Annalen : lateinisch und deutsch. 1 (2011) 3534181514, 9783534181513


112 97 4MB

German Pages 276 [278] Year 2011

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
Cornelius Tacitus, Annalen
Buch I
Buch II
Buch III
Anmerkungen zu Buch I
Anmerkungen zu Buch II
Anmerkungen zu Buch III
Über die Reihe
Über den Inhalt
Back Cover
Recommend Papers

Annalen : lateinisch und deutsch. 1 (2011)
 3534181514, 9783534181513

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

EDITION ANTIKE Herausgegeben von Thomas Baier, Kai Brodersen und Martin Hose

CORNELIUS TACITUS

ANNALEN BAND I Lateinisch und deutsch

Eingeleitet, übersetzt und kommentiert von Alfons Städele

Verantwortlicher Bandherausgeber: Martin Hose Die EDITION ANTIKE wird gefördert durch den Wilhelm-Weischedel-Fonds der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft

Wissenschaftliche Redaktion und Schriftleitung: Federica Casolari-Sonders (Ludwig-Maximilians-Universität München)

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2011 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: COMPUTUS Druck Satz & Verlag, 55595 Gutenberg Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-18151-3 Gesamtnummer Band I–III: ISBN 978-3-534-23360-1 Elektronisch ist folgende Ausgabe erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73042-1

Inhalt Einleitung

.....................................................

7

Cornelius Tacitus, Annalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Buch I Buch II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Buch III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Anmerkungen zu Buch I

......................................

265

Anmerkungen zu Buch II

.....................................

269

Anmerkungen zu Buch III

....................................

273

Einleitung Tacitus – Leben und Werk Im Jahre 88 n. Chr. veranstaltete Kaiser Domitian Säkularspiele zur Feier des 800-jährigen Bestehens Roms. Dass er sich dabei verrechnete, konnte auch das angesehene Priesterkollegium der für ihre Durchführung zuständigen Quindecimvirn nicht verhindern, zu denen der Prätor Cornelius Tacitus gehörte. Dieser hatte die unter Vespasian begonnene Ämterlaufbahn unter dessen Söhnen Titus und Domitian fortgesetzt und schließlich 97 mit dem Konsulat und etwa 112/113 mit der Statthalterschaft über die wegen ihrer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung äußerst begehrte Provinz Asia gekrönt. 77 verlobte er sich mit der Tochter des Gouverneurs von Britannien Cn. Iulius Agricola und heiratete sie bald danach. Im Anschluss an die Prätur hielt er sich vier Jahre lang nicht in Rom auf; wahrscheinlich war er als Proprätor in einer Provinz tätig. Aus den Briefen seines Freundes Plinius des Jüngeren erfahren wir, dass er als Redner und Anwalt weit über die Hauptstadt hinaus bekannt war. Alle weiteren Angaben zu seiner Person müssen wir erschließen: Geboren ist er um 55, allem Anschein nach außerhalb Italiens. Selbst wenn der von dem älteren Plinius als Prokurator der Provinz Belgica erwähnte römische Ritter Cornelius Tacitus sein Vater gewesen wäre, sagte das über seine ‚landsmannschaftliche‘ Zugehörigkeit nichts aus. Nicht einmal sein Vorname steht fest; denn neben Publius ist auch Gaius überliefert. Jedenfalls machte Tacitus in Rom Karriere, nahm prestigeträchtige öffentliche Aufgaben wahr und gehörte zu der Gruppe von Männern, die man als Senatsaristokratie bezeichnet. Sein Todesjahr kennen wir ebenfalls nicht; wahrscheinlich hat er den Beginn der Regierung Kaiser Hadrians noch erlebt. Dass wir uns mit ihm beschäftigen, ist aber nicht dieser im kaiserzeitlichen Rom keineswegs ungewöhnlichen Laufbahn, sondern seiner reichen literarischen Tätigkeit zu verdanken, deren Erzeugnisse leider nur bruchstückhaft auf uns gekommen sind. Den Beginn machte im Jahre 98 die Biografie seines Schwiegervaters ((De De vita Iulii Agricolae Agricolae). ). Es folgte die einzige erhalten gebliebene ethnografische Monografie der römischen Literatur De origine et

8

Einleitung

situ Germanorum Germanorum,, meist kurz als Germania bezeichnet. Zugeschrieben wird ihm auch der Dialogus de oratoribus oratoribus,, eine weitere kleine Schrift, die sich mit einem in der frühen Kaiserzeit öfter behandelten Thema auseinandersetzt, dem Verlust der Freiheit ((libertas libertas)) unter dem Prinzipat, aufgezeigt am Schwinden der Beredsamkeit. Um 109 dürfte sein erstes großes Geschichtswerk Historiae abgeschlossen gewesen sein, das die Zeitgeschichte vom Vierkaiserjahr 69 bis zum Ende der flavischen Dynastie im Jahre 96 umfasste. An den Annalen schließlich scheint er bis zu seinem Tod um 120 gearbeitet zu haben.

Die Annalen Mit den Annalen („Jahrbücher“) greift Tacitus auf die alte historiografische Tradition zurück, die Darstellung der Ereignisse nach Jahren zu gliedern, das heißt im Rom seiner Zeit nach den beiden jeweiligen namengebenden Konsuln. Es handelt sich also nicht um den Titel des Werks, den wir wie so vieles bei Tacitus nicht kennen. Handschriftlich überliefert ist Ab excessu divi Augusti „vom Ableben des vergöttlichten Augustus an“, das heißt, die Annalen beginnen mit Augustus’ Tod im Jahre 14 n. Chr. Ob sie mit dem Erlöschen der julisch-claudischen Dynastie, Neros Selbstmord am 9. Juni 68, endeten oder ob der Autor noch das ganze Jahr 68 behandelte, wird umstritten bleiben, weil das Werk nur unvollständig auf uns gekommen ist und der Text mitten in Buch XVI im Jahr 66 abbricht. Ganz erhalten sind nur die Bücher I bis IV und XII bis XV sowie Teile von V, VI, XI und XVI. Wir wissen deshalb nicht einmal, wie viele Bücher die Annalen umfassten. Wahrscheinlich waren es 16; aber es können auch 18 gewesen sein. Die Beantwortung dieser Frage hängt unter anderem davon ab, wie man den Aufbau des Geschichtswerks zu rekonstruieren versucht. Denn es gibt zahlreiche Hinweise auf eine kunstvolle Untergliederung in Hexaden und Triaden, inhaltlich zusammengehörige Gruppen von jeweils sechs beziehungsweise drei Büchern: 1. Hexade (Buch I–VI): Regierung des Tiberius (14–37, also 23 Jahre) a) 1. Triade (Buch I–III): relativ gute Zeit mit der ‚Lichtgestalt‘ Germanicus als Gegenspieler b) 2. Triade (Buch IV–VI): stetige Verschlechterung mit dem ‚Teufel‘ Sejan als Gegenspieler 2. Hexade (Buch VII–XII): Regierungen des Caligula und Claudius (37–41 und 41–54, also 17 Jahre) 3. Teil (Buch XIII–XVI oder XVIII): Regierung Neros (54–68, also 14 Jahre)

Einleitung

9

Da von den Büchern VII bis X nichts erhalten ist und der Schluss des Werks fehlt, lässt sich nicht entscheiden, ob auch die zweite Hexade in Triaden gegliedert und Neros Herrschaft ab Buch 13 als Hexade komponiert war mit der Konsequenz, dass die Annalen aus 18 Büchern bestanden, oder ob Tacitus die 14 Jahre von 54 bis 68 in vier Büchern nach einem anderen Prinzip gestaltete: ein vielversprechender Anfang, das sogenannte quinquennium Neronis von 54 bis 58, in dem einen Buch XIII als insgesamt positives Präludium zu den etwa zehn Jahren einer immer grauenhafteren Schreckenszeit in der Triade Buch XIV–XVI? Daneben wird vor allem an der Sprache deutlich, dass wir es in den Annalen mit einem Kunstwerk zu tun haben, das End- und Höhepunkt einer langen historiografischen Entwicklung darstellt. Tacitus drückt sich äußerst knapp aus, verzichtet auf alltägliche Wörter, umschreibt vertraute Begriffe, greift auf poetische und prosaische Reminiszenzen zurück, wählt archaisierende Formen, vermeidet jede Gleichförmigkeit in Wortwahl und Satzbau und zwingt den Leser damit zu ständiger Aufmerksamkeit und Überlegung. Durch die in lateinischer Prosa ungewöhnliche Spitzenstellung des Prädikats erspart er sich häufig Satzverbindungen und drängt den Text dadurch noch mehr zusammen; auf der anderen Seite werden Sätze genauso ungewöhnlich durch die ‚einfachen‘ Konjunktionen atque atque,, et und -que aneinandergereiht. Immer wieder gibt er durch einen sogenannten Nachtrag einem abgeschlossen erscheinenden Gedankengang eine überraschende, meist dramatisierende Wendung. Zahlreiche Sentenzen beenden Abschnitte pointiert, manchmal auch mit sarkastischer Bitterkeit. Dass außer Livius und Vergil vor allem Sallust, den Tacitus als rerum Romanarum florentissimus auctor bezeichnet, ein bedeutsames stilistisches Vorbild war, lässt sich an vielen Stellen nachweisen. Leider fehlen uns andere wichtige Vergleichsmöglichkeiten, weil gerade von der Geschichtsschreibung des 1./2. Jahrhunderts n. Chr. fast nichts erhalten geblieben ist. Die Sonderstellung, die Tacitus in ihr einnahm, geht aber auch daraus hervor, dass er in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts von Ammianus Marcellinus fortgesetzt wurde, dessen ebenfalls nur fragmentarisch erhaltenen Res gestae im Jahre 97 mit Kaiser Nerva begannen und bis in seine eigene Zeit reichten. Die äußerst anspruchsvolle sprachlich-stilistische Gestaltung hat es wahrscheinlich verhindert, dass Tacitus zu einem gängigen, etwa im Schulunterricht gelesenen Autor wurde. Das wiederum könnte dazu geführt haben, dass seine Werke insgesamt nur schlecht überliefert sind: Die Bruchstücke der Annalen haben Antike und Mittelalter lediglich in zwei Handschriften überdauert, die beide in der Biblioteca Laurenziana in Florenz liegen. Der Laurentianus 68.1 (= Mediceus I), der im 9. Jahrhundert vermutlich im Kloster Corvey (bei Höxter im Weserbergland) geschrieben wurde, enthält die Bücher I–VI, der aus

10

Einleitung

dem 11. Jahrhundert und dem Kloster Monte Cassino stammende Laurentianus 68.2 (= Mediceus II) die Bücher XI–XVI, auf die als 17. Buch das erste Buch der Historien folgt. Auch von diesen kennen wir nur die Bücher I–IV und den Anfang des fünften. Tacitus hatte sich vermutlich als einer der Männer aus der Provinz, die er in den Annalen (3,55,3 und 16,5,1) mit deutlicher Sympathie charakterisiert, in die Senatsaristokratie emporgearbeitet. Als Aufsteiger vertrat er besonders nachdrücklich deren Auffassung, Roms Weg zur Weltmacht und die Behauptung dieser Stellung seien den vorbildlichen moralischen Verhaltensweisen der idealisiert gesehenen Angehörigen dieses Standes ((mos mos maiorum) maiorum) zu verdanken. Von ihnen stand wie er ein Teil der von Augustus geschaffenen Staatsform des Prinzipats („Herrschaft des ersten Bürgers“) distanziert gegenüber, weil ihrer Meinung nach die republikanischen Verfassungsstrukturen nur zum Schein beibehalten worden waren. Auf der anderen Seite war sich Tacitus bewusst, dass die von ihm immer wieder beschworene senatorische Freiheit unter den geänderten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in die Katastrophe der Bürgerkriege und damit letztlich zur Alleinherrschaft geführt hatte. Das sich daraus ergebende Dilemma ließ sich seiner Meinung nach nur lösen, wenn der „erste Bürger“ bereit war, den Senat als das jahrhundertelang wichtigste politische Gremium zu achten und ihn zumindest formell an allen wichtigen Entscheidungen zu beteiligen, während dessen Mitglieder selbstbewusst und loyal an der Verwaltung und Verteidigung des Reichs mitarbeiteten und dabei die Grenzen respektierten, die der Prinzipat setzte. In der Vergangenheit war das nur selten der Fall gewesen. Viele Herrscher gebärdeten sich wie Tyrannen selbstherrlich und grausam, anstatt das erforderliche Entgegenkommen ((clementia clementia,, lenitas lenitas)) zu zeigen. Die meisten Senatoren wiederum erwiesen ihnen nicht nur den nötigen Gehorsam ((obsequium obsequium), ), sondern suchten sich aus Eigennutz oder mangelnder Zivilcourage an unterwürfiger Liebedienerei ((adulatio adulatio,, servitium servitium)) zu überbieten; die starre oppositionelle Haltung einiger weniger dagegen konnte man als bloße Aufsässigkeit ((contumacia contumacia)) verstehen. Am Schluss seines Lebens erinnerte Tacitus mit den in den Schreckensbildern von Neros Terrorregiment endenden Annalen beide Parteien daran, dass in der unumgänglich gewordenen Herrschaft des einen Mannes nur der Mittelweg ((moderatio moderatio,, temperamentum temperamentum)) dem staatstragenden Teil des römischen Volkes ein seiner Würde entsprechendes Dasein ermöglichte; zugleich sicherte er den Fortbestand des Weltreichs in Frieden nach innen und außen.

CORNELII TACITI ANNALES (AB EXCESSU DIVI AUGUSTI) (LIBRI I–III)

CORNELIUS TACITUS ANNALEN (VOM ABLEBEN DES VERGÖTTLICHTEN AUGUSTUS AN) (BÜCHER I–III)

LIBER PRIMUS 1 (1) Urbem Romam a principio reges habuere; libertatem et consulatum L. Brutus instituit. dictaturae ad tempus sumebantur; neque decemviralis potestas ultra biennium neque tribunorum militum consulare ius diu valuit. non Cinnae, non Sullae longa dominatio; et Pompei Crassique potentia cito in Caesarem, Lepidi atque Antonii arma in Augustum cessere, qui cuncta discordiis civilibus fessa nomine principis sub imperium accepit. (2) sed veteris populi Romani prospera vel adversa claris scriptoribus memorata sunt, temporibusque Augusti dicendis non defuere decora ingenia, donec gliscente adulatione deterrerentur: Tiberii Gaique et Claudii ac Neronis res florentibus ipsis ob metum falsae, postquam occiderant recentibus odiis compositae sunt. (3) inde consilium mihi pauca de Augusto et extrema tradere, mox Tiberii principatum et cetera, sine ira et studio, quorum causas procul habeo. 2 (1) Postquam Bruto et Cassio caesis nulla iam publica arma, Pompeius apud Siciliam oppressus exutoque Lepido, interfecto Antonio ne Iulianis quidem partibus nisi Caesar dux reliquus, posito triumviri nomine consulem se ferens et ad tuendam plebem tribunicio iure contentum, ubi militem donis, populum annona, cunctos dulcedine otii pellexit, insurgere paulatim, munia senatus magistratuum legum in se trahere, nullo adversante, cum ferocissimi per acies aut proscriptione cecidissent, ceteri nobilium, quanto quis servitio promptior, opibus et honoribus extollerentur ac novis ex rebus aucti tuta et praesentia quam vetera et periculosa mallent. (2) neque provinciae illum rerum statum abnuebant, suspecto senatus populique imperio ob certamina potentium et

Buch I 1 (1) Über die Stadt Rom herrschten anfangs Könige. Freiheit und Konsulat1 führte L. Brutus ein. Zu Diktaturen griff man nur, wenn die Lage es erforderte; auch die Amtsgewalt der Zehnmänner hatte nicht mehr als zwei Jahre Bestand, und die konsularische Befugnis der Militärtribune blieb ebenfalls nicht lange in Kraft. Nicht Cinnas, nicht Sullas Gewaltherrschaft war von Dauer, und Pompeius’ und Crassus’ Macht fiel schnell an Caesar, Lepidus’ und Antonius’ Militärpotenzial aber an Augustus, der das gesamte durch die Auseinandersetzungen zwischen den Bürgern erschöpfte Staatswesen unter der Bezeichnung Princeps („erster Bürger“) in seine Befehlsgewalt übernahm. (2) Doch die guten oder schlechten Zeiten des frühen römischen Volkes sind schon von bedeutenden Schriftstellern behandelt worden, und der Darstellung der Epoche des Augustus versagten sich glänzende Talente so lange nicht, bis sie durch die überhandnehmende Kriecherei abgeschreckt wurden. Die Regierungszeiten des Tiberius und Gaius2 sowie des Claudius und Nero sind, solange sie auf dem Gipfel ihrer Macht standen, aus Furcht unwahr, und nachdem sie umgekommen waren, mit frischen Gehässigkeiten dargestellt worden. (3) Deshalb habe ich mir vorgenommen, nur weniges über Augustus, und zwar über seine letzten Lebensjahre, zu berichten, anschließend über den Prinzipat des Tiberius und alle weiteren Ereignisse, ohne Erbitterung und Parteilichkeit, für die mir Gründe fernliegen. 2 (1) Als es nach dem gewaltsamen Ende des Brutus und Cassius keine vom Staat unterhaltenen Heere mehr gab, als Pompeius3 bei Sizilien überwältigt und nach der Kaltstellung des Lepidus und der Tötung des Antonius auch für die Partei der Julianer nur mehr Caesar4 als führende Persönlichkeit übrig geblieben war, legte dieser die Bezeichnung Triumvir ab, trat als Konsul auf und tat so, als begnüge er sich zum Schutz der Plebejer mit den Rechten eines Tribuns;5 sobald er dann die Soldaten mit Geschenken, das Volk mit der Verteilung von Getreide, alle zusammen mit den Annehmlichkeiten des Friedens betört hatte, wagte er sich Schritt für Schritt nach oben und zog die Befugnisse des Senats, der Amtsträger und der Gesetze an sich, ohne auf Widerstand zu stoßen. Denn die unerschrockensten Zeitgenossen waren auf den Schlachtfeldern oder durch Ächtung umgekommen, die übrigen Angehörigen des Adels aber stiegen desto schneller durch Reichtum und Ehrenämter auf, je bereitwilliger einer Unterwürfigkeit zeigte, und zogen, durch die neue Entwicklung begünstigt, die Sicherheit der Gegenwart den Gefahren der Vergangenheit vor. (2) Auch die Provinzen stellten sich nicht gegen diesen Zustand, da die Herrschaft von Senat und Volk wegen der Kämpfe unter den Machthabern und

14

Liber primus

avaritiam magistratuum, invalido legum auxilio, quae vi ambitu, postremo pecunia turbabantur. 3 (1) Ceterum Augustus subsidia dominationi Claudium Marcellum, sororis filium, admodum adulescentem pontificatu et curuli aedilitate, M. Agrippam, ignobilem loco, bonum militia et victoriae socium, geminatis consulatibus extulit, mox defuncto Marcello generum sumpsit; Tiberium Neronem et Claudium Drusum privignos imperatoriis nominibus auxit, integra etiam tum domo sua. (2) nam genitos Agrippa Gaium ac Lucium in familiam Caesarum induxerat, necdum posita puerili praetexta principes iuventutis appellari, destinari consules specie recusantis flagrantissime cupiverat. (3) ut Agrippa vita concessit, L. Caesarem euntem ad Hispanienses exercitus, Gaium remeantem Armenia et vulnere invalidum mors fato propera vel novercae Liviae dolus abstulit Drusoque pridem exstincto Nero solus e privignis erat, illuc cuncta vergere: filius, collega imperii, consors tribuniciae potestatis adsumitur omnesque per exercitus ostentatur, non obscuris, ut antea, matris artibus, sed palam hortatu. (4) nam senem Augustum devinxerat adeo, uti nepotem unicum, Agrippam Postumum, in insulam Planasiam proiecerit, rudem sane bonarum artium et robore corporis stolide ferocem, nullius tamen flagitii compertum. (5) at hercule Germanicum, Druso ortum, octo apud Rhenum legionibus imposuit adscirique per adoptionem a Tiberio iussit, quamquam esset in domo Tiberii filius iuvenis, sed quo pluribus munimentis insisteret. (6) Bellum ea tempestate nullum nisi adversus Germanos supererat, abolendae magis infamiae ob amissum cum Quinctilio Varo exercitum quam cupidine proferendi imperii aut dignum ob praemium. (7) domi res tranquillae, eadem magistratuum vocabula; iuniores post Actiacam victoriam, etiam senes plerique inter bella civium nati: quotus quisque reliquus, qui rem publicam vidisset?

Buch I

15

der Geldgier der Amtsträger in Misskredit geraten war. Unzureichend war dabei der Schutz durch die Gesetze: Sie wurden durch Gewaltanwendung und politische Einflussnahme, schließlich durch Bestechung zerrüttet. 3 (1) Augustus aber zeichnete als Stützen seiner Gewaltherrschaft den noch sehr jungen Sohn seiner Schwester, Claudius Marcellus, durch Pontifikat und kurulische Ädilität sowie M. Agrippa, der zwar nicht von Adel, aber ein hervorragender Soldat war und ihn bei seinem Sieg begleitet hatte, durch zwei aufeinanderfolgende Konsulate aus; später dann, nach dem Ableben des Marcellus, nahm er ihn zum Schwiegersohn. Seine Stiefsöhne Tiberius Nero und Claudius Drusus ehrte er durch den Imperatortitel; dabei war sein eigenes Haus auch damals noch vollzählig. (2) Denn die Sprösslinge des Agrippa, Gaius und Lucius, hatte er in die Familie der Caesaren aufgenommen, und obwohl sie die Knabentoga noch nicht abgelegt hatten, war ihre Ernennung zu „Führern der Jungmannschaft“6 und die Nominierung zu Konsuln sein sehnlichster Wunsch gewesen; dabei tat er so, als sträube er sich dagegen. (3) Als dann Agrippa aus dem Leben geschieden war, raffte L. Caesar auf dem Weg zu den Heeren in Spanien und den nach einer Verwundung krank gewordenen Gaius auf dem Rückweg von Armenien ein vom Schicksal zu früh bestimmter Tod oder ein Anschlag ihrer Stiefgroßmutter Livia hinweg, und nachdem Drusus schon früher umgekommen war, blieb Nero7 als Einziger von den Stiefsöhnen übrig. Auf ihn lief alles zu: Als Sohn, Mitregent und Mitinhaber der tribunizischen Gewalt wurde er angenommen und allen Heeren vorgestellt, nicht wie früher aufgrund von dunklen Machenschaften seiner Mutter, sondern mit ihrer offenkundigen Unterstützung. (4) Denn sie hatte sich den alt gewordenen Augustus derart hörig gemacht, dass er seinen einzigen Enkel Agrippa Postumus auf die Insel Planasia verstieß, der zugegebenermaßen keine Spur anständigen Verhaltens zeigte und mit seiner Körperkraft dummdreist auftrumpfte, dem man aber keinerlei Schandtat nachweisen konnte. (5) Andererseits übertrug er, beim Herkules,8 dem Drusussohn Germanicus das Kommando über die acht Legionen am Rhein und ließ ihn durch Tiberius adoptieren, obwohl im Hause des Tiberius ein bereits erwachsener Sohn9 lebte, das alles nur, um über mehr Stützen zu verfügen. (6) Krieg wurde zu dieser Zeit nur noch gegen die Germanen geführt, mehr um die Schmach des mit Quinctilius Varus verlorenen Heeres zu tilgen als aus dem Bestreben heraus, das Reichsgebiet zu vergrößern, oder wegen eines angemessenen Gewinns. (7) Zu Hause war die Lage ruhig, die Amtsträger hatten die gleichen Bezeichnungen. Die jungen Leute waren nach dem Sieg von Aktium, sogar die älteren mehrheitlich schon während der Bürgerkriege zur Welt gekommen: Wie viele gab es da noch, die die Republik erlebt hatten?

16

Liber primus

4 (1) Igitur verso civitatis statu nihil usquam prisci et integri moris: omnes exuta aequalitate iussa principis aspectare, nulla in praesens formidine, dum Augustus aetate validus seque et domum et pacem sustentavit. (2) postquam provecta iam senectus aegro et corpore fatigabatur aderatque finis et spes novae, pauci bona libertatis in cassum disserere, plures bellum pavescere, alii cupere; pars multo maxima imminentes dominos variis rumoribus differebant: (3) trucem Agrippam et ignominia accensum non aetate neque rerum experientia tantae moli parem; Tiberium Neronem maturum annis, spectatum bello, sed vetere atque insita Claudiae familiae superbia, multaque indicia saevitiae, quamquam premantur, erumpere. (4) hunc et prima ab infantia eductum in domo regnatrice; congestos iuveni consulatus, triumphos; ne iis quidem annis, quibus Rhodi specie secessus exulem egerit, aliud quam iram et simulationem et secretas libidines meditatum. (5) accedere matrem muliebri impotentia: serviendum feminae duobusque insuper adulescentibus, qui rem publicam interim premant quandoque distrahant. 5 (1) Haec atque talia agitantibus gravescere valitudo Augusti, et quidam scelus uxoris suspectabant. quippe rumor incesserat paucos ante menses Augustum electis consciis et comite uno Fabio Maximo Planasiam vectum ad visendum Agrippam; multas illic utrimque lacrimas et signa caritatis, spemque ex eo fore ut iuvenis penatibus avi redderetur. (2) quod Maximum uxori Marciae aperuisse, illam Liviae. gnarum id Caesari; neque multo post exstincto Maximo, dubium an quaesita morte, auditos in funere eius Marciae gemitus semet incusantis, quod causa exitii marito fuisset. (3) utcumque se ea res habuit, vixdum ingressus Illyricum Tiberius properis matris litteris accitur; neque satis compertum est, spirantem adhuc Augustum apud urbem

Buch I

17

4 (1) Deshalb fand sich, nachdem der Zustand des Gemeinwesens grundlegend verändert worden war, nirgends mehr eine Spur des alten, unverdorbenen Umgangs miteinander: Alle achteten nach der Aufhebung der Gleichheit vor dem Gesetz nur mehr auf die Befehle des Princeps, obwohl für den Augenblick kein Anlass zu Befürchtungen bestand, solange Augustus noch rüstig an Jahren sich, sein Haus und den Frieden aufrechterhielt. (2) Nachdem ihm dann in fortgeschrittenem Alter eine Krankheit auch körperlich zusetzte und sich sein Lebensende und damit neue Hoffnungen abzeichneten, erörterte eine Minderheit ergebnislos die Vorteile der Freiheit, die Mehrheit ängstigte sich vor einem Krieg, andere sehnten ihn herbei. Der weitaus größte Teil ließ sich über die bevorstehenden Herren mit verschiedenen Vermutungen aus: (3) Der unberechenbare Agrippa, den seine schändliche Behandlung10 empört habe, sei weder von seinem Alter noch von seiner politischen Erfahrung her einer solch schweren Aufgabe gewachsen; Tiberius Nero sei zwar reif an Jahren und habe sich im Krieg bewährt, aber er sei geprägt von dem alten, der claudischen Familie angeborenen Dünkel, und es brächen viele Anzeichen seines grausamen Wesens durch trotz der Bemühungen, sie zu vertuschen. (4) Er sei auch von Kindesbeinen an in einem Herrscherhaus aufgewachsen; überhäuft habe man ihn schon als jungen Mann mit Konsulaten und Triumphen. Selbst in den Jahren, die er auf Rhodos unter dem Vorwand des freiwilligen Rückzugs als Verbannter verbracht habe,11 habe er nur Groll, Verstellung und das Licht der Öffentlichkeit scheuende Lüste im Sinn gehabt. (5) Dazu komme noch seine Mutter mit ihrer weiblichen Herrschsucht: Als Sklaven dienen müsse man einer Frau und darüber hinaus zwei jungen Männern, die das Staatswesen zunächst belasten und in absehbarer Zeit dann spalten würden. 5 (1) Während man Überlegungen wie diese anstellte, verschlechterte sich der Gesundheitszustand des Augustus, und manche munkelten von einem Verbrechen seiner Frau. Denn es war das Gerücht aufgekommen, wenige Monate vorher sei Augustus – eingeweiht gewesen sei nur ein kleiner Kreis ‒ mit Fabius Maximus als einzigem Begleiter nach Planasia gefahren, um Agrippa zu besuchen. Viele Tränen seien dort auf beiden Seiten geflossen und Beweise der Zuneigung ausgetauscht worden, und das habe die Hoffnung genährt, der junge Mann werde wieder in das Haus des Großvaters aufgenommen. (2) Das habe Maximus seiner Frau Marcia offenbart und die der Livia. Davon habe der Caesar erfahren. Und als nicht viel später Maximus ums Leben gekommen sei, wobei unklar blieb, ob er den Tod selbst suchte, habe man bei seinem Begräbnis Marcia jammern hören, sie mache sich Vorwürfe, schuld am Tod ihres Mannes zu sein. (3) Ob das nun stimmt oder nicht, kaum war Tiberius in Illyricum eingerückt, wurde er durch ein Eilschreiben seiner Mutter zurückbeordert, und es lässt sich nicht genau feststellen, ob er

18

Liber primus

Nolam an exanimem reppererit. (4) acribus namque custodiis domum et vias saepserat Livia, laetique interdum nuntii vulgabantur, donec provisis quae tempus monebat simul excessisse Augustum et rerum potiri Neronem fama eadem tulit. 6 (1) Primum facinus novi principatus fuit Postumi Agrippae caedes, quem ignarum inermumque quamvis firmatus animo centurio aegre confecit. nihil de ea re Tiberius apud senatum disseruit: patris iussa simulabat, quibus praescripsisset tribuno custodiae adposito, ne cunctaretur Agrippam morte adficere, quandoque ipse supremum diem explevisset. (2) multa sine dubio saevaque Augustus de moribus adulescentis questus, ut exilium eius senatus consulto sanciretur, perfecerat; ceterum in nullius umquam suorum necem duravit, neque mortem nepoti pro securitate privigni inlatam credibile erat, propius vero Tiberium ac Liviam, illum metu, hanc novercalibus odiis, suspecti et invisi iuvenis caedem festinavisse. (3) nuntianti centurioni, ut mos militiae, factum esse quod imperasset, neque imperasse sese et rationem facti reddendam apud senatum respondit. quod postquam Sallustius Crispus particeps secretorum (is ad tribunum miserat codicillos) comperit, metuens ne reus subderetur, iuxta periculoso ficta seu vera promeret, monuit Liviam, ne arcana domus, ne consilia amicorum, ministeria militum vulgarentur, neve Tiberius vim principatus resolveret cuncta ad senatum vocando: eam condicionem esse imperandi, ut non aliter ratio constet quam si uni reddatur. 7 (1) At Romae ruere in servitium consules patres eques. quanto quis inlustrior, tanto magis falsi ac festinantes vultuque composito, ne laeti excessu principis neu tristior primordio, lacrimas gaudium, questus adulatione miscebant. (2) SEX. POMPEIUS et SEX. AP

ULEIUS consules primi in verba Tiberii Caesaris iuravere, apudque eos Seius Strabo et C. Turranius, ille praetoriarum

Buch I

19

Augustus in der Stadt Nola noch atmend oder bereits leblos vorfand. (4) Denn durch scharf zupackende Wachen hatte Livia Haus und Wege abriegeln lassen, und von Zeit zu Zeit streute man im Volk erfreuliche Nachrichten, bis die Vorkehrungen getroffen waren, die der Augenblick erforderte, und gleichzeitig dieselbe Nachricht verkündete, Augustus sei gestorben und Nero übernehme die Macht. 6 (1) Die erste Untat des neuen Prinzipats war Postumus Agrippas Ermordung; obwohl er ahnungslos und unbewaffnet war, konnte ihn ein Zenturio trotz seines schneidigen Vorgehens nur mit Mühe überwältigen. Keine Erklärung gab Tiberius in dieser Angelegenheit vor dem Senat ab: Er tat so, als habe es Befehle seines Vaters gegeben, mit denen dieser den wachhabenden Tribun anwies, Agrippa unverzüglich umzubringen, sobald für ihn selbst die letzte Stunde geschlagen habe. (2) Zweifellos hatte sich Augustus häufig bitter über den Lebenswandel des jungen Mannes beklagt und damit erreicht, dass dessen Verbannung durch Senatsbeschluss bestätigt wurde; aber er griff nie so hart durch, dass er einen seiner Angehörigen hätte ermorden lassen, und es war auch nicht glaubhaft, der Enkel sei für die Sicherheit des Stiefsohns umgebracht worden. Näher kommt der Wahrheit, Tiberius und Livia hätten, er aus Furcht, sie aus stiefmütterlichen Hassgefühlen heraus, den verdächtigen und unbeliebten jungen Mann schnell beseitigen lassen. (3) Dem Zenturio, der, wie beim Militär üblich, die Ausführung seines Befehls meldete, gab er zur Antwort, er habe keinen Befehl erteilt, und Rechenschaft über die Tat sei vor dem Senat abzulegen. Als Sallustius Crispus, der an der geheimen Aktion beteiligt war – er hatte dem Tribun den schriftlichen Auftrag übermittelt ‒, davon erfuhr, warnte er aus Furcht, er werde als Schuldiger vorgeschoben, wobei es dann gleich gefährlich sei, zu lügen oder die Wahrheit vorzubringen, Livia davor, Familiengeheimnisse, Ratschläge von Freunden und Dienstleistungen von Soldaten in die Öffentlichkeit zu tragen; auch solle Tiberius die Macht des Prinzipats nicht dadurch untergraben, dass er alle Entscheidungen an den Senat verweise: Das sei ein Grundsatz des Herrschens als Oberbefehlshaber, dass eine Rechnung nur dann nicht offen bleibe, wenn man darüber lediglich der einen Person gegenüber Rechenschaft ablege. 7 (1) Doch in Rom stürzten sie sich in die Knechtschaft, Konsuln, Väter12, Ritter. Je höher einer gesellschaftlich stand, desto scheinheiliger und beflissener gaben sie sich, und mit verlogener Miene vermengten sie, um nicht froh zu erscheinen über das Ableben des Princeps oder zu tief betrübt über den Neuanfang, Tränen mit Freude und Klagen mit Schmeichelei. (2) Die Konsuln SEX. POMPEIUS und SEX. APPULEIUS leisteten als Erste den Treueid auf Tiberius Caesar, und dann ihnen gegenüber Seius Strabo und C. Turranius, der eine Kommandant der Prätorianergarde, der andere Leiter der Getreideversorgung,

20

Liber primus

cohortium praefectus, hic annonae; mox senatus milesque et populus. (3) nam Tiberius cuncta per consules incipiebat, tamquam vetere re publica et ambiguus imperandi. ne edictum quidem, quo patres in curiam vocabat, nisi tribuniciae potestatis praescriptione posuit sub Augusto acceptae. (4) verba edicti fuere pauca et sensu permodesto: de honoribus parentis consulturum, neque abscedere a corpore idque unum ex publicis muneribus usurpare. (5) sed defuncto Augusto signum praetoriis cohortibus ut imperator dederat; excubiae arma, cetera aulae; miles in forum, miles in curiam comitabatur. litteras ad exercitus tamquam adepto principatu misit, nusquam cunctabundus nisi cum in senatu loqueretur. (6) causa praecipua ex formidine, ne Germanicus, in cuius manu tot legiones, immensa sociorum auxilia, mirus apud populum favor, habere imperium quam exspectare mallet. (7) dabat et famae, ut vocatus electusque potius a re publica videretur quam per uxorium ambitum et senili adoptione inrepsisse. postea cognitum est ad introspiciendas etiam procerum voluntates inductam dubitationem; nam verba vultus in crimen detorquens recondebat. 8 (1) Nihil primo senatus die agi passus nisi de supremis Augusti, cuius testamentum inlatum per virgines Vestae Tiberium et Liviam heredes habuit. Livia in familiam Iuliam nomenque Augustum adsumebatur; in spem secundam nepotes pronepotesque, tertio gradu primores civitatis scripserat, plerosque invisos sibi, sed iactantia gloriaque ad posteros. (2) legata non ultra civilem modum, nisi quod populo et plebi quadringenties tricies quinquies, praetoriarum cohortium militibus singula nummum milia, legionariis aut cohortibus civium Romanorum trecenos nummos viritim dedit. (3) tum consultatum de honoribus; ex quis maxime insignes viri, ut porta triumphali duceretur funus, Gallus Asinius, ut legum latarum tituli, victarum ab eo gentium vocabula anteferrentur, L. Arruntius censuere. (4) addebat Messala Valerius

Buch I

21

schließlich Senat, Militär und Volk. (3) Denn Tiberius ließ alle Amtshandlungen durch die Konsuln einleiten, so als bestehe die alte Staatsform weiter und als sei er noch unschlüssig, ob er die Herrschaft antreten solle. Nicht einmal das Edikt, mit dem er die Väter in die Kurie einbestellte, erließ er ohne Berufung auf die tribunizische Gewalt, die er unter Augustus erhalten hatte. (4) Das Edikt umfasste nur wenige Worte in einem sehr zurückhaltenden Ton: Über Ehrungen für seinen Vater wolle er beraten, und er weiche nicht von dem Leichnam; das sei die einzige öffentliche Aufgabe, die er beanspruche. (5) Aber nach dem Ableben des Augustus hatte er den Prätorianerkohorten die Parole wie ein Oberbefehlshaber ausgegeben. Wachmannschaften, Waffen und die übrigen Begleiterscheinungen eines Hofstaats umgaben ihn; Soldaten geleiteten ihn aufs Forum, Soldaten in die Kurie. Schreiben schickte er an die Heere, als habe er den Prinzipat übernommen, nirgends zögerlich, außer wenn er im Senat sprach. (6) Der Hauptgrund dafür war die Befürchtung, Germanicus, in dessen Hand so viele Legionen und unzählige Hilfstruppen der Bundesgenossen waren und der beim Volk eine beispiellose Beliebtheit genoss, könne die Herrschaft lieber ausüben als auf sie warten wollen. (7) Er hatte dabei auch die öffentliche Meinung im Auge, um eher den Eindruck zu erwecken, vom Gemeinwesen beauftragt und auserwählt worden zu sein als sich durch die Einflussnahme einer Ehefrau und die Adoption durch einen alten Mann eingeschlichen zu haben. Später stellte sich heraus, dass er, um die Absichten auch der Angehörigen des Hochadels herauszubekommen, seine Unentschlossenheit nur vorgespielt hatte; denn Worte und Mienen deutete er böswillig zu Verbrechen um und behielt sie so im Gedächtnis. 8 (1) Keinen anderen Punkt gestattete er am ersten Tag der Senatssitzung zu behandeln als die letzten Ehren für Augustus, dessen Testament durch die Vestalischen Jungfrauen hereingetragen wurde und Tiberius und Livia als Erben aufführte. Livia wurde in die julische Familie aufgenommen und erhielt den Titel Augusta; als Erben zweiten Grades hatte er seine Enkel und Urenkel, an die dritte Stelle die führenden Persönlichkeiten der Bürgerschaft gesetzt, obwohl er die meisten davon nicht ausstehen konnte, aber er wollte einen guten Eindruck hinterlassen und bei der Nachwelt angesehen sein. (2) Die Vermächtnisse überstiegen den für einen Bürger üblichen Rahmen nicht, nur dass er dem Gesamtvolk und dem einfachen Volk 43,5 Millionen, den Soldaten der Prätorianerkohorten 1000, den Legionären oder den Kohorten römischer Bürger13 je Mann 300 Sesterze gab. (3) Dann fasste man Beschlüsse zu den Ehrungen; dazu stellten die angesehensten Männer Anträge, nämlich Gallus Asinius, der Leichenzug solle durch ein Triumphtor geführt, und L. Arruntius, die Überschriften der erlassenen Gesetze und die Namen der von ihm besiegten Völker sollten vorangetragen werden. (4) Zusätzlich brachte Messala Valerius

22

Liber primus

renovandum per annos sacramentum in nomen Tiberii; interrogatusque a Tiberio, num se mandante eam sententiam prompsisset, sponte dixisse respondit, neque in iis quae ad rem publicam pertinerent consilio nisi suo usurum, vel cum periculo offensionis: ea sola species adulandi supererat. (5) conclamant patres corpus ad rogum umeris senatorum ferendum. remisit Caesar adroganti moderatione, populumque edicto monuit ne, ut quondam nimiis studiis funus divi Iulii turbassent, ita Augustum in foro potius quam in campo Martis, sede destinata, cremari vellent. (6) die funeris milites velut praesidio stetere, multum inridentibus qui ipsi viderant quique a parentibus acceperant diem illum crudi adhuc servitii et libertatis improspere repetita, cum occisus dictator Caesar aliis pessimum, aliis pulcherrimum facinus videretur: nunc senem principem, longa potentia, provisis etiam heredum in rem publicam opibus, auxilio scilicet militari tuendum, ut sepultura eius quieta foret. 9 (1) Multus hinc ipso de Augusto sermo, plerisque vana mirantibus: quod idem dies accepti quondam imperii princeps et vitae supremus, quod Nolae in domo et cubiculo, in quo pater eius Octavius, vitam finivisset. (2) numerus etiam consulatuum celebrabatur, quo Valerium Corvum et C. Marium simul aequaverat, continuata per septem et triginta annos tribunicia potestas, nomen imperatoris semel atque vicies partum aliaque honorum multiplicata aut nova. (3) at apud prudentes vita eius varie extollebatur arguebaturve. hi pietate erga parentem et necessitudine rei publicae, in qua nullus tunc legibus locus, ad arma civilia actum, quae neque parari possent neque haberi per bonas artes. (4) multa Antonio, dum interfectores patris ulcisceretur, multa Lepido concessisse. postquam hic socordia senuerit, ille per libidines pessum datus sit, non aliud

Buch I

23

vor, man solle den Eid auf die Person des Tiberius jedes Jahr erneuern, und auf die Frage des Tiberius, ob er diesen Antrag auf seine Weisung hin gestellt habe, gab er zur Antwort, er habe das von sich aus gesagt und werde in allen Angelegenheiten, die den Staat beträfen, nur seiner eigenen Überzeugung folgen, selbst wenn das mit der Gefahr verbunden sei, sich unbeliebt zu machen: Das war die einzige Form der Speichelleckerei, die sich nicht überbieten ließ. (5) Einhellig beantragten die Väter, der Leichnam solle zum Scheiterhaufen auf den Schultern von Senatoren getragen werden. Davon entband sie der Caesar in überheblicher Bescheidenheit und warnte das Volk in einem Erlass, wie sie einst in übertriebener Anteilnahme die Leichenfeier des vergöttlichten Julius gestört hätten, so nun haben zu wollen, dass Augustus auf dem Forum eingeäschert werde statt auf dem Marsfeld, der vorgesehenen Ruhestätte. (6) Am Begräbnistag standen Soldaten wie zum Schutz Spalier; darüber spotteten die Zeitgenossen ausgiebig, die den denkwürdigen Tag persönlich miterlebt und durch ihre Eltern von ihm gehört hatten, an dem die Knechtschaft noch ganz frisch war und die Freiheit auf unglückliche Art und Weise wiedergewonnen werden sollte, damals, als die Ermordung des Diktators Caesar den einen das schlimmste Verbrechen, den anderen die größte Heldentat zu sein schien: Jetzt müsse man den greisen Princeps nach langer Machtausübung und nachdem dafür gesorgt worden sei, dass auch seine Erben über die Machtmittel gegen die Republik14 verfügten, natürlich durch militärischen Beistand schützen, damit sein Begräbnis ungestört verlaufen könne! 9 (1) Ausgiebig wurde dann über Augustus selbst gesprochen, wobei der Mehrzahl Nebensächlichkeiten auffielen: Der gleiche Monatstag sei einst der erste bei seinem Regierungsantritt und nun der letzte in seinem Leben gewesen; in Nola habe er im gleichen Haus und Zimmer wie sein Vater Octavius sein Leben beschlossen. (2) Auch die Anzahl seiner Konsulate wurde bewundernd erwähnt, mit der er Valerius Corvus und C. Marius zusammengenommen15 erreicht hatte, dazu die 37 Jahre hindurch ununterbrochen ausgeübte tribunizische Gewalt, der einundzwanzigmal erworbene Imperatortitel und anderes an Ehren, die ihm vielfach erwiesen oder für ihn neu geschaffen worden waren. (3) Doch von den Leuten mit Verstand wurde sein Leben abwechselnd gerühmt oder verurteilt. Die einen meinten, er sei aus Pflichtgefühl seinem Vater16 gegenüber und aus der Notlage des Staates heraus, in dem es damals keinen Spielraum für Gesetze mehr gab, in den Bürgerkrieg getrieben worden, den man weder vorbereiten noch führen könne mit ehrenwerten Grundsätzen. (4) Viele Zugeständnisse habe er Antonius machen müssen, solange er sich an den Mördern seines Vaters rächte, viele Lepidus. Nachdem der eine in politischer Untätigkeit ein alter Mann geworden sei, der andere sich durch seine Exzesse zugrunde gerichtet habe, habe es für das durch die Auseinandersetzungen zerrissene Vaterland

24

Liber primus

discordantis patriae remedium fuisse quam ab uno regeretur. (5) non regno tamen neque dictatura, sed principis nomine constitutam rem publicam; mari Oceano aut amnibus longinquis saeptum imperium; legiones provincias classes, cuncta inter se conexa; ius apud cives, modestiam apud socios; urbem ipsam magnifico ornatu; pauca admodum vi tractata, quo ceteris quies esset. 10 (1) Dicebatur contra: pietatem erga parentem et tempora rei publicae obtentui sumpta; ceterum cupidine dominandi concitos per largitionem veteranos, paratum ab adulescente privato exercitum, corruptas consulis legiones, simulatam Pompeianarum gratiam partium. (2) mox ubi decreto patrum fasces et ius praetoris invaserit, caesis Hirtio et Pansa, sive hostis illos, seu Pansam venenum vulneri adfusum, sui milites Hirtium et machinator doli Caesar abstulerat, utriusque copias occupavisse; extortum invito senatu consulatum, armaque quae in Antonium acceperit contra rem publicam versa; proscriptionem civium, divisiones agrorum ne ipsis quidem qui fecere laudatas. (3) sane Cassii et Brutorum exitus paternis inimicitiis datos, quamquam fas sit privata odia publicis utilitatibus remittere: sed Pompeium imagine pacis, sed Lepidum specie amicitiae deceptos; post Antonium, Tarentino Brundisinoque foedere et nuptiis sororis inlectum, subdolae adfinitatis poenas morte exsolvisse. (4) pacem sine dubio post haec, verum cruentam: Lollianas Varianasque clades, interfectos Romae Varrones Egnatios Iullos. (5) nec domesticis abstinebatur: abducta Neroni uxor et consulti per ludibrium pontifices, an concepto necdum edito partu rite nuberet; †que tedii et Vedii Pollionis luxus; postremo Livia gravis in rem publicam mater, gravis domui Caesarum noverca. (6) nihil deorum honoribus relictum, cum se templis et effigie numinum per flamines et sacerdotes coli vellet. (7) ne Tiberium

Buch I

25

nur mehr ein Heilmittel gegeben, nämlich dass es von einem einzigen Mann regiert wurde. (5) Trotzdem sei der Staat nicht als Monarchie und auch nicht als Diktatur, sondern unter der Bezeichnung „erster Bürger“ verfasst worden.17 Vom Ozean oder weit entfernten Flüssen sei das Reich umschlossen. Legionen, Provinzen, Flotten, alles stehe miteinander in Verbindung; Recht herrsche unter den Bürgern, Zurückhaltung gegenüber den Bundesgenossen. Die Hauptstadt selbst sei prächtig hergerichtet; nur in ganz wenigen Fällen sei Gewalt angewendet worden, damit man im Übrigen in Frieden leben konnte. 10 (1) Dem hielt man entgegen: Das Pflichtgefühl seinem Vater gegenüber und die schwierige Lage des Staates seien nur als Vorwand genommen worden; tatsächlich aber seien aus Herrschsucht durch Geldzuwendungen die Veteranen aufgewiegelt, von einem jungen Mann ohne öffentliches Amt ein Heer aufgestellt, die Legionen des Konsuls18 bestochen, die Nähe zur Partei der Pompejaner nur vorgetäuscht worden. (2) Sobald er sich dann durch Beschluss der Väter die Rutenbündel und damit die Amtsbefugnis eines Prätors angeeignet habe, habe er nach dem Tod des Hirtius und Pansa19 – unabhängig davon, ob sie der Feind oder Pansa in seine Wunde geträufeltes Gift, Hirtius aber seine eigenen Soldaten und als Hintermann dieses heimtückischen Anschlags der Caesar beseitigt hatten ‒ beider Truppen für sich beansprucht. Dem Senat sei gegen seinen Willen der Konsulat abgerungen und das Heer, das er gegen Antonius bekommen habe, gegen den Staat gewendet worden; die Ächtung von Bürgern und die Landverteilungen seien nicht einmal von denen, die sie durchführten, gutgeheißen worden. (3) Allerdings sei das Ende des Cassius und der Bruti auf die Feindschaft gegen seinen Vater zurückzuführen, obwohl es sich gehöre, persönliche Hassgefühle dem Gemeinwohl unterzuordnen; Pompeius jedoch sei durch einen Scheinfrieden, Lepidus wiederum durch die Vorspiegelung von Freundschaft getäuscht worden. Später sei Antonius durch den Vertrag von Tarent und von Brundisium sowie die Heirat mit seiner Schwester geködert worden und habe für die heimtückische Verschwägerung mit dem Tod bezahlen müssen.20 (4) Frieden habe zweifellos danach geherrscht, aber ein blutiger: Die Niederlagen des Lollius und Varus habe es gegeben, hingerichtet worden seien in Rom Leute wie Varro, Egnatius, Iullus.21 (5) Auch vor seinem Privatleben machte man nicht halt: Weggenommen worden sei Nero22 seine Frau, und zum Spott seien die Pontifices befragt worden, ob sie, nachdem sie ein Kind zwar empfangen, aber noch nicht geboren hatte, rechtsgültig heiraten könne … und Vedius Pollios Verschwendungssucht; schließlich sei Livia eine verhängnisvolle Mutter für den Staat, eine verhängnisvolle Stiefmutter für die Caesarenfamilie. (6) Keinen Raum habe er für die Verehrung der Götter gelassen, weil er sich selbst mit Tempeln und Götterbildern durch Flamines und andere Priester verehren lassen wolle. (7) Auch Tiberius

26

Liber primus

quidem caritate aut rei publicae cura successorem adscitum, sed, quoniam adrogantiam saevitiamque eius introspexerit, comparatione deterrima sibi gloriam quaesivisse. etenim Augustus paucis ante annis, cum Tiberio tribuniciam potestatem a patribus rursum postularet, quamquam honora oratione quaedam de habitu cultuque et institutis eius iecerat, quae velut excusando exprobraret. (8) ceterum sepultura more perfecta templum et caelestes religiones decernuntur. 11 (1) Versae inde ad Tiberium preces. et ille varie disserebat de magnitudine imperii, sua modestia. solam divi Augusti mentem tantae molis capacem: se in partem curarum ab illo vocatum experiendo didicisse, quam arduum, quam subiectum fortunae regendi cuncta onus. proinde in civitate tot inlustribus viris subnixa non ad unum omnia deferrent: plures facilius munia rei publicae sociatis laboribus exsecuturos. (2) plus in oratione tali dignitatis quam fidei erat; Tiberioque etiam in rebus quas non occuleret, seu natura sive adsuetudine, suspensa semper et obscura verba: tunc vero nitenti, ut sensus suos penitus abderet, in incertum et ambiguum magis implicabantur. (3) at patres, quibus unus metus si intellegere viderentur, in questus lacrimas vota effundi; ad deos, ad effigiem Augusti, ad genua ipsius manus tendere, cum proferri libellum recitarique iussit. (4) opes publicae continebantur, quantum civium sociorumque in armis, quot classes regna provinciae, tributa aut vectigalia, et necessitates ac largitiones. quae cuncta sua manu perscripserat Augustus addideratque consilium coercendi intra terminos imperii, incertum metu an per invidiam. 12 (1) Inter quae senatu ad infimas obtestationes procumbente dixit forte Tiberius se ut non toti rei publicae parem, ita quaecumque pars sibi mandaretur, eius tutelam suscepturum. (2) tum Asinius Gallus ‘interrogo’ inquit ‘Caesar,

Buch I

27

habe er nicht aus Zuneigung oder aus Fürsorge für den Staat als Nachfolger auserkoren, sondern er habe, weil er dessen Hochmut und grausames Wesen durchschaute, sich nur im Vergleich mit dieser schlechtesten Alternative Ansehen verschaffen wollen. Augustus hatte nämlich wenige Jahre zuvor, als er für Tiberius die tribunizische Gewalt von den Vätern erneut verlangte, in einer eigentlich ehrenden Rede dennoch einige Bemerkungen über dessen Haltung, Benehmen und Gewohnheiten einfließen lassen, die er ihm, indem er sie scheinbar entschuldigte, zum Vorwurf machte. (8) Im Übrigen wurden für ihn, nachdem das Begräbnis dem Herkommen entsprechend erfolgt war, ein Tempel und göttliche Ehren beschlossen. 11 (1) Man richtete anschließend an Tiberius Bitten,23 und er stellte verschiedene Überlegungen an zur Größe des Reichs und zu seiner eigenen Unzulänglichkeit. Allein die geistige Spannkraft des vergöttlichten Augustus sei einer derart riesigen Last gewachsen gewesen: Von ihm zum Teilhaber an den Amtsgeschäften berufen, habe er durch Erfahrung gelernt, wie drückend, wie vom Glück abhängig die Bürde der Gesamtregierung sei. Deshalb solle man in einem Staatswesen, das sich auf so viele hervorragende Persönlichkeiten stützen könne, nicht einem einzigen Mann alles übertragen; mehrere Personen könnten die Regierungsaufgaben mit vereinten Anstrengungen leichter bewältigen. (2) Diese Art der Äußerung verriet mehr das Bemühen um ein angemessenes Auftreten als Aufrichtigkeit, und Tiberius drückte sich sogar in Angelegenheiten, die er nicht verschleiern wollte, entweder aus Veranlagung oder aus Gewohnheit immer unverbindlich und unklar aus. Nun aber, als er es darauf anlegte, seine Gedanken ganz und gar geheim zu halten, verwickelten sich seine Ausführungen noch mehr zum Unbestimmten und Zweideutigen hin. (3) Doch die Väter, die einzig und allein befürchteten, man könne ihnen ansehen, dass sie ihn durchschauten, ließen Klagen, Tränen, Gelübden freien Lauf. Zu den Göttern, zur Statue des Augustus, zu Tiberius’ Knien streckten sie flehentlich ihre Hände aus. Daraufhin ließ er ein Schriftstück hereinholen und verlesen. (4) Die Machtmittel des Staates waren darin enthalten, wie viele Bürger und Bundesgenossen unter Waffen standen, wie viele Flotten, Königreiche, Provinzen, direkte oder indirekte Steuern, dazu Verbindlichkeiten und Schenkungen es gab. All das hatte Augustus eigenhändig penibel zusammengestellt und den Rat angeschlossen, das Reich auf seine aktuellen Grenzen zu beschränken, wobei unklar blieb, ob er das aus Besorgnis oder Eifersucht tat. 12 (1) Als sich der Senat unterdessen durch unterwürfige Bitten zutiefst erniedrigte, bemerkte Tiberius beiläufig, er sei zwar dem gesamten Staatswesen nicht gewachsen, werde aber die Betreuung jedes Teilbereichs übernehmen, den man ihm anvertraue. (2) Da sagte Asinius Gallus: „Ich erlaube

28

Liber primus

quam partem rei publicae mandari tibi velis’. perculsus improvisa interrogatione paulum reticuit; dein collecto animo respondit nequaquam decorum pudori suo legere aliquid aut evitare ex eo, cui in universum excusari mallet. (3) rursum Gallus (etenim vultu offensionem coniectaverat) non idcirco interrogatum ait, ut divideret quae separari nequirent, sed ut sua confessione argueretur unum esse rei publicae corpus atque unius animo regendum. addidit laudem de Augusto Tiberiumque ipsum victoriarum suarum quaeque in toga per tot annos egregie fecisset admonuit. (4) nec ideo iram eius lenivit, pridem invisus, tamquam ducta in matrimonium Vipsania, M. Agrippae filia, quae quondam Tiberii uxor fuerat, plus quam civilia agitaret Polionisque Asinii patris ferociam retineret. 13 (1) Post quae L. Arruntius haud multum discrepans a Galli oratione perinde offendit, quam Tiberio nulla vetus in Arruntium ira: sed divitem promptum, artibus egregiis et pari fama publice, suspectabat. (2) quippe Augustus supremis sermonibus, cum tractaret, quinam adipisci principem locum suffecturi abnuerent aut impares vellent vel idem possent cuperentque, M. Lepidum dixerat capacem sed aspernantem, Gallum Asinium avidum et minorem, L. Arruntium non indignum et, si casus daretur, ausurum. (3) de prioribus consentitur, pro Arruntio quidam Cn. Pisonem tradidere; omnesque praeter Lepidum variis mox criminibus struente Tiberio circumventi sunt. (4) etiam Q. Haterius et Mamercus Scaurus suspicacem animum perstrinxere, Haterius cum dixisset ‘quo usque patieris, Caesar, non adesse aput rei publicae?’, Scaurus quia dixerat spem esse ex eo non inritas fore senatus preces, quod relationi consulum iure tribuniciae potestatis non intercessisset. in Haterium statim invectus est; Scaurum, cui implacabilius irascebatur, silentio tramisit. (5) fessusque clamore omnium, expostulatione singulorum

Buch I

29

mir die Frage, Caesar, welchen Geschäftsbereich du dir übertragen lassen willst.“ Die überraschende Frage ließ ihn für einen Augenblick betreten verstummen; als er sich dann wieder gefasst hatte, gab er zur Antwort, seinem Verständnis von Anstand zufolge gehöre es sich auf keinen Fall, etwas von dem herauszusuchen oder abzulehnen, für das er sich in seiner Gesamtheit lieber entschuldigt wissen wolle. (3) Da meldete sich Gallus nochmals zu Wort und sagte – Tiberius’ Gesichtsausdruck hatte er nämlich Verärgerung entnommen –, seine Frage sei nicht zu dem Zweck gestellt worden, dass er auseinanderdividiere, was man nicht trennen könne, sondern dass durch sein persönliches Bekenntnis unumstößlich ausgedrückt werde, der Staat stelle einen einzigen Organismus dar und müsse vom Willen eines einzigen Mannes gelenkt werden. Er schloss ein Loblied auf Augustus an und erinnerte Tiberius selbst an dessen militärische Erfolge und an all die Leistungen, die er in der Toga24 so viele Jahre hindurch in hervorragender Weise erbracht habe. (4) Aber auch damit besänftigte er seinen Groll nicht; er konnte ihn nämlich schon vorher nicht ausstehen, so als habe er seit seiner Vermählung mit Vipsania, der Tochter des M. Agrippa, die zuvor Tiberius’ Frau gewesen war, mehr im Sinn gehabt, als sich für einen einfachen Bürger gehörte, und das provokante Gebaren seines Vaters Pollio Asinius beibehalten. 13 (1) Danach äußerte sich L. Arruntius nicht viel anders als Gallus in seiner Rede und verärgerte ihn damit ebenso, obwohl Tiberius keinen alten Groll gegen Arruntius hegte; vielmehr war dieser vermögend, zielstrebig und hochgebildet, deshalb in der Öffentlichkeit dementsprechend angesehen und erregte dadurch sein Misstrauen. (2) Denn als sich Augustus bei seinen letzten Beratungen Gedanken darüber machte, welche Männer denn die Stelle des Princeps trotz Befähigung verschmähten oder sie trotz Nichteignung gerne haben wollten oder beides hätten, nämlich die Fähigkeit und die Bereitschaft dazu, hatte er gesagt, M. Lepidus sei geeignet, lehne aber ab, Gallus Asinius giere danach, sei aber zu schwach, L. Arruntius sei nicht ungeeignet und werde es sich, falls man ihm die Gelegenheit biete, zutrauen. (3) Über die Erstgenannten ist man sich einig, anstelle des Arruntius haben einige Autoren Cn. Piso angeführt; alle mit Ausnahme des Lepidus fielen dann verschiedenen Anschuldigungen zum Opfer, hinter denen Tiberius steckte. (4) Auch Q. Haterius und Mamercus Scaurus streiften sein Misstrauen, Haterius mit der Frage: „Wie lange noch lässt du es zu, Caesar, dass dem Staat das Haupt fehlt?“, Scaurus mit der Bemerkung, es bestehe aus dem Grund die Hoffnung, die Bitten des Senats seien nicht vergeblich, weil er gegen den Antrag der Konsuln25 nicht auf der Grundlage seiner tribunizischen Gewalt eingeschritten sei. Haterius herrschte er sofort an; Scaurus, dem er noch unversöhnlicher grollte, überging er mit Schweigen. (5) Mürbe geworden durch die

30

Liber primus

flexit paulatim, non ut fateretur suscipi a se imperium, sed ut negare et rogari desineret. (6) constat Haterium, cum deprecandi causa Palatium introisset ambulantisque Tiberii genua advolveretur, prope a militibus interfectum, quia Tiberius casu an manibus eius impeditus prociderat. neque tamen periculo talis viri mitigatus est, donec Haterius Augustam oraret eiusque curatissimis precibus protegeretur. 14 (1) Multa patrum et in Augustam adulatio: alii parentem, alii matrem patriae appellandam, plerique ut nomini Caesaris adscriberetur ‘Iuliae filius’ censebant. (2) ille moderandos feminarum honores dictitans eademque se temperantia usurum in iis quae sibi tribuerentur, ceterum anxius invidia et muliebre fastigium in deminutionem sui accipiens ne lictorem quidem ei decerni passus est aramque adoptionis et alia huiusce modi prohibuit. (3) at Germanico Caesari proconsulare imperium petivit, missique legati qui deferrent, simul maestitiam eius ob excessum Augusti solarentur. quo minus idem pro Druso postularetur, ea causa quod designatus consul Drusus praesensque erat. (4) candidatos praeturae duodecim nominavit, numerum ab Augusto traditum; et hortante senatu ut augeret, iure iurando obstrinxit se non excessurum. 15 (1) Tum primum e campo comitia ad patres translata sunt. nam ad eam diem, etsi potissima arbitrio principis, quaedam tamen studiis tribuum fiebant. neque populus ademptum ius questus est nisi inani rumore, et senatus largitionibus ac precibus sordidis exsolutus libens tenuit, moderante Tiberio ne plures quam quattuor candidatos commendaret, sine repulsa et ambitu designandos. (2) inter quae tribuni plebei petivere, ut proprio sumptu ederent ludos, qui de nomine Augusti fastis additi Augustales vocarentur. sed decreta

Buch I

31

Zurufe aller und die aufdringlichen Bitten einzelner, lenkte er allmählich ein, zwar nicht so weit, dass er zugesagt hätte, die Herrschaft werde von ihm übernommen, sondern dass er aufhörte, Nein zu sagen und sich bitten zu lassen. (6) Fest steht, dass Haterius, als er, um Abbitte zu leisten, in das Palatium gegangen war und sich Tiberius, der gerade daherkam, zu Füßen warf, fast von den Soldaten erschlagen worden wäre; denn Tiberius war zufällig oder weil er von ihm handgreiflich behindert wurde, zu Boden gestürzt. Trotzdem ließ er sich durch die Gefahr, in die ein solch bekannter Mann geraten war, nicht milder stimmen, bis Haterius die Augusta (Livia) ansprach und durch deren eindringliche Bitten beschützt wurde. 14 (1) Weit ging die Unterwürfigkeit der Väter auch der Augusta gegenüber. Die einen beantragten, sie „Gebärerin“, andere „Mutter des Vaterlands“ zu nennen, sehr viele, dem Namen des Caesars solle „der Julia Sohn“26 hinzugefügt werden. (2) Dieser betonte nachdrücklich, mit Ehrungen für Frauen müsse man zurückhaltend sein, und er werde dieselbe Mäßigung auch bei den Ehren an den Tag legen, die ihm erwiesen werden sollten. Tatsächlich ließ er ihr, weil ihn die Eifersucht plagte und er die herausragende Stellung der Frau als Herabsetzung der eigenen Person empfand, nicht einmal einen Liktor zuweisen, und verhinderte die Errichtung eines Denkmals für ihre Adoption und andere derartige Auszeichnungen. (3) Doch für Germanicus Caesar beantragte er die Amtsgewalt eines Prokonsuls, und man schickte Gesandte, die sie ihm überbringen und ihm zudem das Beileid über das Ableben des Augustus aussprechen sollten. Dass das Gleiche nicht für Drusus beantragt wurde, hatte seinen Grund darin, dass Drusus zum Konsul bestimmt war und sich in Rom aufhielt. (4) Als Kandidaten für die Prätur benannte Tiberius zwölf Männer, die von Augustus überkommene Anzahl; und als der Senat ihn aufforderte, sie zu erhöhen, verpflichtete er sich eidlich, sie nicht zu überschreiten. 15 (1) Damals wurden die Wahlversammlungen zum ersten Mal vom Marsfeld zu den Vätern verlegt. Denn bis zu diesem Tag geschah, auch wenn die wichtigsten Entscheidungen dem Gutdünken des Princeps überlassen blieben, doch noch manches unter Einflussnahme der Tribus.27 Das Volk aber beschwerte sich nur mit bedeutungslosem Gerede über den Verlust dieses Rechts, und der Senat, dem dadurch finanzielle Zuwendungen und entwürdigende Bitten erspart blieben, nahm es gerne in Anspruch, zumal Tiberius sich darauf beschränkte, nicht mehr als vier Kandidaten zu empfehlen, die ohne die Möglichkeit der Ablehnung und ohne eigene Bewerbung ernannt werden sollten. (2) Währenddessen beantragten die Volkstribune, auf eigene Kosten Spiele veranstalten zu dürfen, die unter dem Namen des Augustus in den Festkalender aufgenommen werden und „Augustales“ heißen sollten. Jedoch beschloss man

32

Liber primus

pecunia ex aerario, utque per circum triumphali veste uterentur: curru vehi haud permissum. (3) mox celebratio annua ad praetorem translata, cui inter cives et peregrinos iurisdictio evenisset. 16 (1) Hic rerum urbanarum status erat, cum Pannonicas legiones seditio incessit, nullis novis causis, nisi quod mutatus princeps licentiam turbarum et ex civili bello spem praemiorum ostendebat. (2) castris aestivis tres simul legiones habebantur, praesidente Iunio Blaeso, qui fine Augusti et initiis Tiberii auditis ob iustitium aut gaudium intermiserat solita munia. eo principio lascivire miles, discordare, pessimi cuiusque sermonibus praebere aures, denique luxum et otium cupere, disciplinam et laborem aspernari. (3) erat in castris Percennius quidam, dux olim theatralium operarum, dein gregarius miles, procax lingua et miscere coetus histrionali studio doctus. is imperitos animos et quaenam post Augustum militiae condicio ambigentes impellere paulatim nocturnis conloquiis aut flexo in vesperam die et dilapsis melioribus deterrimum quemque congregare. 17 (1) Postremo promptis iam et aliis seditionis ministris velut contionabundus interrogabat, cur paucis centurionibus, paucioribus tribunis in modum servorum oboedirent. quando ausuros exposcere remedia, nisi novum et nutantem adhuc principem precibus vel armis adirent? (2) satis per tot annos ignavia peccatum, quod tricena aut quadragena stipendia senes et plerique truncato ex vulneribus corpore tolerent. (3) ne dimissis quidem finem esse militiae, sed apud vexillum tendentes alio vocabulo eosdem labores perferre. ac si quis tot casus vita superaverit, trahi adhuc diversas in terras, ubi per nomen agrorum uligines paludum vel inculta montium accipiant. (4) enimvero militiam ipsam gravem, infructuosam: denis in diem assibus animam et corpus aestimari;

Buch I

33

das Geld dafür der Staatskasse zu entnehmen, und die Tribune sollten im Zirkus im Triumphatorengewand auftreten dürfen; nur die Fahrt auf dem Wagen gestand man ihnen nicht zu. (3) Später wurde die Durchführung der alljährlich stattfindenden Feier dem Prätor übertragen, dem die Rechtsprechung zwischen Bürgern und Fremden zugefallen war. 16 (1) Das war die Lage in der Hauptstadt, als bei den pannonischen Legionen eine Meuterei ausbrach; dafür gab es keine neuen Gründe außer der Tatsache, dass die Auswechslung des Princeps die unbeschränkte Möglichkeit für Unruhen und dann als Folge eines Bürgerkriegs die Hoffnung auf Belohnungen eröffnete. (2) Im Sommerlager waren gleichzeitig drei Legionen unter dem Kommando des Iunius Blaesus stationiert; dieser hatte auf die Nachricht vom Ende des Augustus und dem Anfang des Tiberius hin wegen der Staatstrauer oder aus Freude darüber den üblichen Dienstbetrieb unterbrechen lassen. Damit fing alles an: Die Soldaten ließen sich gehen, wurden aufsässig, schenkten dem Gerede des schlimmsten Gesindels Gehör, wollten schließlich ein angenehmes Leben und Nichtstun haben und von militärischer Zucht und anstrengendem Dienst nichts mehr wissen. (3) Es hielt sich im Lager ein gewisser Percennius auf, früher Anführer einer Gruppe von Theaterclaqueuren, dann einfacher Soldat, mit einem unverschämten Mundwerk und durch seinen Einsatz für Schauspieler darin geübt, Versammlungen zu manipulieren. Dieser hetzte seine unbedarften und über die Lage des Militärs nach Augustus besorgten Kameraden allmählich in nächtlichen Zusammenkünften auf oder scharte, wenn sich der Tag dem Abend zuneigte und die anständigeren Soldaten verschwunden waren, die übelsten Elemente um sich. 17 (1) Als sich noch weitere Komplizen zur Meuterei bereitfanden, fragte er schließlich wie bei einer Ansprache vor versammelter Mannschaft, weshalb sie wenigen Zenturionen und noch weniger Tribunen wie Sklaven gehorchten. Wann würden sie es schon wagen, Abhilfe zu verlangen, wenn sie nicht den neuen und noch unsicheren Princeps mit Bitten oder Waffen angingen? (2) Es reiche, dass man so viele Jahre lang aus Feigheit den Fehler gemacht habe, dreißig oder vierzig Dienstjahre als alte Männer und in der Mehrzahl mit einem infolge von Verwundungen verkrüppelten Körper durchzustehen. (3) Nicht einmal für die Entlassenen sei der Dienst zu Ende, sondern sie müssten bei der Truppe kampieren und unter einer anderen Bezeichnung die gleichen Strapazen auf sich nehmen. Und wenn dann einer so viele gefährliche Situationen lebend überstanden habe, schleppe man ihn noch in entlegene Länder, wo sie unter der Bezeichnung Ackerland den Morast in Sümpfen oder eine Wildnis im Gebirge erhielten. (4) Tatsächlich sei der Militärdienst an sich schon drückend und lohne sich nicht: Zehn As würden pro Tag für Leib

34

Liber primus

hinc vestem arma tentoria, hinc saevitiam centurionum et vacationes munerum redimi. at hercule verbera et vulnera, duram hiemem, exercitas aestates, bellum atrox aut sterilem pacem sempiterna. (5) nec aliud levamentum quam si certis sub legibus militia iniretur: ut singulos denarios mererent, sextus decimus stipendii annus finem adferret, ne ultra sub vexillis tenerentur, sed isdem in castris praemium pecunia solveretur. (6) an praetorias cohortes, quae binos denarios accepit, quae post sedecim annos penatibus suis reddantur, plus periculorum suscipere? non obtrectari a se urbanas excubias: sibi tamen apud horridas gentes e contuberniis hostem aspici. 18 (1) Adstrepebat vulgus, diversis incitamentis, hi verberum notas, illi canitiem, plurimi detrita tegmina et nudum corpus exprobrantes. (2) postremo eo furoris venere, ut tres legiones miscere in unam agitaverint. depulsi aemulatione, quia suae quisque legioni eum honorem quaerebant, alio vertunt atque una tres aquilas et signa cohortium locant; simul congerunt caespites, exstruunt tribunal, quo magis conspicua sedes foret. (3) properantibus Blaesus advenit, increpabatque ac retinebat singulos, clamitans ‘mea potius caede imbuite manus: leviore flagitio legatum interficietis quam ab imperatore desciscitis. aut incolumis fidem legionum retinebo, aut iugulatus paenitentiam adcelerabo.’ 19 (1) Aggerabatur nihilo minus caespes, iamque pectori usque adcreverat, cum tandem pervicacia victi inceptum omisere. (2) Blaesus multa dicendi arte non per seditionem et turbas desideria militum ad Caesarem ferenda ait; neque veteres ab imperatoribus priscis neque ipsos a divo Augusto tam nova petivisse; et parum in tempore incipientis principis curas onerari. (3) si tamen tenderent in pace temptare quae ne civilium quidem bellorum victores expostulaverint,

Buch I

35

und Leben veranschlagt; davon müsse man Kleidung, Waffen, Zelte, davon den Schutz vor der Brutalität der Zenturionen und die Befreiung vom Dienst bestreiten. Auf der anderen Seite, beim Herkules, Prügel und Wunden, einen harten Winter, anstrengende Sommer, einen fürchterlichen Krieg oder armseligen Frieden gebe es immer. (5) Als Erleichterung bleibe nur: Unter genau festgelegten Bestimmungen müsse man den Dienst antreten. Einen Denar pro Tag müsse man verdienen. Das sechzehnte Dienstjahr müsse das Ende bringen. Länger dürfe man nicht in militärischen Einheiten festgehalten werden, sondern noch im gleichen Lager müsse die Abfindung bar ausbezahlt werden. (6) Oder seien etwa die Prätorianerkohorten, die zwei Denare pro Tag erhielten und nach sechzehn Jahren ihrem Haus und Hof zurückgegeben würden, mehr Gefahren ausgesetzt? Nicht schlechtgeredet werde von ihm der Wachdienst in der Hauptstadt; trotzdem seien sie es, die inmitten grässlicher Völker von ihren Zelten aus dem Feind ins Auge blicken müssten. 18 (1) Stürmisch spendete die Menge Beifall; zusätzlich wurde die Stimmung auf verschiedene Weise angeheizt, indem die einen empört auf die von den Schlägen herrührenden Striemen, andere auf ihre grauen Haare, sehr viele auf ihre abgewetzte Kleidung und ihren nackten Leib zeigten. (2) Schließlich steigerten sie sich in eine derartige Wut hinein, dass sie darangingen, die drei Legionen zu einer einzigen zusammenzulegen. Davon wurden sie aus Rivalität wieder abgebracht, weil jeder für seine eigene Legion diese Ehre beanspruchte, verfielen auf etwas anderes und stellten die drei Adler und die Standarten der Kohorten zusammen an einem Platz auf. Zugleich schleppten sie Rasensoden herbei und errichteten ein Podium, damit der Standort besser zu sehen war. (3) Während sie eifrig damit beschäftigt waren, kam Blaesus dazu, fuhr Einzelne an und versuchte sie zurückzuhalten, indem er laut rief: „Beschmutzt eure Hände lieber mit meiner Ermordung! Weniger Schande bedeutet es für euch, euren Legaten umzubringen als von eurem Oberbefehlshaber abzufallen. Entweder bleibe ich am Leben und erhalte die Treue der Legionen aufrecht, oder ich trage mit durchschnittener Kehle zu ihrer schnellen Reue bei.“ 19 (1) Nichtsdestoweniger schichtete man die Rasensoden weiter auf, und sie waren schon bis in Brusthöhe hochgezogen, als sie sich endlich von den hartnäckigen Vorhaltungen beeindrucken ließen und das Unternehmen einstellten. (2) Blaesus sagte rhetorisch sehr geschickt, nicht auf dem Weg von Meuterei und Aufruhr dürfe man die Wünsche der Soldaten an den Caesar herantragen. Weder hätten die alten Heere an die früheren Oberbefehlshaber noch sie selbst an den vergöttlichten Augustus derart ungewöhnliche Forderungen gestellt. Es sei auch kaum der richtige Zeitpunkt, die Sorgen des Princeps gleich zu Beginn zu vermehren. (3) Falls sie dennoch vorhätten, im Frieden durchzusetzen, was nicht einmal die Sieger in den Bürgerkriegen verlangt hätten, warum

36

Liber primus

cur contra morem obsequii, contra fas disciplinae vim meditentur? decernerent legatos seque coram mandata darent. (4) adclamavere ut filius Blaesi tribunus legatione ea fungeretur peteretque militibus missionem ab sedecim annis: cetera mandaturos, ubi prima provenissent. (5) profecto iuvene modicum otium; sed superbire miles, quod filius legati orator publicae causae satis ostenderet necessitate expressa quae per modestiam non obtinuissent. 20 (1) Interea manipuli ante coeptam seditionem Nauportum missi ob itinera et pontes et alios usus, postquam turbatum in castris accepere, vexilla convellunt direptisque proximis vicis ipsoque Nauporto, quod municipii instar erat, retinentes centuriones inrisu et contumeliis, postremo verberibus insectantur, praecipua in Aufidienum Rufum praefectum castrorum ira, quem dereptum vehiculo sarcinis gravant aguntque primo in agmine, per ludibrium rogitantes, an tam immensa onera, tam longa itinera libenter ferret. (2) quippe Rufus diu manipularis, dein centurio, mox castris praefectus, antiquam duramque militiam revocabat, vetus operis ac laboris et eo immitior quia toleraverat. 21 (1) Horum adventu redintegratur seditio, et vagi circumiecta populabantur. Blaesus paucos, maxime praeda onustos, ad terrorem ceterorum adfici verberibus, claudi carcere iubet; nam etiam tum legato a centurionibus et optimo quoque manipularium parebatur. (2) illi obniti trahentibus, prensare circumstantium genua, ciere modo nomina singulorum, modo centuriam quisque cuius manipularis erat, cohortem, legionem, eadem omnibus imminere clamitantes. simul probra in legatum cumulant, caelum ac deos obtestantur, nihil reliqui faciunt quo minus invidiam misericordiam, metum et iras permoverent.

Buch I

37

dächten sie dann entgegen dem gewohnten Gehorsam, entgegen ihrer Pflicht zu militärischer Disziplin an ein gewaltsames Vorgehen? Sie sollten doch eine Abordnung benennen und ihr in seiner Anwesenheit Aufträge erteilen. (4) Sie riefen ihm zu, Blaesus’ Sohn, ein Tribun, solle die Führung dieser Abordnung übernehmen und für die Soldaten die Entlassung nach sechzehn Jahren verlangen; die übrigen Aufträge würden sie erst dann erteilen, wenn die ersten Erfolg gehabt hätten. (5) Nach dem Aufbruch des jungen Mannes herrschte einigermaßen Ruhe. Aber die Soldaten brüsteten sich damit, der Sohn des Legaten als Unterhändler für ihr gemeinsames Anliegen sei ein deutlicher Beweis dafür, dass man nur durch Druck erreicht habe, was man mit Nachgiebigkeit nicht durchgesetzt hätte. 20 (1) In der Zwischenzeit rissen die Manipel, die vor Ausbruch der Meuterei nach Nauportus zum Straßen- und Brückenbau und anderen Verwendungen geschickt worden waren, auf die Nachricht von den Unruhen im Lager hin die Standarten aus dem Boden und plünderten die Dörfer in der Nähe sowie Nauportus selbst, das die Größe einer Landstadt hatte; über die Zenturionen, die sie zurückzuhalten versuchten, fielen sie mit Spott und Beleidigungen, schließlich sogar mit Schlägen her. Vor allem gegen den Lagerkommandanten Aufidienus Rufus richtete sich ihre Erbitterung; sie zogen ihn von seinem Wagen herab, beluden ihn mit schwerem Gepäck und ließen ihn an der Spitze der Kolonne marschieren, wobei sie ihn immer wieder höhnisch fragten, ob es ihm Spaß mache, solch schwere Lasten, so lange Märsche auf sich zu nehmen. (2) Denn Rufus, der lange Zeit einfacher Soldat gewesen war, dann Zenturio und später sogar Lagerkommandant wurde, versuchte den in früheren Zeiten üblichen harten Dienst wieder einzuführen, altgedient in Schanzarbeit und Strapazen und deshalb umso unnachgiebiger, weil er das ja selbst mitgemacht hatte. 21 (1) Bei ihrem Erscheinen lebte die Meuterei wieder auf; man schwärmte aus und plünderte die Umgebung. Blaesus ließ ein paar Soldaten, die am schwersten mit Beute beladen waren, zur Abschreckung des Rests prügeln und einsperren. Denn selbst zu diesem Zeitpunkt wurde dem Legaten von den Zenturionen und tüchtigsten Mannschaftsdienstgraden noch Gehorsam geleistet. (2) Die anderen aber widersetzten sich ihrer Verhaftung, packten die Knie der neben ihnen stehenden Leute, riefen bald die Namen einzelner Kameraden, bald die Zenturie, zu der sie als Soldaten gehörten, die Kohorte, die Legion und schrien, das gleiche Schicksal stehe allen bevor. Zugleich überhäuften sie den Legaten mit Beleidigungen, beschworen Himmel und Götter, ließen nichts aus, um eine feindselige Stimmung, Mitleid, Furcht und Empörung hervorzurufen.

38

Liber primus

(3) adcurritur ab universis, et carcere effracto solvunt vincula desertoresque ac rerum capitalium damnatos sibi iam miscent. 22 (1) Flagrantior inde vis, plures seditioni duces. et Vibulenus quidam gregarius miles, ante tribunal Blaesi adlevatus circumstantium umeris, apud turbatos et quid pararet intentos ‘vos quidem’ inquit ‘his innocentibus et miserrimis lucem et spiritum reddidistis: sed quis fratri meo vitam, quis fratrem mihi reddit? quem missum ad vos a Germanico exercitu de communibus commodis nocte proxima iugulavit per gladiatores suos, quos in exitium militum habet atque armat. (2) responde, Blaese, ubi cadaver abieceris: ne hostes quidem sepultura invident. cum osculis, cum lacrimis dolorem meum implevero, me quoque trucidari iube, dum interfectos nullum ob scelus, sed quia utilitati legionum consulebamus, hi sepeliant.’ 23 (1) Incedebat haec fletu et pectus atque os manibus verberans. mox disiectis quorum per umeros sustinebatur, praeceps et singulorum pedibus advolutus tantum consternationis invidiaeque concivit, ut pars militum gladiatores, qui e servitio Blaesi erant, pars ceteram eiusdem familiam vincirent, alii ad quaerendum corpus effunderentur. (2) ac ni propere neque corpus ullum reperiri et servos adhibitis cruciatibus abnuere caedem neque illi fuisse umquam fratrem pernotuisset, haud multum ab exitio legati aberant. (3) tribunos tamen ac praefectum castrorum extrusere, sarcinae fugientium direptae; et centurio Lucilius interficitur, cui militaribus facetiis vocabulum ‘Cedo alteram’ indiderant quia facta vite in tergo militis alteram clara voce ac rursus aliam poscebat. (4) ceteros latebrae texere, uno retento Clemente Iulio, qui perferendis militum mandatis habebatur idoneus ob promptum ingenium. (5) quin ipsae inter se legiones octava et quinta decima ferrum parabant, dum centurionem

Buch I

39

(3) Man lief zusammen herbei, stürmte das Gefängnis, nahm die Ketten ab und ließ sogar Deserteure und wegen todeswürdiger Verbrechen Verurteilte in den eigenen Reihen untertauchen. 22 (1) Noch heftiger flackerte danach die Gewalt auf, die Meuterei bekam mehr Anführer. Und so wurde ein einfacher Soldat namens Vibulenus vor dem Podium des Blaesus auf die Schultern der neben ihm stehenden Kameraden gehoben und sagte zu der aufgewühlten Menge, die gespannt darauf wartete, was er vorhatte: „Ihr habt zwar diesen unschuldigen und armen Kerlen wieder Licht und Luft zum Atmen gegeben. Doch wer gibt meinem Bruder das Leben, wer mir meinen Bruder zurück? Er wurde zu euch vom germanischen Heer wegen unserer gemeinsamen Anliegen geschickt; ihn hat er in der letzten Nacht von seinen Gladiatoren abschlachten lassen, die er sich hält und mit Waffen ausrüstet, um seine Soldaten umbringen zu können. (2) Antworte, Blaesus, wo du den Leichnam hingeworfen hast! Nicht einmal Feinde verweigern die Bestattung. Sobald ich mit Küssen, sobald ich mit Tränen meinen Schmerz gestillt habe, kannst du auch mich totschlagen lassen, wenn uns dann nur, nachdem man uns nicht wegen eines Verbrechens umgebracht hat, sondern weil wir uns für die Interessen der Legionen einsetzten, die Kameraden hier begraben.“ 23 (1) Er steigerte die Wirkung dieser Worte durch Weinen und indem er sich mit seinen Händen auf Brust und Gesicht schlug. Dann stieß er die Leute, auf deren Schultern er sich aufrecht hielt, zur Seite, sprang zu Boden, warf sich einem nach dem anderen zu Füßen und rief damit derart viel Empörung und Gehässigkeit hervor, dass ein Teil der Soldaten die Gladiatoren, die zur Sklavenschar des Blaesus gehörten, ein anderer sein übriges Personal in Fesseln legte, wieder andere ausschwärmten, um die Leiche zu suchen. (2) Und hätte sich da nicht schnell überall herumgesprochen, dass keine Leiche zu finden sei, dass andererseits die Sklaven unter der Folter einen Mord abstritten und der Kerl nie einen Bruder gehabt habe, hätte nicht viel gefehlt, und der Legat wäre umgebracht worden. (3) Die Tribune und den Lagerkommandanten jagten sie trotzdem davon; das Gepäck der Flüchtenden wurde geplündert und der Zenturio Lucilius totgeschlagen, dem der Soldatenwitz den Spitznamen „Einenanderen-her!“ gegeben hatte, weil er, wenn ein Stock auf dem Rücken eines Soldaten zerbrochen war, mit lauter Stimme den nächsten und dann wieder einen anderen verlangte.28 (4) Alle anderen fanden Schutz in Verstecken; einzig Clemens Iulius wurde festgehalten, weil man ihn wegen seines entschlossenen Auftretens für den richtigen Mann hielt, die Aufträge der Soldaten zu überbringen. (5) Ja, die achte und fünfzehnte Legion machten sogar Anstalten, mit Waffen aufeinander loszugehen, weil die eine einen Zenturio namens

40

Liber primus

cognomento Sirpicum illa morti deposcit, quintadecimani tuentur, ni miles nonanus preces et adversum aspernantes minas interiecisset. 24 (1) Haec audita quamquam abstrusum et tristissima quaeque maxime occultantem Tiberium perpulere, ut Drusum filium cum primoribus civitatis duabusque praetoriis cohortibus mitteret, nullis satis certis mandatis, ex re consulturum. et cohortes delecto milite supra solitum firmatae. (2) additur magna pars praetoriani equitis et robora Germanorum, qui tum custodes imperatori aderant; simul praetorii praefectus Aelius Seianus, collega Straboni patri suo datus, magna apud Tiberium auctoritate, rector iuveni et ceteris periculorum praemiorumque ostentator. (3) Druso propinquanti quasi per officium obviae fuere legiones, non laetae, ut adsolet, neque insignibus fulgentes, sed inluvie deformi et vultu, quamquam maestitiam imitarentur, contumaciae propiores. 25 (1) Postquam vallum introit, portas stationibus firmant, globos armatorum certis castrorum locis opperiri iubent; ceteri tribunal ingenti agmine circumveniunt. stabat Drusus silentium manu poscens. (2) illi quotiens oculos ad multitudinem rettulerant, vocibus truculentis strepere, rursum viso Caesare trepidare; murmur incertum, atrox clamor et repente quies; diversis animorum motibus pavebant terrebantque. (3) tandem interrupto tumultu litteras patris recitat, in quis perscriptum erat praecipuam ipsi fortissimarum legionum curam, quibuscum plurima bella toleravisset; ubi primum a luctu requiesset animus, acturum apud patres de postulatis eorum; misisse interim filium, ut sine cunctatione concederet quae statim tribui possent; cetera senatui servanda, quem neque gratiae neque severitatis expertem haberi par esset. 26 (1) Responsum est a contione mandata Clementi centurioni quae perferret. is orditur de missione a sedecim annis, de praemiis finitae militiae, ut denarius

Buch I

41

Sirpicus ausgeliefert haben wollte, um ihn umbringen zu können, die Fünfzehner ihn aber in Schutz nahmen – wenn nicht die Soldaten der Neunten mit Bitten und gegen Unbelehrbare mit Drohungen dazwischengegangen wären. 24 (1) Die Nachricht von diesen Vorfällen veranlasste Tiberius, obwohl er verschlossen war und gerade die schlimmsten Ereignisse am konsequentesten geheim hielt, seinen Sohn Drusus in Begleitung führender Persönlichkeiten der Bürgerschaft und zwei Prätorianerkohorten zu schicken, mit keinen fest umrissenen Weisungen, sondern er solle je nach Sachlage entscheiden; und die Kohorten wurden durch Elitesoldaten in ungewöhnlichem Umfang verstärkt. (2) Dazu kamen ein großer Teil der Prätorianerkavallerie und germanische Kerntruppen, die damals dem Oberbefehlshaber als Leibwache dienten, zudem der Prätorianerkommandant Aelius Seianus, der als Kollege seinem Vater Strabo zugeteilt worden war, ein Mann von großem Einfluss auf Tiberius, der den jungen Drusus führen und den übrigen Begleitern zeigen sollte, durch welches Verhalten man sich in Gefahr bringen beziehungsweise Belohnungen erhalten könne. (3) Bei seinem Anmarsch zogen die Legionen Drusus sozusagen zur Ehrenbezeigung entgegen, nicht frohgemut wie üblich, nicht im Glanz ihrer Abzeichen, sondern entstellt von Schmutz und mit Mienen, die, obwohl sie Trauer ausdrücken sollten, eher von Aufsässigkeit zeugten. 25 (1) Nachdem er innerhalb des Walls angekommen war, sicherten sie die Tore mit Posten und ließen bewaffnete Trupps sich an bestimmten Plätzen im Lager bereithalten; der Rest umringte das Podium in einem gewaltigen Aufmarsch. Drusus stand da und gebot mit der Hand Schweigen. (2) Die Soldaten brüllten jedes Mal, wenn sie ihren Blick auf die Menschenmasse gerichtet hatten, mit wüsten Rufen los, wurden aber beim Anblick des Caesars wieder ängstlich; das führte zu einem unbestimmten Gemurmel, wütenden Geschrei und plötzlich zu Stille. In gegensätzlichen Gefühlsausbrüchen fürchteten sie sich und versuchten selbst einzuschüchtern. (3) Als sich der Lärm endlich einmal gelegt hatte, las er einen Brief seines Vaters vor, in dem stand, dieser kümmere sich persönlich in ganz besonderer Weise um seine tapfersten Legionen, mit denen er sehr viele Kriege durchgestanden habe. Sobald er sich von der Trauer erholt habe, werde er mit den Vätern über ihre Forderungen verhandeln; er habe in der Zwischenzeit seinen Sohn geschickt, damit der unverzüglich genehmige, was man sofort bewilligen könne. Der Rest müsse dem Senat vorbehalten bleiben; ihn an einem nachsichtigen oder strengen Vorgehen zu beteiligen gehöre sich. 26 (1) Aus der Versammlung kam die Antwort, man habe den Zenturio Clemens damit beauftragt, die Wünsche vorzutragen. Dieser begann mit der Entlassung nach sechzehn Jahren und der Abfindung am Ende der Dienstzeit; einen Denar solle der tägliche Sold betragen, und die Veteranen sollten

42

Liber primus

diurnum stipendium foret, ne veterani sub vexillo haberentur. ad ea Drusus cum arbitrium senatus et patris obtenderet, clamore turbatur. (2) cur venisset, neque augendis militum stipendiis neque adlevandis laboribus, denique nulla bene faciendi licentia? at hercule verbera et necem cunctis permitti. Tiberium olim nomine Augusti desideria legionum frustrari solitum: easdem artes Drusum rettulisse. numquamne ad se nisi filios familiarum venturos? (3) novum id plane quod imperator sola militis commoda ad senatum reiciat. eundem ergo senatum consulendum, quotiens supplicia aut proelia indicantur. an praemia sub dominis, poenas sine arbitro esse? 27 (1) Postremo deserunt tribunal, ut quis praetorianorum militum amicorumve Caesaris occurreret, manus intentantes, causam discordiae et initium armorum, maxime infensi Cn. Lentulo, quod is, ante alios aetate et gloria belli, firmare Drusum credebatur et illa militiae flagitia primus aspernari. (2) nec multo post digredientem eum Caesare ac provisu periculi hiberna castra repetentem circumsistunt rogitantes quo pergeret, ad imperatorem an ad patres, ut illic quoque commodis legionum adversaretur; simul ingruunt, saxa iaciunt. iamque lapidis ictu cruentus et exitii certus adcursu multitudinis quae cum Druso advenerat protectus est. 28 (1) Noctem minacem et in scelus erupturam fors lenivit: nam luna claro repente caelo visa languescere. id miles rationis ignarus omen praesentium accepit, suis laboribus defectionem sideris adsimulans, prospereque cessura quae pergerent, si fulgor et claritudo deae redderetur. (2) igitur aeris sono, tubarum cornuumque concentu strepere; prout splendidior obscuriorve, laetari aut maerere; et postquam ortae nubes offecere visui creditumque conditam tenebris, ut sunt mobiles ad superstitionem perculsae semel mentes, sibi aeternum laborem potendi, sua facinora aversari deos lamentantur. (3) utendum

Buch I

43

nicht einem militärischen Verband unterstellt bleiben. Als Drusus dazu auf die Zuständigkeit des Senats und seines Vaters verwies, wurde er niedergeschrien. (2) Warum er denn gekommen sei, weder um den Sold der Soldaten zu erhöhen noch die Belastungen zu erleichtern, letztlich ohne irgendeinen Spielraum zu Entgegenkommen? Aber, beim Herkules, Prügel- und Todesstrafen seien allen erlaubt. Tiberius habe es sich einst angewöhnt, unter Berufung auf Augustus die Wünsche der Legionen zu hintertreiben; die gleichen Tricksereien wende nun Drusus wieder an. Kämen zu ihnen immer bloß unmündige Söhne? (3) Völlig neu sei es, dass der Oberbefehlshaber nur die Vergünstigungen für die Soldaten an den Senat verweise. Der gleiche Senat müsse demnach befragt werden, sooft man Hinrichtungen oder Kämpfe ankündige. Oder lägen Belohnungen etwa in der Hand der Herren, Strafen dagegen gebe es ohne Oberaufsicht? 27 (1) Schließlich liefen sie vom Podium weg. Sobald ihnen dann einer von den Prätorianersoldaten oder den Freunden des Caesars begegnete, drohten sie ihm mit den Fäusten. Das bildete den Anlass zu Streitigkeiten und den Beginn bewaffneter Auseinandersetzungen; dabei feindeten sie am meisten Cn. Lentulus an, weil man von ihm glaubte, der an Alter und militärischem Ruhm den anderen überlegene Mann bestärke Drusus in seiner Haltung und verurteile mehr als alle anderen diese schändlichen Dienstvergehen von Soldaten. (2) Als er sich nicht viel später vom Caesar trennen und, weil er die Gefahr vorhersah, wieder ins Winterlager zurückziehen wollte, umringten sie ihn und fragten, wohin er gehe, zum Oberbefehlshaber oder zu den Vätern, um sich auch dort gegen die Interessen der Legionen auszusprechen; zugleich drangen sie auf ihn ein und warfen mit Steinen. Durch einen Steinwurf schon blutend und den sicheren Tod vor Augen, wurde er durch das Eingreifen der Menge gerettet, die mit Drusus gekommen war. 28 (1) Für die drohend bevorstehende Nacht, die in ein Verbrechen auszuarten versprach, brachte ein Zufall Entspannung; denn man sah, dass sich der Mond am klaren Himmel plötzlich verdunkelte. Darin erblickten die Soldaten, weil sie die Ursache dafür nicht kannten, ein Vorzeichen für ihre gegenwärtige Lage, indem sie die eigenen Strapazen mit der Verfinsterung des Gestirns in Verbindung brachten und annahmen, ihr Vorhaben gehe gut aus, wenn Glanz und Helligkeit der Göttin wiedergegeben würden. (2) Also machten sie Lärm mit dem Geklapper eherner Becken und dem gleichzeitigen Spielen von Trompeten und Hörnern.29 Je nachdem der Mond heller oder dunkler wurde, freuten sie sich oder wurden niedergeschlagen, und als ihn aufziehende Wolken den Blicken ganz entzogen und der Eindruck entstand, er bleibe in Finsternis gehüllt, jammerten sie, weil einmal aus der Fassung gebrachte Gemüter ja zum Aberglauben neigen, ihnen werde ewige Plackerei prophezeit, von ihren Untaten wendeten sich die Götter ab. (3) Nützen müsse

44

Liber primus

inclinatione ea Caesar et quae casus obtulerat in sapientiam vertenda ratus circumiri tentoria iubet; accitur centurio Clemens et si alii bonis artibus grati in vulgus. (4) hi vigiliis stationibus custodiis portarum se inserunt; spem offerunt, metum intendunt: ‘quo usque filium imperatoris obsidebimus? quis certaminum finis? Percennione et Vibuleno sacramentum dicturi sumus? Percennius et Vibulenus stipendia militibus, agros emeritis largientur? denique pro Neronibus et Drusis imperium populi Romani capessent? (5) quin potius, ut novissimi in culpam, ita primi ad paenitentiam sumus? tarda sunt quae in commune expostulantur: privatam gratiam statim mereare, statim recipias’. (6) commotis per haec mentibus et inter se suspectis tironem a veterano, legionem a legione dissociant. tum redire paulatim amor obsequii: omittunt portas, signa unum in locum principio seditionis congregata suas in sedes referunt. 29 (1) Drusus orto die et vocata contione, quamquam rudis dicendi, nobilitate ingenita incusat priora, probat praesentia; negat se terrore et minis vinci: flexos ad modestiam si videat, si supplices audiat, scripturum patri ut placatus legionum preces exciperet. (2) orantibus rursum idem Blaesus et L. Aponius, eques Romanus e cohorte Drusi, Iustusque Catonius, primi ordinis centurio, ad Tiberium mittuntur. (3) certatum inde sententiis, cum alii opperiendos legatos atque interim comitate permulcendum militem censerent, alii fortioribus remediis agendum: nihil in vulgo modicum; terrere, ni paveant; ubi pertimuerint, impune contemni: dum superstitio urgeat, adiciendos ex duce metus sublatis seditionis auctoribus. (4) promptum ad asperiora ingenium Druso erat: vocatos Vibulenum et Percennium interfici iubet.

Buch I

45

man diesen Stimmungsumschwung und, was der Zufall geboten hatte, in kluges Vorgehen umsetzen, meinte der Caesar und gab Befehl, bei den Zelten die Runde zu machen; man ließ den Zenturio Clemens kommen und wer sonst noch wegen seines anständigen Benehmens bei der Menge beliebt war. (4) Diese Leute mischten sich unter die Wach- und Feldposten und die Torwachen und machten Hoffnung, schürten aber auch Furcht: „Wie lange wollen wir den Sohn unseres Oberbefehlshabers noch gefangen halten? Zu welchem Ergebnis führen die Auseinandersetzungen? Wollen wir den Eid auf Percennius und Vibulenus ablegen? Werden Percennius und Vibulenus den Soldaten ihren Sold und nach dem Ende ihrer Dienstzeit Ackerland anweisen? Werden sie schließlich anstelle der Nerones und Drusi die Herrschaft über das römische Volk übernehmen? (5) Ist es nicht besser, wir haben zwar die geringste Schuld auf uns geladen, zeigen aber als Erste Reue? Nur langsam lassen sich Forderungen für die Allgemeinheit durchsetzen: Persönliche Vergünstigungen kann man sich sofort verdienen, sofort bekommen.“ (6) Dadurch ließen sich die Leute stark beeindrucken und trauten einander nicht mehr, und so setzten sich die Rekruten von den Veteranen ab, die eine Legion von der anderen. Dann kehrte allmählich wieder der Wunsch nach Unterordnung zurück; sie verließen die Tore und brachten die Feldzeichen, die sie zu Beginn der Meuterei an einer einzigen Stelle zusammengetragen hatten, wieder an ihre Plätze. 29 (1) Drusus berief nach Tagesanbruch eine Heeresversammlung ein, beschwerte sich, obwohl er kein geübter Redner war, mit angeborener Vornehmheit über ihr früheres Verhalten und zeigte sich mit dem gegenwärtigen zufrieden. Er stellte fest, durch Einschüchterung und Drohungen lasse er sich nicht zum Einlenken bewegen; falls er jedoch sehe, dass sie wieder zum Gehorsam zurückkehren wollten, falls er sie demütig bitten höre, werde er seinem Vater schreiben, er möge nachsichtig die Gesuche der Legionen entgegennehmen. (2) Auf ihre Bitten hin wurden nochmals derselbe Blaesus, L. Aponius, ein römischer Ritter aus dem Gefolge des Drusus, und Iustus Catonius, ein Zenturio des höchsten Dienstgrads, zu Tiberius geschickt. (3) Dann kam es zu Meinungsverschiedenheiten. Die einen vertraten die Auffassung, man solle die Rückkehr der Abordnung abwarten und in der Zwischenzeit die Soldaten mit Entgegenkommen bei Laune halten, andere verlangten die Anwendung wirksamerer Maßnahmen: Keinen Mittelweg kenne der gemeine Soldat. Er versuche einzuschüchtern, wenn er nicht selbst Angst habe; fürchte er sich, könne man ihn gefahrlos verächtlich behandeln. Solange der Aberglaube wirke, müsse der Kommandeur die Angst verstärken durch die Beseitigung der Rädelsführer. (4) Drusus neigte von Natur aus zum härteren Vorgehen. Er ließ Vibulenus und Percennius holen und umbringen. Die meisten Autoren

46

Liber primus

tradunt plerique intra tabernaculum ducis obrutos, alii corpora extra vallum abiecta ostentui. 30 (1) Tum ut quisque praecipuus conquisiti, et pars extra castra palantes a centurionibus aut praetoriarum cohortium militibus caesi, quosdam ipsi manipuli documentum fidei tradidere. (2) auxerat militum curas praematura hiems imbribus continuis adeoque saevis, ut non egredi tentoria, congregari inter se, vix tutari signa possent, quae turbine atque unda raptabantur. (3) durabat et formido caelestis irae, nec frustra adversus impios hebescere sidera, ruere tempestates: non aliud malorum levamentum, quam si linquerent castra infausta temerataque et soluti piaculo suis quisque hibernis redderentur. (4) primum octava, dein quinta decima legio rediere; nonanus opperiendas Tiberii epistulas clamitaverat, mox desolatus aliorum discessione imminentem necessitatem sponte praevenit. (5) et Drusus non exspectato legatorum regressu, quia praesentia satis consederant, in urbem rediit. 31 (1) Isdem ferme diebus isdem causis Germanicae legiones turbatae, quanto plures, tanto violentius, et magna spe fore ut Germanicus Caesar imperium alterius pati nequiret daretque se legionibus vi sua cuncta tracturis. (2) duo apud ripam Rheni exercitus erant: cui nomen superiori, sub C. Silio legato, inferiorem A. Caecina curabat. regimen summae rei penes Germanicum, agendo Galliarum censui tum intentum. (3) sed quibus Silius moderabatur, mente ambigua fortunam seditionis alienae speculabantur: inferioris exercitus miles in rabiem prolapsus est, orto ab unetvicesimanis quintanisque initio et tractis prima quoque ac vicesima legionibus; nam isdem aestivis in finibus Ubiorum habebantur per otium aut levia munia. (4) igitur audito fine Augusti vernacula multitudo, nuper acto in urbe dilectu, lasciviae sueta, laborum intolerans, implere ceterorum rudes animos: venisse tempus quo veterani maturam missionem, iuvenes largiora stipendia, cuncti modum

Buch I

47

berichten, man habe sie im Zelt des Kommandeurs verscharrt, andere, ihre Leichen seien demonstrativ über den Wall geworfen worden. 30 (1) Dann fahndete man nach den Hauptunruhestiftern, und der Teil, der sich außerhalb des Lagers herumtrieb, wurde von den Zenturionen oder den Soldaten der Prätorianerkohorten totgeschlagen; manche lieferten die Manipel selbst zum Nachweis ihrer Treue aus. (2) Die Sorgen der Soldaten hatte ein früher Wintereinbruch mit anhaltenden Regenfällen verstärkt, die so heftig wüteten, dass man die Zelte nicht verlassen, sich nicht treffen, kaum die Fahnen sichern konnte, die von Sturm und Wassermassen mitgerissen zu werden drohten. (3) Auch die Furcht vor dem Zorn des Himmels hielt an: Nicht grundlos verfinsterten sich wider die Gottlosen die Gestirne, brächen Unwetter los. Es gebe keine andere Abhilfe für das schlimme Geschehen, als das entweihte Unglückslager zu räumen, sich zu entsühnen und dann in die jeweiligen Winterlager zurückgeführt zu werden. (4) Zuerst marschierte die achte, dann die fünfzehnte Legion zurück. Die Neuner hatten lauthals verlangt, das Schreiben des Tiberius abzuwarten, dann aber kamen sie, allein gelassen durch den Abzug der anderen, dem drohenden Zwang aus eigenem Entschluss zuvor. (5) Drusus jedoch kehrte, ohne die Rückkehr der Abordnung abzuwarten, weil sich die Lage im Augenblick weitgehend entspannt hatte, in die Hauptstadt zurück. 31 (1) Ungefähr in den gleichen Tagen brachen aus den gleichen Ursachen bei den germanischen Legionen Unruhen aus – deren höherer Zahl entsprechend auch mit mehr Gewalttaten – und aus der großen Hoffnung heraus, Germanicus Caesar könne sich mit der Herrschaft eines anderen nicht abfinden und vertraue sich den Legionen an, die in der Lage seien, mit ihrer Kampfkraft alles an sich zu reißen. (2) Zwei Heere waren am Rheinufer stationiert; das sogenannte obere stand unter dem Kommando des Legaten C. Silius, das untere befehligte A. Caecina. Der Oberbefehl lag bei Germanicus, der damals mit der Steuerfestsetzung für Gallien beschäftigt war. (3) Die Truppen aber, die Silius kommandierte, beobachteten unschlüssig den Verlauf des Aufruhrs der anderen; die Soldaten des unteren Heeres dagegen ließen sich zu blinden Wutausbrüchen hinreißen, die ihren Ausgang bei den Einundzwanzigern und Fünfern nahmen und in die dann auch die erste und zwanzigste Legion hineingezogen wurden; denn sie waren im gleichen Sommerlager im Gebiet der Ubier bei Freizeit oder nur leichtem Dienst untergebracht. (4) Deshalb konnte auf die Nachricht vom Ende des Augustus hin die Masse des großstädtischen, in der Hauptstadt gerade erst ausgehobenen Pöbels, der an Lotterleben gewöhnt, aber Anstrengungen auf sich zu nehmen nicht gewillt war, die unbedarften Gemüter der übrigen Kameraden für seine Forderungen gewinnen: Der Zeitpunkt sei gekommen, an dem die Veteranen ihre rechtzeitige Entlassung, die jüngeren Soldaten einen höheren Sold, alle zusammen eine Beschränkung

48

Liber primus

miseriarum exposcerent saevitiamque centurionum ulciscerentur. (5) non unus haec, ut Pannonicas inter legiones Percennius, nec apud trepidas militum aures, alios validiores exercitus respicientium, sed multa seditionis ora vocesque: sua in manu sitam rem Romanam, suis victoriis augeri rem publicam, in suum cognomentum adscisci imperatores. 32 (1) Nec legatus obviam ibat: quippe plurium vaecordia constantiam exemerat. repente lymphati destrictis gladiis in centuriones invadunt: ea vetustissima militaribus odiis materies et saeviendi principium. prostratos verberibus mulcant, sexageni singulos, ut numerum centurionum adaequarent; tum convulsos laniatosque et partim exanimos ante vallum aut in amnem Rhenum proiciunt. (2) Septimius cum perfugisset ad tribunal pedibusque Caecinae advolveretur, eo usque flagitatus est, donec ad exitium dederetur. Cassius Chaerea, mox caede C. Caesaris memoriam apud posteros adeptus, tum adulescens et animi ferox, inter obstantes et armatos ferro viam patefecit. (3) non tribunus ultra, non castrorum praefectus ius obtinuit: vigilias stationes, et si qua alia praesens usus indixerat, ipsi partiebantur. id militares animos altius coniectantibus praecipuum indicium magni atque implacabilis motus, quod neque disiecti nec paucorum instinctu, sed pariter ardescerent, pariter silerent, tanta aequalitate et constantia, ut regi crederes. 33 (1) Interea Germanico per Gallias, ut diximus, census accipienti excessisse Augustum adfertur. neptem eius Agrippinam in matrimonio pluresque ex ea liberos habebat, ipse Druso fratre Tiberii genitus, Augustae nepos, sed anxius occultis in se patrui aviaeque odiis, quorum causae acriores quia iniquae. (2) quippe Drusi magna apud populum Romanum memoria, credebaturque, si rerum potius foret, libertatem redditurus; unde in Germanicum favor et spes eadem. nam iuveni civile ingenium,

Buch I

49

ihres elenden Daseins verlangen und sich für die Brutalität der Zenturionen rächen sollten. (5) Diese Forderungen stellte nicht ein einzelner Mann wie bei den pannonischen Legionen Percennius, und das auch nicht vor den Ohren ängstlicher Soldaten, die auf andere, schlagkräftigere Heere blickten, sondern es gab viele Gesichter und Stimmen, die zur Meuterei aufriefen: In ihrer Hand liege das Schicksal Roms, durch ihre Siege werde das Staatsgebiet erweitert, nach ihnen erhielten die Befehlshaber ihren Beinamen.30 32 (1) Und der Legat schritt dagegen nicht ein. Denn das außer Rand und Band geratene Verhalten von immer mehr Truppenteilen hatte ein entschlossenes Eingreifen unmöglich gemacht. Plötzlich gingen sie wie besessen mit gezückten Schwertern auf die Zenturionen los; diese waren seit den ältesten Zeiten Auslöser für Hassgefühle der Soldaten und deshalb das erste Ziel des Wutausbruchs. Sie schlugen sie nieder und verprügelten sie brutal, jeden mit sechzig Hieben, die der Anzahl der Zenturionen entsprechen sollten. Dann schleiften sie die übel zugerichteten und teilweise leblosen Körper herum und warfen sie über den Wall oder in den Rhein. (2) Obwohl Septimius zum Podium geflohen war und sich Caecina zu Füßen warf, verlangte man so lange nachdrücklich seine Herausgabe, bis er dem sicheren Tod ausgeliefert wurde. Cassius Chaerea, der sich später durch die Ermordung C. Caesars einen Namen bei der Nachwelt machte, war damals noch ein junger Draufgänger und bahnte sich zwischen den bewaffneten Haufen, die ihn aufhalten wollten, mit dem Schwert einen Weg. (3) Kein Tribun, kein Lagerkommandant konnte mehr seine Befehlsgewalt durchsetzen: Posten, Wachen und sonstige Aufgaben, die gerade anfielen, versuchten sie selbst einzuteilen. Das aber war für Leute, die sich mit dem Innenleben von Soldaten gründlicher auskennen, das besondere Anzeichen für einen umfassenden und unerbittlichen Aufstand, dass sie nicht vereinzelt und von einer Minderheit aufgehetzt, sondern alle gleichzeitig Feuer fingen, gleichzeitig auch wieder verstummten, derart einheitlich und konsequent, dass man den Eindruck haben konnte, sie hörten auf ein Kommando. 33 (1) Inzwischen wurde Germanicus, der, wie erwähnt, die Vermögensübersichten in Gallien entgegennahm, die Nachricht vom Ableben des Augustus überbracht. Er hatte dessen Enkelin Agrippina zur Frau und von ihr mehrere Kinder; selbst stammte er von Drusus, dem Bruder des Tiberius, ab und war ein Enkel der Augusta (Livia), doch machten ihm die versteckten Hassgefühle seines Onkels und seiner Großmutter zu schaffen, deren Motive noch weher taten, weil sie unberechtigt waren. (2) Drusus stand ja beim römischen Volk in gutem Andenken, und man glaubte, wenn er an die Regierung gekommen wäre, hätte er die Freiheit zurückgegeben; darauf beruhten die Beliebtheit des Germanicus und die gleiche Erwartung. Denn der junge Mann zeigte

50

Liber primus

mira comitas et diversa ab Tiberii sermone vultu, adrogantibus et obscuris. (3) accedebant muliebres offensiones novercalibus Liviae in Agrippinam stimulis, atque ipsa Agrippina paulo commotior, nisi quod castitate et mariti amore quamvis indomitum animum in bonum vertebat. 34 (1) Sed Germanicus quanto summae spei propior, tanto impensius pro Tiberio niti; seque et proximos et Belgarum civitates in verba eius adigit. dehinc audito legionum tumultu raptim profectus obvias extra castra habuit, deiectis in terram oculis velut paenitentia. (2) postquam vallum iniit, dissoni questus audiri coepere; et quidam prensa manu eius per speciem exosculandi inseruerunt digitos, ut vacua dentibus ora contingeret; alii curvata senio membra ostendebant. (3) adsistentem contionem, quia permixta videbatur, discedere in manipulos iubet: sic melius audituros responsum; vexilla praeferri, ut id saltem discerneret cohortes: tarde obtemperavere. (4) tunc a veneratione Augusti orsus flexit ad victorias triumphosque Tiberii praecipuis laudibus celebrans quae apud Germanias illis cum legionibus pulcherrima fecisset. Italiae inde consensum, Galliarum fidem extollit; nil usquam turbidum aut discors. silentio haec vel murmure modico audita sunt. 35 (1) Ut seditionem attigit, ubi modestia militaris, ubi veteris disciplinae decus, quonam tribunos, quo centuriones exegissent rogitans, nudant universi corpora, cicatrices ex vulneribus, verberum notas exprobrant; mox indiscretis vocibus pretia vacationum, angustias stipendii, duritiam operum ac propriis nominibus incusant vallum, fossas, pabuli materiae lignorum adgestus, et si qua alia ex necessitate aut adversus otium castrorum quaeruntur. (2) atrocissimus veteranorum clamor oriebatur, qui tricena aut supra stipendia numerantes, mederetur fessis, neu mortem in isdem laboribus, sed finem tam exercitae

Buch I

51

ein umgängliches Wesen und eine außerordentliche Freundlichkeit, im Unterschied zur Ausdrucksweise und Miene des Tiberius, die hochmütig und undurchsichtig waren. (3) Dazu kamen Spannungen zwischen den Frauen wegen gegen Agrippina gerichteter stiefmütterlicher Eifersüchteleien Livias, und Agrippina selbst verlor etwas zu schnell die Beherrschung, nur dass sie dank ihrer Sittsamkeit und Gattenliebe ihrem trotzdem leicht erregbaren Wesen eine Wendung zum Guten gab. 34 (1) Doch je näher Germanicus seiner höchsten Hoffnung31 kam, desto nachdrücklicher setzte er sich für Tiberius ein. Sich selbst, seine engere Umgebung und die Stämme der Belger vereidigte er auf ihn. Anschließend marschierte er, als er von dem Aufruhr der Legionen hörte, schnellstens los und traf außerhalb des Lagers auf sie, wobei sie die Blicke zu Boden senkten wie aus Reue. (2) Nachdem er in die Verschanzung eingezogen war, waren zunächst nur verworrene Klagen zu hören. Und einige Soldaten ergriffen seine Hand, als wollten sie sie küssen, führten aber seine Finger in ihren Mund, um ihn spüren zu lassen, dass ihnen alle Zähne ausgefallen waren; andere hielten ihm ihre vom Alter gekrümmten Gliedmaßen entgegen. (3) Der versammelten Menge gab er, weil sie offensichtlich völlig ungeordnet dastand, den Befehl, nach Manipeln auseinanderzutreten; so könnten sie ihn aber besser verstehen, war die Antwort. Dann sollten sie doch die Fahnen nach vorne bringen, damit man wenigstens daran die Kohorten unterscheiden könne; nur zögernd gehorchte man. (4) Nun begann er mit der Ehrfurcht gebietenden Person des Augustus und ging zu den Siegen und Triumphen des Tiberius über, wobei er überschwänglich vor allem die Glanztaten pries, die er in Germanien mit diesen Legionen vollbracht habe. Anschließend stellte er die Einmütigkeit Italiens, die Treue Galliens heraus: Nirgends herrsche Unruhe oder Uneinigkeit. Mit Schweigen oder gedämpftem Murren hörte man sich das an. 35 (1) Sobald er auf die Meuterei zu sprechen kam und fragte, wo der militärische Gehorsam, wo die großartige traditionelle Disziplin geblieben seien, wohin sie denn ihre Tribune, wohin die Zenturionen verjagt hätten, entblößten sie alle ihre Leiber und zeigten vorwurfsvoll auf die von Verwundungen herrührenden Narben und auf die Striemen von den Schlägen. Dann beklagten sie sich in lautem Durcheinander über die hohen Kosten für Dienstbefreiungen, die Kargheit des Solds, die Härte des Dienstes und nannten dabei eigens das Ausheben von Wall und Gräben sowie das Herbeischaffen von Futter, Baumaterial und Brennholz und all die anderen Ansprüche, die man bei Bedarf oder gegen die Faulenzerei im Lager an sie stellte. (2) Das heftigste Geschrei kam von den Veteranen, die dreißig oder mehr Dienstjahre zählten, er solle ihnen, ausgelaugt wie sie seien, helfen; sie baten darum, sie nicht unter den gleichen Strapazen sterben zu lassen, sondern den dermaßen

52

Liber primus

militiae neque inopem requiem orabant. (3) fuere etiam qui legatam a divo Augusto pecuniam reposcerent, faustis in Germanicum ominibus; et si vellet imperium, promptos ostentavere. (4) tum vero, quasi scelere contaminaretur, praeceps tribunali desiluit. opposuerunt abeunti arma, minitantes, ni regrederetur. at ille moriturum potius quam fidem exueret clamitans ferrum a latere diripuit elatumque deferebat in pectus, ni proximi prensam dextram vi attinuissent. (5) extrema et conglobata inter se pars contionis ac, vix credibile dictu, quidam singuli propius incedentes feriret hortabantur; et miles nomine Calusidius strictum obtulit gladium, addito acutiorem esse. saevum id malique moris etiam furentibus visum, ac spatium fuit, quo Caesar ab amicis in tabernaculum raperetur. 36 (1) Consultatum ibi de remedio. etenim nuntiabatur parari legatos, qui superiorem exercitum ad causam eandem traherent; destinatum excidio Ubiorum oppidum, imbutasque praeda manus in direptionem Galliarum erupturas. (2) augebat metum gnarus Romanae seditionis et, si omitteretur ripa, invasurus hostis. at si auxilia et socii adversum abscedentes legiones armarentur, civile bellum suscipi. periculosa severitas, flagitiosa largitio: seu nihil militi sive omnia concedentur, in ancipiti res publica. (3) igitur volutatis inter se rationibus placitum ut epistulae nomine principis scriberentur: missionem dari vicena stipendia meritis, exauctorari qui sena dena fecissent ac retineri sub vexillo ceterorum immunes nisi propulsandi hostis, legata quae petiverant exsolvi duplicarique. 37 (1) Sensit miles in tempus conficta statimque flagitavit. missio per tribunos maturatur, largitio differebatur in hiberna cuiusque. non abscessere quintani

Buch I

53

zermürbenden Militärdienst zu beenden und ihnen einen nicht nur armseligen Ruhestand zu ermöglichen. (3) Es gab sogar einige, die das vom vergöttlichten Augustus ihnen vermachte Geld einforderten, verbunden mit Glückund Segenswünschen für Germanicus; sie gaben auch zu erkennen, falls er die Herrschaft übernehmen wolle, stünden sie bereit. (4) Da aber sprang er, als bringe man ihn mit einem schmutzigen Verbrechen in Verbindung, in einem Satz vom Podium hinunter. Als er sich entfernen wollte, streckten sie ihm die Waffen entgegen und bedrohten ihn für den Fall, dass er nicht wieder umkehre. Doch er rief laut, er wolle eher sterben als seine Treue ablegen, riss sich das Schwert von der Seite, hob es in die Höhe und versuchte es sich in die Brust zu stoßen, wenn nicht seine unmittelbare Umgebung seine Hand gepackt und mit Gewalt festgehalten hätte. (5) Der ganz hinten dicht gedrängt stehende Teil der Versammlung und, kaum zu glauben, einzelne Männer, die nach vorne kamen, forderten ihn auf, doch zuzustoßen, und ein Soldat namens Calusidius bot ihm sein gezücktes Schwert an mit der Bemerkung, es sei schärfer. Entsetzlich und niederträchtig schien dies selbst der tobenden Meute zu sein, und so entstand eine Pause, in der der Caesar von seinen Freunden schleunigst in sein Zelt geleitet wurde. 36 (1) Dort beriet man über Gegenmaßnahmen. Es wurde nämlich gemeldet, eine Abordnung werde zusammengestellt, die das obere Heer dazu bringen solle, gemeinsame Sache zu machen; Ubierstadt32 sei zur Zerstörung vorgesehen, und die mit Beute in Berührung gekommenen Scharen würden sich sofort zur Plünderung Galliens aufmachen. (2) Die Furcht wuchs durch den Umstand, dass der Feind von der Meuterei bei den Römern wusste und im Falle einer Entblößung des Rheinufers angreifen würde. Rüste man jedoch Hilfstruppen und Bundesgenossen gegen die abziehenden Legionen, bedeute das den Beginn eines Bürgerkriegs. Gefährlich sei Strenge, schändlich die Auszahlung der Zuwendungen; ob man den Soldaten nun nichts oder alles bewillige, der Staat sei in einer sehr schwierigen Lage. (3) Also beschloss man nach Abwägung aller Gesichtspunkte, im Namen des Princeps einen Brief zu verfassen: Die Entlassung werde den Soldaten gewährt, die zwanzig Jahre gedient hätten, in die Reserve überführt, wer sechzehn hinter sich habe. Letztere blieben Angehörige einer militärischen Einheit, seien aber von allen Aufgaben außer der Abwehr eines Feindes freigestellt; die testamentarisch festgelegten Zuwendungen, die sie verlangt hatten, würden ausbezahlt, und zwar in doppelter Höhe. 37 (1) Die Soldaten merkten, dass man sich das nur im Hinblick auf die augenblickliche Lage hatte einfallen lassen, und verlangten deshalb den sofortigen Vollzug. Die Entlassung wurde durch die Tribune rasch ausgesprochen, die Auszahlung der Zuwendungen auf die jeweiligen Winterlager ver-

54

Liber primus

unetvicesimanique, donec isdem in aestivis contracta ex viatico amicorum ipsiusque Caesaris pecunia persolveretur. (2) primam ac vicesimam legiones Caecina legatus in civitatem Ubiorum reduxit, turpi agmine, cum fisci de imperatore rapti inter signa interque aquilas veherentur. (3) Germanicus superiorem ad exercitum profectus secundam et tertiam decimam et sextam decimam legiones nihil cunctatas sacramento adigit: quartadecimani paulum dubitaverant. pecunia et missio quamvis non flagitantibus oblata est. 38 (1) At in Chaucis coeptavere seditionem praesidium agitantes vexillarii discordium legionum, et praesenti duorum militum supplicio paulum repressi sunt. iusserat id M’. Ennius, castrorum praefectus, bono magis exemplo quam concesso iure. (2) deinde intumescente motu profugus repertusque, postquam intutae latebrae, praesidium ab audacia mutuatur: non praefectum ab iis, sed Germanicum ducem, sed Tiberium imperatorem violari. simul exterritis qui obstiterant, raptum vexillum ad ripam vertit, et si quis agmine decessisset, pro desertore fore clamitans reduxit in hiberna turbidos et nihil ausos. 39 (1) Interea legati ab senatu regressum iam apud aram Ubiorum Germanicum adeunt. duae ibi legiones, prima atque vicesima, veteranique nuper missi sub vexillo hiemabant. (2) pavidos et conscientia vaecordes intrat metus: venisse patrum iussu qui inrita facerent quae per seditionem expresserant. (3) utque mos vulgo quamvis falsis reum subdere, Munatium Plancum consulatu functum, principem legationis, auctorem senatus consulti incusant; et nocte concubia vexillum in domo Germanici situm flagitare occipiunt, concursuque ad ianuam facto moliuntur fores, extractum cubili Caesarem tradere vexillum intento mortis metu subigunt. (4) mox vagi per vias obvios habuere legatos audita consternatione ad Germanicum tendentes. ingerunt contumelias, caedem parant, Planco maxime,

Buch I

55

schoben. Die Fünfer und Einundzwanziger rückten aber nicht ab, bis ihnen noch im gleichen Sommerlager das Geld ausbezahlt wurde, das man aus der Reisekasse der Freunde und des Caesars persönlich zusammenlegte. (2) Die erste und die zwanzigste Legion führte der Legat Caecina nach Ubierstadt zurück, in einer schändlichen Kolonne, weil die dem Kommandeur abgenommenen Geldkisten zwischen den Feldzeichen und Legionsadlern transportiert wurden. (3) Germanicus brach zum oberen Heer auf und vereidigte die zweite, dreizehnte und sechzehnte Legion, die in keiner Weise zögerten. Die Vierzehner waren kurz unschlüssig; Geld und Entlassung wurden ihnen bewilligt, obwohl sie das gar nicht verlangten. 38 (1) Doch im Gebiet der Chauken fingen mit der Meuterei dort als Besatzung liegende Abteilungen der aufrührerischen Legionen an; durch die sofortige Hinrichtung zweier Soldaten wurden sie für kurze Zeit aufgehalten. Den Befehl dazu hatte der Lagerkommandant M’. Ennius gegeben, eher um mit gutem Beispiel voranzugehen als rechtlich dazu legitimiert. (2) Als daraufhin der Aufruhr anschwoll, floh er, wurde aber aufgespürt. Nachdem sein Versteck keinen Schutz mehr bot, suchte er Hilfe in einem riskanten Auftritt: Nicht ein Lagerkommandant, sondern ihr Kommandeur Germanicus, ihr Oberbefehlshaber Tiberius seien die Opfer ihrer Gewalttätigkeit. Damit machte er den Leuten, die sich ihm widersetzt hatten, Angst, packte gleichzeitig die Fahne und marschierte in Richtung Ufer33 los, wobei er laut rief, wenn einer die Kolonne verlasse, werde er als Deserteur behandelt. So führte er die Aufrührer ins Winterlager zurück, ohne dass sie etwas unternommen hätten. 39 (1) In der Zwischenzeit suchte eine Abordnung des Senats den bereits zurückgekehrten Germanicus in Ubieraltar auf. Zwei Legionen, die erste und die zwanzigste, und ihre gerade in die Reserve entlassenen Veteranen überwinterten dort. (2) Eingeschüchtert und vor Schuldbewusstsein zu keinem vernünftigen Gedanken fähig, packte sie die Furcht, die Abgesandten seien im Auftrag der Väter gekommen, um alle durch die Meuterei erpressten Zugeständnisse zurückzunehmen. (3) Wie das einfache Volk üblicherweise auch für offensichtlich unbegründete Vermutungen einen Schuldigen sucht, warfen sie Munatius Plancus, einem ehemaligen Konsul und nun Leiter der Abordnung, vor, den Senatsbeschluss veranlasst zu haben. Und so fingen sie mitten in der Nacht damit an, die im Haus des Germanicus aufbewahrte Standarte zu verlangen, rotteten sich vor dem Hauseingang zusammen, brachen die Tür auf, zwangen den Caesar, aus seinem Schlafzimmer zu kommen, und forderten unter Todesdrohungen die Aushändigung der Standarte.34 (4) Dann zogen sie durch die Straßen und stießen dabei auf die Mitglieder der Gesandtschaft, die auf die Nachricht von dem Tumult hin zu Germanicus eilten. Sie überschütteten sie mit Beleidigungen und machten Anstalten, sie umzubringen, besonders Plancus,

56

Liber primus

quem dignitas fuga impediverat; neque aliud periclitanti subsidium quam castra primae legionis. illic signa et aquilam amplexus religione sese tutabatur, ac ni aquilifer Calpurnius vim extremam arcuisset, rarum etiam inter hostes, legatus populi Romani Romanis in castris sanguine suo altaria deum commaculavisset. (5) luce demum, postquam dux et miles et facta noscebantur, ingressus castra Germanicus perduci ad se Plancum imperat recepitque in tribunal. (6) tum fatalem increpans rabiem, neque militum, sed deum ira resurgere, cur venerint legati aperit; ius legationis atque ipsius Planci gravem et immeritum casum, simul quantum dedecoris adierit legio, facunde miseratur, attonitaque magis quam quieta contione legatos praesidio auxiliarium equitum dimittit. 40 (1) Eo in metu arguere Germanicum omnes, quod non ad superiorem exercitum pergeret, ubi obsequia et contra rebelles auxilium: satis superque missione et pecunia et mollibus consultis peccatum. (2) vel si vilis ipsi salus, cur filium parvulum, cur gravidam coniugem inter furentes et omnis humani iuris violatores haberet? illos saltem avo et rei publicae redderet. (3) diu cunctatus aspernantem uxorem, cum se divo Augusto ortam neque degenerem ad pericula testaretur, postremo uterum eius et communem filium multo cum fletu complexus, ut abiret perpulit. (4) Incedebat muliebre et miserabile agmen, profuga ducis uxor, parvulum sinu filium gerens, lamentantes circum amicorum coniuges, quae simul trahebantur; nec minus tristes qui manebant. 41 (1) Non florentis Caesaris neque suis in castris, sed velut in urbe victa facies; gemitusque ac planctus etiam militum aures oraque advertere. progrediuntur contuberniis: quis ille flebilis sonus? quod tam triste ? feminas inlustres, non centurionem ad tutelam, non militem, nihil imperatoriae uxoris aut

Buch I

57

den sein Ehrgefühl an der Flucht gehindert hatte. In dieser gefährlichen Lage blieb ihm kein anderer Unterschlupf als das Lager der ersten Legion. Dort klammerte er sich an die Feldzeichen und den Legionsadler und versuchte sich so mit dem Respekt vor deren Heiligkeit zu schützen, und hätte der Adlerträger Calpurnius nicht den schlimmsten Gewaltausbruch verhindert, dann hätte, ein seltener Vorgang selbst unter Feinden, ein Gesandter des römischen Volks in einem römischen Lager mit seinem Blut die Altäre der Götter befleckt. (5) Erst bei Tagesanbruch, als man Kommandeur und einfachen Soldaten wieder unterscheiden konnte und zu erfassen versuchte, was geschehen war, ging Germanicus in das Lager, ließ Plancus zu sich bringen und nahm ihn mit auf das Podium. (6) Dann verurteilte er den verhängnisvollen Tobsuchtsanfall, der nicht durch den Zorn der Soldaten, sondern der Götter wieder ausgelöst worden sei, und gab bekannt, wozu die Abordnung gekommen sei. Die Verletzung des Gesandtschaftsrechts und das schwere, unverdiente Schicksal gerade des Plancus beklagte er ebenso wie das Ausmaß der Schande, die die Legion auf sich geladen habe, in wohlgesetzten Worten, und weil die Versammlung darüber mehr verblüfft als beruhigt war, entließ er die Abordnung unter dem Geleit von Kavallerie der Hilfstruppen. 40 (1) In dieser Atmosphäre der Furcht warfen alle Germanicus vor, dass er sich nicht zum oberen Heer begebe, wo er noch Gehorsam und Unterstützung gegen die Rebellen finden könne. Mehr als genug Fehler habe man mit der Entlassung, der Abfindung und den nachgiebigen Entscheidungen gemacht. (2) Wenn ihm persönlich aber sein Leben nichts wert sei, warum behalte er dann sein Söhnchen, warum seine schwangere Gemahlin unter der tobenden Meute, die gegen jedes Recht der Menschlichkeit verstoße? Sie solle er wenigstens dem Großvater und dem Staat zurückgeben. (3) Nach langem Zögern brachte er seine Gattin, die sich dagegen mit der Beteuerung sträubte, sie stamme vom vergöttlichten Augustus ab und werde sich dessen in schwierigen Situationen nicht unwürdig erweisen, nachdem er schließlich ihren Leib und den gemeinsamen Sohn unter vielen Tränen umarmt hatte, dazu abzureisen. (4) Nun machte sich ein mitleiderregender Zug von Frauen auf den Weg, die Gattin des Kommandeurs auf der Flucht, ihr Söhnchen auf dem Arm, umgeben von den jammernden Ehefrauen der Freunde, die mitziehen mussten, und nicht weniger traurig, wer zurückblieb. 41 (1) Nicht wie bei einem Caesar im Vollbesitz seiner Macht und in seinem eigenen Lager, sondern wie in einer besiegten Stadt war das Bild, das sich bot, und die Seufzer und Klagen ließen auch die Soldaten hinhören und hinsehen. Sie traten vor ihre Unterkünfte: Was sei das für ein lautes Weinen? Was für ein derart trauriger Zug? Vornehme Frauen seien es, kein Zenturio sei zu ihrem Schutz da, kein einfacher Soldat, nichts, was der Gemahlin

58

Liber primus

comitatus soliti: pergere ad Treviros et externae fidei. (2) pudor inde et miseratio et patris Agrippae, August avi memoria; socer Drusus, ipsa insigni fecunditate, praeclara pudicitia; iam infans in castris genitus, in contubernio legionum eductus, quem militari vocabulo Caligulam appellabant, quia plerumque ad concilianda vulgi studia eo tegmine pedum induebatur. (3) sed nihil aeque flexit quam invidia in Treviros: orant obsistunt, rediret maneret, pars Agrippinae occursantes, plurimi ad Germanicum regressi. isque ut erat recens dolore et ira, apud circumfusos ita coepit: 42 (1) ‘Non mihi uxor aut filius patre et re publica cariores sunt, sed illum quidem sua maiestas, imperium Romanum ceteri exercitus defendent: coniugem et liberos meos, quos pro gloria vestra libens ad exitium offerrem, nunc procul a furentibus summoveo, ut, quidquid istud sceleris imminet, meo tantum sanguine pietur, neve occisus Augusti pronepos, interfecta Tiberii nurus nocentiores vos faciat. (2) quid enim per hos dies inausum intemeratumve vobis? quod nomen huic coetui dabo? militesne appellem, qui filium imperatoris vestri vallo et armis circumsedistis? an cives, quibus tam proiecta senatus auctoritas? hostium quoque ius et sacra legationis et fas gentium rupistis. (3) divus Iulius seditionem exercitus verbo uno compescuit, Quirites vocando qui sacramentum eius detrectabant; divus Augustus vultu et aspectu Actiacas legiones exterruit: nos, ut nondum eosdem, ita ex illis ortos si Hispaniae Syriaeve miles aspernaretur, tamen mirum et indignum erat. primane et vicesima legiones, illa signis a Tiberio acceptis, tu tot proeliorum socia, tot praemiis aucta – egregiam duci vestro gratiam refertis. (4) hunc ego nuntium patri, laeta omnia aliis e provinciis audienti, feram? ipsius tirones,

Buch I

59

eines Kommandeurs zustehe oder von dem üblichen Geleit; sie seien nun auf dem Weg zu den Trevirern und damit in die Obhut von Fremden. (2) Scham überkam sie da und Mitleid und die Erinnerung an den Vater Agrippa, den Großvater Augustus; ihr Schwiegervater sei Drusus, sie selbst ausgezeichnet durch Kinderreichtum, ein Muster an Sittsamkeit. Außerdem sei ihr kleiner Sohn im Feldlager zur Welt gekommen und in der Gesellschaft der Legionen aufgewachsen; mit einem Begriff des Soldatenjargons riefen sie ihn „Stiefelchen“, weil man ihm sehr oft, um die Sympathien der Mannschaften zu gewinnen, dieses Schuhwerk anzog. (3) Aber nichts trug in gleicher Weise zu dem Stimmungsumschwung bei wie der Neid auf die Trevirer: Sie baten, bestanden darauf, sie solle umkehren, dableiben; ein Teil stellte sich Agrippina in den Weg, die Mehrzahl wandte sich Germanicus zu. Der begann unter dem frischen Eindruck von Schmerz und Erbitterung zu der Menge um ihn herum folgendermaßen zu sprechen: 42 (1) „Mir ist Gattin oder Sohn nicht teurer als Vater und Gemeinwesen, aber Letzterer wird ja wenigstens durch seine hohe Stellung, das Römische Reich durch die übrigen Heere geschützt werden. Meine Gemahlin und meine Kinder, die ich für euren Ruhm bereitwillig dem Tod ausliefern würde, lasse ich jetzt weg von euch tobender Meute bringen, damit das Verbrechen, das vielleicht noch bevorsteht, nur mit meinem Blut gesühnt wird und die Ermordung des Urenkels des Augustus und die Tötung der Schwiegertochter des Tiberius euch nicht zu noch größeren Schurken machen. (2) Wozu habt ihr euch denn während dieser Tage nicht erdreistet, oder was habt ihr nicht in den Schmutz gezogen? Welche Bezeichnung soll ich einem solchen Haufen geben? Soll ich euch Soldaten nennen, die ihr den Sohn eures Oberbefehlshabers mit Wall und Waffen eingeschlossen habt? Oder Bürger, von denen das Ansehen des Senats derart mit Füßen getreten wurde? Sogar das Feinden gegenüber geltende Recht, die Unverletzlichkeit einer Gesandtschaft und das Völkerrecht habt ihr gebrochen. (3) Der vergöttlichte Julius erstickte die Meuterei seines Heeres mit einem einzigen Wort, indem er die Leute als Quiriten anredete, die den Eid auf ihn brechen wollten.35 Der vergöttlichte Augustus versetzte durch seinen Gesichtsausdruck und seinen Blick die Legionen von Aktium in Angst und Schrecken.36 Mich dagegen, der sich mit den beiden zwar noch nicht messen kann, der aber von ihnen abstammt, wenn mich Soldaten aus Spanien oder Syrien verächtlich behandelten, dann wäre das immer noch ungewöhnlich und empörend. Die erste und zwanzigste Legion jedoch – die eine bekam ihre Fahnen von Tiberius, und du da37 warst seine Kameradin in so vielen Gefechten, wurdest so reich belohnt! –, großartig bedankt ihr euch bei eurem Kommandeur! (4) Das soll ich als Botschaft meinem Vater überbringen, der aus den anderen Provinzen nur erfreuliche Nachrichten hört: dass sich seine

60

Liber primus

ipsius veteranos non missione, non pecunia satiatos; hic tantum interfici centuriones, eici tribunos, includi legatos; infecta sanguine castra flumina, meque precariam animam inter infensos trahere. 43 (1) Cur enim primo contionis die ferrum illud, quod pectori meo infigere parabam, detraxistis, o improvidi amici? melius et amantius ille qui gladium offerebat. cecidissem certe nondum tot flagitiorum exercitui meo conscius; legissetis ducem, qui meam quidem mortem impunitam sineret, Vari tamen et trium legionum ulcisceretur. (2) neque enim di sinant ut Belgarum quamquam offerentium decus istud et claritudo sit, subvenisse Romano nomini, compressisse Germaniae populos. (3) tua, dive Auguste, caelo recepta mens, tua, pater Druse, imago, tui memoria isdem istis cum militibus, quos iam pudor et gloria intrat, eluant hanc maculam irasque civiles in exitium hostibus vertant. (4) vos quoque, quorum alia nunc ora, alia pectora contueor, si legatos senatui, obsequium imperatori, si mihi coniugem et filium redditis, discedite a contactu ac dividite turbidos: id stabile ad paenitentiam, id fidei vinculum erit.’ 44 (1) Supplices ad haec et vera exprobrari fatentes orabant, puniret noxios, ignosceret lapsis et duceret in hostem; revocaretur coniunx, rediret legionum alumnus neve obses Gallis traderetur. reditum Agrippinae excusavit ob imminentem partum et hiemem; venturum filium: cetera ipsi exsequerentur. (2) discurrunt mutati et seditiosissimum quemque vinctos trahunt ad legatum legionis primae C. Caetronium, qui iudicium et poenas de singulis in hunc modum exercuit. stabant pro contione legiones destrictis gladiis; reus in suggestu per tribunum ostendebatur. si nocentem adclamaverant, praeceps datus trucidabatur. (3) et gaudebat caedibus miles, tamquam semet absolveret; nec Caesar arcebat, quando nullo ipsius iussu penes eosdem saevitia facti et invidia erat. (4) secuti exemplum veterani haud multo post in Raetiam mittuntur,

Buch I

61

eigenen Rekruten, seine eigenen Veteranen nicht mit der Entlassung, nicht mit dem Geld zufriedengeben; dass man nur hier Zenturionen totschlägt, Tribune davonjagt, Gesandte einsperrt, Lager und Flüsse mit Blut besudelt und dass ich ein von anderer Leute Gnade abhängiges Leben unter Feinden friste? 43 (1) Warum habt ihr mir denn am ersten Tag der Versammlung die Waffe, die ich mir in die Brust stoßen wollte, aus der Hand gerissen, ahnungslose Freunde? Besser und liebevoller meinte es der Mann, der sein Schwert anbot. Ich wäre bestimmt zu Boden gesunken, noch bevor ich Zeuge so vieler Gräueltaten meines Heeres geworden wäre. Ihr hättet einen Kommandeur gewählt, der zwar meinen Tod ungestraft gelassen, den des Varus und der drei Legionen aber dennoch gerächt hätte. (2) Die Götter mögen es nämlich nicht zulassen, dass den Belgern trotz ihres Angebots die besondere Ehre und der Ruhm zuteilwerden, dem römischen Namen zu Hilfe gekommen zu sein und Germaniens Völker bezwungen zu haben! (3) Dein, vergöttlichter Augustus, in den Himmel aufgenommener Geist, dein Bild, Vater Drusus, und das Andenken an dich mögen zusammen mit ebendiesen Soldaten hier, in denen schon Ehrgefühl und Ehrgeiz wieder erwachen, diesen Schandfleck abwaschen und die Zornausbrüche unter den Bürgern zum Verderben für die Feinde werden lassen! (4) Auch ihr, bei denen ich nun andere Gesichter und eine andere Einstellung sehe, falls ihr die Gesandten dem Senat, den Gehorsam eurem Oberbefehlshaber, falls ihr mir Gattin und Sohn zurückgebt, dann haltet euch von dem Ansteckungsherd fern und trennt euch von den Unruhestiftern! Dies wird die feste Grundlage für eure Reue, dies das Band eurer Treue sein.“ 44 (1) Kleinlaut bekannten sie auf diese Worte hin, die Vorwürfe seien berechtigt, und baten, er solle die Schuldigen bestrafen, denen, die nur einen Fehler gemacht hätten, verzeihen und sie gegen den Feind führen; zurückgerufen werden solle die Gattin, zurückkehren der Pflegesohn der Legionen und nicht als Geisel Galliern ausgeliefert werden. Die Rückkehr Agrippinas lehnte er wegen der bevorstehenden Geburt und des Winters ab; sein Sohn werde kommen, den Rest müssten sie selbst erledigen. (2) Sie liefen verwandelt auseinander und schleppten gerade die schlimmsten Meuterer in Fesseln vor den Legaten der ersten Legion C. Caetronius, der bei Urteilsfindung und Bestrafung der Einzelnen folgendermaßen verfuhr: Wie bei einer Heeresversammlung angetreten waren die Legionen, aber mit gezückten Schwertern. Der Angeklagte wurde auf dem Podium durch einen Tribun vorgeführt; wenn sie riefen, er sei schuldig, wurde er hinuntergestoßen und umgebracht. (3) Und die Soldaten freuten sich über das Gemetzel so, als könnten sie sich damit selbst freisprechen. Auch der Caesar griff nicht ein, da ja ohne seinen Befehl gerade die Personen grausam verfuhren, die das einem anderen verübelt hätten. (4) Die Veteranen folgten dem Vorbild und wurden nicht viel später unter dem

62

Liber primus

specie defendendae provinciae ob imminentes Suebos, ceterum ut avellerentur castris trucibus adhuc non minus asperitate remedii quam sceleris memoria. (5) centurionatum inde egit. citatus ab imperatore nomen ordinem patriam, numerum stipendiorum, quae strenue in proeliis fecisset, et cui erant dona militaria edebat. si tribuni, si legio industriam innocentiamque adprobaverant, retinebat ordinem; ubi avaritiam aut crudelitatem consensu obiectavissent, solvebatur militia. 45 (1) Sic compositis praesentibus haud minor moles supererat ob ferociam quintae et unetvicesimae legionum, sexagesimum apud lapidem (loco Vetera nomen est) hibernantium. (2) nam primi seditionem coeptaverant; atrocissimum quodque facinus horum manibus patratum; nec poena commilitonum exterriti nec paenitentia conversi iras retinebant. igitur Caesar arma classem socios demittere Rheno parat, si imperium detrectetur, bello certaturus. 46 (1) At Romae, nondum cognito qui fuisse exitus in Illyrico et legionum Germanicarum motu audito, trepida civitas incusare Tiberium quod, dum patres et plebem, invalida et inermia, cunctatione ficta ludificetur, dissideat interim miles neque duorum adulescentium nondum adulta auctoritate comprimi queat. (2) ire ipsum et opponere maiestatem imperatoriam debuisse cessuris, ubi principem longa experientia eundemque severitatis et munificentiae summum vidissent. (3) an Augustum fessa aetate totiens in Germanias commeare potuisse: Tiberium vigentem annis sedere in senatu, verba patrum cavillantem? satis prospectum urbanae servituti: militaribus animis adhibenda fomenta, ut ferre pacem velint. 47 (1) Immotum adversus eos sermones fixumque Tiberio fuit non omittere caput rerum neque se remque publicam in casum dare. multa quippe et diversa angebant: validior per Germaniam exercitus, propior apud Pannoniam; ille

Buch I

63

Vorwand nach Rätien geschickt, die Provinz gegen einen Suebeneinfall verteidigen zu müssen, tatsächlich aber, um sie aus dem Lager abzuziehen, in dem immer noch eine aufsässige Stimmung herrschte nicht weniger dank der Härte der Maßnahmen als in Erinnerung an ihr Verbrechen. (5) Dann nahm er die Musterung der Zenturionen vor. Vom Befehlshaber aufgerufen, gab jeder Namen, Dienstgrad, Heimatort, Zahl der Dienstjahre, besondere Bewährungen im Gefecht an und, wer darüber verfügte, die Tapferkeitsauszeichnungen. Wenn die Tribune, wenn die Legion Diensteifer und Unbestechlichkeit bestätigten, behielt der Betroffene seinen Dienstgrad; sobald sie einem übereinstimmend Habgier oder Brutalität vorwarfen, wurde er entlassen. 45 (1) Als man auf diese Weise die Lage für den Augenblick wieder im Griff hatte, blieb die nicht weniger schwierige Aufgabe wegen der Aufsässigkeit der fünften und einundzwanzigsten Legion, die sechzig Meilen entfernt – der Ort heißt Vetera – überwinterten. (2) Denn sie waren die Allerersten bei der Meuterei gewesen; gerade die schlimmsten Untaten waren von ihren Händen begangen worden, und sie ließen sich durch die Bestrafung ihrer Kameraden nicht einschüchtern und nicht durch Reue umstimmen, sondern blieben bei ihrer empörten Haltung. Deshalb beabsichtigte der Caesar, Truppen, eine Flotte und Bundesgenossen den Rhein hinabzuschicken, dazu bereit, bei Gehorsamsverweigerung die Entscheidung im Krieg zu suchen. 46 (1) Doch in Rom wusste man noch nicht, wie das Unternehmen in Illyricum ausgegangen war, und als man von der Meuterei der germanischen Legionen hörte, beklagte sich die angsterfüllte Bürgerschaft über Tiberius, während er Väter und Volk, die kraft- und wehrlos seien, mit seinem gespielten Zögern zum Besten halte, seien die Soldaten in der Zwischenzeit aufsässig geworden und könnten durch die noch nicht gefestigte Autorität zweier junger Männer nicht gebändigt werden. (2) Er hätte persönlich gehen und sein Prestige als Oberbefehlshaber den Leuten entgegensetzen müssen, die nachgegeben hätten, sobald sie den Princeps mit seiner langen Erfahrung und in seiner Person auch die oberste Instanz für Strenge und Entgegenkommen erlebt hätten. (3) Habe etwa Augustus nicht trotz seiner Altersschwäche so oft nach Germanien ziehen können? Tiberius sitze jung und kräftig im Senat herum und mache sich über die Äußerungen der Väter lustig. Genug Vorsorge sei für die Knechtschaft in der Hauptstadt getroffen worden, nun müsse man den Soldatenseelen lindernde Umschläge machen, damit sie den Frieden auszuhalten geruhten. 47 (1) Ungerührt von diesem Gerede und fest blieb Tiberius bei seinem Entschluss, die wichtigste Stadt der Welt nicht aus den Augen zu lassen und sich und damit den Staat dem Zufall auszusetzen. Denn viele einander widersprechende Gesichtspunkte machten ihm zu schaffen: Schlagkräftiger sei das Heer in Germanien, näher das in Pannonien. Das eine könne sich auf die

64

Liber primus

Galliarum opibus subnixus, hic Italiae imminens: quos igitur anteferret? ac ne postpositi contumelia incenderentur. (2) at per filios pariter adiri maiestate salva, cui maior e longinquo reverentia. simul adulescentibus excusatum quaedam ad patrem reicere, resistentesque Germanico aut Druso posse a se mitigari vel infringi: quod aliud subsidium, si imperatorem sprevissent? (3) ceterum ut iam iamque iturus legit comites, conquisivit impedimenta, adornavit naves: mox hiemem aut negotia varie causatus primo prudentes, dein vulgum, diutissime provincias fefellit. 48 (1) At Germanicus, quamquam contracto exercitu et parata in defectores ultione, dandum adhuc spatium ratus, si recenti exemplo sibi ipsi consulerent, praemittit litteras ad Caecinam, venire se valida manu ac, ni supplicium in malos praesumant, usurum promisca caede. (2) eas Caecina aquiliferis signiferisque et quod maxime castrorum sincerum erat occulte recitat, utque cunctos infamiae, se ipsos morti eximant hortatur: nam in pace causas et merita spectari; ubi bellum ingruat, innocentes ac noxios iuxta cadere. (3) illi temptatis quos idoneos rebantur, postquam maiorem legionum partem in officio vident, de sententia legati statuunt tempus, quo foedissimum quemque et seditioni promptum ferro invadant. tunc signo inter se dato inrumpunt contubernia, trucidant ignaros, nullo nisi consciis noscente quod caedis initium, quis finis. 49 (1) Diversa omnium, quae umquam accidere, civilium armorum facies. non proelio, non adversis e castris, sed isdem e cubilibus, quos simul vescentes dies, simul quietos nox habuerat, discedunt in partes, ingerunt tela. clamor vulnera sanguis palam, causa in occulto; cetera fors regit. et quidam bonorum caesi, postquam, intellecto in quos saeviretur, pessimi quoque arma rapuerant.

Buch I

65

Truppen in Gallien stützen, das andere bedrohe Italien. Welchem solle er deshalb den Vorzug geben? Auch dürften die Zurückgesetzten durch die Kränkung nicht gereizt werden. (2) Doch durch seine Söhne könne man sie gleichzeitig besuchen ohne Beeinträchtigung seiner Majestät, die man aus der Ferne mit größerem Respekt behandle. Zugleich sehe man es den jungen Männern nach, wenn sie einige Fälle an ihren Vater verwiesen, und Widerstand gegen Germanicus oder Drusus könne von ihm abgemildert oder gebrochen werden. Welch anderen Zufluchtsort gebe es aber noch, wenn man den Oberbefehlshaber verächtlich behandelt habe? (3) Dennoch wählte er, als wolle er im nächsten Augenblick abreisen, sein Gefolge aus, ließ das Gepäck zusammenstellen und Schiffe ausrüsten; dann schob er abwechselnd den Winter oder Amtsgeschäfte vor und täuschte so zuerst die Leute mit Scharfblick, dann das einfache Volk und am längsten die Provinzen. 48 (1) Doch Germanicus war, obwohl er das Heer zusammengezogen und die Bestrafung der Meuterer vorbereitet hatte, der Auffassung, man solle ihnen noch eine Frist dafür einräumen, ob sie, dem jüngsten Vorbild folgend, ihr Problem selbst lösen könnten. Deshalb schickte er an Caecina ein Schreiben voraus, er komme mit einer schlagkräftigen Truppe und werde, falls sie die Übeltäter nicht vorher hinrichteten, ohne Unterschied alle niedermachen lassen. (2) Das las Caecina den Adler- und Standartenträgern und den sonst noch zuverlässigsten Leuten im Lager heimlich vor und forderte sie auf, alle vor der Schande, sich selbst vor dem Tod zu bewahren. Denn im Frieden berücksichtige man Motive und Verdienste, sobald aber ein Krieg ausbreche, fielen unschuldige und schuldige Männer Seite an Seite. (3) Sie machten sich an die Kameraden heran, die sie für geeignet hielten, und nachdem sie sahen, dass der Großteil der Legionen loyal geblieben war, setzten sie in Abstimmung mit dem Legaten einen Zeitpunkt fest, an dem sie über die übelsten Schurken und Aufrührer mit dem Schwert herfallen wollten. Dann brachen sie auf ein verabredetes Zeichen hin in die Unterkünfte ein und brachten die Ahnungslosen um, wobei nur die eingeweihten Personen erfuhren, warum man mit dem Morden angefangen hatte und wann es wieder aufhören solle. 49 (1) Anders als bei all den bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen den Bürgern, zu denen es je kam, war das Bild, das sich bot: Nicht zu einer Schlacht, nicht aus gegnerischen Lagern, sondern aus denselben Unterkünften heraus teilten sich die Männer, die tags zusammen gegessen, nachts zusammen geruht hatten, in Parteien auf und gingen mit den Waffen aufeinander los. Geschrei, Wunden, Blut vor aller Augen – der Grund dafür im Dunkeln! Den Rest beherrschte der Zufall. Auch einige anständige Soldaten wurden niedergemacht, nachdem auch die übelsten Elemente bemerkt hatten, wem das Wüten galt, und zu den Waffen gegriffen hatten.

66

Liber primus

(2) neque legatus aut tribunus moderator adfuit: permissa vulgo licentia atque ultio et satietas. mox ingressus castra Germanicus, non medicinam illud plurimis cum lacrimis, sed cladem appellans, cremari corpora iubet. (3) Truces etiam tum animos cupido involat eundi in hostem, piaculum furoris; nec aliter posse placari commilitonum manes, quam si pectoribus impiis honesta vulnera accepissent. (4) sequitur ardorem militum Caesar iunctoque ponte tramittit duodecim milia e legionibus, sex et viginti socias cohortes, octo equitum alas, quarum ea seditione intemerata modestia fuit. 50 (1) Laeti neque procul Germani agitabant, dum iustitio ob amissum Augustum, post discordiis attinemur. at Romanus agmine propero silvam Caesiam limitemque a Tiberio coeptum scindit, castra in limite locat, frontem ac tergum vallo, latera concaedibus munitus. (2) inde saltus obscuros permeat consultatque, ex duobus itineribus breve et solitum sequatur an impeditius et intemptatum eoque hostibus incautum. (3) delecta longiore via cetera adcelerantur: etenim attulerant exploratores festam eam Germanis noctem ac sollemnibus epulis ludicram. Caecina cum expeditis cohortibus praeire et obstantia silvarum amoliri iubetur; legiones modico intervallo sequuntur. (4) iuvit nox sideribus inlustris, ventumque ad vicos Marsorum et circumdatae stationes stratis etiam tum per cubilia propterque mensas, nullo metu, non antepositis vigiliis: adeo cuncta incuria disiecta erat neque belli timor, ac ne pax quidem nisi languida et soluta inter temulentos. 51 (1) Caesar avidas legiones, quo latior populatio foret, quattuor in cuneos dispertit; quinquaginta milium spatium ferro flammisque pervastat. non sexus, non aetas miserationem attulit; profana simul et sacra et celeberrimum illis gentibus templum, quod Tanfanae vocabant, solo aequantur. sine vulnere milites, qui semisomnos, inermos aut palantes ceciderant. (2) excivit ea caedes Bructeros Tubantes Usipetes, saltusque, per quos exercitui regressus,

Buch I

67

(2) Und kein Legat oder Tribun war da, um Einhalt zu gebieten: Dem gemeinen Soldaten ließ man freie Hand, seinen Rachedurst zu stillen, bis er genug hatte. Dann zog Germanicus in das Lager ein, nannte das Geschehen unter vielen Tränen nicht Abhilfe, sondern Katastrophe, und ließ die Leichen verbrennen. (3) In der auch da noch herrschenden gereizten Stimmung packte die Männer plötzlich die Lust, gegen den Feind zu ziehen als Strafe für ihren Tobsuchtsanfall; auch könnten die Geister der toten Kameraden nur versöhnt werden, wenn sie mit ihrer schuldbeladenen Brust ehrenvolle Wunden empfingen. (4) Der Begeisterung der Soldaten entsprach der Caesar und setzte auf einer Schiffbrücke 12 000 Mann aus den Legionen, 26 Kohorten der Bundesgenossen und acht Kavallerieregimenter über, deren Loyalität bei dieser Meuterei über jeden Zweifel erhaben war. 50 (1) Fröhlich und nicht weit entfernt lebten die Germanen, während wir mit der Staatstrauer wegen des Verlusts des Augustus, dann mit der Meuterei beschäftigt waren. Doch der Römer bahnte sich in einem Eilmarsch den Weg durch den Cäsischen Wald auf der von Tiberius begonnenen Schneise, ließ an dieser Schneise ein Lager errichten und Front- und Rückseite mit einem Wall, die Flanken mit einem Verhau schützen.38 (2) Dann zog er durch die dunklen Waldtäler und überlegte, ob er von den zwei Marschrouten der kurzen und vertrauten oder der unwegsameren, nie benützten und deshalb von den Feinden nicht überwachten folgen solle. (3) Da man sich für den längeren Weg entschied, musste alles Übrige schnell gehen; denn Kundschafter hatten gemeldet, in dieser Nacht feierten die Germanen ein Fest mit den üblichen Gelagen und Spielen. Caecina erhielt den Befehl, mit Kohorten ohne Gepäck vorauszumarschieren und Hindernisse in den Wäldern wegzuräumen; die Legionen folgten in geringem Abstand. (4) Es half die sternklare Nacht, und man kam zu den Dörfern der Marser und schloss sie mit Feldposten ein; sie lagen auch da noch, über ihre Schlafplätze und neben den Tischen verstreut, herum, ohne Furcht und ohne Wachen aufzustellen. Derart hatte sich alles in Sorglosigkeit aufgelöst; man hatte keine Angst vor einem Krieg, allerdings auch keinen Frieden, es sei denn den fahrlässigen und unbekümmerten unter Betrunkenen. 51 (1) Der Caesar teilte die auf den Kampf drängenden Legionen, um ein möglichst großes Gebiet verheeren zu können, in vier Gefechtskeile auf; einen Bereich von 50 Meilen ließ er mit Feuer und Schwert völlig verwüsten. Nicht Geschlecht, nicht Alter fand Erbarmen. Profanbauten, Heiligtümer und der unter diesen Stämmen hochberühmte, nach Tanfana benannte heilige Bezirk wurden zusammen dem Erdboden gleichgemacht. Ohne Verwundungen blieben die Soldaten, die nur schlaftrunkene, unbewaffnete oder herumirrende Personen erschlagen hatten. (2) Dieses Massaker rief die Brukterer, Tubanten und Usipeter auf den Plan, und sie besetzten die Waldtäler, durch die für das

68

Liber primus

insedere. quod gnarum duci, incessitque itineri et proelio. pars equitum et auxiliariae cohortes ducebant, mox prima legio, et mediis impedimentis sinistrum latus unetvicesimani, dextrum quintani clausere; vicesima legio terga firmavit, post ceteri sociorum. (3) sed hostes, donec agmen per saltus porrigeretur, immoti, dein latera et frontem modice adsultantes, tota vi novissimos incurrere. turbabanturque densis Germanorum catervis leves cohortes, cum Caesar advectus ad vicesimanos voce magna hoc illud tempus oblitterandae seditionis clamitabat: pergerent, properarent culpam in decus vertere. (4) exarsere animis unoque impetu perruptum hostem redigunt in aperta caeduntque. simul primi agminis copiae evasere silvas castraque communivere. quietum inde iter, fidensque recentibus ac priorum oblitus miles in hibernis locatur. 52 (1) Nuntiata ea Tiberium laetitia curaque adfecere: gaudebat oppressam seditionem, sed quod largiendis pecuniis et missione festinata favorem militum quaesivisset, bellica quoque Germanici gloria angebatur. (2) rettulit tamen ad senatum de rebus gestis multaque de virtute eius memoravit, magis in speciem verbis adornata quam ut penitus sentire crederetur. (3) paucioribus Drusum et finem Illyrici motus laudavit, sed intentior et fida oratione. cunctaque quae Germanicus indulserat servavit etiam apud Pannonicos exercitus. 53 (1) Eodem anno Iulia supremum diem obiit, ob impudicitiam olim a patre Augusto Pandateria insula, mox oppido Reginorum, qui Siculum fretum accolunt, clausa. fuerat in matrimonio Tiberii florentibus Gaio et Lucio Caesaribus spreveratque ut imparem; nec alia tam intima Tiberio causa cur Rhodum abscederet. (2) imperium adeptus extorrem, infamem et post interfectum Postumum Agrippam omnis spei egenam inopia ac tabe longa peremit, obscuram fore necem longinquitate exilii ratus.

Buch I

69

Heer der Rückweg führte. Davon erfuhr der Kommandeur, und er rückte, auf Marsch und Kampf gefasst, vor: Ein Teil der Kavallerie und die Kohorten der Hilfstruppen bildeten die Spitze, dann die erste Legion, und mit dem Tross in der Mitte deckten die linke Flanke die Einundzwanziger, die rechte die Fünfer, die zwanzigste Legion sicherte nach hinten, dann der Rest der Bundesgenossen. (3) Aber die Feinde rührten sich so lange nicht, wie sich die Kolonne über die Wälder hinzog, dann griffen sie Flanken und Spitze mit schwachen Kräften an und stürzten sich mit ganzer Macht auf die Nachhut. Schon gerieten durch die dichten Haufen der Germanen die leichten Kohorten in Unordnung, da ritt der Caesar zu den Zwanzigern und rief mit lauter Stimme, genau das sei der richtige Zeitpunkt, die Meuterei vergessen zu machen; sie sollten weitermarschieren und schleunigst ihre Schuld in Ehre verwandeln. (4) Dafür waren sie Feuer und Flamme, durchbrachen in einem Schwung die feindlichen Reihen, trieben sie ins freie Gelände hinaus und machten sie nieder. Zur gleichen Zeit ließen die Einheiten an der Spitze der Kolonne die Wälder hinter sich und legten ein befestigtes Lager an. Friedlich verlief der Marsch von da ab, und zuversichtlich wegen der jüngsten Erfolge und ohne einen Gedanken an die vorausgegangenen Schwierigkeiten wurden die Soldaten im Winterlager einquartiert. 52 (1) Die Nachricht davon erfüllte Tiberius mit Freude und Sorge. Er freute sich über die Niederschlagung der Meuterei, aber die Möglichkeit, dass Germanicus sich durch die Geldverteilung und die vorgezogene Entlassung bei den Soldaten beliebt machen wollte, und auch sein im Krieg erworbenes Ansehen beunruhigten ihn. (2) Er berichtete dennoch vor dem Senat über die Erfolge und würdigte ausführlich seine Tüchtigkeit; das tat er mehr nach außen hin mit schönen Worten, als dass man den Eindruck gehabt hätte, es entspreche seiner tatsächlichen Überzeugung. (3) Kürzer lobte er Drusus und die Beendigung des illyrischen Aufstands, aber dabei sprach er mit mehr Anteilnahme, und seine Rede klang aufrichtig. Alles, was Germanicus zugestanden hatte, bestätigte er auch für die pannonischen Heere. 53 (1) Im gleichen Jahr schied Julia aus dem Leben, die wegen ihres unmoralischen Lebenswandels einst von ihrem Vater Augustus auf der Insel Pandateria, dann in der Stadt der Reginer, die an der Sizilischen Meerenge siedeln, eingesperrt worden war. Sie war mit Tiberius verheiratet gewesen, als es Gaius und Lucius Caesar noch gut ging, und hatte ihn als nicht ebenbürtig von oben herab behandelt; und so hatte Tiberius keinen anderen ihn derart im Innersten berührenden Grund dafür, sich nach Rhodos zurückzuziehen. (2) Nach seinem Herrschaftsantritt sorgte er für die Beseitigung der ausgestoßenen, verfemten und nach der Ermordung des Postumus Agrippa völlig hoffnungslosen Frau durch Entbehrung und langsamen Kräfteverfall in der Überzeugung, ihr gewaltsamer Tod werde infolge der langen Dauer der Verbannung unbemerkt bleiben.

70

Liber primus

(3) par causa saevitiae in Sempronium Gracchum, qui familia nobili, sollers ingenio et prave facundus, eandem Iuliam in matrimonio Marci Agrippae temeraverat. nec is libidini finis: traditam Tiberio pervicax adulter contumacia et odiis in maritum accendebat; litteraeque, quas Iulia patri Augusto cum insectatione Tiberii scripsit, a Graccho compositae credebantur. (4) igitur amotus Cercinam, Africi maris insulam, quattuordecim annis exilium toleravit. (5) tunc milites ad caedem missi invenere in prominenti litoris, nihil laetum opperientem. quorum adventu breve tempus petivit ut suprema mandata uxori Alliariae per litteras daret, cervicemque percussoribus obtulit, constantia mortis haud indignus Sempronio nomine: vita degeneraverat. (6) quidam non Roma eos milites, sed ab L. Asprenate pro consule Africae missos tradidere auctore Tiberio, qui famam caedis posse in Asprenatem verti frustra speraverat. 54 (1) Idem annus novas caerimonias accepit addito sodalium Augustalium sacerdotio, ut quondam T. Tatius retinendis Sabinorum sacris sodales Titios instituerat. sorte ducti e primoribus civitatis unus et viginti; Tiberius Drususque et Claudius et Germanicus adiciuntur. (2) ludos Augustales tunc primum coeptos turbavit discordia ex certamine histrionum. indulserat ei ludicro Augustus, dum Maecenati obtemperat effuso in amorem Bathylli; neque ipse abhorrebat talibus studiis, et civile rebatur misceri voluptatibus vulgi. alia Tiberio morum via; sed populum per tot annos molliter habitum nondum audebat ad duriora vertere. 55 (1) DRUSO CAESARE C. NORBANO consulibus decernitur Germanico triumphus manente bello; quod quamquam in aestatem summa ope parabat, initio veris et repentino in Chattos excursu praecepit. nam spes incesserat dissidere hostem in Arminium ac Segestem, insignem utrumque perfidia in nos aut fide. (2) Arminius turbator Germaniae, Segestes parari rebellionem saepe

Buch I

71

(3) Der gleiche Grund lag für sein erbarmungsloses Verhalten gegenüber Sempronius Gracchus vor, der aus einer vornehmen Familie stammte, ein kluger Kopf und skrupelloser Redner war und gerade diese Julia während ihrer Ehe mit Marcus Agrippa entehrt hatte. Doch das war noch nicht das Ende seiner Hemmungslosigkeit: Als sie Tiberius zur Frau gegeben worden war, hetzte sie der hartnäckige Ehebrecher zu einem widerspenstigen und gehässigen Benehmen gegen ihren Ehemann auf, und der Brief, den Julia an ihren Vater Augustus voller Hohn und Spott über Tiberius schrieb, war angeblich von Gracchus verfasst worden. (4) Deshalb wurde er nach Cercina, eine Insel im Afrikanischen Meer, verwiesen und hielt dort 14 Jahre als Verbannter aus. (5) Nun aber wurden Soldaten mit dem Auftrag geschickt, ihn umzubringen, und trafen ihn an einer Landzunge an, wobei er nichts Erfreuliches erwartete. Bei ihrer Ankunft bat er um ein bisschen Zeit, um seiner Frau Alliaria seinen letzten Willen schriftlich mitteilen zu können, und hielt dann seinen Nacken den Henkern hin, mit seiner Standhaftigkeit im Tode des Namens Sempronius nicht unwürdig; nur im Leben war er aus der Art geschlagen. (6) Einige Autoren berichten, diese Soldaten seien nicht aus Rom geschickt worden, sondern vom Prokonsul Africas L. Asprenas auf Befehl des Tiberius, der vergeblich gehofft hatte, er könne das böse Gerede über den Mord auf Asprenas lenken. 54 (1) Das gleiche Jahr brachte eine kultische Neuerung mit der Stiftung der Priesterschaft der Augustalischen Brüder, so wie einst T. Tatius zur Bewahrung sabinischer religiöser Bräuche die Bruderschaft der Titier eingerichtet hatte. Durch das Los bestimmte man aus den führenden Männern der Bürgerschaft 21 Mitglieder; Tiberius, Drusus sowie Claudius und Germanicus wurden zusätzlich ernannt. (2) Die Augustalischen Spiele, die man damals zum ersten Mal abhielt, störte eine Auseinandersetzung, die von einem Streit unter Schauspielern ausging. Zu dieser Veranstaltung hatte Augustus seine Einwilligung gegeben, weil er Maecenas nachgab, der sich in Liebe zu Bathyllus verströmte; aber auch er persönlich schreckte vor derartigen künstlerischen Betätigungen nicht zurück und hielt es für volkstümlich, an Volksbelustigungen teilzunehmen. Tiberius’ Charakter ging in eine andere Richtung; doch wagte er es noch nicht, das jahrelang verwöhnte Volk härter anzufassen. 55 (1) Unter den Konsuln DRUSUS CAESAR und C. NORBANUS (15 n. Chr.) beschloss man für Germanicus einen Triumph, obwohl der Krieg noch weiterging. Zwar bereitete er ihn erst für den Sommer mit aller Kraft vor, doch nahm er ihn zu Frühlingsbeginn, und zwar durch einen plötzlichen Einfall ins Gebiet der Chatten, schon vorweg. Denn es war die Hoffnung aufgekommen, der Feind zerfalle in zwei Parteien, in die des Arminius und die des Segestes, die sich beide hervorgetan hatten durch ihre Treulosigkeit oder Treue uns gegenüber. (2) Arminius war der Unruhestifter in Germanien. Segestes hatte

72

Liber primus

alias et supremo convivio, post quod in arma itum, aperuit suasitque Varo ut se et Arminium et ceteros proceres vinciret: nihil ausuram plebem principibus amotis, atque ipsi tempus fore, quo crimina et innoxios discerneret. (3) sed Varus fato et vi Armini cecidit; Segestes, quamquam consensu gentis in bellum tractus, discors manebat, auctis privatim odiis, quod Arminius filiam eius alii pactam rapuerat: gener invisus inimici soceri, quaeque apud concordes vincula caritatis, incitamenta irarum apud infensos erant. 56 (1) Igitur Germanicus quattuor legiones, quinque auxiliarium milia et tumultuarias catervas Germanorum cis Rhenum colentium Caecinae tradit; totidem legiones, duplicem sociorum numerum ipse ducit, positoque castello super vestigia paterni praesidii in monte Tauno expeditum exercitum in Chattos rapit, L. Apronio ad munitiones viarum et fluminum relicto. (2) nam (rarum illi caelo) siccitate et amnibus modicis inoffensum iter properaverat, imbresque et fluminum auctus regredienti metuebatur. (3) sed Chattis adeo improvisus advenit, ut quod imbecillum aetate ac sexu statim captum aut trucidatum sit. iuventus flumen Adranam nando tramiserat, Romanosque pontem coeptantes arcebant: dein tormentis sagittisque pulsi, temptatis frustra condicionibus pacis, cum quidam ad Germanicum perfugissent, reliqui omissis pagis vicisque in silvas disperguntur. (4) Caesar incenso Mattio (id genti caput) aperta populatus vertit ad Rhenum, non auso hoste terga abeuntium lacessere, quod illi moris, quotiens astu magis quam per formidinem cessit. (5) fuerat animus Cheruscis iuvare Chattos, sed exterruit Caecina huc illuc ferens arma; et Marsos congredi ausos prospero proelio cohibuit.

Buch I

73

oft bei anderen Anlässen und auch beim letzten Bankett, nach dem man dann zu den Waffen griff, Varus auf die Vorbereitungen zu einem Aufstand hingewiesen und ihm geraten, ihn, Arminius und die anderen Adligen zu verhaften; nichts werde sich das Volk getrauen, wenn man ihm die führenden Persönlichkeiten weggenommen habe, und er selbst gewinne Zeit, zwischen Verbrechen und unschuldigen Personen zu unterscheiden. (3) Doch Varus fiel durch Schicksalsfügung und die Gewalttätigkeit des Arminius. Segestes blieb, obwohl er durch die einmütige Haltung seines Stamms in den Krieg hineingezogen wurde, der entgegengesetzten Auffassung; dabei vertiefte sich seine Abneigung aus privaten Gründen, weil Arminius seine mit einem anderen Mann verlobte Tochter entführt hatte: der verhasste Schwiegersohn eines Schwiegervaters, der in ihm einen persönlichen Feind sah, und was bei Personen, die sich verstehen, die Bande der Zuneigung sind, das war bei den Kontrahenten der Auslöser für erbitterte Auseinandersetzungen. 56 (1) Deshalb unterstellte Germanicus vier Legionen, 5 000 Mann Hilfstruppen und eilig ausgehobene Verbände diesseits des Rheins siedelnder Germanen Caecina. Ebenso viele Legionen und die doppelte Zahl Bundesgenossen befehligte er selbst, und nachdem er ein Kastell auf den Überresten des von seinem Vater im Taunusgebirge angelegten Stützpunktes errichtet hatte, zog er schnell mit seinem Heer ohne Tross gegen die Chatten; L. Apronius ließ er zum Ausbau der Wege und Flussübergänge zurück. (2) Denn – ein seltenes Ereignis bei diesem Klima – durch Trockenheit und niedrige Wasserstände war er ohne Behinderungen rasch vorangekommen, aber man befürchtete Regenfälle und ansteigende Flüsse für den Rückweg. (3) Doch die Chatten überraschte er mit seiner Ankunft derart, dass alle, die sich wegen ihres Alters und Geschlechts nicht wehren konnten, sofort gefangen genommen oder abgeschlachtet wurden. Die wehrfähigen jungen Männer hatten schwimmend den Fluss Eder überquert und versuchten die Römer, die den Bau einer Brücke begannen, daran zu hindern. Man trieb sie mit Geschützen und Pfeilschüssen zurück, und nachdem sie vergeblich Friedensverhandlungen angeboten hatten und daraufhin eine Anzahl zu Germanicus übergelaufen war, gab der Rest seine Dörfer und Gehöfte auf und zerstreute sich in den Wäldern. (4) Der Caesar steckte Mattium – das ist der Hauptort des Stammes – in Brand, verwüstete das flache Land und wandte sich dann in Richtung Rhein; dabei wagte der Feind nicht, den abziehenden Einheiten im Rücken zuzusetzen, wie das bei ihm jedes Mal üblich war, wenn er mehr aus List als aus Furcht das Feld räumte. (5) Die Cherusker hatten beabsichtigt, den Chatten zu Hilfe zu kommen, aber Caecina schreckte sie davon ab, indem er seine Einheiten einmal hierhin, einmal dorthin verlegte, und den Marsern, die ein Gefecht wagten, zeigte er durch dessen erfolgreichen Ausgang ihre Grenzen auf.

74

Liber primus

57 (1) Neque multo post legati a Segeste venerunt auxilium orantes adversus vim popularium, a quis circumsedebatur, validiore apud eos Arminio, quoniam bellum suadebat: nam barbaris, quanto quis audacia promptus, tanto magis fidus rebusque motis potior habetur. (2) addiderat Segestes legatis filium nomine Segimundum; sed iuvenis conscientia cunctabatur. quippe anno quo Germaniae descivere, sacerdos apud aram Ubiorum creatus, ruperat vittas, profugus ad rebelles. adductus tamen in spem clementiae Romanae pertulit patris mandata benigneque exceptus cum praesidio Gallicam in ripam missus est. (3) Germanico pretium fuit convertere agmen, pugnatumque in obsidentes, et ereptus Segestes magna cum propinquorum et clientium manu. (4) inerant feminae nobiles, inter quas uxor Arminii eademque filia Segestis, mariti magis quam parentis animo, neque victa in lacrimas neque voce supplex, compressis intra sinum manibus gravidum uterum intuens. (5) ferebantur et spolia Varianae cladis, plerisque eorum qui tum in deditionem veniebant praedae data; simul Segestes ipse, ingens visu et memoria bonae societatis impavidus. 58 (1) Verba eius in hunc modum fuere: ‘non hic mihi primus erga populum Romanum fidei et constantiae dies. ex quo a divo Augusto civitate donatus sum, amicos inimicosque ex vestris utilitatibus delegi, neque odio patriae (quippe proditores etiam iis quos anteponunt invisi sunt), verum quia Romanis Germanisque idem conducere et pacem quam bellum probabam. (2) ergo raptorem filiae meae, violatorem foederis vestri Arminium apud Varum, qui tum exercitui praesidebat, reum feci. dilatus segnitia ducis, quia parum praesidii in legibus erat, ut me et Arminium et conscios vinciret flagitavi: testis illa nox, mihi utinam potius novissima! (3) quae secuta sunt, defleri magis quam defendi possunt; ceterum et inieci catenas Arminio et a factione eius iniectas perpessus sum. atque ubi primum tui copia, vetera novis

Buch I

75

57 (1) Nicht lange danach kamen Gesandte von Segestes mit der Bitte um Hilfe gegen die Gewalttätigkeit ihrer Landsleute, von denen er belagert wurde; bei diesen zählte Arminius mehr, weil er zum Krieg riet. Denn bei den Barbaren gilt man, je mehr man zu Draufgängertum neigt, als desto vertrauenswürdiger und einflussreicher in unruhigen Zeiten. (2) Mitgegeben hatte Segestes den Gesandten seinen Sohn namens Segimundus; doch der junge Mann zögerte aus Schuldbewusstsein. In dem Jahr nämlich, in dem Germanien abfiel, hatte er, obwohl er in Ubieraltar zum Priester gewählt worden war, die Priesterbinden zerrissen und war zu den Rebellen geflohen. Doch ließ er sich dazu bewegen, auf römische Gnade zu hoffen, und überbrachte die Aufträge seines Vaters; er wurde freundlich aufgenommen und dann unter Geleit ans gallische Ufer geschickt. (3) Germanicus fand es der Mühe wert, mit dem Heer umzukehren; es kam zum Kampf mit den Belagerern, und Segestes wurde gewaltsam zusammen mit einer großen Schar von Verwandten und Gefolgsleuten befreit. (4) Dazu gehörten vornehme Frauen, darunter die Gattin des Arminius, die zugleich ja die Tochter des Segestes war, von ihrer Einstellung her mehr wie ihr Ehemann als ihr Vater und deshalb nicht in Tränen aufgelöst oder unterwürfig bittend. Sie verschränkte ihre Hände über dem Bauch und starrte auf ihren schwangeren Leib. (5) Mitgebracht wurden auch Rüstungen, die aus der Niederlage des Varus stammten und großenteils den Kämpfern, die nun zur Unterwerfung kamen, als Beutestücke geschenkt worden waren. Zugleich erschien Segestes persönlich, von beeindruckender Körpergröße und im Bewusstsein seiner tadellosen Loyalität ohne Furcht. 58 (1) Seine Worte lauteten ungefähr so: „Das ist für mich nicht der erste Tag meiner unverbrüchlichen Treue dem römischen Volk gegenüber. Seitdem ich vom vergöttlichten Augustus mit dem Bürgerrecht beschenkt worden bin, habe ich Freunde und Feinde zu eurem Vorteil ausgewählt, und das nicht aus Hass gegen mein Vaterland – denn Verräter sind ja auch bei der Partei, für die sie sich entscheiden, verhasst ‒, sondern weil ich überzeugt davon war, Römer und Germanen hätten die gleichen Interessen und Frieden sei besser als Krieg. (2) Deshalb habe ich den Verführer meiner Tochter, der den Vertrag mit euch gebrochen hat, Arminius, bei Varus angeklagt, der damals das Heer befehligte. Durch die Untätigkeit des Kommandeurs wurde ich nur hingehalten; daher verlangte ich, weil die Gesetze keine ausreichende Hilfe boten, er solle mich, Arminius und die Mitverschwörer festnehmen lassen. Zeugin dafür ist jene berüchtigte Nacht – wäre sie für mich doch besser die letzte gewesen! (3) Was danach kam, kann man eher beklagen als rechtfertigen; allerdings habe ich Arminius in Ketten legen lassen und musste hinnehmen, von seinen Anhängern in Ketten gelegt zu werden. Und jetzt, wo ich zum ersten Mal Gelegenheit habe, mich an dich zu wenden, ziehe ich unser altes Verhältnis dem neuen

76

Liber primus

et quieta turbidis antehabeo, neque ob praemium, sed ut me perfidia exsolvam, simul genti Germanorum idoneus conciliator, si paenitentiam quam perniciem maluerit. (4) pro iuventa et errore filii veniam precor; filiam necessitate huc adductam fateor. tuum erit consultare, utrum praevaleat, quod ex Arminio concepit an quod ex me genita est’. (5) Caesar clementi responso liberis propinquisque eius incolumitatem, ipsi sedem vetere in provincia pollicetur. exercitum reduxit nomenque imperatoris auctore Tiberio accepit. (6) Arminii uxor virilis sexus stirpem edidit: educatus Ravennae puer quo mox ludibrio conflictatus sit, in tempore memorabo. 59 (1) Fama dediti benigneque excepti Segestis vulgata, ut quibusque bellum invitis aut cupientibus erat, spe vel dolore accipitur. Arminium super insitam violentiam rapta uxor, subiectus servitio uxoris uterus vaecordem agebant, volitabatque per Cheruscos, arma in Segestem, arma in Caesarem poscens. (2) neque probris temperabat: egregium patrem, magnum imperatorem, fortem exercitum, quorum tot manus unam mulierculam avexerint. (3) sibi tres legiones, totidem legatos procubuisse; non enim se proditione neque adversus feminas gravidas, sed palam adversus armatos bellum tractare: cerni adhuc Germanorum in lucis signa Romana quae dis patriis suspenderit. (4) coleret Segestes victam ripam, redderet filio sacerdotium hominum: Germanos numquam satis excusaturos, quod inter Albim et Rhenum virgas et secures et togam viderint. (5) aliis gentibus ignorantia imperi Romani inexperta esse supplicia, nescia tributa: quae quoniam exuerint inritusque discesserit ille inter numina dicatus Augustus, ille delectus Tiberius, ne imperitum adulescentulum, ne seditiosum exercitum pavescerent. (6) si patriam parentes antiqua mallent quam dominos et colonias novas, Arminium potius gloriae ac libertatis quam Segestem flagitiosae servitutis ducem sequerentur.

Buch I

77

und den Frieden dem Aufruhr vor, und das nicht für eine Belohnung, sondern um mich vom Vorwurf der Untreue zu entlasten und zugleich für das Volk der Germanen ein geeigneter Vermittler zu sein, falls es lieber bereuen als untergehen will. (4) Für das jugendliche Fehlverhalten meines Sohnes bitte ich um Verzeihung; dass meine Tochter nur unter Zwang hierher gebracht werden konnte, gebe ich zu. Es wird an dir liegen, darüber zu befinden, ob es mehr ins Gewicht fällt, dass sie von Arminius ein Kind bekommt oder dass sie von mir gezeugt wurde.“ (5) Der Caesar versprach in einer gnädigen Antwort seinen Kindern und Verwandten Sicherheit und ihm persönlich einen Aufenthaltsort in der alten Provinz39. Er führte das Heer zurück und erhielt den Imperatortitel auf Veranlassung des Tiberius. (6) Arminius’ Frau brachte einen Sprössling männlichen Geschlechts zur Welt. Der Knabe wurde in Ravenna erzogen; wie übel ihm später mitgespielt wurde, werde ich zu gegebener Zeit berichten.40 59 (1) Die Nachricht von der Unterwerfung und dem freundlichen Empfang des Segestes nahm man, je nachdem ob einer den Krieg ablehnte oder führen wollte, voller Hoffnung oder Bedauern auf. Arminius trieben über sein angeborenes gewalttätiges Wesen hinaus der Raub seiner Frau und die Vorstellung, der schwangere Leib seiner Frau sei der Sklaverei ausgesetzt, in den Wahnsinn, und er hetzte durchs Cheruskergebiet und verlangte Truppen gegen Segestes, Truppen gegen den Caesar. (2) Auch mit Beschimpfungen sparte er nicht: Ein großartiger Vater sei das, ein bedeutender Befehlshaber, ein tapferes Heer, die mit ihren zahlreichen Händen ein einziges schwaches Weib weggeschleppt hätten! (3) Vor ihm seien drei Legionen und ebenso viele Legaten in die Knie gegangen; er führe nämlich nicht durch Verrat und auch nicht gegen schwangere Frauen, sondern offen gegen bewaffnete Männer Krieg. Immer noch könne man in den Hainen der Germanen die römischen Feldzeichen sehen, die er für die heimischen Götter aufgehängt habe. (4) Solle sich Segestes doch auf dem besiegten Ufer niederlassen und seinem Sohn das Priesteramt für Menschen41 wieder verschaffen! Die Germanen hätten niemals eine triftige Entschuldigung dafür, dass sie zwischen Elbe und Rhein Ruten, Beile und Toga erlebt hätten. (5) Andere Völker hätten in Unkenntnis des Römischen Reichs keine Erfahrung mit Hinrichtungen und wüssten nichts von Tributen. Weil sie diese Lasten abgeschüttelt hätten und der berühmte, unter die Götter versetzte Augustus, der berühmte, auserwählte Tiberius erfolglos wieder abgezogen seien, sollten sie keine Angst haben vor einem unerfahrenen Bürschchen und einem meuternden Heer. (6) Wenn sie Vaterland, Eltern und die alten Verhältnisse lieber wollten als Herren und neue Ansiedlungen, dann sollten sie besser Arminius als Führer zu Ruhm und Freiheit als Segestes in eine erniedrigende Knechtschaft folgen.

78

Liber primus

60 (1) Conciti per haec non modo Cherusci, sed conterminae gentes, tractusque in partes Inguiomerus Arminii patruus, vetere apud Romanos auctoritate. unde maior Caesari metus. (2) et ne bellum mole una ingrueret, Caecinam cum quadraginta cohortibus Romanis distrahendo hosti per Bructeros ad flumen Amisiam mittit, equitem Pedo praefectus finibus Frisiorum ducit. ipse impositas navibus quattuor legiones per lacus vexit: simulque pedes eques classis apud praedictum amnem convenere. Chauci cum auxilia pollicerentur, in commilitium adsciti sunt. (3) Bructeros sua urentes expedita cum manu L. Stertinius missu Germanici fudit interque caedem et praedam repperit undevicesimae legionis aquilam cum Varo amissam. ductum inde agmen ad ultimos Bructerorum, quantumque Amisiam et Lupiam amnes inter vastatum, haud procul Teutoburgiensi saltu, in quo reliquiae Vari legionumque insepultae dicebantur. 61 (1) Igitur cupido Caesarem invadit solvendi suprema militibus ducique, permoto ad miserationem omni qui aderat exercitu ob propinquos, amicos, denique ob casus bellorum et sortem hominum. praemisso Caecina, ut occulta saltuum scrutaretur pontesque et aggeres umido paludum et fallacibus campis imponeret, incedunt maestos locos visuque ac memoria deformes. (2) prima Vari castra lato ambitu et dimensis principiis trium legionum manus ostentabant; dein semiruto vallo, humili fossa accisae iam reliquiae consedisse intellegebantur. medio campi albentia ossa, ut fugerant, ut restiterant, disiecta vel aggerata. (3) adiacebant fragmina telorum equorumque artus, simul truncis arborum antefixa ora. lucis propinquis barbarae arae, apud quas tribunos ac primorum ordinum centuriones mactaverant. (4) et cladis eius superstites, pugnam aut vincula elapsi, referebant hic cecidisse legatos, illic raptas aquilas; primum ubi vulnus Varo adactum, ubi infelici dextera et suo ictu

Buch I

79

60 (1) Aufgewiegelt wurden dadurch nicht nur die Cherusker, sondern auch die angrenzenden Stämme, und Inguiomerus, ein Onkel des Arminius, ließ sich auf seine Seite ziehen, obwohl er bei den Römern schon lange in hohem Ansehen stand; das stürzte den Caesar in noch größere Furcht. (2) Und damit der Krieg nicht mit ganzer Wucht auf einmal losbrechen konnte, schickte er Caecina mit vierzig römischen Kohorten in der Absicht, die feindlichen Streitkräfte zu zersplittern, durch das Land der Brukterer bis zum Fluss Ems; die Kavallerie führte der Kommandant Pedo ins Gebiet der Friesen. Er selbst verlud vier Legionen auf Schiffe und transportierte sie über die Seen; und so kamen zur gleichen Zeit Infanterie, Kavallerie und Flotte am vorherbestimmten Fluss zusammen. Da die Chauken Hilfstruppen versprachen, wurden sie in das Heer eingegliedert. (3) Die Brukterer, die ihr Hab und Gut in Brand steckten, schlug L. Stertinius mit einer Einheit ohne Gepäck in Germanicus’ Auftrag in die Flucht, und beim Morden und Plündern fand er den Adler der 21. Legion, der mit Varus verloren gegangen war. Das Heer wurde daraufhin bis in die entlegensten Teile des Bruktererlandes geführt, und man verwüstete das gesamte Gebiet zwischen den Flüssen Ems und Lippe, nicht weit entfernt vom Teutoburger Wald, in dem, so hieß es, die Überreste des Varus und seiner Legionen unbestattet lagen. 61 (1) Deshalb wollte der Caesar unbedingt den Soldaten und ihrem Kommandeur die letzte Ehre erweisen, wobei das gesamte anwesende Heer zutiefst gerührt war wegen der Verwandten und Freunde, schließlich wegen der Kriegsschicksale und des Loses der Menschen allgemein. Caecina wurde mit dem Auftrag vorausgeschickt, das unbekannte Waldgebiet zu erkunden und Brücken und Dämme auf dem sumpfigen Gelände und dem trügerischen Untergrund anzulegen; dann marschierten sie zu den Unglücksplätzen, die durch ihren Anblick und die Erinnerungen grässlich waren. (2) Im vorderen Bereich verriet das Lager des Varus mit seinem großen Umfang und dem vermessenen Hauptplatz die Arbeit von drei Legionen. Dann konnte man an einem halb eingestürzten Wall und dem niederen Graben erkennen, dass dort nur mehr zusammengeschmolzene Reste gelagert hatten. Mitten auf dem Feld sah man bleichende Knochen, je nachdem die Soldaten geflohen waren oder Widerstand geleistet hatten, zerstreut oder in Haufen. (3) Daneben lagen Bruchstücke von Waffen und Pferdeskelette, und zudem waren an Baumstümpfe Schädel genagelt. In den Hainen in der Nähe standen die Altäre der Barbaren, an denen sie die Tribune und die Zenturionen der höchsten Dienstgrade abgeschlachtet hatten. (4) Und Überlebende dieser Katastrophe, die dem Kampf oder der Gefangennahme entkommen waren, erzählten, hier seien die Legaten gefallen, dort die Adler weggeschleppt worden; wo Varus die erste Wunde beigebracht worden sei, wo er durch seine unglückliche Rechte eigenhändig

80

Liber primus

mortem invenerit; quo tribunali contionatus Arminius, quot patibula captivis, quae scrobes, utque signis et aquilis per superbiam inluserit. 62 (1) Igitur Romanus qui aderat exercitus sextum post cladis annum trium legionum ossa, nullo noscente alienas reliquias an suorum humo tegeret, omnes ut coniunctos, ut consanguineos aucta in hostem ira maesti simul et infensi condebant. primum exstruendo tumulo caespitem Caesar posuit, gratissimo munere in defunctos et praesentibus doloris socius. (2) quod Tiberio haud probatum, seu cuncta Germanici in deterius trahenti, sive exercitum imagine caesorum insepultorumque tardatum ad proelia et formidolosiorem hostium credebat; neque imperatorem auguratu et vetustissimis caerimoniis praeditum adtrectare feralia debuisse. 63 (1) Sed Germanicus cedentem in avia Arminium secutus, ubi primum copia fuit, evehi equites campumque, quem hostis insederat, eripi iubet. Arminius colligi suos et propinquare silvis monitos vertit repente; mox signum prorumpendi dedit iis, quos per saltus occultaverat. (2) tunc nova acie turbatus eques, missaeque subsidiariae cohortes et fugientium agmine impulsae auxerant consternationem; trudebanturque in paludem gnaram vincentibus, iniquam nesciis, ni Caesar productas legiones instruxisset. inde hostibus terror, fiducia militi; et manibus aequis abscessum. (3) Mox reducto ad Amisiam exercitu legiones classe, ut advexerat, reportat; pars equitum litore Oceani petere Rhenum iussa; Caecina, qui suum militem ducebat, monitus, quamquam notis itineribus regrederetur, pontes longos quam maturrime superare. (4) angustus is trames vastas inter paludes et quondam a L. Domitio aggeratus; cetera limosa, tenacia gravi caeno aut rivis incerta erant; circum silvae paulatim adclives, quas tum Arminius implevit, compendiis viarum et cito agmine onustum

Buch I

81

den Tod gefunden habe; von welchem erhöhten Platz aus Arminius eine Rede an seine Leute gehalten habe, wie viele Galgen für die Gefangenen errichtet worden seien, welche Gruben42, und wie er Feldzeichen und Adler vor lauter Überheblichkeit verhöhnte. 62 (1) So bestattete das gesamte anwesende Heer sechs Jahre nach der Katastrophe die Gebeine der drei Legionen, ohne dass einer wusste, ob er die Überreste eines Fremden oder von Angehörigen mit Erde bedeckte; vielmehr behandelten sie alle wie Nahestehende, wie Blutsverwandte, mit wachsender Erbitterung gegen den Feind, traurig zugleich und empört. Die erste Rasensode zur Errichtung des Grabhügels legte der Caesar; damit leistete er einen dankbar anerkannten Liebesdienst für die Toten und war für die Anwesenden ein Kamerad in ihrem Leid. (2) Das sah Tiberius nicht gerne, vielleicht weil er alles, was Germanicus tat, ihm zum Nachteil auslegte oder weil er glaubte, das Heer habe beim Anblick der erschlagenen und unbestatteten Männer den Mut für Gefechte verloren und fürchte sich nun mehr vor den Feinden; auch habe sich ein Befehlshaber, der mit dem Augurenamt und uralten heiligen Handlungen betraut worden sei, nicht mit einer Leichenbestattung befassen dürfen. 63 (1) Germanicus aber verfolgte Arminius, der in unwegsames Gelände auswich, und befahl der Kavallerie, sobald sich die Gelegenheit dazu bot, vorzupreschen und dem Feind das freie Feld, das er besetzt hatte, zu entreißen. Arminius wies seine Leute an, sich zu sammeln und an die Wälder heranzurücken; dann machte er plötzlich kehrt und gab den Einheiten, die er in den Wäldern versteckt hatte, das Zeichen hervorzubrechen. (2) Da geriet unsere Kavallerie durch die neue Front in Unordnung, und die zur Unterstützung geschickten Reservekohorten, die mit dem Strom der Fliehenden zusammenstießen, hatten das Durcheinander noch vergrößert. Gerade waren sie dabei, in einen Sumpf abgedrängt zu werden, der den Siegern bekannt und für Ortsunkundige gefährlich war, wenn der Caesar nicht die Legionen vorgezogen und in Stellung gebracht hätte; das stürzte die Feinde in Panik und stärkte die Zuversicht bei unseren Soldaten, und so rückte man ohne Entscheidung ab. (3) Dann führte er das Heer an die Ems zurück und transportierte die Legionen mit der Flotte so zurück, wie er sie hergebracht hatte; ein Teil der Kavallerie erhielt den Befehl, an der Ozeanküste entlang zum Rhein zu ziehen. Caecina, der seine eigenen Einheiten kommandierte, wurde angewiesen, obwohl er auf bekannten Wegen zurückmarschierte, möglichst schnell die „langen Brücken“ hinter sich zu bringen. (4) Das war ein schmaler Knüppeldamm in einem trostlosen Sumpfgebiet, der einst von L. Domitius43 angelegt worden war; das übrige Gelände war morastig, schmierig durch den schweren Dreck oder durch Wasserläufe unsicher. Ringsum stiegen Wälder langsam an, die Arminius zu diesem Zeitpunkt schon besetzt hielt, weil er auf Abkürzungen und in Eilmärschen den

82

Liber primus

sarcinis armisque militem cum antevenisset. (5) Caecinae dubitanti, quonam modo ruptos vetustate pontes reponeret simulque propulsaret hostem, castra metari in loco placuit, ut opus et alii proelium inciperent. 64 (1) Barbari, perfringere stationes seque inferre munitoribus nisi, lacessunt circumgrediuntur occursant: miscetur operantium bellantiumque clamor. (2) et cuncta pariter Romanis adversa: locus uligine profunda, idem ad gradum instabilis, procedentibus lubricus; corpora gravia loricis; neque librare pila inter undas poterant. contra Cheruscis sueta apud paludes proelia, procera membra, hastae ingentes ad vulnera facienda quamvis procul. nox demum inclinantes iam legiones adversae pugnae exemit. (3) Germani ob prospera indefessi, ne tum quidem sumpta quiete, quantum aquarum circum surgentibus iugis oritur vertere in subiecta; mersaque humo et obruto quod effectum operis duplicatus militi labor. (4) quadragesimum id stipendium Caecina parendi aut imperitandi habebat, secundarum ambiguarumque rerum sciens eoque interritus. igitur futura volvens non aliud repperit quam ut hostem silvis coerceret, donec saucii quantumque gravioris agminis anteirent; nam medio montium et paludum porrigebatur planities, quae tenuem aciem pateretur. (5) deliguntur legiones quinta dextro lateri, unetvicesima in laevum, primani ducendum ad agmen, vicesimanus adversum secuturos. 65 (1) Nox per diversa inquies, cum barbari festis epulis, laeto cantu aut truci sonore subiecta vallium ac resultantes saltus complerent, apud Romanos invalidi ignes, interruptae voces, atque ipsi passim adiacerent vallo, oberrarent tentoriis, insomnes magis quam pervigiles. (2) ducemque terruit dira quies: nam Quinctilium Varum sanguine oblitum et paludibus emersum cernere et audire visus est velut vocantem, non tamen obsecutus et manum intendentis reppulisse.

Buch I

83

mit Gepäck und Waffen beladenen Soldaten zuvorgekommen war. (5) Caecina war sich unschlüssig, wie er die in dem langen Zeitraum verfallenen Brücken reparieren und gleichzeitig den Feind abwehren solle; deshalb beschloss er, an Ort und Stelle ein Lager abstecken zu lassen, damit die einen mit der Arbeit und die anderen mit dem Kampf beginnen konnten. 64 (1) Die Barbaren provozierten in der Absicht, die Postenkette zu durchbrechen und sich auf die Schanzarbeiter zu stürzen, unsere Leute, umzingelten sie und griffen sie an; das Geschrei der schanzenden und kämpfenden Soldaten ging wild durcheinander. (2) Und alles war für die Römer gleich nachteilig: der Platz ein tiefer Morast, dazu nicht zum festen Auftreten geeignet und schlüpfrig, wenn man losgehen wollte; ihre durch die Brustpanzer schweren Körper; auch die Wurfspeere konnten sie, im Wasser stehend, nicht schleudern. Dagegen waren die Cherusker an Kämpfe im sumpfigen Gelände gewöhnt, waren hochgewachsen und hatten sehr lange Lanzen, mit denen sie selbst aus größerer Entfernung Wunden beibringen konnten. Die Nacht entzog schließlich die schon zurückweichenden Legionen der ungünstig verlaufenden Schlacht. (3) Die Germanen wurden wegen ihres Erfolgs nicht müde und machten nicht einmal jetzt eine Ruhepause; alles Wasser, das auf den ringsum ansteigenden Anhöhen entsprang, leiteten sie in das darunterliegende Terrain, und weil der Boden überschwemmt wurde und alle bereits errichteten Schanzwerke versanken, hatten die Soldaten die doppelte Arbeit. (4) Das vierzigste Dienstjahr war dies für Caecina als Untergebener oder Vorgesetzter; er kannte Erfolge und Misserfolge und ließ sich deshalb keinen Schrecken einjagen. Als er das weitere Vorgehen überlegte, kam er zu keiner anderen Lösung, als den Feind so lange in den Wäldern einzuschließen, bis die Verwundeten und sämtliche schwerfälligen Teile seines Heeres einen Vorsprung hatten. Denn mitten zwischen den Bergen und Sümpfen zog sich eine Ebene hin, die die Bildung einer schmalen Front zuließ. (5) Bestimmt wurde die fünfte Legion für die rechte, die einundzwanzigste für die linke Flanke, die Einser sollten die Spitze der Kolonne bilden, die Zwanziger Verfolger abwehren. 65 (1) Die Nacht verlief aus gegensätzlichen Gründen unruhig: Die Barbaren erfüllten bei einem festlichen Gelage mit fröhlichem Gesang oder fürchterlichem Getöse die Talniederungen und widerhallenden Wälder; bei den Römern konnte man nur schwache Feuer und abgerissene Laute wahrnehmen, und sie selbst lagen durcheinander am Wall herum oder irrten zwischen den Zelten umher, mehr weil sie keinen Schlaf fanden als wach bleiben wollten. (2) Dazu ließ den Kommandeur ein grässlicher Traum hochschrecken: Denn ihm schien, er sehe Quinctilius Varus blutüberströmt aus den Sümpfen auftauchen und höre ihn gleichsam rufen, sei aber nicht mitgegangen, sondern habe die ausgestreckte Hand zurückgestoßen.

84

Liber primus

(3) coepta luce missae in latera legiones, metu an contumacia, locum deseruere, capto propere campo umentia ultra. (4) neque tamen Arminius, quamquam libero incursu, statim prorupit: sed ut haesere caeno fossisque impedimenta, turbati circum milites, incertus signorum ordo, utque tali in tempore, sibi quisque properus et lentae adversum imperia aures, inrumpere Germanos iubet, clamitans ‘en Varus [et] eodemque iterum fato vinctae legiones!’ simul haec et cum delectis scindit agmen equisque maxime vulnera ingerit. (5) illi sanguine suo et lubrico paludum lapsantes excussis rectoribus disicere obvios, proterere iacentes. plurimus circa aquilas labor, quae neque ferri adversum ingruentia tela neque figi limosa humo poterant. (6) Caecina dum sustentat aciem, suffosso equo delapsus circumveniebatur, ni prima legio sese opposuisset. iuvit hostium aviditas, omissa caede praedam sectantium; enisaeque legiones vesperascente die in aperta et solida. (7) neque is miseriarum finis: struendum vallum, petendus agger, amissa magna ex parte per quae geritur humus aut exciditur caespes; non tentoria manipulis, non fomenta sauciis: infectos caeno aut cruore cibos dividentes funestas tenebras et tot hominum milibus unum iam reliquum diem lamentabantur. 66 (1) Forte equus abruptis vinculis vagus et clamore territus quosdam occurrentium obturbavit. tanta inde consternatio inrupisse Germanos credentium, ut cuncti ruerent ad portas, quarum decumana maxime petebatur, aversa hosti et fugientibus tutior. (2) Caecina comperto vanam esse formidinem, cum tamen neque auctoritate neque precibus, ne manu quidem obsistere aut retinere militem quiret, proiectus in limine portae miseratione demum, quia per corpus

Buch I

85

(3) Bei Tagesanbruch verließen die an die Flanken beorderten Legionen aus Angst oder Disziplinlosigkeit ihre Stellungen und besetzten schnell das freie Feld jenseits des Moores. (4) Dennoch brach Arminius, obwohl er nun freie Bahn für einen Angriff hatte, nicht sofort hervor. Sondern erst, als der Tross im Morast und in den Wassergräben stecken blieb, als bei den Soldaten ringsum ein heilloses Durcheinander herrschte, die Reihenfolge der Abteilungen nicht mehr stimmte und, wie in einer solch kritischen Situation verständlich, jeder auf die Schnelle nur an sich selbst dachte und die Ohren für Anweisungen unempfindlich waren, gab er den Germanen den Befehl zum Angriff mit dem Ruf: „Schaut nur hin, Varus und die wieder in das gleiche Schicksal verstrickten Legionen!“ Gleichzeitig mit diesen Worten bahnte er sich mit einer Eliteeinheit einen Weg in die Kolonne hinein und fügte vor allem den Pferden Wunden zu. (5) Die glitten auf ihrem eigenen Blut und dem schlüpfrigen Moorboden aus, warfen ihre Reiter ab, scheuchten alle, die ihnen in die Quere kamen, zur Seite und traten auf die am Boden Liegenden. Der härteste Kampf entbrannte um die Adler, die weder durch den Geschosshagel getragen noch im schlammigen Boden festgemacht werden konnten. (6) Während Caecina die Front zu halten versuchte, wurde sein Pferd getroffen; er fiel hinunter und wäre überwältigt worden, wenn sich die erste Legion nicht in den Weg gestellt hätte. Hilfreich war die Habgier der Feinde, die vom Blutvergießen abließen und nur hinter Beute her waren, und so schlugen sich die Legionen gegen Abend in offenes und festes Gelände durch. (7) Doch bedeutete das noch nicht das Ende ihrer Leiden: Ein Wall musste errichtet, Dammerde herbeigeschafft werden. Dabei waren großenteils die Werkzeuge verloren gegangen, mit denen man Erde aushebt oder Rasensoden aussticht; keine Zelte gab es für die Manipel, kein Verbandsmaterial für die Verwundeten. Dreck- und blutverschmiert war die Verpflegung, die man ausgab, und die Soldaten klagten über das Grabesdunkel und darüber, dass so viele tausend Menschen nur mehr einen einzigen Tag zu leben hätten. 66 (1) Zufällig riss sich da ein angebundenes Pferd los, lief ziellos herum, begann wegen des Lärms zu scheuen und rannte einige Leute um, die ihm über den Weg liefen. Das führte, weil man glaubte, die Germanen seien eingebrochen, zu einer derartigen Panik, dass alle zu den Toren stürzten und überwiegend das hintere zu erreichen suchten, das vom Feind abgewandt lag und damit Flüchtenden größere Sicherheit bot. (2) Als Caecina feststellte, dass die Furcht unbegründet war, sich dann aber trotzdem weder mit seiner Autorität noch mit Bitten, ja nicht einmal handgreiflich dagegenstemmen oder die Soldaten aufhalten konnte, warf er sich auf die Schwelle des Tores und versperrte schließlich durch diesen Appell an ihr Mitleid den Weg, weil man auf den Leib

86

Liber primus

legati eundum erat, clausit viam: simul tribuni et centuriones falsum pavorem esse docuerunt. 67 (1) Tunc contractos in principia iussosque dicta cum silentio accipere temporis ac necessitatis monet. unam in armis salutem, sed ea consilio temperanda manendumque intra vallum, donec expugnandi hostes spe propius succederent; mox undique erumpendum: illa eruptione ad Rhenum perveniri. (2) quod si fugerent, plures silvas, profundas magis paludes, saevitiam hostium superesse; at victoribus decus gloriam. quae domi cara, quae in castris honesta, memorat; reticuit de adversis. (3) equos dehinc, orsus a suis, legatorum tribunorumque nulla ambitione fortissimo cuique bellatori tradit, ut hi, mox pedes in hostem invaderent. 68 (1) Haud minus inquies Germanus spe, cupidine et diversis ducum sentiis agebat, Arminio sinerent egredi egressosque rursum per umida et impedita circumvenirent suadente, atrociora Inguiomero et laeta barbaris, ut vallum armis ambirent: promptam expugnationem; plures captivos, incorruptam praedam fore. (2) igitur orta die proruunt fossas, iniciunt crates, summa valli prensant, raro super milite et quasi ob metum defixo. (3) postquam haesere munimentis, datur cohortibus signum cornuaque ac tubae concinuere. exim clamore et impetu tergis Germanorum circumfunduntur, exprobrantes non hic silvas nec paludes, sed aequis locis aequos deos. (4) hosti facile excidium et paucos ac semermos cogitanti sonus tubarum, fulgor armorum, quanto inopina, tanto maiora offunduntur, cadebantque, ut rebus secundis avidi, ita adversis incauti. (5) Arminius integer, Inguiomerus post grave vulnus pugnam deseruere; vulgus trucidatum est, donec ira et dies permansit. nocte demum reversae legiones, quamvis plus vulnerum, eadem ciborum egestas fatigaret, vim sanitatem copias, cuncta in victoria habuere.

Buch I

87

des Legaten hätte treten müssen; zugleich klärten die Tribune und Zenturionen darüber auf, die Angst sei unbegründet. 67 (1) Dann ließ er sie auf dem Hauptplatz antreten, befahl ihnen, seine Worte schweigend anzuhören, und wies sie auf die Punkte hin, die in der augenblicklichen schwierigen Lage zu beachten seien: Einzig auf ihren Waffen beruhe die Rettung, aber man müsse überlegt vorgehen und innerhalb des Walls bleiben, bis die Feinde in der Erwartung, ihn einnehmen zu können, näher heranrückten. Dann müsse man auf allen Seiten einen Ausfall machen; mit diesem Ausfall könne man sich bis zum Rhein durchschlagen. (2) Falls sie aber die Flucht ergriffen, warteten auf sie nur noch mehr Wälder, noch tiefere Sümpfe und die Grausamkeit der Feinde. Doch als Sieger winkten ihnen Anerkennung und Ruhm. Was ihnen zu Hause lieb, was im Lager ehrenvoll sei, sprach er an; auf die Schwierigkeiten ging er nicht ein. (3) Dann gab er die Pferde der Legaten und Tribune, mit den eigenen beginnend, ohne Ansehen der Person gerade den tapfersten Haudegen; sie und dann die Infanterie sollten den Feind angreifen. 68 (1) Nicht weniger unruhig ging es bei den Germanen zu wegen der günstigen Aussichten, der Gier und der Meinungsverschiedenheiten unter den Anführern. Arminius riet dazu, man solle sie abziehen lassen und nach dem Abzug wieder im sumpfigen, unwegsamen Gelände umzingeln, Inguiomerus dagegen war für ein forscheres und deshalb den Barbaren lieberes Vorgehen, nämlich den Wall auf allen Seiten mit bewaffneten Einheiten zu umstellen: Leicht falle die Erstürmung, es gebe mehr Gefangene, und die Beute bleibe intakt. (2) Deshalb rissen sie bei Tagesanbruch die Gräben ein, warfen Reisigbündel hinein und packten die Spitze des Walls44, wobei dort oben nur hin und wieder ein Soldat vor Angst wie angewurzelt stand. (3) Als sie in der Verschanzung hängen blieben, gab man den Kohorten das Zeichen, und Hörner und Trompeten ertönten zusammen. Daraufhin stürmten sie mit Geschrei los, gelangten in den Rücken der Germanen und riefen ihnen höhnisch zu, hier gebe es keine Wälder und Sümpfe, sondern die Götter böten in für beide Seiten gleichem Gelände gleiche Chancen. (4) Auf die Feinde, die mit einer leichten Vernichtung und nur wenigen halb bewaffneten Gegnern gerechnet hatten, wirkte das Schmettern der Trompeten, das Blitzen der Waffen desto überwältigender, je weniger sie darauf gefasst waren, und sie fielen, wie sie das bei einem Erfolg vor lauter Kampfeseifer tun, so bei diesem Misserfolg völlig kopflos. (5) Arminius gab den Kampf unverletzt, Inguiomerus nach einer schweren Verwundung auf. Das einfache Volk wurde abgeschlachtet, solange die Wut und das Tageslicht anhielten. Die erst bei Nacht zurückgekehrten Legionen fanden, obwohl ihnen noch mehr Verwundete und der gleiche Mangel an Nahrungsmitteln zu schaffen machten, Kraft, Gesundheit, Proviant, ja alles im Sieg.

88

Liber primus

69 (1) Pervaserat interim circumventi exercitus fama et infesto Germanorum agmine Gallias peti, ac ni Agrippina impositum Rheno pontem solvi prohibuisset, erant qui id flagitium formidine auderent. sed femina ingens animi munia ducis per eos dies induit militibusque, ut quis inops aut saucius, vestem et fomenta dilargita est. (2) tradit C. Plinius, Germanicorum bellorum scriptor, stetisse apud principium poti, laudes et grates reversis legionibus habentem. (3) id Tiberii animum altius penetravit: non enim simplices eas curas, nec adversus externos militum quaeri. (4) nihil relictum imperatoribus, ubi femina manipulos intervisat, signa adeat, largitionem temptet, tamquam parum ambitiose filium ducis gregali habitu circumferat Caesaremque Caligulam appellari velit. potiorem iam apud exercitus Agrippinam quam legatos, quam duces; compressam a muliere seditionem, cui nomen principis obsistere non quiverit. (5) accendebat haec onerabatque Seianus, peritia morum Tiberii odia in longum iaciens, quae reconderet auctaque promeret. 70 (1) At Germanicus legionum, quas navibus vexerat, secundam et quartam decimam itinere terrestri P. Vitellio ducendas tradit, quo levior classis vadoso mari innaret vel reciproco sideret. (2) Vitellius primum iter sicca humo aut modice adlabente aestu quietum habuit; mox impulsu aquilonis, simul sidere aequinoctii, quo maxime tumescit Oceanus, rapi agique agmen. et opplebantur terrae: eadem freto litori campis facies, neque discerni poterant incerta ab solidis, brevia a profundis. (3) sternuntur fluctibus, hauriuntur gurgitibus; iumenta, sarcinae, corpora exanima interfluunt, occursant. permiscentur inter se manipuli, modo pectore, modo ore tenus extantes, aliquando subtracto solo disiecti aut obruti. non vox et mutui hortatus iuvabant adversante unda; nihil strenuus ab

Buch I

89

69 (1) Das Gerücht von der Umzinglung des Heers war in der Zwischenzeit durchgedrungen, und es hieß, eine feindliche Germanenschar ziehe in Richtung Gallien; und hätte da Agrippina nicht den Abriss der über den Rhein geschlagenen Brücke verhindert, hätte es Leute gegeben, die sich aus Angst unterstanden, diese Schandtat zu begehen. Doch die energische Frau übernahm in diesen Tagen die Aufgaben eines Kommandeurs und verteilte an die Soldaten, je nachdem ob einer mittellos oder verwundet daherkam, Kleidungsstücke und Verbandszeug. (2) C. Plinius, der Verfasser der Germanenkriege, berichtet, sie sei vorne an der Brücke gestanden und habe den Legionen bei ihrer Rückkehr Anerkennung und Dank ausgesprochen. (3) Das traf Tiberius an einem wunden Punkt: Nicht harmlos seien nämlich diese Bemühungen, und es handle sich auch nicht um Gegner von außen, gegen die man die Sympathien der Soldaten zu gewinnen versuche. (4) Nichts hätten die Befehlshaber mehr zu tun, wenn eine Frau die Manipel visitiere, sich an militärische Einheiten wende, es mit Geldgeschenken versuche, als ob es nicht schon genug der Anbiederung sei, dass sie den Sohn des Kommandeurs in der Uniform eines einfachen Soldaten herumtrage und es gerne sehe, dass ein Caesar Caligula45 heiße. Mehr zu sagen habe Agrippina schon bei den Heeren als die Legaten, als die Kommandeure; von einer Frau sei eine Meuterei niedergeschlagen worden, der das Renommee des Princeps nicht Einhalt gebieten konnte. (5) Diese Bedenken verschärfte Sejan und machte sie noch unerträglicher, indem er in Kenntnis von Tiberius’ Charakter Hassgefühle auf lange Sicht säte; er sollte sie verbergen und erst, wenn sie zugenommen hätten, wieder hervorholen. 70 (1) Doch Germanicus unterstellte von den Legionen, die er auf den Schiffen transportiert hatte, die zweite und vierzehnte P. Vitellius; er sollte sie auf dem Landweg weiterführen, damit die Flotte dank der geringeren Ladung das seichte Meer befahren oder bei Ebbe auf Grund gehen könne. (2) Vitellius’ Marsch verlief zunächst auf trockenem Boden oder nur leicht anschlagender Flut ruhig. Dann aber frischte der Nordwind auf, zudem war es die Zeit der Tag- und Nachtgleiche, zu der der Ozean am höchsten anschwillt, und das Heer wurde mit aller Gewalt fortgerissen und das Land überflutet: Das gleiche Erscheinungsbild boten Meer, Strand und Niederungen, unsicheren Boden konnte man von festem nicht mehr unterscheiden, seichte Stellen nicht von tiefen. (3) Umgeworfen wurde man von den Fluten, verschlungen von den Strudeln; Zugtiere, Gepäckstücke, leblose Körper schwammen herum, kamen einem entgegen. Durcheinander gerieten die Manipel, standen bald bis zur Brust, bald bis zum Mund im Wasser; manchmal wurde ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen, dann wurden sie auseinandergetrieben oder gingen unter. Kein Zuruf und keine gegenseitigen Ermunterungen halfen, wenn eine Woge auf einen zurollte; in nichts unterschied sich der Zupackende vom Apathischen,

90

Liber primus

ignavo, sapiens ab prudenti, consilia a casu differre: cuncta pari violentia involvebantur. (4) tandem Vitellius in editiora enisus eodem agmen subduxit. pernoctavere sine utensilibus, sine igni, magna pars nudo aut mulcato corpore, haud minus miserabiles quam quos hostis circumsidet: quippe illic etiam honestae mortis usus, his inglorium exitium. (5) lux reddidit terram, penetratumque ad amnem [Visurgin], quo Caesar classe contenderat. impositae dein legiones, vagante fama submersas; nec fides salutis ante quam Caesarem exercitumque reducem videre. 71 (1) Iam Stertinius, ad accipiendum in deditionem Segimerum fratrem Segestis praemissus, ipsum et filium eius in civitatem Ubiorum perduxerat. data utrique venia, facile Segimero, cunctantius filio, quia Quinctilii Vari corpus inlusisse dicebatur. (2) ceterum ad supplenda exercitus damna certavere Galliae Hispaniae Italia, quod cuique promptum, arma equos aurum offerentes. quorum laudato studio Germanicus, armis modo et equis ad bellum sumptis, propria pecunia militem iuvit. (3) utque cladis memoriam etiam comitate leniret, circumire saucios, facta singulorum extollere; vulnera intuens alium spe, alium gloria, cunctos adloquio et cura sibique et proelio firmabat. 72 (1) Decreta eo anno triumphalia insignia A. Caecinae, L. Apronio, C. Silio ob res cum Germanico gestas. nomen patris patriae Tiberius a populo saepius ingestum repudiavit; neque in acta sua iurari, quamquam censente senatu, permisit, cuncta mortalium incerta, quantoque plus adeptus foret, tanto se magis in lubrico dictans. (2) non tamen ideo faciebat fidem civilis animi; nam legem maiestatis reduxerat. cui nomen apud veteres idem, sed alia in iudicium veniebant: si quis proditione exercitum ut plebem seditionibus, denique male gesta re publica maiestatem populi Romani minuisset: facta arguebantur, dicta impune erant.

Buch I

91

der Kluge vom Dummen, überlegtes Vorgehen vom Zufall: Alles wurde mit gleicher Wucht hineingezogen. (4) Endlich hatte sich Vitellius auf eine Anhöhe durchgeschlagen und führte sein Heer ebenfalls dorthin. Sie verbrachten dort die Nacht ohne alles, was man zum Überleben braucht, ohne Feuer, zum Großteil nackt oder zerschunden, in einem nicht weniger erbärmlichen Zustand als Leute, die vom Feind eingeschlossen sind; denn die haben wenigstens die Möglichkeit, einen ehrenvollen Tod zu erleiden, auf sie hier wartete nur ein unrühmliches Ende. (5) Das Tageslicht ließ das Land wieder zum Vorschein kommen, und man marschierte zu dem Fluss, zu dem der Caesar mit der Flotte gefahren war. Die Legionen wurden daraufhin eingeschifft, wobei sich das Gerücht verbreitete, sie seien ertrunken. An ihre Rettung glaubte man so lange nicht, bis man den Caesar und das zurückgeführte Heer wieder vor Augen hatte. 71 (1) Schon hatte Stertinius, der vorausgeschickt worden war, um die Unterwerfung von Segestes’ Bruder Segimerus entgegenzunehmen, ihn selbst und seinen Sohn nach Ubierstadt geführt. Beiden verzieh man, ohne Weiteres Segimerus, zögerlicher seinem Sohn, weil es hieß, er habe mit dem Leichnam des Quinctilius Varus seinen Spott getrieben. (2) Hinsichtlich der Auffüllung der Verluste des Heeres wetteiferten Gallien, Spanien, Italien, indem sie anboten, worüber jedes Land verfügte, Waffen, Pferde, Gold. Germanicus lobte ihr Engagement, nahm aber nur Waffen und Pferde für den Krieg und unterstützte seine Soldaten mit eigenem Geld. (3) Um die Erinnerung an die Katastrophe auch durch Leutseligkeit verblassen zu lassen, besuchte er die Verwundeten und stellte die Taten jedes Einzelnen heraus; er sah sich die Wunden an und versuchte die einen durch Hoffnung, die anderen durch ihren Ruhm, alle durch seinen Zuspruch und seine Fürsorge aufzurichten, und zwar seinetwegen wie für den Kampf. 72 (1) In diesem Jahr wurden die Triumphabzeichen A. Caecina, L. Apronius und C. Silius wegen ihrer mit Germanicus erzielten Erfolge zuerkannt. Den Titel „Vater des Vaterlands“, der ihm vom Volk wiederholt angetragen worden war, lehnte Tiberius ab. Auch erlaubte er nicht, auf seine Verordnungen den Eid46 abzulegen, obwohl der Senat das beantragte; zur Begründung sagte er des Öfteren, alles Los der Sterblichen sei unsicher, und je mehr er erreicht habe, auf desto schlüpfrigerem Boden bewege er sich. (2) Dennoch konnte er damit niemanden von seiner bürgernahen Einstellung überzeugen. Denn er hatte das Majestätsgesetz wieder aufleben lassen, das schon bei den Vorfahren so hieß. Aber es waren andere Fälle, die vor Gericht kamen, nämlich wenn jemand durch Verrat das Heer oder den Pöbel durch Hetzreden, überhaupt durch eine die Gemeinschaft schädigende Handlung die Hoheit des römischen Volkes beeinträchtigt hatte: Taten kamen vor Gericht, Worte blieben straflos.

92

Liber primus

(3) primus Augustus cognitionem de famosis libellis specie legis eius tractavit, commotus Cassii Severi libidine, qua viros feminasque inlustres procacibus scriptis diffamaverat; mox Tiberius, consultante Pompeio Macro praetore, an iudicia maiestatis redderentur, exercendas leges esse respondit. (4) hunc quoque asperavere carmina incertis auctoribus vulgata in saevitiam superbiamque eius et discordem cum matre animum. 73 (1) Haud pigebit referre in Faianio et Rubrio, modicis equitibus Romanis, praetemptata crimina, ut quibus initiis quanta Tiberii arte gravissimum exitium inrepserit, dein repressum sit, postremo arserit cunctaque corripuerit, noscatur. (2) Faianio obiciebat accusator, quod inter cultores Augusti, qui per omnes domos in modum collegiorum habebantur, Cassium quendam mimum corpore infamem adscivisset, quodque venditis hortis statuam Augusti simul mancipasset. Rubrio crimini dabatur violatum periurio numen Augusti. (3) quae ubi Tiberio notuere, scripsit consulibus non ideo decretum patri suo caelum, ut in perniciem civium is honor verteretur. Cassium histrionem solitum inter alios eiusdem artis interesse ludis, quos mater sua in memoriam Augusti sacrasset; nec contra religiones fieri, quod effigies eius, ut alia numinum simulacra, venditionibus hortorum et domuum accedant. (4) ius iurandum perinde aestimandum quam si Iovem fefellisset: deorum iniurias dis curae. 74 (1) Nec multo post Granium Marcellum praetorem Bithyniae quaestor ipsius Caepio Crispinus maiestatis postulavit subscribente Romano Hispone; qui formam vitae iniit, quam postea celebrem miseriae temporum et audaciae hominum fecerunt. (2) nam egens ignotus inquies, dum occultis libellis saevitiae principis adrepit, mox clarissimo cuique periculum facessit, potentiam apud unum, odium apud omnes adeptus dedit exemplum,

Buch I

93

(3) Augustus war der Erste, der ein Gerichtsverfahren über Schmähschriften unter dem Deckmantel dieses Gesetzes hatte durchführen lassen aus Empörung über die Skrupellosigkeit des Cassius Severus, mit der dieser angesehene Männer und Frauen in unverschämten Veröffentlichungen verunglimpft hatte; dann hatte Tiberius auf die Anfrage des Prätors Pompeius Macer, ob man Gerichtsverfahren wegen Majestätsbeleidigung zulassen solle, den Bescheid erteilt, Gesetze seien anzuwenden. (4) Auch ihn erbitterten anonym verbreitete Gedichte gegen seine Grausamkeit, seine Arroganz und die Tatsache, dass er sich mit seiner Mutter nicht vertrug. 73 (1) Es wird kein Missfallen hervorrufen, wenn ich davon berichte, wie bei Faianius und Rubrius, unbedeutenden römischen Rittern, erste Versuche mit Beschuldigungen gemacht wurden, damit man eine Vorstellung davon bekommt, wie alles anfing und mit welcher Raffinesse Tiberius vorging, als sich das unheilvolle Krebsübel einschlich, wie es dann unterdrückt wurde, schließlich aufloderte und alle Bereiche erfasste. (2) Faianius hielt der Ankläger vor, er habe unter die Verehrer des Augustus, die in allen Häusern eine Art Bruderschaft bildeten, einen gewissen Cassius, einen für die mit seinem Körper erwiesenen Dienste berüchtigten Schauspieler, aufgenommen und beim Verkauf seiner Gärten auch eine Statue des Augustus mitverkauft. Rubrius machte der Ankläger zum Vorwurf, durch einen Meineid die Göttlichkeit des Augustus beleidigt zu haben. (3) Als Tiberius davon erfuhr, schrieb er an die Konsuln, für seinen Vater habe man nicht dazu die Aufnahme in den Himmel beschlossen, dass diese Ehre sich zum Verderben der Bürger auswirke. Der Schauspieler Cassius wirke gewöhnlich mit anderen Künstlern der gleichen Sparte bei den Spielen mit, die seine Mutter zum Andenken an Augustus gestiftet habe; man verstoße auch nicht gegen religiöse Vorschriften, wenn man sein Bildnis wie andere Statuen von Göttern bei Verkäufen von Gärten und Häusern mitgebe. (4) Der Eid schließlich sei genauso zu werten, als wenn er Jupiter hintergangen hätte; um Göttern zugefügtes Unrecht sollten sich die Götter kümmern. 74 (1) Nicht viel später klagte den Prätor Bithyniens Granius Marcellus sein eigener Quästor Caepio Crispinus wegen Majestätsbeleidigung an, wobei Romanius Hispo mit unterschrieb; Crispinus machte den Anfang mit einer Lebensführung, die später die elenden Zeiten und die Unverfrorenheit der Menschen zu einem häufig beschrittenen Weg werden ließen. (2) Denn indem er, selbst arm, aus einfachen Verhältnissen stammend und ein unruhiger Geist, sich mit geheimen Dossiers an die Grausamkeit des Princeps heranschlich und dann gerade die angesehensten Männer in Gefahr brachte, gewann er Einfluss bei der einen Person, erntete jedoch Hass bei allen anderen. So gab er ein Beispiel,

94

Liber primus

quod secuti ex pauperibus divites, ex contemptis metuendi perniciem aliis ac postremum sibi invenere. (3) sed Marcellum insimulabat sinistros de Tiberio sermones habuisse, inevitabile crimen, cum ex moribus principis foedissima quaeque deligeret accusator obiectaretque reo; nam quia vera erant, etiam dicta credebantur. addidit Hispo statuam Marcelli altius quam Caesarum sitam, et alia in statua amputato capite Augusti effigiem Tiberii inditam. (4) ad quod exarsit adeo, ut rupta taciturnitate proclamaret se quoque in ea causa laturum sententiam, palam et iuratum, quo ceteris eadem necessitas fieret. (5) manebant etiam tum vestigia morientis libertatis. igitur Cn. Piso ‘quo’ inquit ‘loco censebis, Caesar? si primus, habebo quod sequar; si post omnes, vereor ne imprudens dissentiam.’ (6) permotus his, quantoque incautius efferverat, paenitentia patiens tulit absolvi reum criminibus maiestatis. de pecuniis repetundis ad reciperatores itum est. 75 (1) Nec patrum cognitionibus satiatus iudiciis adsidebat, in cornu tribunalis, ne praetorem curuli depelleret; multaque eo coram adversus ambitum et potentium preces constituta. sed dum veritati consulitur, libertas corrumpebatur. (2) inter quae Pius Aurelius senator, questus mole publicae viae ductuque aquarum labefactas aedes suas, auxilium patrum invocabat. resistentibus aerarii praetoribus subvenit Caesar pretiumque aedium Aurelio tribuit, erogandae per honesta pecuniae cupiens; quam virtutem diu retinuit, cum ceteras exueret. (3) Propertio Celeri praetorio veniam ordinis ob paupertatem petenti decies sestertium largitus est, satis comperto paternas ei angustias esse. (4) temptantes eadem alios probare causa senatui iussit, cupidine severitatis in iis etiam quae rite faceret acerbus. unde ceteri silentium et paupertatem confessioni et beneficio praeposuere.

Buch I

95

dem andere Leute folgten, die arm waren und reich wurden, die man verachtete und nun fürchten musste und die den Untergang für andere bedeuteten und ihn zuletzt selbst fanden. (3) Marcellus also bezichtigte er, er habe abfällige Reden über Tiberius geführt, ein Vorwurf, bei dem es kein Entrinnen gab, weil er als Ankläger aus dem Charakter des Princeps gerade die widerwärtigsten Züge heraussuchte und dem Angeklagten vorwarf. Denn da sie der Wahrheit entsprachen, glaubte man auch, die Äußerungen seien gefallen. Hispo ergänzte, eine Statue des Marcellus sei an einem höheren Platz aufgestellt worden als die der Caesaren, und bei einer anderen Statue sei der Kopf des Augustus abgenommen und Tiberius’ Porträt aufgesetzt worden. (4) Darüber geriet dieser derart in Rage, dass er sein Schweigen brach und schrie, auch er werde in diesem Fall mit abstimmen, offen und unter Eid, damit alle anderen dem gleichen Zwang unterlagen. (5) Es blieben auch damals noch Spuren der sterbenden Freiheit. Deshalb fragte Cn. Piso: „An welcher Stelle willst du dein Votum abgeben, Caesar? Wenn als Erster, weiß ich, wonach ich mich richten kann; wenn erst nach allen, befürchte ich, unüberlegt eine andere Meinung zu vertreten.“ (6) Betroffen von diesen Worten und weil er recht unbeherrscht in Wut geraten war, nahm er es aus Reue geduldig hin, dass der Angeklagte von den Vorwürfen der Majestätsbeleidigung freigesprochen wurde. Die Anklage wegen Erpressung wurde an das Kollegium der Ersatzrichter47 verwiesen. 75 (1) Weil er aber von den gerichtlichen Untersuchungen der Väter nicht genug bekommen konnte, nahm er auch an normalen Prozessen teil und setzte sich dazu in eine Ecke des Tribunals, um den Prätor nicht von seinem Amtssessel zu verdrängen, und viele Entscheidungen wurden in seiner Anwesenheit gegen Bestechung bei Wahlen und die Empfehlungen einflussreicher Persönlichkeiten getroffen. Doch während man sich um die Wahrheit kümmerte, richtete man die Freiheit zugrunde. (2) Im Verlauf dieser Verhandlungen beklagte sich der Senator Pius Aurelius darüber, durch den Bau einer öffentlichen Straße und das Ziehen einer Wasserleitung sei sein Haus baufällig geworden, und bat um Unterstützung durch die Väter. Als sich die Prätoren der Staatskasse dagegen aussprachen, griff der Caesar ein und ließ Aurelius den Preis für das Haus anweisen, weil er sein Geld auf anständige Weise ausgeben wollte, eine gute Eigenschaft, die er lange beibehielt, während er die übrigen ablegte. (3) Dem ehemaligen Prätor Propertius Celer, der um Entlassung aus seinem Stand wegen Armut bat, schenkte er eine Million Sesterze, nachdem sich eindeutig herausgestellt hatte, dass seine Notlage vom Vater herrührte. (4) Als andere das Gleiche versuchten, befahl er ihnen, ihren Fall vom Senat prüfen zu lassen, in seiner Neigung zur Strenge auch da hart, wo sein Verhalten in Ordnung war. Deshalb zog der Rest Schweigen und Armut dem öffentlichen Bekenntnis und der Bewilligung von Almosen vor.

96

Liber primus

76 (1) Eodem anno continuis imbribus auctus Tiberis plana urbis stagnaverat; relabentem secuta est aedificiorum et hominum strages. igitur censuit Asinius Gallus ut libri Sibyllini adirentur. renuit Tiberius, perinde divina humanaque obtegens; sed remedium coercendi fluminis Ateio Capitoni et L. Arruntio mandatum. (2) Achaiam ac Macedoniam onera deprecantes levari in praesens proconsulari imperio tradique Caesari placuit. (3) edendis gladiatoribus, quos Germanici fratris ac suo nomine obtulerat, Drusus praesedit, quamquam vili sanguine nimis gaudens; quod vulgus formidolosum et pater arguisse dicebatur. (4) cur abstinuerit spectaculo ipse, varie trahebant: alii taedio coetus, quidam tristitia ingenii et metu comparationis, quia Augustus comiter interfuisset. non crediderim ad ostentandam saevitiam movendasque populi offensiones concessam filio materiem, quamquam id quoque dictum est. 77 (1) At theatri licentia proximo priore anno coepta gravius tum erupit, occisis non modo e plebe, ed militibus et centurione, vulnerato tribuno praetoriae cohortis, dum probra in magistratus et dissensionem vulgi prohibent. (2) actum de ea seditione apud patres, dicebanturque sententiae, ut praetoribus ius virgarum in histriones esset. (3) intercessit Haterius Agrippa tribunus plebei increpitusque est Asinii Galli oratione, silente Tiberio, qui ea simulacra libertatis senatui praebebat. valuit tamen intercessio, quia divus Augustus immunes verberum histriones quondam responderat, neque fas Tiberio infringere dicta eius. (4) de modo lucaris et adversus lasciviam fautorum multa decernuntur; ex quis maxime insignia, ne domos pantomimorum senator introiret, ne egredientes in publicum equites Romani cingerent, aut alibi quam in theatro spectarentur, et spectantium immodestiam exilio multandi potestas praetoribus fieret.

Buch I

97

76 (1) Im gleichen Jahr schwoll der Tiber nach andauernden Regenfällen an und hatte die tiefer gelegenen Stadtteile überschwemmt. Als er wieder zurückging, ergab sich als Folge, dass Häuser eingestürzt und Menschen umgekommen waren. Deshalb stellte Asinius Gallus den Antrag, die Sibyllinischen Bücher48 einzusehen. Tiberius lehnte ab, weil er, was Götter und Menschen betraf, in gleicher Weise geheim hielt. Aber Ateius Capito und L. Arruntius wurden beauftragt, für Abhilfe durch Eindämmung des Flusses zu sorgen. (2) Achaia und Makedonien, die um eine Verringerung ihrer Lasten baten, beschloss man für den Augenblick aus der prokonsularischen Verwaltung herauszunehmen und dem Caesar zu übertragen. (3) Bei der Abhaltung der Gladiatorenspiele, die er im Namen seines Bruders Germanicus und in seinem eigenen angeboten hatte, führte Drusus den Vorsitz, wobei er sich über das vergossene Blut übermäßig freute, auch wenn dieses nichts wert war. Dieses Verhalten machte dem einfachen Volk Angst, und auch sein Vater soll es gerügt haben. (4) Warum sich dieser selbst von der Veranstaltung fernhielt, deutete man verschieden. Die einen sagten, aus Widerwillen gegen Menschenansammlungen, andere wegen seines finsteren Charakters und aus Furcht vor einem Vergleich; denn Augustus hatte immer leutselig teilgenommen. Ich neige nicht zu der Annahme, er habe diese Gelegenheit, Grausamkeit offen zu zeigen und Anstoß beim Volk zu erregen, seinem Sohn geboten, obwohl man auch das behauptete. 77 (1) Was die Ausschreitungen im Theater betrifft, die im Jahr zuvor begonnen hatten, kam es damals zu immer schlimmeren Auswüchsen; nicht nur Angehörige des Pöbels, sondern auch Soldaten sowie ein Zenturio wurden erschlagen und ein Tribun der Prätorianerkohorte verwundet, als sie Schmährufe gegen die Amtsträger und eine Auseinandersetzung unter dem einfachen Volk unterbinden wollten. (2) Diesen Krawall verhandelte man vor den Vätern, und es wurde die Auffassung vertreten, die Prätoren sollten das Recht haben, Schauspieler mit der Rute zu züchtigen. (3) Dagegen erhob der Volkstribun Haterius Agrippa Einspruch und wurde dafür von Asinius Gallio in einer Rede heftig angefahren, während Tiberius schwieg, der diese Schattenbilder der Freiheit dem Senat zugestand. Dennoch setzte sich der Einspruch durch, weil der vergöttlichte Augustus einmal den Bescheid gegeben hatte, Schauspieler dürften nicht geschlagen werden, und Tiberius es nicht für Recht hielt, dessen Anordnungen aufzuheben. (4) Über die Höhe ihrer Gagen und gegen die Hemmungslosigkeit ihrer Anhänger wurden viele Beschlüsse gefasst. Darunter waren die bemerkenswertesten: Die Häuser von Pantomimen darf kein Senator betreten. Wenn sie in die Öffentlichkeit gehen, dürfen sie römische Ritter nicht begleiten oder an einem anderen Ort als im Theater auftreten. Die Prätoren werden ermächtigt, ungehöriges Benehmen der Zuschauer mit Verbannung zu bestrafen.

98

Liber primus

78 (1) Templum ut in colonia Tarraconensi strueretur Augusto petentibus Hispanis permissum, datumque in omnes provincias exemplum. (2) centesimam rerum venalium post bella civilia institutam deprecante populo edixit Tiberius militare aerarium eo subsidio niti; simul imparem oneri rem publicam, nisi vicesimo militiae anno veterani dimitterentur. ita proximae seditionis male consulta, quibus sedecim stipendiorum finem expresserant, abolita in posterum. 79 (1) Actum deinde in senatu ab Arruntio et Ateio, an ob moderandas Tiberis exundationes verterentur flumina et lacus, per quos augescit; auditaeque municipiorum et coloniarum legationes, orantibus Florentinis, ne Clanis solito alveo demotus in amnem Arnum transferretur idque ipsis perniciem adferret. (2) congruentia his Interamnates disseruere: pessum ituros fecundissimos Italiae campos, si amnis Nar (id enim parabatur) in rivos diductus superstagnavisset. (3) nec Reatini silebant, Velinum lacum, qua in Narem effunditur, obstrui recusantes, quippe in adiacentia erupturum: optume rebus mortalium consuluisse naturam, quae sua ora fluminibus, suos cursus, utque originem, ita fines dederit; spectandas etiam religiones sociorum, qui sacra et lucos et aras patriis amnibus dicaverint; quin ipsum Tiberim nolle prorsus accolis fluviis orbatum minore gloria fluere. (4) seu preces coloniarum seu difficultas operum sive superstitio valuit, ut in sententiam Pisonis concederet, qui nil mutandum censuerat. 80 (1) Prorogatur Poppaeo Sabino provincia Moesia additis Achaia ac Macedonia. id quoque morum Tiberii fuit, continuare imperia ac plerosque ad finem vitae in isdem exercitibus aut iurisdictionibus habere. (2) causae variae traduntur: alii taedio novae curae semel placita pro aeternis servavisse; quidam invidia, ne plures fruerentur; sunt qui existiment, ut callidum eius ingenium, ita anxium iudicium; neque enim eminentes virtutes sectabatur,

Buch I

99

78 (1) Der Bau eines Tempels für Augustus in der Kolonie Tarraco wurde auf Bitten der Spanier gestattet und damit ein Vorbild für alle Provinzen gegeben. (2) Als das Volk die Aufhebung der einprozentigen Steuer auf alle Handelswaren erbat, die nach den Bürgerkriegen49 eingeführt worden war, ließ Tiberius bekannt geben, die Veteranenversorgungskasse sei auf diese Unterstützung angewiesen; zudem sei der Staat der Belastung nur dann gewachsen, wenn die Veteranen erst nach 20 Dienstjahren entlassen würden. Auf diese Weise wurden die unbedachten Beschlüsse nach der letzten Meuterei, mit denen sie ein Ende nach 16 Jahren erpresst hatten, für die Zukunft wieder aufgehoben. 79 (1) Dann wurde im Senat von Arruntius und Ateius darüber referiert, ob man zur Eindämmung der Überschwemmungen des Tiber die Flüsse und Seen umleiten solle, durch die er anstieg, und man hörte dazu auch Abordnungen aus den Landstädten und Kolonien an. Die Florentiner baten, der Clanis solle nicht aus seinem gewohnten Bett verlegt und in den Arno umgelenkt werden; das bedeute für sie eine Katastrophe. (2) Damit übereinstimmend argumentierten die Interamnaten: Vernichtet würden die fruchtbarsten Felder Italiens, falls der Fluss Nar – das hatte man nämlich vor – auf Kanäle verteilt werde und dann über die Ufer trete. (3) Auch die Reatiner schwiegen nicht, wobei sie sich weigerten, den Velinersee an seinem Ausfluss in den Nar mit einem Deich verschließen zu lassen, da er sich dann einen anderen Weg in die Umgebung suchen werde. Bestens habe die Natur für die Anliegen der Sterblichen gesorgt, die den Flüssen ihre eigenen Mündungen, ihren eigenen Lauf und wie ihren Ursprung, so auch ihr Ende gegeben habe. Auch die religiösen Gefühle der Bundesgenossen müsse man im Auge behalten, die heilige Zeremonien, Haine und Altäre den heimischen Flüssen geweiht hätten; ja, der Tiber selbst wolle sich nicht seiner Nebenflüsse völlig berauben lassen und dann weniger ansehnlich dahinfließen. (4) Ob nun die Bitten der Kolonien oder die Schwierigkeit des Unternehmens oder die religiösen Bedenken den Ausschlag gaben, man schloss sich jedenfalls der Auffassung Pisos an, der beantragt hatte, nichts zu ändern. 80 (1) Verlängert wurde für Poppaeus Sabinus die Verwaltung der Provinz Mösien, und Achaia und Makedonien gab man ihm noch dazu. Auch das war eine Eigenart des Tiberius, Kommandos ohne Unterbrechung weiter zu übertragen und die meisten Personen bis an ihr Lebensende bei den gleichen Heeren oder Gerichtsbezirken zu belassen. (2) Dafür werden verschiedene Gründe angeführt: Die einen behaupten, er habe sich aus Widerwillen gegen ein neues Problem an einmal gefasste Beschlüsse auf Dauer gehalten; andere sagen, er habe das aus Neid getan, damit keine größere Anzahl in den Genuss komme. Es gibt auch Leute, die glauben, bei all seiner Raffiniertheit habe er Angst vor Entscheidungen gehabt. Denn auf herausragende gute Eigenschaften legte er

100

Liber primus

et rursum vitia oderat: ex optimis periculum sibi, a pessimis dedecus publicum metuebat. (3) qua haesitatione postremo eo provectus est, ut mandaverit quibusdam provincias, quos egredi urbe non erat passurus. 81 (1) De comitiis consularibus, quae tum primum illo principe ac deinceps fuere, vix quicquam firmare ausim: adeo diversa non modo apud auctores, sed in ipsius orationibus reperiuntur. (2) modo subtractis candidatorum nominibus originem cuiusque et vitam et stipendia descripsit, ut qui forent intellegeretur; (3) aliquando ea quoque significatione subtracta candidatos hortatus, ne ambitu comitia turbarent, suam ad id curam pollicitus est; (4) plerumque eos tantum apud se professos disseruit, quorum nomina consulibus edidisset; posse et alios profiteri, si gratiae aut meritis confiderent: speciosa verbis, re inania aut subdola, quantoque maiore libertatis imagine tegebantur, tanto eruptura ad infensius servitium.

Buch I

101

keinen Wert, andererseits hasste er unmoralisches Verhalten: Von den besten Männern fürchtete er Gefahr für seine Person, von den schlechtesten Schande für den Staat. (3) Durch diese Unentschlossenheit kam es schließlich so weit, dass er Provinzen einigen Männern anvertraute, die er aus der Hauptstadt gar nicht herauslassen wollte.50 81 (1) Über die Konsulwahlen, die damals unter diesem Princeps zum ersten Mal und dann auch weiterhin so stattfanden, getraue ich mich kaum etwas mit Bestimmtheit zu behaupten; derart einander widersprechende Darstellungen findet man nicht nur bei den Historikern, sondern auch in seinen eigenen Reden. (2) Bald ließ er die Namen der Kandidaten weg und machte bei jedem nur Angaben zu Herkunft, Lebenslauf und Dienstjahren, damit man erkennen konnte, wer gemeint war; (3) manchmal ließ er auch diese Hinweise weg und ermahnte die Kandidaten nur, sie sollten die Wahlversammlungen nicht mit ihrem Werben um Wählerstimmen stören, und versprach, er werde sich selbst um diese Angelegenheit kümmern. (4) Häufig erklärte er, nur die Bewerber hätten sich bei ihm gemeldet, deren Namen er den Konsuln mitgeteilt habe. Es könnten sich auch andere melden, falls sie zu ihrer Beliebtheit oder ihren Leistungen genug Zutrauen hätten. Das waren großartige Worte, tatsächlich aber nur leeres oder heimtückisches Geschwätz, und je beeindruckender das Trugbild der Freiheit war, in das sie gekleidet waren, in eine desto drückendere Knechtschaft sollten sie ausarten.

LIBER SECUNDUS 1 (1) SISENNA STATILIO TAURO L. LIBONE consulibus mota Orientis regna provinciaeque Romanae, initio apud Parthos orto, qui petitum Roma acceptumque regem, quamvis gentis Arsacidarum, ut externum aspernabantur. (2) is fuit Vonones, obses Augusto datus a Phraate. nam Phraates, quamquam depulisset exercitus ducesque Romanos, cuncta venerantium officia ad Augustum verterat partemque prolis firmandae amicitiae miserat, haud perinde nostri metu quam fidei popularium diffisus. 2 (1) Post finem Phraatis et sequentium regum ob internas caedes venere in urbem legati a primoribus Parthis, qui Vononen, vetustissimum liberorum eius, accirent. magnificum id sibi credidit Caesar auxitque opibus. et accepere barbari laetantes, ut ferme ad nova imperia. (2) mox subiit pudor: degeneravisse Parthos; petitum alio ex orbe regem, hostium artibus infectum; iam inter provincias Romanas solium Arsacidarum haberi darique. ubi illam gloriam trucidantium Crassum, exturbantium Antonium, si mancipium Caesaris, tot per annos servitutem perpessum, Parthis imperitet? (3) accendebat dedignantes et ipse diversus a maiorum institutis, raro venatu, segni equorum cura; quotiens per urbes incederet, lecticae gestamine fastuque erga patrias epulas. inridebantur et Graeci comites ac vilissima utensilium anulo clausa. (4) sed prompti aditus, obvia comitas, ignotae Parthis virtutes, nova vitia; et quia ipsorum moribus aliena, perinde odium pravis et honestis.

Buch II 1 (1) Unter den Konsuln SISENNA STATILIUS TAURUS und L. LIBO (16 n. Chr.) kam es zu Unruhen in Königreichen und römischen Provinzen des Ostens. Ihren Ausgang nahmen sie bei den Parthern, die den König, den sie von Rom erbeten und erhalten hatten, obwohl er aus der Familie der Arsaciden stammte, als Ausländer ablehnten. (2) Es handelte sich um Vonones, der Augustus von Phraates als Geisel gestellt worden war. Denn obwohl Phraates römische Heere und deren Kommandeure zurückgeschlagen hatte, hatte er Augustus alle Ehrenbezeigungen erwiesen und einen Teil seiner Nachkommenschaft zur Besiegelung der Freundschaft geschickt, nicht so sehr aus Furcht vor uns als voller Misstrauen der Loyalität seiner Landsleute gegenüber. 2 (1) Nach dem Ende des Phraates und der folgenden Könige kam wegen blutiger interner Auseinandersetzungen eine von den führenden Parthern geschickte Abordnung in die Hauptstadt, die Vonones als das älteste seiner Kinder heimholen sollte. Für einen großartigen persönlichen Erfolg hielt das der Caesar (Augustus) und stattete ihn großzügig aus. Und so nahmen ihn die Barbaren voll Freude auf, wie das fast immer bei einer neuen Herrschaft der Fall ist. (2) Dann aber überkam sie das Ehrgefühl: Verkommen seien die Parther; man habe aus einer anderen Welt einen König geholt, der von den Gewohnheiten ihrer Feinde angesteckt sei. Schon werde der Thron der Arsaciden wie eine römische Provinz behandelt und vergeben. Wo sei der großartige Ruhm der Männer geblieben, die Crassus abgeschlachtet, Antonius verjagt hätten,1 wenn nun ein Lakai des Caesars, der so viele Jahre lang die Knechtschaft ertragen habe, über die Parther regiere? (3) Ihre Entrüstung fachte auch er persönlich dadurch an, dass er von der Lebensweise seiner Vorfahren nichts hielt, selten auf die Jagd ging und für Pferde nur wenig Interesse zeigte. Sooft er durch die Städte zog, ließ er sich in einer Sänfte tragen und hatte für die einheimischen Bankette nur Verachtung übrig. Man spottete auch über sein griechisches Gefolge und über die Eigenart, selbst die billigsten Gebrauchsgegenstände versiegelt wegzuschließen. (4) Aber auch der leichte Zugang zu ihm und seine entgegenkommende Freundlichkeit, den Parthern unbekannte Vorzüge, galten als neue Fehler; und weil sie ihren eigenen Moralvorstellungen fremd waren, erregten anstößige und anständige Verhaltensweisen in gleicher Weise ihre tiefe Abneigung.

104

Liber secundus

3 (1) Igitur Artabanus, Arsacidarum e sanguine apud Dahas adultus, excitur, primoque congressu fusus reparat vires regnoque potitur. victo Vononi perfugium Armenia fuit, vacua tunc interque Parthorum et Romanas opes infida ob scelus Antonii, qui Artavasden regem Armeniorum specie amicitiae inlectum, dein catenis oneratum, postremo interfecerat. (2) eius filius Artaxias, memoria patris nobis infensus, Arsacidarum vi seque regnumque tutatus est. occiso Artaxia per dolum propinquorum datus a Caesare Armeniis Tigranes deductusque in regnum a Tiberio Nerone. nec Tigrani diuturnum imperium fuit neque liberis eius, quamquam sociatis more externo in matrimonium regnumque. 4 (1) Dein iussu Augusti impositus Artavasdes et non sine clade nostra deiectus. tum C. Caesar componendae Armeniae deligitur. is Ariobarzanen, origine Medum, ob insignem corporis formam et praeclarum animum volentibus Armeniis praefecit. (2) Ariobarzane morte fortuita absumpto stirpem eius haud toleravere; temptatoque feminae imperio, cui nomen Erato, eaque brevi pulsa incerti solutique et magis sine domino quam in libertate profugum Vononen in regnum accipiunt. (3) sed ubi minitari Artabanus et parum subsidii in Armeniis, vel, si nosa vi defenderetur, bellum adversus Parthos sumendum erat, rector Syriae Creticus Silanus excitum custodia circumdat, manente luxu et regio nomine. quod ludibrium ut effugere agitaverit Vonones, in loco reddemus. 5 (1) Ceterum Tiberio haud ingratum accidit turbari res Orientis, ut ea specie Germanicum suetis legionibus abstraheret novisque provinciis impositum dolo simul et casibus obiectaret. (2) at ille, quanto acriora in eum studia militum et aversa patrui voluntas, celerandae victoriae intentior,

Buch II

105

3 (1) Deshalb rief man Artabanus aus dem Geschlecht der Arsaciden, der bei den Dahern aufgewachsen war, ins Land, und obwohl er beim ersten Aufeinandertreffen geschlagen wurde, konnte er seine Streitkräfte wieder auffrischen und bemächtigte sich des Throns. Dem besiegten Vonones bot Armenien Zuflucht, das damals herrenlos und unzuverlässig zwischen den Machtbereichen der Parther und Römer lag wegen des Verbrechens des Antonius, der den Armenierkönig Artavasdes unter dem Deckmantel der Freundschaft zu sich gelockt, dann in Ketten gelegt und schließlich umgebracht hatte. (2) Dessen Sohn Artaxias, der uns im Gedenken an seinen Vater feindlich gegenüberstand, schützte sich und sein Königreich mit der Macht der Arsaciden. Als Artaxias bei einem Anschlag seiner Verwandten umgebracht worden war, wurde den Armeniern vom Caesar (Augustus) Tigranes als König gegeben und von Tiberius Nero in sein Reich eingeführt. Doch weder für Tigranes dauerte die Herrschaft lange noch für seine Kinder, obwohl sie sich der fremden Sitte gemäß untereinander durch Heiraten verbanden und die Regierung gemeinsam ausübten. 4 (1) Daraufhin wurde auf Augustus’ Befehl Artavasdes eingesetzt und nicht ohne Verluste für uns wieder gestürzt. In dieser Situation wählte man C. Caesar dazu aus, die Ordnung in Armenien wiederherzustellen.2 Der übertrug Ariobarzanes, einem gebürtigen Meder, die Herrschaft über die Armenier, die wegen seiner stattlichen Erscheinung und hervorragenden Geistesgaben damit einverstanden waren. (2) Nachdem Ariobarzanes bei einem Unfall ums Leben gekommen war, fanden sie sich mit seiner Nachkommenschaft nicht ab. Nun versuchte man es mit der Herrschaft einer Frau, die Erato hieß, vertrieb sie aber nach kurzer Zeit wieder und nahm dann, unschlüssig und orientierungslos und mehr ohne Herrn als in Freiheit, den Flüchtling Vonones zum König. (3) Aber als ihn Artabanus bedrohte und Vonones nicht genügend Unterstützung bei den Armeniern fand oder für den Fall, dass er durch uns mit Gewalt verteidigt werden sollte, Krieg gegen die Parther zu beginnen war, zitierte ihn der Statthalter Syriens, Creticus Silanus, zu sich und stellte ihn unter Aufsicht, beließ ihm aber seinen aufwendigen Lebensstil und den Königstitel. Wie Vonones sich diesem üblen Spiel zu entziehen versuchte, werde ich an der betreffenden Stelle berichten.3 5 (1) Tiberius aber kamen die politischen Wirren im Osten nicht ungelegen: Unter diesem Vorwand konnte er Germanicus von seinen vertrauten Legionen abziehen, ihn über neue Provinzen setzen und damit Hinterlist und Zufällen ausliefern. (2) Doch je stürmischer ihm die Sympathien der Soldaten entgegenschlugen und je stärker die Abneigung des Onkels wurde, umso mehr war ihm an einem schnellen Sieg gelegen; er ließ sich die in den Schlachten angewandten Taktiken und all die schrecklichen oder erfreulichen Ereig-

106

Liber secundus

tractare proeliorum vias et quae sibi tertium iam annum belligeranti saeva vel prospera evenissent. (3) fundi Germanos acie et iustis locis, iuvari silvis paludibus, brevi aestate et praematura hieme; suum militem haud perinde vulneribus quam spatiis itinerum, damno armorum adfici; fessas Gallias ministrandis equis; longum impedimentorum agmen op

ortunum ad insidias, defensantibus iniquum. (4) at si mare intretur, promptam ipsis possessionem et hostibus ignotam; simul bellum maturius incipi legionesque et commeatus pariter vehi; integrum equitem equosque per ora et alveos fluminum media in Germania fore. 6 (1) Igitur huc intendit, missis ad census Galliarum P. Vitellio et C. Antio. Silius et Anteius et Caecina fabricandae classi praeponuntur. (2) mille naves sufficere visae properataeque: aliae breves, angusta puppi proraque et lato utero, quo facilius fluctus tolerarent; quaedam planae carinis, ut sine noxa siderent; plures adpositis utrimque gubernaculis, converso ut repente remigio hinc vel illinc adpellerent; multae pontibus stratae, super quas tormenta veherentur, simul aptae ferendis equis aut commeatui: velis habiles, citae remis augebantur alacritate militum in speciem ac terrorem. (3) insula Batavorum in quam convenirent praedicta, ob faciles adpulsus accipiendisque copiis et transmittendum ad bellum op

ortuna. (4) nam Rhenus uno alveo continuus aut modicas insulas circumveniens apud principium agri Batavi velut in duos amnes dividitur, servatque nomen et violentiam cursus, qua Germaniam praevehitur, donec Oceano misceatur; ad Gallicam ripam latior et placidior adfluens (verso cognomento Vahalem accolae dicunt) mox id quoque vocabulum mutat Mosa flumine eiusque immenso ore eundem in Oceanum effunditur. 7 (1) Sed Caesar, dum adiguntur naves, Silium legatum cum expedita manu inruptionem in Chatos facere iubet; ipse, audito castellum Lupiae flumini adpositum obsideri, sex legiones eo duxit. (2) neque Silio ob subitos imbres aliud actum quam ut modicam praedam et Arpi principis Chatorum coniugem

Buch II

107

nisse durch den Kopf gehen, die er nun schon im dritten Jahr im Felde erlebt hatte: (3) Schlagen könne man die Germanen in offener Feldschlacht und in gewöhnlichem Gelände. Begünstigt würden sie von Wäldern, Sümpfen, dem kurzen Sommer und früh einsetzenden Winter. Die eigenen Soldaten litten nicht so sehr unter Verwundungen als unter den langen Marschwegen und dem Verlust ihrer Waffen. Gallien sei erschöpft von den Pferdelieferungen. Die lange Trosskolonne bilde ein willkommenes Ziel für Hinterhalte und sei nur schwer zu verteidigen. (4) Wenn man sich jedoch aufs Meer begebe, sei das für sie ein leicht zu erwerbender und den Feinden unbekannter Besitz. Zudem könne man früher mit dem Krieg beginnen und Legionen und Nachschub zusammen transportieren; ohne Beeinträchtigung stünden Reiter und Pferde nach der Fahrt durch Mündungen und Flussläufe mitten in Germanien. 6 (1) Deshalb traf er folgende Maßnahmen: Zur Steuererhebung in Gallien schickte er P. Vitellius und C. Antius. Silius, Anteius und Caecina wurden mit dem Bau einer Flotte beauftragt. (2) Eintausend Schiffe schienen zu genügen und wurden eiligst fertiggestellt. Ein Teil war kurz, mit schmalem Heck und Bug und breitem Bauch, um den Fluten leichter standhalten zu können. Manche hatten einen flachen Kiel, damit sie, ohne Schaden zu nehmen, auf Grund gehen konnten. Eine größere Anzahl wurde an beiden Enden mit Steuerrudern ausgestattet, damit man die Ruder schlagartig umdrehen und vorne oder hinten anlanden konnte. Viele rüstete man mit Verdecken aus, auf denen Wurfgeschütze befördert werden konnten; sie eigneten sich zugleich zum Transport von Pferden oder Proviant. Leicht zu segeln und schnell durch die Ruder, wurden sie dank dem bereitwilligen Einsatz der Soldaten zu Schiffen ausgestaltet, die beeindrucken und erschrecken sollten. (3) Die Insel der Bataver bestimmte man als Sammelpunkt wegen ihrer guten Landeplätze, ihrer Eignung für die Aufnahme von Truppen und die Verlegung des Kriegs. (4) Denn der Rhein, der ständig in einem einzigen Bett bleibt oder nur um kleine Inseln herumfließt, teilt sich am Beginn des Batavergebiets sozusagen in zwei Ströme und behält seinen Namen und die starke Strömung bei, mit der er an Germanien vorbeizieht, bis er sich mit dem Ozean vermischt. Zum gallischen Ufer hin ist er breiter und fließt sanfter dahin – die Anwohner nennen ihn nach einer Namensänderung Waal –, dann aber tauscht er auch diese Bezeichnung mit dem Fluss Maas und ergießt sich in dessen gewaltiger Mündung ebenfalls in den Ozean. 7 (1) Doch der Caesar gab, während die Schiffe zusammengezogen wurden, dem Legaten Silius den Auftrag, mit einer Abteilung ohne Tross einen Einfall ins Gebiet der Chatten zu machen. Er selbst führte, nachdem er davon gehört hatte, ein am Fluss Lippe angelegtes Kastell werde belagert, sechs Legionen an diesen Ort. (2) Doch konnte weder Silius wegen plötzlicher Regenfälle mehr ausrichten, als eine unbedeutende Beute und Frau und Tochter des

108

Liber secundus

filiamque raperet, neque Caesari copiam pugnae obsessores fecere, ad famam adventus eius dilapsi. tumulum tamen nuper Varianis legionibus structum et veterem aram Druso sitam disiecerant. (3) restituit aram honorique patris princeps ipse cum legionibus decucurrit; tumulum iterare haud visum, et cuncta inter castellum Alisonem ac Rhenum novis limitibus aggeribusque permunita. 8 (1) Iamque classis advenerat, cum praemisso commeatu et distributis in legiones ac socios navibus fossam, cui Drusianae nomen, ingressus precatusque Drusum patrem, ut se eadem ausum libens placatusque exemplo ac memoria consiliorum atque operum iuvaret, lacus inde et Oceanum usque ad Amisiam flumen secunda navigatione pervehitur. (2) classis [Amisiae] relicta laevo amne, erratumque in eo, quod non subvexit [transposuit] militem dextras in terras iturum; ita plures dies efficiendis pontibus absumpti. (3) et eques quidem ac legiones prima aestuaria, nondum adcrescente unda, intrepidi transiere; postremum auxiliorum agmen Batavique in parte ea, cum insultant aquis artemque nandi ostentant, turbati et quidam hausti sunt. (4) metanti castra Caesari Angrivariorum defectio a tergo nuntiatur: missus ilico Stertinius cum equite et armatura levi igne et caedibus perfidiam ultus est. 9 (1) Flumen Visurgis Romanos Cheruscosque interfluebat. eius in ripa cum ceteris primoribus Arminius adstitit, quaesitoque an Caesar venisset, postquam adesse responsum est, ut liceret cum fratre conloqui oravit. erat is in exercitu cognomento Flavus, insignis fide et amisso per vulnus oculo paucis ante annis duce Tiberio. (2) tum permissu progressusque salutatur ab Arminio; qui amotis stipatoribus, ut sagittarii nostra pro ripa dispositi abscederent postulat, et postquam digressi, unde ea deformitas oris interrogat fratrem. (3) illo locum et proelium referente, quodnam praemium recepisset exquirit. Flavus aucta stipendia, torquem

Buch II

109

Chattenhäuptlings Arpus zu rauben, noch boten die Belagerer dem Caesar Gelegenheit zu einer Schlacht, weil sie auf das Gerücht von seinem Kommen hin davongelaufen waren; trotzdem hatten sie den Grabhügel, den man erst kurz zuvor für die Legionen des Varus aufgeschüttet hatte, und einen alten, für Drusus errichteten Altar zerstört. (3) Der Princeps ließ den Altar wieder aufbauen und defilierte zu Ehren seines Vaters persönlich mit den Legionen an ihm vorbei; die Wiederherstellung des Grabhügels hielt man nicht für angebracht, und das gesamte Gebiet zwischen dem Kastell Aliso und dem Rhein wurde mit neuen Grenzschneisen und Dämmen durchgehend gesichert. 8 (1) Schon war die Flotte eingetroffen. Nun schickte er den Tross voraus, verteilte die Schiffe auf die Legionen und die Bundesgenossen, fuhr in den Kanal hinein, der Drusiana heißt,4 und betete zu seinem Vater Drusus, er möge ihn, wenn er sich nun an das gleiche Abenteuer wage, gerne und gnädig durch sein Vorbild und die Erinnerung an seine Planungen und Taten unterstützen; von dort aus gelangte er durch die Seen und den Ozean bis zum Emsfluss in günstig verlaufender Fahrt. (2) Die Flotte wurde auf der linken Seite des Flusses zurückgelassen, und man beging dabei den Fehler, die Soldaten nicht stromaufwärts zu fahren, obwohl sie in das rechts liegende Gebiet marschieren sollten.5 So wurden mehrere Tage mit dem Bau von Brücken vertan. (3) Und die Kavallerie und die Legionen durchquerten ihrerseits unerschrocken die ersten Untiefen, weil die Flut noch nicht einsetzte. Die von Hilfstruppen gebildete Nachhut aber und die Bataver in diesem Abschnitt gerieten, weil diese ins Wasser galoppierten und ihre Schwimmkünste zeigten, in Unordnung, und einige ertranken. (4) Als er ein Lager abstecken ließ, meldete man dem Caesar den Abfall der Angrivarier in seinem Rücken. Auf der Stelle wurde Stertinius mit Kavallerie und Leichtbewaffneten losgeschickt und rächte mit Feuer und einem Blutbad die Treulosigkeit. 9 (1) Der Fluss Weser floss zwischen Römern und Cheruskern. An seinem Ufer stand Arminius zusammen mit den übrigen führenden Männern, und nachdem er auf seine Frage, ob der Caesar gekommen sei, die Antwort erhalten hatte, er sei da, bat er um die Erlaubnis zu einem Gespräch mit seinem Bruder. Der diente im Heer und hieß Flavus; er war ein Muster an Treue und hatte wenige Jahre zuvor unter dem Kommando des Tiberius durch eine Verwundung ein Auge verloren. (2) Dann erhielt er die Erlaubnis, trat vor und wurde von Arminius begrüßt. Dieser schickte seine Begleiter weg, verlangte, dass sich die an unserem Ufer aufgestellten Bogenschützen entfernten, und fragte nach ihrem Abzug seinen Bruder, woher diese Entstellung seines Gesichts rühre. (3) Als er Ort und Schlacht nannte, erkundigte er sich, welchen Lohn er denn bekommen habe. Flavus erwähnte die Erhöhung des Solds, die Halskette, den

110

Liber secundus

et coronam aliaque militaria dona memorat, inridente Arminio vilia servitii pretia. 10 (1) Exim diversi ordiuntur, hic magnitudinem Romanam, opes Caesaris et victis graves poenas, in deditionem venienti paratam clementiam; neque coniugem et filium eius hostiliter haberi: ille fas patriae, libertatem avitam, penetrales Germaniae deos, matrem precum sociam; ne propinquorum et adfinium, denique gentis suae desertor et proditor quam imperator esse mallet. (2) paulatim inde ad iurgia prolapsi quo minus pugnam consererent ne flumine quidem interiecto cohibebantur, ni Stertinius adcurrens plenum irae armaque et equum poscentem Flavum attinuisset. (3) cernebatur contra minitabundus Arminius proeliumque denuntians; nam pleraque Latino sermone interiaciebat, ut qui Romanis in castris ductor popularium meruisset. 11 (1) Postero die Germanorum acies trans Visurgim stetit. Caesar nisi pontibus praesidiisque impositis dare in discrimen legiones haud imperatorium ratus, equitem vado tramittit. praefuere Stertinius et e numero primipilarium Aemilius, distantibus locis invecti, ut hostem diducerent. qua celerrimus amnis, Chariovalda dux Batavorum erupit. (2) eum Cherusci fugam simulantes in planitiem saltibus circumiectam traxere; dein coorti et undique effusi trudunt adversos, instant cedentibus collectosque in orbem pars congressi, quidam eminus proturbant. (3) Chariovalda diu sustentata hostium saevitia, hortatus suos ut ingruentes catervas globo fringerent, atque ipse densissimos inrupens, congestis telis et suffosso equo labitur, ac multi nobilium circa; ceteros vis sua aut equites cum Stertinio Aemilioque subvenientes periculo exemere.

Buch II

111

Kranz und andere militärische Auszeichnungen; Arminius hatte für den wertlosen Preis der Knechtschaft nur Hohn und Spott übrig. 10 (1) Dann begannen sie ihre verschiedenen Standpunkte darzulegen. Der eine führte die Größe Roms, die Macht des Caesars und die schweren Strafen für Besiegte an. Wer jedoch komme, um sich zu unterwerfen, dürfe mit Milde rechnen; auch seine Frau und sein Sohn würden nicht als Feinde behandelt. Der andere sprach von der heiligen Pflicht dem Vaterland gegenüber, der von den Vätern ererbten Freiheit, den heimischen Göttern Germaniens, ihrer Mutter, die sich seinen Bitten anschließe. Er solle nicht lieber Deserteur und Verräter seiner engeren und weiteren Verwandten, schließlich seines eigenen Volkes sein wollen als dessen Befehlshaber. (2) Daraufhin ließen sie sich immer mehr zu Beschimpfungen hinreißen, und sie wären nicht einmal durch den dazwischen liegenden Fluss daran gehindert worden, aufeinander loszugehen, wenn nicht Stertinius hinzugeeilt wäre und den wutentbrannten Flavus, der nach seinen Waffen und seinem Pferd verlangte, zurückgehalten hätte. (3) Auf der Gegenseite konnte man Arminius sehen, wie er Drohungen ausstieß und einen Kampf ankündigte. Denn er ließ sehr vieles in lateinischer Sprache einfließen wie eben einer, der im römischen Feldlager als Anführer seiner Landsleute gedient hatte. 11 (1) Am nächsten Tag standen die Germanen zur Schlacht aufgestellt jenseits der Weser. Der Caesar ließ in der Überzeugung, es gehöre zu den Pflichten eines Befehlshabers, die Legionen nur nach der Errichtung von Brücken und unter dem Schutz von Sicherungstruppen in eine gefährliche Auseinandersetzung zu führen, die Kavallerie an einer Furt übersetzen. Kommandiert wurde sie von Stertinius und Aemilius, der zu den Primipilaren gehörte; sie griffen an verschiedenen Stellen an, um den Feind auseinanderzuziehen. Wo der Fluss am reißendsten war, stürmte Chariovalda, der Anführer der Bataver, nach vorn. (2) Ihn lockten die Cherusker, indem sie eine Flucht vortäuschten, in eine von Bergwäldern umgebene Ebene. Dann griffen sie an, stürmten von allen Seiten auf die Gegner los, drängten sie, wenn sie Widerstand leisteten, zurück, setzten ihnen, wenn sie zurückwichen, nach und trieben sie, als sie sich zu einem Kreis zusammengeschlossen hatten, teils im Nahkampf, teils aus der Ferne vor sich her. (3) Chariovalda hielt den wütenden Angriffen der Feinde lange stand, rief dann seinen Leuten zu, sie sollten einen Haufen bilden und so durch die angreifenden Scharen durchzustoßen versuchen, und sprengte selbst in das größte Getümmel hinein. Als die Geschosse niederprasselten und auch sein Pferd getroffen wurde, fielen er und viele Vornehme um ihn herum. Alle anderen befreite ihre eigene Kampfkraft oder die mit Stertinius und Aemilius zu Hilfe kommende Kavallerie.

112

Liber secundus

12 (1) Caesar transgressus Visurgim indicio perfugae cognoscit delectum ab Arminio locum pugnae; convenisse et alias nationes in silvam Herculi sacram, ausurosque nocturnam castrorum oppugnationem. habita indici fides, et cernebantur ignes, suggressique propius speculatores audiri fremitum equorum immensique et inconditi agminis murmur attulere. (2) igitur propinquo summae rei discrimine explorandos militum animos ratus, quonam id modo incorruptum foret secum agitabat. (3) tribunos et centuriones laeta saepius quam comperta nuntiare, libertorum servilia ingenia, amicis inesse adulationem; si contio vocetur, illic quoque quae pauci incipiant reliquos adstrepere. penitus noscendas mentes, cum secreti et incustoditi inter militares cibos spem aut metum proferrent. 13 (1) Nocte coepta egressus augurali per occulta et vigilibus ignara, comite uno, contectus umeros ferina pelle, adit castrorum vias, adsistit tabernaculis fruiturque fama sui, cum hic nobilitatem ducis, decorem alius, plurimi patientiam comitatem, per seria per iocos eundem animum laudibus ferrent reddendamque gratiam in acie faterentur, simul perfidos et ruptores pacis ultioni et gloriae mactandos. (2) inter quae unus hostium, Latinae linguae sciens, acto ad vallum equo voce magna coniuges et agros et stipendii in dies, donec bellaretur, sestertios centenos, si quis transfugisset, Arminii nomine pollicetur. (3) intendit ea contumelia legionum iras: veniret dies, daretur pugna; sumpturum militem Germanorum agros, tracturum coniuges; accipere omen et matrimonia ac pecunias hostium praedae destinare. (4) tertia ferme vigilia adsultatum est castris, sine coniectu teli, postquam crebras pro munimentis cohortes et nihil remissum sensere. 14 (1) Nox eadem laetam Germanico quietem tulit, viditque se operatum et sanguine sacro respersa praetexta pulchriorem aliam manibus aviae Augustae

Buch II

113

12 (1) Der Caesar setzte über die Weser und erfuhr durch die Aussage eines Überläufers den von Arminius für die Schlacht ausgesuchten Platz. Auch andere Stämme seien in einem dem Herkules6 heiligen Wald zusammengekommen und würden einen nächtlichen Angriff auf das Lager wagen. Man schenkte dem Informanten Glauben und konnte Feuer sehen, und die Kundschafter, die sich näher heranschlichen, berichteten, man könne das Schnauben von Pferden und das dumpfe Dröhnen eines riesigen, ungeordneten Heerhaufens hören. (2) Deshalb glaubte er, weil die entscheidende Auseinandersetzung bevorstehe, müsse er die Stimmung unter seinen Soldaten erkunden, und überlegte daraufhin bei sich, auf welche Weise das unverfälscht geschehen könne: (3) Tribune und Zenturionen meldeten öfter erfreuliche Nachrichten als tatsächliche Erkenntnisse, die Freigelassenen hätten die Mentalität von Sklaven, die Freunde einen Hang zur Schmeichelei; werde eine Heeresversammlung einberufen, dann stimme auch da der Rest lärmend dem zu, was eine Minderheit vorbringe. Die innerste Überzeugung sei nur zu erfahren, wenn sie unter sich und ohne Aufsicht beim Essenfassen unter einfachen Soldaten offen ihre Hoffnungen oder ihre Furcht äußerten. 13 (1) Bei Beginn der Nacht verließ er das Kommandeurszelt und begab sich auf geheimen und seinen Wachen unbekannten Wegen mit nur einem Begleiter, die Schultern mit einem Pelz bedeckt, in die Lagerstraßen, blieb bei den Zelten stehen und genoss seinen guten Ruf, wenn der eine die Vornehmheit ihres Kommandeurs, ein anderer seine stattliche Erscheinung, sehr viele seine Ausdauer, seine Umgänglichkeit, sein in Ernst und Spaß gleichbleibendes Wesen lobten und erklärten, man müsse sich dafür im Kampf erkenntlich zeigen und zugleich die Abtrünnigen und Friedensbrecher der Rache und dem Ruhm opfern. (2) Unterdessen hatte einer von den Feinden, der Latein konnte, sein Pferd an den Wall herangelenkt und versprach mit lauter Stimme Frauen, Ackerland und an Sold pro Tag für die Dauer des Krieges einhundert Sesterze, falls einer überlaufe, in Arminius’ Namen. (3) Dieses schandbare Angebot führte bei den Legionen zu wütenden Reaktionen: Der Tag solle nur kommen, Gelegenheit zum Kampf gegeben werden! Die Soldaten würden sich das Land der Germanen nehmen, ihre Frauen wegschleppen. Sie nähmen das Vorzeichen an und bestimmten Ehefrauen und Geld der Feinde als Beute. (4) Ungefähr um die dritte Nachtwache kam es zu einem Vorstoß auf das Lager, ohne dass ein Schuss abgegeben wurde, nachdem sie merkten, dass viele Kohorten auf den Befestigungen standen und es keine Nachlässigkeit gab. 14 (1) Dieselbe Nacht bescherte Germanicus einen Glück verheißenden Traum, und er sah, als er ein Opfer vollzog und heiliges Blut auf seine purpurverbrämte Toga gespritzt war, habe er eine andere, schönere aus den Händen seiner

114

Liber secundus

accepisse. auctus omine, addicentibus auspiciis vocat contionem et quae sapientia provisa aptaque imminenti pugnae disserit. (2) non campos modo militi Romano ad proelium bonos, sed, si ratio adsit, silvas et saltus; nec enim immensa barbarorum scuta, enormes hastas inter truncos arborum et enata humo virgulta perinde haberi quam pila et gladios et haerentia corpori tegmina. (3) denserent ictus, ora mucronibus quaererent: non loricam Germano, non galeam, ne scuta quidem ferro nervove firmata, sed viminum textus vel tenues et fucatas colore tabulas; primam utcumque aciem hastatam, ceteris praeusta aut brevia tela. iam corpus ut visu torvum et ad brevem impetum validum, sic nulla vulnerum patientia: sine pudore flagitii, sine cura ducum abire fugere, pavidos adversis, inter secunda non divini, non humani iuris memores. (4) si taedio viarum ac maris finem cupiant, hac acie parari: propiorem iam Albim quam Rhenum neque bellum ultra, modo se patris patruique vestigia prementem isdem in terris victorem sisterent. 15 (1) Orationem ducis secutus militum ardor, signumque pugnae datum. nec Arminius aut ceteri Germanorum proceres omittebant suos quisque testari, hos esse Romanos Variani exercitus fugacissimos, qui, ne bellum tolerarent, seditionem induerint; quorum pars onusta vulneribus terga, pars fluctibus et procellis fractos artus infensis rursum hostibus, adversis dis obiciant, nulla boni spe. (2) classem quippe et avia Oceani quaesita, ne quis venientibus occurreret, ne pulsos premeret; sed ubi miscuerint manus, inane victis ventorum remorumve subsidium. (3) meminissent modo avaritiae crudelitatis superbiae: aliud sibi reliquum quam tenere libertatem aut mori ante servitium?

Buch II

115

Großmutter Augusta (Livia) erhalten. Ermutigt durch das Vorzeichen und weil auch die Auspizien günstig ausfielen, berief er eine Heeresversammlung ein und legte dar, welche geeigneten Maßnahmen er in weiser Voraussicht für die bevorstehende Schlacht getroffen habe: (2) Nicht nur das freie Feld sei für die römischen Soldaten im Kampf von Vorteil, sondern, falls man überlegt vorgehe, Wälder und Waldschluchten. Die riesigen Schilde der Barbaren, ihre gewaltigen Lanzen ließen sich nämlich zwischen Baumstämmen und aus dem Boden sprießendem Gestrüpp nicht genauso leicht handhaben wie Wurfspeere, Schwerter und am Körper dicht anliegende Rüstungen. (3) Sie müssten nur unablässig zustoßen und mit den Schwertspitzen auf die Gesichter zielen. Keinen Brustpanzer habe der Germane, keinen Helm, nicht einmal mit Eisen oder Leder verstärkte Schilde, sondern Weidengeflechte oder dünne, angemalte Bretter; nur das erste Glied verfüge einigermaßen über Lanzen, der Rest habe nur an der Spitze im Feuer gehärtete oder kurze Speere. Was ihre Körper betreffe, so seien sie zwar grimmig anzusehen und zu einer kurzen Attacke fähig, aber keinesfalls in der Lage, Verwundungen hinzunehmen: Ohne Scham vor der Schande, ohne sich um ihre Anführer zu kümmern, gingen sie weg und liefen davon, entmutigt bei Misserfolgen, im Erfolg ohne einen Gedanken an göttliches oder menschliches Recht. (4) Falls sie selbst von den Märschen und Schifffahrten genug hätten und deren Ende herbeisehnten, könnten sie dieses Ziel in der kommenden Schlacht erreichen: Näher liege schon die Elbe als der Rhein, und es gebe anschließend keinen Krieg mehr; sie müssten nur ihn auf den Spuren seines Vaters und Onkels in den gleichen Ländern zum Sieger machen. 15 (1) Die Rede ihres Kommandeurs löste bei den Soldaten Begeisterung aus, und man gab das Zeichen zum Kampf. Aber auch Arminius oder die übrigen vornehmsten Germanen unterließen es nicht, jeweils ihren Leuten zu versichern, das seien die Römer aus dem Heer des Varus, die am besten zu fliehen verstünden, die, um keinen Krieg auf sich nehmen zu müssen, eine Meuterei angezettelt hätten; ein Teil von ihnen halte die mit Wunden übersäten Rücken, der andere die von den Fluten und Stürmen gebrochenen Glieder wieder den erbitterten Feinden, den ungnädigen Göttern entgegen, ohne jede Aussicht auf Erfolg. (2) Denn eine Flotte hätten sie gebaut und die abgelegenen Gebiete des Ozeans aufgesucht, damit sich ihnen niemand beim Anmarsch in den Weg stellen, niemand nach der Niederlage weiter zusetzen könne; doch im Kampf Mann gegen Mann sei für die Unterlegenen die Unterstützung durch Winde oder Ruder nutzlos. (3) Sie sollten nur an die Habgier, die Grausamkeit, die Überheblichkeit denken: Bleibe ihnen denn eine andere Wahl, als die Freiheit zu behaupten oder zu sterben vor der Versklavung?

116

Liber secundus

16 (1) Sic accensos et proelium poscentes in campum, cui Idistaviso nomen, deducunt. is medius inter Visurgim et colles, ut ripae fluminis cedunt aut prominentia montium resistunt, inaequaliter sinuatur. pone tergum insurgebat silva, editis in altum ramis et pura humo inter arborum truncos. (2) campum et prima silvarum barbara acies tenuit; soli Cherusci iuga insedere, ut proeliantibus Romanis desuper incurrerent. (3) noster exercitus sic incessit: auxiliares Galli Germanique in fronte, post quos pedites sagittarii; dein quattuor legiones et cum duabus praetoriis cohortibus ac delecto equite Caesar; exim totidem aliae legiones et levis armatura cum equite sagittario ceteraeque sociorum cohortes. intentus paratusque miles, ut ordo agminis in aciem adsisteret. 17 (1) Visis Cheruscorum catervis, quae per ferociam proruperant, validissimos equitum incurrere latus, Stertinium cum ceteris turmis circumgredi tergaue invadere iubet, ipse in tempore adfuturus. (2) interea, pulcherrimum augurium, octo aquilae petere silvas et intrare visae imperatorem advertere. exclamat irent, sequerentur Romanas aves, propria legionum nuina. (3) simul pedestris acies infertur et praemissus eques postremos ac latera impulit. mirumque dictu, duo hostium agmina diversa fuga, qui silvam tenuerant, in aperta, qui campis adstiterant, in silvam ruebant. (4) medii inter hos Cherusci collibus detrudebantur, inter quos insignis Arminius manu voce vulnere sustentabat pugnam. incubueratque sagittariis, illa rupturus, ni Raetorum Vindelicorumque et Gallicae cohortes signa obiecissent. (5) nisu tamen corporis et impetu equi pervasit, oblitus faciem suo cruore, ne nosceretur. quidam adgnitum a Chaucis inter auxilia Romana agentibus emissumque tradiderunt. (6) virtus seu fraus eadem Inguiomero effugium dedit. ceteri passim trucidati; et plerosque tranare Visurgim conantes

Buch II

117

16 (1) Ihre auf diese Weise begeisterten und auf den Kampf drängenden Leute führten sie in die Ebene hinab, die Idistaviso heißt. Diese bildet mitten zwischen der Weser und Hügeln unregelmäßige Bogen, je nachdem die Flussufer zurücktreten oder Bergvorsprünge im Weg stehen. Im Rücken erhob sich ein Wald, der seine Äste hoch in den Himmel reckte und zwischen den Baumstämmen den nackten Boden sehen ließ. (2) Die Ebene und den Waldrand hielt das Heer der Barbaren besetzt; allein die Cherusker bezogen auf den Bergrücken Stellung, um auf die Römer während des Kampfes von oben herabzustoßen. (3) Unser Heer rückte folgendermaßen an: die gallischen und germanischen Hilfstruppen an der Spitze, nach ihnen Bogenschützen zu Fuß; anschließend vier Legionen und mit zwei Prätorianerkohorten und Elitekavallerie der Caesar; schließlich ebenso viele andere Legionen und die Leichtbewaffneten mit den berittenen Bogenschützen sowie die übrigen Kohorten der Bundesgenossen. Die Soldaten waren darauf bedacht und vorbereitet, aus der Marschordnung heraus in Gefechtsstellung zum Stehen zu kommen. 17 (1) Als man die Haufen der Cherusker, die in ihrer ganzen Wildheit vorgeprescht waren, zu Gesicht bekam, gab er den Befehl, die schlagkräftigsten Kavallerieeinheiten sollten sie in der Flanke fassen, Stertinius mit den übrigen Schwadronen umgehen und ihnen in den Rücken fallen; er selbst werde rechtzeitig zur Stelle sein. (2) In der Zwischenzeit erregte das großartigste Vorzeichen, acht Adler, die man auf die Wälder zu- und in sie hineinfliegen sah, die Aufmerksamkeit des Befehlshabers. Er rief laut, sie sollten losmarschieren und den römischen Vögeln folgen, den Schutzgeistern der Legionen. (3) Zugleich ließ man auch die Infanterie frontal zum Angriff übergehen, und die vorausgeschickte Kavallerie setzte den Einheiten am Schluss und an den Flanken zu. Und es mag seltsam klingen, zwei feindliche Heere flohen in entgegengesetzter Richtung: die den Wald besetzt hatten, stürzten ins offene Gelände hinaus, die auf dem freien Feld aufgestellt waren, in den Wald hinein. (4) Mitten zwischen ihnen wurden die Cherusker die Hügel hinabgetrieben; unter ihnen versuchte Arminius, erkennbar an seiner Kampfkraft, seiner Stimme und einer Verwundung, den Kampf fortzuführen. Er hätte sich auf die Bogenschützen geworfen in der Absicht, dort durchzubrechen, wenn sich die Kohorten der Räter, Vindeliker und Gallier ihm nicht in den Weg gestellt hätten. (5) Unter Aufbietung aller Kräfte und mithilfe seines feurigen Pferdes kam er durch, das Gesicht mit eigenem Blut verschmiert, um nicht erkannt zu werden. Manche Autoren berichten, er sei von Chauken, die bei den römischen Hilfstruppen dienten, erkannt und durchgelassen worden. (6) Dieselbe Tapferkeit oder dasselbe Täuschungsmanöver ermöglichte es Inguiomerus zu entkommen. Der Rest wurde massenweise abgeschlachtet, und sehr viele begruben, als sie über die Weser zu schwimmen versuchten, der

118

Liber secundus

iniecta tela aut vis fluminis, postremo moles ruentium et incidentes ripae operuere. quidam turpi fuga in summa arborum nisi ramisque se occultantes admotis sagittariis per ludibrium figebantur, alios prorutae arbores adflixere. 18 (1) Magna ea victoria neque cruenta nobis fuit. quinta ab hora diei ad noctem caesi hostes decem milia passuum cadaveribus atque armis opplevere, repertis inter spolia eorum catenis, quas in Romanos ut non dubio eventu portaverant. (2) miles in loco proelii Tiberium imperatorem salutavit struxitque aggerem et in modum tropaeorum arma subscriptis victarum gentium nominibus imposuit. 19 (1) Haud perinde Germanos vulnera luctus excidia quam ea species dolore et ira adfecit. qui modo abire sedibus, trans Albim concedere parabant, pugnam volunt, arma rapiunt; plebes primores, iuventus senes agmen Romanum repente incursant turbant. (2) postremo deligunt locum flumine et silvis clausum, arta intus planitie et umida; silvas quoque profunda palus ambibat, nisi quod latus unum Angrivarii lato aggere extulerant, quo a Cheruscis dirimerentur. hic pedes adstitit; equitem propinquis lucis texere, ut ingressis silvam legionibus a tergo foret. 20 (1) Nihil ex his Caesari incognitum: consilia locos, prompta occulta noverat astusque hostium in perniciem ipsis vertebat. Seio Tuberoni legato tradit equitem campumque; peditum aciem ita instruxit, ut pars aequo in silvam aditu incederet, pars obiectum aggerem eniteretur; quod arduum sibi, cetera legatis permisit. (2) quibus plana evenerant, facile inrupere; quis impugnandus agger, ut si murum succederent, gravibus superne ictibus conflictabantur. sensit dux imparem comminus pugnam remotisque paulum legionibus funditores libritoresque excutere tela et proturbare hostem iubet; missae e tormentis hastae, quantoque conspicui magis propugnatores, tanto pluribus vulneribus deiecti.

Buch II

119

Geschosshagel oder die Strömung des Flusses, schließlich die übereinanderstürzenden Menschenmassen und die einbrechenden Ufer unter sich. Ein paar, die in ehrloser Flucht bis in die Baumkronen geklettert waren und sich hinter den Zweigen verstecken wollten, wurden zum Hohn durch herbeigeholte Bogenschützen erlegt, andere erschlugen gefällte Bäume. 18 (1) Ein bedeutender Sieg war das, und er kostete uns kein Blut. Von der fünften Stunde an bis in die Nacht hinein wurden die Feinde niedergemetzelt; sie bedeckten zehn Meilen mit ihren Leichen und Waffen. Dabei fand man unter den Beutestücken Ketten, die sie für die Römer mitgebracht hatten, da sie an ihrem Erfolg nicht zweifelten. (2) Die Soldaten riefen noch auf dem Schlachtfeld Tiberius zum Imperator aus, schütteten Erde auf, legten darauf in der Art von Siegesdenkmälern Waffen und schrieben die Namen der besiegten Stämme darunter. 19 (1) Nicht die Wunden, die Trauer und die Verluste schmerzten und erbitterten die Germanen so sehr wie dieser Anblick. Die Menschen, die sich soeben noch anschickten, ihre Siedlungsgebiete zu verlassen und über die Elbe zurückzuweichen, wollten nun wieder den Kampf, rissen die Waffen an sich. Einfaches Volk und Vornehme, Junge und Alte stürzten sich plötzlich auf das römische Heer, brachten es durcheinander. (2) Schließlich wählten sie einen Platz aus, der von einem Fluss und Wäldern eingeschlossen wurde, mit einer schmalen, feuchten Ebene in der Mitte. Auch die Wälder umgab ein tiefer Sumpf, abgesehen davon, dass an einer Seite die Angrivarier einen breiten Damm errichtet hatten, der sie von den Cheruskern trennen sollte. Dort stand ihr Fußvolk. Die Reiterei versteckten sie in den nahen Hainen, damit sie sich, sobald die Legionen in den Wald hineingezogen waren, in ihrem Rücken befand. 20 (1) Nichts davon blieb dem Caesar verborgen. Pläne und Stellungen, geheime wie offensichtliche Vorhaben kannte er und versuchte die taktischen Überlegungen der Feinde ihnen selbst zum Verderben zu wenden. Dem Legaten Seius Tubero vertraute er die Kavallerie und die Ebene an. Die Infanterie stellte er so zum Kampf auf, dass ein Teil auf dem ebenen Zugang in den Wald hineinrücken, der andere auf den vor ihm liegenden Damm steigen sollte. Diese schwierige Aufgabe übernahm er selbst, den Rest überließ er den Legaten. (2) Die Truppen, die die Ebene zugewiesen bekommen hatten, drangen leicht ein; die Einheiten jedoch, die den Damm einnehmen sollten, wurden wie beim Heranrücken an eine Mauer mit schwerem Beschuss von oben her bedrängt. Der Kommandeur bemerkte, dass der Nahkampf ungleiche Bedingungen bot, zog die Legionen ein Stück zurück und ließ Schleuderer und Wurfschützen ihre Geschosse abschießen und den Feind verscheuchen. Von den Geschützen wurden Speere abgefeuert, und je mehr Verteidiger sich sehen ließen, mit desto mehr Verlusten warf man sie hinunter.

120

Liber secundus

(3) primus Caesar cum praetoriis cohortibus capto vallo dedit impetum in silvas; conlato illic gradu certatum. hostem a tergo palus, Romanos flumen aut montes claudebant: utrisque necessitas in loco, spes in virtute, salus ex victoria. 21 (1) Nec minor Germanis animus, sed genere pugnae et armorum superabantur, cum ingens multitudo artis locis praelongas hastas non protenderet, non colligeret, neque adsultibus et velocitate corporum uteretur, coacta stabile ad proelium; contra miles, cui scutum pectori adpressum et insidens capulo manus, latos barbarorum artus, nuda ora foderet viamque strage hostium aperiret, imprompto iam ob continua pericula, sive illum recens acceptum vulnus tardaverat. quin et Inguiomerum tota volitantem acie fortuna magis quam virtus deserebat. (2) et Germanicus quo magis adgnosceretur, detraxerat tegimen capiti orabatque insisterent caedibus: nil opus captivis, solam internicionem gentis finem bello fore. iamque sero diei subducit ex acie legionem faciendis castris: ceterae ad noctem cruore hostium satiatae sunt. equites ambigue certavere. 22 (1) Laudatis pro contione victoribus Caesar congeriem armorum struxit, superbo cum titulo: debellatis inter Rhenum Albimque nationibus exercitum Tiberii Caesaris ea monimenta Marti et Iovi et Augusto sacravisse. de se nihil addidit, metu invidiae an ratus conscientiam facti satis esse. (2) mox bellum in Angrivarios Stertinio mandat, ni deditionem properavissent. atque illi supplices nihil abnuendo veniam omnium accepere. 23 (1) Sed aestate iam adulta legionum aliae itinere terrestri in hibernacula remissae, plures Caesar classi impositas per flumen Amisiam Oceano invexit. (2) ac primo placidum aequor mille navium remis strepere aut velis impelli; mox atro nubium globo effusa grando, simul variis undique procellis incerti fluctus

Buch II

121

(3) Als Erster machte der Caesar zusammen mit den Prätorianerkohorten nach der Einnahme des Walls einen Angriff in die Wälder hinein; dort kämpfte man Mann gegen Mann. Der Feind wurde im Rücken vom Sumpf, die Römer vom Fluss oder Bergen eingeschlossen: Für beide Parteien lag das Unvermeidliche im Gelände, die Hoffnung in der Tapferkeit, die Rettung im Sieg. 21 (1) Nicht weniger Mut zeigten die Germanen, aber sie wurden wegen ihrer Kampfesweise und der Art ihrer Waffen überwältigt, weil die gewaltige Menschenmasse in dem beengten Raum ihre sehr langen Lanzen nicht vorstrecken, nicht zurückziehen und auch den Gegner nicht anspringen und ihre körperliche Behändigkeit einsetzen konnte, da sie zu einem Gefecht auf der Stelle gezwungen war. Im Gegensatz dazu stach der Soldat, der den Schild an die Brust presste und mit der Hand den Schwertknauf fest umfasste, auf die großflächigen Glieder und ungeschützten Gesichter der Barbaren ein und machte den Weg frei durch die Vernichtung der Feinde, während Arminius schon nicht mehr einsatzfähig war wegen der ständigen gefahrvollen Kämpfe oder weil ihn die kurz zuvor empfangene Wunde beeinträchtigte. Aber auch den Inguiomerus, der über das ganze Schlachtfeld hetzte, ließ mehr das Glück als seine Tapferkeit im Stich. (2) Und Germanicus hatte, um besser erkannt zu werden, die Kopfbedeckung abgenommen und hielt seine Männer dazu an, mit dem Gemetzel fortzufahren: Nichts könnten sie mit Gefangenen anfangen, nur die völlige Vernichtung des Stammes werde das Ende des Kriegs bringen. Erst spät am Tag zog er eine Legion zum Schlagen eines Lagers aus der Schlacht ab. Der Rest sättigte sich bis in die Nacht hinein am Blut der Feinde. Die Kavallerie kämpfte unentschieden. 22 (1) Nachdem er vor versammelter Mannschaft die Sieger gelobt hatte, ließ er einen Haufen aus Waffen errichten mit der stolzen Inschrift, nach der völligen Niederwerfung der Völker zwischen Rhein und Elbe habe das Heer des Tiberius Caesar dieses Denkmal Mars, Jupiter und Augustus geweiht. Über sich selbst fügte er nichts hinzu, aus Furcht vor Neid oder weil er der Auffassung war, das Bewusstsein seiner Leistung genüge. (2) Dann übertrug er den Krieg gegen die Angrivarier Stertinius für den Fall, dass sie ihre Unterwerfung nicht schleunigst angeboten hätten. Und tatsächlich lehnten sie demütig bittend nichts ab und erhielten Nachsicht für alles. 23 (1) Aber da es schon Spätsommer war, wurden einige Legionen auf dem Landweg in die Winterlager zurückgeschickt. Den größeren Teil schiffte der Caesar ein und fuhr über den Emsfluss in den Ozean. (2) Und zunächst rauschte die ruhige See nur unter dem Ruderschlag der tausend Schiffe oder geriet in Bewegung, wenn die Segel aufgezogen wurden. Dann aber ging aus einem schwarzen Wolkenhaufen ein Hagelschauer nieder, und zugleich nahmen unberechenbare Flutwellen, die durch abwechselnd aus allen Richtungen

122

Liber secundus

prospectum adimere, regimen impedire; milesque pavidus et casuum maris ignarus dum turbat nautas vel intempestive iuvat, officia prudentium corrumpebat. (3) omne dehinc caelum et mare omne in austrum cessit, qui humidis Germaniae terris, profundis amnibus immenso nubium tractu validus et rigore vicini septentrionis horridior rapuit disiecitque naves in aperta Oceani aut insulas saxis abruptis vel per occulta vada infestas. (4) quibus paulum aegreque vitatis, postquam mutabat aestus eodemque quo ventus ferebat, non adhaerere ancoris, non exhaurire inrumpentes undas poterant: equi iumenta sarcinae, etiam arma praecipitantur, quo levarentur alvei manantes per latera et fluctu superurgente. 24 (1) Quanto violentior cetero mari Oceanus et truculentia caeli praestat Germania, tantum illa clades novitate et magnitudine excessit, hostilibus circum litoribus aut ita vasto et profundo, ut credatur novissimum ac sine terris mare. (2) pars navium haustae sunt, plures apud insulas longius sitas eiectae; milesque nullo illic hominum cultu fame absumptus, nisi quos corpora equorum eodem elisa toleraverant. sola Germanici triremis Chaucorum terram adpulit; quem per omnes illos dies noctesque apud scopulos et prominentes oras, cum se tanti exitii reum clamitaret, vix cohibuere amici quo minus eodem mari oppeteret. (3) tandem relabente aestu et secundante vento claudae naves raro remigio aut intentis vestibus, et quaedam a validioribus tractae, revertere; quas raptim refectas misit, ut scrutarentur insulas. collecti ea cura plerique; multos Angrivarii nuper in fidem accepti redemptos ab interioribus reddidere; quidam in Britanniam rapti et remiss a regulis. (4) ut quis ex longinquo revenerat, miracula narrabant: vim turbinum et inauditas volucres,

Buch II

123

kommende Böen verursacht wurden, die Sicht und verhinderten das Kurshalten. Da die verängstigten und mit den Tücken des Meeres nicht vertrauten Soldaten den Matrosen in die Quere kamen oder ihnen zum falschen Zeitpunkt helfen wollten, durchkreuzten sie die Maßnahmen der Fachleute. (3) Der ganze Himmel und das ganze Meer waren nun dem Südwind ausgeliefert, der in einem durch die feuchten Gebiete Germaniens und die tiefen Ströme verursachten gewaltigen Wolkenzug heftig blies und durch die Kälte des benachbarten Nordens noch schauderhafter wirkte, die Schiffe mitriss und auf den offenen Ozean hinaus oder auf Inseln zu trieb, die durch schroffe Klippen oder verborgene Untiefen gefährlich waren. (4) War man diesen mit knapper Mühe und Not ausgewichen, konnte man, weil sich die Strömung änderte und in Windrichtung trug, keine Anker werfen und die hereinbrechenden Wogen nicht ausschöpfen: Pferde, Zugtiere, Gepäck, sogar Waffen wurden über Bord geworfen, um die Schiffsrümpfe zu entlasten, die seitlich leckgeschlagen waren und in die oben die Flut hineinschwappte. 24 (1) Genauso wie der Ozean stürmischer ist als das übrige Meer und Germanien durch sein raues Klima aus dem Rahmen fällt, übertraf diese Katastrophe durch ihre bis dahin unbekannte Größenordnung alle Vorstellungen. Die Küsten ringsum waren in Feindeshand, oder man hatte es mit einer derartigen Entfernung und Tiefe zu tun, dass man den Eindruck gewinnt, es handle sich um den Randbereich des Meeres, in dem keine Länder mehr liegen. (2) Ein Teil der Schiffe ging unter, die Mehrzahl wurde an weiter entfernte Inseln geworfen, und die Soldaten kamen vor Hunger um, weil sich dort keine Spur menschlicher Besiedlung fand, außer denjenigen, die ebenfalls angespülte Pferdekadaver am Leben erhalten hatten. Nur der Dreiruderer des Germanicus trieb im Gebiet der Chauken an Land. Ihn konnten in all diesen Tagen und Nächten an den Klippen und Küstenvorsprüngen, während er immer wieder rief, er sei schuld an der gewaltigen Katastrophe, seine Freunde kaum daran hindern, ebenfalls in diesem Meer den Tod zu suchen. (3) Als die Flut endlich zurückging und günstiger Wind aufkam, kehrten schwerbeschädigte Schiffe mit wenigen Rudern oder aufgespannten Tüchern, manche auch im Schlepptau von stärkeren zurück; diese ließ er schnellstens ausbessern und schickte sie mit dem Auftrag los, die Inseln abzusuchen. Durch diese Maßnahme wurden sehr viele Leute aufgelesen. Viele kauften die Angrivarier, die sich erst kurz zuvor unterworfen hatten, von den Stämmen im Landesinneren los und gaben sie zurück. Einige waren nach Britannien abgetrieben worden und wurden von den Kleinkönigen zurückgeschickt. (4) Wer aus weiter Ferne zurückgekommen war, erzählte Wundergeschichten: von der Gewalt der Wirbelstürme und von Vögeln, von denen man noch nie gehört hatte, von Meerungeheuern und

124

Liber secundus

monstra maris, ambiguas hominum et beluarum formas, visa sive ex metu credita. 25 (1) Sed fama classis amissae ut Germanos ad spem belli, ita Caesarem ad coercendum erexit. C. Silio cum triginta peditum, tribus equitum milibus ire in Chattos imperat; ipse maioribus copiis Marsos inrumpit, quorum dux Mallovendus nuper in deditionem acceptus propinquo luco defossam Varianae legionis aquilam modico praesidio servari indicat. (2) missa exemplo manus quae hostem a fronte eliceret, alii qui terga circumgressi recluderent humum; et utrisque adfuit fortuna. eo promptior Caesar pergit introrsus, populatur exscindit non ausum congredi hostem aut, sicubi restiterat, statim pulsum nec umquam magis, ut ex captivis cognitum est, paventem. (3) quippe invictos et nullis casibus superabiles Romanos praedicabant, qui perdita classe, amissis armis, post constrata equorum virorumque corporibus litora eadem virtute, pari ferocia et velut aucti numero inrupissent. 26 (1) Reductus inde in hibna miles, laetus animi, quod adversa maris expeditione prospera pensavisset. addidit munificentiam Caesar, quantum quis damni professus erat, exsolvendo. nec dubium habebatur labare hostes petendaeque pacis consilia sumere, et si proxima aestas adiceretur, posse bellum patrari. (2) sed crebris epistulis Tiberius monebat, rediret ad decretum triumphum: satis iam eventuum, satis casuum. prospera illi et magna proelia: eorum quoque meminisset, quae venti et fluctus, nulla ducis culpa, gravia tamen et saeva damna intulissent. (3) se novies a divo Augusto in Germaniam missum plura consilio quam vi perfecisse. sic Sugambros in deditionem acceptos, sic Suebos regemque Maroboduum pace obstrictum. posse et Cheruscos ceterasque rebellium gentes, quoniam Romanae ultioni consultum est, internis discordiis relinqui. (4) precante Germanico annum efficiendis

Buch II

125

Zwittergestalten zwischen Mensch und Tier – was sie gesehen hatten oder sich in ihrer Angst nur einbildeten. 25 (1) Doch wie die Nachricht vom Verlust der Flotte die Germanen dazu verleitete, ihre Hoffnung auf den Krieg zu setzen, so veranlasste sie den Caesar zu Gegenmaßnahmen. C. Silius gab er den Befehl, mit 30 000 Mann Infanterie und 3000 Mann Kavallerie gegen die Chatten zu ziehen. Persönlich fiel er mit einer noch größeren Truppe im Gebiet der Marser ein, deren Anführer Mallovendus sich kurz zuvor unterworfen hatte und nun angab, in einem nahe gelegenen Hain sei der Adler einer Legion des Varus vergraben und werde nur von schwachen Kräften bewacht. (2) Sofort schickte man eine Abteilung los, die den Feind von vorne herauslocken sollte. Andere sollten ihn im Rücken umgehen und den Boden aufgraben, und beiden Gruppen half das Glück. Umso entschlossener drang der Caesar ins Landesinnere vor, plünderte und vernichtete den Feind, der keinen Kampf wagte oder, wenn er irgendwo Widerstand geleistet hatte, sofort geschlagen worden war und, wie man von Gefangenen erfuhr, sich niemals stärker fürchtete. (3) Denn sie erklärten, die Römer seien unbesiegbar und könnten durch keine Schicksalsschläge überwunden werden: Nach der Zerstörung ihrer Flotte, nach dem Verlust ihrer Waffen, nachdem die Leichen ihrer Pferde und Männer die Küsten bedeckten, seien sie mit derselben Tapferkeit, gleich unbändiger Lust auf den Kampf und so, als ob sich ihre Anzahl vergrößert habe, in ihr Land eingebrochen. 26 (1) Die Soldaten wurden daraufhin ins Winterlager zurückgeführt, in froher Stimmung, weil sie das Missgeschick zur See durch das erfolgreiche Unternehmen aufgewogen hätten. Der Caesar bewies zusätzlich Großzügigkeit, indem er jedem den Schaden in der Höhe ersetzte, die er angab. Auch hielt man es für unzweifelhaft, dass die Feinde wankten und sich mit Plänen trugen, um Frieden zu bitten, und dass, wenn man noch den nächsten Sommer dazunehme, der Krieg beendet werden könne. (2) Aber Tiberius forderte wiederholt in Briefen dazu auf, er solle zur Feier des bewilligten Triumphs zurückkehren: Es habe schon genug Erfolge, genug Misserfolge gegeben. Günstig verlaufene und bedeutende Schlachten habe er geschlagen; er solle aber auch daran denken, was Winde und Fluten ohne jede Schuld des Kommandeurs trotzdem an schweren und schrecklichen Verlusten gebracht hätten. (3) Er selbst sei neunmal vom vergöttlichten Augustus nach Germanien geschickt worden und habe dort mehr mit überlegtem als mit gewaltsamem Vorgehen erreicht. So hätten sich die Sugambrer unterworfen, so seien die Sueben und ihr König Maroboduus durch einen Friedensschluss verpflichtet worden. Man könne auch die Cherusker und die übrigen Stämme der Aufständischen, weil man dem römischen Rachebedürfnis ja Genüge getan habe, nun internen Auseinandersetzungen überlassen. (4) Als Germanicus um ein weiteres Jahr

126

Liber secundus

coeptis, acrius modestiam eius adgreditur alterum consulatum offerendo, cuius munia praesens obiret. simul adnectebat, si foret adhuc bellandum, relinqueret materiem Drusi fratris gloriae, qui nullo tum alio hoste non nisi apud Germanias adsequi nomen imperatorium et deportare lauream posset. (5) haud cunctatus est ultra Germanicus, quamquam fingi ea seque per invidiam parto iam decori abstrahi intellegeret. 27 (1) Sub idem tempus e familia Scriboniorum Libo Drusus defertur moliri res novas. eius negotii initium ordinem finem curatius disseram, quia tum primum reperta sunt quae per tot annos rem publicam exedere. (2) Firmius Catus senator, ex intima Libonis amicitia, iuvenem improvidum et facilem inanibus ad Chaldaeorum promissa, magorum sacra, somniorum etiam interpretes impulit, dum proavum Pompeium, amitam Scriboniam, quae quondam Augusti coniunx fuerat, consobrinos Caesares, plenam imaginibus domum ostentat hortaturque ad luxum et aes alienum, socius libidinum et necessitatum, quo pluribus indiciis inligaret. 28 (1) Ut satis testium et qui servi eadem noscerent repperit, aditum ad principem postulat, demonstrato crimine et reo per Flaccum Vescularium equitem Romanum, cui propior cum Tiberio usus erat. (2) Caesar indicium haud aspernatus congressus abnuit: posse enim eodem Flacco internuntio sermone commeare. atque interim Libonem ornat praetura, convictibus adhibet, non vultu alienatus, non verbis commotior (adeo iram condiderat); cunctaque eius dicta factaque, cum prohibere posset, scire malebat, donec Iunius quidam, temptatus ut infernas umbras carminibus eliceret, ad Fulcinium Trionem indicium detulit. (3) celebre inter accusatores Trionis ingenium erat

Buch II

127

bat, um das begonnene Unternehmen zu Ende führen zu können, packte ihn Tiberius noch eindringlicher bei seiner Loyalität, wobei er ihm einen zweiten Konsulat anbot; die damit verbundenen Aufgaben solle er persönlich in Rom übernehmen. Zugleich fügte er an, falls man immer noch Krieg führen müsse, solle er Stoff für den Ruhm seines Bruders Drusus übrig lassen; der könne, weil es keinen anderen Feind mehr gebe, nur in Germanien den Imperatortitel erwerben und den Lorbeer7 mit nach Hause bringen. (5) Nun zögerte Germanicus nicht mehr länger, obwohl er durchschaute, das sei nur vorgeschoben und er solle aus Missgunst von seinem schon erworbenen Ruhm abgeschnitten werden. 27 (1) Ungefähr zur selben Zeit wurde aus der Familie der Scribonier Libo Drusus angezeigt, er plane einen Umsturz. Auf Beginn, Verlauf und Ende dieser Angelegenheit will ich gründlicher eingehen, weil damals zum ersten Mal die Verhaltensweisen ersonnen wurden, die dann so viele Jahre hindurch den Staat zerfraßen. (2) Der Senator Firmius Catus, einer von Libos engsten Freunden, verleitete den unbekümmerten, leicht auf dummes Gerede hereinfallenden jungen Mann dazu, auf Prophezeiungen der Chaldäer, Zauberkünste der Magier und sogar auf Traumdeuter zu hören, wobei er ihn auf seinen Urgroßvater Pompeius, seine Tante Scribonia, die einmal mit Augustus verheiratet gewesen war, die Caesaren als seine Vettern und sein mit Ahnenbildern volles Haus hinwies und ihn zu Verschwendung und Schuldenmachen veranlasste. Dabei war er sein Partner bei seinen Orgien und finanziellen Verbindlichkeiten, um ihn in mehr belastendes Material verstricken zu können. 28 (1) Sobald er genügend Zeugen und Sklaven, die die gleichen Sachverhalte bestätigen konnten, gefunden hatte, bat er dringend um eine Audienz beim Princeps; zuvor hatte er auf die Beschuldigung und den Beschuldigten durch den römischen Ritter Flaccus Vescularius hinweisen lassen, der mit Tiberius persönlich näher bekannt war. (2) Der Caesar wies die Anklage nicht zurück, wünschte aber kein Zusammentreffen; man könne ja genauso gut mit Flaccus als Vermittler im Gespräch bleiben. Und in der Zwischenzeit zeichnete er Libo mit der Prätur aus, lud ihn zu seinen Tischgesellschaften ein, nicht mit abweisender Miene, ohne eine besondere Gefühlsregung in seinen Worten – derart gekonnt hatte er seinen Zorn schon verborgen. Über all seine Äußerungen und Handlungen wollte er lieber Bescheid wissen, obwohl er sie verhindern konnte, bis ein gewisser Junius dazu angegangen wurde, die Schatten aus der Unterwelt durch Beschwörungen heraufzulocken, und davon Fulcinius Trio Mitteilung machte. (3) Berüchtigt unter den Anklägern war das Talent des Trio,

128

Liber secundus

avidumque famae malae. statim corripit reum, adit consules, cognitionem senatus poscit. et vocantur patres, addito consultandum super re magna et atroci. 29 (1) Libo interim veste mutata cum primoribus feminis circumire domos, orare adfines, vocem adversum pericula poscere, abnuentibus cunctis, cum diversa praetenderent, eadem formidine. (2) die senatus metu et aegritudine fessus, sive, ut tradidere quidam, simulato morbo, lectica delatus ad fores curiae innisusque fratri et manus ac supplices voces ad Tiberium tendens immoto eius vultu excipitur. mox libellos et auctores recitat Caesar, ita moderans, ne lenire neve asperare crimina videretur. 30 (1) Accesserant praeter Trionem et Catum accusatores Fonteius Agrippa et C. Vibius, certabantque cui ius perorandi in reum daretur, donec Vibius, quia nec ipsi inter se concederent et Libo sine patrono introisset, singillatim se crimina obiecturum professus, protulit libellos vaecordes adeo, ut consultaverit Libo, an habiturus foret opes, quis viam Appiam Brundisium usque pecunia operiret. (2) inerant et alia huiusce modi stolida vana, si mollius acciperes, miseranda; uni tamen libello manu Libonis nominibus Caesarum aut senatorum additas atroces vel occultas notas accusator arguebat. (3) negante reo adgnoscentes servos per tormenta interrogari placuit; et quia vetere senatus consulto quaestio in caput domini prohibebatur, callidus et novi iuris repertor Tiberius mancipari singulos actori publico iubet, scilicet ut in Libonem ex servis salvo senatus consulto quaereretur. (4) ob quae posterum diem reus petivit domumque digressus extremas preces P. Quirinio propinquo suo ad principem mandavit.

Buch II

129

und er war geradezu auf einen schlechten Ruf aus. Sofort nahm er sich den Angeklagten vor, wandte sich an die Konsuln und forderte eine Untersuchung durch den Senat. Und so wurden die Väter einberufen mit dem Zusatz, beraten werde über eine wichtige, schreckliche Angelegenheit. 29 (1) Libo hatte unterdessen sein Gewand gewechselt8 und machte zusammen mit Damen der führenden Familien Besuche in den Häusern, bat seine Verwandten und forderte sie auf, sich gegen seine bedrohliche Lage zu Wort zu melden; doch alle lehnten ab, obwohl sie verschiedene Vorwände gebrauchten, aus derselben Befürchtung heraus. (2) Am Tag der Senatssitzung ließ er sich, vor Angst und Kummer am Ende mit seinen Kräften, oder, wie einige Autoren berichten, unter Vorspiegelung einer Krankheit in einer Sänfte bis zum Eingang der Kurie tragen. Gestützt auf seinen Bruder, streckte er seine Hände unter flehentlichen Bitten Tiberius entgegen und wurde von diesem mit regungsloser Miene empfangen. Dann las der Caesar die Anklageschriften und die Namen ihrer Verfasser vor, und zwar in einem derart zurückhaltenden Ton, dass nicht der Eindruck entstand, er schwäche die Vorwürfe ab oder verschärfe sie. 30 (1) Außer Trio und Catus waren zu den Anklägern auch noch Fonteius Agrippa und C. Vibius gestoßen, und sie stritten darum, wem das Recht eingeräumt werden solle, das Schlussplädoyer gegen den Angeklagten zu halten. Da erklärte Vibius, weil sie sich einerseits untereinander nicht einigen könnten, andererseits Libo ohne Verteidiger gekommen sei, werde er die Anklage Punkt für Punkt vortragen. Dann legte er ein Schriftstück mit ganz unsinnigen Vorwürfen vor: Libo habe nachgefragt, ob er über die Mittel verfügen werde, die Via Appia bis nach Brundisium mit Geld zu pflastern. (2) Es enthielt auch noch andere derartige belanglose Albernheiten, wenn man es milder betrachten will, lauter erbärmliches Zeug. In einem einzigen Schriftstück jedoch waren den Ausführungen des Anklägers zufolge in Libos Handschrift neben die Namen von Caesaren oder Senatoren Unheil verkündende oder geheime Zeichen gesetzt worden. (3) Da der Angeklagte dies bestritt, entschied man sich dafür, die Sklaven, die sie wiedererkannten, unter der Folter zu vernehmen. Und weil durch einen alten Senatsbeschluss ein peinliches Verhör gegen einen auf Leben und Tod angeklagten Herrn untersagt war, befahl als schlauer Erfinder neuen Rechts Tiberius, sie einzeln dem Staatsagenten9 zu verkaufen, natürlich um die Untersuchung gegen Libo mit den Sklaven unter Beibehaltung des Senatsbeschlusses weiterführen zu können. (4) Deshalb bat der Angeklagte um einen Tag Aufschub, ging nach Hause und vertraute seinem Verwandten P. Quirinius seine letzten Bitten an den Princeps an.

130

Liber secundus

31 (1) Responsum est ut senatum rogaret. cingebatur interim milite domus; strepebant etiam in vestibulo, ut audiri, ut aspici possent, cum Libo, ipsis quas in novissimam voluptatem adhibuerat epulis excruciatus, vocare percussorem, prensare servorum dextras, inserere gladium. (2) atque illis, dum trepidant, dum refugiunt, evertentibus adpositum mensa lumen, feralibus iam sibi tenebris duos ictus in viscera derexit. ad gemitum conlabentis adcurrere liberti, et caede visa miles abstitit. (3) accusatio tamen apud patres adseveratione eadem peracta, iuravitque Tiberius petiturum se vitam quamvis nocenti, nisi voluntariam mortem properavisset. 32 (1) Bona inter accusatores dividuntur, et praeturae extra ordinem datae iis qui senatorii ordinis erant. tunc Cotta Messalinus, ne imago Libonis exsequias posterorum comitaretur, censuit, Cn. Lentulus, ne quis Scribonius cognomentum Drusi adsumeret. (2) supplicationum dies Pomponii Flacci sententia constituti; [ut] dona Iovi Marti Concordiae, utque iduum Septembrium dies, quo se Libo interfecerat, dies festus haberetur, L. P*** et Gallus Asinius et Papius Mutilus et L. Apronius decrevere: quorum auctoritates adulationesque rettuli, ut sciretur vetus id in re publica malum. (3) facta et de mathematicis magisque Italia pellendis senatus consulta; quorum e numero L. Pituanius saxo deiectus est, in P. Marcium consules extra portam Esquilinam, cum classicum canere iussissent, more prisco advertere. 33 (1) Proximo senatus die multa in luxum civitatis dicta a Q. Haterio consulari, Octavio Frontone praetura functo; decretumque ne vasa auro solida ministrandis cibis fierent, ne vestis Serica viros foedaret. excessit Fronto ac postulavit modum argento supellectili familiae: erat quippe adhuc frequens senatoribus, si quid e re publica crederent, loco sententiae promere. (2) contra Gallus Asinius disseruit: auctu imperii adolevisse etiam privatas opes, idque non novum, sed e vetustissimis moribus: aliam apud Fabricios, aliam apud Scipiones pecuniam;

Buch II

131

31 (1) Die Antwort lautete, er solle sich an den Senat wenden. In der Zwischenzeit wurde sein Haus von Soldaten umstellt. Sie lärmten sogar in der Vorhalle, sodass man sie hören und sehen konnte. Da nun rief Libo, weil ihm ausgerechnet die Mahlzeit, die er sich als letzten Genuss hatte auftragen lassen, zur Qual gemacht wurde, nach einem Henker, packte immer wieder seine Sklaven bei der Hand und drückte das Schwert hinein. (2) Und als sie, entsetzt durcheinanderlaufend, flüchteten und dabei das neben dem Tisch stehende Licht umstießen, brachte er sich in der Finsternis – für ihn schon die des Todes – zwei Stiche in den Unterleib bei. Auf das Stöhnen des Zusammenbrechenden hin eilten seine Freigelassenen hinzu, und als sie die Blutlache sahen, zogen die Soldaten ab. (3) Der Prozess wurde vor den Vätern dennoch mit dem gleichen Ernst zu Ende geführt, und Tiberius schwor, er hätte ungeachtet seiner Schuld um das Leben des Mannes gebeten, wenn dieser nicht voreilig den Freitod gewählt hätte. 32 (1) Sein Vermögen wurde unter die Ankläger aufgeteilt, und den Mitgliedern des Senatorenstands unter ihnen verlieh man außer der Reihe die Prätur. Dann beantragten Cotta Messalinus, das Bildnis Libos solle bei den Bestattungsfeierlichkeiten seiner Nachkommen nicht mitgeführt werden, und Cn. Lentulus, kein Scribonier solle mehr den Beinamen Drusus annehmen dürfen. (2) Tage für Dankfeste wurden auf Antrag des Pomponius Flaccus beschlossen. Geschenke für Jupiter, Mars und Concordia und die Erklärung der Iden des September, an denen sich Libo umgebracht hatte, zum Festtag schlugen L. P[?]10, Gallus Asinius, Papius Mutilus und L. Apronius vor. Deren kriecherischen Auftritt habe ich erwähnt, damit man sich dessen bewusst wird, dass es sich dabei um ein altes Übel in unserem Staat handelt. (3) Auch über die Vertreibung der Astrologen und Magier aus Italien kam es zu Senatsbeschlüssen; aus ihren Reihen wurde L. Pituanius vom Tarpejischen Felsen hinabgestürzt, mit P. Marcius verfuhren die Konsuln vor dem Esquilintor dem alten Herkommen gemäß, nachdem sie das Signal hatten blasen lassen.11 33 (1) Bei der nächsten Senatssitzung wurde vieles gegen den Luxus in der Bürgerschaft gesagt vom Konsular Q. Haterius und von Octavius Fronto, der die Prätur bekleidet hatte, und man beschloss, kein Geschirr aus massivem Gold dürfe zum Auftragen der Speisen mehr hergestellt werden und Seidengewänder dürften Männer nicht verunstalten. Fronto ging noch weiter und forderte für Silber, Hausrat und Dienerschaft eine Obergrenze; denn die Senatoren verhielten sich häufig noch so, dass sie, falls sie der Meinung waren, etwas liege im Interesse des Staates, es offen ansprachen, sobald sie an die Reihe kamen. (2) Die gegenteilige Auffassung vertrat Gallus Asinius: Mit der Größe des Reichs sei auch der private Reichtum gewachsen, und das sei kein neues Phänomen, sondern entspreche den ältesten Verhaltensweisen: Einen anderen Stellenwert habe das Geld bei den Fabriciern gehabt als bei den Scipionen,12

132

Liber secundus

et cuncta ad rem publicam referri, qua tenui angustas civium domos, postquam eo magnificentiae venerit, gliscere singulos. (3) neque in familia et argento quaeque ad usum parentur nimium aliquid aut modicum nisi ex fortuna possidentis. distinctos senatus et equitum census, non quia diversi natura, sed, ut locis ordinibus dignationibus antistent, ta iis quae ad requiem animi aut salubritatem corporum parentur, nisi forte clarissimo cuique plures curas, maiora pericula subeunda, delenimentis curarum et periculorum carendum esse. (4) facilem adsensum Gallo sub nominibus honestis confessio vitiorum et similitudo audientium dedit. adiecerat et Tiberius non id tempus censurae nec, si quid in moribus labaret, defuturum corrigendi auctorem. 34 (1) Inter quae L. Piso ambitum fori, corrupta iudicia, saevitiam oratorum accusationes minitantium increpans abire se et cedere urbe, victurum in aliquo abdito et longinquo rure testabatur; simul curiam relinquebat. commotus est Tiberius, et quamquam mitibus verbis Pisonem permulsisset, propinquos quoque eius impulit, ut abeuntem auctoritate vel precibus tenerent. (2) haud minus liberi doloris documentum idem Piso mox dedit vocata in ius Urgulania, quam supra leges amicitia Augustae extulerat. nec aut Urgulania obtemperavit, in domum Caesaris spreto Pisone vecta, aut ille abscessit, quamquam Augusta se violari et imminui quereretur. (3) Tiberius hactenus indulgere matri civile ratus, ut se iturum ad praetoris tribunal, adfuturum Urgulaniae diceret, processit Palatio, procul sequi iussis militibus. spectabatur occursante populo compositus ore et sermonibus variis tempus atque iter ducens, donec propinquis Pisonem frustra coercentibus deferri Augusta pecuniam quae petebatur iuberet.

Buch II

133

und all diese Entwicklungen seien im Hinblick auf den Staat zu bewerten; als der noch arm war, seien auch die Haushalte der Bürger ärmlich gewesen, nachdem er sich nun aber derart großartig entwickelt habe, nehme auch der Wohlstand der Einzelpersonen zu. (3) Auch bei Dienerschaft, Silber und allen Gebrauchsgegenständen könne man von einem Zuviel oder dem richtigen Maß nur im Verhältnis zum Hab und Gut des Besitzers sprechen. Das Vermögen, das Senatsmitglieder und Ritter nachweisen müssten, hebe sich ab, nicht weil sie ihrem Wesen nach verschieden seien, sondern genauso, wie sie bei Plätzen, Stand und Rang13 den Vorzug verdienten, sei es auch mit den Mitteln, die zu ihrer geistigen Erholung oder körperlichen Gesundheit erworben würden; andernfalls müssten ja gerade die hervorragendsten Männer mehr Zuständigkeiten und größere Risiken auf sich nehmen, aber auf Erleichterungen für die Zuständigkeiten und Risiken verzichten. (4) Bereitwillige Zustimmung brachten Gallus dieses mit ehrenwerten Begriffen durchsetzte Bekenntnis seiner Charakterschwächen und die ähnliche Einstellung seiner Zuhörer. Auch Tiberius hatte ergänzt, jetzt sei nicht der richtige Zeitpunkt für eine Überprüfung; falls aber die Sitten in irgendeiner Weise verfallen sollten, werde es nicht an einem Mann fehlen, der das wieder in Ordnung bringe. 34 (1) Bei diesem Anlass schimpfte L. Piso laut über die Wahlmachenschaften auf dem Forum, die bestechlichen Gerichte und die Rücksichtslosigkeit der mit Klagen drohenden Redner, versicherte, er gehe fort und ziehe sich aus der Hauptstadt zurück, um in einer abgelegenen und weit entfernten ländlichen Gegend sein Leben zu verbringen, und wollte schon die Kurie verlassen. Darüber war Tiberius sehr bestürzt, und obwohl er mit freundlichen Worten besänftigend auf Piso eingeredet hatte, drang er auch in seine Verwandten, ihn von der Abreise durch ihren Einfluss oder ihre Bitten abzuhalten. (2) Den Nachweis einer nicht weniger freimütig gezeigten Verärgerung lieferte derselbe Piso kurz darauf, als er Urgulania vor Gericht forderte, die sich über Gesetze wegen ihrer Freundschaft mit der Augusta (Livia) erhaben gefühlt hatte. Doch weder folgte Urgulania der Vorladung, sondern ließ sich unter Missachtung Pisos zum Haus des Caesars fahren, noch zog dieser seine Klage zurück, obwohl sich die Augusta darüber beklagte, sie werde beleidigt und herabgesetzt. (3) Tiberius hielt es für vereinbar mit seiner bürgerlichen Überzeugung, seiner Mutter so weit entgegenzukommen, dass er sagte, er werde vor das Tribunal des Prätors treten und Urgulania beistehen. Dann verließ er das Palatium, nachdem er den Soldaten befohlen hatte, ihm erst in einigem Abstand zu folgen. Er wurde von dem zusammenlaufenden Volk gesehen, wie er, mit ruhiger Miene und in verschiedene Gespräche vertieft, die Zeit für den Weg in die Länge zog, bis schließlich nach einem vergeblichen Versuch von Verwandten, Piso zum Einlenken zu bewegen, die Augusta die verlangte Summe hinterlegen ließ.

134

Liber secundus

(4) isque finis rei, ex qua neque Piso inglorius et Caesar maiore fama fuit. ceterum Urgulaniae potentia adeo nimia civitati erat, ut testis in causa quadam, quae apud senatum tractabatur, venire dedignaretur: missus est praetor, qui domi interrogaret, cum virgines Vestales in foro et iudicio audiri, quotiens testimonium dicerent, vetus mos fuerit. 35 (1) Res eo anno prolatas haud referrem, ni pretium foret Cn. Pisonis et Asinii Galli super eo negotio diversas sententias noscere. Piso, quamquam afuturum se dixerat Caesar, ob id magis agendas censebat, ut absente principe senatum et equites posse sua munia sustinere decorum rei publicae foret. (2) Gallus, quia speciem libertatis Piso praeceperat, nihil satis inlustre aut ex dignitate populi Romani nisi coram et sub oculis Caesaris, eoque conventum Italiae et adfluentes provincias praesentiae eius servanda dicebat. audiente haec Tiberio ac silente magnis utrimque contentionibus acta, sed res dilatae. 36 (1) Et certamen Gallo adversus Caesarem exortum est. nam censuit in quinquennium magistratuum comitia habenda, utque legionum legati, qui ante praeturam ea militia fungebantur, iam tum praetores destinarentur, princeps duodecim candidatos in annos singulos nominaret. hau dubium erat eam sententiam altius penetrare et arcana imperii temptari. (2) Tiberius tamen, quasi auretur potestas eius, disseruit: grave moderationi suae tot eligere, tot differre. vix per singulos annos offensiones vitari, quamvis repulsam propinqua spes soletur: quantum odii fore ab iis, qui ultra quinquennium proiciantur. (3) unde prospici posse quae cuique tam longo temporis spatio mens domus fortuna? superbire homines etiam annua designatione: quid si honorem per quinquennium agitent? Quinquiplicari prorsus magistratus, subverti leges, quae sua spatia exercendae candidatorum industriae quaerendisque

Buch II

135

(4) Damit war der Fall erledigt, aus dem einerseits Piso nicht ohne Ruhm, andererseits der Caesar mit noch höherem Ansehen hervorging. Abgesehen davon war die Stellung Urgulanias in der Bürgerschaft derart überragend, dass sie es für unter ihrer Würde hielt, als Zeugin in einem Verfahren vor dem Senat zu erscheinen. Man schickte dann einen Prätor, der sie zu Hause vernehmen sollte, wo es doch alte Sitte war, sogar die Vestalischen Jungfrauen auf dem Forum und vor Gericht zu verhören, sooft sie Zeugnis ablegen mussten. 35 (1) Von in diesem Jahr vertagten Angelegenheiten würde ich nicht berichten, wenn es sich nicht lohnte, die gegensätzlichen Auffassungen des Cn. Piso und des Asinius Gallus dazu kennenzulernen. Obwohl der Caesar gesagt hatte, er werde nicht da sein, sprach sich Piso dafür aus, sie gerade deswegen umso eher zu behandeln, damit es dem Staat zur Ehre gereiche, wenn Senat und Ritter in Abwesenheit des Princeps ihre eigenen Aufgaben erfüllen könnten. (2) Gallus dagegen sagte, weil ihm Piso den Anschein der freien Meinungsäußerung schon vorweggenommen hatte, nur eine Sitzung in Anwesenheit und unter den Augen des Caesars sei glanzvoll genug oder entspreche der Würde des römischen Volkes, und deshalb müsse man die Versammlung der Repräsentanten Italiens und der zusammenströmenden Vertreter der Provinzen seiner Gegenwart vorbehalten. Tiberius hörte dem schweigend zu, und man stritt sich beiderseits sehr heftig, aber die Angelegenheiten wurden vertagt. 36 (1) Es kam auch zu einer Auseinandersetzung zwischen Gallus und dem Caesar. Denn er stellte den Antrag, die Wahlen der Amtsträger für einen Zeitraum von fünf Jahren durchzuführen, ferner die Legionslegaten, die vor der Prätur diese militärische Aufgabe übernahmen, bereits dann zu Prätoren zu bestimmen, und der Princeps solle für jedes Jahr zwölf Kandidaten ernennen. Zweifellos reichte dieser Antrag weiter und stellte die geheimen Grundlagen der Herrschaft infrage. (2) Tiberius äußerte sich dennoch so dazu, als ob seine Machtfülle erweitert werden solle: Schwer falle es ihm in seiner Bescheidenheit, so viele Personen auszuwählen, so viele hinzuhalten. Kaum könnten Kränkungen bei jährlichen Wahlen vermieden werden, obwohl sich der Abgelehnte mit der Aussicht trösten könne, demnächst zum Zug zu kommen. Wie viel Hass sei aber von denen zu erwarten, die über fünf Jahre zurückgestellt würden! (3) Wie könne man voraussehen, wie sich in einem so langen Zeitraum geistige Verfassung, Familienverhältnisse und Vermögen der Einzelnen entwickelten? Anmaßend würden die Menschen sogar schon bei einer Ernennung ein Jahr zuvor: Was sei erst geboten, wenn sie mit ihrem Ehrenamt fünf Jahre lang angeben könnten? Verfünffacht würden geradezu die Stellen für die Amtsträger und die Gesetze untergraben, die bestimmte Zeiträume festlegten, in denen die Kandidaten ihren Einsatz zeigen und sich um die Ehrenämter bemühen oder sie

136

Liber secundus

aut potiundis honoribus statuerint. (4) favorabili in speciem oratione vim imperii tenuit. 37 (1) Censusque quorundam senatorum iuvit. quo magis mirum fuit, quod preces Marci Hortali, nobilis iuvenis, in paupertate manifesta superbius accepisset. nepos erat oratoris Hortensii, inlectus a divo Augusto liberalitate decies sestertii ducere uxorem, suscipere liberos, ne clarissima familia exstingueretur. (2) igitur quattuor filiis ante limen curiae adstantibus, loco sententiae, cum in Palatio senatus haberetur, modo Hortensii inter oratores sitam imaginem, modo Augusti intuens, ad hunc modum coepit: ‘patres conscripti, hos, quorum numerum et pueritiam videtis, non sponte sustuli, sed quia princeps monebat; simul maiores mei meruerant ut posteros haberent. (3) nam ego, qui non pecuniam, non studia populi neque eloquentiam, gentile domus nostrae bonum, varietate temporum accipere vel parare potuissem, satis habebam, si tenues res meae nec mihi pudori nec cuiquam oneri forent. iussus ab imperatore uxorem duxi. en stirps et progenies tot consulum, tot dictatorum. (4) nec ad invidiam ista, sed conciliandae misericordiae refero. adsequentur florente te, Caesar, quos dederis honores: interim Q. Hortensii pronepotes, divi Augusti alumnos ab inopia defende.’ 38 (1) Inclinatio senatus incitamentum Tiberio fuit quo promptius adversaretur, his ferme verbis usus: ‘si quantum pauperum est venire huc et liberis suis petere pecunias coeperint, singuli numquam exsatiabuntur, res publica deficiet. nec sane ideo a maioribus concessum est egredi aliquando relationem et quod in commune conducat loco sententiae proferre, ut privata negotia et res familiares nostras hic augeamus cum invidia senatus et principum, sive indulserint largitionem sive abnuerint. (2) non enim preces sunt istud, sed efflagitatio, intempestiva quidem et improvisa, cum aliis de rebus convenerint patres, consurgere et

Buch II

137

auch erlangen könnten. (4) Mit dieser Rede, die seinen guten Willen demonstrieren sollte, behielt er die Regierungsgewalt fest in Händen. 37 (1) Manchen Senatoren half er, die finanziellen Voraussetzungen zu erfüllen. Umso erstaunlicher war es, dass er die Bitten des Marcius Hortalus, eines jungen Mannes aus gutem Hause, trotz seiner mit Händen zu greifenden Armut recht überheblich entgegengenommen hatte. Er war der Enkel des Redners Hortensius und hatte sich vom vergöttlichten Augustus durch eine Schenkung in Höhe von einer Million Sesterze dazu verleiten lassen, eine Frau zu nehmen und Kinder großzuziehen, damit die hochberühmte Familie nicht aussterbe. (2) Während seine vier Söhne vor der Schwelle der Kurie standen, begann er also, als er zur Stimmabgabe an der Reihe war – die Senatssitzung wurde im Palatium abgehalten –, wobei er bald auf das unter den Rednern aufgestellte Bild des Hortensius, bald auf das des Augustus blickte,14 folgendermaßen zu sprechen: „Versammelte Väter, die Kinder da, deren Zahl und Jugend ihr seht, habe ich nicht aus eigenem Entschluss großgezogen, sondern weil mich der Princeps dazu aufforderte; zudem hatten es meine Vorfahren verdient, Nachkommen zu haben. (3) Denn ich, der kein Geld, keine Beliebtheit beim Volk und keine Beredsamkeit, das angestammte Kapital unseres Hauses, im Auf und Ab der Zeiten hatte ererben15 oder selbst gewinnen können, hätte es als ausreichend angesehen, wenn mein dürftiges Vermögen mir keine Schande gemacht und ich damit keinem anderen zur Last gefallen wäre. Auf Weisung meines Oberbefehlshabers habe ich eine Frau genommen. Schaut nur hin, das ist der Stamm und die Nachkommenschaft so vieler Konsuln, so vieler Diktatoren! (4) Das sage ich nicht, um Neid zu erregen, sondern um Mitleid zu finden. Sie werden unter deiner blühenden Regierung, Caesar, die Ehrenämter bekommen, die du verteilst. In der Zwischenzeit verteidige die Urenkel des Q. Hortensius, die Ziehsöhne des vergöttlichten Augustus gegen die Not!“ 38 (1) Die verständnisvolle Haltung des Senats war für Tiberius ein Ansporn, sich umso entschiedener dagegen auszusprechen, indem er sich etwa so äußerte: „Wenn alles, was arm ist, anfängt, hierher zu kommen und für seine Kinder Geld zu verlangen, dann werden die einzelnen Personen nie genug haben, der Staat aber wird bankrottgehen. Ganz gewiss wurde von unseren Vorfahren nicht deshalb die Möglichkeit eingeräumt, von der Tagesordnung hin und wieder abzuweichen und eine das Gemeinwohl betreffende Frage bei der Stimmabgabe vorzubringen, dass wir unsere privaten Geschäfte und unser Vermögen hier vermehren, wobei es zu gehässigen Vorwürfen gegen Senat und Principes kommt, gleichgültig ob sie nun eine Schenkung bewilligen oder ablehnen. (2) Keine Bitten sind das ja, sondern das ist Erpressung, dazu noch eine unangebrachte und völlig überraschende, wenn die Väter zur Beratung anderer Fragen zusammengekommen sind, aufzustehen und mit

138

Liber secundus

numero atque aetate liberum suorum urgere modestiam senatus, eandem vim in me transmere ac velut perfringere aerarium, quod si ambitione exhauserimus, per scelera supplendum erit. (3) dedit tibi, Hortale, divus Augustus pecuniam, sed non compellatus nec ea lege ut semper daretur. languescet alioqui industria, intendetur socordia, si nullus ex se metus aut spes, et securi omnes aliena subsidia exspectabunt, sibi ignavi, nobis graves.’ (4) haec atque talia, quamquam cum adsensu audita ab iis, quibus omnia principum, honesta atque inhonesta, laudare mos est, plures per silentium aut occultum murmur excepere. sensitque Tiberius; et cum paulum reticuisset, Hortalo se respondisse ait: ceterum, si patribus videretur, daturum liberis eius ducena sestertia singulis, qui sexus virilis essent. (5) egere alii grates: siluit Hortalus, pavore an avitae nobilitatis etiam inter angustias fortunae retinens. neque miseratus est posthac Tiberius, quamvis domus Hortensii pudendam ad inopiam delaberetur. 39 (1) Eodem anno mancipii unius audacia, ni mature subventum foret, discordiis armisque civilibus rem publicam perculisset. Postumi Agrippae servus, nomine Clemens, comperto fine Augusti pergere in insulam Planasiam et fraude aut vi raptum Agrippam ferre ad exercitus Germanicos non servili animo concepit. (2) ausa eius impedivit tarditas onerariae navis; atque interim parata caede ad maiora et magis praecipitia conversus furatur cineres vectusque Cosam, Etruriae promunturium, ignotis locis sese abdit, donec crinem barbamque promitteret: nam aetate et forma haud dissimili in dominum erat. (3) tum per idoneos et secreti eius socios crebrescit vivere Agrippam, occultis primum sermonibus, ut vetita solent, mox vago rumore apud imperitissimi cuiusque promptas aures aut rursum apud turbidos eoque nova cupientes. (4) atque ipse adire municipia obscuro diei, neque propalam aspici neque

Buch II

139

Anzahl und Alter seiner Kinder das Anstandsgefühl des Senats unter Druck zu setzen, denselben Zwang auf mich zu übertragen und sozusagen in den Staatsschatz einzubrechen, den man, wenn wir ihn durch persönliche Rücksichtnahme erschöpfen, wieder durch widerrechtliche Handlungen auffüllen muss. (3) Es hat dir, Hortalus, der vergöttlichte Augustus Geld gegeben, aber nicht, weil er dazu genötigt wurde, und auch nicht mit der Vorgabe, es ständig zu zahlen. Die Eigeninitiative erlahmt andernfalls, Gleichgültigkeit macht sich breit, wenn keine Furcht oder Hoffnung aus einem selbst kommt, und unbekümmert werden alle auf fremde Unterstützung warten, ohne für sich selbst einen Finger zu rühren, nur uns zur Last fallend.“ (4) Ausführungen wie diese wurden zwar von der Gruppe, die gewöhnlich alle Äußerungen der Principes, ehrenwerte und unehrenwerte, lobte, beifällig angehört, die Mehrheit aber nahm sie schweigend oder mit unterdrücktem Murren zur Kenntnis. Das merkte Tiberius; und nachdem er eine Weile geschwiegen hatte, sagte er, er habe Hortalus seine Auffassung mitgeteilt. Er werde aber, falls die Väter das für richtig hielten, jedem seiner Kinder männlichen Geschlechts 200 000 Sesterze anweisen lassen. (5) Einige Mitglieder sprachen ihm dafür ihren Dank aus; Hortalus aber blieb stumm, aus Angst oder weil er seine angeborene Vornehmheit sogar in der angespannten wirtschaftlichen Lage bewahrte. Aber auch später zeigte Tiberius kein Mitgefühl, obwohl das Haus des Hortensius in eine beschämende Not abglitt. 39 (1) Im gleichen Jahr hätte die Verwegenheit eines einzigen Sklaven, wenn man nicht rechtzeitig dagegen eingeschritten wäre, den Staat durch Uneinigkeit und Bürgerkrieg in seinen Grundfesten erschüttert. Ein Sklave des Postumus Agrippa namens Clemens fasste, als er vom Ende des Augustus erfuhr, den nicht von einer Sklavenseele zeugenden Plan, zur Insel Planasia zu fahren, mit List oder Gewalt Agrippa zu entführen und zu den Heeren in Germanien zu bringen. (2) Sein waghalsiges Unternehmen verhinderte die Langsamkeit eines Lastschiffs. Und nachdem zwischenzeitlich der Mordauftrag ausgeführt worden war, wandte er sich einem noch bedeutenderen und gefährlicheren Vorhaben zu, stahl die Asche, fuhr nach Cosa, einem Vorgebirge in Etrurien, und versteckte sich in einer abgelegenen Gegend, bis ihm Haupt- und Barthaar lang gewachsen waren; denn von Alter und Körperbau her war er seinem Herrn nicht unähnlich. (3) Dann ließ er durch fähige und in sein Geheimnis eingeweihte Komplizen verbreiten, Agrippa sei noch am Leben; zuerst redete man nur verstohlen darüber, wie das bei verbotenen Inhalten gewöhnlich der Fall ist, dann verbreitete sich ein unbestimmtes Gerücht, das gerade bei ganz unbedarften Leuten oder umgekehrt bei unruhigen Elementen, die deshalb einen Umsturz herbeisehnten, bereitwillig Gehör fand. (4) Und selbst begab er sich in die Landstädte nur bei Dunkelheit, ließ sich nirgends öffentlich und

140

Liber secundus

diutius isdem locis, sed quia veritas visu et mora, falsa festinatione et incertis valescunt, relinquebat famam aut praeveniebat. 40 (1) Vulgabatur interim per Italiam servatum munere deum Agrippam, credebatur Romae; iamque Ostiam invectum multitudo ingens, iam in urbe clandestini coetus celebrabant, cum Tiberium anceps cura distrahere, vine militum servum suum coerceret an inanem credulitatem tempore ipso vanescere sineret: modo nihil spernendum, modo non omnia metuenda ambiguus pudoris ac metus reputabat. (2) postremo dat negotium Sallustio Crispo. ille e clientibus duos (quidam milites fuisse tradunt) deligit atque hortatur, simulata conscientia adeant, offerant pecuniam, fidem atque pericula polliceantur. exsequuntur ut iussum erat. dein speculati noctem incustoditam, accepta idonea manu, vinctum clauso ore in Palatium traxere. (3) percontanti Tiberio, quo modo Agrippa factus esset, respondisse fertur ‘quo modo tu Caesar’. ut ederet socios subigi non potuit. nec Tiberius poenam eius palam ausus, in secreta Palatii parte interfici iussit corpusque clam auferri. et quamquam multi e domo principis equitesque ac senatores sustentasse opibus, iuvisse consiliis dicerentur, haud quaesitum. 41 (1) Fine anni arcus propter aedem Saturni ob recepta signa cum Varo amissa ductu Germanici, auspiciis Tiberii, et aedes Fortis Fortunae Tiberim iuxta in hortis, quos Caesar dictator populo Romano legaverat, sacrarium genti Iuliae effigiesque divo Augusto apud Bovillas dicantur. (2) C. CAELIO L. POMPONIO consulibus Germanicus Caesar a. d. VII. Kal. Iunias triumphavit de Cheruscis Cattisque et Angrivariis quaeque aliae nationes usque ad Albim colunt. vecta spolia, captivi, simulacra montium fluminum proeliorum; bellumque, quia conficere prohibitus erat, pro confecto accipiebatur. (3) augebat intuentium visus eximia ipsius species currusque quinque liberis

Buch II

141

nicht längere Zeit an einem Ort sehen, sondern weil sich die Wahrheit bei Augenschein und Dauer, die Unwahrheit bei Eile und Ungewissheit durchsetzt, ließ er das Gerücht hinter sich oder kam ihm zuvor. 40 (1) Inzwischen verbreitete sich die Nachricht überall in Italien, durch die Gnade der Götter sei Agrippa gerettet worden, und fand auch in Rom Glauben. Schon bereitete ihm nach seiner Landung in Ostia eine riesige Menschenmenge einen feierlichen Empfang, schon kam es in der Hauptstadt zu geheimen Versammlungen, während Tiberius die zweischneidige Sorge beschäftigte, ob er mit militärischer Macht seinen eigenen Sklaven in Schranken weisen oder die unbegründete Leichtgläubigkeit sich durch Zeitablauf verflüchtigen lassen solle. Bald dachte er, nichts auf die leichte Schulter nehmen zu dürfen, bald nicht alle möglichen Konsequenzen fürchten zu müssen, und schwankte so zwischen Scham und Angst hin und her. (2) Schließlich betraute er Sallustius Crispus mit der Angelegenheit. Der suchte von seinen Klienten zwei aus – einige Autoren überliefern, es habe sich um Soldaten gehandelt – und wies sie an, Komplizenschaft vorzutäuschen, sich auf diese Weise an ihn heranzumachen, Geld anzubieten und Treue in gefährlichen Situationen zu versprechen. Sie verfuhren, wie befohlen. Dann warteten sie eine Nacht ab, in der er ohne Bewachung war, übernahmen eine zuverlässige Einheit und schleppten ihn gefesselt und geknebelt in das Palatium. (3) Auf die Frage des Tiberius, wie er Agrippa geworden sei, soll er geantwortet haben: „So wie du Caesar.“ Zur Preisgabe von Komplizen konnte man ihn nicht bewegen. Andererseits wagte Tiberius nicht, ihn öffentlich zu bestrafen, sondern ließ ihn in einem abgelegenen Teil des Palatiums umbringen und seinen Leichnam heimlich beseitigen. Und obwohl es hieß, viele Personen aus dem Haus des Princeps, aber auch Ritter und Senatoren hätten ihn mit Geldmitteln und Ratschlägen unterstützt, wurde die Angelegenheit nicht weiter verfolgt. 41 (1) Am Jahresende wurden ein Bogen in der Nähe des Saturntempels zum Dank für die Wiedergewinnung der mit Varus verlorenen Feldzeichen unter der Führung des Germanicus und dem Oberbefehl des Tiberius, ferner ein Tempel der Fors Fortuna in dem Park neben dem Tiber, den der Diktator Caesar dem römischen Volk vermacht hatte, dazu eine Kapelle für die julische Familie und für den vergöttlichten Augustus eine Statue in Bovillae geweiht. (2) Unter den Konsuln C. CAELIUS und L. POMPONIUS (17 n. Chr.) triumphierte Germanicus Caesar am 26. Mai über die Cherusker, Chatten und Angrivarier und über all die anderen Stämme, die bis zur Elbe hin siedeln. Mitgeführt wurden erbeutete Waffen, Gefangene, Abbildungen von Bergen, Flüssen und Schlachten, und den Krieg betrachtete man, weil er daran gehindert worden war, ihn zu beenden, als beendet. (3) Die Augen der Zuschauer ließen seine herausragende persönliche Erscheinung und der mit seinen fünf Kindern besetzte

142

Liber secundus

onustus. sed suberat occulta formido, reputantibus haud prosperum in Druso patre eius favorem vulgi, avunculum eiusdem Marcellum flagrantibus plebis studiis intra iuventam ereptum, breves et infaustos populi Romani amores. 42 (1) Ceterum Tiberius nomine Germanici trecenos plebi sestertios viritim dedit seque collegam consulatui eius destinavit. nec ideo sincerae caritatis fidem adsecutus amoliri iuvenem specie honoris statuit struxitque causas aut forte oblatas arripuit. (2) rex Archelaus quinquagesimum annum Cappadocia potiebatur, invisus Tiberio, quod eum Rhodi agentem nullo officio coluisset. nec id Archelaus per superbiam omiserat, sed ab intimis Augusti monitus, quia florente C. Caesare missoque ad res Orientis intuta Tiberii amicitia credebatur. (3) ut versa Caesarum subole imperium adeptus est, elicit Archelaum matris litteris, quae non dissimulatis filii offensionibus clementiam offerebat, si ad precandum veniret. ille gnarus doli vel, si intellegere crederetur, vim metuens in urbem properat; exceptusque immiti a principe et mox accusatus in senatu, non ob crimina quae fingebantur, sed angore, simul fessus senio, et quia regibus aequa, nedum infima insolita sunt, finem vitae sponte an fato implevit. (4) regnum in provinciam redactum est, fructibusque eius levari posse centesimae vectigal professus Caesar ducentesimam in posterum statuit. (5) per idem tempus Antiocho Commagenorum, Philopatore Cilicum regibus defunctis turbabantur nationes, plerisque Romanum, aliis regium imperium cupientibus; et provinciae Syria atque Iudaea fessae oneribus deminutionem tributi orabant.

Buch II

143

Wagen leuchten. Aber es war eine unterschwellige Furcht zu spüren, wenn man daran dachte, dass die Zuneigung der einfachen Leute seinem Vater Drusus kein Glück gebracht hatte und dass sein Onkel Marcellus, dem die Herzen des Volkes zugeflogen waren, noch als ganz junger Mann aus dem Leben gerissen worden war;16 nur von kurzer Dauer und unglücklich seien die Liebschaften des römischen Volkes. 42 (1) Im Übrigen schenkte Tiberius in Germanicus’ Namen den Plebejern pro Mann 300 Sesterze und bestimmte sich selbst zum Kollegen in dessen Konsulat. Aber auch damit fand er keinen Glauben an die Aufrichtigkeit seiner Zuneigung und beschloss deshalb, den jungen Mann unter einem ehrenvollen Vorwand zu entfernen, heckte dafür Gründe aus oder griff gierig nach solchen, die ihm der Zufall bot: (2) König Archelaus herrschte das fünfzigste Jahr über Kappadokien; Tiberius verübelte ihm, dass er ihm bei seinem Aufenthalt auf Rhodos keinerlei Aufmerksamkeit erwiesen hatte. Das hatte Archelaus aber nicht aus Hochmut unterlassen, sondern weil es ihm von engen Vertrauten des Augustus dringend angeraten worden war; denn man hielt, als Gaius Caesar auf dem Höhepunkt seines Ansehens stand und zur Regelung der politischen Verhältnisse in den Osten geschickt worden war, eine Freundschaft mit Tiberius für gefährlich. (3) Sobald dieser dann nach dem Aussterben der Nachkommenschaft der Caesaren an die Macht gekommen war, lockte er Archelaus mit einem Brief seiner Mutter zu sich, die nicht verhehlte, dass sich ihr Sohn gekränkt fühle, aber Verzeihung anbot, falls er komme, um Abbitte zu leisten. Der dachte an keine Hinterlist oder fürchtete, falls der Eindruck entstehen sollte, er habe sie durchschaut, ein gewaltsames Eingreifen und begab sich deshalb sofort in die Hauptstadt. Er wurde vom Princeps ungnädig empfangen, dann vor dem Senat angeklagt und beendete sein Leben nicht wegen der Verbrechen, die man erfand, sondern aus Angst, zugleich aus Altersschwäche und weil für Könige eine Gleichbehandlung, geschweige denn eine Demütigung ungewöhnlich ist, aus eigenem Entschluss oder seiner Bestimmung zufolge. (4) Sein Königreich wurde zu einer Provinz gemacht, und mit ihren Erträgen versprach der Caesar, die Einprozentsteuer17 senken zu können, und setzte sie für die Zukunft auf ein halbes Prozent fest. (5) Zur gleichen Zeit kam es mit dem Ableben der Könige Antiochus von Kommagene und Philopator von Kilikien bei ihren Völkern zu Unruhen, weil die Mehrheit die römische Herrschaft, andere eine Monarchie haben wollten; und die Provinzen Syrien und Judäa baten, ausgelaugt von den Lasten, um eine Senkung der Abgaben.

144

Liber secundus

43 (1) Igitur haec et de Armenia quae supra memoravi apud patres disseruit, nec posse motum Orientem nisi Germanici sapientia componi: nam suam aetatem vergere, Drusi nondum satis adolevisse. tunc decreto patrum permissae Germanico provinciae, quae mari dividuntur, maiusque imperium, quoquo adisset, quam iis qui sorte aut missu principis obtinerent. (2) sed Tiberius demoverat Syria Creticum Silanum, per adfinitatem conexam Germanico, quia Silani filia Neroni vetustissimo liberorum eius pacta erat, praefeceratque Cn. Pisonem, ingenio violentum et obsequii ignarum, insita ferocia a patre Pisone qui civili bello resurgentes in Africa partes acerrimo ministerio adversus Caesarem iuvit, mox Brutum et Cassium secutus concesso reditu petitione honorum abstinuit, donec ultro ambiretur delatum ab Augusto consulatum accipere. (3) sed praeter paternos spiritus uxoris quoque Plancinae nobilitate et opibus accendebatur; vix Tiberio concedere, liberos eius ut multum infra despectare. (4) nec dubium habebat se delectum, qui Syriae imponeretur ad spes Germanici coercendas. credidere quidam data et a Tiberio occulta mandata; et Plancinam haud dubie Augusta monuit aemulatione muliebri Agrippinam insectandi. (5) divisa namque et discors aula erat tacitis in Drusum aut Germanicum studiis. Tiberius ut proprium et sui sanguinis Drusum fovebat; Germanico alienatio patrui amorem apud ceteros auxerat, et quia claritudine mater generis anteibat, avum M. Antonium, avunculum Augustum ferens. (6) contra Druso proavus eques Romanus Pomponius Atticus dedecere Claudiorum imagines videbatur. et coniunx Germanici Agrippina fecunditate ac fama Liviam, uxorem Drusi, praecellebat. sed fratres egregie concordes et proximorum certaminibus inconcussi. 44 (1) Nec multo post Drusus in Illyricum missus est, ut suesceret militiae studiaque exercitus pararet; simul iuvenem urbano luxu lascivientem melius in castris haberi Tiberius seque tutiorem rebatur utroque filio legiones

Buch II

145

43 (1) Deshalb trug er diese Probleme und die von mir oben erwähnten18 Schwierigkeiten in Armenien den Vätern vor und sagte, die Unruhen im Orient könnten nur durch die Klugheit des Germanicus wieder beigelegt werden. Denn sein eigenes Leben neige sich dem Ende zu, Drusus sei dafür noch nicht alt genug. Daraufhin wurden auf Beschluss der Väter Germanicus die überseeischen Provinzen und eine größere Befehlsgewalt an allen Orten, die er aufsuche, übertragen als den Personen, die sie durch das Los oder durch Weisung des Princeps innehatten. (2) Aber Tiberius hatte aus Syrien Creticus Silanus abberufen, der mit Germanicus durch Verschwägerung verbunden war, weil eine Tochter des Silanus mit Nero, dem ältesten von dessen Kindern, verlobt war, und hatte Cn. Piso mit der Leitung betraut, einen hitzköpfigen und an Unterordnung nicht gewöhnten Mann, der sein ungezügeltes Selbstbewusstsein von seinem Vater Piso geerbt hatte. Dieser hatte im Bürgerkrieg die in Africa wieder erstarkende Partei19 mit leidenschaftlichstem Einsatz gegen Caesar unterstützt, sich dann Brutus und Cassius angeschlossen und, als ihm die Rückkehr gestattet worden war, auf Bewerbungen um Ehrenämter verzichtet, bis man ihn sogar noch darum anging, den von Augustus angebotenen Konsulat zu übernehmen. (3) Aber außer dem stolzen Sinn seines Vaters wurde er auch durch die vornehme Abkunft und den Reichtum seiner Gattin Plancina angefeuert; nur ungern trat er hinter Tiberius zurück, und dessen Söhne verachtete er als weit unter ihm stehend. (4) Für ihn bestand kein Zweifel daran, er sei dazu ausgewählt worden, mit Syrien betraut zu werden, um Germanicus’ Hoffnungen zu dämpfen. Manche Leute glaubten, er habe von Tiberius auch geheime Weisungen erhalten, und die Augusta (Livia) forderte in ihrer weiblichen Eifersucht zweifellos Plancina auf, sich Agrippina vorzunehmen. (5) Denn der Hof war gespalten und uneins, wobei im Stillen die Sympathien Drusus oder Germanicus gehörten. Tiberius favorisierte als sein eigenes leibliches Kind Drusus. Für Germanicus hatte die Abneigung seines Onkels die Zuneigung der übrigen Menschen wachsen lassen – und weil er mütterlicherseits von vornehmerer Abkunft war, konnte er doch M. Antonius als Großvater und Augustus als Großonkel anführen. (6) Dagegen schien für Drusus der römische Ritter Pomponius Atticus als Urgroßvater ein Schwachpunkt unter den Ahnenbildern der Claudier zu sein, und Germanicus’ Gattin Agrippina übertraf an Kinderreichtum und Ansehen Livia, die Frau des Drusus. Doch die beiden Brüder hielten in hervorragender Weise zusammen und ließen sich von den Rivalitäten unter ihren nächsten Angehörigen nicht beeindrucken. 44 (1) Nicht viel später wurde Drusus nach Illyricum geschickt, um sich mit dem Militärdienst vertraut zu machen und die Sympathien des Heeres zu gewinnen. Zugleich glaubte Tiberius, der junge Mann, der in der Hauptstadt in Saus und Braus lebte, sei besser im Lager aufgehoben, und er selbst sei

146

Liber secundus

obtinente. (2) sed Suebi praetendebantur auxilium adversus Cheruscos orantes. nam discessu Romanorum ac vacui externo metu gentis adsuetudine et tum aemulatione gloriae arma in se verterant. vis nationum, virtus ducum in aequo; sed Maroboduum regis nomen invisum apud populares, Arminium pro libertate bellantem favor habebat. 45 (1) Igitur non modo Cherusci sociique eorum, vetus Arminii miles, sumpsere bellum, sed e regno etiam Marobodui Suebae gentes, Semnones ac Langobardi, defecere ad eum. quibus additis praepollebat, ni Inguiomerus cum manu clientium ad Maroboduum perfugisset, non aliam ob causam quam quia fratris filio iuveni patruus senex parere dedignabatur. (2) deriguntur acies, pari utrimque spe, nec, ut olim apud Germanos, vagis incursibus aut disiectas per catervas: quippe longa adversum nos militia insueverant sequi signa, subsidiis firmari, dicta imperatorum accipere. (3) ac tunc Arminius equo conlustrans cuncta, ut quosque advectus erat, reciperatam libertatem, trucidatas legiones, spolia adhuc et tela Romanis derepta in manibus multorum ostentabat; contra fugacem Maroboduum appellans, proeliorum expertem, Hercyniae latebris defensum, ac mox per dona et legationes petivisse foedus, proditorem patriae, satellitem Caesaris, haud minus infensis animis exturbandum, quam Varum Quinctilium interfecerint. (4) meminissent modo tot proeliorum, quorum eventu et ad postremum eiectis Romanis satis probatum, penes utros summa belli fuerit. 46 (1) Neque Maroboduus iactantia sui aut probris in hostem abstinebat, sed Inguiomerum tenens illo in corpore decus omne Cheruscorum, illius consiliis gesta quae prospere ceciderint testabatur. vaecordem Arminium et rerum nescium alienam gloriam in se trahere, quoniam tres vagas legiones et ducem fraudis ignarum perfidia deceperit, magna cum clade Germaniae et ignominia sua, cum coniunx, cum filius eius servitium adhuc tolerent.

Buch II

147

sicherer, wenn beide Söhne Legionen kommandierten. (2) Aber als Vorwand nahm man die Sueben, die um Unterstützung gegen die Cherusker baten. Denn nach dem Abzug der Römer und nun ohne Furcht vor einem äußeren Feind hatten sie nach der Gewohnheit ihres Stammes und damals auch im Wettstreit um Ruhm die Waffen gegeneinander gerichtet. Die Stärke der beiden Völker und die Tüchtigkeit ihrer Anführer hielten sich die Waage; doch Maroboduus machte der Königstitel bei seinen Landsleuten verhasst, Arminius dagegen war beliebt, weil er für die Freiheit kämpfte. 45 (1) Deshalb begannen nicht nur die Cherusker und ihre Verbündeten, alte Soldaten des Arminius, den Krieg, sondern auch aus dem Königreich des Maroboduus fielen suebische Stämme, die Semnonen und Langobarden, zu ihm ab. Durch diesen Zuwachs wäre Arminius überlegen gewesen, wenn nicht Inguiomerus mit einer Schar seiner Anhänger zu Maroboduus geflohen wäre, und zwar nur aus dem Grund, dass es der alte Onkel für unter seiner Würde hielt, sich dem jungen Sohn seines Bruders unterzuordnen. (2) Die Heere stellten sich zur Schlacht auf mit gleich großer Hoffnung auf beiden Seiten, aber nicht mehr wie früher bei den Germanen aufgrund planloser Vorstöße oder durch unkoordiniert agierende Gruppen; denn in der langen Kriegszeit gegen uns hatten sie sich daran gewöhnt, den Feldzeichen zu folgen, sich durch Reserven zu sichern und auf die Weisungen ihrer Befehlshaber zu achten. (3) Damals nun überwachte Arminius alle Maßnahmen vom Pferd aus und wies die Leute, zu denen er hingeritten war, darauf hin, die Freiheit sei wiedergewonnen, die Legionen niedergemetzelt, die Beutestücke und Waffen, die viele noch in Händen hielten, den Römern entrissen worden. Maroboduus dagegen bezeichnete er als Ausreißer, der nie an einer Schlacht teilgenommen, in Verstecken des Hercynischen Walds Schutz gesucht und dann mit Geschenken und Gesandtschaften um ein Bündnis gebeten habe, als einen Vaterlandsverräter, einen Spießgesellen des Caesars, den man mit der gleich erbitterten Einstellung verjagen müsse, mit der sie Varus Quinctilius umgebracht hätten. (4) Sie sollten nur an die vielen Gefechte denken, durch deren Ausgang, zuletzt mit dem Hinauswurf der Römer, es sich deutlich genug zeigte, bei wem der Enderfolg im Krieg gelegen habe. 46 (1) Aber auch Maroboduus verzichtete nicht auf Eigenlob oder Beleidigungen des Feinds, sondern er nahm Inguiomerus bei der Hand und legte dar, in dieser Person sei die ganze Ehre der Cherusker verkörpert, dank seiner Planung seien alle Erfolge erzielt worden. Nicht zurechnungsfähig und ahnungslos ziehe Arminius fremden Ruhm an sich, weil er drei herumirrende Legionen und ihren mit keiner Hinterlist rechnenden Kommandeur heimtückisch hintergangen habe zum großen Unglück für Germanien und zu seiner eigenen Schande, weil seine Frau, weil sein Sohn immer noch in der Sklaverei

148

Liber secundus

(2) at se duodecim legionibus petitum duce Tiberio inlibatam Germanorum gloriam servavisse, mox condicionibus aequis discessum; neque paenitere quod ipsorum in manu sit, integrum adversum Romanos bellum an pacem incruentam malint. (3) his vocibus instinctos exercitus propriae quoque causae stimulabant, cum a Cheruscis Langobardisque pro antiquo decore aut recenti libertate et contra augendae dominationi certaretur. (4) non alias maiore mole concursum neque ambiguo magis eventu, fusis utrimque dextris cornibus; sperabaturque rursum pugna, ni Maroboduus castra in colles subduxisset. (5) id signum perculsi fuit; et transfugiis paulatim nudatus in Marcomanos concessit misitque legatos ad Tiberium oraturos auxilia. responsum est non iure eum adversus Cheruscos arma Romana invocare, qui pugnantes in eundem hostem Romanos nulla ope iuvisset. missus tamen Drusus, ut rettulimus, paci firmator. 47 (1) Eodem anno duodecim celebres Asiae urbes conlapsae nocturno motu terrae, quo improvisior graviorque pestis fuit. neque solitum in tali casu effugium subveniebat in aperta prorumpendi, quia diductis terris hauriebantur. sedisse immensos montes, visa in arduo quae plana fuerint, effulsisse inter ruinam ignes memorant. (2) asperrima in Sardianos lues plurimum in eosdem misericordiae traxit: nam centies sestertium pollicitus Caesar, et quantum aerario aut fisco pendebant in quinquennium remisit. (3) Magnetes a Sipylo proximi damno ac remedio habiti. Temnios, Philadelphenos, Aegeatas, Apollonienses, quique Mosteni aut Macedones Hyrcani vocantur, et Hierocaesariam, Myrinam, Cymen, Tmolum levari idem in tempus tributis mittique ex senatu placuit, qui praesentia spectaret refoveretque. (4) delectus est M. Ateius e praetoriis, ne consulari obtinente Asiam aemulatio inter pares et ex eo impedimentum oreretur.

Buch II

149

schmachteten. (2) Dagegen habe er, von zwölf Legionen unter Führung des Tiberius angegriffen, den Ruhm der Germanen uneingeschränkt bewahrt, und man sei dann nach Abschluss eines Vergleichs abgezogen;20 er bedauere nicht, dass sie es nun selbst in der Hand hätten, ob sie lieber einen neuen Krieg gegen die Römer oder einen Frieden ohne Blutvergießen haben wollten. (3) Die von diesen Worten begeisterten Heere spornten auch besondere Motive an, weil von den Cheruskern und Langobarden für die alte Ehre oder die neue Freiheit und auf der Gegenseite für die Erweiterung des Herrschaftsbereichs gekämpft wurde. (4) Nirgendwo sonst21 stießen größere Menschenmassen aufeinander, und nie war der Ausgang ungewisser, da auf beiden Seiten die rechten Flügel geschlagen wurden; man rechnete wieder mit einer Schlacht, wenn Maroboduus sein Lager dann nicht auf Hügel verlegt hätte. (5) Das war das Zeichen für einen mutlos gewordenen Mann; und nachdem er durch Fahnenflucht nach und nach fast alleingelassen war, zog er sich ins Gebiet der Markomannen zurück und schickte Gesandte zu Tiberius mit der Bitte um Unterstützung. Er erhielt den Bescheid, er habe kein Recht, gegen die Cherusker römische Waffen zu Hilfe zu rufen; selbst habe er ja die Römer bei ihrem Kampf gegen denselben Feind mit keinerlei Mitteln unterstützt. Dennoch sandte man, wie schon berichtet, Drusus zur Sicherung des Friedens. 47 (1) Im gleichen Jahr fielen zwölf bevölkerte Städte Asias bei einem Erdbeben nachts in sich zusammen, wodurch die Katastrophe umso überraschender und folgenschwerer war. Aber auch die bei solch einem Unglück übliche Fluchtmöglichkeit, ins Freie hinauszustürzen, half nichts, weil man von Erdspalten verschlungen wurde. Gesenkt hätten sich riesige Berge, in die Höhe gehoben sei Land zu sehen gewesen, das eine Ebene war, und Feuer hätten zwischen den Trümmern geflackert, lauten die Berichte. (2) Der härteste Schlag traf die Bewohner von Sardes und brachte ihnen auch am meisten Mitleid ein: Denn der Caesar versprach zehn Millionen Sesterze und erließ ihnen alle Zahlungen an die Staatskasse oder den Fiskus für einen Zeitraum von fünf Jahren. (3) Die Einwohner von Magnesia am Sipylus hielt man für die Nächsten bei der Höhe des Schadens und der Unterstützung. Den Temniern, Philadelphenern, Ägeaten, Apollonidensern und den sogenannten Mostenern oder Hyrkanischen Makedonen, Hierocaesaria, Myrina, Cyme und Tmolus beschloss man für denselben Zeitraum die Tribute zu erlassen und jemand aus dem Senat zu schicken, der die augenblickliche Lage begutachten und Erleichterungen genehmigen sollte. (4) Man wählte dazu M. Ateius22 aus den ehemaligen Prätoren aus, um, weil ein Konsular Asia verwaltete, keine Rivalität unter Gleichrangigen aufkommen und daraus Behinderungen entstehen zu lassen.

150

Liber secundus

48 (1) Magnificam in publicum largitionem auxit Caesar haud minus grata liberalitate, quod bona Aemiliae Musae, locupletis intestatae, petita in fiscum, Aemilio Lepido, cuius e domo videbatur, et Pantulei divitis equitis Romani hereditatem, quamquam ipse heres in parte legeretur, tradidit M. Servilio, quem prioribus neque suspectis tabulis scriptum compererat, nobilitatem utriusque pecunia iuvandam praefatus. (2) neque hereditatem cuiusquam adiit nisi cum amicitia meruisset; ignotos et aliis infensos eoque principem nuncupantes procul arcebat. (3) ceterum ut honestam innocentium paupertatem levavit, ita prodigos et ob flagitia egentes, Vibidium Varronem, Marium Nepotem, Appium Appianum, Cornelium Sullam, Q. Vitellium movit senatu aut sponte cedere passus est. 49 (1) Isdem temporibus deum aedes vetustate aut igni abolitas coeptasque ab Augusto dedicavit, Libero Liberaeque et Cereri iuxta circum maximum, quam A. Postumius dictator voverat, eodemque in loco aedem Florae ab Lucio et Marco Publiciis aedilibus constitutam, et Iano templum, quod apud forum holitorium C. Duilius struxerat, qui primus rem Romanam prospere mari gessit triumphumque navalem de Poenis meruit. (2) Spei aedes a Germanico sacratur: hanc A. Atilius voverat eodem bello. 50 (1) Adolescebat interea lex maiestatis. et Appuleiam Varillam, sororis Augusti neptem, quia probrosis sermonibus divum Augustum ac Tiberium et matrem eius inlusisset Caesarique conexa adulterio teneretur, maiestatis delator arcessebat. (2) de adulterio satis caveri lege Iulia visum; maiestatis crimen distingui Caesar postulavit damnarique, si qua de Augusto inreligiose dixisset; in se iacta nolle ad cognitionem vocari. interrogatus a consule, quid de iis censeret, quae de matre eius locuta secus argueretur, reticuit; dein proximo senatus die illius quoque nomine oravit, ne cui verba in eam quoquo modo habita crimini forent. (3) liberavitque Appuleiam lege maiestatis: adulterii graviorem

Buch II

151

48 (1) Die großzügige, der Öffentlichkeit zugutekommende Freigebigkeit steigerte der Caesar mit einer nicht weniger willkommenen Zuwendung dadurch, dass er das Vermögen der reichen, ohne Testament verstorbenen Aemilia Musa, das dem Fiskus zufallen sollte, Aemilius Lepidus, aus dessen Familie sie zu stammen schien, und das Erbe des reichen römischen Ritters Pantuleius, obwohl er selbst als Teilerbe ausgewählt war, M. Servilius vermachte, von dem er erfahren hatte, dass er in einem früheren, unverdächtigen Dokument eingesetzt war; dabei schickte er voraus, man müsse die adlige Stellung beider mit Geld unterstützen. (2) Auch trat er ein Erbe von jemand nur an, wenn er es durch Freundschaft verdient hatte; ihm unbekannte und mit anderen verfeindete Personen, die deshalb den Princeps einsetzten, hielt er sich fern. (3) Außerdem warf er, genauso wie er die ehrenvolle Armut unschuldiger Mitglieder linderte, Verschwender und wegen ihres liederlichen Lebenswandels in Not geratene Zeitgenossen, nämlich Vibidius Varro, Marius Nepos, Appius Appianus, Cornelius Sulla und Q. Vitellius, aus dem Senat oder genehmigte ihren freiwilligen Austritt. 49 (1) Zur gleichen Zeit weihte er durch Alter oder Feuer verfallene Gotteshäuser, deren Wiederaufbau von Augustus begonnen worden war: eines dem Liber, der Libera und der Ceres neben dem Circus Maximus, das der Diktator A. Postumius gelobt hatte, am gleichen Platz ein Gotteshaus der Flora, das von den Ädilen Lucius und Marcus Publicius errichtet worden war, und für Janus einen Tempel, den beim Gemüsemarkt C. Duilius erbaut hatte, der erste, der einen römischen Erfolg auf dem Meer errang und einen Seetriumph über die Punier erzielte. (2) Der Spes wurde ein Gotteshaus von Germanicus geweiht; dieses hatte A. Atilius im gleichen Krieg gelobt. 50 (1) In der Zwischenzeit hatte sich das Majestätsgesetz kräftig entwickelt. Auch gegen Appuleia Varilla, eine Enkelin der Schwester des Augustus, zog ein Denunziant wegen Majestätsbeleidigung vor Gericht, weil sie mit üblen Beschimpfungen den vergöttlichten Augustus sowie Tiberius und dessen Mutter verspottet und trotz ihrer Verwandtschaft mit dem Caesar sich des Ehebruchs schuldig gemacht habe. (2) Für den Ehebruch seien genügend Vorkehrungen durch das julische Gesetz23 getroffen, befand man. Beim Vorwurf des Majestätsverbrechens müsse man differenzieren, verlangte der Caesar, und sie sei zu verurteilen, falls sie sich unehrerbietig über Augustus geäußert habe; die Vorwürfe gegen seine Person wolle er nicht gerichtlich untersucht wissen. Auf die Frage des Konsuls, was seine Meinung zu der Beschuldigung sei, sie habe über seine Mutter schlecht geredet, schwieg er; bei der nächsten Senatssitzung bat er dann auch in ihrem Namen, niemandem sollten irgendwelche Äußerungen gegen sie zum Vorwurf gemacht werden. (3) Und so ließ er auf Appuleia das Majestätsgesetz nicht anwenden; für ihren Ehebruch bat

152

Liber secundus

poenam deprecatus, ut exemplo maiorum propinquis suis ultra ducentesimum lapidem removeretur suasit. adultero Manlio Italia atque Africa interdictum est. 51 (1) De praetore in locum Vipstani Galli, quem mors abstulerat, subrogando certamen incessit. Germanicus atque Drusus (nam etiam tum Romae erant) Haterium Agrippam, propinquum Germanici, fovebant. contra plerique nitebantur, ut numerus liberorum in candidatis praepolleret, quod lex iubebat. (2) laetabatur Tiberius, cum inter filios eius et leges senatus disceptaret. victa est sine dubio lex, sed neque statim et paucis suffragiis, quo modo etiam cum valerent leges vincebantur. 52 (1) Eodem anno coeptum in Africa bellum, duce hostium Tacfarinate. is natione Numida, in castris Romanis auxiliaria stipendia meritus, mox desertor, vagos primum et latrociniis suetos ad praedam et raptus congregare, dein more militiae per vexilla et turmas componere, postremo non inconditae turbae, sed Musulamiorum dux haberi. (2) valid ea gens et solitudinibus Africae propinqua, nullo etiam tum urbium cultu, cepit arma Maurosque accolas in bellum traxit. dux et his, Mazippa; divisusque exercitus, ut Tacfarinas lectos viros et Romanum in modum armatos castris attineret, disciplina et imperiis suesceret, Mazippa levi cum copia incendia et caedes et terrorem circumferret. (3) compulerantque Cnitios, haud spernendam nationem, in eadem, cum Furius Camillus pro consule Africae legionem et quod sub signis sociorum in unum conductos ad hostem duxit, modicam manum, si mulitudinem Numidarum atque Maurorum spectares; sed nihil aeque cavebatur quam ne bellum metu eluderent. spe victoriae inducti sunt ut vincerentur. (4) igitur legio medio, leves cohortes duaeque alae in cornibus locantur. nec Tacfarinas pugnam detrectavit. fusi Numidae, multosque post annos Furio nomini partum decus militiae. (5) nam post illum reciperatorem urbis filiumque eius Camillum penes

Buch II

153

er nachdrücklich eine schwerere Strafe nicht auszusprechen und schlug vor, sie nach dem Vorbild der Vorfahren durch ihre Angehörigen mehr als 200 Meilen wegbringen zu lassen. Dem Ehebrecher Manlius wurde der Aufenthalt in Italien und Africa untersagt. 51 (1) Über die Nachwahl des Prätors auf die Stelle des Vipstanus Gallus, den der Tod hinweggerafft hatte, kam es zu einer Meinungsverschiedenheit. Germanicus und Drusus – sie hielten sich nämlich auch damals noch in Rom auf – favorisierten Haterius Agrippa, einen Verwandten des Germanicus. Demgegenüber sprach sich die Mehrheit entschieden dafür aus, die Kinderzahl solle bei den Bewerbern den Ausschlag geben; das schrieb auch das Gesetz vor.24 (2) Tiberius hatte seine Freude daran, als sich der Senat zwischen seinen Söhnen und den Gesetzen entscheiden musste. Es unterlag ohne Zweifel das Gesetz, doch nicht sogleich und nur mit wenigen Stimmen, genauso also, wie die Gesetze schon unterlagen, als sie noch von Bedeutung waren. 52 (1) Im gleichen Jahr begann in Africa ein Krieg; Anführer der Feinde war Tacfarinas. Dieser war Numider von Geburt, hatte im römischen Lager bei den Hilfstruppen gedient, war später desertiert, scharte zuerst Landstreicher und an Raubüberfälle gewöhnte Leute zu Beute- und Plünderungszügen um sich, stellte sie dann wie beim Militär üblich in Abteilungen und Schwadronen zusammen und wurde schließlich nicht mehr als Anführer eines undisziplinierten Haufens, sondern der Musulamier angesehen. (2) Dieser kampfkräftige, nahe bei den Wüsten Africas lebende Stamm, der auch damals noch das Leben in Städten nicht kannte, griff zu den Waffen und zog die benachbarten Mauren in den Krieg hinein. Einen Anführer hatten auch sie, Mazippa. Man teilte das Heer so, dass Tacfarinas ausgesuchte und nach römischer Art bewaffnete Männer im Lager halten und an Disziplin und Befehle gewöhnen, Mazippa mit einer leicht bewaffneten Truppe Brände legen, Morde begehen und Schrecken verbreiten sollte. (3) Sie hatten die Cinithier, ein nicht zu unterschätzendes Volk, dazu gedrängt, ebenso vorzugehen, da zog Furius Camillus, der Prokonsul Africas, seine Legion und was er an Bundesgenossen unter den Fahnen hatte, in einer Einheit zusammen und führte sie gegen den Feind, eine unbedeutende Schar, wenn man nur die zahlenmäßige Überlegenheit der Numider und Mauren betrachten würde; tatsächlich aber hatte man vor nichts mehr Sorge, als dass die Feinde dem Kampf ängstlich aus dem Weg gingen: Die Siegeszuversicht verleitete sie dazu, sich besiegen zu lassen. (4) Also stellte man die Legion im Zentrum, die leichten Kohorten und zwei Kavallerieabteilungen auf den Flügeln auf, und Tacfarinas entzog sich dem Kampf nicht. Die Numider wurden in die Flucht geschlagen, und nach vielen Jahren wurde dem Namen Furius wieder die Ehre eines militärischen Erfolgs zuteil. (5) Denn nach dem bekannten Wiedereroberer der Hauptstadt

154

Liber secundus

alias familias imperatoria laus fuerat, atque hic, quem memoramus, bellorum expers habebatur. eo pronior Tiberius res gestas apud senatum celebravit; et decrevere patres triumphalia insignia, quod Camillo ob modestiam vitae impune fuit. 53 (1) Sequens annus TIBERIUM tertium, GERMANICUM iterum consules habuit. sed eum honorem Germanicus iniit apud urbem Achaiae Nicopolim, quo venerat per Illyricam oram viso fratre Druso in Delmatia agente, Hadriatici ac mox Ionii maris adversam navigationem perpessus. (2) igitur paucos dies insumpsit reficiendae classi; simul sinus Actiaca victoria inclutos et sacratas ab Augusto manubias castraque Antonii cum recordatione maiorum suorum adiit. namque ei, ut memoravi, avunculus Augustus, avus Antonius erant, magnaque illic imago tristium laetorumque. (3) hinc ventum Athenas, foederique sociae et vetustae urbis datum, ut uno lictore uteretur. excepere Graeci quaesitissimis honoribus, vetera suorum facta dictaque praeferentes, quo plus dignationis adulatio haberet. 54 (1) Petita inde Euboea tramisit Lesbum, ubi Agrippina novissimo partu Iuliam edidit. tum extrema Asiae Perinthumque ac Byzantium, Thracias urbes, mox Propontidis angustias et os Ponticum intrat, cupidine veteres locos et fama celebratos noscendi; pariterque provincias internis certaminibus aut magistratuum iniuriis fessas refovebat. (2) atque illum in regressu sacra Samothracum visere nitentem obvii aquilones depulere. igitur alio quaeque ibi varietate fortunae et nostri origine veneranda, relegit Asiam adpellitque Colophona, ut Clarii Apollinis oraculo uteretur. (3) non femina illic, ut apud Delphos, sed certis e familiis et ferme Mileto accitus sacerdos numerum modo consultantium et nomina audit; tum in specum degressus, hausta fontis arcani aqua, ignarus plerumque litterarum et carminum edit responsa versibus compositis super rebus, quas quis mente concepit. (4) et ferebatur Germanico per ambages, ut mos oraculis, maturum exitum cecinisse.

Buch II

155

und seinem Sohn Camillus war der Imperatorenruhm auf andere Familien übergegangen; auch der Mann, von dem ich erzähle, galt als unerfahren in Kriegen. Umso bereitwilliger feierte Tiberius seine Erfolge vor dem Senat, und die Senatoren bewilligten die Triumphabzeichen, was sich für Camillus wegen seiner bescheidenen Lebensweise nicht nachteilig auswirkte. 53 (1) Das folgende Jahr (18 n. Chr.) sah TIBERIUS zum dritten, GERMANICUS zum zweiten Mal als Konsuln. Doch dieses Ehrenamt trat Germanicus in Nicopolis, einer Stadt in Achaia, an; dorthin war er die illyrische Küste entlang gekommen, nachdem er seinen Bruder Drusus, der sich in Dalmatien aufhielt, besucht und eine widrige Überfahrt über das Adriatische, dann über das Ionische Meer überstanden hatte. (2) Deshalb verbrachte er wenige Tage mit der Ausbesserung der Flotte. Gleichzeitig suchte er die durch den Sieg von Aktium berühmten Buchten, die von Augustus geweihten Trophäen und das Lager des Antonius im Gedenken an seine Vorfahren auf. Denn sein Großonkel mütterlicherseits war, wie erwähnt, Augustus, sein Großvater Antonius, und so bot sich ihm dort ein eindrucksvolles Bild trauriger und erfreulicher Geschehnisse. (3) Von hier aus kam man nach Athen, und aus Rücksicht auf das Bündnis mit dieser befreundeten, altehrwürdigen Stadt trat er nur mit einem Liktor auf. Die Griechen empfingen ihn mit den erlesensten Ehrungen, wobei sie mit den alten Taten und Worten ihrer Landsleute angaben, um ihrer Unterwürfigkeit mehr Würde zu verleihen. 54 (1) Anschließend fuhr er nach Euböa und setzte dann nach Lesbos über, wo Agrippina ihr jüngstes Kind, Julia, zur Welt brachte. Dann suchte er das Randgebiet Asias und die thrakischen Städte Perinth und Byzanz, anschließend die Meerenge der Propontis und die Pontische Mündung25 auf, weil er die alten, hochberühmten Orte unbedingt kennenlernen wollte, und versuchte gleichzeitig den Provinzen, die durch innere Streitigkeiten oder Rechtsverletzungen von Amtsträgern mit ihren Kräften am Ende waren, wieder aufzuhelfen. (2) Und als er auf der Rückfahrt an den Riten der Samothraker26 teilnehmen wollte, trieben ihn widrige Nordwinde ab. Deshalb besuchte er Ilion und all die Stätten, die dort durch ihr wechselvolles Schicksal und die Herkunft unseres Volks27 ehrwürdig sind, fuhr dann an der Küste Asias zurück und ging in Kolophon an Land, um das Orakel des Apollon von Clarus zu befragen. (3) Nicht eine Frau wie in Delphi, sondern ein aus bestimmten Familien und in der Regel aus Milet berufener Priester hört sich dort nur Anzahl und Namen der Ratsuchenden an; dann steigt er in eine Höhle hinab, trinkt aus einer geheimnisvollen Quelle Wasser und gibt, obwohl er meistens nichts von Literatur und Poetik versteht, Antworten in Versform zu den Anliegen, die sich jeder nur vorgestellt hat. (4) Und man erzählte sich, er habe Germanicus in rätselhaften Worten, wie das bei Orakeln üblich ist, einen frühen Tod prophezeit.

156

Liber secundus

55 (1) At Cn. Piso, quo properantius destinata inciperet, civitatem Atheniensium turbido incessu exterritam oratione saeva increpat, oblique Germanicum perstringens, quod contra decus Romani nominis non Athenienses tot cladibus exstinctos, sed conluviem illam nationum comitate nimia coluisset: hos enim esse Mithridatis adversus Sullam, Antonii adversus divum Augustum socios. (2) etiam vetera obiectabat, quae in Macedones improspere, violenter in suos fecissent, offensus urbi propria quoque ira, quia Theophilum quendam Areo iudicio falsi damnatum precibus suis non concederent. (3) exim navigatione celeri per Cycladas et compendia maris adsequitur Germanicum apud insulam Rhodum, haud nescium quibus insectationibus petitus foret: sed tanta mansuetudine agebat, ut, cum orta tempestas raperet in abrupta possetque interitus inimici ad casum referri, miserit triremes, quarum subsidio discrimini eximeretur. (4) neque tamen mitigatus Piso, et vix diei moram perpessus linquit Germanicum praevenitque. (5) et postquam Syriam ac legiones attigit, largitione, ambitu, infimos manipularium iuvando, cum veteres centuriones, severos tribunos demoveret locaque eorum clientibus suis vel deterrimo cuique attribueret, desidiam in castris, licentiam in urbibus, vagum ac lascivientem per agros militem sineret, eo usque corruptionis provectus est, ut sermone vulgi parens legionum haberetur. (6) nec Plancina se intra decora feminis tenebat, sed exercitio equitum, decursibus cohortium interesse, in Agrippinam, in Germanicum contumelias iacere, quibusdam etiam bonorum militum ad mala obsequia promptis, quod haud invito imperatore ea fieri occultus rumor incedebat. nota haec Germanico, sed praeverti ad Armenios instantior cura fuit. 56 (1) Ambigua gens ea antiquitus hominum ingeniis et situ terrarum, quoniam nostris provinciis late praetenta penitus ad Medos porrigitur; maximisque

Buch II

157

55 (1) Cn. Piso jedoch versetzte, um mit seinen Vorhaben möglichst schnell beginnen zu können, die Bürger von Athen durch einen stürmischen Einzug in Angst und Schrecken und beschimpfte sie in einer ausfallenden Rede mit Seitenhieben auf Germanicus, weil dieser entgegen dem Ruhm des römischen Namens nicht die Athener, die durch so viele Niederlagen schon ausgerottet seien, sondern die berüchtigte Jauchegrube von Völkern28 viel zu entgegenkommend hofiert habe. Diese Leute seien nämlich die Bundesgenossen des Mithridates gegen Sulla, des Antonius gegen den vergöttlichten Augustus.29 (2) Auch alte Geschichten warf er ihnen vor: Gegen die Makedonen seien sie erfolglos, gewalttätig gegen ihre eigenen Landsleute vorgegangen; dabei regte er sich über die Stadt auch aus einem persönlichen Groll heraus auf, weil sie einen bestimmten Theophilus, der durch das Gericht des Ares30 als Fälscher verurteilt worden war, trotz seiner Bitten nicht begnadigten. (3) Anschließend holte er in einer Eilfahrt durch die Kykladen und Abkürzungen auf dem Meer Germanicus bei der Insel Rhodos ein; der wusste genau, welchen Anfeindungen er ausgesetzt sein werde, aber er zeigte sich derart entgegenkommend, dass er, als ein aufkommender Sturm Piso an die Klippen warf und man den Untergang seines Feindes dem Zufall hätte zuschreiben können, Dreiruderer schickte, mit deren Hilfe dieser aus seiner gefährlichen Lage befreit werden konnte. (4) Dennoch war Piso nicht versöhnlich gestimmt, und er hielt es kaum einen Tag lang aus, verließ dann Germanicus und kam ihm zuvor. (5) Und sobald er Syrien und damit die Legionen erreicht hatte, verteilte er Geschenke, versuchte sich beliebt zu machen und begünstigte die Letzten unter den gemeinen Soldaten, während er die altgedienten Zenturionen und strengen Tribune absetzte und deren Stellen seinen Klienten oder dem schlimmsten Gesindel zuschanzte, Herumlungern im Lager, Disziplinlosigkeiten in den Städten durchgehen und die Soldaten sich ungehemmt auf dem freien Land herumtreiben ließ; damit gelang es ihm, die Leute derart zu verführen, dass er in der Sprache der einfachen Soldaten als „Vater der Legionen“ galt. (6) Aber auch Plancina beschränkte sich nicht auf das Verhalten anständiger Frauen, sondern sie nahm an Kavallerieübungen und Manövern der Kohorten teil und äußerte sich abfällig über Agrippina, über Germanicus, wobei sogar einige tüchtige Soldaten zu verwerflichem Gehorsam bereit waren, weil insgeheim das Gerede umging, das geschehe nicht gegen den Willen des Oberbefehlshabers. Diese Vorfälle waren Germanicus bekannt, aber ihn drückte mehr die Sorge, sich zuvor noch den Armeniern zuwenden zu müssen. 56 (1) Unzuverlässig ist dieses Volk seit alten Zeiten, bedingt durch den Charakter der Menschen und die Lage des Landes, weil es sich auf eine weite Strecke an unseren Provinzen entlangzieht und tief ins Gebiet der Meder hineinreicht; zwischen den größten Reichen liegend, stehen sie diesen auch

158

Liber secundus

imperiis interiecti et saepius discordes sunt, adversus Romanos odio et in Parthum invidia. (2) regem illa tempestate non habebant, amoto Vonone; sed favor nationis inclinabat in Zenonem, Polemonis regis Pontici filium, quod is prima ab infantia instituta et cultum Armeniorum aemulatus, venatu epulis et quae alia barbari celebrant, proceres plebemque iuxta devinxerat. (3) igitur Germanicus in urbe Artaxata adprobantibus nobilibus, circumfusa multitudine insigne regium capiti eius imposuit. ceteri venerantes regem Artaxiam consalutavere, quod illi vocabulum indiderant ex nomine urbis. (4) at Cappadoces, in formam provinciae redacti, Q. Veranium legatum accepere; et quaedam ex regiis tributis deminuta, quo mitius Romanum imperium speraretur. Commagenis Q. Servaeus praeponitur, tum primum ad ius praetoris translatis. 57 (1) Cunctaque socialia prospere composita non ideo laetum Germanicum habebant ob superbiam Pisonis, qui iussus partem legionum ipse aut per filium in Armeniam ducere utrumque neglexerat. (2) Cyrri demum apud hiberna decimae legionis convenere, firmato vultu, Piso adversus metum, Germanicus, ne minari crederetur; et erat, ut rettuli, clementior. sed amici accendendis offensionibus callidi intendere vera, adgerere falsa ipsumque et Plancinam et filios variis modis criminari. (3) postremo paucis familiarium adhibitis sermo coeptus a Caesare, qualem ira et dissimulatio gignit, responsum a Pisone precibus contumacibus; discesseruntque apertis odiis. post que rarus in tribunali Caesaris Piso, et si quando adsideret, atrox ac dissentire manifestus. (4) vox quoque eius audita est in convivio, cum apud regem Nabataeorum coronae aureae magno pondere Caesari et Agrippinae, leves Pisoni et ceteris offerrentur, principis Romani, non Parthi regis filio eas epulas dari; abiecitque simul coronam et multa in luxum addidit: quae Germanico quamquam acerba tolerabantur tamen.

Buch II

159

öfter feindlich gegenüber, weil sie die Römer hassen und mit den Parthern nichts zu tun haben wollen. (2) Einen König hatten sie zu dieser Zeit nicht, nachdem Vonones entfernt worden war.31 Doch galt die Sympathie des Volkes Zenon, dem Sohn des pontischen Königs Polemon, weil dieser von Kindesbeinen an Brauchtum und Lebensweise der Armenier angenommen und mit Jagd, Gelagen und den anderen barbarischen Lieblingsbeschäftigungen Adel und einfaches Volk in gleicher Weise für sich gewonnen hatte. (3) Also setzte ihm Germanicus in der Stadt Artaxata unter dem Beifall der Adligen und im Beisein einer großen Menschenmenge das königliche Diadem aufs Haupt. Alle anderen huldigten ihm und begrüßten ihn als König Artaxias, eine Bezeichnung, die man ihm nach dem Namen der Stadt gegeben hatte.32 (4) Doch die Kappadokier, deren Land zu einer Provinz gemacht worden war, erhielten Q. Veranius als Legaten, und einige königliche Abgaben wurden verringert, damit man sich Hoffnungen machte, die römische Herrschaft falle milder aus. Über die Kommagener wurde Q. Servaeus gesetzt; damit wurden sie damals zum ersten Mal in die Rechtsbefugnis eines Prätors überführt. 57 (1) Obwohl er sämtliche Probleme mit den Bundesgenossen beigelegt hatte, konnte sich Germanicus darüber nicht freuen wegen des hochmütigen Verhaltens Pisos, der den Befehl, einen Teil der Legionen persönlich oder durch seinen Sohn nach Armenien zu führen, in beiderlei Form missachtet hatte. (2) Erst in Cyrrus trafen sie im Winterlager der zehnten Legion zusammen, mit versteinerten Mienen, Piso, um seine Furcht zu verbergen, Germanicus, um nicht den Eindruck zu erwecken, er wolle drohen; und tatsächlich war er, wie erwähnt, ganz versöhnlich gestimmt. Aber seine Freunde, die es verstanden, Verstimmungen anzuheizen, übertrieben die Wahrheit, stellten falsche Behauptungen auf und beschuldigten ihn persönlich sowie Plancina und ihre Söhne in verschiedener Hinsicht. (3) Schließlich wurde im Beisein weniger Vertrauter eine Aussprache vom Caesar in einer Art und Weise eröffnet, wie sie Erbitterung mit sich bringt, die man sich nicht anmerken lassen will; Pisos Antwort bestand in aufsässigen Bitten, und so gingen sie in offenem Hass auseinander. Danach ließ sich Piso nur mehr selten auf dem Tribunal des Caesars sehen, und wenn er einmal mit dabeisaß,33 dann mit finsterer Miene und ganz offensichtlich anderer Auffassung. (4) Man hörte auch eine Äußerung von ihm bei einem Bankett, als beim König der Nabatäer schwere goldene Kränze dem Caesar und Agrippina, leichte Piso und den übrigen Gästen überreicht wurden, für den Sohn des römischen Princeps, nicht für den des parthischen Königs werde dieses Gelage veranstaltet; damit warf er seinen Kranz weg und schloss eine Tirade gegen den Luxus an. Obwohl dieses Verhalten Germanicus kränkte, nahm er es dennoch hin.

160

Liber secundus

58 (1) Inter quae ab rege Parthorum Artabano legati venere. miserat amicitiam ac foedus memoraturos, et cupere novari dextras, daturumque honori Germanici, ut ripam Euphratis accederet; petere interim, ne Vonones in Syria haberetur neu proceres gentium propinquis nuntiis ad discordias traheret. (2) ad ea Germanicus de societate Romanorum Parthorumque magnifice, de adventu regis et cultu sui cum decore ac modestia respondit. Vonones Pompeiopolim, Ciliciae maritimam urbem, amotus est. datum id non modo precibus Artabani, sed contumeliae Pisonis, cui gratissimus erat ob plurima officia et dona, quibus Plancinam devinxerat. 59 (1) M. SILANO L. NORBANO consulibus Germanicus Aegyptum proficiscitur cognoscendae antiquitatis. sed cura provinciae praetendebatur, levavitque apertis horreis pretia frugum multaque in vulgus grata usurpavit: sine milite incedere, pedibus intectis et pari cum Graecis amictu, P. Scipionis aemulatione, quem eadem factitavisse apud Siciliam quamvis flagrante adhuc Poenorum bello accepimus. (2) Tiberius cultu habituque eius lenibus verbis perstricto acerrime increpuit, quod contra instituta Augusti non sponte principis Alexandriam introisset. (3) nam Augustus inter alia dominationis arcana, vetitis nisi permissu ingredi senatoribus aut equitibus Romanis inlustribus, seposuit Aegyptum, ne fame urgeret Italiam, quisquis eam provinciam claustraque terrae ac maris quamvis levi praesidio adversum ingentes exercitus insedisset. 60 (1) Sed Germanicus, nondum comperto profectionem eam incusari, Nilo subvehebatur, orsus oppido a Canopo. condidere id Spartani ob sepultum illic rectorem navis Canopum, qua tempestate Menelaus Graeciam repetens diversum ad mare terramque Libyam deiectus. (2) inde proximum amnis os dicatum Herculi, quem indigenae ortum apud se et antiquissimum perhibent eosque, qui postea pari virtute fuerint, in cognomentum eius adscitos; mox visit veterum Thebarum magna vestigia. (3) et manebant structis molibus litterae Aegyptiae,

Buch II

161

58 (1) Während dieser Ereignisse kamen vom Partherkönig Artabanus Gesandte. Er hatte sie geschickt, um die vertraglich festgelegte Freundschaft34 ins Gedächtnis zu rufen, wünsche, die Versprechungen zu erneuern, und werde dem Germanicus zu Ehren ans Euphratufer kommen. Zwischenzeitlich bitte er, Vonones nicht in Syrien zu behalten und ihn die vornehmsten Männer der Stämme nicht mit Botschaften aus der Nähe zu Auseinandersetzungen verleiten zu lassen. (2) Darauf antwortete Germanicus hinsichtlich des Bündnisses zwischen Römern und Parthern würdevoll, hinsichtlich des Kommens des Königs und der Ehrung seiner Person mit Anstand und Bescheidenheit. Vonones wurde nach Pompeiopolis, einer am Meer gelegenen Stadt in Kilikien, gebracht. Damit entsprach man nicht nur den Bitten des Artabanus, sondern kränkte Piso, bei dem er äußerst beliebt war wegen sehr vieler Gefälligkeiten und Geschenke, mit denen er sich Plancina verpflichtet hatte. 59 (1) Unter den Konsuln M M.. SILANUS und L. NORBANUS (19 n. Chr.) reiste Germanicus nach Ägypten, um die Altertümer kennenzulernen. Aber die Sorge um die Provinz bildete den Vorwand, und er senkte durch die Öffnung der staatlichen Kornspeicher den Getreidepreis und zeigte viele Verhaltensweisen, die beim einfachen Volk gut ankamen: Ohne Soldaten trat er auf, mit unbedeckten Füßen und im gleichen Mantel wie die Griechen, in Nachahmung des P. Scipio, der sich, wie wir gehört haben, in Sizilien genauso verhalten hatte, obwohl damals noch der Krieg gegen die Punier loderte.35 (2) Tiberius rügte seine Art, aufzutreten und sich zu kleiden, nur leicht, machte ihm aber die heftigsten Vorwürfe, weil er entgegen den Bestimmungen des Augustus ohne Einwilligung des Princeps Alexandria aufgesucht habe. (3) Denn Augustus sonderte unter den anderen geheimen Grundsätzen seiner Alleinherrschaft durch das für Senatoren und höherrangige36 römische Ritter geltende Verbot, ohne Erlaubnis das Land zu betreten, Ägypten ab, damit niemand Italien mit Hungersnot bedrohen könne, der diese Provinz und die Grenzfestungen zu Land und zur See selbst mit einer nur schwachen Truppe gegen starke Heere besetzt habe. 60 (1) Aber Germanicus, der noch nicht davon erfahren hatte, dass diese Reise kritisiert wurde, fuhr den Nil hinauf; Ausgangspunkt war die Stadt Kanopos. Gegründet haben sie Spartaner, weil dort der Steuermann Kanopos bestattet wurde zu der Zeit, als Menelaos auf dem Rückweg nach Griechenland in dieses abseits gelegene Meer und an das libysche Land verschlagen wurde. (2) Dann besuchte er die nächstliegende Mündung des Stroms, die dem Herkules geweiht ist. Von ihm behaupten die Einheimischen, er sei bei ihnen zur Welt gekommen und damit der älteste, und die Männer, die es ihm später an Tapferkeit gleichtaten, hätten nach ihm ihren Namen bekommen. Dann besichtigte er die bedeutenden Ruinen des alten Theben. (3) Und auf den Riesenbauten waren noch ägyptische Buchstaben erhalten, welche die frühere Macht fest-

162

Liber secundus

priorem opulentiam complexae; iussusque e senioribus sacerdotum patrium sermonem interpretari referebat habitasse quondam septingenta milia aetate militari, atque eo cum exercitu regem Rhamsen Libya Aethiopia Medisque et Persis et Bactriano ac Scytha potitum quasque terras Syri Armeniique et contigui Cappadoces colunt, inde Bithynum, hinc Lycum ad mare imperio tenuisse. (4) legebantur et indicta gentibus tributa, pondus argenti et auri, numerus armorum equorumque et dona templis ebur atque odores, quasque copias frumenti et omnium utensilium quaeque natio penderet, haud minus magnifica quam nunc vi Parthorum aut potentia Romana iubentur. 61 (1) Ceterum Germanicus aliis quoque miraculis intendit animum, quorum praecipua fuere Memnonis saxea effigies, ubi radiis solis icta est, vocalem sonum reddens, disiectasque inter et vix pervias arenas instar montium eductae pyramides certamine et opibus regum, lacusque effossa humo, superfluentis Nili receptacula; atque alibi angustiae et profunda altitudo, nullis inquirentium spatiis penetrabilis. (2) exim ventum Elephantinen ac Syenen, claustra olim Romani imperii, quod nunc rubrum ad mare patescit. 62 (1) Dum ea aestas Germanico plures per provincias transigitur, haud leve decus Drusus quaesivit inliciens Germanos ad discordias, utque fracto iam Maroboduo usque in exitium insisteretur. (2) erat inter Gotones nobilis iuvenis nomine Catualda, profugus olim vi Marobodui et tunc dubiis rebus eius ultionem ausus. is valida manu fines Marcomanorum ingreditur corruptisque primoribus ad societatem inrumpit regiam castellumque iuxta situm. (3) veteres illic Sueborum praedae et nostris e provinciis lixae ac negotiatores reperti, quos ius commercii, dein cupido augendi pecuniam, postremo oblivio patriae suis quemque ab sedibus hostilem in agrum transtulat.

Buch II

163

hielten, und als man einen von den älteren Priestern aufforderte, den in seiner Muttersprache abgefassten Text zu übersetzen, trug er vor, einst hätten 700 000 Mann im wehrfähigen Alter dort gelebt, und mit diesem Heer habe der König Rhamses Libyen, Äthiopien und die Meder, Perser, Baktrianer und Skythen unterworfen sowie all die Länder, in denen die Syrer, Armenier und die benachbarten Kappadokier siedeln, auf der einen Seite bis zum Bithynischen, auf der anderen bis zum Lykischen Meer unter seiner Herrschaft gehabt. (4) Vorgelesen wurden auch die den Völkern auferlegten Tribute, das Gewicht des Silbers und Goldes, die Anzahl der Waffen und Pferde sowie als Geschenke für die Tempel Elfenbein und Duftstoffe, ferner, welche Mengen an Getreide und allen Gegenständen des täglichen Bedarfs jedes Volk liefern musste ‒ nicht weniger beeindruckende Zahlen, als sie jetzt durch die Macht der Parther oder die römische Herrschaft vorgegeben werden. 61 (1) Daneben schenkte Germanicus seine Aufmerksamkeit auch anderen Wunderdingen; von ihnen waren die wichtigsten das steinerne Standbild des Memnon, das, sobald es von Sonnenstrahlen getroffen wird, einen hellen Ton von sich gibt, und die mitten in den weit ausgedehnten und kaum begehbaren Sandwüsten von den Königen mit ihrem Reichtum um die Wette berghoch errichteten Pyramiden und die aus dem Boden ausgehobenen Seen, die Auffangbecken für den über die Ufer tretenden Nil, dazu an anderen Stellen die Stromengen mit ihrer unergründlichen Tiefe, die kein Wissbegieriger mit dem Senkblei ausloten kann.37 (2) Dann kam man nach Elephantine und Syene, einst die Grenzfestungen des Römischen Reichs, das sich jetzt bis zum Roten Meer hin erstreckt.38 62 (1) Während dieser Sommer von Germanicus in mehreren Provinzen verbracht wurde, erwarb Drusus kein geringes Ansehen damit, dass er die Germanen zu Auseinandersetzungen anstiftete und Maroboduus, dessen Macht bereits gebrochen war, bis zur Vernichtung zusetzte. (2) Bei den Gotonen lebte ein junger Adliger namens Catualda, der einige Zeit vorher vor der Macht des Maroboduus geflüchtet war und nun, wo sich dieser in einer schwierigen Lage befand, Rache zu nehmen wagte. Er fiel mit einer starken Einheit im Gebiet der Markomannen ein, bestach die führenden Männer dazu, sich ihm anzuschließen, und brach in das Lager des Königs und das daneben gelegene Kastell39 ein. (3) Alte Beutestücke der Sueben fanden sich dort und aus unseren Provinzen Marketender und Kaufleute, die das Recht auf Handel, dann die Gier nach immer mehr Geld, schließlich die Tatsache, dass sie ihr Vaterland vergaßen, aus ihren jeweiligen Siedlungsgebieten in das Feindesland verschlagen hatten.

164

Liber secundus

63 (1) Maroboduo undique deserto non aliud subsidium quam misericordia Caesaris fuit. transgressus Danuvium qua Noricam provinciam praefluit, scripsit Tiberio non ut profugus aut supplex, sed ex memoria prioris fortunae: nam multis nationibus clarissimum quondam regem ad se vocantibus Romanam amicitiam praetulisse. (2) responsum a Caesare tutam ei honoratamque sedem in Italia fore, si maneret; sin rebus eius aliud conduceret, abiturum fide qua venisset. (3) ceterum apud senatum disseruit non Philippum Atheniensibus, non Pyrrhum aut Antiochum populo Romano perinde metuendos fuisse. extat oratio, qua magnitudinem viri, violentiam subiectarum ei gentium et quam propinquus Italiae hostis, suaque in destruendo eo consilia extulit. (4) et Maroboduus quidem Ravennae habitus, [ne] si quando insolescerent Suebi, quasi reditus in regnum ostentabatur; sed non excessit Italia per duodeviginti annos consenuitque multum imminuta claritate ob nimiam vivendi cupidinem. (5) idem Catualdae casus neque aliud perfugium: pulsus haud multo post Hermundurorum opibus et Vibilio duce receptusque, Forum Iulium, Narbonensis Galliae coloniam, mittitur. (6) barbari utrumque comitati, ne quietas provincias immixti turbarent, Danuvium ultra inter flumina Marum et Cusum locantur, dato rege Vannio gentis Quadorum. 64 (1) Simul nuntiato regem Artaxian Armeniis a Germanico datum decrevere patres, ut Germanicus atque Drusus ovantes urbem introirent. structi et arcus circum latera templi Martis Ultoris cum effigie Caesarum, laetiore Tiberio, quia pacem sapientia firmaverat, quam si bellum per acies confecisset. (2) igitur Rhescuporim quoque, Thraeciae regem, astu adgreditur. omnem ea nationem Rhoemetalces tenuerat; quo defuncto Augustus partem Thraecum Rhescuporidi fratri eius, partem filio Cotyi permisit. in ea divisione arva et urbes et vicina Graecis Cotyi, quod incultum ferox adnexum hostibus, Rhescuporidi cessit; ipsorumque regum ingenia,

Buch II

165

63 (1) Dem von allen Seiten im Stich gelassenen Maroboduus blieb kein anderer Rückhalt als das Mitgefühl des Caesars. Er setzte über die Donau, wo sie an der Provinz Noricum vorbeifließt, und schrieb dann an Tiberius nicht wie ein Flüchtling oder Bittsteller, sondern aus dem Bewusstsein seiner früheren Position heraus. Denn als viele Völker den einst hochberühmten König zu sich rufen wollten, habe er die Freundschaft mit den Römern vorgezogen. (2) Er erhielt vom Caesar den Bescheid, er werde in Italien einen sicheren und ehrenvollen Aufenthaltsort erhalten, falls er bleiben wolle; wenn seinen Interessen anders besser gedient sei, könne er unter freiem Geleit gehen, wie er gekommen sei. (3) Aber vor dem Senat führte er aus, nicht vor Philipp hätten sich die Athener, nicht vor Pyrrhus oder Antiochus das römische Volk derart fürchten müssen. Die Rede ist noch erhalten, in der er die Bedeutung des Mannes, das gewalttätige Wesen der von ihm unterworfenen Völker und wie nahe der Feind Italien war, dazu seine eigenen Maßnahmen zu dessen Vernichtung herausstrich. (4) Maroboduus jedenfalls wurde in Ravenna festgehalten, und für den Fall, dass die Sueben einmal über die Stränge schlagen sollten, konnte man auf ihn verweisen, als werde er auf seinen Thron zurückkehren. Aber er verließ Italien 18 Jahre lang nicht und wurde ein alter Mann, wobei er viel von seiner Berühmtheit einbüßte, weil er viel zu sehr am Leben hing. (5) Das gleiche Schicksal hatte Catualda, und er fand keinen anderen Unterschlupf: Nachdem er nicht lange danach von den Streitkräften der Hermunduren und deren Anführer Vibilius vertrieben und von uns aufgenommen worden war, schickte man ihn nach Forum Iulium, eine Kolonie in Gallia Narbonensis. (6) Die Barbaren in beider Begleitung wurden, damit sie die Bewohner der ruhigen Provinzen nicht unterwandern und dann Unruhe stiften konnten, jenseits der Donau zwischen den Flüssen Marus und Cusus angesiedelt, nachdem man ihnen Vannius aus dem Stamm der Quaden zum König gegeben hatte. 64 (1) Zur gleichen Zeit beschlossen die Väter auf die Nachricht hin, Artaxias sei den Armeniern von Germanicus als König gegeben worden, Germanicus und Drusus sollten im kleinen Triumph in die Hauptstadt einziehen. Es wurden auch Bogen zu beiden Seiten des Tempels Mars’ des Rächers mit dem Bildnis der Caesaren errichtet, wobei sich Tiberius darüber, dass er den Frieden durch Klugheit gesichert hatte, mehr freute, als wenn er einen Krieg auf dem Schlachtfeld beendet hätte. (2) Also ging er auch gegen Rhescuporis, den König von Thrakien, mit List vor. Dieses Volk hatte Rhoemetalces insgesamt beherrscht; nach seinem Tod vertraute Augustus den einen Teil der Thraker seinem Bruder Rhescuporis, den anderen seinem Sohn Cotys an. Bei dieser Aufteilung fielen das fruchtbare Ackerland, die Städte und die Nachbargebiete zu den Griechen Cotys, was unkultiviert, unwirtlich war und an Feinde angrenzte, Rhescuporis zu. Was den Charakter der Könige selbst

166

Liber secundus

illi mite et amoenum, huic atrox avidum et societatis impatiens erat. (3) sed primo subdola concordia egere: mox Rhescuporis egredi fines, vertere in se Cotyi data et resistenti vm facere, cunctanter sub Augusto, quem auctorem utriusque regni, si sperneretur, vindicem metuebat. enimvero audita mutatione principis immittere latronum globos, exscindere castella, causas bello. 65 (1) Nihil aeque Tiberium anxium habebat, quam ne composita turbarentur. deligit centurionem, qui nuntiaret regibus ne armis disceptarent; statimque a Cotye dimissa sunt quae paraverat auxilia. (2) Rhescuporis ficta modestia postulat eundem in locum coiretur: posse de controversiis conloquio transigi. nec diu dubitatum de tempore, loco, dein condicionibus, cum alter facilitate, alter fraude cuncta inter se concederent acciperentque. (3) Rhescuporis sanciendo, ut dictitabat, foederi convivium adicit tractaque in multam noctem laetitia per epulas ac vinolentiam incautum Cotyn et, postquam dolum intellexerat, sacra regni, eiusdem familiae deos et hospitales mensas obtestantem catenis onerat. (4) Thraeciaque omni potitus scripsit ad Tiberium structas sibi insidias, praeventum insidiatorem; simul bellum adversus Bastarnas Scythasque praetendens novis peditum et equitum copiis sese firmabat. (5) molliter rescriptum, si fraus abesset, posse eum innocentiae fidere; ceterum neque se neque senatum nisi cognita causa ius et iniuriam discreturos: proinde tradito Cotye veniret transferretque invidiam criminis. 66 (1) Eas litteras Latinius Pandus pro praetore Moesiae cum militibus, quis Cotys traderetur, in Thraeciam misit. Rhescuporis inter metum et iram cunctatus maluit patrati quam incepti facinoris reus esse: occidi Cotyn iubet mortemque sponte sumptam ementitur. (2) nec tamen Caesar placitas semel artes mutavit, sed defuncto Padusa, quem sibi infensum Rhescuporis arguebat,

Buch II

167

betrifft, war der eine friedfertig und umgänglich, der andere brutal, habgierig und zu keiner Partnerschaft bereit. (3) Doch zunächst lebten sie in heimtückischer Eintracht; dann überschritt Rhescuporis seine Grenzen, eignete sich Gebiete an, die Cotys erhalten hatte, und ging, als der sich wehrte, gewaltsam gegen ihn vor, noch zögernd unter Augustus, der, so fürchtete er, als Begründer beider Reiche, falls man ihn missachte, zum Rächer werde. Als er dann aber vom Wechsel in der Person des Princeps hörte, schickte er Räuberbanden los und ließ befestigte Plätze zerstören – Anlässe für einen Krieg. 65 (1) Vor nichts hatte Tiberius so viel Angst wie vor einer Störung geordneter Verhältnisse. Er bestimmte einen Zenturio, der den Königen die Botschaft überbringen musste, sie sollten ihre Meinungsverschiedenheiten nicht mit Waffen austragen; sofort wurden von Cotys die Hilfstruppen entlassen, die er aufgestellt hatte. (2) Rhescuporis verlangte in gespielter Nachgiebigkeit, man solle sich an einem bestimmten Ort treffen; da könne man die Streitpunkte im Gespräch aus der Welt schaffen. Man war sich nicht lange uneins über Zeitpunkt und Ort, dann über die Bedingungen, weil sie gegenseitig, der eine aus Gutmütigkeit, der andere aus Heimtücke, alle Zugeständnisse machten und alle Forderungen akzeptierten. (3) Rhescuporis gab im Anschluss, um, wie er betonte, das Bündnis zu bekräftigen, ein Bankett; man dehnte die fröhliche Feier bis weit in die Nacht hinein aus, und als dann Cotys durch das gute Essen und viele Trinken unvorsichtig geworden war, belud er ihn mit Ketten, obwohl dieser, als er die Hinterlist bemerkt hatte, die Heiligkeit des Königtums, die Götter der gleichen Familie und die Tische beschwor, an denen er als Gast saß. (4) Nachdem Rhescuporis ganz Thrakien besetzt hatte, schrieb er an Tiberius, auf ihn sei ein Anschlag geplant worden, aber man sei dem Attentäter zuvorgekommen; zugleich schützte er einen Krieg gegen Bastarner und Skythen vor und verstärkte sich mit neuen Einheiten zu Fuß und zu Pferd. (5) Freundlich wurde geantwortet, wenn keine Heimtücke vorliege, könne er auf seine Unschuld bauen; aber sowohl er selbst als auch der Senat werde nur nach einer gerichtlichen Untersuchung des Falles über Recht und Unrecht entscheiden. Deshalb solle er Cotys ausliefern, herkommen und den gehässigen Vorwurf aus der Welt schaffen. 66 (1) Dieses Schreiben schickte Latinius Pandusa, der Proprätor Mösiens, zusammen mit Soldaten, denen Cotys übergeben werden sollte, nach Thrakien. Rhescuporis schwankte unschlüssig zwischen Furcht und Empörung hin und her und wollte dann lieber schuld an einem begangenen als an einem begonnenen Verbrechen sein: Er ließ Cotys umbringen und log, dieser sei freiwillig aus dem Leben geschieden. (2) Aber der Caesar änderte dennoch sein listiges Vorgehen nicht, nachdem er einmal daran Gefallen gefunden hatte, sondern nach dem Tod Pandusas, den Rhescuporis der Feindschaft gegen ihn beschuldigte, betraute

168

Liber secundus

Pomponium Flaccum, veterem stipendiis et arta cum rege amicitia eoque accommodatiorem ad fallendum, ob id maxime Moesiae praefecit. 67 (1) Flaccus in Thraeciam transgressus per ingentia promissa quamvis ambiguum et scelera sua reputantem perpulit ut praesidia Romana intraret. circumdata inc regi specie honoris valida manus, tribunique et centuriones monendo suadendo, et quanto longius abscedebatur, apertiore custodia, postremo gnarum necessitatis in urbem traxere. (2) accusatus in senatu ab uxore Cotys damnatur, ut procul regno teneretur. Thraecia in Rhoemetalcen filium, quem paternis consiliis adversatum constabat, inque liberos Cotys dividitur; iisque nondum adultis Trebellenus Rufus praetura functus datur, qui regnum interim tractaret, exemplo quo maiores M. Lepidum Ptolemaei liberis tutorem in Aegyptum miserant. (3) Rhescuporis Alexandriam devectus atque illic fugam temptans an ficto crimine interficitur. 68 (1) Per idem tempus Vonones, quem amotum in Ciliciam memoravi, corruptis custodibus effugere ad Armenios, inde [in] Albanos Heniochosque et consanguineum sibi regem Scytharum conatus est. specie venandi omissis maritimis locis avia saltuum petiit, mox pernicitate equi ad amnem Pyramum contendit, cuius pontes accolae ruperant audita regis fuga; neque vado penetrari poterat. (2) igitur in ripa fluminis a Vibio Frontone praefecto equitum vincitur; mox Remmius evocatus, priori custodiae regis adpositus, quasi per iram gladio eum transigit. unde maior fides conscientia sceleris et metu indicii mortem Vononi inlatam. 69 (1) At Germanicus Aegypto remeans cuncta, quae apud legiones aut urbes iusserat, abolita vel in contrarium versa cognoscit. hinc graves in Pisonem contumeliae, nec minus acerba quae ab illo in Caesarem intentabantur. dein Piso abire Syria statuit. (2) mox adversa Germanici valitudine detentus, ubi

Buch II

169

er Pomponius Flaccus, einen altgedienten Soldaten, der dem König in enger Freundschaft verbunden war und sich deshalb umso mehr dafür eignete, ihn zu täuschen, hauptsächlich deswegen mit der Leitung Mösiens. 67 (1) Flaccus zog nach Thrakien hinüber und brachte mit riesigen Versprechungen den trotzdem unschlüssigen und seine Verbrechen bedenkenden Rhescuporis dazu, sich in eine römische Garnison zu begeben. Dort wurde dem König angeblich als Ehrenwache eine starke Einheit zugeteilt, und Tribune und Zenturionen verschleppten ihn unter Warnungen und Ratschlägen, und je weiter man sich entfernte, unter immer offensichtlicherer Bewachung, schließlich im Bewusstsein der Unausweichlichkeit seiner Situation in die Hauptstadt. (2) Im Senat wurde er von Cotys’ Frau angeklagt und dazu verurteilt, fern seinem Reich in Gewahrsam gehalten zu werden. Thrakien wurde auf seinen Sohn Rhoemetalces, der sich nachweislich den Plänen seines Vaters widersetzt hatte, und die Kinder des Cotys aufgeteilt, und da sie noch nicht erwachsen waren, wurde ihnen Trebellenus Rufus beigegeben, der die Prätur bekleidet hatte; er sollte zwischenzeitlich das Königreich regieren nach dem Vorbild der Vorfahren, die M. Lepidus für die Kinder des Ptolemäus als Vormund nach Ägypten gesandt hatten.40 (3) Rhescuporis wurde nach Alexandria gebracht und dort bei einem Fluchtversuch – oder weil man den Vorwurf erfand – getötet. 68 (1) Zur gleichen Zeit bestach Vonones, dessen Entfernung nach Kilikien ich erwähnt habe,41 seine Wächter und versuchte zu den Armeniern zu fliehen, von dort zu den Albanern, Heniochern und dem mit ihm blutsverwandten Skythenkönig. Unter dem Vorwand, auf die Jagd zu gehen, verließ er das Küstengebiet, ritt ins unwegsame Waldgebirge und eilte dann auf seinem schnellen Pferd zum Fluss Pyramus, dessen Brücken die Anwohner auf die Nachricht von der Flucht des Königs abgebrochen hatten; aber auch über eine Furt konnte man nicht hinüberkommen. (2) Deshalb wurde er am Ufer des Flusses von dem Kavalleriekommandanten Vibius Fronto festgenommen; dann stieß ihm der Veteran42 Remmius, der der früheren Wachmannschaft des Königs zugewiesen worden war, angeblich in einem Wutanfall das Schwert in den Leib. Daher fand die Version mehr Glauben, Vonones sei wegen der Mitwisserschaft an seinem Vergehen und der Furcht vor Entdeckung ums Leben gebracht worden. 69 (1) Was jedoch Germanicus betrifft, so musste er bei seiner Rückkehr aus Ägypten feststellen, dass all seine Anordnungen, die er bei den Legionen oder in den Städten getroffen hatte, aufgehoben oder ins Gegenteil verkehrt worden waren. Das führte zu schweren, ehrabschneidenden Vorwürfe gegen Piso, aber nicht weniger kränkend war, was sich dieser gegen den Caesar herausnahm. Darauf beschloss Piso, Syrien zu verlassen. (2) Dann wurde er aber durch eine Erkrankung des Germanicus zum Bleiben veranlasst, und als er erfuhr, dieser

170

Liber secundus

recreatum accepit votaque pro incolumitate solvebantur, admotas hostias, sacrificalem apparatum, festam Antiochensium plebem per lictores proturbat. tum Seleuciam degreditur, opperiens aegritudinem, quae rursum Germanico acciderat. (3) saevam vim morbi augebat persuasio veneni a Pisone accepti; et reperiebantur solo ac parietibus erutae humanorum corporum reliquiae, carmina et devotiones et nomen Germanici plumbeis tabulis insculptum, semusti cineres ac tabo obliti aliaque malefica, quis creditur animas numinibus infernis sacrari. simul missi a Pisone incusabantur ut valitudinis adversa rimantes. 70 (1) Ea Germanico haud minus ira quam per metum accepta. si limen obsideretur, si effundendus spiritus sub oculis inimicorum foret, quid deinde miserrimae coniugi, quid infantibus liberis eventurum? lenta videri veneficia: festinare et urgere, ut provinciam, ut legiones solus habeat. sed non usque eo defectum Germanicum, neque praemia caedis apud interfectorem mansura. (2) componit epistulas, quis amicitiam ei renuntiabat; addunt plerique iussum provincia decedere. nec Piso moratus ultra naves solvit, moderabaturque cursui quo propius regrederetur, si mors Germanici Syriam aperuisset. 71 (1) Caesar paulisper ad spem erectus, dein fesso corpore, ubi finis aderat, adsistentes amicos in hunc modum adloquitur: ‘si fato concederem, iustus mihi dolor etiam adversus deos esset, quod me parentibus liberis patriae intra iuventam praematuro exitu raperent. nunc scelere Pisonis et Plancinae interceptus ultimas preces pectoribus vestris relinquo: referatis patri ac fratri, quibus acerbitatibus dilaceratus, quibus insidiis circumventus miserrimam vitam pessima morte finierim. (2) si quos spes meae, si quos propinquus sanguis, etiam quos invidia erga viventem movebat, inlacrimabunt quondam florentem et tot bellorum superstitem muliebri fraude cecidisse. erit vobis locus

Buch II

171

sei wieder bei Kräften, und Gelübde für seine Gesundung erfüllt wurden, ließ er die herbeigeführten Opfertiere, die prächtige Ausstattung für das Opfer und das festlich zusammengekommene Volk von Antiochia durch Liktoren auseinandertreiben. Anschließend zog er nach Seleucia und wartete den Verlauf der Krankheit ab, die bei Germanicus wieder ausgebrochen war. (3) Die furchtbare Wirkung des Leidens verschlimmerte seine Überzeugung, er sei von Piso vergiftet worden. Und wirklich fand man aus Boden und Wänden hervorgeholte Überreste von Leichen, Zaubersprüche und Verwünschungen sowie den in Bleiplättchen eingeritzten Namen des Germanicus, die Asche halbverbrannter Körperteile, die mit Jauche übergossen waren, und andere Zaubermittel, mit denen nach allgemeiner Überzeugung die Seelen den unterirdischen Gottheiten geweiht werden. Zugleich beschuldigte man Boten Pisos, sie versuchten Anzeichen für eine Verschlimmerung der Krankheit herauszubekommen. 70 (1) Diese Vorgänge nahm Germanicus nicht weniger entrüstet als voller Furcht wahr. Wenn schon seine Schwelle besetzt werde, wenn er sein Leben unter den Augen seiner persönlichen Feinde aushauchen müsse, welches Schicksal stehe dann erst seiner todunglücklichen Gattin, seinen kleinen Kindern bevor? Nur langsam scheine das Gift zu wirken: Der andere habe es eilig und dränge, um über die Provinz, über die Legionen allein verfügen zu können. Aber so geschwächt sei Germanicus noch nicht, und der Lohn für den Mord werde nicht beim Mörder bleiben! (2) Er verfasste einen Brief, in dem er ihm die Freundschaft aufkündigte; viele Autoren fügen hinzu, ihm sei befohlen worden, die Provinz zu verlassen. Und Piso lichtete, ohne weiter zu zögern, die Anker, verlangsamte dann aber die Fahrt, um für den Fall, dass Germanicus’ Tod Syrien für ihn frei gemacht habe, aus geringerer Entfernung zurückkehren zu können. 71 (1) Der Caesar schöpfte vorübergehend wieder Hoffnung, dann aber verfielen seine Körperkräfte, und als das Ende da war, sagte er zu den um ihn herumstehenden Freunden ungefähr folgendes: „Wenn ich mich nur dem Schicksal fügen müsste, wäre ich zu Recht auch über die Götter entrüstet, weil sie mich Eltern, Kindern und Vaterland als noch jungen Mann durch einen allzu frühen Tod gewaltsam wegnehmen. Jetzt aber, wo ich dem Verbrechen Pisos und Plancinas zum Opfer gefallen bin, lege ich euch meine letzten Bitten ans Herz: Berichtet meinem Vater und meinem Bruder, von welch bitteren Anfeindungen zutiefst getroffen, von welcher Hinterlist getäuscht ich mein höchst erbärmliches Leben durch den schlimmsten Tod beschlossen habe! (2) Falls jemanden auf mich gesetzte Hoffnungen, falls jemanden die Blutsverwandtschaft mit mir oder auch die Missgunst gegen mich zu meinen Lebzeiten leitete, nun werden sie darüber Tränen vergießen, dass ein früher einmal auf der Höhe der Macht stehender Mann, der so viele Kriege überlebt hat, der Heimtücke eines Weibes

172

Liber secundus

querendi apud senatum, invocandi leges. (3) non hoc praecipuum amicorum munus est, prosequi defunctum ignavo questu, sed quae voluerit meminisse, quae mandaverit exsequi. flebunt Germanicum etiam ignoti: vindicabitis vos, si me potius quam fortunam meam fovebatis. (4) ostendite populo Romano divi Augusti neptem eandemque coniugem meam, numerate sex liberos: misericordia cum accusantibus erit, fingentibusque scelesta mandata aut non credent homines aut non ignoscent.’ (5) iuravere amici dextram morientis contingentes, spiritum ante quam ultionem amissuros. 72 (1) Tum ad uxorem versus per memoriam sui, per communes liberos oravit, exueret ferociam, saevienti fortunae summitteret animum, neu regressa in urbem aemulatione potentiae validiores inritaret. haec palam et alia secreto, per quae ostender credebatur metum ex Tiberio. (2) neque multo post exstinguitur, ingenti luctu provinciae et cumiacentium populorum. indoluere exterae nationes regesque: tanta illi comitas in socios, mansuetudo in hostes; visuque et auditu iuxta venerabilis, cum magnitudinem et gravitatem summae fortunae retineret, invidiam et adrogantiam effugerat. 73 (1) Funus, sine imaginibus et pompa, per laudes ac memoriam virtutum eius celebre fuit. et erant qui formam aetatem genus mortis, ob propinquitatem etiam locorum, in quibus interiit, magni Alexandri fatis adaequarent. (2) nam utrumque corpore decoro, genere insigni, haud multum triginta annos egressum, suorum insidiis externas inter gentes occidisse: sed hunc mitem erga amicos, modicum voluptatum, uno matrimonio, certis liberis egisse, neque minus proeliatorem, etiam si temeritas afuerit praepeditusque sit perculsas tot victoriis Germanias servitio premere. (3) quod si solus arbiter rerum, si iure et nomine regio fuisset, tanto promptius adsecuturum gloriam militiae, quantum clementia temperantia, ceteris bonis artibus praestitisset. (4) corpus antequam

Buch II

173

zum Opfer gefallen ist. Ihr aber werdet Gelegenheit haben, mich vor dem Senat zu beklagen und die Gesetze anzurufen. (3) Nicht darin besteht die besondere Aufgabe von Freunden, einem Toten mit hilflosem Gejammer das Geleit zu geben, sondern seinen Willen im Gedächtnis zu behalten, seine Aufträge auszuführen. Beweinen werden Germanicus auch fremde Personen; rächen werdet ihr ihn, falls es euch eher um mich als um meine hohe Stellung gegangen ist. (4) Zeigt dem römischen Volk die Enkelin des vergöttlichten Augustus, die auch meine Ehefrau ist, zählt unsere sechs Kinder auf: Mitleid wird aufseiten der Ankläger sein, und den Leuten, die so tun, als hätten sie verbrecherische Aufträge bekommen, werden die Menschen entweder nicht glauben oder nicht verzeihen!“ (5) Seine Freunde fassten die rechte Hand des Sterbenden und schworen, eher ihr Leben als die Rache zu lassen. 72 (1) Dann wandte er sich an seine Frau und bat sie inständig beim Andenken an seine Person und bei den gemeinsamen Kindern, ihr schroffes Wesen abzulegen, sich dem wütenden Schicksal zu beugen und nach der Rückkehr in die Hauptstadt nicht aus Rivalität diejenigen herauszufordern, die stärker seien. Das sagte er offen und anderes unter vier Augen, durch das er ihr, so glaubte man, seine Furcht vor Tiberius zu verstehen gab. (2) Nicht lange danach erlosch sein Leben unter tiefster Trauer der Provinz und der umliegenden Völker. Betrübt waren auswärtige Nationen und Könige: So groß waren seine Freundlichkeit den Bundesgenossen gegenüber, seine Nachsicht gegen äußere Feinde gewesen, und er hatte, seiner äußeren Erscheinung und seinen Worten nach gleich verehrungswürdig, während er Größe und Erhabenheit seiner herausgehobenen Stellung wahrte, Missgunst und Überheblichkeit vermieden. 73 (1) Sein Leichenbegängnis fand ohne Ahnenbilder und Trauerzug statt, war aber durch die Lobreden und die Erinnerung an seine charakterlichen Vorzüge feierlich. Auch gab es Leute, die sein Aussehen, sein Alter, die Umstände seines Todes auch wegen der Nähe der Gegend, in der er starb, mit dem Schicksal Alexanders des Großen verglichen. (2) Denn beide seien von schöner Gestalt und vornehmer Abkunft gewesen, seien nicht viel über dreißig Jahre hinausgekommen und durch die Hinterlist ihrer eigenen Leute unter fremden Völkern zugrunde gegangen. Aber der hier sei liebenswürdig zu seinen Freunden, maßvoll in seinen Genüssen gewesen und habe nur in einer einzigen Ehe mit Kindern gelebt, die sicher die seinen waren, und doch sei er nicht weniger ein Kriegsheld gewesen, auch wenn ihm das Draufgängertum abgegangen und er daran gehindert worden sei, das in so vielen Siegen niedergeworfene Germanien in die Knechtschaft zu zwingen. (3) Wenn er aber allein Entscheidungen hätte treffen können, wenn er Recht und Titel zufolge König gewesen wäre, dann hätte er umso leichter Kriegsruhm erworben, als er hinsichtlich Großzügigkeit, Selbstbeherrschung und der übrigen Vorzüge besser gewesen sei. (4) Ob sein

174

Liber secundus

cremaretur nudatum in foro Antiochensium, qui locus sepulturae destinabatur, praetuleritne veneficii signa, parum constitit: nam ut quis misericordia in Germanicum et praesumpta suspicione, aut favore in Pisonem pronior, diversi interpretantur. 74 (1) Consultatum inde inter legatos quique alii senatorum aderant, quisnam Syriae praeficeretur. et ceteris modice nsis, inter Vibium Marsum et Cn. Sentium diu quaesitum; dein Marsus seniori et acrius tendenti Sentio concessit. (2) isque infamem veneficiis ea in provincia et Plancinae percaram nomine Martinam in urbem misit, postulantibus Vitellio ac Veranio ceterisque, qui crimina et accusationem tamquam adversus receptos iam reos instruebant. 75 (1) At Agrippina, quamquam defessa luctu et corpore aegro, omnium tamen quae ultionem morarentur intolerans, ascendit classem cum cineribus Germanici et liberis, miserantibus cunctis, quod femina nobilitate princeps, pulcherrimo modo matrimonio inter venerantes gratantesque aspici solita, tunc ferales reliquias sinu ferret, incerta ultionis, anxia sui et infelici fecunditate fortunae totiens obnoxia. (2) Pisonem interim apud Coum insulam nuntius adsequitur excessisse Germanicum. quo intemperanter accepto caedit victimas, adit templa, neque ipse gaudium moderans et magis insolescente Plancina, quae luctum amissae sororis tum primum laeto cultu mutavit. 76 (1) Adfluebant centuriones monebantque prompta illi legionum studia: repeteret provinciam non iure ablatam et vacuam. (2) igitur quid agendum consultanti M. Piso filius properandum in urbem censebat: nihil adhuc inexpiabile admissum, neque suspiciones imbecillas aut inania famae pertimescenda. discordiam erga Germanicum odio fortasse dignam, non poena; et ademptione provinciae satis factum inimicis. (3) quod si regrederetur,

Buch II

175

Leichnam, der vor der Verbrennung entblößt auf dem Forum von Antiochia, dem für die Einäscherung vorgesehenen Ort, aufgebahrt wurde, Anzeichen eines Giftmords aufwies, ließ sich nicht sicher klären: Denn je nachdem ob einer Mitleid mit Germanicus empfand und deshalb zum Verdacht neigte oder mehr Sympathien für Piso hegte, kam man zu verschiedenen Ergebnissen. 74 (1) Man beriet dann unter den Legaten und den anderen anwesenden Senatoren, wem man nun die Leitung Syriens übertragen solle. Und während die übrigen Beteiligten nur mäßiges Interesse zeigten, konnte man sich lange zwischen Vibius Marsus und Cn. Sentius nicht entscheiden; schließlich gab Marsus dem älteren und hartnäckigeren Bewerber Sentius nach. (2) Dieser schickte eine in dieser Provinz berüchtigte und von Plancina hoch geschätzte Giftmischerin namens Martina in die Hauptstadt, und zwar auf Verlangen des Vitellius, Veranius und aller anderen, die Vorwürfe und Anklage wie gegen bereits eingetragene Angeklagte43 zusammenstellten. 75 (1) Was Agrippina betrifft, so duldete sie, obwohl sie von der Trauer sehr mitgenommen und zudem krank war, dennoch nichts, was ihre Rache verzögern konnte, und schiffte sich mit der Asche des Germanicus und den Kindern ein. Dabei bedauerte man allgemein, dass eine Frau von höchstem Adel, die eben noch in einer sehr glücklichen Ehe lebte und gewohnt war, sich umgeben von Menschen, die sie verehrten und ihr Glückwünsche zuriefen, sehen zu lassen, jetzt die Überbleibsel einer Einäscherung im Bausch ihres Gewands trage, ohne zu wissen, ob Rache möglich sei, in Sorge um die eigene Person und mit ihrem unseligen Kinderreichtum Schicksalsschlägen noch so häufig ausgeliefert. (2) Piso erreichte in der Zwischenzeit auf der Insel Kos die Nachricht vom Ableben des Germanicus. Als er sie entgegengenommen hatte, legte er jede Zurückhaltung ab, schlachtete Opfertiere und besuchte Tempel, wobei er selbst seine Freude nicht zügelte und Plancina sich noch unverfrorener benahm: Sie vertauschte erstmals die Trauerkleidung, die sie wegen des Verlusts einer Schwester trug, wieder mit einem Festgewand. 76 (1) Zahlreiche Zenturionen strömten herbei und wiesen darauf hin, er könne sich auf die Sympathien seiner Legionen verlassen; er solle sich doch die Provinz wieder holen, die man ihm zu Unrecht weggenommen habe und die herrenlos sei. (2) Als er sich deshalb beriet, was zu tun sei, vertrat sein Sohn M. Piso die Auffassung, er solle sich schleunigst in die Hauptstadt begeben: Keine unverzeihliche Handlung habe man bisher begangen, und vor den haltlosen Verdächtigungen oder dem leeren Gerede der Leute müsse man sich nicht fürchten. Das Zerwürfnis mit Germanicus verdiene vielleicht Hass, aber keine Strafe, und durch die Wegnahme der Provinz habe man den Feinden Genüge getan. (3) Wenn er aber zurückgehe, werde Sentius Widerstand leisten,

176

Liber secundus

obsistente Sentio civile bellum incipi; nec duraturos in partibus centuriones militesque, apud quos recens imperatoris sui memoria et penitus infixus in Caesares amor praevaleret. 77 (1) Contra Domitius Celer, ex intima eius amicitia, disseruit utendum eventu: Pisonem, non Sentium Syriae praepositum; huic fasces et ius praetoris, huic legiones datas. si quid hostile ingruat, quem iustius arma oppositurum, qui legati auctoritatem et propria mandata acceperit? (2) relinquendum etiam rumoribus tempus, quo senescant: plerumque innocentes recenti invidiae impares. at si teneat exercitum, augeat vires, multa quae provideri non possint fortuito in melius casura. (3) ‘an festinamus cum Germanici cineribus adpellere, ut te inauditum et indefensum planctus Agrippinae ac vulgus imperitum primo rumore rapiant? est tibi Augustae conscientia, est Caesaris favor, sed in occulto; et perisse Germanicum nulli iactantius maerent quam qui maxime laetantur.’ 78 (1) Haud magna mole Piso, promptus ferocibus, in sententiam trahitur missisque ad Tiberium epistulis incusat Germanicum luxus et superbiae; seque pulsum, ut locus rebus novis patefieret, curam exercitus eadem fide qua tenuerit repetivisse. (2) simul Domitium impositum triremi vitare litorum oram praeterque insulas alto mari pergere in Syriam iubet. concurrentes desertores per manipulos componit, armat lixas traiectisque in continentem navibus vexillum tironum in Syriam euntium intercipit, regulis Cilicum ut se auxiliis iuvarent scribit, haud ignavo ad ministeria belli iuvene Pisone, quamquam suscipiendum bellum abnuisset. 79 (1) Igitur oram Lyciae ac Pamphyliae praelegentes, obviis navibus quae Agrippinam vehebant, utrimque infensi arma primo expediere; dein mutua

Buch II

177

und damit beginne ein Bürgerkrieg. Auch würden die Zenturionen und einfachen Soldaten nicht auf Dauer auf seiner Seite bleiben; denn bei ihnen gebe die frische Erinnerung an ihren Befehlshaber und die tief verwurzelte Liebe zu den Caesaren den Ausschlag. 77 (1) Dagegen sprach sich Domitius Celer aus seinem engsten Freundeskreis dafür aus, die Gelegenheit zu nützen: Piso, nicht Sentius sei mit der Leitung Syriens betraut; ihm seien die Rutenbündel und die Rechtsbefugnisse eines Prätors, ihm die Legionen übertragen worden. Sollte es zu irgendwelchen Feindseligkeiten kommen, wer werde dann mit mehr Berechtigung dagegen seine Waffen einsetzen als der Mann, der die Vollmacht eines Legaten und Spezialaufträge erhalten habe? (2) Auch müsse man Gerüchten Zeit lassen, damit sie allmählich einschliefen. In der Regel seien unschuldige Personen frischem Hass nicht gewachsen. Doch wenn er sein Heer in der Hand behalte und seine Streitkräfte noch verstärke, würden sich viele Probleme, die man nicht vorhersehen könne, durch Zufall zum Besseren wenden. (3) „Oder sollen wir uns beeilen, zusammen mit der Asche des Germanicus an Land zu gehen, damit dich, ohne dass man dich anhörte und du dich verteidigen konntest, das Gejammer der Agrippina und der unbedarfte Pöbel auf das erstbeste Gerücht hin mit Gewalt fortschleppen? Du hast das Einverständnis der Augusta (Livia), du hast das Wohlwollen des Caesars, allerdings nur im Geheimen; und dass Germanicus umgekommen ist, betrauert niemand auffälliger als die Personen, die sich darüber am meisten freuen.“ 78 (1) Ohne große Anstrengung ließ sich Piso, der zu gewaltsamem Vorgehen neigte, für diese Auffassung gewinnen, und in einem Schreiben an Tiberius beschuldigte er Germanicus der Verschwendung und der Anmaßung; er habe nun, nachdem man ihn verjagt habe, um den Weg für einen Umsturz freizumachen, die Betreuung des Heeres mit der gleichen Loyalität, mit der er es zuvor geführt habe, wieder übernommen. (2) Gleichzeitig gab er Domitius den Auftrag, an Bord eines Dreiruderers die Küstengebiete zu meiden und an den Inseln vorbei auf hoher See nach Syrien zu segeln. Deserteure, die ihm zugelaufen waren, stellte er zu Manipeln zusammen, bewaffnete die Trossknechte, schickte Schiffe auf das Festland hinüber, fing so eine Einheit von Rekruten ab, die auf dem Weg nach Syrien war, und schrieb den Kleinkönigen der Kilikier, sie sollten ihn mit Hilfstruppen unterstützen; mit großem Einsatz erledigte der junge Piso die Aufgaben, die der Krieg mit sich brachte, obwohl er davon abgeraten hatte, den Krieg zu beginnen. 79 (1) Als sie deshalb an der Küste Lykiens und Pamphyliens entlangfuhren und den Schiffen, die Agrippina an Bord hatten, begegneten, trafen beide Seiten zunächst voller Feindschaft Vorbereitungen zu einer bewaffneten Auseinandersetzung; dann aber ging man aus Angst voreinander nicht über

178

Liber secundus

formidine non ultra iurgium processum est, Marsusque Vibius nuntiavit Pisoni Romam ad dicendam causam veniret. ille eludens respondit adfuturum, ubi praetor, qui de veneficiis quaereret, reo atque accusatoribus diem prodixisset. (2) interim Domitius Laodiciam urbem Syriae adpulsus, cum hiberna sextae legionis peteret, quod eam maxime novis consiliis idoneam rebatur, a Pacuvio legato praevenitur. id Sentius Pisoni per litteras aperit monetque, ne castra corruptoribus, ne provinciam bello temptet. (3) quosque Germanici memores aut inimicis eius adversos cognoverat, contrahit, magnitudinem imperatoris identidem ingerens et rem publicam armis peti; ducitque validam manum et proelio paratam. 80 (1) Nec Piso, quamquam coepta secus cadebant, omisit tutissima e praesentibus, sed castellum Ciliciae munitum admodum, cui nomen Celendris, occupat; nam admixtis desertoribus et tirone nuper intercepto suisque et Plancinae servitiis auxilia Cilicum, quae reguli miserant, in numerum legionis composuerat. (2) Caesarisque se legatum testabatur provincia, quam is dedisset, arceri, non a legionibus (earum quippe accitu venire), sed a Sentio privatum odium falsis criminibus tegente. consisterent in acie, non pugnaturis militibus, ubi Pisonem ab ipsis parentem quondam appellatum, si iure ageretur, potiorem, si armis, non invalidum vidissent. (3) tum pro munimentis castelli manipulos explicat, colle arduo et derupto; nam cetera mari cinguntur. contra veterani ordinibus ac subsidiis instructi: hinc militum, inde locorum asperitas, sed non animus, non spes, ne tela quidem nisi agrestia aut subitum usum properata. (4) ut venere in manus, non ultra dubitatum quam dum Romanae cohortes in aequum eniterentur: vertunt terga Cilices seque castello claudunt.

Buch II

179

einen Wortwechsel hinaus, und Marsus Vibius rief Piso zu, er solle nach Rom kommen, um sich vor Gericht zu verantworten. Der machte sich darüber lustig und erwiderte, er werde da sein, sobald der Prätor, der die Untersuchungen wegen Giftmischerei führe, einen Termin für Angeklagten und Ankläger anberaumt habe.44 (2) In der Zwischenzeit war Domitius in Laodicia, einer Stadt Syriens, an Land gegangen; als er zum Winterlager der sechsten Legion unterwegs war, weil er glaubte, diese sei am ehesten für seine revolutionären Pläne zu gewinnen, kam ihm der Legat Pacuvius zuvor. Das eröffnete Sentius dem Piso brieflich und warnte ihn vor dem Versuch, das Lager durch Verführer und die Provinz durch Krieg auf seine Seite zu bringen. (3) All die Leute, von denen er wusste, dass sie das Andenken an Germanicus in Ehren hielten oder Gegner seiner Feinde waren, sammelte er um sich und hielt ihnen immer wieder die Erhabenheit ihres Oberbefehlshabers vor Augen und dass nun der Staat mit Waffengewalt angegriffen werde; und er befehligte eine starke, auf den Kampf vorbereitete Truppe. 80 (1) Aber Piso unterließ, obwohl sein Unternehmen anders als geplant verlief, keine der in der augenblicklichen Lage wichtigsten Sicherheitsmaßnahmen, sondern besetzte in Kilikien ein stark befestigtes Kastell, das Celenderis hieß; denn er hatte durch die Eingliederung der Deserteure, die kurz zuvor abgefangenen Rekruten und durch seine eigenen und Plancinas Sklaven die von den Kleinkönigen geschickten Hilfstruppen der Kilikier bis zur Mannschaftsstärke einer Legion aufgestockt. (2) Als Legat des Caesars, erklärte er, werde er von der Provinz, die ihm dieser übertragen habe, ferngehalten, nicht durch die Legionen – denn auf deren Aufforderung hin komme er ja –, sondern durch Sentius, der seinen persönlichen Hass hinter falschen Vorwürfen verstecke. Sie sollten nur zur Schlacht antreten, weil die Soldaten doch nicht kämpften, sobald sie Piso, den sie selbst einst mit „Vater“ ansprachen, erblickt hätten, der, wenn es nach dem Recht gehe, überlegen, wenn nach den Waffen, nicht schwach sei. (3) Dann ließ er vor den Befestigungsanlagen des Kastells seine Manipel auf einem steil abfallenden Hügel Stellung beziehen; denn das übrige Gelände war vom Meer umgeben. Ihnen gegenüber wurden die Veteranen, nach Zenturien und Reservetruppen geordnet, aufgestellt: Auf der einen Seite stand die Schroffheit der Soldaten, auf der anderen die des Geländes, aber man hatte dort keinen Mut, keine Hoffnung, nicht einmal Waffen außer landwirtschaftlichen oder anderen Geräten, die man in Eile für den überraschenden Einsatz hergerichtet hatte. (4) Sobald es zum Kampf Mann gegen Mann gekommen war, war der Ausgang nur so lange zweifelhaft, bis sich die römischen Kohorten die Anhöhe hinaufgearbeitet hatten; da flohen die Kilikier und schlossen sich im Kastell ein.

180

Liber secundus

81 (1) Interim Piso classem haud procul opperientem adpugnare frustra temptavit; regressusque et pro muris modo semet adflictando, modo singulos nomine ciens, praemiis vocans seditionem coeptabat, adeoque commoverat, ut signifer legionis [vocans] sextae signum ad eum transtulerit. (2) tum Sentius occanere cornua tubasque et peti aggerem, erigi scalas iussit, ac promptissimum quemque succedere, alios tormentis hastas saxa et faces ingerere. (3) tandem victa pertinacia Piso oravit, ut traditis armis maneret in castello, dum Caesar, cui Syriam permitteret, consulitur. non receptae condiciones, nec aliud quam naves et tutum in urbem iter concessum est. 82 (1) At Romae, postquam Germanici valitudo percrebuit cunctaque ut ex longinquo aucta in deterius adferebantur, dolor ira, et erumpebant questus: ideo nimirum in extremas terras relegatum, ideo Pisoni permissam provinciam; hoc egisse secretos Augustae cum Plancina sermones. (2) vera prorsus de Druso seniores locutos: displicere regnantibus civilia filiorum ingenia, neque ob aliud interceptos, quam quia populum Romanum aequo iure complecti reddita libertate agitaverint. (3) hos vulgi sermones audita mors adeo incendit, ut ante edictum magistratuum, ante senatus consultum sumpto iustitio desererentur fora, clauderentur domus. passim silentia et gemitus, nihil compositum in ostentationem; et quamquam neque insignibus lugentium abstinerent, altius animis maerebant. (4) forte negotiatores, vivente adhuc Germanico Syria egressi, laetiora de valitudine eius attulere. statim credita, statim vulgata sunt: ut quisque obvius, quamvis leviter audita in alios atque illi in plures cumulata gaudio transferunt. cursant per urbem, moliuntur templorum fores; iuvat credulitatem nox et promptior inter tenebras adfirmatio. (5) nec obstitit falsi Tiberius, donec tempore ac spatio vanescerent. et populus quasi rursum ereptum acrius doluit.

Buch II

181

81 (1) Inzwischen ging Piso erfolglos daran, die in keiner großen Entfernung wartende Flotte anzugreifen; so kehrte er zurück und versuchte, indem er sich die Mauern entlang bald selbst an die Brust schlug, bald einzelne Soldaten mit Namen rief, bald mit Belohnungen lockte, eine Meuterei anzuzetteln, und er hatte sie schon derart beeindruckt, dass ein Fahnenträger der sechsten Legion mit der Fahne zu ihm überlief. (2) Da gab Sentius das Kommando, die Hörner und Trompeten zu blasen, den Damm anzugreifen45 und die Leitern anzulegen; die entschlossensten Soldaten sollten hinaufsteigen, andere mit den Geschützen Lanzen, Steine und Brandfackeln verschießen. (3) Endlich war der hartnäckige Widerstand gebrochen, und Piso bat, nach Auslieferung der Waffen im Kastell bleiben zu dürfen, während man beim Caesar nachfrage, wem er Syrien anvertrauen wolle. Die Bedingungen wurden nicht angenommen; man gestand ihm lediglich Schiffe und eine sichere Fahrt in die Hauptstadt zu. 82 (1) Doch in Rom herrschten, nachdem sich die Nachricht von der Erkrankung des Germanicus herumgesprochen hatte und alles, wie bei der großen Entfernung verständlich, übertrieben und schlimmer dargestellt wurde, Schmerz und Erbitterung, und Klagen machten sich Luft: Darum also habe man ihn in die entlegensten Länder verwiesen, darum Piso die Provinz anvertraut; das hätten die geheimen Absprachen der Augusta (Livia) mit Plancina fertiggebracht! (2) Die reine Wahrheit hätten schon über Drusus die älteren Leute gesagt: Den Alleinherrschern missfalle die bürgernahe Einstellung ihrer Söhne46, und sie seien nur aus dem Grund beseitigt worden, weil sie darauf hingearbeitet hätten, das römische Volk durch die Rückgabe der Freiheit einheitlich nach gleichem Recht zu behandeln. (3) Dieses Gerede im Volk heizte die Nachricht von seinem Tod derart an, dass man schon vor einem Erlass der Behörden, vor einem Senatsbeschluss die öffentliche Trauer beachtete, die Marktplätze verließ und die Häuser geschlossen hielt. Überall herrschten Schweigen und Seufzen, nichts davon war zur Schau getragen. Und obwohl man auch auf die äußeren Zeichen der Trauer nicht verzichtete, war man noch tiefer im Herzen betrübt. (4) Zufällig brachten Kaufleute, die aus Syrien abgereist waren, als Germanicus noch am Leben war, erfreulichere Nachrichten über seinen Gesundheitszustand. Sofort glaubte man das, sofort wurde es verbreitet: Jeder, der einem entgegenkam, gab, was er auch nur flüchtig gehört hatte, an andere, die wiederum an noch mehr Personen weiter und schmückten es dabei voller Freude aus. Man lief durch die Hauptstadt, brach die Tempeltüren auf; zur Leichtgläubigkeit trug die Nacht bei, und in der Dunkelheit fand die bloße Behauptung viel leichter Gehör. (5) Diesen falschen Gerüchten trat Tiberius auch nicht entgegen, bis sie sich durch den zeitlichen Abstand in Nichts auflösten. Und das Volk trauerte um Germanicus noch tiefer, so als sei er ihm zum zweiten Mal entrissen worden.

182

Liber secundus

83 (1) Honores, ut quis amore in Germanicum aut ingenio validus, reperti decretique: ut nomen eius Saliari carmine caneretur; sedes curules sacerdotum Augustalium locis superque eas querceae coronae statuerentur; ludos circenses eburna effigies praeiret; neve quis flamen aut augur in locum Germanici nisi gentis Iuliae crearetur. (2) arcus additi Romae et apud ripam Rheni et in monte Syriae Amano cum inscriptione rerum gestarum ac mortem ob rem publicam obisse; sepulchrum Antiochiae ubi crematus, tribunal Epidaphnae, quo in loco vitam finierat. statuarum locorumve, in quis coleretur, haud facile quis numerum inierit. (3) cum censeretur clipeus auro et magnitudine insignis inter auctores eloquentiae, adseravit Tiberius solitum paremque ceteris dicaturum: neque enim eloquentiam fortuna discerni, et satis inlustre, si veteres inter scriptores haberetur. (4) equester ordo cuneum Germanici appellavit, qui iuniorum dicebatur, instituitque uti turmae idibus Iuliis imaginem eius sequerentur. pleraque manent: quaedam statim omissa sunt aut vetustas obliteravit. 84 (1) Ceterum recenti adhuc maestitia soror Germanici Livia, nupta Druso, duos virilis sexus simul enixa est. quod rarum laetumque etiam modicis penatibus tanto gaudio principem adfecit, ut non temperaverit quin iactaret apud patres nulli ante Romanorum eiusdem fastigii viro geminam stirpem editam. nam cuncta, etiam fortuita, ad gloriam vertebat. (2) sed populo tali in tempore id quoque dolorem tulit, tamquam auctus liberis Drusus domum Germanici magis urgeret. 85 (1) Eodem anno gravibus senatus decretis libido feminarum coercita cautumque, ne quaestum corpore faceret cui avus aut pater aut maritus eques Romanus fuisset. (2) nam Vistilia, praetoria familia genita, licentiam stupri apud aediles vulgaverat, more inter veteres recepto, qui satis poenarum adversum

Buch II

183

83 (1) Ehrungen erfand und beschloss man, wie sie jedem die Stärke seiner Liebe zu Germanicus oder seines Einfallsreichtums eingab: Sein Name wird im Salierlied47 mitgesungen. Kurulische Sessel werden an den Plätzen der augustalischen Priester aufgestellt und über ihnen Eichenkränze angebracht. Bei den Zirkusspielen wird sein Bildnis in Elfenbein vorneweg getragen. Zum Flamen oder Augur werden anstelle des Germanicus nur Angehörige der julischen Familie gewählt. (2) Zusätzlich wurden Ehrenbogen in Rom, am Rheinufer und auf dem Berg Amanus in Syrien aufgestellt mit einer Inschrift von seinen Taten und dass er im Dienste des Gemeinwesens den Tod gefunden habe. Ein Grabmal wurde in Antiochia errichtet, wo er eingeäschert worden war, dazu eine Tribüne in Epidaphne, dem Ort, an dem er sein Leben beendet hatte. Die Anzahl der Statuen oder Plätze, an denen er verehrt werden sollte, dürfte kaum jemand feststellen können. (3) Als die Aufstellung eines Brustbilds, das durch sein Gold und seine Größe herausstechen sollte, unter den führenden Vertretern der Beredsamkeit48 beantragt wurde, beteuerte Tiberius, er werde nur das übliche weihen, das den übrigen entspreche. Denn Beredsamkeit hänge nicht von der gesellschaftlichen Stellung ab, und es sei genug der Ehre, wenn man ihn unter die alten Schriftsteller einreihe. (4) Der Ritterstand benannte seinen Block im Theater, der bisher „die Jungen“ hieß, nach Germanicus und beschloss, die Schwadronen sollten am 15. Juli hinter seinem Bildnis herziehen.49 Das meiste davon hat sich gehalten, einiges wurde sofort wieder aufgegeben oder geriet mit der Zeit in Vergessenheit. 84 (1) Außerdem brachte noch am Beginn der Trauerzeit Germanicus’ Schwester Livia, die Frau des Drusus, Zwillinge männlichen Geschlechts50 zur Welt. Dieses auch in gewöhnlichen Familien seltene und erfreuliche Ereignis erfüllte den Princeps derart mit Freude, dass er nicht davon absehen konnte, sich vor den Vätern zu rühmen, keinem Römer von gleich hoher Stellung seien zuvor Zwillinge geboren worden. Denn alles, auch Zufälle, versuchte er seinem Ruhm zuzuschlagen. (2) Aber dem Volk bereitete in einer solchen Zeit sogar dieses Ereignis Kummer, weil es den Eindruck hatte, der Kindersegen des Drusus bringe das Haus des Germanicus noch mehr in Bedrängnis. 85 (1) Im gleichen Jahr wurde das liederliche Verhalten von Frauen durch einschneidende Senatsbeschlüsse eingeschränkt, und man sah Strafen dafür vor, dass eine Person Geld mit ihrem Körper verdiente, die als Großvater, Vater oder Ehemann einen römischen Ritter hatte. (2) Denn Vistilia, die aus einer prätorischen Familie stammte, hatte die freie Ausübung unerlaubten Geschlechtsverkehrs51 bei den Ädilen bekannt gegeben und nahm damit einen bei unseren Vorfahren üblichen Brauch wieder auf, die glaubten, genug Strafe

184

Liber secundus

impudicas in ipsa professione flagitii credebant. (3) exactum et a Titidio Labeone, Vistiliae marito, cur in uxore delicti manifesta ultionem legis omisisset. atque illo praetendente sexaginta dies ad consultandum datos necdum praeterisse, satis visum de Vistilia statuere; eaque in insulam Seriphon abdita est. (4) Actum et de sacris Aegyptiis Iudaicisque pellendis, factumque patrum consultum, ut quattuor milia libertini generis ea superstitione infecta, quis idonea aetas, in insulam Sardiniam veherentur, coercendis illic latrociniis et, si ob gravitatem caeli interissent, vile damnum; ceteri cederent Italia, nisi certam ante diem profanos ritus exuissent. 86 (1) Post quae rettulit Caesar capiendam virginem in locum Occiae, quae septem et quinquaginta per annos summa sanctimonia Vestalibus sacris praesederat; egitque grates Fonteio Agrippae et Comicio Pollioni, quod offerendo filias de officio in rem publicam certarent. (2) praelata est Pollionis filia, non ob aliud quam quod mater eius in eodem coniugio manebat; nam Agrippa discidio domum imminuerat. et Caesar quamvis posthabitam decies sestertii dote solatus est. 87 Saevitiam annonae incusante plebe statuit frumento pretium, quod emptor penderet, binosque nummos se additurum negotiatoribus in singulos modios. neque tamen ob ea parentis patriae delatum et antea vocabulum adsumpsit, acerbeque increpuit eos, qui divinas occupationes ipsumque dominum dixerant. unde angusta et lubrica oratio sub principe, qui libertatem metuebat, adulationem oderat. 88 (1) Reperio apud scriptores senatoresque eorundem temporum Adgandestrii principis Chattorum lectas in senatu litteras, quibus mortem Arminii promittebat, si patrandae neci venenum mitteretur, responsumque esse non fraude neque occultis, sed palam et armatum populum Romanum hostes suos ulcisci. qua gloria aequabat se Tiberius priscis imperatoribus, qui venenum in Pyrrhum regem vetuerant prodiderantque. (2) ceterum Arminius,

Buch II

185

für schamlose Frauen bedeute es, wenn sie ihr schändliches Treiben öffentlich anzeigen müssten. (3) Man stellte auch Titidius Labeo, Vistilias Ehemann, zur Rede, warum er bei dem offensichtlichen Fehlverhalten seiner Frau die gesetzlich vorgesehene Bestrafung unterlassen habe. Und als er vorschützte, die 60 Tage Bedenkzeit seien ja noch nicht vorüber, schien es auszureichen, nur über Vistilia zu entscheiden, und sie wurde auf die Insel Seriphos verbannt. (4) Verhandelt wurde auch über die Beseitigung des ägyptischen und jüdischen Kults, und es kam zu dem Senatsbeschluss, 4000 Personen des Freigelassenenstandes, die von diesem Aberglauben angesteckt waren und das geeignete Alter hatten, auf die Insel Sardinien zu verfrachten, um das dortige Räuberunwesen einzudämmen, und falls sie wegen des ungesunden Klimas umkämen, sei das nur ein geringer Verlust. Der Rest solle Italien verlassen, falls sie nicht bis zu einem bestimmten Termin ihre gottlosen Bräuchen abgelegt hätten. 86 (1) Danach beantragte der Caesar, eine Jungfrau an die Stelle Occias zu wählen, die 57 Jahre lang als ein Muster gottgefälligen Lebenswandels den vestalischen Gottesdienst geleitet hatte, und er bedankte sich bei Fonteius Agrippa und Comicius Pollio dafür, dass sie ihre Töchter zur Verfügung stellten und sich so im Dienst am Gemeinwesen zu überbieten suchten. (2) Den Vorzug erhielt Pollios Tochter lediglich deshalb, weil ihre Mutter in derselben Ehe blieb; denn Agrippa hatte durch seine Scheidung dem Ansehen seines Hauses geschadet. Und der Caesar tröstete sie trotz ihrer Nichtberücksichtigung mit einer Mitgift von einer Million Sesterze. 87 Auf die Beschwerden des einfachen Volks über den horrenden Preisanstieg setzte er für Getreide die Summe fest, die der Käufer bezahlen musste; zwei Sesterze je Scheffel werde er für die Händler darauflegen. Und dennoch nahm er den Titel „Vater des Vaterlands“, der ihm deswegen, aber auch schon vorher angetragen worden war, nicht an und schalt die Leute heftig, die von „göttlichem Wirken“ und von ihm selbst als „Herrn“ gesprochen hatten. Deshalb war das Reden eine gezwungene und riskante Angelegenheit unter einem Princeps, der die freie Meinungsäußerung fürchtete und die Unterwürfigkeit hasste. 88 (1) Ich finde bei den senatorischen Schriftstellern derselben Zeit die Nachricht, ein Brief des Chattenhäuptlings Adgandestrius sei im Senat verlesen worden, in dem er den Tod des Arminius versprach, falls man für seine Ermordung Gift schicke; er habe die Antwort erhalten, nicht hinterrücks und heimlich, sondern offen und mit der Waffe in der Hand räche sich das römische Volk an seinen Feinden. Mit dieser lobenswerten Haltung stellte sich Tiberius mit den alten Befehlshabern auf die gleiche Stufe, die einen Giftanschlag gegen König Pyrrhus verboten und verraten hatten. (2) Davon abgesehen

186

Liber secundus

abscedentibus Romanis et pulso Maroboduo regnum adfectans, libertatem popularium adversam habuit, petitusque armis cum varia fortuna certaret, dolo propinquorum cecidit: liberator hau dubie Germaniae et qui non primordia populi Romani, sicut alii reges ducesque, sed florentissimum imperium lacessierit, proeliis ambiguus, bello non victus. (3) septem et triginta annos vitae, duodecim potentiae explevit, caniturque adhuc barbaras apud gentes, Graecorum annalibus ignotus, qui sua tantum mirantur, Romanis haud perinde celebris, dum vetera extollimus recentium incuriosi.

Buch II

187

wendete sich die Freiheitsliebe seiner Landsleute gegen Arminius, der nach dem Abzug der Römer und der Vertreibung des Maroboduus König werden wollte, und nachdem er bei einer bewaffneten Auseinandersetzung mit wechselndem Erfolg kämpfte, fiel er einem Anschlag seiner Verwandten zum Opfer: Der Befreier Germaniens war er zweifellos und der Mann, der nicht das am Anfang seiner Geschichte stehende römische Volk, wie das andere Könige und Kommandeure taten, sondern das in höchster Blüte stehende Reich herausforderte, in Schlachten nicht immer erfolgreich, im Krieg unbesiegt. (3) Auf 37 Lebensjahre kam er, zwölf davon an der Macht, und man besingt ihn auch heute noch bei den Barbarenvölkern, während ihn die Geschichtsschreibung der Griechen nicht kennt, die nur ihre eigenen Taten bewundern, aber auch von den Römern wird er nicht gebührend gewürdigt, weil wir die weit zurückliegende Vergangenheit verherrlichen und uns um die jüngere nicht kümmern.

LIBER TERTIUS 1 (1) Nihil intermissa navigatione hiberni maris Agrippina Corcyram insulam advehitur, litora Calabriae contra sitam. illic paucos dies componendo animo insumit, violenta luctu et nescia tolerandi. (2) interim adventu eius audito intimus quisque amicorum et plerique militares, ut quique sub Germanico stipendia fecerant, multique etiam ignoti vicinis e municipiis, pars officium in principem rati, plures illos secuti, ruere ad oppidum Brundisium, quod naviganti celerrimum fidissimumque adpulsu erat. (3) atque ubi primum ex alto visa classis, complentur non modo portus et proxima mari[s], sed moenia ac tecta, quaque longissime prospectari poterat, maerentium turba et rogitantium inter se, silentione an voce aliqua egredientem exciperent. neque satis constabat quid pro tempore foret, cum classis paulatim successit, non alacri, ut adsolet, remigio, sed cunctis ad tristitiam compositis. (4) postquam duobus cum liberis, feralem urnam tenens, egressa navi defixit oculos, idem omnium gemitus; neque discerneres proximos alienos, virorum feminarumve planctus, nisi quod comitatum Agrippinae longo maerore fessum obvii et recentes in dolore anteibant. 2 (1) Miserat duas praetorias cohortes Caesar, addito ut magistratus Calabriae Apulique et Campani suprema erga memoriam filii sui munera fungentur. (2) igitur tribunorum centurionumque umeris cineres portabantur; praecedebant incompta signa, versi fasces; atque ubi colonias transgrederentur, atrata plebes, trabeati equites pro opibus loci vestem odores aliaque funerum sollemnia cremabant. etiam quorum diversa oppida, tamen obvii et victimas atque aras dis Manibus statuentes lacrimis et conclamationibus dolorem testabantur. (3) Drusus Tarracinam progressus est cum Claudio fratre liberisque Germanici,

Buch III 1 (1) Ohne die Fahrt über das winterliche Meer zu unterbrechen, segelte Agrippina zur Insel Korkyra, die Kalabriens Küsten gegenüberliegt. Dort verbrachte sie wenige Tage, um die Fassung wieder zu gewinnen, völlig aufgelöst vor Trauer und unfähig, sie zu ertragen. (2) In der Zwischenzeit eilten auf die Nachricht von ihrem Kommen hin der engste Freundeskreis und sehr viele Angehörige des Militärs, von denen jeder unter Germanicus gedient hatte, und auch viele Fremde aus den Landstädten in der Umgebung, die es teilweise für ihre Pflicht dem Princeps gegenüber hielten, in der Mehrzahl aber den anderen einfach folgten, in die Stadt Brundisium, die für die Schiffsreisende der am schnellsten zu erreichende und sicherste Landeplatz war. (3) Und sobald man die Flotte draußen auf See sehen konnte, füllten sich nicht nur der Hafen und das Gelände am Meer, sondern auch Mauern, Dächer und alle Stellen, an denen man die beste Aussicht hatte, mit einer Menge trauernder Menschen, die einander fragten, ob man sie beim Aussteigen schweigend oder mit irgendwelchen Zurufen empfangen solle. Und man war sich nicht sicher, was dem Anlass angemessen sei, während die Flotte allmählich näherkam, nicht wie gewöhnlich mit einem lebhaften Ruderschlag, sondern alles war auf Trauer abgestellt. (4) Als sie mit ihren zwei Kindern, die Aschenurne in der Hand, von Bord gegangen war und den Blick starr zu Boden richtete, war ein allgemeines Aufstöhnen zu hören, und man hätte nicht zwischen Angehörigen und Fremden, zwischen dem Jammern von Männern oder Frauen unterscheiden können, abgesehen davon, dass sich vor dem von der langen Trauer erschöpften Gefolge der Agrippina die zu ihrem Empfang gekommene Bevölkerung in ihrem frischen Kummer hervortat. 2 (1) Der Caesar hatte zwei Prätorianerkohorten geschickt und zusätzlich angeordnet, die Amtsinhaber von Kalabrien, Apulien und Kampanien sollten dem Andenken an seinen Sohn die letzten Ehren erweisen. (2) Deshalb wurde seine Asche auf den Schultern von Tribunen und Zenturionen getragen. Voraus zogen Feldzeichen ohne Schmuck und umgedrehte Rutenbündel, und wo sie durch Koloniestädte zogen, standen dort schwarz gekleidet das einfache Volk und im gestreiften Gewand1 die Ritter und verbrannten je nach den finanziellen Möglichkeiten des Ortes Tücher, Duftstoffe und die anderen bei Leichenbegängnissen üblichen Materialien. Sogar die Einwohner abseits gelegener Städte kamen dennoch herbei, stellten Opfertiere und Altäre für die Geister des Verstorbenen auf und bezeugten unter Tränen und lauten Klagerufen ihren Kummer. (3) Drusus zog bis Tarracina entgegen in Begleitung seines Bruders Claudius und der Kinder des Germanicus, die sich in der Hauptstadt auf-

190

Liber tertius

qui in urbe fuerant. consules M. VALERIUS et M. AURELIUS (iam enim magistratum occeperant) et senatus ac magna pars populi viam complevere, disiecti et ut cuique libitum flentes; aberat quippe adulatio, gnaris omnibus laetam Tiberio Germanici mortem male dissimulari. 3 (1) Tiberius atque Augusta publico abstinuere, inferius maiestate sua rati, si palam lamentarentur, an ne omnium oculis vultum eorum scrutantibus falsi intellegentur. (2) matrem Antoniam non apud auctores rerum, non diurna actorum scriptura reperio ullo insigni officio functam, cum super Agrippinam et Drusum et Claudium ceteri quoque consanguinei nominatim perscripti sint, seu valitudine praepediebatur, seu victus luctu animus magnitudinem mali perferre visu non toleravit. (3) facilius crediderim Tiberio et Augusta, qui domo non excedebant, cohibitam, ut par maeror et matris exemplo avia quoque et patruus attineri viderentur. 4 (1) Dies, quo reliquiae tumulo Augusti inferebantur, modo per silentium vastus, modo ploratibus inquies; plena urbis itinera, conlucentes per campum Martis faces. illic miles cum armis, sine insignibus magistratus, populus per tribus concidisse rem publicam, nihil spei reliquum clamitabant, promptius apertiusque, quam ut meminisse imperitantium crederes. (2) nihil tamen Tiberium magis penetravit quam studia hominum accensa in Agrippinam, cum decus patriae, solum Augusti sanguinem, unicum antiquitatis specimen appellarent versique ad caelum ac deos integram illi subolem ac superstitem iniquorum precarentur. 5 (1) Fuere qui publici funeris pompam requirerent compararentque quae in Drusum, patrem Germanici, honora et magnifica Augustus fecisset. ipsum quippe asperrimo hiemis Ticinum usque progressum neque abscedentem a corpore simul urbem intravisse; circumfusas lecto Claudiorum Iuliorumque

Buch III

191

gehalten hatten. Die Konsuln M. VALERIUS und M. AURELIUS – sie hatten ihr Amt nämlich schon angetreten (20 n. Chr.) –, der Senat und eine große Volksmenge füllten die Straße, ohne geordnete Aufstellung und weinend, wie es jedem ums Herz war. Denn liebedienerisches Benehmen lag ihnen fern, weil alle wussten, dass Tiberius seine Freude über den Tod des Germanicus nur schlecht verbergen konnte. 3 (1) Tiberius und die Augusta (Livia) zeigten sich nicht in der Öffentlichkeit, weil sie es für mit ihrer hohen Stellung unvereinbar hielten, öffentlich zu jammern; vielleicht wollten sie auch nur, wenn aller Augen sich prüfend auf ihre Mienen richteten, nicht als Heuchler erkannt werden. (2) Einen Hinweis darauf, dass die Mutter Antonia irgendeine besondere Aufgabe übernommen hätte, kann ich weder bei den Geschichtsschreibern noch in den Tagesnachrichten2 finden, obwohl über Agrippina, Drusus und Claudius hinaus auch die übrigen Blutsverwandten namentlich aufgeführt sind, sei es, dass sie gesundheitlich verhindert war oder es ihr von Trauer überwältigtes Herz nicht ertragen konnte, das ganze Ausmaß des Unglücks ansehen zu müssen. (3) Noch eher neige ich allerdings zu der Ansicht, sie sei von Tiberius und der Augusta, die ihr Haus nicht verließen, zurückgehalten worden, damit der Eindruck entstehe, sie trauerten gleichermaßen und durch das Vorbild der Mutter würden auch Großmutter und Onkel zu Hause festgehalten. 4 (1) Der Tag, an dem die sterblichen Überreste im Grabmal des Augustus beigesetzt wurden, war bald trostlos durch die Stille, bald unruhig vor Schluchzen; voll von Menschen waren die Straßen der Hauptstadt, Fackeln leuchteten über das Marsfeld hin. Dort standen Soldaten in voller Rüstung, die Amtsinhaber ohne ihre Abzeichen und das Volk nach Tribus geordnet und riefen laut, der Staat sei zusammengebrochen, es gebe keine Hoffnung mehr. Das alles klang zu entschieden und zu offen, als dass man den Eindruck hätte haben können, es denke dabei an die Personen, die über es herrschten. (2) Nichts traf Tiberius dennoch mehr als die begeisterten Sympathiekundgebungen der Menschen für Agrippina, weil man sie Zierde des Vaterlands, einziges Blut des Augustus, alleinige Verkörperung der alten Zeit nannte und, zum Himmel und zu den Göttern gewendet, betete, ihre Nachkommenschaft möge ihr erhalten bleiben und ihre Widersacher überleben. 5 (1) Es gab Stimmen, die den feierlichen Trauerzug eines Staatsbegräbnisses vermissten und zum Vergleich die großartigen Ehrungen heranzogen, die Augustus für Germanicus’ Vater Drusus veranstaltet hatte. Er sei ja persönlich im rauesten Winter bis nach Ticinum gefahren, sei von der Leiche nicht gewichen, sondern zusammen mit ihr in die Hauptstadt eingezogen. Um die Bahre herum habe man die Ahnenbilder der Claudier und Julier gestellt. Beweint worden sei er auf dem Forum, gelobt von der Rednerbühne herab.

192

Liber tertius

imagines; defletum in foro, laudatum pro rostris; cuncta a maioribus reperta aut quae posteri invenerint cumulata: at Germanico ne solitos quidem et cuicumque nobili debitos honores contigisse. (2) sane corpus ob longinquitatem itinerum externis terris quoquo modo crematum: sed tanto plura decora mox tribui par fuisse, quanto prima fors negavisset. non fratrem, nisi unius diei via, non patruum saltem porta tenus obvium. ubi illa veterum instituta, propositam toro effigiem, meditata ad memoriam virtutis carmina et laudationes et lacrimas vel doloris imitamenta? 6 (1) Gnarum id Tiberio fuit; utque premeret vulgi sermones, monuit edicto multos inlustrium Romanorum ob rem publicam obisse, neminem tam flagranti desiderio celebratum. idque et sibi et cunctis egregium, si modus adiceretur. non enim eadem decora principibus viris et imperatori populo quae modicis domibus aut civitatibus. (2) convenisse recenti dolori luctum et ex maerore solacia; sed referendum iam animum ad firmitudinem, ut quondam divus Iulius amissa unica filia, ut divus Augustus ereptis nepotibus abstruserint tristitiam. (3) nil opus vetustioribus exemplis, quotiens populus Romanus clades exercituum, interitum ducum, funditus amissas nobiles familias constanter tulerit. principes mortales, rem publicam aeternam esse. proin repeterent sollemnia, et quia ludorum Megalesium spectaculum suberat, etiam voluptates resumerent. 7 (1) Tum exuto iustitio reditum ad munia, et Drusus Illyricos ad exercitus profectus est, erectis omnium animis petendae e Pisone ultionis et crebro questu, quod vagus interim per amoena Asiae atque Achaiae adroganti et subdola mora scelerum probationes subverteret. (2) nam vulgatum erat missam, ut dixi, a Cn. Sentio famosam veneficiis Martinam subita morte Brundisii exstinctam, venenumque nodo crinium eius occultatum, nec ulla in corpore signa sumpti exitii reperta.

Buch III

193

Mit allem, was von den Vorfahren ersonnen worden sei oder was die nachfolgenden Generationen erfunden hätten, sei er überhäuft worden. Doch Germanicus seien nicht einmal die üblichen und jedem beliebigen vornehmen Mann geschuldeten Ehrungen zuteilgeworden. (2) Selbstverständlich sei der Leichnam wegen der weiten Wege im Ausland, so gut es eben ging, eingeäschert worden. Aber umso mehr Hochachtung hätte man ihm später anstandshalber erweisen müssen, je mehr ihm das Schicksal beim ersten Mal verweigert habe. Sein Bruder sei ihm nur eine Tagesreise, sein Onkel nicht einmal wenigstens bis zum Stadttor entgegengekommen. Wo seien denn die Bräuche der alten Zeit geblieben, das vor der Bahre aufgestellte Bildnis, die zum Andenken an die hervorragenden Leistungen vorgetragenen Gedichte und Lobreden und die Tränen oder wenigstens etwas, was wie Kummer aussehe? 6 (1) Davon erfuhr Tiberius, und um das Gerede im Volk verstummen zu lassen, wies er in einem Erlass darauf hin, viele vornehme Römer seien im Dienste des Gemeinwesens gestorben, doch keiner mit einer solch glühenden Sehnsucht gefeiert worden. Das sei sowohl für ihn persönlich als auch für alle ein großartiges Verhalten, falls es mit Augenmaß geschehe. Denn für führende Persönlichkeiten und ein Herrschervolk gehöre sich nicht dasselbe Benehmen wie für gewöhnliche Familien oder Städte. (2) Für den frischen Schmerz sei Trauer am Platz gewesen, und aus dem Kummer sei Trost erwachsen. Aber jetzt müsse man sich innerlich wieder auf Stärke besinnen, so wie einst der vergöttlichte Julius nach dem Verlust seiner einzigen Tochter, wie der vergöttlichte Augustus, nachdem ihm seine Enkel entrissen worden waren,3 die Traurigkeit vertrieben hätten. (3) Man brauche nicht auf noch ältere Vorbilder dafür zurückzugreifen, wie oft das römische Volk Niederlagen seiner Heere, den Untergang seiner Kommandeure, den gänzlichen Verlust vornehmer Familien standhaft ertragen habe. Die führenden Männer seien sterblich, der Staat ewig. Deshalb sollten sie wieder ihren vertrauten Beschäftigungen nachgehen und, weil das Schauspiel der Megalesischen Spiele bevorstand, sich auch wieder Vergnügungen zuwenden. 7 (1) Dann begab man sich nach Beendigung der Staatstrauer wieder an seine Geschäfte, und Drusus brach zu den illyrischen Heeren auf, wobei alle gespannt auf den Vollzug der Rache an Piso waren und man häufig darüber klagte, dieser reise in der Zwischenzeit in den anmutigen Gegenden Asias und Achaias herum und beseitige während dieser hochmütigen und hinterlistigen Verzögerung die Beweismittel für seine Verbrechen. (2) Denn es war bekannt geworden, dass die berüchtigte Giftmischerin Martina, die, wie erwähnt, von Cn. Sentius geschickt worden war, überraschend in Brundisium den Tod gefunden habe, und Gift sei in ihrem Haarknoten versteckt gewesen, aber an ihrem Körper habe man keinerlei Anzeichen für einen Selbstmord entdecken können.

194

Liber tertius

8 (1) At Piso praemisso in urbem filio datisque mandatis per quae principem molliret, ad Drusum pergit, quem haud fratris interitu trucem quam remoto aemulo aequiorem sibi sperabat. Tiberius, quo integrum iudicium ostentaret, exceptum comiter iuvenem sueta erga filios familiarum nobiles liberalitate auget. (2) Drusus Pisoni, si vera forent quae iacerentur, praecipuum in dolore suum locum respondit, sed malle falsa et inania nec cuiquam mortem Germanici exitiosam esse. haec palam et vitato omni secreto; neque dubitabantur praescripta ei a Tiberio, cum incallidus alioqui et facilis iuventa senilibus tum artibus uteretur. 9 (1) Piso Delmatico mari tramisso relictisque apud Anconam navibus per Picenum ac mox Flaminiam viam adsequitur legionem, quae e Pannonia in urbem, dein praesidio Africae ducebatur; eaque res agitata rumoribus, ut in agmine atque itinere crebro se militibus ostentavisset. (2) ab Narnia, vitandae suspicionis an quia pavidis consilia in incerto sunt, Nare ac mox Tiberi devectus auxit vulgi iras, quia navem tumulo Caesarum adpulerat dieque et ripa frequenti magno clientium agmine ipse, feminarum comitatu Plancina et vultu alacres incessere. (3) fuit inter inritamenta invidiae domus foro imminens festa ornatu conviviumque et epulae; et celebritate loci nihil occultum. 10 (1) Postera die Fulcinius Trio Pisonem apud consules postulavit. contra Vitellius ac Veranius ceterique Germanicum comitati tendebant: nullas esse partes Trioni; neque se accusatores, sed rerum indices et testes mandata Germanici perlaturos. ille, dimissa eius causae delatione, ut priorem vitam accusaret obtinuit, petitumque est a principe cognitionem exciperet. (2) quod ne reus quidem abnuebat, studia populi et patrum metuens: contra Tiberium

Buch III

195

8 (1) Piso jedoch schickte seinen Sohn in die Hauptstadt voraus, gab ihm Anweisungen, mit denen er den Princeps besänftigen sollte, und machte sich dann zu Drusus auf den Weg, von dem er hoffte, er werde wegen des Tods seines Bruders nicht abweisend, sondern wegen der Beseitigung eines Konkurrenten eher verständnisvoll sein. Tiberius empfing den jungen Mann, um seine Unvoreingenommenheit zu demonstrieren, freundlich und bedachte ihn mit einem bei Söhnen vornehmer Familien üblichen Geschenk. (2) Drusus antwortete Piso, falls wahr sei, was man sich erzähle, habe vor allem er Anlass, erbittert zu sein, aber ihm sei lieber, es handle sich um unwahres und haltloses Gerede und niemandem bringe der Tod des Germanicus den Untergang. Das sagte er in der Öffentlichkeit und vermied jedes Gespräch unter vier Augen; und man zweifelte nicht daran, dass ihm dieses Vorgehen von Tiberius vorgeschrieben worden war, weil er, sonst arglos und jugendlich unbefangen, damals die Schliche eines alten Mannes anwandte. 9 (1) Piso überquerte das Dalmatische Meer, ließ seine Schiffe in Ancona zurück und holte auf dem Weg durch Picenum und dann auf der Via Flaminia die Legion ein, die aus Pannonien in die Hauptstadt und anschließend als Besatzungstruppe nach Africa verlegt wurde; und das führte zu Gerüchten, er habe sich auf dem Marsch und sonst unterwegs häufig den Soldaten angebiedert. (2) Von Narnia aus fuhr er, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen oder weil Menschen, wenn sie Angst haben, keine klaren Pläne fassen können, den Nar und dann den Tiber hinunter und steigerte die Entrüstung des Volks, weil er am Grabhügel der Caesaren4 an Land gegangen war und bei Tag an dem belebten Ufer selbst mit einer großen Schar von Klienten, Plancina mit einem Gefolge von Damen und beide mit heiterer Miene einherstolzierten. (3) Weiteren Unwillen erregten sein das Forum überragendes Haus im festlichen Schmuck und eine Einladung zu einem Bankett; und bei der Belebtheit der Gegend blieb nichts davon unbemerkt. 10 (1) Am nächsten Tag erhob Fulcinius Trio gegen Piso bei den Konsuln Anklage. Dagegen sprachen sich Vitellius, Veranius und die übrigen Begleiter des Germanicus aus: Der Fall gehe Trio nichts an; auch sie träten nicht als Ankläger auf, sondern überbrächten als Berichterstatter und Augenzeugen die Aufträge des Germanicus. Er ließ die Anklage in diesem Punkt fallen, hielt aber daran fest, seine frühere Lebensführung zu beanstanden, und man stellte beim Princeps den Antrag, das Verfahren zu übernehmen. (2) Dagegen war nicht einmal der Angeklagte, weil er die Voreingenommenheit des Volks und der Väter fürchtete. Andererseits sei Tiberius darin stark, auf Gerüchte

196

Liber tertius

spernendis rumoribus validum et conscientiae matris innexum esse; veraque aut in deterius credita iudice ab uno facilius discerni, odium et invidiam apud multos valere. (3) haud fallebat Tiberium moles cognitionis quaque ipse fama distraheretur. igitur paucis familiarium adhibitis minas accusantium et hinc preces audit integramque causam ad senatum remittit. 11 (1) Atque interim Drusus rediens Illyrico, quamquam patres censuissent ob receptum Maroboduum et res priore aestate gestas ut ovans iniret, prolato honore urbem intravit. (2) Post quae reo L. Arruntium, P. Vinicium, Asinium Gallum, Aeserninum Marcellum, Sex. Pompeium patronos petenti iisque diversa excusantibus M. Lepidus et L. Piso et Livineius Regulus adfuere, arrecta omni civitate, quanta fides amicis Germanici, quae fiducia reo; satin cohiberet ac premeret sensus suos Tiberius. [is] haud alias intentior populus plus sibi in principem occultae vocis aut suspicacis silentii permisit. 12 (1) Die senatus Caesar orationem habuit meditato temperamento. patris sui legatum atque amicum Pisonem fuisse adiutoremque Germanico datum a se auctore senatu rebus apud Orientem administrandis. illic contumacia et certaminibus asperasset iuvenem exituque eius laetatus esset an scelere exstinxisset, integris animis diiudicandum. (2) ‘nam si legatus officii terminos, obsequium erga imperatorem exuit eiusdemque morte et luctu meo laetatus est, odero seponamque a domo mea et privatas inimicitias no vi principis ulciscar; sin facinus in cuiuscumque mortalium nece vindicandum detegitur, vos vero et liberos Germanici et nos parentes iustis solaciis adficite. (3) simulque illud reputate, turbide et seditiose tractaverit exercitus Piso, quaesita sint per ambitionem studia militum, armis repetita provincia, an falsa haec in maius vulgaverint accusatores. (4) quorum ego nimiis studiis iure suscenseo. nam quo

Buch III

197

nichts zu geben, sowie in die Mitwisserschaft seiner Mutter verwickelt, und die Wahrheit oder für den Betroffenen nachteilige Meinungen könnten von einem einzigen Richter leichter auseinandergehalten werden, Hass und Erbitterung dagegen gewännen bei einer größeren Anzahl die Oberhand. (3) Tiberius täuschte sich über die mit dem Untersuchungsverfahren verbundenen Schwierigkeiten nicht und mit welchem Gerede man ihn persönlich herumzerren werde. Also hörte er sich im Beisein nur weniger vertrauter Persönlichkeiten die Beschwerden der Ankläger und die Bitten der Gegenseite an und verwies den Fall dann ohne Entscheidung an den Senat. 11 (1) In der Zwischenzeit war Drusus aus Illyricum zurückgekehrt, und obwohl die Väter beschlossen hatten, er solle wegen der Aufnahme des Maroboduus und der im vorangegangenen Sommer erzielten Erfolge im kleinen Triumph einziehen, schob er diese Ehrung auf und kam so in die Hauptstadt. (2) Als danach der Angeklagte L. Arruntius, P. Vinicius, Asinius Gallus, Aeserninus Marcellus und Sex. Pompeius als Verteidiger gewinnen wollte und diese verschiedene Ausflüchte vorbrachten, leisteten ihm M. Lepidus, L. Piso und Livineius Regulus Rechtsbeistand; die gesamte Bürgerschaft achtete dabei gespannt darauf, wie weit die Treue der Freunde des Germanicus gehen, welches Selbstvertrauen der Angeklagte zeigen und ob Tiberius seine Gefühle genügend im Griff haben und beherrschen werde. Keinen anderen Vorfall beobachtete das Volk aufmerksamer und nahm sich dabei mehr heimliche Bemerkungen gegen den Princeps oder argwöhnisches Schweigen heraus. 12 (1) Bei der Senatssitzung hielt der Caesar eine Rede von wohlüberlegter Ausgewogenheit. Seines Vaters Legat und Freund sei Piso gewesen und von ihm auf Veranlassung des Senats als Helfer dem Germanicus bei der Ordnung der politischen Verhältnisse im Osten zur Seite gestellt worden. Ob er dort mit Aufsässigkeit und Streitsucht den jungen Mann herausgefordert und sich über dessen Tod gefreut oder ihn gar durch ein Verbrechen ums Leben gebracht habe, müsse man unvoreingenommen entscheiden. (2) „Denn falls er als Legat die Grenzen seines Aufgabenbereichs und den Gehorsam seinem Befehlshaber gegenüber missachtet hat und sich über seinen Tod und meine Trauer freute, werde ich ihn hassen, ihn von meinem Haus fernhalten und die private Feindschaft nicht mit meiner Macht als Princeps bestrafen; falls aber ein Verbrechen aufgedeckt wird, das bei der Ermordung jedes beliebigen Sterblichen bestraft werden muss, dann allerdings solltet ihr den Kindern des Germanicus und uns Eltern den gerechten Trost verschaffen. (3) Bedenkt zugleich, ob es Piso auf Unruhe und Aufruhr bei den Heeren anlegte, mit Anbiederung die Sympathien der Soldaten zu gewinnen versuchte und mit Waffengewalt die Provinz zurückholen wollte oder ob diese Beschuldigungen unbegründet sind und von den Anklägern übertrieben verbreitet wurden! (4) Über deren Übereifer bin

198

Liber tertius

pertinuit nudare corpus et contrectandum vulgi oculis permittere differrique etiam per externos, tamquam veneno interceptus esset, si incerta adhuc ista et scrutanda sunt? (5) defleo equidem filium meum semperque deflebo; sed neque reum prohibeo quo minus cuncta proferat, quibus innocentia eius sublevari aut, si qua fuit iniquitas Germanici, coargui possit, vosque oro ne, quia dolori meo causa conexa est, obiecta crimina pro adprobatis accipiatis. (6) si quos propinquus sanguis aut fides sua patronos dedit, quantum quisque eloquentia et cura valet, iuvate periclitantem. ad eundem laborem, eandem constantiam accusatores hortor. (7) id solum Germanico super leges praestiterimus, quod in curia potius quam in foro, apud senatum quam apud iudices de morte eius anquiritur: cetera pari modestia tractentur. nemo Drusi lacrimas, nemo maestitiam meam spectet, nec si qua in nos adversa finguntur.’ 13 (1) Exim biduum criminibus obiciendis statuitur utque sex dierum spatio interiecto reus per triduum defenderetur. tum Fulcinius vetera et inania orditur, ambitiose avareque habitam Hispaniam; quod neque convictum noxae reo, si recentia purgaret, neque defensum absolutioni erat, si teneretur maioribus flagitiis. (2) post que Servaeus et Veranius et Vitellius consimili studio, et multa eloquentia Vitellius, obiecere odio Germanici et rerum novarum studio Pisonem vulgus militum per licentiam et sociorum iniurias eo usque conrupisse, ut parens legionum a deterrimis appellaretur; contra in optimum quemque, maxime in comites et amicos Germanici saevisse; postremo ipsum devotionibus et veneno peremisse; sacra hinc et immolationes nefandas ipsius atque Plancinae, petitam armis rem publicam utque reus agi posset, acie victum.

Buch III

199

ich aus guten Gründen erbost. Denn welchen Sinn machte es, den Leichnam zu entblößen und zum Begaffen den Blicken des Pöbels auszusetzen, um dann sogar im Ausland zu verbreiten, er sei vergiftet worden, wenn diese Vorwürfe bisher unbewiesen sind und erst noch geprüft werden müssen? (5) Natürlich weine ich um meinen Sohn und werde immer um ihn weinen; aber ich hindere den Angeklagten nicht daran, alle Gesichtspunkte vorzubringen, durch die der Nachweis seiner Unschuld erleichtert oder ein möglicher Verstoß des Germanicus bewiesen werden kann, und ich bitte euch, nicht deshalb, weil der Fall mit meinem Kummer verknüpft ist, die erhobenen Beschuldigungen als nachgewiesen anzusehen. (6) Wenn Personen ihre Blutsverwandtschaft oder ihr Pflichtgefühl ihm zu Verteidigern gegeben hat, dann helft, so gut ein jeder mit seiner Redegabe und Sorgfalt kann, dem Angeklagten! Zur gleichen Anstrengung, zur gleichen Entschiedenheit rufe ich die Ankläger auf. (7) Nur das eine sollten wir Germanicus über die Gesetze hinaus zugestehen, dass die Umstände seines Todes eher in der Kurie als auf dem Forum, vor dem Senat als vor den Richtern untersucht werden; alles andere soll mit der gleichen Zurückhaltung gehandhabt werden. Niemand soll Drusus’ Tränen, niemand meine Trauer im Auge haben, aber auch nicht mögliche erdichtete, feindselige Vorwürfe gegen uns.“ 13 (1) Anschließend setzte man eine Frist von zwei Tagen für die Erhebung der Anklage, und nach einer Pause von sechs Tagen sollte der Angeklagte drei Tage lang verteidigt werden. Dann begann Fulcinius mit alten, haltlosen Vorwürfen, nämlich der korrupten und habsüchtigen Verwaltung Spaniens; falls sie ihm nachgewiesen wurde, wirkte sich das für den Angeklagten nicht nachteilig aus, sofern er sich von den frischen Vorwürfen freiwaschen konnte, aber auch im Fall einer Widerlegung führte es zu keinem Freispruch, wenn er der schwereren Verbrechen für schuldig befunden wurde. (2) Nach ihm erhoben Servaeus, Veranius und Vitellius mit ganz ähnlichem Eifer, Vitellius dazu mit großer Beredsamkeit den Vorwurf, aus Hass auf Germanicus und in hochverräterischer Absicht habe Piso die einfachen Soldaten durch die Duldung von Disziplinlosigkeit und Übergriffen gegen die Bundesgenossen so weitgehend verdorben, dass er vom schlimmsten Gesindel „Vater der Legionen“ genannt wurde. Dagegen habe er seine Wut gerade an den tüchtigsten Männern, vor allem aber am Gefolge und an den Freunden des Germanicus ausgelassen. Schließlich habe er ihn selbst mit Verfluchungen und Gift umgebracht. Anschließend hätten Danksagungen und abscheuliche Opfer durch ihn persönlich und Plancina stattgefunden, herausgefordert worden sei der Staat mit Waffengewalt, und um ihn vor Gericht stellen zu können, habe man ihn in offener Feldschlacht besiegen müssen.

200

Liber tertius

14 (1) Defensio in ceteris trepidavit; nam neque ambitionem militarem neque provinciam pessimo cui obnoxiam, ne contumelias quidem adversum imperatorem infitiari poterat: solum veneni crimen visus est diluisse, quod ne accusatores quidem satis firmabant, in convivio Germanici, cum super eum Piso discumberet, infectos manibus eius cibos arguentes. (2) quippe absurdum videbatur inter aliena servitia et tot adstantium visu, ipso Germanico coram, id ausum; offerebatque familiam reus et ministros in tormenta flagitabat. (3) sed iudices per diversa implacabiles erant, Caesar ob bellum provinciae inlatum, senatus numquam satis credito sine fraude Germanicum interisse. ** scripsissent expostulantes, quod haud minus Tiberius quam Piso abnuere. (4) simul populi ante curiam voces audiebantur: non temperaturos manibus, si patrum sententias evasisset. effigiesque Pisonis traxerant in Gemonias ac divellebant, ni iussu principis protectae repositaeque forent. (5) igitur inditus lecticae et a tribuno praetoriae cohortis deductus est, vario rumore, custos saluti an mortis exactor sequeretur. 15 (1) Eadem Plancinae invidia, maior gratia; eoque ambiguum habebatur, quantum Caesari in eam liceret. atque ipsa, donec mediae Pisoni spes, sociam se cuiuscumque fortunae et, si ita ferret, comitem exitii promittebat; ut secretis Augustae precibus veniam obtinuit, paulatim segregari a marito, dividere defensionem coepit. (2) quod reus postquam sibi exitiabile intellegit, an adhuc experiretur dubitans, hortantibus filiis durat mentem senatumque rursum ingreditur; redintegratamque accusationem, infensas patrum voces, adversa et saeva cuncta perpessus, nullo magis exterritus est quam quod Tiberium sine miseratione, sine ira, obstinatum clausumque vidit, ne quo adfectu perrumperetur. (3) relatus domum, tamquam defensionem in

Buch III

201

14 (1) Die Verteidigung stand bei den übrigen Punkten auf schwachen Füßen; denn Piso konnte weder das Buhlen um die Gunst der Soldaten noch die Auslieferung der Provinz an die übelsten Elemente, ja nicht einmal die beleidigenden Äußerungen gegen seinen Befehlshaber ableugnen. Allein den Vorwurf des Giftmords schien er entkräftet zu haben, den nicht einmal die Ankläger mit ihrem Vorwurf hinreichend begründen konnten, bei einem Bankett des Germanicus habe Piso, als er oberhalb von ihm5 lag, Speisen eigenhändig vergiftet. (2) Denn es schien unvorstellbar, dass er ein solches Risiko unter fremden Sklaven, vor den Augen so vieler herumstehender Personen und in Gegenwart des Germanicus persönlich eingegangen wäre; zudem stellte der Angeklagte seine Dienerschaft zur Verfügung und verlangte, man solle das bedienende Personal unter der Folter verhören. (3) Aber die Richter waren aus verschiedenen Gründen unerbittlich, der Caesar, weil er gegen die Provinz Krieg geführt hatte, der Senat, weil man nie wirklich glaubte, Germanicus sei nicht einem Anschlag zum Opfer gefallen. … die Herausgabe der Briefe (?) verlangten, was Tiberius nicht weniger als Piso ablehnte. (4) Zugleich konnte man das Geschrei des Volkes vor der Kurie hören: Sie würden vor Handgreiflichkeiten nicht zurückschrecken, falls er der Verurteilung durch die Väter entkomme. Sie hatten die Bilder Pisos schon zur Gemonischen Treppe geschleppt und waren dabei, sie zu zertrümmern, wenn sie dann nicht doch auf Befehl des Princeps geschützt und wieder an ihren Platz gebracht worden wären. (5) So wurde er in eine Sänfte gesetzt und von einem Tribun einer Prätorianerkohorte nach Hause geleitet, wobei verschiedene Gerüchte umgingen, ob der ihm als Leibwächter oder als Henker folge. 15 (1) Die gleiche Feindseligkeit schlug Plancina entgegen, aber sie stand auch höher in der Gunst. Deshalb war umstritten, wie weit der Caesar ihr gegenüber gehen konnte. Sie selbst versprach, solange Pisos Hoffnungen in der Schwebe waren, sie werde jedes Schicksal mit ihm teilen und ihn, falls es so weit komme, in den Tod begleiten. Sobald sie dann aber dank der geheimen Fürsprache der Augusta (Livia) Vergebung erlangt hatte, rückte sie nach und nach von ihrem Mann ab und begann ihre Verteidigung getrennt zu führen. (2) Nachdem der Angeklagte erkannt hatte, dass das sein Ende bedeuten könne, war er sich unsicher, ob er weiter sein Recht vertreten solle, fasste sich dann aber auf den Zuspruch seiner Söhne hin ein Herz und ging wieder in den Senat. Er musste die Wiederaufnahme der Anklage und erboste Zurufe der Väter, alles in einer gegen ihn gerichteten, feindseligen Stimmung über sich ergehen lassen, war aber von nichts mehr entsetzt als von der Tatsache, Tiberius ohne Mitleid, ohne Erbitterung völlig ungerührt und verschlossen zu erleben, weil er keinerlei Gemütsbewegung durchbrechen lassen wollte. (3) Nachdem er wieder nach Hause gebracht worden war, verfasste er so, als ob er seine Verteidigung für

202

Liber tertius

posterum meditaretur, pauca conscribit obsignatque et liberto tradit; tum solita curando corpori exsequitur. dein multam post noctem, egressa cubiculo uxore, operiri fores iussit; et coepta luce perfosso iugulo, iacente humi gladio, repertus est. 16 (1) Audire me memini ex senioribus visum saepius inter manus Pisonis libellum, quem ipse non vulgaverit; sed amicos eius dictitavisse litteras Tiberii et mandata in Germanicum contineri, ac destinatum promere apud patres principemque arguere, ni elusus a Seiano per vana promissa foret; nec illum sponte exstinctum, verum immisso percussore. quorum neutrum adseveraverim; neque tamen occulere debui narratum ab iis, qui nostram ad iuventam duraverunt. (2) Caesar flexo in maestitiam ore suam invidiam tali morte quaesitam apud senatum *** crebrisque interrogationibus exquirit, qualem Piso diem supremum noctemque exegisset. atque illo pleraque sapienter, quaedam inconsultius respondente recitat codicillos a Pisone in hunc ferme modum compositos: (3) ‘conspiratione inimicorum et invidia falsi criminis oppressus, quatenus veritati et innocentiae meae nusquam locus est, deos immortales testor vixisse me, Caesar, cum fide adversum te neque alia in matrem tuam pietate; vosque oro liberis meis consulatis, ex quibus Cn. Piso qualicumque fortunae meae non est adiunctus, cum omne hoc tempus in urbe egerit, M. Piso repetere Syriam dehortatus est. atque utinam ego potius filio iuveni quam ille patri seni cessisset. (4) eo impensius precor ne meae pravitatis poenas innoxius luat. per quinque et quadraginta annorum obsequium, per collegium consulatus, quondam divo Augusto parenti tuo probatus et tibi amicus nec quicquam post haec rogaturus salutem infelicis filii rogo.’ de Plancina nihil addidit. 17 (1) Post quae Tiberius adulescentem crimine civilis belli purgavit, patris quippe iussa, nec potuisse filium detrectare, simul nobilitatem domus, etiam

Buch III

203

den nächsten Tag überlege, ein kurzes Schreiben, versiegelte es und übergab es einem Freigelassenen; dann widmete er sich der üblichen Körperpflege. Anschließend ließ er schon tief in der Nacht, nachdem seine Frau sein Schlafzimmer verlassen hatte, die Tür abschließen, und bei Tagesanbruch fand man ihn mit durchschnittener Kehle; auf dem Boden lag sein Schwert. 16 (1) Ich erinnere mich, von Angehörigen der älteren Generation gehört zu haben, man habe öfter in Pisos Händen ein Dokument gesehen, das er selbst nicht veröffentlichte; aber seine Freunde hätten wiederholt behauptet, es enthalte einen Brief des Tiberius mit den gegen Germanicus gerichteten Aufträgen, und er habe vorgehabt, es den Vätern vorzulegen und den Princeps zu beschuldigen, wenn dies nicht von Sejan mit leeren Versprechungen vereitelt worden wäre. Er sei auch nicht freiwillig aus dem Leben geschieden, sondern man habe einen Mörder zu ihm geschickt. Keines der beiden Gerüchte möchte ich bestätigen; dennoch durfte ich eine Erzählung von Leuten nicht unterschlagen, die bis in unsere Jugendzeit hinein lebten. (2) Der Caesar setzte eine Trauermiene auf, beklagte sich (?) darüber, dass ein solcher Tod nur die Erregung von Unwillen gegen ihn beim Senat bezweckt habe, (wandte sich dann an den älteren Sohn?)6 und versuchte durch wiederholte Fragen herauszufinden, wie Piso seinen letzten Tag und die Nacht verbracht habe. Der gab meist kluge, auch einige etwas unüberlegte Antworten und las dann das von Piso eigenhändig verfasste Schreiben vor, das ungefähr so lautete: (3) „Nachdem ich einem Komplott meiner persönlichen Feinde und einer gehässigen falschen Beschuldigung zum Opfer gefallen bin, rufe ich, weil für die Wahrheit und meine Unschuld ja doch nirgendwo mehr ein Platz bleibt, die unsterblichen Götter als Zeugen dafür an, dass ich, Caesar, in Treue zu dir und in keiner anderen Ergebenheit deiner Mutter gegenüber gelebt habe, und ich bitte euch, nehmt euch meiner Kinder an, von denen Cn. Piso mit meinem wie auch immer gearteten Schicksal nichts zu tun hat, weil er diese ganze Zeit über in der Hauptstadt verbrachte, M. Piso sogar davon abriet, Syrien zurückzufordern. Hätte doch besser ich meinem jungen Sohn als dieser seinem alten Vater nachgegeben! (4) Umso nachdrücklicher ersuche ich, ihn nicht unschuldig für mein Fehlverhalten büßen zu lassen. Bei meinem 45 Jahre lang erwiesenen Gehorsam, bei unserem gemeinsamen Konsulat bitte ich als unter dem vergöttlichten Augustus, deinem Vater, früher einmal bewährter Mann, der auch mit dir befreundet ist und danach um nichts mehr bitten wird, um das Leben meines unglücklichen Sohnes.“ Plancina erwähnte er mit keinem Wort. 17 (1) Daraufhin sprach Tiberius den jungen Mann vom Vorwurf der Teilnahme an einem Bürgerkrieg frei, denn er habe ja nur auf Befehl seines Vaters gehandelt und als Sohn nicht ablehnen können; dabei drückte er sein Mitgefühl

204

Liber tertius

ipsius quoquo modo meriti gravem casum miseratus. pro Plancina cum pudore et flagitio disseruit, matris preces obtendens, in quam optimi cuiusque secreti questus magis ardescebant. (2) id ergo fas aviae, interfectricem nepotis aspicere, adloqui, eripere senatui. quod pro omnibus civibus leges obtineant, uni Germanico non contigisse. Vitellii et Veranii voce defletum Caesarem, ab imperatore et Augusta defensam Plancinam. proinde venena et artes tam feliciter expertas verteret in Agrippinam, in liberos eius, egregiamque aviam ac patruum sanguine miserrimae domus exsatiaret. (3) biduum super hac imagine cognitionis absumptum urgente Tiberio liberos Pisonis matrem uti tuerentur. et cum accusatores ac testes certatim perorarent respondente nullo, miseratio quam invidia augebatur. (4) primus sententiam rogatus Aurelius Cotta consul (nam referente Caesare magistratus eo etiam munere fungebantur) nomen Pisonis radendum fastis censuit, partem bonorum publicandam, pars ut Cn. Pisoni filio concederetur isque praenomen mutaret; M. Piso exuta dignitate et accepto quinquagies sestertio in decem annos relegatur, concessa Plancinae incolumitate ob preces Augustae. 18 (1) Multa ex ea sententia mitigata sunt a principe: ne nomen Pisonis fastis eximeretur, quando M. Antonii, qui bellum patriae fecisset, Iulli Antonii, qui domum Augusti violasset, manerent; et M. Pisonem ignominiae exemit concessitque ei paterna bona, satis firmus, ut saepe memoravi, adversum pecuniam et tum pudore absolutae Plancinae placabilior. (2) atque idem, cum Valerius Messalinus signum aureum in aede Martis Ultoris, Caecina Severus aram ultioni statuendam censuissent, prohibuit, ob externas ea victoria sacrari dictitans, domestica mala tristitia operienda. (3) addiderat Messalinus Tiberio et Augustae et Antoniae et Agrippinae Drusoque ob vindictam Germanici grates agendas omiseratque Claudii mentionem. et Messalinum

Buch III

205

mit dem Adel der Familie, aber auch mit dem tiefen Sturz des Mannes persönlich aus, wenn er ihn auch verdient habe. Für Plancina setzte er sich voller Scham über sein schändliches Verhalten ein, indem er die Bitten seiner Mutter vorschützte, gegen die geheime Klagen gerade der besten Mitbürger immer stärker aufflackerten: (2) Das also dürfe sich die Großmutter herausnehmen, die Mörderin ihres Enkels anzusehen, mit ihr zu sprechen und sie dem Senat vorzuenthalten! Was die Gesetze für alle Bürger festlegten, habe einzig und allein Germanicus nicht bekommen. Nur mit den Worten des Vitellius und Veranius sei der Caesar beweint, aber vom Oberbefehlshaber und der Augusta (Livia) sei Plancina verteidigt worden. Deshalb solle sie doch ihre so erfolgreich erprobten Künste als Giftmischerin gegen Agrippina, gegen deren Kinder richten und die vortreffliche Großmutter und den Onkel sich am Blut des unglücklichen Hauses satt trinken lassen. (3) Zwei Tage vertat man mit diesem Scheinprozess, wobei Tiberius Pisos Söhne bedrängte, ihre Mutter zu verteidigen. Und weil Ankläger und Zeugen um die Wette ausführliche Plädoyers hielten, ohne dass jemand darauf antwortete, wuchs das Mitleid stärker als die Erbitterung. (4) An erster Stelle wurde der Konsul Aurelius Cotta um sein Votum gebeten – denn wenn der Caesar die Verhandlung leitete, nahmen die Amtsinhaber auch diese Aufgabe wahr – und sprach sich dafür aus, den Namen Piso aus dem Ämterverzeichnis zu streichen, die Hälfte seines Vermögens einzuziehen, die andere seinem Sohn Cn. Piso zu belassen, und der solle seinen Vornamen ändern; M. Piso solle seinen gesellschaftlichen Status7 verlieren, fünf Millionen Sesterze behalten dürfen und für zehn Jahre verbannt werden, Plancina solle straffrei ausgehen wegen der Fürsprache der Augusta (Livia). 18 (1) Dieser Antrag wurde vom Princeps in vielen Punkten abgemildert: Der Name Pisos solle nicht aus dem Ämterverzeichnis gestrichen werden, da auch der des M. Antonius, der Krieg gegen das Vaterland geführt, und des Iullus Antonius, der Schande über das Haus des Augustus gebracht habe,8 dort verblieben seien. Auch M. Piso nahm er von der entehrenden Strafe aus und ließ ihm das väterliche Vermögen, völlig unempfänglich, wie ich schon oft erwähnt habe,9 für Geld und damals aus Scham über den Freispruch Plancinas besonders nachsichtig gestimmt. (2) Ebenso sprach er sich gegen die Anträge des Valerius Messalinus, eine goldene Statue im Tempel Mars’ des Rächers aufzustellen, und des Caecina Severus aus, einen Altar für die Rache zu errichten, wobei er betonte, derartige Erinnerungsstücke weihe man nach Siegen über auswärtige Feinde, Unglücksfälle im eigenen Haus müsse man mit Trauer überdecken. (3) Zusätzlich hatte Messalinus beantragt, Tiberius, der Augusta (Livia), Antonia, Agrippina und Drusus wegen der Rache für Germanicus Dank zu sagen, und hatte es dabei unterlassen, Claudius zu erwähnen. Da freilich

206

Liber tertius

quidem L. Asprenas senatu coram percunctatus est an prudens praeterisset; ac tum demum nomen Claudii adscriptum est. (4) mihi, quanto plura recentium seu veterum revolvo, tanto magis ludibria rerum mortalium cunctis in negotiis obversantur. quippe fama spe veneratione potius omnes destinabantur imperio quam quem futurum principem fortuna in occulto tenebat. 19 (1) Paucis post diebus Caesar auctor senatui fuit Vitellio atque Veranio et Servaeo sacerdotia tribuendi; Fulcinio suffragium ad honores pollicitus monuit, ne facundiam violentia praecipitaret. (2) is finis fuit ulciscenda Germanici morte, non modo apud illos homines qui tum agebant, etiam secutis temporibus vario rumore iactata. adeo maxima quaeque ambigua sunt, dum alii quoquo modo audita pro compertis habent, alii vera in contrarium vertunt, et gliscit utrumque posteritate. (3) At Drusus urbe egressus repetendis auspiciis, mox ovans introiit. paucosque post dies Vipsania mater eius excessit, una omnium Agrippae liberorum miti obitu: nam ceteros manifestum ferro vel creditum est veneno aut fame exstinctos. 20 (1) Eodem anno Tacfarinas, quem priore aestate pulsum a Camillo memoravi, bellum in Africa renovat, vagis primum populationibus et ob pernicitatem inultis, dein vicos exscindere, trahere graves praedas; postremo haud procul Pagyda flumine cohortem Romanam circumsedit. (2) praeerat castello Decrius impiger manu, exercitus militia et illam obsidionem flagitii ratus. is cohortatus milites, ut copiam pugnae in aperto faceret, aciem pro castris instruit. primoque impetu pulsa cohorte promptus inter tela occursat fugientibus, increpat signiferos, quod incoditis aut desertoribus miles Romanus terga daret; simul excepta vulnera et, quamquam transfosso oculo, adversum os in hostem intendit; neque proelium omisit, donec desertus suis caderet. 21 (1) Quae postquam L. Apronio (nam Camillo successerat) comperta, magis dedecore suorum quam gloria hostis anxius, raro ea tempestate et e vetere

Buch III

207

richtete L. Asprenas an Messalinus vor dem Senat die Frage, ob er ihn absichtlich übergangen habe, und danach erst wurde der Name des Claudius mit aufgeführt. (4) Mir aber tritt, je mehr ich mir von den aktuellen oder vergangenen Geschehnissen durch den Kopf gehen lasse, umso deutlicher das launische Spiel in allen Bereichen des menschlichen Lebens vor Augen. Denn ihrem Ruf, der Erwartung, der Verehrung nach waren eher alle anderen für die Herrschaft bestimmt als der Mann, den das Schicksal als künftigen Princeps versteckt bereithielt. 19 (1) Wenige Tage später beantragte der Caesar beim Senat, Vitellius, Veranius und Servaeus Priesterämter zu verleihen; Fulcinius versprach er seine Befürwortung bei der Bewerbung um Ehrenämter, warnte ihn aber, sein Redetalent durch sein unbeherrschtes Wesen zugrunde zu richten. (2) Das war das Ende der Rache für den Tod des Germanicus, über den nicht nur bei den Zeitgenossen, sondern auch im weiteren Verlauf verschiedene Gerüchte umgingen. So bleiben gerade die bedeutendsten Ereignisse unsicher, insofern die einen alles Hörensagen als verbürgt nehmen, die anderen die Wahrheit in ihr Gegenteil verkehren, und beide Auffassungen verbreiten sich bei der Nachwelt. (3) Drusus jedoch verließ die Hauptstadt, um die Auspizien wieder zu übernehmen,10 und zog dann im kleinen Triumph ein. Wenige Tage danach starb seine Mutter Vipsania als Einziges von allen Kindern Agrippas einen friedlichen Tod. Denn alle anderen kamen offensichtlich durch das Schwert oder vermutlich durch Gift oder Hunger ums Leben.11 20 (1) Im gleichen Jahr fing Tacfarinas, der, wie erwähnt, im Sommer zuvor von Camillus geschlagen worden war,12 mit dem Krieg in Africa wieder an. Zuerst unternahm er nur regellose Raubzüge, die wegen ihrer schnellen Durchführung ungeahndet blieben, dann zerstörte er Dörfer und schleppte schwere Beute davon. Schließlich schloss er nicht weit vom Fluss Pagyda eine römische Kohorte ein. (2) Kommandant des Kastells war Decrius, ein zupackender, erfahrener Haudegen, der diese Belagerung für eine Schande hielt. Er sprach seinen Soldaten Mut zu und ging dann, um einen Kampf im freien Gelände anzubieten, vor dem Lager in Stellung. Als gleich beim ersten Angriff die Kohorte geschlagen wurde, warf er sich entschlossen im Geschosshagel den flüchtenden Soldaten entgegen und fuhr die Fahnenträger dafür an, dass römische Soldaten vor undisziplinierten Haufen oder Deserteuren die Flucht ergriffen. Dabei wurde er verwundet und wandte, obwohl ihm ein Auge ausgeschossen worden war, sein Gesicht voll dem Feind zu; er hörte nicht auf zu kämpfen, bis er, von seinen Leuten im Stich gelassen, fiel. 21 (1) Als L. Apronius – denn er war der Nachfolger des Camillus geworden – davon erfuhr, ärgerte er sich mehr über das schändliche Verhalten seiner Leute als über den Ruhm der Feinde und ließ in einem zu dieser Zeit seltenen, aus

208

Liber tertius

memoria facinore decimum quemque ignominiosae cohortis sorte ductos fusti necat. (2) tantumque severitate profectum, ut vexillum veteranorum, non amplius quingenti numero, easdem Tacfarinatis copias praesidium, cui Thala nomen, adgressas fuderint. (3) quo proelio Rufus Helvius gregarius miles servati civis decus rettulit donatusque est ab Apronio torquibus et hasta. Caesar addidit civicam coronam, quod non eam quoque Apronius iure proconsulis tribuisset, questus magis quam offensus. (4) sed Tacfarinas perculsis Numidis et obsidia aspernantibus spargit bellum, ubi instaretur cedens ac rursum in terga remeans. et dum ea ratio barbaro fuit, inritum fessumque Romanum impune ludificabatur; postquam deflexit ad maritimos locos inligatus praeda stativis castris adhaerebat, missu patris Apronius Caesianus cum equite et cohortibus auxiliariis, quis velocissimos legionum addiderat, prosperam adversum Numidas pugnam facit pellitque in deserta. 22 (1) At Romae Lepida, cui super Aemiliorum decus L. Sulla et Cn. Pompeius proavi erant, defertur simulavisse partum ex P. Quirinio divite atque orbo; adiciebantur adulteria venena quaesitumque per Chaldaeos in domum Caesaris, defendente ream Manio Lepido fratre. Quirinius post dictum repudium adhuc infensus quamvis infami ac nocenti miserationem addiderat. (2) haud facile quis dispexerit illa in cognitione mentem principis: adeo vertit ac miscuit irae et clementiae signa. deprecatus primo senatum, ne maiestatis crimina tractarentur, mox M. Servilium e consularibus aliosque testes inlexit ad profenda quae velut reicere voluerat. (3) idemque servos Lepidae, cum militari custodia haberentur, transtulit ad consules neque per tormenta interrogari passus est d iis, quae ad domum suam pertinerent. (4) exemit etiam Drusum consulem designatum dicendae primo loco sententiae; quod alii civile rebantur, ne ceteris adsentiendi necessitas fieret, quidam ad saevitiam trahebant: neque enim cessurum nisi damnandi officio.

Buch III

209

alter Überlieferung bekannten Verfahren jeden zehnten Mann dieser ehrlosen Kohorte auslosen und totprügeln. (2) Mit seiner Strenge erreichte er so viel, dass eine Veteranenabteilung, die nicht mehr als 500 Mann stark war, die gleichen Truppen des Tacfarinas beim Angriff auf einen Stützpunkt namens Thala in die Flucht schlug. (3) In diesem Treffen erwarb der einfache Soldat Rufus Helvius den Ruhm der Rettung eines Mitbürgers und wurde von Apronius mit Halskette und Lanze ausgezeichnet. Der Caesar fügte die Bürgerkrone hinzu13 und gab dabei mehr seinem Bedauern als seinem Missfallen Ausdruck, dass Apronius nicht auch sie mit seiner Rechtsbefugnis als Prokonsul verliehen habe. (4) Aber Tacfarinas verlegte, weil die Numider allen Mut verloren hatten und von Belagerungen nichts mehr wissen wollten, den Krieg bald hier-, bald dorthin, indem er zurückwich, sobald man ihm zusetzte, und dann wieder im Rücken auftauchte. Und solange der Barbar diese Taktik anwandte, führte er die erfolglosen, abgehetzten Römer ungestraft an der Nase herum. Als er dann aber in das Küstengebiet auswich und mit Beute beladen in einem Standlager festsaß, wurde Apronius Caesianus von seinem Vater mit der Kavallerie und den Kohorten der Hilfstruppen geschickt, die er mit den schnellsten Legionären verstärkt hatte, lieferte den Numidern einen erfolgreichen Kampf und trieb sie in die Wüste. 22 (1) Doch in Rom wurde Lepida, die zusätzlich zum berühmten Namen der Ämilier L. Sulla und Cn. Pompeius zu Urgroßvätern hatte, angeklagt, sie habe fälschlich behauptet, ein Kind von dem reichen, kinderlosen P. Quirinius zu haben. Dazu kamen Ehebruch, Giftmischerei und gegen das Haus des Caesars gerichtete Anfragen bei Chaldäern; die Angeklagte verteidigte ihr Bruder Manius Lepidus. Dass Quirinius, obwohl die Ehescheidung ausgesprochen war, sie immer noch anfeindete, hatte ihr trotz ihres schlechten Rufs und ihrer Schuld Mitleid eingebracht. (2) Nicht leicht dürfte jemand in diesem Verfahren die Absichten des Princeps durchschauen; derart wechselte und vermengte er Anzeichen des Zorns und der Nachsicht. Er bat zunächst den Senat, die Vorwürfe wegen Majestätsbeleidigung nicht zu behandeln, veranlasste dann aber den Konsular M. Servilius und andere Zeugen, die Punkte vorzutragen, die er angeblich hatte zurückweisen wollen. (3) Desgleichen ließ er die Sklaven der Lepida, die in militärischer Haft gehalten wurden, den Konsuln überstellen und duldete nicht, dass sie unter der Folter über die Anklagepunkte verhört wurden, die sich auf sein Haus beziehen konnten. (4) Er entband auch den designierten Konsul Drusus von der Pflicht, als Erster seine Stimme abzugeben; das hielten die einen für bürgerfreundlich, damit für den Rest kein Zwang zur Zustimmung entstand, andere schrieben es seiner Grausamkeit zu: Drusus hätte nämlich nicht verzichtet, wenn er sich nicht verpflichtet gefühlt hätte, für schuldig zu plädieren.

210

Liber tertius

23 (1) Lepida ludorum diebus, qui cognitionem intervenerant, theatrum cum claris feminis ingressa, lamentatione flebili maiores suos ciens ipsumque Pompeium, cuius ea monimenta et adstantes imagines visebantur, tantum misericordia permovit, ut effusi in lacrimas saeva et detestanda Quirinio clamitarent, cuius senectae atque orbitati et obscurissimae domui destinata quondam uxor L. Caesari ac divo Augusto nurus dederetur. (2) dein tormentis servorum patefacta sunt flagitia tumque in sententiam Rubelli Blandi, a quo aqua atque igni arcebatur. huic Drusus adsensit, quamquam alii mitius censuissent. mox Scauro, qui filiam ex ea genuerat, datum, ne bona publicarentur. tum demum aperuit Tiberius compertum sibi etiam ex P. Quirinii servis veneno eum a Lepida petitum. 24 (1) Inlustrium domuum adversa (etenim haud multum distanti tempore Calpurnii Pisonem, Aemilii Lepidam amiserant) solacio adfecit D. Silanus Iuniae familiae redditus. (2) casum eius paucis repetam. ut valida divo Augusto in rem publicam fortuna, ita domi improspera fuit ob impudicitiam filiae ac neptis, quas urbe depulit adulterosque earum morte aut fuga punivit. nam culpam inter viros ac feminas vulgatam gravi nomine laesarum religionum ac violatae maiestatis appellando clementiam maiorum suasque ipse leges egrediebatur. (3) sed aliorum exitus, simul cetera illius aetatis memorabo, si effectis in quae tendi plures ad curas vitam produxero: D. Silanus in nepti Augusti adulter, quamquam non ultra foret saevitum, quam ut amicitia Caesaris prohiberetur, exilium sibi demonstrari intellexit, nec nisi Tiberio imperitante deprecari senatum ac principem ausus est M. Silani fratris potentia, qui per insignem nobilitatem et eloquentiam praecellebat. (4) ed Tiberius grates agenti Silano patribus coram respondit se quoque laetari, quod frater eius e peregrinatione longinqua revertisset, idque iure licitum quia

Buch III

211

23 (1) Lepida ging an den Tagen der Spiele, an denen das Verfahren ausgesetzt wurde, zusammen mit vornehmen Damen ins Theater, rief unter Weinen und Klagen ihre Vorfahren und Pompeius selbst an, dessen Bauwerk das war und dessen Bilder man dort aufgestellt sehen konnte, und erregte damit so viel Mitleid, dass die Leute in Tränen ausbrachen und wüste Beschimpfungen gegen Quirinius ausstießen, diesen altersschwachen, kinderlosen Mann aus niedrigstem Hause, dem die Frau, die einst als Gattin für L. Caesar und damit als Schwiegertochter des vergöttlichten Augustus vorgesehen war, nun ausgeliefert werden sollte. (2) Dann aber kamen beim Verhör der Sklaven unter der Folter ihre Schandtaten ans Licht, und man schloss sich dem Antrag des Rubellius Blandus an, der sie von Wasser und Feuer fernhalten wollte.14 Ihm stimmte Drusus zu, obwohl andere eine mildere Strafe beantragt hatten. Dann machte man Scaurus, der eine Tochter von ihr hatte, das Zugeständnis, dass ihr Vermögen nicht eingezogen wurde. Erst jetzt gab Tiberius bekannt, er habe auch von Sklaven des P. Quirinius erfahren, dass auf diesen von Lepida ein Giftanschlag verübt worden sei. 24 (1) Bei diesen Schicksalsschlägen, die vornehme Häuser getroffen hatten – denn in einem nicht großen zeitlichen Abstand hatten die Calpurnier Piso, die Ämilier Lepida verloren –, stellte es einen Trost dar, dass D. Silanus der junischen Familie wiedergeschenkt wurde. (2) Seinen Fall will ich kurz zurückverfolgen. Wenn dem vergöttlichten Augustus das Glück im Hinblick auf den Staat auch gewogen war, so hatte er zu Hause doch viel Unglück wegen des unmoralischen Lebenswandels seiner Tochter und Enkelin, die er aus der Hauptstadt vertrieb und deren Liebhaber er mit Tod oder Verbannung bestrafte.15 Denn dadurch, dass er ein zwischen Männern und Frauen häufig vorkommendes Fehlverhalten mit den schwerwiegenden Begriffen „Verstoß gegen heilige Pflichten“ und „Majestätsbeleidigung“ bezeichnete, ging er über die milde Beurteilung durch unsere Vorfahren und seine eigenen Gesetze hinaus. (3) Doch das Lebensende der anderen Personen, zugleich die übrigen Ereignisse dieser Zeit werde ich darstellen, falls ich nach Vollendung meines jetzigen Vorhabens für weitere literarische Tätigkeit lange genug lebe. D. Silanus, der Liebhaber der Enkelin des Augustus, merkte, obwohl man gegen ihn nicht grausamer als mit der Aufkündigung der Freundschaft des Caesars vorgegangen wäre, dass ihm damit zu verstehen gegeben wurde, er sei verbannt, und erst unter der Regierung des Tiberius wagte er es, Senat und Princeps um Begnadigung zu bitten aufgrund des Einflusses seines Bruders M. Silanus, der sich durch hohen Adel und glänzende Beredsamkeit auszeichnete. (4) Aber als sich Silanus vor den Vätern dafür bedankte, gab ihm Tiberius zur Antwort, auch er freue sich über die Rückkehr seines Bruders von einem langen Aufenthalt in der Fremde, und sie sei ihm auch zu Recht erlaubt

212

Liber tertius

non senatus consulto, non lege pulsus foret: sibi tamen adversus eum integras parentis sui offensiones, neque reditu Silani dissoluta quae Augustus voluisset. fuit posthac in urbe neque honores adeptus est. 25 (1) Relatum dein de moderanda Papia Poppaea, quam senior Augustus post Iulias rogationes incitandis caelibum poenis et augendo aerario sanxerat. nec ideo coniugia et educationes liberum frequentabantur praevalida orbitate; ceterum multitudo periclitantium gliscebat, cum omnes domus delatorum interpretationibus subverteretur, utque antehac flagitiis ita tunc legibus laborabatur. (2) ea res admonet, ut de principiis iuris et quibus modis ad hanc multitudinem infinitam ac varietatem legum perventum sit, altius disseram. 26 (1) Vetustissimi mortalium, nulla adhuc mala libidine, sine probro scelere eoque sine poena aut coercitionibus agebant. neque praemiis opus erat, cum honesta suopte ingenio peterentur; et ubi nihil contra morem cuperent, nihil per metum vetabantur. (2) at postquam exui aequalitas et pro modestia ac pudore ambitio et vis incedebat, provenere dominationes multosque apud populos aeternum mansere. (3) quidam statim, aut postquam regum pertaesum, leges maluerunt. ae primo rudibus hominum animis simplices erant; maximeque fama celebravit Cretensium, quas Minos, Spartanorum, quas Lycurgus, ac mox Atheniensibus quaesitiores iam et plures Solo perscripsit. (4) nobis Romulus, ut libitum, imperitaverat; dein Numa religionibus et divino iure populum devinxit, repertaque quaedam a Tullo et Anco. sed praecipuus Servius Tullius sanctor legum fuit, quis etiam reges obtemperarent. 27 (1) Pulso Tarquinio adversum patrum factiones multa populus paravit tuendae libertatis et firmandae concordiae, creatique decemviri et, accitis quae usquam egregia, compositae duodecim tabulae, finis aequi iuris. nam secutae leges etsi aliquando in maleficos ex delicto, saepius tamen dissensione ordinum

Buch III

213

worden, weil er nicht durch Senatsbeschluss, auch nicht auf gesetzlicher Grundlage verbannt worden sei. Für ihn bestünden jedoch die Gründe für die Verärgerung seines Vaters unvermindert weiter, und durch Silanus’ Rückkehr sei der Wille des Augustus nicht aufgehoben. Er lebte danach in der Hauptstadt, ohne ein Ehrenamt übertragen zu bekommen. 25 (1) Man beriet daraufhin über eine Beschränkung des papisch-poppäischen Gesetzes, das Augustus im Alter nach den julischen Gesetzesanträgen zur Verschärfung der Strafen für Ledige und zur Vermehrung des Staatsschatzes erlassen hatte.16 Deshalb wurden aber nicht mehr Ehen geschlossen und Kinder aufgezogen, da Kinderlosigkeit mehr brachte. Außerdem nahm die Menge der Personen stark zu, die in Prozesse verwickelt waren, weil alle Familien durch die Verdächtigungen der Denunzianten zugrunde gerichtet werden konnten, und wie man zuvor unter den Gesetzesübertretungen litt, so nun unter den Gesetzen. (2) Das ist für mich Anlass, ausführlicher auf die Anfänge des Rechts und die Art und Weise einzugehen, wie es zu dieser unendlichen Menge und Vielfalt von Gesetzen kam. 26 (1) Die ältesten Sterblichen lebten, da sie noch keinen Hang zum Schlechten kannten, ohne Schandtat und Verbrechen und deshalb ohne Strafe oder Zwangsmaßnahmen. Aber auch Belohnungen brauchte man nicht, da man das sittlich Gute aus eigenem Antrieb heraus anstrebte; und wo man nichts Sittenwidriges haben wollte, musste man auch nichts mit Furcht verbieten. (2) Doch nachdem die Gleichheit aufgegeben wurde und anstelle von Bescheidenheit und Ehrgefühl Ehrgeiz und Gewalttätigkeit um sich griffen, entwickelten sich Gewaltherrschaften und blieben bei vielen Völkern für immer bestehen. (3) Manche wollten sofort, oder nachdem sie von ihren Königen genug hatten, lieber Gesetze. Diese waren bei der herrschenden Unbildung der Menschen zunächst einfach; und am weitesten verbreitete sich der Ruhm der Gesetze der Kreter, die Minos, der Spartaner, die Lykurg, und dann für die Athener schon anspruchsvoller und in größerer Zahl Solon verfasste. (4) Über uns hatte Romulus nach Gutdünken geherrscht; anschließend band Numa das Volk durch religiöse Vorschriften und göttliches Recht, und einige Bestimmungen wurden von Tullus und Ancus erfunden. Aber in erster Linie war es Servius Tullius, der die Gesetze gab, denen auch die Könige gehorchen sollten. 27 (1) Nach der Vertreibung des Tarquinius traf gegen die Parteiinteressen der Väter das Volk17 viele Maßnahmen zum Schutz der Freiheit und zur Stärkung des Zusammenhalts, und man wählte die Zehnmänner und verfasste, nachdem man alle hervorragenden Vorschriften zusammengetragen hatte, die sich irgendwo fanden, die Zwölf Tafeln, den Höhepunkt des gleichen Rechts. Denn die folgenden Gesetze wurden zwar manchmal gegen Straftäter im Hinblick auf ihr Verbrechen, häufiger aber wegen der Uneinigkeit der Stände und zur

214

Liber tertius

et apiscendi inlicitos honores aut pellendi claros viros aliaque ob prava per vim latae sunt. (2) hinc Gracchi et Saturnini turbatores plebis, nec minor largitor nomine senatus Drusus; corrupti spe aut inlusi per intercessionem socii, ac ne bello quidem Italico, mox civili omissum, quin multa et diversa sciscerentur, donec L. Sulla dictator abolitis vel conversis prioribus, cum plura addidisset, otium eius rei haud in longum paravit, statim turbidis Lepidi rogationibus, neque multo post tribunis reddita licentia quoquo vellent populum agitandi. (3) iamque non modo in commune, sed in singulos homines latae quaestiones, et corruptissima re publica plurimae leges. 28 (1) Tum Cn. Pompeius, tertium consul corrigendis moribus delectus et gravior remediis quam delicta erant, suarumque legum auctor idem ac subversor, quae armis tuebatur, armis amisit. exim continua per viginti annos discordia, non mos, non ius; deterrima quaeque impune ac multa honesta exitio fuere. (2) sexto demum consulatu Caesar Augustus, potentiae securus, quae triumviratu iusserat abolevit deditque iura, quis pace et principe uteremur. (3) acriora ex eo vincla: inditi custodes et lege Papia Poppaea praemiis inducti, ut, si a privilegiis parentum cessaretur, velut parens omnium populus vacantia teneret. sed altius penetrabant urbemque et Italiam et quod usquam civium corripuerant, multorumque excisi status. (4) et terror omnibus intentabatur, ni Tiberius statuendo remedio quinque consularium, quinque e praetoriis, totidem e cetero senatu sorte duxisset, apud quos exsoluti plerique legis nexus modicum in praesens levamentum fuere.

Buch III

215

Erlangung nicht zustehender Ehrenämter oder zur Vertreibung angesehener Persönlichkeiten und aus anderen verwerflichen Beweggründen gewaltsam eingeführt. (2) Daher traten Leute wie die Gracchen und Saturninus als Volksverhetzer auf, und nicht weniger großzügig verteilte im Namen des Senats Drusus Geschenke; bestochen durch die Hoffnung oder zum Besten gehalten durch Einsprüche wurden die Bundesgenossen,18 und nicht einmal im Italischen Krieg, später dann im Bürgerkrieg unterließ man es, viele einander widersprechende Beschlüsse zu fassen, bis der Diktator L. Sulla die früheren Bestimmungen aufhob oder abänderte und, obwohl er mehrere hinzufügte, für eine Pause in diesem Bereich sorgte, allerdings nicht für lange Zeit, weil sofort Lepidus seine umstürzlerischen Gesetzesanträge stellte, und nicht viel später wurde den Tribunen wieder die uneingeschränkte Möglichkeit eingeräumt, das Volk nach Gutdünken dorthin zu treiben, wo sie es haben wollten. (3) Bald danach wurden nicht nur für die Allgemeinheit, sondern gegen einzelne Personen Gesetze eingebracht, und als die sittliche Verwahrlosung im Staat am größten war, gab es die meisten Gesetze. 28 (1) Dann wurde Cn. Pompeius zum dritten Mal zum Konsul gewählt, um die Sitten zu verbessern; aber die angewandten Mittel wurden als drückender empfunden als die Vergehen, und so verlor er als Urheber seiner eigenen Gesetze und zugleich ihr Zerstörer durch Waffengewalt, was er mit Waffengewalt zu schützen versuchte.19 Anschließend herrschte zwanzig Jahre lang ununterbrochen Streit, keine Sitte galt, kein Recht. Gerade die schlimmsten Verbrechen blieben ungestraft, und viele edelmütige Verhaltensweisen brachten den Untergang. (2) Erst in seinem sechsten Konsulat20 hob Caesar Augustus im sicheren Bewusstsein seiner Macht die Vorschriften aus dem Triumvirat wieder auf und schuf die rechtlichen Bestimmungen, nach denen wir uns im Frieden und unter einem Princeps richten sollten. (3) Noch fester angezogen wurden daraufhin die Fesseln: Man stellte Aufpasser auf und spornte sie auf der Grundlage des papisch-poppäischen Gesetzes mit Belohnungen an, damit für den Fall, dass man auf die Vorrechte von Eltern verzichtete, gleichsam als Vater von allen das Volk das herrenlose Gut bekam. Aber sie drangen noch tiefer ein und hatten die Hauptstadt, Italien und alle Bürger, die es irgendwo gab, in ihren Klauen, und bei vielen wurde die Existenzgrundlage vernichtet. (4) Tatsächlich hätte der Schrecken alle bedroht, wenn Tiberius dann nicht doch, um Abhilfe zu schaffen, fünf Konsulare, fünf Prätorier und ebenso viele weitere Mitglieder des Senats durch das Los bestimmt hätte, durch die viele durch das komplizierte Gesetz verursachte Härtefälle bereinigt wurden, was für den Augenblick eine bescheidene Erleichterung bedeutete.

216

Liber tertius

29 (1) Per idem tempus Neronem e liberis Germanici, iam ingressum iuventam, commendavit patribus, utque munere capessendi vigintiviratus solveretur et quinquennio maturius quam per leges quaesturam peteret, non sine inrisu audientium postulavit. praetendebat sibi atque fratri decreta eadem petente Augusto. (2) sed neque tum fuisse dubitaverim, qui eius modi preces occulti inluderent: ac tamen initia fastigii Caesaribus erant magisque in oculis vetus mos, et privignis cum vitrico levior necessitudo quam avo adversum nepotem. (3) additur pontificatus et, quo primum die forum ingressus est, congiarium plebi admodum laetae, quod Germanici stirpem iam puberem aspiciebat. auctum dehinc gaudium nuptiis Neronis et Iuliae Drusi filiae. (4) utque haec secundo rumore, ita adversis animis acceptum, quod filio Claudii socer Seianus destinaretur. polluisse nobilitatem familiae videbatur suspectumque iam nimiae spei Seianum ultra extulisse. 30 (1) Fine anni concessere vita insignes viri L. Volusius et Sallustius Crispus. Volusio vetus familia neque tamen praeturam egressa; ipse consulatum intulit, censoria etiam potestate legendis equitum decuriis functus, opumque, quis domus illa immensum viguit primus adcumulator. (2) Crispum equestri ortum loco C. Sallustius, rerum Romanarum florentissimus auctor, sororis nepotem in nomen adscivit. atque ille, quamquam prompto ad capessendos honores aditu, Maecenatem aemulatus sine dignitate senatoria multos triumphalium consulariumque potentia anteiit, diversus a veterum instituto per cultum et munditias copiaque et afluentia luxu propior. (3) suberat tamen vigor animi ingentibus negotiis par, eo acrior, quo somnum et inertiam magis ostentabat. igitur incolumi Maecenate proximus, mox praecipuus, cui secreta imperatorum inniterentur, et interficiendi Postumi Agrippae conscius, aetate provecta speciem magis in amicitia principis quam vim tenuit. (4) idque et Maecenati

Buch III

217

29 (1) Zur selben Zeit empfahl er Nero, einen Sohn des Germanicus, der schon zum Mann herangewachsen war, den Vätern und verlangte, ihn von der Übernahme des Vigintivirats zu entbinden und ihn sich fünf Jahre früher, als gesetzlich vorgesehen, um die Quästur bewerben zu lassen,21 nicht ohne spöttische Bemerkungen seiner Zuhörer. Zum Vorwand nahm er, für ihn und seinen Bruder sei dasselbe auf Antrag des Augustus beschlossen worden. (2) Aber ich möchte nicht bezweifeln, dass es auch damals schon Leute gab, die sich über derartige Bitten hinter vorgehaltener Hand lustig machten. Dennoch war das erst der Beginn des Aufstiegs der Caesaren, man hatte noch mehr die alte Sitte vor Augen, und die verwandtschaftliche Verpflichtung zwischen Stiefsöhnen und Stiefvater war weniger eng als zwischen Großvater und Enkel. (3) Dazu übertrug man ihm auch noch den Pontifikat, und am Tag seines ersten Auftritts auf dem Forum erhielt das Volk, das sich sehr darüber freute, einen Sprössling des Germanicus bereits erwachsen zu sehen, eine Spende. Die Freude wurde danach noch gesteigert durch die Hochzeit Neros mit Drusus’ Tochter Julia. (4) Wie man diese Entwicklungen mit beifälligem Gerede aufnahm, so ablehnend stand man der Nachricht gegenüber, für Claudius’ Sohn22 sei Sejan als Schwiegervater bestimmt worden. Tiberius schien damit den hohen Adel seiner Familie befleckt und Sejan, den man bereits in Verdacht hatte, er mache sich übertriebene Hoffnungen, über diese hinausgehoben zu haben. 30 (1) Am Jahresende schieden mit L. Volusius und Sallustius Crispus bedeutende Persönlichkeiten aus dem Leben. Volusius gehörte einer alten Familie an, die dennoch nicht über die Prätur hinausgekommen war; er selbst brachte ihr den Konsulat, bekleidete sogar das Amt eines Zensors zur Auswahl der Ritterdekurien und legte den Grundstein für den Reichtum, durch den dieses Haus so grenzenlos erfolgreich war. (2) Den Crispus, der aus dem Ritterstand stammte, adoptierte C. Sallustius, der glänzendste römische Geschichtsschreiber; er war nämlich der Enkel seiner Schwester. Und dieser ahmte, obwohl ihm der Zugang zu den Ehrenämtern offen stand, Maecenas nach und übertraf ohne die Würde eines Senators viele Triumphatoren und Konsulare an Einfluss; im Unterschied zur Gewohnheit der Vorfahren pflegte er einen eleganten Lebensstil, der durch Reichtum und Überfluss schon eher Verschwendung war. (3) Dahinter steckte jedoch eine Willensstärke, die ihn den schwierigsten Aufgaben gewachsen und umso energischer sein ließ, je mehr er nach außen hin verschlafenes Desinteresse zur Schau trug. Deshalb stand er zu Lebzeiten des Maecenas an zweiter Stelle, dann wurde er der wichtigste Mann, auf den sich die Oberbefehlshaber bei ihren geheimen Beratungen stützten; auch in die Ermordung Postumus Agrippas war er eingeweiht, und in fortgeschrittenem Alter behielt er die Freundschaft mit dem Princeps bei, allerdings mehr nach außen hin, als dass sie noch eine wirkliche Bedeutung gehabt hätte. (4) So

218

Liber tertius

acciderat, fato potentiae raro sempiternae, an satias capit aut illos, cum omnia tribuerunt, aut hos, cum iam nihil reliquum est quod cupiant. 31 (1) Sequitur TIBERI quartus, DRUSI secundus consulatus, patris atque filii collegio insignis. nam triennio ante Germanici cum Tiberio idem honor neque patruo laetus neque natura tam conexus fuerat. (2) eius anni principio Tiberius quasi firmandae valitudini in Campaniam concessit, longam et continuam absentiam paulatim meditans, sive ut amoto patre Drusus munia consulatus solus impleret. ac forte parva res magnum ad certamen progressa praebuit iuveni materiem apiscendi favoris. (3) Domitius Corbulo praetura functus de L. Sulla nobili iuvene questus est apud senatum, quod sibi inter spectacula gladiatorum loco non decessisset. pro Corbulone aetas, patrius mos, studia seniorum erant; contra Mamercus Scaurus et L. Arruntius aliique Sullae propinqui nitebantur. (4) certabantque orationibus, et memorabantur exempla maiorum, qui iuventutis inreverentiam gravibus decretis notavissent, donec Drusus apta temperandis animis disseruit; et satisfactum Corbuloni per Mamercum, qui patruus simul ac vitricus Sullae et oratorum aetate uberrimus erat. (5) idem Corbulo plurima per Italiam itinera fraude mancipum et incuria magistratuum interrupta et impervia clamitando exsecutionem eius negotii libens suscepit; quod haud perinde publice usui habitum quam exitiosum multis, quorum in pecuniam atque famam damnationibus et hasta saeviebat. 32 (1) Neque multo post missis ad senatum litteris Tiberius motam rursum Africam incursu Tacfarinatis docuit, iudicioque patrum deligendum pro consule gnarum militiae, corpore validum et bello suffecturum. (2) quod initium Sex. Pompeius agitandi adversus Manium Lepidum odii nanctus, ut socordem inopem et maioribus suis dedecorum eoque etiam Asiae sorte depellendum incusavit, adverso senatu, qui Lepidum item magis quam ignavum, paternas

Buch III

219

war es auch Maecenas ergangen, weil das Schicksal nur selten eine dauernde Machtposition verleiht; das mag daran liegen, dass Überdruss entweder die einen erfasst, wenn sie alles gewährt haben, oder die anderen, wenn es schon nichts mehr gibt, was sie noch wünschen könnten. 31 (1) Es folgte der vierte Konsulat des TIBERIUS, der zweite des DRUSUS (21 n. Chr.), der damit die Besonderheit aufwies, dass Vater und Sohn Kollegen waren. Denn drei Jahre vorher hatte Germanicus zusammen mit Tiberius das gleiche Ehrenamt bekleidet, aber das war für den Onkel kein Anlass zur Freude gewesen, und das Verwandtschaftsverhältnis war nicht so eng. (2) Zu Beginn dieses Jahres begab sich Tiberius angeblich zur Stärkung seiner Gesundheit nach Kampanien, fasste jedoch allmählich eine lange, ständige Abwesenheit ins Auge; vielleicht sollte aber auch nur Drusus wegen des Fernseins seines Vaters die mit dem Konsulat verbundenen Aufgaben allein wahrnehmen. Und zufällig bot ein nebensächlicher Vorfall, aus dem sich eine heftige Auseinandersetzung entwickelte, dem jungen Mann Gelegenheit, sich Sympathien zu erwerben: (3) Domitius Corbulo, der die Prätur bekleidet hatte, beklagte sich vor dem Senat über den aus gutem Hause stammenden, jungen L. Sulla, er habe ihm bei Gladiatorenspielen seinen Platz nicht frei gemacht. Für Corbulo sprachen Alter, herkömmliche Sitte und die Unterstützung durch die älteren Senatoren; dagegen wehrten sich Mamercus Scaurus, L. Arruntius und andere Verwandte Sullas. (4) Sie lieferten sich Wortgefechte und erinnerten an die Vorbilder der Vorfahren, die die fehlende Ehrerbietung der Jugend durch strenge Vorschriften gerügt hätten, bis Drusus die richtigen Worte zur Beruhigung der Gemüter fand. Und Corbulo erhielt Genugtuung durch Mamercus, der Onkel und zudem Stiefvater Sullas und der begnadetste Redner seiner Zeit war. (5) Derselbe Corbulo führte lauthals darüber Klage, dass sehr viele Straßen in Italien wegen betrügerischer Unternehmer und nachlässiger Amtsinhaber unterbrochen und damit unpassierbar geworden seien, und übernahm die Erledigung dieser Angelegenheit gerne; sie fiel aber nicht so richtig zum Nutzen für die Allgemeinheit aus, sondern bedeutete für viele den Ruin, gegen deren Vermögen und guten Ruf er mit Verurteilungen und der Lanze23 wütete. 32 (1) Nicht viel später teilte Tiberius in einem Schreiben an den Senat mit, Africa sei nach einem Einfall des Tacfarinas wieder in Aufruhr, und die Väter sollten über die Auswahl eines Prokonsuls entscheiden, der militärisch erfahren, körperlich gesund und den Anforderungen eines Krieges gewachsen sei. (2) Dies nahm Sex. Pompeius zum Anlass, seinem Hass auf Manius Lepidus freien Lauf zu lassen. Er warf ihm vor, er sei einfältig, mittellos und ein Schandfleck für seine Vorfahren, und man müsse ihn deshalb auch von der Verlosung Asias ausschließen. Der Senat war jedoch anderer Auffassung, weil er Lepidus eher für gutmütig als für unfähig hielt und glaubte, seine dürftigen Verhältnisse rührten

220

Liber tertius

ei angustias, et nobilitatem sine probro actam honori quam ignominiae habendam ducebat. igitur missus in Asiam, et de Africa decretum, ut Caesar legeret cui mandanda foret. 33 (1) Inter quae Severus Caecina censuit, ne quem magistratum, cui provincia obvenisset, uxor comitaretur, multum ante repetito concordem sibi coniugem et sex partus enixam, seque quae in publicum statueret domi servavisse, cohibita intra Italiam, quamquam ipse plures per provincias quadraginta stipendia explevisset. (2) haud enim frustra placitum olim, ne feminae in socios aut gentes externas traherentur: inesse mulierum comitatui quae pacem luxu, bellum formidine morentur et Romanum agmen ad similitudinem barbari incessus convertant. (3) non imbecillum tantum et imparem laboribus sexum, sed, si licentia adsit, saevum ambitiosum, potestatis avidum; incedere inter milites, habere ad manum centuriones; praesedisse nuper feminam exercitio cohortium, decursu legionum. (4) cogitarent ipsi, quotiens repetundarum aliqui arguerentur, plura uxoribus obiectari: his statim adhaerescere deterrimum quemque provincialium, ab his negotia suscipi transigi; duorum egressus coli, duo esse praetoria, pervicacibus magis et impotentibus mulierum iussis, quae Oppiis quondam aliisque legibus constrictae, nunc vinclis exsolutis domos fora, iam et exercitus regerent. 34 (1) Paucorum haec adsensu audita: plures obturbabant, neque relatum de negotio neque Caecinam dignum tantae rei censorem. (2) mox Valerius Messalinus, cui parens Messala ineratque imago paternae facundiae, respondit multa duritiae veterum melius et laetius mutata; neque enim, ut olim, obsideri urbem bellis aut provincias hostiles esse; et pauca feminarum necessitatibus concedi, quae ne coniugum quidem penates, adeo socios non onerent; cetera promisca cum marito nec ullum in eo pacis

Buch III

221

vom Vater her und man müsse ihm dafür, dass er seiner vornehmen Abkunft keine Schande machte, eher Anerkennung zollen als ihn beschimpfen. Deshalb schickte man ihn nach Asia und beschloss Africa betreffend, der Caesar solle den Mann aussuchen, dem man es anvertrauen könne. 33 (1) Bei dieser Gelegenheit stellte Severus Caecina den Antrag, keinen Amtsinhaber, der eine Provinz übertragen bekommen habe, solle seine Ehefrau begleiten, wobei er zuvor sehr ausführlich darlegte, seine Gattin verstehe sich gut mit ihm und habe sechs Kindern das Leben geschenkt, und er habe, was er nun als allgemeine Regelung vorschlage, im eigenen Haus so gehalten: Sie sei auf Italien beschränkt geblieben, obwohl er selbst in mehreren Provinzen 40 Jahre Dienst getan habe. (2) Nicht ohne Grund habe man nämlich einst beschlossen, dass Frauen nicht zu den Bundesgenossen und auswärtigen Völkern mitgenommen werden dürften. Ihre Begleitung führe dazu, dass der Friede durch ihren Hang zur Prachtentfaltung, der Krieg durch ihre Ängstlichkeit behindert werde und sich eine römische Heereskolonne in eine Art barbarischer Aufzug verwandle. (3) Nicht nur schwach und Strapazen nicht gewachsen sei dieses Geschlecht, sondern, falls man ihm freie Hand lasse, auch brutal, ehrgeizig und machtbesessen. Man marschiere mit den Soldaten mit, habe Zenturionen zur Hand; erst kürzlich habe eine Frau sogar ein Kohortenmanöver und eine Parade von Legionen befehligt. (4) Sie sollten doch selbst daran denken, dass immer, wenn jemand wegen Erpressung angeklagt werde, die Vorwürfe überwiegend die Frauen beträfen. An sie hängten sich sofort die übelsten Elemente unter den Provinzialen, von ihnen würden die Geldgeschäfte in die Hand genommen und abgeschlossen; zwei Personen werde gehuldigt, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zeigten, zwei Amtssitze gebe es. Dabei seien die Befehle der Frauen eigenwilliger und maßloser; einst seien sie durch die oppischen24 und andere Gesetze in Zaum gehalten worden, nun aber hätten sie alle Fesseln abgestreift und kommandierten in Privathäusern und auf öffentlichen Plätzen, ja sogar schon Heere. 34 (1) Nur wenige waren mit dem Gehörten einverstanden. Die Mehrheit protestierte lautstark, weder stehe dieser Punkt auf der Tagesordnung noch sei Caecina der richtige Mann, in einer solch wichtigen Angelegenheit den Zensor zu spielen. (2) Dann antwortete Valerius Messalinus, dessen Vater Messala hieß und der ein Ebenbild der väterlichen Beredsamkeit war, das rigide Verhalten der Vorfahren habe sich in vielen Punkten zum Besseren und Erfreulicheren hin gewandelt; auch die Hauptstadt sei ja nicht mehr wie früher von Kriegen bedroht oder die Provinzen in der Hand von Feinden. Und nur wenige Zugeständnisse mache man den unvermeidlichen Bedürfnissen der Frauen, die nicht einmal die Haushalte ihrer Männer, geschweige denn die Bundesgenossen belasteten. Alle übrigen Belange teilten sie mit ihrem Ehemann, und das stelle kein Hindernis

222

Liber tertius

impedimentum. bella plane accinctis obeunda: sed revertentibus post laborem quod honestius quam uxorium levamentum? (3) at quasdam in ambitionem aut avaritiam prolapsas. quid? ipsorum magistratuum nonne plerosque variis libidinibus obnoxios? non tamen ideo neminem in provinciam mitti. corruptos saepe pravitatibus uxorum maritos: num ergo omnes caelibes integros? (4) placuisse quondam Oppias leges, sic temporibus rei publicae postulantibus; remissum aliquid postea et mitigatum, quia expedierit. frustra nostram ignaviam alia ad vocabula transferri: nam viri in eo culpam, si femina modum excedat. (5) porro ob unius aut alterius imbecillum animum male eripi maritis consortia rerum secundarum adversarumque; simul sexum natura invalidum deseri et exponi suo luxu, cupidinibus alienis. vix praesenti custodia manere inlaesa coniugia: quid fore, si per plures annos in modum discidii obliterentur? sic obviam irent iis, quae alibi peccarentur, ut flagitiorum urbis meminissent. (6) addidit pauca Drusus de matrimonio suo; nam principibus adeunda saepius longinqua imperii. quotiens divum Augustum in Occidentem atque Orientem meavisse comite Livia! se quoque in Illyricum profectum et, si ita conducat, alias ad gentes iturum, haud semper aequo animo, si ab uxore carissima et tot communium liberorum parente divelleretur. sic Caecinae sententia elusa et. 35 (1) Proximo senatus die Tiberius per litteras, castigatis oblique patribus, quod cuncta curarum ad principem reicerent, M. Lepidum et Iunium Blaesum nominavit, ex quis pro consule Africae legeretur. (2) tum audita amborum verba, intentius excusante se Lepido, cum valitudinem corporis, aetatem liberum, nubilem filiam obtenderet, intellegereturque etiam quod silebat, avunculum esse Seiani Blaesum atque eo praevalidum. (3) respondit Blaesus specie recusantis, sed neque eadem adseveratione, et consensu adulantium adiutus est.

Buch III

223

für den Frieden dar. Die Kriege müssten selbstverständlich die dafür gerüsteten Männer bestreiten. Doch was gebe es bei der Rückkehr nach getaner Arbeit Anständigeres als die Erholung an der Seite der Gattin? (3) – Aber ein paar Frauen seien Ehrgeiz oder Habsucht verfallen. – Was dieser Einwand solle? Frönten nicht auch sehr viele Amtsinhaber verschiedenen Leidenschaften? Dennoch sei es nicht so, dass deswegen niemand mehr in eine Provinz geschickt werde. – Ruiniert worden seien schon oft durch die üblen Machenschaften ihrer Ehefrauen die Männer. – Seien etwa alle ledigen Personen ohne Fehler? (4) Beschlossen habe man die oppischen Gesetze früher einmal, als es die Lage des Staates so erforderte. Später habe man einiges davon gestrichen und abgeschwächt, weil es so zweckmäßig war. Es sei müßig, unser eigenes Unvermögen mit anderen Ausdrücken zu bezeichnen. Denn der Mann sei schuld daran, wenn die Frau über die Stränge schlage. (5) Außerdem sei es falsch, wegen des fehlenden Durchsetzungsvermögens des einen oder anderen25 den Eheleuten die Schicksalsgemeinschaft in guten und schlechten Tagen vorzuenthalten; zugleich lasse man das von Natur aus schwache Geschlecht im Stich und setze es dem ihm eigenen Hang zu angenehmem Leben und fremden Gelüsten aus. Nur mit Mühe blieben trotz Überwachung durch die anwesenden Männer die Ehen unangetastet: Was werde erst geschehen, wenn sie über mehrere Jahre hinweg wie bei einer Scheidung in Vergessenheit gerieten? Nur so sollten sie gegen Fehlverhalten woanders einschreiten, dass sie dabei an die schändlichen Zustände in der Hauptstadt dächten. (6) Drusus ergänzte wenige Gesichtspunkte über seine eigene Ehe; denn die Principes müssten öfter abgelegene Gegenden des Reichs aufsuchen. Wie oft sei der vergöttlichte Augustus in den Westen und in den Osten gereist in Livias Begleitung! Auch er sei nach Illyricum aufgebrochen und werde erforderlichenfalls auch zu anderen Völkern gehen, aber nicht immer leichten Herzens, wenn er sich von seiner heiß geliebten Gattin und Mutter so vieler gemeinsamer Kinder losreißen müsse. Auf diese Weise blieb Caecinas Antrag erfolglos. 35 (1) Bei der nächsten Senatssitzung schlug Tiberius in einem Schreiben, das den Seitenhieb auf die Väter enthielt, sie lüden alle Probleme beim Princeps ab, M. Lepidus und Iunius Blaesus namentlich vor, von denen man einen als Prokonsul von Africa wählen solle. (2) Dann hörte man die Vorstellungen beider an, wobei Lepidus mehr darauf bedacht war, sich zu entschuldigen, indem er gesundheitliche Probleme, die Jugend seiner Kinder und seine heiratsfähige Tochter vorschützte. Man bekam aber auch mit, was er verschwieg, nämlich dass Blaesus der Onkel Sejans sei und sich deshalb durchsetzen werde. (3) Blaesus lehnte in seiner Antwort zum Schein ab, tat das aber auch nicht mit demselben Nachdruck und fand die einhellige Unterstützung26 der Kriecher.

224

Liber tertius

36 (1) Exim promptum quod multorum intimis questibus tegebatur. incedebat enim deterrimo cuique licentia impune probra et invidiam in bonos excitandi arrepta imagine Caesaris; libertique etiam ac servi, patrono vel domino cum voces, cum manus intentarent, ultro metuebantur. (2) igitur C. Cestius senator disseruit principes quidem instar deorum esse, sed neque a dis nisi iustas supplicum preces audiri, neque quemquam in Capitolium aliave urbis templa perfugere, ut eo subsidio ad flagitia utatur. (3) abolitas leges et funditus versas, ubi in foro, in limine curiae ab Annia Rufilla, quam fraudis sub iudice damnavisset, probra sibi et minae intendantur, neque ipse audeat ius experiri ob effigiem imperatoris oppositam. hau dissimilia alii, et quidam atrociora circumstrepebant; precabanturque Drusum daret ultionis exemplum, donec accitam convictamque attineri publica custodia iussit. 37 (1) Et Considius Aequus et Caelius Cursor equites Romani, quod fictis maiestatis criminibus Magium Caecilianum praetorem petivissent, auctore principe ac decreto senatus puniti. (2) utrumque in laudem Drusi trabatur: ab eo in urbe, inter coetus et sermones hominum obversante, secreta patris mitigari. neque luxus in iuvene adeo displicebat: huc potius intenderet, diem aedificationibus, noctem conviviis trahere, quam solus et nullis voluptatibus avocatus maestam vigilantiam et malas curas exerceret. 38 (1) Non enim Tiberius, non accusatores fatiscebant. et Ancharius Priscus Caesium Cordum pro consule Cretae postulaverat repetundis, addito maiestatis crimine, quod tum omnium accusationum complementum erat. (2) Caesar Antistium Veterem e primoribus Macedoniae, absolutum adulterii, increpitis iudicibus ad dicendam maiestatis causam retraxit, ut turbidum et Rhescuporidis consiliis permixtum, qua tempestate Cotye [fratre] interfecto bellum adversus nos volverat. igitur aqua et igni interdictum reo, adpositumque ut teneretur

Buch III

225

36 (1) Danach brachte man offen zur Sprache, was unter der Decke geblieben war, weil sich viele nur im kleinsten Kreis darüber beklagten. Gerade bei den übelsten Elementen kam nämlich die Frechheit auf, folgenlos Beschimpfungen und Beleidigungen gegen ehrbare Personen auszustoßen, wenn sie dabei ein Bild des Caesars anfassten; und sogar vor Freigelassenen und Sklaven musste man sich obendrein noch fürchten, wenn diese ihrem Patron oder Herrn mit Widerworten, ja mit Fäusteschütteln drohten. (2) Deshalb trug der Senator C. Cestius vor, die Principes seien zwar göttergleich, aber von den Göttern würden nur berechtigte Bitten Hilfesuchender erhört, und niemand fliehe zum Kapitol oder in andere Tempel der Hauptstadt, um sie als Schutz für Schandtaten zu benützen. (3) Unwirksam seien die Gesetze und völlig außer Kraft gesetzt, wenn ihm auf dem Forum, ja auf der Schwelle der Kurie von Annia Rufilla, deren Verurteilung wegen Betrugs er vor Gericht durchgesetzt habe, Beleidigungen und Drohungen entgegengeschleudert würden, er selbst sich aber nicht getraue, den Rechtsweg zu beschreiten, weil ihm das Bild des Oberbefehlshabers entgegengehalten werde. (4) Ganz ähnliche Vorfälle brachten andere – und einige noch entsetzlichere – laut schreiend vor. Sie baten Drusus so lange, ein warnendes Beispiel der Bestrafung zu statuieren, bis er sie holen und, als sie überführt war, festnehmen ließ. 37 (1) Ferner wurden die römischen Ritter Considius Aequus und Caelius Cursor, weil sie mit erfundenen Vorwürfen den Prätor Magius Caecilianus wegen Majestätsbeleidigung angeklagt hatten, auf Veranlassung des Princeps durch Senatsbeschluss bestraft. (2) Beide Fälle rechnete man Drusus hoch an: Von ihm werde in der Hauptstadt, weil er unter das Volk gehe und mit den Menschen spreche, das undurchsichtige Treiben seines Vaters abgemildert. Auch der aufwendige Lebensstil wurde dem jungen Mann nicht allzu sehr verübelt; er solle lieber so weitermachen und den Tag mit Bauvorhaben, die Nacht mit Gelagen verbringen, als sich, einsam und durch keine Vergnügungen abgelenkt, in mürrischer Wachsamkeit mit argen Sorgen herumzuquälen. 38 (1) Nicht müde wurden nämlich Tiberius und die Ankläger. So hatte Ancharius Priscus den Prokonsul Kretas, Caesius Cordus, wegen Erpressung vor Gericht gezogen und den Vorwurf der Majestätsbeleidigung angehängt, der damals ergänzender Bestandteil sämtlicher Anklagen war. (2) Der Caesar zog Antistius Vetus, eine der führenden Persönlichkeiten Makedoniens, nach einem Freispruch vom Ehebruch, verbunden mit einer Rüge für die Richter, wieder vor Gericht, damit sie gegen ihn wegen Hochverrats verhandelten. Er sei nämlich ein Unruhestifter und damals in die Pläne des Rhescuporis verwickelt gewesen, als dieser nach der Ermordung des Cotys gegen uns einen Krieg ins Auge gefasst hatte.27 Deshalb wurden dem Angeklagten Wasser und Feuer untersagt mit der Auflage, er müsse sich auf einer Insel aufhalten, von

226

Liber tertius

insula neque Macedoniae neque Thraeciae opportuna. (3) nam Thraecia diviso imperio in Rhoemetalcen et liberos Cotyis, quis ob infantiam tutor erat Trebellenus Rufus, insolentia nostri discors agebat, neque minus Rhoemetalcen quam Trebellenum incusans popularium iniurias inultas sinere. (4) Coelaletae Odrusaeque et Dii, validae nationes, arma cepere, ducibus diversis et paribus inter se per ignobilitatem; quae causa fuit, ne in bellum atrox coalescerent. pars turbant praesentia, alii montem Haemum transgrediuntur, ut remotos populos concirent; plurimi ac maxime compositi regem urbemque Philippopolim, a Macedone Philippo sitam, circumsidunt. 39 (1) Quae ubi cognita P. Vellaeo (is proximum exercitum praesidebat), alarios equites ac leves cohortium mittit in eos, qui praedabundi aut adsumendis auxiliis vagabantur, ipse robur peditum ad exsolvendum obsidium ducit. (2) simulque cuncta prospere acta, caesis populatoribus et dissensione orta apud obsidentes regisque opportuna eruptione et adventu legionis. neque aciem aut proelium dici decuerit, in quo semermi ac palantes trucidati sunt sine nostro sanguine. 40 (1) Eodem anno Galliarum civitates ob magnitudinem aeris alieni rebellionem coeptavere, cuius exstimulator acerrimus inter Treveros Iulius Florus, apud Aeduos Iulius Sacrovir. nobilitas ambobus et maiorum bona facta, eoque Romana civitas olim data, cum id rarum nec nisi virtuti pretium esset. (2) ii secretis conloquiis, ferocissimo quoque adsumpto aut quibus ob egestatem ac metum ex flagitiis maxima peccandi necessitudo, componunt Florus Belgas, Sacrovir propiores Gallos concire. (3) igitur per conciliabula et coetus seditiosa disserebant de continuatione tributorum, gravitate faenoris, saevitia ac superbia praesidentium; et discordare militem audito Germanici exitio: egregium resumendae libertati tempus, si, ipsi florentes, quam inops Italia, quam

Buch III

227

der aus weder Makedonien noch Thrakien leicht zu erreichen sei. (3) Denn Thrakien war nach der Teilung der Herrschaft zwischen Rhoemetalces und den Kindern des Cotys, denen wegen ihrer Unmündigkeit Trebellenus Rufus als Vormund zugeteilt worden war, in Aufruhr, weil man sich nicht an uns gewöhnen konnte, und man beschuldigte Rhoemetalces nicht weniger als Trebellenus, die Übergriffe gegen die einheimische Bevölkerung ungeahndet zu lassen. (4) Die Coelaleten, Odrusen und Dier, mächtige Stämme, griffen zu den Waffen, jeder unter einem anderen Anführer, die sich nur an geringem Ansehen glichen. Das war der Grund dafür, dass sie sich nicht zu einem schrecklichen Krieg zusammentaten. Ein Teil stiftete Unruhe in der näheren Umgebung, andere zogen über das Haemusgebirge, um die abgelegen siedelnden Völker aufzuwiegeln; die größte, noch am besten organisierte Menge belagerte den König und die Stadt Philippopolis, die vom Makedonen Philipp gegründet worden war. 39 (1) Als P. Vellaeus davon erfuhr – er kommandierte das nächststehende Heer –, schickte er Flügelkavallerie und leichtbewaffnete Kohorten gegen die Feinde, die, plündernd oder um Verstärkungen anzuwerben, im Land herumzogen; er selbst führte den harten Kern der Infanterie heran, um die Belagerung aufzuheben. (2) Alle Unternehmungen verliefen gleichzeitig erfolgreich: Man erschlug die Plünderer, es kam zu Streit bei den Belagerern, der König machte zur rechten Zeit einen Ausfall, und die Legion traf ein. Auch dürfte man hier eigentlich nicht von Schlacht oder Gefecht sprechen, wo halb bewaffnete und herumirrende Personen niedergemetzelt wurden, ohne dass in unseren Reihen Blut floss. 40 (1) Im gleichen Jahr begannen gallische Gemeinden wegen der Höhe ihrer Schulden mit einem Aufstand, zu dem bei den Treverern Iulius Florus, bei den Äduern Iulius Sacrovir am leidenschaftlichsten aufhetzten. Beide waren vornehmer Abstammung und konnten auf Verdienste ihrer Vorfahren verweisen; deshalb war seinerzeit das römische Bürgerrecht verliehen worden, als das noch eine Seltenheit war und dann nur als Belohnung für vorbildliches Verhalten geschah. (2) Sie verabredeten in geheimen Besprechungen, zu denen sie die wildesten Gestalten oder Leute beizogen, die sich aus Armut und Furcht wegen ihrer Verbrechen am meisten zum Fehlverhalten genötigt sahen, Florus solle die Belger, Sacrovir die Gallier mehr in der Nähe aufwiegeln. (3) Deshalb führten sie an den Treffpunkten und bei ihren Zusammenkünften aufrührerische Reden über die ununterbrochenen Tributzahlungen, die drückenden Wucherzinsen, die Brutalität und den Hochmut der Statthalter; dazu seien die Soldaten auf die Nachricht vom Tod des Germanicus hin aufsässig. Das sei ein hervorragender Zeitpunkt, die Freiheit wiederzugewinnen, falls sie, selbst auf der Höhe ihrer Macht, daran dächten, wie schutzlos Italien, wie

228

Liber tertius

imbellis urbana plebes, nihil validum in exercitibus nisi quod externum, cogitarent. 41 (1) Haud ferme ulla civitas intacta seminibus eius motus fuit; sed erupere primi Andecavi ac Turoni. quorum Andecavos Acilius Aviola legatus excita cohorte, quae Lugduni praesidium agitabat, coercuit. (2) Turoni legionario milite, quem Visellius Varro inferioris Germaniae legatus miserat, oppressi eodem Aviola duce et quibusdam Galliarum primoribus, qui tulere auxilium, quo dissimularent defectionem magisque in tempore efferrent. (3) spectatus et Sacrovir intecto capite pugnam pro Romanis ciens, ostentandae, ut ferebat, virtutis; sed captivi, ne incesseretur telis, adgnoscendum se praebuisse arguebant. consultus super eo Tiberius aspernatus est indicium aluitque dubitatione bellum. 42 (1) Interim Florus insistere destinatis, pellicere alam equitum, quae conscripta e Treveris militia disciplinaque nostra habebatur, ut caesis negotiatoribus Romanis bellum inciperet; paucique equitum corrupti, plures in officio mansere. (2) aliud vulgus obaeratorum aut clientium arma cepit; petebantque saltus, quibus nomen Arduenna, cum legiones utroque ab exercitu, quas Visellius et C. Silius adversis itineribus obiecerant, arcuerunt. (3) praemissusque cum delecta manu Iulius Indus e civitate eadem, discors Floro et ob id navandae operae avidior, inconditam multitudinem adhuc disiecit. Florus incertis latebris victores frustratus, postremo visis militibus, qui effugia insederant, sua manu cecidit. isque Treverici tumultus finis. 43 (1) Apud Aeduos maior moles exorta, quanto civitas opulentior et comprimendi procul praesidium. Augustodunum, caput gentis, armatis cohortibus Sacrovir occupaverat, nobilissimam Galliarum subolem, liberalibus studiis ibi operatam, et eo pignore parentes propinquosque eorum adiungeret; simul arma occulte fabricata iuventuti dispertit. (2) quadraginta milia fuere, quinta sui parte legionariis armis, ceteri cum venabulis et cultris quaeque alia venantibus tela sunt. adduntur e servitiis gladiaturae destinati, quibus more

Buch III

229

unkriegerisch der hauptstädtische Pöbel sei und dass nur die ausländischen Heereskontingente über Kampfkraft verfügten. 41 (1) Es gab kaum einen Stamm, in dem die Saat dieses Aufruhrs nicht aufging; aber die Ersten, die hervorbrachen, waren die Andecaver und Turoner. Von ihnen hielt die Andecaver der Legat Acilius Aviola mit einer eiligst herbeigeholten Kohorte nieder, die in Lugdunum als Besatzung lag. (2) Die Turoner wurden von den Legionssoldaten, die der Legat Untergermaniens Visellius Varro geschickt hatte, überwältigt unter dem Kommando desselben Aviola und einiger führender Persönlichkeiten Galliens, die zu Hilfe kamen, um ihren Abfall zu verschleiern und erst zu einem günstigeren Zeitpunkt zu vollziehen. (3) Sehen ließ sich auch Sacrovir, wie er mit ungeschütztem Kopf zum Kampf für die Römer aufrief, um so, sagte er, seine Tapferkeit zu beweisen; aber Gefangene behaupteten, er habe sich nur deshalb zu erkennen gegeben, dass man nicht mit Geschossen auf ihn ziele. Als man seinetwegen bei Tiberius nachfragte, reagierte dieser auf die Anzeige nicht und gab mit seinem Zögern dem Krieg neue Nahrung. 42 (1) Inzwischen verfolgte Florus weiter seine Ziele und versuchte eine Kavallerieabteilung, die bei den Treverern ausgehoben worden war und nach unseren militärischen Grundsätzen geführt wurde, dazu zu verleiten, mit der Ermordung römischer Kaufleute den Krieg zu beginnen; doch nur wenige dieser Reiter ließen sich verführen, die Mehrzahl tat weiter ihre Pflicht. (2) Andere dagegen, das einfache Volk der Leute mit Schulden oder der Hörigen, griffen zu den Waffen und zogen in Richtung auf das Waldgebirge zu, das Arduenna heißt; doch die Legionen aus den beiden Heeren, die ihnen Visellius und C. Silius aus entgegengesetzten Richtungen entgegengeworfen hatten, hielten sie auf. (3) Vorausgeschickt worden war mit einer Eliteeinheit der dem gleichen Stamm angehörende Iulius Indus; er war mit Florus verfeindet, legte sich deshalb umso mehr ins Zeug und trieb die ungeordnete Menge noch weiter auseinander. Florus führte die Sieger in verschiedenen Schlupfwinkeln in die Irre; als er dann aber die Soldaten vor Augen hatte, die die Fluchtwege besetzt hielten, fiel er von eigener Hand. Das bedeutete das Ende des Trevereraufstands. 43 (1) Bei den Äduern erhob sich eine umso größere Masse, als die Bürgerschaft reicher war und eine Truppe zu ihrer Unterdrückung von weither geholt werden musste. Augustodunum, den Hauptort des Stammes, hatte Sacrovir mit bewaffneten Kohorten besetzt, um den Nachwuchs aus dem Hochadel Galliens, der sich dort mit den freien Künsten28 beschäftigte, und mit diesem Unterpfand auch dessen Eltern und Verwandte zum Anschluss zu bewegen; zugleich ließ er heimlich angefertigte Waffen unter den jungen Leuten verteilen. (2) 40 000 Mann waren es, ein Fünftel davon mit Legionärswaffen, der Rest mit Jagdspießen, Messern und was Jäger sonst an Waffen haben. Dazu kamen aus der

230

Liber tertius

gentico continuum ferri tegimen: cruppellarios vocant, inferendis ictibus inhabiles, accipiendis impenetrabiles. (3) augebantur eae copiae vicinarum civitatum ut nondum aperta consensione, ita viritim promptis studiis, et certamine ducum Romanorum, quos inter ambigebatur utroque bellum sibi poscente. mox Varro invalidus senecta vigenti Silio concessit. 44 (1) At Romae non Treveros modo et Aeduos, sed quattuor et sexaginta Galliarum civitates descivisse, adsumptos in societatem Germanos, dubias Hispanias, cuncta, ut mos famae, in maius credita. (2) optimus quisque rei publicae cura maerebat; multi odio praesentium et cupidine mutationis suis quoque periculis laetabantur increpabantque Tiberium, quod in tanto rerum motu libellis accusatorum insumeret operam. (3) an Sacrovirum maiestatis crimine reum in senatu fore extitisse tandem viros, qui cruentas epistulas armis cohiberent, miseram pacem vel bello bene mutari? (4) tanto impensius in securitatem compositus, neque loco neque vultu mutato, sed ut solitum per illos dies egit, altitudine animi, an compererat modica esse et vulgatis leviora. 45 (1) Interim Silius, cum legionibus duabus incedens, praemissa auxiliari manu vastat Sequanorum pagos, qui finium extremi et Aeduis contermini sociique in armis erant. mox Augustodunum petit propero agmine, certantibus inter se signiferis, fremente etiam gregario milite, ne suetam requiem, ne spatia noctium opperiretur: viderent modo adversos et aspicerentur; id satis ad victoriam. (2) duodecimum apud lapidem Sacrovir copiaeque patentibus locis apparuere. in fronte statuerat ferratos, in cornibus cohortes, a tergo semermos. ipse inter primores equo insigni adire, memorare veteres Gallorum glorias quaeque Romanis adversa intulissent; quam decora victoribus libertas, quanto intolerantior servitus iterum victis.

Buch III

231

Sklavenschaft welche, die für den Einsatz als Gladiatoren vorgesehen waren und nach der Landessitte eine durchgehende Eisenrüstung trugen. Sie heißen cruppellarii und sind sehr schwerfällig, wenn es darum geht, Hiebe auszuteilen; diese dringen aber auch nicht durch, wenn sie getroffen werden. (3) Verstärkt wurden diese Truppen zwar noch nicht durch den offenen Anschluss der benachbarten Stämme, sehr wohl aber durch die Begeisterung einzelner entschlossener Männer und den Streit unter den römischen Kommandeuren, die uneins waren, weil jeder die Führung im Krieg für sich beanspruchte. Schließlich gab der altersschwache Varro dem noch rüstigen Silius nach. 44 (1) Doch in Rom hieß es, nicht nur die Treverer und Äduer, sondern die 64 Gemeinden Galliens seien abgefallen, die Germanen hätten sie für ein Bündnis gewinnen können, und Spanien wanke, wobei man, wie bei einem Gerücht üblich, an all diese Übertreibungen glaubte. (2) Gerade die fähigsten Männer grämten sich aus Sorge um den Staat. Viele aber freuten sich aus Hass auf die aktuellen Zustände und aus dem dringenden Wunsch nach einem Wechsel heraus, selbst wenn sie sich dabei selbst in Gefahr brachten, und machten Tiberius zum Vorwurf, er beschäftige sich in einer derart bewegten Zeit mit Anklageschriften. (3) Oder werde etwa Sacrovir wegen Hochverrats als Angeklagter vor dem Senat stehen, weil er sich rühme, es gebe endlich Männer, die sich gegen die bluttriefenden Schreiben mit Waffengewalt wehrten, und gegen den jämmerlichen Frieden sei sogar der Krieg ein guter Tausch?29 (4) Umso nachdrücklicher gab er sich den Anschein von Sicherheit und änderte weder Aufenthaltsort noch Miene, sondern verbrachte jene Tage wie üblich; vielleicht war dies Ausdruck seines verschlossenen Wesens, oder er hatte erfahren, dass alles nicht so schlimm und von geringerer Bedeutung sei als das Gerede darüber. 45 (1) In der Zwischenzeit marschierte Silius mit zwei Legionen los, schickte eine Abteilung der Hilfstruppen voraus und ließ die Gaue der Sequaner verwüsten, die am Rand ihres Siedlungsgebiets liegen und als Nachbarn und Verbündete der Äduer unter Waffen standen. Dann zog er in Eilmärschen nach Augustodunum, wobei die Fahnenträger um die Wette marschierten und selbst der einfache Soldat unwirsch darauf bestand, man solle nicht die üblichen Ruhepausen, nicht die langen Nächte abwarten: Nur sehen wollten sie vor sich ihre Gegner und selbst gesehen werden; das genüge zum Sieg. (2) Am zwölften Meilenstein zeigten sich Sacrovir und seine Truppen im offenen Gelände. Vorne hatte er die Eisenmänner, an den Flügeln die Kohorten, hinten die Halbbewaffneten aufgestellt. Er selbst ritt inmitten der führenden Männer auf einem prächtigen Pferd heran, erinnerte an die alten Ruhmestaten der Gallier und an die Schläge, die sie den Römern versetzt hätten, wie großartig die Freiheit für die Sieger, wie viel unerträglicher die Knechtschaft für sie nach einer erneuten Niederlage sei.

232

Liber tertius

46 (1) Non diu haec nec apud laetos: etenim propinquabat legionum acies, inconditique ac militiae nescii oppidani neque oculis neque auribus satis competebant. contra Silius, etsi praesumpta spes hortandi causas exemerat, clamitabat tamen pudendum ipsis, quod Germaniarum victores adversum Gallos tamquam in hostem ducerentur. (2) ‘una nuper cohors rebellem Turonum, una ala Treverum, paucae huius ipsius exercitus turmae profligavere Sequanos. quanto pecunia dites et voluptatibus opulentos, tanto magis imbelles Aeduos evincite et fugientibus consulite.’ (3) ingens ad ea clamor, et circumfudit eques frontemque pedites invasere, nec cunctatum apud latera. paulum morae attulere ferrati, restantibus lamminis adversum pila et gladios; sed miles correptis securibus et dolabris, ut si murum perrumperet, caedere tegmina et corpora; quidam trudibus aut furcis inertem molem prosternere, iacentesque, nullo ad resurgendum nisu, quasi exanimes linquebantur. (4) Sacrovir primo Augustodunum, dein metu deditionis in villam propinquam cum fidissimis pergit. illic sua manu, reliqui mutuis ictibus occidere; incensa super villa omnes cremavit. 47 (1) Tum demum Tiberius ortum patratumque bellum senatu scripsit; neque dempsit aut addidit vero, sed fide ac virtute legatos, se consiliis superfuisse. (2) simul causas, cur non ipse, non Drusus profecti ad id bellum forent, adiunxit, magnitudinem imperii extollens, neque decorum principibus, si una alterave civitas turbet ** omissa urbe, unde in omnia regimen. nunc, quia non metu ducatur, iturum, ut praesentia spectaret componeretque. (3) decrevere patres vota pro reditu eius supplicationesque et alia decora. solus Dolabella Cornelius, dum anteire ceteros parat, absurdam in adulationem progressus, censuit ut ovans e Campania urbem introiret. (4) igitur secutae Caesaris litterae, quibus se non tam vacuum gloria praedicabat, ut post ferocissimas gentes perdomitas,

Buch III

233

46 (1) Nicht viel Zeit blieb ihm dafür, und man hatte auch keine Freude daran; denn die Legionen rückten in Schlachtordnung näher, und die ungeübten und militärisch unerfahrenen Städter waren dem weder mit den Augen noch mit den Ohren gewachsen. Auf der anderen Seite rief Silius, obwohl die vorweggenommene Siegeszuversicht die Gründe für eine anfeuernde Rede beseitigt hatte, dennoch laut, sie müssten sich schämen, weil sie als Sieger über Germanien gegen Gallier wie gegen einen Feind ins Feld geführt würden. (2) „Eine einzige Kohorte hat vor Kurzem die aufständischen Turoner, ein einziges Kavallerieregiment die Treverer, ein paar Schwadronen dieses Heeres hier haben die Sequaner niedergeworfen. Treibt die Äduer zu Paaren, die, je mehr Geld sie haben und je mehr Vergnügen und Luxus sie sich leisten können, umso weniger zum Kämpfen taugen, und kümmert euch um sie, wenn sie fliehen!“ (3) Mit einem Beifallssturm wurden diese Worte aufgenommen; die Kavallerie umging die Feinde, von vorne griff die Infanterie an, und auch auf den Flügeln hielt man sich nicht lange auf. Ein bisschen Verzögerung bedeuteten die Eisenmänner, weil die Metallplatten den Wurfspeeren und Schwertern standhielten. Doch die Soldaten packten Beile und Äxte und zerhieben, als ob sie durch eine Mauer brächen, Rüstungen und Leiber. Einige stießen mit Stangen oder Gabeln die unbeholfenen Kolosse zu Boden und ließen sie dann, weil sie keinerlei Anstalten machten, wieder aufzustehen, wie leblos liegen. (4) Sacrovir eilte zuerst nach Augustodunum, dann aus Furcht vor Verrat zusammen mit seinen engsten Vertrauten in ein nahe gelegenes Landhaus. Dort fiel er von eigener Hand, der Rest brachte sich gegenseitig um. Das Landhaus wurde über ihnen angezündet, und alle verbrannten. 47 (1) Erst jetzt schrieb Tiberius an den Senat, der Krieg sei ausgebrochen und beendet. Er ließ aber auch von dem wahren Geschehen nichts weg und fügte nichts hinzu, sondern durch Zuverlässigkeit und Tüchtigkeit hätten die Legaten und er mit seiner Planung die Oberhand behalten. (2) Zugleich ging er auf die Gründe dafür ein, warum nicht er persönlich und auch nicht Drusus in diesen Krieg gezogen seien, wobei er die Größe des Reichs herausstrich und darauf hinwies, es gehöre sich nicht für die Principes, wenn sich der eine oder andere Stamm empöre … und die Hauptstadt im Stich zu lassen, von der aus alles regiert werde. Jetzt aber werde er gehen, weil nicht mehr Furcht das Motiv sei, um die Lage vor Ort zu begutachten und zu regeln. (3) Da beschlossen die Väter Gelübde für seine Rückkehr, Bittprozessionen und andere Ehrungen. Als Einziger verstieg sich Dolabella Cornelius, weil er die anderen übertrumpfen wollte, zu einer abwegigen Speichelleckerei und stellte den Antrag, er solle im kleinen Triumph von Kampanien aus30 in die Hauptstadt einziehen. (4) Deshalb folgte ein Brief des Caesars, in dem er hervorhob, er sei nicht so bar jeglichen Ruhms, dass er nach der Unterwerfung

234

Liber tertius

tot receptos in iuventa aut spretos triumphos iam senior peregrinationis suburbanae inane praemium peteret. 48 (1) Sub idem tempus, ut mors Sulpicii Quirini publicis exsequiis frequentaretur, petivit a senatu. nihil ad veterem et patriciam Sulpiciorum familiam Quirinius pertinuit, ortus apud municipium Lanuvium, sed impiger militiae et acribus ministeriis consulatum sub divo Augusto, mox expugnatis per Ciliciam Homonadensium castellis insignia triumphi adeptus; datusque rector C. Caesari Armeniam obtinenti Tiberium quoque Rhodi agentem coluerat: (2) quod tunc patefecit in senatu, laudatis in se officiis et incusato M. Lollio, quem auctorem C. Caesari pravitatis et discordiarum arguebat. sed ceteris haud laeta memoria Quirini erat ob intenta, ut memoravi, Lepidae pericula sordidamque et praepotentem senectam. 49 (1) Fine anni Clutorium Priscum equitem Romanum, post celebre carmen, quo Germanici suprema defleverat, pecunia donatum a Caesare, corripuit delator, obiectans aegro Druso composuisse quod, si exstinctus foret, maiore praemio vulgaretur. id Clutorius in domo P. Petronii socru eius Vitellia coram multisque inlustribus feminis per vaniloquentiam iecerat. (2) ut delator extitit, ceteris ad dicendum testimonium exterritis, sola Vitellia nihil se audivisse adsevavit. sed arguentibus ad perniciem plus fidei fuit, sententiaque Haterii Agrippae consulis designati indictum reo ultimum supplicium. 50 (1) Contra M. Lepidus in hunc modum exorsus est: ‘si, patres conscripti, unum id spectamus, quam nefaria voce Clutorius Priscus mentem suam et aures hominum polluerit, neque carcer neque laqueus, ne serviles quidem cruciatus in eum suffecerint. (2) sin flagitia et facinora sine modo sunt, supliciis ac remediis principis moderatio maiorumque et vestra exempla temperat et vana a scelestis, dicta a maleficiis differunt, est locus sententiae, per quam neque huic

Buch III

235

der wildesten Völkerschaften, nach so vielen Triumphen, die er in seiner Jugend erhalten oder ausgeschlagen habe, nun in schon vorgerücktem Alter um eine unbegründete Belohnung für einen Landaufenthalt in der Umgebung der Hauptstadt nachsuchen müsse. 48 (1) Zur gleichen Zeit beantragte er beim Senat, den verstorbenen Sulpicius Quirinius mit einem Staatsbegräbnis zu ehren. Keinerlei Beziehung hatte Quirinius zu der alten patrizischen Familie der Sulpicier; er stammte vielmehr aus der Landstadt Lanuvium. Aber er war ein tüchtiger Soldat und hatte mit energischem Einsatz den Konsulat unter dem vergöttlichten Augustus und später nach der Eroberung der befestigten Plätze der Homonadenser in Kilikien die Triumphabzeichen bekommen; und als er C. Caesar während seines Oberbefehls in Armenien als Berater beigegeben worden war, hatte er auch Tiberius bei seinem Aufenthalt auf Rhodos seine Aufwartung gemacht. (2) Das teilte Tiberius damals im Senat mit, wobei er die ihm erwiesenen Dienste lobte und sich über M. Lollius mit der Beschuldigung beschwerte, er habe C. Caesar zu seinem verkehrten Verhalten und den Auseinandersetzungen veranlasst.31 Die übrigen Mitglieder aber hatten Quirinius in keiner guten Erinnerung, weil er, wie erwähnt,32 Lepida in Gefahr gebracht hatte und im Alter zu einem sehr einflussreichen Geizkragen geworden war. 49 (1) Am Jahresende fiel über den römischen Ritter Clutorius Priscus, der für ein berühmtes Gedicht, in dem er das Lebensende des Germanicus beweint hatte, vom Caesar mit Geld beschenkt worden war, ein Denunziant mit dem Vorwurf her, er habe auch auf den erkrankten Drusus eines verfasst, das im Falle von dessen Ableben um eine noch höhere Belohnung veröffentlicht werden sollte.33 Das hatte Clutorius im Hause seines Schwiegervaters P. Petronius vor Vitellia und vielen vornehmen Damen in törichter Wichtigtuerei vorgetragen. (2) Als der Denunziant auftrat, machten alle anderen Frauen vor lauter Angst Zeugenaussagen, einzig Vitellia beteuerte, nichts gehört zu haben. Aber man glaubte den Zeuginnen mehr, die zu seinem Verderben aussagten, und auf Antrag des designierten Konsuls Haterius Agrippa wurde über den Angeklagten die Todesstrafe verhängt. 50 (1) Dagegen äußerte sich M. Lepidus in folgender Weise: „Falls wir, versammelte Väter, einzig und allein darauf schauen wollten, mit welch unsäglichen Worten Clutorius Priscus seinen Geist und die Ohren seiner Mitmenschen beschmutzt hat, würden gegen ihn nicht Kerker und Strick, ja nicht einmal die für Sklaven vorgesehenen Martern ausreichen. (2) Falls aber einmal Schand- und Übeltaten jedes Maß übersteigen, Strafen und Gegenmittel die Zurückhaltung des Princeps und die Vorbilder der Vorfahren sowie eure eigenen beschränken und sich dummes Geschwätz von verbrecherischen Ausführungen, Worte von Vergehen unterscheiden, dann ist jetzt der richtige

236

Liber tertius

delictum impune sit et nos clementiae simul ac severitatis non paeniteat. saepe audivi principem nostrum conquerentem, si quis sumpta morte misericordiam eius praevenisset. (3) vita Clutorii in integro est, qui neque servatus in periculum rei publicae neque interfectus in exemplum ibit. studia illi, ut plena vaecordiae, ita inania et fluxa sunt; nec quicquam grave ac serium ex eo metuas, qui suorum ipse flagitiorum proditor non virorum animis, sed muliercularum adrepit. (4) cedat tamen urbe et bonis amissis aqua et igni arceatur; quod perinde censeo ac si lege maiestatis teneretur.’ 51 (1) Solus Lepido Rubellius Blandus e consularibus adsensit; ceteri sententiam Agrippae secuti, ductusque in carcerem Priscus ac statim exanimatus. id Tiberius solitis sibi ambagibus apud senatum incusavit, cum extolleret pietatem quamvis modicas principis iniurias acriter ulciscentium, deprecaretur tam praecipites verborum poenas, laudaret Lepidum neque Agrippam argueret. (2) igitur factum senatus consultum, ne decreta patrum ante diem ad aerarium deferrentur idque vitae spatium damnatis prorogaretur. sed non senatui libertas ad paenitendum erat, neque Tiberius interiectu temporis mitigabatur. 52 (1) C. SULPICIUS D. HARIUS consules sequuntur, inturbidus externis rebus annus, domi suspecta severitate adversum luxum, qui immensum proruperat ad cuncta, quis pecunia prodigitur. sed alia sumptuum, quamvis graviora, dissimulatis plerumque pretiis occultabantur: ventris et ganeae paratus adsiduis sermonibus vulgati fecerant curam, ne princeps antiquae parsimoniae durius adverteret. (2) nam incipiente C. Bibulo ceteri quoque aediles disseruerant sperni sumptuariam legem vetitaque utensilium pretia augeri in dies, nec mediocribus remediiisti posse, et consulti patres integrum id negotium ad principem distulerant. (3) sed Tiberius saepe apud se pensitato, an coerceri tam

Buch III

237

Ort für einen Antrag, durch den einerseits das Verbrechen für ihn nicht straflos bleibt und wir andererseits Milde und zugleich Strenge nicht bereuen müssen. Oft habe ich unseren Princeps darüber klagen hören, wenn jemand durch Selbstmord seinem Mitleid zuvorgekommen sei. (3) Das Leben des Clutorius ist noch unangetastet, der, falls er davonkommt, weder eine Gefahr für den Staat darstellt noch, falls er hingerichtet wird, als abschreckendes Beispiel dienen kann. Seine literarischen Werke sind sowohl voller Unsinn als auch wertlos und vergänglich. Und man sollte keine schwerwiegenden und ernsten Befürchtungen gegen einen Mann hegen, der als Verräter seiner eigenen Schandtaten sich nicht an Männer, sondern an schwache Frauen heranschleicht. (4) Er soll dennoch aus der Hauptstadt verschwinden, seine Güter verlieren und von Wasser und Feuer ferngehalten werden. Das beantrage ich genauso, wie wenn er nach dem Hochverratsgesetz verantwortlich wäre.“ 51 (1) Der Einzige, der Lepidus zustimmte, war der Konsular Rubellius Blandus. Die übrigen Mitglieder schlossen sich dem Antrag Agrippas an, Priscus wurde in den Kerker geführt und sofort umgebracht. Darüber beklagte sich Tiberius in der bei ihm üblichen zweideutigen Art vor dem Senat: Er stellte das Pflichtgefühl der Männer heraus, die auch noch so geringfügige Kränkungen des Princeps hart ahndeten, bat aber, von so überstürzten Strafen für Worte abzusehen, und lobte Lepidus, ohne Agrippa zu tadeln. (2) Deshalb fasste man den Senatsbeschluss, Entscheidungen der Väter nicht vor dem zehnten Tag im Staatsarchiv zu hinterlegen und für Verurteilte das Leben um diesen Zeitraum zu verlängern. Aber der Senat hatte nicht die Freiheit, es sich anders zu überlegen, und Tiberius wurde durch den Aufschub nicht beschwichtigt. 52 (1) C. SULPICIUS und D. HATERIUS folgten als Konsuln (22 n. Chr.); ruhig verlief das Jahr außenpolitisch, im Inneren befürchtete man strenge Maßnahmen gegen den Luxus, der unbeschränkt auf alle Bereiche übergegriffen hatte, in denen man Geld verschwenden kann. Aber andere Ausgaben wurden, obwohl sie mehr ins Gewicht fielen, verheimlicht, indem man sehr oft die Preise verschwieg. Was jedoch den Aufwand für Schlemmereien und Fressorgien betrifft, der das allgemeine Gesprächsthema darstellte, war man in Sorge, der Princeps könne in seiner althergebrachten Genügsamkeit härter dagegen vorgehen. (2) Denn nachdem C. Bibulus den Anfang gemacht hatte, hatten sich auch die anderen Ädilen dahin gehend geäußert, das Gesetz gegen übermäßigen Aufwand werde nicht beachtet, und die Preise für alltägliche Lebensmittel stiegen trotz Verbots Tag für Tag; dem könne man nicht mit halbherzigen Maßnahmen begegnen, und die damit befassten Väter hatten diese Angelegenheit ohne Beschluss an den Princeps verwiesen. (3) Aber Tiberius hatte oft darüber nachgedacht, ob derart weit verbreitete Süchte eingedämmt

238

Liber tertius

profusae cupidines possent, num coercitio plus damni in rem publicam ferret, quam indecorum adtrectare quod non obtineret vel retentum ignominiam et infamiam virorum inlustrium posceret, postremo litteras ad senatum composuit, quarum sententia in hunc modum fuit: 53 (1) ‘Ceteris forsitan in rebus, patres conscripti, magis expediat me coram interrogari et dicere quid re publica censeam: in hac relatione subtrahi oculos meos melius fuit, ne denotantibus vobis ora ac metum singulorum, qui pudendi luxus arguerentur, ipse etiam viderem eos ac velut deprenderem. (2) quod si mecum ante viri strenui, aediles, consilium habuissent, nescio an suasurus fuerim omittere potius praevalida et adulta vitia quam hoc adsequi, ut palam fieret quibus flagitiis impares essemus. (3) sed illi quidem officio functi sunt, ut ceteros quoque magistratus sua munia implere velim; mihi autem neque honestum silere neque proloqui expeditum, quia non aedilis aut praetoris aut consulis partes sustineo: maius aliquid et excelsius a principe postulatur; et cum recte factorum sibi quisque gratiam trahant, unius invidia ab omnibus peccatur. (4) quid enim primum prohibere et priscum ad morem recidere adgrediar? villarumne infinita spatia? familiarum numerum et nationes? argenti et auri pondus? aeris tabularumque miracula? promiscas viris et feminis vestes atque illa feminarum propria, quis lapidum causa pecuniae nostrae ad externas aut hostiles gentes transferuntur? 54 (1) Nec ignoro in conviviis et circulis incusari ista et modum posci; sed si quis legem sanciat, poenas indicat, idem illi civitatem verti, splendidissimo cuique exitium parari, neminem criminis expertem clamitabunt. atqui ne corporis quidem morbos veteres et diu auctos nisi per dura et aspera coerceas; corruptus simul et corruptor, aeger et flagrans animus haud levioribus remediis

Buch III

239

werden könnten, ob die Eindämmung nicht mehr Schaden im Gemeinwesen anrichte, wie beschämend es sei, sich mit etwas zu befassen, was man dann doch nicht durchsetzen könne oder dessen Beibehaltung Schande und Ehrlosigkeit über vornehme Männer bringe. Schließlich verfasste er einen Brief an den Senat, dessen Gedankengang ungefähr folgender war: 53 (1) „In allen übrigen Fällen, versammelte Väter, dürfte es wohl zweckmäßiger sein, dass man mich persönlich befragt und ich meine Auffassung über das Gemeinwohl vertreten kann. Bei diesem Beratungsgegenstand aber wäre es besser gewesen, ihn meinen Augen vorzuenthalten, damit ich, wenn ihr auf die angsterfüllten Gesichter der einzelnen Personen aufmerksam macht, die einer schamlosen Verschwendung bezichtigt werden, sie nicht persönlich ansehen und sozusagen ertappen muss. (2) Wenn sich die Ädilen, tüchtige Männer, mit mir schon vorher beraten hätten, dann hätte mein Rat vermutlich gelautet, lieber die Finger zu lassen von übermächtigen, ausgewachsenen Verstößen als nur zu erreichen, dass offenbar wird, welch schändlichen Verhaltensweisen wir nicht gewachsen sind. (3) Sie haben selbstverständlich ihre Pflicht so erfüllt, wie ich gerne möchte, dass auch die übrigen Amtsinhaber ihre Aufgaben wahrnehmen. Mir aber bringt Schweigen keine Ehre und fällt Reden nicht leicht, weil ich nicht die Rolle eines Ädilen oder Prätors oder Konsuls spiele: Ein gewichtigeres und erhabeneres Verhalten verlangt man von einem Princeps. Und während für richtiges Handeln jeder für sich den Dank beansprucht, hat nur ein Einziger die Vorwürfe zu ertragen, wenn sich alle falsch verhalten. (4) Was soll ich denn als Erstes zu verbieten und auf die alte Sitte zu beschränken versuchen? Die grenzenlose Ausdehnung der Landgüter? Die Zahl und Nationen der Dienerschaften? Das Gewicht von Goldund Silbergeschirr? Die Wunderwerke aus Erz und der Malerei? Die unterschiedslos von Männern und Frauen getragene Kleidung und die bekannten Eigenheiten der Frauen, durch die für Edelsteine unser Geld zu ausländischen oder feindlichen Völkern gebracht wird? 54 (1) Ferner weiß ich sehr wohl, dass man bei Tischgesellschaften und Gesprächen im kleinen Kreis diese Verhaltensweisen beanstandet und eine Beschränkung fordert. Doch wenn jemand ein Gesetz erlassen und Strafen festsetzen sollte, dann werden genau die gleichen Leute schreien, die Rechte der Bürger würden zerrüttet, gerade für die angesehensten Personen plane man die Vernichtung, niemand sei vor einer Anklage sicher. Und doch kann man selbst körperliche Krankheiten, die chronisch geworden sind und sich über lange Zeit hinweg verschlimmert haben, nur mit harten und rauen Methoden eindämmen. Einen verdorbenen und Verderben bringenden, kranken und glühenden Geist darf man nicht mit schwächeren Heilmitteln zu löschen ver-

240

Liber tertius

restinguendus est quam libidinibus ardescit. (2) tot a maioribus repertae leges, tot quas divus Augustus tulit, illae oblivione, hae, quod flagitiosus est, contemptu abolitae securiorem luxum fecere. nam si velis quod nondum vetitum est, timeas ne vetere; at si prohibita impune transcenderis, neque metus ultra neque pudor est. (3) cur ergo olim parsimonia pollebat? quia sibi que moderabatur, qua unius urbis cives eramus; ne inritamenta quidem eadem intra Italiam dominantibus. externis victoriis aliena, civilibus etiam nostra consumere didicimus. (4) quantulum istud est, de quo aediles admonent! quam, si cetera respicias, in levi habendum! at hercule nemo refert, quod Italia externae opis indiget, quod vita populi Romani per incerta maris et tempestatum cotidie volvitur; ac nisi provinciarum copiae et dominis et servitiis et agris subvenerint, nostra nos scilicet nemora nostraeque villae tuebuntur. (5) hanc, patres conscripti, curam sustinet princeps: haec omissa funditus rem publicam trahet. reliquis intra animum medendum est: nos pudor, pauperes necessitas, divites satias in melius mutet. aut si quis ex magistratibus tantam industriam ac severitatem pollicetur, ut ire obviam queat, hunc ego et laudo et exonerari laborum meorum partem fateor. (6) sin accusare vitia volunt, dein, cum gloriam eius rei adepti sunt, simultates faciunt ac mihi relinquunt, credite, patres conscripti, me quoque non esse offensionum avidum; quas cum graves et plerumque iniquas pro re publica suscipiam, inanes et inritas neque mihi aut vobis usui futuras iure deprecor.’ 55 (1) Auditis Caesaris litteris remissa aedilibus talis cura; luxusque mensae a fine Actiaci belli ad ea arma, quis Servius Galba rerum adeptus est, per annos centum profusis sumptibus exerciti paulatim exolevere. causas eius mutationis quaerere libet. (2) dites olim familiae nobilium aut claritudine insignes studio

Buch III

241

suchen, als es die Gelüste sind, die ihn brennen lassen. (2) So viele Gesetze sind von unseren Vorfahren erdacht worden, so viele, die der vergöttlichte Augustus erlassen hat: Die einen sind vergessen, die anderen, was noch schändlicher ist, durch Nichtbeachtung außer Kraft gesetzt worden und haben dadurch die Verschwendung noch unbekümmerter gemacht. Denn wenn man haben will, was noch nicht verboten ist, dann befürchtet man vielleicht, es werde verboten; doch wenn man Verbote ungestraft übertreten hat, gibt es danach keine Furcht und keine Scham mehr. (3) Warum denn stand seinerzeit Genügsamkeit so hoch im Kurs? Weil jeder sich selbst einschränkte, weil wir Bürger einer einzigen Stadt waren; nicht einmal die gleichen Versuchungen gab es, als wir nur über Italien herrschten. Durch die Siege über auswärtige Feinde haben wir gelernt, fremdes Gut zu verprassen, durch die Bürgerkriege sogar unser eigenes. (4) Wie wenig ins Gewicht fällt das, worauf die Ädilen hinweisen! Wie leicht darf man es nehmen, wenn man all die anderen Bereiche betrachtet! Es spricht doch, beim Herkules, keiner darüber, dass Italien auf ausländische Hilfe angewiesen ist, dass das Leben des römischen Volkes jeden Tag durch die Unwägbarkeiten des Meeres und der Stürme taumelt. Und wenn einmal die Provinzen mit ihren Vorräten den Herren und Sklavenscharen und Ländereien nicht zu Hilfe kommen, dann werden natürlich unsere Baumpflanzungen und unsere Landgüter uns absichern! (5) Das, versammelte Väter, ist die Sorge, die den Princeps umtreibt; wenn man sie beiseiteschiebt, wird sie den Staat ganz hinunterziehen. Für alles andere muss die Heilung von innen heraus kommen: Uns soll das Ehrgefühl, die Armen ihre Notlage, die Reichen ihre Sattheit zum Besseren bekehren! Falls sich aber einer der Amtsinhaber ein derartiges Maß an Tatkraft und Strenge zutraut, dass er dagegen ankämpfen kann, dann lobe ich ihn und gestehe, dass er mir einen Teil meiner Lasten abnimmt. (6) Falls man sich jedoch nur über Fehlverhalten aufregen will, dann aber, wenn man dafür Anerkennung gefunden hat, Feindschaften auslöst und mir überlässt, dann glaubt mir, versammelte Väter, auch ich bin nicht erpicht auf Anfeindungen. Weil ich schon belastende und sehr oft unberechtigte Angriffe im Interesse des Gemeinwesens auf mich nehmen muss, verbitte ich mir zu Recht weitere, die unbegründet und unnötig sind und weder mir noch euch nützen.“ 55 (1) Als man den Brief des Caesars angehört hatte, erließ man den Ädilen die Weiterverfolgung einer solchen Angelegenheit. Und so ließ der Tafelluxus, den man vom Ende des Kriegs von Aktium bis zu den Kämpfen, in denen Servius Galba an die Macht kam, hundert Jahre hindurch34 mit ausuferndem Aufwand getrieben hatte, erst allmählich nach. Den Gründen für diese Veränderung will ich nun nachgehen. (2) Einst reiche Adelsfamilien oder auch solche, die durch ihren berühmten Namen eine besondere Rolle spielten, kamen in ihrem

242

Liber tertius

magnificentiae prolabebantur. nam etiam tum plebem socios regna colere et coli licitum; ut quisque opibus domo paratu speciosus, per nomen et clientelas inlustrior habebatur. (3) postquam caedibus saevitum et magnitudo famae exitio erat, ceteri ad sapientiora convertere. simul novi homines, e municipiis et coloniis atque etiam provinciis in senatum crebro adsumpti, domesticam parsimoniam intulerunt, et quamquam fortuna vel industria plerique pecuniosam ad senectam pervenirent, mansit tamen prior animus. (4) sed praecipuus adstricti moris auctor Vespasianus fuit, antiquo ipse cultu victuque. obsequium inde in principem et aemulandi amor validior quam poena ex legibus et metus. (5) nisi forte rebus cunctis inest quidam velut orbis, ut quem ad modum temporum vices, ita morum vertantur; nec omnia apud priores meliora, sed nostra quoque aetas multa laudis et artium imitanda posteris tulit. verum haec nobis maiores certamina ex honesto maneant. 56 (1) Tiberius, fama moderationis parta, quod ingruentes accusatores represserat, mittit litteras ad senatum, quis potestatem tribuniciam Druso petebat. (2) id summi fastigii vocabulum Augustus repperit, ne regis aut dictatoris nomen adsumeret ac tamen appellatione aliqua cetera imperia praemineret. Marcum deinde Agrippam socium eius potestatis, quo defuncto Tiberium Neronem delegit, ne successor in incerto foret. sic cohiberi pravas aliorum spes rebatur; simul modestiae Neronis et suae magnitudini fidebat. (3) quo tunc exemplo Tiberius Drusum summae rei admovit, cum incolumi Germanico integrum inter duos iudicium tenuisset. sed principio litterarum veneratus deos, ut consilia sua rei publicae prosperarent, modica de moribus adulescentis neque in falsum aucta rettulit. (4) esse illi coniugem et tres liberos eamque aetatem, qua ipse quondam a divo Augusto ad capessendum hoc munus vocatus sit. neque nunc propere, sed per octo annos capto experimento, compressis

Buch III

243

Bemühen um Prachtentfaltung herunter. Auch damals war es ja noch möglich, das einfache Volk, Bundesgenossen und Könige zu hofieren und sich hofieren zu lassen. Sooft einer durch seinen Reichtum, sein Haus und die prächtige Ausstattung auffiel, galt er aufgrund seines Namens und seiner Klientenschaft als ein Mann, der etwas darstellte. (3) Als man dann mit Morden wütete und ein hoher Bekanntheitsgrad ins Verderben führte, wandten sich alle anderen einer klügeren Lebensweise zu. Zudem brachten die Neulinge35, die aus Landstädten, Kolonien und sogar aus den Provinzen in größerer Zahl in den Senat aufgenommen wurden, ihre heimische Genügsamkeit mit, und obwohl sehr viele Leute durch Glück oder Fleiß in Wohlstand alt wurden, behielten sie ihre frühere Einstellung bei. (4) Aber der wichtigste Förderer eines anspruchslosen Verhaltens war Vespasian, selbst altmodisch in seiner gesamten Lebensführung. Von da an waren der Gehorsam gegenüber dem Princeps und das Verlangen, es ihm gleichzutun, stärker als die Furcht vor einer gesetzlich festgelegten Strafe. (5) Vielleicht aber unterliegen alle Dinge einer Art Kreislauf mit der Folge, dass sich wie die Jahreszeiten auch die Verhaltensweisen ändern. Nicht alles war ja bei den früheren Generationen besser, sondern auch unsere Zeit hat viele anerkennenswerte und künstlerisch wertvolle Leistungen hervorgebracht, die unseren Nachfahren zur Nachahmung dienen sollen. Dieser Wettstreit mit den Vorfahren auf ehrenvollem Gebiet aber sollte für uns bestehen bleiben! 56 (1) Nachdem sich Tiberius den Ruf der Zurückhaltung dadurch erworben hatte, dass er die Ankläger zurückdrängte, die schon losstürzten, schickte er ein Schreiben an den Senat, in dem er um die Verleihung der tribunizischen Gewalt an Drusus nachsuchte. (2) Diese Bezeichnung für die Spitzenstellung erfand Augustus, um nicht auf den Titel König oder Diktator zurückgreifen zu müssen und sich dennoch mit irgendeinem Namen von den übrigen Staatsämtern abzusetzen. Dann bestimmte er Marcus Agrippa zum Partner in diesem Amt und nach dessen Tod Tiberius Nero, damit über den Nachfolger keine Unklarheit bestand. Auf diese Weise glaubte er die abwegigen Hoffnungen anderer dämpfen zu können; zugleich verließ er sich auf die Bescheidenheit Neros und die überragende Bedeutung seiner eigenen Person. (3) Nach diesem Vorbild führte Tiberius den Drusus damals näher an das höchste Amt heran, während er ja noch zu Lebzeiten des Germanicus seine Entscheidung zwischen beiden offen gelassen hatte. Aber in der Einleitung des Schreibens flehte er zu den Göttern, sie möchten seine Pläne zum Segen für den Staat ausschlagen lassen, und schloss dann einige zurückhaltende Feststellungen über den Charakter des jungen Mannes ohne falsche Übertreibung an. (4) Er habe eine Frau und drei Kinder und sei nun in dem Alter, in dem er selbst einst vom vergöttlichten Augustus zur Übernahme dieser Aufgabe berufen worden sei. Das geschehe jetzt auch nicht überstürzt, sondern nach einer Erprobungsphase von

244

Liber tertius

seditionibus, compositis bellis, triumphalem et bis consulem noti laboris participem sumi. 57 (1) Praeceperant animis orationem patres; quo quaesitior adulatio fuit. nec tamen repertum nisi ut effigies principum, aras deum, templa et arcus aliaque solita censerent, nisi quod M. Silanus ex contumelia consulatus honorem principibus petivit dixitque pro sententia, ut publicis privatisve monimentis ad memoriam temporum non consulum nomina praescriberentur, sed eorum qui tribuniciam potestatem gererent. (2) at Q. Haterius cum eius diei senatus consulta aureis litteris figenda in curia censuisset, deridiculo fuit, senex foedissimae adulationis tantum infamia usurus. 58 (1) Inter quae, provincia Africa Iunio Blaeso prorogata, Servius Maluginensis flamen Dialis ut Asiam sorte haberet postulavit, frustra vulgatum dictitans non licere Dialibus egredi Italia, neque aliud ius sum quam Martialium Quirinaliumque flaminum: porro, si hi duxissent provincias, cur Dialibus id vetitum? nulla de eo populi scita, non in libris caerimoniarum reperiri. (2) saepe pontifices Dialia sacra fecisse, si flamen valitudine aut munere publico impediretur. quinque et septuaginta annis post Cornelii Merulae caedem neminem suffectum, neque tamen cessavisse religiones. quod si per tot annos possit non creari nullo sacrorum damno, quanto facilius afuturum ad unius anni proconsulare imperium? (3) privatis olim simultatibus effectum, ut a pontificibus maximis ire in provincias prohiberentur: nunc deum munere summum pontificum etiam summum hominum esse, non aemulationi, non odio aut privatis adfectionibus obnoxium. 59 (1) Adversus quae cum augur Lentulus aliique varie dissererent, eo decursum est, ut pontificis maximi sententiam opperirentur. (2) Tiberius dilata notione de iure flaminis decretas ob tribuniciam Drusi potestatem caerimonias temperavit,

Buch III

245

acht Jahren, nach der Niederschlagung von Meutereien, nach der Beilegung von Kriegen werde ein Mann, der Triumphe gefeiert habe und zweimal Konsul gewesen sei, an einer Aufgabe beteiligt, mit der er vertraut sei. 57 (1) Innerlich schon vorweggenommen hatten diese Rede die Väter; umso raffinierter war ihre Speichelleckerei. Dennoch fiel ihnen nicht mehr ein, als Bilder der Principes, Altäre für die Götter, Tempel und Bogen und die anderen üblichen Ehrungen zu beantragen. Nur M. Silanus versuchte aus der Herabwürdigung des Konsulats eine Ehre für die Principes zu machen und stellte dazu den Antrag, man solle an öffentlichen oder privaten Denkmälern als Zeitangabe nicht die Namen der Konsuln aufführen, sondern die der Inhaber der tribunizischen Gewalt. (2) Q. Haterius jedoch wurde mit dem Antrag, die Senatsbeschlüsse dieses Tages mit goldenen Lettern in der Kurie anzubringen, nur ausgelacht, ein alter Mann, der mit seiner grauenhaften Speichelleckerei nur Schande ernten konnte. 58 (1) In dieser Sitzung verlangte der Jupiterpriester Servius Maluginensis, weil die Statthalterschaft in Africa für Iunius Blaesus verlängert worden war, müsse ihm Asia bei der Verlosung zufallen.36 Er bestand darauf, die verbreitete Ansicht sei unbegründet, den Jupiterpriestern sei es nicht erlaubt, Italien zu verlassen, und seine Rechtsstellung sei nicht anders als die der Mars- und Quirinuspriester. Wenn nun aber diese Priester schon Provinzen bekommen hätten, warum sei das dann den Jupiterpriestern verboten? Keinerlei Volksbeschlüsse gebe es dazu, nichts könne man in den Ritualbüchern finden. (2) Oft schon hätten die Pontifices den Dienst für Jupiter mitversehen, falls der Eigenpriester durch Krankheit oder ein Amtsgeschäft verhindert gewesen sei. 75 Jahre lang sei nach dem gewaltsamen Ende des Cornelius Merula37 niemand nachgewählt worden, und dennoch seien die religiösen Zeremonien nicht ausgefallen. Wenn man aber so viele Jahre lang ohne Schaden für die heiligen Handlungen auf die Wahl verzichten konnte, wie viel leichter werde einer da abwesend sein können, um sein Amt als Prokonsul nur ein einziges Jahr auszuüben! (3) Durch private Streitigkeiten habe es sich einst ergeben, dass sie von den obersten Pontifices daran gehindert wurden, in die Provinzen zu gehen. Nun stehe dank der Gnade der Götter der Mann an der Spitze der Pontifices auch an der Spitze der Menschen, und er sei nicht von Eifersucht, nicht von Missgunst oder persönlichen Rücksichtnahmen abhängig. 59 (1) Da sich der Augur Lentulus und andere mit verschiedenen Argumenten dagegen aussprachen, verfiel man auf den Ausweg, die Entscheidung des obersten Pontifex abzuwarten. (2) Tiberius verschob die Untersuchung über die Rechtsstellung eines Flamen und strich dann die Feierlichkeiten zusammen, die man anlässlich der Verleihung der tribunizischen Gewalt an Drusus beschlossen hatte. Dabei rügte er ausdrücklich die Übertreibungen an

246

Liber tertius

nominatim arguens insolentiam sententiae aureasque litteras contra patrium morem. recitatae et Drusi epistulae, quamquam ad modestiam flexae, pro superbissimis accipiuntur. (3) huc decidisse cuncta, ut ne iuvenis quidem tanto honore accepto adiret urbis deos, ingrederetur senatum, auspicia saltem gentile apud solum inciperet. bellum scilicet, aut diverso terrarum distineri, litora et lacus Campaniae cum maxime peragrantem. (4) sic imbui rectorem generis humani, id primum e paternis consiliis discere. sane gravaretur aspectum civium senex imperator fessamque aetatem et actos labores praetenderet: Druso quod nisi ex adrogantia impedimentum? 60 (1) Sed Tiberius, vim principatus sibi firmans, imaginem antiquitatis senatui praebebat, postulata provinciarum ad disquisitionem patrum mittendo. crebrescebat enim Graecas per urbes licentia atque impunitas asyla statuendi; complebantur templa pessimis servitiorum; eodem subsidio obaerati adversum creditores suspectique capitalium criminum receptabantur, nec ullum satis validum imperium erat coercendis seditionibus populi, flagitia hominum ut caerimonias deum protegentis. (2) igitur placitum ut mitterent civitates iura atque legatos. et quaedam quod falso usurpaverant sponte omisere; multae vetustis superstitionibus aut meritis in populum Romanum fidebant. (3) magnaque eius diei species fuit, quo senatus maiorum beneficia, sociorum pacta, regum etiam, qui ante vim Romanam valuerant, decreta ipsorumque numinum religiones introspexit, libero, ut quondam, quid firmaret mutaretve. 61 (1) Primi omnium Ephesii adiere, memorantes non, ut vulgus crederet, Dianam atque Apollinem Delo genitos: esse apud se Cenchreum amnem, lucum Ortygiam, ubi Latonam partu gravidam et oleae, quae tum etiam maneat, adnisam edidisse ea numina, deorumque monitu sacratum nemus, atque ipsum illic Apollinem post interfectos Cyclopas Iovis iram vitavisse. (2) mox Liberum

Buch III

247

dem Antrag und stellte fest, goldene Lettern widersprächen dem Herkommen. Vorgelesen wurde auch ein Schreiben des Drusus; obwohl es bescheiden klingen sollte, empfand man es als Gipfel des Hochmuts: (3) So weit sei der allgemeine Niedergang schon vorangeschritten, dass nicht einmal ein junger Mann nach dem Empfang einer derartigen Auszeichnung die Götter der Hauptstadt aufsuche, in den Senat komme, wenigstens die Feier seines Amtsantritts auf heimatlichem Boden begehe. Krieg herrsche jetzt ja, oder er werde in einem fernen Erdteil aufgehalten, wo er doch gerade an den Küsten und Seen Kampaniens spazieren gehe! (4) So führe man den Lenker des ganzen Menschengeschlechts in sein Amt ein, das lerne er als Erstes von den klugen Ratschlägen seines Vaters. Natürlich könne einem alten Herrscher der Anblick seiner Mitbürger lästig fallen, und er dürfe Altersmüdigkeit und die durchgemachten Strapazen vorschützen. Drusus aber, was habe der außer seinem Dünkel für einen Hinderungsgrund? 60 (1) Aber während Tiberius die Macht des Prinzipats für sich festigte, bot er dem Senat ein Trugbild der alten Zeit, indem er Gesuche von Provinzen den Vätern zur Prüfung zuleitete. In griechischen Städten hatte nämlich die Willkür und die Straflosigkeit bei der Einrichtung von Asylen überhandgenommen. Es füllten sich die Tempel mit dem übelsten Sklavengesindel. Im gleichen Zufluchtsort fanden Schuldner vor ihren Gläubigern38 sowie Personen, die man verdächtigte, Kapitalverbrechen begangen zu haben, Schutz und Aufnahme, und es gab keine Macht, die stark genug war, rebellische Umtriebe im Volk einzudämmen, wenn es Verbrechen von Menschen schützte, als sei das ein Gottesdienst. (2) Also beschloss man, die Gemeinden sollten Abordnungen mit den Rechtsgrundlagen schicken, und manche verzichteten daraufhin freiwillig auf das Vorrecht, das sie grundlos in Anspruch genommen hatten; viele verließen sich auf alte religiöse Bräuche oder auf ihre Verdienste für das römische Volk. (3) Großartig war das Bild, das dieser Tag bot, an dem der Senat in die Gunstbeweise der Vorfahren, die Verträge mit den Bundesgenossen, sogar in die Satzungen der Könige, die vor der römischen Herrschaft die Macht ausgeübt hatten, und in die religiösen Vorschriften der Gottheiten selbst Einsicht nahm, wobei er wie früher frei über Bestätigungen oder Änderungen entscheiden konnte. 61 (1) Zuallererst traten die Vertreter von Ephesos auf und erklärten, nicht, wie man im Volk glaube, auf Delos seien Diana und Apollon zur Welt gekommen: Bei ihnen gebe es den Fluss Cenchreus und den Hain Ortygia, wo sich die hochschwangere Latona an den Ölbaum, der auch jetzt noch stehe, gelehnt und diese Götter geboren habe. Auf göttliches Geheiß sei der Wald für heilig erklärt worden, und Apollon persönlich habe sich dort nach der Tötung der Kyklopen dem Zorn Jupiters entzogen. (2) Später habe der Vater Liber als

248

Liber tertius

patrem, bello victorem, supplicibus Amazonum, quae aram insederant, ignovisse. auctam hinc concessu Herculis, cum Lydia poteretur, caerimoniam templo, neque Persarum dicione deminutum ius; post Macedonas, dein nos servavisse. 62 (1) Proximos Magnetes L. Scipionis et L. Sullae constitutis nitebantur, quorum ille Antiocho, hic Mithridate pulsis fidem atque virtutem Magnetum decoravere, uti Dianae Leucophynae perfugium inviolabile foret. (2) Aphrodisienses posthac et Stratonicenses dictatoris Caesaris ob vetusta in partes merita et recens divi Augusti decretum adtulere, laudati quod Parthorum inruptionem nihil mutata in populum Romanum constantia pertulissent. sed Aphrodisiensium civitas Veneris, Stratonicensium Iovis et Triviae religionem tuebantur. (3) altius Hierocaesarienses exposuere: Persicam apud se Dianam, delubrum rege Cyro dicatum; et memorabantur Perpennae, Isaurici multaque alia imperatorum nomina, qui non modo templo, sed duobus milibus passuum eandem sanctitatem tribuerant. (4) exim Cypri tribus delubris, quorum vetustissimum Paphiae Veneri auctor Aërias, post filius eius Amathus Veneri Amathusiae et Iovi Salaminio Teucer, Telamonis patris ira profugus, posuissent. 63 (1) Auditae aliarum quoque civitatium legationes. quorum copia fessi patres, et quia studiis certabatur, consulibus permisere, ut, perspecto iure, et si qua iniquitas involveretur, rem integram rursum ad senatum referrent. (2) consules super eas civitates, quas memoravi, apud Pergamum Aesculapii compertum asylum rettulerunt; ceteros obscuris ob vetustatem initiis niti. (3) nam Zmyrnaeos oraculum Apollinis, cuius imperio Stratonicidi Veneri templum dicaverint, Tenios eiusdem carmen referre, quo sacrare Neptuni effigiem aedemque iussi sint. propiora Sardianos: Alexandri victoris id donum; neque minus Milesios Dareo rege nti; sed cultus numinum utrisque Dianam aut Apollinem venerandi. (4) petere et Cretenses simulacro divi Augusti.

Buch III

249

Sieger im Krieg den um Gnade flehenden Amazonen verziehen, die sich auf seinem Altar niedergelassen hatten. Dann sei mit Erlaubnis des Herkules, als er sich Lydiens bemächtigte, die Heiligkeit des Tempels erweitert worden, und auch unter persischer Oberhoheit habe man sein Recht nicht geschmälert; danach hätten es die Makedonen, dann wir gewahrt. 62 (1) Nach ihnen beriefen sich die Vertreter Magnesias auf Erlasse L. Scipios und L. Sullas, von denen der eine nach dem Sieg über Antiochus, der andere über Mithridates die Treue und Tapferkeit der Magnesier dadurch auszeichnete, dass der Zufluchtsort der Diana Leukophryne nicht angetastet werden dürfe. (2) Die Aphrodisienser und Stratonicenser legten dann ein Dekret des Diktators Caesar wegen ihrer alten Verdienste für seine Partei und ein neues des vergöttlichten Augustus vor, in dem sie dafür gelobt wurden, dass sie den Einfall der Parther in unwandelbarer Treue zum römischen Volk hingenommen hatten. Die Gemeinde der Aphrodisienser aber setzte sich für den Kult der Venus, die der Stratonicenser für den des Jupiter und der Trivia ein. (3) Weiter hergeholt waren die Argumente der Hierocaesarienser: Bei ihnen gebe es eine persische Diana, ihr Heiligtum sei unter der Herrschaft des Kyros geweiht worden. Dazu führten sie die Namen des Perpenna, des Isauricus und vieler anderer Befehlshaber an, die nicht nur dem Tempel, sondern einem Umkreis von zwei Meilen dieselbe Unverletzlichkeit zuerkannt hatten. (4) Dann berichteten die Zyprier über ihre drei Heiligtümer; das älteste davon habe Aërias für die Venus von Paphos, dann sein Sohn Amathus eines für die Venus Amathusia und eines Teucer auf der Flucht vor dem Zorn seines Vaters Telamon für den Jupiter von Salamis errichtet. 63 (1) Man hörte auch Abordnungen anderer Stadtgemeinden an. Deren ausführliche Darstellungen ermüdeten die Väter, und weil man voller Begeisterung debattierte, stellten sie den Konsuln anheim, die Rechtslage zu prüfen und, falls sich dabei eine Ungleichbehandlung ergeben sollte, die Angelegenheit ohne Entscheidung wieder an den Senat zu verweisen. (2) Die Konsuln berichteten, zusätzlich zu den von mir erwähnten Städten habe man zuverlässige Hinweise auf ein Asyl des Äskulap in Pergamon bekommen; der Rest stütze sich auf Anfänge, die wegen ihres hohen Alters im Dunkeln lägen. (3) So beriefen sich die Smyrnäer auf einen Orakelspruch Apollons, auf dessen Weisung hin sie der Venus Stratonicis einen Tempel geweiht hätten, die Tenier auf einen Spruch derselben Gottheit, durch den ihnen die Weihung eines Standbilds und eines Tempels des Neptun befohlen worden sei. Zeitlich näher liegende Belege könnten die Sardianer vorweisen: Es handle sich um ein Geschenk des siegreichen Alexander. Nicht weniger nachdrücklich beriefen sich die Milesier auf König Dareus; der Götterkult bestehe aber in beiden Fällen in der Verehrung Dianas oder Apollons. (4) Auch die Kreter bäten für ein Bildnis des

250

Liber tertius

factaque senatus consulta, quis multo cum honore modus tamen praescribebatur, iussique ipsis in templis fiere aera sacrandam ad memoriam, neu specie religionis in ambitionem delaberentur. 64 (1) Sub idem tempus Iuliae Augustae valitudo atrox necessitudinem principi fecit festinati in urbem reditus, sincera adhuc inter matrem filiumque concordia sive occultis odiis. (2) neque enim multo ante, cum haud procul theatro Marcelli effigiem divo Augusto Iulia dicaret, Tiberi nomen suo postscripserat, idque ille credebatur ut inferius maiestate principis gravi et dissimulata offensione abdidisse. (3) sed tum supplicia dis ludique magni ab senatu decernuntur, quos pontifices et augures et quindecimviri septemviris simul et sodalibus Augustalibus ederent. (4) censuerat L. Apronius, ut fetiales quoque iis ludis praesiderent. contra dixit Caesar, distincto sacerdotiorum iure et repetitis exemplis: neque enim umquam fetialibus hoc maiestatis fuisse. ideo Augustales adiectos, quia proprium eius domus sacerdotium esset, pro qua vota persolverentur. 65 (1) Exsequi sententias haud institui nisi insignes per honestum aut notabili dedecore, quod praecipuum munus annalium reor, ne virtutes sileantur utque pravis dictis factisque ex posteritate et infamia metus sit. (2) ceterum tempora illa adeo infecta et adulatione sordida fuere, ut non modo primores civitatis, quibus claritudo sua obsequiis protegenda erat, sed omnes consulares, magna pars eorum qui praetura functi multique etiam pedarii senatores certatim exsurgerent foedaque et nimia censerent. memoriae proditur Tiberium, quotiens curia egrederetur, Graecis verbis in hunc modum eloqui solitum ‘o homines ad servitutem paratos!’ scilicet etiam illum, qui libertatem publicam nollet, tam proiectae servientium patientiae taedebat.

Buch III

251

vergöttlichen Augustus. So kam es zu Senatsbeschlüssen, durch die mit vielen ehrenden Worten doch eine Beschränkung vorgeschrieben wurde, und man befahl, in den Tempeln selbst Erztafeln anzubringen, um die Überlieferung zu verewigen, aber auch damit man unter dem Deckmantel der Religionsausübung nicht in bloße Ehrsucht abglitt. 64 (1) Ungefähr zur gleichen Zeit stellte eine schwere Erkrankung der Iulia Augusta (Livia) den Princeps vor die Notwendigkeit, sofort in die Hauptstadt zurückzukehren, weil sich Mutter und Sohn immer noch gut verstanden oder weil man Hassgefühle nicht offen zeigte. (2) Denn nicht lange vorher hatte Julia bei der Weihung eines Standbilds für den vergöttlichten Augustus nicht weit vom Marcellustheater entfernt den Namen des Tiberius hinter den ihren setzen lassen, und der habe das, so glaubte man, als Herabsetzung der Hoheit des Princeps mit einer tiefen Verärgerung, die er sich nicht anmerken ließ, im Inneren vergraben. (3) Aber danach wurden Bittgänge zu den Göttern und Große Spiele vom Senat beschlossen, die die Pontifices, Auguren und Fünfzehnmänner zusammen mit den Siebenmännern39 und der Priesterschaft des Augustus veranstalten sollten. (4) L. Apronius hatte den Antrag gestellt, auch die Fetialen40 sollten den Vorsitz bei diesen Spielen führen dürfen. Dagegen sprach sich der Caesar aus, indem er auf die Unterschiede in der Rechtsstellung der Priesterschaften hinwies und Beispiele von früher anführte; niemals hätten die Fetialen nämlich ein solches Maß an Würde besessen. Nur deshalb habe man die Augustalen hinzugenommen, weil sie die eigene Priesterschaft des Hauses seien, für das die Gelübde dargebracht werden sollten. 65 (1) Über Anträge im Einzelnen zu berichten habe ich mir nur vorgenommen, wenn sie durch aufrechte Gesinnung oder bemerkenswerte Charakterlosigkeit aus dem Rahmen fielen, weil ich es für die wichtigste Aufgabe von Annalen halte, dass sittlich hochstehendes Verhalten nicht verschwiegen wird und dass schlechte Worte und Handlungen sich vor der Schande bei der Nachwelt fürchten müssen. (2) Im Übrigen waren diese Zeiten derart vergiftet und durch die Kriecherei niederträchtig, dass nicht nur die führenden Persönlichkeiten der Bürgerschaft, die ihre hohe Stellung durch Beweise ihrer Ergebenheit sichern mussten, sondern alle Konsulare, dazu ein Großteil der Männer, die die Prätur bekleidet hatten, und sogar viele einfache Senatoren um die Wette aufstanden und anstößige, übertriebene Anträge stellten. (3) Es wird überliefert, Tiberius habe gewöhnlich beim Verlassen der Kurie auf griechisch ausgerufen: „Was sind das doch für Sklavenseelen!“ Natürlich empfand sogar der Mann, der die freiheitliche Staatsform nicht wollte, Abscheu vor einer derart willfährigen, sklavischen Unterwürfigkeit.

252

Liber tertius

66 (1) Paulatim dehinc ab indecoris ad infesta transgrediebantur. C. Silanum pro consule Asiae, repetundarum a sociis postulatum, Mamercus Scaurus e consularibus, Iunius Otho praetor, Bruttedius Niger aedilis simul corripiunt obiectantque violatum Augusti numen, spretam Tiberii maiestatem, Mamercus antiqua exempla iaciens, L. Cottam a Scipione Africano, Servium Galbam a Catone Censorio, P. Rutilium a M. Scauro accusatos. (2) videlicet Scipio et Cato talia ulciscebantur, aut ille Scaurus, quem proavum suum obprobrium maiorum Mamercus infami opera dehonestabat. (3) Iunio Othoni litterarium ludum exercere vetus ars fuit; mox Seiani potentia senator obscura initia impudentibus ausis propolluebat. (4) Bruttedium artibus honestis copiosum et, si rectum iter pergeret, ad clarissima quaeque iturum festinatio exstimulabat, dum aequales, dein superiores, postremo suasmet ipse spes antire parat; quod multos etiam bonos pessum dedit, qui spretis quae tarda cum securitate, praematura vel cum exitio properant. 67 (1) Auxere numerum accusatorum Gellius Publicola et M. Paconius, ille quaestor Silani, hic legatus. nec dubium habebatur saevitiae captarumque pecuniarum teneri reum: (2) sed multa adgerebantur etiam insontibus periculosa, cum super tot senatores adversos facundissimis totius Asiae eoque ad accusandum delectis responderet solus et orandi nescius, proprio in metu, qui exercitam quoque eloquen debilitat, non temperante Tiberio quin premeret voce vultu, eo quod ipse creberrime interrogabat, neque refellere aut eludere dabatur, ac saepe etiam confitendum erat, ne frustra quaesivisset. (3) servos quoque Silani, ut tormentis interrogentur, actor publicus mancipio acceperat; et ne quis necessariorum iuvaret periclitantem, maiestatis crimina subdebantur, vinclum et necessitas silendi. (4) igitur petito paucorum dierum interiectu

Buch III

253

66 (1) Allmählich ging man von da an von einem schäbigen zu einem gefährlichen Verhalten über. Über den Prokonsul Asias C. Silanus, der von den Bundesgenossen wegen Erpressung angeklagt worden war, fielen der Konsular Mamercus Scaurus, der Prätor Iunius Otho und der Ädil Bruttedius Niger zusammen her und warfen ihm vor, er habe die Göttlichkeit des Augustus beleidigt und die Majestät des Tiberius missachtet; dabei führte Mamercus Beispiele aus der Vergangenheit an, dass nämlich L. Cotta von Scipio Africanus, Servius Galba von Cato Censorius, P. Rutilius von M. Scaurus41 angeklagt worden seien. (2) Ganz gewiss haben ein Scipio und Cato solche Vorfälle bestraft wissen wollen oder auch der bekannte Scaurus, dem – er war ja sein Urgroßvater – Mamercus, der Schandfleck für seine Vorfahren, mit seinem ehrlosen Vorgehen nur Schande machte! (3) Iunius Otho hatte zunächst eine Grundschule als Gewerbe betrieben; dann wurde er dank Sejans Einfluss Senator und befleckte seine dunklen Anfänge zusätzlich mit unverschämt dreistem Verhalten. (4) Bruttedius, der über viele gute Eigenschaften verfügte und, wenn er auf dem rechten Weg geblieben wäre, den glänzendsten Aufstieg vor sich gehabt hätte, trieb die Ungeduld um, als er sich daran machte, seinesgleichen, dann Höhergestellte, schließlich in eigener Person seine eigenen Erwartungen zu überholen. Dieses Verhalten hat auch schon viele tüchtige Leute ins Verderben gestürzt, die, was ihnen langsam, aber sicher zufällt, links liegen lassen und übereilt sogar dann nach unreifen Früchten greifen, wenn sie ihnen den Untergang bringen. 67 (1) Die Zahl der Ankläger vergrößerten Gellius Publicola und M. Paconius, der eine der Quästor des Silanus, der Letztere sein Legat, und es wurde nicht bezweifelt, dass sich der Angeklagte Grausamkeit und Gelderpressung hatte zuschulden kommen lassen. (2) Aber viele Begleitumstände kamen hinzu, die sogar unschuldigen Personen gefährlich geworden wären: Waren schon so viele Senatoren seine Gegner, so musste er darüber hinaus den bedeutendsten und deshalb für die Anklage ausersehenen Rednern ganz Asias Rede und Antwort stehen, allein und im Reden nicht geschult, und das in Angst um das eigene Leben, die auch einen geübten Redner lähmt. Tiberius ließ es sich dabei nicht nehmen, ihn mit Worten und Mienenspiel und dadurch, dass er persönlich sehr häufig Zwischenfragen stellte, unter Druck zu setzen; man gab ihm keine Gelegenheit, die Vorwürfe zu widerlegen oder ausweichend zu antworten, und oft musste er sogar einen Tatbestand einräumen, damit Tiberius nicht umsonst gefragt hatte. (3) Auch hatte die Sklaven des Silanus der Staatsagent42 aufgekauft, damit man sie unter der Folter verhören konnte, und damit kein Verwandter dem Angeklagten Beistand leistete, unterstellte man Vergehen gegen das Majestätsgesetz, eine Fessel, die jeden zu schweigen zwang. (4) Deshalb verzichtete er, nachdem er eine Pause von wenigen Tagen beantragt

254

Liber tertius

defensionem sui deseruit, ausis ad Caesarem codicillis, quibus invidiam et preces miscuerat. 68 (1) Tiberius, quae in Silanum parabat quo excusatius sub exemplo acciperentur, libellos divi Augusti de Voleso Messala eiusdem Asiae pro consule factumque in eum senatus consultum recitari iubet. (2) tum L. Pisonem sententiam rogat. ille multum de clementia principis praefatus aqua atque igni Silano interdicendum censuit ipsumque in insulam Gyarum relegandum. eadem ceteri, nisi quod Cn. Lentulus separanda Silani materna bona, quippe Atia parente geniti, reddendaque filio dixit, adnuente Tiberio. 69 (1) At Cornelius Dolabella, dum adulationem longius sequitur, increpitis C. Silani moribus addidit, ne quis vita probrosus et opertus infamia provinciam sortiretur, idque princeps diiudicaret. nam a legibus delicta puniri: quanto fore mitius in ipsos, melius in socios, provideri ne peccaretur? (2) adversum quae disseruit Caesar: non quidem sibi ignara quae de Silano vulgabantur, sed non ex rumore statuendum. multos in provinciis contra, quam spes aut metus de illis fuerit, egisse: excitari quosdam ad meliora magnitudine rerum, hebescere alios. (3) neque posse principem sua scientia cuncta complecti, neque expedire ut ambitione aliena trahatur. ideo leges in facta constitui, quia futura in incerto sint. sic a maioribus institutum, ut, si antissent delicta, poenae sequerentur. ne verterent sapienter reperta et semper placita. (4) satis onerum principibus, satis etiam potentiae. minui ura, quotiens gliscat potestas, nec utendum imperio, ubi legibus agi possit. (5) quanto rarior apud Tiberium popularitas, tanto laetioribus animis accepta. atque ille prudens moderandi, si propria ira non impelleretur, addidit insulam Gyarum immitem et sine cultu hominum esse: darent Iuniae familiae et viro quondam ordinis eiusdem, ut Cythnum potius concederet.

Buch III

255

hatte, auf seine Verteidigung, wagte es aber, dem Caesar ein Memorandum zu schicken, das aus einer Mischung von Erbitterung und Bitten bestand. 68 (1) Damit sein Vorgehen gegen Silanus unter Bezugnahme auf einen Vergleichsfall als umso gerechtfertigter angesehen werde, ließ Tiberius die Stellungnahme des vergöttlichten Augustus zu Volesus Messala, der ebenfalls Prokonsul Asias gewesen war, und den gegen ihn ergangenen Senatsbeschluss vorlesen. (2) Dann bat er L. Piso um sein Votum. Der ließ sich weitschweifig über die Nachsicht des Princeps aus und beantragte dann, Silanus Wasser und Feuer zu untersagen und ihn auf die Insel Gyarus zu verbannen. Der gleichen Auffassung war der Rest; lediglich Cn. Lentulus erklärte, das mütterliche Erbteil des Silanus solle man, da seine Mutter eine Atia43 sei, ausnehmen und dem Sohn zurückgeben; damit war Tiberius einverstanden. 69 (1) Doch Cornelius Dolabella ging noch weiter mit seiner Speichelleckerei: Er ließ sich über die Charakterschwächen des C. Silanus aus und schloss dann an, kein Mann mit schlechtem Lebenswandel und üblem Leumund solle an einer Provinzverlosung teilnehmen dürfen, und der Princeps solle darüber entscheiden. Von den Gesetzen würden ja nur begangene Verbrechen bestraft: Wie viel rücksichtsvoller sei es da gegenüber den Tätern, wie viel besser für die Bundesgenossen, dafür Vorsorge zu treffen, dass man gar keine Straftat begehen könne! (2) Dagegen erklärte der Caesar: Ihm sei natürlich sehr wohl bekannt, was man über Silanus verbreite, aber auf bloße Gerüchte hin dürfe man nicht entscheiden. Viele hätten sich in den Provinzen anders benommen, als man von ihnen erhofft oder befürchtet habe: Manche würden zu einem besseren Verhalten angespornt durch die Bedeutung ihrer Aufgaben, andere ließen sich gehen. (3) Weder könne der Princeps alles umfassend wissen, noch sei damit gedient, wenn er sich durch den Einfluss anderer Personen bestimmen lasse. Die Gesetze richteten sich deshalb gegen begangene Taten, weil, was erst geschehe, im Ungewissen liege. So sei von den Vorfahren bestimmt worden, dass nur, wenn Straftaten vorangegangen seien, Strafen folgten. Man solle doch klug ersonnene Regelungen, die ständig gegolten hätten, nicht umstoßen. (4) Genug Lasten hätten die Principes zu tragen, aber auch genug Macht. Das Recht werde geschwächt, sooft sich die Macht ausbreite, und man solle nicht auf eine Befehlsbefugnis zurückgreifen, wenn man nach Gesetzen handeln könne. (5) Je seltener bei Tiberius volkstümliches Benehmen war, desto freudiger nahm man es auf. Und weil er sich klug zurückzuhalten verstand, wenn er nicht von persönlicher Erbitterung getrieben wurde, fügte er hinzu, die Insel Gyarus sei unwirtlich und von Menschen nicht bewohnt; sie sollten es der junischen Familie und dem Mann, der früher ihrem eigenen Stand angehört habe, zugestehen, eher nach Cythnus zu gehen.

256

Liber tertius

(6) id sororem quoque Silani Torquatam, priscae sanctimoniae virginem, expetere. in hanc sententiam facta discessio. 70 (1) Post auditi Cyrenenses, et accusante Anchario Prisco Caesius Cordus repetundarum damnatur. L. Ennium equitem Romanum, maiestatis postulatum, quod effigiem principis promiscum ad usum argenti vertisset, recipi Caesar inter reos vetuit, palam aspernante Ateio Capitone quasi per libertatem. (2) non enim debere eripi patribus vim statuendi neque tantum maleficium impune habendum. sane lentus in suo dolore esset: rei publicae iniurias ne largiretur. (3) intellexit haec Tiberius, ut erant magis quam ut dicebantur, perstititque intercedere. Capito insignitior infamia fuit, quod humani divinique iuris sciens egregium publicum et bonas domi artes dehonestavisset. 71 (1) Incessit dein religio, quonam in templo locandum foret donum, quod pro valitudine Augustae equites Romani voverant Equestri Fortunae: nam etsi delubra eius deae multa in urbe, nullum tamen tali cognomento erat. repertum est aedem esse apud Antium, quae sic nuncuparetur, cunctasque caerimonias Italicis in oppidis templaque et numinum effigies iuris atque imperii Romani esse. ita donum apud Antium statuitur. (2) et quoniam de religionibus tractabatur, dilatum nuper responsum adversus Servium Maluginensem flaminem Dialem prompsit Caesar recitavitque decretum pontificum, quotiens valitudo adversa flaminem Dialem incessisset, ut pontificis maximi arbitrio plus quam binoctium abesset, dum ne diebus publici sacrificii neu saepius quam bis eundem in annum; quae principe Augusto constituta satis ostendebant annuam absentiam et provinciarum administrationem Dialibus non concedi. (3) memorabaturque L. Metelli pontificis maximi exemplum, qui Aulum Postumium flaminem attinuisset. ita sors Asiae in eum, qui consularium Maluginensi proximus erat, conlata. 72 (1) Isdem diebus Lepidus ab senatu petivit ut basilicam Pauli, Aemilia monimenta, propria pecunia firmaret ornaretque. erat etiam tum in more

Buch III

257

(6) Darum bitte auch Torquata, die Schwester des Silanus, eine Jungfrau von altehrwürdiger Sittenreinheit. Dieser Antrag wurde angenommen. 70 (1) Danach hörte man die Einwohner von Cyrene an; Ancharius Priscus vertrat die Anklage, und Caesius Cordus wurde wegen Erpressung verurteilt. Den römischen Ritter L. Ennius, dem der Prozess wegen Majestätsbeleidigung gemacht werden sollte, weil er eine Statue des Princeps in Silbergeschirr für den Alltag hatte umarbeiten lassen, verbot der Caesar auf die Liste der Angeklagten zu setzen; dagegen sprach sich Ateius Capito offen aus, so als gehe es ihm um die Meinungsfreiheit. (2) Man dürfe nämlich den Vätern nicht die Entscheidungsbefugnis nehmen, und eine derart üble Tat dürfe nicht ohne Strafe bleiben. Natürlich könne er hinsichtlich der Kränkung seiner Person langmütig sein; das Unrecht gegen den Staat solle er aber nicht durchgehen lassen. (3) Tiberius verstand diese Äußerungen mehr so, wie sie gemeint waren, als wie sie ausgesprochen wurden, und bestand auf seinem Einspruch. Capito fiel durch sein ehrloses Benehmen noch mehr auf, weil er als Fachmann in Fragen des menschlichen und göttlichen Rechts seine herausragende öffentliche Stellung und seine großartigen privaten Fähigkeiten in den Schmutz gezogen hatte. 71 (1) Dann kam das religiöse Problem zur Sprache, in welchem Tempel man das Geschenk aufstellen solle, das die römischen Ritter für die Gesundheit der Augusta (Livia) der Fortuna Equestris geweiht hatten; denn wenn es auch viele Heiligtümer dieser Gottheit in der Hauptstadt gab, so doch keines mit einem solchen Beinamen. Man fand heraus, in Antium stehe ein Gotteshaus, das so bezeichnet werde, und alle Kulte in den italischen Städten sowie die Tempel und Götterbilder gehörten zum römischen Rechts- und Herrschaftsbereich. Deshalb stellte man das Geschenk in Antium auf. (2) Und weil man gerade religiöse Fragen behandelte, gab der Caesar den kurz zuvor vertagten Bescheid für den Jupiterpriester Servius Maluginensis bekannt und verlas den Beschluss der Pontifices, sooft eine Krankheit einen Jupiterpriester befalle, könne er mit Billigung des obersten Pontifex mehr als zwei Nächte wegbleiben, allerdings nicht an Tagen des Staatsopfers und nicht häufiger als zweimal im selben Jahr. Diese unter dem Princeps Augustus getroffene Regelung zeigte deutlich, dass ein Fernbleiben für ein ganzes Jahr und die Verwaltung von Provinzen den Jupiterpriestern nicht gestattet waren. (3) Man erinnerte an das Beispiel des obersten Pontifex L. Metellus, der den Flamen Aulus Postumius nicht habe gehen lassen. Deshalb wurde die Verleihung Asias auf den Konsular übertragen, der als Nächster nach Maluginensis an der Reihe war. 72 (1) In denselben Tagen bat M. Lepidus den Senat um die Erlaubnis, die Basilika des Paulus, das Denkmal der Ämilier,44 auf eigene Kosten renovieren und ausschmücken zu dürfen. Auch damals war öffentliche Wohltätigkeit noch

258

Liber tertius

publica munificentia; nec Augustus arcuerat Taurum, Philippum, Balbum hostiles exuvias aut exundantes opes ornatum ad urbis et posterum gloriam conferre. quo tum exemplo Lepidus, quamquam pecuniae modicus, avitum decus recoluit. (2) at Pompei theatrum igne fortuito haustum Caesar exstructurum pollicitus est, eo quod nemo e familia restaurando sufficeret, manente tamen nomine Pompei. (3) simul laudibus Seianum extulit, tamquam labore vigilantiaque eius tanta vis unum intra damnum stetisset. et censuere patres effigiem Seiano, quae apud theatrum Pompei locaretur. (4) neque multo post Caesar, cum Iunium Blaesum pro consule Africae triumphi insignibus attolleret, dare id se dixit honori Seiani, cuius ille avunculus erat. ac tamen res Blaesi dignae decore tali fuere. 73 (1) Nam Tacfarinas, quamquam saepius depulsus, reparatis per intima Africae auxiliis huc adrogantiae venerat, ut legatos ad Tiberium mitteret sedemque ultro sibi atque exercitui suo postularet aut bellum inexplicabile minitaretur. (2) non alias magis sua populique Romani contumelia indoluisse Caesarem ferunt, quam quod desertor et praedo hostium more ageret. ne Spartaco quidem post tot consularium exercituum clades inultam Italiam urenti, quamquam Sertorii atque Mithridatis ingentibus bellis labaret res publica, datum, ut pacto in fidem acciperetur: nedum pulcherrimo populi Romani fastigio latro Tacfarinas pace et concessione agrorum redimeretur. (3) dat negotium Blaeso, ceteros quidem ad spem proliceret arma sine noxa ponendi, ipsius autem ducis quoquo modo poteretur. et recepti ea venia plerique. mox adversum artes Tacfarinatis hau dissimili modo belligeratum. 74 (1) Nam quia ille robore exercitus impar, furandi melior, plures per globos incursaret eluderetque et insidias simul temptaret, tres incessus, totidem agmina parantur. (2) ex quis Cornelius Scipio legatus praefuit qua praedatio in

Buch III

259

üblich, und auch Augustus hatte es Taurus, Philippus und Balbus nicht verwehrt, dem Feind abgenommene Beutestücke oder überschießenden Reichtum zur Ausschmückung der Hauptstadt und zu ihrem Ruhm bei der Nachwelt einzusetzen. Nach diesem Vorbild ließ damals Lepidus, obwohl er nur über ein bescheidenes Vermögen verfügte, das Ehrenmal für seinen Großvater erneuern. (2) Doch das Pompeiustheater, das einem zufälligen Feuer zum Opfer gefallen war, versprach der Caesar wieder aufzubauen, weil kein Familienangehöriger über die für die Wiedererrichtung erforderlichen Mittel verfügte, der große Name des Pompeius aber dennoch weiterlebte. (3) Zugleich sprach er Sejan seine höchste Anerkennung aus, weil durch seinen Einsatz und seine Wachsamkeit eine derart gewaltiger Brand nur zu diesem einen Verlust geführt habe. Und die Väter beschlossen eine Statue für Sejan, die im Pompeiustheater aufgestellt werden sollte. (4) Nicht viel später sagte der Caesar, als er den Prokonsul Africas Iunius Blaesus mit den Triumphabzeichen auszeichnete, er erweise damit Sejan eine Ehre, dessen Onkel Blaesus war; und dennoch hatten schon die Leistungen des Blaesus einen solchen Schmuck verdient. 73 (1) Denn obwohl Tacfarinas wiederholt vertrieben worden war, hatte er im Inneren Africas wieder Hilfstruppen aufgestellt und war in seiner Anmaßung so weit gegangen, Gesandte zu Tiberius zu schicken, obendrein für sich und sein Heer ein Siedlungsgebiet zu verlangen oder einen endlosen Krieg anzudrohen. (2) Keine andere Beschimpfung seiner Person und des römischen Volkes habe dem Caesar, wird berichtet, so wehgetan wie die Tatsache, dass ein fahnenflüchtiger Räuber sich wie ein regulärer Feind aufführte. Nicht einmal Spartakus habe man, als er nach den Niederlagen so vieler konsularischer Heere ungeahndet Italien niederbrannte und obwohl der Staat unter den gewaltigen Kriegen gegen Sertorius und Mithridates zusammenzubrechen drohte, zugestanden, sich auf der Grundlage eines Vertrags zu unterwerfen; viel weniger dürfe man nun, wo das römische Volk auf dem höchst erfreulichen Gipfel seiner Macht stehe, den Straßenräuber Tacfarinas mit Frieden und der Zuteilung von Ackerland kaufen. (3) Er erteilte Blaesus den Auftrag, den übrigen Beteiligten das verlockende Angebot zu machen, die Waffen ohne Bestrafung niederzulegen, den Anführer selbst aber solle er unter allen Umständen in die Hand bekommen. Und sehr viele wurden dank dieses Entgegenkommens wieder aufgenommen. Dann führte man den Krieg gegen Tacfarinas auf ganz ähnlich listige Weise wie er. 74 (1) Denn weil er mit den Kerntruppen unseres Heeres nicht mithalten konnte, bei handstreichartigen Überfällen aber erfolgreicher war und deshalb mit mehreren Haufen angriff, wieder verschwand und gleich wieder Hinterhalte legte, bereitete man drei Anmarschwege und ebenso viele Heeresgruppen vor. (2) Von ihnen kommandierte der Legat Cornelius Scipio eine

260

Liber tertius

Lepcinos et suffugia Garamantum; alio latere, ne Cirtensium pagi impune traherentur, propriam manum Blaesus filius duxit. medio cum delectis, castella et munitiones idoneis locis imponens, dux ipse arta et infensa hostibus cuncta fecerat, quia, quoquo inclinarent, pars aliqua militis Romani in ore, in latere et saepe a tergo erat; multique eo modo caesi aut circumventi. (3) tunc tripertitum exercitum plures in manus dispergit praeponitque centuriones virtutis expertae. nec, ut mos fuerat, acta aestate retrahit copias aut in hibernaculis veteris provinciae componit, sed ut in limine belli dispositis castellis per expeditos et solitudinum gnaros mutantem mapalia Tacfarinatem proturbabat, donec fratre eius capto regressus est, properantius tamen quam ex utilitate sociorum, relictis per quos resurgeret bellum. (4) sed Tiberius pro confecto interpretatus id quoque Blaeso tribuit, ut imperator a legionibus salutaretur, prisco erga duces honore, qui bene gesta re publica gaudio et impetu victoris exercitus conclamabantur; erantque plures simul imperatores nec super ceterorum aequalitatem. concessit quibusdam et Augustus id vocabulum, ac tunc Tiberius Blaeso postremum. 75 (1) Obiere eo anno viri inlustres Asinius Saloninus, Marco Agrippa et Pollione Asinio avis, fratre Druso insignis Caesarique progener destinatus, et Capito Ateius, de quo memoravi, principem in civitate locum studiis civilibus adsecutus, sed avo centurione Sullano, patre praetorio. consulatum ei adceleraverat Augustus, ut Labeonem Antistium isdem artibus praecellentem dignatione eius magistratus anteiret. (2) namque illa aetas duo pacis decora simul tulit: sed Labeo incorrupta libertate et ob id fama celebratior, Capitonis obsequium dominantibus magis probabatur. Illi, quod praeturam intra stetit,

Buch III

261

in der Gegend, von der Plünderungszüge gegen die Lepcitaner ausgingen und wo die Schlupfwinkel der Garamanten lagen; auf der anderen Seite führte der Sohn Blaesus ein eigenes Kontingent heran, um zu verhindern, dass die Gaue um Cirta ungestraft verheert wurden. In der Mitte agierte der Kommandeur selbst mit Elitetruppen; er legte Kastelle und Befestigungen an geeigneten Plätzen an, trieb damit die Feinde in die Enge und bedrohte sie von allen Seiten. Denn in jeder Richtung, die sie einschlugen, stand irgendeine Abteilung römischer Soldaten, vorne, an den Flanken und oft auch im Rücken, und viele wurden auf diese Weise niedergemacht oder umzingelt. (3) Dann teilte er das gedrittelte Heer in mehrere Kampfgruppen auf und unterstellte sie Zenturionen, die ihre Fähigkeiten bereits unter Beweis gestellt hatten. Er zog die Truppen auch nicht, wie bis dahin üblich, am Ende des Sommers zurück oder quartierte sie in den Winterlagern der alten Provinz ein, sondern wie an der Schwelle des Krieges legte er über das Land verteilt Kastelle an und jagte durch leicht bewegliche Einheiten, die sich in der Wüste auskannten, Tacfarinas, der seine Zeltlager ständig wechselte, vor sich her. Erst nach der Gefangennahme von dessen Bruder zog er sich zurück, allerdings schneller, als es im Interesse der Bundesgenossen war, weil Gruppen zurückblieben, durch die der Krieg wieder aufflackern konnte. (4) Tiberius aber erklärte ihn für beendet und gestand Blaesus auch zu, dass er von seinen Legionen als Imperator begrüßt wurde, eine althergebrachte Ehre für Kommandeure, die, wenn sie eine herausragende Leistung für den Staat erbracht hatten, vom siegreichen Heer mit begeisterten Jubelrufen so bezeichnet wurden. Es gab gleichzeitig immer mehrere Imperatoren, keiner stand aber rangmäßig über den anderen. Einigen Männern billigte auch Augustus diesen Titel zu und Tiberius damals Blaesus zum letzten Mal. 75 (1) Es starben in diesem Jahr zwei hoch angesehene Männer: Asinius Saloninus, der sich dadurch auszeichnete, dass er Marcus Agrippa und Pollio Asinius als Großväter und Drusus als Bruder hatte und vom Caesar als Gatte für seine Enkelin vorgesehen war, und Capito Ateius, der, wie erwähnt, eine führende Stellung in der Bürgerschaft durch seine Fähigkeiten als Rechtsgelehrter erreicht hatte, wo doch sein Großvater nur Zenturio unter Sulla, sein Vater lediglich Prätor gewesen war. Den Konsulat hatte ihm Augustus vor der Zeit verliehen, damit er Labeo Antistius, der sich auf demselben Gebiet hervortat, durch die Würde dieses Amts überflügeln konnte. (2) Denn diese Zeit brachte gleichzeitig zwei Leuchten des Friedens hervor: Labeo aber zeichnete unbestechlicher Freimut aus, und er war deswegen in der Öffentlichkeit angesehener, die Willfährigkeit des Capito dagegen sahen die Machthaber lieber. Für den einen wirkte sich die Tatsache, dass er bei der Prätur stehen

262

Liber tertius

commendatio ex iniuria, huic, quod consulatum adeptus est, odium ex invidia oriebatur. 76 (1) Et Iunia sexagesimo quarto post Philippensem aciem anno supremum diem explevit, Catone avunculo genita, C. Cassii uxor, M. Bruti soror. testamentum eius multo apud vulgum rumore fuit, quia in magnis opibus, cum ferme cunctos proceres cum honore nominavisset, Caesarem omisit. (2) quod civiliter acceptum, neque prohibuit quo minus laudatione pro rostris ceterisque sollemnibus funus cohonestaretur. viginti clarissimarum familiarum imagines antelatae sunt, Manlii, Quinctii aliaque eiusdem nobilitatis nomina. sed praefulgebant Cassius atque Brutus, eo ipso quod effigies eorum non visebantur.

Buch III

263

blieb, als auf dieser ungerechten Behandlung beruhende Empfehlung aus, der andere zog sich, weil er den Konsulat erreichte, auf Neid beruhenden Hass zu. 76 (1) Auch Junia beschloss ihr Leben im 64. Jahr nach der Schlacht bei Philippi; sie war Catos Nichte, C. Cassius’ Ehefrau und M. Brutus’ Schwester. Ihr Testament sorgte für viel Gesprächsstoff beim Volk, weil sie trotz eines großen Vermögens und der ehrenvollen namentlichen Erwähnung fast aller Vornehmer den Caesar übergangen hatte. (2) Das wurde gelassen hingenommen, und es stellte auch kein Hindernis dafür dar, dass man das Leichenbegängnis mit einer Lobrede von der Rednerbühne herab und den übrigen Feierlichkeiten ehrenvoll beging. Zwanzig Ahnenbilder der berühmtesten Familien wurden vorangetragen, die Manlier, Quinctier und andere Namen von gleich hohem Adel. Aber alle überstrahlten Cassius und Brutus gerade deshalb, weil man ihre Bilder nicht zu sehen bekam.

Anmerkungen zu Buch I 1 2 3

4

5 6

7 8

9 10

11 12

Wiederholt vorkommende politische und gesellschaftliche Begriffe werden im Anhang erläutert. Gaius Caesar, besser bekannt unter seinem Beinamen Caligula (vgl. 1,41,2). Sex. Pompeius, der Sohn von Caesars Gegenspieler Cn. Pompeius Magnus, führte nach der Niederlage seines Vaters den Kampf weiter und verlor 36 v. Chr. in zwei Seeschlachten bei Mylae und Naulochos im Norden Siziliens gegen Oktavians Admiral M. Agrippa. Die Julianer sind die Anhänger C. Iulius Caesars; mit „Caesar“ ist jedoch hier (und öfter) sein Großneffe und Adoptivsohn Oktavian gemeint, der spätere Kaiser Augustus. Er war 31–23 neunmal Konsul und seit 37/36 ständig Volkstribun (vgl. 1,9,2; 3,56,1f.). Ursprünglich Ehrentitel berittener Adliger, seit Augustus von den Rittern den jungen Mitgliedern der kaiserlichen Familie verliehene Auszeichnung. Der spätere Kaiser Tiberius hieß Ti. Claudius Nero (vgl. 1,3,1.5,4); er führte den Beinamen Nero bis zu seiner Adoption durch Augustus. Die umgangssprachliche Beteuerungsformel herc(u)le (vgl. 1,17,4.26,2; 3,54,4; 4,40,6; 12,43,2; 14,43,3) wurde im Sinne von „Herkules ist mein Zeuge!“, „Gott sei’s geklagt!“, aber auch wie hier als Ausdruck des Erstaunens oder ironisierend („erstaunlicherweise“, „natürlich“, „selbstverständlich“, „tatsächlich“) gebraucht. Drusus, Tiberiusʼ Sohn mit seiner ersten Frau Vipsania Agrippina. Er war – nach Marcellus und vor Tiberius – mit Augustusʼ Tochter Julia verheiratet, die ihr Vater später wegen ihres unmoralischen Lebenswandels verbannte. Wahrscheinlich ist im Zusammenhang aber daran gedacht, dass der Kaiser seinem verdienten Kampfgefährten den über 20 Jahre jüngeren Marcellus vorzog (vgl. 14,53,3). Tiberius zog sich von 6 v. bis 2 n. Chr. nach Rhodos zurück, wohl weil er sich von seiner Frau Julia und deren Vater Augustus gedemütigt fühlte. Die Senatoren wurden offiziell als patres (et) conscripti „Väter und Beigeordnete“ angesprochen, wobei unter „Beigeordneten“ die der Überlieferung nach aus dem Ritterstand hinzugekommenen Mitglieder des Senats zu verstehen sind.

266 13

14

15

16 17 18 19 20

21

22 23 24 25 26 27

28

Anmerkungen zu Buch I

Alle Angehörigen einer solchen Kohorte hatten zusammen das römische Bürgerrecht erhalten, etwa weil sich die Einheit im Kampf besonders bewährt hatte. In den Anfängen des Prinzipats gab es bei Regierungswechseln kurzfristige Bestrebungen, die alte Staatsform der Republik de facto wieder einzuführen. M. Valerius Corvus hatte sich im 4. Jh. v. Chr. im Gallier- und Samnitenkrieg bewährt und war sechsmal, C. Marius zwischen 107 und 100 siebenmal, Augustus demnach dreizehnmal Konsul. Damit ist wie an anderen Stellen sein Adoptivvater C. Iulius Caesar gemeint. Vgl. 3,56,2. Im Jahre 44 v. Chr. liefen zwei Legionen des Konsuls M. Antonius zu Oktavian über. Im Jahre 43 v. Chr. fielen die beiden Konsuln A. Hirtius und C. Vibius Pansa im Bürgerkrieg bei Mutina (Modena). Nach dem im Jahre 39 v. Chr. geschlossenen Frieden zwischen Oktavian und Sex. Pompeius kam es bereits im nächsten Jahr wieder zum Krieg. Lepidus wurde 36 aus dem Triumvirat gedrängt. Der Vertrag von Brundisium wurde 40, der von Tarent 37 zwischen Oktavian und Antonius geschlossen. M. Lollius erlitt 16 v., Quinctilius Varus 9 n. Chr. eine schwere Niederlage gegen die Germanen. Terentius Varro Murena wurde 23, Egnatius Rufus 19 v. Chr. wegen Verschwörung hingerichtet. Iullus Antonius, der Sohn des Triumvirn, brach mit Augustusʼ Tochter Julia die Ehe und wurde verdächtigt, nach der Herrschaft zu streben. Tiberiusʼ Vater Tiberius Claudius Nero. Augustus nahm ihm die 19-jährige Livia weg, die mit ihrem zweiten Sohn Drusus schwanger war. Nämlich die Regierung zu übernehmen. Die Toga charakterisiert den römischen Bürger als ‚Zivilisten‘. Sie hatten offensichtlich die Übernahme der Herrschaft durch Tiberius beantragt. Livia wurde von ihrem Mann Augustus testamentarisch als Iulia Augusta in die gens Iulia aufgenommen (vgl. 1,8,1). Bis dahin bestätigten die Volksversammlungen, in denen nach Kurien, Zenturien oder Tribus abgestimmt wurde, formal die Vorschläge des Kaisers. Als Zeichen seiner Disziplinargewalt trug der Zenturio einen Stock aus Rebenholz (vitis), mit dem er die Soldaten bei Dienstvergehen schlagen durfte.

Anmerkungen zu Buch I

29 30

31 32

33 34 35

36 37 38

39 40 41

42 43 44

267

Damit wollte man wahrscheinlich der Mondgöttin zu Hilfe kommen, indem man den unbekannten Verursacher der Verfinsterung vertrieb. Drusus hatte für seine Siege über Germanen vom Senat den erblichen Beinamen Germanicus bekommen. Gemeint ist hier also nicht der offizielle Beiname einer Legion (z. B. Victrix Victrix), ), sondern die alltagssprachliche Bezeichnung „die germanischen Legionen“ (vgl. z. B. 1,22,1.46,1). Er war von Tiberius adoptiert worden und konnte deshalb damit rechnen, an die Herrschaft zu kommen. Die germanischen Ubier wurden im 1. Jh. v. Chr. von M. Agrippa auf das linke Rheinufer umgesiedelt. Ihr Hauptort, die civitas (oppidum, ara) Ubiorum, wurde 50 n. Chr. zu Ehren der dort geborenen Agrippina in Colonia Claudia Ara Agrippinensis (-ium) ‚Köln‘ umbenannt. Durch den Altar wurde Ubierstadt/-altar zum kultischen Mittelpunkt Untergermaniens. Wahrscheinlich meint T. das Rheinufer. Als Unterpfand für die Erfüllung der Versprechungen. Im Jahre 47 v. Chr., als sich die Legionen weigerten, ihm nach Africa zu folgen. – Quirites ist die Bezeichnung der römischen Bürger im Frieden, vor allem in der Volksversammlung (‚Zivilisten‘) im Gegensatz zu den Soldaten. Im Jahre 30 v. Chr. versuchten aus dem Osten nach Brundisium geschickte Veteranen zu meutern. Er spricht damit die 20. Legion pathetisch an. Die 1. Legion war mit Varus vernichtet und von Tiberius neu aufgestellt worden. Zur Bedeutung dieser Schneisen, des Marsches im agmen quadratum, insgesamt zu der von Germanicus gewählten Strategie vgl. Ch. Hänger, Die Welt im Kopf. Raumbilder und Strategie im Römischen Kaiserreich. Göttingen 2001, 209–223 (Hypomnemata 136). Gemeint ist Germanien westlich des Rheins; die ‚neue‘ Provinz gab es seit der Niederlage des Varus nicht mehr. Die Stelle ist verloren gegangen. Bei der nächsten Erwähnung im Jahr 47 (vgl. 11,16,3) ist er wohl schon tot. Halm und Nipperdey haben das überlieferte hominum in hostium geändert. Aber auch im folgenden Paragrafen spottet Arminius über die Vergöttlichung von Menschen. Darin wurden die Opfer lebend verbrannt oder zu Tode gefoltert (vgl. Goodyear z. St.). L. Domitius Ahenobarbus, der Großvater Kaiser Neros, wurde 6 v. Chr. Nachfolger des Tiberius in Germanien. Gemeint sind die Palisaden (vgl. 4,51,1).

268 45 46

47 48

49 50

Anmerkungen zu Buch I

Vgl. 1,41,2. Damit hätten sich Senatoren und Amtsträger verpflichtet, alle Verordnungen des Princeps (und seiner Vorgänger) nach bestem Gewissen anzuwenden. Der Eid wurde später routinemäßig an jedem 1. Januar abgelegt (vgl. 4,42,3; 13,11,1; 16,22,3). Die drei bis fünf reciperatores waren für zivilrechtliche Entschädigungsverfahren zuständig. Als Sibyllen wurden von einem Gott inspirierte Seherinnen an verschiedenen, vor allem kleinasiatischen Orten bezeichnet. Kanonisch wurde die Zehnzahl, die berühmteste Sibylle war die von Cumae, die dem römischen König Tarquinius Priscus ihre Bücher (libri Sibyllini) verkauft haben soll. Sie waren geheim, enthielten Anweisungen für die staatlichen Sühnerituale und durften nur von den Fünfzehnmännern auf Senatsbeschluss eingesehen werden. Die literarisch überlieferten oracula Sibyllina haben damit nichts zu tun; sie sind aus späterer Zeit stammende vaticinia ex eventu eventu.. Die Steuer hatten die Triumvirn im Jahre 43 v. Chr. zur Finanzierung ihrer militärischen Unternehmungen eingeführt. Vgl. 6,27,2.

Anmerkungen zu Buch II 1 2

3 4 5 6 7 8

9 10 11

12

13

Die Parther hatten Crassus 53 v. Chr. bei Karrhae vernichtend geschlagen und getötet; M. Antonius unterlag ihnen 36 v. Chr. Augustusʼ Enkel Gaius Caesar wurde 1 v. Chr. zur Ordnung der politischen Verhältnisse in den Osten geschickt; 4 n. Chr. starb er auf dem Rückweg nach Rom (vgl. 1,3,3). Vgl. 2,68. Drusus hatte einen Teil des nördlichen Rheinarms in das heutige IJsselmeer umgeleitet. Der Sachverhalt bleibt rätselhaft, weil der überlieferte Text mehrere Fehler enthält, die bisher nicht befriedigend verbessert werden konnten. Herkules wird gewöhnlich mit dem germanischen Gott Donar gleichgesetzt. Der Triumphator trug bei seinem Einzug in Rom einen Lorbeerkranz und weihte ihn Jupiter auf dem Kapitol. Als Angeklagter zeigte man sich in der Öffentlichkeit wie bei einem Trauerfall in dunkler oder schmutziger Kleidung, um das Mitgefühl der Mitmenschen zu erregen. Er verwaltete unter anderem die staatlichen Güter. Die Lücke wird gewöhnlich zu Piso oder Plancus ergänzt; es sind aber auch andere Namen denkbar (Goodyear z. St.). Der Tarpejische Felsen war ein steiler Abhang am Kapitolinischen Hügel, von dem Hochverräter hinabgestürzt wurden. Benannt war er nach Tarpeia, von der die Burg von Rom an die Sabiner verraten worden war. – Auf dem campus Esquilinus im Osten der Stadt wurden Verbrecher nach einem Trompetensignal ausgepeitscht und enthauptet. Gedacht ist hier an einen Hauptvertreter römischer Zucht und Einfachheit, C. Fabricius Luscinus, der um 280 v. Chr. Konsul und Zensor war. Ihm werden die in Prozessen verurteilten Brüder L. Cornelius Scipio Asiagenus und P. Cornelius Scipio Africanus (um 200 v. Chr.), vor allem aber der Freund griechischer Bildung P. Cornelius Scipio Africanus minor gegenübergestellt, der 146 v. Chr. Karthago zerstörte. Gemeint sind damit die den Rittern vorbehaltenen vorderen 14 Reihen im Theater (vgl. 2,83,4; 6,3,1; 13,54,3), das mit der Zugehörigkeit zum Ritter- oder Senatorenstand verbundene gesellschaftliche Ansehen und die Möglichkeit, Ehrenämter zu bekleiden.

270 14

15

16 17 18 19 20

21

22

23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Anmerkungen zu Buch II

Der Apollontempel auf dem Palatin enthielt eine von Augustus gestiftete Bibliothek, in der die Porträts berühmter Redner aufgestellt waren; in ihr tagte der Senat des Öfteren. Sein Vater Q. Hortensius hatte einen Teil seines Vermögens durchgebracht und den Rest nach der Schlacht von Philippi eingebüßt, wo er aufseiten der Verlierer Brutus und Cassius stand. Der ältere Drusus starb dreißigjährig 9 v. Chr., Marcellus war bei seinem Tod im Jahre 23 v. Chr. erst neunzehn. Vgl. 1,78,2. Vgl. 2,4. Die Anhänger des Pompeius. Tatsächlich bereitete Tiberius 6 n. Chr. einen Zangenangriff von Süden und Westen auf Maroboduusʼ Reich vor; er musste dann aber den Aufstand in Pannonien und Dalmatien niederschlagen. Zu den Klischees über die Nordvölker gehört die Vorstellung von ihrem unerschöpflichen Menschenreichtum und der ungeheuren Größe ihrer Heere, vgl. etwa dieselbe Feststellung zum Aufgebot der Britannier in 14,34,2 quanta non alias multitudo multitudo.. Diese allgemein akzeptierte Verbesserung des verderbt überlieferten Namens – im Mediceus steht aletus – durch Mommsen stellt Goodyear infrage. Vgl. 3,25,1. Die lex Papia Poppaea Poppaea,, vgl. 3,25,1.28,3f. Damit umschreibt T. die Einfahrt in das Schwarze Meer ((Pontus Pontus). ). Auf Samothrake wurden die Kabiren als Fruchtbarkeitsgötter und Beschützer der Seeleute in Mysterien verehrt. Von Ilion/Troja aus war Äneas, der sagenhafte Stammvater des römischen Volkes, nach Italien aufgebrochen. Athen war bekannt dafür, dass man sein Bürgerrecht leicht kaufen konnte. 87/86 v. Chr. im Krieg gegen Mithridates von Pontos und 31 v. Chr. in der Seeschlacht von Aktium. Der berühmte oberste Gerichtshof in Athen, der auf dem Areopag, dem „Areshügel“, tagte. Vgl. 2,4,3. Die Stadt war nach dem Reichsgründer Artaxias (2. Jh. v. Chr.) benannt, an den der neue König anknüpfte. Bei Amtshandlungen wurde Germanicus von einem aus führenden Persönlichkeiten bestehenden consilium unterstützt. Vgl. 2,1,2.

Anmerkungen zu Buch II

35 36

37

38

39

40 41 42 43 44

45 46

47

271

Nach Livius 29,19,11 im Jahr 205 v. Chr. „Nicht ganz genau bestimmbar und wohl auch nicht irgendwie auf eine bestimmte Kategorie abgegrenzt ist das Prädikat illustris illustris,, das besonders häufig bei Tacitus, aber auch sonst und schon in der älteren Zeit Männern ritterlichen Ranges gegeben wird“ (A. Stein, Der römische Ritterstand. Ein Beitrag zur Sozial- und Personengeschichte des römischen Reiches, München 1927, 101). Die Griechen glaubten, die Kolossalstatue Amenophisʼ III. in Medinet Habu stelle den sagenhaften Äthiopierkönig Memnon dar. Mit den Seen ist vor allem der sogenannte Moerissee südwestlich von Memphis gemeint. Die Stromengen sind die Nilkatarakte bei Elephantine. Dieser für die Datierung der Annalen wichtige Satz ist für uns leider nicht eindeutig, da rubrum mare entweder das heutige Rote Meer oder den Indischen Ozean meinen kann. Es spricht vieles dafür, dass er um 116, dem Jahr der größten Ausdehnung des Römischen Reichs, geschrieben wurde. Neben den militärischen Festungsanlagen entwickelten sich häufig zivile Siedlungen. In der Spätantike nimmt castellum sogar die Bedeutungen „kleiner Ort, Weiler, Flecken“ an. M. Aemilius Lepidus war 187 und 175 v. Chr. Konsul und soll Vormund der Söhne Ptolemaiosʼ V. Epiphanes gewesen sein. Vgl. 2,58,2. Als evocati wurden Soldaten bezeichnet, die sich nach dem Ende ihrer Dienstzeit nochmals freiwillig anwerben ließen. Die Anklage musste vom zuständigen Prätor zugelassen werden (vgl. 2,79,1). In der Regel hatten beide Parteien am 10. Tag nach Anklageerhebung vor Gericht zu erscheinen. Pisos Hohn liegt darin, dass er zu erkennen gibt, er rechne nicht einmal mit einem Verfahren vor dem zuständigen Prätor, während Germanicus und seine Freunde selbstverständlich von einer Verhandlung vor dem Senat ausgegangen waren (vgl. 2,71,2; 3,12,7). Es kann auch gemeint sein, „Erde für einen Damm (zum Auffüllen des Grabens) zu holen“. Tiberiusʼ Bruder Drusus und dessen Sohn Germanicus, der von Tiberius adoptiert worden war. Sueton, Claudius 1,4, berichtet von dem Gerücht, Drusus sei von Augustus vergiftet worden. Die Salier, eine angesehene Priesterschaft des Mars, zogen zweimal im Jahr durch Rom, führten dabei einen Kriegstanz auf und sangen ein Lied, dessen altertümlicher Text bereits in der Antike nicht mehr verstanden wurde.

272 48 49

50 51

Anmerkungen zu Buch II

Vgl. 2,37,2. Die den Rittern vorbehaltenen vorderen 14 Sitzreihen waren anscheinend in zwei keilförmige Blöcke unterteilt, die als „die Alten“ bzw. „die Jungen“ bezeichnet wurden. – Am 15. Juli fand jedes Jahr die Parade der Ritter statt. Tiberius Gemellus („Zwilling“) und Germanicus (vgl. 4,15,1). stuprum bezeichnet „an illicit sexual act“ (J. N. Adams, The Latin sexual vocabulary, London ²1987, 201).

Anmerkungen zu Buch III 1

2 3

4 5

6

7 8

9 10

11

12

Die Ritter trugen bei offiziellen Anlässen die trabea trabea,, einen kurzen purpurfarbenen Mantel, der wahrscheinlich mit (scharlachfarbenen?) Streifen durchsetzt war (vgl. trabs der Balken). Es scheint sich um eine Art Staatsanzeiger gehandelt zu haben. Caesar erreichte die Nachricht vom Tod seiner Tochter Julia 54 v. Chr. in Britannien. Die Söhne des M. Agrippa und der Augustustochter Julia, Gaius und Lucius Caesar, starben 23- bzw. 18-jährig in den Jahren 4 bzw. 2 n. Chr. (vgl. 1,3,3). Am Mausoleum des Augustus (vgl. 3,4,1). Die drei um den Tisch stehenden und jeweils drei Plätze bietenden Sofas eines Triclinium bezeichnete man als imus imus,, medius und summus lectus, lectus, die jeweils wieder einen imus imus,, medius und summus locus boten. Gastgeber und ranghöchster Gast lagen gewöhnlich nebeneinander, der eine auf dem summus in imo, imo, der andere auf dem Ehrenplatz „darüber“, dem imus in medio medio.. Die Lücke im Text wird von Heubner im Anschluss an Halm mit senatum crebrisque ergänzt. Aber es spricht einiges dafür, dass Tiberius dessen Bruder Cn. Piso befragte, der dem Senat angehörte (Woodman/Martin z. St. und W. Eck/A. Caballos/F. Fernández, Das senatus consultum de Cn. Pisone patre, München 1996, Anm. 95 und 368). M. Piso hatte als Sohn eines Senators das Recht, die Toga mit dem breiten Purpurstreifen zu tragen; dieses sollte er verlieren. Bezug genommen wird auf den Bürgerkrieg zwischen M. Antonius und dem späteren Kaiser Augustus und auf den Ehebruch zwischen ihren beiden Kindern, Iullus Antonius und Julia (vgl. 1,10,4 und 3,24,2). Vgl. 1,75,2 und 2,48,1f. Mit den Auspizien ist das Kommando ((imperium imperium)) gemeint, das Drusus 3,11,1 zufolge abgelegt hatte, um Rom betreten zu können. Wenn er nachträglich im „kleinen Triumph“ einziehen wollte, musste er die Hauptstadt verlassen und die Auspizien wiederholen. Vipsania stammte aus Agrippas erster Ehe. Mit „allen anderen“ sind die fünf Kinder aus seiner dritten Ehe mit der Augustustochter Julia gemeint: Agrippa Postumus, die ältere Agrippina, C. und L. Caesar und die jüngere Julia. Hier irrt T.: Tacfarinas war bereits im Jahre 17 geschlagen worden.

274 13

14 15

16

17

18 19 20 21

22 23 24

Anmerkungen zu Buch III

Die aus Eichenlaub bestehende corona civica oder quercea wurde als hohe Auszeichnung für die Rettung eines Mitbürgers aus Lebensgefahr im Kampf verliehen. Vgl. das Stichwort „Exil“ im Anhang. Die ältere Julia wurde 2 v., die jüngere 8 n. Chr. wie ihr Liebhaber Sempronius Gracchus (vgl. 1,53,3f.) verbannt. Iullus Antonius musste Selbstmord begehen (vgl. 1,10,4; 3,18,1). Mit den „julischen Gesetzesanträgen“ spielt T. auf die lex Iulia de maritandis ordinibus an, durch die Augustus im Jahre 18 v. Chr. standeswidrige Ehen verboten und Sanktionen gegen Unverheiratete und für Ehebruch festgelegt hatte. – Das von den Konsuln des Jahres 9 n. Chr., M. Papius Mutilus und Q. Poppaeus Secundus, eingebrachte Gesetz schloss die Ehegesetzgebung des Augustus ab. Ihm zufolge sollten bei der Vergabe von Ämtern, vor allem von Provinzstatthalterschaften, Verheiratete und Väter (nach der Kinderzahl) bevorzugt werden. Nur Verheiratete waren erbberechtigt, Kinderlose erhielten die Hälfte einer Erbschaft. Das übrige Vermögen fiel an den Staat (vgl. 3,28,3). T. meint hier die Auseinandersetzungen zwischen Patriziern ((patres patres)) und Plebejern ((populus populus)) in den Jahren 467–446. Die im Folgenden erwähnten Zwölf Tafeln, das erste römische ‚Gesetzbuch‘, wurden im Verlauf dieses Prozesses 451/450 durch die Kommission der Zehnmänner geschaffen (vgl. 1,1,1). Ihre Hoffnungen auf das Bürgerrecht wurden durch Einsprüche der Volkstribune zunichtegemacht. Im Jahre 52 v. Chr. Er erließ Gesetze de ambitu (gegen unlauteren Wahlkampf) und de vi (gegen Gewaltanwendung). Augustus war 28 v. Chr. zum sechsten Mal Konsul. Die 20 Jahre rechnen also von Pompeius’ Niederlage in der Schlacht von Pharsalos ab. Nero war wohl 6 n. Chr. geboren und dürfte damit etwa 15 Jahre alt gewesen sein. – Unter den „Zwanzigmännern“ waren mehrere magistratus minores mit einfacheren städtischen Ordnungsaufgaben zusammengefasst. Ihre Wahrnehmung war eine Voraussetzung für den Eintritt in die Ämterlaufbahn, die mit der Quästur begann (Mindestalter: 25 Jahre). Drusus, Sohn des Claudius und der Plautia Urgulanilla, starb wenige Tage nach der Verlobung. Die Lanze war – wie bei uns der Hammer – das Symbol für Versteigerungen; sie wurde vor Ort in den Boden gesteckt. Dieses Gesetz – der Plural ist rhetorisch – wurde 215 v. Chr., also während des 2. Punischen Kriegs, vom Volkstribun C. Oppius gegen den

Anmerkungen zu Buch III

25 26

27 28

29

30

31 32 33

34

275

übermäßigen Luxus von Frauen eingebracht, aber schon 195 wieder aufgehoben. Da Frauen grundsätzlich als willens- und charakterschwach galten, sind mit unius aut alterius imbecillum animum wohl die Männer gemeint. Der überlieferte Text haut iustus ergibt keinen Sinn. Woodman/Martin halten ihn für nicht heilbar; Heubner hat sich unter den zahlreichen Verbesserungsvorschlägen (z. B. haud iustus Jac. Gronovius: haud iutus Halm: aut iutus Shackleton Bailey) für J. F. Gronovius’ Vermutung adiutus entschieden. Vgl. 2,64–67. Augustodunum (Autun) war neben Massilia (Marseille) der bekannteste Studienort in Gallien. – Unter den „freien Künsten“ sind die Künste und Wissenschaften zu verstehen, mit denen sich ein frei geborener Mann beschäftigte: vor allem Poesie, Beredsamkeit, Philosophie, Geschichte. In der Spätantike verfestigten sie sich zum Kanon der septem artes liberales:: Dialektik, Grammatik, Rhetorik im sog. trivium rales trivium,, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie im quadrivium quadrivium.. Der Überlieferung und üblichen Textgestaltung nach rechtfertigen Tiberius’ römische Kritiker Sacrovirs Aufstand gegen Rom mit extitisse … mutari.. Die Kommentatoren verstehen unter cruentae epistulae Schreimutari ben des Tiberius an den Senat, in denen er Mitglieder des Hochverrats bezichtigte; da es bis dahin allenfalls ein solches Schreiben gegeben hatte (3,38,2), sieht man in der Passage einen Anachronismus oder eine rhetorische Übertreibung. Für ausgeschlossen halte ich, dass ein römischer Senator einen aufständischen Provinzialen mit dem Argument verteidigte, „gegen den jämmerlichen Frieden (den die römische Herrschaft mit sich brachte!) sei sogar der Krieg ein guter Tausch“, und vermute deshalb, dass ein Wort wie iactantem ausgefallen ist. Dass hier ein Barbar spricht, bestätigt indirekt Goodyear z. St.: „The people are behaving like the barbarians at 4.23.1 servilia imperia bello mutaverant mutaverant.“ .“ Die Absurdität des Antrags wird dadurch unterstrichen, dass ein Römer bei der Formulierung ovans e Campania die Bedeutung „im kleinen Triumph über Kampanien“ mithören konnte. Lollius begleitete C. Caesar 1 v. Chr. als comes et rector in den Osten. Weil er sich bestechen ließ, kam es zum Bruch zwischen beiden. Vgl. 3,22f. Der Denunziant unterstellte dem Verfasser, er habe Überlegungen zum baldigen Tod eines Mitglieds der kaiserlichen Familie angestellt; das galt als Hochverrat (vgl. 16,30–33). Von 31 v. bis 68/69 n. Chr.

276 35

36

37 38 39

40

41

42 43 44

Anmerkungen zu Buch III

Als homo novus bezeichnet T. 4,15,1f. Lucilius Longus, der es als Erster seines Geschlechts bis zum Konsul brachte. An unserer Stelle scheinen allgemein Männer aus bisher unbekannten Familien gemeint zu sein – von denen T. selbst einer war? Africa und Asia waren die beiden wichtigsten, auch wegen ihrer Finanzkraft heiß begehrten Provinzen (vgl. 3,32,2). Der Prokonsulat über sie stellte den Höhepunkt einer senatorischen Karriere dar; er wurde nur Personen verliehen, die sich bereits mehrfach bewährt hatten (vgl. A. Städele, Kaiserliche Personalpolitik, in: Anregung 38 [1992] 363–366). Er hatte 87 v. Chr. Selbstmord begangen. Das Recht griechischer Tempel und Heiligtümer, verfolgten Personen Schutz zu gewähren, umfasste auch deren Eigentum. Das Priesterkollegium der septemviri epulones war für die Ausrichtung aller zu Ehren von Göttern veranstalteten öffentlichen Festmähler zuständig. Dieses aus 20 Priestern bestehende Kollegium war für völkerrechtliche Beziehungen zuständig, hatte aber seine Bedeutung weitgehend verloren. Cotta wurde 138 v. Chr. von dem mit ihm verfeindeten Scipio wegen Erpressung angeklagt, aber freigesprochen. Galba, der wie Cotta 144 Konsul war, erreichte seinen Freispruch in einem Verfahren wegen Erpressung (und Brutalität?) durch einen bis dahin einmaligen Appell an das Mitleid des Volks. Rutilius wurde 93/92 wegen Erpressung verurteilt; er zog sich daraufhin nach Smyrna zurück, in eine Stadt der Provinz, die er angeblich ausgeplündert hatte, erhielt dort das Bürgerrecht (vgl. 4,43,5) und galt späteren Zeiten als Muster der Rechtschaffenheit. Vgl. 2,30,3. Augustus’ Mutter gehörte ebenfalls der gens Atia an. L. Aemilius Paulus hatte als Konsul 50 v. Chr. die alte basilica Fulvia wiederhergestellt und später an ihrer Stelle eine neue errichtet, die nach ihm als basilica Pauli bezeichnet wurde.

Über die Reihe Edition Antike Herausgegeben von Thomas Baier, Kai Brodersen und Martin Hose Die Edition Antike bietet zweisprachige Leseausgaben wichtiger Texte der antiken Literatur mit modernen Übersetzungen und in einer zeitgemäßen Ausstattung. Autoren und Werke werden eingangs kurz vorgestellt. Ein knapper Sachkommentar am Ende des Bandes erleichtert die Lektüre und das Verständnis der Texte. Thomas Baier ist Professor für Klassische Philologie (Latinistik) an der Universität Würzburg. Kai Brodersen ist Professor für Alte Geschichte und Präsident der Universität Erfurt. Martin Hose ist Professor für Klassische Philologie (Gräzistik) an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Über den Inhalt Cornelius Tacitus (ca. 55–120 n. Chr.) ist der bedeutendste antike Geschichtsschreiber. Die Annalen, sein letztes und wichtigstes Werk, schildern die römische Geschichte vom Tod des Augustus (14 n. Chr.) bis zur Regierungszeit Neros (66 n. Chr.) und brechen dann unvermittelt ab. Die Herrschaft der Kaiser Tiberius, Claudius und Nero wird als Niedergang des Prinzipats dargestellt. Leidenschaftlich verurteilt Tacitus den Sittenverfall der Römer und die Zügellosigkeit der Kaiser. Charakteristisch ist die Verbindung scharfer Analyse und feiner psychologischer Zeichnung der Personen mit hoher sprachlicher Kunst. Der erste Band dieser Ausgabe enthält die Bücher I bis III der Annalen. Dr. Alfons Städele war Lateinlehrer sowie Ministerialrat im Bayerischen Minis terium für Unterricht und Kultus und hat bereits mehrere klassische Autoren übersetzt.