zeigt sich: Die singularische Bezeichnung „die historisch-kritische Methode“ wird zunehmend obsolet. Schon in ihrer klassischen Phase bündelt die historische Kritik ja eine Vielzahl von – durchaus spannungsvoll zueinander stehenden und konkurrierenden – methodischen Zugängen, d. h. von geregelten Verfahren, die auf bestimmte Fragestellungen Antworten zu geben versprechen. Das Ensemble der Methoden hat sich seit dem 19. Jahrhundert, im Gefolge der jeweiligen Forschungstrends, sukzessive erweitert, indem ihm etwa die Formgeschichte aus dem frühen 20. Jahrhundert und die Redaktionsgeschichte der 1960er Jahre zugewachsen sind. In der jüngeren Zeit verstärkt sich die Pluralisierung nochmals erheblich. Die Kunst des Auslegers besteht darin, die verschiedenen Methoden sachgemäss einzusetzen, gerade im Bewusstsein darum, dass jeder Methode ein inhärenter totalitärer Zug eignet. Interpretinnen und Interpreten arbeiten dann professionell, wenn sie ein Sensorium für die Reichweite und Grenzen ihrer Werkzeuge entwickeln und wissen, wann und warum was angesagt ist. Es würde zu weit führen, die Ausweitung des „historisch-kritischen Kanons“, die „Domestikation der Alternativen“ und die Integration der Rezipientenseite detailliert zu verfolgen. Ein paar Stichworte, hier spezifisch neutestamentliche, müssen genügen. Die Sozialgeschichte hat längst Eingang in das historisch-kritische Portfolio gefunden. Der marxistisch erregte Wilde ist zum etablierten Minister geworden. Der Erfolg ist sogar so durchschlagend, dass sich ein nicht unerheblicher Teil heutiger neutestamentlicher Wissenschaft weitgehend auf die soziologische Analyse beschränkt, etwa dort, wo sie Vereine der hellenistisch-römischen Welt und frühchristliche Gemeinden unter konsequentem Einbezug von Papyrologie und Epigraphik einem Vergleich unterzieht. Ebenfalls fest etabliert sind literaturwissenschaftliche Zugänge zu den biblischen Texten. Der klassische historisch-kritische Methodenkanon hatte selber schon eine rudimentäre Form, die Textanalyse, zugelassen, während die Textlinguistik eine teilweise esoterisch anmutende Sonderexistenz führte. Heute zählen leser-orientierte Zugänge fest zum Methoden-Ensemble. Bei den frühchristlichen Evangelien und Apostelgeschichten ist die narratologische Analyse zur Primaballerina avanciert. Im Fall der Briefe ist der Rhetorical Criticism angesagt. Dieser bietet den grossen Vorteil, dass er mit Werkzeugen arbeitet, die der antiken Rhetorik-Theorie entstammen. Diese historische Verortung sichert seinen Ergebnissen beträchtlich mehr Plausibilität, als wenn freischwebende moderne Theorien appliziert werden. Sogar ein methodisch so schwierig zu handhabendes Instrument wie die psychologische Analyse findet zunehmend Resonanz in der Exegese: Wieder ist es der Rückgriff auf antike Theoreme und Kategorien, also das Format einer historischen Psychologie, der die Plausibilität des Verfahrens steigert. Die „Alternativen“ und die „Synchronen“ finden 27 Vgl. dazu K. Backhaus, Aufgegeben? Historische Kritik als Kapitulation und Kapital von Theologie, ZThK 114 (2017) 260–288 („Historische Kritik verfehlt das Ziel des biblischen Leseprozesses. Sie ist nicht als solche misslungen oder verwerflich; sie ist hermeneutisch inkonsequent“, 272 f).
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auf dem Weg über eine partielle Historisierung besonders leicht Zugang in das Portfolio der historischen Kritik. Umgekehrt zeigt sich auf Seiten der längst etablierten Methoden, wie sich viele Standards verflüssigen oder sogar verflüchtigen. Das ist gerade der Fall bei der härtesten Disziplin unter ihnen, der Textkritik, die hier denselben Stellenwert hatte, den die Physik in den Naturwissenschaften beansprucht. Die neutestamentliche Textkritik hat sich nicht nur zu einer hochspezialisierten Teildisziplin entwickelt, bei der nur noch wenige sachverständig mitreden können, sondern hat umgekehrt auch ihr exaktes Format verloren. Mit der Münsteraner „genealogischen Kohärenzmethode“, die damit rechnet, dass die Überlieferung neutestamentlicher Schriften im Ergebnis „hochgradig kontaminiert“ ist,28 hat man sich Lichtjahre weit weg entfernt vom alten Ideal der rezensierenden Philologie, dem konzisen Stemma. Es kommt hinzu, dass das Bild vom Urtext, dem Archetypen, selber suspekt geworden ist. Bei einem Brief mag die Suche nach dem „Original“ noch zulässig sein, aber bei anonymer Gebrauchsliteratur wie den Erzählevangelien stellen sich erhebliche Fragen. Im Alten Testament nehmen sich die Verhältnisse noch wesentlich komplizierter aus, sowohl im Blick auf die hebräischen Texte, namentlich die Schriftrollen vom Toten Meer, wie auf die griechischen Versionen. Erstaunlich gut gehalten hat sich auf den ersten Blick die altehrwürdige Literarkritik, die das Verhältnis von vorhandenen oder erschlossenen literarischen Dokumenten, also von Quellen, untersucht. Anders als es der Pentateuchtheorie in der alttestamentlichen Wissenschaft ergangen ist, scheint die Zweiquellentheorie in ihren Grundannahmen (v. a. Markuspriorität) nahezu resistent zu sein gegen den Plausibilitätsabbau. Allerdings ist der Status der Logienquelle „Q“ ziemlich unscharf geworden; auch hier ist die Exaktheit früherer Zeiten grösserer Ungewissheit gewichen – nicht zuletzt eine Folge der hypertrophen „Edition“ der Quelle Q.29 Vollends verspielt hat die Literarkritik ihre Überzeugungskraft überall dort, wo sie nicht erhaltene Quellen hinter den vorfindlichen zu rekonstruieren versucht. In der Formgeschichte ist die alte Präzision unwiederbringlich verloren gegangen. Das Theorem der einfachen Form, die am Anfang steht, ist nicht mehr vertretbar. Das Postulat von vorliterarischen Formen mit einem festen Sitz im Leben, etwa von liturgischen Überlieferungen, ist kaum mehr plausibel zu machen. Eine zurzeit besonders bewillkommnete Einwanderin in den Kanon etablierter Methoden ist die Wirkungs‑ bzw. Rezeptionsgeschichte – also eine historisierte Form der Rezeptionsästhetik. Sie hat nicht nur den Vorteil, dass sie textnah arbeitet und damit besser kontrollierbar ist. Ihr noch grösserer Vorzug besteht darin, dass sie die Selbstreflexivität der Exegese verstärkt: Sie lenkt die Aufmerksamkeit des Exegeten auf seine eigene kulturelle und konfessionelle Prägung und ermöglicht damit Distanzierung von den je eigenen Lektürevoraussetzungen30 – eine Leistung, die dem Distanzierungsideal der historischen Kritik ja genau entspricht, nun aber im Rekurs auf das rekonstruierende Subjekt selber und 28 Zur Information vgl. die Website des Münsteraner Instituts für Neutestamentliche Textforschung: http://www.uni-muenster.de/EvTheol/intf/projekte/kgm/index.html (abgerufen am 12. 06. 2017). 29 J. M. Robinson / P. Hoffmann / J. S. Kloppenborg (Hg.), The Critical Edition of Q. A Synopsis including the Gospels of Matthew and Luke, Mark and Thomas, Minneapolis 2000. 30 Bahnbrechend war in dieser Hinsicht der ökumenisch angelegte „Evangelisch-Katholische Kommentar“. Vgl. dazu U. Luz / Th. Söding / S. Vollenweider, Was wollte und was will der Evangelisch-Katholische Kommentar? Ein Rückblick und ein Ausblick, in: dies. (Hg.), Exegese – ökumenisch engagiert. Der „Evangelisch-Katholische Kommentar“ in der Diskussion über 500 Jahre Reformation, Neukirchen 2016, 9–14. Zur Position einer „wirkungsgeschichtlichen
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sein Vorverständnis. Im Ansatz liegt der Einbezug der Rezeptionsgeschichte in die Exegese durchaus auf Ebelings Linie. Kraft seiner ‚Personalunion‘ von Systematik und Kirchengeschichte war dieser nicht nur vertraut mit der Tragweite der Wirkungsgeschichte biblischer Texte, sondern hat Kirchengeschichte programmatisch als Geschichte der Auslegung der Schrift erfasst.31 Zugleich entdeckte die philosophische Hermeneutik wie bei Hans- Georg Gadamer und Paul Ricœur die Wirkungsgeschichte.32 Zum Schluss des kleinen Katalogs nenne ich Theorien der Intertextualität, wieder aus dem Bereich der Literaturwissenschaften. Sie geben ein verfeinertes Instrumentarium an die Hand, um etwa Anspielung, Paraphrase und Zitat zu unterscheiden. Oft entnehmen aber Exegeten mit Berufung auf Intertextualität einem von einem anderen Text zitierten Text sehr viel mehr Subtext, als er auf seiner Oberfläche erkennen lässt. Mit dem Postulat von verborgenem Text, der unter Umständen geradezu ein Eigenleben gewinnt, wird der vorgegebene Text tendenziell vom virtuellen Text unterwandert. Hypothesen dieser Art haben ein eklatantes Plausibilitätsproblem, auch wenn sie derzeit im Trend liegen. Um nochmals die biblische Reminiszenz an Gal 3,28 aufzubieten: Die Trias von Ethnos, Status und Gender bietet Plattformen für Paradigmen, die in den exegetischen Zünften viel Aufmerksamkeit gefunden haben. Die Genderforschung hat sich so gut wie die Sozialgeschichte einen festen Platz in der etablierten Exegese erworben. Mit dem Stichwort Ethnos verbinden sich nicht nur jüdisch-christliche Fragestellungen, die seit den 1970er Jahren sukzessiv von aussen in das Zentrum der neutestamentlichen Exegese vorgestossen sind – Third Quest in der Jesusforschung, New Perspective on Paul –, sondern auch ethnicity als neuer Trend, von dem noch nicht abzusehen ist, ob er hinreichend analytische Prägnanz zu erzeugen vermag.
Ich beschliesse diesen Teil mit drei knappen Feststellungen. 1. Wir kamen oben auf die „exegetische Unschärferelation“ zu sprechen: Je schärfer das Objektivitätsideal auf der einen Seite ausfällt, desto beliebiger gerät die Applikation. Die Formel hat sich heute möglicherweise erledigt. Wenn man sie aber versuchsweise bezieht auf das Verhältnis von Text und Textausleger, also auf ‚Objekt‘ und ‚Subjekt‘, dann ergibt sich: Das Objekt selber ist zunehmend unscharf geworden; wir wissen nicht mehr genau, was im Einzelfall der Wortlaut des Textes ist, und wie viel an Virtualität wir ihm zuzumessen haben. Umgekehrt hat sich das Subjekt selber in das Interpretationsgeschäft eingespielt – was aus hermeneutischer Sicht eigentlich als selbstverständlich und unhintergehbar zu gelten hat. Was immer an Wahrheit durch Auslegung erzeugt wird: Sie ist, gut spätmodern, hochgradig perspektivisch geworden. 2. Man darf nicht ausblenden, wie Exegese lebensweltlich abläuft: Was für plausibel und akzeptabel gehalten wird, gehorcht weitgehend Moden, Trends und Paradigmenwechseln im Wissenschaftsbetrieb. Die Bibelwissenschaften Hermeneutik“ vgl. U. Luz, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments (Neukirchener Theologie), Neukirchen 2014, 397–409. 31 G. Ebeling, Kirchengeschichte als Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift (SGV 189), Tübingen 1947. Zum Disziplinenwechsel und den damit verbundenen Transformationen der Fragestellungen vgl. die Eigendeutung bei Ebeling, Weg (s. Anm. 31) 55–57. 32 Zur Rezeption von Gadamers „Wahrheit und Methode“ durch Ebeling in der ersten Zürcher Lehrtätigkeit vgl. Beutel, Ebeling (s. Anm. 3) 220 f; 259.
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formieren sich in bestimmten Netzwerken und Szenen, wo jeweils unterschiedliche Selbstverständlichkeiten spielen. Mobilität und elektronische Kommunikation verstärken diese Trends massiv. Vieles von dem, was früher als „alternative Methoden“ oder „Lektüren“ firmierte, hat heute den Status von Moden und verbindet sich mit entsprechenden Netzwerken. Wissenschaftliche Standards werden hier ganz unterschiedlich gehandhabt. 3. In all den grossräumig zu beobachtenden Moden und Trends spielen diejenigen methodischen Prinzipien, die sich in der Entwicklung des konsequent historischen Zugriffs herausgebildet und bewährt haben, eine mehr oder weniger wichtige Rolle, etwa Kritik, Analogie und Korrelation.33 In vielen Fällen helfen diese Kriterien nach wie vor, Plausibilität zu erzeugen. In anderen Fällen ist die relativistische Drift so stark geworden, dass man über Aporien kaum mehr hinausgelangt. Das mindeste, was die historische Kritik in dieser Situation nach wie vor zu leisten vermag, ist die Falsifikation. Gerade im Blick auf die Hypothesenfreudigkeit der neutestamentlichen Wissenschaft ist damit schon viel gewonnen. Demgegenüber müssen wir die Frage offenhalten, ob die historisch-kritische Methode aufgrund ihres Distanzgewinns dem Glauben den Weg bereitet „zur echten Begegnung mit der geschichtlichen Offenbarung“.34
3. Das Neue Testament und das Ganze der Theologie Gerhard Ebeling hat seit den 1950er Jahren mit wachem und durchaus sorgenvollem Blick die theologischen bzw. exegetischen Entwicklungen verfolgt und sich entsprechend dazu geäussert. Dies gilt zumal im Hinblick auf seine grosse Dogmatik sowie auf seine letzte Vorlesung im Sommersemester 1979, die mit der Auslegung des Galaterbriefs befasst war.35 Wir halten zunächst fest, dass sich Ebeling in den 1950/60er Jahren beteiligt hat am Aufbruch innerhalb der Schule Bultmanns, die Bedeutung des historischen Jesus für das Geschäft der neutestamentlichen Theologie neu zu gewichten.36 Bei 33 So im Anschluss an die klassischen Regeln von E. Troeltsch, Ueber historische und dogmatische Methode in der Theologie (1898/1900), in: ders., Zur religiösen Lage. Religionsphilosophie und Ethik, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Tübingen 21922, 729–753. 34 So Ebeling, Bedeutung (s. Anm. 2) 45; vgl. 36. 35 G. Ebeling, Die Wahrheit des Evangeliums. Eine Lesehilfe zum Galaterbrief, Tübingen 1981. Der Galaterbrief bildete seinerseits nicht nur den Ausklang von Ebelings Lehrjahren, sondern schon den Auftakt seiner Studienjahre (vgl. Beutel, Ebeling [s. Anm. 3] 14). 36 Den Auftakt zur „Neuen Frage“ nach Jesus, der heute gern der Third Quest gegenübergestellt wird, bildet der programmatische Aufsatz von E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus (1954; in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, 2 Bde., Göttingen 61970, Bd. 1, 187–214), der auf einen Vortrag auf der Tagung Alter Marburger von 1953 zurückgeht. Bultmann selber hat seine Reserve nochmals eindringlich formuliert in: R. Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus (SHAW.PH 1960.3), Heidelberg 51978, 5–27.
3. Das Neue Testament und das Ganze der Theologie
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Ebeling hat der Rückgriff auf Jesus elementar mit dem Erfahrungsbezug der Theologie zu tun,37 der die Frage einer Kontinuität zwischen „Jesus“ und „Christus“ inmitten der österlichen Diskontinuität aufwirft.38 Die Exegese ist auf diesem Weg weiter gegangen und hat in der Folge den Third Quest lanciert, der Jesus in weitreichende Kontinuität mit dem zeitgenössischen Judentum stellt. Es tut gut, sich heute von Ebeling auf die Diskontinuität zwischen dem vorösterlichen und dem österlichen Jesus aufmerksam machen zu lassen und umgekehrt die Frage wach zu halten, inwieweit das christologische Bekenntnis der frühen Christen seinen Anhalt gerade auch am Vollmachtsanspruch Jesu hat.39 Wir wenden uns einem umfassenderen Komplex zu, dem Stellenwert des Neuen Testaments im Ganzen der Theologie. Ebeling verwendet in der Einleitung zu seinem Buch „Studium der Theologie“ aus dem Jahr 1975 ein einprägsames Bild:40 Es „entsteht ein beunruhigender Eindruck: Die an sich auf Arbeitsteilung und gegenseitige Ergänzung angelegten Disziplinen wirken wie ein zersprungener Spiegel, in dem sich das Bild vom Ganzen der Theologie vielfältig bricht und eben deshalb kein Bild vom Ganzen der Theologie entsteht.“
Ebelings Buch lässt sich so gut wie seine spätere Dogmatik als Versuch lesen, dieses mit dem Aufbruch der Neuzeit zerbrochene Ganze der Theologie in einem 37 Vgl. G. Ebeling, Dogmatik und Exegese, ZThK 77 (1980) 269–286. Der Aufsatz geht ebenso auf einen Vortrag vor dem Kreis Alter Marburger zurück, schaut also auf die Fertigstellung der Dogmatik (1978/79) wie auf die Abschiedsvorlesung (1979) zurück. In seinem „Studium der Theologie“ statuiert Ebeling sogar eine direkte Interdependenz zwischen exegetischem Vorgehen und Rückgewinnung von vergangener, in den Texten ‚schlummernder῾ Erfahrung: Ebeling, Studium (s. Anm. 16) 24. Für Lauster, Prinzip (s. Anm. 15) 305 kollidiert Ebelings Rekurs auf den Erfahrungshintergrund von Texten mit dem Aufsatz von 1950 („kaum zu vereinbaren“), während er sich „in seinen letzten Jahren“ wieder der „früher vertretenen Ansicht“ annähere. Anstatt wie Lauster ein Hin und Her in Ebelings Haltung zur Methodenfrage zu diagnostizieren, kommt man mit der Annahme von Konsistenz besser aus. 38 G. Ebeling, Die Frage nach dem historischen Jesus und das Problem der Christologie (1959), in: ders., Wort und Glaube (s. Anm. 2) 300–318. Tragend ist insbesondere die Verhältnisbestimmung von Jesus und Glaube (s. ders., Jesus und Glaube [1958]; aaO. 203–254]: „Die Frage nach der Relation von Jesus und Glaube betrifft den Kern der Christologie, ja das Urdatum christlicher Dogmatik überhaupt. Es konzentriert sich darin die ganze Rechenschaft über das, worum es im Christentum eigentlich geht“, 203). Speziell auf die Position von R. Bultmann bezieht sich Ebeling in: Kerygma und historischer Jesus, in: ders., Theologie und Verkündigung. Ein Gespräch mit Rudolf Bultmann (HUTh 1), Tübingen 21963, 19–82. Vgl. dazu Beutel, Ebeling (s. Anm. 3) 265–268. In der Dogmatik verschiebt sich der Fokus ein Stück weit: G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Tübingen 42012, Bd. 2, 369–408 (§ 21: „Der historische Jesus), zugespitzt auf die Vollmacht Jesu (vgl. Kerygma, aaO. 74), die als Glaubenszumutung wie als Glaubenszuspruch entfaltet wird (§ 22: „Das Wort Jesu“; hier B.; „Die Vollmacht Jesu im Wort des Glaubens“, 426–459). Die Christologie erscheint dann als „Antwort auf Jesu Vollmacht“ (§ 23 B., 473–476). Dem Begriff der Vollmacht „ist der Begriff des Glaubens aufs engste benachbart“, 475. 39 Vgl. dazu die Überlegungen von M. Konradt, Stellt der Vollmachtsanspruch des historischen Jesus eine Gestalt „vorösterlicher Christologie“ dar?, ZThK 107 (2010) 139–166. 40 Ebeling, Studium (s. Anm. 16) 9. Das „Studium der Theologie“ ist 1972 in Zürich erstmals vorgetragen worden.
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Die historisch-kritische Methode – Erfolgsmodell mit Schattenseiten
anstrengenden hermeneutischen Verfahren wieder zur Darstellung zu bringen, ohne die Bruchstellen zu verdecken bzw. kitten zu wollen. Der Einsatzpunkt ist das Nachdenken darüber, welchen Sinn es macht, angesichts der gegenwärtigen „Orientierungskrise“ vom Ganzen der Theologie zu reden. Die Konzentration auf die Auslegungsthematik führt Ebeling dahin, im Neuen Testament den „Quellgrund christlicher Theologie“ zu identifizieren und mit ihm die Besprechung der Einzeldisziplinen einzuleiten.41 Gewiss ist die Sonderstellung, die Ebeling dem Neuen Testament zuweist, auch ein Reflex der Ära von Rudolf Bultmann und seinen Schülern, worin dieses im Gesamt der Theologie die Leitdisziplin darstellte. Auch hier haben sich die Zeiten markant geändert.42 Der Spiegelbruch innerhalb der theologischen Disziplinen hat sich verstärkt; die neutestamentliche Wissenschaft hat zwar nicht eine Marginalisierung, wohl aber eine Dezentrierung erfahren. Das hat neben der Spezialisierung sicher mit der Drift, die die historische Kritik aus sich heraussetzt, zu tun: Da das theologische Fundament der Exegese zunehmend instabil geworden ist, schwindet auch die Zuversicht darauf, dass sie aufgrund ihrer deskriptiven und interpretativen Verfahren ein ausreichendes Mass an Normativität erzeugen könne.43 Ebeling selber hat am Rand seiner Darstellung des Theologiestudiums dezidiert Stellung bezogen gegen die Überführung der neutestamentlichen Theologie in eine Theologiegeschichte oder in eine Religionsgeschichte des Urchristentums.44 Der Trend von der Theologie zur Theologiegeschichte oder zur Religionswissenschaft hat in den letzten Jahrzehnten markant zugenommen. Die Exegese ist vielfach zu einer hochspezialisierten Kulturwissenschaft der Antike mutiert,45 in welcher der alte Referenzpunkt der hermeneutischen Theologie, „die Sache“ Ebeling, aaO. 13–25. Für die Praktische Theologie zeigt dies B. Schröder, Hintergrundwissen. Historisch-kritische Methode und Praktische Theologie, ZThK 114 (2017) 210–242, hier: 219–221. 43 Vgl. dazu die nachdenklichen Überlegungen von U. Luz in seiner presidential address vor dem Jahreskongress der Studiorum Novi Testamenti Societas in Birmingham 1997: Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft, in: ders., Theologische Aufsätze (WUNT 414), Tübingen 2018, 253–274. Zu Aporien der historisch-kritischen Methode vgl. ders., Hermeneutik (s. Anm. 30) 136–138. 44 Allerdings interessiert Ebeling die religionswissenschaftliche Redefinition stärker in Bezug auf das Alte Testament (Studium [s. Anm. 16] 32 f) und überhaupt hinsichtlich der Theologie („Auflösung der Theologie in Religionswissenschaft?“, 51 f). Für das Neue Testament begnügt er sich mit der Perspektivenverschiebung in Richtung Theologiegeschichte: „Aber auch die Auflösung in eine Theologiegeschichte des Urchristentums ist nicht unproblematisch, sofern dabei die Frage nach der Einheit unbedacht bleibt. Entscheidend wäre es, einen solchen Zugang zum Ganzen zu gewinnen, der die historische Differenziertheit für eine sachlich relevante Zusammenschau fruchtbar zu machen vermag“ (22). Nur ganz am Rand rangiert die „späthellenistische Religionsgeschichte“ neben der neutestamentlichen Exegese (24; vgl. 40 f). 45 Vgl. zur Problemanzeige meinen Aufsatz: Heilvolle Wende? Exegese im Zeichen der Kulturwissenschaften, in: P. Lampe / M. Mayordomo / M. Sato (Hg.), Neutestamentliche Exegese im Dialog. Hermeneutik – Wirkungsgeschichte – Matthäusevangelium, FS U. Luz, Neukirchen 2008, 111–120, Abdruck in diesem Band: 477–485. 41 42
3. Das Neue Testament und das Ganze der Theologie
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selber, mithin die Gottesfrage, nur noch in verfremdeter Gestalt überlebt, etwa als vereinzeltes Element bestimmter Diskurse. Die Texte haben sich selber mitsamt ihren Autoren und Lesern in semiotische Supersysteme aufgelöst, in denen zwar vieldimensionaler Sinn generiert wird, aber kein Fenster mehr zu einer aussersprachlichen und ausserkulturellen Wirklichkeit offensteht. Im Bann des spätmodernen Konstruktivismus, der mittlerweile auch die härtesten objektorientierten Wissenschaften unterspült, ist die Gottesfrage selber verstummt. Der zersprungene Spiegel, den Ebeling noch in seinen Händen hielt und der in seiner Fragmentierung gleichsam noch das Ganze der Theologie und damit das Ganze der Wirklichkeit repräsentierte, ist zum grenzenlosen Spiegelsaal der Wirklichkeitskonstruktionen spätmoderner Subjekte geworden. An genau diesem Punkt lohnt es sich, Ebeling, selber an der Wegscheide der Zeiten, und seinem Insistieren auf der „Sache der Theologie“ Gehör zu schenken, durchaus im Gegenzug zur Drift des Zeitgeistes und seiner Verwandlung von Theologie in Kulturwissenschaft. Einer hermeneutisch sensibilisierten Exegese ist es aufgetragen, dem Anspruch der Texte, von Gott zu reden, Raum zu verschaffen.46 Zu fragen wäre dann auf Ebelings Spur, ob nicht gerade an diesem Punkt die Rechtfertigungslehre greift: Die Figur des Externen, im Feld der Hermeneutik pneumatologisch abgebildet, weist auf eine Wirklichkeit, die zwar nicht unabhängig ist von den Deutungen, die sich aber in ihnen und durch sie zeigt, die sie bejahend und verneinend, kreativ und kritisch begleitet, gerade weil sie über sie hinausgeht. Die Rechtfertigungslehre wäre dann die gewiss grössere Hilfe als der derzeit angesagte philosophische „neue Realismus“. Wir kommen zum Schluss. Es ist unübersehbar, dass die „historisch-kritische Methode“, auch und gerade in ihren pluralaffinen und spätmodernen Erscheinungsformen ein wertvolles und unverzichtbares Instrumentarium in der Auseinandersetzung mit heute markant an Gewicht gewinnenden Formen von religiösem und theologischem Fundamentalismus an die Hand gibt. Weniger klar ist, ob sie selber auch eine Hilfestellung bietet gegenüber der Zugkraft, die man holzschnittartig mit dem Stichwort Konstruktivismus umschreiben kann, oder ob sie mit ihrem Programm der konsequenten Historisierung diese nicht noch markant verstärkt. Im letztgenannten Fall könnte gerade die historisch- kritische Methode in ihrer guten alten Gestalt den Vorzug verdienen vor ihren verspielten und irrlichternden postmodernen Mutationen. Zumindest hätte sie da und dort die scheidende Kraft der Falsifikation. Sie ist, um ein Bonmot von Churchill zu variieren, die beste unter den schlechten Auslegungsformen. Das ist nicht wenig in einer Welt, die sich zunehmend von „alternativen Fakten“ beeindrucken lässt.
46 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Streit zwischen Schwestern? Zum Verhältnis von Exegese und Religionsgeschichte, ZThK 106 (2009) 20–40, Abdruck in diesem Band: 441–459.
Heilvolle Wende? Exegese im Zeichen der Kulturwissenschaften1 für Ulrich Luz Abstract Happy Turn? Exegesis Inspired by Cultural Studies The essay asks about the benefits and difficulties arising from the interaction between cultural studies and exegesis. The perspectives in the field of hermeneutics and reception history are of particular interest.
Im Jahr 1997 hat Ulrich Luz in seiner markigen presidential address vor dem Jahreskongress der Studiorum Novi Testamenti Societas in Birmingham entschlossen die Frage diskutiert, welche gesellschaftliche und kirchliche Tragfähigkeit die Bibelexegese in der Postmoderne überhaupt noch beanspruchen kann.2 Er hat die Geschicke der Bibelwissenschaften im Übergang von der Reformation zur Aufklärung und zur Moderne verfolgt und dabei insbesondere die Tiefe der Zäsuren, die die Exegese durch die historische Kritik, den linguistic turn und die Entdeckung der Wirkungsgeschichte erfahren hat, ausgelotet. Es ist nicht wenig, was bleibt. Auch wenn die Bibelauslegung nicht hinter den von ihr selber mitverursachten gesellschaftlichen und religiösen Pluralismus zurückgehen kann und dies auch gar nicht versuchen sollte, wird ihr doch eine achtfache Aufgabe für ihr öffentliches Gespräch auf der Agora der Wissenschaft aufgetragen. Sie hat sich erstens zu behaupten in der – von der Institution der Universität repräsentierten – Öffentlichkeit des Dialogs; es obliegt ihr sodann die Sorge um die Rationalität des Gesprächs; sie soll drittens auf konsensοrientierte Verständigung zielen; viertens muss sie die ökumenische Weite des Dialogs wahrnehmen; sie wird fünftens mit der Anwaltschaft des zentralen Inhalts ihres Gegenstands betraut, nämlich der Fremdheit der Geschichte Jesu. Der Leistungsauftrag wird in den letzten drei Punkten erheblich ausgeweitet: Die Exegese hat sich sechstens an der transkirchlichen Weite des Dialogs auszurichten; siebtens hat sie die 1 Der Aufsatz geht zurück auf Erwägungen, die ich am 20. März 2006 an der Mitarbeitertagung des Evangelisch-Katholischen Kommentars vorgetragen habe. 2 U. Luz, Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft, in: ders., Theologische Aufsätze (WUNT 414), Tübingen 2018, 253–274.
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Heilvolle Wende?
Erinnerungspflege der Bibel als Grundlage unserer Kultur wahrzunehmen, und schliesslich wird ihr als wichtigste Aufgabe unausweichlich der Hinweis auf Gott in das Stammbuch geschrieben. Es sind diese letztgenannten drei Aufgaben, mit denen ich mich im Folgenden beschäftigen möchte.
1. Pflege des kulturellen Gedächtnisses „Die Wirkungsgeschichte biblischer Texte zeigt, in wie hohem Masse die Bibel die Grundlage der europäischen Kultur überhaupt ist, nicht nur die der im Rückgang begriffenen christlichen Kirchen. Als wirksame, tragende Geschichte gehört sie zu den Lebensgrundlagen, von der auch diejenigen Menschen leben, die nicht mehr Christinnen oder Christen sind. Zu den Aufgaben der Exegese in unserer religiös pluralistischen Gesellschaft gehört die Erinnerung an die Bibel als gemeinsame Lebensgrundlage aller Europäer/innen und als prägende Kraft unserer gemeinsamen Geschichte.“3
Biblische Exegese als Pflege des kulturellen Gedächtnisses – von der siebten Luz’schen These lässt sich leicht ein Brückenschlag zu einem Trend vornehmen, der sich in den 1990er Jahren markant in den Vordergrund gespielt hat: dem cultural turn, der sich im deutschsprachigen Raum als kulturwissenschaftliche Reinterpretation der Geisteswissenschaften präsentiert, in der amerikanischen Forschung aber vielmehr mit Kulturanthropologie und Ethnologie verbunden ist. Die Wiederentdeckung der Kultur als umfassendem Horizont für eine Vielzahl von Wissenschaften trägt nicht nur dem wachsenden Bedürfnis nach Vernetzung von Einzeldisziplinen Rechnung, sondern geht auch mit handfesten Verteilungskämpfen um Forschungsressourcen und mit Strukturbereinigungen in den Hochschullandschaften einher. Es erstaunt so nicht, dass auch die Theologie und namentlich die neutestamentliche Wissenschaft auf den imposant anrollenden Zug aufgesprungen sind. Tatsächlich lassen sich gute Gründe aufführen, die der Theologie und ihrer Bibelinterpretation eine offene Haltung dem kulturwissenschaftlichen Aufbruch gegenüber nahelegen. Einige von ihnen berühren sich mit dem Aufgabenkatalog der Luz’schen presidential address. Bevor wir uns aber zum munteren Mitdrehen im cultural turn anschicken, seien einige Überlegungen zum spannungsvollen Verhältnis zwischen Kulturgedanke und Theologie vorausgeschickt.
2. Zwischen Anziehung und Abstossung Wir haben es beim Verhältnis zwischen Theologie und Kultur mit einem traditionsreichen Spannungsfeld zu tun. Bei der christlichen Theologie handelt es sich um eine bedeutsame und traditionsreiche Kulturgestalt; viele ihrer Luz, aaO. 272 f.
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2. Zwischen Anziehung und Abstossung
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Denkfiguren und Themen wurden von so ganz anderen akademischen Disziplinen wie der Rechtswissenschaft, der Soziologie, der Physik und sogar der Biologie importiert.4 Die Frage der Integration des frühen Christentums in die kulturelle Umwelt stellt sich spätestens seit der Areopagrede (Apg 17,16–34), in der nicht zufällig die Stichworte Auferstehung und Gericht die Grenze der Inkulturation markieren. Die altchristlichen Apologeten platzieren die neue Religion nicht nur in ihrem massgeblichen kulturellen Kontext, sondern beanspruchen sogar den Status eines erstklassigen, ja überlegenen Kulturträgers. Mindestens in vorkonstantinischer Zeit setzen sie sich gleichwohl kaum je hinweg über ihr Bewusstsein um die Differenz, die zwischen Evangelium und Kultur besteht. Die kulturelle Elite Athens lässt den lukanischen Paulus mit Distanz und Spott ins Leere laufen; der Philosoph Justin ist zum Märtyrer geworden.5 Im näheren geschichtlichen Horizont ist insbesondere auf die evangelische ‚Kulturtheologie‘ des 19. Jahrhunderts zu verweisen, zumal auf Ernst Troeltsch. Die Gegenstimmen wie etwa Franz Overbecks Einreden werden freilich erst mit dem massiven Umbruch im Gefolge des Ersten Weltkriegs unüberhörbar laut. In den 1970er Jahren macht sich die Abkehr vom programmatischen Nein der Dialektischen Theologie markant bemerkbar. Mit den 1990er Jahren hat die Rückfrage nach dem Verhältnis von Kultur und Religion schliesslich wieder ihren prominenten Platz zurückerobert. Auf vielfache Weise wird die Theologie dazu aufgefordert, sich als Kulturwissenschaft des Christentums, als christliche Kulturwissenschaft zu redefinieren.6 Dabei ist das Bemühen erkennbar, gerade auf dem 4 Es sei erlaubt, dem Matthäusforscher das von Soziologen und Biologen aus dem Neuen Testament herausgepflückte Spieltheorem „Matthäuseffekt“ bzw. „Matthäus-Prinzip“ zu kredenzen: Unter diesem Stichwort werden Phänomene, die dem Grundsatz der positiven Rückkopplung folgen, operationalisiert (Mt 13,12; 25,29; vgl. Mk 4,25; Lk 8,18; 19,26): In einem instabilen Gleichgewichtszustand können sich willkürliche, zufällige Ansätze selber massiv verstärken. Vgl. dazu H. Haken, Erfolgsgeheimnisse der Natur, Frankfurt1984, 231; 233; M. Eigen / R. Winkler, Das Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall, München 51983, 62–65; R. Dawkins, Der blinde Uhrmacher, dt. Übs. München 1990, 243; dazu den Artikel „Matthäuseffekt“ in der digitalen Enzyklopädie „Wikipedia“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Matth%C3 %A4us-Ef fekt; Zugriff am 07. 11. 2019). Wir haben hier den – gar nicht seltenen – Fall vor uns, dass die Wirkungsgeschichte wieder den breiten Traditionskonsens aktualisiert, der der Rezeption durch die biblischen Texte voraufgeht – im vorliegenden Fall die Erfahrung, dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden –, die biblische Umakzentuierung aber nicht mitmacht. 5 Es ist aufschlussreich, dass die Märtyrerakten Justins und seiner Genossen die Spannung in das Verhör übertragen: Justin bekennt vor dem Präfekten, dass „für die, die recht gelebt haben, die göttliche Gnadengabe erhalten bleibt bis zum Weltenbrand“ (Mart. Just. 5,2 [Rez. A; B]). Sein „genaues Wissen“ korreliert die Errettungshoffnung mit der philosophisch konnotierten Erwartung eines Weltenbrands (ekpyrosis), dessen Stellenwert das Werk des Christen im Philosophenmantel mehrfach diskutiert (apol. 2,20:4; 2,7:3). 6 Vgl. zur jüngeren Diskussion F. Nüssel, Theologie als Kulturwissenschaft, ThLZ 130 (2005) 1153–1168. Zur erhofften Transformation der Theologie in eine Kulturwissenschaft vgl. z. B. J. Manemann, Theologie als Kulturwissenschaft – ein Plädoyer, Orientierung 70 (2006) 38– 43; sodann Ch. Albrecht, Historische Kulturwissenschaft neuzeitlicher Christentumspraxis.
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Weg der Wiedergewinnung der kulturwissenschaftlichen Identität der Theologie deren kritische Reflexionskompetenz in den aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskursen zur Geltung zu bringen.7 Auch wo sich begründeter Widerstand gegen die Überführung der Theologie in Kulturwissenschaft formiert – ist doch ihr Reich „nicht von dieser Welt“ –, wird der Theologie zugetraut, ihre in langer Geschichte erworbene Differenzierungsfähigkeit dem akademischen Gespräch zugute kommen zu lassen – ganz im Sinn der Luz’schen presidential address.
3. Cultural turns Man kann sich dem Charme des derzeitigen kulturwissenschaftlichen Aufbruchs nicht leicht entziehen, wenn man ihn versuchsweise von den handfesten wissenschaftspolitischen Umverteilungskämpfen abschottet. Es ist nicht zuletzt die Unschärfe des kulturwissenschaftlichen Paradigmas, das diesem für viele Wissenschaftsdisziplinen Attraktivität sichert.8 Doch um was geht es eigentlich? In einem programmatischen Werk wagen sich H. Böhme, P. Matussek und L. Müller an die Definition eines singularischen Begriffs von Kulturwissenschaft:9 „Kulturwissenschaft erforscht die von Menschen hervorgebrachten Einrichtungen, die zwischenmenschlichen, insbesondere die medial vermittelten Handlungs‑ und Konfliktformen sowie deren Werte‑ und Normenhorizonte. Sie entwickelt dabei Theorien der Kultur(en) und materiale Arbeitsfelder, die systematisch wie historisch untersucht Klassische Protestantismustheorien in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis der Praktischen Theologie (BHTh 114), Tübingen 2000. Vgl. demgegenüber die scharfe Kritik bei I. U. Dalferth, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, ThLZ 126 (2001) 3–20, hier: 16. 7 Auch bei Distanz zur kulturalistischen Euphorie gilt: „Die protestantische Universitätstheologie kann den Kulturwissenschaften zu einer präziseren historischen wie systematischen Wahrnehmung ihrer selbst verhelfen“; es „ist die Behauptung zu wagen, dass Historische Kulturwissenschaftler im Masse ihrer Theologiedistanz kulturhermeneutische Deutungskompetenz einbüssen“ (F. W. Graf, Wozu noch Theologie, in: ders., Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 22004, 249–278, hier: 263; 266). 8 Hingewiesen sei insbesondere auf das umfassende dreibändige Handbuch der Kulturwissenschaften, hg. v. F. Jaeger u. a., Stuttgart 2004 (= 2011) (Bd. 1: Grundlagen und Schlüsselbegriffe; Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen; Bd. 3: Themen und Tendenzen), wo sich auch ein Beitrag von P. Bahr zur evangelischen Theologie findet (Protestantische Theologie im Horizont der Kulturwissenschaften; Bd. 2, 656–670) – nicht aber zur katholischen Theologie und auch nicht zur Religionswissenschaft. Letztere wird in einem anderen Sammelband berücksichtigt: H. G. Kippenberg, Was sucht die Religionswissenschaft unter den Kulturwissenschaften?, in: H. Appelsmeyer / E. Billmann-Mahecha (Hg.), Kulturwissenschaft. Felder einer prozessorientierten wissenschaftlichen Praxis, Weilerswist 2001, 240–275. Zur kulturwissenschaftlichen Redefinition der Religionswissenschaft vgl. H. G. Kippenberg / K. von Stuckrad, Einführung in die Religionswissenschaft, München 2003, 11–16; B. Gladigow, Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft, hg. von Ch. Auffarth / J. Rüpke (Religionswissenschaft heute 1), Stuttgart 2005. 9 H. Böhme / P. Matussek / L. Müller, Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will (rowohlts enzyklopädie 55608), Reinbek 22002, 104–108 (Zitat: 104).
3. Cultural turns
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werden. Insofern ist für die Kulturwissenschaft die Kultur als Ganzes sowohl das Objekt als auch der Rahmen für ihre eigenen Operationen. Da es nicht ‚die‘ Kultur, sondern nur viele Kulturen gibt, ist die Kulturwissenschaft mit multi‑ und interkulturellen Überschneidungen konfrontiert. Sie verfährt deshalb immer auch kulturvergleichend, indem sie die Semantik dessen untersucht, was in unterschiedlichen Gesellschaften unter ‚Kultur‘ verstanden wurde. Sie ist also eine historische Disziplin und verhält sich, indem sie die Abhängigkeit kultureller Phänomene von veränderbaren Bedingungen analysiert, kulturkritisch.“
Wir nehmen den Definitionsversuch zum Anlass, wenigstens zwei Charakteristika des kulturwissenschaftlichen Aufbruchs zu benennen. An erster Stelle ist das inhärente Prinzip der Selbstreflexivität von grösster Tragweite. Der kulturvergleichende Ansatz schliesst ein reflexives Verhältnis zur eigenen Perspektive ein, gibt sich also Rechenschaft um deren Relativität und geschichtliche Kontingenz. Gegenüber monokausalen und reduktionistischen Figuren setzt man auf die Multiperspektivität und auf eine nicht hintergehbare pluralistische Auffächerung von Geltungsansprüchen. Der cultural turn gibt sich hier als Kind der Postmoderne, besser: der Spätmoderne bzw. einer reflexiven Moderne, zu erkennen. An zweiter Stelle sticht der die Einzeldisziplinen übergreifende und Perspektiven bündelnde Ansatz ins Auge. Das Programm „Kulturwissenschaften“ scheint geeignet zu sein, der Dissipation der Wissenschaft in unzählige Spezialsektoren mit einer Reihe von zusammenführenden und orientierungsgebenden Fragestellungen entgegen zu wirken. Im Zeichen der Kulturwissenschaften werden nicht nur die Scheidewände zwischen den überkommenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen redimensioniert, sondern auch die garstigen Gräben zwischen „Geisteswissenschaften“ und „Naturwissenschaften“, zwischen hermeneutischen und empirischen Wissenschaftskulturen überbrückt. Der Such‑ und Reflexionsbegriff „Kultur“ stellt der interdisziplinären und transdisziplinären Diskussion eine geeignete konzeptuelle Plattform zur Verfügung. Der Verführung durch die süssen Verheissungen von Seiten der Kulturwissenschaften stellt sich freilich das Misstrauen gegenüber dem hype, den sie quer durch wissenschaftliche Publikationen wie Feuilletons ausgelöst haben, entgegen. Man kann sich des fatalen Eindrucks einer Supertheorie, die alle einzelwissenschaftlichen Bereiche überwölbt und umspannt, nicht leicht entschlagen. Da alles irgendwie „Kultur“ ist – und sei es als Globalhorizont nicht nur der Wissenschaften, sondern der Lebenswelten der Menschheit überhaupt –, scheint auch alles in ihr Platz zu finden. Genährt wird der Verdacht durch einen mindestens latenten Universalanspruch der kulturwissenschaftlichen Protagonisten. Nicht zufällig beginnt die systematische Darstellung von H. Böhme buchstäblich bei der Steinzeit und endet – geradezu hegelianisch – in der Gegenwart.10 Lässt sich der Eindruck einer Supertheorie auch argumentativ zerstreuen, so 10 H. Böhme, Stufen der Reflexion. Die Kulturwissenschaften in der Kultur, in: Jaeger, Handbuch (s. Anm. 8), Bd. 2, 1–15.
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bleibt doch ein hartnäckiges Misstrauen gegenüber einem publikumswirksam inszenierten Modetrend und dem Mitdrehen im immer rasanteren Theorienkarussel. Die cultural turns folgen in so jäher Kadenz aufeinander,11 dass einen der Schwindel packen könnte. Dazu gesellt sich das Unbehagen angesichts eines kriteriologisch defizitären anything goes und der Beliebigkeit der Stoffe, mit der Handbücher und Sammelbände das Programm präsentieren. Auch wenn sich so Anziehung und Abstossung die Waage halten, verdient der Neuaufbruch doch die Aufmerksamkeit gerade auch der biblischen Exegese. Es lassen sich einige Anzeichen für innovative Perspektiven ausfindig machen.
4. Exegese im Bann der Kulturwissenschaften Im amerikanischen Raum hat sich längst eine kulturanthropologisch interessierte Exegese herausgebildet.12 Unter deutschsprachigen Exegeten kommt die Kulturwissenschaft noch als ein eigenartiger Fremdling einher, sogar dort, wo Theologische Fakultäten kurzerhand zu kulturwissenschaftlichen umgebaut worden sind. Dies hat nicht nur mit dem schwer fassbaren, proteusartigen Charakter der cultural turns zu tun, sondern auch mit der spezifischen Schwierigkeit, Befunde der ethnologischen Feldforschung in die primär mit Texten arbeitenden exegetischen Disziplinen zu übertragen. Explorationen wie diejenigen von W. Stegemann, Ch. Strecker und K. Neumann aus dem ‚Neuendettelsauer Kreis‘ lassen aber durchaus interessante Aussichten erkennen.13 Gerade weil die Bibelauslegung in der Kunst besteht, im Ansatz verschiedene Methoden, Perspektiven und Fragestellungen angemessen miteinander in Wechselwirkung zu beziehen, ist sie gleichsam instinktiv immer schon mit dem befasst, was die 11 D. Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (rowohlts enzyklopädie 55675), Reinbek 2006, stellt sieben turns vor: interpretive turn, performative turn, reflexive turn / literary turn, postcolonial turn, translational turn, spatial turn, iconic turn. 12 Vgl. die informative Darstellung von W. Stegemann, Kulturanthropologie des Neuen Testaments, VF 44 (1999) 28–54. 13 Vgl. Ch. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus (FRLANT 185), Göttingen 1999; K. Neumann, Das Fremde verstehen – Grundlagen einer kulturanthropologischen Exegese, 2 Bde., Münster 2000. – Die Monographie von Strecker zeigt exemplarisch die Stärken und die Schwächen eines kulturanthropologischen Ansatzes auf: Auf der einen Seite gelingt es ihr, einen weiteren Pfeiler für die fundamentale Rolle des Partizipationsschemas in der paulinischen Theologie zu errichten, der die Stossrichtung der von A. Schweitzer herkommenden ‚Mystik‘, die in jüngerer Zeit etwa von E. P. Sanders und U. Schnelle reformuliert worden ist, weiterführt. Auf der anderen Seite stellen sich schwerwiegende methodische Fragen angesichts der generalisierenden Übertragung des temporären Initiationsprozesses, wie wir es bei Stammeskulturen finden, auf das antike Christentum. Vor allem wird nicht deutlich markiert, dass die ‚postliminale‘ Reintegration bei den Stammesgesellschaften zurück in das überkommene System führt, während die eschatologische Vollendung bei den frühen Christen gerade als Verewigung des Neuen, das mit dem Christusgeschehen anbricht, entworfen – und erfahren – wird.
4. Exegese im Bann der Kulturwissenschaften
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Kulturwissenschaften verheissen – sie setzt ja, wenn sie professionell betrieben wird, auf methodisches Bewusstsein, auf interdisziplinäre Integration und auf selbstkritische Reflexion. Insofern formuliert das kulturwissenschaftliche Programm nur dasjenige profilierter und universaler, was den exegetischen state of the art überhaupt ausmacht. Dazu kommen einige besondere Anreize, die der cultural turn der Exegese anzubieten hat.14 Kulturwissenschaftliche Ansätze sind von vornherein darauf angelegt, Perspektiven zu bündeln und separierte Bereiche zueinander in Beziehung setzen. Sie können helfen, sich für Theorieeinseitigkeiten zu sensibilisieren, Monokausalitäten auszuweichen und reduktionistische Gefälle zu vermeiden. Das Theorie-Ensemble der Kulturwissenschaften bietet für komplexe Fragestellungen und Themen mehr Andockstellen als ältere methodische Paradigmen. Das spätmarxistische Schema von Überbau und Unterbau, das manche Formen der Sozialgeschichte geprägt hat, lässt sich auf diese Weise getrost verabschieden. Die Kulturwissenschaft mag auch dazu beitragen, klassische methodologische Antagonismen – die Spannung zwischen Textwissenschaften und Sozialwissenschaften, zwischen textorientierten und kontextorientierten Zugängen, zwischen historisch-kritischer Exegese und leserorientierter Interpretation – zu entkrampfen. Sie trägt durch ihre Sensibilisierung für Peripherien und durch ihre Redimensionierung literarischer Hochtexte zugunsten anderer Medien (Riten, Alltagsleben, usw.) zur Wahrnehmungsbereicherung der Exegese bei. Und schliesslich ist in der heutigen Universitätslandschaft der Gewinn aus dem engeren Zusammenwirken von „geisteswissenschaftlichen“ Fächern nicht gering zu schätzen, zumal dort, wo die neutestamentliche Wissenschaft sich im breiten Spektrum antiker Kulturwissenschaften artikuliert. Schliesslich ist zu erwägen, wie die gerade in den Kulturwissenschaften neu gestellte hermeneutische Fragestellung der Exegese zu eigener grösserer Klarheit verhilft.15 U. Luz hat die Entdeckung der Wirkungsgeschichte als eine entscheidende Weichenstellung in der Geschichte der Bibelauslegung identifiziert. Der Evangelisch-Katholische Kommentar, der sich seit den späten 1960er Jahren der historisch-kritischen Exegese im Zeichen der hermeneutisch-kerygmatischen Theologie verpflichtet wusste, hat sich aufgrund seines ökumenischen Profils dem Einbezug der Wirkungsgeschichte geöffnet. Diese diente der Selbstreflexion auf die eigene geschichtlich vermittelte Auslegungsposition. Seither hat sich die Tragweite der Wirkungsgeschichte durch die rezeptionsästhetische Wende vielfach verstärkt. Heute lässt sich fragen, ob kulturwissenschaftliche 14 Vgl. besonders Ch. Strecker, „Turn! Turn! Turn! To Everything There Is a Season“. Die Herausforderung des cultural turn für die neutestamentliche Exegese, in: W. Stegemann (Hg.), Religion und Kultur (Theologische Akzente 4), Stuttgart 2003, 9–42. 15 Vgl. dazu besonders K. Neumann, Die Geburt der Interpretation. Die hermeneutische Revolution des Historismus als Beginn der Postmoderne (Forum Systematik 16), Stuttgart 2002, besonders 11–23 („moderne, vormoderne und postmoderne Exegesen“).
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Heilvolle Wende?
Ansätze ihrerseits zu einer Redefinition der Wirkungsgeschichte nötigen. Kulturwissenschaftliche Programme gehen einher mit teilweise anspruchsvollen Kultursemiotiken, fassbar etwa im bekannten Modell, Kultur als Text zu lesen;16 viele rezeptionsästhetische Einsichten sind hier längst integriert. So sehr es offenkundig ist, dass sich die wirkungsgeschichtliche Hermeneutik durch Fragen dieser Art neu bestimmen muss, so sehr ist die Integration von historischer und kulturhermeneutischer Interpretation in der handfesten Arbeit mit konkreten Texten bisher ein Desiderat geblieben. Insofern steht auch der hochgemute kulturwissenschaftliche Aufbruch unter jenem matthäischen Wort, das in den 1960er und 70er Jahren die linguistische Wende kritisch begleitet hat: „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.“
5. Gott – die grosse Störung? Die letzte und wichtigste der von Ulrich Luz der Exegese gestellten Aufgaben ist „der Hinweis auf Gott“.17 Es handelt sich im Sinn der hermeneutisch-kerygmatischen Theologie also um die Wahrheitsfrage, die durch den immensen Geltungsanspruch biblischer Texte gestellt wird. Es ist derzeit noch ganz unabsehbar, ob eine kulturwissenschaftlich ausgerichtete Exegese den Wahrheitsanspruch ihrer Texte durch eine Rekontextualisierung etwa in der mediterran-antiken Kultur sistiert – nehmen doch zahlreiche antike Texte für ihr Anliegen göttliche Instanzen in Anspruch – oder ob sie sich dezidiert weigert, die Besonderheit des biblischen Redens von Gott in universalistischen Figuren untergehen zu lassen.18 Da sich das Programm ‚Exegese als Kulturwissenschaft‘ noch kaum zu konkreter Textauslegung verdichtet hat, will ich es mit zwei sehr allgemeinen Bedenken bewenden lassen. Zum einen fällt auf, dass kulturwissenschaftliche Theorieprofile in hohem Mass konstruktivistisch angelegt sind. Sie geben Repräsentationsmodellen, wonach eine Theorie Realitäten abzubilden habe, und essentialistischen Konzepten, die mit „Wahrheit“, externer „Wirklichkeit“ u.ä. operieren, den Abschied. Der – typisch spätmoderne – konstruktivistische Ansatz müsste von Seiten der 16 Die v. a. von Clifford Geertz initiierte Debatte „Kultur als Text“ führt zu Überlegungen nach der Differenz von Kultur und Text, vgl. etwa K. P. Hansen, Kultur und Kulturwissenschaft. Eine Einführung (UTB 1846), Tübingen 32003, 330–332; A./V. Nünning, Kulturwissenschaften, in: dies. (Hg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen – Ansätze – Perspektiven, Stuttgart 2003, 1–18, hier: 7. 17 Luz, Bibel (s. Anm. 2) 273. 18 Der Ansatz von Neumann, Geburt (s. Anm. 15), trennt sehr scharf zwischen kulturwissenschaftlich-historischer Interpretation und gegenwartsbezogener Applikation – im Unterschied zu der von H.-G. Gadamer herkommenden theologischen Hermeneutik, für die die angemessene Auslegung biblischer Text mitten in die gegenwärtige Situation des Auslegers hinein zielt.
5. Gott – die grosse Störung?
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Theologie her m. E. überaus kritisch bedacht werden.19 Nicht von ungefähr hat die Figur des Externen in der Theologie eine schwer überschätzbare Tragweite, die sich vom Schöpfungsglauben über die Soteriologie bis in die Eschatologie erstreckt.20 Zum zweiten ist an das kulturkritische Erbe der Theologie zu erinnern. Die biblische Überlieferung ist massgeblich bestimmt von tiefster Distanz zu den Selbstverständlichkeiten und Vorgegebenheiten ihrer Zeit. Die Distanznahme zur vorfindlichen kulturellen Konfiguration bricht in der alttestamentlichen Schriftprophetie auf und kulminiert in der neutestamentlichen Eschatologie, wo der „Gestalt dieser Welt“ (Röm 12,2) die neue Christuswirklichkeit entgegensteht. Das „Wort vom Kreuz“ arbeitet die Differenz zwischen „dieser Weltzeit“ und der „neuen Schöpfung“ in kaum überbietbarer Schärfe heraus (1 Kor 1,18–2,5). Indem die Theologie ihre eigene kulturkritische Tradition aktualisiert, widersteht sie der Transformation in eine Form von Kulturwissenschaft, so sehr sie ihren unverzichtbaren Part in deren Diskursen zu spielen hat. Davon nicht tangiert ist die Tatsache, dass diese eigentümliche Form von Kulturkritik ihrerseits wieder zum interessanten Objekt kulturwissenschaftlicher Analyse wird.21 Sie lässt sich dann mit anderen kulturdistanzierten Phänomenen in der antik-mediterranen Gesellschaft zusammenstellen, etwa der kynischen Bewegung. Wir schliessen mit einer Würdigung des siebzigsten Altersjahrs des Jubilars. Die Siebzig, die Zahl der Völker, steht ganz im Zeichen der Kultur: Eines der gewaltigsten und wirkungskräftigsten Werke der Antike, die griechische Bibel, trägt sie in ihrem Eigennamen – die Septuaginta. Ihre vom Aristeasbrief dokumentierte Entstehungslegende markiert das Programm einer kulturwissenschaftlichen Hermeneutik schlechthin. Die sagenhafte Inkorporation der Bibel in die alexandrinische Bibliothek ist das vielleicht schönste antike Beispiel für die der Theologie heute aufgegebene Pflege des kulturellen Gedächtnisses. 19 Die konstruktivistische Position wird in der Exegese markiert von P. Lampe, Die Wirklichkeit als Bild. Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Epistemologie und Wissenssoziologie, Neukirchen 2006. Weil die Theologie davon Abstand zu nehmen hat, Gottes Wirklichkeit zu affirmieren, bleibt ihr schliesslich nur noch der Rekurs auf den Kanon, der den Offenbarungsbegriff trägt (91–93). Hier stellen sich fundamentaltheologische Fragen! Ob die Gehirnforschung die konstruktivistische Konstruktion stützt (so im Anschluss an G. Roth), halte ich – zumal angesichts ihrer etwa in der Determinismusdebatte erkennbaren eklatanten Theorieüberdehnung – für nicht so sicher. Von Seiten der Evolutionsbiologie her stellt sich ihr das Postulat einer harten Wirklichkeit, die in erheblichem Ausmass an der Selektion neurologischer Strukturen mitwirkt, entgegen. 20 Darauf zielt die Überlegung von Luz, Bibel (s. Anm. 2) 339: Die Exegese „wird – das ist die conditio moderna – vor allem darauf hinweisen, dass sie selbst über die Grenzen der menschlichen Geschichte und der menschlichen Sprache nicht hinauskann, und dass Gott vielleicht in menschlich-sprachlichen Wirklichkeitskonstruktionen die grosse Störung sein könnte. Aber ob es in Wirklichkeit so ist, weiss sie nicht.“ 21 Es kommt hinzu, dass sich Kulturwissenschaften gerade durch ihre historische Thematisierung kultureller Differenzen kulturkritisch verhalten, vgl. Böhme / Matussek / Müller, Orientierung (s. Anm. 9) 104.
Aussergewöhnliche Bewusstseinszustände und die urchristliche Religion Eine alternative Stimme zur psychologischen Exegese Abstract Altered States of Consciousness and the Early Christian Religion. An Alternative Vote concerning Psychological Exegesis This essay addresses the early Christian handling with “altered states of consciousness” (“ASC”: vision, ecstasy, trance, mysticism). It refers to current trends in psychology of religion which are interested in ASC, especially for their cross-cultural and neuro-psychological aspects. The psychology of ASC offers the biblical exegesis an alternative to other psychological tools (often using reductionist proceeding psychological models). It allows vision and ecstasy to be perceived as universal anthropological phenomena.
Dieser Aufsatz versucht, eine Brücke zwischen der neutestamentlichen Wissenschaft und der Psychologie der altered states of consciousness zu schlagen. Das Unternehmen erweist sich als ausgesprochen abenteuerlich, da sich die bekannten Probleme des Verhältnisses von Exegese und Psychologie noch einmal massiv kumulieren. Umgekehrt wäre es schade, die Bibelauslegung von vornherein der Möglichkeit zu berauben, mit einem der spannendsten Trends in der neueren Religionspsychologie in Wechselwirkung zu treten. Im ersten Teil skizziere ich einige für meine Fragestellung interessante Umrisse der Forschung an „aussergewöhnlichen Bewusstseinszuständen“. Der zweite Teil stellt exemplarische neutestamentliche Texte zusammen, die im Blick auf ihr Verhältnis zu diesen Bewusstseinszuständen Aufmerksamkeit verdienen. Im dritten Teil soll schliesslich der Ertrag evaluiert werden.
1. Zur Psychologie der altered states of consciousness („ASC“) In einer ersten Annäherung lassen sich die altered states of consciousness (abgekürzt ASC)1 durch Abgrenzung vom normalen Wachbewusstseinszustand 1 Die Terminologie ist verräterisch unscharf: In der Literatur begegnen auch „alternate states of consciousness“ (entweder um ein pejoratives oder ein aktivistisches Moment auszuschliessen), „aussergewöhnliche Bewusstseinszustände“ und „veränderte Wachbewusstseinszustände“.
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Aussergewöhnliche Bewusstseinszustände und die urchristliche Religion
einerseits, von schlafähnlichen Bewusstseinszuständen andrerseits bestimmen.2 So erstaunt es nicht, dass das Studium der ASC mit dem Beginn der Neuzeit vorzüglich in der Psychiatrie und in der Ethnologie betrieben wurde.3 Vor allem im religiösen Bereich findet sich eine bemerkenswerte Häufung dieser psychischen Erscheinungen. Unter Rückgriff auf die Sprache antiker religiöser Texte kann man etwa Vision, Ekstase, Inspiration, Gotterfülltheit bzw. Besessenheit, Entrückung, Himmelsreise u.ä. unterscheiden.4 Sie verdichten sich im Bereich der Mystik, begleiten aber wohl alle Religionen und tauchen in der nicht-religiösen Moderne wiederum in sehr vielfältigen Formen auf, die von den ‚peak experiences‘ der Bergsteiger und Sportler über Verschmelzungserlebnisse im Drogenrausch oder im Tanz bis zu Grenzerfahrungen von Astronauten oder von Patienten im Nahtodzustand reichen. ASC entstehen entweder spontan oder werden durch bestimmte Techniken generiert, etwa durch Reizentzug oder Reizüberflutung, Nahrungsverminderung, Atemregulation, Schlafentzug und Drogen. Die ethnologische bzw. kulturanthropologische Forschung zeigt, dass fast alle traditionalen Gesellschaften institutionalisierte Formen der ASC kennen.5 Das theoretische Interesse an aussergewöhnlichen Bewusstseinszuständen, das bereits die religiöse Philosophie der Antike stimuliert,6 bestimmt beim grossen Pionier der Religionspsychologie, bei William James, die Grundlinien seiner „Varieties of religious Experience“ (1902) mit ihrer Orientierung an der kranken Seele, am geteilten Selbst, den umstürzenden Konversionserfahrungen und den Phänomenen der Mystik.7 Eigens hinzuweisen ist auf seine mit maritimer Metaphorik arbeitende Theorie der Bewusstseinsfelder, wonach deren subliminale Extensionen die religiösen Prozesse fundamental bestimmen. Seine Vgl. die Definitionsversuche bei A. Dittrich, Ätiologie-unabhängige Strukturen veränderter Wachbewusstseinszustände, Berlin 21996, 1–6; Ch.T. Tart, States of Consciousness, New York 1975, 3–32; ders. (Hg.), Altered States of Consciousness, San Francisco 31990, 1–14. – Eine umfassende Darstellung der verschiedenen Zugänge zu den ASC bietet D. M. Wulff, Psychology of Religion, New York 21997, 70–116 (biologischer Zugang); 176–199 (Religion im Labor); vgl. auch B. Grom, Religionspsychologie, München 32007, 212–248. 3 Vgl. z. B. B. Inglis, Trance. A Natural History of Altered States of Mind, London 1989. 4 Vgl. dazu F. Pfister, Art. Ekstase, RAC 4 (1959) 944–987; W. Speyer, Realität und Formen der Ekstase im griechisch-römischen Altertum, in: ders., Frühes Christentum im antiken Strahlungsfeld (WUNT 50), Tübingen 1989, 353–368; K. Berger, Historische Psychologie des Neuen Testaments (SBS 146/147), Stuttgart 1991, 52–55; 121–129; 136–142; M. Frenschkowski, Art. Vision. I.–V., TRE 35 (2003) 117–147. Ein guter Differenzierungsversuch findet sich bei B. Heininger, Paulus als Visionär (HBS 9), Freiburg 1996, 39–43. 5 Vgl. E. Bourguignon (Hg.), Religion, Altered States of Consciousness, and Social Change, Columbus 1973; F. D. Goodman, Trance. Der uralte Weg zum religiösen Erleben. Rituelle Körperhaltungen und ekstatische Erlebnisse, dt. Übs. (GTBS 969), Gütersloh 1992; dies., Die andere Wirklichkeit. Über das Religiöse in den Kulturen der Welt, dt. Übs. München 1994. 6 Vgl. besonders Jambl., myst. 3,5 und 25 (göttliche versus krankhafte Ekstase im Kontext der Mantik). 7 W. James, Writings 1902–1910, New York 1987; dt. Übs.: Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Olten 1979 (= Frankfurt 1997). 2
1. Zur Psychologie der altered states of consciousness („ASC“)
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phänomenologische Untersuchung arbeitet dabei weitgehend nur mit Textmaterialien. Diese Situation ändert sich grundlegend erst in den 1960er Jahren, als die relativ einfache experimentelle Erzeugung von ASC durch psychotrope Substanzen an amerikanischen Universitäten im Gefolge der Hippie-Bewegung die Forschung stimulierte. Die „new explanation“ einer „new generation“ gipfelt im „psychedelischen Totenbuch“ des Psychologen und LSD-Apostels Timothy Leary, einer aberwitzigen Relektüre des tibetischen Bardo-thödol.8 Ihren wissenschaftlich gediegensten Ertrag stellt das berühmte Karfreitagsexperiment von W. N. Pahnke dar, ein Doppelblindversuch mit Psilocybin und einem Placebo, der ‚mystische Erfahrungen‘ bei Studierenden in einem religiösen Setting generierte.9 Für die Parallelisierung der Interviewdaten mit den Zeugnissen von Mystikern stellte Pahnke einen Katalog von neun Merkmalen bereit, die er der phänomenologischen Arbeit eines Religionsphilosophen entnahm.10 In der Bewegung der 1960er und 1970er Jahre spielten auch vereinzelte ältere Zeugnisse von literarischen Persönlichkeiten wie Aldous Huxley eine bemerkenswerte Rolle.11 Die überaus ambivalenten gesellschaftlichen Erscheinungen der Drogenwelle mitsamt der zunehmenden Repression liessen diesen Typ experimenteller Studien spätestens anfangs der 1980er Jahre abebben.12 Umso mehr Interesse verdient die streng statistisch angelegte Zürcher Studie von A. Dittrich über „ätiologie-unabhängige Strukturen veränderter Wach 8 Timothy
Learys Totenbuch, unter Mitarb. v. R. U. Sirius, dt. Übs. Berlin 1998; vgl. ders., Politik der Ekstase, dt. Übs. Markt Erlbach 1997. Ich verweise auch auf das leidenschaftliche Plädoyer für den Rausch durch den Orientalisten R. Gelpke, Drogen und Seelenerweiterung (Geist und Psyche 2065/66), München 41975. 9 Vgl. W. N. Pahnke, Drugs and Mysticism, Ph.Diss. Harvard 1963. Zur Diskussion vgl. M. Josuttis / H. C. Leuner (Hg.), Religion und die Droge, Stuttgart 1972 (mit der dt. Übersetzung des Berichts von Pahnke 1966 [54–76]). Zur Bewertung des kaum reproduzierten oder verbesserten Experiments vgl. die faire Berichterstattung bei Wulff, Psychology (s. Anm. 2) 188– 191 sowie R. Doblin, Pahnke’s ‚Good Friday Experiment‘, Journal of Transpersonal Psychology 23 (1991) 1–28; Ch. Henning / S. Murken / E. Nestler (Hg.), Einführung in die Religionspsychologie (UTB 2435), Paderborn 2003, 62 f. 10 W. T. Stace, Mysticism and Philosophy, London 1961. Pahnkes Katalog (Diss. 24–84) umfasst Einheitserfahrung, Transzendieren von Raum und Zeit, Glücksgefühl, Heiligkeitsempfindung, Eindruck von Wirklichkeit, Charakter des Paradoxen, Unangemessenheit sprachlicher Beschreibung, Episodencharakter und schliesslich (!) bleibende positive Veränderungen in Einstellung und/oder Verhalten. 11 Vgl. A. Huxley, Die Pforten der Wahrnehmung. Himmel und Hölle, dt. Übs. München 13 1989. Die Untersuchung von R. C. Zaehner, Mystik – religiös und profan, dt. Übs. Stuttgart 1957, bezieht (unter Rückgriff auf Paulus’ Auseinandersetzung mit den Korinthern, 49 f) dezidiert Stellung gegen Huxley. Vgl. sodann E. Jünger, Annäherungen. Drogen und Rausch, Stuttgart 1970 sowie endlich den Klassiker des 19. Jh.: Ch. Baudelaire, Die künstlichen Paradiese, dt. Übs. Köln 1972. 12 Gleichsam den Ertrag jener Jahrzehnte bilanziert der monumentale Kölner Ausstellungskatalog: G. Völger (Hg.), Rausch und Realität. Drogen im Kulturvergleich, 2 Bde., Köln 1981, wo auch die im Abendland gewohnten Drogen wie Alkohol, Tabak und Kaffee mitberücksichtigt werden.
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Aussergewöhnliche Bewusstseinszustände und die urchristliche Religion
bewusstseinszustände“ von 1985.13 Sie bündelt nicht nur die bisherige Forschung, sondern weist auch bereits auf die neuere Welle der 1990er Jahre voraus. Aufgrund der mit sehr verschiedenen Mitteln wie Halluzinogenen, Reizentzug und Reizüberflutung im Labor generierten ASC glaubt Dittrich, einen „ätiologie-unabhängigen“ Kern bestimmen zu können, der aus „ozeanischer Selbstentgrenzung“ bzw. deren Kehrseite, „angstvoller Ichauflösung“, sowie aus „visionärer Umstrukturierung“ besteht und als kulturübergreifend gelten kann. In den 1990er Jahren hat sich eine erneute intensive Beschäftigung mit den Phänomenen der ASC herausgebildet, die nun nicht mehr primär auf der Selbstbeobachtung, nämlich auf mittels Interviews erfasster und statistisch abgesicherter Introspektion, beruht, sondern auf den ihnen zugrunde liegenden neuronalen Prozessen. Im „Jahrzehnt des Gehirns“ erlaubten es die bildgebenden Verfahren, die zerebralen Erregungsmuster von Meditationstechniken so gut wie von psychotropen Substanzen im Laborexperiment detailliert zu verfolgen. Nur am Rand merke ich an, dass diese Fokussierung sich gut in jenen fundamentalen anthropologischen Paradigmenwechsel einfügt, den uns die 1990er Jahre gebracht haben: Es sind nicht mehr wie im Zug der 1968er Bewegung veränderbare gesellschaftliche Bedingungen, die die Menschen determinieren, sondern genetische bzw. neuronale Prozesse. So lag die Vermutung geradezu auf der Hand, dass insbesondere die auffällige Säkularisierungsresistenz der Religion auf neuropsychologische Wurzeln zurückgeht, die sich im Lauf der Evolution bei den archaischen Jäger‑ und Sammlerkulturen herausgebildet haben. Der „gedachte Gott“ hat es schliesslich nicht nur auf die Titelseiten der Journale gebracht,14 sondern auch den unsinnigen, offenbar in Anlehnung an „Neuropsychologie“ und „Neurobiologie“ gebildeten Begriff der „Neurotheologie“ ins Leben gerufen.15 Wenn man der biologischen Basis der Religion auf der Spur ist, so drängen sich deren vielleicht auffälligste und bizarrste Phänomene, die ASC, ganz von selbst auf. Meditative Zustände und Ekstasen, Visionen und epileptische Anfälle verdanken sich dem bunten Spiel der Neurotransmitter und geraten damit in den Bereich pharmakologischer Technologie. Zumal die intensivierte neuropsychologische Forschung über psychische Krankheiten wie Schizophrenie verbindet sich mit derjenigen über ASC. In Zürich wird beispielsweise das Projekt verfolgt, Modellpsychosen mittels psychoaktiver Substanzen zu generieren, um zu einem vertieften Verständnis schizophrener Zustände (Halluzinationen, 13 Dittrich,
Strukturen (s. Anm. 2) mit dem Vorwort zur 2. Aufl. z. B. den Spiegel Nr. 21 vom 18. 05. 2002. Viel Resonanz fanden M. A. Persinger, Neuropsychological Bases of God Beliefs, New York 1987; J. A. Hobson, The Chemistry of Conscious States, Boston 1994, 221 ff; A. Newberg / E. D’Aquili / V. Rause, Der gedachte Gott, dt. Übs. München 2003; J. H. Austin, Zen and the Brain, Cambridge, MA. 1998. Eine umsichtige Kritik bietet U. Dehn, Neurotheologie und religiöse Erfahrungstypen, EZW-Materialdienst 8 (2004) 283–292. 15 Man spräche in diesem Zusammenhang besser von „The(i)ochemie“! 14 Vgl.
1. Zur Psychologie der altered states of consciousness („ASC“)
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Störungen des Ichbewusstseins) zu gelangen.16 Offenbar führt die Reduktion von Filtermechanismen im limbischen System zu einer massiven Reizintensivierung in bestimmten kortikalen Arealen. Im Ganzen zeigt sich in der Erforschung der ASC jenes eigentümliche Fluktuieren zwischen reduktionistischer und psychagogischer Einstellung, das für manche Bereiche der Neurowissenschaften charakteristisch ist. Für die Gebildeten unter den Verächtern der Religion bringt die Interdependenz zwischen neurobiologischen Prozessen und religiösen Erfahrungen nur erneut an den Tag, dass es sich bei der Religion um eine Droge der besonderen Art handelt, die in archaischer Vorzeit offenbar evolutionäre Vorteile mit sich brachte.17 Menschliche Bewusstseinsprozesse kommen aus dieser Perspektive ohnehin nur als Epiphänomen quasi-autonomer neurologischer Vorgänge in Betracht. Für andere bietet die neuronale Basis der psychischen Prozesse geradezu eine freundliche, von der kosmischen Evolution offerierte Einladung, durch psychotechnische Methoden aktiv an der Generierung höherer Bewusstseinszustände zu arbeiten. So bewegt sich die Beschäftigung mit den ASC nicht selten in einem Umfeld, das von östlichen Religionen, Esoterik und new age bestimmt ist.18 Wir versuchen, im Blick auf unsere Fragestellung vier vorläufige Einsichten festzuhalten, die sich im Lauf der wechselhaften Forschungen über ASC mehr oder weniger deutlich herauskristallisiert haben: (1) Bei allem Gewicht der soziokulturellen Kontexte, innerhalb derer ASC überhaupt erst Bedeutung erlangen, scheint es sich um universelle anthropologische Phänomene zu handeln, die in den meisten vorneuzeitlichen Gesellschaften eine kaum zu überschätzende Rolle in Religion und Heilkunst spielten. Mutmasslich haben sie sich im Lauf der Hunderttausende von Jahren dauernden Zeit der Jäger‑ und Sammlerkulturen herausgebildet. Jede an ASC interessierte Psychologie ist demzufolge auf den interdisziplinären Austausch mit Kulturanthropologie und Religionswissenschaft angewiesen.
16 F. X. Vollenweider, Beziehung zwischen Hirnaktivitätsmustern (PET) und Dimensionen veränderter Bewusstseinszustände, in: R. Verres / H. Leuner / A. Dittrich (Hg.), Welten des Bewusstseins, Bd. 7: Multidisziplinäre Entwürfe, Berlin 1998, 111–126; ders. / M. A. Geyer, A Systems Model of Altered Consciousness. Integrating Natural and Drug-induced Psychoses, Brain Research Bulletin 56 (2001) 495–507; vgl. die populäre Darstellung: ders., Schizophrenie. Zwischen Wahn und Wirklichkeit, in: Gehirn und Geist (Spektrum der Wissenschaft) 4/2002, 36–42. 17 Vgl. z. B. B. Kanitscheider, Im Innern der Natur. Philosophie und moderne Physik, Darmstadt 1996, 9–11; 185 f. 18 Der stark weltanschaulich bzw. quasi-religiös bestimmte Charakter der Beschäftigung mit ASC zeigt sich besonders in der Transpersonalen Psychologie. Vgl. Ch.T. Tart (Hg.), Transpersonale Psychologie, dt. Übs. Olten 1978; St. Grof, Die Psychologie der Zukunft, dt. Übs. Wettswil 2002; ferner H. Ch. Meiser (Hg.), Trance, Frankfurt 1996.
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(2) Der Sammelbegriff ASC schliesst derart verschiedene Phänomene in sich,19 dass sie sich über ihre Abgrenzung gegenüber dem normalen Wachbewusstseinszustand hinaus kaum einheitlich beschreiben lassen.20 Diese Variabilität lässt sich offenbar bereits deutlich auf der neuropsychologischen Ebene beobachten. Eine noch sehr grobe kulturanthropologische Typologie der ASC hat mit wenigstens drei Sorten zu arbeiten (und deren Wechselwirkungen in Rechnung zu stellen):21 – Visionsekstase bzw. Seelenflug/Jenseitsreise – Besessenheit (possession) bzw. Trance mit Subjektwechsel – Versenkungsekstase (durch meditative Techniken) (3) Obschon wir von einem umfassenden neuropsychologischen Verständnis der ASC noch weit entfernt sind, deutet vieles darauf hin, dass diese entscheidend mit verstärkten Interaktionen zwischen den älteren Hirnteilen, namentlich dem limbischen System, und dem Neokortex zu tun haben. Je nachdem lassen sich diese Vorgänge als gesteigerte Integration oder aber als funktionelle Dysbalance beurteilen. Weiterhin scheinen ASC mit einer intensivierten Kommunikation zwischen den beiden Hirnhemisphären einherzugehen. (4) Ein psychologisch-kulturanthropologischer Zugang zu den ASC muss sich auf eine dem Gegenstand angemessene, sensitive Deskription beschränken. Davon zu trennen ist die komplexe Frage nach ihrem Wirklichkeitsbezug: Handelt es sich um – soziologisch oder psychologisch zu decodierende – Konstruktionen von Wirklichkeit oder um theologisch bedeutsame Wahrnehmungen einer sonst verborgenen Dimension der Wirklichkeit?
2. Neutestamentliche Texte und altered states of consciousness Im Folgenden geht es darum, urchristliche Texte durchzumustern, in denen ASC thematisiert werden. Ausserdem fragen wir danach, ob sich von der neutestamentlichen Theologie her Einsichten für den Umgang mit ASC eröffnen. Die nahe liegenden methodologischen Schwierigkeiten, die die psychologisch interessierte Exegese gerade in diesem Feld belasten, stellen wir zunächst zurück.
19 Vgl. das Sammelsurium bei A. Resch (Hg.), Veränderte Bewusstseinszustände Innsbruck, 1990. 20 Vgl. besonders M. Winkelman, Altered States of Consciousness and Religious Behavior, in: St.D. Glazier (Hg.), Anthropology of Religion, Westport 1997, 393–428; F. D. Goodman, Unterschiede im Erleben der anderen Wirklichkeit, in: Verres, Welten (s. Anm. 16) 127–134. 21 Etwas spekulativ lassen sich die Haupttypen mit drei Stadien kultureller Entwicklung korrelieren: Jäger und Sammler; Ackerbauern; Hochkulturen.
2. Neutestamentliche Texte und altered states of consciousness
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2.1 Zur Archäologie urchristlicher Ekstasekultur Unser Augenmerk gilt Texten, die etwa in Form von Visionsberichten über aussergewöhnliche Bewusstseinszustände berichten und an deren Produktion ASC mitbeteiligt sein können. Dazu kommen Texte, die den Stellenwert von ASC diskutieren. Da sich die Psychologie der ASC für die wirklichen Erfahrungen von geschichtlich existierenden Menschen interessiert, stellt sich zumal bei Texten anonymen oder pseudepigraphischen Charakters die Frage, ob es legitim ist, von der erzählten Welt auf die reale Welt zurückzuschliessen. Wir können nur vermuten, dass z. B. die durch Fasten und Wachen eingeleitete Himmelfahrt eines Patriarchen, von der eine jüdische Apokalypse berichtet, uns etwas über ekstatische Techniken und Zustände von deren Verfassern bzw. von deren Trägerkreisen verrät. Je stärker ein Text mit fiktionalen Elementen arbeitet, desto schwieriger ist der Rückschluss auf geschichtliche Realien, die im Prinzip auch psychologisch und sogar neurologisch zu beschreiben sind.
Wir werden mit den paulinischen Briefen einsetzen, weil sie der historischen Rückfrage kein grundsätzliches Hindernis entgegensetzen. Anders steht es mit der erzählenden Literatur. Obschon die Jesusüberlieferung reichlich von Wundertaten und Besessenheitsfällen berichtet, enthält sie nur einen einzigen knappen Visionsbericht, nämlich Jesu Schau des Satansfalls in Lk 10,18. Er bietet für eine an ASC interessierte psychologische Analyse kaum einen Haftpunkt.22 Zwar erwähnen die Evangelien Techniken wie Gebet, Fasten, Wachen und Isolierung, aber diese stehen weitgehend nicht in direktem Zusammenhang mit ekstatischen Phänomenen. Die Versuchungsgeschichte (Mt 4,1–11 parr.), die in diese Richtung weist, hat zwar die spirituellen Erfahrungen zahlreicher Christen markant geformt, bietet aber in historischer Perspektive kaum Informationen über ekstatische Techniken oder Zustände bei Jesus und seinen Anhängern. Gleiches gilt von der Verklärungsgeschichte (Mk 9,2–8 parr.). Dieselbe Hürde stemmt sich den Erzählungen der Apostelgeschichte entgegen, die von wunderbaren Phänomenen wie Zungenrede, Visionen, Träumen, Geisteingebungen, Entrückungen, Engelerscheinungen und Besessenheit berichten: Die Tragfähigkeit der Brücke, die von der Ebene der erzählten Welt zur ‚wirklichen‘ psychologischen Welt führt, lässt sich schwer messen. Beim Vierten Evangelium schliesslich kann man im Blick auf die Immanenzformeln (z. B. Joh 14,20) zwar diskutieren, ob es eine mystische Frömmigkeit bezeugt, aber die Thematik der Einheit mit Gott bzw. Christus scheint keine ekstatischen Formen anzunehmen. Erst am Ende des Neuen Testaments werden wir mit der Apokalypse für unsere Fragestellung wieder fündig werden. 22 Die Vermutung, dass es sich um Jesu eigene Berufungsvision handelt, lässt sich leider nicht erhärten. Zur Diskussion der Echtheit (mit negativem Ergebnis) vgl. D. Rusam, Sah Jesus wirklich den Satan vom Himmel fallen (Lk 10.18)?, NTS 50 (2004) 87–105. Zuversichtlich bzgl. einer „Schlüsselvision“ Jesu ist wieder M. Theobald, „Ich sah den Satan aus dem Himmel stürzen …“. Überlieferungskritische Beobachtungen zu Lk 10,18–20, BZ 49 (2005) 174–190.
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Vorweg ist die inhaltliche Grundspannung anzuzeigen, der sich unsere Fragestellung ausgesetzt sieht. Einerseits figuriert das Schriftencorpus des Neuen Testaments nicht unter den Klassikern der Mystik, auf die etwa die modernen Erforscher der ASC gern rekurrieren. Ob es überhaupt legitim ist, bei Paulus oder Johannes von Mystik zu sprechen, ist äusserst umstritten. Andrerseits verdanken sich gerade entscheidende Momente in der stürmischen Entwicklung des Urchristentums ekstatischen Erfahrungen: den Ostervisionen der Jesusanhängerinnen und ‑anhänger; dem Pfingstereignis, sofern es sich um ein isolierbares historisches Geschehen unter den frühesten Christen handelt; schliesslich der Konversion des Paulus zum Heidenapostel. Zumal der frühchristliche Gottesdienst dürfte die Empfänglichkeit für ASC gefördert haben. Die christliche Bewegung entwickelt sich in kulturellen Kontexten, in denen ASC wahrscheinlich eine bedeutsame Rolle spielen: die jüdische Apokalyptik mit ihrem Interesse an Visionen der himmlischen Dinge und des Thronsaals Gottes; das von Mittelplatonismus und Neupythagoreern bestimmte philosophisch-theologische Milieu der frühen Kaiserzeit, das spätestens ab dem zweiten Jahrhundert die Entstehung der Hermetik und der Gnosis ermöglicht; endlich verschiedene Formen von Orakelkulten und Mysterienreligionen. All dies deutet darauf hin, dass auch das Urchristentum eine Kultur des Umgangs mit ASC gepflegt hat. Freilich ist zuzugeben, dass zahlreiche Texte der frühchristlichen Umwelt diesbezüglich weit mehr Material enthalten. Im ältesten Christentum scheint es, sieht man von der Prophetie einmal ab, kaum eine institutionalisierte Technik der Erzeugung von ASC gegeben zu haben, nehmen sich doch diese als spontane charismatische Widerfahrnisse aus. Nichtsdestoweniger bedürfen göttliche Interventionen meist der menschlichen Präparation einer Plattform.23 So hat das Urchristentum in Fortführung jüdischer Gebräuche eine Praxis des Fastens, Wachens, sexueller Abstinenz und vor allem intensiven Gebets gepflegt, die das Auftreten von ASC befördert. In der (nach-neutestamentlichen) jüdischen Merkaba-Mystik wird die Himmelsreise zum Thronwagen Gottes durch bestimmte psychotrope Techniken eingeleitet, obschon die Texte dazu enttäuschend wenige Informationen liefern.24 Neben intensivem Gebet spielen v. a. 23 Die Feldforschung zeigt: „Nur in den seltensten Fällen kommt es zu einer unverhofften Trance. Normalerweise wird die Ekstase bewusst herbeigeführt und stellt ein gelerntes Verhalten dar“, F. Goodman, Ekstase, Besessenheit, Dämonen, dt. Übs. Gütersloh 1991, 37. 24 Zu kritisch gegenüber der Beanspruchung von ASC für die antike jüdische Mystik (wie sie etwa G. Scholem vertreten hat) ist P. Schäfer, Ekstase, Vision und unio mystica in der frühen jüdischen Mystik, in: A./J. Assmann / Th. Sundermeier (Hg.), Schleier und Schwelle. Archäologie der literarischen Kommunikation, Bd. 5.2: Geheimnis und Offenbarung, München 1998, 89–104. Es ist wohl damit zu rechnen, dass ASC sowohl bei der Himmelsreise wie bei der magisch-theurgischen Beschwörung eine Rolle gespielt haben, ganz unabhängig davon, welchem Element die zeitliche Priorität in der Entwicklung der jüdischen Mystik zukommt. Zudem isoliert Schäfer m. E. ekstatische Himmelsreise, Trance und rituell-liturgische Handlungen zu stark voneinander (so ders., Der verborgene und offenbare Gott, Tübingen 1991, 150 f).
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(40-tägiges) Fasten und Tauchbäder eine zentrale Rolle.25 Mit psychotropen Effekten ist auch bei der intensiven Rezitation der Gottes‑ und Engelnamen zu rechnen.26 Viel schwerer fassbar sind allfällige Präparationen im Umkreis der apokalyptischen Gruppen zu frühjüdischer Zeit, die zur Produktion von Apokalypsen geführt haben. Wir wissen bekanntlich sehr wenig über die Trägerkreise der jüdischen Apokalyptik. Immerhin wird auf Techniken wie Fasten, Wachen und Gebet angespielt (vgl. Dan 9,3 f; 10,2 f; 1 Hen 108,7–9; 4 Esr 5,13– 15.20 f; 6,31.35; syrBar 9,2; 12,5; 21,1; 43,3; 47,2).27 Die apokalyptischen Seher mögen sich auch in dieser Hinsicht an den Propheten Israels orientiert haben, über deren Techniken zum Offenbarungsempfang freilich fast nichts bekannt ist.28 Das 4. Esrabuch macht immerhin einige Andeutungen, die sich wie die Präparation eines Settings für ASC ausnehmen.29 Der Engel Uriel verlangt von Esra, für den Empfang einer bestimmten Vision nicht mehr zu fasten, sondern (unter Enthaltung von Fleisch und Wein) auf einer Blumenwiese zu essen und sieben Tage lang unablässig zu beten (4 Esr 9,23–26; vgl. 12,39.50 f; ApkAbr 9,7), bis dass sein Herz erregt ist und er bereit ist für die Kommunikation mit dem Himmel. Am Schluss des Buchs erhält Esra auf demselben Feld einen Becher „wie mit Wasser gefüllt, dessen Farbe aber war dem Feuer gleich“, worauf sein Herz „Verständnis hervorsprudelte“ und er von Weisheit erfüllt wird. „Mein Geist aber bewahrte die Erinnerung. Mein Mund öffnete sich und schloss sich nicht wieder.“ In der Folge verfassen Esra (im Zustand einer sobria ebrietas) und seine Männer 94 Bücher, davon 70 esoterische (14,37–44).
Wir benennen an dieser Stelle ein grundsätzliches Problem beim Brückenschlag zwischen dem Mainstream der ASC-Forschung und Zeugnissen apokalyptischer Provenienz: Während hier die Traumoffenbarung gleichberechtigt neben der ekstatischen Himmelsreise rangiert, unterscheidet die an Bewusstseinszuständen orientierte Psychologie deutlich zwischen (ggf. „höheren“) Wachzuständen und Traumphasen im Schlafzustand (verbunden mit REM-Aktivität). 2.2 Einige exemplarische Texte 1. Der wohl prominenteste neutestamentliche Text, der von aussergewöhnlichen Bewusstseinszuständen zeugt, ist der Selbstbericht des Paulus in 2 Kor 12,2–4.30 25 Vgl. Hekalot §§ 132; 138; 300; 314; 424 (Fasten, „bis das Fasten über ihn herrscht“); 501 f; 560; 565; 572; 684. 26 Möglicherweise förderte die sprachliche Monotonie der angelischen Sabbatopferliturgie bereits bei der Gemeinschaft von Qumran einen bestimmten Typ von ASC, nämlich eine ekstatische Versetzung in den himmlischen Gottesdienst, so C. Newsom, Songs of the Sabbath Sacrifice (HSS 27), Atlanta 1985, 15–17; 59; 72. 27 Speziell hinzuweisen ist auch auf die Topik bei Angelophanien bzw. beim Empfang apokalyptischer Offenbarungen: Schrecken, Ohnmacht, Ermattung; ferner auf die Bedeutung intensiven Weinens und Klagens. Man sollte auch hier hinter den konventionellen literarischen Mustern Reflexe von psychischen Begleitvorgängen beim Visionsempfang nicht grundsätzlich bestreiten. Vgl. dazu Frenschkowski, Art. Vision (s. Anm. 4) 129 f. 28 Zu ASC im Alten Testament vgl. den Überblick bei T. Pola, Ekstase im Alten Testament, in: H. Hemminger (Hg.), Ekstase, Trance und die Gaben des Geistes, Stuttgart 1998, 117–207. 29 Vgl. zum Inspirationsvorgang M. E. Stone, Fourth Ezra (Hermeneia), Minneapolis 1990, 119–124; ferner 31–33. 30 Vgl. die abgewogene Diskussion bei M. E. Thrall, The Second Epistle to the Corinthians
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Im Kontext einer Apologie seines Apostolats kommt Paulus auf „Visionen und Offenbarungen des Herrn“ (V. 1) zu sprechen. Die eigenartige und singuläre Weise, sein eigenes ekstatisches Erlebnis in der dritten Person zu schildern, dient nicht nur der Distanznahme, nämlich der Abwehr des „Sich-Rühmens“ in Bezug auf pneumatische Fähigkeiten, sondern hält möglicherweise auch einen typischen Zug eines ASC fest, nämlich eine Form intensivierter Selbstwahrnehmung (vgl. grBar 17,3). Die chronologische Information „vor vierzehn Jahren“ lehnt sich an die z. T. genauen Zeitangaben für Offenbarungen in apokalyptischen Texten an, die ihrerseits eine Tradition der prophetischen Berufungsvisionen fortführen. Wahrscheinlich steht diese weit zurückliegende ausserordentliche Erfahrung aus den „dunklen Jahren“ des Paulus exemplarisch für manche anderen Visionen; sie zeigt aber zugleich, dass Ekstasen nicht zum apostolischen Alltag zählten. Ob es sich um eine leibhaftige Entrückung oder eine Himmelsreise der Seele handelt, lässt Paulus offen (V. 2 f). Die knappen Hinweise auf den dritten Himmel bzw. das Paradies lassen vermuten, dass er einer Vision des göttlichen Thronsaals samt einer Audition der unsagbaren Gesänge der Engel teilhaftig wurde (V. 2.4);31 ob er dort Christus in göttlichem Glanz geschaut hat, verrät uns der Text nicht. Gleich im Anschluss an seinen kurzen Bericht verweist Paulus auf ein peinigendes Leiden, das offenbar im Zusammenhang mit jener mystischen Erfahrung steht, sei es als Gegengewicht, sei es als direkte Folge jenes Aufstiegs (V. 7 f). Beim „Dorn im Fleisch“ ist an eine quälende und andauernde Krankheit, eher an eine Trigeminusneuralgie als an epileptische Anfälle, zu denken.32 Alle von Paulus skizzierten Züge fügen sich gut ein in das bekannte Bild der ASC, namentlich der Visionsekstase und Jenseitsreise. Dazu zählen Entrückung, Auflösung der Selbst‑ bzw. Körperwahrnehmung, Empfindung von Heiligkeit bzw. Gottesnähe und Unaussprechlichkeit.33 Umso mehr Gewicht gewinnt die Relativierung dieser exemplarischen Ekstase, die der Kontext und die rhetorische Stossrichtung der paulinischen Argumentation in markanter Weise zu erkennen geben. Die Entrückung in den dritten Himmel ist für den Apostel kein Gegenstand des „Sich-Rühmens“. Dieses gilt vielmehr den „Schwächen“, in denen er sich mit Christus verbunden weiss (12,5–10; vgl. 13,3 f). Die individuelle (ICC), Bd. 2, Edinburgh 2000, 772–798; ferner Heininger, Paulus (s. Anm. 4) 242–262. Den Hintergrund der jüdischen Mystik arbeitet neben A. F. Segal, Paul the Convert, New Haven 1990, 34–71 (mit problematischen Konstruktionen) v. a. C. R. A. Morray-Jones heraus: Paradise Revisited (2 Cor 12:1–12), HThR 86 (1993) 177–217; 265–292; kritisch zu diesem Hypothesentyp P. Schäfer, New Testament and Hekhalot Literature, in: ders., Hekhalot-Studien (TSAJ 19),Tübingen 1988, 234–249. Umstritten ist besonders, ob der rabbinische Bericht über die vier Besucher im Paradies (tChag 2,3 f parr.) mystisch zu interpretieren ist. 31 Insbesondere die zahlreichen Parallelen zu 2 Hen verdienen m. E. grösste Aufmerksamkeit, zumal dieses Buch wohl auch ursprünglich griechisch in der Diaspora verfasst wurde. 32 So U. Heckel, Der Dorn im Fleisch, ZNW 84 (1993) 65–92. 33 Auch der Zusammenhang mit einer Krankheit lässt sich hier festhalten. Es wäre interessant, die schamanistischen Ekstasetechniken mitzuberücksichtigen, wo allerdings m.W. Krankheiten der Initiation eher vorangehen als nachfolgen.
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Gipfelerfahrung wird der – bedrohten – Gemeinschaftsbeziehung zu den Korinthern untergeordnet (13,1–10; vgl. auch 5,13). Ausserdem nimmt Paulus seine Himmelsreise nicht als zum Aposteldienst legitimierende Christuserscheinung (vgl. Gal 1,12.15 f; 1 Kor 9,1; 15,8) in Anspruch, sondern scheidet offenbar scharf zwischen dieser und seinen übrigen aussergewöhnlichen Bewusstseinszuständen. Sowohl die kreuzestheologisch ausgerichtete Christologie des Apostels wie die Orientierung an der christusentsprechenden Gemeinschaft setzen der Tragweite einer Gipfelerfahrung, wie sie Paulus bezeugt, klare Grenzen. 2. Ein weiterer Text, der unserer Fragestellung entgegenkommt, ist die pneumatische Weisheitsrede in 1 Kor 2,6–16. Im Unterschied zu 2 Kor 12 bietet sie freilich keine expliziten Hinweise auf ekstatische Zustände, sondern vollzieht eine kognitive Grenzüberschreitung. Paulus arbeitet mit Figuren jüdisch-apokalyptischer Weisheitstheologie,34 wenn er die bloss menschliche Weisheit scharf von der göttlichen Offenbarungsweisheit, die durch den Geist geschenkt wird, absetzt.35 Inhaltlich geht es um das Kreuz Christi, das im Licht der nun offenbarten Weisheit Gottes gleichsam in seiner theologischen Tiefendimension wahrgenommen wird. Die Rede für die „Vollkommenen“ (2,6; vgl. 3,1) markiert eine höhere Stufe der Erkenntnis, obschon deren Zentrum mit dem kerygmatischen Wort vom Kreuz (1,18–2,5) zu identifizieren ist.36 Wir können nur vermuten, dass ein Text wie dieser einen Einblick in die Produktion apokalyptischen Offenbarungswissens freigibt, der manche Merkmale von ASC, namentlich des Typs der Versenkungsekstase, trägt: Teilhabe an den Tiefen Gottes, Erfüllung durch den göttlichen Geist, Überschreitung der Grenzen „dieser“ Weltzeit und ihrer Repräsentanten, der „Archonten“, und übersinnliche Erkenntnis.37 Diese Bewusstseinserweiterung verdankt sich vermutlich der eindringlichen und nachhaltigen Meditation des Apostels über den Kreuzestod Jesu. Ich erlaube mir eine Vermutung, die in einer handgestrickten Kombination psychologischer Modelle, u. a. von James’ Bewusstseinstheorie, besteht: Wenn existentiell bedrängende bzw. ambivalente Sachverhalte wie Kreuz und Totenauferstehung das psychische System antiker Juden und Christen intensiv und langfristig ‚besetzen‘, kann sich die kognitive und affektive Dissonanz schliesslich in einer sprunghaften Bewusstseinsveränderung lösen, die als Offenbarung erlebt wird (vgl. neben 1 Kor 2,6 ff auch 1 Kor 15,51). Der hier reklamierte Typ der Versenkungsekstase gilt insbesondere für den Umgang mit Vgl. besonders Dan 2,19–23.28–30.47; Sap 9,13–19. Gegenüber der Hypothese einer korinthischen Weisheits‑ bzw. Herrlichkeitstheologie, die Paulus in diesem Abschnitt kritisch aufnehme, ist Zurückhaltung geboten, vgl. M. Konradt, Die korinthische Weisheit und das Wort vom Kreuz, ZNW 94 (2003) 181–214. 36 So G. Theissen, Psychologische Aspekte paulinischer Theologie (FRLANT 131), Göttingen 21993, 340–349; demgegenüber insistiert H. Ch. Kammler, Kreuz und Weisheit (WUNT 159), Tübingen 2003, 186–192 wieder auf der strikten Identität von Weisheitsrede und Kreuzesrede. 37 Vgl. Theissen, Aspekte 369–381, besonders 381: „Diese plötzliche durch das Kerygma bewirkte Bewusstseinserweiterung wird als ekstatisches Aufgehen in einem grösseren göttlichen Bewusstsein erlebt, dem selbst die Tiefen der Gottheit nicht verborgen bleiben.“ 34 35
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Schriftworten: Die anhaltende „murmelnde“ Meditation über den göttlichen Orakeln (vgl. Dan 9,2 f) scheint in diesem Milieu ausserordentliche Bewusstseinszustände zu erzeugen, etwa in der Form von apokalyptischen Offenbarungen, auf die sich Paulus beruft (Röm 11,25–27!). Auch beim Toraausleger Philon ist primär dieser Typ von Ekstase zu beobachten.38 Das Œuvre Philons im Schnittpunkt von Mittelplatonismus und jüdischer Mystik enthält überhaupt sehr viel interessantes Material zu unserer Thematik, darunter besonders seine an Platon (Phaidr 244b ff) angelehnten Versuche zur Klassifizierung ekstatischer Zustände.
Der Abschnitt endet in einer strikten Unterscheidung von Erkenntnisstufen und ihrer jeweiligen Beurteilungsmöglichkeit (V. 13–15): Die Pneumatikerstufe unterliegt keinen extern zu gewinnenden Kriterien! Die nicht unproblematische Immunisierung der vollkommenen, geistgewirkten Weisheitserkenntnis gegenüber den Erkenntnismethoden der gegenwärtigen Weltzeit wird konterkariert durch die inhaltlich entscheidende Konformität mit Christus (V. 16) und so an das Wort vom Kreuz gebunden. Zudem stellt die Applikation der Weisheitsrede auf die Adressaten in 3,1–4 unmissverständlich die ethischen Dimensionen der pneumatisch vertieften Verkündigung des gekreuzigten Christus heraus. 3. Ein dritter, knapper Hinweis innerhalb der Texte aus dem paulinischen Briefcorpus betrifft die Diskussion um die Zungenrede in 1 Kor 14.39 Paulus selbst ruft sich als besonders begabten Zungenredner in Erinnerung (14,18). Die Glossolalie kann wohl als herausragendste Erscheinung von ASC in den urchristlichen Gemeinden gelten. Als Teilhabe an der Himmelssprache, der Sprache der Engel (1 Kor 13,1), setzt sie eine Art inspiratorischer Erfüllung voraus. Sie zählt zum Typ der ‚Besessenheitstrance‘. Die wichtigste Quelle, die uns nicht nur ein Stück weit den religiösen Kontext der Glossolalie erahnen lässt, sondern auch deutlich einen ekstatischen Zustand signalisiert, ist die Erzählung von den Töchtern Hiobs in TestHi 47–50 (1. Jh. v./n. Chr.), die von ihrem Vater himmlische, „in die grössere Welt, zum Leben in den Himmeln“ führende Gürtel erhalten. Die Töchter empfangen „ein anderes Herz, so dass sie nicht mehr an irdische Dinge“ denken und nun die Sprache verschiedener Engelklassen sprechen, um Gott und sein Werk zu preisen.40
Paulus selbst gibt lediglich den Hinweis auf eine exklusive Kommunikation mit Gott und auf geistgewirktes Sprechen von Geheimnissen (V. 2) unter 38 Bei aller (zumeist platonischen) Topik wie der Mysterienterminologie sollte die „Schreibtisch-Ekstase“ nicht als artifiziell abqualifiziert werden; vgl. Berger, Psychologie (s. Anm. 4) 141 f. Einen Überblick zur ekstatischen Schau bei Philon bietet Heininger, Paulus (s. Anm. 4) 146–159. 39 Zum Thema verweise ich lediglich auf zwei Aufsätze von H.-J. Klauck: Mit Engelszungen?, in: ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum (WUNT 152), Tübingen 2003, 145–167; und: ders., Von Kassandra bis zur Gnosis, aaO. 119–144; sodann auf die psychologische Exegese bei Theissen, Aspekte 269–340. 40 Vgl. auch ApkZef 13 im Kontext einer Jenseitsreise: „Auch ich legte mir ein Engelsgewand an. Ich sah alle jene Engel, wie sie beteten. Auch ich begann, indem ich betete mit ihnen auf ein Mal. Ich verstand ihre Sprache, welche sie mit mir redeten“ (JSHRZ 5.9, 1222).
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weitgehender Ausschaltung des diskursiven Verstands (V. 14: „so betet mein Geist, mein Verstand (νοῦς) aber bleibt ohne Frucht“). Verständlich wird diese Charakterisierung nur vor dem Hintergrund hellenistischer Mantiktheorien, die auch auf die Prophetie übertragen worden sind.41 Die bekanntesten Schilderungen stammen von Philon (her. 263–266) in seiner Auslegung von Gen 15,12:42 Sobald der Verstand (νοῦς) wie die Sonne „‚untergeht‘, überfällt uns natürlich eine Ekstase, ein gottbegeistertes Eingenommensein und eine Verzückung. Sobald nämlich das göttliche Licht aufstrahlt, geht das menschliche unter; sobald jenes untergeht, erhebt sich dieses und geht auf “. Neben dieser irrationalistischen Konzeption sind etwa bei Philon und Plutarch auch Integrationsmodelle bezeugt, die der Sache nach 1 Kor 14,15.19 nahestehen.43
Die Glossolalie hat offenbar zumindest tonangebende Teile in der korinthischen Gemeinde in Bann geschlagen. Gegenüber der vertikalen rückt Paulus betont die horizontale, gemeinschaftsbezogene Dimension in den Vordergrund, wie die Platzierung des „Hohelieds der Liebe“ (1 Kor 13) zwischen die grundsätzliche Reflexion über den Geist samt seinen Gaben (Kap. 12) und die Diskussion konkreter gottesdienstlicher Probleme (Kap. 14) zu erkennen gibt. Zugleich setzt der Apostel entschieden auf Rationalität, auf die Integration von Vernunft (νοῦς) und Enthusiasmus, und privilegiert deshalb die Prophetie. Das Neue Testament enthält abgesehen von diesem paulinischen Diskurs lediglich noch in der Apostelgeschichte einiges Material zur Zungenrede. Sie geht einher mit dem Gründungsereignis der Kirche, mit dem Pfingstfest (Apg 2,1–13; vgl. 10,44–46; 19,6; dazu Mk 16,17). Da Lukas das (ihm wohl als Tradition überkommene) Redewunder als ein die weltweite Mission initialisierendes Sprachenwunder akzentuiert, wissen wir nicht einmal mit Bestimmtheit, ob er die Glossolalie überhaupt aus eigener Erfahrung kennt.
Trotz ihrer augenfälligen Prominenz im Urchristentum empfiehlt es sich nicht, die Glossolalie ins Zentrum der Beschäftigung mit ASC zu rücken. Zum einen führt uns die Zungenrede eher in die Sphäre herabgeminderten Wachbewusstseins, in dem frühkindliche Sprach‑ und Verhaltensmuster reaktiviert werden, ohne in Wechselwirkung mit höheren bzw. rationalen psychischen Funktionen zu treten. Insofern kontrastiert sie mit jener gesteigerten Wachheit, die die Visions‑ oder Versenkungsekstase begleiten kann. Zum anderen scheinen gerade die in neuzeitlichen pfingstlichen und charismatischen Bewegungen beobachtbaren Phänomene auf weite Strecken hin gar nicht in die Kategorie ekstatischer 41 Grundlegend ist das Inspirationsmodell in Platons Ion (533c–535a). Vgl. zum Folgenden meinen Aufsatz: Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden, in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 163–192, hier: 169–172. Vgl. auch meinen Aufsatz: Göttliche Einwohnung. Die Schekina-Motivik in der paulinischen Theologie, Abdruck in diesem Band: 169–183. 42 Vgl. ferner Philon, som. 1,118 f; spec. 4,49; Mos. 1,283; Plut., def. 40/41 : 432c ff. 43 Vgl. Philon, praem. 55; Plut., def. 9: 414e; Pyth. 7: 397c; 21: 404b/c; 22/23: 405a/b; ebenso Orig., Cels. 7,3.
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Zustände zu fallen.44 Da es sich bei diesen Formen der Zungenrede eher um „Nachahmerprodukte“ urchristlicher Erscheinungen handelt, ist beim Rückschluss von neuzeitlichen auf antike Verhältnisse grösste Vorsicht geboten. 4. Ausserhalb der paulinischen Briefliteratur zieht besonders die Johannesapokalypse unser Interesse auf sich. Ihrem Selbstzeugnis zufolge verdankt sie sich einer Ekstase an einem Sonntag, die eine Epiphanievision, begleitet von einer Audition, einleitet (1,10). Die Ekstase setzt sich sodann in Form einer szenisch strukturierten Grossvision mit auditiven Elementen fort (4,2; vgl. 17,3; 21,10).45 All dies entspricht dem Typ der Visionsekstase bzw. Himmelsreise,46 die sich hier aber mit einer raffinierten literarischen Kunst verbindet, wie die hieratische Sprache, die fortlaufenden hypertextartigen Allusionen an alttestamentliche Prophetentexte und die ausgefeilte Komposition erweisen. Wie überhaupt bei apokalyptischer Literatur empfiehlt es sich nicht, Literarizität oder Traditionalität gegen visionäre Authentizität auszuspielen. Im Fall der Apokalypse unterstützen die starken prophetischen Elemente (1,3; 22,7 ff u. a.) und die unvergleichliche Plastizität wie Originalität ihrer Bilder die Annahme, dass an ihrer Produktion bestimmte Formen von ASC mitbeteiligt waren.47 Nicht anders als im alten Israel kann die urchristliche wie frühjüdische Prophetie für unsere Fragestellung nach ASC einen prominenten Platz beanspruchen. Unser Wissen über die Prophetie des ersten Jahrhunderts n. Chr., in die auch Johannes der Täufer und Jesus einzuzeichnen sind, ist leider sehr bruchstückhaft. Noch weniger lässt sich sagen, inwieweit Gerichtsankündigung bzw. Zukunftsweissagung (vgl. Apg 11,28; 21,10 f), Offenbarung von Geheimnissen (1 Kor 13,2) oder auch nur ‚Erbauung, Ermahnung und Tröstung‘ (1 Kor 14,3.31) auf ekstatische Bewusstseinszustände zurückgehen. Wie ein Schlaglicht mutet Paulus’ knappe Information über den kardiognostischen Effekt urchristlicher Prophetie an (1 Kor 14,24 f): Sie scheint bei Aussenstehenden, die am christlichen Gottesdienst teilnehmen, eine schlagartige Bewusstseinserweiterung zur Folge zu haben, in der „das Verborgene des Herzens“ offenbar wird und die in einer Anbetung Gottes gipfelt.48 Wir halten am Rand noch fest, dass die aus Israel bekannte Notwendigkeit, echte und falsche Prophetie zu unterscheiden, auch die frühen Christen zur Festlegung von Kriterien führte, zumal 44 Vgl. die Hinweise auf eine grundsätzliche Debatte bei Grom, Religionspsychologie (s. Anm. 2) 327 f; Klauck, Engelszungen (s. Anm. 39) 151 f A.26. Für Goodman, Ekstase (s. Anm. 23) 31–33; 92–106 ist die Glossolalie demgegenüber der Musterfall der religiösen Trance. 45 Zur ekstatischen Terminologie vgl. D. E. Aune, Revelation, Bd. 1 (WBC 52 A), Dallas 1997, 82 f; 283 f. 46 Neben dem Moment der positiv erlebten Selbstentgrenzung – Gottesnähe! – kommt es in den Schreckensvisionen auch zur angstvollen Ichauflösung. 47 Während der Aufbruch der Religionsgeschichtlichen Schule die Frage nach der Authentizität visionärer bzw. prophetischer Texte stimuliert hat (vgl. z. B. W. Bousset, Die Offenbarung Johannis [KEK 616], Göttingen 1906 [= 1966], 13 f), dominiert in der Forschung seither meist Desinteresse, zumal angesichts der methodischen Schwierigkeiten. Die Vermutung sei erlaubt: Auch Psychobiographie und Sozialisation der Exegeten bestimmen markant darüber, was in der Zunft als interessant oder aber als abwegig zu gelten hat. Zum Problem der Erlebnisechtheit vgl. besonders Frenschkowski, Art. Vision (s. Anm. 4) 136. 48 Vgl. dazu Theissen, Aspekte (s. Anm. 36) 82–88.
3. Evaluation
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von ethischen.49 Im zweiten Jahrhundert n. Chr. gewinnt die Prophetie im Montanismus mit deutlich ekstatischen Formen ein bemerkenswertes Revival.
Das theologische Profil der Apk gibt uns einen aufschlussreichen Fingerzeig für die Funktion von ASC im Urchristentum. Die Visionen des Johannes scheiden in nicht zu überbietender Schärfe zwischen dem Lamm und dem Tier, zwischen den Anhängern Gottes und den Anhängern des römischen Weltreichs mit seinem Globalisierungsprojekt. Sie verpflichten ihre Rezipienten auf eine weltnegative Ethik und vermitteln ihnen Anteil an der himmlisch-zukünftigen Wirklichkeit. Sie stellen eine Gegenwelt vor Augen, gewinnen ihre (etwa in der Kunstgeschichte erkennbare) Leuchtkraft aber nicht nur durch eine Distanzüberbrückung zwischen Himmel und Erde, sondern auch durch eine massive Polarisierung, die nicht erst heutige Zeitgenossen irritiert. Die Schattenseite der visionären Pracht der Apk ist ihre tiefe theologische Ambivalenz. Dieser Befund schränkt das hermeneutische Gewicht der Visionen des Propheten von Patmos m. E. doch empfindlich ein. 5. Zum Schluss unseres exegetischen Rundgangs drängen sich die Ostervisionen der Jesusanhängerinnen und ‑anhänger gebieterisch auf (1 Kor 15,5–8; Joh 20,11–18; usw.), zumal sie für die Kirche eine konstitutive Funktion gewonnen haben.50 Da sie in jüngerer Zeit Gegenstand von heftigen Debatten geworden sind, begnügen wir uns mit dem Hinweis auf ihren einzigartigen Stellenwert für die frühen Christen: Ihr Inhalt, die Selbstmanifestation des auferweckten und erhöhten Christus, steht so entscheidend im Vordergrund, dass sie von den Texten gar nicht mehr als ASC gekennzeichnet werden! Erst unter den Denkvoraussetzungen der Neuzeit lässt sich die Hypothese, wonach die österlichen Christophanien als Visionen zu rekonstruieren sind, plausibel machen.
3. Evaluation Unser Brückenschlag hat nicht zu einer etablierten Verkehrsverbindung zwischen zwei wissenschaftlichen Disziplinen geführt, die einen breiten Güteraustausch ermöglicht. Gleichwohl lädt die schwankende Hängebrücke zu lohnenden Freibeuterzügen ein. Wir versuchen zum Schluss einige Linien zu skizzieren. 1. Zunächst müssen stichwortartig einige grundsätzliche methodische Probleme benannt werden, die sich jeder Form von psychologischer Exegese entgegenstemmen: (1) Der zeitliche Abstand zu den urchristlichen Texten stellt vor die Frage, ob neuzeitliche psychologische Kategorien auf die Verhältnisse der 49 So Mt 7,15–23; Did 11,7–12; Hermas 43. Vgl. das christologische Kriterium: 1 Joh 4,1–3, unter Einschluss des ethischen (3,7–10.13–17). 50 Zur Diskussion vgl. M. Leiner, Auferstanden in die Herzen und Seelen der Gläubigen?, EvTh 64 (2004) 212–227 und meinen Aufsatz: Ostern – der denkwürdige Ausgang einer Krisenerfahrung, in: Horizonte (s. Anm. 41) 105–123.
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Aussergewöhnliche Bewusstseinszustände und die urchristliche Religion
antiken Mittelmeerwelt übertragbar sind. (2) Falls sich die psychologische Exegese nicht einfach für die Funktion von Textlektüren interessiert, sondern eine quasihistorische Intention verfolgt, muss sie sich Rechenschaft darüber geben, dass sie die realen Menschen nur im Spiegel der Texte zu Gesicht bekommt. Diesen beiden allgemeinen Problemen gesellen sich weitere hinzu, die spezifisch aus der Fokussierung auf das Verhältnis von ASC und urchristlichen Texten resultieren: Auf Seiten der ASC ruft nicht nur (3) der diffuse Bewusstseinsbegriff, dieser „Proteus der Philosophie“,51 nach konzeptioneller Klärung, sondern vor allem auch (4) das verwirrende Kaleidoskop der als ASC klassifizierten Phänomene.52 Auf Seiten der Texte ist (5) nicht nur die Frage zu klären, ob sie Rückschlüsse auf ASC realer antiker Menschen erlauben, sondern auch (6) an die schlichte Tatsache zu erinnern, dass uns diese trotz ihrer „Unaussprechlichkeit“ und „Andersartigkeit“ immer nur im Kontext einer komplexen religiösen Semantik und literarischen Pragmatik vermittelt werden. 2. Trotz dieser methodologischen Hindernisse zeichnen sich m. E. wenigstens drei Punkte ab, wo die Psychologie der ASC die Welt der frühen Christen in schärferem Licht wahrzunehmen hilft. (1) Das Urchristentum hat offenkundig eine reflektierte Kultur des Umgangs mit den Phänomenen der ASC gepflegt. Es lassen sich alle drei Haupttypen von ASC nachweisen: Am besten ist die Visionsekstase belegt (2 Kor 12; Apk; Ostervisionen). Die mit Subjektwechsel verbundene Trance begegnet in der Glossolalie; sie steht wohl auch hinter der „Christusmystik“ bzw. „Geistmystik“ (vgl. Gal 2,20; 2 Kor 13,3; Röm 8,9–11).53 Schliesslich gibt es Anzeichen für die Versenkungsekstase, der eine intensive und nachhaltige Meditation über bedrängende Sachverhalte (1 Kor 2,6 ff) oder Schriftworte (Röm 11,25–27?) vorangeht. Die Anwendbarkeit unserer Typologie auf urchristliche Texte macht es plausibel, diese als Zeugen für ASC-Zustände in Anspruch zu nehmen. (2) Der Einbezug des psychologisch-kulturanthropologischen Zugangs zu ASC bietet der Bibelexegese eine Ergänzung oder eine Alternative zu anderen psychologischen Theorien an. Vision, Ekstase und Bewusstseinserweiterung haben ihr eigenes, auch methodisch einklagbares Recht innerhalb der Bandbreite urchristlicher Lebensäusserungen (1 Kor 2,12–15). Während andere psychologische oder soziologische Modelle häufig zur Dekonstruktion dieser Phänomene neigen, erkennt die ASC-Psychologie in ihnen universelle anthropologische 51 So nach einem bekannten Wort von E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Bd. 3, in: Gesammelte Werke, Bd. 13, Hamburg 2002, 53. 52 Die Aufgabe stellt sich, im Zusammenspiel von Kulturanthropologie, Religionswissenschaft und Psychologie differenzierte Landkarten der ASC zu entwerfen, die sowohl deren Interferenzen wie kulturspezifische Faktoren berücksichtigen. Eine noch ganz unzulängliche Kartographie legte R. Fischer vor: Über die Vielfalt von Wissen und Sein im Bewusstsein, in: Verres, Welten (s. Anm. 16) 43–70. 53 Dazu gehört auch die dämonische Besessenheit in den synoptischen Exorzismen (vgl. ferner Röm 7,17–20).
3. Evaluation
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Muster religiösen Erlebens und Verhaltens. So lassen sich die ASC der frühen Christen nicht auf Statusgewinnstrategie, Legitimationsbedarf oder Kontingenzbewältigung reduzieren. Sie sperren sich gegen eine psychodynamische Decodierung, etwa die Rückführung auf Kompensation, Schuldbewältigung oder Aggressionsabwehr. Sie halten damit unbeschadet aller Vorbehalte theologischen Denkens überwältigenden Erfahrungen des Göttlichen mitten im Hier und Jetzt den Raum frei. In den ASC zapft das Urchristentum das archaische psychobiologische Erbe der Menschheit an und integriert es mit den subtilsten Errungenschaften des frühkaiserzeitlichen Bildungsgutes. Zugleich stellt sich der theologischen Exegese die Aufgabe, die verschiedenen Trends der ASC-Psychologie kritisch zu rezipieren. Sie setzt gegen den neurobiologischen Reduktionismus auf die unhintergehbare Komplementarität von Leib und Seele. Sie schützt die konkrete, geschichtliche Gestalt ihrer Texte vor der Einebnung in universalreligiöse Strukturen. Sie erinnert schliesslich daran, dass es sich bei ASC nur um einen Ausschnitt aus dem breiten Spektrum religiöser Erfahrungen handelt. (3) Die urchristlichen Gemeinschaften betten die ASC in ein komplexes ekklesiologisches und soteriologisches Rahmenwerk ein. Visionen und Offenbarungen helfen den frühen Christen, ihre Identität im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Anpassung und Abgrenzung immer neu zu bestimmen. Ihr Stellenwert in den urchristlichen Gemeinschaften bemisst sich an den „Früchten“ (Mt 7,15–20; 1 Kor 14,6 ff), also an der Kompetenz zu ethischer Orientierung. Dem tritt ihre Relativierung zugunsten des Bekenntnisses vom gekreuzigten und auferstandenen Christus zur Seite (2 Kor 12,6–10). Die frühen Christen exportieren die Ausblicke, die sich in ihren Gipfelerfahrungen auftun, gleichsam in ihr (immer noch auf einem Hochplateau geführtes!) Alltagsleben,54 zumal in ihren gottesdienstlichen Vollzügen: An die Stelle der Vision rückt der Glaube, der an der dichten Gegenwart des unsichtbaren Gottes festhält. An die Stelle der Teilhabe an ewiger Gegenwart rückt die Hoffnung, die von der ergreifenden Nähe des Künftigen lebt. An die Stelle der seligen Verschmelzung rückt die tätige Liebe, die sich von Gottes überfliessender Zuwendung getragen weiss (vgl. 1 Kor 13,9–13). So bleibt die ekstatisch erfahrene Gegenwart des Göttlichen auf dem Verklärungsberg eine Episode, wenn sie nicht, zurück im Tal, dem gemeinsamen Nachfolgeweg Ziel und Richtung weist (Mk 9,2 ff).
54 Ich spiele mit den Begriffen „peak experience“ und „high-plateau experience“ aus der humanistischen Psychologie von A. Maslow.
Rezeptionen biblischer Texte
Paulus zwischen Exegese und Wirkungsgeschichte quot homines tot sententiae Terenz, Phormio 454
Abstract Paul between Exegesis and Reception History The article deals with the relationship between old perspectives and the “New Perspective” on Paul and presents the transition with the three labels “ecumenical Paul”, “ancient Paul” and “Jewish Paul”. Looking at the numerous images and interpretations of Paul in the course of time, it becomes apparent that the reception history is not simply an appendix of exegesis, but that they both, exegesis and reception history, interact with each other in a complex way. It is therefore comprehensible that various interpretations of Paul were a generator of controversy.
Es gehört zu den zunehmend Anerkennung findenden Basisüberzeugungen spätmoderner Hermeneutik, dass die Wirkungsgeschichte kein sachlich irrelevanter Appendix historisch-kritischer Bibelauslegung ist, sondern eine unverzichtbare und erkenntnisrelevante Disziplin ihres Methodenensembles darstellt. Wenn eine der wertvollsten Gaben der Wirkungsgeschichte darin besteht, den Perspektivencharakter der jeweils eigenen Interpretationsposition herauszustellen und ihren Wahrheitsanspruch zu relativieren, dann gilt das in besonderem Mass im Blick auf das Phänomen des Völkerapostels. Lässt man sich auf die Wirkungsgeschichte des Paulus, seiner Person und seines Werks ein, so wird man mit einer verwirrenden Vielfalt konfrontiert. Die Gestalt des Paulus hat von Anfang an eine komplexe und spannungsvolle Interpretationsgeschichte erzeugt, die auf weite Strecken hin nur grossflächig bekannt ist. Ich möchte im folgenden erkunden, ob und wo es eine produktive Wechselwirkung zwischen der Wirkungsgeschichte und der Exegese gibt, also jener überwiegend abendländisch-akademischen Spielart der Paulusinterpretation an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Im ersten Teil nehme ich drei Wendepunkte der jüngeren Paulusforschung in den Blick und frage nach deren Ort im grösseren Strom der Paulusdeutungen. Der zweite Teil fragt nach den hermeneutischen Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer reflexiven Paulusinterpretation.1 1 Für das Gesamtthema (samt Wirkungsgeschichte) s. meinen Artikel: Paulus, RGG4 6 (2003) 1035–1065.
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Paulus zwischen Exegese und Wirkungsgeschichte
1. Neue und alte Perspektiven auf Paulus Seit den 1960er und 70er Jahren ist es in der Paulusforschung zu mindestens drei wichtigen Umbrüchen gekommen, die die Exegese bis heute in Atem halten. Etwas holzschnittartig kann man von drei markanten Paulusporträts sprechen, die für viele Exegetinnen und Exegeten grosse Attraktivität und Plausibilität gewonnen haben: der ökumenische Paulus, der antike Paulus und der jüdische Paulus. Wir wollen jedem dieser Porträts Aufmerksamkeit schenken und versuchen, von den neuzeitlichen Debatten her Schlaglichter auf einzelne Phänomene der Paulusrezeptionen zu werfen. Ich beschränke mich auf Spuren aus der alten Kirche, die eine gewisse paradigmatische Funktion haben. In einem letzten Schritt wird jeweils nach möglichen Konsequenzen für die Exegese gefragt. 1.1 Der ökumenische Paulus Die Paulusauslegung, die seit der Reformation sehr stark von kontroverstheologischen Positionsbezügen lebt, hat heute weitgehend einer ökumenischen Verständigung Platz gemacht. Die Öffnung der römisch-katholischen Kirche für die historisch-kritische Bibelforschung spätestens mit dem Vatikanum II hat zu einer Zusammenarbeit protestantischer und katholischer Exegeten geführt, die besonders schön im Evangelisch-katholischen Kommentar und im Ökumenischen Taschenbuchkommentar dokumentiert wird. Die jüngeren deutschen Debatten um den Stellenwert der Rechtfertigung zeigen freilich, dass die alten Konflikte da und dort wieder aufbrechen können2 – ganz abgesehen von der Frage, ob die neutestamentliche Exegese in ökumenischen Dialogen überhaupt noch Richtungsweisendes zu sagen hat. Blicken wir auf die Geschichte zurück, so fällt auf, dass sich die kontroverstheologische Debatte gern an der Antithese der beiden Apostelfürsten, also von Petrus und Paulus, festgemacht hat. Das Aufeinanderprallen der beiden Apostel im antiochenischen Zwischenfall (Gal 2,11–14) präfigurierte zumal für Luther die Kontroverse zwischen der römischen Amtskirche und dem Evangelium von der Rechtfertigung, zwischen dem Papst und dem Reformator. Luther hat sich mit Paulus identifiziert, um den Primat und die Irrtumsfreiheit des Papstes als vicarius Petri von der Bibel her zu destruieren. Die antiochenische Episode wird damit bei Luther zum kirchengeschichtlichen Programm. Die Auslegungsgeschichte von Gal 2,11–14 bietet jedenfalls im Bereich der Alten Kirche eine der spannend sten exegetischen Kontroversen.3 2 Siehe vom exegetischen Standpunkt aus Th. Söding (Hg.), Worum geht es in der Rechtfertigungslehre? Das biblische Fundament der „Gemeinsamen Erklärung“ von katholischer Kirche und Lutherischem Weltbund (QD 180), Freiburg, 1999; ders., Der Skopos der paulinischen Rechtfertigungslehre, ZThK 97 (2000) 404–434. 3 Vgl. besonders K. Holl, Der Streit zwischen Petrus und Paulus zu Antiochien in seiner
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Der Konflikt zwischen den Apostelfürsten macht uns aufmerksam auf das viel umfassender in den Blick zu nehmende Verhältnis der beiden Apostel.4 Der generelle Trend ist seit der frühen Kirche klar erkennbar: Die beiden Apostel werden einander koordiniert, sei es nun im Modell der Parataxe oder aber, weit seltener, der Subordination des Paulus unter Petrus. Bereits im Neuen Testament werden hierfür entscheidende Weichen gestellt. Petrus repräsentiert die Zwölf im ersten Teil der Apostelgeschichte, während die Erfüllungsgeschichte in ihrem zweiten, weit längeren Teil mit Paulus ihren Fortlauf nimmt. Man hat sich gefragt, ob der 1. Petrusbrief nicht im Zeichen einer Harmonie der beiden Apostel zu lesen ist, da er paulinische Sprache, Vorstellungen und Mitarbeiter mit petrinischer Pseudepigraphie verbindet. Aber es gibt hier keine Anzeichen für ein derartiges Programm; der Brief bezeugt lediglich die Wirkungen der paulinischen Theologie im Kleinasien des ersten Jahrhunderts. Anders steht es mit dem 2. Petrusbrief: Petrus wie Paulus (3,15 f.!) gelten als hoch zu achtende Autoritäten. Letzterer wird in die durch Petrus repräsentierte gesamtkirchliche Tradition eingebunden, um ihn so vor einer gnostisierenden Auslegung zu schützen, etwa in Bezug auf Eschatologie und Freiheitsverständnis. Diese Tendenz, in älterer Literatur gern als frühkatholisch perhorresziert, setzt sich in der Folgezeit literarisch und frömmigkeitsgeschichtlich fort, zumal in der stadtrömischen Tradition mit ihrer Zuspitzung auf das gemeinsame Martyrium, das erstmals im 1. Clemensbrief bezeugt wird.5 Die ursprünglich getrennt überlieferten Martyrien werden zunehmend kombiniert, z. T. sogar in idealer Bedeutung für Luthers innere Entwicklung, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 3, Tübingen, 1928, 134–146; V. Stolle, Luther und Paulus (ABG 10), Leipzig 2002, 94–96; ferner G. May, Der Streit zwischen Petrus und Paulus in Antiochien bei Markion, in: W. Homolka / O. Ziegelmeier (Hg.), Von Wittenberg nach Memphis, FS R. Schwarz, Göttingen, 1989, 204–209; R. Hennings, Der Briefwechsel zwischen Augustinus und Hieronymus und ihr Streit um den Kanon des Alten Testaments und die Auslegung von Gal. 2,11–14 (SVigChr 21), Leiden 1994, 218–264; A. Fürst, Origenes und Ephräm über Paulus’ Konflikt mit Petrus (Gal. 2,11/14), in: M. Wacht (Hg.), Panchaia, FS K. Thraede (JbAC.E 22), Münster 1995, 121–130. 4 Vgl. L. Wehr, Petrus und Paulus – Kontrahenten und Partner. Die beiden Apostel im Spiegel des Neuen Testaments, der Apostolischen Väter und früher Zeugnisse ihrer Verehrung (NTA.NF 30), Münster 1996; zum 1 Petr J. Herzer, Petrus oder Paulus? Studien über das Verhältnis des ersten Petrusbriefes zur paulinischen Tradition (WUNT 103), Tübingen 1998; zum 2 Petr Th. J. Kraus, Sprache, Stil und historischer Ort des zweiten Petrusbriefes (WUNT II/136), Tübingen 2001. 5 1 Clem 5; zum Kult vgl. H.-G. Thümmel, Die Memorien für Petrus und Paulus in Rom (AKG 76), Berlin 1999. Die Entwicklung der apokryphen Aktenstoffe zeigt, wie die ursprünglich weitgehend getrennten Traditionsströme zunehmend miteinander verzahnt werden. Eigens zu verweisen ist auf die sekundäre Überlieferungsschicht in den Acta Petri (Acta Vercellenses; CANT 190.iii) 1–3 (dazu vgl. G. Poupon, Les ‚Actes de Pierre‘ et leur remaniemant, ANRW II 25.6 [1988] 4363–4383; ders., Introduction aux Actes de Pierre, in : F. Bovon / P. Geoltrain [Hg.], Écrits apocryphes chrétiens [Editions de la Pléïade], Bd. 1, Paris 1997, 1042), wo Petrus noch ein Jahr vor Paulus getötet wird. Vgl. sodann die Passio apostolorum Petri et Pauli (Acta Petri et Pauli; CANT 193), Ps.-Hegesippus’ Passio Petri et Pauli (CANT 192), die Passio apostolorum Petri et Pauli (CANT 194), die orientalischen Acta Petri et Pauli (CANT 203) u. a.
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Paulus zwischen Exegese und Wirkungsgeschichte
Synchronisierung, wonach beide Apostel am gleichen Tag hingerichtet werden.6 Dem entspricht der neutestamentliche Kanon: Das Corpus Paulinum wird nicht nur mit den katholischen Briefen verbunden, sondern auch mit den Evangelien, in denen Petrus eine führende Rolle spielt (namentlich in Mk und Mt). Allerdings zeigt sich in der römischen Tradition die klare Tendenz, die Ökumenizität des Paulus durch seine Subordination unter Petrus herauszustellen.7 Die angedeuteten wirkungsgeschichtlichen Spuren sensibilisieren für die Bedeutung des Miteinanders von Petrus und Paulus für die christliche Kirche. Als Gegenstimmen kommen lediglich die Pastoralbriefe und Markion, vielleicht auch noch der Kolosserbrief, in Betracht.8 Dazu gesellen sich umgekehrt die – wenigen bzw. spärlich erhaltenen – judenchristlichen Stimmen, wo Paulus als Gesetzesbrecher und Pseudo-Apostel grundsätzlich abgelehnt wird.9 Die Tragweite des Miteinanders kann man sich schlicht daran klarmachen, wie beliebig die christliche Tradition ohne die Jesuserzählungen der Evangelien aussehen würde – aber umgekehrt auch wieder daran, wie beengt die Kirche ohne das Corpus Paulinum wäre! Die Frage richtet sich folgerichtig zurück an die Texte des Paulus selbst. Auch nach der antiochenischen Konfrontation dürfte für Paulus die Übereinstimmung mit Petrus als Gewährsmann der Jesusüberlieferungen, vor allem aber als Mitdiener am Evangelium so wichtig wie selbstverständlich gewesen sein. Paulus lag enorm viel daran, die Bindungen zu andern Missionskollegen trotz Dissonanzen aufrecht zu erhalten.10 Seine Tendenz zur Konfrontation ist nur die eine Seite, die sachlich mit seiner Sorge um die „Wahrheit des Evangeliums“ zu tun hatte. Deren Kehrseite ist sein Wille zur Kollegialität, bei der persönliche Rivalitäten hinter die Gemeinsamkeit der Evangeliumsverkündigung zurücktraten (vgl. 1 Kor 15,11; 3,5–11; Phil 1,12–18). 6 Wahrscheinlich erzeugte die gemeinsame Feier am 29. Juni den Schluss auf den gemeinsamen Todestag (s. Thümmel, Memorien [s. Anm. 5] 10). Die Vorstellung begegnet z. B. im Decretum Gelasianum 3,2; bei Hieronymus, vir. ill. 5; ansatzweise bereits bei Dionysios von Korinth (Euseb, hist. 2,25:8). Zu den historisch umstrittenen Apostelgräbern vgl. ferner H. Lietzmann, Petrus und Paulus in Rom (AKG 1), Bonn 21927; E. Kirschbaum, Die Gräber der Apostelfürsten. St. Peter und St. Paul in Rom, Frankfurt 31974. 7 Die extremste Form findet sich in einem Dekret von Papst Innocens X., markant gegen die evangelischen Kirchen gerichtet (24. Jan. 1647): Der Papst … propositionem hanc […] ita explicatam, ut ponat omnimodam aequalitatem inter S. Petrum et S. Paulum sine subordinatione et subiectione S. Pauli ad S. Petrum in potestate suprema et regimine unversalis ecclesiae, haereticam censuit et declaravit (bei: C. Mirbt [Hg.], Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, Tübingen 1934, 381 f [Nr. 528]). 8 Die Pastoralbriefe referieren nicht nur exklusiv auf Paulus, sondern scheinen ihm sogar Christi Protophanie zuzuschreiben (1 Tim 1,15 f), vgl. M. Wolter, Die Pastoralbriefe als Paulustradition (FRLANT 146), Göttingen 1988, 49–55. Nach den Markioniten bei Irenäus, haer. 3,13:1, gilt Paulus als alleiniger Apostel. 9 Vgl. S. Légasse, L’antipaulinisme sectaire au temps des pères de l’église (CRB 47), Paris 2000. 10 Vgl. Th. Schmeller, Kollege Paulus, ZNW 88 (1997) 260–283; Wehr, Petrus (s. Anm. 4) 126 f; 377–379.
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Ein Seitenblick auf die griechischen und ostkirchlichen Traditionen ergänzt die bisherigen Überlegungen. Hier begegnet gelegentlich auch das, was im römisch bestimmten Westen weniger zu erwarten ist: die Dominanz des Paulus gegenüber Petrus, namentlich bei Johannes Chrysostomos.11 Der Schluss ergibt sich: Die neue ökumenische Verständigung über Paulus variiert die traditionsreiche Geschichte, die die Katholizität des Paulus in seiner komplexen Zuordnung zu den übrigen Aposteln, zumal zu Petrus, heraushebt. Im Hintergrund steht der zentrale Gedanke der Komplementarität von Paulus und der übrigen urchristlichen Zeugen, zumal der Evangelien. Umgekehrt müssen sich die Kirchen aber fragen, ob das Evangelium unter ganz bestimmten Umständen nicht auf eine Alternative zwischen Paulus und den anderen Zeugen hindrängt. Gerade eine neutestamentliche Theologie muss herausarbeiten, wie Paulus wenigstens drei grosse Gegenstimmen im neutestamentlichen Kanon hat: Das Matthäusevangelium (wo Petrus die zentrale Jüngerfigur darstellt), der Jakobusbrief und die Apokalypse.12 Etwas anachronistisch und konstruierend könnte man sagen: Das Neue Testament stellt Paulus in eine spannungsvolle Einheit mit den „Säulen“ Petrus, Jakobus und Johannes. 1.2 Der antike Paulus Seit einiger Zeit findet Paulus in der Exegese verstärkt Interesse als Mensch der Gesellschaft seiner Zeit. Man könnte von einer kulturwissenschaftlichen Perspektive sprechen, in der der Apostel und seine urbanen Gemeinden vor dem Hintergrund der mediterranen Welt gezeichnet werden. Paulus erscheint als Exponent wie Kritiker der antiken Gesellschaft. Seine Kreuzes‑ und Rechtfertigungstheologie lassen sich etwa als Kulturkritik in Anspruch nehmen, dergestalt, dass er grundlegende Orientierungsgrössen und Wertmassstäbe der hellenistisch-römischen Gesellschaft problematisiert. Zu denken ist an sozialgeschichtliche Analysen mit ihrem besonderen Augenmerk auf die ungeheure Rolle von Rang und Status in der kaiserzeitlichen Gesellschaft oder an kulturanthropologische Trends
11 Vgl. M. M. Mitchell, The Heavenly Trumpet. John Chrysostom and the Art of Pauline Interpretation (HUTh 40), Tübingen 2000, 394 f, mit dem Verweis auf das Gegenstück, die genaue Symmetrie bei Pseudo-Chrysostomos. 12 Zur antipaulinischen Frontstellung der Apk s. J.-W. Taeger, Begründetes Schweigen: Paulus und paulinische Tradition in der Johannesapokalypse, in: M. Trowitzsch (Hg.), Paulus, Apostel Jesu Christi, FS G. Klein, Tübingen, 1998, 187–204. In Bezug auf Jak ist es seit langem umstritten, ob er wirklich auf Paulus und seine Theologie reagiert, bejaht z. B. von F. Avemarie, Die Werke des Gesetzes im Spiegel des Jakobusbriefs. A Very Old Perspective on Paul, in: ders., Neues Testament und frührabbinisches Judentum (WUNT 316), Tübingen 2013, 671–699. Demgegenüber scheint das Matthäusevangelium nicht gegen Paulus Stellung zu beziehen, auch wenn sich fragen lässt, ob die hier rezipierten judenchristlichen. Traditionen auf Auseinandersetzungen um das paulinische Evangelium zurückgehen (Mt 5,17–19; evtl. 13,25).
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Paulus zwischen Exegese und Wirkungsgeschichte
mit ihrem Fokus auf den grundlegenden Kategorien von Schande und Ehre.13 Dazu kommen engagierte Ansätze, die emanzipatorische Potentiale in den paulinischen Texten wie in seinen Gemeinden auszuloten trachten.14 Paulinische Theologie lässt sich derart als kritische Theorie in Anspruch nehmen, die sich von einer traditionellen, konservativen Paulusdeutung absetzt. Aus der Fülle überkommener Paulusporträts und Paulusinterpretationen wenden wir uns drei exemplarischen Texten zu. Im späten zweiten Jahrhundert stellt das Martyrium Pauli, der Schlussteil der Paulusakten, die Antithese zwischen römischer Herrschaft und Gottesreich sinnenfällig in der Konfrontation von Kaiser Nero und Paulus heraus. Der Apostel und seine Anhänger kontrastieren die Militärgewalt des römischen Princeps mit der Herrschaft des Königs Jesus Christus; die irdische Herrschaft Roms wird bald im Feuer untergehen. Die Macht des lebendigen Gottes bezeugt sich in Wundertaten, zumal in Totenerweckungen. Diese harte antirömische Linie steht in markanter Differenz zur ‚politischen Apologetik‘ der Apg und aktualisiert augenscheinlich die Schreckenserfahrungen mit dem Christenverfolger Nero. Die kritische Position hat in den übrigen Teilen der Paulusakten insofern eine sachliche Entsprechung, als dort die Enthaltsamkeit als dominierendes Motiv der paulinischen Predigt herausgestrichen wird und zumal bei Frauen auf grosse Resonanz stösst. Interessanterweise wird weder hier noch dort explizit auf paulinische Texte verwiesen.15 Während bei Paulus für die romkritische Tendenz lediglich indirekte Haftpunkte auszumachen sind, mit dem überaus starken Gegengewicht nicht nur vom Röm 13, sondern auch der – für paulinisch gehaltenen – Pastoralbriefe (1 Tim 2,2!), bietet 1 Kor 7 durchaus einen wirkungsmächtigen Anhalt für die Askese, wiederum konterkariert durch Eph 5,25–33 und die Tendenz in den Pastoralbriefen. Wir springen zum Ende des vierten Jahrhunderts, wo Johannes Chrysostomos anlässlich des antiochenischen Weihnachtsfestes sieben Preisreden auf den heiligen Apostel Paulus hielt.16 Die Paulusporträtierung des Johannes hat die ihr gebührende Würdigung durch M. Mitchell gefunden. Als herausragende 13 Vgl. z. B. B. J. Malina / J. H. Neyrey, Portraits of Paul. An Archaeology of Ancient Personality, Louisville 1996; D. Boyarin, A Radical Jew. Paul and the Politics of Identity, Berkeley 1994; B. Witherington, The Paul Quest. The Renewed Search for the Jew of Tarsus, Downers Grove 1998; Ch. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive (FRLANT 185), Göttingen 1999; J. G. Gager, Reinventing Paul, Oxford 2000. 14 Vgl. z. B. N. Elliott, Liberating Paul. The Justice of God and the Politics of the Apostle, Maryknoll 1994; C. Janssen / L. Schottroff / B. Wehn (Hg.), Paulus. Umstrittene Traditionen – lebendige Theologie. Eine feministische Lektüre, Gütersloh 2001. 15 Vgl. D. R. MacDonald, Apocryphal and Canonical Narratives about Paul, in: W. S. Babcock, (Hg.), Paul and the Legacies of Paul, Dallas 1990, 55–70, hier: 57–63. Zu beachten ist immerhin die Anspielung auf 1 Kor 7,29 in ActPaulThecl 5 (p. 238,16 f L./B.). 16 Text: A. Piédagnel (Hg.), Jean Chrysostome. Panégyriques de s. Paul (SC 300), Paris 1982. Vgl. Mitchell, Trumpet (s. Anm. 11) 137–172.
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ostkirchliche Stimme verdienen Johannes’ Reden ganz besonderes Interesse, da sie bestimmte westliche Wahrnehmungsverengungen aufzubrechen vermögen. Uns interessiert im Moment nur die Darstellung des Paulus als Verkündiger des Kreuzes, zumal die ‚kulturanthropologische‘ Semantik des Kreuzes sehr eindringlich akzentuiert wird.17 Johannes stellt die Paradoxie rhetorisch brillant heraus: Kreuz und Tod stehen für das Schändlichste und Verwerflichste – und doch strömt alle Welt herzu. Die Brücke zu Paulus, dem Lederarbeiter18 wird geschlagen. Seine soziale Stellung wird extrem niedrig gezeichnet – er ist ein ἰδιώτης (2 Kor 11,6) und ungebildet, lebt in tiefer Armut und erweist sich doch gerade so als der wahre Philosoph. Seine feurige Rede ist voll von Überzeugungskraft und erobert die gesamte Ökumene. Interessant ist nun, wie die mit der Paradoxie arbeitende Predigt von Chrysostomos selbst das vollzieht, wovon sie spricht: Alle Register spätantiker Rhetorik werden in den Dienst einer Sache gestellt, welche die grundlegenden Orientierungsmassstäbe jener Epoche in die Kehre bringt.19 Dies zeigt sich im Übrigen auch darin, wie der Asket Johannes die urbane Gesellschaft seiner Zeit mit hohen sozialethischen Standards konfrontiert.20 Schliesslich kommt der Apostel selbst in den Blick. Die ersten Kapitel des 1 Kor vollziehen einen durchaus entsprechenden Twist: Die Verneinung der Weltweisheit und ihrer Rhetorik geht einher mit einer äusserst wirkungsvollen, wenn auch nicht schulgemäss arbeitenden Rhetorik, und sie erhebt einen Anspruch auf das, was für die späte Antike als Gipfel der Philosophie gelten konnte, auf die Gotteserkenntnis. Das spannungsvolle Ineinander von Entsprechung und gleichzeitigem Widerspruch zur antiken Bildungskultur (programmatisch in Röm 12,1 f), hat immer wieder bedeutsame wirkungsgeschichtliche Folgen gezeitigt, im Fall von Chrysostomos sogar eine kongeniale Entfaltung. Am Rand sei moniert, dass sich ein weiterer aktueller Forschungstrend, der Rhetorical Criticism, mit Vorteil auf wirkungsgeschichtliche Studien einlassen sollte.21 Kühne J. Chrys., laud. Paul. 4,7–20 (SC 300, 196–227). AaO. 4,10 (p. 202 f): Der σκηνοποιός ist περὶ δέρματα τὴν τέχνην ἔχων, vgl. ders., Eutrop. 2,14 (PG 52, 409) ὁ σκηνοποιός, ὁ σμίλην μεταχειριζόμενος, καὶ δέρματα ῥάπτων; scand. 20,10 (SC 79, 248 f) εἷς σκηνορράφος, περὶ δέρματα ἠσχολημένος; hom. 20,6 in 1 Cor. (PG 61, 168) ἐπὶ σκηνοῤῥαφείου ἑστώς, δέρματα ἔῤῥαπτε; hom. 1,2 in Hebr. (PG 63, 15) ἀπὸ τῆς σμίλης γὰρ καὶ τῶν δερμάτων, ἢ τοῦ ἐργαστηρίου; hom. in 2 Cor. 5,17 (PG 64, 25) ὁ σκηνοποιός, ὁ ἐπ᾽ ἀγορᾶς ἑστηκώς, ὁ δέρματα ῥάπτων. Diese wichtigen Zeugnisse, die von einem antiken Stadtbewohner herstammen, wurden in der Diskussion nicht genügend berücksichtigt (R. F. Hock, The Social Context of Paul’s Ministry. Tentmaking and Apostleship, Philadelphia 1980; P. Lampe, „Paulus – Zeltmacher“, BZ 31 [1987] 256–261). 19 Vgl. M. M. Mitchell, Art. Rhetorik. 3: NT, RGG4 7 (2004) 494–496. 20 Vgl. A. M. Ritter, John Chrysostom as an Interpreter of Pauline Social Ethics, in: Babcock, Paul (s. Anm. 15) 183–192. 21 Vorbildlich z. B. M. M. Mitchell, Reading Rhetoric with Patristic Exegetes, in: A. Y. Collins / M. M. Mitchell (Hg.), Antiquity and Humanity. Essays on Ancient Religion and Philosophy, FS H. D. Betz, Tübingen 2001, 333–355. 17 18
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Hypothesen zur rhetorischen Strategie paulinischer Texte könnten sich durch die Autorität der rhetorisch geschulten Kirchenväter verifizieren lassen. Ein letzter Blick gilt Augustinus, dem grossen Zeitgenossen des Johannes im lateinischen Westen. Auch er steht im Trend jener starken Paulusrenaissance, die in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts im Osten wie im Westen zu beobachten ist.22 Paulus hat auf Augustin an mindestens zwei entscheidenden Wegstationen eingewirkt.23 Zum einen steht seine Bekehrung im Jahre 386 ganz im Zeichen Platons und des Apostels. Der christliche Platonismus der Zeit in Mailand und Cassiciacum kreist um den Aufstieg der Seele zu Gott und die Befreiung des inneren Menschen von der Verhaftung an die Sinne. Die Philosophie und der Apostel konvergieren im Ideal der Synthese von Antike und Christentum, von klassischer Kultur und christlichem Leben. In den 390er Jahren kommt es sodann unter dem Einfluss intensiver Paulusstudien zu einer umstürzenden Wende. In der Auseinandersetzung mit dem Manichäismus und später mit den Pelagianern, hier wiederum aufgrund einer erneuten Pauluslektüre, kehrt sich Augustinus vom klassischen Bildungsideal und von der antiken Anthropologie überhaupt in grundlegender Weise ab. Er entdeckt das unausrottbare Böse im Menschen, die unaufhörliche Spannung zwischen Fleisch und Geist, zwischen äusserem und innerem Menschen, die sich lebenslänglich nicht löst. In seiner Auseinandersetzung mit den Pelagianern liest Augustinus Röm 7 als Text, der das Leben der Christen beschreibt – im Unterschied zu seiner eigenen früheren Deutung auf das vorchristliche Sein.24 Das „Ich“ des Paulus lädt damit zu einer autobiographischen Lektüre ein. Zugleich rückt Augustin den Verfolger Paulus in die Mitte, der von Gott zum Apostel berufen wird. Augustin modelliert sogar seine eigene Bekehrung nach dem Vorbild des von Gott grundlos berufenen Verfolgers. Dabei stösst er auf die Macht des göttlichen Wirkens, auf Gottes Gnade, die allen Werken vorausgeht: Paulus wird zu seinem Kronzeugen für das unendliche Gewicht der Gnade Gottes, die das gute Wollen wirkt (1 Kor 4,7; Phil 2,12 f; Röm 9,16; 11,36). Der für uns entscheidende Gesichtspunkt ist die Frage, wie Augustin durch Paulus zum Initiator eines neuen Zeitalters wird, indem er die klassisch-christliche Paideia problematisiert und verabschiedet, während die sich ebenfalls auf Paulus berufenden Pelagianer die alte, im Grund optimistische 22 Vgl. besonders P. Brown, Augustinus von Hippo, dt. Übs. Frankfurt 21982, 88–96; 130–136; 308; 324 f; C. P. Bammel, Tradition and Exegesis in Early Christian Writers (CStS 500), Aldershot 1995, Nr. 16–17; P. Fredriksen, Augustine on Romans (ECLS 6), Chico 1982; dies., Beyond the Body/Soul Dichotomy. Augustine’s Answer to Mani, Plotinus, and Julian, in: Babcock, Paul (s. Anm. 15) 227–251; Mitchell, Trumpet (s. Anm. 11) 411–423. 23 Als Manichäer fand Augustin hingegen noch keinen Zugang zur Bibel (conf. 3,5:9). Entscheidend ist erst die Pauluslektüre im Zusammenhang der Bekehrung, vgl. conf. 7,21:27; 8,12:29 [mit dem Zitat von Röm 13,13 f]).; acad. 2,2:5 f (tunc vero […] se mihi philosophiae facies aperuit). 24 Vgl. die Selbstkritik an der früheren Sicht (Simpl.) in: retr. 2,1:1 (longe enim postea etiam spiritualis hominis – et hoc probabilius – esse posse illa verba [Röm 7,7–25] cognovi).
1. Neue und alte Perspektiven auf Paulus
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Sicht vertreten – übrigens sogar unter ausdrücklichem Rückgriff auf Johannes Chrysostomos’ Paulusauslegung. Es ist unschwer zu sehen, wie in beiden Stationen der augustinischen Pauluslektüre Konfigurationen zum Zug kommen, die wir auch heute als spannungsvolle Momente paulinischer Theologie erkennen. Bei Augustin fällt biographisch auseinander, was wir bei Paulus als komplexes Ineinander zu deuten haben: der Rhetor, Psychagoge und Mystiker Paulus – und der dezidiert theozentrische Paulus, der ganz von Gott her über Gnade, Vorherbestimmung, Freiheit und Rechtfertigung nachdenkt. Die wirkungsgeschichtliche Komplexität steigert sich noch dadurch, dass sich auch die Manichäer auf der einen Seite, die Pelagianer auf der anderen Seite entschieden auf Paulus berufen. 1.3 Der jüdische Paulus Der folgenreichste Umbruch in der jüngeren Paulusforschung verbindet sich mit dem programmatischen Label einer New Perspective. Es fällt auf, dass sie sich von einer alten Perspektive absetzt und also ex negativo ein betont wirkungsgeschichtliches Kriterium zur Sprache bringt: Paulus soll aus dem Korsett der reformatorischen Paulusdeutung befreit werden.25 Die New Perspective demontiert die augustinisch-reformatorische Pauluslektüre gründlich. Paulus wird als Jude, als Apostel Israels, ja sogar also Apostel für Israel, wiederentdeckt.26 Ein Blick auf die Geschichte(n) der Paulusrezeption gibt dem selbstbewussten Innovationsanspruch dieses exegetischen Programms durchaus recht. Die bleibende Bindung des Paulus an sein Volk Israel ist im Gefolge der Konfliktgeschichte von Judentum und Christentum tatsächlich weitgehend vernachlässigt worden, auch wenn man vielleicht weiter auf vereinzelte Lichtflecken im reichen Feld der Wirkungsgeschichte von Röm 9–11 hoffen darf. Im Besonderen ist an den Epheserbrief zu erinnern, der ja das Lebenswerk des Apostels in der Einheit der Kirche aus Juden und Heiden erblickt (vgl. 2,11–22; 4,1–6). Allerdings zeigt auch der Epheserbrief kein Interesse am Israelgedanken. Paulus ist in der Kirche von Anfang an nahezu exklusiv als Apostel der Heiden gefeiert worden. Dies setzt im Kolosserbrief und in den Pastoralbriefen machtvoll ein und bestimmt fortan das Paulusbild grundlegend, zumal in enkomiastischer und hagiographischer Literatur, natürlich mit starkem Anhalt an Paulus’ eigenem Selbstverständnis.
25 Vgl. schon K. Stendahl, Der Jude Paulus und wir Heiden. Anfragen an das abendländische Christentum (KT 36), dt. Übs. München 1978. Für die New Perspective sind besonders wichtig J. D. G. Dunn, Jesus, Paul and the Law, London 1990; ders., The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids 1998; vgl. Ch. Strecker, Paulus aus einer „neuen Perspektive“, KuI 11 (1996) 3–18. 26 Vgl. J. D. G. Dunn, Paul. Apostate or Apostle of Israel?, ZNW 89 (1998) 256–271.
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Zu fragen ist, ob wenigstens die spezifische Redimensionierung der paulinischen Gesetzeskritik wirkungsgeschichtliche Präfigurationen erkennen lässt. Die Fokussierung der New Perspective auf faktisch rituell-kultische Gebote als identity markers erinnert immerhin von fern an altkirchliche Differenzierungen im Gesetz, die v. a. im zweiten Jahrhundert vorgenommen wurden, erinnert im Besonderen an die Unterscheidung von Sittengesetz und Zeremonialgesetz.27 Die Konvergenzen reduzieren sich freilich bei näherem Zusehen ein Stück weit. Erstens lassen sich die Unterscheidungen innerhalb des Gesetzes etwa bei Justin, dem Gnostiker Ptolemaios und bei Irenäus nicht einfach als Gegensatz von Zeremonial‑ und Sittengesetz verorten,28 sondern kombinieren in je verschiedener Weise antike Naturrechtskonzeptionen mit exegetischen Entscheidungen. Zweitens spielen paulinische Texte bei Justin und Ptolemaios gerade keine formative Rolle.29 Vor allem aber fehlt drittens die soziologisch-ekklesiologische Zuspitzung, die die New Perspective auszeichnet. Wenden wir nun den Blick von der generellen Wirkungsgeschichte zur paulinischen Rechtfertigungslehre, so sehen wir uns mit der wohlbekannten Schwierigkeit konfrontiert, dass wir sie auf weite Strecken hin als Geschichte des Ignorierens oder der markanten Umdeutung, wenn nicht gar des Missverstehens, zu schreiben haben. Dieser Sachverhalt könnte der New Perspective insofern Recht geben, als sie die Rechtfertigungslehre ja in einer spezifischen historischen Konstellation der frühen Gemeinden ortet, die durch die Geschichte bald überholt worden wäre. Allerdings deuten die wenigen Reflexe der Rechtfertigungslehre in der nachapostolischen Zeit eher darauf hin, dass sie zwar aus dem Zentrum der Reflexion rückte, aber nirgends lediglich auf die Inklusion der Heiden in Israel reduziert worden wäre.30 Im Blick auf die paulinische Theologie selbst scheint mir der im Ansatz soziologische Reduktionismus der New Perspective dazu zu führen, dass die weiten anthropologischen Dimensionen der paulinischen Rechtfertigungs‑ und Gesetzeslehre ausgeblendet werden, die die Paulusrezeption von Irenäus und Origenes bis zur Reformation produktiv bestimmten.31
27 Vgl. U. Kühneweg, Das neue Gesetz. Christus als Gesetzgeber und Gesetz (MThSt 36), Marburg 1993. 28 Vgl. R. Noormann, Irenäus als Paulus-Interpret (WUNT II/66), Tübingen 1994, 394 ff. 29 Vgl. A. Lindemann, Paulus im ältesten Christentum (BHTh 58), Tübingen 1979, 342. 30 Vgl. Eph 2,5.8–10; 2 Tim 1,9; Tit 3,5.7; Apg 13,38–39; Jak 2,14–26 (?!); 1 Clem 32,4; IgnPol 1,3; Diognet 9,3–4. 31 Sowohl Gal wie besonders Röm lassen erkennen, wie Paulus Rechtfertigung, Gesetz und „Sich-Rühmen“ zu universalen Kategorien ausweitet (vgl. die Rede von „jedem Menschen“, „jedem Fleisch“ oder die Kennzeichnung des Nomos als universale Ordnung, die alle, Juden wie Heiden, betrifft [Röm 2,14 f; Gal 3,13 f; 3,23–4,10; Röm 7,7 ff]).
2. Paulusinterpretation im Zeichen der Wirkungsgeschichte
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2. Paulusinterpretation im Zeichen der Wirkungsgeschichte 2.1 Bilder und Texte Die Wirkungsgeschichte stellt die komplexe Fülle dessen vor Augen, was Paulus für die Kirche darstellt, als Dokument wie als Monument (F. Bovon).32 Wir haben es mit nicht weniger als drei Komplexen zu tun, die sich gegenseitig bestimmen, zum Teil aber auch eine isolierte Wirkung entfalten: erstens das Porträt des Apostels, also seine Vita, zweitens seine Texte, also die kanonische Briefsammlung mit 13 oder 14 Briefen, und drittens das Gesamtphänomen des Apostels und seiner Theologie. Die rezeptionsgeschichtlichen Verhältnisse nehmen sich hier also komplizierter aus als im einfacheren Fall, wo wir einfach von Texten ausgehen können. Da der Epheserbrief (mit seiner starken ekklesiologischen Fortwirkung), Kolosserbrief, Pastoralbriefe und zunehmend auch der Hebräerbrief als Paulustexte gelten, die durch die Erzählungen und Reden der Apostelgeschichte ergänzt werden, gewinnt die Wirkungsgeschichte seiner Gestalt wie seines Werkes eine eigentümliche Breite. Das Feld der Paulusbilder bestimmt etwa den weiten Bereich hagiographischer, liturgischer und ikonographischer Traditionen, wo die Einwirkungen der Briefe oder des theologischen Gebäudes als ganzem teilweise marginal sind.33 Die Paulusakten kommen nahezu ohne inhaltliche Prägung durch paulinische Sprache und Theologie aus, obschon die Briefsammlung ihren Verfassern und Trägerkreisen ohne Zweifel bekannt war. Auch in der Apostelgeschichte sind keine Bezüge auf die Briefe auszumachen, auch wenn man daraus nicht unbesehen schliessen kann, dass Lukas keine Kenntnis von ihnen hatte.34 Viele frühchristliche Schriften berufen sich auf Paulus, ohne dass sie explizit auf seine Texte zurückgreifen. Die Rezeptionsgeschichte der Briefe vollzieht sich umgekehrt oft ohne Bezug zu einer erkennbaren Konzeption von Persönlichkeit und theologischem Profil des Apostels. Die Paulusbriefe sind einfach Teile der heiligen Schrift, die in theologischen und exegetischen Werken so gut wie in kirchenrechtlichen und liturgischen Texten extensiv bearbeitet werden. Nur in bestimmten Konstellationen rückt der Apostel als Person wie als Denker in das Zentrum theologischer, homiletischer und katechetischer Arbeit. Dort werden dann Einzelpassagen seiner Briefe in ein Gesamtbild gerückt und können so zum Katalysator grosser kirchengeschichtlicher Umbrüche werden. Das trifft 32 Vgl. F. Bovon, „Paul comme document et Paul comme monument“, in: J. Allaz (Hg.), Chrétiens en conflit. L’épître de Paul aux Galates, Genf 1987, 54–65 ; M. C. de Boer, Images of Paul in the Post-apostolic Period, CBQ 42 (1980) 359–380. 33 Vgl. besonders E. Dassmann, Paulus in frühchristlicher Frömmigkeit und Kunst (RhWAW.VG 256), Opladen 1982; ders., Aspekte frühchristlicher Paulusverehrung, in: ders. u. a. (Hg.), Chartulae, FS W. Speyer (JbAC.E 28), Münster 1998, 87–103. 34 Vgl. die paulinisierenden Passagen Apg 13,38–39; 20,21.24.28.31–32; 26,18; vgl. auch 16,15; 18,9.14.
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besonders in Zeiten zu, in denen die Identität der Kirche von Grund auf neu bestimmt werden muss (v. a. im 1., 2., 4./5. und 16. Jahrhundert). 2.2 Paulusauslegung als ein Generator von Kontroversen Bereits die frühe Wirkungsgeschichte zeigt, dass sich die Paulusrezeption zu guten Teilen als Auseinandersetzung um das angemessene Paulusverständnis rekonstruieren lässt. Das gilt evidentermassen für das zweite und das vierte Jahrhundert, vielleicht aber bereits für die frühsten Spuren der Paulusrezeption im ersten Jahrhundert. Bereits der erste explizite Reflex auf die paulinischen Briefe, nämlich 2 Petr 3,15 f, zeigt, dass gerade weil Paulus sowohl bei den gnostisierenden Gegnern wie in den grosskirchlichen Kreisen als fraglose Autorität gilt, ein Streit um seine angemessene Auslegung entbrennt; hier in Bezug auf Endzeit‑ und Freiheitsverständnis. Dies provoziert die Frage, ob bereits in den ersten Jahrzehnten nach dem Tod des Apostels die verschiedenen ‚Paulusschulen‘ miteinander um das angemessene Verständnis ihrer Lehrautorität rivalisieren. Man kann eine Analogie zu den Verhältnissen im johanneischen Kreis ziehen, wo einem bekannten Modell zufolge das Johannesevangelium sowohl von Protognostikern wie von der Gruppe, die sich in den Briefen zu Wort meldet, beansprucht wird.35 Die Hypothese einer frühen Auslegungsdebatte lässt sich wie folgt konstruieren: Im Lauf der Jahrzehnte nach dem Tod des Paulus spaltet sich die paulinische Bewegung in eine Linie schöpfungsbejahender ‚Spiritualisten‘ auf (repräsentiert durch Kol, Eph),36 in eine Linie der ‚Orthodoxen‘ (repräsentiert durch Past) und in eine asketisch orientierte Linie – seien es Protognostiker (vgl. 1 Tim 1,20; 2 Tim 2,17 f; 2 Petr 3,16) oder aber Enkratiten (vgl. ActPaul).37 Die Texte können 35 Vgl. z. B. J. Zumstein, Zur Geschichte des johanneischen Christentums, in: ders., Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium (AThANT 84), Zürich 22004, 1–14. 36 So lässt sich die Frage aufwerfen, ob die Polemik von 2 Tim 2,18 gegen die „bereits geschehene Auferstehung“ auf Pauliner im Bereich von Kolosserbrief und Epheserbrief zielt (vgl. Kol 2,12 f; 3,1; Eph 2,5 f; 5,14); vgl. zur Diskussion Lindemann, Paulus (s. Anm. 29) 147. 37 Zu Hypothesen dieses Typs vgl. D. R. MacDonald, The Legend and the Apostle. The Battle for Paul in Story and Canon, Philadelphia, 1983; W. Rordorf, Introduction aux Actes de Paul, in: Bovon / Geoltrain, Écrits (s. Anm. 5) 1120–1122; ders., Was wissen wir über Plan und Absicht der Paulusakten?, in: ders., Lex orandi, lex credendi (Par. 36), Fribourg 1993, 485–493; R. Schwindt, Das Weltbild des Epheserbriefes. Eine religionsgeschichtlich-exegetische Studie (WUNT 148), Tübingen 2002, 503–506; vgl. auch die Kritik von G. Häfner, Die Gegner in den Pastoralbriefen und die Paulusakten ZNW 92 (2001) 64–77. Wolter, Pastoralbriefe (s. Anm. 8) 264 f, weist u. a. darauf hin, dass es keine Anzeichen dafür gibt, dass sich die Gegner der Pastoralbriefe als Pauliner verstanden haben. Demgegenüber hat A. Merz versucht, die intertextuell gelesenen Pastoralbriefe vor dem Hintergrund eines Schulstreits um das Pauluserbe zu deuten: Die fiktive Selbstauslegung des Paulus (NTOA/StUNT 52), Göttingen / Fribourg 2004, 208–222.
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eine derartige Hypothese freilich nicht hinreichend stützen. Immerhin wird an einer anderen Stelle doch ein Dissens in der Paulusinterpretation erkennbar: Der 2. Thessalonicherbrief versucht durch Pseudepigraphie die angemessene Lektüre des 1. Thessalonicherbriefs zu sichern; dabei scheint er sich von einem anderen, nicht erhaltenen paulinischen Pseudepigraphon abzusetzen (vgl. 2 Thess 2,2).38 Was wir für das erste Jahrhundert nur vermuten können, tritt nun im zweiten Jahrhundert markant vor Augen: Gnosis und Grosskirche rivalisieren um die angemessene Paulusinterpretation. Voraussetzung beider Positionen ist die weitgehend unangefochtene Geltung und Autorität des Apostels. Frühere Theorien, denen zufolge die Grosskirche den ihr lange suspekten Paulus erst mühsam den Gnostikern entreissen musste, haben sich nicht halten können.39 Im Gegenteil, Paulus übt sowohl in grosskirchlichem wie im gnostischen Milieu (darunter besonders bei Valentinianern und natürlich den Markioniten) einen markanten Einfluss aus – aber fast immer im Verein mit anderen apostolischen Zeugen. Wieder scheint sich hier zu bestätigen, was für die Wirkungsgeschichte des Johannesevangeliums gilt: Es gibt eine intensive Auseinandersetzung um das angemessene Verständnis der Autorität, die die Gruppenidentität stiftet.40 Nicht zufällig entstehen im Kontext dieser Debatten die ersten, uns nur fragmentarisch erhaltenen Paulusbriefkommentare.41 Zur Zeit der Paulusrenaissance im vierten Jahrhundert schliesslich, wo auch die Kommentierung in Schwung kommt, lässt sich beobachten, wie der Apostel von ganz verschiedenen und heftig miteinander streitenden Parteien als Kronzeuge für die jeweils eigenen Lehrbildungen ins Feld geführt wird – zumal im Westen bei afrikanischen Manichäern, bei Pelagius und Augustin.42 38 Vgl.
Th. Schmeller, Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit (HBS 30), Freiburg 2001, 248–253. 39 Die irreführende Sicht von Paulus als haereticorum apostolus (so Tertullian, Marc. 3,5:4) wird auch noch vertreten von E. H. Pagels, The Gnostic Paul, Philadelphia 1975, 159–162. Den Gegenbeweis liefern E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch. Paulus in der frühchristlichen Literatur bis Irenäus, Münster 1979; Lindemann, Paulus (s. Anm. 29); ders., Der Apostel Paulus im 2. Jahrhundert, in: ders., Paulus, Apostel und Lehrer der Kirche, Tübingen 1999, 294–322. 40 Ob das Vierte Evangelium anders als im Fall des Paulus wirklich erst mühsam von der Grosskirche zurückerobert werden musste, wäre nochmals zu prüfen. 41 Es gibt keine klaren Indizien für gnostische Paulus-Kommentare (vgl. aber K. Koschorke, Paulus in den Nag Hammadi Texten, ZThK 78 [1981] 177–205, hier: 204 f). Nicht erhalten sind die Hypotyposeis von Clemens; nur teilweise erhalten, aber von grösster Bedeutung ist der Kommentar zum Römerbrief von Origenes. Erst bei diesem wird die professionelle alexandrinische Kommentartechnik in breitem Umfang für die Bibelauslegung fruchtbar gemacht; vgl. dazu Ch. Markschies, Origenes und die Kommentierung des paulinischen Römerbriefs, in: ders., Origenes und sein Erbe. Gesammelte Studien (TU 160), Berlin 2007, 63–89. 42 Brown, Augustinus (s. Anm. 22) hat gesprochen von der „Generation des heiligen Paulus“ (130; vgl. 88). Neben Augustin und Pelagius ist auch zu verweisen auf die Pauluskommentierung durch Hieronymus, Marius Victorinus, den Ambrosiaster sowie den anonymen sogenannten Budapester Pauluskommentar (dazu vgl. H. J. Frede [Hg.], Ein neuer Paulustext und Kommentar, 2 Bde. [VL 7/8], Freiburg 1973/1974).
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Paulus zwischen Exegese und Wirkungsgeschichte
Blenden wir von diesen Beobachtungen zu unserer eigenen neuzeitlichen Paulusauslegung zurück, so lassen sich zwei Punkte herausheben. Zum einen setzen die kirchlichen Debatten um die angemessene Paulusinterpretation etwas von dem fort, was in der Pragmatik der paulinischen Briefe angelegt ist: Paulus selbst muss sich in einigen seiner Briefe mit Deutungen seiner Botschaft auseinandersetzen. Der 1. Korintherbrief lässt sich als Diskussion mit einer Gemeinde lesen, die sehr verschiedene Auslegungen der apostolischen Gründungspredigt kultiviert hat; dazu kommt sogar die Selbstdeutung eigener früherer Briefe (1 Kor 5,9–11; vgl. 2 Kor 2,3 f.9; 7,8–12). Der Römerbrief wehrt umgekehrt ein Fehlverständnis des paulinischen Evangeliums ab. Der Vorteil, den die in dieser Hinsicht gelesenen Paulusbriefe gegenüber allen späteren Auslegungsdiskussionen mit sich bringen, ist evident: Paulus deutet sich hier selbst. Nach seinem Tod jedoch ist diese direkte Selbstdeutung fortan nicht mehr möglich. Die pseudepigraphischen Briefe versuchen deshalb, den Abwesenden je neu in die Gegenwart sprechen zu lassen.43 Zum anderen sensibilisiert die konflikthafte Auslegungsgeschichte für einen charakteristischen Zug des paulinischen Vermächtnisses: Die Strittigkeit seiner Deutungen weist auf die Streitbarkeit des Apostels selbst zurück. Es ist ja eine herausragende Eigenart paulinischen Denkens, prägnante Antithesen zu erzeugen und scharfe Grenzziehungen zu provozieren. Die Wirkungsgeschichte entfaltet hier Facetten des Ursprungsphänomens. Sie macht uns aufmerksam auf die komplexe Fülle des Phänomens Paulus, seiner Person wie seines Werks. 2.3 „Die mannigfaltige Weisheit Gottes“ (Eph 3,10) Die Wahrnehmung der wirkungsgeschichtlichen Vielfalt, die auf Person und Werk des Paulus zurückgeht, stellt die Frage nach dem jeweiligen Wahrheitsanspruch und damit nach dem „echten“ Paulus. Das Ethos historisch-kritischer Exegese besteht darin, aus den wirklichen oder möglichen Paulusauslegungen die richtige und wahre zu gewinnen. Faktisch hat sich die neuzeitliche Exegese als Emanzipation von traditionellen Deutungsspielarten vollzogen: Der Paulus der Briefe wird abgegrenzt vom Paulus der kirchlichen Traditionen einschliesslich der Apostelgeschichte; der authentische Paulus wird abgegrenzt vom pseudepigraphischen Paulus. Ein guter Teil der älteren rezeptionshistorischen Arbeiten schreibt dementsprechend die Wirkungsgeschichte des Paulus als Geschichte fortgesetzten Missverstehens.44 43 Vgl. Kol 2,1–5; 1 Tim 3,14 f, wo der Brieftopos von 1 Kor 5,3 variiert wird. Vgl. H. D. Betz, Paul’s second Presence in Colossians, in: T.Fornberg / D. Hellholm (Hg.), Texts and Contexts. Biblical Texts in Their Textual and Situational Contexts, FS L. Hartman, Oslo 1995, 507– 518. 44 Vgl. z. B. E. Aleith, Paulusverständnis in der alten Kirche (BZNW 18), Berlin 1937; zurückhaltender W. Schneemelcher, Paulus in der griechischen Kirche, ZKG 75 (1964) 1–20; vgl. die
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Seit einiger Zeit hat sich hier nun ein grundlegender Perspektivenwechsel angebahnt. Statt an der Krisis orientiert man sich an der Kreativität, an die Stelle des Differenzkriteriums tritt das Kontextkriterium. Wirkungsgeschichtliche Hermeneutik versucht, Auslegungen als Explikationen in jeweils neuen Kontexten zu verstehen, die ihrerseits die Wahrnehmung für die Vielfalt der Ursprungsphänomene schärfen. Dieser Paradigmenwechsel kommt besonders bei der Paulusrezeption zum Tragen. Die vielfältigen Paulusinterpretationen in der Geschichte der christlichen Kirchen aktualisieren jeweils Momente der komplexen Vielfalt der Person und des Werks des Apostels. Bereits die ersten Texte der paulinischen ‚Schulen‘ versuchen das paulinische Evangelium in neuen Kontexten zu reformulieren. Das Interesse verschiebt sich an diesem Punkt von der älteren Frage, was den originalen Paulus von den Pseudepigraphen unterscheidet, zur neueren Frage, wie „Paulus“ in einer neuen geschichtlichen Situation angemessen zur Sprache gebracht wird. Man könnte dies z. B. daran zeigen, wie Kolosserbrief, Epheserbrief, Pastoralbriefe und Apostelgeschichte je auf ihre Weise Paulus in das Evangelium selbst einzeichnen,45 ihn also zum mehr oder weniger exklusiven Mittler des Heils machen. Diese Paulus-Vergegenwärtigung schliesst sich dabei sehr eng an das in den authentischen Briefen erkennbare Selbstverständnis des Apostels an (besonders 2 Kor 2,14–7,4), allerdings unter markanter Verschiebung der Akzente. Der Perspektivenwechsel bietet sich folgerichtig auch in der Paulusexegese selbst mit Gewinn an. Es ist einmal nicht mehr ratsam, die mannigfaltige Fülle paulinischen Denkens auf einzelne Figuren wie die Rechtfertigungslehre, die Kreuzestheologie oder die ‚Mystik‘ zu reduzieren oder mit Hilfe von Entwicklungsmodellen in eine Zeitfolge zu bannen. Die hermeneutische Herausforderung besteht vielmehr darin, zu zeigen, wie Paulus sein Verständnis des Evangeliums von der rettenden Alleinwirksamkeit Gottes in Jesus Christus in verschiedenen Kontexten und Situationen zu entfalten versucht. Diese Vielfalt erzeugt den Eindruck einer Polymorphie (vgl. 1 Kor 9,19–23), die nicht erst die Ausleger des Apostels, sondern bereits seine Gemeinden gelegentlich irritiert zu haben scheint. Sodann erinnert uns die Wirkungsgeschichte daran, dass uns auch dieses so komplexe Ursprungsphänomen immer nur in rezeptionsgeschichtlich vermittelter Gestalt zugänglich ist, also in gewissem Ausmass bereits als Rezeptionskonstrukt anzusprechen ist. Das wird besonders deutlich durch die Selektion der Briefe, die die frühen Redaktoren der Briefsammlungen vorgenommen haben und hinter die wir nicht zurückgehen können. Kritik bei E. Benz, Das Paulus-Verständnis in der morgenländischen und abendländischen Kirche, ZRGG 3 (1951) 289–309; M. F. Wiles, The Divine Apostle. The Interpretation of St. Paul’s Epistles in the Early Church, Cambridge 1967, 1 f; 139. 45 Vgl. Kol 1,23b–29; 3,1–13; 1 Tim 1,12–17; 2,4–7; 2 Tim 1,6–14; Tit 1,1–3; dazu der Gesamtaufriss der Apg, worin Paulus die Kontinuität der gegenwärtigen Kirche, die sich bis „zu den Enden der Erde“ ausbreitet, mit ihrem Ursprung in Jerusalem repräsentiert (1,8; vgl. 20,17–35).
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Paulus zwischen Exegese und Wirkungsgeschichte
Rückblickend zeigt sich: Die Versuchung wirkungsgeschichtlicher Hermeneutik liegt gerade im Fall des Paulus in einem anything goes. Die kontroverse Gestalt des Apostels stellt uns aber zugleich vor Entscheidungen. Ich möchte deshalb für eine Interpretation plädieren, die Paulus als Träger kritischer Impulse gegenüber Theologie, Kirche und Gesellschaft zum Zug bringt. Das ist durchaus im Sinn jener klassischen Perspektive zu verstehen, die für mich als einen von der Reformation bestimmten Theologen richtungsweisend ist, also in der Stossrichtung der Kreuzestheologie und der Rechtfertigungslehre. Dabei muss es sich um einen reflexiven Positionsbezug handeln, der im Bewusstsein eigener Kontextualität auch um die Wahrheitsansprüche anderer Interpretationen weiss. Dann aber darf ich so parteilich sein wie Johannes Chrysostomos, der „den seligen Paulus am allermeisten“ liebte.46 Wir schliessen mit den Schlussworten des Paulusbuchs von Eduard Lohse, einem der massgeblichen Erforscher des Apostels aus jener grossen Generation, die noch unter uns weilt und wirkt: „Eine alte rabbinische Erzählung spricht davon, wie Schriftgelehrte unterschiedliche Auffassungen vertraten und gegeneinander geltend machten. Hinten in der achten Reihe der Schule aber habe ein alter Mann gesessen, der die Diskussion zwar aufmerksam verfolgte, ihre Gründe und Gegengründe aber nicht voll zu verstehen vermochte. Als der Lehrer dann von seinen Schülern gefragt wurde, woher er denn sein Wissen habe, antwortete er: Dies sei eine Mose am Sinai überlieferte Lehre. Da wurde der alte Mann ruhig; denn er war kein anderer als Mose, der den Auseinandersetzungen zugehört hatte, wie die Gelehrten sie geführt hatten (bMen 29b). Man könnte diese Geschichte auch auf den Apostel Paulus anwenden. Da wogt der Streit der Meinungen hin und her. Doch kaum bemerkt und nicht erkannt, sitzt ein alter Mann im Hintergrund und verfolgt, wie Ansicht gegen Ansicht gestellt wird und es nur mühsam gelingen will, zu einer Übereinkunft zu gelangen. Doch wenn dann einer sich darauf beruft, so habe einst der Apostel gesprochen, dann geht hoffentlich ein Leuchten über die von Leiden gezeichneten Züge des Zuhörers. Denn über den weiten Abstand der Jahrhunderte hinweg gelangt ein Echo zu Gehör, das aus der Christenheit zurückkommt zum Lehrer der Kirche, der ihre Anfänge prägend bestimmt hat.“47
46 J. Chrys., hom. 1 in 2 Cor. 11,1 (ἅπαντας μὲν φιλῶ τοὺς ἁγίους, μάλιστα δὲ τὸν μακάριον Παῦλον, τὸ σκεῦος τῆς ἐκλογῆς, τὴν σάλπιγγα τὴν οὐράνιον, τὸν νυμφαγωγὸν τοῦ Χριστοῦ: PG 51, 301 = Montfaucon 23, 347), woher das Motto wie der Titel von Mitchell, Trumpet (s. Anm. 11) 1, stammen. 47 E. Lohse, Paulus, München 1996, 297.
„Archetyp der Vollkommenheit“ Die Lebenswende des Paulus nach der patristischen Lektüre von Phil 3 (Johannes Chrysostomos und Augustin). Ancient Perspectives im Gespräch mit der „New Perspective“ Abstract “An Archetype of Perfection.” The Turning Point in Paul’s Life according to Patristic Readings of Phil 3 (John Chrysostom and Augustine). Ancient Perspectives in Dialogue with the “New Perspective” The article deals with the reception history of Phil 3 by treating two representative exegetes of the ancient church, that is John Chrysostom in the east and Augustine in the west. Paul serves as an outstanding model for Christian life regarding both. At the same time, it is argued that John is closer to the “New Perspective” in certain respects than Augustine, with whom the so-called old perspective begins to develop.
Einem bekannten Herrenwort zufolge ist ein christlicher Schriftgelehrter „einem Hausherrn gleich, der Neues und Altes aus seiner Schatzkammer hervorholt“ (Mt 13,52). Dabei kann man die Erfahrung machen, dass das Neue, also die neueste und avancierteste Exegese, durchaus der Würdigung des Alten zugutekommt. Dies gilt zumal für die Verhältnisbestimmung von „neuer“ und „alter“ Perspektive, die die gegenwärtige Paulusexegese dominiert.1 Dabei kommt die New Perspective on Paul („NPP“) durchaus schon etwas angegraut einher, um ein Bonmot von Christine Gerber aufzunehmen.2 Tatsächlich haben sich die programmatischen Antithesen während der dichten Aufeinanderfolge von Sammelbänden ein Stück weit verflüssigt.3 Dies gilt in noch höherem Mass dann, wenn man die ganze Breite der Wirkungsgeschichte paulinischer Porträts und Briefe mit einbezieht. Dabei zeigt sich schnell, dass die New Perspective zwar mit beachtenswerten Argumenten Stereotype in der bisherigen Forschung benannt, 1 Vgl. zur historischen Verhältnisbestimmung St. Westerholm, Perspectives Old and New on Paul. The „Lutheran“ Paul and His Critics, Grand Rapids 2004, hier besonders zu Augustin: 3–21. 2 Ch. Gerber, Blicke auf Paulus. Die New Perspective on Paul in der jüngeren Diskussion, VF 55 (2010) 45–60, hier: 46. 3 Zur Diskussionslage vgl. den Sammelband von M. Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive. Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion (WUNT 182), Tübingen 2005; ferner: M. Bachmann, J. D. G. Dunn und die Neue Paulusperspektive, in: ders., Von Paulus zur Apokalypse – und weiter. Exegetische und rezeptionsgeschichtliche Studien zum Neuen Testament (NTOA 91), Göttingen 2011, 161–179.
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aber ihrerseits auch wiederum mit Zerrbildern der reformatorischen Theologie operiert hat.4 Der Blick in die geschichtliche Tiefe erlaubt aber noch weit mehr Ausdifferenzierung. Statt lediglich zwei Perspektiven gegeneinander auszuspielen, wird man eines breiten Spektrums von Paulusbildern und Paulusauslegungen ansichtig, die sich vielfach ergänzen und bereichern. Die Aufgabe einer wirkungsgeschichtlichen Hermeneutik besteht dann darin, die Fülle der Interpretationen in ein kritisches Gespräch mit den genuinen Texten zu bringen und nach ihrer Wahrheit zu fragen.5 In den nachstehenden Zeilen soll es um weit weniger gehen. Ich unternehme den Versuch, die Ancient Perspective hinsichtlich eines konkreten Texts darzustellen.6 Dass sich die Ancient Perspective dabei unter der Hand in eine bunte Pluriformität verwandelt hat, also angemessener als Ancient Perspectives zu etikettieren ist, war von vornherein zu erwarten. Trotzdem ist die Sensibilisierung, die die New Perspective in Bezug auf bestimmte exegetische Grundentscheidungen geweckt hat, wertvoll. Sie gibt uns so etwas wie einen Kompass mit auf den Weg, wenn wir uns in der verwirrenden Fülle überlieferter Paulusinterpretationen ein Stück weit orientieren wollen. Wer immer die Wirkungsgeschichte biblischer Texte aufzuarbeiten beginnt, sieht sich mit einer gewaltigen Massierung an Materialien konfrontiert. Vielfach weiss man nicht, ob die Selektionen, die man vornimmt, überhaupt angemessen und repräsentativ sind. Die Massstäbe, die an einen Band des Novum Testamentum Patristicum gestellt werden, sind entsprechend hoch. Anders steht es mit einem Werkstattbericht, wie er hier vorgelegt wird. Dieser verschreibt sich mit guten Gründen einem Vorgehen, das dem Verfasser eines Bands des Novum Testamentum Patristicum grundsätzlich verwehrt ist: nämlich dem Arrangement und der Argumentation einiger weniger Texte nachzugehen, die im besten Fall als einigermassen repräsentativ für die gesamte altkirchliche Wirkungsgeschichte gelten können. Wir werden uns im Folgenden von der New Perspective einige Fragestellungen vorgeben lassen, um dann in zwei Gängen je einen 4 Vgl. die Problemanzeigen durch W. Härle, Paulus und Luther. Ein kritischer Blick auf die „New Perspective“, ZThK 103 (2006) 362–393; Ch. Landmesser, Umstrittener Paulus. Die gegenwärtige Diskussion um die paulinische Theologie, ZThK 105 (2008) 387–410. 5 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Paulus zwischen Exegese und Wirkungsgeschichte, in: M. Mayordomo (Hg.), Die prägende Kraft der Texte. Hermeneutik und Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments (SBS 199), Stuttgart 2005, 142–159, Abdruck in diesem Band: 507–522; M. Meiser, Vom Nutzen der patristischen Exegese, in: D. C. Bienert / J. Jeska / Th. Witulski (Hg.), Paulus und die antike Welt (FRLANT 222), Göttingen 2008, 189–209; sodann exemplarisch zum Philipperbrief M. Bockmuehl, A Commentator’s Approach to the ‚Effective History‘ of Philippians, JSNT 60 (1995) 57–88. 6 Dabei ist die Ancient Perspective zu unterscheiden von der Old Perspective. Diese stellt die negative Folie dar, die die New Perspective als ihr Gegenüber konstruiert und mit normativen Werturteilen versehen hat. Demgegenüber handelt es sich bei der Ancient Perspective um eine absichtlich unscharf gehaltene deskriptive Sammelkategorie.
1. Einstieg: Neue Perspektiven auf Phil 3
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Typ der griechischen und der lateinischen Paulusexegese näher in Augenschein zu nehmen.7 Selbstredend hat die „NPP“ überaus unterschiedliche Beurteilungen erfahren. In unserem Zusammenhang verdienen besonders die beiden gegensätzlichen Statements von Altmeistern ihres Fachs Aufmerksamkeit. Auf der einen Seite steht Tom Wright: „Despite a long tradition to the contrary, the problem Paul addresses in Galatians is not the question of how precisely someone becomes a Christian, or attains to a relationship with God. […] The problem he addresses is: should his ex-pagan converts be circumcised or not? Now this question is by no means obviously to do with the questions faced by Augustine and Pelagius, or by Luther and Erasmus.“8 Die andere Position vertritt Martin Hengel: „Auch wenn heute gerne das Gegenteil behauptet wird, das eigentliche Wesen der paulinischen Theologia, das sola gratia geschenkte Heil, hat niemand besser als Augustinus und Martin Luther verstanden. Trotz dieser rigorosen Umwertung aller bisherigen Werte und Ideale (Phil 3,7–11) bleibt die paulinische Theologie – und damit zugleich auch die christliche – aufs engste mit der jüdischen verbunden. Ihre einzelnen Bausteine und ihre Denkstruktur stammen nahezu ausschliesslich aus dem Judentum. Diese allzu umstürzende Wende wird gerade darin sichtbar, dass bisherige theologische Anschauungen in ihrer kritischen Umkehrung als negative Folie präsent bleiben und die Fronstellung der neuen Position mitbestimmen.“9
1. Einstieg: Neue Perspektiven auf Phil 3 Wir halten uns an den Archegeten der New Perspective, an James D. G. Dunn.10 Er stellt zu Recht das Folgende fest: Die Kontroversen rund um die New Perspective haben sich v. a. auf den Römer‑ und Galaterbrief bezogen, weil diese von der Rechtfertigungsthematik sowie der Verhältnisbestimmung von Juden und Heiden dominiert werden. Phil 3 hat demgegenüber weit weniger Beachtung gefunden. Das ist bedauerlich, weil gerade dieser Text erlaubt, bestimmte Polarisierungen zu unterlaufen und vermeintlich inkonsistente Tendenzen der paulinischen Theologie aufeinander zu beziehen.
7 Vgl. zur Paulusrezeption in der Alten Kirche die Hinweise in: M. F. Wiles, The Divine Apostle. The Interpretation of St Paul’s Epistles in the Early Church, Cambridge 1967; E. Dassmann, Der Stachel im Fleisch. Paulus in der frühchristlichen Literatur bis Irenäus, Münster 1979; S. Vollenweider, Art. Paulus, RGG4 6 (2003) 1035–1065, hier: 1054–1065; W. Wischmeyer, Die Rezeption des Paulus in der Geschichte der Kirche, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe (UTB 2767), Tübingen 22012, 398–408. 8 N. T. Wright, What Saint Paul Really Said, Grand Rapids 1997, 120. 9 M. Hengel, Der vorchristliche Paulus, in: ders., Paulus und Jakobus. Kleine Schriften, Bd. 3, (WUNT 141), Tübingen 2002, 68–192, hier: 181. 10 J. D. G. Dunn, Philippians 3.2–14 and the New Perspective on Paul, in: ders., The New Perspective on Paul. Collected Essays, Rev. Edition, Grand Rapids 2008, 469–490. Vgl. ders., The Justice of God. A Renewed Perspective on Justification by Faith, aaO. 193–212.
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Für die Exegese von Phil 3, genauer für die Schilderung der Wende im Leben des Briefverfassers, hat der schottische Exeget namentlich zwei Punkte herausgearbeitet, die für die New Perspective charakteristisch sind: 1. Die „alte Perspektive“ hat vor allem auf die Selbstgerechtigkeit des Menschen fokussiert, also auf die selbst gemachte Gerechtigkeit. Das zeigt sich namentlich in der Gewichtung der Vorzüglichkeit, die Paulus im ersten Teil des Kapitels in einer überlegten Abfolge zur Sprache bringt (V. 4–11). Die New Perspective stellt hingegen heraus, dass sich Paulus’ Rühmen entscheidend dreht um seinen Status als Teilhaber am jüdischen Volk, dem Bund, Tora und Gerechtigkeit von Gott zugeeignet worden sind. Sie legt das Gewicht also auf V. 4–6 und deutet von da her die Gerechtigkeit im Gesetz. Um es anders zu formulieren: Der Akzent ruht hiernach auf dem identitätsstiftenden „Haben“ (samt der Verweigerung des Teilens), nicht auf dem „Machen“; es geht um Status, nicht um Leistung. 2. Die New Perspective hat die Frage nach dem Charakter der Bekehrung des Paulus neu aufgeworfen.11 Wir beschränken uns auf den Hinweis, dass Dunn verschiedene Optionen anbietet und demontiert, darunter die Modelle der Konversion vom Judentum zum Christentum, vom Gesetz zum Evangelium und schliesslich von der Eigengerechtigkeit zur Gottesgerechtigkeit. Wir werden diese beiden Fragestellungen im Blick haben, wenn wir uns nun den Ancient Perspectives auf Phil 3 zuwenden.12 Sie werden durch zwei herausragende und exegetisch versierte Lehrer der Kirche repräsentiert, durch den Griechen Johannes Chrysostomos und den Lateiner Augustin.
2. Phil 3 in der Auslegung des Johannes Chrysostomos Die 16 Homilien des Chrysostomos, vorgetragen kurz vor 400 n. Chr. in Konstantinopel,13 legen den gesamten Brief aus. Ihr exegetischer Wert ist hoch zu 11 Vgl. dazu M. Konradt, Bekehrung – Berufung – Lebenswende. Perspektiven auf das Damaskusgeschehen in der neueren Paulusforschung, in: T. Nicklas / A. Merkt / J. Verheyden (Hg.), Ancient Perspectives on Paul (NTOA/StUNT 102), Göttingen 2013, 96–120; sodann speziell J. D. G. Dunn, Paul’s Conversion. A Light to Twentieth Century Disputes, in: ders., New Perspective (s. Anm. 10) 347–365. 12 Die These von V. Koperski, The Knowledge of Christ Jesus My Lord. The High Christology of Philippians 3:7–11 (CBET 16), Kampen 1996, 5 f, wonach sich die älteste Rezeption von Phil 3,8–11 im Neuen Testament selber, in 2 Petr 3,17 f, finde, ist nicht haltbar. 13 Zum zeitgeschichtlichen Hintergrund vgl. R. Brändle, Johannes Chrysostomus. Bischof – Reformer – Märtyrer, Stuttgart 1999, 57–120; spezifisch zur Predigttätigkeit in Konstantinopel C. Tiersch, Johannes Chrysostomus in Konstantinopel (398–404). Weltsicht und Wirken eines Bischofs in der Hauptstadt des Oströmischen Reiches (STAC 6), Tübingen 2002, 65–71; zur Entstehungszeit der Homilien zu Phil s. J. N. D. Kelly, Golden Mouth. The Story of John Chrysostom. Ascetic, Preacher, Bishop, Ithaca 1995, 132 f; für die Frühdatierung in Antiochia votiert Ch. Baur, Der heilige Johannes Chrysostomus und seine Zeit, Bd. 1, München 1929, 250. Vgl. auch A. Heiser, Die Paulusinszenierung des Johannes Chrysostomus. Epitheta und ihre Vorgeschichte (STAC 70), Tübingen 2012, besonders 12–16 („Die ‚Paulusbegeisterung‘ aus
2. Phil 3 in der Auslegung des Johannes Chrysostomos
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veranschlagen, nicht nur im Blick auf Interpretationsfiguren und Textvarianten, sondern auch im Blick darauf, den heutigen Rhetorical Criticism zu testen: Wie die rhetorisch versierten Theologen der Alten Kirche mit ihren oft sperrigen Texten umgehen, kann vielfach als Case Study für die Wahrscheinlichkeit bzw. Angemessenheit moderner rhetorischer Analysen dienen.14 Das ist etwa im Hinblick auf den bekannten Tonwechsel am Anfang von Phil 3 von Interesse.15 Unsere Aufmerksamkeit gilt jetzt aber einem anderen Komplex, nämlich der Behandlung des Katalogs von Vorzügen in V. 4–6 durch den Kirchenlehrer. Johannes stellt klar heraus, dass zunächst die Rede ist von der edlen Herkunft des Paulus, seiner εὐγένεια, die er kraft seiner Teilhabe am jüdischen Volk geniesst.16 Paulus ist auch nicht ein Proselyt oder Abkömmling von Proselyten, sondern erweist sich als Träger bester Abstammung, zumal als Zweig des Stamms Benjamin und mit seiner Beschneidung am achten Tag. Der Stellenwert, den Johannes Paulus als Glied des jüdischen Ethnos beimisst, schlägt mühelos eine Brücke zur New Perspective.17
der Perspektive der Chrysostomusforschung“).– Zitiert werden die Homilien zum Phil nach Spalten und Abschnitten der alten Benediktiner-Ausgabe (Bd. 11, auch bei de Montfaucon [Bd. 11] und Migne [PG 62] abgedruckt – zu unterscheiden von den Migne-Spalten, die etwa der elektronische TLG bietet!). Der griechische Text folgt der Ausgabe von F. Field (Oxford 1855), die Übersetzung orientiert sich meist an derjenigen von W. Stoderl, BKV2 I/45, Kempten 1924. Vgl. besonders auch P. Allen (Hg.), John Chrysostom. Homilies on Pauls’s Letter to the Philippians (WGRW 36), Atlanta 2013. 14 Zu „contemporary resonances with Chrysostom’s interpretation of Paul“ vgl. M. M. Mitchell, The Heavenly Trumpet. John Chrysostom and the Art of Pauline Interpretation (HUTh 40), Tübingen 2000, 28–30. 15 Johannes erkennt im Umschlag von V. 1 zu V. 2 die rhetorische Strategie, Tadel mit Lob zu umgeben (hom. 11,1 in Phil. [275 B]). Da es sich bei der ethischen Ermahnung (παραίνεσις) von Kap. 3 um eine harte Rede handelt (λόγος φορτικότερος), bedarf sie der Umhüllung mit vorangehendem und nachfolgendem Lob. Zur Bedeutung der epideiktischen Rhetorik für die Gestaltung der Beispiele (negativ und positiv) in Phil 3 vgl. R. Brucker, ‚Christushymnen‘ oder ‚epideiktische Passagen‘? Studien zum Stilwechsel im Neuen Testament und seiner Umwelt (FRLANT 176), Göttingen 1997, 334 f. E.-M. Becker hat die These formuliert, wonach sich Paulus von möglichen Widersachern abgrenzt, „um sich den Philippern gegenüber als ein solches Vorbild inszenieren zu können“: Polemik und Autobiographie. Ein Vorschlag zur Deutung von Phil 3,2–4a, in: O. Wischmeyer / L. Scornaienchi (Hg.), Polemik in der frühchristlichen Literatur. Texte und Kontexte (BZNW 170), Berlin 2011, 233–254, hier: 251. 16 J. Chrys., hom. 11,2 in Phil. (277 D/E): „Er weist hin auf den Adel seiner Abstammung (τὴν πολλὴν εὐγένειαν δείκνυσιν).“ 17 Vgl. Dunn, Philippians (s. Anm. 10) 474: „The confidence was confidence (or pride) in status, status as a member of the covenant people Israel“; K.-W. Niebuhr, Heidenapostel aus Israel. Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen (WUNT 62), Tübingen 1992, 184: „Als von Gott gegen seinen eigenen Willen berufener Christusverkündiger aus dem Volk Israel verkörpert er exemplarisch ganz Israel, das sich der Durchsetzung des göttlichen Heilswillens nicht entziehen kann. Als Heidenapostel aus Israel ist er gleichzeitig Heidenapostel um Israels willen.“
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Dies ist aber nur die eine Tafel. Die andere Tafel weist nun die Eigenleistung des Paulus auf, für die der Grieche Chrysostomos ein waches Auge hat.18 Der eugeneia, der Herkunft, stellt sich der Bereich der prohairesis zur Seite, d. h. der freien Selbstbestimmung des Menschen als einem Vernunftträger.19 Begrifflich variiert: Dem wesentlich ethnisch vermittelten Tropos gesellt sich der individuelle Bios hinzu. „‚Wenn ich demnach‘, will er sagen, ‚an Adel der Herkunft, an freudigem Eifer, an Sitten und Lebenswandel alle übertraf: weshalb sollte ich auf diese Vorzüge verzichtet haben, – weshalb anders, als weil ich die Vorzüge des Christusglaubens grösser, und zwar um vieles grösser gefunden habe?‘“20
Dabei beobachtet Johannes zu Recht, dass eine Rhetorik der unablässigen Steigerung vorliegt.21 Insofern übertrifft die zweite Tafel noch die erste. Ausgesprochen interessant ist nun die Digression, die der Prediger auf der Plattform der merkantilen Metaphorik von Gewinn und Schaden in Phil 3,7 f anschliesst: Das hauptstädtische Auditorium muss eine sozialethische Mahnrede über den „Schaden“ von Luxus und Reichtum über sich ergehen lassen.22 Während der grosse Apostel im Blick auf Christus alles das fahren lässt, was er für Gewinn hielt, geben wir im Angesicht Christi nicht einmal das auf, was offenkundig nur „Schaden“ ist! Das Lob der Armut verbindet sich mit einem Aufzeigen dessen, wie man die Güter auf Gott beziehen soll – von den Körpergliedern über Kleider und Häuser bis zu den Dingen des Handels und der Seefahrt. Es gilt jeweils, sich von falschen Vorstellungen über den Wert der Dinge zu befreien, „Schaden“ und „Nutzen“ zu bestimmen und, in heutigem Jargon formuliert, angemessen zu priorisieren. Für unsere Fragestellung erlaubt diese ausgedehnte Passage zwei aufschlussreiche Beobachtungen. Zum einen: Der Apostel Paulus fungiert wie durchwegs in der altkirchlichen Auslegung als Exempel. Seine Konversion wird primär als 18 AaO. 277 E/F (τὰ τῆς αὐτοῦ προαιρέσεως im Unterschied zu den vorher genannten ἀπροαίρετα). 19 Zum semantischen Spektrum der Prohairesis, die besonders in der Philosophie Epiktets eine herausragende Stellung hat, vgl. L. Willms, Epiktets Diatribe Über die Freiheit (4,1), (WKGLS), Bd. 1, Heidelberg 2011, 449–456; M. Forschner, Epiktets Theorie der Freiheit im Verhältnis zur klassischen stoischen Lehre, in: S. Vollenweider (Hg.), Epiktet, Was ist wirkliche Freiheit?, Diatribe IV 1 (SAPERE 22), Göttingen 2013, 97–117, hier: 106–109. 20 AaO. 278 A (εἰ τοίνυν καὶ εὐγενείας ἕνεκεν, καὶ προθυμίας, καὶ τρόπου, καὶ βίου πάντων ἐκράτουν, τίνος ἕνεκεν τὰ σεμνὰ ἐκεῖνα εἴασα, φησίν, ἀλλ᾽ ἢ διὰ τὸ μείζονα εὑρεῖν τὰ τοῦ Χριστοῦ, καὶ πολλῷ μείζονα;). 21 AaO. (277 F: ἔρχεται εἰς τὰ τῆς προαιρέσεως, ὅπου τὸ ‚μᾶλλόν‘ [V. 4 fin.] ἐστι). 22 AaO. 11,3–5 (278 B–282 E). – Zu den sozialreformerischen Impulsen, die auf die Antiochenische Zeit zurückgehen, vgl. Brändle, Johannes (s. Anm. 13) 48–51; A. M. Ritter, John Chrysostom as an Interpreter of Pauline Social Ethics, in: W. S. Babcock (Hg.), Paul and the Legacies of Paul, Dallas 1990, 183–192; J. Tloka, Griechische Christen – christliche Griechen. Plausibilisierungsstrategien des antiken Christentums bei Origenes und Johannes Chrysostomos (STAC 30), Tübingen 2005, 144; 246.
2. Phil 3 in der Auslegung des Johannes Chrysostomos
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Folie für die alltagsbezogene Metanoia der Glaubenden wahrgenommen. Wir kommen darauf zurück. Zum anderen: Der Reichtumskritiker Chrysostomos fokussiert auf Güter, die man lassen soll. Seine Applikation der paulinischen „Vorzüge“ geht also ganz selbstverständlich auf das, was man ‚hat‘, nicht auf das, was man ‚leistet‘. Vermögensgüter sind in der Antike überwiegend nicht individueller Erwerb. Ethnische Vorzüglichkeit, wie sie die New Perspective im Rühmen des Paulus wahrnimmt, wird vom Prediger appliziert auf die Ebene des sozialen Status.23 Wir wenden uns nun der nächsten Homilie zu Phil 3 zu. Der Beginn summiert noch einmal die beiden Vorzugstafeln, die gerade zusammengehören:24 „Nachdem Paulus alle Vorzüge, deren er sich als Jude von Seiten der Natur wie von Seiten des freien Willens rühmen konnte, aufgezählt hatte (καταλέξας πάντα τὰ καυχήματα τὰ Ἰουδαϊκὰ, τὰ ἀπὸ φύσεως, τὰ ἀπὸ προαιρέσεως), setzte er hinzu: ‚Aber was mir Gewinn war, …‘“
Mit dem „Schaden“ und dem „Kehricht“ der „Gerechtigkeit im Gesetz“ in V. 8 f kommen wir in abfälliges Gelände – durchaus auch dann, wenn man sich auf die New Perspective beruft. Phil 3,7 f ist laut unserem Prediger eine willkommene Plattform für Häretiker (283 C/D), die Gott und das Gesetz dissoziieren. Das ist geradezu Standard in den patristischen Auslegungen unserer Stelle.25 Zu denken ist an gnostisch-manichäische Antinomisten. Gegen die Irrlehrer wird nun herausgestellt: Das Gesetz stammt von Gott. Auch das ist topisch. Das Gesetz wird als Brücke und als Leiter identifiziert, auf der man aus untermenschlichen Verhältnissen emporsteigt. Jetzt ist es soteriologisch nicht mehr nötig. Dies stellt nun nicht nur eine Ancient Perspective dar, sondern geradezu the Old one. Chrysostomos schlägt aber mit seinen folgenden Worten eine bedeutsame Brücke zur New Perspective: Dem Gesetz gebührt gerade, weil es überwunden ist, Dank (was im Übrigen auch für die Old Perspective geradezu selbstverständlich war!):26 „Denn da es unmöglich war, aus der tiefen Niedrigkeit sich emporzuschwingen, ist das Gesetz zur Leiter geworden. Wer emporgestiegen ist, bedarf der Leiter nicht mehr; doch verachtet er sie darum nicht, sondern weiss ihr sogar Dank (οὐ μὴν αὐτὴν ὑπερορᾷ, ἀλλὰ καὶ χάριν αὐτῇ οἶδεν). Denn sie versetzte ihn in die Lage, dass er ihrer nicht mehr bedarf; 23 Johannes deutet die kognitive Wende in Phil 3,7 („was mir Gewinn war, das halte ich nun um Christi willen für einen Schaden“) auf die Verlagerung vom vermeintlichen Gut, d. h. dem Reichtum, zum wirklichen Gewinn, d. h. zur Armut, 11,4 (280 E). Es geht also wieder um den Umgang mit dem „Haben“, nicht um das „Leisten“. Entscheidend ist der Bezug dessen, was wir haben, auf Gott als Schöpfer und Geber (280 E–281 E); diese Güter reichen von körperlichen Organen über Güter bis zum Meer und seinen Perlen. Immer geht es gut stoisch darum, sich von falschen Werturteilen (ὑπόληψις) zu befreien. 24 AaO. hom. 12,1 in Phil. (283 C). 25 Vgl. z. B. Tert., Marc. 5,20:6 und unten bei Anm. 53. 26 AaO. 284 A/B. Während die Häretiker das Gesetz mit „Schaden“ und „Dreck“ identifizieren, spricht sich der Apostel für das Gesetz aus (283 F/284 A).
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„Archetyp der Vollkommenheit“
und dennoch gerade dafür, dass er sie nicht mehr braucht, muss er ihr entsprechend dankbar sein; denn (ohne sie) wäre er nicht hinaufgekommen.“
Mehr noch: Die Rede von Schaden und Nutzen wird konsequent relational ausgelegt. Dies entspricht dem Text und wird in den altkirchlichen Interpretationen vielfach herausgestellt: Ein „Schaden“ ist das Gesetz bzw. die „Gerechtigkeit im Gesetz“ allein aufgrund der überfliessenden Christusgnade. Diese ist Gold, jenes aber Silber. Allein weil es von Christus trennt, ist es als negativ zu erachten. Wir sind damit gar nicht fern von jener bekannten Bemerkung eines anderen Archegeten der New Perspective, von E. P. Sanders, das Negative am Judentum sei laut Paulus allein, dass es nicht Christentum sei.27 Chrysostomos kann in der Folge Christus als Erfüllung und Ziel des Gesetzes bezeichnen (Röm 13,10; 10,4).28 Die heikle Passage, wo vom „Dreck“ die Rede ist (V. 8), wird mit Hilfe von relationalen Figuren behandelt:29 „Am hellen Tag beim Lampenlicht sitzen bleiben, das ist Schaden. Der Schaden entsteht also durch die Vergleichung, durch das Übertreffen. Siehst du, dass er einen Vergleich anstellt?“
Paulus biete kraft seiner „übertreffenden Erkenntnis Christi“ eine Synkrisis, die die Überlegenheit des einen so herausstellt, dass sie zugleich das Gemeinsame voraussetzt. σκύβαλα werden, wie gern in der altkirchlichen Auslegung, auf die weltlichen Dinge schlechthin gedeutet, die man hinter sich lassen soll.30 Dabei verharmlost der Kirchenlehrer die extreme paulinische Sprache.31 Er interpretiert σκύβαλον als Spreu – als Hülse, die dem Korn Schutz und Halt bietet, bis es gegessen wird.32 Das ist semantisch zwar nicht unmöglich,33 aber kaum sachgemäss. Die Fäkaliensprache wird aber auch von Seiten der New Perspective her 27 E. P. Sanders, Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen, dt. Übs. (StUNT 17), Göttingen 1985, 513 („Was Paulus am Judentum für falsch hält, ist, auf eine Kurzformel gebracht, dass es kein Christentum ist“), vgl. xiii. 28 Mindestens hier und in hom. 18,1 in Rom. (622 A–D) empfiehlt sich m. E. bei der Auslegung von Röm 10,4 (τέλος νόμου) klar die Übs. „Ziel“ (s. besonders die Analogisierung: καὶ γὰρ τέλος ἰατρικῆς ὑγεία, 622 B). 29 AaO. 284 E (ὥστε ἀπὸ τῆς παραβολῆς ἡ ζημία γίνεται, ἀπὸ τοῦ ὑπερέχοντος. ὁρᾷς ὅτι σύγκρισιν ποιεῖται;). 30 Vgl. z. B. Greg. Naz., or. 24,15 (SC 284, 74 f: Hindernisse auf dem Weg); Greg. Nyss., virg. 4,1 (SC 119, 303 f: Ehe-Chaos!); Ambros., ep. 2,26 (PL 16, 866 C/D); Paul. Nol., ep. 25,1 (CSEL 29, 230); vgl. 38,1 (324); Ps.-Eucher., exhort. mon. 2 (PL 50, 866 C); Valerius, de vana saeculi sapientia 8; 14 (PL 87, 426 C; 430 C). 31 Noch stärker deutet z. B. Ambrosius in seiner Allegorese des Feigenbaum- Gleichnisses (Lk 13,6–9) um (in Luc. 7, 168 [CCSL 14, 272]): Die grosse Kraft des stercus als Dünger bzw. als apostolischer sermo kann selbst die Juden zu Christus führen. Die Brücke wird auch zu Hi 2,8 (in stercore) und zu Ps 113,7 geschlagen. 32 AaO. 285 A/B. 33 Vgl. J. H. Moulton / G. Milligan, Vocabulary of the Greek Testament, London 1930 (= Grand Rapids 1982) 579b unter Berufung auf zwei Papyrus-Belege: „The word is found in the more general sense of ‚leavings‘, ‚gleanings‘.“
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zwar konzediert, aber aufgrund der Figur der überbietenden Kontrastierung wieder relativiert.34 In unserem Zusammenhang verdient die Verhältnisbestimmung der beiden Gerechtigkeiten, die Paulus in Phil 3,9 einander gegenüber stellt, Beachtung. Chryosostomos identifiziert zunächst „meine Gerechtigkeit“ als diejenige, „die durch Mühen und Schweiss erworben“ wird, nimmt dann aber auch diejenige, die durch die Gnade erwirkt wird, als „meine“ in Anspruch:35 „Treffend nennt er sie ‚meine Gerechtigkeit‘, d. h. nicht diejenige, die ich mir durch Mühe und Schweiss erworben, sondern diejenige, die ich durch die Gnade gefunden habe.“
Johannes legt damit den Fokus auf die Leistung, also den Bereich der κατορθώματα. Die Eigenleistung, zu der der Grieche Chrysostomos ein zunächst unbefangenes Verhältnis hat, wird aber wiederum massiv überholt durch die Gerechtigkeit, die Gott schenkt:36 „Gottes Gnadengeschenke aber gehen über das bescheidene Mass der Tugendwerke, die wir durch unsere Bemühung zustande bringen, weit hinaus.“
Paulus’ Reden vom „Ergriffenwerden“ in Phil 3,12 gibt dem Prediger die Plattform zu einem gross angelegten Bild des Fliehens vor Gott, das wir Menschen unablässig vollziehen, bereichert durch das Bildfeld des Gleichnisses vom verlorenen Sohn (Lk 15,11–32).37 Deutlich ist wiederum, wie die Konversion des Paulus transparent ist für die Situation der Adressaten, also der Gottesdienstbesucher. Der negative Bereich, den der Apostel verlassen hat, wird dabei zweifach bestimmt: sowohl als der präbaptismale Status wie als der gegenwärtige Zustand, die Verweigerung der Umkehr zu Gott. Die 13. Homilie zum Philipperbrief beschäftigt sich mit dem Nichtzurückblicken des Apostels. Wie nicht anders zu erwarten wird die Agon-Metaphorik amplifiziert. Interessant ist die Warnung davor, auf gute Werke zurückzublicken:38 „Nichts raubt so sehr unseren Tugendwerken Verdienst und Wert, als wenn wir des Guten, das wir getan, selbstgefällig gedenken. Dies erzeugt nämlich zweierlei Übel: Es macht uns einmal nachlässiger, sodann führt es uns zu hochmütiger Selbstüberhebung.“ 34 Vgl. Dunn, Philippians (s. Anm. 10) 481: „The sharpness of the contrast is not so much to denigrate what he had previously counted as gain, as to enhance to the highest degree the value he now attributes to Christ, to the knowledge of Christ, and to the prospect of gaining Christ.“ 35 AaO. 12,2 (285 C: καλῶς εἶπεν ‚ἐμὴν δικαιοσύνην‘, οὐχ ἣν διὰ πόνων καὶ ἱδρώτων ἐκτησάμην, ἀλλὰ τὴν ἀπὸ τῆς χάριτος, φησίν), Text nach Field. 36 AaO. 285 E (τὰ δὲ τοῦ θεοῦ δῶρα πολλῷ τῷ μέτρῳ ὑπερβαίνει τὴν εὐτέλειαν τῶν κατορθωμάτων τῶν διὰ τῆς ἡμετέρας σπουδῆς γινομένων [Text nach de Montfaucon]). 37 AaO. 12,3 f (288 A–C). Neben dem grossen Sünden‑ und Krankheitsspiegel erzeugt das Gleichnis vom verlorenen Sohn ein weiteres impressives Bild: „Der Himmelskönig, der auf dem Thron des Vaters sitzt, verliess den väterlichen Thron und kam zu uns“ (289 B/C). 38 AaO. 13,1 (290 E: οὐδὲν οὕτω κενοῖ κατορθώματα καὶ ἀποφυσᾷ, ὡς μνήμη τῶν εἰργασμένων ἡμῖν ἀγαθῶν. δύο γὰρ τίκτει τὰ κακά, ῥᾳθυμοτέρους τε ἐργάζεται, καὶ εἰς ἀπόνοιαν αἴρει).
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„Archetyp der Vollkommenheit“
Die Erinnerung an getanes Gutes weckt sowohl das Laster der Nachlässigkeit wie der Arroganz. Christen sollten ihre Leistungen (κατορθώματα) vielmehr vergessen. Auch der Läufer zählt nur die Runden, die noch vor ihm liegen (291 D). Wie es der paulinische Text selber intendiert, fungiert der Apostel als herausragendes Paradigma christlichen Verhaltens. Mit der Behandlung von V. 17 wird die Mimesis zwischen Paulus und den Glaubenden, die geradezu ein Leitmotiv der Exegese von Phil 3 darstellt, erneut herausgestellt. Die Figur ist meist steigernd, a maiore ad minus: ‚Wenn sogar Paulus …, um wie viel mehr wir.‘ Dies gilt insbesondere vom Bekenntnis des Apostels zu seiner Nicht-Vollkommenheit und zu seiner Heilsungewissheit. Gerade darin erscheint Paulus als herausragender Träger der Vortrefflichkeit, der Arete:39 „Überall erwies er seine edle Gesinnung und seine Kunst (διὰ πάντων τὸ φρόνημα τὸ γενναῖον καὶ τὴν τέχνην ἐπεδείξατο).“
Die Predigt gerät zu einem gewaltigen Lob der Arete inmitten von widrigen Peristasen (296 B–297 B). Die 14. Homilie schliesslich enthält den Abschluss unserer Kapitelauslegung. Die „Feinde des Kreuzes“ geben Anlass zu einer kleinen kreuzestheologischen Passage,40 die die Hauptstädter besonders vor Geruhsamkeit und Wohlleben warnt. Die Kreuzesfeinde ortet der Prediger dabei nicht primär bei den seinerzeitigen Paulusgegnern, den jüdischen „Hunden“ von 3,2, sondern mitten in der Gegenwart.41 Das schliesst eine scharfe Polemik gegen die Tyrannei des Bauchs ein. Die Homilie schwingt sich schliesslich in ihrem letzten Teil zu einem grossen Gemälde des himmlischen Kommens Jesu auf (Phil 3,20 f), scharf kontrastiert mit dem Schrecken des Nicht-Teilhabens an jener Herrlichkeit, also der schlimmsten Hölle.42 Unser Rundgang durch die vier Homilien des Johannes Chrysostomos zu Phil 3 erlaubt uns im Blick auf unsere Leitfragen die folgenden beiden Feststellungen: 1. Der Kirchenlehrer ordnet beide Vorzugstafeln, die Vorzüge der Herkunft und die Vorzüge der Eigenleistung, einander zu. Zwar baut Paulus seiner Sicht zufolge eine fortlaufende Steigerung auf, aber das inhaltliche Gewicht liegt doch deutlich auf dem Ersteren, auf dem identitätsstiftenden „Haben“. Die negative Wertung von beidem verdankt sich der Komparation: Die überfliessende und 39 AaO. 13,4 (296 A). Wie alle verlässlichen Lehrer verbindet der Apostel Wort und Tat (293 E; 294 A), fungiert als ἀρχέτυπον, παράδειγμα und als νόμοι ἔμψυχοι (293 F). 40 AaO. 14,1 (297 E–298 D). Für die Tragweite der Botschaft vom Kreuz bei Johannes vgl. besonders laud. Paul. 4,7; 4,9; 7,1 (SC 300, 196 f; 200 f; 292 f). 41 Johannes appliziert die Beschimpfung mit „Schande“ und „Bauch“ rhetorisch geschickt unmittelbar auf seine Zuhörerschaft (14,1 [299 A]: „Ich wollte, ja sehnlichst wollte ich, dass nichts davon auf uns Bezug hätte, und dass ich von keinem wüsste, der der angeführten Verfehlungen schuldig wäre – aber ich fürchte, diese Worte passen auf die Gegenwart noch mehr als auf die damalige Zeit [πρὸς ἡμᾶς μᾶλλον ἢ τοὺς τότε λέγηται]“). 42 AaO. 14,4 (301 E–304 A).
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überragende Christuswirklichkeit macht allererst das Überkommene zu „Schaden“ und „Unrat“. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich porträtiere Chrysostomos nicht als Prodromos der New Perspective. Dagegen spricht nur schon sein bekannter ausgeprägter Antijudaismus.43 Selbstverständlich geht er die Bibeltexte nicht mit einer neuzeitlichen, soziologisch orientierten Fragestellung an. Es geht lediglich darum, zu zeigen, an welchen einzelnen Punkten eine ausgewählte Ancient Perspective bei allen erheblichen Differenzen doch in grösserer Nähe zur New Perspective als zur sogenannten Old Perspective steht.
2. Die Bekehrung des Paulus wird mehrdimensional akzentuiert, vom Jüdischen zum Christlichen, vom Gesetz zum Evangelium, von der Gesetzesgerechtigkeit zur Glaubensgerechtigkeit. Es dominiert aber die Figur des Exemplum: Paulus repräsentiert die christliche Existenz schlechthin, er ist ihr Archetyp in einzigartiger Exzellenz.44 Auch in heutiger Sicht hat die exemplarische Lektüre von Phil 3 Anhalt am Text, und dies nicht nur wegen der explizit genannten Mimesis von V. 17. Wir wenden uns nun einer zweiten Ancient Perspective zu, die uns in den lateinischen Westen und damit näher in die Vorgeschichte der Old Perspective führt.
3. Phil 3 in der Auslegung von Augustin Phil 3 hat v. a. in der Debatte des älteren Augustin gegen die Pelagianer eine bedeutsame Rolle gespielt.45 Wir orientieren uns an drei wiederum exemplarischen Texten, zum einen an einer Predigt, zum anderen an zwei Widerlegungen pelagianischer Theologie. Die Predigt aus Anlass des Märtyrerfests Cyprians, die die Passage Phil 3,3–16 auslegt,46 identifiziert zunächst die geistliche Beschneidung unseres Texts (V. 3)
43 Zur Dokumentation vgl. R. Brändle / V. Jegher-Bucher, Johannes Chrysostomus, Acht Reden gegen Juden (BGL 41), Stuttgart 1995, 36–79. 44 Vgl. zu Paulus als „the archetypal image“ Mitchell, Trumpet (s. Anm. 14) 34–68. Der prominenteste Text, der das μιμεῖσθαι τὸ ἀρχέτυπον […] τῆς ἀρετῆς zelebriert, ist laud. Paul. (Zitat: 2,10 [SC 300, 158 f]); mit explizitem Bezug auf Phil 3,13 (2,2 [144]). 45 Zu den Pauluslektüren Augustins vgl. P. Brown, Augustinus von Hippo. Eine Biographie, dt. Übs., Frankfurt 21982, 130–136; 298–308, sowie Westerholm, Perspectives (s. Anm. 1); W. Wischmeyer, Paulus und Augustin, in: E.-M. Becker / P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005, 323–343. Zur Lektüre der 390er Jahre vgl. P. Frederiksen, Die frühe Paulusexegese, in: V. H. Drecoll (Hg.), Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 279–294. Zur Rezeption von Phil 3 vgl. besonders N. Cipriani, L’utilizzazione di Fil. 3,13–14 nell’ opera di S. Agostino, Aug(L) 56 (2006) 299–320. 46 Sermo 169 (PL 38, 915–926). Vgl. dazu S. Boodts / M. Torfs / G. Partoens, Augustine’s Sermon 169. A Systematic Treatise on Phil. 3,3–16: Exegetical Context, Date and Critical Edition, Aug(L) 59 (2009) 11–44, deren Text zugrunde gelegt wird. Die Predigt lässt sich entweder auf 416/17 oder aber bald nach 420 datieren.
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„Archetyp der Vollkommenheit“
mit der Gerechtigkeit, die von Gott kommt und die im späteren Teil von Phil 3 thematisiert wird. Es finden sich gleich hier schon charakteristische Antithesen:47 „Wir sind die Gerechtigkeit – es ist aber nicht unsere eigene, sondern diejenige Gottes; von ihm empfangen, nicht von uns genommen; gewährt, nicht angemasst, geschenkt, nicht errafft.“
Die Anspielung auf Phil 2,6 signalisiert die grundlegende Konstellation, die die gesamte Auslegung unseres Textes organisiert: der Kontrast von Demut und Hochmut, einer für Augustin zentralen theologischen Figur, die ihm vom Christuslob 2,5–11 vermittelt wird48 Was bei Johannes Chrysostomos ein Nebenmotiv bildet,49 steht hier im Vordergrund. Der Vorzugskatalog von Phil 3,5 f wird angemessen als nobilitas Iudaica herausgestellt. Dies entspricht dem Befund, den Chrysostomos zeigt, ebenso der Hinweis auf die Differenz zu Proselyten bzw. Neulingen und die besondere Stellung von Benjamin, nämlich der Bezug zum Tempel. Sehr schnell, und das ist für unsere Fragestellung aufschlussreich, spielt Augustin die merita sua ein, zu denen bereits der Eifer, die aemulatio, zu zählen ist. Die jüdische nobilitas kommt so der christlichen humilitas gegenüber zu stehen:50 „Dies gilt bei den Juden als Vorzüglichkeit – bei den Christen aber wird Niedrigkeit (Demut) verlangt. So ist dieser dort Saulus, hier aber Paulus.“
In diesem Zusammenhang taucht die m.W. vor Augustin nur peripher begegnende Figur des Wechsels von Saulus zu Paulus auf: Saul überragte alle (1 Sam 9,2), Paulus’ Name aber bedeutet der Kleine, also der Geringe.51 169,2 (PL 38, 916: ‚nos simus iustitia‘, non nostra, sed dei; ab illo accepta, non a nobis assumpta; impertita, non usurpata; donata, non rapta). Am Anfang korreliert Augustin 2 Kor 5,21 (ut nos simus iustitia dei in ipso) mit Phil 3,3 (nos sumus circumcisio). 48 Zum enormen Stellenwert, den das Christuslob Phil 2,5–11 in Augustins Theologie hat, vgl. A. Verwilghen, Christologie et spiritualité selon saint Augustin. L’hymne aux Philippiens (ThH 72), Paris 1985 (hier: 261 f mit dem Hinweis auf serm. 169); ders., Le Christ médiateur selon Ph 2,6–7 dans l’ œuvre de saint Augustin, Aug(L) 41 (1991) 469–482; V. H. Drecoll, Der Christus humilis (Der demütige Christus), in: ders. (Hg.), Augustin Handbuch (s. Anm. 45) 438–445. 49 S. oben bei Anm. 38. 50 AaO. 5 (917: haec apud Iudaeos nobilitas, sed apud Christum quaeritur humilitas. Ideo ibi iste Saulus, hic Paulus). 51 AaO. 5 (917/918: non fuit sic Paulus, sed factus Paulus. Paulus enim parvus, ideo Paulus modicus). Vgl. conf. 8,9; en. Ps. 72,4 (CCSL 39, 989: Saulus, postea Paulus; id est, primo superbus, postea humilis); spir. et litt. 12 (CSEL 60, 164: Paulus apostolus – qui cum Saulus prius vocaretur non ob aliud, quantum mihi videtur, hoc nomen elegit, nisi ut se ostenderet parvum tamquam minimum apostolorum – multum contra superbos et arrogantes et de suis operibus praesumentes); ep. Io. tr. 8,2 (PL 35, 2037); usw. Die Kontrastierung zwischen ungläubigem Saulus und bekehrtem Paulus begegnet bereits Ambrst., comm. Rom. 1,1 (CSEL 81.1, 9); Max. Taur., serm. 35,2 (CCSL 23, 137). Auch Joh. Chrys. beschäftigt sich mit dem Namenswechsel, teilweise in grösserem biblischem Kontext (hom. 1,6 in Act 9,1 [106 E ff = PG 51, 123 ff]); vgl. laudatio Pauli lin. 16 f p. 126 47 Serm.
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Mit der Untadeligkeit des Apostels, soweit es die Gesetzesgerechtigkeit betrifft, geraten wir in eine markante Debatte zwischen den Pelagianern und ihren Gegnern. Pelagius zufolge gibt es eine irdisch erschwingliche Vollkommenheit; als biblische Zeugen fungieren etwa Zacharias und Elisabeth, die beide gerecht und tadellos waren.52 Augustin bestreitet das, unter anderem mit dem Hinweis auf den Tempelkult, den Zacharias betreibt. Vor allem aber ist das Bekenntnis des Paulus ausschlaggebend. Zwar ist auch Saulus tadellos. Aber von Christus her wird diese Gerechtigkeit problematisiert. Wir stossen in der Folge ähnlich wie bei Chrysostomos auf die subtile Unterscheidung des malum, als das die Untadeligkeit kraft der Gesetzesgerechtigkeit gilt, vom Gesetz selber, das von Gott ist (hier wird auf Röm 7,12 verwiesen) und deshalb kein malum ist, wiederum gegen die Häretiker formuliert.53 Im Folgenden stellt Augustin heraus, dass das Gesetz zwar gut ist, aber mit der Angst vor Strafe operiert, nicht mit der, wie man heute formulieren würde, intrinsischen Liebe. Übertragen auf Saulus: Er ist blind und agiert bestimmt vom Geschwulst des Hochmuts, also auf dem Plateau seiner eigenen Gerechtigkeit. „Eigen“ heisst: aus eigenen Kräften, von Furcht statt von Liebe getrieben, von Hochmut erfüllt.54 Die Predigt greift nun auf die Passage Röm 9,32–10,4 aus, einen klassischen Paralleltext zu Phil 3, und kombiniert sie mit der Bekehrungserzählung von Apg 9. Der hochmütige Saulus stösst sich am Stein des Anstosses, an Christus, liegt nun darnieder am Boden, demütig werdend, und vernimmt Christi Stimme. Augustin identifiziert in der Bekehrung des Saulus die für ihn so fundamentale theologische Figur, die Dialektik von superbia und humilitas.55 Jene gerät ihm nun zum „Schaden“, jetzt, wo er im Dreck liegt. Er erzittert vor seiner eigenen Gerechtigkeit:56 „So erschrak der Apostel, verwirrt und niedergeworfen, aufgerichtet und instandgesetzt. […] So erschrak er vor seiner eigenen Gerechtigkeit, in der er gewiss ohne Tadel war, lobenswert, grossartig, gleichsam glänzend bei den Juden. Für Schaden erachtete er es, für Verlust, für Dreck, auf dass er erfunden ward in Jenem, nicht im Besitz seiner eigenen Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz ist, sondern jener, die durch den Glauben an Christus ist, die, so sagt er, aus Gott ist.“ Uthemann: „Paulus ist nämlich nicht Paulus allein, sondern auch Saulus. Nicht nur Apostel, sondern auch Verfolger; nicht nur Christi Diener, sondern zuvor auch Feind.“ 52 AaO. 6 (918: ecce hoc erat et Paulus noster quando Saulus erat). Sine querela bildet die Brücke zwischen Phil 3,6 und Lk 1,6. 53 AaO. 6–9 (918–920). 54 AaO. 9 (920: quid est ‚de tumore superbiae‘? quasi de iustitia sua. ex lege quidem, sed sua. quid est ‚ex lege‘? quia in mandatis legis. quid est ‚de sua‘? tamquam viribus suis. amor deerat, amor iustitiae, amor caritatis Christi). 55 Vgl. oben bei Anm. 48. 56 AaO. 10 (921: Horruit ergo apostolo, percusso et prostrato, erecto et instructo. […] Sic prostratus horruit iustitiam suam, in qua erat certe sine querela, laudabilis, magnus, quasi gloriosus apud Iudaeos: detrimenta existimavit, damna credidit, stercora deputavit, ‚ut inveniretur in illo non habens suam iustitiam, quae ex lege est, sed eam quae per fidem est Christi, quae est‘, inquit, ‚ex deo‘).
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Bis heute ziehen es die Juden vor, so im Dreck zu liegen, indem sie ihre eigene Gerechtigkeit aufrichten wollen.57 Im Fortgang der Predigt wird neben manch anderem herausgestellt, dass sogar Paulus, der ausgezeichnete Tugendträger, mangelhaft war und noch nicht im Status der Vollendung ruhte. Vollkommenheit in dieser Welt ist gerade die Anerkennung eigener Unvollkommenheit. Augustin legt grösstes Gewicht auf den Status der Christen als Wanderer, die nicht Gefallen finden an sich selbst, sondern alles lassen, „vergessen“ und weiterziehen:58 „Wohin wir gelangt sind (V. 16), darin wollen wir nicht bleiben, sondern darin wandeln. Ihr seht, dass wir Wanderer sind.“
Der Prediger verweist auf den traditionellen Antityp zum paulinischen „Vergessen des hinten Liegenden“ und zum sich nach dem Künftigen „Ausstrecken“: auf Lots Frau (mementote uxoris Lot, vgl. Gen 19,26; Lk 17,32).59 Unsere Predigt über Phil 3 lässt sich durch einige Lesefrüchte aus der Schrift „Gegen zwei pelagianische Briefe“ ergänzen.60 Augustin argumentiert gegen die im Ansatz optimistische Anthropologie von Pelagius, die dem Menschen die Möglichkeit der Sündlosigkeit offenhält. Sicher wollte Pelagius diese nicht perfektionistisch überdehnen. Gleichwohl greift Augustin auf die Problematisierung der „Vollkommenheit“ in Phil 3,12–16 zurück. Paulus bildet das Paradigma der unvollendeten Vollkommenheit des Gerechtfertigten in dieser Welt. Augustin korreliert sie mit der Unterscheidung von zweierlei Gerechtigkeit in V. 9 und Röm 10,3–6:61 „die aus Gott ist: Dies ist also die Gerechtigkeit Gottes, die die Stolzen verkennen, weil sie ihre eigene aufrichten wollen. Nicht deshalb wird sie Gerechtigkeit Gottes genannt, weil Gott durch sie gerecht ist, sondern weil sie dem Menschen aus Gott zukommt.“
Wir stossen erneut auf die Figur, das Anhängen an die Gesetzesgerechtigkeit als Vertrauen auf die eigenen Kräfte und als Hochmut zu akzentuieren. In Wirklichkeit wird laut Augustin das Gesetz von niemandem erfüllt. Erst die Gnade befreit den Willen zur Freiheit:62 Ebd. AaO. 18 (926: in quo pervenimus, non in eo remaneamus, sed in eo ambulemus. Videtis quia viatores sumus). 59 AaO. 18 (926); vgl. zum Kontrast von Phil 3,12 und Gen 19,26 Aug., en. Ps. 69,9 (CCSL 39, 939); Ambros., fug. saec. 1,7 (CSEL 32.2, 164); Quodv., cant. nov. 4 (PL 40, 681). 60 Aug., c. ep. Pel. 3,19–23 (CSEL 60, 508–515), verfasst ca. 420/21. Ich orientiere mich an der Übs. von D. Morick, in: A. Zumkeller (Hg.), Aurelius Augustinus. Schriften gegen die Pelagianer, Bd. 3, Würzburg 1977, 356–363. Zur Rekonstruktion der Theologie des Pelagius vgl. V. H. Drecoll, Das Verhältnis zwischen Pelagius und Augustin und das theologische Anliegen des Pelagius, in: ders., Augustin Handbuch (s. Anm. 45) 190–197. 61 AaO. 3,20 (511: ‚quae est ex deo‘. ipsa est ergo iustitia dei, quam superbi ignorantes suam volunt constituere. non enim propterea iustitia dei dicitur, quoniam deus ea iustus est, sed quia homini ex deo est). 62 AaO. 3,20 (510: iustitiam legis non inpleri, cum lex iubet et homo quasi suis viribus facit, sed cum spiritus adiuvat et hominis non libera, sed dei gratia liberata voluntas facit). 57 58
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„Die Gerechtigkeit des Gesetzes wird nicht erfüllt, wenn das Gesetz befiehlt und der Mensch gleichsam mit eigenen Kräften handelt, sondern wenn der Geist unterstützt und nicht der freie Wille des Menschen, sondern der durch Gottes Gnade befreite Wille handelt.“
Auch dieser Text bestimmt christliches Sein als Wanderschaft, über der das „noch nicht“ steht.63 Die antipelagianische Schrift „Strafe und Nachlassung der Sünden“, entstanden um 411/12, rundet das Bild ab.64 Keine Menschen sind vor Gott gerecht, auch nicht Elisabeth und Zacharias trotz ihrer Gerechtigkeit und Tadellosigkeit (Lk 1,6). Dasselbe gilt vom vorchristlichen Paulus und seiner Gerechtigkeit im Gesetz (Phil 3,6). Auch als Bekehrter bleibt er Wanderer auf dem Weg zur Vollkommenheit, und gerade darin besteht seine Vollkommenheit in dieser Welt:65 „Dieses Wandeln (Phil 3,15 f) geschieht nicht mit den Füssen des Körpers, sondern mit dem Verlangen des Geistes und der guten Lebensführung, damit diejenigen vollkommene Besitzer der Gerechtigkeit sein können, die auf dem rechten Weg des Glaubens in ihrer Erneuerung Tag für Tag fortschreiten (2 Kor 4,16) als schon vollendete Wanderer zu eben dieser Gerechtigkeit.“66
Wir beenden unsere kleine Augustin-Lektüre wieder mit zwei Feststellungen. Zum einen ist deutlich, wie der Kirchenvater die Produktivität der Gesetzesgerechtigkeit herausstreicht. Der Akzent ruht auf der eigenen Gerechtigkeit, die aus eigenen Kräften hergestellt wird. Während wir bei Chrysostomos ein ungefähres Gleichgewicht von „Haben“ und „Machen“ konstatierten, haben sich bei Augustin im pelagianischen Streit die Verhältnisse markant verschoben. Wir sehen hier jene Old Perspective im Entstehen, gegen die die New Perspective Stellung bezogen hat. Zum andern fällt Augustins Verständnis der Bekehrung des Paulus auf. Diese ist auch bei ihm hochgradig typisiert, speziell im Blick auf die Abfolge von Hochmut und Demut, die die Theologie des Kirchenlehrers auf weite Strecken hin prägt. In den „Bekenntnissen“ projiziert er das Schema auf seine eigene Psycho-Biographie. Die Konversion des Saulus zum Paulus erstreckt sich wiederum über mehrere Bereiche, die als transparent für die Erfahrungen der Christenmenschen gelten können. Paulus’ Bekenntnis schliesslich, noch 63 AaO. 3,22 (513: hoc iste volens adprehendere tamquam in via constitutus sequi se dixit ad palmam supernae vocationis dei in Christo Iesu), mit dem Verweis auf das „eine, das notwendig ist“ von Lk 10,41 f. 64 Aug., pecc. mer. 2,20 (CSEL 60, 92 f); vgl. die Übs. von R. Habitzky, in: A. Zumkeller (Hg.), Aurelius Augustinus. Schriften gegen die Pelagianer, Bd. 1, Würzburg 1971, 196–200. Zur Schrift vgl. Drecoll, in: ders., Augustin Handbuch (s. Anm. 45) 323–328. 65 AaO. 93 (quamvis iam esset perfectus viator, etsi nondum erat ipsius itineris perfectione perventor). Interessant ist der Rückgriff auf Phil 3,12–15 gegen einen gnostischen Vollkommenheitsanspruch bei Clem., paed. 1,52:2. 66 Ebd. (ambulatio ista non corporis pedibus, sed mentis affectibus et vitae moribus geritur, ut possint esse perfecti iustitiae possessores, qui recto itinere fidei de die in diem sua renovatione proficientes iam perfecti facti sunt eiusdem iustitiae viatores).
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nicht vollkommen zu sein (Phil 3,12), stützt für ihn in seiner antipelagianischen Frontstellung die Deutung des „Ichs“ in Röm 7 auf den christlichen Paulus und damit auf die eigene angefochtene Existenz.67
4. Bilanz und Ausblick Unsere beiden exemplarischen Freibeuterzüge im weiten Feld der Wirkungsgeschichte lassen sich mit drei aufschlussreichen Beobachtungen bilanzieren. 1. Es war zu erwarten, dass beide Interpreten in ihren jeweiligen kulturellen Kontexten zu verorten sind. Chrysostomos repräsentiert die östliche griechische, Augustin die westliche lateinische Auslegungstradition.68 Zu verweisen ist etwa auf den in der Theologiegeschichte vielfach kritisierten „synergistischen“ Grundzug bei Chrysostomos wie überhaupt in der Ostkirche.69 Zugleich zeigt sich aber, dass beide Kirchenväter auf je unterschiedliche Weise Figuren der paulinischen Theologie, die in der Neuzeit oft als spannungsvoll wahrgenommen werden, einander zuordnen und aufeinander beziehen. In Phil 3 gilt dies vor allem für die Beziehung zwischen der Gerechtigkeitsterminologie einerseits und der partizipationistischen Terminologie andrerseits. Die New Perspective nimmt für sich in Anspruch, diese in der Forschungsgeschichte nicht selten gegeneinander ausgespielten Linien des paulinischen Denkens sinnvoll auf einander zu beziehen.70 Sie könnte sich dafür auf unsere beiden altkirchlichen Interpreten berufen. Daran zeigt sich auch, dass die gängige Kontrastierung von lateinischer Rechtfertigungsperspektive und östlicher Partizipationsperspektive zu holzschnittartig konstruiert ist. 2. Wir sind auf erhebliche Differenzen in Bezug auf die Beurteilung der Vorzüge, die Paulus in Phil 3 auflistet, gestossen. Sein Katalog kulminiert in der Entgegensetzung zweier Gerechtigkeiten (V. 6.9). Einer Gerechtigkeit „im“ bzw. „aus dem Gesetz“, die auch die „eigene“ Gerechtigkeit ist, wird die Gerechtigkeit „aus Gott“, auf der Basis des Christusglaubens, gegenübergestellt. Ambivalent nimmt sich der Status der ersteren aus, da die paulinische Begrifflichkeit in sich selber 67 Aug., serm. 154,4 (PL 38, 835); verbunden mit den Belegen für die infirmitas in 2 Kor 4,7; 12,7; vgl. Mitchell, Trumpet (s. Anm. 14) 420 f. 68 Vgl. Mitchell, Trumpet (s. Anm. 14) 411–423, speziell die Kontrastierung zwischen Chrysostomos und dem späten Augustin. 69 Vgl. zur Problematik R. Brändle, „Gott wird nicht allein durch richtige Dogmen, sondern auch durch einen guten Lebenswandel verherrlicht.“ Zur Verhältnisbestimmung von Glaube und Werken bei Johannes Chrysostomus, in: ders., Studien zur Alten Kirche, Stuttgart 1999, 165–179; ferner Wiles, Apostle (s. Anm. 7) 135–139. 70 So Dunn, Philippians (s. Anm. 10), 490: „His righteousness from God and his being in Christ were two sides of the same coin, fully integrated in his own understanding of God’s saving righteousness. Any attempt to play off one against another or to play up one over the other would have almost certainly have been sharply contested by Paul himself.“
4. Bilanz und Ausblick
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spannungsvoll ist. Handelt es sich um eine ethnisch vermittelte Vortrefflichkeit, worauf die New Perspective Gewicht legt, oder um die Eigenleistung, die für die von der Reformation herkommende Paulusauslegung im Zentrum steht? Phil 3,4–6 bietet in heutiger Sicht eine Plattform für beide Perspektiven. V.5 f stellt zweierlei Vorzüge heraus: solche, die aus der Herkunft resultieren, formuliert mit ἐκ (V. 5a–d), und solche, die durch das eigene Verhalten erzeugt wurden (V. 5e/6a/b), wobei V. 6b zugleich das Ganze summiert („tadellos nach dem Massstab der Gerechtigkeit im Geltungsbereich des Gesetzes“) und in V. 9 wieder aufgenommen wird.71 Das „Haben“ (vgl. Röm 9,3–5; 11,1) wird durch das „Leisten“ (vgl. Gal 1,14; Röm 4,4 f; 9,16a) gleichsam bestätigt und verifiziert. Während der griechische Prediger die Balance beider Aspekte der sarkischen Existenz (V. 4) wahrt, kippt die Wertung bei Augustin ganz auf die Seite der Eigenleistung, der Produktivität. Dies hat nicht nur mit der lateinischen, stärker vom Recht her bestimmten Konfiguration zu tun, die für den Westen charakteristisch ist, sondern auch mit der spezifischen Problematik der Debatten um Pelagius, bei denen sich für den Kirchenvater der Akzent ganz auf Gottes Alleinwirksamkeit verschiebt. Dazu kommt die für ihn fundamentale Dialektik von Hochmut und Demut, von Erhöhung und Erniedrigung. Es bildet sich bei Augustin eine Konstellation heraus, die Jahrhunderte später zur reformatorischen Paulusauslegung mutiert und sich im 20. Jahrhundert schliesslich in der Gestalt der dialektischen Theologie zur Geltung bringt – eben die Old Perspective, gegen die die New Perspective Stellung bezieht. Zugleich ist hervorzuheben, dass beide Paulusausleger der Figur der Komparation („dank der überragenden Erkenntnis Jesu Christi, meines Herrn“), die allererst den Geltungsanspruch des Gesetzes ins Negative verkehrt („Schaden“, „Dreck“), hinreichend Beachtung schenken. 3. Die Bekehrung des Paulus wird bei beiden altkirchlichen Exegeten in erster Linie prototypisch, ja geradezu archetypisch für die christliche Existenz ausgelegt, also gleichsam „hagiographisch“. Dies gilt generell für die christliche Antike und darüber hinaus für die gesamte vorneuzeitliche Auslegung. Ich vermute, dass es überhaupt erst im Gefolge der Aufklärung möglich geworden ist, die Konversion des Paulus explizit als Religionswechsel, als Konversion von einer Religion zu einer anderen Religion, zu beschreiben. In der Vormoderne dominiert demgegenüber mit der Kontrastierung von Judentum und Christentum eine „typische“ Deutung der Lebenswende des Paulus. Er fungiert als Modell für das Christwerden, wie es explizit in 1 Tim 1,15 f formuliert wird. Seine Bekehrung 71 Vgl. M. Theobald, Paulus und Polykarp an die Philipper. Schlaglichter auf die frühe Rezeption des Basissatzes von der Rechtfertigung, in: Bachmann, Paulusperspektive (s. Anm. 3) 349–388, hier: 366–369 (es ist „klar, dass er die Bewahrung der identitätsstiftenden Merkmale der Tora […] mit dem Toragehorsam insgesamt eng zusammen sah“, 366), mit der zustimmenden Response von J. D. G. Dunn, The Dialogue Processes, aaO. 389–430, hier: 426 f. Mit Polykarps Briefzeugnis schlägt Theobald auch die Brücke zur Rezeptionsgeschichte paulinischer Theologie, vielleicht sogar des Philipperbriefs selber.
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„Archetyp der Vollkommenheit“
ist transparent für das Christsein schlechthin. Wir befinden uns damit durchaus nahe beim Ursprungssinn unseres Texts. Die neuere Exegese von Phil 3 hat m.R. herausgestellt, dass sich Paulus als Exempel einer dem Evangelium entsprechenden Lebensform (vgl. 1,27a) präsentiert.72 Als Modelle dieser Lebensform hat der Brief zuvor die apostolischen Mitarbeiter Epaphroditus und Timotheus (2,19–24; 25–30) sowie Jesus Christus selber (2,5–11) vorgestellt. Wir schliessen mit einem Ausblick. Neben den bisher besprochenen Stationen der Wirkungsgeschichte von Phil 3 gibt es manch andere Fenster, die hier wenigstens ein Stück weit geöffnet werden sollen und die uns den Reichtum der Ancient Perspectives noch einmal eindrücklich vor Augen führen. 1. Das Politeuma im Himmel in Phil 3,20 f hat eine eigene und folgenreiche Wirkungsgeschichte gezeitigt, die sich zwischen Eschatologie, Geistmetaphysik und politischer Theologie ausspannt.73 2. Im griechischen Osten hat sich Gregor von Nyssa durch Phil 3,13 f, durch die paulinische Epektasis, anregen lassen zu einer tiefsinnigen Meditation über die Unendlichkeit des Aufstiegs zu Gott, verbildlicht im Aufstieg des Mose am Sinai.74 Diesem unendlichen Lauf korrespondiert die Unendlichkeit Gottes, die sich aus seiner Güte, die keinen Gegensatz zulässt, ergibt. Die unendliche Distanz zu Gott begründet auch die Notwendigkeit der Allegorie, also die metaphorische Gestalt der heiligen Schrift. In der Forschung ist umstritten, inwieweit diese mystagogisch-hermeneutische Deutung von Phil 3 mit zentralen Grundüberzeugungen der spätantiken Philosophie bricht.75 Und es ist nochmals eine andere Frage, ob die Exegese ein prozessuales Verständnis von Phil 3 ermöglicht, das als Basis für Gregors spekulative Figuren in Anspruch genommen werden könnte. In dieser Fluchtrichtung führt Paulus in Phil 3 eine theologische Figur vor, die von der statischen Ordnungsebene des Nomos hinausführt zur Dynamik der Schöpfermacht Gottes, wirksam in der Auferweckung Christi, und die anstelle eines ‚klassischen‘ Perfektions‑ bzw. Paideia-Ideals auf die Gemeinschaft mit Christus, in Leiden und Herrlichkeit, zielt. 72 Vgl.
J. Reumann, Philippians (AYB 33 B), New Haven 2008, 506 f; 566; 583 f; 590; 601. Bereits bei Clemens zeichnen sich viele typische Bezugnahmen ab, u. a. in der Diskussion mit gnostischen (strom. 3,95:2; vgl. ExcThdt 54,3) und platonischen (strom. 4,12:6) Konzeptionen. Vgl. ferner J. Doignon, Comment Hilaire de Poitiers a-t-il lu et compris le verset de Paul, Philippiens 3,21?, VigChr 43 (1989) 127–137. – Zu Phil 3,20 als Exempel einer wirkungsgeschichtlichen Hermeneutik vgl. Bockmuehl, Approach (s. Anm. 5) 83–87. 74 Greg. Nyss., Mos. praef. 5 (SC 1, 48 f); hom. 11 in Cant. (GNO 6, 326); u.ö. Vgl. K. Doi, The Knowledge of God and epectasis, Tokio 1998 (japan., mit Summary 9–22). 75 Zur Diskussion der diesbezüglichen These von E. Mühlenberg, Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa. Gregors Kritik am Gottesbegriff der klassischen Metaphysik (FKDG 16), Göttingen 1966, vgl. Ph. Clayton, Das Gottesproblem, Bd. 1: Gott und Unendlichkeit in der neuzeitlichen Philosophie, dt. Übs., Paderborn 1996, 132 f; Th. Böhm, Theoria, Unendlichkeit, Aufstieg. Philons Implikationen zu De vita Moysis von Gregor von Nyssa (SVigChr 35), Amsterdam 1996, 47–49. 73
4. Bilanz und Ausblick
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3. Im lateinischen Westen ist es wiederum Augustin, der sich aufgrund derselben Passage, von Phil 3,13 f, zu einer eigentümlichen Kombination von biblischer und neuplatonischer Theologie anregen lässt.76 Er bezieht die beiden Bewegungen, die er in seinem lateinischen Bibeltext vorfindet,77 intentio und extentio, auf den Selbstbezug und die Selbsttranszendenz der Seele, die sich nach Gott ausstreckt. Dem steht die distentio entgegen, die mit dem Selbstverlust und dem sich-Verlieren an die Zeitlichkeit korreliert. Da sich diese Figur auch in einem der populärsten Augustintexte findet, nämlich in den Confessiones mit ihrer Meditation über die Zeit (11,39), hat sie enorme Fortwirkungen in der abendländischen Kulturgeschichte gezeitigt.78 Auch für Augustins Selbstdeutung seiner Bekehrung und Neuorientierung hat Phil 3,13 eine ausschlaggebende Rolle gespielt.79 Wir schliessen mit einem zum Nachdenken anregenden Wort Augustins, das im Anschluss an die prozessuale Metaphorik von Phil 3,13–15 dazu einlädt, sich allezeit auf den unendlichen Weg des Erkennens einzulassen, auf dem New Perspectives zu Old Perspectives mutieren. So bereichern sie das kulturelle Gedächtnis fort und fort um neue Ancient Perspectives:80 „hoc ergo sapiamus ut noverimus tutiorem esse affectum vera quaerendi quam incognita pro cognitis praesumendi. sic ergo quaeramus tamquam inventuri, et sic inveniamus tamquam quaesituri.“
76 Aug., trin. 9,1 (CCSL 50, 292 f); die distentio (διάστασις) stammt aus der Plotinlektüre (enn. 3,7,11:41), vgl. G. J. P. O’Daly, Time as Distentio and St. Augustine’s Exegesis of Philippians 3,12–14, REAug 23, 1977, 265–271; P. Agaësse / J. Moingt, Œuvres de saint Augustin (BAug), Bd. 16: La Trinité, Bd. 2, Paris 21991, 589 f. 77 V. 13 f (unum autem, quae retro oblitus, in ea quae ante sunt extentus secundum intentionem sequor). 78 Vgl. E. A. Schmidt, Zeit und Geschichte bei Augustin (SHAW.PH) 1985, 41–47 (Augustin zitiert Phil 3,12–14 „zur Vorstellung der Aufhebung der menschlichen Zeit“, 44 f); G. F. D. Locher, Die Beziehung der Zeit zur Ewigkeit bei Augustin, ThZ 44 (1988) 147–167, hier: 159; J. J. O’Donnell, Augustine, Confessions. A Text and Commentary, Oxford 1992, Bd. 3, 295 f (auch elektronisch unter: http://www.stoa.org/hippo/; Zugriff am 07. 11. 2019); K. Flasch, Was ist Zeit? Augustinus von Hippo, das XI. Buch der Confessiones, Frankfurt 22004, 397–399. 79 So im Ostia-Gespräch, conf. 9,23. 80 Aug., trin. 9,1 (CCSL 50, 293): „So also wollen wir denken, auf dass wir erkennen, dass sicherer ist die Neigung, die Wahrheit zu suchen, als das Unerkannte für Erkanntes vorwegzunehmen. So also wollen wir suchen: als solche, die finden werden, und so wollen wir finden; als solche, die suchen werden“; Übs. nach M. Schmaus, BKV2 II/14, Kempten 1936.
Der Logos als Brücke vom Evangelium zur Philosophie Der Johannesprolog in der Relektüre des Neuplatonikers Amelios für Jean Zumstein
Abstract The Logos as Bridge from the Gospel to Philosophy. John’s Prologue in the Re-lecture of the Neo-Platonist Amelius Analysis of a fragment of the Neo-Platonist philosopher Amelius on the prologue of John’s Gospel (John 1:1–18). Theme is the place of Amelius’ paraphrasing of this important text about the divine and cosmic role of the “Logos” within the history of philosophy and theology. A special interest is devoted to the cross-cultural exchange between early Christianity and Hellenistic-Roman education and philosophy.
„Von diesem Anfang des heiligen Evangeliums, das nach Johannes benannt ist, sagte ein gewisser Platoniker, wie ich von Simplizian, dem heiligen Greis und späteren Bischof der Mailänder Kirche, oft vernahm, er müsse mit goldenen Buchstaben aufgeschrieben und in allen Kirchen an der zumeist in die Augen fallenden Stelle angebracht werden.“
Mit diesen Worten, die auf die bewegte Mailänder Zeit zurückblicken, bezeugt Augustin die Anziehungskraft des Johannesprologs in den Debatten zwischen christlicher Theologie und platonischer Philosophie.1 Obschon wir den quidam Platonicus nicht kennen – manche denken an den in vorgerücktem Alter zum Christentum konvertierten hochangesehenen Rhetor und Philosophen Marius Victorinus2 –, dokumentieren Augustins „Bekenntnisse“, wie er den Logos asarkos von Joh 1 gerade in „Schriften der Platoniker“, die vom Griechischen 1 Aug., civ. 10,29 (CCSL 47, 307): Quod initium sancti evangelii, cui nomen est secundum Iohannem, quidam Platonicus, sicut a sancto sene Simpliciano, qui postea Mediolanensi ecclesiae praesedit episcopus, solebamus audire, aureis litteris conscribendum et per omnes ecclesias in locis eminentissimis proponendum esse dicebat. – Zur Auseinandersetzung mit dem Platonismus in diesem Werk vgl. Th. Fuhrer, Die Platoniker und die civitas dei, in: Ch. Horn (Hg.), Augustinus. De civitate dei (Klassiker Auslegen 11), Berlin 1997, 87–108. 2 So erstmals A. Dyroff, Zum Prolog des Johannes-Evangeliums, in: Pisciculi, FS F. J. Dölger (AuC.E 1), Münster 1939, 86–93, hier: 88 Α. 5. Augustin liess sich über Victorinus’ Konversion durch Simplizian, seinen geistlichen Ratgeber, ausgiebig informieren, conf. 8,3–5; sie hat Vorbildfunktion für seine eigene Bekehrung; vgl. V. H. Drecoll, Die Entstehung der Gnadenlehre Augustins (BHTh 109), Tübingen 1999, 306–319. Der Johannesprolog war Hauptthema der Gespräche zwischen Simplizian und Augustin, vgl. P. Courcelle, Recherches sur les confessions de saint Augustin, Paris 21968, 168–174.
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ins Lateinische übersetzt worden waren, kennen lernte.3 Auch im griechischen Osten hat der Anfang des Vierten Evangeliums offenbar das Interesse nichtchristlicher Philosophen gefunden. Vielleicht liessen sie sich von seinem schlichten, aber erhabenen Stil (ὕψος) anziehen, den gebildete Heiden ja auch am Anfang der Genesis wahrgenommen hatten.4 Dies Interesse am Johannesprolog irritierte einige Kirchenväter und liess sie protestieren gegen die Usurpation biblischer Texte.5 Ein Stück weit grossherziger verhält sich Euseb, der in seiner Praeparatio evangelica die christliche Lehre auf hohem Niveau mit der überkommenen griechischen Kultur ins Gespräch bringt. Unter den Büchern 11–13, die die weitreichende Konvergenz von Mose und Platon belegen, ragt Buch 11 hervor mit seiner Behandlung der fundamentalen Themen der Metaphysik,6 zumal der Gotteslehre (11,9–20), die die Korrespondenzen zwischen Theologie und Philosophie herausstellt. Dazu zählen die Prinzipienlehre, d. h. das Wesen der zweiten Hypostase nach Gott (Kap. 14–19), und die Dreiheit der Prinzipien (Kap. 20). Der Johannesprolog kommt hier in einer überaus bemerkenswerten Passage zur Sprache, der sich die folgenden Zeilen widmen.7 3 Aug., conf. 7,13 (CCSL 27, 101): procurasti mihi […] quosdam Platonicorum libros ex Graeca lingua in Latinam versos, et ibi legi non quidem his verbis, sed hoc idem omnino multis et multiplicibus suaderi rationibus, quod „in principio erat verbum etc.“ Victorinus wird in 8,3 eigens als Übersetzer genannt; laut Simplizian „bringen seine Schriften Gott und sein Wort auf alle Weisen nahe“ (istis autem omnibus modis insinuari deum et eius verbum). Zur Auseinandersetzung Augustins mit dem Platonismus vgl. den Überblick bei V. H. Drecoll, Augustin Handbuch, Tübingen 2007, 66–85. 4 So das Urteil des nichtchristlichen, unbekannten Autors Ps.-Longinos, subl. 9,9 über Gen 1,3.9 f. Zur Wertschätzung des Anfangs der Genesis im Traktat περὶ ὕψους vgl. J. G. Cook, The Interpretation of the Old Testament in Greco-Roman Paganism (STAC 23), Tübingen 2004, 32–34. Darüber hinaus scheint der Zusammenhang zwischen Ontologie und Sprachphilosophie in Gen 1 auch den Literaturkritiker Longinos (3. Jh.), einen Lehrer des Porphyrios, beeindruckt zu haben. Vgl. I. Männlein-Robert, Longin. Philologe und Philosoph. Eine Interpretation der erhaltenen Zeugnisse (BzA 143), Leipzig 2001, 76; 599–608. M. Psellos hat dessen Interpretationsansatz auch auf den Johannesprolog übertragen, aaO. 609–613. 5 So besonders Basil., hom. 16,1 (PG 31, 472 C), der den auf weltliche und fleischliche Weisheit vertrauenden Philosophen vorwirft, sie bewunderten die biblischen Worte, missbrauchten sie aber als Plagiat – „der Teufel ist ein Dieb, der das Unsrige hinausträgt zu seinen Propheten“. Möglicherweise denkt Basileios u. a. an den unten zu besprechenden Amelios; vgl. H. D. Saffrey / L. G. Westerink (Hg.), Proclus. Théologie platonicienne, Bd. 5, Paris 1987, LXIIf; L. Brisson, Amélius. Sa vie, son œuvre, sa doctrine, son style, ANRW II/36.2 (1987) 793–860, hier: 840 A. 67. Das Diebstahl-Theorem führt auch bei Kyrill und Theodoret (s. unten Anm. 7) zur Missbilligung. Zumal das negative Urteil von Basileios steht in gewissem Kontrast zum offeneren Programm seines Frühwerks Ad iuvenes. 6 Kommentierte Ausgabe: G. Favrelle / E. des Places (Hg.), Eusèbe de Césarée. La préparation évangélique, Bd. 11 (SC 292), Paris 1982. Nacheinander werden vorgeführt die hebräische Weisheit, also das Alte Testament (14), Philon (15), Platon (16), Plotin (17), Numenios (18, sehr ausführlich) und Amelios (19). Für die Trias der Hypostasen (20) zitiert Euseb (Ps.‑)Platon, ep. 2. – Auch Euseb teilt das Diebstahl-Theorem (z. B. 11,1:1) und fällt sehr kritische Urteile, aber sie stehen nicht im Vordergrund; vgl. Favrelle, aaO. 18–21; 27. 7 Euseb, praep. 11,18:26–19:4 (GCS 43.2, 44 f); davon abhängig sind Kyrill, Juln. 8,44 (GCS.NF 21, 591 f) und Theodoret, affect. 2,87 f (SC 57, 162 f).
1. Das Amelios-Zitat in der Praeparatio evangelica von Euseb
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Der Siegeszug der Logostheologie im altchristlichen Denken vom 2. bis noch ins 4. Jahrhundert verdankte sich dem enormen Resonanzraum, der mit dem Logos in den Systemen der hellenistischen Philosophie, insbesondere in der Stoa, und seinen Wechselwirkungen mit der Gestalt der Weisheit im griechischsprachigen Judentum einhergeht.8 Allerdings steht der Logos, soweit es seinen kosmologischen und metaphysischen Stellenwert betrifft, gerade in der platonischen Lehrtradition, die ab dem zweiten Jahrhundert n. Chr. die philosophische Entwicklung dominiert, eher im Schatten der gleichsam klassischen Hypostasen wie Geist und Seele. Seine ausserordentlich dominante Position bei Philon, der in das Umfeld der mittelplatonischen Strömungen gehört, verdankt er erst der Interferenz mit der von Haus aus jüdischen Weisheitstheologie.9 Die ziemlich unbestimmte und diffuse Position dessen, was Logos in der griechischen Sprache und in den philosophischen Reflexionen alles abdeckt, ist auch im nun zu besprechenden Text mit Händen zu greifen.
1. Das Amelios-Zitat in der Praeparatio evangelica von Euseb Als Klimax der mosaisch-platonischen Konvergenzen hinsichtlich des zweiten göttlichen Prinzips, des Nūs, wird Amelios vorgestellt, ein herausragender Repräsentant der zeitgenössischen Philosophie und besonders eifriger Anhänger Platons (11,18:26). Es handelt sich bei Gentilianus mit dem supernomen Amelios um einen etrurischen Schüler Plotins der ersten Stunde, der über zwanzig Jahre mit seinem Lehrer in Rom zusammen gearbeitet hat; verstorben ist er gegen Ende des dritten Jahrhunderts n. Chr.10 Von seinem beträchtlichen literarischen Werk ist – ausser unserem einen Zitat – nichts erhalten; Amelios ist im weiteren Verlauf der neuplatonischen Schulentwicklung zur Randfigur geworden, woran das von gegenseitiger Rivalität überschattete Verhältnis zu Porphyrios wesentlich mitbeteiligt war. Wahrscheinlich enthält das ebenfalls fast verlorene Œuvre 8 Vgl. hierzu die Übersicht von G. Verbeke / J. A. Bühner, Art. Logos, HWPh 5 (1980) 491–502; zur frühchristlichen Theologie vgl. L. Abramowski, Der Logos in der altkirchlichen Theologie, in: C. Colpe / L. Honnefelder / M. Lutz-Bachmann (Hg.), Spätantike und Christentum, Berlin 1992, 189–201. Vgl. sodann W. Löhr, Art. Logos, RAC 23 (2010) 327–435, hier zu Amelios: 335; vgl. zu Euseb: 410 f. 9 Insofern ist es kein Zufall, dass die hellenistischen „Parallelen“ zum Johannesprolog, genauer zu V. 1–5, ziemlich überschaubar sind. Der von U. Schnelle u. a. herausgegebene „Neue Wettstein“ listet neben der jüdischen Weisheitsliteratur v. a. Passagen aus Philon auf (Band I/2: Texte zum Johannesevangelium, Berlin 2001, 1–37); leider fehlt der Hinweis auf Cornutus, comp. 16,1, wo Hermes „der Logos ist“, den die Götter auf die Erde senden (vgl. 31,1 von Herakles als kraftvollem Logos). Wir sind hier wieder im Gravitationsbereich der stoischen Theologie. 10 Bei den beiden gewichtigsten Forschungsbeiträge zu Amelios handelt es sich um: H. Dörrie, Une exégèse néoplatonicienne du prologue de L’évangile de St. Jean (1972), in: ders., Platonica minora (STA 8), München 1976, 491–507; Brisson, Amélius (s. Anm. 5), besonders 840–843; vgl. ders., Art. Amelios, DNP 1 (1996) 585–587; ferner J. G. Cook, The Interpretation of the New Testament in Greco-Roman Paganism (STAC 3), Tübingen 2000, 149 f. Vgl. die zusammenfassende Darstellung von I. Männlein-Robert, § 115. Longinos und Amelios, in: Ch. Riedweg / Ch. Horn / D. Wyrwa (Hg.), Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (Ueberweg. Antike 5), Basel 2018, 1310–1321, hier: 1317–1321.
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des Theodor von Asine, eines Schülers von Porphyrios und Jamblich, gewisse Restspuren seiner Lehrbildung.11 Für den uns interessierenden Zusammenhang sind insbesondere drei Punkte bedeutsam: (1.) Bereits Amelios weist jene Tendenz auf, die den Neuplatonismus nach Plotin so sehr prägen sollte: ein ausgesprochenes Interesse an religiösen Traditionen, zumal an Mythen, Texten und Ritualen. So charakterisiert Porphyrios Amelios als überaus beflissenen Besucher kultischer Anlässe.12 (2.) Plotins Schule hat sich – in einem umkämpften religiös-spirituellen Markt – ausgiebig mit gnostischen Strömungen auseinandergesetzt; der Meister liess Amelios eine 40-bändige Schrift „Gegen das Buch des Zostrianos“ schreiben.13 Diese Notiz hat deshalb Aufmerksamkeit gefunden, weil es sich wahrscheinlich um die in Nag Hammadi gefundene Apokalypse desselben Titels handelt (NHC 8.1).14 Einige Forscher platzieren das bei Euseb erhaltene Fragment in diesem antignostischen Werk.15 (3.) Die spärlichen Informationen, die uns über Amelios erhalten sind, schreiben ihm eine vertiefte Beschäftigung mit Numenios zu, also mit einem Philosophen des zweiten Jahrhunderts n. Chr., der sich nicht nur um eine Synthese von Platonismus und pythagoreischer Tradition bemühte, sondern auch der barbarischen Weisheit hohe Wertschätzung zollte – neben Brahmanen, Magiern und Ägyptern besonders den Juden.16 Möglicherweise hat Numenios auch Amelios’ Interesse an neutestamentlichen Texten und ihrer allegori11 Vgl. dazu W. Deuse, Theodoros von Asine. Sammlung der Testimonien und Kommentar (Palingenesia 6), Wiesbaden 1973, 12 f („Vor allem in seiner Lehre über den Demiurgen scheint Theodoros von ihm beeinflusst zu sein“). 12 Porph., vit. Plot. 10,33 f: Amelios fordert als φιλόθυτος Plotin auf, teilzunehmen an den Opferfesten. Zur Analyse von Plotins Antwort („jene müssen zu mir kommen, nicht ich zu jenen“) vgl. L. Brisson, Plotin et la magie, in: ders. u. a. (Hg.), Porphyre. La vie de Plotin, Paris 1992, 465–475. Ob Amelios neben der orphischen Theologie auch auf die Chaldäischen Orakel, die für Porphyrios und alle seine Nachfolger zu „heiligen Schriften“ der platonischen Tradition werden, zurückgreift, ist unsicher. 13 Porph., vit. Plot. 16,12–14; in 16,5 f unter die gnostischen Offenbarungen gezählt. 14 Da der Traktat eine genaue literarische Parallele zu einer Passage im theologischen Werk des Marius Victorinus enthält, hat er eine lebhafte Debatte zur – von der früheren Forschung gern als schwergewichtig beurteilten – Tragweite des Einflusses von Porphyrios im lateinischen Westen (neben Victorinus auch und gerade beim jungen Augustin) entfacht. Zostr (NHC 8.1) ist in der ersten Hälfte des 3. Jh. zu datieren, also vor Porphyrios. Vgl. zur Diskussion M. Tardieu, Recherches sur la formation de l’Apocalypse de Zostrien et les sources de Marius Victorinus, Louvain 1996; L. Brisson, The Platonic Background in the Apocalypse of Zostrianos, in: J. J. Cleary (Hg.), Traditions of Platonism, FS J. Dillon, Ashgate 1999, 173–188; L. Abramowski, Nicänismus und Gnosis im Rom des Bischofs Liberius, ZAC 8 (2005) 513–566; dies., Audi, ut dico, ZKG 117 (2006) 145–168. 15 Brisson, Amélius (s. Anm. 5) 824; 842; ders., Amelios (s. Anm. 10) 586; Tardieu, Recherches (s. Anm. 14) 15; m.R. kritisch dazu Abramowski, Nicänismus (s. Anm. 14) 517; vgl. unten bei Anm. 71. 16 Vgl. besonders frg. 8 des Places („Was ist denn Platon anderes als ein attisch redender Mose?“, bezeugt hier bei Euseb, praep. 11,10:14 [neben Clem., strom. 1,150:4]). Er scheint den Pentateuch tropologisch, also allegorisch, ausgelegt zu haben. „Mose“ hat bei ihm eine besonders herausragende Position; Numenios’ Prädizierung Gottes bzw. des höchsten Prinzips als des „Seienden“ (frg. 13,4) scheint mit in die Wirkungsgeschichte von Ex 3,14 zu gehören. Vgl. dazu M. Frede, Numenius, ANRW II/36.2 (1987) 1034–1075; ders., Art. Numenios [6], DNP 8 (2000) 1050–1052; Cook, Interpretation of the Old Testament (s. Anm. 4) 36–41. Vgl. die zusammenfassende Darstellung von F. Ferrari, § 69. Numenios von Apameia, in: Riedweg, Philosophie (s. Anm. 10) 649–657.
1. Das Amelios-Zitat in der Praeparatio evangelica von Euseb
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schen Auslegung geweckt.17 Die bedeutsamsten Fragmente von Numenios hat wiederum Euseb überliefert; die Annahme liegt nahe, dass er diesen speziell auch durch die Vermittlung des Amelios kennen gelernt hat.18
Euseb unterstreicht eigens, dass er im Folgenden ein wörtliches Zitat bietet (11,18:26):19 „Und dieser also war der Logos; in Entsprechung zu ihm, der immer ist, entstand das Gewordene, wie es auch Heraklit bekräftigte, und von dem, bei Zeus, der Barbar bekräftigte, dass der in der Ordnung und Würde des Prinzips Befindliche auf Gott hin ist und Gott ist, dass durch ihn schlechthin alles geworden ist; dass in ihm das Gewordene lebend und Leben und seiend ist; und dass er in die Leiber sinkt und mit Fleisch bekleidet als Mensch erscheint, dass er damit zugleich die Herrlichkeit der Natur zeigt; schliesslich, dass auch der Aufgelöste wiederum vergöttlicht wird und Gott ist, welcher er war, ehe er in den Leib und das Fleisch und den Menschen hinabstieg.“ (11,19:1)
Wir haben hier den klaren Fall einer bestimmten Form von Intertextualität vor uns, nämlich eine Paraphrase des Johannesprologs,20 nicht aber eine Exegese oder gar einen Kommentar. Der Philosoph gibt einzelne Partien von Joh 1,1–14 mit seinen eigenen Worten wieder, aber unter fortlaufendem Rückgriff auf den Hypotext und auf einzelne seiner Vokabeln. Vom Kontext ist nur so viel 17 Offenbar hat sich Numenios neben der biblischen Frühgeschichte, nämlich mit Moses Kampf gegen die ägyptischen Zauberer, auch mit den Evangelien beschäftigt (frg. 10; bei Orig., Cels. 4,51): „Im dritten Buch seiner Schrift ‚Über das höchste Gut‘ führt er auch eine Geschichte von Jesus an, jedoch ohne dessen Namen zu nennen, und gibt ihr eine tropologische Deutung.“ Der Verzicht auf die explizite Namensnennung erinnert frappant an Amelios’ namenlosen „Barbaren“! 18 Vgl. Brisson, Amélius (s. Anm. 5) 801 f. – Amelios schrieb alle Werke des Numenios ab und kannte die meisten fast auswendig (Porph., vit. Plot. 3,43–45); er hat Plotin vor dem Vorwurf, ein Plagiator des Numenios zu sein, in Schutz genommen (17,1–6). 19 Καὶ οὗτος ἄρα ἦν ὁ λόγος καθ᾽ ὃν αἰεὶ ὄντα τὰ γινόμενα ἐγίνετο, ὡς ἂν καὶ ὁ Ἡράκλειτος ἀξιώσειε καὶ νὴ Δί᾽ ὃν ὁ βάρβαρος ἀξιοῖ ἐν τῇ τῆς ἀρχῆς τάξει τε καὶ ἀξίᾳ καθεστηκότα πρὸς θεὸν εἶναι καὶ θεὸν εἶναι· δι᾽ οὗ πάνθ᾽ ἁπλῶς γεγενῆσθαι· ἐν ᾧ τὸ γενόμενον ζῶν καὶ ζωὴν καὶ ὂν πεφυκέναι· καὶ εἰς τὰ σώματα πίπτειν καὶ σάρκα ἐνδυσάμενον φαντάζεσθαι ἄνθρωπον μετὰ τοῦ καὶ τηνικαῦτα δεικνύειν τῆς φύσεως τὸ μεγαλεῖον· ἀμέλει καὶ ἀναλυθέντα πάλιν ἀποθεοῦσθαι καὶ θεὸν εἶναι, οἷος ἦν πρὸ τοῦ εἰς τὸ σῶμα καὶ τὴν σάρκα καὶ τὸν ἄνθρωπον καταχθῆναι (GCS 43.2, 45). Die deutsche Übersetzung modifiziert diejenige von Abramowski, Nicänismus (s. Anm. 14) 516. Vgl. die Übs. von Favrelle (s. Anm. 6) 147–149: „Et c’était donc le Verbe, l’être éternel, aurait dit Héraclite, par lequel naissaient les êtres du devenir, celui-là aussi, par Zeus, dont le Barbare dit que, placé dans le rang et la dignité de principe, il est tourné vers Dieu, il est Dieu; que par lui absolument tout est entré dans l’existence; qu’en lui le devenir a été fait vivant, vie, être; qu’il descend dans les corps, que revêtant la chair il prend apparence d’homme, montrant ainsi la grandeur de la nature; évidemment aussi qu’une fois détruit, il est à nouveau divinisé et Dieu, tel qu’il était avant de descendre dans le corps, la chair, l’homme.“ 20 Darauf weist Euseb selber hin (μεταπεφρασμένα ἐκ τῆς τοῦ βαρβάρου θεολογίας, 11,19:2; zum Terminus vgl. z. B. Theon, prog. 62,24 f Sp.). Von „Kommentar“ spricht Brisson, Amélius (s. Anm. 5) 840 u.ö., von „Exegese“ Dörrie, Exégèse (s. Anm. 10) passim. – Vgl. zur rhetorischen Übung in den Progymnasmata J. Kilian, Art. Paraphrase, HWRh 6 (2003) 556–562 (mit dem Hinweis darauf, dass die Rhetoriktheorie die Paraphrase von der Metaphrase i. e. S., die mit wörtlicher Textwiederholung arbeitet, meist nicht voneinander abgrenzt, 557).
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erkennbar, dass der Autor Bezug nimmt auf ein argumentativ bereits erreichtes Resultat und dieses nun bei Heraklit und dem Evangelisten wieder erkennt.21 Dabei lässt das rückverweisende Demonstrativpronomen gerade nicht an den Logos, sondern an eine andere metaphysische Grösse denken. Nach der Referenz auf einen weiteren Hypotext, ein bekanntes Heraklitwort,22 kommt „der Barbar“ zur Sprache, eingeleitet durch die eigenartige, vielleicht Staunen ausdrückende Interjektion „bei Zeus“. Die Vermeidung des Autorennamens lässt sich gut mit der Rücksicht auf pagan-christliche Empfindlichkeiten im Rom um die Mitte des 3. Jahrhunderts erklären; sie verleiht dem biblischen Zeugnis aber auch einen ganz besonderen Charakter: Es ist die geheimnisvolle barbarische Weisheit, die den dunklen Heraklit überraschend bestätigt. Die Sprachregelung ist gerade im Blick auf den für Amelios so einflussreichen ‚barbarophilen‘ Numenios nicht als abwertend oder ironisch zu taxieren,23 sondern als Wertschätzung. Der „Barbar“ räumt dem Logos nicht nur den Rang eines fundamentalen Prinzips ein, sondern schreibt ihm auch die Relation zu Gott und das Gottsein selber zu. Die Bezugnahme auf Joh 1,1–2 ist markant; dabei wird ἀρχή ontologisch – nämlich hinsichtlich Ordnung (τάξις) und Würde (ἀξία) umgedeutet. In der Folge wird Joh 1,3–4a wiedergegeben;24 auffällig ist die Doppelung des Lebens und die Verselbständigung der Kopula „war“ zum „seiend“. Schwer erklärbar ist der Verzicht auf die Lichtmetaphorik (Joh 1,4b–5.9), die ja auch in der platonischen Tradition einen hohen Stellenwert hat. Die Paraphrase springt vielmehr von V. 4a direkt zu V. 14: Die Inkarnation des Logos wird dreifach umschrieben: Sinken in die Körper, Anziehen von Fleisch und Erscheinen als Mensch. Mit der „Inkarnation“ einher geht das „Zeigen der Grossartigkeit der Natur“, eine Reinterpretation von V. 14c „und wir sahen seine Herrlichkeit“.25 Eingeleitet mit einem knappen 21 So Dörrie, Exégèse (s. Anm. 10) 494 („Car les premiers mots de celui-ci font reconnaître une ‚figure d’identification‘. Amélius, qui a obtenu dans ce qui précède, un certain résultat, retrouve justement ce résultat chez les auteurs qu’il cite, en l’occurrence Héraclite et saint Jean. Amélius est donc sur le point de passer d’une démonstration philosophique à la citation des témoins“); Abramowski, Nicänismus (s. Anm. 14) 515. 22 Heraklit, FVS 22 B 1: τοῦ δὲ λόγου τοῦδ‘ ἐόντος ἀεί – das „immer“ ist in der hier vorliegenden Interpretation mit „diesem Logos“ zu verbinden: „der Logos, der ewig ist“ (zur bereits antiken Diskussion vgl. Aristot., rhet. 3,5:6 [1407b14–18] = FVS 22 A 4). V.a. die Stoa rezipiert den heraklitischen Logos und macht ihn zum Universalprinzip; vgl. besonders Kleanthes’ Zeushymnus (SVF 1, 537; V. 21 [vgl. 12 f]: ὥσθ᾽ ἕνα γίγνεσθαι πάντων λόγν αἰὲν ἐόντ). 23 So J. Dillon, St John in Amelius’ Seminar, in: St. Clark / P. Vassilopoulou (Hg.), Late Antique Epistemology, Basingstoke 2009, 30–43, hier: 41 A. 17. – Zu Numenios’ Wertschätzung der barbarischen Weisheit vgl. oben Anm. 15–16; zu Porphyrios vgl. unten bei Anm. 68. 24 Dabei wird V. 3 Ende (ὃ γέγονεν) mit V. 4 verbunden, also wie in der vornizänischen Überlieferungsgeschichte üblich (z. B. Clem., paed. 1,27:1; Orig., dial. 1,10 [SC 57, 62 f]). 25 Abramowski, Nicänismus (s. Anm. 14) 517 („Übertragung von δόξα, welches Wort für philosophische Leser ja nur ‚Meinung‘ oder dergleichen hiess“); vgl. Dillon, John (s. Anm. 23) 36. Die „Natur“ bezieht sich zweifellos auf die göttliche Welt; zur „Grossartigkeit“ vgl. Damask., princ. 3,11:2 (3, 27:2 f W.: οἷον τῇ μεγαλειότητι τῆς φύσεως) und öfter Clemens, z. B. strom. 1,55:1 („Grossartigkeit des Logos“); 6,34:1 (Gott „erweist seine eigene Grösse“); PGL 835a.
1. Das Amelios-Zitat in der Praeparatio evangelica von Euseb
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„schliesslich“26 bezieht sich Amelios auf die Passions‑ und Ostererzählung des Evangeliums (Kap. 19–21),27 um den Bogen zurück zum Prolog zu schlagen (vgl. besonders Joh 17,5.24; 6,62); das Ende knüpft an den Anfang an. Offenkundig liegt im „vergöttlicht werden“ und „Gott sein“ eine Wiederaufnahme von „zu Gott hin sein“ und „Gott sein“ vor, also zu V. 1b/c. Abermals bezieht sich Amelios auf den dreifach variierten Abstieg – in Körper, Fleisch und Mensch – zurück.28 Euseb stellt in seinem knappen Kommentar den Charakter der Übereinstimmung heraus (11,19:2 f) – es handelt sich nicht um eine schattenhafte Entsprechung, sondern um eine ausgewiesene Paraphrase von Joh 1;29 der „Barbar“ lässt sich als der Evangelist Johannes identifizieren, „Hebräer von Hebräern“. Dem Zitat von Joh 1,1–4.14 schliesst sich dasjenige eines „anderen Theologen der Hebräer“ an, Kol 1,15–17 (§ 4). Hinsichtlich der Existenz und des Ursprungs der „zweiten Ursache“ stimmen die griechischen Weisen also mit den Lehren der Hebräer rundum überein (§ 5). Mit seiner Auswahl der Satzteile des Hypotexts und ihrer paraphrastischen Wiedergabe präsentiert uns Amelios eine Relektüre des Johannesprologs aus platonischer Perspektive.30 Wir begegnen sowohl subtilen semantischen Verschiebungen wie markanten Reformulierungen, die die Aussagen des Prologs in die Konfiguration der platonischen Ontologie projizieren. Bevor wir die Transformation als ganze in den Blick nehmen, versuchen wir einzelne Komponenten philosophiegeschichtlich genauer zu bestimmen. Bei unserem Text handelt 26 Gegenüber der Überfrachtung dieses ἀμέλει durch Dörrie, Exégèse (s. Anm. 10) 499 („le mot […] est choquant, il est presque cruel“; ähnlich Brisson, Amélius [s. Anm. 5] 854) konstatiert Abramowski, Nicänismus (s. Anm. 14) 518, nüchtern: „Ein bescheidenes ‚schliesslich‘ genügt.“ – Ob wir hier ein Lieblingswort des Autors vor uns haben, der ja den Übernamen Amelios trägt?! Plotin hat jedenfalls damit gespielt, wollte er seinen Schüler doch „Amerios“ nennen: „es stehe ihm besser an, nach der Unteilbarkeit (améreia) zu heissen als nach der Nachlässigkeit (améleia)“, Porph., vit. Plot. 7,2–5. Zur Übersetzungsschwierigkeit der Passage vgl. Brisson, Porphyre (s. Anm. 12) 228. 27 ἀναλυθείς spielt kaum auf Joh 2,19.21 an (so Abramowski, Nicänismus [s. Anm. 14] 518), sondern bezieht sich entweder auf die Lösung von den Fesseln der Körperwelt oder eher auf die Auflösung des zusammengesetzten Wesens Mensch, dessen einzelne Teile zu den jeweils entsprechenden Sphären zurückkehren; beides begegnet häufig in neuplatonischen Texten. Nicht zu denken ist an den intransitiven Euphemismus „abscheiden“, wie ihn etwa Grabinschriften kennen (vgl. Phil 1,23). 28 Abramowski, Nicänismus (s. Anm. 14) 518 vermutet, dass Euseb hier am Schluss den Ameliostext mit eigenen Worten rafft, wie dies bei ihm auch sonst geschehe. Diese Möglichkeit lässt sich zwar nicht ausschliessen, steht aber in erheblicher Spannung zu seiner auffälligen Versicherung, wörtlich zu zitieren (11,18:26; 19:2). Beim „Hinabsteigen“ handelt es sich jedenfalls um eine deutliche Bezugnahme auf die platonische Begrifflichkeit des Seelenabstiegs (vgl. Plotin 2,9,11:13 und unten Anm. 57). 29 Dabei spielt Euseb auf eine Wendung Platons an, Phaidr. 243b („mit entblösstem Haupt, nicht verhüllt“); vgl. Dörrie, Exégèse (s. Anm. 10) 492. 30 Wir verdanken J. Zumstein die Einführung dieses wichtigen literaturwissenschaftlichen Begriffs in die Johannesexegese: Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium (AThANT 84), Zürich 22004.
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es sich freilich nicht um eine Exegese im engeren Sinn, d. h. um einen Interpretationsvorgang, der den Abstand zwischen dem vorgegebenen Text und seiner Auslegung mit bestimmten sprachlichen oder gedanklichen Mitteln thematisiert. Die Art und Weise der Paraphrasierung lässt aber die Fluchtlinien hinreichend deutlich erkennen, entlang derer sich die platonisierende Lektüre des biblischen Texts organisiert. Leider bleibt dabei vieles unklar. Wir wissen nicht, ob Amelios im Anschluss an seine Paraphrase den Prolog näherhin interpretiert hat. Wahrscheinlich muss man die Frage verneinen; er hat sich wohl mit dem Testimonium begnügt – hätte Euseb von einem grösseren Textzusammenhang Kenntnis gehabt, hätte er es sich kaum nehmen lassen, diesen wenigstens summarisch zu referieren.
2. Der Logos als göttliche Hypostase In der Sichtweise von Euseb hat Amelios den johanneischen Logos mit dem zweiten Prinzip der platonischen Metaphysik, mit dem Geist (Nūs), identifiziert. Ist diese Gleichsetzung zutreffend?31 In methodischer Hinsicht besteht der beste Weg, unsere Johannesparaphrase in ihrer platonischen Konstellation zu verorten, darin, ihren Zusammenhang mit dem übrigen literarischen Werk ihres Verfassers herauszuarbeiten. Leider ist uns diese Möglichkeit fast vollständig verwehrt, verfügen wir doch lediglich über eine Handvoll doxographischer Informationen aus zweiter Hand, vornehmlich von Proklos (5. Jh. n. Chr.), die die Systembildung und zumal die Sonderlehren von Amelios referieren. Aus diesem Grund wählen wir in einer ersten Annäherung einen traditionsgeschichtlichen Zugang, d. h. wir versuchen, einige exegetische Aspekte unseres Textes von denjenigen Philosophen, die den nachhaltigsten Einfluss auf Amelios ausgeübt haben, her zu beleuchten. Es handelt sich um Plotin und Numenios. Erst dann wenden wir uns seiner eigenen Lehrbildung zu, die bereits die für den nachplotinischen Neuplatonismus charakteristische Triadisierung des Emanationsprozesses in Ursprung, Hervorgang und Rückwendung (ἐπιστροφή) aufweist.
31 Die Frage wird unter Hinweis auf Euseb bejaht von Abramowski, Nicänismus (s. Anm. 14) 514–516. Eine andere Option ist die Weltseele, also die dritte fundamentale Hypostase des plotinischen Systems; so Dyroff, Prolog (s. Anm. 2) 88 (nach Zeller); Dörrie, Exégèse (s. Anm. 10) 495–497 und besonders Brisson, Amélius (s. Anm. 5) 841–843, der unsere Passage sogar zum Leittext für den dogmatischen Locus „Weltseele“ macht! Eine dritte Option schlägt Dillon, John (s. Anm. 23) 33 ff vor: „the Logos […], as an emanation from the demiurgic Intellect, passing (of course) through the World Soul to the realm of Matter“ (40 A. 8). Im Folgenden werde ich diese Hypothese favorisieren, aber mit der traditionellen Zuschreibung an den Nūs verbinden.
2. Der Logos als göttliche Hypostase
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1. Im umfangreichen Œuvre Plotins beschränken wir uns auf die eine, entscheidende Frage:32 Welche Stellung kommt dem Schlüsselbegriff unserer Paraphrase, dem Logos, zu? Plotin hat in reichem Ausmass die stoische Tradition rezipiert, in der der Logos als ontologische und kosmologische Grösse im Zentrum steht.33 In der vertikal entworfenen Architektur seiner Metaphysik rückt er allerdings nicht in den Rang einer fundamentalen Hypostase ein, sondern wird als besondere Emanation der zweiten Hypostase, dem Geist, zugeordnet, und zwar im Prozess der Erzeugung des sinnlichen Kosmos (v. a. 3,2,2). Der Logos bzw. die logoi gestalten als aktive Formkraft die Materie (5,8,2:17–19; 3,8,2:19 f).34 Der Logos bildet also die Brücke zwischen dem von vollkommener Einheit durchwalteten intelligiblen Kosmos und dem stärker zerteilten materiellen Kosmos;35 das stoische Erbe vom Logos als Weltgesetz und Formkraft wird also auf die platonische Vertikale projiziert.36 „So hat denn der Geist, indem er ein Stück von sich in die Materie dargab, still und ohne Erschütterung das All gewirkt. Es ist aber dies der Logos, der aus dem Geist floss; denn was aus dem Geist fliesst, ist Logos (τὸ γὰρ ἀπορρέον ἐκ νοῦ λόγος), und dieser fliesst immerdar, solange denn der Geist in der Wirklichkeit gegenwärtig ist.“ (3,2,2:15–18)
Allerdings hat der Logos keine eigentliche Mittelposition zwischen Geist und Seele, weil letztere sonst ihre Rationalität verlöre (2,9,1:57–63). Der Logos ist also weder reiner Nūs noch reine Seele, sondern beider Erzeugnis (3,2,16:13–31). Für unsere Fragestellung wichtig ist die besondere Beziehung, die der Logos zum „Leben“ hat (3,2,16:16–31): Er kommt her vom einen Leben und vom einen Nūs, ist selber aber davon unterschieden; er steht nicht mehr in der Fülle, sondern vermittelt sich nur noch partiell – und steht deshalb am Ursprung von Kampf und Schlacht, also den die vorfindliche Welt kennzeichnenden Gegensätzen. Damit ist die Brücke zu Heraklit geschlagen. „So ist denn also auch der gesamte Logos einer, zerfällt aber in ungleiche Stücke.“37 32 Die Übersetzungen orientieren sich an R. Harder / R. Beutler / W. Theiler (Hg.), Plotins Schriften (PhB 211–215; 276), 6 Bde., Hamburg 1956–1971. 33 Wir notieren an dieser Stelle, dass Amelios’ erster Lehrer wahrscheinlich der Stoiker Lysimachos war; Brisson, Amélius (s. Anm. 5) 800; 836 f vermutet seinen starken Einfluss in Amelios’ Logoslehre. 34 Die Formkraft des Logos kann so weit in die Materie hineinwirken, dass er als „letzter und toter“, der das Leben nicht mehr weitergeben kann, erscheint (enn. 3,8,2:31 f)! 35 Wir notieren nur am Rand, dass bei Plotin auch die Sophia in diejenige geistzugeordnete Position, die dem Logos zukommt, einrücken kann (5,8,4:40 [Beisassin des Nūs, wie Sap 9,4]; 5:1–15 [Sophia als Schöpferin, aus dem Geist erzeugt]). 36 In 3,2,15:13 ist der Logos Prädikat der Archē, bezogen auf die sinnliche Welt. „So ist also der Urbeginn Logos, und Logos ist auch alles, was nach seiner Massgabe entsteht (ἀρχὴ οὖν λόγος καὶ πάντα λόγος καὶ τὰ γινόμενα κατ᾽ αὐτὸν, vgl. die erste Zeile des Amelios-Textes!) und beim Entstehen entsprechend geordnet wird.“ 37 3,2,16:28–33 (ὁ λόγος ὁ πᾶς εἷς, μεμέρισται δὲ οὐκ εἰς ἴσα).
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Von besonderem Interesse ist die plotinische Korrelation von wahrem, „erstem“ Mensch und Logos; dieser ist ein von der Seele zu unterscheidender Logos (i. S. der Formkraft).38 Man kann sich fragen, ob Amelios diese Spur geholfen hat, die johanneische Menschwerdung des Logos zu verstehen.
In diesem Zusammenhang verdient die Allegorese des sokratischen Eros-Mythos in Platons Symposion besondere Aufmerksamkeit.39 Plotin deutet den nektarberauschten Poros, den in den Garten des Zeus eindringenden künftigen Vater des Eros, auf den Logos. Dieser sinkt in die niedrigere Welt hinab, in die Seele (3,5,9); mit sich transportiert er die Fülle des oberen göttlichen Lebens.40 „Der Poros nun ist der Logos der Dinge in der geistigen Welt und im Geist, und da er gleichsam mehr ausgeschüttet und ausgefaltet ist, hat er mit der Seele zu tun und dürfte wohl in der Seele sein […] Das Wesen also, das sich dort oben mit Nektar füllt, was kann es anders sein als der Logos, welcher von einem höheren Ursprung zu einem geringeren hinabsinkt (τί ἂν εἴη ἢ λόγος ἀπὸ κρείττονος ἀρχῆς πεσὼν εἰς ἐλάττονα)? So kommt also vom Geist her dieser Logos in die Seele […].“ (3,5,9:1–8)
Es ist kein Zufall, dass sich die Passage im Zusammenhang einer Allegorese findet.41 Wenige Sätze später äussert sich Plotin explizit zum Wesen mythischer Sprache:42 „Die Mythen sind, wenn sie wirklich Mythen sein wollen, genötigt, das, was sie behandeln, der Zeit nach zu zerlegen und viele Dinge voneinander abzutrennen, welche beisammen sind und nur in der Anordnung oder den Kräften auseinandertreten (selbst wissenschaftliche Darlegungen lassen ja das nie Entstandene entstehen und trennen auch ihrerseits 38 6,7,4 f, besonders 4:7; 5:1. – Zugleich sind die einzelnen Logoi Seelen, insofern jeder Logos einer Seele zukommt (3,2,18:27–29). Hier ergibt sich also die vertikale Anordnung von Gesamtseele – Logos – Einzelseele. 39 Platon, symp. 203b. Vgl. zur Interpretation Plotins J. Pépin, Mythe et allégorie, Paris 21976 (EAug), 192–198. 40 Der Nektar wird gedeutet auf das, „was das Göttliche mit sich bringt. Dieses bringt etwas mit sich, was dem Rang des Geistes untergeordnet ist, den Logos, während der Geist sich selber hat in Sättigung und nicht trunken ist, da er besitzt; denn er hat diesen Besitz nicht als eine fremde Zutat. Vom Logos aber, dem Geschöpf des Geistes, das erst nächst dem Geist ins Dasein getreten und nicht mehr des Geistes ist, sondern in einem Andern (ὁ δὲ λόγος νοῦ γέννημα καὶ ὑπόστασις μετὰ νοῦν καὶ οὐκέτι αὐτοῦ ὤν, ἀλλ᾽ ἐν ἄλλῳ), heisst es, usw. […].“ (9:17–21). Der Logos bringt die oberen Güter mit sich, „Kleinodien“ und „Glanzstücke“ (καλλωπίσματα, ἀγλαίσματα), d. h. die Logoi, die von Zeus, dem Nūs, ausstrahlen (9:8–17), eingebettet in das „Leben, das in Erscheinung tritt“ (ζωῆς δὲ φανείσης καὶ οὔσης ἀεί, 9:37 f). 41 Auf dieser Linie liegt auch die bekannteste Mythenallegorese bei Plotin, nämlich die Deutung von Uranos, Kronos und Zeus auf die drei Hypostasen – Eines, Geist und Seele 5,8,12 f. Vgl. dazu P. Hadot, Ouranos, Kronos and Zeus in Plotinus’ Treatise against the Gnostics, in: H. J. Blumenthal / R . A. Markus (Hg.), Neoplatonism and Early Christian Thought, FS A. H. Armstrong, London 1981, 124–137; ders., Images mythiques et thèmes mystiques dans un passage de Plotin, in: J. Bonnamour (Hg.), FS J. Trouillard, Fontenay aux Roses 1981, 205– 214. – Zur Mythendeutung Plotins vgl. ferner Pépin, Mythe (s. Anm. 39) 190–209; ders., Plotin et le miroir de Dionysos, RIPh 24 (1970) 304–320. 42 3,5,9:24–29; vgl. von der Timaios-Exegese 4,8,4:7 f.38–42 sowie unten Anm. 51.
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das beisammen Befindliche); die Mythen weisen uns nach besten Kräften hierauf hin, und wer diese Hinweise versteht, dem gestatten sie, das Getrennte wieder zusammenzufügen.“
Plotin bietet für das Verständnis unserer Johannesparaphrase drei Schnittstellen: (1.) Der Logos ist bei ihm dem Geist (Nūs) zugeordnet und transformiert die intelligible Welt in die Sphäre des Kosmos hinab. Er ist selber nicht als fundamentale Hypostase anzusprechen, besetzt aber teilweise dieselbe Mittelposition zwischen Geist und Materie, die der Seele zukommt – tendenziell stehen die überkommene platonische Systembildung und die stoische Konzeption in einer gewissen Rivalität. Dabei korreliert Plotin das Urbild des Menschen mit dem Logos (2.) Der Logos „sinkt“ von seinem Ursprung (ἀρχή) hinab in die untere Welt.43 Die von ihm vermittelte Präsenz der oberen Lebensfülle in der Seele konvergiert mit Amelios’ „Zeigen der Herrlichkeit der Natur“ in der Sphäre der Menschen. (3.) In der allegorischen Deutung mythischer Erzählungen werden zeitliche Aussagen transponiert in ontologische Aussagen. Im Ganzen ergibt sich ein schlüssiges Bild: Der johanneische Mythos vom Logos wird in der platonischen Relektüre transparent für die Emanation des der Sphäre des Geistes entstammenden Logos in den Kosmos.44 2. Mit dem Namen des Numenios verbindet sich vor allem eine Lehre von drei Göttern. Während der erste Gott eine transzendente Position einnimmt, hat der Demiurg, der Nūs, eine zweifache Natur – er partizipiert einerseits am ersten Gott, ist also seinem Ursprung zugewandt, andererseits neigt er sich hinab zur Materie und durchwaltet den Kosmos (insofern besetzt er den Ort, der in der platonischen Standard-Tradition mehrheitlich der Weltseele zukommt). Seiner selbstvergessenen Hinabwendung wird komplementär zugeordnet seine Rückwendung zum Ursprung.45
Obschon die Rekonstruktion des Systems mit zahlreichen Schwierigkeiten behaftet ist, halten wir für unseren Zusammenhang die Möglichkeit fest, einem göttlichen Wesen, das den Rang nach dem höchsten Prinzip einnimmt, eine doppelte Rolle zuzuschreiben: einerseits die Bezogenheit auf das Ursprungsprinzip, andrerseits die zur Materie hin absteigende Bewegung (die schliesslich wieder umschlägt in die Rückwendung zum höheren Prinzip). Bei Numenios handelt es sich um den Demiurgen. Diesem begegnen wir nun wieder in den Referaten zu Amelios’ eigener Lehrbildung.46 43 Dabei ist zu beachten, dass ἀρχή i.U. zu Amelios eine zeitliche Konnotation hat („höherer Ursprung“), Joh 1,1 also näher steht. 44 Damit bestätigt die Plotin-Analyse die Interpretation von Dillon, John (s. Anm. 23; 31). 45 Die einschlägigen Fragmente: 11; 12,14 ff; 16; 18. „Der zweite Gott wird zum dritten Gott, insofern er sich tätig der Ordnung der Materie annimmt“ (Frede, Numenius [s. Anm. 16] 1065); insofern ist er identisch mit der Weltseele (aaO. 1068). 46 Gerade Amelios’ Lehre von den drei demiurgischen Intellekten ist stark von Numenios beeinflusst, Frede, Numenius (s. Anm. 16) 1035 f.
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3. Amelios selber ist dafür bekannt, dass er unter dem höchsten Einen eine demiurgische Trias ansetzt, d. h. drei demiurgische Götter, die er einer Exegese von Platons Timaios (39e) abgewinnt.47 Er identifiziert diese auch mit den griechischen Göttern Phanes, Uranos und Kronos. Während der erste Demiurg ganz unteilbar ist, ist der zweite als schöpferische Dynamis bereits in das All zerteilt. Der dritte schliesslich, der als „Quelle der Seelen“ die „Zerteilung ins Einzelne wirkt, ist wahrhaftig der demiurgische Nūs“; bei der Bildung des Alls transportiert er den Geist in die (Welt‑)Seele, die (Welt‑)Seele in den Körper.48 Der Dreiteilung zugrunde liegt wiederum eine Deutung von Platons Timaios (30b), wo der Demiurg einer bestimmten Überlegung (logismos) folgt.
Es hat den Anschein, dass Amelios den johanneischen Logos mit dem Demiurgen, also dem Nūs, identifiziert, der seinerseits triadisch ausdifferenziert wird. Der Abstieg des Logos wäre dann genauer auf den zweiten oder den dritten Demiurgen zu beziehen, der mit der Verteilung des Oberen im materiellen Kosmos beschäftigt ist, dabei selber aber in die Zerteilung emaniert. Der Brückenschlag vom demiurgischen Nūs zum Logos lag für den Plotinschüler nahe, hatte der Lehrer doch selber diesen der zweiten Hypostase zugeordnet. Zu diesem Schluss könnte auch die allegorische Exegese einer Passage aus dem Timaios geführt haben, nämlich der Rede des Demiurgen (λέγει) an die jüngeren Götter (41a).49 Die Wiederherstellung des Uranfänglichen schliesslich, zu der Amelios am Schluss seiner Paraphrase die johanneische Ostergeschichte komprimiert, gewinnt von seiner neuplatonischen Metaphysik her klares Profil: Es handelt sich um die Rückwendung des demiurgisch tätigen Geistes zu seinem eigenen Ursprung (ἐπιστροφή). 4. Es spricht manches dafür, dass Amelios den Prolog des Johannesevangeliums als mythische Ursprungsgeschichte gelesen hat, die der philosophischen Allegorese bedarf.50 Die präziseste hermeneutische Regel hat der Neuplatoniker 47 Vgl. das Referat von Proklos, in Tim. 1, 306:1–14; 336:16–26 D. (Phanes als Demiurg; Zeus als „erster“); dazu Brisson, Amélius (s. Anm. 5) 832 f; Dillon, John (s. Anm. 23) 32 f („It is this third Demiurge that would send forth a Logos in order to bestow upon the physical universe – or rather, upon Matter as the Receptacle – all the Forms that it beholds“); 41 A. 13. 48 Vgl. Proklos, in Tim. 1, 309:14–25, wonach Theodor von Asine (test. 12 Deuse) in diesem Punkt Amelios folge: „Er nennt den ersten Demiurgen ἀδιαίρετος, den zweiten εἰς ὅλα διῃρημένος, den dritten τὴν εἰς τὰ καθ’ ἕκαστα διαίρεσιν πεποιημένος.“ 49 Diese attraktive Hypothese vertritt Dillon, John (s. Anm. 23) 34: „After all, for any Platonist attuned to the allegorical tradition, the address of the Demiurge to the Young Gods is not to be taken literally, and therefore any communication that takes place between them must involve the imparting of logoi, or, collectively, of logos, a logos which would be of such a nature as to make these inferior, encosmic deities creative in their turn.“ Wie viele andere Neuplatoniker hat auch Amelios den Timaios kommentiert. Vgl. Proklos’ eigene Exegese der Stelle (in Tim. 3, 197:26–199:12): Der Demiurg erschafft in seinem Reden Leben (ζῳογονικὸς θεὸς ὁ λέγων); die λόγοι τοῦ πατρός (immer im Plural) werden qualifiziert als δημιουργικοὶ καὶ θεῖοι, nämlich κατὰ τὴν τοῦ λέγοντος θεοῦ δύναμιν χαρακτηριζόμενοι. 50 Zur philosophischen Mythendeutung vgl. Pépin, Mythe (s. Anm. 39); L. Brisson, How Philosophers Saved Myths. Allegorical Interpretation and Classical Mythology, Chicago 2004, sowie oben bei Anm. 39–42.
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Salustios um die Mitte des 4. Jahrhunderts im Blick auf den Mythos von Attis formuliert:51 „Dies alles hat sich aber nie je zugetragen, sondern ‚ist‘ immerzu.“
Die Narration wird in diesem Interpretationsverfahren in Ontologie überführt. Mythen enthalten philosophische Wahrheit in verhüllter Gestalt.52 Für unseren Zusammenhang besonders wichtig ist die Beobachtung, dass die Allegorese ausgerechnet beim Attismythos zur Anwendung kommt. Salustios und Kaiser Julian deuteten Attis’ Abstieg, Selbstkastration und Wiederaufstieg auf den Emanationsprozess des zeugenden demiurgischen Geistes, der zum Fall in die Tiefe der Materie übergeht, um sich schliesslich zurück zum göttlichen Ursprung, verbildlicht in der Göttermutter, zu wenden.53 Andere in einer ‚Katastrophe‘ endende Mythen wie derjenige des orphischen Dionysos vervollständigen das Bild.54 Zum einen zeigen sie, wie das mythische Geschick eines göttlichen Wesens als vertikale und schöpferische Bewegung von Abstieg und Wiederaufstieg in einem ontologischen Rahmenwerk interpretiert werden kann. Zum anderen geben sie zu erkennen, dass eine mythologische, allegorisch gedeutete Gestalt auch über die präzisen ontologisch definierten Grenzen einer Hypostase hinausreicht – Attis oder Dionysos, die für den demiurgischen Nūs stehen, erstrecken sich bis in den Bereich der fallenden Einzelseelen. Es gibt also neben der Zuordnung der einzelnen Götter zu den triadisch ausdifferenzierten Seinsebenen55 auch die Möglichkeit, umfassende allegorische Zuschreibungen vorzunehmen. Es ist kein Zufall, dass neben der mythischen auch die hymnische Sprachform dazu einlädt, gleichsam im Gegenzug zur ontologischen Ausdifferenzierung das angerufene
51 Salustios, De deis 4,9 (ταῦτα δὲ ἐγένετο μὲν οὐδέποτε, ἔστι δὲ ἀεί). Die Stossrichtung deckt sich genau mit der Aussage Plotins (oben bei Anm. 42); vgl. auch Julian, or. 5,10–11 (169d; 171c). 52 AaO. 3,4; vgl. Julian, or. 5,10 (170a/b). In 4,1 werden „theologische“, „physische“ und „psychisch-hylische“ Mythen (samt Mischformen) unterschieden. 53 Julian, or. 5 = matr. deor., besonders 11:170c–171d. 54 Vgl. dazu die Belege in meiner Arbeit: Neuplatonische und christliche Theologie bei Synesios von Kyrene (FKDG 35), Göttingen 1985, 157–160. 55 Die späte neuplatonische Theologie entwirft dabei eine komplexe Hierarchie, die etwa die Architektur der Theologia Platonica von Proklos bestimmt: Die höchste Klasse der transzendenten Götter (denen das höchste Eine und die göttlichen Henaden übergeordnet sind) umschliesst die Dreiheit von intelligiblen (noēton), intelligibel-intellektuellen und intellektuellen (noeron) Göttern, jede wieder dreifach unterteilt (und korreliert mit der Abfolge von der Monas bis zur Hebdomas); es folgen die hyperkosmischen Götter, die weltabgewandten (apolytoi) Götter und schliesslich die kosmischen Götter (mit der Bildung der Dekas). Die Siebenheit wird auf Kronos gedeutet, die Achtheit auf Rhea, die Neunheit auf Zeus (Damask., in Parm. 132,12–133,13 R.). Noch weiter unten stehen die universellen Seelen und die höheren Wesen (Engel, Daimonen, Heroen). Die Konzeption der universellen Analogie, versinnbildlicht in der „goldenen Kette“ Homers (Il. 8,19–27), erlaubt es, die Einzelgötter auf jeder geistigen und kosmischen Stufe zu situieren. So findet Proklos Kronos, Rhea und Zeus wieder in der ersten Triade der intellektuellen Götter (theol. Plat. 5,5–32).
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göttliche Wesen auf seinem Weg von der höchsten Sphäre bis zur Zerteilung und zum Fall in den Kosmos zu begleiten.56 5. Wir gingen aus von der Frage, ob die von Euseb für das Amelios-Fragment behauptete Identifikation des johanneischen Logos mit der zweiten Hypostase, dem Nūs, zutreffend ist. Sie lässt sich m. E. vorsichtig bejahen. Es ist zwar deutlich, dass sich Amelios spezifisch auf den Logos als eine Emanation des demiurgisch tätigen Nūs, genauer seine zweite oder dritte Manifestation, bezieht. Die allegorische Auslegung erlaubt es ihm aber, den Logos in beide Richtungen, nach oben und nach unten, auszudehnen. So beansprucht er für ihn emphatisch den Rang eines fundamentalen Prinzips (ἀρχή). Bei demjenigen Gott, auf den er im Sinn von Joh 1,1 f hin orientiert ist (πρὸς θεόν), dürfte es sich also nicht um den Nūs, genauer seine erste Manifestation, sondern um das höchste Eine handeln. Der Nūs selber ist im Modus der Rückwendung zu ihm hin ausgerichtet (Epistrophē), und zwar sowohl im ‚Anfang‘ wie am ‚Ende‘. Nach unten aber reicht der Logos bis in den materiellen Kosmos hinein, und zwar über die Ebene der Weltseele hinaus: Mit seiner Manifestation als „Mensch“ sind wir bereits auf das Niveau der sich inkarnierenden Einzelseelen gelangt.
3. Der Logos im Fleisch Die Paraphrase des Amelios umschreibt Joh 1,14a in dreifacher Weise: als „sinken in die (Welt der) Körper“, „Fleisch anziehen“ und „als Mensch sichtbar werden“. Wir werden im Folgenden der Frage nachgehen, ob die Inkarnationsaussage in der mutmasslichen Deutung des Amelios lediglich auf einen generellen ‚metaphysischen‘ Sachverhalt verweist oder ob er der Jesusgeschichte doch einen speziellen Stellenwert zumisst, allenfalls in doketischer Gestalt. 1. Die Hypothese, wonach Amelios die Jesuserzählung als mythische Geschichte allegorisch deutet, lädt dazu ein, die Inkarnationsaussage auf den Locus des Seelenabstiegs zu beziehen, der einen prominenten Platz in den neuplatonischen Systembildungen einnimmt. Gegenüber ausgesprochen dualistisch orientierten Modellen führte die innerplatonische Diskussion zu Auflistungen „über die Verschiedenartigkeit des Seelenabstiegs“.57 56 So ist es der Fall bei Synes., hymn. 9,76–99, wo der Abstieg des Nūs in den Fall der Seele übergeht; vgl. Vollenweider, Theologie (s. Anm. 54) 133–133 (mit Parallelen, A. 7). Anders als in seinen übrigen Hymnen identifiziert Synesios den absteigenden Nūs hier nicht mit Christus. Dies ist aber der Fall bei M. Victorinus, Ar. 1,51:28–43 (CSEL 83.1, 147 f), wo die deminuatio auf das Leiden Christi gedeutet wird (vgl. 3,2:21 ff); Christi Inkarnation wird korreliert mit der Weltdurchwaltung des Logos (3,3:18–29). 57 Vgl. dazu Celsus, frg. 8,53a (bei Orig., Cels. 8,53 [SC 150, 290 f]) und insbesondere Jambl., de anima (bei Stob. 1,49:39–42 [377:11–383:14 W.]); vgl. J. F. Finamore / J. M. Dillon (Hg.), Iamblichus. De Anima (PhA 92), Leiden 2002, 52–63; 149–173 (§ 26–34). Vgl. zur Thematik
3. Der Logos im Fleisch
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Die Palette reicht von positiv zu wertenden, freiwilligen Abstiegen, die der Erhaltung des Kosmos durch das Geistige dienen, bis zum unfreiwilligen Fall im Zeichen von Gericht und Strafe, der die faktische Situation der vorfindlichen Menschen ausmacht. Nicht zufällig wiederholt sich an diesem Ort die charakteristische Spannung, die die Platonrezeption als ganze auszeichnet, nämlich das Changieren zwischen der ‚kosmos-freundlichen‘ Linie des Timaios und der ‚kosmos-kritischen‘ des Phaidon und Phaidros.58 Auf den ersten Blick scheint unsere Johannesparaphrase beides zu beinhalten. Beim εἰς τὰ σώματα πίπτειν denkt man zunächst an einen Fall.59 Unser kurzer Blick auf Plotin hat aber herausgestellt, dass es lediglich um ein „Hinabsinken“ gehen kann, der Modus des Abstiegs also nicht näher spezifiziert wird.60 Dasselbe gilt vom „Anziehen des Fleisches“; es gibt gängige christliche Sprache wieder, lässt sich aber auch gut von der platonischen Kleidermetaphorik her verstehen.61 Den Ausschlag gibt erst Amelios’ Reformulierung von Joh 1,14c: „die Grossartigkeit der (göttlichen) Natur erweisen.“ Sie deutet auf eine nicht schon vom Fall bestimmte Präsenz der Seele in der unteren Welt. Jamblich zufolge lehren Platoniker aus der Schule des Mittelplatonikers Tauros (2. Jh. n. Chr.), „dass die Seelen von den Göttern auf die Erde gesandt werden“ – einige denken (unter Berufung auf Timaios 39e; 41b) an den Zweck der „Vervollkommnung des Alls“, andere „führen das Ziel des Abstiegs zurück auf den Erweis göttlichen Lebens, sei doch dies der Wille der Götter, dass die Götter durch die Menschen offenbar werden“.62
Die Manifestation des Logos im Kosmos steht zwar im Zeichen des Abstiegs, schlägt aber nicht in einen eigentlichen Seelenfall um. Im Gegenteil, das Höhere manifestiert seine ihm eigene „Grösse“. Die ‚mythische‘ Inkarnationsaussage des Johannesprologs könnte für Amelios also den Emanationsprozess des demiurgischen Geistes bis zu seiner Präsenz in der materiellen Sphäre abbilden. 2. Ein close reading der Paraphrase benötigt freilich den Umweg über die philosophische Allegorese nicht, sondern führt vielmehr direkt zu der im Evangelium des „Barbaren“ erzählten Jesusgeschichte. Amelios dürfte diese durchaus auf eine individuelle Seelenverkörperung bezogen haben.63 Die neuplatonische Seelenlehre kennt die Möglichkeit von Abstiegen in die Körperwelt, die nicht A. J. Festugière, La révélation d’ Hermès Trismégiste, Bd. 3: Les doctrines de l’âme, Paris 1953, 63–96; 177–264; sowie meine Bemerkungen, Theologie (s. Anm. 54) 162 f. 58 Vgl. Plotins exegetische Analyse, 4,8,1:27–41. 59 So die Übersetzungen von Rist (s. unten Anm. 70), Dörrie, Abramowski und Dillon, während Brisson und Favrelle lediglich „il descend“ bieten. 60 Plotin 3,5,9:6; s. oben bei Anm. 39–40. 61 Vgl. einerseits die Belege PGL 469b, andrerseits die weit über den Platonismus hinausreichende Metaphorik der „Kleider der Seele“, dazu A. Kehl, Art. Gewand (der Seele), RAC 10 (1978) 945–1025. 62 Stob. 1,49:39 (379:1 f: εἰς θείας ζωῆς ἐπίδειξιν τὸ τέλος ἀναφέροντες τῆς καθόδου). Festugière, Révélation (s. Anm. 57) 77 suchte hierfür vergeblich nach Parallelen. Man könnte an einen spezifischen Bezug zur Theurgie denken, wogegen aber die Rückführung auf die Schule des Tauros spricht. M. E. liegt auf derselben Linie Plotins Sicht von der Manifestation des göttlichen Lebens hienieden, s. oben Anm. 40. 63 Anders Dörrie, Exégèse (s. Anm. 10) 500; Dillon, John (s. Anm. 23) 36 („Amelius can take John to mean that the Logos manifests itself as generic Man [this being the most exalted of its manifestations], without any suggestion that it became uniquely instantiated in any particular human form, such as that of Jesus“).
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der Kontamination mit der Materie, also Fall, Vergessen und Fesselung an die Materie, unterliegen. Neben den Gestirnen ist an „reine und vollkommene Seelen“ zu denken, die in Leibern Wohnung nehmen, ohne Affektüberwältigung und Erkenntnisverlust zu erleiden.64 Porphyrios hat von Amelios und seinem Lehrer Plotin ein entsprechendes Porträt gezeichnet.65 Wir können vermuten, dass Amelios auch Jesus unter die illustren Träger einer besonders reinen und erleuchteten Seele eingereiht hat. Diese Einschätzung würde sich zunächst mit derjenigen von Porphyrios decken: In seiner „Orakelphilosophie“ referiert dieser Orakelsprüche, in denen Christus als „sehr fromm und unsterblich geworden“ bezeichnet wird.66 Allerdings setzen sowohl Porphyrios wie einige seiner Orakelsprüche Christus als positiv gewürdigte Gestalt scharf von seinen Verehrern, von den Christen, ab. Ein Orakel der Hekate antwortet auf die Anfrage, ob Christus ein Gott sei: „Die Seele eines an Frömmigkeit ganz und gar herausragenden Mannes ist jene“ (frg. 345 F Smith). Freilich rangiert Jesus – jedenfalls in der Lesart des Porphyrios – lediglich in der relativ niederen Klasse der Daimones, nicht aber in der Würde des „körperlosen, unbewegten und unteilbaren“ ersten Gottes.67 Die hohe Christologie, wie sie etwa das Johannesevangelium und die zeitgenössische christliche Theologie vertreten, wird also verworfen. Jesus selber aber gilt als „einer der weisen Hebräer“ (frg. 346 F), er zählt also in die Reihe der herausragenden barbarischen Kulturträger, die „viele Wege“ zu den Göttern etabliert haben, während die Griechen in die Irre gingen (frg. 324 F). An diesem Punkt berührt sich Porphyrios mit Numenios, der aber wahrscheinlich den christlichen Überlieferungen gegenüber offener eingestellt war.68 64 Vgl. die Zusammenstellung Jambl., an. bei Stob. 1,49:40 (379:22–24). In diesem Zusammenhang wird unter Platonikern auch diskutiert, ob es eine Gemeinschaft von Göttern und inkarnierten Seelen gebe (aaO. § 42 = 382:17–24); dazu Festugière, Révélation (s. Anm. 57) 228. 65 S. besonders vit. Plot. 10,14–33 (Plotin hat von Geburt an allen etwas voraus; in ihm wohnt nicht ein gewöhnlicher Daimon, sondern ein Gott – oder ein göttlicherer Daimon –, mit dem sein Träger in ununterbrochenem Kontakt steht; zur inhaltlichen Spannung in der Passage vgl. die Diskussion bei Brisson, Porphyre [s. Anm. 5] 246–255); 10,35 f (dazu oben Anm. 12); das Orakel Apollons stellt den ausserordentlichen Rang Plotins heraus (22–23: Er zählt zur Klasse der inkarnierten Daimonen, ist nie wirklich in Schlaf und Vergessen geraten; er steht nicht vor den Totenrichtern, sondern gesellt sich zu ihnen, vereint mit Platon und Pythagoras); dazu kommen wunderbare Züge (11,1 ff). – Vergleichbar ist Marinos’ Porträt des Proklos (vit. Procl.), etwa die Herkunft seiner Seele aus der „Kette“ des Hermes (28,34 f S./S.); natürlich unter Einschluss von Elementen des theios anthropos – epiphaniale Züge (23,21 ff), Wundertaten (28,19 ff; 29,1 ff). 66 Vgl. dazu Ch. Riedweg, Porphyrios über Christus und die Christen, in: A. Wlosok u. a. (Hg.), L’apologétique chrétienne gréco-latine à l’époque prénicénienne (EnAC 51), Genf 2005, 15–198, mit der überzeugenden Forderung, die „Orakelphilosophie“ literarisch nicht mit der Schrift „Gegen die Christen“ zu vermengen; die beiden Werke zeigen ein charakteristisch verschiedenes Profil. Vgl. ferner W. Kinzig, War der Neuplatoniker Porphyrios ursprünglich Christ?, in: M. Baumbach / H. Köhler / A. M. Ritter (Hg.), Mousopolos Stephanos, FS H. Görgemanns, Heidelberg 1998, 320–332, hier: 332 A. 47. 67 „Christus wird bei Porphyrios also sozusagen zu einem Normalfall in der philosophischen Kategorie der sittlich herausragenden Männer“ (Riedweg, Porphyrios [s. Anm. 66] 174). 68 Vgl. oben bei Anm. 16–17 und 23.
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Mit seiner Paraphrase des herausragendsten Texts der ‚hohen Christologie‘, des Johannesprologs, scheint Amelios eine markant andere Position als sein Rivale Porphyrios zu vertreten:69 Der Logos des Evangeliums besetzt einen der privilegiertesten Ränge, den die platonische Geistmetaphysik zu vergeben hat. Er manifestiert sich in der materiellen Welt, so dürfen wir vermuten, in Gestalt einer vorzüglichen Seele, die sich in Menschengestalt inkarniert. 3. Man hat in der Terminologie von Amelios eine Anleihe bei doketistischen Vorstellungen wahrgenommen, wie sie bestimmte gnostische Christologien entwerfen.70 Von da aus war es nicht weit zur Hypothese, Amelios habe den Johannesprolog im Rahmen seiner umfangreichen Schrift gegen die gnostische Schrift „Zostrianos“ verfasst.71 Beide Annahmen sind m. E. ganz unnötig, und zwar nicht nur deshalb, weil der Zostrianos, eine kaum vom Christentum erkennbar beeinflusste sethianische Apokalypse, keine doketistischen Merkmale aufweist. Auch im Bereich der christlichen Gnosis bildet der Doketismus i. e. S., also die Annahme eines Scheinleibs, nur eine der vielfältigen Möglichkeiten, mit der Passionstradition umzugehen.72 Erkennbar ist allerdings durchgehend die für die platonischen Theologien charakteristische Tendenz, das welttranszendente Wesen des Göttlichen zu wahren, ist es doch von Unwandelbarkeit ausgezeichnet.73 Die Ausdrucksweise von Amelios ist sehr unspezifisch.74 Gleichwohl verrät sie die Schwierigkeiten, Christi Inkarnation im Rahmen der platonischen Geistmetaphysik zu entwerfen. Das Modell der Emanation, wonach sich das Höhere 69 Porphyrios hat die Evangelisten scharf attackiert; sie seien „Erfinder“, nicht „Erzähler“ (adv. Christ. frg. 15 Harnack = frg. 169 Berchman); vgl. A. von Harnack, Kritik des Neuen Testaments von einem griechischen Philosophen des 3. Jahrhunderts (TU 37.4), Leipzig 1911, 22; 111 f mit Verweis auf Euseb, hist. 6,19:2. Allerdings ist die Rückführung der Belege bei Makarios Magnes auf Porphyrios sehr umstritten. Vgl. zur Kritik an den Evangelisten auch M. Becker (Hg.), Porphyrios. Contra Christianos (TK 52), Berlin 2016, 346. – In frg. 59 Harnack = frg. 166 Berchman wird der Widerspruch zwischen Joh 1,1 f und Mk 10,18 festgestellt. Porphyrios hat sogar explizit bestritten, dass es sich bei Christus um den Logos handelt, Porph., adv. Christ. frg. 86 Harnack = 68 F. Becker (= Theophylakt, enarr. Joh. [PG 123, 1141]); vgl. Cook, Interpretation of the New Testament (s. Anm. 10) 148 f; L. Brisson, Le Christ comme Lógos suivant Porphyre dans Contre les chrétiens (fragment 86 von Harnack = Théophylacte, Enarr. in Joh., PG 123, col. 1141), in: S. Morlet (Hg.), Le traité de Porphyre contre les Chrétiens. Un siècle de recherches, nouvelles questions, Paris 2011, 277–290; Becker, Porphyrios, aaO. 371–380. Becker listet noch zwei weitere einschlägige Fragmente für die Polemik gegen den Johannesprolog unter den „sicher zuweisbaren Texten“ auf: 66 F. und 67 F. 70 Vgl. J. Rist, St. John and Amelius, JThS 20 (1969) 230–231 („It appears that the version of Christianity Amelius knew was in some sense docetic“, 230). 71 So Brisson und Tardieu, vgl. oben Anm. 15. 72 Einige Nag Hammadi-Texte versuchen, einen positiven Sarx-Begriff zu entwickeln (Rheg; auch EvVer). Melch polemisiert sogar gegen doketistische Auffassungen. 73 Vgl. den locus classicus: Platon, rep. 2: 381b–382b. 74 φαντάζεσθαι bedeutet lediglich „sichtbar werden“, „erscheinen“, etwa von der Theophanie am Sinai Hebr 12,21. Der Terminus findet sich häufig bei Plotin, etwa von der erleuchtenden, aber derivierten Präsenz der „geistigen Wesenheit“ in der Sphäre der Seele (1,1,8:15 f).
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lediglich in derivierter Form im Niedrigeren manifestiert, bringt es mit sich, dass die Inkarnation gleichsam nur im Zeichen einer flüchtigen Episode steht, die das wahre Wesen des incarnandus nicht tangiert. Die Figur der Epiphanie legt sich nahe, wie nicht zuletzt Amelios’ Wortwahl für das irdische Wirken Christi signalisiert.75 Demgegenüber handelt es sich beim eigentlichen Doketismus lediglich um den – extremen – Spezialfall eines allgemeineren Systemproblems, das nicht nur den verschiedenen Spielarten des christlichen Platonismus, sondern auch den klassischen christologischen Modellen wie der Zweinaturenchristologie einen erheblichen Reflexionsaufwand abfordert. Gerade Christi schändliche Passion hat die stärker von hellenistischem Denken bestimmten Zweige der christlichen Theologie vor grosse Schwierigkeiten gestellt. Dies gilt in noch höherem Mass für die Kritik durch die pagane Religionsphilosophie. Celsus und Porphyrios haben deshalb heftige Attacken gegen das christliche Passionskerygma geritten.76 Umgekehrt erstaunt es nicht, dass Amelios auf Jesu Passion, in deren Schatten immerhin der gesamte zweite Teil des Johannesevangeliums steht (Kap. 13–19), nur beiläufig zu sprechen kommt – die Andeutung seines Todes, der „Auflösung“, bezieht sich wohl auf die Scheidung von irdischem und göttlichem Teil.77 Umso wichtiger ist Amelios die Verbindung von Ende und Anfang, also die Figur des in Hervorgang und Rückwendung sich bildenden göttlichen Kreises.
4. Der Mythos vom Logos Wir bündeln unsere Überlegungen in drei Punkten. 1. In der Johannesparaphrase von Amelios haben wir eine der wenigen paganen Stimmen eines religionsphilosophischen Diskurses vor uns, der nur zu häufig von gehässigen Auseinandersetzungen überschattet war. Unser Text lässt, soweit sich hier überhaupt Urteile formulieren lassen, gar keine polemische Note erkennen.78 Er stellt die Relektüre eines biblischen Texts in einer von platonischer Geistmetaphysik bestimmten Konfiguration dar, in der es zu charakteristischen Transformationen kommt.79 Die Jesusgeschichte des Johannesevangeliums, Zum „Erweisen der Herrlichkeit der (göttlichen) Natur“ vgl. oben bei Anm. 25; 40; 62. Vgl. die Hinweise bei Riedweg, Porphyrios (s. Anm. 66) 180–184. Porphyrios scheint dagegen in seiner „Orakelphilosophie“ Jesu Passion nicht problematisiert, sondern „ins Allgemeine gehoben und philosophisch auf die generelle Situation des Menschen ausgedeutet“ zu haben (aaO. 181). 77 Vgl. oben Anm. 27. 78 Gegen Dörrie, Exégèse (s. Anm. 10) 491 f (der quidam Platonicus von Aug., civ. 10,29 [dazu oben Anm. 1] und Amelios teilen dieselbe Intention [vgl. 501]: Joh 1,1 ff bilde in ihrer Sicht „un danger mortel pour le christianisme“; es gehe um „déclencher la dissolution du christianisme“; vgl. 495); Brisson, Amélius (s. Anm. 5) 854 („imposer brutalement son interprétation néo-platonicienne en écrasant le drame [sc. du Christ] sous le poids du système“). Dagegen bezieht m.R. Stellung Abramowski, Nicänismus (s. Anm. 14) 514 f. 79 Manchmal fällt die Kritik an Amelios sehr hart aus, etwa weil seine totale und ahistorische Replatonisierung der Gnade keinen Raum mehr lasse, so – von philologischer Seite! – Dörrie, 75
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4. Der Mythos vom Logos
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die mit dem Prolog einsetzt, liess sich lesen als mythische Erzählung, die der allegorischen Entzifferung bedarf. So wird das Inkarnationsgeschehen auf die nicht zeitlich statthabende Selbstdifferenzierung des Göttlichen, auf die Emanation ins Untere und die Rückwendung zum eigenen Ursprung hin ausgelegt – die johanneische Formulierung, der Logos sei „zu Gott hin“ orientiert,80 wird sowohl im Ursprung selber (Joh 1,1 f) wie im gesamten Christusweg von der Inkarnation bis zur Rückkehr zu Gott (Joh 20 f) als Prozess der Epistrophē gedeutet. Wahrscheinlich hat seine philosophische „Entmythologisierung“81 Amelios keineswegs daran gehindert, auch das geschichtliche Wirken Jesu als ‚Inkarnation‘ einer besonders reinen Seele zu würdigen. Mit seiner auffällig offenen Haltung gegenüber den Christen samt ihren heiligen Schriften kann Amelios als herausragender Repräsentant eines spätantiken Dialogs der Kulturen gelten.82 Er bildet das Pendant zu den Architekten des christlichen Platonismus im griechischen Osten wie im lateinischen Westen. Amelios’ Lektüre des Johannesprologs bereichert unsere Wahrnehmung des erheblichen hermeneutischen Potentials, das die Identifizierung des Logos mit Jesus Christus der christlichen Theologie seit altkirchlicher Zeit bis in die Gegenwart bereitstellt. Sie führt die Anschlussfähigkeit des Redens vom Logos als des Schöpfungsmittlers aus der Sonderwelt der jüdisch-christlichen Weisheitstheologie hinaus auf das Niveau der avanciertesten Diskurse innerhalb der zeitgenössischen Philosophie. Allerdings tangierte die Abwendung der christlichen Theologie von der Logoschristologie im Lauf des vierten Jahrhunderts auch die Attraktivität eines Brückenschlags, wie ihn Amelios versuchte: Die subordinierte Stellung des Logos, die zumal für origenistisch orientierte Theologen wie Euseb einen Anknüpfungspunkt an die vertikal entworfene platonische Hypostasenlehre offeriert, geriet im Gefolge der arianischen Auseinandersetzungen unter Häresieverdacht. Christlichen Platonikern wie Gregor von Nyssa oder Marius Victorinus stellte sich die sehr viel schwierigere Aufgabe, die ‚orthodoxe‘ Trinitätslehre mithilfe der platonischen Denkfiguren zu explizieren.
2. Amelios’ Paraphrase des Johannesprologs lässt sich lesen als Dokument der Rezeptionsgeschichte des Vierten Evangeliums. Wir beobachten dabei eine interessante Gegenläufigkeit: Aller Wahrscheinlichkeit nach hat der Evangelist einen Exégèse (s. Anm. 10) 500; 505; Brisson, Amélius (s. Anm. 5) 843. 80 Unsere Paraphrase setzt die Deutung des Syntagmas πρὸς τὸν θεόν als Richtungsangabe voraus, d. h. als Relation. Für eine Übersetzung als Antwort auf die Frage „wohin?“ plädiert etwa H. Weder, Ursprung im Unvordenklichen. Eine theologische Auslegung des Johannesprologs (BThS 70), Neukirchen 2008, 31 f; 11 A. 1 („an dieser, von der Wortwahl und vom Gewicht des Gesagten entscheidenden Stelle“ muss man mit genauer Formulierung rechnen). 81 Ich deute nur am Rand an, dass von der neuplatonischen Mythos-Hermeneutik ein direkter Weg zum Mythosverständnis von R. Bultmann führt. Zum Interpretationsproblem vgl. H. Weder, Der Mythos vom Logos (Johannes 1), in: ders., Einblicke ins Evangelium, Göttingen 1992, 401–434. 82 Zweifelnd neben Dörrie und Brisson (vgl. Anm. 78) auch R. T. Wallis, Neoplatonism, London 1972, 94 (Amelios’ „enthusiasm for the prologue of St. John’s Gospel […] does not necessarily mean that he liked Christianity as a whole better than did other Neoplatonists“).
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Logoshymnus seinem Evangelium vorangestellt, der die Funktion einer Leseanweisung hat – mit den Worten des Jubilars:83 „Die theologische Funktion des Prologs besteht darin, den hermeneutischen Rahmen festzulegen, innerhalb dessen die joh[anneische] Erzählung gelesen werden muss.“ Der hymnische Prolog hat die Aufgabe, die mythischen Dimensionen der irdischen Jesusgeschichte, die das Evangelium erzählen wird, auszuspannen. Durch die Einfügung bestimmter Satzteile, die v. a. auf Johannes den Täufer Bezug nehmen (V. 6–8.15), stellt der Redaktor einen engen Zusammenhang mit der Narration des Evangeliums her. Er schreibt die Tagesereignisse am Jordan in das hymnische Geschehen des Ursprungs ein und arbeitet auf diese Weise die kontingente Geschichtlichkeit des Kommens Christi heraus.84 Unser neuplatonischer Leser bewegt sich diametral in die andere Richtung. Er blendet einmal die gesamte Jesusgeschichte von den einzelnen Satzteilen des Prologs, die vom Täufer handeln, bis hin zu den Erzählungen und Reden des Evangeliums aus. Vor allem aber präsentiert er den Christusweg als letztlich zyklischen Prozess, dessen Anfang und Ende miteinander identisch sind. Die Inkarnation des Gottessohns gewinnt den Charakter einer epiphanialen Episode, die zwar durch den als „Auflösung“ verstandenen Tod hindurch führt, aber den ursprünglichen Logos asarkos auch im Ende wieder des „Fleisches“, also seiner geschichtlich kontingenten Markenzeichen, entledigt.85 Insofern könnte sich der platonische Leser mit dem Anfang des Evangeliums, mit seinem Prolog, letztlich denn auch begnügen. Unsere neuplatonische Relektüre des Johannesprologs lässt in mancherlei Hinsicht Analogien zur gnostischen Interpretation des Vierten Evangeliums erkennen, die ja ihrerseits von den ‚hellenistischen‘ Postulaten der Freiheit des Göttlichen von Leiden(schaften) und Wandelbarkeit bestimmt ist. Nun hat Jean Zumstein immer wieder die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass das Johannesevangelium während des zweiten Jahrhunderts im Zentrum eines Interpretationskonflikts steht, der sich bis in das späte erste Jahrhundert zurückverfolgen lässt:86 Einer grosskirchlichen steht eine gnostische Lektüre des Evangeliums gegenüber, die sich beide mit guten Gründen auf das Sinnpotential ihres autoritativen Texts zu berufen wissen. Das Evangelium selber bildet ein organisches Ganzes, das 83 J. Zumstein, Der Prolog, Schwelle zum vierten Evangelium, in: ders., Erinnerung (s. Anm. 30) 105–126, hier: 126. Vgl. ders., Das Johannesevangelium (KEK 2), Göttingen 2016, 66 f („Noch bevor sich die Erzählung entwickelt, enthüllt der Prolog dank des im Mythos enthaltenen Sinnüberschusses die Tragweite und die Bedeutung der folgenden Geschichte“, 67). 84 Vgl. dazu Weder, Ursprung (s. Anm. 80) 144 f. 85 Demgegenüber ist für Joh, jedenfalls auf der Ebene des Evangeliums, wohl aber auch schon auf derjenigen des ursprünglichen Hymnus, davon auszugehen, dass die Inkarnation den Logos bleibend qualifiziert. Es „kehrte der Logos nicht gleichsam unberührt von seiner σάρξ zum Himmel zurück. Dies wäre in der Tat als Doketismus zu bezeichnen, zudem nicht einmal als besonders naiver“, Weder, Ursprung (s. Anm. 80) 141. 86 J. Zumstein, Zur Geschichte des johanneischen Christentums, in: ders., Erinnerung (s. Anm. 30) 1–14; ders., Der Prozess der Relecture in der johanneischen Literatur, aaO. 15–30.
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sowohl spiritualistische wie ‚realistische‘ Elemente spannungsvoll zusammenbindet. Die mythischen Aussagen des für sich gelesenen Hymnus, zumal in seiner mutmasslichen ursprünglichen Gestalt, nehmen sich ausgesprochen vieldeutig aus. Dies gilt insbesondere für die Inkarnationsaussage (1,14), die der Interpretation einen erheblichen Spielraum lässt. Es ist erst die vom Evangelium erzählte Jesusgeschichte, die die mythischen Aussagen des Prologs dem irdischen Weg Jesu zuordnet und damit ein Stück weit vereindeutigt. So gewinnt die Inkarnationsaussage zum einen durch Jesu menschliche Züge und durch seine Wundertaten, zum andern aber durch Passion und Ostern konkrete Gestalt. Dem im Hymnus gefeierten Logos wird wohl überhaupt erst im Kontext des Evangeliums der Name Jesu zugeeignet,87 mit dem sich bestimmte geschichtliche Erinnerungen verbinden. Die neuplatonische Relektüre blendet demgegenüber die Kontingenz der Jesusgeschichte aus und fokussiert auf den Mythos vom Logos, der in der Erzählung des Evangeliums auffällig zurücktritt. Sie artikuliert die Inkarnation als epiphaniale Emanation. Man ist gut beraten, dieser Lesart nicht von vornherein jegliche Legitimität abzusprechen. Es zählt zu den grundlegenden Einsichten der wirkungsgeschichtlichen Hermeneutik, dass sich die Vielfalt der Lektüren dem multidimensionalen Sinnpotential des Ursprungstextes verdankt. 3. Wir kehren am Schluss zu Augustin zurück. Er hält in seinen Confessiones fest, dank den platonischen Philosophen wohl das Ziel, nämlich Gott, erkannt zu haben, nicht aber den Weg dorthin, der durch Christus markiert wird.88 In deren Büchern begegnete er nur dem ersten Teil des Johannesprologs, nicht aber dem zweiten, dem Inkarnationsbekenntnis. Erst im Mittler Jesus Christus fand er schliesslich den Führer, der ihn auf der via humilitatis geleiten würde. Augustin bezieht sich für die christologische Identifizierung des Wegs natürlich auf Joh 14,6. Seine Auseinandersetzung mit dem Neuplatonismus lenkte seine Lektüre des Johannesprologs aber gern in die Bahnen von Phil 2,6–8, weil gerade die Demut als Bewegung, die in die Tiefe führt, den hochgemuten Philosophen nicht erschwinglich war. Auf der Linie der johanneischen Theologie hätte sich auch ein Diskurs angeboten, der sich nicht an Selbsterniedrigung und Selbsterhöhung orientiert, sondern an Anwesenheit und Abwesenheit des Göttlichen, an seinem Zugewandt-Sein und Abgewandt-Sein. Der Jubilar hat mit guten Gründen die johanneischen Abschiedsreden (13,31–16,33) als zentralen hermeneutischen Schlüssel für das Verständnis des Vierten Evangeliums beansprucht.89 Sie arbeiten die Abwesenheit Christi, mit der sich die johanneische Gemeinschaft 87 J. Zumstein, Zur Geschichte des johanneischen Christentums, in: ders., Erinnerung (s. Anm. 30) 1–14; ders., Der Prozess der Relecture in der johanneischen Literatur, aaO. 15–30. 88 Der Name Jesu Christi fällt erst in V. 17, wo es sich möglicherweise bereits um einen Zusatz des Evangelisten handelt. 89 Aug., conf. 7,26 f; vgl. 7,14; zum „Mittler“ speziell auch 10,42 f; civ. 9,15; zu Christus als Weg und Ziel serm. 92,3 (PL 38, 572 f); 141,1.4 (776–778).
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konfrontiert sieht, so auf, dass sie den bleibend entzogenen Christus in Gestalt des Geist-Parakleten verheissungsvoll wiederkehren lassen. In einem ganz anderen Kontext bildet die Dialektik von Präsenz und Absenz, von Immanenz und Transzendenz des Göttlichen eine der zentralen Figuren der neuplatonischen Philosophie, die sich von der subtilen Reflexion über die mystische Erhebung bis zur theurgischen Praxis erstreckt. Für einen johanneisch-platonischen Dialog, der sich um Gottes Gegenwart in der Welt drehen würde, hat Amelios mit seinem gewagten Brückenschlag ein attraktives Gesprächsangebot vorgelegt.
Luzifer – Herrlichkeit und Sturz des Lichtengels Eine Gegengeschichte zu Demut und Erhöhung von Jesus Christus Abstract Lucifer – Glory and Fall of the Angel of Light. A Contrasting Narrative to the Story of Jesus Christ’s Humility and Exaltation. The story of Lucifer’s pride and fall fills an empty space within Satan’s “biography.” It originates in an angelological re-reading of Isa 14 and Ezek 28 which doesn’t stem from early Judaism but from the Christianity of the late 2nd cent. Its background is the dispute about the virulent question regarding the origin of evil, stimulated by Marcion and others. The myth of Lucifer offers a contrasting narrative to the mythical story of Christ, thus reflecting developing Christology and conceptions of the Antichrist as well. The pattern of the devil’s self-aggrandizement/pride and downfall in contrast to Christ’s self-abasement/humility and exaltation is also ethically relevant.
Die Geschichte von Luzifer, seiner Herrlichkeit, seiner Anmassung, seinem Sturz und seiner Verwandlung in den Teufel, zählt zu den grossen Erzählungen des Christentums. Man darf, wenn man den Begriff im Sinn einer fundierenden Ursprungserzählung versteht, von einem Mythos sprechen. Seine wohl imposanteste Darstellung hat er erfahren in John Miltons Epos „Paradise Lost“ aus dem Jahr 1667.1 Gleich im ersten Buch wird herausgestellt, dass hinter dem Fall der Ureltern die Aufwiegelung durch die höllische Schlange steht, geboren aus Neid und Rachsucht. Damit ist Satan als der Hauptakteur des gesamten Epos im Blickfeld:2 „Als ihn sein Stolz vom Himmel ausgestossen mit seinem ganzen Heer rebellischer Engel, mit deren Hilfe er sich selbst getrachtet hoch über Seinesgleichen zu erheben, 1 Zitiert nach: John Milton, Das verlorene Paradies, dt. Übs. H. H. Meier (Reclams Universal-Bibliothek 2191), Stuttgart 1968 (= 1996). Zu Miltons Darstellung Satans vgl. D. Aposto los Cappadona, Art. Teufel. XI: Kunst‑ und literaturgeschichtlich, RGG4 8 (2005) 193–195: „Der T[eufel] wird darin ein wahrhaft achtbarer Widersacher, dessen persönlicher Stolz und heroische Haltung unsere Aufmerksamkeit erregt. Für einen Moment verehren wir diese perverse, männliche Figur voller tragischer Hybris“ (195). 2 1,45–58 („what time his pride / had cast him out from Heaven, with all his host / of rebel Angels, by whose aid, aspiring / to set himself in glory above his peers, / he trusted to have equalled the Most High, / if he opposed, and with ambitious aim / against the throne and monarchy of God“).
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Luzifer – Herrlichkeit und Sturz des Lichtengels
ja, mit dem Allerhöchsten sich zu messen, wär’ er dawider. Mit ehrgeizigem Ziel heillos begann er Krieg im Himmel, Kampf gen Gottes einzigen Thron und Monarchie: Ein eitler Schlag. Denn der Allherrscher schleudert als Feuerbrand ihn häuptlings aus dem Himmel, gestürzt, gesengt, hinunter grausig tief ins bodenlose Nichtsein; dort zu wohnen in Ketten von Demant und Feuerqualen, der Allmacht in die Schranken durfte fordern.“
Der Dichter blickt bereits auf Satans Fall zurück.3 Endlich bricht Satan in der Tiefe das eiserne Schweigen und spricht Beelzebub, seinen hochrangigen Schicksalsgenossen, an (1,94–97. 103–105): „Wenn du es bist – doch ach, wie tief gesunken! Wie anders nun, als einst im schönen Reich des Lichts, in transzendenten Glanz gekleidet, Myriaden Glänzender du überstrahltest! […] In welchen tiefen Schlund, von welcher Höhe du hier gefallen bist, um soviel stärker erwies sich Er mit seinem Donnerschlag.“
Die Retrospektive in Form eines Zwiegesprächs führt schliesslich zum Projekt, den Himmel wieder zu erobern und die dämonisch-angelischen Heerscharen am dunklen Feuerort zu erwecken. Der Urzeitmythos von der Entstehung des Teufels findet sich nicht in der Bibel. Auch die Erschaffung der Engel wird in ihr nicht explizit berichtet. Antike Juden und Christen haben diese bedeutsamen Leerstellen mit einer so bunten wie bizarren Fülle von ‚parabiblischen‘ Erzählungen gefüllt. Miltons Zeilen zeigen aber, dass im Fall der Luzifer-Geschichte ein biblischer Text, das Spottlied auf den König von Babel in Jes 14, eine formative Rolle gespielt hat. Ich versuche, in den folgenden Zeilen, ein paar Schlaglichter auf Genese und Entfaltung des Luzifermythos zu werfen. Der Aufsatz formuliert dabei zwei miteinander zusammenhängende Hypothesen: (1.) Die angelologisch-satanologische Deutung 3 Milton verzichtet auf eine dramatische Erzählung des prälapsarischen Zustands; die Retrospektive aus der Sicht des gefallenen Satans dominiert. Zur Deutung vgl. J. Carey, Milton’s Satan, in: D. Danielson (Hg.), The Cambridge Companion to Milton, Cambridge 1989 (= 1999), 131–145 („Satan as Archangel, before his fall, is never shown by Milton, but this stage of his existence is often alluded to, as is the fact that some of his archangelical powers remain“, 133). Die Beschränkung auf den Zustand nach dem Sturz erlaubt es Milton, Carey zufolge, Satan als „a creature of moods, apprehending reality through mists of self-deception and forgetfulness“, mit einem „wavering, slumbering, deceptive state of consciousness“ zu zeichnen (137) und zugleich der theologisch schwierigen Frage, wie ein vollkommener Engel auf die Gottgleichheit aspirieren kann, auszuweichen.
1. Narrative Ätiologien des Bösen
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von Jes 14 ist nicht im Frühjudentum, sondern erst im Frühchristentum entstanden.4 (2.) Sie lässt sich nur verständlich machen als Gegengeschichte zur Christusgeschichte, ist also im Kontext der sich entwickelnden Christologie zu verorten.
1. Narrative Ätiologien des Bösen Antike Juden und Christen haben sich von der Frage nach der Herkunft des Bösen zu einer impressiven theologischen Kombinatorik anregen lassen. Im Rahmenwerk einer monotheistischen Glaubensüberzeugung lassen sich zwei Basismodelle unterscheiden: Auf der einen Seite hat man es gewagt, Gott direkt als Urheber des Bösen zu identifizieren (auf der Linie von Jes 45,7; Am 3,6; vgl. Klgl 3,38; Sir 11,14). Auf der anderen Seite stammt das Böse von anderen Mächten her – allenfalls von einem Gegenspieler Gottes –, deren Position allerdings aufgrund der monotheistischen Konfiguration klar subordiniert ist. Die beiden Basismodelle lassen sich vielfältig kombinieren. So kann man einen Vorbehalt formulieren: Gott lässt das Böse zu, ohne es selber zu bewirken. Diese Position ist etwa im erzählenden Rahmen des Hiobbuchs erkennbar (Hi 1,12).5 Eine besondere Zuspitzung erfolgt dort, wo der Ursprung des Bösen auf der Zeitlinie, also geschichtlich, bestimmt und in Erzählung umgesetzt wird. Hier bietet sich primär die biblische Geschichte vom Sündenfall der Ureltern (Gen 3) an, die sich mit anderen, gleich zu nennenden Modellen verbinden kann. Man kann den Anfang des Bösen speziell auch dem Verführer, der dämonisierten Schlange (2 Kor 11,3) bzw. dem Teufel, zuschreiben, ebenso wie Eva (Sir 25,24; 1 Tim 2,14) oder Adam (4 Esr 7,118; 2 Bar 17,2 f; Röm 5,12). Diese urgeschichtliche Fixierung lässt sich unterlegen mit dem eher philosophischen Rekurs auf den freien Willen (Sir 15,14–17; vgl. PsSal 9,4 f). Auch das „böse Herz“ (Gen 6,5; 8,21), das von Haus aus eher aus der Weisheit stammt (vgl. Lk 6,45 par.), und der „böse Trieb“ sind mit der Urgeschichte kombinierbar (4 Esr 3,21 f; vgl. 1 Hen 98,4). Vor allem
4 Dieselbe Position vertreten J. B. Russell, Satan. The Early Christian Tradition, Ithaca 1981, 130–133; H. A. Kelly, Satan. A Biography, Cambridge 2006, 191–214 („a New Biography of Satan“, 324); J. Dochhorn, Der Sturz des Teufels in der Urzeit. Eine traditionsgeschichtliche Skizze zu einem Motiv frühjüdischer und frühchristlicher Theologie mit besonderer Berücksichtigung des Luzifermythos, ZThK 109 (2012) 3–47. 5 Jub 48 bietet eine hübsche Illustration: Die ägyptischen Plagen stammen von Gott, die Aktionen der ägyptischen Zauberer vom bösen Mastema; „wir“, d. h. die Engel, „lassen es zu“, allerdings in Grenzen (V. 10.16). Jub überträgt anderwärts das Hiobmodell auf Gen 22: Mastema schlägt Gott vor, Isaak zu opfern. Eine rabbinische Überlieferung schwächt ab: Gott schlägt den Testfall in einem Disput mit Satan vor (bSan 89b). – Vgl. zum ganzen Komplex der Ursprünge des Bösen: M. Götte, Von den Wächtern zu Adam. Frühjüdische Mythen über die Ursprünge des Bösen und ihre frühchristliche Rezeption (WUNT II/426), Tübingen 2016.
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urchristliche Texte referieren ausserdem auf die personifizierte Sündenmacht (Röm 7,7–24; Jak 1,13–15).6 Eine besonders starke Wirkung hat das Modell des Engelfalls erzeugt. Anders als die unspezifische Referenz auf Gegenspieler Gottes, zumal auf den Teufel, dessen Genese nicht näher interessiert (vgl. Joh 8,44: „ein Mörder von Anfang an“), bietet es eine narrative Ätiologie des Bösen, die zugleich Gott und die Menschen entlastet. Einerseits lässt sich das Modell exzellent in die monotheistische Konfiguration einzeichnen. Andrerseits verunmöglicht es die Situierung des Bösen in der anthropologischen Konstitution. Der Preis dafür ist allerdings eine massive Dissonanz im Bereich der Angelologie – es setzt erstens die Fallibilität und die Willensfreiheit der Engel voraus, zweitens schreibt es ausgerechnet den Himmelsbewohnern eine massive Fehleinschätzung Gottes zu. Überdies tangiert die Lehre vom Engelfall auch andere Sektoren der christlichen Dogmatik erheblich.7 Das Judentum hat sie seinerseits im Lauf seiner späteren Entwicklung an die Peripherie seiner Glaubensüberzeugungen verschoben. In hellenistisch-römischer Zeit lassen sich drei Typen des Engelfalls unterscheiden, die trotz gegenseitigen Wechselwirkungen mit ganz unterschiedlichen theologischen Figuren arbeiten: der vorsintflutliche Fall der Wächterengel, der Fall des Teufels im Rahmen der Menschenschöpfungs‑ und Paradiesgeschichte, schliesslich der primordiale Fall Luzifers. Nur am Rand berücksichtige ich den Motivkomplex vom Sturz der Gegenmacht, konkreter: des Teufels und Widersachers, da er nicht direkt eine Ätiologie des Bösen bietet, sondern dieses einfach voraussetzt und von seiner Eindämmung berichtet. Er tritt mit allen drei Modellen in Wechselwirkung, hat aber eine eigene Genealogie. Aus methodischen Gründen empfiehlt es sich, auf das Postulat eines basalen altorientalischen Supermythos, der in den verschiedenen biblischen und jüdischen Überlieferungen fortentwickelt und uminterpretiert würde, zu verzichten.8 1. Die Erzählungen vom vorsintflutlichen Fall der Wächterengel schreiben das änigmatische Traditionsfragment von Gen 6,1–4 fort und sind nicht nur in zahlreichen frühjüdischen Texten rezipiert worden,9 sondern auch in solchen des 6 Nur am Rand verweise ich auf TestXII (passim), wo die einwohnenden Geister das Böse wirken. 7 Ich erinnere an die pointierten Worte von K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. III.3, Zollikon 1950, 623, ganz am Schluss des Paragraphen über das Himmelreich (§ 51): Die Lehre vom ‚Engelfall‘ „ist einer von den bösen Träumen der alten Dogmatik“; „sie stammt vor allem aus der schrecklichen Verkennung des Himmelreichs und der Engel“; „Ein wirklicher, ordentlicher Engel tut das nicht, was in dieser Lehre einem Teil der Engel (in dunkler Phantastik hinsichtlich dieses Hergangs) zugeschrieben worden ist“. Man denkt unwillkürlich an den „unmöglichen Gedanken“ von 2 Hen 29,4 (dazu unten). 8 Gegen z. B. P. D. Hanson, Rebellion in Heaven, Azazel, and Euhemeristic Heroes in 1 Enoch 6–11, JBL 96 (1977) 195–233; H. R. Page, The Myth of Cosmic Rebellion (VT.S 65), Leiden 1996. 9 Vgl. die Skizze von L. T. Stuckenbruck, The Origins of Evil in Jewish apocalyptic Tradition. The Interpretation of Genesis 6:1–4 in the Second and Third Centuries B. C. E., in: Ch. Auffahrt / L. T. Stuckenbruck (Hg.), The Fall of the Angels (Themes in Biblical Narrative 6),
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Frühchristentums (Jud 6; 2 Petr 2,4; evtl. 1 Kor 11,10; 1 Petr 3,19; 2 Clem 20,4) und der Gnosis.10 Ihre erste erhaltene literarische Darstellung finden sie im Wächterbuch des 1. Henochbuchs (1–36) aus dem dritten Jahrhundert v. Chr.11 Wir sehen von den schwierigen traditions‑ und literarkritischen Fragen ab und stellen für die in 1 Hen fassbare Textstufe lediglich fest: Die urzeitliche Sünde der Engel wird mindestens zweipolig bestimmt.12 Zum einen vereinen sie sich mit Menschenfrauen, was zur Geburt der Giganten führt; mit ihrer Unzucht geben sie die himmlische Position und Reinheit auf (15,4–7.10; 6,2). Zum andern übermitteln sie den Menschen verbotenes Wissen und verführerischen Luxus (16,3); ihre prometheische Funktion als negative Kulturbringer indiziert einen kulturellen Konflikt, auf den die – weisheitlich orientierten – Henochträgerkreise mit ihrem Offenbarungswissen reagieren. Das Böse lässt sich im Wächterbuch als Grenzüberschreitung gottgesetzter Ordnungen charakterisieren. Folgt man der generellen Adressierung an die Sünder in 5,4, so geht die Sünde mit Gesetzesübertretung, Hochmut, Unreinheit, Gottesbeleidigung und Hartherzigkeit einher.13 Für unseren Zusammenhang ist die spatiale Akzentuierung entscheidend:14 Die Engel überschreiten die Grenze zwischen Himmel und Erde, zwischen Geist und Fleisch. So erhält Henoch von den (guten) Engeln folgenden Auftrag (12,4):15 „Geh, verkündige den Wächtern des Himmels, die den hohen Himmel, die heilige ewige Stätte, verlassen haben und sich mit Frauen vergangen und getan haben, wie es die
Leiden 2004, 87–118; ferner (analytisch vielfach unscharf) A. Y. Reed, Fallen Angels and the History of Judaism and Christianity. The Reception of Enochic Literature, Cambridge 2005. 10 Zum Einfluss auf die Gnosis, speziell auf die Demiurgenkonzeption vgl. G. P. Luttikhuizen, The Demonic Demiurge in Gnostic Mythology, in: Auffahrt / Stuckenbruck, Fall (s. Anm. 9) 148–160; C. Losekam, Die Sünde der Engel. Die Engelfalltradition in frühjüdischen und gnostischen Texten (TANZ 41), Tübingen 2010, besonders 355–360. 11 Siehe dazu V. Bachmann, Wenn Engel gegen Gott freveln, JBTh 26 (2011/12) 85–114. Bachmann möchte die Wächterfallgeschichte allerdings nicht als Erklärung für den Ursprung des Bösen lesen (96; 106 Anm. 46). 12 Häufig wird der Komplex ‚Engelsex mit Frauen / Verunreinigung‘ einer am Engelfürsten Schemichasa haftenden Traditionsschicht zugeschrieben, während die Vermittlung von Wissen an Asael hängt; vgl. G. W. E. Nickelsburg, Apocalyptic and Myth in 1 Enoch 6–11, JBL 96 (1977) 383–405; ders. 1 Enoch 1 (Hermeneia), Minneapolis 2001, 165–171. 13 Man ist gut beraten, die Geschichte von den Wächtern, die ihre himmlisch-kultische Reinheit verspielen, nicht direkt auf Konflikte zwischen priesterlichen Kreisen hin zu ‚entmythologisieren‘, wie es D. Suter, Fallen Angel, Fallen Priest. The Problem of Family Purity in 1 Enoch 6–16, HUCA 50 (1979) 115–135 vorschlägt; vgl. V. Bachmann, Die Welt im Ausnahmezustand. Eine Untersuchung zu Aussagegehalt und Theologie des Wächterbuches (1 Hen 1–36) (BZAW 409), Berlin 2009, 131–150. 14 Explizit 1 Hen 6,6; 64,2; Jub 4,15; 2 Hen 18,4. – Stuckenbruck, Origins (s. Anm. 9) 114 f stellt fest, dass Jub im Unterschied zum Wächterbuch die Engelrebellion nicht im Himmel, sondern auf der Erde lokalisiert. 15 Übs. nach S. Uhlig, Das äthiopische Henochbuch (JSHRZ 5.6), Gütersloh 1984. Vgl. 15,3; 88,3 und Jud 6 (ἀγγέλους τε τοὺς μὴ τηρήσαντας τὴν ἑαυτῶν ἀρχὴν ἀλλὰ ἀπολιπόντας τὸ ἴδιον οἰκητήριον).
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Menschenkinder tun, und sich Frauen genommen und sich in grosses Verderben gestürzt haben auf Erden.“
Ihrem illegitimen Abstieg vom Himmel zur Erde korrespondiert ihre gegenwärtige Verwahrung in den Niederungen der Erde bzw. ihre endzeitliche Bestrafung in der Hölle;16 beides wird aber nicht als Sturz dargestellt.17 In diesem Status bilden sie keine Gegenmacht zu Gott; sie erscheinen als eine erbärmliche Rotte (13,3.5).18 2. Um eine ganz andere narrative Konfiguration handelt es sich bei der Erzählung von Satans Fall im Gefolge der Menschenschöpfung.19 Der Vita Adae et Evae zufolge bringt Satan seine Verführung der Ureltern mit seinem eigenen Fall in Zusammenhang (12,1–16,4).20 Demgegenüber fehlt in der überlieferungsgeschichtlich älteren griechischen Fassung von ApkMos die Teufelsfallgeschichte von VitAd 11–17.21 „O Adam, meine ganze Feindschaft und mein Neid und mein Schmerz richtet sich auf dich, weil ich deinetwegen vertrieben und meiner Herrlichkeit beraubt worden bin, die ich im Himmel inmitten der Engel hatte, und deinetwegen auf die Erde hinausgeworfen bin. (12,1) […] Um deinetwillen bin ich vertrieben worden. Als du geformt wurdest, bin ich von dem Angesicht Gottes verstossen und fernab der Gemeinschaft der Engel geschickt worden.“ (13,1 f)
Satan weigert sich, dem Aufruf Michaels zu gehorchen, den eben erschaffenen Adam als Träger der Gottebenbildlichkeit anzubeten. Er beruft sich für seine 16 In der Differenzierung und Lokalisierung der Straforte verzweigen sich die Traditionen (neben 10,5 f.12 f vgl. 18,9–19,2 und die Dublette in 21,1–10). Bei den gefallenen Wächterengeln wird unterschieden zwischen der Fesselung an unwirtlichen scheol-ähnlichen Orten und dem nach Massgabe des Tartarus modellierten Feuergefängnis am Gerichtstag; auch bei den bösen Engelsternen ist eine doppelte Verwahrung im Blick. 17 Vom Sturz ist aber dort die Rede, wo die Engel als Sterne (vgl. 18,13 f; 21,6) verbildlicht werden: so im Traumvisionenbuch 1 Hen 86,1 („siehe, ein Stern fiel vom Himmel“); 86,3; 88,1; 90,21; vgl. Apk 8,10 f; 9,1–6; Nickelsburg, 1 Enoch (s. Anm. 12) 372 f. 18 Vgl. Bachmann, Welt (s. Anm. 13) 75; dies., Engel (s. Anm. 11) 108. 19 Paradieserzählung (Gen 2–3) und Engelfallgeschichte bilden zwei ganz verschiedene traditionsgeschichtliche Linien. In der älteren Henochtradition kommt das Böse erst vor der Sintflut in die Welt. Zwischen den Überlieferungsströmen kommt es in der Folge zu Wechselwirkungen (z. B. 1 Hen 69,6), besonders zwischen Satan und den Wächterengeln; dazu Dochhorn, Sturz (s. Anm. 4) 8 f. 20 Übs. nach O. Merk / M. Meiser, Das Leben Adams und Evas (JSHRZ 2.5), Gütersloh 1998, mit reicher Parallelensammlung (796–798; vgl. 773–776); zum Hintergrund M. E. Stone, A History of the Literature of Adam and Eve (SBL.EJL 3), Atlanta 1992; A. Piñero, Angels and Demons in the Greek Life of Adam and Eve, JSJ 24 (1993) 191–214. 21 Das Motiv, das der Teufel der Schlange für sein Projekt nennt („lass sie uns hinauswerfen aus dem Paradies, wie auch wir hinausgeworfen wurden“ [ApkMos 16,3]), ist fast nur sinnvoll zu deuten von der in VitAd erzählten Vorgeschichte her; anders J. Dochhorn, Die Apokalypse des Mose. Text, Übersetzung, Kommentar (TSAJ 106), Tübingen 2005, 314. Wird laut 16,3 der Teufel im Unterschied zu VitAd samt anderen Texten aus dem Paradies, nicht aus dem Himmel (vgl. unten Anm. 36) vertrieben? Wahrscheinlich handelt es sich nur um Breviloquenz.
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Weigerung auf seinen höheren Status – aufgrund seines Feuerleibs wie in anderen Quellen? – und seine Anciennität (14,3; vgl. Jub 2,2). Die Folge ist der Sturz Satans und seiner Mitgenossen auf die Erde. Auch unabhängig von dieser speziellen Vorgeschichte gilt der Neid als Hauptmotiv für die Verführung der Ureltern (11,3; 12,1; vgl. Sap 2,24; 3 Bar 4,8). Wir haben den klassischen Fall einer Geschwisterrivalität vor uns!22 Die Rivalität zwischen Engeln und Menschen ist, ganz abseits der Satanologie, ein vielfach variiertes Sujet in der antiken jüdischen Literatur. Narrativ nimmt sie ihren Anfang bei Gottes Vorhaben, die Menschen zu erschaffen. In ihrer satanologischen Variation verbindet sie sich mit der älteren Überlieferung vom Teufelssturz. Die impressive Szene der Weigerung des Teufels, den Protoplasten anzubeten, hat in der christlichen Literatur weitergewirkt,23 während sie in der jüdischen Haggada nur marginal auftaucht.24 Haftpunkt ist in der jüdischen Haggada die Rivalität von Engeln und Menschen, die sich verdichtet bei der Menschenschöpfung: Die Engel legen Einspruch ein (z. B. bSan 38b), unter ihnen ragt Samael heraus. Die Überlegenheit Adams gegenüber den Engeln zeigt sich dann im Wettstreit bei der Namensgebung der Tiere. In der späten Fassung von PRE 13 (10. Jh.?!) begegnet die Kombination mit dem Teufelsfall.25 Unter dem Motto aus Av 4,21 („der Neid, die Begierde und die Ehrsucht bringen den Menschen aus der Welt“) kommt es nach der Namensgebung zur Rebellion von Samael, dem „grossen Himmelsfürsten“ mit zwölf Flügeln,26 und seinen Genossen gegen Gott; er fährt hinab und „reitet“ auf der Schlange (par. Jalq Ber 25). Samaels Widersetzlichkeit wird durch das Zitat von Hi 39,18 („wie du dich in die Höhe schwingen solltest“) zu einer Erhebung gegen Gott.27 Das Motiv der Anbetung Adams begegnet demgegenüber in sicher jüdischer Literatur selten, 22 Vgl. E. Pagels, The Origin of Satan, New York 1996, 49. G. A. Anderson, The Exaltation of Adam and the Fall of Satan, in: ders. / M. E. Stone / J. Tromp (Hg.), Literature on Adam and Eve (SVTP 15), Leiden 2000, 83–110, identifiziert in unserer Geschichte das biblische Muster der Bevorzugung des Jüngeren gegenüber dem Älteren (vgl. Gen 25,23). 23 Vgl. ApkSedr 5,1–4 (PVTG 4, 39); syr. Schatzhöhle 3,1–7; dazu A. Toepel, Die Adam‑ und Seth-Legenden im syrischen „Buch der Schatzhöhle“ (CSCO 618), Louvain 2006, 87–100; 144 f. In QuaestBarth 4,53 (G) betet sogar Gott sein Abbild an; Satan aber weigert sich mit Verweis auf seinen Feuerleib und auf seinen Status als erstgeschaffener Engel (AcA 1.1, 802 f); vgl. auch 4,25 (ebd. 759 f mit dem Hinweis auf die starke Präsenz in der koptischen Literatur). Weiteres s. unten bei Anm. 46. 24 In negativer Umkehrung taucht das Motiv auf in BerR 8,10 (Bill. 4.2, 1127 Anm. 1). Vgl. zum gesamten Komplex von Paradies und Teufel L. Ginzberg, The Legends of the Jews, Philadelphia 1909–1955 (= 22003), Bd. 1, 61–66; Bd. 5, 84–86. 25 Auszug bei Bill. 4.2, 1127 f. Vgl. dazu P. Schäfer, Rivalität zwischen Engeln und Menschen (SJ 8), Berlin 1975, 93–95 (mit Übs.); 223. U. Bohmeier, Exegetische Methodik in Pirke de-Rabbi Elieser, Kapitel 1–24, Frankfurt 2008, unterstreicht, dass Samael nicht als Teufel, sondern wie die übrigen Dienstengel als Anwalt der göttlichen Gerichtsgerechtigkeit agiert („Er tut es als Wächter des göttlichen Masses, als Vertreter des Attributs der Gerechtigkeit“, 256). 26 Die zwölf Flügel markieren die Superiorität gegenüber den Chaijot und Serafim. Eine fast gleiche Tradition findet sich in der georgischen Version von VitAd 12,1: „Meine Flügel waren zahlreicher als die der Cherubim“ (die französische Übs. von J.-P. Mahé ist abgedruckt in: G. A. Anderson / M. E. Stone, A Synopsis of the Books of Adam and Eve [SBL.EJL 5], Atlanta 1994, 10). 27 Vgl. Bohmeier, Methodik (s. Anm. 25) 244 f.
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am ausgiebigsten in der mittelalterlichen Erzählung von BerRbti 9 (p. 24–26 Albek).28 Satan wird darin als der grösste aller Dienstengel vorgestellt (24,25); er weigert sich unter Berufung auf seinen aus dem Glanz der Schekina gebildeten Leib, der dem aus Erdenstaub gebildeten Körper Adams überlegen ist. Gottes Hinweis auf Adams Weisheit und Einsicht, „die du nicht hast“, führt zum Vorschlag Satans, einen Test durchzuführen: Hier setzt die Namensgebung der Tiere ein, in der er unterliegt und in lautes Klagen ausbricht.
Vor allem findet sich die verweigerte Anbetung Adams als Ursache für den Fall mehrfach im Koran;29 bei Iblis handelt es sich allerdings wohl nicht um einen Engel, sondern um einen Dschinn, dessen Körper aus Feuer besteht. In der sufistischen Literatur avanciert Satan sogar zum exemplarischen Monotheisten – er hält sich strikt an das erste Gebot und nimmt so aus Gottesliebe die Verdammung auf sich.30 Rückt Iblis hier geradezu in diejenige Position ein, die auf Seiten des Christentums Jesus im Tiefpunkt seiner Passion besetzt: die Situation äusserster Gottesferne und die stellvertretende Übernahme des Gottesgerichts? Herkunft und Genese des Motivs von der Adamanbetung sind schwer zu erhellen,31 zumal sie sich fast nur in Texten findet, die wie im Fall von VitAd32 so gut jüdischer wie christlicher Herkunft sein können. Wahrscheinlich liegt eine haggadische Extrapolation des paradiesischen Neids, der ursprünglich an der diabolisierten Schlange haftet, vor (Sap 2,24; Jos., ant. 1,41). Die Story dürfte von Haus aus jüdisch sein.33 Da es sich um eine urzeitliche Szene, nicht um eine kultische Anweisung handelt, verbleiben wir im monotheistischen Rahmenwerk; zugleich ist ein typologischer Bezug auf Christus als endzeitlichem Träger der Gottebenbildlichkeit nicht erkennbar.34 28 Vgl. Schäfer, Rivalität (s. Anm. 25) 82–85. Entgegen dem Zitat bei A. F. Gfrörer, Das Jahrhundert des Heils, Bd. 1, Stuttgart 1838, 391 f fehlt das Schriftwort von Jes 14,12 im Text von BerRbti! 29 Sure 7,11–18; 15,26–43; 38,71–85 u.ö. 30 Vgl. P. J. Awn, Satan’s Tragedy and Redemption. Iblīs in Sufi Psychology (SHR 44), Leiden 1983. 31 Für jüdische Herkunft plädiert z. B. L. W. Hurtado, Lord Jesus Christ, Grand Rapids 2003, 39 f. Um eine Verlegenheitsauskunft handelt es sich bei der Rückführung auf die ‚Gnosis‘ wie bei Schäfer, Rivalität (s. Anm. 25) 84 (auch weil der Gegensatz von Staub und Glanz unjüdisch sei); N. Forsyth, The Old Enemy. Satan and the Combat Myth, Princeton 1987, 242. An islamische Provenienz denkt L. Jung, Fallen Angels in Jewish, Christian and Mohammedan Literature. A Study in Comparative Folklore, Philadelphia 1925 (= 1974), 34–36; 65–67. 32 Zur Kontroverse vgl. einerseits M. de Jonge / J. Tromp, The Life of Adam and Eve and Related Literature (Guides to Apocrypha and Pseudepigrapha 4), Sheffield 1997, andrerseits Merk / Meiser, VitAd (s. Anm. 20) 765–769; (mindestens für ApkMos) Dochhorn, Apokalypse (s. Anm. 21) 8–12; 172; J.-P. Pettorelli, Art. Adam and Eve, Life of, in: J. J. Collins / D. C. Harlow (Hg.), The Eerdmans Dictionary of Early Judaism, Grand Rapids 2010, 302–306 („there is no compelling reason to deny the narrative a Jewish origin“, 305). 33 Dass neutestamentliche Texte wie die Versuchungsgeschichte (Mt 4,8–11 par.; Mk 1,12 f [wo die Engel danach Jesus „dienen“]) die Überlieferung bereits voraussetzen, ist allerdings nicht plausibel zu machen. 34 Für VitAd ist m. E. auch kein intertextueller Bezug auf Ez 28 nachweisbar; gegen G. A. Anderson, Ezekiel 28, the Fall of Satan, and the Adam Books, in: ders., Literature (s. Anm. 22)
2. Zwei paradigmatische Bibeltexte: Jes 14 und Ez 28
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3. Der dritte Typ besteht schliesslich im Luzifermythos. Er situiert die Genese des Bösen früh im Lauf des Schöpfungswerks und erzählt sie als Auflehnung eines gottnahen Engelwesens. Bevor wir uns näher mit diesem Komplex beschäftigen, versuchen wir, die genannten drei Engelfall-Modelle holzschnittartig voneinander abzugrenzen. Theologisch unterscheiden sie sich vorab in ihrer räumlichen Orientierung, d. h. in ihrer spatialen Symbolik.35 Im Wächterfall-Typ dominiert die Bewegung von oben nach unten – die Engel verlassen ihre himmlische Position und treten auf der Erde in sexuelle und kulturelle Interaktion mit den niedriger gestellten Menschen. Der Luzifer-Typ orientiert sich gerade umgekehrt: Der Engel will die Position Gottes usurpieren, er unternimmt einen illegitimen Aufstieg. Der Adam-Typ spielt auf der horizontalen Ebene; es geht um die Rivalität zwischen den den Tieren überlegenen Geschöpfen Gottes.36 In allen drei Typen kulminiert die Erzählung im Sturz oder im Transfer der Akteure nach unten, entweder zur Erde oder in die Unterwelt. Will man noch mutwillig einen Schritt weiter gehen, kann man den drei Typen drei klassisch gewordene Sünden zuschreiben: die Begierde den Wächterengeln, den Neid dem wegen Adam revoltierenden Satan, den Hochmut schliesslich Luzifer.37 Dieses Schema beschreibt selbstverständlich nur Akzente; in jeder Fallgeschichte begegnen wir einer hamartiologischen Vielfalt.38 Schliesslich docken alle drei Engelfall-Modelle an bestimmte Bibeltexte an: Der erste an Gen 6,1–4, der zweite an Gen 2/3, der dritte an Jes 14 und Ez 28.
2. Zwei paradigmatische Bibeltexte: Jes 14 und Ez 28 1. Die Luzifergeschichte bildet sich hauptsächlich aufgrund einer Relektüre von Jes 14 heraus, die dem Teufel auch seinen astralen Namen verleiht: „Morgenstern“ (ἑωσφόρος, lucifer, V. 12). Im Zentrum stehen V. 12–15: „Wie bist du vom Himmel gestürzt, du Morgenstern, Sohn der Morgenröte! Wie bist du zu Boden geschmettert, der du Nationen besiegt hast! Du aber hattest in deinem Herzen 133–147 („It seems quite clear that the Vita has drawn on an exegetical tradition grounded in Ezek 28“ [146]), der von daher auf christlichen Ursprung schliesst. 35 Vgl. die Überlegungen von A. A. Orlov, Dark Mirrors. Azazel and Satanael in Early Jewish Demonology, New York 2011, 1–8 zu zeitlichen und räumlichen Symmetrien. 36 Der Punkt wird nicht tangiert von der Frage, wo die Anbetung Adams lokalisiert wird. Laut VitAd 13,2 bringt Michael den eben erschaffenen Adam in den Himmel und lässt dort „im Angesicht Gottes anbeten“; der Teufel stürzt dementsprechend aus dem Himmel (12,1; 13,2; 16,1.4). 37 Die Dreiheit, die sich z. B. in Av 4,21 findet, wird in PRE 13 (vgl. oben bei Anm. 25) auf den Widerstand der Dienstengel und Samaels Rebellion bezogen! 38 Vgl. die motivgeschichtliche Übersicht bei Russell, Satan (s. Anm. 4) 130; 187; 214; Merk / Meiser, VitAd (s. Anm. 20) 775. Die ältere, uniformierende Literatur bietet eigentliche Lasterkataloge zur Sünde des „bösen Reiches“, vgl. z. B. P. Volz, Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde im neutestamentlichen Zeitalter, Tübingen 21934, 89.
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Luzifer – Herrlichkeit und Sturz des Lichtengels
gesprochen: ‚Zum Himmel empor will ich steigen, hoch über den Sternen Gottes werde ich meinen Thron aufrichten, und ich werde auf dem Berg der Versammlung sitzen, im höchsten Norden! Über Wolkenhöhen will ich emporsteigen, dem Höchsten mich gleichmachen!‘ Doch du wirst ins Totenreich hinabgestürzt, in die tiefsten Tiefen der Gruft.“
Das Spottklagelied über den König von Babel (Jes 14,4b–21) arbeitet hier zwar mit einem impressiven Apparat mythologischer Elemente, rezipiert aber kaum einen älteren orientalischen Mythos.39 Es handelt sich vielmehr um eine erst vor dem Hintergrund der monotheistischen Konfiguration verständlich zu machende israelitische Schöpfung, die im vermessenen Anspruch von Weltherrschern eine nur in mythischen Kategorien zu zeichnende Usurpation der Position Gottes wahrnimmt. Ihre Klimax erreicht die Anmassung des Königs in V.14b, worin sich dieser dem höchsten Gott „gleichstellen“ will; V. 10 markiert den unüberbietbaren Kontrast: Der Tyrann ist den Toten gleich geworden. 2. Die Relektüren von Jes 14 verbinden sich gern mit einem anderen, verwandten Text, mit Ez 28,1–19, der zwei Variationen eines gemeinsamen Themas bietet: Auf die Gerichtsankündigung mit Scheltwort von V. 1–10 folgt in V. 11–19 eine Totenklage mit Scheltwort und Gerichtsankündigung. Besonders die zweite Passage arbeitet wiederum mit markanten mythologischen Elementen, die sich abermals einer präziseren Identifizierung entziehen. Plausibler als Urmenscherzählungen nehmen sich königsmythologische Stoffe aus,40 greifbar v. a. im Königsornat. Ez 28,11–19 lässt eine Geschichte erkennen, die von der Würdestellung und vom Sturz eines gottnahen übermenschlichen Wesens handelt, das an seiner eigenen Pracht zu Fall kommt. Im vorfindlichen Bibeltext dreht sich die gesamte Passage V. 1–19 um den Herrscher von Tyros, der einen vermessenen Anspruch auf Göttlichkeit erhebt (V. 2.6.9.17) und gestürzt wird. Beide Texte sind aufgrund ihrer auffälligen Analogien in der Wirkungsgeschichte oft miteinander verbunden worden, sowohl im jüdischen wie im christlichen Bereich. Es werden jeweils auch ähnliche exegetische Verfahren erkennbar. So tendiert TgJon bei beiden zu einer markant ‚entmythologisierenden‘ Lektüre: In Ez 28 vermeiden die Selbstprädikationen des arroganten Königs die Gottesnamen (V. 2.6.9); die Bezugnahme auf 39 Heute verstärkt sich die Tendenz, die erfolglose Suche nach vergleichbaren kananäischen oder sogar griechischen Göttermythen abzubrechen und dafür auf Königsideologie derselben Provenienz zu rekurrieren. Das entscheidende Moment, das Streben nach Gottgleichheit als Hybris zu qualifizieren, fehlt aber auch hier; es ist erst vorstellbar in einer monotheistischen Konfiguration. Königstraditionen werden favorisiert bei K. Spronk, Down with Hēlel! The Assumed Mythological Background of Isa. 14:12, in: M. Dietrich (Hg.), „Und Mose schrieb dieses Lied auf “. Studien zum Alten Testament und zum Alten Orient, FS. O. Loretz (AOAT 250), Münster 1998, 717–726; M. Albani, Herrschaft will Ewigkeit. Das Spottlied vom Aufstieg und Fall des „Sohnes der Morgenröte“ (Jes 14,12 ff.) und sein königsideologischer Hintergrund, in: A Berlejung / R. Heckl (Hg.), Mensch und König. Studien zur Anthropologie des Alten Testaments, FS R. Lux (HBS 53), Freiburg 2008, 141–156. 40 Vgl. J. van Seters, The Creation of Man and the Creation of the King, ZAW 101 (1989) 333–342.
3. Jes 14 im jüdisch-christlichen Grenzbereich
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den Kerub entfällt (V 14.16). In Jes 14 ist der König kein Morgenstern mehr, sondern nur noch „strahlend unter den Menschenkindern wie der helle Stern unter den Sternen“; seinen Thron will er lediglich „über dem Volk Gottes“ aufstellen. Er wird nicht mehr „über Wolkenhöhen“ aufsteigen, sondern nur noch „über alle Völker“. Vor allem stellt er sich nicht mehr Gott gleich, sondern will nur „höher sein als die Völker“. Es spricht viel dafür, diese interpretierenden Übertragungen als Gegenposition zu einer angelologisch-satanologischen Deutung auf Seiten der Christen zu bewerten.
Tatsächlich zeigen sich auffällige Differenzen zwischen den Lektüren auf jüdischer und auf christlicher Seite – soweit sie sich noch erkennen lassen. Beide Texte werden im Frühjudentum kaum je angelologisch gelesen.41 Vielmehr dominiert hier, ganz auf der Linie der biblischen Aussagen selber, die Deutung auf die Könige – Nebukadnezar in Jes 14, Chiram in Ez 28, hier ergänzt durch eine solche auf Adam.42 Unser Interesse gilt nun der angelologischen Lektüre von Jes 14, der Basis der Luzifergeschichte, die sich im christlichen Bereich gern mit einer solchen von Ez 28 verbindet.
3. Jes 14 im jüdisch-christlichen Grenzbereich Die apokryphe Literatur, die sich weithin einer klaren Distinktion von „jüdisch“ und „christlich“ widersetzt, bietet einige wenige Referenzen von Jes 14 auf den Teufel. 1. In der lateinischen Vita Adae et Evae findet sich im Rückblick des Teufels auf seine Vertreibung, mit der wir uns schon beschäftig haben, eine Bezugnahme auf Jes 14,13 f (VitAd 15,2 f):43 „Und Michael sprach: ‚Bete das Ebenbild Gottes an. Wenn du aber nicht anbetest, wird dir Gott der Herr zürnen.‘ Und ich sprach: ‚Wenn er mir zürnt, werde ich meinen Sitz über die Gestirne des Himmels setzen und dem Höchsten ähnlich sein.‘“
41 Ob in 1 Hen 68,4 bzgl. der gefallenen Wächterengel auf Jes 14,14 angespielt wird, ist ganz unsicher („sie handeln, als wären sie dem Herrn gleich“). – Interessant, aber randständig ist die Beziehung von Jes 14,12 und anderen Stellen auf die Völkerengel in MekhJ 29 (Lauterbach 2, 20), die sich mit Aussagen über deren „Steigen“ und Fallen“ wie in PesK 23,2 (Mandelbaum 2, 334 f) korrelieren lassen. 42 Für Jes 14 vgl. z. B. ShemR 8,2; 15,6; BemR 8,2; zusammen mit Ez 28 bChul 89a. – Für die rabbinische Wirkungsgeschichte von Ez 28 vgl. H. M. Patmore, Adam, Satan, and the King of Tyre. The Interpretation of Ezekiel 28:11–19 in Late Antiquity (Jewish and Christian Perspectives Series 20), Leiden 2012, 16–40. 43 Si irascitur (v.l.: irascatur) mihi, ponam sedem meam super sidera caeli et ero similis altissimo. Lat. Text nach Anderson / Stone, Synopsis (s. Anm. 26) 12, faktisch gibt dieser Text denjenigen von W. Meyer, 1887, wieder, vermittelt durch W. Lechner-Schmidt.
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Unsere kleine Passage fehlt nun nicht nur in der griechischen ApkMos und damit in der hypothetischen ältesten Grundschicht, sondern auch in der armenischen, georgischen, slawischen und einem Teil der lateinischen Überlieferung.44 Zusammen mit der Beobachtung, dass die Fortsetzung in VitAd 16,1 sehr gut an 15,1 anschliesst, deutet alles auf eine Amplifikation hin, die die an Adam und Eva hängende Fallgeschichte des Teufels mit derjenigen, die auf einer bereits traditionellen Rezeption von Jes 14 beruht, fusioniert. Die Willensbekundung mit den Worten von Jes 14,13 f erhält damit den Status einer Reaktion auf Gottes Zorn, den Michael androht, also gleichsam einer Verteidigung nach vorne. Unabhängig von der umstrittenen Frage, inwieweit die Adambücher auf jüdische Ursprünge zurückgehen, spricht viel dafür, in dieser Kombination christliche Fortschreibung zu identifizieren.45 2. Wir erlauben uns an dieser Stelle einen Seitenblick auf die christlichen „Fragen des Bartholomäus“. Auch hier wird in zwei Rezensionen die an Adam haftende Fallgeschichte des Teufels mit Jes 14,13 f angereichert (4,55):46 „Und Michael sagte zu mir: ‚Bete an, damit Gott nicht auf dich zornig wird.‘ Ich aber sagte zu ihm: ‚Gott wird nicht auf mich zornig werden, aber ich werde meinen Thron gegenüber seinem Thron errichten und sein wie er.‘ Da wurde Gott zornig auf mich …“
Auffällig ist im Vergleich mit dem „Leben Adams“ die gegenüber Michael geäusserte Gewissheit des Teufels, dass seine Verweigerung der Anbetung Adams Gott nicht erzürnen wird. Tatsächlich wird Gott zornig über das Thronprojekt des Teufels, obschon dessen Thron denjenigen Gottes explizit nicht ersetzen soll. 3. Die wichtigste Passage unter den ‚alttestamentlichen Pseudepigraphen‘ findet sich im slawischen Henochbuch (2 Hen), hier allerdings nur in der längeren Textfassung. In der Offenbarung der Schöpfungstage (27,4–32,2) wird am zweiten Tag das Himmelsfeuer erschaffen, aus ihm „die Ränge der körperlosen Heerscharen, Myriaden Engel“. Jedem wird sein Rang zugewiesen. Nun kommt es zum Engelfall, von dem bereits zuvor auf der Linie der Wächtertradition (und damit zeitlich wesentlich später angesetzt) die Rede war (7; 18) und wo sogar
44 Vgl. Dochhorn, Apokalypse (s. Anm. 21) 45 f („damit ist eine der Teufelsfallgeschichte fremde Assoziation mit dem Luzifermythos auch für Vit Ad [lat] als sekundär erwiesen“); ders., Sturz (s. Anm. 4) 36. 45 Auch bei diachron-überlieferungsgeschichtlichen Analysen gerade im Bereich der apokryphen Literaturen halte ich es für ratsam, statt von „Interpolationen“ bzw. „Kontaminationen“ besser von „Fortschreibungen“ und „Relektüren“ zu sprechen, um der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Fixierung auf die ältesten (und damit ‚authentischen‘) Quellen auszuweichen. 46 Griechische Rez. G (θήσω τὸν θρόνον μου ἐξ ἐναντίας τοῦ θρόνου αὐτοῦ καὶ εἰμὶ ὡς αὐτός); dt. Übs. nach Ch. Markschies, Bartholomaeustraditionen / Bartholomaeusevangelium, in: AcA 1.1, 804; vgl. ferner F. Scheidweiler, NTApo 61, 435 und oben Anm. 23. Zu den starken Bezügen zur koptischen Michaelstradition vgl. Markschies, aaO. 705; Dochhorn, Sturz (s. Anm. 4) 15 f; 28.
3. Jes 14 im jüdisch-christlichen Grenzbereich
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Satanael genannt worden ist (18,3).47 Die entscheidende Passage, in der Jes 14,13– 15 aufgenommen wird, lautet (29,4 f):48 „Einer aber vom Rang der Erzengel wandte sich ab mit dem Rang, der unter ihm war, [und] er empfing den unmöglichen Gedanken, dass er seinen Thron höher als die Wolken über der Erde stellte, [und] dass er gleich werde meiner Macht. Und ich warf ihn von der Höhe hinab mit seinen Engeln. Und er flog fortwährend in der Luft, oberhalb des Abgrundes.“
Es handelt sich um einen Erzengel,49 der freilich nicht explizit mit dem Satan identifiziert wird.50 Sein Sturz endet nicht auf oder unter der Erde, sondern im Luftbereich – wahrscheinlich liegt eine Anspielung auf Eph 2,2 vor. 2 Hen kommt in 31,4–6a auf den Fall zurück, hier verbunden mit dem Namenswechsel von Satanael zu Satan und mit einem Gesinnungswandel: „Der Teufel gehört an die untersten Orte. Er wird ein Dämon, weil er die Flucht aus dem Himmel unternahm, [und] Satan, weil sein Name Satanail war. So wandte er sich von den Engeln ab. Das Wesen veränderte er nicht, doch den Sinn, denn es gibt eine Gesinnung der Gerechten und der Sünder. Und er erkannte seine Verurteilung und die Sünde, die er zuvor begangen hatte.“
Nun fällt auf, dass diese Erklärung in einen ziemlich kohärenten Kontext eingepasst ist, in dem der Teufel gegen die Ureltern intrigiert (31,3.6b–7).51 Die V. 4–6a führen das Konkurrenzverhältnis, das etwa VitAd ausgiebiger erzählt, auf den urzeitlichen Engelfall zurück, den 29,4 f schon am zweiten Schöpfungstag, dem Tag der Engelerschaffung, situiert hat. Im Blick auf das Parallelenmaterial und die Entwicklung der slawisch-apokryphen Traditionen52 spricht viel 47 Es handelt sich hier um den vorsintflutlichen Engelfall, also um eine deutlich spätere Episode. Vgl. A. A. Orlov, The Watchers of Satanail. The Fallen Angels Traditions in 2 Enoch, in: ders. / G. Boccaccini (Hg.), New Perspectives on 2 Enoch. No Longer Slavonic Only (Studia Judaeoslavica), Leiden 2012, 149–180 = ders., Mirrors (s. Anm. 35) 85–106. Der Name Satanael (bzw. Satanail) ist „schon in den längeren Hss. eindeutig sekundärer Zusatz“, Ch. Böttrich, Das slavische Henochbuch (JSHRZ 5.7), Gütersloh 1995, 876 Anm. 3.d; vgl. auch 804; 925 f. 48 Übs. nach Böttrich, slHen (s. Anm. 47) 910 f, wo auf viele slawische Parallelen verwiesen wird. 49 Es ist verräterisch, dass diese Rangierung Satans sonst nur bei Kirchenvätern begegnet (Tert. [vgl. unten bei Anm. 59]; Kyr. Hier., cat. 2,4), wo alternativ auch ein Cherub (wegen Ez 28,14!) genannt wird (z. B. Athanas., Serap. 1,26; vgl. PGL 345a). 50 Vgl. F. I. Andersen (Hg.), 2 (Slavonic Apocalypse of) Enoch, in: OTP 1, 155d. Eine Hs. nennt explizit Satanael (148). Andersen hält nur dies für eine christliche Interpolation (149.i) und stellt generell fest: „We have, then, fragments of Satan stories loosely mixed, with no evident concern to link them into a consistent whole. This intellectual confusion prevails generally in 2 En.“ (155.d). 51 Ähnlich Böttrich, slHen (s. Anm. 47) 804; 925; ders., The „Book of the Secrets of Enoch“ (2 En). Between Jewish Origin and Christian Transmission, in: Orlov / Boccaccini, Perspectives (s. Anm. 47) 37–67: hier 47. Dochhorn, Sturz (s. Anm. 4) 21 f Anm. 69; 37, hält auch eine jüdische Bildung für nicht unmöglich. 52 Zur slawischen Rezeption von Jes 14 vgl. E. Turdeanu, Apocryphes slaves et roumains de l’Ancien Testament (SVTP 5), Leiden 1981, 21–31.
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dafür, dass wir in 29,4 f und 31,4–6a eine Schicht christlicher Fortschreibung vor uns haben, die den Auftakt zum paradiesischen Drama in den Schöpfungsanfang verlegt.53 Einen analogen Befund haben wir zuvor auch für das „Leben Adams“ und die „Fragen des Bartholomäus“ erhoben. Zudem weist der laut 29,4 empfangene „unmögliche Gedanke“, der nicht näher erläutert wird, auf überkommene, uns nicht näher bekannte theologische Reflexion zurück.
4. Die Entdeckung Luzifers in der frühen Kirche Wir befinden uns folglich schon mitten in der christlichen Rezeptionsgeschichte von Jes 14. Obgleich diese bereits im Neuen Testament einsetzt,54 tauchen die uns interessierenden Lektüren erst ab dem späten zweiten Jahrhundert auf.55 Das längst traditionelle Wissen um den ehemaligen angelischen Status des Teufels56 wird damit in eine dramatische Ursprungserzählung umgesetzt. 1. Tertullian scheint der erste Theologe zu sein, bei dem die satanologische Deutung von Jes 14 begegnet, hier schon in Koexistenz mit derjenigen von Ez 28. Gegenüber Markion, der den „Gott dieser Welt“ (2 Kor 4,4) auf den Demiurgen bezog, bietet er unter Hinweis auf Jes 14,13 f den Teufel auf.57 Tertullian argumentiert also in einem Diskurs über die Herkunft des Bösen,58 der sich im zwei53 Böttrich, slHen 910 f (s. Anm. 47) scheint 29,4 f für ursprünglich und jüdisch zu halten. Demgegenüber denken bei 29,4(f) an christliche Tradition Andersen, 2 En (s. Anm. 50) 148 und Dochhorn, Sturz (s. Anm. 4) 37 f; ähnlich wohl auch G. Macaskill, 2 Enoch. Manuscripts, Recensions, and Original Language, in: Orlov / Boccaccini, Perspectives (s. Anm. 47) 83–101, hier: 93 f (Satans „presence in the creation narrative of the longer recension is the result of interpolation, with at least some of this happening in Slavonic contexts“). Dies gilt vollends dann, wenn man die längere Rezension von 2 Hen für sekundär hält gegenüber der kürzeren. Für diese Hypothese könnte ein Fund von Fragmenten einer koptischen Version zu sprechen; vgl. J. L. Hagen, No Longer „Slavonic“ Only. 2 Enoch Attested in Coptic from Nubia, in: Orlov / Boccaccini, Perspectives (s. Anm. 47) 7–34. 54 So die Anspielung in Jesu Gerichtwort gegen Kafarnaum aus Q (Lk 10,15 par.). Der Stellenwert von Jes 14 für den Satanssturz von Lk 10,18 ist in der Forschung umstritten; mindestens Lk stellt einen Zusammenhang zwischen V. 15 und 18 her. 55 Anders als für Ez 28 (s. Anm. 42) fehlt m.W. eine Monographie. Vgl. die Schlaglichter in J.M. Vercruysse, Les pères de l’église et la chute de l’ange (Lucifer d’après Is 14 et Ez 28), RevSR 75 (2001) 147–174. 56 Vgl. z. B. Just., dial. 124,3 (zit. Ps 82,6 f!); 79; Iren., haer. 5,24:4 (SC 153, 104 f: apostata exsistens angelus); Orig., princ. 1 praef. 6. 57 Tert., Marc. 5,11:11; 17,8 f (wie in 2 Hen 29,5 wird hier in § 7 f, wieder wegen Markion, die Brücke zu Eph 2,2 geschlagen!). Man darf 5,17:8 f nicht entnehmen, dass sich der Teufel erst nach seinem Fall und seiner Übernahme der Luftherrschaft wieder erheben wolle (so H. A. Kelly, Art. Teufel. V, TRE 33 [2002] 125): Tertullian assoziiert spielerisch die „Luft“ von Eph 2 mit den „Wolken“ von Jes 14. 58 Davon zeugen auch die Lehrentwicklungen im Umkreis von Markions Schule; vgl. K. Greschat, Apelles und Hermogenes. Zwei theologische Lehrer des zweiten Jahrhunderts (SVigChr 47), Leiden 2000. Es ist interessant, dass Apelles neben dem – durchaus positiven – Schöpferengel auch einen abtrünnigen, bösen und überheblichen Feuerengel kennt (ebd. 90–96).
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ten Jahrhundert zuspitzt, insbesondere aufgrund von Markions Zweigötterlehre. Das Böse stammt nicht vom Schöpfergott, sondern geht auf den Teufel als einen gefallenen Engel zurück. Ausführlicher äussert sich der Kirchenlehrer in einer angelologischen Reflexion:59 Wenn man das Böse auf den Teufel zurückführt und somit auf Gott als dessen Erschaffer (Ps 104,4), dann gilt es mit Blick auf Ez 28,11–16 zu beachten, dass Gott den besagten Engel gut, ja als den „weisesten von allen“ erschaffen hat. Erst seine Selbstkorruption hat ihn zum Teufel gemacht. Tertullian bezieht sich dafür ausdrücklich auf Lk 10,18.60 Für die „Weisheit“ (Ez 28,12) spielt Tertullian auch die Klugheit der Schlange von Gen 3,1 ein. Ezechiels Prophetie über den Fürsten von Tyros ist auf den Teufel zu beziehen (in persona enim principis Sor ad diabolum pronuntiatur, § 3), nicht auf einen Menschen und auch nicht auf Adam (§ 3). Satan wird als dem „herausragendsten der Engel, Erzengel, weisestem von allen“ sogar die Gottebenbildlichkeit (erschlossen aus Ez 28,12: resignaculum [Siegelabdruck] similitudinis!) zugesprochen (§ 3). Von Anfang an gut geschaffen, geschmückt mit angelischer Herrlichkeit (§ 4), ausgestattet wie die Menschen mit dem liberum arbitrium (§ 4 f), ist er libidine propria böse geworden.
Es fällt auf, dass Tertullian eine detaillierte Exegese von Ez 28 bietet, während er auf Jes 14 nur beiläufig verweist. Man darf dies als Indiz dafür werten, dass er eine satanologische Auslegung von Jes 14 bereits voraussetzen kann. 2. Im griechischen Osten ist Origenes der erste Zeuge für die angelologische Lektüre von Jes 14 und Ez 28. In De principiis schliesst er einer grundsätzlichen Reflexion über die Konstitution der geistbegabten Wesen, die die Freiheit zum Guten wie zum Schlechten beinhaltet (1,5:3), eine exegetische Recherche über die „bösen Kräfte“ (1,5:4) an. Zunächst beschäftigt sich der Theologe ausführlich mit den beiden Prophezeiungen in Ez 28. Liesse sich die erste (V. 1–10) noch auf einen Menschen deuten, so erzwingt die zweite (V. 11–19) den Bezug auf eine andersartige höhere und feindliche Macht. Origenes erkennt in ihr den Völkerengel von Tyros (vgl. 3,3:2), einer Stadt, die ihrerseits allegoriefähig ist. In einer späteren Passage des Werks wird die allegorische Lektüre favorisiert (4,3:9). Was die Schrift über den Pharao (Ez 29–32), über den Fürsten von Tyros (Ez 26–28) und über Nebukadnezar (Jes 14) sagt, ist auf Geistermächte zu beziehen.
In princ. 1,5:5 zieht der Exeget einen weiteren Text zu Rate: „Über eine andere Gegenmacht erfahren wir vom Propheten Jesaia.“
Origenes’ satanologische Relektüre von Jes 14,12–22 enthält eine Reihe beachtenswerter Elemente. (1.) Gegenüber der dualistischen Position, eine uranfängliche Gegenmacht anzunehmen – wogegen ja auch Tertullian in ähnlicher 59 Tert., Marc. 2,10:2 f (SC 368, 72–79 = FC 63.2, 244–247). Vgl. dazu Patmore, Adam (s. Anm. 42) 42–48. 60 Der „Gottesberg“ (Ez 28,14) meint jene Himmelshöhe, de qua satanan dominus quoque decidisse testatur (§ 3).
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Weise polemisiert hat –, signalisiert der „Morgenstern“ eine ursprüngliche Lichtnatur (woran auch 2 Kor 11,14 erinnert). Wir haben es also wieder mit einem Diskurs über den Ursprung des Bösen zu tun. (2.) Origenes stellt Jes 14 und Lk 10,18 zusammen – ein seit Tertullian bei den Vätern beliebtes Junktim –,61 und kontrastiert mit diesem Blitz denjenigen des Menschensohns (Lk 17,24). Lk 10,18 signalisiert hiernach die himmlische Herkunft des Teufels (SC 252, 192 f): „So war auch dieser einst Licht, bevor er sündigte und an diesen Ort herabstürzte und seine Herrlichkeit zu Asche wurde.“
(3.) Origenes spielt weitere Schriftzeugnisse in seine Exegese ein. Darunter finden sich auch der „Fürst dieser Welt“ (Joh 12,31) und der „abtrünnige Drache“ aus Hi 40,25. (4.) Der Theologe hebt zum Schluss des Abschnitts nochmals auf den freien Willen ab, der zur Seligkeit oder aber zur Bosheit führt.62 Es sind neben Gott allein Christus und der heilige Geist, die nicht der prinzipiellen Fallibilität der Geistwesen unterliegen (princ. 1,5:3) – eine Perspektive, die im euagrianischen Origenismus weiter entwickelt wird. Halten wir an dieser Stelle fest, dass Origenes und seine Schule von der Apokatastasis auch die Reintegration des Teufels und der Seinen in die Geisterwelt erwartet zu haben scheinen. (5.) In princ. 1,5:4 unterscheidet Origenes die Engel von Ez 28 und Jes 14 voneinander.63 Die in der späteren Exegese geläufige Gleichsetzung64 findet sich aber auch bei ihm (princ 1,8:3). So korreliert der Lehrer die beiden biblischen Fallgeschichten mit ihrer platonischen Variante, konkret mit dem Verlust des Seelengefieders.65 Der Teufel wird mittels eines Bausteins aus Ez 28,15, der „Untadeligkeit“, als hamartiologisches Paradigma porträtiert:66 Dünkel und Aufgeblasenheit „wird zur Ursache des Falls; das ist nach unserer Meinung auch im Falle des Teufels geschehen, der zu der Zeit, also er noch ohne Tadel war (ἄμωμος), sich seine Vorzüge selber als Verdienst zuschrieb. ‚Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden.‘ (Lk 14,11 parr.).“
Origenes entnimmt Ez 28 und Jes 14 also auch eine Warnung gegen den Hochmut. Als Gegenbild zur Selbsterhöhung wird der sich entäussernde Christus aufgeboten.67 In der späteren patristischen Literatur stösst man immer wieder auf 61 Vgl. z. B. Orig., comm. ser. 15,27 in Mt.; hom. 13,1 f in Ez. (zusammen mit Ez 28) sowie 1,3; Kyr. Hier., cat. 2,4. 62 So spricht Satan die Worte von Jes 14,12 f (virtute mea, hom. 11,4 in Num. [GCS 30, 83 f]; 12,4 [104 f]). 63 Sie werden auch unterschieden in comm. 5,10 in Rom. (FC 2.3, 180–183; 186 f). 64 So z. B. Kyr. Hier., cat. 2,4; Euseb, praep. 7,16:1–6; Aug., Gen. litt. 11,25; civ. 11,15; Cass., coll. 8,8. 65 So Orig., Cels. 6,43–44 mit Bezug auf Phaidros 246bc. Der paradiesische Satan „geriet, vom Guten gleichsam gesättigt (οἱονεὶ κορεσθεὶς τῶν ἀγαθῶν), ins Verderben“ (SC 147, 288 f). Zu Ez 28 bei Origenes vgl. Patmore, Satan (s. Anm. 42) 59–66. 66 Princ. 3,1:12 (SC 268, 74 f). Vgl. mart. 18 (mit Zitat von Jes 14). 67 Comm. 5,10 in Rom. (FC 2.3, 174–187); exp. Prov. 25 (PG 17, 233 D). Origenes führt den Teufelsfall klar auf den Hochmut zurück (gegen Dochhorn, Sturz [s. Anm. 4] 38); vgl. auch
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die Kontrastierung des Satans von Jes 14 mit dem Christus von Phil 2,5–11.68 Der Hochmut gilt wegen Jes 14,12–15 als Kardinalsünde des Teufels, sekundiert vom Neid;69 unsere beiden Bibeltexte bieten ein warnendes Paradigma der Sünde. In der theologischen Konfiguration Augustins wird die Antithese von Hochmut und Demut, von Luzifer und Christus, von Jes 14 und Phil 2, sogar zu einer zentralen Achse.70 3. Wir haben noch eine andere Auslegungslinie von Jes 14 zu verfolgen, die uns nicht nur näher an die jüdischen Rezeptionen heranführt, sondern auch an die mutmasslichen Ursprünge der satanologischen Interpretation.71 Unsere Passage handelt hier vom Antichrist. Instruktiv ist gleich schon der zeitlich wohl erste Beleg bei Cyprian. Mitten in Kirchenkrise und Verfolgung identifiziert er den Geist des Antichrists in seinen kirchenpolitischen Gegnern, der in Jes 14 offenbar wird. Das Gegenbild ist Christus, der die Demut lehrt.72 Vor allem Hippolyt, der altkirchliche „Antichristologe“ schlechthin, bezieht Jes 14 auf den Antichrist. Dabei gilt die eschatologisch-hermeneutische Regel: „In allem will der Verführer dem Sohn Gottes ähnlich sein.“73 Neben zahlreichen anderen Schriftzitaten (etwa Jes 10,12–17) werden auch Jes 14,13–16 und Ez 28,1–10 aufeinander folgend zitiert (antichr. 17 f; 53). Der grosse Danielkommentar nimmt diese Stellenkombination wieder auf (4,12). Der mit Jes 14 verbundene Antichrist begegnet sodann in den christlichen bzw. christianisierten Apokryphen.74 Auch unabhängig von der Schriftexegese gehört es zum markanten Profil des Antichrists, dass er den vermessenen Anspruch auf Göttlichkeit bzw. Gottgleichheit hom. 9,2 in Ez. (SC 352, 314 f: inflatio, superbia arrogantia peccatum diaboli est, ob haec delicta ad terras migravit de caelo); 9,4 f. 68 So z. B. bei J. Chrys., hom. 8,5 in Phil. (PG 62, 235); Ps.-Chrys., serm. paen. 1,5 (PG 60, 693 f); Ps.-Makar., hom. 27,5; Greg. Magn., mor. 34,23; vgl. 32,12. 69 Vgl. die Übersicht bei Vercruysse, Pères (s. Anm. 55) 161–168. 70 Vgl. besonders Aug., Joh. tract. 17,16 (CCSL 36, 179); serm. 293 E (= serm. Caillau 1,57:2); civ. 14,13. 71 Diesen Weg aus dem „traditionsgeschichtlichen Niemandsland“ hat Dochhorn, Sturz (s. Anm. 4) 39–42 instinktsicher gewiesen. Er überschätzt m. E. aber das Gewicht der Traditionen vom Nero rediturus und der antirömischen Stossrichtung. 72 Cypr., ep. 59,3:2 (exaltatio et inflatio et arrogans ac superba iactatio non de Christi magisterio, qui humilitatem docet, sed de antichristi spiritu nascitur [CCSL 3 C, 341]). 73 Hippolyt, antichr. 6 (GCS 1.2, 8: κατὰ πάντα γὰρ ἐξομοιοῦσθαι βούλεται ὁ πλάνος τῷ υἱῷ τοῦ θεοῦ; vgl. Ps.-Hippolyt, consumm. 22 ebd. 297 f: εἰς πάντα ἐξισοῦσθαι μέλλει τῷ σωτῆρι ἡμῶν ὁ διάβολος καὶ υἱὸς τῆς ἀνομίας); die Regel gilt auch für sein Kommen „in Menschengestalt“ (Phil 2,7). – Vgl. M. Wallraff, Antichrist und tausendjähriges Reich in der Antike, in: M. Delgado / V. Leppin (Hg.), Der Antichrist. Historische und systematische Zugänge (Studien zur christlichen Religions‑ und Kulturgeschichte 14), Fribourg 2011, 113–123 („Hippolyt entwickelt eine regelrechte Christus-Antichristus-Typologie, in der zahlreiche Christusmetaphern auch auf den Gegenspieler bezogen werden“, 119). 74 GrApkEsr 4,32 („bis zum Himmel wurde er erhöht, bis zum Hades wird er hinabfahren“, PVTG 4, 30 = JSHRZ 5.2, 96); 1 ApkPsJoh 7 (p. 75 Tischendorf); ApkEl 4,11 (SBLTT 9, 48 = JSHRZ 5.3, 258).
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erhebt (vgl. AscJes 4,6; 2 Thess 2,4; Did 16,4; Apk 13,4.8) – er entspricht darin sehr genau dem Teufel selber.75
5. „Antichristologische“ Lektüren von Jes 14 und Ez 28 Wir versuchen zunächst, eine theologiegeschichtliche Bilanz in vier Punkten zu ziehen. 1. Der Luzifermythos, der die Entstehung des Satans erzählt, verdankt sich den angelologischen bzw. satanologischen Relektüren bestimmter Bibeltexte (Jes 14; ferner Ez 28), die seit dem späten zweiten Jahrhundert in der christlichen Literatur begegnen. Es spricht viel dafür, dass diese Lektüren provoziert oder wenigstens stimuliert worden sind durch die Frage unde malum, die die Kirche in ihrer Auseinandersetzung mit der Schule Markions, speziell der Zweigötterlehre und dem Zweiprinzipien-Dualismus, als besonders drängend empfunden hat. Das Interesse an dieser Frage dokumentiert auch die Rezeption des Engelfallmythos in den gnostischen Systemen. Ausserdem hat man den markanten Umbruch in der politischen Grosswetterlage beim Ausklang der ‚glücklichen‘ Antoninenzeit in Rechnung zu stellen. Die Schrift selber zeugt den nach der Herkunft des Bösen fragenden Lektüren zufolge davon, dass das Böse weder bei Gott noch bei einem anderen primordialen Prinzip seinen Anfang nimmt, sondern beim Abfall eines Geschöpfs, das zum Teufel mutiert. Das Wissen, dass es sich bei diesem ursprünglich um ein Himmelswesen handelt,76 zählte längst zu den rundum geteilten Traditionselementen – der Satan hat ja bereits im Hiobbuch als Mitglied des himmlischen Hofstaats seinen Auftritt. Die Fusion mit weit verbreiteten Geschichten vom Sturz mythischer Mächte – Drachenkampf, Götter‑ und Titanensturz, Wächterfall u. a. – führte schon im jüdischen Bereich zur nicht näher detaillierten Vorstellung, dass der mit der Schlange von Gen 3 korrelierte Satan aus dem Himmel gestürzt worden sei. Jes 14 füllt diese Leerstelle nun mit einer impressiven biblischen Story aus. 2. Diese Lektüren stehen ihrerseits in einem weiten Raum der Traditionsbildung. Ab dem späten ersten Jahrhundert formiert sich im Christentum sukzessive die Erwartung des „Antichrists“, eines widergöttlichen Gegenspielers Christi, der am Ende der Zeit als Tyrann und Verführer auftritt und Gottgleichheit reklamiert. Identifiziert hat man ihn nicht nur im Danielbuch, sondern auch in Jes 14. In der Herausbildung dieses keineswegs uniformen Komplexes, der 75 Vgl.
neben Mt 4,9 par. besonders 3 Kor 3,10 f.15 (NTApo 62, 232 f). Die Vorstellung, dass sich Satan in einen Lichtengel verwandeln kann (2 Kor 11,14; vgl. VitAd 9,1; ApkMos 17), erklärt sich entweder aus seiner ursprünglichen Engelnatur oder aus seiner generellen Verwandlungsfähigkeit (z. B. TestHi 6,4). Vgl. G. Williams, The Spirit World in the Letters of Paul the Apostle (FRLANT 231), Göttingen 2009, 94. 76
5. „Antichristologische“ Lektüren von Jes 14 und Ez 28
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aber doch ein dezidiert christliches Profil aufweist,77 fliessen insbesondere zwei unterschiedliche, von Haus aus jüdische Traditionsströme zusammen: Falschpropheten und Endzeittyrannen. Für uns sind letztere von grossem Interesse. An der seit dem zweiten Jahrhundert v. Chr. virulenten Erwartung – oder sogar schon aktuellen Erfahrung – von überheblichen, Göttlichkeit beanspruchenden Tyrannen, die in der Endzeit die Frommen bedrängen, spielen zahlreiche Texte der hebräischen Bibel eine formative Rolle, unter ihnen Jes 10; 13 f und Ez 25–32. Die Relektüre derartiger Texte, die die Kollision von gottgleichen Herrschern mit dem einen Gott thematisieren, aktualisiert sich in Situationen, wo die Identität Israels und sein Glaube akut bedroht sind, und zeitigt neue Texte wie etwa Dan 9–11 oder 2 Makk 9.78 Im Christentum mutiert die jüdische, meist nicht scharf konturierte und generische Gestalt der Endzeittyrannen zum „Antichristen“. Dieser gewinnt sein weit stärker singularisiertes Profil aus dem Gegenüber zu Jesus Christus. Die „Antichristologie“ reflektiert also die sich entwickelnde Christologie. Es zählt zu den Erkenntniszeichen des Antichrists, dass er eine dämonische imitatio Christi betreibt – eine Figur, die v. a. die Johannesapokalypse parodisch inszeniert. Zugleich steht er in intimer Beziehung zum Teufel selber.79 3. Es kommt ein weiteres, rekursives Moment hinzu: Längst bevor es zur Ausbildung einer „Antichristologie“ kommt, hat die christliche Lektüre der uns interessierenden Bibeltexte (Jes, Ez u. a.) paradigmatische christologische Lehrbildungen stimuliert. Jesus Christus, der Messias, König und Kyrios, wird porträtiert als Antityp zu jenen vermessenen Herrschern, die für sich selber Gottgleichheit beanspruchen.80 Im aktuellen Fokus ist dabei nicht allein der Kaiserkult, sondern die politische Theologie des römischen Kaisers überhaupt. Der Hybris der Machthaber steht die Demut des Mensch gewordenen Gottessohns gegenüber, der sich erniedrigt, um von Gott selber erhöht und mit der Weltherrschaft betraut zu werden (Phil 2,6–11; vgl. Mk 10,41–45; Mt 4,1–11 und 28,16–20).81 4. Bereits die jüdische Tradition hat unter dem Eindruck der alten Geschichten vom Drachenkampf oder Göttersturz den Fall des Teufels, den sie zunächst 77 In diesem Punkt konvergiert die neuere Forschung: G. C. Jenks, The Origins and Early Development of the Antichrist Myth (BZNW 59), Berlin 1991, 195; 358 (auch mit dem Hinweis auf die Rolle von Jes 14: hier 67–69; 219; 358!); L. J. Lietaert Peerbolte, The Antecedents of Antichrist (JSJ.S 49), Leiden 1996, 343–345; vgl. B. Kowalski, Der Antichrist im Neuen Testament, in: Delgado / Leppin, Antichrist (s. Anm. 73) 65–99. 78 In 2 Makk 9,10–12 wird offensichtlich Jes 14,12–15 auf König Antiochus IV. appliziert. Statt Könige bieten sich auch Städte an – Sib 5,72 bezieht die Stelle auf Memphis – oder sogar Dörfer (Lk 10,15 par.). 79 Illustrativ sind Beliar als Antichrist in AscJes 4 und die detaillierten Analogien zwischen Teufelsdrache und erstem Tier in Apk 12 f. 80 Vgl. die Stilisierung von Herodes Agrippa I. zum exemplarischen Gottesfeind in Apg 12,21– 23, wo möglicherweise Ez 28 rezipiert wird. 81 Vgl. meinen Aufsatz: Der „Raub“ der Gottgleichheit. Ein religionsgeschichtlicher Vorschlag zu Phil 2,6(–11), in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 263–284.
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für die Endzeit erhoffte,82 in die Urzeit verlegt, sekundiert vom frühen Christentum.83 Sie folgt damit jener auch bei vielen anderen theologischen Topoi zum Zug kommenden hermeneutischen Regel, die man in Umkehrung von Barn 6,13 so formulieren könnte: „Siehe, ich mache das Erste wie das Letzte.“ Die angelologische Relektüre von Jes 14 und Ez 28 setzt das Traditionswissen in eine dramatische Erzählung um. Es erstaunt nicht, dass die altkirchlichen Theologen nach Bibeltexten auch abseits von Gen 3 gesucht haben, die den Ursprung des Bösen thematisieren. Dabei dürfte der Stellenwert des Interesses an einer protologischen Gegengeschichte zur Jesuserzählung hoch zu veranschlagen sein und wird in den Texten gelegentlich auch explizit fassbar. Der endzeitliche Antichrist, den man in den Schriftworten wiederfand, gewinnt gleichsam sein Urbild im Anfang. Der Kontrast, den Jes 14 und Ez 28 zu Texten wie Phil 2 erzeugen, verschärft sich damit noch ein Stück weit: Jesus Christus steht nun antitypisch dem Satan selber gegenüber, nicht mehr „nur“ den Tyrannen oder dem Antichrist. Die Rolle, die der Teufel in den Evangelien spielt,84 hat zu dieser Entwicklung ihren Beitrag geleistet. Der Luzifermythos lässt sich damit „antichristologisch“ als Gegengeschichte zum Christusmythos verständlich machen. Sie fungieren beide auch als fundamentale ethische Paradigmen. Wir schliessen eine theologische Überlegung an. Der Topos vom Engelfall und seine Zuspitzung in der Luzifergeschichte versucht auf seine Weise, die Frage nach dem Bösen zu bearbeiten. Die neuzeitliche Theologie hat gute Gründe, sich in ihrem denkenden Umgang mit dem Bösen auf die Gottesfrage selber zu konzentrieren und nicht mit der Figur gefallener Engel oder gar des Teufels zu operieren.85 Luzifers Fall könnte aber auf zweierlei Seiten hin zum Nachdenken anregen. Zum einen fällt auf, wie die Luzifererzählung den Sündenfall der Ureltern dupliziert, als wäre sie dessen himmlisches Gegenstück. Man kann diese Doppelung dahingehend deuten, dass es den Teufel samt seinen Genossen nicht einfach „gibt“, so wie es Steine und Lebewesen gibt, sondern dass es sich um eine Macht handelt, die überhaupt erst zu existieren anhebt, wenn sich die Menschen ihr 82 Vgl. Dochhorn, Sturz (s. Anm. 4) 14–16. Das Urchristentum, das die Gegenwart bereits als Endzeit taxiert, situiert den Teufelssturz z. T. schon im Zusammenhang mit dem Wirken bzw. der Passion Jesu (Apk 12; Joh 12,31; Lk 10,18), vgl. meinen Aufsatz: „Ich sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen“ (Lk 10,18), in: Vollenweider, Horizonte (s. Anm. 81) 71–87, hier: 80 f. 83 Eine umfassende Sichtung des Materials bietet Dochhorn, Sturz (s. Anm. 4) 16–34; ders., Schriftgelehrte Prophetie. Der eschatologische Teufelsfall in Apc Joh 12 und seine Bedeutung für das Verständnis der Johannesoffenbarung (WUNT 268), Tübingen 2010, 256–260. 84 Vgl. Mt 4,1–11 parr.; Lk 22,3; Joh 12,31; 14,30; 16,11; 1 Joh 3,8. 85 Dafür verweise ich nur knapp auf G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 3, Tübingen 1979, 487 f; I. U. Dalferth, Malum. Theologische Hermeneutik des Bösen, Tübingen 2008 („Der Mythos vom Engelfall gibt keine Antwort, sondern reformuliert das Problem [sc. nach dem Übelwollen, S. V.]: Wie ist es möglich, dass ein ganz und gar gut geschaffener Engel Übles will und tut?“, 235). Für ein radikales Verständnis Gottes als Einheit der Gegensätze plädiert K.-W. Thyssen, Der Teufel ist die dunkle Seite Gottes. Integration des Bösen als Nachholbedarf des Christentums, Aachen 2012.
5. „Antichristologische“ Lektüren von Jes 14 und Ez 28
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hingeben. Sie stellt also gleichsam eine ‚virtuelle‘ bzw. ‚virale‘ Grösse dar, die sich im Anschluss an eine alte theologische Figur als Nichtiges bestimmen lässt. Wirklichkeit gewinnt sie erst aus der Interaktion mit den Menschen. Zum andern zeigt der Luzifermythos als Kontrastbildung zur Christusgeschichte den Abgrund, in den der Hochmut und das Seinwollen wie Gott hinabreissen. Beides sind Punkte, die gerade in der Neuzeit wieder beklemmende Aktualität gewonnen haben. Das letzte Wort gebührt aber nicht der Kulturkritik, sondern der Schönheit, die den Morgenstern zum Glanzgestirn des Himmels und zum Vorboten des Sonnenaufgangs macht. Lucifer war in der christlich-lateinischen Überlieferung nie nur der Name Satans, sondern umgekehrt auch von Jesus Christus, dem „Morgenstern, der aufgeht in euren Herzen“ (2 Petr 1,19; vgl. Apk 22,16). Wir verscheuchen die luziferischen Nachtschwaden mit einem Morgenlied, das Hilarius zugeschrieben worden ist:86 Du Lichtesspender, leuchtend hell, aus deines Lichtes reinem Quell ergiesst sich, wenn die Nacht vollbracht, des Tages strahlenreiche Pracht. Der Welt ein wahrer Morgenstern (tu verus mundi lucifer), nicht jener Stern, der klein und fern, verkündend uns das nahnde Licht, mit schwachem Schein das Dunkel bricht: Nein, heller als der Sonne Glanz, uns selber Licht und Tag so ganz, gibst du die tiefste Seele kund, durchleuchtend unsres Herzens Grund.
86 Hymnus matutinus: Lucis largitor splendide (G. M. Dreves / C. Blume [Hg.], Ein Jahrtausend lateinischer Hymnendichtung. Eine Blütenlese aus den Analecta Hymnica mit literarhistorischen Erläuterungen, Leipzig 1909, Bd. 2, 398; dt. Übs. von E. Hobein). Zu erinnern ist sodann an den Schluss des osternächtlichen Lobs der Kerze, des Exsultet (flammas eius lucifer matutinus inveniat. Ille, inquam, lucifer, qui nescit occasum Christus filius tuus, qui regressus ab inferis, humano generi serenus illuxit, et vivit et regnat in saecula saeculorum). Vgl. den Hymnus Deus, qui caeli lumen es: „Und Christi Bild, der Morgenstern, / erweckt den Tag aus seinem Schlaf (typusque Christi lucifer / diem sopitum suscitans) (W. Bulst [Hg.], Hymni latini antiquissimi LXXV, Psalmi III, Heidelberg 1956, 105–106; dt. Übs. von F. Wolters, Hymnen und Sequenzen, Berlin 1914, 29).
Der Erlöser im Tarnanzug Eine Studie zur Christologie des Physiologus, zu seiner Datierung und zur Rezeptionsgeschichte von Psalm 24 (= 23 LXX) Abstract The Saviour in a Camouflage Suit. A Study on the Christology of the Physiologus, Its Date and the Reception History of Psalm 24 (= 23 LXX) The article deals with the programmatic first chapter of the Physiologus about the lion. Its three allegories refer to Christ’s incarnation, his death and his resurrection. In general, the author of the Physiologus only alludes to dogmatic conceptions and exegetical traditions of his age and expects his readers to fill any voids (“Leerstellen”). A detailed analysis of the complex religious-historical background of the lion-chapter offers the possibility to draw some chronological conclusions (based on the assumption that the first chapter has to be regarded as an integral part of the Physiologus’ first version). Whereas the figure of the hidden descent of the Saviour can be traced back to “heterodox” Christian traditions of the 2nd/3rd cent. the motive of his angelomorphic status and the intertextual reference to Ps 23 LXX are rather indebted to Origen and his theology. Moreover, the christological vocabulary – namely the leitmotiv of Christ’s “divine nature (theotēs) hidden in the flesh (/ body)” – points most likely to the 4th cent. The lion chapter shows also traces of 4th cent. debates about the status of Christ between death and resurrection (triduum mortis). If the first known version of the Physiologus originated in the first half of the 4th cent. his milieu might probably be found among Origenist monks in Egypt (who were perhaps also transmitters of Gnostic traditions and texts). Finally, the article deals with the hermeneutical profile of the Physiologus’ allegorical method and his basic conception of the “two books of God”, nature and Scripture.
1. Einleitung Im Abendland gilt der Physiologus als eines der viel gelesenen Bücher vor der Ära des Buchdrucks; er rangiert bald nach der Bibel und dem Alexanderroman.1 1 „Das seltsame Büchlein hat sich in der Weltlitteratur dadurch eine ganz hervorragende Stellung verschafft, dass es einen mächtigen Einfluss auf die verschiedensten Gebiete der Litteratur und auf die Kunst geübt und eine universelle Verbreitung bei den christlichen Völkern des Mittelalters erlangt hat, die vielleicht von keinem ihrer übrigen Volksbücher […] erreicht und nur vom Buch der Bücher, der Bibel, übertroffen worden ist“, M. Goldstaub, Der Physiologus und seine Weiterbildung. Besonders in der lateinischen und in der byzantinischen Litteratur, Ph.S 8 (1900) 339–404, hier: 341. Zur Wirkungsgeschichte vgl. den von mehreren Autoren verfassten Art. Physiologus, LMA 6 (1993) 2117–2122.
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Der Erlöser im Tarnanzug
Eigenartigerweise ist der Traktat ein Stiefkind der Forschung geblieben.2 Die Vernachlässigung der gelehrten Arbeit an unserer Schrift erstaunt noch mehr, wenn man ihrer weithin akzeptierten Datierung im zweiten Jahrhundert folgt.3 Man kann von einem nahezu etablierten Konsens sprechen,4 der Lexikonartikel und Sammelbände bestimmt. Zum Konsens zählt freilich auch, dass die für die Eine Auflistung der einschlägigen Forschungsliteratur bringt es auf kaum mehr als drei Seiten; sieht man von Editionen und rezeptionsgeschichtlichen Studien ab, reduzieren sich die Titel auf recht wenige Einträge. In zwei neueren Handbüchern der antiken christlichen Literatur taucht der Physiologus fast gar nicht auf: Überhaupt keine Berücksichtigung findet er bei C. Moreschini / E. Norelli, Handbuch der antiken christlichen Literatur, dt. Übs. Gütersloh 2007; ganz knapp geschafft hat er es in die äthiopische Übersetzungsliteratur (!) in: H. R. Drobner, Lehrbuch der Patrologie, Frankfurt 32011, 514 (Fehlanzeige im Index). Es handelt sich in der Tat um „eine sträflich vernachlässigte Quelle“, H.-J. Klauck, Die apokryphe Bibel. Ein anderer Zugang zum frühen Christentum (Tria Corda 4), Tübingen 2008, 100. 3 Die Frühdatierung geht v. a. zurück auf F. Lauchert, Geschichte des Physiologus, Strassburg 1889 (= Genf 1974), 64 f, hier unter Berufung auf die Rezeption der noch frühen Gnosis des Simon Magus („Es weist aber also Alles darauf hin, dass die Entstehung des Buches vor 140 fällt, und es hindert wenigstens nichts, dass es nicht noch im ersten Viertel des 2. Jahrhunderts entstanden sein könnte“; ergänzend tritt hinzu das Argument der Benutzung des Physiologus durch Justin, 65; 68 f); vgl. E. Peters, Der griechische Physiologus und seine orientalischen Übersetzungen, Berlin 1898, 1 („aus dem ersten Viertel des zweiten christlichen Jahrhunderts“). 4 Vgl. die Bilanzierung bei H. Schneider, Art. Physiologus, RAC 27 (2016) 722–743, hier: 729 („Die früheste Fassung des Ph. stammt wahrscheinlich aus dem 2. Jh. nC., vielleicht auch erst aus dem 3. Jh. nC.“). Noch resoluter urteilt J. Imorde, Art. Physiologus, RGG4 6 (2003) 1330 („wird heute einhellig zw. 150 und 200 n. Chr. datiert“). Ähnlich R. Riedinger, Der Physiologos und Klemens von Alexandreia, ByzZ 66 (1973) 273–307, hier: 305 („die beiden letzten Jahrzehnte des 2. Jahrhunderts, die Jahre 180–200 n. Chr.“); ders., Rez. Kaimakis, ByzZ 70 (1977) 109–112:111; K. Alpers, Art. Physiologus, TRE 26 (1996) 596–602, hier: 598 („in der zweiten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. in Ägypten entstanden“); vgl. ders., Untersuchungen zum griechischen Physiologus und den Kyraniden, VB 6 (1984) 13–87, hier: 14 („Als Entstehungszeit dürfte nunmehr mit Sicherheit das zweite Jahrhundert n. Chr. festgestellt sein“); ders., Art. Physiologus, DNP 9 (2000) 998–1000, hier: 999; W. Seibt, Art. Physiologus, LMA 6 (1993) 2117 („wohl im späten 2. Jh.“); R. M. Grant, Early Christians and Animals, London 1999, 52 („partly from the second century“); U. Treu, Art. Physiologus, LThK3 8 (1999) 276 f („wohl vor 200“)“); B. Hoppe, Art. Zoologie, DNP.RWG 15.3 (2003) 1198–1229, hier: 1202 f; A. Zucker, Physiologos. Le bestiaire des bestiaires (Collection Atopia), Grenoble 2005, 12 („plus probablement du IIe siècle“); L. Hagelberg, Art. Physiologos, DNP.Supplemente I Online – Band 2: Geschichte der antiken Texte. Autoren‑ und Werklexikon (http://dx.doi.org/10.1163/2452–3054_dnpo2_COM_0170; Zugriff am 08. 11. 2019), 2007 („2. Jh. n. Chr.“); N. Henkel, Art. Physiologus, LLex 29 (2010) 213–215, hier: 213 („um 180/200“); M. Depietri, Der Jüngere Physiologus. Eine sprachwissenschaftliche Untersuchung, Hamburg 2010, 17; St. Lazaris, Le Physiologus grec, Bd. 1: La réécriture de l’histoire naturelle antique (Micrologus Library), Sismel 2016, 30 („il s’agit d’une œuvre chrétienne primitive à laquelle il faut assigner une date très ancienne. On serait alors très proche du christianisme primitif de la première moitié du IIe siècle“); A. Dorofeeva, Miscellanies, Christian Reform and Early Medieval Encyclopaedism. A Reconsideration of the Pre-bestiary Latin Physiologus Manuscripts, HiRe 90 (2017) 665–682, hier: 665. Zu aktuellen Vertretern einer Spätdatierung vgl. unten bei Anm. 224/225. – Auch im umfassenden Sammelband zum Physiologus hält sich die Standarddatierung: Z. Kindschi Garský / R. Hirsch-Luipold (Hg.), Christus in natura. Quellen, Hermeneutik und Rezeption des Physiologus (SBR 11), Berlin 2019; etwa H. Schneider, Einführung in den Physiologus, 5–13 („wahrscheinlich im 2. oder 3. Jh. n. Chr.“, 5). 2
2. Christus der Löwe (Physiol. 1)
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frühe Datierung geltend gemachten Indizien nur sehr eingeschränkt belastbar sind. Zusätzlich erschwert wird die chronologische Fixierung durch die für diesen Typ von Literatur charakteristische Vielfalt an Versionen, die es nicht einfach (und womöglich auch nicht sinnvoll) macht, eine „Urschrift“ zu identifizieren.5 In den folgenden Zeilen versuche ich eine Sondierung an den Allegorien des Löwen im ersten Kapitel vorzunehmen, mit einem Seitenblick auf einige damit verbundene Passagen. Die Spurensuche wird im Resultat dazu führen, die für uns noch erkennbare früheste Version des Physiologus nicht vor dem späten dritten Jahrhundert zu situieren; der Gesamtbefund weist eher in die erste Hälfte des vierten Jahrhunderts.
2. Christus der Löwe (Physiol. 1) Wir beschäftigen uns mit dem Anfang des Physiologus;6 dem Beginn kommt ja antiker Gepflogenheit zufolge eine wichtige lektüreleitende Funktion zu. Das tiersymbolische Album wird mit dem Löwen, dem traditionellen König der Tiere, eröffnet.7 Der biblische Leittext für alle drei folgenden Gleichnisse ist der sogenannte Jakobssegen von Gen 49,9: „Ein Junglöwe ist Juda! Aus einem Spross, mein Sohn, wuchsest du hoch. Als er sich niederlegte, schlief er wie ein Löwe und wie ein Junglöwe: Wer wird ihn wecken?“
5 Grundlage für alle textkritischen Fragen: F. Sbordone (Hg.), Physiologus, Mailand 1936 (= Hildesheim 1991). Für Details zu den älteren Handschriftengruppen s. D. Offermanns (Hg.), Der Physiologus. Nach den Handschriften G und M (BKP 22), Meisenheim 1966; D. Kaimakis (Hg.), Der Physiologus nach der ersten Redaktion (BKP 63), Meisenheim 1974. Nicht einschlägig für die uns hier interessierenden Passagen sind Papyrusfragmente; vgl. zu diesen M. Stroppa, The Physiologus and the Papyri from Egypt, in: Kindschi Garský / Hirsch-Luipold, Christus (s. Anm. 4) 39–52. Zum Charakter der Textüberlieferung vgl. P. Maas, Rez. Sbordone u. a., ByZ 37 (1937) 376–381: „einerseits Erhaltung wertvoller antiker Reste, daneben aber Entstellung, Missdeutung, Umformung, Wucherung, vor allem eine bis in die Titel sich erstreckende Vielgestaltigkeit der nebeneinander laufenden Fassungen, die den von der klassischen Philologie herkommenden Herausgeber vor eine neuartige Aufgabe stellt“ (376). 6 Die Übersetzungen richten sich im Folgenden meist nach: O. Schönberger (Hg.), Physiologus. Griechisch / Deutsch (Reclams Universal-Bibliothek 18124), Stuttgart 2001. Verglichen wurden auch die Übersetzungen von O. Seel, Zürich 1960 (= 1995) und von U. Treu, Hanau 1981. 7 Die Prominenz des Löwen in der Antike zeigt sich etwa daran, dass der von verschiedenen Autoren stammende Lexikonartikel „Animal Symbolism“ gleich zu Beginn an seinem Beispiel die vielfältigen Facetten symbolischer Konstruktionen darstellt: EBR 2 (2009) 1–27 (zum Physiologus selber: 15). Zur messianisch-christologischen Ikongraphie des Löwen vgl. P. Bloch, Art. Löwe, LCI 3 (1971) 112–119, hier: 116 f. P. Cox Miller, In the Eye of the Animal. Zoological Imagination in Ancient Christianity (Divinations. Rereading Late Ancient Religion), Philadelphia 2018, spricht beim Physiologus im Blick auf das „powerful set of leonine characteristics“ von einer komplexen „zoomorphic Christology“ und einer „veritable thero-Christology“ (70; 74).
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Der Erlöser im Tarnanzug
Im überlieferten Physiologus-Text8 leitet der erste Teil des Orakels das gesamte Löwenkapitel ein, während sein zweiter Teil die dritte Allegorie ausleitet, verbunden mit einem Lob („wohlgesprochen hat also Jakob“), das in unserer Schrift sonst gern dem „Physiologos“ selber zugesprochen wird. Der biblische Prätext gibt mit der Abfolge von „spriessen“, „schlafen“ und „erwecken“ die Sequenz der drei Löwengleichnisse vor, die drei „Naturen“ des Löwen, die sich auf die drei Hauptstationen des Weges Christi, des „geistigen Löwen“, deuten lassen: Inkarnation, Kreuzestod und Auferstehung. Wir haben also ein umfassendes allegorisches Triptychon vor uns. Auf das Schriftwort folgt die erste Erklärung des „Physiologos“ zu den drei Naturen des Löwen: „Seine erste Eigenheit (φύσις) ist diese: Wenn er im Gebirge umhergeht, weht ihm die Witterung der Jäger zu, und er verwischt seine Spuren (συγκαλύπτει αὐτοῦ τὰ ἴχνη) mit dem Schweif, damit die Jäger nicht seiner Fährte folgen, sein Lager finden und ihn einfangen.“9
Der Physiologus greift auf einen Wissensbestand zurück, der im Kern von Älians „Tiergeschichten“ dokumentiert wird:10 „Der Löwe schreitet beim Gehen nicht geradeaus und lässt auch keinen Eindruck seiner Spuren, so wie er ist, sondern bewegt sich bald voran, bald wieder zurück, geht dann wieder vor‑ und wieder rückwärts und macht den Weg hin und her, so dass die Jäger der verdunkelten Spur nicht folgen können (ἀφανίζει τοῖς θηραταῖς ἰέναι κατὰ στίβον τὸν ἑαυτοῦ) und das Lager, in dem er ruht und mit seinen Jungen wohnt, nicht leicht auffinden können. Und dies ist eine den Löwen eigentümliche Gabe der Natur, die ihnen von oben verliehen ist (ἴδια δῶρα φύσεως, ἄνωθεν αὐτοῖς δοθέντα).“
8 Es ist zu beachten, „dass schon der Text, den Sbordone in der ersten Redaktion bietet, keinen reinen Text einer ursprünglichen Physiologus-Fassung enthält, sondern vor allem die Hauptvarianten der wichtigsten Handschriftenfamilien, in die sich die erste Redaktion weiter untergliedern lässt“, Schneider, Einführung (Anm. 4) 8 f; vgl. ders., Art. Physiologus (Anm. 4) 278. Zu textkritischen Einzelheiten im Löwengleichnis selber, die den von Sbordone, Physiologus (s. Anm. 5), konstituierten Text betreffen, vgl. Alpers, Untersuchungen (s. Anm. 4) 58 Anm. 15. 9 Die Ausgaben differieren hinsichtlich der Aspiration von ΑΥΤΟΥ hier sowie gleich nachher in der Allegorese (αὑτοῦ Sbordone; Schönberger; αὐτοῦ Offermanns; Kaimakis); die Hs. G hat an der ersten Stelle spiritus lenis (die zweite Stelle fällt hier aus). Am Sinn ändert sich nichts. 10 Älian, nat. anim. 9,30; Übs. nach: K. Brodersen (Hg.), Ailianos. Tierleben (Sammlung Tusculum), Berlin 2018, 457. Vgl. Lauchert, Geschichte (s. Anm. 3) 6. Die „von oben verliehenen Gaben der Natur“ würden exzellent passen zur oberen Herkunft des Erlösers (ἄνωθεν, nur hier im Physiologus – vgl. bei Anm. 172), aber ob unsere Schrift Älians Tiergeschichten (um 200) kennt, ist mehr als unsicher (ganz zu schweigen von der chronologischen Frage). Die handschriftlich klar bezeugte Attribution ἄνωθεν αὐτοῖς δοθέντα hat seinerzeit R. Hercher mutwillig getilgt; korrigiert von der neueren Teubner-Ausgabe: M. García Valdés u. a. (Hg.), Aelianus, Claudius. De natura animalium (BSGRT), Berlin 2009, 220 (vgl. XIV: Hercher „multos textus locos iniuria commutavit, ut sermonem Aeliani ad id quod arbitrio suo exspectandum esset redigeret“).
2. Christus der Löwe (Physiol. 1)
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Unser Naturforscher reichert sein Porträt mit zwei zusätzlichen Elementen an: Mit dem Motiv des verwischenden Schwanzes spielt er wahrscheinlich eine Aristoteles-Reminiszenz ein: Löwen flüchten bisweilen wie Hunde mit hängendem Schwanz.11 Und das versteckte Löwenlager wird mit einer Referenz auf Hhld 4,8 versehen.12 Mit dem charakteristischen „so“ (οὕτω) wendet sich der Blick von der Natur zur geistigen Welt, von der Bildhälfte zur Sachhälfte, nämlich zum Christus und seinem verborgenen Weg. Vielleicht wirkt beim Verborgensein der „Spuren“ ein biblischer Prätext hinein (Ps 77,20):13 „Deine Fussspuren werden nicht erkannt werden.“
Es ist erstaunlich, mit welch steilem Mythologumenon der Verfasser des Physiologus seine Lehrschrift beginnt:14 „So verbarg auch unser Erlöser, der geistige Löwe [, Sieger aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids (vgl. Apk 5,5)], gesandt vom unsichtbaren Vater, seine geistigen Spuren, nämlich die Gottheit (ἐκάλυψε τὰ νοερὰ ἴχνη αὐτοῦ, τουτέστι τὴν θεότητα). Unter Engeln wurde er Engel, unter Erzengeln Erzengel, unter Thronen Thron, unter Mächten Macht, bis zu seiner Herabkunft; und er ging ein in den Schoss der heiligen Jungfrau Maria, um das verirrte Geschlecht der Menschen zu erlösen, ‚und das Wort ist Fleisch geworden und wohnte unter uns‘ (Joh 1,14). Daher erkannten sie ihn nicht, ihn, der von oben herab kam, und sprachen: ‚Wer ist dieser König der Herrlichkeit?‘ (Ps 24,10a). Dann antwortet der Heilige Geist: ‚Er ist der Herr der Mächte, er selbst ist der König der Herrlichkeit.‘ (Ps 24,10b)“
Die allegorische Deutung des Löwengleichnisses ist ausgesprochen dicht.15 Auf den ersten Blick wirkt die Passage kohärent. Die Textbewegung folgt der Her Aristot., hist. an. 9,44: 629b35 f. Vgl. Lauchert, Geschichte (s. Anm. 3) 6. Hhld 4,8 LXX („du wirst kommen … von den Lagern der Löwen [ἀπὸ μανδρῶν λεόντων]“) als Prätext für Physiol. 1 (ἵνα μὴ […] οἱ κυνηγοὶ εὕρωσιν αὐτοῦ τὴν μάνδραν). Vielleicht spielt auch noch Ps 9,30 LXX hinein (ὡς λέων ἐν τῇ μάνδρᾳ αὐτοῦ). 13 Ps 76,20 LXX (τὰ ἴχνη σου οὐ γνωσθήσονται); vgl. Röm 11,36 (ἀνεξιχνίαστοι αἱ ὁδοὶ αὐτου). 14 Die Übersetzung variiert diejenige von Schönberger (s. Anm. 6) und folgt dem Text von Sbordone (s. Anm. 5), ausser bei der Partizipialkonstruktion, wo die Rede ist von dem, „der von oben herab kam“; dazu s. unten bei Anm. 172. 15 Ich notiere eine interessante Rezeptionsspur des Physiologus, die dessen Allegorese noch einmal platonisch-ontologisch allegorisiert: Für Dionysios Areopagites symbolisiert die Gestalt des Löwen (λέοντος μορφή) als Thron-Engelwesen (Ez 1,10; Apk 4,7) nicht nur „Stärke und Unbezwinglichkeit“, sondern auch „die Tendenz zur möglichsten Angleichung an die Verborgenheit des unsagbaren Gottesprinzips (πρὸς τὴν κρυφιότητα τῆς ἀφθέγμονος θεαρχίας) in Form der Verdeckung der Gedankenspuren und der geheimnisvoll unauffälligen Verhüllung (τῇ τῶν νοερῶν ἰχνῶν περικαλύψει καὶ τῇ μυστικῶς ἀνεκπομπεύτῳ περιστολῇ) des nach dem Mass der göttlichen Erleuchtung aufwärts gerichteten Wegs“ (cael. hier. 15,8 [PTS 67, 57; dt. Übs. BGrL 22, 69; vgl. 94 Anm. 29]). Prätext ist aber nicht nur Physiol. 1, sondern auch ein Chaldäisches Orakel (frg. 37 Des Places: „eine geistige unvergängliche Form, auf deren unweltlicher Spur [νοερὸν τύπον ἄφθιτον, οὗ κατ’ ἄκοσμον ἴχνος] eilend der Kosmos sichtbar wurde“), das auf neuplatonischer Seite vielfach rezipiert und über Proklos (z. B. in Tim. 3, 158:6 f Diehl [ἴχνος τῆς νοερᾶς ἰδιότητος]) dem Areopagiten vermittelt worden ist. – Eine weitere Rezeptionsspur findet sich wahrscheinlich im slawisch-orthodoxen Raum, nämlich in der „Leiter Jakobs“, 11 12
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Der Erlöser im Tarnanzug
abkunft des Erlösers;16 dieser bricht vom „unsichtbaren Vater“ auf und geht schliesslich in Mariens Schoss ein. Leitmotiv ist die Selbstverhüllung Christi, genauer: seiner θεότης – auch nachher in der Deutung der „zweiten Eigenheit“ des Löwen, seines Schlafens mit offenen Augen, wird auf Christi Gottheit fokussiert. Der Erlöser steigt die Himmelssphären hinab und kleidet sich jeweils als einer ihrer Bewohner, offenbar, um von diesen nicht erkannt zu werden.17 Die Abfolge der Engelklassen schert an diesem Punkt etwas aus, denn mindestens die Sequenz Engel – Erzengel ist ansteigend.18 Die Zielrichtung ist aber bleibend die Fleischwerdung;19 zitiert wird Joh 1,14. Man darf aufgrund des Kontextes der anderen beiden Löwengleichnisse wie im Blick auf weitere Passagen des Physiologus (3 f; 25; 44; 46; usw.) davon ausgehen, dass die Fleischwerdung selber das Erlösungsgeschehen von Kreuz und Auferstehung in sich beschliesst.20 Ob der Physiologus das Löwenlager auf Mariens Schoss deutet, bleibt offen. Bereits an dieser Stelle halten wir fest, dass die Engelgleichwerdung Christi, die in orthodoxer Perspektive zunehmend als häretisch beurteilt wurde, in der worin Jakobs Traumvision (Gen 28) christologisch gedeutet wird (KlimJak 4,46): Es „wird der Erwartete kommen, , dessen Pfad du bist, wird von niemandem erspürt werden“ (übs. S. Fahl / Ch. Böttrich, Leiter Jakobs [JSHRZ.NF 1], Gütersloh 2015, 174 f; vgl. 66 f). 16 In den Handschriften sind neben dem σωτήρ auch Χριστός und κύριος gut bezeugt; das Syntagma ὁ Χριστὸς ἡμῶν (präferiert von Sbordone) ist m. E. aber kaum ursprünglich: Es findet sich sehr selten in der altchristlichen Literatur (die drei Belege in Justins Dialog zählen nicht, da hier ja ein Christ mit einem Juden über den „Gesalbten“ diskutiert). 17 Da das Gleichnis selber von „Jägern“ spricht, legt es sich für die Leserschaft nahe, in der Allegorese die Rolle der Engelklassen negativ zu besetzen: Der Erlöser tarnt sich vor diesen. Diese Lektüre wird nicht nur durch die weiter unten zu besprechenden gnosisnahen Texte gestützt, sondern auch durch die Querbeziehung zur Einhorn-Miniatur in 22 (dazu unten bei Anm. 27). 18 Bei der Abfolge von Thronen und Mächten lässt sich nicht sagen, ob sie deszendent oder aszendent angeordnet ist, da die Vielfalt in den altchristlichen Angelologien notorisch ist. In der klassisch gewordenen neunfachen Hierarchie des Dionysios Areopagites (vgl. auch Anm. 15) aus dem frühen sechsten Jahrhundert rangieren die Throne über den (aufsteigend aufgelisteten) Fürstentümern (archai, principatus), Gewalten (exusiai, potestates), Mächten (dynameis, virtutes) und Herrschaften (kyriotētes, dominationes). Biblische Prätexte für die Kataloge sind v. a. Kol 1,16 (sive throni sive dominationes sive principatus sive potestates) und Eph 1,21 (supra omnem principatum et potestatem et virtutem et dominationem); vgl. 1 Petr 3,22. Vgl. zur Hierarchisierung J. Michl, Art. Engel, I–IX, RAC 5 (1962) 53–258, hier: 172. – In einem Strom der handschriftlichen Überlieferung fallen die Erzengel weg (Gruppen WO / AIΔΠφr): Kaimakis, Physiologus (s. Anm. 5) 6 f. 19 Entsprechend fügt ein Teil der Handschriften dem Gleichwerden mit den Engelklassen hinzu: μετὰ ἀνθρώπων ἄνθρωπος. 20 Die bei Schönberger (s. Anm. 6) gedruckte einleitende Anspielung auf Apk 5,5 (ihrerseits intertextuell bezogen auf Gen 49,9) verstärkt diese Implikation: Die Inkarnation wird als erfolgreiches Geschehen charakterisiert, das über die Passion (vgl. Apk 5,6: das geschlachtete Lamm) zum „Sieg“ führt. Die Allusion findet sich aber nur in drei von fünf Textfamilien (sowie in der äthiopischen und lateinischen Überlieferung); sie fehlt in den Hss. G und M und wird bei Sbordone als Zuwachs taxiert; für Urprünglichkeit plädiert Alpers, Untersuchungen (s. Anm. 4) 58 Anm. 15.
2. Christus der Löwe (Physiol. 1)
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handschriftlichen Überlieferung teilweise ganz eliminiert oder wenigstens entschärft wird.21 Sie fehlt auch in den späteren Physiologus-Redaktionen aus (spätantik‑)byzantinischer Zeit. Schwieriger verhält es sich nun mit den auf das Johannes-Zitat folgenden Sätzen, die mit den Worten von Ps 24 (= 23 LXX) einen Dialog über den Erlöser wiedergeben. Auf Seiten der ‚Bildhälfte‘ gibt es dazu keine Entsprechung. Bei den Fragenden, denen Ps 24,10a in den Mund gelegt wird, handelt es sich fast sicher um die Engelmächte, die gleich zuvor genannt wurden. Nicht eigens erwähnt wird der Aufruf zur Öffnung der Tore, die in Ps 24,7–10 Frage und Antwort begleitet. Bei welcher Gelegenheit erfolgt dieser biblische Dialog? Wir stellen diese Frage vorderhand zurück, da sie sich nicht beantworten lässt ohne Einbezug der theologischen Überlieferungsströme, die in unserem Textsegment rezipiert werden. Im Blick auf die Deutung des Löwengleichnisses, genauer: seiner ersten Eigenheit, lassen sich drei traditionsgeschichtliche Komplexe unterscheiden:22 Erstens die Verborgenheit des Erlösers, zweitens seine Angleichung an die Engelklassen, die auf die Menschwerdung zielt, und drittens die Wechselrede mit den Worten von Ps 24, die im Psalmenkontext zum Öffnen der Tore führt. Ein vierter Komplex ist theologiegeschichtlicher Art: die spezielle Figur der sich „verhüllenden“ Gottheit Christi. Weiter unten werden diese vier Motiv-Verdichtungen im Einzelnen vorgestellt, um ihre spezifische Rezeption durch den Physiologus genauer bestimmen zu können. Die Abfolge impliziert auch eine historische bzw. chronologische Dimension: Wir bewegen uns von Stoffen, die sich gehäuft im zweiten und dritten Jahrhundert finden, zu solchen, die uns tief in das vierte Jahrhundert führen.
21 Die Engelgleichwerdung fällt aus in der Hs. p, während die Hs. B einen Ersatz bietet: Der angelische Status ist nun lediglich der Ausgangspunkt des Descensus „von oberen und unteren Mächten und Gewalten“. Auch die äthiopische Übersetzung (bzw. vielleicht schon ihre griechische Vorlage) umgeht die Engelwerdung und schreibt dem noch nicht abgestiegenen Gottessohn Engelgestalt zu, möglicherweise angeregt von der „Gestalt Gottes“ in Phil 2,6: „Den Engeln gleich war er, bis er herabstieg und in den Schoss seiner Mutter Maria, der Jungfrau, einging, um das in der Irre gehende menschliche Geschlecht zu erlösen“: F. Hommel (Hg.), Die aethiopische Uebersetzung des Physiologus, Leipzig 1877, 46; ders., Der äthiopische Physiologus, RomF 5 (1890) 13–36, hier: 13. Laut der lateinischen Überlieferung y verbirgt sich der Erlöser vor den ungläubigen Juden (eine Reminiszenz von AscJes 11,19, von 1 Kor 2,8 oder von Joh 8,59?); die Engelgleichwerdung bekommt damit einen anderen Status: F. J. Carmody (Hg.), Physiologus Latinus versio Y, PCP 12 (1941) 95–134, hier: 103. 22 Für alle drei Komplexe stellt viel Material zusammen J. Barbel, Christos Angelos. Die Anschauung von Christus als Bote und Engel in der gelehrten und volkstümlichen Literatur des christlichen Altertums (Theoph. 3), Bonn 21964; der Physiologus wird 297–299 behandelt (vgl. 305; 309), mit markanter Frühdatierung („aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts“, 297).
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Der Erlöser im Tarnanzug
Wir wenden uns aber zunächst den beiden anderen Löwenallegorien zu. Die „zweite Natur“ des Löwen, nämlich sein Schlafen mit offenen Augen, wird folgendermassen gedeutet:23 „So schläft auch der Leib meines Herrn am Kreuz, seine Gottheit aber wacht zur Rechten Gottes des Vaters (ἡ δὲ θεότης αὐτοῦ ἐκ δεξιῶν τοῦ θεοῦ καὶ πατρὸς ἀγρυπνεῖ); ‚denn der Hüter Israels schlummert nicht noch schläft er‘ (Ps 121,4).“
Der für das erste Löwengleichnis einschlägige Prätext von Gen 49,9 steht mit dem Gegensatzpaar von „Schlafen“ und „Wachen“ auch hier im Hintergrund.24 Es wird zu fragen sein, ob sich die knappe Aussage des Physiologus vom „schlafenden“ und „wachenden“ Christus theologiegeschichtlich situieren lässt. Besonderer Aufmerksamkeit bedarf wieder die Rede von der θεότης Christi, die die erste und die zweite Löwenallegorese miteinander verbindet. Schliesslich bringt die dritte Löwenallegorie die Auferweckung Christi zur Sprache. Das von der Löwin tot zur Welt gebrachte Junge wird vom Vater am dritten Tag angehaucht und so zum Leben erweckt.25 Selbstverständlich bildet dieser Vorgang Ostern ab: „So hat auch unser Gott, der Allherrscher und Vater der Welt, am dritten Tage seinen vor aller Schöpfung erstgeborenen Sohn (Kol 1,15), unseren Herrn Jesus Christus, von den Toten erweckt, um das verirrte Geschlecht der Menschen zu erlösen.“
Die Allegorese artikuliert Gottes Hoheitsstellung als Pantokrator und Allvater. Ebenso wird aber auch Christi Hoheitsposition unterstrichen – der am dritten Tag Erweckte ist zugleich der von Ewigkeit erstgeborene Sohn und Herr. Das dritte Löwenbild orientiert sich also wie die beiden anderen am Leitmotiv der Gottheit Christi. Auch die soteriologische Zielrichtung, die Menschenrettung, kennt die Leserschaft schon aus der ersten Allegorese.26
23 Zum zoologischen Topos vgl. Plut., quaest. conv. 4,5:2: 670b/c; Horapoll. 1,19; Ael., nat. anim. 5,39; Lauchert, Geschichte (s. Anm. 3) 5 f und besonders die ausführliche textkritische, motiv‑ und wirkungsgeschichtliche Analyse von Alpers, Untersuchungen (s. Anm. 4) 49–56. Vgl. A. Stamatiou / A. Weckwerth, Art. Löwe, RAC 23 (2010) 257–286, hier: 259; 275. 24 Zur Deutung des „Schlafens“ und „Erweckens“ von Gen 49,9 auf Tod und Auferweckung Christi vgl. unten Anm. 216 und 235. 25 ὁ πατὴρ ἐλθὼν τῇ τρίτῃ ἡμέρᾳ, ἐμφυσήσει αὐτῷ εἰς τὸ πρόσωπον, καὶ ἐγερεῖ αὐτόν. Hier ist das Einlesen christlicher Inhalte in das Gleichnis selber mit Händen zu greifen (es gibt kaum naturkundliche Vorgaben; vgl. Lauchert, Geschichte [s. Anm. 3] 6; Lazaris, Physiologus [s. Anm. 4] 107; vgl. zu einem ähnlichen Befund anderwärts im Physiologus unten bei Anm. 246). Prätext ist die Menschenschöpfung Gen 2,7 (ἐνεφύσησεν εἰς τὸ πρόσωπον αὐτοῦ πνοὴν ζωῆς, vgl. Sap 15,11 sowie Joh 20,22), für die Totenerweckung vgl. Ez 37,9 (ἐμφύσησον εἰς τοὺς νεκροὺς τούτους); 1 Kön 17,21. 26 Vier der fünf Handschriftengruppen (mit den beiden nicht papyrusförmigen ältesten Manuskripten) der „ersten Redaktion“ bezeugen den Finalsatz (vgl. dazu unten bei Anm. 190); er fehlt aber etwa in der äthiopischen und lateinischen Überlieferung. Lauchert und Sbordone halten ihn nicht für ursprünglich.
3. Einhorn (Physiol. 22) und Ichneumon (Physiol. 26)
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3. Einhorn (Physiol. 22) und Ichneumon (Physiol. 26) Die erste Löwenallegorie hat, wie vielfach beobachtet worden ist, eine prägnante Entsprechung in der Deutung eines anderen Tiers: Das Einhorn,27 das von Jägern nicht gefangen werden kann, wohl aber von einer reinen Jungfrau, deutet der „Naturforscher“ unter Berufung auf Lk 1,69 auf den sich inkarnierenden Christus (22):28 „Engel und Mächte vermochten ihn nicht zu überwinden (οὐκ ἠδυνήθησαν ἄγγελοι καὶ δυνάμεις αὐτὸν κρατῆσαι), sondern er nahm Wohnung im Leib der wahrhaft reinen Jungfrau Maria, ,und das Wort ist Fleisch geworden, und es wohnte unter uns‘ (Joh 1,14).“
Der Physiologus spielt mit den beiden Gruppen, den „Engeln“ und „Mächten“, vielleicht 1 Petr 3,22 ein.29 Allerdings geht es hier um die Unterwerfung der Mächte und Gewalten (vgl. Eph 1,21 f; ferner 1 Kor 15,24 und die Rezeptionsgeschichte von Ps 110,1), die sich (frühestens) mit der Erhöhung, also mit der Himmelfahrt Christi, zu realisieren beginnt. Inhaltlich viel näher liegt eine Aussage aus dem Johannesprolog – also dem zentralen Prätext sowohl hier in 22 wie in 1 –, wo es vom präexistenten Logos als dem „Licht“ heisst, dass „die Finsternis es nicht überwältigt“ habe (Joh 1,5) – so jedenfalls ist der Mehrheitsmeinung der griechischen Kirchenväter zufolge das Verbum κατέλαβεν wiederzugeben (vgl.
27 Beim Einhorn handelt es sich um ein schon traditionelles Symbol Christi (vgl. Justin, dial. 91). Vgl. zur Motivgeschichte H. Brandenburg, Art. Einhorn, RAC 4 (1959) 840–862, hier: 851 f zum Physiologus, mit der interessanten Beobachtung, dass die allegorische Deutung des Fangens, also die Gefährdung durch Engelmächte, kaum rezipiert worden ist (852 f); ferner Lauchert, Geschichte (s. Anm. 3) 22–24; Alpers, Untersuchungen (s. Anm. 4) 36–40; K. Greschat, Die Verwendung des „Physiologus“ bei Gregor dem Grossen. Paulus als gezähmtes Einhorn in Moralia in Job XXXI, StPatr 43 (2006) 381–386; Th.J. Kraus, Von Einhorn, Hirsch, Pelikan und anderem Getier. Septuaginta, Physiologus und darüber hinaus, in: Kindschi Garský / Hirsch- Luipold, Christus (s. Anm. 4) 63–79, hier: 68–70; R. Hirsch-Luipold, Unicornis captivatur. Das Deutungsverfahren des Physiologus und die Rezeption und theologische Deutung seiner Tiersymbolik in mittelalterlicher Dichtung und zeitgenössischer Musik, aaO. 133–147. 28 Nach Maria fügt der Hauptteil der handschriftlichen Überlieferung hinzu: τῆς θεοτόκου. Ob man das Syntagma textgeschichtlich wirklich für sekundär erklären kann, scheint mir in 22 alles andere als sicher zu sein. Sbordone, Physiologus (s. Anm. 5) 82, beruft sich hier wie für 1 (S. 4) auf Lauchert, Geschichte (s. Anm. 3) 230 („ein späterer Zusatz, da diese Bezeichnung für Maria erst auf dem Concil. Ephes. 431 festgesetzt wurde, worauf mich Herr Prof. Friedrich aufmerksam machte“). In 1 ist die handschriftliche Bezeugung tatsächlich weit schwächer. Tilgt man θεοτόκος in 22 aber nicht, wird eine Datierung der ersten Physiologus-Version vor dem vierten Jahrhundert schwierig. In das fünfte muss man freilich nicht gehen; der Theotokos-Titel reicht in die Mitte des dritten Jahrhunderts zurück und wird im vierten durchaus gebräuchlich, neben den Alexandrinern auch gelegentlich bei den Kappadokiern (vgl. Greg. Naz., ep. 101,16 [SC 208, 42 f]). 29 1 Petr 3,22: „der in den Himmel aufgefahren ist und jetzt zur Rechten Gottes sitzt, nachdem ihm die Engel, die Mächte und die Gewalten unterworfen worden sind (ὑποταγέντων αὐτῷ ἀγγέλων καὶ ἐξουσιῶν καὶ δυνάμεων).“
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Der Erlöser im Tarnanzug
Joh 12,35).30 Auch das Motiv des sich vor Gegnern und Volk verbergenden Jesus stammt ein Stück weit aus dem Vierten Evangelium (ἐκρύβη, 8,59; 12,36). Zwischen Gleichnis und Allegorese besteht eine gewisse Spannung: Während in der Bildhälfte das Einhorn durch eine List der Jäger eingefangen wird, entgeht der Christus in der Sachhälfte just durch seine Inkarnation den angelischen Machenschaften. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Deutung der Jäger als Engel auf eine Interferenz mit der ersten Löwenallegorie zurückgeht und vom Autor des Physiologus ad hoc vorgenommen worden ist.
Wir werfen einen Blick auf eine weitere Allegorie, auf den Ichneumon, eine Art von afrikanischem Mungo, der mit dem Drachen kämpft. Er wird vom Physiologus auf die Überwindung des Teufels gedeutet (26):31 „So nahm auch unser Erlöser das Wesen des Erdengeschlechts an, bis er den Drachen tötete, […] den Teufel. Denn wäre Christus körperlos gewesen, wie hätte er den Drachen vernichten können? Dann nämlich hätte ihm der Drache so entgegnet: ‚Du bist Gott und Erlöser (θεὸς εἶ καὶ σωτήρ), und ich kann es mit dir nicht aufnehmen.‘ Doch hat er, der grösser ist als alle, sich erniedrigt (vgl. Phil 2,7 f), um alle zu erretten (vgl. 1 Kor 9,22).“
Weil der Teufel den fleischgewordenen Christus nicht erkennt, unterliegt er ihm schliesslich. Thematisch ist die Allegorese mit den bisher präsentierten verbunden durch die Figur der Verkörperung, die mittels einer Täuschung das Heil herbeiführt.32 Die Leserschaft kann von 26 aus, von der körperlosen Seinsweise des Erlösers und seiner Verhüllung in der Leiblichkeit, eine Brücke zur Engelgleichwerdung in 1 und in 22 schlagen, auch wenn hier das Täuschungsmanöver nicht explizit genannt wird.33 Eine Variante zur Allegorie vom Ichneumon bildet 30 So exemplarisch Orig., comm. 2,168–170 in Joh. (καταλάμβανειν als διώκειν); vgl. dazu: H. G. Thümmel (Hg.), Origenes’ Johanneskommentar. Buch I–V (STAC 63), Tübingen 2011, 162 f. Zur betreffenden Auslegungstradition vgl. Alpers, Untersuchungen (s. Anm. 4) 38 f, hier unter der Prämisse der Frühdatierung des Physiologus. 31 Zum Ichneumon als Bild für den Pharao von Ez 29,3 vgl. J. Gippert, Physiologus. Die Verarbeitung antiker Naturmythen in einem frühchristlichen Text, Studia Iranica, Mesopotamica et Anatolica 3 (1997) 161–177, hier: 174. – Die erfolgreiche Taktik des Ichneumon im Kampf mit Reptilien ist in der antiken Naturkunde seit altägypischer Zeit gut bekannt; vgl. Lauchert, Geschichte (s. Anm. 3) 25 f; z. B. Plin., nat. hist. 8,88 f (dieses ägyptische Tier ist „hochberühmt“). Zum altägyptischen Ichneumon als Vernichter der Feinde des Sonnengottes vgl. I. Bohms, Säugetiere in der altägyptischen Literatur (Ägyptologie.LIT 2), Berlin 2013, 122–128, in Diskussion mit E. Brunner-Traut, Spitzmaus und Ichneumon als Tiere des Sonnengottes, Göttingen 1965, besonders 128–131. 32 Zum Finalsatz ἵνα πάντας σώσῃ vgl. unten bei Anm. 191 zu Physiol. 5, 43 und 1. 33 Die handschriftliche Überlieferung füllt die Leerstellen: In Physiol. 1 begründet die Handschrift p Christi Eingehen in Mariens Schoss mit den Worten: „um nicht erkannt zu werden durch den Teufel, wurde er Fleisch (πρὸς τὸ μὴ γνωρισθῆναι τῷ διαβόλῳ σαρκωθείς).“ Und umgekehrt liest ein Teil der Überlieferung explizit das „Verbergen der Gottheit“ in die Ichneumon- Deutung ein: „So nahm auch unser Erlöser das Fleisch des Erdengeschlechts an, und verbarg in ihm seine Gottheit (ἐν αὐτῇ ἔκρυψε τὴν αὐτοῦ θεότητα)“, so die Hs. W (Kaimakis, Physiologus [s. Anm. 5] 76b), und die äthiopische Übersetzung („so verbarg unser Heiland, nachdem er menschliches Fleisch angenommen, seine Gottheit“, Hommel, Uebersetzung [s. Anm. 21] 72;
4. Der verborgene Erlöser
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das gleich vorher platzierte Gleichnis vom „Otter“, der von Lehm umhüllt in den Rachen des Krokodils springt (25), gedeutet auf Christi Höllenfahrt. Beide Porträts verbindet nicht nur das Bildfeld – der mit Lehm getarnte raffinierte Kleinsäuger gegen das unaufmerksame Grossreptil –, sondern auch die Sachhälfte: Christi Verhüllung in einem irdischen Körper als Täuschungsmanöver, das zur Vernichtung des Teufels führt.34 In allen angesprochenen Allegoresen fällt auf, wie die theologischen und biblischen Zusammenhänge nur in Umrissen skizziert werden. Der Physiologus scheint mit der Kompetenz seiner Leserschaft zu rechnen, selbständig die theologischen und spirituellen Dimensionen der lediglich angedeuteten Themen und Figuren erschliessen zu können.35 Die enorme handschriftliche Varianz zeigt, dass die Leser in der Tat den Physiologustext fortgeschrieben, ergänzt und durch Querbezüge komplementiert haben. Für die uns interessierenden Passagen wird in den Anmerkungen öfter verwiesen auf diese Rezeptionsgeschichte, die die Produktivität der Leser dokumentiert. In den folgenden Abschnitten versuche ich, die religions-, traditions‑ und theologiegeschichtlichen Hintergründe der genannten vier Allegoresen des Physiologus herauszuarbeiten (Löwe I und II, Einhorn, Ichneumon).
4. Der verborgene Erlöser Bereits Friedrich Lauchert hat, im Anschluss an Vorgänger, den Hintergrund der Aussage vom Verborgensein des herabsteigenden Erlösers vor den angelischen Mächten in der Gnosis geortet.36 Tatsächlich handelt es sich um eine beliebte ders., Physiologus [s. Anm. 21] 25). Zu vergleichbaren handschriftlichen Lektürevorgängen vgl. unten zum Einhorn, Anm. 183. 34 Wahrscheinlich handelt es sich bei dem „Otter“ (25, eigentlich ἡ ἔνυδρις [vgl. Treu [s. Anm. 6] 48; 138]) und dem Ichneumon um dasselbe Tier, Herpestes ichneumon aus der Familie der Mangusten (Herpestidae), das der Physiologus auf zwei Porträts verteilt (vgl. Schönberger [s. Anm. 6] 118). Von einer „Dublette“ sollte man aber nur schon deshalb nicht sprechen, weil die Sachhälften zwei verschiedene theologische Komplexe bilden: die Höllenfahrt, die von Haus aus gerade nicht mit einem Inkognito operiert, und die Inkarnation als Überlistung des Teufels. Die assoziative Abfolge der beiden Porträts animiert zu einer kombinierenden Lektüre. 35 Zur Leseraktivität, die der Physiologus voraussetzt, etwa im Herstellen von Kohärenz zwischen den vom Verfasser teilweise nur angedeuteten Dimensionen von Tierbildern, Schriftbezügen und eigener Lebensführung, vgl. T. Nicklas, Staunen über Natur und christliche Lebenshaltung. Die Welten des Physiologus, in: ders. / J. E. Spittler (Hg.), Credible, Incredible. The Miraculous in the Ancient Mediterranean (WUNT 321), Tübingen 2013, 227–250, hier: 235 f; 249 f. „Jedes einzelne Kapitel kreiert ein Detail einer im Gesamt des Textes entstehenden ‚Welt‘“ (250). Vgl. auch Lazaris, Physiologus (s. Anm. 4) 112–118; 144 und unten bei Anm. 192. 36 Vgl. Lauchert, Geschichte (s. Anm. 3) 48; 54–57; 64 f, mit Verweis auf Simon Magus u. a. Lauchert setzt sich insofern von seinen Gewährsleuten (etwa J. B. Pitra, Spicilegium [s. Anm. 174] LXVII–LXIX) ab, als er unterscheidet zwischen dem rezipierten Gut und dem Physiologus-Verfasser selber; dieser sei kein Häretiker. Später ist wieder ganz auf der „gnostischen“
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Figur in den gnostischen Systemen.37 Laut der häresiologischen Überlieferung soll schon Simon Magus die folgende Lehre über den Erlöser vertreten haben:38 „Er sei gekommen, um die Dinge in Ordnung zu bringen. Er habe sich verwandelt und sich den Kräften, Mächten und Engeln angeglichen und sei so herabgestiegen, dass er auch den Menschen als ein Mensch erschien, ohne ein Mensch zu sein.“
Wie im Physiologus gleicht sich der Erlöser verschiedenen Engelklassen an (archai, exusiai, Engel), offenkundig, um sich vor ihnen zu verbergen. Der Abstieg kulminiert in der Menschwerdung, die hier doketistisch zugespitzt wird.39 Noch stärker ausgebaut wird die Figur in der Pistis Sophia, die in das späte dritte Jahrhundert gehört. Der Erlöser besucht jeweils in konformer Gestalt und Bekleidung die verschiedenen Sphären.40 In den unteren wird er jeweils zunächst Linie Riedinger, Physiologos (s. Anm. 4) 303 („Dem Physiologos blieben die Stücke gnostischen Flitters bis heute erhalten und haben seinem Ansehen nur selten geschadet“; ders., Rez. Kaimakis [s. Anm. 4] 111 f: „Der Physiologos stammt nun mit grösster Wahrscheinlichkeit aus hermetisch-gnostischen Kreisen Alexandreias, nach allem, was sich heute noch feststellen lässt, von Pantainos“). Ähnlich auch Lazaris, Physiologus (s. Anm. 4) 103 („Le Physiologus est un texte gnostique ou, pour être plus précis, un écrit révélant d’une doctrine intermédiaire entre la gnose, l’hermétisme et la morale chrétienne“). 37 Vgl. W. Bousset, Hauptprobleme der Gnosis (FRLANT 10), Göttingen 1907 (= 1973), 238–260, und v. a. die programmatische Skizze bei R. Bultmann, Die Bedeutung der neuerschlossenen mandäischen und manichäischen Quellen für das Verständnis des Johannesevangeliums, in: ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen 1967, 55–104, hier: 75–80 („Den Mächten dieser Welt erscheint der Gesandte als ein Fremder; sie kennen seine Herkunft nicht, denn er ist anderen Ursprungs als sie“, 75). Bultmann identifiziert den Mythos schon in neutestamentlichen Texten (namentlich im JohEv, in 1 Kor 2,8; 2 Kor 8,9; Phil 2,6–8). 38 Iren., haer. 1,23:3 (SC 264, 316–319 = FC 8, 292 f) par. Hippolyt, haer. 6,19:6 (GCS 26, 147: μεταμορφούμενον καὶ ἐξομοιούμενον ταῖς ἀρχαῖς καὶ ταῖς ἐξουσίαις καὶ τοῖς ἀγγέλοις, ὡς καὶ ἄνθρωπον φαίνεσθαι αὐτὸν μὴ ὄντα ἄνθρωπον); vgl. ferner Tert., anim. 34,4 (CCSL 2, 836 = 50 Waszink). Die Lehrbildung geht bestimmt nicht auf den historischen Simon zurück, vgl. St. Haar, Simon Magus. The First Gnostic? (BZNW 119), Berlin 2003, 92 f; 228–293. – Bei Epiph., haer. 21,2:4 (GCS.NF 10.1, 240), findet sich sogar eine Aussage in erster Person: „In jedem Himmel werde ich verwandelt hinsichtlich der Gestalt (der Bewohner) eines jeden Himmels, damit ich meinen angelischen Kräften verborgen bliebe […].“ Vgl. dazu F. Williams (Hg.), The Panarion of Epiphanius of Salamis Book I (Sects 1–46) (NHMS 63), Leiden 22009, 62 Anm. 11 („The direct quotes which Epiph gives in this Sect[ion] are his own dramatization of his sources“). Vgl. ferner J. H. Waszink (Hg.), Quinti Septimi Florentis Tertulliani De Anima (SVigChr 100), Leiden 2010, 409. 39 Die doxographischen Überlieferungen von Simon, Menander, Satornil und Basilides überschneiden sich in vielem; zur Scheinkreuzigung und zum Gestaltenwandel bei letzterem vgl. Iren., haer. 1,30:4 und 6 („wie der Sohn allen unbekannt sei, so brauchten auch sie [die Gnostiker] von niemand erkannt zu werden, sondern, wie sie selbst alle kennen und durch alle hindurchgehen, so seien auch sie allen unsichtbar und unbekannt“); dazu W. A. Löhr, Basilides und seine Schule. Eine Studie zur Theologie‑ und Kirchengeschichte des zweiten Jahrhunderts (WUNT 83), Tübingen 1996, 269 f. 40 PistSoph 7; 10–14 (dt. Übs. von C. Schmidt, Leipzig 1925; ders., GCS 345). Nur am Rand verweise ich auf mandäische Texte, die die Verborgenheit des Erlösers bezeugen (Ginza, Rechter Teil, 5,138 f. 146 u.ö.). Mehr Material bei Bultmann, Bedeutung (s. Anm. 37).
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nicht erkannt. Auch hier begegnen wir den im Physiologus genannten Engeln, Erzengeln und Gewalten (exusiai). Trägt er aber beim Aufstieg sein Lichtkleid, dann entsteht Aufregung unter den Mächten, die Tore öffnen sich und erstaunte Fragen werden laut: „Wie hat der Herr des Alls uns durchwandert, ohne dass wir es wussten?“41 In der Folge beten die Betroffenen den Verherrlichten an. Die retrospektive Erkenntnis ist ein Element, das im Physiologus auf der Textoberfläche so nicht begegnet. Auch einzelne Texte aus Nag Hammadi dokumentieren das Muster des verborgenen Erlösers.42 Unter ihnen ragt besonders die „dreigestaltige Protennoia“ heraus:43 „Unter den Engeln (angelos) zeigte ich mich in ihrer Gestalt, und unter den Kräften (dynamis), als ob ich eine von ihnen wäre; unter den Menschensöhnen aber, als ob ich ein Menschensohn wäre, obgleich ich (doch) der Vater eines jeden bin. Ich verbarg mich unter allen, bis ich mich in meinen eigenen Gliedern offenbart haben werde.“
Der Unerkennbarkeitstopos, der über die Engelklassen hinaus auch die Menschenwelt umgreift, findet sich ebenso dort, wo nicht explizit von einem Abstieg durch die Sphären gesprochen wird. Die prägnanteste Formulierung stammt aus dem Philippusevangelium:44 „Jesus hat unbemerkt alle (Gestalten) angenommen. Denn er zeigte sich nicht so, wie er war; sondern so, wie sie ihn würden sehen können, zeigte er sich. Diesen allen aber zeigte PistSoph 1,11–13 (15–16 Schmidt = NHS 9, 21 f). 2 LogSeth (NHC 7.2) 56,22–26: „Als ich im Herabkommen war, sah mich niemand, denn ich veränderte meine Gestalten, indem ich das Aussehen (jeweils) wechselte. Und deswegen, als ich bei ihren Pforten war, nahm ich ihr Aussehen an: Denn leise zog ich an ihnen vorüber“ (56,21–29 – anders als beim Abstieg verhält es sich beim Aufstieg: „Die Welt konnte seinen offenbaren Aufstieg in die Höhe […] in unverhüllter Gestalt nicht ertragen“, 58,13 f); Zostr (NHC 8.1) 130 (Engel und Archonten erkennen ihn nicht); Noēma (NHC 6.4) 41 f (die Unterweltsherrscher erkennen ihn nicht – „wer ist das? was für einer ist das?!“). Für unsere Fragestellung nicht einschlägig ist eine Passage in der mehrfach überlieferten Schrift SJC (BG 3, 83 par. NHC 3.4, 94), die die Verborgenheit des höchsten Erlösergottes für Engelmächte (archē; exusia; hypotagē; physis) herausstreicht (par. auch Eug [NHC 3.3, 3; 5.1, 2]). – Die Wiedergabe der NHC-Texte folgt der Übersetzung in: NHD3, 2013. 43 Protennoia (NHC 13.1) 47–49 in der Epiphanie-Rede (Zitat: 49,15–22). Vgl. auch 47,15–25: (Bei meinem Abstieg) „zeigte ich mich (den Mächten) in ihrer Gestalt; ja, ich trug ihrer aller Kleidung. Ich verbarg mich unter ihnen, und sie erkannten nicht den, der ihnen Kraft gibt; doch ich bin vorhanden in allen Mächten (archē) und Gewalten (dynamis), in den Engeln (angelos) und in jeder Bewegung, die es in der ganzen Hyle gibt. Ja, ich verbarg mich unter ihnen, bis ich mich meinen Brüdern offenbart haben werde. Und niemand von ihnen erkannte mich, obgleich ich es bin, der in ihnen wirkt.“ 44 EvPhil 26a (NHC 2.3) 57,28–58,3. Zur Interpretation vgl. Klauck, Bibel (s. Anm. 2) 366– 368. Es ist m. E. nicht zulässig, das gesamte Mythologumenon vom durch die Himmelswelten absteigenden Erlöser in diese Passage des EvPhil einzulesen; so aber H.-M. Schenke, Das Philippus-Evangelium (Nag-Hammadi-Codex II,3) (TU 143), Berlin 1997, 245 („Der Topos, der in unserem Paragraphen zur Sprache kommt, ist geläufig und wohlbekannt. Es handelt sich um den geheimen Abstieg und offenbar-triumphalen Wiederaufstieg des Erlösers durch die verschiedenen überirdischen und irdischen Seinssphären“). 41 42
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er sich: Er zeigte sich den Grossen als Grosser. Er zeigte sich den Kleinen als Kleiner. Er zeigte sich den Engeln als Engel und den Menschen als Mensch. Deswegen blieb jedem verborgen, wer er wirklich war.“
Der Text hält zwei entgegengesetzte Gewichte in der Schwebe: Einerseits verbirgt der Christus sein wahres Wesen vor allen. Andrerseits kommen seine Metamorphosen den Empfängern zugute; er passt sich ihrer (beschränkten) Seinsweise an, um sich zu offenbaren45 – namentlich seinen Anhängern. Wir werden weiter unten sehen, dass Origenes diesen zweiten Aspekt der Polymorphie, die Akkommodation des Logos an das Fassungsvermögen von Menschen (und Engeln), erheblich verstärken wird. Das uns interessierende Mythologumenon vom die Sphären unerkannt durchschreitenden Erlöser ist keineswegs auf die Gnosis im engeren Sinn beschränkt, sondern begegnet auch in anderen, später als mehr oder weniger heterodox taxierten Schriften. Besonders die Schilderung des herabsteigenden Christus in der Ascensio Jesaiae, wohl aus dem zweiten Jahrhundert, deckt sich an einigen Punkten mit derjenigen des Physiologus.46 Der „Geliebte“ steigt unerkannt durch die sieben Himmel (samt Firmament und Totenreich), indem er den jeweiligen Engeln gleich wird. Gott sendet ihn mit folgenden Worten aus (10,9–12):47 „Du sollst gleich werden dem Bilde aller, die in den fünf Himmeln sind, und der Gestalt der Engel im Firmament wirst du mit Sorgfalt gleichen und auch den Engeln, die im Totenreich sind. Und keiner von den Engeln dieser Welt wird erkennen, dass du mit mir zusammen der Herr der sieben Himmel und ihrer Engel bist. Und sie werden nicht erkennen, dass du zu mir gehörst.“
45 Vgl. 67a (67,9–12): „Die Wahrheit kam nicht nackt in die Welt. Vielmehr ist sie gekommen in Symbolen und Bildern. Sie (sc. die Welt) kann sie nicht anders empfangen.“ 46 Vgl. E. Peterson, Die Spiritualität des griechischen Physiologus, in: ders., Frühkirche, Judentum und Gnosis. Studien und Untersuchungen, Freiburg 1959, 236–253, hier: 237; 250 f. Peterson denkt an direkte literarische Abhängigkeit des Physiologus von AscJes (vgl. dazu unten bei Anm. 61 und 90); die Übereinstimmungen sind aber nicht hinreichend genau. Lediglich eine Paraphrase bietet R. G. Hall, Astonishment in the Firmament. The Worship of Jesus and Soteriology in Ignatius and the Ascension of Isaiah, in: C. C. Newman / J. R. Davila / G. S. Lewis (Hg.), The Jewish Roots of Christological Monotheism (JSJ.S 63), Leiden 1999, 148–155. 47 Übs. nach: C. D. G. Müller, NTApo 62, 559. Zum descensus absconditus des Erlösers in AscJes 6–11 vgl. E. Norelli, Ascensio Isaiae. Commentarius (CCSA 8), Turnhaut 1995, 509– 515. Zur Verwandlung und zu möglichen paulinischen Rezeptionsspuren vgl. T. Nicklas, Der Philipperbrief in der Hand von „Häretikern“. Ascensio Isaiae und Evangelium Veritatis, in: J. Frey / B. Schliesser (Hg.), Der Philipperbrief des Paulus in der hellenistisch-römischen Welt (WUNT 353), Tübingen 2015, 327–347, hier: 332–337. J. Knight, Disciples of the Beloved One. The Christology, Social Setting and Theological Context of the Ascension of Isaiah (JSPSup 18), Sheffield 1996, identifiziert in AscJes eine Spielart von angelomorpher Christologie, zu Kap. 10/11 vgl. 64–69; 124–130; 146–150; zur Berührung mit dem Physiologus 165 („The Physiologos agrees with the Ascension of Isaiah that the angelic appearance was an accommodation and in referring this disguise to salvific purposes“).
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Er wird vom Gott dieser Welt und seinen Gefolgsleuten unwissentlich gekreuzigt (9,12–15).48 Erst bei seinem Wiederaufstieg verzichtet er auf den Verwandlungsmodus; die Engel erkennen ihn und beten ihn an.49 Hinsichtlich der Engelbezeichnungen lassen sich aufgrund der Überlieferungslage der Ascensio Jesaiae keine spezifischen Berührungspunkte mit dem Physiologus festmachen.50 Eine weitere aufschlussreiche Passage findet sich in der Epistula apostolorum, die uns wieder in das zweite Jahrhundert führt (13):51 „Ich befand mich in den Himmeln, und die Erzengel und die Engel – ich ging vorüber an ihrer Gestalt, so als wäre ich einer mit ihnen in den Herrschaften und Gewalten. Ich durchschritt sie […] Ich aber, ich bin geworden alles in jedem, dass ich die Heilsveranstaltung des Vaters des Ruhmes, desjenigen, der mich gesandt hat, vollende und zu ihm zurückkehre.“52
Der Abstieg vollendet sich in der Menschwerdung; in der Gestalt des Erzengels Gabriels besucht der Christus Maria und geht in sie ein (14). Auch in diesem Text verbindet sich Christi Verborgenheit mit der Angleichung an verschiedene Engelklassen. Wichtig ist die Beobachtung, dass das Tarnungsmotiv nicht zu einem doketistischen Verständnis der Inkarnation Christi führt, es wird im Gegenteil die Materialität des Auferstehungsleibs betont (11 f). Eine für unsere Fragestellung wichtige Bibelaussage darf an dieser Stelle nicht fehlen: Paulus deutet in seiner Weisheitsrede für die Vollkommenen (1 Kor 2,6– 16) an, dass die Weltherrscher nur aufgrund ihres Unwissens den Christus gekreuzigt haben (V. 8 f): „Sie (sc. die verborgene Weisheit Gottes) hat keiner der Herrscher dieser Weltzeit je erkannt, denn hätten sie sie erkannt, hätten sie den Herrn der Herrlichkeit (τὸν κύριον τῆς δόξης) nicht gekreuzigt.“
48 Zur Rezeption von 1 Kor 2,8 in AscJes s. Knight, Disciples (s. Anm. 47) 68 („Paul, however, has no ‚hidden descent tradition‘“; ebenso 135); 79 („we find in the Ascension of Isaiah […] an early form of ‚exegesis‘“); 298–300. 49 AscJes 11,23–33 (mehrfach heisst es: „Wie ist unser Herr uns verborgen geblieben, als er hinabstieg, und wir merkten nichts?“). 50 Die äthiopische Version von 10,15 nennt „Fürsten und Mächte dieser Welt“ (vgl. 11,16 „Fürsten“); die lateinische Überlieferung hat principes et virtutes et omnes angeli et omnia inicia (= initia) (CCSA 7, 424; vgl. 10,11: neque angeli neque principes illius saeculi), also archontes, dynameis, angeloi, archai (vgl. Peterson, Spiritualität [s. Anm. 46] 237 Anm. 3). In 7,21.27; 8,8; 11,25 (und 7,15) sind „Thron(e)“ als Engelmächte zu verstehen (daneben spielen die Throne in AscJes eine wichtige Rolle als ehrenvolle Sessel). 51 Übs. nach: C. D. G. Müller, in: AcA 1.2, 1062–1092, hier: 1070 (zitiert ist die koptische Fassung). 52 In der Wendung „ich bin geworden alles in jedem“ (zur Übersetzung der koptischen Version vgl. M. Hornschuh, Studien zur Epistula Apostolorum [PTS 5], Berlin 1965, 39–41) liegt gewiss ein Reflex von 1 Kor 9,22b vor (nicht verzeichnet von der Biblia patristica (1 [1975] 460).
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In der Forschung hat unsere Passage vielfach Anlass gegeben, einen protognostischen Mythos hinter der paulinischen Formulierung zu vermuten.53 Man ist aber besser beraten, möglichst wenig textexternes Wissen zu postulieren, zumal das Objekt des Unwissens die verborgene Weisheit, nicht Christus als Herr der Herrlichkeit bildet.54 Der verborgene Abstieg durch die Himmelssphären ist keineswegs im Blick. Auch bei den Weltherrschern empfiehlt sich eine Deutung, die nicht speziell die Archonten gnostischer Systeme, sondern weiträumig himmlische wie irdische Machtträger in den Blick nimmt. So gesehen kommt die etwas kryptische Aussage nicht als Zeugin, sondern vielmehr als Impulsgeberin für den späteren Motivkomplex des sich vor den Mächten verbergenden Erlösers in Betracht.55 Schwierig zu beurteilen ist ein Passus in den Ignatiusbriefen, deren Echtheit heute ohnehin nicht mehr gesichert ist. Laut Eph 19,1–3 sind „dem Fürsten dieser Weltzeit“ die Jungfräulichkeit der Maria, die Geburt Jesu und sein Tod verborgen geblieben, „drei laut rufende Geheimnisse, die im Schweigen Gottes vollbracht wurden“. Sie wurden „den Äonen offenbar“ durch den Wunderstern, mit dem die alte Welt zu ihrem Ende kam. Der Stern von Mt 2,1–12 wird kosmisch-eschatologisch und soteriologisch gedeutet. Man muss sich aber davor hüten, das ganze von uns untersuchte Mythologumenon diesem knappen, nur andeutenden Text zu unterlegen.56 53 So etwa H. Lietzmann, An die Korinther I–II (HNT 49), Tübingen 1949, 12 f. Heutige Kommentatoren lehnen diese Hypothese dezidiert ab, vgl. W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (EKK 7), Bd. 1, Zürich / Neukirchen 1991, 253 f; A. Lindemann, Der erste Korintherbrief (HNT 9,1), Tübingen 2000, 65. Meist wird die (Proto‑)Gnosis-Hypothese für den grösseren Kontext, nämlich für 1 Kor 2,6–16, diskutiert, worin V. 8 eine Schlüsselposition zukommt; vgl. J. L. Kovacs, The Archons, the Spirit, and the Death of Christ. Do We Need the Hypothesis of Gnostic Opponents to Explain 1 Corinthians 2,6–16?, in: J. Marcus / M. L. Soards (Hg.), Apocalyptic and the New Testament (JSNT.S 24), Sheffield 1989 (= London 2015), 217–236. 54 Vgl. G. Sellin, Das „Geheimnis“ der Weisheit und das Rätsel der „Christuspartei“ (zu 1 Kor 1–4), in: ders., Studien zu Paulus und zum Epheserbrief, Göttingen 2009, 9–36, hier: 24 f („Damit entfällt aber die ganze Theorie vom gnostischen Mythos, der hier angeblich im Hintergrund stehe: als habe sich der Urmensch-Erlöser verkleidet durch die Sphären der mythischen Archonten zu den Seinen geschlichen“, 24). 55 A. T. Hanson, A Quasi-Gnostic Pauline Midrash. I Corinthians 2.6–16, in: ders., The New Testament Interpretation of Scripture, London 1980, 21–96, findet in unserer Passage m.R. zwar keinen descensus absonditus („there is no idea of a disguised descent behind I Corinthians 2.6–8. […] Paul may have been thinking rather in terms of an ascension“, 38), dafür aber einen „Midrasch“ zu Ps 24. Aber weder 1 Kor 2 noch AscJes (so Hanson, 41 f) lassen irgendwelche Rezeptionsspuren von Ps 24 erkennen. Hanson beansprucht auch Physiol. 1 als (spät datierten!) Zeugen für „a Christian interpretation of Psalm 24 and the ascension or else with a disguised appearance of Christ on earth“ (42). 56 Dies ist etwa der Fall bei Bultmann, Bedeutung (s. Anm. 37) 77; 79; Hall, Astonishment 1999 (s. Anm. 46); zur Kritik v. a. an der gnostischen Deutung von H. Schlier vgl. W. R. Schoedel, Die Briefe des Ignatius von Antiochien. Ein Kommentar, dt. Übs. München 1990, 160 f. Zur Verbindung von Verborgenheit und Täuschung vgl. W. v. Heyden, Doketismus und Inkarnation. Die Entstehung zweier gegensätzlicher Modelle von Christologie (TANZ 58), Tübingen 2014, 347–359, besonders 352 („auch ein Grundmotiv des Doketismus“). Keine Hilfestellung für die religionsgeschichtliche Analyse bietet H. F. Stander, The Starhymn in the Epistle of Ignatius to the Ephesians (19:2–3), VigChr 43 (1989) 209–214. Zum speziellen Verhältnis zwischen der
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Wir ziehen eine erste Bilanz: Mit dem Mythologumenon des verborgenen Erlösers befinden wir uns in theologischen Milieus des zweiten und dritten Jahrhunderts.57 Der Befund als solcher würde zunächst durchaus für eine Frühdatierung des Physiologus sprechen.58 Die Figur begegnet mehrheitlich in ‚dissidenten‘, teilweise gnostischen und später als häretisch oder mindestens als problematisch taxierten Texten. In den theologischen Bildungen der Mehrheitskirche findet sich m.W. trotz der von 1 Kor 2,8 gelegten Spur das Mythologumenon nur selten.59 Dafür lassen sich zwei Gründe namhaft machen: Zum einen werden hier sowohl in Theologie wie in Frömmigkeit die Engel viel positiver gewertet als in Kreisen, die die vorfindliche Schöpfung als negativ oder mindestens als ambivalent beurteilen. Der herabsteigende Erlöser braucht sich vor ihnen nicht zu tarnen – er tut dies allenfalls lediglich gegenüber gefallenen, dämonisch gewordenen Mächten, also gleichsam gegenüber einer angelischen Teilmenge. Zum anderen hat Christus als der Logos eine prominente Vorgeschichte in der Epoche des Alten Bundes; er vermittelt sich etwa in den Theophanien und Angelophanien. Im Raum der biblischen Heilsgeschichte hat es wenig Platz für den unbekannten und akosmischen Erlöser. Die Unwissenheitstopik begegnet bei den Vätern in einer anderen Konfiguration, die überaus populär geworden ist: Es ist der betrogene Teufel, der im Verbund mit seinen Gesellen Jesu Passion Ignatius-Passage und AscJes 11 vgl. Norelli, Ascensio (s. Anm. 47) 562–569 (traditionsgeschichtlicher, nicht literarischer Zusammenhang; bei Ignatius ist das Unwissen der Geistermächte nicht mit dem descensus verbunden). Auch für Th. Lechner, Ignatius adversus Valentinianos? Chronologische und theologiegeschichtliche Studien zu den Briefen des Ignatius von Antiochien (SVigChr 47), Leiden 1999, 253–255, liegt kein descensus incognitus vor, auch wenn die Passage vor einem valentinianischen Hintergrund gedeutet wird. Zur neueren Diskussion vgl. ders., Ignatios von Antiochia und die Zweite Sophistik, in: P. von Möllendorff / Th.J. Bauer (Hg.) Die Briefe des Ignatios von Antiochia. Motive, Strategien, Kontexte (Millennium-Studien 72), Berlin 2018, 19–68, hier: 52–54. 57 Zur Motivik des sich verbergenden Erlösers ist auch OdSal 42,3 f zu vergleichen („weil ich mich verbergen werde vor jenen, die mich nicht festhielten; ich werde sein bei denen, die mich lieben“); Sib 8,291 f („dass keiner erkenne, wer und wessen er sei und woher“); 12,32 („dann wird kommen der Logos des Höchsten, verborgen, Fleisch tragend, den Sterblichen ähnlich [καὶ τότε δὴ κρύφιος ἥξει λόγος ὑψίστοιο σάρκα φέρων θνητοῖσιν ὁμοίιον]“). Vgl. die neutestamentlichen Vorgaben: Joh 8,59; 12,36 (Jesus ἐκρύβη); von einem Offenbarungsengel: Kölner Mani-Kodex (CMC) 2,10 (ἀπεκρύβη, vgl. 119,10 vom Engel/Syzygos; 41,11 [?]; 38,2 f in Manis Gebet: „dass ich vor meinen Feinden verborgen werde“). – Anders z. B. Clemens, protr. 88,2: „Das Wort wurde keinem verborgen (οὐκ ἀπεκρύβη τινὰς ὁ λόγος).“ 58 So z. B. U. Treu, Zur Datierung des Physiologus, ZNW 57 (1966) 101–104 (es „trifft sich der Physiologus mit der apokryphen Literatur des 2. Jahrhunderts in einer bemerkenswerten ‚ungeschützten‘ Sorglosigkeit der theologischen Aussagen, die in den Augen der Späteren häretisch [gnostisch usw.] erscheinen, während sie in Wirklichkeit nur eine frühe Phase kennzeichnen, in der die Fronten noch nicht verhärtet, die Begriffe noch nicht etikettiert waren“, 104); dies., The Physiologus and the Early Fathers, StPatr 24 (1993) 197–200, hier: 200 („gnostic elements“, „some traces of Docetism“); so schon, noch früher datierend, Lauchert, Geschichte (s. Anm. 3) 64 f. 59 Einen Beleg dafür bietet die armenische Irenäus-Überlieferung, vgl. unten bei Anm. 92. Immerhin ist es etwa bei Clemens der Aufstieg der Seele, der an den Wächterengeln vorbei führt (Strom. 4,116:2; 117:2).
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veranlasst und damit unwissentlich seine eigene Entmachtung herbeiführt. Dazu kommen noch zwei andere Assoziationsfelder: Zum einen ist zu nennen das temporäre Nichterkennen des Christus durch die Engel im Narrativ von seiner Himmelfahrt und/oder seiner Höllenfahrt, worin die „Torliturgie“ von Ps 24,7–10 inszeniert wird. Zum andern markiert der Inkarnationsmodus selber, das Sein im Fleisch bzw. in menschlicher Gestalt, eine Verborgenheit vor Menschen, zumal Gegnern, und vor widergöttlichen Mächten. Wir kommen auf beides zurück. An dieser Stelle ist kurz einzugehen auf eine These, die Jean Daniélou 1958 prominent vertreten hat: Bei der „descente cachée“ handle es sich um ein altes Mythologumenon der „théologie du judéo-christianisme“ des ersten und zweiten Jahrhunderts n. Chr., das vom Physiologus in einer archaischen Form bezeugt werde.60 Daniélou schliesst sich der – steilen – Hypothese von Peterson an, der Physiologus sei literarisch abhängig von AscJes, und zwar von einer älteren Version als der uns überlieferten.61 In dieser finde sich auch die Referenz auf Ps 24 samt dem heiligen Geist als den Engeln antwortender Sprecher. Die Ergebnisse unserer Untersuchung widersprechen dieser Hypothese diametral. Die relativ knappe Form, in der der Physiologus den vor den Engeln verborgenen Abstieg des Erlösers schildert, lässt sich besser verständlich machen als Skizze, die auf Seiten der Leserschaft bekanntes Gut voraussetzt; sie ist kein Zeichen von Archaizität. Auch die Kombination des Abstiegs mit der Wechselrede von Ps 24, auf die wir weiter unten eingehend zu sprechen kommen, weist nicht auf ursprüngliche Tradition, schon gar nicht auf eine verlorene Version von AscJes.62 Die beiden Komplexe werden überaus selten verbunden: neben dem Physiologus lediglich im armenisch überliefertenen Irenäus.63 Particula veri der These von Daniélou ist die Rückführung des descensus absconditus auf ein judenchristliches Milieu, in dem Angelophanien und speziell die Angelomorphie Christi eine grosse Bedeutung hatten. Der Befund in AscJes zeigt, dass sich Traditionen dieser Art in eine Richtung entwickeln, die die Rezeption und Radikalisierung durch die Gnosis ermöglicht.64
60 J. Daniélou, Théologie du judéo-christianisme. Histoire des doctrines chrétiennes avant Nicée 1 (BT), Tournai (1958) 21974, 253–273 („nous avons sans doute ici la forme la plus archaïque“ der „descente cachée“, 265). Bündige Kritik an Daniélou bei Norelli, Ascensio (s. Anm. 47) 513 f. 61 „Et cet ouvrage (sc. l’Ascension d’Isaïe, S. V.) est sans doute celui dont tous les autres dépendent. Si nous avons commencé par le Physiologos, c’est parce que, selon la suggestion de Peterson, il reflète sans doute une version plus ancienne de l’Ascension d’Isaïe que celle que nous possédons“, Daniélou, Théologie (s. Anm. 60) 266. Zu Peterson s. unten Anm. 90. 62 Auch der Verweis auf eine Predigt von Gregor von Nyssa ist abenteuerlich: hier werde nicht nur „le fond judéo-chrétien“ erkennbar, sondern auch die postulierte verlorene Version der AscJes (aaO. 268). Zu Ps 24 stellt Norelli, Ascensio (s. Anm. 47) 513, richtig fest: „L’uso del Sal 23 mi pare indiscutibilmente legato, alle origini, all’ascensione del Signore e non alla sua discesa.“ Wir deuten weiter unten Gregors auffällige Platzierung von Ps 24,7 f beim Abstieg nicht als Relikt einer archaischen Form des descensus absconditus, sondern als Extrapolation der traditionellen Platzierung der Verse beim Aufstieg: Der Prediger verteilt aus exegetischen Gründen die doppelte Wechselrede auf Abstieg und Aufstieg (s. bei Anm. 108). 63 S. dazu unten bei Anm. 92. 64 Vgl. die Situierung von AscJes durch Knight, Disciples (s. Anm. 47), und zu archaischen Formen der Engelchristologie unten Anm. 66.
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5. Gleichwerden mit Engeln Einen grossen Teil der für unsere Fragestellung wichtigen Texte haben wir bereits zusammengestellt: Der verborgene Erlöser passiert die vielfachen Himmel und nimmt die jeweilige Gestalt ihrer Bewohner an. In diesen Formen von subtiler himmlischer Leiblichkeit tarnt er sich erfolgreich. Zugrunde liegt der Motivkomplex der Polymorphie, die die verschiedenartigen Metamorphosen ermöglicht.65 Es kommt die überaus weite Topik der Engelwerdung und der Engelgleichheit hinzu, etwa der Frommen im Jenseits oder bei der Totenauferstehung. Die Angelomorphie wird gelegentlich nicht nur anthropologisch und eschatologisch artikuliert, sondern sogar christologisch: Es gibt im frühen Christentum auch entlegene Spuren einer Engelchristologie, oder vorsichtiger formuliert: einer angelomorphen Christologie.66 Verbunden mit dem Nichterkennen von Seiten der Mächte zeigt die Angleichung an die Engel eine deutliche Zielrichtung: Sie kulminiert in der Menschwerdung. Auch und gerade in der menschlichen Gestalt verbirgt sich der Gottessohn. In einigen gnostischen Systemen wird das Inkognito doketistisch zugespitzt. Es gibt aber auch ganz andere Optionen, wie gerade die Epistula apostolorum mit ihrem dezidiert antidoketistischen Profil zeigt. Hier wie dort spielt die Rezeption von Phil 2,7 eine mehr oder weniger formative Rolle („den Menschen ähnlich, in seiner Erscheinung wie ein Mensch“). Abgesehen von den Texten, die wir durchmustert haben, verbindet sich die Figur der Angleichung Christi an die Engelmächte in der Alten Kirche prominent mit dem Namen des Origenes und seinen Anhängern. Für Origenes selber ergibt sich die Angelomorphie Christi aufgrund des Prinzips, wonach der Logos alles Geschaffene durchdringt. Das Neue Testament bietet dafür nicht nur einige Basistexte (Joh 1,1–18; Kol 1,15–20; Eph 1,23 usw.), sondern auch eine apostolische Vorgabe, nämlich das „Allen alles Werden“ des Paulus (1 Kor 9,22). Die wichtigste Ausführung findet sich im Johanneskommentar.67 65 Vgl. zur Sortierung der Phänomene H.-J. Klauck, Christus in vielen Gestalten. Die Polymorphie des Erlösers in apokryphen Texten, in: ders., Bibel (s. Anm. 2) 303–374; sodann P. J. Lalleman, Polymorphy of Christ, in: J. N. Bremmer (Hg.), The Apocryphal Acts of John (Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 1), Kampen 1995, 97–118; Ch. Markschies, Gottes Körper. Jüdische, christliche und pagane Gottesvorstellungen in der Antike, München 2016, 391–393. 66 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Zwischen Monotheismus und Engelchristologie. Überlegungen zur Frühgeschichte des Christusglaubens, in: S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 3–27. 67 Orig., comm. 1,216–219 in Joh. (GCS 10, 38 f = SC 120, 164–167); zitiert in Anlehnung an: R. Gögler (Übs.), Origenes. Das Evangelium nach Johannes (MKZU 4), Einsiedeln 1959, 131. Zur christologischen Rezeptionsgeschichte von 1 Kor 9,22 vgl. S. Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt (FRLANT 147), Göttingen 1989, 219 f; M. M. Mitchell, Pauline Accommodation and „Condescension“
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„Der Gott des Alls erschuf eine vernünftige Art (sc. von Geschöpfen), die erste an Würde, was meiner Meinung nach auf die sogenannten ‚Götter‘ geht, als zweite Art seien jetzt ‚Throne‘ genannt, als dritte, ohne Zweifel, ‚Mächte‘. Auf diese Weise muss man vernunftgemäss bis zur letzten Stufe absteigen, wahrscheinlich also bis zum Menschen. Der Heiland ist auf noch viel göttlichere Weise denn Paulus ‚allen alles geworden‘, damit er ‚alles‘ ‚gewinne‘ oder vollende; offenkundig ist er den Menschen Mensch und den Engeln Engel geworden (ὁ τοίνυν σωτὴρ θειότερον πολλῷ ἢ Παῦλος γέγονε ‚τοῖς πᾶσι πάντα‘, ἵνα ‚πάντα‘ ἢ ‚κερδήσῃ‘ ἢ τελειώσῃ, καὶ σαφῶς γέγονεν ἀνθρώποις ἄνθρωπος καὶ ἀγγέλοις ἄγγελος). An seiner Menschwerdung wird kein Gläubiger zweifeln. Dass er aber auch Engel wurde, davon werden wir überzeugt, wenn wir die Erscheinungen und Worte von Engeln beachten. Die Schrift lässt an einigen Stellen Engel sprechen, wenn er mit dem Amt eines Boten erscheint […].“
Der Kirchenlehrer kommt auch anderwärts auf die Engelgleichwerdung Christi zu sprechen. Dabei fällt auf, dass er sein Argument tentativ vorträgt, weil er ein biblisch nicht gesichertes und vor Missverständnissen zu schützendes Lehrstück präsentiert. Besonders aufschlussreich ist eine Passage aus dem – weitgehend nur lateinisch überlieferten – Römerbriefkommentar. Unter Bezug auf 1 Tim 3,16 („den Engeln erschienen“) wird die Engelgleichwerdung korreliert mit dem „ewigen Evangelium“ von Apk 14,6:68 „Als er uns Menschen offenbar wurde, wurde er das nicht ohne Evangelium. Folgerichtig ergibt sich, dass er auch den Engelwesen nicht ohne Evangelium offenbar wurde […] Muss man auch annehmen, dass er an den übrigen Himmelswesen etwas Ähnliches getan hat, dass er ihnen also in ihrer jeweiligen Gestalt offenbar wurde und den Frieden verkündete, weil er ja durch sein Blut am Kreuz Frieden stiftete für alles, was nicht nur auf Erden, sondern auch im Himmel ist (vgl. Kol 1,20)? Auch das magst du für dich überdenken (etiam tu apud temet ipsum discutito).“69 (συγκατάβασις). 1 Cor 9:19–23 and the History of Influence, in: dies., Paul and the Emergence of Christian Textuality (WUNT 393), Tübingen 2017, 193–217, besonders 209–212. Zum Topos bei Origenes vgl. speziell Barbel, Christos (s. Anm. 22) 288–297 sowie die Belege in: PGL 13b (s. v. ἄγγελος II.K.1). 68 Orig./Rufin, comm. 1,6:2 in Rom. (SC 532, 174 f = FC 2.1, 92 f; übs. Th. Heither). Zur von Kol 1,20 angeregten Frage, ob Christi Tod über die Menschenwelt hinaus auch anderen zugutekomme, vgl. 5,7:5 (SC 539, 458 f); hom. 1,3 in Lev. (SC 286, 76–79). Hier schliesst sich später die polemische Zuspitzung an, dass Christus in einer zukünftigen Weltzeit auch für die Dämonen sterben und sie so erlösen würde, vgl. Hieron., ep. 124,12 (CSEL 56, 114); Justinian, ep. ad Menam (ACO 3, 213), und die Anathematismen von 543 (Nr. 7: ACO 3, 213); vgl. unten bei Anm. 78. Die Topik gehört in die Diskussion darüber, ob Christus sich als Opfer nicht nur auf Erden, sondern auch im Himmel darbringt – zugunsten der (gefallenen) Engel bzw. Dämonen; dazu vgl. die Notiz in: H. Crouzel / M. Simonetti (Hg.), Origène. Traité des principes, Bd. 4 (SC 269), Paris 1980, 226–231. 69 Anders als Barbel, Christos (s. Anm. 22) 288 f, braucht man nicht zu argwöhnen, der Übersetzer habe hier abgeschwächt. Die Methode, mehrere exegetische Alternativen vorzutragen, ist origeneisch; Rufin pflegt heikle Aussagen, wenn er sie nicht ganz tilgen will, etwa in den Mund von Gegnern oder Unverständigen zu verschieben. Ausserdem unterscheiden sich die Profile von Kommentarwerken und systematischen Traktaten wie De principiis. Vgl. zu Rufins Umgang
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Die notorische Frage, ob Origenes hier ein kühnes Theologumenon vorträgt, das dem theologischen Mainstream entgegensteht und das er deshalb lediglich als Option präsentiert, oder ob er zuhanden seiner Leserschaft Auslegungsalternativen skizziert im Wissen um die begrenzte Belastbarkeit exegetischer Schlussfolgerungen, können wir an dieser Stelle offen lassen.70 Die Motivik der Engelgleichwerdung Christi stammt wahrscheinlich aus dem Fundus ‚dissidenter‘ bzw. ‚apokrypher‘ Traditionsbildungen, wie sie oben skizziert worden sind. Im Johanneskommentar wird die Angelomorphie des Gottessohns, die in seiner das All umgreifenden Wesenheit gründet, noch ein weiteres Mal angedeutet (unter Berufung auf die Stufen im Tempel, die zum Allerheiligsten führen). Der „Einziggeborene Gottes“ schliesst in sich alle Stufen, die „wir“ aufzusteigen haben; beginnend von der untersten, seiner Menschennatur, „der Reihe nach, sodass wir aufsteigen durch ihn, der selber Engel und die übrigen Mächte ist“.71 Zu verweisen ist schliesslich auf die explizite Korrelation der Engelgleichwerdung mit der Menschwerdung von Phil 2,7, der wir auch in den ‚dissidenten‘ Texten begegnet sind:72 „Daher meine ich: Wie er (sc. Christus) unter den Menschen ‚der Erscheinung nach als Mensch‘ erfunden wurde, so wurde er auch unter den Engeln der Erscheinung nach als Engel erfunden.“
Die Engelgleichwerdung Christi wird zu einem festen Baustein der origenistischen Systembildung.73 Besonders augenfällig sind diesbezüglich die mit „dogmatisch verdächtigen Stellen“ C. P. Hammond Bammel, Der Römerbrieftext des Rufin und seine Origenes-Übersetzung (VL.AGLB 10), Freiburg 1985, 48–53. 70 Für letzteres plädiert H. J. Vogt, Wie Origenes in seinem Matthäus-Kommentar Fragen offen lässt, in: ders., Origenes als Exeget, Paderborn 1999, 105–111, hier: 107 f; für ersteres z. B. F. H. Kettler, Der ursprüngliche Sinn der Dogmatik des Origenes (BZNW 31), Berlin 1966, 1–12. 71 Orig., comm. 19,38 in Joh. (GCS 10, 305 = SC 290, 68–71): ὁδεύομεν κατὰ τὰ ἑξῆς αὐτοῦ ὄντα τὴν πᾶσαν ἐν τοῖς ἀναβαθμοῖς ὁδόν, ὥστε ἀναβῆναι δι‘ αὐτοῦ ὄντος καὶ ἀγγέλου καὶ τῶν λοιπῶν δυνάμεων). Die Auswahlübersetzung von Gögler (s. Anm. 67) 289, übergeht die „Engel und Mächte“! 72 Orig. hom. 8,8 in Gen. (GCS 29, 83 = SC 27, 228 f). Für Origenes bildet die Engelgleichwerdung Christi eine sachgemässe Extrapolation der traditionellen altkirchlichen Figur, wonach sich in den alttestamentlichen Angelophanien der präexistente Gottessohn manifestiert, vgl. aaO. 14,1; comm. 1,218 in Joh. (oben Anm. 67); comm. 28 in Mt. (GCS 38, 53): „Aber nicht nur bei seiner Anwesenheit, sondern immer war der Christus in Person in Mose und in den Propheten gegenwärtig, noch mehr aber in den Engeln, die in den einzelnen Generationen dem Heil der Menschen dienten“ (Übs. nach: H. J. Vogt [Hg.], Origenes. Der Kommentar zum Evangelium nach Mattäus, 3 Bde. [BGrL 18; 30; 38], Stuttgart 1983; 1990; 1993, hier Bd. 2, 197). Crouzel und Simonetti verweisen für die Engelwerdung speziell auf den „contexte qui l’explique, celui des théophanies: le Fils est l’agent de toutes les théophanies de l’Ancien Testament, apparaissant parfois sous forme d’homme ou d’ange, c’est-à-dire, nous semble-t-il, dans son âme qui n’ayant pas péché a gardé l’indistinction primitive humano-angélique“ (in: Origène [s. Anm. 68] 231 Anm. 80; vgl. 57 f Anm. 2). Die Logo-Theophanien allein erklären die Figur der Engelgleichwerdung Christi aber nicht; ebenso wichtig sind die kosmische Christologie (auf der Linie von Kol/Eph) und die gnostisierenden Descensus-Traditionen. 73 Sie wird in der orthodox gewordenen Theologie üblicherweise abgelehnt, vgl. z. B. Didym. (?), trin. 2,7,8:9 (234 f Seiler = PG 39, 589 A: ὁ γὰρ θεὸς λόγος οὐ διὰ τοὺς ἁμαρτήσαντας
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Kontroversen, die sich noch im vierten und fünften wie schliesslich im sechsten Jahrhundert mit der Theologie des alexandrinischen Gelehrten verbinden.74 Unter den als häretisch inkriminierten Lehrstücken findet sich auch die Angleichung des Logos an die Engel. Im Edikt des Kaisers Justinian gegen Origenes aus dem Jahr 543 wird statuiert:75 „Wenn einer sagt oder dafürhält, der Gott-Logos sei allen himmlischen Ordnungen gleich geworden (πᾶσι τοῖς οὐρανίοις τάγμασιν ἐξομοιωθῆναι), indem er für die Cherubim ein Cherub und für die Serafim ein Seraf wurde und schlechthin allen Mächten in der Höhe gleich wurde (πάσαις ἁπλῶς ταῖς ἄνω δυνάμεσιν ἐξομοιωθέντα) – so sei er im Bann.“
Die neun Anathematismen reflektieren origenistische Lehren des vierten Jahrhunderts, haben aber Anhalt an Originaltexten des Meisters. Dies gilt zumal für den Topos der Engelgleichwerdung Christi. In der zweiten Verurteilung des Origenes durch das Zweite ökumenische Konzil von Konstantinopel im Jahr 553 ist demgegenüber eine weiter entwickelte Form des Origenismus fassbar.76 So ist im uns interessierenden Lehrstück, das anathematisiert wird, das Subjekt der Inkarnation nicht eigentlich der Gott-Logos, sondern lediglich der mit diesem vollkommen geeinte Christus. Der Topos der Engelgleichwerdung selber bleibt sich aber gleich:77 „Wenn einer sagt: Christus […] sei zu allen gekommen, er habe sich in verschiedene Körper gekleidet und verschiedene Namen angenommen, er sei allen alles geworden (1 Kor 9,22), unter Engeln ein Engel, unter Mächten eine Macht (δύναμις), und unter den anderen Ordnungen und Arten der Vernunftwesen habe er die zu einer jeden passende Gestalt
ἀγγέλους ἄγγελος, ἀλλὰ διὰ τοὺς ἐν ἁμαρτίᾳ ἀνθρώπους ἄνθρωπος) und schon Tert., carn. 14 (SC 216, 268–271). 74 Vgl. zur Vorgeschichte: E. Prinzivalli, The Controversy about Origen before Epiphanius, in: W. A. Bienert / U. Kühneweg (Hg.), Origeniana septima. Origenes in den Auseinandersetzungen des 4. Jahrhunderts (BEThL 137), Louvain 1999, 195–213: von der impliziten Kontroverse in der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts (200–204) zur offenen Kontroverse im vierten Jahrhundert (204–212); H. J. Vogt, Warum wurde Origenes zum Häretiker erklärt? Kirchliche Vergangenheitsbewältigung in der Vergangenheit, in: ders., Origenes (s. Anm. 70) 241–263; A. Fürst, Klassiker und Ketzer. Origenes im Spiegel der Überlieferung seiner Werke, in: ders., Von Origenes und Hieronymus zu Augustinus. Studien zur antiken Theologiegeschichte (AKG 115), Berlin 2011, 209–236. 75 Just., ep. ad Menam, anath. 4 (ACO 3, 213 = DH 406); Übs. nach Görgemanns / Karpp (s. Anm. 161). 76 Vgl. A. Guillaumont, Les „Képhalaia gnostica“ d’Évagre le Pontique et l’histoire de l’origénisme chez les Grecs et chez les Syriens (PatSor 5), Paris 1962, 96–99; 140–148; 158 f; 249–252; ferner A. Grillmeier / Th. Hainthaler, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 2.2: Die Kirche von Konstantinopel im 6. Jahrhundert, Freiburg 1989/2004, 419 f; 425–430; H. Crouzel, Les condemnations subies par Origène et sa doctrine, in: Bienert / Kühneweg, Origeniana (s. Anm. 74) 311–315. 77 Anath. syn. Const. 7 (ACO 4.1, 249); Übs. nach Görgemanns / Karpp (s. Anm. 161). In Z. 7 liegt in ACO (übernommen von Görgemanns / Karpp sowie vom TLG) wohl ein Druckfehler vor: Statt μεταμορφῶσθαι ist zu lesen μεταμορφοῦσθαι.
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angenommen; endlich habe er ‚ähnlich wie wir Fleisch und Blut erhalten‘ (Hebr. 2,14) und sei auch für die Menschen Mensch geworden […] – so sei er im Bann.“
In den heftigen origenistischen Debatten ist das aus 1 Kor 9,22 extrapolierte Prinzip, wonach Christus „allen alles geworden ist“, sogar dämonologisch pervertiert bzw. karikiert worden. Der alexandrinische Patriarch Theophilos stellt anfangs des fünften Jahrhunderts grimmig fest:78 „Wenn nämlich Christus für die Menschen gelitten hat, indem er selber Mensch geworden ist […], ist es folgerichtig, dass Origenes sagt: ‚Auch für die Dämonen wird Christus leiden, selber Dämon geworden.‘“
Die Engelgleichwerdung Christi verteilt sich bei Origenes selber und bei seinen Anhängern auf eine Mehrzahl von Stufen in den verschiedenen Himmelssphären, bis sie in seiner Inkarnation mündet. Die origenistische Tradition ist der Hauptkanal, über den die älteren ‚dissidenten‘ Überlieferungen von Christus, der sich den verschiedenen Engelklassen als Engel zeigt, Eingang in die Randbereiche des Mainstreams altkirchlicher Theologie finden.79 Dabei ist eine Akzentverschiebung zu beachten: Während die gnostisierenden Texte die Verborgenheit und das Nichterkanntwerden Christi herausstreichen, steht seine Engelgleichwerdung bei Origenes im Zeichen der niveauangepassten Offenbarung.80 Der Kirchenlehrer kann sie deshalb mit dem verbreiteten Theologumenon, in den alttestamentlichen Theophanien und Angelophanien manifestiere sich der präexistente Logos, korrelieren. Die Inkarnation, in der sich Kenosis und Engelgleichwerdung vollenden, ist Ausdruck der göttlichen Akkommodation an 78 Theoph. Al., ep. pasch. (im Jahr 401) (= Hieron., ep. 96,10 [CSEL 55, 168]: si enim Christus pro hominibus passus homo factus est, ut scripturarum testantur eloquia, consequens erit, ut dicat Origenes: ‚et pro daemonibus passurus daemon futurus est‘). Vgl. ep. synod. (im Jahr 400) (= Hieron., ep. 92,4 [CSEL 55, 152]) und oben bei Anm. 68 zur Origenes unterstellten Kreuzigung Christi für die Dämonen. Vgl. E. A. Clark, The Origenist Controversy. The Cultural Construction of an Early Christian Debate, Princeton 1992, 12; 114. Beim Topos der Dämonwerdung Christi handelt es sich sicher wie bei manchen anderen häretischen Zuschreibungen „um reine, gegen den einstigen alexandrinischen Theologen gerichtete bösartige Polemik“, Markschies, Körper (s. Anm. 65) 338; es kam Theophilos vor allem darauf an, „möglichst skandalträchtige Sätze zu zitieren, die angeblich Origenes geschrieben hatte“ (339). Zur gezielten, massenmedial wirksamen rhetorischen Strategie des Patriarchen in seinen antiorigenistischen öffentlichen Briefen vgl. K. Banev, Theophilus of Alexandria and the First Origenist Controversy. Rhetoric and Power (OECS), Oxford 2015, 107–149, besonders 121 f. 79 Neben dem Physiologus ist auf einige weitere Belege hinzuweisen, die Barbel, Christos (s. Anm. 22) 293–295; 297–299; 306–308 u. a. zusammengestellt hat. Das (lateinische) Fragment aus dem Tractatus de fide unter dem Namen Melitons, das sich findet in: J. K. Th. von Otto (Hg.), Corpus Apologetarum Christianorum saeculi secundi, Bd. 9, Jena 1857, 420 (vgl. Barbel 293 f; 37 Anm. 1), ist keinesfalls echt und gehört in eine spätere Zeit (so gut wie das unten bei Anm. 122 zitierte Meliton zugeschriebene frg. 6). Zu Gregor von Nyssa vgl. unten bei Anm. 108. 80 Selbstverständlich kennen auch die Gnostiker diesen Aspekt (vgl. oben zum EvPhil bei Anm. 45), aber er bleibt zweitrangig, da die Engelmächte ambivalent oder sogar negativ bewertet werden.
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die geschöpfliche Welt.81 Nur am Rand vermerken wir, dass die christliche Theologie beides, die Manifestation des Logos in Engeln und die Figur der göttlichen Akkommodation, besonders dem exegetischen Œuvre des Alexandriners Philon verdankt.82 Blicken wir an dieser Stelle auf den Anfang des Physiologus zurück, so sind zwei Feststellungen zu treffen: Zum einen zeigt unsere Passage deutlich, dass sie mit ihrer Verborgenheitsmotivik Traditionen kennt, die vor allem von Texten abseits der Mehrheitskirche dokumentiert werden. Zum anderen zählt die Figur der Engelgleichwerdung Christi zu denjenigen Theologumena, die besonders im alexandrinischen Milieu begegnen, repräsentiert durch Origenes und vorbereitet durch Philon. Die namentlich genannten Engelklassen – Engel, Erzengel, Throne, Mächte (exusiai) – begegnen häufig, allerdings m.W. nie in der genau gleichen Zusammenstellung.83 Wir formulieren schon an dieser Stelle die folgende Hypothese: Der Physiologus schöpft die Idee der Angelomorphogenese Christi aus den Kanälen, die sich im grosskirchlichen Raum vor allem aufgrund der Breitenwirkung von Origenes’ Theologie gebildet haben.
6. Eine Szene vor den Himmelstoren – Zur Rezeptionsgeschichte von Ps 24(= 23 LXX) Der Physiologus bietet am Schluss seiner allegorischen Deutung der „ersten Eigenheit“ des Löwen einen kleinen biblischen Dialog, in dem die Engelmächte die Frage von Ps 24,10a stellen und vom heiligen Geist die Antwort von V. 10b erhalten. Unsere Schrift bewegt sich hier in einem stabilen Strom der christlichen Bibelrezeption. 81 Zum Thema der göttlichen Akkommodation bei Origenes vgl. R. Gögler, Zur Theologie des biblischen Wortes bei Origenes, Düsseldorf 1963, 307–319; A.-Ch. Jacobsen, Christology in the Homilies of Origen, in: G. Heidl / R. Somos (Hg.), Origeniana Nona. Origen and the Religious Practice of His Time (BEThL 228), Louvain 2009, 637–651 („The notion of accommodation implies that Logos takes a form and a shape which suits the capacity of those with whom he will communicate. The incarnation of Logos is the height of this divine process of accommodation“, 642); M. Zambon / D. Wyrwa, § 99. Origenes, in: Ch. Riedweg / Ch. Horn / D. Wyrwa (Hg.), Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (Ueberweg.Antike 5), Basel 2018, 957–997, hier: 989. Zum grösseren theologischen Kontext vgl. St.D. Benin, The Footprints of God. Divine Accommodation in Jewish and Christian Thought (SUNY Series in Judaica), Albany 1993, 1–30. 82 Zur Akkommodation vgl. Philon, opif. 23; dazu D. T. Runia, Philo of Alexandria. On the Creation of the Cosmos according to Moses (Philo of Alexandria Commentary Series 1), Leiden 2002, 146 f. Zur Angelomorphie des Logos vgl. somn. 1,238; migr. 173 f; dazu Ch.A. Gieschen, Angelomorphic Christology. Antecedents and Early Evidence (AGJU 42), Leiden 1998, 107–112. 83 „Engeln“ und „Mächten“ o.ä. (exusiai, dynameis, usw.) sind wir oben in den meisten Texten begegnet. Die Throne sind selten; sie finden sich in AscJes (vgl. Anm. 50) sowie bei Origenes (vgl. Anm. 67). Die Erzengel sind belegt in EpAp (s. Anm. 51) und in PistSoph (Engel, Erzengel, exusiai; s. bei Anm. 40).
6. Eine Szene vor den Himmelstoren – Zur Rezeptionsgeschichte von Ps 24
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Bei Ps 24,7–10 handelt es sich mit der zweifachen Abfolge von Aufforderung, Frage und Antwort um ein „ein altes Ritual, mit dem die Ankunft Jahwes als eines siegreichen Königs inszeniert wurde“.84 In der christlichen Wirkungsgeschichte von Ps 24 (= 23 LXX) heftet sich die „Torliturgie“ bereits früh an die Himmelfahrt Christi; die Stadttore werden zu Himmelspforten und die Stadtwächter zu Engeln.85 Die Identität des Herolds, der den Wächtern antwortet, wird verschieden bestimmt; in der Regel sind es Engel, die den Auffahrenden begleiten. Für uns ist zunächst die Rezeption bei Justin, eine der ersten Spuren des Psalms im christlichen Bereich,86 von erheblichem Interesse: Wie im Physiologus handelt es sich um den Geist, der als Sprecher von V10b agiert:87 „Unser Christus […], als er von den Toten auferstand und in den Himmel auffuhr, da erhielten die von Gott in den Himmeln aufgestellten Fürsten den Befehl, die himmlischen Tore zu öffnen, damit er, welcher der König der Herrlichkeit ist, einziehe und nach seiner Himmelfahrt zur Rechten des Vaters sitze, bis er die Feinde zum Schemel seiner Füsse gemacht hat (Ps 110,1) […] Da nämlich die himmlischen Fürsten gesehen hatten, dass seine Gestalt ohne Schönheit, ohne Ehre und Herrlichkeit (ἀειδῆ καὶ ἄτιμον τὸ εἶδος καὶ ἄδοξον ἔχοντα αὐτόν) war, erkannten sie ihn nicht und fragten: ,Wer ist dieser König der Herrlichkeit?‘ und der heilige Geist antwortete ihnen im Namen des Vaters oder im eigenen Namen: ,Der Herr der Mächte, er ist der König der Herrlichkeit.‘“
Der Unwissenheitstopos, dem wir in den zuvor durchmusterten Texten beim Abstieg des Erlösers begegnet sind, hat hier einen anderen Stellenwert: Die Engel erkennen Christus nicht infolge seiner Niedrigkeitsgestalt.88 Das Nichtwissen wird durch die Wechselrede beendet. Die Passage ist deshalb so bemerkenswert, weil sich in ihr viele Elemente finden, die in der nachmaligen Rezeptionsgeschichte 84 R. Müller, Jahwe als Wettergott. Studien zur althebräischen Kultlyrik anhand ausgewählter Psalmen (BZAW 387), Berlin 2008, 147; zur „Torliturgie“ vgl. 149–154. Die Szene „gehört ans Stadttor“ (150). 85 Zur Rezeptionsgeschichte von Ps 24 vgl. E. Kähler, Studien zum Te Deum und zur Geschichte des 24. Psalms in der Alten Kirche (VEGL 10), Göttingen 1958, 43–73; R. Brucker, „Wer ist der König der Herrlichkeit?“ Psalm 23[24] – Text, Wirkung, Rezeption, in: W. Kraus / S. Kreuzer (Hg.), Die Septuaginta – Text, Wirkung, Rezeption, Tübingen 2014, 405–429; ferner M. Aubineau (Hg.), Homélies pascales (cinq homélies inédites) (SC 187), Paris 1972, 89–91; A.K. Geljon, Didymus the Blind. Commentary on Psalm 24 (23 LXX). Introduction, Translation and Commentary, VigChr 65 (2011) 50–733. Einige Texte stellen zusammen C. A. Blaising / C. S. Hardin, Psalms 1–50 (ACCSOT 7), Downers Grove 2008, 187–191. – Nicht zugänglich war mir die unpublizierte Diplomarbeit von M. Margoni-Kögler, Psalm 24 und Christi Himmelfahrt. Ein Beitrag zur patristischen Psalmenauslegung, Universität Wien, 1994. 86 Die erste Rezeption, die Ps 24 mit der Himmelfahrt Jesu verbindet, ist ApkPetr 17 (äthiopische Version; NTApo 62, 578); vgl. dazu Kähler, Studien (s. Anm. 85) 53–55. Demgegenüber zeigt 1 Kor 2,8 keine Einwirkung von Ps 24; dazu oben Anm. 55. 87 Justin, dial. 36,3–6; Übs. nach Ph. Hauser (BKV I/33, Kempten 1917); vgl. dazu Kähler, Studien (s. Anm. 85) 55 f; Brucker, König (s. Anm. 85) 419 f. In dial. 85,1–4 und apol. 1,51:6 f ist nicht vom Geist als Sprecher die Rede. 88 Hier wird offensichtlich die Gottesknechtsbeschreibung rezipiert: Jes 52,14 LXX (οὕτως ἀδοξήσει ἀπὸ ἀνθρώπων τὸ εἶδός σου καὶ ἡ δόξα σου ἀπὸ τῶν ἀνθρώπων) sowie 53,3 LXX (τὸ εἶδος αὐτοῦ ἄτιμον).
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der Psalmverse zum Standard zählen: Auffahrt, Himmelstore und Engel, Niedrigkeits‑ bzw. Passionsgestalt Jesu. Anders verhält es sich beim Geist als Herold; diese Identifikation ist ausgesprochen selten bezeugt – wir sind ihr aber im Physiologus begegnet. Nun ist nicht mit einer literarischen Beziehung zwischen diesem und Justin zu rechnen; das Œuvre des Apologeten war in der christlichen Antike kaum bekannt.89 Offenbar handelt es sich um eine uns sonst wenig bekannte Sondertradition.90 Da sich der Geist als Sprecher von Sätzen aus Ps 24 auch in einer Himmelfahrtspredigt im Corpus der Chrysostomos-Werke findet – auch hier liegt keine Justin-Rezeption vor –, scheint sie sich vom zweiten bis ins fünfte Jahrhundert gehalten zu haben.91 Eine weitere aufschlussreiche Passage findet sich in der Epideixis des Irenäus:92 „Eben dasselbe sagt auch David: ‚Erhebt, ihr Fürsten, eure Pforten; ja, erhöht euch, ihr uralten Pforten, dass der König der Herrlichkeit einziehe‘ (Ps 24,7). Denn die uralten Pforten sind die Himmel. Weil aber das Wort in einer für die Geschöpfe unsichtbaren Weise herabgestiegen ist, so ist ihnen davon nichts kund geworden. Nun war das Wort Fleisch geworden, und sichtbar stieg es hinauf. Und als die Mächte ihn sahen, haben die unteren Engel denen, die auf der Feste waren, zugerufen: ‚Erhebt eure Pforten; ja, erhöht euch, ihr uralten Pforten, dass der König der Herrlichkeit einziehe.‘ Und da sie staunten und fragten: ‚Wer ist es denn?‘, bezeugten diejenigen, die ihn gesehen hatten, nun zum zweiten Mal: ‚Der Herr, gewaltig und mächtig, er ist der König der Herrlichkeit‘ (Ps 24,8–10).“
Wie bei Justin gibt auch bei Irenäus der irdische Leib Jesu den Anlass für das erstaunte Fragen der angelischen Mächte. Nun wird ausdrücklich gesagt, dass diese den Logos schon bei seinem Abstieg nicht erkannt haben – ein sonst bei den Kirchenvätern kaum je begegnender Topos.93 Die Kombination von drei Elementen – erstens der Verborgenheit beim Abstieg, zweitens der Fleischwerdung, und drittens dem Zitat von Ps 24 – verbindet diesen Text mit dem Physiologus.94 Zu beachten ist in der Epideixis ausserdem die detaillierte Identifizierung der 89 Justins
echte Werke sind in einer einzigen Handschrift überliefert. Schon gar nicht kann man eine Benutzung des Physiologus durch Justin postulieren, wie es etwa Lauchert, Geschichte (s. Anm. 3) 65; 68, getan hat. Viel zu weit hergeholt ist die Vermutung von Peterson, Spiritualität (s. Anm. 46) 251, der Physiologus und Justin bezögen den heiligen Geist als Sprecher aus einer nicht erhaltenen Version von AscJes (in der erhaltenen Schrift hat der Geist tatsächlich eine wichtige Funktion, aber nicht in Bezug auf Ps 24). Zu dieser Hypothese vgl. auch oben Anm. 61 zu Daniélou. 91 Vgl. unten bei Anm. 114. Das exegetische Manöver, Worte und Laute in den Psalmen dem Geist zuzuschreiben, begegnet auch sonst; vgl. etwa Euseb, comm. in Ps. 23 (PG 23, 224 A), wo „Jauchzen und Trompetenschall“ in Ps 47,6 vom heiligen Geist ausgehen; zugleich stammen sie aber (auch) von Engeln. 92 Iren., dem. 84 (FC 8.1, 87 = TU 31.1, 44; Übs. aus dem Armenischen von K. Ter-Mekert tschian / E. Ter-Minassiantz). 93 Zu beachten ist dabei die zurückhaltende Formulierung: „für die Geschöpfe unsichtbar“. 94 Beachtenswert ist in der Epideixis auch der kleine Katalog der rebellischen Engelklassen, die nach Ps 110,1 unterworfen werden (85): Engel, Erzengel, Mächte und Throne. Dies entspricht genau der Liste im Physiologus! Derselbe Katalog findet sich auch Iren., haer. 3,8:3 (hier aber nicht gefallene Engel); vgl. 2,30:3. 90
6. Eine Szene vor den Himmelstoren – Zur Rezeptionsgeschichte von Ps 24
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Auffordernden, Fragenden und Antwortenden. Die Frage stellt sich, ob Irenäus und der Physiologus auf eine gemeinsame frühe Auslegungstradition von Ps 24 zurückgreifen, die auch die Topik des vor den Engeln verborgenen absteigenden Erlösers mitführt. Nun liegt die Passage lediglich in armenischer Überlieferung vor, die auch wesentlich späteres Gut aufgenommen haben kann. Der armenische Irenäus bietet kein belastbares Argument für die Identifizierung einer alten gemeinsamen Überlieferung,95 die er mit dem Physiologus teilte, und kommt daher auch nicht als Indiz für die Frühdatierung des Physiologus in Frage.96 Für unsere Fragestellung einschlägig ist erneut das Œuvre von Origenes, in dem sich die Rezeptionsspuren von Ps 24 kumulieren. Der Einzug Jesu in Jerusalem im Matthäusevangelium (21,10) ist für den Kommentator Anlass, die Wechselrede im Himmel einzuspielen:97 „Er (Jesus) zog in das wahre Jerusalem ein. Die himmlischen Mächte aber, welche ‚die ganze Stadt‘ genannt werden, waren darüber befremdet (ξενισθεῖσαι δὲ αἱ οὐράνιαι δυνάμεις) und fragten: ‚Wer ist dieser?‘ Das steht im Einklang mit dem, was im 23. Psalm über die Aufnahme des Heilands und das Befremdetsein der himmlischen Mächte vorausgesagt ist, die befremdet sind bei dem neuen Anblick seines leiblichen Fahrzeuges (τοῦ ξενισμοῦ τῶν οὐρανίων δυνάμεων ξενιζομένων ἐπὶ τῷ καινῷ τοῦ σωματικοῦ αὐτοῦ ὀχήματος θεάματι). […] Bei Jesaja wird über den Aufstieg des Heilands nach dem Heilswirken ähnliches vorausgesagt; da steht nämlich: ‚Wer ist dieser, der von Edom herkommt mit rotem Gewand aus Bosor, der schön ist in seinem Kleid?‘ (Jes 63,1). Den ganzen Inhalt dieser Stelle wirst auch du verstehen können, wenn du vergleichst, was die Mächte sagen, die über das Emporsteigen des heilschaffenden Leibes befremdet sind, und was ihnen geantwortet wird.“
Auch in einer der kürzlich entdeckten Psalmenhomilien nimmt Origenes Bezug auf die Wechselrede von Ps 24 und reichert sie wieder an mit derjenigen von Jes 63,1 f:98
95 Es ist nicht zu sichern, dass Irenäus selber die AscJes gekannt und benutzt hat (so Knight, Disciples [s. Anm. 47] 160 f; 163; 165 f; im Anschluss an Daniélou, Théologie [s. oben bei Anm. 60]). Die partielle Parallele zwischen AscJes und Irenäus’ Epideixis ist eher traditionsgeschichtlich zu erklären, möglicherweise auf einer erst relativ späten Überlieferungsstufe (von AscJes gibt es allerdings m.W. keine armenische Version). Schon gar nicht auszumachen sind Anzeichen dafür, dass AscJes oder 1 Kor 2,6–8 einen intertextuellen Bezug herstellen zu Ps 24; anders Hanson, Midrash (s. Anm. 55). 96 Die für uns interessanten Elemente fehlen gerade in den übrigen Referenzen auf die „Torliturgie“, die sich in Irenäus’ besser erhaltenem Werk finden, in Adversus haereses (3,16:8; 4,33:13). 97 Orig., comm. 16,19 in Mt. (GCS 40.2, 539 f); übs. nach Vogt (s. Anm. 72); hier auch zum „Fahrzeug“ (228–230) und zur Rezeption von Jes 63 (230 f). 98 Orig., hom. 2 in Ps. 15 (GCS.NF 19, 105–107). Ein Teil der Passage war schon vorher bekannt (abgedruckt in: PG 12, 1215), nämlich aus Rufins Übersetzung von: Pamphil., apol. 143 (SC 464, 228–231 = FC 80, 360–363). Vgl. zu den Homilien M. M. Mitchell, ‚Problems and Solutions‘ in Early Christian Biblical Interpretation. A Telling Case from Origen’s Newly Discovered Greek Homilies on the Psalms (Codex Monacensis Graecus 314), Adamantius 22 (2016) 40–55.
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Der Erlöser im Tarnanzug
„Angesichts des neuen Ereignisses sind die himmlischen Mächte verwirrt, weil sie Fleisch, das in den Himmel hinaufsteigt, schauen.“99
Der Prätext ist Ps 15,9 LXX („mein Fleisch wird in Hoffnung wohnen“), den Origenes auf den auffahrenden Fleischkörper Jesu deutet.100 Der Dialog folgt zunächst Jes 63,1–3, mit zweimaligem Fragen der Engel und zweimaliger Antwort von Jesus selber. Die Engel sind perplex angesichts des irdischen Leibs Jesu mit den Wundmalen der Passion.101 Nach einem kurzen Rückbezug auf den Haupttext spielt der Ausleger die Wechselrede von Ps 23,7–10 LXX ein, wiederum als zweifachen Dialog zwischen den Jesus vorangehenden Engelmächten (αἱ δυνάμεις […] αἱ μὲν καθιστᾶσαι καὶ προπέμπουσαι αὐτόν) und den anderen (d. h. denen an den Toren).102 Der Kommentator legt den erstgenannten bei der zweiten Aufforderung auch noch die Worte in den Mund: „Grösser ist er, eure Tore können den Christus nicht fassen.“ Der Kirchenlehrer bezieht sich auch sonst vielfach auf die „Torliturgie“,103 etwa im Johanneskommentar.104 Das Muster bleibt identisch: Wechselrede beim triumphalen Aufstieg Christi, Befremden der Himmelsmächte ob dem Passionsleib (Jes 63,1–3). Bei den auf die Fragen antwortenden Sprechern (Ps 24,8b.10b) handelt es sich jeweils um Engel, die den auffahrenden Jesus begleiten; gelegentlich bleiben sie aber auch unbestimmt.
99 Orig., hom. 2 in Ps. 15 (GCS.NF 19, 105:19–21: ξενίζονται γοῦν αἱ δυνάμεις ἐπὶ τῇ καινῇ ἱστορίᾳ ὅτι βλέπουσι σάρκα ἀναβεβηκυίαν εἰς οὐρανόν καὶ λέγουσι [κτλ.]). Das Moment des Neuen (vgl. IgnEph 19,2: das Neue des Sterns) wird in der Rezeptionsgeschichte von Ps 24 gern betont, z. B. Hesych., pasch. 1,5 (SC 187, 66 f: θέαμα καινόν); Ps.-Chrys., pasch. 6,61 (SC 27, 189 f): Die Himmelsmächte „sehen das neue Wunderzeichen, den Menschen vermischt mit Gott (ὁρῶσαι τὸ καινὸν θαῦμα, ἄνθρωπον συγκεκραμένον θεῷ). 100 Vgl. zu Ps 16,10 im Kontext des Sterbens Jesu unten Anm. 202. 101 Origenes versteht in Jes 63,1 Edom als „rote Erde“ und leitet „Bosor“ ab von hebr. basar, „Fleisch“. 102 Zu den angelischen Begleitern Christi, die vorangehend zum Öffnen der Tore auffordern, vgl. auch: comm. 6,288 in Joh. (GCS 10, 165 = SC 157, 348–351: οἱ δὲ προπέμποντες αὐτόν); pasch. (unten Anm. 105). Jesus selber antwortet mit Jes 63,3b: comm. 16,19 in Mt. Eine klare Rollenverteilung kennt, wie Iren., dem. 84 (dazu oben bei Anm. 92), auch Hippolyt, frg. 20 in Ps. 23,7 (GCS 1.2, 47 = Theodoret, eran. flor. 2,16 [157 Ettlinger]): Die Jesus begleitenden und vorangehenden Engel kommunizieren mit anderen himmlischen Mächten; ähnlich differenziert Ambros., fid. 4,1:9–14 (CSEL 78, 161); myst. 7,36 (FC 3, 230–233); Ps.-Chrys., pasch. 6,61 (SC 27, 188 f). Vgl. weiterhin H. Buchinger, Pascha bei Origenes (IThS 64), Innsbruck 2005, 776 Anm. 2110, sowie unten zum lateinischen Physiologus (Anm. 179). 103 Von den ca. 20 Referenzen, die die Biblia Patristica 3 (1980) 158, für Ps 24,7–10 bei Origenes bietet, sind die meisten für uns redundant. Die Sprechenden sind jeweils Engel (z. B. Orig., exc. Ps. [PG 17, 112] aus Katenen; hom. 3,2 in Is. [GCS 33, 256]). Die Engelfragen mit dem Zitat von Jes 63,2 ebenso bei Märtyrern: hom. 7,2 in Jdc. (GCS 30, 508; vgl. C. Blanc, SC 157, 349 Anm. 4). 104 Orig., comm. 6,288 in Joh. (GCS 10, 165 = SC 157, 348–351). Origenes unterstreicht die triumphale Auffahrt des Auferstandenen (πορεύεται νικηφόρος καὶ τροπαιοφόρος).
6. Eine Szene vor den Himmelstoren – Zur Rezeptionsgeschichte von Ps 24
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Einen besonderen Akzent legt Origenes in seiner Abhandlung über das Passa, die wir einem Papyrusfund verdanken:105 Hier ermöglicht die Auffahrt Christi im Gefolge seiner Höllenfahrt den Aufstieg der Geister von 1 Petr 3,19.106 Die später markant hervortretende Korrelation von Ps 24 und triumphaler Höllenfahrt, etwa im Nikodemusevangelium,107 wird hier vorbereitet.
Zum Abschluss dieses Abschnitts über die antik-christliche Rezeption von Ps 24 werfen wir einen Blick auf eine Predigt Gregors von Nyssa, die wahrscheinlich zum neuen Fest von Christi Himmelfahrt gehalten wurde.108 Sie dokumentiert deutlich Impulse, die von Origenes ausgehen. Hier findet sich die explizite Korrelation der Engelwerdung Christi (bei seinem Descensus) mit der angelischen Wechselrede (Ps 24,7–10). Die letztgenannte geschieht sowohl beim Abstieg wie beim Aufstieg; bei jenem erkennen die Engel Christus nicht aufgrund seiner Engelgestalt, bei diesem nicht infolge seiner Menschennatur. Die Homilie besteht in einer Auslegung von Ps 23 und 24. Der „Prophet David“ erhebt sich in die Höhe, gesellt sich den himmlischen Mächten zu und schildert uns deren Worte. Die doppelte Torszene von Ps 24 wird, m.W. nur hier bei Gregor, auf Descensus (V. 8 f) und Ascensio (V. 10 f) verteilt.109 Beim Abstieg fordern die dem Erlöser vorangehenden Engel diejenigen, die die Tore zur Erde und Menschenwelt verwalten, zur Öffnung auf. „Er, der das All umfängt, passt sich jeweils, wohin er gelangt, den Empfängern an – denn er ist nicht nur unter Menschen Mensch geworden, sondern folgerichtig gewiss auch unter Engeln (so) geworden, indem er sich zu ihrer Natur herabgelassen hat. Deshalb fragen die Torwächter den Herold: ‚Wer ist dieser König der Herrlichkeit?‘“110 Der Absteigende wird 105 Orig., pasch. 2,28–30; siehe B. Witte, Die Schrift des Origenes über das Passa. Textausgabe und Kommentar (Arbeiten zum spätantiken und koptischen Ägypten 4), Altenberge 1993, 146,9–17. 106 Vgl. Buchinger, Pascha (s. Anm. 102) 778 („relativ ungewohnt war zur Zeit des Origenes wohl auch die Verbindung von Ps 23 [24] 7–10 mit der in Anlehnung an 1 Petr 3,19; 4,6 formulierten Hadespredigt Christi“). Dass der „Wiederaufstieg der gefallenen Geistwesen […] wohl in zwei Etappen vor sich gehen“ soll (so Witte, Schrift [s. Anm. 105] 204), kann ich nicht erkennen; die „zweimalige Aufforderung zum Öffnen der Himmelstore von Ps LXX 23,8.10, die er anschliessend zitiert“, gibt das nicht her. 107 EvNik 21; ähnlich QuaestBarth 11–15 (in: AcA 1.1, 259; 714 f). Vgl. dazu Brucker, König (s. Anm. 85) 420–423 und unten bei Anm. 118. 108 Greg. Nyss., ascens. Chr. (GNO 9, 323–327). Vgl. die Skizze von E. Moutsoulas, Ascens, in: L. F. Mateo-Seco / G. Maspero (Hg.), The Brill Dictionary of Gregory of Nyssa (SVigChr 99), Leiden 2010, 86 f. „Gregory’s homily on the Ascension […] is the first witness to this feast as an autonomous feast celebrated fifty days after Easter“, L. F. Mateo-Seco, Liturgy, aaO. 452. Der Sermon wird berücksichtigt auch bei Kähler, Studien (s. Anm. 85) 61 f; Barbel, Christos (s. Anm. 22) 307 f; Brucker, König (s. Anm. 85) 423 f. 109 Zur Verdoppelung der Wechselrede notiert Euseb, es gebe auch solche, die die zweite Frage und Antwort nicht den nächst höheren oberen Mächten in den Mund legen, sondern nochmals denselben (comm. in Ps. 23 [PG 23, 221 D]). Interessant ist eine Auslegung, die die doppelte Toröffnung verteilt auf Höllenfahrt (dazu s. bei Anm. 107 und 118) und Himmelfahrt (Aug., serm. 377,1 [PL 39, 1672; engl. Übs. ACCSOT 7, 190 f]). 110 326:2–6 (καὶ ἐπειδὴ εἰς ὃ ἂν γένηται ὁ τὸ πᾶν ἐν ἑαυτῷ περιέχων σύμμετρον ἑαυτὸν τῷ δεχομένῳ ποιεῖ – οὐ γὰρ μόνον ἐν ἀνθρώποις ἄνθρωπος γίνεται, ἀλλὰ κατὰ τὸ ἀκόλουθον πάντως καὶ ἐν ἀγγέλοις γινόμενος πρὸς τὴν ἐκείνων φύσιν ἑαυτὸν συγκατάγει). Man kann sich
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identifiziert als Befreier der Menschen und Vernichter des Todes.111 Die zweite Runde von Aufforderung, Frage und Antwort erfolgt beim Aufstieg, nach dem „erfüllten Todesgeheimnis“ und dem Auferstehungssieg über die Feinde. Jetzt ist das Nichterkennen durch die Himmelswesen nicht dem Engelleib geschuldet wie beim Abstieg, sondern dem menschlichen Leib (schmutziges Kleid) bzw. Passionsleib (Blutröte: Jes 63,2).112 Wir notieren an dieser Stelle noch drei für unseren Vergleich mit dem Physiologus interessante Passagen; auf zwei von ihnen hat Joseph Barbel aufmerksam gemacht. Alle drei Texte gehören in das späte vierte Jahrhundert (Nr. 3) bzw. in das fünfte Jahrhundert (Nr. 1; 2) – Indizien, die wiederum eine Frühdatierung unseres „Naturforschers“ nicht begünstigen. 1. In der Psalmenauslegung von Theodoret wird das Nichtwissen der Himmelsmächte thematisiert (unter Einspielen von Eph 3,10). Bei der Himmelfahrt Christi „sehen sie nur die menschliche Natur, schauen aber nicht die in ihr verborgene Gottheit (τὴν ἐν αὐτῇ κεκρυμμένην […] θεότητα)“.113 Wir kommen auf diese Figur zurück. 2. In einer Himmelfahrtspredigt unter dem Namen von Johannes Chrysostomos ist es der heilige Geist, der sowohl zur Toröffnung auffordert wie den fragenden Engeln die beiden Antworten von Ps 24 erteilt (V. 8b „der Herr, stark und mächtig“; V. 10b „der Herr der Heerscharen“).114 Dem heiligen Geist als Herold sind wir bei Justin und eben beim Physiologus begegnet. 3. Gregor von Nazianz unterstreicht anlässlich des Osterfests den Stellenwert des Passionsleibs Christi in seiner Auffahrt durch die zu öffnenden Himmelstore.115 Genau hier liegt der Unterschied zum Descensus. Der Prediger ruft seine Zuhörer auf, mit in den Himmel zu steigen, sich unter die eskortierenden oder empfangenden Engel zu mischen; „antworte denen, die perplex sind wegen dem Körper und wegen der Leidenszeichen, die er jetzt anders als bei seinem Abstieg mit sich hinaufführt (ἀπόκριναι τοῖς ἀποροῦσι διὰ τὸ σῶμα, καὶ τὰ τοῦ πάθους σύμβολα, οἷς μὴ κατελθὼν συνανέρχεται)“, und deshalb mit den Psalmworten fragen. Anders als beim Aufstieg kennen demnach die Engel Christus ganz selbstverständlich bei seinem Abstieg; dies ist anders als im Physiologus und in den fragen, ob die origeneische Figur auch schon im Hintergrund des Predigtanfangs steht: Vom „Propheten David“ als „süssem Reisegefährten des menschlichen Lebens“ heisst es, „er wird allen alles“ (324:11 f): Origenes hat ja 1 Kor 9,22 auf Christi Engelgleichwerdung hin extrapoliert (vgl. oben bei Anm. 67). – Zur Alldurchdringung Gottes vgl. or. cat. 25,1 (GNO 3.4, 63 f); 32,6 (79). 111 Ps 24,8 wird auch noch in hom. 5 in Cant. 2,15 (GNO 6, 166) bezogen auf Engelmächte, die dem zur Inkarnation absteigenden (!) Herrn vorangehen. 112 Zu Jes 63,2 vgl. oben zu Origenes bei Anm. 98. 113 Theodoret, comm. in Ps. 23,7–10 (PG 80, 1033 A/B); vgl. Barbel, Christos (s. Anm. 22) 308 und unten bei Anm. 154. Zur Rezeption von Eph 3,10 vgl. besonders Joh. Chrys., incompr. 4, 133–158 (SC 228, 240 f; hier mit der Unterscheidung der positiven himmlischen Mächte von den „Mächten dieser Welt“ [Eph 6,12]): Leitthema ist die Unerkennbarkeit Gottes schlechthin (also nicht nur der Gottheit Christi) für Engel (3,53–193) und Menschen. Zu Eph 3,10 bei Origenes s. Anm. 163. 114 Ps.-Chrys., ascens. 4 (PG 52, 802: τὸ πνεῦμα τὸ ἅγιον ταῖς ἄνω δυνάμεσι τῇ προστακτικῇ φωνῇ ἀνεκήρυττεν· ἄρατε πύλας, οἱ ἄρχοντες, ὑμῶν, καὶ ἐπάρθητε, πύλαι αἰώνιοι, καὶ εἰσελεύσεται ὁ βασιλεὺς τῆς δόξης. αἱ δὲ δυνάμεις ἔλεγον· τίς ἐστιν οὗτος ὁ βασιλεὺς τῆς δόξης; εἶτα τὸ πνεῦμα· κύριος κραταιὸς [κτλ.]); vgl. dazu Barbel, Christos 1964 (s. Anm. 22) 309 Anm. 513. 115 Greg. Naz., or. 45,25 (PG 36, 657 B/C). Zu Gregors Aussagen zur Gottheit Christi vgl. unten bei Anm. 151–153.
7. Die im Fleisch verhüllte Gottheit
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‚dissidenten‘ Überlieferungen, wo sich der Erlöser verbirgt vor den Engeln. Zu beachten ist sodann, dass sich Gregor zufolge in der Himmelfahrt die ἀνθρωπότης Christi und seine θεότης in besonderer Weise verbinden. Wir kommen unten auf diese Sprachregelung zurück.
Wir ziehen eine Zwischenbilanz. In der Alten Kirche bildet sich früh eine stabile Auslegungstradition von Ps 24,7–10 heraus, deren Sitz im Leben hauptsächlich das Osterfest bildet. Die „Torliturgie“ haftet an Christi Himmelfahrt.116 Die Engelmächte erkennen den Gottessohn nicht, weil er einen niedrigen menschlichen (und gemarterten) Leib trägt; dieser verhüllt seine Identität.117 Wiederum ist es das Werk des Origenes, in dem sich die Überlieferungen verdichten. Im Ganzen fällt auf, dass die Torszene kaum je beim Abstieg durch die Himmelssphären begegnet. Die m.W. einzige Ausnahme, eine Himmelfahrtshomilie Gregors von Nyssa, bestätigt die Regel: Der Prediger ergänzt die – konventionelle – Toröffnung bei der Ascensio um eine entsprechende beim Descensus, angeregt von der doppelten Wechselrede in Ps 24,7 f.9 f, also aus exegetischen Gründen. Was sich aber spätestens im 3./4. Jahrhundert als Variante etabliert, ist die Platzierung der Torszene unmittelbar nach Christi Tod in seiner triumphalen Höllenfahrt – einer Himmelfahrt mit umgekehrtem Vorzeichen.118
7. Die im Fleisch verhüllte Gottheit Das Leitmotiv für die erste Löwenallegorie im Physiologus ist das „Verhüllen der Gottheit“ Christi (ἐκάλυψε […] τὴν θεότητα). Diese verbirgt sich in Engelleibern und dann namentlich im „Fleisch“. Mit dem programmatischen Einsatz dieser spezifischen Begrifflichkeit artikuliert unsere Schrift einen altkirchlichen Typ von Christologie, der der göttlichen Natur Christi, seiner θεότης, seine menschliche oder sarkische Natur gegenüberstellt, seine ἀνθρωπότης oder seine σάρξ. Das emphatische Reden von Christi θεότης, das sich nicht nur zweimal im Löwenkapitel, sondern auch im übrigen Textbestand findet (vgl. 3; 19), schliesst m. E. eine Frühdatierung des Physiologus im zweiten Jahrhundert von vornherein 116 Eine Nebenlinie ist die psychologische Interpretation: Der „König der Herrlichkeit“ zieht durch das Tor der Seele ein, z. B. Greg. Nyss., hom. 11 in Cant. (GNO 6, 333). 117 Vgl. besonders die oben Anm. 98 angeführte Passage aus Origenes’ Psalmenhomilie. Es ist der sarkische Auferstehungskörper, der den Ascensus vom Descensus unterscheidet – wie es Hieronymus ausdrückt: der Herr maior regreditur ad caelos, quam ad terras venerat (serm. pasch. 2 [CCSL 78, 548]). Später spricht Asterios, hom. 15,16 in Ps. (115 Richard; dt. Übs. BGrL 56, 288 f), vom „herrlichen Leib“ als „leuchtendem Lehm“ (πηλὸς λάμπων [aus Hi 10,9?]). 118 Formuliert in Umkehrung des bekannten Diktums von J. Kroll, Gott und Hölle. Der Mythos vom Descensuskampf (SBW 20), Leipzig 1932 (= Darmstadt 1963), 59: „der Ascensus durch die versperrten Sphären ist ein Descensus mit umgekehrtem Vorzeichen.“ Zu Ps 24 vgl. 46 f; 105; 348 und oben Anm. 107 zum Nikodemusevangelium. Der Physiologus kennt zwar die Höllenfahrt (25), verbindet sie aber nicht mit Ps 24.
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aus.119 Zwar gibt es schon überaus frühe Zeugnisse für die Göttlichkeit Christi, die in das erste Jahrhundert und in das Neue Testament zurückführen (vgl. Joh 1,1.18; 20,28; Hebr 1,8 f; Tit 2,13; 2 Petr 1,1; 2 Clem 1,1). In unserer Studie geht es aber um ein spezifisch theologisches Vokabular, in dem sich die Überzeugung vom Gottsein Christi als Gottessohn und Logos herauskristallisiert, nämlich um die christologische Prädikation mit dem Abstractum θεότης. An diesem Punkt zeigt sich, dass der Physiologus theologische Entwicklungen des späten dritten und vor allem des vierten Jahrhunderts voraussetzt. Die Grundlagen dafür entstehen erst mit der Theologie des Origenes; in den trinitarischen Debatten des vierten Jahrhunderts verdichtet sich das Reden vom „Verborgensein“ der θεότης Christi „im Fleisch“ oder „im Menschen“, das auch für den Physiologus charakteristisch ist. Eine besondere Zuspitzung erfährt diese Figur dort, wo sie sich verbindet mit dem Motiv des getäuschten Teufels, der sich an der im Menschen verborgenen Gottheit vergreift. Allerdings wird im Physiologus, wenigstens auf der Textoberfläche, keine Verbindung vorgenommen zwischen der Verhüllung der Gottheit vor den Engeln (1; 22) und derjenigen vor dem Teufel (26). Im Folgenden mustern wir die Semantik der „Gottheit“ Christi und speziell ihrer „Verhüllung“ anhand einiger exemplarischer Text durch. Dabei ist zu beachten, dass es sich beim Verständnis der Inkarnation als Verhüllung (bzw., komplementär dazu, als Manifestation) Gottes um ein schon sehr frühes christliches Theologumenon handelt,120 das während des vierten Jahrhunderts im Kontext der Auseinandersetzungen um den Status der Gottheit Christi aufdatiert wird. Die Spuren führen zurück bis zu Aussagen wie Joh 1,14, Phil 2,6–8 und vielleicht 1 Tim 3,16, die dann ihrerseits als überaus produktive Impulsgeber gewirkt haben. Am Ursprung des gesamten Komplexes, mit dem wir es in dieser Studie zu tun haben, steht das religionsgeschichtliche Modell der verborgenen Epiphanie: Göttliche Wesen verbergen oder offenbaren sich in menschlicher Gestalt. Für die theologiegeschichtliche Verortung des Physiologus ist aber nicht diese für die 119 Der Terminus θεότης ist in der für uns noch erkennbaren Erstversion des Physiologus, der sogenannten ersten Redaktion, an allen einschlägigen Stellen textkritisch stabil; er findet sich alternativlos schon in den entsprechenden fünf Handschriftengruppen. Für Christi θεότης vgl. neben 1 (Löwe) auch 3 (vom Regenpfeifer – der vom Himmel her kommende Christus wendet seine Gottheit ab von den Juden); 19 (vom Geier – der Herrenleib hat in sich den Klang der Gottheit [κυρίου τὸ σῶμα ἔνδον εἶχεν ἠχοῦσαν τὴν θεότητα]; dazu unten vor Anm. 211). Inhaltlich lässt sich den genannten Belegen zur Seite stellen 26 (vom Ichneumon: Christus als θεός, wo handschriftlich auch θεότης eingelesen wird; s. oben Anm. 33). Eine wesentlich spätere Schicht bildet 44b (von den Perlen: Gegenüber von σὰρξ τῆς ἀνθρωπότητος und θεότης ἀπαθής). Schliesslich ist von den späteren Redaktionen aufzulisten 6 (183 Sbordone, vom Geier, 2. Red.) und 11 (277 Sbordone, von der Natter, 3. Red.: Jesus auf Erden ἔκρυψε […] τὴν θεότητα αὑτοῦ, in der Unterwelt ἐφανέρωσεν αὑτοῦ τὴν θεότητα). 120 Vgl. Barn 5,10 f (der Herr kam ins Fleisch, weil die Menschen seine unverhüllte Herrlichkeit nicht hätten schauen können; vgl. 5,6). Viele Parallelen dazu führt auf: H. Windisch, Der Barnabasbrief (HNT 19), Tübingen 1920, 330 f. An eine „alexandrinische Tradition“ denkt F. R. Prostmeier, Der Barnabasbrief (KAV 8), Göttingen 1999, 248, im Anschluss an J. P. Martín.
7. Die im Fleisch verhüllte Gottheit
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Antike schlechthin charakteristische Figur als solche ausschlaggebend, sondern deren ganz spezifisches Format. 1. Unser Augenmerk gilt also zunächst der Terminologie. Soweit ich sehe, wird in der christlichen Literatur vor (und neben) Origenes θεότης kaum spezifisch auf Christus bezogen. Der christologisch verwendete Terminus – und um diesen handelt es sich hier, nicht um die generische Referenz auf Gott (wie z. B. Kol 2,9; Hermas 40,4–6 usw.) – begegnet gehäuft erst beim alexandrinischen Theologen, hier gern kontrastiert mit Christi ἀνθρωπότης.121 a. Diesem für die frühere Zeit negativen Befund stehen allerdings einige Texte entgegen, bei denen zu prüfen ist, ob sie nicht doch schon in das zweite oder frühe dritte Jahrhundert gehören. Am gewichtigsten sind die Reste des Œuvre, das Meliton von Sardes zugeschrieben wird. Ein Fragment spricht von Christi „verborgener Gottheit im Fleisch“ (frg. 6,22 f):122 Taten und Zeichen Christi offenbaren τὴν αὐτοῦ κεκρυμμένην ἐν σαρκὶ θεότητα; in den dreissig Jahren vor seiner Taufe „verbarg er aber die Zeichen seiner Gottheit (ἀπέκρυβε τὰ σημεῖα τῆς αὐτοῦ θεότητος)“. Das Stück gehört aber mit grösster Wahrscheinlichkeit in eine deutlich spätere Zeit, wohl in das vierte oder sogar in das fünfte Jahrhundert.123 Auch andere Werkzuschreibungen an Meliton unterliegen schweren Bedenken.124 Immerhin gibt es Aussagen in Melitons Passa-Homilie, an die die „Fortschreibung“ seiner Theologie in den spuria andocken konnte. Der Prediger spricht nämlich davon, dass Christus „auferstanden ist von den Toten als Gott, der Natur nach Gott und Mensch seiend (φύσει θεὸς ὢν καὶ ἄνθρωπος)“; er ist „alles“, „gemäss seinem Begrabensein Mensch, gemäss seinem Auferstehen Gott“.125 Offenkundig ist (der echte) Meliton Repräsentant einer monarchianischen, nicht eigentlich trinitarischen Theologie.126 Für 121 Es handelt sich bei Origenes um Dutzende von Belegen für das christologische Lemma θεότης; vgl. die Auswahl in: PGL 637 f; z. B. Orig., comm. 1,107 in Joh. (GCS 10, 22 f). – Weitgehend derselbe Befund liegt vor beim christologischen Lemma θειότης (also wiederum abgesehen von der generischen Verwendung [wie Röm 1,20]): Vor Origenes taucht es nur vereinzelt auf, zweimal bei Clemens (paed. 1,23:2; strom. 6,94:5); vgl. PGL 620b. 122 Meliton, frg. 6 (Hall [OECT] 70 = Goodspeed 310), überliefert bei Anastas. Sin., hod. 13,7 (CCSG 8, 237 f). Hiernach handelt sich um das Werk De incarnatione, verfasst vom πάνσοφος und θεόσοφος Μελίτων. Das Fragment spricht explizit von den beiden οὐσίαι, der θεότης und der ἀνθρωπότης Christi. Vgl. M. R. von Ostheim, Ousia und Substantia. Untersuchungen zum Substanzbegriff bei den vornizänischen Kirchenvätern (Zürcher Arbeiten zur Philosophie 1), Basel 2008, 45 f. 123 Vgl. S. G. Hall, The Christology of Melito. A Misrepresentation Exposed, StPatr 13 (= TU 116) (1975) 154–168; ders. (Hg.), Melito of Sardis. On Pascha and Fragments (OECT), Oxford 1979, xxx f; Ch. Uhrig, „Und das Wort ist Fleisch geworden“. Zur Rezeption von Joh 1,14a und zur Theologie der Fleischwerdung in der griechischen vornizänischen Patristik (MBT 63), Münster 2004, 103–110; ferner A. Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 1: Von der apostolischen Zeit bis zum Konzil von Chalcedon (451), Freiburg 1990/2004, 211 („In Wirklichkeit jedoch entstammt der Text der Zeit der diphysitischen Kontroverse“). 124 Vgl. zu frg. 14 (81 Hall: „Einfachheit seiner Göttlichkeit“), wo vielleicht θε(ι)ότητος zu lesen war, Markschies, Körper (s. Anm. 65) 256 f; 620 Anm. 46. 125 Meliton, pass. 8 f (6 Hall = SC 123, 64 f). 126 Von einer „Pneuma-Sarx-Christologie“ spricht Grillmeier, Jesus, Bd. 1 (s. Anm. 123) 211 Anm. 205. Zur möglichen Abhängigkeit Melitons von Noët von Smyrna, einem monarchianischen Theologen, vgl. R. M. Hübner, Melito von Sardes und Noët von Smyrna, in: ders., Der
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unsere Fragestellung ist ausschlaggebend, dass das entscheidende technische Stichwort, Christi θεότης, bei ihm noch nicht auftaucht. Auch abgesehen von den melitonischen spuria sind einige Belege für die christologische θεότης in der vororigeneischen Literatur zu verzeichnen, die den skizzierten Gesamtbefund aber nicht substantiell tangieren.127 b. Valentin, frg. 3:128 Der Lehrer stellt Jesus Christus als vollendeten Enkratiten dar, der „seine Gottheit verwirklichte (θεότητα Ἰησοῦς εἰργάζετο)“. Die „Kraft seiner Enthaltung“ besteht darin, dass er isst, ohne auszuscheiden. Die Formulierung und die Vorstellung selber sind so eigenartig, dass sie eher zeigen, wie sich die Theologie in ein neues Terrain vortastet, als dass sie schon verfestigte christologische Begriffsbildungen bezeugen. Ein Stück weit lässt sich mit Valentins Ausdruck das Argument des Christengegners Celsus vergleichen:129 Wenn Jesus „aber so gross war, hätte er zum Erweis seiner Gottheit (εἰς ἐπίδειξιν θεότητος) von dem Pfahl (d. h. dem Kreuz, S. V.) mindestens sogleich entschwinden müssen“. c. Martyrium Andreae prius in den Andreasakten:130 In seinem kurzen Gebet an Christus unmittelbar vor seinem Märtyrertod wünscht sich Andreas, dass durch seinen als glücklicher Wechsel verstandenen Tod „viele durch mich zum Glauben an dich kommen, und dass ich ein wahrhaftiger Zeuge deiner Gottheit (ἀληθὴς μάρτυς τῆς σῆς θεότητος) werde“. Diese Version des Martyriums scheint erst im achten Jahrhundert entstanden zu sein,131 während der Grundbestand von ActAndr bis in das frühe dritte Jahrhundert zurückreicht. d. In einer apokryphen Johannesapokalypse zeigt Jesus Christus nach seiner Himmelfahrt dem Johannes auf dem Tabor „seine reine Gottheit (τὴν ἄχραντον αὐτοῦ θεότητα
paradox Eine. Antignostischer Monarchianismus im zweiten Jahrhundert (SVigChr 50), Leiden 1999, 1–37. 127 In eine deutlich spätere Zeit gehören ausserdem Ps.-Clem., epit. metaphr. 6 (Jesus, θεότητος γέμων, lehrt und wirkt Wunder); Ps.-Ign., rec. long. ep. 9 (= Antioch.),5:1 (ein Teufelssohn ist, wer Gott verkündigt unter Tilgung τῆς τοῦ Χριστοῦ θεότητος); Mart. Ign. Rom. 9,9 (der Märtyrer als „Teilhaber an den Leiden Christi und als wahrer und treuer Zeuge seiner Gottheit“). 128 Valentin, frg. 3 (= Clem., strom. 3,59:3). Vgl. dazu Ch. Markschies, Valentinus Gnosticus? Untersuchungen zur valentinianischen Gnosis mit einem Kommentar zu den Fragmenten Valentins (WUNT 65), Tübingen 1992, 94–98 (mit der Diskussion von Übersetzungsoptionen); ders., Körper (s. Anm. 65) 387; 735 Anm. 64. 129 Celsus, frg. 2,68 (bei Orig., Cels. 2,68); vgl. H. E. Lona, Die „Wahre Lehre“ des Kelsos (KfA.E 1), Freiburg 2005, 164 f. 130 ActAndr (A): MartAndr 16 (CCSA 6, 701 = AAAp 2.1, 57). „The martyrdom of Andrew is a sublime trip, the passing away from material to spiritual reality“, F. Bovon, Jesus’ Missionary Speech as Interpreted in the Patristic Commentaries, in: ders., Studies in Early Christianity (WUNT 161), Tübingen 2003, 196–208, hier: 207. 131 Vgl. D. R. MacDonald (Hg.), The Acts of Andrew and the Acts of Andrew and Matthias in the City of the Cannibals (SBLTT 33), Atlanta 1990, 23; 184 f. Das Martyrium prius wird deshalb auch gar nicht abgedruckt in: NTApo 62, 93–137 (teilweise anders noch NTApo1 459–473, aber gerade nicht für die Sterbeszene, 473). Zur Datierung von ActAndr vgl. J. N. Bremmer, Man, Magic, and Martyrdom in the Acts of Andrew, in: ders. (Hg.), The Apocryphal Acts of Andrew (Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 5), Louvain 2000, 15–34, hier: 20 („close to 200“); H.-L. Klauck, Apokryphe Apostelakten. Eine Einführung, Stuttgart 2005, 127 („die Jahre 200–210“).
7. Die im Fleisch verhüllte Gottheit
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ὑπέδειξεν ἡμῖν)“.132 Die Schrift mag altes Gut enthalten, stammt in ihrer vorliegenden Form aber frühestens aus dem fünften Jahrhundert. e. In der Apokalypse des Sedrach, die möglicherweise einen jüdischen Grundbestand enthält, wird die Bussfrage erörtert (12–16), mit klar erkennbarem christlichem Profil (14/15). Gott lässt Sedrach wissen, dass die getauften Bussunwilligen „tun, was meine Gottheit hasst (ἃ μισεῖ μου ἡ θεότης)“; Rechtfertigung gibt es nicht für Sünder. Sedrach beruft sich in der Folge auf Gottes Erbarmen, „deine Gottheit (ἡ σὴ θεότης) sagte doch: ‚Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder zur Busse‘“.133 Obschon sich der Dialog zwischen Sedrach und Gott selber abspielt, stellen die Referenz auf das Herrenwort (Mk 2,17 parr.) und vielleicht auch die Possessivpronomina eine Beziehung zu Jesu eigener Gottheit her. Die in nur einer Handschrift überlieferte Apokalypse trägt in ihrer vorfindlichen byzantinischen Gestalt für unsere Fragestellung nichts aus. f. Thomasakten: In einem doxologischen Christusgebet des Thomas heisst es:134 „Preis sei deiner Stärke, die um unsertwillen schwach wurde; Preis sei deiner Gottheit, die um unsertwillen in einem Menschenbilde erschien; Preis sei deiner Menschheit, die um unsertwillen starb, um uns lebendig zu machen (δόξα τῇ θεότητί σου ἣ δι’ ἡμᾶς εἰς ἀπεικασίαν ἀνθρώπων ὤφθη· δόξα τῇ ἀνθρωπότητί σου, ἥτις δι’ ἡμᾶς ἀπέθανεν, ἵνα ἡμᾶς ζωοποιήσῃ).“ Die Passage aus den Akten, die aus der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts stammen, bedürfte einer genaueren Prüfung, unter Einbezug der Übersetzungen, da es sich m.W. um den einzigen (und eher verdächtigen) Beleg in der frühchristlichen Literatur vor oder neben Origenes handelt, wo Christi Gottheit und Menschheit einander prägnant gegenübergestellt werden.135 g. Schliesslich stellen die Hippolyt zugeschriebenen Texte vor besondere Herausforderungen. Das Lemma θεότης findet sich in mindestens acht „Nestern“, darunter prominent in der Schrift Contra Beronem et Heliconem haereticos.136 Eine grobe Durchmusterung legt den Schluss nahe, dass diese Literatur ausnahmslos nicht vor dem fünften Jahrhundert entstanden ist, möglicherweise noch erheblich später. 132 1 ApkPsJoh
1 (70 Tischendorf; knappe Charakterisierung bei W. Schneemelcher, NTApo 62, 626). Eine Spätdatierung legt sich auch wegen 13 nahe: Die Engel retten in der Endzeit Kreuze und Bilder (!); die Engel beten dann das Kreuz an. 133 ApkSedr 14,8; 15,2 (PVTG 4, 45; engl. Übs. OTP 1, 613). 134 ActThom 80 (AAAp 2.2, 196), übs. H. J. W. Drijvers, NTApo 62, 335. Zur Datierung von ActThom vgl. J. N. Bremmer, The Acts of Thomas. Place, Date and Women, in: ders. (Hg.), The Apocryphal Acts of Thomas (Studies on the Apocryphal Acts of the Apostles 6), Louvain 2001, 74–90, hier: 74–78 („220s or 230s“, 77). 135 Zu diesem Gebetstext vgl. Klauck, Apostelakten (s. Anm. 131) 173 f und G. Rouwhorst, Hymns and Prayers in the Apocryphal Acts of Thomas, in: C. Leonhard / H. Löhr (Hg.), Literature or Liturgy? Early Christian Hymns and Prayers in Their Literary and Liturgical Context in Antiquity (WUNT II/363), Tübingen 2014, 195–212, hier: 208 f. 136 Zu Ps.-Hippolyt, Ber. Hel. vgl. die Ausgabe: F. Diekamp (Hg.), Doctrina patrum de incarnatione verbi. Ein griechisches Florilegium aus der Wende des 7. und 8. Jahrhunderts, Münster 21981, 321–326; das Florilegium selber stammt aus dem späten siebten Jahrhundert (LXXIXf). Zur Charakteristik des Werkfragments vgl. J. A. Möhler, Patrologie, oder christliche Literärgeschichte, Regensburg 1840, 594 f („der ganze Aufsatz trägt die Lehre von der Doppelheit der Naturen und den entsprechenden Operationen in der Einen Person des Erlösers, in so abgerundeten Formeln vor, wie sie nur immer gegen die Monergeten diese bestimmte Fassung annehmen konnte“; trotzdem hält der Verfasser die Schrift nicht „für unterschoben“!). Zu anderen Hippolyt-spuria vgl. unten bei Anm. 159 und 208.
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h. Interessant ist schliesslich der Befund in der lateinischen christlichen Literatur. Der Neologismus deitas, den auch der lateinische Physiologus verwendet, findet sich erst im vierten Jahrhundert. Divinitas wird hingegen schon um die Wende zum dritten Jahrhundert auf Christus appliziert. Offenbar empfindet man θεότης/deitas („Gottheit“) als enger und präziser als divinitas („Göttlichkeit“; es kann auch für θειότης u. a. stehen),137 wie eine Bemerkung von Augustin zu erkennen gibt (civ. 7,1: hanc divinitatem vel, ut sic dixerim, deitatem, nam et hoc verbo uti iam nostros non piget, ut de Graeco expressius transferant id quod illi ϑεότητα appellant [CCSL 47, 185]). Für Tertullian ist die divinitas Christi das Gegenstück zu den heidnischen Ansprüchen auf divinitas.138 Bei Novatian hat Christi divinitas, im Kontrast zu seiner schwachen menschlichen Natur, eine geradezu programmatische Position.139 Auf nizänischen Bahnen bewegt sich Marius Victorinus, wo nun auch divinitas und deitas zusammengeführt werden.140 Schliesslich ist auf den eigenartigen Tatbestand aufmerksam zu machen, dass die Vulgata in Apk 5,12 den Lobpreis der Engel (λαβεῖν τὴν δύναμιν καὶ πλοῦτον) wiedergibt mit accipere virtutem et divinitatem.141
2. Im Gegenzug zu den vereinzelten Belegen für die Verwendung des christologischen Terminus θεότης vor Origenes ist auf zahlreiche Schriften ab dem vierten und fünften Jahrhundert hinzuweisen, die wie der Physiologus vom „Verborgensein“ oder „Verhülltsein der Gottheit“ im Inkarnierten sprechen. Die Hülle besteht entweder im „Fleisch“ oder in der menschlichen Natur Christi bzw. in seiner „Knechtsgestalt“ (Phil 2,7). Die Gegenüberstellung von „Gottheit“ und „Fleisch“ wird offenbar weithin als ganz unproblematisch empfunden, ungeachtet der christologischen Auseinandersetzungen rund um Apollinaris. Sie wird portiert von zentralen Aussagen der Bibel wie Joh 1,14, 1 Tim 3,16 („Gott [so eine Lesart] offenbart im Fleisch“ – komplementär zur Verhüllung im Fleisch) und Röm 8,3 (Sendung in der „Ähnlichkeitsgestalt des Fleisches“). Die Affirmation des göttlichen Status von Jesus Christus steht natürlich im Zusammenhang mit der Entwicklung des trinitarischen Dogmas im vierten Jahrhundert.
137 Die Vulgata hat divinitas sowohl in Röm 1,20 (θειότης) wie in Kol 2,9 (θεότης). – Zur Differenz zwischen divinitas und deitas vgl. G. Bardy (Hg.), Œuvres de S. Augustin (BAug), Bd. 34: La cité de Dieu, Bd. 2, Paris 1959, 575 f. 138 Vgl. Tertullian, apol. 5,2 und 21,30 f (CCSL 1, 94 f; 127 f: ista divinitas Christi); im Apologeticum häuft sich der generische Gebrauch von divinitas. Vgl. zur Übersetzung T. Georges, Tertullian, „Apologeticum“ (KfA 11), Freiburg 2011, 123 Anm. 57; 353 („Aus der Erkenntnis, dass Christi divinitas wahr ist, folgt eine Absage an die falsche divinitas“). Vgl. ferner scorp. 9,1 (CCSL 2, 1084: alia in Christo et divinitas); Prax. 30,5 (CCSL 2, 1204). 139 Novatian, trin. 11,4 (Christi Wundertaten erweisen potestates divinitatis); vgl. 11,1; 12,5 („überwältigt von der Wahrheit der divinitas Christi“) u.ö. (CCSL 4, 28 f; 31). 140 Vgl. M. Vict., comm. in Phil. 2,6 (CSEL 83.2, 188: potentia et […] deitas vel virtus) mit Ar. 1,24 (CSEL 83.1, 95: von der „zweifachen Zeugung“ führt die eine in divinitatem et in filietatem, occulta, divina). 141 Neben divinitatem hat die Vetus Latina auch divitias – entweder eine Rückanpassung an das Griechische oder aber eine ursprünglichere Version, die dann wegen der Ähnlichkeit der Wörter zur Entstehung des für die himmlische Liturgie passenderen divinitatem geführt hat.
7. Die im Fleisch verhüllte Gottheit
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a. Vorbereitet wird die Figur von Origenes selber:142 „Das Wort Gottes wirkt, was es für die Menschen plant, nicht durch die nackte Gottheit (οὐ γυμνῇ τῇ θεότητι ἐνεργεῖ), sondern es ‚nimmt Knechtsgestalt an‘ (Phil 2,7), so dass sein Weg der Verwirklichung des Heilsplans ein verhüllter (κεκαλυμμένη) ist.“ Als Beleg dient auch die Kombination von Abstieg und Dunkelheit in Ps 18,10 („er neigte den Himmel und stieg herab, und Dunkelheit war unter seinen Füssen“). Der Kirchenlehrer extrapoliert die Selbstverhüllung des Gottessohns im Fleisch sogar in das Feld der Bibelhermeneutik: „Das Wort Gottes gelangte aus Maria mit Fleisch bekleidet in diese Welt […] – der Anblick des Fleisches an ihm stand nämlich allen offen, wenigen nur und Auserwählten aber ward die Kenntnis der Gottheit geschenkt (divinitatis agnitio). […] Wie er dort durch den Schleier des Fleisches, so wird er hier durch den des Buchstabens verhüllt, so, dass zwar der Buchstabe angeschaut wird, gleichsam wie Fleisch, der innen verborgene geistige Sinn aber wie die Gottheit erkannt wird“ (hom. 1,1 in Lev. [GCS 29, 280 = SC 286, 66 f]).143 b. Die ‚Verhüllung der Gottheit im Fleisch‘ begegnet in ganz verschiedenen theologischen Strömungen des vierten und fünften Jahrhunderts. Euseb beruft sich dabei besonders auf den „verborgenen Gott“ von Jes 45,15.144 In Alexandria lässt sich die Figur sowohl bei Arianern145 wie bei Orthodoxen146 nachweisen. In der Folge wird namentlich Apollinaris die Meinung zugeschrieben, das menschliche Fleisch verhülle den Logos nur noch wie ein Umhang, während die Antiochener die Verhüllung in der (ganzen) menschlichen Natur Christi verorten.147 c. Für unsere Fragestellung ist das Œuvre Gregors von Nyssa sehr wichtig. Die Inkarnation, entfaltet im Gegenüber von Gottheit und Fleisch, hat, wie vielfach in der altkirchlichen Theologie, den Doppelaspekt von Manifestation und Verhüllung. Die letztgenannte findet Gregor in Hhld 1,16bLXX (vom Bräutigam: „du bist schattig“); der Gottessohn als Bräutigam „verhüllt den reinen Strahl mit der Knechtsgestalt“, „umschattet die Strahlen der Gottheit mit dem Umwurf des Körpers“; gerade so kommt die Mittlung und damit 142 Orig., frg. 18 in Joh. (GCS 10, 498; übs. Gögler 187 f); bei den Katenen-Bruchstücken ist die Echtheit allerdings kaum verlässlich zu sichern. Ps 18,10 ist auch Prätext für: Orig., exc. in Ps. 17 (PG 17, 112 B), wo das „Neigen“ auf die „Erniedrigung aus der Höhe“, das „Absteigen“ auf die „Entleerung der Gottheit (κένωσις τῆς θεότητος)“ geht (vgl. Phil 2,7 f). Überaus interessant ist die Fortsetzung im Anschluss an Ps 18,11 („er wurde auf Cherubim erhoben“): Bei Jesu Auffahrt, nun mit Körper, sprechen die Himmelsmächte die Worte von Ps 24,7.9. 143 Vgl. ähnlich Orig., comm. ser. 27 in Mt. (GCS 38, 45: Christus celatus venit in corpore, ut […] deus intellegatur). 144 Euseb stellt der LXX-Fassung von Jes 45,15 („du bist Gott, und wir wussten es nicht“) die späteren jüdischen Übersetzungen gegenüber, die dem hebräischen Text („du bist ein Gott, der sich verbirgt“) näher stehen mit ihrem κρυφαῖος (Symmachos und Theodotion) bzw. ἀποκρυπτόμενος (Aquila), und deutet diesen „verborgenen Gott“ auf Christus (dem. ev. 5,4:4– 9 [GCS 23, 224 f]; comm. Is. 2,28 [GCS.Eusebius 9, 294 f]). 145 Vgl. Grillmeier, Jesus (s. Anm. 123) 375 (,,Arius bekennt sich nur zum Fleische Christi allein als der Hülle der Gottheit“) mit Verweis auf Ps.-Athanas., Apoll. 2,3 (PG 26, 1136 C/1137 A). 146 Vgl. Athanas., Ar. 2,8:1 (Athanasius Werke I.1, 184 = PG 26, 161 D–164 A: οὐκ ἄλλος γέγονε τὴν σάρκα λαβών, ἀλλ’ ὁ αὐτὸς ὢν ἐκαλύπτετο αὐτῇ); 3,50:2 (361 = PG 26, 429 A); 3,67:6 (381 = PG 26, 465 C); frg. bei Theodoret, eran. flor. 1,39 (102 Ettlinger = PG 26, 1240 A mit der Deutung des „Umhangs“ von Gen 49,11 auf den Körper als „Hülle der Gottheit“); ferner Grillmeier, Jesus (s. Anm. 123) 478. 147 Vgl. Apollinaris, frg. 124 (237 Lietzmann = Theodoret, eran. flor. 1,65 [110 Ettlinger]: Die Kenosis als Sarkosis κατὰ τὴν περιβολήν, οὐ κατὰ μεταβολήν); Theodoret, inc. 18 (PG 75, 1448 C: παραπέτασμα) und unten zu den Antiochenern Anm. 154.
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die Vergöttlichung der „Braut“ zustande.148 Ganz der Täuschung hingegen dient die Verhüllung dort, wo der Teufel mittels des Fleisches geködert wird. Die Figur findet sich in einer zentralen Passage der grossen katechetischen Rede (19–26):149 „Deshalb verhüllte sich die Gottheit mit Fleisch (διὰ τοῦτο περικαλύπτεται τῇ σαρκὶ ἡ θεότης), damit (der Feind) beim Anblick des vertrauten und verwandten (Fleisches) nicht durch die Nähe der höchsten Gewalt erschreckt würde.“ Hier konvergiert das Gerechte, nämlich die erfolgreiche Bezwingung des Bösen, mit dem Guten, nämlich mit dem Sich-zugänglich-Machen der göttlichen Macht durch Umhüllung mit einem Körper (23,4); die Vereinigung der θεότης mit der menschlichen Natur wird als Herablassung (συγκατάβασις) und Akkommodation gedeutet (24,3). Mit der Täuschung assoziiert sich das Bildfeld des Fischens und der Krokodiljagd (Leviatan, vgl. Hi 40,25–32): Im Köder des Fleisches ist der Angelhaken der Gottheit verborgen.150 d. Für Gregor von Nazianz „erstrahlte“ Christus auf dem Verklärungsberg in seiner Gottesgestalt, „er manifestierte seine Gottheit und entblösste den im Fleisch Verborgenen“.151 Einer Epiphaniaspredigt zufolge eröffnet Jesus Christus den Weg zum transzendenten Gott, „damit der Unzugängliche zugänglich werde“: Der Gottessohn „verkehrt mit uns mittels des Fleisches wie durch einen Vorhang, da die Werden und Vergehen unterworfene Natur seine reine Gottheit nicht ertragen könnte“.152 Wieder fällt auf, dass eine so zentrale Figur wie die christologische Vereinigung von Gottheit und Menschheit gern korreliert wird mit der Täuschung des Teufels. Während dieser „uns mit der Hoffnung auf Gottsein täuschte, wird er selber getäuscht durch die Hülle des Fleisches (θεότητος ἐλπίδι δελεάσας ἡμᾶς, σαρκὸς προβλήματι δελεάζεται)“.153 148 Greg. Nyss., hom. 4 in Cant. (GNO 6, 108: τὴν ἄκρατον τῆς θεότητος ἀκτῖνα συγκαλύψας τῇ τοῦ δούλου μορφῇ). Zum Verständnis von Hhld 1,16b und zur Inkarnation als „‚Selbstverdunkelung‘ des Logos zugunsten der Menschen“ vgl. F. Dünzl (Hg.), Gregor von Nyssa. Homilien zum Hohenlied (FC 16), Bd. 1, Freiburg 1994, 258 Anm. 14 und 15; ders., Braut und Bräutigam. Die Auslegung des Canticum durch Gregor von Nyssa (BGBE 32), Tübingen 1993, 88; 316 f. 149 Greg. Nyss., or. cat. 23,3 (GNO 3.4, 60; dt. Übs. von J. Barbel: BGrL 1, 65); vgl. 24,4 (62: „das Göttliche verhüllte sich mit dem Umhang unserer Natur [τῷ προκαλύμματι τῆς φύσεως ἡμῶν ἐνεκρύφϑη τὸ ϑεῖον]“); 26,1 (64: „Dass Gott sich nicht mit der nackten Gottheit, sondern ohne Wissen des Feindes bedeckt mit der menschlichen Natur [μὴ γυμνῇ τῇ ϑεότητι ἀλλ’ ὑπὸ τῆς ἀνϑρωπίνης φύσεως κεκαλυμμένῃ] darbot, während Gott sich im Innern des zu Erfassenden befand, das ist doch eine Art Täuschung“). Zur – für moderne Menschen befremdlichen – Lösegeldtheorie bei Gregor vgl. R. J. Kees, Die Lehre von der Oikonomia Gottes in der Oratio Catechetica Gregors von Nyssa (SVigChr 30), Leiden 1995, 110–114; zum „trompeur trompé“ R. Winling (Hg.), Grégoire de Nysse. Discours catéchétique (SC 453), Paris 2000, 82 f; Fürst, Origenes (s. Anm. 74) 282–287 (zur „Nutzlüge“). 150 Greg. Nyss., or. cat. 24,4 (62); vgl. unten Anm. 166 zu res. 1. 151 Greg. Naz., or. 32,18 (SC 318, 122 f: ἵνα τῇ μορφῇ λάμψῃ καὶ τὴν θεότητα παραδείξῃ καὶ γυμνώσῃ τὸν ἐν τῇ σαρκὶ κρυπτόμενον). 152 Greg. Naz., or. 39,13 (SC 358, 176–179: διὰ μέσης σαρκὸς ὁμιλήσας ἡμῖν, ὡς παραπετάσματος, ἐπειδὴ καθαρὰν αὐτοῦ τὴν θεότητα φέρειν οὐ τῆς ἐν γενέσει καὶ φθορᾷ φύσεως). Zur Rede vgl. B. E. Daley, Gregory of Nazianzus, London 2006, 127, zu unserer Passage 233 Anm. 501 („This sentence, another of Gregory’s memorable characterizations of the Christian Mystery, is often quoted in the florilegia of the fifth-century councils and later Patristic works on the person of Christ“); Ch.A. Beeley, Gregory of Nazianzus on the Trinity and the Knowledge of God (OSHT), New York 2008, 113; 126; 139. Vgl. zu Gregors Deutung der Himmelfahrt oben bei Anm. 115. 153 Vgl. or. 40,10 (SC 358, 216 f: κάλυμμα). Nach or. 24,9 bekommt es der Teufel unwissentlich mit der Gottheit zu tun, wie er die Menschheit des zweiten Adams attackiert (SC 284, 58 f:
7. Die im Fleisch verhüllte Gottheit
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e. Im fünften Jahrhundert zeigt etwa Theodoret, wie die antiochenische Theologie die göttliche Selbstverhüllung speziell auf die menschliche Natur Christi bezieht: Der Herr „zog die menschliche Gestalt an und verbarg die unsichtbare mittels der sichtbaren Natur; er bewahrte seine sichtbare Natur sündlos (Hebr 4,15) und die verborgene rein“.154 Die Frage der Angemessenheit von Metaphern wie Vorhang, Hülle u.ä. für den Leib bzw. das Fleisch Christi wird bei Theodoret ausgiebig diskutiert, u. a. mit Berufung auf die neutestamentliche Identifizierung von Tempelvorhang und Jesu σάρξ (Hebr 10,20).155 Die vielleicht noch in das späte vierte Jahrhundert zurückreichenden Textcorpora von Makarios/ Symeon bieten ebenso die uns schon bekannten Figuren: den „Logos, der Fleisch anzieht und seine eigene Gottheit verbirgt, um Gleiches durch Gleiches zu retten“, „die Gottheit, die sich in der Menschheit verbirgt und den Menschenkörper wie eine Hülle oder einen Umhang benützt“, hier gezielt verbunden mit der Verfluchung der Mächte und Gewalten samt der Zurschaustellung Satans.156 Die technisch gewordene Begrifflichkeit begegnet später in zahlreichen Texten, sogar in Konzilsakten, gerade auch in spätbyzantinischer Zeit.157 Die Figur gehört offenkundig zum Grundstock orthodox gewordener Theologie. περιπεσεῖται θεότητι προσδραμὼν ἀνθρωπότητι); vgl. or. 45,22 (PG 36, 653 A): Gott selber als Lösegeld. 154 Theodoret, aff. 6,77 (SC 57, 282 f). Gleich darauf ist die Rede vom σαρκὸς προκάλυμμα. Zu Theodoret vgl. auch oben Anm. 113. S.-P. Bergjan, Theodoret von Cyrus, Apollinarius und die Apollinaristen in Antiochien, in: dies. / B. Gleede / M. Heimgartner (Hg.), Apollinarius und seine Folgen (STAC 93), Tübingen 2015, 229–258, hier: 249–254, verfolgt, wie die göttliche Selbstverhüllung in der antiochenischen Theologie ausdifferenziert wird: Theodoret greift auf die Versuchungsgeschichte zurück, um die apollinaristische Vorstellung, das menschliche Fleisch verhülle den Logos nur wie ein Umhang, abzuwehren (vgl. oben Anm. 147); Gott verbirgt sich in dem Menschen Jesus, der damit ganz Mensch ist und bleibt (vgl. inc. 14: κρύπτει μὲν τὴν θεότητα, ἐκ δὲ τῆς ἀνθρωπείας διαλέγεται φύσεως [PG 75, 1441 A]; provid. 10: ἀνθρωπίνως δὲ τὴν ἀπόκρισιν ἐποιήσατο, καὶ τὴν θεότητα τέως ἀποκρύπτων [PG 83, 753 A]). Mit dem Verhüllen im Fleisch korreliert die Einwohnung im Tempel. „Theodorets Christologie ist stark durchzogen von dem Gedanken des im Menschgewordenen verborgenen Gottes“ (Bergjan, aaO. 253). Vgl. dies., Theodoret von Kyrrhos, in: Riedweg, Philosophie (s. Anm. 81) 1620–1633, hier: 1631 („Gott bedient sich in der Menschwerdung der menschlichen Hülle [προκάλυμμα τῆς σαρκός] bzw. des Menschen als Zelt“). 155 Theodoret, eran. dial. 1 (76 f Ettlinger: das τὸ διὰ σαρκὸς φανερωθῆναι τὴν ἀόρατον φύσιν, nämlich im τῆς σαρκὸς προκαλύμματι, bezeugt der Apostel selber: παραπέτασμα τῆς θεότητος). Im Folgenden werden andere Kleidungsmetaphern für den Körper diskutiert. Interessant ist der Einwand des Gesprächspartners, dass es sich beim Bild παραπέτασμα für Jesu Körper um eine „Neuerung“ handle; der „Orthodoxe“ entkräftet ihn sogleich mit Verweis auf Hebr 10,20. 156 Makar., hom 15,44 (PTS 4, 153); serm. 4,30:3 (GCS I 71). 157 So z. B. Gelas., hist. eccl. 2,19:26 (GCS 28, 83); Basil. Sel., or. 28,1 (PG 85, 317 C); or. 23,1 (PG 85, 273 A); Collectio Sabbaitica 8 = Akakios, ep. (ACO 3, 18:31–36); Catena Phil. keph. 3 (252 f Cramer); Prokop, comm. Is. (PG 87, 2276); Anastas. Sin., hexaem. 4,5:5 (111 Kuehn / Baggarly: γυμνὴν τὴν τοῦ Χριστοῦ θεότητα οὐδεὶς ἑώρακεν ἢ ἐψηλάφησεν ἕως οὗ τὴν σάρκα προσελάβετο); 12,5:1 (480: „Fleisch seiner Menschheit, worin er seine […] Gottheit verbarg“); Ps.-Anastas., Jud. disp. 2 (PG 89, 1228 C); Jud. al. (PG 89, 1276 C). In das 15. Jh. gehört ein Brief von Joasaph, Metropolit von Ephesus, der das Heilsgeschehen in den klassischen Figuren summiert: In der Urzeit besiegt der Teufel mit List die Menschheit Adams, mit Christus besiegt die im Fleisch verborgene Gottheit mittels Köder den Teufel (Korakides Zeilen 501–548 [zit. nach: TLG]).
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f. Einen besonderen Hinweis verdienen drei Textgruppen: Die Topik der deitas in carne abscondita findet sich, wie nicht anders zu erwarten, auch in den Johannes Chrysostomos zugeschriebenen homiletischen und exegetischen Werken, wohl aus dem fünften Jahrhundert.158 Ähnlich verhält es sich im Fall der Schriften unter Hippolyts Namen, namentlich De theophania.159 Schliesslich bietet die pseudo-athanasianische Schrift Quaestiones aliae in einer ausgedehnten Passage das gesamte Inventar der Motive, vom urgeschichtlichen Sündenfall über die Verhüllung der Gottheit in Christus bis zur Köderung des Drachen.160
Es fällt auf, wie oft sich die Semantik der verhüllten Gottheit Christi mit dem Topos vom betrogenen Teufel verbindet. Wir hatten oben darauf aufmerksam gemacht, dass das Mythologumenon der Tarnung Christi, das die ‚dissidenten‘ Überlieferungen im Abstieg Christi durch die Himmelssphären wahrnehmen, von mehrheitskirchlichen Theologen vor allem mit dem Erlösungswerk des Inkarnierten assoziiert wird: Das Mysterium von Fleischwerdung und Opfertod musste vor den widergöttlichen Mächten verborgen werden (vgl. IgnEph 19,1; 1 Kor 2,8 [?]). Auch an diesem Punkt ist das Werk von Origenes überaus aufschlussreich. Das Täuschungsverfahren entnimmt er der paulinischen Andeutung in 1 Kor 2,7 f, dass die Weltherrscher unwissend den „Herrn der Herrlichkeit“ gekreuzigt haben:161 „Da sie (sc. die angelischen ‚Fürsten dieser Welt‘) nicht wussten, wer sich in ihm verbarg, bereiteten sie ihm alsbald Nachstellungen (Ps 2,2) […] Der Apostel hat ihre Nachstellungen erkannt und durchschaut, was sie gegen den Sohn Gottes ins Werk setzten, als sie ‚den Herrn der Herrlichkeit kreuzigten‘ (1 Kor 2,8).“
Auch wenn es im erhaltenen Werk des alexandrinischen Theologen m.W. nicht explizit formuliert wird, wäre es folgerichtig, dass sich Christi Verborgenheit 158 Ps.-Chrys., or. nat. Chr. 1 (K.-H. Uthemann / R. F. Regtuit / J. M. Tevel [Hg.], Homiliae Pseudo-Chrysostomicae, Bd. 1, Turnhout 1994, 31: „der Arzt ist vom Himmel her zu uns gelangt, verbarg seine Gottheit in einem fleischlichen und sterblichen Gefäss, nahm unsere Natur an“); hom. 5 in Ps. 96 (Nau [zit. nach: TLG]: ἔκρυψεν δὲ τὴν πορείαν τῆς θεότητος αὐτοῦ τῷ καλύμματι τῆς σαρκός, samt Tarnungsmotiv mit intertextuellem Bezug auf Eph 3,10 und 1 Kor 2,8 sowie mit Deutung der „Finsternis“ von Ps 96,2 LXX auf das Sich verbergen); phar. (PG 59, 591: Jesus ist beim Pharisäer von Lk 11,37 zu Besuch und verbirgt seine strahlende Gottheit mit seiner Menschheit, seine königliche Würde mit dem fleischlichen Lederpanzer); assumpt. Chr. (Baur [zit. nach: TLG]: „verbarg die Gottheit in menschlichem Umhang“); annunt. et Ar. (PG 62, 765: der gute Hirte verhüllt mit dem Schafffell seine eigene Gottheit und ruft die verirrten Schafe zu sich); cent. (PG 61, 771 vom Hauptmann: οὐκ ἔλαθεν αὐτὸν ὁ θεὸς ἐν ἀνθρώπῳ κρυπτόμενος· οὐκ ἔλαθεν αὐτὸν ὁ μονογενὴς λόγος τῇ τοῦ σώματος περιβολῇ καλυπτόμενος). 159 Ps.-Hippolyt, theoph. 4 (GCS 1.2, 259): Der Herr begegnet dem Täufer, ἔνδυμα ἔχων τὸ ἀνθρώπινον σῶμα, κρύπτων δὲ τὸ τῆς θεότητος ἀξίωμα, um vor dem Übeltun des Teufels verborgen zu sein. Zu anderen pseudo-hippolyteischen Schriften vgl. oben bei Anm. 136 und zur „verhüllten Gottheit“ unten bei Anm. 208. 160 Ps.-Athanas., quaest. al. 20 (PG 28, 792 D–793 C). 161 Orig., princ. 3,3:2, Übs. nach Görgemanns / K arpp (TzF 24; 31992) 590 f, mit Zitat von 1 Kor 2,6–8.
7. Die im Fleisch verhüllte Gottheit
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vor den widergöttlichen Geistwesen auch schon auf seinen Descensus durch die Himmelswelten erstreckte.162 Bei den „Herrschern dieser Welt“ handelt es sich nämlich um Geistermächte und Dämonen – ohne irdische Machtträger auszuschliessen –, namentlich um den Teufel.163 Mit der Tötung des Gottessohns führen sie ihre eigene Vernichtung herbei, die mit Auferstehung und Auffahrt ihren Anfang nimmt (wofür sich Origenes speziell auf Kol 2,15 bezieht).164 Die neutestamentlichen Erzählungen, die trotzdem die klare Kenntnis Jesu als des Gottessohns bei widergöttlichen Geistern voraussetzen, werden exegetisch gewunden entschärft. Wenn die Dämonen Jesus erkennen – wie es zumal bei Mk im Zeichen des „Messiasgeheimnisses“ dramatisch inszeniert wird –, handelt es sich um niedriger gestellte Geistwesen, deren entsprechend geringere Bosheit auch weniger Verblendung mit sich bringt.165
In der späteren theologischen Literatur werden diese Linien nicht nur weiter ausgezogen, sondern sie verbinden sich mit der Figur der verhüllten Gottheit Christi. Neben den bereits besprochenen Texten verweise ich exemplarisch auf eine Osterpredigt Gregors von Nyssa: Der Teufel fällt einem Lockvogel zum Opfer; er lässt sich täuschen durch das „Fleisch“, die menschliche Gestalt Jesu. So schluckt der „Drache“ den Köder am Angelhaken der Gottheit Christi.166 Diese wird von der θεόφορος σάρξ verhüllt. Im Physiologus selber setzt die Allegorese des Ichneumon (26) die Figur des überlisteten Teufels, der sich an der verhüllten Gottheit Christi verschluckt, 162 Die
explizite Korrelation des κύριος τῆς δόξης von 1 Kor 2,8 mit dem βασιλεὺς τῆς δόξης und κύριος von Ps 24,7–10 begegnet m.W. im erhaltenen Werk von Origenes nicht. Zu 1 Kor 2,7 f s. oben bei Anm. 53. 163 Vgl. zur Rezeption von 1 Kor 2,8: Orig., frg. Lam. 107 (GCS 26, 273), wo auch Ps 2,2 (die „Könige der Erde“ verschwören sich gegen den Herrn und Gesalbten) und Eph 3,10 (archai und exusiai in den Himmeln) eingespielt werden; comm. ser. 125 in Mt. (GCS 38, 260 f: durch römische Soldaten wirken „unsichtbare Könige“; wieder mit Ps 2,2); comm. 12,30 in Mt. (mit Ps 2,2); sel. Ps. (PG 12, 1101; vgl. 1312: betrogener Teufel). Die erstaunliche Aussage von Eph 3,10 wird bei Origenes sonst nicht aufgenommen (anders bei Theodoret [s. Anm. 113]). – Zur Genese Satans als gefallener Engel bei Origenes vgl. meinen Aufsatz: Luzifer – Herrlichkeit und Sturz des Lichtengels. Eine Gegengeschichte zu Demut und Erhöhung von Jesus Christus, JBTh 26 (2011) 203–226, hier: 219–221, Abdruck in diesem Band: 565–585. 164 Orig., comm. 12,18 und 40 in Mt.; comm. ser. 76 und 92 in Mt.; hom. 9,3 in Gen.; u.ö. Zum „Lösegeld“ (Mt 20,28 par.) der Seele Jesu, durch das sich der Teufel täuschen liess, s. comm. 16,8 in Mt. (GCS 40, 498). 165 So Orig., hom. 6,4–6 in Luc. (SC 87, 144–147): Die Jungfrauengeburt blieb dem Teufel verborgen (mit Zitat von IgnEph 19!), weil Josef Maria ehelichte; absconditum igitur fuit a principibus huius saeculi mysterium salvatoris (5). Aber niedrigere Dämonen wissen den Evangelien zufolge dann doch mehr (6). – Zum Thema der Nichterkennbarkeit Gottes für Engel schlechthin vgl. oben bei Anm. 113. 166 Greg. Nyss., res. 1 (GNO 9, 280–283, besonders 281:8 ff), mit Anspielung auf Hi 40,24.26. Zur Täuschung des Teufels vgl. oben Anm. 150. Zur Osterhomilie (auch bekannt als: trid. spat.) vgl. G. Maspero, Trid spat. De tridui … spatio, in: Mateo-Seco / Maspero, Dictionary (s. Anm. 108) 739–742, unten Anm. 203 und besonders H. R. Drobner (Hg.), Gregor von Nyssa. Die drei Tage zwischen Tod und Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus (PP 5), Leiden 1982, hier zur Überlistung des Teufels 87–90.
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Der Erlöser im Tarnanzug
voraus.167 Auch an diesem Punkt gibt die in unserer Schrift als ganz selbstverständlich präsentierte theologische Figur einen chronologischen Fingerzeig: Erst Origenes scheint die Idee der Inkarnation als einer Täuschung des Teufels in die christliche Theologie eingeführt zu haben.168
8. Der verborgene und offenbare Gottessohn im Physiologus Wir sind damit zum Anfang des Physiologus zurückgekehrt. Es ist offenbar das Leitmotiv der „verhüllten Gottheit“, das den Verfasser auf die ältere Tradition des descensus absconditus zurückgreifen lässt: Der Löwe, der seine Spuren vor den Jägern verbirgt, wird in der Allegorese ja auf den Erlöser gedeutet, der sich gegenüber den Engelmächten so tarnt, dass er ihre jeweilige Gestalt annimmt. Diese Figur ist uns vornehmlich in ‚dissidenten‘ Überlieferungen begegnet, weniger in solchen, die zum kirchlichen Mainstream gehören. Zu einer doketistischen Zuspitzung, wie sie einige gnostisierende Texte vertreten, kommt es im Physiologus aber nicht, im Gegenteil: Christi Herabkunft mündet in Jungfrauengeburt und Inkarnation, wie das Zitat von Joh 1,14 verdeutlicht. Hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von „Heterodoxie“ und „Orthodoxie“ im griechischen Physiologus zeichnet sich damit ein geradezu paradox anmutender Befund ab. Die im Lauf der Zeit als heterodox taxierte Figur des descensus absconditus zielt in unserer Schrift auf einen ausgesprochen „orthodoxen“ Skopus, nämlich auf das Theologumenon der in der Inkarnation verhüllten Gottheit Christi. Dieses zählt seit dem vierten Jahrhundert zum festen Inventar der griechischen Dogmatik, quer durch alle theologischen Milieus hindurch. Nun fällt in der ersten Löwenallegorese auf, dass die Fleischwerdung und vor allem die anschliessende Wechselrede keinen Haftpunkt mehr im Gleichnis selber haben. In der Wechselrede heisst es, dass „sie“ ihn nicht erkannten „als den von oben Herabgestiegenen“. Gemeint sind die Engelmächte, von denen gleich zuvor die Rede war. Die Frage stellt sich, bei welcher Gelegenheit der mit den Worten von Ps 24,10 geführte biblische Dialog erfolgt. Es bieten sich drei Optionen an: Erstens beim Abstieg des Erlösers, zweitens bei seiner Inkarnation oder drittens bei seiner Auffahrt.
167 Vgl.
oben bei Anm. 31.
168 Vgl. A. Fürst, Hieronymus über die heilsame Täuschung, in: ders., Origenes (s. Anm. 74)
275–292, hier: 282 f („führte Origenes die Idee einer ,Täuschung des Teufels‘ in die christliche Theologie ein“; hier auch mit Verweis auf den Physiologus); R. Schwager, Der wunderbare Tausch. Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre. Gesammelte Schriften 3, Freiburg 2015, 83 f.
8. Der verborgene und offenbare Gottessohn im Physiologus
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Im Folgenden werden wir die genannten Möglichkeiten im Einzelnen prüfen. Dabei ist allerdings die Frage wachzuhalten, ob trennscharf entworfene Interpretationsoptionen, wie sie nun aufgefächert werden, bei einer Textsorte wie dem Physiologus überhaupt greifen können. Für den Sinn exegetischer Differenzierung spricht die Beobachtung, dass unsere Schrift nicht nur als ein konfuses Amalgam überaus heterogener Überlieferungen anzusprechen ist, sondern als ein Text mit einem durchaus reflektierten theologischen Profil, das gerade in den jeweiligen Allegoresen der zoologischen Porträts greifbar ist.169
1. Die auf den ersten Blick naheliegendste Interpretation situiert die Wechselrede beim Abstieg des Erlösers. Tatsächlich lässt unsere Passage eine deutliche Leserlenkung erkennen: Die Bewegung geht von oben nach unten, von der Sendung durch den „unsichtbaren Vater“ bis zur Inkarnation. Entlang dieser Fluchtlinie begleiten auch Frage und Antwort den Abstieg Christi, beziehen sich also zurück auf die vor der Inkarnationsaussage zu lesende Engelgleichwerdungsaussage.170 Der Vorteil dieser Lesart besteht darin, dass sie mit einer einzigen Bewegung, eben dem Abstieg, auskommt. Sprachlich wird dies unterstützt durch den Hinweis darauf, dass die Fragenden denjenigen „nicht erkannten, der von oben herab kam (ἀγνοοῦντες αὐτὸν ἄνωθεν κατελθόντα)“.171 Schliesslich spricht auch das Arrangement der drei Löwengleichnisse mit ihrer Abfolge von Inkarnation, Kreuzestod und Auferweckung dafür, dass wir uns auch mit dem Zitat von Ps 24 noch an der ersten Station befinden. Zu beachten ist allerdings eine alternative Lesart, die von F. Sbordone, dem Herausgeber der kritischen Edition, bevorzugt wird:172 „Daher erkannten sie ihn nicht, sie, die von oben herab kamen, und sagten […].“ Diese Entscheidung ist nicht leicht nachvollziehbar, zumal 169 Richtig Alpers, Untersuchungen (s. Anm. 4) 39; 41: Der Verfasser des Physiologus ist kein unselbständiger stupider Kompilator, als den man ihn oft abgewertet hat, sondern ein kreativer Autor. Vgl. Dorofeeva, Miscellanies (s. Anm. 4) 666; 668 f sowie zur Leserdimension oben bei Anm. 35 sowie unten bei Anm. 192 und 249. 170 So wird meist stillschweigend gelesen; explizit etwa Brucker, König (s. Anm. 85) 424 Anm. 63. Allerdings vermutet Brucker, dass es sich bei den Fragenden um „die Menschen“ handelt. Wir kämen damit in die Nähe des weiter unten diskutierten zweiten Auslegungstyps (vgl. bei Anm. 176). Gegen die Menschen spricht allein schon die dominierende altkirchliche Mehrheitsdeutung auf die Engel (bzw. die Unterweltsmächte), die mit ihrer Funktion als Torwächter zu tun hat. 171 Offenbar versteht neben der syrischen (33* Land [s. Anm. 187]) auch die äthiopische Übersetzung den Satz so: „Aber die, welche ohne dies zu wissen, auf seine Herabkunft achthatten, sprachen: ‚Wer ist dieser König der Ehren?‘“ (Hommel, Uebersetzung [s. Anm. 21] 46; vgl. ders., Physiologus [s. Anm. 21] 13: „Aber die, welche ohne ihn [näher] zu kennen auf seine Herabkunft achteten, sprachen: ‚Wer ist dieser König der Herrlichkeit?‘“). Das Nichtwissen bezieht sich dabei wohl auf die Engelgleichheit Christi, die der Äthiopier vor dessen Herabkunft platziert (vgl. oben Anm. 21), also auf die Herkunft Christi. In der Folge entfällt die Antwort des Geistes. 172 4,3 Sbordone: ἐκ τούτου οὖν ἀγνοοῦντες αὐτὸν οἱ ἄνωθεν κατελθόντες, ἔλεγον (κτλ.). Die von Lauchert, Geschichte (s. Anm. 3) 230, präferierte Version der Hs. W ist aufgrund der griechischen Syntax sicher verderbt: ἐκ τούτου ἀγνοοῦντες αὐτὸν οἱ ἄνω κατελθόντα ἔλεγον (κτλ.). Eine Mischform bietet die lateinische Überlieferung (y, b): Sie bezieht das „Herunterkommen“ auf Christus, das „(von) oben“ auf die Engel, s. unten Anm. 174 und 179.
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die älteste Ganz-Handschrift für den gesamten Abschnitt ausfällt und die zweitälteste an dieser Stelle nicht klar lesbar ist.173 Innere Kriterien sprechen entschieden für die Beziehung des Partizips „herabkommend“ auf den Erlöser, nicht auf die Engel: Diese sind im vorfindlichen Kontext nicht als Herunterkommende im Blick, so gewiss sie in anderen Zusammenhängen als professionelle Absteiger (und Aufsteiger) gezeichnet werden (vgl. die Leiter Jakobs, Gen 28,12). Die Übersetzungen bleiben meist, soweit ich sehe, beim näher liegenden Bezug auf den Erlöser, ebenso wie die älteren Ausgaben.174
Die Lokalisierung der biblischen Wechselrede im Abstieg hat aber einen entscheidenden Nachteil, nämlich einen Mangel an inhaltlicher Konsistenz: Durch die Proklamation des „Herrn der Mächte“ und „Königs der Herrlichkeit“ verliert die vorgängige Tarnung ihren Sinn. Wir kommen gleich auf dieses Argument zurück. Eine relativ einfache Lesart ergäbe sich dann, wenn die Engelwerdung des Erlösers gar nicht um der Tarnung willen erfolgt, sondern einfach das Prinzip der Verhüllung der „Gottheit Christi“ in einem Leib realisiert. Hier wären es angelische Leiber, gefolgt vom irdischen Körper bei der Inkarnation. Die Wechselrede von Ps 24 würde dann schon gut zum Abstieg passen. Diese Lesart ist aber aus zwei Gründen schwierig: Erstens insinuiert die Bildhälfte der Löwenallegorie mit ihren Jägern selber schon eine negative Kodierung der Engel auf Seiten der Sachhälfte, und zweitens spricht die Einhorn-Miniatur (22) explizit von der Gefährdung des herabsteigenden Erlösers durch Engel und Mächte.175
2. Eine weitere denkbare Lesart ist die Situierung von Frage und Antwort an der Station der Menschwerdung selber – die ja gleich zuvor genannt wird –, also auf 173 Zur ältesten Ganz-Handschrift G (die Sbordone noch nicht kannte) vgl. die Ausgabe von Offermanns, Physiologus (s. Anm. 5) 16 (warum G unseren ganzen Abschnitt nicht wiedergibt, ist nicht klar). In der nur wenig jüngeren Hs. M sind beide Lesarten möglich, κατελθόντα oder κατελθόντες („Μ syllaba finalis compendio vix legibili scripta“, Offermanns 17); in der mit M eng verwandten Hs. Γ steht κατελθόντες. Die Gruppen Σas und AIΔΠφr haben die verbreitete, oben auch vorausgesetzte und inhaltlich bessere Lesart: ἀγνοοῦντες αὐτὸν ἄνωθεν κατελθόντα, die Hs. O liest ähnlich wie Γ (aber nur ἄνω). Vgl. Kaimakis, Physiologus (s. Anm. 5) 8 f; er hält den Text der Hs. O offenbar für verderbt. 174 So die Übersetzungen von Peters 1898; Seel 1960; Treu 1981; Schönberger 2001; ebenso schon die zweisprachige Ausgabe aus dem 16. Jh.: L. Ponce de Leon (Hg.), Sancti Patris nostri Epiphanii episcopi Constantiae Cypri ad Physiologum, Rom 1587, 2 (ἐκ τούτου οἱ ἀγνοοῦντες ἄνωθεν κατελθόντα); 4 (quapropter illi qui ignorabant desuper illum descendisse). Vgl. die Ausgabe: J. B. Pitra (Hg.), Spicilegium Solesmense, complectens sanctorum patrum scriptorumque ecclesiasticorum anecdota hactenus opera …, Paris 1855, 339 (ἐκ τούτου ἀγνοοῦντες αὐτὸν ἄνωθεν κατελθόντα). Auch der lateinische Berner Physiologus liest demensprechend (Et hoc ignorantes eum omnes descendentem dicebant […]): Ch. von Steiger / O. Homburger (Hg.), Physiologus Bernensis. Voll-Faksimile-Ausgabe des Codex Bongarsianus 318 der Burgerbibliothek Bern. Wissenschaftlicher Kommentar, Basel 1964, 52. Zur lateinischen Version Y vgl. unten Anm. 179. Demgegenüber übersetzt Grant, Christians (s. Anm. 4) 52, nach Sbordone („Therefore in ignorance of him, those who descended from above said“), ebenso Cox Miller, Eye (s. Anm. 7) 70 („those who have come down from heaven“). Auch auf die Engel bezogen wird das „oben“ in der englischen Übersetzung: M. J. Curley (Hg.), Physiologus, Austin 1979 (= Chicago 2009), 4 („those who are on high not knowing him as he descended“), sie folgt nämlich der lateinischen Version (xxxiii). 175 Vgl. oben Anm. 17.
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der Erde. Die Engel würden angesichts des Fleischgewordenen dieselbe Frage stellen, die den Evangelien zufolge auch die Menschen aufwerfen: „Wer ist dieser?“ (Mk 4,41 u.ö.). Diese Hypothese ist aber ganz unwahrscheinlich (und wird m.W. auch von niemandem vertreten):176 Die „Torliturgie“ von Ps 24,7–10 setzt ein Passieren voraus, es geht also um einen Transit, der im Physiologus wie in all den anderen oben durchmusterten christlichen Traditionen vertikal geschieht. Um einen solchen Transit würde es sich bei der Höllenfahrt handeln, gleich im Anschluss an Christi Erdenleben. Sie ist zwar dem Physiologus bekannt (25) und sie verbindet sich gern mit Ps 24.177 Aber unser Text bietet nicht den geringsten Hinweis auf diese Assoziation.
3. Eine dritte Hypothese versteht die Nennung von Inkarnation und Einwohnung, in denen sich der Descensus vollendet, als abschliessende Aussage. Das Zitat von Joh 1,14 markiert eine Zäsur, die die Wende einleitet. Frage und Antwort von Ps 24 beziehen sich, so gesehen, dann nicht mehr auf den Absteigenden zurück, sondern vielmehr auf den wieder Aufsteigenden.178 Diese Deutung, die das Achtergewicht auf das Johanneszitat legt, rechnet also mit Breviloquenz. In der Tat zeigt die handschriftliche Überlieferung, dass das Frage‑ und Antwortspiel gelegentlich explizit bei der HimmelfahrtJesu lokalisiert wird.179 Der Hauptgrund für diese Versionen besteht in der Gravitation der Wirkungsgeschichte von Ps 24,7–10 (dazu gleich unten). 176 Man kann überlegen, ob nicht die Lesart κατελθόντες (statt: κατελθόντα; vgl. oben Anm. 172 und 173) hier einzureihen ist: Die Engel kommen von oben herab und erkennen den inkarnierten Christus nicht. Eine andere Option schlägt Brucker vor: Bei den Fragenden handelt es sich vielleicht um Menschen: vgl. oben Anm. 170. 177 S. dazu Anm. 107, 109 und 118. 178 So deuten Lauchert, Geschichte (s. Anm. 3) 57 („die Auslegung von Ps. 23 […], wonach die Engel im Himmel Christum bei seiner Himmelfahrt nicht kennen und desshalb fragen“), sowie – vielleicht lediglich aufgrund einer summarischen Lektüre – Barbel, Christos (s. Anm. 22) 305 („Der Apologet Justinus deutet den Ps. 23 mit seinem Frage‑ und Antwortspiel, wie der Physiologus, auf den Himmelsaufstieg des Herrn“). Hanson, Midrash (s. Anm. 55) 42, bemerkt zu Recht zum Zitat von Ps 24,10 in Physiol. 1: „This is set in the context of a descent, but in fact the words of the psalm would fit an ascension much better.“ 179 Die Leerstelle wird ausgefüllt etwa von der Handschrift p (Ambrosianus graecus C 255 inf.; vgl. Sbordone z.St.). Sie tilgt κατελθόντα und liest: ἀγνοοῦντες αὐτὸ τὸ μυστήριον καὶ αὐτὸν οἱ ἄνωθεν ἄγγελοι ἀνερχομένου τούτου: Die Engel droben erkennen das Geheimnis und ihn selber nicht, jetzt, wo dieser auffährt. Auch die lateinische Übersetzung des Typs y platziert den kleinen Dialog explizit beim Aufstieg (Hss. Y2, Y3): Et hoc, ignorantes eum descendentem atque ascendentem, hi qui sursum sunt; vgl. Carmody, Physiologus Latinus Y (oben Anm. 21) 103. Sie macht auch detailliertere Angaben zu den Sprechenden (analog zu den oben Anm. 102 genannten Texten): hi qui sursum sunt, dicunt: ‚Quis est iste rex glorie?‘ et angeli deducentes eum responderunt ‚Dominus etc. Ähnlich die lateinische Version b: Et hoc ignorantes, eum ascendentem ad patrem, hi qui sursum erant angeli dicebant ad eos qui cum domino ascendebant: ‚Quis est iste rex gloriae?‘ responderunt illi: ‚Dominus‘ etc.; vgl.: F. J. Carmody (Hg.), Physiologus Latinus. Éditions préliminaires, versio B, Paris 1939, 11 (in der Hs. Z entfallen die „mit dem Herrn Aufsteigenden“).
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Der Nachteil dieser Lesart liegt auf der Hand; sie trägt eine textexterne Information, die Himmelfahrt, ein – ein Vorgehen, worauf man im Auslegungsgeschäft nicht ohne Not zurückgreifen sollte. Im Gegenzug sprechen für diese Lektüre aber drei entscheidende Gründe: Der erste Vorteil ist textinterner Natur. Wann macht die Wechselrede von Frage und Antwort Sinn? Beim Abstieg ist das nicht der Fall: Die Angleichung an die verschiedenen Engelwesen zielt ja gerade auf Tarnung, auf das Inkognito. Die Verhüllung muss sich dieser Logik zufolge auch noch auf die irdische Existenz erstrecken, die zur Kreuzigung und damit zur Heilswende führt. Erst dann wäre der Moment gekommen für die Proklamation des heiligen Geistes, die das wahre Wesen des Erlösers offenbart: Er ist der „Herr der Mächte“ und „König der Herrlichkeit“. So gesehen ist der Umschlag vom Verborgensein zum Offenbarwerden am besten nach der vollbrachten Menschwerdung (samt Tod und Auferstehung) zu situieren. Die Identifikation des Erlösers bereits bei seinem Abstieg, noch vor der Inkarnation, konterkariert demgegenüber die Tarnung. Diese Überlegung wird gestützt durch die Traditionsgeschichte: Gerade die gnosisnahen Texte, die wir oben durchmustert haben, verbinden das Erkennen des Gesandten erst mit dessen Wiederaufstieg.180 Wie notiert hat die Wechselrede im Löwengleichnis keine Entsprechung. Projiziert man Frage und Antwort versuchsweise in das Naturbild zurück, würde den Jägern die Spur zum Löwen gewiesen. Die Engelmächte könnten den Erlöser finden, etwa als Inkarnierten auf der Erde, und ihn überwältigen – μὴ γένοιτο! Wir folgen dem Gedankenexperiment aber nicht weiter, da die bewährten Regeln heutiger Gleichnistheorien den Rückimport von der Sachhälfte zur Bildhälfte verbieten. An dieses Regelwerk hält man sich mit Vorteil auch in der Interpretation von schulgerechten Allegorien.
Der zweite Vorteil legt sich im Blick auf die Wirkungsgeschichte von Ps 24 nahe: Die „Torliturgie“ haftet hauptsächlich an der Himmelfahrt Jesu. Man darf annehmen, dass auch unsere Physiologus-Passage der enormen Gravitationswirkung dieser überaus stabilen exegetischen und homiletischen Tradition gehorcht. Die Formulierung, dass sie „ihn, der von oben herab kam, nicht erkannten“, ist auch unter dieser Voraussetzung verständlich: Er steigt ja auf, weil er dorthin zurückkehrt, von wo er herabgekommen ist. Ein Stück weit erinnert diese Figur an die Selbstpräsentation Jesu im Johannesevangelium (3,31; 8,23) – „niemand ist in den Himmel hinaufgestiegen ausser dem, der aus dem Himmel herabgestiegen ist“ (3,13; vgl. Eph 4,10). Gerade im Blick auf die altkirchliche Rezeptionsgeschichte von Ps 24 lässt sich die vom Physiologus vorgenommene Herkunftsortung des wieder Aufsteigenden gut deuten: Die Engel sind verwirrt und erkennen den auffahrenden Jesus in seiner menschlichen Gestalt nicht – ihn, der doch von oben herabgekommen ist. Vor allem nimmt diese Lesart das begründende ἐκ τούτου ernst, weil sie es direkt auf das unmittelbar zuvor Gesagte bezieht, auf die Inkarnationsaussage von Joh 1,14: Die Verhüllung seiner θεότης in fleischlicher Gestalt ist Vgl. oben zur PistSoph (bei Anm. 41) und zur AscJes (bei Anm. 49).
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der Grund dafür, dass ihn die Engel jetzt beim Aufstieg nicht identifizieren können, so wie sie ihn damals beim Abstieg infolge seiner angelischen Form auch nicht erkannt hatten.181
Ein drittes Argument zugunsten der dritten Hypothese bietet der Physiologus selber, also der Makrokontext, in einer späteren Passage, nämlich im Gleichnis des Einhorns (22):182 Leserinnen und Leser erinnern sich sowohl beim Bild selber („Jäger“ versuchen, das Tier zu fangen) als auch bei der Allegorese („Engel und Mächte vermochten ihn nicht zu überwinden“) an das Gleichnis vom Löwen im programmatischen Eingangskapitel. Das erneute Zitat von Joh 1,14 verstärkt den Wiedererkennungseffekt. Lesen wir Physiol. 22 von 1 her, so ergibt sich der Schluss, dass die Mächte den Herabsteigenden deshalb nicht überwältigen konnten, weil sie ihn gar nicht erkannt haben.183 In die genau gleiche Richtung weist die Allegorese des Ichneumon (26): Der Teufel wird überwunden, weil er den im Körper verborgenen Gott und Erlöser nicht erkannt hat. Die handschriftliche Überlieferung verstärkt in 22 die kontextuelle Relation zu 1 durch den auf κρατῆσαι folgenden Zusatz: „Er wurde allen alles, bis er in Mariens Schoss einging“ (μετὰ πάντων πάντα γενόμενος ἕως ἦλθεν εἰς τὴν γαστέρα [κτλ.]).184 Die intertextuelle Beziehung zu 1 Kor 9,22, der wir auch bei Origenes begegnet sind, ist offensichtlich.185 Die genannte Version hat auch Eingang in die armenische Überlieferung gefunden.186 Die syrische Version des Physiologus Leidensis liest 1 Kor 9,22 sogar in die erste Löwenallegorie ein, als Auftakt zur Engelgleichwerdung Christi (also wie bei Origenes!).187 Wir halten an dieser Stelle fest, dass Physiol. 43, worin Christus als der „geistliche Elefant“ porträtiert wird, ebenfalls auf 1 Kor 9,22 zurückgreift, hier in Verbindung mit Phil 2,7 und Mk 10,44:188 „Er, der grösser als alle war, wurde der Sklave aller (Mk 10,44).
Vgl. zur „Verhüllung“ der Gottheit oben bei Anm. 115 und 117 sowie Abschnitt 7. Vgl. oben bei Anm. 27. 183 Es erstaunt auch nicht, dass in einer Handschrift (I) explizit davon die Rede ist, dass „die angelischen Mächte sich der Gottheit nicht bemächtigen konnten (οὐκ ἠδυνήθησαν κρατῆσαι τὴν θεότητα)“. Das Nichterkennen wird explizit eingetragen in der lateinischen Version b (als „scharfsinnigstes“!), zusammen mit der Angleichung der Engelklassen an die Reihe von Physiol. 1 und samt der Höllenfahrt (!): acerrimum vero quod dicit eum, id est quod neque principatus, neque potestates, non throni neque dominationes intelligere potuerunt, nec infernus tenere valuit. Ein Teil der Hss. fügt nach poterunt noch den betrogenen Teufel hinzu: nec ipse subtilissimo diabolus investigare potuit; s. Carmody, Physiologus Latinus B (s. Anm. 179) 31 f. Zu vergleichbaren Einträgen, die Querbezüge schaffen und die Textkohärenz steigern, vgl. oben Anm. 33 zu Löwe und Ichneumon. 184 So neben anderen, auch wieder leicht differierenden Varianten (vgl. Kaimakis, Physiologus [s. Anm. 5] 69a) die Hs. Π: A. Karnejev, Der Physiologus der Moskauer Synodalbibliothek. Ein Beitrag zur Lösung der Frage nach der Vorlage des armenischen und eines alten lateinischen Physiologus, ByzZ 3 (1894) 26–63, hier: 63. 185 Vgl. oben bei Anm. 67; auch Anm. 52 zu EpAp. 186 Vgl. G. Muradyan, Physiologus. The Greek and Armenian Versions with a Study of Translation Technique (HUAS 6), Louvain 2005, 56; 157 f. 187 Vgl. Jan P. N. Land (Hg.), Anecdota syriaca, Bd. 4, Leiden 1875, 32 (lat.); 33* (syr.). 188 Die Hs. s fügt nach „grösser als alle“ hinzu: „wahrer Christus nämlich und neuer Adam“ (vgl. 1 Kor 15,45). 181 182
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Er erniedrigte sich nämlich und nahm Knechtsgestalt an (Phil 2,7) [und wurde allen gleich],189 um alle zu erlösen.“ Für den Finalsatz ἵνα πάντας σώσῃ ist 1 Kor 9,22b (ἵνα πάντως τινὰς [v.l.: πάντας!] σώσω) der wichtigste Prätext; die christologische Pointierung (vgl. oben bei Anm. 64) wird befördert durch 1 Tim 2,4 (von Gott als Retter: ὃς πάντας ἀνθρώπους θέλει σωθῆναι). Mit der Zielrichtung des „Rettens“ wird eine Brücke zu Physiol. 1 (ὅπως σώσῃ τὸ πεπλανημένον γένος τῶν ἀνθρώπων)190 und vor allem zu 26 (ἵνα πάντας σώσῃ) geschlagen: Die Deutung von Ichneumon (26) und Käuzchen (5) arbeitet mit den Prätexten Phil 2,7 f und 1 Kor 9,22.191
Wir kehren zurück zur Interpretation der Wechselrede in Physiol. 1. Die Wahl zwischen der oben genannten ersten und der dritten Option fällt nicht leicht. Ich entscheide mich für die letztere, da ich die fehlende Situierung von Frage und Antwort bei Christi Himmelfahrt nicht stark gewichte und hier mit Breviloquenz rechne. Einlesen darf man auch den Ruf zur Öffnung der Himmelstore, auch wenn er nicht eigens genannt wird: Er ist intertextuell mit der Wechselrede von Ps 24,7–10 gegeben und begleitet konstant deren gesamte Rezeptionsgeschichte, zumal in der exegetischen und homiletischen Überlieferung. Natürlich spielen bei der exegetischen Entscheidung auch Annahmen über die erste Version des Physiologus eine Rolle. Je mehr man einer Spätdatierung zuneigt und mit einer stabilen Auslegungstradition von Ps 24 rechnet, desto mehr schlagen die Argumente für die dritte Deutung zu Buch. Auch der Kontext, die Sequenz der drei Löwengleichnisse mit ihrer Abfolge von Inkarnation, Tod und Auferweckung, legt der Wahl der dritten Option kein ernsthaftes Hindernis in den Weg: Der Physiologus hält sich nicht an eine Abfolge der Heilereignisse; einzelne Aussagen können also gut auf etwas vorausblicken, was wenig später zum Hauptthema wird. So orientiert sich der Finalsatz in der ersten Allegorie („um das verirrte Menschengeschlecht zu retten“) am Erlösungsziel. Die sessio ad dexteram in der zweiten Allegorie antizipiert ihrerseits die Himmelfahrt. Überdies hält sich die Kompositionstechnik unserer ganzen Schrift bekanntlich an fast gar keine erkennbaren Regeln.
Wie auch immer: Der Verfasser des Physiologus setzt bei seiner Leserschaft erhebliche Schriftkompetenz und Vertrautsein mit theologischen Standardtraditionen voraus – zumal homiletischen und exegetischen –, die er deshalb nicht bis in die Details zu entfalten braucht. Die brevitas gilt auch hinsichtlich vieler anderer theologischer Figuren, mit Hilfe derer die Tierbilder dechiffriert werden: Der „Naturforscher“ entwirft meist nur Skizzen der von den Tieren symbolisierten geistigen Wirklichkeit.192 Er rechnet mit der Fähigkeit seiner Adressaten, die lediglich umrissenen biblischen und theologischen Zusammenhänge 189 γενόμενος ὅμοιος αὐτῶν: nur bezeugt von der Hs. M., die dafür auf den schliessenden Finalsatz verzichtet. Das „Gleichwerden“ stellt eine Beziehung her zur Angleichung des Erlösers an Engel und Menschen. 190 Dazu vgl. oben bei Anm. 26 191 Dazu vgl. oben bei Anm. 32. 192 Vgl. ähnlich H. Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, 112 (die „Zeichen für religiöse Sachverhalte […] fassen in Chiffern zusammen, was sonst oft umfänglicher dogmatischer Aussage bedürfte“); 422 („Physiologus, der Verhaltensweisen von Tieren in einem
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vervollständigen und Beziehungen zwischen den Tiersymbolen samt ihren Deutungen herstellen zu können.193 Dies ist ein Zeichen dafür, dass sich unsere Schrift an Bildungsträger richtet.194
9. Vom triduum mortis – die zweite Löwenallegorie Wir kommen zurück zum zweiten Löwengleichnis. Der Löwe, der mit offenen Augen schläft, wird gedeutet auf Christus unmittelbar nach seinem Sterben. Es liegt eine räumliche Unterscheidung vor: Der Leichnam „schläft“ am Kreuz, die Gottheit „wacht“ zur Rechten Gottvaters, also im Himmel. Im Folgenden wird die These vertreten, dass die Allegorese im Kontext eines christologischen Diskurses des vierten Jahrhunderts zu situieren ist, der sich um den Status des Gottmenschen zwischen Tod und Auferstehung, nämlich im triduum mortis, dreht. Zum christologischen Prüfstein wird das Sterben Jesu in diesem Diskurs aus drei Gründen: Erstens intensiviert sich in ihm die Polarität von Christi göttlicher und menschlicher Natur, zweitens provoziert es die Frage nach dem zugrunde liegenden anthropologischen Modell, und drittens ruft das spannungsvolle Nebeneinander der letzten Worte Jesu hinsichtlich seines nachtodlichen Geschicks nach Auslegung: Gottesverlassenheit (Mk 15,34 par. Mt 27,46), Paradies (Lk 23,43), Übereignung in Gottes Hände (Lk 23,46; vgl. Joh 10,17 f: Hingabe der Seele), ferner der Willenskonflikt in Gethsemane (Mk 14,36 parr.) und schliesslich die Grablegung. Der christologische Diskurs verbindet sich meist mit der Figur der Höllenfahrt Christi, wofür auch wieder ein Herrenwort den Beleg liefert (Mt 12,40). Unsere Schrift kommt im Blick auf das Sterben Jesu mit einer einfachen Lösung aus: Sein Leib hängt am Kreuz, seine Gottheit ist beim Vater im Himmel. Der Physiologus kennt zwar die Höllenfahrt: So wie der Otter dem Krokodil in den Rachen springt, stieg Christus in die Hölle hinab (25). Ein Bezug zur zweiten Löwenallegorie wird indes nicht eigens hergestellt. Vielleicht bietet der biblische Prätext dafür doch eine Assoziationsbrücke, denn das „Sitzen zur Rechten“ geht in Ps 110,1 einher mit der Unterwerfung der Feinde, die in der christlichen Rezeption meist auf die widergöttlichen Mächte gedeutet werden. Zunächst stellt sich die Frage, ob in der zweiten Löwenallegorese des Physiologus eine eigentümliche sehr frühe Trennungschristologie vorliegt. Eine solche wird in der altkirchlichen Überlieferung Kerinth zugeschrieben.195 Es empfiehlt sich aber nicht, auf „gnostische Zeichen vereint, um so eine geraffte Aussage über religiöse Sachverhalte der menschlichen Existenz zu schaffen“). 193 Vgl. Nicklas, Staunen (s. Anm. 35) passim. 194 Vgl. dazu unten bei Anm. 231. 195 So nach Iren., haer. 1,26:1 (der obere Christus sei erst „nach der Taufe auf ihn (sc. Jesus) herabgestiegen“, um sich am Ende wieder von ihm zu trennen; „Jesus sei gekreuzigt worden und
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Vorstellungen“ zu rekurrieren, die im Physiologus auch in der Engelgleichwerdung Christi greifbar wären.196 Unsere Schrift teilt durchwegs die überkommene mehrheitskirchliche Überzeugung von der Inkarnation des Gottessohns; die „Einwohnung“ des Logos hebt mit Zeugung und Jungfrauengeburt an (Joh 1,14). Wieder gibt die Terminologie des Physiologus einen besseren Fingerzeig: Die explizite Unterscheidung zwischen der Gottheit (θεότης) Christi und seinem Körper (σῶμα) weist in die Zeit der christologischen Debatten des vierten und fünften Jahrhunderts. Das Schema von Gott/Logos-Sarx/Körper ist nicht nur für die „monophysitische“ Christologie der Anhänger des Apollinaris charakteristisch, sondern begegnet, allenfalls mit präzisierender Reformulierung, vielfach bei „diphysitischen“ Theologen, die mit der unvermischten Einheit von göttlicher und menschlicher Natur rechnen.197 Einschlägig für unsere Passage im Physiologus ist namentlich der Diskurs über das triduum mortis, der sich im dritten Jahrhundert, zumal bei Origenes,198 ankündigt und sich im vierten wie fünften Jahrhundert ausdifferenziert: Was geschieht mit den „Komponenten“ des göttlich-menschlichen Christus zwischen Tod und Auferstehung?199 Aus dem dritten Jahrhundert gibt es einige tastende Antworten, die mit einer Trennung des göttlichen vom menschlichen Teil Christi rechnen (Tertullian, Novatian, Hippolyt [?]). Sie kommen als Hintergrund für unseren Physiologus-Text kaum in Frage. Im vierten Jahrhundert dominiert zunächst das am Modell Logos-Sarx orientierte Theorem des Logosabstiegs in die Unterwelt, das mit der Trennung von Christi Gottheit und Leib rechnet (wofür die auferstanden, Christus aber sei leidensunfähig geblieben, da er pneumatisch gewesen sei“). Gar nicht in Frage kommen prägnantere doketistische Konzeptionen, die im Ansatz nur von einer einzigen Natur Christi, eben der göttlichen, ausgehen. 196 So E. Stommel, Besprechung von A. Grillmeier, Der Logos am Kreuz, JAC 1 (1958) 127– 129, hier: 128 („Die Himmelfahrt des Logos unmittelbar vom Kreuze aus entspricht gnostischen Vorstellungen […]; die gleiche gnostische Herkunft verraten die unmittelbar vorhergehenden Ausführungen des Physiologus über den verborgenen Abstieg Christi in der Menschwerdung“). 197 Zur Logos-Sarx-Christologie in Arianismus und Apollinarismus vgl. Grillmeier, Jesus (s. Anm. 123) 374–382; 494–497. Zur Abwehr der apollinaristischen Konzeption durch Didymos ausgerechnet in der Exegese von Ps 24,7–10, mit dem wir uns oben ausgiebig beschäftigt haben, vgl. Geljon 2011 (s. Anm. 85) 70–72. Die Frage, ob die arianische Logos-Sarx-Christologie überhaupt als direkte Vorläuferin der apollinaristischen zu erachten ist (so u. a. Grillmeier), braucht uns hier nicht zu beschäftigen; vgl. dazu H. Ch. Brennecke, „Apollinaristischer Arianismus“ oder „arianischer Apollinarismus“ – Ein dogmengeschichtliches Konstrukt?, in: Bergjan, Apollinarius (s. Anm. 154) 73–92. 198 Das Problem wird diskutiert im Blick auf ein trichotomisches anthropologisches Modell (1 Thess 5,23) von Orig., dial. 6–8 (SC 67, 68–73; dt. Übs. BGrL 5, 31 f): Nach Christi Tod ist sein Körper im Grab, seine Seele im Hades, sein Geist in Gottvaters Händen, d. h. im Himmel. Erst mit der Himmelfahrt sind die drei wieder vereint (7,14–8,17). Abseits von diesem speziellen Diskussionsgang arbeitet Origenes in derselben Schrift mit dem einfachen christologischen Modell der Polarität von θεότης und σῶμα (5,8–6,6). 199 Vgl. dazu die kundige – aber leider sehr normativ orientierte und wertende – Darstellung von A. Grillmeier, Der Gottessohn im Totenreich. Soteriologische und christologische Motivierung der Descensuslehre in der älteren christlichen Überlieferung, in: ders., Mit ihm und in ihm. Christologische Forschungen und Perspektiven, Freiburg 1975, 76–174; ferner Aubineau, Homélies (s. Anm. 85) 152–154 Anm. 36; Drobner, Gregor (s. Anm. 166) 114–124. Grillmeier hält „die Vorstellung der Trennung von Logos und Leib“ für eine sehr frühe „populäre Idee“ und weist neben EvPetr 19 auch auf den Physiologus hin (107 Anm. 19; 172). Die beiden Aussagen sind aber sehr verschieden: Nur der Physiologus handelt von zwei „Akteuren“, die den schon gestorbenen Christus ausmachen. Genau dies weist in eine deutlich spätere Zeit.
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Gottverlassenheit von Mt 27,46 par. den Schriftbeweis liefert); vertreten wird es nicht nur von Arianern und Apollinaristen, sondern weithin auch von anderen Theologen, darunter den Alexandrinern Alexander und Athanasios.200 Selbstverständlich hält man trotz der Höllenfahrt des Logos zugleich fest an dessen simultaner Präsenz sowohl in der ganzen Schöpfung wie besonders im Himmel bei Gott (Joh 1,1).201 Ab der Mitte des vierten Jahrhunderts, im Gefolge der apollinaristischen Debatten, setzt sich auf orthodoxer Seite zunehmend die Überzeugung durch, dass der Gott-Logos mit dem Menschen auch im triduum verbunden bleibt.202 Das Schema „Logos-Mensch“ (mit der Wiederentdeckung der Seele Christi) überflügelt das überkommene – und zumal in Alexandria beliebte – Schema „Logos-Sarx“. Die permanente Einheit von Christi Gottheit und Menschheit, auch während der temporären Separation von Körper und Seele in seinem Tod, zählt fortan zu den christologischen Basisüberzeugungen. Eine besonders differenzierte christologische Reflexion über das triduum sacrum findet sich bei Gregor von Nyssa:203 Beim Tod Jesu kommt es zur Trennung von Körper und Seele. Diese gelangt in das Paradies (Lk 23,43), identifiziert mit Vaters Händen (Lk 23,46), jener gelangt über das Grab in das „Herz der
200 Vgl. z. B. Athanas., inc. 21,3–22,5 (SC 199, 342–349). Zur Gesamtentwicklung vgl. Grillmeier, Gottessohn (s. Anm. 199) 122–126 („Ein zwischen Arianern und ihren Gegnern gemeinsames Theologumenon“) und 127–132 (Häresie des Apollinarismus); ders., Jesus (s. Anm. 123) 455 f (Euseb von Emesa); 469–471 (Athanasius: „Der Tod Christi als Logostrennung“). Allerdings dürften die Anschauungen im Einzelnen wesentlich vielfältiger gewesen sein. So deutet etwa ein Katenenfragment (zu Joh 19,33 f: Joh. cat. Nr. 146 [TU 89, 59 Reuss]) darauf hin, dass für Apollinaris Gott mit seinem „Fleisch“ bzw. „Leib“ verbunden bleibt, so dass dieser nicht verwest; vgl. E. Mühlenberg, Theologie und Frömmigkeit bei den Apollinaristen, in: Bergjan, Apollinarius (s. Anm. 154) 129–139, hier: 137. Zweifel an der Konstruktion von Grillmeier auch bei K.-H. Uthemann, Christusbild versus Christologie, in: ders., Christus, Kosmos, Diatribe. Themen der frühen Kirche als Beiträge zu einer historischen Theologie (AKG 93), Berlin 2005, 333–366, hier: 366 Anm. 111. 201 Es ist sogar möglich, die Höllenfahrt als vom Himmel her gewirkte Gotteskraft zu pointieren, Ambros., inc. 40 (CSEL 79, 243 [vgl. Grillmeier, aaO., 126 Anm. 80]: Erat ergo caro eius in monumento, sed virtus eius operabatur e caelo). Vom „Sitzen zur Rechten“, das mit der Unterwerfung der Feinde einhergeht (Ps 110,1), sind wir damit gar nicht weit entfernt! 202 So etwa Ps.-Athanas., Apoll. 1,18 (PG 26, 1125 B): Christi Sterben war nicht ein Weggang der Gottheit (μετάστασις θεότητος), sondern der Seele, die in den Hades gelangt. Diese bleibt verbunden mit der Gottheit, denn „in unverhüllter Gottheit“ (ἀπαρακαλύπτῳ τῇ θεότητι) hätte sein Hinabkommen die Unterwelt zerstört (οὔτε γὰρ ὁ ᾅδης ἤνεγκεν ἀπαρακαλύπτου θεότητος ἐπίβασιν, 1125 A); 2,14 (1156 C): Nach Christi Tod ist weder der Leib im Grab noch die Seele im Hades von der Gottheit getrennt (μήτε τῆς θεότητος τοῦ σώματος ἐν τῷ τάφῳ ἀπολιμπανομένης μήτε τῆς ψυχῆς ἐν τῷ ᾅδῃ χωριζομένης), unter Berufung auf Ps 16,10 (vgl. zu V. 9 bei Origenes oben Anm. 100). Zur Gefährdung des Hades durch die „nackte Gottheit“ vgl. auch oben bei Anm. 159 und unten bei Anm. 208. 203 Greg. Nyss., ep. 3,22 (GNO 8.2, 25 = SC 363, 140 f; dt. Übs. BGrL 43, 48: ἡ δὲ ἀμέριστος θεότης, ἅπαξ ἀνακραθεῖσα τῷ ὑποκειμένῳ, οὔτε τοῦ σώματος οὔτε τῆς ψυχῆς ἀπεσπάσθη); vgl. Apoll. (GNO 3.1, 153 f). Ähnlich arbeitet es Gregors Osterpredigt heraus (res. 1 [GNO 9, 291:12– 294:13; vgl. 305:10 ff]; vgl. oben Anm. 150 und 166): Christus ist bei seinem Tod zugleich an zwei Orten, somatisch auf der Erde und psychisch im Paradies, in Gottvaters Händen; seine Gottheit bleibt mit seinem ganzen Menschen, mit Körper und Seele, verbunden. Vgl. Drobner, Gregor (s. Anm. 166) 121–124; L. R. Wickham, Soul and Body. Christ’s Omnipresence, in: A. Spira / Ch. Klock (Hg.), The Easter Sermons of Gregory of Nyssa. Translation and Commentary, Philadelphia 1981, 279–292.
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Erde“ (Mt 12,40), wo er den Tod besiegt. Christi Gottheit (θεότης) bleibt mit beiden unzertrennlich verbunden.
Unserer Hypothese zufolge ist die Aussage des Physiologus in den umrissenen Diskurskontext einzubetten. Seine schlichte Formulierung kommt mit einem doppelten Ort des gestorbenen Christus aus, mit Erde und Himmel. Dies führt uns eher in die ersten beiden Drittel des vierten Jahrhunderts, wo die Trennung von Gott/Logos und Leib/Fleisch im Tod Jesu zu den gängigen Überzeugungen zählt.204 Von einer „häretischen“ Anschauung kann, zumal in dieser Zeit, keine Rede sein.205 Überdies ist grösste Zurückhaltung davor angebracht, die nur gerade skizzierende Aussage des Physiologus dogmengeschichtlich zu belasten. Sie ist so offen gehalten, dass sie nicht einmal notwendig eine prinzipielle Trennung der Gottnatur Christi vom am Kreuz verstorbenen Leib voraussetzt, sondern auch mit dem Grundsatz der Einheit beider Naturen im triduum vermittelbar ist.206 Exemplarisch weise ich auf zwei entlegene, aber aufschlussreiche Texte hin, die die Lokalisierung von Christi Gottheit beim Vater unter festgehaltener Einheit des Gottmenschen dokumentieren. a. Ein eigenartiges anonymes Katenenfragment bringt Gottheit, Fleisch, Kreuz, Hades und Paradies in ein Verhältnis:207 „Indem er alles mit seiner Gottheit erfüllt, war er am Kreuz wegen seinem Fleisch, und im Himmel wegen seiner Gottheit, und herabsteigend vom Kreuz war er im Hades, und den Räuber brachte er ins Paradies (Lk 23,43) kraft der (dortigen) Ankunft seiner Gottheit.“ Die Aussage ist deshalb interessant, weil sie einerseits der Gottheit Christi Omnipräsenz zuschreibt und sie doch speziell im Himmel und im Paradies lokalisiert, i.U. zum Fleisch, das wie im Physiologus am Kreuz hängt.
204 Anderen zeitgenössischen Formen einer Trennungschristologie wie derjenigen antiochenischer Theologen oder der älteren des Paulus von Samosata steht die Aussage des Physiologus ohnehin recht fern. Ähnliches gilt für die von Grillmeier, Jesus (s. Anm. 123) 548–553, beschriebene origenistische Trennungschristologie des frühen fünften Jahrhunderts. 205 Anders Stommel, Rez. Grillmeier (s. Anm. 196) 128 (die „zugrundeliegende Vorstellung von menschlichem Leib und göttlichem Logos als den konstitutiven Elementen der Person Jesu Christi ist häretisch“). In diesem Punkt richtig Alpers, Untersuchungen (s. Anm. 4) 54 f: Die Zweinaturenlehre ist „mehr andeutungsweise und natürlich noch nicht in der Art der späteren dogmatischen Verfeinerung vorgetragen“; der Verweis auf Meliton (Anm. 437) ist aber irreführend (vgl. oben bei Anm. 122). 206 In der handschriftlichen Rezeptionsgeschichte wird wieder vereindeutigt, vgl. die lateinische Version b (vgl. Stommel ebd.; Alpers, Untersuchungen [s. Anm. 4] 86 Anm. 439), die die Grablegung nachträgt und v. a. die sessio ad dexteram tilgt: etenim corporaliter dominus meus obdormiens in cruce et sepultus, deitas eius vigilabat. Die Version y verstetigt das Sitzen zur Rechten und eliminiert damit den Eindruck eines Trennungsakts im Sterben: deitas vero eius semper in dextera patris vigilat. 207 Cat. Luc. 23,43 keph. Π, in: J. A. Cramer (Hg.), Catenae Graecorum patrum in Novum Testamentum, Bd. 2, Oxford 1844, 168 (πρληρῶν τὰ πάντα τῇ θεότητι, καὶ ἐν τῷ σταυρῷ ἦν διὰ τὴν σάρκα, καὶ ἐν τῷ οὐρανῷ διὰ τὴν θειότητα, καὶ πάλιν καταβὰς ἀπὸ τοῦ σταυροῦ, καὶ ἐν τῷ ᾅδῃ ὐπῆρχεν, καὶ τὸν λῃστὴν εἰς τὸν παράδεισον εἰσήγαγε τῇ παρουσίᾳ τῆς θειότητος). Im Blick auf das Nebeneinander von θεότης und θειότης ist daran zu erinnern, dass die Katenenausgabe mangelhaft gefertigt ist.
9. Vom triduum mortis – die zweite Löwenallegorie
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b. Ein Hippolyt zugeschriebenes Katenenfragment versucht auf ähnliche Weise, unter Voraussetzung der ununterbrochenen Verbindung mit der Gottheit die Multilokalität der Komponenten des gestorbenen Christus aufzufächern:208 „Der Körper lag im Grab, nicht entleert von der Gottheit. Sondern wie er im Hades weilend der Wesenheit nach beim Vater war, so war er sowohl im Körper wie im Hades. Denn wie der Vater ist auch der Sohn unfassbar (d. h. raumtranszendent), und er umfasst alles. Aber willentlich liess er sich in einen beseelten Körper fassen, damit er mit der eigenen Seele in die Unterwelt ginge und nicht mit der nackten Gottheit.“209 Die kleine Passage ist deshalb interessant, weil sie mit der Gottespräsenz in Leichnam und Seele die Gottheit doch wesenhaft beim Vater (τῇ οὐσίᾳ ἦν πρὸς τὸν πατέρα, nach Joh 1,1) im Himmel ortet.
Entscheidend ist vor allem, dass der Physiologus durch seine „Bildarbeit“ Christi Einheit zum Zug bringt, nämlich mittels der Relation zwischen „Sachhälfte“ und Gleichnis: Christus wird repräsentiert durch den einen Löwen, der zugleich schläft und wacht. Nämliches gilt für den Schriftbeweis (Hhld 5,2): Salomos Ich wacht, und zugleich schläft sein Herz. Die Allegorese schliesslich arbeitet mit sprachlichen Signalen, die das räumlich Getrennte wieder verbinden; sie spricht vom „Leib meines Herrn“, von „seiner Gottheit“.210 Wie auch sonst im Physiologus rufen Leerstellen nach der Mitarbeit kompetenter Leser. Ähnlich verhält es sich mit anderen „problematischen“ Formulierungen. Die aus dem Gebärstein des Geiers (19) entwickelte Aussage vom „Leib des Herrn“, der „in seinem Inneren den Klang der Gottheit trug“ (19), braucht man nicht eigens im Licht der – in der Folge häretisierten – apollinaristischen Logos-Sarx-Christologie zu lesen. Die Sprachregelung in den einzelnen Texten der Literatur des vierten und auch fünften Jahrhunderts gehorcht weithin nicht der sich anbahnenden dogmatischen Normierung, zumal dann, wenn die Aussagen nicht direkt in den christologischen Auseinandersetzungen Stellung beziehen.211 Das Schema „Gott/Logos- Sarx“ basiert auf zentralen biblischen Prätexten (Joh 1,14; 1 Tim 3,16 u. a.). Mit der 208 Ps.-Hippolyt, pasch. frg. 3 (GCS 1.2, 268 f; syrisch und partiell griechisch überliefert: τὸ γὰρ σῶμα ἔκειτο ἐν μνημείῳ, οὐχὶ κενωθὲν τῆς θεότητος· ἀλλ’ ὥσπερ ἐν τῷ ᾅδῃ ὤν τῇ οὐσίᾳ ἦν πρὸς τὸν πατέρα [syr.: ܒܟܝܢܐ ܐܝܬܘܗܝ ܗܘܐ ܠܘܬ ܐܒܐ, 55 Pitra], οὕτως ἦν καὶ ἐν τῷ σώματι καὶ ἐν τῷ ᾅδῃ· ἀχώρητος γάρ ἐστι καὶ ὁ υἱὸς ὡς ὁ πατήρ, καὶ πάντα περιέχει· ἀλλὰ θέλων ἐχωρήθη ἐν σώματι ἐμψύχῳ, ἵνα μετὰ τῆς ἰδίας ψυχῆς πορευθῇ εἰς τὸν ᾅδην, καὶ μὴ γυμνῇ τῇ θεότητι). Zur Analyse vgl. Grillmeier, Gottessohn 1975 (s. Anm. 199) 158–169. 209 Der Syrer fährt fort (wie Ps.-Athanas. [s. Anm. 202]): „damit nicht die untersten Gründe der Erde vor Entsetzen aus den Fugen gerieten.“ 210 Wenn unsere oben vorgeschlagene Deutung der Wechselrede von Ps 24,10 richtig ist, wäre sie ein zusätzliches Argument für die bleibende Einheit von Gottheit und Leib Jesu: Eben die Verborgenheit der ersteren in letzterem bei Jesu Auffahrt ist in der christlichen Rezeptionsgeschichte von Ps 24 ja der Grund für die Irritation der Engelmächte. 211 Selbst für die arianischen Auseinandersetzungen gilt: „Bei allen Beteiligten bis in die zweite Hälfte des vierten Jahrhunderts werden Anthropos, Soma und Sarx noch nicht differenziert und völlig selbstverständlich commun benutzt. Von daher erscheint für diese Phase der theologischen Diskussion die Differenzierung in ein Logos-Sarx‑ und ein Logos-Anthropos-Schema, das für die späteren Debatten durchaus hilfreich sein mag, wenig geeignet“ (Brennecke, Arianismus [s. Anm. 197] 92).
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knappen Aussage des Physiologus ist vor allem der scharfe Kontrast von „Totem“ und „Gott“ zu vergleichen, der die Rhetorik von Osterpredigten mit ihrer Konzentration auf die drei Tage zwischen Kreuz und Auferstehung kennzeichnet.212 Im Diskurshorizont des triduum mortis artikuliert der Physiologus zwei auffällige Anschauungen: Er konzentriert sich auf den noch am Kreuz hängenden Toten und er lokalisiert die Gottheit Christi in dessen sessio ad dexteram. Das Kreuz bietet sich als Moment des Sterbens Jesu an, zusammen mit dessen beiden einschlägigen letzten Worten (Lk 23,43.46).213 Das „Sitzen zur Rechten Gottes“ begegnet m.W. nicht eigens im besagten Diskurskontext; üblicherweise bildet es sonst das Finale der Auffahrt. Hier im Physiologus handelt sich bei der sessio um eine Chiffre für das Sein bei Gottvater (vgl. Joh 1,1), die sich im Blick auf das Sterbewort im Lukasevangelium nahelegt – die Übereignung in „Vaters Hände“ (Lk 23,46), die sich leicht verbindet mit der Voraussage des Sitzens zur Rechten (Mt 26,64 parr.). Wieder sollte man die schlichte Aussage des Physiologus nicht mit christologischer Präzision überfordern, etwa mit der Frage, ob Christus erst jetzt, unmittelbar nach dem Sterben, (wieder) seinen Thron einnimmt. Das Zeugnis unserer Schrift steht durchaus im Einklang mit der weithin geteilten altkirchlichen Überzeugung, dass die sessio ad dexteram eine räumlich-körperliche Metapher für den göttlichen Status Christi darstellt.214 Der Physiologus hat mit 212 Vgl. z. B. Hesych., pasch. 2,2; 2,3 (SC 187, 122–125: νεκρὸν μὲν γὰρ αὐτὸν τὸ σῶμα βοᾷ, τὸ δὲ θαῦμα θεόν· νεκρὸν ἡ ταφή, θεὸν ἡ ἀνάστασις, dazu Aubineau z.St., 152–154); bei Epiphanias: Synes., hymn. 6,24–32 (τίς ὁ κρυπτόμενος θεός, […] θεὸς ἢ νέκυς; von den Magiergeschenken gilt Weihrauch dem Gott, Myrrhe dem Grab). 213 Als Ort sind wir dem Kreuz im Katenenfragment oben bei Anm. 207 begegnet. Vgl. etwa auch das koptische Hippolyt-Frg. bei Grillmeier, Gottessohn (s. Anm. 199) 119. 214 Auch an diesem Punkt kommt es zu theologischer Differenzierung: Auf der einen Seite ist das Sitzen zur Rechten Gottes als Hoheitsposition Erweis der Gottheit Christi und wird etwa korreliert mit dem „ewigen Thron“ und „ewigen Reich“ (Ps 45,7; 145,13 – so etwa Athanas., Ar. 2,13:1 [Athanasius Werke I.1, 189 f = PG 26, 173 A/B]; vgl. 1,61:1–62:1 [171 f = 140 A–141 A]). Es bezeichnet ein „Verhältnis der Gleichheit“ und das „Erhabene der Würde des Sohns“, Basil., spir. 15 (SC 217, 292 f: πρὸς τὸ ἴσον σχέσις / τὸ μεγαλοπρεπὲς τῆς περὶ τὸν υἱὸν τιμῆς). Auf der anderen Seite bezieht es sich ökonomisch auf die menschliche Natur Christi, die im Gefolge der Himmelfahrt diese Position erreicht: Die Aufforderung „setze dich zu meiner Rechten“ gilt dem Herrenleib, nicht Gott, denn dieser erfüllt ja alles (Jer 23,24): Athanas., frg. bei Theodoret, eran. flor. 2,25a (160 Ettlinger = PG 26, 1240 A: εἰς τὸ κυριακὸν σῶμα λέλεκται); Greg. Nyss., Eunom. 3,3:43 (GNO 2, 123: Die Aussage „zur Rechten Gottes erhöht“ von Apg 2,33 bezieht sich nicht auf Christi Gottheit, denn ὁ θεὸς ὑψωθῆναι οὐ δέεται ὕψιστος ὤν. ἄρα τὸ ἀνθρώπινον ὁ ἀπόστολος ὑψῶσθαι λέγει); Ps.-Athanas., Apoll. 2,15 (PG 26, 1157 B, auch in Bezug auf die Verherrlichung, Joh 17,5). Es kann dementsprechend exegetisch differenziert werden (Ps.-Athanas., occurs. 4 [PG 28, 977 C/D]): Der Thron zur Rechten eignet der Gottheit (μονίμην ἔχων τὴν ἐκ δεξιῶν τούτου καθέδραν καὶ ἀδιάπτωτον), das Stehen (Apg 7,55 f) und das Sich-setzen eignet der Menschheit Christi. So ergibt sich eine orthodox gewordene Version, die die sessio auf beide Naturen Christi bezieht (Joh. Dam., fid. orth. 75 [PTS 12, 173]): „Mit der Rechten des Vaters bezeichnen wir die Herrlichkeit und Ehre der Gottheit (δεξιὰν δὲ τοῦ πατρὸς λέγομεν τὴν δόξαν καὶ τιμὴν τῆς θεότητος), worin der Sohn Gottes vor aller Ewigkeit als Gott und als gleichwesentlich dem Vater und am Ende fleischgeworden und körperlich sitzt, weil sein Fleisch mit ihm verherrlicht worden ist.“ Zum ganzen Komplex vgl. Ch. Markschies, „Sessio ad dexteram“.
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dem Gegenüber des Schlafenden am Kreuz und des Wachenden215 zur Rechten Gottes ein überaus impressives Diptychon erschaffen, das Tiefpunkt und Höhepunkt des Christuswegs im Moment seines Todes simultan zur Darstellung bringt. Die Miniatur hat sowohl in der Literatur216 wie vielleicht auch in der bildenden Kunst eine eigene Rezeptionsgeschichte erzeugt.217 Jesu Auferweckung selber spart sich unsere Schrift für ihr drittes Löwengleichnis auf.
10. Überlegungen zur Datierung des Physiologus Unsere Beschäftigung mit dem Löwenkapitel erlaubt einige Überlegungen zur Datierung der Erstversion(en) des Physiologus. Im vorliegenden Beitrag werden sie nicht eigens abgeglichen mit anderen entgegenstehenden Beobachtungen, die etwa für eine Frühdatierung geltend gemacht werden. Bei allen im Folgenden aufgelisteten Punkten bestätigt und bewährt sich die in der Forschung seit langem vertretene Lokalisierung unserer Schrift in Ägypten, etwa in Alexandria. 1. Mit dem Theologumenon der im Fleisch (bzw. im Körper) verborgenen Gottheit Christi befinden wir uns im vierten Jahrhundert, und zwar nach Ausweis der von uns durchmusterten Texte eher in seiner Mitte als an seinem Anfang. In Bemerkungen zu einem altkirchlichen Bekenntnismotiv in der Diskusion der altkirchlichen Theologen, in: ders., Alta Trinità beata. Gesammelte Studien zur altkirchlichen Trinitätstheologie, Tübingen 2000, 1–69. 215 Zum wachenden göttlichen Auge ist neben Ps 121,4 zu beachten ein Aphorismus aus der tragischen Überlieferung: „Nicht schläft das Auge des Zeus, nahe aber ist es, obwohl es von ferne ist“ (οὐχ εὕδει Διὸς ὀφθαλμός, ἐγγὺς δ‘ ἐστί, καίπερ ὢν πρόσω: Stob., flor. 1,3:9 = TrGF 2, 485). „Die Vorstellung hat eine schöne Nachgeschichte im Physiologus“, Markschies, Körper (s. Anm. 65) 741 Anm. 92; vgl. 393 (hiernach übs.). 216 Das Löwengleichnis scheint eingewirkt zu haben auf die Osterpredigt von Leontios von Konstantinopel (hom. pasch. 1,6 [SC 187, 440 f = CCSG 17, 267]) mit Verweis auf Gen 49,9 (wie Physiol. 1; vgl. oben Abschnitt 2): „So wie der Löwe in seiner Höhle mit offenen Augen schläft, so schläft der Herr Christus im Tod drei Tage und schliesst dabei nicht die Augen der Gottheit (καθευδήσας ἐν τῷ θανάτῳ τριήμερον τὰ τῆς θεότητος ὄμματα οὐκ ἐκάμμυσεν).“ Die Rezeptionsspur bestätigt auch unsere Situierung der Löwenallegorie im Diskurs des christologischen triduum. Weitere Texte nennt Aubineau, Homélies (s. Anm. 85) 467 f Anm. 62; vgl. auch Uthemann, Christusbild (s. Anm. 200) 360 f. 217 Am Rand notiere ich die interessante Debatte darüber, ob das Kreuzigungsbild vom Typ des Rabbula-Codex, das den schon toten Jesus (Seitenwunde, Joh 19,34) mit offenen Augen darstellt (vgl. LCI 2, 609 f), vom Physiologus angeregt worden sei. Die These von Alois Grillmeier, Der Logos am Kreuz. Zur christologischen Symbolik der älteren Kreuzigungsdarstellung, München 1956, 81–94, ist von Stommel, Rez. (s. Anm. 196) und anderen abgelehnt, von Alpers, Untersuchungen (s. Anm. 4) 55 f, wieder bekräftigt worden. – Zur Darstellung des Gekreuzigten als „Herr der Herrlichkeit“ vgl. Uthemann, Christusbild (s. Anm. 200) 358–362 („Der Logos am Kreuz: Die offenen Augen eines Toten“): Es geht „letztlich um eine Darstellung der steten Wachsamkeit […] Gottes mittels des Symbols der ewig wachen, offenen Augen Gottes“ (361). Uthemann trifft eine Feststellung, die auch für unsere Physiologus-Miniatur richtig ist: Das Bild des Logos am Kreuz „lässt sich nicht als eindeutiger Ausdruck einer bestimmten Christologie interpretieren“ (365).
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denselben Zeitraum führt uns die Aussage vom doppelten Status des gestorbenen Christus, die wir im damaligen Diskurs über das triduum mortis situiert haben. Für die Datierung des Physiologus, und zwar schon in seiner frühsten noch erkennbaren Textform, liefert der Befund eine feste Grundlage. Dies steht auch im Einklang mit der Fixierung des terminus ante quem im letzten Viertel des vierten Jahrhunderts, wo sich die ersten wirklich sicheren Rezeptionsspuren des Physiologus nachweisen lassen.218 2. Demgegenüber scheint die Figur des sich vor den Engeln verbergenden Erlösers auf seinem Abstieg durch die Himmelssphären, die sich am Anfang des Physiologus findet, in eine frühere Zeit zu weisen. Die „gnostische“ Spur ist ja der Hauptgrund für die v. a. mit Friedrich Lauchert einsetzende Frühdatierung unserer Schrift.219 Dieser Typ des descensus absconditus begegnet hauptsächlich in ‚dissidenten‘ Schriften. Der Aussage im Physiologus kommen dabei Texte besonders nahe, die sich zwar unterscheiden vom Mainstream kirchlicher Theologie, aber selber nicht als „gnostisch“ zu taxieren sind – Ascensio Jesaiae und Epistula apostolorum. Für sich genommen ist die Rezeption dieses Traditionsstücks, über welche Kanäle auch immer, gut im späten zweiten oder im dritten Jahrhundert vorstellbar.220 Ebenso möglich ist aber das vierte Jahrhundert, wie
Vgl. B. E. Perry, Art. Physiologus, PRE 20.1 (1941) 1074–1129, hier: 1100 f („terminus ante quem für die Entstehung des P. ungefähr das letzte Viertel des 4. Jhdts.“); A. Scott, The Date of the Physiologus, VigChr 52 (1998) 430–441, hier: 433 („The first hard evidence of the Physiologus’ use is in the second half of the fourth century, and here there is a solid phalanx of witnesses“); Greschat, Verwendung (s. Anm. 27) 384 („lässt sich doch mit einiger Sicherheit sagen, dass ein solches Werk seit dem Ende des vierten und zu Beginn des fünften Jahrhunderts sowohl im griechischen als auch im lateinischen Sprachgebiet rezipiert wurde“); Curley, Physiologus (s. Anm. 174) xix–xx („We can conclude, therefore, that the Greek text was in circulation by the last quarter of the fourth century; it may have been composed as many as two hundred years earlier, although evidence for this opinion is by no means conclusive“); Lazaris, Physiologus (s. Anm. 4) 18–21. Mit der Spätdatierung entfällt die Schwierigkeit, die ‚dunklen‘ Jahrhunderte zwischen dem frühdatierten Physiologus und der sicher nachweisbaren Rezeption zu überbrücken; vgl. etwa die Verrenkungen bei Perry, aaO. 1103 f; Lazaris, aaO. 23 f. – Die lateinischen Übersetzungen führen nicht mit Sicherheit in das vierte Jahrhundert zurück; vgl. gegenüber Carmody, Physiologus Latinus B (s. Anm. 179) 7 f (sowie ders., Physiologus Latinus Y [s. Anm. 21] 98) die Bedenken von N. Henkel, Studien zum Physiologus im Mittelalter (Herm. NF 38), Tübingen 1976, 22 f; vgl. Scott, aaO. 434 f; Greschat, aaO. 384. Für Mitte oder sogar frühes viertes Jahrhundert plädiert J. Scully, Redemption for the Serpent. The Reception History of Serpent Material from the Physiologus in the Greek, Latin, and Syriac Traditions, ZAC 22 (2018) 422–455, hier: 435–445. 219 Vgl. oben Anm. 3, 36 und 58. 220 Peterson, Spiritualität (s. Anm. 46) weist neben AscJes auch auf andere apokryphe Überlieferungen hin, etwa auf VitAd (247) und ActPaul. Er vertritt trotzdem eine Spätdatierung (vgl. unten bei Anm. 226). Zu apokryphen Traditionen im Physiologus vgl. J. E. Spittler, The Physiologus and the Apocryphal Acts of the Apostles, in: Kindschi Garský / Hirsch-Luipold, Christus (s. Anm. 4) 149–157. 218
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die auch dann noch vitale Rezeption gnostischer Texte (zumal derjenigen aus Nag Hammadi) zeigt.221 Wir kommen auf diesen Punkt zurück. 3. Bezieht man den Topos der Engelgleichwerdung und die Rezeptionsgeschichte von Ps 24 ein, verändert sich das Bild nochmals. Beide Komplexe verdichten sich im Werk des Origenes, mit erheblicher Fortwirkung in der Theologie der folgenden Jahrhunderte. Es fällt auf, dass der Physiologus das Mythologumenon der in Engelleibern und schliesslich in Menschengestalt verhüllten Gottheit Christi geradezu programmatisch an den Anfang seines Werks stellt. Diese Platzierung ist schwer denkbar ohne die vorangegangene exegetische und systematische Arbeit von Origenes, die ihrerseits viele divergente theologische Linien zusammenführt, auch solche gnostischer Herkunft. Im Topos der Gleichwerdung Christi mit den Bewohnern der gestuften Himmelssphären konvergieren für den alexandrinischen Theologen Prinzipientheorie (Logoslehre), Hermeneutik (Akkommodation) und Bibelexegese, die mit den alttestamentlichen Theophanien und Angelophanien befasst ist. Während Origenes das Lehrstück noch mit spürbarer Zurückhaltung vorträgt, hat es sich in der Folge am Rand der grosskirchlichen Theologie etabliert, um schliesslich während der origenistischen Debatten häretisiert zu werden. Der Verfasser des Physiologus greift, vielleicht in Alexandria, ganz selbstverständlich auf dieses Element origenistischer Theologie zurück. Auch die knappe Referenz auf den Schlussteil von Ps 24 setzt feste exegetische und homiletische Auslegungstraditionen voraus, die sich namentlich bei Origenes greifen lassen. Diese Überlegungen führen dahin, den Physiologus nicht vor dem späten dritten Jahrhundert zu verorten. Sie passen gut zu dem Befund, den wir im Blick auf den Leitbegriff der verborgenen θεότης Christi erhoben haben. Auch die Figur der Täuschung des Teufels durch den sich inkarnierenden Gottessohn, die der Verfasser des Physiologus offenbar als gut bekannt voraussetzt (26 und 25), baut auf den von Origenes gelegten Grundlagen auf.222 Eine Abkehr von der Frühdatierung (diese hat erst seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wieder weitreichend an Boden gewonnen) wird in jüngerer Zeit von mehreren Autoren gefordert, durchaus im Rekurs auf die ältere Forschung.223 Origenes und sein Œuvre als terminus post quem spielen dabei eine gewichtige Rolle. Scott hat 1998 eine Vielzahl 221 Wichtige koptische Codices stammen aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem 4. Jahrhundert: Nag Hammadi, Codex Askewianus, Codex Brucianus. Der Codex Berolinensis gnosticus stammt aus dem 5. Jahrhundert. 222 Vgl. oben bei Anm. 168. 223 Für die ältere Forschung ist neben Peterson, Spiritualität (s. Anm. 46) zu verweisen auf M. Wellmann, Der Physiologos. Eine religionsgeschichtlich-naturwissenschaftliche Untersuchung (Ph.S 22.1), Leipzig 1930, 3 f („Annahme, dass die volle Ausbildung des allegorischen Interpretationssystems in unserm Büchlein die Schule des Origenes zur Voraussetzung hat“; vgl. 10 f: spätes viertes Jahrhundert). Ähnlich hat in ihrer Detailstudie geurteilt U. Treu, „Otterngezücht“. Ein patristischer Beitrag zur Quellenkunde des Physiologus, ZNW 50 (1959) 113–122, hier: 117 (es „wird für die Entstehung des Physiologus die Schule des Origenes vorausgesetzt“; anders dann offenbar: dies., Datierung [s. Anm. 58]; LThK3 8 [1999] 276 f [vgl. Anm. 4]). Massive Kritik an Wellmann und Treu übt Alpers, Untersuchungen (s. Anm. 4) 14–16; 59 Anm. 29.
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bestechender Argumente zusammengestellt. Unter anderem findet sich der Hinweis darauf, dass der Physiologus Origenes’ allegorische Methode und dessen zoologisches Material gekannt und benutzt hat.224 Diese Beobachtungen werden von Dorfbauer 2013 bestätigt und vertieft.225
Schliesslich ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass der Physiologus vielfach christliche Asketen und ihre Praktiken mit einer Selbstverständlichkeit voraussetzt, die vor der ersten Hälfte des vierten Jahrhunderts schwer vorstellbar ist. Erik Peterson hat zu Recht auf das enkratitische Profil des Physiologus aufmerksam gemacht.226 Unsere oben entfalteten theologiegeschichtlichen Überlegungen, die uns in das vierte Jahrhundert führen, stützen die Annahme, dass wir Verfasser und Adressaten des Physiologus nicht im schon älteren urbanen Enkratismus etwa von Alexandria, sondern in einem eigentlich monastischen Milieu zu suchen haben. Der Physiologus adressiert seine Leser immer wieder als πολιτευταί (14; 23; 29; 30; 36; 37) oder als τέλειοι ἀσκηταί (12; 30; 33). Gerade die erstgenannte Bezeichnung ist sehr auffällig und vor dem vierten Jahrhundert kaum sinnvoll zu deuten:227 der Asket als Teilhaber an der christlichen Politeia (Gemeinschaft und Wandel) bzw. am christlichen Politeuma 224 Scott, Date (s. Anm. 218) 440 f: Der Physiologus ist „probably written after Origen and indebted to his theological imagination“. Es ist überaus befremdlich, dass die starken Argumente von Scott in der jüngeren Forschung, die ja die Frühdatierung privilegiert, m.W. bisher kaum zur Kenntnis genommen worden sind; zustimmend jetzt aber Scully, Redemption (s. Anm. 218) 424 f; Cox Miller, Eye (s. Anm. 7) 68; 168. Vgl. sodann Spittler, Physiologus (s. Anm. 220), besonders S. 155 f. 225 L. J. Dorfbauer, Fortunatian von Aquileia, Origenes und die Datierung des Physiologus, REAugP 59 (2013) 219–245 (begründet wird die „Annahme, der Verfasser des Physiologus habe – in der zweiten Hälfte des 3. Jh. – eigenständig mit unterschiedlichen Werken des Origenes gearbeitet und aus diesen teilweise sein Material bezogen“, 241). 226 Vgl. dazu v. a. Peterson, Spiritualität (s. Anm. 46) 237–249 („Wie mir scheint, setzt der Physiologos eine in sich geschlossene geistliche Lehre voraus. Diese Doktrin, die die Konkupiszenz in das Zentrum stellt, muss notwendig eine enkratitische Tendenz annehmen“, 249). Zustimmend zur „Grundidee Petersons, der Physiologus sei ursprünglich für mönchisch-asketische Kreise verfasst worden“, Dorfbauer, Fortunatian (s. Anm. 225) 226 Anm. 10; Scott, Date (s. Anm. 218) 438. – Andere Argumente hingegen, die Peterson für eine sehr späte Datierung namhaft macht, müssen ausscheiden, wie Treu, Datierung (s. Anm. 58) 101–103 und Alpers, Untersuchungen (s. Anm. 4) 14; 59 Anm. 28–29, richtigstellen: Das Zitat aus einer Osterpredigt Gregors von Nazianz (or. 45,1 [PG 36, 624 B]) in Physiol. 16 (Peterson, aaO. 252 f) ist textkritisch sekundär; es fehlt z. B. in der ältesten Ganz-Handschrift G (68 Offermanns); bei den Referenzen auf Kyrill von Jerusalem (Peterson, aaO. 252; 237 f) handelt es sich schlicht um Bibelzitate. 227 Eigentlich meint πολιτευτής, also ein Akteur des πολιτεύειν bzw. πολιτεύεσθαι (Moiris, Lex. att. Π 76), einen Staatsmann, mit dem „Demagogen“ assoziiert bei Artemidor 1,79; 3,16. So wie zu einem Schiff ein Steuermann gehört, zu einem Heer ein Feldherr, so zu einer Polis ein πολιτευτής, Theon Rhet., progymn. 12 (127,23 Spengel, RhG, Bd. 2). Wichtig für die Assoziation mit einem Lebenswandel nach Massgabe der Christengemeinschaft ist Justin, apol. 1,65:1 („auch in Werken als tüchtige Mitglieder der Gemeinde und als Beobachter der Gebote erfunden zu werden [δι’ ἔργων ἀγαθοὶ πολιτευταὶ καὶ φύλακες τῶν ἐντεταλμένων εὑρεθῆναι], und so die ewige Seligkeit zu erlangen“), hier aber noch nicht wie im Physiologus als Kennzeichen eines besonderen Standes, sondern aller Christen.
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(Bürgergemeinde).228 Charakteristisch wird in der Allegorese der beiden Froscharten unterschieden (29): Die γενναιότατοι πολιτευταί gleichen dem Landfrosch; sie trotzen der Hitze der Versuchungen; die Weltbürger (οἱ δὲ τοῦ κόσμου) sind Wasserfrösche, sie können nicht standhalten und tauchen wieder ab. Die Askese ist konsequent: „Auch du also, γενναιότατε πολιτευτά, fliehe das Weibliche …“ (37).229
Zum Schluss dieser theologiegeschichtlichen Überlegungen, die sich auf das Löwenkapitel konzentriert haben, ist ein redaktionsgeschichtlicher Hinweis auf dessen exponierte Stellung angebracht. Man kann die Frage aufwerfen, ob gerade dieses erste Allegorien-Ensemble chronologische Schlussfolgerungen für die gesamte Schrift erlaubt, da ja bei Anfangstexten wie Prologen, Proömien u. a. m. öfter mit einer relativ späten literarischen Schicht zu rechnen ist – prominentes Beispiel dafür ist vielleicht der Johannesprolog. Die Unsicherheit darüber, ob wir überhaupt eine Erstversion des Physiologus postulieren können, verstärkt Bedenken dieser Art. Nun gibt es umgekehrt keinerlei textgeschichtliche oder überlieferungsgeschichtliche Anzeichen für eine Edition des Physiologus, die ohne den Löwen ausgekommen wäre. Der König der Tiere bietet sich ganz selbstverständlich als Einstieg für das Zoopanorama unserer Schrift an.230 Ebenso lassen sich nicht die geringsten Indizien namhaft machen, die für eine andere, überschriebene Version statt der uns überkommenen sprächen. Im Gegenteil: Man sieht in den späteren Redaktionen, dass das Löwenkapitel umgeschrieben worden ist, und, seltener, seine Anfangsstellung verloren hat. Wir haben also im überlieferten Löwenkapitel den Anfang des frühsten für uns identifizierbaren Physiologus vor uns. Einige seiner Sprachformen (die „Gottheit“ Christi) und seiner Motive (Christi Verborgenheit vor angelischen bzw. diabolischen Mächten) finden sich auch im übrigen Bestand. Der programmatische Auftakt des Physiologus bildet, wenn man überhaupt von einer Erstversion ausgehen will, mit dem übrigen Corpus ein literarisches Ganzes. Die Interpreten sind deshalb gut beraten, sich wie die impliziten Leser unserer Schrift zu verhalten und Querbezüge zwischen den einzelnen Gleichnissen herzustellen. Der Verfasser des Physiologus setzt dafür ein nicht unerhebliches Wissen um Topoi, Figuren und Schriftbezüge voraus, die in der christlichen Literatur und Theologie schon traditionell geworden sind. Diese Beanspruchung von Leserkompetenzen ist ein
228 Vgl. PGL 1114a „follower of Christian life, devotee“ mit Referenz auf Physiol. 36. Sodann ebd. die Belege für πολιτεία als „ascetic practice, act of religious behaviour“ (1114a [G]) und für πολίτευμα: Neilos (?), de vitiis 2 (PG 79, 1141 B: die ἐγκράτεια als ἁγιασμοῦ πολίτευμα). 229 Zu einer besonders markanten asketischen Allegorie, dem Biber (23), vgl. E. Plümacher, Paignion und Biberfabel. Zum literarischen und popularphilosophischen Hintergrund von Acta Iohannis 60 f. 48–54, Apocrypha 3 (1992) 69–109, hier: 104–106. 230 Vgl. Alpers, Untersuchungen (s. Anm. 4) 597 („Fast ausnahmslos steht in den griechischen Handschriften und den alten Übersetzungen der Löwe [Kap. 1] als König der Tiere am Anfang“).
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Zeichen dafür, dass sich unsere Schrift nicht einfach als unbedarftes „Volksbuch“ charakterisieren lässt, sondern dass sie Bildungsträger adressiert.231 Auf dieser Spur führt unsere Analyse in die Zeit nach Origenes, und hier eher in die erste Hälfte bis zur Mitte des vierten Jahrhunderts als in das späte dritte Jahrhundert. Der Verfasser des Physiologus steht wahrscheinlich monastischen Kreisen Ägyptens nahe. Seine Adressaten mögen sich namentlich an der origenistischen Theologie orientiert haben232 – ob in Alexandria selber oder im durchaus mit den urbanen Zentren verbundenen Land, lässt sich nicht entscheiden.233 Charakteristisch für sie ist ein dezidiert enkratitisches Profil. Über genau diese Kanäle sind wahrscheinlich auch die gnosisnahen Überlieferungen weitergegeben worden, die im Physiologus greifbar sind: Es spricht manches dafür, dass Mönche, darunter solche mit origenistischem Profil, auch Trägergruppen der aus Ägypten stammenden gnostischen Texte, zumal derjenigen aus Nag Hammadi, waren.234 Es ist wohl kein Zufall, dass sich eine der frühesten si231 Dazu passt es gut, dass die ersten Rezeptionsspuren (vgl. oben Anm. 218) zu gebildeten, asketisch orientierten Eliten führen: Im lateinischen Westen „haben also vor allem Christen aus der gebildeten römischen Oberschicht den Physiologus und ähnliche Werke gelesen und fortgeschrieben“, K. Heyden, Liber creaturae und sacra scriptura. Zur Bedeutung der Naturkunde für die Bibelexegese der lateinischen Kirchenväter, in: Kindschi Garský / Hirsch-Luipold, Christus (s. Anm. 4) 159–173, hier: 162; vgl. 172. 232 Vgl. zum schon frühen origenistisch geprägten Mönchtum in Ägypten: S. Rubenson, Origen in the Egyptian Monastic Tradition of the Fourth Century, in: Bienert / Kühneweg, Origeniana (s. Anm. 74) 319–337, besonders 325–329; sodann M. O’Laughlin, Closing the Gap between Antony and Evagrius, in: aaO. 345–354; kritisch demgegenüber: G. Gould, The Influence of Origen on Fourth-Century Monasticism. Some Further Remarks, in: G. Dorival / A. Le Boulluec (Hg.), Origeniana Sexta (BEThL 118), Louvain 1995, 591–598. Zur Verbindung von Origenismus und ägyptischen Mönchen im späten vierten Jahrhundert vgl. Clark, Controversy (s. Anm. 78) 9 f; 22; 191 f. Euagrios Pontikos, der den Origenismus entscheidend fortentwickelt hat, lebte viele Jahre unter ägyptischen Mönchen. 233 Man darf nicht mehr von einem Graben zwischen Stadt (zumal Alexandria) und Land ausgehen, vgl. Rubenson, Origen (s. Anm. 232) 326 („The collected evidence of the references to various types of monks in the papyri, and to their economic and social interactions with society, shows that monasticism in Egypt was closely linked to the cities and towns, and that monasticism proper had its roots in urban asceticism“); 336. Scott, Date (s. Anm. 218) 430, urteilt also richtig: „That the Physiologus was written in Egypt does appear certain, but there is no compelling reason to insist on a connection with Alexandria“; vgl. 441: „It may have been written in Alexandria, but it may also have been written outside, e. g. in monastic circles.“ – Zur Neubewertung der Lese‑ und Schreibkultur in den „communication networks within early Egyptian monasticism“ vgl. M. Choat / M. Ch. Giorda, Communicating Monasticism. Reading and Writing Monastic Texts in Late Antique Egypt, in: dies. (Hg.), Writing and Communication in Early Egyptian Monasticism (Texts and Studies in Eastern Christianity 9), Leiden 2017, 5–16. 234 Zum (umstrittenen) Stellenwert gnostischer Texte für origenistische Mönche in Ägypten, namentlich im Hinblick auf die Nag Hammadi-Codices, vgl. H. Lundhaug / L. Jenott, The Monastic Origins of the Nag Hammadi Codices (STAC 97), Tübingen 2015, 238–262 („Origenist Monks?“): „Far from being a marginal trend, Origen’s influence in Egypt appears to have been ubiquitous from the beginning of monasticism, and became controversial only toward the end of the fourth century when archbishop Theophilus abruptly turned against the Origenist monks“, 238. Vgl. H. Lundhaug, The Nag Hammadi Codices in the Complex World of 4th‑ and
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cheren Rezeptionsspuren des Physiologus, hier der zweiten Löwenallegorie, beim Origenesanhänger und Ägyptenreisenden Rufin von Aquileia an der Wende vom vierten zum fünften Jahrhundert findet.235 Auch später scheint unsere Schrift besonders gern gelesen worden zu sein in den Klöstern der koptischen Mönche.236
11. Der „Naturforscher“ als Hermeneut: die beiden Bücher Gottes Wir schliessen mit einem Ausblick zur Hermeneutik unserer Schrift. Der Φυσιολόγος rangiert als herausragender Autoritätsträger. Gelegentlich scheint sich der implizite Autor geradezu mit ihm zu identifizieren.237 Explizit nimmt der „Physiologos“ kaum je das Wort,238 im Unterschied zu den biblischen Figuren, die häufig selber sprechen. Über seine naturkundliche Kompetenz hinaus wird der „Physiologos“ auch zum Exegeten.239 Mehr noch: Er präsentiert sich selber als Weiser. Darin ist er mit Salomo vergleichbar – eine Assoziation, die 5th-Cent. Egypt, in: L. Arcari (Hg.), Beyond Conflicts. Cultural and Religious Cohabitations in Alexandria and in Egypt between the 1st and the 6th Cent. CE (STAC 103), Tübingen 2017, 339–358; F. Vecoli, Writing and Monastic Doctrine, in: Choat / Giorda, Writing (s. Anm. 233) 165–186, hier: 165–167; K. A. Fowler, The Ascent of the Soul and the Pachomians. Interpreting the Exegesis on the Soul (NHC II,6) within a Fourth-Century Monastic Context, Gnosis 2 (2017) 63–93 (für unsere Thematik der Engelgleichwerdung in simonianischer Tradition [dazu oben Anm. 38] ist die folgende Beobachtung wichtig: „the representation of Soul in Exegesis on the Soul, is very similar to that of Helen in the myth of Simon Magus and Helen“, 79). Kritisch zur monastischen Verortung: N. D. Lewis / J. A. Blount, Rethinking the Origins of the Nag Hammadi Codices, JBL 133 (2014) 399–419 („the Nag Hammadi codices belonged to private [i. e., non-monastic] individuals who commissioned them for their own purposes“, 416). Zu den gnostisch-koptischen Codices s. auch oben Anm. 221. 235 Rufin, ben. patr. 1,6 (CCSL 20, 193 = SC 140, 46 f mit Bezug auf Gen 49,9 [vgl. oben Anm. 24 zu Physiol. 1 sowie Anm. 216]: nam Physiologus de catulo leonis haec scribit, quod cum natus fuerit, tribus diebus ac tribus noctibus dormiat […]). Zur Lektüre des Physiologus bei Rufin und seinem Kreis vgl. Heyden, Liber (s. Anm. 231) 161 f. 236 Dazu sowie zu den fast verlorenen Überresten des koptischen Physiologus vgl. M. Stroppa, The Physiologus in Egypt, in : G. Rosati / M. C. Guidotti (Hg.), Proceedings of the XI International Congress of Egyptologists (Archaeopress Egyptology 19), Oxford 2017, 603–607, besonders 606; ders., Physiologus (s. Anm. 5) 43. 237 Das Verfasser-Ich selber begegnet selten (die 1. Person Nom. εὑρίσκω in 17 ist textkritisch unsicher), meist im fiktiven Dialog mit dem Leser (Diatribenstil ἐρεῖς μοι 3; 5) oder lediglich explikativ (λέγω 13). Häufig wird der Leser direkt angeredet („du, o Mensch“ 2; 6; usw.), darunter besonders die Asketen (ὦ πολιτευτά, 14; 23; 30; usw.; vgl. oben bei Anm. 227). 238 Der Fall ist dies lediglich in 13bis; 35a. 239 So 32 (vom Diamantstein): Der „Physiologos“ zitiert Jes 40,3–5 (Φυσιολόγου ἐξήγησις· ‚φωνὴ βοῶντος‘ [κτλ.] 106,4 f Sbordone; er ordnet Schriftaussagen einander zu). In 41 (von der Gazelle) spielt der „Naturforscher“ vielleicht auf Ps 104,18 an. – Beachtenswert ist auch das ein Stück weit technisch gewordene Vokabular für die Allegorese (πρόσωπον λαμβάνειν [häufig], παραπλησιάζειν, τοῦτον τὸν τρόπον, οὕτως καί, παρεικάζειν, usw.), das natürlich der Schriftexegese entstammt. Ich lasse es bei der Frage bewenden, ob sich die Formel πρόσωπον λαμβάνειν nicht zuletzt der sogenannten prosopographischen Exegese der Alten Kirche verdankt; zu dieser vgl. C. Andresen, Zur Entstehung und Geschichte des trinitarischen Personbegriffes, in: ders.,
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die Rezeptionsgeschichte der Schrift begleitet hat.240 Sein Wissen erhebt einen weisheitlichen Anspruch. Trotzdem ist das Wissen des „Physiologos“ grössernteils kein zuhandenes, alltagsevidentes Wissen. Nicht von ungefähr stammt viel Material aus der Teratologie, den Sammlungen von paradoxa, mirabilia et stupenda. Zugespitzt formuliert: Das Wissen des „Physiologos“ wird ähnlich wie das Bibelwissen taxiert: Es situiert sich, mindestens teilweise, auf der Ebene von Offenbarungswissen, da es von einer überragenden Autorität mitgeteilt und verbürgt wird.241 Auf dieser Linie ist zu überlegen, ob für die Kategorie des „Physiologos“ neben der Semantik des „Naturforschers“ nicht auch eine kosmotheologische Figur konstitutiv ist: Der Φυσιολόγος, der die φύσεις der Tiere beschreibt, wäre aus stoischer Perspektive zu verstehen als Selbstmitteilung und Explikation des φύσεως λόγος. Man darf fragen, ob sich hier eine Brücke zum Logos des Johannesprologs abzeichnet, einem der wichtigen Prätexte unserer Schrift (1; 22).242
Der Physiologus stellt eine Wechselwirkung zwischen Schrift und Natur vor Augen. Die allegorisch erschlossene Natur ist dabei eingelassen in die von der Bibel ausgespannte spirituelle Landschaft. Literarisch ist dies fassbar in der Einbettung der Aussagen des „Physiologos“ in Bibelreferenzen. Der Weg führt von der Bibel zur Natur und von hier wieder zur Bibel.243 Dabei nimmt der Physiologus offenbar auch markante Anpassungen der zoologischen Überlieferungen selber vor. Prominente Beispiele sind hierfür neben dem dritten Löwengleichnis244 der Pelikan (4), der Adler (6), das Einhorn (22) und der Elefant (43):245 Es ist Theologie und Kirche im Horizont der Antike. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der Alten Kirche (AKG 112), Berlin 2009, 55–89. 240 Vgl. Lauchert, Geschichte (s. Anm. 3) 43 f; Perry, Physiologus (s. Anm. 218) 1076; 1109 f; 1114. 241 Natürlich arbeitet der Physiologus auch und gern mit bekanntem alltäglichem Wissen, vgl. das „du weisst“ (οἶδας) bei Feigen und Schlupfwespen (48). Dass der Physiologus gern an der Grenze dessen operiert, was die Leserschaft noch für glaubwürdig halten kann, arbeitet Nicklas, Staunen (s. Anm. 193) heraus: Die Naturphänomene „müssen […] so an der Schwelle dessen liegen, was noch ‚glaubwürdig‘, aber schon (an sich) erstaunlich ist, dass sie attraktiv bleiben“ (250; vgl. 247). 242 Zur Bedeutung des Johannesprologs für unsere Schrift und ihr Naturverständnis vgl. Z. Kindschi Garský, Der Physiologus und das Neue Testament. Die neutestamentlichen Wurzeln der frühchristlichen Naturdeutung, in: Kindschi Garský / Hirsch-Luipold, Christus (s. Anm. 4) 83–92, hier: 90 f. 243 Vgl. Alpers, Untersuchungen (s. Anm. 4) 35–47; Nicklas, Staunen (s. Anm. 193) 244. Leider arbeitet Alpers mit einem längst überholten Gegensatz zwischen (ziemlich negativ gewerteter) Allegorie und (positiv eingeschätzter) Typologie (42–46; vgl. ders., Untersuchungen [s. Anm. 4] 594: „man sollte beim Physiologus nicht von Allegorese sprechen“). Auch Zucker findet im Physiologus statt der negativ beurteilten Allegorie „une leçon de symbologie“ (Physiologos [s. Anm. 4] 41–44). Zum Stellenwert von Allegorie und Typologie vgl. Kindschi Garský, Physiologus (s. Anm. 242) 84–87. 244 Vgl. dazu oben bei Anm. 25. 245 Vgl. die jeweils zusammenfassenden Hinweise bei Lauchert, Geschichte (s. Anm. 3) und bei Schönberger, Physiologus (s. Anm. 6): zur Pelikanmutter, die sich opfert (4, zu möglichen
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kein Überlieferungszufall, dass sich für charakteristische Eigenheiten gerade dieser Tiere, die so sehr zur christlichen Allegorese einladen, keine entsprechenden Vorgaben bzw. Parallelen in der antiken Zoologie finden.246 Der Physiologus greift auf die Bilder und Gleichnisse der Bibel zurück, um sie dann in der Natur wieder zu „entdecken“ – und sie erneut durch Allegorese zu geistiger Wirklichkeit zu machen. Schrift und Natur konvergieren schliesslich in noch einem entscheidenden Punkt: Sie bekunden beide die Wohlordnung der Schöpfung. Der Physiologus schliesst seine Porträts häufig mit einer stereotypen Aussage: „Wohl also und nach Fug hat der Physiologus geredet“ (καλῶς οὖν ὁ Φυσιολόγος ἔλεξε).247 Die Übersetzung von Otto Seel weist in die richtige Richtung: Die Formel bringt die Schöpfungsordnung zur Sprache, die die Natur gleichnisfähig für die Erlösung macht – in der platonisierenden Perspektive des Physiologus: für die geistigen, intelligiblen Dinge. Es ist bemerkenswert, dass sich eine derartige schöpfungstheologische Sicht ausgerechnet einem dezidiert asketischen Standpunkt verdankt.248 Wir dürfen aber darüber hinaus in diesem καλῶς auch einen Reflex des Lobs erkennen, das der biblische Schöpfungsbericht angesichts des Sechstagewerks zur Sprache bringt: „Und siehe, alles war sehr gut (καλὰ λίαν)“ (Gen 1,31; vgl. 1,4; usw.). Die betreffenden Sätze des Physiologus rangieren als Zäsurenmarker, summieren aber zugleich auch sein naturtheologisches Programm. Dazu kommt das nicht gering zu veranschlagende Moment des Unterhaltsamen: Das Reden des „Physiologos“, das der Verfasser eigens immer wieder lobt, animiert die Leser dazu, selber mitzuspielen in den hermeneutischen Brückenschlägen zwischen Natur, geistig-geistlicher Welt und eigener Lebensgestaltung.249 Vorgaben vgl. Alpers, Untersuchungen [s. Anm. 4] 28 – die Undankbarkeit der Jungen stammt aus Jes 1,2 – sowie S. Lewis / L. Llewellyn-Jones, The Culture of Animals in Antiquity. A Sourcebook with Commentaries, London 2018, 532–534); zum seine Flügel verbrennenden und sich selber erneuernden Adler (6; Prätext ist Ps 103,5); zum Einhorn (22; dazu oben Anm. 27), und zur von Mandragora (vgl. Gen 30,14) unterstützten Elefantenliebe und ‑geburt in Paradiesnähe (!) samt Abwehr der Schlange (43; dazu Peterson, Spiritualität [s. Anm. 46] 246–248 mit Hinweis auf VitAd; zur Mandragora H. Rahner, Griechische Mythen in christlicher Deutung, Zürich 21957, 284–351, namentlich 324–326 zum Physiologus). Allerdings muss immer in Rechnung gestellt werden, dass nur ein geringer Teil der antiken naturkundlichen Literatur erhalten geblieben ist. 246 Unterstrichen von Alpers, Untersuchungen (s. Anm. 4) 41: „Etwa die Hälfte aller Physiologus-Geschichten hat keine Parallele in der naturkundlichen Nebenüberlieferung des Altertums“ (vgl. 35) – und von der verbleibenden Hälfte ist Wesentliches von der Auslegung her gestaltet oder umgestaltet. 247 Neben dem „Physiologos“ selber wird das καλῶς auch biblischen Figuren zugesprochen (1 Jakob; 4 David; 10 der Täufer; 19 Jesus; 27 Jeremias; vgl. 48 Amos). 248 Vgl. zu einem analogen Befund im Neuen Testament meinen Aufsatz: Weltdistanz und Weltzuwendung im Urchristentum, in: H.-G. Nesselrath / M. Rühl (Hg.), Der Mensch zwischen Weltflucht und Weltverantwortung. Lebensmodelle der paganen und der jüdisch-christlichen Antike (STAC 87), Tübingen 2014, 127–145, Abdruck in diesem Band: 149–165. 249 Vgl. dazu Nicklas, Staunen (s. Anm. 35) 250: „Die Kraft des Textes […] geht von der […] erstaunlichen im Text kreierten und gleichzeitig offenen ‚Welt der Naturphänomene‘ au[s], die
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Der Physiologus bringt die auch sonst in der christlichen Antike, schon im Neuen Testament, beobachtbare Metapher der beiden Bücher Gottes zum Ausdruck, die sich gegenseitig interpretieren. Wir nehmen die seinerzeitige Berner Tagung zu dieser Schrift und den Abdruck des Physiologus Bernensis im daraus resultierenden Sammelband250 zum Anlass, den Berner Pfarrer Jeremias Gotthelf zu zitieren:251 „Und wie Gott dem Menschen zwei Augen gegeben hat, so hat er ihm auch zwei Bücher gegeben, das heilige alte Buch, das nicht blos ein Vikari soll exegisieren können, sonder jeder Christ verstehen; aber auch das wunderbare Buch, das alt ist, und doch jeden Tag neu wird, das wunderbare Buch, das aus göttlichem Quell entsprungen, wie durch unzählige Bäche ein Strom genährt wird, durch Quellen aus jedes Menschen Brust, das Gott mit lebendigem Atem durchhaucht und Blatt um Blatt beschreibt vor der Menschen selbsteigenen Augen. Und wie die beiden Augen einander helfen auf unerklärliche Weise, und eins ohne das andere verwaiset sich fühlt und einsam und nur noch halb so gut als früher, so hat es auch ein Buch mit dem andern Buch, ein Buch wirft Licht auf das andere Buch, beide strömen Leben sich zu und halbdunkel wenigstens bleibt ein Buch ohne das andere Buch. […] Aber wo der Mensch mit beiden Augen in beide Bücher sieht, da nahen sich Himmel und Erde, ist der Himmel offen, Engel Gottes steigen auf und nieder, strömende Offenbarungen Gottes verklären das Leben, heiligen die Zustände; die Bibel gibt dem Leben seine Weihe, das Leben macht die Bibel lebendig.“
auf unterhaltsame Weise den Lesenden in ihren Bann zieht und so anzielt, ihn auf kreative, z. T. überraschende Weise in seiner Lebenshaltung zu bestätigen bzw. im Sinne der vom Text vorausgesetzten Haltung weiterzuführen.“ 250 Kindschi Garský / Hirsch-Luipold, Christus (s. Anm. 4) 195–228, mit Einleitungen (177– 194). 251 J. Gotthelf, Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht, La Chaux de Fonds 1843/44, 300–301.
Paulus in Zürich Zur Briefauslegung von Heinrich Bullinger Abstract Paul in Zurich. On Heinrich Bullinger’s Interpretations of Pauline Letters Within the wide span of the Reformation’s readings of scripture, the voice of Heinrich Bullinger († 1575), the successor of Ulrich Zwingli in reformed Zurich, deserves special attention. The article deals with his exegetical works, namely his interpretation of the Pauline epistles, and pays particular attention to certain passages in his exegesis of Galatians and Philippians. Bullinger is one of the predecessors of modern rhetorical criticism in biblical exegesis. In particular, his education in humanistic culture as represented by Erasmus saw him take up some Melanchthon-driven impulses in analyzing the Pauline texts with the tools of ancient rhetoric theory. Bullinger displays a modest and deliberated use of rhetorical categories and might therefore be regarded as a role model for today’s scholars in their rediscovery of Paul as a rhetorically skilled letter writer.
Paulus hat nicht nur Briefe, sondern auch Geschichte geschrieben. Er hat Selbstverständnis, Theologie und Frömmigkeit des Christentums anhaltend beeinflusst, mitunter sogar in eigentlichen Wellen. Im ersten Jahrhundert hat er als Heidenapostel nicht nur eine transethnische Version des Christusglaubens in der östlichen Mittelmeerwelt verbreitet, sondern umgekehrt auch für die konstitutive Rückbindung der sich neu bildenden Religion an Israels Verheissungsgeschichte gesorgt. Während Paulus seinen Universalismus mit manchen zeitgenössischen hellenistischen Christen teilt, schreibt er sich als apokalyptisch orientierter Theologe und als Ausleger von Israels Schriften unverwechselbar in die christliche Identitätsgeschichte ein. Im späten vierten Jahrhundert lässt sich eine weitere Welle beobachten: Es kommt im Osten und besonders im Westen zu so etwas wie einer „Paulus-Renaissance“, oder zurückhaltender: zu einer markanten Intensivierung der Paulusstudien.1 Die Gründe liegen auf der Hand: Die Briefe des Apostels bieten sich einerseits für einen Brückenschlag zwischen platonischer Geistmetaphysik und Evangelium an. Sie erschliessen andrerseits den 1 Vgl. besonders P. Brown, Augustinus von Hippo, dt. Übs. Frankfurt 21982, 88–96; 130–136; 308; 324 f; C. P. Bammel, Tradition and Exegesis in Early Christian Writers (CStS 500), Aldershot 1995, no. 16–17; M. Mitchell, The Heavenly Trumpet. John Chrysostom and the Art of Pauline Interpretation (HUTh 40), Tübingen 2000, 411–423; S. Vollenweider, Art. Paulus. I.–III., RGG4 6 (2003) 1035–1065, hier: 1063; W. Wischmeyer, Paulus und Augustin, in: E.M. Becker / P. Pilhofer (Hg.), Biographie und Persönlichkeit des Paulus (WUNT 187), Tübingen 2005, 323–343.
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lateinischen Theologen die relational und rechtlich konnotierten Figuren von Rechtfertigung, Glaube und Gnade. Beides lässt sich an Augustin gut verfolgen. Schliesslich ist die Reformation zu nennen. Die Pauluslektüre erzeugt jene enormen weltgeschichtlichen Verwerfungen, deren fünfhundertjährige Geschichte wir in diesen Tagen zelebrieren. Ob man schliesslich im zwanzigsten Jahrhundert und in der jüngeren Gegenwart nochmals eine ‚Welle‘ wahrnehmen will, dürfen wir an dieser Stelle offenlassen.2 Martin Luther ist als Bibelausleger zum Reformator geworden.3 Im Galaterbrief und im Römerbrief entdeckt er die Rechtfertigungsbotschaft, die zum Schlüssel für das Verständnis der gesamten Heiligen Schrift wird. Seit Luthers Vorlesungen bildet die Paulusexegese für alle aus der Reformation hervorgehenden Kirchen einen Katalysator, der Theologie und Frömmigkeit nachhaltig bestimmt.4 Dabei lässt die Fülle an Kommentaren und Auslegungen aus dem 16. Jahrhundert ein breites Spektrum von Paulusbildern und Paulusperspektiven erkennen. Die Vielfalt reformatorischer Paulusinterpretationen ist in der jüngeren Exegese, die sich mit der Parole einer New Perspective on Paul von den Fesseln der protestantischen Tradition freizumachen suchte, oft übersehen worden. Es lohnt sich, auf die verschiedenartigen Akzente, die die Reformatoren in ihrer Auslegung des Corpus Paulinum legen, sorgfältig zu achten. Im Folgenden soll es darum gehen, abseits der überragenden Gestalten von Luther und Calvin einer besonderen Spur der reformierten Paulusrezeption nachzugehen, nämlich der Briefauslegung durch Heinrich Bullinger, den Zürcher Reformator und Nachfolger von Ulrich Zwingli. Die entsprechenden Schriften, endlich in einer kritischen Ausgabe erschienen, sind in den 1530er Jahren publiziert worden.5 Ihr Zielpublikum ist die erste Predigergeneration der evangelischen Kirche; die Kommentare wollen Pfarrern das exegetische Rüstzeug für ihre Verkündigungstätigkeit bieten, so 2 Zu denken wäre neben dem Auftakt der dialektischen Theologie mit Karl Barths Römerbrief an die Entwicklung der New Perspective on Paul im Kontext des jüdisch-christlichen Gesprächs und an die Entdeckung des Denkers Paulus durch etliche Philosophen. Zu letzterer vgl. J. D. Caputo / L. M. Alcoff (Hg.), St. Paul among the Philosophers, Bloomington 2009. 3 „Als Bibelexeget gelangte Luther an den archimedischen Punkt, von dem aus er eine Welt aus den Angeln hob. Ungewollt, aber mit innerer Notwendigkeit geriet eines nach dem anderen in Bewegung: die Ablass‑ und Bussfrage, der päpstliche Primat, die Sakramente und damit die Ekklesiologie überhaupt und nicht zuletzt auch die Ethik“, G. Ebeling, Umgang mit Luther, Tübingen 1983, 22. 4 „The sixteenth century was a Pauline age“, R. W. Holder, Introduction – Paul in the Sixteenth Century. Invitation and a Challenge, in: ders. (Hg.), A Companion to Paul in the Reformation (Brill’s Companions to the Christian Tradition 15), Leiden 2009, 1–12, hier: 1. 5 Heinrich Bullinger, Theologische Schriften, Bd. 6: Kommentare zu den neutestamentlichen Briefen (Röm – 1 Kor – 2 Kor), hg. von L. Baschera, Zürich 2012; ders., Theologische Schriften, Bd. 7: Kommentare zu den neutestamentlichen Briefen (Gal – Eph – Phil – Kol), hg. von L. Baschera, Zürich 2014; ders., Theologische Schriften, Bd. 8: Kommentare zu den neutestamentlichen Briefen (1–2 Thess – 1–2 Tim – Tit – Phlm), hg. von L. Baschera / Ch. Moser, Zürich 2015; ders., Theologische Schriften, Bd. 9: Kommentare zu den neutestamentlichen Briefen (Hebräerbrief – Katholische Briefe), hg. von L. Baschera, Zürich 2019.
1. Das Programm
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wie sie selber aus der Predigttätigkeit des Zürcher Antistes entstanden sind. Beachtung verdienen sie gerade als oftmals konventionelle Exegesen, die nicht auf steile Spitzenthesen setzen, sondern Erkenntnisse früherer Ausleger und eigene Einsichten zusammenführen. Dieser Typ einer gelehrten reformatorischen, oder besser: reformierten Koinē verleiht ihnen ein eigenes Profil.6 In den folgenden Zeilen soll mit Absicht auch nicht der Römerbrief im Zentrum stehen, dessen Auslegung aufgrund seines besonderen Status in der Reformationsbewegung die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen hat.7 Unser Augenmerk gilt primär Bullingers Auslegung zweier kleinerer Briefe, dem Galaterbrief und dem Philipperbrief. Die Leitfrage ist vorrangig hermeneutisch, nicht historisch: Welche Impulse kann die Pauluslektüre des Zürcher Reformators heutigen Auslegern vermitteln?8
1. Das Programm Um sich das hermeneutische Programm des Kirchenlehrers zu erschliessen, lohnt sich ein Blick in seine Frühschrift Studiorum ratio, verfasst um 1527/28.9 Was Bullinger in seiner „Studienanleitung“ von einer angemessenen Lektüre der biblischen Texte erwartet, wird später in seinem Kommentarwerk und in den „Dekaden“ ausgeführt.10 Für unseren Zusammenhang sind drei Punkte wichtig. 6 Die Forschung hatte sich bei Persönlichkeiten wie Bullinger lange Zeit an der Überwindung der Etikettierung „Epigonen“ abzuarbeiten. Vgl. E. Campi, Heinrich Bullinger und seine Zeit, Zwing. 31 (2004) 5–35, hier: 23–32; Ch. Strohm, Frontstellungen, Entwicklungen, Eigenart der Rechtfertigungslehre bei Bullinger, in: E. Campi / P. Opitz (Hg.), Heinrich Bullinger. Life – Thought – Influence (ZBRG 24), Zürich 2007, 537–572). 7 Das gilt besonders für Bullingers Römerbriefauslegung in seiner Kappeler Frühzeit (1525): Dazu S. Hausammann, Römerbriefauslegung zwischen Humanismus und Reformation. Eine Studie zu Heinrich Bullingers Römerbriefvorlesung von 1525, Zürich 1970. Zum Kommentar von 1533 vgl. P. Opitz, Bullinger on Romans, in: K. Ehrensperger / R. W. Holder (Hg.), Reformation Readings of Romans (Romans through History and Cultures Series 8), New York 2008, 148–165. 8 Vgl. dazu den anregenden Band von R. M. Allen / J. A. Linebaugh (Hg.), Reformation Readings of Paul. Explorations in History and Exegesis, Downers Grove 2015, wo je ein Historiker und ein Exeget Stellung nehmen zu den jeweils gleichen reformatorischen Auslegungen. Wenn G. Theissen und P. von Gemünden Paulus als Reformator (des Judentums) porträtieren, lässt sich die Exegese von der Reformationsgeschichte anregen: Der Römerbrief. Rechenschaft eines Reformators, Göttingen 2016. 9 Heinrich Bullinger, Studiorum ratio. Studienanleitung, 2 Bde., hg. und übs. von P. Stotz, Zürich 1987. Die deutschen Übersetzungen stammen aus dieser Ausgabe. Zitiert wird nach Kapiteln und zugeordneten Zeilen. 10 Mit der Bibelhermeneutik befasst sich besonders Dekade 1.3 (De sensu et expositione legitima verbi dei, quibus modis et rationibus exponi possit), in: Heinrich Bullinger, Theologische Schriften, Bd. 3 und 4: Sermonum Decades quinque de potissimis Christianae Religionis Capitibus, hg. von P. Opitz, Zürich 2008, 49–55.
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1. Mit der Wahl des literarischen Genus der Studiorum ratio formuliert Bullinger ein bildungstheoretisches Programm,11 für das er sich insbesondere Erasmus verpflichtet weiss. Auch und gerade die Bibellektüre folgt den Regeln, die für die klassische Literatur gelten. So wird zunächst die lectio prophana (Kap. 4–14), dann die lectio sacra (Kap. 15–30) reguliert.12 Für letztere bedarf es einer reinen, bereitwilligen und ehrfürchtigen Einstellung (Kap. 15). Sprachkompetenzen werden stark gewichtet (Kap. 19). Vor allem soll der Leser die Texte auf den „alleinigen Skopus der Schrift, worauf alle biblischen Bücher ausgerichtet sind“, beziehen (Kap. 20); das ist für den Reformierten Bullinger die Bundestheologie.13 Es wird also ein „canonical reading“ empfohlen, freilich mit scharfer inhaltlicher Fokussierung. Gleichsam als Gegengewicht zur gesamtbiblischen Perspektive fungieren nun aber die communes scripturas tractandi rationes, die methodischen Leitprinzipien (Kap. 21). Hier gelten zwei Fundamentalregeln: zum einen die konsequente Beobachtung des Kontexts, zum anderen die Instrumente der Rhetorik. Namentlich die „echte Kenntnis der Tropen in Bezug auf die heiligen Schriften ist notwendiger als Feuer und Wasser“.14 Schliesslich kommt die Beachtung der circunstantiae, der Umstände, hinzu – „an welchem Ort etwas gesagt worden ist, zu welcher Zeit, wie etwas getan worden ist, mit welcher Absicht, bei welcher Gelegenheit, durch was für Menschen u. a. m.“15 Man kann das, etwas modernisierend, als literarische Pragmatik umschreiben, zumal wenn man mit Bullinger den zentralen Gesichtspunkt des rhetorischen status einbezieht, d. h. der Hauptfrage, die eine Rede bzw. eine Schrift steuert.16 Unser Autor schliesst seinem eindringlichen Appell zur rhetorischen Analyse, zur Aufmerksamkeit für ornatus und elocutio, eine warme Empfehlung der entsprechenden Werke Melanchthons und Erasmus’ an.17 2. Erheblichen Raum nehmen in Bullingers Lehrschrift Ratschläge zur Strukturierung von literarisch vermitteltem Wissen mit Hilfe von loci ein (de locis 11 Zur entsprechenden Bildungsliteratur vgl. Stotz (s. Anm. 9) Bd. 2, 27 f mit Hinweisen auf Erasmus und Melanchthon, aber auch auf Katholiken wie Johannes Eck und die Jesuiten. 12 Es gilt also – selbstverständlich – das Prinzip: non modo sacra esse legenda sed etiam prophana (3,9 f). Kap. 4 richtet sich gegen die christlichen Verächter der prophanae litterae. 13 Der Verfasser setzt sich an dieser Stelle auch implizit von den Lutheranern ab, von „denen, die alles auf Gesetz und Evangelium beziehen“ (20,1 f); das will er an dieser Stelle weder tadeln noch loben. 14 Bullinger, Studiorum ratio (s. Anm. 9) 21,54 f. Bullinger verweist auf ein von ihm selber verfasstes – nicht erhaltenes – de tropis scripturae opusculum, das aber mehr Schaden als Nutzen gestiftet habe (21,52). 15 AaO. 21,58–68, eigens mit Verweis auf Erasmus im Anschluss an Quintilian. Vgl. Dekade 1.3 (Expositio praecedentia et consequentia, item circunstantias excutiat, Theologische Schriften, Bd. 3 [s. Anm. 10], 53). 16 AaO. 21,98 ff: Es gilt „zuerst und vor allen Dingen zu erkunden, was der Verfasser anstrebt, was er lehrt, was er billigt, was er verwirft, mit welchem Ziel und zu welchem Zweck er schreibt, mit was für Beweisgründen er seine Sache verficht.“ 17 AaO. 21,109–116.
1. Das Programm
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parandis, Kap. 31).18 Auch diese Methode umfasst sowohl weltliche wie biblische Literaturen. Wiederum fungiert Erasmus als ausgezeichnete Autorität.19 Gerade die Bibelauslegung profitiert enorm von der Kompetenz, loci angemessen aufeinander zu beziehen.20 3. Schliesslich halten wir Bullingers reformatorische Grundüberzeugung fest, eine Variation des hermeneutischen Prinzips der sola scriptura, hier spezifisch auf den Umgang mit Kommentarliteratur heruntergebrochen: scripturam sui ipsius esse commentarium – „die Schrift ist ihr eigener Kommentar, wofern wir sie nur mit Sorgfalt und Urteilsvermögen lesen und uns unablässig mit ihr beschäftigen.“21 Menschliche Auslegungen führen in die Irre; es bedarf einer klugen Auswahl. Für das Neue Testament wird namentlich auf Erasmus verwiesen. Die in den 1530er Jahren publizierten Briefkommentare führten das skizzierte Programm in detaillierter Weise durch.22 Einiges davon wird schon in den Vorreden zu den jeweiligen Ausgaben erkennbar. 1. In der Vorrede zur Gesamtausgabe der Briefkommentare (1537) unterstreicht Bullinger die Notwendigkeit einer auf Präzision, Konzentration und Schlichtheit zielenden, sorgfältigen sprachlich-rhetorischen Analyse.23 Zugleich soll die Textauslegung dort, wo es sich aufdrängt, aktuelle kirchliche Problemlagen ansprechen.24 Die einzelnen Vorreden vervollständigen das Bild. Die Schwierigkeit, biblische Worte zu verstehen, geht oft zurück auf mangelhafte detaillierte Textanalyse.25 Gerade eine rhetorische Analyse biblischer Texte stellt deren simplicitas und natürliche Sprechweise heraus.26 Der Kommentarstil hat dem zu entsprechen.
Bullinger bietet zwei Listen, die erste für die litterae prophanae, die zweite bildet den sacer index (aaO. 128,12 f). 19 Zum Umgang von Bullinger mit Erasmus’ Ratio colligendi exempla siehe Stotz (s. Anm. 9) Bd. 2, 276–279. 20 „Wenn du demnach die Schriften mit Nutzen lesen oder mit ihnen arbeiten willst, sollst du dafür sorgen, dass du möglichst viele Stellen in Bereitschaft hast (ut quam plurimos in procinctu habeas locos), mit denen du dir bei knapperen und schwierigeren Stellen weiterhelfen magst“ (aaO. 21,86 f). 21 AaO. 30,3 f. 22 Innerhalb der Bibel, die als ganze den einen Bund Gottes bezeugt, haben die Evangelien einen besonderen Stellenwert, da sie die Erfüllung der Verheissungen erzählen. Paulus seinerseits bekräftigt deren Zeugnis. Vgl. I. Backus, Bullinger als Neutestamentler. Sein Kommentar zu den Paulusbriefen und den Evangelien, Zwing. 31 (2004) 105–131, hier: 114–122; 127–130. 23 Bullinger, Schriften, Bd. 6 (s. Anm. 5) 7,7–23 (quae sit orationis series, quod filum, hoc est, quis scopus eorum, quibus de disseritur, quae sententiarum et argumentorum inter sese connexio, quo referenda sint omnia, quid probent aut quid sibi velint, Z. 18–20). 24 AaO. 7,24 ff. 25 Praefatio zum Römerbrief, aaO. 15,9–19 (der Eindruck des Schwerverständlichen „entsteht aufgrund unserer Fahrlässigkeit, sodann aufgrund der Vernachlässigung von Idiomen und Figuren, schliesslich aufgrund des nicht beachteten Zusammenhangs der Rede“). 26 AaO. 16,11–17,17. 18
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2. Der Ausleger bekundet sein Interesse an den loci. Diese werden nicht nur in den Inhaltsangaben zu den einzelnen Schriften notiert, sondern auch zu kleineren oder grösseren Exkursen ausgebaut.27 Vor allem aber organisieren sie sich um ihr kerygmatisches Zentrum, um die christologisch und bundestheologisch bestimmte veritas evangelica: „Unsere Lehre verkündigt aus den kanonischen Schriften den einen, einzigen, wahren, lebendigen und ewigen Gott in Christus durch den heiligen Geist.“28 3. Das Vorwort zur Gesamtausgabe (1537) kontrastiert die Selbstsuffizienz und Vollkommenheit der Heiligen Schrift mit der Schwäche und Irrtumsanfälligkeit ihrer Ausleger29 – eine hermeneutische Variation des bei Humanisten beliebten rhetorischen Bescheidenheitstopos. Gerade auch in Bezug auf seine eigenen Erörterungen soll sich der Leser an das Apostelwort 1 Thess 5,21 halten („Prüft alles, das Gute behaltet“).30 Dementsprechend will sich der Ausleger auf das konzentrieren, was zur Schrift hinleitet und nicht wegführt. Freilich wird das reformatorische Prinzip der sich selber auslegenden Schrift durch die „Regel der Liebe und des Glaubens“ modifiziert.31 Für seine exegetische Arbeit reklamiert Bullinger keine Originalität; er greift gern auf die Erkenntnisse anderer zurück32 und nennt jeweils auch einige seiner Gewährsleute, sowohl in den Vorreden wie in der Einzelexegese. Leitender Gesichtspunkt für den Import vorangegangener Gelehrsamkeit ist der kirchliche und seelsorgerliche Nutzen; das gilt auch für sein eigenes Schrifttum.33 Ganz besonders aber sticht die ausserordentliche Wertschätzung von Erasmus ins Auge, die in Bullingers exegetischem Werk durchwegs begegnet,34 auch dort, wo er 27 Vgl. Baschera, Einleitung, in: aaO. LXIX; P. Opitz, Bullinger and Paul, in: Holder, Companion (s. Anm. 4) 243–265, hier: 257–259 („All of Paul’s epistles […] deal with these loci, but with different emphasis, in various forms and languages appropriate to the recipients“, 258). 28 Doctrina nostra, quae ex scripturis canonicis unum solum verum, vivum et aeternum deum in Christo praedicat per sanctum spiritum, Schriften, Bd. 6 (s. Anm. 5) 10,11 f. Zur Perspektivierung der loci auf den Bund als Skopus der Schrift vgl. P. Opitz, Heinrich Bullinger als Theologe. Eine Studie zu den „Dekaden“, Zürich 2004, 119–126. 29 Bullinger, Schriften, Bd. 6 (s. Anm. 5) 3,3–23; 5,25–28. 30 AaO. 3,16 f. 31 AaO. 5,19–21 (scripturae sanctae interpretationem ex ipsa sola esse petendam, ut ipsa interpres sit sui charitatis fideique regula moderante); dazu Opitz, Bullinger als Theologe (s. Anm. 28) 137–156; Baschera, Einleitung, in: Schriften, Bd. 6 (s. Anm. 5) LXIX: „Das Bekenntnis zum reformatorischen Schriftprinzip stellt für ihn also die fundamentale Bedeutung der regula fidei […] als Kriterium angemessener Bibelauslegung nicht in Frage. Vielmehr bestätigen sich die Schrift und die regula fidei gegenseitig.“ 32 Widmungsvorrede zu Gal, usw., in: Schriften, Bd. 7 (s. Anm. 5) 5,7–6,12. 33 AaO. 6,5–12. Bei anderen Kommentatoren komme die Orientierung am Kirchenaufbau oft zu kurz (5,23–25). 34 Zu Erasmus in Bullingers Werk vgl. Backus, Bullinger (s. Anm. 22) 122–127; speziell zum neutestamentlichen Text D. Clavuot-Lutz, Eleganter et breviter Erasmus exposuit. Auf Spurensuche in den Predigtkommentaren zum Römer‑ und zum Galaterbrief von Heinrich Bullinger, in: Ch. Christ-von Wedel / U. B. Leu (Hg.), Erasmus in Zürich. Eine verschwiegene Autorität, Zürich 2007, 193–222.
2. Das argumentum
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anders als der grosse Humanist urteilt. Er ist für ihn die herausragende Autorität für die mit dem Griechischen befasste Sprachanalyse.35 Und nicht zuletzt nimmt Bullingers Exegese jeweils ihren Ausgangspunkt von Erasmus’ lateinischer Übersetzung des Neuen Testaments (1522).36
2. Das argumentum Bullinger hat seiner Auslegung der einzelnen Briefe jeweils ein argumentum vorangestellt, in dem das Hauptthema, die loci, die Argumentation, die Entstehungsumstände, die Disposition und die Diktion umrissen werden. Teilweise finden sich ausführlichere Gliederungen des Texts. Die argumenta, Vorläufer unserer heutigen Einleitungen in die einzelnen biblischen Schriften, sind für uns deshalb von besonderem Interesse, weil sie die Gesamtperspektive auf einen einzelnen Brief artikulieren und zugleich bestimmte methodische Vorentscheidungen fällen. Unser Augenmerk gilt, wie oben notiert, den „kleineren“ Briefen, die Bullinger zu einer Gruppe zusammengestellt und 1537 publiziert hat (Galater-, Epheser-, Philipper‑ und Kolosserbrief). 1. Die Widmungsvorrede fasst deren Inhalt bündig zusammen: Hier wird „die Summe der ganzen christlichen Religion am angemessensten dargestellt (totius religionis christianae summa appositissime […] exposita)“.37 Dabei teilen sich Galater-, Epheser‑ und Kolosserbrief das argumentum; Bullinger unterscheidet sie aber hinsichtlich ihrer Strategie (filum, ratio): Die Christuserkenntnis wird im Epheserbrief schlicht exponiert, im Galaterbrief aber nach aussen verteidigt; der Kolosserbrief stellt eine Epitome des Epheserbriefs dar, so wie der Galaterbrief eine solche des Römerbriefs ist. Der Philipperbrief schliesslich sichert mit Trost und Ermahnung sowohl Christuserkenntnis (Eph/ Kol) wie Rechtfertigung (Gal). Wir notieren den interessanten Canonical Approach, mikrokanonische Zusammenhänge herauszustellen. Den Philipperbrief mit Hilfe der Topik von Trost‑ oder Ermahnungsbriefen zu lesen, ist auch in der der neueren Exegese ein Trend.38 Hingegen mutet die Zusammenstellung von
Bullinger, Studiorum ratio (s. Anm. 9) 19,19 (in Gręcanicis regnat Erasmus). Detailanalyse stellt einzelne Varianten fest, vgl. Baschera, Einleitung, in: Schriften, Bd. 6 (s. Anm. 5) LXVI–LXXII. 37 Bullinger, Schriften, Bd. 7 (s. Anm. 5) 6,15 f; zur Kohärenz zwischen den vier Briefen 6,13–7,4. 38 Zu Phil als Trostbrief vgl. P. A. Holloway, Consolation in Philippians. Philosophical Sources and Rhetorical Strategy (MSSNTS 112), Cambridge 2001; ders., Philippians (Hermeneia), Minneapolis 2017, 31–36. Auch Melanchthon unterstreicht die Elemente der consolatio, Arg. Phil. (CR 15, 1287 f). Der „Trost“ wird in Phil 2,1 explizit artikuliert. 35
36 Die
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Galater‑ und Epheserbrief doch recht gezwungen an. Die Kategorie Epitome wird dem Kolosserbrief nicht gerecht39 – so wenig wie dem Galaterbrief!40 2. Das argumentum zum Galaterbrief setzt direkt mit der Frontstellung, die die paulinische Argumentation bestimmt, ein. Während die „Nazaräer“41 Evangelium und Gesetz liieren, hat Paulus zufolge das Gesetz eine andere Funktion: „durch das Gesetz werden unsere Sünden offenbar gemacht, nicht weggeschafft (lege peccata nostra proferri, non auferri).“42 Natürlich zeigt der Brief mit der Rechtfertigungsbotschaft „die Kraft und Summe des Evangeliums“ und bietet entscheidende varii loci. Kap. 5 und 6 thematisieren das „heilige Leben, das den aus Geist und Glaube Wiedergeborenen ansteht“. Wie bei anderen Reformatoren erfährt der Galaterbrief höchste Wertschätzung;43 gerühmt werden seine nobilitas et utilitas, er ist schlicht, dicht, scharf und natürlich. Von besonderem Interesse sind für uns Hinweise zur Rhetorik des Briefs. Das exordium, die Einstimmung, wird in 1,6–9 identifiziert.44 Das Geschäft der beiden letzten Kapitel ist das deliberative und präzeptive Genus.45 Es ist kein Zufall, dass sich der Rhetorical Criticism der neueren Exegese wieder am Galaterbrief entzündet hat.46 Bullinger hat seinerzeit eine völlig korrekte rhetorische Bestimmung seines letzten Teils vorgenommen – eine deutliche bessere Option, als den Brief insgesamt dem beratenden Genus zuzuschlagen, wie es heutige Ausleger vielfach versuchen. Fehlurteile wie die, dass der Brief in der römischen Gefangenschaft entstanden sei, Altersweisheit atme und ganz von Hand geschrieben sei, fallen demgegenüber nicht ins Gewicht. Aber die Situierung macht verständlich, warum der Ausleger den Brief als die wahren Reliquien des Apostels feiert.47 3. Bei den argumenta zu den anderen drei in dieser Gruppe versammelten Briefen fassen wir uns kurz. Der Epheserbrief bietet die Summe des Evangeliums dar;48 sein Zentrum hat er in 3,14–19, während Kap. 4–6 mores lehren. Paulus, 39 Aus heutiger Sicht wird hier das Pferd von hinten aufgezäumt, da die literarische Abhängigkeit des Eph von Kol exegetisch gesichert ist. 40 Zur komplexen Bandbreite des Verhältnisses beider Briefe aus exegetischer Perspektive vgl. Th. Söding, Theologie im Dialog. Der Galater‑ und Römerbrief als Paradigma, ZThK 111 (2014) 374–388. 41 Bullinger identifiziert die Paulusgegner und Pseudoapostel generell mit den Nazaraei (neben 11,5 vgl. 16,1; 18,34; 36,8 f; 176,9; usw.), z. T. mit Verweis auf Hieronymus, der die ihm selber (entfernt) bekannte judenchristliche Gruppierung m.W. aber nicht direkt in das 1. Jh. zurückprojiziert (ep. 112,13 [CSEL 55, 381 – usque hodie bietet dafür den Ausgangspunkt]; in Ez. 4,16,16 [CCSL 75, 182]). 42 Bullinger, Schriften, Bd. 7 (s. Anm. 5) 11,12. 43 AaO. 12,19 ff. 44 AaO. 17,17 ff; vgl. zu Phil 1,9–11: 214,26. 45 Postremum autem negotium versatur et in deliberativo et praeceptivo genere, aaO. 12,30 f. 46 Zur rhetorischen Analyse von Gal vgl. das Referat bei M. C. de Boer, Galatians (NTLi), Louisville 2011, 66–71 („Galatians has been a storm center of scholarship around the issue of Paul’s use of rhetorical forms and conventions“, 68). 47 Bullinger, Schriften, Bd. 7 (s. Anm. 5) 13,8–12. 48 AaO. 127,16 f.23.
2. Das argumentum
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„der vollendete Sprachkünstler (absolutissimus dicendi artifex)“, wählt in diesem Brief einen deutlich anderen Stil als sonst (genus dicendi); für dessen kurze Analyse lässt Bullinger ausgiebig Erasmus zu Wort kommen.49 Der Kolosserbrief, eine Epitome des Epheserbriefs, enthält wiederum die „Summe des ganzen Evangeliums“ und die doctrina absoluta der Rechtfertigungslehre. An Gegnern gesellen sich zu den Nazaräern solche aus dem Heidentum, die mit Eloquenz und Philosophie prunken; ihnen hält der Apostel das Christum semel habere omnia entgegen.50 Der Stil bringt das Gewicht und die Erhabenheit der Sache zum Zug.51 Bullinger notiert also in aller Kürze die Diktion, die die beiden Briefe von den anderen Paulusbriefen unterscheidet. Der Philipperbrief schliesslich, wie die anderen drei auch ein Gefangenschaftsbrief, stützt und wappnet die Philipper gegen die „Pseudoapostel“.52 Seine feurigen Argumente zum mysterium Christi (2,5–11)53 bilden eine Brücke zum Epheserbrief. Zu Stil und Argument heisst es kurz und bündig: Varia est, sed docta, gravis et utilis.54 4. Wir erlauben uns einen Seitenblick auf die Stilanalyse zu den übrigen Briefen. Das argumentum zum Römerbrief stellt die Übereinstimmung von Diktion und Sache (res) heraus.55 Der Stil „ist gewichtig, nicht unbedingt dunkel, sondern graziös und voller Würde, ohne dass die Deutlichkeit darunter litte“. Paulus arbeitet mit allen drei Redegattungen: demonstrativ (epideiktisch), wo er von der Glaubensgerechtigkeit handelt; judizial, wo er Juden und Heiden der Sünde überführt; deliberativ, wo er ermahnt und zuspricht.56 Aber Bullinger will die Rhetorik nicht mechanisch einsetzen: Das dominierende Genus schliesst die übrigen beiden immer ein und kann ohne sie nicht zum Zug kommen.57 Sich diesen Ratschlag zu Herzen zu nehmen lohnt sich, wenn man die gerade am Römerbrief
AaO. 128. AaO. 253,19. 51 AaO. 253,31 f (et stilus rei gravitatem et sublimitatem assequitur). 52 Vgl. die Vorrede zur Briefsammlung, aaO. 7,1–3: Paulus, der himmlische Arzt, reicht eine Medizin gegen verderbliche Lehren und Häresien zum Wiedergewinnen der simplicitas. 53 AaO. 211,18; vgl. 222,8; 225,21 f (Verweis auf Eph 1,20–22). 54 AaO. 211,25. 55 Bullinger, Schriften, Bd. 6 (s. Anm. 5) 20,22–27. 56 AaO. 20,15–21. 57 Sed ita fieri solet, ut praecipuum aliquod dicendi genus reliqua in se contineat, imo sine reliquis absolvi nequeat (aaO. 20,19–21). Vielleicht setzt sich Bullinger mit dem Satz vorsichtig von Melanchthon ab. Dieser hat den Röm dem genus iudiciale (neben dem von ihm selber postulierten genus didacticum) zugeteilt: So in der Dispositio orationis in epistola Pauli ad Romanos von 1529 (CR 15, 443–492): Propriae pertinet haec Epistola ad genus didacticum […] Potest tamen ad iudiciale genus referri (445); so bereits in der Summa der Theologica Institutio in Epistolam Pauli ad Romanos von 1519 (CR 21, 49–60): Oratio est generis iudicialis, habet exordium, narrationem, confirmationem, apte composita (56). Bullinger kannte die Dispositio in der Fassung von 1530. Zu Melanchthons Römerbrief-Auslegung vgl. R. Schäfer, Melanchthons Hermeneutik im Römerbrief-Kommentar von 1532, ZThK 60 (1963) 216–235; zu ihrem Einfluss auf Bullinger vgl. Hausammann, Römerbriefauslegung (s. Anm. 7) 155–161 u.ö. 49 50
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heute intensiv betriebene rhetorische Analyse zu beurteilen hat.58 Seine Form lässt sich weder mit einem einzigen rhetorischen bzw. epistolographischen Genus engführen noch in das Prokrustesbett des Aufbaus einer Rede zwängen. Hinsichtlich der dictio beim 1. Korintherbrief stimmt Bullinger jenen zu, die angesichts seiner Vielfalt nicht einen einzigen Skopus erkennen wollen.59 Etwas erstaunlich mutet die Behauptung an, sein Stil unterscheide sich so stark von den anderen Paulusbriefen, „dass du meinen könntest, er stamme von einem anderen“. Natürlich wird dieser Eindruck umgehend korrigiert. Der 2. Korintherbrief zählt klar zum genus iudicialis,60 er ist insgesamt eine Apologie, „zugespitzt, mit zwingenden Argumenten, lebhaft, geradezu in forensischem Stil“ verfasst.61 Der Brief kontrastiert die Vortrefflichkeit des Evangeliums mit der Schwäche der Gesetzeswerke.62 Der 1. Thessalonicherbrief wird – auch nach heutigem Kenntnisstand richtig – als der frühste Brief taxiert.63 Er behandelt wichtige loci, zeigt klare paulinische Diktion und ist zugleich geschmeidig und von apostolischer Würde. Im Stil unterscheidet sich der 2. Thessalonicherbrief nicht von seinem Vorgänger, und auch an Gelehrsamkeit ist er nicht ärmer.64 Bei den Pastoralbriefen stellt die Stilanalyse keine Besonderheiten fest; stilus congruit argumento.65 Der Philemonbrief schliesslich ist im genus deliberativum verfasst; Bullinger preist ihn aufs höchste – es gebe (bis) heute keine rhetorischen Werke, die es mit diesem in prägnantester Kürze geschriebenen Brief aufnehmen könnten.66 5. Am Schluss unseres Rundgangs durch die argumenta verzichten wir darauf, den Hebräerbrief genauer in den Blick zu nehmen – er verdient eine intensive Behandlung.67 Aufgrund seiner Bundestheologie hat er für Bullinger einen Ein breites Referat bietet R. Jewett, Romans (Hermeneia), Minneapolis 2007, 25–46. Bullinger, Schriften, Bd. 6 (s. Anm. 5) 233,34–37. Vgl. Melanchthon, Arg. explic. 1 Cor. (multas dissimiles materias coacervat – insgesamt gehöre 1 Kor zum genus suasorium, mit Einlagen aus dem genus didascalicon, CR 15, 1065); Annot. 1 Cor. (anders als in Röm varii sunt loci […] Proinde non potest uno aliquo communi statu velut continua dispuatio comprehendi, sed subinde alia congeruntur, Werke in Auswahl, Bd. 4, hg. von P. F. Barton, Gütersloh 1963, 16). 60 Bullinger, Schriften, Bd. 6 (s. Anm. 5) 467,30 f. Anders Melanchthon, Annot. 2 Cor. (causae genus non est didacticum sed ut superiori epistulae varie multa congeruntur, Werke [s. Anm. 59] 85). 61 Moderne Gattungsbestimmungen von 2 Kor (oder Teilen davon) bemühen gern die Gerichtsrede; vgl. das Referat bei Th. Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther (EKK 8), Bd. 1, Neukirchen / Ostfildern 2010, 27–29. Schmellers Kommentar bietet zu jedem Abschnitt auch eine vorzügliche rhetorische Analyse, sowohl zur dispositio wie besonders zur elocutio. 62 Bullinger, Schriften, Bd. 6 (s. Anm. 5) 468,15 f. 63 Bullinger, Schriften, Bd. 8 (s. Anm. 5) 6,1, mit Theophyl., Rom. (PG 124, 336 B). 64 AaO. 53,15. 65 AaO. 11,7; vgl. 199,16 f (2 Tim zeige ganz betont das genus deliberativum); 235,16–18 (Tit als Epitome von 1 Tim). 66 AaO. 265,6–8. 67 Vgl. dazu Backus, Bullinger (s. Anm. 22) 111–113; Opitz, Bullinger and Paul (s. Anm. 27) 250–252; 258 f. 58 59
3. Exemplarische Exegesen
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enormen Stellenwert. In der frühen Kappeler Vorlesung von 1526/27 erschliesst sich der Ausleger den – für paulinisch gehaltenen – Brief neben argumentum und paraphrasis durch die Bestimmung der loci, der zentralen Inhalte des christlichen Glaubens.68 Der spätere Kommentar (1532) diskutiert die Verfasserfrage ausgiebig und entscheidet sich, nicht überraschend, für Authentizität, diesmal gegen die Autorität von Erasmus.69 Der besondere Stil wird mit dem Hinweis auf die Konvention, Sekretären zu diktieren, erklärt. Situiert wird der Brief in der römischen Gefangenschaft.70 Neben allen guten Argumenten ist es aber vor allem die Frömmigkeit, die die Echtheit des Schreibens portiert. Rhetorisch repräsentiert der Hebräerbrief ein gemischtes Genus; im Hauptteil das didaktische bzw. demonstrative, am Anfang und Ende das deliberative.71
3. Exemplarische Exegesen Im Folgenden werden einige Textpassagen aus dem Galater‑ und Philipperbrief ausgewählt, um Profil und Handwerk der Exegese Bullingers besser kennenzulernen. 3.1 Gal 1,1–9: Inscriptio et exordium Bullinger geht von einem typischen Formular aus. Die inscriptio (1,1–5) bietet den zu erwartenden Inhalt des Briefs (compendium).72 Das Briefpräskript73 wird damit als summierende Buchüberschrift verstanden – eine nicht unproblematische Entscheidung, die die nachfolgende Interpretation schon auf bestimmte Linien festlegt. Am Anfang werde mirā brevitate die Stossrichtung und der entsprechende Aufbau des Briefs umrissen. Die Affirmation des Apostolats, der nicht auf menschliche Setzung zurückgeht, erweitert der Ausleger 68 Heinrich Bullinger, Theologische Schriften, Bd. 1: Exegetische Schriften aus den Jahren 1525–1527, hg. von H.-G. vom Berg / S. Hausammann, 1983, Zürich 133–268. Paulus wird als Autor verteidigt (138–140). 69 Bullinger, Schriften, Bd. 9 (s. Anm. 5) 10–17. 70 AaO. 16,26 f, erschlossen aus Hebr 10,34 (Koinē-Lesart). 71 AaO. 18,15–21. 72 Bullinger, Schriften, Bd. 7 (s. Anm. 5) 13,22. 73 Ursprünglich kann die Adresse eines antiken Briefs inscriptio heissen, sie steht aber aussen auf der Papyrusrolle und ist nicht eigentlich ein Teil des Briefformulars; vgl. H.-J. Klauck, Ancient Letters and the New Testament. A Guide to Context and Exegesis, Waco 2006, 12. In den Bibelhandschriften und ‑drucken finden sich vielfach inscriptiones und subscriptiones (auch in Erasmus’ Novum instrumentum), sie enthalten aber üblicherweise nicht ein Summar oder den Text des Präskripts. In der Auslegungsliteratur werden Präskript und inscriptio bzw. epigrapha identifiziert, vgl. z. B. Melanchthon, Schol. Col. (Werke, Bd. 4 [s. Anm. 59] 213,6); Enarr. Rom. (epigrapha, ut fit in Epistolis, praeposita est, CR 15, 816; vgl. 819); Comm. Rom. (Röm 1,1–7 als epigrapha: Werke in Auswahl, Bd. 5, hg. von R. Schäfer, 57,3; vgl. 373; CR 15, 545 f); Luther, Comm. Gal. (WA 40.1, 64,24; 66,9).
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unverzüglich zu einer christologischen Spitzenaussage, die ihm das Stichwort der Auferweckung Jesu bietet: Sie ist ein Erweis der Gottheit Christi,74 näherhin seiner zwei Naturen. Bullinger beruft sich auf einen traditionellen, gegen Häretiker gerichteten exegetischen Schluss aus Gal 1,1: Paulus’ Berufung nicht durch Menschen, sondern durch Jesus Christus und Gott, den Vater, belegt Christus als deus verus. Ganz im Sinn der locorum collatio entdeckt der Ausleger einen zentralen Glaubensartikel im ersten programmatischen Satz des Galaterbriefs.75 Ein solches Verfahren nimmt sich in der Sicht neuzeitlicher Exegese abwegig aus; man wird als particula veri aber wenigstens festhalten, dass es das Auferweckungsbekenntnis der ersten Christen war, das Jesus auf die Seite Gottes gerückt und erstaunlich bald einen christologisch modifizierten Monotheismus begründet hat. Gal 1,6–9 wird als exordium identifiziert, der Eingangsteil einer Rede, der seit dem Mittelalter auch auf Briefe appliziert wird. Während die inscriptio das Thema nennt, präsentiert das exordium das Ansinnen (consilium). Hier bietet Bullinger eine knappe, feine Charakterisierung des Stils: „Hier ist alles pathetisch und erregt, aber gleichwohl temperiert durch eine Art Vatergefühl, leicht und zugleich gewichtig.“76 Der pulcher ordo des Galaterbriefs ist schon hier erkennbar. Für manche Details wird auf Erasmus verwiesen, den interpres noster.77 Von der Rechtfertigungslehre her bietet sich der Sprung ins hodie an,78 wo Zeremonien und Verdienste wider die Gnade stehen und die simplex veritas verdreht wird. Die Auslegung mündet in ein breites Lob der simplicitas evangelica.79 3.2 Der antiochenische Zwischenfall: Gal 2,12 f Nach der Behandlung des Apostelkonvents (Gal 2,1–10), wo Bullinger neben dem Herausstreichen des admirabilis […] consensus omnium apostolorum in evangelio Christi80 auffällig viel Gewicht auf den Handschlag (V. 9) legt,81 wird der Zusammenstoss von Paulus und Petrus erörtert.82 Der Zwischenfall hat bereits in 74 Haec
enim certum est divinitatis Christi argumentum, Schriften, Bd. 7 (s. Anm. 5) 14,3 f.
75 Das Bekenntnis zum wahren Gott und wahren Menschen wird in den „Dekaden“ ausgiebig
erörtert (4.6, Schriften, Bd. 4 [s. Anm. 10] besonders 628,31–37). Zum bibelhermeneutischen Programm expositio verbi dei fiat per collationem locorum vgl. 1.3, 54. 76 Sunt autem omnia pathetica et prorsum concitata, temperata tamen affectu quodam paterno, leni quidem, sed gravissimo simul (Bullinger, Schriften, Bd. 7 [s. Anm. 5] 17,19 f). Bei der Vatertopik (auch Z. 23) lehnt sich Bullinger wohl an Luthers Galatervorlesung an (WA 40.1, 100). 77 AaO. p. 18,29. 78 AaO. 19,28 ff. 79 AaO. 21 f. 80 AaO. 40,5 f. 81 Zur „Rechten“ als Symbol von Treue, Eintracht und Gemeinschaft werden einige Klassikerzitate beigebracht (Vergil; Plutarch) (aaO. 39), die nicht aus Erasmus’ Annotationes stammen, sondern vielleicht aus einem der in der „Studienanleitung“ so warm empfohlenen Zettelkästen des Auslegers. 82 Bullinger, Schriften, Bd. 7 (s. Anm. 5) 41–44. Vgl. dazu L. Baschera, Fehlverhalten oder Irrtum in der Lehre? Die Deutung des ‚Apostelstreites‘ (Gal 2,11–14) und dessen Ursache bei
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der Alten Kirche zu heftigen Debatten, namentlich zwischen Hieronymus und Augustin, geführt und gewinnt in der Reformationszeit brennende Aktualität. Bekanntlich hat Luther seinen eigenen Kampf gegen den Papst in der Konfrontation der beiden Apostelfürsten wiedererkannt.83 Bullingers Auslegung versucht sich an einem mittleren Weg zwischen verschiedenen, einander diametral entgegengesetzten Deutungen. Indem er klar Partei für Paulus ergreift, will er „nicht mühselig die Tat des Petrus verteidigen nach der Weise einiger anderer“84 – dies richtet sich gegen Erasmus und Hieronymus, sonst von ihm hochgeschätzte Gewährsmänner. Umgekehrt resultiert Petrus’ Verhalten laut Bullinger, anders als nach Luther, nicht aus einem grundsätzlichen Irrtum der Lehre, sondern aus Furcht, Heuchelei und personarum respectus.85 Die Episode verdunkelt deshalb keineswegs den apostolischen consensus apostolorum.86 Bullinger wehrt dabei auch die Meinung ab, Petrus habe um der Liebe willen Rücksicht auf die iudaizantes genommen (analog zur Regel, mit der Paulus in Korinth den Opferfleischverzicht begründet): Liebe müsste nämlich auch den angefochtenen Heidenchristen gelten. „Man kann nicht alle menschlichen Taten unter dem Vorwand von Anstossvermeidung und Liebe verteidigen.“87 Bullingers Einschätzung des antiochenischen Zwischenfalls als Ereignis, das zwar einen klaren Dissens manifestiert, aber doch Episode bleibt,88 ist womöglich gar nicht so weit weg von der historischen Wirklichkeit. „Hätte ihn Paulus im Galaterbrief nicht erwähnt, wäre er vergessen worden“ (Th. Söding).89 3.3 „Zum Fluch geworden“: Gal 3,13 Eine besonders schwierige Passage des Galaterbriefs gibt Bullinger Anlass, sich von einer Auslegung zu distanzieren, deren Vertreter er nicht beim Namen nennt. Offenkundig ist Luther gemeint. Paulus bezieht hier Dtn 21,23 („denn jeder, der Heinrich Bullinger und Martin Luther, in: Ch. Christ-von Wedel / S. Grosse (Hg.), Auslegung und Hermeneutik der Bibel in der Reformationszeit (Historia Hermeneutica. Series Studia 14), Berlin 2017, 243–263. 83 Vgl. K. Holl, Der Streit zwischen Petrus und Paulus zu Antiochien in seiner Bedeutung für Luthers innere Entwicklung, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. 3, Tübingen 1928, 134–146; V. Stolle, Luther und Paulus. Die exegetischen und hermeneutischen Grundlagen der lutherischen Rechtfertigungslehre im Paulinismus Luthers (ABG 10), Leipzig 2002, 94–96; 299–301. 84 Bullinger, Schriften, Bd. 7 (s. Anm. 5) 44,26 f. 85 AaO. 43,8; 44,5. 86 Vgl. Baschera, Fehlverhalten (s. Anm. 82) 257–259. 87 Bullinger, Schriften, Bd. 7 (s. Anm. 5) 44,22 f (intelligis item non omnia hominum facta posse scandali et charitatis praetextu defendi). 88 AaO. p 44,27 f (semel enim erratum est in conversatione). 89 Th. Söding, Apostel gegen Apostel. Ein Unfall im antiochenischen Grossstadtverkehr (Gal 2,11–16), in: R. von Bendemann / M. Tiwald (Hg.), Das frühe Christentum und die Stadt (BWANT 198), Stuttgart 2012, 92–113, Zitat: 110.
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Paulus in Zürich
am Holz hängt, ist […] verflucht“) auf Christi Kreuzestod.90 Die Schriftstelle ist Beleg dafür, dass „Christus uns freigekauft hat vom Fluch des Gesetzes, indem er für uns zum Fluch geworden ist“.91 Nach einem Zwischengedanken kehrt der Apostel mittels einer epanaphora zu dem zurück, was erst angedeutet worden ist. Nach einer kurzen Paraphrase, die auf Augustin zurückgreift, und dem Zitat von Dtn 21 in der paulinischen Version spielt der Ausleger Joh 3,14 f ein: Der den Glaubenden zukommende Segen des Todes Jesu besteht im ewigen Leben. Aber wie ist es mit der Aussage von Christus als „Verfluchung“ (execratio, V. 13b) bestellt (quomodo Christus factus sit maledictum)? „Es gibt einige, die diese Paulusstelle nicht sauber genug untersuchen; reichlich gottlos und verwegen lassen sie sich über diese ‚Verfluchung‘ vernehmen. Die Ehrfurcht vor Christus bringt aber auch ganz andere Theologen hervor.“92 Viel frommer und besser hätten Ambrosius und Hieronymus die Stelle ausgelegt. „Wer, der in den Schriften auch nur etwas kundig ist, weiss nicht, dass ‚Sünde‘ häufig für ‚Opfer‘ und ‚Entsühnung‘ für ‚Sünde‘ verwendet wird? Welche Notwendigkeit oder welche Frömmigkeit heisst uns also, Christus […] mit einem Katalog voller Verbrechen und Schandtaten zu belasten?“93 Die Stellungnahme gegen Luther ist offenkundig. Dieser deutet Gal 3,13 so, dass Christus kraft seiner stellvertretenden Übernahme des Zorns Gottes effektiv zum „Fluch“ wird;94 die Passage wird im umfassenden Horizont des duellum mirabile Christi gegen Sünde, Tod und Teufel expliziert. Am Gekreuzigten prallen die äussersten Gegensätze aufeinander.95 Demgegenüber plädiert Bullinger mit patristischem Support für ein metonymes Verständnis des „Fluchs“ und platziert die Aussage in einem spezifisch opfertheologischen 90 Paulus lässt dabei „durch Gott“ aus, weil er das Gesetz zum Urheber des Fluchs macht (V. 13a). 91 Bullingers Bibeltext (Christus nos redemit ab execratione legis, dum pro nobis factus est execratio) folgt hier, wie üblich, Erasmus’ lateinischer Übersetzung. Diese stimmt in den Ausgaben ab 1522 aber nicht mehr ganz mit dem parallelen griechischen Text überein, der die zweite Person vos/vobis bietet; vgl. die Ausgabe: Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami, hg. von A. J. Brown, Bd. 6.2–4: Novum Testamentum ab Erasmo recognitum, hier: Bd. 6.3, Leiden 2004, 466 f. 92 Bullinger, Schriften, Bd. 7 (s. Anm. 5) 63,23–26 (sunt autem quidam impurius hunc Pauli locum excutientes et satis irreligiose et temere de hac execratione pronunciantes. Reverentia Christi domini longe alios reddit theologos. Multo sanctius et melius d[ivus] Ambrosius ita docet […]). Zitiert werden der Ambrosiaster und Hieronymus. 93 Nemo autem vel modice in scripturis versatus nescit peccatum frequentius usurpari pro hostia et expiatione pro peccato. Iam ergo quae necessitas aut religio iubet nos Christum sanctum domini agnum immaculatum catalogo omnium scelerum et flagitiorum onerare?, aaO. 63,26–64,3. 94 Luther stellt beide Optionen vor, entscheidet sich dann aber für die „eigentliche Bedeutung der Worte“, Comm. Gal. (WA 40.1, 448 f [tamen magis placet, si servetur propria significatio vocum, propter maiorem Emphasin, 448,33 f]). Bereits der Kommentar von 1519 setzt sich von Hieronymus ab (WA 2, 516 f: Hieronymus mire laborat, ne Christum a deo maledictum admittat). 95 Luther, Comm. Gal. (WA 40.1, 438 f). Vgl. K. Bornkamm, Luthers Auslegungen des Galaterbriefes von 1519 und 1531 (AKG 35), Berlin 1963, 127–132; 273 f; M. Schwarz, Martin Luther. Lehrer der christlichen Religion, Tübingen 2015, 301–306.
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Zusammenhang.96 Christus ist (nur) insofern Fluch, als er für Verfluchte stellvertretend stirbt. Hier deuten sich konfessionelle Differenzen an, die später in der Kontroverse um die communicatio idiomatum ausgetragen werden.97 Die moderne Exegese hilft uns leider kaum in der von Bullinger mit Luther geführten Debatte.98 Es ist zwar deutlich, dass hinter paulinischen Formulierungen dieser Art (vgl. neben Gal 3,13 auch 2 Kor 5,21; Röm 8,3) die Konzeption eines Tausches steht. Die alten „für uns“-Formeln werden dabei durch Figuren der Teilhabe, der Partizipation, expliziert (vgl. 2 Kor 8,9). Aber man vermisst eine angemessene Beschreibung der Sprachform mit Hilfe rhetorischer Kategorien. Möglicherweise kommt man weiter mit dem Versuch, Gal 3,13b als Brachylogie zu bestimmen, die einen umfassenderen Gedanken verkürzt; beim Syntagma „für uns zum Fluch geworden“ handelt es sich dann um eine Synekdoche, also einen Tropus, der mittels eines engeren Begriffs einen weiteren Zusammenhang artikuliert (a minore ad maius). Jedenfalls zeigt der „zum Fluch gewordene Christus“ von Gal 3,13b, wie die Rezeptionsgeschichte der Exegese alte Fragen neu zuzuspielen vermag. 3.4 Gerechtigkeit und Vollkommenheit – Phil 3 Den ausgewählten Passagen aus dem Galaterbrief stellen wir eine längere Partie des Philipperbriefs zur Seite, worin Paulus seine neue Lebensform in Christus kontrastiert mit seiner überwundenen Existenzweise im Judentum, um die von seinen Gegnern portierte Zuordnung von Evangelium und Tora zu demontieren. Mit der Unterscheidung zweier Gerechtigkeiten und dem nomistischen Profil der „Feinde des Kreuzes Christi“ bietet auch dieser Textzusammenhang der aktualisierenden Auslegung der Reformatoren eine breite Plattform. Die einleitenden Sätze (Phil 3,1) geben Bullinger Anlass, neben dem Skopus der Rechtfertigungslehre, hier in kürzeste Form gefasst, die Redundanz der Schrift zu erörtern; die Wahrheit des Evangeliums wiederholt sich und bleibt sich gleich.99 Ein Bruch zur mit V. 2 folgenden Warnung vor den Hunden, die in der kritischen Exegese zu Briefteilungsmodellen geführt hat, wird überhaupt nicht wahrgenommen. Die Gegner, wiederum die „Nazaräer“ und „Pseudoapostel“, die „Gesetz und Evangelium vermischen“, werden deshalb als „Hunde“ 96 In der Auslegung von 2 Kor 5,21, einer Stelle, die Luther vielfach mit Gal 3,13 (und Röm 8,3 f; Joh 1,29) korreliert, beschränkt sich Bullinger auf ein entsprechendes Zitat aus dem Ambrosiaster (Schriften, Bd. 6 [s. Anm. 5] 514 f). 97 Allerdings folgt Calvin der Auslegung Luthers, Comm. Gal. (Ioannis Calvini Opera exegetica, Bd. 16, hg. von H. Feld, Genf 1992, 70 f – „Wem das zu hart erscheint, soll sich auch schämen des Kreuzes Christi, den wir doch stolz bekennen“); Serm. 19 Gal. (CR 50, 509). 98 Vgl. z. B. T. A. Wilson, The Curse of the Law and the Crisis in Galatia. Reassessing the Purpose of Galatians (WUNT II/225), Tübingen 2007, 28–34. 99 Bullinger, Schriften, Bd. 7 (s. Anm. 5) 232 f (zu Paulus’ eadem scribere […]). Die wahre Religion enthält „nichts Neues, sondern lässt immer dasselbe Lied erklingen“ (233,3–6).
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Paulus in Zürich
bezeichnet, weil sie nach Hundeweise bellen, neiden und beissen – sie bellen die evangelische Lehre an, sie sind neidisch auf Paulus und die christliche Freiheit, sie beissen das ihnen fremde Leben.100 Der Ausleger geht hier also reichlich assoziativ allegorisierend vor und hat damit, zu Recht, Calvins Kritik provoziert.101 Die Schmähung der Gegner als „Zerschneidung“ wird als geglücktes Wortspiel mit „Beschneidung“ notiert.102 Bei der Auflistung der vortrefflichen Herkunft des Paulus (V. 4–7) aktualisiert der Ausleger das „institutum pharisaicum“ als Mönchtum.103 Interessant ist der Hinweis darauf, dass Paulus das Rühmen seiner Vorzüge nicht wirklich so gemeint haben könne, sondern ein rhetorisches Ziel verfolge; er will durch sein exemplum und seine demonstratio die Pseudoapostel verwirren.104 Hier wie sonst oft in Kommentaren arbeitet der Verfasser gern mit dem Stilmittel der Paraphrase, der erklärenden Umschreibung von Texten.105 Indem der Paraphrast den Briefautor selber, Paulus, in der ersten Person sprechen lässt, leistet er sowohl Vereindeutigung wie Aktualisierung. Im Duktus der ganzen Interpretation von V. 3–12, zumal bei der Unterscheidung zweier Gerechtigkeiten (V. 6.9), wird deutlich, wie Paulus’ vorchristliche Vergangenheit transparent ist für die auf Werke und Verdienste zielenden Papisten,106 gegen die sich die Reformatoren im Zeichen des Glaubens wenden. Dass es sich bei den jüdischen Vorzügen, die der Apostel auflistet (V. 5 f), zum grösseren Teil um vorgegebene Statusprivilegien und nicht um Leistungsausweise handelt, wird kaum realisiert. An diesem Punkt hat erst die New Perspective on Paul zu einer differenzierteren Wahrnehmung geführt.107 AaO. 233,9–14; ähnlich haben Zwingli (CR 108, 240) und Pellikan gedeutet. J. Calvin, Comm. Phil. (in: ders., Opera 16 [s. Anm. 97] 347): Neque enim his assentior, qui putant ita dictos, quod inviderent aliis aut eos morderent. „Unter den reformatorischen Auslegern hat sich Calvin weitaus am häufigsten und intensivsten mit dem Zürcher Heinrich Bullinger auseinandergesetzt, allerdings ohne ihn jemals namentlich zu nennen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Calvin wollte wohl Bullinger, dessen Interpretation er in den meisten Fällen ablehnt, persönlich nicht verletzen“, Feld, aaO. XXIV. Zur Diskussion des Verhältnisses der beiden s. J. E. Kok, Heinrich Bullinger’s Exegetical Method. The Model for Calvin?, in: R. A. Muller / J. L. Thompson (Hg.), Biblical Interpretation in the Era of the Reformation, Grand Rapids 1996, 241–254. 102 Iucunda prosonomasia, Schriften, Bd. 7 (s. Anm. 5) 233,20 f. Mit prosonomasia („Benennung“) meint Bullinger eine paronomasia; die beiden termini wurden gelegentlich verwechselt bzw. identifiziert (vgl. das Erasmuszitat in: Bullinger, Schriften, Bd. 6, 51); vgl. R. Lanham, A Handlist of Rhetorical Terms, Berkeley 21990, 123. 103 AaO. 234,15 f. 104 AaO. 234,17 f (conditionem habet oratio); 234,32. 105 AaO. 234,19–31; 235,31–236,6. Erasmus ist für Bullinger der paraphrastes schlechthin, als Verfasser der Paraphrases zum Neuen Testament; für Phil 3 vgl. z. B. 236,16 ff. 106 Dazu passt die Deutung der Gegner in 3,18 (240 f); die „frommen Leser“ sollen die Aktualisierung selber vornehmen. 107 Vgl. dazu meinen Aufsatz: „Archetyp der Vollkommenheit“. Die Lebenswende des Paulus nach der patristischen Lektüre von Phil 3. Ancient Perspectives im Gespräch mit der „New Perspective“, in: T. Nicklas / A. Merkt / J. Verheyden (Hg.), Ancient Perspectives on Paul (NTOA/StUNT 102), Göttingen 2013, 11–29, Abdruck in diesem Band: 523–541. 100 101
4. Ertrag
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Wir springen zu Phil 3,12–14, wo Bullinger den Themenwechsel von der Rechtfertigungslehre zum Bekenntnis der Unvollkommenheit als correctio bestimmt:108 In diesem Leben wird niemand die vollkommene Gerechtigkeit erreichen. Dieser locus ist mit „heiliger Scheu“ anzusprechen.109 Der Apostel wende sich einerseits gegen Perfektionisten, andrerseits biete er bedrängten Gewissen Trost: Das Bild des Wettlaufs wird in einer Paraphrase von Paulus selber vor Augen gestellt. Bullinger liest es als Allegorie und deutet es dementsprechend bis in die Details aus – das Stadion als Welt, die Läufer als die sterblichen Christenmenschen, die Rennbahnschranke als Lebensende, der Preis die Unsterblichkeit. Verdienste, Fleisch und Welt sollen im Rücken bleiben, „der Skopus aber, zu dem wir alle streben, ist der Herr Christus und die ewige Heimat“.110 Damit ist das himmlische politeuma von 3,20 f im Blick, das aber keinerlei politische Assoziationen weckt, da es im Lateinischen als conversatio wiedergegeben wird.111 Der Ausleger heftet an den endzeitlichen Ausblick des Philipperbriefs einen kleinen eschatologischen Exkurs zum Gerichts‑ und Auferstehungstag; pointiert wendet er sich gegen das Modell des Seelenschlafs. Den Vorzug verdient dasjenige der Seelenunsterblichkeit, ins Aristotelische gewendet (perpetua quaedam entelechia).112
4. Ertrag Die Auslegung der Paulusbriefe durch Heinrich Bullinger bringt eine bemerkenswerte Stimme im weiten Feld der reformatorischen Beschäftigung mit der Bibel zu Gehör. Sie ist für die neuzeitliche Exegese aus zwei Gründen von besonderem Interesse. Zum einen setzt der Zürcher Reformator die Werkzeuge der antiken Rhetorik-Theorie gezielt ein, um Argument und Form der Texte besser zu verstehen. An diesem Punkt weiss sich Bullinger der humanistischen Tradition verbunden, in der er selber gross geworden ist.113 Er beruft sich namentlich auf Erasmus mit seiner gräzistischen Kompetenz.114 Für die Rhetorik aber orientiert er sich noch mehr an Melanchthon. Während sich Erasmus in seiner 108 Bullinger, Schriften, Bd. 7 (s. Anm. 5) 237,32 f (nunc vero correctione, quod schematis genus alii metanoeam vocant). 109 AaO. 238,7 f. 110 AaO. 238 f,19–239,9. 111 Id est administrandi et vivendi ratio ac oeconomia, aaO. 242,1 (nach dem von Bullinger benützten Wörterbuch von G. Budé). 112 Gegen den Seelenschlaf richtet sich eine frühe Abhandlung Bullingers: Quod animae non dormiant, in: Heinrich Bullinger, Theologische Schriften, Bd. 2, hg. von H.-G. vom Berg u. a., Zürich 1991, 127–133. Eschatologie und Totenauferstehung werden auch in den „Dekaden“ thematisiert (1.9; Schriften, Bd. 3 [s. Anm. 10] 99–112). 113 Zum Stellenwert der Rhetorik im Reformationszeitalter vgl. B. Stolt, Martin Luthers Rhetorik des Herzens (UTB 2141), Tübingen 2000, 42–61. 114 Zum Erasmian moment bei den Reformatoren vgl. T. George, Reading Scripture with the Reformers, Downers Grove 2011, 74–101.
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Briefauslegung mit dem Einsatz der rhetorischen Analyse auffällig zurückhält,115 macht Melanchthon diese streckenweise zum zentralen hermeneutischen Schlüssel seiner Interpretation ausgewählter biblischer Texte, insbesondere der Paulusbriefe.116 Im Vergleich mit dem praeceptor Germaniae sticht Bullingers ausgesprochen selektiver und punktueller Rückgriff auf rhetorische Methoden ins Auge. Sein moderater Gebrauch des Instrumentariums könnte ein Leitbild sein für heutige Exegeten bei ihrem Umgang mit den Fragestellungen des Rhetorical Criticism. Hier empfiehlt es sich, anstelle weitreichender Übertragungen von Formen der Rede auf Briefe mehr Aufmerksamkeit der elocutio zu schenken, der sprachlichen Gestalt der Texte, ihrem ornatus, ihren Tropen und Figuren. Zum anderen ist die Bibelhermeneutik Bullingers zu würdigen.117 Seine Theologie ist im Entscheidenden Schriftauslegung; dies verbindet ihn mit Luther.118 Die Bibel bezeugt in seiner Lektüre die zentralen Glaubensinhalte, den Skopus, der die loci organisiert; im Zentrum stehen Christus, der die beiden Testamente überspannende Bund und die Gottesgemeinschaft der Glaubenden als Heiligung des Lebens. Heutige Bibelauslegerinnen und ‑ausleger werden Bullinger auf diesen Spuren nicht folgen wollen.119 Aber sie können sich beeindrucken lassen von der festen Überzeugung, die der Zürcher mit seinen reformatorischen Zeitgenossen teilt: Die biblischen Texte bieten nicht nur grossartige Weltliteratur, die in das humanistische Erbe Europas Eingang gefunden haben, sondern lebenswichtige Ressourcen, in denen es um nichts weniger geht als um Heil und Wahrheit. 115 Vgl. zu seiner diesbezüglichen Kritik an Melanchthon. T. J. Wengert, Human Freedom, Christian Righteousness. Philip Melanchthon’s Exegetical Dispute with Erasmus of Rotterdam (SHT), Oxford 1998, 50–52; 152. Erasmus’ Beurteilung der paulinischen Rhetorik ist ambivalent, vgl. R. A. Faber, Erasmus’ Representation of Paul as Paragon of Learned Piety, in: Holder, Companion (s. Anm. 4) 43–60, hier: 59 f; positiver wird sie beurteilt von L. Carrington, Erasmus’s Readings of Romans 3, 4, and 5 as Rhetoric and Theology, in: Holder / Ehrensperger, Reformation Readings (s. Anm. 7) 10–20. Der Aspekt wird nicht behandelt von P. Walter, Theologie aus dem Geist der Rhetorik. Zur Schriftauslegung des Erasmus von Rotterdam (TSTP 1), Mainz 1991; M. Hoffmann, Rhetoric and Theology. The Hermeneutic of Erasmus, Toronto 1994. 116 Vgl. die detaillierte Studie von C. J. Classen, Die Bedeutung der Rhetorik für Melanchthons Interpretation profaner und biblischer Texte (NAWG.PH), Göttingen 1988 (Nr. 5); ders., Antike Rhetorik im Zeitalter des Humanismus (BzA 182), München 2003, 254–309; ferner Schäfer, Einleitung: Werke (s. Anm. 73) 15–19; T. J. Wengert, Philip Melanchthon’s 1522 Annotations on Romans and the Lutheran Origins of Rhetorical Criticism, in: Muller / Thompson, Interpretation (s. Anm. 101) 118–140; ders., The Rhetorical Paul. Philip Melanchthon’s Interpretation of the Pauline Epistles, in: Holder, Companion (s. Anm. 4) 129–164. 117 Vgl. Th. Krüger, Heinrich Bullinger als Ausleger des Alten Testaments am Beispiel seiner Predigten Daniel 1 und 2, Zwing. 31 (2004) 91–104: Es „kann Bullinger vielleicht auch für unsere Zeit ein Vorbild sein für das Bemühen, die Bibel in der Kirche einfach und klar – und auf dem neuesten Stand der exegetischen Wissenschaft! – auszulegen“, 104. 118 Zum Vergleich s. P. Opitz, Heinrich Bullinger und Martin Luther. Gemeinsamkeiten und Differenzen, EvTh 64 (2004) 105–116. 119 Mit der Methode der loci werden die biblischen Schriften vereinheitlicht und systematisiert. Zu bedenken ist aber ihr mnemotechnischer „Sitz im Leben“: Auch heute erschliessen sich Theologiestudierende die Bibelkunde mit Hilfe von Schlagwörtern.
Ein persönliches Postskript
Wider die Langeweile Neutestamentliche Wissenschaft in neuzeitlichen Kontexten quis leget haec? … Persius, Saturae 1,2 Abstract Resisting Boredom. New Testament Research in Modern Contexts The essay offers a self-portrait of the author and investigates the status of current New Testament exegesis.
Angesichts der grossen Redundanz und des unablässigen Recycling in der neutestamentlichen Wissenschaft wird man nicht selten von einer eigentümlichen Langeweile übermannt. Dem entspricht es, dass in gesamttheologischen und kirchlichen Diskursen die exegetischen Stimmen deutlich an Gewicht verloren haben. Beides setzt dem Studium des Neuen Testaments empfindlich zu. Ich möchte in den nachstehenden Zeilen einige Innovationsgeneratoren erkunden. Vielleicht verschaffen sie der neutestamentlichen Exegese wieder Entdeckungslust und Selbstbewusstsein bei dem, was ihr als Aufgabe gestellt ist: die umsichtige Interpretation des wohl wirkungsmächtigsten Buchs der Weltgeschichte mit seiner eigentümlichen Botschaft, dass Gott im Leben und Sterben von Jesus Christus gegenwärtig wird. Mein Interesse am Neuen Testament verdichtet sich in drei Feldern, die alle in gewisser Weise mit einer Grenzwanderung entlang verschiedener Disziplinen sowie mit dem Spiel von Binnen‑ und Fremdperspektive zu tun haben. Es kommt der autobiographischen Textsorte entgegen, dass sich diese Dreiheit (deren symbolischer Wert durchaus gewollt ist) jeweils mit meinen Wegen zur und innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft verschränkt.
1. Das Neue Testament als Auftakt zur Liaison von Antike und Christentum, oder: die Entdeckung der Wirkungsgeschichte Ich habe mich erst recht spät im Bereich der neutestamentlichen Wissenschaft spezialisiert. Mein Hauptinteresse galt während des Studiums vor allem der Alten Kirche, wo sich ein spannungsvoller, experimentierfreudiger wie
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Wider die Langeweile
krisengeschüttelter Weg zur Integration von Christentum und griechisch-römischer Welt verfolgen lässt. Aus einem weder kirchlich noch theologisch geprägten Haus kommend, befreundete ich mich neben den biblischen Schriften, die ich erst jetzt kennen lernte, von Anfang an auch mit anderen eindrücklichen Texten. Meine ersten Schritte in das Koine-Griechisch unternahm ich in den Schriften der Apostolischen Väter; schon bald lockten mich die frühen Apologeten, vor allem Justin, ‚der Philosoph‘. Sein Dialog mit dem Juden Tryphon fristet auch heute noch, trotz aller jüdisch-christlichen Debatten, eine eigenartige Schattenexistenz. Meine besondere Aufmerksamkeit galt daneben der entstehenden Trinitätslehre, in der es gleichsam darum ging, den Gott der Philosophen mit dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zu versöhnen. Auf der Suche nach einem geeigneten Dissertationsthema stiess ich schliesslich, angeregt von einem Roman von Stefan Andres, auf einen eigentümlichen Grenzgänger zwischen Antike und Christentum, auf Synesios von Kyrene.1 An diesem feinsinnigen Literaten, Hymnendichter und nachmaligen Bischof liessen sich die Antithesen und Adaptationen exemplarisch erkennen, welche die gesamte Epoche bewegten. Der ständige Seitenblick auf die grossen Kappadokier, die alle auf ihre Weise das Evangelium auch mittels philosophischer Kategorien zu interpretieren versuchten, erwies sich als sehr bereichernd. Eine eingehendere Beschäftigung mit dem komplexen Œuvre des Dionysios Areopagites mit seinem programmatischen Brückenschlag zwischen Athen (Apg 17,34) und Jerusalem bleibt vorderhand den Emeritierungsträumen vorbehalten. Vor einer ‚hauptamtlichen‘ Beschäftigung mit dem Neuen Testament schreckte ich als junger Forscher trotz Anstellung als Assistent in diesem Fachbereich zurück. Mir schienen die Wege zu sehr gebahnt, die Felder zu stark abgegrast, als dass ich mir hier eine kreative Arbeit vorstellen konnte. Die bedrohlichen Türme von Sekundär‑ und Tertiärliteratur behinderten meinen Zugang zur Geburtsurkunde der Kirche. Die Patristik hingegen lud zu Erkundungen von vielfach noch nicht vollständig kartographierten und planierten Räumen ein. Entsprechend beeindruckten mich diejenigen Forscher, die in beiden Disziplinen, in der neutestamentlichen Wissenschaft und in der Alten Kirchengeschichte, zuhause waren – eine kleine Wolke von Zeugen, von Adolf von Harnack und Hans Lietzmann bis hin zu Heinrich Kraft und Norbert Brox. Die Grenzziehung zwischen dem Neuen Testament und der restlichen frühchristlichen Literatur wird seit langem zu Recht problematisiert, auch wenn sie sich infolge der zunehmenden Spezialisierung in den letzten Jahrzehnten aus schlicht arbeitsökonomischen Gründen zunehmend gefestigt hat. Eine attraktive Gegenbewegung verdankt sich in jüngerer Zeit nun jedoch nicht nur der Kritik am ‚Zaun‘ des Kanons und einigen zentralen, das zweite Jahrhundert 1 S. Vollenweider, Neuplatonische und christliche Theologie bei Synesios von Kyrene (FKDG 35), Göttingen 1985. Vgl. St. Andres, Die Versuchung des Synesios, München 1971.
1. Das Neue Testament als Auftakt zur Liaison von Antike und Christentum
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umgreifenden Fragestellungen (etwa der Frage nach dem Parting of the Ways), sondern der Textinterpretation selbst, welche die Wirkungsgeschichte entdeckt hat. Das hermeneutische Potential biblischer Texte kommt erst dann umfassend zu Gesicht, wenn die Fülle ihrer Rezeptionen in Zeit und Raum wahrgenommen wird. Vor allem Ulrich Luz, mein neutestamentlicher Kollege an der Berner Fakultät, hat mich für die Wirkungsgeschichte als integralem Teil der Bibelauslegung sensibilisiert.2 Hier konvergieren auch meine exegetischen und altkirchlichen Interessen. Projekte wie der „Evangelisch-Katholische Kommentar“,3 der „Ancient Christian Commentary on Scripture“, das „Novum Testamentum Patristicum“ oder die „Encyclopedia of the Bible and Its Reception“ eröffnen nicht nur neue Perspektiven, sondern ganze Forschungsfelder, die der von innerer Verkrümmung bedrohten neutestamentlichen Wissenschaft reiche Beutezüge versprechen. Die Erarbeitung der umfangreichen Materialien sowie die methodologische Reflexion über den Stellenwert rezeptionsästhetischer Fragestellungen gehört ohne Zweifel zu den zentralen und verheissungsvollen Aufgaben der künftigen Exegese. Im Fall der Alten Kirche kommt der Vorteil hinzu, dass wir uns noch in demselben geschichtlichen Zeitalter bewegen, in das auch Urchristentum und Frühjudentum, also der Kernbereich der neutestamentlichen Wissenschaft, gehören. Für die mit der Wirkungsgeschichte verbundene Horizonterweiterung ist selbstredend die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen unabdingbar. Wer sich auf Forschungspfade dieser Art einlässt, kann im Übrigen öfter eine heilsame Erfahrung machen: Die Arbeit an ausserbiblischer Literatur verhilft zu einer Relativierung klassischer hauseigener Debatten, die nur zu gern überscharfe Differenzierungen oder sogar falsche Alternativen an die Texte herantragen. Dazu kommt eine nicht zu unterschätzende Relativierung unserer exegetischen Hypothesen, die weit über die Ernüchterung im Blick auf unsere vermeintlich originellen ‚Entdeckungen‘ hinausgeht: Mancher ingeniöse Vorschlag etwa aus dem Bereich des Rhetorical Criticism muss sich der unbequemen Frage aussetzen, ob er sich stützen lässt durch Beobachtungen, welche die in der Rhetorik teilweise vorzüglich geschulten Kirchenväter selbst beisteuern.
2 Vgl. die presidential address der SNTS: U. Luz, Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft, in: ders., Theologische Aufsätze (WUNT 414), Tübingen 2018, 253–274, hier: 266–268. 3 Im Rahmen des EKK lege ich den Philipperbrief aus, der natürlich vor allem eine ungemein starke christologische Wirkungsgeschichte entfaltet hat.
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2. Das Neue Testament und das Revival der Religionsgeschichte, oder: Texte in Kontexten Am Theologiestudium faszinierte mich zunächst die Religionsgeschichte, die an der Zürcher Fakultät in Personalunion mit dem Alten Testament betrieben wurde. Von den gewaltigen altorientalischen Mythen wandte ich mich schon bald der griechisch-hellenistischen Welt zu, die in so hohem Mass zur Basis unserer abendländischen Kultur geworden ist. Ich las mich in Platon, Homer und Hesiod ein. Vom Neuen Testament angeregt wagte ich mich auch an die geheimnisvollen alttestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen, für die man damals primär auf die altertümlich wirkende Ausgabe von E. Kautzsch zurückgriff. Eine neue Welt tat sich mir auf, als ich mich in Henochs düstere Visionen von den gefallenen Wächterengeln samt seiner Erhöhung zum Menschensohn und in Esras eindringliche Gespräche über Gottes Gerechtigkeit versenkte. Kundige Führer waren Klaus Berger in Heidelberg und Odil H. Steck in Zürich.4 Später schoben sich infolge meiner Arbeit an Synesios wieder die Philosophen in den Vordergrund, allen voran Plotin, dessen anspruchsvolle Metaphysik und Platonexegese mich nicht weniger in Bann schlug als seine subtile Mystik. Von dieser doppelten Interessenlage her bestimmt erschien mir die häufig beschworene Alternative, ob die neutestamentlichen Texte primär im alttestamentlich-jüdischen oder aber im hellenistischen Kontext zu interpretieren seien, ausgesprochen künstlich. Vor allem stiess ich mich am unterschwelligen Misstrauen, das in der deutschsprachigen Exegese dem Griechentum gegenüber vorherrschte. Nicht selten begegnete ich einer Lektüre von Texten der Umwelt, die mit einer Steinbruchmethode arbeitete und dabei einer Hermeneutik nicht gerade des Verdachts, wohl aber der Geringschätzung folgte, frei nach dem Prinzip „Wie man über Gott nicht denken soll“.5 Manche Jahre später versuchte ich in meiner Habilitationsschrift Paulus als Bürger zweier Welten zu interpretieren6 – vor dem Hintergrund sowohl der griechisch-hellenistischen Freiheitstradition wie der in universalen Kategorien denkenden jüdischen Apokalyptik. Für die breit angelegte Berücksichtigung der Umwelt wusste ich mich von ‚Säulen‘ wie Martin Hengel und Walter Burkert getragen.7 4 Exemplarisch sind zu nennen K. Berger, Die griechische Daniel-Diegese. Eine altkirchliche Apokalypse (StPB 27), Leiden 1976; O. H. Steck, Überlegungen zur Eigenart der spätisraelitischen Apokalyptik, in: J. Jeremias / L. Perlitt (Hg.), Die Botschaft und die Boten, FS H. W. Wolff, Neukirchen 1981, 301–315. 5 So der Titel eines fragwürdigen Buchs von H. Braun: Wie man über Gott nicht denken soll. Dargelegt an Gedankengängen Philos von Alexandria, Tübingen 1971. 6 S. Vollenweider, Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt (FRLANT 147), Göttingen 1989. 7 Vgl. die presidential address der SNTS von M. Hengel, Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft, in: ders., Theologische, historische und biographische Skizzen. Kleine Schriften,
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Aber erst die anderthalbjährige Zeit als Dozent und Studentenhausleiter in der alten japanischen Kaiserstadt Kyōto erschloss mir die Tragweite der kulturellen Kontexte für die Theologie. Ich lernte neben Entwürfen kontextueller Theologie auch religionsphilosophische Brückenschläge zwischen europäischer Philosophie und japanischem Buddhismus kennen. Programmatische Begriffe wie Inkulturation und Kontextualität der christlichen Botschaft verbanden sich mit ganz persönlichen Erfahrungen in theologischen Fakultäten und kirchlichen Szenen, Studentenhäusern und interreligiösen Instituten, Zen-Tempeln und Shinto-Ritualen. Die Notwendigkeit, das Frühchristentum konsequent im Horizont antiker Religionsgeschichte(n) zu lokalisieren, begleitet seither meinen akademischen Weg.8 Dieser persönlichen Neigung kommt ein markant zunehmendes Interesse an der religiösen wie sozialen Umwelt des Neuen Testaments entgegen, das sowohl im deutschen Sprachraum wie in der internationalen Exegese zu beobachten ist. Die einst polarisierende Alternative ‚jüdisch‘ wider ‚hellenistisch‘ ist weithin überholt. Eine Vielzahl beeindruckender, oft internationaler Projekte arbeitet die in Frage kommenden Materialien grossflächig auf. So gut wie im Alten Testament ist heute auch im Neuen Bund Religionsgeschichte wieder en vogue. Im Unterschied zu ihrer klassischen Blütezeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts9 zielt sie aber kaum mehr auf eine monokausale Theorie, sondern tendiert zu einer umfassenden Einbeziehung der gesamten antiken Mittelmeerwelt mit all ihren sich berührenden oder vermischenden Sonderkulturen und Sprachgemeinschaften. Die einstige Fokussierung auf spezifisch religionsgeschichtliche Phänomene ist Sondierungen aller möglichen Felder gewichen, die in methodisch differenzierter Vielfalt etwa von Wissenssoziologie, Mentalitätsgeschichte oder Kulturanthropologie betrieben werden. Die hier gewonnenen Forschungen bereichern unser Verständnis des Frühchristentums, müssen allerdings zumal im Blick auf ihre nicht selten anti theologischen Postulate kritisch rezipiert werden.10 Mir selbst sind drei Weichenstellungen besonders wichtig geworden. Erstens verdienen es die Texte der ‚Umwelt‘, um ihrer selbst willen gelesen zu werden, und zwar mit denselben raffinierten Methoden, die auch auf die biblischen Schriften angewandt werden. Gerade die Neubewertung des Judentums, die sich in jüngerer Zeit zu Recht durchgesetzt hat, signalisiert den Stellenwert einer
Bd. 7 (WUNT 253), Tübingen 2010, 242–278; sowie W. Burkert, Klassisches Altertum und antikes Christentum. Probleme einer übergreifenden Religionswissenschaft, Berlin 1996. 8 S. Vollenweider, Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie (WUNT 144), Tübingen 2002. 9 Vgl. die Dokumentation von G. Lüdemann (Hg.), Die „Religionsgeschichtliche Schule“. Facetten eines theologischen Umbruchs, Frankfurt 1996. 10 Vgl. meinen Aufsatz: Streit zwischen Schwestern? Zum Verhältnis von Exegese und Religionsgeschichte, ZThK 106 (2009) 20–40, Abdruck in diesem Band: 441–459.
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Lektüre in optimam partem, die nicht zuletzt auch einem besseren Verständnis des Neuen Testaments entgegenkommt. Zweitens rücken Themenkomplexe in den Mittelpunkt des Interesses, die bisher eher fragmentarisch erhoben wurden. Ich denke beispielsweise an den Herrscherkult, der von vielen Forschern zunehmend als Kontrastfolie urchristlicher Vorstellungen in Anspruch genommen wird. Eine ‚politische‘ Relektüre des Urchristentums, die während der Zeit des Kalten Krieges unausweichlich in das Kreuzfeuer ideologischer Auseinandersetzungen geriet, lässt sich heute differenzierter und abgewogener in Angriff nehmen, angeregt etwa von der Kulturanthropologie und Sozialgeschichte. Mir selbst drängten sich diese politischen Bezugsfelder insbesondere am Christuslob von Phil 2,6–11 auf, wo Jesus Christus als Kosmokrator und Kyrios die Verehrung der ganzen Welt empfängt. Drittens führt die Wahrnehmung der Kontextualität frühchristlicher religiöser Aussagen sowohl das Gewicht der Rezeptionshorizonte, also die im vorherigen Teil herausgestellten Zusammenhänge, wie auch die Unabdingbarkeit hermeneutischer Zugänge eindrücklich vor Augen. Mit diesem meines Erachtens entscheidenden Punkt möchte ich mich im dritten, abschliessenden Teil beschäftigen.
3. Vom Neuen Testament zur Neuzeit, oder: „Verstehst du, was du liest?“ Meine ersten Begegnungen mit dem Neuen Testament gingen einher mit Eindrücken von Zürcher Professoren, welche die Wahrheitsfrage ganz ins Zentrum stellten. Da war Eduard Schweizer, der es verstand, das Verkündigungsanliegen der alten Texte herauszuarbeiten, zumal in eindrücklichen, von vielen Menschen besuchten Predigten. Da war Siegfried Schulz, der in schneidender Schärfe das paulinische Evangelium von allen frühkatholischen Deformationen abzugrenzen wusste. Und da war Gerhard Ebeling, für den die Auslegung der Schrift die Basis bildete für die kristallin klare Glaubensrechenschaft, die in seiner dreiteiligen Dogmatik eine klassische Gestalt gefunden hat. In Tübingen verhalf mir Eberhard Jüngel nicht nur zu einer Würdigung der trinitarisch pointierten ‚Menschlichkeit‘ Gottes, sondern auch zu einem Zugang zur Kirchlichen Dogmatik von Karl Barth, deren Petitabsätze zumal für exegetische und historische Sondierungen ergiebig sind. Systematische Fragestellungen begleiteten mich in meiner kirchengeschichtlichen Arbeit, zumal in der Verhältnisbestimmung von neuplatonischem und christlichem Gottesverständnis. Es war unter anderem denn auch die Befürchtung, unter der Masse der Materialien die Wahrheitsfrage aus dem Blick zu verlieren, die mich zur neutestamentlichen Exegese zurückführte. Ich verdanke Hans Weder, dem Nachfolger von Eduard Schweizer, die Ermutigung dazu, sich ohne Irritation durch die ermüdenden Forschungsdebatten immer wieder neu auf das Sachanliegen der neutestamentlichen Texte
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einzulassen und es beherzt in heutige Kontexte hinein auszulegen.11 Es war eine mitreissende und für mich nicht ganz selbstverständliche Erfahrung, dass Bibeltexte das eigene Denken beflügeln und geradezu entfesseln können. Im Blick auf das verpflichtende reformatorische Erbe scheint es mir besonders der deutschsprachigen Exegese aufgetragen zu sein, dem, was das Neue Testament zu denken gibt, durch eigenes Nach-Denken gerecht zu werden. Man kann sich dem Eindruck schwer entziehen, dass in der Bibelexegese unserer Tage eine starke Neigung besteht, sich von systematischen Fragestellungen zu verabschieden, während die Hermeneutik nur noch als ehrbare Sonderdisziplin fungiert. Der im Vergleich zur Generation R. Bultmanns und seiner Schüler frappante Perspektivenwechsel hängt nicht nur mit der Mühsal des Aufarbeitens sprunghaft steigender Forschungsliteratur und der Dominanz anglo-amerikanischer Exegese, die von Haus aus ein nüchternes Verhältnis zu reflexiven Höhenflügen pflegt, zusammen. Die Ursachen reichen tiefer, und ihre Folgen sind durch das Programm der dialektischen Theologie nur auf Zeit zurückgedrängt worden. Die Konstituenten der (späten) Moderne – Historismus, Pluralismus und Kon struktivismus – scheinen sich dem Wahrheitsanspruch, den eine biblische Theologie ihren Texten zu entnehmen glaubt, entgegenzustemmen. Die von religiösen Systemen bzw. Gruppierungen propagierte Wahrheit steht aufgrund ihres perspektivischen und partikularen Charakters im Verdacht subjektiver Beliebigkeit und kulturspezifischer Konstruktion. Diese Grosswetterlage provoziert die Dekonstruktion der überkommenen theologischen Bibellektüren, ohne dass sich im bunten Spiel von linguistischen und engagierten, wissenssoziologischen und kulturanthropologischen Trends ein neues Paradigma von Geltungsansprüchen im Sinn relativer Universalität abzeichnen würde. Umso mehr Auftrieb erhalten demgegenüber fundamentalistische Bibelauslegungen, in denen das Programm der Moderne grundsätzlich negiert wird. Im Horizont dieser nicht ganz neuen Unübersichtlichkeit bleibt mein Interesse an den neutestamentlichen Texten entscheidend davon bestimmt, dass sie in eigenartiger Hartnäckigkeit auf diesem einen insistieren: der schöpferischen und versöhnenden Gegenwart Gottes in einer bestimmten geschichtlichen Konstellation, den Menschen aller Räume und Zeiten zugute. Jede Auslegung der Bibel sollte sich diesem Anspruch, den die Texte selbst erheben, stellen und ihm Raum geben. Ich bin mir bewusst, dass dieses ur-evangelische Anliegen unter heutigen Bedingungen anachronistisch klingen mag, so sehr wir noch von unseren Lehrern eindringlich auf diesen Weg gewiesen wurden. Aber es gehört auch zu den Vorzügen der Spätmoderne, den neuesten Moden vermeintlich überholte Einsichten zur Seite zu stellen – dem Hausherrn gleich, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorzuholen weiss (Mt 13,52). An diesem Punkt konvergieren für mich die zuvor entfalteten wirkungsgeschichtlichen und religionsgeschichtlichen Vgl. H. Weder, Neutestamentliche Hermeneutik (ZGB), Zürich 21989.
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Perspektiven. Weil sich das Evangelium in immer neuen Kontexten artikuliert, bin ich als Ausleger dazu gerufen, dieser inkarnatorischen Bewegung mein eigenes Wort zu leihen – wie ich umgekehrt die Erfahrung mache, dass sich mir das Evangelium nie anders als gerade in diesen spezifischen, historischen wie individuellen Gestalten mitteilt. Die Orientierung an der Kontextualität des Evangeliums gibt dem interdisziplinären Gespräch einen neuen, herausragenden Stellenwert. Neben dem interreligiösen Dialog und der Auseinandersetzung mit der Psychologie spielt für mich die der Exegese eigentlich ferne Welt der Naturwissenschaften eine besonders anregende Rolle. Für das Problem sensibilisiert haben mich die Arbeiten von Georg Picht und Carl Friedrich von Weizsäcker, welche die konstitutive Rolle der griechischen Metaphysik in der Theorienbildung der neuzeitlichen Physik herausstellen.12 Neuzeitliche Menschen bewegen sich ganz selbstverständlich in denjenigen Horizonten, die durch die moderne Physik, Biologie und Medizin aufgespannt werden. Die seinerzeitige Debatte um das Entmythologisierungsprogramm von R. Bultmann hat gerade von diesem Punkt seinen Ausgang genommen. Zumal wer Interesse an den schöpfungstheologischen Dimensionen biblischer Texte hat, steht vor der Aufgabe, diese in Bezug zu heutigen, naturwissenschaftlich bestimmten Kontexten zu artikulieren. Ermutigend waren für mich Brückenschläge, wie sie etwa G. Theissen hinsichtlich des evolutionären Paradigmas versucht hat.13 Dialoge zwischen Naturwissenschaften und Theologie stehen freilich vor der komplexen wissenschaftstheoretischen Aufgabe, das Verhältnis ihrer jeweiligen Sprachen und Rahmenbedingungen präzis zu beschreiben. Angesichts dieser sehr abstrakten und geradezu herkulischen Aufgabe habe ich zusammen mit dem Astrophysiker Arnold Benz den weit weniger anspruchsvollen Annäherungsversuch unternommen, in Form eines narrativ gerahmten Gesprächs Möglichkeiten wie Grenzen einer interdisziplinären Begegnung zu umkreisen.14 Platon steht diesem Experiment nicht nur als Klassiker der Textsorte, sondern auch als Naturphilosoph und Mythenschöpfer, der ‚Spass‘ und ‚Ernst‘ zu mischen weiss, Gevatter. Hinter diesem Freibeuterzug steht eine eigentümliche Erfahrung: Neutestamentliche Exegese wird dort lebendig und spannend, wo es zu Wechselwirkungen mit anderen Disziplinen und ihren jeweiligen Methoden kommt. Neben den nahen Verwandten wie etwa der Literaturwissenschaft sind zunehmend auch die scheinbar ferneren Fächer der science attraktive Gesprächspartner(innen).
12 Vgl. G. Picht, Ist Humanökologie möglich?, in: C. Eisenbart (Hg.), Humanökologie und Frieden, Stuttgart 1979, 14–123; C. F. von Weizsäcker, Aufbau der Physik, München 1985. 13 G. Theissen, Biblischer Glaube in evolutionärer Sicht, München 1984. 14 A. Benz / S. Vollenweider, Würfelt Gott? Ein ausserirdisches Gespräch zwischen Physik und Theologie, Ostfildern 32015; überarbeitete engl. Übs.: Mission to Saturn. A Debate about Science and God, New York 2020 (im Druck).
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Ich möchte mit einem unserer Generation noch vertrauten Diktum von J. A. Bengel schliessen, das den Ausgaben von Nestles Novum Testamentum Graece bis zur 25. Auflage als Motto beigegeben war. Es bringt den hermeneutischen wie spirituellen Anspruch dieses schmalen, aber wirkungsvollen Buchs auf eine für die Exegese nach wie vor massgebliche Weise zum Ausdruck: Te totum applica ad textum, rem totam applica ad te.
Nachweis der Erstveröffentlichungen Ein achter Tag. Jesu Auferstehung als ein Kristallisationspunkt neutestamentlicher Gotteslehre ZThK 116 (2019) 271–289.
Vom israelitischen zum christologischen Monotheismus. Überlegungen zum Verhältnis zwischen dem Glauben an den einen Gott und dem Glauben an Jesus Christus P. Hanson / B. Janowski / M. Welker (Hg.), Biblische Theologie (Altes Testament und Moderne 14), Münster 2005, 123–133.
Christozentrisch oder theozentrisch? Christologie im Neuen Testament E. Gräb-S chmidt / R. Preul (Hg.), Christologie (MJTh 23 / MThSt 113), Leipzig 2011, 19–40.
„Der Erstgeborene vor aller Schöpfung“ (Kol 1,15–20). Überlegungen zum Stellenwert der kosmischen Christologie für das Gespräch zwischen Schöpfungstheologie und moderner Kosmologie J. Hübner / I.-O. Stamatescu / D. Weber (Hg.), Theologie und Kosmologie (RuA 11), Tübingen 2004, 61–80.
„Der Name, der über jedem anderen Namen ist“. Jesus als Träger des Gottesnamens im Neuen Testament I. U. Dalferth / Ph. Stoellger (Hg.), Gott nennen. Gottes Namen und Gott als Name (RPT 35), Tübingen 2008, 173–186.
Ganzheitlich oder doch dualistisch? Über wenig attraktive Alternativen in der neutestamentlichen Anthropologie E. Gräb-S chmidt / R. Preul (Hg.), Anthropologie (MJTh 29 / MThSt 128), Leipzig 2017, 31–53.
Leben aus dem Tod. Neutestamentliche Perspektiven auf Lebensfülle und Lebens minderungen E. Herms (Hg.), Leben. Verständnis, Wissenschaft, Technik (VWGTh 24), 2005, 165– 175.
Das Urchristentum als Religionsgemeinschaft der Entgrenzung F. Schweitzer (Hg.), Kommunikation über Grenzen (VWGTh 33), Gütersloh 2009, 55–71.
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Nachweis der Erstveröffentlichungen
Wahrnehmungen der Schöpfung im Neuen Testament ZPTh 55 (2003) 246–253.
Weltdistanz und Weltzuwendung im Urchristentum H.-G. Nesselrath / M. Rühl (Hg.), Der Mensch zwischen Weltflucht und Weltverantwortung. Lebensmodelle der paganen und der jüdisch-christlichen Antike (STAC 87), Tübingen 2014, 127–145.
Göttliche Einwohnung. Die Schekina-Motivik in der paulinischen Theologie B. Janowski / E. E. Popkes (Hg.), Das Geheimnis der Gegenwart Gottes. Zur Schechina-Vorstellung in Judentum und Christentum (WUNT 318), Tübingen 2014, 203– 217.
Weisheit am Kreuzweg. Zum theologischen Programm von 1 Kor 1 und 2 A. Dettwiler / J. Zumstein (Hg.), Kreuzestheologie im Neuen Testament (WUNT 151), Tübingen 2002, 43–58.
Kreuzfeuer. Paulus und seine Konflikte mit Rivalen, Feinden und Gegnern J. Schröter / S. Butticaz / A. Dettwiler (Hg.), Receptions of Paul in Early Christianity. The Person of Paul and His Writings through the Eyes of His Early Interpreters (BZNW 234), Berlin 2018, 647–674.
Politische Theologie im Philipperbrief? D. Sänger / U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes (WUNT 198), Tübingen 2006, 457– 469.
Lob am jüngsten Tag. Zum Hintergrund der Gerichtserwartung im Philipperbrief W. Kraus (Hg.), Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte (BZNW 163), Berlin 2009, 307–317.
Sich freuen auf Einheit. Ein ökumenischer Impuls aus Philippi U. Luz / Th. Söding / S. Vollenweider (Hg.), Exegese – ökumenisch engagiert. Der „Evangelisch-Katholische Kommentar“ in der Diskussion über 500 Jahre Reformation, Ostfildern / Neukirchen 2016, 99–107.
„Einer ist der Mittler“ (1 Tim 2,5). Mittleraussagen der neutestamentlichen Briefliteratur in ihren frühjüdischen und hellenistischen Kontexten A. Taschl-Erber / I. Fischer (Hg.), Konzeptionen der Gottespräsenz von der Zeit des Zweiten Tempels bis Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. (WUNT 367), Tübingen 2016, 209–228.
Hymnus, Enkomion oder Psalm? Schattengefechte in der neutestamentlichen Wissenschaft NTS 56 (2010) 208–231.
Nachweis der Erstveröffentlichungen
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Auferstehung als Verwandlung. Die paulinische Eschatologie von 1 Kor 15 im Vergleich mit der syrischen Baruchapokalypse (2 Bar) M. Konradt / E. Schläpfer (Hg.), Anthropologie und Ethik im Frühjudentum und im Neuen Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen (WUNT 322), Tübingen 2014, 463–490.
„Mitten auf dem Areopag“. Überlegungen zu den Schnittstellen zwischen antiker Philosophie und Neuem Testament EChr 3 (2012) 296–320.
Barbarenweisheit? Zum Stellenwert der Philosophie in der frühchristlichen Theologie Ch. Riedweg (Hg.), PHILOSOPHIA in der Konkurrenz von Schulen, Wissenschaften und Religionen. Zur Pluralisierung des Philosophiebegriffs in Kaiserzeit und Spätantike (Philosophie der Antike 34), Stuttgart 2017, 147–160.
Toren als Weise. Berührungen zwischen dem Äsoproman und dem 1. Korintherbrief P. G. Klumbies / D. du Toit (Hg.), Paulus. Werk und Wirkung. FS A. Lindemann, Tübingen 2013, 3–20.
Bildungsfreunde oder Bildungsverächter? Überlegungen zum Stellenwert der Bildung im frühen Christentum P. Gemeinhardt (Hg.), Was ist Bildung in der Vormoderne? (Studies in Education and Religion in Ancient and Pre-Modern History in the Mediterranean and its Environs 4), Tübingen 2019, 283–304.
Lebenskunst als Gottesdienst. Epiktets Theologie und ihr Verhältnis zum Neuen Testament S. Vollenweider (Hg.), Epiktet. Was ist wahre Freiheit? (SAPERE 22), Tübingen 2013, 119–162.
Streit zwischen Schwestern? Zum Verhältnis von Exegese und Religionsgeschichte ZThK 106 (2009) 20–40.
Die historisch-kritische Methode – Erfolgsmodell mit Schattenseiten. Überlegungen im Anschluss an Gerhard Ebeling ZThK 114 (2017) 243–259.
Heilvolle Wende? Exegese im Zeichen der Kulturwissenschaften P. Lampe / M. Mayordomo / M. Sato (Hg.), Neutestamentliche Exegese im Dialog. Hermeneutik – Wirkungsgeschichte – Matthäusevangelium, FS U. Luz, Neukirchen 2008, 111–120.
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Nachweis der Erstveröffentlichungen
Aussergewöhnliche Bewusstseinszustände und die urchristliche Religion. Eine alternative Stimme zur psychologischen Exegese EvTh 65 (2005) 103–117; revid. Abdruck in: G. Theissen / P. von Gemünden (Hg.), Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung des frühen Christentums, Gütersloh 2007, 73–90.
Paulus zwischen Exegese und Wirkungsgeschichte M. Mayordomo (Hg.), Die prägende Kraft der Texte. Hermeneutik und Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments (SBS 199), Stuttgart 2005, 142–159.
„Archetyp der Vollkommenheit“. Die Lebenswende des Paulus nach der patristischen Lektüre von Phil 3 (Johannes Chrysostomos und Augustin). Ancient Perspectives im Gespräch mit der „New Perspective“ T. Nicklas / A. Merkt / J. Verheyden (Hg.), Ancient Perspectives on Paul (NTOA 102), Göttingen 2013, 11–29.
Der Logos als Brücke vom Evangelium zur Philosophie. Der Johannesprolog in der Relektüre des Neuplatonikers Amelios A. Dettwiler / U. Poplutz (Hg.), Studien zu Matthäus und Johannes / Études sur Matthieu et Jean, FS J. Zumstein (AThANT 97), Zürich 2009, 377–397.
Luzifer – Herrlichkeit und Sturz des Lichtengels. Eine Gegengeschichte zu Demut und Erhöhung von Jesus Christus JBTh 26 (2011) 203–226.
Der Erlöser im Tarnanzug. Eine Studie zur Christologie des Physiologus, zu seiner Datierung und zur Rezeptionsgeschichte von Psalm 24 (= 23 LXX) Z. Kindschi Garský / R. Hirsch-Luipold (Hg.), Christus in natura. Quellen, Hermeneutik und Rezeption des Physiologus (SBR 11), Berlin 2019, 93–132.
Paulus in Zürich. Zur Briefauslegung von Heinrich Bullinger ZThK 114 (2017) 1–20.
Wider die Langeweile. Neutestamentliche Wissenschaft in neuzeitlichen Kontexten E.-M. Becker (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft in eigener Sache. Dreissig autobiographische Essays (UTB 2475), Tübingen 2003, 315–322.
Stellenregister (in Auswahl) 1. Biblische Bücher und ausserkanonische Schriften 1.1 Altes Testament Genesis 1/2 65, 302 1,3.9 f 544 1,27 133, 140 1,31 649 2 573 2,7 89, 302, 594 2,16 f 102 3 567, 573, 582 3,1–3 102, 579 4,17 238 6,1–4 568, 573 14,19 10 17,9–14 212 19,26 536 49,9 589, 594, 641, 647 49,11 623 Exodus 3,6 114 3,14 44, 75, 546 6,7 10 20,2 10, 48 23,22 205 Leviticus 19,36 10 Numeri 15,41 48 Deuteronomium 5,6 10 5,7–10 25, 28 6,4 f 14, 24 f, 27–29, 40, 261 f, 312 6,12 10 21,22 f 190, 352, 663 30,15–20 113 Esther 3,2 ff 25 4,17 25
Hiob 1,12 567 40,25–32 624 40,25 580 Hohelied 1,16 623 f 4,8 591 5,2 639 Psalmen (Zählung MT) 1 113 16,10 614, 637 18,10 623 22 12 24 (= 23) 591, 593, 610–617, 628, 643 71,20 28 76,20 591 77,20 591 82,6 30, 47 97,2 (= 96,2) 626 110,1 13, 38, 79, 595, 611, 635 111,10 392 115,15 10 121,4 641 Sprüche (Proverbia) 1,7 392 8,22–31 56 9,10 392 15,33 392 26,27 365 Prediger 1,9 f 68 9,1–12 119 Jesaja 10 583 13 f 583 14 573–578, 582–585 25,8 118 40,13 196
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Stellenregister (in Auswahl)
43,18 f 141 44,6 44, 77 45 82 45,7 567 45,14 176 45,15 623 45,23 14, 28, 38, 82, 233 48,12 44, 77 52,14 611 59,20 f 29 63,1–3 614 65,17 140 66,6 205 66,20 140 Ezechiel 25–32 583 28 572–575, 578 f, 582–585 37,4–14 18 37,9 594 Daniel 7,9 77 7,13 77 9–11 582 f 12,2 319 Joel 3,5 84 Habakuk 2,4 420 Sacharja 12,10 77 14,9 29, 40, 312
1.2 Zusätzliche Schriften der Septuaginta
4. Makkabäer 5,11 333 13,13–15 93 17,11–16 244 Sirach 1,14 392 15,9 287 15,14–17 567 24,1–22 56 24,5 259 25,24 567 Sapientia Salomonis 2,4 f 119 2,24 571 f 7,22 56, 259 7,27 259 9,15 90 13,1–16,14 260 13,1–9 143 16,13 28 Tobit 12,16–22 24 13,2 28
1.3 Ausserkanonische Schriften neben dem Alten Testament Apokalypse des Esra (griechisch) 4,32 581 Apokalypse des Mose (vgl. Vita Adae) 17 582 Apokalypse des Sedrach 5,1–4 571 14,8 621
1. Makkabäer 1,11 131
Apokalypse des Zefanja 10 25 13 498
2. Makkabäer 6,30 93 7,22 f 28 9,10–12 583
Aristeas-Brief 139 122 142 122
3. Makkabäer 3,17 242
272 272 324 5
Aristobul(os) Frg. 1 Frg. 2 Frg. 4 Frg. 5
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Stellenregister (in Auswahl) 2. (syrischer) Baruch 98, 299–320 17,2 f 567 28,5 309 30,1 39, 306, 311 f 30,2 307 40,3 309, 312 44,8 f 309 49–52 303–308 77,18–87,1 313 85,7–15 305 3. (griechischer) Baruch 4,8 571 17,3 496 Climax Iacobi (Leiter Jakobs) 4,46 592 4. Esra 314, 319, 495 7,26–29 310 7,28 f 39 7,118 567 9,23–26 495 13,16–19.22–24 307 14,37–44 495 1. (äthiopischer) Henoch 6 569 11,3 571 12,1 571 12,4 569 13 570 15 f 569 22 93 68,4 575 86,1 570 2. (slawischer) Henoch 5, 496, 576 f 29,4 f 577 29,4 568 31,4–6 577 33,1 f 5 3. (hebräischer) Henoch → Rabbinische Literatur Josef und Asenet 20,7 10, 28 Jubiläen 48 567
Psalmen Salomos 9,4 f 567 Sibyllinen 3,15 f 4,181 f 8,291 f
76 305 603
Testament Abrahams (Rez. A) 18,11 18 Testament Hiobs 177 6,4 582 14,2 280 47–50 498 48,2 177 49,1 177 50,2 177 Testamente der XII Patriarchen 174, 568 Testament Benjamins 6,4 174 Testament Dans 5,1 174 Testament Gads 4,6 28 Testament Josefs 10,2–4 174 Testament Levis 5,2 174 Testament Naftalis 8,6 174 Vita Adae et Evae (vgl. Apokalypse des Mose) 9,1 582 11–17 570 13,1 f 570 15,2 f 575
1.4 Qumrantexte 4Q521 Frg. 7,6
10
688
Stellenregister (in Auswahl)
11Q13 = 11QMelch (Melchisedek) ii,10 f 30
1.5 Neues Testament Matthäusevangelium 1,23 85 2,1–12 602 3,16 16 4,1–11 493, 583 f 4,16 111 5,17–19 511 5,45 142 6,1–18 245 6,9 85 6,19–34 26 6,25–34 433 7,12 432 7,14 113 7,15–20 503 7,21 113 8,11 f 26, 31 8,19–22 156 10 434 10,28 f 92, 142, 400 11,5 f 8 11,25–27 10, 19, 47, 52, 375, 386 12,28 49 12,40 12, 635, 638 13,52 523, 677 18,20 182 19,10–12 156 25,30 368 26,39 411 26,64 640 27,46 12, 635, 637 27,50 12 28,16–20 583 28,18 f 13, 16, 48, 386 Markusevangelium 1,15 11 2,1–12 25 2,10 48 2,15–17 155, 621 2,18 f 142 4,26–29 368 4,41 631 5,21–43 115 7,24–28 129 7,35 367 8,31 10, 48 f
8,35 114 8,36 f 114 9,2 ff 503 9,5 183 9,43.45 113 10,17–22 14, 24, 26, 49, 113 10,29 f 114 10,37 247 10,41–45 132, 262, 583, 633 12,18–27 31, 114 12,25 140, 156, 319 12,27 118 12,28–34 14, 24, 49 14,36 411, 635 14,61–64 26, 49 15,29–32 352, 371 15,34 12, 352, 635 15,37 12 15,39 432 16,7 374 Lukasevangelium 1,1–4 394 1,46–55 289 1,51 f 341 1,68–79 111, 289, 595 2,34 201 6,20–23 11 7,11–17 115 7,22 f 8 7,34 142 9,57–62 114, 142, 156, 183 10,15 578 10,18 493, 579 f 10,21 f 10, 47 10,25–28 113 10,41 f 537 11,20 11 11,24–26 174 12,4 f 92 f 12,6 f 142 12,16–21 113, 391 12,22–31 142 13,24–27 113 14,7–14 397, 580 15,11–32 531 16,9 113 16,19–21 391 17,10 368 17,24 580 17,32 f 114, 536 19,1–10 155 20,35 f 114, 140
Stellenregister (in Auswahl) 22,42 411 23,43 113, 391, 635, 637 f, 640 23,46 635, 640 24,30 f 182 24,32 8 24,34 10, 48 24,39 f 70 Johannesevangelium 1,1–18 58, 137, 144, 159, 294, 329, 394, 543–564, 605 1,1 30, 618, 637, 639 f 1,5 595 1,14 96, 591 f, 595, 618, 622, 628, 631, 633, 636, 639 1,18 19, 30, 618 3,1–12 94 3,8 19 3,14 f 664 3,16 f 11, 96, 159 3,31 632 4,22 94 5,16–18 29, 46, 83 5,21 28 5,23 47 5,24–29 117 f, 134 6,51–55 96 6,63 96 8,31–36 435 8,44 568 8,59 596, 603 10,17 f 48 10,30–39 14, 30 10,38 30, 47 11,21–53 115, 117 12,24–26 114, 117, 147, 301 12,31 580 12,35 f 596, 603 13,1–20 368 14,6 563 14,10 f 30, 47 14,16 f 18 14,20 493 14,23 117 14,26 19, 52 15,18–25 160 16,13–15 19, 52 16,33 160 17 30, 47, 117, 160 18,38 342 19,1–7 47, 94 19,30 435
689
20 70 20,28 30, 618 Apostelgeschichte 1,5 16 2,1–13 499 2,33 640 2,38 16 4,12 267 10,1–11,18 130 12,21–23 583 14,15–17 143 16,13–16 212 17,16–34 111, 143, 182, 321, 324, 350, 385, 479, 672 19,9 332 19,28.34 261, 268 21,28 225 26,14 385 26,26 182 28,31 341 Römerbrief 1 622 1,4 13, 18 1,14 129 1,16 f 131, 188, 420 1,18(–25) 27, 143, 145 1,19 f 325, 619 2,9 f 131 2,14–16 248, 325, 422 2,26–28 245 3,21–31 27, 40, 131 3,28 420 4,17 10, 28, 48, 147, 192, 199, 317 4,24 f 10, 28, 48 5,8 11 5,12(–21) 103, 115, 567 6–8 326 6,1–23 104, 115 f 6,4 7, 10 6,6 104 6,9(–11) 10, 48, 134 6,12(–23) 116, 134 7 102–104, 115, 326, 407, 411, 514, 535, 538, 568 7,5 f 101 7,7–8,17 101–105 7,7–25 101, 514 7,17–20 174, 502 7,25 104 8,1–17 104, 116 8,3 622, 665
690
Stellenregister (in Auswahl)
8,4–13 116 8,5–8 175 8,9(–11) 9 f, 18, 28, 105, 173, 180, 502 8,14(–16) 195, 424 8,17–25 116 8,18–39 105, 145 8,18–30 18, 145, 100, 107 8,18–22 116, 416 8,28–30 116, 302, 316 8,34 10, 13, 18 9–11 29, 131, 515 9,5 41 9,16 514 9,32–10,4 535 10,9 7, 10, 13, 28, 48 10,12 131 10,13 84 11,25–27 310, 498, 502 11,28–36 29, 289 11,36 326, 514, 591 12,1–3 157, 316 f, 326, 373, 384, 513 13 243, 512 13,1–7 237, 242, 326 14,7–10 115 f, 118 f 14,9–12 29, 39 16,17(–20) 208 f, 214 1. Korintherbrief 1–4 185, 334 1 f 185–200 1,17 198 1,18–2,5 136, 141, 185–199, 334, 367, 457, 485 1,18–31 187–191, 334, 351, 357, 373, 375, 393 2,6–16 194–196, 336, 352, 358, 373, 497, 502 2,6–8 601, 626 2,8 598, 601, 603, 626 f 3,1–4 196 f 3,4–4,6 208 3,5–17 187, 510 3,8 247 3,16 f 171, 180 3,18–20 373 3,21–23 14, 29, 146, 156 4,5 245, 247 f 4,7 248, 421, 514 4,11 f 135 4,13 368 5,1–13 156, 520 5,3 123, 520 6,1–20 156
6,9–11 16, 134, 264 6,12–20 9 f, 18, 28, 69, 172 7,1–40 156, 512 7,17–24 69, 124,327 7,29–31 154, 157, 327, 425, 512 8–10 327 8,1–5 28 8,5 f 14, 27, 40, 58, 144, 262, 270, 293, 326 9,2 210 9,10 131 9,19–23 132, 521 9,22 596, 601, 605, 608 f, 633 9,25 241 10,11 131 10,23 264 10,32 360 11,2–16 133 11,10 569 11,23–26 116 12,3 261 12,4–6 16 12,13 124 f, 133 12,28 386 13,1 498 13,9–13 503 13,13 8, 456 14 498 14,24 f 500 14,1–25 455 15 300–304 15,3–9 7 f, 201, 501 15,9–11 204, 253, 510 15,15 10 15,17–19 111 15,20–28 9, 39, 115 f, 310 f 15,23–28 11, 14, 28, 311 f 15,35–58 146 15,35–57 105, 116, 301, 318 15,36–38 67, 320 15,39–44 301–303 15,44–49 18, 300 f 15,50–57 134, 303, 497 15,54 f 11, 118 16,9 204 16,22 77 2. Korintherbrief 1,9 10, 28, 48 1,14 248 2,3 f 520 2,5 f 207 2,9 520
Stellenregister (in Auswahl) 2,14–7,4 521 3,1 215, 219 3,7–18 224 3,17 f 18, 316 f, 380, 391 4,4 302, 578 4,5 132 4,6 140, 317 4,7–5,10 224 4,7–10 98–101, 116, 135, 367, 421 4,14 10 4,16–18 116, 316, 326, 537 5,1–10 100, 332 5,2–4 304 5,10 248 5,14–17 421 5,16 f 40, 140 f, 263, 317, 426 5,18–21 178, 267, 665 6,2 422, 426 6,4–10 135 6,9 120 6,14–7,1 170 6,14 f 208 7,8–12 207, 520 8,9 598, 665 10,10 f 221, 389 11,1–3 225, 567 11,6 219, 389, 513 11,13–15 202, 209, 580, 582 11,16–12,13 373 11,22–29 135, 215, 218 f 12,1–10 178, 495 f, 503 13,1–10 177 f, 502, 497 Galaterbrief 1,1–9 661 f 1,6–9 212 1,13 201 1,16 179 2,4 225 2,9 172 2,11–14 508, 662 f 2,19 f 104, 116, 178, 502 3,6–18 212 3,13 352, 663–665 3,19 f 259 3,26–28 16, 124, 134, 140, 189, 317, 354, 359, 468, 471 4,4 422 4,6 16, 424 4,8 f 27 4,10 213 4,19 177 4,21–31 235
691
4,26 129 5,6 124 5,10 209 5,12 211 5,13–6,10 116, 327 5,17 407 5,24 116 6,15 f 124, 140, 189, 226, 421 6,18 97 Epheserbrief 1,20–23 13, 58, 164, 171, 592, 605 2,2–7 134 2,2 577 2,11–22 515 2,14–18 121–124, 164, 267 2,19–22 164, 171 3,10 520–522, 616, 626 f 3,16 326 3,17 179 4,1–6 16, 50, 264 f, 515 4,10 632 5,8 134 5,19 55, 295 5,25–33 512 6,10–20 265 6,10–13 164 6,12 131, 616 Philipperbrief 1,3–11 236, 239 f 1,12–18 253, 510 1,15–18 202–204 1,21–26 116, 119, 332 1,27–2,4 228–232 1,27–30 204–206, 231, 250 2,1–4 232, 251 2,1 657 2,5–11 28, 37, 83, 232–234, 259, 290, 318, 534, 540, 581–583, 659, 676 2,6–8 534, 563, 593, 596, 598, 605, 607, 618, 622 f, 633 2,9–11 13 f, 80–83, 514 2,14–16 241 2,15 f 205 f, 236, 241, 248 2,19–24 253, 540 2,25–30 540 3 235, 523–542, 665–667 3,2–21 206 f, 249 3,2 202, 226 3,4–6 201, 534, 537, 539 3,7–11 525, 529, 531
692
Stellenregister (in Auswahl)
3,12–16 3,18 f 3,20 f
179, 531–541, 667 209 105, 116, 129, 228 f, 234– 236, 316, 532, 540, 667 4,1 241 4,2 208, 252 4,3 235 4,8 157, 373, 384 4,23 97 Kolosserbrief 1,15–20
53–72, 122, 144, 162, 266 f, 292, 328, 605 1,16 592 1,18 9, 13, 63 1,19 179 1,20 606 1,23–29 521 1,26–28 333 2 619 2,1–5 520 2,2 f 333, 351 2,8 163, 333, 350 f, 360 2,9 f 63, 179, 622 2,13 f 134 2,15 627 2,23 334 3,1–13 521 3,1 f 163, 328 3,5 f 163 3,10 104 3,11 58, 124, 129 3,16 54, 295 3,18–4,1 163 1. Thessalonicherbrief 1,9 f 10, 13, 27, 35, 48, 111, 261 2,1–12 210 2,12 315 2,14–16 208 2,19 f 241, 248 4,13–18 7, 11 f, 48, 134, 307 4,16 f 40, 305 5,10 134 5,21 384, 656 5,23 97 f, 636 2. Thessalonicherbrief 2,2 519 2,4 582 1. Timotheusbrief 1,12–17 521
1,15 f 510, 539 1,20 518 2,2 512 2,4–7 137, 257, 260, 521, 634 2,14 f 520, 567 3,16 13, 293, 296, 311, 606, 618, 622, 639 2. Timotheusbrief 1,6–14 521 2,17 f 518 2,23–25 388 3,14–17 384, 388 4,8 242 Titusbrief 1,1–3 521 2,11–14 36, 388, 618 Philemonbrief 132 Hebräerbrief 1,1–2,18 78 f 1,1–4 42 1,2 f 13, 42, 58, 79, 144 1,5–14 42 1,8 f 36, 618 2,14 f 111, 609 4,12 f 137 4,15 625 6,2 111 7,23 f 259 10,20 625 11,19 28 12,18–29 14, 42 12,21–23 129, 416, 559 12,25–29 41, 137, 145 Jakobusbrief 1,2–18 105 f 1,13–15 568 3,15 97 1. Petrusbrief 1,18 f 69 1,21 28 2,10 134 2,14 243 3,18 f 12, 18, 569, 615 3,21 f 13, 592, 595 4,6 12
Stellenregister (in Auswahl) 2. Petrusbrief 1,1 36, 618 1,4 151 f 1,19 585 2,4 569 2,20 151 f 3,1–14 145 3,15 f 509, 518 1. Johannesbrief 2,1 18 3,9 f 96 3,14–16 118 f 4 f 96 4,9 119 4,10 11 5,18 161 5,19 96 5,20 30 3. Johannesbrief 11 96 Judasbrief 6 569 Johannes-Apokalypse 1,4 f 9, 17, 44, 75–77 1,7 77 1,8 14, 44, 77 1,10 4, 500 1,12–18 44 1,17 f 6, 12, 14, 44, 77 2,8 44, 77 3,14 58 4 f 45 5,5 591 f 5,12 622 5,13 13 11,11 18 12 f 583 13,4 582 14,6 606 15,3 f 293 19,5–8 293 19,10 24 19,12 f 77 20,1–6 39, 310 20,14 11 21 f 129 21,1–8 145 21,4 11 21,5–8 14, 44 f
22,8 f 25 22,13 14, 44, 77 22,16 585 22,20 77
1.6 Neutestamentliche Apokryphen Ägypterevangelium (griechisch) Frg. 1–3 133 Andreasakten 620 Ascensio Jesajae 604 4 583 4,6 582 6–11 600 7,18–23 25 9,12–15 601 10,9–12 600 11,23–33 601 Epistula apostolorum 605 13 601 Johannesakten 135 94–96 295 apokryphe Johannes-Apokalypse (1Apocalypsis apocrypha Iohannis) 1 620 f 3. Korintherbrief 3,26–28 301 Nikodemusevangelium 615 Oden Salomos 7 51 42,3 f 603 Paulusakten / Martyrium Pauli 512, 518 Petrusakten 509 20 f 51
693
694
Stellenregister (in Auswahl)
Petrusapokalypse (äthiopisch) 17 611 Petrusevangelium 1,41 f 12 19 636 Quaestiones Bartholomaei 4,53 571 4,55 576 11–15 615
Didache 7,1 16 14,1 4 16,4 582 Diognetbrief 153, 157 1,1 130, 189, 353, 360 5,1–6,7 149 f 7,7–9 111 11,4 179
Thomasakten 80 621
Hermas 8,1 63 40,4–6 619
1.7 Apostolische Väter
Kerygma Petri Frg. 5 130, 189, 353, 360
Barnabasbrief 5,10 f 6 15,8 f.
618 179, 584 4
1. Clemensbrief 5,3–7 204, 509 7,4 69 20,11 231 24 f 67 24,5 301 2. Clemensbrief 1,1 618 12,2 133 14,1 f 63 20,4 569
Ignatius, Epheser 15,3 179 18,2 36 19,1–3 602, 614, 626 Ignatius, Magnesier 6,1 231 9 4, 12 Ignatius, Philadelphier 7,2 179 Ignatius, Smyrnäer 1,1 36
2. Rabbinische Literatur, Targumim, Gebete und Hekalot-Texte Andere Texte
Tosefta tChag 2,3 f
496
Babylonischer Talmud bSan 38b 571 89b 567
Bereshit Rabba 8,10 571 23,1 f 238 Bereshit Rabbati 9 572 Mekhilta deRabbi Jishma’el 29 575
695
Stellenregister (in Auswahl) Pirqe deRabbi Eli’ezer 13 571, 573
Achtzehngebet 2. Ben.
Targum Jonathan Jes 14 574 f Ez 28 574 f
Qaddisch 85
10, 28, 48
3. (hebräischer) Henoch § 314 81 § 587 81 § 591 81
Targum Ps.-Jonathan Dtn 32,39 76
3. Nag Hammadi-Codices u. a. gnostische Schriften Rheginusbrief (NHC 1.4) 300
2. Logos des grossen Seth (NHC 7.2) p. 56 599
Tractatus Tripartitus (NHC 1.5) p. 57 63
Lehren des Silvanus (NHC 7.4) 12 179
Thomasevangelium (NHC 2.2) 71, 133 49,1 91 77 71 77,2 182
Zostrianus (NHC 8.1) 546, 559 p. 130 599
Philippus-Evangelium (NHC 2.3) 26 599 67 600 Noēma (NHC 6.4) p. 41 f 599 De Ogdoade et Enneade (NHC 6.6) p. 55 5
Valentinianische Abhandlung (NHC 11.2) p. 23–28 135 Protennoia (NHC 13.1) p. 47–49 599 Pistis Sophia
598 f
Kölner Mani-Kodex (CMC) 603
4. Antike Schriftsteller Achilleus Tatios 5,17:8 368
Varia historia 3,18 127
Acta conciliorum oecumenicorum 3: 213 608 4.1: 249 608 f
Äsoproman → Vita Aesopi
Alexander von Aphrodisias In Aristotelis metaphysica commentaria Γ: CAG 1,238 335 Älian De natura animalium 9,30 590
Alkinoos Didaskalikos (Epitome) 12,3 273 Ambrosius De fuga saeculi 151 De incarnatione 40 637
696
Stellenregister (in Auswahl)
Expositio euangelii sec. Lucam 7,168 530 Anastasios Sinaites Hexaemeron 4,5 625 Hodegos 13,7 619 Aphthonios Progymnasmata 35 279 Apollinaris von Laodizea Frg. 124 623 Aratos Phainomena
Orationes 26,100–102 131, 234 45,1–14 282 47–52 428 Aristeides, Apologet Apologia 2 130, 189, 346, 353, 360 15 130, 189, 360 16,4 353 Aristoteles 34
Historia animalium 9,44 591 Ps.-Aristoteles De mundo 5: 396b 6: 397b 6: 398a/b 7: 401a/b
De incarnatione 21,3–22,5 637 Oratio contra Arianos 2,8 623 2,13:1 640 Ps.-Athanasios De incarnatione contra Apollinarium 1,18 637 2,14 637 In occursum Domini 4 640 Quaestiones aliae 20 626 Athenagoras
143, 324, 385
Aristeides, Ailios (Aelius)
De caelo 1: 268a
Athanasios
271 61, 270 271 62, 273 f, 281 f
Asterios Homilia in Psalmum 15,16 617
Legatio (supplicatio) 12,3 111 31,4 111 Augustin Contra academicos 2,2:5 f 514 De civitate Dei 7,1 622 9 257 10,26–29 257, 543 14,13 581 Confessiones 7,13 544 7,14 563 7,26 f 514, 563 8,3 544 8,29 514 9,23 541 10,67 257 11,39 541 Contra duas epistulas Pelagianorum 3,19–23 536 f In psalmos enarrationes 148,17 279 In Iohannis evangelium tractatus 17,16 581 De peccatorum meritis et remissione 2,20 537
Stellenregister (in Auswahl) Retractationes 2,1:1 514 Sermones 154,4 538 169 533–535 (Caillou) 293E 581 De trinitate 9,1 541 Basileios homiliae 16,1
294, 544
De Spiritu sancto 15 640 Cassius Dio 52,36 333 Catenae Lk 23,43
Stromateis 1,50:5 333 1,55:1 548 4,116 f 603 6,34:1 548 8,62:1 333 Cornutus Theologiae Graecae Compendium 16,1 545 Corpus Hermeticum 1,15 89 11,20 195 16,2 74, 347 Frg. 23,68 333 Constitutiones Apostolorum 7 f 296 Cyprian
638
Celsus (Kelsos), Platoniker Frg. 2,68 620 Frg. 3,44a 375 Frg. 8,53a 556 Chrysipp (SVF 2) Frg. 975 412 Cicero, M. Tullius Paradoxa 33–41 407 Pro Rabirio perduellionis reo 16 352 Tusculanae disputationes 5,5 281, 287 Clemens von Alexandria Excerpta ex Theodoto 22,4 135 41,2 63 42,1–3 135 Paedagogus 1,52:2 537 3,101:3 295 Protrepticus 88,2 603
Epistulae 59,3 581 Damaskios In Platonis Parmenidem 132 f 555 Didymos von Alexandria (?) De trinitate 2,7,8 607 Diodor von Sizilien 2,55–60 127 Diogenes Laertios 3,63 334 6,85 127 Dion Chrysostomos Orationes 10,4 127 12,1–16 217, 220, 365 14–15 407 15,32 127 32,39 220 38–41 231 70,10 333 72 217, 365, 373 80 407
697
698
Stellenregister (in Auswahl)
Dionysios Areopagites 67, 591 f, 672 De caelesti hierarchia 15,8 591 Epiktet Frg. 4 Frg. 8
419 426
Dissertationes 1,1 408, 419 1,6:40–42 423 1,9:24 410 1,13:5 418 1,16:16 f 282 1,16:20 f 414 1,17:27 f 423 2,5:10 413 2,8:23 423 2,9:20 f. 401 2,14:23–29 414 2,16:28 418 2,17 410 f, 413 2,23:36–39 412 3,3:10 423 3,13:9–11 413 3,22 431 3,24 418 f, 431 4,1 93, 408–417, 423 4,7:5–6 111, 401 Encheiridion 7 429 15 397 53 398 f, 403, 417 Enchiridii Paraphrases Christianae 399–401 Epiphanios Adversus haereses 21,2 598 Euripides Frg. 965
398
Eusebios von Caesarea Commentarius in Psalmos 23 612, 615 Demonstratio evangelica 5,4 623
Historia ecclesiastica 2,25:8 510 3,20:1–7 221 5,28:5 295 7,30:10 295 Praeparatio evangelica 8,11:4 128 11,9–20 544–550 11,19:1–4 34 Gregor von Nazianz Epistulae 101,16 595 Orationes 23,8 31, 33 24,9 624 24,15 530 25,16 31, 33 29,2 33 32,18 624 39,13 624 40,10 624 45,22 625 45,25 616 Gregor von Nyssa Contra Eunomium 3,3:43 640 De tridui spatio 627 Epistulae 3,22 637 Homiliae in Canticum canticorum 4 624 5 616 11 540, 617 De hominis opifico 16 89 In ascensionem Christi 604, 615 f In Christi resurrectionem 1 627, 637 Oratio catechetica 23 f 624 26,1 624 De virginitate 4,1 530
699
Stellenregister (in Auswahl) De vita Mosis praef. 5
540
Hegesipp 221 Heraklit (FVS 22) Frg. B 1 548, 551 Herodot 4,110–117 126 Hesiod Erga (Opera et dies) 287–292 369 Hesychios In pascha homilia 1,5 614 2,2 640 2,3 640 Hierokles In aureum carmen 89 Hieronymus De viris illustribus 5 510 Epistulae 92,4 609 96,10 609 112,13 658 124,12 606 Sermo paschale 2 617 Hilarius Hymnus matutinus 585 Ps.-Hippokrates Prognosticon 17 126 Hippolyt von Rom Fragmente 614, 639 Commentarium in Danielem 4,12 581
Demonstratio de Christo et antichristo 581 De theophania 626 Refutatio omnium haeresium 6,19 598 6,31:5–8 135 6,34:7 135 Ps.-Hippolyt De consummatione mundi 22 581 Contra Beronem et Heliconem haereticos 621 De pascha Frg. 3
639
De theophania 4 626 Homer Ilias 8,19–27 555 Iambulos 127 Irenäus Adversus haereses 1,2–4 135 1,23 598 1,26 635 1,30 598 3,13 510 3,16 613 4,33 613 Demonstratio (Epideixis) 84 604, 612 Jamblich
73, 347, 557 f
De anima 556–558 De mysteriis 3,5 488 7,4–5 73 f, 333, 347, 360 25 488
700
Stellenregister (in Auswahl)
Theologumena Arithmetica(e) 2 34, 122
Oratio de nativitate 1 626
Johannes Chrysostomos
Johannes von Damaskus
Ad eos qui scandalizati sunt 20,10 513
De fide orthodoxa (expositio fidei) 45 68 75 640
De incomprehensibili dei natura 4,133–158 616 In Eutropium eunuchum 2,14 513 Homiliae in Rom. 18,1 530 Homiliae in 1Cor. 20,6 513 Homilia in 2Cor. 5,17 513 Homilia in 2Cor. 11,1 1 522 Homiliae in Phil. 526–533 11 527, 529 12 529, 531 13 531 f 14 532 Homiliae in Col. 9,2 287 Homiliae in Hebr. 1,2 513 De laudibus Pauli 2,10 533 4,7–20 513 16 f 534 Ps.-Chrysostomos Homilia 5 in Psalmos 96 626 In ascensionem Domini 4 616 In assumptionem Domini 626 In centurionem 626 In sanctum pascha 6,61 614
Josephus Antiquitates 1,41 572 6,166–168 280 18,21 128 20,34–48 219 Bellum Iudaicum 2,122 128 Contra Apionem 2,171–178 387 Julian Contra Galilaeos 1 frg. 3 388 1 frg. 6 388 1 frg. 23 375 Orationes 4 282 5 282, 555 11 555 Justin, der Märtyrer Apologiae 1,11:2 111 1,60 67 1,65:1 644 2,13:4 f 344 12:1–3 111 18:1–4 111 Dialogus cum Tryphone 5,3 111 36,3–6 611 138,1 f. 4 Justinian ACO 3: 213
608
Kallimachos Frg. 192
367
701
Stellenregister (in Auswahl) Kleanthes (SVF 1) 527 398, 400,408, 417 537 273, 284, 287, 427, 548 Krates PPF 10 B 4
127
Kyrill von Alexandria Contra Iulianum 8,44 544 Leontios von Konstantinopel Homilia in sanctum pascha 1,6 641 Libanios Orationes 5,2 282 Ps.-Longinos De sublimitate 9,9 388, 544 Lukian Hermotimos 22–24 126 Peregrinus 13
123, 221
Symposion 18 f
373
Toxaris 230 Lydos, Johannes De mensibus 2,7 34 Makarios / Symeon Homiliae 15,44 625 Marinos Vita Procli 19 347 f 28 558
Marius Victorinus Adversus Arium 1,24 622 1,51 556 Commentarius in epistulam ad Phil. 2.6 622 Mark Aurel 7,9 265 8,48 409 11,3 111, 401 12,36 415 Meliton von Sardes Frg. 6 619 Frg. 14 619 Frg. 17 55 Homilia in passionem Christi (peri pascha) 8 f 619 Menander (Rhetor) De laudibus 1
55, 279 f, 282 f
Methodios von Olympus Symposion 284–292 295 Neilos De vitiis 2 645 Ps.-Neilos
397 f
Nemesios von Emesa De natura hominis 1 89 Novatian De trinitate 11,4 622 Numenios Frg. 8 Frg. 10 Frg. 11 Frg. 13,4
546 547 273, 553 546
702
Stellenregister (in Auswahl)
Oracula Chaldaica Frg. 37 591 Frg. 116 100 Frg. 150 74
Fragmenta in Lam. 107 627
Origenes
Homiliae in Luc. 6,4–6 627
Commentarius in Mt. 16,19 613 27 623 28 607 Commentarius in Joh. 1,216–219 605 2,168–170 596 6,288 614 19,38 607 Frg. 18 623 Commentarius in Rom. 519 1,6 606 5,10 580 Contra Celsum frg 3,78 123 3,44 375 6,2 397 6,43–44 580 De oratione 15 296 De pascha 2,28–30 615 De principiis 1,5:3–5 579 1,8:3 580 3,1:12 580 3,3:2 626 Dialogus cum Heraclide 5–8 636 Homiliae in Gen. 8,8 607 Homiliae in Lev. 1,1 623
Homiliae in Ez. 9,2 581
Orphica Frg. 21a
62, 274, 282
Ovid Amores 3,4:17 102 Fasti 2,683 f
130
Pamphilos von Caesarea Apologia 143 613 Pausanias 10,12:10 76 Persius Saturae 5 407 Philon von Alexandria De agricultura 51 272 De congressu eruditionis gratia 79 f 335 De decalogo 61 272 106–120 25 De ebrietate 30 f 56 30 273 94 152
Homiliae in Num. 11 f 580
De fuga et inventione 87–118 152 108–112 56
Homiliae in Psalmos (Cod. Mon. Gr. 314) 15 613 f
De migratione Abrahami 5 f 56
Exposita in Prov. 25 580
De mutatione nominum 28 f 272
703
Stellenregister (in Auswahl) De opificio mundi 23 610 134 f 89, 302 170–172 273 De praemiis et poenis 244 De sacrificiis Abelis et Caini 118–135 152 De somniis 1,118 f
177
De specialibus legibus 1,45 272 1,211 125 2 25 4,49 177 2,224 25 De vita contemplativa 13–18 128 70 128 De vita Moysis 1,283 177 2,99 f 272 Legum allegoriae 1,31 f 302 1,43 56 2,5 302
23 645 25 597, 631, 635, 643 26 595–597, 618, 633 f, 643 29 645 32 647 37 645 41 647 43 633, 648 44b 618 2. Red. 618 3. Red. 618 Platon Apologia 28e 410 30c/d 93, 398 De re publica (Politeia) 2: 381b–382b 559 5: 475b 334 10: 607a 279 Epistulae 2 544 Ion 533c–535a 499 533e 176 Kriton 47b–e 93
Quaestiones in Genesim 1,8 303
Leges 7: 801e
Quis rerum divinarum heres sit 127 273 263–266 177, 499
Parmenides 284
Quod omnis probus liber sit 76–79 128 Philostrat Imagines 1,3:1 372 Physiologus 587–650 1 589–594, 628–641 3 618 4 648 5 634 6 648 19 618, 639 22 595–597, 630, 633, 648
279
Phaidon 93, 155, 158 64a 112 67d 112 113d/e 247 Phaidros 243b 549 244b 498 246bc 580 Symposion 194e–197e 281 202b–204c 258 203b 552 203d 142 Theaitetos 176a/b 152
704
Stellenregister (in Auswahl)
Timaios 155 30b 554 31b 273 36b/c 67 39e 554 Ps.-Platon Axiochos 90 Plinius d.Ä. Naturalis Historia 8,88 f 596 Plinius d. J. Epistulae 10,96:7
55, 295
Plotin Enneaden 2,9,11 549 3,2 551 3,5,9 552, 557 4,8,1 557 5,1,6 91 5,8,12 f 552 6,9,11 91, 152 Plutarch Frg. 104
301
De Alexandri Magni fortuna aut virtute 1,6 127, 130, 234 1,9 234 De defectu oraculorum 9 177 40/41 499 De Iside et Osiride 9 76 De tranquillitate animi 20 414, 426 Fabius Maximus 4,7 34 Porphyrios Frg. 283 Frg. 324F Frg. 345F Frg. 346F
257 558 558 558
Ad Anebonem 2,10a 73 Adversus Christianos Frg. 15 559 Frg. 86 337, 559 De abstinentia 1,31 100 Vita Plotini 7 549 10 546, 558 16 546 Proklos In Platonis Parmenidem 6 284 In Platonis rem publicam commentarii 2,31 f 34 In Platonis Timaeum commentaria 1,306 554 1,309 554 1,336 554 3,158 591 3,197–199 554 Theologia Platonica 555 Ptolemaios, Gnostiker 516 Quintilian Institutio Oratoria 3,7:6–9 282 Rufin von Aquileia De benedictionibus patriarcharum 1,6 647 Salustios De deis et mundo 3,4 555 4,9 555 Sappho Frg. 191
287
Seneca d. J. Epistulae ad Lucilium 107,11 417
705
Stellenregister (in Auswahl) Sextus
Theodoret von Kyrrhos
Sententiae 363b 93
Commentarii in Psalmos 23.7–10 616
Stobaios, Johannes 1,3:9 641 1,49:39–42 556–558 2,8:30 419
Curatio graecarum affectionum 2,87 f 544 6,77 625
Synesios von Kyrene
De incarnatione Domini 14 625 18 623
Dion 3,3 f
Eranistes dial. 1
217
Hymnen 6,24–32 640 9,76–99 556 Tatian Oratio ad Graecos 345–348, 383 1–3 333, 360 13 111 15 179
Oratio de providentia 10 625 Theon von Alexandria Progymnasmata 8 279 12 644 Valentin, Gnostiker Frg. 3 620
Terenz
Vergil
Phormio 454 507
Aeneis 1,278 f
Adelphoe 804 230 Tertullian Adversus Marcionem 2,10:2 f 579 3,5:4 519 5,11:11 578 5,17:8 f 578 5,20:6 529 Apologeticum 5,2 622 21,30 f 622 50,14 f 111 De anima 34 598 De praescriptione haereticorum 7,7–10 344 Theodor von Asine Test. 12 554
625
130
Vita Aesopi 333, 357–374 1 364 3 365 4–8 366 f 5 366 11 366 f 26 367 34–37 368 54 368 62 368 88 367, 369 91 369 94 369 98 370 109 370 128 371 130 371 140 370 142 370 Xenophanes (FVS 21 Frg. B 23 40, 268
706
Stellenregister (in Auswahl)
5. Papyri und Inschriften Derveni Papyrus Col. 17 274 Oxyrhynchos Papyri (P.Oxy) 15: 1786 295 Inscriptiones Graecae (IG) 2.2: 3625 229 2.2: 4705 76
Inscriptiones antiquae orae septentrionalis Pontis Euxini (IosPE) 1.2: 691 229 Inschriften aus Philippi (Pilhofer) 543 229 Isis-Aretalogie aus Kyrene 260
6. Verschiedenes Koran 572
Autoren‑ und Autorinnenregister (in Auswahl) Abramowski, L. 546–550, 560 Agamben, G. 341 Albertz, R. 87 Alcoff, L. M. 652 Aleith, E. 520 Algra, K. 427 Alkier, S. 193 Allen, R. M. 653 Allison, D. C. 13, 246 Alpers, K. 588, 592, 594, 629, 638, 641, 643, 645, 648 f Alt, K. 151 f Andersen, F. I. 577 f Anderson, G. A. 571 f Andres, St. 672 Andresen, C. 647 Arens, E. 441 Arnim, von, H. 220 Ascough, R. S. 229, 235 Asher, J. R. 300 Asmis, E. 407 Assmann, J. 110 Aubineau, M. 611, 641 Aune, D. E. 75 Aurelius, E. 25 Ausfeld, C. 283 Avemarie, F. 511 Avlamis, P. 364 Awn, P. J. 572 Baarlink, H. 48 Bachmann, M. 523 Bachmann, V. 569 f Bachmann-Medick, D. 482 Back, F. 305, 307, 315 Backes, J. R. 385 Backhaus, K. 42, 461, 469 Backus, I. 655 Badiou, A. 341 f Bammel, C. P. 607, 651 Banev, K. 609 Barbel, J. 593, 606, 609, 616, 631 Barclay, J. M. G. 178, 245, 258, 314 Bardy, G. 622 Barth, K. 59, 67, 153, 568, 652, 676 Baschera, L. 652, 656, 662 f
Bauckham, R. 111 Bauer, Th. J. 219, 222 Bauer, W. 51 Baumbach, M. 372 Baur, Ch. 526 Baur, F. Ch. 209 Becker, E.-M. 206 Becker, J. 9 f, 116, 171, 449 Becker, M. 216, 385, 559 Becker, U. 22 Beintker, M. 186 Bendemann, von, R. 361 Bengel, J. A. 679 Benin, St. D. 610 Benz, A. 65, 145, 678 Benz, E. 520 Berger, K. 202, 278, 289, 293, 674 Bergjan, S.-P. 625 Berner, U. 444 Betz, H. D. 141, 170, 217, 246, 335, 389, 433, 520 Beutel, A. 462, 464, 471 Bieringer, R. 209, 223 Blount, J. A. 647 Blumenberg, H. 465 Bochinger, Ch. 441 f Bock, D. L. 26 Bockmuehl, M. N. A. 197, 235, 241 Bogaert, P. M. 305, 307, 311 Böhlig, A. 135 Böhme, H. 452, 457, 480 f Bohmeier, U. 571 Bohms, I. 596 Bömer, F. 428 Bonhöffer, A. 401–403 Boodts, S. 533 Bornkamm, G. 24, 325, 349 Bornkamm, K. 664 Boter, G. 397 f Böttrich, Ch. 286, 577 f, 592 Bousset, W. 84, 445, 598 Bovon, F. 517 Boyarin, D. 269 Braicovich, R. S. 411 Brandenburg, H. 595 Brändl, M. 241
708
Autoren‑ und Autorinnenregister (in Auswahl)
Brändle, R. 149, 526, 533, 538 Braun, H. 259, 674 Bremer, J. M. 286 Bremmer, J. N. 620 Brennecke, H. Ch. 636, 639 Brinkmann, H. 634 Brisson, L. 544–547, 549 f, 559 f Brockelmann, C. 311 Brodersen, K. 359 Bronnen, A. 362 Brown, P. 514, 519, 533, 651 Brox, N. 672 Brück, von, M. 453 Brucker, M. 80 Brucker, R. 55, 277, 290 f, 611, 615, 629, 631 Brunner-Traut, E. 596 Bryan, Ch. 13 Buber, M. 165 Buchinger, H. 614 f Bühler, P. 185 Bultmann, R. 94, 96, 100, 117, 154, 403 f, 447, 450, 459, 462 f, 472, 561, 598, 602, 677 f Burchard, Ch. 306 Burkert, W. 90, 112, 122, 454, 674 f Busse, U. 161 Butticaz, S. 223 Cambe, M. 353 Cameron, A. 390 Campenhausen, von, H. 53 Caputo, J. D. 652 Caragounis, Ch. C. 389 Carey, J. 566 Carmody, F. J. 593, 631 Carrà, S. 19 Cassirer, E. 502 Cavallin, H. C. 305 Cerutti, M. V. 268 Charles, R. H. 312 Chester, A. 319 Childs, B. S. 31 Choat, M. 646 Clark, E. A. 609, 646 Classen, C. J. 668 Coffey, D. 15 Colish, M. L. 323, 344 Collange, J.-F. 204 Conzelmann, H. 11, 260, 276 Cook, J. G. 336 f, 375, 544 f Courcelle, P. 543 Cox Miller, P. 589, 630, 644
Crouzel, H. 606 f Curley, M. J. 630, 642 Dahl, N. A. 229 Daley, B. E. 624 Dalferth, I. U. 442 f, 454, 480, 584 Daniélou, J. 604, 613 Dassmann, E. 151, 517, 519 Dautzenberg, G. 110 Davies, W. D. 246 De Boer, M. C. 212 f, 658 Dechow, J. 49 Dehn, U. 490 Deichgräber, R. 276, 294 Deines, R. 384 Deissmann, A. 242, 275, 444, 446 Des Places, E. 544 Dettwiler, A. 266 Deuse, W. 546 Dieterich, A. 446 Dietrich, W. 22, 110 Dietzfelbinger, Ch. 161 Dillon, J. 323, 548, 550, 553 f, 557 Dilthey, W. 465 Dittmann-Schöne, I. 128 Dittrich, A. 489 Dobschütz, von, D. E. 275 Dochhorn, J. 16, 567, 570, 576–578, 580 f, 584 Dodd, B. 206 Dodds, E. R. 155 Dölger, F.-J. 5 f Dorfbauer, L. J. 644 Dörrie, H. 56, 263, 326, 545, 547–549, 557, 560 Downing, F. G. 127 Drecoll, V. H. 257, 543 Drobner, H. R. 588, 627, 637 Dübbers, M. 163 Duchrow, U. 151 Dunn, J. D. G. 130, 309, 525, 527, 531, 538 f Dunning, B. H. 123 Dünzl, F. 624 Dupont, J. 113 Dyroff, A. 543 Ebel, E. 128, 243, 361 Ebeling, G. 441, 455, 461–475, 584, 652, 676 Ebner, M. 134, 142, 327, 331, 361, 363, 431 Eckstein, H.-J. 7 Ego, B. 385 Ehrensperger, K. 394 Eideneier, H. 362
Autoren‑ und Autorinnenregister (in Auswahl) Eisele, M. 384 Emmelius, J.-Ch. 378 Engberg-Pedersen, T. 303, 324, 327, 337, 405 f, 414, 435 Evers, D. 59, 66, 145 Fahl, S. 592 Faust, E. 121 f, 267 Favrelle, G. 544, 547 Feld, H. 665 f Feldmeier, R. 15, 31, 45, 150 Ferguson, J. 126 Ferrari, F. 362 Festugière, A. J. 557 Feuerbach, L. 98 Finsterbusch, K. 116 Fischer, R. 502 Flannery, K. 108 Forschner, M. 407 f Fowler, K. A. 647 Frank, N. 334 Frede, H. J. 519 Frede, M. 546, 553 Frenschkowski, M. 12 Frevel, Ch. 92 Frey, J. 9, 18, 46, 51, 95 f, 101, 157, 160, 266, 328 Freyburger, G. 285 Fridrichsen, A. 245 Fuhrer, Th. 543 Fürst, A. 158, 258, 608, 624, 628 Gadamer, H.-G. 456, 471, 484 García Valdés, M. 590 Garland, R. 365 Gathercole, S. 91 Geertz, C. 484 Gehrke, H.-J. 231, 243 Gelpke, R. 489 Gemeinhardt, P. 380, 383 Gemünden, von, P. 102, 251, 653 George, T. 667 Georges, T. 622 Georgi, D. 215 Gerber, Ch. 206, 215, 222, 264, 523 Gfrörer, A. F. 572 Gielen, M. 172 Giesen, H. 77 Gieschen, Ch. A. 610 Gigon, O. 380 Gill, M. 262 Ginzberg, L. 199, 571 Giorda, M. Ch. 646
709
Glad, C. 339 Goffman, K. 382 Gögler, R. 605, 607, 610 Goldstaub, M. 587 Gooch, P. W. 335 Goodman, F. D. 488, 494, 500 Gordley, M. E. 292 f Görgemanns, H., 608 Götte, M. 567 Gotthelf, J. 650 Graf, F. W. 480 Grant, R. M. 588, 630 Grässer, E. 41, 146 Greschat, K. 578, 595, 642 Gressmann, H. 444 f Grillmeier, A. 12, 50, 608, 619, 623, 636– 638, 641 Gründer, K. 337, 358, 406 Guillaumont, A. 608 Gundry-Volf, J. M. 125 Gunkel, H. 285, 444 Günther, R. 126, 132 Gurtner, D. M. 311, 313 Hadot, P. 338, 340, 349, 391, 406, 552 Häfner, G. 518 Hahn, F. 16, 46, 50, 141, 449 Hall, S. G. 619 Hammond → Bammel, C. P. Hanne, W. 53 Hanson, A. T. 602, 613, 631 Hanson, P. D. 568 Hardwick, M. 387 Harnack, von, A. 158, 394, 445 f, 559, 672 Harnisch, W. 134, 310 Harrill, J. A. 328 Hase, K. 48 Hausammann, S. 653 Hausrath, A. 369 Hays, R. B. 186 Heckel, U. 496 Heil, Ch. 259 Heilig, Ch. 227 Heininger, B. 488 Heinrici, C. F. G. 389 Heiser, A. 526 Hellerman, J. H. 233 Hengel, M. 13, 24, 45, 218, 276, 278, 525, 674 Henkel, N. 642 Henze, M. 304, 306, 309–313 Hercher, R. 590 Heyden, von, W. 602, 646
710
Autoren‑ und Autorinnenregister (in Auswahl)
Hirsch-Luipold, R. 327, 349, 395, 588, 595 Hofius, O. 40, 56, 63, 80 f, 144, 262 f Hogan, P. N. 133 Holder, R. W. 652 Holl, K. 663 Holleman, J. 305 Holloway, P. A. 204, 208, 657 Hölscher, L. 126 Holtz, T. 242 Holzberg, N. 363, 366 f, 370 Hommel, F. 593, 596, 629 Hooker, M. 212 Hopkins, K. 361 Horn, Ch. 391 Hornung, E. 113 Horsley, R. A. 227 f Hübner, R. M. 17, 50, 619 Hurtado, L. W. 14, 82, 258, 296, 572 Inselmann, A. 251 Jacobi, Ch. 9 Jacobsen, A.-Ch. 610 Jaeger, F. 480 Jaeger, W. 381, 391 James, W. 488, 497 Janowski, B. 11, 31, 87–89, 99, 110, 134, 169 Janssen, C. 302 Jantsch, T. 313 Jegher-Bucher, V. 533 Jenks, G. C. 583 Jenott, L. 646 Jewett, R. 129, 173, 245, 660 Joy, D. 382 Judge, E. A. 330, 385 Jung, F. 234 Jung, L. 572 Jüngel, E. 12, 34, 118, 676 Jünger, E. 489 Jungmann, J. A. 296 Kaftan, J. 462 Kähler, E. 611 Kaimakis, D. 589, 630 Kamlah, W. 429 Kammler, H. Ch. 497 Karla, G. A. 362 Karnejev, A. 633 Karpp, H. 608 Karrer, M. 30, 42 Käsemann, E. 102 f, 318, 466, 472 Kautzsch, E. 674 Kees, R. J. 624
Kelhoffer, J. 467 Kelly, H. A. 567, 578 Kennel, G. 276 Kettler, F. H. 607 Kilian, J. 547 Kindschi Garský, Z. 588, 648 Kinzig, W. 558 Kippenberg, H. G. 452, 480 Kittredge, C. B. 229 Klauck, H.-J. 14, 30 f, 35, 175, 217, 220, 431, 588, 599, 605, 620, 661 Klauser, Th. 261 Klein, G. 119, 211 Klijn, A. F. 299, 311 f Knight, J. 600 f, 604, 613 Koch, D.-A. 218, 225 Kok, J. E. 666 Konersmann, R. 457 Konradt, M. 49, 105, 171, 174, 201, 247, 308, 327, 335, 384, 473, 497, 526 Koperski, V. 526 Koschorke, K. 519 Kraft, H. 672 Kramer, W. 9 Kraus, Th. J. 595 Kraus, W. 265 Krauter, St. 101 f, 228, 310, 326 Kraye, J. 270 Kreitzer, L. J. 311 Krentz, E. M. 231, 335 Kroll, J. 276, 617 Krüger, Th. 97, 668 Kuiper, K. 401 Kurke, L. 363–365, 368–370, 372 Kytzler, B. 126 Labahn, M. 430 Lalleman, P. J. 605 Lampe, P. 188, 197, 458, 485 Landefeld, K. 427 Lang, M. 430 Lauchert, F. 588, 595, 597, 603, 612, 629, 631, 648 Lausberg, H. 125 Lauster, J. 464, 473 Lautenschlager, M. 335 Lazaris, St. 588, 598 Leary, T. 489 Lechner, Th. 603 Leiner, M. 501 Levin, Ch. 455 Lewis, N. D. 647 Lied, L. I. 306
Autoren‑ und Autorinnenregister (in Auswahl) Lietaert Peerbolte L. J. 583 Lietzmann, H. 209, 215, 602, 672 Lindemann, A. 150, 187, 191 f, 201, 276, 357–359, 449, 451, 516, 519 Linebaugh, J. A. 325, 653 Link, Ch. 191, 465 Lips, von, H. 142 Lohfink, G. 382 Lohmeyer, E. 278, 290 Löhr, W. A. 598 Lohse, E. 522 Lona, H. E. 150, 375 Long, A. A. 401, 404, 408, 411, 414, 423, 425 f Lüdemann, G. 201, 207, 213, 451, 675 Lüderitz, G. 234 Lührmann, D. 213 Lundhaug, H. 646 Luz, U. 22, 26, 92, 121, 179, 198, 246, 265, 334, 470, 474, 477 f, 483–485, 673 Maas, P. 589 Macaskill, G. 578 Macdonald, D. R. 620 Mack, B. L. 273 Malherbe, A. J. 97, 210, 330 Männlein-Robert, I. 90, 544 Marcus, J. 108 Markschies, Ch. 17, 51, 149, 379, 383, 386, 519, 605, 609, 620, 640 f Marrou, H. I. 153, 391 Martens, J. W. 325 Martin, D. B. 303 Martin, R. P. 276 Martin, T. W. 173 Marxsen, W. 8 Maslow, A. 503 Mateo-Seco, L. F. 615 Matussek, P. 452, 457, 480 Mayordomo, M. 325 Maywald, M. 430 Mcdonough, S. M. 44, 76 Meiser, M. 570, 572 f Merk, O. 570, 572 f Merkle, St. 365, 371 Merklein, H. 26, 187, 190, 196, 198 Merz, A. 142, 447, 518 Metzner, R. 159 Michel, K. 108 Michl, J. 592 Milligan, G. 530 Mitchell, M. M. 187, 230, 261, 327, 511–513, 522, 527, 533, 538, 605, 613, 651
Möhler, J. A. 621 Moreschini, C. 588 Morray-Jones, C. R. A. 496 Moulton, J. H. 530 Moutsoulas, E. 615 Moxter, M. 12, 35, 458 Mühlenberg, E. 540, 637 Müller, C. W. 195 Müller, J. 91 Müller, L. 452, 457, 480 Müller, R. 126, 132, 611 Müller, U. B. 77, 239, 241 Muradyan, G. 633 Murphy, F. J. 304 Musgrove, F. 381 Nesselrath, H.-G. 217, 345, 365 Nestle, D. 409 Nestles, E. 679 Nestle, W. 75, 123, 375 Neumann, K. 457, 482–484 Neumann, N. 329 Newman, J. H. 296 Newsom, C. 495 Nguyen, V. H. T. 406 Nichtweiss, B. 261 Nickelsburg, G. W. E. 354, 569 Nicklas, T. 597, 600, 635, 648 f Niebuhr, K.-W. 105, 212, 235, 527 Nietzsche, F. 109 f, 154, 377 Nilsson, M. P. 61, 270, 282, 368 Noack, Ch. 385 Nock, A. D. 338 Nöldeke, Th. 311 Norden, E. 281, 285, 292, 389, 446 Norelli, E. 588, 600, 603 f Oakes, P. 229 f, 232, 237 Offermanns, D. 589, 630 Opitz, P. 653, 656, 668 Orlov, A. A. 573, 577 Ostheim, von, M. R. 619 Ostmeyer, K.-H. 296 Otto, F. 453 Otto, R. 85 Otto, W. F. 453 Overbeck, F. 154, 377–379, 383, 388, 392, 479 Pagels, E. H. 519, 571 Pahnke, W. N. 489 Paige, T. 173, 325, 327 Park, J. S. 111
711
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Autoren‑ und Autorinnenregister (in Auswahl)
Partoens, G. 533 Patmore, H. M. 575 Patterson, A. M. 370 Peek, W. 281, 286 Pepin, J. 552 Peres, I. 111 Pernot, L. 281, 285, 390 Perry, B. E. 362, 642 Peter, N. 378 Peterlin, D. 229 Peters, E. 588 Peterson, E. 261, 600, 612, 642, 644 Pettorelli, J.-P. 572 Picht, G. 380 f, 453, 678 Pickett, R. 187 Pietzner, K. 375 Pilhofer, P. 229, 243 f Pitra, J. B. 597 Pleger, W. 88 Plümacher, E. 645 Poethke, G. 362 Pogoloff, S. M. 186 Pohlenz, M. 62, 270, 410 Ponce de Leon, L. 630 Popkes, E. E. 160 Popkes, W. 227 Poplutz, U. 232, 241 Pratscher, W. 202 Price, S. R. F. 238 Prinzivalli, E. 608 Prostmeier, F. R. 618 Psellos, M. 544 Putthoff, T. L. 95 Rad, von, G. 22, 31, 57 Radice, R. 272 Rahner, H. 67, 649 Räisänen, H. 451 Rajak, T. 387 Ramsaran, R. A. 124 Rasimus, T. 406 Reale, G. 427 Reiser, M. 363, 374, 389 Reitzenstein, R. 446 Reumann, J. 540 Ricœur, P. 471 Riedinger, R. 588, 598 Riedweg, Ch. 34, 272, 558, 560 Rist, J. 559 Rordorf, W. 4, 518 Roszak, Th. 381 Rouwhorst, G. 621 Rubenson, S. 646
Runia, D. T. 89, 302, 324, 610 Russell, D. A. 280, 573 Russell, J. B. 567 Ryssel, V. 311 Saffrey, H. D. 73, 544 Sampley, J. P. 325 Sanders, E. P. 318, 482, 530 Sandnes, K. O. 211 Sänger, D. 198, 223 Sbordone, F. 589, 595, 629 f Schäfer, P. 14, 81, 180, 494, 496, 571 f Schaller, B. 302 Schauer, M. 365, 371 Scheer, T. S. 266 Scheidel, W. 108 Schellenberg, R. S. 220 Schenk, W. 241 Schenke, H.-M. 599 Schenke, L. 48 Schille, G. 276 Schinkel, D. 150, 234 f Schlag, Th. 392 Schlier, H. 198 Schliesser, B. 6, 8 Schlosser, J. 124 Schmeller, Th. 98, 128, 170, 204, 214–216, 218 f, 221 f, 252, 304, 386, 395, 519, 660 Schmid, K. 119 Schmidt, E. A. 541 Schnackenburg, R. 453 Schneemelcher, W. 520 Schneider, A. 195 Schneider, H. 588, 590 Schneider, S. 300 Schnelle, U. 115, 159, 215, 315, 318, 326, 348, 376, 430, 482, 545 Scholem, G. 494 Schönberger, O. 589, 648 Schrage, W. 39, 124, 199, 300, 306, 310 Schrey, H.-H. 87 Schröter, J. 16, 103, 213 f, 341, 447 f Schulz, S. 676 Schwager, R. 628 Schwarz, M. 664 Schweitzer, A. 146, 318 Schweizer, E. 61, 246, 676 Schwemer, A. M. 24, 234 Schwindt, R. 164 Scott, A. 642–644, 646 Scully, J. 642 Seel, O. 589, 649 Segal, A. F. 83, 496
Autoren‑ und Autorinnenregister (in Auswahl) Sellin, G. 121–123, 164, 264 f, 302, 602 Simonetti, M. 606 f Smend, R. 21 f Snell, B. 107, 138 Söding, Th. 16, 94, 193, 213, 376 f, 388, 392, 470, 508, 658, 663 Sokoloff, M. 311 Songe-Møller, V. 300 Spanneut, M. 396, 398 Spieckermann, H. 15, 31, 285, 392, 450 Spittler, J. E. 642, 644 Staats, R. 4 Stace, W. T. 489 Standhartinger, A. 205, 228, 237 Staudt, D. 259 Steck, O. H. 392, 674 Stegemann, W. 482 Stemberger, G. 306, 309 Stenger, J. 383 Stephens, W. O. 414 Sterling, G. 387 Stettler, Ch. 56, 144, 179 Stöckle, A. 128 Stoellger, Ph. 266 Stolle, V. 663 Stolt, B. 667 Stolz, F. 442 Stommel, E. 636, 638, 641 Stotz, P. 653 f Stowers, S. K. 330, 338 Strecker, Ch. 136, 180, 452, 482 f Strecker, G. 199, 430 Strobel, A. 242 Strohm, H. 271 Stroppa, M. 647 Stroumsa, G. 355 Stuckenbruck, L. T. 354, 568 f Stuckrad, von, K. 452 Stuhlmacher, P. 56, 144, 146, 186, 194 Sumney, J. L. 209 Sundermeier, Th. 442 Suter, D. 569 Swain, S. 389 Tachau, P. 134 Taeger, J.-W. 511 Taschl-Erber, A. 266 Taubes, J. 227, 341 Teilhard de Chardin, P. 70 Tellbe, M. 228 Termini, C. 272 Tetz, M. 377, 379 Theiler, W. 152
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Theissen, G. 36, 46, 102, 107, 133, 142, 179, 195, 209, 212, 219, 447, 449, 467 f, 497, 500, 653, 678 Theobald, M. 16, 29, 47, 132, 294, 394, 493, 539 Thiemeyer, Th. 382 Thom, J. C. 61, 270, 273, 284, 427 Thomassen, E. 354 Thraede, K. 133, 230 f, 234 Thümmel, H.-G. 509 f Thüsing, W. 37, 83 Thyssen, K.-W. 584 Tibi, B. 382 Tieck, L. 73 Tiersch, C. 526 Tiwald, M. 218 Torfs, M. 533 Tóth, F. 45 Troeltsch, E. 444, 461, 465, 472 Trelenberg, J. 345 Trepp, L. 85 Treu, U. 603, 643 f Tuor-Kurth, Ch. 154 Tzvetkova-Glaser, A. 271 f Uhrig, Ch. 619 Ulrich, J. 386 Ulrichsen, J. H. 78 Umbach, H. 172 Usener, H. 446 Usher, M. D. 388 Uthemann, K.-H. 637, 641 Vahrenhorst, M. 170 Van der Horst, P. W. 111, 296 Van Kooten, G. H. 318 f, 326, 405 Van Schaik, C. 108 Van Unnik, W. C. 242 f Vegge, T. 385, 389 Verburg, W. 309 Vercruysse, M. 578, 581 Verwilghen, A. 534 Vielhauer, Ph. 262, 378 Vogel, M. 217, 223 Vogt, H. J. 607 f Vögtle, A. 145 Völger, G. 489 Vollenweider, F. X. 491 Vos, S. 193 Wallis, R. T. 561 Wallmann, J. 462, 466 Wallraff, M. 581
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Autoren‑ und Autorinnenregister (in Auswahl)
Walter, N. 162, 212 Wasserman, E. 103, 326 Waszink, J. H. 598 Watson, D. F. 365, 370 Weber, M. 154, 156 Weder, H. 8, 58, 186, 294, 445, 449, 455, 561 f, 676 f Wehner, B. 417, 419, 427 Wehnert, J. 208 Weizsäcker, von, C. F. 197, 678 Welker, M. 92 Wellhausen, J. 21 Wellmann, M. 643 Wendland, P. 402, 446 Westerholm, St. 523 Westerink, L. G. 544 Wettstein, J. J. 430, 446 f White, D. L. 385, 394 Wickham, L. R. 637 Wilckens, U. 46, 214, 217 Wilder, Th. 20 Wiles, M. F. 521 Williams, D. K. 212, 235 Williams, F. 598 Williams, G. 582 Williams, H. H. D. 188, 194 Willms, L. 404, 407, 417, 423 Wilson, N. G. 280 Wilson, T. A. 665
Windisch, H. 98, 178, 217, 618 Winling, R. 624 Winter, B. W. 231, 243 Wischmeyer, O. 146 Wischmeyer, W. 651 Witmer, St. E. 136 Witte, B. 615 Wolff, H. W. 87 Wolter, M. 9, 13 f, 41, 102, 118, 124, 136, 194, 209, 214, 353, 420 f, 510, 518 Wrede, W. 209, 443 f Wright, N. T. 13, 525 Wyss, B. 216, 220 Yates, J. W. 320 Yinger, J. M. 381 Zaehner, R. C. 489 Zahn, Th. 401 f Zeller, D. 39 f, 93, 112, 175, 263, 301, 357, 359 Zimmermann, Ch. 74, 77 Zimmermann, L. 380 Žižek, S. 341 Zöckler, O. 53 Zucker, A. 588, 648 Zumstein, J. 18, 95, 113, 161, 294, 518, 543, 549, 562 Zurawski, J. M. 387
Sach‑ und Personenregister (in Auswahl) Abendmahl 116, 119, 134, 277, 415 Abraham 27, 199, 212, 223 Abschiedsreden (Joh) 18, 52, 95, 117, 137, 160 f, 563 f Achter Tag 4–6, 19 f Achtzahl 4–6 Adam 102, 307, 310, 317, 454, 570, 575 Adiaphora 119, 203 Adler 648 Aggression 105, 107 Agon, agonistisch 105, 207, 231, 244, 246 f, 282, 327, 437, 531, 667 Ägypten 73, 110, 113, 546, 646 Akklamation (Kyrios) 80, 260, 268 Akkommodation 600, 609, 643 Akrasie 103 Alexander 234 Alexandria 637, 643 Älian 590 Allegorie, Allegorese 284, 427, 540, 546 f, 552–557, 561, 579, 589, 591, 596, 632, 647, 649, 667 Altered states of consciousness → Bewusstseinszustände, veränderte Altes Testament 22 f, 109 Ambrosius 151, 664 Amelios 34, 336, 543–564 Analogie 337, 349 Anamnese Jesu 8 Angelologie → Engel Angelomorphie → Christologie Angelophanien → Engel Anthropologie 87–108, 313, 391, 424 – Archaische Frühzeit 107 f, 490, 503 – Kulturanthropologie 448, 675 – Social Anthropology 108 – Zweinaturen-Anthropologie 107 Anthropozän 19 Antichrist 581–583 Äonen → Eschatologie Apelles 578 Apokalyptik 9, 110 f, 119, 158, 197, 218, 300, 308, 314, 319, 353, 359 f, 405, 494 f Apokatastasis 580 Apollinaris, Apollinaristen 636 f, 639 Apollos 208, 300, 303, 359, 371
Apologeten, frühchristliche 339, 343–345, 443, 479, 672 Apostel, Apostolat 204, 208, 212 f, 215, 225 f Apostelgeschichte 509, 512, 517, 520 f Apuleius 282 Arat 143, 324, 385 Archonten 602 Areopagrede 143, 321–342, 350, 385, 394, 479 Arius, Arianer 636 f Aristeides, Ailios (Aelius) 282, 428 Aristobul 270, 272 Aristoteles 231 – Ps.-Aristoteles, De mundo 61, 270–274 Arrian 395, 419 Ars moriendi 98, 338, 381, 391 Ars vivendi 338, 391 Ascensio Jesajae 604, 642 Askese 142, 157 f, 163, 513, 644 Asklepios 428 Äsoproman 333, 357–374 Athen 321, 340 Atramḥasis-Epos 90 Attis 555 Auferstehung 3–20, 62–64, 146, 299–320, 590 – Antizipation der Totenauferstehung 9 – Auferstehung Jesu Christi → Jesus Christus – Totenauferstehung 9, 341 Aufklärung 464 Augustin 151, 257 f, 274, 411, 514, 519, 525, 533–538, 541, 543, 581, 652, 664 Babel 574 Barbaren 74, 129 f, 333, 345–348, 360, 548 Baruchapokalypse, Syrische 98, 299–320 Basilides 135, 598 Baudelaire, Charles 489 Begierde 573 Bekenntnissätze 7–10, 28, 48 Benedikt XVI., Papst 322 Bergpredigt 6, 141 f, 245 f, 377, 386, 432–434, 437 Bescheidenheitstopos 219, 656
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Sach‑ und Personenregister (in Auswahl)
Beschneidung 140, 211–214, 219, 223, 235, 527, 533 f, 666 Besessenheit, possession 104, 174, 181, 456, 488, 492, 498, 502 Bewusstseinszustände, veränderte 113, 487–504, 487 Bild Gottes 55, 67 Bildung (paideia) 330, 338, 346, 375–394, 429 – Bildungsreligion 376 f, 392 – Selbstbildung 380, 390, 393 Binitarismus → Christologie Biographie 363 Blasphemie 26 Bonifaz VIII., Papst 196 Böses 582, 584 – Ätiologien / Herkunft des Bösen 567–573, 578 Brief 313 Bücher Gottes, zwei 146, 301, 647–650 Bullinger, Heinrich 651–668 Bundestheologie 654 Burg, innere 409 Bürger, Bürgerrecht 127, 150, 153, 211, 228–232, 235 Calvin, Jean 666 Celsus (Kelsos), Christengegner 123, 375, 620 Chaldäische Orakel 74, 546, 591 Chassidim 165 Chiram 575 Christologie 23, 33–52, 296, 587–650, 635 – Adoptianismus 51 – Angelomorphie Christi 604 f – Archaische Christologien 17, 50 f – Binitarismus 14, 18, 35, 52 – Engelchristologie 17, 51, 605 – Kosmische Christologie 53–72 – Logos-Christologie 17, 50 – Logos-Sarx-Christologie 636, 639 – → Monarchianer, → Modalisten – Sitzen zur Rechten Gottes / sessio ad dexteram dei 13, 637, 640 – Subordinatianismus 16 f, 29, 37, 46, 50 – Trennungschristologie 635 f, 638 Christonomie 327, 384 Christophanien 13 Christozentrik 33–52 Christus → Jesus Christus Christusförmigkeit des Kosmos 67–71 Christuslob 53, 55, 144, 162, 232, 266, 291 f, 328
Churchill, Sir Winston 475 Cicero, Marcus T. 287 Clemens von Alexandria 295, 519 Clemensbrief, Erster 509 Concordia, homonoia, Eintracht 230 f, 238, 250 Corpus Hermeticum 347 Corpus Pastorale 392 Creatio continua → Welt Cyprian von Karthago 533, 581 Danielbuch 582 Dankbarkeit 414, 423 Delphi 138, 176, 370 f Demiurg 553 f Demut, humilitas 251, 274, 534 f, 581, 583 Dependenz, Modell 401 f – Kontra-Dependenz 222, 224, 237 Descensus absconditus des Erlösers 597–604, 628 Determinismus, stoisch 410 f Dialektische → Theologie Diatribe 330, 395, 437 Didaktik 287, 330, 349, 372 Diesseits, Diesseitigkeit 109–111, 119 f, 311, 326, 402 f, 429 Diogenes 418, 435, 437 Diognetbrief 149 f, 153, 157 Dion Chrysostomos von Prusa 217, 220, 238, 265 Dionysos 555 Dionysios Areopagites 67, 591 f, 672 Diskurse 324, 337–340, 358, 406 f, 560, 635 f Ditheismus, Duotheismus 36, 52, 83 Doketismus 556, 559, 598, 601, 605, 636 Doxologie 288, 296 Drache (→ Schlange, → Teufel) 580, 582– 584, 596, 626 f Dreizeitenformeln 7, 44, 76 Dualismus 87 f, 98, 309, 424 Ecce homo 94 Eckhart, Meister 380 Egalität 128 Ehelosigkeit 436 Ehre 248, 512 Ehreninschriften 236, 243 Eigenes und Fremdes 418, 420 Einheit 34, 249–255, 264, 269, 327 Einhorn 595–597, 648 Einwohnung 104, 169–184, 456 Einzigkeit Gottes → Monotheismus Einzigkeit des Mittlers → Jesus Christus
Sach‑ und Personenregister (in Auswahl) Ekklesiologie → Kirche Ekpyrosis 328 Ekstase 488, 492–497 Elefant 648 Eliten 91, 153, 192, 232, 335, 338, 346, 349, 352, 361, 382 f, 390, 403, 424, 646 Emanation 559 Empedokles 284 Endzeit (→ Eschatologie) 9, 145 f Endzeittyrann 583 Engel 14, 78, 81, 181, 568, 597–617 – Angelomorphie Christi → Christologie – Angelophanien 495. 603 f, 609, 643 – Engelfall 568–570, 573–582 – Engel(gleich)werdung, besonders Christi 592, 605–610, 643 – Engelklassen 592, 598, 610 – Engelsprache (→ Glossolalie) 177 – Erzengel 577, , 579, 591 f, 599, 601, 610 – Rivalität zwischen Engeln und Menschen 571 Enkomion 275–298 Enkratiten (→ Askese) 518, 646 Entdifferenzierungsformeln 124–126, 132– 136, 140, 317, Entmythologisierung 561 Entropie 68 f, 320 Entrückung 315 Entstehen von Neuem 68–71 Epheserbrief 121, 162–164, 170, 250, 328, 517, 521, 657–659 Ephesus 386 Epideiktik, Lobrede 55, 223, 236, 275–297, 527, 629 Epiktet 282, 361, 395–437, 528 Epikur, Epikureer 112, 331 Epiphanie 181, 287, 560 – Verborgene Epiphanie 618 Epistula apostolorum 601, 605, 642 Erasmus 654, 656, 659, 661–667 Erkennen, Erkenntnistheorie 136, 195 Eros-Mythos 552 Eschatologie 9, 145 f, 299–320 – Zwei Äonen-Eschatologie 310 Esrabuch, Viertes 314, 319, 495 Essener 128 Ethik 317, 327, 339, 395 Ethnos, Ethnicity 124–133, 359, 381 Euagrios Pontikos 646 Euergetismus 246 Eule 217, 220, 365, 373 Euodia 208, 229 Euripides 385, 398 f
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Euseb von Caesarea 544–550, 623 Evangelisch-Katholischer Kommentar 453, 483, 673 Evolution 69, 126–128, 133, 145, 490, 512, 569 f, Ewigkeit 5, 45, 65, 271, 541 Exegese, historisch-kritische 454, 461–475 Exempel, exemplum 236, 366, 528 f, 533, 540z Exsultet 585 Externes 458, 485 Fabel 369, 371 Falschpropheten → Prophetie Feinde 103, 206–208, 231, 236, 249, 252, 433, 532, 635, 637, 665 – Feindesliebe 155, 433 – Feindes des Kreuzes → Kreuz Festmetaphorik 397, 413–416, 425 Fleisch 94,107 f Fleischwerdung → Inkarnation Formgeschichte 275–277, 470 Frauen 126–128, 133, 512, 569 f Freigelassene 128 Freiheit 226, 307, 310, 369, 407, 410, 412, 416, 435–437, 518 Fremdes 418, 420, 454 Freude 240, 244, 251, 254, 313 Freundschaft 202, 230, 251 Frieden 121, 131, 234, 236 Fürstenspiegel 233 Fusswaschung 368 Gabriel, Engel 601 Galaterbrief 136, 652 f, 657 f Ganzheit 87 Gastmahl → Festmetaphorik Gaudium et spes, Zweites Vatikanum 254 Gebete 15, 277, 279, 286, 295–297, 427 Gefangenschaft 237 Gegenmission 209 f Gegner des Paulus 208 f, 218 f Geist 18 f, 49–52, 97 f, 141, 172–177, 180, 194, 327, 423, 435, 550 f, 612, 616 – Entdeckung des Geistes 107 – Geistmetaphysik 559 f – Geistmystik 179 – Nūs 97, 103 f – Pneuma 97, 327 Genealogien 337, 349 Gerechtigkeit 526, 531, 538, 665 Gericht 91, 239–248, 247, 305, 307 Geschichte 8 f, 43, 60, 64, 131 f, 190, 210, 351, 471, 478, 515
718
Sach‑ und Personenregister (in Auswahl)
Geschlecht, Gender 124–129, 133, 137, 359 – Drei Geschlechter / Völker 130, 189, 346, 353, 360 Gesetz, Nomos (→ Tora) 131, 313, 418, 422, 436, 516 – Ungeschriebenes Gesetz 313 Giganten 569 Glauben 8, 421, 456, 503 Gleichheit 132 Gleichnisse 142, 409–416, 632, 649 Globalisierung → Kultur Glossolalie, Zungenrede 175 f, 455, 498–500 Glück 391 Gnosis 135, 158, 161, 339, 360, 450, 494, 519, 546, 559, 562, 582, 597–605, 609, 632, 635, 642 Goldenes Zeitalter 132 Gott – Bild Gottes 55, 67 – Bücher Gottes, zwei 146, 301, 647–650 – Deitas, divinitas 622 – Gottebenbildlichkeit 302 – Einzigkeit Gottes → Monotheismus – Gegenwart Gottes 677 – Gottheit Christi 592, 594, 618, 662 – Gottheit, im Fleisch verhüllt 617–628, 622, 641 – Güte Gottes 142 – Kraft Gottes, Macht, dynamis 62, 185 f, 188, 271 f – Name(n) Gottes, Tetragramm 38, 73–86 – Prädikationen 11, 28 – Tod und Gott 11–13 – Vater 423, 426, 434 – Wille Gottes 410 f, 433 Göttermutter 555 Gottesdienst 4, 13–15, 54 f, 85, 176, 261, 276, 296 f, 384, 395, 414 f, 436, 494 f, 503 Gotteskindschaft, Gotteskinder 402, 416, 423 f, 435 f Gottesvolk 131 Gotthelf, Jeremias 650 Grabinschriften 111 Gregor von Nazianz 31, 33–35, 616, 624 Gregor von Nyssa 540, 561, 604, 615, 617, 623, 627, 637 Grenze / Grenzüberschreitung / Entgrenzung 114 f, 121–138, 429 Griechen 130, 188 Griechische Sprache 388–390 – Koinē, Volksliteratursprache 363, 389 Grimm’s Märchen 102, 379
Hadesfahrt → Höllenfahrt Christi Häresie, Heterodoxie (vs. Orthodoxie) 132, 561, 592 f, 603, 608 f, 628, 638 Harmonie, kosmische 60–62, 231, 271 Hebräer 218 Hebräerbrief 15, 41–43, 78, 137, 265, 309, 328, 389, 437, 517, 660 Hebräisch 224 Hegesipp 221 Heiden 129 Heimat 100 Hekalot-Texte 80 f, 495 Hekate 558 Hellenisierung, Globalisierung 76, 90, 155, 158, 218, 269, 319, 322, 324, 338, 343, 346, 349, 353 f, 360, 381–383, 387, 392–394, 406, 501 Henoch, Henochbücher 90, 353, 496, 569, 576 Henotheismus → Monotheismus Herakles 402, 413, 436 f Heraklit 548, 551 Hermeneutik 522, 647–650, 674, 677 Hermetik 494 Herodot 443 Herrschaft, Herrscher 233 – Herrschaftswechsel 104 – Herrschaft Gottes → Reich Gottes – Weltherrschaft 232–234 Herrscherkult → Kaiserkult Heterodoxie → Häresie Hierarchie 132 Hierokles von Alexandria 90 Hieronymus 663 f Hilarius 585 Himmelfahrt Christi 595, 604, 611–617, 620 f, 631 f, 634, 636, 640 Himmelsreise 178, 488, 493 Himmelssprache → Glossolalie Hipparchia 127 Hippolyt 581, 621, 636, 639 Historismus 463 Hochmut 534 f, 573, 580 Hoffnung 9, 456 Holismus 87 f Hölle 92 f Höllenfahrt / Hadesfahrt Christi 11, 134, 597, 604, 615, 617, 631, 633, 635, 637 Humanismus 392, 656, 667 f Huxley, Aldous 489 Hymnus 54, 58 f, 80, 162, 275–298, 414, 562, 585 – Philosophischer Hymnus 280, 283, 293
Sach‑ und Personenregister (in Auswahl) – Prosahymnen 55, 276, 281–288 – Zeushymnus 62 f, 273 f, 417, 427, 548 Hypostasen 14 f, 56 f, 81, 259, 268, 272 f, 328 f, 544 f, 550–556, 560 f Iblis 572 Ich 101–105 Ichneumon 595–597, 627 Identity markers 516 Ignatius von Antiochia 602 Immanenzformeln, johanneische 30, 47 f, 493, 564 Imperium Romanum, römisches Reich 64, 130, 132, 189, 227 Individualisierung 90 Inkarnation Christi 162, 556, 590, 605, 612, 622, 629 Inkulturation 675 Innerer Mensch → Mensch Innocens X., Papst 510 Inspiration → Mantik Interpretatio Graeca 339 Intertextualität 151, 471, 547, 587, 633 f Interzession 175 Irenäus von Lyon 516, 604, 612 f Isis 260, 269, 281 f, 366, 428 Israel 8 f, 226, 309 Jäger und Sammler → Anthropologie Jakobus 130, 213, 225 Jakobusbrief 105 f, 225, 511 Jamblich 73, 347, 557 f Jenseits 110–113 Jerusalem 322, 340 Jesus von Nazaret 24, 141, 155 – Jesus als Gleichniserzähler 67 – Jesusgruppe 6 – Jesusüberlieferung 6, 24–26, 113–115 – Passion 12, 370, 559 Jesus Christus (→ Christologie) – Angelomorphie / Engelgleichwerdung Christi 592, 604–606, 643 – Auferweckung Jesu Christi 3–20, 70, 146, 594, 629 – Christuseinwohnung 177–180 – Christusmystik → Mystik – Erhöhung Christi 13, 79, 174, 177 – Gottheit / Göttlichkeit Christi 44 f, 592, 594, 618, 662 – Gottessohn 27, 78, 432 – → Himmelfahrt Christi – → Höllenfahrt Christi – Mittlerschaft 137, 257–274, 258, 272, 563
719
Einzigkeit des Mittlers 261, 263 – Parusie Christi 241 – Proexistenz Christi 252 – → Schöpfungsmittler – Tag Christi 236, 240–242 Johannes Chrysostomos 511 f, 522, 526–533, 616, 626 Johannes von Damaskus 68 Johannesapokalypse 17, 43–46, 75–77, 157, 225, 437, 511 Johannesevangelium 15, 18, 23, 29, 46 f, 94–96, 117 f, 137, 158–161, 434 f, 518 f Johannesprolog 144, 179, 294, 394, 434, 543–564, 595, 645, 648 Josephus 190, 219, 280, 387 Judaism-Hellenism-Divide 90, 324 Juden, Judentum passim Judenchristentum 4, 15, 22, 80, 122, 125, 164, 206, 211–213, 221, 510 f, 604, 658 Julian, Kaiser 282, 375, 388, 390, 555 Justin, Apologet 4, 344, 383, 479, 516, 592, 611, 672 Justinian, Kaiser 608 f Kabbala 80 Kain 238 Kaiserkult, Herrscherkult 233, 583, 676 Kenosis 82 f, 609 f Kerygma 6 f, 11 f, 193, 497 Kerygmatische → Theologie Kinderaussetzung 154 Kirche, Ekklesiologie 60, 63, 123, 144, 180, 205, 238, 264 Kleanthes 284, 287, 398, 408, 417, 427 Kognitive Therapie 429 Kolosserbrief 144, 162–164, 328, 510, 515, 517, 521, 657, 659 Komödie 126, 364 Konflikte 441–459 König, Königtum 432 – Grosskönig, von Gott 270–274 Konkurrenz, Rivalität 201–226, 248, 252 f Konstruktivismus 458, 475, 484, 492, 677 Kontextualität 675 Kontinuität / Diskontinuität 65 f, 147, 301–304, 306, 319 f, 473 Kontra-Dependenz 222, 224, 237 Konversion 91, 114, 140, 317, 336 Konzil von Konstantinopel (A. D. 553) 608 f Koran 572 Korinth 96, 133, 156, 186 f, 300, 323, 326, 334, 389
720
Sach‑ und Personenregister (in Auswahl)
Korintherbrief, Erster 136, 185–199, 210, 351, 660 Korintherbrief, Zweiter 209, 214–218, 660 Körper, Leiblichkeit 87, 90, 97 f, 106. 299–320, 403, 424, 433 f, 436, 496, 537, 548 f, 554, 556–568, 572, 596 f, 608 f, 616 f, 623–625, 633, 636, 639–641 Kosmologie 53–72, 59, 425 Kosmopolis 127, 423 Kraft Gottes → Gott Kranz 241 Krates 127 Kreuz 69, 185–200, 206 f, 335, 340, 352, 358, 457, 497, 513, 532, 590, 665 – Feinde des Kreuzes 206 f, 236, 249, 253, 532, 665 – Kreuzestheologie 186, 197–199, 521 – Kreuzestod 38, 57, 67, 187, 629 – Lichtkreuz 135 – Wort vom Kreuz 185 f Kroisos 369 Kult 15, 55, 276, 295–297 Kultmetaphorik 172 Kultur 348, 478 – Gegenkultur 381 – Globalisierung, Globalkultur 90, 269, 324, 346, 360, 381, 393, 406 – Kulturtheorien 106, 353, 381–384 – Subkultur, Partialkultur 269, 324, 346, 381, 393, 407 Kulturanthropologie 448, 675 Kulturwissenschaft 323, 338, 358 f, 451 f, 457 f, 459, 477–486 Kyniker, Kynismus 127, 329, 332, 373, 401 f, 412, 417, 431, 433, 435–437, 457 Kyōto 675 Kyrios (Titel) 38, 81, 83–85, 232–234, 260, 269 Leben 109–120 – Dialektik von Leben und Sterben 115 – Gutes Leben 349 – Postmortales Leben → Jenseits Lebenskunst ( → Ars vivendi, moriendi) 105, 339, 395–437 Lehrer 349, 386, 396 Lehrpredigt 15 Leib, Leiblichkeit → Körper – Leibfeindlichkeit 106 – Geistiger Leib 303 Leiden, Leidensgemeinschaft 116, 252 Leserschaft 597, 629, 634, 639, 645 Libanios 282
Liebe 11, 456 Lob 239–248 Loci 656 f, 668 Logos 56, 94, 543–564, 603 – Logos asarkos 562 – Logoshymnus 294, 562 – Logostheologie 545 Lohn 247 Loskauf 69 Löwe 589–594, 645 Lukas(evangelium) 289, 321, 329, 341, 385, 389, 392 Lukian 333 Luther, Martin 202, 249, 464, 525, 652, 662–665 Luzifer (→ Teufel ) 565–586 Macht, Mächte – Macht → Gottes – Zwei Mächte im Himmel 14 Macrobius 390 Makarios / Symeon 625 Manichäer, Manichäismus 514, 519 Mantik, mantische Inspiration 176, 181, 271, 368, 398 f, 427, 488, 498–500 Maria 592, 595 Marinos 347, 558 Marius Victorinus 411, 543, 561, 622 Markion, Markioniten 510, 519, 578 f, 582 Markusevangelium 374, 431 f Martyrium, Märtyrer 9, 111, 158 – Martyrium von Paulus 512 – Martyrium von Petrus und Paulus 509 Matris von Athen 281 Matthäusevangelium 225, 330, 432–434, 511 – Matthäuseffekt / Matthäus-Prinzip 479 Mauerfall 122 Medea 103, 326, 412, 436 Medien 387–390 Melanchthon, Philipp 657, 659 f, 667 Meliton von Sardes 619, 638 Menander Rhetor 55, 280–283 Mensch (→ Anthropologie) – „Alter Mensch“, „neuer Mensch“ 107 – Anthropogenese, Menschwerdung 107 f – Innerer Mensch 96–105, 316, 326 – Grenzgänger, „Amphibium“ 89, 135 – Menschlicher Wille 410 f, 433 – Stammesgeschichte der Menschheit 107 f Menschensohn 26 Merkaba-Mystik 494 Messias 305 Messiasgeheimnis 627
Sach‑ und Personenregister (in Auswahl) Metamorphosen 600 Metatron, Engel 81 Methoden – Alternative Methoden 468 – → Historisch-kritische Methode Michael, Engel 575 Milton, John 565 Mission 6, 130, 153, 165, 176, 202, 208, 215, 248, 332, 510 – Gegenmission, gegen Paulus 209 f, 225 Mittelwesen → Hypostasen Mittler → Jesus Christus Modalisten, Modalismus 17, 50 f Monarchianer, Monarchianismus 17, 50 f, 619 f Mönchtum 397, 401, 644 f, 646 f – Monastische Literatur 174, 391, 397–401, 646 f Monotheismus 14, 31, 33, 80, 263, 267–269, 295–297, 572 – Christologischer Monotheismus 14, 21– 32, 35 f, 267 – Henotheismus 263, 267 – Inklusiver Monotheismus 267 – Monolatrie 263, 268 Montanismus 501 Mose 215, 544, 546 Musen 366 Mysterien(kulte) 112, 135, 319, 326, 359, 412, 428, 494 Mystik 488, 487–503, 515, 521 – Christusmystik 179, 502 – Geistmystik 179 – Jüdische Mystik 23, 80 – Merkaba-Mystik 494 Mythos, Mythen 450, 552, 555, 561 – Entmythologisierung 58, 450, 466, 561, 678 – Eros-Mythos 552 Nachfolge 114, 134, 156, 413, 431 Nacktheit 100 Nag Hammadi-Codices 643, 646 Nahtodzustand 488 Name(n) Gottes → Gott Natur 139–147, 648 f Natürliche → Theologie Naturwissenschaften (→ Physik, → Evolution) 59, 145, 678 Neandertaler 108 Nebukadnezar 575 Neid 571, 573, 581 Nemesios von Emesa 90
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Nero 512 Neuerung 74 f Neuplatonismus → Platonismus Neurotheologie 490 Neuschöpfung → Schöpfung New Perspective on Paul 227, 309, 313, 447, 515, 523–541, 652 – Ancient Perspectives on Paul 523–541 Nichtiges 585 Nietzsche, Friedrich 109 f, 154, 377 Nikodemusevangelium 615 Nikopolis 396 Nomos → Gesetz – Nomos vs. Physis 132 Novatian 622, 636 Novum Testamentum Patristicum 524 Numenios 273, 546, 553 Oden Salomos 51 Ökologie 59, 143, 145, 416 Ökumene 251, 468, 511 – Ökumenische Affekte 251 – Ökumenischer Paulus 508–511 Ordnungsgeheimnis der Welt 57, 64 Origenes 17, 296, 443, 516, 519, 600, 605, 609, 613, 617–619, 623, 626, 628, 643, 646 – Origenismus, Origenesrezeptionen 17, 608 f Orphik 90, 135 Orthodoxie → Häresie, Heterodoxie Ostern (→ Auferstehung) 3, 23, 58, 68, 146 f, 501, 594 Otter 597, 635 Overbeck, Franz → Autorenregister Pagan revival 390 Pantheismus 395, 426–428 Paradoxographie 648 Paraklet, Parakletsprüche 18 f, 52, 160 Paraphrase 547, 549, 556, 560 f, 666 Parting of the Ways 22, 130, 673 Partizipation 91, 115, 181, 318 Parusie Christi 241 Pascal, Blaise 322 Pastoralbriefe 328, 388, 436, 510, 515, 517, 521, 660 Patripassianer 12 Patrone, Patronat 332 Paulus 15, 27–29, 37–41, 91, 96–105, 115 f, 131, 156, 201, 325, 389, 398, 417, 651, 674 – Paulusakten (inkl. Martyrium Pauli) 512, 518 – Antiker Paulus 511–515
722
Sach‑ und Personenregister (in Auswahl)
– Bekehrung des Paulus 539 – Jüdischer Paulus 515 f – → New Perspective on Paul, ancient perspectives – Ökumenischer Paulus 508–511 – Paulusbilder 517 – Paulusdeutungen 507 f – Paulusopposition 201–226, 510 f – Paulusrenaissance 519, 651 – Saulus zu Paulus 534 Paulus von Samosata 638 Pelagius 519, 535, 539 Pelikan 648 Periautologia 206 Peristasen, Peristasenkataloge 98 f, 116, 135, 316, 330, 400, 410, 417, 436, 532 Petrus 510, 662 Petrusakten 51 Petrusbrief, Erster 328, 509 Petrusbrief, Zweiter 328, 509 Pharisäer 314 Philemonbrief 132, 660 Philipperbrief, 211, 228, 239–248, 249, 653, 657, 659 Philippi 129, 205, 212, 228, 235, 243, 249– 255 Philippusevangelium 599 Philon von Alexandria 90, 103, 152, 177, 188, 195, 244, 270, 272, 280 f, 300, 302, 328, 387, 498 f, 545, 610, 674 Philosophie 112, 135, 158, 263, 319, 321, 323, 343–356, 395 – Philosophischer Hymnus 280, 283, 293 – Politische Philosophie 231 – Religionsphilosophie 18, 268, 340 Philostrat 372 Phönix 67 Physik 59, 68, 678 Physiologus 587–650 – Datierung 641–647 Pistis Sophia 598 Pistisformeln 3, 9 f, 48, 262 Planetenwoche 6 Platon 90 f, 99, 103, 112, 142, 176, 181, 278, 281, 347, 379, 388, 391, 544, 552, 678 – Phaidon 93, 155, 158, 557 – Symposion 365 – Timaios 67, 155, 388, 420, 552, 554, 557 Platonismus 90 f, 103, 112, 135, 151, 155, 263, 319, 323, 344, 405, 432, 514, 561, 649 – Mittelplatonismus 50 – Neuplatonismus 152, 347, 543–564 Plotin 152, 545, 551, 558, 674
Pluralismus 23, 477 Plutarch 177, 499 Pneuma → Geist Polis → Stadt Politeuma 212, 228, 234–236, 540 Politik – Politische Philosophie und Rhetorik 230 f – Politische Theologie 227–238, 583 Polymorphie (bes. Christi) 51, 605 Polytheismus 31, 33–35, 262, 398 f Poros 552 Porphyrios 152, 257, 545, 558 f Postmortales Leben → Jenseits Präpositionen, Metaphysik der 28, 40 f, 56, 144, 263–266, 270, 273, 290, 326, 328 Prohairesis 414 f, 528 Proklos 284, 347, 550, 555 Prophetie 176, 494, 500, 583 – Falschpropheten 583 Prosahymnen → Hymnus Proskynese 80 Prosopopoeia, fictio personae 102 Psalmen 275–298, 610–617 Pseudepigraphie 123, 330 f Psychagogik 98, 269, 330, 332, 339 f, 391, 396, 429, 433, 491 Psyche → Seele Psychologie 469, 487–503 Ptolemaios, Gnostiker 516 Pythagoras 34, 414 Qaddisch 85 Quintilian 282 Qumran 23, 92, 170, 495 Rechtfertigungslehre 186, 463–465, 475, 516, 521, 652, 665 Reformation 516, 524, 651–668 Regula fidei 656 Reich Gottes 7, 9, 26, 142 Reisemetaphorik 412 – Himmelsreise, Jenseitsreise 488, 492, 496, 502 Relation 10, 30, 51, 82, 91, 95, 115, 118, 561 Relektüre 79, 82 f, 115, 163, 179, 233, 303, 310, 396–401, 549, 553, 560–563, 573 f, 576, 579, 582–584, Religion – → Bildungsreligion – → Mysterien(kulte) – Persönliche Religion, personal religion 427 f, 437 – Sklavenreligion 428
Sach‑ und Personenregister (in Auswahl) Religionsgeschichte 52, 441–459, 474, 674–676 – New Religionsgeschichte 84 – Religionsgeschichtliche Schule 36, 84, 276, 348, 444 Religionswissenschaft 441–443, 474 Repräsentation 266, 287 Retrospektive 8, 102, 412 Revelationsschema 194 Rezeptionsgeschichte, Wirkungsgeschichte 75 f, 97, 196, 323, 396, 400 f, 448, 453, 470 f, 477 f, 483 f, 507–522, 561 f; 578 f, 643, 665, 671–673 – Rezeptionsgeschichte Epikets 396–401 – Rezeptionsgeschichte von Ps 24 610–617 Rhetorical Criticism 448, 469, 513, 527, 658, 668, 673 Rhetorik, antike 55, 193, 216, 221, 277, 333, 335, 359, 513, 654 f, 658 f, 667 – Politische Rhetorik 230 Rituale 116, 134, 140, 162 f, 165, 317, 415, 494, 516, 546, 611 Romanliteratur 126, 284, 363, 373, 428 Römerbrief 40, 173, 652, 659 Rom, römisches Reich → Imperium Romanum Rufin von Aquileia 647 Rühmen 217, 526 Sabbat 4 f, 29 f, 46 Sabbatopferliturgie 495 Salomo 192, 399, 639, 647 Salustios 555 Sappho 287 Sarx → Fleisch Satan → Teufel, → Luzifer Saulus und Paulus 534 f Schande 248, 512 Schekina 169–184 Schifffahrt Metapher 400 Schlange (→ Drache) 565, 567, 570–572, 579, 582, 649 Scholastic communities 385 Schöpfung 53–72, 139–148, 649 – Creatio continua → Welt, Welterhaltung – Creatio ex nihilo, Schöpfung aus dem Nichts 313, 346 – Neue Schöpfung 9, 57, 130, 133, 140 f, 146 Schöpfungsmittler (→ Jesus Christus) 62–64 Schrift, Schriftauslegung (→ Hermeneutik) 8, 15, 31, 38 f, 42, 44, 47, 51, 78 f, 82 f, 131, 146, 297, 301–304, 341, 384, 387, 393, 399, 422, 464, 471, 497 f, 502, 522,
723
540, 578–584, 610–617, 648–650, 651 f, 654–656, 668 Schulen 330 f, 349, 383, 386, 521 Seele, Psyche 90, 92 f, 97 f, 667 – Seelenabstieg, Verkörperung 556–559 – Seelenlehre 557 – Seelenschlaf 667 Sekretäre 661 Selbst 106, 269, 316, 354, 422 – Selbstbestimmtes Sterben 429 – Selbstbildung 380, 390, 393 Selbstmord, Suizid 429 Sentenzen 124, 130 Septuaginta 39, 44 f, 76, 90, 280, 289, 485 Sexualität (→ Askese) 105–107, 133, 140, 154, 157 f, 172 f, 174, 302, 327, 398, 403, 494, 567, 573, Sieben Weise 138 Simon Magus 598 Sitz im Leben, v. a. kultischer 55, 80, 261, 276, 284, 380, 470, 617 Sitzen zur Rechten Gottes → Christologie Sklaven, Sklaverei 128, 132, 396 – Sklavenreligion 428 Sokrates 332, 341, 365, 385, 396–401, 413, 418, 432 f, 435, 437 Solon 231 Sophisten, Sophistik 193, 216–218, 220 – Zweite Sophistik 216, 389, 393 – Dritte Sophistik 390 Sorgen 433 Spätmoderne 677 Stadt, Polis 91, 226, 231 f, 238, 242 – Gottesstadt 313, 400, 416 – → Kosmopolis Status, Statuswechsel 124–133, 132, 233 Sterben → Tod – Gutes Sterben (→ Ars moriendi) 349 – Selbstbestimmtes Sterben 429 Stern, Sterne 570, 585, 602, 614 Stoiker, Stoa 112, 127, 135, 156 f, 245, 322, 329, 391, 396, 402, 426 f, 545, 648 Streit 60 Subjektivität 465 Sufismus 572 Sünde 104, 102–104, 115 f, 145, 157, 159, 172–175, 180, 313, 425, 436, 567–569, 573, 581, 658, 664 – Sündenfall 61, 102, 115, 310, 567 f, 570– 572, 584, 626 – Sündenvergebung 26, 48, 113 Sühnetod 69 Symeon / Makarios 625
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Sach‑ und Personenregister (in Auswahl)
Synesios von Kyrene 390, 672 Syntyche 208, 229 Tadel 244–246 Tag – → Achter Tag – Tag Christi 236, 240–242 – Tag JHWHs 240 Tarnung 597–604, 630 Tatian 333, 345–348, 355, 360, 383 Taufe 4 f, 16, 116, 119, 134, 140, 265, 317, 401, 619, 635 Tauros 557 Teilhabe 95, 104, 207, 318 Tempel, Tempelmetaphorik 26, 119, 122, 137, 164, 170–174, 179 f, 261, 435, 607, 625 Teratologie 648 Terenz 507 Tertullian 344, 383, 578 f, 622, 636 Testament Hiobs 177 Testamente der zwölf Patriarchen 174, 568 Teufel 214–222, 565, 570–582, 596 f, 603, 618, 624–628, 643 Textkritik, neutestamentliche 470 Theano 359 Theismus 403, 426–428 Theodor von Asine 546 Theodoret 616, 625 Theologie – Arithmetische Theologie 34 f, 52, 121 f, 328 – Biblische Theologie 30 f, 169 – Bundestheologie 654 – Dialektische Theologie 454, 677 – Erfahrungsbezug der Theologie 473 – Kerygmatische Theologie 348, 483 f – Kontextuelle Theologie 143 – Kreuzestheologie 185–199, 521 – Logostheologie 545 – Natürliche Theologie 143, 191, 325 – Neurotheologie 490 – Politische Theologie 227–238, 583 – Rechtfertigungstheologie 186 – Schöpfungstheologie 53–72 – Weisheitstheologie 545, 561 Theopaschiten 12 Theophanien 603, 607, 609, 643 Theophilos von Alexandrien 609 Theozentrik 33–52, 37, 43 Therapeuten 128 Thessalonicherbrief, Erster 112, 210, 519, 660
Thessalonicherbrief, Zweiter 519, 660 Theurgie 73, 80, 340 Third Quest 447, 471–473 Thomasakten 621 Thomasevangelium 71 Throngemeinschaft 26, 43–45, 233 Tieck, Ludwig 73 Tiere 142, 587–650 Tod 109–120, 429 – Dialektik von Leben und Sterben 115 – → Gott – Kreuzestod 187, 629 – Nahtodzustand 488 – Sühnetod 69 – Tod des Todes 11 – Totenerweckung → Auferstehung – Totenerweckungserzählungen 115 Tora (→ Gesetz) 57, 104, 122, 219, 225 Torheit 186, 357–374 Toxaris 230 Trance 181, 492, 498, 500, 502 Transformation → Verwandlung Trias, Triaden 18, 97 – Triadische Formeln 16 Triduum mortis 635–641 Trinität, Trinitätslehre 3 f, 12–19, 23, 30 f, 33–35, 37–51, 82, 123, 296 f, 561, 618 f, 622, 672 Typologie 648 Tyros 574, 579 Üben, Übung 393, 409, 411, 415 f Umweltzerstörung 108 Universalismus 123, 130, 651 Unverderblichkeit, Unvergänglichkeit 309 Unwissenheitstopik 603, 611 Uriel, Engel 495 Utopie 126, 132 Valentin, Valentinianer 135, 519, 603, 620 Vatikanum, Zweites 254, 468, 508 Verborgene Epiphanie 618 Verborgener Erlöser 593, 597–604, 612, 622, 642 Vereine 91, 128, 331, 384 Versöhnung 57, 60, 62–64 Verwandlung, Transformation 299–320 Vision, Visionen 13, 49, 488, 501 – Visionsberichte 493 – Visionsekstase / Jenseitsreise 492, 496, 502
Sach‑ und Personenregister (in Auswahl) Wächter (Engel) 93, 568–570 Wahrheit 342, 394, 435, 484 Wanderradikale, Wanderverkündiger 142, 156, 349 Weise, Sieben 138 Weisheit 56 f, 137, 142, 185–200, 259, 329, 334, 357 f, 497 – Weisheit von aussen, von unten 353, 359, 361, 372 – Weisheitstheologie 545, 561 – Weisheit dieser Welt, Weltweisheit 188, 335, 351–354, 357, 393, 513 Welt – Weltenbrand 425, 479 – Weltdistanz 149–165, 152 – Welterhaltung, creatio continua 62, 64–67, 141–143 – Weltflucht 91, 101, 149–165 – Weltharmonie 60 – Weltherrschaft 232–234 – Weltverantwortung 151 – Weltzuwendung 149–165 Wettlauf → Agon Wettstein, Neuer 430–437
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Wille – Göttlicher und menschlicher Wille 410 f, 433 Wirkungsgeschichte → Rezeptionsgeschichte Wohltäter, Euergeten 242–244 Wort vom → Kreuz Wundergeschichten 114 Xenophanes 28, 268 Zahlen, Zahlprinzipien → Theologie, a rithmetische Zeit (→ Eschatologie) 7–11, 68–71, 422, 425 Zeitalter, Goldenes 132 Zeus 62, 399–401, 409 f, 418 f, 425, 428 – Zeushymnus → Hymnus Zostrianos 546, 559 Zungenrede → Glossolalie Zürich 652 f, 676 Zwei Bücher Gottes 146, 301, 647–650 Zweiheit (→ Theologie, arithmetische) 18, 33–35, 52, 97, 122, 135 Zweiquellentheorie 470 Zwei Mächte im Himmel → Macht