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German Pages 303 [306] Year 2020
Anthropologie der Kehre
Literatur | Theorie | Geschichte
Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik Herausgegeben von Udo Friedrich, Bruno Quast und Monika Schausten
Band 21
Anthropologie der Kehre Figuren der Wende in der Literatur des Mittelalters Herausgegeben von Udo Friedrich, Ulrich Hoffmann und Bruno Quast
ISBN 978-3-11-070577-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070609-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-070620-8 ISSN 2363-7978 Library of Congress Control Number: 2020944111 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Schloss Runkelstein: Badestube Nordwand, sechster Herr von Westen. Foto: Augustin Ochsenreiter, alle Rechte © by Stadt Bozen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Udo Friedrich, Ulrich Hoffmann, Bruno Quast Kehre: Konzepte und Narrative Zur Einführung 1
Kehre als epistemische Figur Silvia Reuvekamp Krähen baden? Zur Unwahrscheinlichkeit der Kehre im Spiegel anthropologischer 21 Reflexion Mireille Schnyder Der verkehrte Blick Staunen, Erkenntnis und Imagination
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Mark Chinca Erinnerte Zukunft Zu Rhetorik, Imagination und Rhythmus der Kehre in eschatologischen 55 Meditationstexten des späten Mittelalters Udo Friedrich Umkehr: Rhetorischer Topos und epistemische Figur
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Modellierungen religiöser Konversion Caroline Emmelius Gelübde und Selbstdevestitur Narrative Konfigurationen der Weltabkehr in der frühen Elisabeth-Hagiographie 103 (Konrad von Marburg, Dietrich von Apolda) Elke Koch Vom Wegesrand zum Wendepunkt Die Modellierung der Bekehrung des Paulus in Erzählung, Liturgie und Predigt 127
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Inhalt
Bruno Quast Was eigentlich geschieht Verkündigung an Maria in bibelepischem Erzählen um 1200 zwischen charismatischer conversio und höfischer Werbung 147 Christian Seebald Heimkehr des Heils Narrative Strategien und anthropologische Implikate des mittelalterlichen 163 Translationsberichts
Literarische Modelle der Umkehr Bernd Bastert Kehre und Wi(e)derkehre Zur heroischen conversio
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Jan-Dirk Müller Vesperzît Zum Verhältnis von höfischem und religiösem Diskurs in Konrads von Würzburg Der Welt Lohn 193 Michael Schwarzbach-Dobson Erzählschemata im Spannungsfeld von Erfahrung und Geschichte Mit exemplarischen Überlegungen zum ‚Exil und Rückkehr‘-Schema im Frühmittelalter (Gregor von Tours, Paulus Diaconus, Hildebrandslied)
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Monika Schausten Zwischen Wissen, Neugierde und Glauben Von der produktiven Kraft des (Ver)Irrens in Hartmanns von Aue Der arme Heinrich 233 Julia Weitbrecht Jenseitige Schwellenräume und Narrative der Reorientierung im 12. Jahrhundert 253 (Visio Tnugdali und Straßburger Alexander) Ulrich Hoffmann Abkehr als Heimkehr Konversion und Reise in Veit Warbecks Die Schöne Magelone Abkürzungsverzeichnis
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Vorwort Die Beiträge dieses Bandes gehen zum großen Teil zurück auf das Kolloquium ‚Anthropologie der Kehre. Figuren der Wende in der Literatur des Mittelalters‘, das als Veranstaltung des Exzellenzclusters ‚Religion und Politik‘ vom 28. – 30. Juni 2017 in Münster stattfand. Wir bedanken uns bei den Autorinnen und Autoren dieses Bandes dafür, dass sie uns ihre Beiträge zur Verfügung gestellt haben. Unser Dank gilt darüber hinaus den Universitäten Münster und Köln für die finanzielle Förderung der Tagung sowie für die Förderung der Drucklegung. Bei der Einrichtung der Texte standen uns in Münster Christina Becher, Tim Meyer und Maren Siemering hilfreich zur Seite. Ihnen gilt unser großer Dank. Münster/Köln
Udo Friedrich Ulrich Hoffmann Bruno Quast
Udo Friedrich, Ulrich Hoffmann, Bruno Quast
Kehre: Konzepte und Narrative Zur Einführung
I ‚Eine Gegenwart ohne Vergangenheit hat keine Zukunft.‘ Bei dieser von Politikern häufig benutzten Sentenz handelt es sich um eine Abwandlung des bekannten Diktums Wilhelm von Humboldts (1767– 1835): „Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft.“ Die Kehre, hier verstanden als Blick zurück, wäre demnach konstitutiv für eine aus der Gegenwart heraus entwickelte Zukunftsperspektive. Neil MacGregor schließt sein Aufsehen erregendes Buch Deutschland. Erinnerungen einer Nation mit einem von Gerhard Richter gemalten Porträt, das den Titel Betty trägt und als „Metapher“ für den Umgang Deutschlands mit seiner Geschichte gelten könne.¹ Denn Geschichte in Deutschland beschäftige sich, so MacGregor, nicht nur mit der Vergangenheit, sondern blicke, anders als in anderen Ländern Europas, nach vorne. Anhand des Bildes mag diese Bewegung nachzuvollziehen sein: Gerhard Richter fotografierte 1977 seine Tochter Betty, als sie über ihre Schulter hinweg auf eines seiner hinter ihr an der Wand hängenden Bilder blickt, eine graue Wiedergabe einer alten Zeitungsfotografie. Das Foto von Betty nahm Richter dann 1988 als Grundlage für das Gemälde, nach dem er 1991 einen Offsetdruck schuf. Zum Bild vermerkt MacGregor: Betty lebt in einem Raum, der noch erfüllt ist von Werken ihres Vaters, auch wenn das Gemälde an der Wand hinter ihr im Dunkeln nicht mehr zu erkennen ist, so wie alle Deutschen in der Gegenwart der Taten ihrer Vorgänger leben – einer Präsenz, die zwar blasser wird, doch immer noch bestimmend ist. Was Betty von ihrem Vater und seiner Generation hält, was sie daraus macht, können wir nicht erkennen. Doch gleich wird sich diese junge Frau uns zuwenden – und der Zukunft.²
MacGregor stellt Betty in einen Zusammengang mit Walter Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte von 1940. Eine dieser Thesen ist von Paul Klees Angelus Novus aus dem Jahr 1920 inspiriert: Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft
Neil MacGregor: Deutschland. Erinnerungen einer Nation. München 2015, S. 604. Ebd., S. 605. https://doi.org/10.1515/9783110706093-002
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und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.³
Der Engel der Geschichte wird, der Vergangenheit zugewandt, vorangetrieben. Im Unterschied zu Richters Betty wird er sich nicht wenden, denn für Benjamin gibt es keinen optimistischen Blick in die Zukunft. Fortschritt stellt sich für ihn als eine Abfolge von Katastrophen dar, der Engel steht im Bann einer Vergangenheit, von der er sich nicht lösen kann. Wendet man sich antiken und biblischen Zeugnissen zu, scheint es so etwas wie einen Grundmythos zu geben, nämlich den vom Verbot, sich umzudrehen. Auch hier spielt die Macht der Vergangenheit, von der es sich zu lösen gilt, eine zentrale Rolle. Im zehnten Buch von Ovids Metamorphosen erhält Orpheus die Erlaubnis, seine verstorbene Eurydike aus der Unterwelt herauszuführen, allerdings mit der Weisung verbunden, niemals den Blick zurückzuwenden, andernfalls gehe er der Gabe, Eurydikes, verlustig. Orpheus tritt den Weg aus der Unterwelt an, doch fürchtet er beim Aufstieg, Eurydike könne ermatten, und „begierig, sie zu sehen, wandte Orpheus voll Liebe den Blick“.⁴ Orpheus erliegt der Begierde und verliert beim Blick zurück seine Geliebte. Die Begierde des Orpheus hat Boethius im Trost der Philosophie als Negativexempel aufgegriffen,⁵ und als Negativexempel wird auf Orpheus über Boethius vermittelt das ganze Mittelalter hindurch topisch zurückgegriffen. Eine andere Figur des Grundmythos findet sich in der biblischen Erzählung von der Rettung Lots (Gn 19).⁶ Engel drängen Lot zum Aufbruch, damit er, seine Frau und seine beiden Töchter nicht wegen der Schuld Sodoms hinweggerafft würden. Sie werden mit mahnenden Worten ins Freie geführt: „Rette dich, sieh dich nicht um und bleib im ganzen Umkreis nicht stehen!“⁷ Doch als Gott auf Sodom und Gomorra Schwefel und Feuer regnen lässt, wird das Verbot gebrochen: „Als Lots Frau zurückblickte, wurde sie zu einer Salzsäule.“⁸ Als abschreckendes Exempel wird auf Lots Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Gesammelte Schriften I/2. Hrsg.von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. Main 1980, S. 691– 704, hier S. 697 f. Zu Benjamins Geschichtsbegriff vgl. Sigrid Weigel: Auf der Schwelle von Schöpfung und Weltgericht. In: Profanes Leben. Walter Benjamins Dialektik der Säkularisierung. Hrsg. von Daniel Weidner. Berlin 2010, S. 66 – 94, 89 – 91. avidusque videndi / flexit amans oculos; P. Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Michael von Albrecht. Mit 30 Radierungen von Pablo Picasso und einem kunsthistorischen Nachwort von Eckhard Leuschner. Stuttgart 2010, X,56 f. Vgl. Boethius: Trost der Philosophie. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Lateinischen von Ernst Neitzke. Mit einem Vorwort von Ernst Ludwig Grasrück. Frankfurt a. Main/Leipzig 1997, S. 192– 195. Biblia Sacra Iuxta Vulgatam Versionem. Hrsg. von Robert Weber. Bearbeitet von Roger Gryson. 5. Aufl. Stuttgart 2007. Salva animam tuam, noli respicere post tergum, nec stes in omni circa regione; Gn 19,17. Respiciensque uxor eius post se versa est in statuam salis; Gn 19,26.
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Frau dann auch im Lukas-Evangelium verwiesen. Über die Ankunft des Reiches Gottes wird Jesus Folgendes in den Mund gelegt: „Denkt an Lots Frau! Wer sein Leben zu erhalten sucht, der wird es verlieren, und wer es verliert, der wird es gewinnen.“⁹ Das drängende Ereignis der Ankunft des Gottesreiches lässt den Blick zurück nicht mehr zu. Der Philosoph Hans Blumenberg notiert in seiner Arbeit am Mythos: Wir können unmittelbar anthropologisch begreifen, was das Verbot sich umzudrehen mit unausschöpfbarer Bedeutsamkeit anreichert: Die menschliche Frontaloptik bedingt, daß wir Wesen mit ‚viel Rücken‘ sind und leben müssen unter der Bedingung, dass immer ein Großteil der Wirklichkeit uns im Rücken liegt und von uns hinter uns gelassen werden muß.¹⁰
Dennoch gibt es ein anthropologisches Bedürfnis, sich umzuwenden. Orpheus und Lots Frau legen Zeugnis davon ab. Auch in Dantes Divina Commedia blickt im ersten Gesang der Hölle, der eine Art Prooemium der gesamten Jenseitsreise darstellt, das Ich zurück. Dante fingiert den Antritt seiner Jenseitsreise auf den Karfreitag des Jahres 1300. Das Ich bei Dante befindet sich zur Mitte des menschlichen Lebens in einer Krise. Es erwacht aus Umnachtung in einem wilden Wald, nachdem es eine Niederung durchquert hat, „die mich mit Furcht ins Herz getroffen hatte“.¹¹ Es sieht einen von der Sonne erleuchteten Hügel und will ihn besteigen. Daraufhin wurde die Angst ein wenig besänftigt, die mir im See des Herzens angedauert hatte, in der Nacht, die ich so erbärmlich zubrachte. Und wie einer, der sich zurückwendet zum gefahrvollen Wasser und schaut, so wandte ich mich, im Herzen immer noch fliehend, nach rückwärts, um noch einmal den Pfad der Drangsal zu sehen, der noch nie eine Person lebendig hindurch ließ.¹²
Dem Blick zurück scheint zunächst – ganz nach antikem Vorbild – die Strafe auf dem Fuß zu folgen. So begegnet Dantes Ich drei allegorischen Tieren, die ihm den Weg nach oben auf den Hügel versperren, weshalb es gleich mehrmals erwägt umzukehren. Doch als Retter in der Not taucht Vergil auf und bietet sich als Führer an. Das Bewusstsein von der ‚Geschichte im Rücken‘ – der Blick zurück – ist bei Dante – bei aller Gefahr des Verhaftetseins im Vergangenen – offenbar unverzichtbare, gewissermaßen ‚natürliche‘ Voraussetzung für die erfolgreich absolvierte Unterweltreise.
Memores estote uxoris Loth. Quicumque quaesierit animam suam salvare perdet illam et qui perdiderit illam vivificabit eam; Lc 17,32 f. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. 3., erneut durchgesehene Aufl. Frankfurt a. Main 1984, S. 193. che m’a avea di paura il cor computo; Dante Alighieri: La Commedia. Die Göttliche Komödie. Italienisch/Deutsch. In Prosa übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler. Stuttgart 2011, Bd. I: Inferno, I,14 f. Allor fu la paura un poco queta / che nel lago del cor m’era durata / la notte ch’ i’ passai con tanta pièta. / E come quei che con lena affannata / uscito fuor del pelago alla riva / si volge all’acqua perigliosa e guata, / così l’animo mio, ch’ancor fuggiva, / si volse a retro a rimirar lo passo / che non lasciò già mai persona viva; ebd., I,19 – 27. Zur Kontextualisierung dieser Szene vgl. Karlheinz Stierle: Dante Alighieri. Dichter im Exil, Dichter der Welt. München 2014, S. 43 – 88.
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Blick zurück und Rettung schließen sich nicht aus. Man kann das als Arbeit Dantes am Grundmythos, am Verbot zurückzublicken, verstehen. Der Blick zurück wird in Dantes Commedia ein zweites Mal aufgegriffen, nun aber in einer entschieden bußtheologischen Prägung. Im neunten Gesang des Purgatorio befinden Vergil und Dantes Ich sich vor der Pforte des eigentlichen Purgatorio, die vom Engel Gottes bewacht wird. Dieser verfügt über die Schlüssel Petri, und nur er allein vermag die Pforte zu öffnen. Vergil fordert daher das Ich auf, den Engel demütig zu bitten, den Riegel zu lösen. Ich warf mich ergeben dem Heilswächter zu Füßen, bat um Erbarmen und dass er mir auftue, schlug mir aber vorher dreimal an die Brust. Da ritzte er mir mit der Spitze seines Schwertes siebenmal ein P auf die Stirn und sagte dazu: „Sieh zu, wenn du drinnen bist, dass du dich von diesen Malen reinwäschst.“¹³
Schließlich stößt der Engel den beweglichen Flügel der heiligen Pforte auf: „Tretet hindurch. Aber ich mache euch darauf aufmerksam, dass, wer sich umdreht, wieder zurück muss.“¹⁴ Und weiter heißt es im zehnten Gesang: „Als wir innerhalb der Schwelle dieser Tür standen, die so selten benutzt wird, […] sagte mir ein Geräusch, dass sie sich wieder schloss. Falls ich mich doch je nach ihr umgedreht hätte, welche Entschuldigung mochte wohl für mein Vergehen gelten?“¹⁵ Es scheint einen gedanklichen Moment der Versuchung zu geben, zurückzublicken, das Ich indes widersteht dieser Versuchung. Das Besteigen des Läuterungsberges durch das Ich erinnert an Orpheus, der aus der Unterwelt aufsteigt. Doch handelt es sich bei Dantes Ich um einen christlichen Anti-Orpheus, der nach eingestandener Schuld sich von seiner sündenbeladenen Vergangenheit radikal abwenden muss. Der antike Grundmythos – das Verbot sich umzudrehen – wird bei Dante hier gewissermaßen paradoxal in eine christliche Umkehrfigur überführt. Die Umkehr erfolgt, indem das Ich sich gerade nicht zurückwendet, es reflektiert über die Konsequenzen des Zurückwendens der Augen. Umkehr wird bei Dante – das wird durch den Modus der Reflexion indiziert – also nicht zuletzt als Innerlichkeitsfigur modelliert. Inwiefern das anthropologische Bedürfnis, sich umzudrehen – bei Dante im ersten Canto angeführt –, und das im neunten und zehnten Gesang des Purgatorio bußtheologisch fundierte Verbot, sich umzudrehen, sich ausschließen, scheint in der
Divoto mi gittai a’ santi piedi: / misericordia chiesi che m’aprisse, / ma pria nel petto tre fiate mi diedi. / Sette P nella fronte mi desrisse / col punto della spada, e ‚Fa che lavi, quando se’ dentro, queste piaghe‘ disse; Dante (Anm. 11), Bd. II: Purgatorio, IX,109 – 114. Das dreimalige Schlagen auf die Brust firmiert als Zeichen für sein Schuldeingeständnis, entsprechend steht auch das mit dem Schwert gezogene P für peccavi, ‚ich habe gesündigt‘. Intrate; ma facciovi accorti / che di fuor torna chi ’n dietro si guata; ebd., IX,131 f. Poi fummo dentro al soglio della porta / che ’l malo amor dell’anime disusa, […] / sonando la senti’esser richiusa; / e s’ io avesse li occhi volti ad essa, / qual fora strata al fallo degna scusa?; ebd., X,1– 6.
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Commedia offengehalten zu sein. Für das christliche Umkehrgebot jedenfalls scheint die Spannung zwischen dem Bedürfnis zurückzuschauen und dem Verbot, den Blick zurückzuwenden, konstitutiv zu sein. Es versteht sich freilich als Absage an die Natur des Menschen, als Überwindung des anthropologischen Bedürfnisses zurückzuschauen, als Überwindung des Verhaftetseins am alten Menschen.
II Vom platonischen Erkenntnismodell über prominente Figuren religiöser Konversion (Bekehrung des Paulus, Mailänder Bekehrungserlebnis des Augustinus, Traum des Hieronymus) bis hin zu literarischen Modellen/Formen der Umkehr erstreckt sich die Wirkungsgeschichte des Narrativs der Kehre in ganz verschiedenen Feldern. Häufig wird die Kehre über Erschöpfung und Risiko motiviert. Eindrücklich wird dies im 26. Gesang von Dantes Commedia in Szene gesetzt. Angesichts der Säulen des Herkules ist das Schiff des Odysseus zur Heimkehr gewendet, da eröffnet sich dem Helden der Gedanke, ins Offene des Meeres hinauszufahren.¹⁶ Die Umkehr wird durch die Bereitschaft, ins Unbekannte, ja Verbotene vorzudringen, vereitelt. Das Motiv der Überschreitung und der Wende hängen mithin oft zusammen. Der Begriff der Kehre/Wende impliziert dann auch eine Bipolarität, insofern eine Grenze zugleich als Ausgangspunkt fungiert. Er besitzt narratologische Relevanz, da die Wende in einem Handlungsgefüge das Ende einer narrativen Sequenz an einen neuen Anfang bindet, der dem Geschehen einen überraschenden Verlauf verleiht. Das kann im Allgemeinen einen dramatischen Umschlagpunkt der Handlung betreffen – etwa den ‚Falken der Novelle‘ –, im Besonderen aber auch mit Figuren der Umkehr verbunden sein: Ödipus am Kreuzweg zwischen Korinth und Theben, Paulus zwischen Jerusalem und Damaskus stehen fast paradigmatisch für epochenspezifische Wendeformen.¹⁷ Im besonderen Fall wird das Ende zum Anfang einer Bewegung, die auf den Anfang als das Ende bezogen ist: so im Narrativ der Heimkehr als verzögerte Rückkehr einerseits (exile & return) wie in dem der conversio als innere Wandlung andererseits. Allgemeine und besondere Formen der Wende markieren mit der Umbesetzung des Ziels im Lauf der Bewegung eine Unterbrechung im konsekutiven Ablauf der Erzählsequenz. Über die Figur der Wende kann sowohl die Finalität einer Erzählfunktion (Sequenz) arretiert, verzögert oder gar umgelenkt, als auch die Axiologie der Figur umbesetzt werden.¹⁸ Letzteres ist etwa der Fall, wenn die Wertekollision in der literarischen Figur stattfindet, Saulus sich zu Paulus wandelt etc. Als
Vgl. Dante (Anm. 11), Bd. I: Inferno, XXVI,91– 142. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: The Roads of the Novel. In: The Novel.Vol. 2: Forms and Themes. Hrsg. von Franco Moretti. Princeton 2006, S. 611– 646, hier S. 614– 617. Zur strukturalen Terminologie vgl. Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: ders.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. Main 1988, S. 102– 143, hier S. 109 – 121.
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axiologische Struktur ist die Figur der Kehre vielfältig besetz- und variierbar, als Narrativ realisiert sie sich nicht nur gattungsübergreifend, sie rekurriert vermutlich auch auf ein ganzes Set anthropologischer Krisenerfahrungen, die man auffächern kann: Risiko und Gefahr, Krankheit und Unfall, Irrtum und Zweifel – kurzum: ein Ensemble von Kontingenzfaktoren. Das zeitübergreifend wirksame Narrativ der Heimkehr kann sich ganz unterschiedlich konfigurieren: als durch das Fatum gelenkte, mythisch gefasste Rückkehr zum Ursprung wie im Fall des ausgesetzten Kindes: Ödipus, Paris, Kyros seien hier exemplarisch genannt.¹⁹ An dieser Stelle sind auch die Nostoi der griechischen Helden zu erwähnen, als deren prominentester Fall die Heimkehr des Odysseus fungiert, in der selbst die Anagnorisis-Szenen als Figuren der Kehre aufgefasst werden können,²⁰ und nicht zuletzt die in der Aeneis erzählte kollektive Flucht aus der Heimat und mythische Rückkehr nach Italien. Das Narrativ scheint das Subjekt oder Kollektiv gegen alle Widerstände an einen festen existentiellen Ort zu binden, anders als in der Moderne (Kafka)²¹ wird Heimat noch mehr als Substanz denn als Akzidenz aufgefasst. Das christliche Mittelalter adaptiert zwar die mythischen Wendefiguren der Antike und fügt sie in sein Weltbild ein – etwa die Judasvita in der Legenda Aurea oder in Hartmanns von Aue Gregorius –, es greift aber auch eigene Figurationen auf und entfaltet sie erzählerisch: prominent die Heimkehr des verlorenen Sohnes (Lc 15,13;20) und ihre literarischen Transformationen (etwa Alexius in der Legende Konrads von Würzburg, Helmbrecht in der gleichnamigen Erzählung von Wernher dem Gartenære). Und selbst die mittelalterliche Heldenepik greift das exile & return-Schema der Heldensage (Hildebrandslied) auf und entwirft mit der Dietrichepik eine ganze Serie von Heimkehrerzählungen des vertriebenen Herrschers.²² An der mythischen Figur der Kreisschlüssigkeit²³ partizipiert bei aller Teleologie auch noch das Christentum selbst, wenn der Weg zum Himmlischen Jerusalem mit dem zum Paradies gleichgesetzt wird (Ebstorfer Weltkarte). Die narrative Funktion der Heimkehr kann sowohl in der unabwendbaren Katastrophe wie im märchenhaften Happy End liegen. Im Narrativ der Apokalypse, das als „dramatische Kehre“ und „absolutes Ende“ zugleich beschrieben worden ist, fallen beide Bewegungen zusammen.²⁴
Zu Ödipus vgl. Gumbrecht (Anm. 17), S. 614– 616; zu Paris vgl. Konrad von Würzburg: „Trojanerkrieg“ und die anonym überlieferte Fortsetzung. Kritische Ausgabe von Heinz Thoelen und Bianca Häberlein. Würzburg 2015 (Wissensliteratur im Mittelalter. 51), V. 325 – 1665; zu Kyros vgl. Herodot: Historien. Griechisch-deutsch. Hrsg. von Josef Feix. Düsseldorf/Zürich 2000, Bd. I, S. 107– 116. Vgl. Uvo Hölscher: Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman. München 1988, S. 94– 102. Zur Anagnorisis vgl. Jonas Grethlein: Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens. München 2017, S. 163 – 170. Vgl. Franz Kafka: Heimkehr. In: Deutsche Parabeln. Hrsg. von Josef Billen. Stuttgart 1982, S. 111 f. Vgl. Joachim Heinzle: Was ist Heldensage? In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft 14 (2004), S. 1– 23. Zur Kreisschlüssigkeit vgl. Blumenberg (Anm. 10), S. 86. Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. 2. Aufl. Wien 2008, S. 287– 308.
Kehre: Konzepte und Narrative
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Dass das Leben nicht mit dem Tod endet, sondern dem Tod ein Wendemoment innewohnt, ist eine weit verbreitete, aber nicht universelle kulturelle Vorstellung.²⁵ Philosophisch reflektiert wird dieses Phänomen bereits im platonischen Mythos von der Seelenwanderung, der die Existenz des Menschen als zyklische Wiederkehr deutet (Platon, Der Staat). Das Christentum entwickelt die Idee von der Auferstehung in Christus. Für die christliche Gattung der Legende scheint es konstitutiv zu sein, dass der Heilige nach seinem Tod als Epiphanie seinen Schutzbefohlenen erscheinen kann. Im Gefolge des Christentums projizieren chiliastische Vorstellungen diese Möglichkeit auf weitere prominente Personen, deren Reinkarnation im Zeichen des Heils oder Unheils erwartet wird (Könige, Päpste, mythische Figuren wie Artus), aber auch auf Verdammte, die als Wiedergänger ihre Zeitgenossen heimsuchen oder um Gnadenerweise bitten.²⁶ Soziologisch signifikant ist, dass selbst in säkularisierten Gesellschaften die Toten nicht für tot gehalten werden, ihnen vielmehr über ihr Ende hinaus weiter Präsenz zugeschrieben wird: etwa durch Wiedergeburt in den Kindern oder durch Rituale der Partizipation.²⁷ Das Narrativ der Konversion als Abwendung von und Hinwendung zu religiösen, politischen, ethischen Überzeugungen stellt das irdische Fortschreiten als Entfremdungsprozess dar, dem durch Besinnung und Umkehr gegengesteuert werden muss. Das Leben des Christen wird von der ständigen Gefahr begleitet, auf Irrwege abzuweichen und selbst in seiner Bekehrung noch verkehrt zu werden (in sua conversione pervertitur).²⁸ Kehre ist zwar nicht gleichzusetzen mit Wiederkehr als Wiederholung, kann aber mit ihr zusammenfallen, etwa in der Versuchung, die eine ständige Herausforderung für die Gläubigen bildet: „Wolltest du die Natur auch mit einer spitzen Gabel austreiben, sie käme doch immer zurück.“²⁹ Umkehr wird daher auch sozial organisiert. So mahnt schon das Gründungsdokument monastischen Lebens, die Benediktsregel, gleich eingangs, den Weisungen des Meisters zu folgen: „So kehrst du durch die Mühe des Gehorsams zu dem zurück, den du durch die Trägheit des Ungehorsams verlassen hast.“³⁰ Die conversio bildet neben der Heimkehr
Vgl. Alois Hahn: Unendliches Ende. Höllenvorstellungen in soziologischer Perspektive. In: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hrsg.von Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1996, S. 155 – 182. Vgl. Claude Carozzi: Weltuntergang und Seelenheil. Apokalyptische Visionen im Mittelalter. Frankfurt a. Main 1996. Vgl. Hahn (Anm. 25), S. 163 – 166. Caesarius von Heisterbach: Dialogus Miraculorum. Dialog über die Wunder. Erster Teilband. Hrsg. von Horst Schneider. Übersetzt und kommentiert von Nikolaus Nösges, Horst Schneider. Turnhout 2009 (Fontes Christiani. 86/1), S. 222 f. (I,4). Natura expellas furca, tamen usque recurret (vgl. Horaz Epist. I,X,24); Lotharii Cardinalis (Innozenz III.): De miseria hominis conditionis. Hrsg. von Michelle Maccarone. Lucani 1955, I,17; Übersetzung nach: Lotario de Segni (Papst Innozenz III.): Vom Elend des menschlichen Daseins. Aus dem Lateinischen übersetzt und eingeleitet von Carl-Friedrich Geyer. Hildesheim/New York 1990. ut ad eum per oboedientiae laborem redeas, a quo per inoboedientiae desidiam recesseras; Die Benediktregel: Lateinisch/Deutsch. Mit der Übersetzung der Salzburger Äbtekonferenz hrsg. von P. Ulrich Faust OSB. Stuttgart 2009, S. 6 f.
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die wohl prominenteste Figur der Kehre und sie hat bis in säkulare Bereiche hinein bis heute Konjunktur. Mit der Figur der conversio verbindet sich landläufig die Vorstellung von Ereignishaftigkeit, die sich indes bei genauerem Hinsehen in ein prozessuales Geschehen auflöst. So ist das Mailänder Bekehrungserlebnis des Augustinus in den Confessiones in eine Folge von Bekehrungen, von denen berichtet wird, eingebettet.³¹ Im monastischen Mittelalter wird in autofiktionalen Texten conversio als dreistufiger Prozess der Perfektionierung konzipiert. Die derart vollzogene conversio dient nicht zuletzt der Autorisierung des eigenen Schreibens.³² Was dem Christentum als ‚revolutionäres‘ Element eingeschrieben ist – die Umkehr aller Werte –,³³ besitzt nicht nur eine immense Wirkungsgeschichte, sondern scheint auch auf einer allgemeinen – anthropologischen – Figur aufzuruhen. Das sich aus einem anthropologischen Mangel nährende Suchen des Menschen, so die Phänomenologie der Orientierung, wie sie Manfred Sommer entwickelt, scheint überhaupt nicht möglich zu sein, ohne sich periodisch umzusehen und sich des bewältigten Weges zu vergewissern. Der Blick zurück eröffnet die Möglichkeit zur Rückkehr, mit Blick auf ein nach vorn gerichtetes Ziel, das es zu erreichen gilt, aber auch die Möglichkeit zur Korrektur des einmal eingeschlagenen Weges. Herkunft scheint eine lokale, Geschichte eine temporale Bedingung reflexiver Selbstvergewisserung zu sein.³⁴ In der Erinnerung wird das eigene fortschreitende Leben permanent einer Revision unterzogen. Was seit Proust und Benjamin zum konstitutiven Bestandteil moderner Zeitlichkeit geworden ist – die Suche nach der verlorenen Zeit –, ist dem Vgl. Robin Lane Fox: Augustinus. Bekenntnisse und Bekehrungen im Leben eines antiken Menschen. Stuttgart 2017, S. 322– 346. Vgl. Christel Meier: Krise und Conversio. Grenzerfahrungen in der biographischen Literatur des Hochmittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 50 (2016), S. 21– 44, mit Hinweisen auf ältere Forschungsliteratur. Reiches Material zum Vorstellungskomplex der conversio im Hochmittelalter findet sich bei Gert Melville: „Conversio“ und die Legitimation individueller Entscheidung. Beobachtungen zu den religiösen Gemeinschaften des Mittelalters. In: Religion und Entscheiden. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Hrsg. von Wolfram Drews, Ulrich Pfister, Martina WagnerEgelhaaf. Baden-Baden 2018, S. 39 – 60; Wolfgang Haubrichs: Bekennen und bekehren (Confessio und Conversio). Probleme einer historischen Begriffs- und Verhaltenssemantik im zwölften Jahrhundert. In: Aspekte des 12. Jahrhunderts. Freisinger Kolloquium 1998. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart C. Lutz, Gisela Vollmann-Profe. Berlin 2000 (Wolfram-Studien. 16), S. 121– 156; Matthias Rein: Conversio deutsch. Studien zur Geschichte von Wort und Konzept „bekehren“, insbesondere in der deutschen Sprache des Mittelalters. Göttingen 2012 (Historische Semantik. 16). Vgl. für die Frühe Neuzeit aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Konversionsforschung die Beiträge von Kai Bremer, zuletzt: Bekenntnis und Bekehrung. Überlegungen zu Text und Kontext von Luthers Eyn newes lied. In: Musik und Reformation – Politisierung, Medialisierung, Missionierung. Hrsg. von Christiane Wiesenfeldt, Stefan Menzel. Paderborn 2020 (Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik. 22), S. 175 – 186, sowie den geschichtswissenschaftlich orientierten Band: Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Ute Lotz-Heumann, Jan-Friedrich Mißfelder, Matthias Pohlig. Gütersloh 2007. Vgl. Northrop Frye: Typologie als Denkweise und rhetorische Figur. In: Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik. Hrsg. von Volker Bohn. Frankfurt a. Main 1988, S. 64– 96, hier S. 70 f. Vgl. Manfred Sommer: Suchen und Finden. Lebensweltliche Formen. Frankfurt a. Main 2002, S. 261 f.
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Mittelalter unter anderen Prämissen durchaus präsent: etwa als Reflexion auf die Vergänglichkeit des Lebens, des Alterns, wie sie etwa in Walthers von der Vogelweide Elegie zu beobachten ist. Nicht zuletzt lässt sich der Topos der laudatio temporis acti als eine memoriale, sentimentale Figur der Kehre lesen. Die literarische Inszenierung des kulturellen Narrativs der conversio kann bestimmte Momente selbst in den Mittelpunkt rücken, etwa den Moment der Nichtentschiedenheit (Krisis), der wohl als konstitutiv für den Wendeprozess anzusetzen ist, aber nicht zwingend zur Darstellung kommen muss (Krise im Artusroman). Auch das Narrativ der Flucht scheint anthropologisch begründet zu sein. Flucht bezeichnet zunächst die Niederlage im Kampf. Sie muss zum einen aus Gründen der Ehrökonomie unter allen Umständen vermieden werden (vgl. etwa Flussübergänge und Abbruch von Brücken in Alexanderlied und Nibelungenlied); in der unmittelbaren physischen Konfrontation ist Flucht gleichzusetzen mit Untergang. Zum andern begegnet sie innerhalb militärischer Strategie aber auch als taktisches Manöver. Wenn der römische Militärstratege Flavius Renatus Vegetius an den Grundsatz des Scipio erinnert, „dem Feind immer einen Fluchtweg“ offen zu halten, da allein die Hoffnung auf diese Option die Kampfbereitschaft einschränke, artikuliert er im militärischen Kontext eine Regel von allgemeiner Gültigkeit: im Handeln immer eine Alternative, einen Ausweg vorzusehen.³⁵ Als ständiges Wechselspiel von Angriff und Rückzug in der Schlacht wird die Kehre gar zum Mittel, die Rettung aus der Flucht zu gewährleisten. Was aber real praktiziert wird, kann auch als mentale Operation eingesetzt werden. In Wolframs von Eschenbach Parzival wird Flucht als Prinzip des Entzugs greifbar, das auch auf die Erzählung übertragen wird. Seine Geschichten (maeren) greifen an und entziehen sich: beidiu si vliehent unde jagent, / si entwîchent unde kêrent. ³⁶ Darüber hinaus fasst das Narrativ der Flucht auch eine allgemeinere Umkehrfigur, die nicht notwendig rückwärtsgewandt ist, sondern einem elementaren Missbehagen Ausdruck verleiht: Ein Beispiel wäre der Aufbruch des Aventiureritters (Hartmann von Aue, Erec), der selbst wieder Gleichniswert annehmen kann: „Wegvon-hier, das ist mein Ziel“ (Kafka).³⁷ Neben narrativen Ausprägungen ist Kehre nicht zuletzt als epistemische Figur zu fassen. Bereits der einfache Umstand, aus seinen Fehlern zu lernen, bezeichnet einen Vorgang der Abkehr, der im Topos Historia magistra vitae seinen wirkungsmächtigen Niederschlag gefunden hat. Denn wer aus der Geschichte nicht lernt, ist verdammt, sie zu wiederholen. Epistemische Funktion erfüllt vor allem aber die Figur der Umkehr, am prägnantesten wohl inszeniert im platonischen Höhlengleichnis. Wenn die rhetorischen Figuren „Chiffren der Geschichte“ (Roland Barthes) bezeich-
Flavius Renatus Vegetius: Epitoma Rei Militaris. Das Gesamte Kriegswesen. Von Fritz Wille neu übersetzt und kommentiert. Lateinisch und deutsch. Aarau/Frankfurt a. Main/Salzburg 1986, S. 110 f. (III,21). Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung und Nachwort von Wolfgang Spiewok. Stuttgart 1981, V. 2,10 f. Franz Kafka: Der Aufbruch. In: Deutsche Parabeln. Hrsg. von Josef Billen. Stuttgart 1982, S. 112 f.
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nen, dann stellt die Figur der Umkehr des Arguments eine elementare kognitive Operation dar, die nicht nur die Rhetorik zur Technik ausbaut. Die Rhetorik kennt das Argumentationsprinzip des ‚in utramque partem‘, nach dem jedes Argument auch gegen den Gegner verwendet werden kann.³⁸ Im dialektischen Umkehrschluss nutzt die Philosophie seit je das Verfahren als Gegenprobe. Im wissenschaftlichen Methodus wird der Umkehrschluss sogar zum Prüfstein der Wahrheitsfindung. Hans Blumenberg hat die historischen Hintergründe der von Kant so genannten „Kopernikanischen Wende“ herausgearbeitet und sie als epistemische Metapher gedeutet.³⁹ Und auch die Kulturkritik nutzt die Form der Wende auf vielfältige Weise, etwa die christliche Umkehrung aller Werte – ‚Die Ersten werden die Letzten und die Letzten die Ersten sein‘ (vgl. Mt 19,30; Lc 13,30) – oder die christliche Umkehrung der mythischen Zeitordnung.⁴⁰ Noch die moderne Kulturkritik rekurriert auf diese Technik, vom reziproken Blick des Wilden (Lévi-Strauss) über die „Dialektik der Aufklärung“ (Horkheimer/Adorno) bis zur Diskursanalyse Foucaults, die selbst christliche Gewissheiten auf den Kopf stellt: „Die Seele: Gefängnis des Körpers“.⁴¹ Und nicht zuletzt gilt es für die Psychoanalyse als ausgemacht, dass die verdrängten Erfahrungen wiederkehren. Als literarische Technik ist die Figur der Umkehr seit je ubiquitär und demonstriert die reflexive und kritische Funktion der Literatur. Am Beispiel von Marcel Prousts À la recherche du temps perdu hat Roland Barthes die Figur der Inversion als geradezu strukturbildend für den Roman nachgezeichnet.⁴²
III Die hier versammelten Beiträge unternehmen den Versuch, Figuren der Wende sowohl in ihren kulturhistorischen Ausprägungen und Entwicklungen als auch in ihren poetologischen Konfigurationen auszuleuchten. Die erste Sektion widmet sich der Kehre als einer epistemischen Figur. Dass Kehre sowohl anthropologisch als auch narratologisch ein Problem darstellt, verfolgt Silvia Reuvekamp in ihrem Beitrag. Narratologisch stellt die conversio insofern einen
Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und mit einem Nachwort von Franz G. Sieveke. München 1993, 1398a; Manfred Fuhrmann: Das Exemplum in der antiken Rhetorik. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik. 5), S. 449 – 452, hier S. 451. Vgl. Hans Blumenberg: Die kopernikanische Wende. Frankfurt a. Main 1965. Vgl. Frye (Anm. 33), S. 71: „Was wir Typologie nennen, ist eine besondere Form der Wiederholbarkeit des Mythos: sie behält die primitive Perspektive bei, kehrt allerdings ihre Deutungsrichtung um.“ Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt a. Main 1976, S. 42. Vgl. Roland Barthes: Eine Forschungsidee. In: ders.: Das Rauschen der Sprache (Kritische Essays IV). Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. Main 2006, S. 301– 306.
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Grenzfall dar, als sie sich den gewohnten Regelmechanismen des Erzählens entzieht, vor allem die religiöse Überwältigung in der Kehre nur schwer narrativ entfaltet werden kann. Vor dem Hintergrund des kollektiven Wissens erscheint darüber hinaus auch das kulturelle Narrativ der Umkehr unwahrscheinlich, fast unisono betont das Sentenzenwissen der Zeit die übermächtigen Kräfte der Natur. Am Beispiel der Erfindung des Schachspiels in Konrads von Ammenhausen Schachzabelbuch und des Tristan Gottfrieds von Straßburg entfaltet Reuvekamp gegenläufige Narrative der Erziehung und Selbstformung, die statt auf Bruch und Überwältigung auf Kontinuität und Erfahrung setzen. Das Moment der Umkehr wird dabei nicht nur erzählt, sondern auch diskursiv reflektiert. Während im Schachzabelbuch ein Modus der Kehre entworfen und verhandelt wird, in dem der Weise mit der Erfindung des Schachspiels ein didaktisches Verfahren entwickelt, wird im Tristan die Kehre als das Unwahrscheinliche ausgestellt, das nur im Ausnahmefall der Liebe, zudem nur als literarische Imagination in Aussicht gestellt wird. Das Mittelalter adaptiert die antike Topik, gibt ihr aber eine radikalere Wendung. Den „verkehrten Blick“ in drei unterschiedlichen Ausprägungen verfolgt Mireille Schnyder. Über das Medium des Auges, das „als Ort der Kehre par excellence“ aufgefasst wird, lassen sich noetische, moralische und ästhetische Erkenntnisprozesse modellieren. Kehre erhält hier einen jeweils anderen epistemologischen Rahmen, um alternative Wertordnungen zu verhandeln. Augustinus wendet sich auf der Suche nach dem Schöpfer von der Schöpfung ab und auf sich selbst zurück, um von dort in einem weiteren Erkenntnisakt über sich selbst hinaus in einen zeitlosen Raum hinauszusteigen. Indem der Blick so von den Sinnen zum Geist zurückkehrt, wird dieser Akt zur Vorrausetzung, um sich mit dem Auge bzw. den Sinnen des Herzens über das Sinnliche und Geistige zu erheben. Demgegenüber wird die Umkehr Alexanders, am Ende seines politisch motivierten Eroberungszuges, über das Medium des Briefes in der Erinnerung an seine Mutter „vielfach verschachtelt auserzählt“. Als Rückblick verfasst er den Brief über die Wunder Indiens und entwirft darin einen zeitlosen Raum, der ihn bis vor das Paradies führt. Hier erhält er den augenförmigen Stein, in dessen moralischer Botschaft politische und kognitive Umkehr zusammenfallen. Und auch die „Erzählung von Tristan und Isolde wird in dem Moment, in dem die Liebesvereinigung Thema wird, nicht nur in eine Ich-Reflexion aufgebrochen, sondern auch in eine Irrealität und Imaginationswelt gestellt.“ Mit der „erinnerten Zukunft“ arbeitet Mark Chinca eine geradezu paradoxe Konstellation der Kehre an religiösen Schriften des Spätmittelters heraus. Ausgehend vom Jesus Sirach-Spruch Memorare novissima tua (7,40), verfolgt er Prozesse „textgeleitete[r] Reglementierung der eschatologischen memoria“, die der „religiösen Habitusbildung“ dienen. Die „generative Kraft“ des Spruches für die Textkonstitution zeigt er an drei Beispielen auf, die sich auf unterschiedliche Textstrategien beziehen: auf die hortative Rhetorik in Bonaventuras Soliloquium de quatuor mentalibus exercitiis, ein Werk, das über appellative „Kehr-Imperative“ operiert und die Meditation auf unterschiedliche kognitive Kehren verpflichtet; sodann die Strategie der Bildimagination im Büchlein der ewigen Weisheit Heinrich Seuses, das über Raumtopik
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und evidentia-Strategien, das heißt über Metaphern die Notwendigkeit der Kehre als zeitlichen Prozess gestaltet; schließlich die Strategie der Rhythmik des Textes im Cordiale de quatuor novissimis des Gerard van Vliederhoven. In diesem Andachtsbuch wird der Leseprozess über die Rekurrenz von Gemeinplätzen, Sentenzen, Maximen und Exempeln immer wieder auf schon Erwähntes rückverwiesen und auf eine meditative Wiederholung hin fokussiert. Appell, Anschauung und Wiederholung bilden Verfahren, über die die Rezipienten zur kognitiven und moralischen Wende geführt werden. Die Insistenz auf den Faktor Wiederholung demonstriert überdies, dass Kehre hier keinen einmaligen Akt darstellt, sondern über meditative Akte eingeübt werden soll. Udo Friedrich unternimmt den Versuch, Umkehr als epistemische Figur zu fassen. Ausgehend von der Rhetorik, in der die Umkehrung des Arguments als Zeugnis höchster Schlagfertigkeit galt, wird die Umkehrprobe in Philosophie und Moralistik zur Reflexionsform von Wahrheit und Weisheit. Sie wird zur kognitiven Operation, die die Geltungsansprüche diskursiven Wissens hinterfragt. Das Mittelalter kennt solche Verfahren vereinzelt schon innerhalb seiner Exempelpraxis. Transformiert in Narrative, erfüllt Kehre sodann eine kulturkritische Funktion, die auf die revolutionäre Umkehr aller Werte hinausläuft. Hier erweist sie sich als ein stabiles Narrativ, das je nach weltanschaulichem Hintergrund alternativ besetzt werden kann. In vielfältiger Form lässt sich auf diese Weise die verkehrte Welt narrativ gestalten. Im stilistischen Spiel rhetorischer Tropen, von der inversio bis zur Ironie, lassen sich Verfahren der Umkehr noch auf der Textoberfläche inszenieren. Die zweite Sektion geht verschiedenen Ausprägungen und Modellierungen religiöser Konversion nach. In den Beiträgen stehen Fragen nach der Narrativierbarkeit von conversio im Zentrum, näherhin nach den inneren wie äußeren Bedingungen des Erzählens. Zum einen zollt das Erzählen dem normativen Gewicht der Gattungen, an denen Konversionserzählungen partizipieren, Tribut, zum anderen nehmen spezifische pragmatische Rahmenbedingungen Einfluss auf die Art des Erzählens, hier folgt die Form der Funktion. Der Beitrag von Caroline Emmelius widmet sich der frühen Elisabeth-Hagiographie. Geht die neuere Geschichtswissenschaft aufgrund historiographischer Überlieferung von einer datierbaren franziskanisch inspirierten punktuellen conversio der Heiligen aus, vermitteln die hagiographischen Texte ein anderes Bild. Sie verknüpfen ein geistliches Konversionsmodell mit Elementen der Bekennerlegende. Das Modell geistlicher conversio hebt im Fall der Landgräfin auf das Ereignis einer sozialen Statusumkehr ab, Elisabeth wendet sich in der Nachfolge Christi vom landgräflichen Hof ab. Diesem Ereignis steht indes gegenüber, dass die Protagonistin schon immer dem biblischen Nachfolgegebot verpflichtet ist. Dies entspricht den erzählerischen Gepflogenheiten der Bekennerlegende, die Heiligkeit als von Anfang an gegeben imaginiert. Sowohl die frühe Summa vitae des Konrad von Marburg als auch die spätere, umfangreichere Elisabethvita Dietrichs von Apolda sind dabei an einer Prozessualisierung des conversio-Ereignisses interessiert. Bei Konrad bleibt auch nach einer rituell gefassten Abkehr vom landgräflichen Hof die Suche
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nach der geeigneten Lebensform für Elisabeth virulent. Dietrich gestaltet conversio als einen sich in Wiederholungen spiegelnden Prozess der Selbstdevestitur: Elisabeth legt um der Christförmigkeit willen ihre (höfische) Kleidung ab. Das Abgewiesene bleibt indes präsent, wie dies vor allem die Elisabeth-Ikonographie vor Augen führt. Hier dominiert bei aller Zuwendung an die Armen das Bild der mildtätigen Fürstin im höfisch-herrscherlichen Ornat. Der Beitrag von Elke Koch, der narrative, liturgische und homiletische Zeugnisse der Bekehrung des Paulus ins Auge fasst, ist daran interessiert, nachzuverfolgen, auf welchem narrativen Weg conversio als Korrelation von innerer und äußerer Bewegung zur Darstellung gebracht wird. Dafür werden die drei Erzählungen von der Bekehrung des Paulus aus der Apostelgeschichte (Act 9,1– 26; 22,1– 22; 26,9 – 20), die Matutin des conversio Pauli-Offiziums aus dem Kloster Saint Maur-des-Fossés sowie deutsche Predigten zur Bekehrung des Paulus einer einlässlichen Analyse unterzogen. Es bieten sich für Konversionsnarrative prinzipiell zwei konträre Modi an, Wandel zu erzählen. Das eine Narrativ betont den punktuellen Umschlag, den Wendepunkt, das andere die Prozessualität des Wandels, hier genauer: die äußere räumliche Bewegung, den Wandel als Weg. Das Weg-Modell etwa strukturiert die Erzählung Act 9,1– 26. Act 22,1– 22 variiert das Weg-Modell, Jerusalem wird zum Ausgangs- und Endpunkt der Berufung, Wandel erscheint damit als gestufter Prozess. Die Liturgie und die Predigt verändern den Fokus auf die Bekehrung, insofern die moralische Bekehrung der Gläubigen ins Blickfeld gerückt wird. Für das conversio Pauli-Offizium gelangt der Beitrag zu der Erkenntnis, dass Wandel als etwas „je neu“ zu Realisierendes kommemoriert und vergegenwärtigt wird. Die Predigttexte lassen ein Interesse an lokalen Konkretionen vermissen, und je weniger Interesse an diesen Konkretionen bekundet wird, umso deutlicher tritt die moralische Konversion des Gläubigen in den Vordergrund. Es sind spezifische pragmatische Rahmungen (liturgische commemoratio, Homiletik) der Erinnerung an die Bekehrung des Paulus, die die äußere zugunsten einer inneren Bewegung zurückdrängen. Dem Beitrag von Bruno Quast geht es um die Funktion textinterner Rahmungen. Es wird die regulative Funktion kultureller Deutungsrahmen im volkssprachlichen Wiedererzählen der neutestamentlichen Verkündigungsgeschichte beleuchtet. Priester Wernhers Mariendichtung Driu liet von der maget und Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesu erzählen Verkündigung als Wendegeschehen. Priester Wernher scheint dabei einer prozessualen conversio-Logik charismatischer Provenienz zu folgen, Verkündigung figuriert hier als Krise der Maria, die überwunden wird. Konrad von Fußesbrunnen fokussiert eher die gesellschaftlichen Umstände der Verkündigung, wobei er Leitvorstellungen verpflichtet ist, wie man sie aus zeitgenössischen höfischen Diskursen über die Liebe kennt. Während Wernher sich auf den inneren Prozess des Wendegeschehens konzentriert, die Überwindung des anfänglichen Zweifels im Glauben der Maria, in dem die Empfängnis des Gottessohnes gründet, ist bei Konrad demgegenüber ein veränderter kultureller Deutungsrahmen am Werk. Konrad erzählt von Verkündigung im Rahmen höfischer Werbung, er setzt den paradoxalen Umschlag selbst gewählter geistlicher huote in vollzogene Werbung in Szene. Was un-
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bedingt vermieden werden soll, tritt ein: Die Jungfrau, die sich von der Gesellschaft zurückzieht, um insbesondere den Kontakt mit Männern zu meiden, wird schwanger. Konrad parallelisiert die Geschehnisse um Maria und ihren Mann Joseph. Wie Maria zieht sich Joseph in eine Kemenate zurück, wie Maria wird ihm eine Botschaft des Engels zuteil, Glaube ersetzt bei ihm wie bei Maria anfängliche Zweifel. Das Wiedererzählen biblischer Stoffe weiß sich bestimmten regulativen Rahmungen verpflichtet, und es sind diese Rahmungen, die das biblische Wendegeschehen der Verkündigung an Maria kulturspezifisch zurüsten. Wernher erzählt von einem geistlichen Krisengeschehen, Konrad imaginiert, wie die Institution der höfischen huote im Fall der Maria an ihre Grenzen stößt. Sind mit Maria, Paulus und Elisabeth Konversionen von Einzelnen in den Blick geraten, befasst sich Christian Seebald mit kollektivem Wandel, dem fundierenden Effekt einer Wende auf Gemeinschaften. Seebald wendet sich, ausgehend von Robert Louis Stevensons Treasure Island, Translationserzählungen zu, deren Basisstruktur, bestehend aus inventio, elevatio und depositio des Heiligenkörpers, ein zentrales Wendemoment eingeschrieben ist: das Erscheinen des zuvor verborgenen Heils, eines Schatzes, der erworben beziehungsweise wiedererworben wird. Anhand der Translationserzählung über die Auffindung der Kreuzreliquie durch Konstantins Mutter Helena, wie sie sich in gattungsformativer Qualität in der Trauerrede des Ambrosius von Mailand auf Kaiser Theodosius findet, zeigt der Beitrag auf, wie allererst die Auffindung und Bergung der Reliquie, die in einer postfigurativen Deutungsanstrengung mit der durch Christi Tod und Auferstehung bewirkten heilsgeschichtlichen Wende in Verbindung gebracht wird, die Vorstellung von der Kontinuität eines christlichen Kaisertums begründet. Der dem Translationsnarrativ eingeschriebenen Wende, die mit dem Erscheinen des verborgenen Schatzes einhergeht, entspricht in der Gemeinschaft, die eine Reliquie erwirbt oder wiedererwirbt, ein Wandel im übertragenen Sinn: Die erworbene, in nicht wenigen Fällen gestohlene Reliquie fundiert die Gemeinschaft, richtet sie neu aus. Dieser Zusammenhang geht hervor aus zwei exemplarisch herangezogenen Translationserzählungen, der eher einsinnigen Adrevald von Fleury zugeschriebenen Historia translationis s. Benedicti und der komplexer gebauten volkssprachlichen Erzählung von der Translation des Heiligen Thomas von Aquin, wie sie in zwei elsässischen Dominikanerinnenhandschriften aus dem 15. Jahrhundert überliefert ist, die ihrerseits wohl auf der von Raymundus Hugonis im Auftrag des Ordensmeisters Elias Raymond verfassten Historia translationis fußt. Kollektiver Wandel gründet in der Wende, die die Suche nach dem Schatz beendet und dessen Erwerb oder Wiedererwerb in Gang setzt. Die dritte Sektion nimmt literarische Modelle der Umkehr näher in den Blick. Dass das der klerikalen Schreibtradition verpflichtete, religiöse Konzept der conversio nicht nur als literarisches Strukturmodell bekannt, sondern in der volkssprachigen Literatur auch weit verbreitet ist, zeigt der Beitrag von Bernd Bastert. In französischen Chansons de geste wie ihren deutschen Bearbeitungen erweist sich das Narrativ als überaus produktiv, um Fragen der Vereinbarkeit von episch-heroischen und hagio-
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graphisch-klerikalen Diskursivierungen zu verhandeln. Während die Abkehr des Heros vom bisherigen Leben bisweilen problemlos mit dessen Wiederkehr einhergehen kann, so etwa im Reinolt von Montelban anlässlich des Dombaus, bestätigen parodistische Erzählweisen (Moniage Guillaume) oder weltliche Variationen (Herzog Herpin) zwar einerseits das zugrunde gelegte christliche Modell, zeigen andererseits aber dessen Unvereinbarkeit mit heroischer und feudaladliger Mentalität an, wovon selbst noch germanische Heldenepen, im Besonderen die Thidrekssage und der Rosengarten Zeugnis ablegen. Wie Bastert zeigen kann, bleiben Kompromissfindungen insgesamt die Ausnahme und beschränken sich zumeist auf die Vorstellung der militia Christi, der heroischen Kämpfe gegen Heiden, von denen auch Ulrich von Türheim in seinen Bearbeitungen des Moniage Guillaume oder des Rainouart erzählt. Am Ende ist die Vereinbarkeit von Kampf und conversio damit aber gebunden an eine zeitliche Limitation. Unter der Maßgabe von Zeitlichkeit, konkreter noch von Vergänglichkeit, befasst sich auch der Beitrag von Jan-Dirk Müller mit der Frage nach der Vereinbarkeit christlicher Ordnung und höfischer Idealität, hier anhand von Konrads von Würzburg Der Welt Lohn. Müller liest die kurze Erzählung als ein von Weltabkehr geprägtes Exempel, das den Stellenwert höfischer Ästhetik unter christlichen Vorgaben einer gefallenen Welt reflektiert. Besonderes Augenmerk erfährt hierbei die Lektüre von Aventiure-Geschichten, die nicht als Auslöser der conversio des Ritters Wirnt, vielmehr schon als Teil von dessen falschem Leben firmiert, das zuletzt der Vergänglichkeit preisgegeben ist. Die Pointe Konrads liegt nun darin, dass die Schönheit des höfischen Ideals einerseits zwar behauptet, andererseits doch auch als Ausdruck einer gefallenen Welt verstanden wird. Entsprechend findet die Wende ihre ästhetische Umsetzung im Verblassen anfänglicher Strahlkraft von gleichermaßen Ritter und Frau Welt sowie in der weiterführenden Lichtmetaphorik, die die Erfahrung vom Ende des Lebens als einen Prozess der Dämmerung entwirft. Macht Müller in der Idealisierung des Schönen bei gleichzeitiger Einsicht in dessen Hinfälligkeit einen Grundwiderspruch höfischer Kultur aus, wie er auch in Liedern Walthers von der Vogelweide oder bei Heinrich von Morungen nachvollzogen werden kann, erweist sich der höfische Diskurs unter ebendieser Bedingung von Vergänglichkeit dann aber doch mit dem religiösen als kompatibel. Können die Beiträge von Bastert und Müller somit bereits vorführen, wie und unter welchen, maßgeblich zeitlichen Bedingungen Narrativ und Vorstellung von conversio vereinbar auch mit heroischen und höfischen Diskursfeldern sind, erweitern die Beiträge von Schwarzbach-Dobson und Schausten die Perspektive auf die Wende um ihre räumliche Komponente wie ihre Produktivität in je spezifischen Narrationen. Das dem Narrativ der Wende inhärente Potenzial hinsichtlich Kontingenzbewältigung und auch -exposition zeigt Michael Schwarzbach-Dobson anhand ganz unterschiedlicher Texte aus Chronistik und Literatur auf, die dem Schema von Aufbruch und Rückkehr folgen. Auf Basis allgemeiner Überlegungen zur Schemaliteratur lassen die gewählten Beispiele nachvollziehen, wie im Spannungsfeld von Erfahrung und Geschichte kulturelle Fragen nach Genealogie, Ursprung und Verwandtschaft jenseits
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diskursiver Verhandlung gestellt werden, indem analoge Syntagmen mit je anderen Paradigmen besetzt werden. Während die bei Gregor von Tours erzählte Episode von der mit Unterstützung Leos erfolgten Flucht der Geisel Attalus aus barbarischer Gefangenschaft ein Gegenmodell zur politischen Geschichte der Chronik entwirft, um nicht zuletzt den genealogischen Zusammenhalt anschaulich zu vermitteln, bietet Paulus Diaconus ausgehend von der Niederlage der Langobarden im Kampf gegen die Awaren mit der Erzählung von der Irrfahrt und Heimkehr des Lopichis eine Ursprungserzählung des eigenen Geschlechts, die die problematische Geschichtserfahrung neu ausrichtet und ins Positive wendet. Demgegenüber variiert das Hildebrandslied das im Kontext der Dietrichsepik implizit vorauszusetzende Schema, indem es mit dem Kampf zwischen Vater und Sohn Verwandtschaft in einen aporetischen Konflikt führt und hierdurch Kontingenz gerade ausstellt, anstelle sie über das Schema zu bewältigen. Schwarzbach-Dobson kann deutlich machen, wie am Schnittpunkt von Erfahrung, Wissen und Erzählen das auf der Figur der Wende basierende Schema von Exil und Rückkehr sich damit als offen erweist für verschiedene Funktionalisierungen und auch Umbesetzungen, die nicht allein auf literarische Texte beschränkt bleiben. Mit konkretem Bezug auf einen literarischen Text, auf Hartmanns von Aue Armen Heinrich, perspektiviert auch Monika Schausten die Wende als eine räumliche Entfaltung in der Erzählung und nimmt den Irrweg oder auch Umweg in den Blick, über den differente Lebensentwürfe im Horizont geltender Normen reflektiert werden. Vor dem Hintergrund, dass die Erzählung als Kontamination zweier Legendentypen von Opferannahme und Opferverzicht bereits gelesen wurde, zeichnet Schausten die je erzählten und aufeinander bezogenen Wege von Heinrich und der Meierstochter nach. Insofern der durch plötzliche Krankheit initiierte Aufbruch Heinrichs als Ausdruck von Devianz gelten kann, da die mit Hinweis auf Hiob in den Text inserierte Norm der Duldung abgewiesen ist, stellt sich sein Weg nach Salerno zunächst als Irrweg dar. Mit seiner Ablehnung der unbedingten Opferbereitschaft des Mädchens erfolgt dann aber ein von Schausten als conversio gedeuteter Sinneswandel Heinrichs, der zu seiner abschließenden Restitution in Schwaben führt. Der anfängliche Irrweg bestätigt sich zuletzt als Umweg, der den selbst gewählten Lebensentwurf der Meierstochter aber durchkreuzt. Und so erweist sich mit der finalen Heirat auch deren ursprünglich angestrebter direkter Weg zum Heil seinerseits als Umweg. Anhand der kurzen Erzählung Hartmanns kann Schausten die produktive Kraft der Kehre hinsichtlich einer literarischen Reflexion von Lebensentwürfen aufzeigen, die über einfache Konzeptualisierungen einer Legende weit hinausgehen, hier in Form des Erzählens von Umwegen. Lässt sich die Kehre als narrativ produktive Figur der Reflexion normorientierter Lebensentwürfe von Einzelnem und Kollektiv schon in einfachen Erzählschemata oder auch im Motiv des Weges beziehungsweise Umweges ausmachen, zeigen die Beiträge von Weitbrecht und Hoffmann, wie auch das in der Großform des Romans weiter ausholende Narrativ der Reise als Figur der Orientierung fungieren und dabei im unmittelbaren Rekurs auf das religiöse Konzept der conversio entworfen sein kann.
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Ausgehend von der einer conversio inhärenten zeitlichen Unterscheidung des Vorher vom Nachher geht der Beitrag von Julia Weitbrecht narrativen Entwürfen nach, die den Moment der Bekehrung an der Schwelle von Immanenz und Transzendenz situieren und über das Narrativ der Reise räumlich prozessieren. Gerade Erzählungen von Jenseitsreisen bieten die Möglichkeit, Veränderungen des Reisenden entlang einzelner Stationen zur Darstellung zu bringen. So entwirft etwa die Visio Tnugdali über den Dreischritt von Prüfung, Wandel und Rückkehr die Verbindung von Jenseits-Topologie und Seelenheil prozessual und lässt die Ausbildung moralischer Subjektivität anhand des an den narrativen Verlauf gekoppelten Erkenntnisprozesses der Figur sukzessive nachvollziehen, bis zuletzt die Erzählung selbst zum Medium der Belehrung werden kann. Dass diese Form der Darstellung nicht religiösen Texten vorbehalten ist, zeigt Weitbrecht anhand des Straßburger Alexander, der auf die Funktionslogik der Jenseitsreise rekurriert, um die Erkenntnis und Erfahrung von Heil in den Herrschaftsdiskurs zu inserieren. Indem von Alexander über ein sich in Bewegung, Belehrung und Bekehrung entfaltendes Narrativ der Reorientierung erzählt wird, kulminierend mit der Grenze zum Paradies als End- und Umkehrpunkt der Erzählung, wird diese auf christliche Leitbilder hin perspektiviert. Der Roman folgt damit dem Modell der conversio weniger hinsichtlich der erzählten Veränderungen als vielmehr im Aufgreifen der zugrunde liegenden Struktur. Inwiefern conversio als konkret erzähltes Ereignis mit dem Narrativ der Reise aufs Engste verknüpft sein kann, zeigt der Beitrag von Ulrich Hoffmann am Beispiel von Veit Warbecks Die schöne Magelone. Gemäß dem jeder Konversionserzählung zugrunde liegenden 3-Phasen-Modell von Abkehr, Prüfung und Lohn erzählt der Roman die Geschichte von Magelones Konversion wie gleichermaßen von Peters weit ausholender Irrfahrt in den Orient. Wie Hoffmann zeigen kann, sind beide Handlungsstränge insofern miteinander verbunden, als sie in analoger Gestaltung sowie im Wechsel von Desorientierung zu neu erlangter Orientierung um einen je zentralen Wendepunkt hin angelegt sind, der zugleich Fluchtpunkt auch der Erzählung ist. So folgt die Erzählung ab der Trennung der beiden Liebenden zunächst Peters Reise bis nach Babylon, um erst nach der eingeschobenen Erzählung von Magelones Konversion in Rom auch von seiner Rückkehr und der finalen Wiederbegegnung zu berichten. Die Reise Peters kann somit als räumliche Entfaltung der in die Handlung eingebetteten Konversion aufgefasst werden, die hierdurch eine Rahmung erfährt, über die sich die Abkehr Magelones von allen weltlichen Dingen am Ende doch als glückliche Heimkehr ausweist. Die sich so schon strukturell abzeichnende Umdeutung des Vergangenen, die Konversionserzählungen allgemein kennzeichnet, findet zuletzt ihren Ausdruck noch im abschließenden intradiegetischen Erzählen der beiden Liebenden vom jeweils Erfahrenen als doch gemeinsamer Geschichte sowie in der Aufforderung an den Leser, den Wechsel von Leid zu Glück selbst nachzuvollziehen. In der Lektüre erweisen sich Konversion und Reise als komplementäre Figuren der Wende.
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Silvia Reuvekamp
Krähen baden? Zur Unwahrscheinlichkeit der Kehre im Spiegel anthropologischer Reflexion Wie wahrscheinlich sind Geschichten und Berichte von Menschen, die sich innerlich fundamental verändern, nicht nur eine neue, alternative Richtung einschlagen, ihr Verhalten modifizieren oder sich entwickeln, sondern umkehren, also einen Weg beschreiten, der dem alten diametral entgegengesetzt ist und der das Bisherige aufhebt und alles Dagewesene für ungültig erklärt? Über diese Frage diskutieren die Protagonisten im Tristan Gottfrieds von Straßburg an einer, vielleicht sogar der zentralen Stelle des Romans: Tristan und Isolde befinden sich auf der Überfahrt von Irland nach Cornwall, wo Isolde Marke, Tristans Onkel, heiraten soll, um das Verhältnis der verfeindeten Länder dauerhaft zu befrieden. Den Minnetrank haben die beiden in diesem Moment noch nicht zu sich genommen und so ist Isolde untröstlich, weil sie nicht nur ihre Heimat verlassen muss und zur Heirat mit einem Fremden gezwungen ist, sondern auch weil all dies ausgerechnet von Tristan initiiert wurde, der ihren Onkel getötet, sich unter einer falschen Identität ihr Vertrauen und das ihrer Mutter erschlichen und damit die stellvertretende Werbung für Marke erst ermöglicht hat. Alle Versuche Tristans, ihr die Vorzüge des Kommenden zu verdeutlichen, weist Isolde entrüstet zurück. In ihrer Verzweiflung verliert retrospektiv sogar die Vorstellung einer nicht standesgemäßen Verbindung mit dem ihr widerwärtigen, betrügerischen irischen Truchsess ihren einstigen Schrecken. Nun plötzlich ist Isolde sich sicher, der Truchsess hätte in der Ehe mit ihr aus Liebe seine Verderbtheit aufgegeben und sich in einen guten Menschen gewandelt. Diese Idee nun weist Tristan als ganz und gar unwahrscheinlich, ja sogar absurd zurück: Tristan sprach: ‚disiu mære sint mir ein âventiure. daz wider der natiure kein herze tugentlîche tuo, dâ gehœret michel arbeit zuo: ez hât diu werlt vür eine lüge, daz iemer unart g’arten müge (V. 11632– 11638)¹
Die Vorstellung, dass ein Mensch in der Lage sein könnte, sich gegen seine Natur grundlegend zu verändern, erscheint Tristan nicht nur unrealistisch, sondern er ordnet sie einem eigenen Artikulationsraum zu – dem der Aventiure, der Literatur
Hier und im Folgenden zitiert nach der Ausgabe Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Walter Haug, Manfred Günter Scholz. Mit dem Text des Thomas, hrsg., übersetzt und kommentiert von Walter Haug. 2 Bde. Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters. 10 u. 11). https://doi.org/10.1515/9783110706093-003
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also.² Für das wirkliche Leben bieten solche Aventiuren Tristans Auffassung nach nur einen sehr geringen Orientierungswert. Ausgerechnet der Künstler Tristan rekurriert stattdessen auf einen ganz anderen Bereich kulturellen Wissens: auf die allgemeine Erfahrung, auf das, was alle Welt denkt und für richtig hält, auf ein Archiv topischen Wissens also, wie es sich unter anderem in Erfahrungssätzen verschiedenen Formats (also etwa in Sprichwörtern und Sentenzen, Autoritätenzitaten, Apophtegmata oder Sprüchen) sedimentiert. Die Kehre als Denkfigur gehört diesem Wissensfeld Tristan zufolge nicht an, sie erscheint ihm deshalb höchst unwahrscheinlich. Brisanz gewinnt Tristans Aussage nun natürlich vor allem dadurch, dass er sie unmittelbar vor dem Genuss des Minnetranks tätigt, unmittelbar bevor er und Isolde einem Prozess unterworfen werden, den man als Verkehrung aller Werte beschreiben kann,³ einem Prozess also, der die eben zitierte Einschätzung Lügen straft. Wie bereits seinem Vater in der Vorgeschichte wird auch Tristan durch die Liebe ein niuwes leben gegeben, das als österliche Auferstehung eines andern mannes inszeniert ist.⁴ Ent-
Bekanntlich verknüpfen sich im Begriff ‚Aventiure‘ die Ebenen von Geschehen und erzählerischer beziehungsweise literarischer Gestaltung dieses Geschehens untrennbar miteinander; vgl. dazu z. B. Hartmut Bleumer: Im Feld der âventiure. Zum begrifflichen Wert der Feldmetapher am Beispiel einer poetischen Leitvokabel. In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink. Berlin/New York 2006, S. 347– 367, zu Gottfrieds Tristan besonders S. 365 – 367, sowie im selben Band die Beiträge von Mireille Schnyder: Sieben Thesen zum Begriff der âventiure, S. 369 – 375, und Peter Strohschneider: âventiure-Erzählen und âventiure-Handeln. Eine Modellskizze, S. 377– 383. Walter Haug hat schon früh gezeigt, dass âventiure speziell in Gottfrieds Tristan immer wieder an zentralen Stellen der Handlung genutzt wird, um gleichsam am Ansatzpunkt eines dichten Motivationsgefüges die Unfassbarkeit der letzten Ursache eines Geschehens zu pointieren. In dieser Verschiebung ins Ungewisse konturiere sich allerdings nicht ein Prinzip schlichter Zufälligkeit, sondern nicht weniger als das Irrationale als Grundprinzip der menschlichen Existenz. Haug versteht diese neuartige Verwendung des Aventiure-Begriffs als unmittelbare Absage an die strukturbasierte und auf Sinnkonstitution zielende Geschehenskonzeption des Artusromans, eine Absage, die zur entscheidenden Voraussetzung für die narrative Repräsentation von Individualität werde; vgl. Walter Haug: Aventiure in Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘. In: ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt: kleine Schriften zur Erzählliteratur um 1200. Tübingen 1989, S. 557– 582. Dabei gilt es allerdings zu sehen, dass die – wie Haug eindrücklich zeigt – durchgängig als narratives Prinzip greifbare Verunsicherung der Motivation neuralgischer Handlungsmomente zuallererst die Literarizität der Gesamtkonzeption durchsichtig werden lässt. Vgl. etwa wenig später: Die kiele stiezen aber an / und vuoren vrôlîche dan, / wan alse vil daz Minne / zwei herze dar inne / von ir strâze hæte brâht. / diu zwei diu wâren verdâht, / bekumberet beide / mit dem lieben leide, / daz solhiu wunder stellet: / daz honegende gellet, / daz süezende siuret, / daz touwende viuret, / daz senftende smerzet, / daz elliu herze entherzet / und al die werlt verkêret: / daz hæte si versêret, / Tristanden unde Îsôte (V. 11875 – 11891). dô er dô sîn âventiure / von sîner Blanschefliure / von ende her betrahtete / und allez sunder ahtete: / ir hâr, ir stirne, ir tinne, / ir wange, ir munt, ir kinne, / den vröuderîchen ôstertac, / der lachende in ir ougen lac, / dô kam diu rehte Minne, / diu wâre viurærinne / und stiez ir seneviuwer an, / daz viur, dâ von sîn herze enbran, / daz sînem lîbe sâ zestunt / schînbærelîche tete kunt, / waz nâhe gêndiu swære / und senediu sorge wære. / wan er greif in ein ander leben; / ein niuwe leben wart ime gegeben: / er verwandelte dâ mite / al sîne sinne und sîne site / und wart mitalle ein ander man (V. 921– 941).
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sprechend könnte man versucht sein, in seiner Aussage vor allem eine Markierung des eingeschränkten, noch vorläufigen Wissenshorizonts einer literarischen Figur zu sehen.⁵ Das allerdings hieße auszublenden, dass der Minnetrank, der die Kehre auf der Handlungsebene herbeiführt, von seiner Urheberin nicht etwa gebraut, sondern betihtet wird – nur ein Hinweis unter vielen, die die Literarizität des Dargestellten in diesem Roman dauerhaft präsent halten.⁶ Gleich auf verschiedenen Ebenen kennzeichnet der Tristan die Kehre also nicht allein als etwas Besonderes und Außergewöhnliches, sondern als ein Narrativ, das in die Sphäre des Literarischen gehört und den Gegebenheiten alltäglicher Erfahrung – man könnte sagen: der empirischen Evidenz – entgegenläuft. Schaut man sich vor diesem Hintergrund an, welche Auffassungen über die Lernund Entwicklungsfähigkeit des Menschen topische Register der Zeit bereitstellen, dann bestätigt sich Tristans Aussage, dass alle Welt eine radikale Verkehrung der Wesensart für unmöglich hält. Die Topik erschließt bekanntlich kein systematisches Wissensfeld, sondern versammelt konsensfähige Aussagen mit einem eher partiellen und situationsbezogenen Geltungsanspruch. Dialektisch organisiert hält sie zu jeder Aussage eine ganze Reihe möglicher Modifikationen oder sogar gegenteiliger Überzeugungen bereit.⁷ Sehr auffällig ist nun aber, dass im Fall der conversio eine ganz ungewöhnliche Einhelligkeit besteht. Thematisiert wird die Kehre im topischen Fundus beinahe ausschließlich in ihrer Negation. Die Wandlungsfähigkeit des Menschen ist äußerst beschränkt, so ließe sich die Summe der vielfältigen zeitgenössisch verfügbaren Aussagen ziehen. Markante Unterschiede lassen sich in diesem Feld vor allem darin erkennen, wie diese Beschränktheit begründet wird: einerseits durch art im Sinne ererbter Dispositionen oder andererseits durch Erziehung, Ausbildung und Gewöhnung, also von außen auf den jungen Menschen oder das Kind einwirkende
Zusätzlich pointiert wird dieser eingeschränkte Wissenshorizont in den sich anschließenden Trostworten Tristans für Isolde, der er eine ebenso strahlende wie glückliche Zukunft mit Marke in Aussicht stellt: schœniu, gehabet ir iuch wol! / in kurzen zîten ich iu sol / einen künec ze hêrren geben, / an dem ir vröude und schœne leben, / guot unde tugent und êre / vindet iemer mêre (V. 11639 – 11644). Zur Diskrepanz zwischen Tristans Trostworten und dem weiteren Verlauf der Handlung vgl. schon Rüdiger Schnell: Suche nach Wahrheit. Gottfrieds Tristan und Isold als erkenntniskritischer Roman. Tübingen 1992 (Hermaea. 67), S. 109 f. Die wîle und sich ouch Tristan / mit sînen lantgesellen dan / bereite unde berihtete, / die wîle so betihtete / Îsôt diu wîse künigin / in ein glasevezzelîn / einen tranc von minnen (V. 11429 – 11435). Zur poetologischen Dimension der Wendung vgl. Christopher Young: Der Minnesang als Literarisierungsprozess bei Gottfried von Straßburg. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposium Santiago de Compostela, 5.–8. April 2000. Hrsg. von Christoph Huber, Victor Millet. Tübingen 2002, S. 257– 279. Vgl. dazu Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. Sieveke. München 1993; Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. Main 1976; Clifford Geertz: Common Sense als kulturelles System. In: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt a. Main 1983, S. 261– 288; Roland Barthes: Die alte Rhetorik. In: ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. Main 1988, S. 15 – 101.
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Faktoren.⁸ Diese Differenzierung der determinierenden Faktoren innerhalb des topischen Arsenals bildet letztlich die wichtigsten seit der klassischen Antike in gelehrten Diskussionen konkurrierenden anthropologischen Modelle ab. In rhetorischen Funktionskontexten affirmiert das erste Modell geltende gesellschaftliche Ordnungen, während das zweite die Sorge um die frühen Jahre, die von zentraler Bedeutung für das gesamte menschliche Leben sind, nicht nur als elterliche, sondern insbesondere auch als gesellschaftliche Aufgabe exponiert. Im Rahmen des zweiten Modells wird dem Menschen zwar weitgehend unabhängig von Herkunft und ererbten Dispositionen die Möglichkeit zugesprochen, jeden erdenklichen Lebensweg einzuschlagen, allerdings hängen die Wahlmöglichkeiten entscheidend von den Einflüssen in Kindheit und früher Jugend ab. Nach der ersten Prägung erscheint der Mensch auch hier disponiert und entsprechend eng beschränkt in der weiteren Entwicklung. Dieser Vorstellung nach ist persönliche und damit letztlich auch gesellschaftliche Veränderung zwar möglich, aber nur als langfristiger und sogar generationenübergreifender Prozess – nicht als plötzliche oder durch spontane Einsicht motivierte Wende.⁹ Ererbte Disponiertheit betonen etwa Aussprüche wie: Wie der Baum, so die Frucht; TPMA I s. v. BAUM 5.1. Wie das Ei (der Vogel), so der Vogel (das Ei); TPMA II s. v. EI 7. Wie die Eltern, so die Kinder; TPMA II s.v. ELTERN 1.1. Der Inhalt riecht nach dem Gefäss / Der Inhalt entspricht qualitativ dem Gefäss; TPMA IV s. v. GEFÄSS 5.2. u. 5.3. Die Katze lässt das Mausen nicht / Die junge Katze lernt rasch Mausen; TPMA VI s.v. KATZE 4.1. u. 4.2. Wie die Mutter, so das Kind; TPMAVIII s.v. MUTTER 2.1. Der Esel und die Nachtigall haben ungleichen Gesang / Die Nachtigall und die Krähe (Lerche, der Kuckuck) singen nicht gleich; TPMA VIII s. v. NACHTIGALL 3 u. 4. Erziehung, Kunst und Geld ändern die Natur nicht; TPMA VIII s. v. NATUR 1.1.2.1. Nesseln fangen früh an zu brennen; TPMAVIII s. v. NESSEL 1.2. Wie das Nest, so der Vogel; wie der Vogel, so das Nest; TPMA VIII s. v. NEST 1. Wie der Vater, so der Sohn; TPMA XII s. v. VATER 2.1.3. Hierher gehört auch Tristans iemer unart g’arten müge; TPMA VIII s. v. NATUR 1.1.2.2. Schlechte Natur wird nicht gut. Vgl. dazu: Handbuch der Sentenzen und Sprichwörter im höfischen Roman des 12. und 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Manfred Eikelmann, Tomas Tomasek. Bd. 2: Artusromane nach 1230, Gralromane, Tristanromane. Bearbeitet von Tomas Tomasek in Zusammenarbeit mit Hanno Rüther, Heike Bismark. Berlin/New York 2009, S. 481 f. Die elementare Bedeutung von (Aus‐)Bildung für die dann nachhaltige Prägung des Menschen stellen hingegen Formulierungen wie Erziehung ist stärker als die Natur; TPMA III s. v. ERZIEHEN 4.2. Das Gefäss riecht nach seinem (ersten) Inhalt; TPMA IV s. v. GEFÄSS 5.5. Jung gewohnt, alt getan / Was man sich jung angewöhnt hat, an dem hält man immer fest; TPMA V s. v. GEWOHNHEIT 1.1. u. 1.2. Gewohnheiten sind dauerhaft / Gewohnheiten sind schwer abzulegen; TPMA V s. v. GEWOHNHEIT 2.1. u. 2.2. Gewohnheit ist stärker als Natur; TPMA V s. v. GEWOHNHEIT 3.3.2.; vgl. Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi. Lexikon der Sprichwörter des romanischgermanischen Mittelalters. Begründet von Samuel Singer. Hrsg. vom Kuratorium Singer der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften. 14 Bde. Berlin/New York 1995 – 2002. Das Motiv der ersten Füllung eines Gefäßes etwa fungiert als Klammer einer äußerst differenzierten Debatte über die Bedingungen und Techniken einer frühkindlichen intellektuellen Bildung des Einzelnen als unabdingbare Voraussetzung für einen nachhaltigen gesellschaftlichen Wandel. Die Auseinandersetzung mit diesem Motiv beginnt mit Horaz und wird unter anderem von Autoren wie Quintilian, Augustinus, Hieronymus, Ivo von Chartres, Abaelard, Johannes von Salisbury, Vinzenz von Beauvais, Petrarca und Erasmus von Rotterdam fortgesetzt, aber auch in den Volkssprachen in unterschiedlichsten Gattungskontexten aufgenommen – im Deutschen etwa in der Crône Heinrichs von dem Türlin, Freidanks Bescheidenheit, in den Predigten Bertholds von Regensburg, in Albrechts Jüngerem Titurel, in Morant und Galie, bei Konrad von Ammenhausen, Heinrich Seuse, Rulman Merswin,
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Umso bedeutender erscheint die eben beschriebene Eindeutigkeit innerhalb des topisch sedimentierten Erfahrungswissens – das ja grundsätzlich dialektisch auf unterschiedliche anthropologische Modelle und damit auf divergierende Weltsichten bezogen ist – in Bezug auf die Entwicklungsfähigkeit des Menschen. Wo es um die Irreversibilität menschlichen Seins geht, verliert die eigentlich zentrale Frage an Relevanz, worin diese gründet. Dies äußert sich nicht zuletzt in zahlreichen einander ähnlichen Erfahrungssätzen, die aus je unterschiedlichen Perspektiven gleichermaßen die Unveränderlichkeit des Menschen thematisieren oder aber auch in solchen, die den Bezug auf ein spezielles anthropologisches Modell erst gar nicht mehr erkennen lassen.¹⁰ Diesem Wissen zuwiderlaufende Versuche, den Menschen doch verändern zu wollen, werden zum Paradigma sowohl vergeblicher Mühe als auch absurden Handelns. In dieser argumentativen Zuspitzung offenbart sich, wie massiv die Vorstellung von der Irreversibilität ererbter wie erworbener Dispositionen in der anthropologisch basierten Topik ist. Krähen im Bad ihre artgemäße Schwärze nehmen zu wollen, sprich bei Menschen gegen ihre Natur eine moralische Besserung herbeiführen zu wollen, zählt etwa Sebastian Franck zur großen Gruppe der Absurda und erklärt den Versuch für ebenso widersinnig, wie ein Pferd hinter den Wagen zu spannen, einen Bock melken zu wollen, einen Brunnen unmittelbar neben einem Fluss zu graben oder einen Nackten ausziehen zu wollen.¹¹
Sebastian Brant, Geiler von Kaysersberg und Sebastian Franck; vgl. dazu ausführlich: Manfred Eikelmann, Silvia Reuvekamp: Wie lernt der Mensch? Anthropologische Betrachtungen der Lern- und Entwicklungsfähigkeit des Menschen in lateinischen und deutschen Texten des Mittelalters. In: Lehren, Lernen und Bilden in der deutschen Literatur des Mittelalters. XXIII. Anglo-German Colloquium. Nottingham 2013. Hrsg. von Henrike Lähnemann, Nicola McLelland, Nine Miedema. Tübingen 2017, S. 37– 53. Dieses einzelne Beispiel mag ansatzweise die Verbindlichkeit des topischen Erfahrungswissens verdeutlichen, auf das Tristans pessimistische Einschätzung der menschlichen Wandlungsfähigkeit rekurriert. Zur sozialen Geltung von Erfahrungswissen in Mittelalter und insbesondere der Frühen Neuzeit siehe Udo Friedrich: Wahrnehmung – Experiment – Erinnerung. Erfahrung und Topik in Prosaromanen der Frühen Neuzeit. In: Das Mittelalter 17 (2012), S. 75 – 94. Vgl. u. a.: Den Ort aber nicht den Sinn ändern; TPMA (Anm. 8) I s. v. ÄNDERN 6. Ein Hund wird auch durch Kämmen, Waschen und Baden nicht reiner; TPMA VI s. v. HUND 1.4. Der Hund kehrt zum Erbrochenen zurück; TPMA VI s. v. HUND 2.21. Wer als Narr weggeht, kommt als Narr zurück (ist auch anderswo ein Narr); TPMA VIII s. v. NARR 2.3. Die Krähe (Der Rabe) wird nicht weiss, wie sehr man sie (ihn) auch wäscht; TPMA VII s. v. KRÄHE 1.1. Wenn der Teufel wieder gesund ist, kehrt er zu seiner alten Art zurück; TPMA XI s. v. TEUFEL 1.16. Der Wolf wechselt das Haar (verliert die Zähne), nicht aber die Gesinnung; TPMA XIII s. v. WOLF 2.1. Als der Wolf krank war, wollte er ein Mönch sein; als er genesen war, war er so wie vorher; TPMA XIII s. v. WOLF 2.2. Der Wolf, der zum Geistlichen gemacht wird, verzichtet nicht auf Schafe (bleibt ein Wolf); TPMA s. v. WOLF 2.3. Der Ziegel wird umso dreckiger, je mehr man ihn wäscht; TPMA XIII s. v. ZIEGEL 2. Absvrda, Praepostera. Von vnfuͤglichen vngereimpten verkerten dingen. […] Mopso Nisa Datur. / Narren über eyer setzen. / Was sol dem narren witz. / In Baurn gehoͤrt hew oder haberstro. / Dem hasen wirt das fendlin beuolhen. / Der Saw das berlin fürgeworffen. / Er hat mehr glücks dann recht. / Herculis cothurnos aptare infanti. / Herculis schůch einem kind anlegen. / Eim Esel ein harpffen oder leyren geben. […] Currus bouem trahit. / Den wagen für den zůg spannen. / Wir sprechen: Das Roͤßlin beym hindern auffzaͤumen / wann ein ding verkert zůgehet / das der wag die roß sol ziehen. / Es ist alles verkert.
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Man könnte diese Befunde nun vielleicht so deuten, dass die Kehre keine universale, sondern eine diskursgebundene Form der Orientierung darstellt. Man hätte es dann mit der Denkform eines literarischen Contra-Diskurses zu tun, der die anthropologischen Gewissheiten seiner Zeit umgeht, unterläuft oder gezielt konterkariert. Dass Tristan die Unwahrscheinlichkeit des folgenden Geschehens im Rekurs auf topisches Wissen noch eigens ausstellt, hätte in einem solchen literarischen Zusammenhang die klare Funktion, die Ereignishaftigkeit des Geschehens zu markieren und damit die Tellability zu gewährleisten. Eine solche Deutung würde allerdings einen ganz wesentlichen Punkt aus den Augen verlieren: Konversionserzählungen verstehen sich jenseits der Unterscheidung von fiktional und faktual als gültige Darstellungen und setzen sich darüber in einen Bezug zur sozialen Praxis. In der verstehenden Soziologie werden Konversionserzählungen seit den 1980er Jahren als rekonstruktive oder auch kommunikative Gattung beschrieben, deren Formen und Funktionen nur über ihren sozialen Kontext adäquat zu beschreiben sind.¹² Wie aber geht der Anspruch auf Geltung, auf soziale Relevanz, mit dem Außerkraftsetzen von Wahrscheinlichkeit zusammen? Und weiter: Warum thematisieren prominente Konversionserzählungen immer wieder ganz explizit ihre eigene Unwahrscheinlichkeit im Rekurs auf das verfügbare anthropologische Wissen – dies tut nämlich keinesfalls nur der Tristan –, wo es doch im Sinne des erhobenen Geltungsanspruchs vielleicht viel sinnvoller wäre, einen solchen Widerspruch zu kaschieren? Wie können Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit entstehen, wo empirische wie narrative Evidenz nicht nur zurücktritt, sondern programmatisch außer Kraft gesetzt wird? Diesen Fragen möchte ich an einer im späteren Mittelalter und der Frühen Neuzeit ausgesprochen prominenten Konversionserzählung nachgehen. Die Schachzabelbücher, die ab dem 13. Jahrhundert in mehreren europäischen Volkssprachen nach der
Die seck tragen die Esel. […] Mulgere hircum. / Mit meußen zů acker gehn. / Bock melcken. […] Iuxta Fluuium Puteum Fodit. / An eim fluß ein prunnen graben. / Das heyßt den rappen baden oder waßer inn Tonaw tragen. […] Cauem excoriatum, excoriare. / Den geschunden hund schinden. / Ein nackenden außziehen. Im meer wasser sůchen. […] Boue uenari leporem. / Mit ochsen hasen jagen. / Diese sprichwort zeigen hoͤflich alle vergebne arbeit an / Wie auch: Lauare Coruum, laterem. Ein ziegel waschen; Sebastian Franck: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Bd. 11: Sprichwörter. Text-Redaktion Peter Klaus Knauer. Bern u. a. 1993, hier S. 18 – 22. Vgl. u. a. Thomas Luckmann: Kanon und Konversion. In: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. Hrsg. von Aleida Assmann, Jan Assmann. München 1987, S. 38 – 46; Bernd Ulmer: Konversionserzählungen als rekonstruktive Gattung: Erzählerische Mittel und Strategien bei der Rekonstruktion eines Bekehrungserlebnisses. In: Zeitschrift für Soziologie 17 (1988), S. 19 – 33; ders.: Die autobiographische Plausibilität von Konversionserzählungen. In: Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge. Hrsg. von Walter Sparn. Gütersloh 1990, S. 287– 295; Hartmann Leitner: Wie man ein neuer Mensch wird, oder: Die Logik der Bekehrung. In: Biographische Sozialisation. Hrsg. von Erika M. Hoerning. Stuttgart 2000, S. 61– 86; Heinz Gerhard Haupt: Politische Konversion in historischer Perspektive. Methodische und empirische Überlegungen. In: Zeitperspektiven. Studien zu Kultur und Gesellschaft. Beiträge aus Geschichte, Soziologie, Philosophie und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Uta Gerhard. Stuttgart 2003, S. 267– 304.
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lateinischen Vorlage des Dominikanermönchs Jakobus de Cessoles entstehen, bieten vor allem eine allegorische Stände- und Gesellschaftslehre. Eingelassen ist diese jedoch in eine Rahmenerzählung, die von der Erfindung des Schachspiels berichtet und die Problematik von conversio, die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von Umkehr, gleich an mehreren Fallbeispielen besonders eindringlich verhandelt.¹³ Im Zentrum steht dabei die Geschichte des Philosophen Xerses, der vom babylonischen Volk gebeten wird, Evilmoradach, den Sohn Nebukadnezars, von seiner despotischen Gewaltherrschaft abzubringen und zu mehr Gerechtigkeit zu bewegen. Schon Nebukadnezar hatte sich unter anderem bei der Belagerung Jerusalems als gnadenloser Gewaltherrscher gezeigt, war jedoch von Gott für seine Hochfahrt mit dem Verlust seines menschlichen Verstandes bestraft worden. Erst als der Prophet Daniel nach sieben Jahren des Wahnsinns für ihn eintritt, gibt Gott ihm sein Bewusstsein zurück und Nebukadnezar bekehrt sich unter dem Eindruck dieser Erfahrung. Gegen die biblische Tradition erzählen nun die lateinischen und volkssprachlichen Schachzabelbücher davon, wie Nebukadnezar daraufhin in sein Land zurückkehrt und seinen Sohn an seiner statt mit unbeschreiblicher Grausamkeit herrschend vorfindet. Weil Evilmoradach sich von der conversio des Vaters unbeeindruckt und außerdem völlig unbelehrbar zeigt, kerkert Nebukadnezar ihn ein und übernimmt die Herrschaft wieder selbst. Der Sohn harrt im Gefängnis bis zum Tod des Vaters aus und kommt durch weitere Todesfälle in der Familie unverhofft zurück an die Macht. Aus Angst vor einer erneuten Rückkehr seines Vaters lässt Evilmoradach unmittelbar nach seinem Amtsantritt dessen Leiche exhumieren und in 300 Stücke zerhauen, um sie 300 Geiern zum Fraß vorzuwerfen. Damit befreit er sich nicht nur spektakulär von der einzigen ihm übergeordneten Macht, sondern er tilgt auch die gesellschaftlichen Folgen der conversio des Vaters. Entsprechend nachvollziehbar ist der Wunsch des Volks, auch bei Evilmoradach eine Umkehr herbeizuführen, entsprechend verständlich ist aber ebenso die Furcht des Xerses vor der schier unlösbaren Aufgabe, Evilmoradach ze guote ze bringen. So wundert es auch nicht weiter, dass die Babylonier den Weisen massiv unter Druck setzen müssen, um ihn überhaupt zu einem Versuch zu bewegen. Die Gefahren, die mit dem geplanten Unterfangen verbunden sind, werden unter anderem am Beispiel Senecas verdeutlicht, der den Versuch, Nero durch Belehrung zum Besseren zu bekehren, am Ende mit seinem eigenen Leben bezahlt. Immer wieder verdeutlicht der Erzähler, dass das Wesen des Bösen gerade darin besteht, sich jeder Belehrung zu verschließen. Während wenigstens zu einem Teil gute Menschen durch
Die folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf die Version Konrads von Ammenhausen, im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: Das Schachzabelbuch Kunrats von Ammenhausen, Mönchs und Leutpriesters zu Stein am Rhein. Nebst den Schachbüchern des Jacob von Cessole und des Jakob Mennel. Hrsg. von Ferdinand Vetter. Mit einem Exkurs über das mittelalterliche Schachspiel von v. Heydebrand und der Lasa. Frauenfeld 1892 (Bibliothek Älterer Schriftwerke der Deutschen Schweiz, Ergänzungsband).
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Anleitung Besserung erlangen können, lässt sich der durch und durch Schlechte nicht grundlegend verändern:¹⁴ swem arg wont in dem muote, des zunge muos ouch wesen arg und muos guoter rede karg wesen, wan er niht enhât wissent, das ûs dem vasse gât niht anders, wan das drinne ouch was. jô wê dem argen, der das vas hat, darin nie saͤlde kan! (V. 542– 549)
In seinem Sein beeinflussbar erscheint der Mensch auch dem Erzähler in Konrads Schachzabelbuch wenn überhaupt, dann nur in Kindheit und früher Jugend. Wie im Tristan wird auch hier innerhalb der Konversionserzählung unmittelbar vor dem eigentlichen Bekehrungserlebnis die Unwahrscheinlichkeit des Folgenden argumentativ entfaltet und im Rekurs auf prominente Exempelgeschichten und allgemeine Erfahrungssätze argumentativ belegt. Und dennoch erzählt die Rahmengeschichte des Schachzabelbuchs von der innerlichen Umkehr des eigentlich so unbelehrbaren Tyrannen. Anders als Seneca bei Nero hat Xerses bei Evilmoradach Erfolg, weil er die Bedingungen für eine innere Umkehr klarer erkennt und deswegen klüger agiert. So schafft er zunächst die Vor-
Die gleiche Erkenntnis leitet bereits die Ausführungen zur erwartbaren Rezeption des Schachzabelbuchs und der Funktion des Erzählens in der Vorrede. Nur diejenigen, in denen die Bereitschaft und Fähigkeit, das Gute zu erkennen bereits angelegt ist, sind überhaupt in der Lage, von der gebotenen Lehre zu profitieren, für alle anderen bleibt sie völlig funktionslos: ich hoffe, das es müge vromen / den guoten ze guote / die mit guotem muote / es hoͤrent, als in wol gezimt. / swer aber untugenthafter es vernimt, / der spricht vil lîht: Was sol es vromen? / es mag ze keinem guote komen, / der üns vil sagen wil / von disem schachzabelspil, / und wil niht merken darzuo / kein guot ding, das er rehte tuo. / semlicher leider ist genuog, / die weder tugende noch vuog / gern hoͤrent singen noch sagen: / das muos ich huͤt und iemer klagen, / wan swas man vor dien geseit, / waͤr es die rehte wârheit, / die got ûs sînem munde sprach, / es waͤre in swaͤre und ungemach. / in gevallet nieman guoter wol; / swas sie sehent oder hoͤrent, das ist hol / guotes in ir argen sinne; / götlicher minne / hant si leider kleine; / ir herzen sint unreine, / verboͤset und vergiftet (V. 238 – 263). Am anschließenden Exempel von Daniel in der Löwengrube werden die Konsequenzen der Unbelehrbarkeit der Bösartigen noch fortgeführt. Das höchste, was der Verkünder der Wahrheit erreichen kann, ist sich in der Hoffnung auf den Schutz Gottes unbeeindruckt gegenüber den Angriffen der Widersacher zu zeigen: der arge niemer getreit / enkeinem guoten guoten munt; / wol reden ist in gar unkunt. / das son die guoten ahten niht, / wan in sicherlich beschiht / als Daniêle, der vor den löwen genas, / sô den argen ir selbes has / und ir nît zerkuͤwet ir herzen, / das sî grôssen smerzen / ze allen zîten müessen hân. / In beschiht ouch dike als einem man, / der an einen stein schuͤsset: / das schos vil dike duͤsset / harwider an den, der es schôs / und machet im ein wunden grôs / und schadet aber dem steine / sîn schiessen harte kleine. / alsus beschiht den guoten ouch. si son ahten als einen rouch, / swas die boͤsen mügen geklaffen, / und son si ir ding schaffen / beiduͤ spât und ouch vruo, / und swas die boͤsen reden darzuo, / das sî in reht als ein slag / in einen bach (V. 382– 407). Die Möglichkeit, die Bösen durch die Rede vom Wahren und Guten zu bessern oder gar nachhaltig zu verändern, scheint auch hier an keiner Stelle auf.
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aussetzungen dafür, dass eine Belehrung des mächtigen Herrschers überhaupt möglich wird. Mit der Erfindung des Schachspiels setzt er einen Anreiz zu lernen – heute würde man sagen, er aktiviert die intrinsische Motivation. Xerses entwickelt das anspruchsvolle Spiel und führt es bei Hof ein, ohne jedoch den König direkt damit zu konfrontieren. Als dieser jedoch sieht, wie viel Freude und Kurzweil das Spiel zu bringen vermag, bittet er den Erfinder, auch ihm die Regeln zu erklären. Xerses erklärt sich dazu bereit, macht dem Tyrannen aber deutlich, dass er das begehrte Spiel nur dann erlernen könne, wenn er zum ersten Mal in seinem Leben bereit sei, die Rolle des demütig Lernenden zu übernehmen. Evilmoradach muss eine Erfahrung gleichsam nachholen, die er in seiner Kindheit und Jugend versäumt hat. Diese Erfahrung nun ist es, die ganz unvermittelt eine innere Wandlung des einstigen Tyrannen herbeiführt, der sich nun ohne Zorn auch der offenen Kritik seines neuen Lehrers stellt. Die conversio Evilmoradachs, deren Unwahrscheinlichkeit bis zu diesem Zeitpunkt über mehr als 1300 Verse immer wieder behauptet und argumentativ entfaltet worden war, kann vom Erzähler in diesem Moment nur noch lakonisch konstatiert werden: Dô nu der küng künde gewan des spils, dô nam er tugend an sich und lie sich strâfen (V. 1330 – 1332)
Im Erzählen ergibt sich dadurch eine merkwürdige Schieflage. Unbewältigt bleibt nicht nur der Widerspruch zwischen vehement behaupteter Unwahrscheinlichkeit und erzähltem Ereignis, sondern es klappen auch die Anteile von Hinführung und eigentlicher Konversionshandlung frappierend auseinander. Beinahe die gesamte erzählerische Energie wird auf etwas verwandt, was sich im Handlungsverlauf kurzerhand als Irrtum erweist. Warum findet die eigentliche conversio so viel weniger erzählerisches Interesse als ihre vorangegangene Negation? Eine mögliche Erklärung für diese irritierende Schieflage könnte in der sozialen Funktion von Konversionserzählungen liegen. Die Erfahrung, die Evilmoradach auf der Handlungsebene macht, ist für den Rezipienten in ihren Mechanismen zwar verstehbar, aber sie ist nicht nachvollziehbar, und sie ist letztlich auch nicht erzählbar.¹⁵ Anders als einen Ent-
In religionssoziologischer Perspektive beschreibt Ulmer (Anm. 12), S. 26, eben dieses kommunikative Problem als generisches Moment von Konversionserzählungen: „Indem die Erzähler bei der Rekonstruktion auf die Grenzen der Darstellbarkeit und Nachvollziehbarkeit aufmerksam machen, tragen sie dem besonderen Wirklichkeitsstatus der religiösen Konversionserfahrung Rechnung. Als außerordentliches und außeralltägliches Geschehen entzieht sie sich einem unmittelbaren Zugriff und der direkten erzählerischen Vermittlung. Darin aber besteht das Dilemma, in das jeder Erzähler einer Konversionsgeschichte gerät. Obwohl die religiöse Konversionserfahrung nicht ohne weiteres rekonstruierbar und intersubjektiv vermittelbar ist, muß sie dem Zuhörer dennoch in irgendeiner Weise nahegebracht werden, damit dieser sie als Ursache und entscheidender [sic!] Impuls für die eigenerlebte Konversion erkennen kann. Die Auflösung dieses Dilemmas steht im Mittelpunkt aller Konversionserzählungen. Sie sind strukturell so aufgebaut, daß einerseits eine persönliche religiöse Erfahrung als Ursache der Konversion erkennbar und intersubjektiv nachvollziehbar wird. Andererseits muß
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wicklungsprozess kann man einen plötzlichen inneren Umschlag kaum in einem narrativen, also einem zeitlichen Verlauf darstellen. Man kann sich ihm lediglich über den Kontrast der Zustände eines Davor und eines Danach annähern. Zwischen diesen kontrastiv aufeinander bezogenen Zuständen liegt ein von außen und meist sogar von innen her unbegreifliches Ereignis, eine leere Mitte.¹⁶ Deswegen kann der Erzähler die conversio auch lediglich in knappen Worten konstatieren, für ihn bleibt sie ebenso uneinholbar wie für den Rezipienten. So wie schon Evilmoradach nicht nachvollziehen kann, was seinem Vater nach dem sieben Jahre andauernden Wahnsinn in der wüsten Einöde widerfahren ist, weil die göttliche Begnadung für Außenstehende zwangsläufig unzugänglich bleibt, kann auch der Rezipient nicht mitvollziehen, wie genau Evilmoradach das für ihn ebenso neuartige wie plötzliche Eintauchen in die Pose des demütig Lernenden, die erstmalige Öffnung für Unterweisung im fortgeschrittenen Erwachsenenalter und die damit verbundene Verkehrung seiner Wesensart erlebt. Für das Funktionieren von Konversionserzählungen birgt diese Leerstelle nun allerdings erstaunlicherweise keinen Nachteil. Die Geschichten von Nebukadnezar und Evilmoradach werden ja nicht etwa erzählt, um Konversionserlebnisse beim Rezipienten zu provozieren, sondern viel mehr dazu, sie überflüssig zu machen. Konversionserlebnisse herbeizuführen liegt nicht in der Verfügungsgewalt des Menschen. Weder kann Seneca in all seiner Weisheit Nero zur Umkehr bewegen, noch kann der inzwischen göttlich begnadete Nebukadnezar seinen Sohn durch Arrest von seinen Gräueltaten abbringen. Dementsprechend wird den Rezipienten von Konversionserzählungen mit der Lektüre keine einzigartige, gnadenbringende Erfahrung in Aussicht gestellt. Ganz im Gegenteil werden sie dazu angehalten, sich selbst aus eigenem Antrieb in einen Entwicklungsprozess zu begeben, bei dem sie sich dem Zustand des Danach der Konvertierten möglichst weit annähern.¹⁷ Das Zielpublikum für solche Erzählungen bilden in aller Regel ja nicht diejenigen, die der vermittelten Erfahrung völlig unaufgeschlossen gegenüberstehen, sondern solche, die Orientierung und Ermunterung in einer bereits eingeschlagenen Richtung suchen. Der Sprecher der Vorrede etwa richtet sich explizit nicht an die Böswilligen, sondern an den michel teil der Menschheit, der zwar betet, aber zuweilen an der bete sûment sich (V. 66 f.), einen
der Wirklichkeitsanspruch, den die Erzähler mit der Darstellung dieses außerordentlichen Ereignisses erheben, auf glaubwürdige Weise eingelöst werden.“ Vgl. Leitner (Anm. 12). Die Wendung zum Guten ist in Konrads Schachzabelbuch dabei explizit als selbstverantworteter und bis in den Tod andauernder Prozess gedacht, nicht als einmaliges begnadendes Erlebnis: Nu mag vil lîht sprechen ein man: / ‚ich tete gern das beste: sô enkan / ich wissen, was das beste sî.‘ / sô gedenke mîn hiebî / und tuo als an dem salter stât, / das her David gelêret hat: / kêre von dem übel und tuo guot / und seze das in dînen muot, / das du daran veste sîst. / ob du dem ein guot ende gîst / und daran staͤte blîbest, / ob du die wârheit trîbest, / sô kan dir niemer missegân. / wilt aber du die warheit lân, / sô wirst du aller saͤlden arn. / du maht wol eine wîle varn / mit luge und wert der welte wesen; / wilt aber du êwenklich genesen / vor des êwigen tôdes biterkeit, / sô muost du an die wârheit / widerkêren, duͤ got selber ist (V. 603 – 623).
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Kreis, in den er sich selbst miteinbezieht: ô wê der einer bin ouch ich, / wie wol ich vür die wârheit weis (V. 68 f.). Die Rezipienten von Konversionserzählungen gleichen weder in ihrer Ausgangsposition dem Davor der konvertierten Protagonisten, noch können sie darauf hoffen, deren Zustand des Danach vollständig zu erreichen. Die immer wieder in Konversionserzählungen thematisierte Unwahrscheinlichkeit einer unvermittelt über den Menschen hereinbrechenden alles verändernden Erfahrung wird in einem solchen Zusammenhang geradezu zum Argument, zur intrinsischen Motivation dafür, selbsttätig einen Prozess der sukzessiven Annäherung an einen besseren Zustand einzuleiten. Gerade weil Menschen aus eigener Kraft in aller Regel nicht in der Lage sind, eine innere Kehre im Sinne einer Identitätstransformation zu vollziehen, und gerade weil gnadenbringende Erlebnisse, die allein eine solche Transformation auslösen können, nicht in menschlicher Verfügungsgewalt liegen, bleibt nur die fortwährende und mühselige Arbeit am Wandel der eigenen Identität. Anders als die conversio ist diese Arbeit den Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen unterworfen, die die allgemeine Erfahrung lehrt. Nur so erklärt es sich, dass der Erzähler im Schachzabelbuch unmittelbar nach der Bekehrung Evilmoradachs in einer Wendung an die Rezipienten gleichsam im Widerspruch zum gerade Erzählten mit durchweg topischen Argumenten die Unfähigkeit des Menschen zur Kehre abermals betont: sus wölt ich, das alle herren waͤrn gemuot, das si strâfen heten vür guot und miten, das in übel stât. swelch herre sich niht strâfen lât und im nieman tar gesagen sîn misstetât in sînen jungen tagen; und sol der in sîn alter komen, ich waͤne, das sîn prîs muos lomen, und wirt er niht gesterket in der jugend, er wirt erwerket an dem alter vil kûme. dâvon sich nieman sûme an bescheidenheit und an tugende in sîner blüejenden jugende; wan swas worts man in der jugende vât, lîht ers ouch an dem alter hât. des haben wir ein bîschaft wol, der ich uͤch hie bewîsen sol. swas smakes ein nuͤwes vas gevât, vil kûm ald niemer es verlât den smak, er sî boͤs oder guot: swer in der jugende rehte tuot und er ein guotes wort gevât, vil kûme ald niemer es in lât; er müeste gar unrehte tuon
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oder er behüeb den alten ruon an sînem alter, wissent das (V. 1332– 1359)
Konrad von Ammenhausen hat in seiner Version des Schachzabelbuchs die beschriebene Zielrichtung der Konversionserzählung besonders deutlich herausgearbeitet. In seine Vorrede fügt er unabhängig von der Vorlage¹⁸ das weit verbreitete Gleichnis von Vater, Sohn und Esel ein, das auf den ersten Blick allenfalls lose mit dem Folgenden verbunden zu sein scheint.¹⁹ Erzählt wird von einem Vater und seinem Sohn, die einen Esel vor sich hertreiben. Nacheinander treffen sie auf verschiedene Passanten, die ihr Tun allesamt in unterschiedlicher Hinsicht kritisieren. Jedes Mal passen Vater und Sohn ihr Tun unreflektiert der vorgebrachten Kritik an, setzen sich damit aber nur immer neuen Vorwürfen aus. Als sie den Esel vor sich hertreiben, werden sie verhöhnt, weil keiner reitet; als der Vater reitet, wird ihm vorgeworfen, das schwache Kind laufen zu lassen; als daraufhin das Kind reitet, wird es beschimpft, weil es den armen, alten, schwachen Mann laufen lässt; als beide reiten, wird ihnen in Aussicht gestellt, den armen Esel zu Schanden zu reiten; und als sie schließlich den Esel binden und an einer Stange zwischen sich tragen, wird ihnen – nicht ganz zu Unrecht – vorgehalten, wohl jeden gesunden Menschenverstand verloren zu haben. Die Geschichte führt eindringlich vor Augen, dass es in keiner Weise zielführend ist, sein Tun an den heterogenen Erwartungen der Außenwelt auszurichten. Im Kontext der Argumentation von Vorrede und Rahmenhandlung des Schachzabelbuchs bedeutet dies, dass derjenige, der sich aus eigener Kraft dem Guten zuwenden will, anders als der von einer exzeptionellen Erfahrung Beglückte, einer eigenen Urteilskraft bedarf. Was richtig und was falsch ist, kann der Mensch nur vor dem eigenen Gewissen in Annäherung an eine göttliche Wahrheit immer wieder neu entscheiden. Lehre und Unterweisung sind wichtige Korrektive, sie können aber nur dort wirklich fruchtbar werden, wo eine solche innere Urteilskraft wirksam ist. In diesem Sinne versteht sich die im Hauptteil folgende Allegorie des Schachspiels nicht als Sammlung präskriptiver Verhaltensregeln, sondern als Medium der Schulung eines eigenen Ur-
Zum Vorlagenverhältnis vgl. zuletzt Franziska Küenzelen: Lehrdichtung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die Bearbeitung von Jacobusʼ de Cessolis Schachtraktat durch Konrad von Ammenhausen. In: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Henrike Lähnemann, Sandra Linden. Berlin/New York 2009, S. 265 – 283. Vgl. V. 415 – 528. Zur Erzähltradition vgl. Hans Jürgen Scheuer: Eselexegesen. Spielräume religiöser Kommunikation im Schwankexempel des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. In: ZfG 25 (2015), S. 42– 57, besonders S. 46 – 56. Zur Kontextualisierung im Schachzabelbuch Konrads von Ammenhausen vgl. zuletzt Michael Schwarzbach-Dobson: Exemplarisches Erzählen im Kontext. Mittelalterliche Fabeln, Gleichnisse und historische Exempel in narrativer Argumentation. Berlin/Boston 2018 (LTG. 13), S. 142 f. Wie schon die ältere Forschung kann allerdings auch Schwarzbach-Dobson keine klare induktive Argumentationsführung in Konrads dilatatio der einführenden Teile erkennen. Allenfalls sei der Versuch zu beobachten, dem Wuchern literarisch angereicherter Kurzerzählungen entgegenzuwirken, indem diese konsequent auf die Tugend- und Ständethematik der eigentlichen Schachallegorie bezogen würden.
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teilsvermögens, die allerdings in besonderer Weise auf die Bereitschaft der Rezipienten angewiesen ist, aktiv daran teilzunehmen und damit – anders als der Bekehrte – zum Urheber der eigenen Veränderung zu werden.²⁰ Wenn in der Rahmenerzählung von der unwahrscheinlichen conversio derjenigen berichtet wird, die sich einer solchen aktiven Beteiligung völlig verschließen, versteht sich beinahe von selbst, dass mit einer solchen Haltung gerade kein Vorbild gegeben ist. Konversionserzählungen haben eine appellative Funktion, die aber nicht auf Mit- oder Nachvollzug des Dargestellten beruht. Zum Argument für einen selbstverantwortlichen Wandel und daraus resultierender Lebenspraxis wird die anthropologische Unwahrscheinlichkeit der Kehre schon sehr weit vor der Schachzabelbuch-Tradition. Schon Theokrit beklagt in seinen Idyllen im Rekurs auf sehr ähnliche Erfahrungssätze, dass es ganz und gar unmöglich sei, diejenigen von der Bedeutung der Kunst und den Vorzügen eines kunstsinnigen Lebens überzeugen zu wollen, die sich in ihrem Streben allein auf finanziellen Gewinn ausgerichtet haben: Von den Musen kommt edler Ruhm zu den Menschen, doch die Lebenden zehren auf die Besitztümer der Verstorbenen. Aber gleich ist ja die Mühe, am Strand die Wogen zu zählen, so viel sie der Wind mit der blauen See gegen das Land treibt, oder mit durchsichtigem Wasser einen trüben Lehmziegel zu waschen, wie einen Mann zu überwinden, der vom Übel der Habsucht
Auch in diesem Zusammenhang nutzt Konrad von Ammenhausen zur Verdeutlichung Analogien zwischen der Rahmenerzählung zur Entstehung des Schachspiels und dem in der Vorrede erläuterten Entstehungsprozess des Schachzabelbuchs. So wie nämlich Xerses von den Babyloniern genötigt werden muss, sich mit der Erfindung des Schachspiels um eine Besserung Evilmoradachs zu bemühen, zeigt auch Jacobus de Cessoles sich – Konrads Bericht nach – zunächst nicht bereit, von diesen Ursprüngen zu berichten und die mit dem Spiel verbundenen Lehren zu erläutern: An dem buoche las ich alsus, / das der vorgenante Jacobus, / der ein brediaͤre was, / von Thessolis, als ich las, / vil dike gebeten wart / der bete, die er doch lange spart / und ir niht gewerte. / des man an in gerte, / sîn gesellen von dem orden sîn / und anders manig man, die in / bâten harte sêre, / das er in die lere / machte offenbaͤre: / wie und wâvon waͤre / von êrst schachzabelspil erdâht / und wie es ze latîn wurde brâht. / Do er in lange verseite das, / dô bâtens aber vürbas; / zu jungst erhôrte er ir bet / und tet als ie der guote tet: / wan das ist der guoten sit: / swes man si endelichen bit, / des mügen si versagen niht. / bit man aber einen argen iht, / sô man ie mêr bet an in leit, / sô er ie mêr und mêr verseit. / das tet niht diser; wan er was guot / und zeigte sînen guoten muot, / das er ir bet erhôrte / und in dis spil enbôrte (V. 681– 710). Anders allerdings als in der Rahmenhandlung sind es in der Vorrede die zu Unterweisenden selbst, die um Lehre bitten und sich damit ebenso aktiv wie anhaltend um Quellen der Orientierung auf dem bereits eingeschlagenen Weg zum Guten bemühen: Darnâch ze einem mâle beschach, / das man in hôrte unde sach / offenlich bredigen von disem spil / und hate vor im luͤte vil, / edel und unedel, die kunden / das spil, und niht verstuonden / die betuͤtunge als gar, / als er ins dô leite dar. / Dô sîn betuͤtunge / alte und ouch junge / gehôrten, dô geviels in bas / denn ê, und sprâchen alle, das / es gar nüze waͤre, / das er niht verbaͤre, / er sölte es vürbringen / alten und jungelingen, / das sich die gebesserten dran. / alsus vieng er das buoch an (V. 711– 728). Abermals wird so mustergültig die intendierte Rezeptionshaltung vorgeführt und in Kontrast zur folgenden Konversionserzählung gesetzt.
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befallen ist. Wer so ist, soll mir gestohlen bleiben; unzähliges Silber soll er haben, und stets soll Verlangen nach mehr ihn beherrschen. (Chariten oder Hieron, XVI, 58 – 65)²¹
Von der unmissverständlichen Absage des Sängers an die Unverständigen geht allerdings zweifellos auch hier ein Appell aus, ein Appell an diejenigen, die die Kunst zwar grundsätzlich schätzen, aber (noch) nicht zum Kreis ihrer Förderer gehören: Unbegreifliche! Was für ein Gewinn ist denn das unzählige Gold, drinnen gehortet? Nicht das ist für kluge Leute der Nutzen des Reichtums, sondern vielmehr, das eine für das eigene Wohlergehen, das andere wohl auch einem der Sänger dahinzugeben; vielen von den Verwandten Gutes zu tun, vielen auch von den übrigen Menschen, stets den Göttern auf dem Altar zu opfern, aber nicht ein schlechter Gastgeber zu sein, sondern Fremde an der Tafel freundlich zu bewirten und zu entlassen, wenn sie gehen wollen; vor allem aber zu ehren der Musen heilige Künder, daß du, auch im Hades verborgen, im Ruf eines Edlen stehst und nicht ruhmlos klagen mußt am kalten Acheron. (Chariten oder Hieron, XVI, 22– 31)
Einer ganz ähnlichen Argumentationsfigur folgt ebenfalls Horaz in seinem Brief an den jungen Lollius Maximus, den er aufruft, innere Einstellung und Lebenswandel grundlegend zu ändern und sich schon in jungen Jahren der Philosophie zuzuwenden. Weil eine Korrektur einmal erworbener Gewohnheiten im noch fortgeschritteneren Alter nicht mehr realistisch sei, solle der jüngere Freund schon jetzt den Weg eines selbstverantwortlichen und nachhaltigen Wandels beschreiten: ut te ipsum serves, non expergisceris? atqui si noles sanus, curres hydropicus; et ni posces ante diem librum cum lumine, si non intendes animum studiis et rebus honestis, invidia vel amore vigil torquebere. nam cur quae laedunt oculum, festinas demere: siquid est animum, differs curandi tempus in annum? dimidium facti, qui coepit, habet: saepe aude, incipe. vivendi qui recte prorogat horam, rusticus expectat, dum defluat amnis; at ille labitur et labetur in omne volubilis aevum. […] fingit equum tenera docilem cervice magister ire, viam qua monstret eques; venaticus, ex quo tempore cervinam pellem latravit in aula, militat in silvis catulus. nunc adbibe puro pectore verba, puer, nunc te melioribus offer. quo semel est inbuta recens servabit odorem testa diu (Epistulae, I,2,33 – 70)²²
Theokrit: Gedichte. Griechisch – deutsch. Hrsg. und übersetzt von Bernd Effe. 2., überarbeitete Aufl. Berlin 2013. Horaz: Satiren Briefe Sermones Epistulae. Lateinisch – deutsch. Übersetzt von Gerd Herrmann. Hrsg. von Gerhard Fink. Düsseldorf/Zürich 2000: „Willst nicht auch du, um dich selber zu retten, endlich erwachen? / Bist doch gesund und magst nicht? Wasserdrang lehrt dich dann laufen! / Läßt du
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In vielerlei Hinsicht präfiguriert die von antiken Autoren wie Theokrit oder Horaz entworfene Vorstellung einer in innerer Wandlung gründenden Veränderung der gesamten Lebenspraxis zwar die christliche conversio, doch gewinnt die Denkform der Kehre im Rahmen einer Bewegung, die sich explizit als Konversionsreligion versteht, natürlich enorm an Virulenz. Die anthropologische Unwahrscheinlichkeit der Kehre wird allerdings auch hier keinesfalls geleugnet, sondern sie begründet die Verpflichtung des Gläubigen, in immer neu vollzogenen Umkehrbewegungen gegen die menschliche Natur zu arbeiten und selbsttätig eine Annäherung an eine umfassende conversio, wie allein göttliche Begnadung sie ermöglicht, zu suchen. Vor allem die Kirchenväter knüpfen in der Diskussion von Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen von Identitätswandel und Identitätswechsel dabei immer wieder explizit an antike Autoritäten an und überführen auf diesem Weg deren anthropologische Reflexion ins christliche Schrifttum. Dies geschieht besonders dort, wo dem noch jungen Christentum kulturelle Kontinuitäten zum Problem werden. Ausgangspunkt ausgesprochen kontroverser persönlicher und theologischer Auseinandersetzung wird etwa die pagane Bildung, die bei hochrangigen Theologen wie Augustinus, Hieronymus oder Rufin auch nach der Konversion identitätsstiftende Bedeutung behält. Dieser Streit setzt sich im Konflikt um die richtige Interpretation christlicher Offenbarung unmittelbar fort. Die Vielfalt philosophischer Schulen der Antike prägt zunächst eine Vielfalt von Alternativen innerhalb der christlichen Bewegung, die zu erbitterten Auseinandersetzungen, Spaltungen und Häresien führen²³ – der pelagianische Streit wäre nur eins von vielen Beispielen. Auch hier geht es letztlich um die begrenzte Fähigkeit des Menschen zu einem radikalen Wandel in Denken und Handeln. In solchen Zusammenhängen bilden sich in Anknüpfung an antike Autoritäten Argumentationsmuster aus, die auch das Erzählen in den Volkssprachen nachhaltig prägen und zwar, wie etwa der Tristan zeigt, nicht nur in religiösen Kontexten.²⁴ So erklärt sich, warum sich mit der expliziten Thematisierung der Unwahrscheinlichkeit von
nicht schon vor Tag ein Buch und den Leuchter dir bringen, / Deinen Geist auf würdige Stoffe und Dinge zu richten, / Wirst du von Neid oder Wollust geplagt und am Schlafen gehindert. / Ist dir ins Augʼ was geflogen, entfernst du es schleunigst, doch wenn dir / Etwas am Herzen nagt, verschiebst du die Kur auf das nächste / Jahr? Wer beginnt, hat halb schon gewonnen; du wage die Weisheit! / Jetzt fang an! Wer die Stunde versäumt für’s richtige Leben, / Ist wie der Bauer, der wartet, bis abfließt der Strom, aber dieser / Gleitet und flutet im Wirbel in alle Ewigkeit weiter. […] Junge Pferde lassen sich willig dressieren, zu gehen / Wohin der Reiter sie lenkt; / der junge Jagdhund nicht anders, / Der in der Halle das Hirschfell tüchtig verbellte: ihn kannst du / Brauchen im Walde. – Jetzt, mein Freund, nimm diese Worte / Reinen und lauteren Herzens, jetzt suche den Umgang mit Bess’ren! / Ist der Tonkrug einmal gefüllt – den Duft wird er lange / Speichern!“ Vgl. Gerd Theißen: Polyphones Verstehen. Entwürfe zur Bibelhermeneutik. Berlin 2014 (Beiträge zum Verstehen der Bibel. 23), S. 177– 194. Die kleine – beinahe beliebig erweiterbare – Beispielreihe zeigt bereits, dass der topische Fundus neben den Erfahrungssätzen, Bildern, Metaphern und Beispielen, also gleichsam dem Material für die Argumentation, auch die Muster und Verfahren bereitstellt, nach denen dieses Material angeordnet und strukturiert werden kann.
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Konversion gerade keine resignative, sondern eine appellative Haltung verbindet. Den Rezipienten des Tristan wird nicht in Aussicht gestellt, durch den zufälligen Genuss eines Minnetranks die begnadende Erfahrung einer radikalen Verkehrung alles Bisherigen zu machen. Gerade weil dies extrem unwahrscheinlich ist, liegt es in ihrer Verantwortung, in der Gemeinschaft der edelen herzen eine stufenweise Annäherung an diese Erfahrung zu suchen, ein Weg, der den Ignoranten verschlossen ist. Diese Ignoranten bleiben letztlich auf die unwahrscheinliche Rettung durch eine übergeordnete Instanz angewiesen: Krähen im Bad weißwaschen oder Hunde davon abhalten, ihr Erbrochenes zu fressen, kann nur eine überirdische Macht. Glaubhaftigkeit und Überzeugungskraft sind die entscheidenden Kriterien für den kommunikativen Erfolg von Geschichten. Beides entsteht insbesondere dann, wenn empirische und narrative Evidenzen verschmelzen. Kulturelle Narrative liefern die Muster, nach denen solche Verschmelzungen funktionieren. Die Kehre gehört zu den besonders langlebigen und in diesem Sinne basalen kulturellen Narrativen der christlich geprägten abendländischen Kultur. Und doch nimmt sie eine Sonderstellung ein, weil ihr Geltungsanspruch nicht auf empirischer und narrativer Evidenz beruht. Die Kehre ist empirisch unwahrscheinlich und als plötzlicher Umschlagpunkt zwischen zwei Zuständen, die in keiner kausalen Beziehung zueinander stehen, auch eigentlich nicht narrativ. Was ein Manko sein müsste, wird im Fall der Kehre jedoch zum Argument: Das Narrativ integriert seine eigene Unwahrscheinlichkeit und leitet gerade daraus seine soziale Geltung ab. Deswegen kaschieren Konversionserzählungen weder ihre Unwahrscheinlichkeit noch ihre brüchige narrative Faktur, sondern stellen in vielen Fällen beides sogar programmatisch aus, ohne dass sie sich dadurch zwangsläufig einem religiösen oder literarischen Contra-Diskurs zuordnen. Möglich ist dies, weil der Orientierungswert erzählter Konversion nicht im Mit- und Nachvollzug der Erfahrung ihres Protagonisten liegt, sondern in deren Vermeidung. Aus der Tatsache, dass die Kehre aus eigener Kraft anthropologisch höchst unwahrscheinlich und ein göttlicher Gnadenakt zwar nicht unmöglich, für den Menschen aber gleichwohl unverfügbar ist, folgt beinahe zwangsläufig die Notwendigkeit, eine vollständige Umkehr unnötig werden zu lassen. Darin liegt die empirische wie narrative Evidenz, die einer vermeintlich widersprüchlichen Argumentationsfigur die Geltung, Beständigkeit und breite Kontextualisierbarkeit eines Basisnarrativs verleiht.
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Der verkehrte Blick Staunen, Erkenntnis und Imagination Figuren der Kehre – es sind Figuren, die sich im Moment einer Inversion der Zeit und Realisierung des Raumes konstituieren; es sind Figuren, die durch eine Bewegung definiert sind, eine Bewegung, über die aber auch ein Punkt fixiert und eine feste Grenze bestimmt wird, unverrückbar; damit sind es Figuren einer stillgestellten Bewegung, aber auch einer im Stillstand erfassten Bewegung. Es sind Figuren, in denen sich über eine narratologische Struktur eine Handlungslogik zeigt, die sich über das Vorher und das Nachher definieren und die damit nur in einer Erzählung überhaupt figurieren können, wobei dieses Vorher und Nachher in verschiedene Relationen zueinander gesetzt werden kann: Verschiebungen, Parallelisierungen, Antithesen. Damit kann die Figur der Kehre auch eine Figur der Verschiebung, der Verdoppelung und der Veränderung (Metamorphose) sein oder vielleicht besser: Teil solcher Figuren. Was mich nun aber hier interessiert, ist das Auge als Ort der Kehre par excellence. Es ist das Auge, das dem Körper vorauseilt, es ist das Auge, in dem das Kommende ins Jetzt geholt wird und es ist das Auge, in dem sich der Horizont konkretisiert und der Raum an sein Ende kommt. Und so ist es auch der Ort, in dem sich Perspektiven verändern, Ordnungslinien durcheinandergeraten, die geformte, sprachlich eingehegte Welt zersplittert und verschwimmt, um dann – neu perspektiviert – wieder anders gefasst zu werden. Hier, über das Auge, werden Figuren der Kehre in Wertordnungen eingefügt, über die sich Inversionen und Konversionen diskursiv fassen lassen und über die handlungslogisch und narratologisch vollzogene Umkehren initiiert werden. An drei Beispielen soll aufgezeigt werden, wie über das Auge, als einer kleinen Figur der Kehre, noetische, ethische und ästhetische Fragen reflektiert werden.
I Noetische Bewegungen (Augustinus: Enarrationes in Psalmos XLI) „Wo ist dein Gott?“ (Ubi est Deus tuus?) Dies ist die Frage, die Augustinus in seinen Erläuterungen zu Psalm 41 verfolgt.¹ Sie führt ihn zur Betrachtung der Erde und ihrer großen Schönheit, aber auch zur Erkenntnis, dass dahinter ein Künstler steht (artifex), Augustinus: Enarrationes in Psalmos I–L (CCSL 38, Aurelii Augustini Opera X,1). Turnholt 1956, Psalm 41, S. 459 – 474, hier § 7,1, S. 464. Die Übersetzung folgt: Augustinus: Die Auslegung der Psalmen. Ausgewählt und übertragen von Hugo Weber. Paderborn 1955, S. 83 – 89, hier S. 83.Wo die Übersetzung diesem Text folgt, ist die Seitenzahl angegeben. Davon abweichende Übersetzung (ohne Angabe der Seitenzahl) verantwortet die Autorin. https://doi.org/10.1515/9783110706093-004
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so wie hinter den Wundern des Wachsens und Zeugens ein Schöpfer (creator). Dabei spiegelt sich in der sich steigernden Bewunderung der Schöpfung (mira, laudanda, stupenda), in der die Verwunderung in Bewunderung, in ein Überwältigtsein umschlägt, die Erkenntnis, dass das Objekt dieses Staunens gleichzeitig irdisch und himmlisch ist, geprägt von einer unauflösbaren Ambivalenz. Mira sunt haec, laudanda sunt haec, uel etiam stupenda sunt haec; neque enim terrena, sed iam caelestia sunt haec. Nondum ibi stat sitis mea; haec miror, haec laudo; sed eum qui fecit haec, sitio. Redeo ad meipsum, et quis sim etiam ipse qui talia qaero, perscrutor. (S. 464, § 7,17– 21) Wunderbar ist dies, preisenswert ist dies, staunenswert ist dies, denn nicht mehr irdisch, sondern himmlisch ist es. Und doch bleibt mein Durst nicht dabei stehen; dies bewundere ich, dies lobe ich, aber ich dürste nach dem, der es geschaffen hat. Ich kehre zu mir selber zurück und forsche nach, was ich bin, der diese Untersuchungen anstellt. (S. 83)
Der Blick in die Welt führt so zu einer Begehrensspannung, die die Grenzen der Sichtbarkeit übersteigt und in der Ambivalenz der Erscheinung nicht zur Ruhe kommt. Der Durst nach Gott wird dadurch nicht gestillt: haec miror, haec laudo; sed eum qui fecit haec, sitio (S. 464, § 7,19 f.). Es ist dieses unbefriedigte Begehren, das ihn auf sich selbst zurückwirft und den fragenden Blick zum Anfang des Begehrens lenkt: Wer ist der, der eine solche Frage stellt (S. 464, § 7,20 f.)? Über diesen zurückgebogenen Blick wird aber auch die Ambiguität der geschaffenen Welt ins Ich geholt, das sowohl Seele wie Körper ist.² Die Augen, als physisches Instrument der Wahrnehmung und Voraussetzung für geistige Aktivität, werden dabei zum Umschlagpunkt von Innen und Außen: Oculi membra sunt carnis, fenestrae sunt mentis (‚Die Augen sind Glieder des Fleisches und Fenster des Geistes‘; S. 464, § 7,29 f.).³ Denn so, wie die Welt als Objekt des Blicks Anlass des Begehrens nach dem Schöpfer ist, weist die Frage nach dem Ursprung der Begehrensbewegung auf den Innenraum, den Geist, als erkennende Instanz hinter dem Augenfenster. Ohne ihn ist die Wahrnehmung der Welt leer.⁴ Der sich aus der Welt abziehende fragende Blick findet so in der Suche nach seiner leitenden Instanz den erkennenden Geist. Im Augeninnern schließt sich der Blick mit dem Geist kurz und findet die Reflexion in sich selber zurück, aber nicht weiter. Denn Gott selber, der alles Sichtbare geschaffen hat, ist mit diesen Augen (ob verkehrt oder nicht) nicht zu sehen.
Wobei die Frage nach dem Schöpfer nicht vom Körper, sondern von der Seele gestellt wird. Trotzdem aber ist es der Körper (das Auge), der alles wahrgenommen hat und damit Anlass des Fragens war: Et tamen haec omnia quae collustraui, per corpus ea me collustrasse cognosco. Terram laudabam, oculis cognoueram; mare laudabam, oculis cognoueram; caelum, sidera, solem lunamque laudabam, oculis cognoueram (S. 464, § 7,25 – 29). Es sind die Umkehr des Blicks und die darin gestellte Frage nach dem Movens des Begehrens, die in die Reflexion, das Rückspiegeln der Ambivalenz des Äußeren in das Innere führen und die Erkenntnis der Differenz von Seele (anima) und Körper ermöglichen. Wenn nicht anders angegeben, sind die Übersetzungen von mir, wobei mir die oben genannte, jedoch nur auszugsweise vorliegende Übersetzung zur Hand war. Interior est qui per has videt; quando cogitatione aliqua absens est, frustra patent (S. 464, § 7,30 f.).
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Das sich immer weiter steigernde Suchen führt dann zu dem Gefühl (sentio), dass Gott etwas über der Seele sein müsse: aliquid super animam esse sentio Deum meum. Quaerens ergo Deum meum in rebus uisibilibus et corporalibus, et non inueniens; quaerens eius substantiam in meipso, quasi sit aliquid qualis ego sum, neque hoc inueniens; aliquid super animam esse sentio Deum meum. (S. 465, § 8,1– 4) Meinen Gott suchend in den sichtbaren Dingen und den körperlichen, und nicht findend; seine Substanz in mir selber suchend, wie wenn er etwas wäre wie ich bin, ihn auch nicht findend; spüre ich, dass er etwas über der Seele sein müsse, mein Gott.
Das Mittel nun aber, die Seele über sich selbst zu erheben, ist die gedankliche Kraft der Vorstellung, im Zitat des Psalms meditatio: ⁵ meditatus sum tamen inquisitionem Dei mei, et per ea quae facta sunt, inuisibilia Dei mei cupiens intellecta conspicere, effudi super me animam meam; et non iam restat quem tangam, nisi Deum meum. (S. 466, § 8,15 – 18) Doch ersann ich (meditatus sum) ein Suchen meines Gottes und im Wunsch/Begehren, durch das, was erschaffen wurde, das Unsichtbare an meinem Gott zu erkennen und zu schauen, erhob ich meine Seele über mich hinaus, und nun bleibt mir nichts mehr zu berühren außer meinem Gott. (S. 85)
Die im staunenden, bewundernden Auge situierte Umkehr des Blicks, die physisches Sehen und abstraktes Erkennen gegeneinander und ineinander führt, muss hier durch eine andere Art des Sehens, das als meditari, als imaginierendes Konzipieren gedacht ist, ergänzt werden, um dahin zu kommen, wohin das suchende Begehren zielt. Dabei verschwindet das gesuchte Objekt und wird in der Ausgießung der Seele (super me) zu einem alles umschließenden Raum (taktil, nicht visuell erfahrbar). Erst dieses Eintauchen in die Doppelheit von zeitlicher und ewiger Schöpfungslogik, von sinnlicher Wahrnehmung und geistigem Konzept, sprengt den Rahmen der innerweltlichen Suche in den rational unzugänglichen, sich dem Schauen entziehenden Raum Gottes. Dafür aber braucht es das sich umkehrende Auge, die Kehre im Auge als Angelpunkt, in dem eben diese Welt, als sinnlich geschaute und geistig erfasste aus den Angeln gehoben werden kann. Wahrnehmungsorgane dieser dritten Dimension sozusagen sind dann die ‚Augen und Ohren des Herzens‘. Das Auge, in dem sich die Welt physisch-sinnlich erschließt und greifbar wird, ist auch der Ort, an dem sich der Geist manifestiert, als Kraft der Formung und Interpretation der im Auge gefangenen Welt. Das Auge, als Ort der Spiegelverkehrung, zwischen Makro- und Mikrokosmos, ist auch der Ort, wo die Welt-Reflexion in Selbsterkenntnis umschlägt. Und schließlich ist es das in dieser gegenläufigen Bewegung stillgestellte Auge, in dem die Zeitlichkeit in die übergeordnete Zeitlosigkeit
Das Psalm-Zitat findet sich auf S. 465, § 8,5: Ergo, ut eum tangerem, haec meditatus sum, et effudi super me animam meam.
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aufgebrochen werden kann und die sich in geistige Konzepte fassende sinnliche Erfahrung in einer vollkommenen Amalgamierung von Körper und Geist im Erfahrungsraum des Herzens göttliche Präsenz fassen kann (mit den Sinnen des Herzens). Wie mit genau diesen Formen der Blick- und Perspektivenwechsel im Auge immer wieder neu an genau diesen Punkt der sozusagen perspektivlosen Zeitlosigkeit und der alle Bedingungen der Zeitlichkeit übersteigenden Denkmöglichkeiten herangeführt wird, auch in der erzählenden Dichtung des Mittelalters, soll an zwei sehr verschiedenen Beispielen kurz gezeigt werden.
II Ethische Wendung Der Blick des im Denk- und Sprachraum des Psalms nach Gott suchenden Augustinus kehrt sich nach innen, um in der Ambivalenz zwischen Körper und Geist die Imagination (meditatio) als Raum einer Gottesidee zu erkennen, die mit den Sinnen des Herzens wahrgenommen wird. Alexander, der Welteroberer, trägt keine Fragen und damit auch keine Zweifel in seinem die Welt ergreifenden Blick, fragt auch nicht nach der Herkunft alles Seienden, sondern holt sich das Sichtbare mit Gewalt und List in den von ihm beherrschten Horizont. Und so führt ihn im Straßburger Alexander (Ende des 12. Jahrhunderts) die Augenlust, auch gegen alle Widrigkeiten, bis ans Ende der Welt:⁶ Beide berge unde brûch macheten ime di wege lanc. Vil selden er gemach fant, biz der wunderlîche man mit grôzer arbeite quam der werlt an ein ende. (V. 4443 – 4448) Berge und Sümpfe machten ihm die Wege lang. Sehr selten fand er Ruhe, bis der staunenswerte Mann unter großen Strapazen ans Ende der Welt gelangte.
Da nun aber ist der Horizont aufgerollt, kein Spielraum mehr vorhanden und nur noch die Umkehr möglich. Denn hier läuft sein Begehren in die Leere und er selber, als Erobererfigur, ist in Frage gestellt, wenn nicht negiert. Im Straßburger Alexander folgen nun aber auf diesen letzten Punkt der notgedrungenen Umkehr noch 1113 Verse, bevor es heißt: Di hêren karten dô wider (‚Die Helden kehrten da zurück‘;V. 6563). Damit wird der für einen Helden, der sich über das Vorwärtsgehen definiert, so prekäre Moment der Umkehr vielfach verschachtelt aus-
Pfaffe Lambrecht: Straßburger Alexander. In: ders.: Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Elisabeth Lienert. Stuttgart 2007, S. 155 – 553. Die Übersetzung folgt dieser Ausgabe.
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erzählt. Interessant ist, dass auch dieses narrative Umkreisen des entscheidenden Moments der Kehre sich schließlich im Auge konzentriert, als dem Ort, an dem die den Helden in Frage stellende Umkehr semantisch neu konzipiert und damit möglich gemacht wird – oder anders: als der Punkt, an dem der Machtdiskurs sich in den ethischen Diskurs verkehrt. Kaum hat Alexander das Ende der Welt erreicht, wo nur noch der Blick zurück möglich ist, holt ihn entsprechend in diesem ellende (V. 4449) die Erinnerung an seinen physischen und geistigen Anfang ein: Er denkt an seine Mutter und seinen Lehrer Aristoteles und schreibt ihnen einen Brief, in dem er von seinen Nöten in fremden Landen berichtet: In dem ellende wart ime ze mûte, wî er sîner mûter, und sînem meistere gescrîbe di nôte, di er irlîde in fremeden landen mit sînen wîganden. (V. 4449 – 4455) In der Fremde kam er auf den Gedanken, seiner Mutter und seinem Lehrer zu schreiben von den Qualen, die er mit seinen Kriegern in fremden Landen erleiden würde.
Dieser Brief wird vom Erzähler so zitiert, wie er ihn an einen bûche las (V. 4467). Die darin geschilderten Ereignisse und Begebenheiten lassen sich nun aber im Handlungsverlauf nicht klar situieren. Denn Alexander berichtet im Brief, was ihm „vorher“ (zevorn; V. 4477) zugestoßen war, nachdem er Darius und Porus besiegt hatte. Gleichzeitig sind es aber Erlebnisse, die außerhalb des schon erzählten Weges liegen und sich in einer geschichtslosen Welt der Wunder des Orients verorten. Im erinnernden Blick zurück wird so, am Ende der Welt, eine neue Welt der Erzählungen aufgemacht, die Alexander, der wunderlîche man (V. 4446), als Ich-Erzähler regiert und erschafft. So bietet die Brieferzählung einen neuen Raum des Agierens da, wo es keinen mehr gibt.⁷ Auffallend ist, dass auch der Schluss des Briefs in einer Unklarheit der zeitlichen und räumlichen Verortung bleibt, indem nicht an den schreibenden Alexander herangeführt wird, sondern ein Zwischenraum des undefinierten Erlebens offengelassen wird. Denn der Brief endet (nach der Begegnung mit den Amazonen) mit einem summierenden Hinweis auf weitere Wunder, die ihm seitdem noch begegnet seien. Sint irfûr ih manich lant. Manic wundir ih irvant, daz ih sah und vernam.
Inwiefern sich darin in Exempel gedrängte Reflexion findet, sei für heute dahingestellt.
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Vil dicke mir ouh missequam. (V. 6137– 6140) Seither durchzog ich viele Länder, viel Wundersames lernte ich kennen, das ich sah und hörte. Sehr oft ist es mir auch schlimm ergangen.
Und auch mit dem Wechsel wieder in das auktoriale Erzählen bleibt der Rest des Berichts von Alexanders Erlebnissen in diesem Zwischen-Raum des sint, des unbestimmten ‚Seitdem‘, das sich auf die geschichtslosen Erlebnisse des Briefs bezieht. Sint erfûr er gnûch beide velt unde brûch unde lant unde walt. Ouh erfûr sint der helt balt ze staten unde burgen mit froweden und mit sorgen. Sint môster entwîchen den armen und den rîchen. (V. 6149 – 6156) Seither bereiste er vieles, Feld und Sumpf und Land und Wald. Auch zog der kühne Held zu Städten und Burgen mit Freude und mit Leid. Danach musste er Niedriggestellte und Mächtige hinter sich lassen.
Doch auch die Erinnerungsschlaufe und die seitdem noch vollbrachten Heldentaten, wie sie der Erzähler summarisch berichtet, führen schließlich wieder ans Ende der Welt. Aber auch jetzt kommt es noch nicht zur Umkehr, denn: Des ne dûhte ime allis niht genûc (‚Das schien ihm alles nicht genug‘; V. 6165).Von Hochmut getrieben, beschließt Alexander das Paradies zu erobern. Damit will er an den Ort, der vor der Zeitverfallenheit der Menschen zu denken ist und damit außerhalb des Wert- und Handlungsrasters, in dem sich Alexanders Macht und das Erzählen situieren. Und so kommt es, dass Alexander über Berg und Tal, wider alle möglichen Hindernisse, Richtung Paradies zieht. Aber anders als zuvor sind Alexander und seine Gefährten gezeichnet von Todesangst (V. 6248, 6372 f. u. 6384), Ohnmacht (ungewalt; V. 6259),Verzweiflung (V. 6260), Heimweh (V. 6268 – 6270), Sorge (V. 6369), Not (V. 6371 u. 6383), Angst und Pein (V. 6301 u. 6375), Schmerz und Qual (V. 6380), bis dass sie sich den Tod wünschen (V. 6330) und ihren Entschluss, wenn auch uneingestanden, bereuen (V. 6252– 6255 u. 6264). Gleichzeitig verdichtet sich die Zeit. Denn Alexander mahnt ständig zur Eile (V. 6274 ff. u. 6290), auch wenn die Fahrt gegen den Strom auf dem Euphrat ihre letzten Kräfte fordert und die Unwetter (die Natur!) sie immer wieder zurückwerfen (V. 6303 – 6310).⁸ Nur ab und zu, von Erschöpfung gezwungen, werfen sie den Anker, um etwas Das Einzige, was etwas Freude bereitet, sind die im Wasser treibenden sicht-, schmeck- und riechbaren Spuren des Paradieses: Blüten, Obst und Blätter (vgl. V. 6314– 6326). Wie diese Paradies-
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auszuruhen in diesem von Zeitdruck bestimmten Weg. Und in diesen Ruhemomenten, oder besser: Erschöpfungsmomenten, holt sie das Nachdenken ein und sie verstricken sich in Reflexionen über ihr Unterfangen. Swanne ze grôz was ir nôt und si wânden wesen tôt, sô wurfen si ûz ir anker. Mit manigen gedanken wâren si dicke bevân, waz si mohten ane gân. (V. 6383 – 6388) Wann immer ihre Qual zu groß war und sie zu sterben glaubten, da warfen sie ihren Anker aus. Oft waren sie in vielerlei Gedanken versunken, was sie versuchen könnten.
Der von physischem Leid und Angst sowie extremem Zeitempfinden geprägte Weg am Ende der Welt, auf der Grenze von Zeit und Zeitlosigkeit, hat somit nur gerade da, wo der Tod schon als Ahnung präsent ist (si wânden wesen tôt), Momente der distanzierenden Reflexion. Gleichzeitig versichert der Erzähler in fast schon ironischer Knappheit, dass es ein Weg in die Erschöpfung ist: Vor wâr sagen ih û daz: Sô si ie langer fûren, sô si mûder wâren. (V. 6392– 6394) Fürwahr, ich sage euch das: Je länger sie fuhren, umso müder waren sie.
Als sie dann schließlich zur Paradiesmauer kommen und dort dem alten Mann, der auf ihr Klopfen hin die Tür öffnet, Alexanders Zinsforderung vortragen, hat jener keine Ahnung, wer dies sei. Damit kommt Alexander auch hier an das Ende seines Ruhms, der al biz dar (V. 6445) reicht, wie seine Getreuen dem Alten erklären. Die Antwort des Alten (nach Rücksprache im Paradies) ist denn auch eine Zurechtweisung Alexanders, dessen Absicht er kritisiert, dessen Maßlosigkeit er verurteilt, den er ermahnt, demütig zu sein, wenn er heil davonkommen wolle (ob er wille genesen; V. 6471) und dem er rät, von der unmâze (V. 6467) seiner Paradiesreise fortan zu schweigen. Und dann, zum Schluss, appelliert er an seine Selbsterkenntnis:
zeichen gilt auch Alexanders aufmunternde Rede an seine Gefährten dem Versprechen eines Danach: Wenn sie mit Glück das Paradies unterworfen hätten, würden sie zurückkehren und würde er keine Eroberungszüge mehr machen: sô solde wir mit sinne / und ouh mit grôzen êren / heim ze lande kêren / und leben frôlîche. […] / Sint lâz ihz alliz an daz heil (‚so würden wir mit Verstand und auch mit großen Ehren in unser Land heimkehren und voll Freude leben. […] Daher verlasse ich mich ganz auf das Glück‘; V. 6346 – 6349). Damit wird die seit dem Erreichen des Weltendes notwendig verlangte Umkehr zwar thematisiert, aber zum Zukunftsversprechen. Die Eroberung des Paradieses, Bedingung für diese Umkehr, bedeutet aber das äußerste Risiko, ein Unternehmen auf Leben und Tod: ze tôde und ze lîbe (V. 6368).
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Er weiz daz wol âne wân, er hât vil ubelis getân. Wider got ist er sculdih, und got ist vil geduldich. Claget er ime sîne sculde, got gibet ime sîne hulde. Wil er sih niht bekêre, sîn scade wirt deste mêre. (V. 6473 – 6480) Er weiß das sicher genau, er hat viel Schlechtes getan. Gott gegenüber ist er schuldig, aber Gott ist sehr nachsichtig.Wenn er ihm seine Schuld klagt, schenkt Gott ihm seine Gnade.Will er sich nicht bekehren, wird sein Schaden umso größer.
Damit kehrt der Alte die von Alexander bis dahin inszenierten Machtverhältnisse um: (Zins)Schuldner sind nicht die Paradiesinsassen, sondern Alexander. Und die Schuld ist nicht ökonomisch definiert, sondern moralisch. Damit kommt hier, an der Paradiesmauer, auch die Handlungslogik Alexanders zum ersten Mal an ein Ende.⁹ Gleichzeitig wird der raumgreifende Blick des Eroberers auf sich selber zurückgebogen, damit er erkenne: Ein man ist als ein ander, / beide fleisc unde bein (‚Ein Mann ist wie der andere, Fleisch und Knochen‘; V. 6482 f.). Damit impliziert das bekêren, zu dem Alexander aufgerufen wird, nicht nur die Hinwendung zu Gott, sondern vielmehr die Re-Flexion in sich selber und steckt in ihm die doppelte Semantik der äußerlichen, handlungsmäßigen Umkehr wie auch der innerlichen Umkehr als einer Veränderung des Wollens. Deutlich fordert der Alte denn auch, dass Alexander diz lant / vil harte schiere rûmen solle (V. 6490 f.) und daz er wandele sîne site (V. 6494).¹⁰ Es sind nun aber nicht nur die mahnenden Worte des alten Mannes aus dem Paradies, die Alexander mitgegeben werden, sondern er erhält auch einen wunderbaren Stein, dessen Bedeutung herauszufinden ihm als Aufgabe aufgetragen wird. Löst er sie, wird sie ihn in seiner Demut bestärken. Dieser Stein ist nicht nur vielfarbig, sondern auch augenförmig: Er was zemâzen cleine / alse eines menschen ouge (V. 6688 f.). Zum augenförmigen Paradiesstein, der im Iter ad Paradisum sogar mit dem menschlichen Auge gleichgesetzt wird, ist schon einiges gesagt.¹¹ Dass sich darin die concupiscentia oculorum, die ‚Gier‘ par excellence,
War schon bei den Occidraten weder Ruhm noch Zins zu holen, ist hier nun der Ruhm explizit in sein Gegenteil verkehrt, sodass von dieser Reise nur geschwiegen werden sollte, und der Zins ist zur eigenen Schuld verkehrt. Die Rückkehr vollzieht sich in gerade mal elf Versen: Di hêren karten dô wider (V. 6563) und quâmen […] ubir lanc / wider heim ze Kriechlant (V. 6571 f.). Dabei hat Alexander nur ein Ziel: sundir mûwicheit / und ân allirslahte herzeleit / und sunder werltscande / comen heim ze lande (V. 6559 – 6562). Iter Alexandri Magni ad paradisum. Bearbeitet von Helmut van Thiel. In: Friedrich Pfister: Kleine Schriften zum Alexanderroman. Meisenheim a. Glan 1976 (Beiträge zur klassischen Philologie. 61), S. 359 – 365, hier S. 360, Z. 65 f.: quae quantitate et forma humani oculi speciem imitabatur; vgl. zum Stein auch Josef Quint: Die Bedeutung des Paradiessteins im Alexanderlied. In: Formenwandel.
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konkretisiert und im Waage-Wunder dann in ihrer Vergänglichkeit und Sinnlosigkeit deutlich wird, ist vielfältig erkannt.¹² Was mich hier interessiert, ist die Verbindung dieses (didaktischen) Steins mit der Umkehr, die nur in der Konfrontation mit diesem gelingt, die ihn als Erkenntnis- und Reflexionsaufgabe braucht. Der Blick in die Welt, über die Grenzen hinaus, wird durch diesen Stein zurückgedrängt, regelrecht in sich selbst zurückgebogen und darin zum Mittel der Erkenntnis der Hinfälligkeit des Sichtbaren und der Perspektivierung des geistigen, auf die Ewigkeit zielenden Sinns. Vom Moment an, an dem Alexander ans Ende der Welt kommt, beginnt das Problem der Umkehr, die erst möglich wird, als ihm sozusagen das paradiesische Auge gegeben wird, der neue Blick, mit dem das Wertvolle leicht und das Wertlose schwer wird. Die Passagen zwischen dem Erreichen des Endes der Welt und der tatsächlichen Rückkehr, das heißt, der sich an Mutter und Lehrer richtende Brief wie auch der Weg zur Paradiesmauer, können als ein auserzählter Moment der Kehre gelesen werden, in dem sich nicht nur Erinnerungs- und Imaginationsräume erschließen, sondern der auch gezeichnet ist von Todesahnung, Zweifel, Sorge und Schmerz. Dieser in die Erinnerung, die Physis und extreme Zeitlichkeit gedrängte Moment gipfelt dann in einer Erkenntnis, die über eine Umwertung des raumgreifenden, gefräßigen Auges die darin gefasste Welt negiert und so zu einer Selbsterkenntnis führt, über die der Welteroberer in sich den hinfälligen Menschen erkennt.
III Ästhetische Blickwechsel Eine der aufregendsten Stellen im Tristan Gottfrieds von Straßburg ist der Moment, an dem – mitten in der Beschreibung und Allegorisierung der Minnegrotte als dem Zufluchtsort der zwei aus der Gesellschaft verstoßenen Liebenden – der Blick des Erzählers in den äußersten Punkt der Kuppel steigt.¹³ Dabei werden die Rezipienten, wir, mitgenommen. Um dahin zu kommen, braucht es aber ein paar Vorbemerkungen: In dem großen Liebesexkurs, nachdem sich Tristan und Isolde auf dem Schiff ihre Liebe gestanden und Brangäne eingeweiht haben, wird diese Liebe in einen Rahmen von Zeit und ein Spielfeld der Zeitlichkeit gestellt, gleichzeitig in einem sich immer neu wiederholenden Paradoxien-Ornament umschrieben, das bis in die ambivalente Se-
Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Böckmann. Hrsg. von Walter Müller-Seidel, Wolfgang Preisendanz. Hamburg 1964, S. 9 – 26. Vgl. z. B. Marion Oswald: Gabe und Gewalt. Studien zur Logik und Poetik der Gabe in der frühhöfischen Erzählliteratur. Göttingen 2004, S. 120 ff.; Anna Mühlherr: Zwischen Augenfälligkeit und hermeneutischem Appell. Zu Dingen im Straßburger ‚Alexander‘. In: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Henrike Lähnemann, Sandra Linden. Berlin 2009, S. 11– 26, hier S. 25. Vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hrsg., übersetzt, mit Kommentar und Nachwort von Rüdiger Krohn. 3 Bde. 6. Aufl. Stuttgart 1993,V. 16923 – 16962. Die Übersetzungen folgen dieser Vorlage, mit einzelnen Abweichungen.
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mantik einzelner Wörter hineinwirkt,¹⁴ um immer neu die Trennung durch Vereinigung aufzuzeigen, wie auch die Verwandlung von zwei in ein. ¹⁵ wer haete ouch dise beide von dem gemeinen leide vereinet unde bescheiden wan einunge an in beiden, der stric ir beider sinne? Minne diu strickaerinne diu stricte zwei herze an in zwein mit dem stricke ir süeze in ein mit alsô grôzer meisterschaft, mit alsô wunderlîcher craft, daz si unreloeset wâren in allen ir jâren. (V. 12171– 12182) Was hätte auch diese beiden von ihrem gemeinsamen Kummer getrennt und geschieden als die Vereinigung der beiden, die Fessel ihrer Sinne? Die Verstrickerin Liebe fesselte ihre zwei Herzen mit dem Band der Süße ineinander mit so großer Kunstfertigkeit, mit solch erstaunlicher Gewalt, dass sie unlösbar verbunden waren für den Rest ihres Lebens.
Wo sich die Paradoxien dieses Strickwerks zeigen, wo die Trennung Vereinigung ist und sich die zwei in ein verwandeln, schlägt nun die Beschreibung der Handlung (das Narrativ) in einen Ich-Bericht um. Es ist aber kein Erlebnisbericht (V. 12187– 12191), sondern der Bericht einer Prophezeiung der Vorstellungskraft (muot): mir wîsaget doch mîn muot, / des ich im wol gelouben sol (V. 12192 f.). Was dann erzählt und gewusst wird, ist das, was der Ich-Erzähler sich dachte, denkt und denken wird, wenn er sich Liebe vergegenwärtigt, das heißt, mit Auge und Herz betrachtet.¹⁶ Dabei lassen dieses Imaginieren und Kontemplieren (meditari) seine trahte und seinen muot (sein Wollen und Empfinden) so anschwellen, als wollten sie in die Wolken.¹⁷
Vgl. z. B. vereinet im Sinne von ‚vereint‘ und ‚vereinsamt‘; V. 12173. Wobei sich diese alchemische Reaktion in der Kehre eines Verses vollzieht. Gleichzeitig ist die Wirkung dieser wunderlîch craft zwar dauerhaft, aber dies in der Zeit: in allen ir jâren. Und der hier stillgestellte Moment der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist über die vorvorhte (V. 12395) bezüglich ihrer Ankunft in England in die Zeit aufgebrochen. Diese hier zu beobachtende enge Verschränkung von berichtendem und imaginierendem Erzählen ist vor allem seit Marc Chinca: History, Fiction, Verisimilitude. Studies in the Poetics of Gottfried’s ‚Tristan‘. London 1993, verstärkt in den Blick gekommen. Zu den Deutungen der Minnegrotte und des hier beschriebenen Prozesses im Kontext geistlicher Modelle der Erkenntnis und Erfahrung vgl. referierend und kritisch Burghart Wachinger: Geistliche Motive und geistliche Denkformen in Gottfrieds „Tristan“. In: Der „Tristan“ Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5. bis 8. April 2000. Hrsg. von Christoph Huber, Victor Millet. Tübingen 2002, S. 243 – 255, hier S. 250 – 252.
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ich hân von in zwein vil gedâht und gedenke hiute und alle tage. swenne ich liebe und senede clage vür mîniu ougen breite und ir gelegenheite in mînem herzen ahte, sô wahsent mîne trahte und muot, mîn hergeselle, als er in diu wolken welle. (V. 12200 – 12208) Ich habe über die beiden viel nachgedacht und denke heute und alle Tage an sie.Wann immer ich mir Liebe und Liebesschmerz vor Augen halte und über ihre Beschaffenheit in meinem Herzen nachsinne, dann wachsen meine Gedanken und mein Weggefährte, die Sehnsucht, als ob sie bis in die Wolken wollten.
In Steigerung dieser Andacht an die Liebe und Liebessehnsucht erfolgt dann bei der Vorstellung einer Realisierung solcher Minne ein Sprung in die Möglichkeitsform, den Irrealis: ‚Was fände man, wenn man könnte‘, ‚was läge, wenn man pfläge‘… swenne ich bedenke sunder daz wunder und daz wunder, daz man an liebe vünde, der ez gesuochen künde; waz vröude an liebe laege, der ir mit triuwen pflaege: sô wirt mîn herze sâ zestunt groezer danne Setmunt und erbarmet mich diu minne von allem mînem sinne, daz meistic alle, die der lebent, an minnen hangent unde clebent und ir doch nieman rehte tuot. (V. 12209 – 12221) Wenn ich insbesondere die Wunder und Wunder bedenke, die man in der Liebe finden könnte, wenn man sie richtig zu suchen verstünde, welche Freude für den in der Liebe läge, der sie aufrichtig pflegen würde, dann wird mein Herz sogleich größer als Setmunt, und ich bedaure die Liebe aus ganzem Herzen, weil die meisten Menschen an der Liebe hängen und kleben und ihr doch nicht gerecht werden.
Das heißt: Die Erzählung von Tristan und Isolde wird in dem Moment, in dem die Liebesvereinigung Thema wird, nicht nur in eine Ich-Reflexion aufgebrochen, sondern auch in eine Irrealität und Imaginationswelt gestellt.¹⁸
Damit schließen diese Überlegungen auch an Hubers Reflexionen auf die „Sehnsuchtsstruktur“ im Tristan an: Christoph Huber: Sehnsucht und die Autonomie der Liebe. In: Huber/Millet (Anm. 17), S. 339 – 356.
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Aber schon die Vorstellung einer so erfüllten Liebe lässt das Herz des Erzählers sofort (zestunt) größer werden als Setmunt – und dies nun wieder in der Wirklichkeitsform, im Indikativ.¹⁹ Und gleichzeitig erkennt der Erzähler, dass niemand von all denen, die an der Minne hängen, diese richtig versteht und behandelt. Damit affiziert die Imagination eines Ideals nicht nur das Herz, sondern wird zur treibenden Kraft einer Erkenntnis im Blick auf die Realität, in der eben dieses Ideal nicht zu finden ist. des guoten vinde wir dâ niht, des unser iegelîcher gert und des wir alle sîn entwert: daz ist der staete vriundes muot, der staeteclîche sanfte tuot […] der an dem ende ie vröude birt, als ofte als er beswaeret wirt. den vindet lützel ieman nuo; alsô vorwerke wir dar zuo. (V. 12266 – 12278) Das Gute finden wir da nicht, nach dem jeder von uns strebt und das uns allen versagt ist: dauerhafte Freundschaft, die uns beständig erquickt, […] die schließlich so oft beglückt, wie sie bekümmert. Die findet heute keiner; so schlecht bestellen wir das Feld.
Aber auch wenn auf dem Markt der Minne in der Welt das Ideal nicht zu haben ist, können Erzählungen früherer Zeiten ähnlich das Herz affizieren und mit idealem Begehren ausstatten (V. 12320 – 12332). Damit wird die Erzählung als Mittel der Verwirklichung und Präsentierung eines Ideals installiert – ganz ähnlich wie am Anfang des Iwein. Aber was im Irrealis des in alten Erzählungen zu findenden Ideals einer Herzenstriuwe vorgestellt wird, ist ein Ideal, das in seiner ökonomischen Wertlosigkeit in der Gegenwart keine Aufmerksamkeit findet, sodass man (wir) den Blick davon abwendet: sô kêre wir daz ouge dan (V. 12338). Das triuwe-Ideal bleibt so nur in einer vom Erzähler aufgerufenen Möglichkeitsblase bestehen, die allein durch die Erzählung mit Realität gefüllt werden kann. Entsprechend und konsequenterweise führt diese Glücksvorstellung dann wieder an die Stelle der histoire zurück, an der Tristan und Isolde sich auf der Überfahrt – in einem aus dem Handlungsgeschehen weitgehend losgelösten Raum – in einer solchen Liebe beglückten: Ich weiz wol, Tristan unde Îsôt, die gebitelôsen beide
Zur Diskussion um die verschiedenen Lesarten von setmunt vgl. den Kommentar von Walter Haug und Manfred Scholz in Gottfried von Straßburg: Tristan und Isold. Hrsg. von Walter Haug, Manfred Günter Scholz. Mit dem Text des Thomas, hrsg., übersetzt und kommentiert von Walter Haug. 2 Bde. Berlin 2011 (Bibliothek des Mittelalters. 10 u. 11), hier Bd. 2, S. 539 f. Die dort erwogene Lesart seite munt stützt das Verständnis einer Auflösung der Liebe in die Imagination im Moment ihrer Verwirklichung.
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benâmen ouch ir leide unde ir triure ein ander vil, dô sî begriffen daz zil gemeines willen under in. (V. 12358 – 12363) Ich weiß wohl, Tristan und Isolde, die beiden Ungeduldigen, nahmen sich ebenfalls oft gegenseitig ihren Kummer und ihr Leid, als sie das Ziel ihres gemeinsamen Wollens fassten.
Und nun kommen wir doch zur Minnegrotte. Denn die zweite Stelle, an der sich das Ideal der Herzensminne erfüllt, ist die Minnegrottenszene mit ihrem Liebesraum par excellence.²⁰ Auch hier konkretisiert sich die Beschreibung der Liebe ganz in einen Herzensraum hinein. Doch wird diese Imagination von der Neugier des Publikums, das nach der leiblichen Nahrung der zwei Liebenden fragt, gestört. Die Antwort macht klar, dass die Frage in ihrer im Körperlichen befangenen Einsinnigkeit falsch ist. Der Blickkontakt ist ihre Nahrung und die Früchte des Auges, muot unde minne, sind ihr Essen: si sâhen beide ein ander an, dâ generten sî sich van. der wuocher, den daz ouge bar daz was ir zweier lîpnar. si enâzen niht dar inne wan muot unde minne. (V. 16815 – 16820) Sie sahen einander an, davon lebten sie. Die Früchte, die das Auge hervorbrachte, waren ihre Nahrung. Sie aßen dort nichts als Liebe und Verlangen.
Über die Metaphorik wird dabei die Ambivalenz von innerem und äußerem Genuss, von Körper und Geist aufrechterhalten und regelrecht zur conditio dieses Minnegrottendaseins: Denn es heißt, dass die unter den Kleidern verborgenen Vorräte (lîpgeraete) für sie immer frisch waren. Der Blick auf die nackten Körper, der sich in dieser Formulierung auftut, wird durch die Ausdeutung dieser Vorräte als reine triuwe und gebalsemete minne (V. 16830 f.) zum abstrahierten Blick in das Herz der Liebenden. Entsprechend erquickt diese Minne Körper und Geist gleichermaßen.²¹ daz was diu reine triuwe, diu gebalsemete minne, diu lîbe unde sinne als inneclîche sanfte tuot,
Dabei fällt auf, dass es auch hier frühere Erzählungen sind, die die Beschreibung des Ortes erst ermöglichen: ouch saget uns diz maere, / diu fossiure waere … (V. 16703 f.). Dieses so genannte Speisewunder wird in der Forschung in der Regel im Kontext mystischer und legendenhafter Literatur gesehen. Dabei wird das Verhältnis sowohl als bestätigend wie auch als distanzierend verstanden.
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diu herze vuoret unde muot. diu was ir bestiu lîpnar. deiswâr si nâmen selten war dekeiner spîse niuwan der, von der daz herze sîne ger, daz ouge sîne wunne nam und ouch dem lîbe rehte kam. (V. 16830 – 16840) Das war die unbedingte Treue, die balsamisch süße Liebe, die Leib und Seele so innig beglückt, die Herz und Geist ernährt. Das war die beste Speise. Tatsächlich nahmen sie niemals andere Nahrung als diese zu sich, aus der das Herz sein Verlangen, das Auge seine Freude bezog und die auch dem Körper guttat.
Was hier in einer verdichteten Ekphrasis als Ort einer vielperspektivierten Minnepräsenz konzipiert ist, wird dann in einem zweiten Schritt ausgelegt, sozusagen als Antwort auf den erneuten Einwand, dass es doch auch handfeste Nahrung bräuchte. Dabei kommt das erzählende Ich verstärkt ins Spiel, einerseits als eines, das auch schon erfahren hat, dass es zu alsus getâner lebesite nicht viel andere Nahrung braucht, anderseits eines, das nun sein Wissen, als angelesenes, ins Spiel bringt: Nune sol iuch niht verdriezen, ir enlât iu daz entsliezen, durch welher slahte meine diu fossiure in dem steine betihtet waere, als si was. si was, als ich iezuo dâ las […] (V. 16923 – 16928) Es soll euch jetzt nicht verstimmen, wenn ihr euch erklären lasst, um welcher Bedeutung willen die Höhle in dem Felsen so gestaltet war, wie sie es war. Sie war, wie ich schon sagte […]
Die Minnegrotte, die als in der Dichtung realisierte Minneimagination in die Erzählung eingebunden wurde, wird hier nun, sozusagen in der Kehre eines Verses, aus dem körperlichen Verständnis, das die Publikumsfrage nach der Nahrung aufwirft, durch die Allegorese in ein geistiges Verstehen geholt. Wenn aber im Minneexkurs die Vorstellung der idealen Minne die Denkkraft (muot) des Erzählers so wachsen ließ, bis sie höher als alle Berge zu den Wolken strebte (V. 12208), um sich die Realisierung dieser Minne als Möglichkeit zu denken, bevor sie dann in der Erzählung der vergangenen Geschichte realisiert wurde, geht es hier nun darum, die von eben diesem hohen muot in unablässiger Imaginationsbewegung konstituierte Höhe der Minnegrotte (V. 16940) (auch in der Gegenwart) erfahrbar zu machen:²²
Die Diskussionen zur Art des hier inszenierten Aufschwungs decken das Spektrum von religiösmystischer Erkenntnis, christlicher Überhöhung des Geschehens bis zu (in jüngerer Forschung verstärkt betonter) ästhetischer Rezeption. Entscheidend scheint mir aber, dass das hier gesetzte Ideal als ein rein imaginiertes entwickelt wird. Insofern bleibt eine kategoriale Differenz zu theologischen
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diu hoehe deist der hôhe muot, der sich ûf in diu wolken tuot. dem ist ouch nihtes ze vil, die wîle er sich gehaben wil hin ûf, dâ sich der tugende gôz ze samene welbet an ein slôz. so gevaelet ouch daz niemer, die tugende dien sîn iemer gesteinet unde gewieret, mit lobe alsô gezieret, daz wir, die nidere sîn gemuot, der muot sich allez nider tuot und an dem esterîche swebet, der weder swebet noch enclebet, wir kapfen allez wider berc und schouwen oben an daz werc, daz an ir tugenden dâ stât, daz von ir lobe her nider gât, die ob uns in den wolken swebent und uns ir schîn her nider gebent. die kapfe wir ze wunder an. hie wahsent uns die vedern van, von den der muot in vlücke wirt, vliegende lob nâch tugenden birt. (V. 16939 – 16962) Die Höhe steht für die Hochstimmung des Gemüts, das sich in die Wolken emporhebt. Ihm ist nichts zu viel, solange es sich emporheben will, dorthin, wo das Abbild der Tugenden sich zum Schlussstein wölbt. So kann es denn nicht ausbleiben: Die Tugenden sind stets mit Edelsteinen geschmückt und mit Lob so sehr verziert, dass wir, die wir nicht hochgestimmt sind, deren Gesinnung vollständig niedersinkt und am Boden liegt, ohne aufzusteigen oder sich zu lösen, dass wir unentwegt emporstarren und oben das Werk betrachten, das durch ihre Tugenden dort entstanden ist, das durch das Lob derer zu uns herabkommt die über uns in den Wolken schweben und zu uns herabstrahlen; sie staunen wir verzückt an. Davon wachsen uns die Flügel durch die ihr Geist flügge wird und im Fluge die Tugenden preist.
Der höchste Punkt dieser Minneimagination des hohen muots ist der Schlussstein des Gewölbes, in dem sich die Tugenden zusammenschließen. Und ein Ergebnis des in die Höhe strebenden muotes ist die immer neue Verzierung dieses Schlusssteins durch Lob-Edelsteine. Das nun aber bewirkt, dass wir – und da kommt nun wieder das kollektive wir ins Spiel, in dem sich der Erzähler mit dem Publikum zusammenschließt –, die keinen von Imagination hochfliegenden muot haben, hinaufstarren und dieses Werk bestaunen: wir kapfen allez wider berc / und schouwen oben an das werc (‚dass wir unentwegt emporstarren und oben das Werk betrachten‘; V. 16953).
Schriften, auch wenn lektüre- und rezeptionstheoretisch sowie methodisch dieser Kontext aufgerufen wird; vgl. die Literaturhinweise im Stellenkommentar von Haug/Scholz (Anm. 19), S. 654– 658.
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So wird das in dieser (innerlichen) Bewegung des Aufschwungs entstehende Lob zum Objekt der Bewunderung für uns, die nidere sîn gemuot (V. 16949) und deren muot nicht über den setmunt wächst, sondern sich die Höhe nur über das staunende (kapfende) Auge erschließen kann. die ob uns in den wolken swebent und uns ir schîn her nider gebent, die kapfen wir ze wunder an. (V. 16957– 16959) Die über uns in den Wolken schweben und zu uns herabstrahlen; sie staunen wir verzückt an.
Das Auge (unser Auge), das sich im Minneexkurs noch, gefangen im Markt der käuflichen Liebe, von der geschenkten Herzenstreue abwandte, wird hier nun, in diesem verdichteten Minneraum, in eine bewundernde Begehrensspannung zu eben diesem Minneideal gezogen. Auslöser dieser Umkehr des Blicks ist das Lob des über sich hinauswachsenden hohen muotes, die Dichtung. Bewundert wird so nicht das Minneideal, sondern das werc, das sich im Zusammenspiel des durch den hohen muot ermöglichten Ideals und des dichterischen Lobs erschafft. Unser staunendes Auge wird dabei zum Ort des Perspektivenwechsels, wenn der in die Realität zielende Blick durch eben jenes Lob in dieses Ideal gezogen wird. Gleichzeitig ist es das Auge, in dem das durch das Lob erschaffene Staunensobjekt (Liebe und dichterisches Werk) sich als Wunder konkretisiert. Damit verkehrt sich der Blick nicht einfach und zieht sich ab vom fleischlichen Auge in die allegorische Schau, sondern in dem schwer auflösbaren Hin und Her kommt es zu einer Bewegung, in der das Werk des durch eine Idealvorstellung beflügelten Dichters zum Objekt des Staunens wird. Gleichzeitig vermittelt sich die Flugkraft des imaginierenden Dichters eben über dieses Werk auch an die Staunenden. hie wahsent uns die vedern van, von den der muot in vlücke wirt, vliegende lob nâch tugenden birt. (V. 16960 – 16962) Davon wachsen uns die Flügel, durch die ihr Geist flügge wird und im Fluge die Tugenden preist.
Die Minnegrotte wird so zum Bild des Erzählens als eines Prozesses, über den die Augen der Rezipienten zugerichtet werden, sodass sich der Blick vom Boden löst und in die Wolken kehrt, dahin, wo sich durch das Begehren des hohen muots und das darüber entstehende Lob das kostbar gezierte Ideal – als verzierter Schlussstein des Gewölbes – erschafft. Interessant ist, dass auch hier – wie in Augustins Gottessuche – der Blick in die Welt sich umkehrt und zum Blick in die vergeistigte Welt der Allegorie wird, um schließlich aber, in der Verschmelzung von sinnlich beschriebenem Raum, allegorisch geistiger Auslegung und imaginierender Erzählung des Ich, zu einem Staunen zu
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werden (kapfen), in dem sich das Lob, als dichterische Form des Staunens, dynamisiert. Es geht hier aber nicht um eine Gottesschau, eine Suche nach Gott, sondern es ist die faszinierende Inszenierung eines Imaginationsraums, der sich zwischen fleischlichem Auge, der Augenlust, und geistig abstrahierender Deutung im Sprachraum der Dichtung erschließt. Es ist das dichterische Lob, über das der Blick der Rezipienten in diese Welt der Ambivalenz gezwungen wird, die sich, eine Art Sprosswelt, da entwickelt, wo der Blick in die Welt sich in eine abstrakte Begriffsschau (Ideenschau) verkehrt. Die (dichterische) Imagination ist damit ein Phänomen der Kehre im Auge – vielleicht kann man auch sagen: des Blickwechsels. Und Dichtung ist die sich in diesem Moment der Drehung ermöglichende ‚dritte Art‘ des Sehens, ganz ähnlich dem, was Augustinus mit den ‚Sinnen des Herzens‘ meinte.
Mark Chinca
Erinnerte Zukunft Zu Rhetorik, Imagination und Rhythmus der Kehre in eschatologischen Meditationstexten des späten Mittelalters
I Memorare novissima tua Ein junger Mann, der kurz davor ist, seinen Vorsatz geistlich zu leben fallen zu lassen und eine weltliche Laufbahn einzuschlagen, hört eine Stimme, die ihm zuruft: Revertere, revertere, dilecte mi. […] maius est gaudium Angelis de uno peccatore converso, quam de nonaginta novem iustis (‚Kehre zurück, kehre zurück, mein Lieber. […] Mehr Freude herrscht bei den Engeln über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte‘). Die Stimme, die zur Umkehr mahnt, rekurriert auf Worte der Heiligen Schrift (vgl. Hld 6,12: Revertere revertere Sulamitis revertere revertere ut intueamur te; Lk 15,7– 10: dico vobis quod ita gaudium erit in caelo super uno peccatore paenitentiam habente quam super nonaginta novem iustis qui non indigent paenitentia […] ita dico vobis gaudium erit coram angelis Dei); es ist jedoch nicht der Liebende im Hohelied, der hier spricht, und auch nicht Jesus, sondern kein anderer als Geert Grote, der Begründer der Devotio moderna, jener spätmittelalterlichen religiösen Erneuerungsbewegung, die von den Niederlanden ausgehend auf Deutschland und andere Länder Westeuropas übergriff und deren Anhänger bereits in den 1370er Jahren damit angefangen hatten, gemeinschaftliche Lebensformen zu entwickeln, in denen ein gottverbundenes, klosterähnliches Leben außerhalb der traditionellen Orden möglich war.¹ Was den Adressaten von Grotes Mahnruf anbetrifft, war der junge Mann, den die Stimme in der Rolle des auf Abwege geratenen Liebhabers und des verlorenen Schafes auftreten lässt, ein wirklicher Mensch aus Fleisch und Blut: Johannes ten Water, ein Angehöriger eines Patriziergeschlechts aus Zwolle, der sich während seiner Schulzeit auf die dortige Devotengemeinschaft eingelassen hatte und wohl ein propositum, einen Entschluss zu einem spirituellen Leben innerhalb der Gemeinschaft, gefasst hatte. Es sollte jedoch anders kommen: Im Jahr 1382 forderten die Stadtväter Johannes auf, an seine Karriere zu denken und zum Studium nach Köln zu ziehen; als Reaktion
Eine umfassende Darstellung der Devotio moderna mit kritischem Blick auf die ältere Forschung bietet John Van Engen: Sisters and Brothers of the Common Life. The Devotio Moderna and the World of the Late Middle Ages. Philadelphia 2008. Speziell zu Grote siehe Georgette Epiney-Burgart: Gérard Grote (1340 – 1384) et les débuts de la dévotion moderne. Wiesbaden 1970 (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. 54). https://doi.org/10.1515/9783110706093-005
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darauf verfasste Grote seinen dringenden Appell zur Umkehr und schickte ihn seinem jungen Schützling als Brief.² Den Kern von Grotes Überredungsstrategie bildet der Mahnruf Memorare novissima tua (‚Gedenke deiner letzten Dinge!‘). Die Kürze des irdischen Lebens, die allgegenwärtige Bedrohung durch den Tod, der jederzeit zuschlagen kann, die Erbarmungslosigkeit, mit der Christus dem Sünder beim Jüngsten Gericht begegnen wird, die Strenge des Richters und die Unwiderruflichkeit des Urteils – alle diese Dinge, die Grote unter Anwendung sämtlicher Kunstgriffe und Mittel der rhetorischen evidentia, der lebhaft-anschaulichen Schilderung einer Szene oder Rahmensituation, drastisch ausmalt, sollte Johannes sich ins Gedächtnis rufen und durch die Furcht und das Zittern, die sie ihm einflößen, wieder einsichtig werden: Aperi, dilecte mi, oculos tuos; vide hec, ne in eternum cecus permaneas. Disce hec; hec tibi necessaria sunt pre omni doctrina mundana (‚Tue deine Augen auf, mein Lieber. Erkenne diese Dinge, damit du nicht auf ewig in Blindheit verharrest. Lerne diese Dinge: Sie sind dir notwendiger als jede weltliche Gelehrsamkeit‘).³ Der Mahnruf ist ein Zitat aus dem biblischen Buch Jesus Sirach 7,40: In omnibus operibus tuis memorare novissima tua, et in aeternum non peccabis (‚Bei allem, was du tust, gedenke deiner letzten Dinge, so wirst du niemals sündigen‘). Der Spruch ruft zu einer zweifachen Kehre auf. Da ist zunächst die kognitive Kehre: Das Gedächtnis, das gewöhnlich auf die Vergangenheit ausgerichtet ist, soll nun in Umkehrung der Blickrichtung der fernen eschatologischen Zukunft zugewendet werden (der lat. Imperativ memorare entspricht griech. mimnēskou, hebr. zəkōr ‚erinnere dich‘; das Objekt novissima übersetzt griech. ta eschata, hebr. acharith ‚die Dinge, die am Ende stehen; was nachher kommt‘). Zweitens gibt es die moralische Kehre, die als Folge der ersten, kognitiven Kehre eintreten soll: Der Mensch, der sein Gedächtnis auf die Zukunft und das Leben im Jenseits richtet, führt eine Wende in seinem sittlichen Wesen herbei, indem er sich von sündhaftem, zum Heilsverlust führendem Verhalten abkehrt (lat. peccare, griech. hamartanein ‚sündigen‘, hebr. tiššāḥ êt ‚verderben‘) und sich künftig der Tugend zuwendet.⁴
Gerardi Magni Epistolae. Hrsg. von Willem Mulder. Nijmegen/Antwerpen 1933 (Tekstuitgaven van Ons Geestelijk Erf. 3), Brief 29, die zitierten Stellen S. 125 f. Zum Hintergrund des Briefes siehe Van Engen (Anm. 1), S. 46; ders.: Devotio Moderna. Basic Writings. New York/Mahwah 1988, S. 40 f. Gerardi Magni Epistolae (Anm. 2), S. 126 u. 130. Mit seinen Aussagen über die ‚letzten Dinge‘ hatte Ben Sira, der Verfasser des Sirachbuches, in erster Linie wohl das rein innerweltliche Ende des Lebens im Blick; die Verschiebung des Horizonts auf die eschatologische Zukunft vollzog sich erst in den im Kontext des Rechtfertigungsbedarfs des hellenistischen Judentums entstandenen griechischen Versionen des Buches; vgl. hierzu Émile Puech: Ben Sira and Qumran. In: The Wisdom of Ben Sira. Studies on Tradition, Redaction, and Theology. Hrsg. von Angelo Passaro, Giuseppe Bellia. Berlin/New York 2008 (Deuterocanonical and Cognate Literature Studies. 1), S. 79 – 118, hier S. 99 – 102; Johannes Marböck: Gerechtigkeit Gottes und Leben nach dem Sirachbuch. Ein Antwortversuch in seinem Kontext. In: ders.: Weisheit und Frömmigkeit. Studien zur alttestamentlichen Literatur der Spätzeit. Frankfurt a. Main/Oxford 2006 (Österreichische Biblische Studien. 29), S. 173 – 197, hier S. 191– 194; ders.: Jesus Sirach 1– 23. Freiburg i. Breisgau 2010, S. 133 f.
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Der Spruch memorare novissima tua et in aeternum non peccabis gehörte zu den Leitsätzen christlicher Askese im Abendland und wurde seit spätantiker Zeit in einer Vielzahl von Darbietungsformen und Kontexten des Gebrauchs verbreitet: als Maxime für Schüler in Klöstern und Kathedralen,⁵ als autoritatives Zitat in Homilien, die vor Laien sowie in der Klostergemeinschaft gepredigt wurden,⁶ schließlich als Richtschnur für monastische Lebensführung in der Benediktsregel. Dieses, den Mönch zur conversatio morum (‚Änderung der Lebensweise‘) verpflichtende und für das mittelalterliche Konzept der Bekehrung daher wohl Modellcharakter besitzende Dokument enthält eine lange Liste der instrumenta artis spiritalis – der ‚Werkzeuge des geistlichen Handwerks‘, das heißt Regeln und Maximen für das religiöse Leben –, mit denen der Mönch in der officina, der Werkstatt des Klosters, fleißig und immerfort arbeiten sollte, bis er sie am Jüngsten Tag zurückgeben muss und dafür den ewigen Lohn erhält. Auf der Liste stehen vier instrumenta, die offensichtlich aus Sir 7,40 abgeleitet sind: Diem iudicii timere, gehennam expauiscere, uitam aeternam omni concupiscentia spiritali desiderare, mortem cottidie ante oculos suspectam habere (‚den Tag des Gerichts fürchten, vor der Hölle erschrecken, das ewige Leben mit aller geistlichen Sehnsucht begehren, den Tod täglich vor Augen haben‘).⁷ Diese Paraphrase des Sirachspruches wird ohne weiterführenden Kommentar dargeboten: Bis auf die knappe Aufzählung der verschiedenen Themen der individuellen Eschatologie (Tod, Gericht, Hölle, Himmel), den Hinweis auf Furcht und Sehnsucht als angemessene affektive Haltung den letzten Dingen gegenüber und das Zeitadverb cottidie (‚täglich‘) enthält die Benediktsregel keine genaueren Angaben über das Was, Wie oder Wann der regelmäßig zu leistenden eschatologischen me-
Siehe z. B. Isidor von Sevilla: Sententiae, 3.62,3. Hrsg. von Pierre Cazier. Turnhout 1998 (CCSL. 111). Zur didaktischen Absicht der Isidorʼschen Sentenzensammlung vgl. Laureano Robles: Isidoro de Sevilla y la cultura eclesiástica de la España visigotica. Notas para un estudio del libro de las ‚Sentencias‘. In: Archivos Leoneses 24 (1970), S. 13 – 185, hier S. 31– 42 u. 61– 72; Francesco Trisoglio: Isidoro di Siviglia: Le Sentenze. Introduzione, traduzione e commento. Brescia 2008 (Letteratura Cristiana Antica, N. R. 16), S. 18 f., 24– 33. Siehe z. B. Gregor der Große: Homilie 39. In: ders.: Homiliae in Evangelia. Hrsg. von Raymond Étaix. Turnhout 1999 (CCSL. 141), hier S. 387; Beda: Homiliae Evangelii, 2.23. In: Bedae Venerabilis Opera. Teil 3. Opera homiletica. Hrsg. von David Hurst. Turnhout 1955 (CCSL. 122), hier S. 352. Zu Publikum und Primärrezeption der Evangelienhomilien Gregors und Bedas vgl. Scott DeGregorio: Gregory’s Exegesis. Old and New Ways of Approaching the Scriptural Text. In: A Companion to Gregory the Great. Hrsg. von Bronwen Neil, Matthew J. Dal Santo. Leiden/Boston 2013 (Brill’s Companions to the Christian Tradition. 47), S. 269 – 290, besonders S. 282– 284; Lawrence T. Martin: Bede and Preaching. In: The Cambridge Companion to Bede. Hrsg. von Scott DeGregorio. Cambridge 2010, S. 156 – 169, besonders S. 162– 167. Benedicti Regula 4.44– 47. Hrsg. von Rudolf Hanslik.Wien 1960 (CSEL. 75). Unter conversatio morum, die in Verbindung mit stabilitas und oboedientia den Inhalt des Mönchsgelübdes ausmacht (ebd., 58.17), hat man die Umkehrung des Lebenswandels im Sinne christlicher ethischer Normen zu verstehen; vgl. Eoin de Bhaldraithe: Conversatio. St. Benedict Recovers Early Christian Terminology. In: Regulae Benedicti Studia 13 (1984), S. 3 – 15, der die Anlehnung des Begriffs an griech. anastrophē ‚Umwälzung, Umkehrung‘ nachweist.
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moria. Erörternde Darstellungen der letzten Dinge liegen erst seit dem frühen 9. Jahrhundert vor. Zwar sind die Kontexte und Anlässe – Auslegung der Benediktsregel, Erklärung der Grundsätze der monastischen Lebensform, wachsendes Bedürfnis nach Texten für die private Andacht – nicht minder unterschiedlich als die sich daraus ergebenden Textsorten, die das breite Spektrum von Traktat über Gebet und Meditation bis hin zu Brief abdecken; die ganze Textproduktion dieser Sparte zeichnet sich jedoch durch den Einsatz der Stilmittel der rhetorischen evidentia aus, um die Schrecken von Tod, Gericht und Hölle und die Freuden des ewigen Lebens auf eindringliche Weise präsent zu machen und somit die Leser zu Furcht und Sehnsucht zu bewegen.⁸ Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts zeichnet sich eine Entwicklung von kaum zu unterschätzender Bedeutung für die Textualisierung der eschatologischen memoria ab: die Entstehung – zunächst wohl im Zuge der von den Bettelorden entwickelten Initiativen zur religiösen Habitusbildung bei ihren Angehörigen und auch ihrer laikalen Klientel – eines geistlichen Schrifttums, das in viel höherem Maße als zuvor dem Benutzer genaue Vorgaben zu Inhalt und Ablauf der zukunftsorientierten Gedächtnisleistung macht, sei dies in Form von systematischen Meditationsanleitungen (hier führt eine direkte Abstammungslinie von den Exerzitien des Bonaventura über die methodischen Anleitungen zur Seelenführung der Devotio moderna zu den Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola), sei es in Form von Andachtsbüchern, die dem Benutzer Reihenfolge und Rhythmus der meditativen Gedankengänge vorschreiben.⁹ Zu den prominenten Beispielen für die enargetische Darstellung der letzten Dinge in Texten des 9. bis 12. Jahrhunderts gehören: Smaragdus von St-Mihiel: Expositio in Regulam S. Benedictini, 2.4. Hrsg. von Alfred Spannagel, Pius Engelbert. Siegburg 1974 (Corpus consuetudinum monasticarum. 8), hier S. 125 – 128; Petrus Damiani: Brief 66, ‚An die Gräfin Bianca‘. In: Die Briefe des Petrus Damiani. Hrsg. von Kurt Reindel. 4 Teile. München 1983 – 1993 (MGH Briefe der deutschen Kaiserzeit. 4), Teil 2, S. 247– 279; Johannes von Fécamp: Libellus, Kap. 4, 20 u. 25. In: PL 40,901– 942 (unter dem Titel Meditationum liber unus), hier Sp. 904, 916 f. u. 919 f.; Anselm von Canterbury: Meditationes 1 u. 2. In: S. Anselmi Cantuariensis Episcopi Opera Omnia. Hrsg. von Franciscus Salesius Schmitt. Bd. 3. Edinburgh 1946, S. 76 – 79 u. 80 – 83; Rupert von Deutz: De meditatione mortis. In: PL 170,357– 390; Wilhelm von StThierry: Oratio 6. In: ders.: Oraisons méditatives/Meditativae orationes. Hrsg. von Jacques Hourlier. Paris 1985 (Sources chrétiennes. 324), S. 106 – 124; Peter von Celle: De disciplina claustrali, Kap. 24– 26. In: ders.: L’Ecole du cloître/De disciplina claustrali. Hrsg. von Gérard de Martel. Paris 1977 (Sources chrétiennes. 240), S. 258 – 282. Zur zunehmenden Systematisierung und textlichen Reglementierung der Meditation seit der Mitte des 13. Jahrhunderts siehe jetzt umfassend: Mark Chinca: Meditating Death in Medieval and Early Modern Devotional Writing. From Bonaventure to Luther. Oxford 2020 (Oxford Studies in Medieval Literature and Culture). Zu Bonaventura und seinem direkten wie auch indirekten Einfluss auf die geistlichen Übungen der Devotio moderna und des Ignatius von Loyola vgl. außerdem: Bernard McGinn: The Presence of God. A History of Western Mysticism. Bd. 3. The Flowering of Mysticism. Men and Women in the New Mysticism (1200 – 1350). New York 1998, S. 12– 14 u. 18 – 24; Bert Roest: Franciscan Learning, Preaching, and Mission, c.1220 – 1650. Cum scientia sit donum Dei, armatura ad defendendam sanctam fidem catholicam … Leiden 2014 (The Medieval Franciscans. 10), S. 59 – 61 u. 63 f.; Jean François Bonnefoy: Une somme bonaventurienne de théologie mystique: Le De triplici via. In: La France franciscaine 15 (1932), S. 227– 264 u. 311– 359 (1. Teil), u. 16 (1933), S. 259 – 326 (2. Teil), hier
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Auch der Brief Grotes enthält Vorgaben für die textgeleitete Reglementierung der eschatologischen memoria: Zur Unterstützung des Aufrufs memorare novissima tua gibt er dem Adressaten Johannes ein Lektüreprogramm auf, das wie Seelenmedizin wirken soll: Lege capitulum de arte moriendi, sive de morte quod habetur in „Horologio eterne sapiencie“; lege, rogo, bis vel ter. Utinam velles legere per unum mensem, et per Dei gratiam sanitati restituereris (‚Lies das Kapitel über die Sterbekunst oder den Tod im Horologium der Ewigen Weisheit [gemeint ist das Kapitel De scientia moriendi im Horologium Sapientiae des Heinrich Seuse]. Lies es, ich bitte dich, zwei- oder dreimal. O dass du es doch einen ganzen Monat lang lesen würdest und dass deine geistige Gesundheit durch die Gnade Gottes wiederhergestellt würde!‘).¹⁰ Im Fokus der folgenden Überlegungen stehen spätmittelalterliche eschatologische Meditationsanleitungen und Andachtsbücher, in denen die dem Sirachspruch zugrunde liegende Figur der Kehre zum generativen Prinzip der systematischen
2. Teil, S. 301– 318; M. Smits van Wanberghe: Origine et développement des exercices spirituels avant saint Ignace. In: Revue d’ascétique et de mystique 33 (1957), S. 264– 272; Pedro de Leturia: Estudios Ignacianos. 2 Bde. Rom 1957 (Bibliotheca Instituti Historici S. I. 10 – 11), Bd. 2, S. 73 – 88; André Rayez: Gérard Zerbolt de Zutphen et Saint Bonaventure. Dépendances littéraires. In: Dr L. Reypens-Album. Opstellen aangeboden aan prof. dr. L. Reypens. Hrsg. von Albertus Ampe. Antwerpen 1964 (Studiën en tekstuitgaven van Ons Geestelijk Erf. 16), S. 323 – 356; Rudolf Th. M. van Dijk: Ascensiones in cordem disponere. Spirituelle Umformung bei Gerhard Zerbolt von Zutphen. In: Kirchenreform von unten. Gerhard Zerbolt von Zutphen und die Brüder vom gemeinsamen Leben. Hrsg. von Nikolaus Staubach. Frankfurt a. Main 2004 (Tradition – Reform – Innovation. 6), S. 287– 305; Van Engen (Anm. 1), S. 300 u. 317 f.; Nikolaus Staubach: Die Meditation im spirituellen Reformprogramm der Devotio moderna. In: Meditatio – Refashioning the Self in Late Medieval and Early Modern Intellectual Culture. Hrsg. von Karl Enenkel, Walter Melion. Leiden 2011 (Intersections: Interdisciplinary Studies in Early Modern Culture. 17), S. 181– 207, hier S. 186 – 189 u. 202– 204. Gerardi Magni Epistolae (Anm. 2), Brief 29, S. 127. Vgl. Heinrich Seuse: Horologium sapientiae, 2.2. Hrsg. von Pius Künzle. Freiburg, Schweiz 1977 (Spicilegium Friburgense. 23). Seuse gehörte zu den am intensivsten rezipierten geistlichen Autoren unter den Anhängern der Devotio moderna; vgl. D. de Man: Heinrich Suso en de Moderne Devoten. In: Nederlands archief voor kerkgeschiedenis, N. R. 19 (1926), S. 279 – 283; S. P. Wolfs: Zum Thema: Seuse und die Niederlande. In: Heinrich Seuse. Studien zum 600. Geburtstag, 1366 – 1966. Hrsg. von Ephrem Filthaut. Köln 1966, S. 397– 408; José van Aelst: Het gebruik van beelden bij Suso’s lijdensmeditatie. In: Geen povere schoonheid. Laat-middeleeuwse kunst in verband met de Moderne Devotie. Hrsg. von Kees Veelenturf. Nijmegen 2000, S. 86 – 110; Nikolaus Staubach: Von der persönlichen Erfahrung zur Gemeinschaftsliteratur. Entstehungs- und Rezeptionsbedingungen geistlicher Reformtexte im Spätmittelalter. In: Ons Geestelijk Erf 68 (1994), S. 200 – 228, hier S. 200 – 206; Thomas Kock: Die Buchkultur der Devotio moderna. Handschriftenproduktion, Literaturversorgung und Bibliotheksaufbau im Zeitalter des Medienwechsels. 2., überarbeitete und ergänzte Aufl. Frankfurt a. Main/Oxford 2002 (Tradition – Reform – Innovation. 2), S. 127– 130, 139 u. 152. Zu den mehrfachen, auch in Devotenkreisen rezipierten mnl. Übersetzungen von Seuse vgl. außerdem Jan Deschamps: De Middelnederlandse vertalingen en bewerkingen van de Hundert Betrachtungen und Begehrungen van Henricus Suso. In: Ons Geestelijk Erf 63 (1989), S. 309 – 369; Werner J. Hoffmann: Die volkssprachliche Rezeption des Horologium Sapientiae in der Devotio moderna. In: Heinrich Seuses Philosophia spiritualis. Quellen, Konzept, Formen und Rezeption. Tagung Eichstätt 2.–4. Oktober 1991. Hrsg. von Rüdiger Blumrich, Philipp Kaiser. Wiesbaden 1994 (Wissensliteratur im Mittelalter. 17), S. 202– 254.
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textlichen Ausarbeitung des Mahnrufes memorare novissima tua geworden ist. Die generative Kraft der Figur lässt sich auf drei unterschiedlichen Ebenen des Textgefüges beobachten; zunächst auf der Ebene der hortativen Rhetorik, jenes Netzwerks von imperativ verfassten Ermahnungen und Anweisungen, die den Leser zu Abkehr, Hinkehr und Umkehr auffordern. Hier begegnen allenthalben Imperativformen des Verbs vertere in sämtlichen Ableitungen: revertere, adverte, converte. Die zweite Ebene bildet das Imaginäre des Textes: das Repertoire an Bildern und Metaphern, anhand derer die erinnerte Zukunft überhaupt vorstellbar wird, und die es dem meditierenden Leser ermöglichen, die von ihm verlangte kognitive und moralische Kehre in bildhafte Phantasmata einzukleiden. Schließlich ist die Figur der Kehre in der Rhythmik des Textes spürbar, in der sukzessiven Entfaltung eines Arguments, das immer wieder zu denselben Themen, Aussagen, Topoi und Gemeinplätzen zurückkehrt, sodass die meditative Umsetzung des Textes in der fortschreitenden Lektüre selbst zu einer Erfahrung von ständiger Wiederkehr wird. Das alles lässt sich an dem eingangs zitierten Brief an Johannes ten Water beobachten. Im Folgenden soll jedoch nicht jener Text im Mittelpunkt stehen – er ist ohnehin in nur fünf Handschriften überliefert, was auf eine eher geringe Resonanz hinweist¹¹ –, sondern drei Schriften, die in spätmittelalterlicher Zeit Geltung und Verbreitung über weite Strecken des westlichen Europa erreichten: das Soliloquium de quatuor mentalibus exercitiis, ein System von geistlichen Übungen, das Bonaventura in den späten 1250er Jahren propter simpliciores […] simplicibus verbis (‚mit Rücksicht auf einfache Seelen‘ – gemeint sind wohl weniger gebildete Angehörige des Franziskanerordens, dem Bonaventura ab 1257 als Ordensgeneral vorstand – ‚in schlichten Worten‘) verfasste;¹² das von Grote anempfohlene Kapitel De scientia moriendi aus dem Horologium Sapientiae, der zwischen 1331 und 1334 von Heinrich Seuse verfertigten lateinischen Fassung seines Büchleins der ewigen Weisheit;¹³ schließlich das im Siehe die Angaben zur Überlieferung in Gerardi Magni Epistolae (Anm. 2), S. XIV. Bonaventura: Soliloquium de quatuor mentalibus exercitiis, prol. 4. In: Doctoris seraphici S. Bonaventurae Opera omnia. Iussu et auctoritate Rmi. P. Bernardini a Portu Romatino edita studio et curo PP. Collegii a S. Bonaventura. Bd. 8. Quaracchi 1898, hier S. 29; Bonaventura: Soliloquium de quatuor mentalibus exercitiis. Alleingespräch über die vier geistlichen Übungen. Hrsg. u. übersetzt von Josef Hosse. München 1958, S. 17. Zum Wirken Bonaventuras als Ordensgeneral vgl. Dominic V. Monti: Bonaventure as Minister General. In: A Companion to Bonaventure. Hrsg. von Jay M. Hammond, J. A. Wayne Hellmann, Jared Goff. Leiden/Boston 2014 (Brill’s Companions to the Christian Tradition. 48), S. 543 – 577. Die Herausgeber der Quaracchi-Edition kannten 257 Hss. des Soliloquium (Opera omnia, Bd. 8, S. XXVI–XXXVIII); die Druckausgaben bis 1503 sind im Gesamtkatalog der Wiegendrucke verzeichnet: GW 4686 – 4893. Zu den volkssprachlichen (dt. u. nl.) Übersetzungen und Bearbeitungen siehe Kurt Ruh: Bonaventura deutsch. Ein Beitrag zur deutschen Franziskanermystik und -scholastik. Bern 1956 (Bibliotheca Germanica. 7), S. 119 – 159. Seuse: Horologium Sapientiae (Anm. 10), 2.2. Vgl. Heinrich Seuse: Büchlein der ewigen Weisheit, Kap. 21. In: ders.: Deutsche Schriften. Hrsg. von Karl Bihlmeyer. Stuttgart 1907, S. 278 – 287. Zur Überlieferung und Verbreitung des Horologium siehe die Einleitung zur Ausgabe (Anm. 10), S. 105 – 219 (bekannt sind 321 Hss.), 250 – 276 (volkssprachliche Übersetzungen). Das Kapitel wird vielfach auch als Exzerpt überliefert: ebd., S. 236 – 238.
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letzten Viertel des 14. Jahrhunderts entstandene und dem Deutschordensmitglied Gerard van Vliederhoven zugeschriebene Erbauungsbuch Cordiale de quatuor novissimis. ¹⁴ Alle drei Schriften fordern den Leser zur moralischen Umkehr und zur kognitiven Umkehrung des Gedächtnisses, von der Vergangenheit zur Zukunft, auf; alle drei sind die textliche Ausarbeitung und Auswirkung der basalen Figur der Kehre, sei es auf der Ebene der hortativen Rhetorik (Bonaventura) oder auf derjenigen der Bildimagination (Seuse) oder wiederum in dem Rhythmus eines ständig zu demselben Ausgangspunkt wiederkehrenden Arguments (Cordiale). An diesem letzten Beispiel zeigt sich ferner, dass das Gedenken an das kommende Ende und die damit einhergehende moralische Wendung keine einmalige Kehre ist, kein urplötzliches Ereignis, für das der dramatisch zugespitzte, mit Kontrastmotiven von Blindheit und Licht, Sturz und Aufstehen ausgestattete neutestamentliche Bericht vom Damaskusgeschehen das für die christliche Kultur wohl wirkmächtigste Muster abgibt.¹⁵ Vielmehr erweist sich die meditativ-memoriale Hinwendung zur eschatologischen Zukunft als ein stets zu wiederholendes, übendes Gedenken, das (um eine Formulierung Walter Benjamins aufzugreifen) „ausdauernd […] von neuem an[hebt], umständlich […] auf die Sache selbst zurück[geht]“ und in solchem „unablässigen Atemholen“ die „eigenste Daseinsform der Kontemplation“ offenlegt.¹⁶
II Convertere radium contemplationis Die hortative Strategie von Grotes Brief gründet auf der Wiederholung von Imperativformen verschiedener Varianten des Verbs vertere: Außer dem mehrmaligen Aufruf zur Rückkehr (revertere) fordert Grote seinen Protégé wiederholt zu einer Hinwendung der Aufmerksamkeit (advertere) auf eine Reihe von Punkten und Argumenten auf: Adverte verbum Apostoli, secunda Petri secundo capitulo: Refugientes coinquinacionem mundi in cognicione Domini nostri et Salvatoris Ihesu Christi, hiis rursum implicati superantur: facta sunt posteriora peiora prioribus; melius enim erat illis non cognoscere viam iusticie, quam post
Zu Überlieferung und Verbreitung des Cordiale sowie zur Verfasserfrage siehe die Angaben in Anm. 56 unten. Apg 9,3 – 18. Neben dem Beispiel des Paulus kennt das Mittelalter auch ein prozessuales Modell von conversio, das sowohl in theoretischen Aussagen als auch in Lebensbeschreibungen seinen Niederschlag findet; vgl. hierzu Christel Meier: Krise und Conversio. Grenzerfahrungen in der biografischen Literatur des Mittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 50 (2016), S. 21– 44, besonders S. 42– 44. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. Main 1978, S. 10. Benjamins Metapher vom Atemholen bezieht sich auf einen Modus des philosophischen Diskurses, der seinen Darstellungscharakter weder übermäßig ausstellt, wie es für die Gattung des Essays üblich ist, noch nach Art eines Lehrwerks gänzlich verdrängt, um das dogmatische System stärker in den Vordergrund treten zu lassen, sondern in der stets von neuem ansetzenden Übung seiner Form „die unumschreibliche Wesenheit des Wahren“ vor Augen führen will (ebd.).
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agnicionem retrorsum converti ab eo, quod illis traditum est, sancto mandato. Contigit illis illud veri proverbii: canis reversus ad suum vomitum.¹⁷ Beachte das Wort des Apostels im zweiten Kapitel des zweiten Petrusbriefes: ‚Mit denjenigen, die durch die Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi dem Unflat der Welt entfliehen, in diesen doch wieder verstrickt und von ihm überwunden werden, steht es am Ende schlimmer als vorher. Denn es wäre besser für sie, den Weg der Gerechtigkeit gar nicht zu erkennen, als ihn erkannt zu haben und sich danach wieder von dem heiligen Gebot zu kehren, das ihnen überliefert worden ist. Auf sie trifft das wahre Sprichwort zu: Der Hund kehrt zurück zu dem, was er erbrochen hat.‘ [2 Petr 2,20 – 22] Adverte, quid tibi prodesset, si totum mundum lucrifaceres et anime tue detrimentum patereris.¹⁸ Richte deine Aufmerksamkeit auf diese Frage: Was hätte es dir genützt, wenn du die ganze Welt gewinnen und Schaden an deiner Seele erleiden würdest? [Vgl. Mt 16,26] Adverte iam, quam vagi sunt oculi tui, quam distractum sit cor tuum, quam tumida frons tua, quam laboriosam viam ingressus es.¹⁹ Merke nun, wie unstet dein Blick ist, wie zerstreut dein Herz, wie frech deine Stirn, wie mühsam der Weg, den du eingeschlagen hast. Adverte […] que pene […] malis exhibentur.²⁰ Wende deine Gedanken den Strafen zu, die den Sündern auferlegt werden.
Die Rhetorik der Kehr-Imperative wird nirgendwo systematischer eingesetzt als in Bonaventuras Soliloquium de quatuor mentalibus exercitiis, einer in Dialogform verfassten Folge von vier geistlichen Übungen, durch die die anima devota, die gottesfürchtige Seele, zur felicitas aeterna, zur ewigen Seligkeit, gelangen soll.²¹ Der Ruf des Geliebten im Hohelied, mit dem Grote sich an Johannes ten Water wendet, wird von Bonaventura zu einer langen Bitte umgestaltet, in der die „durch die Sünde elend zugerichtete Seele“ (anima per peccatum misera effecta) mit der Sulamith des Hoheliedes gleichgesetzt und unter achtzehnmaliger Wiederholung des Imperativs revertere beschworen wird, zu ihrem Schöpfer zurückzukehren: Revertere, revertere, Sunamitis, id est, anima per peccatum misera effecta. Revertere ad me, quia ego sum creator tuus; revertere, quia ego sum redemptor tuus; revertere, quia ego sum consolator tuus; et si haec modica videntur, revertere ultimo, quia ego sum tam liberalis remunerator tuus. – Revertere igitur ad me, ego sum, qui te tam nobiliter creavi. Revertere, ego sum, qui te tam misericorditer per mortem meam amarissimam de morte aeterna liberavi. Revertere ad me, ego sum, qui te bonis spiritualibus et corporalibus tam multipliciter ditavi. Revertere ultimo ad me, o
Gerardi Magni Epistolae (Anm. 2), S. 125. Ebd., S. 126. Ebd., S. 127. Ebd., S. 129. Bonaventura (Anm. 12), prol. 3 (Opera omnia, Bd. 8, S. 29). Zu Form, Inhalt und Gliederung des Dialogs siehe Jacques Guy Bougerol: Introduction à l’étude de Saint Bonaventure. Tournai 1961 (Bibliothèque de théologie. Série 1: Théologie dogmatique. 2), S. 218 f.; Marianne Schlosser: Bonaventure. Life and Works. In: Hammond/Hellmann/Goff (Anm. 12), S. 9 – 59, hier S. 41 f.
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anima, ego sum, qui te iam per praeparatam felicitatem tam liberaliter remuneravi. – Revertere, inquam, a peccato cogitationis, revertere a peccato locutionis, revertere a peccato actionis, revertere a peccato assuefactionis. Revertere ad me, o anima, te cum magno desiderio exspectant Sancti; revertere, ad tuum adventum exsultant Angeli; revertere, te exspectat tota curia caelestis paradisi. O anima, revertere, vocat te expansis in cruce manibus Iesus Christus; revertere, tuum reditum praestolatur totius Trinitatis abyssus. O anima, haec vox dilecti te invitantis. Kehre zurück, kehre zurück, Sunamith, das heißt: durch die Sünde elend zugerichtete Seele [Hld 6,12]. Kehre zu mir zurück, weil ich dein Schöpfer bin. Kehre zurück, weil ich dein Erlöser bin. Kehre zurück, weil ich dein Tröster bin. Und wenn dir dies alles gering erscheint, so kehre endlich zurück, weil ich dich so freizügig wieder beschenkt habe. – Kehre also zu mir zurück. Ich bin es, der dich so edel erschaffen hat. Kehre zurück: Ich bin es, der dich so barmherzig durch seinen bittersten Tod vom ewigen Tod befreit hat. Kehre zurück zu mir! Ich bin es, der dich mit geistigen und leiblichen Gütern so reich beschenkt hat. Kehre endlich zu mir zurück, meine Seele, ich bin es auch, der dich durch die bereitete Glückseligkeit schon so freigebig von neuem beschenkt hat. – Kehre zurück, sage ich, von der Sünde des Gedankens, kehre zurück von der Sünde des Wortes, kehre zurück von der Sünde der Tat, kehre zurück von der Sünde der Gewöhnung. Kehre zu mir zurück, meine Seele, die Heiligen erwarten dich mit großer Sehnsucht. Kehre zurück, bei deiner Ankunft frohlocken die Engel. Kehre zurück, der ganze Hof des himmlischen Paradieses erwartet dich. Meine Seele, kehre zurück, Jesus Christus ruft dich mit seinen am Kreuz ausgestreckten Händen. Kehre zurück, der Abgrund der ganzen Dreieinigkeit harrt deiner Rückkehr. Meine Seele, dies ist die Stimme deines Geliebten, der dich einlädt.²²
Abkehr von der Sünde, Hinkehr zu Gott: Dieses Programm soll in einer Folge von geistlichen Übungen verwirklicht werden, die selbst als geordnete Sequenz von Kehren gedacht ist. Die Seele wird aufgefordert, den radius contemplationis, den Strahl der Beschauung, auf verschiedene Meditationsthemen – darunter Tod, Gericht, Himmel und Hölle – in einer bestimmten Reihenfolge zu richten: Debet enim anima devota per mentale exercitium contemplationis radium reflectere primo ad interiora sua, ut videat, qualiter sit formata per naturam, deformata per culpam, reformata per gratiam. – Secundo debet convertere radium contemplationis ad exteriora, ut cognoscat, quam instabilis sit mundana opulentia, quam mutabilis mundana excellentia, et quam miserabilis mundana magnificentia. – Debet etiam tertio radium contemplationis convertere ad inferiora, ut intelligat humanae mortis inevitabilem necessitatem, iudicii finalis formidabilem austeritatem, poenae infernalis intolerabilem poenalitatem. – Debet quarto convertere radium contemplationis ad superiora, ut cognoscat et sapiat caelestis gaudii inaestimabilem pretiositatem, ineffabilem delitiositatem et interminabilem aeternitatem. Die gottesfürchtige Seele soll nämlich durch die geistliche Übung das Licht der Beschauung zunächst in ihr Inneres zurückbeugen, damit sie sieht, wie sie von Natur gestaltet, durch die Schuld entstellt und durch die Gnade erneuert ist. – Zweitens soll sie den Strahl der Beschauung auf die äußeren Dinge hinlenken, damit sie erkennt, wie unbeständig der irdische Reichtum, wie wandelbar die irdische Erhabenheit und wie erbärmlich die irdische Herrlichkeit ist. – Drittens soll sie den Strahl der Beschauung auch auf die niederen Dinge richten, damit sie die unausweichliche Notwendigkeit des menschlichen Todes, die furchtbare Strenge des Endgerichtes und die uner-
Bonaventura: Soliloquium (Anm. 12), 1,37 f. (Opera omnia, Bd. 8, S. 41); Übersetzung von Hosse (Anm. 12), S. 91– 93, leicht geändert.
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trägliche Qual der Höllenstrafe einsieht. – Viertens soll sie den Strahl der Beschauung zu den höheren Dingen emporwenden, damit sie die unschätzbare Köstlichkeit der himmlischen Freude, ihre unaussprechliche Wonne und ihre unbegrenzte Ewigkeit erkennt und kostet.²³
Das Programm der kontemplativen Kehren ist jedoch viel komplexer als es sich in dieser Passage aus dem Prologus des Soliloquium darstellt: Neben dem hier dargelegten, für die noch im vergänglichen Körper im Diesseits wohnende Seele entworfenen Plan gibt es nämlich ein zweites, von den Bewohnern der himmlischen Stadt befolgtes System von kognitiven Kehren. In der vierten und letzten geistlichen Übung, die den Freuden des Himmels gilt, wendet die Seele den Strahl der Beschauung nach oben, um dort einer anderen, himmlischen Folge von kontemplativen Kehren zu begegnen. Der homo interior, der durch den Heiligen Geist gestärkte innere Mensch (vgl. Eph 3,16), der die Seele in allen Übungen und Kontemplationen als ihr Dialogpartner begleitet, erklärt, wie die himmlischen Bewohner auch einen Strahl der Beschauung besitzen, den sie in alle vier Richtungen wenden: nach unten (infra se), wo sie Welt, Sünde und Teufel beschauen; auf die äußere Umgebung (iuxta se) des himmlischen Jerusalems hin; nach innen (intra se), um die Herrlichkeit des Auferstehungsleibes zu betrachten; nach oben (supra se) zu Gott, dem summum bonum. ²⁴ Die Richtungen sind genau dieselben, die die Seele bei ihren geistlichen Übungen zu beachten hat, nur sind die Reihenfolge und zum Teil auch die Gegenstände der Kontemplation anders. Die Differenz ist absichtlich und zudem funktional: Sie soll unterstreichen, dass die Perspektive der beschauenden Seele im Diesseits nicht deckungsgleich ist mit der Perspektive der Bewohner des himmlischen Jerusalems. Gleichwohl lässt Bonaventura die zwei Perspektiven, die irdische und die himmlische, vorübergehend verschmelzen, bevor er sie gegen Ende der Übung wieder voneinander trennt. Die Seele, die den radius contemplationis nach oben gekehrt hat, wird aufgefordert zu schauen (vide) und „mit Gottesfurcht [zu] überdenke[n]“ (devota mente pertracta) „wie jene göttlichen und himmlischen Geister, die der Gefahr des gegenwärtigen elenden Lebens entronnen sind, […] bisweilen den Strahl ihrer Beschauung auf die niederen Dinge richten“ (aliquando tamen radium suae contemplationis convertunt ad inferiora); sie freuen sich, „erstens, weil sie so boshafte, schreckliche und grausame Feinde durch die göttliche Macht überwunden, zweitens, weil sie alle Fehler und Sünden […] durch die göttliche Weisheit gemieden oder […] gebessert haben, drittens, weil sie so kläglichen und unsagbaren ewigen Qualen durch die göttliche Milde entgangen sind“.²⁵ Des Weiteren wird die Seele vom homo interior Bonaventura (Anm. 12), prol. 2 (Opera omnia, Bd. 8, S. 28 f.); Übersetzung von Hosse (Anm. 12), S. 13 – 15, leicht geändert. Bonaventura (Anm. 12), 4,5 f., 4,9 f. u. 4,20 – 23 (Opera omnia, Bd. 8, S. 58, 59 u. 62– 65). Ebd., 4,5 f. (Opera omnia, Bd. 8, S. 58): Vide igitur et devota mente pertracta, qualiter illi divini et caelestes spiritus, qui praesentis vitae et miseriae periculum evaserunt, […] aliquando tamen radium suae contemplationis convertunt ad inferiora […] et gaudent ex triplici causa: primo, quod tam impios, horribiles et crudeles hostes per divinam potentiam superaverunt; secundo, quod omnes defectus et peccata vel per divinam sapientiam […] vitaverunt, vel […] correxerunt; tertio, quod tam lamentabiles et inter-
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aufgefordert, sich diese himmlische Perspektive jedes Mal dann zu vergegenwärtigen, wenn sie „von Versuchungen geprüft, von Verfolgungen bedrängt, und […] von vielartigen Drangsalen bestürmt“ wird.²⁶ Diese Aufforderung kommt einer Umdrehung der Blickrichtung gleich: Die Seele, die zunächst nach oben, zu den himmlischen Bewohnern, geschaut hatte, soll jetzt mit denselben Bewohnern nach unten blicken; durch die Vereinigung der Perspektiven erhält sie einen Vorgeschmack auf die Wonne der Erlösten. Die Verschmelzung der Perspektiven wird in der nächsten Wendung der Blickrichtung beibehalten, als die Seele die Anweisung bekommt, ihre geistigen Augen (oculi mentales) auf die himmlischen Freuden, „die neben dir sind“ (quae iuxta te sunt), zu richten.²⁷ Als aber die Seele den Blick nach innen (intra se) wendet, sieht sie nicht mehr das, was die himmlischen Bewohner sehen: Sie wird aufgefordert, die Herrlichkeit des Auferstehungsleibes lediglich zu „bedenke[n]“ (considera, cogita), nicht jedoch zu beschauen oder zu sehen.²⁸ Die Trennung der Perspektiven wird bei der letzten Wendung des kontemplativen Blickes endgültig: Nachdem die Seele eingeladen worden ist, ihre Aufmerksamkeit auf die Freude derjenigen zu lenken (ut […] advertas), die in den Spiegel der Ewigkeit über ihnen (supra se) unaufhörlich schauen und an der Gottesschau teilhaben dürfen, fragt sie neugierig: Et quid videbo? (‚Und was werde ich schauen?‘)²⁹ Das Futur bringt unverkennbar zum Ausdruck, dass die Seele jetzt, in der Gegenwart der Kontemplation, nicht in den Spiegel schaut. Die Gottesschau lässt sich im Diesseits allenfalls denken, nicht jedoch vollziehen. Erst mit einer zukünftigen, im Himmel zu leistenden Wendung des radius contemplationis wird es der Seele möglich sein, unmittelbar an der Gottesschau teilzuhaben. Auf diese künftige Wendung verweisen die kontemplativen Kehren, die conversiones radii, der sich übenden Seele, ihre Verwirklichung steht jedoch bis zum Ende der Zeit aus.
minabiles cruciatus aeternos per divinam clementiam evaserunt. Übersetzung von Hosse (Anm. 12), S. 195, leicht geändert. Bonaventura: Soliloquium (Anm. 12), 4,8 (Opera omnia, Bd. 8, S. 58): Tu igitur, cum tentationibus probaris, cum persecutionibus impugnaris, cumque in hoc saeculo variis tribulationibus infestaris; tunc mente in caelum evola et cogita, quod haec non sunt aliud nisi aeterni gaudii materia. Übersetzung von Hosse (Anm. 12), S. 199: „Wenn du also von Versuchungen geprüft, von Verfolgungen bedrängt, und wenn du in dieser Welt von vielartigen Drangsalen bestürmt wirst, dann erhebe deinen Geist zum Himmel und denke, daß dies nichts ist als einzig die Grundlegung der ewigen Freude.“ Bonaventura (Anm. 12), 4,9 (Opera omnia, Bd. 8, S. 59); Übersetzung von Hosse (Anm. 12), S. 201. Bonaventura (Anm. 12), 4,21 f. (Opera omnia, Bd. 8, S. 63 f.); Übersetzung von Hosse (Anm. 12), S. 223 – 225. Bonaventura (Anm. 12), 4,23 f. (Opera omnia, Bd. 8, S. 64 f.); Übersetzung von Hosse (Anm. 12), S. 229 – 231.
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III conversio-Räume Kehre ist Richtungsänderung und Grenzmarkierung in einem, denn mit der Umkehr der Richtung wird die äußerste Grenze eines vorgängigen Kurses markiert. Ausrichtung und Grenze sind beide abstrakte Begriffe, die erst durch die Einkleidung in konkrete Bilder und Metaphern imaginierbar werden. Es liegt in der Semantik der Begriffe begründet, dass die passenden Bilder und Metaphern räumlichen Charakter haben; daher nimmt es nicht wunder, wenn diejenigen textlichen Ausarbeitungen des Sirachspruches, deren rhetorische Strategien sehr intensiv die Stilmittel der evidentia einsetzen, die memorial-moralische Kehre in imaginären Schauplätzen von Pfaden und Hindernissen, Bewegungsfreiheit und Enge, Wegsam- und Weglosigkeit verorten. Bei Grote wird die Kehre imaginativ gestaltet anhand von Metaphern von Weg und Abgrund: vom gefahrvollen Weg, den man zugunsten eines anderen, besseren noch aufgeben möchte, und vom schrecklichen Abgrund und Strudel, in den man abzustürzen droht. Grote wünscht inbrünstig, ut [Iohannes] ambularet non in viis nequicie et malicie mundi, non in angustiis, tristiciis, timoribus et laboribus et doloribus, quibus mundus plenus est, sed in viis sinceritatis, exultacionis, firmitatis, mundicie (‚dass er [Johannes] nicht auf dem Weg der Missetat und der weltlichen Täuschung, nicht in Angst und Sorge, in Furcht, Arbeit und Trauer, von denen die Welt voll ist, sondern auf dem Weg der Aufrichtigkeit, der Freude, der Gewissheit und der Reinheit wandeln möge!‘);³⁰ er wendet sich an seinen Protégé mit der dringenden Frage: Quis te, dilectum meum, […] in precipicium abduxit? O callide inimice, […] quanta est tua vehemencia, tu qui tam devotum iuvenem Iohannem nostrum ad tantum baratrum deduxisti (‚Wer hat dich, meinen Lieben, […] zum Abgrund geführt? Du betrügerischer Feind, […] wie groß ist deine Macht, dass du einen so frommen jungen Mann, unseren Johannes, in einen so großen Strudel hineinzuziehen vermochtest?‘);³¹ er fleht Gott, Maria und die heiligen Engel um Hilfe an: [Domine, Maria, et omnes sancti Dei Angeli] venite in adiutorium ei! Venite in adiutorium mei, iuvate me trahere, iuvate retrahere predilectum meum e faucibus abissi et laqueis, quos absconderunt ei (‚[O Herr, Maria und alle heiligen Engel Gottes] eilt ihm zu Hilfe, eilt mir zu Hilfe! Helft mir, meinen Allerliebsten aus der Gefahr zu reißen, helft mir, ihn von dem Rachen und den Schlingen des Abgrunds zurückzureißen, die man vor ihm verborgen hat!‘).³² Bei Heinrich Seuse wird die Notwendigkeit einer Umkehr zunächst als zeitliches Problem beschrieben, das erst im Laufe der rhetorischen Ausarbeitung in räumliche Bilder und Metaphern übersetzt wird, und zwar auf eine Weise, welche die Veranschaulichung der Kehre als einer Bewegung im Raum an die äußerste Grenze des Imaginierbaren führt. Im zweiten Kapitel des zweiten Teils des Horologium Sapientiae macht es sich Sapientia, die Personifikation der Weisheit Gottes, zur Aufgabe, ihrem
Gerardi Magni Epistolae (Anm. 2), S. 124. Ebd. Ebd., S. 125.
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discipulus – einer Figur, die Autorsurrogat und Identifikationsfokus für den Leser in einem ist – zu erklären, quam multa bona conferat homini mortis memoria (‚wie viele Vorteile der Mensch von dem Gedenken an den Tod hat‘).³³ Der Lehrsatz ist offensichtlich eine sinngemäße Wiedergabe von Sir 7,40, und Sapientia vermittelt seinen Inhalt auf äußerst anschauliche Weise, indem sie ihrem discipulus eine Vision zuteil werden lässt, die sich ereignet, sobald dieser „anfängt, sich in Gedanken von der äußerlichen Welt zurückzuziehen und in seinem Inneren zu meditieren“ (coepit se ab exterioribus colligere et in seipso […] considerare).³⁴ Mit der Wendung nach innen wird der discipulus an die Grenze des zeitlichen Lebens geführt, da er in seiner Vision mit der similitudo – dem Gleichnis oder Bild – eines im Sterben begriffenen Menschen konfrontiert wird. Die zentrale Botschaft der Begegnung ist der Aufruf zur conversio matura, zur rechtzeitigen Umkehr.³⁵ Der discipulus, der die Wehklagen des sterbenden Menschen hört, fordert diesen auf, für seine begangenen Sünden Buße zu tun und sich rechtzeitig zu bekehren: „Bekehre dich zu deinem Herrn, denn er ist wohlwollend und barmherzig“ (convertere ad dominum Deum tuum [vgl. Hos 14,2: Convertere Israhel ad Dominum Deum tuum], quia benignus et misericors est).³⁶ Der gut gemeinte Ratschlag löst beim sterbenden Menschen nur Verwirrung aus: Ob der discipulus ernstlich von ihm verlange, in letzter Minute noch umzukehren? Für ihn sei die Zeit doch abgelaufen, die Gelegenheit zur Buße unwiederbringlich vorbei: Quis est hic sermo, quem loqueris? Debeo paenitere? Debeo me convertere? (‚Was ist das für eine Rede? Mit wem sprichst du? Ich sollte Buße tun? Ich sollte umkehren?‘);³⁷ O felix paenitentia et conversio matura, quia secura. Qui autem tarde paenitentiae se committit, dubius et incertus erit, quia nescit utrum vere an ficte paeniteat. Vae mihi, quia tam diu vitam meam corrigere distuli, quod tam diu salutem meam retardavi […] Quot horas numquam redituras perdidi (‚O [wie] glücklich die Buße und rechtzeitige Umkehr, weil sie sicher sind! Wer sich aber erst spät zur Buße bekennt, wird unsicher und von Zweifel befallen sein, weil er nicht weiß, ob er wahrhaft oder nur zum Schein Buße tut. Wehe mir, weil
Seuse (Anm. 10), S. 539, Z. 12. Zur Figur des discipulus bzw. dieners in den Schriften Seuses siehe Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik. München 1996, S. 422, 436 u. 444. Sich von allzu naiven biographischen Interpretationen distanzierend betont Ruh die Rollenhaftigkeit der Figur, deren Funktion darin besteht, die subjektive Erfahrung eines Autor-Ichs in die Objektivität des Exemplarischen und Modellhaften zu heben. Zu den innertextlichen Hinweisen auf die auktoriale Tätigkeit und Zuständigkeit des discipulus bzw. dieners, die sich erst in der Überlieferung von Seuses Exemplar zu einer Identifikation mit der biographischen Person Heinrich Seuse verdichten, vgl. Stephanie Altrock, Hans-Joachim Ziegeler: Vom diener der ewigen wisheit zum Autor Heinrich Seuse. Autorschaft und Medienwandel in den illustrierten Handschriften und Drucken von Heinrich Seuses ‚Exemplar‘. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 – 1450. DFG-Symposion 2000. Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart/Weimar 2001, S. 150 – 181. Seuse (Anm. 10), S. 528, Z. 5 f. Ebd., S. 532, Z. 1. Ebd., S. 531, Z. 16 f. Ebd., S. 531, Z. 19 f.
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ich die Verbesserung meines Lebens so lange aufgeschoben habe, dass ich mein Heil so lange verzögert habe. […] Wie viele Stunden, die nie wiederkommen, habe ich verloren!‘).³⁸ Für den discipulus hingegen gebe es noch Zeit, daher habe er, der sterbende Mensch, einen guten Rat für ihn: Er solle die traurige Erscheinung des sterbenden Menschen häufig vor sein inneres Auge stellen und ununterbrochen ins Gedächtnis rufen (ad memoriam iugiter reducas), damit er rechtzeitig Buße tut und der Gefahr einer mors indisposita, eines ungeordneten Todes, entkommt.³⁹ Der discipulus nimmt sich die Botschaft zu Herzen: Nachdem die Vision zu Ende ist, wendet er sich ernüchtert an Sapientia und erklärt: Discere mori propono, differre paenitentiam nolo, prolongare conversionem nullatenus volo (‚Ich habe mir vorgenommen, sterben zu lernen; ich will meine Buße nicht aufschieben; ich will meine Umkehr nicht weiter hinauszögern‘).⁴⁰ Der fundamentale Gegensatz ist ein temporaler: Auf der einen Seite steht der discipulus, der Zeit für die conversio hat, auf der anderen Seite der sterbende Mensch, für den die Zeit bereits abgelaufen ist. Im Verlauf der Vision häufen sich jedoch konkrete Hinweise auf die Bewegungsfreiheit bzw. Bewegungseinschränkung der Dialogpartner, die den Grundgedanken des Zeit-Habens in eine imaginierbare Szenerie des Raum-Habens umsetzen. Der discipulus hat ausreichend Platz, sich umzudrehen: Er wendet sich an die similitudo mortis, um diese anzusprechen (haec audiens, conversus ad eum dixit);⁴¹ am Ende des Gesprächs wendet er sich tränenvoll an seine Lehrmeisterin, an Sapientia, und spricht (Conversusque cum lacrimis ad dominum dixit) sowohl seine Dankbarkeit (tibi gratias refero) für die Belehrung als auch seine Entschlossenheit zur Umkehr aus (emendam promitto).⁴² Die similitudo mortis, die am Rande des Todes steht, befindet sich hingegen in einer Situation von bedrückender Enge. Ah me miserum, klagt der sterbende Mensch, puncturae mortis amarissimae circumdant me, et cor debile suffocare nituntur. O cordis angustiae et pressurae mortiferae (‚Ach ich Armseliger! Die Stacheln des bittersten Todes umgeben mich, und sie trachten danach, mein schwaches Herz zu ersticken. O Enge des Herzens und todbringender Druck!‘).⁴³ In dieser Bedrängnis ist er wie gefesselt und gefangen: mors […] comprehendisti atque mille funibus ligasti, et in vinculis ferreis tecum trahis (‚Tod […] du hast [mich] umfangen und mit tausend Stricken gefesselt, und du führst mich in eisernen Stricken mit dir hinweg‘);⁴⁴ nunc autem sicut pisces capiuntur hamo, et sicut
Ebd., S. 532, Z. 1– 6 u. 26 f. Ebd., S. 535, Z. 17– 19: Tu vero, si cum paucis ab hoc periculo mortis indispositae salvari desideras, audi consilium meum, et hanc meam, quam vides, tristem personam frequenter oculis tuis obicias et ad memoriam iugiter reducas. Ebd., S. 538, Z. 11 f. Ebd., S. 529, Z. 1. Ebd., S. 537, Z. 28–S. 538, Z. 4. Da die Figur der Sapientia auch für Christus, die ‚Weisheit Gottes‘ (1 Kor 1), steht, wird sie häufig ebenfalls mit dem Maskulinum dominus betitelt. Seuse (Anm. 10), S. 536, Z. 20 – 22. Ebd., S. 528, Z. 17 f.
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aves comprehenduntur laqueo, sic captus sum in tempore malo (‚Nun aber wie die Fische mit der Angel gefangen werden und wie die Vögel in das Garn verstrickt werden, so bin ich auch zur bösen Zeit gefangen worden‘);⁴⁵ Ah mi Deus, nunc in foveam profundam cecidi, laqueum mortis incurri (‚Ach mein Gott! Jetzt bin ich in eine tiefe Fallgrube hineingestürzt, ich habe mich in der Schlinge des Todes verfangen‘);⁴⁶ vinculis mortis alligatus sum (‚Ich bin mit den Fesseln des Todes gebunden‘);⁴⁷ seine Bewegungsfreiheit ist auf eine einzige mentale Kehre reduziert: oculum mentis ad purgatorium, quo iam deducendus sum, converto (‚Ich wende das geistige Auge dem Fegefeuer zu, wohin ich jetzt hinabgeführt werde‘).⁴⁸ Schon zu Beginn der Vision kennzeichnet sich die similitudo mortis als eine Figur, die auf allen Seiten vom Tod umschlossen ist. Ihre ersten Worte sind ein Zitat aus dem 17. Psalm: circumdederunt me gemitus mortis; dolores inferi circumdederunt me (‚Mich umfing das Gestöhne des Todes; mich umfingen die Schmerzen der Unterwelt‘).⁴⁹ Diese einleitenden Worte lassen die Figur, die sie spricht, als äußerst ambivalent erscheinen: Einerseits ist sie mit dem Personalpronomen me identisch, nimmt also die Position des umschlossenen Ichs ein; da man aber die Wehklagen der similitudo mortis als in menschlicher Sprache artikulierte gemitus und dolores auffassen kann, ist die Stimme auch die Versprachlichung dessen, was das Ich umgibt. Die Figur steht für sowohl das Umgebene als auch die Umgebung, sie ist die Verkörperung einer Paradoxie, die sich im Imaginationsraum des Textes, mit seiner Gegenüberstellung von Bewegungsfreiheit und -beschränkung, von Weite und Enge, nicht unterbringen lässt, weil die räumlichen Kategorien von Hier und Dort, Innen und Außen, bei ihr nicht greifen. Die similitudo mortis geht trotz der rhetorisch aufwändigen Darstellung als Gefangene und Gefesselte letztendlich nicht in Bildern auf, wie sie von der visuellen Phantasie entworfen werden; die similitudo ist vielmehr imaginierbar als akustisches Phänomen: als ein einziges schmerzhaftes Gestöhne, das von der Figur emaniert und zugleich auch außerhalb ihrer ertönt, und daher atopisch, in keinerlei Bild des Gefangen- oder Umfangen- oder Eingeengtseins übersetzbar ist.
IV Donec revertaris in terram Die Figur der Kehre kann auch für den Rhythmus des Textes bestimmend sein: Es gibt Schriften, deren Diskurs immer wieder zu denselben Aussagen, Topoi und Gemeinplätzen zurückkehrt, sodass die Lektüre des Textes selbst zu einem ‚Kehr-Erlebnis‘ – zu einem meditativen Mitvollzug einer ständigen Rückkehr zum Ausgangspunkt – wird. Der eingangs zitierte Brief von Geert Grote, zum Beispiel, entwickelt zwar ein
Ebd., S. 530, Z. 17– 19; vgl. Koh 9,12. Seuse (Anm. 10), S. 531, Z. 9. Ebd., S. 531, Z. 22. Ebd., S. 537, Z. 4 f. Ebd., S. 528, Z. 9 f. Seuse zitiert Ps 17,5 nach dem Psalterium Romanum.
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linear fortschreitendes Argument, das sich in Stichworten zusammenfassen lässt: Es ist der Teufel, der dich in Versuchung geführt hat. – Du sollst ihm gleich am Anfang widerstehen, weil es schwerfällt, die Sünde zu unterlassen, wenn man sie sich einmal angewöhnt hat. – Wer weiterhin sündigt, ist ewig verdammt. – Daher sollst du rechtzeitig umkehren, bevor es zu spät sein wird. Der Fortgang dieser Überredungsstrategie wird jedoch von der ständigen Wiederholung zweier Gemeinplätze – der Hinterlist des Teufels und der vanitas der Welt – begleitet, die den tragenden Gedanken des Appells zur Umkehr hartnäckig wie ein Ostinato einhämmern: mille tuas artes ostendisti (‚Du [der Teufel] hast tausend deiner Listen eingesetzt‘);⁵⁰ Vide calliditatem hostis (‚Nimm die Verschlagenheit des Feindes wahr!‘);⁵¹ [dyabolus] bonam voluntatem mirabili colore et industria curat corrumpere (‚[Der Teufel] bemüht sich mit erstaunlicher Täuschung und außerordentlichem Fleiß, den guten Willen zu zerstören‘);⁵² O dilecta anima mea, […] quam ingens erit gloria tua et locus habitacionis tue. O si Domino per hec transitoria permanenter et perseveranter adheseris (‚O meine geliebte Seele, […] wie groß wird deine Herrlichkeit sein, wie groß deine Wohnstätte! O wenn du dauernd und beharrlich durch diese Vergänglichkeit hindurch dem Herrn treu bleibst!‘);⁵³ Considera quam breve et momentaneum est, quod hic vivimus (‚Bedenke, wie kurz und vergänglich unser Leben hier ist!‘);⁵⁴ Transierunt omnia illa tanquam umbra et tamquam nuncius percurrens (‚All das ist vorbei wie ein flüchtiger Schatten und wie eine Nachricht, die vorübergeht‘).⁵⁵ Als besonders elaboriert erweisen sich die Rhythmik und Periodizität der topischen Wiederholungen in einem Andachtsbuch, das etwa gleichzeitig mit Grotes Brief und in derselben Region entstanden ist, es aber zu einer ungleich größeren Verbreitung und Resonanz gebracht hat. Das im letzten Viertel des 14. Jahrhunderts entstandene und von der Forschung gemeinhin der Autorschaft von Gerard van Vliederhoven, einem Angehörigen des Deutschen Ordens im Erzbistum Utrecht, zugewiesene Cordiale de quattuor novissimis hat mit ungefähr 180 erhaltenen Handschriften, über 45 Wiegendrucken und zahlreichen volkssprachlichen Übersetzungen als einflussreichstes eschatologisches Meditationsbuch des 15. Jahrhunderts zu gelten.⁵⁶ Die Bezeichnung des Werkes als cordiale (mlat. ‚Herzmittel‘) wird gleich in der Vorrede erklärt, die mit dem Sirachspruch memorare novissima tua eingeleitet wird:⁵⁷
Gerardi Magni Epistolae (Anm. 2), S. 124. Ebd., S. 125. Ebd., S. 130. Ebd., S. 124. Ebd., S. 127. Ebd., S. 128; vgl. Weish 5,9. Zu Überlieferung und Verbreitung des Cordiale siehe das Verzeichnis lat. und volkssprachlicher Hss. in: De veer utersten. Das Cordiale de quatuor novissimis von Gerhard van Vliederhoven in mittelniederdeutscher Überlieferung. Hrsg. von Marieluise Dusch. Köln/Wien 1975 (Niederdeutsche Studien. 20), S. 40*–68*. Die lat. und volkssprachlichen Inkunabeldrucke sind unter GW 7469 – 7561 verzeichnet. Zur Verfasserfrage siehe Dusch, S. 8*–15*; Richard F. M. Byrn: Late Medieval Eschatology.
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Memorare novissima tua et in eternum non peccabis. Eccles[iastici] viio. Sicud dicit beatus Augustinus in libro suarum meditationum: Plus vitanda est sola peccati feditas quam quelibet tormentorum immanitas. Cum igitur novissimorum noticia et illorum frequens memoria a peccatis nos revocat, virtutibus copulat, et in omni opere bono retinet et confimat, ideo divina inspirante gratia de hiis novissimis, videlicet que et quot sunt illa modicum proposui dicere et narrare. […] Verum cum totalis huius opusculi processus principaliter et precipue ad hoc conatur inducere ut novissimorum celebris memoria cordialiter et intime humanis cordibus continuo imprimatur, ergo videtur rei consonum ut presenti huic libellulo hoc nomen ‚Cordiale‘ loco sui tituli si placeat imponatur. „Gedenke deiner letzten Dinge, so wirst du niemals sündigen.“ Sir 7. Wie der selige Augustinus im Buch seiner Meditationen sagt: „Allein die Abscheulichkeit der Sünde sollte man mehr vermeiden als jede Entsetzlichkeit höllischer Strafen.“ Da das Erkennen und häufige Gedenken jener letzten Dinge uns von der Sünde zurückruft, mit der Tugend vereint und in allen guten Werken bewahrt und bestärkt, habe ich mir durch die Inspiration der göttlichen Gnade vorgenommen, von eben diesen letzten Dingen ein wenig zu reden und zu erzählen, und zwar was sie sind und wie viele ihrer sind. […] Da ja das ganze Verfahren dieses kleinen Werkes vor allem und insbesondere darauf ausgerichtet ist, zu bewirken, dass das häufige Gedenken an die letzten Dinge auf herzinnige Weise und ununterbrochen ins menschliche Herz eingeprägt werden sollte, scheint es daher der Sache angemessen zu sein, dem vorliegenden Büchlein, wenn man es für gut findet, den Titel ‚Herzmittel‘ zu geben.⁵⁸
Das Werk besteht aus zwölf homilienartigen Reden über die vier letzten Dinge Tod, Gericht, Hölle und Himmel.⁵⁹ Die erste Rede über den Tod, die den Titel Quod mors facit hominem se humiliare (‚Der Tod führt den Menschen dazu, dass er sich zur Demut bewegt‘) trägt, ist wie alle anderen Reden des Cordiale im Grunde eine Sammlung von Sentenzen, Maximen und Exempeln aus biblischen, patristischen und nachpatristischen Schriften;⁶⁰ das Besondere daran ist die Konsequenz, mit der propositionaler
Gerard van Vliederhoven’s Cordiale de IV novissimis. In: Proceedings of the Leeds Philosophical and Literary Society. Literary and Historical Section 18,2 (1979), S. 55 – 65, hier S. 58 – 60. Der lat. Text ist unediert, im Folgenden wird er nach der ältesten erhaltenen Hs. zitiert: Cordiale seu Quatuor novissima. Utrecht, Universiteitsbibliotheek, Hs. 331 (Hs. 4 J 18), um 1390 – 1400, fol. 37r–96v (http://objects.library.uu.nl/reader/resolver/.php?obj=002649444&type=2, Zugriff: 26.02.18). Wo die Hs. korrektur- oder ergänzungsbedürftig erschien, wurden zwei weitere Textzeugen zum Vergleich herangezogen: London, British Library, Additional Ms. 41618, 15. Jh., und der Inkunabeldruck von Richard Paffraet, Deventer 1491, GW 7508 (http://objects.library.uu.nl/reader/resolver/.php? obj=000977074&type=2, Zugriff: 26.02.18). Sämtliche editorische Eingriffe – bis auf die Einführung moderner Interpunktion und die Auflösung gängiger Abkürzungen – sind durch Kursivierung kenntlich gemacht; dass der so verbesserte Text den Status eines kritischen Textes nicht beanspruchen kann, ist selbstverständlich. Cordiale (Anm. 57), fol. 37r–37v. Das Augustinus zugeschriebene Zitat entstammt Anselm, Oratio 14. In: Schmitt (Anm. 8), Bd. 3, S. 55 – 61, hier S. 59. Einen Überblick über Inhalt und Aufbau des Cordiale gewährt Byrn (Anm. 56), S. 56 f. u. Anm. 5. Für den Nachweis der Zitate siehe den Stellenkommentar zur Ausgabe der frühen engl. Übersetzung des Cordiale: The Cordyal by Anthony Woodville, Earl Rivers. Hrsg. von J. A. Mulders. Nijmegen 1962, S. 153– 204.
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Gehalt, paränetische Absicht, diskursiver Rhythmus und die darauf basierende Kontemplation des Endes von ein und demselben Prinzip der Wiederkehr abgeleitet sind. Die zentrale Botschaft der Rede ist in einem ständig wiederkehrenden Bibelwort zusammengefasst: Gen 3,19: in sudore vultus tui vesceris pane donec revertaris in terram de qua sumptus es quia pulvis es et in pulverem reverteris (‚Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zur Erde wiederkehrst, von der du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.‘ Text der Vulgata. Der Autor wechselt zwischen dieser Fassung und derjenigen der Vetus Latina: donec convertaris in terram ex qua sumptus es: quia terra es, et in terram ibis; ‚bis du zur Erde wiederkehrst, von der du genommen bist. Denn Erde bist du und in die Erde gehst du‘). Damit wird – wie es im Zusammenhang einer eröffnenden Rede angebracht ist – dem leiblichen Tod eine Definition gegeben: Er ist die Rückkehr des Körpers zum leblosen Element, aus dem er gemacht worden ist, die Rückkehr in den Zustand von Schlamm oder Staub, bevor dieser vom Atem Gottes belebt wurde (vgl. Gen 2,7: formavit igitur Dominus Deus hominem de limo terrae [Vetus Latina: finxit Deus hominem pulverem de terra] et inspiravit in faciem eius spiraculum vitae – ‚Da formte der Herr den Menschen aus dem Schlamm der Erde [bildete Gott den Menschen als Staub von der Erde] und blies den Lebensatem in sein Gesicht‘). Die Definition des Todes als Rückkehr zur Erde hat ihre Entsprechung in der intendierten Wirkung der Rede auf den Leser: „Daher sage ich,“ erklärt der Autor, indem er an die Überschrift der Rede anknüpft, „dass das Gedenken an den Tod den Menschen zur Demut bewegt“ (Dico igitur quod mortis memoria facit hominem se humiliare). Nun bedeutet humiliare wörtlich ‚der Erde (humus) gleichmachen‘;⁶¹ der Leser, der über die Bestimmung des Todes als Rückkehr zur Erde meditiert, wird selbst der Erde gleichgemacht, und zwar in doppeltem Sinne: Er erkennt, dass er von Erde ist und zur Erde zurückkehren muss; er wird durch diese Einsicht gezwungen, seinen Hochmut abzustreifen und sich zu demütigen. Gerade die humiliatio des Lesers ist die intendierte Wirkung einer längeren Passage, die die einleitende Behauptung des Autors anhand einer Ansammlung von autoritativen Zitaten begründet; diese auf die Erzeugung von Demut zielende Demonstration gipfelt in einem imaginären Gräberbesuch, der den Leser mit der unausweichlichen Reduktion aller Menschen zu Erde konfrontiert und diese physische Reduktion außerdem um eine linguistische erweitert, indem das Nomen appellativum homo ‚Mensch‘ auf seine vermeintliche Wurzel humus ‚Erde‘ zurückgeführt wird: Item dicit Crisostomus in libello de reparacione lapsi: Quid profuit illis qui in luxuria corporis et presentis vite voluptatibus usque ad diem ultimum permanserunt? Intuere nunc sepulchra eorum […] Accede propius ad singulorum sepulchra, vide cineres solos et fetidas vermium reliquias, et recordare hunc corporum esse finem. […] Item Bernardus in suis Meditationibus sic inquit: […] Nichil ex eis [amatores mundi] remansit nisi cineres et vermes. Attende diligenter quid sunt, quid fuerunt. Homines fuerunt sicut tu […] quidquid illis accidit tibi accidere potest, quia homo es, homo de humo et limus de limo. De terra es, de terra vivis, et in terram reverteris.
Vgl. TLL. Bd. 6, Sp. 3100, s. v. humilio.
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Ebenso sagt Johannes Chrysostomos in seiner kleinen Schrift Über die Wiederherstellung des Sündenfalls: „Was hat es denjenigen Menschen genutzt, die bis zu ihrem letzten Tag in der Üppigkeit des Körpers und den Freuden des gegenwärtigen Lebens verblieben sind? Betrachte nun ihre Gräber […]. Tritt näher an das Grab jedes einzelnen heran, erblicke allein Asche und die übelriechenden Reste von Würmern, gedenke, dass dies das Ende des Körpers ist.“ […] Auch Bernhard [von Clairvaux] sagt in seinen Meditationen: „[…] Nichts ist von [den Liebhabern der Welt] zurückgeblieben, außer Asche und Würmern. Merke dir ganz genau, was sie sind und was sie waren. Sie waren Menschen, so wie du. […] Was immer mit ihnen geschehen ist, kann auch mit dir geschehen. Denn du bist ein Mensch, ein Mensch von Erde und Schlamm von Schlamm. Du bist von Erde, du lebst von der Erde, und zur Erde wirst du zurückkehren.“⁶²
In der Vorrede bezieht sich der Autor auf totalis huius opusculi processus, ‚das Verfahren dieses ganzen kleinen Werkes‘. Das mittellateinische Substantiv processus bedeutet sowohl ein objektiv sich entfaltendes Fortschreiten als auch ein vom menschlichen Subjekt bewusst gewähltes und angewendetes Verfahren; speziell kann es die Darstellungs- oder Argumentationslinie eines Buches bezeichnen.⁶³ Im Zusammenhang bezieht sich der Ausdruck totalis huius opusculi processus sowohl auf die rhetorisch durchkomponierte argumentatio des Textes als auch auf deren Nachvollzug durch den Leser, der die Rede verfolgt und in ebendiesem Prozess einer die Argumentationsstruktur nachzeichnenden meditativen Lektüre das Gedenken an die letzten Dinge verwirklicht und – um das Bild des Autors aufzugreifen – in sein Herz einprägt. Beide Aspekte des processus, die rhetorische argumentatio und der Nachvollzug durch den Leser, entfalten sich in der Zeit und unterliegen einem Rhythmus;⁶⁴ in der ersten Rede des Cordiale über den Tod wird dieser Rhythmus bestimmt durch den Satz „Die Menschen sind von Erde und kehren zur Erde zurück“, der im Verlauf der Ausführungen in immer neuen Varianten wiederkehrt:
Cordiale (Anm. 57), fol. 39r–39v. Vgl. Johannes Chrysostomos: De reparatione lapsi, 9. In: Jean Chrysostome: A Theodore. Hrsg. von Jean Dumortier. Paris 1966 (Sources Chrétiennes. 117), S. 257– 322, hier S. 278, Z. 17– 29; Ps.-Bernhard: Mediationes piissimae de cognitione humanae conditionis, 3.9 f. (PL 184, Sp. 491a–c). Die Etymologie homo < humus ist nicht original, sondern von Isidor von Sevilla übernommen; vgl. Isidor von Sevilla: Etymologiarum sive originum. Libri XX. Hrsg. von Wallace Martin Lindsay. Oxford 1911, 1.29.3 u. 10.1. Siehe besonders das Lexicon Latinitatis Nederlandicae Medii Aevi. Bd. 6, Sp. 1003 – 1009, s. v. processus. Zu den auf verschiedenen Ebenen des Cordiale wirksamen Zeitsemantiken siehe jetzt Stefan Abel: Memorare novissima tua. Vom Umgang mit der Zeit in Gerards van Vliederhoven ‚Cordiale de quatuor novissimis‘ aus dem Umkreis der Devotio moderna. In: Die Zeit der letzten Dinge. Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Julia Weitbrecht, Andreas Bihrer, Timo Felber. Göttingen 2020 (Encomia Deutsch. 6), S. 165 – 194. Seiner Charakterisierung des idealen Rezeptionszustands als „routinierte Zeitvergessenheit, welche die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schwinden lässt“ (S. 193), vermag ich mich allerdings nicht anzuschließen; vielmehr ist Zeitlichkeit im Nachvollzug des Rhythmus des textlichen processus für den meditierenden Leser des Cordiale stets spürbar.
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Quis ergo non timebit et se humiliabit, cum certissime scit se iam moriturum et in terram reversurum. Nulla enim erit personarum exceptio, sicud nec fuit ab initio, nam ut scribitur [II] Regum xiiiio: Omnes morimur et quasi aque dilabimur in terram que non revertuntur. Wer wird sich folglich nicht fürchten und demütigen, da er nun ganz genau weiß, dass er sterben und zur Erde zurückkehren muss? Es wird ja keine Ausnahme der Personen geben, wie es am Anfang auch nicht anders war, denn, wie im 2. Buch der Könige Kap. 14 [2 Sam 14,14] geschrieben steht: „Wir sterben alle, und wir werden verrinnen in der Erde wie Wasser, das nicht wiederkehrt.“⁶⁵ Attende igitur et vide principium vite tue, et medium ac finem sive terminum, et invenies maximam occasionem et causam temetipsum humiliandi. Quid cogitas, quid dicis, quid teipsum facis: nonne pulvis es et terra? Scriptum enim Eccles. xiio: Revertatur pulvis in terram suam unde erat. In terram vilissimam in terram putridam vermibus repletam. Job xviio: Putredini dixi pater meus es, mater mea et soror mea vermibus. Item Eccles. xviio: Omnis homo terra et cinis. Et Genesis iiio: Reverteris in terram de qua sumptus es, quia pulvis es et in pulverem reverteris. Bedenke und betrachte daher den Anfang deines Lebens, auch die Mitte und das Ende oder Ziel, und du wirst den größten Grund und Anlass zur Selbsterniedrigung entdecken. Was du auch immer denkst oder sagst oder aus dir machst: Bist du nicht Staub und Erde? Denn es steht geschrieben Prediger 12 [Koh 12,7]: „[Ehe] der Staub zu seiner Erde zurückkehrt, von der er gekommen war,“ zur überaus wertlosen Erde, zur morschen wurmerfüllten Erde. Ijob 17 [V. 14]: „Ich rief zur Fäulnis: Du bist mein Vater; zu den Würmern rief ich: Ihr seid meine Mutter und meine Schwester.“ Ebenso Jesus Sirach 17 [V. 31]: „Alle Menschen sind Erde und Asche“; außerdem Genesis 3 [V. 19]: „Du wirst wieder zu Erde, davon du genommen bist. Denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück.“⁶⁶
Die Rede schließt mit einer Peroration, die hauptsächlich aus einem längeren Zitat aus dem Kommentar zum Buch Ijob des Petrus von Blois besteht. Einen Vers aus Jeremia kommentierend (22,29: ‚O Erde, Erde, Erde, höre das Wort des Herrn!‘), den er auf Ijob 1,21 bezieht (‚Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter; nackt kehre ich dahin zurück‘), erklärt Petrus die dreimalige Wiederholung des Wortes terra folgendermaßen: Ter vocat hominem terram, nam tripliciter potest homo dici terra. Est enim terra, quia de terra creatur, in terra conversatur, et finaliter in terram redit et mutatur. Terra est creatione, conversatione et morte. Terra est natura, vita et sepultura. Nam sapit terram, lingit terram, sitit et concupiscit. Conglutinatus est in terra venter eius. Descendit in inferiora terre celestium oblitus. Pro terra litigat, pro terra pugnat, pro terra mare navigat, pro terra terram circuit et perambulat et sepius pro terra nunc huc nunc illuc homo miserabilis anxius laborat: nec a talibus cessat, donec qui de terra sumptus est revertitur in materiam primam videlicet in terram, dicens illud III Regum iio: Ecce ego ingredior viam universe terre. Et ideo: Cum fex, cum limus, cum res vilissima simus, Unde superbimus, qui ad terram terra redimus? [Jeremia] nennt den Menschen ‚Erde‘ dreimal, weil der Mensch auf dreifache Weise ‚Erde‘ heißen kann. Der Mensch ist Erde, weil er aus Erde geschaffen ist; sein Umgang ist auf der Erde; am Ende kehrt er zur Erde zurück und wird in Erde verwandelt. Er ist Erde kraft seiner Erschaffung, kraft
Cordiale (Anm. 57), fol. 38r. Ebd., fol. 42r.
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seines Umgangs, und kraft seines Todes. Die Erde ist seine Natur, sein Leben, sein Grab. Denn er schmeckt Erde, leckt Erde, empfindet Durst und Begehren nach der Erde: „Sein Bauch klebt fest an der Erde“ [Ps 43,25 in der Fassung des Psalterium Gallicanum]. Er steigt in die unteren Teile der Erde hinab, nachdem er das Himmlische vergessen hat. Er führt Prozesse um der Erde willen; er kämpft für Erde, befährt die Meere um der Erde willen, bereist und durchwandert die Erde um der Erde willen; angsterfüllt müht sich der elende Mensch häufiger um der Erde willen ab, mal hierhin, mal dorthin, und er lässt von solchen Bemühungen nicht ab, bis er, der von der Erde genommen war, zu seiner ersten Materie, das heißt zur Erde, zurückkehrt, wobei er dieses Wort aus dem 3. Buch der Könige Kap. 2 [1 Kön 2,2] spricht: „Sieh da, ich gehe nun den Weg alles Irdischen.“ Daher heißt es: „Wir, die wir nur Abschaum sind, nur Schlamm und Schund, / Haben wir als Erde, die zurück zur Erde muss, / zum Stolz auch nur den kleinsten Grund?“⁶⁷
Die Behauptung, der Tod sei die Wiederkehr des Menschen in seinen Ursprung, kehrt also im processus des Textes immer wieder. Diese Homologie von Aussage und Zeitstruktur hat ihrerseits zur Folge, dass der Leser, der den argumentativen Rhythmus des Cordiale meditativ nachzeichnet, eine Rede über die Wiederkehr als Wiederkehr erlebt: als die sich wiederholende Rekurrenz des Arguments auf den Spruch donec revertaris in terram de qua sumpta es. Dieses Kehr-Erlebnis hat sowohl einen formalen als auch einen inhaltlichen Aspekt. Formal entfaltet sich die eschatologische memoria als stetige Rückkehr zu demselben Ausgangspunkt, und in eben diesem Rhythmus des „unablässigen Atemholens“, wie Benjamin die Form der Kontemplation nennt,⁶⁸ vergegenwärtigt sich der Leser sein künftiges Ende als unvermeidliche Rückkehr in seine ‚erste Materie‘, die Erde. In beider Hinsicht, der formalen wie auch der inhaltlichen, verwirklicht sich das Zukünftige in der Rückkehr zum Vergangenen: zum früher Gelesenen (dem Genesisspruch) und zum früher Gewesenen (der Erde beziehungsweise dem Schlamm oder Staub). Das Ergebnis des processus des Cordiale ist, dass in der Hinwendung der memoria zur fernen eschatologischen Zukunft lauter Vergangenes erlebt und erkannt wird.⁶⁹
Ebd., fol. 43r. Vgl. Petrus von Blois: Compendium in Job, Kap. 1; PL 207,810b. Benjamin (Anm. 16), S. 10. Danken möchte ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des im Juni 2017 in Münster stattgefundenen Kolloquiums „Anthropologie der Kehre“, insbesondere Udo Friedrich und Thomas Lentes, für wertvolle, sowohl im Rahmen der Tagung als auch in deren Nachfeld gegebene Anregungen und Hinweise. Gesine Manuwald in London hat die Druckfassung des Vortrags durchgesehen, die Übersetzungen der lateinischen Originaltexte überprüft und an vielen Stellen verbessert; ihr gilt mein besonders herzlicher Dank.
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Umkehr: Rhetorischer Topos und epistemische Figur I Rhetorik der Inversion Zu den wirkungsmächtigsten Figuren der Rhetorik zählt der Topos der Umkehr. Er wendet das Argument des Gegners gegen ihn selbst und schlägt ihn gewissermaßen mit seinen eigenen Waffen.¹ Höchste rhetorische Virtuosität schreibt schon Aristoteles der Antithetik und Kürze des Arguments zu.² Entsprechend pointiert verfährt der römische Historiker Valerius Maximus in den Facta et dicta memorabilia. Ein frecher Sizilianer antwortet dem Prokonsul von Sizilien, der sich über ihre verblüffende Ähnlichkeit wundert und dazu bemerkt, sein Vater sei seines Wissens niemals in diese Provinz gekommen, schlagfertig: „Aber mein Vater kam häufig nach Rom.“³ Der Topos der Umkehr bezieht seine Wirkungsmacht aus der überraschenden Pointe, und er offenbart eine Beweglichkeit des Geistes, die einen Sachverhalt zugleich aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick zu nehmen vermag. Wie jede Medaille zwei Seiten hat, erweist sich die Rhetorik über die Praxis des Umkehrarguments (in utramque partem) auch als ein zweischneidiges Schwert.⁴ Durch die Figur der Umkehrung legt die Rhetorik zwei ihrer grundlegenden Techniken offen: einerseits, dass man immer mit dem Gegenteil rechnen muss, andererseits die Operation der Transformation.⁵ Mit anderen Worten Gleiches zu sagen, bezeichnet ebenso ein klassisch
„Ein weiterer [Topos] resultiert daraus, daß man das, was der Redner gegen uns gesagt hat, gegen ihn verwendet.“ Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. Sieveke. München 1980, 1398a. Vgl. ebd., 1412b. Valerius Maximus: Sammlung merkwürdiger Reden und Thaten. Übersetzt von Friedrich Hoffmann. 5 Bde. Stuttgart 1828 – 29, IX,14, ext 3; ‚at meus‘ inquit ‚Romam accessit‘. Valeri Maximi: Facta et dicta memorabilia. Hrsg. von John Briscoe. 2 Bde. Stuttgart/Leipzig 1998, IX,14, ext 3. Vgl. Manfred Fuhrmann: Das Exemplum in der antiken Rhetorik. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel. München 1983 (Poetik und Hermeneutik. 5), S. 449 – 452, hier S. 451; Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policraticus“ des Johannes von Salisbury. Hildesheim u. a. 1988 (Ordo. 2), S. 279 – 284. Vgl. Roland Barthes: Die alte Rhetorik. In: ders.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. Main 1988, S. 15 – 101, hier S. 57. Wenn Quintilian vom Pathos handelt, fordert er vom Redner, dass dieser sich selbst in die Lage des Betroffenen zu versetzen vermag. Was uns schon in Mußestunden widerfahre, dass wir Phantasiegebilden, Hoffnungen und Träumen lebhaft nachhängen, solle in der Rede vor dem Richter als Technik eingesetzt werden: „Sollen wir aus dieser Schwäche nicht einen geistigen Gewinn machen?“ (VI,2,30) Aus der Schwäche eine Stärke machen ist nicht nur argumentative, sondern auch performative Strategie des Redners. Marcus Fabius https://doi.org/10.1515/9783110706093-006
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rhetorisches Verfahren wie mit gleichen Worten Anderes.⁶ Beide Operationen verlagern den Vorgang der Umwandlung noch auf die sprachliche Ebene, zum Beispiel über die Tropen. Zum Arsenal der rhetorischen Argumentationstechniken gehören daher neben Figuren der Ähnlichkeit auch eine Reihe von Umkehrfiguren, die weniger auffällig sind: am prononciertesten die Ironie, die als das Gegenteil des Ausgesprochenen verstanden werden will, aber auch die rhetorische Frage.⁷ Sie verweisen auf den elementaren Befund, dass das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit nicht nur denotativ ist, sondern dass Reflexion ganz im etymologischen Sinn von reflectere auch ein sprachliches Umdrehen impliziert.Von Nietzsche über Roman Jakobson bis hin zu Lakoff/Johnson wurde immer wieder die Frage diskutiert, ob die Trope eine anormale Figur der Sprache ist, oder ob nicht umgekehrt „das linguistische Paradigma par excellence“.⁸ Selbst das Verhältnis von Regel (Grammatik) und Abweichung (Rhetorik) ließe sich somit aus entgegengesetzten Perspektiven betrachten. Aristoteles gibt in der Rhetorik ein prägnantes Beispiel aus den Fragmenten des Euripides für den Topos ex contrariis, das sogar den Geltungsanspruch der wichtigsten Leitunterscheidung einschleift und das als Grundaxiom der Rhetorik gelten kann: Doch wenn im Menschenleben Lügen oft den Schein Der Wahrheit haben, darfst auch glauben umgekehrt, Daß manches wahr sei, was unglaublich uns erscheint.⁹
Hier steht grundsätzlich das Verhältnis von Wahrheit und Lüge einerseits, andererseits das von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit beziehungsweise Möglichkeit zur Diskussion. Besteht der Vorwurf gegen die Rhetorik in der Regel darin, Lügen für Wahrheit auszugeben, ihrem eigenen Selbstverständnis nach, das schwächere Argument zum stärkeren zu machen, so ist die Grenzziehung in sozialer Interaktion offenbar nicht so einfach. Das Wahrscheinliche steht zwischen dem Wahren und dem Falschen. Wesentliche soziale und kulturelle Fragestellungen gehen in einer rein logischen Behandlung nicht auf, sodass nicht überall das tertium non datur gilt. Die idealisierte Situation der Unterscheidung, verbildlicht etwa im Schema des Scheidewegs, kann keine allgemeine Geltung beanspruchen; der Kompromiss, die Reflexion oder die Umkehrung der Fragestellung helfen mitunter weiter. Gegen den Regelan-
Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. und übersetzt von Helmut Rahn. Erster Teil. 2., durchgesehene Aufl. Darmstadt 1988 (Texte zur Forschung. 3), VI,2,30. Augustinus verweist auf diese Konstellation als hermeneutisches Problem. Augustinus: Confessiones – Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart. München 1988, XIII,24,36. Vgl. Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Bad Homburg/ Berlin/Zürich [1966], S. 44 f. Zur Ironie vgl. Quintilian (Anm. 5), VI,2,15. Zu Nietzsche vgl. Paul de Man: Rhetorik der Tropen. In: ders.: Allegorien des Lesens. Frankfurt a. Main 1988, S. 146 – 163, hier S. 148. Aristoteles (Anm. 1), 1397a; vgl. hierzu auch ebd., S. 262.
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spruch kann bisweilen auch die exemplarische Ausnahme ins Feld geführt werden. Umkehr stellt innerhalb der Rhetorik auf mehreren Ebenen ein operatives Prinzip dar.
II ‚Die Weisheit der Formel‘: Common Sense André Jolles’ Buch über die ‚Einfachen Formen‘ enthält auch einen Abschnitt über den Spruch, der sich in Sprichwörtern und Sentenzen vergegenwärtigt. Erfasst werde über diese Form „eine Mannigfaltigkeit von Einzelwahrnehmungen und Einzelerlebnissen“, die zwar auf Erfahrung verweisen, aber „nicht imstande sind, zusammen als Zeit zu verlaufen“.¹⁰ Sie sperren sich gegen begriffliche Synthese, gegen die systematische Relationierung von Teilen und Ganzem, „diese Welt ist nicht Kosmos, sie ist Sonderung, sie ist Empirie“.¹¹ Sie zielt nicht auf homogene Wahrheit, sondern auf die Komplexität der Wirklichkeit, die durchaus Widersprüchliches enthält. Die rhetorische Form der Sentenz impliziert schon nach Aristoteles eine formale Schlussfigur (Enthymem), die sich unendlich mit Erfahrungswissen besetzen lässt, und hierzu zählen auch Figuren der Umkehr. Wie Reziprozität als Ferment der Vergesellschaftung idiomatisch gefasst werden kann – Dû bist mîn, ich bin dîn (MF 3,1); einer für alle, alle für einen –, so können es auch die Erfahrungen wiederhergestellter Reziprozität: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein; vom Jäger zum Gejagten werden; wie du mir, so ich dir; Swie man ze walde rüefet, / daz selbe er wider güefet ¹². Solche Sprichwörter stehen als Warnsignale sozialer Grenzüberschreitung und evozieren auch in ihrer inversen sprachlichen Symmetrie eine alte Vorstellung von Gerechtigkeit: Gleiches mit Gleichem vergelten. Über die Technik der Umkehrung erhalten auch Formen der Selbstbehauptung – aus der Not eine Tugend, gute Miene zu bösem Spiel machen; aus Schaden klug werden – und der Prophylaxe – wer hoch steigt, fällt tief; liep âne leit mac niht sîn (MF 39,24); wer die Last vom Lager löst, auf den fällt sie herab – idiomatische Prägnanz.¹³ In Wendungen dieser Art kommt zum Ausdruck, dass das Leben nicht nur kohärenter Planung folgt, sondern vielfältigen Widerständen, Wechseln und Kontingenzen ausgesetzt ist. In der Welt des Sprichworts, des Common Sense, können sogar einander ausschließende Geltungsansprüche koexistieren – Gleich und Gleich gesellt sich gern; Gegensätze ziehen sich an –, sodass das
André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. 8. Aufl. Tübingen 2006 [Halle a. d. Saale 1930], S. 155 f. Ebd., S. 156. Fridankes Bescheidenheit. Ein Laienbrevier. Hrsg. von Heinrich Ernst Bezzenberger. Halle 1872, 124,3. Zur letzten Sentenz vgl. Petrus Alfonsi: Die Kunst, vernünftig zu leben (Disciplina clericalis). Dargestellt und aus dem Lateinischen übertragen von Eberhard Hermes. Zürich/Stuttgart 1970, S. 155. [Q]quod qui pendulum soluerit, super illum ruina erit; Die Disciplina Clericalis des Petrus Alfonsi (das älteste Novellenbuch des Mittelalters). Nach allen bekannten Handschriften hrsg.von Alfons Hilka und Werner Söderhjelm. Heidelberg 1911, S. 12.
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Entweder-oder der Logik um das Sowohl-als-auch der Rhetorik ergänzt wird. Gegenüber der rhetorischen Praxis löst sich der Topos der Umkehr von der konkreten Kommunikationssituation und reklamiert über die prägnante Formel übergeordnete Geltung. In metaphorische Sentenzen transformiert, macht er das Grundaxiom der Rhetorik, dass es immer auch anders sein kann, anschaulich und zum Bestandteil einer Kollektiverfahrung. Umkehr in diesem Sinn bezeichnet ein ‚soziales repräsentatives Wissen‘, sie wird zur epistemischen Figur auf der Ebene des Common Sense.¹⁴ Aus linguistischer Sicht besitzen Sprichwörter die Merkmale der ‚Fixiertheit und der ausdrucksseitigen Prägnanz‘, die in kognitiver Hinsicht der Memorierbarkeit dienen.¹⁵ Sprachliche Ökonomie fungiert als Technik der Entlastung. Aus soziologischer Perspektive ähneln sie der pragmatischen Logik des Rituals, das über die Form der Wiederholung soziales Einverständnis sichert.¹⁶ „Dies zeigt, nicht der denotative Gehalt der Formel gibt ihr ihren Wert; dieser liegt vielmehr […] in ihrer konnotativen Bedeutung für die Reproduktion des Common sense.“¹⁷ Entsprechend bündeln Sprichwörter der Umkehr kollektives Erfahrungswissen – Handlungsschemata, Einstellungen –, und sie können für die Beurteilung einer Vielzahl von Situationen aktiviert werden. Diese mit Hilfe von Sprichwörtern und idiomatischen Wendungen zu bewältigen, das heißt Erfahrungen auf Schemata zurückzuführen, unterscheidet sich von der Findung neuer Regeln. Aus dem Einzelfall eine allgemeine Aussage zu extrapolieren, bildet eine Herausforderung für die inventio, aus ihm eine Kette von Argumenten zu generieren, bezeichnet die Leistung. Ebenso erzählt man sich von Alexander, daß sein Grabmal von Gold gewesen sei und daß es in einer Halle gestanden habe, zu der alle Zugang hatten. Da seien nun viele weise Männer hingekommen, von denen einer diese Worte sprach: Alexander hatte sich einen Schatz von Gold verwahrt, nun hat umgekehrt das Gold ihn in Verwahrung genommen. – Ein zweiter sprach: Gestern genügte ihm die ganze Welt nicht, heute muß er mit vier Ellen Tuch zufrieden sein. – Ein anderer sagte: Gestern herrschte er über das Volk, heute gebietet das Volk über ihn. – Noch ein anderer sprach die Worte: Gestern vermochte er viele vom Tode zu erretten, heute konnte er selbst nicht dem Pfeil des Todes entgehen. – Wieder ein anderer hat gesagt: Gestern führte er das Heer, heute wird er von den Soldaten zum Grab geführt. – Ein anderer Weiser sprach: Gestern bedrückte er die Erde, heute lastet die Erde auf ihm. – Noch ein anderer sagte die Worte: Gestern fürchteten ihn die
Vgl. Alois Hahn: Zur Soziologie der Weisheit. In: Weisheit. Archäologie der literarischen Kommunikation III. Hrsg. von Aleida Assmann. München 1991, S. 47– 57, hier S. 49. Vgl. Helmuth Feilke: Common sense-Kompetenz. Überlegungen zu einer Theorie des ‚sympathischen‘ und ‚natürlichen‘ Meinens und Verstehens. Frankfurt a. Main 1994, S. 120. „Das Verstehen stellt sich erst im Vollzug einer bestimmten Praxis her. Der Vollzug verweist über ein kommunikatives Erfahrungswissen indexikalisch auf einen schematischen Komplex von Handlungen, Einstellungen und Wissen, über den sich Gemeinschaft in ihrem ‚Einverständnishandeln‘ (Max Weber) als Wertegemeinschaft reproduziert.“ Ebd., S. 130. Vgl. auch Manfred Eikelmann: altsprochen wort: Sentenz und Sprichwort im Kontext der mittelalterlichen Gnomik. In: JOWG 11 (1999), S. 299 – 315, hier S. 304. „Die sogenannte ‚Weisheit‘ der Formel besteht demnach primär in einer sozialen Obligation zur Teilung von Werten, Einstellungen und Wissen, die sich in der Fähigkeit zum Gebrauch und zur konformen Interpretation der Form(el) zeigt.“ Feilke (Anm. 15), S. 131.
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Völker, heute achten sie ihn gering. – Und wieder ein anderer sprach: Gestern hatte er Freunde und Feinde, heute ist er allen gleichgestellt. – Aber es würde zu weit führen, jeglichen Spruch wiederzugeben, den jeder der zweiunddreißig weisen Männer, die zugegen waren, über den mächtigen König gesprochen hat.¹⁸
Die Kette der Sentenzen formuliert zwar in vielfacher Variation einen vanitas-Topos aus und bringt damit eine elementare Erfahrung auf eine Regel, sie bildet aber auch ein Lehrstück rhetorischer Inventionstechnik und Transformation: mit anderen Worten Gleiches sagen.¹⁹ Kreativität realisiert sich hier als Variation einer Regel. An jedem Element des Begräbnisritus kann die inventio ansetzen, um ihm über eine prägnante Formel ein memento mori abzugewinnen. Über ihre Serialität fordern die Sentenzen aber auch schon zum Vergleich und zur Reflexion auf, die in diesem Fall die Wahrheit einer konventionalisierten Regel bestätigt. Umkehr dient hier weniger wie im rhetorischen Topos dem Widerspruch als der Herstellung von Konformität. Die Konfrontation von absoluter Macht des lebenden mit der absoluten Ohnmacht des toten Herrschers führt zu einer Fülle von Inversionsfiguren, die je für sich allgemeine Geltung beanspruchen können. Sie stehen repräsentativ für jeden überzogenen Herrschaftsanspruch und sie stellen Mahnungen dar, sich stets seiner Grenzen bewusst zu bleiben. Die Sprüche der weisen Philosophen finden sich in der Disciplina clericalis des Petrus Alfonsi wie in den Gesta Romanorum, in Exempelsammlungen mithin, die schon einen reflektierten Blick auf das Verhältnis von Regel, Sentenz und Fall werfen.²⁰
III Weisheit als Reflexionsfigur Als ein Sediment des kulturellen Gedächtnisses kann das Archiv der Sprichwörter und Sentenzen nicht systematisch, sondern nur enzyklopädisch (Lexikon) geordnet wer-
Petrus Alfonsi (Anm. 13), S. 214 f. Item dictum est de Alexandro quod sepultura eius foret aurea et in peruio omnibus atrio posita. Ad quam plurimi conuenerunt philosophi, de quibus ait unus: Alexander ex auro fecit thesaurum: nunc e conuerso aurum de eo facit thesaurum. – Alius: Heri totus non sufficiebat ei mundus: hodie quatuor sole sufficiunt ei ulne. – Alius: Heri populo imperauit: hodie populus imperat illi. – Alius: Heri multos potuit a morte liberare: hodie nec eius iacula ualuit deuitare. – Alius: Heri ducebat exercitus: hodie ab illis ducitur sepulture. – Alius: Heri terram premebat: hodie eadem premitur ipse. – Alius: Heri gentes eum timebant: hodie uilem eum deputant. – Alius: Heri amicos habuit et inimicos: hodie habet omnes equales. – Sed de triginta duobus philosophis circumstantibus quid quisque de potentissimo rege dixerit, memorie longum est reducere; Die Disciplina Clericalis des Petrus Alfonsi (Anm. 13), S. 48 f.Vgl. Karl-Ernst Geith: Wieviel Erde braucht der Mensch. Zur Gestalt und Nachwirkung eines Alexanderexempels. In: Antiquitates Renatae. Deutsche und französische Beiträge zur Wirkung der Antike in der europäischen Literatur. Festschrift für Renate Böschenstein zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Verena Ehrich-Haefeli, Hans-Jürgen Schrader, Martin Stern. Würzburg 1998, S. 19 – 34, hier S. 20 f. Vgl. von Moos (Anm. 4), S. 284. Gesta Romanorum. Hrsg. von Hermann Oesterley. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1872. Hildesheim 1963, Nr. 31.
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den.²¹ Es ist aber dynamisch ausgerichtet, viele Sprichwörter schreiben sich dauerhaft ein, andere verschwinden, neue kommen hinzu.²² Es gehört zu den Leistungen großer Rhetoren, dass sie in der Lage sind, Erfahrungswissen in prägnante Formen zu gießen, die als idiomatische Wendungen im kulturellen Gedächtnis verankert werden wie schon die Sprüche der Sieben Weisen in der Antike, diejenigen Salomons in der Bibel oder die Freidanks im Mittelalter.²³ Schon Seneca der Ältere hatte auf dieses Copyright berühmter Redner verwiesen.²⁴ Mit Alois Hahn kann diese Form des Wissens einer „Soziologie der Weisheit“ zugeordnet werden, sieht er doch letztere begründet in der Inkomensurabilität des Wirklichen gegenüber aller Theorie und Gelehrsamkeit. Wirklichkeit entzieht sich insofern immer den szientifischen Netzen, mit denen wir sie einzufangen hoffen. Dies liegt unter anderem an der Differenz von situativer Einzigartigkeit und begrifflicher Generalität. Die Fälle sind eben nicht als solche schon ‚im Prinzip‘ in der Theorie vorgesehen, so daß die Subsumption ein bloßer Sortierungsvorgang wäre […]. Subsumption als realer Vorgang der situativen Passung von Regel und Fall ist kreativ.²⁵
Wenn Solon der Spruch zugeschrieben wird, „Lerne zu gehorchen, und du wirst zu herrschen wissen“, und Seneca der Ältere über den Redner Porcius Latro schreibt, er sei Herr und zugleich Sklave seines Talents gewesen, überschreiten solche Sentenzen und Formeln schon die unmittelbare Evidenz eines Common Sense-Sprichworts.²⁶ Da Wissen an soziale Positionen gebunden ist, können Sentenzen auch ein Sonderwissen artikulieren.²⁷ Als Sprechakt bezeichnen Sentenzen der Umkehr bereits je für sich einen veritablen Wider-Spruch. Indem sie auf die „fehlende Kongruenz von Wissen und Situation“ verweisen und eine Kontrastrelation in paradoxer Kürze akzentuieren, partizipieren sie schon an der Wissensform der Weisheit, sie zwingen zur Reflexion und generieren damit ein Wissen über Wissen, ein Wissenswissen.²⁸ Weisheit setzt kulturelle Wissensbestände voraus und nimmt ihnen gegenüber eine distanzierte Position ein, in extremer Form etwa in der Sentenz „Ich weiß, dass ich nichts weiß“.²⁹ Vgl. Sibylle Hallik: Sententia und Proverbium. Begriffsgeschichte und Texttheorie in Antike und Mittelalter. Köln/Weimar/Wien 2007 (Ordo. 9). Vgl. Natalie Zemon Davis: Spruchweisheiten und populäre Irrlehren. In: Volkskultur. Zur Wiederentdeckung des vergessenen Alltags (16.–20. Jahrhundert). Hrsg. von Richard van Dülmen, Norbert Schindler. Frankfurt a. Main 1984, S. 78 – 116, hier S. 90. Vgl. Leben und Meinungen der Sieben Weisen. Griechische und lateinische Quellen erläutert und übertragen von Bruno Snell. 4., verbesserte Aufl. München 1971, S. 100 – 113; Fridankes Bescheidenheit (Anm. 12). Vgl. Lucius Annaeus Seneca der Ältere: Sentenzen, Einteilungen, Färbungen von Rednern und Redelehrern. Übersetzung und Anmerkungen von Otto und Eva Schönberger. Würzburg 2004, S. 22. Hahn (Anm. 14), S. 49 f. Leben und Meinungen der Sieben Weisen (Anm. 23), S. 103; zu Senecas Sentenz vgl. Lucius Annaeus Seneca der Ältere (Anm. 24), I,13 (S. 23). Nach Jolles kann der Spruch „Man muss Glück haben“ sowohl im Fall des Gelingens wie des Misslingens zur Anwendung kommen; vgl. Jolles (Anm. 10), S. 157. Vgl. Hahn (Anm. 14), S. 48. Ebd., S. 49 f. Ebd., S. 49.
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Zu wissen glauben, ohne zu wissen, bezeichnet die Kehrseite: Dummheit.³⁰ Und selbst das Wissen der Wissenden ist vor Kritik nicht gefeit: „Die Gelehrten, die Verkehrten“.³¹ Universale Ansprüche sind dem Reflexionswissen vor dem Hintergrund sozialer Konkurrenz und differenzierender Erfahrung verdächtig: Wer überall ist, ist nirgends; jedermanns Freund, jedermanns Narr; wer alles verspricht, verspricht nichts; wer alles will, kriegt gar nichts; wer viel redet, sagt gar nichts – und so weiter. Weist der Topos der Umkehr in der ‚Weisheit der Formel‘ schon über eine reine Pointe wie auch über die situationsspezifische Orientierung hinaus, so kann er über Reflexion die Widersprüche noch stärker hervortreiben. Es geht nicht mehr nur um Schlagfertigkeit im Rahmen eines rhetorischen Agons, auch nicht mehr um die Bewältigung lebensweltlicher Kontingenz im Allgemeinen, sondern um Schlussfolgerungen aus der Umkehrrelation elementarer Werte. Gegenüber der situationsspezifischen Klugheit bringt Hahn Weisheit mit Kants Urteilskraft in Verbindung, mit dem „Vermögen unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe oder nicht.“³² Wie rhetorische Technik und Reflexion ineinandergreifen und narrativ entfaltet werden können, zeigt ein Exempel aus dem Traktat Innozenz III. über das Elend des Menschengeschlechts: Ein Philosoph wollte einmal die Anmaßung eines Königs lächerlich machen. Als er ihn hoch oben auf seinem Throne sitzen sah, warf er sich demütig vor ihm auf die Erde, erhob sich dann aber sogleich, und ohne dazu aufgefordert worden zu sein, setzte er sich neben den König. Der König, der wußte, daß jener ein Philosoph war, wunderte sich und versuchte herauszubringen, warum jener das getan habe. Der Philosoph entgegnete: Entweder bist du ein Gott oder du bist ein Mensch. Bist du ein Gott, dann muß man dich anbeten, bist du aber nur ein Mensch, dann kann ich mich ruhig neben dich setzen. Der König drehte die Antwort um und bemerkte zu dem Philosophen: Wäre ich nur ein Mensch, hättest du mich nicht anbeten dürfen, bin ich aber ein Gott, dann kommt es dir auch nicht zu, dich neben mich zu setzen. Klug hat dieser geantwortet, umsichtiger jener pariert.³³
Vgl. ebd., S. 48 f. Vgl. Carlos Gilly: Das Sprichwort „Die Gelehrten, die Verkehrten“ oder der Verrat der Intelektuellen im Zeitalter der Glaubensspaltung. In: Forme e destinazione del messaggio religioso. Hrsg. von Antonio Rotondò. Firenze 1991, S. 229 – 375. Hahn (Anm. 14), S. 50. Lotario de Segni (Papst Innozenz III.): Vom Elend des menschlichen Daseins. Aus dem Lateinischen übersetzt und eingeleitet von Carl-Friedrich Geyer. Hildesheim u. a. 1990, S. 87 (Übersetzung leicht modifiziert): Porro philosophus quidam volens arrogantiam cuiusdam regis illudere, cum vidisset eum in throno regali sedere sublimem, prostratus in terram suppliciter adoravit et confestim non invitatus ascendens iuxta regem consedit. Quod rex vehementer admirans, eo quod nosset illum esse philosophum, quid hoc egerit exquisivit. Philosophus ergo respondit: ‚Aut Deus es, aut homo: si Deus, debui te adorare, si homo, potui iuxta te sedere.‘ Rex autem responsionem convertens contra philosophum intulit: ‚Imo si homo sum, non debuisti me adorare, si Deus, non debuisti iuxta me sedere.‘ Sapienter iste respondit, sed ille prudenter elusit. Lotharii Cardinalis (Innocentii III.): De miseria humane conditionis. Hrsg. von Michele Maccarone. Lucani 1955 (Thesaurus mundi. 7), S. 68, II,36(2).
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Verhandelt wird der Status des Königs zwischen Gott und Mensch, ein rekurrentes Thema der politischen Theologie des Mittelalters, in der Religion und Politik um die Deutungshoheit ringen.³⁴ Was aus theologischer Perspektive als Herrscherkritik erscheint, kann aber auf sie selbst zurückfallen. Die Schlussfolgerung des Erzählers konfrontiert zwei Arten der Rationalität, sie stellt den theologisch-philosophischen Anspruch auf Wahrheit gegen rhetorische Argumentationstechnik. Der Topos der Umkehr wird dabei mit dem der Konsequenz verbunden, der entgegengesetzte Schlüsse aus dem gleichen oder aus zwei konkurrierenden Sachverhalten zieht.³⁵ Je nachdem, ob der Herrscher Gott oder Mensch ist, lassen sich andere Schlüsse über Pflichten und Rechte ihm gegenüber ziehen. Das Exempel verhandelt mithin mehrere Axiologien: den Status des Königs zwischen Mensch und Gott, mehr aber noch den von Philosophie und Rhetorik und ihre Geltungsansprüche. Die rhetorische Technik wird sowohl im Horizont übergeordneter Werte situiert, wie auch ihre abschließende Beurteilung sichtbar Unbehagen bereitet. Gerade weil die Argumentation so symmetrisch verläuft, fällt eine Entscheidung schwer. Die „Funktion der Weisheit als Wissen steuerndes Wissen“ legt die Widersprüche offen, die „Kongruenz von Wissen und Situation“ ist sichtbar gestört.³⁶ Letztlich erweist sich der König gegenüber dem weisen Philosophen als ein besserer Rhetoriker, da seine Argumentation die vorausgesetzte Asymmetrie der Werte unterminiert beziehungsweise aufhebt. Was aus der Perspektive des Theologen als Exempel fungiert, wird aus der des Rhetorikers ein Kasus.³⁷ Demonstration geht in Reflexion über. Über die Funktion der schlagfertigen Pointe hinaus kann die Umkehrung im strukturellen Sinn daher auch eine kulturelle Funktion annehmen, indem sie die Geltungsansprüche konventioneller Leitunterscheidungen verhandelt: der Starke und der Schwache, der Junge und der Alte, der Kluge und der Dumme, der Mächtige und der Weise, der Wilde und der Zivilisierte, Freund und Feind, Logik und Rhetorik – und so weiter. Solche Relationen sind Ausdruck sozialer Werthierarchien, die über die Figur der Umkehr irritiert werden und auf die generelle Relativität kultureller Unterscheidungen verweisen.³⁸ Das betrifft auch paradoxe Befunde des Lebensentwurfs, die in Sentenzen gebündelt werden können. Sowohl im geistlichen wie im weltlichen Bereich rekurrieren Autoren auf tradierte Sentenzen, etwa die Humanisten auf solche der Antike. So ließ sich die Spannung zwischen geforderter vita activa und verdäch Vgl. Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. 2. Aufl. München 1994. Vgl. Aristoteles (Anm. 1), 1399a. Hahn (Anm. 14), S. 52 u. 50. Vgl. Jolles (Anm. 10), S. 171– 199. Valerius Maximus gibt ein Beispiel: „Eine Thracische Völkerschaft beweint die Geburt eines Menschen, und feiert seine Bestattung mit Fröhlichkeit. Ohne von Gelehrten unterrichtet zu seyn, durchschaute sie die wahre Natur unserer Bestimmung, und genießt dafür mit Recht den Ruhm der Weisheit“; Valerius Maximus 1828 – 29 (Anm. 3), II,6,13. Thraciae uero illa natio merito sibi sapientiae laudem uindicauerit, quae natales hominum flebiliter, exsequias cum hilaritate celebrat: sine ullis doctorum praeceptis uerum condicionis nostrae habitum peruidit; Valerius Maximus 1998 (Anm. 3), II,6,12.
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tiger, doch ersehnter vita contemplativa von den Humanisten mit Hilfe einer Sentenz des Publius Scipio artikulieren: „Cato hat geschrieben, Publius Scipio habe zu sagen gepflegt, er sei nie weniger müßig, als wenn er müßig, nie weniger allein, als wenn er allein sei.“³⁹ Über die exemplarische Ausnahme der Gelehrtenexistenz, die in der Umkehrfigur geradezu ein Paradox zu formulieren scheint, wird das Common SenseVerständnis herausgefordert. Gegen die herrschende Meinung kann man durchaus in Gesellschaft einsam und in der Einsamkeit gesellig, in der Muße tätig sein. Reflexion spürt solche Paradoxien auf. Noch der rhetorische Topos des puer senex impliziert ein Umkehrargument: dass nämlich Weisheit nicht nur eine Qualität des Alters, sondern schon der Jugend sein kann. Auch diese Konstellation stellt die Normalerwartung auf den Kopf, mit ihr muss aber durchaus gerechnet werden. Wenn aber Weisheit bei den Jungen sein kann, dann auch Dummheit bei den Alten. Selbst den Inbegriff der Weisheit, den Philosophen Aristoteles, hat diese Umkehrfigur in eine wirkungsmächtige Tradition eingeschrieben: Aristoteles und Phyllis, der alte Philosoph als Minnetor, der dem attraktiven und raffinierten Mädchen zum Opfer fällt.⁴⁰ Über die Figur der Umkehr kommt Bewegung in die konventionellen Unterscheidungen. Ein Beispiel für die Polemik, die der puer senex-Topos im christlichen Kontext auslösen kann, lässt sich in Wilhelms Peraldus De institutione principum studieren, in dem der Geltungsanspruch eines Sprichworts kritisch in den Blick genommen wird: „jenes abscheuliche Sprüchwort der Thoren, worin es heißt, daß ein junger Heiliger ein alter Teufel sein werde“.⁴¹ Wilhelms Argumentation bewegt sich in verschiedene Differenzierungen hinein – Einfluss schlechter Erziehungsfaktoren, „versteckte Verkehrtheit“ –, und sie setzt gegen die Sprichwörter der Toren diejenigen der Weisen, die nicht selten, sondern immer gelten. Gegen die Evidenz der Umkehrung, die das Sprichwort suggeriert, operiert Wilhelm in seiner Widerlegung mit der Kategorie der Wahrscheinlichkeit, das heißt mit einem rhetorischen Grundaxiom. Zwar könne „versteckte Verkehrtheit“ eintreten, doch widerspreche die Erfahrung in vielen Fel P. Scipionem […] dicere solitum scripsit Cato, […] numquam se minus otiosum esse quam cum otiosus, nec minus solum quam cum solus esset; Cicero: De officiis 3,1, zitiert nach: Linus Möllenbrink: „inter negocia literas et cum literis negocia in usu habere“. Die Verbindung von vita activa und vita contemplativa im Pirckheimer-Brief Ulrichs von Hutten (1518). In: Muße und Gesellschaft. Hrsg. von Gregor Dobler, Peter Philipp Riedl. Tübingen 2017 (Otium. 5), S. 101– 139, hier S. 127; vgl. Karl Gross: Numquam minus otiosus, quam cum otiosus. Das Weiterleben eines antiken Sprichwortes im Abendland. In: Antike und Christentum 26 (1980), S. 122 – 137. Vgl. Hedda Ragotzky: Der weise Aristoteles als Opfer weiblicher Verführungskunst. Zur literarischen Rezeption eines verbreiteten Exempels. In: Eros – Macht – Askese. Geschlechterspannungen als Dialogstruktur in Kunst und Literatur. Hrsg. von Helga Sciurie, Hans-Jürgen Bachorski. Trier 1996 (Literatur, Imagination, Realität. 14), S. 279 – 301. Wilhelm Peraldus: Die Pflichten des Adels. Eine Stimme aus den Tagen des hl. Thomas von Aquin. […] von Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler. Mainz 1868, S. 259 – 261, hier S. 259. Deridendum est illud detestabile proverbium stultorum, quo dicitur: sanctum juvenem futurum Diabolum senem; Wilhelm Peraldus: De eruditione principum. Textum Parmae 1864 editum ac automato translatum a Roberto Busa SJ in taenias magneticas denuo recognovit Enrique Alarcón atque instruxit (Corpus Thomisticum), Liber V, Cap. 12.
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dern, „aus gutem Anfang ein schlechtes Ende [zu] prophezeien“.⁴² Wie gemeinhin aus einem geraden Reis kein krummes werde, günstige Zeichen der Gesundheit den Arzt nicht auf den Tod schließen lassen, vom aufschießenden Getreide nicht auf Unkraut geschlossen werden könne, so auch aus guter Jugend nicht auf ein schlechtes Alter. Ganz im rhetorischen Sinn sind es Vergleiche, das heißt rhetorische Mittel, die die Evidenz des Gegenarguments steuern. Auch wenn Tugend und Laster, Heiligkeit und Unheiligkeit über die Spannung von Außen und Innen mitunter ununterscheidbar werden können, kann aus der verderblichen Ausnahme nicht auf eine Regel geschlossen werden. Das Sprichwort vom jungen Heiligen, der zum alten Teufel wird, bezeichnet nur die Ausnahme von der Regel. Sentenzen können mithin zwischen Wertegemeinschaften auch kontrovers verhandelt werden.⁴³ Wie neue Sentenzen in die Diskussion, so können auch tradierte Sentenzen in die Reflexion geraten. Petrus Alfonsi arbeitet in der Disciplina clericalis das lebensweltliche Fundament der Leitdifferenz von Freund und Feind heraus. Viele Feinde und wenig Freunde zu haben, gehört zur Ehrökonomie vieler Kulturen.⁴⁴ Petrus reformuliert diesen Befund des Common Sense schon auf eine irritierende Weise: „Mein Sohn, denke nicht, einen einzigen Feind zu haben sei zu wenig, und bilde dir nicht ein, tausend Freunde zu haben sei zu viel!“⁴⁵ Die darauf folgenden Exempel reflektieren und unterminieren dann noch den Befund. Ein Vater fragt seinen Sohn nach der Anzahl seiner Freunde. Als dieser ihn mit der Zahl 100 konfrontiert, erklärt er sein Misstrauen damit, dass es ihm nur „mit Mühe gelungen sei, einen einzigen Menschen zur Hälfte zum Freund“ zu gewinnen.⁴⁶ Freundschaft erweist sich in der konkreten Probe offenbar als noch selteneres Gut, als im Diskurs vorgesehen. Die Freunde des Sohnes werden in der Folge auf die Probe gestellt. Der Sohn solle vorgeben, einen Mann erschlagen zu haben, und seine Freunde bitten, ihm bei der Beseitigung der Leiche zu helfen. Sie alle lehnen entrüstet ab, nur der halbe Freund des Vaters zeigt sich hilfsbereit. Die Probe ist extrem und widerspricht auch allen Bedingungen des gelehrten Freundschaftsdiskurses. Freundschaft bewährt sich hier nicht in der Welt, sondern gegen die Welt, in der Ausnahmesituation. Die Unterscheidung von Freund und Feind folgt keiner binären Logik, Freundschaft selbst schon kann zum Problem werden und sich in verschiedene Konfigurationen aufteilen: der vorgebliche Freund,
Wilhelm Peraldus, Pflichten des Adels (Anm. 41), S. 260. Cum dispositioni respondeat habitus, fatuissimum est ex hoc, quod homo facit opera virtutum in juventute, praesumere quod vitiosus futurus sit in senectute; Wilhelm Peraldus, De eruditione principum (Anm. 41), V,12. ‚Je näher der Kirche, je weiter von Gott‘; vgl. Jolles (Anm. 10), S. 164. ‚Viel Feind, viel Ehr‘ beziehungsweise ‚jedermanns Freund, jedermanns Narr‘; vgl. ebd., S. 165. Petrus Alfonsi (Anm. 13), S. 140. Fili, ne uideatur tibi parum unum habere inimicum vel nimium mille habere amicos; Disciplina clericalis (Anm. 13), S. 3. Zum Sprichwort- und Sentenzengebrauch im Dialogus vgl. Joanna Skwara: Proverbia and Sententiae as Argumentation Strategies in the Dialogus of Petrus Alfonsi. In: Petrus Alfonsi and his Dialogus. Background, Context, Reception. Hrsg. von Carmen Cardelle de Hartmann, Philipp Roelli. Rom 2014 (Micrologus’ Library. 66), S. 183 – 202. Petrus Alfonsi (Anm. 13), S. 141.
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der halbe Freund, der vollkommene Freund.⁴⁷ Das Raisonnement über Freundschaft vermag geradezu kontraintuitiv selbst das Verhältnis von Freund und Feind auf den Kopf zu stellen: „Nimm dich einmal in acht vor Feinden, aber tausendmal vor Freunden.“⁴⁸ Sentenzen dieser Art können nicht mehr umstandslos auf Einverständnis rechnen. Sie überführen widersprüchliche Befunde in die Reflexion und erfordern diskursive Erklärungen, die das konventionalisierte Common Sense-Wissen herausfordern. Hatte Wilhelm Peraldus den Wahrheitsanspruch eines provokanten Sprichworts vor dem Hintergrund von Common Sense-Wissen widerlegt, so irritiert Petrus Alfonsi den Geltungsanspruch von Common Sense-Regeln über kontraintuitive Sentenzen und Exempel. Über die Figur der Metamorphose nimmt Umkehr noch einmal eine andere Gestalt an: etwa in der Formel vom Wolf im Schafspelz als konventionelle Konstellation der Verstellung, als Index der verkehrten Welt; sodann im Löwen, der zum Lamm wird, als Umkehrfigur im Christentum, das sogar den Teufel als Engel des Lichts kennt; nicht zuletzt in der institutionalisierten Figur des Hofnarren, der im Modus der Verkehrung unverblümt die Wahrheit sagen darf. Die Konfrontation von Mächtigem und Weisem kann ganz unterschiedliche Leitdifferenzen verhandeln. In der Regel wird sie in einem didaktischen Kontext aktiviert, der das Verhältnis von Politik und Philosophie verhandelt und der Konstellation ein Lehrer-Schüler-Verhältnis einschreibt: Solon und Krösus, Alexander und Dindimus, Salomon und Markolf, Saladin und Nathan. Die Operation der Verwandlung kann sich dabei nicht nur auf das Argument, sondern auch auf reale Metamorphosen beziehen: Als der Tag aber vorüberging und die Stunde des Mahls sich näherte, setzte sich König Salomon mit seinem größten Gefolge zum Essen zusammen. Markolf, der mit anderen zusammensaß, hielt drei Mäuse im Ärmel seines Gewandes verborgen. Es gab nämlich am Hof von König Salomon eine Katze, die so erzogen war, daß sie die ganze Nacht lang, während der König speiste, öffentlich eine Kerze trug, auf zwei Füßen stehend und mit zwei Händen das Licht haltend. Als alle schon beinah zu Ende gegessen hatten, schickte Markolf eine von den Mäusen aus. Als die Katze sie erblickt hatte und hinter ihr her eilen wollte, wurde sie durch ein Räuspern des Königs zurückgehalten. Nachdem von der zweiten Maus ähnliches bewirkt worden war, schickte Markolf die dritte aus. Als die Katze diese erblickte, hielt sie die Kerze nicht mehr, warf sie fort, eilte hinter der Maus her und fing sie. Als Markolf dieses sah, sprach er zum König: Wahrlich, König, ich habe dir öffentlich bewiesen, daß Natur stärker ist als Erziehung.⁴⁹
Vgl. ebd., S. 141– 145. Ebd., S. 145. Prouide tibi semel de inimicis et milies de amicis; Disciplina clericalis (Anm. 13), S. 6. Die autem ipsa transeunte et hora cene adueniente rex Salomon consedit ad cenam cum maximo apparatu suorum. Et Marcolfus sedens cum aliis inclusit tres sorices in manica tunice sue. Fuerat enim in curia regis Salomonis cattus vnus ita nutritus, ut omni nocte rege cenante teneret candelam coram vniuersis, duobus pedibus suis stans et duobus tenens lucernam. Cumque iam prope omnes cenassent, Marcolfus emisit unam de soricibus; quam cum cattus conspexisset et post illam ire voluisset, grunitu regis est retenta. Cumque de secunda sorice similiter factum fuisset, Marcolfus emisit terciam; quam cum cattus conspexisset, ultra non ferens candelam proiecit et post soricem currens illam comprehendit. Hec Marcolfus uidens dixit ad regem: ‚Ecce, rex, coram te probaui melius valere naturam quam nutrituram‘;
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Das Exempel verhandelt die Geltungsansprüche zweier gegenläufiger Sentenzen über Macht und Ohnmacht der Natur. Gilt einerseits der Satz, dass die Natur stärker ist als Erziehung (natura plus valet quam nutritura), so andererseits, dass die Gewohnheit die zweite Natur darstellt, wie es an der disziplinierten Katze sichtbar wird: consuetudo altera natura. Die zur Statue dressierte Katze bezeichnet schon einen extremen Geltungsanspruch gegenüber der Natur: eine reale Transformation. Der König zwingt ihr nicht nur eine anthropomorphe Gestalt auf und unterläuft damit die Unterscheidung von Mensch und Tier, er degradiert sie im Rahmen höfischer Repräsentation auch zum technischen Instrument und macht sie damit zum Spiegel seines absoluten Herrschaftsanspruchs. Die Pointe der kleinen Erzählung besteht aber nun darin, dass sie im Rahmen der Hofkritik zugleich die Umkehrung des Arguments demonstriert. Indem der hässliche Bauer zum Exponenten der Weisheit avanciert, wird ein Argument aufgenommen, das in der Geschichte der konkurrierenden Sentenzen für die Macht der Gewohnheit angeführt wird: dass – entgegen der physiognomischen Lehre der Kalokagathie – das Innere nicht dem Äußeren entsprechen muss.⁵⁰ Zur Ironie der Erzählung gehört mithin, dass die sich demonstrativ als Exempel ausgebende Erzählung latent einen Kasus vorführt, der bekanntlich eine Entscheidung offen hält und auffordert, die Geltungsansprüche der beiden Werte auf einer höheren Ebene abzuwägen.⁵¹ Die Konfrontation des Bauern mit dem König lehnt sich an die antike Äsopvita an. In dieser mutiert der zunächst stumme und verwachsene Sklave durch göttlichen Eingriff zum Gegner seines gelehrten Herren, des Philosophen Xantus, den er in zahlreichen rhetorischen Gefechten überwindet.⁵² Die Spannung von philosophischem Wahrheitsanspruch und rhetorischer Schlagfertigkeit/Weisheit prägt die Axiologie der Aktanten, die über die Figuren narrativ entfaltet wird. Die physische und soziale Inversion der Gegner wird zum Instrument der Sozialkritik, und die gesellschaftliche Praxis, die den Herrschenden die Macht über die Sprache verleiht, wird auf
Salomon et Marcolfus. Kritischer Text mit Einleitung, Anmerkungen, Übersicht über die Sprüche, Namen- und Wortverzeichnis. Hrsg. von Walter Benary. Heidelberg 1914, S. 30 f.; vgl. Salomon und Markolf. Das Spruchgedicht. Hrsg. von Walter Hartmann. Halle a. d. Saale 1934, S. 39 f. Zur Rezeption vgl. Sabine Griese: Natur ist stärker als Erziehung. Markolf beweist ein Prinzip. In: Natur und Kultur in der deutschen Literatur des Mittelalters. Colloquium Exeter 1997. Hrsg. von Alan Robertshaw, Gerhard Wolf. Tübingen 1999, S. 215 – 229. Vgl. Salomon und Markolf (Anm. 49), S. 2– 5. In der Tradition steht hierfür in der Regel die Figur des hässlichen Hippokrates; vgl. Corinna Dörrich, Udo Friedrich: Bindung und Trennung – Erziehung und Freiheit. Sprachkunst und Erziehungsdiskurs am Beispiel des Kürenberger Falkenliedes. In: Der Deutschunterricht 55 (2003), S. 30 – 42, hier S. 36. Vgl. Jolles (Anm. 10), S. 191. Äsop – Der frühneugriechische Roman. Einführung, Übersetzung, Kommentar. Kritische Ausgabe. Hrsg. von Hans Eideneier. Wiesbaden 2011 (Serta Graeca. 28); vgl. auch Niklas Holzberg (Hrsg.): Der Äsop-Roman. Motivgeschichte und Erzählstruktur. Hrsg. von Niklas Holzberg. Tübingen 1992 (Classica Monacensia. 6).
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den Kopf gestellt.⁵³ Gleichzeitig wird die Zweischneidigkeit des rhetorischen Arguments narrativ entfaltet und reflektiert. Ein Beispiel: Als Äsop von seinem Herrn den Auftrag erhält, zum Essen das Beste und Schönste zu besorgen, tischt er ihm und seinen Schülern ein mehrgängiges Menü immer schärfer gewürzter Zungengerichte auf. Die anfängliche Bewunderung der Raffinesse schlägt angesichts der monotonen Speisefolge aber rasch in Überdruss um. Äsop rechtfertigt seine Wahl mit einem Loblied auf die Zunge, die Städte errichte, Gesetze erlasse und alles Leben ordne.⁵⁴ Transformation bezeichnet hier zum einen die Umwandlung des Denotats in eine Trope, in eine Metapher, zum anderen ihre Ambivalenz. Um ihm eine Falle zu stellen, ordert der Herr für den nächsten Tag das Allerschlechteste. Wieder trägt Äsop ein Zungenmenü auf und rechtfertigt sich gegen Vorwürfe mit einer Tadelrede auf die Zunge: „[…] doch was gibt es Schlimmeres und Unglückseligeres als die Zunge?“⁵⁵ Das Exempel fungiert als Gleichnis der zweischneidigen Rhetorik, in der die konventionalisierten Positionen vertauscht sind, mehr aber noch schreibt sich die Figur der Umkehr als ein revolutionäres Prinzip in den ganzen Entwurf der Äsop’schen Vita ein. Der Äsoproman wie der Dialogus des Salomon und Markolf konfrontieren die gelehrte Sprache der Herren zugleich mit der „Sprache des Animalischen und Primitiven“, sodass die rhetorische Technik noch in ein anderes Milieu verweist.⁵⁶
IV Christliche Revolution Im Christentum wird die Form der Inversion zum revolutionären Programm, das der Etablierung einer neuen Weltanschauung dient.⁵⁷ Die rhetorische Figur und ihr Argumentationspotenzial tritt in den Dienst der Umkehr aller Werte und wird zur epistemischen Figur in einem anderen kulturellen Kontext. Von der Geschichtsphilosophie, die die Spannung von dignitas und miseria hominis in einem Zeithorizont umkehrt und entfaltet (Vertreibung/Heimkehr), über die Anthropologie, die das LeibSeele-Dilemma behandelt, bis in die Morallehre (conversio) hinein operiert das Christentum mit der Figur der Umkehr: Wer sich erniedrigt, erhöht sich; die Letzten werden die Ersten sein (Mt 23,12; 20,16). Selbst die Auffassung des Common Sense, dass der Tod eines Einzelnen besser sei als der aller, kehrt das Christentum um, indem
Vgl. Barthes (Anm. 5), S. 17. Vgl. Äsop (Anm. 52), S. 60. Ebd. Michael Curschmann: Marcolfus deutsch. Mit einem Faksimile des Prosa-Drucks von M. Ayrer (1487). In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hrsg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1993 (Fortuna vitrea. 8), S. 151– 255, hier S. 158. Vgl. Northrop Frye: Typologie als Denkweise und rhetorische Figur. In: Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik. Hrsg. von Volker Bohn. Frankfurt a. Main 1988, S. 64– 96, hier S. 67.
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der Tod des Einen zur Erlösung aller führt.⁵⁸ Und in der docta ignorantia des Nikolaus von Cues wird das Verhältnis von Wissen und Nichtwissen noch einmal anders gefasst.⁵⁹ Viele christliche Sentenzen stellen den Common Sense in Frage, wie sie auch die gelehrten Sentenzen umzuwandeln vermögen. So lässt sich noch Solons Satz „Lerne zu gehorchen und du wirst zu herrschen wissen“ zu einer Sentenz des Wilhelm Peraldus kontrastiv in Beziehung setzen: „Indem wir uns demüthig dem Worte eines Andern unterwerfen, überwinden wir im Herzen uns selbst.“⁶⁰ Der christliche Kontext absorbiert die alte Sentenz, verleiht ihr aber einen weiteren – pädagogischen wie religiösen – Geltungsanspruch. Übersetzt in die Form der Sentenz erhält die christliche Inversion ihre provokative Stoßrichtung, sie lässt sich aber auch als Exempel entfalten, wie im Fall des Heiligen Benedikt: Damals entdeckten ihn auch Hirten in der Höhle, wo er sich verborgen hielt. Als sie ihn mit Fellen bekleidet im Gestrüpp erblickten, meinten sie zunächst, er wäre ein wildes Tier. Bald aber erkannten sie ihn als Diener Gottes. Da ließen viele von ihrer rohen Gesinnung ab und wandten sich der Gnade eines frommen Lebens zu. Dadurch wurde sein Name in der Umgebung allen bekannt. So kam es, daß er schon damals von vielen aufgesucht wurde. Sie brachten ihm Nahrung für den Leib und nahmen in ihrem Herzen dafür aus seinem Mund Nahrung für das Leben mit.⁶¹
Wie im Markolfexempel wird eine doppelte Inversion vorgeführt, die sich jedoch vor dem Hintergrund einer anderen Axiologie erklärt. Voraussetzung für das Verständnis ist zum einen das Bild vom Hirten (pastor) und der Herde, das eine Leitmetapher des Christentums bildet, zum anderen die Relation von Immanenz und Transzendenz sowie die von Schein und Sein. Während der als Tier erscheinende Heilige sich als der reale und wahre Mensch erweist, verwandeln sich die realen Hirten aufgrund ihrer animalischen Sinnesart (mens bestialis) in Tiere.⁶² Und wie die Hirten den Wilden mit realer Speise nähren, so dieser jene mit geistlicher Nahrung. Die Figur der Metamor Vgl. Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700 – 1050/60). 2. Aufl. Tübingen 1995 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. 1), S. 14; der Common Sense-Hintergrund wird in dem Bild evident, dass besser ein Haus verbrenne als die ganze Stadt; vgl. Gesta Romanorum (Anm. 20), S. 489. Vgl. Nikolaus von Cues: Die Kunst der Vermutung. Auswahl aus den Schriften. Besorgt und eingeleitet von Hans Blumenberg. Bremen 1957 (Sammlung Dietrich. 128), S. 70 – 73. Wilhelm Peraldus, Pflichten des Adels (Anm. 41), S. 343. Dicit Glossa Gregorii. Vir obediens loquitur victorias. Dum enim alienae voci humiliter subdimur, nosmetipsos in corde superamus; Wilhelm Peraldus, De eruditione principum (Anm. 41), V,37. Gregor der Große: Der hl. Benedikt. Buch II der Dialoge. Lateinisch/Deutsch. St. Ottilien 1995, S. 108. Eodem quoque tempore hunc in specu latitantem etiam pastores invenerunt. Quem, dum vestitum pellibus inter fruteta cernerent, aliquam bestiam esse crediderunt, sed cognoscentes Dei famulum, eorum multi ad pietatis gratiam a bestiali mente mutati sunt. Nomen itaque ejus per vicina loca innotuit cunctis, factumque est ut ex illo jam tempore a multis frequentari cœpisset, qui cum ei cibum aferrent corporis, ab ejus ore in suo pectore alimenta referebant vitæ; Gregor der Große: Vita S. Benedicti Cap. II. In: PL 66, S. 132. Vgl. Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. Göttingen 2009 (Historische Semantik. 5), S. 134 f.
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phose bezeichnet keine rhetorische Operation mehr, auch keine kulturelle Praxis, sie ist vielmehr Ausdruck einer verkehrten Welt. Die christliche Umbesetzung der rhetorischen Argumentationsfigur wird durch ihren Geltungsanspruch sichtbar, der nicht mehr Wahrscheinlichkeit, sondern Wahrheit in der Latenz reklamiert und Täuschung der äußeren Evidenz zuschreibt. Bis in Alltagsverrichtungen hinein lässt sich die Figur der christlichen Umkehr verfolgen. Caesarius von Heisterbach kritisiert die Neigung gewisser Mönche für Fleisch und ihre Abneigung gegenüber Gemüse. Solche „schlechten Gewohnheiten“ der Fülle können aber in eine gute des Mangels konvertiert werden.⁶³ Caesarius führt exemplarisch die Geschichte eines Abtes an, der gegenüber seinem Gesprächspartner vorgibt, die monastische Speise mit drei Körnern zu würzen: mit langen Gebeten, harter Arbeit und dem Mangel an Alternativen.⁶⁴ Mühsal führe dazu, dass die Mönche Geschmack selbst am Geschmacklosen fänden, „denn es ist eine große Gnade Gottes, wenn für verwöhnte Männer, nachdem sie sich zu Christus (im Ordensleben) bekehrt haben, ungewürzter Gemüsebrei zu einem Festschmaus wird“.⁶⁵ Was hier als Gnade Gottes ausgegeben wird, korrespondiert in der praktischen Umsetzung aber mit dem klassischen Topos von der Macht der Gewohnheit. Bis in die Erziehungslehre hinein arbeitet das Christentum mit der Exposition kontraintuitiver Evidenzen: „Wer die Ruthe spart, hasset seinen Sohn; wer ihn aber lieb hat, hält ihn beständig unter der Zucht.“⁶⁶ Die Inversionsfigur erstreckt sich noch auf die Auffassung des Lebens, das für den Christen nicht in der Opposition zum Tod aufgeht: „Man hält den letzten Tag stets für den ersten und niemals den ersten für den letzten. Trotzdem soll man so leben, als müsse man ständig damit rechnen zu sterben […]. Wir sterben, während wir leben, und wir hören nur dann zu sterben auf, wenn wir aufhören zu leben. Deshalb ist es besser, dem Leben zu sterben als dem Tod zu leben, denn das sterbliche Leben ist nichts anderes als der lebende Tod.“⁶⁷ Ein zentrales Axiom des Christentums, dass der Tod ständiger Begleiter des Lebens ist, wird bis in die Stilfigur des Chiasmus hinein verfolgt. Rhetorische Figuren der Umkehr lassen sich aber auch anders einsetzen. Wie der rhetorische Topos der Umkehrung innerhalb der christlichen Lehre umbesetzt
Caesarius von Heisterbach: Dialogus miraculorum. Dialog über die Wunder. Zweiter Teilband. Eingeleitet von Horst Schneider. Übersetzt und kommentiert von Nikolaus Nösges und Horst Schneider. Turnhout 2009 (Fontes Christiani. 86/2), 4,78. Vgl. ebd. quia magnum Dei donum est, quando viris delicates, postquam conversi fuerint ad Christum, incondita pulmentaria leguminum vertuntur in convivium; ebd., 4,77. Wilhelm Peraldus, Pflichten des Adels (Anm. 41), S. 220 (nach Spr. 13); Prov. 13: qui parcit virgae, odit filium suum: qui autem diligit, instanter erudit; Wilhelm Peraldus, De eruditione principum (Anm. 41), V,2. Innozenz III.,Vom Elend des menschlichen Daseins (Anm. 33), Kap. 23. Semper ultimus dies primus et nunquam primus dies ultimus reputatur. Cum tamen ita semper vivere deceat, tanquam mori semper oporteat. […] Morimur ergo semper dum vivimus, et tunc tantum desinimus mori cum desinimus vivere. Melius est igitur mori vite quam vivere morti, quia nichil est vita mortalis nisi mors vivens; Lotharii Cardinalis (Innocentii III.), De miseria humane conditionis (Anm. 33), S 30, I,23.
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werden kann, führt die Franziskusvita des Thomas von Celano an einem signifikanten Exempel vor: In der Zeit, da der Heilige von seiner Fahrt übers Meer zurückkehrte, begleitete ihn als Gefährte Bruder Leonhard aus Assisi. Da geschah es, daß Franziskus, von der Reise matt und ermüdet, eine Weile auf einem Esel ritt. Der Gefährte aber, der nachfolgte und selbst nicht wenig erschöpft war, begann in menschlicher Anwandlung bei sich zu sprechen: „Seine und meine Eltern waren keine Spielkameraden. Da hast du’s, er reitet und ich muß zu Fuß gehen und den Esel führen.“ Während der Bruder dies noch dachte, stieg der Heilige sogleich vom Esel herab und sprach: „Nein, Bruder, es schickt sich nicht, daß ich reite und du zu Fuß gehst, denn du warst adeliger und mächtiger in der Welt als ich.“ Da war der Bruder ganz verdutzt und, vor Scham über und über rot, wußte er sich vom Heiligen ertappt. Da warf er sich ihm zu Füßen, enthüllte unter vielen Tränen seine Gedanken und bat um Verzeihung.⁶⁸
Das Exempel entfaltet narrativ die Regel christlicher Demut – wer sich erniedrigt, erhöht sich – in Relation zu ihrer Umkehrung. Über die Akteure und den Esel wird die Inversion adligen Standesdenkens vorgeführt, für das Reiten ein Privileg darstellte. Vor dem Hintergrund der konkurrierenden Wertesysteme offenbart die Äußerung des Heiligen ihre ironische Stoßrichtung, da sie zwar die Gedanken des Bruders Leonard aufgreift, aber vor dem Hintergrund des christlichen Demutsgebots das Gegenteil meint: Mit anderen Worten wird Gleiches und mit gleichen (ähnlichen) Anderes gesagt. Indem die Gedankenrede des Adeligen in die wörtliche Rede des Heiligen übersetzt wird, verändert sie sowohl ihre Bedeutung, wie sie sich auch vom rhetorischen Agon entfernt: Die Wahrheit tritt aus einer mythischen Latenz heraus zutage, die die Differenz des Heiligen vom Glaubensbruder akzentuiert. Franziskus sieht weiter als sein Gefährte. Erst indem er ihn mit seinen eigenen Gedanken konfrontiert, öffnet der Heilige dem Glaubensbruder die Augen. Und so wie sich Franziskus erhöht, indem er sich erniedrigt, legt er offen, dass sich Leonard erniedrigt, indem er sich erhöht.
Thomas von Celano: Leben und Wunder des Heiligen Franziskus von Assisi. Hrsg. und übersetzt von Engelbert Grau. Paderborn 1955, S. 263 (Nr. II,5), 31. Eo tempore cum reverteretur sanctus de ultra mare, socium habens fratrem Leonardum de Assisio, contigit eum itinere fatigatum et lassum parumper asinum equitare. Subsequens autem socius, et ipse non modicum fessus, coepit dicere intra se, humanum aliquid passus: Non de pari ludebant parentes huius et mei. En autem ipse equitat, et ego pedester asinum eius duco. Hoc illo cogitante, protinus de asino descendit sanctus, et ait: Non, frater, non convenit, inquit, ut ego equitem, tu venias pedes, quia nobilior et potentior in saeculo me fuisti. [Ob]stupuit illico frater, et rubore suffusus deprehensum se cognovit a sancto. Procidit ad pedes eius, et lacrimis irrigatus nudum cogitatum exposuit, veniamque poposcit; Fr. Thoma de Celano: S. Francisci Assisiensis. Vita et Miracula. Hanc editionem novam ad fidem mss. recensuit P. Eduardus Alenconiensis. Rom 1906, S. 192 f.
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V Inversion als poetische Technik Die Wirkungsgeschichte eines Topos kann sich von seinem Ursprung durchaus lösen und neue Anwendungsfelder eröffnen. Wenn Christus Blinde heilt, handelt es sich nicht nur um ein medizinisches Wunder, sondern auch um einen Akt der Hermeneutik. Nach dem Evangelium seien die Menschen „mit sehenden Augen blind“ (Mt 13,10 – 13), was darauf zielt, dass ihnen die körperliche Wahrnehmung wichtiger ist als die seelische im Glauben.⁶⁹ Die Inversion des Blicks wird geradezu paradigmatisch auch für gestörte Prozesse der Wahrnehmung. So rahmt etwa Ulrich Boner die Exempel seines Edelsteins an signifikanten Stellen – Anfang, Mitte, Ende – mit Erzählungen ein, die auf das biblische Diktum Jesu rekurrieren, es nun aber als hermeneutische Lektüreanweisung seiner Erzählungen in Stellung bringen. Deren Sinn erschließt sich nicht dem äußeren, sondern nur dem inneren Auge.⁷⁰ Wie sich im Rahmen christlicher Didaktik der Befund der Blindheit weiter entfalten lässt, hat Hans Jürgen Scheuer denn auch am Beispiel eines Gleichnisses aus Ulrich Boners Edelstein vorgeführt.⁷¹ Der narrative Grundriss des Exempels ist schlicht, seine Entfaltung aber komplex. Erzählt wird von einem Vater, der sich zusammen mit seinem Sohn und einem Esel zum Markt begibt.⁷² Zunächst reitet der Vater auf dem Esel, während der Sohn nebenhergeht. Die „patriarchal geordnete Formation“ erweckt aber Kritik von Seiten derer, die die Szene aus der Warte des Sohnes betrachten.⁷³ Als daraufhin Vater und Sohn die Position tauschen, handelt sich der Vater von anderen erneut Kritik ein, weil der Knabe über mehr Energie verfüge. Nach den Regeln einer „eigentümlichen Permutationslogik“ steigt auch der Vater auf, sodass nun beide reiten.⁷⁴ Als dann noch die „Tierschützer“ sich zu Wort melden, steigen Vater und Sohn ab, und alle drei gehen getrennt. Diese Form der „Äquivalenz“ verstößt nach Aussage der Umstehenden nun aber gerade gegen die Vernunftordnung, da die Funktion des Tieres ignoriert
Vgl. Hans Jürgen Scheuer: Hermeneutik der Intransparenz. Die Parabel vom Sämann und den viererlei Äckern (Mt 13,1– 23) als Folie höfischen Erzählens bei Hartmann von Aue. In: Das Buch der Bücher – gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten. Hrsg. von Steffen Martus, Andrea Polaschegg. Bern u. a. 2006 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. 13), S. 337– 359. Vgl. Michael Schwarzbach-Dobson: Exemplarisches Erzählen im Kontext. Mittelalterliche Fabeln, Gleichnisse und historische Exempel in narrativer Argumentation. Berlin/Boston 2018 (LTG. 13), S. 184– 188. Vgl. Hans Jürgen Scheuer: Eselexegesen. Spielräume religiöser Kommunikation im Schwankexempel des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. In: ZfG 25 (2015), S. 42– 57. Ulrich Boner: Der Edelstein. Eine mittelalterliche Fabelsammlung. Zweisprachige Ausgabe Mittelhochdeutsch-Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt, mit Anmerkungen, farbigen Abbildungen, einem Nachwort, Literaturverzeichnis, Register und Fabel-Verzeichnis versehen von Manfred Stange. UbstadtWeiher u. a. 2016, Nr. 52. Scheuer (Anm. 71), S. 50. Ebd.
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werde.⁷⁵ Scheuer arbeitet nicht nur die Logik des „Erzählkalküls“ heraus, die das Exempel seriell entfaltet, sondern mit der letzten Umkehrfigur auch seine spezifische hermeneutische Stoßrichtung.⁷⁶ Als Reaktion auf die Kritik der Umwelt beschließt der Vater schließlich, den Esel seinerseits an einer Stange aufzuhängen und zusammen mit dem Sohn zu tragen. Die Reaktion des Umfelds auf diese „‚verrückte‘ Konstellation“ spielt zwar auf das berühmte Jesuszitat von der sehenden Blindheit an – wen sicht wol, daz si narren sint, / an witzen sint si beide blint –, doch kehrt sich noch einmal die Stoßrichtung um, indem nun, mit den Worten Scheuers, die Beobachter selbst beobachtet werden.⁷⁷ Die Lehre, die der Erzähler am Ende bietet, bezieht die Umweltreaktionen nämlich ausdrücklich ein: diu welt ist schalkeit alsô vol: wie vil ein mensche guotes tuot, ez dunkt die welt nicht halbes guot. gesehent ist vil liuten blint, der herzen alsô giftig sint, waz si hœrent oder sehent, daz si dar zuo daz bœste jehent.⁷⁸
Das didaktisch motivierte Exempel emanzipiert sich ein Stück von der heilsgeschichtlichen Botschaft und nutzt die biblische Sentenz erst am Ende für eine hermeneutische Kritik im christlichen Sinn. Die Kette der Inversionsfiguren bietet eine Auseinandersetzung mit dem Geltungsanspruch des Common Sense, dessen Regeln eben nicht verallgemeinerbar sind, sondern nur situationsspezifisch wirken. Keiner der vorgebrachten Einwände ist falsch, in ihrer Relation zueinander oder in ihrer Summe ergeben sie aber keine kohärente Ordnung. Indem das Exempel die widersprüchlichen Erfahrungsurteile im Erzählkalkül zusammenführt, jede Situation auch von ihrer anderen Seite in den Blick nimmt, spielt sie ein Grundprinzip rhetorischer Argumentation in allen möglichen Varianten durch und gewinnt ihnen jeweils ein alltagsweltliches Argument ab.⁷⁹ Die Homogenisierung des Common Sense-Wissens durch die biblische Sentenz funktioniert aber nur durch die letzte irre Wendung, die nun auch die Beobachtungsperspektive umkehrt und alle anderen Argumente mit in ihren Sog zieht. Die Komposition der Erzählung selbst aber ist in ihrem Spiel der Umbesetzungen rhetorisch formatiert und legt in narrativer Entfaltung das Prinzip der inventio am Leitfaden des Topos der Umkehrung offen. Die Variabilität der Standpunkte und die „topische Differenzierungsexplosion“, die die Erzählung so reich entfaltet und an der die Figuren mangels eines eigenen Standpunktes irre werden,
Ebd. Ebd. Boner (Anm. 72), V. 73; Scheuer (Anm. 71), S. 50. Boner (Anm. 72), V. 94– 100. Vgl. Schwarzbach-Dobson (Anm. 70), S. 187.
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werden durch den biblischen Topos abgewiesen.⁸⁰ Mit Hilfe rhetorischer Techniken, die auch auf die Konzeption des Textes wirken, wird ein Stück Antirhetorik vorgeführt. Die Verbindung von Umkehr und Blindheit kann konzeptionell komplexere Formen annehmen: Im Lazarillo de Tormes, dem ersten Pikaroroman Mitte des 16. Jahrhunderts, wird der Topos ‚mit sehenden Augen blind‘ über eine Figurenkonstellation ironisiert.⁸¹ Der kleine Lazarillo wird von seiner Mutter aus Not an einen blinden Bettler übergeben, dem er als Blindenführer dienen und so selbst überleben lernen soll. Der ahnungslose sehende Jüngling erweist sich aber als blind für die Umtriebe der verkehrten Welt, während der raffinierte und skrupellose Blinde zum Lehrer Lazarillos auf dem Weg des Lebens wird.⁸² Matthias Bauer spricht hier von „Umkehrbildlichkeit“.⁸³ Die Konfrontation mit der verkehrten Welt, Grundaxiom des Christentums, führt aber nicht zur conversio, sondern zur Ent-Täuschung (desengagño), die aus purer Überlebensnot die Anpassung an die perfiden Verstellungskünste nach sich zieht.⁸⁴ Wo die sozialen Institutionen (Familie, Klerus, Adel) eklatant versagen, wird die Überlebensstrategie, gute Miene zu bösem Spiel zu machen, notwendig. Erst aus der Perspektive des Alters rückt der Ich-Erzähler in eine gewisse Distanz zu seiner Jugendgeschichte. Für die Erzähldisposition des Schelmenromans ist daher wiederholt auf die doppelte Erzählperspektive hingewiesen worden, die als Rezeptionsmodus eine „Komplementärlektüre“ erfordere.⁸⁵ Die Biographie des Pikaro wird aus einer doppelten, kontrastiven Wahrnehmung heraus lesbar, ihre Darstellung operiert zwar mit christlichen Topoi, diese erhalten aber unter den veränderten Bedingungen nur noch ironischen Wert. Die Weisheit der christlichen Tradition löst für den Außenseiter nicht mehr die Frage nach dem Zusammenhang von Wissen, Leben und Handeln, das heißt nach dem Sinn des Lebens.⁸⁶ Weisheit als selbstreflexives beziehungsweise selbstreferentielles Wissen wird mit Klugheit als „situativer Konsistenzstiftung“ konfrontiert, ohne versöhnt zu werden. Die Figur der Umkehr gewinnt in der Vorstellung von der ‚Verkehrten Welt‘ ihre prominenteste literarische Ausprägung. Über die Inversionsform der Allegorie lässt sich das Geltende als das Gegenteil vom Geforderten auch jenseits christlicher Vorgaben artikulieren. Während Grimmelshausen in der Verkehrten Welt die Form des Höllensturzes wählt, greift Balthasar Gracián im Kriticon auf die Allegorie der Le-
Uwe Hebekus: Topik/Inventio. In: Einführung in die Literaturwissenschaft. Hrsg. von Miltos Pechlivanos u. a. Stuttgart/Weimar 1995, S. 82– 96, hier S. 89. Lazarillo de Tormes/Klein Lazarus vom Tormes. Spanisch/Deutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Hartmut Köhler. Stuttgart 2006, S. 18 – 21. Vgl. Matthias Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten. Anatomie des Schelmenromans. Stuttgart 1993, S. 23 f. Ebd., S. 24 f. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 26 – 34. Zur Sinnfrage vgl. Hahn (Anm. 14), S. 51 f.
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bensreise zurück.⁸⁷ Ziel der Reise ist auch hier nicht per se Weisheit, sondern Enttäuschung: desengagño. Graciáns komplexes Verfahren des concepto, dem er auch eine theoretische Abhandlung gewidmet hat, operiert mit Korrespondenzen und Korrelationen: „Das Gegenüber-Stellen (contra-posición) ist für Gracian und Góngora ein scharfes Sehen und ein philosophisches Vergleichen, indem er eine Sache ihrem Gegenteil gegenüberstellt.“⁸⁸ Diese Form „konzeptualistischer Rhetorik“ verbindet Figuren der Umkehr auf ganz unterschiedlichen Ebenen.⁸⁹ Sie erlauben es, philosophische, rhetorische, moralistische, Common Sense- und literarische Konzepte gleichzeitig zu verhandeln: eingangs die philosophischen Modelle der Höhle und des Schiffbruchs. Der jugendliche Höhlenbewohner Andrenio, der erstmals in die Welt hineintritt, trifft auf den alten schiffbrüchigen Critilo, der aus der Welt flieht.⁹⁰ Raumdisposition und Figurenkonstellation basieren ebenso auf Kontrastrelationen wie die Ordnung der Zeit, die die Gliederung des Werkes prägt. Wie die Allegorien der Jahreszeiten, die den Lebensbogen umschreiben, den Umschlag von Entstehen und Vergehen, von Jugend, Reife und Alter, markieren, so das Rad der Fortuna das Auf und Ab der Geschichte. Traditionelle Konstellationen werden aber auch innerhalb einzelner Kapitel invertiert. So wird die antike Vorstellung des Lebensweges, nach der der Mensch beim Eintritt in die Welt (ins Leben) aus dem Gefäß der Täuschung trinkt, die am Ende seines Bildungsgangs von der Ent-Täuschung aufgehoben wird, umgekehrt. Bei Gracián sind es die Menschen selbst, die verantwortlich dafür sind, dass der anfängliche Wahrheitsbesitz immer mehr in die Täuschung überführt wird.⁹¹ Umgekehrt wird der Allegorie der Bildung (Artemia) die Fähigkeit zugeschrieben, die in Tiere verwandelten Menschen (Circe) wieder in Menschen zurück zu verwandeln.⁹² Die Form der Allegorie ermöglicht es überdies, die Metaphern der verkehrten Welt in Handlung zu überführen. Wenn Wilhelm Peraldus den Aufstieg von niedrigen Menschen in den Vergleich fasst, es sei „ähnlich, als wenn am menschlichen Körper die Füße oben […] und der Kopf unten“ wären, dann begegnen bei Gracián solche Umkehrfiguren in allegorischer Gestalt.⁹³ Transformationen dieser Art sind als „meta-
Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Die verkehrte Welt. Hrsg. von Franz Günter Sieveke. Tübingen 1973; vgl. Michael Kuper: Zur Semiotik der Inversion. Verkehrte Welt und Lachkultur im 16. Jahrhundert. Berlin 1993. Baltasar Gracián: Das Kritikon. Aus dem Spanischen übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler. Frankfurt a. Main 2004. Vgl. Emilio Hidalgo-Serna: Das ingeniöse Denken bei Baltasar Gracián. Der ‚concepto‘ und seine logische Funktion. München 1985 (Humanistische Bibliothek. Reihe 1, Abhandlungen. 43), S. 134. Ebd., S. 122. Vgl. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. Main 1983, S. 108 – 120, insbesondere S. 109. Vgl. ebd., S. 113 f. Vgl. Gracián, Kriticon (Anm. 87), S. 138. Wilhelm Peraldus, Pflichten des Adels (Anm. 41), S. 186. Si corpus dominium habeat in homine, magna est inordinatio: simile est sicut si in corpore humano pedes essent in superiori parte, et caput in inferiori; Wilhelm Peraldus: De eruditione principum (Anm. 41), III,10; vgl. Gracián, Kritikon (Anm. 87), S. 95.
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phorische Inversion“ bezeichnet worden;⁹⁴ nicht zuletzt Metaphern wie die „Passstraße des Lebens“, auf der Jugendliche das „Zollhaus der Lebenszeit“ durchschreiten und über die Metamorphose zum Mann anders sehen lernen: „Die unbekümmert eingetreten waren, gingen sehr nachdenklich daraus hervor.“⁹⁵ Von der Raumkonzeption über die Figurendisposition und die Zeitmodellierung bis in die Stellungnahme zu kurrenten Bildungskonzepten operiert Gracián mit der Figur der Umkehr und verleiht ihr kompositorische Qualität. In Graciáns Kunst des concepto verbinden sich rhetorische Technik, die Weisheit der Formel, kritische Reflexion und poetische Ausgestaltung. In ausführlichen Gesprächen werden Allegorien der verkehrten Welt ausgelegt, Argumente umgedreht, Sprichwörter hinterfragt und passagenweise ganze Konstellationen von Umkehrfiguren aneinandergereiht. Nur ein Beispiel: Die beiden Wanderer gelangen auf dem Weg zum Haus der Artemisia zu einem Palast, in dem die Täuschungen residieren. Auf einem Schild über der Tür erscheint als Motto: „Lust ist nützlich und ehrbar.“ Critilo weist seinen ahnungslosen Begleiter darauf hin, dass das Schild falsch herum hänge, da es heißen müsse: „Ehrbarkeit ist nützlich und lustvoll.“⁹⁶ Wie in klassisch rhetorischer Stoßrichtung das Argument des Gegners gegen ihn gewendet werden kann, so kann andernorts eine reflektierende Haltung eingenommen werden. Critilo treibt das Spiel mit der Umkehr immer weiter, indem er sich vom Common Sense distanziert: „Ich gehe nie dort, wo die anderen gehen, sondern stets in die entgegengesetzte Richtung. […] ich muss da hineingehen, wo die anderen herauskommen, muss den Ausgang zum Eingang machen: Mein Augenmerk gilt nie den Anfängen, sondern den Enden.“⁹⁷ Bereits der Beginn des Kapitels reflektiert die Verkehrung menschlicher Werte an einer Serie von Umkehrfiguren, die nun aber vor dem Geltungsanspruch des Common Sense in die Kritik geraten. In seiner täglichen Verdrehtheit macht der Mensch aus Zwecken Mittel und aus Mitteln Zweck: Wo er nur durchziehen sollte, da will er Dauersasse werden, den Weg will er als Ruheplatz benutzen: wo er enden sollte, da setzt er ein, und will zum Abschluss kommen am Beginn. […] Er isst nicht mehr, um zu leben, er lebt, um zu essen; er schläft nicht mehr, um arbeiten zu können, nein, er arbeitet kaum noch vor lauter Schlafen; es geht ihm nicht um die Fortzeugung seines Geschlechts,
Andreas Bässler: Sprichwortbild und Sprichwortschwank. Zum illustrativen und narrativen Potenzial von Metaphern in der deutschsprachigen Literatur um 1500. Berlin/New York 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. 261), S. 12– 24. Gracián, Kritikon (Anm. 87), S. 300 – 311. Ebd., S. 192. „Había a la puerta un gran letrero, que decía: El bien deleitable, útil y honesto. Reparó Critilo y dijo: – Este letrero está al revés. ¿Cómo al revés? – replicó Andrenio –; yo al derecho le leo. Sí, que había de decir al contrario: El bien honesto, útil y deleitable“; Baltasar Gracián: El Criticón. Madrid 1993, S. 147. Gracián, Kritikon (Anm. 87), S. 194. „Yo nunca voy por donde los demás, sino al revés. […] Yo he de entrar por donde los otros salen, haciendo entrada de la salida. Nunca pongo la mira en los principios, sino en los fines“; Gracián, El Criticón (Anm. 96), S. 149.
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sondern um die Fortdauer seiner Geschlechtslust; er strebt nicht nach Wissen, um sich zu finden, sondern um von sich loszukommen […].⁹⁸
Umkehr wird zur Technik der Entschlüsselung aller Verkehrtheiten der Welt. Sie kann sich gegen den Common Sense richten oder die Verkehrtheit vom Common Sense her bewerten. Von der Gestaltung chiastischer Wortgruppen – lebendige Tote, tote Lebendige; den Tag zur Nacht und die Nacht zum Tag machen – über kontrastive Semantiken bis in die morphologische Ebene hinein greift das Verfahren: „je mehr doctores, desto mehr dolores“.⁹⁹ Die Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit etwa wird an der Semantik des Hoflebens (corte) vorgeführt. Artemisia, die Täuschung, tritt in ambivalenter Funktion auf. „Es war, wie gesagt, ein sehr schönes Weib, nichts vom Dorfe, ganz vom Hofe, und weil ganz vom Hofe, de la corte, denn auch ganz cortesana, begegnete allen mit guter Miene aber bösem Spiel.“¹⁰⁰ Die Verstellungskunst des Hofes wird über den Rekurs auf eine idiomatische Wendung – das Sprichwort als ‚Weisheit der Formel‘ – offengelegt. Wie das Geschlechterverhältnis invertiert ist – der Mann als König der Welt wird zum Sklaven des Weibes; mit Frauen ist kein Leben, ohne sie aber auch nicht –, so auch das Feld der Politik – „sie meinen nein, und sagen ja“ – und noch das des Rechts: „aber leider sind die, die den Übeln ein Ende bereiten sollen, darauf aus, sie zu erhalten, denn sie leben von ihnen“.¹⁰¹ Über die sprachliche Pointierung wird die Kulturkritik an das Einverständnishandeln des Common Sense rückgebunden. Wissen differenziert sich in ganz unterschiedliche Formen aus. Während Klugheit in der Regel der situativen Bewältigung von Lebenssituationen dient, fungiert Weisheit als „Wissen steuerndes Wissen“, es ist selbstreflexiv.¹⁰² Die Figur der Umkehr kann nicht nur an beiden Funktionen teilhaben, sie kann auch in unterschiedlichen Formen auftreten. Es gehört noch zur Erkenntnisleistung der Umkehrung, dass eine Form ebenso verschiedene Funktionen erfüllen wie eine Funktion in verschiedenen
Gracián, Kritikon (Anm. 87), S. 180. „Vulgar desorden es entre los hombres hacer de los fines medios y de los medios hacer fines. Lo que ha de ser de paso toman de asiento y del camino hacen descanso. Comienzan por donde han de acabar y acaban por el principio. […] No come ya para vivir, sino que vive por comer; no descansa para trabajar, sino que no trabaja para dormir; no pretende la propagación de su especie, sino la de su lujuria; no estudia para saberse, sino para desconocerse“; Gracián, El Criticón (Anm. 96), S. 138. Gracián, Kritikon (Anm. 87), S. 106. „[D]onde hay más doctores hay más dolores“; Gracián, El Criticón (Anm. 96), S. 83. Vgl. Kritikon, S. 809 f./El Criticón, S. 586: „no de muertos vivos, sino de vivos muertos“; Kritikon, S. 109/El Criticón, S. 84: „hacer de día noche, y de la noche día“. Gracián, Kritikon (Anm. 87), S. 188 f. „Era, como digo, una bellísima mujer, nada villana y toda cortesana. Hacía buena cara a todos y muy malas obras“; Gracián, El Criticón (Anm. 96), S. 144. Gracián, Kritikon (Anm. 87), S. 98. „Para decir no dicen sí“; Gracián, El Criticón (Anm. 96), S. 76. Vgl. Kritikon, S. 104/El Criticón, S. 81: „[P]ero ya los mismos que habían de acabar los males son los que los conservan, porque viven de elolos“. Hahn (Anm. 14), S. 52.
Umkehr: Rhetorischer Topos und epistemische Figur
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Formen auftreten kann.¹⁰³ Als rhetorischer Topos fungiert Umkehr auf elementarer Ebene als situativ bedingter Widerspruch im Redeagon, er kann sich aber ins Sprichwort transformiert auch von der unmittelbaren Kommunikationssituation lösen und die Herstellung von Konformität im Rahmen des Common Sense befördern. Darüber hinaus kann er als epistemische Figur in die Reflexion übergehen, indem diskursiv oder narrativ widerstreitende Geltungsansprüche offengelegt und ausgehandelt werden. Wenn solches Abwägen von Werten ganze Wertesysteme erfasst, erweitert sich die epistemische Funktion der Umkehrung zur Kulturkritik wie in der christlichen Ethik, aber auch wissenschaftstheoretisch in der Dialektik der Aufklärung oder in der Diskursanalyse Foucaults.¹⁰⁴ Wider-Spruch, Konformitätsanspruch und Reflexion gehen in eine umfassende Kritik der Weltanschauung über, sodass die Figur der Umkehrung hier eine revolutionäre Funktion erhält. In der Allegorie der ‚Verkehrten Welt‘ hat diese Form von Universalkritik ihr literarisches Pendant. Sie kann mit einem (beispielsweise christlichen) Wertesystem homogenisiert werden wie in Grimmelshausens Verkehrter Welt, sie kann aber auch moralistisch differenziert werden wie in Graciáns Kriticon. Die allegorische Darstellung kann alle beschriebenen Formen und Funktionen in sich aufnehmen und Umkehrung in eine rhetorisch formatierte Suchmaschine auf der Ebene der Inhalte wie der Formen transformieren. Als Kunst der Lebensklugheit weist sie über die Funktionen des Widerspruchs, der Konformität, Reflexion und Kritik noch hinaus, ihre Leistung kann wohl am besten mit umfassendem Rat umschrieben werden, der sich weniger von einem dogmatischen System als vom Einzelfall aus motiviert.
Vgl. ebd., S. 47. Berühmt ist Foucaults Satz von der Seele als dem Gefängnis des Körpers. Vgl. aber auch die Inversion des Clausewitzsatzes, durch die Politik als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln gefasst wird. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975 – 1976). Frankfurt a. Main 1999, S. 63.
Modellierungen religiöser Konversion
Caroline Emmelius
Gelübde und Selbstdevestitur Narrative Konfigurationen der Weltabkehr in der frühen Elisabeth-Hagiographie (Konrad von Marburg, Dietrich von Apolda)
I Elisabeth als ‚Figur der Wende‘ – Geschichts- und literaturwissenschaftliche Perspektiven auf eine Heilige Im Kontext mittelalterlicher Heiligenverehrung dürfte die Heilige Elisabeth von Thüringen als eine ‚Figur der Wende‘ par excellence gegolten haben, hat die Abwendung der ungarischen Königstochter und thüringischen Landgräfin vom Leben am Hof und ihre Ausrichtung auf ein der Armen- und Krankenpflege gewidmetes Leben doch eine fast unerreicht hohe Symbolkraft: Diese conversio ist so unwahrscheinlich wie real, so faszinierend wie beängstigend, weil sie besonders radikal mit zeitgenössischen Vorstellungen von sozialer, gesellschaftlicher Ordnung bricht.¹ Der Historiker Matthias Werner führt Elisabeths lebensgeschichtliche conversio auf franziskanischen Einfluss zurück.² Der maßgebliche Beleg hierfür stammt aus der 1262 verfassten Chronik des Jordan von Giano zu den Anfängen und der Ausbreitung des Franziskanerordens in Deutschland. Jordan nennt für das Jahr 1221 einen Laienbruder Rodeger, der gardianus et magister discipline spiritualis Elisabeths geworden sei und sie angeleitet habe, sich in Keuschheit, Demut und Geduld zu üben, sich dem Gebet zu widmen und Werke der Barmherzigkeit zu tun: docens eam servare castitatem, humilitatem et pacienciam et orationibus invigilare et operibus misericordie insudare. ³
Maßgeblich zum Stand der Forschung zur Heiligen Elisabeth ist noch immer der Begleitband zur Landesausstellung von 2007: Elisabeth von Thüringen – eine europäische Heilige. Bd. 2: Aufsätze. Hrsg. von Dieter Blume, Matthias Werner. Petersberg 2007, sowie Elisabeth von Thüringen und die neue Frömmigkeit in Europa. Hrsg. von Christa Bertelsmeier-Kierst. Frankfurt a. Main u. a. 2008 (Kulturgeschichtliche Beiträge zum Mittelalter und der frühen Neuzeit. 1); eine Übersicht zu Elisabeths Leben und ihrer Rezeption als Heilige bietet Ortrud Reber: Elisabeth von Thüringen. Landgräfin und Heilige. Eine Biographie. Regensburg 2006. Vgl. Matthias Werner: Elisabeth von Thüringen, Franziskus von Assisi und Konrad von Marburg. In: Blume/Werner (Anm. 1), S. 109 – 135, hier S. 110. Chronica Fratris Jordani. Hrsg. von Heinrich Boehmer. Paris 1908 (Collection d’études et de documents sur l’histoire religieuse et littéraire du Moyen Age. 6), Kapitel 25, S. 29. Werner (Anm. 2), S. 109 – https://doi.org/10.1515/9783110706093-007
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Entscheidend für Werners These ist vor allem ein zeitliches Argument: Er geht davon aus, dass Elisabeth möglicherweise schon vor der offiziellen Beauftragung Rodegers zu ihrem spirituellen Leiter mit Franziskanern in Kontakt gekommen sein muss. Diese Brüder der ersten Generation, die Franziskus zum Teil noch persönlich kannten, standen für eine franziskusnahe, radikale Form von Armut, Buße und karitativem Wirken, Ideale, die jedoch mit der so genannten ‚klerikalen Wende‘ des Ordens bereits in den Hintergrund gerieten.⁴ Dies könnte ein Grund dafür sein, dass Jordan von Giano den prominenten Kontakt zum landgräflichen Hof aus den Anfangsjahren des Ordens vergleichsweise marginal behandelt. Für Elisabeth, so spitzt Werner zu, führt der Kontakt mit den ersten Franziskanern in Deutschland zu einem „tiefen Bekehrungserlebnis“ in den Jahren 1222/1223, durch das sich die etwa 15-jährige Landgräfin den religiösen Zielen der ersten Franziskanergeneration anschließt.⁵ Dass Elisabeths Ausrichtung auf Armut, Armenfürsorge und Krankenpflege franziskanischen Idealen folgt, ist freilich nicht neu.⁶ Neu an Werners These ist vor allem die Annahme einer frühen, zeitlich fixierbaren conversio, die in Zusammenhang des Kontakts zu dem Franziskanerbruder Rodeger steht. Im Unterschied zur geschichtswissenschaftlichen These eines ‚tiefen Bekehrungserlebnisses‘ in der Biographie der historischen Elisabeth in den Jahren 1222 oder 1223 kennt die frühe Elisabeth-Hagiographie⁷ allerdings keine solche conversio. Zwar gibt es in den Texten Hinweise auf franziskanische Kontakte der Landgräfin in ihrer Eisenacher Zeit und auf eine deutliche Orientierung an franziskanischer Frömmigkeit, aber die Texte kennen weder einen Frater Rodeger noch thematisieren sie eine
113, zeichnet nach, dass dieser Rodeger zu jenen Franziskanern gehörte, die im Gefolge von Cäsarius von Speyer am Aufbau der Ordensstrukturen in der Teutonia beteiligt waren. Vgl. Helmut Feld: Franziskus von Assisi und seine Bewegung. Darmstadt 1994, S. 455 f., sowie Maria Pia Alberzoni: Elisabeth von Thüringen, Klara von Assisi und Agnes von Böhmen. Das Franziskanische Modell der Nachfolge Christi diesseits und jenseits der Alpen. In: Blume/Werner (Anm. 1), S. 47– 55, besonders S. 51 f. Vgl. Werner (Anm. 2), S. 109 – 112, Zitat S. 110. Vgl. Monika Rener: The Making of a Saint. In: Bertelsmeier-Kierst (Anm. 1), S. 195 – 210, besonders S. 204– 208 mit der These, dass spezifische Handlungen der Heiligen, die freilich nur in hagiographischen Texten überliefert sind, auf das Modell des Heiligen Franziskus bezogen seien; zur ElisabethVerehrung bei den Franziskanern und der entsprechenden Viten- und Legendenproduktion vgl. Dieter Blume, Matthias Werner: Religiöse Gemeinschaften. In: Elisabeth von Thüringen – eine europäische Heilige. Katalog. Im Namen der Wartburg-Stiftung Eisenach und der Friedrich-Schiller-Universität Jena unter Mitarbeit von Uwe John und Helge Wittmann hrsg.von Dieter Blume, Matthias Werner. Petersberg 2007, S. 328 f. sowie die Katalogbeiträge Nr. 225 – 230, S. 339 – 349. Dazu zählen unter anderem die Summa vita des Konrad von Marburg und der so genannte Libellus der vier Dienerinnen, beides Texte, die im Kontext des Kanonisationsverfahrens entstehen, sowie die (wenig wirkmächtige) Kurzvita des Cäsarius von Heisterbach (1236/37) und die breit rezipierte Vita Elyzabeth (1289/90) des Erfurter Dominikaners Dietrich von Apolda. Vgl. für eine Übersicht Sylvia Weigelt: Elisabeth-Viten und Zeugnisse ihres Lebens vom 13. bis Anfang 16. Jahrhundert. In: Elisabeth von Thüringen in Quellen des 13. bis 16. Jahrhunderts. Hrsg. von ders. Erfurt 2008, S. 19 – 22.
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punktuell greifbare conversio in der Zeit der ersten Ehejahre der Landgräfin. Stattdessen operieren die hagiographischen Texte mit einer Fülle von ereignishaften Wegmarken, um die Vita Elisabeths narrativ zu strukturieren: Solche zentralen biographischen Wegmarken sind etwa die Hochzeit mit Ludwig IV., dessen Tod, der Konflikt mit den Brüdern Ludwigs, das Verlassen der Wartburg und die Übersiedlung nach Marburg. Ereignishaften Charakter haben überdies die beiden formalen Gelübde Elisabeths: das Gehorsamkeitsgelübde gegenüber Konrad und die öffentliche Entsagung aller familiären Bindungen am Karfreitag 1228. Die Zumutung dieses Heiligenlebens besteht also im ‚riskanten‘ Statuswechsel der Protagonistin:⁸ von der hochadligen Landesfürstin zur einfachen Hospitalschwester, von der Ehefrau und Mutter zur zölibatär lebenden Braut Christi. Dabei erschwert es die Präsentation dieser Adelsheiligen für die Hagiographen, dass Elisabeth die konventionellen Möglichkeiten für das Leben als adlige Witwe programmatisch ausschlägt:⁹ Sie will sich nicht wiederverheiraten, nicht weiter in der Familie ihres Mannes leben, auch nicht zu ihren Eltern zurückkehren.Vor allem aber schlägt sie die institutionalisierte Möglichkeit einer religiösen Lebensform in Klausur aus, geht sie doch nicht – wie ihre Schwiegermutter Sophie – ins Kloster oder wird Stiftsdame. Auch das Leben als Inkluse lehnt sie ab.¹⁰ Für ein Leben in radikaler Christus- und Franziskusnachfolge, wie es der historischen Elisabeth vielleicht vorgeschwebt hat, gibt es jedoch um 1227 noch kein institutionalisiertes Muster, denn der Klarissenorden und die Tertiarerbewegung sind noch im Entstehen.¹¹ Für ein Mitglied des europäi Die Begrifflichkeit ist entlehnt von Susanne Köbele: Die Illusion der ‚einfachen Form‘. Über das ästhetische und religiöse Risiko der Legende. In: PBB 134 (2012), S. 365 – 404, die damit allerdings Paradoxien der sprachlichen Gestaltung in der Legendarik bezeichnet. Vgl. zu den konventionellen Möglichkeiten für adlige Frauen, als Witwe zu leben, den Überblick bei Sybille Schröder: Frauen im europäischen Hochadel des ausgehenden 12. und beginnenden 13. Jahrhunderts. Normen und Handlungsspielräume. In: Blume/Werner (Anm. 1), S. 27– 34, die allerdings versäumt zu zeigen, dass Elisabeth diese Varianten für sich sämtlich explizit und zum Teil wiederholt ablehnt. Für die entsprechenden Textbelege vgl. unten die Abschnitte III und IV. Im Thüringen des 13. Jahrhunderts stehen Frauen im Wesentlichen drei Modelle für eine vita religiosa zur Verfügung: erstens die Klausur in einem der etablierten Orden (vor allem Benediktinerinnen und Zisterzienserinnen) oder bei den aus dem Reformklerus heraus gegründeten Magdalenerinnen, zweitens ein Leben als Inkluse oder drittens als Begine; vgl. Jörg Voigt: Beginen im Spätmittelalter. Frauenfrömmigkeit in Thüringen und im Reich. Köln u. a. 2012 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe. 32), S. 85 – 170, zusammenfassend S. 156 – 170, zu Elisabeth besonders S. 157– 159; ders.: Die Inkluse Elisabeth von Beutnitz (1402– 1445). Zum Inklusenwesen in Thüringen. In: Religiöse Bewegungen im Mittelalter. Festschrift für Matthias Werner zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Enno Bünz, Stefan Tebruck, Helmut G. Walther. Köln 2007 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe. 24), S. 347– 397. Zum Anfang des Klarissenordens in Thüringen siehe ders.: Religiöse Frauengemeinschaften und Franziskaner. Klarissen, Beginen und Tertiarinnen in der Sächsischen Franziskanerprovinz. In: Für Gott und Welt. Franziskaner in Thüringen (Text- und Katalogband zur Ausstellung in den Mühlhäuser Museen vom 29. März bis 31. Oktober 2008). Hrsg. von Thomas T. Müller, Bernd Schmies, Christian Loefke. Paderborn u. a. 2008, S. 92– 108.
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schen Hochadels ein Lebensmodell in radikaler Armut und tätiger Caritas – als soror in saeculo – zu entwerfen, ist daher nicht nur eine komplexe Aufgabe für Elisabeths geistlichen Betreuer Konrad,¹² sondern auch für die Hagiographen der Heiligen Elisabeth, deren Lebensbeschreibung zu einer überzeugenden narrativen Form finden soll.
II Konversionsmodell vs. Legendenschema: Erzählmuster der Elisabeth-Hagiographie Die Elisabeth-Hagiographie verknüpft dabei zwei konkurrierende Erzählmuster für mittelalterliche Lebensläufe: Neben das Konversionsmodell, das die soziale Statusumkehr Elisabeths darzustellen und zu begründen versucht, tritt das Schema der Bekennerlegende, das die immer schon gegebene Auszeichnung der Protagonistin betont. Die beiden Modelle konfligieren insbesondere in Bezug auf den Begriff der Ereignishaftigkeit: Das Konversionsmodell, wie es Christel Meier-Staubach erst kürzlich für mittelalterliche Biographien beschrieben hat, beschreibt Konversion als einen dreischrittigen Prozess der Hinwendung zu Gott, der aus einer vorherigen Krise des Protagonisten hervorgeht. Auf die Neuorientierung des Ich folgt eine Phase des guten Handelns, die wiederum in eine Phase der Gottnähe mündet.¹³ Dieses Konversionsmodell zeichnet sich durch eine syntagmatische Basisstruktur aus und ist in Bezug auf den Bekehrten hochgradig ereignishaft.¹⁴ Der Bekehrte ist nach dem Prozess der Konversion ein
Vgl. Werner (Anm. 2), S. 120 – 122. Vgl. Christel Meier-Staubach: Krise und Conversio. Grenzerfahrungen in der biographischen Literatur des Hochmittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 50 (2016), S. 21– 44; zur Konzeption von Konversion als dreischrittigem narrativen Syntagma siehe auch Thomas Luckmann: Kanon und Konversion. In: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. Hrsg. von Aleida Assmann, Jan Assmann. München 1987, S. 38 – 46, besonders S. 42 f. Vgl. für Konversion als krisenhafte Abwendung von einem bislang gültigen Wertsystem und Ausrichtung auf ein neues auch die Bestimmungen bei William H. C. Frend, Michael Wolter, Pius Engelbert: Bekehrung I: Alte Kirche und Mittelalter. In: TRE. Bd. 5. 1980, S. 439 – 459, Falk Wagner: Bekehrung III: Systematisch-Theologisch. In: ebd., S. 469 – 480, und Otto Bischofsberger: Bekehrung/Konversion I: Religionswissenschaftlich. In: 4RGG. Bd. 1. 1998, Sp. 1228 f. Für den Begriff des narrativen Ereignisses beziehungsweise narrativer Ereignishaftigkeit beziehe ich mich auf die Bestimmungen bei Peter Hühn: Event and Eventfulness. In: The living handbook of narratology. Hrsg. von Peter Hühn u. a. University of Hamburg 2013 [http://www.lhn.uni-hamburg.de/ article/event-and-eventfulness, Zugriff: 20.08.18]. Zur narrativen Ereignishaftigkeit von textinduzierten Konversionslegenden vgl. Peter Strohschneider: Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur. Heidelberg 2014 (GRM Beihefte. 55), S. 193 – 217 (Erzählung und conversio).
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anderer als davor, seine Geschichte erfüllt damit das Strukturmuster der ‚erzählenden Erklärung‘.¹⁵ Bekennerlegenden erzählen hingegen in aller Regel nicht von prozesshafter oder sogar plötzlicher Umkehr des Heiligen, wie die christlichen Biographien des Augustinus oder des Abaelard, sondern von der immer schon gegebenen und sich immer neu erweisenden göttlichen Auszeichnung ihrer Protagonisten, die ohne den Begriff der ereignishaften Veränderung auskommt¹⁶ und damit nach strukturalistischen Maßstäben auch keine Geschichtsstruktur ausbildet.¹⁷ Edith Feistner verweist Bekehrungen des Heiligen daher in die Vorgeschichte von Märtyrerlegenden.¹⁸ Ausnahmen bilden neben Sünderheiligenlegenden auch einige Viten der sancti novi, wie etwa die des Franziskus.¹⁹ Aus der Bekennerlegende, die in der Regel schon mit Kindheit und Jugend des Heiligen einsetzt, bleiben Konversionen jedoch in aller Regel ausgeschlossen. Im Falle der Elisabeth-Hagiographie scheinen nun beide narrativen Modelle miteinander verschränkt zu werden: Einerseits wird Elisabeth von Kindesbeinen an ein religiöses, begnadetes Leben zugeschrieben, das ihre Heiligkeit in ereignisloser Weise vorwegnimmt, andererseits operieren die Texte mit etlichen ereignishaften
Vgl. Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte. Aus dem Englischen von Jürgen Behrens. Frankfurt a. Main 1974, S. 371– 406, hier S. 376 mit der in der Narratologie oft zitierten Formel: „(1) x ist F in t-1, (2) H ereignet sich mit x in t-2, (3) x ist G in t-3.“ Vgl. Edith Feistner: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation. Wiesbaden 1995 (Wissensliteratur im Mittelalter. 20), hier S. 39 f.: „Eine dezidierte Zielgerichtetheit [der Bekennerlegende] aber, die die vorhergehenden Lebensphasen grundsätzlich an Eigengewicht verlieren ließe, liegt in der Regel nicht vor, ist doch der Heilige als schon immer in jeder Situation beispielhaft begriffen […]: Schon Kindheit und Jugend, ja sogar schon die wunderbaren Umstände bei der Geburt bezeugen dies. Von einer wirklichen Vorgeschichte, in der sich die Perfektion erst konstituierte, kann man deshalb überhaupt nur in Ausnahmefällen sprechen, in denen der Heiligkeit zuerst die – ihrerseits aber als Offenbarung und nicht als menschliche ‚Entwicklung‘ exemplarisch begriffene – Abkehr von den weltlichen Werten vorausgeht.“ So pointiert zu Feistners Typologie Hartmut Bleumer: ‚Historische Narratologie‘? Metalegendarisches Erzählen im Silvester Konrads von Würzburg. In: Historische Narratologie – mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland, Matthias Meyer. Berlin 2010 (TMP. 19), S. 231– 261, hier S. 238; für grundsätzliche Kritik an strukturalistischen Lektüren von Legenden mit besonderem Fokus auf den typologischen Entwurf von Edith Feistner vgl. Elke Koch, Julia Weitbrecht: Einleitung. In: Julia Weitbrecht u. a.: Legendarisches Erzählen. Optionen und Modelle in Spätantike und Mittelalter. Berlin 2019 (Philologische Studien und Quellen. 273), S. 9 – 21, hier S. 11– 15, die insbesondere an der generalisierenden Opposition von Märtyrer- und Bekennerlegenden Anstoß nehmen. Die in den Beiträgen des Buchs alternativ vorgeschlagene Perspektive auf Optionen und Modelle von Heiligkeit, die in Legenden und Viten pragmatisch kombiniert werden können, klammert ihrerseits Fragen der narrativen Struktur und ästhetischen Gestalt, die solche Modelle als literarische Texte annehmen, weitgehend aus. Feistner (Anm. 16), S. 40 f. Zur Struktur von Sünderheiligenlegenden vgl. Erhard Dorn: Der sündige Heilige in der Legende des Mittelalters. München 1967 (Medium Aevum. 10), hier S. 121– 130, sowie Feistner (Anm. 16), S. 41 mit Anm. 70 zum Sonderfall der Sünderheiligenvita; zur Franziskusvita ausführlich ebd., S. 193 – 215.
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Wegmarken, um den Statuswechsel von der Fürstin zur Hospitalschwester anschaulich zu machen. Im Folgenden soll am Beispiel von zwei zentralen Texten der frühen ElisabethHagiographie, der knappen Summa vitae Konrads von Marburg und der umfangreichen Elisabethvita Dietrichs von Apolda, nach den narrativen Möglichkeiten gefragt werden, mit denen die Hagiographen Elisabeths Statusumkehr ereignishaft zur Darstellung bringen. Im Hintergrund steht dabei die These, dass die Elisabeth-Hagiographie gleichsam gegen den historischen Befund jeweils unterschiedlich strukturierte Konversionserzählungen für Elisabeths Leben modelliert, die sich über die jeweilige Funktion des Textes erklären lassen. Die Frage, wie die Abkehr vom privilegierten Leben am Fürstenhof gestaltet ist und in welche Lebensformen eine solche Abkehr führen kann, wird dabei gerade nicht einmalig geklärt, sondern begleitet die Vita Elisabeths vielmehr wie ein Kontrapunkt und drängt immer wieder neu zur expliziten Thematisierung.²⁰
III Das Karfreitagsgelübde als Konversionsereignis in der Summa vitae Konrads von Marburg Die Summa vitae des Konrad von Marburg entsteht unmittelbar nach Elisabeths Tod im Zusammenhang mit seinem Antrag auf Kanonisation bei Papst Gregor.²¹ Sie bietet eine knappe Beschreibung der letzten Lebensjahre Elisabeths von 1226 bis zu ihrem Tod 1231. Die Summa ist, gemeinsam mit dem Libellus de dictis quatuor ancillarum, einem ebenfalls im Kontext des Kanonisationsprozesses entstandenen Protokoll zu Aussagen von vier engen Begleiterinnen Elisabeths, ein Gründungstext der weiteren
Dass sich an der Figur der Heiligen Elisabeth paradigmatisch Fragen der religiösen Lebensform diskutieren lassen, zeigt Hans Martin Weikmann: Maria und Marta in einer Person. Zur Deutung Elisabeths von Thüringen in der Hagiographie des 13. Jahrhunderts. In: „Nicht aufgrund von Brot allein wird leben der Mensch“ (Mt 4,4): Mystik und soziales Engagement. Hrsg. von Rainer Dillmann, Hans Martin Weikmann. Opladen u. a. 2009, S. 21– 34; eine differenzierte Analyse der narrativen Umsetzung theologischer Lebensformdiskurse bietet für die Elisabeth-Vita des Cäsarius von Heisterbach neuerdings Christian Schmidt: vita mixta als vita perfecta? Lebensformdifferenz und Vollkommenheit in der Vita sancte Elyzabeth lantgravie (1236/37) des Caesarius von Heisterbach. In: vita perfecta? Zum Umgang mit divergierenden Ansprüchen an religiöse Lebensformen in der Vormoderne. Hrsg. von Daniel Eder, Henrike Manuwald, Christian Schmidt (erscheint Tübingen 2021). Die Summa vitae ist zitiert nach Konrad von Marburg: Summa vitae. In: Quellenstudien zur Geschichte der hl. Elisabeth, Landgräfin von Thüringen. Hrsg. von Albert Huyskens. Marburg 1908, S. 155 – 160 (im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert mit der Sigle SV); die deutsche Übersetzung folgt Konrad von Marburg: Summa vitae. In: Quellen zur Geschichte Thüringens. Elisabeth von Thüringen in Quellen des 13.–16. Jahrhunderts. Hrsg. [und ins Neuhochdeutsche übertragen] von Sylvia Weigelt. Erfurt 2008, S. 37– 41 (im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert mit der Sigle SV dt.).
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Elisabeth-Hagiographie.²² Dabei bestimmt er selbst sich vor allem über die Funktion, die für das Heiligsprechungsverfahren notwendigen Wunderberichte um einen kurzen Bericht zu ihrer Lebensführung zu ergänzen. So erläutert es Konrad von Marburg in einem Brief an Papst Gregor, der der Summa vorausgeht: Ut autem non solum de miraculis, sed et de conversatione eius plenius instruamini, summam vite eius vobis transscribo. (SV, S. 156) Damit Ihr aber nicht nur über ihre Wunder, sondern auch über ihren Lebenswandel vollständiger unterrichtet werdet, werde ich Euch einen zusammenfassenden Bericht über ihr Leben abschreiben (SV dt., S. 36).
Der knappe Bericht ist sorgfältig auf seine Funktion im Heiligsprechungsverfahren hin komponiert. Er wählt wenige, programmatische Begebenheiten aus Elisabeths Leben aus und montiert sie geschickt zu einem stringenten Nachweis von Kriterien für ihre Heiligkeit: Einem längeren Abschnitt über ihre tätigen, karitativen Werke folgen Ausführungen über ihr reiches Gebetsleben, der Bericht ihres guten Todes sowie über ein postumes Wunder. Für die Frage nach den Konversionsmomenten der Vita ist vor allem der Abschnitt zu Elisabeths vita activa relevant. Als eigentliches Konversionsereignis ist hier das Gelübde anzusehen, das Elisabeth am Karfreitag des Jahres 1228 in der Kapelle der Franziskaner in Eisenach ablegt.²³ Im Beisein Konrads und einiger Franziskanerbrüder entsagt sie ihren familiären Bindungen, insbesondere denen zu ihren Kindern, sowie dem eigenen Willen, dem Prunk der Welt und allem, was Christus im Evangelium zu verlassen rät (parentibus et pueris et proprie voluntati et omnibus pompis mundi et hiis, que salvator mundi in ewangelio consulit relinquenda renuntiavit; SV, S. 157). Konversion ist hier in der mittelalterlichen Wortbedeutung als Entscheidung für eine geistliche Lebensform aufzufassen, die in aller Regel mit dem Eintritt in einen Orden gleichgesetzt und durch ein entsprechendes votum rituell markiert ist.²⁴ Eli Zum zeitlichen Ablauf des Prozesses sowie einführend zur Summa vitae und zum Libellus siehe Ingrid Würth: Die Aussagen der vier Dienerinnen im Kanonisationsverfahren Elisabeths von Thüringen (1235) und ihre Überlieferung im Libellus. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 59/60 (2005/2006), S. 7– 74; dies.: Die Aussagen der vier „Dienerinnen“ im Kanonisationsverfahren und ihre Überlieferung im sog. „Libellus“. In: Blume/Werner (Anm. 1), S. 187– 192; zu den frühen zentralen Texten der Elisabeth-Hagiographie auch Stephanie Seidl: Nähestiftung. Das hochmittelalterliche Erzählen über Elisabeth von Thüringen. In: Weitbrecht u. a. (Anm. 17), S. 217– 245, mit der sehr übergreifenden These, dass die legendarischen Texte in dem Maße Nähe zur Heiligen erzeugen, wie deren Reliquien den Gläubigen im Vollzug der Institutionalisierung des Kults sukzessive entzogen werden. In der Summa vitae ist dies das einzige erwähnte Gelübde; der Libellus kennt lediglich ein früheres Gehorsamkeitsgelübde gegenüber Konrad; vgl. Albert Huyskens (Hrsg.): Der sog. Libellus de dictis quatuor ancillarum s. Elisabeth confectus. Kempten u. a. 1911, S. 17 f. u. 22 (im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert mit der Sigle Libellus). Vgl. Frend/Wolter/Engelbert (Anm. 13), S. 457– 459, besonders S. 458, sowie das Lemma ‚conversio‘. In: Mittellateinisches Wörterbuch. Bd. 2. 1999, Sp. 1826 – 1829, besonders Sp. 1828; zur lateinischen
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sabeths votum ist sprachlich an den evangelischen Räten orientiert.²⁵ Es kommt mit der Nennung von Keuschheit und Gehorsam konventionellen Ordensgelübden nahe, auch wenn der Gehorsam sich hier auf Konrad und nicht auf eine spezifische Ordensregel bezieht.²⁶ Auch die für Ordensgelübde konstitutive dritte Säule der Armut ist Elisabeth mit dem Verzicht auf weltlichen Besitz bereit einzubeziehen, würde Konrad sie nicht davon abhalten: Er will, dass sie weiter in der Lage ist, die Schulden ihres verstorbenen Mannes zu bezahlen und die Armen zu unterstützen.²⁷ Das Gelübde manifestiert somit in enger Anlehnung an klösterliche Professformeln Elisabeths Entschlossenheit zu einer neuen Lebensform als Abkehr von ihrem bisherigen Leben als Landgräfin, Ehefrau und Mutter.²⁸ Die konkreten Umrisse einer solchen neuen Lebensform sind hier jedoch noch nicht sichtbar, da sich Elisabeth nicht auf eine spezifische Regel verpflichtet. Die Besonderheit dieser conversio besteht also darin, dass die Entscheidung für eine geistliche Lebensform gerade nicht mit dem Übertritt zu einer institutionalisierten religiösen Existenzform gleichzusetzen ist. Die Frage nach einer für Elisabeths religiöse Existenz adäquaten Lebensform ist ein zentrales Thema in jenem ersten Abschnitt der Summa vitae, der sich mit Elisabeths vita activa befasst: Sie deutet sich programmatisch schon gleich zu Beginn des Textes an, wenn Konrad referiert, er habe Elisabeth im Jahr 1226, als er ihre geistliche Betreuung als Beichtvater übernommen habe, in Klage über den Verlust ihrer Jungfräulichkeit angetroffen: ipsam querelosam reperiens, quod aliquando fuerit coniugio copulata et quod in virginali flore non poterat presentem vitam terminare (SV, S. 156).²⁹ Der Verlust der Jungfräulichkeit ist ein gewichtiges Argument gegen die Heiligsprechung, das Konrad, indem er es der Aspirantin selbst in den Mund legt, einerseits offenlegt, um es mit dem folgenden Bericht ihrer heiligmäßigen Taten zugleich wirksam entkräften zu können, denn bereits als Ehefrau Ludwigs IV. zeigt Elisabeth
Wortgeschichte siehe auch Matthias Rein: Conversio deutsch. Studien zur Geschichte von Wort und Konzept ‚bekehren‘, insbesondere in der deutschen Sprache des Mittelalters. Göttingen 2012 (Historische Semantik. 16), S. 57– 64. Vgl. Lk 14,26 u. Mt 19,29 sowie Ludwig Hödl: Evangelische Räte. In: LexMA. Bd. 4. 2003, Sp. 131– 135. Vgl. hierzu Werner (Anm. 2), S. 120 f. Et cum possessionibus renuntiare vellet, ipsam retraxi tum propter reddenda debita mariti sui, tum propter egenos, quibus volui de hiis, que pertinebant ad eam ratione dotis, subveniri (SV, S. 157). Vgl. Andreas Rüther: Profeß. In: LexMA. Bd. 7. 2003, Sp. 240 f.; vgl. z. B. die franziskanische Regula non bullata. In: Franziskus von Assisi. Sämtliche Schriften. Lateinisch/Deutsch. Hrsg. von Dieter Berg. Stuttgart 2014, S. 12– 67, hier S. 14 (Kapitel 1). Zur Differenzierung von ausdrücklichen und stillschweigenden sowie ewigen und zeitlichen Gelübden vgl. Dominicus Michael Meier: Die Rechtswirkungen der klösterlichen Profeß. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung der monastischen Profeß und ihrer Rechtswirkungen unter Berücksichtigung des Staatskirchenrechts. Frankfurt a. Main u. a. 1993, besonders S. 217– 250. ‚Ich traf sie in Klage darüber an, dass sie einst vermählt worden sei und dass sie nicht das irdische Leben in jungfräulicher Blüte beenden könne‘ (SV dt., S. 37). Zu den unterschiedlich konturierten Positionen, die in der frühen Elisabeth-Hagiographie zum Virginitäts- und Ehediskurs formuliert werden, vgl. Stephanie Haarländer: Zwischen Ehe und Weltentsagung. Die verheiratete Heilige – Ein Dilemma der Hagiographie. In: Bertelsmeier-Kierst (Anm. 1), S. 211– 229.
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jene officia humanitatis (SV, S. 157), also Freigebigkeit, Demut und Nächstenliebe, die sie später zur Heiligen qualifizieren.³⁰ Die Frage der Lebensform, für die es in Elisabeths Zeit als Landgräfin und Ehefrau Ludwigs keine formale Alternative gibt, stellt sich neu, als Elisabeth mit dem Tod Ludwigs zur Witwe wird und der Papst Konrad als ihren Vormund einsetzt.³¹ Elisabeth, so referiert es Konrad, habe nun nach höchster Vollkommenheit gestrebt (ipsa ad summam tendens perfectionem; SV, S. 157) und ihn nach der Lebensform befragt, in der sie sich als Witwe die größten Verdienste erwerben könne: in einer Rekluse, in einem Kloster oder irgendeinem anderen Stande (utrum in reclusorio vel in claustro vel in aliquo alio statu magis posset mereri; SV, S. 157). Für sich selbst scheint sie diese Frage allerdings bereits entschieden zu haben, denn sie fordert von Konrad unter Tränen, er solle ihr erlauben, von Tür zu Tür betteln zu gehen (ut eam permitterem hostiatim mendicare; SV, S. 157). Konrad schlägt ihr dieses Ansinnen ab, worauf sie antwortet: Hoc faciam, quod me non potestis prohibere (‚Ich werde das tun, woran ihr mich nicht hindern könnt‘; SV, S. 157 u. SV dt., S. 37). Die Diskussion bringt zum einen jene Lebensformen zur Sprache, die sich für die Witwe anbieten: das Leben als Inkluse in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer Pfarrkirche oder einer Ordensniederlassung, oder eines als sanctimoniale in einem Konvent, eine Lebensform, die Elisabeths Schwiegermutter Sophie von Thüringen nach dem Tod Hermanns I. wählt.³²
Ausführlich berichtet Konrad von der Teuerung des Jahres 1226, die zu Lebensmittelknappheit und Hunger führt (vgl. SV, S. 156 f.). Elisabeth gründet daher ein Hospital für die Ärmsten unterhalb der Wartburg, teilt Einkünfte aus den Fürstentümern als Almosen aus und verkauft persönliche Kleidung und Schmuck zum Nutzen der Armen (in usus pauperum; SV, S. 157). Ferner besucht sie die Kranken persönlich und verrichtet Dienste für sie. Konrad fasst diese aktiven Werke der Barmherzigkeit als Vorausdeutung auf Elisabeths späteres Wirken in Marburg auf und summiert seine Beobachtung in einem durch syntaktischen Parallelismus und Kolonreime ästhetisch überformten, prägnanten Merksatz: So wie Elisabeth in ihrem ganzen Leben Trösterin der Armen gewesen sei, so sei sie jetzt ganz und gar Wohltäterin der Hungernden geworden ([i]amiam soror E. polleri cepit virtutibus; quoniam, sicut in omni vita sua pauperum fuit consolatrix, ita tunc plene esse famelicorum reparatrix; SV, S. 157). Dieses rhetorische Verfahren ist ein Kennzeichen der Konrad‘schen Summa, vgl. u. a. auch SV, S. 158: Dum enim ancilla olus paravit, domina scutellas lavit et e converso. Die Summa formuliert hier weniger juristisch, Elisabeth sei ihm, Konrad, vom Papst anvertraut worden (vestra paternitas eam michi dignum duxisset conmendandam; SV, S. 157). Vgl. zu Sophie von Thüringen Bettina Elpers: Während sie die Markgrafschaft leitete, erzog sie ihren kleinen Sohn. Mütterliche Regentschaften als Phänomen adeliger Herrschaftspraxis. In: Fürstin und Fürst. Familienbeziehungen und Handlungsmöglichkeiten von hochadeligen Frauen im Mittelalter. Hrsg. von Jörg Rogge. Ostfildern 2004 (Mittelalter-Forschungen. 15), S. 153 – 166; dies.: Sola sedens domina gentium, principissa provinciarum. Die Beteiligung der Ludowingerinnen an der Landesherrschaft. In: Hessisches Jahrbuch für Landesgeschichte 46 (1996), S. 79 – 113. Sophies religiöse Interessen verrät zum Beispiel der vom Landgrafenhof in Auftrag gegebene, zunächst in Sophies Besitz befindliche, später wohl Elisabeth zugeeignete so genannte Elisabethpsalter; vgl. hierzu Harald Wolther von dem Knesebeck: Der Elisabethpsalter in Cividale del Friuli. Buchmalerei für den Thüringer Landgrafenhof zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Berlin 2001 (Denkmäler deutscher Kunst), S. 31– 33. Grund-
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Elisabeth schließt beide Möglichkeiten kategorisch aus, indem sie stattdessen Konrads Zustimmung zu einem Leben als Mendikantin in radikaler Christus- und Franziskusnachfolge fordert, was Konrad wiederum ablehnt. Die Diskussion macht das Dilemma deutlich, in dem sich Konrad und seine Schutzbefohlene befinden. Elisabeth weigert sich, für ihre religiösen Interessen eine für eine hochadlige Witwe übliche, institutionalisierte Lebensform zu wählen. Dabei lässt die Summa vitae die Gründe hierfür offen. Ob klausurierte Lebensformen Elisabeths Wunsch nach einer vita activa im Zeichen tätiger Armen- und Krankenpflege nicht entgegenkommen oder ob sie im Leben als Klosterschwester, erst recht dem als Stiftsdame, eine privilegierte Lebensform sieht, die ihre adlige Existenz eher fortsetzt als grundständig in eine ‚verachtete‘ umkehrt, kann auf der Basis des Textes nicht entschieden werden.³³ Konrad wiederum lehnt Elisabeths Vorstellungen eines freien Bettellebens ab. Die Gründe hierfür werden ebenfalls nicht genannt, dürften aber in Elisabeths Geschlecht und Stand und der Tatsache liegen, dass es hierfür kein Modell gibt: Das ortsungebundene Umherziehen ist den männlichen Zweigen der Bettelorden vorbehalten und bleibt es auch mit der Gründung der weiblichen Ordenszweige. Für eine Angehörige des europäischen Hochadels wäre es vermutlich einem sozialen Skandal gleichgekommen, bettelnd von Tür zu Tür zu ziehen, ein Skandal, den der Kleriker Konrad nicht verantworten kann. Das Karfreitagsgelübde ist dann gewissermaßen Elisabeths praktische Konsequenz aus dieser Lebensformdiskussion. Freilich ist das votum, mit dem sie ihre conversio zu einer geistlichen Lebensform markiert, zunächst vor allem ein Willensbekenntnis, ihm entspricht noch keine konkrete, vor allem keine institutionalisierte Lebensform, wie sie die Diskussion mit Konrad nennt. Die konkrete Umsetzung des Karfreitagsgelübdes zeichnet sich in der Summa vitae erst mit dem Entschluss Elisabeths ab, Konrad nach Marburg zu folgen und dort ein Hospital zu gründen.³⁴ Doch auch der konkretere Rahmen der Lebensform als Schwester im eigenen Hospital erledigt die Lebensformfrage nicht vollends, bleiben die Auseinandersetzungen zwischen Konrad und Elisabeth über die adäquate Umsetzung eines auf perfectio angelegten Lebens nach Ausweis der Summa vitae doch auch in der Marburger Zeit bestehen und legen unter anderem die Grundlagen für die negativen Bestimmungen,
sätzlich zu weiblichen Möglichkeiten religiöser Lebensführung im Thüringen des 13. Jahrhunderts siehe die in Anm. 11 genannte Literatur, insbesondere die Arbeiten von Jörg Voigt. Für eine solche Lesart würde sprechen, dass Elisabeth nach Ausweis des Berichts der Irmingard im Libellus darüber reflektiert, als Schwester in der Welt die verachtetste aller Lebensformen gewählt zu haben: Vita sororum in seculo despectissima est et, si esset vita despectior, illam elegissem (Libellus, S. 69). Konrad stellt es so dar, als sei der Ortswechsel gegen seinen Willen erfolgt. Er begründet Elisabeths Weggang aus Thüringen mit ihrer Furcht davor, das glanzvolle Leben am Hof könne sie weiter in seinen Bann schlagen: Quo facto ipsa videns se a tumultu seculi et gloria mundana illius terre, in qua vivente marito suo gloriose vixerat, posse absorberi, me licet invitum secuta est Marpurc (SV, S. 157 f.).
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die Konrad in der späteren hagiographischen Rezeption (bis in die neuere Forschungsgeschichte) erfahren hat.³⁵ Während Konrad tadelt, dass Elisabeth Arme und Kranke im Hospital aufnimmt und an ihrem Tisch sitzen lässt,³⁶ sieht sie darin einen symbolischen Ausgleich ihrer vorherigen adligen Existenz:³⁷ respondit se ab eis singularem recipere gratiam et humilitatem, et quasi mulier indubitanter prudentissima vitam suam anteactam michi recolligens dixit, sibi necesse esse taliter contraria contrariis curare. (SV, S. 158) [sie antwortete], sie empfange von ihnen [den Elendsten (miserabiliores) und meist Verachteten (magis despectos)] einzigartige Gnade und Demut, und als unzweifelhaft sehr kluge Frau sagte sie, indem sie mir ihr bis dahin gelebtes Leben wieder vortrug, sie habe es nötig, auf diese Art und Weise Gegensätzliches durch Gegensätzliches zu heilen. (SV dt., S. 38)
Dabei sieht auch Konrad die Notwendigkeit, Elisabeths Lebensführung von den Gewohnheiten ihrer Fürstinnenexistenz zu distanzieren, um sie auf ihrem Weg der religiösen Perfektionierung zu unterstützen und voranzubringen. Er fordert von Elisabeth jedoch Disziplinierungen, die auf konventionelle monastische Ideale wie Askese, Demut und Geduld zielen: Ego autem videns eam velle proficere, omnem superfluam ei amputans familiam tribus personis iussi eam esse contentam, quodam converso, qui negocia sua peregit, virgine religiosa valde despectabili et quadam nobili vidua surda et valde austera, ut per ancillam humilitatis ei augmentaretur et per viduam austeram ad patientiam excitaretur. (SV, S. 158) Als ich aber sah, dass sie sich vervollkommnen wollte, nahm ich ihr jeden überflüssigen Hofstaat weg und befahl ihr, sie solle sich mit drei Personen begnügen: einem Konversen, der ihre Geschäfte besorgte, einer frommen, sehr unansehnlichen Jungfrau und einer tauben und sehr starrköpfigen edlen Witwe. Durch die Magd sollte die Demut bei ihr vermehrt werden, und durch die strenge Witwe sollte sie zur Geduld veranlasst werden. (SV dt., S. 38)
Einerseits ist die Konversion Elisabeths in der Summa vitae also ein äußeres Ereignis, das sich im Gelübde Elisabeths am Karfreitag 1228 öffentlich vollzieht und im Sinne
Vgl. beispielhaft Reinhard Jahn: Geschichte der mittelalterlichen deutschen Literatur Thüringens. Köln u. a. 2012 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe. 34), S. 228, der Konrad als „religiösen Fanatiker“ bezeichnet, der Elisabeth „unerbittlich zu letzter psychischer und physischer Selbstentäußerung getrieben“ habe, „sodass sie völlig entkräftet bereits 1231 starb“. Für eine differenzierte Beschreibung zu Konrad vgl. Werner (Anm. 2). Der Text lässt offen, worauf sich der Tadel genau bezieht. Da die Summa vitae Elisabeths caritas als officia humanitatis explizit würdigt, geht es in der skizzierten Episode sicher nicht um Kritik an der Zuwendung zu den Armen und Verachteten, vielleicht aber um die Haltung der largitas, die die Bewirtung charakterisiert und der die fürstliche Existenz der Gastgeberin noch deutlich anhaftet. Vgl. Werner (Anm. 2), S. 116 f., der darauf verweist, dass die hier Elisabeth in den Mund gelegte Formulierung in klerikaler Tradition steht und insbesondere von Petrus Cantor verwendet wurde. Sie entspräche damit viel eher Konrads Programm für die perfectio Elisabeths; vgl. auch ebd., S. 123.
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von conversio als Ordenseintritt den Beginn einer neuen geistlichen Lebensform markiert. Ereignishaft ist diese Konversion insofern, als sie Elisabeth als verwitwete Ehefrau und Mutter deutlich von der zölibatär und ohne Kinder lebenden soror in saeculo ³⁸ der Marburger Jahre unterscheidet. Das Erzählmuster der Konversionsbiographien erfüllt sich hier in der Weise, als der willentliche Entschluss zur Führung einer vita religiosa für das Individuum Elisabeth die – hier freilich äußerlich bleibende – ‚Krise der Lebensform‘ überwindet. Dass dem Karfreitagsgelübde Elisabeths andererseits gerade keine etablierte religiöse Lebensform entspricht, schränkt seine Ereignishaftigkeit wieder ein: Weil das Gelübde in keine institutionalisierte vita religiosa mündet, sind sowohl deren äußere Bedingungen als auch der Weg der perfectio in ihr in Bezug auf tätiges Handeln und innere Haltung weiterhin Gegenstand der Diskussion und des Konflikts zwischen Elisabeth und Konrad: Die in Meier-Staubachs Modell beschriebene zweite Phase, in der der zu Gott Bekehrte seine neue Haltung unter Beweis stellt,³⁹ ist in der Summa vitae also noch von den Aushandlungsprozessen um die via perfectionis geprägt. Und noch in einem zweiten Punkt ist die Ereignishaftigkeit des Karfreitagsgelübdes zu relativieren: Armenfürsorge und Krankenpflege, jene beiden officia humanitatis, die Elisabeth auszeichnen, sind durch das Gelübde nicht berührt, denn sie kennzeichnen ihr Handeln schon zuvor. Auch die Hospitalgründung ist kein Spezifikum des neuen Lebens in Marburg, sondern hat in Eisenach einen Vorläufer. In Bezug auf diese Merkmale ist das Leben Elisabeths in der Summa vitae am Erzählmuster der Bekennerlegende orientiert, die das für diese Heilige kennzeichnende Heiligkeitsprofil als immer schon gegeben und daher als paradigmatisch wiederholbar ansetzt.
IV Selbstdevestitur als narratives Konversionsparadigma: Die Elisabethvita Dietrichs von Apolda⁴⁰ Dietrichs hagiographisch-historiographisches Vitenprojekt Die Elisabethvita des Erfurter Dominikaners Dietrich von Apolda entsteht im letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts und ist ein so umfangreiches wie ambitioniertes ha-
Diese Bezeichnung wird in der Summa vitae nicht verwendet, sie stammt aus dem Bericht der Irmingard im Libellus; vgl. Libellus, S. 69. Meier-Staubach (Anm. 13), S. 42– 44. Die folgenden Ausführungen konnte ich in Stuttgart mit Kolleginnen und Kollegen sowie den Studierenden des Forschungsseminars von Cornelia Herberichs mit großem Gewinn diskutieren. Ich danke allen Beteiligten für die Anregungen.
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giographisches Projekt.⁴¹ Sie entsteht zeitlich parallel zum zweiten großen literarischen Werk Dietrichs, der ebenfalls umfangreichen Vita Dominici, für deren Abfassung Dietrich einen offiziellen Auftrag des Ordensgenerals Munio von Zamaro erhalten hatte.⁴² Beide Texte sind umfangreiche Kompilationen, die auf kritischen Quellenstudien aufbauen, dem Leben der beiden ‚neuen‘ Heiligen eine dezidierte narrative Ordnung verleihen, sie ästhetisch anspruchsvoll darbieten und mit Kommentaren und Anleitungen zur Kontemplation ergänzen.⁴³ Umfang und kompositorische Sorgfalt machen beide Viten zu zentralen Prätexten der weiteren Rezeption: Breit überliefert sind nicht nur die lateinischen Texte, sondern auch ihre deutschen Übertragungen, hier besonders die der Elisabethvita. ⁴⁴ Die beiden Prologe der Elisabethvita informieren ausführlich über Dietrichs Vorlagen und sein Vorgehen beim Zusammenstellen und Formulieren der Vita: Der erste Prolog erläutert seine Unzufriedenheit mit den bislang schriftlich verfügbaren Informationen zum Leben der Heiligen. Als schriftliche Vorlagen nennt er den Libellus der vier Dienerinnen sowie die Summa vitae Konrads.⁴⁵ Seine Kritik an diesen beiden Texten kleidet er in die Formel, sie entsprächen zwar sicher der Wahrheit im Glauben, Zu Dietrich von Apolda vgl. Helmut Lomnitzer: Dietrich von Apolda. In: 2VL. Bd. 2. 1980, Sp. 103 – 110; Mike Malm: Dietrich von Apolda OP. In: Deutsches Literatur-Lexikon: Das Mittelalter 1. Hrsg. von Wolfgang Achnitz. Berlin/New York 2011, Sp. 847– 851. Einführend zur Elisabethvita siehe Matthias Werner: Die Elisabeth-Vita des Dietrich von Apolda als Beispiel spätmittelalterlicher Hagiographie. In: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im späten Mittelalter. Hrsg. von Hans Patze. Sigmaringen 1987 (Vorträge und Forschungen. 31), S. 523 – 541. Der Text der Elisabethvita ist zitiert nach Dietrich von Apolda: Das Leben der Heiligen Elisabeth. Hrsg. und übersetzt von Monika Rener. Marburg 2007 (im Folgenden mit der Sigle VE). Zur Vita Dominici vgl. Simon Tugwell: The Nine Ways of Prayer of St. Dominic. A Textual Study and Critical Edition. In: Mediaeval Studies 47 (1985), S. 1– 124, hier S. 13 – 22, sowie neuerdings Claire Taylor Jones: Exemplarität und Legitimierung. Zu den Visionen aus der „Lux divinitatis“ in der DominikusVita des Dietrich von Apolda. In: Mauerfälle der Mystik. Eine Spurensuche zu Mechthild (von Magdeburg) und zum Fließenden Licht der Gottheit in religiösen Netzwerken, Ordenslandschaften und literarischen Diskursen im mitteldeutschen Raum des 13. Jahrhunderts. Hrsg. von Caroline Emmelius, Balázs J. Nemes. Berlin 2019 (Beihefte zur ZfdPh. 17), S. 251– 279. Vgl. Monika Rener: Compilatio – ex diversis collecta compositio. Eine spätmittelalterliche Werkform dargestellt am Beispiel der Vita S. Elyzabeth und der Vita S. Dominici des Dietrich von Apolda. In: Archiv für Diplomatik 41 (1995), S. 193 – 209; dies.: Lateinische Hagiographie im deutschsprachigen Raum von 1200 – 1450. In: Hagiographies. Histoire internationale de la littérature hagiographique latine et vernaculaire en Occident des origines à 1550. Hrsg. von Guy Philippart. Bd. 1. Turnhout 1994, S. 198 – 265; vgl. zu den thematischen Korrespondenzen des doppelten Vitenprojekts demnächst Caroline Emmelius, Hans Jürgen Scheuer: Korrelierte Heiligkeit. Parallelviten in der dominikanischen Hagiographie. Vgl. Helmut Lomnitzer: Zu deutschen und niederländischen Übersetzungen der Elisabeth-Vita Dietrichs von Apolda. In: ZfdPh 89 (1970), S. 53 – 65, sowie die Übersichten bei Volker Honemann: Die ‚Vita Sanctae Elisabeth‘ des Dietrich von Apolda und die deutschsprachigen ‚Elisabethleben‘ des Mittelalters. In: Blume/Werner (Anm. 1), S. 421– 430, und Martin Schubert: Das Leben der heiligen Elisabeth im Spiegel der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Bertelsmeier-Kierst (Anm. 1), S. 275 – 294. Vgl. VE, Erster Prolog, S. 24.
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hätten aber seinen Wissensdrang nicht befriedigt, da oftmals Details zu Name, Stand und Ämtern von Personen, zu den Zeitpunkten und vor allem den Orten des Geschehens fehlten.⁴⁶ Da auch zusätzliche Textrecherchen dieser Unvollständigkeit nicht hätten abhelfen können, habe er eigene Nachforschungen angestellt und alte und glaubwürdige Personen in Frauen- und Männerklöstern, in Dörfern, Burgen und Städten befragt sowie Briefe geschrieben, um das wahre Geschehen herauszufinden.⁴⁷ Das mag man zu einem Teil für hagiographische Prologrhetorik halten.⁴⁸ Der Vergleich zwischen Summa vitae, Libellus und Dietrichs Vita zeigt für diese jedoch ein erhebliches Plus an Material, für das die besagten Recherchen durchaus verantwortlich gewesen sein könnten. Dietrichs Kritik lässt durchblicken, dass er insbesondere Elisabeths Leben in Thüringen in den verfügbaren schriftlichen Quellen als unterrepräsentiert ansieht.⁴⁹ Er ergänzt daher ausführliche Abschnitte zu Elisabeths Ehemann, Ludwig IV. von Thüringen.⁵⁰ Diese dokumentieren nicht allein ein historiographisches Interesse an der Geschichte der Landgrafschaft,⁵¹ sondern sind zugleich hagiographischer Natur: Ludwig wird nach seinem frühen Tod 1227 auf dem Weg ins Heilige Land in Thüringen als Heiliger verehrt, sein Kult wird insbesondere im ludowingischen Hauskloster Reinhardsbrunn gepflegt. Kanonisiert wird Ludwig zwar nicht, gleichwohl lässt sich Dietrichs Werk als Doppelvita verstehen, die gleich zwei ‚neue Heilige‘ für die alte Landgrafschaft reklamiert. Dass Dietrich aus postludowingischer Perspektive verklärend auf die Regentschaft Hermanns und Ludwigs zurückschaut,⁵² ist dabei stets mitzudenken. Für die Darstellung der Statusumkehr Elisabeths nutzt Dietrich neben dem Karfreitagsgelübde, das er aus der Summa vitae übernimmt,⁵³ ein Motiv, das ihm der Li-
In quibus pura quidem et simplex fideique consona veritas continetur. Verumptamen fateor, in hiis meo non est affectui satisfactum. Non enim in eis persone et personarum genus, nomina, dignitates et officia exprimuntur, sed nec provinciarum, locorum temporumque varietates et vocabula ad hystoriam pertinencium sunt descripta (VE, Erster Prolog, S. 24). Vgl. VE, Erster Prolog, S. 24. Vgl. Dieter von der Nahmer: Die lateinische Heiligenvita. Eine Einführung in die lateinische Hagiographie. Darmstadt 1994, S. 144: „Viele Vitenprologe enthalten die Beteuerung des Autors, daß er sorgfältig nur verlässlichen Vorlagen gefolgt sei, daß er Augenzeuge mancher Vorgänge gewesen, oder Zeitzeugen aufgesucht und befragt habe.“ Vgl. VE, Zweiter Prolog, S. 26: Dignissimum quoque duxi, quod et feci, aliqua de pietate illustrissimi principis Ludowici lantgravii, eiusdem beate Elyzabeth mariti […] annotare, quia hoc hystorie neccessitas et prosecucio exposcebat. Vgl. VE, III,1– 3, sowie die Bücher IV und V. Die Informationen hierzu entnimmt er vermutlich der verlorenen Ludwig-Vita des Hofkaplans Berthold; vgl. Werner (Anm. 41), S. 530 u. 534 f. So die These von ebd., besonders S. 533 – 535 u. 537– 539. Vgl. ebd., S. 538 f. Die vier Zeugenberichte des Libellus kennen das Karfreitagsgelübde von 1228 nicht. Stattdessen ist in allen vier Berichten das Anlegen des grauen Gewands als Hospitalschwester die zentrale Markierung der Abkehr Elisabeths vom höfischen Leben (vgl. Libellus, S. 15 f., 43, 51 u. 61). Im Bericht Isentruds,
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bellus der vier Dienerinnen liefert,⁵⁴ das er allerdings für die Vita stark systematisiert: das Motiv der Selbstdevestitur.⁵⁵ In der hagiographischen Tradition ist dieses Motiv etwa für die Sünderheilige Maria Magdalena belegt, wo es für deren conversio zu einem Büßerleben steht.⁵⁶ Für die Elisabethvita kommt in diesem Motiv der Bruch Elisabeths mit ihrer sozialen Herkunft und Umgebung prägnant auf den Punkt.⁵⁷ Zugleich symbolisiert es ihre innere Haltung, indem es in einer Figur der doppelten imitatio ihr Bekenntnis zu einer franziskanischen Nachfolge Christi äußerlich wahrnehmbar macht. Gegenüber dem Libellus, der Berichte zum Kleidablegen Elisabeths vor allem im Bericht der Isentrud enthält, baut Dietrich die Motivreihe aus und setzt sie systematisch zur Strukturierung seines Textes ein:⁵⁸ Damit steht das Motiv gerade nicht für Statusumkehr als einmaliges Ereignis, sondern es veranschaulicht einen ins Paradigma aufgelösten narrativen Prozess, der weniger auf das Resultat der conversio zielt als vielmehr die Transformationsbewegung als solche ausstellt. Zwei Kapitel aus Buch I, das die Überführung des Kindes Elisabeth nach Thüringen, ihre Erziehung am Landgrafenhof sowie die Hochzeit der Zwölfjährigen mit Ludwig IV. beschreibt, führen das Motiv des Verzichts auf prächtige Kleidung und des
Hofdame in Elisabeths Ehejahren, wird zudem ein erstes Gelübde erwähnt, mit dem sich Elisabeth zum Gehorsam gegenüber Konrad verpflichtet (vgl. besonders Libellus, S. 17 f.). Der Verzicht auf prachtvolle, repräsentative Kleidung und Schmuck ist insbesondere im Bericht Isentruds wiederholt Thema (vgl. Libellus, S. 23 – 25 u. 31 f.). Ich verwende den Begriff in Anlehnung an die Studie von Jan Keupp: Die Wahl des Gewandes. Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters. Ostfildern 2010 (Mittelalter-Forschungen. 33), besonders S. 33 f., 101– 111 u. 183 – 193, der damit in Absetzung von der Devestitur als von außen erzwungene Amtsenthebung die Freiwilligkeit der symbolischen Handlung des Kleider-Ablegens bezeichnet. Im Kontrast zur aus Ehre, Stand und Rechten enthebenden, durchweg negativ konnotierten Devestitur betont die Selbstdevestitur über die symbolische Angleichung an den nackten Christus religiöse Demutsideale. Grundlegend zur Rolle von Kleidung als identifizierendes Zeichen und identitätsstiftendes Symbol siehe auch Peter von Moos: Das mittelalterliche Kleid als Identitätssymbol und Identifikationsmittel. In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation. Hrsg. von dems. Köln/Weimar/Wien 2004 (Norm und Struktur. 23), S. 123 – 146. Vgl. Erhard Dorn: Der sündige Heilige in der Legende des Mittelalters. München 1967 (Medium Aevum. 10), hier S. 54– 58 zu Maria Magdalena; vgl. zur Ikonographie von Maria Magdalena im Haargewand auch das Beispiel der Florentiner Magdalenenpala (1280) bei Silke Tammen: Eine gemalte Magdalenenvita um 1280. Bild und Text, Sehen und Hören auf der Florentiner Pala des Magdalenenmeisters. In: Hagiographie im Kontext. Wirkungsweisen und Möglichkeiten historischer Auswertung. Hrsg. von Dieter R. Bauer, Klaus Herbers. Stuttgart 2000 (Beiträge zur Hagiographie. 1), S. 130 – 154, hier besonders S. 147– 150. Eine Analogie zwischen Maria Magdalena und Elisabeth formuliert Dietrich explizit in VE, III,3a für eine Fußfallszene. Vgl. Keupp (Anm. 55), S. 104– 111. Die häufige Verwendung des Kleidermotivs notiert bereits Volker Honemann: Das Bild der heiligen Elisabeth in der Vita Sanctae Elisabeth des Dietrich von Apolda. In: ders.: Literaturlandschaften. Schriften zur deutschsprachigen Literatur im Osten des Reiches. Hrsg. von Rudolf Suntrup u. a. Frankfurt a. Main u. a. 2008 (Medieval to Early Modern Culture. Kultureller Wandel vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit. 11), S. 167– 185, hier S. 176.
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Kleidablegens schon für die junge Elisabeth ein. So berichtet Kapitel I,4 von ihrem Tugendweg, zu dem gehört, dass sie „Pflege und Schmuck für den Körper und die Eitelkeit der Welt“ ablehnt (Cultum et ornatum corporis et vanitatem seculi declinabat; VE, I,4, S. 36). So habe sie den Sonntag dadurch besonders geheiligt, dass sie auf besondere Kleidung verzichtete, denn „sie wusste, dass Gott nicht durch den Prunk der Kleidung, sondern in der Schlichtheit der Herzen geehrt wird“ (sciens, quod non in nitore vestium sed in humilitate mentium divinitas honoratur; VE, I,4, S. 38). Daher habe sie „aus Ehrfurcht vor Gott am Vormittag keine Handschuhe an[gezogen] und folgte auch nicht der Mode, Ärmel anzunähen und eng zu schnüren“ (pro dei reverencia nec cyrothecas induit nec manicas consuendo constringere consuevit; VE, I,4, S. 38). Den allgemeinen Hinweis auf den Verzicht auf prächtige Kleidung und Schmuck illustriert dann eine konkrete Begebenheit, die in Kapitel I,5 berichtet wird: Der Hagiograph betont zunächst die adlige Sozialisation Elisabeths. Sie wächst zusammen mit Agnes, einer Schwester Ludwigs, auf, wird mit ihr erzogen und erfährt die gleiche materielle Ausstattung: cultuque consimili ornabantur (VE, I,5, S. 38). Umso größer erscheint die Distanz zu ihrer thüringischen Ziehfamilie, wenn Elisabeth beim gemeinsamen Messbesuch ihren Kopfschmuck ablegt und ihn erst nach der Messe wieder aufsetzt. Auf die erstaunte Nachfrage ihrer späteren Schwiegermutter Sophie, der Witwe Hermanns I., antwortet sie: „Das sei fern, dass ich unwertes und nichtsnutziges Geschöpf vor dem Angesicht Gottes, meines Königs Jesus Christus, den ich mit Dornen gekrönt vor mir sehe, stolz gekrönt erscheine“ (Absit, ut in conspectu dei regisque mei Iesu Christi, quem spinis coronatum aspicio, ego, res vilis et lutea, fastu elacionis coronata appaream; VE, I,5, S. 38 – 40). Das Motiv der Selbstdevestitur ist hier mit dem Ablegen des repräsentativen Kopfschmucks erstmalig explizit gesetzt. Es fungiert zum einen als Ausweis einer inneren religiösen Haltung, die auf Demut, Einfachheit und Selbstbescheidung im Anblick des dornengekrönten Christus zielt. Die hagiographische Sprechinstanz interpretiert die Selbstdevestitur als Akt der conformitas, der Angleichung an den armen und verachteten Christus: cuius despectui conabatur tantopere se conformare (‚Seiner Ärmlichkeit [besser: Verachtetheit] sich anzugleichen, war ihr ganzes Bestreben‘; VE, I,5, S. 40). Zum anderen stellt Elisabeth mit dem Ablegen des Kopfschmucks ihre Distanzierung von den höfischen Normen des Landgrafenhofes öffentlich aus. Auf der Basis dieser Distanzierung entwirft der Hagiograph wiederum die Anfeindungen des Hofes, denen Elisabeth ausgesetzt ist und die er in den folgenden Kapiteln schildert.⁵⁹ In der Zeit der Ehe mit Ludwig, die in Buch II beschrieben wird, intensiviert sich Elisabeths Abwendung von höfischen Lebensformen und adliger Repräsentation. Das Kleidermotiv wird hier, als Symbolisierung ihres hochadligen Status, besonders häufig verwendet. Eine paradigmatische Relation zur Abnahme des Kopfschmucks in I,5 liegt dabei in Kapitel II,4 vor, in dem berichtet wird, wie Elisabeth an einem hohen Festtag,
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aufwändig gekleidet und mit einem goldenen Diadem geschmückt, zusammen mit ihrer Schwiegermutter eine Kirche unterhalb der Wartburg betritt. Beim Anblick des nackten, dornengekrönten Christus am Kreuz⁶⁰ reflektiert sie: „Dein Gott hängt hier nackt am Kreuz und Du, ein nutzloser Mensch, bist in kostbare Gewänder gehüllt. Sein Haupt wird von Dornen durchbohrt und Dein Haupt ist von einem Goldreif umgeben“ (En pendet deus tuus nudus, et tu, homo inutilis, vestibus preciosis operiris; spinis caput eius pungitur, et tuum caput auro redimitur; VE, II,4, S. 56 f.). Von compassio (VE, II,4, S. 56) mit dem Gekreuzigten ergriffen, fällt sie in Ohnmacht, muss vor die Kirche getragen und durch Besprengung mit Weihwasser wiederbelebt werden. Sie wertet den Vorfall als göttliche visitatio (VE, II,4, S. 56) und entschließt sich, fortan jeden Schmuck, in dem sie keine Notwendigkeit sieht, abzulehnen (proposuit omnem deinceps ornatum postponere; VE, II,4, S. 56). Das anschließende Kapitel II,5 (De moderamine vestium secularium; VE, II,5, S. 56) demonstriert diesen Entschluss ausführlich anhand der Kleidungsgewohnheiten der jungen Landgräfin: Es berichtet, dass sie aus Liebe zum Gekreuzigten jede Pracht verachtet habe, weder gefärbte Stoffe noch bunte Schleier, weder modisch enggeschnürte Ärmel noch seidene Haarbänder trug, weil das Begehren nach solchen Dingen den Geist beschmutze (quod mentis sordes contrahit; VE, II,5, S. 56).⁶¹ Unter den kostbaren Übergewändern habe sie vielmehr ein wollenes Kleid oder Bußgewand angelegt (laneis vel cilicio frequenter utebatur; VE, II,5, S. 56). Diese sich in den Schichtungen der Kleidung andeutende Metamorphose der verheirateten Fürstin zur mulier religiosa bringt die hagiographische Instanz folgendermaßen auf den Punkt: „Soweit es ihre fürstliche Ehrenstellung erlaubte, trug sie einfache Kleidung, wie es einer religiösen Lebensform angemessen war“ (Modesto semper et christiane religioni congruo processit habitu, quantum principalis dignitas permittebat; VE, II,5, S. 58). Die vier Episoden in Buch I und II thematisieren Elisabeths Weg einer religiösen perfectio am Beispiel ihres Verhältnisses zu Kleidung und Schmuck. Sie zeichnen Elisabeths Distanzierung von höfischen Kleidungskonventionen nach, insbesondere von solchen, die auf die Veräußerlichung von weltlicher Macht und weltlichem Reichtum zielen: Das wiederholte Ablegen von Schmuck und kostbarer Kleidung bringt in der vierten Episode die Rede schließlich auf den einfachen Habit, der einer religiösen Lebensform entspricht, der hier aber noch unter den fürstlichen Gewändern verborgen bleibt. Er weist nicht nur auf das spätere graue Gewand der Hospitalschwester voraus, sondern symbolisiert zugleich den sozialen ‚Häutungsprozess‘, den Elisabeth durchläuft. Die Berichte zum Ablegen und Verzicht auf Schmuck sowie zu
Die Formulierungen (Elevans autem oculos, quos semper in introitu ecclesie ad crucem dirigere solebat, respexit ymaginem crucifixi; VE, II,4, S. 56) lassen offen, ob Elisabeth eine Figur oder ein Bild des Gekreuzigten betrachtet. Ob die hier zitierte Kirche die Franziskanerkirche meint, in der Elisabeth 1228 ihr Gelübde niederlegen wird, lässt sich nicht entscheiden. Auch die Kirche von St. Katharina, einer landgräflichen Stiftung, wäre denkbar. Vgl. VE, II,5, S. 56.
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den Kleidungsgewohnheiten der Landgräfin stehen somit für die Überwindung ihrer sozialen Herkunft und die Abkehr von ihrem hochadligen Status. Bezeichnend für Dietrichs Vita ist allerdings, dass die Episoden nicht im Sinne eines einfachen Stufenwegs angeordnet sind, etwa dass sie vom Entschluss zum Verzicht über die Selbstdevestitur zur Neuinvestitur führen, sondern mit Wiederholungs- und Kreuzungsfiguren arbeiten, die sich einer einfachen Progressionslogik entziehen: In Buch I bereitet der Entschluss der jungen Elisabeth zu einfacher Kleidung (I,4) die Selbstdevestitur am Festtag vor (I,5). Im Vergleich zu dieser provozierenden Handlung muss die Ohnmacht Elisabeths in Kapitel II,4 im Angesicht des Gekreuzigten wie ein Rückschritt anmuten. Zwar spricht die Kapitelüberschrift zu II,4 davon, dass Elisabeth durch eine göttliche Heimsuchung weitere Fortschritte mache,⁶² aber der Ausgangspunkt dieses Fortschritts fällt zunächst hinter die Handlung von I,5 zurück: Elisabeth betritt die Kirche als Fürstin, prächtig gekleidet und kostbar geschmückt (preciosissimis vestibus, monilibus gemmisque multis ornata et dyademate aureo coronata; VE, II,4, S. 56). Dass sie sich wiederum in Begleitung ihrer Schwiegermutter Sophie befindet, verweist darauf, dass die sozialen Positionen sich verkehrt haben: Elisabeth ist nicht mehr Ziehkind im Gefolge der Landesherrin, sondern nimmt selbst jene Stellung ein, die in Kapitel I,5 Sophie zukam. Der Anblick des nackten Gekreuzigten scheint in der Wiederholung eben diese Differenz neu wahrnehmbar zu machen. Die selbstbewusste Formulierung, ihr komme es nicht zu, vor dem Gekreuzigten stolz gekrönt zu erscheinen, trifft jetzt nicht mehr die Schwiegermutter, sondern sie selbst. Anders als für das Kind Elisabeth aber ist eine Selbstdevestitur in dieser Szene offenbar nicht möglich. Zu wirkmächtig ist der politische Körper der Fürstin, der durch ihre äußere Aufmachung symbolisiert wird. Hier braucht es die göttliche visitatio, die den Kirchbesuch durch die Entrückung beendet, um einen (neuen) Entschluss zum Verzicht auf nicht notwendigen Schmuck herbeizuführen, der fast wörtlich den schon in I,4 berichteten Verzichtsentschluss des Kindes wiederholt. Das Kapitel über die Kleidungsgewohnheiten der Landgräfin zeichnet dann den Spielraum nach, den ein solcher Entschluss im Kontext höfischer Repräsentationskonventionen haben kann: Das unter den fürstlichen Gewändern getragene einfache Wollkleid ist hierfür vermutlich der sinnfälligste Ausdruck. Die Dilemmata, denen Elisabeth als Fürstin in ihrem Willen, eine an franziskanischen Armutsidealen orientierte vita religiosa zu führen, ausgesetzt ist, können als ein zentrales Thema des zweiten Buchs der Vita Elyzabeth gelten. Um den Konflikt zwischen gesellschaftlichen Außennormen und den individuellen religiösen Innennormen darzustellen, nutzt die hagiographische Instanz auch in den folgenden Kapiteln immer wieder eine vestimentäre Motivik: In Kapitel II,8 spricht Elisabeth zu ihren Dienerinnen über ihre Sehnsucht nach einem armen Leben. Zur Exemplifizierung ihres Begehrens legt sie ihre schönen Kleider ab und zieht ein einfaches Gewand an und zeigt sich ihrem Gefolge „wie eine arme Frau“ (et processit tamquam pau-
Vgl. VE, II,4, S. 56: Qualiter visitata a domino amplius profecit.
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percula coram illis; VE, II,8, S. 64 f.). Der Hagiograph sieht darin eine Prolepse auf ihren Status als Hospitalschwester und legt ihr diese Deutung als Autoprophetie in den Mund: sicque incedens tanquam presago corde sui futuri status prophetissa dixit ad ipsas: ‚Sic incedam, cum pro deo meo miserias sustinebo.‘ Quod et factum est, ut sequencia declarabunt (‚Als sie sich wieder einmal so zeigte, sagte sie ihnen gleichsam als Prophetin mit wissendem Herzen ihren zukünftigen Status voraus: ›So werde ich einhergehen, wenn ich für meinen Gott Elend ertragen werde.‹ Das ist später auch eingetreten, wie aus dem Folgenden hervorgeht‘; VE, II,8, S. 64 f.). Kapitel II,12 berichtet in wiederholender Variation der Episoden in I,5 und II,4 davon, wie Elisabeth nach der sonntäglichen Messe ihre Kleider ab- und ein einfaches Gewand anlegt und in Sandalen einhergeht (VE, II,12, S. 72). Die emphatische Interjektion der Diskursinstanz: Quis umquam de regis filia audivit talia? (‚Wer hat jemals solches von einer Königstochter gehört?‘ VE, II,12, S. 73), stellt den Kontrast zu den gesellschaftlichen Konventionen explizit aus. Die Selbstdevestituren in Buch II avancieren so zu einem Leitmotiv, das Elisabeths Verlangen nach Statusumkehr und Christusförmigkeit zentral verhandelt. Allerdings verstärken sich auch die hieraus resultierenden Spannungen zu den höfischen Repräsentationskonventionen, die ebenfalls schon in Buch I angedeutet worden waren.⁶³ In Buch II werden sie geschickt in Form von zwei Mirakelerzählungen präsentiert, die im Gegenzug zu den demütigen Selbstdevestituren von wundersamen göttlichen Investituren berichten:⁶⁴ In Kapitel II,9 hat Elisabeth für den Empfang einer hochrangigen Delegation ihres Vaters kein passendes Kleid. Ludwig ist darüber betrübt, sie versucht jedoch zu argumentieren, Äußerliches habe kein Gewicht. Gott selbst stattet sie dann pünktlich zum Empfang der Gesandtschaft mit einem wunderschönen Kleid aus, sodass ein öffentlicher Skandal, der auch Ludwig und den Hof in Schwierigkeiten gebracht hätte, ausbleibt. Ähnlich erzählt Kapitel II,10 von einem Festmahl, vor dem Elisabeth ihren prächtigen Mantel an einen Bettler verschenkt. Ein Verwalter beobachtet sie dabei und verrät sie an Ludwig, empört darüber, dass sich der Beginn des Mahles verzögere. Ludwig sucht Elisabeth auf und befragt sie nach dem Mantel. Dieser findet sich daraufhin in einem Schrank, wohin er von Gott zurückgebracht wurde (in partica reperit celitus reportatum; VE, II,10, S. 68). Der Hagiograph resümiert die Episode, indem er Elisabeth mit Salomo vergleicht: Sic pater celestis suum lilium Elyzabeth vestivit, quomodo nec Salomon in omni gloria sua poterat operiri (VE, II,10, S. 68). Das Kleidermotiv leistet damit strukturell gleich Mehrfaches: Die hagiographische Diskursinstanz macht es zum einen zur Metapher für Elisabeths Verlangen nach
Vgl. VE, I,5 – 8. Auf diese Wundererzählungen hat mich die Lektüre der beeindruckenden Masterarbeit von Sabrina Keim (Stuttgart) besonders aufmerksam gemacht: Contraria contrariis curare. Mittelalterliche Hagiographie im Spannungsfeld konfligierender Normen und Lebensentwürfe am Beispiel deutschsprachiger Legenden über Elisabeth von Thüringen. Masterarbeit Stuttgart 2014, hier S. 38 – 42 (Kapitel 4.2.2). Ich danke Frau Keim sehr herzlich, dass Sie mir Ihre Arbeit zur Verfügung gestellt hat.
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Statusumkehr und (franziskanisch inspirierter) Christusförmigkeit, ein Verlangen, das als ein Prozess mehrfacher Wiederholungen und neuerlicher Willensbekundungen gezeichnet wird. Die Selbstdevestituren Elisabeths und das Anlegen eines einfachen Gewands symbolisieren dabei nicht allein ihre religiöse innere Haltung, sondern verweisen zugleich auf ihren zukünftigen Status als Hospitalschwester. Auch die aus der religiösen Haltung Elisabeths resultierenden Spannungen, die sich während ihrer Zeit als Fürstin zu den Konventionen höfischer Repräsentation ergeben, werden über das Kleidermotiv verhandelt. Die mirakulösen Investituren, mit denen Gott selber eine öffentliche Bloßstellung Elisabeths und Ludwigs abwendet, und die damit implizit die Wirkmacht und Geltung höfischer Repräsentation in der gegebenen Situation anerkennen, lassen sich als geschickte Kontrastierungen zu den Entkleidungsepisoden lesen, die Elisabeths religiösen Weg in einer vielschichtigen Metapher kondensieren.
Selbstdevestitur am Karfreitag und Neuinvestitur als soror in saeculo Die Bücher III–V der Vita Elyzabeth beschäftigen sich vor allem mit Ludwig IV. und sind äußeren Ereignissen der Zeit Elisabeths am Thüringer Hof gewidmet, vor allem Ludwigs Entschluss und seinem Aufbruch zur Pilgerfahrt ins Heilige Land, seinem Tod und der Rückführung seiner Gebeine. Buch V berichtet zudem von den Konflikten Elisabeths mit den Schwägern und dem Weggang von der Wartburg. Das Kleidermotiv ist auch in diesen Büchern präsent, allerdings nicht so ausgeprägt wie in Buch II. Bezeichnend für die in der Kleidung zum Ausdruck kommende soziale Identität ist vor allem die Episode nach Ludwigs Aufbruch, in der Elisabeth ihren künftigen Status durch das Anlegen des Witwengewands vorwegnimmt. Auch diese Selbstdevestitur und Neu-Investitur wird als eine conversio zu Gott und damit als Wegmarke ihrer religiösen perfectio gewertet: Exuta vero vestibus iocunditatis viduitatis assumpsit habitum sola sedens domina gentium […] ad deum totaliter se convertit operibus bonis precedentibus adiiciens meliora. Sie legte die Kleidung, die sie in glücklichen Tagen trug, ab und zog ein Witwenkleid an. Die Herrin der Völker […] saß allein, wandte sich ganz Gott zu und fügte zu ihren früheren guten Werken noch bessere Werke hinzu. (VE, IV,3, S. 112 f.)
Ereignishaft ist dann aber vor allem das Gelübde am Karfreitag 1228, das Dietrich inklusive der vorausgehenden Diskussion zwischen Elisabeth und Konrad aus der Summa vitae übernimmt (VE, VI,1). Allerdings erweitert er die knappe Passage in bezeichnender Weise um eine weitere Selbstdevestitur, sodass sie als Fortsetzung und vorläufiger Gipfelpunkt in Elisabeths Bemühen um religiöse perfectio erscheint. Konrads Bemerkung, dass Elisabeth am Karfreitag, als die Altäre nackt sind (cum nudata essent altaria; SV, S. 157), ihre Hände zum Gelübde auf den Altar der Fran-
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ziskanerkirche in Eisenach legt, nimmt Dietrich zum Anlass, die gesamte Passage unter das Stichwort der Nacktheit zu stellen: Die autem parasceves dum pro misterio et memoria salvatoris pro nobis nudi in nuda cruce pendentis altaria nuda apparent, magistro Conrado et quibusdam de predictis fratribus presentibus in quadam capella ponens super nudum altare manus sacras voluntati proprie, parentibus, liberis, et cognatis omnibusque huius mundi pompis renunciavit imitatrix Christi et omnino se exuit et nudavit, ut et nuda nudum paupertatis et caritatis gressibus sequeretur. Am Karfreitag, dem Tag, an dem sich um des Mysteriums willen und im Gedenken an den Heiland, der für uns nackt am nackten Kreuz hängt, auch die Altäre ohne Schmuck [nackt] zeigen, legte sie in Anwesenheit Magister Konrads und einiger der genannten Ordensbrüder in einer Kapelle ihre heiligen Hände auf den schmucklosen [nackten] Altar und entsagte in Nachahmung Christi dem eigenen Willen, ihrer Familie, ihren Kindern, Verwandten und allem Glanz dieser Welt. Dabei legte sie alle ihre Kleider ab und entblößte sich, um nackt dem nackten Heiland auf dem Weg der Armut und der Nächstenliebe nachzufolgen. (VE, VI,1, S. 148 f.; Hervorhebungen C. E.)
Dietrich stellt Elisabeths votum in die Tradition des hagiographischen und patristischen Topos nudus nudum Christum sequi. ⁶⁵ Die Selbstdevestitur Elisabeths ist damit als konkrete Angleichung an den nackten und armen Christus zu verstehen. Im Kontext der Eisenacher Franziskanerkirche aber ist ihr Handeln zugleich auch imitatio Francisci, indem die Szene Franziskusʼ Selbstdevestitur vor dem Bischof aufruft, mit der er mit seinem Vater, seinem Herkommen und seinem Weltleben bricht.⁶⁶ Der ge-
Vgl. Matthäus Bernards: Nudus nudum Christum sequi. In: Wissenschaft und Weisheit 14 (1951), S. 148 – 151; Réginald Grégoire, Aimé Solignac: Nudité. In: Dictionnaire de Spiritualité. Bd. 11. 1982, Sp. 508 – 517. Vgl. Thomas von Celano: Vita prima. In: Analecta Franciscana 10 (1941), S. 1– 115, hier Buch I,15; zum Komplex der Nacktheit in der Franziskus-Hagiographie siehe Feld (Anm. 4), S. 128 – 135, sowie ders.: Die Zeichenhandlungen des Franziskus von Assisi. In: Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart. Im Auftrag des Sonderforschungsbereichs 537 hrsg. von Gert Melville. Köln u. a. 2001, S. 393 – 408, besonders S. 400 – 404; zu den Selbstdevestituren des Franziskus auch Keupp (Anm. 55), S. 101– 104, von Moos (Anm. 55), S. 137, sowie demnächst Beatrice Trînca: Nackte Heilige. Pelagius und Franziskus. In: Schwierige Heilbringer. Das Anderssein des Helden in erzählenden Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Margreth Egidi, Markus Greulich (erscheint voraussichtlich Berlin 2021); zum Zusammenspiel von Verhüllung und Entkleidung am Beispiel des mhd. Sanct Franzisken Leben vgl. Almut Schneider: Buch – Gewand – Text – Körper. Reflexionen des Medialen im legendarischen und höfischen Erzählen der Vormoderne. In: Paramente in Bewegung. Bildwelten liturgischer Textilien (12.– 21. Jahrhundert). Hrsg. von Ursula Röper, Hans Jürgen Scheuer. Regensburg 2019, S. 93 – 106, hier S. 97– 100; zu Elisabeths Gelübde als Franziskus-Imitatio vgl. Rener (Anm. 6), S. 206, die der Entkleidung jenseits der ‚Inszenierung‘ allerdings keine Funktion für die Vita zubilligen möchte; vgl. auch dies.: Jungfrau, Ehefrau,Witwe. Möglichkeiten und Grenzen weiblicher Heiligkeit im Mittelalter. In: Zwischen Vernunft und Gefühl. Weibliche Religiosität von der Antike bis heute. Hrsg. von Christa BertelsmeierKierst. Frankfurt a. Main 2010, S. 91– 118, hier S. 116; dass die in den Viten berichteten De- und Investituren Elisabeths gerade aus franziskanischer Perspektive als identitätsstiftend angesehen wurden, belegt die in einer Koblenzer Handschrift überlieferte Fassung der Großen Franziskanischen Vita, die Elisabeths Marburger Büßergewand als ein durch Papst Gregor IX. angeregtes Geschenk des
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bildete Dominikaner Dietrich schreibt der Vita Elyzabeth so eine dezidiert franziskanische Symbolik ein, die bei Konrad – möglicherweise bewusst – ganz zurückgenommen ist.⁶⁷ Für Dietrichs Bearbeitung des Eisenacher Karfreitagsgelübdes ist festzuhalten, dass – anders als in den vorausgehenden Szenen der Elisabethvita und anders auch als in der Entkleidung des Franziskus vor dem Bischof – unter den Kleidern der landgräflichen Witwe nicht schon das Gewand einer neuen religiösen Lebensform zum Vorschein kommt, sondern zunächst einmal nur der in Angleichung an den nackten Christus entblößte, gleichsam unbeschriebene Körper der Heiligen, der sich symbolisch frei macht von der alten Identität, ohne durch eine Neu-Investitur sofort eine neue Lebensform und Identität anzunehmen. Die Investitur als soror in saeculo bleibt vielmehr späteren Kapiteln vorbehalten, in denen Elisabeths votum dann zu einer neuen Form findet. So heißt es im Kontext der Marburger Hospitalgründung, dass sie „den hinderlichen Prunk ihrer weltlichen Kleidung“ ablegte (secularium indumentorum pondus et fastum abiiciens; VE, VI,4, S. 152) und aus Konrads Hand ein „hartes, schlichtes und armseliges Kleid von dunkler Farbe und minderer Qualität“ empfing (habitum durum, humilem et abiectum, cui obscuritas in colore et vilitas inerat in valore; VE, VI,4, S. 152). Auf den schlechten Zustand und die Minderwertigkeit ihrer Kleidung als Hospitalschwester geht schließlich noch ein weiteres Kapitel ausführlich ein.⁶⁸ Einerseits also bilden die Selbstdevestituren und (Neu‐)Investituren Elisabeths in Dietrichs Vita ein narratives Syntagma, indem sie den Prozess der Statusumkehr von der Landgräfin zur soror in saeculo begleiten und visualisieren: vom Verzicht auf höfischen Schmuck und höfische Kleidung, dem Tragen einfacher Gewänder unter der Hofkleidung, über die Entblößung vor dem Altar bis zur Einkleidung in das graue Gewand der Hospitalschwester. Andererseits lassen sich die Entkleidungsepisoden aber auch als narratives Paradigma lesen, das in seinen Wiederholungen die Transformation des inneren Men-
Franziskus an seine deutsche Tochter ausweist, vgl. hierzu Matthias Werner: Große Franziskanische Vita (Fragment II). In: Elisabeth von Thüringen (Anm. 6), S. 348 f. (Nr. 230). Noch eine zweite Änderung ist für Dietrichs Interpretation der Episode aufschlussreich: Dietrich ändert die Reihenfolge der Dinge, denen Elisabeth entsagt (vgl. SV, S. 157), und stellt den Verzicht auf den freien Willen der Aufgabe der familiären Bindungen voran: voluntati proprie, parentibus, liberis, et cognatis omnibusque huius mundi pompis renunciavit (VE, VI,1, S. 148). Mit dieser Umstellung nähert Dietrich das Gelübde der Struktur der franziskanischen Ordensregel an; vgl. die Regula non bullata (Anm. 28), S. 14: Regula et vita istorum fratrum haec est, scilicet vivere in obedientia, in castitate et sine proprio; die Frage der ordensspezifischen Rezeption der Elisabethvita wäre u. a. am Beispiel der Hs. Trier, Stadtbibliothek, cod. 1173/475, zu vertiefen, die sowohl die Große Franziskanische Vita als auch die Elisabethvita Dietrichs im Verbund überliefert, vgl. hierzu Matthias Werner: Große Franziskanische Vita (Fragment I). In: Elisabeth von Thüringen (Anm. 6), S. 344– 347 (Nr. 229); für Überlegungen zur dominikanischen Elisabeth-Rezeption vgl. demnächst Emmelius/Scheuer (Anm. 43). Vgl. VE, VI,7, S. 156.
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schen⁶⁹ ausstellt, die ein stetiger Prozess und kein einmaliges Ereignis ist.⁷⁰ Das Paradigma der wiederholten Entkleidungen macht immer wieder den Willen Elisabeths zur Abkehr von ihrer höfischen Existenz sichtbar, ohne dass diese Abkehr bereits eine letztgültige wäre, der schon eine neue Lebensform entspräche. Die Wiederholung der Selbstdevestitur stellt – insbesondere in Buch II der Vita Elyzabeth – vielmehr die Dialektik aus, der die fürstliche Heilige unterworfen ist: macht das Ablegen höfischer Kleidung im gegebenen System doch immer wieder ein erneutes Anlegen nötig – und sei es als Effekt eines Mirakels. Dietrich entwirft mit dem Kleidermotiv in seiner Vita folglich eine Konversionsmetapher, die Elisabeths Weltabkehr als einen Prozess der Wiederholung modelliert. Dieser Prozess stellt einerseits die Dynamik ihrer vita religiosa aus und verdeutlicht andererseits, dass in der Figur der Abkehr stets das Abgewiesene präsent bleibt.
V Fazit: Konversion als Ereignis und als Prozess Die beiden diskutierten Beispiele der Elisabeth-Hagiographie, Konrads Summa vitae und Dietrichs Vita Elyzabeth, nutzen für ihre Darstellungen der Heiligen ganz grundsätzlich die Episodenstruktur der Bekennerlegende, die mit einer ereignislosen Gegebenheit der Heiligkeit der Protagonistin operiert: Armenfürsorge und Krankenpflege (Konrad) sowie Demut und Askese (Dietrich) kennzeichnen die Elisabethfigur in beiden Lebensdarstellungen bereits zu Beginn. Die eigentliche Herausforderung besteht für beide Hagiographen in der narrativen Präsentation des riskanten Statuswechsels der Heiligen von der verheirateten Landesfürstin über die adlige Witwe bis zur Hospitalschwester. Konrads Summa präsentiert ihn im Anschluss an eine Diskussion zwischen den Figuren Konrad und Elisabeth über mögliche Lebensformen für die Witwe. Die conversio wird hier in Anlehnung an die monastische Tradition in die Form eines öffentlichen votum gefasst, mit dem sich Elisabeth zu einer apostolischen Nachfolge Christi verpflichtet, ohne dabei einen Ordenseintritt zu vollziehen und ihren Besitz aufzugeben. Eine konkrete Lebensform als Schwester in der Welt entspricht dem votum erst in Marburg mit der Gründung des Hospitals. Mehr als fünf Jahrzehnte später synthetisiert Dietrich von Apolda die Informationen aus Summa, Libellus und seinen eigenen Recherchen zu der für die weitere Rezeption maßgeblichen Elisabethvita. Er gestaltet die conversio Elisabeths am Karfreitag 1228 zu einer Selbstdevestitur nach franziskanischem Muster und inszeniert sie als Höhepunkt einer paradigmatischen Reihe von Entkleidungs- und Neueinklei-
Vgl. Honemann (Anm. 58), S. 176. Einen vergleichbaren Fall für die strukturelle Produktivität des Devestitur-Motivs bietet die Martinsvita des Sulpicius Severus; vgl. Hans Jürgen Scheuer: Das Martiniloben. Zur Prägnanz der Heiligenvita beim Stricker und bei Boccaccio. In: Prägnantes Erzählen. Hrsg. von Friedrich Michael Dimpel, Silvan Wagner. Oldenburg 2019 (Brevitas. 1 – Sonderheft der Beiträge zur mediävistischen Erzählforschung), S. 293 – 318, hier S. 298 – 300.
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dungsszenen, die den prozesshaften Charakter dieser Statusumkehr vor Augen stellen. Das Motiv der Selbstdevestitur, das in der hagiographischen Tradition für die ereignishafte Konversion von Sünderheiligen steht, avanciert in Dietrichs Vita zu einer Konversionsmetapher, in der weniger der abschließende Statuswechsel, als vielmehr das fortgesetzte Bemühen um eine neue Lebensform als mulier religiosa kodiert ist. Die überzeitliche Faszination für die Heilige Elisabeth besteht fraglos in der Ambivalenz dieses self-fashionings der Adligen als paupercula: Hierfür ist bezeichnend, dass die Figur in der bildenden Kunst vielfach gerade nicht im Büßergewand, sondern in den prächtigen Kleidern der Fürstin dargestellt wird.⁷¹ Was bei Dietrich im narrativen Paradigma der Selbstdevestitur gefasst ist, käme in den bildlichen Darstellungen der adligen Heiligen auf den Punkt: In der Figur der Abkehr von der adligen Existenz bleibt, ebenso wie in der Ausrichtung auf die Armen und Kranken am Rand der Gesellschaft, das Abgewiesene: adliges Herkommen und adlige Identität, weiterhin präsent.
Vgl. die Beobachtung bei Keupp (Anm. 55), S. 110: „Wie im Leben, so konnte die Königstochter auch im Tod die Zeichen ihrer Herkunft niemals vollständig abstreifen. Als ranghohe Adlige, nicht als Bettlerin blieb Elisabeth im kollektiven Gedächtnis nachfolgender Generationen präsent.“ Siehe dazu aus dem Bereich der Kunstgeschichte Maria Prokopp: Überlegungen zur mittelalterlichen Ikonographie der Heiligen Elisabeth. In: Blume/Werner (Anm. 1), S. 413 – 420; David Ganz: Eine Heilige mit großer Garderobe. Elisabeth-Bilder im konfessionellen Zeitalter. In: Blume/Werner (Anm. 1), S. 469 – 484, sowie zum Marburger Reliquienschrein Viola Belghaus: Der erzählte Körper. Die Inszenierung der Reliquien Karls des Großen und Elisabeths von Thüringen. Berlin 2005, hier S. 164– 167.
Elke Koch
Vom Wegesrand zum Wendepunkt
Die Modellierung der Bekehrung des Paulus in Erzählung, Liturgie und Predigt Die Kehre als äußere Bewegung des Sich-Wendens lässt sich im Wort ‚Bekehrung‘ (lat. conversio) als Metapher erkennen, die einen geistigen, hier genauer: einen religiösen Wandel ausdrückt.¹ In der Perspektive des Konvertiten ist die Kehre der Bekehrung axiologisch gerichtet: Sie vollzieht sich hin zum Wahren, Guten oder Richtigen. Normative Orientierungen und der Wahrheitsanspruch des Glaubens besetzen im Konversionskonzept das intentionale Moment der mit der äußeren Kehre beschriebenen Bewegung.² Konversion ist deshalb nicht als beliebiger Richtungswechsel verstehbar, sondern erscheint als bekenntnishafter Akt, mit dem eine Glaubenshaltung angenommen wird. In der Konversion verdichtet sich so jene Form von Handeln, die religiösem Glauben soziale Realität verleiht: Glauben wird durch Bekehrung zu einer geteilten sozialen Realität. Stabilisierend für den Glauben ist es, wenn die Konversion selbst zum Nachvollzug anregt. Dies wird erleichtert, wenn die situativen und partikularen Bedingungen einer Konversion in den Hintergrund treten, sodass – in Wiederholungen und Verdichtungen – ein Muster hervortritt, das nachvollzogen und je erneut stabilisierend zur Geltung gebracht werden kann. Konversion besitzt so eine latente Modellhaftigkeit; sie ist auf Musterbildung angewiesen, um Nachvollzug zu erleichtern.³ Auf einer weiteren Ebene sind jedoch Fragen nach Modellbildungen anzuschließen, und zwar nach den Verfahren von Texten, die sowohl den räumlichen Aspekt der Bekehrungsmetapher als auch den im Konzept latenten Appell zur Imitation an die Oberfläche bringen. Der ‚Sitz im Leben‘ der Texte, die ich im Folgenden betrachten werde, ist religiös und ihre Modalität ist von der pragmatischen Rahmung des Glaubens bestimmt.
Diese Metapher ließe sich möglicherweise auf die konzeptuelle Metapher ‚Das Leben ist eine Reise‘ beziehen; es ließe sich auch nach der historischen Wirksamkeit der Metapher ‚Glauben ist Bewegung auf ein Ziel hin‘ fragen. Der Begriff der konzeptuellen Metapher ist eingeführt durch George Lakoff, Mark Johnson: Leben in Metaphern. Konstruktion und Gebrauch von Sprachbildern. 2., korrigierte Aufl. Heidelberg 2000. Im Wissen darum, dass die Sinnbezirke von ‚Bekehrung‘ und ‚Konversion‘ nicht deckungsgleich sind, verwende ich die Bezeichnungen hier dennoch synonym, auch aus stilistischen Gründen, und fokussiere damit den Aspekt, dass beide räumliche Metaphern darstellen. Vgl. zur Konzeption von conversio als dreischrittigem Prozess bei lateinischen Autoren des Mittelalters Christel Meier: Krise und Conversio. Grenzerfahrungen in der biographischen Literatur des Hochmittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 50 (2016), S. 21– 44. https://doi.org/10.1515/9783110706093-008
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Elke Koch
Mit dem Apostel Paulus steht dabei ein christlicher Heiliger im Zentrum, der im Zusammenhang mit Konversion wohl als prototypisch betrachtet werden kann.⁴ Alltagssprachlich ist die Wendung ‚vom Saulus zum Paulus‘ selbst in unseren säkularisierten Zeiten noch als Redensart geläufig.⁵ Historisch ist jedoch von Belang, dass die Bekehrung des Paulus im kollektiven Gedächtnis der westlichen Kirche eigens verankert wurde, indem sie einen eigenen liturgischen Gedenktag (Conversio Pauli am 25. Januar)⁶ neben dem Apostelfest Petrus und Paulus (am 29. Juni) und dem unmittelbar darauffolgenden Tag des Apostels Paulus (30. Juni) erhalten hat. Dies hebt Paulus von allen anderen Konversionsheiligen ab.⁷ Den Prätext aller Bekehrungserzählungen von Paulus bildet die Apostelgeschichte, die Ende des ersten oder Anfang des zweiten Jahrhunderts entstanden ist⁸ und als deren Verfasser der Evangelist Lukas angesehen wird. Dort sind bekanntermaßen Sinnesänderung und Glaubensübertritt mit Damaskus und dem Weg zu diesem Ort verbunden. Mit ‚Damaskuserlebnis‘ wird die Vision bezeichnet, die Paulus hat und der für die Konversion eine zentrale, wenn auch nicht ganz einfach zu bestimmende Funktion zukommt. Wie in der Apostelgeschichte Bekehrung, Ort und räumliche Bewegung korreliert sind, wird im ersten Teil dieses Beitrags ausgeleuchtet. Hierbei gilt es zu beachten, dass bereits im Griechischen mit dem Verb ἐπιστρέφειν eine Bezeichnung im semantischen Feld des religiösen Sinneswandels verwendet
Neben Paulus wäre für das Mittelalter besonders an Maria Magdalena zu denken. Deren Umkehr wurde weniger als Glaubenswechsel denn als Abkehr von einem sündigen Leben erzählt oder dramatisiert. Aus der reichhaltigen Literatur seien nur einige Monographien und ein Sammelband genannt: Madeleine Boxler: Ich bin ein Predigerin und Appostlorin. Die deutschen Maria Magdalena-Legenden des Mittelalters (1300 – 1500). Untersuchungen und Texte. Bern u. a. 1996; Theresa Coletti: Mary Magdalene and the Drama of Saints. Theater, Gender, and Religion in Late Medieval England. Philadelphia 2004; Mary Magdalene in Medieval Culture. Conflicted Roles. Hrsg. von Peter Victor Loewen, Robin Waugh. New York u. a. 2014; Katherine Ludwig Jansen: The Making of the Magdalen. Preaching and Popular Devotion in the Later Middle Ages. Princeton 2001; Cornelia van den Wildenberg-de Kroon: Das Weltleben und die Bekehrung der Maria Magdalena im deutschen religiösen Drama und in der bildenden Kunst des Mittelalters. Amsterdam 1979. Aus theologischer Perspektive ist Paulus nicht als prototypische Konversions-‚Figur‘ zu betrachten, sondern in seinem historischen Wirken als Missionar; vgl. Hans Hübner: Paulus, Apostel I.: Neues Testament. In: TRE. Bd. 26. 2000, S. 133 – 153, hier S. 133; vgl. auch die Hübners Artikel beigegebene Bibliographie; die theologische Literatur zu Paulus kann ich nicht überschauen. Mit Conversio Pauli beziehe ich mich im Folgenden ausschließlich auf das liturgische Datum. Ernst Dassmann: Paulus, Apostel V.: Verehrung. In: LThK. Bd. 7. 1998, Sp. 1507 f., zufolge ist eine Verehrung des Paulus, die Petrus nicht mit einbezieht, „nur schwach entwickelt“ (hier Sp. 1507). Brauchtum, das sich auf den Heiligen bezieht, ist fast ausschließlich mit ‚Pauli Bekehrung‘ verbunden. Zur Bedeutung des Tages im Volksglauben und zu Praktiken der ‚Kehr-Magie‘, in denen sowohl das Umwenden als auch das homophone Kehren im Sinne von Fegen eine Rolle spielt, vgl. Paul Sartori: Pauli Bekehrung (25. Januar). In: HdA. Bd. 6. 2005, Sp. 1463 – 1466. Die Datierung hängt an weiteren Grundfragen wie der Verfasserschaft und der Quellen der Apostelgeschichte.
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wird, die Räumlichkeit und geistige Vorgänge metaphorisch miteinander verbindet.⁹ Durch die mehrfache Erzählung des Konversionsgeschehens werden zwei unterschiedliche raumstrukturelle Modelle für dessen Narrativierung zur Geltung gebracht. Im zweiten und dritten Teil des Beitrags frage ich danach, wie die Bekehrungserzählung in der Liturgie, das heißt im Offizium der Conversio Pauli und in (volkssprachlichen) Predigten modelliert wird. Auch diese Texte erzählen von Paulusʼ Konversion und passen die Angebote des Prätextes ihrem Funktionszusammenhang gemäß an.
I Zu den Schriften, die von Paulus berichten oder die ihm selbst zugeschrieben werden, gehören neben der Apostelgeschichte und den Paulusbriefen auch die apokryphen Paulusakten und die Visio Pauli. Aus theologischer Sicht fällt die Frage der Authentizität der Texte ins Gewicht und man ist sich einig, dass kein einheitliches Gesamtbild daraus zu gewinnen ist.¹⁰ In Bezug auf das Damaskusgeschehen spiegeln sich zumal nach Einschätzung Matthias Konradts „in den unterschiedlichen Deutungen […] Hauptkontroversen der jüngeren Paulusforschung“.¹¹ Im Folgenden soll es nicht um theologische oder historische Probleme der Pauluskonversion gehen, sondern ausschließlich um Aspekte der Narration.¹² Ziel ist es, die narrativen Muster herauszuarbeiten, die in den Darstellungen der Konversion des Paulus Sinneswandel und äußere Bewegung miteinander korrelieren.¹³
Vgl. Arthur Darby Nock: Conversion. The Old and the New in Religion from Alexander the Great to Augustine of Hippo. Oxford 1933; ders.: Bekehrung. In: RAC. Bd. 2. 1954, Sp. 105 – 118; George Bertram: ἐπιστρέφω, ἐπιστροφή. In: ThWNT. Bd. 7. 1964, S. 722– 729. Vgl. Hübner (Anm. 5), S. 136 – 137. Matthias Konradt: Bekehrung – Berufung – Lebenswende. Perspektiven auf das Damaskusgeschehen in der neueren Paulusforschung. In: Ancient Perspectives on Paul. Hrsg. von Tobias Nicklas, Andreas Merkt, Joseph Verheyden. Göttingen 2013, S. 96 – 120. Zur Einordnung der theologischen Diskussion der Paulusbekehrung siehe ferner Ulrich Luck: Die Bekehrung des Paulus und das Paulinische Evangelium. Zur Frage der Evidenz in Botschaft und Theologie des Apostels. In: ZNW 76 (1985), S. 187– 208. Es geht daher ausschließlich um die Darstellung in der Apostelgeschichte (Act 9, 22 u. 26). Relevant für die theologische Diskussion sind darüber hinaus Aussagen in den Paulusbriefen, die hier außer Acht bleiben. Eine Zusammenstellung gibt Gerhard Lohfink: Paulus vor Damaskus. Arbeitsweisen der neueren Bibelwissenschaft dargestellt an den Texten Apg 9,1– 19; 22,3 – 21; 26,9 – 18. Stuttgart 1965 (SBS. 4), S. 18 – 26, dazu hier S. 21: „Es fällt auf, daß Paulus in den Briefen seine Berufung gar nicht erzählt, so wie er es Apg 22 und 26 zufolge tut“ (Hervorhebung im Original). Zum Einfluss vorgängiger literarischer Muster vgl. Hans Windisch: Die Christusepiphanie vor Damaskus (Act 9, 22 und 26) und ihre religionsgeschichtlichen Parallelen. In: ZNW 31 (1932), S. 1– 23; Lohfink (Anm. 12); Christoph Burchard: Der dreizehnte Zeuge. Traditions- und kompositionsgeschichtliche Untersuchungen zu Lukas’ Darstellung der Frühzeit des Paulus. Göttingen 1977
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Die Bekehrungserzählung ist in der Apostelgeschichte uneinheitlich, denn sie wird in drei Berichten gegeben: 1. der Erzählung von der Erscheinung auf dem Weg nach Damaskus und der Heilung des Geblendeten durch Hananias (Act 9), 2. in Paulusʼ Rede an das Volk von Jerusalem (Act 22) sowie 3. in Paulusʼ Rede vor König Agrippa (Act 26). Narratologisch gesehen wechselt das Erzählen die Ebene: Der erste Bericht ist extra- und heterodiegetisch, der zweite und dritte sind intra- und homodiegetisch – Paulus erzählt, was ihm widerfahren ist. Die Erzählungen weisen signifikante Unterschiede auf, die die Bibelexegese seit den Anfängen diskutiert.¹⁴ Ich gebe im Folgenden kurze Paraphrasen von Erzählung 1, 2 und 3, wobei Eigentum einzelner Versionen kursiviert ist.¹⁵ Erzählung 1 (Act 9,1– 26): extra- und heterodiegetisch¹⁶ Saulus, der an der Steinigung des Stephanus beteiligt war, geht nach Damaskus, um Jünger Jesu gefangen zu nehmen und nach Jerusalem zurückzubringen. Als er sich Damaskus nähert, erfährt er eine Vision, die ihn niederwirft, und hört die Stimme Jesu, die ihm aufträgt, in die Stadt zu gehen, um dort Anweisungen zu empfangen. Saulus ist daraufhin erblindet, für drei Tage isst und trinkt er nicht. In Damaskus erhält der Jünger Hananias eine Vision, in der der Herr ihm aufträgt, Saulus aufzusuchen, der zeitgleich Hananias in einer Vision sehen werde. Hananias hat Bedenken, aber der Herr bezeichnet Saulus als auserwähltes Werkzeug der Mission. Hananias geht zu Saulus und legt ihm die Hände auf. Saulus wird wieder sehend und lässt sich taufen. Er bleibt bei den Jüngern in Damaskus, wo er in den Synagogen predigt. Ein Anschlag auf ihn wird geplant, er flüchtet heimlich aus der Stadt. Zurück in Jerusalem will er sich dort den Jüngern anschließen. Dialog der Vision nach der Vulgata,¹⁷ Act 9,4– 7: Et cadens in terram audivit vocem dicentem sibi Saule Saule quid me persequeris / qui dixit quis es Domine et ille ego sum Iesus quem tu persequeris / [durum est tibi contra stimulum calcitrare et tremens ac stupens dixit domine quid me uis facere / et dominus ad eum]¹⁸ surge et ingredere civitatem et dicetur tibi quid te oporteat facere.
(FRLANT. 103); Odil Hannes Steck: Formgeschichtliche Bemerkungen zur Darstellung des Damaskusgeschehens in der Apostelgeschichte. In: ZNW 67 (1976), S. 20 – 28. Zu Reaktionen auf die Differenzen bei den frühkirchlichen Autoren bis Beda vgl. Martin Meiser: Überwindung, Bekehrung oder Berufung – Apg 9; 22; 26 in altkirchlicher Wahrnehmung. In: Nicklas/ Merkt/Verheyden (Anm. 11), S. 30 – 58. Nicht alle Details sind verzeichnet, nicht etwa die Unstimmigkeit in der Wahrnehmung der Begleiter bei der Vision. Eine knappe Übersicht über die Unterschiede im Detail bei Jacob Jervell: Die Apostelgeschichte. Übersetzt und erklärt von dems. 17. Aufl. Göttingen 1998, S. 289. Der Erzähler der Apostelgeschichte geht passagenweise in eine Wir-Form über. Die theologische Forschung interpretiert dies einerseits als Hinweis auf eine verarbeitete Quelle, andererseits als rhetorisches Mittel historiographischen Erzählens. Die Literatur dazu ist umfangreich, ich verweise nur auf eine jüngere Arbeit mit Hinweisen zu weiterer Literatur: Clare K. Rothschild: Luke-Acts and the Rhetoric of History. Tübingen 2004 (WUNT. 175). Der Wechsel ist im paraphrasierten Abschnitt nicht relevant. Biblia Sacra Iuxta Vulgatam Versionem. Hrsg. von Robert Weber. 3., verbesserte Aufl. Stuttgart 1983. Der in eckige Klammern gesetzte Passus mit der Metapher des Stachels (stimulus), der Act 26,14 entspricht, ist nicht in allen Handschriften vorhanden; die Edition verzeichnet ihn im Apparat. Vgl. dazu auch Gerhard Schneider: Die Apostelgeschichte. 2. Teil: Kommentar zu Kap. 9,1– 28,31. Freiburg/ Basel/Wien 1982 (Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament. 5), S. 20, Anm. d mit
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Erzählung 2 (Act 22,1– 22): intra- und homodiegetisch (Paulus ist, entgegen Warnungen seiner Freunde, nach Jerusalem gegangen und dort gefangengenommen worden. Als er eine Treppe hinaufgeführt wird, bittet er um die Erlaubnis, zum Volk zu sprechen.) Paulus berichtet, dass er in dieser Stadt (Jerusalem) aufgewachsen sei und dort Christen verfolgt habe. Er sei nach Damaskus gegangen, um Jünger Jesu gefangen zu nehmen und nach Jerusalem zurück zu bringen. Als er sich Damaskus genähert habe, sei ihm eine Vision widerfahren, die ihn niedergeworfen und geblendet habe, und er habe die Stimme Jesu gehört, die ihm aufgetragen habe, in die Stadt zu gehen, um dort Anweisungen zu empfangen. In der Stadt habe ihn Hananias angesprochen, er sei wieder sehend geworden und habe von Hananias erfahren, dass er vom Herrn bestimmt sei, vor den Menschen sein Zeuge zu sein. Hananias habe ihn zur Taufe aufgefordert. Zurück in Jerusalem habe er eine weitere Vision erhalten, als er im Tempel betete. Der Herr habe ihm befohlen, Jerusalem zu verlassen, da sein Zeugnis nicht angenommen werden würde. Er solle zur Mission der heidnischen Völker aufbrechen. (Hier bricht Paulus seine Rede wegen des Tumults der Menge ab.) Dialog der Vision nach der Vulgata, Act 22,7– 10: Et decidens in terram audivi vocem dicentem mihi Saule Saule quid me persequeris / ego autem respondi quis es Domine dixitque ad me ego sum Iesus Nazarenus quem tu persequeris / […] / et dixi quid faciam Domine Dominus autem dixit ad me surgens vade Damascum et ibi tibi dicetur de omnibus quae te oporteat facere. Erzählung 3 (Act 26,9 – 20) (Paulus ist nach Cäsarea überführt worden und wird dort vom römischen Statthalter Festus in Haft gehalten, bis er zum Kaiser Augustus gesendet werden soll. Als der König Agrippa Cäsarea besucht, lässt Festus ihm Paulus vorführen.) Paulus stellt dar, wie er in Jerusalem bei der Verfolgung der Heiligen (Christen) eiferte. Bis in die auswärtigen Städte habe er sie verfolgt. Als er zu diesem Zweck nach Damaskus gereist sei, sei ihm auf dem Weg eine Vision widerfahren, die ihn niedergeworfen habe. Er habe die Stimme Jesu gehört, die ihm aufgetragen habe, aufzustehen und als sein Diener und Zeuge zu wirken. Er solle die heidnischen Völker bekehren. Dem habe er mit Verkündigen Folge geleistet, zuerst in Damaskus, dann in Jerusalem, in Judäa und bei den heidnischen Völkern. Dialog der Vision nach der Vulgata, Act 26,14– 18: Omnesque nos cum decidissemus in terram audivi vocem loquentem mihi hebraica lingua Saule Saule quid me persequeris durum est tibi contra stimulum calcitrare / ego autem dixi quis es Domine Dominus autem dixit ego sum Iesus quem tu persequeris / sed exsurge et sta super pedes tuos ad hoc enim apparui tibi ut constituam te ministrum et testem eorum quae vidisti et eorum quibus apparebo tibi / eripiens te de populo et gentibus in quas nunc ego mitto te / aperire oculos eorum ut convertantur a tenebris ad lucem et de potestate Satanae ad Deum ut accipiant remissionem peccatorum et sortem inter sanctos per fidem quae est in me.
In der theologischen Diskussion wurde die dreifache Erzählung entweder harmonisiert,¹⁹ auf verschiedene Quellen zurückgeführt, die ungeachtet ihrer Unterschiede bei der Abfassung verwertet worden sind,²⁰ als ein historiographisches oder erbauungs-
weiterer Literatur. Die untersuchten mittelalterlichen Beispiele aus Liturgie und Predigtliteratur weisen den Passus an dieser Stelle auf, weswegen ich ihn hier ergänze. Dass man alle Informationen zum Damaskusgeschehen nur kombinieren müsse, um das historische Gesamtbild zu erhalten, ist nach Lohfink (Anm. 12), S. 28, „die Meinung aller katholischer Ausleger bis fast zur Mitte des [20.] Jahrhunderts“ gewesen; siehe dort zur Literatur. Vgl. Hans-Hinrich Wendt: Die Apostelgeschichte. 9. Aufl. Göttingen 1913 (Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament. 3), S. 166 – 168; Ernst Hirsch: Die drei Berichte der Apostelge-
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literarisches Mittel bewertet, mit dem der Verfasser die Bedeutung der Ereignisse unterstreicht,²¹ oder funktional mit dem Bemühen Lukasʼ begründet, unterschiedliche Aspekte von Paulusʼ Rolle zu beleuchten.²² Zusammenfassend lassen sich die Unterschiede mit Gerhard Schneider so charakterisieren: „Während der Bericht 9,1– 19a eher eine Bekehrungs-Erzählung darstellt – die Berufung des Saulus wird nur Hananias mitgeteilt, 9,15 f –, stellen die beiden anderen Erlebnisberichte in den paulinischen Verteidigungsreden die Berufung des Paulus in den Vordergrund (22,10.14 f. u. 26,16 – 18).“²³ Allen drei Erzählungen gemeinsam ist die Verbindung der Konversion mit der Reise nach Damaskus und die Lokalisierung der Vision ‚unterwegs‘. Am deutlichsten wird diese Verbindung von räumlicher Bewegung und Veränderung der Glaubenshaltung in der Erzählung 1 (Act 9) greifbar, die den Weg, von Jerusalem ausgehend, über die Station der Vision nach Damaskus, in die Stadt hinein und aus ihr wieder heraus als Ereignissequenz gestaltet. Nur die Rückkehr nach Jerusalem geht implizit aus dem Einsatz der folgenden Handlungssequenz hervor, die davon handelt, wie Paulus durch die Vermittlung des Barnabas Aufnahme bei den Aposteln findet. Mit der Blendung durch die Vision und dem anschließenden Fasten stellt Erzählung 1, wenn nicht ein „Strafgericht über Paulus“, wie Ernst Hirsch zuspitzt,²⁴ so doch einen durch ein Wunder ausgelösten Prozess der Buße und Vorbereitung auf die Taufe dar: „Das dreitägige Fasten zeigt die innere Umwandlung Sauls an.“²⁵ Durch die Aufnahme in die Gemeinde in Damaskus, die gottgewollt ist und durch Hananias vermittelt wird,
schichte über die Bekehrung des Paulus. In: ZNW 28 (1929), S. 305 – 312. Die Quellentheorie gilt laut Schneider (Anm. 18), S. 2, als „heute weitgehend überwunden“, sie wird wieder vorgebracht bei Jervell (Anm. 15), S. 289 f. Als historiographisches Stilmittel bewertet, ungeachtet der Quellenfrage, erstmals bei Ernst von Dobschütz: Die Berichte über die Bekehrung des Paulus. In: ZNW 29 (1930), S. 144– 147; als „Steigerungstechnik“ sowie „Deutung und Auslegung der Überlieferung“ (Hervorhebung im Original) bei Lohfink (Anm. 12), S. 83 u. 90; bezogen auf die Intention zur Erbauung und auf einer einzigen Quelle beruhend bei Ernst Haenchen: Die Apostelgeschichte. Neu übersetzt und erklärt. 16. Aufl. Göttingen 1977 (Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament. 3), S. 314– 318. Worin das gestalterische Interesse des Lukas liegt, wird auch in Hinsicht auf die umstrittene Frage des Verhältnisses von Paulus zu den Aposteln beantwortet. Eine Paulus unterordnende Kontrastierung sieht Walter Schmithals: Die Berichte der Apostelgeschichte über die Bekehrung des Paulus und die ‚Tendenz‘ des Lukas. In: ThViat 14 (1977/1978), S. 145 – 165; eine überordnende Sonderstellung behauptet Jervell (Anm. 15). Vgl. David M. Stanley: Paul’s Conversion in Acts: Why the Three Accounts? In: CBQ 15 (1953), S. 315 – 338. Während die ‚Zwei-Quellen-Theorie‘ der deutschsprachigen quellenkritischen Forschung (Wendt [Anm. 20]) davon ausging, dass die Act 9 zugrunde liegende Quelle in Act 22 als Rede umformuliert wird, meint Stanley, dass eine für Act 22 verwendete, möglicherweise authentisch paulinische Quelle umgekehrt für den Erzählerbericht in Act 9 umgeformt wurde. Die Reden in der Apostelgeschichte qualifiziert William Prentice: St. Paul’s Journey to Damascus. In: ZNW 46 (1955), S. 250 – 255, hier S. 255, als „popular legend“, allein die Aussagen im Galaterbrief (1,15 – 17) seien als authentisch anzusehen. Schneider (Anm. 18), S. 22; ähnlich Charles W. Hedrick: Paul’s Conversion/Call: A Comparative Analysis of the Three Reports in Acts. In: JBL 100 (1981), S. 415 – 432. Hirsch (Anm. 20), S. 307. Haenchen (Anm. 21), S. 311.
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findet Paulus weiter zu seiner Bestimmung, auch wenn er noch nicht Teil der Apostelgemeinschaft ist. Dieser Schritt wird erst in Jerusalem erreicht. Entscheidend ist in dieser Narrativierung von Paulusʼ Konversion nicht der Punkt der Wende, sondern der Prozess der Veränderung, der sich auf dem Weg ‚über‘ Damaskus vollzieht. Der Ort der Vision ist die Wegmarke, an welcher der Prozess des Wandels einsetzt, Damaskus die Station der Reinigung, Heilung und Taufe; als weitere Station wird Jerusalem folgen, als Ort, an dem Paulus in der Gruppe der Apostel ‚ankommt‘. Die innere Konversion, der Sinneswandel des Paulus, findet dabei in dieser Darstellungsweise kaum Platz. Das raumstrukturelle Muster, das dieser Narrativierung von Konversion in Erzählung 1 zugrunde liegt, bezeichne ich als ‚Weg-Modell‘.²⁶ Die Erzählung 2 (Act 22) in der Rede des Paulus vor der aufgebrachten Menge in Jerusalem bildet eine Re-Narrativierung dieser Basiserzählung. Sie bleibt bei der Ereignisfolge, wobei das dreitägige Fasten entfällt. Die Beauftragung des Paulus wird nicht als Vision des Hananias auserzählt, sondern nur in der Übermittlung an Paulus wiedergegeben, wodurch das Geschehen stärker auf die Beauftragung des Paulus als Zeuge zugeschnitten wird. Dies steht in Bezug zur zweiten Vision des Paulus in Jerusalem, die nur an dieser Stelle erzählt wird. Die Vision vor Damaskus und die Begegnung mit Hananias erscheinen als vorbereitende Ereignisse für diese zweite Vision, in der Paulus von Gott unmittelbar als Zeuge bestimmt und zur Mission ausgesandt, ihm mithin der apostolische Auftrag erteilt wird.²⁷ Im Syntagma ‚Ausgang (von Jerusalem) – Vision 1 (vor Damaskus) – Auftrag 1 (in Damaskus) – Vision und Auftrag 2 (in Jerusalem)‘ ist das Weg-Modell zwar erkennbar, aber kaum noch narrativ ausgeformt.²⁸ Das Gewicht verschiebt sich auf den Ausgangs- und Endpunkt der Station Jerusalem, die nun als Abschluss eines gestuften Prozesses der Berufung erscheint. Rudolf Pesch stellt darüber hinaus fest, dass im Zusammenspiel von Rahmenerzählung und Rede, das „gegen alle historische Wahrscheinlichkeit“ konstruiert sei,²⁹ Paulus sich seinen Hörern als ihnen ähnlich darstelle: Vor den jüdischen Zeloten, die sich gegen ihn wenden, präsentiert er sich als gesetzestreuer Jude, der gegen die
Es ist angesichts der vielfach beobachteten rhetorischen und kompositorischen Bewusstheit Lukasʼ vielleicht kein Zufall, dass in der Damaskusepisode die Christen bei der Schilderung von Saulusʼ Verfolgertätigkeit zunächst als „Angehörige des ‚Weges‘“ (τῆσ ὅδου ὄντας; Act 9,2. Übersetzung von Haenchen [Anm. 21], S. 307) bezeichnet werden; vgl. dazu Selby Vernon McCasland: „The Way“. In: JBL 77 (1958), S. 222– 230; Eero Repo: Der „Weg“ als Selbstbezeichnung des Urchristentums. Eine traditionsgeschichtliche und semasiologische Untersuchung. Helsinki 1964; Stanislas Lyonnet: „La Voie“ dans les Actes des Apôtres. In: RSR 69 (1981), S. 149 – 164. Schneider (Anm. 18), S. 20, übersetzt verallgemeinernd „Anhänger der (neuen) Glaubensrichtung“. Vulgata: huius viae viros ac mulieres. Vgl. Rudolf Pesch: Die Apostelgeschichte. 2. Teilbd.: Apg 13 – 28. Zürich u. a. 1986 (EKK. 5), S. 235 u. 238 f. Wie eine Reminiszenz an Act 9,2 wirkt es, wenn auch hier (Act 22,4) die Bezeichnung der Christen als ‚Weg‘ erscheint, als Paulus seinen Eifer als Verfolger in Jerusalem beschreibt; vgl. Haenchen (Anm. 21), S. 598. Vulgata: hanc viam persecutus sum. Pesch (Anm. 27), S. 230.
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Christen geeifert hat. Mit der Erzählung seiner Konversion biete Paulus sich demnach zur Nachahmung an: „Er könnte das Paradigma für alle seine Hörer sein“.³⁰ Diese Präsentation wird freilich bei Pesch auf Lukas zurückgeführt, dem Paulusʼ Rede dazu diene, „dem jüdischen laos das Paradigma des bekehrten Verfolgers vorzuhalten.“³¹ In Erzählung 3 (Act 26), in der Paulus sich vor dem jüdischen König Agrippa und seiner Schwester Berenike rechtfertigt, wird das Geschehen deutlich anders dargestellt. Hier berichtet Paulus, dass er bereits in der Vision, die er auf dem Weg nach Damaskus erhält, als Zeuge erwählt und zur Mission beauftragt worden ist. Blendung, Heilung und Taufe, die in Erzählung 1 als Stationsereignisse die Prozessualität des Wandels markieren, werden nicht erwähnt. Die griechische Bezeichnung der Sinnesänderung μετάνοια und die Bezeichnung dieses Vorgangs als ‚Sich-Wenden‘ beziehungsweise ‚Zuwenden‘ (ἐπιστρέφειν) kommen innerhalb der drei Visionserzählungen nur an dieser Stelle vor. Die Vulgata-Übersetzung gibt das raummetaphorische ἐπιστρέφειν entsprechend mit convertere (Act 26,18.20) und μετάνοια mit paenitentia (Act 26,20) wieder. Die kurze Passage bringt die beiden Leitbegriffe der inneren Wende gleich mehrmals unter, bezieht sie allerdings ausschließlich auf das Wirken des Paulus, das heißt auf die Bekehrung anderer. Konversion und Mission, zu der Paulus zugleich beauftragt wird, sind hier aufs Engste zusammengezogen – die Vision ist ganz auf diesen größeren Zusammenhang hin angelegt. Die Räume, in denen sich Saulus/ Paulus bewegt, werden im Vergleich zu Erzählung 2 viel diffuser benannt. Schon in der Vorgeschichte stehen Jerusalem und die „Städt[e] außerhalb“ (Act 26,11)³² als TatOrte des Saulus nebeneinander. Nach der Wende werden die Orte der Verkündigung „denen in Damaskus, in Jerusalem, dann dem ganzen Land Judäa und den Heiden“ (Act 26,20)³³ in einem Atemzug genannt. So ordnet sich die Raumstruktur nicht zu einem Wegschema. Ausgang und Fortgang sind nur noch lose koordiniert und stehen dem Ort der Vision gegenüber. In der Apostelgeschichte werden also bereits zwei Alternativen für das Narrativ der Pauluskonversion bereitgestellt. Diese lassen sich leicht als grundlegende Möglichkeiten der strukturellen Organisation von Konversionsnarrativen erkennen und sind auch vor und jenseits von christlichen Besetzungen vorhanden. Das eine Modell erzählt den Wandel als Weg, wobei die Rückkehr zum Ausgangspunkt hervorgehoben sein kann. Das andere Modell fokussiert den Wendepunkt – als Moment der Beauftragung – in besonderer Weise. In Erzählung 3, die weniger die Bekehrung des Paulus als die Bekehrung anderer durch ihn in den Vordergrund stellt, ist dabei die räumliche Konkretisierung am schwächsten ausgeprägt.
Ebd., S. 234. Ebd., S. 238. Übersetzung von Haenchen (Anm. 21), S. 650. Übersetzung von Jervell (Anm. 15), S. 588. Ich wechsle hier die Übersetzung, da Haenchen (Anm. 21), S. 656, die Nennung von Judäa für einen späteren Zusatz hält.
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Die religiöse Konversion, die in der Apostelgeschichte im Kontext der Missionsbemühungen der frühen Kirche erzählt wird, lässt sich zur moralischen Konversion umdeuten. Dies macht Paulusʼ Bekehrung für Zeiten und Räume anschlussfähig, in denen äußere Mission keine Relevanz (mehr) hat. Die Überblendung von religiöser und moralischer Konversion macht den Heiligen zum imitabile auch dort, wo er unter Voraussetzungen handelt, die von denen vieler mittelalterlicher Rezipienten weit entfernt sind. Ich untersuche im Folgenden die mittelalterliche Rezeption der Apostelgeschichte nicht im gelehrten Diskurs, sondern in der Praxis der Glaubensstärkung in der Kirche. Für diese Praxis sind zwei Felder von Bedeutung: die memoria der Conversio Pauli in der Liturgie und ihre Vermittlung in der Predigt. Aus beiden Feldern greife ich Texte für exemplarische Analysen heraus, da es mir nicht um einen Überblick über diese Rezeptionsformen geht, sondern um die Möglichkeiten des Umgangs mit den Modellen des Wegs und des Wendepunktes, die sich nur durch Feinanalysen erschließen lassen. In beiden Bereichen können die Beispiele insofern als repräsentativ betrachtet werden, als sie für die pragmatischen Rahmungen des Stundengebets und der Predigt charakteristische Verfahren aufweisen, mit dem Prätext der Apostelgeschichte umzugehen. Dennoch bilden sie nur je spezifische Realisierungen solcher Verfahren und setzen eigene Schwerpunkte, die sich von anderen Offizien und Predigten unterscheiden.
II Es ist ungeklärt, wann genau und unter welchen Umständen die Conversio Pauli eine eigene liturgische Feier erhielt.³⁴ Sicher ist, dass dieses Fest bereits vor dem 8. Jahrhundert außerhalb Roms gefeiert wurde; vermutet wird sein Ursprung in Gallien. Nach seiner Verbreitung konnte ein liturgischer Brauch unter Umständen zwei allein für Paulus reservierte Offizien enthalten, eines im Januar zur Conversio Pauli, eines am 30. Juni, dem Festtag des Apostels. Wenn für Paulus nur ein liturgischer Festtag vorgesehen war, konnte dieser entweder auf den 25. Januar oder auf den 30. Juni fallen. Offizien zur Conversio Pauli variieren in hohem Maß, dies nicht nur aufgrund der Zugehörigkeit zum monastischen oder säkularen Kursus. So lässt sich schon an liturgischen Quellen aus verschiedenen cluniazensischen Klöstern nachvollziehen, dass das liturgische Datum im Januar mit unterschiedlichen Offizien gefeiert wurde, je nachdem, ob der Usus einen zweiten Festtag im Juni enthielt. Ein Antiphonar aus dem
Johann Peter Kirsch: Die beiden Apostelfeste Petri Stuhlfeier und Pauli Bekehrung im Januar. In: Jahrbuch für Liturgiewissenschaft 5 (1925), S. 48 – 67, deutet die Feier der Conversio Pauli als Parallelfest zur Stuhlfeier Petri und sieht sie als memoria der Einsetzung der beiden Apostelfürsten, Petrus als Stellvertreter und Paulus eben als Apostel. Dabei schlussfolgert Kirsch allein aus den liturgischen Daten.
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Kloster Saint-Maur-des-Fossés³⁵ vom frühen 12. Jahrhundert hat sowohl ein PaulusOffizium zum Aposteltag am 30. Juni als auch ein Conversio Pauli-Offizium für den 25. Januar.³⁶ Ein etwas älteres Brevier aus dem Kloster Saint-Taurin hat nur im Januar ein Offizium für Paulus.³⁷ Dieses entspricht dem Paulus-Offizium, das die Handschrift aus Saint-Maur für den 30. Juni überliefert. In den Paulus-Offizien nehmen die Texte der Gesänge Bezug vor allem auf die Paulusbriefe.³⁸ Paulus wird hier als Prediger und Lehrer verehrt.³⁹ Das Offizium zur Conversio Pauli aus Saint-Maur hingegen legt für die Texte der Gesänge häufiger die Apostelgeschichte (Act 9) zugrunde. Anhand der Auswahl und Verteilung der Gesänge wird hier eine eigene Modellierung des Themas erkennbar, die vom Paulus-Offizium insofern abweicht, als sie deutlich stärker auf den Nachvollzug der Bekehrung setzt. Dies zeige ich im Folgenden in einer genaueren textlichen Analyse der Matutin des Conversio Pauli-Offiziums. Um die Horenstruktur zumindest anzureißen, stelle ich einen kurzen Blick auf die erste Vesper am Vorabend voran.⁴⁰ In der Vesper des Vorabends werden in Saint-Maur als Capitulum die Verse Act 9,1– 2 gelesen: Saulus adhuc spirans minarum et caedis in discipulos domini abiit ad
Paris, Bibliothèque nationale de France, MS. lat. 12044, Conversio Pauli: fol. 51v–54v; Paulus: fol. 154v–156v. Kurzbeschreibung und weitere Literatur in CANTUS [http://cantus.uwaterloo.ca/source/ 123628, Zugriff: 19.04.20]. Digitalisat der Bibliothèque nationale de France/Gallica [http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b6000531z.r=latin.langFR, Zugriff: 19.04.20]. Für die Auswertung und die Ergänzung der Incipits habe ich außer der CANTUS-Datenbank auch die von der Universität Regensburg bereitgestellte Datenbank Antiphonale Synopticum verwendet [http://gregorianik.uni-regensburg.de, Zugriff: 19.04.20]. Ich gebe im Folgenden nach Zitaten zu den aus den Datenbanken ergänzten Texten die Stellen der Incipits in der Handschrift an. Zur Geschichte des Klosters Saint-Maur-des-Fossés und zu seiner liturgischen Überlieferung vgl. André Renaudin: Deux Antiphonaires de Saint-Maur (Paris B. N. Lat. 12584 et 12044). In: Etudes grégoriennes 13 (1972), S. 53 – 150, hier S. 63 – 80. Die beiden Paulus-Offizien werden durch das parallele Invitatorium zur Matutin aufeinander bezogen: Laudemus deum nostrum in conversione Pauli (fol. 51v) und Laudemus deum nostrum in confessione Pauli (fol. 154v). Die Melodien erscheinen mit Ausnahme des überleitenden ‚Venite‘ identisch, vgl. [http://cantus.uwaterloo.ca/chant/402003, Zugriff: 19.04.20] u. [http://cantus.uwaterloo.ca/chant/ 399501, Zugriff: 19.04.20]. Die besondere Wertschätzung des Apostels drückt auch die historisierte Initiale zum Paulus-Fest im Juni mit Bildnis aus (fol. 154v). Paris, Bibliothèque nationale de France, MS. lat. 12601, fol. 40vb–43va. Kurzbeschreibung und weitere Literatur in CANTUS [http://cantus.uwaterloo.ca/source/123630, Zugriff: 19.04.20]. Digitalisat der Bibliothèque nationale de France/Gallica, [http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b84229789, Zugriff: 19.04.20]. Dies lässt sich mithilfe der Datenbank CANTUS eruieren [http://cantus.uwaterloo.ca/feast/2343, Zugriff: 19.04.20]. Die Konversion wird allerdings in der Lesung, die das Brevier aus Saint-Taurin aufzeichnet, ebenfalls thematisch, und zwar durch die Verwendung einer pseudo-augustinischen Predigt auf Petrus und Paulus ([Ps.‐]Augustinus Hipponensis: Sermo CCIV. In natali apostolorum Petri et Pauli. In: PL 39, Sp. 2124 f.). Die Predigt geht auf Paulus’ Bekehrung nach den Berichten der Apostelgeschichte (Act 9 u. 22) ein. Unvollständig bleibt die Analyse auch hinsichtlich der Melodien, die außerhalb meiner Kompetenz liegen, sowie hinsichtlich des Verhältnisses der Gesänge zu den Texten der Psalmen.
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principem sacerdotum et petiit illum ut ubicunque inveniret huius viae viros vinctos perduceret Hierusalem (fol. 51v; ‚Saulus schnaubte immer noch Drohung und Mord gegen die Jünger des Herrn, ging zu dem Hohenpriester und bat ihn [um Vollmacht], um, wo immer er einige [Anhänger] dieses Weges fände, die Männer gebunden nach Jerusalem zu führen.‘)⁴¹. Responsorium und Versus sind Dichtungen, die den Eifer des Saulus ausphantasieren: Ibat igitur Saulus furia invectus dirum toto pectore virus efflabat et sanctorum sanguinem sine intermissione sitiebat; Versus: Per totam Judaeam insania ferebatur ut Christi membra laniaret in terris (fol. 51v; ‚Also ging Saulus von Raserei erfüllt, hauchte aus der ganzen Brust schrecklichen Geifer aus und lechzte ohne Unterlass nach dem Blut der Heiligen‘; Versus: ‚Durch ganz Judäa wurde der Wahn gebracht, um die Glieder Christi auf Erden zu zerreißen.‘). Im Hymnus Doctor egregie Paule,⁴² der zweistrophig mit der Doxologie (Sit trinitati) gesungen wird, erscheint dem geifernden Saulus der Lehrer Paulus entgegengesetzt, auf dessen Führung das liturgische ‚Wir‘ vertraut, um Heil zu erlangen (1,2: et mente polum nos transferre satage, ‚mühe Dich, uns geistig zum Himmel zu führen‘).Während damit der Kontrast zwischen Saulus, dem Verfolger, und Paulus, dem Lehrer und Mittler zum himmlischen Heil, hergestellt ist, den das Offizium noch weiter entfalten wird, führt die erste Vesper nun zum Visionsgeschehen als zweitem Kernthema der memoria hin. Die Antiphon zu den Psalmen vergegenwärtigt den Dialog der Christophanie in Act 9,6: Saulus autem tremens ac stupens dixit ad Jesum domine quid me vis facere ait autem dominus ad eum surge et ingredere civitatem et dicetur tibi quid te oporteat facere (fol. 51v; ‚Saulus aber, zitternd und staunend, sagte zu Jesus: Herr, was willst Du, dass ich tue? Der Herr aber sagte zu ihm: Stehe auf und gehe in die Stadt, und dir wird gesagt werden, was du tun sollst‘). Aus der Bekehrungserzählung wird der Befehl zum Gehorsam herausgelöst. Die Führung des Paulus, die der Hymnus preist, erweist sich hier weniger in Aussagen der paulinischen Briefe, als vielmehr im Vorbild des Paulus, der sich dem göttlichen Willen unterwirft. Die Bekehrung wird in diesem Aspekt fokussiert: Nicht der plötzliche Einschlag der göttlichen Stimme, sondern die demütige Antwort wird ins Zentrum des liturgischen Gedenkens gerückt. Diese Akzentuierung öffnet die Glaubenskonversion des Paulus auf ein monastisches Konzept von conversio hin, das die Wendung zur völligen Hingabe an Gott als stets neu zu leistende Korrektur der inneren Haltung modelliert. Am Vorabend des Bekehrungsfestes stimmt das Benediktinerkloster sich auf eine imitatio Pauli ein, die für seine Lebensweise relevant ist. Im Stundengebet wird die narrative Sequenz einer Bezugserzählung in der Regel aufgebrochen, da einzelne Verse oder Inhalte des Prätextes aus dem Zusammenhang gelöst, neu kombiniert, mit kontextfremden Texten zusammengestellt und vor allem auch mehrfach wiederholt werden. Die Bekehrungserzählung der Act 9 wird auch im Da die liturgischen Texte sich auf die Vulgata beziehen und dabei zum Teil nicht den Textbestand der Ausgabe Weber/Fischer (Anm. 17) aufweisen, übersetze ich selbst. Der gesamte Text ist ediert in Analecta Hymnica Medii Aevi. Hrsg. von Guido Dreves. Bd. 23. Leipzig 1886, S. 255.
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Offizium von Saint-Maur auf diese Weise aufgebrochen. Jedoch ist festzustellen, dass die Auswahl der Gesänge sich öfter an der narrativen Geschehensfolge orientiert, während zugleich bestimmte Aspekte besonders ausgebreitet werden. So gibt im ersten Psalmengebet der Matutin die Anreihung von Antiphonen und Versus die Vision des Paulus und seinen Dialog mit Jesus fortschreitend wider. Freilich wird dies unterbrochen von den Psalmen. Außerdem werden die Antiphonen vor und (teilweise) nach dem Psalm gesungen oder als Kehrvers in diesen eingeschoben. Durch diese Wiederholungen entstehen Verstärkungen und der Effekt des Verweilens an bestimmten Punkten. Mit der ersten Antiphon der Matutin wird der wutschnaubende Saulus rekapituliert: mit dem Vers Act 9,1– 2 Saulus adhuc spirans, der in der Vesper als Capitulum gelesen wurde (1.1).⁴³ Der Versus zur Antiphon Paternarum traditionum amplius aemulator existens (fol. 51v; ‚und [er] trat als Eiferer für die Überlieferungen der Väter besonders hervor‘) greift auf den Galaterbrief (Gal 1,14)⁴⁴ zurück und bestätigt das in der Antiphon gezeichnete – durchaus antijüdische – Bild gleichsam aus dem Mund des Apostels. Der zweite Psalm wird durch die Antiphon Ibat igitur (1.2) gerahmt, die in der Vesper als Responsorium gesungen wurde; sie breitet Bild des Geiferers weiter aus. Der Versus zur zweiten Antiphon ist Act 9,3 entnommen und leitet zum Weg nach Damaskus über: et cum iter faceret contigit ut appropinquaret Damasco (fol. 51v; ‚Und es begab sich, als er auf dem Weg war und sich Damaskus näherte‘). Die Antiphon zum dritten Psalm vervollständigt den Bibelvers Act 9,3 (1.3): Et subito circumfulsit eum lux de caelo et cecidit in terram nihilque videbat; Versus: Audivit autem vocem dicentem sibe Saule Saule quid me persequeris (fol. 51v; ‚Und plötzlich umstrahlte ihn ein Licht vom Himmel und er stürzte zu Boden und sah nichts [mehr]‘; Versus: ‚Er hörte aber eine Stimme zu ihm sagen: Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich?‘). Auf dem quid me persequeris verweilt die Antiphon zum vierten Psalm (1.4), die den Dialog von Act 9,5 umfasst: Saule, Saule quid me persequeris quis es domine ego sum Iesus quem tu persequeris durum est tibi contra stimulum calcitrare; Versus: Sed surge et ingredere civitatem et dicetur tibi quid oporteat facere (fol. 51v–52r; ‚Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich? – Wer bist du, Herr? – Ich bin Jesus, den du verfolgst; hart ist es für dich, gegen den Stachel auszuschlagen‘; Versus: ‚Aber stehe auf und gehe in die Stadt, und dort wird dir gesagt werden, was du tun sollst‘). Die folgende Antiphon (1.5) zieht Act 9,4 mit Act 9,8 zusammen und thematisiert das Wunder der Christophanie, wobei die Überwältigung und das Nicht-Sehen betont wird: Viri autem qui comitabantur cum eo stabant stupefacti audientes quidem vocem
Um die Zuordnung der Gesänge zu verdeutlichen, gebe ich die Position numerisch an; die Ziffer vor dem Punkt bezeichnet die Nokturn, die Ziffer nach dem Punkt die Position einer Antiphon im Psalmengebet und die eines Responsoriums in der Lesung. Die Versus zu den Antiphonen und Responsorien bleiben ohne Bezifferung. Gal 1,14: Et proficiebam in Judaismo supro multos coaetanos meos in genere meo abundantius aemulator existens paternarum mearum traditionum (‚Und ich übertraf im Judentum viele Gleichaltrige in meinem Geschlecht und trat als übermäßiger Eiferer für die Überlieferungen meiner Väter hervor.‘).
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sed neminem videntes; Versus: Saulus autem cadens in terra apertisque oculis nihil videbat (fol. 52r; ‚Die Männer aber, die ihn begleiteten, standen mit ihm betäubt da, zwar die Stimme hörend, aber niemanden sehend‘; Versus: ‚Saulus aber stürzte zu Boden und sah mit offenen Augen nichts‘).⁴⁵ Die letzte Antiphon des ersten Psalmgebets (1.6) geht einen Schritt zurück zu Act 9,6. Indem sie die Antiphon der ersten Vesper wiederholt, fokussiert sie den Sprechakt, mit dem Saulus sich dem Willen des Herrn unterstellt: Saulus autem tremens ac stupens dixit ad Iesum domine quid me vis facere ait autem dominus ad eum surge et ingredere civitatem et dicetur tibi quid te oporteat facere (fol. 52r; ‚Saulus aber, zitternd und staunend, sagte zu Jesus: Herr, was willst Du, dass ich tue? Der Herr aber sagte zu ihm: Stehe auf und gehe in die Stadt, und dir wird gesagt werden, was du tun sollst‘). Der Versus zur sechsten Antiphon wiederholt den Text der fünften und lenkt zurück auf die staunenden Begleiter. Die Gesänge, die das erste Psalmengebet rahmen, vergegenwärtigen somit das Bekehrungsgeschehen prozesshaft und führen die Imagination von Saulus als Christenverfolger durch die Christophanie bis zur Unterwerfung unter den Willen des Herrn. Über die Lesung liefert der Quellentyp des Antiphonars keine sicheren Informationen.⁴⁶ Mit Blick auf die Responsorien und Versus, die zu den Abschnitten gesungen werden, ist für die Matutin in Saint-Maur-des-Faussés anzunehmen, dass Abschnitte aus Act 9 sowie aus Schriften von Kirchenlehrern gelesen wurden, die jedoch auch durch die Quellen der Responsorientexte nicht genau einzugrenzen sind. Die Analyse muss sich daher auf die im Antiphonar aufgezeichneten Gesänge beschränken, ohne sie in Relation zum Inhalt der Lesung setzen zu können. Die Lesung erfolgt in Abschnitten, an die anschließend die Responsorien und Versus gesungen werden. Das erste Responsorium (1.1) Saulus adhuc spirans (fol. 52r) kehrt wieder zu Act 9,2 und dem Drohung und Mord schnaubenden Saulus (Antiphon 1.1) zurück. Der zugehörige Versus Ibat igitur variiert dessen Wüten (s. o., Versus zur Antiphon 1.1). Zum folgenden Abschnitt wird Ibat igitur als Responsorium (1.2) wiederholt, der Versus Per totam Judaeam (s. o., Responsorium und Versus der ersten Vesper) führt das Thema des Christenverfolgers fort. Das folgende Responsorium (1.3) bezieht sich auf den Zweiten Korintherbrief (2 Cor 11,31– 33): Damasci praepositus gentis Aretae regis voluit me comprehendere a fratribus per murum submissus in sporta et sic evasi manus eius in nomine domini; Versus: Deus et pater domini mei Jesu Christi scit quia non mentior (fol. 52r–52v; ‚Als in Damaskus der Statthalter des Königs Areta mich gefangen nehmen wollte, wurde ich von den Brüdern in einem Korb die Mauer
Wo Saulus sich allerdings schon erhebt – er ist in Act 9,4 schon zu Boden gestürzt. Für die Antiphon ist die ‚niederschmetternde‘ Wirkung entscheidend, die mit der Blendung zusammengefasst wird. Im Brevier, das Regina Schiewer herangezogen hat (Klagenfurt, Kärntner Landesarchiv, cod. GV 6/ 7), ist als Lesung für die Messe Act 9,1– 22 vorgesehen, vgl. Regina Schiewer: Die deutsche Predigt um 1200. Ein Handbuch. Berlin/New York 2008, S. 99 f. u. 492. Das Brevier gehört dem 13. Jahrhundert an. Für das Stundengebet der Conversio Pauli wird Act 9,2 als Capitulum angegeben; vgl. ebd., S. 492 u. Anm. 179.
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heruntergelassen und entkam so seinen Händen im Namen des Herrn‘; Versus: ‚Gott und Vater meines Herrn Jesus Christus weiß, dass ich nicht lüge‘). So wird auch das Ende der Erzählung im Selbstzeugnis des Apostels bestätigt. Von diesem Punkt an ändern sich die biblischen Texte, aus denen für die erste Nokturn geschöpft wird, und das Bild des Paulus wird anders gezeichnet. Gesänge, die das Bild des blutrünstigen Saulus malen (Saulus adhuc spirans, Ibat igitur und Per totam Judaeam), kommen in der gesamten Matutin nicht mehr vor. Erst in der zweiten Vesper, am Abend des Festtages, wird die Antiphon Saulus adhuc spirans noch einmal wiederholt. In der Matutin endet die erste Nokturn mit dem Responsorium (1.4): A Christo de caelo vocatus et in terram prostratus ex persecutore effectus est vas electionis et plus omnibus laborans multo latius inter omnes verbi gratia seminavit atque doctrinam evangelicam sua praedicatione complevit (fol. 52v; ‚Von Christus vom Himmel gerufen und auf die Erde gestreckt ist aus dem Verfolger ein erwähltes Werkzeug gemacht worden, und er hat mehr als alle sich mühend und viel weiter unter allen die Worte des Heils ausgesät und die Lehre des Evangeliums durch seine Predigt erfüllt.‘). Der Text ist an Isidors von Sevilla De ortu et obitu patrum (69,118)⁴⁷ angelehnt. Am Schluss der letzten Lesung in der ersten Nokturn der Matutin zieht dieses Responsorium eine Bilanz der Paulusbekehrung in ihrer Bedeutung für die Kirche. Paulus wird unter allen Aposteln, wie zu ergänzen ist, herausgehoben. Dies bekräftigt der Versus (mit Textanleihen aus derselben Quelle): Inter apostolos vocatione novissimus praedicatione primus nomen Christi multarum manifestavit gentium populis (fol. 52v; ‚Unter den Aposteln hat der Letztberufene und der Erste in der Predigt den Namen Christi vielen Völkern offenbart‘). In der zweiten Nokturn der Matutin beginnt das Psalmengebet mit einer Antiphon, die die Betenden wieder in die Ereigniskette der Bekehrungserzählung von Act 9 zurückführt, allerdings nicht zurück an den Anfang, sondern an den Punkt, an dem die memoria in der ersten Nokturn sich mit dem Sprung zur Rettung aus Damaskus vom Geschehensverlauf der Apostelgeschichte entfernt hatte. Die erste Antiphon der zweiten Nokturn hat den Text von Act 9,8 – 9 (2.1): Ad manus autem illum trahentes introduxerunt Damascum et erat tribus diebus non videns et non manducavit neque bibit (fol. 52v; ‚Und ihn an der Hand leitend führten sie ihn nach Damaskus hinein, und es waren drei Tage, in denen er nichts sah und nicht aß oder trank.‘). Der Versus führt noch einen Schritt weiter zurück, zu Saulusʼ Blendung durch die Christophanie – nun nicht ‚stürzend‘, wie im Versus der Antiphon 1.5 Saulus autem cadens (s. o.), sondern nach dem biblischen Text sich erhebend: Surrexit autem Saulus de terra apertisque oculis nihil videbat (fol. 52v; ‚Saulus aber erhob sich von der Erde und sah mit offenen Augen nichts [mehr].‘). Im Zusammenhang von Antiphon und Versus wird das Fasten des Saulus als Bußleistung fassbar, die den Entzug des Sehsinns einschließt.
Isidorus Hispalensis Episcopus: De ortu et obitu patrum qui in scriptura laudibus efferuntur. In: PL 83, Sp. 129 – 156.
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Die Gesänge zum Psalmengebet der zweiten Nokturn führen von hier ab an der Erzählfolge der Apostelgeschichte von der Heilung und Taufe des Paulus durch Hananias bis zum Beginn von Paulusʼ Verkündigung in Damaskus entlang (Act 9,17– 18): Antiphon (2.2): Saule frater dominus misit me Iesus qui apparuit tibi in via qua veniebas ut videas et implearis spiritu sancto; Versus: Et abiit Ananias et introivit in domum et imponens manus dixit (fol. 52v; ‚Saulus, Bruder, der Herr schickt mich, Jesus, der dir auf dem Weg, den du kamst, erschienen ist, damit du siehst und mit dem Heiligen Geist erfüllt wirst‘; Versus: ‚Und Hananias ging fort und trat in das Haus ein, legte ihm die Hände auf und sprach‘); Antiphon (2.3): Sub manu continuo Ananiae ceciderunt squamae ab oculis eius et surgens baptizatus est et accipiens cibum confortatus est; Versus: Fuit autem cum discipulis qui erant Damasci per dies aliquot (fol. 52v–53r; ‚Unter der Berührung durch Hananiasʼ Hand fielen ihm die Schuppen von den Augen, und er stand auf, wurde getauft und nahm Speise zu sich und wurde gekräftigt‘; Versus: ‚Er war aber einige Tage mit den Jüngern aus Damaskus zusammen‘). Auf das (Buß‐)Fasten folgen Reinigung und Taufe, Speisung und Gemeinschaft mit den Jüngern als Kette, in der die Bekehrung des Paulus als Programm für einen spirituellen und sakramentalen Nachvollzug weiter modelliert wird. Die vierte Antiphon und der Versus greifen auf Textmaterial aus Act 9,20 – 21 zurück, um Paulusʼ Predigt und ihre Wirkung zu beschreiben: Antiphon (2.4): Ingressus Paulus in synagoga praedicabat Iudaeis Iesum affirmans quia hic est Christus; Versus: Stupebant autem omnes qui eum audiebant (fol. 53r; ‚In der Synagoge predigte Paulus den Juden über Jesus und bestätigte ihnen, dass dieser Christus ist‘; Versus: ‚Und alle staunten, die ihn hörten‘). Die folgende Antiphon greift den in Act 9,21 folgenden Wortlaut auf, formuliert aber um und ergänzt (2.5): Mirabantur omnes qui audiebant dicentes nonne hic est qui ad hoc venit ut expugnaret nomen eius et in eo glorificabant Iesum; Versus: Disputabat enim cum Graecis et revincebat Judaeos (fol. 53r; ‚Alle staunten, die [ihn] hörten, und sagten: Ist das nicht derselbe, der dafür hergekommen ist, um seinen [Christi] Namen zu bezwingen? Und in ihm priesen sie Jesus.‘; Versus: ‚Er disputierte nämlich mit den Griechen und besiegte die Juden‘). Die letzte Antiphon der zweiten Nokturn bezieht die Predigttätigkeit des Paulus auf seine Bekehrung zurück, indem sie auf die Christophanie anspielt und das ‚Vorher‘ mit dem ‚Nachher‘ kontrastiert. Textliche Grundlage ist der Psalmenkommentar Ps.-Bedas (2.6):⁴⁸ Prostratus est saevissimus persecutor sed erectus est fidelissimus praedicator quos domine verbis edocet de te meritis ducat ad te (fol. 53r; ‚Hingestreckt ist der grimmigste Verfolger, aber aufgerichtet ist der zuverlässigste Prediger, diese, Herr, belehrt er durch Worte von dir und möge durch Verdienste zu dir führen‘). Der Versus Inter apostolos wiederholt den Abschluss der Lesung in der ersten Nokturn (1.4) und bekräftigt erneut den herausragenden Status des Paulus unter den Aposteln. So führen die Gesänge, unter denen das zweite Psalmengebet vollzogen wird, über die
Vgl. [Ps.‐]Beda: De psalmorum libro exegesis. In: Psalmo XLIV. In: PL 93, Sp. 720 A.
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Folge von Fasten, Sakrament und Gemeinschaft zum apostolischen Vorbild des Paulus. Von diesem Punkt, dem Beginn der Lesung der zweiten Nokturn an wird in den Gesängen nur noch sporadisch auf die Apostelgeschichte zurückgegriffen. Damit läuft die prozesshafte Kommemoration des Bekehrungsgeschehens aus, und stattdessen tritt die Bedeutung des Apostels in den Fokus. Das erste Responsorium (2.1) und der Versus beziehen den Text aus dem Zweiten Timotheusbrief (2 Tim 4,8 u. 1,12) und schlagen den Bogen von der Predigt des fidelissimus praedicator zur Heilsgewissheit des heiligen Apostels: Reposita est mihi corona iustitiae quam reddet mihi dominus in illum diem iustus iudex; Versus: Scio cui credidi et certus sum quia potens est depositum meum servare in illum diem (fol. 53r; ‚Die Krone⁴⁹ der Gerechtigkeit ist mir bereitgelegt, die mir der Herr, der gerechte Richter, an jenem Tag geben wird‘; Versus: ‚Ich weiß, an wen ich glaube, und bin sicher, dass er mächtig ist, das mir Beiseite-Gelegte/Anvertraute⁵⁰ bis zu jenem Tag zu bewahren‘). Wenn das zweite Responsorium (2.2: Vade Ananias) noch einmal auf die Apostelgeschichte zurückgreift, genauer: auf die Vision des Hananias, dann um das Thema einzuführen, das von diesem Punkt an beherrschend bleibt: Paulus als das von Gott erwählte Werkzeug (Act 9,15) der Wahrheit, dessen Aufgabe sich in der Verkündigung erfüllt. Das dritte Responsorium (2.3: Ingressus Paulus, s. o.) mit Versus (Stupebant autem omnes, s. o.) kehrt zur Predigt in der Synagoge zurück. Das letzte Responsorium der zweiten Nokturn ruft Paulus als Heiligen und Interzessor an, dessen Heiligkeit durch sein Apostolat gestiftet ist; Resp. 2.4: Sancte Paule apostole praedicator veritatis et doctor gentium intercede pro nobis ad deum qui te elegit; Versus: Ut digni efficiamur gratia dei (fol. 53v; ‚Heiliger Apostel Paulus, Prediger der Wahrheit und Lehrer der Völker, halte Fürsprache für uns bei Gott, der dich auserwählt hat‘; Versus: ‚Damit wir würdig gemacht werden durch die Gnade Gottes‘). Die Gesänge der zweiten Nokturn haben die Betenden somit vom geblendeten Saulus, der an der Hand nach Damaskus geleitet werden muss, zum getauften Paulus, dem erwählten Werkzeug Gottes, geführt, dessen Wirkung in den Synagogen siegreich war und ihm die Krone der Heiligen gesichert hat, sodass er nun als Heilsmittler angerufen werden kann. Die bislang kleinschrittige Analyse kann ich hier abkürzen, denn die dritte Nokturn bleibt ganz bei dem Thema des vas electionis. Nur noch unter einer Antiphon, die den göttlich bewirkten Umschwung vom Verfolger zum Prediger und vas electionis zusammenfasst (A Christo de caelo; s. Resp. 1.4) mit dem Versus Prostatus est saevissimus persecutor (s. Antiphon 2.6), werden die Psalmen gebetet. Auch die folgenden Responsorien und Versus zur Lesung feiern das vas electionis und den doctor egregie dei. Den Abschluss bildet das Responsorium Celebremus conversionem sancti Pauli (3.4), welches das Invitatorium zur Matutin wieder aufnimmt und
Die einschlägigen Übersetzungen übertragen corona mit (Sieger‐)Kranz; ich übersetze mit ‚Krone‘, da dies vermutlich näher bei der mittelalterlichen Imagination des Jüngsten Gerichts liegt. Die Krone bewahrt Gott; sie nicht zu verlieren, ist Paulus anvertraut.
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so den Rahmen schließt, mit einem Versus, der die irdische Liturgie mit der himmlischen verbindet: Gaudent angeli et exsultant archangeli et collaudant in caelis filium dei (fol. 54r; ‚Die Engel freuen sich und die Erzengel jubeln und preisen in den Himmeln den Sohn Gottes‘). Die Analyse der Matutin des Offiziums zur Conversio Pauli in Saint-Maur hat ergeben, dass dieses in bewusster Auswahl der textlichen Bezüge den ‚Weg‘ der Konversion, der in Act 9 erzählt wird, auf den zeitlichen Verlauf der Hore umlegt. Die memoria der Bekehrung des Paulus evoziert in besonderer Ausführlichkeit das Wüten des Verfolgers Saulus in der ersten Nokturn, das ihn nach Damaskus führt, und seine Unterwerfung unter den göttlichen Willen in der Christophanie. In der zweiten Nokturn vollziehen die Mönche nach, wie in Damaskus der blinde, büßende Paulus durch Hananias Heilung, Taufe und die Botschaft der Berufung erhält, in die Gemeinschaft der Jünger aufgenommen wird und seinen ‚Siegeszug‘ als Prediger beginnt. Die dritte Nokturn feiert den heiligen Apostel als erwähltes Werkzeug und Lehrer. Mittels der liturgischen Gesänge wird die Konversion in einem zwar retardierenden und mitunter diskontinuierlichen, aber dennoch prozesshaften Verlauf für einen erinnernden Mitvollzug aufbereitet und für eine weitergehende spirituelle (und in der Buße auch sakramentale) imitatio modelliert. Neben dieser prozessualen Struktur, die Act 9 gleichsam nachempfindet, steht die immer wieder erneuerte Erinnerung an die innere Wende in der Kontrastierung des Verfolgers mit dem Prediger, verdichtet im Bild des zu Boden gestreckten Saulus und dem Staunen über seine Wandlung. Der Wendepunkt, der hier isoliert wird, ist keine Richtungsänderung auf einem Weg, sondern wird raumstrukturell über die Opposition von oben und unten codiert, als Tiefpunkt, den Saulus durchläuft, um den Himmel zu erreichen. Die Konversion wird in der rituellen Einübung in der Matutin als Unterwerfung und Verzicht fassbar, die schließlich eine neue Sicht auf Weg und Ziel freigeben.
III Während die Pauluskonversion im Stundengebet intensiv über eine längere Zeitstrecke kommemoriert wird, wird sie in der volkssprachigen Predigt – teils verdichtet – wiedererzählt, sodass die Frage nach dem Weg- und dem Wendepunkt-Modell auf der Ebene narrativer Organisation verfolgt werden kann. Die hier betrachteten volkssprachigen Predigttexte, sämtlich aus der Leipziger Sammlung (Morvay/Grube T 17)⁵¹, sind Musterpredigten, die Aufschluss darüber geben, auf welche Weise Informationen aus dem Prätext für diesen pragmatischen Rahmen ausgewählt und thematisch fokussiert werden, um Anschlussmöglichkeiten für die Hörer zu schaffen. In Predigten
Karin Morvay, Dagmar Grube: Bibliographie der deutschen Predigt des Mittelalters. Veröffentlichte Predigten. Hrsg. von der Forschungsstelle für Deutsche Prosa des Mittelalters am Seminar für Deutsche Philologie der Universität Würzburg unter der Leitung von Kurt Ruh. München 1974 (MTU. 47), S. 13 – 15.
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lässt sich besonders prägnant erkennen, wie die religiöse Konversion des Paulus moralisch umbesetzt wird: sente Paulus gibt den trost die sich von gote sundern die wile sie sint in der werlde, daz si sich bekern und niht zu sere missetrwen von den snden die sie haben getan (T 17, 64, Nr. 218, S. 337, Z. 5 – 7; ‚Sankt Paulus gibt denen Hoffnung, die sich von Gott getrennt haben, damit sie, solange sie noch in der Welt sind, sich bekehren und nicht das Vertrauen [auf Vergebung] verlieren wegen der Sünden, die sie begangen haben‘).⁵² Die Leipziger Sammlung bietet zwei Alternativen an, wie zur Conversio Pauli gepredigt werden kann.⁵³ Eine lange Predigt (T 17, 60, S. 81– 84)⁵⁴ gibt über die Episode der Act 9 hinaus die gesamte Vita des Apostels mit einer gerafften Darstellung des Martyriums wieder. Auffallend ist eine längere Passage, in der zur Sendung des Saulus nach Damaskus die alttestamentliche Geschichte der Stadt behandelt wird, ausgehend vom Mord Kains an Abel, der dort stattgefunden haben soll. An dieser geschichtsträchtigen Stätte, so scheint es, ereilt Saulus seine Vision: Do sente paulus dar quam vol bi mit dem belen willen. daz er die cristenheit vahn wolde. do erschein vber in als ein blich vnd slch in dar nider (T 17, 60, S. 82, Z. 26 – 28; ‚Als Sankt Paulus dorthin kam, ganz erfüllt mit der bösen Absicht, dass er die Christen gefangen nehmen wollte, da leuchtete es über ihm wie ein Blitz und warf ihn nieder‘). Erst in der Vision wird durch die Weisung Christi klargestellt, dass Saulus noch in die Stadt hineingehen muss (gank in die stat zv damasch; T 17, 60, S. 82, Z. 40). Das Wort vom Stachel, gegen den Saulus ausschlägt,⁵⁵ wird ausführlich erklärt: da mit bezeichent vnser herre got daz swie vil der ochse so er gebeizit ist vnder daz ioch vf slahe ern mach sich des niht erweren. der in da meinit. erne stech in also dicke als er wil. also tGt vnser herre got der ober vns sitzet der sleht vns als dicke so iz ime gevellet. swie vil wir vf geslahn. swie vil wir geringen wider sine hulde. (T 17, 60, S. 82, Z. 33 – 38) Damit bezeichnet unser Herr Gott Folgendes: Wieviel der Ochse, wenn er unter das Joch gespannt ist, auch ausschlägt, er kann sich doch desjenigen nicht erwehren, der es da auf ihn abgesehen hat, wenn er ihn sticht sooft er will. Genauso verfährt unser Herr Gott, der über uns thront: Er schlägt uns sooft es ihm gefällt, wieviel wir auch ausschlagen und wie sehr wir auch gegen seine Gnade ankämpfen.
Mit dieser Erklärung wird nun die Blendung durch die Vision in der Tat als Strafe aufgefasst: Gott züchtigt uns in seiner Liebe mit Schlägen, und so zwingt er Saulus erst einmal zum Gehorsam, wenn er sich auf Gottes Geheiß blind in die Stadt führen lässt und dort fastet. Erst die Taufe markiert den Umschwung: e [sic!] hiez er saulus. sieder
Altdeutsche Predigten. Hrsg. von Anton E. Schönbach. Bd. 1. Graz 1886. Übersetzungen aller mittelhochdeutschen Zitate von mir, hier mit von Schönbach abweichender Interpunktion. Vgl. zu weiteren Conversio Pauli-Predigten Schiewer (Anm. 46), S. 492– 494. Deutsche Predigten des 13. und 14. Jahrhunderts. Hrsg. von Hermann Leyser. Quedlinburg/Leipzig 1838 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit. 11.2). Die bei Leyser typographisch differenzierten s/z-Varianten werden hier nicht wiedergegeben. Es ist hier in die Erzählung nach Act 9 einbezogen, siehe dazu Anm. 18.
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wart er genant Paulus. ê was er ein reisiger wolf. sider was er ein mildez schaf. ê was er ein echtere vnd ein anevechtere der cristenheit. sieder wart er ein lerere vnd ein beschirmere der cristenheit. Alsus tt vnser herre got swas er wil (T 17, 60, S. 83, Z. 17– 21; ‚Zuvor hieß er Saulus, danach wurde er Paulus genannt. Zuvor war er ein gieriger Wolf, danach war er ein sanftes Schaf. Zuvor war er ein Verfolger und Feind der Christen, danach war er ein Lehrer und Beschützer der Christen. Auf diese Weise tut unser Herr Gott, was immer er will‘). Obwohl hier das ‚Weg als Prozess‘-Schema deutlich ausgeprägt ist, indem Vision und Taufe in Beziehung gesetzt werden, erhält es in der Predigt eine andere Akzentuierung. Paulus’ Wandlung wird transparent gemacht auf den Prozess von Erkenntnis, Buße und Vergebung. Die innere Konversion, der Wendepunkt tritt hervor. Entsprechend erzählt die Predigt nichts von der Rückkehr nach Jerusalem. Die Topologie des Bekehrungswerks ist wichtiger: Paulus’ Aufbruch nach Griechenland wird unmittelbar angeschlossen und seine dortigen Wirkungsstätten werden aufgezählt (T 17, 60, S. 83, Z. 24– 28). Die zweite Predigt der Leipziger Sammlung zur Conversio Pauli ist eine Kurzpredigt (T 17, 64, Nr. 180). Sie isoliert die Episode der Konversion und reduziert dabei Act 9,1– 22 stark: von deme lese[n] wir daz er an vacht die christenheit und die christen namen hatten also lange biz in got eines tagis, do er wolde varn zu Damasco vahn und binden alle die an Crist geloubtin, do erblant in got an den ougen des lichnamen, daz er wurde gesehende mit den ougen des herzin. do in die gotis stimme strafete daz er unrechte vGre, do bekart er sich und wart getouft und wart ein predigere der e was ein echtere. (T 17, 64, Nr. 180, S. 281, Z. 13 – 20)⁵⁶ Von dem lesen wir, dass er die Christen und die, die sich Christen nannten, so lange verfolgte, bis ihn Gott eines Tages, als er nach Damaskus gehen wollte, um alle gefangen zu nehmen und in Fesseln zu legen, die an Christus glaubten, an den Augen des Leibes blendete, damit er mit den Augen des Herzens sehend würde. Als ihn die Stimme Gottes schalt, dass er unrecht handeln würde, da bekehrte er sich und wurde getauft und wurde ein Prediger, der zuvor ein Verfolger gewesen war.
Dieses Minimalnarrativ schrumpft die Wegstruktur auf ein inneres Geschehen (er wolde varn – ougen des herzin – do bekart er sich).⁵⁷ Dieses wird zwar noch mit Damaskus verknüpft, aber nun nur noch im Sinne eines gedächtnisstützenden Topos statt als Ort in einem raumstrukturell vermittelten Prozess. Ob sich die Konversion ‚in Damaskus‘ oder nur ‚in Bezug auf Damaskus‘ vollzieht, ist nicht von Belang. Je weniger räumliche Konkretion gegeben wird, desto mehr öffnet sich die Pauluskonver Das Zitat umfasst beinahe die gesamte Predigt. Zur Semantik von bekêren vgl. Matthias Rein: Conversio deutsch. Studien zur Geschichte von Wort und Konzept ‚bekehren‘ insbesondere in der deutschen Sprache des Mittelalters. Göttingen 2012 (Historische Semantik. 16); zu Predigten außerhalb der Mystik vgl. hier S. 329 – 358; die Leipziger Predigten werden nicht behandelt. Zur Erweiterung auf eine ‚Verhaltenssemantik‘ siehe auch Wolfgang Haubrichs: Bekennen und Bekehren (confessio und conversio). Probleme einer historischen Begriffsund Verhaltenssemantik im zwölften Jahrhundert. In: Aspekte des 12. Jahrhunderts. Freisinger Kolloquium 1998. Hrsg. von dems., Eckart C. Lutz, Gisela Vollmann-Profe. Berlin 2000 (WS 16), S. 121– 156.
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sion der Nachahmung: Nu sule wir in an rufen daz er uns helfe, daz wir uns bekern von allin unsern sunden und sine stimme horn des er da horte, und im also nach volgen dem er nach volgte, Jhesum Christum dominum (T 17, 64, Nr. 180, S. 281, Z. 20 – 23; ‚Jetzt sollen wir ihn anrufen, dass er uns helfen möge, sodass wir uns bekehren von allen unseren Sünden und die Stimme dessen hören, den er dort hörte und ihm auf diese Weise folgen, dem er nachfolgte, Jesus Christus dem Herrn‘). Damaskus soll also für jeden und überall sein. So komprimiert ist aus der komplexen Mehrfacherzählung der Konversion in der Apostelgeschichte ein einfaches Wende-Narrativ geworden, das ins kulturelle Gedächtnis eingehen wird.
Bruno Quast
Was eigentlich geschieht Verkündigung an Maria in bibelepischem Erzählen um 1200 zwischen charismatischer conversio und höfischer Werbung Die lukanische Verkündigungserzählung (Lc 1,26 – 38) der Bibel orientiert sich in formästhetischer Hinsicht bekanntermaßen an den Berufungsgeschichten des Alten Testaments.¹ Dort ergeht das Wort des Herrn an einen Propheten, der mit einem Verkündigungsauftrag versehen wird. Die Beauftragung indes läuft nicht ohne Widerstände des Berufenen ab. Innere Zweifel an der Geeignetheit für das göttlich oktroyierte Amt stehen dem Auftrag entgegen. Doch schließlich fügt sich der Berufene in sein Schicksal. In der lukanischen Verkündigungsgeschichte bewirkt der Gruß des Engels bei Maria zunächst ein Erschrecken. Der alttestamentliche Verkündigungsauftrag wird hier ersetzt durch die Ankündigung des Engels, Maria werde schwanger und einen Sohn gebären. Wie in den alttestamentlichen Berufungsgeschichten erhebt Maria eine Art Einwand: Wie das geschehen solle, da sie von keinem Mann wisse. Der Engel setzt zweifach an, Maria in das große Geheimnis einzuweihen, gilt es doch, ihre Zustimmung zu gewinnen. Zunächst wird ihr eröffnet, dass die Zeugung durch den Heiligen Geist erfolge. Und als ob diese Erklärung nicht ausreiche, führt der Engel exemplarisch die Verwandte Elisabeth an, unfruchtbar aufgrund ihres Alters, die einen Sohn erwarte. Maria gibt sich ob der Rede des Engels überzeugt, sie willigt in die Berufung ein: ecce ancilla Domini fiat mihi secundum verbum tuum (Lc 1,38)². Die apokryphen Kindheitserzählungen – hier insbesondre das Protevangelium des Jakobus und das Pseudo-Matthäusevangelium – erweitern die Verkündigungsgeschichte um eine erste Verkündigung am Brunnen, der sich dann die eigentliche Verkündigung, die in der Regel in einem abgeschlossenen Raum stattfindet, nahtlos anschließt. Letztere erfolgt bei unterschiedlicher Akzentuierung des Modus der Empfängnis – einmal durch das göttliche Wort, ein anderes Mal durch den Heiligen Geist – auch in den apokryphen Evangelien im Dreischritt von Auftrag, Widerstand in Form von Zweifel und schließlich Ergebung. Die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts anschwellende volkssprachliche Literaturproduktion schreckt vor einem Wiedererzählen biblischer Geschichten keineswegs zurück. Die Dignität des heiligen Textes steht einem erneuten Erzählen nicht im Weg. Das Erzählen der Bibel in der Volkssprache kann vielmehr an Traditionen seit der Karolingerzeit anknüpfen. Schon bei Otfrid von Weissenburg findet sich eine ausformulierte Reflexion auf die Würde der Volkssprache, die als Medium der Ver-
Vgl. Werner H. Schmidt: Einführung in das Alte Testament. 3. Aufl. Berlin/New York 1995, S. 182 f. ‚Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe nach deinem Wort!‘ – Die Vulgata wird fortlaufend zitiert nach: Biblia sacra vulgata. Hrsg. von Robert Weber/Roger Gryson. 5. Aufl. Stuttgart 2007. https://doi.org/10.1515/9783110706093-009
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kündigung ihren Platz selbstbewusst in der Reihe der heiligen Sprachen beansprucht.³ Das Marienleben des Priester Wernher, Driu liet von der maget,⁴ und die Kindheit Jesu des Konrad von Fußesbrunnen,⁵ eine erzählerische Adapation des apokryphen Pseudo-Matthäusevangeliums, bieten zwei Verkündigungserzählungen, die nahelegen, dass beide Texte offenbar unterschiedlichen Milieus zugewiesen werden können. Die Art, wie die Verkündigung an Maria erzählerisch inszeniert wird, gibt Aufschluss über die Herkunft dieser Erzählungen, ohne dass damit eine Einschränkung des intendierten Wirkradius vorgenommen werden könnte. Das Konzept von den zwei Kulturen, der geistlich-klerikalen und der höfischen Kultur, die sich im 12./13. Jahrhundert gegenüberstünden, gilt wissenschaftsgeschichtlich zu Recht als verabschiedet.⁶ Zu sehr hat man es beim Erzählen mit Überlagerungen und sich gegenseitig durchdringenden Konnotationsräumen höfisch/geistlicher Kulturen zu tun, um das dichotomische Konstrukt von den zwei Kulturen fortzuschreiben. Dennoch lassen sich im höfisch/geistlichen Erzählen um 1200 distinkte kulturelle Muster aufweisen, die man dann doch eher geneigt ist, gesonderten Herkunftskulturen zuschreiben zu wollen. Man muss sich also hüten, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Die Verkündigungsepisode des Wernher’schen Marienlebens scheint einem charismatischen Modell der Berufung zu folgen, wie man es in Lebensbeschreibungen weithin berühmter Theologen des 12. Jahrhunderts findet.⁷ Berufung gestaltet sich hier als Prozess einer mehrphasigen conversio. Im Unterschied zu diesem charismatischen Modell der Berufung, das insbesondere das innere Ringen des Berufenen ins Zentrum rückt, könnte man im Fall der Kindheit Jesu von einem höfischen Modell der Verkündigung sprechen, in dem die Institution der huote und damit einhergehend vor allem die Aufrechterhaltung der männlichen Ehre Josephs als regulativer Deutungsrahmen die Regie führt. Wenn hier Zweifel ausgeräumt werden müssen, dann sind es weniger Marias Zweifel an ihrer Berufung als die Zweifel Josephs an der sexuellen Otfrids Evangelienbuch. Hrsg. von Oskar Erdmann. 6. Aufl., besorgt von Ludwig Wolff. Tübingen 1973 (ATB. 49), I,1,119 – 122. Priester Wernhers Maria. Bruchstücke und Umarbeitungen. Hrsg. von Carl Wesle. Halle a. d. Saale 1927 (ATB. 26). Im Text wird fortlaufend nach dieser Ausgabe zitiert. Abkürzungen werden stillschweigend aufgelöst. – Zum Titel: Hans-Joachim Ziegeler: Das Urteil Salomos. Reflexion von Geschichte in Text und Bild der illustrierten Handschrift von Priester Wernhers Driu liet von der maget (Berlin/Krakau mgo 109). In: Inkulturation. Strategien bibelepischen Schreibens in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Bruno Quast/Susanne Spreckelmeier. Unter Mitarbeit von Fridtjof Bigalke. Berlin/Boston 2017 (LTG. 12), S. 109 – 152, hier S. 109, Anm. 1. Konrad von Fussesbrunnen: Die Kindheit Jesu. Kritische Ausgabe von Hans Fromm und Klaus Grubmüller. Berlin/New York 1973. Fortlaufend im Text zitiert: KJ. Es sei hier nur an die Studie von C. Stephen Jaeger: Die Entstehung höfischer Kultur. Vom höfischen Bischof zum höfischen Ritter. Berlin 2001 (Philologische Studien und Quellen. 167) und die sich daran breit anschließende Diskussion erinnert. Vgl. hierzu grundlegende Überlegungen bei Christel Meier: Krise und Conversio. Grenzerfahrungen in der biographischen Literatur des Hochmittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 50 (2016), S. 21– 44.
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Enthaltsamkeit seiner ihm anvertrauten Frau. Bei aller prinzipiellen Verfügbarkeit biblischer Geschichten offeriert das Wiedererzählen, so steht zu vermuten, kulturspezifische Deutungsangebote. Die potenzielle Identitätsbildung, die vom Wiedererzählen biblischer Texte ausgeht, gründet dabei offenbar nicht in erster Linie in den biblischen Stoffen, sondern eher in den jeweiligen kulturellen Deutungsmustern, den kulturellen Rahmungen, die das inkulturierende Wiedererzählen organisieren.
I Das charismatische Modell Berufungsgeschichten von visionären Theologen des 12. Jahrhunderts, damit sind legitimierende Erzählungen von lebensgeschichtlichen Krisen gemeint, münden in ein neues Rollenverständnis der Protagonisten, das des „geistinspirierten Visionärs“.⁸ Die Erzählungen folgen einem dreiphasigen Schema der conversio, wie es sich auch in den mittelalterlichen theoretischen Grundlegungen zur Konversion beschrieben findet. Die conversio, wie sie etwa von Rupert von Deutz und Hildegard von Bingen erzählt wird, ist also keineswegs von Plötzlichkeit geprägt, wie sie in der Darstellung des paulinischen Damaskuserlebnisses (Act 9,3 f.) nahegelegt wird. Beide sind bereits von Kindesbeinen an Klosterangehörige, sie „bedurften der Umkehr nicht“.⁹ Bei diesen Konversionerzählungen handelt es sich um Berufungsgeschichten, die der im Laufe des Lebens neu eingenommenen Rolle des geistinspirierten Autors göttliche Autorisierung verleihen sollen. Das sich theoretisch und in den Lebenserzählungen der hier genannten Autoren auch praktisch niederschlagende conversio-Modell kennt – wie das Berufungsmodell des Alten Testaments – drei Phasen. Auf eine Vorbereitungsphase des Rückzugs, der „Umkehr aus der Welt zu sich selbst“, folgt eine zweite Phase, die „Fortschritt in der Erkenntnis“ mit sich bringt, zugleich mit „Anstrengung und Prüfungen“ verbunden ist. In einer dritten Phase stellt sich „Lohn und Ruhe, Kontemplation und Gottesschau“ ein.¹⁰ Das conversio-Modell unterscheidet sich von dem der Berufung, wie es im Alten Testament zu greifen ist. Neben dem Moment noologischer Zentrierung tritt beim conversio-Modell im Unterschied zum alttestamentlichen Berufungsschema in der dritten Phase eine innere Ruhe ein. Es steht zu vermuten, dass die Verkündigungsdarstellung durch den Priester Wernher der Dreiphasigkeit einer conversio verpflichtet ist.¹¹ Nach der Vorverkündi-
Ebd., S. 43. Ebd., S. 37. Ebd., S. 42. Die Analyse bezieht sich im Wesentlichen auf den Text der um 1230 entstandenen Handschrift D. Zur Handschrift D: Nikolaus Henkel: Lesen in Bild und Text. Die ehem. Berliner Bilderhandschrift von Priester Wernhers ‚Maria‘. Berlin/Boston 2014. – Hans Fromm: Untersuchungen zum Marienleben des Priesters Wernher. Turku 1955, S. 85, gliedert die „eigentliche Verkündigung“ in drei Abschnitte: „I. Significatio, II. Annunciatio, III. Significatio“, die mit der hier vorgeschlagenen Dreiphasigkeit nicht deckungsgleich sind.
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gung am Brunnen¹² zieht sich Maria in ihre Kemenate zurück, um mit suzzem werche (D 2402) fortzufahren, der ihr durch das Los zugewiesenen Arbeit am Tempelvorhang. Diesen Rückzug in die Kemenate, die erste Phase, die mit der Arbeit am Tempelvorhang verbunden ist, kann man als Vorbereitung der Verkündigung verstehen. Die eigentliche Berufung wird mit dem Eintreffen des Engels eingeleitet, der bei Maria Sorge und Furcht auslöst, beides Kennzeichen der zweiten conversio-Phase. Der Glanz des eintretenden Engels ruft bei Maria Verwunderung und Erschrecken hervor, sodass sie ihre Webarbeit aus den Händen gleiten lässt. Der Erzähler deutet dieses Verhalten als Sorge der Maria. Der Engel verschafft ihr Abhilfe mit seinem Gruß: der sorgen er ir gebuzte (D 2415). Er teilt ihr mit, dass Gott von ihr geboren werden wolle. Im Himmel erwarte sie das Brautbett: du scholt ze brutbette gan / in dem himele obene (D 2428 f.). Als Reaktion auf diese Botschaft setzt ein Prozess des Nachdenkens ein, der sich körperlich im Senken der Augen niederschlägt: Div maget begunde denchen, / div ovgen nider senchen (D 2431 f.) Maria überlegt, was es mit dem Gruß auf sich habe. Trauer bemächtigt sich ihrer: trurik stunt div gewæ̂ re (D 2436). Wie der Engel zuvor der Sorge der Maria mit der Ankündigung der Gottesgeburt begegnet, so nun der Trauer mit Trost: der engil trost sie aue sa: / din sorgen du uerla, / beste aller wibe! (D 2437– 2439) Er erneuert die Botschaft, sie solle der Welt einen Sohn gebären, den Heiland. Diese erneute Botschaft bewirkt bei ihr, dass die Furcht weicht, Zuversicht sich einstellt: Div maget die vorhte uerlie, / einen guten mæůt sie geuie (D 2447 f.). Doch noch sind die sich in Maria regenden Bedenken offenbar an kein Ende gekommen. Die anfängliche Sorge meldet sich zurück. Indem sie sich die eigene Jungfräulichkeit vor Augen führt – ir selber kivsche sie ansach (D 2449) –, erbittet sie vom Engel Aufklärung darüber, wie sie als Jungfrau ein Kind gebären solle. Die Liebe zu einem Mann, ein Mann als Gefährte seien ihr unbekannt, sie habe sich dagegen bislang zur Wehr gesetzt. Woher ihr denn der Sohn kommen solle? Der Engel wertet diese Nachfrage als Zweifel. Ihn gilt es zu überwinden: du scholt neheines zwivels pflegen (D 2463). Der Engel begegnet dem Zweifel der Maria, indem er den Modus des göttlichen Beiwohnens konkretisiert: Mit dem Tau seines Geistes werde er Maria beschatten – mit sines geistes twe / bescâtewet er dih frwe (D 2471 f.).¹³ Schon vor der Erschaffung der Welt sei dieser Plan gefasst worden. Nachdem diese Rede ergangen ist, heißt es beim Priester Wernher, wird sie ergriffen (div fre wart beuangen; D 2482), und sie wird, mit Act 2,4 formuliert,¹⁴ erfüllt mit rechtem Glauben (vnt erzunte mit rehtem glben; D 2483). Die Fassung D gestaltet die Begnadung prozessual, A dagegen verdichtet: div vrowe wart enzundet / mit rehtem gelouben – ‚die Herrin wurde mit rechtem Glauben erfüllt‘ (A 2204 f.). Der Heilige Geist als Akteur und darüber hinaus die Formulierung
Vgl. zur zweifachen Verkündigung beim Priester Wernher Bruno Quast: Differentielle Verkündigung. Säkularisierung als Effekt in Priester Wernhers Maria. In: Literarische Säkularisierung im Mittelalter. Hrsg. von Susanne Köbele/Bruno Quast. Berlin 2014 (LTG. 4), S. 311– 327. Hier liegt eine typologische Anspielung auf Is 45,8 vor: rorate caeli desuper et nubes pluant iustum (‚Taut, ihr Himmel, von oben, ihr Wolken, lasst Gerechtigkeit regnen‘). et repleti sunt omnes Spiritu Sancto (‚Und sie wurden alle mit dem heiligen Geist erfüllt‘).
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vom Entflammen (erzunte mit rehtem glben) rufen die pfingstlichen Zungen wie von Feuer (Act 2,3) in Erinnerung. Mit diesem Glauben, der Maria erfüllt, wird die dritte Phase der Berufung eingeläutet, die eigentliche pneumatische Begnadung. Jetzt erst erhebt Maria die Augen: ufhub sie div gen (D 2484), ihr Glaube erweist sich nunmehr als fest: ir gedinge was so ueste (D 2486). Im Unterschied zur Zuversicht (guoter můt; vgl. D 2448), die sich bei ihr zuvor schon eingestellt hat, aber von Zweifeln erneut überschattet wird, hat sich jetzt unumstößliche Gewissheit in ihr breit gemacht. Demütig entgegnet sie dem Engel, dass ihr nach seinem Wort geschehen solle: ‚got gnade mir, der gůte. / als ich dih herre hore iehen, / also můze mir geschehen‘ (D 2488 – 2490). Sie fährt fort, indem sie für den Engel ewigen Lohn von Gott erbittet, der ihn zu ihr gesandt und der ihr Herz erkannt habe – vnt min herze erkante (D 2494). Die Rede vom Erkennen des Herzens schließt an das erste Menschenpaar der Genesis an: Adam vero cognovit Havam uxorem suam quae concepit (Gn 4,1).¹⁵ Denn auch hier bei Maria führt das Erkennen, das Erkennen des Herzens, zur Schwangerschaft. Der Erzähler notiert, auf den Glauben zurückgreifend: uon des glben samen / wart sie zehante swanger – ‚vom Samen des Glaubens wurde sie auf der Stelle schwanger‘ (D 2496 f.). Auch wenn sie Jungfrau ist und bleibt, kann die Schwangerschaft nicht ohne Samen herbeigeführt werden, und sei es den bildlich in Anschlag gebrachten Samen des Glaubens. Die Erwähnung des Samens könnte man als zwingenden Hinweis auf die menschliche Natur des Gottessohnes deuten, der von Maria empfangen und zur Welt gebracht wird. Das pneumatische Ergriffenwerden geht mit der Verschlossenheit des jungfräulichen Körpers einher, diese ist konstitutiv für ein christliches Verständnis von Jungfräulichkeit. Der Modus der Öffnung für den göttlichen Geist spielt beim Priester Wernher hier keine Rolle. Der lakonisch gefassten Erzählernotiz vom Samen des Glaubens schließt sich eine doxologisch gehaltene, den Resonanzraum der höfischen Welt zum Klingen bringende Passage an, die nicht zuletzt die Paradoxien der jungfräulichen Empfängnis ausstellt. Der Höchste, die Enge suchend, die Weite dennoch nicht verlassend (der wîte er niht uerlie, / do er zu der enge gie; D 2505 f.), habe in Maria ein Zelt aufgeschlagen. Als diese ihn empfangen habe, sei es jedoch zu keiner körperlichen Vereinigung gekommen: der suchte im ein chleine stat: dar hat er sin gecelt gesat, vnt wart doh geminnert nîe, da in div gGte enpfie (D 2509 – 2512)
Hier ist neben der alttestamentlichen Vorstellung vom Zelt der Zusammenkunft, der ‚Wohnstätte‘ Gottes während der Wüstenwanderung der Israeliten (Ex 33,7– 11) – auch – das Zelt als Liebesgabe und Ort der höfischen Minne aufgerufen. Die doxologische Passage greift im Weiteren die ubiquitäre Vorstellung von der Heilsgeschichte als der eines Kampfes zwischen Gott und Satan auf, wenn davon die Rede ist, dass Gott ‚Adam erkannte Eva, seine Frau, und sie wurde schwanger.‘
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sich um des menschlichen Geschlechts willen eine fleischliche Rüstung angelegt habe (fleiskliche brunne; D 2521), um nah champfes site (D 2523) den Feind zu bekämpfen.¹⁶ Eine kosmologische Deutung, die sich anschließt, rundet die doxologische Einlassung ab, sie sorgt erneut für eine Weitung der Perspektive. Der Himmel habe sich zur Erde geneigt – da wart der himel genæiget, / als vns div scrift zæiget, / zů der erde (D 2525 – 2527),¹⁷ als Maria die Gottheit mit jungfräulichem Körper umfangen habe: do in unser fre umbevie / mit mæitwesentem libe (D 2528 f.). Die apokryph vorgezeichnete Geschichte des Josef im Zusammenhang der Verkündigung an Maria wird beim Priester Wernher wie die Berufung der Maria als Wendegeschichte erzählt. Sie spannt sich auf zwischen unterstelltem Gesinnungswandel der Maria und einer final göttlich verfügten Wende des Josef, die ihren Niederschlag in einer Geste der reumütigen Umkehr findet. Im Unterschied zur Berufung Mariens als Gottesgebärerin wird die Wende Josefs explizit als solche bezeichnet. Josef bezichtigt die schwangere Maria, ihre tugendhafte Gesinnung preisgegeben, ja verkehrt zu haben. Seine Sorgen und Ängste werden schließlich durch den Trost des Engels vertrieben. Nach neun Monaten Abwesenheit kehrt der Gemahl der Maria nach Nazareth zurück und findet dort seine ihm Anvertraute schwanger vor. Er wähnt Verrat. Die Maria zur Aufsicht beigesellten geistlichen Jungfrauen beteuern, einen Schwur ablegend, ihre Unschuld: Weder habe sich ihr ein Mann genähert, noch habe sie jemals Interesse gehabt, das Haus zu verlassen. Sie wissen nichts von einem Wandel ihrer Herrin: sîene mohten an ir niht wandels wizzen (D 3003). Doch können diese Beteuerungen Josefs Kummer kaum mindern, im Gegenteil. Er wirft ihnen List vor (uppîge list; D 3016), er werde an der Nase herumgeführt. Angesichts der zu erwartenden öffentlichen Schande wünscht er sich den Tod. Die Jungfrauen entgegnen, er solle warten, bis Gott die Angst wende und seinen Trost sende (untze daz got din angest wende / vnt dir sinen trost sende; D 3053 f.). Sie versichern ihm bei ihrem Leben, dass bis auf den Engel, der ihr häufiger erschienen sei, kein Mann unter Marias Augen getreten sei. Mit ihm habe sie häufig gesprochen, an seinem lichten Anblick sich erfreut. Das Wunder, das geschehen sei, komme uon des engels rat (D 3073), sei auf die Botschaft des Engels zurückzuführen. Damit wird Josefs Zorn erst recht angestachelt: Es sei ein verruchter Mann und nicht der rat eines Engels gewesen, der die Jungfrauen hinters Licht geführt habe. Dieser habe sich aus der Stadt hereingeschlichen. Aufgrund seines törichten Ansinnens habe Maria ihre Gesinnung geändert: uon siner tumplicher bete / hat sie ir mut uercheret (D 3082 f.). Er entschließt sich, Maria und die Jungfrauen zu verlassen – er sprah, er muse entwichen (D 3090). Des Nachts, bei Mondschein, beabsichtigt er aufzubrechen. Noch bevor es dazu kommt, sucht ihn ein Engel in einer Kemenate auf, in der er auf dem Bett liegt. Von einer Erscheinung im Traum ist beim Priester Wernher keine Rede. Er bringt ihm den Trost des Schöpfers Bei dieser Formulierung handelt es sich um eine inkarnationstheologisch gewendete Anspielung auf Eph 6,11: induite vos arma Dei ut possitis stare adversus insidias diaboli (‚Zieht die Waffenrüstung Gottes an, um den Anschlägen des Teufels zu widerstehen‘). Vgl. Ps 17,10: inclinavit caelos et descendit (‚Er neigte den Himmel und fuhr herab‘).
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(din schepfære dir den trost git; D 3124), fragt, wohin er sich aufmachen wolle, und gebietet ihm, zu seiner Braut zurückzukehren. Das Geheimnis ihrer Schwangerschaft rühre vom heiligen Geist her – daz scholtu wol gelben, / daz allez ir tgen / von dem heiligen geiste chumet. (D 3133 – 3135). Die Botschaft des Engels bewirkt die Wende, Freude tritt an die Stelle der Sorgen: sin froͮde wart erhaben, / sin herze sa entladen / uon sorgen die er hæte (D 3159 – 3161). Die göttlich bewirkte Wende findet ihre adäquate Umsetzung in einer Geste der Umkehr. Umgehend wirft sich Josef Maria bußfertig zu Füßen. Er bereut seine Sünde (min sunde stan ze rivwe; D 3165), sie der Untreue – missetrivwe (D 3166) – bezichtigt zu haben.
II conversio, ins Bild gesetzt Die mit Illustrationen versehene Handschrift D der Driu liet von der maget ¹⁸ bietet eine Miniatur der Verkündigungsszene, die die Berufung der Maria buchstäblich als conversio in Szene setzt. Maria wendet sich dem Engel mit aufgerichtetem Oberkörper und geöffneten Augen zu, indem sie sich von ihrer alten Beschäftigung, der Handarbeit am Tempelvorhang, abwendet. Ihre Füße sind noch auf die Wollknäuel ausgerichtet, der Oberkörper richtet sich nach dem Engel aus. Die Drehfigur findet sich im Mittelteil der dreiteiligen Miniatur. Es ist nicht ganz einfach zu entscheiden, welche Leserichtung die Illustration vorgibt. Hilfreich erweist sich hier Wolfgang Kemps wegweisende Studie über die Bildargumentationen christlicher Kunst, in der er drei Modi des Erzählens unterscheidet:¹⁹ den narrativen Modus, der Erzählungen biblischer Vorlagen reproduziere, den nicht-erzählenden thematischen Modus, der sich etwa in Symbolen oder Personifikationen niederschlage, und schließlich den figurativen Modus, in dem narrativer und thematischer Modus zusammenwirkten. Der thematische Modus, das wäre zu ergänzen, kann allerdings durchaus narrative Elemente aufweisen, sie wären dann als Submodus der thematischen Ordnung zu verstehen. Der narrative Modus der Miniatur scheint eine Leserichtung von links vorzugeben: Vom Betrachter aus betritt der Engel bewegten Schrittes von links die Kemenate der Maria. Er trifft auf die sich ihm zuwendende Maria des Mittelteils. Der thematische Modus setzt dagegen auf der rechten Seite der Miniatur an. Marias Füße sind noch den in einem Gefäß befindlichen Knäueln zugewandt, das Material für die Arbeit am Tempelvorhang. Von dort wendet sie sich mit aufgerichtetem Körper und geöffneten Augen dem Engel zu. Auf diese Weise wird ein Vorher und ein Nachher in Szene gesetzt. Die Miniatur setzt Marias gläubige Hinwendung zum Engel als buchstäbliche Drehung ihres Körpers in Szene. Von dieser Körperdrehung ist in der Verkündigungserzählung Priester Wernhers keine Rede. Sie ist bildhafter, thematischer Aus-
Vgl. Henkel (Anm. 11). Wolfgang Kemp: Christliche Kunst. Ihre Anfänge, ihre Strukturen. München 1994, S. 46 – 48.
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Abb. 1: Die Verkündigung an Maria. Priester Wernher: Driu liet von der maget, Krakau, Biblioteka Jagiellońska, Ms. Germ. Oct. 109, Bl. 43v.
druck der Vorstellung, dass es sich bei der Berufung Marias um eine conversio handelt. Im Mittelteil der Miniatur wirken narrativer und thematischer Modus, Verkündigung durch den Engel und conversio der Maria, in einer figurativen Ordnung zusammen. Der Engel hat verkündet, dass der Tau des Heiligen Geistes Maria überschatte. Im Mittelteil der Illustration wird aus der Ankündigung des Textes präsentisches Geschehen. Das wird bildkräftig in Szene gesetzt, indem die Taube als Symbol des
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Heiligen Geistes offenbar einen Tautropfen direkt über Marias Kopf absondert. Es kommt hier insbesondere auf das Zusammenspiel von Geistaktivität und Mimik der Maria an. Denn die emporgerichteten, geöffneten Augen der Maria bringen die vollzogene conversio zum Ausdruck, den festen Glauben an die Botschaft des Engels: ufhub sie div gen / gein der himilisken reste. / ir gedinge was so ueste (D 2484– 2486). Und in diesem Glauben gründet die Empfängnis. Der figurative Modus des Mittelteils der Illustration strahlt auf die rahmenden Partien ab. Das zeigt sich besonders mit Blick auf die Wollknäuel. Sie scheinen gar nicht angerührt.²⁰ Die Empfängnis, die damit einhergehende Präsenz des Göttlichen stellt die Daseinsberechtigung des Tempelvorhangs, der ja der Abschirmung des Allerheiligsten im Tempel dient, radikal in Frage. Der Engel auf der anderen Seite wird vom Zentrum der Miniatur aus, in dem sich die Einwohnung des Göttlichen ereignet – Maria als neues Zelt der Begegnung, als neue Stiftshütte –, in seiner Rolle als Bote beleuchtet, der die Einwohnung lediglich ankündigt. Ein Vergleich von Text und Bild fördert jeweils ein Surplus der Repräsentationsformen zu Tage. Die Illustration führt Berufung als conversio buchstäblich vor Augen, der Erzähltext vermag demgegenüber den Sorgen und Zweifeln der Maria Plastizität zu verleihen.
III Das höfische Modell In der Kindheit Jesu des Konrad von Fußesbrunnen wird die Tempeljungfrau Maria im geschlechtsreifen Alter aufgrund eines Losentscheids dem bereits alten Witwer Josef anvertraut, der sie vor der geschlechtlichen Liebe denn auch zu schützen beabsichtigt. vil gerne ich sie erlâze / des, daz dâ heizet bî gelegen (KJ 150 f.). Damit entspricht er ihrem Willen.Wenn sie aber dennoch zu heiraten gedenke, empfehle er ihr zwei eigene Söhne zur Auswahl. Maria erbittet sich drei Tempeljungfrauen als Gefolge, unter deren Aufsicht (huote) sie sich stellt. Zugleich wird durch die Gegenwart der Tempeljungfrauen Marias Absicht, weiterhin jungfräulich zu leben, bekräftigt (urchunde; KJ 174). Unser frouwe bat ir dô drî magde ûz dem templô, chiusche unde guote, ze urchunde unt ze huote hin heim lâzen mit ir (KJ 171– 175).
Josef lässt sich auf die Bitte der Maria ein und versichert, die Tempeljungfrauen daheim zu versorgen. Er hält sein Versprechen, Marias Willen zu akzeptieren. Der Erzähltext legt in diesem Zusammenhang noch einmal großen Wert darauf zu betonen, dass Maria separiert von Josef die Nächte verbringt. Als dieser einen auswärtigen
Anders im Text: vnt daz werch daz sie da worhte / daz lie sie uon grozer uorhte / slifen uz den handen (D 2411– 2413).
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Arbeitsauftrag erhält und sein Haus für längere Zeit verlassen muss, vertraut er Maria den drei Tempeljungfrauen an, die sich um sie kümmern sollen: dô bevalch Jôsêp den meiden drîn / unser frouwen in ir phlege (KJ 192 f.). Die huote wird zu einer Art Phantasma des Konrad’schen Erzählens. Hinweise auf die Bereitstellung und das Versagen der huote und damit einhergehend die Sicherung beziehungsweise Gefährdung vor allem der männlichen Ehre überziehen die Verkündigungserzählung bei Konrad wie ein Netz. Es wundert daher nicht, dass gerade auch die eigentliche Verkündigungsepisode Züge einer vertiablen huote-Erzählung annimmt. Bevor es zur eigentlichen Verkündigung in der Kemenate kommt, wird Maria, die – ganz alleine, alterseine (KJ 198) – an einem Brunnen Wasser schöpft, vom Engel des Herrn aufgesucht. Am folgenden Tag sperrt sich Maria in einer Kammer (gademe; KJ 211) ein, in der Hoffnung, dass niemand hereinkommen könne. Die Erzählung spricht davon, dass sie sich um geistlicher huote willen eingesperrt habe. dô hêt sich diu guote durch geistlîche huote in einem gademe verspart unt wânde wol hân bewart, daz iemen dar in möhte chomen (KJ 209 – 213).
Dass sich Maria einschließt, ist durch die apokryphe Tradition so nicht verbürgt.²¹ Sie selbst sorgt bei Konrad dafür, dass ihr niemand unter die Augen tritt, die huote wird gewissermaßen materialisiert durch den abgeschlossenen Raum, der die Außenwelt fern hält und somit eine Bedrohung ihrer geistlichen Tugend buchstäblich auszuschließen vermag. Denn in der Wahrung der Tugend einer adligen Frau, hier in der Wahrung der Tugend der gottgeweihten Jungfrau, liegt in erster Linie die Daseinsberechtigung des huote-Systems. Beim Erscheinen des Engels in der Kemenate fürchtet sich Maria. Der Grund dieser Furcht liegt aber nicht in der schönen Lichtgestalt des Engels. In ihr entsteht ein Verdruss, wenn man das mhd. verdriezen hier einmal beim Worte nimmt, weil sie wähnt, es handle sich beim Engel um einen Mann, der sich Einlass verschafft haben könnte: vil sêre si daz siune verdrôz, / wan si wânde ez wær ein man (KJ 230 f.). Diese Sorge nimmt ihr der Engel sogleich und tröstet sie mit der Botschaft, sie habe Gnade gefunden bei Gott und solle einen Sohn mit Namen Immanuel gebären. Auf die schon im Lukasevangelium dargelegte Nachfrage der Maria,
Vgl. aber Bernhard von Clairvaux: In laudibus virginis matris/Zum Lob der jungfräulichen Mutter. In: Bernhard von Clairvaux: Sämtliche Werke lateinisch/deutsch. Bd. IV. Hrsg. von Gerhard B. Winkler. Innsbruck 1993, S. 32– 123, hier S. 79: Suspicandum igitur non est, quod apertum invenerit Angelus ostiolum Virginis, cui nimirum in proposito erat hominum fugere frequentias, vitare colloquia, ne vel orantis perturbaretur silentium, vel continentis castitas tentaretur (36,21– 24: ‚So braucht man nicht anzunehmen, daß der Engel die Pforte der Jungfrau offen vorgefunden hat, denn sicher war es ihr Bestreben, den Umgang mit den Menschen zu fliehen und ihre Gespräche zu meiden, damit nicht die Stille der Betenden gestört oder die standhafte Keuschheit in Versuchung geführt würde‘).
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wie das denn geschehen solle, da sie noch nie mit einem Mann geschlafen habe, führt der Engel den heiligen Geist an, der sie überschatten werde. Ohne weiteres Zögern willigt Maria ein: ‚nû werde sîn gebot / an mir als du hâst geseit‘ (KJ 256 f.). Die Verkündigung bei Konrad nimmt eine furiose Wende. Maria schließt sich ein, um abgeschieden von aller Welt sich dem Gebet hinzugeben – und wird unter diesen Umständen einer selbst gewählten Isolation schwanger. Konrad erzählt die Verkündigungsgeschichte, gemessen an Priester Wernher, mit einer bemerkenswerten Reibungslosigkeit. Widerhaken wie das Auf und Ab der Maria beim Priester Wernher kennt das Konrad’sche Erzählen nicht.Was er hervorhebt und ausbaut, betrifft nahezu exklusiv den Komplex der gesellschaftlichen Aufsicht über die Tugendhaftigkeit der Frau. Nachdem der Engel Maria verlassen hat, wird erneut betont, dass sie sich in der Kammer alleine befinde: unt schiet der engel alsô dan, / daz aber diu maget eine saz (KJ 262 f.) Die Worte des Engels behält sie im Herzen, sie teilt sich also nicht mit. Auch hier herrscht Exklusivität. Die Jungfrauen, die zur Aufsicht bestellt sind, erfahren nichts, bis sich Marias Schwangerschaft zeigt. An die Stelle der Tempeljungfrauen treten Engel, die sich um Maria kümmern: ouch phlâgen ir al die vrist / die engel mit grôzer huote (KJ 276 f.). Als die Jungfrauen von der Schwangerschaft erfahren, drängt es sie nicht, sich zu erkundigen, durch welche Umstände diese zustande gekommen sei, denn sie haben Engel beobachtet, die Maria himmlische Speise zugeführt haben. Für die Jungfrauen steht damit fest, dass Maria allein mit dem Himmel im Bunde steht. Die huote der Jungfrauen kann gegen den Himmel nichts ausrichten. Bevor Josef erneut die Bühne betritt, erzählt Konrad vom Verwandtenbesuch der Maria, der so genannten Heimsuchung. Als der Abschied von Elisabeth und Maria naht, vertraut Elisabeth Maria dem Schutz, der huote des Heiligen Geistes an. Josef treibt die Schwangerschaft seiner Anvertrauten in die Verzweiflung. Er habe alle Ehre verloren, die Priester des Tempels, Hüter des Gesetzes (êwarte; KJ 391), wüssten wohl um diese Schwangerschaft, ihn erwarte zu Recht eine harte Strafe. Maria wirft er anklagend schändliches Tun vor, den Jungfrauen Betrug. Josef malträtiert sich mit seinen Fäusten in einem Akt der Selbstbestrafung derart heftig, dass die Jungfrauen herbeieilen und ihn beschwichtigend eines Besseren zu belehren suchen. Sie bezeugen Marias Reinheit, er überziehe eine Unschuldige mit falschen Unterstellungen (vgl. KJ 443). Josef entgegnet unbeirrt, er habe durch sie an Ehre verloren. Er könne seinen Augen trauen. Ohne ihr, der Jungfrauen Zutun, ohne ihren schändlichen Ratschlag habe diese Lage nicht eintreten können. Die Jungfrauen bemühen sich, die Vorwürfe Josefs zu entkräften. Bei demjenigen, der um Maria geworben habe, nütze keine Aufsicht, weder Schloss noch Riegel vor der Tür – ‚herre, der mit ir geworben hât, / dane frumet dehein huote fur, / slôz noch rigel vor der tur‘ (KJ 468 – 470).²² Was er sehe, das sei von Gott. Vgl. ebd.: Nec fuit difficile Angelo per clausum ostium penetrare ad abdita Virginis, qui utique subtilitate suae substantiae hoc habet in natura, ut nec seris ferreis eius arceatur ingressus, quocumque suus eum impetus ferat. Angelicis enim spiritibus parietes non obsistunt, sed cuncta illis visibilia cedunt (36,16 – 20: ‚Für den Engel war es nicht schwer, durch die verschlossene Tür in das entlegene Gemach der Jungfrau zu gelangen; es entspricht ja durch die Feinheit der Substanz seinem Wesen, daß sein
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Niemand anders als Gott und sein Bote seien ihr nahegekommen: ‚swaz ir dâ seht, daz ist von gote. / irn hât wan er unt sîn bote / nieman anders gephlegen‘ (KJ 477– 479). Mit dem Stichwort der Werbung – der mit ir geworben hât (KJ 468) – wird eher beiläufig die aus der höfischen Minneliteratur bekannte Werbungssituation ins Spiel gebracht. Die huote soll im höfischen Werbungszusammenhang sicherstellen, dass es zu keiner unbotmäßigen Annäherung eines Werbers an eine adlige Dame kommt, sei es, dass sie bereits vergeben ist, sei es, dass es darum geht, ihre Tugend nicht zu gefährden. Eine solche Annäherung, sofern sie öffentlich wird, zieht allseits gesellschaftliche Ächtung nach sich. Die Beiläufigkeit, mit der hier von einer Werbung gesprochen wird, spricht dafür, dass die Hervorhebung der huote-Problematik bei Konrad mit Bedacht vor dem Hintergrund der höfischen Brautwerbung erfolgt. Josef lässt sich indes nicht trösten, auch wenn er sich zu diesem Zeitpunkt zumindest von der Unschuld der Jungfrauen überzeugt zeigt. Er geht von einem Betrug aus, jemand habe sich engels bilde unt namen (KJ 483) angeeignet und so mit einer List Schande und Scham verbreitet. Wie Maria sperrt sich Josef in einem Zimmer ein – dâ verspart er sich inne (KJ 491) –, er ruft den Himmel um Rat an. Im Traum erscheint ihm ein Engel, der ihm erklärt: Was mit Maria passiert sei, das habe der Heilige Geist getan (KJ 504 f.). Mit dem Erwachen ist sein Argwohn gewichen, unbändige Freude stellt sich ein. Die teilt er mit den Jungfrauen. Zusammen treten sie an Marias Bett. Josef fällt ihr zu Füßen, küsst die Knie, woraufhin sie ihm verzeiht. Er glaubt, ihre Huld verloren zu haben, weil er sie zu Unrecht geziehen habe. Doch Marias Antwort ist Sanftmut, sie ist ganz ohne Zorn. Konrad parallelisiert die Berufung der Maria und das Traumgesicht des Josef, wenn sich beide in eine Kammer einsperren. Beide suchen die Ausschließlichkeit des göttlichen Rats und beide gewinnen – ohne weitere Verunsicherung – tiefe Einsicht in das Tun des Heiligen Geistes.
IV Regulative Deutungsrahmen des Wiedererzählens Priester Wernher erzählt die Verkündigung als prozessual entfaltetes krisenhaftes Wendegeschehen, bei Konrad von Fußesbrunnen gerät die Verkündigungsepisode zu einer Erzählung über göttliche Werbung und konkurrierende huote-Systeme. Es ist zu beobachten, dass das Wiedererzählen die Verkündigung an Maria in spezifische kulturelle Deutungsrahmen einbettet. Diese Einbettung in kulturspezifische Rahmen erfolgt unter Verstärkung vorgefundenen Materials. So ist Marias Wende, die Preisgabe ihres Einwands, bereits in der lukanischen Verkündigungserzählung vorgegeben. Hier, bei Lukas, kann Marias Einwand allerdings problemlos entkräftet werden. Von einem krisenhaften Zustand der Maria, einem inszenierten Schwanken wie beim Priester Wernher, kann keine Rede sein. Von der Aufsicht der Tempeljungfrauen, die
Eintritt, wohin immer der Geist ihn treibt, auch nicht durch eiserne Riegel verhindert wird. Den Engeln – sind sie doch Geister – stehen keine Wände im Weg, sondern alles Sichtbare weicht ihnen.‘).
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Marias Jungfräulichkeit sicherstellen sollen, erzählt vor Konrad von Fußesbrunnen bereits die apokryphe Tradition, auf die er sich bezieht, ohne dass diese Tradition ein gesteigertes Interesse an der huote-Problematik aufbringen würde. Kulturellen Deutungsrahmen – der Soziologe Erving Goffman spricht in diesem Zusammenhang im Anschluss an Gregory Bateson von ‚sozialen Rahmen‘ – kommt die Funktion zu, eine Situation, ein Geschehen sinnstiftend einzuordnen. Goffmans Ausgangsfragestellung lautet: „Was geht in einer Situation eigentlich vor?“²³ Bei Rahmen handelt es sich um Deutungsmuster, die Orientierung bieten. Rahmen organisieren Erfahrung, sie organisieren darüber hinaus aber auch die Beobachtung von Erfahrung. Veränderte Deutungsrahmen verändern den Sinn eines Ereignisses. Rahmen wirken wie ein Filter, der über die Strukturierung eines Geschehens die Wahrnehmung bestimmter Elemente überhaupt erst ermöglicht. Bibelepisches Wiedererzählen bedient sich solcher Filter, indem es danach fragt, was eigentlich geschieht, und diese Frage einer kulturspezifischen Antwort zuführt. Das Geschehen wird über die Akzentuierung bestimmter Elemente einer strukturierenden Deutung unterzogen. Die literarische Aktivierung und Implementierung kultureller Deutungsrahmen erleichtert dabei nicht zuletzt die Assimilierung ‚fremder‘ Stoffe, es geht dann jeweils darum, das Vertraute im ‚Fremden‘ zu unterstreichen und auf diesem Weg Inkulturation²⁴ voranzutreiben. Je unerklärlicher, geheimnisvoller oder unbekannter ein bestimmter Sachverhalt in Erscheinung tritt, so steht die Vermutung, umso reger fällt die Aktivierung von Deutungsrahmen aus. Sie dienen der Aneignung des Fremden.²⁵ Was erzählt die Verkündigungsgeschichte nach Lukas? Sie erzählt zum einen die Ankündigung eines Ereignisses, dass eine Schwangerschaft Marias ohne sexuellen Kontakt mit einem Mann eintreten wird – Spiritus Sanctus superveniet in te et virtus Altissimi obumbrabit tibi (Lc 1,35)²⁶. Zum anderen erzählt sie etwas Präsentisches: das Eintreten dieser Schwangerschaft bereits im Kontext der Verkündigungssituation. Letzteres wird über Marias Zustimmung – fiat mihi secundum verbum tuum (Lc 1,38)²⁷ – eher implizit verhandelt. An der dichten Verfugung von Ankündigung und Eintreten der Emp-
Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt a. Main 1977, S. 16. Vgl. zum Inkulturationskonzept: Bruno Quast/Susanne Spreckelmeier: Literarische Inkulturation. Zur Einführung. In: Quast/Spreckelmeier (Anm. 4), S. 1– 15, hier bes. S. 3 – 10. Susanne Köbele: Registerwechsel. Wiedererzählen, bibelepisch (Der Saelden Hort, Die Erlösung, Lutwins Adam und Eva). In: Quast/Spreckelmeier (Anm. 4), S. 167– 202, versteht den vielfach beobachtbaren Registerwechsel als „Steigerung einer im religiösen Erzählen immer schon angelegten widersprüchlichen Disposition“ (S. 200). Die christliche Inversion einer Erhabenheit des Niedrigen manifestiere sich in einer ambivalenten Prägung von simplicitas als Glaubens- und Stilhaltung (vgl. S. 185). Registerwechsel sind Ausdruck einer solchen Ambivalenz. Deutungsrahmen, wie sie hier gefasst werden, stehen dagegen im Dienst einer Ambiguitätsreduktion. ‚Der heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.‘ ‚Mir geschehe nach deinem Wort!‘
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fängnis arbeiten sich die Theologen des Mittelalters unermüdlich ab.²⁸ Das Wiedererzählen der Verkündigung an Maria um 1200, unter kulturell differenten Voraussetzungen, erfordert einmal mehr Verständigung über das, was hier vor sich geht. Was ‚eigentlich‘ vor sich geht, unterliegt der jeweiligen Beobachtungsperspektive. Der theologisch versierte und interessierte Erzähler kommt zu einem anderen Ergebnis als einer, für den die Unterhaltung eines offenbar höfischen Publikums zumindest nicht an letzter Stelle steht. Je nach ‚Kultur‘ hat man es mit veränderten Beobachtungsrahmen und damit einhergehend veränderten Sinnstiftungsprozessen zu tun. Die Bedeutung des Erzählten verändert sich auf diesem Weg. Einseitig essentialistische Vorstellungen, wonach beim Wiedererzählen einem unveränderten (weil unabänderlichen) inhaltlichen Kern ein kulturspezifisches Gewand übergestreift werde, führen eher in die Irre, weil Rahmen, um im Bild zu bleiben, den Inhalt allererst profilieren. Bei der mehrphasigen conversio handelt es sich um ein genuin geistliches Deutungsmuster, dieses wird beim Priester Wernher der Verkündigungsepisode sinnstiftend unterlegt. Wernher konzentriert sich entsprechend auf den inneren Prozess des Wendegeschehens, den empfangenen Glauben der Maria, in dem die Empfängnis des Gottessohnes gründet. Bei Konrad ist demgegenüber ein veränderter kultureller Deutungsrahmen am Werk. Konrad erzählt von Verkündigung im Rahmen höfischer Werbung mit einem Fokus auf eine paradoxal zugeschnittene huote, den Umschlag selbst gewählter geistlicher huote in vollzogene Werbung, die eintretende Schwangerschaft Marias. Die Aktivierung dieses spezifischen Deutungsrahmens, der im konkreten Fall bei Konrad eine Blickrichtung eher aufdrängt als vorschlägt, wird schon allein durch die häufige Nennung der huote sichergestellt. Regulative Deutungsrahmen beziehen sich im Fall bibelepischen Wiedererzählens um 1200 in der Regel auf einzelne Episoden eines Textes. Eine totalisierende, das Ganze der Erzählung perspektivierende Rahmung findet sich eher selten. Das dominant geistliche Deutungsmuster der Verkündigung wird beim Priester Wernher etwa beim Verwandtenbesuch der Maria bei Elisabeth durch eine höfische Rahmung ‚abgelöst‘. Hier muss Rahmung allerdings in einem buchstäblichen Sinne gefasst werden. Maria und Elisabeth küssen sich beim Zusammentreffen wie bei einem höfischen Empfang – sie kusten sih mit triwen (D 2695). Die Gefährtinnen der Königin Maria, die mit Gefolge unterwegs ist, werden gleichfalls höfisch empfangen – do wrden ?h enpfangen / mit liebe stæter minne / die geuerten der kuniginne (D 2700 – 2702). Die charismatisch-geistliche Perspektive, wie sie sich in der zentralen Verkündigungsepisode findet, schließt höfische Akzentuierungen nicht aus. Und umgekehrt: Bei Konrad von Fußesbrunnen steht einer höfischen Imprägnierung nicht nur der Verkündigungsepisode das Spiel mit verschiedenen Formen der conversio zur Seite.²⁹ Vgl. Elisabeth Gössmann: Die Verkündigung an Maria im dogmatischen Verständnis des Mittelalters. München 1957. Vgl. Bruno Quast: Inkulturation als diskursive Entdifferenzierung. Konversionen in Konrads von Fußesbrunnen Kindheit Jesu zwischen Evidenz und Rhetorik. In: Quast/Spreckelmeier (Anm. 4), S. 153 – 166.
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Was lässt sich daraus für eine Profilierung bibelepischen Erzählens ableiten? Die Poetik des bibelepischen Wiedererzählens speist sich offenbar nicht zuletzt aus der textuell je spezifischen Verhältnisbestimmung regulativer Deutungsrahmen zueinander, die aus unterschiedlichen Herkunftskulturen stammen können. Kulturelle Sinnstiftung erfolgt über das literarische Spiel mit Dominanzen spezifischer kultureller Deutungsrahmen und deren Abschwächung, mit rahmenden Akzentuierungen, die den Blick frei legen sollen für das, was eigentlich geschieht.
Christian Seebald
Heimkehr des Heils
Narrative Strategien und anthropologische Implikate des mittelalterlichen Translationsberichts There never was such an overturn in this world. Each of these six men was as though he had been struck. But with Silver the blow passed almost instantly. Every thought of his soul had been set full-stretch, like a racer, on that money; well, he was brought up in a single second, dead; and he kept his head, found his temper, and changed his plan before the others had had time to realize the disappointment.
Mit diesen Worten schildert der Ich-Erzähler Jim Hawkins die vielleicht entscheidendste ,Kehre‘ in Robert Louis Stevensons Roman Treasure Island: ¹ als nämlich die Gruppe der Piraten und Gegenspieler des jungen Helden Jim unter ihrem doppelgesichtigen Anführer John Silver nach allerlei Plagen und Anstrengungen und unzähligen überraschenden Wendungen endlich die Stelle findet, wo Kapitän Flint einst seinen berüchtigten Schatz vergraben hatte, nur um festzustellen, dass den gesuchten Hort längst jemand anders gehoben und heimlich fortgeschafft hat. So sehr dieser Bericht aus der Feder des Protagonisten Jim vorderhand die sowohl für die Figuren der Handlung wie für den Leser verwirrende und undurchschaubare Situation und das überlegene Taktieren John Silvers akzentuiert, so sehr impliziert er auf den zweiten Blick eine poetologische Dimension, indem er das Prinzip der ,Wende‘, des overturn, als wesentlichen Generator der narrativen Struktur des Textes fokussiert und offenlegt. Zwischen Stevensons Treasure Island beziehungsweise der Tradition des modernen Abenteuerromans und dem Texttypus des mittelalterlichen Translationsberichts, um den es mir im Folgenden in erster Linie geht, mögen zunächst – im wahrsten Wortsinne – Welten liegen. Und doch sind zwischen beiden Formen einige sprechende Analogien und Querverbindungen narratologischer wie auch anthropologischer Art zu konstatieren, die einen zunächst rein heuristisch orientierten Seitenblick – um den es hier allein zu tun ist – nicht von vorneherein disqualifizieren. Denn auch der Translationsbericht der vormodernen hagiographischen Literatur handelt von Schätzen – wenn auch ganz anderer Art – und der Suche nach ihnen, und er operiert mit der Figur der Wende, insofern einerseits bislang Verborgenes, ,Reichtümer‘
Robert Louis Stevenson: Treasure Island. Edited with an Introduction by John Seelye. London 1999, S. 181; Robert Louis Stevenson: Die Schatzinsel. Hrsg. und übersetzt von Andreas Nohl. München 2015, S. 286: ,Eine solche Wende hat es noch nie auf der Welt gegeben. Die sechs Männer standen da wie vom Donner gerührt. Doch Silver verwand den Schlag im Nu. Jeder Gedanke seiner Seele war wie bei einem Wettläufer nur auf dieses eine Ziel, das Geld, gerichtet gewesen, und nun war er in einer einzigen Sekunde ausmanövriert worden. Aber er behielt einen klaren Kopf, gewann die Fassung wieder und warf seinen Plan um, bevor die anderen Zeit hatten, den Reinfall zu erkennen.‘ https://doi.org/10.1515/9783110706093-010
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schlechthin, sichtbar und als virtueller Besitz zugänglich wird, andererseits im Prozess eines Weges tatsächlich gefunden, in Besitz genommen, womöglich gegen Ansprüche Dritter verteidigt und ,nach Hause‘ gebracht werden muss.² Die Wende, die durch den Erwerb des ,Schatzes‘ in Bezug auf die Situation der Gruppe der ,Schatzsucher‘ und die Lebensverhältnisse ihrer einzelnen Mitglieder herbeigeführt wird, stiftet neue Orientierung. Dazu noch einmal ein Zitat aus dem Bericht des Jim Hawkins: All of us had an ample share of the treasure, and used it wisely or foolishly, according to our natures. Captain Smollett is now retired from the sea. Gray not only saved his money, but, being suddenly smit with the desire to rise, also studied his profession; and he is now mate and part owner of a fine full-rigged ship; married besides, and the father of a family. As for Ben Gunn, he got a thousand pounds, which he spent or lost in three weeks, or, to be more exact, in nineteen days, for he was back begging on the twentieth. Then he was given a lodge to keep, exactly as he had feared upon the island; and he still lives, a great favourite, though something of a butt, with the country boys, and a notable singer in church on Sundays and saints’ days.³
Den angedeuteten Fragen und Aspekten einer ‚Anthropologie der Kehre‘ will ich in diesem Beitrag im Blick auf die spezifische literarische Form des mittelalterlichen Translationsberichts und seine narrativen Strategien und Logiken im Einzelnen nachgehen. Gegenstand dieserart hagiographischer Texte ist die Darstellung des „Vorgang[s]“ der Übertragung von Reliquien im Kontext des christlichen Heiligenkultes, „der seinerseits selbst weitere Vorgänge wie die Auffindung (inventio), Erhebung (elevatio) und Niederlegung (depositio) voraussetzt und einbezieht“.⁴ Charakteristisch ist der Bezug „auf konkrete Ereignisse in einem genau beschriebenen Raum und zu einem festgehaltenen Zeitpunkt“⁵ im Sinne eines prägnanten Chronotopos, der sich deutlich von den Raum-Zeit-Relationen etwa der Heiligenvita oder hagiographi-
Vgl. zur Schatzmetapher und zum Motiv der Schatzsuche in religionsgeschichtlich-komparatistischer Perspektive Isolde Waltner-Kallfelz: Die Schatzsuche als religiöses Motiv. Schatz, Pretiosen, Kostbarkeiten. Wiesbaden 1993; speziell mit Blick auf den mittelalterlichen Reliquienkult (und seine Verbindungen zu neuzeitlichen Schatzdiskursen) Johannes Dillinger: Magical Treasure Hunting in Europe and North America. A History. Basingstoke 2012, S. 44– 52. Stevenson: Treasure Island (Anm. 1), S. 189 f.; Stevenson: Schatzinsel (Anm. 1), S. 300: ‚Wir bekamen alle einen stattlichen Anteil des Schatzes und nutzten ihn je nach Neigung klug oder töricht. Kapitän Smollett hat sich inzwischen von der Seefahrt verabschiedet. Gray sparte nicht nur sein Geld, sondern erlernte – plötzlich vom Drang beflügelt, es zu etwas zu bringen – einen Beruf nach allen Regeln der Kunst. Heute ist er Steuermann und Teilhaber eines schönen Vollmasters und außerdem verheiratet und Familienvater. Was Ben Gunn betrifft, so bekam er seine tausend Pfund, die er in nur drei Wochen ausgab oder verlor – oder, um genau zu sein, in neunzehn Tagen, denn am zwanzigsten kehrte er bettelnd zurück. Darauf erhielt er eine Anstellung als Pförtner, genau das, wovor ihm auf der Insel gegraut hatte. Er lebt noch, beliebt bei der Landjugend, wenn auch Zielscheibe ihres Spotts, und ein unüberhörbarer Kirchensänger an Sonn- und Feiertagen.‘ So die Definition in der nach wie vor grundlegenden Studie zum Texttypus von Martin Heinzelmann: Translationsberichte und andere Quellen des Reliquienkultes. Turnhout 1979, S. 44. Ebd., S. 57.
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schen Biographie unterscheidet. Erzählt wird aus der Perspektive der Gruppe, die für sich den Status einer exklusiven ‚Besitz‘- und Kultgemeinschaft hinsichtlich des übertragenen Heiligenleibs oder der neu erworbenen Reliquien beansprucht. Angesichts der inhaltlichen und formalen Variabilität und „Vielfalt der Übertragungsberichte“,⁶ und zwar auf der Grundlage eines im Basisnexus mehr oder minder fixen, aber eben verschiedentlich erweiter- und wandelbaren Stationenschemas, kann die Untersuchung lediglich selektiv verfahren und einzelne signifikante Fälle herausgreifen, um an ihnen exemplarische Beobachtungen anzustellen. Den Analysen liegt ein erweiterter Wende-Begriff zugrunde. Er ist insbesondere abzugrenzen vom Konzept der conversio im Sinne einer Abkehr von Welt oder Umkehr hin zur exklusiven Fokussierung des eigenen Lebens auf Gott, wie es das personenzentrierte Narrativ der Heiligenvita als spezifisches „Verhaltens- und Darstellungsschema“⁷ kennt. Am Ausgangspunkt meiner Überlegungen steht eine prototypische Erzählung: die Schilderung der Kreuzauffindung durch die Kaiserinmutter Helena, wie sie sich in der Trauerrede des Ambrosius von Mailand auf Kaiser Theodosius findet. Dem hier noch unselbstständigen, gleichwohl paradigmatischen Translationsbericht, der zur Reihe derjenigen frühen Texte gehört, die auf den Typus insgesamt „einen kaum zu überschätzenden Einfluß“⁸ ausgeübt haben, soll in einem zweiten Schritt ein Repräsentant einer Sonderform gegenübergestellt werden, die die Reliquienüberführung im Zusammenhang eines Diebstahlnarrativs⁹ gestaltet und für die gewählte Fragestellung in besonderer Weise aufschlussreich zu sein verspricht. Das Motiv des Diebstahls spielt schließlich auch in meinem dritten Beispiel, der Translatio des heiligen Thomas von Aquin, eine Rolle, insofern es als auslösendes Moment die Handlung allererst in Gang setzt, die dann im weiteren Verlauf eine Reihe von ‚Kehren‘ nimmt, bevor aus der Perspektive der Gemeinschaft des Dominikanerordens von einer ‚Heimkehr des Heils‘ die Rede sein kann.
I Die Narration von der Auffindung der Kreuzreliquien durch Helena, die Mutter Kaiser Konstantins, kann sicher als einer der Prototypen der Erzählform der christlichen Translatio gelten – gerade auch weil hier „die wichtigsten Reliquien“ narrativ ver-
Ebd., S. 56. Wolfgang Haubrichs: Bekennen und Bekehren (confessio und conversio). Probleme einer historischen Begriffs- und Verhaltenssemantik im zwölften Jahrhundert. In: WS 16 (2000), S. 121– 156, hier S. 143. Heinzelmann (Anm. 4), S. 78. Siehe hierzu insbesondere Patrick J. Geary: Furta Sacra. Thefts of Relics in the Central Middle Ages. Revised Edition. Princeton 1990.
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handelt werden, „die es für einen Christen geben kann“.¹⁰ Eine ihrer frühesten, originellsten und wirkungsmächtigsten Ausprägungen hat die Helena-Erzählung bei Ambrosius von Mailand gefunden, der sie seiner Leichenrede für Theodosius I. inseriert hat.¹¹ Ambrosius begründet Helenas Initiative zur Reise nach Jerusalem und zu den Stätten von Christi Weltleben mit der Sorge um den Sohn Konstantin, dem gerade die Herrschaft über das römische Imperium zugefallen war. Der Heilige Geist gibt ihr ein, nach dem Kreuzesholz zu suchen, um das Erlösungswerk Christi zur Versicherung der Erlösung der Menschen, der „Siegespalme des ewigen Lebens“ (palma vitae aeternae), sichtbar zu machen.¹² Dieses Vorhaben, die Aufdeckung der Wahrheit des in Passion und Auferstehung vollzogenen Heils, stellt der Text in den Zusammenhang eines dualistischen Antagonismus, wie ihn die neutestamentliche Interpretation des biblischen Schöpfungsmythos profiliert hat: Es repetiert die Überwindung des teuflischen Widerstands gegen den mit der Menschwerdung Christi verfolgten göttlichen Heilsplan. Helena wird als Postfiguration der Gottesmutter dargestellt, ihre Suche nach den Relikten des Triumphs Christi, die der Teufel zu verbergen sucht, erscheint als Imitatio der Rolle Mariens für das eigentliche Entsühnungswerk. Helena findet die Reliquien auf Golgatha (ohne dass das Problem der exakten Lokalisierung des Gesuchten vom Text eigens thematisiert wird), indem sie sie durch Abtragen des darüberliegenden Erdreichs entbirgt. Da es aber drei Kreuze sind, die sie freilegt, das Gesuchte also immer noch verdeckt ist, bedarf es eines weiteren Fingerzeigs des göttlichen Geistes, der schließlich aufgrund einer intensivierten Lektüre des Passionsberichts der Evangelien, des in der Schrift geoffenbarten Gotteswortes, zur Differenzierung und Identifizierung des authentischen Kreuzes Christi mit Hilfe der bei Johannes überlieferten Kreuzesschrift des Pilatus führt. Nachdem sich Helena in betender Verehrung an den gewandt hat, dessen Heilszeichen sie aufgefunden hat, versichert nun auch das wunderbare Leuchten des Holzes die „Lagerstätte der Wahrheit“ (cubile veritatis).¹³ Aus den Kreuzesnägeln lässt Helena ein Zaumzeug und ein Diadem fertigen und übersendet beides ihrem Sohn Konstantin. Zaumzeug und Diadem symbolisieren dabei zwei zentrale Aspekte kaiserlicher Herrschaft: die Ausübung von Macht an sich und die Frage ihrer Legitimation und
Wolf Steidle: Die Leichenrede des Ambrosius für Kaiser Theodosius und die Helena-Legende. In: Vigiliae Christianae 32 (1978), S. 94– 112, hier S. 99. De obitu Theodosii. In: Sancti Ambrosii Opera. Teil 7. Hrsg. von Otto Faller. Wien 1955 (CSEL. 73), S. 369 – 401, die Helena-Erzählung hier S. 393 – 397 (c. 41– 48). Zur Forschungsdiskussion und Interpretation siehe Steidle (Anm. 10) sowie Martin Biermann: Die Leichenreden des Ambrosius von Mailand. Rhetorik, Predigt, Politik. Stuttgart 1995, besonders S. 178 – 191. Steidle und, ihm folgend, Biermann halten die Helena-Erzählung mit guten Gründen nicht für einen späteren Einschub, sondern für einen ursprünglichen Bestandteil der Rede. De obitu Theodosii (Anm. 11), S. 393 f. (c. 43). Die deutsche Übersetzung habe ich abgeglichen mit dem Text in: Des heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand Pflichtenlehre und ausgewählte kleinere Schriften. Übersetzt und eingeleitet von Johannes Evangelist Niederhuber. Kempten/München 1917 (Bibliothek der Kirchenväter. 32), S. 394– 423. De obitu Theodosii (Anm. 11), S. 395 (c. 46).
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Auratisierung. Ambrosius stellt hier nachdrücklich die Neuansätze im Konzept des römischen Kaisertums heraus: den Wandel vom „ungerechten Gebieten“ (iniusta praeceptio) unter den Vorzeichen der Verfolgung hin zum „gerechten Herrschen mit Augenmaß“ (iusta moderatio) unter den Auspizien des Glaubens und der Verehrung des christlichen Gottes, dessen auf dem Haupt der Imperatoren prangendes Erlösungs- und Siegeszeichen nun die Regentschaft über den ganzen Erdkreis in seinem Auftrag signalisiert, „sodass sie jetzt Prediger sind, die vormals Verfolger zu sein pflegten“ (ut sint praedicatores, qui persecutores esse consueverant).¹⁴ Insofern stiftet Helenas Suche, Auffindung und Besitznahme des Kreuzes in einem Moment der Krisis, den der Text in der „ängstlichen Sorge“ der Mutter angesichts der noch ungefestigten Herrschaft des Sohnes zum Ausdruck bringt ([a]nxia mater pro filio, cui regnum orbis Romani cesserat),¹⁵ Orientierung, die zunächst dem Regiment Konstantins gilt, dann aber auch der Lenkungsfunktion aller seiner Nachfolger.¹⁶ Ambrosius’ Beschreibung der Umkehr in Herrschaftsvollzug und -auffassung der höchsten weltlichen Gewalt appliziert die Figur der conversio, wie sie für die Konstantin-Vita konstitutiv ist, auf die traditionelle Institution des Kaisertums. In seinem Konversionsnarrativ figuriert die Kreuzauffindung der Helena als der entscheidende Akt, der dazu führt, dass sich der christliche Glaube auf alle späteren Kaiser weitervererbt und die Kontinuität des christlichen Kaisertums allererst beginnt. Mit der Formulierung „Maria ward heimgesucht, um Eva loszusprechen, Helena ward heimgesucht, um die Kaiser zu erlösen“ (Visitata est Maria, ut Evam liberaret: visitata est Helena, ut redimerentur imperatores)¹⁷ markiert der Text eine spezifische Analogie, die in der Figur der Wende liegt. Von hier aus erscheint das Helena durch göttliche Gnade zuteil und aller Welt sichtbar gewordene Heil, die Auffindung und elevatio des Kreuzes, als Postfiguration der in Christi Tod und Auferstehung wirksam gewordenen heilsgeschichtlich-eschatologischen Wende, der „Fundamentalwende als der Kehre vom heillosen zum erlösten Menschen“:¹⁸ „Christus ist abermals auferstanden, und die
Ebd., S. 396 f. (c. 48). Ebd., S. 393 (c. 41). Und auch für die Regierungszeit des Theodosius lässt sich aus der Sicht der Anhänger des Kaisers und Befürworter seiner „prononciert christliche[n] und heidenfeindlichen Religionspolitik“ (Biermann [Anm. 11], S. 179) ein spezifischer Moment der Krisis konstatieren, der in der Auseinandersetzung mit dem von Arbogast unterstützten Usurpator Eugenius bestand, dessen Regentschaft im Westen von einer zunehmenden Toleranz gegenüber den traditionellen paganen Kulten geprägt war. Der Konflikt fand sein Ende in der Schlacht am Frigidus (im heutigen Slowenien) Anfang September 394, die Eugenius Niederlage und Tod brachte. Gerade angesichts der neuerlich politisch instabilen Lage, die der überraschende Tod des Siegers Theodosius nur wenige Monate später zur Folge hatte, ist die Funktion der Helena-Erzählung in Ambrosiusʼ Rede im Sinne eines Orientierung und Sicherheit stiftenden Mythos einsichtig. De obitu Theodosii (Anm. 11), S. 396 (c. 47). Gerhard Ebeling: Dogmatik des christlichen Glaubens. Bd. 3. 4., durchgesehene und mit einem Nachwort von Albrecht Beutel versehene Aufl. Tübingen 2012, S. 149 f. Zum Konzept der „eschatologischen Wende vom Gesetz zum Evangelium“ speziell mit Blick auf die Differenz zwischen der pau-
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Kaiser haben (an)erkannt, dass er auferstanden ist“ (Iterum Christus resurrexit et resurrexisse eum principes agnoverunt).¹⁹ Im Kontext der Trauerrede für Theodosius I., die Ambrosius wohl „am 25. 2. 395 anläßlich der Feier der sogenannten Quadragesima, also […] 40 Tage nach dem Tod des Kaisers gehalten“ hat,²⁰ wird mithin „Helena das Hauptverdienst um die Christianisierung des Imperium Romanum zugeschrieben“.²¹ Die Erzählung von der Entbergung der Kreuzreliquien avanciert zur fundierenden Geschichte, zum Gründungsmythos des christianisierten römischen Kaisertums, der nicht nur den Verstorbenen „in eine durch alttestamentliche Prophezeiungen geheiligte Tradition christlicher Herrschaft seit Konstantin“²² stellt, sondern vor allem auch das Kollektiv seiner Nachfolger und Erben (einschließlich ihrer Gefolgschaft)²³ in letzter Instanz auf das Beispiel der Mutter des ersten zum Christentum konvertierten Regenten verpflichtet, um den Fortbestand und die Prosperität dieses heilsgeschichtlich konnotierten Neubeginns im Zeichen der hereditas fidei ²⁴ dauerhaft zu sichern.
II Während bei der Helena-Erzählung das Moment der inventio im Vordergrund steht, kommen bei der Adrevald von Fleury zugeschriebenen Historia translationis s. Benedicti (BHL. 1117) weitere Stationen hinzu.²⁵ Auch hier bildet das Element der Krisis den linischen Vorstellung und Luthers Deutung siehe Wolfhart Pannenberg: Systematische Theologie. Bd. 3. Göttingen 1993, S. 94– 103, hier S. 103. De obitu Theodosii (Anm. 11), S. 397 (c. 49). Steidle (Anm. 10), S. 94 Anm. 1. Ebd., S. 97. Biermann (Anm. 11), S. 190. Als Ambrosius seine Trauerrede im Kontext eines Gedenkgottesdienstes für Theodosius hielt, waren wohl neben Soldaten der zehnjährige Thronfolger Honorius und „hohe Würdenträger des kaiserlichen Hofstaats und der Bürokratie anwesend“ (ebd., S. 180). „Der ältere Sohn Arcadius war“, anders als sein zum Regenten über das Westreich bestimmter Bruder Honorius, „von Theodosius nicht in den Westen gerufen worden und in Konstantinopel geblieben“ (ebd., S. 180 Anm. 123). De obitu Theodosii (Anm. 11), S. 392 (c. 40). Vgl. Biermann (Anm. 11), S. 186 u. 189 Anm. 161. Ediert in: Les miracles de Saint Benoît. Ecrits par Adrevald, Aimoin, André, Raoul Tortaire et Hugues de Sainte Marie, moines de Fleury. Réunis et publiés pour la Société de l’Histoire de France par E. de Certain. Paris 1858, S. 1– 14. Zum Text und seiner Nähe zu Einhards älterer Translatio SS Marcellini et Petri siehe Geary (Anm. 9), S. 120 – 122. Speziell zum Verhältnis zu den älteren Translationsberichten der Benedikt-Tradition siehe Emmanuel Munding: Die benediktinischen Texte des Clm 6333. In: Die Palimpsesttexte des Codex latin. Monacensis 6333. Hrsg. und bearbeitet von Emmanuel Munding und Alban Dold. Beuron 1930, S. 1– 218, hier S. 15 – 178. Hier ist die Historia translationis s. Benedicti indes, im Anschluss an Oswald Holder-Egger, einem nicht mit Adrevald identischen Adalbert von Fleury zugeschrieben; die Divergenzen gehen letztlich auf die „sich widersprechenden Aussagen späterer Fortsetzer“ Adrevalds zurück, der gemeinhin als „Begründer des lit. Schaffens über den hl. Benedikt in Fleury“ und Autor zumindest von „Buch I, Kap. 1– 39 der Miracula s. Benedicti (BHL. 1123)“ gilt: Günter Glauche: Adrevald. In: LexMA. Bd. 1. 1980, Sp. 165 f.
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Ausgangspunkt der narrativen Struktur, insofern die Exposition des Textes mit der Landnahme und Expansionspolitik der Langobarden in Italien nach der Mitte des 6. Jahrhunderts anhebt und die Zerstörung der von Benedikt von Nursia begründeten Abtei Montecassino schildert, des Stammklosters des benediktinischen Mönchtums. Dessen Verwüstung und Reduktion zum locus terribilis wird sodann die Neugründung des Klosters Fleury an der Loire als Gemeinschaft des ordo monasticus auf fränkischem Königsgut durch Abt Leodebod von St-Aignan d’Orléans gegenübergestellt, die in einiger Detailliertheit entsprechend dem Narrativ der Fundationsgeschichte entfaltet wird. Das eigentliche Translationsschema setzt indes mit der Figur des ersten Abtes von Fleury namens Mummolus und seiner Lektüre der Vita Benedicti in den Dialogen Gregors des Großen ein.²⁶ Angesichts der Zerstörung Montecassinos, die Benedikt in Gregors Bericht selbst vorausgesehen hatte,²⁷ und die Mummolus nun eindrücklich vor Augen steht, entsendet er – unter dem Eindruck göttlicher Offenbarung – seinen Mitbruder Aigulf nach Benevent, um die Gebeine Benedikts im gottverlassenen Montecassino zu bergen und nach Fleury zu überführen. Die von Fleury ausgehende ‚Schatzsuche‘ – und als ‚Schatz‘, thesaurus, wird denn auch das Gesuchte im Text immer wieder bezeichnet – erscheint potenziert und hat ein Doppel im Vorhaben einer Gesandtschaft aus der Stadt Le Mans, die sich ebenfalls aufgrund einer göttlichen Offenbarung auf den Weg nach Montecassino macht, um die Reliquien der Schwester Benedikts, der bei ihm bestatteten Scholastica, zu finden, und die bald in Fleury eintrifft. Beide Gruppen vereinigen sich und erreichen zusammen Rom. Von dort setzt Aigulf seine Expedition zunächst allein fort. Er gelangt als erster nach Montecassino und trifft hier auf einen ortskundigen Alten, auf dessen Rat hin er des Nachts ein Lichtwunder gewahrt, das ihm den Weg zu den Gräbern von Benedikt und Scholastica weist. Nachdem der ‚Schatz‘ gehoben ist, treffen auch die von Le Mans ein, und man macht sich gemeinsam auf den Heimweg, der jedoch mit der Verfolgung der fremden Eindringlinge und ‚Reliquiendiebe‘ durch den Papst und die mit ihm verbündeten Langobarden zur Fluchtgeschichte mutiert. Durch göttlichen Ratschluss aus höchster Gefahr gerettet und – in numinoser Finsternis verborgen – den Nachstellungen der Verfolger entzogen, gelingt die Rückkehr ins Frankenreich, wobei zwei Heilungsmirakel unterwegs die virtus der Heiligen demonstrieren, noch bevor man in Fleury eintrifft.²⁸ Die Authentizität der entführten Reliquien und die Wunderkraft der beiden Heiligen erweisen erst recht die Erweckungen zweier toter Kinder im Zuge des Adventus am Zielort, die zugleich die Unterscheidung und sichere Identifizierung der bislang ungeschiedenen, das heißt sich gegenseitig verdeckenden Gebeine des Be-
Les miracles de Saint Benoît (Anm. 25), S. 4 (c. 3). Gregor der Große: Vita Benedicti. Das Leben und die Wunder des verehrungswürdigen Abtes Benedikt. Lateinisch/Deutsch. Nach der Ausgabe von Adalbert de Vogüé übersetzt und kommentiert von Gisela Vollmann-Profe. Stuttgart 2015, S. 76 – 79 (XVII,1 f.). Vgl. Hedwig Röckelein: Über Hagio-Geo-Graphien. Mirakel in Translationsberichten des 8. und 9. Jahrhunderts. In: Mirakel im Mittelalter. Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen. Hrsg. von Martin Heinzelmann, Klaus Herbers, Dieter R. Bauer. Stuttgart 2002, S. 166 – 179, hier S. 174 f.
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nedikt und der Scholastica ermöglichen. Als die Delegation aus Le Mans mit den Reliquien der Scholastica weitergezogen ist, offenbart ein neuerliches Lichtwunder den Mönchen von Fleury die genaue Position, an der sie den „himmlischen Schatz“ (cœlestem thesaurum)²⁹ niederlegen sollen und wo der Heilige noch immer in der Größe des von Gott durch ihn gewirkten Heils bezeugt, wie sehr ihm Gott gewogen und wie genehm ihm seine neue Ruhestätte ist. Die enorme Wirkungsgeschichte dieses Textes hat das hier exponierte Repertoire stereotyper Handlungselemente und Stationen des Diebstahlnarrativs „zum Allgemeingut der späteren Berichte“ dieses Typus erhoben.³⁰ Dabei rückt wiederum die Figur der Wende sowohl für die narrative Struktur des Textes wie für den damit verfolgten Zweck in den Vordergrund. Denn speziell das Diebstahlnarrativ forciert das mit dem Typus der Translatio verbundene Konzept der Kehre: Ein verborgenes, anderen unerkanntes Heil, ein ,himmlischer Schatz‘, wird im Prozess eines gefährlichen Weges auf ein Ziel in unvertrauter Umgebung hin aufgefunden und dadurch sichtbar gemacht, von der Gruppe der Suchenden in Besitz genommen und ins Zentrum ihrer eigenen Lebenswelt oder, wie Manfred Sommer in phänomenologischer Perspektive formuliert hat, zum „Nullpunkt der Orientierung“ zurückgebracht.³¹ Dies „Entdecken“, wodurch „etwas Neues ins Bewußtsein [tritt]“,³² hat Folgen für das Selbstverständnis und die Orientierung der Gruppe wie für den Status des von ihnen aufgefundenen und heimgeführten Heils. Konkret verwandelt die Ankunft der BenediktReliquien in Fleury die ehedem an der Peripherie gelegene fränkische Mönchsgemeinschaft in einen Hauptort benediktinischen Lebens in der direkten Nachfolge Montecassinos, während die zuvor durch Entfremdung gekennzeichnete Verehrung des Gründervaters des abendländischen Mönchtums – so jedenfalls will es uns der Text suggerieren – in Fleury allererst in eine dem Status des Heiligen angemessene Ordnung überführt wird und Geltung erlangt. In diesem Sinne propagiert die Translationserzählung Adrevalds von Fleury die Abtei an der Loire als durch göttliche Providenz legitimierte Erbin Montecassinos und uneingeschränktes Zentrum eines erneuerten Benedikt-Kultes. Dass die von Adrevald betriebene Proklamation Fleurys zum schon immer vorbestimmten und favorisierten Heimat- und Ruheort des heiligen Benedikt gerade im bald wiedererstandenen Montecassino, wo man sich mit dem Verlust der Reliquien nicht abfinden mochte,³³ nicht auf Akzeptanz stieß, versteht sich Les miracles de Saint Benoît (Anm. 25), S. 14 (c. 15). Heinzelmann (Anm. 4), S. 99. Manfred Sommer: Suchen und Finden. Lebensweltliche Formen. Frankfurt a. Main 2002, S. 190. Ebd., S. 193. Vgl. Joachim Wollasch: Benedictus abbas Romensis. Das römische Element in der frühen benediktinischen Tradition. In: Tradition als historische Kraft. Interdisziplinäre Forschungen zur Geschichte des früheren Mittelalters. Hrsg. von Norbert Kamp, Joachim Wollasch. Berlin/New York 1982, S. 119 – 137. Schon Paulus Diaconus „tröstete seine Mitbrüder“ in seinem „Bericht der Tradition von der Ent- beziehungsweise Überführung der Benediktsreliquien von Monte Cassino nach Fleury an der Loire […] mit dem Besitz der zu Staub zerfallenen Reliquien Benedikts, die man ihnen nicht hätte rauben können“ (ebd., S. 123). Noch vorher, bereits um 750, sind laut Wollasch von päpstlicher Seite unter-
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von selbst. Immerhin soll „[n]ach der 3. Zerstörung von Montecassino i. J. 1944 […] das Doppelgrab von B[enedikt] und seiner Schwester Scholastica dort wieder entdeckt worden sein“.³⁴
III Das Diebstahlmotiv eröffnet auch die Erzählung von der Translation des heiligen Thomas von Aquin, für die ich speziell auf die deutsche Version eines lateinischen Berichts rekurriere, wie sie sich in zwei elsässischen Dominikanerinnenhandschriften aus der Mitte und vom Ende des 15. Jahrhunderts findet.³⁵ Bei der lateinischen Vorlage handelt es sich um eine vielleicht Ende der 1370er Jahre entstandene Serie von neun Lektionen³⁶ für das dominikanische Offizium zur Feier der Translatio am 28. Januar.³⁷ Sie setzt wohl die von Raymundus Hugonis im Auftrag des Ordensmeisters Elias Raymond verfasste Historia translationis voraus,³⁸ bietet im Vergleich aber eine durch die Funktion zur Erinnerung der Ereignisse im Rahmen der liturgischen Feier bedingte
stützte Anstrengungen der Mönche des wiedergegründeten Montecassino hinsichtlich einer Rückführung der Reliquien aus Saint-Benoît-sur-Loire dokumentiert. Rudolf Hanslik: Benedikt v. Nursia. In: LexMA. Bd. 1. 1980, Sp. 1867 f., hier Sp. 1868. Berlin, Staatsbibliothek – Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. oct. 452, fol. 80v–90v; München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 416, fol. 226r–232v (Textzitate im Folgenden nach der Münchner Handschrift). Der lateinische Ausgangstext liegt vor in: AASS Mart. I. Antwerpen 1668, S. 738 – 740 (unter der Überschrift: Alia historia translationis corporis s. Thomae). Vgl. Werner Williams-Krapp: Kultpflege und literarische Überlieferung. Zur deutschen Hagiographie der Dominikaner im 14. und 15. Jahrhundert. In: Ist mir getroumet mîn leben? Vom Träumen und vom Anderssein. Festschrift für Karl-Ernst Geith zum 65. Geburtstag. Hrsg. von André Schnyder u. a. Göppingen 1998, S. 147– 173, hier S. 157. In der Überlieferung der beiden deutschen Handschriften ist freilich die Unterteilung in neun Lektionen, wie sie die lateinischen Zeugen (etwa Toulouse, Bibliothèque municipale, Ms. 610, S. 67a– 74a; Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Vat. lat. 10153, fol. 34rb–36va) erkennen lassen, aufgegeben und damit der ursprüngliche liturgische Verwendungszusammenhang zugunsten der Akzentuierung eines Erzählkontinuums in den Hintergrund gerückt. Die narrative Kurzform vertritt im Verbund der hier jeweils tradierten Erzähltexte – insbesondere einer deutschen Übertragung der Thomas-Vita Wilhelms von Tocco, „ergänzt durch Stoffe aus der Thomas-Legende des Bernardus Guidonis“ (Williams-Krapp [Anm. 35], S. 157) – den eigentlichen Translationsbericht, die umfängliche Historia translationis des Raymundus Hugonis. Vgl. Constant J. Mews: The Historia translationis sacri corporis Thome Aquinatis of Raymundus Hugonis: An Eyewitness Account and its Significance. In: Relics, Identity, and Memory in Medieval Europe. Hrsg. von Marika Räsänen, Gritje Hartmann, Earl Jeffrey Richards. Turnhout 2016, S. 257– 284, hier S. 258 – 261. AASS Mart. I, S. 725 – 732. Dazu insbesondere Mews (Anm. 37), der zwei Fassungen des Textes unterscheidet.
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weit knappere Darstellung als Raymundusʼ bisweilen detailrealistisch ausgreifende und am Eindruck historischer Authentizität interessierte Narration.³⁹ Es liegt hier gerade eine Inversion des konventionellen Erzählschemas vom heiligen Reliquienraub (furta sacra), wie es die Benedikt-Translation repräsentiert, vor. Denn der Versuch eines lokalen Adeligen aus Priverno, die Gebeine des seit seinem Tod am 7. März 1274 (auf der Reise zum Konzil von Lyon) im Zisterzienserkloster Fossanova ruhenden Heiligen zu entwenden, um sie zu Geld zu machen und damit seine privaten Fehden zu finanzieren, wird von der göttlichen Providenz vereitelt: Wan die götliche gerechtickeit ist nit hilff bewisen den súndern Noch die blütigen vigentschafft erneren oder virdern mit dem heiltm der heiligen (Cgm 416, fol. 226v). Dem hier von materialistisch-profanem Gewinnstreben geleiteten Versuch einer Entfremdung des Heils, der im Zeichen der Krisis die weiteren Vorgänge allererst in Gang setzt und vor allem die Entbergung beziehungsweise Epiphanie des Heils herbeiführt, kommt der Graf Honoratus von Fondi (Onorato I. Caetani) zuvor: Auf göttliche Inspiration hin begibt er sich mit dem örtlichen Bischof und dem Abt von Fossanova zu Thomas’ Grab und entzieht den so kospern schatz (fol. 227r) illegitimem Zugriff, indem er ihn auf seinen Herrschaftssitz nach Fondi verbringt. Als die Mutter des Grafen und die Mutter des Bischofs beim Leichnam Wache halten – die Anklänge an den Besuch der beiden Marien am Grab Jesu bei Mt 28 sind deutlich – und dabei in Zweifel geraten, ob es sich tatsächlich um die Reliquien des Aquinaten handelt, offenbaren ihnen verschiedene Visionen des Heiligen jn dem gewand sins ordens (fol. 227r) die Authentizität des Heils und seine magische Potenz. Nachdem die Präsenz und Identität des Heils auf diese Weise wiederholt sichtbar geworden ist, gelangt die Kunde davon alsbald zum König von Sizilien, der die Reliquien des Heiligen aufgrund von dessen Herkunft für seine Dynastie und sein Land beansprucht, beim Grafen Honoratus allerdings kein Gehör findet, da der seine eigenen Lande des himmlischen Schatzes um weltlicher Reichtümer wegen nicht berauben will. Aus Furcht vor der Gewalt des sizilianischen Königs⁴⁰ lässt der Graf die Reliquien daher heimlich an ihren ursprünglichen Ort in
Vgl. Mews (Anm. 37), S. 261; Marika Räsänen: Thomas Aquinas’s Relics as Focus for Conflict and Cult in the Late Middle Ages. The Restless Corpse. Amsterdam 2017, S. 191. Die Handschrift Toulouse, Bibliothèque municipale, Ms. 610, nennt Aldrovandrinus von Ferrara als Kompilator des hier überlieferten Thomas-Offiziums (S. 66a–75b), das den Text der neun Lektionen (S. 67a–74a) einschließt: In festo translationis doctoris eximij sancti thome de aquino quod compilauit frater Aldrouandrinus de conuentu ferrariensi prouincie lombardie inferioris (S. 66a, Eingangsrubrik; Handschriftenkürzel sind hier wie im Folgenden aufgelöst). Mews identifiziert den Genannten mit Aldobrandinus von Ferrara, „inquisitor in that city 1373 – 78 and definitor (or associate provincial) of lower Lombardy, and entrusted by Elias [Raymond] in 1378 with gaining support for the Order from the newly elected Pope Urban VI.“ (Mews [Anm. 37], S. 262). Beide deutschen Handschriften übersetzen: Aber doch er vorcht daz nit der götlich gewalt gegen jm erzúrnet wúrd Vnd er leite den heiligen lib heimlichen wider an die stat dannen er jn genummen hatte (Cgm 416, fol. 227v). Dies entspricht dem Wortlaut der Handschrift Toulouse, Ms. 610, S. 69a: Metuens autem contra se diuinam concitare potenciam corpus sacrum in loco unde tulerat occulte recondidit. Andere lateinische Zeugen lesen dagegen (was mir im Kontext stimmiger erscheint): Metuens autem
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Fossanova zurückschaffen, holt sie aber, wiederum inspiriert vom Geist Gottes, bald wieder nach Fondi zurück. Als nun diese Vorgänge dem Generalmeister des Predigerordens bekannt werden, wendet er sich an Honoratus mit der Bitte, dem Orden die Gebeine seines berühmten Sohnes zu restituieren, und erlangt dazu die Zustimmung des Grafen. Dagegen opponieren jedoch die Zisterzienser von Fossanova und führen schwere Klage vor der römischen Kurie, die sich auf ihre Seite stellt und das Vorgehen der Dominikaner entschieden missbilligt, während sich der ‚Sturm‘ gegen die Dominikaner immer heftiger erhebt. Die entscheidende Wende ist jedoch, so das Credo des Textes, von der göttlichen Vorsehung längst beschlossen, um die verborgene worheit […] an daz lücht zu bringen und gerade die Durchächter zu verkúnder[n] der verborgnen gnoden (fol. 228v) zu machen. Und so zeigt sich das Gemüt des Papstes alsbald verwandelt, erheben sich am Tag des vom Aquinaten einst im Auftrag des Vorgängerpapstes Urban IV. liturgisch ausgestalteten Fronleichnamsfestes am päpstlichen Hof Stimmen, die die Restitution des Heiligenkörpers an den Predigerorden fordern, des er ouch eigen waz, woraufhin Urban V. dem Orden den ungeteilten heiligen Leib einschließlich des Hauptes, daz do ist gesin ein schatz schrin der götlichen wißheit (fol. 229v),⁴¹ unwiderruflich überträgt und der so grosse schatz im Dominikanerkonvent zu Toulouse in Gegenwart Ludwigs von Anjou, des Bruders des französischen Königs, sowie vieler Prälaten und einer vnzelichen menge des volcks der do worent hundert dusen vnd .l. dusen (fol. 230r) niedergelegt wird – was der Text mit den Worten kommentiert: Also […] ist der kospere schatz wider gevordert von Egipten also ist die edele gym die lang verborgen vnd verloren waz mit ertzúndtem liecht wider funden Also sint die gebein josepfs wider gefüret z sinem volck do von der heilige prediger orden der vor berbt waz vnd gemangelt het sins eignen schatzs der fröwt sich nn so er wider vmb het sinen eignen lererer den er erzogen het vnd gefürt [,gefördert‘] jn dem studium (Cgm 416, fol. 230rv)
Das Moment der Suche ist hier, jedenfalls im Sinne eines Wegschemas, in den Hintergrund gerückt. Statt der inventio akzentuiert die Narration das Hin und Her im Zuge der rivalisierenden Ansprüche diverser Individuen und Gruppen auf das Gefundene und ihrer Versuche, es tatsächlich in Besitz zu nehmen. Am Anfang steht dabei ein Versuch illegitimer, ‚verkehrter‘ Aneignung, der eine Reaktion der Vorsehung im Modus numinoser Offenbarung provoziert und damit die Epiphanie des Heils und dessen initiale elevatio durch den ‚Gottesdiener‘ Honoratus von Fondi auslöst. Auf diese Weise allererst sichtbar geworden, ist der ‚himmlische Schatz‘ bald unter-
contra se regiam concitare potentiam corpus sacrum in loco unde tollerat oculte recondidit (Biblioteca Apostolica Vaticana,Vat. lat. 10153, fol. 35ra; unter anderem danach AASS Mart. I, S. 739 Buchstabe A). Die Betonung, die hier auf der gemeinsamen Übertragung von Heiligenleib und Haupt liegt, wird verständlich, wenn man den Beginn der Historia translationis des Raymundus Hugonis hinzuzieht, wo berichtet wird, dass die Zisterzienser von Fossanova einst das Haupt vom Leib abgetrennt hätten, um die Reliquien leichter transportieren und sicherer verwahren zu können (AASS Mart. I, S. 725 [c. 1 Nr. 2]).
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schiedlichsten konkurrierenden Aneignungsvorgängen ausgesetzt, die in ihrer Potenzierung zugleich den exzeptionellen Wert des Begehrten ‚in aller Welt‘ signalisieren. An die Stelle des linearen Reiseschemas, wie es für die Benedikt-Translation in der Bewegung auf die singuläre elevatio und Besitznahme der Heiligenreliquien hin konturiert ist, tritt mithin eine Reihe von narrativen, das Muster der korrespondierenden Akte von elevatio und depositio iterierenden ,Kehren‘, die aber gleichwohl in der entscheidenden Wende, die die finale Restitution des Heiligenkörpers an die Dominikaner und die Translation nach Toulouse⁴² herbeiführt, überhöht und aufgehoben sind. Die für den Basisnexus konstitutive klimatische Sequenzierung von elevatio und despositio hat freilich noch einen – diese reflektierenden – Nachklang, eine Coda, in der Translation des rechten Armes des Aquinaten nach Paris und dessen Empfang durch den König von Frankreich, Karl V.⁴³ Finden meint im Fall der Thomas-Translation „Wiederfinden“, das heißt, es „stellt sich eine Ordnung, die gestört war, wieder her“.⁴⁴ Der Text bringt dies zum Ausdruck mit der Anspielung auf die Rückkehr der Gebeine Josefs aus Ägypten. Die Heimkehr der Thomas-Reliquien in den Schoß des Ordens, dem sie so lange entfremdet und unrechtmäßig entzogen waren, wird damit in heilsgeschichtliche Zusammenhänge emporgehoben und gleichsam als Postfiguration der Translation der sterblichen Überreste Josefs im Zuge des Exodus gedeutet. In der Perspektive der Angehörigen des Predigerordens stiftet die Erzählung von der Rückkehr des Heiligenkörpers des Doctor angelicus Orientierung und Sicherheit, indem sie die zuallererst dominikanische Identität und Prägung des in aller Welt hochgeschätzten und verehrten Gottesfreundes, den genuinen und exklusiven Anspruch des Ordens auf diesen prominenten Heiligen und seine Reliquien und schließlich die göttliche Sorge um seine Ordensfamilie im Sinne einer Gott in besonderer Weise verbundenen und von ihm ausgezeichneten Heilsgemeinschaft proklamiert. Vor diesem Hintergrund profiliert der Text eingangs seinen Beitrag zur Memoria dieser Ereignisse unter den Vorzeichen grosse[r] fröide im Kontext der liturgischen Feier des ,neuen Festes‘⁴⁵ der Translatio des Heiligen:
Dass die Thomas-Reliquien am Ende im Konvent zu Toulouse niedergelegt wurden, hatte verschiedene Gründe. Die Grafschaft Toulouse war einerseits die ‚Geburtskammer‘ des Ordens (hier hatte Dominikus die Gemeinschaft zur Missionierung der Katharer begründet), andererseits war Papst Urban V. um eine Förderung der zum Ende des Albigenserkreuzzuges im Jahr 1229 etablierten und beim Dominikanerkonvent angesiedelten Universität Toulouse und speziell ihrer Theologischen Fakultät bemüht (vgl. Mews [Anm. 37], S. 274 f.). Vgl. dazu – speziell mit Blick auf die politischen Implikationen zugunsten der Herrschaft des Hauses Valois – Earl Jeffrey Richards: Ceremonies of Power: The Arrival of Thomas Aquinas’s Relics in Toulouse and Paris in the Context of the Hundred Years War. In: Räsänen/Hartmann/Richards (Anm. 37), S. 319 – 352. Sommer (Anm. 31), S. 193. Von der Einführung eines neuen liturgischen Offiziums (totum duplex, das heißt im Rang eines höchsten Festes) zur Feier der Translatio innerhalb des Predigerordens ist zum ersten Mal auf dem
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Aller liebsten wir söllen vns fröwen jn got dem herrn vnd jn geistlichem jubel eins nuwen hochzites frölich sin · Wan so die erliche translacio sancti Thome von aquin wider gedocht vnd begangen wurt so wurt vns ernuweret die sach der lang begerten fröiden · dem heiligen orden der bredigern ist z brocht grosse fröide do er jn sinen eignen richtm het wider getragen sinen schatz der jn der frembde gehebt vnd gehalten waz (Cgm 416, fol. 226rv)
IV Für das Erzählverfahren des mittelalterlichen Translationsberichts ist die Figur der Wende konstitutiv. Ihre genuine ,Sujethaltigkeit‘⁴⁶ gewinnen die Texte im Merkmal der Umkehr. Sie erzählen auf der Ebene der histoire von der spezifischen Überschreitung einer Grenze, wodurch eine Entfremdung rückgängig gemacht oder überwunden und zunächst Unverfügbares verfügbar wird. Sie handeln konkret davon, wie transzendentes Heil unter den Konditionen der Immanenz durch göttliche Gnade sichtbar gemacht und für ein bestimmtes Kollektiv, dessen Perspektive und Interesse die Texte verfolgen, zugänglich und aufgrund legitimen Besitzes für kultische Verehrung disponibel wird, was wiederum Prozesse der Traditionsbildung und Identitätsstiftung befördert. Ihr Basisnexus besteht dabei aus einem variablen und erweiterbaren, mehr oder minder stereotypischen Stationenschema, das je nach der historischen Situation und dem Profil der Gruppe, für die erzählt wird, verschieden besetzt ist, immer aber die entscheidende Wende aufweist, dass verborgenes Heil in Gestalt von ,Primär-‘ oder ,Sekundär-Reliquien‘⁴⁷ – allen voran der Kontaktreliquien und Heilszeichen des Mensch gewordenen Gottes – im Sinne einer Epiphanie erscheint, für die Gruppe erstmals erworben oder wiedererlangt wird und aufgrund der solcherart offenbarten Teilhabe am jenseitigen Heil (neue) Orientierung, Stabilität und Sicherheit stiftet. In dieser Umkehrfigur offenbart sich eine strukturelle Analogie zum Prinzip der conversio der hagiographischen Vita, nur geht es dort freilich um die Perspektive des individuellen Lebensweges des ,ethischen Virtuosen‘ und ,magischen Helfers‘⁴⁸ und seine Neuausrichtung in „Lösung und Neubindung“,⁴⁹ im Zeichen einer Korrektur von Entfremdung durch Besinnung, während der Translationsbericht zuvorderst die kollektive Erfahrung, die durch göttliche Verfügung und Vorbestimmung gnadenhaft
Generalkapitel des Ordens von 1370 die Rede. Es lag sechs Jahre später offenbar fertig ausgearbeitet vor und konnte im Orden durch Abschriften verbreitet werden (vgl. Mews [Anm. 37], S. 258 f.). Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von Rolf-Dietrich Keil. 4. Aufl. München 1993, S. 338. Arnold Angenendt: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. 2., überarbeitete Aufl. München 1997, S. 156. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Faszinationstyp Hagiographie. Ein historisches Experiment zur Gattungstheorie. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von Christoph Cormeau. Stuttgart 1979, S. 37– 84. Peter Strohschneider: Höfische Textgeschichten. Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur. Heidelberg 2014, S. 193.
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gewährte exklusive Partizipation einer spezifischen Gemeinschaft am (wieder) erschienenen, gegenwärtig gewordenen Heil im Auge hat und prinzipiell das Moment der heilsgeschichtlichen Wende iteriert, wodurch man sich stets aufs Neue deren Geltung versichert. Nicht der Einzelne also bewegt sich in Abkehr von der Welt zum Heil hin (so das Schema der Vita), sondern das geoffenbarte Heil tritt in den Verfügungs- und Teilhabebereich der Gruppe ein, der es zuvor entfremdet oder entzogen war und die es nun in legitimer Weise besitzt (dies die Logik des Translationsberichts).⁵⁰ Translationsberichte erzählen – nicht anders als Robert Louis Stevensons Treasure Island – vom Erwerb eines Schatzes, der einem zunächst nicht gehört. Dass einem dieser Schatz letztlich tatsächlich in die Hände fällt und menschliche Suche an ihr ordnungs- und orientierungsstiftendes Ziel gelangt, ist hier wie dort das Resultat einer basalen narrativen Wende. Während die entscheidende Umschlagbewegung in Stevensons Roman jedoch im Zeichen der Exposition von Kontingenz reflektiert wird, etwa indem der Erzähler Jim Hawkins „eine seltsame Verkettung von Umständen“ dafür verantwortlich macht, dass „am Ende tatsächlich“ er selbst „die Rettung herbeiführen“ sollte (and yet, by an odd train of circumstances, it was indeed through me that safety came),⁵¹ ist die analoge Erfahrung von Kontingenz im Translationsbericht stets im ewigen Walten der Providenz aufgehoben, der der vom Text präsentierte Ausgang der Ereignisse der erzählten Welt und die daraus hervorgehende Traditionsbildung als längst vorhergewusst und so und nicht anders festgelegt zugeschrieben wird. Die Differenz im literarischen Entwurf von Welt und ihrer Bewältigung ist so neuerlich Ergebnis einer Wende – diesmal allerdings einer fundamentalen Zeiten- und Wertewende.
Geary erwägt mit Blick auf den Übergang des Heiligenkörpers in eine neue Gemeinschaft speziell für den Typus der ,Diebstahlgeschichten‘ Affinitäten zum Modell der rites de passage, insofern sich auch hier die Stadien der Trennung, der Liminalität und der Angliederung strukturell unterscheiden ließen: „The theft of such relics then becomes a ritual kidnapping and the translatio becomes the story of how an important powerful individual leaves his home, wanders through many dangers, and finally is welcomed into a position of honor and authority in a new community. The ,heroes‘ of the translationes were not the thieves, but the saints themselves“ (Geary [Anm. 9], S. 125 f.). Mir kommt es hingegen zunächst auf die Perspektive des Kollektivs an, für das erzählt wird. Stevenson: Schatzinsel (Anm. 1), S. 113 f.; Stevenson: Treasure Island (Anm. 1), S. 66.
Literarische Modelle der Umkehr
Bernd Bastert
Kehre und Wi(e)derkehre Zur heroischen conversio Das Wortfeld ‚Kehre‘ und ‚bekehren‘ besitzt während des gesamten Mittelalters eine differenziertere Semantik als in der Moderne. Es kann, in einem motorischen Sinn, sowohl ‚umkehren, die Wegrichtung ändern‘ bedeuten als auch ganz allgemein ‚ändern, verwandeln‘ und schließlich, in einem konzeptuellen Sinn, ‚seine innere, insbesondere religiöse Einstellung radikal ändern‘.¹ ‚Kehre‘ und ‚bekehren‘ werden dann weitgehend gleichbedeutend mit dem religiösen Konzept der conversio. In eben diesem Sinn möchte ich es im Folgenden verstehen. Die ‚Kehre‘ ist demnach kein vom Autor kunstvoll inszenierter, den Figuren jedoch oft willkürlich, unverständlich, zufällig erscheinender Wendepunkt oder eine Peripetie der Erzählung, die die Akteure (scheinbar) aus dem Nichts treffen und solcherart eine neue Erzählsituation herbeiführen, die eine biographische oder wenigstens doch situative Reaktion erfordert. Die ‚Kehre‘ im gerade beschriebenen Sinn setzt vielmehr eine intradiegetisch mehr oder weniger deutlich markierte Szene der metanoia, der bewussten Abkehr der jeweiligen Figur vom bisherigen Verhalten und/oder Leben voraus.² Oft geschieht das in Form eines inneren Monologs oder eines Zwiegesprächs mit anderen literarischen Akteuren, die auch Figuren der Transzendenz sein können. Das Resultat ist dann nicht selten ein Rückzug aus der Welt und ihren Verstrickungen und Verlockungen – die freilich ebenfalls in der Abgeschiedenheit eines Klosters oder einer Klause die Bekehrten noch anfechten können. Dieses Narrativ ist, wie kürzlich Christel Meier gezeigt hat, im lateinischen biographischen Schrifttum seit dem Hochmittelalter in unterschiedlichen Ausprägungen bekannt. Nach dem Eintritt ins Kloster und der damit einhergehenden Abwendung von der Welt sind – und darauf kommt es in diesem Zusammenhang besonders an – die Prüfungen der Konversen oft noch keineswegs beendet, denn das Narrativ der conversio umfasst mehrere Stufen oder Phasen: Die erste Phase beschreibt einen Rückzug und eine Umkehr aus der Welt zu sich selbst, die den Empfang der Gnade vorbereitet; die zweite Phase ist einerseits Befestigung im moralisch richtigen Handeln, andererseits Fortschritt in der Erkenntnis, verbunden mit Anstrengungen und Prüfun-
Vgl. Matthias Rein: Conversio deutsch. Studien zur Geschichte von Wort und Konzept ‚bekehren‘, insbesondere in der deutschen Sprache des Mittelalters. Göttingen 2012 (Historische Semantik. 16). Vgl. zu diesem (literarischen) Konzept Tomas Luckmann: Kanon und Konversion. In: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. Hrsg. von Aleida Assmann, Jan Assmann. München 1987, S. 38 – 46. https://doi.org/10.1515/9783110706093-011
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gen; die dritte Phase ist Lohn und Ruhe, Kontemplation und Gottesschau, Liebe. Der Weg zu diesem Ziel ist ein diskontinuierlicher, auch disharmonischer, von Krisen und Kämpfen geprägt.³
Meine Ausgangsfrage ist, ob sich dieses aus der lateinischen Ego-Literatur gut bekannte mehrstufige, zeitlich und/oder räumlich zerdehnte Schema möglicherweise auch in der kontemporären volkssprachigen weltlichen Literatur ausmachen lässt, in der das Narrativ der conversio, in unterschiedlichen Formen, bekanntlich ebenfalls verbreitet ist und in verschiedensten Genres, von Chroniken über Romane bis zur Lyrik, nachgewiesen werden kann.⁴ Mein Untersuchungsmaterial stammt dabei hauptsächlich aus dem Bereich der französischen Heldenepik und deren deutschen Bearbeitungen, da sich gerade in diesem Genre, in dem man ein klerikal-geistlichen Schreibtraditionen verpflichtetes Narrativ auf den ersten Blick vielleicht nicht unbedingt erwarten würde, eine Reihe von Textbeispielen ausmachen lässt, die sich zum Vergleich untereinander anbieten. Ergänzend soll überdies die deutsche beziehungsweise germanische Heldenepik herangezogen werden.
I Zu Anfang meines Beitrags, der sich nicht zuletzt als eine Art exemplarischer Bestandsaufnahme versteht, soll allerdings ein Typus von ‚Kehren‘ und conversiones in der französischen Heldenepik und deren deutschen Bearbeitungen stehen, die dem eben erwähnten zerdehnten Schema zwar nicht vollkommen entsprechen, die jedoch nicht unerwähnt bleiben sollen, weil es sich dabei ganz offensichtlich gleichfalls um radikale erzählerische Wendepunkte im Leben der dargestellten Figuren handelt. Gemeint sind vergleichsweise plötzliche Umkehrungen und gänzliche Neuorientierungen des religiösen Verständnisses. In der französischen Chanson de geste und deren deutschen Adaptationen betrifft das sehr oft Frauen, genauer: Sarazeninnen, die sich Hals über Kopf in christliche Kämpfer verlieben und dafür ihr bisheriges
Christel Meier: Krise und Conversio. Grenzerfahrungen in der biographischen Literatur des Hochmittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 50 (2016), S. 21– 44, hier S. 42. Das Religionsgespräch findet sich in Version *R in V. 110,1– 122,31. Vgl. dazu insbesondere die Beiträge in Julia Weitbrecht, Werner Röcke, Ruth von Bernuth (Hrsg.): Zwischen Ereignis und Erzählung. Konversion als Medium der Selbstbeschreibung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/Boston 2016; zu conversiones, die mit einem Rückzug aus der Welt einhergehen, vgl. Corinna Biesterfeldt: Moniage. Der Rückzug aus der Welt als Erzählschluß: Untersuchungen zu Kaiserchronik, König Rother, Orendel, Barlaam und Josaphat, Prosa-Lancelot. Stuttgart 2004; dies.: Das Schlußkonzept moniage in mittelhochdeutscher Epik als Ja zu Gott und der Welt. In: WS 18 (2004), S. 211– 229; Wolfgang Haubrichs: Bekennen und Bekehren (Confessio und Conversio). Probleme einer historischen Begriffs- und Verhaltenssemantik im zwölften Jahrhundert. In: WS 16 (2000), S. 121– 156; Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, besonders S. 158–169 (Das Phantasma des moniage). Mit reichem Textmaterial und vielen Beispielen aus unterschiedlichen Gattungen vgl. aus sprachwissenschaftlicher Perspektive auch Rein (Anm. 1).
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Leben, ihre familiären Bindungen, aber eben auch ihre Religion aufgeben und fast unverzüglich zu Christinnen werden. Introspektionen und das Räsonnieren über das bisherige Leben sind jedoch selbst hier in manchen Fällen rudimentär vorhanden, insbesondere dann, wenn es sich um Figuren handelt, die eine wichtige Rolle in der Erzählung spielen. Bekanntestes Beispiel dafür ist im deutschsprachigen Bereich ohne Zweifel Arabel, die spätere Gyburc, die sich, wie in Ulrichs von dem Türlin gleichnamigem Text dargestellt, von dem in heidnische Gefangenschaft geratenen Willehalm über schwierige theologische Fragen des christlichen Glaubens, etwa den dreieinigen Gott oder die Jungfrauengeburt, aufklären lässt, später dann mit Willehalm flieht und sich taufen lässt.⁵ Anfechtungen oder eine Krise im Leben des neuen Glaubens werden aber weder in der Arabel noch in den beiden anderen Texten der Willehalm-Trilogie, in denen Arabel/Gyburc ebenfalls auftritt, jemals zum Thema. Im Gegenteil, Gyburc versucht später sogar ihrerseits, wie dies im Willehalm geschildert wird, auch ihren Vater zum Christentum zu bekehren, dessen Überlegenheit selbst in der berühmten Schonungsrede für die Konvertierte völlig außer Frage steht.⁶ Gegen Ende der Willehalm-Trilogie wird in Ulrichs von Türheim Rennewart dann auch folgerichtig, und im Unterschied zur französischen Vorlage, geschildert, wie sie der Welt entsagt, ins Kloster geht und nach ihrem Tod sogar zur Heiligen wird.⁷ Diesem, in der Arabel/Gyburc-Figur sehr weitgehend ausgearbeiteten, narrativen Muster der verliebten Sarazenin, die konvertiert und zur vorbildlichen Christin wird – ein Motiv, das schon in zeitgenössischen lateinischen Berichten über den ersten Kreuzzug begegnet – entsprechen zahlreiche Figuren in der französischen Heldenepik.⁸ Wenn hin-
Ulrich von dem Türlin: Arabel. Die ursprüngliche Fassung und ihre Bearbeitung. Kritisch hrsg. von Werner Schröder. Stuttgart/Leipzig 1999. Das Religionsgespräch findet sich in Version *R in V. 110,1– 122,31. Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Nach der Handschrift 857 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Mittelhochdeutscher Text, Übersetzung, Kommentar. Hrsg. von Joachim Heinzle. Mit den Miniaturen aus der Wolfenbütteler Handschrift und einem Aufsatz von Peter und Dorothea Diemer. Frankfurt a. Main 1991 (Bibliothek des Mittelalters. 9), V. 215,1– 222,9 (Religionsgespräch) u. V. 306,1– 310,30 (Schonungsrede). Das trifft sich mit Überlegungen, wie sie Luckmann (Anm. 2) an Konversionserzählungen konstatiert hat. Ulrich von Türheim: Rennewart. Aus der Berliner und Heidelberger Handschrift. Hrsg. von Alfred Hübner. Berlin 1938 (DTM. 39). Der Rennewart wird im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert. Zu Gyburgs Heiligkeit vgl. V. 34159 – 34166 u. V. 35841– 35891. Vgl. zum Motiv der in den französischen Chansons de geste häufig begegnenden ‚verliebten sarazenischen Prinzessin‘, das sich schon in lateinischen Kreuzzugsberichten nachweisen lässt, Frederick M.Warren: The Enamoured Moslem Princess in Orderic Vitalis and the French Epic. In: PMLA 29 (1914), S. 341– 358; Jacqueline de Weever: Sheba’s Daughters. Whitening and Demonizing the Saracen Woman in Medieval French Epic. New York 1998, besonders S. 3 – 52; Lynn Tarte Ramey: Christian, Saracen and Genre in Medieval French Literature. Imagination and Cultural Interaction in the French Middle Ages. New York 2001, besonders S. 40 f.; Amy G. Remensnyder: Christian Captives, Muslim Maidens, and Mary. In: Speculum 82 (2007), S. 642– 677; Simon Yarrow: Prince Bohemond, Princess Melaz and the Gendering of Religious Difference in the Ecclesiastical History of Orderic Vitalis. In: Intersections of
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gegen sarazenische Krieger konvertieren, geschieht das üblicherweise nicht aus Liebe, vielmehr weil sie, meist nach einer militärischen Niederlage, die Überlegenheit der christlichen Religion oder besser: die der christlichen Krieger erkennen. Falls doch einmal ein in eine Christin verliebter Sarazene begegnet, ist die Figur oft schwankhaft gebrochen und als liebestoll gezeichnet. Man denke etwa an Rennewart und dessen Liebe zur Königstochter Alise oder – wenn diese Abschweifung zum Parzival erlaubt ist – an Feirefiz und Repanse de Schoye. Und selbstverständlich wird der umgekehrte Fall, also die Konversion vom Christentum zum Heidentum, nur äußerst selten und wenn, dann natürlich nicht positiv, sondern als Verrat dargestellt.⁹
II Freilich entsprechen diese ‚Kehren‘ vom Typus nicht jenem gestuften Erzählmodell einer teilweise extrem zerdehnten conversio, die metanoia und confessio mit anschließendem Rückzug aus der Welt umfasst, inklusive weiterer Anfechtungen im Kloster oder der selbstgewählten Einsamkeit und schließlicher Kontemplation, die Ruhe und im Idealfall Gottesschau einbringt (vgl. Meier). Doch auch dieses Narrativ begegnet, wie bereits angedeutet, in charakteristischer Überformung in der französischen Heldenepik durchaus – und stärker noch in deren deutschen Adaptationen. Sehr deutlich trifft dies etwa auf den Reinolt von Montelban zu. Eine deutschsprachige Fassung dieses Werks, die auf das gegen Ende des 13. Jahrhunderts entstandene französische Epos um Renaut de Montauban und damit auf eine der berühmtesten französischen Chansons de geste überhaupt zurückgeht, ist, wohl nach niederländischer Vorlage, bereits im frühen 14. Jahrhundert erstmals ins Niederdeutsche (Westfälische) übertragen worden. Von dieser Bearbeitung, dem so genannten Günser Reinolt, hat sich allerdings nur ein Fragment von gut 300 Versen erhalten.¹⁰ Eine sehr ähnliche, aber vollständige Fassung, offenbar die recht genaue Übersetzung einer wiederum niederländischen Quelle, die auf einen französischen
Gender, Religion and Ethnicity in the Middle Ages. Hrsg. von Cordelia Beattie, Kirsten A. Fenton. Basingstoke/New York 2011, S. 140 – 157. Figuren, die vom Christentum abfallen oder mit den heidnischen Sarazenen gemeinsame Sache machen, büßen das meist mit dem Tod, so z. B. Genelun im französischen und deutschen Rolandslied oder Isembart in der nur fragmentarisch erhaltenen französischen Chanson de geste Gormont et Isembart (vgl. die Übersetzung des französischen Fragments, in dem sich zufällig gerade die Passage um Isembarts Tod erhalten hat: Ute von Bloh, Bernd Bastert: Loher und Maller, Herzog Herpin. Kommentar und Erschließung. Berlin 2017 [Texte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit. 55], S. 331– 347). Einen Sonderfall stellt Alheit aus dem Herzog Herpin (vgl. Anm. 18) dar, die aus Gründen des Selbstschutzes in sarazenischer Umgebung vorgibt, keine Christin mehr zu sein. Sie büßt dafür mit jahrelangem Leiden als gesellschaftlich Ausgestoßene. Zwar wird sie letztlich wieder in die christliche Gesellschaft reintegriert, stirbt jedoch sehr bald – und wird zur Heiligen. Vgl. Gustav Roethe: Günser Bruchstück des mittelniederdeutschen Renout van Montalbaen. In: ZfdA 48 (1906), S. 129 – 146.
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Prätext zurückgeht, entstand um 1470 in der Umgebung des Heidelberger Hofes.¹¹ Knapp 90 Prozent dieses Textes handeln von der militärischen, mit Kampf und Tod einhergehenden Rebellion Reinolts und seiner Brüder, der vier Haimonskinder, gegen Karl den Großen, der als keineswegs vorbildlicher, aber letztlich unbesiegbarer, da unter Gottes Schutz stehender Herrscher gezeichnet ist. Am Ende der politischen und militärischen Auseinandersetzung, in deren Verlauf Reinolt eigenhändig Ludwig, Karls Sohn und somit den designierten Thronfolger, getötet hatte, müssen die Haimonskinder die Herrschaft des Kaisers anerkennen, woraufhin es dann zur Versöhnung kommt – und zu einer recht abrupten ‚Kehre‘. Denn nach der Aussöhnung mit Karl verzichtet Reinolt zugunsten seiner Söhne auf seine angestammte Herrschaft, geht in die Einöde und trifft wenig später in einem undurchdringlichen Wald auf einen Eremiten (V. 13344 ff.): Ihm beichtet er seine Sünden, insbesondere den ihn sehr belastenden Mord am Thronfolger, und zeigt sich bußfertig (V. 13391– 13402). Die vom Eremiten auferlegte Buße besteht in Gebeten, Fasten und Entbehrungen. Das aber setzt dem ehemaligen Helden so stark zu, dass er an körperlicher Schwäche zu sterben droht und daran verzweifelt (V. 13473 f.). In einer göttlichen Vision wird dem Eremiten eine Lösung für diese krisenhafte Situation nach Reinolts conversio eröffnet, die er sogleich Reinolt mitteilt: Für die Dauer eines Jahres solle der ins Heilige Land ziehen, dort gegen die Feinde Gottes kämpfen und danach wieder zurückkehren. Reinolt tut wie ihm geheißen und dank ihm, der seine überragenden körperlichen und militärischen Fähigkeiten nun im Kampf für die Christenheit einsetzt, gelingt die Befreiung Akkons und Jerusalems von den torcken. Die ihm dafür vom Patriarchen angetragene Würde eines Königs von Jerusalem lehnt Reinolt demütig ab. Der Patriarch vergibt ihm daraufhin all seine Sünden (V. 14470 ff.) und noch vor Ablauf des gewährten Jahres kehrt er wieder zurück. Wieder daheim, geht Reinolt zwar nicht in die eremitische Einsamkeit zurück, die ihm so schwer zugesetzt hatte, führt aber ein gottgefälliges Leben, indem er sich – als eine Art Tertiar – als einfacher Arbeiter, als werkman, verdingt (V. 14916 ff.). Als er vom Bau des Kölner Doms hört, begibt er sich dorthin und setzt, ohne seine Identität aufzudecken, seine heroischen Körperkräfte zur Errichtung dieses gewaltigen christlichen Bauwerks ein. Er arbeitet länger und effektiver als die übrigen Kölner Werkleute und verlangt zudem nur sehr bescheidenen Lohn, um sich lediglich das zum Überleben Allernotwendigste kaufen zu können. Die wegen Reinolts Lohndumping erbosten, tariflich bezahlten Arbeiter erschlagen die unliebsame und ihnen unbekannte Aushilfskraft schließlich, stecken die Leiche in einen mit Steinen beschwerten Sack und wollen sie im Rhein versenken. Reinolts Körper aber verschwindet wunderbarerweise nicht in den Fluten und wird vom Fluss auch nicht fortgetrieben. Nachdem der Leichnam geborgen ist, wird eine seit Jahren kranke Frau durch dessen Berührung geheilt. Der herbeigerufene Bischof kann Reinolt durch einen Gürtel, den er unter seinem einfachen Gewand getragen hatte, identifizieren
Vgl. Reinolt von Montelban oder Die Heimonskinder. Hrsg. von Friedrich Pfaff. Tübingen 1885 (BLV. 174).
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(V. 15161 f.) und möchte den wundertätigen Leichnam in Köln behalten. Die Bitte einer Dortmunder Delegation, die ihn in die dortige, neu erbaute Kirche überführen möchte, weist er zurück. Reinolts Leichnam aber fährt mit dem Karren, auf den man ihn gelegt hatte, ganz ohne Pferde von allein nach Dortmund. Es ist offenkundig, dass der heldenepische Stoff durch einen Schluss ergänzt wird, der alle Anzeichen einer gestuften, zeitlich und räumlich gedehnten, conversio trägt, wie sie ähnlich aus der lateinischen Ego-Literatur bekannt ist: den Entschluss zur Weltentsagung, Beichte und Buße, daraus resultierende krisenhafte Anfechtungen, die mit göttlicher Hilfe nicht nur überwunden, sondern sogar ins Positive gewendet werden, und schließlich das Erreichen der ewigen Seligkeit und der Gottesschau.¹² Allerdings ist hier eine gleichsam heroische Variante gewählt, die die besonderen Fähigkeiten der heldischen Figur, körperliche wie militärische, zu nutzen und in das Narrativ einzupassen vermag. Man kann diese literarische Inszenierung als einen ‚höfischen Kompromiss‘ bezeichnen, der adelige und klerikale Werte und Vorstellungen in idealer Weise vereint.¹³ Worauf es dabei besonders ankommt, ist die Tatsache, dass das Verlassen der eremitischen Lebensform, also die Abkehr von der ‚Kehre‘, keinen erzählerischen Bruch darstellt, sondern die conversio nur zeitlich und auch räumlich dehnt, sie dadurch aber gerade bestätigt und noch befestigt. Denn die Rückkehr in die Welt ist hier mitnichten Rückkehr in die alte heldische Lebensform, ist vielmehr Gottesdienst mit der Waffe und durch heroische Kräfte. ‚Kehre‘ und ‚Wiederkehre‘ sind hier zwei Seiten einer Medaille. Dieses spezifisch epische (Erzähl)Modell einer heroischen conversio funktioniert nicht immer so glatt wie im Reinolt. Es lässt sich indes auch in anderen Texten aus jenem Register beobachten und scheint zum festen Inventar mindestens buchepischen Erzählens gehört zu haben. Bekannt ist es vor allem in Form des moniage, also eines Helden, der ins Kloster eintritt, den Konvent jedoch zeitweise, zum Teil auch mehrfach oder sogar dauerhaft, wieder verlässt, um zu kämpfen.¹⁴ Wie unterschiedlich dieses Modell ausgestaltet werden konnte, lässt sich gut an einem Vergleich des Klosterlebens von Guillaume/Willehalm und Rainouart/Rennewart in den französischen Chansons de geste und den entsprechenden deutschen Bearbeitungen stu-
Eine aus einer Kölner Handschrift des 15. Jahrhunderts bekannte Kurzfassung des Reinolt-Stoffes konzentriert sich noch sehr viel stärker auf den legendarischen Schluss, der dort etwa die Hälfte des gesamten Textes ausmacht; vgl. die Edition von Beate Weifenbach unter Mitarbeit von Walter Kettemann: Die Historie van sent Reynolt. In: Reinoldus und die Dortmunder Bürgergemeinde. Die mittelalterliche Stadt und ihr heiliger Patron. Hrsg. von Thomas Schilp, Beate Weifenbach. Essen 2000, S. 122 – 156. Vgl. Müller (Anm. 4). Vgl. zum literarischen Moniage-Modell aus stoffgeschichtlicher Perspektive Nils Borgmann: Der Kriegsheld im Kloster. Das Motiv des Moniage und die romanisch-germanischen Literaturbeziehungen auf dem Gebiet der Heldenepik. In: Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische Chanson de Geste im europäischen Kontext. Hrsg. von Susanne Friede, Dorothea Kullmann. Heidelberg 2012 (GRM. 44), S. 127– 150; ders.: Matière de France oder Matière des Francs? Die germanische Heldenepik und die Anfänge der Chanson de Geste. Heidelberg 2013 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 43 – 64.
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dieren.¹⁵ In den französischen Texten sind die Stufen der conversio, confessio und schließlich auch die contemplatio und der Eingang in die ewige Seligkeit durchaus enthalten, sie werden aber gebrochen durch eine Erzählweise, die wenig Zweifel daran lässt, dass die ‚Kehre‘ hier deutliche parodistische Tendenzen besitzt – und das heißt zugleich, dass das Grundmodell gut bekannt gewesen sein muss, denn sonst funktioniert die Parodie nicht. Schon direkt zu Beginn des französischen Moniage Guillaume wird der Gegensatz zwischen Guillaume und seinen klösterlichen Mitbrüdern ausgestellt, wenn der Abt den nicht mehr ganz jungen adligen Novizen fragt, ob er singen und lesen könne, und Guillaume darauf die lakonische Antwort gibt: „Ja, ohne in ein Buch zu schauen.“ (V. 130 f.) Auch dass für den riesigen Kämpen Guillaume keine passende Mönchskutte gefunden werden kann und er infolgedessen in seinem viel zu kurzen Habit eine nicht eben würdevolle Figur abgibt (V. 150 ff.), demonstriert augenfällig die Unterschiede zwischen den beiden Ständen. Hierzu zählt ebenfalls die Beschreibung Guillaumes als um die Einhaltung der strengen Klosterregeln bemühter Novize, der allerdings seine über viele Jahre anerzogenen beziehungsweise angeborenen Affekte nie bezähmen kann und sich demzufolge als stets hungrig, durstig und vor allem als gewalttätig im Umgang mit seinen klösterlichen Mitbrüdern erweist. Die zu Beginn der Chanson de geste bereits sorgfältig vorbereitete Darstellung der divergierenden Mentalitäten wird im weiteren Verlauf erzählerisch fruchtbar gemacht, wenn der Abt jenes Klosters, in dem Guillaume so unwillkommen ist, diesen zu beseitigen versucht, indem er Guillaume vorsätzlich auf eine lebensgefährliche Mission schickt, ihm jedoch, unter Verweis auf die Gelübde, verbietet, sich zu verteidigen (V. 291 ff.). Guillaume unterwirft sich zwar äußerlich dem ihm völlig unverständlichen Gebot, nutzt später allerdings ein dem Abt abgerungenes Zugeständnis (Guillaume dürfe sich einzig dann, allerdings nur mittels ‚Fleisch und Knochen‘, verteidigen, wenn man ihn seiner Unterhosen berauben wolle), um – gleichsam durch sorgfältige Wortexegese – sein gewohntes Verhalten beibehalten zu können. Indem er nämlich Räuber, die er durch den Gesang eines ihn begleitenden Dieners eigens angelockt hat, ausdrücklich auf einen sehr
Moniage Guillaume: Les deux rédactions en vers du Moniage Guillaume. Chansons de geste du XIIe siècle, publiées d’après tous les manuscrits connus. 2 Bde. Hrsg. von Wilhelm Cloetta. Paris 1906, 1911. Der Moniage Guillaume wird im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert. Eine ausführliche Inhaltsangabe des französischen Moniage Guillaume (I und II) bietet Thordis Hennings: Französische Heldenepik im deutschen Sprachraum. Die Rezeption der Chanson de geste im 12. und 13. Jahrhundert. Überblick und Fallstudien. Heidelberg 2008, S. 429 – 453. Moniage Rainouart: Le Moniage Rainouart I. Publié d’après les manuscrits de l’Arsenal et de Boulogne. Hrsg. von Gerald A. Bertin. Paris 1973; Moniage Rainouart II et III. Hrsg. von Gerald A. Bertin. Paris 1988, 2004; eine ausführliche Inhaltsangabe des Moniage Rainouart bietet Hennings, S. 337– 359; vgl. zu den französischen Texten auch Bernard Guidot: Le travestissement épique dans tous ses états: l’exemple du Moniage Rainouart et de sa réécriture dans le Roman de Guillaume d’Orange. In: Revue des langues romanes 113 (2009), S. 291– 311; Hubert Heckmann: Les ordres et le désordre dans le Moniage Guillaume et le Moniage Rainouart. In: Cel corn ad lunge aleine! Mélanges en l’honneur de Jean Maurice. Hrsg. von Hubert Heckmann u. a. Mont-Saint-Aignan 2017, S. 85 – 96.
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wertvollen Gürtel hinweist, den er trage, glaubt er sich berechtigt, in dem Augenblick die Angreifer töten oder in die Flucht schlagen zu dürfen, als sie ihm den prächtigen Gürtel rauben wollen, da er mit diesem schließlich seine Hosen halte (V. 563 ff.). Mit Guillaumes Rückkehr ins Kloster, seiner teilweise sogar blutigen Rache an den verräterischen Mönchen samt ihrem Abt und dem von Gott verfügten Verlassen des Klosters sowie Guillaumes Aufbruch in eine Eremitenklause – was als Überwindung der fortgesetzten Krise in der Klostergemeinschaft gelesen werden kann – bricht der so genannte Moniage Guillaume I ab. In der wesentlichen Handlungsstruktur identisch, in einzelnen Details allerdings abweichend, schildert das Geschehen um Guillaumes (scheiternde) Mönchwerdung und seinen Rückzug aus der Welt gleichfalls eine wohl später entstandene und sehr viel voluminösere Fassung (Moniage Guillaume II), die sich durch Konkretisierungstendenzen und das Bemühen um eine logische Begründung des Erzählgeschehens auszeichnet. Auch in dieser Fassung wird die aus dem Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Interessen des (Ex)Kriegers und der Mönche resultierende Komik jedoch unentwegt erzählerisch ausgespielt. Kein ‚höfischer Kompromiss‘ also, vielmehr die Betonung eines ‚epischen‘ Erzählgestus, bei dem der Heros sich tendenziell stets gleich bleibt – was durch das Einspielen des bekannten Erzählmusters der conversio, die hier indes immer wieder in Frage gestellt wird, bestens demonstriert werden kann. Ganz anders geht Ulrich von Türheim im Rennewart, seiner deutschen Bearbeitung der französischen Vorlage, damit um.¹⁶ Alle burlesken Elemente seiner Quelle hat er sorgfältig eliminiert und das Muster damit weitgehend entproblematisiert. Anders als in den französischen Epen bereitet in seiner Fassung Willehalm das Klosterleben keine großen Schwierigkeiten, im Gegenteil, er erweist sich als vorbildlicher Mönch, der einträchtig mit seinen Mitbrüdern zusammenlebt und von ihnen, und insbesondere vom Abt des Klosters, seinerseits sehr geschätzt wird. In ihr Gegenteil verkehrt Türheim etwa die Szene, in der der Abt den eintrittswilligen Novizen nach seiner Lesefähigkeit fragt. Während der Ex-Krieger im Moniage Guillaume darauf mit einem Scherz antwortet, erweist sich Türheims Willehalm als versierter litteratus, der von sich behaupten kann, ich bin die bůch wol geleret (V. 33767). Doch nicht allein deswegen fügt Willehalm sich gut ins Klosterleben ein, ausschlaggebend sind insbesondere seine Demut, seine Disziplin und sein Gehorsam gegenüber der Klosterregel. So gehorcht etwa Willehalm dem Abt, der ihm, dem im Weltleben Erfahrenen, die Verantwortung für die Gäste des Klosters auferlegt, obwohl er eigentlich keinerlei Kontakt mit der außermonastischen Welt mehr haben möchte, das ist immerhin eine kleine Identitätskrise in der conversio (V. 33840 – 33897). Wirklich zufrieden mit seiner Stellung im Kloster zeigt Willehalm sich indes erst, nachdem er das niedrigste Amt innehat, das niemand sonst verrichten möchte: die Pflege des Hühnerhofes (V. 34103 – 34145). Keine dieser Szenen findet sich in französischen Fassungen des Moniage Guillaume. Türheim hat durch sie vielmehr jene Erzählpassagen ersetzt, in denen in
Ulrich von Türheim (Anm. 7).
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den französischen Quellen immer wieder schwere und letztlich unüberbrückbare Dissonanzen zwischen Guillaume und dem Konvent geschildert werden. Im Unterschied zur französischen Fassung kämpft Willehalm in Türheims Bearbeitung ausdrücklich im Auftrag des Abtes gegen Klosterräuber. Für deren Tötung gewährt der Abt ihm dann auch Ablass – mit der zunächst ganz unmotiviert erscheinenden Begründung, dass sie Heiden gewesen seien. Für das Erzählmodell der spezifisch heldenepischen ‚Kehre‘ ist genau das allerdings zentral, denn so lässt sich das temporäre Verlassen des Klosters und vor allem der Rückfall in heroisches Verhalten – und das heißt zugleich kämpfen und töten – rechtfertigen, da es für Gott und zum Wohl der Christenheit geschieht. Wenn Willehalm später seine Einsiedlerklause, in die er aus Schmerz um den Tod Gyburcs gezogen ist (und nicht etwa wegen fortwährender Konflikte mit den Mitbrüdern wie im französischen Prätext), noch einmal verlässt, passiert das sogar auf den ausdrücklichen Befehl einer himmlischen Stimme, die ihn dazu auffordert, König Loys im Kampf gegen die Heiden zu helfen, die Paris belagern. Ganz ähnliche Tendenzen wie in Türheims Umformung der misslingenden ‚Kehre‘ Guillaumes aus dem Moniage Guillaume lassen sich in seiner Bearbeitung des Moniage Rainouart konstatieren, in der die äußerliche conversio des riesenhaften und ungeschlachten Kämpen sogar noch burlesker gezeichnet ist als Guillaumes Klosterleben. Da ich an anderer Stelle ausführlicher darüber gehandelt habe,¹⁷ soll in diesem Zusammenhang lediglich erwähnt werden, dass Rennewarts, mit vergleichsweise moderaten Krisen verbundene, ‚Kehre‘ in Türheims Bearbeitung die Stationen conversio, confessio, contemplatio und – im Unterschied zur französischen Quelle – auch sanctificatio umfasst und sein zeitweiliges und mehrfaches Verlassen des Klosters jeweils mit Dispens des Abtes und einmal sogar in einer Art mystischer Vision auf ausdrücklichen Wunsch Christi geschieht, weil seine herausragenden heroischen Fähigkeiten für den Kampf gegen die Ungläubigen gebraucht werden, die erneut in der Provence eingefallen sind und wiederum auf Alischanz bekämpft werden müssen. Der Heidenkampf wird dabei, ganz ähnlich wie im Reinolt von Montelban, als gottgefälliges Werk, ja sogar ausdrücklich als Gottesdienst bezeichnet (V. 16137 f.), durch den die Vergebung aller Sünden erreicht werden kann: slach die heiden alle nider, / so kumest du sunden bar her wider, sagt der Abt zu Rennewart (V. 21635 f.). Nach seinem letzten siegreichen Kampf gegen die Ungläubigen, die dadurch endgültig vertrieben worden sind, darf der völlig erschöpft vom Schlachtfeld ins Kloster Zurückgekehrte sich noch einmal satt essen (V. 25549 ff.), dem heldischen Körper wird dadurch sein Recht gewährt, danach hält Rennewart sich aber streng an die Klosterregel (V. 25614 ff.), fastet, betet, bereut täglich seine Sünden – und geht nach seinem Tod ins Paradies ein. Auch in Türheims Adaptation des französischen Epos wird das literarische, räumlich und zeitlich gedehnte Stufenmodell der conversio also mit heroi-
Vgl. Bernd Bastert: Helden als Heilige. Chanson de geste-Rezeption im deutschsprachigen Raum. Tübingen 2010 (Bibliotheca Germanica. 54), besonders S. 307– 311.
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schem Verhalten harmonisiert, das zeitweilige Verlassen des Klosters läuft der conversio nicht zuwider, ‚Kehre‘ und ‚Wiederkehre‘ fügen sich aufs Beste zusammen. Dass jenes Narrativ in einer deutschen Bearbeitung einer französischen Chanson de geste aber auch ganz anders gebraucht werden kann als bislang beschrieben, dass die ‚Wiederkehre‘ auch eine ‚Widerkehre‘ sein kann, soll an einem letzten Beispiel aus diesem Genre gezeigt werden. Es stammt aus einer späteren Phase als die bisher behandelten Heldenepen, die, wie deren deutsche Bearbeitungen auch, zeitlich im 13. Jahrhundert zu verorten sind. Der Lion de Bourges hingegen, die weitgehend wörtlich übersetzte Quelle des Textes, um den es nun gehen soll, entstand um 1350, seine deutsche Übertragung, die als Herzog Herpin bezeichnet wird, rund ein Jahrhundert später.¹⁸ Der Lion de Bourges gehört zu jenen Epen, die man als Chansons d’aventures bezeichnet hat: Texte, für die eine Mischung aus Erzählregistern, Narrativen und Figuren unterschiedlicher Provenienz kennzeichnend ist. Gegen Ende einer verwickelten, aus vielen Erzählsträngen bestehenden, sich über mehrere Generationen erstreckenden Handlung entsagt Lewe, wie Lion in der deutschen Fassung heißt, nach dem Tod seiner Frau (beinahe schemakonform, möchte man sagen) der Welt (S. 700, Z. 11–S. 701,22). Der in vielen Kämpfen, unter anderem auch gegen heidnische Sarazenen, Gestählte zieht sich in eine Klause nahe Rom zurück, schwört der adeligritterlichen Lebensart völlig ab und wird auf wunderbare Weise vom Himmel gespeist: Lewe was gar ein heylig man. Er enaß nit anders dann was yme got von hymel her abe sant. Die hystorye saget vns, das yme der wyß ritter degelich zu essen brechte als vil er den dag bedorffte. (S. 784, Z. 9 – 12) Man glaubt sich in eine Legende versetzt. Doch schon der nächste Satz birgt Irritationspotenzial: Lewe drug stediges eyn phantzer an vff siner blossen hůt vnd hat den also lange an gedragen, das yme sin fleysche durch die pantzer ringe wusche vnd darvmb hat er stedeclichen eyn hartes seyl gegurtet vnd lage alle nacht vff eyn hartten steyn, das hatt er also lange an getrieben als lange er in der clusen was gewest. (S. 784, Z. 12– 18)
Das Heldische scheint subkutan also weiterhin vorhanden, nicht abgetötet, nur überwuchert zu sein. Man könnte das indes immer noch als einen ‚höfischen Kompromiss‘ charakterisieren, der die Überblendung beider Lebensformen plastisch veranschaulicht.¹⁹ Als aber eine extrem krisenhafte, da für die Dynastie Lewes höchst
Lion de Bourges. Hrsg. von William W. Kibler, Jean-Louis G. Pichert, Thelma S. Fenster. 2 Bde. Genf 1980; Herzog Herpin: Kritische Edition eines spätmittelalterlichen Prosaepos. Hrsg. von Bernd Bastert. Berlin 2014 (Texte des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. 51). Der Herzog Herpin wird im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert. Das Motiv der durch den Panzer gewachsenen Haut unter der Mönchskutte begegnet auch in anderen deutschen Überarbeitungen des Chansons de geste-Stoffes, etwa im Buch vom heiligen Wilhelm aus dem späten 15. Jahrhundert: Hystoria von dem wirdigen ritter sant Wilhelm. Kritische Edition und Untersuchung einer frühneuhochdeutschen Prosaauflösung. Hrsg. von Holger Deifuß. Frankfurt a. Main 2005 (Germanistische Arbeiten zu Sprache und Kulturgeschichte. 45), S. 217– 322, hier S. 322; vgl. dazu Bastert (Anm. 17), S. 332; Müller (Anm. 4), S. 169.
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bedrohliche Situation entsteht, zeigt sich rasch, dass die ‚Kehre‘ dieses gerade noch als heylig man Bezeichneten keineswegs unumkehrbar ist. Um seinen Söhnen zu helfen, deren von ihm ererbte Herrschaft in akuter Gefahr ist, kehrt Lewe in die Welt zurück. Seine Intention ist dabei allerdings eine typisch adelig-feudale und nicht etwa der Schutz der Christenheit, denn es geht nicht um einen Kampf gegen Ungläubige. Selbst die eindringlich durch den weißen Ritter geäußerte Warnung, durch sein Verhalten das ewige Leben zu verspielen, schreckt Lewe nicht: […] solde ich Cristus von hymmel noch ouch sin liebe můter nummer me gesehen vnd solde dar zü myn sele vmmer vnd ewiclich verdampt werden, so wil ich myn süne trosten vnd wil yne her vß helffen. Ich bin hie zu vil lange gewest, ich sal nu ander kauffmanschafft triben. Mich duncket, er sij nit wyse, der sich vnd sin erben lesset von siner erbeschafft dryben. (S. 786, Z. 22–S. 787, Z. 3)
Mit diesen drastischen Worten verlässt Lewe die Klause und weist die Möglichkeit der Gottesschau zurück, sichert auf diese Weise jedoch seinen Söhnen und damit seiner Dynastie die Herrschaft. Danach verschwindet Lewe endgültig aus der Erzählung. Wohin er sich wendet, wird in seiner Abschiedsrede angedeutet: Lewe sprach mit luder stymme widder sin kinde vnd ritterschaff: „Ir herren, ich müß zu hant hinweg, dan ich han es Mallabrons süster gloubt vnd ouch Glorianden, kunnig Artus suster, den han ich geredt in dem grunde vor Burges vnd han yne das mit mynen trüwen in yre hant globt.“ […]. Lewe reyt alleyn hin weg, vnd als vns die hystorye sagt, so enmocht nie kein man erfarhen, war Lewe ye were bekomen. (S. 868, Z. 4–S. 869, Z. 3)
Sofern dies als Weltabkehr nicht in Richtung eines erneuten kontemplativen Lebens als Eremit, sondern, wofür Vieles spricht, in Richtung des Feenreichs der Morgane gedeutet werden kann – ebenjener Fee, die schon am Beginn von Lewes Lebensweg stand, mit der er später einige Jahre im Zauberschloss in der Eifel zusammenlebte, und zu der er nun am Ende seines Lebens wieder zurückkehrt –, erweist sich die ‚Kehre‘ hier als eine ‚Widerkehre‘. Durchgespielt wird im Herzog Herpin somit eine weltliche Variation des bekannten Modells christlicher Weltentsagung samt dem daraus resultierenden Eingang in einen transzendenten Raum. Es handelt sich jedoch nicht nur um eine simple Profanierung, sondern um eine Art ‚Untertunnelung‘ des geläufigen religiösen Narrativs einer Abkehr von der diesseitigen Welt, um umso sicherer die jenseitige zu erreichen. Die Dichotomie geistlich/weltlich wird hier indes aufgebrochen und ergänzt um ein Drittes, eine ‚Kehre‘ in Richtung Mythos. Dieser Mythos ist freilich ein nicht mehr geglaubter, ein literarischer.
III Gleichsam zur Kontrolle dieser Ergebnisse soll zum Abschluss noch ein kurzer Blick auf jene aus der germanischen beziehungsweise deutschen Heldenepik bekannten Figuren geworfen werden, die der Welt entsagen und sich in ein Kloster zurückziehen.
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Es sind insgesamt drei: Heime in der Thidrekssaga, Ilsan im Rosengarten und Wolfdietrich im gleichnamigen Epos. Recht eindeutig ist der Befund im Fall der Thidrekssaga. ²⁰ Gegen Ende der Sagenkompilation wird beschrieben, wie sich Heime unter falschem Namen in ein Kloster zurückzieht, dessen Mönche die von ihm mitgebrachten Schätze zwar gern annehmen, ansonsten aber dem grobschlächtigen neuen Konventsmitglied feindlich gegenüberstehen, was durchaus auf Gegenseitigkeit beruht. Um gegen einen Riesen zu kämpfen, der das Kloster bedroht, verlässt Heime das Kloster noch einmal kurz. Von Heimes siegreichem Riesenkampf hört Thidrek und reitet zum Kloster. Heime gibt sich zu erkennen und verlässt mit Thidrek das Kloster endgültig und ohne Dispens. Wenig später kehrt er jedoch zurück, tötet den Abt und viele Mönche, steckt das Kloster in Brand und raubt den gewaltigen Klosterschatz.²¹ Dass hier das Narrativ der conversio benutzt wird, um die Unvereinbarkeit heldischen und monastischen Lebens zu demonstrieren, ist überdeutlich. Von einem ‚höfischen Kompromiss‘ kann keine Rede sein. Vergleichbar gestaltet sich die erzählerische Situation um den kampferprobten Mönch Ilsan im Rosengarten. ²² Auch hier wird, wie in der Forschung schon häufiger gezeigt worden ist, die unüberwindbare Diskrepanz demonstriert zwischen Ilsan, dem Bruder des aus der Dietrichepik gut bekannten Hildebrand, und den ihn hassenden Mönchen des Klosters, in das er sich zurückgezogen hat.²³ Im Rosengarten liegt allerdings die Variante vor, dass Ilsan, der durch Drohungen gegenüber dem Abt immerhin einen Dispens zum zeitweiligen Verlassen des Klosters erreichen kann, auch in der heroischen Welt schwer integrierbar erscheint. Die gegen ihn zum Reihenkampf antretenden 52 nibelungischen Helden besiegt er allesamt und demütigt durch sein Verhalten zudem Kriemhild, die er zwingt, ihn 52 mal zu küssen, wobei sein rauer Bart ihr das Gesicht zerkratzt. Die durch seine Siege errungenen 52 Rosenkränze drückt er bei seiner Rückkehr ins Kloster dann seinen Mitbrüdern, in einer an die Dornenkrönung Christi erinnernden Szene, so lange aufs Haupt, bis sie bluten. Die ambige Figur des Ilsan gehört, wie Andreas Hammer gezeigt hat, somit keiner der beiden Sphären wirklich an.Was jedoch Ilsan und Heime miteinander verbindet, ist die Tatsache, dass sie, wenn sie ihre Klöster verlassen, dies nicht tun, um gegen Ungläubige zu kämpfen.
[idriks saga af Bern. Hrsg. von Henrik Bertelsen. 2 Bde. Kopenhagen 1905, 1911. Vgl. auch die deutsche Übersetzung: Die Geschichte Thidreks von Bern. Übersetzt von Fine Erichsen. 3. Auflage. Düsseldorf/Köln 1967 (Sammlung Thule. 22). Zu Heimes Klosterepisode in der Thidrekssaga vgl. Horst P. Pütz: Heimes Klosterepisode. Ein Beitrag zur Quellenfrage der Thidrekssaga. In: ZfdA 100 (1971), S. 179 – 195; Hermann Reichert: Heime in Wilten und in der Thidrekssaga. In: Studien zum Altgermanischen. Festschrift für Heinrich Beck. Hrsg. von Heiko Uecker. Berlin/New York 1994 (Ergänzungsbände zum RGA. 11), S. 503 – 512. Rosengarten. 3 Teilbände. Hrsg. von Elisabeth Lienert, Sonja Kerth, Svenja Nierentz. Berlin 2015 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik. 8). Vgl. dazu Meinolf Schumacher: Der Mönch als Held oder: Von Ilsâns Kämpfen und Küssen in den Rosengarten-Dichtungen. In: JOWG 14 (2003/2004), S. 91– 104; Andreas Hammer: Held in Mönchskleidern oder Mönch im Heldenkostüm? Zur Wahrnehmung Ilsans im Rosengarten zu Worms. In: ZfdPh 127 (2008), S. 35 – 49.
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Sie sind mithin keine Gotteskrieger, die ihre heroischen Kräfte im Dienst des Christentums einsetzen und einsetzen dürfen. Genau das aber scheint die Harmonisierung des klerikalen und des heroischen Diskurses zu verhindern. Heilige werden Heime und Ilsan selbstverständlich nicht, folglich fehlt in beiden Werken auch die letzte und entscheidende Stufe des literarischen Narrativs der ‚Kehre‘: Kontemplation und Gottesschau nach überstandenen Anfechtungen. Anders verhält es sich im Wolfdietrich. ²⁴ Auch hier zieht sich der gleichnamige Held, der gleich zu Beginn des Werks durch ein mitwachsendes Taufhemd schon als ein christlich codierter Heros markiert wird, am Ende der Erzählung in ein Kloster zurück, allerdings in ein ganz besonderes Kloster, das am äußersten Ende der Christenheit liegt und sich dem Kampf gegen die Heiden verschrieben hat. Es ist dann auch sehr erwartbar, dass Wolfdietrich dieses Kloster noch einmal verlässt und in einer gewaltigen Schlacht die angreifenden Heiden besiegt. Danach büßt er extrem für seine Sünden, zu denen explizit auch das ihn sehr verstörende Töten seiner Gegner gehört, und stirbt nach 16 weiteren Jahren im Kloster, woraufhin seine Seele von Engeln zu Gott getragen wird.
IV Welche Schlüsse lassen sich aus dem bisher Gesagten und im Rückgriff auf die eingangs aufgeworfene Frage ziehen? Zum einen offensichtlich der, dass das literarische Narrativ der gestuften und zerdehnten conversio auch für Figuren in der germanischen und weit mehr noch in der romanischen Heldenepik eine wichtige Rolle spielt. Eingesetzt wird es dort vor allem, um die Vereinbarkeit, meist aber Unvereinbarkeit episch-heroischer und hagiographisch-klerikaler Diskursivierungen zu betonen. Dabei erweist sich oft eben durch das Scheitern an den Schwierigkeiten und Zumutungen der ‚Kehre‘ die Differenz und auch die Überlegenheit des adelig-heroischen Kriegers. Die klerikale, in der Regel monastische Welt wird hingegen nicht selten der Lächerlichkeit preisgegeben. Es gibt jedoch offenkundig eine Möglichkeit, durch die heroische Kampfkraft und klerikale Verhaltensmodelle miteinander in Übereinstimmung gebracht werden können – und das ist, wenig überraschend, die militia Christi, der Gottesdienst mit der Waffe. Genau diese Möglichkeit spielen im 13. Jahrhundert – viel bruchloser und eindeutiger als in den französischen Quellen – die deutschen Bearbeiter der französischen Heldenepik und gleichfalls der wohl im selben Zeitraum entstandene Wolfdietrich aus. Zur Hagiographisierung des Heroischen fügt sich dort die Heiligung des Krieges. Wenn unter diesen Bedingungen Klause oder Kloster zeitweise verlassen werden, lässt sich das durchaus mit dem Narrativ der gestuften conversio vereinbaren. Die Tötung von Ungläubigen beziehungsweise der Kampf und der
Ortnit und Wolfdietrich D. Kritischer Text nach Ms. Carm. 2 der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a. Main. Hrsg. von Walter Kofler. Stuttgart 2001; Wolfdietrich B. Paralleleditionen der Redaktionen B/K und H. Hrsg. von Walter Kofler. Stuttgart 2008.
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damit einhergehende Rückfall in die Welt überhaupt stellen sich für einen Teil der heroischen Konversen zwar als Prüfung und Belastung dar, sie stehen der Umkehr und selbst der Heiligung des ehemaligen Kriegers aber nicht entgegen, im Gegenteil, sie ermöglichen und unterstützen sie. Auch das literarische Konzept des moniage, bei dem ein ehemaliger Kämpfer das Kloster noch einmal oder gar mehrfach verlässt, lässt sich also in das Narrativ einer gestuften und zerdehnten conversio integrieren, in der mit der Abkehr von der Welt und dem Rückzug ins Kloster beziehungsweise die Klause das endgültige Ziel der ‚Kehre‘ noch nicht erreicht ist, sondern zunächst Anfechtungen und Krisen zu überwinden sind, bevor endlich die Verstrickung in die Welt ganz hinter sich gelassen werden kann und idealiter eine Vereinigung mit Gott möglich wird. Es ist die adelig-heroische Variante einer Anfechtung, die es ermöglicht, das militärische Potenzial im Sinne des Christentums einzusetzen – oder eben daran zu scheitern. ‚Wiederkehre‘ oder ‚Widerkehre‘ des Helden sind somit die Konsequenzen eines krisenhaften Prozesses, der nicht wie beim Mönch im Inneren, sondern in der heldenepischen Variante äußerlich durch Kampf und Krieg stattfindet – entweder für Gott und die Religion oder aber, wie bei Lewe, für die Dynastie und eigene Interessen. Dabei hat es die romanische Heldenepik, deren Heroic age in der karolingischen Epoche liegt und damit in einem Zeitraum, in dem es Auseinandersetzungen zwischen Christen und den als Sarazenen bezeichneten Moslems in Südfrankreich und Nordspanien auch in der historischen Realität gab, wohl generell etwas leichter, Figuren und literarische Figurationen der ‚Kehre‘ in die Erzählungen zu integrieren als die germanische Heldenepik, deren in der Völkerwanderungszeit anzusetzendes Heroic age das zutiefst christlich überformte Narrativ der conversio nicht so einfach auf die Protagonisten zu übertragen erlaubte. Dass es gleichwohl versucht wurde, spricht für sich. Denn die vergleichsweise häufige Verwendung dieses Narrativs allein schon auf dem Feld der Heldenepik – aus dem Bereich der Chanson de geste ließen sich noch zahlreiche andere Beispiele anführen²⁵ – legt nahe, dass das Erzählmuster der gestuften conversio, wie es ähnlich auch in der hochmittelalterlichen lateinischen EgoLiteratur begegnet, offenbar ein fest verankertes und weit verbreitetes literarisches Strukturmodell ist, dem nachzugehen sich auch für weitere volkssprachige Genres vermutlich lohnen würde.
Als Materialsammlung zu Beispielen aus der französischen Heldenepik noch immer brauchbar ist Theodor Walker: Die Altfranzösischen Dichtungen vom Helden im Kloster. Tübingen 1910; vgl. zur Thematik auch Paul Bretel: Les ermites et les moines dans la littérature française du Moyen Age (1150 – 1250). Paris 1995 (Nouvelle Bibliotèque du Moyen Age. 32).
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Zum Verhältnis von höfischem und religiösem Diskurs in Konrads von Würzburg Der Welt Lohn Konrads kleine Verserzählung scheint wenig Rätsel aufzugeben.¹ Bruchlos fügt sie sich hoch- und spätmittelalterlichem contemptus mundi ein, teilt ihre Bildlichkeit mit vielen anderen textlichen und bildlichen Darstellungen und hat eine eindeutige Botschaft.² Es scheint einige Chuzpe dazu zu gehören, über diesen Text auf einem Kolloquium zu sprechen, das hochspezialisierte Forscher zu problematischen Fällen von conversio zusammenführt. Conversio ist ein Grundmuster einer christlichen Biographie im Mittelalter. Ideal realisiert ist sie in der Heiligenlegende. Der Mensch, im Status der Erbsünde geboren, erkennt irgendwann diesen Status und beschließt, seinen bisherigen Lebensweg nicht fortzusetzen, sondern umzukehren. Die Evangelien erzählen solche Schicksale, vom Metanoeite des Johannes des Täufers über die vielen, die die Ihren verlassen, um Jesus zu folgen, bis zu Saulus, der vor Damaskus zum Paulus wird. Jesus fordert die Abkehr von den bisherigen gewöhnlichen Lebensverhältnissen: Mt 4,20 und Mk 1,18, exemplarisch in der Berufung des Petrus und des Andreas: Bald verließen sie ihre Netze, wenn sie Jesus begegnet sind. Zahllose Legenden im Mittelalter folgen diesem Aufbauschema. Ein Erlebnis, eine Predigt, ein Buch kann diesen Prozess auslösen. Wenn eine Stimme Augustinus zu lesen auffordert: tolle lege, begründet das die Kehre in seinem Leben. Das Modell der religiösen Kehre ist auch in der profanen Dichtung des Mittelalters ubiquitär. Seine radikale Ausprägung erhält es im Motiv des moniage, der Mönchswerdung, am Ende einer langen erfolgreichen Laufbahn als heroischer Krieger. Die Exorbitanz als Heros setzt sich in der Exorbitanz des Mönchs fort, gerade wenn er noch einmal die Gelegenheit zur Rückkehr in den Kriegerstand erhält. In solchen Geschichten werden Held und Heiliger aneinander gemessen. Letztlich muss sich der Held bemühen, Heiliger zu werden. Aber er bleibt, wie sich zeigt, wenn er zurückgerufen wird, der bessere Kämpfer als alle anderen; ohne ihn wären diese verloren. Den Ernst der conversio stellt das nicht in Frage. Nach dem Sieg über die Feinde Gottes (oder auch, wie im Rosengarten, allgemein die minder legitimierten Feinde) kehrt der gewalttätige Mönch brav ins Kloster zurück, ein besserer Mönch als je zuvor. Das Motiv Konrad von Würzburg: Der Welt Lohn. In: Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg. Hrsg. von Edward Schröder. Bd. 1. Berlin 1924, S. 1– 11 (zitierte Ausgabe); vgl. Reinhard Bleck: Konrad von Würzburg: Der Welt Lohn. In Abbildung der gesamten Überlieferung, synoptische Edition, Untersuchungen. Göppingen 1991 (Litterae. 112). Bleck bietet auf S. 41– 54 eine synoptische Wiedergabe der Textzeugen; die kritische Ausgabe S. 58 – 60 bemüht sich um Annäherung an eine „Urfassung“ (S. 55). Blecks Textfassung ist bei signifikanten Abweichungen eingearbeitet. Vgl. dazu Manfred Kern: Weltflucht. Poesie und Poetik der Vergänglichkeit in der weltlichen Dichtung des 12.–15. Jahrhunderts. Berlin/New York 2009. https://doi.org/10.1515/9783110706093-012
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des moniage ist häufig schon ironisiert, etwa in Ilsan und seinen effeminierten Klosterbrüdern oder in Bertschi Triefnas, der seine fragwürdige heroische Laufbahn als Einsiedler im Schwarzwald fortsetzt. An der grundsätzlichen Leistung des Motivs ist jedoch nicht zu zweifeln. Es relationiert geistliche und profane Karrieren. Das religiöse Heil hat das letzte Wort. Gelegentlich wird sogar der Kampf gegen die Mächte der Finsternis als Überbietung des lebenslangen Kampfs gegen Drachen, Riesen, Monster, Heiden inszeniert. Indem der Heros auch in diesem Kampf siegreich bleibt, hat er die höchste Stufe des dem Heros Erreichbaren erklommen.³ In der heroischen Epik ist der Abstand vom Krieger, der tötet, zum weltabgewandten Mönch gewaltig und seine Überwindung verläuft nicht ohne Rückfälle; die Radikalität der ‚Kehre‘ ist in den Geschichten vom moniage deshalb mindestens auf Zeit revidierbar. Es stellt sich heraus, dass die Gewaltlosigkeit der Mönche gegen ihre Feinde – Heiden oder sonstige Gewalttäter – den Heros braucht, aber das ändert nichts daran, dass der manslahtige Krieger seinem vormaligen Leben zuletzt abschwören muss. Die höfische Literatur kennt dagegen viele Formeln, die ihre eigene Wertordnung und die religiös-christliche miteinander versöhnen und höfische Vollkommenheit als Stufe religiöser Selbstvervollkommnung betrachten. Das Leben des höfischen Ritters wird nicht als Gegensatz zu einem wahrhaft christlichen Leben erzählt, sondern mündet in der ewigen Seligkeit als Lohn für ein solches Leben. Im Schluss von Hartmanns Erec ist der gleitende Übergang zwischen beiden Ordnungen ausgesprochen: wan er nâch êren lebete und sô daz im got gebete mit veterlîchem lône nâch der werlde krône, im und sînem wîbe, mit dem êwigen lîbe. (V. 10124– 10129)⁴
Im Wigalois heißt es: Ir reinez leben verdiente hie daz gotes gnâde si dort enpfie dâ tûsent jâr sint ein tac. (V. 11700 – 11702)⁵
Vgl. Corinna Biesterfeldt: Moniage – Der Rückzug von der Welt als Erzählschluß. Untersuchungen zur Kaiserchronik, König Rother, Orendel, Barlaam und Josaphat, Prosa-Lancelot. Stuttgart 2009. Hartmann von Aue: Erec. 6. Aufl. besorgt von Christoph Cormeau, Kurt Gärtner. Tübingen 1985 (ATB. 39). Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von Johannes M. N. Kapteyn. Übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach, Ulrich Seelbach. Berlin/New York 2005.
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Dass hier ein Problem liegt, zeigt Konrads von Würzburg kleine Erzählung Der Welt Lohn.
I Konrads Der Welt Lohn erzählt eine schlüssige Konversionsgeschichte mit der notwendigen Konsequenz. Ihr Hintergrund ist das verbreitete Bild von der Welt, die eine schöne Vorderseite zeigt, deren Rückseite aber von Parasiten zerfressen, ekelhaft und stinkend ist. Die Beispielfigur ist ein höfischer Ritter, der mit Erfolg nach aller Art werltlicher êren (V. 9) strebt. Über Dutzende von Versen wird der Held als Muster höfischer Vollendung gepriesen (V. 3 – 61). Er war hübisch unde fruot, / schœne und aller tugende vol (V. 18 f.), erwirbt alle Ehren, die die Welt zu bieten hat (V. 20 f.). Sein minneDienst bedeutet nicht luxuria, nicht amor carnalis. Von sexueller Ausschweifung ist nirgends die Rede; Wirnt dient nur Damen, die bescheiden sind, das heißt das Rechte zu tun wissen (V. 34 – 43 u. 51).⁶ Konrad treibt den Preis hoch. Der Held der kleinen Erzählung ist kein sündiger Mensch, sondern ein vollkommener Ritter.⁷ er kunde wol gemêren sîn lob an allen orten, mit werken und mit worten sîn leben was sô vollebrâht daz sîn zem besten wart gedâht in allen tiutschen landen. (V. 10 – 15)
Konrad kann gar nicht genug tun, sämtliche Vorzüge, die einen höfischen Ritter auszeichnen, auf ihn zu häufen: erlesene Eleganz, Hofkünste wie birsen, beizen unde jagen (V. 26), Übung in höfischen Spielen, in Schach, Musik, Turnieren (ritterschaft) und nicht zuletzt ein vorbildlicher Minnedienst (V. 35), freilich nur gegenüber Damen, die wol bescheiden wâren (V. 37) – ein Ausbund höfischer Vollkommenheit. Auch die Dame wird zunächst als Inbegriff höfischer Vollkommenheit geschildert (V. 63 – 66). Ihr Gang ist höfisch kontrolliert (quam geslichen; V. 63); sie ist so, wie der Ritter sie ersehnt (ze wunsche; V. 65), von lieblichem Aussehen (minneclich gevar; V. 66), ihre Kleider sind kostbar (V. 92– 100), sie trägt eine Krone (V. 94 – 96), sie spricht mit zühten (V. 116). Der Erzähler selbst versichert ûf mînen touf (V. 72) (das heißt, so
Kern (Anm. 2), S. 50, stellt fest, dass der Erzähler mit ihm sympathisiert, was die schroffe Abweisung der Frau Welt später überraschend mache. Konrad setze in seiner Erzählung „höfisch-ritterliche[] Kulturalität […] (wenigstens phasenweise) ins Recht“; ebd., S. 53. Vgl. Manfred Kern: Theater der Eitelkeit in Text und Bild. Frau Welt und Herr Mundus. In: Imaginative Theatralität. Szenische Verfahren und kulturelle Potenziale in mittelalterlicher Dichtung, Kunst und Historiographie. Hrsg. von dems. Heidelberg 2013, S. 367– 385, hier S. 375. Bleck (Anm. 1), S. 124 f., wirft dem Helden allerhand Verfehlungen vor, von denen sich nichts im Text findet. Blecks Maßstab ist radikale christliche Askese.
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wahr er Christ ist), sie sei schöner als Venus und Pallas und alle die gotinne / die wîlen phlâgen minne (V. 75 f.); sie ist erlesen gekleidet; nie hat es ûf der erde Schöneres gegeben (V. 91). Ihr Glanz erhellt das Gemach noch in der beginnenden Dämmerung der vesperzît (V. 83 f.). Sie verspricht dem Ritter, ihm alles zu gewähren, worum er sich lebenslang bemühte, und sie veranlasst ihn, ihr noch einmal unz ûf mînes tôdes zil (V. 175) seinen Dienst zu versprechen durch daz wünnebernde heil (V. 186), das sie in Aussicht stellt. Erst nach einer langen höfischen Wechselrede nennt sie ihren Namen und noch später zeigt sie ihren hässlichen Rücken (V. 216). Der Entschluss des Helden, sich von ihr abzukehren, ist von geradezu bilderbuchhafter Exemplarität. Er verlässt nicht etwa nur das Leben, das er bisher geführt hat, sondern prototypisch ein Leben in der Welt schlechthin, wie es durch Frau und Kind repräsentiert ist (von denen zuvor nie die Rede war), um ganz in den Dienst Gottes zu treten, im Heiligen Land gegen die Feinde Gottes zu kämpfen und sich so das ewige Leben zu verdienen. Es ist eine religiöse Kehre, die dem Stand des Helden angemessen ist. Der Ritter bleibt Ritter, doch in der einzig zulässigen Form von Rittertum. Er folgt damit einem Gedanken, den Bernhard von Clairvaux in De laude novæ militiæ ad milites Templi ausgesprochen hat, jener Schrift aus dem 12. Jahrhundert, die, am Anfang des ‚höfischen‘ Zeitalters, manchmal mit der Aufwertung höfisch-weltlichen Rittertums in Zusammenhang gebracht wird.⁸ Wie ich meine, zu Unrecht. In dieser Schrift schränkt Bernhard den Gebrauch der Waffen, die raison d’être des mittelalterlichen Kriegeradels, auf den Einsatz für eine christliche Ordnung der Welt ein. Der miles Christianus ist nach dem Epheserbrief modelliert, indem er animi virtute Laster und Dämonen in seinem Innern bekämpft und zugleich viribus corporis die Feinde Christi niederwirft (Kap. 1). Diese sind vor allem die Heiden, die das Heilige Land usurpiert haben, aber auch alle Arten von Rechtsbrechern und Leuten, die die civitas Domini bedrohen. Die Bedeutung des Textes für die Bewertung kriegerischer Gewalt und für eine Ethisierung des Rittertums und den Kreuzzuggedanken ist gewiss nicht zu unterschätzen. Doch wird häufig übersehen, dass Bernhard in Kapitel 5 zwar eine Reihe von Bibelstellen zitiert, die den Gebrauch von Waffen gegen die Feinde Gottes ausdrücklich rechtfertigen, dass aber im Namen des Gotteskriegertums der Templer das höfische Rittertum einer schonungslosen Kritik verfällt. Bernhard richtet sich gegen jede Art von militia, ubi duntaxat Christus non est causa militandi (Kap. 2). Der Ritter fällt, wenn eine Tötungsabsicht besteht, unter das Verdikt des homicida. Die Anlässe ritterlichen Kampfes sind ausnahmslos negativ besetzt: unvernünftiger Zorn, Besitzgier, Ruhmsucht und Kampf um Ehre (Kap. 3). Die militia sæcularis, die, Bernhard zufolge, eigentlich malitia heißen sollte, ist Todsünde. Bernhard kritisiert hier nicht nur die rohe Gewalt des feudalen Kriegeradels, sondern gerade auch die Lebensformen, die der Ritter offenbar perfekt beherrscht. Der Schmuck der Waffen und Pferde, die eleganten
Bernhard von Clairvaux: Liber ad milites Templi de laude novæ militiæ. In: S. Bernardi Opera Omnia. Tomus Secundus. Paris 1859 (PL. 182), S. 541– 557.
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und kostbaren, weit geschnittenen Kleider, die gepflegten Haare und Hände nennt er muliebria ornamenta, weibischen Zierrat. Der unerbittliche Gegner feudaler Gewalt trifft sich hier mit dem Hohn eines gewaltbereiten Kriegers wie Volker im Nibelungenlied, der einen etwas zu eleganten Hunnen als Ritterfräulein verspottet und das als Grund ansieht, ihn totzuschlagen. Schach – das adlige Spiel par excellence – Würfel, Jagd, Beizen lehnt Bernhard ebenso entschieden ab wie literarische Darbietungen (fabulatores), Gaukler, ludorum spectacula (Kap. 7), alles Dinge in denen man Formen einer verfeinerten Adelskultur sehen kann.⁹ Von Bernhards nova militia führt kein Weg zum höfischen Rittertum; aufgenommen scheint sie allenfalls im Kreuzrittertum und zwar in der raueren Spielart im Sinne des Rolandsliedes. Allerdings besteht seit den Anfängen der höfischen Kultur nicht nur seitens der häufig klerikal gebildeten Autoren ein Interesse, die Kluft zu überbrücken. Der Vorwurf gegen homicidium wird mit einem Ritterideal pariert, das die Schonung des Gegners zur Pflicht macht, sofern er kein Unhold oder Bösewicht ist, und das – etwa in Hartmanns von Aue Erec – peinlich darauf achtet, dass niemand Gutes bei einem Kampf tot zurückbleibt. Wolfram von Eschenbach hat die Verknüpfung von ritterlicher Bewährung mit Totschlag als unaufhebbare Tragik erzählt, doch keineswegs riterschaft deshalb verdammt und bis ganz zuletzt an der Notwendigkeit, beiden, Gott und der Welt zu gefallen, festgehalten. Bernhards Verdikt des höfischen Rittertums kann Konrads Perspektive nicht sein. Im Gegenteil hat er hier und erst recht in seinen höfischen Romanen die höfische Kultur, die Bernhard verwirft, hingebungsvoll ausgemalt, so auch hier. Die Erzählung ist extrem asymmetrisch: Nahezu vier Fünftel sind der Schönheit dessen gewidmet, was verabschiedet werden soll, weil ihr Heil – ein religiös belasteter Begriff – in religiöser Perspektive Unheil ist. Dem Ritter steht eine standesgemäße conversio offen: der Kreuzzug, aber der ist blass. Aus diesem Grund ist es wenig wahrscheinlich, dass die Erzählung der Kreuzzugpropaganda diente.¹⁰ Abgebracht werden muss der Ritter von seiner höfischen Faszination.
Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 12. Aufl. München 2008. Bleck (Anm. 1), S. 138 f., hat einen Zusammenhang mit Kreuzzugsvorhaben in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts vermutet und einen oberrheinischen Kreuzzug 1267 als Anlass für Konrads Dichtung angesehen; vgl. auch ebd., S. 132142. Konrad hat nichts getan, den Bezug auf einen realen Kreuzzug herzustellen: Der Kreuzzug ist das, was sich dem Ritter anbietet, wenn er Ritter bleiben will. Er hätte auch in ein Kloster eintreten können, aber das hätte den didaktischen Wert des Exempels zerstört. Auch hat der Text keinerlei Merkmale einer „Kreuzzugswerbung“ (ebd., S. 139), sodass eine politische Einbindung zweifelhaft ist.
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II Der Kreuzzug wird nicht einer Laufbahn als Krieger in der Welt gegenübergestellt noch der pazifizierten Laufbahn des höfischen Ritters, sondern der Versenkung in die Lektüre. Die Dame überrascht den Ritter nicht beim Turnier, der Jagd oder dem Minnedienst, den Tätigkeiten also, denen er seinen Ruf als vollendeter Ritter verdankt, sondern wenn sich seine Phantasie damit beschäftigt. Er sitzt mit fröuden wol berâten (V. 54) in einer Kemenate und liest ein Buch, dar an er âventiure vant / von der minne geschriben (V. 56 f.); sîn fröude was vil harte wît / von süezer rede die er las (V. 60 f.). Die Dame trifft ihn in einem Moment ästhetischer Versenkung. Es ist die ästhetische Absorption durch eine imaginäre Idealwelt, gegen die die Personifikation der Frau Welt gesetzt ist. Es geht also nicht um die Bekehrung eines Weltmenschen (welcher der Ritter angesichts seiner Passionen für Turnier und Minnedienst auch ist), sondern die Beschäftigung der Phantasie mit Literatur: Es geht in dem Exempel um den Spielraum der höfischen Literatur. Für die Verführung durch Lektüre hat Kern auf eine Szene im Leben des Heiligen Hieronymus verwiesen‚¹¹ der Plato und Cicero las, weil er deren literarische Qualität den heiligen Schriften vorzog, quod sermo incultus sibi in libris propheticis non placeret. Er verfällt daraufhin zur Strafe in eine heftige Krankheit. Wenn er behauptet, Christ zu sein, sagt ihm ein Richter, er lüge; er sei ein Ciceronianus […], non christianus. Ubi est enim thesaurus tuus, ibi est et cor tuum. Der Richter lässt ihn prügeln; Umstehende bitten um Gnade und Hieronymus schwört: Domine, si umquam habuero codices saeculares aut si legero, te negavi. […] Tanto autem studio libros divinos extunc legit, quanto libros gentilium umquam legerat. ¹² Die Verbindung zu Konrads Erzählung ist jedoch locker. In der Tat ist vergleichbar die schöne Form, die Grund für Hieronymusʼ Wahl ist. Aber es gibt keine Konkurrenz der Lektüren, bei der die Heilige Schrift und ihr sermo humilis sich gegen die kulturelle Überlegenheit der heidnischen Literatur durchsetzen müsste. Der Ritter ersetzt ja nicht eine falsche Lektüre durch eine angemessene. Der bekehrte Ritter liest überhaupt nicht mehr. Quast hat auf einen anderen berühmten Fall einer Verbindung von conversio und Lesen verwiesen, auf das Tolle lege des Augustinus.¹³ Allerdings ist in Konrads Erzählung die Lektüre nicht Auslöser der Konversion, sondern nur ihr – scheinbar kontingenter – situativer Anlass. Quast meint: „Konrad bleibt dem geistlichen conversio-Schema noch verhaftet, aber mit der entscheidenden Pointe, dass die Welt über
Vgl. Kern (Anm. 2), S. 49; ders. (Anm. 7), S. 376. Jacobus de Voragine: Legenda aurea. Goldene Legende. Einleitung, Edition, Übersetzung und Kommentar von Bruno Häuptli. Freiburg/Basel/Wien 2014, Nr. 146, S. 1906 – 1921, hier S. 1908 f. Sancti Augustini Libri XIII. Hrsg. von Lucas Verheijen. Turnhout 1981 (CCSL. XXVII).; vgl. Bruno Quast: Lektüre und Konversion. Augustinus, Konrad von Würzburg, Petrarca. In: Geltung der Literatur. Formen der Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hrsg. von Beate Kellner, Peter Strohschneider, Franziska Wenzel. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen. 190), S. 127– 137.
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den Weg weltlicher Lektüre überwunden werden kann.“¹⁴ Aber es gibt kein heiliges Buch, das den Leser auf sein falsches Leben hinweist, sondern das Buch ist im Gegenteil Teil dieses falschen Lebens. Es fesselt die Phantasie und lenkt sie von ihrer einzig zulässigen Orientierung ab.¹⁵ Der Ritter wird nicht durch Lektüre bekehrt, sondern von Lektüre geheilt. Er wechselt weder seine Lektüre (wie der Heilige Hieronymus), noch wendet er sich nur von seiner bisherigen Existenz als perfekt höfischer Ritter ab. Seine Weltflucht ist weit radikaler; sie gilt dem Weltleben überhaupt. Er ist in der Situation jedes Christen, der, wenn es darauf ankommt, ‚alles‘ aufgeben muss. Für dieses ‚alles‘ steht nicht der Hof, sondern das Alltagsleben in der Welt schlechthin, verkörpert in Frau und Kindern. Konrad konfrontiert der höfischen Vollkommenheit, die der Ritter verkörperte und die das Ideal einer gesellschaftlichen Elite ist, eine absolute Norm, die für jeden Christen gilt. Diese fordert eine radikale Abkehr von der Welt. An der Verbindlichkeit der religiösen Norm und an der Hinfälligkeit der Welt besteht kein Zweifel, aber diese Einsicht gilt nicht speziell für das Leben, das der Ritter geführt hatte. Dieses Leben war nach den Maßstäben, die im ersten Teil der Erzählung herrschen, makellos. Anders als bei Bernhard verfiel diese Welt nicht einem totalen Verdikt als weibisch und dekadent. Das, was verabschiedet werden muss, wird ganz im Gegenteil in seiner Schönheit und Attraktivität beschworen, bevor es aufgegeben werden muss. Die Einsicht in die Gebrechlichkeit der Welt kommt ihm nicht bei diesem höfischen Leben selbst, sondern bei dessen Imagination in der Literatur. Auffällig ist das mære im Gesamtœuvre Konrads, weil er selbst Texte, wie der Held des mære sie liest, verfasst hat, wobei er die höfische Welt in den glänzendsten Farben gemalt hat, und weil es selbst in den Katastrophen des Herzmære und des Trojanerkrieg ähnlich schlichte Lösungen der Weltabsage nicht gibt, wie sie hier die nachmittägliche Lektüre beenden.¹⁶ Allerdings ist der ‚Lohn der Welt‘ auch nicht so floskelhaft eingesetzt wie im Engelhard, um eine vorübergehende Situation des Unglücks zu benennen, die ein glückliches Leben in der Welt nur vorübergehend unterbricht.¹⁷
Ebd., S. 130. Manche Interpreten glauben, der Ritter lese sein eigenes Werk, den Wigalois. Davon sagt der Text nichts; es geht um den Typus von Literatur, zu dem auch Wirnt von Grafenberg beigetragen hat. Dieser Typus kann gerade keine Orientierung bieten. In einer Reihe von Untersuchungen habe ich versucht, an unterschiedlichen Texten die Eigenart der Konrad’schen Ästhetik zu beschreiben. Zwischen diesen Abhandlungen gibt es eine Reihe von Querverbindungen. Es bleibt nicht aus, dass sich manchmal die Argumentationen überschneiden. Mir kam es darauf an, vom Einzeltext her den Gesamtzusammenhang zu entfalten; vgl. Jan-Dirk Müller: Wie christlich ist das Mittelalter oder: Wie ist das Mittelalter christlich? Zum Herzmære Konrads von Würzburg. In: PBB 137 (2015), S. 396 – 419; ders.: Häutungen und neue Kleider. Zum ‚wilden‘ Subtext der Medea-Episode in Konrads von Würzburg ‚Trojanerkrieg‘. In: WS 25 (2018), S. 297– 322; ders.: Überwundern – überwilden. Zur Ästhetik Konrads von Würzburg. In: PBB 140 (2018), S. 172193. Im Engelhard beklagt der von Aussatz befallene Dietrich den „Lohn der Welt“ (V. 5390 – 5399) – aber angesichts des späteren Heilungswunders bleibt die Klage folgenlos; Konrad von Würzburg: Engelhard. 3., neu bearbeitete Aufl. der Ausgabe von Paul Gereke. Hrsg. von Ingo Reiffenstein. Tü-
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Folgt man nicht der vielfach widerlegten Auffassung von Konrad als dem Berufsdichter, der auf Bestellung die unterschiedlichsten Genres mit den unterschiedlichsten Botschaften zu bedienen weiß, zur Not auch Wappen blasoniert, und eben auch das Repertoire der Weltabsage beherrscht,¹⁸ dann muss mehr hinter der Geschichte stecken. Das Exempel reflektiert, wie ich zu zeigen hoffe, den Stellenwert höfischer Ästhetik unter christlichen Vorgaben einer gefallenen Welt. Der Held ist kein beliebiger höfischer Ritter. Er trägt einen Namen, den die Forschung aus den verschiedenen handschriftlichen Varianten wohl richtig liest: Wirnt von Gravenberc. ¹⁹ Warum überhaupt ein Name und warum dieser? Konrad erzählt eine exemplarische Geschichte. Exempel beziehen ihre Glaubwürdigkeit aus der Anknüpfung an historisch bezeugte Personen.²⁰ Exempel sind nicht fiktional, sondern (angeblich) faktisch wahr und bestätigen dadurch die Wahrheit des Satzes, den sie narrativ ausfalten. Das bedeutet auch, dass sich das, was Konrad erzählt, kategorial von dem unterscheidet, was der Ritter gerade las: Aventiure. Der Raum der Fiktion, in die der Ritter eingetaucht war, wird in Konrads Erzählung verlassen; das Exempel reflektiert Fiktion. Nimmt man an, dass es ein ‚historischer‘ Name sein muss und dass die Forschung die überlieferten Namen richtig deutet, dann stellt sich die Frage, warum ausgerechnet Wirnt die Beispielfigur sein muss. Sie kann, wenn man nicht voraussetzt, dass der Dichter tatsächlich in den Kreuzzug gezogen ist, kaum mit Sicherheit beantwortet werden. Man kann nur darauf hinweisen, dass Wirnts Wigalois ein Artusroman ist, der sich durch zwei Besonderheiten auszeichnet: Das letzte Abenteuer spielt nicht in einer Aventiurewelt (Lion: hie enist niht âventiure; V. 10182), sondern in einer angeblichen Realität; zweitens gebraucht der Held auf seinem Aventiureweg zwar eine ganze Anzahl von Zauberrequisiten, die entscheidenden aber sind christlich konnotiert. Einerseits stellt der Roman also eine Verbindung zwischen der Phantasiewelt des Artusromans und der Welt gewöhnlichen Rittertums her: Wigalois bewährt sich in beiden Welten. Zum anderen verdankt er sein Gelingen nicht seiner eigenen Kraft,
bingen 1982 (ATB. 17). Monecke weist darauf hin, dass der Ort, an den sich Dietrich zurückzieht, ein Lustort ist. Die Weltabsage hat, von der richtigen Gebärde begleitet, etwas von einer Pose; Wolfgang Monecke: Studien zur epischen Technik Konrads von Würzburg. Das Erzählprinzip der wildekeit. Stuttgart 1968, S. 56. Das Turnier von Nantes. In: Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg. Hrsg. von Edward Schröder. Berlin 1925, Bd. II, S. 40 – 76; vgl. Hartmut Kokott: Ein Autor zwischen Auftrag und Autonomie. Konturen eines neuen Konrad-Bildes. In: JOWG 5 (1988/89), S. 69 – 77, eine erste Differenzierung S. 77. Vgl. die Namenformen in den Handschriften in Schröders Ausgabe (Anm. 1), S. 2. Zu dieser engeren Bedeutung von Exempel Klaus Grubmüller: Fabel, Exempel, Allegorese. Die Sinnbildungsverfahren und Verwendungszusammenhänge. In: Exempel und Exempelsammlungen. Hrsg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna vitrea. 2), S. 58 – 76, hier S. 61 f.; vgl. Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik narrativer Texte. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhard Koselleck, Wolf Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik. 5), S. 347– 375.
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sondern der Hilfe Gottes. Sein Gegner Roaz ist als Teufelsbündner gekennzeichnet. Wirnts Aventiureweg steht im Zeichen göttlichen Wirkens zugunsten ritterlicher Ordnungsmacht. Wirnt ist insofern der konsequenteste Vertreter einer ‚gradualistischen‘ Interpretation des höfischen Romans und einer Harmonisierung von höfischer Ritterwelt und christlichem Ordo.²¹ Er geht dabei deutlich über andere höfische Epiker wie Hartmann oder Wolfram hinaus, die ebenfalls beiden Seiten gerecht zu werden suchen, und mindestens als Postulat festhalten, dass man Gott und der Welt gefallen muss. Wirnt ist derjenige unter den höfischen Epikern, der sich am ausdrücklichsten um eine Versöhnung höfischer Idealität und christlicher Ordnung bemüht hat. Ausgerechnet dort, wo die Harmonisierung Programm des Romans ist, wird die Unvereinbarkeit einer höfischen mit einer religiösen Orientierung konstatiert.
III Man muss genau auf die Einzelheiten der Kehre achten: Erzählt wird nicht, wie ‚Wirnt‘ die Welt entlarvt, sondern das Licht, das bisher die Kemenate erhellte, verfällt. Wenn die Dame erscheint, sieht das noch anders aus: ir schœne gap sô liehten schîn und alsô wünneclichen glast daz der selbe palast von ir lîbe erliuhtet wart. (V. 80 – 83)
Das Licht, das sie bei ihrem Erscheinen verbreitet, hatte paradoxerweise auf den Ritter schon die entgegengesetzte Wirkung; er erschrickt über den unerwarteten Besuch: sîn varwe wart erblichen (V. 104); er war erschrocken unde missevar (V. 109). Aber trotz seines Erschreckens huldigt er der Dame: swaz ich von frouwen hân vernomen, / der übergulde sint ir gar (V. 114 f.). Die Dame erinnert an seinen lebenslangen Dienst den âbend und den morgen (V. 135) und lädt ihn ein, daz dû nach dînes herzen ger mînen lîp von hôher kür beschouwest wider unde für wie schœne ich sî, wie vollekomen. (V. 146 – 149) ich wil dich gerne lâzen sehen waz lônes dir geziehen sol. (V. 154 f.) lônes solt du sîn gewert von mir als ich dir zeige nû. hie kum ich dir, daz schouwe dû‘. Sus kêrtes im den rucke dar (V. 214– 217)
Bleck (Anm. 1), S. 98, hält aus ebendiesem Grund die Namengebung für unpassend.
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und er erkennt ihre Hinfälligkeit. Wenn er ihre Rückseite sieht, wird auch ir liehter wünneclîcher schîn verwandelt, jæmerlich gevar, / bleich alsam ein asche gar (V. 236 – 238). Die Veränderung, die an ihm eingetreten ist, nimmt ‚Wirnt‘ jetzt auch an der Dame wahr. Die ästhetische Faszination ist wie oft bei Konrad so auch hier an Licht und Scheinen gebunden. Schîn und varwe sind Inbegriff höfischer Schönheit. Beide sind Schlüsselwörter der Konrad’schen Ästhetik. Ihre Bedeutung im Deutschen ist aber ambig: Die varwe kann verbleichen; schîn kann attraktiv und faszinierend sein, aber auch falsch und illusionär.²² Mit der Erkenntnis, wer die Dame ist, verlischt er. ‚Wirnts‘ Reaktion ist prompt: Er weist die Welt und ihr falsches Scheinen zurück und widmet sich künftig dem Dienst Gottes. Der ästhetische Diskurs weicht dem religiösen. Konrad erzählt keinen Selbsterkennungsprozess wie Augustinus. Dieser sieht durch das Schriftwort erleuchtet sein eigenes Antlitz (facies), das er vor sich versteckt hatte, und sieht, dass er turpis, distortus und sordidus ist. Die Schrift lenkt ihn vom verqueren Blick, dem Blick ‚von hinten‘, auf sein Selbst ab (auferens me a dorso meo) und zeigt ihm, wie er wirklich ist: me rursus opponebas mihi et impingebas me in oculos meos. ²³ Bei Augustinus ist die Hierarchie klar: Das Ich stößt zur Wahrheit durch, indem es die verquere Betrachtung, gewissermaßen ‚von hinten‘, überwindet. Bei Konrad ist der Vorgang merkwürdig apsychologisch geschildert. ‚Wirnt‘ dringt nicht zur Erkenntnis durch, sondern diu Werlt „zeigt sich“ selbst; ihr sind der Kaiser und Könige, „alle Stände“ untertan (V. 200 – 209), aber sie weiß sich selbst Gott unterworfen (V. 210 – 212). Sie ist in die göttliche Ordnung integriert. Konrads Wahrnehmung war nicht falsch, aber unvollständig. Die Vorderseite ist faszinierend und attraktiv; sie hat den Schein der Wahrheit, Schein ganz wörtlich genommen, als Strahlen. Aber dieser Schein verliert sich, wenn man die Rückseite betrachtet, und diese verwandelt dann auch das Selbstbild. Beide sind verwandelt. Es sind zwei Ansichten derselben Sache, der Vorder- und der Rückseite, die ‚nebeneinander‘ fortbestehen; was von der einen Seite schön erscheint, erscheint von der anderen als abstoßend hässlich. Die Forschung ist geneigt, in das Bild der Frau Welt mit ihrer scheußlichen Rückseite eine Semantik der Tiefe hineinzulesen, als sei sie ‚eigentlich‘, wenn man zum ‚Kern‘ durchdringe, hässlich.²⁴ Zweifellos sind die beiden
Vgl. Jan-Dirk Müller: schîn und Verwandtes. Zum Problem der ‚Ästhetisierung‘ in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik). In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink. Berlin/New York 2006, S. 287– 307. ‚[D]u trugst mich weg von mir [meinem bisherigen falschen Weltbild]‘; Augustinus (Anm. 13), VIII,7,16. Typisch Thomas Bein in seinem Kommentar des Bildes bei Walther von der Vogelweide in Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 15., veränderte und um Fassungsedition erweiterte Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns. Neu hrsg., mit Erschließungshilfen und textkritischen Kommentaren versehen von Thomas Bein. Berlin/Boston 2013, S. 387: „Walther beschreibt hier die schon aus lateinischer Dichtung und aus der bildenden Kunst bekannte Allegorie der Frau Welt: Vorne (äußerlich)
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Ansichten ontologisch nicht gleichrangig;²⁵ die eine wird sich als wahr erweisen. Doch besagt das Bild, dass beide Ansichten nebeneinander bestehen. Wegen dieser spannungsvollen Gleichzeitigkeit kann die Konstellation nicht mit dem barocken desengaño identifiziert werden. Hier wird nichts enthüllt, was ‚eigentlich‘ ‚hinter‘ der schönen Erscheinung steckt, indem etwa die schöne Frau, mit der man die Freuden der Liebe zu genießen glaubt, sich als schreckliches Skelett erweist und die Attraktion durch die Sinnenwelt als grausame Täuschung destruiert wird. Beides ist zugleich da wie die zwei Seiten einer Medaille. Die Einsicht in die Hinfälligkeit auch des Vollkommensten steht neben dessen Bewunderung. Trotzdem ist es nicht wesenlos. Hier nun kommt ein Moment ins Spiel, das häufig übersehen wird: die Zeit, die bei Augustinusʼ conversio keine Rolle spielt, denn die Forderung der Umkehr gilt absolut und jederzeit. Die Dame erscheint zur vesperzît, in der Dämmerung, die sie zunächst mit ihrem Licht erhellt. ‚Wirnt‘ hat sich mit seiner Lektüre die Zeit vertriben / den tag unz ûf die vesperzît (V. 58 f.). Das dürfte allegorisch zu lesen sein. Es wird Abend, wenn ihm die Erkenntnis dämmert.²⁶ Die conversio erfolgt im Zeichen von Zeitlichkeit. ‚Wirnt‘ kehrt, kurz bevor es zu spät ist, um: dô im der lîb erstorben was, daz im diu sêle dort genas. (V. 257 f.)
In seinem bisherigen Leben hatte ‚Wirnt‘ ‚immer‘, morgens und abends, der Welt gedient, jetzt aber zur vesperzît ist es damit vorbei. Im Gleichnis von der Arbeit im Weinberg ist die Vesper die Zeit der Abrechnung.²⁷ Diese Bedeutung ruft vesperzît automatisch hervor, aber sie ist hier verschoben. Neidharts Winterlied 34,III enthält eine Absage an die Dame, deren Dienst hin ze helle vert (V. 5) und von der man sich daher entfernen muss: er ist sælic, swer sich von ir verret bî der zît, daz er ze mittem tage sînen phenninc hie bejage, den er um die vesperzît verdienet mit im trage. (III, V. 6 – 9)²⁸
ist es eine schöne und verführerische Frau, hinten (eigentlich) aber ist die Welt verfallen, verwest, hässlich, von Nattern und Kröten durchsetzt (so zeitgenössische Skulpturen).“ Auch Kern (Anm. 7), S. 380, folgt dem Modell von Oberfläche und Tiefe, von ‚Innen‘ und ‚Außen‘: „Die allegorische Enthüllung der stolzen und sündigen Welt, die sich im erotisierten Körper der Minneherrin verborgen hatte […]“. In der Tat ist beides eng verwandt. Der abstoßend hässliche Rücken ist Folge des Sündenfalls; trotzdem, in der Erscheinung der Werlt wird jede Anspielung auf Sünde vermieden – wie im übrigen auch bei ‚Wirnts‘ Weltleben. Vgl. unten zu Walther L 97,III. Kern (Anm. 2), S. 56, spricht von „vermeintlich ontologische[r] Gleichzeitigkeit“; vgl. auch ebd., S. 114. Ebd., S. 56: „erst der Abend ist die Zeit der Umkehr“. Vgl. Mt 20,1– 16. Die Lieder Neidharts. Hrsg. von Edmund Wießner. Fortgeführt von Hanns Fischer. Vierte Aufl. revidiert von Paul Sappler. Tübingen 1984 (ATB. 44), S. 173.
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Das entspricht dem Gleichnis. Man soll sich den Tag über (ze mittem tage) den Lohn verdienen, den man dann bei Abrechnung erhält. ‚Wirnts‘ conversio erfolgt am Ende des Tages. Vesper ist in der Folge der kanonischen Horen neben dem Morgengebet, der Matutin, die wichtigste; hier benennt sie die Stunde der Umkehr, des neuen Lichts, wenn der Tag verdämmert. Die Vesper ist die Stunde des Abendgebets, bei dem Ps 141 (141,2) gebetet wurde, in dem sich der Betende Gott anvertraut (141,8). Es ist die Stunde, in der rituell das Licht entzündet wird, ein anderes als welches den Tag erhellt, das in dem Christushymnus Phos hilaron besungen wird.²⁹ Die Wende ist auch hier mit einem Lichtwechsel verbunden, zuerst verfärbt sich der Ritter, dann auch die Dame. Am Abend dämmert ihm die Erkenntnis.³⁰ Die Abkehr vom höfischen Leben erfolgt am Ende: am Ende des Tages, des Lebens, des Versuchs, Bilanz des Lebens zu ziehen. Die Fortsetzung des Lebens steht im Zeichen der Ewigkeit. Die Erfahrung der Doppelgestalt der Welt wird biographisch unterlegt. Das mildert nicht die Absolutheit der Forderung, sich von der Welt abzukehren, stellt sie aber in einen empirischen Kontext: Abschied am Ende des Lebens – die höfische Welt ist vorläufig, aber deshalb nicht minder schön.
IV Das Moment der Zeitlichkeit kommt in der höfischen Dichtung überall ins Spiel, wo von den Grenzen höfischer Idealität erzählt wird, so in einer Reihe von Liedern Walthers von der Vogelweide und Heinrichs von Morungen, die fragen, was denn über alle Vergänglichkeit hinaus von der minne bleibt. Der Ausgangspunkt kann bei Walther die Altersrolle sein (Ir reiniu wîp; L 66,21) oder die Endabrechnung mit der Welt (Frô Welt, ir sult dem wirte sagen; L 100,24) oder bei Morungen die Frage, was mit der Minne denn in Zukunft wird, wenn die Schönheit verfällt, oder nach dem Verfall mit Tod, dem eigenen oder dem der Geliebten.³¹ In Gottfrieds Tristan ist die Spannung noch gesteigert, indem der Held seine Liebe zu Isolde – eine ehebrecherische Liebe – trotz des sicheren Todes bejaht. Auch Heinrichs von Freiberg Tristan-Epilog, der vor der Tristan-Minne warnt, hat seltsamerweise nicht auf deren Normwidrigkeit abge-
Unter den Psalmen, Gesängen und Orationen (darunter das Magnificat) befand sich manchmal eine marianische Antiphon. Es ist denkbar, dass durch vesperzît die Ersetzung der höfischen Dame durch die Gottesmutter signalisiert wird (für den Hinweis auf den liturgischen Gebrauch danke ich Cornelia Herberichs). Vgl. nochmals Kern (Anm. 2), S. 56. Vgl. Jan-Dirk Müller: Walther von der Vogelweide: Ir reinen wip, ir werden man. In: ZfdA 124 (1995), S. 1– 25; ders.: Beneidenswerter kumber. In: DVjs 82 (2008), S. 220 – 236; ders.: Heinrich von Morungen: Mir ist geschehen als einem kindelîne (MF 145,1). In: GRM 60 (2010), S. 3 – 26.
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stellt, sondern auf ihre Vergänglichkeit, dass die werltliche minne vergänglich (hin slichende unde genclîch) ist (V. 6847– 6851).³² Konrads Der Welt Lohn am engsten verwandt ist Walthers von der Vogelweide berühmtes Frô Welt-Lied mit der Absage an die Welt in der vierstrophigen Fassung, die in der dritten Strophe auch das Bild von der scheußlichen Rückseite enthält (L 100,24).³³ Der Ausgangspunkt ist verwandt: Etwas ist zu Ende gegangen; die Zeche muss beglichen werden, bevor es dazu zu spät ist. Die Schuld war unz an einen tac gestundet (L 100,30), dann aber ist sie fällig. Der in A isoliert überlieferten Strophe I schließt sich in C ein Dialog ‚Walthers‘ mit Frô Welt an, über die Attraktivität der Welt mit der Absage an sie. Zunächst ist es in der zweiten Strophe die Welt selbst, die den Sprecher darauf hinweist, wieviel er ihr zu verdanken hat: bedenke dich, dîn leben ist guot (L 101,3). Sie warnt ihn: sô dû mir rehte widersagest, / sôn wirst dû niemer wol gemuot (L 101,4 f.). Das ist nicht höfisches Vokabular, aber im Hintergrund der Warnung ist der Verlust von vröide und hôhem muot zu erkennen, die die Begleichung der Schuld nach sich zieht. Zwar ist dem zart – der Annehmlichkeit – der Welt zu entsagen, des ist zît (L 101,6). Aber das heißt im Umkehrschluss, es habe zuvor eine andere Zeit gegeben. Damals gab es vil süezer fröiden (L 101,8) und es war dîn schouwen wunderlich (L 101,10). Diese Schönheit zeigte sich bei genauem Zusehen, wenn man ihr, Frô Welt, reht under ougen (L 101,9) sah, also nicht etwa wenn man unter ihrer schönen Oberfläche erkannte, wie sie ‚eigentlich‘ ist.³⁴ Der Gegensatz von hinten und vorne ist keiner von Oberfläche und Tiefe. Erst die Rückseite also zeigte der schanden alse vil (L 101,11). Die Welt, deren Hässlichkeit er entdeckt, dô ich dîn hinden wart gewar (L 101,12), ist deutlich als eine höfische gekennzeichnet. Auch hier hebt die letzte Strophe die Schroffheit des Abschieds auf. Die Welt beschwört Erinnerungen (Licht!), um den Sprecher umzustimmen (gedenke an mangen liehten tac / und sich doch underwîlent her; L 101,16 f.); underwîlent signalisiert wieder Zeitlichkeit: „von Zeit zu Zeit“. Das lehnt der Sprecher ab. Doch anstatt seine schroffe Absage zu wiederholen, gesteht er: daz tæt ich wunderlîchen gerne (L 101,19), stünde nur nicht zu befürchten, dass er wieder in die Fallstricke der Welt geriete.³⁵ Die Abkehr scheint plötzlich weniger radikal; am Ende steht sogar eine versöhnliche Geste:
Heinrich von Freiberg: Tristan. Mit Einleitungen über Stil, Sprache, Metrik, Quellen und die Persönlichkeit des Dichters. Hrsg. von Alois Bernt. Halle a. d. Saale 1906 (Nachdruck: Hildesheim/New York 1978). Hinweis bei Kern (Anm. 7), S. 374. Walther (Anm. 24), Nr. 70, S. 385 – 387 u. 658. Ich füge der besseren Auffindbarkeit wegen die Nummerierung bei Lachmann hinzu. Vgl. Bein (Anm. 24): Beins Rede ist auf diese Stelle gemünzt; wenn under ougen sehen aber genaues Hinsehen bedeutet (vgl. L 75,3), dann bezieht es sich gerade nicht auf das ‚wahre‘ (hinfällige) Wesen der Welt. Vgl. Kern (Anm. 2), S. 118 f.
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got gebe iu, frowe, guote naht. ich wil ze herberge varn. (L 101,22 f.)
Wieder ist es das Ende des Tages (welchen Tages auch immer), an dem ‚Walther‘ sich von der Welt verabschiedet, denn ihm ist klar, was zu tun ist. Er tut es rechtzeitig, vor dem Tag, an dem abgerechnet wird. Die Strophen zwei bis vier, die nur C überliefert, zeigen, dass die Bindung nicht ganz aufgelöst ist; sie erinnern an Schönheit, Licht und Freude, die waren, die jetzt als wesenlos erkannt sind. Der Abschied ist endgültig, aber der Sänger wünscht der Welt – dieser Welt, deren Rückseite der schanden alse vil (L 101,11) aufwies – eine gute Nacht. In Walthers ‚Alterston‘ Ir reiniu wîp, ir werden man (L 66,21)³⁶ ist die höfische Welt schon Vergangenheit, mit dem Ablauf der Lebenszeit verloren. Der Sänger blickt auf 40 Jahre zurück, die er für die reiniu wîp und die werden man höfische Lieder (von minnen und alse iemen sol; L 66,27 f.) gesungen hat. Dafür fordert er êre und minneclîchen gruoz (L 66,23) ein. Wie bei Konrad ist es die Pflege höfischer Literatur, auf die sich dieser Anspruch gründet. Sie ist für ihn jetzt zu Ende: nu enwirt mirs niht, ez wirt iu gar (L 66,30);³⁷ mîn minnensanc bleibt, der diene iu dar / und iuwer hulde sî mîn teil (L 66,31 f.). Das entwertet das, was war, nicht vollständig. Doch auch jetzt noch, im Alter, ist werdekeit das Ziel und werdekeit ist ein höfischer, kein religiöser Begriff. Es sind die werden, die in der Hofgesellschaft Ansehen verdienen, die sie Walther zuerkennen. Über die Bestimmung von Walthers Status in der Welt (gnuoc in mîner mâze hô; L 67,1) wurde nicht beachtet, dass trotz des Abschieds von der Welt deren Anerkennung, die der werden, der wahrhaft Höfischen, weiterhin zählt. Die höfische Welt, die verabschiedet wird, hat ihren eigenen Wert. Hier muss man dem Wortlaut der Handschriften folgen: Diu werde wirde (A: der werden wirde) diu ist sô guot, / daz man irz beste lop sol geben (L 67,4 f.). Diese wirde, die sich den werden verdankt, die selbst wert ist, verdient das höchste Lob, allerdings macht das Lied deutlich, dass sie nicht das letzte ist: ez wart nie lobelîcher (A: hovelîcher) leben, / [] swâ man dem ende rehte tuot (L 67,6 f.), und diesem Ende sind die übrigen Strophen gewidmet, die Absage an die Welt (III), die Absage an des lîbes minne (L 67,24), die niht visch unz an den grât ist (IV; L 67,31), und schließlich die Erinnerung an das, was war und jetzt nicht mehr ist (V). Dieselben Vokabeln wie bei Konrad benennen den sinnlichen Reiz höfischer Vollkommenheit. Auch hier verfällt die schöne Oberfläche; was lilienrôsevarwe war, wird „kerkerfarben“; es färbt auch hier auf den Sprecher ab, der in ihm gekerket ist; es hat seinen smac unde schîn
Walther (Anm. 24), Nr. 43, S. 278 – 281, S. 634 f. Ich halte die von *BC gestützte Strophenfolge (vorletzte Strophe L 67,10; Schlussstrophe L 67,32) für die beste; sie wird im Übrigen auch von Handschrift A gestützt, welche die beiden Strophen in dieser Reihenfolge nur an die Spitze des Liedes setzt. Ich gehe auf die Strophenfolge in a nicht näher ein. Sie ändert die Gewichtung, nicht das Ergebnis. BC haben nv wirt mir sin niht me (mere); der Sinn ist, dass der Sprecher keinen Anteil an der Welt hat, die durch die höfische Poesie gestiftet wird; dies müsste der Text – unter Beseitigung der gestörten Metrik – ausdrücken.
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(Farbe, Duft und Glanz) verloren (L 68,2 f.). Das sind alles Qualitäten der höfischen Welt, die ‚jetzt‘ verschwunden sind. Aber noch die von der Altersrolle geforderte Distanzierung vom schoenen bilde ³⁸ bewahrt die Erinnerung an die frühere Schönheit. Anders als der wâren minne (L 67,26) – man darf übersetzen: christlicher caritas – fehlt des lîbes minne die Substanz; sie ist nicht visch unz an den grât (L 67,31). Sie vergeht, so wie Licht und Farbe in dem Augenblick verdämmern, in dem Frau Welt bei ‚Wirnt‘ eintritt. Immerhin, es gab sie einmal; sie kann erinnert werden. Das letzte Wort ist nicht die am Ende des Lebens notwendige Trennung, sondern die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung: daz wir ein ander vinden frô, trotz der ‚Heimkehr‘ (L 68,7).³⁹ Der Alterston ist einerseits endgültiger Abschied, andererseits Bewahrung des Verabschiedeten. Ein höfischer werdekeit gewidmetes Leben und ein Leben, das sich der wâren minne, der staeten minne zuwendet, sind in eine zeitliche Ordnung gebracht, auch wenn ihre Rangfolge feststeht. In dieser zeitlichen Ordnung hat die fragile höfische Welt ihren Platz. Eine solche Lösung findet sich auch in Heinrichs von Morungen so genanntem Narzisslied. ⁴⁰ Es geht von der Erfahrung aus, dass ein bilde Imagination und Begehren absorbiert wie die Lektüre den lesenden Ritter Wirnt, dass dieses bilde aber von der Zeit bedroht wird. Hier ist es in der zweiten Strophe der Traum, der die liehten tugende, den werden schîn der vrouwe – ihre sinnlich wahrnehmbare Vollkommenheit – vor Augen stellt, an der sich das Sänger-Ich kaum sattsehen (ersehen) kann, und gleichzeitig von ihrer Beschädigung spricht (MF 145,12– 16). Sie ist Vorbote jener Zerstörung, der alles Irdische unterworfen ist. Gefasst ist diese wieder als verblîchen, als Verlust des Lichts, der reizenden Farbe (MF 145,18), in der die Schönheit der höfischen Körper kulminiert. Aber auch hier ist diese Einsicht nicht das letzte Wort; die letzte Strophe setzt den Frauenpreis fort, statt ihn zu widerrufen. Auch Morungens Lied Ich waene, nieman lebe, der mînen kumber weine (MF 138,17) bringt die Zeitlichkeit ins Spiel. Es ist die Erfahrung des Todes, die den höfischen Entwurf bedroht. Hier wird die höfische minne bis an die Grenze der Blasphemie ausgereizt, der Sänger kündigt an, dass der Tod seiner Minne nichts anhaben könne,⁴¹ und weiß, dass sein ins Lied gefasster kumber ihn über den Tod beneidenswert
Bein (Anm. 24), S. 281, schreibt: „Gemeint kann der Körper des Sprechers sein, der im Alter verfällt. Es gibt allerdings auch andere Deutungen: bilde als ‚Frau‘ oder ‚Kunst‘.“ Dass der Sprecher seinen Körper schön nennen soll und dass er ihn erwählt hat, ist allerdings mehr als ungewöhnlich. Dass das bilde schoene und rede verloren hat, könnte dafür sprechen, dass der höfische Minnedienst/-sang gemeint ist, die ihren Reiz für den Sprecher verloren haben. Das entspräche übrigens der Gedankenführung in I und II. Der Gedanke, dass das Ich im Leib (in dir) eingekerkert ist, ist zwar geläufig und könnte Beins Interpretation stützen, aber just diese beiden Wörter fehlen in BC; vgl. ebd., S. 280. Das gekerchet si dort könnte ebenso gut ‚gefangen [in der Minne]‘ bedeuten. Die Strophe bedarf weiterer Untersuchungen. Kern (Anm. 2), S. 109 f., spricht von einem Changieren „zwischen Abkehr und Abschied“ und einem „zyklischen Weg vom ‚Abschied zur Zeit‘ über die ‚Abkehr‘ zum ‚Abschied auf Zeit‘“. Vgl. Müller, Mir ist geschehen (Anm. 31). Vgl. Müller, kumber (Anm. 31).
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macht.⁴² Hier fehlt zwar, was die Zukunft betrifft, das Bild des Verbleichens und Fahlwerdens, aber es ist ir liehter schîn (MF 139,6), der den Sänger an die vrowe fesselt: si schînt mir vor den ougen (MF 138,27), ihre Erscheinung gleicht der sunnen schîne (MF 138,38), ihr ‚verklärter‘ Leib kennt keine räumlichen Grenzen (MF 138,29). Auch hier wird die Hinfälligkeit des sinnlichen Reizes durchschaut, aber er keineswegs verabschiedet. Man stößt in dieser Konstellation auf einen Grundwiderspruch der höfischen Kultur. Es ist vor allem die minne, an der das Problem der Vergänglichkeit abgearbeitet wird.Wie kann eine ideale säkulare Welt gedacht werden, wenn es doch eine gefallene Welt ist, deren Erlösung jenseits ihrer Ordnungen liegt und die dem Tod unterworfen ist? Ist ihre Schönheit und Überlegenheit angesichts der conditio humana nicht eine quantité négligeable? Aber andererseits ist es diese Schönheit und Überlegenheit, die das Selbstwertgefühl der höfischen Gesellschaft begründet. Der höfische Minnedienst beansprucht, in der idealisierten frouwe ein summum bonum zu verehren; der höfische Roman feiert einen Helden, der dank seiner Taten und dank seines Ethos eine Erlöserfigur ist, deshalb an die Spitze der höfischen Gesellschaft gelangt und von dort übergangslos zu den ewigen Freuden übergeht. Die höfische Dichtung ist eine Herausforderung der christlichen Einsicht in die Hinfälligkeit einer gefallenen Welt. Diese Einsicht gilt selbstverständlich und absolut, aber sie löscht den höfischen Weltentwurf nicht einfach aus. Der höfische Weltentwurf ist eine prekäre Hybride. Irgendwann, zur vesperzît, verbleicht und erlischt seine Faszination. Das reflektieren Walther von der Vogelweide oder Heinrich von Morungen in ihren Engführungen von Minne und Tod, Wolfram von Eschenbach, wenn er im höfischen Ritter Bernhards homicida wiederauferstehen lässt, oder Gottfried von Straßburg und seine Fortsetzer, wenn sie hövescheit und religiöse Ordnung kurzzuschließen scheinen, aber der Tod doch das letzte Wort hat. Konrad von Würzburg hat die paradoxe Struktur höfischer Schönheit immer wieder ausgestellt. Manfred Kern glaubt, in Der Welt Lohn Ironie zu entdecken.⁴³ Wo es keine Markierungen im Text gibt, ist so etwas wie Ironie schwer nachweisbar. Eher hat es den Anschein, als reihe sich diese conversio in die anderen Relativierungen höfischer Vollkommenheit ein. In all diesen Werken stellt Konrad deren Spannungen mit einer christlichen Lebensordnung aus. Sein Herzmære soll ein bilde vollkommener Liebe sein, das die Vereinigung der Liebe als einen parareligiösen Akt der Kommunion imaginiert, und es ist zugleich Anthropophagie, ein Exempel der Todesverfallenheit
Verwandt ist die Vorstellung, dass die minne der Seelen über den Tod hinaus dauert (MF 147,4); hierzu Kern (Anm. 2), S. 111: „Die Verlängerung des Dienstes ins Jenseits und damit in die Ewigkeit ist die konsequenteste Umsetzung des Programms der Hohen Minne.“ Kern (Anm. 2), S. 44 f., sieht eine Spannung zwischen dem „geistlich-moralischen Thema und seiner poetischen Präsentation […]. Der allzu ostentativ propagierte Sinn kippt in der ästhetisierenden, hochliterarischen Gestaltung ins Ambivalente. […] Die untergründige ironische Distanz, mit der hier erzählt wird, verrät sich dabei gerade in der sentimentalischen Beteiligung der Erzählerstimme am Geschehen.“
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von minne; der Akt der Vereinigung kostet die Liebenden das Leben. Im Trojanerkrieg hat er Glanz und Schrecken der höfischen Welt aneinander gebunden. Der Farbenrausch höfischer Schönheit und der Farbenrausch grausiger Vernichtung gehen ineinander über. Helenas verhängnisvolle Rolle tut ihrer Faszination keinen Abbruch; jô wirt noch hiute von ir sage, sô man si nennen hoeret, sorg unde leit zerstoeret eim iegelichen manne, sîn herze im eine spanne wirt hôher ûf gerücket, swâ man ze liehte zücket ir namen und die saelikeit der wunder was an si geleit. (V. 20046 – 20054)⁴⁴
Das Wunder höfischer Schönheit, die in Helena kulminiert, und das der religiösen Wahrheit in der Goldenen Schmiede sind zwar nicht von gleichem Rang, aber übersteigen jedes Vorstellungsvermögen. In Der Welt Lohn hat Konrad der höfischen Welt eine vorläufige Rolle zugewiesen, einerseits eine ästhetische, andererseits eine zeitlich limitierte. Ihr steht eine religiöse und zeitenthobene gegenüber. Die erste ist einzelmenschlich, die zweite menschheitlich. Zur ‚Vielfalt des Religiösen‘ – so der Titel der Tagung zu Ehren Burkhard Hasebrinks, auf der eine zweite Version dieses Aufsatzes vorgetragen wurde – im Mittelalter gehört, dass das Christentum die nicht problematisierte Grundlage aller Lebensordnungen ist, aber gerade deshalb auch einen weiten Spielraum von Lizenzen eröffnet. Indem seine Geltung nie in Frage gestellt wird, können unter seinem Dach andere Ordnungen entstehen, ohne dass sie bis ins letzte abgestimmt sein müssen. Im Blick des Nachgeborenen erscheinen sie als Anzeichen einer beginnenden Ausdifferenzierung pluraler Ordnungen. Man hat andere Ansätze dazu bei Dante und Petrarca beobachtet, die die Hierarchisierung von religiösem und literarischem Diskurs aufweichen.⁴⁵ Bei den höfischen Dichtern des 13. Jahrhunderts ist die Hierarchie noch intakt. Das Recht der höfischen Literatur und Kultur gilt nur vorläufig. Die Enthierarchisierung wird sich über einen langen Zeitraum und mit vielen Zwischenschritten
Konrad von Würzburg: Trojanerkrieg und die anonym überlieferte Fortsetzung. Kritische Ausgabe von Heinz Thoelen, Bianca Häberlein. Wiesbaden 2015 (Wissensliteratur im Mittelalter. 51). Klaus Hempfer stellt in einer Untersuchungsreihe zum Verhältnis von religiösem und literarischem Diskurs (Cavalcanti – Dante – Petrarca – Ariost) fest, die Frage der Legitimität des erotischen Diskurses über die idealisierte Dame sei im höfischen Diskurs (des 13. Jahrhunderts) ausgeblendet; vgl. Klaus W. Hempfer: Zur Enthierarchisierung von ‚religiösem‘ und ‚literarischem‘ Diskurs in der italienischen Renaissance. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG Symposion 2006. Hrsg. von Peter Strohschneider. Berlin/New York 2007, S. 183 – 221, hier S. 213. Hempfer beschreibt die spannungsvollen Integrationsversuche vor allem bei Dante und Petrarca, die auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Konsequenzen den erotischen Diskurs in den religiösen überführen. Konrad von Würzburg vertritt demgegenüber noch eine rigoristischere Position.
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vollziehen. Der höfische Kompromiss zwischen unbezweifelbarer, in der Personifikation der Frau Welt gefassten Norm und Tod lautet vorerst Aufschub: vesperzît.
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Erzählschemata im Spannungsfeld von Erfahrung und Geschichte Mit exemplarischen Überlegungen zum ‚Exil und Rückkehr‘Schema im Frühmittelalter (Gregor von Tours, Paulus Diaconus, Hildebrandslied) Als Folge der gegenwärtigen Konjunktur erzähltheoretischer Forschung unternimmt insbesondere die germanistische Mediävistik eine Revision teils jahrzehntealter Prämissen eines so genannten ‚vormodernen‘ Erzählens. Stehen Strukturmodelle des höfischen Romans wie der ‚Doppelweg‘ schon länger zur Disposition, wird aktuell verstärkt nach der Kohärenz vormoderner Texte, ihrer Erzählweise oder ihren Ordnungsvorstellungen gefragt.¹ Gleichfalls notwendig scheint aber auch eine Neuperspektivierung der Diskussion um mittelalterliche ‚Schema‘-Literatur, haben die Theoriedebatten doch insbesondere in der Rezeption strukturalistischer Lesarten neue Ansätze offengelegt.² Im Folgenden soll daher einerseits grundlegend nach den Bedingungen und Funktionen von Erzählschemata gefragt werden, während andererseits am Beispiel des ‚Exil und Rückkehr‘-Schemas speziell nach den Möglichkeiten der Schemakomposition auch in nicht genuin literarischen Texten gefragt wird. Herangezogen werden dabei frühmittelalterliche Beispiele sowohl aus der lateinischen Historiographie (Gregor von Tours, Paulus Diaconus) wie der althochdeutschen Literatur (Hildebrandslied). Ausgangspunkt ist hier eine sich an Überlegungen Hayden Whites anschließende These, die historischen Texten einen narrativen Gehalt zuspricht, der sich nicht zwangsläufig in einer genuinen Literarisierung, wohl aber in einer erzählerischen Komposition niederschlägt.³ So scheinen spezifische narrative Techniken wie etwa die Reduktion, die Personalisierung oder eben die Verwendung von Erzählschemata, die gemeinhin als Konstituenten einer literarischen Geschichtsrezeption in der Helden-
Vgl. bspw. Cordula Kropik: Gemachte Welten. Form und Sinn im höfischen Roman. Tübingen 2018 (Bibliotheca Germanica. 65); Udo Friedrich, Andreas Hammer, Christiane Witthöft (Hrsg.): Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Berlin 2014 (LTG. 3); Jan-Dirk Müller: ‚Episches‘ Erzählen. Erzählformen früher volkssprachiger Schriftlichkeit. Berlin 2017 (Philologische Studien und Quellen. 259). Für einen luziden Überblick vgl. Hartmut Bleumer: Historische Narratologie. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hrsg. von Christiane Ackermann, Michael Egerding. Berlin 2015, S. 213 – 274. Vgl. Hayden White: Der historische Text als literarisches Kunstwerk. In: Geschichte schreiben in der Postmoderne. Beiträge zur aktuellen Diskussion. Hrsg. von Christoph Conrad, Martina Kessel. Stuttgart 1994, S. 123 – 157. https://doi.org/10.1515/9783110706093-013
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epik gelten,⁴ schon auf Chroniken per se zuzutreffen. Der hier angestrebte Vergleich einer divergierenden Funktionalisierung eines einzelnen Erzählschemas sowohl in Chronistik wie Literatur will daher Gemeinsamkeiten wie Differenzen beider Felder noch einmal präziser konturieren. Dazu wird in einem ersten Schritt ein theoretischer Rahmen abgegrenzt, der Erzählschemata weniger als eine genuin literarische Praxis denn stärker im Kontext historischer Erfahrungsbildung verortet. Gefragt wird somit im weiteren Sinne nach der Interdependenz kultureller und narrativer Muster, wie es Jan-Dirk Müller vor einigen Jahren in einem größeren Entwurf skizziert hat.⁵ Die Ausformung von Kohärenzbildungssystemen in literarischen und historischen Texten scheint generell sowohl auf Erfahrungsbildung wie auf narrativer Konventionalität zu beruhen: „Wahl und Besetzung literarischer Muster lehnen sich […] an alltagsweltlich wirksame, narrativ organisierte Erfahrungsmuster an.“⁶ Die Schnittstelle ‚Erfahrung/Erzählmuster‘ tangiert jedoch literarische Produktion und Historiographie in unterschiedlichem Ausmaß: Die ‚Arbeit am Muster‘⁷ beziehungsweise ‚Arbeit am Schema‘ ist von ihrem jeweiligen kulturellen wie epistemologischen Kontext nicht zu lösen. Zu fragen ist hier somit nach der Genese des kulturellen Narrativs der Rückkehrerzählung generell wie auch ihrer jeweiligen schematischen Realisierung vor dem Hintergrund unterschiedlicher Textansprüche (Latein und Volkssprache; Historiographie und Epik).
I Geschichtserfahrung und Schemabildung Erzählschemata lassen sich auf den ersten Blick beschreiben als eine spezifische, das heißt durch kulturell konventionalisierte Vorgaben bedingte Anordnung von Ereignissen auf der histoire-Ebene einer Erzählung.⁸ Zahlreiche Untersuchungen, wie etwa zum Brautwerbungsschema in der Heldenepik, haben zusätzlich darauf hingewiesen, dass Erzählschemata ebenso den plot einer Erzählung bestimmen und so auch die discours-Ebene tangieren: Schemata vermitteln kausale Logiken und disponieren über eine Figurenebene Werterelationen, also die Axiologie einer Erzählung. Schon hier zeigt sich, dass eine Unterscheidung von Erzählebenen in histoire und discours nur bedingt Aussagekraft für die Frage nach Erzählschemata besitzt. Dies liegt nicht nur
Vgl. Joachim Heinzle: Was ist Heldensage? In: JOWG 14 (2004), S. 1– 23; Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hrsg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel, Jan-Dirk Müller. Berlin/ Boston 2012, S. 153. Vgl. Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, insbesondere S. 6 – 45. Ebd., S. 18. Vgl. zum Terminus Christian Kiening: Arbeit am Muster. Literarisierungsstrategien im König Rother. In: Neue Wege der Mittelalter-Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Hrsg. von Joachim Heinzle u. a. Berlin 1998 (WS. 15), S. 211– 244. Vgl. Matías Martínez: Erzählschema. In: RLW. Bd. 1. 1997, S. 506 – 509.
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an der teils unscharfen Trennung zwischen histoire- und discours-Narratologie,⁹ sondern auch darin begründet, dass jeder Versuch, ein Erzählschema begrifflich zu bestimmen, fast zwangsläufig einen Zirkelschluss beinhaltet, der um das Problem einer Referenzebene kreist: Schemata existieren nicht als konkrete Vorlagen, sie sind immer nur ex post aus Texten zu entnehmen, werden dann aber häufig – in einer analytisch fragwürdigen Übertragung – wiederum als Ausgangspunkt für ebendiese Texte bestimmt.¹⁰ Ein möglicher Lösungsansatz für dieses interpretative Dilemma könnte darin liegen, Erzählschemata in einem ersten Schritt aus ihrer engen Verzahnung mit literarischen Texten zu lösen und als kulturelle Narrative zu begreifen.¹¹ Erzählschemata würden so innerhalb des kulturellen Gedächtnisses¹² verortet werden, wo sie an der Schnittstelle zwischen Erfahrung, Wissen und Erzählung selegierende wie strukturierende Funktionen übernehmen. Das Schema sorgt damit vor allem dort für Anschauung, wo begrifflich-logisch nicht mehr vermittelt werden kann. Kant hat dies am Beispiel der veranschaulichenden Darstellung (Hypotypose) gezeigt: Alle Hypotypose, als Versinnlichung, ist zwiefach: entweder schematisch, da einem Begriffe, den der Verstand faßt, die korrespondierende Anschauung a priori gegeben wird; oder symbolisch, da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche unterlegt wird […].¹³
Kant bringt damit das Schema in einen erkenntnistheoretischen Zusammenhang, in dem es für eine direkte Anschauung sorgt (im Gegensatz zum indirekt operierenden Symbol) und insofern es dabei Wissen und Erfahrungsmuster bereits in kondensierter Form beinhaltet beziehungsweise vorgibt (da es „a priori gegeben wird“). Der ‚natürliche‘ Prozess des Wissenserwerbs, so schon Aristoteles in der Metaphysik, basiert in erster Linie auf Erfahrungen: Durchläuft ein Mensch verschiedene
Vgl. dazu die Überlegungen in Bleumer (Anm. 2), S. 217 f. Vgl. etwa Christian Schmid-Cadalbert: Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur. Bern 1985 (Bibliotheca Germanica. 28). Vgl. zum Begriff Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. 2., überarbeitete und erweiterte Aufl.Wien u. a. 2008; für einen ähnlichen Vorschlag siehe Udo Friedrich: Held und Narrativ. Zur narrativen Funktion des Heros in der mittelalterlichen Literatur. In: Narration and Hero. Recounting the Deeds of Heroes in Literature and Art. Hrsg. von Victor Millet, Heike Sahm. Berlin u. a. 2014 (Ergänzungsbände zum RGA. 87), S. 175 – 194. Vgl. zum Konzept Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. Immanuel Kant: Werke. Bd. 5: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. 2., nochmals überprüfter Nachdruck der Ausgabe Darmstadt 1957, S. 459, Hervorhebung dort. Kant hat sich mit dem ‚Schema‘ ausführlich in der Kritik der reinen Vernunft beschäftigt – eine Diskussion, die hier aus Platzmangel nicht wiedergegeben werden kann. Es bliebe aber zu überlegen, ob das ‚Schema‘, so wie es Kant versteht und im Prozess der ‚Versinnlichung‘ bzw. der Veranschaulichung verortet, nicht für die literaturwissenschaftlichen Überlegungen zum Schema-Erzählen sehr hilfreich wäre.
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Erfahrungen, macht er sich Gedanken über das Ähnliche zwischen diesen Erfahrungen, er bildet eine allgemeine Annahme über sie.¹⁴ Aus der Vielfalt des Besonderen kristallisiert sich so eine Meinung über das Allgemeine, das heißt das verbindende Element:¹⁵ ein Erfahrungsmuster, das vergangene Erfahrungen strukturiert und gleichzeitig einen Erwartungshorizont für kommende Erfahrungen generiert. Erfahrungsbildung lässt sich so als Wiederholungsfigur deuten, in der das je Ähnliche gesucht und miteinander verglichen wird. Dies bedingt auch eine rhetorische Disposition des Erinnerns, versteht man die Rhetorik nach Haverkamp in einem weiten Sinne als eine Kunst der memoria,¹⁶ deren Argumentationsbasis, das Schlussfolgern, ebenfalls darin besteht, aus vielen Teilen einen Schluss zu ziehen. Der Zusammenhang zwischen Erfahrung, Schemabildung und Geschichte wird nicht zuletzt an diesem Punkt offensichtlich – es ist wohl kein Zufall, dass von den literarischen Gattungen des Mittelalters gerade die Heldenepik, das heißt Literatur, die über ein historisches Substrat verfügt, in großem Umfang Erzählschemata narrativ inkorporiert. Der Schnittpunkt ‚Erfahrungsbildung/Geschichtserfahrung‘ bietet dabei divergierende konzeptuelle Möglichkeiten, die das Verhältnis von Erfahrung und Geschichte je unterschiedlich relationieren: entweder eine Perspektive, die Geschichte als per se sinnlos fasst und dieser über Erfahrungs- und Schemabildung einen Sinn zuschreibt (d. h. eine Struktur in der Serie sucht), oder eine gegenteilige Blickrichtung, in der die Kontingenz des Geschichtsverlaufs deutlich macht, dass Erfahrung tendenziell unabgeschlossen ist und die damit jede Schemabildung beständig vor neue Herausforderungen stellt.¹⁷ Beide (sich teilweise deckende) Positionen könnte man als spezifisch ‚modern‘ ansehen, insofern sie Schemabildung als Arbeit an historischer Kontingenz begreifen. Akzeptiert man für das Mittelalter jedoch ein weitreichendes Primat heilsgeschichtlicher Orientierung, das geschichtliche Kontingenz durch göttliche Providenz ersetzt, avanciert Geschichte bereits selbst zu einer sinnhaften Struktur. Erfahrungsgeleitete Schemabildung erhielte so den Status einer lebensweltlichen Herausforderung, um immanente Erfahrungen mit providentiellen Vorgaben in Einklang zu bringen. Der geschichtsphilosophischen Prämisse gegenübergestellt bleibt damit die Erfahrung, die vor allem über Wiederholungen im kollektiven Gedächtnis als Speicher
„Wenn sich aus vielen durch die Erfahrung gegebenen Gedanken eine allgemeine Annahme über das Ähnliche bildet.“ Aristoteles: Philosophische Schriften. Bd. 5: Metaphysik. Nach der Übersetzung von Hermann Bonitz bearbeitet von Horst Seidl. Lizenzausgabe. Darmstadt 1995, I,1 (981a). „Denn eben das heißt ja allgemein, was seiner Natur nach mehreren zukommt.“ Ebd., VII,13 (1038b). Vgl. Anselm Haverkamp: Auswendigkeit. Das Gedächtnis der Rhetorik. In: Gedächtniskunst. Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Hrsg. von dems., Renate Lachmann. Frankfurt a. Main 1991, S. 25 – 52. Dazu: Thomas Arne Winter: Sinnerfahrung. Zur Dialektik von Tradition und Geschichte, Erfahrung und Geschichte. In: Erfahrung und Geschichte. Historische Sinnbildung im Pränarrativen. Hrsg. von Thiemo Breyer, Daniel Creutz. Berlin/New York 2010, S. 203 – 216, hier S. 209 f.
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von Erinnerung fungiert.¹⁸ Benjamin hat diesen Punkt bekanntlich als zentralen Nexus vormodernen Erzählens definiert: Erzählen und Erfahren lassen sich als synergetische Kommunikationsvorgänge fassen, die beide auf Weisheit (als einen besonderen Typus von Wissen) zielen.¹⁹ Benjamin beschreibt weiter einen Assimilationsvorgang der Erfahrung in der Geschichtsschreibung: Während Literatur dazu neige, narrative Erfahrungsmöglichkeiten auszuspielen oder gar subjektiv zu brechen (wie im modernen Roman), füge der Geschichtserzähler ebendiese Erfahrung in ein Archiv kollektiven Wissens ein. Benjamin differenziert allerdings zwischen dem modernen Historiker und dem mittelalterlichen Chronisten: Während ersterer Ereignisse zwangsläufig an ihre Erklärung binde und so Informationen liefere, zeige der vormoderne Chronist den Weltlauf an sich auf, ohne auf Kausallogiken zurückzugreifen – und nähere sich damit wieder der erfahrungsgeleiteten Erzählung an. Erzählung lässt sich damit als eine mögliche Organisationsform von Erfahrung und Ereignis fassen. Dies bildet den Ausgangspunkt zahlreicher Mimesis-Theorien von Aristoteles über Auerbach bis Ricœur,²⁰ lässt sich aber auch narratologisch operationalisieren. Denn eine zentrale Schnittstelle, an der eine potenziell unendliche Anzahl an Ereignissen (das Geschehen) über Modi der Selektion und Kombination in eine Narration (die Geschichte²¹) überführt wird, bilden die Erzählschemata, die eine kompositorische Motivierung ebendieser Ereignisse in der Erzählung bedingen.²² Dies mündet – wie bereits von Haug und anderen beschrieben – in einer sinngebenden Strukturierung von per se kontingenten oder kontingent erscheinenden Ereignissen.²³ Man könnte hier präzisieren, indem man von einer Möglichkeit spricht, in der Diskontinuität historischer Erfahrung über den Rückgriff auf konventionalisierte narrative Schemata Brüche in Kontinuität umzuwandeln. Wenn Paulus Diaconus, wie in den Fallbeispielen beschrieben, die Verschleppung seines Urgroßvaters zum Anlass nimmt, das ‚Exil und Rückkehr‘-Schema als Muster einer genealogischen Ur „Das Grundprinzip jeder konnektiven Struktur ist die Wiederholung. Dadurch wird gewährleistet, daß sich die Handlungslinien nicht im Unendlichen verlaufen, sondern zu wiedererkennbaren Muster ordnen und als Elemente einer gemeinsamen ‚Kultur‘ identifizierbar sind.“ Assmann (Anm. 12), S. 17. Vgl. zur Wichtigkeit der Wiederholung in der Schemabildung auch Schmid-Cadalbert (Anm. 10), S. 42. Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: ders.: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Alexander Honold. Frankfurt a. Main 2007, S. 103 – 128; vgl. zu Benjamin auch die Ausführungen von Karlheinz Stierle: Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie. In: Theorie der Geschichte. Hrsg. von Jürgen Kocka, Thomas Nipperdey. München 1979 (Beiträge zur Historik. 3), S. 85 – 118. Vgl. dazu ausführlicher Jonas Grethlein: Narrative Referenz. Erfahrungshaftigkeit und Erzählung. In: Breyer/Creutz (Anm. 17), S. 21– 39. Der Begriff ‚Geschichte‘ wird an diesem Punkt narratologisch verstanden (vgl. Bleumer [Anm. 2], S. 219), nicht wie im Rest des Aufsatzes als historia. Ausführlicher zur ‚kompositorischen Motivierung‘ Bleumer (Anm. 2), S. 224– 229. Vgl. Walter Haug: Normatives Modell oder hermeneutisches Experiment. Überlegungen zu einer grundsätzlichen Revision des Heuslerschen Nibelungen-Modells. In: ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 308 – 325.
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sprungserzählung anzuführen, dann wird das Erzählschema hier zur Bedingung einer subjektiv postulierten Geschichtskontinuität, die jedoch erst im kulturell konventionalisierten Narrativ der Rückkehrerzählung ihre Geltung findet. Damit entgeht man der emphatischen und häufig auf literarische Texte beschränkten Postulierung einer ‚Sinngebung‘ und versteht Erzählschemata stärker als Rückgriffe auf zwar dynamische, aber auch durch Konventionalität wirksame kulturelle Narrative. Hier ließe sich auch der Grund für die so dilemmatische Suche nach der Reinform von Erzählschemata verorten: Der zentrale Speicher narrativer Muster ist der Common Sense und damit ein Archiv, dessen Potenz gerade darin besteht, aus der Latenz, das heißt der kulturellen Unsichtbarkeit, seine größte Wirkung zu ziehen: Was der Common Sense vorgibt, ist sofort einleuchtend,²⁴ und zwar deswegen, weil er sich mit innersten Überzeugungen (thymos) deckt, die so selbstverständlich sind, dass sie nicht explizit formuliert werden müssen. Das Erfahrungsmuster scheint damit über ein soziales Substrat zu verfügen, welches sich jedoch erst aus einem distanzierten Blick ergibt: „Schemata sind, aus der Innenperspektive einer Kultur betrachtet, oft nicht durchschaubar; sie gehören zum Vorbewußten, Habitualisierten, nur allzu Bekannten.“²⁵ Diese Distanzierung, die zu einer Identifizierung eines Schemas notwendig erscheint, ergibt sich jedoch nicht zwangsläufig aus einer Außenperspektive des Beobachters, vielmehr scheint sie im kulturellen System bereits der Literatur zuzufallen: Hartmut Bleumer hat die Literatur als denjenigen Punkt bestimmt, an dem die Latenz kultureller Selbstverständlichkeit aufgelöst werden kann.²⁶ In der literarischen Variation – der Brechung – wird die volle Bandbreite der Schemata ausgespielt: Die literarische Verwendung von Erzählschemata setzt in der Regel einen vorgängigen Glauben an die Stabilität des Musters voraus, macht diesen aber poetisch produktiv, indem er seine Bedeutung infrage stellt und damit den Rezipienten aktiv auffordert, dem Schema einen neuen Sinn zu geben.²⁷ Die hier thematisierten Fallbeispiele fragen jedoch weniger nach den komplexen Schemaspielen etwa der mittelhochdeutschen Heldenepik. Vielmehr soll anhand des ‚Exil und Rückkehr‘-Schemas symptomatisch gezeigt werden, dass Erzählschemata
Vgl. Clifford Geertz: Common sense als kulturelles System. In: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 6. Aufl. Frankfurt a. Main 1999, S. 261– 288; Müller-Funk (Anm. 11), S. 145 – 167. Müller (Anm. 5), S. 30. Hartmut Bleumer: Schemaspiele. Biterolf und Dietleib zwischen Roman und Epos. In: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik. Hrsg. von Jan-Dirk Müller. München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. 64), S. 191– 218, hier S. 196. Dazu auch Peter Strohschneider: Einfache Regeln – komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum Nibelungenlied. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Wolfgang Harms u. a. Stuttgart u. a. 1997, S. 43 – 75. Generell zu fragen bliebe, ob nicht auch die Rhetorik über einen Baukasten verfügt, mit dem Schemata umgekehrt, gebrochen oder reflektiert werden können.
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auch historische Texte stark mitbestimmen – ein Vorgang, den Hayden White mit dem Begriff des emplotment beschrieben hat²⁸ – und dort als Einfallstor für narrative Inserate dienen, welche Funktionen abdecken, die von einer diskursiven Geschichtsbeschreibung unter Umständen nicht geleistet werden können. Erst am Beispiel des Hildebrandliedes zeigt sich dann, inwiefern der rein erzählende Text das Schema nochmals auf einer ganz anderen Ebene inkorporiert.
II Zum ‚Exil und Rückkehr‘-Schema ‚Exil und Rückkehr‘ scheint gegenüber komplexeren, einen politischen Horizont voraussetzenden Erzählmustern wie dem Brautwerbungsschema eine wesentlich simplere Erzählstruktur zu offerieren. Dennoch bietet gerade diese ‚simple‘ Ereignisfolge bereits in sich die Disposition zu einer Erzählung, versteht man diese aristotelisch als Ereignisfolge aus Anfang, Mitte und Ende: eine Bewegung von der Heimat (Anfang) ins Exil (Mitte) und einer Rückkehr in die Heimat (Ende). Markant ist damit in erster Linie ein Raumwechsel, der sich nach Lotman als Sujet,²⁹ als grenzüberschreitendes Ereignis, lesen lässt: Mit dem Übertritt ins Exil ist ein entscheidender Einschnitt verbunden, der die folgenden Ereignisse final auf eine Rückkehr in die Heimat perspektiviert. So ist auch die axiologische Besetzung der Räume in der Regel klar vorgegeben: Heimat als positiv besetzter Ort, der Anfang und Ende der Erzählung bestimmt und durch das Exil als Raum der Fremde unterbrochen wird. Das Erzählschema suggeriert so letztlich eine Kreisbewegung, deren Ende aber insofern einen Mehrwert gegenüber dem Anfang aufweist, als die Rückkehr in die Heimat häufig konfliktlösend gestaltet ist. Dies erinnert an das Restitutionsschema des höfischen Romans, das ebenfalls ein Raster aus Verlust und Wiedergewinn im Syntagma
Vgl. White (Anm. 3), v. a. S. 141. Vgl. Juri Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972, S. 329 – 340. Es bliebe jedoch zu fragen, inwieweit Lotmans Überlegungen auch für Erzählschemata gelten, da Lotman das Ereignis explizit als nicht-konventionelle, da sich gegen Regeln richtende Grenzüberschreitung definiert: „Die Bewegung des Sujets, das Ereignis ist die Überwindung jener Verbotsgrenze, die von der sujetlosen Struktur festgelegt ist. Eine Verschiebung des Helden innerhalb des ihm zugewiesenen Raumes ist kein Ereignis.“ Ebd., S. 338, Hervorhebungen dort; ähnlich auch Bleumer (Anm. 2), S. 219: „Ereignishaft wird ein Geschehnis in ihr [der Geschichte] aber erst dadurch, dass es als unvorhergesehen erscheint, d. h. von den durch den konventionellen Geschehensfluss gebildeten Normen abweicht.“ In diesem Sinne würde das Erzählschema (sofern man es als konventionelles narratives Muster versteht) kein Ereignis kennen. Hier wird jedoch davon ausgegangen, dass Erzählschemata durchaus ereignishaft erzählen, wobei der von Lotman und Bleumer geforderte ‚unvorhergesehene‘ Gehalt sich weniger aus der Grenzüberschreitung selbst ergibt, die vom Schema zwangsläufig gefordert wird (also etwa die Flucht und Rückkehr), als in der Varianz derselben: Erzählschemata entwerfen immer neue Möglichkeiten, wie ein spezifisches Ereignis ablaufen kann (s. u.) und bewahren sich so eine Form von Innovation in der Konvention, die sich als sujethaftes Erzählen realisiert.
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kennt,³⁰ unterscheidet sich davon jedoch durch die divergierende Raumbesetzung: Das Exil ist nicht der Ort, an dem etwa symbolisches Kapital in der Aventiure erlangt wird, das dann eine Rückkehr an den Hof ermöglicht (wie etwa in den Artusromanen Hartmanns von Aue), sondern ein Ort der Fremde, der möglichst rasch verlassen werden muss, da erst die Heimkehr eine Konfliktlösung bringt (während sie im höfischen Roman vor allem öffentliches Zeichen des wiedererlangten Ansehens ist). Kulturell lässt sich das ‚Exil und Rückkehr‘-Schema daher deutlicher im ParadiesNarrativ wiederfinden,³¹ während es im literarischen Feld vor allem in der Heldenepik prominenten Stellenwert erlangt hat. Der lateinische Waltharius und die Dietrichepik des deutschen Mittelalters nutzen extensiv das Schema,³² wobei der Fokus hier auf die Schwierigkeiten der Rückkehr gelegt wird. Die Reise in die Heimat (der nostos in der griechischen Antike) scheint aber auch über das Mittelalter hinaus (Antike: Odyssee;³³ Moderne: E.T. – Der Außerirdische, Long Walk Home, König der Löwen etc.) als Verhandlungspunkt für Sinnfragen über die eigene Identität und die eigene Geschichte zu fungieren. Prägnant für die kulturelle Dominanz des Schemas ist wohl auch die Kombination zweier Bewegungsrichtungen: Der oben erwähnten Heimkehr geht der Auszug voraus. Trennung und Wiedervereinigung mit Familie und Heimat eröffnen so zusätzliche Spannungsbögen, die nicht nur den Protagonisten selbst, sondern auch die Zurückgebliebenen tangieren (vgl. die Telemachie, die ersten vier Bücher der Odyssee). Versteht man den Auszug generell als eine kulturell signifikante Figur des Abschieds ins Ungewisse (der Ausritt vom Hof im Artusroman, die Weltabkehr des Heiligen in der Legende etc.),³⁴ dann steht der erzwungene Weggang in einer besonderen kompositorischen Motivierung: Er verweist auf ein Unrecht, das eine finale Spannung suggeriert, die auf die Beseitigung des Vergehens bei Rückkehr zielt. Dadurch aber erhält der Weg in die Fremde und aus der Fremde zurück die handlungslogische Funktion, die vertriebene Figur mit denjenigen Fähigkeiten auszustatten, die sie für eine Beseitigung des Unrechts benötigt. Die fast paradox erscheinende Struktur des Schemas sieht also einen genötigten Auszug vor, der allerdings überhaupt erst einer Figur erlaubt, als
Vgl. dazu Rainer Warning: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Identität. Hrsg. von Odo Marquard, Karlheinz Stierle. München 1979 (Poetik und Hermeneutik. 8), S. 553 – 589. Vgl. zum Paradies-Narrativ Udo Friedrich: Anfang und Ende. Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im Erec Hartmanns von Aue. In: Friedrich/Hammer/Witthöft (Anm. 1), S. 267– 288. Vgl. dazu auch Elisabeth Lienert: Die ‚historische‘ Dietrichepik. Untersuchungen zu Dietrichs Flucht, Rabenschlacht und Alpharts Tod. Berlin/New York 2010 (Texte und Studien zur mittelhochdeutschen Heldenepik. 5), S. 103 f. Vgl. zur Odyssee als Rückkehrerzählung die klassische Analyse von Uvo Hölscher: Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman. München 1988, S. 94– 121, wie auch die neuere Untersuchung von Jonas Grethlein: Die Odyssee. Homer und die Kunst des Erzählens. München 2017, S. 159 – 203. Vgl. dazu Peter Strohschneider: Höfische Textgeschichten. Über Selbstvorwürfe vormoderner Literatur. Heidelberg 2014 (GRM. 55), S. 232.
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Heilsbringer zurückzukehren und die Schwierigkeiten, die den Fortgang bedingt haben, zu lösen. Mit welchen Inhalten das Schema besetzt wird, das heißt wie Auszug und Rückkehr je begründet werden, bleibt dabei offen und kann unterschiedlich erfolgen: Konflikt mit dem eigenen Onkel (Ermanarich gegen Dietrich von Bern), reichspolitische Intrigen (Herzog Ernst), die Entsendung als Geisel (Waltharius) und so weiter. Aber nicht nur der Heros wird exiliert, sondern auch Kinder werden ausgesetzt, die ihre Heimat finden müssen (Moses, Paris) – das Spektrum an Narrativen ist vielfältig. Kulturell bedeutsam ist so etwa auch das Exil, das nicht zu einer Rückkehr, sondern zu einer Neugründung führt (Aeneas, die Ursprungserzählung der Franken, aber auch nordische Sagas etc.), oder auch das Verharren im Exil mit nur geringen Chancen der Rückkehr, wie etwa in der Figur des chevalier errant im späten Artusroman (etwa im Prosa-Lancelot). Das Schema ist so nicht nur in diachroner Perspektive offen für neue Kontexte, auch synchron erweist sich die Thematik aus Vertreibung und Rückkehr als präferierter Ansatzpunkt für Erzählinserate, wie etwa in mittelalterlichen Chroniken. Die drei im Folgenden vorgestellten Texte aus dem Frühmittelalter³⁵ binden das Schema dann auch in verschiedene kulturelle Logiken ein. Alle drei Texte entwerfen strukturell analoge Syntagmen, besetzen jedoch zentrale Punkte darin mit divergierender Paradigmatik: Genealogie, Ursprungsgeschichte und Verwandtschaftskonflikt werden in das Schema eingespeist und resultieren in je neuen Erzählgehalten.
III Gregor von Tours: Decem libri historiarum Die Decem libri historiarum des Gregor von Tours sind Ende des 6. Jahrhunderts entstanden, sie bilden eine der zentralen Quellen für die Geschichte des fränkischen Königtums. Die im Folgenden besprochene Episode ist in die zahlreichen Konflikte unter den Söhnen des Merowinger-Königs Chlodwig I. eingebettet, von denen im dritten Buch der Decem libri historiarum berichtet wird (III,15).³⁶ Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Halbbrüdern Childebert I. und Theuderich I. wird in den 520er Jahren durch ein Bündnis aufgehoben. Zur Sicherung des Friedens werden Geiseln ausgetauscht, doch erweist sich die Harmonie schnell als
Vgl. generell zum Verhältnis von Literatur und Historiographie im Frühmittelalter Walter Goffart: The Narrators of Barbarian History (A. D. 550 – 800). Jordanes, Gregory of Tours, Bede, and Paul the Deacon. Notre Dame, Indiana 2005, sowie die anregungsreiche, aber wenig rezipierte Monographie von Joaquín Martínez Pizarro: A Rhetoric of the Scene. Dramatic Narrative in the early Middle Ages. Toronto u. a. 1989. Text und Übersetzung im Folgenden zitiert nach Gregor von Tours: Zehn Bücher Geschichten. Bd. 1: Buch 1– 5. Auf Grund der Übersetzung W. Geisebrechts neubearbeitet von Rudolf Buchner. 5., durchgesehene und ergänzte Aufl. Darmstadt 1977 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. 2).
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brüchig: Die Feindschaft der Brüder intensiviert sich wieder und die Geiseln werden zu Sklaven degradiert. Unter den Sklaven befindet sich ein gewisser Attalus, der Neffe des Bischofs Gregorius von Langres. Dieser lässt nach seinem Verwandten suchen, Attalus wird schließlich im Haus eines Barbaren (barbarus) in der Nähe von Trier gefunden, wo er sich um die Pferde kümmern muss. Als Verhandlungen um die Freilassung des Attalus scheitern, bietet ein gewisser Leo, der in der Küche des Gregorius arbeitet, an, Attalus wieder zurückzuholen. Er versucht erst, Attalus heimlich zu entführen, doch scheitert dies. Leo lässt sich daraufhin ebenfalls als Sklave an den Barbaren verkaufen. Er gibt an, große Kenntnis (scientia) im Kochen zu besitzen und erlangt dadurch am Hof des Barbaren hohe Anerkennung. Nach einem Jahr haben Attalus und Leo die Möglichkeit, unauffällig zu kommunizieren: Sie sitzen mit dem Rücken zueinander auf einer Wiese, sodass es aussieht, als sprächen sie nicht miteinander. Leo gibt sich zu erkennen und erzählt Attalus von einem Fluchtplan, der noch in derselben Nacht durchgeführt wird: An diesem Abend gibt es ein großes Fest im Haus des Barbaren, auch dessen Schwiegersohn ist anwesend. Als Leo dem Schwiegersohn um Mitternacht ein Getränk bringt, wird er von diesem scherzhaft (Hoc quasi ioco delectans dixit; S. 166, Z. 22) gefragt, wann er denn eigentlich plane, wieder in sein Heimatland zurückzukehren, worauf Leo ebenso scherzhaft (und wahr) antwortet, dass er dies noch in derselben Nacht tun wolle. Leo holt daraufhin die Waffen des Attalus, wobei er vom Hausherrn gefragt wird, was er da tue – Leo antwortet, er habe vor, Attalus früh zu wecken, damit dieser die Pferde auf die Weide führe. Die beiden fliehen, überqueren die Mosel, und als ihnen der Proviant ausgeht, finden sie durch die Hilfe Gottes einen Obstbaum (Tunc nutu Dei repertam arborem plenam pomis; S. 168, Z. 4 f.). Danach hören sie das Trampeln von Hufen, verstecken sich vor ihren Verfolgern und können so den Barbaren und sein Gefolge belauschen, die neben ihnen halten. Attalus und Leo erreichen eine Stadt, wo sie bei einem Priester namens Paulellus Unterschlupf finden. Dieser Paulellus hatte in der Nacht zuvor die Vision von zwei Tauben, die zu ihm geflogen kommen. Von Paulellus reisen Attalus und Leo weiter zu Gregorius, wo Attalus glücklich empfangen wird und Leo Freiheit und Besitz zugesprochen bekommt. Die kleine Narration aus Exil und Heimkehr sticht aus mehreren Gründen aus dem sonstigen reichspolitischen Geschehen des dritten Buches heraus. In kulturhistorischer Perspektive bemerkenswert ist die hier ausführlich dokumentierte Praxis des Geiseltausches, die sowohl nach antiken wie frühmittelalterlichen Rechtskonventionen üblich war,³⁷ aber auch literarisch verhandelt wird – noch im Nibelungenlied werden Hagen und Walther als Geiseln am Hunnenhof erwähnt.³⁸ Gleichzeitig ist die
Vgl. Robert Nedoma: Geisel. In: RGA. Bd. 10. 1998, S. 572 f. Str. 1753: Dâ von ich wol erkenne aller êrst, wer si sint. / ez wurden mîne gîsel zwei wætlichiu kint, / er unde von Spânye Walther, di wuohsen hi ze man. / Hagen sande ich wider heim, Walther mit Hildegunt entran. Zitiert nach: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B hrsg. von Ursula Schulze. Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. Stuttgart 2013. Vgl. auch den Waltharius, der die Rückkehr Walthers auserzählt.
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Episode von einer narrativen Dichte geprägt, die sich in detailreichen Szenenbeschreibungen, Dialogen und einem stringenten Spannungsaufbau niederschlägt. Erich Auerbach hat wohl nicht zufällig diesen Abschnitt der Chronik als Grundlage für ein Kapitel über Gregor von Tours in seinem Hauptwerk „Mimesis“ herangezogen:³⁹ Für Auerbach verfügt Gregor nicht mehr über die Sprachkompetenz seiner antiken Vorgänger, auch interessiere er sich weniger für die chronikalische Nachzeichnung der Weltgeschichte denn für das, was ihn persönlich direkt betroffen habe. Tatsächlich besteht ein großer Teil der Decem libri historiarum aus Ereignissen, die sich zu Gregors Lebenszeit zugetragen haben, beziehungsweise in die er auch direkt involviert war (hier wäre also wieder ein Konnex zur Geschichtserfahrung zu setzen). Gleichzeitig aber identifiziert Auerbach eine verstärkte Tendenz zur Nachahmung (Mimesis) in der Wiedergabe dieser Ereignisse: „Anschaulichkeit“⁴⁰ und ein Erzählen des „unmittelbar Sinnlichen“⁴¹ sind diejenigen Konstituenten, die Gregors Text für Auerbach von traditionellen Geschichtswerken ab- und auf eine literarische Form hinrücken lassen. Wenn Attalus und Leo auf der Flucht die Geräusche trappelnder Pferde hören, sich unter einem Brombeerstrauch mit gezückten Schwertern verstecken und dort das Gespräch der direkt vor ihnen pausierenden Verfolger mitanhören können, dann sind es derartig detailgenaue Szenen, in denen Auerbach eine literarische Qualität direkter „Konkretheit“⁴² verortet. So scheint das Erzählschema hier eine narrative Anreicherung zu fordern oder zumindest zu ermöglichen. Raumkonzeptionen von Heimat und Fremde werden sehr genau entworfen und unterschiedlich gewichtet – die Bewohner der Fremde nennt Gregor etwa wiederholt barbari (ein Terminus, der ansonsten in seiner Chronik selten vorkommt),⁴³ deren pagane Andersheit sich beispielsweise dadurch auszeichnet, dass sie über eine eigene Bezeichnung für den Tag des Herrn verfügen: dies solis […] – sic enim barbaries vocitare diem dominecum consueta est (S. 164, Z. 33 f.). Gleichzeitig avanciert die Heimreise zum verschachtelten Irrweg, der nur über immanente Helferfiguren (Leo, Paulellus) wie auch Providenz (der Obstbaum, der Traum des Paulellus) absolviert werden kann. Die Sprach- und Rätselspiele, durch die Leo den Abschied einleitet, bringen hingegen eine Ebene von List und Täuschung in die Rückkehrgeschichte: Leo spricht gegenüber dem Schwiegersohn des Barbaren die Wahrheit, überdeckt durch das Scherzen jedoch die tatsächlich dahinterstehende Absicht – ein kleiner rhetorischer Kommentar über das richtige beziehungsweise
Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 3. Aufl. Bern u. a. 1964, S. 78 – 94. Ebd., S. 86. Ebd., S. 93. Ebd., S. 90. Vgl. dazu Joaquín Martínez Pizarro: A Brautwerbung Variant in Gregory of Tours. Attalusʼ Escape from Captivity. In: Neophilologus 62 (1978), S. 109 – 118, hier S. 115. Pizarro versteht die Attalus-Geschichte zwar auch als ein schematisches Erzählen, deutet dies aber – nicht ganz überzeugend – als Brautwerbungsgeschichte.
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falsche Verstehen von Ironie.⁴⁴ Dies ist auch für die Werteverteilung der Erzählung relevant, kann der Koch die Barbaren doch auf diese Weise täuschen, ohne sich der Lüge schuldig zu machen. Was Gregor in der Geschichte nicht explizit anspricht, was aber implizit durchaus Geltung besitzt: Gregor von Langres, der sich so um seinen Neffen Attalus sorgt, ist auch Vorfahr Gregors von Tours.⁴⁵ Gregor beschreibt die Lebensgeschichte seines Verwandten ausführlicher im Liber vitae patrum,⁴⁶ doch ist das genealogische Interesse für die eigene Familie auch in den Decem libri historiarum virulent. Die ‚Exil und Rückkehr‘-Geschichte gewinnt so das zusätzliche Substrat einer Familienzusammenführung, die den Zusammenhalt in Gregors eigener Familie hervorhebt – wohl von Gregor nicht zufällig im Kontext einer innerfamiliären Auseinandersetzung der merowingischen Herrscherschicht erzählt, die sich ab den 560er Jahren noch einmal intensivieren sollte (der so genannte Merowingische Bruderkrieg).⁴⁷ Heimkehr impliziert (nicht nur hier) häufig auch die Rückkehr zur eigenen Familie und zeugt damit in den Decem libri historiarum von Gregors Interesse an seiner eigenen Familiengeschichte. Weder Attalus noch Leo werden vor oder nach dieser Episode nochmal in Gregors Chronik erwähnt, ihre Geschichte fungiert über das ‚Exil und Rückkehr‘Schema allein als herausragendes Ereignis der Verwandtschaftshistorie. Es ist das kulturell bedeutsame Syntagma aus anfänglichem Exil als Geisel, Flucht mit Helferfigur und mühseliger Rückkehr, das Gregor hier den politischen Wirren des 6. Jahrhunderts gegenüberstellt und das paradigmatisch in die über viele Bücher der Chronik eingestreuten Hinweise auf Gregors eigene Familiengeschichte eingebunden ist. Die ‚Exil und Rückkehr‘-Erzählung entwirft somit ein Gegenmodell zu den politischen Kalamitäten der fränkischen Geschichte: Zusammenhalt in der Familie einerseits, Treue und Opferbereitschaft des Dienstmanns andererseits. Gleichzeitig erzählt Gregor so über die Heimkehr hinaus noch von einem Aufstieg: der Sklave, der freiwillig ins Exil geht und dadurch seine Freiheit gewinnt. List und Verstellung sind dabei die Komponenten, über welche die Helferfigur verfügt und die eine Heimreise
Grillparzer hat den Stoff wohl nicht zufällig zum Lustspiel Weh dem, der lügt! umgearbeitet. Vgl. zu einem Überblick von Gregors Familiengeschichte Martin Heinzelmann: Gregor von Tours (538 – 594). Zehn Bücher Geschichte. Historiographie und Gesellschaftskonzept im 6. Jahrhundert. Darmstadt 1994, S. 7– 21. Heinzelmann vermutet, dass Attalus wohl eher der Enkel des Gregor von Langres gewesen sei; vgl. ebd., S. 15. Gregor von Tours: Liber vitae patrum. In: Scriptores rerum Merovingicarum 1,2: Gregorii Turonensis Opera. Teil 2: Miracula et opera minora. Hrsg. von Wilhelm Arent, Bruno Krusch. Hannover 1885 (MGH Scriptores. 2), cap. 7. Gregor beschreibt hier v. a. Wunder, die nach dem Tod des Gregor von Langres eingetreten seien, welcher ansonsten als sehr gebildeter und gerechter Mensch dargestellt wird: Igitur sanctus Gregorius ex senatoribus primis, bene litteris institutus usw. Die Attalus-Geschichte wird hier nicht erwähnt. Vgl. dazu auch Hendrik Hess: „Es erhebt sich Vater gegen Sohn, Sohn gegen Vater, Bruder gegen Bruder, Verwandte gegen Verwandte“. Kontingenz, Herrschaft und Genealogie in den Libri historiarum decem des Gregor von Tours. In: Das Mittelalter 20 (2015), S. 80 – 95, der die Beschreibung von Genealogie auch als Form der Kontingenzbewältigung sieht. Vgl. zu den bella civila auch ebd., S. 87.
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ermöglichen (vgl. auch die starke Betonung von List in der Odyssee). Das Schema zeigt sich offen für mehrschichtige Bedeutungszuschreibungen, die aus unterschiedlichen narrativen Funktionen resultieren. So abgegrenzt und erratisch die Erzählung in Gregors Text auch zu den sie umgebenden chronikalischen Aufzeichnungen zu stehen scheint,⁴⁸ so vielfältig sind doch ihre impliziten Bezüge zum Verlauf fränkischer Reichsgeschichte.
IV Paulus Diaconus: Historia Langobardorum Im vierten Buch seiner Ende des 8. Jahrhunderts entstandenen Historia Langobardorum beschreibt Paulus Diaconus weitreichende Konflikte zwischen den Awaren und den Langobarden am Anfang des 7. Jahrhunderts (IV,37):⁴⁹ Aufgrund des Verrates einer gewissen Romilda, der Gattin eines langobardischen Herzogs, die sich im Affekt in den Awarenführer verliebt (auch hier werden – ähnlich wie in der Heldenepik – politische Umbrüche durch persönliche Emotionen begründet) und diesem die Tore des Forum Julii öffnet, unterliegen die Langobarden im Kampf und werden zu großen Teilen verschleppt. An diesem Punkt, so Paulus, möchte er den ordo narrationis ein wenig weiter aufrollen und von der ‚Allgemeingeschichte‘ Abstand nehmen, um so etwas Privates über seine Herkunft gleichsam in die Geschichte ‚einzuweben‘ (retexere): Exigit vero nunc locus postposita generali historia pauca etiam privatim de mea, qui haec scribo, genealogia retexere, et, quia res ita postulat, paulo superius narrationis ordinem replicare (S. 244).⁵⁰ Unter den Gefangenen befindet sich nämlich Paulusʼ Urgroßvater, Lopichis, der mit seinen vier Brüdern aus der Heimat ins Exil gezwungen wird (conprehendes omnes ex castro Foroiulensi in Avarorum patriam exules deduxit; S. 245). Nach vielen Jahren fasst Lopichis den Entschluss, in die Heimat zurückzukehren – Paulus schreibt, er glaube, dass dies auf-
Vgl. generell zum Verhältnis von ‚historiographischem‘ und ‚literarischem‘ Schreiben bei Gregor Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München 2004, S. 335 – 344, der anhand der Beschreibung der Taufe Chlodwigs zu zeigen versucht, dass Gregor auch die Taufe nach bekannten Erzählschemata disponiert. Fried beurteilt dies deutlich pejorativ: „Erinnerung überlagerte das Leben“, „Verwerfungen und Verformungen“ beeinflussen die historische Perspektive Gregors; ebd., S. 344. Hier bliebe zu fragen, ob man Erzählschemata im Mittelalter nicht vielmehr auch als eine legitime Form der Auseinandersetzung mit historischen Ereignissen verstehen sollte. Text und Übersetzung im Folgenden zitiert nach Paulus Diaconus: Geschichte der Langobarden = Historia Langobardorum. Hrsg. und übersetzt von Wolfgang F. Schwarz. Darmstadt 2009. ‚Das aber ist nun der Punkt, an dem es mich drängt, die allgemeine Geschichte zurückzustellen und einige Worte auch persönlich über meine, des Verfassers, Herkunft einzuflechten und, weil es der Zusammenhang so erfordert, im Gang der Erzählung etwas weiter auszuholen.‘
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grund göttlicher Eingebung geschehen sei,⁵¹ womit die dem ‚Exil und Rückkehr‘Schema inhärente finale Motivation auch providenziell abgesichert wird. Obwohl die Chronik betont, dass Lopichis noch Erinnerungen an seine Heimat aufweisen kann, gestaltet sich die Rückkehr als schwierig: Lopichis verfügt nur über wenig Proviant und einen Bogen, zudem findet er den Weg nicht: Die Heimkehr wird zur Suche, zur Irrfahrt. Schließlich begegnet Lopichis ein Wolf, der ihm durch Gesten zu erkennen gibt, dass er Lopichis den Weg zeigen werde und so zu seinem Führer und Reisegefährten (comes itineris et ductor; S. 247) wird. Doch das der Konstellation Mensch-Wolf kulturell eingeschriebene Spannungsverhältnis kommt auch in der Chronik zum Tragen. Es ist hier jedoch nicht der Wolf, der als Figur ganz in seiner Helferrolle aufgeht, sondern der Mensch, der Verrat begeht: Vom Hunger erschöpft, versucht Lopichis, den Wolf mit seinem Bogen zu erlegen. Er scheitert, der Wolf verschwindet und Lopichis, der ohne seinen Führer nicht weiter weiß, schläft vor Erschöpfung ein. Er träumt dann von einem Mann, der ihm den Weg Richtung Heimat weist. Lopichis gehorcht dem Hinweis und gelangt an eine Siedlung von Slawen, in der eine alte Frau Mitleid mit ihm hat, ihn mit Proviant ausstattet und ihm abermals den richtigen Weg beschreibt. Lopichis erreicht tatsächlich sein inzwischen verwildertes und überwachsenes Elternhaus, welches er erneuert und in dem er eine Familie gründet – Paulus führt diese über eine kleine Aufzählung der Generationenfolge bis zu sich selbst weiter.⁵² Abschließend wird dann wieder zur ‚allgemeinen Geschichte‘ übergeleitet: His paucis de propriae genealogiae serie delibatis nunc generalis historiae revertamur ad tramitem (S. 248).⁵³ Konträr zu Gregors Chronik wird der Einschub des ‚Exil und Rückkehr‘-Schemas bei Paulus sehr konkret abgegrenzt. Die Ergänzung der historiae generalis um eine seriem genealogiae, die auch eine narrative Erweiterung impliziert, scheint eines erklärenden Kommentars zu bedürfen – die persönliche Familiengeschichte wird zwar auch im Kontext der Universalgeschichte erzählt, doch muss dies nun markiert und legitimiert werden.⁵⁴ Auch bei Paulus ist es das Muster aus Exil und Rückkehr, das als
[…] nomine Lopichis, qui noster postea proavus extitit, inspirante sibi, ut credimus, misericordiae auctore captivitatis iugum abicere statuit et ad Italiam, quo gentem Langobardorum residere meminerat, tendere atque ad libertatis iura studuit repedare (S. 246). Paulus scheint generell die eigene Familiengeschichte häufig als Beweismittel für die Historizität seines Textes heranzuziehen; vgl. Jörg Jarnut: Die Familie des Paulus Diaconus. Ein vorsichtiger Annäherungsversuch. In: Geschichtsvorstellungen. Bilder, Texte und Begriffe aus dem Mittelalter. Festschrift für Hans-Werner Goetz zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Steffen Patzold u. a. Köln u. a. 2012, S. 43 – 52, hier S. 45. ‚Nach diesem kleinen Exkurs über meine eigene Ahnenreihe will ich nun zum Gang der allgemeinen Geschichte zurückkehren.‘ Haubrichs geht davon aus, dass hier eine in der eigenen Familie tradierte „Legende“ wiedergegeben werde, vgl. Wolfgang Haubrichs: Die Erzählung des Helden in narrativen Passagen der Historia Langobardorum des Paulus Diaconus. In: Millet/Sahm (Anm. 11), S. 277– 304, hier S. 294; vgl. auch Otto Gschwantler: Formen langobardischer mündlicher Überlieferung. In: Jahrbuch für internationale Germanistik 11,1 (1979), S. 58 – 85, hier S. 81.
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bedeutendes und erzählenswertes Ereignis der Familienhistorie fungiert, allerdings ist es hier wesentlich stärker als bei Gregor als Ursprungsgeschichte des Geschlechts gestaltet. Ganz im Sinne des ‚Exil und Rückkehr‘-Schemas legt Paulus den narrativen Fokus auf die Rückkehr, das heißt auf die Heimkehr als Irrfahrt. Der Kette aus drei Hilfestellungen – das Tier als Begleiter, der Traum, die alte Frau – korrespondieren dabei verschiedene Bereiche, die alle als Zeichen den richtigen Weg angeben: Natur, Offenbarung und Weisheit beziehungsweise Erfahrung. Lopichisʼ Heimkehr ist so über zentrale Sinngebungsmuster abgesichert, was die sich anschließende Generationensetzung mythisch überhöht. Gleichzeitig aber erweist sich die Serie an Helfern als Ansatz für Erzählinserate, das heißt kleine ‚Sequenzen‘ im Sinne der strukturalistischen Erzähltheorie nach Barthes.⁵⁵ Die generell die Heimkehr konstituierende Opposition aus Verirrung/Orientierung wird so in einer Mikrostruktur drei Mal durchgespielt: der Wolf als Wegweiser, der aber von Lopichis aus Not vertrieben wird; die providenzielle Lösung aus der abermaligen Desorientierung durch den Traum, die aber letztlich nicht nach Hause, sondern zu den Slawen führt; und die dortige Rettung durch eine alte Frau, die Lopichis nicht nur pflegt und versorgt, sondern ihm auch den Weg nach Italien weist. Die Sequenzen zeigen aber nicht nur die Mühen der Rückkehr in die Heimat, sondern in ihnen konstituiert sich überhaupt erst Lopichis als eigenständige Figur. Wolfgang Haubrichs hat schon darauf aufmerksam gemacht, dass sich der Name Lopichis mit ‚Wolfspfeil‘ übersetzen lasse (die Vulgärform von lat. lupus und -chis als germ. *-gis- = Pfeil)⁵⁶ und damit direkt mit den Ereignissen der Flucht in Verbindung stehe. Name und Geschichte der Figur ergeben sich aus den Erzählsequenzen, die damit auch eine Form von narrativer Identitätskonstruktion bewirken, welche die Figur des Lopichis besonders hervorhebt. Diese Hervorhebung ist aber auch in paradigmatischer Perspektive zu finden, wird während des Awarenüberfalls, der Lopichis Verschleppung nach sich zieht, doch auch der spätere Langobardenkönig Grimoald entführt. Paulus schildert im gleichen Kapitel (IV,37), aber noch vor der Digressio zur eigenen Familiengeschichte, sehr ausführlich die Taten des jungen Grimoalds, der sich bereits während der Entführung den Awaren entziehen kann und dabei seinen Verfolger tötet. Die Parallelisierung der Schicksale der beiden Kinder setzt damit Paulusʼ eigenen Familienvorfahr in Bezug zu einem der bekanntesten Langobardenkönige.⁵⁷ Die Freilegung des überwachsenen Elternhauses bei der Rückkehr lässt sich hingegen als Metapher lesen, die durch die Erwähnung eines mächtigen Baumes, an den Lopichis seinen Köcher hängt, noch verstärkt wird: Quibus [das Gestrüpp] ille succisis intra eosdem parietes vastam hornum repperiens in ea suam faretram suspendit
Vgl. Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: ders.: Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. Main 2007, S. 102– 143. Vgl. Haubrichs (Anm. 54), S. 298. So auch Goffart (Anm. 35), S. 405 f.; Jarnut (Anm. 52), S. 45.
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(S. 248).⁵⁸ Die unterbrochene Generationenfolge wird durch den zum Heilsbringer stilisierten Heimkehrer wieder aufgenommen, und diese Freisetzung erweist sich als eine erneute Gründung. An den im Unkraut wachsenden Baum, den man als Zeichen der Kontinuität in der Diskontinuität des verfallenden Hauses lesen könnte, hängt Lopichis seine Waffen und markiert so das Final des familiären Gründungsaktes: Der Bogen als Symbol der beschwerlichen Heimkehr wird in Relation zu demjenigen Teil der Genealogie gebracht, der immer noch mächtig ist, und so als Zeichen des Neuanfangs gesetzt. Das ‚Exil und Rückkehr‘-Schema impliziert damit eine Umkehrfigur im Geschichtsverlauf: Die Niederlage der Langobarden kann umgedeutet werden in einen strukturell überdeterminierten Beginn der eigenen, das heißt auf Paulus Diaconus bezogenen Genealogie. Ermöglicht wird dies aber erst über einen Leidensweg, der bei Paulus deutlich als Suche markiert ist, die – wie auch schon bei Gregor von Tours – nur über Helferfiguren absolviert werden kann. Was mithilfe des Schemas hier als kleine Erzählung konzipiert ist, die mit einer Kontingenzexposition öffnet (Verschleppung), ihren Spannungsbogen über den Weg nach Hause aufbaut und mit der Freilegung des Elternhauses schließt, liest sich zwar als eine narrative Bewegung vom Anfang zum Ende, impliziert in kultureller Perspektive aber eine Bewegung vom Ende zum Anfang. Das ‚Exil und Rückkehr‘-Schema bringt so in die disruptive Erfahrung von Entführung und Niederlage einen Sinn, der sich an natürliche Muster der Kontinuität anlehnt (Genealogie) und über eine strukturierte Erzählung problematische Geschichtserfahrung neu ausrichtet.⁵⁹
V Hildebrandslied Das in einer bemerkenswerten althochdeutsch-altsächsischen Sprachmischung gehaltene Hildebrandslied ist in einer Handschrift aus dem 9. Jahrhundert fragmentarisch überliefert. Es erzählt in knapp 70 Langzeilen von der Begegnung des aus der Fremde zurückkehrenden Hildebrand mit seinem Sohn Hadubrand. Der Text setzt in medias res ein: Zwischen zwei Heeren (untar heriun tuem; Z. 3)⁶⁰ stehen sich Hildebrand und Hadubrand gegenüber und bereiten sich auf einen Kampf vor. Hildebrand,
‚Dieses beseitigte er und fand mitten zwischen diesen Mauern einen mächtigen Vogelbeerbaum, an den er seinen Köcher hängte.‘ Dass Paulus generell ein kalkuliertes Spiel mit literarischen Techniken einsetzt, zeigt Stephan Müller: Als die Bilder laufen lernten. Über die Erzählung vom Untergang der Heruler bei Paulus Diaconus und die Möglichkeiten literarischer Rede in der höfischen Kultur des Mittelalters. In: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten. Hrsg. von Christina Lechtermann. Bern u. a. 2004, S. 91– 102. Text im Folgenden zitiert nach Hildebrandslied. In: Althochdeutsche Literatur. Eine kommentierte Anthologie. Althochdeutsch/Neuhochdeutsch. Altniederdeutsch/Neuhochdeutsch. Übersetzt, hrsg. und kommentiert von Stephan Müller. Stuttgart 2007, S. 28 – 32.
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der Ältere und Erfahrenere (her uuas heroro man, / ferahes frotoro; Z. 7 f.), fragt Hadubrand, wer sein Vater sei und aus welchem Volk er komme. Hadubrand erzählt, sein Vater sei gemeinsam mit seinem Herrn Dietrich in den Osten geflohen, er, Hadubrand, sei damals noch nicht geboren gewesen und glaube nun, dass sein Vater tot sei. Hildebrand gibt sich ihm daraufhin zu erkennen und bietet einen Goldreif als Geschenk – Hadubrand jedoch befürchtet eine List und lehnt ab. Hildebrand beklagt sein Schicksal: die vielen Jahre im Exil bei den Hunnen, die er erlitten habe, und dass er jetzt bei der Rückkehr gegen seinen eigenen Sohn antreten müsse. Der Text erzählt noch kurz vom Beginn des Kampfes, dann bricht das Fragment ab. Gegenüber den oben besprochenen Chroniken liegt hier eine gänzlich neue Situation des Erzählens vor. Es existiert kein politisch-historischer Kontext, in den das Schema eingebaut wird, ja das Schema selbst wird nicht einmal auserzählt. Stattdessen spitzt der literarische Text das Syntagma aus Vertreibung, Exil und Heimkehr auf eine spezifische Szene zu, in der sich verschiedene Sinnfragen überlagern. Dies klammert das historische Substrat jedoch nicht gänzlich aus: Bekanntermaßen lässt sich das Hildebrandslied dem Stoffkreis um Dietrich von Bern zuordnen, der sich historisch mit einem König der Ostgoten aus dem 6. Jahrhundert identifizieren lässt (Theoderich der Große, um 451– 526). Dass der historische Theoderich bei einem Feldzug im Jahr 489 beziehungsweise 493 den weströmischen König Odoaker besiegte, deutet die Dietrichepik um: Dietrich muss vor Odoaker (später: Ermanarich) ins Exil fliehen und schlägt diesen erst 30 Jahre später bei seiner Rückkehr. Geschichte und Geschichtserfahrung unterliegen hier sehr viel deutlicher als bei Gregor und Paulus einem Transformationsprozess, der – gerade in Bezug auf Dietrich von Bern – einen Schwerpunkt auf Leid in der Fremde, problematische Heimkehr und Verlusterfahrungen (Der arme Dietrich) setzt. Diese ‚Exil und Rückkehr‘-Geschichte scheint im Hildebrandslied implizit vorausgesetzt, offen thematisiert wird sie nur ansatzweise.⁶¹ Vielmehr ist es das problematische Aufeinandertreffen zweier Nebenfiguren des Dietrichstoffes (Hildebrand kommt etwa im Nibelungenlied als ‚Waffenmeister‘ Dietrichs vor), das hier in extenso thematisiert wird, führt es doch einen dilemmatischen Verwandtschaftskonflikt zwischen Vater und Sohn vor: Der Kampf gegen den eigenen Sohn beziehungsweise den eigenen Vater ist immer auch gleichzeitig ein Kampf gegen die eigene Familie – Zerstörung bedeutet Selbstzerstörung. Verhandelt werden so innerhalb nur weniger Zeilen Fragen nach dem Status von personaler Ehre im Spannungsfeld von Familien- und
Die Frage nach dem Konnex zur späteren Dietrichepik hat die Forschung immer wieder kontrovers diskutiert, für eine Identifizierung mit der Exilierung Dietrichs plädiert: Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge. Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700 – 1050/60). Königstein i. Taunus 1988 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1: Von den Anfängen zum hohen Mittelalter; Teil 1), S. 152; kritischer sind Derk Ohlenroth: Hildebrands Flucht. Zum Verhältnis von Hildebrandslied und Exilsage. In: PBB 127 (2005), S. 377– 413, und Carola L. Gottzmann: Warum muß Hildebrand vor Otachres nid fliehen? Überlegungen zum „Hildebrandslied“. In: ZfdPh 122 (2003), S. 1– 19.
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Rechtsverpflichtungen: Ist es für den Krieger möglich, vom Zweikampf zurückzutreten, wenn er dem eigenen Sohn gegenübersteht? Welche Normen und Handlungsansprüche definieren eine Adelskultur, die sich nicht unwesentlich über Gewaltausübung definiert? Was tun, wenn traditionelle Mittel der Konfliktvermeidung (Geschenkübergabe, Freundschaftsofferte) versagen? Das Hildebrandslied lässt diese Fragen in einer Kampfsituation enden, die keine positiv konnotierte Lösung kennt: Der Gewinner wird gleichzeitig Verlierer sein. Trotz seiner relativen Kürze erweist sich das Hildebrandslied damit als ein hochkomplexer Text, an dem zentrale Handlungslogiken des ‚Exil und Rückkehr‘-Schemas aufgegriffen, aber auch variiert werden. Ist der Familienzusammenhalt beziehungsweise das Betonen der eigenen Genealogie in beiden Chroniken ein bedeutsamer, das Schema unterlegender Wert, wird im Hildebrandslied durch die Heimkehr überhaupt erst eine familiäre Konfliktsituation hervorgerufen. Die Heimkehr zieht ein soziales Dilemma nach sich, für das keine Lösung zu existieren scheint: Kontingenz wird hier über das Schema nicht reduziert, sondern exponiert. Der literarische Text ‚spielt‘ mit dem Schema, indem er diesem eine seiner zentralen Funktionen (die Sinnzuschreibung und Bewältigung kontingenter Erfahrungen) verweigert. Gerade dies lässt aber das Schema besonders deutlich zur Geltung kommen: Da sich der latente, konventionalisierte Schemagebrauch nicht erfüllt, macht das Schema überhaupt erst auf seine kulturelle Codierung aufmerksam. Hugo Kuhn hat in einem wegweisenden, wenn auch heute teils überholten Aufsatz darauf aufmerksam gemacht, dass die Erzählung aus Exilierung und Vater-Sohn-Geschichte im Hildebrandslied gerade nicht dem üblichen Schema entspricht: Konventionell, so Kuhn, wäre die Erzählung eines Sohnes, der vom Vater in der Fremde gezeugt wird und sich als junger Mann auf die Suche nach der Heimat begibt, die zugleich eine Suche nach dem Vater ist.⁶² Wohl nicht zufällig verknüpft das Hildebrandslied das Narrativ der Rückkehr hier mit der symbolischen Ordnung des Zweikampfs, mithin einer Ordnung, die üblicherweise Kontingenz bloßlegt, da sie auf reine Agonalität gerichtet ist.⁶³ Dass ausgerechnet Vater gegen Sohn antritt, invertiert aber auch die genealogische Grundierung des ‚Exil und Rückkehr‘-Schemas und bedingt ein Ende, das nicht anders als tragisch ablaufen kann.⁶⁴ Auffällig ist zudem die Verhandlung verschiedener Formen von genealogischem Wissen und Erfahrungswissen, die der Text durchspielt: Hildebrand verkündet eingangs, dass Hadubrand ihm nur einen Namen nennen müsste, dann würde er die ganze Sippe kennen (Z. 11– 13); Hadubrand bezieht das Wissen über seinen Vater von alten und weisen (alte anti frote; Z. 16) Männern, dasjenige vom
Hugo Kuhn: Stoffgeschichte, Tragik und formaler Aufbau im Hildebrandslied. In: ders.: Text und Theorie. Kleine Schriften. Bd. 2. Stuttgart 1969, S. 113 – 125. Kuhns interkulturelle Textvergleiche wirken aus heutiger Sicht methodisch fraglich, sind aber dennoch anregend. Vgl. Udo Friedrich: Die „symbolische Ordnung“ des Zweikampfes im Mittelalter. In: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. Hrsg. von Manuel Braun, Cornelia Herberichs. München 2005, S. 123 – 158. Vgl. abermals Friedrich (Anm. 11), S. 188 f.; Kuhn (Anm. 62), S. 123.
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angeblichen Tod seines Vaters von Seefahrern (Z. 42), die Reden der beiden sind mit Sprichwörtern durchsetzt (mit geru scal man geba infahan; Z. 37) und so weiter. Erfahrung erweist sich so als zentraler Motivator für Handlung, doch wird eben dieses Erfahrungswissen problematisiert, da es ein unsicheres Archiv ist: Gerade das Wissen, über das Hadubrand verfügt, stellt sich für Hildebrand (und den Rezipienten) als falsch heraus. Das kollektive Gedächtnis, auf das sich die Erzählinstanz noch zu Beginn des Liedes demonstrativ beruft (ik gihorta ðat seggen; Z. 1),⁶⁵ ist kein fester Garant für Handlungswissen. Dennoch ist es dieser Erfahrungsspeicher, aus dem Hadubrand schöpft, um die Geschichte seines Vaters zu erzählen: Als Hildebrand ihn eingangs nach seiner Identität fragt, antwortet Hadubrand mit der Geschichte seines Vaters.⁶⁶ Das ‚Exil und Rückkehr‘-Setting des ganzen Textes, das heißt die Flucht und Exilierung Hildebrands und Dietrichs, wird in Hadubrands Erzählung nochmal in nuce zur Sprache und damit zur Disposition gebracht. Da Hadubrands Wissen offenkundig ein unvollständiges ist, erweist sich auch das Schema als brüchig: Wenn Erfahrung und Erinnerung versagen, kann auch das Schema keine sinngebende Funktion mehr ausspielen – der nostos des Helden suggeriert kein Happy End mehr, sondern den Untergang. Wesentlich deutlicher als die lateinischen Chroniken des Gregor von Tours und des Paulus Diaconus ist das Hildebrandslied in einem mündlich-schriftlichen Transformationsprozess zu verorten, der in seinen Reminiszenzen an den Präsenzbezug einer Aufführungssituation für eine wesentlich schärfere Konturierung verschiedener zeitlicher Bezüge sorgt. Das Lied markiert schon eingangs eine Differenz, die verschiedene Zeitebenen unterscheidet: eine Präsenzzeit des ik des ersten Verses, eine mittlere Ebene der Vergangenheit, in welcher der Sprecher beziehungsweise Erzähler selbst das Lied erfahren hat (gihorta ðat seggen), und diejenige der Handlung.⁶⁷ Wenn Benjamin den prototypischen Erzähler, wie eingangs angeführt, als jemanden imaginiert, der mündlich tradierte Erfahrung weitergibt, dann scheint dies auf die hier entworfene Erzählsituation zuzutreffen: Erzählen ist Verarbeitung und Weitergabe von Erfahrung – der Erzähler hat eine Geschichte gehört und erzählt sie nun abermals. Der Rückgriff auf das ‚Exil und Rückkehr‘-Schema resultiert dabei nicht in einer fundierenden Geschichte, sondern vielmehr in einer Erzählung, die über die Grenzen von Erfahrung und Wissen reflektiert.⁶⁸ Vgl. Bent Gebert: Die Gabe des Kampfes. Zur Form der Anerkennung im Hildebrandslied. In: Anerkennung und die Möglichkeiten der Gabe. Literaturwissenschaftliche Beiträge. Hrsg. von Martin Baisch. Frankfurt a. Main u. a. 2017 (Hamburger Beiträge zur Germanistik. 58), S. 19 – 40, hier S. 25. Vgl. zur Konstituierung des Helden in der Rede Hadubrands Hartmut Bleumer: Zwischen Hildebrand und Hadubrand. Held und Zeit im Hildebrandslied. In: Millet/Sahm (Anm. 11), S. 209 – 227. Ich übernehme die Dreiteilung von Uta Störmer-Caysa: Zeit, Alter und Gewissheit im Hildebrandlied. In: Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte. Hrsg. von Thorsten Fitzon u. a. Berlin/Boston 2012, S. 289 – 298, hier S. 289. Es ließe sich in Anlehnung an die konzisen Überlegungen von Hartmut Bleumer auch noch von einer vierten Ebene, einer Vergangenheit vor der Liedhandlung, quasi dem Geschehen, sprechen; vgl. Bleumer (Anm. 66), S. 209 – 211. Vgl. Störmer-Caysa (Anm. 67), S. 296.
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VI Fazit Die drei hier aufgeführten Beispiele sind über mehrere Jahrhunderte voneinander getrennt entstanden, auch entstammen sie unterschiedlichen Textkulturen: schriftlich konzipierte lateinische Historiographie gegenüber volkssprachiger Literatur im Spannungsfeld eines mündlich-schriftlichen Transformationsprozesses. Dennoch zeigen sie alle eine enge Einbindung des ‚Exil und Rückkehr‘-Schemas, das entweder als Erzählinserat fungiert oder im Fall des Hildebrandsliedes die gesamte Erzählstruktur bestimmt. Spezifisch für das Rückkehr-Narrativ scheinen dabei zwei unterschiedliche Themenkreise zu sein: erstens eine dem Schema inhärente Bewegung im Raum, die sich in Semantiken der Suche, der Irrfahrt und des Findens niederschlägt; zweitens eine Problematisierung oder auch Entproblematisierung von Verwandtschaftsbeziehungen, die aus unterschiedlichen Wertekonstellationen resultieren können – den innerfamiliären Zusammenhalt betonend (Gregor von Tours), als genealogische Gründung (Paulus Diaconus), aber auch als existenzielle Bedrohung (Hildebrandslied). Das Verhältnis von (Schema‐)Wissen und (Geschichts‐)Erfahrung wird so je neu entworfen⁶⁹ und im kulturellen Narrativ der Rückkehrerzählung zur Anschauung gebracht. Bemerkenswert ist dabei, dass die Einbindung des Schemas in den beiden Chroniken in erster Linie dazu zu dienen scheint, die Kontingenz historischer Erfahrung in narrative Kontinuität zu überführen, während der genuin erzählende Text das Schema invertiert und in offene Agonalität und Diskontinuität auslaufen lässt. Beides deutet auf die kulturelle Wirksamkeit des Schemas als konventionalisiertes Erzählmuster hin, aber auch auf die Möglichkeit für Umbesetzungen und damit auf eine Varianz, divergierende narrative Funktionen zu besetzen. Bestimmt man das kulturelle Gedächtnis als zentralen Speicher für Erzählschemata, so impliziert dies notwendigerweise eine Anlagerung des Schemas an die jeweiligen epistemischen Bedingungen seiner Aktivierung: im Hildebrandslied an ein ‚episches Erzählen‘,⁷⁰ das mit großer Wahrscheinlichkeit mehrere Stadien der mündlichen Weitergabe durchlaufen hat und Wertkonflikte einer adligen Kriegerkultur verhandelt. In den Chroniken des Gregor von Tours und des Paulus Diaconus artikuliert sich hingegen eine klerikale Gelehrtenkultur, die mit dem Paradies-Narrativ über ein genuin christliches Vorbild der glücklichen Heimkehr nach leidvoller Exilerfahrung verfügt. Es sollte damit gezeigt werden, dass Erzählschemata auch jenseits rein literarischer Texte Verwendung finden, ja man Schemagebrauch vielleicht weniger in einer immanent poetischen Perspektive verorten sollte als in einem Nexus aus Erfahrung, konventionalisiertem Wissen und Erzählen, der je nach epistemischem Kontext und Bedingung neu realisiert werden kann. Das Heranziehen historiographischer Texte sollte so gleichzeitig auf einige neue Aspekte an der viel diskutierten Schnittstelle Vgl. dazu auch Stierle (Anm. 19), S. 100. Vgl. zum Begriff Müller (Anm. 1).
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zwischen Geschichtsschreibung und Literatur aufmerksam machen. Beide Textformen, so die These, inkorporieren das ‚Exil und Rückkehr‘-Schema an einem kritischen Punkt der Diskontinuität, der in den Chroniken narrativ entschärft werden kann, im literarischen Text aber in seiner ganzen Kontingenz zur Geltung kommt.
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Zwischen Wissen, Neugierde und Glauben Von der produktiven Kraft des (Ver)Irrens in Hartmanns von Aue Der arme Heinrich Dem Andenken Jürgen Kühnels gewidmet „Nur wenn wir Umwege einschlagen, können wir existieren.“¹ Hans Blumenberg
I Verirren und Irren, Weg und Erzählung Befragt man das Grimm’sche Wörterbuch auf die in der Sprachgeschichte des Deutschen vorfindlichen Semantiken des Begriffsfelds von Irrtum, lässt sich erkennen, dass die Terminologie des Irrens nicht zuletzt der Kennzeichnung einer spezifischen menschlichen Bewegung im Raum dient.² Die geläufigen Bestimmungen des Irrtums als ein Abweichen „vom rechten und wahren in einem denkprocesse“,³ wie es bei Jacob und Wilhelm Grimm heißt, sowie als Abweichung in „glaubenssachen“, als „aberglaube“ und „ketzerei“,⁴ erweisen sich im Blick auf die Wortgeschichte als Ergebnis von Übertragungsoperationen, als deren Grundlage die bereits im althochdeutschen irrituom beziehungsweise irratuom sowie im Verbum irran aufgehobene Semantik des Umherschweifens gelten muss. Die im Wortfeld des Irrtums verfügbare Terminologie für die Beschreibung mentaler Dispositionen des Menschen, die im Horizont des Wahrheitsparadigmas deviante Formen seines Erkenntnisvermögens und seiner Glaubensbereitschaft zu bezeichnen vermag, steht mithin im begriffsgeschichtlichen Umfeld von Phänomenen des „umherschweifen[s]“, der „irrfahrt“ oder des „abweichen[s] vom rechten wege“.⁵
Anmerkung: Der vorliegende Beitrag ist zuerst in folgendem Band erschienen: Irrtum – Error – Erreur. Hrsg. v. Andreas Speer und Maxime Mauriège, Berlin/Boston 2018 (Miscellanea Mediaevalia 40), S. 699 – 717. Für die freundliche Genehmigung seiner Veröffentlichung in diesem Band danke ich Andreas Speer und Maxime Mauriège. Hans Blumenberg: Die Sorge geht über den Fluss. Frankfurt a. Main 1987, S. 137. Die etymologische Wurzel des Begriffsfelds liegt im lateinischen errare: irren. Vgl. dazu Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. 23. Aufl. Berlin/New York 1999, S. 406. DWB. Bd. 10. 1877, Sp. 2176. Diese Bedeutungen sind für den mittelhochdeutschen Gebrauch des Begriffsfeldes wohl zentral.Vgl. Lexer. Bd. 1. 1872, Sp. 1453. DWB. Bd. 10. 1877, Sp. 2176. https://doi.org/10.1515/9783110706093-014
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Im Wortfeld des Irrens sind also nicht allein anthropologisch fundierte Dispositionen des erkennenden, intellektuellen und gläubigen Menschen sprachlich repräsentiert. Es wird auch da produktiv, wo im Rahmen einer Metaphorisierung menschlichen Lebens als Weg dieser Weg zum hermeneutischen Gegenstand wird, dort, wo das Leben selbst im Blick auf seinen Sinn hin befragt und reflektiert wird.⁶ Solche Imaginationen und Reflexionen erfolgen bekanntlich sehr prononciert im Rahmen derjenigen literarischen Formen, die das christliche Mittelalter in der Volkssprache generiert beziehungsweise adaptiert. Das gilt sicherlich in besonderer Weise für die sich ausdifferenzierenden Schreibweisen der geistlichen Literatur,⁷ allen voran für die Legende, die das je eigene Leben ihrer Protagonisten im Horizont der imitatio Christi im Rekurs auf Viten- und Wegeschemata organisiert.⁸ Das gilt aber auch für die zunehmend an solchen Schreibweisen sich orientierenden Gattungen des höfischen Romans sowie die sich seit dem 13. Jahrhundert mehr und mehr ausdifferenzierenden kurzepischen Genres.⁹ Das besonders für die romanhafte Schreibweise bestimmende Aventiureschema, das dem Erzählen das Riskante und Unerwartete im Horizont des „gelenkten Zufalls“¹⁰ auf der Basis eines häufig ungerichteten Wegschemas als zu bewältigende Aufgabe der jeweiligen Protagonisten verfügbar macht,¹¹ interferiert mit den Vitenschemata der geistlichen Literatur. Dabei geht das zunehmend bestimmende Inserat biographischer Schreibweisen, wie es sich vor allem im Blick auf die Artus-
Zur grundlegenden Funktion einer ausdifferenzierten Wegmetaphorik für die literarische Reflexion menschlichen Lebens als „Lebens-Weg“ vgl. grundlegend Paul Michel (Hrsg.): Symbolik von Weg und Reise. Bern u. a. 1992 (Schriften zur Symbolforschung. 8), hier einführend bes. S. ix–xv. Zur Funktionalisierung des Weges im Kontext mystischen Schreibens vgl. z. B. Niklaus Largier: Aufstieg und Abstieg. Zur Metapher des Weges bei Rudolf von Biberach, Meister Eckart und Johannes Tauler. In: Michel (Anm. 6), S. 41– 55. Zur Bedeutung von Wegeschemata für legendarisches Erzählen vgl. zuletzt: Corinna Dörrich: Konfigurationen des Weges in der Christophorus-Legende. In: ZfdPh 132 (2014), S. 353 – 382. Vgl. Friedrich Wolfzettel: Zur Stellung und Bedeutung der Enfances in der altfranzösischen Epik I. In: ZFSL 83 (1973), S. 317– 348, hier S. 317 f. u. 346. Wolfzettel bringt die im 12. Jahrhundert einsetzende Tendenz zur Biographisierung in Heldenepik und höfischem Roman in einen Zusammenhang mit einer Rekurrenz auf die Heiligenvita. Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hrsg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel, Jan-Dirk Müller. Berlin/Boston 2012, S. 127. Zur Etymologie des Aventiurebegriffs, der sich vom lateinischen adventus herleitet vgl. ebd.: Der Begriff bezeichnet das, „was auf einen zukommt“. Das als Rechtsbruch oder Ordnungsstörung konkretisierte Riskante und Unerwartete siedelten die Erzählungen stets an der Peripherie der höfischen Welt an. Damit erfordert die Bewältigung des Abenteuers durch den Protagonisten die Zurücklegung eines Weges zu seinem Ort. Zur Etymologie und Begriffsgeschichte vgl. zusammenfassend auch Peter Strohschneider: ‚âventiure‘-Erzählen und ‚âventiure‘Handeln. Eine Modellskizze. In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift. Hrsg. von Gerd Dicke, Manfred Eickelmann, Burkhard Hasebrink. Berlin/ New York 2006 (TMP. 10), S. 377– 383. Zum Aventiureschema als Narrativ vgl. zuletzt: Jutta Eming, Ralf Schlechtweg-Jahn: Einleitung: Das Abenteuer als Narrativ. In: Aventiure und Eskapade. Narrative des Abenteuerlichen vom Mittelalter zur Moderne. Hrsg. von dens. Göttingen 2017 (Transatlantische Studien zu Mittelalter und Früher Neuzeit. 7), S. 7– 33, hier S. 10.
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und Tristanromane des Mittelalters seit dem 12. Jahrhundert beobachten lässt,¹² mit einer Komplexitätssteigerung der erzählten Wegstrukturen einher, die die Bewegungen der entsprechenden Protagonisten im Raum organisieren. Den auf den Prinzipien der variierenden Wiederholung (Artusromane)¹³ beziehungsweise einer episodischen Strukturierung (Tristanromane)¹⁴ des erzählten Geschehens aufsetzenden Wegstrukturen der einzelnen Texte eignet dabei ein Fokus auf Um- und Abwegigem, auf Phänomenen des Ungerichteten oder Fehlgeleiteten, die den Lebensweg der erzählten Figuren in den imaginierten Raum- und Sozialordnungen ausmachen. Gegenüber der für die französische Heldenepik charakteristischen zyklischen Struktur der EnfanceErzählungen, auf die der höfische Roman in der vermehrten Aufmerksamkeit für die Jugendgeschichten seiner Protagonisten ganz auffallend rekurriere, wiesen besonders, so eine im Kontext der germanistischen Forschung nach wie vor zu wenig beachtete These Friedrich Wolfzettels, die Tristan- und Parzivaltexte des französischen und deutschen Mittelalters eine auffallende Öffnung der imaginierten Lebenswege ihrer Protagonisten auf. Anders eben als die in die väterliche Position mündenden Wege der Helden in der französischen Heldenepik führe das Romangeschehen seine Protagonisten an einen Ort, der den ihrer Väter transzendiere.¹⁵ Gemeinsam ist den Wegmodellen epischen und romanhaften Erzählens ein Fokus auf den Irrwegen, den Um- und Abwegen, die eben nicht allein als strukturierende Marker der erzählten Lebensläufe und damit auch der literarischen Formen selbst fungieren (zum Beispiel die Doppelwegstruktur des Artusromans), sondern die in besonderer Art und Weise Reflexionen über die je eigene Bedeutung der erzählten Leben im Rahmen der in den genannten Genres stets verhandelten höfischen und/oder geistlichen Normhorizonte evozieren. Denn Momente der den Figuren attribuierten räumlichen Desorientierung oder falschen Richtungsentscheidungen markieren in den Narrativen stets eine grundlegende Fragwürdigkeit, ja nachgerade eine Fehleranfälligkeit und damit eine Korrekturbedürftigkeit erzählter Lebensverläufe. Nichts deutet mehr darauf als der mittelhochdeutsche Begriff für Makel, der missewende lautet. Dieser weist eine deutliche Nähe zur Terminologie von Irrtum und Irren mit ihren räumlichen Impli-
Vgl. Monika Schausten: ich bin, alse ich hân vernomen, ze wunderlîchen maeren komen. Zur Funktion biographischer und autobiographischer Figurenrede für die narrative Konstitution von Identität in Gottfrieds von Straßburg ‚Tristan‘. In: PBB 123 (2001), S. 24– 48, hier S. 26. Zur Doppelwegstruktur des Artusromans vgl. bes. Walter Haug: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts. 2. Aufl. Darmstadt 1992. Vgl. Walter Haug: Aventiure in Gottfrieds ‚Tristan‘. In: PBB 94 (1972). Sonderheft: Festschrift für Hans Eggers zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Herbert Backes, S. 88 – 125. Haug weist hier nach, dass der im Tristan konstant als Zufall semantisierte âventiure-Begriff stets die Initiation der einzelnen Stationen des erzählten Lebensweges im Rahmen der für die Tristantexte typischen episodischen Strukturierung des Geschehens als willkürlich profiliert. Vgl. dazu grundlegend: Wolfzettel (Anm. 9); ders.: Zur Stellung und Bedeutung der Enfances in der altfranzösischen Epik II. In: ZFSL 84 (1974), S. 1– 32, sowie ders.: Doppelweg und Biographie. In: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von dems. Tübingen 1999 (Schriften der Internationalen Artusgesellschaft. 4), S. 119 – 141, hier S. 121.
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kationen auf: Es ist eine unvorteilhafte Kehre, eben eine verunglückte Wende, die im Wort pars pro toto für den Makel eines Menschen stehen kann.¹⁶ Dass in den mittelalterlichen Erzählgattungen die imaginierten Lebenswege vor allem im Blick auf das ihnen eignende Abwegige oder Umwegige dargeboten werden, ist, so ließe sich aus einer literarästhetischen Perspektive formulieren, geradezu ein Spezifikum des Narrativen selbst. Denn nur im Akzentuieren des Devianten, des von sozialen, religiösen oder moralischen Normierungen Abweichenden, kann sich vormodernes Erzählen recht eigentlich allererst realisieren. Sujethaftigkeit, eine Gebundenheit der Narration an das, was Jurij M. Lotman aus einer struktural-semiotischen Perspektive ‚Ereignis‘ genannt hat,¹⁷ prägt die gattungstypologisch ausdifferenzierten epischen Schreibweisen der mittelalterlichen Literatur. Dabei wird die Ereignisgebundenheit des Erzählens über ein Verfahren der Konfiguration von Raum und Figur erzeugt. Die durch Grenzmarkierungen generierte topologische Ordnung der erzählten Welt ist für einzelne Figuren als Herausforderung angelegt. Denn deren Grenzüberschreitung im Rahmen der imaginierten Weltordnung ist Signum einer Übertretung der durch die räumliche Ordnung stets indizierten Normordnung.¹⁸ Den umwegigen und komplizierten Wegmodellen muss in diesem Rahmen also ein nicht geringes Potenzial für mögliche Semantisierungen der im Erzählen entworfenen Lebensentwürfe attestiert werden. Ebenso wenig nämlich, wie ein makelloser, in der Terminologie Lotmans „[u]nbewegliche[r]“¹⁹ Held als Figur von Erzählhandlungen taugt, kann der „kürzeste[..] Weg“,²⁰ wie Hans Blumenberg schreibt, allein schon ein narratives Ereignis konstituieren.
II Lebenswege im Armen Heinrich Fast könnte man meinen, dass Hartmann von Aue in seiner enigmatischen Erzählung vom Armen Heinrich, um die es im Folgenden gehen soll, auf diese Grundbedingung erzählender Literatur habe deuten wollen. Dass eine narrative Profilierung von Le-
Vgl. den Eintrag missewende in: Lexer. Bd. 1. 1872, Sp. 2174. Folgendes Bedeutungsspektrum wird dem Substantiv zugewiesen: „unrechte wendung, das abweichen vom bessern zum schlechtern, […] tadel, makel, schande“. Zum gegenwärtigen Stand der literaturtheoretischen Diskussion des Ereigniskonzepts vgl. zuletzt: Ereignis Erzählen. Hrsg. von Anna Häusler, Martin Schneider. Berlin 2016 (Sonderheft zum Band 135 der ZfdPh), hier bes. S. 3 – 5. Zum Ereigniskonzept Lotmans vgl. bes. Karl Nikolaus Renner: Grenze und Ereignis. Weiterführende Überlegungen zum Ereigniskonzept von J. M. Lotman. In: Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Michael Titzmann zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Gustav Frank, Wolfgang Lukas. Passau 2004, S. 357– 381. Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. Übers. von Rolf-Dietrich Keil. München 1972, S. 332 ff. Ebd., S. 338: „Die Unbeweglichen sind der Struktur des allgemeinen sujetlosen Typs unterworfen. […] Eine bewegliche Figur ist eine, die das Recht hat, die Grenze zu überschreiten.“ Blumenberg (Anm. 1), S. 137.
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bensverläufen im Horizont adelig-christlicher Normhorizonte eben nur funktionieren kann, wenn den poetisierten Lebenswegen eine markante Störung, eine Irritation zugeschrieben wird: Prononciert führt der Text zunächst im Rekurs auf ein höfisches Register seinen Protagonisten Heinrich als einen in jedweder Hinsicht vollkommenen Herrscher in Schwaben ein, dessen leben und êre,²¹ wie es heißt, âne alle missewende / stuont,²² nur um im Anschluss – nun einen christlichen Horizont einspielend – eine einschneidende Wende dieses bis dato makellosen Lebens in Gestalt einer plötzlichen Aussatzerkrankung mit einer entsprechenden Fallhöhe versehen zu können, die wiederum recht eigentlich erst als Initiation von Irr- und Umwegen des Heinrich im Rahmen der imaginierten Weltordnung taugt. Es ist die Krankheit als Signum einer lebensgeschichtlich markanten Verkehrung,²³ wie es nahezu wörtlich heißt, die als Voraussetzung für den Lebensweg der Figur gesetzt ist: Die miselsuht ²⁴ markiert jene entscheidende Schnittstelle, die die auf Stabilität und Beständigkeit ausgerichtete Existenz der als Landesherrn profilierten Figur von der Erfahrung einer grundständigen Verunsicherung im Blick auf ihr zukünftiges Leben trennt. Die Krankheit ist als Dreh- und Angelpunkt der erzählten Biographie des Protagonisten ausgewiesen, von ihr aus ist das erzählte Leben des Heinrich im Spannungsbogen eines Vorher und Nachher, eines Geordneten und Chaotischen, eines Stabilen und Unsicher-Umherschweifenden organisiert. Im Folgenden möchte ich versuchen, den Poetisierungen des Ab- und Umwegigen als im Erzählen topographisch angelegten Realisationsformen des Irrtums und des Irrens in Hartmanns Armen Heinrich nachzugehen. Meine Vermutung ist, dass die der Heinrichfigur attribuierte umwegige Wegstruktur das erzählte Leben im diskursiven Horizont von Wissen, Neugierde und Glauben auf die Reflexion alternativer Formen seines Verlaufs hin zu öffnen vermag. So gesehen gilt es zu überlegen, inwiefern der kleine Text Hartmanns als Teil einer kulturellen Praxis beschreibbar ist, die sich besonders, folgt man den Ausführungen Hans Blumenbergs, „in der Auffindung und Anlage, der Beschreibung und Empfehlung, der Aufwertung und Prämierung der Umwege“²⁵ realisiert. Mein Beitrag gilt dabei einer Erzählung, die in mehrerer Hinsicht einen Sonderfall im literarischen Feld höfischer Literatur des 12. Jahrhunderts darstellt: Weder ist sie im Kontext eines novellistischen Erzählens zu verorten, das im deutschsprachigen Raum erst im 13. Jahrhundert recht eigentlich einsetzt, noch auch verfügt die variantenreich in drei vollständigen und drei fragmentarischen Handschriften des 13. und 14. Jahrhunderts auf uns gekommene Geschichte über eine verifizierbare Vorlage, auch wenn
Ich zitiere Hartmanns Erzählung nach folgender Ausgabe: Hartmann von Aue: Der arme Heinrich. Hrsg. von Hermann Paul. 16., neu bearbeitete Aufl. besorgt von Kurt Gärtner. Tübingen 1996. Das Zitat oben V. 55. Ebd., V. 54 f. Vgl. ebd., V. 82 f.: sîn hôchmuot wart verkêret / in ein leben gar geneiget. Ebd., V. 119. Blumenberg (Anm. 1), S. 137.
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der implizite Autor im Rekurs auf Verfahren einer bereits konventionalisierten Exordialtopik eine solche im Prolog der Erzählung namhaft zu machen sucht.²⁶ Der Text erzählt in zwei – besonders in der Gestaltung der Schlusspartie – deutlich voneinander abweichenden Versionen (A und B)²⁷ die Aussatzheilung des in Schwaben ansässigen Adeligen Heinrich als Folge einer Bekehrung, die durch die Opferbereitschaft einer jungen Meierstochter ausgelöst wird. Dabei initiiert der Blick des Protagonisten auf den bereits gefesselten, nackten Mädchenkörper den entscheidenden Umschwung: Denn das Sehen des angebundenen Körpers hält Heinrich von der Annahme des jungfräulichen Blutopfers ab, und es ist gerade dieser Verzicht, der seine Heilung bewirkt. Die Forschungsdebatte um den kleinen Text suchte dessen Konstruktionsprinzipien in Ermangelung einer stofflichen Vorlage vor allem im Verweis auf eine Kompilationstechnik unterschiedlicher gattungsgebundener Schreibweisen zu erläutern. Mit verwandten kleineren Erzählformen, so resümieren bereits Christoph Cormeau und Wilhelm Störmer diese Bemühungen, teile der Text die gerafft erzählende Darstellung sowie einen partiell lehrhaften Impetus; mit der Legende das Moment der wunderbaren Heilung, das aber in der A-Version des Textes eben nicht in eine Bekehrung des Protagonisten münde; mit dem Erlösungsmärchen schließlich das Motiv der Heldin, die dem Geliebten trotz seiner Missgestalt zugetan ist und ihn aufgrund dieser Liebe erlösen kann.²⁸ Für die hier geleistete Rekonstruktion eines Erzählens, das sich wohl der „Hybridisierung profaner und legendarischer Erzählmuster“²⁹ verdankt, von der Der arme Heinrich (Anm. 21), V. 16 f.: nu beginnet er iu diuten / ein rede die er geschriben vant. Zu Entstehung und quellenhistorischer Verortung des Armen Heinrich vgl. Christoph Cormeau: Hartmann von Aue. In: 2VL. Bd. 3. 1981, Sp. 500 – 520, hier Sp. 502 u. 513. Zur Überlieferung genauer Kurt Gärtner: Einleitung. In: Der arme Heinrich (Anm. 21), S. IX–XXXVI. Zur Textgeschichte des Armen Heinrich vgl. bes. Kurt Gärtner: Überlieferung und textus receptus. Zur Neuausgabe des ‚Armen Heinrich‘. In: editio 17 (2003), S. 89 – 99; zur Überlieferungsvarianz und den unterschiedlichen Semantisierungen des Plots in A und B am Beispiel der Figurenkonstruktion vgl. Hans-Jochen Schiewer: Acht oder Zwölf. Die Rolle der Meierstochter im ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue. In: Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer, Hans-Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 649 – 667. So Christoph Cormeau, Wilhelm Störmer: Hartmann von Aue. Epoche – Werk – Wirkung. 2. Aufl. München 1985, S. 145. Zu den Allusionen auf das Märchen vgl. bes. David Blamires: Fairytale Analogues to ‚Der arme Heinrich‘. In: Hartmann von Aue. Changing Perspectives. London Hartmann Symposium 1985. Hrsg. von Timothy McFarland, Silvia Ranawake. Göppingen 1988 (GAG. 486), S. 187– 198. Armin Schulz: Morolfs Ende. Zur Dekonstruktion des feudalen Brautwerbungsschemas in der sogenannten ‚Spielmannsepik‘. In: PBB 124 (2002), S. 233 – 249, hier S. 235. Zur spezifischen Hybridität des Armen Heinrich, die neben Referenzen auf die legendarischen Intertexte auch Allusionen auf den arthurischen Roman einschließe, vgl. bes. Jane Dewhurst: Generic Hybridity in Hartmann von Aue’s ‚Der arme Heinrich‘. In: Arthurian Literature 20 (2003), S. 43 – 83, hier S. 46, sowie ähnlich Matthias Meyer: Wenn Gattungsmischung scheitert. Oder: Warum finden manche Geschichten kein adäquates Ende? In: Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Hrsg. von Florian Kragl, Christian Schneider. Heidelberg 2013, S. 241– 259, hier S. 253.
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Armin Schulz in einem anderen Zusammenhang gesprochen hat, ist ein älterer Beitrag Kurt Ruhs aus meiner Sicht nach wie vor zentral. Seine die Forschungsdiskussion seit langem bestimmende literarästhetische Positionsbestimmung der ungewöhnlichen Erzählung verdankt sich der überzeugenden Rekonstruktion vor allem zweier legendarischer Intertexte, die, so Ruhs These, ihre besondere narrative Konzeption bestimmen.³⁰ Beide repräsentierten jenen Typus der mittelalterlichen Aussatzlegende, in dem die „Heilung vom Aussatz durch das Blut unschuldiger Kinder oder reiner Jungfrauen“³¹ thematisch werde. Da wäre zum einen die Silvesterlegende, die davon erzählt, wie Kaiser Konstantin durch die Einwirkung Gottes vom Aussatz befallen wird, einer Krankheit, die laut Auskunft eines Arztes nur durch das Blut unschuldiger Kinder, durch ein heidnisch-magisches Blutopfer also, geheilt werden kann. Doch der Verzicht des Kaisers auf dieses grausame, da unfreiwillige Opfer bewirkt seine Heilung als Gnadenakt Gottes.³² Und zum anderen adaptiere Hartmann die Geschichte von Amicus und Amelius. In ihr wird die Opfertat thematisch. Die Heilung des vom Aussatz heimgesuchten Amicus erfolgt durch ein Opfer seines Freundes Amelius, der für ihn seine beiden Kinder tötet. Die Genesung gelingt, und überdies erweckt Gott auch die geopferten Knaben wieder zum Leben.³³ Ruh sieht nun die wesentlichen Konstituenten beider Versionen der Aussatzlegende, nämlich Opferannahme seitens des Kranken (‚Amicus und Amelius-Typus‘) einerseits, und Verzicht auf das Opfer (‚Silvester-Typus‘) andererseits, im Armen Heinrich zu einem eigenen Erzählschema kompiliert. Im Rekurs auf beide nämlich konstruiere der Autor seine Geschichte, die eben die Heilsgeschichte des Protagonisten mit der des opferwilligen Pächtermädchens zusammenführe.³⁴ Der neuralgische Punkt der Erzählung ergebe sich mithin aus dieser Montage. Es sei jener, an dem Hartmann die beiden Modelle miteinander verknüpfe, mithin der erzählte Umschwung des Protagonisten von anfänglicher Opferannahme zu späterem Opferverzicht. Den Sinneswandel Heinrichs motiviere der Autor in der Episode, in der jener den nackten Mädchenkörper ansehe und mit seinem Vgl. Kurt Ruh: Hartmanns ‚Armer Heinrich‘. Erzählmodell und theologische Implikationen. In: ders.: Kleine Schriften. Bd. 1. Hrsg. von Volker Mertens. Berlin/New York 1994, S. 23 – 37, hier S. 24 ff. Als dritte Ausprägung derjenigen mittelalterlichen Aussatzlegenden, die er als konstitutiv für Hartmanns Erzählung nachweist, identifiziert Ruh eine Episode aus der Queste del Saint Graal aus der LancelotGral-Trilogie (ebd., S. 27). Diese Episode berichte von der „lautere[n] Caritas“, die die Schwester Percevals auszeichne. Diese gebe für eine vom Aussatz befallene Schlossherrin ihr Leben hin, ohne mit dieser persönlich verbunden zu sein. Anders als in den legendarischen Intertexten muss hier auch die Opferbereite ihr Leben lassen; doch wird die Burg der Schlossherrin „von einem himmlischen Blitzstrahl getroffen und eingeäschert“. Ebd., S. 24. Zur Silvesterlegende vgl. ebd., S. 26. Eine Aufstellung der deutschsprachigen Versionen der Legende ebd., S. 25. Zur Erzählung von Amicus und Amelius vgl. ebd., S. 26 f. Angaben zu den volkssprachigen Versionen des Plots ebd., S. 25. Vgl. ebd., S. 29: „Der AH darf nicht, wie zumeist geschehen, einseitig als Geschichte des Edelfreien Heinrich verstanden werden. Hartmanns gemischter Typus als solcher sagt aus, daß die Krankheitsund Heilsgeschichte Heinrichs die Erzählung von einem opferwilligen Mädchen mit umfaßt.“
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eigenen hässlichen Körper vergleiche.³⁵ Gerade in der Gestaltung dieser Episode dürfe man, so Ruh, die schöpferische Eigenleistung Hartmanns erkennen, eine Leistung, die aber – wie gesagt – nur im Hinweis auf die hier miteinander verbundenen Erzählschemata und ihre Konstituenten wirklich begründbar sei.³⁶ Im Anschluss an die von Ruh herausgearbeitete Kompilation der beiden Legendentypen als die Geschichte fundierendes Erzählschema lässt sich, so meine ich, noch grundsätzlicher als Ruh dies vorgeschlagen hat, die besondere literarästhetische Qualität der kleinen Geschichte beschreiben. Aus meiner Sicht fungiert die Intertextualität der Erzählung nicht allein als Plausibilisierungsstrategem eines Sinneswandels der Heinrichfigur.³⁷ Gerade die markierten und nicht markierten Bezugnahmen auf legendarische Schreibweisen ermöglichen zudem eine komplexe Poetisierung der in die Erzählung eingespielten Diskurshorizonte von Wissen, Glauben und Neugierde. Im Blick auf die von Ruh herausgehobenen Typen der Opferlegende lässt sich nämlich über seine Argumentation hinausgehend zeigen, dass ihre Kontamination im Armen Heinrich die Einführung von Fallgeschichten ermöglicht, den Entwurf alternativer Lebensverläufe. Es ist eine spezifische Indienstnahme beider Legendenversionen im Kontext eines höfischen und geistlichen Registers, die auf die narrative Diversifikation gleich zweier in der Erzählung entfalteter Lebensverläufe ausgerichtet ist, die zudem in ein Spannungsverhältnis zueinander gesetzt sind. Die Differenzen zwischen dem Lebensweg des Heinrich und dem des Mädchens werden eben nicht zuletzt in der von Ruh herausgehobenen neuralgischen Episode der Erzählung explizit. Deren Potenzial liegt aus meiner Sicht gerade darin, im expliziten und impliziten Rekurs auf Sujets legendarischen Erzählens Lebensverläufe nicht allein aus ihrer Bezogenheit auf die sich im Wunder realisierende göttliche Begnadung menschlichen Lebens im Rahmen einer conversio, einer Umkehr, zuzuspitzen. Hartmann bringt über die Kontamination der oben entfalteten Konkretionen der Aussatzlegende alternative Verlaufsformen der erzählten Leben ins Spiel, die in der Narration als Ergebnis einer den Figuren attribuierten Reflexion über Möglichkeiten und Grenzen des eigenen Lebensentwurfs gerade jenseits der über die legendarischen Schreibweisen eingespielten imitatio Christi als Orientierungspunkt dieses Verlaufs manifest werden.
III Lebenswege im intertextuellen und diskursiven Referenzrahmen Die in der Erzählung obwaltende Vervielfältigung tatsächlich geschilderter Lebensverläufe und optional imaginierter Lebensentwürfe ergibt sich zunächst ganz unmittelbar aus der Umakzentuierung der Entscheidungen, die die beiden Legenden-
Vgl. ebd., S. 33. Vgl. ebd. Vgl. ebd.
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typen ihren Protagonisten zuweisen. Im Rahmen der Legende nämlich, die, so jüngst Andreas Hammer, „an die Darstellung des Heiligenlebens als Geschehensverlauf gebunden“³⁸ und von daher selbst, wie André Jolles schreibt, „ein imitabile sein“³⁹ muss, können Opferannahme und Opferverzicht gleichermaßen als Voraussetzung einer göttlichen Begnadung in Form eines Wunders gesetzt sein. Die Hartmann’sche Erzählung hingegen organisiert Opferannahme und Opferverzicht als deutlich different zu bewertende Verhaltensoptionen der Heinrichfigur auf der zeitlichen und räumlichen Achse eines zum Teil gemeinsam mit dem Mädchen eingeschlagenen Weges. Die Entscheidung für den Opferverzicht ist aus der Sicht der Heinrichfigur als Ergebnis der gemeinsamen Fahrt nach Salerno gestaltet, als dessen Fluchtpunkt sie als die richtige Entscheidung gesetzt ist: Heinrichs Weg zur Opferung erweist sich im Raum des Geschehens selbst als Weg zum Opferverzicht. Zudem aber führt der Autor – das hat auch Ruh schon erläutert – die Figur der Meierstochter und damit die Opferwillige als eigenständig Handelnde ein,⁴⁰ sodass diese Entscheidung in ihrer Relevanz für zwei Lebensverläufe unterschiedlich akzentuiert werden kann. Der gemeinsame Weg nach Salerno führt Heinrich zur Wahl der richtigen Alternative, die dann auch durch die Begnadung Gottes im Blick auf seine Spontangenesung eine für alle sichtbare Bestätigung erfährt. Für das Mädchen aber entpuppt er sich als Irrtum, denn die sich mit ihm aus ihrer Sicht verbindende Verheißung auf ein ewiges Leben in Gott erfüllt sich nicht. Die Akzentuierung der beiden Lebenswege, deren Differenz im Erzählen durch ihre Ausrichtung an höfischen Lebensformen einerseits, an geistlichen andererseits begründet ist, problematisiert mithin die Vorstellung eines gemeinsamen Lebensweges im Blick auf die beiden aufeinander bezogenen Figuren. Die Erzählung erhält gerade in Bezug auf den verhandelten Diskurs adelig-höfischen Lebens im Kontext göttlicher Begnadung eine ganz eigene Signatur und dies besonders in ihrer intertextuellen Bezogenheit auf die Legende. Medizinisches Wissen, theologisches Wissen und Glauben als die markanten Referenzpunkte für die Lebens- und Richtungsentscheidungen der Figuren werden reflektiert und evozieren so die Frage nach einer Verhältnisbestimmung christlicher Heilsgewissheit im Glauben und menschlichen Wissens für den Verlauf der schließlich miteinander in Beziehung gesetzten Lebensentwürfe. Ist die Legende als Form beschreibbar, in der sich Heiligenleben narrativ realisieren, lässt sich die Arme Heinrich-Erzählung in ihren Bezugnahmen auf die Legendentypen als Forum einer Disputation divergierender Lebensentwürfe im Horizont adelig-höfischen Lebens kennzeichnen. Die Ausdifferenzierung des Hartmann’schen Erzählens vom Leben erfolgt nun im Einzelnen zunächst auf der Basis konkurrierender Wegeschemata, die schließlich erst
Andreas Hammer: Erzählen vom Heiligen. Narrative Inszenierungsformen von Heiligkeit im ‚Passional‘. Berlin/Boston 2015 (LTG. 10), S. 6. André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. 4. Aufl. Tübingen 1972, S. 39. Vgl. Ruh (Anm. 30), S. 29: „Die Schwergewichte der Erzählung gelten dem Mädchen zu gleichen Teilen wie dem Armen Heinrich.“
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in den bereits angesprochenen gemeinsamen Weg münden. Die Differenz der Lebensverläufe sowie die Phasen ihrer Bezogenheit aufeinander erhalten dabei auf der Grundlage der den beiden Figuren in der Erzählung attribuierten beziehungsweise auch verweigerten Wege Plastizität. Zunächst entfaltet der auktoriale Erzähler sehr ausführlich den Lebensverlauf der Heinrichfigur, der erst nach der Erkrankung überhaupt als Lebensweg realisiert ist, im Horizont des Umwegigen. Dabei wird die Krankheit als Ausgangspunkt eines Weges markiert, der sich messen lassen muss an alternativen Modellen des Umgangs mit ihr. Im Rahmen des über die Erzählerstimme eingespielten Rekurses auf biblische Figuren erfolgt eine dezidierte Unterscheidung,⁴¹ die die Auswirkung der Krankheit auf den von Heinrich eingeschlagenen Weg im Horizont eines prominenten Vergleichsfalls profiliert. Der Erzählerkommentar akzentuiert das Verhalten der Heinrichfigur, indem er dieses in eine explizite Differenz zu dem Hiobs erläutert.⁴² Dessen geduldiges Ertragen des eigenen Leids wird mit der Reaktion des Protagonisten verglichen: Heinrichs bitteres Leid, so wörtlich, schiet in […] / von Jôbes geduldikeit. ⁴³ Und mehr noch bewertet die Erzählerstimme Heinrichs Verhalten als Ausdruck einer Devianz von der Norm, die in Hiobs konstantem Lob Gottes angesichts des eigenen, selbst nicht verschuldeten Leidens hervorgehoben wird:⁴⁴ leider,⁴⁵ so heißt es da, verhielt sich Heinrich überhaupt nicht so.⁴⁶ Dem statischen Ausharren im Lob Gottes, wie es Hartmanns Erzähler dem im Glauben fest
Die Referenzfiguren, die der Erzählerkommentar explizit aufführt, sind Absalom und Hiob.Vgl. Der arme Heinrich (Anm. 21), V. 85 u. 138. Zu den die gesamte Erzählung durchsetzenden Allusionen auf biblische Texte und Motive vgl. bes. Sabine Penth: „Dar ûf er si vil vaste bant“. Biblische Motive im ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue. In: Regionen Europas – Europa der Regionen. Festschrift für Kurt-Ulrich Jäschke zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Peter Thorau, Sabine Penth, Rüdiger Fuchs. Köln u. a. 2003, S. 65 – 74. Zum typologischen Erzählverfahren Hartmanns am Beispiel der Hiob-Referenzen vgl. bes. und ausführlich Joachim Theisen: Typologie und Individualität. Zur Rezeption des Buches Ijob im ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue. In: Spuren. Festschrift für Theo Schumacher. Hrsg.von Heidrun Colberg, Doris Petersen. Stuttgart 1986 (SAG. 184), S. 81– 106. Zur Geschichte der literarischen Adaptationen der biblischen Hiob-Erzählung vgl. bes. Clemens Heydenreich: Revisionen des Mythos. Hiob als Denkfigur der Kontingenzbewältigung in der deutschen Literatur. Berlin/Boston 2015 (Hermaea. 135). Der arme Heinrich (Anm. 21), V. 137 f. Heydenreich (Anm. 42), S. 9, fasst das Hiobbuch in seiner Funktion als „Arbeit am Mythos“: „Den Widerspruch zwischen der Prämisse eines allmächtigen und gerechten Gottes und dem empirischen Leiden des gerechten Menschen diskutiert der Text vielstimmig, schöpft alle Varianten logischen Schließens aus, die geeignet scheinen, ihn zu überbrücken, und läuft doch auf die Kapitulation menschlichen Sinnstiftungswillens vor der Unauslotbarkeit Gottes hinaus.“ Der arme Heinrich (Anm. 21), V. 147. Theisen (Anm. 42), S. 84, hat detailliert beschrieben, dass die Erzählung die Heinrichfigur auf der Grundlage des biblischen Intertextes im Rahmen eines typologischen Verfahrens profiliert, das auf die Ausstellung einer grundlegenden Differenz der Heinrichfigur und Hiobs gerichtet ist. Dabei zeigt er, dass die der Hiobfigur zum Beispiel attribuierten Dipositionen ‚Lob‘ und ‚Freude‘ angesichts Gottes im Blick auf Heinrich umkodiert werden, insofern über diese Begriffe gerade dessen Verhältnis zur Welt profiliert werde: „Es gilt, was die Beziehung Ijobs zu Gott prägt, ebenso für die Beziehung der Welt zu Heinrich.“
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verharrenden Hiob als Ideal menschlichen Verhaltens attestiert,⁴⁷ wird Heinrichs Hoffnung auf medizinisches Wissen gegenübergestellt, dem Verharren in einer gottgefälligen Leidensakzeptanz der Vorbildfigur eine nach außen gerichtete Bewegung des Protagonisten entgegengesetzt. Im Horizont also einer vorbildlichen, auf die göttliche Gnade vertrauenden Unbeweglichkeit ist Heinrichs Reise nach Montpellier und Salerno auf der reflektierenden Ebene der Erzählung deutlich als dem Protagonisten nicht zuträglicher Umweg, damit als Verirrung, im Modus eines Hin und Her markiert. Der Weg indiziert eine deutliche Devianz zu einem Habitus der Duldung, an der es der Figur mangelt. Der eingeschlagene Weg führt in eine Sackgasse, die Hoffnung auf Heilung erfüllt die Reise nicht. Erscheint die Fahrt Heinrichs, sein Entschluss zur Bewegung, im Kontext der Hiob-Referenz als eine falsche Richtungsentscheidung, wird sie auf der Ebene des erzählten Geschehens zugleich als einzig plausible Reaktion des Protagonisten auf seine Erkrankung markiert. Im Kontext des höfisch-weltlichen Registers, in dessen Rahmen die Heinrichfigur konsequent eingeführt wird, ist der Weg in die Zentren der zeitgenössischen Medizin als durchaus richtiger Weg ausgewiesen.⁴⁸ Angespornt durch die kursierende soziale Rede über die mögliche Heilbarkeit seiner Krankheit,⁴⁹ wählt der Protagonist den direkten Weg: er gedâhte daz er waere vil lîhte genisbaere, und vuor alsô drâte nâch der arzâte râte gegen Munpasiliere.⁵⁰
Besonders im Adverbium drâte ist die Verheißung indiziert, die Krise könne rasch bewältigt werden, der eingeschlagene Weg könne sich als der kürzeste erweisen. Auf der Ebene des erzählten Geschehens wird – und dies zunächst im Gegensatz zu der auf der reflektierenden Ebene im Kontext der Hiob-Referenz propagierten vorbildlichen Verharrung – die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen der Verfügbarkeit über das eigene Leben thematisch. Die Möglichkeit menschlicher Einflussnahme auf den eigenen Lebensverlauf wird im Rahmen des durch die Heinrichfigur eingeschlagenen Weges am für die soziale Kommunikation entscheidenden Parameter der Reziprozität manifest. Die Dialoge zwischen Heinrich und den Ärzten offenbaren indes wiederum
Vgl. Der arme Heinrich (Anm. 21), V. 139 – 145: wan ez leit Jôb der guote / mit geduldigem muote, / do ez im ze lîdenne geschach, / durch der sêle gemach / den siechtuom und die swacheit / die er von der werlte leit; / des lobete er got und vreute sich. Zur Verhandlung der medizinischen und ethischen Implikationen der Krankheit im Armen Heinrich sowie zu den Referenzen auf die Zentren der mittelalterlichen Medizin, Montpellier und Salerno, vgl. z. B. Melitta Weiss Adamson: Illness and Cure in Hartmann von Aue’s ‚Arme Heinrich‘ and ‚Iwein‘. In: A Companion to the works of Hartmann von Aue. Hrsg. von Francis G. Gentry. Rochester/New York 2005, S. 126 – 140. Vgl. Der arme Heinrich (Anm. 21), V. 163 – 168. Ebd., V. 171– 175.
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die oben dargelegten konträren Perspektiven auf den Umgang mit der Krankheit: auf der einen Seite die Heinrichs, der im Rahmen des von ihm abgerufenen Erfahrungswissens um eine Behandlung nachsucht, die auf der Grundlage ökonomischer Regularien dem Arzt Reichtum und ihm Heilung bringen könne,⁵¹ auf der anderen Seite die des Arztes, der ein solches Geschäft zurückweist und stattdessen auf der Unverfügbarkeit göttlicher Gnade durch den Menschen insistiert: ‚und waere der arzenîe alsô daz man si veile vunde ode daz man si kunde mit deheinem liste erwerben, ich enlieze iuch niht verderben. nu enmac des leider niht sîn; dâ von muoz iu diu helfe mîn durch alle nôt sîn versaget.‘⁵²
Als Heinrich von seinem Gegenüber erfährt, dass nur die Tötung einer zum Opfer aus freien Stücken bereiten Jungfrau seine Genesung bewirken könne,⁵³ fährt er heim,⁵⁴ ist also auf den Ausgangspunkt seiner Ausfahrt verwiesen, die in einer Verlaufsform des Hin und Her damit jetzt als Umweg hervortritt. Im Horizont der die Konzeption der Erzählung tragenden Alternative von Verharrung und Bewegung erweist sich die Hoffnung auf den kürzesten Weg einerseits als verfehlt. Andererseits wird sich der Umweg im weiteren Verlauf der Erzählung als ein wichtiger Schritt im Blick auf die finale Bewältigung der Krise erweisen, erfährt Heinrich doch allein durch seine Reise ins Zentrum der zeitgenössischen Medizin, dass nur die Opferbereitschaft einer Jungfrau seine Genesung bewirken kann. Freilich richtet er sein Verhalten zunächst an der auf der Fahrt gewonnenen Gewissheit seiner Unheilbarkeit aus, und doch bleibt er zugleich in Bewegung. Der Protagonist verschenkt sein Erbland und seine bewegliche Habe, zeigt sich überdies als mildtätig gegenüber den Armen. Diese Freigebigkeit markiert das Figurenhandeln auch an diesem Punkt noch orientiert an ökonomischen und heilsökonomischen Paradigmen, erhofft Heinrich sich doch, dass sich got erbarmen / geruochte über der sêle heil. ⁵⁵ Sodann führt den Protagonisten ein neu eingeschlagener Weg bekanntlich auf den Hof eines freien Bauern, auf dem dieser dann genau jener Jungfrau in Gestalt von dessen Tochter begegnet, die sich schließlich bereit erklärt, ihr Leben für Heinrich zu opfern. Die Strategie, mit der die Tochter wiederum ihren Entschluss zur Selbstopferung bei den Eltern durchsetzt, ist eine rhetorisch persuasive, die auf theologisches Wissen und eine unbedingte Glaubens-
Vgl. ebd., V. 188 – 193. Ebd., V. 216 – 223. Vgl. ebd., V. 200 – 204: ‚nu enist‘, so der Arzt in Salerno, ‚aber nieman sô rîch / noch von so starken sinnen / der si müge gewinnen. / des sît ir iemer ungenesen, / got enwelle der arzât wesen.‘ Ebd., V. 246. Ebd., V. 254 f.
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bereitschaft baut. Doch auch die Meierstochter argumentiert im Kontext heilsökonomischer Vorstellungen, sodass auch ihrem Verhalten ein Bewusstsein für die Verfügbarkeit über das eigene Leben attribuiert ist. Das Mädchen verspricht sich vom eigenen Tod das êwige leben ⁵⁶ und die Existenzerhaltung der Eltern durch die Rettung ihres Herrn, Heinrich. Das alles hat die Forschung detailliert beschrieben.⁵⁷ Worauf es mir hier ankommt, ist die Ausdifferenzierung beider Lebensläufe über die Semantisierung der sie prägenden Wege im imaginierten Raum der Erzählung: Zum einen insinuiert der im Bewegungsmodus eines Hin und Her angelegte Lebensweg Heinrichs, der diesen von Schwaben über Montpellier und Salerno wieder zurück nach Schwaben führt, wo sich ja auch der Hof des Meiers befindet, seine Umwegigkeit. Die auf pragmatischem Erfahrungswissen gründenden Bemühungen des Protagonisten um Heilung werden mit Blick auf diese Wegstruktur im Horizont der über die biblischen Beispielfiguren eingespielten Gottergebenheit einerseits als Irrtum ausgewiesen. Zum anderen aber sind es gerade die von Heinrich eingeschlagenen Um-Wege, ist es das durch sie gewonnene Wissen, das ihn zu dem Mädchen führt, das seine Rettung zu verheißen vermag. Umweg bedeutet also zum einen Irrtum, zum anderen aber erweist er sich im Syntagma der Erzählung schließlich als Königsweg zur Heilung. Im Referenzrahmen der legendarischen Intertexte und der biblischen Exempelfiguren wird die dem höfischen Protagonisten attribuierte Umwegigkeit zum Signum einer paradox anmutenden Biographie: Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit des erzählten Lebensweges werden im Horizont christlicher Heilsgewissheit reflektiert. Im Gegensatz zur Legende aber, die das Heilige als unverfügbar, als Einfall der Transzendenz in die Immanenz, setzt, sind es die Wege und Umwege des Protagonisten, die im Armen Heinrich gerade die partielle Verfügbarkeit des auch göttlich legitimierten Heils durch die Figuren vor Augen stellen. Das Hin und Her Heinrichs steht so gesehen einerseits für den Irrtum, für die Devianz vom vorbildlichen heiligmäßigen Leben, erweist sich aber andererseits zugleich als entscheidendes Mittel im Blick auf die angestrebte Bewältigung der geschilderten Lebensumstände durch die handelnde Figur selbst. Unverfügbarkeit des Göttlichen und Verfügbarkeit des Göttlichen werden im lizensierten Raum der Erzählung nicht zuletzt auch im Blick auf zwei, schließlich miteinander konfligierende Lebensentwürfe in eine Spannung zueinander gesetzt. Die Konstruktion einer ab- und umwegigen Wegstruktur erzählten Lebens gibt gerade im Abgleich mit den möglichen direkten oder kürzest möglichen Wegen zur Krisenbewältigung den Blick frei auf ein für beide dargestellten Lebensverläufe möglicherweise auch produktives Sich-Irren und Sich-Verirren.
Ebd., V. 1154. Zur Figurenkonstruktion der Meierstochter im Kontext christlicher humanitas vgl. z. B. Hartmut Freytag: Ständisches, Theologisches, Poetologisches. Zu Hartmanns Konzeption des ‚Armen Heinrich‘. In: Euphorion 81 (1987), S. 240 – 261, hier S. 246 sowie Martin H. Jones: Changing Perspectives on the Maiden in ‚Der arme Heinrich‘. In: McFarland/Ranawake (Anm. 28), S. 211– 231 sowie Carsten Kottmann: Amor und Caritas. Zur Rolle des Mädchens im ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue. In: Leuvense Bijdragen 88 (1999), S. 305 – 322.
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IV Zur Raumordnung der Entscheidung Diesem Potenzial des Umwegigen, das in der Erzählung das dargelegte Geschehen mit einer irritierenden Wirkung im Blick auf seine Bewertung belegt, fügt sich nun eine kompliziert arrangierte Raumsemantik, die die eingangs beschriebene neuralgische Episode des Armen Heinrich bestimmt. Der Sinneswandel Heinrichs von der Opferannahme zum Opferverzicht lässt sich nicht allein durch die in die Episode eingespielten Motive von Schönheit, Hässlichkeit und Nacktheit erörtern,⁵⁸ wie Ruh dies versucht hat. Vielmehr lässt das sorgfältig erläuterte räumliche Arrangement der Episode eine narrative Umständlichkeit erkennen, die – so scheint mir – der zuvor systematisch konstruierten Umwegigkeit des heldischen Lebensverlaufs nicht zufällig just an dem Punkt des erzählten Geschehens an die Seite gestellt ist, der die entscheidende Wende zum Guten markiert. Die conversio Heinrichs ist über die Raumsemantik so dargelegt, dass auch sie eine paradoxale Konstellation entwirft. Denn die Episode plausibilisiert eben nicht allein den Verzicht des Protagonisten auf das Opfer. Vielmehr vermag sie es auch, den geradlinig auf die eigene Erlösung im Opfertod angelegten Lebensentwurf der Meierstochter und damit den von dieser angestrebten kurzen Weg kritisch zu akzentuieren. An dem Ort, an dem Heinrich mit dem Wissen um die Unheilbarkeit seiner Krankheit und mit dem Wissen um seine Heilbarkeit zugleich konfrontiert worden war, kulminiert das weitere Geschehen: beim Arzt in Salerno. Der Ort ist Endpunkt eines zweimaligen Weges, den die Heinrichfigur zwischen Schwaben und Salerno beschritten hat. Für die Meierstochter indes ist Salerno der Zielpunkt eines über eine einmalige Richtungsentscheidung verfügbaren direkten Weges, der aus ihrer Sicht die Erlangung des göttlichen Heils verheißt. Es ist die räumliche Trennung der zu Opfernden vom Nutznießer des Opfers durch eine Wand, die der Arzt in Salerno in ihrem Vorfeld verfügt, die die Umständlichkeit des Erzählens von ihr ermöglicht. Der Arzt sucht Heinrich räumlich vom Vollzug der Opferung auszugrenzen, die Wand indiziert die Unverfügbarkeit des Opfers: hin vuorte er si anderstunt in sîn heimlich gemach, dâ ez ir herre niene sach, und beslôz im vor die tür und warf einen rigel vür; er enwolde in niht sehen lân wie ir ende solde ergân.⁵⁹
Das hier beschriebene räumliche Arrangement korreliert das Gelingen des Blutopfers mit einem Sichtverbot an den Protagonisten. Es verweist darauf, dass die Transgres Vgl. Ruh (Anm. 30), S. 33. Der arme Heinrich (Anm. 21), V. 1180 – 1186.
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sion, die dem paganen Menschenopfer selbst als Mittel der Heilung eigen ist, wiederum nur durch einen Akt der Überschreitung aufgehoben werden kann. Die Raumordnung der Szene markiert den über den Augenschein sich vollziehenden Opferverzicht des Protagonisten als Normübertretung im Horizont des mittelalterlichen Wissensdiskurses. Im Kontext eines paradigmatischen Erzählmodus ist die Heinrichfigur auch hier wieder über ihre Ausrichtung auf Erfahrungswissen gekennzeichnet; dort die Hoffnung auf die Medizinkunst berühmter Ärzte, hier nun die Ausrichtung der Figur auf den Augensinn. Diese Ausrichtung wird besonders durch das Einspielen akustischer Eindrücke hervorgehoben: Das Wetzen des Messers jedenfalls, das Heinrich mitanhören kann,⁶⁰ löst zwar – wie der Erzähler berichtet – dessen Erbarmen mit der Meierstochter aus.⁶¹ Doch das Gehörte allein – das in der Silvesterlegende Konstantin zum Verzicht auf die Opferung bewegt⁶² – führt im Armen Heinrich nicht zu ihrem direkten Abbruch. Durch den Erzähler bereits als derjenige ausgewiesen, der ir vreude stôrte,⁶³ der also das Glück der Meierstochter verhinderte, sucht Heinrich nach einer Gelegenheit, das Mädchen sehen zu können: nu begunde er suochen unde spehen, unz daz er durch die want ein loch gânde vant, und ersach si durch die schrunden nacket und gebunden.⁶⁴
Prononciert folgt erst auf die räumliche Überschreitung, die der Blick auf die Meierstochter darstellt, der Umschwung in der Haltung Heinrichs, den Ruh beschrieben hat: nû sach er si an unde sich,⁶⁵ heißt es da, und dieses Hinsehen generiert seinen niuwen muot,⁶⁶ eine Verkehrung seiner alten Haltung in eine neu gewonnene Güte (niuwe güete ⁶⁷). Damit lässt die Erzählung keinen Zweifel daran, dass erst die räumliche Transgression, die der Blick Heinrichs bedeutet, den Protagonisten seine Krankheit als von Gott gegebene Prüfung (eben als gotes zuht ⁶⁸) akzeptieren lässt. In der Erzählung ist dieser sich final realisierende Glaube der Figur an die Allmacht Gottes, die sich in ihrem Sinneswandel dokumentierende Heiligung im Kontext der anzitierten Heiligenleben nun allerdings aus der Sicht der Meierstochter zugleich als unzulässige Einmischung in die Angelegenheiten des Mädchens gekennzeichnet. Die
Vgl. ebd., V. 1217– 1223: Nû lac dâ bî im ein / harte guot wetzestein. / da begunde erz ane strîchen / harte unmüezeclîchen, / dâ bî wetzen. daz erhôrte / […] / der arme Heinrich. Vgl. ebd., V. 1225. Vgl. dazu noch einmal Ruh (Anm. 30), S. 26. Der arme Heinrich (Anm. 21), V. 1222. Ebd., V. 1228 – 1232. Ebd., V. 1234. Ebd., V. 1235. Ebd., V. 1240. Ebd., V. 120.
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erotisierende Aura, mit der die Erzählerstimme die Szene versieht, indem sie den minneclîch[en] lîp ⁶⁹ und die schœne ⁷⁰ des jungen Mädchens betont, konkretisiert den Blick Heinrichs, so sehr er auch als Anlass seiner Selbsterkenntnis fungieren mag,⁷¹ zugleich als Augenlust, als concupiscentia oculorum. ⁷² Damit rückt das Geschehen erkennbar in den Kontext des mittelalterlichen curiositas-Diskurses,⁷³ der schon in den Worten des Augustinus den menschlichen Wissenshunger als appetitu noscendi ⁷⁴ im Licht einer nur Gott zukommenden absoluten Erkenntnis kritisch akzentuiert. Die Ambiguisierung des Blicks ergibt sich aus der Konfrontation der divergierenden Lebensentwürfe Heinrichs und der Meierstochter an diesem Punkt: Markiert, wie bereits ausgeführt, Heinrichs Verzicht den eingeschlagenen Weg als Wendepunkt zur finalen Glaubensbereitschaft des Helden, so stört er zugleich den Lebensentwurf der Meierstochter. Gegenüber dem Hin und Her, das den Weg Heinrichs in seiner wiederholten Rückwendung zum Ausgangspunkt des Geschehens nicht zuletzt als Weg in die Gott anerkennende Leidensbereitschaft markiert, ist der Weg der Meierstochter nach Salerno als zielorientierter und kürzester Weg zum Heil ausgewiesen. Die Opferung ist aus ihrer Sicht Garant eines direkten Weges zum eigenen ewigen Heil, für den ihr Weg nach Salerno steht. Und so indiziert die Erzählung aus der Perspektive des Mädchens eine Verletzung im Sinne einer über die Augenlust sich realisierenden curiositas. In der direkten Figurenrede wird dies unmissverständlich dargelegt: Die Meierstochter brandmarkt Heinrichs Gebaren als unzulässige Einmischung in ein intimes Geschehen, von dem die Wand ihn explizit auszuschließen suchte: Ebd., V. 1233. Ebd., V. 1241. So zuletzt Christiane Witthöft: Schlüssel(loch)szenen.Von der Theatralität räumlicher Perspektiven in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. In: Imaginative Theatralität. Szenische Verfahren und kulturelle Potenziale in mittelalterlicher Dichtung, Kunst und Historiographie. Hrsg. von Manfred Kern. Heidelberg 2013, S. 275 – 295, hier S. 276. Witthöft vermutet im Blick auf einen Vergleich entsprechender Episoden in Erzähltexten des Mittelalters und der frühen Neuzeit, dass die Funktion der Schlüssellochszene über die Darlegung des sich mit ihr in der Literatur stets verbindenden Voyeurismus hinausgeht, insofern sie zudem „zur Bewusstseinsdarstellung der Figuren“ eingesetzt sei. Die Funktion der Szene geht aus meiner Sicht über die Ermöglichung einer Selbstreflexion seitens des Protagonisten hinaus, insofern eben der „Voyeurismus“ Heinrichs aus Sicht des Mädchens als curiositas identifiziert wird, die ihre Selbstopferung, nicht aber die erotische Wirkung ihres nackten Körpers betrifft. Die Bezeichnung findet sich prominent schon im ersten Brief des Johannes 2,15 f.: Nolite diligere mundum […] quoniam omnia quae in mundo sunt, concupiscentia carnis est, et concupiscentia oculorum, et ambitio saeculi. Zum christlichen curiositas-Diskurs vgl. bes. Gunther Bös: Curiositas. Die Rezeption eines antiken Begriffes durch christliche Autoren bis Thomas von Aquin. Paderborn u. a. 1995 (Münchener Universitäts-Schriften. Katholisch-Theologische Fakultät. Veröffentlichungen des Grabmann-Instituts. Neue Folge. 39). Vgl. dazu auch Monika Schausten: Suche nach Identität. Das ‚Eigene‘ und das ‚Andere‘ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2006 (Kölner Germanistische Studien. 7), S. 181– 190. Aurelius Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse. Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, hrsg. und kommentiert von Kurt Flasch, Burkhard Mojsisch. Stuttgart 2009, S. 538 (Buch X, Kap. 54).
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‚herre, von welhen schulden erschrâket ir dô man mich bant? ez was doch ein dickiu want enzwischen iu unde mir. herre mîn, geturret ir einen vremeden tôt niht vertragen?‘⁷⁵
Neben dem auktorialen Erzähler weist auch die direkte Figurenrede Heinrichs Blick auf die Opferung als unzulässige Überschreitung, als unzulässige Einmischung in ihre ureigensten Angelegenheiten aus. Die Abschottung des Opfergeschehens durch die Wand, der Blick Heinrichs über die markierte Grenze hinweg wird aus der Perspektive der Meierstochter gar als Übertretung jener Norm lesbar, die im Rahmen des curiositas-Diskurses das Einmischen in die Angelegenheiten anderer untersagt. Indem das Mädchen Heinrich gegenüber den eigenen Tod als vremeden tôt ausweist, insistiert die Opferwillige auf der Verfügbarkeit über ihr eigenes Ende.⁷⁶ Die Rede deutet damit einmal mehr auf die deutliche Diskrepanz der beiden die Erzählung tragenden Lebensentwürfe.⁷⁷
V Von der Produktivität des (Ver)Irrens Konfligierend angelegte sowie paradoxal semantisierte Wegstrukturen und die komplex kodierte Raumordnung der Opferung erweisen sich als aufeinander bezogene Darstellungsmittel, die in der Erzählung Hartmanns im Rekurs auf die mittelalterlichen Glaubens-,Wissens- und Curiositas-Diskurse kalkuliert eine Polyvalenz erzählter Lebensläufe und -entwürfe generieren. Die das Figurenhandeln generell bestimmenden Handlungsmaximen von Reziprozität und Heilsökonomie geraten in eine Spannung zu der über die Legende, vor allem aber über die Hiob-Referenz eingespielten Demut, die letztlich ein Verharren in Gott voraussetzt. Die narrativ erzeugte Umständlichkeit, die Wegstruktur und Raumordnung der Erzählung auszeichnet, evoziert dabei eine Irritation über die Bewertung der miteinander in Beziehung gesetzten Lebensentwürfe. Dies muss besonders für die Konkretion des Schlusses in der Fassung A gelten. Denn vor dem Hintergrund der in ihr berichteten Eheschließung
Der arme Heinrich (Anm. 21), V. 1324– 1329. Ähnlich auch Birgit A. Jensen: Transgressing the Body: Leper and Girl in Hartmann von Aue’s ‚Armer Heinrich‘. In: ABäG 61 (2006), S. 103 – 126, hier S. 105, über die Zuschreibung autonomen Handelns an die Figur der Meierstochter: „As the child appropriates the text of the oblation for her own salvational vision, she envisions her body as a means towards autonomy, short-lived though this attempt may be.“ Auch Hartmut Freytag: Zur Paradiesesdarstellung im ‚Armen Heinrich‘ Hartmanns von Aue. In: swer sînen vriunt behaltet, daz ist lobelîch. Festschrift für András Vizkelety zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Márta Nagy, László Jónácsik. Piliscsaba/Budapest 2001, S. 77– 86, hier S. 77, spricht vom „unlösbaren Konflikt“ der beiden Protagonisten.
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Monika Schausten
zwischen Heinrich und dem Mädchen, durch die beide – so zumindest der Erzähler – ihr langes und zufriedenes Leben⁷⁸ in einer weltlich-höfischen Existenz finden, werden beide Wegentwürfe im Horizont des Irrtums in ein zweifelhaftes Licht gerückt. Besonders die finale Bemerkung des Erzählers, erst nâch süezem lanclîbe ⁷⁹ besäßen nun beide das ewige rîche ⁸⁰, versieht den höfischen Märchenschluss der Hochzeit mit einer feinen Ironie:⁸¹ Denn weder erweist sich der Weg Heinrichs an den Ausgangsort des Geschehens als Indiz einer final erreichten christlichen Demut, noch auch erweisen sich das von der Meierstochter angestrebte Ziel einer vorzeitigen Erlösung von allen Fährnissen des Weltlebens und der direkte Weg zu Gott als durch menschliches Entscheiden verfügbar. Im Horizont der Legende, die das Heiligenleben über Wunder perspektiviert und die den letztlich allein der göttlichen Gnade verfügbaren Weg des Menschen als normierenden Bezugspunkt der Lektüre setzt, semantisiert die kleine Erzählung Hartmanns in A die Umwegigkeit menschlicher Lebenswege und -entwürfe auf diese Weise nicht zuletzt auch als Ausdruck einer möglichen Selbstbehauptung des Menschen. Im Kontext einer biblisch präfigurierten Wegsymbolik, die den rechten Weg als „schmalen, mühsamen und steil aufwärts führenden […] Pfad zum ewigen Leben“⁸² empfiehlt, versieht der Schluss der A-Fassung den an dieser Vorstellung durchaus partizipierenden Weg des Protagonisten mit einem die Figur individuierenden Akzent. An ihrem Ende weist die Erzählung den Umweg dezidiert als Heinrichs Weg aus, insofern dieser ihn in just jene höfisch-adelige Existenz zurückzuführen vermag, von der er ausgegangen ist. Den Lebensentwurf des Mädchens indes, dessen Grundlage die Vorstellung vom direkten Weg zum göttlichen Heil ist, weist dieses Ende der Geschichte als unverfügbar ab: Die Heirat mit Heinrich lässt sich aus der hier entfalteten Perspektive als derjenige Umweg kennzeichnen, mit dem die Erzählung den Lebenslauf der Meierstochter versieht. Zwar wird der Figur der direkte Weg zu Gott verweigert, doch stabilisiert auch in diesem Fall der Umweg das erzählte Leben in einer Heirat nach oben.⁸³ Damit aber lässt sich die beide erzählten Lebensläufe besonders in A auszeichnende Umwegigkeit, so meine ich, von hier aus durchaus als Ausweis für jene humanisierende Funktion von Kultur fassen, von der Hans Blu-
Vgl. Der arme Heinrich (Anm. 21), V. 1514. Ebd., V. 1514. Ebd., V. 1516. Zur Varianz des Schlusses vgl. ebd., V. 1513 – 1521 der B-Fassung: Die B-Version erzählt davon, dass die Ehe zwar geschlossen wird, sich beide aber gegen ein weltliches Leben entscheiden. Ein Klostereintritt verbürgt hier in den Worten des auktorialen Erzählers beiden das Himmelreich. Das monastische Leben wird als ‚Gottesdienst‘ im wahrsten Sinne des Wortes gewürdigt: da ver dienten sie beide geliche / daz vrone himelriche (V. 1515 f. in B). Zur christlichen Wegsymbolik vgl. Eva Schlotheuber: Der Mensch am Scheideweg. Personenkonzeptionen des Mittelalters. In: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographieforschung und Selbstzeugnisforschung. Hrsg. von Gabriele Jancke, Claudia Ulbrich. Berlin 2005 (QJB. 10), S. 71– 96, hier S. 71. Zu den sozialen Implikationen der Heirat vgl. z. B. Freytag (Anm. 57), S. 247.
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menberg gesprochen hat.⁸⁴ Diese humanisierende Funktion ergibt sich – folgt man seinen Ausführungen – besonders aus der ästhetischen Formen eignenden, produktiven Umwegigkeit und damit – so ließe sich für den vorliegenden Fall ergänzen – aus einer sich gerade im Erzählen realisierenden produktiven Kraft des Irrtums.
Vgl. Blumenberg (Anm. 1), S. 137: „Daher hat die Kultur einerseits den Anschein mangelnder Rationalität; denn im strengsten Sinne erhält nur der kürzeste Weg das Gütesiegel der Vernunft, und alles rechts und links daran entlang und vorbei ist das der Stringenz nach Überflüssige, das sich der Frage nach seiner Existenzberechtigung so schwer zu stellen vermag. Die Umwege sind es aber, die der Kultur die Funktion der Humanisierung des Lebens geben. Die vermeintliche ‚Lebenskunst‘ der kürzesten Wege ist in der Konsequenz ihrer Ausschlüsse Barbarei.“
Julia Weitbrecht
Jenseitige Schwellenräume und Narrative der Reorientierung im 12. Jahrhundert (Visio Tnugdali und Straßburger Alexander) Narrative religiöser Konversion sind durch spezifische Zeitsemantiken bestimmt, die weniger die Erzählstruktur als vielmehr die Erzählperspektive oder das Selbstverständnis von Konvertiten bestimmen. Für diese zerfällt ihr Leben in zwei Teile, ‚vor der conversio‘ und ‚nach der conversio‘, die im Konversionsereignis verklammert werden und dadurch stets in paradoxer Weise aufeinander bezogen bleiben.¹ Aus der durch die Konversion bestätigten ‚richtigen‘ Ordnung heraus muss der Zeitraum ‚vor‘ der Konversion retrospektiv als von einem spirituellen Mangel bestimmt erscheinen. Dieser wird nun häufig markiert, indem entweder eine anfängliche Sehnsucht artikuliert wird (wie in den Confessiones des Augustinus), oder indem dieser Mangel von den Figuren (und mit ihnen den Rezipienten) erst nachträglich als eine religiöse Unerfülltheit erkannt wird, weil ihnen zuvor nicht bewusst war, wonach sie eigentlich suchen.² Beide Typen der Konversionserzählung sind somit durch Erkenntnisprozesse bestimmt, welche die Erzählung strukturieren und vom Ende her remotivieren. Solche Narrativierungen von Sinneswandel und Reorientierung erscheinen in der mittelalterlichen religiösen Literatur häufig räumlich kodiert, indem von Personen erzählt wird, die durch ihre eigene Sinnsuche oder durch Zufall in die Fremde geführt werden und unterwegs in der einen oder anderen Weise Heil erfahren, sodass sie von ihrer Reise verändert zurückkehren. Die christliche Erzählliteratur weist zahlreiche Beispiele für die Verhandlung von Welt- und Heilserfahrung im Modus des Reisens auf, sei es, dass der Weg die Welt der Menschen und Städte³ oder – in weltablehnender
Vgl. Julia Weitbrecht, Werner Röcke, Ruth von Bernuth (Hrsg.): Zwischen Ereignis und Erzählung. Konversion als Medium der Selbstbeschreibung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/Boston 2016 (Transformationen der Antike. 39). Zu dieser Form der Selbstwahrnehmung von Konvertiten grundsätzlich siehe Thomas Luckmann: Kanon und Konversion. In: Kanon und Zensur: Archäologie der literarischen Kommunikation II. Hrsg. von Aleida Assmann, Jan Assmann. München 1987, S. 38 – 46. Diesen Typus untersucht Corinna Dörrich: Konfigurationen des Weges in der Christophorus-Legende. In: ZfdPh 132 (2013), S. 353 – 382. Vgl. zur christlichen Rezeption des antiken Reiseromans Werner Röcke: Das Alte im Neuen. Paradoxe Entwürfe von Konversion und Askese in Legende und Roman des Mittelalters (Eustachius-Typus). In: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke, Julia Weitbrecht. Berlin/New York 2010 (Transformationen der Antike. 14), S. 157– 173; Julia Weitbrecht: Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters. Heidelberg 2011 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte); Lea Braun: Transformationen von Herrschaft und Raum in Heinrichs von Neustadt ‚Apollonius von Tyrland‘. Berlin/Boston 2018. https://doi.org/10.1515/9783110706093-015
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Abkehr – die Wüste zum Ziel hat,⁴ sei es, dass er den Reisenden aus der Welt und in die jenseitigen Regionen von Hölle und Paradies führt.⁵ Reise ermöglicht die Darstellung von Prozessen des Bewusstseins- und Identitätswandels, welche über die räumliche Bewegung, die Begegnung mit der Transzendenz sowie über einen (meist durch Belehrung erfolgenden) Wissenserwerb transportiert werden. Solche conversiones sind also weniger als Religionswechsel zu verstehen denn vielmehr als fundamentaler Wandel und Erkenntnis in jenseitigen Schwellenräumen, die auf der Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz situiert sind und den Prozess der Reorientierung jeweils bestimmen. In Heimkehrerzählungen, in denen die Protagonisten an den Ort zurückgeführt werden, von dem aus sie ihre Reise begonnen haben, besitzen diese Schwellenräume zusätzlich eine spezifische Funktion. Auch wenn die Reisenden geographisch in die eingangs verlassenen Verhältnisse zurückkehren, sind sie zugleich in Bezug auf ihren Heilsstatus verändert. Diese Restitution ist zugleich eine Transzendierung, somit markiert die Rückkehr in die eingangs verlassenen Zusammenhänge den für Figurenzeichnung und Handlungsfügung der Konversionserzählung konstitutiven Bezug zwischen ‚vor‘ und ‚nach der conversio‘: Kehrt der Konvertit an seinen Ausgangspunkt zurück, dann wird gerade in der Restitution vertrauter Verhältnisse deutlich, dass und inwiefern er ein ganz anderer geworden ist. Hier erfährt er sich als different und bleibt in seinem Selbstverständnis zugleich auf sein altes Ich bezogen. Was er unterwegs an Belehrung lediglich vernommen hat, wird nun zum Heils- und Handlungswissen, das auf die veränderte Ausgangssituation übertragen und angewendet werden kann. Dieser bereits in frühen christlichen Erzähltexten greifbare Zusammenhang von Reise und Bewusstseinskehre scheint bei der Ausbildung eigenständiger volkssprachlicher Erzähltraditionen seit dem 12. Jahrhundert auf Resonanz zu stoßen. Im Folgenden sollen daher die narrativen und epistemischen Möglichkeiten von conversio – in der hier beschriebenen Konfiguration als Reise und Modus der Wissensvermittlung – in dieser Zeit untersucht werden. Dies betrifft zunächst, in einem ersten Schritt, die Reise ins Jenseits, die über die Rück- und Umkehr des Reisenden religiöse Erkenntnis vermittelt. Die Weg- und Raumsemantiken dieser wirkmächtigen Jenseitsreisen, ihre Heils- und Läuterungsräume, prägen offenbar die Imaginationsmöglichkeiten mittelalterlichen Erzählens. Am Straßburger Alexander (aus dem letzten Drittel des 12. Jahrhunderts) soll daher in einem zweiten Schritt gezeigt werden, wie Narrative der Reorientierung auch für die Konstitution weltlicher Herrschafts-
Vgl. Johannes Traulsen: Heiligkeit und Gemeinschaft. Studien zur Rezeption spätantiker Asketenlegenden im Väterbuch. Berlin/Boston 2017 (Hermaea. 143). Vgl. Maximilian Benz, Julia Weitbrecht: Otherworld Spaces in Medieval Visionary Texts of Irish Provenance. In: „A Fantastic and Abstruse Latinity?“ Hiberno-Continental Cultural and Literary Interactions in the Middle Ages. Hrsg. von Wolfram R. Keller, Dagmar Schlüter. Münster 2017 (Studien und Texte zur Keltologie. 12), S. 117– 140; Maximilian Benz: Gesicht und Schrift. Die Erzählung von Jenseitsreisen in Antike und Mittelalter. Berlin/Boston 2013 (Quellen und Forschungen zur Literaturund Kulturgeschichte. 78).
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konzepte produktiv gemacht werden können. Abschließend sollen die Befunde im Hinblick auf Fragestellungen einer historischen Narratologie des Raumes hin perspektiviert werden.
I Auf der Mauer: Die conversio des Tnugdalus Jenseitsreisen schildern, meist in Form eines Visionsberichtes, einen Besuch jenseitiger Straf- und Lohnorte. Ihre Erzähler und Protagonisten sind Grenzgänger: Sie werden temporär entrückt, bereisen den jenseitigen Raum also zu Lebzeiten aus ihrer irdischen Existenz heraus und kehren radikal verändert wieder zurück. Die Rückkehr ins alte Leben – häufig auch in den alten Leib – ist also zugleich eine conversio. Umgekehrt wird erst durch diese Rückkehr der jenseitige Raum im Diesseits erfahrbar gemacht und vermittelt. Bereits in der frühen apokryphen Visionsliteratur wird die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits zwar durchlässig gedacht, ihre Überschreitung ist aber in hohem Maß tabuisiert und insofern auch besonders faszinierend. Daher sind nur göttlich legitimierte, temporäre und reversible Grenzüberschreitungen durch auserwählte Personen möglich, die dem Erkenntnisgewinn und der Vermittlung von Heilswissen dienen. Die berühmte Passage aus dem Zweiten Korintherbrief, in welcher der Apostel Paulus von „einem Menschen“ berichtet (eventuell meint er damit sich selbst), er sei „entrückt worden bis an den dritten Himmel“ (2 Kor 12,2– 4), wird zum Ausgangspunkt für die traditionsbildende apokryphe Paulus-Apokalypse. Diese füllt die Leerstelle der biblischen Vorlage und imaginiert die Jenseitsvision des Paulus als Reise und raumkonstituierendes Vorrücken von Ort zu Ort. Auf dieser Reise wird Paulus von einem Engel durch verschiedene Himmels- und Höllenregionen geführt, in denen Menschen für ihr Verhalten zu Lebzeiten belohnt oder bestraft werden. Paulus selbst ist zum Zeitpunkt seiner Enthebung bereits konvertiert und bedarf nicht der Läuterung. Er soll als religiöser Virtuose das Jenseits lediglich schauen und darüber berichten: „Öffne die Mündung des Brunnens, damit Paulus, der Höchstgeliebte Gottes, hineinblicke, weil ihm die Vollmacht gegeben ist, daß er alle Strafen der Unterwelt sehe.“⁶ Wie Maximilian Benz gezeigt hat, wird bereits in frühmittelalterlichen Visionstexten, etwa der aus dem 7. Jahrhundert stammenden Visio Baronti, die Jenseitsreise auch für eine conversio des Reisenden funktionalisiert.⁷ Dabei entspricht aber die Reihenfolge weiterhin der Paulus-Tradition, indem zunächst die paradiesischen Lohnund dann die Straforte bereist werden, die Veränderung des Heilsstatus also gerade Apokalypse des Paulus. Übersetzt von Hugo Duensing und Aurelio de Santos Otero. In: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. Hrsg. von Wilhelm Schneemelcher. 6. Aufl. der von Edgar Hennecke begründeten Sammlung. Bd. 2: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes. Tübingen 1997, S. 644– 674, hier Kapitel 41, S. 666a. Vgl. Benz (Anm. 5), S. 140 – 150.
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nicht über die Wegsemantik hergestellt wird. Erst die um 1150 in Regensburg durch einen Frater Marcus aufgezeichnete Visio Tnugdali weist eine folgenreiche Anpassung der Reiseroute an das Läuterungsprinzip auf. Ihr Protagonist, der irische Ritter Tnugdalus, ist ein adliger, gutaussehender Mann, er zeichnet sich aber auch durch einen weltlichen Lebenswandel voller crudelitas aus. Wann immer man ihm gegenüber sein Seelenheil, sei es auch nur kurz, erwähnt, wird er zornig.⁸ Er befindet sich somit in einem Zustand heilsvergessener Ignoranz, der seine zwangsweise Versetzung in einen jenseitigen Schwellenraum provoziert: Während einer üppigen Mahlzeit verfällt Tnugdalus in einen todesähnlichen Zustand und wird jäh entrückt. Ein Engel führt seine Seele durch einen Parcours verschiedener Jenseitsorte, und indem Tnugdalus hier zunächst diverse schreckliche Höllenstrafen betrachtet und auch selbst erleiden muss, dann erst die paradiesischen Lohnorte der von Sünde freien Seelen gezeigt und erläutert bekommt, wird die Reise selbst für seine conversio funktionalisiert. Ins Diesseits zurückgekehrt, lebt er fortan vorbildlich, in devotio, humilitas und scientia. ⁹ Die entscheidende Veränderung der Visio Tnugdali liegt also in der Prozessierung von conversio über die durchquerten Räume. Auch wenn Jacques Le Goff im Blick auf eine „Geburt des Fegefeuers“ die Darstellung der jenseitigen Regionen in der Visio Tnugdali noch als unbeholfen kritisiert hat,¹⁰ weisen diese doch eine axiologische Ordnungsstruktur auf, welche sich erst in der räumlichen Durchquerung entfaltet.¹¹ Mit der gegenüber der Tradition umgekehrten Reihenfolge der Stationen wird eine Heilstopologie geschaffen, welche Tnugdalus’ reisende Seele sinnlich erfährt: Sein Weg führt von den Abgründen der Hölle zum Paradiesberg, vom Dunkel ins Licht, vom Pestgestank zum Wohlgeruch, vom infernalischen Lärm der Schmerzensschreie zu Psalmengesang und dem zarten Läuten goldener Glöckchen. Der anfängliche Gang durch die Hölle versetzt die Seele in Furcht und Schrecken, wodurch sie ihre Sünden erkennt und sich dazu bekennt. Erst daraufhin sind der Besuch im Paradies und die abschließende Gottesschau möglich. Es wird also eine entscheidende Verbindung von Jenseits-Topologie und Seelenheil vorgenommen. Dieses Verhältnis von Prüfung (tribulatio),Wandel (conversio) und Rückkehr (reductio) wird von Tnugdalus selbst bereits zu Beginn der Visio benannt.
[…] gravabat ipsum, si quis ei de salute anime aliquid licet breviter vellet dicere. Visio Tnugdali. Lateinisch und altdeutsch. Nachdruck der Ausgabe Erlangen 1882. Hrsg. von Albrecht Wagner. Hildesheim u. a. 1989, S. 7,2 f. Vgl. ebd., S. 55,28 – 56,1. Vgl. Jacques Le Goff: Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter. München 1990, S. 232. Ähnliche Erzähl- und Darstellungsstrategien arbeitet Joachim Hamm für die Unterweltsepisode im Eneasroman heraus: „Der anderweltliche Raum konstituiert sich dadurch, dass er sinnlich wahrgenommen wird. Die Höllenfahrt findet auch und gerade im Kopf des Eneas statt.“ Joachim Hamm: Die Poetik des Übergangs. Erzählen von der Unterwelt im ‚Eneasroman‘ Heinrichs von Veldeke. In: Unterwelten. Modelle und Transformationen. Hrsg. von dems., Jörg Robert. Würzburg 2014, S. 99 – 122, hier S. 116.
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Nachdem er, den man drei Tage lang für tot gehalten und aufgebahrt hat, von seinem vermeintlichen Tod wieder auferstanden ist – das steht dem Bericht über seine Erlebnisse im Jenseits voran –, dankt er Gott mit den Worten: Quantas ostendisti michi tribulationes multas et malas et conversus vivificasti me et de abyssis terre iterum reduxisti me. ¹² Neben der purgativen Wirkung der Höllenstrafen (die Tnugdalus’ Seele betrachtet und zum Teil auch selbst durchlebt) besitzt jedoch auch die Belehrung eine wichtige Funktion für diesen Prozess religiöser Erkenntnis: Neben der sinnlichen Erfahrung des jenseitigen Heilsraums in seiner Durchkreuzung wird dieser zusätzlich durch den angelus interpres, der als Führer durch das Jenseits fungiert, ausgedeutet. Er erklärt extensiv die jeweilige Funktion der einzelnen Straforte und die Vergehen, die dort geahndet werden. Es geht also nicht nur darum, den Sünder auf und mit dem Weg zu strafen, sondern auch darum, ihn in die Lage zu versetzen, seine Sünden zu erkennen, zu benennen und schließlich zu bereuen. Das wird insbesondere dann deutlich, wenn die Seele selbst in das Strafgeschehen involviert wird. Voller Angst vor den drohenden Strafen ist sie kein bloßer Besucher des Jenseits, der lediglich (wie der Apostel Paulus) etwas schaut. Der Weg durch die Höllenregionen evoziert vielmehr einen Prozess von Körperstrafe, Bekenntnis und Reue. Indem dieser Vorgang gleichsam als Aneinanderreihung einzelner conversiones von Station zu Station wiederholt wird, wobei die Strafen immer schlimmer werden, nimmt die Distanz zum eigenen Fehlverhalten sukzessive ab. Der Aufenthalt in einem Haus voller Dämonen, das gleichzeitig als Ofen fungiert, in dem die Seelen mürbe gebacken werden, führt schließlich zum Eingeständnis der Sündhaftigkeit und zu einer Form der confessio: His et similibus illa anima incredibilibus cruciatibus longe toleratis in semet ipsam reversa, ream se esse ac dignam talibus confitebatur tormentis. ¹³ Die Strafen heben also nicht nur darauf ab, begangenes Unrecht zu ahnden; sie initiieren zugleich eine Form der Selbstthematisierung und fungieren als ein Instrument der Ausbildung moralischer Subjektivität. Im Angesicht der Höllenstrafen tritt die Seele in Distanz zu dem Selbst, das sie einst war, und bereut.¹⁴ Dieser Prozess findet nach dem Gang durch die Lohnorte seinen Abschluss mit der Gottesschau,
‚Du hast mir so viele und schreckliche Prüfungen gezeigt und mich bekehrt wieder lebendig gemacht und mich aus den Abgründen der Erde wieder zurückgeführt.‘ Visio Tnugdali (Anm. 8), S. 9,3 – 5. ‚Als sie diese und ihnen ähnliche unglaubliche Qualen lange Zeit ertragen hatte, kehrte sie zu sich selbst zurück und bekannte, dass sie schuldig und solcher Qualen würdig sei.‘ Ebd., S. 25,7– 9. […] quid aliud misera, nisi semet ipsam de preteritis accusare et proprias genas pre nimia tristitia et desperatione potuit lacerare? Cumque misera reatum suum cognosceret et eternum pro suis meritis se pati supplicium pertimesceret, nescia, quo ordine exierat, se extra bestiam esse sentiebat. (‚Was konnte die Elende anderes tun, als sich selbst des Vergangenen zu beschuldigen und sich vor übergroßer Trauer und Verzweiflung die eigenen Wangen zu zerfleischen? Und als die Elende ihre Anklage erkannte und die ewige Strafe für ihre Taten verdientermaßen zu erleiden fürchtete, fühlte sie, ohne zu wissen, auf welche Weise sie herausgekommen war, dass sie sich außerhalb der Bestie befand.‘) Ebd., S. 18,11– 16.
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welche den Parcours der Jenseitsreise abschließt. Bei allen kleineren Sinneswandlungen und Teileinsichten, welche die Seele bisher erfahren hat, erfüllt sich erst mit dem Überwinden einer letzten Mauer ihre Reise, indem sie nunmehr ihren Weg und das Gesehene überblickt und reflektieren kann: Ab illo ergo loco, in quo tunc stabant, non solum omnem, quam ante viderant, gloriam, verum etiam predictarum supplicia penarum videbant, et quod magis miramur, terrarum orbem quasi sub uno solis radio videre valebant. Non enim quicquam poterat creature visum obtundere, cui semel concessum est, omnium creatorem videre. Et miro modo, cum starent in eodem loco, in quo prius steterant, non se vertentes in aliam partem, cunctos tamen ex eodem loco ante et retro positos videbant.¹⁵
Das sich hier darbietende Panorama erscheint als eine universale Neuperspektivierung, denn die Seele ist nunmehr in der Lage, alles zu erfassen und zu verstehen. Diese fulminante Erkenntnis ist indessen nur in der Rückschau, im Wissen um den zurückgelegten Weg durch die penae und gloriae, die Straf- und Lohnorte, möglich. Vor allen Dingen aber ist die Seele erst hier in der Lage, das Gesehene und Erlebte in eine Perspektive zu setzen und zu durchdringen: Non solum autem visus, verum etiam scientia dabatur ei insolita, ita ut non sibi esset opus interrogare amplius aliqua, set omnia sciebat aperte et integre, quecunque volebat. ¹⁶ Erst diese am Schluss gewonnene Gesamtperspektive ermöglicht Tnugdalus nach seiner Rückkehr die Überwindung seines Zorns und ein Leben in Demut. Brigitte Pfeil hat die Jenseitsdarstellung der Visio Tnugdali überzeugend im Kontext hochmittelalterlicher Bußtheologie verortet.¹⁷ Gerade im Vergleich mit einer wohl nicht lange nach Aufzeichnung der Visio Tnugdali entstandenen mittelhochdeutschen Übertragung eines gewissen Alber fällt, so Maximilian Benz, die Fokussierung des lateinischen Textes auf „Läuterung durch körperlichen Schmerz“ und ein Abzielen darauf auf, dass auch „die Rezipienten durch den affektiven Nachvollzug der Jenseitsstrafen umkehren und büßen“.¹⁸ Im Kontext dieser Intention ist auch die spezifische räumliche und emotionale Kodierung des Sinneswandels zu sehen. Über
‚Denn von jenem Ort aus, an dem sie nun standen, sahen sie nicht nur den ganzen Glanz, den sie zuvor gesehen hatten, sondern auch die Nöte der vorgenannten Strafen, und, was noch mehr verwundert, sie konnten den [ganzen] Erdkreis gleichsam unter einem Strahl der Sonne sehen. Denn nichts konnte dem Geschöpf die Sicht nehmen, dem einmal gestattet worden ist, den Schöpfer von allem zu sehen. Und merkwürdigerweise sahen sie, obwohl sie an ein und derselben Stelle standen, an der sie zuvor gestanden hatten, und sich nicht in eine andere Richtung drehten, dennoch alle, die sich vor und hinter diesem Ort befanden.‘ Ebd., S. 52,21– 53,5. ‚Ihr wurde aber nicht nur die Sicht zuteil, sondern auch das seltene Wissen, [und zwar] so, dass sie nicht weiter irgendetwas fragen musste, sondern offen und vollständig alles wusste, was sie [wissen] wollte.‘ Ebd., S. 53,5 – 8. Vgl. Brigitte Pfeil: Die ‚Vision des Tnugdalus‘ Albers von Windberg. Literatur- und Frömmigkeitsgeschichte im ausgehenden 12. Jahrhundert. Mit einer Edition der lateinischen ‚Visio Tnugdali‘ aus Clm 22254. Frankfurt a. Main u. a. 1999 (Mikrokosmos. 54). Benz (Anm. 5), S. 173.
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den Zusammenhang von Bewegung, Belehrung und Bekehrung als Reorientierung werden somit auch Entwürfe von Welthaltigkeit und Welterfahrung verhandelt, indem an der Figur des jenseitsreisenden Ritters Heilsordnung als räumliche Ordnung erfahrbar gemacht und als Heilswissen vermittelt und weitergegeben wird. Daher bietet diese Form räumlicher Prozessierung von conversio als Um- und Rückkehr unterschiedliche narrative Entfaltungsmöglichkeiten: Gegenüber der Visio Tnugdali, die das im Jenseits erfahrene Heilswissen im direkten Bericht des Konvertiten über eine affektive Bewegung vermittelt, kann zusätzlich die Erzählung selbst zum Medium von Belehrung und Bekehrung werden, indem der Erkenntnisprozess der Figuren an den narrativen Verlauf gekoppelt ist. Diese retrospektive Motivierung erlaubt zugleich Anschlüsse an weltliche Erzählmodelle, die Herrschaft thematisieren und räumlich semantisieren. Auch diese Übertragungen sind an jenseitige Schwellenräume gebunden, die indessen nicht die axiologische Eindeutigkeit der Visionsliteratur aufweisen. Im Folgenden soll also nicht dafür argumentiert werden, dass auch die Reisen Alexanders des Großen als Jenseitsreisen gestaltet oder gelesen wurden, sondern dass vielmehr im Straßburger Alexander die eben ausgeführte Erzähllogik von Reise und Reorientierung aufgenommen und modifiziert wird, um die räumliche Erfahrung und Erkenntnis von Heil für eine weltimmanente Konzeptualisierung christlicher Herrschaft zu funktionalisieren.
II Vor der Mauer: Alexanders Reorientierung Der Straßburger Alexander, eine um 1170 entstandene mittelhochdeutsche Adaptation des populären Alexanderromans,¹⁹ zeichnet sich durch eine spezifische Raumordnung und Erzählstruktur aus, die mit bestimmten Aspekten der Stofftradition und Figurenzeichnung zusammenhängt. Bekanntermaßen handelt es sich bei Alexander um eine ambivalente Herrschergestalt, deren Machtfülle schon zu seinen Lebzeiten auch zum Kritikpunkt geworden ist. Seinen frühen Tod und den fast sofortigen Zerfall seines Reiches hat man als Beleg seiner vanitas genommen und insbesondere in den mittelalterlichen Lebensbeschreibungen werden Alexander superbia und unmâze vorgeworfen. Bereits in der antiken Alexanderrezeption auftretende Ambivalenzen werden also ins Mittelalter übertragen und konfligieren nun zusätzlich mit der Einschreibung in christliche Herrscherideale. Gerade in der Problematisierung seiner Selbstüberhöhung steht der Alexander der mittelalterlichen Adaptation daher am
Zu den unterschiedlichen Fassungen von Lambrechts Alexander vgl. Trude Ehlert: Deutschsprachige Alexanderdichtungen des Mittelalters. Frankfurt a. Main u. a. 1989 (Europäische Hochschulschriften. I, 1174), S. 19 – 27, sowie Jan Cölln: Arbeit an Alexander. Lambrecht, seine Fortsetzungen und die handschriftliche Überlieferung. In: Alexanderdichtungen im Mittelalter. Kulturelle Selbstbestimmung im Kontext literarischer Beziehungen. Hrsg. von dems., Susanne Friede, Hartmut Wulfram. Göttingen 2000 (Veröffentlichung aus dem Göttinger Sonderforschungsbereich 529 „Internationalität nationaler Literaturen“. Serie A: Literatur und Kulturräume im Mittelalter. 1), S. 162– 207.
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Übergang von theologisch geprägten Herrschaftskonzepten hin zur Ausbildung neuer, weltlicher Modelle. Die Straßburger Bearbeitung stilisiert Alexander zu einer Identifikationsfigur für eine sich ausbildende ritterlich-adlige Kriegerkaste, bleibt aber zugleich auch auf geistliche Leitbilder bezogen. Somit ist Alexander in seinem (aus christlicher Perspektive) Reorientierungsbedarf den Konvertiten der Visionsliteratur durchaus vergleichbar und es wird auch im Straßburger Alexander auf die konversionelle Erzähllogik von Bewegung, Belehrung und Bekehrung zurückgegriffen: Die Rückkehr nach Griechenland markiert zugleich einen Erkenntnisprozess. Ebenso wie Tnugdalus ist Alexander zuletzt einem umfassenden Sinneswandel und dem Austausch sämtlicher Sinnbildungsinstanzen unterworfen. Dies findet in seiner Reise bis vor die Mauern des irdischen Paradieses ein wirkmächtiges Bild, die in der Straßburger Fassung (und nur in dieser) den Abschluss der Eroberungsreisen Alexanders bildet, bevor er nach Griechenland zurückkehrt.²⁰ Dieser Kulminationspunkt ist indessen im Handlungsverlauf sorgfältig vorbereitet und über den Zusammenhang von Bewegung und Belehrung sukzessive aufgebaut worden.²¹ Auf mehreren Stationen seiner Reisen, insbesondere den utopisch gezeichneten Reichen des Orients, die er im letzten Teil des Straßburger Alexander aufsucht, wird seine herrscherliche Identität durch andere Regenten und Regentinnen immer wieder in Frage gestellt. Dabei wird Alexander auf die Notwendigkeit eines Sinneswandels hingewiesen, wobei insbesondere seine affektive Disposition als ein Problem aufscheint, wie an seinen ungebremst emotionalen Reaktionen auf diese Belehrungen deutlich wird. Alexanders schon in der Antike sprichwörtlich gewordener Zorn steht im Straßburger Alexander für eine ambivalente Qualität seiner Herrschaft, er markiert gewissermaßen sein Verhältnis zur Welt. Daher ist dieser Zorn keine ausschließlich negative Emotion, denn er wird gegenüber den antiken Quellen und der (vermutlich früher entstandenen) Bearbeitung des Vorauer Alexander auch als eine vitale Herrschertu-
Die komplexe Raumstruktur des Straßburger Alexander haben nach Walter Haug insbesondere Peter Strohschneider und Herfried Vögel für den Persienteil sowie für den Gesamttext Markus Stock herausgearbeitet; vgl. Walter Haug: Struktur und Geschichte. Ein literaturtheoretisches Experiment an mittelalterlichen Texten (1973). In: ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 236 – 256; Peter Strohschneider, Herfried Vögel: Flußü bergänge. Zur Konzeption des ‚Straßburger Alexander‘. In: ZfdA 118 (1989), S. 85 – 108; Markus Stock: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ‚Straßburger Alexander‘, im ‚Herzog Ernst B‘ und im ‚König Rother‘. Tübingen 2002 (MTU. 123). Zum strukturbildenden Gegensatz von Natur und Kultur siehe Udo Friedrich: Überwindung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Straßburger Alexander. In: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Wolfgang Harms, C. Stephen Jaeger. Stuttgart/Leipzig 1997, S. 119 – 136. Vgl. dazu ausführlicher Julia Weitbrecht: Bewegung – Belehrung – Bekehrung. Die räumliche und emotionale Kodierung religiöser Erkenntnis im Straßburger Alexander. In: dies./Röcke/Bernuth (Anm. 1), S. 109 – 122.
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gend positiviert.²² Dieser Zorn wird zum Marker seines Sinneswandels: Verfällt Alexander zunächst immer dann in Zorn, wenn sich seine Gegner nicht von ihm bezwingen lassen, so ist er zuletzt in der Lage, seinen Zorn zu kontrollieren. Indem Alexanders Emotionalität im letzten Teil der Orientreisen sukzessive nicht mehr heroisch kodiert wird, führen Bewegung und Belehrung schließlich zu einer proto-christlichen Bekehrung im Sinne von Einsicht, Affektkontrolle und Reorientierung. Mit dieser Argumentation soll nicht etwa dem gesamten Roman die Symbolstruktur eines „Lernprozesses“ unterstellt werden.²³ Im Kontext dieses Beitrags sollen vielmehr die Anwendungsmöglichkeiten konversioneller Erzähllogiken in den Blick genommen werden, ihr funktionales Spektrum im Rahmen der Integration antiker Herrscherfiguren ins christliche Weltbild. Die sukzessive Semantisierung der bereisten Räume wie auch der Raumerfahrungen Alexanders scheint dabei nicht auf die bußtheologische Funktion der Jenseitsorte selbst, wohl aber auf die Funktionslogiken der Jenseitsreise als Erkenntnisprozess zu rekurrieren.²⁴ Dies sei an dieser Stelle lediglich durch ein Beispiel belegt: Im Rahmen seiner Orientabenteuer gelangt der Herrscher in das Land Occidratis, das von Menschen bewohnt wird, die Kleidung und weltlichen Besitz ablehnen. Diese Occidraten bitten Alexander, ihr Land zu verschonen, weil sie ohnehin nichts haben, für das sich zu kämpfen lohnt – ein radikaler Bruch mit sämtlichen Eroberungsszenarien, welche die Erzählung bisher bestimmt haben. Alexander geht großmütig darauf ein und möchte den Occidraten zudem einen Wunsch erfüllen, doch kann er ihnen das, was sie von ihm haben wollen, nämlich Unsterblichkeit, nicht geben. Darauf fragen sie ihn, ober selbe ouh solde sterben, warumber an der erden wunder alse manicfalt sô lange hête gestalt;
Unt alsô der chunich [Alexanders Vater Philipp] der nider viel, / Alexander sîn bluot wiel. / Sîn zorn in der zuo truoch, / daz er mit tem swerte her umbe slûch, / unt swer dâ wider wolte stân, / der ne mohte im mit dem leben nieht engân.Vorauer Alexander,V. 423 – 427 (entspricht sehr wahrscheinlich Straßburger Alexander, V. 506 – 510). Zitiert nach: Pfaffe Lambrecht: Alexanderroman. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Elisabeth Lienert. Stuttgart 2007. Vgl. Ehlert (Anm. 19), S. 61; Klaus Grubmüller: Historische Semantik und Diskursgeschichte. zorn, nît und haz. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter/Emotions and Sensibilities in the Middle Ages. Hrsg. von C. Stephen Jaeger, Ingrid Kasten. Berlin/New York 2003 (TMP. 1), S. 47– 69. So argumentiert Barbara Haupt vor dem Horizont eines Alteritätskonzeptes, das den Jenseitsbezug und die Transgression diesseitiger Raumordnungen nicht einrechnet; vgl. Barbara Haupt: Alexander, die Blumenmädchen und Eneas. In: ZfdPh 112 (1993), S. 1– 36; dies.: Alexanders Orientfahrt (Straßburger Alexander). Das Fremde als Spielraum für ein neues Kulturmuster. In: Akten des VIII. internationalen Germanisten-Kongresses Tokyo 1990: Begegnung mit dem ‚Fremden‘: Grenzen – Traditionen – Vergleiche. Sektion 12: Klassik – Konstruktion und Rezeption. Sektion 13: Orientalismus, Exotismus, koloniale Diskurse. Hrsg. von Yoshinori Shichiji. München 1991, S. 285 – 295. Zum Narrativ vom bekehrten Sünder, von Krisis und Peripetie, das auf der Paradiesfahrt die lineare Erzählstruktur ablöst Ehlert (Anm. 19), S. 76.
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er mohtiz gerne lâze: ‚Alles dingis mâze gezimet manneglîche.‘²⁵
Was im salomonischen Diktum vanitatum vanitas / et omnia vanitas dem Straßburger Alexander im Prolog vorangestellt wird,²⁶ lernt Alexander reisend und selbst-erfahrend: dass all sein Streben zeitlich ist und dass alles, was er bisher erlangt hat, nichts gilt.²⁷ Alexander ist indessen für diese Erkenntnis noch nicht bereit, denn wie auch schon zuvor (und später wieder) reagiert er zornig auf die Infragestellung seiner Person und seiner Herrschaft.²⁸ Auf diese Weise werden in den utopisch gezeichneten Reichen am Rande der Welt Herrschaftsideale und Formen der Affektbeherrschung aufgezeigt, die das Kriegerethos der Haupthandlung transzendieren. Indem diese Stationen der Rück- und Umkehr Alexanders vorausgehen, leiten sie auch seinen Erkenntnisprozess ein. Die neben anderen Figuren²⁹ insbesondere durch die Occidraten an Alexander herangetragene Forderung nach mâze und Demut kulminiert vor den Toren des Paradieses, wo Alexanders Herrscheridentität ein letztes Mal radikal in Frage gestellt wird. Welterfahrung ist hier stets an imperiale Machtstrategien gebunden und so will Alexander die Welt nicht nur sehen, sondern sie sich zugleich immer auch unterwerfen. Alle seine Reiche und sein schon erworbener Ruhm, [d]es ne dûhte ime allis niht genûc. Sin hôhmût in dar zû trûc, daz er sih hîz wîsen gegen den paradîse. Daz wolder bedwingen und zins ouh dannen bringen von den engelischen chôren. Hî muget ir tumpheit hôren, wî er des begunde.³⁰
In seiner Selbstüberhöhung fasst er den Plan, nun auch noch das Paradies zu erobern und die Engel tributpflichtig zu machen. Obwohl ihn seine erfahreneren Männer
Straßburger Alexander (Anm. 22), V. 4416 – 4422. Ebd., V. 23 f. Zur Natur/Kultur-Konkurrenz in dieser Episode vgl. Friedrich (Anm. 20), S. 127 f.; zum vanitas-Motiv Karl Stackmann: Die Gymnosophisten-Episode in deutschen Alexander-Erzählungen des Mittelalters. In: PBB 105 (1983), S. 331– 354; Peter K. Stein: Ein Weltherrscher als vanitas-Exempel in imperialideologisch orientierter Zeit? Fragen und Beobachtungen zum ‚Straßburger Alexander‘. In: Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst. Hrsg. von Rüdiger Krohn, Bernd Thum, Peter Wapnewski. Stuttgart 1979 (Karlsruher kulturwissenschaftliche Arbeiten. 1), S. 144– 180, besonders S. 156 – 162. Vgl. Straßburger Alexander (Anm. 22), V. 4404. Vgl. Weitbrecht (Anm. 21). Straßburger Alexander (Anm. 22), V. 6165 – 6173.
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warnen, macht er sich mit einer Gruppe von tumben jungelinge[n]³¹ auf den Weg. Die Reisenden gelangen unter großen Mühen bis vor die Mauern des Paradieses, doch die dort vorgefundene Türe bleibt ihnen verschlossen.³² Als ein alter Mann sie schließlich öffnet, verlangt Alexander daz si solden lâzen ir singen unde zins bringen irem hêren Alexandro.³³
Der Schwellenraum des irdischen Paradieses – innerhalb des Diesseits jenseitig kodiert und von transzendenter Exklusivität – setzt alle diesseitigen Hierarchien außer Kraft. Dies kollidiert mit dem herrscherlichen Selbstverständnis Alexanders, wenn der alte Mann fragt, wer Alexander wêre: ³⁴ Alexander wird hier nicht mehr wie in den vorausgegangenen Begegnungen nur kritisiert und belehrt, sondern in seiner Identität völlig entwaffnet. Während in der Visio Tnugdali die Überwindung der Mauer einen Grenzübertritt in eine disambiguisierende Heilswirklichkeit darstellt,³⁵ die auch dem irdischen Reisenden die alles perspektivierende Gottesschau ermöglicht, bildet im Straßburger Alexander lediglich das Erreichen dieser Grenze den End- und Umkehrpunkt. Die Paradiesmauer, vor der Alexander schließlich zum Halt kommt, bildet somit die physische Begrenzung und geistliche Einhegung seines Eroberungsdrangs. Hier wird das im politischen Sinne utopische Potenzial aus den Reisen in die Randbezirke der Welt wieder aufgenommen und in den Bereich religiöser Erkenntnis überführt. Somit verbleibt der Straßburger Alexander in Bezug auf die Raumordnung im weltimmanenten Bereich, doch die Schwellenposition des irdischen Paradieses an der Grenze zur Transzendenz bewirkt gleichwohl, dass der Reisende, wie Tnugdalus aus dem Jenseits, verändert von dort zurückkehren muss. Denn an dieser Stelle nimmt der Bearbeiter des Straßburger Alexander ein Leitmotiv wieder auf: die Begrenztheit Alexanders, die sein immer wieder jäh ausbrechender Zorn indiziert. Denn auch wenn er noch nicht wieder umgekehrt ist, geschieht sein eigentlicher Sinneswandel, seine
Ebd., V. 6193. Vgl. zu diesem Motiv Monika Unzeitig: Mauer und Pforte. Wege ins Paradies in mittelalterlicher Literatur und Kartographie. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 52 (2011), S. 9 – 36, hier S. 21 f.; dies.: Alexanders Weg ins Paradies. In: Kunst und saelde. Festschrift für Trude Ehlert zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Katharina Boll, Silvia Ledemann, Kathrin Wenig. Würzburg 2011, S. 149 – 159, hier S. 151– 154; Hans-Jürgen Scheuer: Cerebrale Räume. Internalisierte Topographie in Literatur und Kartographie des 12./13. Jahrhunderts (Hereford-Karte, ‚Straßburger Alexander‘). In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Hrsg. von Hartmut Böhme. Stuttgart/Weimar 2005 (Germanistische Symposien. Berichtsbände. 27), S. 12– 36. Straßburger Alexander (Anm. 22), V. 6426 – 6429. Ebd., V. 6431. Ein Gedanke Maximilian Benz’.
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umfassende Reorientierung, bereits hier: Die heißblütigen Krieger, die Alexander begleiten, wollen die Mauer zum Paradies sofort einreißen und sich alles unterwerfen. Sie reproduzieren also genau das Verhalten, das Alexander (durchaus erfolgreich) dorthin geführt hat, wo er ist – und nun ist es Alexander selbst, der Einhalt gebietet und mâze an den Tag legt, denn er fordert seine Soldaten auf, mit ihm nach Griechenland zurückzukehren und die Bewohner des Paradieses zu verschonen. Vom zuvor – häufig vergebens – Belehrten ist er selbst zum maßvollen Belehrer geworden und muss nun nicht mehr zornig gegen Mauern anrennen. Das Paradies wird, gerade weil er letztlich daraus ausgeschlossen bleibt, für Alexander zu dem Ort, an dem eine Reorientierung in Bezug auf seine affektive Disposition einsetzt, ein umfassender habitueller Wandel, denn fortan wandelte [er] sîne site unde sîn gemûte in allirslahte gûte und plach gûter mâzen.³⁶
Indem im Straßburger Alexander Herrscheridentität und Herrscherzorn im Handlungsverlauf immer wieder aufgenommen und sukzessive geistlich reformuliert werden, wird in der räumlichen Umkehr und inneren Bekehrung Alexanders zuletzt die gesamte Erzählung im Hinblick auf christliche Leitbilder neu perspektiviert. Das diskreditiert nicht, wie in Konversionslegenden, die vorausgegangene Erobererexistenz als defizitär und von spirituellem Mangel bestimmt – Alexander verbleibt in der Welt, aber seine Lebensgeschichte wird nachträglich mit einer zusätzlichen Deutungsebene versehen: Sein Zorn wird zur Gelassenheit, seine superbia zur Demut und seine giericheit, seine Fixierung auf die irdischen Dinge, erweist sich zuletzt als nichtig. Nicht in Bezug auf das Erzählte, sondern auf das Erzählen präsentiert sich auch der Straßburger Alexander somit letztlich als eine conversio. Das heißt nicht, dass der Text auf eine ausschließlich geistliche Lesart zu reduzieren wäre, sondern vielmehr, dass er uns zuletzt ebenfalls, wenn auch nicht in einer umfassenden Gottesschau, einen „Generalschlüssel für die Wirklichkeit“³⁷ präsentiert.
III Jenseitige Schwellenräume und Narrative der Reorientierung Der vorliegende Beitrag untersucht vor dem Fragehorizont einer ‚Anthropologie der Kehre‘ konversionelle Erzähllogiken und Phänomene ihrer Refunktionalisierung in der weltlichen Erzählliteratur im 12. Jahrhundert. Hier kann mit dem Zusammenhang
Straßburger Alexander (Anm. 22), V. 6812– 6815. Luckmann (Anm. 1), S. 40.
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von Bewegung, Belehrung und Bekehrung ein Narrativ der Reorientierung beschrieben werden, das offenbar für unterschiedliche, religiöse wie weltliche Erzählzusammenhänge adaptierbar ist und ein weites funktionales Spektrum aufweist. In erzählhistorischer Hinsicht sind dabei zwei Punkte interessant: Zum ersten hat sich gezeigt, dass Prozesse von Reorientierung und Sinneswandel in spezifischen jenseitigen Schwellenräumen situiert werden, die für dieses Narrativ ganz entscheidend sind. Umgekehrt werden die kategorial unverfügbaren transzendenten Räume reisend erfahren und somit auch erst diesseits darstellbar gemacht, und sei es nur durch die physisch erfahrbare Mauer, welche sie vor unseren Augen verbirgt. Auch wenn – oder gerade weil – es nicht betreten werden darf, wird das Jenseits somit als ein Imaginationsraum verfügbar; weniger im Sinne eines theologisch-ontologisierenden Konstrukts als vielmehr einer spezifischen narrativen Konfiguration des ‚Jenseitigen‘, die Reorientierung und Wandel – affektiver Dispositionen oder religiösmoralischer Standpunkte – auslösen und ermöglichen kann. Zum zweiten erscheinen die Befunde weiterführend im Hinblick auf den von Annette Gerok-Reiter und Franziska Hammer benannten Zusammenhang von Raum und Figur als zentralem Aspekt einer „Spezifik der Raumdarstellung in der mittelalterlichen Literatur“.³⁸ Um diesen „enge[n] Konnex zwischen Figur, Figurenhandlung und Raum“³⁹ in mittelalterlichen Texten zu beschreiben, schlägt Markus Stock ein Konzept von Bewegungs- und Vollzugsräumen vor. Florian Kragl schließlich identifiziert „figurendynamische“ Räume in mittelalterlichen Romanen,⁴⁰ deren Plastizität jeweils mit ihrer anderweltlichen Konnotierung zusammenzuhängen scheint. Alle genannten Beiträge aus der aktuellen Forschung beziehen sich auf die höfische Erzählliteratur, doch werden, wie gezeigt wurde, auch die Räume der Jenseitsreisen über Formen der Figurenfokalisation erzählt, welche die Darstellung des Raumes mit Prozessen von Wahrnehmung, Ausdeutung und Interaktion verbindet. In Bezug auf eine historische Narratologie des Raumes könnte man nun beide Aspekte weiterdenken und nach der Bedeutung von religiös inspirierten Narrativen der Reorientierung für Raumkonzepte in der Erzählliteratur seit dem 12. Jahrhundert fragen. Für eine genauere Bestimmung solcher ‚jenseitigen Schwellenräume‘ wären Konfigurationen in den Blick zu nehmen, die in der Forschung als anderweltlich bezeichnet werden und die relational ‚außerhalb‘ beziehungsweise an der Peripherie Annette Gerok-Reiter, Franziska Hammer: Spatial Turn/Raumforschung. In: Literatur- und Kulturtheorien in der Germanistischen Mediävistik. Ein Handbuch. Hrsg. von Christiane Ackermann, Michael Egerding. Berlin/Boston 2015, S. 481– 516, hier S. 497 f. Markus Stock: Herkunftsraum und Identität: Heterotopien der Herkunft im mittelhochdeutschen Roman (Lanzelet, Tristan, Parzival, Trojanerkrieg). In: Herkunftsräume. Elemente einer historischen Narratologie. Hrsg. von Maximilian Benz, Katrin Dennerlein. Berlin/Boston 2016 (Narratologia. 51), S. 187– 204, hier S. 189. Florian Kragl: Schaubühnen. Überlegungen zur erzählten Topographie und ihrer historischen Bedingtheit. In: Narratologie und mittelalterliches Erzählen. Autor, Erzähler, Perspektive, Zeit und Raum. Hrsg. von Eva von Contzen, Florian Kragl. Berlin/Boston 2018 (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung. Beihefte. 7), S. 125 – 164, hier S. 154.
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angesiedelt sind.⁴¹ Es erscheint perspektivenreich, hier noch stärker zu differenzieren und nach dem ‚Jenseitigen‘ im Sinne spezifischer Tugend- und Besserungsräume zu fragen, in welchen die oben beschriebenen konversionellen Erzähllogiken jenseits theologischer Bußkonzepte refunktionalisiert werden, etwa wie im Alexanderroman und im Apollonius von Tyrlant ⁴² in Bezug auf Herrschaftskonzepte oder wie im Wigalois ⁴³ auf die ritterliche Identität. Sicherlich müssten solche höfisierten und ästhetisierten ‚Schwellenräume des Jenseits‘ vor dem Hintergrund anderer, nicht-religiöser Bewährungsszenarien noch genauer konturiert werden. In jedem Fall aber, so ist hoffentlich deutlich geworden, lohnt ein genauerer Blick auf die Jenseitsreiseliteratur im Hinblick auf ihre Bedeutung für eine Anthropologie – und Narratologie – der Kehre.
Vgl. Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hrsg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel, Jan-Dirk Müller, Berlin/Boston 2012, Kapitel „Sonderräume und Unorte im höfischen Roman“, S. 310 – 321; ders.: in dem wilden wald. Außerhöfische Sonderräume, Liminalität und mythisierendes Erzählen in den Tristan-Dichtungen: Eilhart – Béroul – Gottfried. In: DVjs 77 (2003), S. 515 – 547. Vgl. Braun (Anm. 3). Vgl. Kragl (Anm. 39), S. 147– 155.
Ulrich Hoffmann
Abkehr als Heimkehr Konversion und Reise in Veit Warbecks Die Schöne Magelone „Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu – man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt, scheint es, und manchmal stellte ich mir vor, ein andrer habe genau die Geschichte meiner Erfahrung …“ Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein
1535 erschien, gedruckt von Heinrich Steyner in Augsburg, Veit Warbecks Roman Die Schn Magelona unter dem erweiterten Titel: Ein fast lústige vnd kurtzweylige Histori / vonn der schnen Magelona / eins Künigs tochter von Neaples / vnd einem Ritter / genannt Peter mit den silberin schlüsseln / eins Graffen son auss Prouincia. ¹ Der Titel mag wohl nur aus heutiger Sicht und vom heutigen Sprachgebrauch her „fast lustig“ anmuten, wohingegen er doch vielmehr einen ziemlich spannenden und unterhaltsamen und daher auch kurzweiligen Roman ankündigt, der mitunter gar anregend und erbaulich sein mag.² Fragt man nach dem Inhalt der Histori, nach dem, was vom genannten Protagonistenpaar erzählt wird, ließe sich im Wesentlichen Folgendes anführen: Ein reicher Sohn aus gräflichem Hause in der Provence hört von einer schönen Königstochter in der Ferne und verlässt zuversichtlich sie zu sehen Vater und Mutter. Mit Glück und wohl Gottes Beistand gewinnt er sie zur Frau, doch sieht sich das junge Paar aus Standesgründen gezwungen, heimlich vom königlichen Hof zu fliehen. Auf der Flucht ereignet sich nun ein Zwischenfall, in dessen Folge das Paar getrennt wird und lange Zeit in Sorge um den jeweils anderen auf ein Wiedersehen warten muss. Während die Königstochter der Welt entsagt, im Land des Geliebten ein Spital gründet und sich entbehrungsreich allein der Fürsorge Hilfsbedürftiger widmet, durchlebt der fromme Ritter eine Irrfahrt in den Orient, von der er letztlich doch in die Heimat zurückkehren kann, wo das erhoffte Wiedersehen tränenreich gefeiert wird. Was als spannend und kurzweilig zu lesen angekündigt wird, erweist sich mitunter und letzten Endes doch als langweilig, zumindest im Sinne der Geschichte des
Zitiert nach der hier zugrunde gelegten Ausgabe: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten hrsg. von Jan-Dirk Müller. Frankfurt a. Main 1990 (Bibliothek der Frühen Neuzeit. 1), S. 587– 677, hier S. 589, Z. 1– 7. Groß- und Kleinschreibung folgt dem Exemplar Berlin, Staatsbibliothek, Yu 2411 [http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/ SBB0001463C00000000, Zugriff: 25.06.18]. Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch verzeichnet für das Adjektiv lustig, bezogen auf poetische Texte, die Bedeutungen von ‚interessant‘, ‚spannend‘, ‚kurzweilig‘ und ‚unterhaltend‘, bezogen auf didaktische Texte darüber hinaus von ‚erquickend‘, ‚erbaulich‘ oder auch ‚anregend‘; vgl. Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hrsg. von Ulrich Goebel, Anja Lobenstein-Reichmann, Oskar Reichmann. Begründet von Robert R. Anderson, Ulrich Goebel, Oskar Reichmann. Bd. 9.1. Berlin/Boston 2013, Sp. 1506 – 1510, hier Sp. 1509. Zum Adverb fast siehe Alfred Götze: Frühneuhochdeutsches Glossar. 7. Aufl. Berlin 1967, S. 73. https://doi.org/10.1515/9783110706093-016
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jahrelangen Wartens Magelones. Die Irrfahrt Peters mag dem aber entgegenstehen. Zur vermeintlichen Statik fügt sich eine weit ausholende Dynamik in der Geschichte, bis die zwei so gänzlich anders anmutenden Erzählstränge am Ende wieder zusammengeführt werden und die Erzählung wieder dahin einkehren kann, von wo sie ihren Ausgang genommen hat: in die Provence – jetzt freilich mit der gemeinsamen Herrschaftsübernahme durch das Protagonistenpaar. Die anfängliche Abkehr Peters von Vater und Mutter, die Abkehr auch Magelones von überhaupt allen weltlichen Dingen mündet so in eine finale Heimkehr.³ Die Abkehr erweist sich als Heimkehr, wenngleich die Wege dorthin gänzlich anderen Mustern folgen: Dem progressiven Schema der Konversion, das im Wesentlichen durch die zeitliche Zäsur der Wende von vorher und nachher geprägt ist,⁴ fügt sich mit der Reise und Irrfahrt Peters ein vornehmlich räumlich organisiertes Schema.⁵ Man mag hier eine Hybridität in Anschlag bringen, eine unvereinbar scheinende Überblendung divergenter Erzählschemata, die als konstitutives Merkmal für den spätmittelalterlichen und noch frühneuzeitlichen Roman herausgestellt wurde.⁶ Doch sollen im Folgenden Konversion und Reise vielmehr dahingehend in den Blick genommen werden, wie sie in der Figur der Wende einen
Zu Motiv und Metapher der Heimkehr siehe grundlegend, vor allem dann im Zusammenhang mit der Ausfahrt der beziehungsweise des Protagonisten in der mittelalterlichen Literatur noch immer Walter Haug: Der Tag der Heimkehr. Zu einer historischen Logik der Phantasie. In: ders.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Tübingen 1989, S. 37– 50. Verwiesen sei an dieser Stelle auch auf das der „Heimkehr in der Prosa des 19. und 20. Jahrhunderts“ gewidmete Heft der Deutschen Vierteljahrsschrift, worin Eva Eßlinger einleitend darauf hinweist, dass – mit Ausnahme des genannten Beitrags von Walter Haug – noch immer keine umfassender angelegte Studie zu Struktur und Poetik der Heimkehr vorliegt; Eva Eßlinger: Vorwort. In: DVjs 92 (2018), S. 119 – 126, hier S. 120. Vgl. Thomas Luckmann: Kanon und Konversion. In: Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation II. Hrsg. von Aleida Assmann, Jan Assmann. München 1987, S. 38 – 46, hier S. 42 f. Zu mitunter ambivalenten Zeitgestaltungen siehe mit Bezug auf mittelalterliches Quellenmaterial auch Steven F. Kruger: The Times of Conversion. In: Philological Quarterly 92 (2013), S. 19 – 40. Vgl. schon Norbert Thomas: Handlungsstruktur und dominante Motivik im deutschen Prosaroman des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Nürnberg 1971 (Erlanger Beiträge zur Sprach- und Kunstwissenschaft. 37), zur Magelone S. 193 – 217, der allerdings doch von „einer einfachen Grundstruktur“ ausgeht; ebd., S. 193. Mit weiterführender Literatur siehe besonders Elisabeth Wåghäll Nivre: Sie „weren lieber daheim in iren heusern gewesen“. Heimat und Heimkehr in einigen frühneuzeitlichen Prosaromanen. In: Grenzen überschreiten – transitorische Identitäten. Beiträge zu Phänomenen räumlicher, kultureller und ästhetischer Grenzüberschreitung in Texten vom Mittelalter bis zur Moderne. Hrsg. von Monika Unzeitig. Bremen 2011, S. 193 – 208. Verwiesen sei etwa auf die Beiträge in Martin Baisch, Jutta Eming (Hrsg.): Hybridität und Spiel. Der europäische Liebes- und Abenteuerroman von der Antike zur Frühen Neuzeit. Berlin 2013; zur Magelone siehe ausführlich Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Variation und intertextuelle Kombinatorik in der Minne- und Aventiureepik. ‚Willehalm von Orlens‘ – ‚Partonopier und Meliur‘ – ‚Wilhelm von Österreich‘ – ‚Die schöne Magelone‘. Berlin 2000, besonders S. 153 – 229, sowie zuletzt Martina Oehri: Dinge, die die Welt bewegen. Zur Kohärenz im frühneuzeitlichen Prosaroman. Bern 2015 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700. 50), S. 164– 199.
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gemeinsamen Fluchtpunkt finden, über den sie eine gemeinsame Geschichte ausbilden und der sich nicht zuletzt für die Lektüre des Textes als fruchtbar erweist und dessen Rezeption steuern kann. Die Magelonen-Romane des späten Mittelalters⁷ werden gemeinhin im Kontext der Minne- und Aventiureromane besprochen. Hierbei handelt es sich um eine Gruppe von Texten, die die gemeinsame Grundstruktur von Liebesbegegnung, Trennung und Wiederbegegnung aufweisen und in vielfältigen Variationen bei doch vergleichbarer Figurenkonstellation und -darstellung entfalten.⁸ Die ältere Forschung hat einen di-
Zu den Magelonen-Romanen siehe im Überblick: Hans-Hugo Steinhoff: Magelone. In: EM. Bd. 8. 1996, Sp. 1414– 1418; Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. 10., überarbeitete und erweiterte Auflage unter Mitarbeit von Sybille Grammetbauer. Stuttgart 2005, S. 564– 566. Neben dem Druck von 1535 wird im Folgenden vergleichend Bezug genommen auf Warbecks handschriftliche Erstfassung des Romans, die er 1527 für Johann Friedrich von Sachsen anlässlich seiner Vermählung mit Sybille von Cleve-Berg angefertigt hat (Ausgabe: Die schöne Magelone. Aus dem Französischen übersetzt von Veit Warbeck 1527. Nach der Originalhandschrift hrsg. von Johannes Bolte. Weimar 1894 [Bibliothek älterer deutscher Übersetzungen. 1]), sowie auf seine mutmaßliche französische Vorlage (Ausgabe: L’ystoire du vaillant chevalier Pierre filz du Conte de Provence et de la belle Maguelonne. Texte du Manuscrit S IV 2 de la Landesbibliothek de Cobourg, XVème siècle. Hrsg. von Régine Colliot. Aix-en-Provence/Paris 1977). Zu Warbecks Übersetzungstätigkeit und Bearbeitung siehe Hans-Gert Roloff: Veit Warbecks Schöne Magelona. In: ders.: Kleine Schriften zur Literatur des 16. Jahrhunderts. Festgabe zum 70. Geburtstag. Hrsg. und eingeleitet von Christiane Caemmerer u. a. Amsterdam/New York 2003, S. 47– 53, ferner Laure Abplanalp: Die schöne Magelonne im Kontext der Übersetzungstheorie. In: Text im Kontext. Anleitung zur Lektüre deutscher Texte der frühen Neuzeit. Hrsg. von Alexander Schwarz, Laure Abplanalp. Bern u. a. 1997 (Tausch. 9), S. 13 – 22. Darüber hinaus sind partielle Vergleiche mit der anonym überlieferten, ersten Übersetzung des Romans aufschlussreich, die in die Zeit um 1470 datiert wurde und als sprachlich zwar eigenständig gelten kann, gegenüber der französischen Vorlage jedoch inhaltlich – laut ihres Herausgebers Degering – kaum Änderungen aufweist (Ausgabe: Die schne Magelone. Hystoria von dem edeln ritter Peter von Provenz vnd der schnsten Magelona, des knigs von Naples tochter. Älteste deutsche Bearbeitung nach der Handschrift der Preussischen Staatsbibliothek Germ. 4o1579 mit Anmerkungen und überlieferungsgeschichtlichen, literarischen und kunsthistorischen Exkursen hrsg. von Hermann Degering. Berlin 1922); diese Fassung datiert Stefan Seeber jetzt auf Grundlage der unikalen Handschrift auf die Zeit um 1525 und bespricht sie als katholisch geprägte Alternativfassung zu der Warbecks, die vor allem um Vereinfachungen und Vereindeutigungen bemüht sei; vgl. Stefan Seeber: Diesseits der Epochenschwelle. Der Roman als vormoderne Gattung in der deutschen Literatur. Göttingen 2017, S. 139 – 146, zur Magelone insgesamt S. 109 – 148. Vgl. Werner Röcke: Höfische und unhöfische Minne- und Abenteuerromane. In: Epische Stoffe des Mittelalters. Hrsg. von Volker Mertens, Ulrich Müller. Stuttgart 1984, S. 395 – 423, hier S. 395 f. Röcke unterscheidet die Subtypen des heroisch-politischen Romans, des Legendenromans, des abenteuerlichen und erbaulichen Minneromans, zu dem er die Magelone zählt, sowie des empfindsamen Romans und führt Differenzierungsversuche weiter, die mit Helmut de Boor: Die deutsche Literatur im späten Mittelalter. Zerfall und Neubeginn. Erster Teil: 1250 – 1350. München 1973 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. 3/1), S. 90 – 108, einsetzten und maßgeblich von Kurt Ruh: Epische Literatur des deutschen Spätmittelalters. In: Europäisches Spätmittelalter. Hrsg. von Willy Erzgräber. Wiesbaden 1978 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. 8), S. 117– 188, hier S. 140 – 147, in der Unterscheidung von aventiurehaftem Minneroman und Legendenroman zur Gattungsbestimmung befördert wurden. Auf Probleme der Bestimmung einer Gattung des Minne- und
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rekten Einfluss durch den hellenistischen Liebes- und Abenteuerroman nach dem Muster von Heliodors Aithiopika annehmen wollen; inzwischen herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass vielmehr Vermittlungsstufen anzusetzen sind.⁹ Zum einen sind hier die Apollonius-Romane zu nennen,¹⁰ zum anderen – und dies betrifft dann die so genannten abenteuerlichen und erbaulichen Minneromane – apokryphe Apostelakten sowie Legenden als weitere Zwischenglieder.¹¹ Wegweisend waren hier vor allem die Arbeiten Werner Röckes, der die Minne- und Aventiureromane als „Kombination von Legende und Motiven des hellenistischen Romans“ beschreiben konnte.¹² Neben dem an der Legende der Heiligen Crescentia orientierten Typus ist im vorliegenden Zusammenhang vor allem der von Röcke so bezeichnete Eustachius-Typus in Anschlag zu bringen, beruhend auf der Legende vom Heiligen Eustachius, der als römischer Feldherr von Christus in Gestalt eines Hirschs zur Umkehr aufgefordert eine Phase der Entbehrung und Prüfung in der Fremde durchlebt, um anschließend – zumindest vorläufig – wieder in seine angestammte Position restituiert zu werden.¹³ Die Konversion des Heiligen erfahre hier – so Röcke – Aventiureromans kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden; siehe hierzu bereits kritisch hinsichtlich möglicher Binnendifferenzierungen Klaus Ridder: Mittelhochdeutsche Minne- und Aventiureromane. Fiktion, Geschichte und literarische Tradition im späthöfischen Roman: „Reinfried von Braunschweig“, „Wilhelm von Österreich“, „Friedrich von Schwaben“. Berlin u. a. 1998 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. 12), S. 1– 9, hinsichtlich des Fortdauerns eines eigenen Erzähltyps im Prosaroman des 15./16. Jahrhunderts ebd., S. 355 – 359; im historischen und systematischen Überblick zuletzt ausführlich Christine Putzo: Eine Verlegenheitslösung. Der ‚Minneund Aventiureroman‘ in der germanistischen Mediävistik. In: Baisch/Eming (Anm. 6), S. 41– 70, sowie in Abgrenzung zu Brautwerbungsepen Franziska Wenzel: Die Struktur des Begehrens. Erzählprinzipien des mittelhochdeutschen Minne- und Aventiureromans. In: Baisch/Eming (Anm. 6), S. 207– 223. Zum hellenistischen Liebes- und Abenteuerroman siehe grundlegend Niklas Holzberg: Der antike Roman. Eine Einführung. 3. überarbeitete Aufl. Darmstadt 2006; zur Frage nach dem Einfluss auf den mittelalterlichen Minne- und Aventiureroman zusammenfassend Putzo (Anm. 8), S. 60 – 64. Siehe im Überblick Tomas Tomasek: Über den Einfluß des Apollonius-Romans auf die volkssprachliche Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Wolfgang Harms, Jan-Dirk Müller in Verbindung mit Susanne Köbele, Bruno Quast. Stuttgart/Leipzig 1997, S. 221– 239. Siehe hierzu grundlegend Max Wehrli: Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter. In: ders.: Formen mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze. Zürich/Freiburg 1969, S. 155 – 176; siehe spezifisch vor allem Werner Röcke: Identität und kulturelle Selbstdeutung. Transformationen des antiken Liebesromans in Mittelalter und Früher Neuzeit. In: Mythos – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer. Hrsg. von Johannes Keller, Florian Kragl. Göttingen 2009, S. 403 – 418; Werner Röcke: Konversion und problematische Gewissheit. Transformationen des antiken Liebesromans und der frühchristlichen acta-Literatur in legendarischen Liebes- und Abenteuerromanen des Mittelalters. In: Baisch/Eming (Anm. 6), S. 397– 411. Werner Röcke: Minne, Weltflucht und Herrschaftslegitimation: Wandlungen des späthöfischen Romans am Beispiel der „Guten Frau“ und Veit Warbecks „Magelone“. In: Germanistik. Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des Deutschen Germanistentages 1984. Hrsg. von Georg Stötzel. Berlin/New York 1985, S. 144– 159, hier S. 145. Zur Legende des Eustachius beziehungsweise Placidas siehe Helmut Fischer: Placidas. In: EM. Bd. 10. 2002, Sp. 1069 – 1074; vgl. die Besprechung bei Werner Röcke: Das Alte im Neuen. Paradoxe
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in der gelebten Askese ihre performative Umsetzung, wobei in den verschiedenen Bearbeitungen jeweils „der praktische Vollzug der Askese als Bewegung von einem Ort zum anderen als Weg oder Reise (lat. peregrinatio) gedacht“ würde.¹⁴ Während für die Reise in die Fremde wohl der antike Liebes- und Reiseroman Pate gestanden haben mag,¹⁵ erweise sich in der Legende aber das alte Leben mit dem infolge der Konversion neu gewonnenen Anspruch an ein Leben in der Nachfolge Christi als inkompatibel.¹⁶ Eustachius widersetzt sich den Forderungen des römischen Kaisers, Apollo zu opfern, und erleidet konsequent den Märtyrertod. Die auf den Eustachius-Typus rekurrierenden Romane – hierzu zählt Röcke neben der aus dem 13. Jahrhundert anonym überlieferten Guten Frau und dem Wilhelm von Wenden Ulrichs von Etzenbach eben auch die Magelonen-Romane – würden sich nun dahingehend unterscheiden, dass in ihnen das neue Leben mit dem alten in Einklang gebracht werde.¹⁷ Strukturell würden sie im „Modus der Verschränkung von Konversionserzählung und antikem Roman“ zwar der Legende folgen, diese dann aber entsprechend transformieren.¹⁸ Anhand der Guten Frau und des Wilhelm von Wenden zeigt er, wie die Romane „das Strukturmodell des antiken Romans von Trennung und Vereinigung mit einem Typus von Konversion verbinden, der die strikte Trennung von ‚altem‘ und ‚neuem‘ Leben aufhebt und beide aufeinander bezieht, im Vergleich mit dem Konversionstypus der frühchristlichen Literatur aber ebenfalls ganz entschieden
Entwürfe von Konversion und Askese in Legende und Roman des Mittelalters (Eustachius-Typus). In: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von dems., Julia Weitbrecht. Berlin 2010 (Transformationen der Antike. 14), S. 157– 172, hier S. 159 – 163. Zur lateinischen Überlieferung siehe die Übersicht bei Thomas A. P. Klein: Ein spätmittelalterliches Eustachius-Leben aus der Handschrift Paris, BN, lat. 11341. In: Mittellateinisches Jahrbuch 29 (1994), S. 55 – 111. Röcke (Anm. 13), S. 161; vgl. auch Julia Weitbrecht: Die werlt lâzen durch got. Reise und ‚soziale Heiligung‘ in legendarischen Adaptationen des hellenistischen Liebes- und Reiseromans. In: Semantik der Gelassenheit. Generierung, Etablierung, Transformation. Hrsg. von Burkhard Hasebrink, Susanne Bernhardt, Imke Früh. Göttingen 2012 (Historische Semantik. 17), S. 62– 79, sowie Julia Weitbrecht: Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters. Heidelberg 2011 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 107– 112. Zu den verschiedenen Bearbeitungen der Legende siehe Volker Honemann: Guillaume d’Angleterre, Gute Frau, Wilhelm von Wenden. Zur Beschäftigung mit dem Eustachius-Thema in Frankreich und Deutschland. In: Chrétien de Troyes and the German Middle Ages. Papers from an International Symposium. Hrsg. von Martin H. Jones, Roy Wisbey. Cambridge/London 1993 (Arthurian Studies. 26), S. 311– 329, sowie Joerg O. Fichte: Die Eustachiuslegende, ‚Sir Isumbras‘ und ‚Sappho Duke of Mantona‘. Drei gattungs- beziehungsweise typenbedingte Varianten eines populären Erzählstoffes. In: Kleinere Erzählformen des 15. und 16. Jahrhunderts. Hrsg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1993 (Fortuna vitrea. 8), S. 130 – 150. Vgl. hierzu ausführlich Benedikt Konrad Vollmann: Die geheime Weltlichkeit der Legende. Fortleben und Verwandlung antik-weltlicher Erzählstoffe in der Legende. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber, Burghart Wachinger, Hans-Joachim Ziegeler. Tübingen 2000, S. 17– 25. Vgl. Röcke (Anm. 13), S. 163. Vgl. ebd.; vgl. zu den genannten Romanen ebenso Weitbrecht, Aus der Welt (Anm. 14), S. 113 – 138. Röcke, Konversion (Anm. 11), S. 410.
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verändert worden ist“.¹⁹ Wenn auch die hybride Konstruktion in Form eines Kompromisses aufgefangen sei, zeichne sich doch in den Romanen des 13. Jahrhunderts bereits eine „Verschiebung der Konversionsproblematik“ ab,²⁰ die in den folgenden Jahrhunderten umgedeutet worden sei zu einer conversio ad se, zu einer Sorge um sich, wie sie beispielhaft in der Magelone ihre bis dahin elaborierteste Umsetzung erfahren habe.²¹ Röcke deutet den Roman Veit Warbecks, der die Geschichte des Liebespaares entlang der zugrunde liegenden Struktur von Liebesbegegnung, Bewährung und glücklichem Wiedersehen entfaltet, entsprechend als moralisches Lehrstück, in dem die Flucht der Protagonisten entsprechend „als Weg ins eigene Innere“²² und die Phase der Trennung als eine „Schule des Verzichts“²³ firmierten, über die eine Einsicht ins eigene Fehlverhalten sowie zu einem demütigen Leben als Voraussetzung für die abschließende Übernahme von Herrschaft gewonnen werde.²⁴ Am Ende erweise sich die erlangte Restitution der angestammten Ordnung folgerichtig als dauerhaft und stabil – im Unterschied zur Legende. So sehr die Thesen Röckes überzeugen können, bleiben seine Beobachtungen aber vornehmlich auf die Figur Magelones konzentriert. Dabei fällt vor dem Hintergrund des Eustachius-Typus doch auf, dass Konversion und Reise – im Unterschied zur Legende²⁵ – auf zwei Figuren verteilt und separat erzählt werden, wenngleich sie
Ebd. Ebd., S. 411, mit Hinweis auf Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, dort zur Guten Frau und zum Wilhelm von Wenden S. 132– 141. Vgl. Röcke (Anm. 13), S. 163. Röcke rekurriert mit der „Sorge um sich“ auf die von Foucault für die stoische Philosophie der Spätantike dargestellte und von ihm als conversio ad se bezeichnete ethische Einstellung (vgl. Michel Foucault: Die Sorge um sich. Frankfurt a. Main 1986 [Sexualität und Wahrheit. 3], S. 89), die – so Röcke (Anm. 13), S. 162 – „auch für die christlich-asketische conversio von besonderem Interesse [sei], da die erstrebte Unabhängigkeit von allen Formen körperlichen Begehrens das Denken des ‚Konvertiten‘ auf sich selbst, auf seine vergangene Verfallenheit an die Welt, seinen Bruch mit der Welt der Sünde und den Versuch eines neuen Lebens in der Nachfolge Christi richten soll“. Ebd., S. 169. Röcke (Anm. 12), S. 158. Der Roman schließe damit nicht nur an die protestantische Ehelehre an; vgl. ebd., S. 158 f. Darüber hinaus würde er ebenso gegenüber verbreiteten Wissensbeständen zu Fragen von Herrschaft und Fürstenerziehung bestehen, wie sie etwa im Secretum Secretorum bereits formuliert sind und hier in der offenen Form des Romans kritisch reflektiert würden; vgl. Werner Röcke: Erzähltes Wissen. „Loci communes“ und „Romanen-Freyheit“ im ‚Magelonen‘-Roman des Spätmittelalters. In: Wissensliteratur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Bedingungen, Typen, Publikum, Sprache. Hrsg. von Horst Brunner, Norbert Richard Wolf. Wiesbaden 1993 (Wissensliteratur im Mittelalter. 13), S. 209 – 226. Das Kollektive betont entsprechend für die Legende Weitbrecht, Aus der Welt (Anm. 14), S. 111. Zuletzt hat Johannes Traulsen für die auch im Väterbuch erzählte Eustachius-Legende herausgestellt, dass sie zwar den familiären Zusammenhalt betont, dass sie sich aber in der Entfaltung der Biographie des Heiligen von den anderen dort aufgenommenen Jungfrauen- und Paarlegenden gerade unterscheidet; vgl. Johannes Traulsen: Heiligkeit und Gemeinschaft. Studien zur Rezeption spätantiker Asketenlegenden im ‚Väterbuch‘. Berlin/Boston 2017 (Hermea. 143), zur Eustachius-Legende S. 230 – 237, hier besonders S. 232 f.
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untrennbar aufeinander bezogen sind. Im Folgenden soll daher dem Verhältnis von Konversion und Reise genauer nachgegangen werden, wobei weniger Fragen der Textgenese im Vordergrund stehen als vielmehr für die Erzählungen von Konversion und Reise aufgezeigt werden soll, wie sie über die allgemeiner zu fassende Figur der Wende die Faktur des Textes maßgeblich prägen und sich entsprechend als fruchtbar für den Roman erweisen, auch hinsichtlich seiner Aussagequalität und Rezeption.
I Wiederbegegnung I Vor dem Hintergrund der dargelegten Grundstruktur ist in erster Linie die Szene der Wiederbegegnung der beiden Protagonisten aufschlussreich, die die zuvor separat erzählten Handlungsstränge um Peter und Magelone wieder zusammenführt, indem zunächst im Modus des Erzählens auf diese Bezug genommen wird, wobei bezeichnenderweise nicht die Trennung als vielmehr die gemeinsame Geschichte in den Fokus rückt: Von seiner Irrfahrt, die ihn zwischenzeitlich übers Meer bis nach Babylon gebracht hatte, kehrt der von den Eltern wie der Geliebten vermisste Peter nach langen Jahren der Abwesenheit in die Heimat zurück. Von den Strapazen der Reise gezeichnet, gelangt er in eben das Spital und die Kirche, die Magelone zwischenzeitlich auf einer der provenzalischen Küste vorgelagerten Insel gegründet hat, um Gott und hilfsbedürftigen Seeleuten zu dienen. Dort findet er Ruhe und wird von Magelone aufgenommen, die ihn aber – ohne dass der Text an dieser Stelle weitere Begründungen bietet – nicht erkennt.²⁶ Sie wäscht ihn, versorgt ihn mit frischer Kleidung und Essen und behandelt ihn nicht anders als andere Kranke: also pflegt sie allen krancken z thn / die z jr kamen (S. 668, Z. 14). Auch Peter erkennt sie nicht und hält sie vielmehr für eine heylige person (S. 668, Z. 21). Erst als er – in gleicher Weise wie es allen krancken vnd betrbten gewonhait ist (S. 669, Z. 13 f.) – über sein Schicksal klagt, möchte Magelone Näheres wissen, woraufhin Peter ihr eine Geschichte erzählt: Als die spittelmeisterin hort reden vonn dem vnglück / Da fieng sie an jn z trsten freüntlichen vnd fragt jn vmb seyn trbsal / da sagt jr der Peter alles sein anligen / doch nennet er niemans vnd sprach also / Es ist gewesen ein reycher sun / der hort reden von so einer schnen junckfrawen inn frembden landen / vnnd verließ derhalben vatter vnnd mtter zoch hinweg die selbigen z sehen / Also gab jm Got das glück / das er jr liebe erlangt doch gantz heymlich / das es niemants vernam / Er nam sie z der ehe / vnd frt sie heymlich hinweg von vatter vnd mtter / darnach verließ er sie inn einem wilden walde schlaffend ligen z vberkommen seine ringe / Vnnd zeygt jr alles jr geschicht an / biß auff die zeyt das er kommen war inn das spittal / Durch dise wort die schn Magelona wol verstndt das er der Peter jr aller liebster gemahel was / den sie offt z sehen begert
Wenngleich im Text der Blick Magelones auf Peter hervorgehoben wird, wird doch ihre Gewohnheit im Umgang mit Kranken noch betont: Als nun die spittalerin nach jrem gebrauch vmb gieng die krancken z besehen / da ersahe sie jn das er nelich was kommen / vnd hieß jn auff stehen wsche jm seine hende vnd fsse / vnd küsset jn wie sie gewont was (S. 668, Z. 6 – 10).
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hett / das sie an allen seinen geberden erkannt / vnd vor grosser freude fieng sie an z weynen (S. 669, Z. 16 – 32)
Auf das überraschende Nicht-Erkennen folgt das Erkennen über das Erzählen, das gleichsam den Blick öffnet auf den Anderen. Denn es sind die wort, durch die Magelone Peter als ihren Peter erkennt, woraufhin erst seine äußere Erscheinung die letzte Bestätigung liefert, sodass sie ihn auch an allen seinen geberden erkennen kann. Dem Erzählen einer Geschichte wird für das Erkennen offensichtlich der Ausschlag zuerkannt, was durch das unmotivierte Verschweigen jeglicher Namen durch Peter noch unterstrichen wird. Vor dem Hintergrund anderer, die nämliche Grundstruktur von Trennung und Wiederbegegnung bedienender Minne- und Aventiureromane überrascht dies nicht. Hans-Jürgen Bachorski sieht in den dort immer wieder erzählten Situationen des visuellen Nicht-Erkennens die infolge der vorangegangenen Ereignisse zunächst noch ungewisse Identität des jeweiligen Protagonisten angezeigt, die erst über das intradiegetische Erzählen seiner Geschichte wieder hergestellt werde.²⁷ Das Erzählen im Roman erfülle auf Figurenebene die Funktion der Wiederherstellung von Identität, indem es sie gleichsam vorführe und im Rückgriff auf zuvor Erzähltes einen Rahmen auf der Ebene der Erzählung schließen lasse, um dadurch Kohärenz zu stiften und das Wiedererreichen der anfänglichen Situation zu behaupten.²⁸ Dabei fällt im vorliegenden Fall der Erzählung Peters aber auf, dass weniger seine Geschichte als vielmehr die gemeinsame Geschichte mit Magelone zum Gegenstand wird. Nur diese ist in wörtlicher Rede wiedergegeben, setzt mit Fernminne und Aufbruch ein, um die wesentlichen Stationen bis zur Trennung im Wald zu nennen. Demgegenüber wird die Zeit der Trennung in nur einem Satz abgehandelt – an die Figurenrede schließt sich über die nebenordnende Konjunktion die Raffung ebendieser Phase durch den Erzähler an:Vnnd zeygt jr alles jr geschicht an / biß auff die
Vgl. Hans-Jürgen Bachorski: grosse vnglücke und vnsälige widerwertigkeit und doch ein guotes seliges ende. Narrative Strukturen und ideologische Probleme des Liebes- und Reiseromans in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Fremderfahrung in Texten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Günter Berger, Stephan Kohl. Trier 1993 (Literatur, Imagination, Realität. 7), S. 59 – 86, hier S. 73 – 79. Ganz allgemein für Heimkehr-Erzählungen hält auch Eßlinger (Anm. 3), S. 121, ebendiese Korrelation von Heimkehr des Protagonisten und dessen Erzählen von der Ferne fest, „und zwar in dem Sinne, dass eine kommunikativ erfolgreiche Mitteilung der in der Ferne durchlebten und durchlittenen Zeit die Bedingung der Möglichkeit einer gelungenen Heimkehr darstellt. Kurzum: Wenn mit seiner physischen auch seine soziale Ankunft gelingen soll, muss der Zurückkehrende sich als Erzähler beweisen.“ Vgl. Bachorski (Anm. 27), S. 76 f.: „Die existentiell notwendige Erzählung der Figur aber soll – ebenso wie die Erzählung des Romans – mit aller Wucht nichts anderes offenbaren, als daß alle Erfahrungen und Gefährdungen spurlos an der Person vorbeigegangen sind, daß sie also immer noch ist, was sie zuvor war. Und selbst wenn der Verlauf der Geschichte und die Erfahrungen der Helden schon den einen oder anderen Anlaß gegeben hatten, ihr etwas hinzuzufügen, wird diese ungebrochene Identität doch zumindest behauptet.“
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zeyt das er kommen war inn das spittal (S. 669, Z. 27– 29).²⁹ Der hierdurch deutlich werdende Fokus auf die gemeinsame Geschichte ist über die Funktion der Erzählung schließlich motiviert. Denn nur so kann Magelone Peter erkennen, gewissermaßen im Nachvollziehen der von Peter entworfenen Figurenkonstellation und im Identifizieren der eigenen Position.³⁰ Im Erkennen des Selbst gründet das Erkennen des Anderen. Auf diesen Sachverhalt scheint gerade anlässlich des Erstdrucks des Romans besonderer Wert gelegt worden zu sein. So erzählt Peter noch in der Fassung der Handschrift ausdrücklich seine Geschichte, er zeiget jr alles sein geschichte an biß auff die zeit, das er kommen was jn den spital. ³¹ Damit aber bestärkt sich für die Fassung im Druck das Bestreben, die Geschichte Peters und Magelones in der Zusammenschau zu lesen, ist es schließlich jr geschicht, die am Ende erzählt wird.³² Im Folgenden soll daher die Phase der Trennung, sollen die im Roman separat erzählten Handlungsstränge dahingehend näher in den Blick genommen werden als zu bestimmen ist, auf welcher Basis sie als gemeinsame Geschichte firmieren können. Entsprechend ihrer Präsentation im Text und nicht zuletzt auch den Notwendigkeiten Prägnant bringt es die anonyme Fassung des Romans von 1470/1525 auf den Punkt. Dort heißt es im Anschluss an den ebenso in wörtlicher Rede wiedergegebenen Beginn der Erzählung Peters lapidar: kurtz, der edel Petter erzeltt ir alls, wie es im piß do hin ergangen waß; Degering (Anm. 7), S. 103. Wenn sich Magelone später auch gegenüber Peter zu erkennen gibt – worauf noch zurückzukommen sein wird –, identifiziert sie sich entsprechend über die von ihm genannten Details: ich bin die selbige / die jr allein schlaffend ligen verlassen haben inn dem holtz vnnd wilden waldt / vnnd jr seyt der jhenige der mich hatt gefrt auß dem hausse meynes vatters des Künigs vonn Neaples / Jch bin die der jr verheyssen habet alle jre ehr vnnd zucht biß z beschluß vnser Ee / ich bin auch die jhenige die dise gulden kettenn hat gehengt an ern halß mit vbergebung der gewalt meinen leib / ich bin die dern jr habt geben die drey ringe die also kostliche sein gewesen (S. 671, Z. 12– 20). So die Stelle in der Handschrift: Bolte (Anm. 7), S. 65 f. Der der situativen Funktion des Erkennens geschuldete Plural (jr geschicht) lässt dabei in gewisser Weise offen, ob Peter Magelone überhaupt von seinen Erlebnissen während seiner Irrfahrt erzählt. Dem Satz ist eine Uneindeutigkeit eigen, die nicht zuletzt aus den Schwierigkeiten der Bestimmung der Präposition bis in Kombination mit auf resultiert (zu den Bedeutungen der Präposition bis siehe allgemein die Hinweise noch in Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 5., völlig neu bearbeitete Aufl. Hrsg. und bearbeitet von Günther Drosdowski. Mannheim u. a. 1995 [Duden. 4], S. 380 f., die in neuere Auflagen nicht wieder aufgenommen wurden, sowie in Jochen Schröder: Lexikon deutscher Präpositionen. Leipzig 1986, S. 92– 97, zu den gegensätzlichen, das heißt ein- wie ausschließenden Bedeutungen von bis auf in Menge-Teil-Beziehungen S. 96). Geht man von einer ausschließenden Bedeutung aus, würde Peter die gemeinsame Geschichte erzählen, mit Ausnahme der noch gegenwärtig erfahrenen Situation im Spital. Unklar bliebe dann, mit welchem Zeitpunkt Peters Erzählung tatsächlich endet. Der Plural würde zumindest nahelegen, dass Peter vom Orient nichts erzählt. Nimmt man hingegen eine einschließende Bedeutung an (das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch sieht mit bis in temporaler Verwendung überwiegend „den Endpunkt eines Geschehens“ angezeigt und legt eine einschließende Bedeutung über die angegebenen Belegstellen zumindest nahe; vgl. Goebel/Lobenstein-Reichmann/Reichmann [Anm. 2], Bd. 4. 2001, Sp. 467– 471, hier Sp. 468), würde Peter umfassend und selbst noch von seiner Ankunft im Spital erzählen. Die Phase der Trennung wäre dann aber als Teil der gemeinsamen Geschichte ausgewiesen. In beiden Fällen liegt der Fokus auf dem Gemeinsamen, eine eigene Geschichte Peters unabhängig von der Magelones verliert mindestens an Relevanz, wenn sie nicht sogar gänzlich ausgeblendet wird.
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der Darstellung geschuldet kann es gleichwohl nicht ausbleiben, hier gleichermaßen separat vorzugehen. Bevor auf Peters Irrfahrt in den Orient also eingegangen werden kann, um diese letzthin aber in den Zusammenhang mit der Handlung um Magelone zu stellen, ist zunächst dieser zu folgen.
II Konversion Magelones Die Trennung des Liebespaares setzt mit der für den Roman zentralen Szene des Ringraubs ein. Auf ihrer Flucht aus dem elterlichen Haus Magelones in Neapel durcheilen die beiden aus Angst vor Verfolgung die ganze Nacht hindurch das Land, um am Morgen erst inmitten der tiefsten Wälder in unmittelbarer Nähe der Küste, inmitten der hltzer wa sie am dicksten waren gegen dem Mr (S. 639, Z. 4 f.), Ruhe zu finden.Während Magelone erschöpft im Schoß des Geliebten schläft, betrachtet dieser sie und ihre Schönheit, als ein Vogel die ihr von Peter geschenkten und in einem Bündel zur Seite gelegten Ringe entwendet und sich mit ihnen über das Meer davon macht. Um die Ringe wieder zu erlangen, eilt Peter dem Vogel nach, besteigt ein verlassenes Fischerboot und wird schließlich von aufkommenden Winden weit hinaus aufs Meer getrieben – Peter bleibt ohne Erfolg, dafür weit abgetrieben von der zurückgelassenen und noch immer schlafenden Geliebten. Armin Schulz hat die Szene vor dem Hintergrund der Hybridisierung des aus orientalischer Tradition stammenden Ringraubmotivs mit dem Schema des hellenistischen Romans in ihrer handlungsbestimmenden Funktion eingehend beschrieben: Die hinsichtlich kausaler Motivationsangebote überdeterminierte Szene überspiele einerseits die der Erzählung insgesamt zukommende Finalität, die auf die abschließende Wiedervereinigung des Paares ziele; andererseits plausibilisiere sie die Handlung in der Weise, dass dem Helden keine Schuld für das Verlassen der Geliebten sowie dieser im Folgenden ein eigener Aktantenstatus zuerkannt werden könne.³³ Markiert die Szene schon räumlich mit Wald und Küste die Abkehr vom königlichen Hof als einen Übergang,³⁴ kommt ihr mit Blick auf die handelnden Figuren der Status einer auch tiefgreifenden qualitativen Zäsur zu. Für beide beginnt mit der Trennung eine Phase der Entbehrung. Denn während Peter, der die Flucht zuvor noch aktiv vorangetrieben hat, im Weiteren dem Schicksal scheinbar ausgeliefert bis weit in den heidnischen Orient verschlagen wird, muss Magelone ihrerseits auf sich allein gestellt
Vgl. Schulz (Anm. 6), S. 186 – 197; siehe kritisch dagegen Jutta Eming: Emotion und Expression. Untersuchungen zu deutschen und französischen Liebes- und Abenteuerromanen des 12.–16. Jahrhunderts. Berlin 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. 39), zur Szene insgesamt S. 311– 314. Vgl. hierzu auch Silke Winst: Die Topographie des Selbst. Zur Ausdifferenzierung von Außen- und Innenräumen in spätmittelalterlichen Liebes- und Reiseromanen. In: Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter. 11. Symposium des Mediävistenverbandes vom 14. bis 17. März 2005 in Frankfurt a. d. Oder. Hrsg. von Ulrich Knefelkamp. Berlin 2007, S. 152– 165, hier S. 159 u. 163.
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einen Weg aus der Wildnis finden. Dabei lässt sich die Handlung um Magelone, in deren späterem Verlauf sie in der Provence Kirche und Spital gründet, als Weg in ein asketisches Leben beschreiben, bis erst glückliche Umstände und nicht zuletzt göttliches Eingreifen die Wiederbegegnung des Paares ermöglichen. Und die Handlung um Magelone lässt dabei Motive, vor allem aber die Struktur einer klassischen conversio erkennen. Ausgehend von der zunächst grundlegenden Bedeutung von conversio als „Richtungsänderung und Kehrtwendung“, die „sich auf problematische Lebenssituationen, die gleichermaßen von Identitätskrise und Neuorientierung bestimmt sind“, bezieht,³⁵ kann Christel Meier auf Basis mittelalterlicher, mitunter theoretischer Einlassungen die conversio doch als ein „prozessuales Perfektibilitätsmodell“ beschreiben, das zwar nicht als linearer Aufstieg, dafür aber „als Verlauf in drei Phasen gedacht“ worden sei.³⁶ Neben Isidor von Sevilla, bei dem ein solches 3-Phasen-Modell zuerst deutlich werde, könnten etwa Caesarius von Heisterbach sowie Thomas von Aquin herangezogen werden, um – bei aller Unterschiedlichkeit in einzelnen Akzentuierungen der Entwürfe – folgendes Grundmodell auswertend festzuhalten: Die erste Phase beschreibt einen Rückzug und eine Umkehr aus der Welt zu sich selbst, die den Empfang der Gnade vorbereitet; die zweite Phase ist einerseits Befestigung im moralisch richtigen Handeln, andererseits Fortschritt in der Erkenntnis, verbunden mit Anstrengung und Prüfungen; die dritte Phase ist Lohn und Ruhe, Kontemplation und Gottesschau, Liebe.³⁷
Im Folgenden soll ebendieses von Meier allgemein formulierte 3-Phasen-Modell von Konversion – von Abkehr, Prüfung und Lohn – zugrunde gelegt werden, um zunächst die Handlung um Magelone nachzuzeichnen. Denn setzt man die Phase des Lohns, von Ruhe, Gottesschau und Liebe, beginnend mit der Wiederbegegnung der beiden Liebenden an,³⁸ kann auch hier im Anschluss an die Abkehr eine Phase der Prüfung ausgemacht werden, wobei Abkehr und Prüfung sich auf die lange Zeit der Trennung erstrecken und ihrerseits über drei Stationen erzählt werden. Auf eine anfängliche Christel Meier: Krise und Conversio. Grenzerfahrungen in der biographischen Literatur des Hochmittelalters. In: Frühmittelalterliche Studien 50 (2016), S. 21– 44, hier S. 21; zu Begriff und Schema, mit Anwendung auf historische Fälle wie literarische Bearbeitungen, siehe auch Wolfgang Haubrichs: Bekennen und bekehren (Confessio und Conversio). Probleme einer historischen Begriffsund Verhaltenssemantik im zwölften Jahrhundert. In: WS 16 (2000), S. 121– 156; siehe grundlegend auch Matthias Rein: Conversio deutsch. Studien zur Geschichte von Wort und Konzept „bekehren“, insbesondere in der deutschen Sprache des Mittelalters. Göttingen 2012 (Historische Semantik. 16), dort mit einem Ausblick auf frühneuhochdeutsche Verwendungsweisen, die keine wesentlichen Änderungen gegenüber den mittelalterlichen erkennen lassen; vgl. ebd., S. 505 – 512. Meier (Anm. 35), S. 42. Ebd. Dass Magelone anlässlich der Wiederbegegnung mit Peter den Lohn als Gnade Gottes explizit begreift und auf die vollzogene beziehungsweise zu vollziehende Konversion bezieht, wird noch zu zeigen sein.Verwiesen sei an dieser Stelle aber schon auf ihre Aufforderung Peters zur Hinwendung an Gott (S. 670, Z. 3 – 6).
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Krise der Desorientierung und Suche nach Orientierung, verbunden mit dem Vorsatz, der Welt zu entsagen, folgt die zentrale Wende in Rom, die zur Festigung des Vorsatzes führt und schließlich in die Hinwendung zu Gott und hilfsbedürftigen Menschen im gegründeten Spital mündet: Der Konversion Magelones geht die Trennung von Peter als initiales Erlebnis voraus. Während Peter dem Vogel nacheilend auf dem Meer verloren geht, erwacht Magelone und sieht sich fern des Orientierung bietenden Hofes allein und verlassen in der Wildnis: Vnd sahe also vmb sich / da fand sie niemants / stnd auff vnd erschrack sehr (S. 648, Z. 9 f.). Auf Figurenebene markiert der Schreck eindringlich das abrupt auf Magelone hereinbrechende Ereignis,³⁹ über das die Konversion im Sinne des von Meier beschriebenen krisenhaften Verlaufs eingeleitet wird. Auch der Erzähler merkt an, es were nit wunder gewesen das sie von allen jren sinnen wer kommen (S. 648, Z. 13 f.). Und wie Magelone schon gleich beim Erwachen um sich blickt, manifestiert sich ihre gänzliche Hilflosigkeit zunächst in der weiteren Desorientierung, hinsichtlich der Einschätzung der Situation, aber auch hinsichtlich ihrer gegenwärtigen Position in der Welt. Nach anfänglichen Zweifeln wähnt sie schließlich ihren Geliebten vom Teufel entführt und sucht nach Orientierung: Ach wee mchte ich erfaren wa er were / vnd so ich jn wüste z ende der welt / ich wolt jhm nachuolgen / on allen zweyffel glaub ich / dise widerwertigkait hat / vns geben der bse gaist / dieweyl vnser lieb nit ist gewest vnordentlich […] Solchs vnd der gleychen sagt die schn Magelona inn jr selbs beklagende jr vnglück vnd jren aller liebsten Peter / gieng also hin vnd her durch das holtz wie ein verlaßne frawe / vnnd horchet ob sie etwas mcht hrn oder verstehen nahe oder weyt / darnach stig sie auff ein baum vnnd sahe sich vmb ob sie etwas mchte sehen vnd erkennen / vnnd sahe nichts auff erdtreich dann holtz am land vnd ort des mrs das da dick was / auff der andern seitten sahe sie nichts anders dann das tieffe mre (S. 650, Z. 13 – 28)
Magelones Suche nach Orientierung ist hier regelrecht in Szene gesetzt. Irrt sie anfänglich noch hin vnd her, erklimmt sie schließlich einen Baum, nur um sich vom höheren Standpunkt aus erneut umzublicken. Die in die Vertikale gehobene Letztbegründung der Situation, die Zuschreibung des Geschehenen an die Machenschaften des Teufels,⁴⁰ erfährt gewissermaßen ihre räumliche Umsetzung, bis zuletzt sich aber wiederum nur die Leere des Horizonts über dem Meer auftut. Allein und zurückgeworfen auf sich selbst verbringt sie die Nacht auf dem Baum und fasst den Entschluss,
Der Schreck Magelones mag anfangs die Erinnerung an das Damaskus-Erlebnis aus Apg 9,1– 22 wachrufen, wonach die Konversion des Saulus eben durch ein jäh hereinbrechendes Ereignis ausgelöst wurde. Auf das Damaskus-Erlebnis selbst braucht hier nicht weiter eingegangen zu werden, verwiesen sei nur auf den Überblick bei Matthias Konradt: Bekehrung – Berufung – Lebenswende. Perspektiven auf das Damaskusgeschehen in der neueren Paulusforschung. In: Ancient Perspectives on Paul. Hrsg. von Tobias Nicklas, Andreas Merkt, Joseph Verheyden. Göttingen 2013, S. 96 – 120, hier besonders S. 111– 114, sowie auf den Beitrag von Elke Koch in vorliegendem Band. ‚Vertikal‘ wird hier mit Blick auf einen Zeitlosigkeit implizierenden Mächtedualismus verstanden, der sich von einem als ‚horizontal‘ zu denkenden zeitlichen Verlauf absetzt.
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sich von allem Früheren abzuwenden, der Welt zu entsagen und sich auf die Suche nach Peter zu machen: Darnach gedachte sie wa er mchte hin kommen sein / vnnd darnach was sie thn wolt oder wa hinauß / Dann sie het jr inn jrem hertzen vestigklich fürgsatzt / sie wolt nit wider heim ziehen z vater vnd mter so sie sich mcht enthalten vor der welt / dann sie forchte den zorn jrs vaters / vnd beschloß entlich bey jr selbs sie wolt jren aller liebsten Peter schen durch die ganzte welt (S. 651, Z. 3 – 9)
Mit dem Entschluss zur Abkehr von den Eltern, zur Abkehr auch von aller Welt, steigt sie am nächsten Morgen vom Baum herab (stig sie vom baum hernider; S. 651, Z. 12 f.). Ihre Suche nach Orientierung setzt sich aber fort, möchte sie zunächst noch ihren Peter finden. Im Wald sucht sie einen Weg, sie geht also lang imm holtz vmb schend ein weg biß sie fand die land strasse / die gieng gen Rom (S. 651, Z. 19 – 21). Doch auch jetzt blickt sie scheinbar hilflos erst noch hin vnd wider (S. 651, Z. 23 f.), bis sie schließlich eine Pilgerin trifft, von der sie sich deren Kleider im Tausch für ihre königlichen Gewänder erbittet. Im Gespräch sichert sie dieser zu, aufrichtig und auch eingedenk der Erwartungen an eine arme Pilgerin handeln zu wollen:⁴¹ Nun als solchs die Pilgerin verstnd das sie solches redt auß gttem hertzen on allen spott / da zoch sie sich auß / vnd gab jr die kleider / des gleychen die schn Magelona die jre / vnd beklaidet sich mit den klaidern der Pilgerin / also wol das man jr nit vill von dem angesichte mochte sehen / vnnd was sie nit verbergen mocht / da nam sie ein nasse spaichel vnd erdreich beschmirt sich / damit sie nit erkannt wurde. (S. 652, Z. 6 – 12)
Die Begegnung mit der Pilgerin dient der äußeren Bekräftigung des nächtens auf dem Baum erst im Herzen gefassten inneren Entschlusses – zur Abkehr von den Eltern wie überhaupt von der Welt. Mit dem Ablegen der königlichen Gewänder und dem Beschmieren sogar des Gesichts legt Magelone gleichsam ihre angestammte Identität ab, bis sie als Tochter aus königlichem Haus fortan nicht mehr zu erkennen ist. Damit vollzieht sie ihre Abkehr zugleich – und geradezu performativ – als Abkehr von allen weltlichen Dingen.⁴² Von der Suche nach Peter ist an dieser Stelle keine Rede mehr, vielmehr bricht Magelone im Gewand der Pilgerin jetzt zielgerichtet auf, um der Straße nach Rom zu folgen: DJe schne Magelona nam jren weg gen Rom inn disen klaidern / vnd gieng also lang biß sie inn die stadt kam (S. 652, Z. 15 f.). Nicht von ungefähr geht sie sogleich nach Sankt Peter: Als bald sie dar kam / gieng sie des ersten gangs inn sanct Peters kirchen (S. 652, Z. 16 – 18), womit einerseits die Suche nach Peter zwar substi-
Die Pilgerin vermeint erst Spott aus dem ungewöhnlichen Angebot Magelones zu vernehmen. Daher unterrichtet sie sie als Angehörige eines Bettelordens (sie bezieht sich auf die armen leüt Jesu Christi; S. 651, Z. 32), dass ihr ärmliches Kleid nicht den Körper, dafür die Seele zieren würde, woraufhin ihr Magelone zusichert, aufrichtig mit ihr sein zu wollen. Vgl. die Betonung der performativen Dimension vollzogener Konversion mit Blick auf die Gute Frau und den Wilhelm von Wenden bei Röcke, Konversion (Anm. 11), S. 398 f.
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tuiert, wenn nicht in gewisser Weise gar beendet zu sein scheint, womit aber andererseits doch das Gedenken an den Geliebten seinen angemessenen Ort⁴³ finden kann. Magelones anfängliche Orientierungslosigkeit, markiert im wiederholten Umsich-Sehen und stetem Hin und Her, ist in jedem Fall einer Zielgerichtetheit gewichen. War es zunächst noch ein weg, den sie im Wald zu finden hoffte, kann sie jetzt jren weg gen Rom nehmen, wo sich der jenseits jeglicher Auswegmöglichkeiten auf dem Baum am Strand gefasste Vorsatz zur nachhaltigen und unerschütterlichen Absicht wandelt. Denn in Rom erfolgt nach dem Entschluss zur Abkehr die eigentliche Wende, die in eine lang anhaltende Phase der Entbehrungen und Prüfungen überleitet: Bei ihrem Gebet in Sankt Peter bittet Magelone, nicht zuletzt aus Angst noch vor der erfahrenen Orientierungslosigkeit,⁴⁴ um Gottes Beistand, als ein neuerliches Ereignis über sie hereinbricht: Als sie nun jr gebeth also hett volendet / stnd sie auff vnd wolt inn ein herberg gehen / da ersahe sie jren vetter inn die kirchen tretten / der da was jr mtter brder in grosser eher vnnd gesellschafft / wlche sie theten schen darab sie seer erschrack / doch namen sie jr nit acht / dann es kont sie vnder jnen keiner erkennen in diser klaidung / vnd gieng also wie ein Pilgerin / inn dem spital blibe sie xv. tage wie ein arme Pilgerin / Vnd gieng alle tage inn die kirchen sanct Peters / vnd verbracht alda jr gebet in grosser traurigkait / vnd grossen weinen verhoffend Gott der allmechtig wurde sie endtlich erhren / Jn dem als sie alda blibe fiel jr z / sie wolte ins land Prouincia ziehen (S. 653, Z. 16 – 27)
In Gestalt des suchenden Onkels holt die Vergangenheit Magelone gleichsam ein, doch bleibt sie im Gewand der Pilgerin unerkannt. Magelone erschrickt, wendet sich ab und verlässt die Kirche als Pilgerin. Die Abkehr von der Familie ist damit nicht nur innerlich beschlossen und im Ablegen der königlichen Kleidung auch äußerlich umgesetzt, die Abkehr erweist sich im Handeln Magelones als ebenso nachhaltig vollzogen. Der Schreck über das plötzliche Erscheinen des Onkels markiert dabei den Beginn einer sich anschließend über einen längeren Zeitraum erstreckenden Phase der Orientierung, hier des regelmäßigen Gebets über 15 Tage hinweg, die letzthin als Phase der Umorientierung firmiert: Zur Abkehr vom Früheren fügt sich die Hinwendung zum Neuen, wenn in Magelone allmählich der Plan reift, ins Land des Geliebten zu gehen.⁴⁵ Sie bricht denn auch gleich auf und nimmt den weg gen Prouincia welcher der kürtzest vnd sicherst were (S. 653, Z. 31 f.).
Eine „enge Koppelung zwischen Liebe und Religion“ vermerkt mit Blick auf diese Szene Schulz (Anm. 6), S. 203. Das Gebet Magelones, in dem sie ebenso um Beistand auch für Peter bittet, greift bezeichnenderweise die Gefahr der Orientierungslosigkeit zunächst wieder auf: O du gtiger Christe ich bit dich du wllest dise deine tochter trsten / dann ich wende mich z dir auß gtem hertzen vnd willen / laß mich nit also betrbt jrr vmb gehen in diser welt (S. 653, Z. 4– 7). Während die Begegnung mit dem Onkel im Nichterkennen aufgrund der fremden Gewänder eindrücklich den äußerlichen Vollzug der Konversion aufgreift, wirkt der während des Gebets gefasste Entschluss zur Weiterreise in die Provence seinerseits noch von außen ausgelöst: er fiel jr z. Eine
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Auf dem direkten Weg von Neapel in die Provence, auf halber Strecke mithin, markiert Magelones Station in Rom die eigentliche Wende, wenn sich die Abwendung als Hinwendung erfüllt.⁴⁶ Und sie erweist sich zuletzt noch als unumkehrbar, wenn Magelone, am Zielpunkt angekommen, den in Rom maßgeblich noch äußerlich ausgelösten Entschluss erneut im Inneren bekräftigt. Denn aufgenommen bei einer namentlich nicht näher bezeichneten, doch ausdrücklich frommen Frau, die sie versorgt, ihr Unterkunft bietet und ihr vom Ausbleiben des Grafensohnes Peter berichtet, erlangt Magelone für sich die abschließende Gewissheit zum Dienst für Gott: DJeselbige nacht setzt jr die schne Magelona imm hertzenn für dieweyl der Peter nit heim kommenn were sie wolt sich an ein ende wenden / da sie dem allmechtigen Got andechtigklich mchte dienen (S. 655, Z. 5 – 8)
Fasste Magelone den ersten Vorsatz zur Umkehr noch angesichts der Leere des Horizonts hoch oben auf dem Baum am Meer, befestigt sich dieser Vorsatz zum endgültigen Entschluss auch jetzt wieder in der Nacht, während das Haus der frommen Frau den gefestigten Rahmen bietet. Und auf ihre Frage am nächsten Morgen hin, ob inn dem lande were ein ort da man andechtigklich mchte got dienen (S. 655, Z. 12 f.), erfährt sie von ihrer Wirtin von der vorgelagerten Insel, auf der kranke Seeleute anlanden würden, wo Magelone schließlich das Spital gründet sowie die Kirche, der sie den namen S. Petters von Magelonen gibt (S. 656, Z. 3 f.). Magelone widmet fortan ihr Leben dem Dienst an Gott und kranken Menschen, sodass sie schon bald als Heilige angesehen wird: Da nun die kirch vnd das spittal gebat was da thet sie sich hinein vnd dienet den armen da selbst mit grosser andacht / vnd frt ein scharpffs leben. Also das die leüt der jnsel vnd auch die vmbligende / sie hielten für ein heylige frawen / Man nennet sie auch die heylige Pilgerin (S. 656, Z. 4– 8)
Die Konversion Magelones bis zum Empfang des Lohnes vollzieht sich somit etappenweise: von der Orientierungslosigkeit im Wald über den Entschluss zur Abkehr von Wohlstand und Eltern bis hin zum asketischen Leben in der neu gefundenen Heimat. Eine herausgehobene Position nimmt dabei Rom ein: Hier ist der eigentliche Wendepunkt anzusetzen, von der Ab- zur Hinwendung, womit die Phase der Prüfung einsetzt. Schon die Begegnung mit dem Onkel kann als Prüfung angesehen werden, die zur Befestigung des Vorsatzes führt, während der zielgerichtet eingeschlagene Weg
innere Bekräftigung erfolgt dann aber am Zielpunkt ihrer Reise, worauf gleich noch genauer einzugehen ist. Auf engstem Raum bestätigt sich hier strukturell mit Blick auf Magelone und ihre personalen Beziehungen, was Luckmann allgemein und maßgeblich an den Begriff der Konversion knüpft: die enge und unlösbare Verbindung von Ab- und Hinwendung; vgl. Luckmann (Anm. 4), S. 39.
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wie der Aufenthalt bei der frommen Frau den Fortschritt in der Erkenntnis anzeigen.⁴⁷ Die Konversion Magelones firmiert als Abkehr von der Welt und sie firmiert als Hinwendung zu Gott in Hoffnung auch auf ein Wiedersehen mit Peter.⁴⁸ Vom Ende her erweist sich die Abkehr Magelones als Heimkehr, wenn sie im Land des Geliebten ihre neue Heimat findet.⁴⁹ Maßgeblich jedoch erfährt die Abkehr Magelones ihre Umdeutung als Heimkehr über die strukturell auf ihre Konversion hin bezogene Erzählung von der Irrfahrt Peters, die es daher im Folgenden nachzuzeichnen gilt.
III Peters Irrfahrt Die Handlung um Peter ist für die Zeit der Trennung ebenfalls über drei Stationen erzählt. Auch sie setzt mit der Orientierungslosigkeit des Protagonisten ein, bis erst sein Aufenthalt am Hof des Soldans zu Babylon die Wende bringt, ab der er die Heimkehr antreten kann. Während die Trennung von Peter für Magelone ein ihre Konversion initiierendes Erlebnis darstellt, in dessen Folge sie erst erschrocken und hilflos auf sich allein gestellt Orientierung suchen und finden muss, kann mit Blick auf Peters Irrfahrt der Ringraub eine vergleichbare Funktion einnehmen. Denn die drei zu einem Bündel zusammengeschnürten Ringe, die Peter der Reihe nach Magelone als Liebespfand in Neapel hatte überbringen lassen, können als metonymisches Substitut seiner selbst
Vgl. hier die um den Fortschritt in der Erkenntnis ergänzte Konkretisierung der Phase der Prüfung bei Meier (Anm. 35), S. 42. Dass sich die Konversion Magelones in der rein geistlichen Hinwendung zu Gott am Ende nicht erschöpft, da sie die Liebe zu Peter zuletzt noch in Erinnerung behält, mag gerade Resultat der eingangs angesprochenen Hybridisierung von Roman und Legende sein. Dass Heimkehr nicht als eine Rückkehr in die frühere Heimat firmieren muss, hat schon Blumenberg betont, wenn er etwa die Aeneis als „römische Umformung des Heimkehr-Mythos“, wie er bei Homer in der Odyssee angelegt ist, versteht und denn mit Blick auf das Mittelalter die Entkopplung von der alten Heimat als notwendig erachtet: „In der Verformung des Grundrisses der Odyssee mußte das Mittelalter noch einen Schritt weiter gehen. Hier erst recht konnte nicht geglaubt werden, daß irdische Heimkehr das Heil des Menschen repräsentieren dürfe; der erlöste Mensch ist zu höherem Glück bestimmt als nur zum Ausgangspunkt seines Falles zurückzukehren.“ Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. Main 1984, S. 88 f. Siehe hierzu ausführlicher Haug (Anm. 3), S. 43 – 48, der als Repräsentanten einer seit der Patristik vorherrschenden Vorstellung einer Heimkehr in die himmlische Heimat Otfried von Weißenburg anführt, um vor diesem Hintergrund etwa das Annolied, das Rolandslied oder in Abgrenzung davon unter anderem auch die Dietrich-Epik zu besprechen. Dass dann noch mit Blick auf den frühneuzeitlichen Roman Heimat eben nicht geographisch zu denken und zu verorten, sie vielmehr sozial bedingt ist, zeigt schließlich Wåghäll Nivre (Anm. 5), S. 207, zum Begriff der Heimat S. 196 – 198. Für den hier zu verhandelnden Roman wäre diesbezüglich darauf zu verweisen, dass nicht unwesentlich die Eltern Peters zur neuen Heimat für Magelone beitragen. So kommen diese schon bald auf die Insel und es ist vor allem die Mutter, die eine innige Beziehung zu Magelone aufbaut, gerade angesichts der Annahme von Peters Tod nach Auffindung der verloren gegangenen Ringe im Bauch eines Fisches (S. 656 – 660).
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angesehen werden, das ihm im kritischen Moment des Betrachtens von Magelones Schönheit abhandenkommt.⁵⁰ So stellt sich die unmittelbar anschließende Jagd auf den übers Meer entwischenden Vogel entsprechend als zunehmende Desorientierung dar, die zum allmählichen Verlust der eigenen Identität führt: Peter eilt zwar noch zielstrebig den Strand entlang und beginnt hin vnd her z schen ob er mchte etwas finden darinn er sicher hinüber kommen mcht (S. 644, Z. 11– 13); er findet auch tatsächlich ein verlassenes Boot, mit dem er ablegen kann; doch beginnt damit nur seine Irrfahrt übers Meer. Ihm geht jegliche Eigenmächtigkeit und Kontrolle verloren, dafür tritt als handlungssteuernde Instanz nun Gott auf den Plan: Aber Got der allmechtig der alle ding macht nach seinem gtlichen willen / schicket es also das ein grosser wind auff stndt / der nam den Peter mit gewalt vnd frt jn auff das hoch mr vber seinen willen (S. 644, Z. 22– 26). Das Eingreifen Gottes, als Strafe für den lüsternen Blick Peters durchaus interpretierbar,⁵¹ lässt jedenfalls die Hilflosigkeit Peters nur umso deutlicher werden, der in einem langen Klagemonolog um Schutz für die zurückgelassene Geliebte bittet,⁵² um sich selbst in Erwartung seines Todes dem Schicksal zu überlassen: Er saß inn der mitte des Platzs oder schifflins / wartet des tods wa jn das mr hin warff / dann er ließ frey gehn / wa hin jn wolten fren die wllen des mrs (S. 646, Z. 8 – 11). Peter ist auf dem Boot den Wellen des Meeres und damit geradezu topisch den Launen auch des Schicksals ausgeliefert,⁵³ als ihn überdies maurische Seeräuber auflesen.⁵⁴ Deren Kommandant will ihn, aufgrund seiner adli-
Vgl. Manuel Braun: Ehe, Liebe, Freundschaft. Semantik der Vergesellschaftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman. Tübingen 2001 (Frühe Neuzeit. 60), S. 204– 206, sowie die Deutung bei Schulz (Anm. 6), S. 191. Vgl. Volker Mertens: „Aspekte der Liebe“. Ihre Semantik in den Prosaromanen Tristrant, Melusine, Magelone und Goldfaden. In: Personenbeziehungen in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg.von Helmut Brall, Barbara Haupt, Urban Küsters. Düsseldorf 1994 (Studia humaniora. 25), S. 109 – 134, hier S. 125: „Diese Trennung ist also nun nicht unmittelbare Folge der Entführung, sondern der sündhaften Begierde Peters: die Ursache für das Scheitern der Liebesbeziehung liegt nicht unmittelbar im Gesellschaftlichen, sondern im Persönlichen, und daher ist es Gott, der eingreift, nicht eine gesellschaftliche Instanz.“ Schulz (Anm. 6), S. 192, deutet seinerseits den Vogel als „Gottes Werkzeug“; vgl. auch Eming (Anm. 33), S. 312. Peter selbst behauptet sich in seiner Klage zwar noch gegenüber Gott, wenn er beteuert, keine Sünde begangen zu haben, doch bittet er am Ende vornehmlich doch für Magelone: O allmchtiger ewiger gttiger Gott / ich beuilch dir sie inn deynen schutz vnd schirm / du wllest sie bewaren vor allem vbel: Du waist wol das zwischen vns beyden ist kein vnordenliche liebe gewesen / darumb O Got aller betrbten menschen zflucht / ich bit dich du wllest jr helffen vnd sie nit verlassen (S. 645, Z. 29 – 34). Obgleich Magelone offensichtlich im Fokus von Peters Bittgesuch steht, mag dagegen Eming eine „aus der Krise geborene Hinwendung zu Gott“ grundsätzlicher bereits hier ausmachen; Eming (Anm. 33), S. 317. Zum Topos sei verwiesen nur auf Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt a. Main 1997, S. 10 f. Das Boot ließe sich darüber hinaus als Heterotopie im Sinne Foucaults deuten; vgl. Winst (Anm. 34), S. 164. Im Text ist konkret vom raubschiff […] der Moren (S. 646, Z. 14) die Rede, die ihn fiengen (S. 646, Z. 16), sodass eine gewisse Steigerung der Ereignisse vorliegt: vom Treiben auf dem Meer zur Gefangennahme durch heidnische Seeräuber.Wie Müller (Anm. 1), S. 1257, zur Auffassung kommt, dass deren
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gen Erscheinung und kostbaren Kleider, dann er was wol geklaidet vnd schn (S. 646, Z. 19 f.), dem Soldan schließlich zum Geschenk machen. So nehmen sie Kurs auf Alexandria, während Peter, ohnmächtig zur Gegenwehr, bereits jegliche Orientierung verloren hat: der Peter was vor leid halb tod / er erkannt sich selber nit wol vnd wuste nit wa er was (S. 646, Z. 16 – 18). Peters Irrfahrt in den Orient erfolgt somit, analog zur Reise Magelones bis nach Rom, über mehrere Etappen. Doch während Magelones anfängliche Desorientierung einer zunehmenden Zielgerichtetheit weicht, geht mit Peters Suche am Strand nicht nur das Ziel verloren, sondern zunehmend auch jegliche Orientierung und Eigenmächtigkeit. Das immer wieder aufgegriffene Motiv des Wegs, den Magelone erst sucht, um ihn als ihren Weg einzuschlagen, erscheint konsequent ersetzt durch das tosende Meer, auf dem Peter hilflos davontreibt. Ist Magelones Reise als bewusst gewählte und forcierte Abkehr anzusehen, erweist sich Peters Irrfahrt dagegen als Abkehr wider den eigenen Willen, bis er am Ende gar als Geschenk, als Ware gleichsam, dem Soldan übergeben wird. Beide Male aber geht mit der Abkehr der allmähliche Verlust der eigenen Identität einher. Doch während Magelone mit dem Ablegen der königlichen Gewänder den Schritt eigenmächtig einleitet, um im Folgenden ihre neue Identität als Pilgerin anzunehmen, sind es ausgerechnet die edlen Kleider Peters, die ihm die Möglichkeit zu einer neuen Identität am Hof des Soldans eröffnen. Dem Wechsel der Kleider Magelones korrespondiert das Anbehalten des fürstlichen Gewands durch Peter, womit aber dessen Erleiden des Geschehens nur umso deutlicher hervorgehoben, wenngleich ebenso äußerlich nachvollzogen wird. So wird Peter unter dem Eindruck seiner adeligen Erscheinung⁵⁵ beim Soldan freundlich empfangen und aufgenommen, er erhält Unterricht, erlernt die Sprache, bis er gar die Zuneigung des Fürsten erfährt, der den Peter lieb gewan / vnd also seer / als wer er sein einiger geborner sun gewesen (S. 646, Z. 32 f.). Ist Rom der Ort, an dem Magelone ihre neue Identität auch gegenüber dem Verwandten behaupten kann, ist für Peter der Hof in Babylon⁵⁶ Ort einer neu gewonnenen, an ihn herangetragenen Identität, als angenommener Sohn des Soldans. Und seine neue Identität erscheint dann ebenso gefestigt, wenn ihn im Folgenden ausnahmslos yederman am hoff lieb gewan / als were er ein eigner sun gewesen oder brder (S. 647, Z. 2– 4). Mit der Aufnahme am Hof in Babylon und seiner neuen Identität, die die angestammte Abkunft und eigentliche Verwandtschaft förmlich ausblendet, beginnt auch für Peter eine Phase der Prüfung. Schon während der Irrfahrt über das Meer erwies er sich stets standhaft im Glauben wie im Gedenken an seine Magelone und er bleibt es
Kommandant „kein rechtloser Seeräuber, sondern Untertan des Sultans“ sei, erklärt sich nicht; Müller gibt auch keine weitere Erläuterung. Der Soldan bemerkt zudem noch die goldene Kette, die Peter als Geschenk Magelones stets anbehalten hat, weshalb er annehmen kann, das er eins grossen geschlechts were (S. 646, Z. 26 f.). Dass Peter dem Soldan in Alexandria zwar übergeben wird, er sich später aber am Hof in Babylon aufhält, wird an späterer Stelle im Roman erwähnt (S. 660, Z. 11 f.), ebenso dass seine Rückreise ihn erst wieder über Alexandria führt (S. 662, Z. 13).
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noch inmitten selbst der Pracht des Hofes, wenngleich zurückgezogen in seinem Kummer: in diser ehr was der Peter bey dem Soldan / Yedoch mocht er nie frlich werden / Dann sein hertz was jm allwegen schwer so er gedacht an seyn aller liebste Magelona vnd hette gewlt / er were inn dem Mre ersoffen / damit er solcher schmertzen erledigt worden / Also gedacht der Peter an sein traurigs leben / Doch ließ er sich nichts mercken / wiewol sein hertz allwegen betrbt war / vnd thet offt Got bitten weil er jm geholffen hette auß der grossen ferligkait des mrs / das er jm auch hulff vnnd gnade gebe (S. 647, Z. 9 – 18)
Peters von Trauer und Trübsal geprägter Aufenthalt in Babylon währt zunächst unbestimmte, doch ausdrücklich lange Zeit,⁵⁷ während der er vom Soldan aber weiterhin wie ein Sohn geliebt wird: DEr Peter blibe ein zeyt lang an dem hoff des Soldans z Babilonien / vnd ward von dem geliebt als were er sein eygner sun (S. 660, Z. 11– 13). Zu einem ebenso zeitlich unbestimmten Zeitpunkt fasst Peter in seiner Sehnsucht nach Magelone dann aber den Entschluss, den Hof des Soldans zu verlassen, um heimzukehren: Also nam er jm eins tags für erlaubnuß z nemen von seinem herrn sein vatter vnd mtter z beschen (S. 660, Z. 16 – 18). Gegenüber dem Soldan betont er erst noch, dass er über die Dauer seines Aufenthalts am Hof hinweg noch nie nichts begert oder gebetten hätte (S. 661, Z. 6), jetzt aber nichts anderes begehren würde als heimzukehren: Gnediger herr ich beger nit mer von euch / dann jr wllet mir gnedigklich erlauben heim z ziehen / vatter vnd mtter auch andere meine freünde z beschen (S. 661, Z. 16 – 19). Im ebenso zeitlich unbestimmt eingeführten wie nachdrücklich betonten Wechsel von Begehrenslosigkeit zum Begehren zeichnet sich bereits eine Wende ab, die mit der Wiedergewinnung der während der Abkehr von der Heimat verloren gegangenen Eigenmächtigkeit die Heimkehr rekursiv einleitet. Dies bestätigt sich noch, wenn der Soldan ihn vom Plan seines hinweg ziehens (S. 661, Z. 24) abhalten möchte mit dem Versprechen, ihn für die Zeit nach seinem Tod zum gewaldtigsten man des gantzen lands (S. 661, Z. 28) zu machen. Das Angebot des Soldans zur Erbnachfolge steht letzthin aber in Konkurrenz zur Erbfolge im eigenen Land, auf die Peters Vater angesichts des Aufbruchs zu Beginn eigens verwiesen hatte.⁵⁸ Peter bleibt schließlich standhaft in seinem Entschluss, lehnt das Angebot des Soldans ab und
Die unbestimmte Zeit kann als typisch für den die Handlung bestimmenden Chronotopos der Abenteuerzeit im Sinne Bachtins gelten; vgl. Bachorski (Anm. 27), S. 64 f. Dass es sich zumindest um ein lange zeyt handelt, vermerkt auch die entsprechende Kapitelüberschrift (S. 660, Z. 8). Inwiefern aber die Abenteuerzeit ebenso die Handlung um Magelone prägt, zumal dort konkrete Zeitangaben etwa hinsichtlich ihres 15-tägigen Aufenthalts in Rom erfolgen (S. 653, Z. 23), wäre an anderer Stelle zu diskutieren. Als Peter zu Beginn gegenüber seinen Eltern bekundet, in die Welt ziehen zu wollen, antwortet jhm seyn Vatter vnnd sprache / Peter lieber sun / du wayst das wir keyn anderenn sun haben / dann alleyn dich einigenn / auch sunst keynenn erbenn dann dich (S. 596, Z. 29–S. 597, Z. 2). Der mit der Mahnung an den Sohn verbundene Hinweis des Vaters, dass die Erbnachfolge nicht notwendigerweise vom leiblichen Sohn angetreten werden müsse, macht den Bezug zum kinderlosen Soldan, der Peter als Sohn annimmt und als Nachfolger einsetzen möchte, nur umso deutlicher.
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beginnt – vor dem Hintergrund der Erbfrage und verbunden mit der Hinwendung wieder zu Vater und Mutter – seine angestammte Identität zurückzugewinnen. Dass diese allerdings noch immer nicht gänzlich wiederhergestellt ist, beglaubigt gleichsam das ihm vom Soldan ausgestellte Reisedokument, das Peter – zumindest noch innerhalb des fürstlichen Einflussbereichs – als seinen Repräsentanten und Stellvertreter ausweist.⁵⁹ Peters Aufenthalt am Hof des Soldans erweist sich in mehrfacher Hinsicht als zentrale Wende.⁶⁰ Ausgehend von der Trauer um Magelone und das eigene Schicksal, im Aufrufen auch von Fragen nach Verwandtschaft und Erbschaft erfüllt sich die Abkehr vom Soldan als Heimkehr Peters ins eigene Land. Babylon markiert damit den Tiefpunkt von Peters Irrfahrt wie gleichermaßen den Wendepunkt, von dem an die allmähliche Wiederherstellung seiner Eigenmächtigkeit und Identität einsetzen kann. Ist es im Fall Magelones Rom, Zentrum der Christenheit, von wo aus sie den Weg ihrer Prüfung antritt, um Festigung im Dienst für Gott wie im Hoffen auf ein Wiedersehen Peters zu erlangen, ist es im Fall Peters das ferne und heidnische Babylon, von wo aus er seine Heimkehr antritt, ohne dass damit die Phase der Prüfung aber beendet wäre. Kann schon das verlockende Angebot des Soldans zur Nachfolge als Prüfung angesehen werden, bei der Peter den endgültigen Verlust der eigenen Identität abzuwehren hat, sind es im Folgenden die Gefahren und Strapazen der Reise, die Peter zwischenzeitlich und erneut bis an den Rand des Todes und schließlich bis zur Unkenntlichkeit bringen: Peter verlässt Babylon, bricht auf und kommt nach Alexandria, wo er sich einschifft und mit Händlern in Richtung Provence in See sticht. Auf der langen Überfahrt machen sie Station auf einer Insel, die als ‚Sagona‘ zwar bezeichnet, doch nicht weiter identifizierbar ist,⁶¹ und wo sie den Vorrat an Süßwasser aufzufüllen gedenken. Der Landgang stellt sich nicht nur als Unterbrechung der Reise auf dem direkten Weg zurück in die Heimat ein, sondern zugleich als Prüfung für den Reisenden heraus. Denn während die Seeleute ihren Erledigungen nachgehen, scheint Peter aufs Neue die Orientierung zu verlieren: Da er auff das lande kam / gieng er auff der jnsel hin vnd wider / vnd fandt die schnste blmen / Also setzt er sich mittenn eyn vnnd vergaß also seynes leyds eins thayls / Da fande er vnder den blmenn eyne die was die schnste ob allenn vonn farbenn vnnd geschmack / ehr brache sie abe / Als bald fiele jhm z die schne Magelona / da fienge ehr ahn […] hertzlich z weinen vnd z entpfinden grossen schmertzen inn seinem hertzen vnd gedachte wa sie hin wer kommen / in disem gedancke ward er schlfferig vnd legt sich schlaffen (S. 663, Z. 12– 23)
Der Soldan hat ein Einsehen und gibt Peter die Erlaubnis heimzukehren: Nach dem ließ der Soldan ein befelchbrieff durch sein land auß gehn vnd gab jn dem Peter / inn wlchem stnde geschriben an wlchs ort er keme des Moren lands solt man den Peter halten als jn selber (S. 662, Z. 4– 8). Vgl. schon Thomas (Anm. 5), S. 209 f., der den symmetrischen Aufbau der Erzählung um den Hof des Soldans darstellt, dabei aber irrtümlicherweise von Alexandria ausgeht. Vgl. die Anmerkung bei Müller (Anm. 1), S. 1259.
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Peter streift zunächst ziellos hin vnd wider über die Insel, bis er beim Anblick der Blumen, genauer noch beim Pflücken der schönsten Blume, an Magelone denken muss und in schmerzvoller Sorge um sie einschläft. Die Szene ist nicht nur aufschlussreich hinsichtlich der Erwähnung des weiterhin empfundenen Leids, das anzeigt, dass sein von Entbehrungen gezeichneter Weg noch nicht zu Ende ist; sie ist aufschlussreich auch hinsichtlich der weiterhin prekären Situation und Verfasstheit Peters. Mag das Betrachten und schließliche Brechen der Blumen andeutungsreich den kritischen Moment der Trennung der Liebenden im Wald zwar aufrufen,⁶² gibt der Gedanke an den Verbleib Magelones, daran, wa sie hin wer kommen, doch Richtung und Ausweg vor,⁶³ ohne dass Peter aber in der Lage ist, eigenmächtig voranzukommen. Peters Station auf der Insel erinnert vielmehr im Moment der Unterbrechung der Reise an das Vergehen im Wald und die Trennung der Liebenden wie sie gleichermaßen aber die Hoffnung auf eine Wiederbegegnung in Aussicht stellt und dabei die Grundlage bietet für die Befestigung von Peters Hinwendung zu Magelone – und auch zu Gott. Denn als Peter in der Nacht erwacht, muss er zunächst feststellen, dass die Seeleute ohne ihn bereits aufgebrochen sind, woraufhin er aufs Neue sein Unglück beklagt.⁶⁴ Hatte er sich früher, treibend auf dem Meer, noch seinem Schicksal tatenlos ergeben, nimmt er es jetzt als von Gott gegeben an: Yedoch allmechtiger Got dieweyl du mir solchs z schickest / will ichs willigklich von dir annemen (S. 666, Z. 10 – 12). Die ganze Nacht bis zum Morgen sucht er – wie früher bereits zur Wiedergewinnung der
Das Motiv des Blumenpflückens beziehungsweise Rosenbrechens ist „als metaphorische Umschreibung für erotische Vorgänge“ seit der Antike bekannt (Persephone), im Mittelalter überaus verbreitet und wurde bis weit in die Neuzeit hinein tradiert; Gertraud Meinel: Blume. In: EM. Bd. 2. 1979, Sp. 483 – 495, hier Sp. 486, Hervorhebung dort. Für das Mittelalter wäre nur an Walther von der Vogelweide zu denken, an seine Lieder etwa Nement, frowe, disen cranz oder auch Under der linden. Vgl. auch die Deutung bei Braun (Anm. 50), S. 241 f. Jutta Eming stellt – weniger pikant – über einen Vergleich der Szene mit der Blutstropfenszene aus Wolframs von Eschenbach Parzival sowie mit Florio und Bianceffora hingegen fest, dass hier nicht mehr der Körper, dafür die Natur als Medium der Performanz von Emotionen fungiere (vgl. Eming [Anm. 33], S. 320 f.), während zuvor aber schon beim Blick Peters auf die schlafende Magelone im Wald Natur mit Körperlichkeit konnotiert gewesen sei (vgl. ebd., S. 313 f.). Einen „sexuell konnotierten Naturraum“ macht dagegen auch Schulz (Anm. 6), S. 211, aus. Die Szene lässt diesbezüglich an Magelone im Petersdom erinnern, als sie versunken im Gebet zum Entschluss kommt, in die Heimat Peters zu ziehen. Dort ist es der Gedanke an Peter – dieser fiel jr z (S. 653, Z. 27) –, während es hier in Gedanken Magelone ist – diese fiele jhm z (S. 663, Z. 17). Beide Male bestärkt sich in beiden die unbedingte Absicht, sich auf den Weg in die Provence zu machen. Peter benennt als vnglück (S. 666, Z. 1 u. 5) nicht nur den Verlust Magelones, sondern ebenso den Aufenthalt am heidnischen Hof des Soldans, den er noch als feind des Christenlichen glaubens bezeichnet (S. 666, Z. 5 f.). In der Abwehr des Heidnischen ist die Hinwendung zum christlichen Gott eindrücklich vorbereitet. Darüber hinaus bezeichnend ist eine Änderung, die Warbeck gegenüber seiner mutmaßlichen französischen Vorlage vorgenommen hat. Während dort noch von Fortune als Personifikation des Schicksals die Rede ist (Colliot [Anm. 7], S. 49), setzt sich Warbeck mit der unverfänglicheren und wiederholten Nennung von vnglück offensichtlich davon ab; vgl. hier die Anmerkung von Müller (Anm. 1), S. 1259: „In Warbecks Bild einer gottgelenkten Geschichte hat Fortuna keinen Platz.“
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geraubten Ringe – entlang der Küste nach einem Schiff, ohne jedoch fündig zu werden, weshalb er sich an Gott wendet: da er sich mit diser trbsal vmbgeben sahe / gedacht er an Got / dann er vermeint sich nahet z sein seinem ende / vnnd bat jn er wolt sich erbarmen vber sein arme seel / da schicket Got der allmechtige der die seinen nit verlast die sach also / das ein fischer schifflein kam (S. 666, Z. 18 – 22)
Erneut tritt Gott als handlungssteuernde Instanz auf und befördert die Heimkehr Peters wie zuvor schon seine Abkehr. Infolge der Wende in Babylon und über die Umkehr Peters im Sinne einer Hinwendung auch zu Gott mündet am Ende die Abkehr in die Heimkehr. Peter gelangt so – nach seiner Irrfahrt bis ins Zentrum des Heidentums und einer langen Zeit der Prüfung – auf die der heimatlichen Küste vorgelagerte Insel, wo er sogleich die Kirche Sankt Peter zu Magelon aufsucht, um dort Gott zu danken, noch bevor er sich in das zugehörige Spital begibt, um sich nach den Strapazen seiner Irrfahrt versorgen zu lassen.
IV Irrfahrt und Konversion Die Etappen der Reise Peters sind deutlich auf die Konversion Magelones hin entworfen. Während die anfängliche Orientierungslosigkeit im Fall Magelones einer zunehmenden Zielgerichtetheit weicht, setzt sie sich im Fall Peters zunächst in einer Passivität fort, bis erst der Aufenthalt in Babylon die Wende bringt. Erfährt Magelone in Rom Festigung ihres Vorsatzes, ist es demgegenüber Babylon, von wo Peter jetzt seinerseits aktiv zur Heimkehr aufbricht und sich auf den Weg in die Provence macht. Und wie bei Magelone setzt auch hier eine Phase der Prüfung ein, die Peter mit der Hilfe Gottes überstehen kann.⁶⁵ Rom und Babylon erweisen sich jeweils als Orte der Wende, als Orte, an denen die Abkehr umgelenkt wird zur Heimkehr: Regiert die entlang der Handlung um Magelone narrativ entfaltete Konversion in gewisser Weise die Erzählung von der Reise Peters, gibt diese jener aber erst den Rahmen, über die die Abkehr sich als Heimkehr erweist. So eröffnet die Handlung um Peter die Phase der Trennung und sie beschließt sie mit seiner Ankunft im Spital. In diese Handlung eingeschoben ist nun aber die Erzählung von Magelones Konversion und sie ist es gerade an der Stelle, an der der Wendepunkt in der Handlung um Peter anzusetzen ist. Auffallend tritt an den entsprechenden Stellen des Wechsels der sonst
Mit Blick auf das Moment der Prüfung wird deutlich, was Eming hinsichtlich der Geschlechterrollen im Roman bereits festgehalten hat: dass Aktivität und Passivität nicht einfach auf die beiden Figuren aufzuteilen sind; vgl. Jutta Eming: Geschlechterkonstruktionen im Liebes- und Reiseroman. In: Manlîchiu wîp, wîplîch man. Zur Konstruktion der Kategorien „Körper“ und „Geschlecht“ in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Ingrid Bennewitz, Helmut Tervooren. Berlin 1999 (Beihefte zur ZfdPh. 9), S. 159 – 181, hier S. 177 f.
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meist sich zurückhaltende Erzähler auf,⁶⁶ zunächst als Peter inmitten der heidnischen Pracht sein Leid beklagt und seine Hoffnung auf Gott hin auszurichten beginnt: Er gab auch vil almsen den armen Christen von wegen seiner aller liebsten Magelona / verhoffend Gott wurde sie nit verlassen / Nun wllen wir von jm lassen z reden / vnnd von der schnen Magelona sagen. (S. 647, Z. 19 – 23)
Der Gedanke an Magelone im fremden Land, verbunden mit der karitativen Zuwendung für arme Christen, leitet inhaltlich bereits über zur Erzählung von Magelones Konversion, was auf der Erzählebene nurmehr explizit gemacht zu werden braucht. Es folgen die insgesamt fünf Kapitel, die die Zeit der Trennung mit Blick auf Magelone erzählen, ihre Phasen von Abkehr und Prüfung, einsetzend mit ihrem Erwachen, allein und bar jeglicher Orientierung im Wald. Erzählt wird ihre Geschichte bis zur Ankunft in der Provence, wo sie Spital und Kirche gründet und die um den Verlust ihres Sohnes trauernden Eltern Peters tröstet, sie auffordernd, sich ganz dem Willen Gottes zu fügen: Darumb kert euch gegen Got den allmechtigen vnd danckt jm vmb alles das er euch erzeigt hat / also trstet die spittalerin die Greffin auff das best so sie vermochte / wiewol jr schmertzen nit weniger warn dann der Greffin / sie were auch wol notürfftiger trstens gewesen dann die greffin / die greffin gab grosse gabe inn das spittal got für die seel jrs suns z bitten so er tod wer / wa nit das sie etwas gts von jm erfre vnd zoch also wider heim / vnd die spittalerin belib also vast traurig vnd fiel auff jhre knye vor dem altar bittend vnd bat Gott so er lebendig were / jn z fren inn aller sicherhait z seinen freünden / wa er aber todt were / wolt sich Got seiner armen seel erbarmen vnnd der selbigen gnedig sein / vnd blib lang also in jrem gebeth Nun wllen wir auff hrn z reden von dem Graffen vnd der greffin vnd der spitalerin / vnnd wllen reden vonn dem Peter / da er die zeyt am hoff des Soldans war. (S. 659, Z. 26–S. 660, Z. 7)
Die Handlung schließt wie zu ihr übergeleitet wurde: mit Zuwendungen an die Hilfsbedürftigen des Spitals, verbunden mit Gebeten aber jetzt für Peter. Ob dieser tot oder noch am Leben ist, bleibt den Eltern wie Magelone ungewiss, und so wechselt der Erzähler mit deren Hoffnung auf Peters Heimkehr konsequent wieder an den Hof des Soldans zu Babylon, um dort die Handlung um Peter wieder aufzugreifen, der jetzt aktiv die Heimkehr betreibt. Am Wendepunkt von Peters Reise in Babylon eingeschoben, stellt die Erzählung von der Konversion Magelones gleichsam eine verdichtete Potenzierung der sie umrahmenden Handlung dar, indem sie in analoger Stationenfolge um den Wendepunkt in Rom organisiert ist.Vom anderen Standpunkt aus betrachtet gibt die Erzählung von Peters Ab- und Heimkehr den Rahmen vor, sodass sie als weit ausholende Entfaltung Wenngleich die Erzählerkommentare im zweiten Teil des Romans gegenüber dem ersten zunehmen, wie schon Winfried Theiß: Die Schöne Magelona und ihre Leser. Erzählstrategie und Publikumswechsel im 16. Jh. In: Euphorion 73 (1979), S. 132– 148, hier S. 138, festhält, fallen die unmittelbaren Anzeigen des Erzählprozesses an ebendiesen Stellen auf. Eine größere Bedeutung der Erzählerrolle an den Schauplatzwechseln des zweiten Teils bemerkt auch Seeber (Anm. 7), S. 116 f.
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der in ihr angelegten Erzählung von der Konversion Magelones firmiert.⁶⁷ Die Stationen Babylon und Rom fallen im Fluchtpunkt zusammen und markieren so die Wende in der Zeit der Trennung des Paares. Wenn mit Blick auf die Geschichte von der Trennung die erzählte Zeit notwendig identisch ist und auch die je aufgewandte Erzählzeit ebenso identisch ausfällt,⁶⁸ stehen die erzählten Handlungsstränge in einem geradezu chiastischen Verhältnis, über das die eine Handlung der anderen jeweils eine Bedeutungskomponente hinzufügen kann, wodurch sich am Ende doch wesentlich die Geschichte als gemeinsame Geschichte auszeichnet: Noch bevor Magelone sich gegenüber Peter zu erkennen gibt, fordert sie ihn im Anschluss an die Erzählung seiner – und das heißt zugleich auch der gemeinsamen Geschichte⁶⁹ – auf, sich nachhaltig Gott zuzuwenden, um den sicheren Lohn zu empfangen: ALler liebster freünt jr solt euch nit miß trsten sonder z Got dem allmechtigenn wendenn / dann on allen zweyffel so jr Gott werdet anrffen werdet jr nit verlassen / sondern erhret werden vnd alles das erlangen so jr tht begern / Werdet auch on allen zweyffel eren liebstenn gemahel wider vberkommen / die jr also trelichen vnd hertzlichen geliebt habet (S. 670, Z. 3 – 9)
So gesehen mag sich die Funktion der Handlung um Peter auch kaum darin erschöpfen, lediglich „das glückliche Ende hinauszuzögern“ – so die Deutung von Müller (Anm. 1), S. 1241 –, bringt sie doch zur Entfaltung, was ihr innerer Kern ist. Wenn Röcke in seiner Lesart des Romans dann vornehmlich Magelone in den Blick nimmt und die erzählte Handlung als den „Weg ins eigene Innere“ beschreibt (Röcke [Anm. 13], S. 169), wäre die äußere Sicht darauf entsprechend über die Irrfahrt Peters zu ergänzen. Die durchgehend präsentierte Erzählung von der Konversion Magelones umfasst in der hier zugrunde gelegten Ausgabe fünf Kapitel zu insgesamt 359 Zeilen (inklusive der Tituli), beginnend mit dem im Anschluss an den Hinweis des Erzählers einsetzenden Kapitel S. 648 und endend mit dem erneuten Hinweis des Erzählers S. 660. Dem steht die Erzählung von Peter gegenüber, die ihrerseits fünf Kapitel umfasst zu insgesamt 380 Zeilen, beginnend mit dem Kapitel Wie Peter nachuolget dem vogel … (S. 643) und endend mit der Wiederbegegnung der beiden zum Schluss des späteren Kapitels S. 668 – ausgenommen natürlich der eingeschobenen Erzählung von Magelone. Die beiden, zusammen 37 Zeilen umfassenden Kapitel S. 664 f., die von der frühzeitigen Ankunft von Peters Schatz in der Provence handeln, können dagegen der Handlung um Peter zugerechnet werden (und sind es auch hier), da sie keinen signifikanten Beitrag zur Handlung um Magelone liefern und der Schatz seinerseits in metonymischer Relation zu Peter gesehen werden kann (vgl. Schulz [Anm. 6], S. 206); zudem weist auch die die beiden Kapitel beschließende Bemerkung des Erzählers darauf hin, dass weiterhin von Peter zu reden sei (S. 665), ohne dass zuvor ein Wechsel zu Magelone entsprechend markiert worden wäre. Somit ergibt sich für die Erzählzeit, gemessen an den Zeilen der verwendeten Ausgabe, ein Verhältnis von 359 zu 380 Zeilen, entspricht 1:1,06 (im Druck von 1537 stellt sich ein relativ identisches Verhältnis dar von 391 zu 410 Zeilen, entspricht 1:1,05; zugrunde gelegt wurde die Ausgabe: Magelone. Die Schön Magelona. Ein fast lustige vnd kurtzweylige Histori vonn der schönen Magelona. Mit einem Nachwort von Renate Noll-Wiemann. Hildesheim/New York 1975 [Deutsche Volksbücher in Faksimiledrucken. A.6]). Siehe hierzu die obigen Ausführungen.
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Hat Magelone entlang ihres Wegs Sicherheit finden und Festigung in ihrer Hinwendung zu Gott erlangen können, kann sie Peter zum Ende seiner von anfänglichen Zweifeln noch geprägten Irrfahrt abschließende Sicherheit geben.⁷⁰ Auf der anderen Seite fügt sich ihre Abkehr vom elterlichen Haus in Neapel wie von allen weltlichen Dingen in die Heimkehr Peters. Ihr beider Abkehr erfüllt sich am Ende als eine Heimkehr, die die Hinwendung zu Gott und die Wiederbegegnung mit dem jeweils anderen integriert. Und nachdem auch Magelone sich Peter gegenüber und seinen Eltern zu erkennen gegeben hat, kann die Vermählung der beiden in der Kirche Sankt Peter zu Magelon gefeiert werden, aus deren Ehe schließlich der gemeinsame Sohn als Künig z Neaples vnd Graff z Prouincien (S. 677, Z. 17) hervorgeht.⁷¹ Wenn auch die Erzählung am Ende wieder dort einkehrt, von wo aus sie ihren Ausgang genommen hat – in der Provence –, und wenn nach dem Tod der Eltern erneut eine junge Familie die herrschaftlichen Aufgaben übernimmt – wie schon zu Beginn des Romans –, hat sich doch ein grundlegender Wandel vollzogen. Dieser manifestiert sich nicht allein darin, dass in der nächsten Generation die beiden Herrschaftsbereiche in Personalunion des Erben verbunden sind, sondern vor allem in der veränderten Einstellung der Figuren. Bereits in Magelones Aufforderung an Peter, er solle sich z Got dem allmechtigenn wendenn (S. 670, Z. 3 f.), wird der qualitative Wandel explizit gemacht zu einem nachhaltigen und gleichermaßen Liebe wie Gottvertrauen integrierenden Leben. Implizit wird dieser Wandel schließlich auch angezeigt, wenn Peter und Magelone sich im Anschluss an ihr wechselseitiges Erkennen von ihren Erlebnissen erzählen, worauf abschließend und ergänzend im Folgenden mit einem genaueren Blick auch auf das Erzählen von einer Wende noch einzugehen ist.
V Wiederbegegnung II Über das Moment einer das Vorher vom Nachher abgrenzenden zeitlichen Zäsur der Konversion als Wende hinaus, und doch daran ansetzend, hebt Thomas Luckmann gerade das Moment der Umdeutung für Konversionen und Konversionserzählungen hervor.⁷² Von Konversion ließe sich nur dann sinnvoll sprechen, wenn – so Luckmann – mit der Abkehr immer auch eine Hinwendung zu bereits etablierten, konventionalisierten Vorstellungen einhergehen würde. Konversionen setzten somit stets einen festen Kanon voraus, an den der Anschluss gefunden würde, sodass sich in-
Vgl. Röcke (Anm. 13), S. 170. Vgl. hier auch Wåghäll Nivre (Anm. 5), S. 204, die den Ort der Vermählung entsprechend hervorhebt: „Die Kirche wird im Text zum neuen Ort der Heimkehr und tritt als herausragendes Symbol eines theologisch-religiös fundierten Heimatsbegriffes hervor, ist dabei zugleich physischer Ort der Wiedervereinigung und Eheschließung von Peter und Magelone – somit ihre neu gewonnene Heimat.“ Vgl. Luckmann (Anm. 4), S. 38 – 46.
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dividuelle Erfahrungen und Überzeugungen notwendigerweise kreuzen würden mit solchen eines Kollektivs: Der Begriff ‚Konversion‘ gewinnt jedoch erst dann eine prägnante Bedeutung, wenn eine einschneidende Veränderung der Wirklichkeitsauffassung durch bewußte Zukehr zu einem verbindlich – eben: ‚kanonisch‘ – festgelegten Kern dieser Wirklichkeitsauffassung erfolgt. Dadurch wird dem Konvertiten eine Reinterpretation der Vergangenheit nicht nur nahegelegt […], sondern zur Vermeidung extremer kognitiver Dissonanzen auferlegt. […] Die Umdeutung der Vergangenheit ist aber nicht so sehr Sache einer privaten Übereinstimmung des Handlungssinns in verschiedenen Lebensabschnitten im Bewußtsein des einzelnen, sondern eine Angelegenheit der intersubjektiven, kommunikativen Stimmigkeit in sozialen Milieus.⁷³
Gerade Erzählungen von Konversionen decken diese in der Kommunikation immer schon angelegte Annäherung von individuellem Erlebnis und kollektiv verbürgtem Kanon auf, indem die außergewöhnliche und subjektiv wahrgenommene Erfahrung mit gewöhnlichen, der intersubjektiven Verständigung dienlichen Mitteln dargestellt wird.⁷⁴ Hierfür werden etwa einfache, mitunter umgangssprachliche Ausdrucksformen bemüht wie auch zur Verfügung stehende Schemata des Erzählens, um letzthin Verständlichkeit und Glaubwürdigkeit zu erzielen.⁷⁵ Die neu gemachte Erfahrung beim Übertritt des Konvertiten in eine neue Phase beziehungsweise mit dem Wechsel auch des sozialen Milieus erfährt daher notwendigerweise die genannte Umdeutung des Vergangenen über den Abgleich mit der gegenwärtig erfahrenen Situation. Entsprechend ist vor diesem Hintergrund abschließend auf Peters und Magelones freudvolles Wiedersehen am Ende des Romans nochmals einzugehen, bei dem sich das retrospektive Erzählen als ein das Vergangene erinnerndes und umdeutendes Erzählen erweist: Aufschlussreich ist hierfür die finale Situation, in der sich Magelone gegenüber Peter zu erkennen gibt, indem sie sich – entsprechend ihrer auch äußerlich vollzogenen Konversion – jetzt königliche Gewänder anlegt und sich dem Geliebten präsentiert: Also gieng sie inn jr kostlichen kamer / vnd bekleydet sich gantz inn die künigklichenn kleyder / vnd setzt doch den schlayr wider auff wie vor / als sie gewont was z tragen / darauß man jhr nichts mocht sehen dann allein die augen vnd die nasen / Aber vnder dem schlayr hette sie jr schnes har das jr gieng biß auff das erdtreych / das da leüchtet als goldt / schn z gericht / gieng also zm Peter vnd sprach / Edler Ritter Peter seit frlich / da sehet hie vor euch stehen eren aller liebsten gemahel vnd tree freündin die Magelona / von wlcher wegen jr also vil erliten habt / Jch habe auch nit weniger erliten von ert wegen […] Hierumb mein aller liebster herr vnd gemahel sehet mich an ob ich die selbig sey oder nit / der jr tht von hertzen begeren / Jn dem
Ebd., S. 39, Hervorhebung dort. Vgl. ebd., S. 40 f. Luckmann beschreibt die Konversionserzählung daher auch als eine rekonstruktive Gattung; vgl. ebd., S. 42 f.
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warff sie jren schleyer von jrem haupt auff die erden / da fiel jhr schnes har herab hangen als das gold. (S. 671, Z. 1– 24)⁷⁶
Erfolgte die Identifizierung Peters noch über das Erzählen, was hinsichtlich seiner weit ausholenden Erzählung seiner Irrfahrt angemessen sein mag, erfolgt die Identifizierung Magelones entsprechend ihrer Geschichte maßgeblich auch jetzt wieder über den vestimentären Code:⁷⁷ Denn markierte das Anlegen des Pilgergewandes den Vollzug der Abkehr am Übergang in eine Phase der Entbehrung, kann das Anlegen der königlichen Gewänder deren Ende am Übergang in die Phase des Lohnes bezeichnen. Äußerlich bringt die Pracht des Gewandes zwar konventionell zur Anschauung, dass der frühere Status wieder erreicht ist,⁷⁸ doch kontrastiert damit nur umso mehr das von ihr zugleich in Erinnerung gerufene Leid. Dieser der Situation inhärente Kontrast von Freude und Leid stellt sich dann aber auf der Handlungsebene im unmittelbaren Anschluss als Umschlag von Leid in Freude dar: NVn als der Peter vonn Prouincia sahe die schne Magelona on schleyr / da erkannt er sie erst recht das sie die was die er so lang gescht hatt / vnd stnde auff fiel jr vmb jren hals vnd thet sie freüntlich küssen in rechter gtter liebe / vnnd fiengen an beyde z weynen vor freden / Jnn sollicher gestalt bliben sie lang bey einander / vnd kunt keines kein wort reden vor grosser freuden / doch nachmals setzten sie sich z samen vnd erzelt eins dem andern sein vnglück (S. 672, Z. 2– 9)
Im Wechsel von Leid in Freude wird die Umdeutung des Geschehenen im Effekt vorgeführt, ausgehend vom wechselseitigen Erkennen, verbunden aber sogleich mit dem ebenso wechselseitigen und noch nachhaltigen Erzählen ihrer Erlebnisse während der entbehrungsreichen Phase ihrer Trennung. Dabei fällt – wie schon bei der ersten Erzählung Peters – auch jetzt auf, dass ebendiese Phase inhaltlich nicht wiedergegeben ist, sie vielmehr metonymisch nurmehr als vnglück bezeichnet wird,⁷⁹ das
Im Zitat hier ausgelassen ist die oben bereits angesprochene Selbstidentifizierung Magelones in der die gemeinsamen Stationen ihrer Geschichte fokussierenden Erzählung Peters; vgl. oben, Anm. 30. Während dort das Vergangene zumindest ansatzweise in der Figurenrede rekapituliert wird, bleibt dies bei den unmittelbar anschließend erwähnten Erzählungen aus, worauf sogleich einzugehen ist. Vgl. die Gegenüberstellung von individueller Geschichte Peters und ständischer Zeichen Magelones bei Mertens (Anm. 51), S. 127, sowie nochmals die allgemeinen Beobachtungen zur Identität des Helden im Liebes- und Reiseroman von Bachorski (Anm. 27), S. 76 f. Dabei mag das Wiederanschließen an die frühere Situation einen Kompromiss darstellen, wenngleich hier keine Abkehr von der Abkehr angenommen werden muss, da Magelone eine andere geworden ist, wie in der unmittelbar vorangegangenen Aufforderung zur Hinwendung an Gott deutlich wurde; vgl. Röcke (Anm. 13), S. 170. Die Metonymie fällt dann vor allem auf im Vergleich mit der entsprechenden Stelle in der früheren Übersetzung des Romans von 1470/1525. Dort ist konkret davon die Rede, dass sie sich vom früher Erlebten erzählen würden: vnd in dem wainen pliben sie lange zeitt, das ir keins kein wortt reden kontt. darnach setzten sie sich nyder tzu sammen vnd sagten an eynander, wie es ir yedem ergangen waß (Degering [Anm. 7], S. 105).
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sich zwar auf die Konversion Magelones wie Peters Irrfahrt beziehen lassen mag, dem aber eine gewisse Unbestimmtheit hinsichtlich der näheren Zuordnung doch eignet. So tut sich an ebendiesem prekären Moment des Umschlags von Leid in Freude eine Leerstelle auf, die es zu füllen gilt. Dies kann erfolgen, indem die Leerstelle in gleichsam analeptischer Funktion gesehen wird, sodass das hier nicht wiedergegebene mit dem zuvor aber erzählten Geschehen von Konversion und Irrfahrt tatsächlich identifiziert wird,⁸⁰ sodass am Ende aber der Gegensatz von Freude und erinnertem Leid im Effekt nur umso kontrastreicher hervortritt. In der offensichtlichen und gegenüber der ersten Erzählung Peters noch intensivierten Verweigerung, die erzählten Inhalte auch nur annähernd zu rekapitulieren, mag denn auch ein strategisches Kalkül von Seiten des Erzählers angenommen werden. So wird über die bloße Anzeige intradiegetischen Erzählens von unbestimmtem vnglück in doch freudvoller Situation die Aufmerksamkeit weg von den einzelnen erzählten Ereignissen hin auf deren Gemeinsamkeit und mithin auf eine Ebene der Bedeutung gelenkt, und das heißt im vorliegenden Fall: der an die Figur der Wende sich anschließenden Umdeutung. Nicht von ungefähr tritt an ebendieser Stelle der Erzähler auf: Jch kan nit die helffte erzeln der freuden so sie hetten / dann ich solchs gib einem yegklichem selber z bedencken / sollich ding last sich auch bas bedencken dann schreyben / Yedoch mochten sie sich nitt ersettigen jres küssen vnd anzeigens jres vnglücks / vnd richten den gantzen tag nichts anders auß dann küssen vnd einander z klagen (S. 672, Z. 9 – 15)
Während seine Figuren sich nach anfänglichem Schweigen vom Unglück erzählen, scheitert der Erzähler bezeichnenderweise daran, von ihren Freuden zu erzählen, um es schließlich dem Leser zu überlassen, sich ein eigenes Bild von der Situation zu machen.⁸¹ Mit der Aufforderung an den Leser, die Situation nachzuvollziehen, wird die mit dem wechselseitigen Erzählen Peters und Magelones bereits als intersubjektiv zu bestimmende, wenngleich doch mit emotionaler Ergriffenheit geführte Kommunikation über das einzelne erzählte Ereignis wie über den Moment auch des Erzählens hinaus geöffnet – ein Verfahren, das gerade vor dem Hintergrund mittelalterlicher Konversionserzählungen gesehen werden kann. So hat Mireille Schnyder am Beispiel
Die Möglichkeit eines expliziten Rückverweises auf das zuvor Erzählte wählt der Erzähler in der Übersetzung von 1470/1525, wenn er berichtet, dass die beiden sich eben das erzählen würden, wie es hie forn vertzaichent stett (ebd., S. 106). Auch hier ist wieder ein Blick in den früheren Text von 1470/1525 aufschlussreich. Während auch dort vom vnglck die Rede ist wie später auch vom groß leyden (ebd.), erwähnt der Erzähler die dabei empfundene Freude gerade nicht, obgleich er seinerseits den Unsagbarkeitstopos bemüht: das kntt in vil zeitt nitt ertzelt werden, dan sie vom anfang piß an das endt eyn yedes sein vnglck ertzeltt (ebd., S. 105). Bei Warbeck erscheint es dagegen auf die unmittelbare Kontrastierung von Freude und Leid angelegt zu sein. Vgl. hieran anschließend auch Eming (Anm. 33), S. 325, die der Szene eine Wandlung in der Darstellung von Emotionalität im Liebes- und Reiseroman entnimmt, sowie Seeber (Anm. 7), S. 119.
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der im Passional erzählten Katharinenlegende aufgezeigt, wie Konversionserzählungen auf eine solche Öffnung zum Rezipienten hin angelegt sind: Die revolutionäre Wirkung der individuellen conversio setzt sich dann auch – und das ist wohl das Charakteristikum von Konversionsdarstellungen – über die Textgrenze hinaus fort: So sind es die Momente der conversio, die im Narrativ einen Stillstand erzeugen, der in einem Staunen aufgefangen wird, die als ‚Löcher‘ im Text den Blick des Rezipienten in das Ereignis der conversio hineinziehen.⁸²
Mag das Verstummen Peters und Magelones im Moment des Stillstands (Jnn sollicher gestalt bliben sie lang bey einander / vnd kunt keines kein wort reden vor grosser freuden; S. 672, Z. 6 – 8) eine ebensolche Situation intradiegetisch aufrufen, stellt sich diese hier jedoch ungleich anders dar als in der Legende. So reißt die Leerstelle im vorliegenden Fall nicht im Moment der Konversion auf, um im Staunen aufgefangen zu werden, dafür im Moment des Erzählens von der Konversion, im Moment des dargestellten Verstummens auch und damit auf einer nächst höheren Ebene. Die Hinwendung des Erzählers an den Leser des Romans macht nur explizit, was zuvor bereits vorgeführt wurde: die Öffnung einer Erzählung zur Einbeziehung von Hörer beziehungsweise Leser. Konversion wird damit aber nicht auf ein Ereignis reduziert, dafür wird auf das Nachvollziehen der die Konversion prägenden Umdeutung beim Erzählen von Konversion abgehoben. Konversion wird letzthin über den Lektüreprozess, der immer auch eine Hermeneutik verlangt, erst gänzlich erfahrbar. Man könnte hier an ein bei Augustinus schon angelegtes Verfahren denken, das Konversion an Lektüre bindet,⁸³ doch zeigt sich hier eher ein Verfahren, das an der Konversion zwar ansetzt, doch zugleich über sie hinausgeht. So ist die Konversion Magelones in ihrer Präsentation im Roman zu sehr an die Irrfahrt Peters gekoppelt, als dass sie zuletzt als ausschließliches Lektüremodell fungieren könnte; umgekehrt ist die Reise Peters an die Konversion Magelones geknüpft. Konversion und Reise liegt gleichermaßen die Figur der Wende zugrunde, die zuletzt auf eine Erfahrung zielt: auf die Erfahrung des Umschlags von Leid in Glück.⁸⁴ Peter und Magelone führen dies im wechselseitigen
Mireille Schnyder: Staunen und conversio. In: Zwischen Ereignis und Erzählung. Konversion als Medium der Selbstbeschreibung in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Julia Weitbrecht, Werner Röcke, Ruth von Bernuth. Berlin/Boston 2016 (Transformationen der Antike. 39), S. 169 – 185, hier S. 182. Schnyder hat dabei verschiedene Formen von Präsenzeffekten im Blick, vornehmlich solcher narrativer Visualisierungen, die den Rezipienten zum Augenzeugen werden ließen. Vgl. Bruno Quast: Lektüre und Konversion. Augustinus, Konrad von Würzburg, Petrarca. In: Geltung der Literatur. Formen ihrer Autorisierung und Legitimierung im Mittelalter. Hrsg. von Beate Kellner, Peter Strohschneider, Franziska Wenzel. Berlin 2005 (Philologische Studien und Quellen. 190), S. 127– 137. Der frühneuzeitliche Roman mag damit vielleicht an das anschließen, was Haug mit Blick auf mittelalterliche Ausprägungen von Heimkehr-Erzählungen zunächst noch als „Versuch“ apostrophiert: die Kombination von Ausfahrt und Heimkehr als prozessuale Erfahrung. Während in mittelalterlichen Erzählungen – so Haug – das „Prozessuale der Bewegung […] durch die immer noch dominante Metapher der Wende“ blockiert werde, weshalb nur Doppelungen oder Wiederholungen, mithin „mehrere
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Ulrich Hoffmann
Erzählen und unentwegten Küssen gleichsam vor,⁸⁵ und der Erzähler überlässt es seinem Publikum, dies nachzuvollziehen.⁸⁶ Am Ende bleibt festzuhalten, dass die im Roman erzählte Konversion ebenso wenig um ihren geistlichen Anspruch gebracht ist, wie die erzählte Reise ihrerseits nicht religiös überhöht wird. Konversion und Reise erweisen sich vielmehr über die grundlegender angesetzte Figur der Wende als produktiv, um eine ebenso kurzweilige wie erbauliche Geschichte zu erzählen, gerade so wie es schon der Titel ankündigt. Und dass die Handlungen um Peter und Magelone unterschiedslos ineinander aufgehen, mögen die verschiedentlich bemühten Titel des Romans zu erkennen geben, die jeweils den anderen an erster Stelle nennen: Während der Roman unter dem Titel Die Schn Magelona. Ein fast lústige vnd kurtzweylige Histori / vonn der schnen Magelona / eins Künigs tochter von Neaples / vnd einem Ritter / genannt Peter mit den silberin schlüsseln / eins Graffen son auss Prouincia (S. 589, Z. 1– 7) 1535 in den Druck gegangen ist, trägt er in der vorangegangenen Fassung der Handschrift Veit Warbecks, die er 1527 für Johann Friedrich von Sachsen anlässlich seiner Vermählung mit Sybille von Cleve-Berg anfertigte, noch den Titel Ein sehr Lustige histori, von dem Ritter, mit den silbern schlusseln, vnd der schonenn Magelonna, fast lieblich z lesenn. ⁸⁷ Erzählt wird im Roman aber weder die Geschichte von Magelone, noch die Geschichte von Peter, erzählt wird ihre gemeinsame Geschichte, in der die Abkehr als Heimkehr firmiert, orientiert an einer Figur der Wende.
Wendepunkte“ einen „Vorstoß zum Differenzial der Entwicklung“ leisten könnten (Haug [Anm. 3], S. 49 f.), erweisen sich Reise und Konversion hier als geeignet, über die gemeinsame und übereinander gelegte Figur der Wende wie über das Erzählen von ihnen Erfahrung anzuzeigen und nachvollziehbar werden zu lassen. Wenn Peter und Magelone sich nitt ersettigen können, sich von ihrem vnglück zu erzählen und den gantzen tag nichts anders ausrichten, als sich zu küssen vnd einander zG klagen (S. 672, Z. 13 – 15), wenn dabei aber gerade keine näheren Hinweise darauf gegeben werden, was sie erzählen, wird vielmehr die Wechselseitigkeit betont, geht das Erzählen Magelones von ihrer Konversion unterschiedslos in das Erzählen Peters von seiner Reise auf. Das Erzählen von Konversion und Reise wird analog behandelt und analog im Roman präsentiert. Diese auch an anderen Stellen des Romans in Form von Sentenzen und Kommentaren des Erzählers deutlich werdende Distanz zum Erzählten bezieht Theiß auf den humanistisch geprägten Hintergrund Warbecks, da erst so dem Leser der Weg zu eigenständiger Reflexion geebnet sei; vgl. Theiß (Anm. 66), S. 143. Als „Dokument einer offen vorgenommenen Rezeptionslenkung“ liest er dann auch den dem Roman im Druck vorangestellten und hier nicht weiter zu besprechenden Sendbrief Georg Spalatins; vgl. ebd., S. 145; siehe hierzu zuletzt auch Seeber (Anm. 7), S. 124– 130. Zur Person Warbecks, seinem Umfeld sowie seinem engen Verhältnis zu Spalatin wie auch zu Philipp Melanchthon siehe Klaus Graf: Veit Warbeck, der Übersetzer der „Schönen Magelone“ (1527) und seine Familie. In: Einhorn-Jahrbuch Schwäbisch Gmünd 13 (1986), S. 139 – 150, sowie zuletzt Kay Nagel: Georg Spalatin und Veit Warbeck. Netzwerk und Freundschaft im 16. Jahrhundert. In: Kritische Ausgabe 20 (2016), S. 81– 85. Bolte (Anm. 7), S. 1.
Abkürzungsverzeichnis ABäG ATB BHL BLV CBQ CCSL CSEL DTM DVjs DWB EKK
Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik Altdeutsche Textbibliothek Bibliotheca Hagiographica Latina Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart Catholic Biblical Quarterly Corpus Christianorum, Series Latina Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum Deutsche Texte des Mittelalters Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. 33 Bde. Leipzig 1854 – 1984. Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Begründet von Eduard Schweizer, Rudolf Schnackenburg. Hrsg. von Hans-Josef Klauck u. a. Zürich u. a. 1987 ff. EM Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hrsg. von Kurt Ranke u. a. 15 Bde. Berlin 1977 – 2015. FRLANT Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments GAG Göppinger Arbeiten zur Germanistik GRM Germanisch-romanische Monatsschrift HdA Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. unter besonderer Mitwirkung von Eduard Hoffmann-Krayer und Mitarbeit zahlreicher Fachgenossen von Hanns BächtoldStäubli. Berlin/New York 1927 – 1942. JBL Journal of Biblical Literature JOWG Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft Lexer Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Müller-Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1872 – 1878. LexMA Lexikon des Mittelalters. Hrsg. von Robert-Henri Bautier u. a. 9 Bde. München 1980 – 1999. LTG Literatur – Theorie – Geschichte LThK Lexikon für Theologie und Kirche. Begründet von Michael Buchberger. 3., völlig neu bearbeitete Aufl. Hrsg. von Walter Kasper u. a. 11 Bde. Freiburg i. Breisgau u. a. 1993 – 2001. MF Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus. Bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. 38., erneut revidierte Aufl. Stuttgart 1988. MGH Monumenta Germaniae Historica MTU Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters PBB Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur PL Patrologia Latina. Hrsg. von Jacques-Paul Migne. 221 Bde. Paris 1844 – 1864. PMLA Publications of the Modern Language Association of America QJB Querelles. Jahrbuch für Frauen- und Geschlechterforschung RAC Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der antiken Welt. Begründet von Franz Joseph Dölger. Hrsg. von Theodor Klauser u. a. Stuttgart 1950 ff. RGA Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Begründet von Johannes Hoops. Hrsg. von Heinrich Beck, Heiko Steuer, Dieter Timpe. 2., völlig neu bearbeitete und stark erweiterte Aufl. 37 Bde. Berlin/New York 1973 – 2008. 4 RGG Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4., völlig neu bearbeitete Aufl. Hrsg. von Hans Dieter Betz u. a. 8 Bde. Tübingen 1998 – 2005. https://doi.org/10.1515/9783110706093-017
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RLW
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