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German Pages 355 [364] Year 2007
B U C H R E I H E DER ANGLIA ZEITSCHRIFT FÜR ENGLISCHE P H I L O L O G I E Herausgegeben von Stephan Kohl, Lucia Kornexl, Martin Middeke, Hans Sauer und Hubert Zapf 39. Band
INGO
BERENSMEYER
»Angles of Contingency« Literarische Kultur im England des siebzehnten Jahrhunderts
MAX NIEMEYER VERLAG 2007
TÜBINGEN
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
In memoriam Luise W o l t e r 10.02.1907-22.06.198 3
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-42139-4
ISSN 0340-5435
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2007 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG
http://www. niemeyer.
de
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Inhalt
Abbildungsverzeichnis Vorbemerkungen Einleitung I.
VII IX 1
Die Republic of Letters·. Zum Verständnis literarischer Kultur im 17. Jahrhundert
15
1. Vorspiel auf der Themse. Eine Seeschlacht mit Zuhörern 2. Historische Ausgangslage 3. Theoretische Grundlagen 3.1 Kommunikation 3.2 Kontingenz 3.3 Kontextur 3.4 Literarische Kultur in historischer Sicht
15 22 35 35 41 45 48
II. Wissenskontingenz und Kontingenzwissen: Robert Burton und Sir Thomas Browne 1. "Divided and Distinguished Worlds". Kulturtechniken frühneuzeitlichen Wissens und ihre literarische Umsetzung . . . . 2. Die Lektüre als Schauplatz der Schrift. Inszenierte Epistemologie in Burtons Anatomy of Melancholy... 3. "New Faces ofThings". Kontingenzwissen und abstrakte Bilder bei Sir Thomas Browne 4. Universalismus und Kontingenz zwischen Späthumanismus und Neoklassizismus III. Visualität und Kontingenz: Zur literarischen Epistemologie des frühen Neoklassizismus 1. Literarische Epistemologie. Interdependenzen zwischen Empirismus und Neoklassizismus 2. "Not Truth, But Image, Maketh Passion". Optik und die Macht des Lesens bei Milton und Hobbes
55 55 63 80 110 115 115 124 V
3. Strategische Visualität, poetische Repräsentation und soziale Mimesis in Davenants Preface to Gondibert (1650). . 4. Visualität und Imagination zwischen Naturwissenschaft und Fiktion. Margaret Cavendishs Observations upon Experimental Philosophy und The Blazing World (1666) 5. Literarische Weitentwiirfe. Zusammenfassung und Ausblick . . . IV. Zwischen Natur und civitas: Literatur als Bürgerkrieg 1. 'State of Nature' und Naturrecht im kulturellen Imaginären des 17. Jahrhunderts 2. Worte als Waffen. Rhetorik und Politik bei Hobbes und Milton 3. Pastorale Naturdarstellung als politische Allegorie. Der Kryptoroyalismus des Compleat Angler (1653—1676) 4. Zwischen Astraa Redux und Paradise Lost. Kulturelles Gedächtnis und Gegengedächtnis in der Restaurationszeit 5. Kontingenz, Ironie, Sexualität. Natur and Gesetz in Absalom and Achitophel (1681) 6. Räume der Distinktion. Zusammenfassung und Ausblick V. Innerlichkeit und Öffentlichkeit: Neoklassische Perspektiven 1. Innerlichkeit, Wahrscheinlichkeit und 'wit' 2. Die ,Rhetorik der Liebe'. Innerlichkeit, Roman und Lektüre in Aphra Behns Love-Letters Between a Nobleman and His Sister {1684-87) 3. "Oeconomy of Face". Die unerträgliche Höflichkeit des Seins in Congreves The Way of the World (1700) 4. Kultivierte Kontingenz und normativer Diskurs
151
163 174 177 177 186 201 213 234 252 257 257
264 283 298
Resümee
307
Literatur
311
1. Primärquellen 2. Sekundärliteratur 3. Überblicksdarstellungen
311 314 336
Namenregister
337
Sachregister
344
VI
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1. Initiale G, von der ersten Seite von "Democritus Junior to the Reader" in Robert Bur tons Anatomy of Melancholy von 1628. . .
66
Abb. 2. Kupferstich auf dem Titelblatt der Ausgabe der Anatomy of Melancholy von 1632 (Ausschnitt)
69
Abb. 3. William Marshall, Frontispiz zu Eikon Basilike (London 1649) .
125
Abb. 4. Eight Bookes / Of the / PELOPONNESIAN WARRE / Written by / THVCYDIDES [...] /Interpreted/[...] / By Thomas Hobbes (London 1629). Titelseite 192 Abb. 5. Die Rhetorik als Hercules Gallicus. Holzschnitt aus Vincenzo Cartari, Imagini, 1647
200
VII
Vorbemerkungen Das vorliegende Buch stellt eine (leicht) gekürzte und für die Veröffentlichung (geringfügig) überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift dar, die vom Fachbereich 3 der Universität Siegen im Jahre 2005 als schriftliche Habilitationsleistung anerkannt wurde. Den folgenden Personen und Institutionen bin ich zu besonderem Dank verpflichtet: meinen Gutachtern, Prof. Dr. K. Ludwig Pfeiffer (Siegen/Bremen), Prof. Dr. Christian W. Thomsen (Siegen) und Prof. Dr. Ansgar Nünning (Gießen); Prof. Dr. Klaus Vondung und den Kollegen im Forschungsprojekt „Mystik und Moderne" an der Universität Siegen; dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) für ein Forschungsstipendium, das dieser Arbeit und ihrem Verfasser wesentliche Anstöße gegeben hat. Dem Department of English and Comparative Literature an der University of California, Irvine, insbesondere J. Hillis Miller, Richard Kroll und Victoria Silver danke ich für ihre nicht nur akademische Gastfreundschaft. Professor Alec Stone Sweet (Yale) und Mag. Dr. Christian Kraler (Innsbruck) haben, zum Teil ohne es zu ahnen, zur Fertigstellung der Arbeit entscheidend beigetragen. Prof. Dr. Stephan Kohl (Würzburg), Prof. Dr. Martin Middeke (Augsburg), Prof. Dr. Hans Ulrich Seeber (Stuttgart) und Prof. Dr. Hubert Zapf (Augsburg) danke ich für die Aufnahme des Bandes in die Buchreihe der Anglia. Wichtige Anregungen verdanke ich den Teilnehmern der Tagungen "Structuring Thought through the Ages" an der University of Washington, Seattle (März 2003), "In(ter)discipline: New Languages for Criticism" an der University of Cambridge (September 2003) und "Identities and Alterities" an der Amsterdam School for Cultural Analysis (März 2004); nicht zuletzt meiner Kollegin Dr. Nicola Glaubitz und den Studierenden unseres gemeinsamen Hauptseminars zum Thema "Politics and Literary Culture in England, 1650-1700" an der Universität Siegen im Wintersemester 2003/04. Meiner Familie danke ich für die mehr als großzügige Einrichtung notwendiger ,Spielräume des auktorialen Diskurses'. Frühere Fassungen von Teilen der Kapitel II.2, II.3 und IV.4 sind in Aufsatzform in englischer Sprache erschienen: "'Reader Adew: Literary Contingency and Authorial Negativity in The Anatomy of Melancholy", Anglistentag 2005 Bamberg Proceedings (Trier: WVT, 2006), 649-60; "Rhetoric, Religion, and Politics in Sir Thomas Browne's Religio Medici", Studies in English Literature 1500—1900 46.1 (Winter 2006), 113-32, © Johns Hopkins University Press; "The Art of Oblivion: Politics of Remembering and Forgetting in Restoration England", European Journal of English Studies 10.1 (2006), 81-96, © Taylor & Francis. IX
Zur Datierung In England wird bis 1752 der julianische Kalender verwendet ("old style"), der dem im übrigen Westeuropa geltenden gregorianischen Kalender ("new style") um zehn Tage ,hinterherhinkt', so daß der 1. Januar in England nach dem gregorianischen System bereits der 11. Januar ist. Das neue Jahr beginnt am Lady Day, dem 25. März, so daß ζ. B. die Angabe „Januar 1659" im alten Stil als „Januar 1660" im neuen Stil zu lesen ist. Soweit überprüfbar, folgen Jahresangaben in dieser Arbeit dem neuen Stil; Datumsangaben bleiben unverändert.
Z u m Problem des grammatischen und natürlichen Geschlechts Im frühen 17. Jahrhundert gelten Autoren, Leser, Redner und Bürger noch als notwendig männlichen Geschlechts. Das ändert sich erst im Verlauf des Jahrhunderts durch das Auftreten von Autorinnen und Leserinnen auf einem sich entwickelnden Buchmarkt. Wo es anachronistisch wäre, von „Autorinnen und Autoren" zu sprechen, wird in der vorliegenden Arbeit auf solche Inklusionsformeln verzichtet. Wenn in theoretischen Zusammenhängen vom „dem Leser" oder „dem Zuschauer" die Rede ist, sind hingegen auch potentielle oder reale Leserinnen und Zuschauerinnen mitgemeint.
Zur Zitierweise Primärtexte werden, soweit möglich, nach wissenschaftlichen Editionen zitiert, die mit den orthographischen Eigenheiten frühneuzeitlicher Texte behutsam umgehen. Vor 1900 veröffentlichte Quellen haben, sofern nicht anders angegeben, den Publikationsort London. Wo es nützlich und wünschenswert erscheint (v. a. bei philosophischen Schriften, die in mehreren Ausgaben greifbar sind), werden zuerst Teil und Kapitel bzw. Abschnitt angegeben, gefolgt von der Seitenzahl der verwendeten Ausgabe. Kursivierungen in Zitaten verstehen sich als original. Übersetzungen ins Deutsche stammen i. d. R. vom Verfasser. Um die Dokumentation des Materials in den Fußnoten überschaubar zu halten, werden die wichtigsten verwendeten Ausgaben im folgenden aufgelistet und danach nur noch mit den hier aufgeführten Kurztiteln oder Siglen zitiert. Eine vollständige Bibliographie findet sich am Ende des Buches. Browne: Works : The Works of Sir Thomas Browne, hg. Geoffrey Keynes. London: Faber and Faber, 1964. X
Burton: AM: The Anatomy of Melancholy, hg. Thomas C. Faulkner/Nicolas K. Kiessling/Rhonda L. Blair, Kommentar von J. B. Bamborough unter Mitarbeit von Martin Dodsworth, 6 Bde. Oxford: Clarendon Press, 1989-2000. Übersetzungen von Burtons lateinischen Passagen sind dem Kommentar entnommen und werden in eckigen Klammern eingefugt. Dryden: Works·. The Works of John Dryden, hg. Η. T. Swedenberg Jr. et al. 20 Bde. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press, 1956—2002. Milton: Complete Prose: Complete Prose Works of John Milton, hg. Douglas Bush et al. New Haven: Yale University Press; London: Oxford University Press, 1959-82. Paradise Lost und Paradise Regained werden zitiert mit Angabe der Buch- und Zeilenzahl nach Complete Poems and Major Prose, hg. Merritt Y. Hughes. New York: Odyssey Press, 1957. Shakespeare: Alle Shakespeare-Zitate (bei Theaterstücken mit Angabe der Akt-, Szenen- und Zeilenzahl) folgen der Ausgabe The Norton Shakespeare. Basedon the Oxford Edition, hg. Stephen Greenblatt, Walter Cohen, Jean E. Howard, Katharine Eisaman Maus (New York/London: Norton, 1997).
XI
... humbly pursuing that infallible perpetuity, unto which all others must diminish their diameters, and be poorly seen in Angles of contingency. Sir Thomas Browne*
*
Hydriotaphia 124
Einleitung
Aus der Perspektive der Gegenwart erscheint das England des 17. Jahrhunderts als fremde, verlorene Welt,1 zu der es nur mit Hilfe von Quellen und deren Deutungen einen stets unvollkommenen und fragmentarischen Zugang geben kann. Seine Sprachen und Kommunikationsweisen, Vorlieben und Abneigungen, Aufmerksamkeitszonen und Unbestimmtheitsstellen sind nicht die unseren. Grundlegend anders - trotz mitunter suggestiver Ähnlichkeiten - sind nicht zuletzt die materiellen Bedingungen des Medien- und Zeichengebrauchs. Selbst wenn wir glauben, in der frühen Neuzeit den begrifflichen oder materiellen Ursprung moderner Themen, Werte und Obsessionen ausmachen zu können (z.B. das Theater Shakespeares, die politische Ökonomie oder die Oper), ist es doch ein anderes, diese Sachverhalte in ihren eigenen ursprünglichen Zusammenhängen darzustellen. Hierzu bedarf es eines intellektuellen Nachvollzugs des geschichtlichen Bedingungsgefüges, eines Verständnisses der spezifischen historischen Materialität und Medialität von Kommunikation. 2 Mit anderen Worten: Theorie ist unausweichlich.3 Dann zeigt sich, daß .literarische Kultur' im 17- Jahrhundert nicht deckungsgleich sein kann mit einem erst später fixierten Literaturbegriff. Hauptziel dieses Buches ist die Rekonstruktion eines proto-literarischen Diskursfeldes im England des 17. Jahrhunderts, innerhalb dessen Literarisches entsteht und wirkt.4 Davon ausgehend ist ein historischer Begriff von literarischer Kultur zu entwickeln. Dieser zunächst in Anlehnung an literatursoziologische und diskursanalytische Modelle mit Inhalt zu füllende Begriff stellt zum einen auf die gesellschaftlich-politische Bedeutung von Texten im 17. Jahrhundert ab, auf ihren Weltkontakt, ihre Sättigung mit Wirklichkeit in einer Dynamik der Anreicherung und wechselnden Perspektivierung; zum anderen auf ihre interund intratextuelle Vernetzung, ihren Eigenkontakt. Was die Texte durchzieht,
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Vgl. Laslett 1973. Siehe Gumbrecht/Pfeiffer 1988; Pfeiffer 2004, 9. "Theory is inescapable": Crane 1953, xiii. Im Unterschied zu Pfeiffer (1999, 27, 537; 2002a) wende ich diesen Begriff in eingeschränkter Bedeutung auf Texte an, denen (rückblickend) als .literarisch' interpretierte Eigenschaften zugeschrieben werden. Vgl. Stegbauer et al. 2004b, 12f.: ...Literarizität' könnte [...] noch vor bestimmten historischen Formen ihrer Institutionalisierung als .Literatur' über eine besondere Komplexität - oder auch eine Potenzierung — [der] grundlegenden Reflexivität des Textuellen definiert werden."
1
was in und zwischen ihnen hin und her läuft (die Wortbedeutung von 'discurrere'), was in ihnen inszenierend und perspektivierend reflektiert wird, ist nichts anderes als die Emergenz der Verknüpfung von .Gesellschaftsstruktur und Semantik' (Luhmann) — mithin ein nicht unwichtiger Teil der (Vor-) Geschichte nicht nur der englischen, sondern der europäischen Moderne. Es mag allzu gewagt klingen, wenn ein Historiker behauptet, mit der Veröffentlichung des Leviathan von Thomas Hobbes (1651) - zweifellos eines der turbulentesten und wirkmächtigsten englischen Texte des 17. Jahrhunderts - seien die Grundzüge aufklärerischer und somit moderner Politik bereits etabliert.5 Aber derartige Behauptungen, deren Wahrheitsgehalt hier nicht zur Debatte steht, bezeugen doch die Relevanz englischer kultureller und politischer Entwicklungen im 17. Jahrhundert für eine europäische Ideen- und Mentalitätsgeschichte, ohne dabei in den alten Refrain von Englands Rolle als Vorreiter kultureller und politischer Modernisierung(en) oder gar Globalisierung(en) in Europa und der westlichen Welt zu verfallen.6 Gleichwohl fokussiert auch dieses Buch auf England, allerdings aus weitgehend pragmatischen Gründen und ohne den Einfluß der benachbarten Königreiche zu unterschätzen; zudem konzentriert es sich auf London als Wirtschafts- und Kulturzentrum, in dem alle diese Einflüsse zusammenkommen. In gewissem Sinne ist die .englische' literarische Kultur des 17. Jahrhunderts weitgehend die literarische Kultur Londons, und die Entstehung eines eigenständigen englischen Nationalbewußtseins ist ein wichtiger Teil dieser Geschichte. Zur Beschreibung der heterarchischen Verfaßtheit des dynamischen Feldes .literarische Kultur' und der Verschränkung seiner unterschiedlichen Ebenen verwendet die vorliegende Arbeit den Begriff der .Kontextur', der eine eindimensionale Relationierung von Text und Kontext oder von Gestalt (literarischer Text) und Hintergrund (kulturelle .Umwelt') übersteigt und zudem bereits im Wortschatz des 17. Jahrhunderts als Beschreibung diskursiver Vorgänge vorgeprägt ist ('contexture').7 Als .literarische Kultur' werden in diesem Buch darüber hinaus auch die Bemühungen um eine begriffliche Ordnung, Stabilisierung und Reflexion diskursiver Bewegungen bezeichnet — eine Ordnung der Diskurse, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts einsetzt, sämtliche kulturellen Bereiche von der Epistemologie bis zur Politik umfaßt und bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein stabil bleibt.8 In dieser Diskursordnung, die üblicherweise unter der (ihrer Komplexität bei weitem nicht gerecht werdenden) Bezeichnung ,Neoklassizismus' firmiert, nimmt
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Tuck 1993,348. Vgl. Schwanitz 1996, 8. Siehe OED, "contexture" und unten, Kap. 1.3.3. Zum Begriff der Heterarchie (als Gegenbegriff zur Hierarchie) siehe McCulloch 1965, 40f.; Baecker 1990, 20f.; Fuchs 1992, 58-62. Vgl. Foucault 1971a. Reiss 1992 zeichnet die europäische Dimension der neoklassischen Diskursordnung und ihre Wirkung bis zu Hegel nach.
Literarisches eine paradigmatische Funktion ein. Literarisches Schreiben und Lesen konfigurieren sich in einem Kontinuum von Tätigkeiten innerhalb einer Verhaltenskultur, die im Verlauf des 17. Jahrhunderts zunehmend normativ realisiert und reflektiert wird. Der Lektüre wächst bei der Reflexion kultureller Prozesse eine Schlüsselstellung zu, die sich zunächst aus einer Reihe kultureller Unsicherheiten im Umgang mit Textualität erklärt. Mit zunehmender Alphabetisierung vergrößert sich das Publikum der Texte; zugleich nimmt es an soziopolitischer Heterogenität zu. Mutmaßungen über die Epistemologie des Lesevorgangs sind bedeutenden Veränderungen unterworfen dergestalt, daß die Rolle des Lesers nun als die am wenigsten vorhersagbare, demzufolge als heikelste und zugleich wichtigste Instanz im Kommunikationsprozeß gesehen wird. Lesen steht nun weniger für passives Wahrnehmen als vielmehr für aktives Gestalten und kritisches Urteilen. Als Kulturtechnik des Prozessierens von Kontingenzen und des Integrierens unterschiedlicher Perspektiven wird Lektüre zu einem zentralen Paradigma für menschliche Orientierung in der Welt. Sie nimmt eine zentrale Stelle ein in einer etwa ab 1650 sich auf der Grundlage epistemischer Skepsis, rationaler Methode, Wahrscheinlichkeitskalkül und deutlicher Unterscheidung zwischen Zeichen und Dingen formierenden literarischen Kultur (,Neoklassizismus'). Eine nach ästhetischen Kriterien vollzogene Unterscheidung und Abgrenzung ,literarischer' von anderen Texten gehört zwar zu den Folgen dieser Diskursordnung, kann aber im 17. Jahrhundert noch nicht vorausgesetzt werden. Hiermit sind einige zentrale Thesen des Buches knapp zusammengefaßt, zugleich aber die Herausforderungen angedeutet, der sich die vorliegende Untersuchung stellen muß. Diese liegen zum einen in der Schwierigkeit der Vermittlung zwischen historischer Methode und wissenschaftlicher Analyse. Schließlich ist auch das Instrumentarium der modernen Literaturwissenschaft eine Folgeerscheinung der zu beschreibenden Emergenz von Literatur. Dies fuhrt unweigerlich zu Interferenzen gerade bei der Lektüre von Texten, die mit dem traditionellen Instrumentarium gar nicht oder nur verzerrt zu erfassen sind. Dies ist nicht nur ein Problem der Literatur- und Kulturhistoriographie, sondern auch ein (letztlich wohl unlösbares) Problem der Wirkungsästhetik und der Medienwissenschaft. Die Perspektive des Interpreten - wie sehr auch immer er sich bemühen mag, von der eigenen Person abzusehen - ist immer genau dies: eine Perspektive, und als solche immer historisch kontingent. Auch die .Interesselosigkeit' nach Kant ist ein dem modernen Beobachter antrainiertes Leseverhalten, das gleichwohl interessegeleitet ist: gerichtet auf die Erwartung eines ästhetischen, aus anderen Wirkungskontexten herausgelösten Erlebnisses. Auch die Vorgeschichte dieser ästhetischen Wirkungsstruktur, die hier keineswegs erschöpfend dargestellt werden kann und soll, liegt als weitgehend noch ungehobener Schatz im historischen Material verborgen.
3
Zum Problem der perspektivischen Verzerrung trägt auch das Ausmaß der gewaltsamen religiösen, sozialen und politischen Konflikte und ihrer kulturellen .Nebengeräusche' 9 im 17. Jahrhundert bei. Jedes andere Jahrhundert, so scheint es, ließe sich leichter auf einen Begriff bringen. Im siebzehnten dagegen kann jeder Betrachter seine eigenen Vorurteile bestätigt finden - als Beispiele seien hier nur die Publikationen Christopher Hills zur "English Revolution" einerseits, der britische Historikerstreit um den sog. Revisionismus andererseits genannt. 10 Dennoch soll im folgenden der Versuch unternommen werden, sowohl theoriegeleitete als auch historisch adäquate Perspektiven auf ein Forschungsfeld zu entwickeln, das nichts weniger als abgeerntet ist. Keine literarische Einzelgattung kann sich im 17. Jahrhundert rühmen, einen dem Roman des 18. Jahrhunderts vergleichbaren kulturellen Stellenwert einzunehmen oder eine vergleichbare gesellschaftliche Breitenwirkung zu entfalten. Statt dessen begegnet uns eine energiegeladene, turbulente und lärmende Vielfalt, ein unaufhörliches Zirkulieren verschiedener Diskurse und Diskurseffekte, zwischen denen sich zuweilen Kontaktzonen, Überlappungen oder Kreuzungspunkte ergeben können, die sich aber zunächst nicht zu einer Konfiguration zusammenfügen lassen. V. Lobsien spricht in diesem Zusammenhang mit einer Formulierung, die man gern noch für ein Understatement halten möchte, von einer ,,unübersichtliche[n] mentalitätsgeschichtliche[n] Situation". 11 Literarische Kommunikation und intellektueller Austausch im 17. Jahrhundert sind in hohem Maße agonistisch und konfliktfreudig. Aus den humanistischen Lesegewohnheiten des 16. Jahrhunderts, aus dem Bewundern, Annotieren und Absorbieren von Texten werden "acts of contest and combat". 12 Im Hinblick auf diesen Wandel hat sich Certeaus Vorschlag einer „polemologischen Kulturanalyse", die auf ein situatives Wechselspiel zwischen Taktiken und Strategien abzielt, für die theoretische Grundausrichtung dieses Buches besonders bewährt.13 In einer solchen Umgebung des Kämpferischen ist Literatur in nicht unbeträchtlichem Maß eine Fortführung des Krieges mit anderen Mitteln. Sie entspringt und entsteht aus einer Vielfalt von Idiomen und Formen, meistens im Zusammenhang beste9 10
" 12 13
4
Paulson 1988. Siehe Hill 1958; ders. 1965. In zugegebenermaßen etwas grellen Farben entwirft Schama 2001 ein Bild des 17. und 18. Jahrhunderts unter dem Titel "the British wars". Neuere - u. a. .revisionistische' - Forschungsperspektiven (Russell 1991; Davies 2000, 490) haben sich von der Idee eines englischen Bürgerkriegs weitgehend verabschiedet; statt dessen spricht man nun zuweilen von den "Wars of the Three Kingdoms" und betont damit die zahlreichen Verbindungen zwischen den Königreichen England und Wales, Schottland und Irland. Olejniczak Lobsien 1999, 263. Zwicker 2003, 300. Certeau 1980a, 18: "La relation des procedures avec les champs de force oü elles interviennent doit done introduire une analyse polemologique de la culture. Comme le droit (qui en est un modele), la culture articule des conflits et tour ä tour legitime, deplace ou contröle la raison du plus fort. Elle se developpe dans l'element de tensions, et souvent de violences, ä qui eile fournit des equilibres symboliques, des contrats de compatibilite et des compromis plus ou moins temporaires." Zur Unterscheidung von Taktiken und Strategien siehe ebd. 82-94.
hender Gattungsregeln, die Kommunikationsmöglichkeiten eingrenzen, aber in der Konfrontation mit neuen Situationen auch neue Spielräume eröffnen. Der Titel "Angles of Contingency" versteht sich als summarische Beschreibung einer kulturellen Konfiguration, in welcher Sprecher und Schreiber zwar ihre eigenen Beobachtungen diskursiv gestalten, aber nie zugleich den Kontext des Verstehens und eventuelle Anschlußkommunikationen kontrollieren können. In einer solchen Konfiguration werden Beobachtungen von Wirklichkeit als kontingent indiziert, sobald sie gemacht werden; aus anderen Blickwinkeln, anderen Standpunkten stellen sich diesen Beobachtungen abweichende Meinungen und Urteile gegenüber. Eine solche Konfiguration, die als .Moderne' noch die unsere ist, emergiert in der frühen Neuzeit und stabilisiert sich im 17. Jahrhundert als perspektivisch integrierte Kommunikation. Wenn sich soziale wie epistemische Kontingenz als „Eigenwert der modernen Gesellschaft" 14 verstehen läßt, so kann dieser Eigenwert der im angelsächsischen Sprachraum mittlerweile üblichen Periodisierung des 17. Jahrhunderts als .frühe Moderne' (early modernity) zusätzliches Gewicht verleihen. 15 Was die literarische Kultur des Neoklassizismus vor allem auszeichnet, ist die Tatsache, daß es ihr gelingt, kontingente Beobachtungen als kontingent zu reflektieren — eine Grundvoraussetzung von .Kultur' im modernen Verständnis 16 - und diese Kontingenzbeobachtungen in eine selbstreflexive Vorgehensweise literarischen Schreibens u n d Lesens zu integrieren. Kontingenz wird so zu einem Thema und zugleich zu einem wichtigen Strukturelement von Textkommunikation. Sie wird zur epistemologischen Grundlage einer "politique de l'enonciation" (Certeau), die (neben einer Reihe von Methodendiskursen) eine Diskursmethode hervorbringt: einen Satz operativer Regeln, die dazu dienen, den relationalen Gebrauch einer Sprache festzulegen, deren Wirklichkeitszugriff ungewiß geworden ist. 17 Innerhalb dieser Entwicklung stellt der englische Neoklassizismus eine entscheidende Bewegung dar: eine Abkehr von imaginären Bildern der Stabilität,
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16 17
Luhmann 1992. Im Deutschen konkurrieren die Begriffe .(frühe) Neuzeit' und .Moderne', wohingegen im angelsächsischen Sprachraum eine Periodisierung nach dem Schema "Renaissance — early modernity (d.h. 17. Jahrhundert) - modernity" sich weitgehend durchgesetzt hat. Dies führt gerade im anglistischen Bereich leicht zu Verwirrung, da der Ausdruck .frühmodern' im Deutschen eher ungebräuchlich ist. Die vorliegende Arbeit versucht dieser Verwirrung dadurch zu entgehen, daß sie generell das 16. und 17. Jahrhundert der .frühen Neuzeit' zurechnet, aber auf das 18. Jahrhundert vorausweisende Entwicklungen, wo diese Betonung sinnvoll oder notwendig erscheint, als der .frühen Moderne' zugehörig bezeichnet. Luhmann 1995; Baecker 2001. Vgl. Certeau 1976, 201: "Cette 'politique [de l'enonciation]', ä la maniere de la rhetorique contemporaine, elabore des regies d'opirations qui determinent l'usage relationnel d'une langue devenue incertaine du reel." Das Ungewißwerden von Wirklichkeitszugriffen wird in phänomenologischer Sicht dargestellt — auch im Hinblick auf seine literarischen Folgen — in Blumenberg 1964. Zum sich wandelnden Verständnis von Sprache und Zeichengebrauch im 17. Jahrhundert siehe Aarsleff 1982, 42-83, sowie Kroll 1991; zur Kalkülisierung von Symbolsprachen Krämer 1991; dies. 1998.
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Kohärenz und Gewißheit; eine Hinwendung zu einer Begriffssprache der Beweglichkeit, der Zirkulation, der Kontingenz und der Wahrscheinlichkeit. Das vorliegende Buch sucht diese Bewegung nachzuvollziehen, indem es in einer Reihe von unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen und zugleich in weitgehend chronologischer Folge die Entwicklung und die Vielgestaltigkeit des neoklassischen Diskurses aufzeigt, der sich dabei nicht so sehr als eine monolithische Formation erweist denn als das Ergebnis einer Reihe von Reaktionen auf die Phänomene epistemischer und sozialer Kontingenz. Der dabei zurückgelegte Weg läßt sich auch verstehen als eine Vorgeschichte der Literatur im modernen Begriffssinn, also von Literatur als ästhetischer Kommunikation, deutlich abgegrenzt von anderen Diskurssorten, als "a sharply defined and autonomous realm of written objects that possess an aesthetic' character and value." 18 T. S. Eliot hat in einem berühmten Aufsatz diesen historischen Prozeß der Diskurstrennung und -Spezifizierung als eine "dissociation of sensibility" beschrieben, mithin als Vorgeschichte dessen, was er als Fragmentierung des modernen Weltbildes auffaßte. Doch diese Dissoziierung setzt in recht anachronistischer Weise das Vorhandensein eines ihr vorgängigen, undissoziierten und einheitlichen, eines im ursprünglichen Wortsinn katholischen Weltgefühls und Weltgefuges voraus.19 Im Gegensatz zu Eliot sehe ich die Vorgeschichte der modernen Literatur nicht als einheitliches Diskursfeld, sondern im Gegenteil als durch wechselseitigen Austausch, Zirkulation und Konflikt zwischen unterschiedlichen Textsorten, unterschiedlichen Mitteilungssituationen und Kommunikationskontexten strukturiert. Die Vielfalt kontingenter Perspektiven, die bei genauerer Untersuchung der Diskurszusammenhänge im 17. Jahrhundert sichtbar wird, läßt sich besser (englisch) als 'sensibility o f dissociation beschreiben denn als ein undissoziiertes Weltempfinden. Das Problem, das Eliots Lektüre der 'metaphysical poets' aufzeigt, geht über seine lokale Bedeutung als Problem des New Criticism im Gegensatz zu historisch-kontextuellen Lektüretechniken hinaus. Es steht im Zusammenhang dieser Arbeit exemplarisch für das methodologische Grundproblem einer historischen Textwissenschaft: Auf welche Art und Weise verschafft man sich Zugang zu Texten und ihren Verstehensgrundlagen aus der Vergangenheit, und wie geht man
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McKeon 1987b, 36. Eliot 1 9 5 1 ( 1 9 2 1 ) . Siehe hierzu Kermode 1 9 7 5 ( 1 9 5 7 ) . Laut Kermode gehe Eliot im wesentlichen von einer modernen poetischen Bildtheorie aus und verkenne daher die 'metaphysical poets' des frühen 17. Jahrhunderts als Vorläufer eines .undissoziierten' Idealdichters, dessen D e n ken und Fühlen sich im Einklang befänden. Die zeitgenössische Stellung der ,Metaphysiker' ist jedoch eine ganz andere; so verweigert ihnen ζ. B . Samuel J o h n s o n den Dichtertitel und liest sie als abschreckende Beispiele für ein nicht etwa einheitliches, sondern dissoziiertes Weltempfinden: "they endeavoured to be singular in their thoughts, and were careless o f their diction. [...] T h e most heterogeneous ideas are yoked by violence together" (Johnson 1 9 6 7 [ 1 7 7 9 ] , 7 9 8 ) . Johnsons Urteil belegt zugleich die Nachwirkung der 1 6 5 0 von Hobbes und Davenant ausdrücklich vollzogenen neoklassischen Reaktion gegen die metaphysical poets; siehe hierzu Young 1 9 8 6 sowie unten Kap. III.
mit den perspektivischen Verzerrungen des eigenen Standpunkts um? Auf diese Fragen und auf die Begrifflichkeit, in der eine Geschichte ,proto-literarischer' Literatur geschrieben werden kann, wird der theoretische Teil dieser Arbeit in Kap. 1.3 genauer eingehen. Hier sei dazu nur vorausgeschickt, daß es darauf ankommt, nicht nur den Begriff der Literatur, sondern auch die Herstellungs-, Zugangs- und Funktionsweisen literarischer Texte zu problematisieren und zu historisieren, und zwar mittels des Begriffs der kulturellen Kontextur. Diese läßt sich beschreiben als globale Einbettung von Schreib- und Lektüresituationen in ihre kulturelle Umgebung. Selbstverständlich ist auch diese Umgebung fiir uns nicht mehr materiell zugänglich und daher nicht weniger textuell und interpretationsbedürftig als die (proto-)literarischen Texte selbst, häufig auch traditionsbedingten perspektivischen Verzerrungen nicht weniger unterworfen. Texte, Kontexte und Kontextur bilden somit ein Kontinuum, aus dem man unweigerlich eine kritische, durch ihre Prägnanz oder Dramatik motivierte Auswahl treffen muß. Die Idealvorstellung einer nicht-teleologischen, nicht der 'Whig interpretation of history' anheimfallenden Kulturgeschichte hat Stephen Greenblatt, angeregt von ein paar Zeilen aus Shakespeares Hamlet, wie folgt zusammengefaßt: "To write cultural history we need more a sharp awareness of accidental judgments than a theory of the organic; more an account of purposes mistook than a narrative of gradual emergence; more a chronicle of carnal, bloody, and unnatural acts than a story of inevitable progress from traceable origins."20 Im Hinblick auf das 17. Jahrhundert erscheint seine Betonung der Materialität der Kommunikation und ihrer Kontingenzen (um den Preis theoretischer oder auch ideologischer Kohärenzen) besonders angebracht - was immer man sonst von den theoretischen, ideologischen und v. a. methodologischen Unschärfen des New Historicism halten mag.21 Die Vorteile, die verschiedene Richtungen des Historismus - auch älterer Prägung — zu bieten haben, bestehen v. a. in der Historisierung einer sonst oft allzu leichtfertig für selbstverständlich oder unhinterfragbar erachteten wissenschaftlichen Begrifflichkeit und in einer deutlicheren Sichtbarmachung der Kontingenz (nicht bloß der Subjektivität) des eigenen Standpunkts. Diese Historisierung betrifft insbesondere den Kulturbegriff und macht deutlich, daß eine einfache Übertragung moderner Begrifflichkeiten auf die Verhältnisse des 17. Jahrhunderts nicht ohne weiteres möglich ist. .Literarische Kultur' im 17. Jahrhundert erfordert nicht nur ein anderes Verständnis von Literarizität, sondern auch eine Erweiterung des Begriffs ,Kultur' in Richtung auf eine Vielfalt unterschiedlicher geographischer, geschichtlicher, mentaler und politischer Gegebenheiten. Eine solche Begriffsbestimmung ist von Simon Schama auf die bestechend einfache und flexible Formel gebracht worden, Kultur sei "a manner
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Greenblatt 2002, 19. Vgl. Hamlet 5 . 2 . 3 2 4 - 2 8 . Z u m New Historicism siehe Veeser 1989; Baßler 1995; Colebrook 1997; Brannigan 1998. Zur Kritik an Greenblatt siehe exemplarisch Warning 2004; vgl. auch Baßler 1998; Glauser/Heitmann 1999.
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of sharing a peculiar [...] space at a particular time".22 Ein bestimmter Raum wird jedoch nicht einfach gemeinsam bewohnt; seine Eigenschaften wirken auf das Verhalten seiner Bewohner, auf ihr Leben und Erleben zurück und umgekehrt. Mit Clifford Geertz - und auch mit Kenneth Burke — lassen sich kulturelle Formen der Darstellung im weitesten Sinne (ζ. B. Kunstgegenstände, Rituale, soziale Zurschaustellung) als semiotische Strukturen interpretieren, die soziopolitische Normen, Werte und Codes zum Ausdruck bringen.23 In jüngerer Zeit haben sowohl dem New Historicism verpflichtete Literaturwissenschaftler wie Greenblatt als auch dem Revisionismus und Postrevisionismus nahestehende Historiker wie Kevin Sharpe in bewußter Anlehnung an Geertz eine ,kulturelle Wende' in der frühneuzeitlichen Literatur- und Sozialgeschichte proklamiert.24 Diese Perspektive einer kultursemiotischen Wende ist noch zu ergänzen um eine Perspektive der Kybernetik zweiter Ordnung, die auch eine innerkulturelle Beobachtung von sozialen Normen und kulturellen Prozessen gesellschaftlicher Selbstorganisation vorsieht (ggf.: eine Beobachtung dieser Normen und Prozesse als kontingent, als auch anders möglich).25 In einer solchen Sichtweise lassen sich kulturelle Medien nicht ausschließlich als ideologische Vehikel politischer Codes oder als Foucaultsche Macht/Wissen-Komplexe betrachten, sondern erscheinen als Objekte, die „Widerworte geben",26 weil sie selbst bereits Instrumente der kulturellen Analyse und Reflexion sind. Folgt man dieser Sichtweise, wird erneut deutlich, daß es nicht angeht, sich allein auf die vermeintliche Faktizität historischer Beweislagen zu verlassen, um Texte in ihrer (gar ursprünglichen) .Bedeutung' zu verstehen.27 Theorie ist ebenso unausweichlich wie die Selektivität von Traditionen und Interessen. Immerhin resultiert diese Konstruiertheit einer historischen Erzählung, die aus einer Begegnung von Überliefertem oder Archiviertem mit früheren Deutungen und (im günstigen Falle) neuen Ideen und neuen theoretischen Zugangsweisen hervorgeht, nicht unbedingt immer in einem gänzlich fiktiven oder imaginären Artefakt, sondern eher in einer mehr oder weniger wahrscheinlichen hypothetischen Konstruktion auf der Grundlage einer soweit als möglich stichhaltigen und sorgfältigen Prüfung gegebener Quellen. Hinsichtlich der Rekonstruierbarkeit einer Kontextur und des Ertrags solcher Rekonstruktionen für das Verständnis literarischer Texte vertritt die vorliegende Arbeit demnach einen durchaus gemäßigten Standpunkt. Anspruchsvoll bleibt das technische Problem der Auswahl und Relationierung unterschiedlicher Texte; hier entscheidet nicht selten Intuition, aber auch darstellungsbedingte Faktoren (Prägnanz, Dramatik) spielen eine Rolle.28 22 23 24 25 26 27 28
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Schama 1997, xi. Geertz 1973, 49; Burke 1954. Sharpe 2000b, 19, 3 9 2 ^ 1 4 . Luhmann 1995. Bai 2002, 18. Dies gegen Hume 1999. Auf die hier angedeuteten Probleme der Text-Kontext-Relation geht Kap. 1.3 näher ein.
All dies sei nicht als Negation der Möglichkeit verstanden, Miltons Paradise Lost oder Congreves The Way of the World zu lesen (und hoffentlich mit Genuß zu lesen), ohne dabei auf die geschichtlichen Bedingungen und die Sprachspiele zu rekurrieren, vor deren Hintergrund diese Texte geschrieben wurden. Es gehört jedoch zu den Grundvoraussetzungen dieser Arbeit die Annahme, daß man solche Texte berechtigterweise auch als Matrizen geschichtlicher Ereignisse lesen und daß eine Rekonstruktion der funktionalen Einbettungen solcher Texte in ihrer Kontextur das Verständnis klassischer Texte erleichtern und bereichern und zudem zu einer Neueinschätzung von Texten fuhren kann, denen, weshalb auch immer, in der Tradition kein .klassischer' oder kanonischer Status zugewiesen wird. Seit zwei Jahrzehnten hat die theoretische Reflexion historischer Sichtweisen in den Literatur- und Kulturwissenschaften wieder Konjunktur - motiviert durch den New Historicism, aber auch durch die historische Anthropologie, die Mediengeschichte und die Diskursanalyse.29 Es handelt sich dabei jedoch um nur die jüngsten und mit der größten Breitenwirkung gesegneten Beispiele für rekonstruktive und revisionistische Methodologien. Weitere Anregungen hat die vorliegende Studie von den Arbeiten der Cambridge-Schule erfahren (J.G.A. Pocock, Quentin Skinner u.a.).30 Ihre Konzentration aufTextualität und Sprache hat Bedenken aufkommen lassen, sie beinhalte eine Nichtbeachtung von nicht sprachgebundenen Ritualen und anderen Formen des soziokulturellen Austauschs. Der hier gewählte Begriff .literarische Kultur' trägt diesen Bedenken insofern Rechnung, als er einen erweiterten Diskursbegriff voraussetzt, der die Materialität und Medialität auch nicht-verbaler kultureller Ereignisse, Artefakte und Darstellungsformen berücksichtigt.31 Die literarische Kultur des 17. Jahrhunderts ist nicht nur rhetorisch, sondern hochgradig visuell und bildhaft bestimmt - mitunter geradezu bildbesessen, selbst da, wo sie sich (wie etwa bei Milton) ikonoklastisch geriert. Frühneuzeitliche Texte operieren nicht ausschließlich mit sprachlichen oder schriftlichen Mitteln, sondern auch mit dem visuellen Layout einer Druckseite, mit Frontispizen und Illustrationen, Gemälden, Karikaturen, Medaillen und kommerziellen Produkten. Diese Vielfalt kommunikativer Settings und Situationen sollte man nicht eskamotieren durch die Einführung anachronistischer Unterscheidungen wie etwa der zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Textsorten oder Mitteilungskontexten, oder der Unterscheidung von literarischen und nichtliterarischen Texten. Diese Unterscheidungen kommen mit der Professionalisierung von Schreibsituationen im Zuge der Entwicklung des Buchmarktes auf (in Westeuropa im späten 29
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Vgl. ζ. B. Anglia 114 (1996), Themenheft „Literaturwissenschaft und/oder Kulturwissenschaft"; arcadia 33 (1998), Themenband "Cultural History after Foucault"; Benthien/Velten 2002; Nünning/ Sommer 2004. Siehe Pocock 1987b; ders. 1971, 3-41; ders. 1985, 1-34; Skinner 2002. Zur Cambridge-Schule allgemein Tully 1988; de Berg 1995. Vgl. hierzu Gumbrecht/Pfeiffer 1988. Bai (2002, 35) spricht in etwas anderem Zusammenhang von einer notwendigen „.Multimedialisierung' des Diskursbegriffs". 9
17. und frühen 18. Jahrhundert), sind aber zur Beschreibung früherer Epochen ungeeignet, weil sie komplexe Zusammenhänge in unzulässiger Weise verstellen und vereinfachen. Es trifft zwar durchaus zu, daß es Unterscheidungen zwischen den Gattungen (englisch: 'kinds') literarischer Kommunikation auch im Europa der frühen Neuzeit sehr wohl gibt; aber diese Unterscheidungen werden nur höchst selten zum Zwecke einer metakommunikativen Reflexion benutzt, wenngleich sie für „hochkomplexe und flexible Verwendungen literarischer Formen"32 produktiv sind. Eine systemtheoretische Terminologie wird in Anwendung auf die Zeit vor 1700, in der die Grenzbereiche sozialer (Proto-) Systeme häufig fließend und verschiedene Diskurse (wie z.B. Politik, Religion, Geschichte, Handel, Literatur) nicht klar voneinander trennbar sind, stark irritiert — im positiven wie im negativen Sinn. Bevor eine Autonomisierung des literarischen Systems' sich gesellschaftlich etabliert hat, lassen sich in systemtheoretischer Optik schwerlich Beobachtungen der Literatur' machen. 33 Doch die Literaturgeschichte beginnt nicht erst im 18. Jahrhundert und selbstverständlich auch nicht erst im siebzehnten. Der Beobachter der folgenden Kontingenzperspektiven geht häufig von systemtheoretischen Prämissen aus, ohne diese jedoch zu verabsolutieren, sondern um produktive Irritationen (des Materials durch die Theorie, der Theorie durch das Material) zu erzeugen. Anstatt monotheoretisch zu operieren, setzt er Elemente neuerer theoretischer und methodologischer Modelle (Dekonstruktivismus, New Historicism, Systemtheorie) flexibel und heuristisch ein, um proto-literarische und proto-systemische kulturelle Phänomene vor 1700 besser beschreiben und erklären zu können. Das Buch gliedert sich chronologisch und thematisch in eine Folge von Teilbereichen, um aus unterschiedlichen Blickwinkeln und in mehreren Durchläufen zu einer „dichten Beschreibung"34 der Diskursordnung des englischen Neoklassizismus zu gelangen - einer kulturellen Formation, in der wohl erstmalig in der Neuzeit der Versuch gemacht wird, sowohl theoretisch als auch praktisch funktionale Grenzen literarischer Kommunikation in Bezug zu anderen Medien, anderen performativen Bereichen der Kultur zu etablieren. Doch die Bedeutung dieser Formation ist nichts weniger als eine ausschließlich literarische; es handelt sich vielmehr um die grundlegende und kohärente kulturelle Orientierung der Geselligkeit und 'civility' des 18. Jahrhunderts - und somit um eine wesentliche Voraussetzung für die Kultur der Aufklärung — bei der gleichwohl Literarisches eine zentrale Rolle spielt. 32
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Lewalski 1986, 1: "highly complex and flexible [...] uses of literary forms". Siehe auch Colie 1973; Fowler 1982. Schmidt 1989; ders. 1993; Plumpe/Werber 1995; Fohrmann/Müller 1996; Reinfandt 1997; Sill 2001; Werber 1992; ders. 2003; Lay 2003); unter Betonung der Schwierigkeiten Pfeiffer/Berensmeyer 2000, Pfeiffer 2002b, sowie ders. 1998, 337-45. Siehe Geertz 1973, 3-30, 6. Zur Herkunft des Begriffs "thick description" siehe Ryle 1971, 465-96. Vgl. Gallagher/Greenblatt 2000, 20-31.
Meine Vorgeschichte dieser kulturellen Formation in England konzentriert sich in der Hauptsache auf vier Bereiche. Untersucht wird zunächst die Vorgeschichte neoklassischer Kontingenzperspektiven in den residualen Formen des Humanismus im frühen 17. Jahrhundert (Kap. II). Das Hauptaugenmerk liegt hier auf den unterschiedlichen literarischen Strategien, die Robert Burton und Sir Thomas Browne entwickeln, um auf eine veränderte und sich weiter verändernde Kommunikationssituation zu reagieren. Wie und in welchen Formen wird mit epistemischer Kontingenz umgegangen? Vor welchem kulturellen Hintergrund werden diese Formen sichtbar, und mit welchen Mitteln stellen sich die Autoren der Herausforderung durch Kontingenz? Aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten Kap. III und IV die Ursprünge des neoklassischen Diskurses im England des 17. Jahrhunderts zwischen Bürgerkrieg und Restauration. Am Beispiel der Schriften Miltons, Hobbes', Davenants und Margaret Cavendishs wird die stets umkämpfte, polemische und polemogene Konkurrenz zwischen literarischen und visuellen Kognitions- und Kommunikationsformen dargestellt. Es folgt eine Untersuchung des Problems sozialer (nicht mehr nur epistemischer) Kontingenz, das in Kap. III bereits sich andeutet, aber die Einbeziehung eines weiteren historischen Kontexts erfordert: die politischen und gesellschaftlichen Spannungen des Bürgerkriegs, die Erosion älterer, quasi-mystischer 'commonwealth'-Vorstellungen und ihre schrittweise Ersetzung durch die rationalistische Begriffsordnung des 'state' vor dem Hintergrund der Naturrechtsdebatte. Die Beziehungen zwischen literarischer Kultur und Politik in der frühen Moderne sind verwickelt und vielgestaltig; dieses Buch konzentriert sich in Kap. IV auf die Fiktion des 'state of nature', die Rolle der Rhetorik als wirkmächtiges Sprachhandeln sowie auf deren unterschiedliche Bewertung in den Schriften Miltons und Hobbes'. Es folgt eine politische Allegorese des pastoralen Diskurses am Beispiel des Compleat Angler von Izaak Walton (IV.3). Am Beispiel von Drydens Astraa Redux, Tukes Adventures of Five Hours und Miltons Paradise Lost werden die literarstrategischen Kernfragen des kulturellen Gedächtnisses/Gegengedächtnisses und des konzertierten Vergessens im und um den kulturellen Moment der Restauration untersucht (IV.4). Um die Krise des kulturellen Gedächtnisses und der literarischen Politik der Restaurationszeit geht es schließlich in einer Lektüre von Drydens Absalom and Achitophel, in der das Grundthema des vierten Kapitels (Natur und Politik) vor dem Horizont des Scheiterns allegorischer Erzählungen noch einmal aufgegriffen wird. Das letzte Kapitel widmet sich der neoklassischen Antwort auf das Problem der Innerlichkeit und Individualität im Verhältnis zu gesellschaftlichen Verhaltensnormen der 'civility' in frühmodernen Öffentlichkeiten. Welchen Stellenwert haben in einer Kultur, die so stark von Skepsis und auch Zynismus durchsetzt ist wie die Restaurationszeit,35 Begriffe wie ,Gewissen' und ,Seele'? Eine
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Siehe ζ. B. Pocock 1997.
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solche Frage ist nicht nur von historisch-sozialpsychologischem, sondern auch genuin literaturwissenschaftlichem Interesse, denn sie betrifft in letzter Konsequenz die Funktion von Textualität selbst. Ein paradigmatisches Beispiel für den neoklassischen Umgang mit kontingenter Individualität (und zugleich für die Frühgeschichte des modernen Romans) findet sich in Aphra Behns Love-Letters between a Nobleman and His Sister (V.2). Innerlichkeit und Öffentlichkeit werden vor dem Hintergrund einer legalistischen Neufundierung der Gesellschaft nach 1688 neu relationiert und auf der Bühne reflektiert in Congreves Komödie The Way of the World (V.3). Die bei Congreve und in der Philosophie bei Shaftesbury präsentierte kulturelle Norm der politeness' wird zur Richtschnur für den Umgang mit (nun sowohl epistemischer als auch soziopolitischer) Kontingenz. Ihre Effektivität läßt sich ermessen an ihrer Präsenz selbst in den Schriften der Dissenter (ζ. Β. Bunyan, Defoe), die mit ihrer Hilfe der Gefahr entgegentreten, als irrationale Schwärmer (enthusiasts') disqualifiziert zu werden. Selbst der religiöse Dissent fügt sich also den Lockeschen 'degrees of assent' und belegt den globalen Erfolg der neoklassischen Diskursordnung. In der Summe ergeben die hier vorgelegten Einzellektüren ein kaleidoskopartiges Bild der performativen Bandbreite literarischer Kultur in England im 17. Jahrhundert, von Milton bis Congreve und von Hobbes zu Locke. Manchem Leser mag die Auswahl der Texte und ihre relative Gewichtung zueinander ungewöhnlich, überraschend oder auch teilweise willkürlich erscheinen; anderen vielleicht schon wieder zu konventionell. Ich teile das Bedauern dieser Leser, auf eine Diskussion von (ζ. B.) Shakespeare, Jonson, Donne, Herbert, Marvell und Otway einerseits und von John Taylor, Lucy Hutchinson, Anne Conway, Phineas Fletcher und Nathaniel Lee andererseits verzichten zu müssen (beide Listen ließen sich fast endlos fortführen). Bedauerlich ist auch, daß die meisten dieser Namen — im Grunde alle außer Shakespeare - langsam aber stetig aus der akademischen Lehre verschwinden. Die Zeit zwischen Shakespeare und Swift oder Defoe mag in der Forschung noch hinreichend vertreten sein, in der Lehre ist sie es sicher nicht mehr. Auch dieser Trend kann sich freilich eines Tages wieder umkehren. Die vorliegende Arbeit versteht sich jedoch nicht als eine .andere Literaturgeschichte' des 17. Jahrhunderts, und mangelnde Vollständigkeit - ohnehin ein niemals erreichbares Ideal - muß immer gegen die Vorteile markanter Selektionen abgewogen werden.36 Die hier ausgewählten Texte erschienen mir
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.Literaturgeschichte' setzt im allgemeinen die Kontinuität ihres Gegenstands voraus und transportiert so — auch in ihren theoretisch reflektiertesten Formen (siehe das vorbildliche Vorwort in Seeber 1 9 9 3 ) — die blinden Flecken ihrer Vorgänger in die Zukunft weiter. Ein Stichprobenartiger Vergleich mehrerer englischer und deutscher Uberblicksdarstellungen kann dies belegen; man suche etwa nach der Zusammenarbeit von Davenant und Hobbes (Fehlanzeige bei Schirmer, Standop/Mertner, Seeber, Schwanitz, Sanders, Wagner; Ausnahme: Fabian [zu Details siehe Bibliographie, Abschnitt 3]), die immerhin von Douglas Bush 1945 als "landmark on the road from the Renaissance to the Augustan age" ( 3 7 2 ) bezeichnet wird! M a n suche nach Samuel Tuke (im ganzen hier untersuchten Korpus nur eine Seite bei Sutherland) oder - aus
für die Zwecke dieser Untersuchung symptomatischer und informativer als andere. Im allgemeinen habe ich mich für die textnahe Lektüre paradigmatischer Einzeltexte aus verschiedenen Gattungen entschieden und gegen eine strukturale historische Beschreibung der Entwicklung einzelner Gattungen oder des .Gesamtwerks' eines einzelnen Autors. Dieses Buch wäre nahezu undenkbar ohne eine ihm vorausgehende lange und intensive Forschungstradition; was es ihr im einzelnen verdankt, wird in den Fußnoten dokumentiert. Eine Reihe besonders verdienstvoller Studien aus den vergangenen zwei Jahrzehnten hat meinen Blick auf die englische Kultur des 17. Jahrhunderts in besonderem Maße geprägt und beeinflußt; es ist daher vielleicht nicht unangemessen, einige von ihnen hier kurz zu nennen. James Winns John Dryden and His World (1987) erwies sich als hoch informativ, ebenso die Arbeiten J. G. A. Pococks, Kevin Sharpes und Steven N. Zwickers, insbesondere auch Quentin Skinners Reason and Rhetoric in the Philosophy ofHobbes (1996). Richard Krolls The Material Word: Literate Culture in the Restoration and Early Eighteenth Century (1991) verwies mich auf die weitreichenden kulturellen Einflüsse des empiristischen Methodendiskurses im England des 17. Jahrhunderts und wurde dadurch zu einem wichtigen Anstoß für diese Arbeit. Horst Bredekamps hervorragendem Buch über Hobbes' visuelle Strategien (1999), Jürgen Kamms Diskurs des heroischen Dramas (1996) und Richard Nates Wissenschaft und Literatur im England derfrühen Neuzeit (2001) haben die im folgenden vorgestellten Perspektiven auf die literarische Kultur Englands im 17. Jahrhundert weitere wichtige Denkanstöße zu verdanken.
anderen Gründen — Margaret Cavendish (kurz erwähnt als Biographin ihres M a n n e s bei Schirmer, Standop/Mertner, Sanders; Fehlanzeige bei Fabian, Seeber, Schwanitz, Wagner) und Aphra Behn, die bei Sutherland noch 1 9 6 9 chauvinistisch abgekanzelt, bei den anderen kaum, nicht als Dramatikerin oder gar nicht erwähnt wird. Bei den Autorinnen hat sich in der Forschung in den letzten Jahren einiges zum besseren verändert, was sich in Uberblicksdarstellungen aber n o c h nicht niederschlägt. - Die gegenwärtige literaturhistorische Misere des 17. Jahrhunderts und noch früherer Epochen wird augenfällig bei Wagner 2 0 0 3 , der für britische und irische Literatur des 2 0 . Jahrhunderts 1 5 0 Seiten reserviert, fiir das 19. Jahrhundert 3 5 , das 18. 3 7 , 5 , das 17. 2 2 und das 16. 7 Seiten; die alt- und mittelenglische Literatur müssen sich zusammen mit 8 Seiten begnügen. D e m 2 0 . Jahrhundert werden 4 0 Seiten mehr zugestanden als allen vorangegangenen Jahrhunderten zusammen. Auch das ist ein Problem des .kulturellen Gedächtnisses'.
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I. Die Republic of Letters·. Zum Verständnis literarischer Kultur im 17. Jahrhundert Though words be the signs we have of one another's opinions and intentions: because the equivocation of them is so frequent, according to the diversity of contexture, and of the company wherewith they go (which the presence of him that speaketh, our sight of his actions, and conjecture of his intentions, must help to discharge us of): it must be extreme hard to find out the opinions and meanings of those men that are gone from us long ago, and have left us no other signification thereof but their books; which cannot possibly be understood without history enough to discover those aforementioned circumstances, and also without great prudence to observe them. Thomas Hobbes (1640)*
1. Vorspiel auf der Themse. Eine Seeschlacht mit Zuhörern John Dryden läßt seinen Essay of Dramatick Poesie (1668), eine der Geburtsurkunden der Literaturkritik in englischer Sprache, mit einer szenisch präsentierten Seeschlacht beginnen: It was that memorable day, in the first Summer of the late War, when our Navy ingagd the Dutch: a day wherein the two most mighty and best appointed Fleets which any age had ever seen, disputed the command of the greater half of the Globe, the commerce of Nations, and the riches of the Universe. While these vast floating bodies, on either side, mov'd against each other in parallel lines, and our Country men, under the happy conduct of his Royal Highness, went breaking, by little and little, into the line of the Enemies; the noise of the Cannon from both Navies reach'd our ears about the City: so that all men, being alarm'd with it, and in a dreadful suspence of the event, which they knew was then deciding, every one went following the sound as his fancy led him; and leaving the Town almost empty, some took towards the Park, some cross the River, others down it; all seeking the noise in the depth of silence. 1
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Elements 1.13.8, Hobbes 1994a, 76f. Dryden, Works 17: 2-81, 8. 15
Diese Szene stellt eine Verbindung her zwischen einem Ereignis von höchster politischer und wirtschaftlicher Tragweite und der öffentlichen Wirkung, die ein solches Ereignis gleichsam in Echtzeit hervorbringt. Öffentlichkeit ("the public") als Ort gesellschaftlichen Beobachtens und gesellschaftlicher Selbstreflexion ist zu dieser Zeit noch ein neuartiges, modernes Phänomen: ein kollektives Selbstbewußtsein der Oberschicht im London der Restaurationszeit, das in seiner recht flexiblen Handhabung von Handlungs- und Zuschauerrollen (.Publikum') eine theatrale Dimension beinhaltet, sich in patriotischer Semantik selbst definiert und in Zeitungen, Kaffeehausgesprächen und Theatervorstellungen seinen medialen Ausdruck findet.2 Die öffentliche Neugier, die in London von der dort unsichtbaren, aber eben noch hörbaren Seeschlacht von Lowestoft (am 3. Juni 1665) angeregt wird, ist von einer patriotischen Grundstimmung geprägt und getragen, die Drydens Text sehr genau registriert und durch den Gebrauch der ersten Person Plural nicht nur bei der Wiedergabe von Nachrichten, sondern auch von Sinneseindrücken vermittelt: "our Navy", "our Country men","our ears". Eine derartige öffentliche Grundstimmung ist das Resultat eines neuen sozialen Bewußtseins außerhalb herkömmlicher Formen höfischen oder 'commonwealth'-orientierten politischen Denkens; eines Bewußtseins, das sich in Begriffen des Nationalismus und des beginnenden Imperialismus artikuliert.3 Der Zerfall des überkommenen sozialen Ordnungsgefüges in den Umwälzungen der Reformation, der Bürgerkriegszeit und des Interregnums scheint in dieser neuen Sprache nationaler Einheit nach 1660 bereits nahezu vergessen. Doch Drydens Text leistet mehr als eine Registrierung des gemeinschaftlichen und einheitsstiftenden Impulses der öffentlichen Neugier. Er beobachtet zugleich eine damit einhergehende, aber gegenläufige gesellschaftliche Wirklichkeit der Desintegration und Dissoziation, der Streuung und Individualisierung. Als Folge der Neugier des Publikums wird die Stadt, jene zentrale Bühne für dramatische Ereignisse und öffentliche Kommunikation, nahezu leergefegt. Diese Entleerung des öffentlichen Raums durch die Vereinzelung der Menge wird in einer Reihe subtiler sprachlicher Verschiebungen angedeutet, zunächst im Wechsel zur dritten Person Plural ("they knew") und dann zur dritten Person Singular ("every one went following the sound as his fancy led him"). Der Effekt der Dissoziation in unbestimmte und für den Beobachter unklar voneinander abgegrenzte Kleingruppen ("some [...], some [...] others") wird verstärkt durch den plötzlichen Wechsel vom Präteritum zum Präsens im letzten Satz ("some took [...] some cross") und nur mit Mühe am Ende wieder aufgefangen im Wörtchen "all", das ein gemeinsames Ziel hervorhebt: "seeking the noise in the depth of silence."
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Schweikart 1986, 63-70; Pincus 1995; Frank 1961. Zu Drydens Verschmelzung des Ästhetischen und Politischen im Essay siehe Docherty 1999, 9-38; zur sorgfältigen Manipulation diskursiver Ebenen im Essay Gelber 1999, 44f.
Drydens Text läßt sich lesen als heraldisches Emblem kultureller Haupttendenzen des 17. Jahrhunderts. 4 Nicht nur zeigt er die wechselseitige Abhängigkeit von (im weitesten Sinne) literarischen und politischen Ereignissen sowie die bevorstehende Globalisierung eines wirtschaftlich motivierten Imperialismus, dessen Ziele der Erwerb und die Nutzbarmachung der "riches of the Universe" sind; er reflektiert auch ein Bewußtsein für die öffentliche Dimension politischer Prozesse. Wenn ein Essay über das Theater mit einer modernen Variante der antiken Mauerschau beginnt, dann werden theatrale und politische Kultur in mehr als einer einfachen Analogie oder einem Korrespondenzverhältnis miteinander verschränkt. Von Anfang an problematisiert Dryden den Bezug eines dargebotenen (politischen wie theatralen) Geschehens zu dem Publikum, auf das es ausgerichtet ist. Die akroamatische, für den hörenden Nachvollzug bestimmte Dimension hat das Theater der frühen Neuzeit zudem mit der politischen Kultur seiner Gegenwart gemein; 5 wie der Dialog, den Dryden in seinem Essay schriftlich inszeniert, weiß sich das Theater seiner Zeit, wie auch die Inszenierung politischer Debatten im Parlament und die öffentliche Präsentation von Politik, antiken Vorbildern (wiewohl oft in zwiespältiger, gebrochener Weise) verpflichtet. Das Hören überwiegt noch das Sehen; selbst beim stillen Lesen folgt man noch dem Klang der Worte, als kämen sie aus dem Mund eines Sprechers.6 Die (humanistisch und protestantisch geprägte) Privilegierung des Hörens steht jedoch in einem Gegensatz zu neueren Ausprägungen visueller Kultur, die Öffentlichkeit vor allem als Schaulust definieren und folgerichtig auch das Theater zum Spektakel werden lassen. In der literarischen Kultur wird der Konflikt zwischen diesen grundlegend verschiedenen Mustern der Medienrezeption ausgetragen - in durchaus differenzierten und nuancierten, politisch und religiös grundierten Bezugnahmen auf die Antike, in der unterschiedlichen Privilegierung athenischer, hebräischer und römischer Vorbilder etwa bei Milton ( A r e o p a g i t i c a , Paradise Lost, Samson Agonistes) und Dryden (Absalom and Achitophel, Übersetzung römischer Satiren, antiker Fabeln und VergilsÄneis), aber auch im politisch motivierten Theater der 1670er und 1680er Jahre (Lees Lucius Junius Brutus und Constantine the Great, um nur zwei Beispiele zu nennen). Für das 17. Jahrhundert, in dem das geschriebene und gesprochene Wort noch als Leitmedium kultureller Selbstverständigung dient, steht auch eine Neubewertung der (Audio-) Visualität des Lesens als kultureller (was immer auch heißt: politischer, auf das konkrete Zusammenleben von Menschen ausgerichteter) Praxis an.
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Vgl. Dällenbach 1977. Bühnenbilder nehmen zwar in den 1660ern an Bedeutung zu, sind aber noch nicht die Regel: siehe Milhous 1984, 42; Milhous zitiert Samuel Pepys' Tagebuchnotiz, er gehe sich ein Theaterstück anhören ("to hear a play"). Vgl. Zumthor 1984; ders. 1994. Zum "oralized reading" im 16.-17. Jahrhundert siehe Chartier 1999, 276ff. 17
Dryden weiß, wie sehr es auf das Publikum ankommt, und er versteht es, dieses Publikum anzusprechen und in die Performativität seines Textes einzubeziehen. Er weiß, daß eine Schlacht mehr als die zwei Dimensionen "Country men" versus "Enemies" hat und daß die Deutung eines Geschehens aufs äußerste von der Perspektive des Zuschauers oder Zuhörers abhängig ist.7 Er weiß auch, daß Öffentlichkeit aufgespalten ist in eine Vielzahl kleiner Gruppierungen, deren Dynamik von Einzelinteressen und subjektiven, vielleicht sogar irrationalen Motivationen bestimmt wird, die er mit dem Begriff "fancy" belegt. Der Essay als Ganzes ist dramaturgisch aufgebaut, so daß der Leser die Rolle eines Zuschauers übernimmt, welcher den Bewegungen und dem dialogischen Austausch zwischen vier Diskutierenden (Eugenius, Crites, Lisideius und Neander) folgt. Der erste Absatz ist in seinem rhetorischen Aufbau darum bemüht, den zeitgenössischen Leser in ein System gemeinsamer Werte und Interessen einzubinden; dies geschieht mittels eines Appells an eine gemeinsame Erinnerung: "It was that memorable day". Der Leser wird in der ersten Person Plural mit einbezogen, die ihm (und im Jahre 1668 schon in zunehmendem Maße auch ihi*) eine gemeinsame Nationalität und kollektive Erlebnisse zuordnet, was wiederum als hypostasierte gemeinschaftliche Grundlage der Unterstützung von Drydens im Verlauf des Essays vorgetragener Behauptung eines spezifischen, von Frankreich und Holland abzugrenzenden englischen Nationalgeschmacks dient. Literarische und politische Angelegenheiten werden so auf nationaler Ebene unentwirrbar, aber doch in strategischer Weise, miteinander verflochten. Aber der einleitende Absatz beinhaltet nicht nur einen patriotischen Appell an einen neuen Sinn für 'Englishness' als vereinheitlichendes, geringer wiegende Differenzen, Meinungsverschiedenheiten und Spaltungen transzendierendes Attribut, welches sich im Kulturvergleich mit Nicht-Engländern als dem unüberwindbar Anderen artikuliert. In seinem unentschiedenen Gebrauch von Pronomina und grammatischen Personen sowie seiner wechselnden narrativen Fokalisierung9 enthält der Text zugleich eine implizite Reflexion der Probleme, die dann entstehen, wenn man die öffentliche Meinung als Grundlage einer neuzeitlichen Politik und eines neuzeitlichen Staatsverständnisses versteht und beschreibt. Ein solches Konzept muß sich vor allem mit dem philosophischen und soziologischen Problem auseinandersetzen, wie das Eine und die Vielen, unio'
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Die Situation der lauschenden Schlachtenbummler Drydens erinnert an den modernen Topos der Neugierde, wie ihn Blumenberg 1996 und 1979 analysiert hat. Die Alphabetisierungsrate bei Frauen nimmt im späten 16. und das ganze 17. Jahrhundert hindurch stark zu, bleibt jedoch sozial deutlich differenziert. Siehe Cressy 1980, 176f.; Aughterson 1995, 167f.; Keeble 1994, 264f.; Pearson 1996; Wheale 1999, 1 0 5 - 3 1 . Diese Entwicklung ist Teil eines langfristigen Wandlungsprozesses des Lesens vom Wissens- und Bildungsinstrument des (weitaus stärker männlich geprägten) Humanismus zum Erzeugungs- und Verbreitungsmedium von Gefiihlszuständen und Meinungen für (auch weibliche) Romanleser im Boudoir des 18. Jahrhunderts; siehe Zwicker 2003, 311. Siehe unten Kap. V.2. Siehe zu diesem BegrifFBal 1997, 1 4 2 - 6 1 .
und 'multitudo',10 private und öffentliche Interessen11 miteinander in Übereinstimmung gebracht werden können. Wie muß ein politisches Ordnungsgefüge gebaut sein (und wie kann es stabil gehalten werden), dem es gelänge, die vereinzelten und verschiedenen Körper von Individuen und Gruppen von Individuen in einem einzelnen politischen Körper ("body politic", von Hobbes definiert als "a union of many men"12) zu vereinen, welcher dann von einer einzelnen souveränen Absicht vorangebracht und stabilisiert wird, obschon jedes Individuum und jede Gruppe, die den politischen Körper ausmacht, von unterschiedlichen Interessen und irreduziblen Leidenschaften angetrieben wird, "every one [...] as his fancy led him"?13 Wie Dryden sehr wohl weiß, kann eine zentralisierte, hierarische soziale Ordnung bei militärischen Operationen mit großer Effizienz funktionieren ("our Country men, under the happy conduct of his Royal Highness"); sie ist jedoch sehr viel schwieriger aufrechtzuerhalten, sobald ein öffentliches ,Wir' in immer kleinere Unterteilungen sich aufspaltet, die selbst dann noch in unterschiedliche Richtungen laufen, wenn sie ein gemeinsames Ziel verfolgen. Diese Schwierigkeit bekommt nicht zuletzt seine königliche Hoheit, der Herzog von York und spätere König James II. am eigenen Leib zu spüren, wenn er vom Gegenwind der öffentlichen Meinung (und der von ihr herbeizitierten militärischen Übermacht Wilhelms von Oranien) 1688 vom Thron und aus dem Land gejagt wird. Die traditionell von den Royalisten der Stuart-Ära verteufelte öffentliche Meinung gerät im 17. Jahrhundert mit der überkommenen englischen Rechtsordnung in einen Konflikt, den die öffentliche Meinung 1688 erstmals in der englischen Geschichte für sich entscheiden kann. Welche Rolle spielen Literatur und Rhetorik in der Gestaltung des 'body politic' und insbesondere in diesem Konflikt zwischen Rechtstradition und öffentlicher Meinung? Diese Frage wird von Dryden im Essay of Dramatick Poesie nicht ausdrücklich gestellt, aber das Rauschen seiner rhetorischen Figuren, das die Aufmerksamkeit auf die Wirkungsweise ebendieser Figuren lenkt, ist auch in dieser Hinsicht beredt inmitten der Stille. Der Essay inszeniert eine literaturVgl. die komplexe Analyse (und Rekombination) dieser Begriffe in der Sprache der .Repräsentation' in Hobbes' Leviathan 1.16: "A Multitude of men, are made One Person, when they are by one man, or one Person, Represented; so that it be done with the consent of every one of that Multitude in particular. For it is the Unity of the Representer, not the Unity of the Represented, that maketh the Person One. And it is the Representer that beareth the Person, and but one Person: And Unity, cannot otherwise be understood in Multitude" (Hobbes 1996, 114). " Zur Emergenz einer Sprache des Interesses siehe Gunn 1969; Schweikart 1986, 38—45. 12 Hobbes 1994a, 2.27.7, 167. 13 Zur Vorgeschichte der organischen Analogie zwischen dem menschlichen und dem Staatskörper in England siehe Haie 1971. Die dem körperlichen Organmodell nachempfundene Letzteinheit religiöser und sozialer Systeme nach dem Vorbild des mystischen Leibes bei Paulus (1 Kor. 12.12), die "noble synecdoche" (Κ. Burke) von Teil und Ganzem, von Mikro- und Makrokosmos verliert in der frühen Neuzeit zusehends an intuitiver Geltung — und wird auch deshalb von Hobbes rationalisiert. Vgl. Hillman/Mazzio 1997b, xiii, xxv Anm. 11, xxvf. Anm. 17 (BurkeZitat). 10
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theoretische Debatte vor dem Hintergrund des bedeutendsten Siegs der Engländer in allen drei Kriegen gegen die Niederlande. So verbindet er internationale Politik mit nationaler Poetik auf suggestive Weise. Des weiteren insinuiert er eine Bevorzugung englischer Heterogenität und Mischform gegenüber (französischem) Absolutismus im literarischen ebenso wie im politischen Bereich.14 Wie viele Autoren seiner Zeit kann Dryden die Entzifferbarkeit vielschichtiger Anspielungsebenen noch voraussetzen und auf die Fähigkeit seiner Leser vertrauen, den ,Lärm' inmitten der Stille ausfindig zu machen, der das polemische Zentrum seines Textes bildet: die Stille, die auch die Stelle ist, an welcher der Text auf seine eigenen Wirkungsbedingungen und -Strategien reflektiert. Die Notwendigkeit und die Rationalität eines solchen strategischen Sprachgebrauchs und seiner Reflexion wird indirekt durch den letzten Absatz von Drydens Essay belegt, der den narrativen Rahmen des Textes schließt. Die Schlacht ist geschlagen, aber der Prozeß der Desintegration, den Drydens erster Absatz noch aufhalten will, wird eher noch verstärkt. Der Text endet mit der abrupten Auflösung seines literarischen Quartetts: "Walking thence together to the Piazze they parted there; Eugenius and Lisideius to some pleasant appointment they had made, and Crites and Neander to their several Lodgings" (81). Das italienische Wort piazza' ist zu Drydens Zeit eine gebräuchliche Bezeichnung für die Nordund Ostseite von Covent Garden, dessen Wahl als letzte ,Szene' für Drydens Essay die Modernität seines Settings und seines literarisch-politischen Denkens unterstreicht. Covent Garden wird 1631 außerhalb der Londoner Stadtgrenzen gebaut und signalisiert die Ausbreitung eines aristokratisch-eleganten, auf die Zurschaustellung von Reichtum ausgerichteten neuen Lebensstils15 sowie den Niedergang der älteren Gesellschaftsordnung, in der Reich und Arm in den Pfarrgemeinden der City neben- und durcheinander leben. Covent Garden verkörpert zugleich die ökonomische und symbolische Macht der Säkularisierung, denn die neuen Gebäude werden auf dem Gelände des ehemaligen Konvent-Gartens der Westminster-Abtei errichtet und danach auch benannt. 16 "The Convent Garden piazza was an instant success and it immediately led to the development of the surrounding streets. [...] Leading courtiers poured in applications for the gracious houses overlooking the square and Bedford's claim that it would be 'fit for the habitations of gentlemen and men of ability' [...] was triumphantly vindicated." 17 Die 'piazza' ist selbst ein theatraler Raum für gesellschaftliche Selbstdarstellung u n d Selbstreflexion; sie ist der emblematische Raum für ein neues Verständnis von Gesellschaft, das kapitalistisch ist sowohl in seiner ökonomisch-
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Vgl. Kroll 2002, 25f. Siehe hierzu Burke 1993. Siehe auch McKendrick/ Brewer/Plumb 1982; Weatherill 1988; Shammas 1990. Picard 1997, 9. Jenkins 1975, 28; vgl. Schweikart 1986, 53f.
konsumistischen Ausrichtung als auch in seinem Fokus auf die Kapitale, auf London als urbane und zentrale soziale Bühne. Ihre neoklassische, palladianische Architektur, entworfen vom (auch als Bühnenbildner tätigen) Inigo Jones, ist ein Ergebnis städteplanerischer Bemühungen anstelle von dem Zufall überlassenem ,organischen' Wachstum: "elegant, uniform fa9ades, instead of [...] fiercely idiosyncratic and 'misshapen' houses". 18 Covent Garden ist das Emblem der dramatischen Idealvorstellungen von Drydens Neander ebenso wie das steingewordene Gesellschaftsideal seiner Epoche, in welcher elegante Uniformität höher gewertet wird als häßliche Idiosynkrasie und diese Wertung in spektatorialer, theatraler und ästhetischer Terminologie ausgedrückt wird. Auffällig ist darüber hinaus, wie stark Drydens Verwendung des italienischen Wortes für ,Platz', obschon er in diesem Fall nur dem populären Sprachgebrauch folgt, gefärbt ist mit einer Anspielung auf den italienischen Renaissancehumanismus und auf republikanisches Gedankengut - eine Anspielung, die im politischen Klima der späteren Stuartzeit nur (doppelt) ironische Funktion haben kann: ein typischer Fall von 'wit', der seine Gefährlichkeit für das königliche Prärogativ herunterspielt und dennoch, trotz seiner ironischen Verspottung demokratischer Prinzipien, nicht umhin kann, den politischen Machtzuwachs der öffentlichen Meinung und der Medien in der zweiten Jahrhunderthälfte zu registrieren - eine Entwicklung, die schließlich in der 'Exclusion Crisis' und den sozialen Verwerfungen um den 'Popish Plot' in den späten siebziger und frühen achtziger Jahre deutlich zutage treten wird. 19 Ist der öffentliche Platz (agora, forum, piazza) ein Ort der Begegnung, des Kontakts, des Ubergangs, Austausche und Handels, so ist er doch zugleich, wie Drydens Essay nahelegt, ein Ort der Trennung, Unterscheidung und Individualisierung. Für das Theater — und darüber hinaus für jeden Text als kulturelles Ereignis im öffentlichen Raum - ist dieser duale Aspekt wesentlich; er ist vielleicht sogar entscheidend für das Verständnis der Rolle der Medien und des Beziehungsgeflechts zwischen Autoren, Texten und Lesern in der Kultur der frühen Neuzeit. Öffentlichkeit 20 ist ein Raum für Differenz ebenso wie für Einheit. Sie gibt der Einheit unterschiedlicher Beobachtungen und Darstellungen eine soziale Form. Sie schafft Distanz zu Informationen, um Unterscheidungen flexibler
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Picard 1997, 24. Das Wort 'piazza' hat auch eine literarische Dimension. In Miltons Areopagitica (1644) wird es zur Beschreibung des Öffentlichkeitsaspekts gedruckter Bücher verwendet und zugleich zur Verspottung der barocken Zensurpraxis seitens der katholischen Kirche: "Sometimes 5 Imprimaturs are seen together dialogue-wise in the Piatza of one Title page" (Milton 1959—82, 2: 480—570, 504). Gegen Habermas 1962, der die Entstehung von Öffentlichkeit erst fur das 18. Jahrhundert ansetzt, gibt es gute Argumente für das siebzehnte, obschon nicht notwendigerweise zu Habermas' rationalistischen Bedingungen. Siehe Achinstein 1994, 9: Norbrook 1994. Kaffeehäuser ζ. B., die Habermas erst fur die Zeit nach 1688 veranschlagt, lassen sich schon in den frühen 1650er Jahren nachweisen; siehe Pincus 1995, der im übrigen auch dieThese bestreitet, es habe sich bei den Kaffeehäusern um exklusive "male haunts" gehandelt (Picard 1997, 209). 21
handhaben zu können. 21 Hier werden öffentliche wie private Diskurse (und deren jeweilige Grenzen), werden gemeinsame Werte und umstrittene Übereinkünfte ausgehandelt; hier treffen Repräsentationen und Figurationen gesellschaftlicher Wirklichkeit auf individuelle Befindlichkeiten, Medialisierungen von Macht auf ,bloßes Leben' (Benjamin), gehen womöglich Verbindungen von unterschiedlicher Dauer und Intensität ein, differenzieren und trennen sich aber auch wieder voneinander, um sich "to their several Lodgings" zu begeben, jedoch nicht ohne einander dabei zu beeinflussen und zu verändern. Öffentlichkeit bildet sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts als das genaue Gegenteil älterer (feudalistischer) Imaginationen sozialer Einheit als 'commonwealth' oder 'common-weale', die noch eine „Zentralfusion in einer letzten Einheit" behaupten. 22 Alle Arten von Textkommunikation (ob handgeschrieben oder gedruckt, gesprochen, rezitiert oder aufgeführt) fungieren als Medien des gesellschaftlichen Austausche und der Reflexion in der frühmodernen Öffentlichkeit und in den soziokulturellen Transformationsprozessen der 'republic of letters'. Insofern sie die kulturellen Folgen neuer öffentlicher Kommunikationstechnologien reflektieren, tragen sie ihrerseits zu diesen Wandlungsprozessen und Medienumbrüchen bei. Ein theoretischer Begriff dieser Funktion von Textkommunikation im 17. Jahrhundert wird in Kap. 1.3 entwickelt, das theoretischen und methodologischen Fragen gewidmet ist. Zunächst jedoch gilt es, eine historische Perspektive auf die Öffentlichkeit der 'republic of letters' zu eröffnen und die Voraussetzungen literarischer Kultur im England des 17. Jahrhunderts darzustellen.
2. Historische Ausgangslage Renaissance, Reformation und Gegenreformation haben die westeuropäische Welt des 17. Jahrhunderts gesellschaftlich wie intellektuell geprägt. Sie hinterlassen eine komplexe und semantisch hoch aufgeladene Kultur, in der der Einfluß der katholischen und protestantischen Kirchen vorherrscht. Alteuropa ist noch recht spärlich besiedelt; die zwei größten Urbanen Zentren, deren Einfluß sowohl wirtschaftlich als auch kulturell besonders intensiv ist, sind Norditalien und die Niederlande. Für europäische Verhältnisse befindet sich der britische Archipel 21
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Vgl. Luhmann 1984, 597. Die frühneuzeitliche Öffentlichkeit ließe sich beschreiben als vormoderner Ursprung von Systemdifferenzierung: Sie gestattet als ersten Schritt zur Evolution sozialer Systeme eine Limitation und differenzspezifische thematische Selektion von Informationen. Luhmann 1984, 599. Zum commonwealth-Begriff vor Hobbes siehe Sharpe 2000b, 38-123. Spannungen zwischen Einheit und Differenz in der frühneuzeitlichen Öffentlichkeit treten deutlich zutage im von Pocock untersuchten Konflikt zwischen Kommerz und Tugend in der republikanischen Theorie, aber auch im Mangel an „eindeutigen Unterscheidungen [...] zwischen einer »modernen* Rationalität, dem klassischen Diskurs der staatsbürgerlichen pbronesis und dem apokalyptischen protestantischen Glauben an fortschreitende Offenbarung" (Norbrook 1994, 10).
mit einer Bevölkerung von ca. fünf Millionen zu Beginn des Jahrhunderts noch im Mittelfeld der Handels- und Kulturentwicklung. Doch die Bedeutung Londons als Handelszentrum mit einer Bevölkerung von 300.000 Menschen im Jahre 166023 wächst stetig, und mit ihr die internationale Anziehungskraft der beiden Universitäten in Oxford und Cambridge, die als intellektuelle Knotenpunkte in engem Kontakt mit dem kontinentalen Humanismus stehen. Statistischen Berechnungen zufolge ist die Mehrheit der männlichen Bevölkerung (ca. 70%) und fast die gesamte weibliche Bevölkerung des Lesens und Schreibens unkundig; wer jedoch lesen und schreiben kann, hat keine allzu schlechten Chancen, in den Genuß weiterer Bildung zu gelangen (etwa einer von fünfzehn),24 und wer es bis Oxford oder Cambridge schafft, den erwartet nicht nur eine sehr gute Erziehung (die weitestgehend in Latein stattfindet, das noch wie eine lebendige Sprache behandelt wird), sondern auch die hohe Wahrscheinlichkeit einer guten Stellung nach Beendigung des Studiums. Bildung ist zudem kein Privileg der Aristokratie oder der Oberschicht mehr, sondern steht mit einiger Regelmäßigkeit auch dem männlichen Nachwuchs aus der sogenannten 'middling sort (Bauern, Handwerker, Händler) offen und in manchen Fällen auch hochbegabten Armen, für die es Stipendien gibt (die 'sizars' in Cambridge). Bildung kann auch einen Zugang zu gesellschaftlichem Aufstieg eröffnen. Berühmte Beispiele aus der frühen Neuzeit in England sind die Intellektuellen John Seiden (ein Bauernsohn), Francis Bacon (Enkel eines Schäfers), Thomas Hobbes (Sohn eines wenig gebildeten Pfarrers) und John Locke (Sohn eines ärmlichen Anwalts auf dem Land). Doch die beruflichen Möglichkeiten, die sich diesen gut ausgebildeten Gelehrten eröffnen, sind nicht akademischer Natur. Es gibt noch keine Professionalisierung der Philosophie als akademische Disziplin. Wer philosophische Schriften verfaßt, tut es nicht, um Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Auch diejenigen, die solche Texte hervorbringen, die man als ,Literatur' im engeren Sinne (Epos, Drama, Lyrik) bezeichnen könnte, betrachten das Schreiben nicht als ihren Beruf und können auch nicht erwarten, mit dem Verkauf ihrer Bücher ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Zwar florieren die Verlage und Druckereien, so daß die Schwierigkeit nicht darin besteht, einen Verleger zu finden. Bücher sind jedoch immer noch sehr teuer. Die Erstausgabe von Hobbes' Leviathan kostet acht Shillings, "more than most ordinary laborers earned in a week".25 Ein Tantiemensystem gibt es noch nicht, nur das heikle und aus Sicht des Autors immer mit Unsicherheit verbundene System der Patronage. Indem sie ihr Werk einem wohlhabenden und einflußreichen Gönner widmen, können Autoren auf eine großzügige Be-
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Picard 1 9 9 7 , 3 . Tuck 1993, 2 fundiert seine Berechnung auf Informationen in Wrigley/Schofield 1981 und Stone 1964, 41—80. Vgl. Cressy 1980. In London liegt die Alphabetisierungsrate ungleich höher (60% der erwachsenen Männer können lesen); siehe Achinstein 1994, 12. Malcolm 1996, 14. Weitere soziologische Details bei Laslett 1973.
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lohnung hoffen. Die übrige Zeit müssen sie sich auf Einkünfte aus anderen, nichtliterarischen Quellen stützen, häufig - wie im Falle Hobbes' und Lockes - als Mitglieder eines aristokratischen Haushalts; eine Stellung, die ihnen finanzielle Sicherheit, Zugang zu einer gut bestückten Bibliothek und nicht zuletzt Schutz vor politischer Verfolgung gewährt. Aus all diesen Faktoren ergibt sich ein Bild der Buntheit und Unbeständigkeit der 'republic of letters'. Sie ist "inhabited equally by churchmen, physicians, noblemen, officers of state, schoolmasters, and even, in the case of [...] Sir Kenelm Digby, a one-time amateur pirate".26 Doch diese „enorme Vielfalt intellektueller Positionen"27 führt noch nicht notwendigerweise zu einer Binnenreflexion der Vielfalt oder der Kontingenz unterschiedlicher Beobachterstandpunkte.,Kultur' im modernen semiotischen oder soziologischen Verständnis als Vergleichsperspektive zwischen unterschiedlichen Beobachterpositionen oder als "a form of reflexive self-consciousness (interpretation) which requires differentiation and relations between communities and groups"28 hat sich noch nicht bzw. noch nicht vollständig etabliert. Einer solchen Reflexivität des Kulturellen sind enge (positions- und handlungsdeterminierte) Grenzen gezogen: "the way of looking at the world which anyone adopted depended very much on what kind of activity they were committed to". 29 Zwar gibt es ein gewisses, mehr oder weniger weitreichendes Maß an funktionaler Differenzierung' (Luhmann), zu deren Reflexion das antike Vokabular der 'officia' bereitsteht,30 aber die Relativität und Kontingenz unterschiedlicher Standpunkte, die Möglichkeit, daß ,die Dinge' sich auch ganz anders verhalten oder anders dargestellt werden könnten, wird nur selten beachtet. Und doch gibt es in der frühen Neuzeit einen deutlichen, zuweilen auch thematisierten Hiat zwischen dem Wirklichen und seiner Dar-
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Malcolm 1996, 14. Tuck 1 9 9 3 , 4 . MacCannell/MacCannell 1982, 77. Siehe auch Luhmann 1995; Baecker 2001. Tuck 1993, 4. Zum in der frühen Neuzeit vorherrschenden flexiblen Begriff des Amtes' (nach Cicero, De ofßciis) anstelle eines stabilen .Selbst1-Verständnisses der Person oder eines modernen Identitätsbegriffs siehe Condren 2002: "non-corporeal, moral and social identity was perceived in terms of legitimate, socially-embedded offices, understood as specifications of determinant duties or obligations. [...] There were no distinct or supervening selves, agents that fashioned, or even, inhabited, offices; similarly it was not that power constrained or moulded selves to something less than the full autonomy they craved. It was rather that specification o f an office amounted to a partial description of the person. [...] When, for example, 'man was distinguished from 'office', that human residue was not [...] supposed to be any autonomous moral agent or individual; it was bracketed for potential respecification in terms of further official attributes. [...] T h e corporeal was a virtual semiotic system for the official" (115f.). Ein Amt konnte als "layered and relational" verstanden werden (122). Eine Beschreibung frühneuzeitlicher Individualität als amtsbezogen (und nicht selbstbezogen) ermöglicht eine größere Genauigkeit und Subtilität im Umgang mit Verschiebungen und Laminationen von Individualität, geht also über eine bloße Dialektik von Subversion und Anpassung hinaus (vgl. hierzu Condrens Diskussion von Richard II und 2 Henry IV, 120ff.). Der von Condren in Frage gestellte Ansatz findet sich v. a. bei Greenblatt 1980.
Stellung bzw. Repräsentation. Tuck weist in diesem Zusammenhang etwa auf die Disparität zwischen der an den Universitäten unterrichteten Morallehre (die hauptsächlich auf die Stoa, insbesondere auf Cicero rekurriert) und den wirklichen ethischen und politischen Haltungen derjenigen hin, die mit Regierungsgeschäften zu tun haben. Auch auf den zunehmend unlösbaren Kontingenzdruck, der aus der Konfrontation unzulänglich gewordener Ordnungsvorgaben (z.B. Gattungstraditionen) mit empirischer Erfahrungswirklichkeit resultiert, ist in diesem Zusammenhang hingewiesen worden. 31 Die Frage nach der Spannung zwischen einer Gegenwart und ihren Sinnsystemen ist nicht nur eine Frage nach der Stabilität oder Instabilität von Weltbildern und deren literarischer Modellierung oder Reflexion. Sie führt auch zu Fragen nach dem sozialen Ort und nach der Funktion bzw. dem Funktionswandel literarischer Kultur in der frühen Neuzeit. Hier zeigt sich, daß literarische Kultur außerhalb akademischer Institutionen deutlich imaginativer und für Nuancen sensibler erscheint als etwa im eher sterilen Moraldiskurs an den Universitäten. 32 Kultur im Sinne einer Kultivierung personaler, d. h. von den jeweiligen Orientierungsvorgaben von officia nicht unmittelbar beanspruchter Qualitäten spielt im öffentlichen,,aktiven' Leben eine größere Rolle als in der Vita contemplativa' des akademisch bestallten Gelehrten. Zur Bezeichnung einer solchen Kultiviertheit, für ein komplexes Selbst- und Weltverhalten, das empfänglich ist für Poesie und Theater, empfindlich fiir stilistische Nuancen und geschult in der Konversationskunst, dient der Begriff 'wit', der sowohl eine Eigenschaft: als auch eine Person bezeichnen kann, die über diese Eigenschaft verfügt. 33 'Wit' (frz. 'esprit') ist das frühneuzeitliche Äquivalent eines reflexiven kulturellen (Selbst-)Bewußtseins: die Fähigkeit, über die Wahrnehmungsgrenzen eines Amtes oder einer Gemeinschaft hinaussehen zu können. Im theoretischen Diskurs der Zeit bildet die Trias 'wit - fancy - judgment' zudem einen wichtigen Konvergenzpunkt wissenschaftlicher Epistemologie und Literaturtheorie im 17. Jahrhundert. 34 Sir William Davenant, einer der ,Väter' neoklassischer Poetik in England, vergleicht 'wit' mit einem Spinnennetz "considerately woven out o f our selves". Dieses selbstreflexive Gewebe sei das Produkt der Verbindung natürlichen Talents und harter Arbeit, absichtlicher Planung ("consideration") und Zufall ("chance"), die in einem "new designe" gipfele. 'Wit' sei "the laborious, and the lucky resultances of thought, having towards its excellence (as wee say of the strokes o f Painting) as well a happinesse, as care", "not only the luck and labour, but also the dexterity of thought; rounding the world, like the Sun, with unimaginable motion; and
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Vgl. Pfeiffer 1977, der im Ausgang des Mittelalters ein „Auseinanderbrechen der Allegorie in formalisierte Figuren und empirische Wirklichkeit" diagnostiziert (590); zur Problematik von Spensers Faerie Queene ebd. 5 9 1 - 9 9 . Tuck 1 9 9 3 , 4 . Zur Geschichte dieses Begriffs siehe Reik 1977, 137. Siehe Nate 2001, 183-194; zur Weiterentwicklung im 18. Jahrhundert Sitter 1991. Siehe auch unten Kap. III und V.
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bringing swiftly home to the memory universall survays." 35 Der Einfluß dieser Begriffsbestimmung bleibt auch in der zweiten Jahrhunderthälfte durchgängig spürbar; wesentliche Bestandteile kehren ζ. B. in Drydens Beschreibung von "Wit written" als "the happy result of thought, or product of [...] imagination" wieder. 36 In eine moderne Begriffssprache übersetzt, bedeutet 'wit' die Fähigkeit oder Begabung, die Flüchtigkeit und Komplexität gesellschaftlicher Wirklichkeit auf situationsadäquate und intersubjektiv überzeugende Art und Weise zu handhaben oder zu kontrollieren ('survey'): "all that finde its strength [...] worship it for the effect? ?Ί Diese Wirkungen des 'wit' beziehen sich nicht nur auf künstlerische oder dichterische "greatnesse", sondern lassen sich spezifizieren in bezug auf unterschiedliche gesellschaftliche Ämter und deren erfolgreiche Handhabung: It is in D i v i n e s Humility, Exemplarinesse, a n d M o d e r a t i o n ; In S t a t e s m e n Gravity, V i g i l a n c e , B e n i g n e C o m p l a i s a n c y , Secrecy, Patience, a n d D i s p a t c h . In Leaders o f Arrays Valor, Painfulnesse, T e m p e r a n c e , Bounty, D e x t e r i t y in P u n i s h i n g , a n d rewarding, a n d a sacred C e r t i t u d e o f p r o m i s e . It is in Poets a full c o m p r e h e n s i o n o f all recited in all these; a n d an ability to b r i n g those c o m p r e h e n s i o n s [sic] into action [...]. (18f.)
Literatur ist hier nicht von anderen gesellschaftlichen Bereichen oder Teilsystemen isoliert, sondern hat eine integrative Funktion der "comprehension", der durch 'wit' ermöglichten Bündelung unterschiedlicher ,officieller' Diskurse. Nach Davenant besteht die diskursive Funktion der Dichtung in ihrer Erinnerung an "the true measure of what is of greatest consequence to humanity, (which are things righteous, pleasant and usefull)" (19). Sie erinnert daran, was in den einzelnen 'officia' heilig zu halten sei, einschließlich der fur militärische Führungseliten unerläßlichen "sacred Certitude" des Sieges (ebd). Poetische Texte unterscheiden sich von anderen dadurch, daß sie die Diversität unterschiedlicher 'officia' und ihrer jeweiligen Beobachterpositionen bündeln und flir neue Handlungen produktiv machen können ("to bring those comprehensions into action", ebd.). In einer Zeit, in der Dichter und Gelehrte in viele verschiedene soziale Funktionen eingebunden sind (ζ. B. in der Armee wie Davenant während des Bürgerkriegs, oder als Hauslehrer und Ratgeber in aristokratischen Familien wie Hobbes, oder in politischen und diplomatischen Ämtern wie Milton), muß die Vorstellung einer Autonomie des Literarischen in Relation zu bestimmten anderen Textgattungen oder die Vorstellung einer besonderen literarischen 1 Lesart bestimmter Texte im Gegensatz zu nichtliterarischen oder nichtfiktionalen Lesarten bestimmter anderer Texte sinnlos erscheinen. Zeitgenössische Leser achten vielmehr auf den pragmatischen, handlungsorientierten Gebrauchswert der Texte, einschließlich poetischer Texte, welche dadurch eine etwas privilegierte
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Davenant 1971b, 18. Dryden, "An Account of the Ensuing Poem, in a Letter to the Honorable, Sir Robert Howard" (Vorwort zu Annus Mirabilis, 1666), in: Works 1 : 4 9 - 5 6 , 53. Davenant 1971b, 18, Herv. IB. Weitere Zitate in Klammern.
Stellung einnehmen, daß sie die Diversität unterschiedlicher 'officia' und ihrer Einzelgesichtspunkte ,ballen', d.h. einschließen und zugleich transzendieren können ("full comprehension"). Im Europa des 17. Jahrhunderts gibt es keine professionellen Leser von Literatur, keine Literaturkritiker oder Literaturzeitschriften. Wenn es dennoch eine literarische Kultur gibt, so ist sie ein funktional bestimmter Teil eines größeren diskursiven Feldes: ein Teil, der durch seine besonderen Wirkungen oder seinen Nutzen für andere ,officielle' Verhaltensformen und Aktivitäten spezifiziert werden kann, aber nicht als unabhängiges, autonomes Ganzes in den Blick gerät. Auch hier läßt sich jedoch ein Auseinandertreten von theoretischem Anspruch und sozialer Wirklichkeit beobachten, das nicht nur in Davenants Scheitern als Epiker (Gondibert, 1651) symptomatisch wird. Dies hat v. a. mediengeschichtliche Gründe. Trotz seiner Feier der diskursbündelnden Kraft des 'wit' ist sich Davenant - der 1638 nach Ben Jonsons Tod Englands zweiter 'poet laureate' wird - wie viele seiner Zeitgenossen der beklagenswerten Tatsache bewußt, daß die Beziehung zwischen Autoren und ihren Publika im Zeitalter des Buchdrucks zunehmend ungewiß, kontingent und hochgradig labil geworden ist. So kennzeichnet eine charakteristische Ambivalenz das, was man mangels eines besseren Begriffs als medientheoretische Reflexion im 17. Jahrhundert bezeichnen kann: eine Ambivalenz zwischen einerseits großen Hoffnungen und manchmal extrem überzogenen Erwartungen, was die Möglichkeiten und Wirkungen von Medien im öffentlichen Leben anbelangt, und andererseits abfälligen oder sarkastischen Bemerkungen zur eingebauten Schwierigkeit oder sogar Vergeblichkeit literarischer Kommunikation. Davenant etwa, wie auch Milton, verkündet mit glühendem Eifer seinen Glauben an die ideologische Kraft poetischen Schreibens, das die öffentliche Meinung beeinflussen und sogar überzeugen könne, aber noch beinahe im selben Atemzug bemerkt er den trotzigen Widerstand des Lesers, seinen (und Davenant geht in diesem Zusammenhang immer von einem Leser männlichen Geschlechts aus) eingefleischten Unwillen, die Autorität des Autors anzuerkennen und sich seinen Anschauungen zu beugen, seien diese ästhetischer oder politischer Natur. Wie Davenants Beispiel — in Vorwegnahme der vernichtenden Kritik an den ersten drei Büchern seines nie vollendeten Heldenepos Gondibert — zeigt, können Leser buchstäblich als Feinde des Autors angesehen werden, die dieser im militärischen Sinne überrumpeln ("surprize") und für die Dauer der Lektüre gefangenhalten müsse ("prisoner for a time"). Ja, Davenant gibt seinen Kritikern unabsichtlich eine Legitimationsgrundlage fur ihre Angriffe auf seine schriftstellerische Souveränität, wenn er hinzufügt, "and commonly Readers are justly Enemyes to Writers".38 (17). Nach dem literarischen Desaster des Gondibert wendet sich Davenant der für ihn weitaus erfolgreicheren Arbeit als Theatermacher zu, ist verantwortlich für die erste öffentlich
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Davenant 1971b, 17. Siehe unten Kap. III.3.
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aufgeführte Oper in England (The Siege of Rhodes, 1656) und gründet 1660 das Duke's Theatre in Lincolns Inn Fields, das er bis zu seinem Tod 1668 leitet. Damals wie heute gibt es natürlich keine Garantierezepte für literarischen Erfolg. Aber die Unsicherheit der Buchdruck-Kommunikation ist eine Erfahrung, die eine verstärkte Reflexion auf die spezifischen Unterschiede zwischen literarischer' (als gedruckter und veröffentlichter) Kommunikation und anderen, unmittelbareren Formen sozialer Interaktion nach sich zieht. Als Hobbes 1628 seine Thukydides-Ubersetzung in Druck gibt, die ausdrücklich die Verbindung zwischen Sprache und Öffentlichkeit problematisiert, merkt er im Vorwort an: "there is something, I know not what, in the censure of a multitude, more terrible than any single judgment, how severe or exact soever".39 Hobbes artikuliert das Unbehagen, das entsteht, wenn man sich dem Urteil gänzlich unbekannter Fremder über gewaltige räumliche und vielleicht sogar zeitliche Entfernungen ausgesetzt sieht und versuchen muß, diese Distanz und diese Unbestimmtheit der Kommunikation mit Hilfe auktorialer Strategien bereits im Vorfeld zu überwinden oder wenigstens aushaltbar zu machen. Für dieses "I know not what", dieses der Kultur des Buchdrucks eigene Element der Ungewißheit und Unsicherheit fehlt selbst dem sonst so wortgewandten Hobbes ein fester Begriff. Die frühneuzeitliche Buchdruckkultur erweitert die Möglichkeiten literarischer Autorschaft und auch politischer Autorität, aber sie schwächt zugleich deren Geltung, indem sie sie entpersonalisiert.40 Mit dem wachsenden Unbehagen in der Kommunikation mit vollkommen fremden Menschen über gewaltige Entfernungen in Raum und Zeit werden neue auktoriale Strategien erforderlich, mit denen „die hermeneutischen Freiheiten von Lesern eingeschränkt werden können". 41 ^Autoritative' Fiktionen und "fictions of state" 42 verzichten mehr und mehr darauf, ihr fiktives und strategisches Wesen zu verheimlichen. Die öffentliche Legitimierung und Autorisierung eines politischen Herrschers folgt immer seltener aus dessen eigenen Handlungen, sondern wird zur Aufgabe von Literaten, die akzeptable, offiziell sanktionierte Repräsentationen liefern. Während James I. noch seine eigenen Works im Folioformat herausgibt und noch dazu eine Bibelübersetzung mit seinem Namen autorisiert', ist bei Charles I. schon ein Ghostwriter für das offizielle königliche Bild zuständig (Eikon Basilike); bei Charles II. und James II. sind es Dryden (Astraa Redux) und Pope (Windsor Forest).
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Hobbes, "To the Readers", in: Hobbes 1975, 6 - 9 , 6. Zur unklaren Unterscheidung zwischen Autorschaft und Autorisierung in der frühen Neuzeit siehe Sharpe 2000a, 28f.; siehe auch Hobbes 1996, 1.16. Vgl. Griffiths/Fox/Hindle 1996. Sharpe 2000a, 44. Vgl. ebd. 55: " T h e explosion of print during the 1640s created an audience more remote and anonymous, as well as numerous, than any before; an audience harder to read and define or to address from the pulpit of dedication. Moreover, the speed with which claims to truth were exposed by events or other publications undermined the rhetoric of dedications [..·]." Love 1993, 164; vgl. Sharpe 2000a, 2 7 - 3 4 .
Das Fehlen eines modernen Literaturbetriebs und -begriffs, die noch nicht erfolgte Professionalisierung und die damit einhergehende Vielfalt der Stimmen, die in der 'republic of letters' um Aufmerksamkeit wetteifern, schärfen ein der frühneuzeitlichen Kultur eigenes Kontingenzbewußtsein. Ein Autor kann nie ganz sicher sein, ob das, was er in Druck gibt, so verstanden wird, wie er es verstanden wissen will; er kann nie die Gewißheit haben, daß er sein Zielpublikum und dessen Zustimmung erreichen wird. Im Gegenzug müssen Leser lernen, Zeichen der Manipulation und Propaganda zu erkennen, eigene Interpretationstechniken zu entwickeln und Texte .gegen den Strich' zu lesen - besonders in den Jahren des Bürgerkriegs, in denen sie durch eine gewaltige Flut von Flugschriften zu politischen Handlungen aufgerufen werden.43 In der Frage nach der kulturellen Bedeutung des Medienwechsels vom Manuskript zum gedruckten Buch scheint es keine einhellige Meinung gegeben zu haben.44 Hobbes etwa neigt dazu, sie herunterzuspielen; er nennt die Erfindung des Buchdrucks "though ingenious, [...] no great matter" im Vergleich zur Erfindung der Schrift.45 Andere zeigen sich betroffener und wettern gegen die Auswirkungen der Druckkultur - in Texten, die sie dessenungeachtet im Druck veröffentlichen. Um 1640 sieht Sir Thomas Browne sehr klar, daß die Druckerpresse eine wichtige Waffe in den politischen und religiösen Konflikten Englands geworden ist; sie sei, schreibt er, eine Erfindung, die in ihrer militärischen Anwendbarkeit dem Kompaß und den Feuerwaffen gleichkomme und daher auch deren beklagenswerte "incommodities" als Zerstörungspotential innehabe.46 Doch auf der politischen Gegenseite hat Milton die neue Lage bereits durchschaut und verwendet seine rhetorische Begabung auf die Herstellung und Verbreitung republikanischer Propaganda mit Hilfe des gedruckten Worts. Für jene, die ihre Handlungen auf der Grundlage der Heiligen Schrift rechtfertigen, bedeutet der Zugang zu relativ preiswerten gedruckten Bibeln mehr als einen Segen für das Seelenheil des einzelnen Gläubigen — er ist Munition im kollektiven bewaffneten Kampf der Gottesfurchtigen gegen ihre weniger gottesfürchtigen Gegenspieler. Hämisch begrüßt Andrew Marvell "The Press (that villanous Engine) invented much about the same time with the Reformation, that hath done more mischief
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Die Zahl der zwischen 1640 und 1661 veröffentlichten Flugschriften wird mit über 22.000 geschätzt, "surpassing the output of the French revolutionary presses over a hundred years later". Siehe Achinstein 1994, 3, 10-14, 23-24. Zu Ubergangsphänomenen der Manuskriptpubiikation siehe Love 1993; Marotti, 1995; Beal 1998. Allgemein zum Stellenwert der Handschrift in der frühen Neuzeit Goldberg 1990. Hobbes 1996 1.4, 24. Vgl. Hobbes 1990, 109, 115ff. Laut Wootton 1997 furchtet Hobbes Autoren weitaus weniger als Prediger und Redner: "He had evidently given some thought to the differences between oral and written communication. One might argue that Hobbes implies the following ranking: force; oral rhetoric; money; printed rhetoric" (238 Anm. 96). Browne, Religio 1.24, in: Browne 1964a, 25. Im Jahre 1620 führt Francis Bacon "printing, gunpowder, and the magnet" als drei Erfindungen auf, die "have changed the whole face and state of things throughout the world" (New Organon, Aphorismus 129, in: Bacon 1965, 373).
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to the Discipline of our Church, than all the Doctrine can make amends for."47 William Cavendish, Earl of Newcastle (Gatte Margaret Cavendishs und ehemals Tutor des späteren Königs Charles II.) schreibt 1659 an Charles: "controversey is a Civill warr with the Pen, which Pulls out the sorde soone afterwards". Die wachsende Schreib- und v. a. Lesefähigkeit sind ihm ein Dorn im Auge, da sie die Autorität der Regierung und der Kirche unterminierten und die soziale Hierarchie gefährdeten: "The Bible In English under Every weavers, & Chamber maids Armes hath Done us much hurte", bemerkt er und fügt nostalgisch hinzu: "when Moste was Unletterd, it was much a better world, both for Peace & warr."48 Beide Seiten im englischen Bürgerkrieg, Bilderstürmer ebenso wie Bildverehrer, wissen den Wert des gedruckten Wortes zu schätzen, und dies aus guten Gründen. 49 Wenn die Dichtkunst am Uberzeugungspotential rhetorischer Techniken legitim teilhat, dann kann sie als noch effektiveres Mittel zur Verbreitung rationaler Werte und moralischer Lehrsätze zum Einsatz kommen. Aus diesem Grund fordert Hobbes im Leviathan eine Allianz zwischen Urteilskraft und Phantasie (wie auch zwischen Wissenschaft und Beredsamkeit), empfiehlt aber zur gleichen Zeit in seiner Antwort auf Davenants Preface to Gondibert auch eine strategische Verbindung zwischen Philosophie und Dichtkunst — eine Verbindung, die in der Dichtungstheorie der Epoche schon angelegt ist, die Hobbes in seiner persönlichen Zusammenarbeit mit Davenant aber auch aktiv voranbringt und die sich in ihrer beider Essays zu Gondibert materialisiert. Diese beiden Texte stehen zunächst für sich; sie nehmen das unfertige Epos zum Anlaß theoretischen Nachdenkens über die Verknüpfungsmöglichkeiten zwischen Staats- und Dichtkunst. 50 Auch diese — beispielhafte - Autonomie des Peritexts51 im Verhältnis zum Haupttext kann als symptomatisch für die englische literarische Kultur um 1650 angesehen werden. Sie ist eine Folge des Kontingentwerdens von Ordnungsvorgaben und Empirie. Sie ergibt sich aus der Notwendigkeit, sich als Autor mit der Meinung eines schwer einzuschätzenden Publikums auseinanderzusetzen und um dessen Einverständnis zu werben. Dieses Publikum zeichnet sich dadurch aus, daß es durch politische, räumliche, diskursive und protosystemische soziale Trennlinien nicht nur binnendifferenziert, sondern fragmentiert und auch geographisch verstreut ist. Die konstitutionellen Umwälzungen des Bürgerkriegs und der ihm vorausgehenden langen Phase eines ,kalten Kriegs' zwischen König und Parlament sind gewiß Faktoren, die zur Geschwindigkeit solcher Differenzierungsentwicklungen beitragen — Entwicklungen, in deren Verlauf Differenzen als Ursachen für extremes körperliches und seelisches Leid erfahren, aber nichts47 48 49 50 51
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Marvell 1971,4. Cavendish 1984, 21, 19, 20. Siehe Anzilotti 1988; Condren 1993, 179, 183f. Siehe auch Scribner 1988; Watt 1991. Siehe unten Kap. III.2-3. Siehe Genette 2001. Der Paratext ist für Genette die Summe aller ,Peritexte' (Titel, Widmung, Vorwort, usw.) und ,Epitexte' (Autorenkommentare, Interviews) eines gegebenen Werkes. (Der Werkbegriff bleibt weitgehend unangetastet.)
destoweniger als unvermeidlich und unheilbar angesehen werden. Das insbesondere im Puritanismus als ein innerer, individualisierender Kern von Erfahrungsevidenz und Glaubensgewißheit immer wieder betonte Gewissen ('conscience') bildet ein weiteres wichtiges Element in diesen Entwicklungen, da es zur Gruppenbildung von die gleichen Uberzeugungen teilenden Individuen fuhrt sowie zu radikalen Abgrenzungen gegen andere Gruppen und andere Uberzeugungen. Derartige Individualisierungsschübe stellen ein traditionelles politisches Denken vor große Schwierigkeiten, denn in ihm ist eine .Freiheit' des Individuums stets nur innerhalb der als notwendig erachteten Grenzen des vom Souverän eingeforderten Gehorsams denkbar, bzw. als aus dem Feudalrecht bekannter Gegensatz von Freien und Leibeigenen,52 nicht jedoch als radikale Individualität einer verinnerlichten moralischen Autorität. Aufgrund dieser neuen Entwicklungen zollt man den persuasiven Kräften der Rhetorik verstärkte Aufmerksamkeit, denn selbst die unzweifelhaften wissenschaftlichen' Aussagen, die den Menschen die Unterscheidung zwischen Gut und Böse ermöglichen, können ein wenig rhetorische Hilfestellung gut gebrauchen, um eine weiterreichende Verbreitung und Akzeptanz zu erlangen — und dies ist nötig, um eine weitere Desintegration des Staatswesens oder gar eine Rückkehr zum Bürgerkrieg zu verhindern. In der Politik genügt es nicht, im Besitz der Wahrheit zu sein; man muß auch Erfolg haben, muß andere davon überzeugen (oder zumindest überreden), daß es sich in der Tat um die Wahrheit handelt. Zu diesem Zweck reicht die Überzeugung einzelner nicht aus, sondern es muß eine öffentliche Zustimmung erreicht werden, und dies kann nur gelingen, indem man die .Demagogen' (Hobbes' Begriff, bereits in der ThukydidesUbersetzung von 1628)53 mit ihren eigenen Waffen schlägt: mit der Macht der Rede, die die Leidenschaften der breiten Masse anspricht - derjenigen, die weder über 'wit' noch über 'judgment' verfugen, die durch Bilder leicht beeinflußbar und des klaren Denkens, zumeist wohl auch des Lesens nicht mächtig sind.54 Als Folge eines solchen Gedankengangs überrascht es nicht, wenn Hobbes den ideologischen Gebrauch literarischer Texte für politische Zwecke legitimiert. In keinem anderen englischen Text aus dieser Zeit wird die politische Funktion der Literatur so deutlich herausgestellt wie im Dialog zwischen Davenant und Hobbes in den zwei Einleitungstexten zu einem wohl schon damals dem kulturellen Vergessen anheimgestellten Epos. Es steht sicher außer Frage, daß viele Schriftsteller der Restaurationszeit, insbesondere Dryden und Behn, zu praktizieren suchen, was Hobbes und Davenant ihnen predigen - allzu deutlich sind die Parallelen zwischen neoklassischer Literaturkritik und dem Duett zwischen Philosoph und Dichter von 1650, das einen Dreh- und Angelpunkt in
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Vgl. Tuck 1979, 97 zu John Seiden, der 1628 in einer Parlamentsdebatte zur Habeas-CorpusAkte das Domesday Book zitiert: Uber homo est, qui potest ire quo vult. Hobbes, "Of the Life and History ofThucydides", in: Hobbes 1975, 10-27, 13. Siehe unten Kap. III und IV.2.
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der literarischen Kultur des 17. Jahrhunderts in England darstellt. Aber dies geschieht ohne Hinweis auf diese Verbindung oder diesen Einfluß. Das wiederum überrascht nicht. Hobbes hat das Pech, vom Pariser Exilhof verbannt und des Atheismus bezichtigt zu werden. Obschon er vor direkten Angriffen auf seine Person durch den persönlichen Schutz Charles' II. nach der Restauration der Monarchie sicher sein kann, halten selbst seine Bewunderer und Nachahmer mit ihrer Bewunderung hinter den Berg und vermeiden öffentlichen Beifall. Zudem führt die politische und gesellschaftliche Stabilisierung nach 1659 zu einer viel konformistischeren Mentalität, in der die ¥jsnW\\itvermeidung höher gewertet wird als eine offene Debatte über die Grundlagen politischer und konstitutioneller Praxis. Laut A. Shifflett wird das Vergessen (oblivion) nach dem Bürgerkrieg "a positive value, the theme for a new intellectual ethos",55 und mit ihm die Geheimniskrämerei und das Verbergen abweichender Ansichten in der späteren Stuartzeit. So hält ζ. B. Locke seine Arbeit an den Two Treatises of Government strengstens geheim und publiziert sie 1689 nur anonym — zu einem Zeitpunkt, als er ziemlich sicher sein kann, nicht mehr mit offiziellen Repressalien rechnen zu müssen. 56 Das Beispiel Hobbes' mag ihm dabei noch in deutlicher Erinnerung sein. In gewissem Sinn entspricht die Gesellschaft der Restaurationszeit den Vorstellungen Hobbes' viel mehr als die der Vorkriegszeit und der englischen Republik: zwar keine .wölfische', aber doch in weiten Teilen eine zynische Gesellschaft. Ihre strategische Vermeidung von Differenzen ist motiviert durch die Angst vor einem weiteren offenen Konfliktausbruch. Und obwohl in offiziellen Verlautbarungen nun wieder Legitimationsstrategien für absolute Herrschaft im "divine right of kings" 57 gesucht werden, sieht die politische Wirklichkeit sehr viel weltlicher aus. Höflinge wie der Earl of Rochester interessieren sich wenig für die göttliche Autorität ihres Königs; statt dessen persiflieren und zelebrieren sie seine Körperlichkeit und Sexualität in einer drastischen Unmittelbarkeit, die das überkommene Ordnungsschema der Zweikörpertheorie58 zugleich bestätigt, banalisiert und satirisch ummünzt: "His Sceptter and his Prick are of a Length,
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Shifflett 2003. Siehe hierzu unten Kap. IV.4. In Notizen und Briefwechsel gibt Locke seinen politischen Traktaten den sprechenden Codenamen De Morbo Galtico; bis zu seinem Tod verleugnet er seine Verfasserschaft, vielleicht aus Furcht vor einer möglichen Rückkehr James' II. auf den englischen Thron. Siehe Laslett 1988, 62f., 66. Die genaue Datierung der Entstehung der Two Treatises ist umstritten; aber selbst jene Wissenschaftler, die Lasletts Datierung auf 1679—80 widersprechen, sind der Ansicht, daß der größte Teil des Textes allerspätestens 1684 fertiggestellt ist, wahrscheinlich auch schon früher; siehe Laslett 1988, 61—66, 123—26; der Diskussionsstand zur Datierung wird referiert bei Wootton 1993, 50-64. Sir Robert Filmers Patriarcha. The Naturall Power of Kinges Defended against the Unnatural Liberty of the People (Entstehung zwischen 1631 und 1648, Erstveröffentlichung 1680 in der kritischen Phase des Stuart-Regimes) gibt die offizielle Linie zu diesem von James I. starkgemachten Thema wieder. Moderne Ausgabe Filmer 1991. Siehe Kantorowicz 1957.
/ And she may sway the one, who plays with th'other / And make him little wiser than his Brother." 59 Auch im politischen Bereich zeigt sich ein Auseinanderklaffen zwischen offiziellem Legitimationsanspruch und tatsächlicher Orientierungsschwäche. Der Hof scheint mehr Zeit und Geld für Skatologisches als für Eschatologisches aufzuwenden; seine Zentrierung auf sexuelle Selbstreferenz ist denn auch als ein Symptom seiner Isolation von der gesellschaftlichen Welt außerhalb der unmittelbaren Grenzen des Hofstaats gedeutet worden. 60 Nach der Restauration bekämpfen befeindete Gruppen einander nicht mehr mit Kriegsgerät, sondern mit virtuellen, künstlerischen Waffen. Man macht Gebrauch von elaborierten linguistischen Strategien der Täuschung und Verstellung, ähnlich wie es die Schriften Hobbes' vorwegnehmen. In einer auf Kompromisse gegründeten Gesellschaft 61 ist nur eine begrenzte Auswahl von Handlungsmotivationen sozial akzeptabel; daher gilt es oft als wirksamer, seine wahren Gründe zu verheimlichen und ein offenes Bekenntnis wahrer Absichten zu vermeiden. 62 So entsteht ein weiterer Individualisierungsschub, gleichsam als Kehrseite zur Innerlichkeit des puritanischen Gewissens: Individualität und Innerlichkeit sind dann das, was man vor anderen geheimhalten muß, um sozial erfolgreich handeln zu können. Zur vereinzelnden Sprache des Gewissens tritt diejenige des Interesses. So ist die Literatur der Restaurationszeit voller kodierter Sprachhandlungen, häufig — zumindest ohne sorgfältige Kontextualisierung - „unmöglich zu entziffern". 63 Verstellung und Heuchelei sind typische Kommunikationsformen, vermutlich auch notwendige Uberlebenstechniken für einzelne sowohl in der City als auch bei Hofe. Selbst der Begriff "politique" nimmt mehr als nur eine Schattierung von Machiavellismus und whiggistischer Manipulation an, zumal in Verlautbarungen aus dem Lager der Tories.64 Hofdichtung und 'city comedy' sind die beiden Gattungen, in denen diese Kommunikationstechniken durchgespielt und virtuell erprobt werden. Hinzu kommt eine Flut von 'courtesy books' als Ratgeber für den Einzelnen, wie er seine Ehrlichkeit wohlportioniert einzusetzen und die Künste der Konversation und Dissimulation richtig, d. h.
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"[A Satire on Charles II]", in: Wilmot 1984, 74f„ Ζ. 1 Iff.. Die pornographische Literatur der Stuart-Zeit steckt voller Anspielungen auf den königlichen Phallus. "To Reigne, and give that lawlesse member Swing. [...] / Out Flyes his Pintle for the Royall Cause / Prick foams and swears he will be absolute." Siehe Thomson 1979, 120. Siehe auch Weber 1995, 69f. In The Farce of Sodom or The Quintessence of Debauchery, einem Rochester zugeschriebenen pornographischen Stück, wiederholt König Bolloximian bereits in den ersten Zeilen die Gleichsetzung von Phallus und Zepter; siehe Wilmot 1993, 129, Z. 6ff. Vgl. Schweikart 1986, 46-53. Spurr 1998. Bestes Beispiel hierfür ist der Geheimvertrag von Dover (1670), in dem Charles II. sich dem französischen König Ludwig XIV. gegenüber verpflichtet, als Gegenleistung für französische Finanzhilfe im englisch-niederländischen Krieg den Katholizismus in England zur Staatsreligion zu machen. Das englische Parlament wird mit einem "traite simule' hintergangen, der diese Verpflichtung unerwähnt läßt. Siehe Jones 1978, 8^44. Novak 1989, vii. Vgl. John Crowne, City Politiques (1683, Crowne 1967). 33
gewinnbringend anzuwenden habe. 6 5 Diese Umstände sind in Literaturtheorie und -praxis der Restaurationszeit natürlich wohlbekannt und wirken auf die spezifische Prägung der literarischen Kultur nach 1660 zurück. D i e Gesellschaft wandelt sich in der zweiten Jahrhunderthälfte von einer "society of honor and patronage" zu einer weitgehend kommerzialisierten Gesellschaft, in der "self-advancement and contractual exchange" vorherrschend sind. 6 6 Politische Semantik stellt von mittelalterlichen Ideen des 'commonwealth' auf eine rationalisierte Ideologie des 'state' um; der Diskurs der Ritterlichkeit wandelt sich in den Diskurs der 'politeness' und des 'good breeding', die das Verhalten und die Eigeninteressen von Individuen sozialkonform konditionieren. Machiavellis Göttin Fortuna wird ersetzt durch Defoes Lady Credit. 6 7 Die langfristigen Veränderungen in der literarischen Kultur des 17. Jahrhunderts lassen sich als graduell-progressive Entzerrung unterschiedlicher Diskurse auffassen. Literarische Kommunikation wird dabei zunehmend zu einem Medium der Unterhaltung: nicht mehr der Arbeit, sondern der Muße zugeordnet. Aber diese neue Funktion des Literarischen ist zunächst nicht .autonom', sondern kontingent, weil sie in hohem Maße von externen sozialen und wirtschaftlichen Faktoren bestimmt ist und bleibt. Die Regeln, nach denen ein Text gelesen wird, werden nicht vom Text selbst festgelegt, wie stark auch immer eine auktoriale Kontrolle begehrt und in Vorworten und Widmungen behauptet werden mag. Literaturgeschichte vor 1700 ist daher notwendigerweise eine Geschichte vor ,der Literatur', weil ihr Gegenstand, wie wir ihn kennen — Literatur als ästhetische Kommunikation - noch nicht existiert. In einem weiter gefaßten europäischen Kontext gehören diese protosystemische Verzweigung und Trennung von Diskursen und der hier skizzierte Weg vom Humanismus zum Neoklassizismus und Empirismus der Vorgeschichte aufklärerischer Einstellungen zur Offentlichkeitskommunikation an. Der Rationalismus des heraufdämmernden 'age of reason' gründet auf einer kommunikativen Idealvorstellung, die mit der persuasiven Rhetorik des Humanismus nicht kompatibel ist: U m akzeptabel zu sein, darf eine Aussage nicht zugeben, daß sie literarische Strategien der Ausschmückung gebraucht, u m andere davon zu überzeugen, daß sie wahr sei. Die komplexen revisionistischen Operationen des Dekonstruktivismus und des New Historicism können vielleicht als die letzten symptomatischen Folgen dieser Normierung von Diskursen angesehen werden, die im 17. Jahrhundert ihren systematischen Anfang hat. Literarische Verfahren (jedenfalls deren offene Reflexion) werden von nun an vom H o f der Philosophie verbannt wie Hobbes v o m Hofe Charles' II. Sie genießen besonderen Schutz, werden aber weitgehend ignoriert und in den Grenzen eines kritischen
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Ζ. B. Ramesay 1672; Anon. 1673. Siehe Berger 1978, 77-111; Thompson 1982. Sharpe/Zwicker 1998,7. Siehe Langford 1989; Barker-Benfield 1992; Dickie 1996; Dickson 1967; Klein 1994.
'cordon sanitaire' gehalten. 68 In Drydens Umgang mit Dichtung und Politik in seinen Satiren der 1680er Jahre zeichnet sich eine Verschiebung der Prioritäten des literarischen Dekorums und der gesellschaftspolitischen Beobachtung ab. Dabei wird das kommunikative Band zwischen politischem und literarischem Diskurs, die einige Jahre zuvor (ζ. B. bei Davenant und Milton) einander noch untrennbar durchdrungen hatten, wesentlich gelockert. Andere Autorinnen und Autoren wie ζ. B. Behn, Congreve und Defoe wissen genau diese Schwachstellen auszunutzen, die sich im Zuge der Diskurstrennung eröffnenden Lücken zu erkunden und neue literarische Strategien aus anderen kontingenten Blickwinkeln zu entwickeln - literarische Strategien, die zur Vorgeschichte des Romans im 18. Jahrhundert gehören. 69 Dies ist kein zufälliger, wenn auch nicht der einzig mögliche Kulminationspunkt der vorliegenden Arbeit. Aber da ,der Roman' eines der wohl faszinierendsten kulturellen Objekte ist, die aus dem diskursiven Rauschen des 17. Jahrhunderts hervorgehen, ist es besonders reizvoll, seiner literarischen Epistemologie auf den Grund zu gehen und zu versuchen, einige seiner intellektuellen und kulturellen Grundlagen im emergenten Diskurs des Neoklassizismus nachzuzeichnen.
3. Theoretische G r u n d l a g e n 3.1 Kommunikation In diesem Abschnitt geht es v. a. um die Herstellung begrifflicher Grundlagen fiir ein Verständnis literarischer Kultur vor der Emergenz eines modernen Literaturbegriffs, der Literatur als ästhetisch-fiktionale Kommunikation bestimmt sieht. Will man frühneuzeitliche literarische Kultur in funktionsgeschichtlicher Sicht beschreiben, ist zunächst eine Klärung des zugrundegelegten Literaturund Kommunikationsbegriffs notwendig. Diese muß sich einfügen in eine historische Perspektive, die der Emergenz literarischer Kommunikation im frühneuzeitlichen Europa in Verbindung mit anderen Formen kulturellen Wissens Rechnung trägt. Literatursoziologische, diskurstheoretische und kulturanthropologische Ansätze haben in den letzten Jahrzehnten viel zu einem gesteigerten Problembewußtsein für die historische Bedingtheit analytischer, auch literaturwissenschaftlicher Instrumentarien beigetragen. Die grundsätzliche epistemologische Frage nach der nur schwierig zu validierenden Relationierung von Methode (analytisch-interpretatorischen Referenzrahmen) und Gegenstandsbereich 68
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Diese These steht nicht unbedingt mit der Beobachtung im Widerspruch, daß Diskursnormen, sobald sie etabliert sind, auch schon wieder relativiert und parodiert werden können (wie dies ζ. B. bei Cavendish, Shaftesbury oder Swift geschieht); vielmehr bestätigen die Tatsache ihrer Parodierbarkeit und der spielerische Umgang mit ihnen das Vorhandensein eines relativ stabilen Systems von Diskursnormen und bekräftigen dieses in seiner allgemeinen Geltung. Siehe unten Kap. V.
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- in der Literaturwissenschaft noch verschärft durch die wohl „nicht abbaubare Erklärungsinsuffizienz ästhetischer Begriffe angesichts der im poetischen Text enthaltenen Rezeptionsmöglichkeiten"70 — wird in diesen Ansätzen aber allenfalls übersprungen, nicht gelöst. In den Arbeiten Foucaults und seiner literaturwissenschaftlichen Adepten der zweiten und dritten Generation ζ. B. bleibt die Frage nach der Vermittlung von Episteme und Evolution weitgehend unbeantwortet, von der Frage nach der funktionalen Typik literarischer Texte in Relation zu anderen Kommunikationsgattungen zu schweigen.71 Selbst wenn man die kritische Beobachtung akzeptiert, daß es keine selbstverständliche oder natürliche' Zugangsweise zu einem literarischen Text gibt außerhalb bestimmter, durch interpretatorische oder andere soziokulturelle Praktiken etablierter historischer Referenzrahmen - mit anderen Worten: die Erkenntnis, daß es keine intrinsisch literarische Lesart eines literarischen Textes geben kann - , so wird die Akzeptanz dieser Erkenntnis notwendig weitere methodologische Probleme nach sich ziehen.72 Falls historisch wie geographisch oder soziologisch unterschiedliche, voneinander abgrenzbare literarische Formen (nahezu ausschließlich) mit Bezug auf und zuweilen im Konflikt mit ebenso heterogenen soziokulturellen Formationen aufzufassen sind, in welchen diese Formen ausgehandelt, modifiziert und weitergegeben werden - wie soll es gelingen, zu dieser kontingenten Relation zwischen Formen und Formationen einen diagnostischen oder hermeneutischen Zugang zu erlangen? Selbst wenn man der Behauptung gern zustimmen wollte, daß epistemologische Fragen aus der literaturwissenschaftlichen Praxis nicht ausgeschlossen werden dürfen und daß das Ästhetische kein autonomer, als selbstverständlich Gegebenes zugänglicher Bezirk des .Geistes' sei,73 so bleibt doch das Problem bestehen, daß es eine Vielzahl möglicher erkenntnistheoretischer Fragen gibt, die
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Iser 1973, 2 0 0 ; vgl. Pfeiffer 1974, 3 5 4 f f , 3 6 0 , 3 7 8 für eine a u c h nach Erlöschen der marxistischen Vulkane i m m e r noch gültige Diagnose des grundlegenden Bezugsproblems. Foucaults hierarchische O r d n u n g der Diskurse "can say n o t h i n g more powerful than 'it happened' about the shift from one [episteme] to the next": Bennington/Young 1987, 4. Siehe zur literaturwissenschaftlichen Foucault-Rezeption u n d -Kritik g r u n d l e g e n d W a r n i n g 1999. Einen kritischen Überblick über literaturwissenschaftliche Forschungspraxis u n d ihre theoretischen Grundlagen sowie den Entwurf eines möglichen .literarischen Wissens' im Sinne des in der Literaturwissenschaft erarbeiteten u n d weitergegebenen Wissens liefert Livingston 1 9 8 8 . Livingstons komplexe u n d detaillierte Diskussion verschiedener Orientierungsmöglichkeiten der wissenschaftlichen Epistemologie ist unmittelbar relevant, bietet jedoch nur wenig konkrete Hinweise zur praktischen Orientierung einer Literaturwissenschaft, der es u m epistemologische u n d kulturgeschichtliche Aspekte literarischer Texte zu tun ist; über die M e d i e n p r o b l e m a t i k der Literatur breitet Livingston einen M a n t e l des Schweigens. Vgl. 2 9 , 2 3 3 , 254f., 262f., 2 6 6 . "I t h i n k it's a false distinction to say that literary texts are aesthetic a n d therefore do not raise epistemological questions, whereas philosophical texts are scientific a n d address epistemological questions. T h a t distinction doesn't hold. Aesthetic is not i n d e p e n d e n t of epistemology. If there is a priority, that is if there has to be one, it certainly is epistemological. A n y reading m u s t include it. C e r t a i n decisions about truth a n d falsehood or certain presuppositions about truth a n d falsehood — that is, about the possibility of m e a n i n g — are epistemological." Paul de M a n in M o y n i h a n 1 9 8 6 , 155.
man an einen Text richten könnte und die sich nicht in einfaches binäres Schema „wahr/unwahr" zwingen lassen, wie de Man es nahelegt.74 Will man zu einem präziseren Begriff literarischer Kommunikation gelangen, dann muß man sich den historisch spezifischen Zugangsweisen zu (literarischen) Texten zuwenden. Einen ersten Schritt in diese Richtung bietet eine Medientheorie, die davon ausgeht, daß Medien nicht einfach Informationen oder Botschaften übermitteln, sondern ein ganzes Spektrum kontingenter Erfahrungswirkungen auslösen können, die sich nur sehr schwer in einem rein ontologischen oder substantialistischen Medienbegriff aufheben oder in traditionellen Ästhetiktheorien rationalisieren lassen. Für die Analyse solcher Wirkungen empfiehlt sich ein kommunikationsorientierter Zugang. In der Systemtheorie wird Kommunikation als dreistufiger Prozeß verstanden, der aus den Einheiten Information, Mitteilung und Verstehen besteht. Jede dieser Einheiten - 1 . die mögliche Intention eines wie immer inferierten Ursprungs; 2. der materielle Wortlaut einer Äußerung; 3. die Bedeutungskonstruktion des Rezipienten - kann sodann in Anschlußkommunikationen thematisiert, markiert oder hervorgehoben werden. Der Verlauf des Kommunikationsprozesses läßt sich jedoch von seinen Teilnehmern weder festlegen noch kontrollieren; Verstehen kann auch Mißverstehen oder Nichtverstehen bedeuten.75 "[T]he utterance cannot wholly determine the response".76 Medienwirkungen sind unberechenbar. Wenn Rezipienten dagegen emotionale Reaktionen oder ästhetische Urteile auf intrinsische Eigenschaften dessen beziehen, was sie gesehen, gelesen oder gehört haben, dann können sie einer weit verbreiteten Täuschung unterliegen, einer nicht so sehr affektiven als objektiven 'fallacy'.77 Das beschriebene oder bedruckte Blatt besitzt als Medium eine gewisse Stabilität dergestalt, daß man, sofern man den Sinn der Schriftzeichen kennt, in der Lage sein sollte zu wissen, was man etwa bei den verschiedenen medialen Erscheinungsformen der Musik niemals mit einem gleichen Grad von Gewißheit wissen kann, nämlich was der Text ist, wo er ist und ,worum es in ihm geht'. Und dennoch sind Sprachen und Mitteilungskontexte derart instabil und der Veränderung unterworfen, daß eine Mitteilung nicht notwendig die gleiche bleibt, wenn sie wiederholt wird - selbst dann nicht, wenn sie aus denselben Worten besteht.78 Texte, als Mitteilungen verstanden, haben keine zeitliche Konstanz, sondern Er-
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Es ließe sich behaupten, daß de Mans Umkehrung der Hierarchie von Ästhetik und Epistemologie nur eine Negativbestimmung durch eine andere ersetzt. Zur Problematik der Theoriebildung bei de Man siehe Berensmeyer 2001a. Siehe Fuchs 1993; Wilden 1987. Pocock 1 9 8 5 , 3 4 . Vgl. Wimsatt/Beardsley 1954 zur strategischen Ausblendung persönlicher oder emotionaler Rezeptionsdimensionen aus dem New Criticism zugunsten einer vermeintlich objektiven, szientistischen und formal .korrekten' Lesart literarischer Texte. Eine berühmte Kurzgeschichte von Borges (1994) illustriert dies: Ein Autor, der Cervantes' Don Quijote ein zweites Mal in genau demselben Wortlaut wie Cervantes schreibt, bringt dabei einen vollkommen anderen Text hervor.
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eignischarakter. Trotzdem wird immer wieder ein substantieller Bezug zwischen Text, Lektüre und aus der Lektüre gewonnenem Wissen behauptet. Es herrscht die Annahme — die immerhin einer ganzen Reihe geisteswissenschaftlicher Disziplinen als Rechtfertigungsgrundlage dient - , daß zwischen dem Wissen des literarischen Textes ,selbst', dem Wissen, das man im Akt des Lesens extrahiert, und dem, was dann als Wissen kommuniziert wird, eine Beziehung bestehe. Doch die Ansichten von Lesern über ihr Wissen, das sie vermeintlich dem Text entnommen haben, oder über die Erfahrungen, die sie während oder nach der Lektüre des Textes mit diesem gemacht haben, divergieren häufig in hohem Maße. Daraus lassen sich zwei (inzwischen zu Gemeinplätzen der Literaturtheorie gewordene) Schlußfolgerungen ziehen: 1. Verbale Konstrukte (ζ. B. literarische Texte) haben keinen intrinsisch festgelegten einstimmigen Sinn, sondern sind aufgrund ihrer sprachlichen Verfaßtheit zugleich unter- und überdeterminiert.79 2. Lektüren sind daher nicht Rekonstruktionen einer vorgegebenen verbalen Konfiguration, sondern performative (und damit historisch variable) Akte.80 Auch das Lesen hat somit eine — und vielleicht mehr als eine — Geschichte.81 Eine kulturanthropologische Sichtweise auf literarische Kommunikation hat in jüngerer Zeit sehr erfolgreich mit veralteten Prämissen aufgeräumt und Wege zu neuen Forschungsgebieten aufgezeigt, in denen der Funktionswandel literarischer Kommunikation sowie der Wandel jener Medienkonfigurationen, in die Texte eingebettet und in denen sie rezipiert werden, besonders prominente Forschungsfelder darstellen.82 In ihrer Hervorhebung der epistemologischen und kulturellen Aspekte literarischer Phänomene — der Funktion individueller Texte in bestimmten Kontexten, den kontextuellen/konventionellen Annahmen, die ihre Rezeption steuern, sowie der Interaktion zwischen diesen Ebenen - sieht sich die vorliegende Arbeit in vielerlei Hinsicht der literarischen (wie auch der Medien-)Anthropologie verbunden, zielt aber stärker als diese auf die spezifischen soziohistorischen Kontexturen ab, innerhalb derer Textmitteilungen als performative Akte auftreten und wirken. Im Kern einer solchen historistischen Betrachtungsweise stehen die spezifischen und hochgradig unterschiedlichen Gebrauchsformen, in denen Texte historisch funktionieren. So ist ζ. B. die Gewohnheit, Vergils Aneis als Fiktion zu lesen, nur eine unter anderen möglichen Gebrauchsformen; in früheren Zeiten war es vielmehr Usus, aus ihr die Zukunft vorherzusagen ('sortes Virgilianae'). Die kommunikative Funktion eines Textes hängt mithin von einer Reihe von Entscheidungen ab, die vor, während oder nach der eigentlichen Lektüre getroffen werden. Diese Entscheidungen wiederum sind Teil einer Kontextur von
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Siehe Derrida 1982. Vgl. Stierle 1996. Siehe Darnton 1991; Cavallo/Chartier 1999; Chartier 1994; ders. 1995; Boyarin 1993; Manguel 1996. Vgl. Iser 1993; Pfeiffer 1999.
(historischen, politischen, sozialen, persönlichen) Faktoren, welche die Kriterien eines Lesers bestimmen. Diese Faktoren lassen sich nicht zur Gänze durch den Text allein kontrollieren, durch die Sprachen, die er verwendet oder die Sprachhandlungen, die er in und mit den ihm eigenen Kontexten vollzieht. 83 Wer behauptet, Literatur oder genauer Fiktion lasse sich deutlich von alltagssprachlichen Diskursformen unterscheiden, von denen sie abweiche - ζ. B. - weil sie den Rezipienten nicht auf einen externen Kontext verweise, sondern ihn zwinge, eine "fictional situation o f utterance" 84 zu konstruieren, oder weil Leser sie aufgrund einer suspension o f disbelief nicht auf ihren Wahrheitswert hin befragten, oder weil Fiktionalität ermöglicht werde durch "a set of conventions which suspend the normal operation of the rules relating illocutionary acts to the world", 85 wird sich dem Einwand stellen müssen, daß pragmatische Umstände sich nur mit allergrößter Schwierigkeit, wenn überhaupt, formalisieren lassen. "It is difficult to say where conventions begin and end", merkt J . L. Austin lakonisch an. 86 Sind Texte sowohl über- als auch unterbestimmt, dann sind Kontexte entweder zu stark oder zu gering durch konventionalisierte Sprachspiele festgelegt, als daß sie die jeweils .korrekte' Umgangsweise mit textueller Unbestimmtheit entscheiden könnten. Aus diesem Dilemma geht ,der Leser' als hochgradig unzuverlässiger und dennoch unverzichtbarer Bezugspunkt literarischer Kommunikation hervor. D a alle Texte im wesentlichen auf irgendeinen Leser hin orientiert sind (und sei dies nur der Autor selbst), lassen sich keine Aktualisierung' eines Sinnpotentials (Iser) und kein Deutungsakt ohne ein zumindest nebulöses Verständnis der Leserrolle (als entweder im Text selbst ,impliziert' oder als empirisch gegeben) konzeptualisieren. Ähnliches gilt für jedes Verständnis von Medien, die vielleicht nicht, wie McLuhan meinte, bloße ,Erweiterungen des Menschen' sind, 87 die aber gleichwohl irgendwelche, also ggf. auch technische Instanzen der Verarbeitung oder der Rezeption von Daten, Impulsen o. ä. benötigen, um überhaupt als Medien in den Blick zu gelangen.
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Vgl. Pocock 1985, l l f . Pococks Aussage "each language to some degree selects and prescribes the context within which it is to be recognized" (12) sollte auch so verstanden werden, daß keine Sprache bzw. kein Sprachspiel jemals einen solchen Kontext vollständig herstellen und kontrollieren kann. Zum schwierigen Verhältnis zwischen Sprachen und Kontexten siehe auch ders. 1971, 21: "It is part of the plural character o f political society that its communication networks can never be entirely closed, that language appropriate to one level of abstraction can always be heard and responded to upon another, that paradigms migrate from contexts in which they have been specialized to others in which they are expected to perform differently. If the philosopher is concerned to keep statements of different orders distinct from one another, the historian is concerned with whether or not they were kept distinct, and with what happened as a result of either."
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Culler 1975, 166. Searle 1979, 67. Weitere Beispiele zur Devianzhypothese in Fish 1989. Austin 1980, 118. Vgl. Grice 1989; Pratt 1977; Miller 2001. McLuhan 1994.
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Die Rolle ,des Lesers' ist eingebettet in historische und gesellschaftliche Kontexte, abhängig von einem großen Spektrum von Variablen von der Psychologie bis zur Mediengeschichte. In ihrer Wirkung auf geographisch oder geschichtlich unterschiedliche Publika können Medien extrem divergieren. Dies macht jede Lektüre zu einem irreduziblen, unwiederholbaren historischen Kommunikationsereignis. Textbedeutungen und -funktionen sind dem historischen Wandel unterworfen, stehen in unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten sowie in variierenden Medienkonfigurationen. 88 Doch es besteht nicht nur die Gefahr des Unter-, sondern auch des iTferschätzens der Bedeutung der Leserrolle für die Generierung von Sinn. Gewiß fluktuieren die Relationen zwischen Texten, ihren Diskursen und Kontexten; das schließt bereits bestehende Reaktionen auf einen Text ein, die zu Neubewertungen individueller Lesarten führen können, sowie darüber hinaus soziale und politische Auswirkungen und Rückkopplungseffekte, die die Wahrnehmung eines Textes nachhaltig modifizieren können. Gewiß wäre der Textbegriff ohne den Lektürebegriff sinnlos; aber es wäre eine zu grobe Vereinfachung des Sachverhalts, wollte man behaupten, ein Text bestünde ausschließlich aus seinen ,Lektüren'. 89 Schließlich steht Lektüre nicht außerhalb des historischen Wandels, sondern ist darin eingebettet. Mit den Wandlungen des Lesens als Kulturtechnik verändern sich auch die Zugangsweisen zu literarischer Kommunikation - und ihre kulturelle Kodifizierung. Methodologisch erscheint es daher sinnvoll, die einer Epoche eigenen expliziten oder impliziten epistemologischen Vorannahmen zu rekonstruieren, die in den materiellen Vorgang der Textrezeption oder auch der Medienerfahrung zu dieser Zeit Eingang finden und die im Diskurs der Epoche thematisiert werden. 90 Ein solches Vorgehen verhindert die Deutung von Textkommunikation als ausschließlich konventionsgebundenen Vorgang. Durch Selektion und Modifikation sowohl der Regeln, anhand derer Texte operieren, als auch der Diskurse des soziokulturellen Umfelds werden in Texten ebendie Grundannahmen thematisiert und letztlich verändert, vor deren Hintergrund Kontextdeterminationen von Textmitteilungen als solche überhaupt wahrgenommen werden können. Es ist äußerst schwierig, beim Reden über Texte die grammatische Zuschreibung einer aktiven Handlungsrolle zu vermeiden, obgleich solche Formulie-
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Siehe Bohannan 1966. Bohannan erzahlt den Ältesten derTiv, eines westafrikanischen Stammes, die Geschichte von Shakespeares Hamlet und wird daraufhin von den Ältesten über die .wahre Bedeutung' des Hamlet aufgeklärt. Zu Bohannans Erfahrung kulturell extrem divergenter Lesarten und ihrer Bedeutung als Memento fur die kulturspezifischen internalisierten Deutungs- und Bewertungsnormen von Lesern siehe Schwab 1996, 1-9. Zur Illustration der Risiken, die mit der Überschätzung der Deutungsautorität von Lesern einhergehen, siehe Fish 1980. Vgl. ähnliche Rekonstruktionsbemühungen bei Wallace 1974-75 und Jardine/Grafton 1990. Siehe unten Kap. III. 1 und 2.
rungen im Theoriezusammenhang sehr unglücklich sind. Selbstverständlich seligieren, modifizieren, thematisieren oder verändern Texte von sich aus gar nichts. Aber es wäre dennoch falsch zu behaupten, daß nur Schreibende seligierten und modifizierten oder daß einzig Lesende Dinge thematisierten und veränderten. Texte enthalten Elemente, die kein Mensch je hineingelegt hat, und was sie enthalten, wird nicht durch den Lesenden allein bestimmt. Das scheinbar Zufällige und ,Unbewußte' ist oft ein integraler Bestandteil der performativen Dimension eines Textes, ungeachtet der ursprünglichen Absichten eines Verfassers. Diese epistemologische Ungewißheit des Textes als eines Quasi-Objekts (und zugleich eines Quasi-Subjekts) geht letzten Endes auf das Wesen der Sprache zurück: "when action and response are performed through the medium of language, we cannot absolutely distinguish the author's performance from the reader's re» 01 sponse . Eine historistische Beschreibung .literarischer Kultur' sucht die in einem bestimmten historischen Zeitraum vorherrschenden (realen und möglichen) Umgangsweisen mit Textkommunikation zu ergründen. Sie darf sich hierzu jedoch nicht allein auf eine historische Theorie oder Systematik verlassen, sondern muß auch die Strategien und Taktiken konkreter Schreib- und Lektüresituationen in Betracht ziehen; sie muß die Ebene der historischen Semantik mit der Ebene der historischen Performanz verbinden. Literarische Kultur kommt als eine dynamische gesellschaftliche Konfiguration in den Blick, die sich mit den epistemologischen Schwierigkeiten und Paradoxien textueller Kommunikation und Kontingenz auseinandersetzt und sich durch diese Auseinandersetzung (in und mit,Kontexturen') selbst reproduziert. 3.2 Kontingenz Für ein besseres Verständnis literarischer Kultur im Verhältnis zu gesellschaftlichen Wissensformationen werden in dieser Arbeit die Begriffe Kommunikation und Kontingenz als grundlegend erachtet, um über sie zu einem historisch-epistemologischen Zugang zur Literatur des 17. Jahrhunderts zu gelangen. Diese Begriffe sind flexibel genug, um der Tatsache Rechnung zu tragen, daß kulturelle Formationen keine stabilen Gegebenheiten sind. Eine Kommunikationstheorie, die auf kulturelle Formationen angewandt wird, sollte daher in der Lage sein, historische Evolutionsprozesse zu berücksichtigen. 92 Der Kontingenzbegriff dient ihr dabei als Bindeglied zwischen der Dynamik kultureller Evolution und der Performanz einzelner Texte und Lektüren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat der Begriff der Kontingenz einen immer zentraleren Ort im Diskurs der Geistes- und Kulturwissenschaften ein-
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Pocock 1985, 17. Zur Dimension des Unbewußten im Text vgl. Jameson 1981. Siehe oben zur Kritik an Foucault.
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genommen. Seine klassischen Wurzeln liegen in der Modallogik,93 auf deren Grundlage er zunächst handlungstheoretisch, dann phänomenologisch und schließlich systemtheoretisch neu definiert worden ist.94 Mittlerweile ist er zu einer, wenn nicht zur entscheidenden sozialwissenschaftlichen Beschreibungsund Erklärungskategorie von ,Moderne' avanciert. Moderne wird charakterisiert durch ein verstärktes soziales Kontingenzbewußtsein, durch ein Wissen, das in Hinsicht auf eine gegebene Wirklichkeit stets das Wissen um alternative (Denkund Handlungs-)Möglichkeiten transportiert. Ein solches Bewußtsein hat einen Doppelcharakter insofern, als es sich einerseits darauf konzentrieren kann, daß alles immer auch anders sein könnte (Kontingenz als Möglichkeit), andererseits aber darauf, daß Kontingenz als ,sinnloses' und doch unabänderliches Schicksal erlebt werden kann und ein Handeln im Sinne der ,Kontingenzbewältigung' (H. Lübbe) notwendig macht. In Luhmanns inzwischen klassischer Formulierung bezeichnet der Kontingenzbegriff „Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen. Er setzt die gegebene Welt voraus, bezeichnet also nicht das Mögliche überhaupt, sondern das, was von der Realität aus gesehen anders möglich ist".95 Diese Definition läßt sich leicht zu Beschreibungen eines modernen, variablen und mehrwertigen Wirklichkeitsbegriffs in Bezug setzen.96 Explizit gesellschaftspolitisch gewendet, wird sie zudem als eine „konstruktiv-strategische Disposition" der modernen Gesellschaft lesbar, als rationale Form des Sozialmanagements, das „Kontingenzbegrenzung durch gezielte Kontingenznutzung" ermöglicht Die moderne Gesellschaft antworte auf „das Unbestimmtheitsmoment von Kontingenz", indem sie deren „Möglichkeitsmoment" nutzbar mache.97 Der ,Zivilisationsprozeß' der Moderne kultiviere eine ,Kontingenzkultur', die gekennzeichnet sei durch die produktive Doppelheit von Kontingenz (Unbestimmtheit/Möglichkeit); diese bildet die allgemeine Folie, vor der die Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen in der Moderne betrachtet wird. In europäischen Gesellschaften zeichnet sich eine solche Entwicklung bereits frühzeitig ab (etwa seit dem 15. Jahrhundert), wenn tra-
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Zur Einführung in die klassischen philosophischen Definitionen des Kontingenzbegriffs (contingens est quod nec est impossibile nec necessarium; quod potest non esse; quod potest aliud esse), siehe Graevenitz/Marquard 1998, xi-xvi, xi; Scheibe 1985, 5f. Vgl. Bubner 1984, 35f.; Blumenberg 1981, 23, 47f.; Luhmann 1984, 148-90. Im Verlauf der Luhmannschen Theoriebildung avanciert Kontingenz von einem handlungstheoretisch zu einem radikal-konstruktivistisch bestimmten Begriff: vgl. ζ. B. Luhmann 1978, 59—63 mit Luhmann 1992. Luhmann 1984, 152. Blumenberg 1964. Vgl. Waldenfels 1990, 18: „Eine neue Form der Ordnung, die wir als modern bezeichnen können, bricht sich Bahn, wenn der Verdacht aufkommt, die so unverbrüchlich und allumfassend scheinende Ordnung sie nur eine unter möglichen anderen"; ders. 1987. Makropoulos 1998, 71. Diese Ausweitung des Begriffs hat jedoch auch zur Folge, daß seine Konturen zusehends unscharf werden. Vgl. auch ders. 1997.
ditionelle Beschreibungen des Gemeinwesens in den Begriffen des Brauchtums und der Gnade durch den politischen Diskurs der 'fortuna' ersetzt werden. 98 In bezug auf literarische Kultur wird der Kontingenzbegriff in der vorliegenden Arbeit verwendet, um epistemologische und kommunikative (oder rhetorische) Aspekte der frühen Neuzeit zu bündeln, die u. a. mit dem oben (1.2) bereits erwähnten Medienumbruch des Buchdrucks in Verbindung stehen. Hier hebt der Kontingenzbegriff auf die Unbestimmtheit bzw. Unvorhersehbarkeit ab, die Kommunikation unter Abwesenden strukturiert. Um einer mangelnden oder fehlerhaften Verständigung vorzubeugen, müssen kommunikative Strategien der Kontingenzbewältigung in Texte eingebaut werden." Die Korrelation von Kommunikation und Kontingenz ist eine genuine historische Leistung literarischer Kultur. Frühneuzeitliche Erzählformen werden der Möglichkeit gewahr, daß sich eine jede Geschichte auf viele verschiedene Arten und Weisen erzählen läßt - und, was noch schwerer wiegt, daß sie sich möglicherweise auf ebenso viele Arten und Weisen verstehen, mißverstehen oder nicht verstehen läßt. Auch hier findet sich ein Doppelaspekt der Kontingenz insofern, als sie Möglichkeiten eröffnet, aber auch Grenzen setzt. Narrative Texte stehen in zunehmendem Maße unter dem Druck, eigene diskursive Fundierungen entwickeln, rechtfertigen und verteidigen zu müssen. 100 Auch daher rührt die zunehmende Wichtigkeit von ,rahmenden' Peritexten (Genette) in der frühen Neuzeit - all die Widmungen, Vorworte, Titelseiten, Frontispize, Errata-Zettel, Prologe und Epiloge, in denen um die Gunst des Lesers geworben wird und die oft Deutungsvorgaben enthalten, welche sich als Bemühungen um Kontingenzbewältigung und -reduktion begreifen lassen. Im 17. und 18. Jahrhundert wächst das Bewußtsein für die irreduzible Individualität des Lesers und die damit einhergehende Kontingenz - das immer mögliche Anderssein - von Lektüren.' 01 H. U. Gumbrecht hat einmal dazu bemerkt, Vorworte seien im 17. Jahrhundert oft interessanter als die Texte, zu denen sie führen sollen. 102 Sie sind textuelle Orte der Diskussion und der intellektuellen Kriegführung: die Schauplätze, auf denen der Streit um die funktionalen Spezifika der Literatur und ihrer Rolle als Kommunikationsmedium im Konstitutionsprozeß von Gesellschaft ausgefochten wird. Vorworte
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Siehe Pocock 1975- Im England des 17. Jahrhunderts sind traditionelle commonwealth-Vorstellungen zu nennen, deren Herkunft und konzeptuelle Grundlage die aus ,unvordenklicher* Vergangenheit überlieferte ancient constitution' bildet; als zweiten Diskurs religiöse Vorstellungen (Gottesgnadentum des Königs einerseits; puritanisches Gottesstaatsideal andererseits); diese werden im Laufe des Jahrhunderts durch eine auf Kontingenz gebaute Semantik politisch-gesellschaftlichen Handelns verdrängt. Siehe unten Kap. IV. Vgl. Hahn 1998, 518; Simmel 1968, 259: „Es ist überhaupt kein andrer Verkehr und keine andre Gesellschaft denkbar, als die auf diesem teleologisch bestimmten Nichtwissen des einen um den anderen beruht." Siehe Greiner/Moog-Grünewald 2000; im selben Band Lobsien 2000b. Vgl. auch McKeon 1987a, Teil I, "Questions ofTruth". Vgl. Kroll 1991, 72f„ 77, 85. Gumbrecht 1987.
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werden so populär, daß Zeitgenossen behaupten, ein Buch ohne Vorwort lasse sich schlechter verkaufen. 103 Literarische Kontingenz, das werden die folgenden Kapitel etwas detaillierter ausführen, drängt also zur Ausbildung diskursiver Konventionen und recht eindeutig unterscheidbarer Textsorten, dabei unterstützt von neuen Formen der Textdarstellung, -distribution und -Vermarktung. Ergebnis dieser Dynamik ist seit der Mitte des 17. Jahrhundert die Stabilisierung eines "isomorphism of knowledge, literary structure, and implied procedures ofinterpretation". 104 Dieser Isomorphismus - der zumal, so eine These dieses Buches, das Ergebnis eines erfolgreichen soziokulturellen Kompromisses ist, der im Begriff des .Neoklassizismus' sein (nicht nur ästhetisches) Korrelat hat - zentriert sich um den Wahrscheinlichkeitsbegriff und seine metaphorischen Weiterungen: Deutung, Vermutung, Umstand, Kasuistik, Urteilskraft, Scharfsinn, 'verisimilitude. Laut Patey ist der Roman jene Form, an der sich die Auswirkungen des Probabilismus auf die literarische Praxis der Zeit am besten belegen ließen, da der Roman sich durch eine ausdrückliche Thematisierung der Wissens- und Lernbedingungen sowie der Methoden auszeichne, mit denen die Kulturtechnik der "probable inference" (176) kultiviert werden könne und müsse. Doch auch das Drama der Restaurationszeit ist in diesem Zusammenhang einschlägig, da es ganz unmittelbar auf ein Publikum bezogen und von diesem abhängig ist und ohne eine Thematisierung dieser Bedingtheit und ihrer epistemologischen und sozialen Grundlagen nicht auskommen kann. 105 Pateys aus der untersuchten Epoche, vor allem von Dryden, Pope und Locke hergeleitetes Vokabular zweiter Ordnung beschreibt eine Welt der wahrscheinlichen Zeichen, die nichts anderes ist als eine Welt der Kontingenz. 106 Im 17. Jahrhundert wird der Umgang mit Kontingenz, mit dem immer möglichen Anderssein anderer Perspektiven, zu einer Gelingensbedingung lite-
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Sharpe 2000a, 56; vgl. Nathaniel Field, Vorwort zu A Woman is a Weathercock (1612): "Reader, the Sale-man sweares youle take it very ill, if I say not somewhat to you too. Introth, you are a stranger to me; why should I Write to you? You never writ to mee, nor I thinke will not answere my Epistle"; zit. nach Gebert 1966, 205. Patey 1984, 175- Weitere Zitate in Klammern. Vgl. auch Shapiro 1983; van Leeuwen 1963; Hacking 1975); Reiss 1992, 69, 7 2 f „ 79, 160, 168. Vgl. Backscheider 1993, 126f.: "In Behn's texts and in the early English novel, what is so important are the positions of the author and reader. Both are dialogic players in an open, intertextual field. T h e act of the novel is to make the reader judge and to face the implications of judgments. Here Behn's experience as a dramatist was crucial. T h e performed drama of Behn's time wrote players, companies, and managers into texts that we recognize to perpetuate and sometimes modify literary and social conventions [...]. Former roles and what the audience believed about players often determined interpretation. Moreover, reactions of first-night audiences could determine revisions." In seiner Interpretation von Smolletts Ferdinand Count Fathom merkt Patey an, der mangelnde Zugang zu den Innenwelten anderer Menschen sei typisch ftir die Erzahlprosa von Defoe bis Austen (189), ebenso wie die Einsicht, daß wir alles, was wir von anderen wissen, nur über Zeichen wissen könnten, alles Wissen mithin ein indirekt vermitteltes sei (188). Das aber ist nichts anderes ist als eine epistemologische Fundierung des Kontingenzbegriffs. Z u Innenwelt und Roman siehe unten Kap. V.
rarischer Kommunikation. Kontingenzbewußtsein eröffnet neue Möglichkeiten literarischer Formbildung, schränkt diese aber zugleich ein, insofern diese neuen Formen nicht frei flottieren können, sondern diskursiv veranktert und abgefedert werden müssen - z.B. durch Markierungen von Gattungszugehörigkeit oder durch das Einhalten von allgemeinen Diskursregeln, die für den Umgang mit Kontingenz bindend werden. Kontingenz wird als entscheidender,Eigenwert' der Moderne ein wesentliches Element literarischer Kultur, die sich als selbstreflexives Moment der Textkommunikation im Verlauf des 17. Jahrhunderts selbst konstituiert und strukturiert, indem sie auf Kontingenz aufbaut und Kontingenz abfedert. 3.3 Kontextur Wie ist die Relation zwischen Texten und ihrer kulturellen Umwelt zu konzipieren, um eine Beschreibung literarischer Kultur im 17. Jahrhundert mit den Begriffen Kommunikation und Kontingenz historisch abzusichern? Eine im 17. Jahrhundert selbst gebräuchliche Beschreibung literarischer Kultur hebt das Ausmaß hervor, in dem textuelle Äußerungen mit gesellschaftlichen und politischen Ereignissen verknüpft und mit nicht-textbasierten diskursiven und kulturellen Entwicklungen verbunden sind; es ist dies der Begriff der 'contexture'. Für Davenant sind die Produkte des 'wit' wie die Fäden eines Spinnennetzes "the works of time, and have their contextures alike."107 Im selben Text bezeichnet "contexture" auch den materiellen Vorgang des Buchbindens ("examining [...] this Poem in parcells ere it arriv'd at the contexture"108), also jenen Moment, in dem der Text gleichsam ins öffentliche Diskursnetz gestellt und mit diesem verwoben wird. Sobald er veröffentlicht ist, ist er mit anderen Texten ,kontexturiert'. Diese Verknüpfung ist jedoch keine notwendige oder stabile, sondern ist der Kontingenz unterschiedlicher Lektüren und Anschlüsse ausgesetzt. Der Begriff der Kontextur betont die diskursive Verfaßtheit eines Textes in Analogie zu einem Gewebe, "constructed (as is a textile) of many strands that can equally be unwoven — or deconstructed."109 Während der Begriff .Kontext' oft ein wertendes Hierarchie- oder auch Determinierungsverhältnis zwischen Texten und ihrem ,Hintergrund' zu implizieren scheint,110 zielt der Begriff der Kontextur auf eine kontrollierte Einebnung solcher vertikaler Stufungen ab. Er betont dagegen den diskursiven und öffent-
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Davenant 1971b, 18. Zum 'wit'-Begriff siehe oben 1.2. Ebd. 24. Sharpe 2000a, 26. Siehe ebd. zu den methodologischen Konsequenzen der Verwendung des Begriffs ,Text' anstelle von .Dokument'. "But the notion of context frequently oversimplifies rather than enriches discussion, since the opposition between an act and its context seems to presume that the context is given and determines the meaning of the act. We know, of course, that things are not so simple: context is not fundamentally different from what it contextualizes; context is not given but produced; what belongs to a context is determined by interpretive strategies; contexts are just as much in need of elucidation as events; and the meaning of a context is determined by events. Yet when we use the term context we slip back into the simple model it proposes." Culler 1988, xiv.
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liehen (ereignishaften) Status von Textualität im allgemeinen und den Wettbewerb zwischen Texten und Autoren um die Gunst einer Öffentlichkeit im besonderen. Eine solche Enthierarchisierung sollte nicht mit einer poststrukturalistischen Vorstellung von 'ecriture' oder mit einem simplistischen Kultur-alsText-Verständnis verwechselt werden.111 Sie schließt insbesondere die Beachtung von Gattungsunterschieden ein und kann insofern keine vollständige Einebnung sämtlicher Diskurse veranschlagen. Potentiell jedoch hat jeder Text die Möglichkeit des Zugriffs (der Aneigung und Anpassung) auf eine Fülle unterschiedlicher Gattungen und Formen. 112 Im Gegensatz zu manchen intellektuellen Versionen der ,Postmoderne' ist die Kultur der frühen Neuzeit alles andere als flach; sie ist vielmehr äußerst heterarchisch. Ein kontexturaler Nachvollzug (im Gegensatz zur bloßen Kontext-Rekonstruktion) impliziert ein Kontinuum von Sinnbezügen und -effekten, ein wechselseitiges Geben und Nehmen zwischen Schreibsituationen, Textstrukturen und Rezeptionsvorgängen, ohne diesen Elementen eine spezifische theoretische Modellierung oder Konsistenz zu unterstellen. Auch die historischen Diskussionen über diese Elemente und Funktionen der Kommunikation sind Teil der Kontextur; so stehen etwa Literaturtheorie, Naturphilosophie und politisches Denken im 17. Jahrhundert in einer solchen Konstellation der wechselseitigen Beeinflussung, und dies hat Auswirkungen auf Form, Gehalt und Bedeutung konkreter Texte. 113 Dieses Kontinuum innerhalb der klassischen Epistemologie (und zugleich dessen inhärente Flexibilität) zu sehen, ist im Fall frühneuzeitlicher Textkommunikation um so notwendiger, als Schlüsselbegriffe der modernen Literaturwissenschaft sich häufig als (noch) nicht anwendbar erweisen, weil sie von anachronistischen, in der zu untersuchenden Epoche noch nicht geltenden Voraussetzungen über das Funktionieren literarischer (als .fiktionaler' oder .ästhetischer' im Gegensatz zu anderer) Kommunikation ausgehen. Wie oben bereits bemerkt, lassen sich derart reflektierte Abgrenzungen unterschiedlicher Textsorten mit ihrer konventionellen Terminologie vor 1700 kaum gewärtigen, und Unterscheidungen zwischen literarischen 'kinds' werden nicht als systematische Trennlinien, sondern im allgemeinen eher pragmatisch gehandhabt. Logik, Rhetorik und poetischer Diskurs sind aufeinander bezogene Kommunikationsformen und nicht strikt voneinander isoliert.114 Der moderne Kommunikationsbegriff selbst ist freilich nicht weniger anachronistisch, aber er läßt sich insofern vertreten, als seine Grundzüge und Voraussetzungen sich vor dem Horizont des
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Vgl. Bachmann-Medick 1998; dies. 2004. Am Beispiel Miltons zeigt dies Lewalski 1983; dies. 1985. Siehe unten Kap. III und IV. Howell 1956, 4: "Englishmen o f these two centuries [ 1 5 0 0 - 1 7 0 0 ] did not waste their time in the vain effort to deny to poetry a primarily communicative function. Nor had the science of aesthetics yet been invented to insulate poetry from any contact with logic and rhetoric. Instead, poetry was considered to be the third great form of communication, open and popular but not fully explained by rhetoric, concise and lean but not fully explained by logic."
seit dem späten 15. Jahrhundert in Europa stattfindenden epistemischen Wandels zuerst abzeichnen. Aus diesen Gründen ist, wie M. McKeon beobachtet, die Verwendung einer abstrakten Kategorie .Literatur' für das 17. Jahrhundert ein Anachronismus, der entweder von veralteten oder noch nicht etablierten Prämissen ausgeht.' 15 .Literatur' wird erst viel später „mit spezifisch imaginativem Schreiben assoziiert, im Gegensatz zu historischem oder wissenschaftlichem Schreiben"." 6 R. Kroll betont, daß Rhetorik und Narration im 17. Jahrhundert häufig stellvertretend für allgemeine Weisen des Weltumgangs betrachtet werden; er wendet sich damit ausdrücklich gegen die konventionelle literaturwissenschaftliche Isolierung und Bevorzugung des Romans und geht, ähnlich wie die vorliegende Arbeit, nicht von einem Begriff von .Literatur' als "the presumed locus of special knowledge" aus, sondern von einer Schriftkultur, "in which all forms of knowledge [...] were commonly known and confessed to be rhetorical"." 7 Eine historische Sicht auf die frühe Neuzeit und das 17. Jahrhundert kann nicht von postromantischen Vorstellungen ζ. B. über Subjektivität und die Autonomie des Ästhetischen ausgehen. Nicht weniger retrospektiv, aber mit ungleich höherem analytischen Auflösungsvermögen gehen die wissenssoziologischen Studien Luhmanns von einer Korrelation zwischen ,Gesellschaftsstruktur und Semantik' aus; das 17. Jahrhundert erscheint in dieser Perspektive als wichtige Ubergangsphase in einem Transformationsprozeß der primären gesellschaftlichen Differenzierungsform (von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung), innerhalb dessen — auch literarischen — Texten eine kulturelle Reflexionsfunktion zukommt (.gepflegte Semantik')." 8 Es scheint angebracht, auch unter Heranziehung des historischen Vokabulars, dabei von einem wechselseitigen Austauschund Zirkulationsverhältnis zwischen einzelnen Texten und den unterschiedlichen Diskursen und Interaktionskontexten (nebst ihren jeweiligen Umwelten) auszugehen, in denen Textkommunikationen sich formieren und wirken.119
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"referring either backward to a broadly inclusive idea of litterae humaniores or forward to our modern notion of a sharply defined and autonomous realm of written objects that possess an 'aesthetic' character and value": McKeon 1987b, 36. Zu einer ähnlichen These gelangt auch Reiss 1992. MacLean 1995b, 7f., mit Verweis auf Williams 1983, 184, der die frühneuzeitliche Verwendung des Literaturbegriffs als "polite learning through reading" glossiert. Für MacLean schließt dies jedoch nicht die Beobachtung einer wachsenden kulturellen und gesellschaftlichen Relevanz von .Literatur' in diesem Sinne aus: "by 1660, literature had established its own irreversible authority as a socially constitutive field of public activity" (13). Kroll 1991, 22; vgl. ebd. 6f. zur verzerrenden retrospektiven Privilegierung des Romans. Luhmann 1980a, 19, 82-85. Der Begriff der Zirkulation findet als Heuristik im 17. Jahrhundert selbst Anwendung in den Beschreibungen physiologischer, politischer, ökonomischer und literarischer .Systeme', von Edward Misseldens The Circle of Commerce (1623) und William Harveys De Motu Cordis (1628) sowie De Circulatione Sanguinis (1649) bis hin zur physiologischen Metaphorik des politischen Körpers und seiner literarischen Analysen bei (u. a.) Hobbes und Dryden. Anders als bei Greenblatt 1988 sollte er jedoch genauer historisiert und methodologisch reflektiert werden; siehe hierzu Kroll 2002, 27ff.; ders. 2000, 104-11.
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Der Nachvollzug frühneuzeitlicher literarischer Kultur als Kontextur erfordert mithin einen Begriff der literarischen Produktion als Form sozialen Handelns und einen Begriff der literarischen Rezeption als performativer, nicht bloß rekonstruktiver Prozeß. Der Erwartungshorizont von Autoren wie von Lesern ist notwendigerweise beeinflußt von der .Semantik' und den Problemen der jeweiligen Gegenwart, obgleich diese das Bedeutungsspektrum textueller Mitteilungen nicht erschöpfend begrenzen. Der Kontext einer Mitteilung legt nicht einfach die Bedeutung eines Textes fest; in einer Kontextur verbunden, wirken diskursive Prozesse und ihre Referenzrahmen wechselseitig aufeinander, entstehen kommunikative Ereignisse vor einem Horizont kontingenter kultureller Möglichkeiten der Formung gesellschaftlichen Wissens. Der hier verwendete Begriff der Kontextur gewinnt auch medientheoretisch an Prägnanz, wenn man ihn als (onto-)logische Prämisse von Beobachtungen und Unterscheidungen betrachtet. Er bezeichnet dann den „Bereich, der als die Bedingung der Möglichkeit jeder Unterscheidung, jeder Regionalität, Schichtung, Ebenenbildung, Strukturierung überhaupt erscheint" — als Voraussetzung des Diskurses, die „nicht selbst innerhalb ihrer selbst operativ eingesetzt werden" kann. „Sie erzeugt eine Welt genau in dem Sinne, daß von dieser Welt aus ein Dahinter, Davor, Darüberhinaus nicht erreicht werden kann. Insofern ist sie ,universal'."120 Medien in der frühen Moderne arbeiten noch weitgehend innerhalb einer Kontextur, in der sie jedoch mehrere unterschiedliche Kontextdiskurse aufrufen können. Ihr Verhältnis zur ,Gesellschaftsstruktur und Semantik', zu den Sinnstrukturen kommunikativer Handlungen und den soziokulturellen Wissensformen, ist dadurch alles andere als eindeutig und unproblematisch. Die Art und die Reichweite ihrer diskursiven Operationen (etwa des Umgangs mit perspektivischer Kontingenz) ist nicht von vornherein ,νοη oben' strukturell determiniert - wie es die Diskursanalyse des frühen und mittleren Foucault etwa nahezulegen scheint —, sondern weist eine Reihe von Möglichkeiten der Sinngebung und Akzentverschiebung auf, die binäre Codierungen übersteigen. Unterhalb eines Horizonts, der nicht überschritten werden kann, tut sich eine Vielfalt von Spielräumen auf, in denen verschiedene Diskurse und Konterdiskurse zusammen- und gegeneinandergeführt werden können. 121 3.4 Literarische Kultur in historischer Sicht Schon die frühe Neuzeit kennt hochgradig divergente und doch korrelierende Schreib- und Lektüresituationen.122 Historisch kontingente Akte des Schreibens und Lesens begrenzen den ,Ereignishorizont' von Texten im historischen Wan-
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Fuchs 1992, 48, in Anlehnung an Günther 1979. Zu diesem Diskursmodell einer „Dialektik von Einbettung und Ausbettung" siehe Warning 1999; ders. 2004, 85, 89f. Pfeiffer 2003.
del. Um den Funktionswandel literarischer Kultur beschreiben zu können, benötigt man einen Lektürebegriff, der nicht außerhalb oder jenseits von historischen Vorgängen situiert ist, sondern eingebettet in die Mediengeschichte kultureller Praktiken. Diese Praktiken regeln die Verbreitung, Autorisierung und Lesbarkeit von Texten und legen in beträchtlichem Ausmaß die Bedingungen fest, in deren Rahmen Texte historisch wirken können. Durch eine Untersuchung funktionaler Wandlungsprozesse läßt sich eine „dichte Beschreibung", 123 eventuell sogar eine Kartierung der Schnittfelder zwischen literarischen und kulturellen Wissensformen erzielen. Solche Schnittfelder müssen nicht unbedingt symmetrisch verlaufen (dies ist sogar eher unwahrscheinlich); die semantischen Funktionen kulturell ,kontexturierter' Texte wirken auf die sie umgebenden Diskurse ebenso ein wie jene auf diese. Literarische Kultur ist, so betrachtet, die Summe der Schreibund Lesegewohnheiten einer bestimmten Epoche; sie ist zugleich die Summe der diskursiven Operationen, die in literarisch-kulturellen Schnittfeldern (Kontexturen) ablaufen. Ihr gesellschaftlicher Stellenwert bestimmt sich als Reflexion von Selbstbeschreibungen; in der Moderne - in England spätestens seit dem 17Jahrhundert — kann Kultur funktional definiert werden als „besondere Art von Beobachtung mit Blick für Vergleichsmöglichkeiten", als „in der Gesellschaft verankerte expressive Form einer Weltdarstellung". 124 So verstanden, hat Literaturgeschichte als Teil von Kulturgeschichte weniger die Form einer einlinigen funktionalen Evolution als vielmehr die Form einer Abfolge von kontexturalen Formationen oder Medienkonfigurationen. 125 Die emergente literarische Kultur im frühneuzeitlichen England kann alsdann etwas systematischer beschrieben werden als ein sich entwickelnder Komplex von Strategien, mittels derer die mögliche und reale Variabilität von Schreib- und Lesesituationen sowie die problematische Faszination unterschiedlicher literarisch-kultureller Beobachtungsordnungen in einer zunehmend komplexen und polyzentrischen Gesellschaft bewältigt werden können. Eine solche Perspektive weicht von einer,organischen' Sichtweise der Literaturgeschichte als einer Abfolge mehr oder weniger klar voneinander abzugrenzender Epochen und Gattungen ab; sie gestattet zudem keine überzeitliche Semantik der Fiktionalität. Sie erfordert statt dessen eine Reflexion der Geschichtlichkeit und Relativität traditioneller literarischer Begriffe und Unterscheidungen, die gemeinhin auf intrinsischen deskriptiven Bezeichnungen, aber allemal auf einer recht dünnen Beweislage aufruhen, wie ζ. B. die Unterscheidung zwischen 'nov-
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125
Geertz 1973, 6. Luhmann 1997, 957, 881. Bei Luhmann bilden sich solche Reflexionsperspektiven erst „in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts" heraus (957); fur das Beispiel Englands, das im 17. Jahrhundert ungeheure Modernisierungsschübe erfährt, muß dieser Zeitrahmen um mindestens ein Jahrhundert vorverlegt werden. Vgl- die Kritik an Greenblatts Methodologie in Lobsien 2000a, 81 f. In sehr viel weiterreichender Form findet sich der theoretische Ansatz einer Medienkonfigurationsgeschichte bei Pfeiffer 1999.
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el' und 'romance'. Solche Gattungsunterscheidungen sind häufig Rückprojektionen moderner Terminologie, die der historischen Situation, in der literarische Kommunikation sich zu entfalten beginnt, nicht gerecht werden.126 Begreift man Texte als Teil einer kulturellen Kontextur, kann und muß man abrücken von strikter Konventionsdeterminiertheit zugunsten eines konfrontativen oder agonistischen Modells literarischer Kommunikation - zugunsten einer ,polemologischen Analyse (literarischer) Kultur'. 127 Ein solches Modell scheint zudem der historischen Diskurswelt der frühen Neuzeit genauer zu entsprechen. Literarische Kommunikation vor 1700 ist weniger mit der Legitimierung ihrer Fiktionalität gegenüber anderen Kommunikationsformen beschäftigt als vielmehr mit der Reflexion fortschreitender gesellschaftlicher und epistemischer Transformationsprozesse; diese Beobachtung macht einen simplistischen kognitiven Dualismus von Wirklichkeit vs. Fiktion obsolet. Die literarische Kultur des 17. Jahrhunderts weist häufig ein proto-konstruktivistisches Bewußtsein für die Tatsache auf, daß unterschiedliche Diskurse, Rhetoriken und Medien menschliche Wirklichkeitswahrnehmungen auf unterschiedliche Weise prägen und beeinflussen können. In diesem Bewußtsein entstehen Texte, die ihre Gattungsgrenzen (Konventionen) übertreten und mit den Erwartungen ihrer Leser spielen (sie vorwegnehmen und dann konterkarieren). Shakespeares Dramen etwa betreiben eine hochgradig reflektierte und zugleich spielerische Auflösung und Neuzusammensetzung (proto-)systemischer Elemente und intersystemischer Grenzen der Gesellschaftsordnung ihrer Zeit. 128 Eine konstruktivistische Sicht auf Diskurse, mit anderen Worten: ein Gefühl für die Konventionalität von Konventionen, gehört historisch zum epistemologischen Konzept des offenen Kontexts auf der Epochenschwelle vom Spätmittelalter zur frühen Neuzeit.129 Sie hat ein materielles Korrelat in den Auswirkungen des Medienwechsels vom Manuskript zum gedruckten Buch im fünfzehnten Jahrhundert. Zu dieser Zeit setzt eine massive Zirkulation von Geschriebenem ein, und diese Zunahme der Produktion verschriftlichten Wissens (das die Textmitteilungen von der physischen Anwesenheit menschlicher Körper und von unmittelbarer personaler Interaktion entkoppelt130) erzeugt eine enorme Komplexität von Kommunikationssituationen, die, während sie das kommunikative Potential des geschriebenen Wortes ausdehnt, zu Diagnosen zunehmender Verunsicherung und Desintegration sozialer Zusammenhänge beiträgt. Schon vor Gutenbergs Erfindung der beweglichen Lettern, die die Verbreitung von Texten natürlich radikal beschleunigt, wird eine große Zahl von Texten in einer bis dato
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Vgl. Gumbrecht 1990, 196f. Certeau 1980a, 18. Siehe ζ. B. Iser 1988. Vgl. Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff'. Siehe hierzu Gumbrecht 1985.
ungekannten Vielfalt pragmatischer Situationen geschrieben und gelesen.'31 Mit anderen Worten: die konventionellen Verwendungsmöglichkeiten von Texten sind nunmehr alles andere als selbstverständlich, so daß neue Strategien gefunden werden müssen, um die Verbindung zwischen Texten und ihren möglichen Lesern weniger störungsanfällig zu gestalten. Es entsteht eine paradoxe Konvention bei bestimmten Texten: die Konvention der Unkonventionalität, die eine heterogene Vielfalt von Perspektiven und die Reflexion möglicher Konflikte zwischen anderen Konventionen, anderen Organisationsformen der Wirklichkeit gestattet. Solche Texte mag es schon vorher gegeben haben, aber jetzt besetzen sie nicht länger nur eine Randposition wie im Hochmittelalter.132 Der Medienwechsel um 1500 konditioniert eine „grundlegend neue Struktur von Kommunikationssituationen", da das gedruckte Buch auf ein Publikum zugeschnitten sein muß, dessen Zusammensetzung viel diffuser erscheint als der Zuhörerkreis eines Redners oder mündlichen Erzählers. Die einstige Gewißheit eines gemeinsamen Sinnhorizonts läßt sich nicht länger garantieren. Dieser Strukturwandel verstärkt das Gefühl einer Polarisierung zwischen verschiedenen, voneinander immer deutlicher abgegrenzten Sinnwelten.133 Obwohl man heute eher von einer Zeit der stufenweisen Ubergänge und der regionalen Variation ausgeht als von einer katastrophenartigen globalen Veränderung von Lesegewohnheiten, läßt sich doch immer noch mit einiger Berechtigung von einem graduellen Funktionswandel sprechen, der durch die Verbreitung des Buchdrucks in Europa vorangetrieben wird.134 Es herrscht weitgehende Ubereinstimmung darüber, daß diese Erfahrung eines Funktionswandels in der Schriftkommunikation für die Etablierung der „komplexen Kommunikationsform, die wir heute Literatur x\e.nnen", verantwortlich gemacht werden kann.135 Das hier vorgestellte Konzept einer literarischen Kultur des 17. Jahrhunderts versteht sich als Alternative zu einem auf Konventionen (,Fiktionalitätl) basierten Literaturbegriff. Eine kulturelle Wissensformation, die aufFiktionalität setzt, ist selbst abhängig von einer Menge außerliterarischer Variablen und soziopolitischer Normen und Werte. Dies widerspricht nicht notwendigerweise der Möglichkeit, einzelne Konventionen ausfindig zu machen, aber es legt doch zumindest nahe, daß es interessanter und aufschlußreicher sein könnte, die Interaktion und
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Vgl. Kuhn 1980. Vgl. Gumbrecht 1980b, 127. W i e Gumbrecht 1 9 8 7 anläßlich der Troubadourlyrik anmerkt, könne die Funküon von Literatur (die Herstellung von Kontingenz) bereits im 12. Jahrhundert beobachtet werden, aber nur in bestimmten Kreisen und Regionen. Mit dem Buchdruck werde Literatur zu .kompakter Kommunikation' (Luhmann).
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Gumbrecht 1990, 177, 181. Z u m Medienwechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit und zum Buchdruck siehe Eisenstein 1979; O n g 1982; Finnegan 1988; Giesecke 1 9 9 1 ; Luhmann 1993; Bohn 1999.
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Siehe Johns 1998; Coleman 1 9 9 6 . Andersen/Sauer 2 0 0 2 bringen den Buchdruck in der frühen Neuzeit v. a. mit "instability, permeability, sociability, and adaptability to particular occasions and readerships" in Zusammenhang (2). Gumbrecht 1990, 181.
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Konkurrenz zwischen verschiedenen Konventionen oder verschiedenen sozialen Teilbereichen, Diskursen, Systemen in einem gegebenen kulturellen Setting zu untersuchen. Die Erforschung solcher Interaktionen und Konflikte verlangt eine Theorie literarischer Kommunikation, die über die binäre Opposition zweier Konventionen (wie immer diese weiter binnendifferenziert sein mögen) hinausgeht. Logisch betrachtet führt die Fiktionalitätshypothese letztlich zu einem unendlichen Regreß von konventionsgestützten Konventionen. Sie wird zudem durch historische Untersuchungsergebnisse, die die Anwendbarkeit eines völlig entpragmatisierten Begriffs literarischer Kommunikation nicht in einem günstigen Licht erscheinen lassen, in Zweifel gezogen. Solche Untersuchungen betonen vielmehr den Konflikt- und Problemcharakter emergenter Fiktionalität gegenüber den Wahrhaftigkeitszumutungen diverser anderer Diskurskontexte.136 Frühneuzeitliche Leser sind sich der Vorzüge wie der Ungewißheiten gedruckter Texte sehr wohl bewußt. Allein die institutionalisierten Formen der Zensur im Europa der frühen Neuzeit belegen unabhängig von ihrer praktischen Wirksamkeit oder Unwirksamkeit das Bewußtsein für solche Unsicherheit und für die gesellschaftliche Notwendigkeit, sich damit auseinanderzusetzen.137 Die Beziehung zwischen gedruckter Kommunikation und ihren potentiellen Rezipienten wird in Metaphern des Risikos und sogar unter Androhung potentiell tödlicher Folgen dargestellt. Die Gefährlichkeit des Lesens erfordert eine aktive Beteiligung des Lesers am Kommunikationsprozeß und Wachsamkeit bis hin zum Widerstand. Wie der Kanon von Toledo in seiner berühmten Rede im 47. Kapitel des ersten Buches des Don Quijote erläutert, müssen „lügnerische Geschichten mit dem Verstände derer vermählt werden, welche sie lesen".138 A. Johns macht aufmerksam auf eine "culture of discredit surrounding printed books" im England des 17. Jahrhunderts, wobei auch hier die Betonung auf der Notwendigkeit liegt, daß Leser ihre kritischen Fähigkeiten mobilisieren müssen, um aus Texten "safe and true knowledge" zu gewinnen.139 In der frühen Neuzeit ist mithin die Fiktionalität eines Textes ganz an die Gegenzeichnung durch Leser gebunden; zudem kann Fiktionalität, wie die Institution der Zensur belegt, noch nicht jedermann und jederfrau zugemutet werden. Dies unterstreicht um so mehr, daß Fiktionalität, wenn sie in so hohem Maße beobachtungsabhängig ist, (noch) nicht als Wesensmerkmal eines bestimmten Texttyps oder einer bestimmten Textgattung dienen kann. Im Gegenteil, sie ist eine hoch instabile Funktion, die Texten von Beobachtern unter bestimmten Umständen und nach bestimmten (mitunter vielleicht auch weniger bestimmten) Regeln zugeschrie136 137 138
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Vgl. Anderegg 1973; Iser/Henrich 1982; Assmann 1980; McKeon 1987a. Siehe Siebert 1965; Patterson 1984. "Hanse de casar las fabulas mentirosas con el entendimiento de los que las leyeren." Cervantes 1987, 1: 906f. Johns 1998, 423; siehe auch die zeitgenössischen Belege für diesen Mißkredit und für die Ansicht, daß Lesen eine potentielle Ursache für sowohl geistige als auch körperliche Krankheitszustände sein könnte, 380fif. Vgl. auch ders. 1996, Kerrigan 1996.
ben wird. Anstelle einer deutlichen Abgrenzung von Fiktion und Nichtfiktion legt die historische Beweislage ein viel komplexeres und differenzierteres Bild literarischer Kultur in der frühen Neuzeit nahe. 140 Verglichen mit dem logisch-semantischen Fiktionalitätsbegriff zielt der Begriff der literarischen Kultur deutlich stärker auf historische Kontingenzen, Leser-Text-Interaktionen und gesellschaftliche Faktoren ab, die normalerweise als außerliterarisch betrachtet werden. Er geht von der Beobachtung aus, daß literarische Kommunikation eine in Anbetracht der institutionellen Strukturen des 17. Jahrhunderts hoch unwahrscheinliche Kommunikationsform ist. Zu den soziohistorischen Fundierungen dieser Kommunikationsform gehören der Medienwechsel zum Buchdruck und beginnende gesellschaftsstrukturelle Veränderungen (funktionale Differenzierung). Als Antwort auf neue Anforderungen in einer rasch sich verändernden Welt dezentriert und rezentriert diese Kommunikationsform den festen Beobachterstandpunkt des Lesers. Sie überschreitet die Grenzlinien emergenter sozialer Systeme und Medien, ohne selbst systemisch zu sein. Der Vorteil eines solchen dynamischen Literaturbegriffs ist, daß er es gestattet, eine Reihe wichtiger Elemente aus einem traditionellen Verständnis von Fiktionalität zu übernehmen, ohne Fiktionalität jedoch zum ausschließlichen Horizont des Literarischen werden zu lassen. In einer ,kontexturalen' Perspektive gelangt man so zu einem genaueren Verständnis dessen, was Bachtin im Sinn gehabt haben mag, als er den Satz formulierte, der Diskurs im Roman sei strukturiert entlang einer ununterbrochenen wechselseitigen Interaktion mit dem Diskurs des Lebens.141 Literarische Kommunikationsformen entstehen demzufolge als Reaktionen auf spezifische situationsbezogene (historisch kontingente) Bedürfnisse und Erwartungen und stehen mit anderen Formen der Kommunikation in einem Kontinuum. Das hier vorgestellte Verständnis literarischer Kultur beinhaltet eine Erweiterung des traditionellen Literaturbegriffs, in der auch die Beobachtung impliziert ist, daß alternative Begriffe wie ,die Kultur des Buchdrucks' (print culture) 142 oder auch ,Schriftkultur' (literate culture) 143 zu eng gefaßt sind, da sie die Bedeutung des Geschriebenen (oder gar den Sonderfall des Gedruckten) überbetonen und ζ. B. das ausgeprägte visuelle Element in der Kultur des 17. Jahrhunderts vernachlässigen. Hingegen erscheint der Begriff der ,(proto-)literarischen Kultur' hinreichend inklusiv, zumal er nicht an eine moderne Eingrenzung des Literaturbegriffs auf ästhetische Textkommunikation gebunden ist und die Medienvielfalt des 17. Jahrhunderts im Begriff der Kontextur mitberücksichtigt. Literarische Kultur im 17. Jahrhundert läßt sich also nur als ,proto-literarische' Kultur historisch adäquat beschreiben. Literarisches Schreiben und Lesen
Siehe hierzu auch Berensmeyer 2003. "" Bakhtin 1 9 8 1 , 3 8 3 . 142 Vgl. ζ. B. Johns 1998; Andersen/ Sauer 2002. 143 Siehe Kroll 1991. 140
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sind kulturell-medial eingebettet und konvergieren mit einer Menge diskursiver Praktiken und Wirkungen, die sich mit anderen Medien überlappen und mit anderen sozialen Interaktionsfeldern überschneiden können. Die Relationen zwischen diesen Interaktionsfeldern in einer kulturellen Kontextur werden im 17. Jahrhundert graduell von der kulturellen Norm des ,Neoklassizismus' affiziert. Hierdurch wird u. a. das Verhältnis von Kontingenz und Kommunikation — und damit das Verständnis von Textualität — neu geregelt; dabei gewinnen die Tätigkeit des Lesens und die Rolle des Lesers im Kommunikationsprozeß eine Schlüsselfunktion in der Reflexion auf Wahrnehmungs- und Kommunikationsvorgänge im allgemeinen. Lesen wird zu einem zentralen Paradigma für menschliche Orientierung und für kulturelle Prozesse des Umgangs mit Kontingenz im Rahmen der Etablierung einer neuen normativen Ordnung neoklassischer 'civility' vor und nach 1689. Diese Ordnung regelt nicht zuletzt die Bedingungen, zu denen eine ,Kultur' im modernen Sinn einer innergesellschaftlichen Vergleichsperspektive sich entwickeln kann. Sie kann ganz allgemein definiert werden als eine neue Autoritätsverteilung zwischen ,Individualitäten' und ,Textualitäten',144 Innerlichkeit und Öffentlichkeit, die fur textuelle Kommunikationsprozesse entscheidend und stabilisierend wirkt, indem sie — auf der Grundlage von epistemischer Skepsis, rationaler Methode und Wahrscheinlichkeitskalkül - perspektivisch integrierte, d. h. alternative und kontingente Möglichkeiten der Wahrnehmung von Wirklichkeit stets mit berücksichtigende Kommunikation fördert und fordert.145 Dieses Diskursmodell formiert sich im späten 17. Jahrhundert zu einer hegemonialen Diskursordnung, die bis weit ins 18. Jahrhundert hinein - und ζ. T. darüber hinaus - Bestand hat. Wie immer unterschiedlich die Konturen im einzelnen ausfallen, die Diskursordnung ist stabil — gerade weil es gelingt, in ihr mit Phänomenen der Instabilität, Unwahrscheinlichkeit und Kontingenz zu rechnen.,Kultur' wird so zu einem reflektierten und reflexiven Begriff, der das praktiziert, was er beschreibt: er perspektiviert Beobachtungen und erzeugt beobachtungsleitende Perspektiven. Die Geschichte des Neoklassizismus in England ist auch die Geschichte dieser diskursiven Dynamik.
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Siehe unten Kap. V. Zum Begriff „perspektivisch integrierte Kommunikation" siehe Luhmann 1978, 46.
II. Wissenskontingenz und Kontingenzwissen: Robert Burton und Sir Thomas Browne This World is as a Cabinet to GOD, in which the small things (however to vs hidde and secret) are nothing lesse keeped, than the great. William Drummond, A Cypress Grove (1623) 1 Now we are in the presence of sublime imagination; now rambling through one of the finest lumber rooms in the world - a chamber stuffed from floor to ceiling with ivory, old iron, broken pots, urns, unicorns' horns, and magic glasses full of emerald lights and blue mystery. Virginia Woolf, " T h e Elizabethan Lumber Room" (1925) 2
1. "Divided and Distinguished Worlds". Kulturtechniken frühneuzeitlichen Wissens und ihre literarische Umsetzung Die Schriften von Robert Burton (1577-1640) und SirThomas Browne (1605— 1682) werden zwar gewöhnlich als kanonische Einzelbeispiele für die englische Prosa der frühen Neuzeit behandelt, aber so gut wie nie in vergleichender Sicht gelesen. Dabei gibt es einige Berührungspunkte, die eine vergleichende Lektüre sinnvoll erscheinen lassen. Für die folgenden Ausführungen entscheidend ist der Aspekt der Kontingertz, insofern er die literarische Kultur der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts tangiert und dadurch für die Texte Burtons und Brownes relevant wird. Weitere wichtige Berührungspunkte sind der Kontakt zur literarischen und rhetorischen Tradition der humanistischen Klugheitslehre, der Einfluß des von Erasmus herrührenden Stilideals der 'copia' sowie des introspektiven Skeptizismus Montaignes. 3 Im Einklang mit kontinentalhumanistischen Traditionen überwiegt bei beiden ein stark ausgeprägtes Bewußtsein für rhetorische Wirkungen. Bei Browne läßt sich sogar beobachten, wie seine sprachbild1 2 3
D r u m m o n d 1973, 77. Woolf 1994, 59. Siehe Cave 1979; Kahn 1985; Lobsien 1999.
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liehe .Pyrotechnik' sich von einem Text zum nächsten steigert und immer mehr in den Mittelpunkt der schriftstellerischen Aufmerksamkeit rückt. Die Texte Burtons und Brownes passen in kein orthodoxes gattungstheoretisches Raster. Sie sind nicht fiktional. Was sie zu literarischen Texten macht, ist vielmehr die Art und Weise ihres Umgangs mit dem Kontingenzproblem von Schrift und Wissen im Zeitalter des Buchdrucks. Dabei lassen sich deutlich zwei grundverschiedene Arten des Umgangs mit diesem Problem ausmachen. Im Falle Burtons handelt es sich um eine Dramatisierung der auktorialen Nullstelle, bedingt durch ein offenes Mißtrauen gegenüber der Verstehensfähigkeit des Lesers; bei Browne um die Erkundung der Möglichkeitshorizonte, die durch eine neue Kommunikationssituation eröffnet werden. In einer Funktionsgeschichte literarischer Kommunikation sind Burton und Browne Übergangsgestalten auf der Schwelle einer neuen Diskurskonfiguration. Burton läßt sich als Kulminationspunkt einer langen Tradition mittelalterlicher und humanistischer Literatur ansehen, als wortreicher Kompilator, dessen inflationärer Schreibzwang den Zerfall der angestrebten Wissensordnung nicht mehr aufhalten kann und in eine Theatralität der Darstellung führt. Eine ähnliche Doppelgesichtigkeit findet sich bei Browne: Sein Schreiben fügt sich einerseits nicht mehr in das aristotelische Weltbild eines spätmittelalterlichen Scholastikers; gleichwohl ist er andererseits, trotz seiner ausgeprägten Neugier4 und seiner Vertrautheit mit den wissenschaftlichen Entdeckungen seiner Zeit (ζ. B. Gilberts Beschreibung des Magnetismus und Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs), kein Naturwissenschaftler im modernen, baconischen Sinn — er führt zwar Experimente durch, aber nur um die Ergebnisse anderer nachzuvollziehen und zu prüfen. Zu den .getrennten und unterschiedenen Welten'5 Brownes gehören Anspielungen auf die neuplatonische Sonnenmystik, aber auch ein Glaube an das ptolemäische (geozentrische) Weltbild; eine eher liberale Religionsauffassung, kombiniert mit einem ungebrochenen Hexenglauben. Burtons und Brownes Wirkungskreis ist provinziell: Burton lebt als Theologe in Oxford, Browne als praktischer Arzt in Norwich, fernab der Royal Society, deren Mitglied er niemals wird. Beide widmen ihr Leben dem nahezu unaufhörlichen Schreiben und Umschreiben eines großen naturphilosophischen Werks. Bei Burton ist es die Anatomy of Melancholy,6 bei Browne die Pseudodo-
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Willey 1965, 42. Zum Topos der Neugier in der frühen Neuzeit siehe Blumenberg 1996. "divided and distinguished worlds": Religio 1.34. Zuerst 1621, fünf weitere Ausgaben 1623, 1628, 1632, 1638 und 1651. Vollständiger Titel der vierten Ausgabe 1632 (wie in AM 1: Ixiii): The Anatomy of Melancholy. What it is, with all the kinds, causes, symptomes, prognostickes, & severall cures of it, in three Maine Partitions with their severall Sections, members & subsections. Philosophically, Medicinally, Historically, opened & cut up, By Democritus Junior. Die vierte Ausgabe dient als Textgrundlage der von Faulkner, Kiessling und Blair herausgegebenen Oxforder Ausgabe; siehe die "Textual Introduction" AM 1: xxxvii—lx, liv.
xia Epidemica7 Beider Prosa bietet in ihrem Anspielungsreichtum und in ihrer stilistischen Vielfalt ein ebenso komplexes wie verspieltes Paradigma frühneuzeitlicher Intertextualität und Interdiskursivität. Eine Betrachtungsweise, die auf heutigen Lesern eher kurios erscheinende Aspekte dieser Schriften abzielt (wie sie zumal in der Browne-Forschung seit der Romantik immer wieder vorkommt), erliegt einer retrospektiven Verzerrung. Man darf aber nicht übersehen, wie stark das frühe 17. Jahrhundert — das ja immerhin den Aufstieg experimenteller Verfahren in den Naturwissenschaften und ihre Institutionalisierung in der Royal Society zu verbuchen hat — noch in der älteren Begriffswelt des Spätmittelalters und der Renaissance verwurzelt ist.8 Für wissenschaftliche Kommunikation haben sich noch keine formalen Regeln und standardisierten Ausdrucksformen durchgesetzt. Hinzu kommt, daß naturphilosophische Schriften sich den offenen und hochgradig flexiblen Diskursraum der 'republic of letters' mit einer Vielfalt anderer Textsorten teilen müssen: mit politischen Flugschriften, Predigten, Ratgebern, Gedichten, Dramen. Wie bereits angedeutet, lassen sich die Schriften von Milton, Donne, Bunyan und anderen kaum losgelöst aus den Kontexturen religiöser Debatten und diverser sektiererischer Bewegungen vor, während und nach dem englischen Bürgerkrieg verstehen, in denen sie ihren Ursprung haben. Analoges gilt auch für andere Schreibformen, gilt für Bacon, Hobbes und Boyle ebenso wie für die Platoniker von Cambridge, ungeachtet späterer Klassifizierungen.9 Das gesamtkulturelle ,Meinungsklima'10 tendiert im 17. Jahrhundert zur Favorisierung literarischer Mischformen, die enge Gattungsgrenzen überschreiten und (noch) nicht funktional differenziert sind. Dies heißt jedoch nicht, daß durchaus unterschiedliche Diskurse (Wissenschaft, Religion, Philosophie, Politik, Unterhaltung) miteinander im Einklang stehen. Im Gegenteil: Texte und Meinungen existieren ebenso wie ihre Urheber "in divided and distinguished worlds". Wo diese Welten aufeinanderprallen — oft im Werk eines Autors oder in einem Text — kann es zu heftigen Entladungen kommen. Die dabei freiwerdenden Energien können politische, zuweilen körperlich spürbare oder für die Beteiligten sogar tödliche Auswirkungen haben. Das größte Problem dieser Texte und ihrer Autoren ist ein Kontingenzproblem: Ihnen fehlt das formale Rüstzeug, mit dem sich die verschiedenen auseinanderdriftenden Diskurse wirksam und erfolgversprechend in ihrer Totalität erfassen ließen, deren Darstellung als einheitliches Ganzes ihre
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Zucst 1646; sechste erweiterte Ausgabe 1672. Vollständiger Titel: Pseudodoxia Epidemica: or, Enquiries into Very many received Tenents [sic], and commonly presumed Truths, auch bekannt u. d. T. Vulgar Errors·, umfaßt in der von R. Robbins besorgten modernen Ausgabe mehr als 600 Seiten. Siehe z. B.Talmor 1981, 12. Vgl. Gascoigne 1989; Vickers 1984; Kroll/Ashcraft/Zagorin 1992); Nate 2001. Der Ausdruck "climate of opinions" hat seinen Ursprung bei Joseph Glanvill, dessen Vanity of Dogmatizing (1661) selbst eine Mischform aus Philosophie, Religion und Wissenschaft ist.
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Idealvorstellung bleibt.11 Wie wir sehen werden, setzt sich erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine übergreifende Lösung für dieses Kontingenzproblem durch: der neoklassische Diskurs, der gegenüber dem Konkurrenzdruck von Metaphysik, Politik und Epistemologie eine rationalistische, gemäßigte Haltung entwickelt und zugleich eine diskursive Technik der Vermittlung zwischen widerstreitenden Erfahrungsebenen (einschließlich ihrer humanistischen, neostoischen und christlichen Deutungen) und theoretischen (philosophischen, politischen, ethischen) Begriffen etabliert; Kontingenz wird dann auf einer dem Widerstreit vorgelagerten Ebene kommunikativ abgefedert in Formen der gepflegten Geselligkeit und Höflichkeit (politeness). Der neoklassische Diskurs wandelt somit Kontingenz von einem Modus der Erfahrung existentieller Unsicherheit in eine Kultur, eine kommunikative Norm der Intersubjektivität um. Im Gegensatz zur Kultur des Neoklassizismus ist der englische Späthumanismus des frühen 17. Jahrhunderts noch eine ausgeprägte Gelehrtenkultur. Der bei Burton und Browne, aber auch bei Hooker oder Cudworth gepflegte, häufig überladene Stil ist das genaue Gegenbild eines Kaffeehausgesprächs, dessen Konversationsmuster den Idealen der 'politeness' und des 'common sense' entsprechen. Der kulturelle Raum der späthumanistischen Gelehrten ist nicht das Kaffeehaus, sondern die Wunderkammer. Ihr Kommunikationsideal ist nicht die Höflichkeit des Gentleman, sondern die Beredsamkeit des humanistischen Gelehrten: für sie zählen Bildung und Weisheit mehr als virtus oder virtü im dynamisch-politischen Sinn Machiavellis; sie ziehen die vita contemplativa dem aktiven gesellschaftlichen Handeln vor. Grundlegend für die folgende Lektüre Burtons und Brownes ist die Hypothese, daß die stilistischen und formalen Besonderheiten ihrer Texte sich erklären lassen aus der Einbindung in eine späthumanistische kulturelle Kontextur, insbesondere in zwei Dispositive frühneuzeitlichen Wissens: die Privatbibliothek und die Wunderkammer. Als Schnittstelle von Makro- und Mikrokosmos, von öffentlichem Staunen und privater Neugier, verkörpert und verräumlicht die Wunderkammer die fur die frühneuzeitliche Naturphilosophie charakteristische Wissensordnung, die - wie das Motto zu diesem Kapitel aus Drummonds Cypress Grove deutlich macht - als Abbild geordneter Wirklichkeit aus der Sicht des allerhöchsten Beobachters (Gott) verstanden sein will. Diese Wissensordnung und ihr räumliches Abbild zentrieren sich um die schillernde Figur des Virtuoso, der die Fähigkeit verkörpert, die Totalität des Wissens mit den Mitteln seines 'wit' nachzuahmen. Auf der Grundlage dieser gesellschaftlichen, räumlichen und medientechnischen Fundamente gerät ein funktionales Verständnis der Texte in den Blick: als Lösungsversuche für bestimmte epistemologische Probleme, die sich aus einer veränderten Kommunikationssituation ergeben. Die Texte Burtons
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Ein gutes Fallbeispiel bieten die Platoniker von Cambridge (John Smith, Ralph Cudworth, Henry More). Siehe Tulloch 1874, Cassirer 2002.
und Brownes stehen hier exemplarisch für die Entstehung epistemischer Virtuosität als Medienphänomen im frühen 17. Jahrhundert; kontexturale Vorbedingungen dieses Phänomens sind die frühneuzeitlichen ,Wissenstechnologien' 12 des Buchdrucks, der Bibliothek und der Wunderkammer. Mit der Verbreitung und Differenzierung von Wissen in der Kultur des Buchdrucks, die den Zusammenbruch der spätmittelalterlichen Wissens- und Seinsordnung beschleunigen, entsteht nicht nur ein komplexerer, dynamischer Wissensbegriff, es kompliziert sich auch die Beziehung zwischen Autoren und Lesern gedruckter Texte. Zwar wird Browne häufiger als Burton als ein Beispiel des gelehrten Virtuoso gelesen - eines barocken Gelehrtentyps, wie ihn etwa auch Digby und Evelyn verkörpern.13 Aber in mancher Hinsicht ist dieser Begriff auch auf Burton anwendbar. Den Virtuoso als kulturelles Leitbild zeichnen eine schrankenlose Neugier und ein unstillbarer Wissensdurst auf nahezu allen Gebieten aus: Biologie, Geologie, Physik, Anthropologie, Geschichte, Theologie, Spiritualität. Der Virtuoso ist jedoch mehr Sammler als Wissenschaftler; er interessiert sich weniger für die systematische Darstellung eines Wissenskorpus als fur das diskontinuierliche, gefällige und mitunter spielerische Arrangement einzelner Wissensgegenstände. Das wissenschaftliche Erforschen und Erklären von Verbindungen nimmt dabei einen geringeren Stellenwert ein als der Appell an das Staunen des Betrachters, dessen Bewunderung durch überraschende Sinneffekte ('curiosities') hervorgerufen werden soll, durch die "answerings or analogies of beings", 14 die sich aus einer bestimmten Anordnung von Gegenständen im Raum (im Kuriositätenkabinett ebenso wie im textuellen Raum der Enzyklopädie) ergeben. Der Virtuoso ist weder ein bloßer Dilettant noch ein Wissenschaftler im modernen Sinne. 13 Die unversalistische Breite seines Wissens ist verbunden mit einem deutlichen Mangel an Methodik. Seine Aufmerksamkeit richtet sich daher zumeist auf das Ungewöhnliche, Seltene, Kuriose und Randständige. Wie seine Methoden sind auch seine Lektüre und seine Schriften eklektisch. Der gesellschaftliche Spielraum der Virtuoso-Gelehrsamkeit geht selten über die engeren Zirkel von persönlichen Freunden und Bekannten hinaus; sie ist größtenteils ein Elitephänomen und ein Privatvergnügen des Gentleman. Das Virtuosentum verdankt seine Existenzmöglichkeit der Kultur des Buchdrucks und dem damit verbundenen Wachstum privater Büchersammlungen, häufig in Verbindung
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Vgl. Rhodes/Sawday 2000a. Siehe Löffler 1972. Parry 1989, 1 2 7 - 3 2 und 1 6 0 - 6 5 liefert Kurzbiographien von John Evelyn und Sir Kenelm Digby, die ihre große N ä h e zu Brownes Gedankenwelt belegen, bei Digby etwa in der Verknüpfung wissenschaftlicher Forschungen mit okkulten Praktiken (Digbys Gattin, Lady Veneria Stanley, soll bei einem homöopathischen Versuch 1633 von ihm vergiftet worden sein), bei Evelyn im enzyklopädischen Bildungsanspruch seines Sylva, or A Discourse of Forest Trees (1664). Z u Brownes Stellung in der Gelehrtenkultur seiner Zeit siehe auch Preston 2005. Fairfax 1674, 2, zit. nach Preston 2 0 0 0 , 175. Siehe Löffler 1972, 47, mit Verweis auf die isolierte abweichende Ansicht von Chalmers 1936.
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mit Sammlungen anderer Raritäten im „virtuellen Theater" (G. Agamben) einer Wunderkammer.16 Der Betrachter einer solchen Wunderkammer sieht sich einer äußerst heterogenen Kollektion verschiedener Steine, Münzen, Knochen, Muscheln, ausgestopfter Tiere, Manuskripte, Inkunabeln, Straußeneier, Gemälde, Statuen, anderer Kunstgegenstände und exotischer Waffen gegenüber, die der stolze Besitz wohlhabender Adliger sind. Auch Arzte wie Browne betätigen sich gern als Sammler. In diesen neuen Räumen, die eher privater als öffentlicher Natur sind, steht dem Neugierigen eine gewaltige Fülle verschiedenster Informationen unmittelbar vor Augen, sinnlich greifbar oder in Form von Bildern und Texten. Es sind repräsentative, theatrale Räume, deren Welthaltigkeit auch dem Status ihrer Besitzer Ausdruck verleihen soll; dabei steht noch nicht der Konsum, sondern die Bewahrung und Zurschaustellung seltener Güter im Vordergrund. Wunderkammer und Bibliothek sind Räume eines Wissens, das aus seinen Ursprungskontexten herausgelöst ist, aber durch einen informierten Beobachter rekontextualisiert werden kann. Es sind Räume, in denen private Erfahrung mit Weltgehalt angereichert wird durch Zurschaustellung eines enzyklopädischen, obgleich stets unvollständig bleibenden Wissens. Diesem enzyklopädischen Anspruch liegt die Vorstellung zugrunde, die durch den Sündenfall verdunkelte Einheit und Harmonie der Schöpfung ließen sich durch bestimmte Wissenstechniken (Sammeln, Vergleichen, Korrigieren) wiederherstellen. Durch die Entdeckung verborgener Signaturen oder Paßformen (s. u. zu Brownes Garden of Cyrus) könnten Analogiebeziehungen zwischen den Dingen aufgezeigt werden, die jenseits der scheinbaren Unordnung der phänomenalen Welt eine höherwertige Struktur sichtbar werden ließen.17
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Agamben 1999, 32. Agambens Ausführungen zur Wunderkammer verdienen ein längeres Zitat: "The sensibility of the time did not see a great difference between works of sacred art and mechanical dolls, the engine d'esbatement and the colossal ornamental stands, full of automatons and live people, that served to animate the banquets of princes and popes. [...] Our aesthetic sensibility learns with horror that in the castle of Hesdin, in a hall decorated with a series of paintings representing the story of Jason, a series of machines was installed which, in addition to imitating Medea's spells, produced lightning, thunder, snow, and rain, to obtain a more realistic effect" (14). Einen Eindruck vermitteln zeitgenössische Radierungen; siehe Rhodes/Sawday 2000a, 152ff. Abb. 45-49. Siehe auch Impey/MacGregor 1985; Daston/Park 1998. Teile einer solchen Sammlung sind im Schloß Ambras bei Innsbruck zu besichtigen; eine gute Rekonstruktion findet sich auch im Amsterdamer Rembrandt-Haus. Siehe Preston 2000, 175: "What all the cabinets and their encyclopedias share is a syntax of resemblance or identity which is nearly always signaturist in its insistence on occluded and idiosyncratically selected likeness; their patterns are to be read as comparative contingencies or juxtapositions, as a system of potential matches'. In Prestons Analyse haben Brownes (und, wie hier zu ergänzen wäre, auch Burtons) Texte die Struktur eines "cento" bzw. eines Mosaiks. "Each essay is a quilt of instances stitched together from his vast reading to form, in the variety of example, an analogy of the disorder of the world; its structural organization is a prospective analogy of that reordering which is to occur at the Last Trump" (180). Diese strukturelle Organisation ist m. a. W. nicht nur epistemologisch, sondern auch eschatologisch. Zur epistemischen Form der analogia entis in der frühen Neuzeit siehe auch Foucault 1971b, 46-77.
Bibliothek und Wunderkammer sind frühneuzeitliche Institutionen einer ,Wissenstechnologie' (Rhodes/Sawday), die auf einem neuen — europäischen - Kommunikationsnetz basiert. Zumindest theoretisch läßt Neugier sich nun, dank der leichten Verfügbarkeit gedruckter Texte, auch ohne ausgedehnte Reisen daheim befriedigen. Das 17. Jahrhundert wird zum Zeitalter der Privatbibliothek, wobei die Grenzen zwischen Bibliotheken und Wunderkammern noch merklich fließend sind. Wissen wird zu einer eigenen Kunstform; das Streben nach Wissen ist nicht mehr primär pragmatisch motiviert, sondern wird zu einer Form der ,rekreativen' Betätigung, des Vergnügens, das sich auch zum Vergnügen anderer zur Schau stellen läßt. Diese Kreuzung privater und öffentlicher, lokaler und globaler Aspekte spiegelt sich in den Schriften Burtons und Brownes wider. In der Wunderkammer wird Wissen zu einem Medienphänomen, das zum Nachdenken anregen will, aber auch und vielleicht vorrangig zum Staunen, zur Bewunderung und sinnlichen Faszination. Die literarische Konfiguration des Späthumanismus hängt insofern von diesen epistemischen Neuheiten ab, als sie einen erstaunlichen Grad an Intertextualität verbindet mit einer Faszination für andere Medien, andere Kommunikationsweisen, andere Möglichkeiten des Wissenserwerbs und -transfers. Sie ist ein Bibliotheksphänomen im Geiste der Wunderkammer. In der Isolation der Studierstube, fernab vom turbulenten Treiben des Lebens, wird eine distanzierte und entpragmatisierte Beobachtungshaltung gegenüber einer Vielfalt von Themen und Gegenständen möglich. Im Neuarrangement disparater Bestände entstehen kontingente, unwahrscheinliche, überraschende Sichtweisen. Diese Erfahrung gilt es dem Leser zu vermitteln und mit ihm zu teilen; dabei ist die Reaktion des Lesers äußerst ungewiß und muß auf die eine oder andere Weise durch den Autor antizipiert werden. Es ist zu bezweifeln, ob der Leser dem Text mit der gleichen Muße ('idleness' bei Burton, "leisurable ease" bei Browne18) begegnen kann wie der Autor, und dieser Zweifel muß im Text selbst artikuliert und abgefedert werden. Für dieses Problem der Adressabilität werden verschiedenste Lösungen vorgeschlagen und praktiziert, vom Burtonschen Extrem der ironischen Selbstanprangerung, in die der Leser verstrickt wird, bis hin zu weniger strikten, .weicheren' Formen der Leser-Antizipation. Für Burton sind Bildung, Schreiben und Leküre therapeutische Mittel gegen die Schwermut; fur Browne eröffnet das Nachempfinden einer Wunderkammer im Raum des Geschriebenen einen imaginären Raum der "recreation", der kontemplativen Neuschaffung des Autor- wie des Leser-Selbst. In den virtuellen Kontaktzonen der Bibliothek und ihres Abbildes en miniature, des enzyklopädischen Buches, wird jedoch die Beobachterposition des Schreibenden im Bezug auf den Leser zusehends problematisch. Bei Burton läßt sich das immer weiter wachsende Palimpsest der Zitate und Verweise kaum noch handhaben, wird die Selbstreflexion und Selbst-Sektion des Schreiber-Beobach-
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"written by an idle fellow, at idle times": AM 1: 111; "leisurable ease": Religio 1.
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ters immer komplexer, bis sie schließlich in die theatralische Selbstinszenierung und Selbstdistanzierung eines „bloßen Beobachters"19 in der Rolle des Democritus junior mündet. In diesem Prozeß wird Wissen zu einem mehr oder weniger kontingenten Spektrum epistemologischer, aber auch emotional getönter Begriffspaare (Weisheit/Tollheit, Utopie/Dystopie, Maske/Authentizität, Weinen/Lachen etc.) vor dem Hintergrund universeller Melancholie. Bei Browne dagegen führt eine flexible, der humanistischen curiositas verpflichtete Beobachtungshaltung zur Entdeckung und Reflexion zahlreicher perspektivischer Kontingenzen, durch die neues Wissen freigesetzt wird. Für Browne wird die Welt zu einem Globus, der sich nach Belieben drehen und von allen Seiten betrachten läßt: "The world that I regard is my selfe, it is the Microcosme of mine owne frame, that I cast mine eye on; for the other, I use it but like my Globe, and turne it round sometimes for my recreation."20 Die Schriften Burtons und Brownes lassen sich in letzter Konsequenz als zwei höchst unterschiedliche Reaktionen auf die gleiche Ausgangssituation interpretieren: die Ausbreitung und Differenzierung des Wissens in der Neuzeit, die zum Zusammenbruch einer Wissens- und Seinsordnung fuhrt, der beide sich noch verbünden fühlen. Sie reagieren auf die sich daraus für literarische Formen und rhetorische Strategien der Darstellung ergebenden Zwänge und Beschränkungen, aber sie unternehmen auch erste Schritte zur Erkundung des neuen Möglichkeitshorizonts, der sich vor ihnen öffnet. In einer solchen Situation gewinnt der Leserbezug eine vorrangige Bedeutung, da er am deutlichsten zeigt, wie problematisch (komplex und kontingent) die epistemologischen Grundlagen literarischer Kommunikation in der frühen Neuzeit geworden sind. In einer sich differenzierenden Buchdruckkultur wächst unweigerlich die (räumliche und geistige) Distanz zwischen Autoren und Lesern; daraus ergibt sich, daß die kommunikative Funktion bestimmter Schreibakte im Bezug auf unterschiedliche Lektüresituationen sich immer weniger von selbst versteht. Die mißverständliche Vieldeutigkeit von Textstrukturen ohne die Möglichkeit auktorialer Intervention (wenigstens bis zur nächsten korrigierten Auflage) läßt es auf Seiten der Autoren notwendig erscheinen, das problematisch gewordene Autor-Leser-Verhältnis implizit oder sogar explizit im Text zu thematisieren - um den Folgen eines Mißverständnisses vorzubeugen, aber auch um den literarischen Mehrwert semantischer Polyvalenz spielerisch ausnutzen zu können. Rhetorische Strategien der Indirektheit, Ironie, Selbstreflexivität und einer Staffelung auktorialer Maskierungen (allesamt also Verfahren, die wir normalerweise mit den Konventionen moderner fiktionaler Erzählkunst verbinden) werden dabei in Texten wirksam, deren kommunikative Absichten nicht im konventionellen (ästhetischen) Sinn ,literarisch' sind, und sie fallen in diesen Texten noch mehr
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"a meere spectator": AM Religio 2.11,70.
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ins Gewicht als in solchen, bei denen die primäre Funktion des Geschichtenerzählens sich von selbst versteht. Indem sie die Produktions- und Rezeptionsprozesse textueller Strukturen inszenieren, auf denen ihr prekäres strukturelles Gleichgewicht basiert, gewinnen diese ,proto-literarischen' Texte eine zusätzliche Reflexionsebene hinzu.
2. Die Lektüre als Schauplatz der Schrift. Inszenierte Epistemologie in Burtons Anatomy of Melancholy Burtons Darstellungsform in der Anatomy zeichnet sich durch hauptsächlich zwei besondere Merkmale aus: Aufzählung und Intertextualität. Beide Techniken verdanken sich seinem enzyklopädischen Wissensanspruch. Die .Sektion' der Anatomy entfaltet Schicht um Schicht "of divers things fore-knowne",21 und diese Entfaltung hat einen stetigen Materialzuwachs zur Folge, dessen Fülle einzig und allein durch einen gewaltigen Apparat von Teilungsvorgängen kontrolliert wird: Der Text teilt sich in Teile, die wiederum unterteilt sind in Abschnitte, Abteilungen und Unterabschnitte.22 Durch die parallelen Vorgänge der stetigen Teilung und Unterteilung sowie der fortwährenden Bearbeitung und Ergänzung wächst der Text von etwa 350.000 Wörtern in der Erstausgabe auf mehr als eine halbe Million Wörter in der sechsten Auflage an — größte .anatomische' Enzyklopädie der Zeit, "a textual investigation of the world and all that it contained".23 Ihre Zielvorstellung ist ein enzyklopädischer Zugang zum menschlichen Wissen und zum Wissen vom Menschen, eine sorgfältig orchestrierte, in jedem Punkt durch Autoritäten beglaubigte Bestandsaufnahme, organisiert nach den Prinzipien der Anatomie,24 obgleich Burtons Interesse für radikale Neuerungen auf dem Gebiet des anatomischen und medizinischen Wissens beschränkt ist und
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" The Authors Abstract of Melancholy Δ ι α λ ο γ ι κ έ ς " , Ζ. 2, AM 1: lxix. Nachfolgende Zitate aus der Anatomy (Bd. 1) in Klammern im Text. J. Sawday spricht von einer "vast superstructure of divisionary procedures" (1995, 2). Für Sawday ist Burtons Anatomy "a late but nevertheless paradigmatic textual example of [the Renaissance] delight in particularization", dessen Teilungsmuster der menschlichen Anatomie abgeschaut sei (2f., 108). Vgl. Burtons "Synopsis of the First Partition" (AM 1: 117-20), die seiner Faszination fur die „Sprache des Zerteilens" Ausdruck verleiht (Sawday 44), eine Faszination, die in der frühen Neuzeit weitverbreitet war. Sawday geht so weit, das Modewort 'anatomy' als strategisch piazierten Buchtitel aufzufassen, als "a guarantee of a text's modernity" (ebd.), also vor allem wohl als Kaufanreiz. Er fuhrt zahlreiche Beispiele fur zeitgenössische Texte mit dem Wort 'anatomy' im Titel an, darunter John Lylys Euphues: The Anatomy of Wit (1578), Philip Stubbes Anatomy of Abuses (1583) und Thomas Nashes Anatomie ofAbsurditie (1589). Sawday 1995, 108, 135. Vgl. ders. 1997. Zum Wachstum der Anatomy siehe die "Textual Introduction" in AM 1: xxxvii—lx, xxxvii-xliv. Dies scheint zumindest die in der Forschung zu Burton am häufigsten vertretene Ansicht zu sein; siehe etwa Babb 1959; Frye 1957; Hodges 1985. Sie wird zurückgewiesen von denen, die die ganze Anatomy als menippeische Satire oder als monströse "epistemological aberration" auffassen; zu ersterem siehe Korkowski 1975, zu letzterem Williams 2001, 594.
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er den herkömmlichen Beständen treu bleibt (also hauptsächlich Hippokrates, Galen und Paracelsus).25 Eine Folge dieses Vertrauens auf überliefertes und probates Wissen (neben mitunter obskuren Hinweisen und absurden Widersprüchen) ist ein hoher, teilweise extremer Grad an Intertextualität. Die zahllosen Quellen, aus denen der Text gespeist wird, treten auf jeder Seite offen und sichtbar zutage. Wie J. B. Bamborough treffend bemerkt, fuhrt der 'exhaustive' Anspruch Burtons sein Werk auf den Weg einer "traditional encyclopedic method of composition at a point in history at which it was becoming virtually impossible to apply".26 Weil Burton über keine klaren und eindeutigen (oder wissenschaftlichen') Kriterien verfügt, die über Annahme oder Ablehnung einer überlieferten Meinung entscheiden könnten, ist er gezwungen, ,alles' weitgehend ungefiltert in sein Buch aufzunehmen - ein Ding der Unmöglichkeit. Dieses Abzielen auf Totalität führt dazu, daß seine Autorposition in bezug auf diese Totalität und ihre Quellen unsicher wird - nicht der einzige, aber ein entscheidender Faktor für das Labilwerden von Burtons Auktorialität. Ein weiterer Faktor ist darin zu sehen, daß er, wie er in einer Eigendiagnose zugibt, selbst ein Opfer jener Krankheit ist, die er in seinem Buch untersuchen will. Er teilt sich dadurch selbst in Arzt und Patient und stellt das Schreiben als therapeutischen Heilungsprozeß dar: "I write of Melancholy, by being busie to avoid Melancholy" (6), "to exercise my seife" und "to doe my selfe good" (7).27 Weil es der menschlichen Wahrnehmung unmöglich ist, Totalität zu verarbeiten, kann sie in die absolute Negation von allem kippen: "Omne meum, nihil meum" (11). Sogar dieses Bekenntnis zur Epigonalität stammt, wie Burton vermerkt, nicht von ihm selbst.28 Noch mehr als üblich ist seine Autorposition
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Vgl. Bamborough 1989, xxi. Bamborough 1989, xxvi. U n d weiter: "At the time at which [Burton] was writing any observation or theory which had reached the dignity of print still had the aura of being true; the medieval feeling that any authority' must be respected still survived, and an encyclopedic writer was expected to take account o f all his predecessors. Nor was judgement between conflicting authorities easy, for there was lacking an agreed body o f knowledge to form a matrix into which any new discovery or theory might be expected to fit." Z u Burtons Anatomy als "postencyclopedic book" siehe auch Grose 2002, 87 und Schmelzer 1999. Eine herausragende Analyse der selbstreflexiven, textgenerierenden Rolle der Melancholie bei Burton findet sich im Kapitel „Exzentrik der Melancholie. Robert Burtons Anatomy of Melancholy (1621)" in Wagner-Egelhaaf 1997, 9 3 - 1 5 8 . Wagner-Egelhaaf zeigt die paradoxe, einem Möbiusband ähnelnde Form (108f.), in der Schrift als Heilmittel fur Melancholie zugleich den Gegenstand hervorbringt, den sie therapieren soll (93, 118). Burton behauptet, der Satz stamme von Makrobius; sein moderner Kommentator belegt dagegen die Formulierung "omnia nostra, & nihil" bei Justus Lipsius {AM 4: 26). Der Satz dient Burton zunächst als Motto der gesamten Anatomy, bis er sich fur eine konventionellere Stelle aus Horaz entscheidet; siehe den Kommentar AM 4: 2. - Im Spannungsfeld von Burtons "omne meum, nihil meum" steht auch noch Milton, der seine Originalität zu Beginn von Paradise Lost paradoxerweise mit einem Ariost-Zitat behauptet: "Things unattempted yet in Prose or Rhyme" (1.16) ist eine Übersetzung von Ariosts " C o s a non detta in prosa mai ne in rima" (Orlando Furioso 1.2.2); siehe Lewalski 2003, 461.
daher von der Anerkennung durch den Lesers abhängig: "Scire tuum nihil est, nisi te scire hoc sciat alter", so zitiert er Persius (7) - dein Wissen ist wertlos, wenn andere nicht wissen, daß du es weißt, wenn du es anderen nicht mitteilen und ihre Anerkennung nicht erlangen kannst - was noch erschwert wird durch die neue Kommunikationssituation "in this scribling age, [...] wherein the number of Bookes is without number [...] and out of an itching humor, that every man hath to shew himselfe, desirous of fame and honour [...] he will write no matter what, and scrape together it bootes not whence" (8). Wo nahezu jedermann danach strebt, ein Autor und Monarch eines papierenen Königreichs ("a Paper-Kingdome", 9) zu werden, geht der Distinktionsgewinn von Autorschaft verloren.29 So schwankt Burton zwischen Behauptungen seiner methodischen Originalität und selbstkritischen Diagnosen seiner unvermeidlichen Epigonalität und Trivialität, wenn er sein Buch als ein " Cento out of divers Writers" und als "this my Maceronicon" bezeichnet (11), mit Begriffen also, die die intertextuellen und interlingualen Aspekte seines Buches hervorheben, aber aufgrund ihrer Etymologie (letzterer stammt vom Nudelgericht Macaroni) auch auf physiologische Vorgänge der Ernährung und Verdauung anspielen, die (jenseits der anatomischen Unterteilungen des Textes) Metaphern der Burtonschen Textgenese und Strukturbildung darstellen: "which nature doth with the aliment of our bodies, incorporate, digest, assimulate, I doe conquoquere quod hausi, dispose of what I take" (ebd.). Der Schriftsteller ist für Burton zuallererst ein Leser, der .verdaut' (digest) und dann das Gelesene in seinen eigenen Stoff umwandelt, es sich physiologisch anverwandelt: "the method onely is myne owne, [...] we can say nothing but what hath beene said, the composition and method is ours onely, and shewes a Schollar" (ebd.). Burton ist gezwungen, eine Darstellungsstrategie zu finden und zu entwikkeln, die es ihm ermöglicht, eine möglicherweise negative Reaktion des Lesers auf die Totalität, mit der er sich konfrontiert sieht, zu antizipieren. Die Rolle des Lesers im Text der Anatomy ist mindestens so unsicher wie die des Autors. Burtons Strategie beruht auf einem Verfahren auktorialer Doppelung und Spiegelung auf thematischer wie auf textueller Ebene. Thematisch doppelt sich der Autor als Arzt und Patient: Er verfaßt ein Buch über die Melancholie, um die eigene Melancholie zu kurieren. Indem er dem Leser ebenfalls die Rolle des Patienten zuweist, hält er ihm einen Spiegel der Selbsterkenntnis vor in der Absicht, ihm die Möglichkeit zu geben, sein eigener Arzt zu werden. Auf der Textebene gibt es eine weitere Doppelung und Spiegelung, da der Autor sich selbst sowohl als (wortreich) Schreibenden wie auch als (Bücher verschlingenden) Leser darstellt. Der ideale, äußerst wißbegierige ("very inquisitive", 1) (Viel-)Leser der Anatomy wird dazu aufgefordert, sich mit dieser Doppelposition eines Lesers zu identifizieren, der zugleich ein Schreibender ist und der die ihm von Burton
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Siehe hierzu auch u n t e n Kap. III.4 zu Margaret Cavendish.
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dargebotenen Digesten seinerseits ,verdauen' und sich anverwandeln wird. Der Text inszeniert Lektüre als körperliche Erfahrung. In der Ausgabe von 1628 findet sich dieser duale Aspekt sehr deutlich dargestellt im Bild eines Schreibenden, dessen sitzende Gestalt durch die Initiale „ G " gerahmt wird, die den Anfangsbuchstaben der Worte "Gentie Reader" zu Beginn des langen "Satyricall Preface" mit dem Titel "Democritus Junior to the Reader" bildet. 30 Die in diesen Worten angesprochene Relation zwischen Schreiber und Leser wird noch dadurch kompliziert, daß der Schreiber auf dem Bild zugleich ein Leser ist, der auf eine geschriebene Seite schaut — eine Seite, die er entweder gerade schreibt oder korrigiert. Der Autor wird auf diesem Bild inszeniert als Gelehrter im Akt des Schreibens, der als zum Zeitpunkt der Leseransprache ("Gentie Reader") noch unabgeschlossen dargestellt wird. Diese Offenheit, Dynamik und Simultanität von Schreiben und Lektüre wird optisch noch verstärkt durch den nach rechts hin (also in Richtung der beim Lesen vorherrschenden Augenbewegung) geöffneten Kreisbogen der Initiale. Die Öffnung des Buchstabens G fügt sich der Form des Schreibtisches an und weist in die Richtung, in der der Text wirken soll, auf den im Unbekannten befindlichen, unsichtbaren Ort des Lesenden, an den sich der Text wendet und der in den Worten 'Gentie Reader' angesprochen wird. Das Bild suggeriert einen unmittelbaren Kontakt zwischen Autor und Leser, den das gedruckte Wort allein nicht herstellen kann; es spiegelt zugleich den Autor als einen Leser und den Leser selbst als möglichen Autor.
Abb. 1. Initiale G, von der ersten Seite von "Democritus Junior to the Reader" in der Ausgabe 1628.
Das trotz dieser versuchten Enthierarchisierung problematisch bleibende Verhältnis von Autor und Leser wird vor allem in der überwältigenden Menge pe-
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Ein Faksimile der ersten Seite von "Democritus Junior to the Reader" in der Fassung von 1628 dient als Frontispiz der hier verwendeten Oxforder Ausgabe. Die Worte "Satyricall Preface" finden sich auf dem Titelblatt, reproduziert ebd. lxiii. Das Bild fehlt in der Ausgabe von 1632; siehe das Faksimile lxxii.
ritextuellen Materials thematisiert, von d e m der Haupttext der Anatomy u m stellt ist, insbesondere im Vorwort "conducing to the following Discourse" (so das Titelblatt). Wie schon oft bemerkt wurde, sind die Peritexte in der Anatomy dem Haupttext nicht hierarchisch untergeordnet, u m dessen Autorität zu untermauern, sondern sie erfüllen eine davon weitgehend unabhängige Funktion des Kommentars, sogar des Widerspruchs. 3 1 Ich konzentriere mich im folgenden auf die Analyse dieser liminalen Rahmentexte, weil Burtons Inszenierung einer literarischen Epistemologie gerade an den Rändern seines gigantischen Werks besonders deutlich wird: Hier werden Bedingungen und Konventionen des Lesens und Schreibens verhandelt sowie die Unmöglichkeit einer dauerhaften Stabilisierung der Kommunikation zwischen Autor und Leser. In den Peritexten und ihren unterschiedlichen Rahmungselementen können Autor und Leser sich selbst und einander als textgelenkte Rollenspieler beobachten. 3 2 Z u diesem Zweck setzt Burton auch, wie bereits gezeigt, graphische Elemente ein. D a s vieldiskutierte, von Christof Le Blon d. A. illustrierte Frontispiz (zuerst 1628) ist nur das bekannteste dieser Elemente. Es enthält ein Porträt Burtons, der in seiner linken H a n d ein geschlossenes Buch so hält, als wolle er es d e m Betrachter anbieten. Das gerahmte Bildnis ist umgeben von (im Uhrzeigersinn) einem Wappen, einem Astrolabium, einem Lineal sowie einem weiteren, offenen Buch. Es trägt die Subscriptio "Democritus Junior", Burtons Pseudonym, welches das Bild eindeutig als Porträt des nominellen Autors des Buches identifiziert. 1632 fügt Burton dem Titelblatt noch ein Gedicht hinzu mit d e m Titel " T h e Argument of the Frontispeice [sic]". In Relation zum Bild generiert das Gedicht Komplexität, indem es zur Ausdeutung des Porträts auffordert und diese zugleich erschwert: N o w last o f all to fill a place, Presented is the Authors face; A n d in that habit which he weares, H i s I m a g e to the world appeares. H i s m i n d e n o art can well expresse, T h a t b y his writings y o u m a y guesse. 3 3 (lxii)
Das Bild des Autors finde sich a u f d e m Frontispiz nur als Lückenfüller, "to fill a place" — ein lakonischer und doch treffender Kommentar zur Kontingenz
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Bei Genette ist der Peritext dem Haupttext streng hierarchisch unter- bzw. nachgeordnet. Ein strenges Konzept dieser Art läßt sich auf Burtons Anatomy nicht anwenden; vgl. Wagner-Egelhaaf 1997, 94; siehe auch Maclean 1991. Der Begriff Autor' kann daher in dieser Analyse nicht den Autor als reale Person meinen, sondern bezieht sich auf eine Textfunktion, die der des Erzählers in fiktionalen Texten entspricht. In der Anatomy werden, wie weiter unten zu zeigen sein wird, die Möglichkeiten des Komplexitätsgewinns ausgelotet, die sich aus einer Doppelung des Autors in die Rollen 'Democritus'/'Burton' ergeben — einer Doppelung, die es dem Autor gestattet, die Leerstelle zwischen diesen Rollen als "No-body" zu besetzen und zu kontrollieren. AM 1: lxii. Kursivierung aufgehoben; Herv. im Original.
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von Autorschaft und zur Notwendigkeit, für diesen unmöglichen Ort außerhalb des Textes, diese Leerstelle oder „Nullstelle des Diskurses" 3 4 einen repräsentativen Platzhalter zu kreieren. Sodann unterscheidet das Gedicht zwischen dem "Image" des Autors und seinem "minde"; zu letzterem gebe es einen indirekten Z u g a n g nur über den U m w e g der Schrift, "by his writings". Außere, öffentliche Erscheinung wird von einer Innerlichkeit differenziert, die sich dem gesicherten Wissen entzieht. Gedankenlesen durch Textinterpretation, daran läßt Burton keinen Zweifel, ist nichts anderes als Rätselraten: "you may guesse". Bild und Text erfüllen unterschiedliche, nicht miteinander vermittelbare Funktionen. Während das "Image" den Anspruch erhebt, eine Außenwelt abzubilden, verliert sich der innere Sinn eines Textes (hier verstanden als Abbildung des Autorenbewußtseins) in Kontingenzen, die keine Gewißheit zulassen, sondern neue Unsicherheiten erzeugen. Der Text wirkt jedoch auch auf das Bild zurück und läßt es selbst als doppeldeutig erscheinen: Vielleicht bietet das Abbild Burtons sein Buch (also, dem Gedicht zufolge, sein Inneres) dem Leser gar nicht an, sondern hält es vor ihm zurück. Hinzu kommt, daß es sich bei dem Buch in seiner H a n d möglicherweise gar nicht um die Anatomy handelt, da sein Format zu klein scheint; das Format der Anatomy wechselt schon in der zweiten Ausgabe 1624 von Q u a r t zu Folio. 3 5 Vielleicht ist die Anatomy das aufgeschlagen außerhalb des gerahmten Porträts liegende Buch - noch größer also die Distanz zwischen Autor(bild) und Text. Z u d e m zeigen die aufgeschlagenen Buchseiten keine Schrift - das Buch bildet nicht die Innerlichkeit seines Autors ab, es verlangt vielmehr nach Füllung und Realisierung durch den Leser, fordert den Leser heraus, das Buch als Spiegel seiner selbst zu verwenden. Das Buch in Burtons H a n d könnte dagegen eine Bibel sein. 36 Es läßt sich nicht entscheiden. D a s Porträt ist wie das Pseudonym "Democritus Junior" eine Maske, die mehr verbirgt, als sie sehen läßt. Das Gedicht erklärt weiter, der Autor habe sein Porträt nicht aus Stolz oder Ruhmsucht in Kupfer stechen lassen, sondern — "if you must know" (wieder wird d e m Leser übertriebene Neugier unterstellt) — weil der Drucker/Verleger darauf bestanden habe: " T h e Printer would needs haue it so." Der Verleger verlangt ein Autorenporträt für das Frontispiz, eben weil es dort eine Leerstelle zu füllen gibt — vermutlich als Teil einer Vermarktungsstrategie, die zu einem besseren Verkauf des Buchs beitragen soll, indem sie die Aufmerksamkeit auf den Autor lenkt und zur Identifikation mit ihm einlädt. Die Strategie, ein Bild des Autors auf das
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Siehe Iser 2 0 0 3 . Siehe "Textual I n t r o d u c t i o n " xxxvii. V g l . hierzu W a g n e r - E g e l h a a f 1 9 9 7 , 9 9 f . Mueller n i m m t an, d a ß das aufgeschlagene B u c h zur L i n k e n ein E x e m p l a r der Anatomy sei ( 1 9 4 9 , 1 0 8 7 ) , aber das läßt sich natürlich weder beweisen n o c h widerlegen. W a s bleibt, ist die Feststellung, d a ß die (vielleicht beabsichtigte) D o p p e l d e u t i g keit visueller Z e i c h e n einen Z w i s c h e n r a u m zwischen Bild u n d B e d e u t u n g eröffnet u n d d a d u r c h die A u f m e r k s a m k e i t des Lesers a u f die eigene N e u g i e r b e i m Entziffern von Zeichenkonstellationen lenkt.
ticmwrifuA
fit mot"
Abb. 2. Kupferstich auf dem Titelblatt der Ausgabe von 1632 (Ausschnitt)
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Titelblatt zu setzen, läßt sich als Kompensation für den Verlust der Unmittelbarkeit interpretieren, der aus der körperlichen Distanz resultiert, die zwischen Autoren und Lesern durch moderne Kommunikationstechnologien etabliert wird. Eine Annäherung zwischen Leser und Autor wird von Burton nicht einfach negiert, doch der Vorgang der Identifikation wird kompliziert durch eine textuelle Kommentierung des Bildes, die die Aufmerksamkeit des Lesers auf die medientechnologischen Grundlagen, Produktionsbedingungen und strategischen Notwendigkeiten der Buchdruckkultur (ab)lenkt. Noch komplizierter wird es, wenn der Autor den Leser dazu auffordert, sich aktiv an diesem Identifikationsprozeß zu beteiligen. Diese Einladung führt die ,magischen' Implikationen des Autorbildes in den Augen des Lesers weiter aus und radikalisiert sie, indem sie das unbehagliche und vielleicht unauflösliche Machtverhältnis zwischen Autor und Leser anspricht: Then doe not frowne or scoffe at it, Deride not, or detract a whit. For surely as thou dost by him, He will doe the same againe. Then looke upon't, behold and see, As thou likest it, so it likes thee. And I for it will stand in view, Thine to command, Reader Adew.37 (lxii)
Das Porträt wird dem Leser als dynamische Reflexion seiner eigenen Reaktion dargeboten. Falls der Leser mit Hohn und Ablehnung reagiert, werde das Autorbild es ihm gleichtun. In der Tat zeigt Burtons Porträt — das wie ein Spiegel gerahmt ist - ein Pokerface, dessen Gefiihlsausdruck sich unter einem gepflegten Vollbart verbirgt. Das Wortspiel auf "like" (gefallen/ähnlich sehen) vermischt Zuneigung mit äußerlicher Ähnlichkeit: "it likes thee" = ,es ähnelt dir', aber auch ,es mag dich'. Die vorletzte Zeile verspricht, das Bildnis durch den Autor persönlich zu ersetzen ("I for it"); der Leser soll ,es' (das Bildnis) mit dem ,Ich' des echten Autors gleichsetzen, der ,sich zeigen wird' und zugleich ,als Zuschauer präsent werden wird' ("will stand in view" kann passivisch, aber auch aktivisch verstanden werden, der Autor bietet sich dem Blick des Lesers dar bzw. blickt selber den Leser an). Anstelle der ungewöhnlichen Substitution "I for it" hätte man vielleicht eher das konventionellere 'it for me' erwartet, d.h. ,der Stich stellt mich dar', nicht - wie in diesem Fall - ,ich werde für mein Bildnis einstehen, an seine Stelle treten'. Die letzte Zeile fugt einen weiteren Doppelsinn hinzu, weil ihr ein wesentliches Komma fehlt. Soll man lesen: "Thine to command, Reader, Adew", also: ,ich, der Autor, werde dir, lieber Leser, zur Verfugung stehen, damit du mir Adieu sagen kannst' (d.h. ,damit du jemanden hast, von dem du dich verabschieden kannst, wenn du das Buch beiseite legst')? Oder heißt es vielmehr
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AM 1: lxii. Kursivierung aufgehoben: Herv. im Original.
(und so, ohne Komma, erscheint diese Zeile im Druck): "Thine to command, Reader Adew", also ,du wirst mich anstelle meines Bildes sehen, und dann werde ich dir, lieber Leser, Adieu sagen' — vielleicht sogar: ,damit du mir Adieu sagen kannst, so als ob ich du selbst sei, der Leser'? Liest der Leser dieses Gedicht laut vor, dann ist er zudem unweigerlich gezwungen, die Position des "I" zu übernehmen und seine Stimme einem an ihn selbst adressierten Abschiedsgruß zu leihen, was die beiden Positionen von Leser und Autor noch weiter einander annähert. Das fehlende Komma und dieser geradezu unheimliche Rollentausch zwischen Leser und Autor machen eine Entscheidung zwischen den verschiedenen Deutungsmöglichkeiten des Gedichts unmöglich; seine Rezitation dagegen ist performativ, sie bewirkt im changierenden Rollenspiel von Leser, Autor und Autorbild eine Verunsicherung festgefügter Leserrollen und Lesegewohnheiten und weist voraus auf die Kommunikationsstrategie der Anatomy, deren Absicht eine Veränderung, ja Verwandlung des Lesers ist. Auch in den anderen Rahmentexten wird der Leser abwechselnd zum Mitvollzug eingeladen und zurückgewiesen. Sein Verlangen nach Identifikation mit Burtons Persona und seinem Buch (die eine steht schließlich für das andere ein, "in view") wird durch das ausgeklügelte Maskenspiel, das Burton in seinem Text inszeniert, zugleich angeregt und frustriert. Ist das Spiel der Rollen von Autor und Leser einmal etabliert, kippt es instabil und dialogisch zwischen den Polen von Anziehung und Abstoßung hin und her, genau wie die binären Gegensatzpaare der Gefühlszustände Traurigkeit und Freude (bzw. Depression und Manie) in " The Authors Abstract of Melancholy Δ ί α λ ο γ ί κ ω ς " (Ixix ff.) einander abwechseln. Im eigentlichen Vorwort "Democritus Junior to the Reader" nimmt das Versteckspiel zwischen Autor und Leser besonders extreme Züge an. Burton nimmt die Metapher der Lektüre als Form von Ernährung und Verdauung wieder auf und lädt den Leser ein, sein Gast zu sein: "Our writings are as so many Dishes, our Readers Guests" (13). Zum Schein läßt er sich darauf ein, die Unterschiede im Geschmack und in der Auffassungsgabe seiner Leser zu akzeptieren ("that which one admires another rejects", 13; "Some understand too little, some too much", 14), aber dann macht er eine Kehrtwende und spielt dem Leser einen .deutschen Gastwirt' vor: "As a Dutch Host, if you come to an Inne in Germany, & dislike your fare, diet, lodging, &c. replies in a surly tone, aliud tibi quaeras diversorium, if you like not this, get you to another Inne; I resolve, if you like not my writing, goe read something else" (14). Wie schon im Fall des Autorbildes auf dem Frontispiz wechselt gastliche Einladung mit schroffer Ablehnung. Was dem Leser als Gast vom Autor als (,deutschem') Gastwirt vorgesetzt wird, könnte sich zudem als das exkrementelle Endprodukt des Verdauungsvorgangs entpuppen:
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a Rapsody of Rags gathered together from severall Dung-hills, excrements38 of Authors, [...] harsh, raw, rude, phantasticall, absurd, insolent, indiscreet, ill-composed, indigested, vaine, scurrile, idle, dull and dry [...]. 'Tis not worth the reading, I yeeld it, I desire thee not to loose time in perusing so vaine a subject, I should bee peradventure loth my selfe to read him or thee, so writing, 'tis not opera pretium [worth the trouble], (12)
Erneut kehrt Burton/Democritus den Spieß um und spricht den Leser als potentiellen Autor an, während er selbst die Rolle des Lesers übernimmt: "I should bee [...] loth my selfe to read him or thee" (ebd.). Diese Doppelung und Spiegelung durchzieht das ganze Vorwort als eine Strategie, mit der Burton offenbar versucht, der Kontingenz und Instabilität seiner Autorposition entgegenzuwirken - indem er die Position des Lesers destabilisiert. Sie initiiert ein Wechselspiel von Selbstrechtfertigung und Selbstbezichtigung, das an kein Ende gelangen kann. In der Maske des Democritus Junior buhlt Burton abwechselnd um die Gunst des Lesers (der niemals anders als männlich imaginiert wird) und weist sie dann höhnisch wieder zurück. Worum es in diesem Spiel letztlich geht, ist eine epistemologische Perspektive auf die kontingent gewordenen Rollen von Autor und Leser im Wissenshorizont der Moderne. Die Maskierung als Democritus Junior verleiht Burton die nötige Distanz zu diesen gefährlichen, möglicherweise zerstörerischen Fragen und gibt ihm die Möglichkeit, mit ihnen in der akzeptablen literarischen Form der menippeischen Satire umzugehen. 39 Die Maskierung leistet eine Dramatisierung der Autorposition mittels einer Art des virtuellen Theaterspielens, in dem die Akte des Schreibens und Lesens inszeniert werden, die als solche nicht in Erscheinung treten können. 40 Autor und Leser werden dabei zu Schauspielern gemacht, denen eine reflexive Distanz zu den Zwecken und Beschränkungen ihres Handelns und Begehrens eignet. Der Leser wird aufgefordert, die eigene Neugier, den eigenen Wissensdurst zu hinterfragen - indem er vom Autor eine Abfuhr erhält: Gentie Reader, I presume thou wilt be very inquisitive to know what Anticke or Personate Actor this is, that so insolently intrudes upon this common Theater, to the
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Obwohl der Kommentar darauf besteht, "excrements" sei "in the sense of cast-off or rejected pieces'" zu verstehen (4: 29), läßt sich die drastischere Interpretation doch sowohl durch die durchgängig vorkommende Metaphorik von Ernährung und Verdauung rechtfertigen als auch durch die Nähe des Adjektivs "indigested" in diesem Absatz. Vgl. Holland 1979. Man sollte nicht vergessen, daß Burton seine satirischen Elemente auf das Vorwort beschränkt und den Hauptteil seines Buches davon weitgehend unberührt läßt. Das Besondere an Burton ist die Art, wie seine Paratexte sich mit den Vorgängen des Schreibens, Lesens und Vermarktens von Büchern auseinandersetzen und dabei bis zu den sozialen und epistemologischen Grundlagen der frühneuzeitlichen Medienkultur vordringen. Vgl. Iser 1991, 505: „Inszenierung gilt der Erscheinung dessen, was nicht gegenwärtig zu werden vermag. Da jeder Erscheinung indes ein Moment der Bestimmtheit eignet, damit sie zu einer solchen werden kann, verschatten sich Unbestimmtheiten in ihr, die zum einen auf das verweisen, was sich entzieht, und zum anderen dazu verlocken, dieses in die Erscheinung zu ziehen." Zu Formen der Doppelung und Spiegelung siehe ebd. 145-57, 511.
worlds view, arrogating another mans name, whence hee is, why he doth it, and what he hath to say? [...] I am a free man borne, and may chuse whether I will tell, who can compell me? [...] Seeke not after that which is hid, if the contents please thee, and be for thy use, suppose the Man in the Moone, or whom thou wilt to be the Author, I would not willingly be knowne. (1) Die Maske des Democritus Junior ist nicht bloß ein Pseudonym mit der Funktion, die Identität des Autors zu verbergen - dieser demaskiert sich gleich eingangs, wenn er sein College (Christ Church) beim N a m e n nennt (3) und wenn er, wie in der Erstausgabe, ans Ende des Buches seinen N a m e n und den seines College setzt; 41 vielmehr ist die Maske ein strategisches Element der Inszenierung. Der N a m e des Democritus verweist auf die Geschichte v o m Besuch des Hippokrates in der Stadt Abdera, wo er dem Philosophen Demokrit begegnet; dieser ist gerade damit beschäftigt, Tiere zu sezieren auf der Suche nach dem Sitz der,schwarzen Galle', denn er trägt sich mit der Absicht, ein Buch über die Ursachen der Melancholie und die Methoden ihrer Heilung zu schreiben. Das Buch sei verschollen ("now lost"), so Burton, der die Geschichte in seinem Vorwort referiert und dessen erklärte Intention es ist, das Projekt des Demokrit fortzusetzen und zu vollenden ("prosecute and finish", 6). In der Erzählung k o m m t es zu einer (auch für die Textstrategien der Anatomy signifikanten) Wendung, als Hippokrates verkündet, nicht Demokrit, sondern die Abderiten seien verrückt. Der Gebrauch einer Maske könne, so Burton, ein traditionelles Mittel der Satire sein "to assume a little more liberty and freedome o f speech" (5). Aber auch hier kehrt er den Spieß rasch um, demaskiert das "anticke Picture" (vgl. das Autorbild auf dem Titelblatt) als Vermarktungsstrategie, als Falle für Unvorsichtige. Der Markt ist in der Tat für Burton eine Falle ("a trappe", 50). "Howsoever it is a kinde of pollicie in these daies, to prefixe a phantasticall Title to a Booke which is to bee sold: For as Larkes come downe to a Day-net, many vaine Readers will tarry and stand gazing like silly passengers, at an anticke Picture in a Painters shop, that will not looke at a judicious peece" (6). Eine Metaphorik des Sehens und der Schau, die ja auch dem Wort .Theater' inhärent ist, durchzieht Burtons Vorwort und verweist auf die wechselnden Blickachsen zwischen Autor und Leser. Lektüre und Autorschaft werden beide als Akte des Schauens und Beobachtens konzipiert: ipse mihi Theatrum [A theatre to myself], [...] Et tanquam in speculäpositus [And like one placed on a watch-tower] [...] in some high place above you all, [...] I heare and see what is done abroad [...]. A meere spectator of other mens fortunes and adventures, and how they act their parts, which me thinkes are diversly presented unto me, as from a common Theater or Sceane. (4)
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Siehe Bamborough 1989, xxxi. Bamborough merkt auch an, daß die Plazierung des Familienwappens auf dem Titelblatt ebenso einer Unterschrift gleichkommt, und schließt daraus, daß es Burton nicht darauf angekommen sein könne, seine Spuren zu verwischen (ebd. Anm. 78).
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Dieses Theater, das sich vor dem Betrachter entfaltet — so erklärt er in einer langen Aufzählung — verdankt seine Möglichkeit den modernen Medien, die das Weltgeschehen auch noch bis zu denen tragen, die sich wie Burton für die klösterliche Lebensführung des Gelehrten entschieden haben: I heare new newes every day, & those ordinary rumors of War, Plagues, Fires, Inundations, Thefts, Murders, Massacres, Meteors, Comets, Spectrums, Prodigies, Apparitions, of townes taken, cities besieged in France, Germany, Turkey, Persia, Poland, &c. daily musters and preparations, and such like, which these tempestuous times afford, Battels fought, so many men slain, Monomachies, Shipwracks, Piracies, and Sea-fights, Peace, Leagues, Stratagems, and fresh Alarums. A vast confusion of Vowes, Wishes, Actions, Edicts, Peticions, Law-suits, Pleas, Lawes, Proclamations, Complaints, Grievances, are daily brought to our Eares. New bookes every day, Pamphlets, Currantoes, Stories, whole Catalogues of Volumes of all sortes, new Paradoxes, Opinions, Schismes, Heresies, Controversies in Philosophy, Religion, &c. Now come tidings of weddings, Μ askings, Mummeries, Entertainments, Jubilies, Embassies, Tilts and Tournaments, Trophies, Triumphes, Revels, Sports, Plaies: Then againe, as in a new shifted scene, Treasons, Cheating trickes, Robberies, enormious Villanies in all kindes, Funerals, Burials, Death of Princes, new Discoveries, Expeditions; now Comicall, then Tragicall matters. [...] Thus I daily heare [..·] both private and publike newes, [...] jollity, pride, perplexities and cares, simplicity and villany; subtelty; knavery, candor and integrity, mutually mixt and offering themselves [...]. (4f.) Indem er diese Informationsflut als Theater darstellt, versichert Burton sich und dem Leser, daß die explosionsartig wachsende Medienwelt ihn und seine Lebensführung nicht wirklich betrifft: "I rub on privus privatus [an independent and private person], as I have still lived, so I now continue" (5). Seine Medienkritik ist Teil der diskursiven Strategie des Vorworts, die Welt als NarrenschifF darzustellen ("ship of fooles" 42 ) und sein Werk davon abzuheben — schließlich sind die Abderiten verrückt und nicht Demokrit. Es ist eine Strategie der Totalisierung, mit der sich die totalisierende Strategie seines Buches kontrastieren und rechtfertigen läßt: "totus mundus histrionem agit, the whole world plaies the Foole, we have a new Theater, a new Sceane, a new Commedy o f Errors, a new company of personate Actors, volupia sacra [rites of pleasure] [...] are celebrated all the World over, where all the Actors were Mad-men and Fooles, and every houre changed habites, or tooke that which came next" (37). Wie im Theater gibt es jeden Tag eine neue Welt: "the world alters every day" (39). Der Topos des Theatralen 43
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AM59. Kursivierung aufgehoben. Vgl. Alexander Barclay, The Ship ofFools ( 1 5 0 9 ) , die englische Version von Sebastian Brants Das Narren S c h y f f ( 1 4 9 4 ) . Dieser Topos läßt sich zurückverfolgen bis (mindestens) ins 12. Jahrhundert zu Johannes' von Salisbury Ausspruch "quod fere totus mundus [...] exerceat histrionem", der als "totus mundus agit histrionem" sich als Motto des Globe-Theaters wiederfindet und in Shakespeares As You Like It zitiert wird: "All the worlds a stage,/ And all the men and women merely players" (2.7.138f.). Varianten finden sich neben Burton etwa bei Ralegh ("we are all become comedians in religion"); siehe Grose 2 0 0 2 , 8 7 ; Ralegh 1 9 8 4 , 140. Siehe auch Christian 1 9 8 7 .
verbindet sich mit dem Topos der vanitas; so erscheint die Welt in der Beschreibung durch Democritus Junior in entschieden proto-Hobbesscher Manier: "A vast Chaos, a confusion of manners, as fickle as the Ayre, domicilium insanorum, a turbulent troope full of impurities, a mart of walking Spirits, Goblins, the Theater of hypocrisie, [...] the Academy of vice; a warfare, [...] in which kill or be kill'd" (51). N u r in der Form des Schauspiels, als „aesthetisches Phänomen", ist die Welt auch bei Burton „ewig gerechtfertigt". 4 4 Der davon unberührt bleibende Zuschauer kann beiseite stehen und sich der Vorstellung hingeben, er sei frei von "folly and madnesse" (107). Aber auch hier kehrt Burton die Schauspielmetapher um, indem er aufzeigt, daß der Beobachter oder Zuschauer anderen lächerlich vorkommen, d.h. unfreiwillig selbst zum Schauspieler werden kann, ohne es selbst zu bemerken: "bee ridiculous to others, and not [...] perceive or take notice o f it" (57). In einer Narrenwelt sei auch der Weise vor Narrheit nicht gefeit, und der einzige Weg, die Weisheit zu fördern, sei die Erkenntnis der eigenen Narrheit: "mutato nomine, de tefabula narratur", zitiert er Horaz (57) —,ändere nur den N a m e n , so handelt die Geschichte von dir', ein Nachhall seines früheren Appells an den Leser, " T h o u thy seife art the subject of my Discourse" (1). D a s Ergebnis ist geradezu mathematisch: "If none honest, none wise, then all Fooles" (61). Selbsterkenntnis ist dieser Totalität der Torheit gegenüber der einzige Trost; u m diese These zu belegen, werden verschiedene Autoritäten angeführt, darunter Seneca, Erasmus und Roger Bacon ( 6 1 - 6 6 ) . Während dem Leser eine immer höher sich auftürmende Lawine aus Zitaten und Urteilen, Gedankenbildern und Anekdoten entgegenrollt, einschließlich mehr als zehn Seiten, auf denen nach Art eines Morus oder Campanella ein utopischer Gesellschaftsentwurf skizziert wird (86—97), m a g es dem Leser langsam aber sicher dämmern, daß der satirische Zweck dieses Wörterwustes darin liegen könnte, die "folly and madnesse" (107) des Schreibens und Lesens in der Kultur des Buchdrucks zu entlarven und ihn zur Erkenntnis der in der Autor-Leser-Beziehung steckenden doppelten Kontingenz zu fuhren - ihn dazu zu bewegen, sich in die Rolle des anderen zu versetzen. 45 Der Text
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Nietzsche 1988, 1:47. Zum Rollentausch siehe Mead 1934, 254, 354ff. Der Begriff .doppelte Kontingenz' stammt vonTalcott Parsons; siehe Parsons/Shils 1951, 16 und Parsons 1968, 436. Siehe auch Luhmann 1978, 46: „Sobald Ego und Alter aus welchen (zufälligen) Gründen immer in eine doppelkontingente Beziehung zueinander geraten, sich wechselseitig kontingentes Handeln zurechnen und infolgedessen jeweils füreinander auch als alter Ego fungieren, müssen beide jeweils in sich selbst eine dreifache Rolle integrieren. Jeder ist für sich selbst zunächst Ego, weiß aber auch, daß er für den anderen Alter ist und außerdem noch, daß der andere ihn als alter Ego betrachtet. Damit wird für die Orientierung in diesem Selektionszusammenhang und fur dessen Fortsetzung die Frage relevant, wie die Beteiligten je für sich ihr Ego-und-Alter-und-alter-Ego-Sein integrieren. [...] Jeder ist gehalten, die Selektivität und die Selektionszumutungen des anderen in die eigene Identitätsformel einzubauen, denn nur so kann er seine Operationen in dieser Beziehung fortsetzen." Moderne Kommunikation kann, so Luhmann weiter, komplexe Interaktionsprobleme erzeugen, deren Lösung in einer „symbolischen Substitution" zu finden ist, die es ermöglicht, über die komplexen Zusammenhänge doppelkontingenter Perspektiven in vereinfachter Form
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wird auf zweierlei Weisen selbstreferentiell: er schließt sich selbst in seine Kritik moderner Textualität mit ein, und er verweist den Leser auf dessen eigene, die Lektüre leitenden Vorlieben und Verirrungen ("hee was a madman that said it, and thou peradventure as mad to read it", 106). Nur wer schweige, könne der Torheit entgehen (107). Im diagnostischen Referenzrahmen des Melancholiethemas, das im Vorwort ausgeweitet und verallgemeinert wird in Richtung auf alle Arten von "folly and madnesse" (107), werden Autor, Text und Leser in ein globales Schema der (doppelten) Kontingenz gerückt; daher lassen sich ihre Beziehungen zueinander niemals eindeutig stabilisieren. Natürlich ist das Vorwort, wie Burton bereits zu Anfang zugibt ("'tis partly affected" [12]), eine ausgeklügelte literarstrategische Leistung, doch es führt die konventionellen rhetorischen Manöver einer captatio benevolentiae an ihre äußersten Grenzen und noch ein Stückweit darüber hinaus, indem es sie offenlegt und als Strategien entlarvt. Die Uberdehnung der Gattungsgrenzen des "satyricall preface" ist eine absichtliche Konventionsverletzung, Verletzung des Lesers durch den Autor bis hin zum Vertragsbruch. Aber schließlich ist es das tägliche Geschäft des Anatoms, Schnitte zu setzen. "If hereafter anatomizing this surly humor, my hand slip, as an unskilfull Prentise, I launce too deep, and cut through skin and all at unawares, make it smart or cut awry, pardon a rude hand" (113). An dieser wie auch an anderen Stellen ist Burton sich der Macht des Wortes sehr deutlich bewußt und warnt vor ihren Gefahren. Worte können verletzen ("hurt", "härme" 24), ihre Materialität kann so hart sein wie Felsgestein: "I advise them [gemeint sind melancholische Leser] therefore warily to peruse that Tract, Lapides loquitur (so said Agrippa de occ. Phil.) & caveant Lectores ne cerebrum iis excutiat [He speaks stones, and readers should take care lest he beat out their brains with them]" (24). 46
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zu kommunizieren. Eine solche Lösung werde erreicht durch „ A u s d r u c k von Achtung und die Kommunikation über Bedingungen wechselseitiger Achtung" (ebd.). Achtung wird dort gezollt, wo „perspektivisch integrierte Kommunikation" gelingt (ebd.). Worum es bei Burton geht, ist mithin eine Form der Kommunikation über die Achtungsbedingungen zwischen Autor und Leser und über die Bedingungen des Gelingens (oder Scheiterns) einer perspektivisch integrierten Kommunikation. Das Zitat stammt aus Agrippa von Nettesheim, De occulta philosophier, vgl. den Kommentar AM 4: 49. Der Topos Worte-als-Waffen ist in der frühen Neuzeit sehr weit verbreitet (s. u. Kap. IV.2) und läßt sich wahrscheinlich zurückfuhren auf die Überreste eines ,magisches' Sprachverständnisses, demzufolge Kommunikation unmittelbar performativ wirkt und auch Büchern eine solche Fernwirkung noch innewohnt. Milton ζ. Β. behauptet in der Areopagitica: "Books are not absolutely dead things, but doe contain a potencie of life in them to be as active as that soule was whose progeny they are; nay they do preserve as in a violl the purest efficacie and extraction of that living intellect that bred them. I know they are as lively, and as vigorously productive, as those fabulous Dragons teeth; and being sown up and down, may chance to spring up armed men" (Complete Prose 2: 480-570, 492) - wendet jedoch dieses Argument dann so, daß die .Tötung' eines Buches durch Vorzensur schlimmer erscheint als die Tötung eines Menschen. Er steht Burton nicht fern, wenn er Bücher als "usefull drugs and materialls wherewith to temper and compose effective and strong med'eins, which mans life cannot want" bezeichnet (521).
But what needs all this? I hope there will no such cause of offence be given; if there be,
Nemo aliquid recognoscat, nos mentimur omnia [Let no one take anything personally, all we say is lies]. lie deny all (my last refuge) recant all, renounce all I have said, if any man except, and with as much facility excuse, as he can accuse; but I presume of thy good favour and gratious acceptance (gentle reader) out of an assured hope and confidence thereof, I will beginne. (113)
Die Akzeptanz durch den Leser kann vom Autor nur vermutet bzw. präsumptiv antizipiert werden ("I presume"); seine wahre Reaktion ("excuse" oder "accuse") läßt sich dagegen nicht kontrollieren. Die ,letzte Zuflucht' des Autors liegt im ultimativen Potential ironisch-literarischen Diskurses: alles kann immer auch anders verstanden werden. Diese Polyvalenz wird in der Kultur des Buchdrucks dadurch gesteigert, daß die Abwesenheit des Autors vom Text unvermeidlich wird. Er mag grollen soviel er will, der Autor hat keine Chance, strittige Punkte im Text zu klären, keine Gelegenheit zur Korrektur oder zur Entschuldigung — bis die nächste Ausgabe in den Druck geht. Die einzig mögliche Sprecherposition, welche die Überwindung dieser Beschränkungen simulieren kann, indem sie das Uberschreiten des Wechselspiels reflexiver Doppelungen (Burton/Democritus, Autor/Leser, ich/du) inszeniert, ist die des Niemand. Diese ontologische Unmöglichkeit ist nicht bloß "the ultimate mask", 47 personifiziert als "Nicholas nemo, or Mounsieur no-body" (107), sondern das endgültige Ablegen aller Masken im Akt der Negation. .Niemand' ist der erste in Burtons Liste der von universeller Tollheit Ausgenommenen, und er wird zum Verfasser des Vorworts erklärt: "I writ this and published this ούτις ε λ ε γ ε ν [No-one was speaking], it is neminis nihil [nothing by No-one]" (11 If.). In der Form einer Abwesenheitserklärung ist dies die ultimative Inszenierung auktorialer Ironie als transzendente Negativität. Durch seine Inszenierungen auktorialer Doppelung, Spiegelung und Negativität im Vorwort verweist Burton den Leser auf die medialen Bedingungen literarischer Kultur, die der Anatomy zugrunde liegen. Er fordert dadurch den Leser heraus, sich nach den eigenen Motivationen zu fragen, derenthalben er einen Text über Melancholie lesen will und dazu noch ein langes Vorwort, das — je nach Perspektive — entweder eine brillante Einladung zur Selbsterforschung und Selbsterkenntnis ist oder ein äußerst unbescheiden vorgetragener Vortrag über schriftstellerische Bescheidenheit. Bei der Entzifferung dieses gedoppelten und doppelzüngigen Textes kann der Leser erkennen, daß er wirklich "the subject" (1) von Burtons Diskurs ist, im dreifachen Sinn von Thema (Sujet), Herr (Subjekt) und Knecht (Untertan). Nach dieser Erkenntnis kann der Leser sich in der Tat im Spiegelbild des Autors reflektiert sehen, wie "The Argument of the Frontispeice" es verspricht, und sich als Leser Adieu sagen. Läßt er sich auf Burtons Spiel ein, lernt er, daß Ironie "a way of controlling melancholy through play" sein kann, und er wird diese Ironie selbst verwenden, um der eigenen Melancholie
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Fox 1 9 7 6 , 2 3 2 .
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Herr zu werden.48 In dieser Hinsicht stellt sich das Vorwort nicht als erratischer Block, sondern als integraler Bestandteil der funktionalen und kybernetischen Struktur der Anatomy dar: es lehrt den Leser, seine Aufmerksamkeit auf die eigenen Erfahrungen während der Lektüre und deren Bedingungen zu richten, vielleicht um das herbeizuführen, was einige Interpreten als Burtons homiletische Intention in der Anatomy ausgemacht haben: eine religiöse Bekehrung.49 Aber eines der Hauptprobleme des Spiels auktorialer Negativität liegt darin, daß es, einmal in Gang gesetzt, praktisch nicht mehr zu stoppen ist. In der dritten Ausgabe 1628 werden das emblematische Titelblatt und die beiden einleitenden Gedichte hinzugefügt; dazu kommt noch, nach dem Vorwort, eine in Latein verfaßte Anrede an den ,zur Unzeit müßigen Leser', "Lectori male feriato" (114).50 Bevor die eigentliche Anatomy beginnen kann, wie er es am Ende des Vorworts "Democritus Junior to the Reader" noch verspricht, sieht Burton sich genötigt, es noch einmal mit dem Leser aufzunehmen, diesmal in der Form einer Reihe von Befehlen, Verboten und Warnungen, die den satirischen Tenor des Vorworts noch einmal zusammenfassen. Der zuvor als "gentle", "friendly" und "good Reader" angesprochene Leser (1, 16, 23, 113) wird nun in einer letzten Behauptung auktorialer Überlegenheit als unaufmerksamer Müßiggänger beschimpft. (Ich zitiere die im Kommentarband wiedergegebene englische Ubersetzung:) B u t to y o u , whoever you m a y be, I m a k e p r o c l a m a t i o n that y o u be pleased n o t to rebuke the a u t h o r o f this w o r k at a venture, n o r m o c k h i m with fault-finding. N o indeed, d o n o t silently a b u s e h i m (to p u t it in a w o r d ) because o f other people's criticism, nor be fool e n o u g h to express superior a n d sarcastic disapproval, nor accuse h i m falsely. For if it really is the case that D e m o c r i t u s J u n i o r is w h a t he professes to be, a n d is akin to his elder namesake, or indeed ever so little o f the s a m e kidney, then it is all u p with y o u ; he will be b o t h censor a n d accuser ( " b e i n g o f a mischievous spleen"), will b l o w y o u apart into jests, crush y o u into salty witticisms, a n d sacrifice you, I m a y a d d , to the G o d o f M i r t h . A g a i n I warn y o u n o t to cavil, lest while y o u insultingly d e f a m e or d i s h o n o u r a b l y disparage D e m o c r i t u s Junior, w h o has n o quarrel with y o u , you s h o u l d hear f r o m s o m e j u d i c i o u s friend the s a m e thing that o n c e u p o n a t i m e the p e o p l e o f A b d e r a heard f r o m H i p p o c r a t e s , w h e n they held that D e m o c r i t u s , their w o r t h y t o w n s m a n a n d fellow citizen, was a m a d m a n : "It is y o u , D e m o c r i t u s , w h o are wise, a n d the p e o p l e o f A b d e r a w h o are fools a n d m a d m e n . " You have no more sense than the people of Abdera.
H a v i n g given y o u this w a r n i n g in a few w o r d s , Reader w h o
e m p l o y y o u r leisure in idle frivolity, I b i d y o u farewell. 5 1
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Vicari 1989, 191. Die Heilung von der Melancholie wäre dann ein erster Schritt auf dem Weg zur Erlösung. Burton ist immerhin Priester, und die sehr stark erweiterte Third Partition der Anatomy; in der Liebesmelancholie und religiöse Melancholie behandelt werden, ähnelt in mancher Hinsicht einer Predigt. Siehe Vicari 1989, 80—148, 186f. Burtons Buch, so Vicari, "does not teach its conclusions magisterially [...] because they can only be possessed authentically by being worked out through experience" (145). Horaz, Oden 4.6.14. Siehe den Kommentar in ΑΜΑ·. 168f. ΑΜΑ·. 168f„ Herv. im Original.
Μ. a. W.: "Reader Adew." Alle diese Abschiede richten sich an einen Reisenden (und werden, sofern der Leser sie laut vorliest, auch vom Reisenden an sich selbst adressiert), der die eigentliche Reise noch gar nicht angetreten hat.52 Doch trotz aller Verabschiedungen will sich keine Finalität der Autor-LeserBeziehung einstellen. Selbst nachdem der Autor in der dritten Ausgabe erklärt hat: "I am now resolved never to put this Treatise out againe, Ne quid nimis, I will not hereafter adde, alter, or retract, I have done" (20), kann er nicht aufhören, den Text der Anatomy zu erweitern - obwohl das eben zitierte, etwas paradoxe Versprechen in allen späteren Ausgaben stehen bleibt.53 In der vierten Ausgabe, in der zum erstenmal das "Argument of the Frontispeice" enthalten ist, fügt er ein weiteres lateinisches Gedicht nach "Lectori male feriato" ein (115). Auch dieses Gedicht ist ein Text über Doppelung, diesmal über die Dualität von Lachen und Weinen, verkörpert in den Philosophen Demokrit und Heraklit. In die fünfte Ausgabe schmuggelt er einen weiteren Appell an den Leser, wiederum auf Latein, piaziert auf dem letzten Blatt über der Errata-Liste.54 (Ich zitiere die englische Übersetzung nach der Oxforder Ausgabe:) T O T H E READER Listen, good friend! This edition was begun not very long ago at Edinburgh, but was suppressed on the spot by our Printers. Subsequently, it was continued at London with their permission, and at last it was completed at Oxford; now for the fifth time it comes into the light as whatever kind of an edition it is [!]. In truth, if the first part does not indeed fit, nor the middle part with either the beginning or the end, on account of the frequent mistakes and omissions, whom do you blame? The Corrector, the Printer, this man, that man, everyone? I allow you to blame whomever you wish, this man, or that man, everyone. Meanwhile, I, the author, having been almost ignored by these men, am vexed in this manner. I am punished for their impudence. On account of their judgment I now sink into the depths, now again I am lifted up onto the stage, fastened to gates and door-posts, and to anyone you please I stand exposed as a slave put up for sale. But it is better, I suppose, to remember Harpocrates, lest I say something more serious against these men here, my masters; however irritated I am, I restrain myself, and as it is more fair, I here correct their mistakes and errors. (1: xl)
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Schon vorher wird dem Leser nahegelegt, sich als Reisenden vorzustellen und den Autor als eine Art Fremdenführer: "if you vouchsafe to read this Treatise, it shall seeme no otherwise to thee, then the way to an ordinary Traveller, sometimes faire, sometimes foule [...]. I shall lead thee per ardua montium, & lubrica vallium, & roscida cespitum, & glebosa camporum [over steep mountains, through hazardous valleys, dewy lawns, and ploughed fields], through variety of objects, that which thou shalt like and surely dislike" (18). Hier werden die traditionellen Topoi der Welt als Buch und des Buches als Landschaft zusammengebracht. In der Erstausgabe befindet sich dieser Passus in der (in den späteren Ausgaben gestrichenen) "Conclusion of the Author to the Reader" (AM3: 471). Vgl. "Textual Introduction" xxxix. "Textual Introduction" xxxix.
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Das Oszillieren zwischen auktorialer Macht und Ohnmacht, zwischen Selbstbezichtigung und Schuldzuweisung an andere (Setzer, Drucker, Leser, "everyone") läßt sich nicht stillstellen.55 Wenn der Autor für den Leser sowohl den technischen Vorgang des Büchermachens als auch die epistemologischen Bedingungen eines Buches (als durch das Zusammenwirken verschiedener Menschen hergestellten Gegenstand, als Ware auf einem literarischen Markt) als ein Spiel mit verteilten Rollen inszeniert, dann thematisiert er letztlich nichts anderes als die veränderte Kultur des Wissens im medialen Raum der frühen Neuzeit. Er zeigt dabei die Vergeblichkeit und zugleich die Unerläßlichkeit von Bemühungen um eine Uberbrückung der Distanz zwischen Autoren und ihren Lesern, von der dieser mediale Raum geprägt ist. Das Unbehagen in der Theatralität ist der Burtonschen Autorposition dabei noch deutlich eingeschrieben, die Authentizität in der Kommunikation mit einem nostalgischen Index versieht. Nicht selten kippt das Autorbild Burtons um in eine groteske Figur, ein Opfer der Moderne: "lifted up onto the stage, fastened to gates and door-posts, and to anyone you please I stand exposed as a slave put up for sale" (1: xl). Die kontinuierliche Reflexion auf die Unsicherheit und die unlösbare Kontingenz der Autor-Leser-Beziehung führt bei Burton in eine unaufhörliche Pendelbewegung zwischen den Polen einer Doppelgestalt vor dem Hintergrund undarstellbarer Negativität. Dieser Doppelgestalt begegnet man auch bei Sir Thomas Browne, allerdings unter veränderten Vorzeichen.
3. "New Faces ofThings". Kontingenzwissen und abstrakte Bilder bei Sir Thomas Browne In this multiplicity of writing, bye and barren Themes are best fitted for invention; Subjects so often discoursed confine the Imagination, and fix our conceptions unto the notions of fore-writers. Beside, such Discourses allow excursions, and venially admit of collateral truths, though at some distance from their principals. Sir Thomas Browne, Widmungsbrief zu The Garden of Cyrus (1658)
Die Sir Thomas Browne zugedachte wissenschaftliche Aufmerksamkeit ist außergewöhnlich. Sowohl sein Leben als auch seine Schriften sind Gegenstände steten und intensiven Forschens geworden, obwohl Brownes Leben alles andere als er55
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Außer durch den Tod des Autors. Die allerletzte Notiz "To the Reader" (und nun wirklich die letzte) stammt von der Hand des Druckers und ist dem letzten Blatt der sechsten Ausgabe angefugt: "Be pleased to know (Courteous Reader) that since the last Impression of this Book, the ingenuous Author of it is deceased, leaving a Copy of it exactly corrected, with severall considerable Additions by his own hand" (siehe "Textual Introduction" xliii).
eignisreich oder exzeptionell gewesen zu sein scheint. 56 Lange bildet der Stil bzw. die stilistische Vielfalt seiner allen modernen Klassifikationsversuchen spottenden Schriften das Hauptanliegen der Browne-Forschung u n d wird immer wieder zur Fundierung des Kunstcharakters seiner Prosa herangezogen. Angesichts der Behauptung, Brownes Stil sei der .literarischste' seiner Epoche, 57 verwundert es nicht, wenn Browne selbst die Prägung des englischen Wortes 'literary' zugeschrieben wird. 58 Angesichts solch hyperbolischer Behauptungen erscheint es ratsam, jene als literarisch empfundenen Eigenschaften in den Schriften Brownes zu historisieren, seinen ,Stil' aufzufächern in eine Reihe strategischer Antworten auf spezifische Kommunikationssituationen. Schon ein kurzer Blick ins Oxford English Dictionary zeigt, daß weder Burton noch Browne ihre Schriften oder ihren Stil als .literarisch' hätten bezeichnen können. Eine .literarische' Lektüre Brownes — d.h. eine, die von der Annahme ausgeht, es handle sich dabei um ästhetische, entpragmatisierte, auf bestimmten formalen Kriterien basierende (Kunst-) Kommunikation - ist ein modernes Phänomen. Alle Versuche, die Bandbreite seiner Stilarten auf einen Begriff zu bringen, sind retrospektive Konstruktionen. Während die Debatte über Browne als „Stilkünstler"59 zu keinem endgültigen Ergebnis gekommen ist, hat eine neuere rechnergestützte Studie demonstriert, daß allzu starre Vorstellungen eines ,barocken' Stils die Prüfung durch quantitative Meßverfahren nicht bestehen können. 60 Die Bezüge von Geistes- und Stilgeschichte im 16. u n d 17. Jahrhun-
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Vgl- das Urteil von Lytton Strachey (1922, 31): "Everyone knows that Browne was a physician who lived at Norwich in the seventeenth century; and, so far as regards what one must call, for want of a better term, his 'life,' that is a sufficient summary of all there is to know". Zur Biographie Brownes siehe Finch 1950; Bennett 1962; Huntley 1962. "[T]he most artificial and literary of anyone of his century": Cunningham 1996, 47. Siehe Huntley 1962, 169 (seine Liste angeblicher Wortschöpfungen Brownes enthält neben 'literary1 u. a. auch antediluviaP, 'hallucination, 'insecurity' und 'electricity'). Das OED führt tatsächlich als ersten Beleg für 'literary' eine Textstelle aus Brownes Pseudodoxia an, allerdings in der inzwischen obsoleten Bedeutung "pertaining to the letters of the alphabet". Im Zusammenhang bei Browne (Pseudodoxia 1.9): "Our first and literary apprehensions being commonly instructed in Authors which handle nothing else [but vaine and idle fictions]" (57). Browne kann sich nicht als .literarischer' Sprachkünstler verstanden haben, nicht nur weil er jegliche Assoziation mit der Herstellung und dem Vertrieb von "vaine and idle fictions" abgelehnt hätte, sondern auch, weil die moderne Bedeutung des Wortes 'literary' als ästhetische Kommunikation (OED·, "having the characteristics of that kind of written composition which has value on account of its qualities of form") ihm noch gar nicht verfügbar ist. Auch Browne ist allenfalls ein ,proto-literarischer' Autor. Vgl. Bischoff 1968. Siehe Havenstein 1999, 201 f. Havenstein wendet sich gegen Stanley Fishs „affektive Stilistik" und beruft sich dabei auf Morris W. Crolls "The Baroque Style in Prose" von 1929; ihre statistischen Ergebnisse demonstrieren jedoch den Grad der Revisionsbedürftigkeit dieser Thesen. Vgl. Croll 1966; Fish 1972. Fishs provokante Deutung ist von der Browneforschung weitgehend abgelehnt worden: siehe hierzu Warnke 1982. Konfrontiert mit echten Texten und computerstilistischen Analysen werden die mehr oder weniger auf Hypothesen gegründeten Beschreibungen unterschiedlicher Stilarten — 'curt', 'loose', 'plain, attisch, afrikanisch, asiatisch, manieristisch, barock, metaphysisch, ciceronisch, anticiceronisch, senecanisch - zusehends unscharf, mitunter gar austauschbar. 81
dert stehen immer noch zur Diskussion. Das Etikett ,Barock' ist an Browne haften geblieben; vielleicht, weil es unspezifisch genug ist, um viele manchmal unvereinbare Tendenzen seiner Schreibweise zu konnotieren: Bewegung, Spontaneität, Schwere des Gehalts, feierlich-oratorischer Tonfall, Mangel an logischer Entwicklung, lockerer Satzbau, unkonventioneller Wortgebrauch und bildhafte Sprache, abrupte Übergänge und Stimmungswechsel.61 Doch Versuche, Brownes Schreiben mit einem einzigen, wenn auch vagen Etikett zu versehen, ignorieren die von ihm gebotene stilistische Vielfalt. Austin Warren bemerkt bereits im Jahre 1951, daß Browne „mindestens drei Stile" habe, die Warren als hoch, mittel und niedrig unterscheidet und durch The Garden of Cyrus, Religio Medici und Pseudodoxia Epidemica jeweils exemplarisch vertreten sieht.62 Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß es weder einen einheitlichen Browne-Stil gibt noch eine derartige Einheitlichkeit in einem seiner Einzelwerke, und daß man statt dessen fließende Ubergänge zwischen Stilebenen bzw. eine sehr flexible, wenn auch kontrollierte Bandbreite des sprachlichen Ausdrucks ansetzen muß. Es mag einigermaßen gerechtfertigt sein, diese Flexibilität selbst als barock zu bezeichnen; das Problem der Etikettierung verliert an Dringlichkeit, wenn man von einem rein deskriptiven Modell der formalen Eigenschaften von Brownes Prosa abrückt und sich auf eine funktionsgeschichtliche Perspektive einläßt, die gleich weit entfernt ist von der traditionellen Stilistik ä la Croll und der affektiven' Rezeptionsästhetik ä la Fish. Nur aus der Rückschau heraus ist Browne also ein literarischer' Autor geworden. Späteren Lesergenerationen sind die unmittelbaren Funktionszusammenhänge dieser Schriften nicht länger ohne eingehende Nachforschungen zum geschichtlichen Kontext oder ohne das Hinzuziehen von Kommentaren zugänglich. Dies mag auch dazu beigetragen haben, daß man sich verstärkt den Aspekten des ,bloßen Stils' und der Sprachkunst Brownes zugewandt hat.63 Wenn Browne sich den Titel eines literarischen Autors als eines Hervorbringers von "idle fictions"64 auch verbeten hätte, so ist er doch ein hochgradig stilbewußter Autor. Browne hat, wie man weiß, den formalen Aspekten seiner Werke große Aufmerksamkeit gewidmet.65 Stilistische Aspekte und rhetorische Effekte sind integrale, der jeweiligen Schreibsituation entsprechende Bestandteile der kommunikativen Funktion seiner Texte.
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H a v e n s t e i n 1 9 9 9 , 1 1 8 verweist a u f d e n E i n f l u ß W ö l f f l i n s a u f Morris W. Croll u n d zitiert z.B. W ö l f f l i n s T h e s e , „ M a s s i g k e i t u n d B e w e g u n g " seien „die Principien des Barockstils". Bei Croll vereint der barocke Stil in der Literatur "the effect o f great m a s s with the effect o f rapid m o t i o n " (zit. e b d . ) . Siehe zur stilistischen Rezeptionsgeschichte Brownes ebd. 8 8 - 1 0 3 .
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Warren 1 9 5 1 , zit. nach Havenstein 1 9 9 9 , 9 4 f . D e r A u f s a t z Warrens ist wiederabgedruckt u.d.T. " T h e Styles o f T h o m a s B r o w n e " in Warren 1 9 7 0 , 1 1 - 2 3 , 1 8 6 - 8 8 .
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Pater ( 1 9 0 1 , 1 5 8 ) bezeichnet B r o w n e als "a writer in w h o m mere style c o u n t s for s o m u c h " . Pseudodoxia 1.9, 5 7 .
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D i e s w i r d ersichtlich aus seinen Privatbriefen, die einen g a n z anderen, viel sachlicheren Stil aufweisen. Siehe Browne, Works B d . 4 , Letters.
Während Burton auf die Kontingenz des modernen Wissens mit einem komplexen, aber auch mühsamen Apparat peritextueller Ausweichmanöver und mit einer labyrinthischen Textstruktur reagiert, in der der Leser impliziert und aktiviert werden soll, führt Browne Leser und Autor in einem gemeinsamen epistemologischen Abenteuer zusammen, dessen Ausgangspunkt Kontingenz (bzw. Kontingenzbewußtsein) ist und das in ein Programm der Selbstbeobachtung und Selbstkultivierung mündet. Auf die bestehende "multiplicity of writing" reagiert er mit einer weiteren Multiplikation: "Of old things we write something new."66 Diese multiplikative Funktion der Schrift, die sich in Form von Abschweifungen und Randgängen - "excursions [...] and collaterall truths" (ebd.) - exploratorisch vollzieht, hängt, soll sie erfolgreich sein, großenteils von einem Programm des Stilexperiments und der formalen Selbstreflexion ab. In diesem Sinne verkörpert Brownes Schreiben eine bestimmte historische Form literarischen Wissens und nicht bloß einen literarischen Zugriff auf kulturelle Wissensbestände. Die Mittel, mit denen dieses Wissen gewonnen und mitgeteilt wird, sind zweierlei: zum einen sprachliche Stilisierung (eine kontrollierte und reflektierte Abweichung vom kommunikativen Normalmaß), zum anderen eine der Wunderkammer analoge Epistemologie der Kontingenz·, eine Beobachtungs- und Denkmethode, die sich (angesichts der Unverfügbarkeit von Gewißheit und verläßlicher Autorität) auf das Wahrscheinliche, das Kollaterale und das Individuelle konzentriert und die ihre Gegenstände aus "Angles of Contingency" betrachtet. 67 Unter Brownes frühesten Schriften finden sich in lateinischer Sprache verfaßte humanistische Stil- und Rhetorikübungen des Studenten der Broadgates Hall, Oxford (dem späteren Pembroke College). In diesen Übungen, so kommentiert einer seiner modernen Herausgeber, "Browne seems to have amused himself by bringing into his compositions every catch phrase and idiom related to his subject that he could think of, and the result has sometimes been so allusive as to be almost untranslatable."68 Trotz dieser Burtonschen Häufung von Gemeinplätzen empfiehlt Browne in einem dieser Stücke, "Amico Opus Arduum Meditanti" („An einen Freund, der ein anspruchsvolles Werk verfassen will"), die folgenden Lehrsätze: Nec gyris brevioribus rem amplam coercas, nec ut millesima pagina crescat, prolixo syrmate in re tenui excurras. [...] Itaque nec verbis humidis et lapsantibus diffluas, nec aciem sententiae curto sermone stringas. Et ne te Allobroga dicant qui ad numeros Tullianos tantum saltant, purissimae sermonis aetatulae cum primis studeas. [...] Phrasiologia modo materiae non impar compta an libera perinde erit; sed cum sis Isaeo torrentior, ne verborum cataclysmo rem obruas, etiam atque etiam eures, et ne quid liberius excidat Stradano periculo caveas.
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Garden of Cyrus 86. Hydriotaphia 124. Geoffrey Keynes, "Editors Preface" in Browne, Works 3: xi-xvii, xvi.
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Force not your theme into narrow circuit, run not on with prolix trail in small matters to fill a thousand pages. [...] So be neither diffuse with damp and slippery words nor blunt the edge of your discourse by abruptness of style. Study in particular the purest period of style, that those who move only to Cicerionian rhythm call you not a Celt. [...] Only let your language match your subject, then it will be shapely and free; but take care all the time not to overwhelm your work in a spate of words to attain the fluency of Isaeus; and that it slip not out too freely, avoid the danger of Strada. 69 Brownes (wenn auch übertrieben) fein ziselierte lateinische Phrasierung indiziert eine Vorliebe für rhetorische Stilisierung und zugleich ihre theoretische Reflexion. D e r verbale Overkill ('cataclysmus verborum') zeigt jedoch auch seinen H a n g zu einer den G e g e n s t a n d überwuchernden, k a u m zu bändigen Metaphorik. S o wird ζ. B. gegen E n d e einer ansonsten aus stoischen Gemeinplätzen bestehenden Meditation über Leben, T o d und Tugendhaftigkeit das klassische Bild des 'mim u s vitae' 7 0 z u m Zuschauersport umgewandelt, der z u d e m aus zwei Perspektiven gleichzeitig beobachtet wird: der Akteure und der Zuschauer. D a s Ergebnis sind zwei Absätze, die sich lesen wie eine Kafka-Ubersetzung ins Lateinische (im folgenden englisch zitiert): Let me speak in terms of sport: our life is a race to which we are summoned by lot from fates stable, set high or low in the car, and we drive our trace-horses badly. Often we crash before reaching the dolphins, we seldom pass the turning point, we mostly stop before the circuit-marks are finished, the course is hardly ever completed. We pour into the theatre of life in a great rabble, there are not enough entrances, gangways, rows, or sections for this silly show [inanibus spectaculis]. From top to bottom of the theatre few are satisfied with their seats. The knights get into the senators' seats, the populace into the knights'. No-one takes notice of Lectius, hardly anyone considers Oceanus. From the ceiling to the floor everyone watches comic and savage acts [Iudicra juxta ac saeva] with the same expression, few protest, more applaud. We ourselves in the end on the field of death [arena mortis] repay in all seriousness the price of folly, mangled by disease, wounded by many darts, without hope of release, we are dragged away into the pit of hell.71 Selbst das moralistische Finale dieses Textes ist beherrscht v o m Bild der Zirkusarena; die übertriebene Konkretion des Schauplatzes untergräbt den moralischen Ernst der Aussage. Moralische Dringlichkeit wird hier u m der visuell-imaginativen Stileffekte willen aufgegeben. S c h o n in diesem frühen Text wird Beobachtung kontingent gesetzt: sie ist perspektivabhängig u n d performativ. Browne kann oder will sich nicht fiir eine Perspektive entscheiden u n d versucht daher
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Works 3: 150ff. (lateinisches Original), 153ff. (englische Übersetzung); Zit. 152 u. 154f. Die englische Übersetzung verfehlt die Genauigkeit der Beschreibung Brownes: den .Kataklysmus der Worte', der die .Sache' (rem) verdrängt. "Nonnulla a lectione Athenaei scripta" / "Some Notes from a Reading of Athenaeus", Works 3: 165-70 (Latein), 170-74 (Englisch), 169, 174. Ebd. 174, Latein 169f. Laut Keynes stammen die Namen Lectius and Oceanus von Martial; es handelt sich um Platzanweiser im Amphitheater.
beide zu integrieren - was zu einer gestörten (Doppel-) Fokalisierung des Textes führt. 72 Eine solche stilistische Eigendynamik hat höchst problematische Folgen. Ist die komische Wirkung einer verstärkten Literarizität beabsichtigt oder unfreiwillig? Inwieweit läßt sich sein spielerischer Umgang mit Sprache intentionalisieren?73 Wie sind vor diesem Hintergrund Brownes Beschäftigung mit religiösen, mystischen und esoterischen Fragen zu verstehen? Man hat etwa behauptet, das Besondere an Browne sei seine Selbstdarstellung;74 aber dieses Selbst ist nicht nur beredt, sondern in letzter Konsequenz ungreifbar — es gibt bei Browne immer ein Noch-Mehr an ,Selbst' bzw. etwas, das das ,Selbst' übersteigt.75 Für Browne wie für Burton ist Sprache kein transparentes Medium des Wissens, sondern hat eine Materialität und Widerständigkeit, die zwischen Wirklichkeit und semiotischen Repräsentationen interveniert. Rhetorik als Kulturtechnik macht sich diese Widerständigkeit zum eigenen Vorteil zunutze; sie gründet sich auf die Unbestimmtheit, Kontingenz und Nicht-Totalisierbarkeit von Wissen, Darstellung und Kommunikation. Eine in diesem Sinne rhetorische Browne-Lektüre kann sich auf Coleridge berufen, demzufolge Brownes Texte, insbesondere die Religio Medici, "ought to [be] considered [...] in a dramatic & not in a metaphysical View".76 Rhetorik als performativer, handlungsorientierter, politischer, theatraler, ,histrionischer' (V. Silver) oder ,dramatistischer' (K. Burke) Aspekt von Kommunikation etabliert daher keine stabile Epistemologie (gegründet auf eine überzeitliche Identität, z.B. auf die ewigen Wahrheiten der Heiligen Schrift), sondern einen provisorischen, kontingenten oder ,kollateralen' Zugang zur Wahrheit, dessen Unvollkommenheit und Vorläufigkeit offen eingestanden werden.77 Brownes oft doppeldeutiger rhetorischer Standpunkt, sein Schwanken (besonders auffällig in der Religio) zwischen einer intim-persönlichen Beichte und der dramatischen bis ironischen Darstellung einer Persona, zwischen Selbstbeschreibung und Selbstdistanzierung zwingt den Leser zum fortlaufenden Perspektivwechsel. Wie bei Burton muß der Leser „um die dargebotene Persona ,herum' sehen".78 Ein Einzelfokus auf die Identität der Person hinter der Persona
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Zum Begriff der Fokalisierung siehe Bai 1997, 142-61. "Is Brownes work amusing to read because his ideas and the way he expresses them are strange to us, or because he writes humorously and is himself amused?" fragt auch Bennett (1962, vii). Wiley 1952, 144. "every man is not onely himselfe": Religio 1.6, 7. Coleridge 1955,438. Zu diesem sozio-anthropologischen Verständnis von Rhetorik siehe Blumenberg 1981, 104—36. Zur instabilen Epistemologie im 17. und frühen 18. Jahrhundert in Relation zur Sprache siehe Kroll 1991, 3 - 8 . Vgl. auch Silver 1984. Mulryne 1982, 68, 65. S. ο. II.2 zum Theatertopos bei Burton. Auf den Inszenierungsaspekt der Ironie als Schutzfunktion und Selbstdistanzierungstechnik macht auch Fulke Greville in seinem Life of Sir Philip Sidney aufmerksam: Er beschreibt dort "that hypocriticall figure Ironia, wherein men commonly (to keep above their workes) seeme to make toies of the utmost they can doe"; zit. nach Patterson 1984, 42f.
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(oder auch auf die Persona vor der Person) ist nicht möglich. Das Ergebnis ist kein Selbstausdruck, keine mimetische Spiegelung von Wirklichkeit, aber es ist auch nicht "mere style" (Pater) oder „spirituelle Gymnastik".79 Theatrale Darstellungsmodi werden bei Browne wie bei Burton nicht durchgehalten, sondern bleiben unabgeschlossen, situativ, taktisch — ein .kinetisches'80 Schwanken zwischen verschiedenen Darstellungsweisen, mehreren Blickpunkten, unterschiedlichen epistemologischen Orientierungen. Brownes Rhetorik ist eine Rhetorik der Konzilianz, der Gewaltlosigkeit und Passivität. "These opinions I never maintained with pertinacity, or endeavoured to enveagle any mans beliefe unto mine", heißt es in der Religio Medici (1.7, 8). Seine Abneigung gegenüber dem Namen .Protestant'81 ist ein Beleg sowohl für seine anti-sektiererische Haltung als auch für seine sprachliche Sensibilität. In der Religio wird diese nicht-aggressive Rhetorik durch die ungewöhnliche diskursive Position des Sprechers/Schreibers ermöglicht, der eine halb-private und halb-öffentliche Haltung einnimmt. Im Vorwort "To the Reader", das der ersten autorisierten Ausgabe von 1643 vorangestellt ist (ein Jahr nach dem Erscheinen der ersten, nicht autorisierten Druckfassung), betont Browne seine anti-persuasive Einstellung: H e that shall peruse that worke, and shall take notice of sundry particularities and personall expressions thererin, will easily discerne the intention was not publik: and being a private exercise directed to my selfe, what is delivered therein was rather a memoriall unto me then an example or rule unto any other: and therefore if there bee any singularitie therein correspondent unto the private conceptions of any man, it doth not advantage them; or if dissentaneous thereunto, it no way overthrowes them. (I) 8 2
Der Text ist hier, wie auch an anderen Stellen, geradezu gespickt mit Signalwörtern, die Individualität hervorheben: "particularities", "personall expressions", "private exercise", "my seife", "unto me", "singularitie", "private". In einem Brief an Sir Kenelm Digby bezeichnet Browne seinen Text als "an exercise unto my self, rather then exercitation for any other."83 Zugleich jedoch distanziert sich der Autor, der das Vorwort mit seinem eigenen Namen unterzeichnet, vom Text: "that worke" und "therein" beziehen sich offensichtlich auf den unautorisierten Erstdruck von 1642, als unterscheide dieser sich vollkommen von der Fassung von 1643, die dieses Vorwort einleiten soll. Er spricht von seinem Text in der Vergangenheitsform: "what is delivered therein was [...]". Das Vorwort ist ein Akt der Distanzierung von dem, was der Haupttext durchgängig vorantreibt und feiert. Hier .protestiert' Browne in der Tat einmal, aber nur um die Individua-
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Dunn 1950, 42 ("spiritual gymnastics"). Zu den performativen und nichtmimetischen Aspekten der Texte Brownes vgl. Straznicky 1990. Straznicky 1990,212. "I am of that reformed new-cast Religion, wherein I dislike nothing but the name" (1.2, 3). Kursivierung aufgehoben. Abgedruckt in R e l i g i o 76.
lität seines Diskurses zu entschuldigen mit dem Hinweis auf das Fehlen guter Bücher ("the assistance of any good booke") und auf seine Jugend zur Zeit der Niederschrift, "seven yeares past"; Browne ist zur Zeit der Drucklegung 37 Jahre alt, im Text ist er noch unter 30 ("nor hath my pulse beate thirty yeares", 1.41, 39). Es ist höchstwahrscheinlich, daß der englische Bürgerkrieg (ausgebrochen 1642) seine Spur im Vorwort hinterlassen hat; jeder Text mit dem Wort Religion' im Titel stellt nun eine potentielle Gefahr dar, und Brownes Schrift aus den 1630ern muß nun rhetorisch abgefedert werden, läßt sich nicht mehr mit der gleichen Unbefangenheit lesen, wie sie verfaßt wurde ("leisurable", 1). Indem er die Verantwortung für den Text übernimmt, nachdem dieser handschriftlich zirkulierte und 1642 "most imperfectly and surreptitiously" im Druck erschien, sieht Browne sich jetzt gezwungen, ein seltsames rhetorisches Manöver zu vollziehen: Indem er öffentlich macht, was an sich privat ist, was aber bereits "most imperfectly and surreptitiously" aus dem privaten Kontext herausgelöst und in einen öffentlichen Kontext gestellt worden ist, versucht er es durch dieselbe Geste der Publikation für sich selbst zu reklamieren und wieder (wenn auch nur rhetorisch) in seinen Ursprungszustand zurückzuversetzen. Der Bürgerkrieg selbst erscheint im Vorwort als ein Konflikt bzw. eine Konfusion öffentlicher und privater Erlebensbereiche. Seine gesellschaftlichen Umwälzungen werden in Brownes Texten weitgehend ausgeblendet - nur beiläufig erwähnt er im Brief an Digby "the liberty of these times"84 — aber sie spiegeln sich im Schicksal seines Buches, wie es im Vorwort beschrieben wird. Die Konfusion um Privatheit oder Öffentlichkeit des Textes wird zur Metonymie für den Zustand Englands im Bürgerkrieg. Schon das stoische Klischee des Anfangs führt den Gegensatz von privatem und öffentlichem Bereich ein, dessen Zusammenbruch bevorsteht: Certainly that man were greedy of life, who should desire to live when all the world were at an end; and he must needs be very impatient, who would repine at death in the societie of all things that suffer under it. Had not almost every man suffered by the presse; or were not the tyranny thereof become universall; I had not wanted reason for complaint: but in times wherein I have lived to behold the highest perversion of that excellent invention; the name of his Majesty defamed, the honour of Parliament depraved, the writings of both depravedly, anticipatively, counterfeitly imprinted; complaints may seeme ridiculous in private persons, and men of my condition may be as incapable of affronts, as hopelesse of their reparations. (1)
Hier findet sich die "excellent invention" der Druckerpresse in der Tat als ein 'agent of change' (Ε. Eisenstein) aufgefaßt, der Leiden und (über die rhetorische Verknüpfung der beiden Stellen, an denen im eben zitierten Absatz das Wort 'suffer' vorkommt) sogar den Tod bringen kann — eine Metapher, die in der Hinrichtung des ,diffamierten' Königs 1649 wörtlich und wirklich werden wird.
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Religio 76.
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Browne ist sich wohl bewußt, daß die gesellschaftlichen Auswirkungen des Medienumbruchs (er spielt an auf den Zusammenbruch der Staatszensur 1640, aber die Druckerpresse ist nur ein Beispiel für die zahlreichen Umwälzungen der Zeit) unumkehrbar sind, "hopelesse". So könne das Buch, das er nun publiziert, um es vor weiterer .Verderbnis' zu bewahren (die Handschrift sei "by transcription successively corrupted" worden, ebd.), nicht mehr dasselbe sein, das er einst geschrieben habe.85 Seine Schrift im Druck zu sehen, ohne sein Imprimatur erteilt zu haben, muß für Browne eine unangenehme Erfahrung gewesen sein; schließlich hebt er allerorten den Wert des Handschriftlichen gegenüber dem zwiespältigen Wesen des Gedruckten hervor. Gott braucht natürlich keine Druckerpresse, um seine Schrift öffentlich verfügbar zu machen. Mit der traditionellen Metapher der Welt als Buch nennt Browne die Natur "that universall and publik Manuscript" (1.16, 15). An anderer Stelle wird die "hand of God" als eine Handschrifi gedeutet: "the line of our dayes is drawne by night, and the various effects therein by a pencill that is invisible; wherein though wee confesse our ignorance, I am sure we doe not erre, if wee saye, it is the hand of God" (1.43, 41). Die Druckerpresse wird demgegenüber mit einer tödlichen Waffe verglichen; sie sei eine jener "inventions in Germany [...] which are not without their incommodities, and 'tis disputable whether they exceed not their use and commodities" (1.24, 25) - die anderen .deutschen' Erfindungen sind Kompaß und Feuerwaffen.86 In ungewöhnlich scharfem Ton beklagt Browne den Uberfluß gedruckter Bücher ("Some men have written more than others have spoken") und empfiehlt Bücherverbrennungen als Gegenmittel für die Kritzeleien religiöser Schwärmer: "to condemne to the fire those swarms and millions of Rhapsodies, begotten onely to distract and abuse the weaker judgements of Scholars, and to maintaine the Trade and Mystery ofTypographers" (ebd.). Die öffentliche Reprivatisierung des bereits Veröffentlichten kann jedoch nicht über dessen schon erfolgte unumkehrbare Transformation hinwegtäuschen — erst recht nicht in einer Zeit, in der die Unterscheidung zwischen .privat' und
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Obwohl es nur wenige bedeutende Änderungen gegenüber den erhaltenen Handschriften oder den beiden Ausgaben von 1642 gibt, sind Brownes kleine Änderungen und Streichungen mitunter signifikant; sie zielen häufig auf eine Vermeidung bzw. Abmilderung allzu eindeutiger Verweise auf'popery' und diverse Häresien. Vgl. die Anmerkungen zum Text in der Ausgabe von L. C. Martin, 261-68, sowie detailliert Post 1985. Die politischen Implikationen in Brownes Schriften sind lange Zeit verkannt worden; so gehört es zu den Klischees der Browne-Rezeption festzustellen: "Despite the religious and political upheavals of seventeenth-century England, Thomas Browne makes no reference to contemporary social conflicts in his formal writings" (Sloane 1971, 260). Obschon das Vorwort zur Religio die einzige Stelle ist, an der politische Angelegenheiten direkt angesprochen werden — es ist auch die zornigste Stelle im gesamten Browne-Kanon - sind die Haltung Brownes und sein beredtes Schweigen zu gegenwartspolitischen Fragen doch alles andere als unpolitisch. Wilding (1987, 95, 99f.) dürfte einer der ersten gewesen sein, der auf den politischen Charakter der Änderungen in der Fassung von 1643 hingewiesen hat. Siehe auch Berensmeyer 2006.
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Der Ursprung dieser Trias in Bacons Novum Organon ist oben (Kap. 1.2) bereits angemerkt worden.
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öffentlich' immer schwieriger wird. Daher läßt Browne selbst in einer finalen rhetorischen Wendung die Unterscheidung zusammenbrechen und analysiert Öffentlichkeit als eine Menge von Individuen: "Lastly all that is contained therein is in submission unto maturer discernments, and as I have declared [cf. 1.60, 54] shall no further father them then the best and learned judgements shall authorize them; under favour of which considerations I have made its secrecie publike and committed the truth thereof to every ingenuous Reader" (2). Im Vorwort zur Religio gibt er vor, es sei ihm nicht an der Beeinflussung der öffentlichen Meinung gelegen, sondern nur an der Zustimmung des individuellen Lesers, dessen 'ingenium' ihn befähige, "all that is contained therein" besser zu verstehen als der Autor. Diese wichtige Absichtserklärung (die intendierte Wirkung des Textes sei nicht "publike", sondern individuell) muß auf den vorhergehenden Satz bezogen werden. Dieser nämlich ist eine der wenigen direkten Aussagen Brownes zu Stil und Sprache, hier ebenfalls apologetisch getönt: "There are many things delivered Rhetorically, many expressions therein meerely Tropicall, and as they best illustrate my intention; and therefore also there are many things to be taken in a soft and flexible sense, and not to be called unto the rigid test of reason" (2). Auch hier ist Rhetorik nicht primär als persuasiver Sprachgebrauch zu verstehen, sondern wird auf der privaten Seite der Gleichung angesiedelt ("my intention"). Die Funktion rhetorisch-figurativer Sprache bestehe darin, eine individuelle Einsicht in das höchst inkommunikable, private Geheimnis ("secrecie") einer Person zu ermöglichen. Gute Rhetorik ist für Browne ein Sprachgebrauch, der sich seiner performativen Qualitäten bewußt ist, dies jedoch nicht zum Zwecke bloß stilistischer Wirkung, sondern in kommunikationsstrategischer Absicht. In einer subtilen Wendung verlieren sowohl "reason" als auch "truth" zumindest etwas von ihrer Rigidität als Begriffe, die der öffentlichen Seite der Unterscheidung angehören. Der geneigte Leser werde den "soft and flexible sense" tolerieren und dadurch seine eigene Wahrheit im Text erkennen. Toleranz für die Wahrheit des anderen impliziert die Anerkennung der Relativität des Wissens und der Unbestimmbarkeit gewisser ,indifferenter' Aspekte religiösen Glaubens. Wie Browne es formuliert: "every mans owne reason is his best Oedipus" (1.6, 7). Man sollte nicht vergessen, daß Browne selbst soziale Einschränkungen dieser geistigen Freiheit vorsieht und "those vulgar heads that looke asquint on the face of truth" ausschließt (1.3, 5). In dieser Hinsicht entspricht er der Forderung des Kanons von Toledo im Don Quijote, der Verstand des Lesers müsse sich mit dem Gelesenen verbinden, aber er deutet sie um in eine Lizenz zum offenen und freien Denken ("soft and flexible sense") fur die wenigen Glücklichen, deren Verstand so ausgereift ist, daß sie mündigen Gebrauch davon machen können, ohne Schaden zu nehmen.87
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In dieser Hinsicht ähnelt Brownes Argumentation derjenigen Miltons in der Areopagitica; s. u. Kap. IV.2. 89
Brownes implizite Theorie des Lesens u n d der Interpretation wird auch relevant, wenn er sich der Frage nach wörtlicher bzw. tropologischer Bibellektüre zuwendet. In dieser sehr umstrittenen Frage bezieht er eine Position, die mit seinem Vorwort übereinstimmt: I cannot dreame that there should be at the last day any such Judiciall proceeding [...] as indeed the Scripture seemes to imply, and the literall commentators doe conceive; for unspeakable mysteries in the Scriptures are often delivered in a vulgar and illustrative way, and being written unto man, are delivered, not as they truely are, but as they may bee understood [...]. (1.45, 43) D e r Leser, der von solchen Abschnitten des Haupttexts z u m Vorwort zurückblättert, wird eine Analogie zwischen Brownes Bibellektüre u n d d e m für seinen eigenen Text reklamierten "soft a n d flexible sense" sehen. Metaphorische 'latitudo' ist auch Brownes L ö s u n g für das Problem der Versöhnung zwischen Vernunft, Leidenschaft u n d G l a u b e n — ein Problem, das insbesondere durch strittige Bibelstellen u n d deren wörtliche Lektüre provoziert werde und den Gläubigen in Zweifel stürze: There is, as in Philosophy, so in Divinity, sturdy doubts, and boysterous objections, wherewith the unhappinesse of our knowledge too neerely acquainteth us. [...] Thus the Devill playd at Chesse with mee, and yeelding a pawne, thought to gaine a Queen of me, taking advantage of my honest endeavours; and whilst I labour'd to raise the structure of my reason, hee striv'd to undermine the edifice of my faith. (1.19, 20) Brownes Abwehr der "Rhetorick o f Satan" (1.20, 2 1 ) beruht auf einem epistemologischen u n d politischen K o m p r o m i ß zwischen den drei Fakultäten, die untereinander u m die Herrschaft über die menschliche Seele streiten. W i e i m Vorwort deutlich wird, verabscheut Browne U n o r d n u n g u n d Dissens i m Staatsgebilde; ähnlich stellt er sich die ideale Regierung der Seele als ein politisches Bündnis dreier Widersacher vor, die ihre Streitigkeiten durch "a moderate a n d peaceable discretion" aus d e m Weg schaffen: I have [...] alwayes endeavoured to compose those fewds and angry dissentions between affection, faith, and reason: For there is in our soule a kind of Triumvirate, or Triple government of three competitors, which distract the peace of this our Common-wealth, not lesse than did that other the State of Rome. As Reason is a rebell unto Faith, so passion unto Reason: As the propositions of Faith seeme absurd unto Reason, so the Theorems of Reason unto passion, and both unto Faith; yet a moderate and peaceable discretion may so state and order the matter, that they may bee all Kings, and yet make but one Monarchy, every one exercising his Sovereignty and Prerogative in a due time and place, according to the restraint and limit of circumstance. (1.19, 19f.) D e r G l a u b e darf nicht zu "literall" sein, die Vernunft nicht zu "rigid" u n d die Leidenschaften nicht zu unmäßig, d a m i t dieses System mentaler Gewaltenteilung funktionieren kann. Sprache u n d Interpretation müssen entsprechend angepaßt
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werden. Dies fuhrt Browne zur Unterscheidung von guter und schlechter Rhetorik: Gut sei ein zwangloser Sprachgebrauch, der sich unterscheide sowohl von der persuasiven Argumentation Satans (der hier für ungemilderten Baconschen Vernunftgebrauch steht) als auch von der Rhetorik all jener "Churches and Sects", die "usurpe the gates of heaven, and turne the key against each other" (1.56,53). Im Gegensatz auch zum scholastischen Disputationsstil der "severe Schooles" (1.12, 12) ist Brownes gute Rhetorik eine Rhetorik der Beschreibungen anstelle von Definitionen, "soft and flexible" statt "rigid" und "severe": I a m n o w c o n t e n t to u n d e r s t a n d a m y s t e r y w i t h o u t a rigid d e f i n i t i o n in an easie a n d Platonick description. [...] [ W ] h e r e there is a n obscurity t o o d e e p e for o u r reason, 'tis g o o d to set d o w n e w i t h a description, periphrasis, or a d u m b r a t i o n ; for b y a c q u a i n t ing o u r reason h o w u n a b l e it is to display the visible a n d o b v i o u s effects o f nature, it b e c o m e s m o r e h u m b l e a n d s u b m i s s i v e u n t o the subtilties o f faith: a n d thus I teach m y h a g g a r d a n d u n r e c l a i m e d reason to s t o o p e u n t o the lure o f faith. ( 1 . 1 0 , 10).
Die Rhetorik der Überredung dagegen sei für die Massen, die "vulgar, whose eares are opener to Rhetorick then Logick", auf die die "invectives of the Pulpit may perchance produce a good effect" (1.5, 6). Eine solche Rhetorik, wie die Bettler in 2.2, appelliere "more to passion than reason" (56), und dies ist für Browne ein niederer und unehrenhafter Gebrauch von Sprache: "to recall men to reason, by a fit of passion" sei nichts anderes als ein "compleate [...] piece of madnesse" (2.4, 60). Er stellt vielmehr fest, daß "the Rhetorick wherewith I perswade another cannot perswade my seife" (2.55, 52). Gegen das Predigen und gegen das Verlagsgeschäft mit Bibelkommentaren wendet er sich gegen Ende des Textes, wo das doppeldeutige Wort .Rhetorik' zum letzten Mal auftaucht: "Hee thatgiveth to thepoore leniieth to the Lord·, there is more Rhetorick in that one sentence than in a Library of Sermons" (2.13, 73). Brownes gute Rhetorik ist keine der Überredung, sondern der Imagination; es geht ihr nicht um das Überreden eines anderen, sondern um ein verändertes Selbstverständnis. Um dies und die damit verbundenen rhetorischen Manöver zu verstehen, ist eine eingehendere Betrachtung seines Religionsbegriffs notwendig. Im Bereich der Religion ist der einzelne bei Browne nicht Herr seiner selbst, sondern muß sich Gott unterordnen - und darüber hinaus dem von Gott legitimierten weltlichen Machthaber. Die Religio sucht einen Ausweg aus der unlösbaren Paradoxie von Freiheit und Unterwerfung. Was an ihr schon im Titel88 ungewöhnlich ist, ist die Unterstellung der Möglichkeit, Religion lasse sich an subjektives Erleben und subjektiven Glauben rückbinden: ,die Religion eines Arztes' ist eine subjektive Angelegenheit oder zumindest provokativ die Angelegenheit eines bestimmten Berufsstandes - nicht das Thema eines theologisch oder dogmatisch gearbeiteten
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Der wohl nicht von Browne selbst stammt, sondern von seinem Drucker/Verleger, Andrew Crooke, der sowohl die inoffiziellen wie die offiziellen Versionen des Buches (und ein paar Jahre später Hobbes' Leviathan) herausbringt.
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Traktats, der für sich beansprucht, prinzipiell für jeden Christen - zumindest für die auf der richtigen Seite einer konfessionellen Scheidelinie stehenden — zu sprechen. Aber es wäre verfehlt anzunehmen, Browne verwende einen modernen Religionsbegriff, der den Glauben zu einer ausschließlich individuellen Angelegenheit erkläre. Das hieße in der Tat, ihm einen autonomen Selbstbegriff unterstellen, der die begriffliche Kontextur seiner Epoche überstiege.89 Obwohl er sich mitunter der Auffassung zu nähern scheint, man könne nur noch aus religiösen Gründen religiös sein,90 ist Individualität bzw. Innerlichkeit bei Browne nicht durch Selbstbestimmung gekennzeichnet, sondern voller Widersprüche und Paradoxien, die es ihm unmöglich machen, eine klare Trennlinie zwischen individuellem Erleben und sozialer Kommunikation zu ziehen. Religion ist für Browne ein Schnittpunkt zwischen privater und öffentlicher Sphäre: sie markiert genau die Stelle, an der eine Seite dieser Unterscheidung zur anderen Seite kreuzen kann. Privatheit ist kein einheitliches Ganzes, sondern eine komplexe Organisation, ein "Common-wealth", dessen untereinander im Widerstreit befindliche Parteiungen (Vernunft, Leidenschaften, Glaube) immer wieder aus Neue austariert werden müssen, um Stabilität und Selbstbeherrschung zu ermöglichen. Da menschliche Innerlichkeit allen anderen gegenüber verschlossen ist, muß ihre Beschreibung sich auf einen Vorgang der "artificial conjecture"91 beschränken, der sich aus dem Metaphernbestand öffentlich etablierter Sprechweisen speist und politische Metaphern verwendet, die bereits in gewissem Maß konventionalisiert sind.92 Die prekäre Ordnung menschlicher Innerlichkeit spiegelt so die des Staates wider und umgekehrt. Das physisch verkörperte Selbst und der Staatskörper werden zu Metaphern füreinander.93 Brownes politische Metaphern für das Selbst entstammen dem medizinischen und physiologischen Diskurs seiner Zeit. In Burtons Anatomy bilden Hirn, Herz und Bauch ein politisches Triumvirat, mit dem Gehirn als "privy Councellour" und dem Herzen als König (1: 144—46). In Thomas Wrights The Passions of the Minde in Generali (2. Ausg.
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Siehe hierzu Condren 2002; Reiss 2003. Vgl. Luhmann 2000. Condren 2002 119. Der Begriff "artificial conjecture" stammt von John Cotta, The Triall of Witchcraft, showing the true and righte method of discovery (1616); siehe Maus 1995, 5. Vgl. ζ. Β. folgende Beobachtung aus Ben Jonsons Timber: Or, Discoveries; Made Upon Men and Matter (1641): "For Passions are spirituall Rebels, and raise sedition against the understanding"; Jonson 1925—1952, 8: 564. In Übereinstimmung mit Brownes Kritik schlechter' Rhetorik zieht Jonson einer "foolish and affected eloquence" eine "plaine downe-right wisdome" vor (574). Konvergenzen zwischen 'body politic' und 'body natural' sind ein Gemeinplatz des frühneuzeitlichen Denkens (s. o. Kap. I). Burton ζ. B. zitiert den italienischen Humanisten Giovanni Botero (1544—1617): "As in humane bodies (saith he) there be divers alterations proceeding from humours, so there be many diseases in a Commonwealth, which doe as diversly happen from severall distempers" (AM 1: 66, Herv. im Original). Burton zieht eine weitere Parallele zwischen dem menschlichen Körper und dem .Körper' eines Haushalts oder einer Familie: "As it is in a mans body, if either head, heart, stomacke, liver, spleene, or any one part be misaffected, all the rest suffer with it, so it is with this Oeconomicall body" (1: 98). Solche Analogien werden nach Harveys Entdeckung des Blutkreislaufs 1628 weiter ausgebaut und mechanisiert. S. u. Kap. III. 1.
1604) wird die Seele als ein durch "inordinate Passions" aufgewühltes " C o m mon-weale" beschrieben. Wrights politische Sprache ähnelt derjenigen Brownes so sehr, daß man einen direkten Einfluß vermuten kann: "Passions either rebell against Reason their Lord and King, or oppose themselues one against another [...]. This internall Combat and spirituall Contradiction euery spirituall man daily perceiueth, for inordinate Passions, will he, nill he, cease not almost hourely to rise vp against Reason, and so molest him, troubling the rest and quietnesse of his Soule." 94 Doch für Browne sind anstelle der rigiden Selbstbeherrschung geistige Flexibilität und Gutwilligkeit die Grundlagen einer Ordnung und Stabilität des Selbst, gefördert durch einen flexiblen, nicht-überredenden und gewaltlosen Sprachgebrauch. Ein solcher Sprachgebrauch hängt mehr als jeder andere von der Toleranz des "ingenuous Reader" ab. In dieser Hinsicht stehen Brownes Schreiben, seine Religion und (zumindest in diesem Abschnitt) sein Politikverständnis im Einklang. Es wird ersichtlich, welche wichtige Funktion das Vorwort fur die Religio hat. Obwohl die Entschuldigung für die rhetorische und figurative Elastizität des Geschriebenen zunächst wie eine konventionelle 'captatio benevolentiae' anmutet, nimmt sie doch Brownes Hauptargument vorweg und untermauert es. Das Vorwort verlangt vom Leser, das Buch nicht dem "rigid test of reason" zu unterwerfen; genau dies stellt sich als eine Kernaussage des folgenden Textes heraus. Der Text plädiert für einen dem "will of faith" gegenüber flexibleren Verstand ("more pliable", 1.10, 10); fordert eine nicht allzu wörtliche Bibelauslegung; verbreitet ein politisches Bild der Seele als "Common-wealth", das am besten durch eine flexible, situationsabhängige Rotation seiner Kontrollinstanzen zu regieren sei (1.19); und postuliert ein Rhetorikverständnis, das auf flexible und imaginative Selbsterkundung anstelle von polemischer und polemogener Überredungskunst setzt. V. Silvers Beschreibung der Religio als "inverse polemic" ist daher besonders treffend, weil der Text Kontingenz an die Stelle von Gewißheit und Bestimmtheit setzt, Figuren an die Stelle von Definitionen. 95 Indem er eine ,wörtliche' Denkweise, die künstlichen Unterscheidungen einen Wirklichkeitsstatus zubilligt und so zur Bildung von Sekten und Häresien beiträgt, durch eine tropologische Denkweise ersetzt, in welcher Worte und Begriffe als geistige Gebilde ausgewiesen werden, transformiert Brownes "lockerer Nominalismus" (99) den Text in eine Bühne, auf welcher „der Sprachgebrauch den religiösen und politischen Konflikt seiner Epoche symbolisch in Szene setzt" (105). Die Elemente dieses .Dramas' sind jedoch nicht Personen, die auf einer Bühne sprechen und handeln, sondern „die Tropismen menschlichen Denkens und Sprechens" (ebd.). Doch der religiöse wie politische Konflikt wird nicht nur in Brownes Sprache symbo-
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Wright 1971, 68f. Silver 1990, 96. Weitere Zitate in Klammern im Text.
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lisch in Szene gesetzt, sondern auch in jeder einzelnen Seele. Browne inszeniert seinen Denkstil als Sprach-Theater. Aber auch diese Metapher sollte man weder zu wörtlich noch zu metaphorisch verstehen. Die traditionelle Metapher der Welt als Bühne interessiert ihn wenig; zwar gebraucht er sie in der Religio mit den für ihn üblichen Schnörkeln ("the world to mee is but a dreame, or mockshow, and wee all therein but Pantalones and Antickes to my severer contemplations", 1.41, 40), aber nur um zu anderen, wichtigeren Dingen überzuleiten. Sein Schreiben ist nur deshalb .dramatisch', weil es fur ihn keinen anderen Weg gibt, das Selbst zur Sprache zu bringen. Umschreibung, Allegorie, Metaphorik, "soft and flexible sense" kommen fur ihn erst in Betracht, wenn Vernunft und Erfahrung - "the arguments of our proper senses" (1.10, 11) an ihre Grenzen stoßen; dieser Punkt ist allerdings in religiösen Fragen rasch erreicht. "Where I cannot satisfie my reason, I love to humour my fancy", bemerkt er (1.10, 10). Wo Begriffe nicht hinreichen, treten Bilder als Supplemente rationaler Beobachtungen ein. Die Fähigkeit, solche Bilder zu erzeugen, heißt bei Browne wahlweise 'fancy' oder 'imagination, letztere auch im Plural. Sie generiert ein inneres Sanctum, das vor dem Eindringen persuasiver Rhetorik geschützt ist, sei es die des Teufels, die eines anderen Menschen oder selbst die der eigenen begründeten Zweifel. Browne gebraucht das Wort 'fancy' auch als Verb, synomym mit 'imagine' oder sogar 'visualize', ζ. Β. "I have fancyed to my selfe the presence of my deare and worthiest friends" (1.47, 45). 'Fancy' erstreckt sich auch auf den Traum, der den Menschen "surely a neerer apprehension of any thing that delights us" verschaffe "than [...] our waked senses" (2.11, 70). Wenn der Körper und die Sinne ruhen, gestatte es "the slumber of the body" der Seele zu erwachen (vgl. ebd.). Träume erlauben der Vernunft, in höherem Maße "fruiftull" (2.11, 71) zu sein. "[Sleep] is the ligation of sense, but the liberty of reason, and our awaking conceptions doe not match the fancies of our sleepes" (2.11, 70f.). 'Reason' steht also fur Browne nicht im Gegensatz zu 'fancy' bzw. 'imagination', ist nicht auf wissenschaftliche Rationalität beschränkt, sondern umfaßt ein viel allgemeineres kreatives Potential, die eigentliche Aktivität dessen, was Browne als 'the soul' bezeichnet. [I]n one dreame I can compose a whole Comedy, behold the action, apprehend the jests, and laugh my selfe awake at the conceits thereof; were my memory as faithfull as my reason is then fruitfull, I would never study but in my dreames [...]. Thus it is observed that men sometimes upon the hour of their departure, doe speake and reason above themselves. For then the soule begins to bee freed from the ligaments of the body, begins to reason like her selfe, and to discourse in a straine above mortality. (71)
Dieser innere Raum des vernünftigen Selbstgesprächs ist auch der eigentliche Bereich individuellen religiösen Erlebens für Browne, obwohl es (zumindest soweit man es den Schriften entnehmen kann) kein Raum der mystischen Einheit mit dem Göttlichen ist, sondern ein Raum der Selbstreflexion und der intellektuellen Kontemplation. Jene sucht den rationalen Wissensdurst zu stillen und zugleich 94
mit bestimmten (nicht indifferenten) Glaubenssätzen zu versöhnen. Wie der eben zitierte Abschnitt belegt, schließt dies auch die Erfindung von Komödien nicht aus, zumindest im Traum. Es ist ein privater Bereich des Einzelnen, von weltlichen Zwängen abgelöst und dennoch nicht autonom. Browne bezeichnet ihn einmal als "solitary recreation" (1.9, 9), einmal als "my solitary and retired imagination" (1.11, 11), auch im Plural als "my retired and solitary imaginations" (1.47, 45), "my retired imaginations" (2.10, 69) und "our sequestred imaginations" (ebd.); weitere Synonyma sind "my devotion" (1.13, 12) und "my humble speculations" (1.13, 13). Das Possessivpronomen, Index der Zurechnung auf Subjektives, fehlt nie. Natürlich skizziert Browne nicht wie Freud eine Topologie dieses inneren Raumes, aber zweifellos betrachtet er ihn als eine Art Kontaktzone zwischen Innen- und Außenwelt. Der Satz "there is a common Spirit that playes within us, yet makes no part of us, and that is the Spirit of God" (1.32, 31) deutet dies an. Gilt Freud als Zertrümmerer der traditionellen Vorstellung einer einheitlichen, wesenhaften Psyche, so scheint dies präludiert durch Brownes Vorstellung der Seele als von einem Dreigestirn regiertes Gemeinwesen und als Treffpunkt oder gar Spielplatz des Heiligen Geistes. Wie der Körper, der natürlich keinerlei Verläßlichkeit bieten kann, 96 ist auch die Seele für Browne der Gefahr der "corruption" ausgesetzt (2.10, 69). Obgleich sie ein innerer Raum für sich ist, "sequestred" und "retired", bildet sie doch die Interaktionsprobleme gesellschaftlichen Lebens in sich ab, denn Einsamkeit oder Solipsismus sind fur Browne unvorstellbar: "there is no such thing as solitude, nor any thing that can be said to be [...] truely alone, and by its self, which is not truely one, and such is onely God: All others doe transcend an unity, and so by consequence are many" (2.10, 69). Die Aktivität der Selbstreflexion übersteigt die Einheit eines Selbst, indem es das Selbst verdoppelt oder gar vervielfacht. Das Selbst dient nicht nur als Spielplatz für den Heiligen Geist, sondern wird irritiert durch die Einflüsterungen des Teufels, "that unruly rebel that musters up those disordered motions, which accompany our sequestred imaginations" (ebd.). Brownes Begriff des instabilen Selbst rekurriert immer wieder auf die politischen Kernbegriffe der Zeit: 'corruption, 'rebellion, 'disorder', 'commerce', 97 'commonwealth'.
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"Now for these wals of flesh, wherein the soule doth seeme to be immured before the Resurrection, it is nothing but an elementall composition, and a fabricke that must fall to ashes; Allflesh is grosse, is not onely metaphorically, but literally true, for all those creatures we behold, are but the hearbs of the field, digested into flesh in them, or more remotely carnified in our selves. Nay further, we are what we all abhorre, Anthropophagi and Cannibals, devourers not onely of men, but of our selves; and that not in an allegory, but a positive truth; for all this masse of flesh which wee behold, came in at our mouths: this frame wee looke upon, hath beene upon our trenchers; In briefe, we have devoured our selves" (1.37, 36). Browne spielt an auf Jesaja 40.6. "it is the corruption that I feare within me, not the contagion of commerce without me" (2.10, 69). 95
Im zweiten Teil der Religio, in dem es weniger um theologische als um ethische Fragen der Liebe und Nächstenliebe geht, wird die politische Theorie der Seele noch einmal aufgenommen und sogar radikalisiert. Es sind nicht so sehr theoretische Fragen des Glaubens und der Hoffnung als vielmehr die Notwendigkeit konkreter moralischer Entscheidungen, die Browne erneut zu einem Selbstbild führen, das nicht als Einheit, sondern als Vielfalt sowohl innerer als auch äußerer, dynamischer und widerstreitender Kräfte vorgestellt wird: I were unjust unto mine owne conscience, if I should say I am at variance with any thing like my seife, I finde there are many pieces in this one fabricke of man; this frame is raised upon a masse of Antipathies: I am one mee thinkes, but as the world; wherein notwithstanding there are a swarme of distinct essences, and in them another world of contrarieties; wee carry private and domesticke enemies within, publike and more hostile adversaries without. [...] Let mee be nothing if within the compasse of my selfe, I doe not find the battell of Lepanto, passion against reason, reason against faith, faith against the Devill, and my conscience against all. (2.7, 64)
Das Gewissen (conscience) taucht hier zum ersten Mal in der Religio auf und wird von Browne eingeführt als inneres Doppel des Menschen: "another man within mee that's angry with mee, rebukes, commands, and dastards mee" (ebd.). In der Schlacht von Lepanto siegen die Venezianer 1570 über die Türken. Browne intendiert dies wahrscheinlich als Metapher für den Sieg des christlichen Glaubens über den Unglauben oder falschen Glauben. Aber diese Schlacht will nicht so recht zu der von ihm beschriebenen passen, in der ja fünf Parteien gegeneinander kämpfen: Leidenschaft, Vernunft, Glauben, Teufel und Gewissen. Wer dabei siegen wird, bleibt offen. Die Lösung des Problems ist wieder, wie in der commonwealth-Analogie (1.19), ein homöostatisches System der Gewaltenteilung, diesmal jedoch unter erschwerten Gelingensbedingungen. Zuvor argumentiert Browne, der Begriff des Mikrokosmos "or little world" sei nicht nur "a pleasant trope of Rhetorick", sondern enthalte "a reall truth" (1.34, 33). Jeder Mensch sei ein Mikrokosmos, da er die ganze Welt immer bei sich und in sich trage: "every man is a Microcosme, and carries the whole world about him" (2.10, 69). Jetzt gibt er dieser Vorstellung einen ethischen Sinn: It is no breach of charity to our selves to be at variance with our vices, nor to abhorre that part of us, which is an enemy to the ground of charity, our God; wherein wee doe but imitate our great selves the world, whose divided Antipathies and contrary faces doe yet carry a charitable regard unto the whole, by their particular discords preserving the common harmony, and keeping in fetters those powers, whose rebellions once Masters, might bee the ruine of all. (2.7, 65)
Wenn Browne als Mystiker und religiöser Schriftsteller interessant ist, dann erst recht als Sozio-Anthropologe und politischer Denker. Beides gehört bei ihm untrennbar zusammen: Seine Reflexionen zur Religion gehen nahtlos über in Konzeptualisierungen der Natur des Menschen sowie des Staates und der Re-
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gierung.98 Seine Hauptschwierigkeit als politischer Denker liegt darin, daß er menschliches Fühlen und Denken und gesellschaftliche Organisation zugleich beschreiben will, das eine in den Begriffen des anderen. Hier begegnet uns wieder das sozio-ontologische Problem der Beziehung von Teil und Ganzem, das wir eingangs in der Analyse von Drydens Essay of Dramatick Poesie kurz behandelt haben: Gesellschaft ist aus Individuen zusammengesetzt, aber wenn eine große Zahl von Individuen erreicht ist, verschwindet deren Individualität in der Masse; dann werden sie für andere Individuen und fur die Gesellschaft als Ganzes gefährlich. Dieses (nicht nur) Hobbessche Problem der multitudo" spukt im Vorwort zu Brownes Religio umher und hinterläßt auch im Haupttext seine Spuren: "If there be any among those common objects of hatred I doe contemne and laugh at, it is that great enemy of reason, vertue and religion, the multitude, that numerous piece of monstrosity, which taken asunder seeme men, and the reasonable creatures of God; but confused together, make but one great beast, & a monstrosity more prodigious than Hydra" (2.1, 55). Browne jedoch hat im Gegensatz zu Hobbes keine praktische Lösung für dieses Problem parat. Es gibt nur zwei Stellen (1.19 und 2.7), an denen er so etwas wie ein System der Gewaltenteilung andeutet, das sich gründet auf die nahezu Mandevilleschen Paradoxien "particular discords preserv[e] the common harmony" (2.7, 65) und "contraries [like virtue and vice], though they destroy one another, are yet the life of one another" (2.4, 60). Es erscheint sinnvoll, solche Passagen im Kontext der politischen Theoriebildung der 1640er Jahre zu lesen. Die Vorstellung eines 'mixed government' als Neujustierung des relativen Gewichtes von König und Parlament findet genau 1642 Eingang in das offizielle politische Denken Englands. Brownes Gedanken stehen dieser Idee nahe, insofern auch sie ein älteres, autoritäres Konzept hierarchischer Ordnung (die ,große Seinskette') mit einem eher republikanischen Konzept einer kinetischen Ordnung wechselseitig ausbalancierter Elemente verbinden.100 Die Folgen, die bei Browne aus dieser Mischung von Diskursen resultieren, bleiben jedoch vage, da er sein Konzept nie systematisch entwickelt. Das Problem der Teile und des Ganzen verschärft sich noch, denn er entdeckt in den Individuen die gleiche Struktur: ein Ganzes, das aus konfligierenden Tei-
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Guibbory 1998 vertritt die These, daß Brownes Positionen zur Kirchenpolitik und zur Naturtheologie einander oft implizieren, aber beide durch Skepsis kompliziert werden: '"singularity' and skepticism distance him from Laudian rigor and threaten to destabilize the Laudian ceremonialist order that Browne would defend" (119). Zur Figur des Erzbischofs Laud vgl. auch Sharpe 2000b, 66, 73, 369 (zu Lauds schwacher und "im wesentlichen privater" Rhetorik); Barbour 2002. In der Formulierung Davenants: "Wolves are commonly harmlesse when they are met alone, but very uncivill in Heards" (1971b, 12f.). Siehe Pocock 1975, 349, 358, 3 6 1 - 7 1 . Pocock analysiert His Majesty's Answer to the Nineteen Propositions of Both Houses of Parliament (21. Juni 1642, zwei Monate vor Ausbruch des Bürgerkriegs) und Philip Huntons Treatise of Monarchy (1643): in beiden Texten wird eine Form des 'mixed government' akzeptiert, die von Brownes Ideen nicht allzu weit entfernt ist.
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len besteht. Der menschliche Mikrokosmos wird ihm zum Abbild des (sozialen) Makrokosmos, der aus zahlreichen Individuen besteht, die wiederum in kleinere Fraktionen aufgespalten sind: ein Leviathan aus Leviathanen. Nur wenn diese einander bekämpfenden Kräfte in einem .vernünftigen' Gleichgewicht zwischen Vernunft, Glauben und Leidenschaften gehalten werden, der Teufel unter Kontrolle ist und die Stimme des Gewissens nicht gänzlich ungehört bleibt, kann dieses prekäre System die Homöostase eines gut regierten Gemeinwesens erreichen. Ein solches Gleichgewicht sieht Browne in religiöser Toleranz verkörpert, und ein solches Gleichgewicht schließlich sucht sein Begriff der,guten' Rhetorik im Medium der Sprache zu erzeugen. Eine wichtige Voraussetzung für Brownes Perspektive auf religiöse Toleranz und menschliche Erlebensdimensionen in der Religio ist eine der klassischen Philosophie der Stoiker und Skeptiker verwandte epistemologische Demut.101 In einem Abschnitt über die Sünde des Hochmuts heißt es, der Gelehrte müsse aufgrund der "uncertainty of knowledge" nahezu zwangsläufig zu Bescheidenheit und Skepsis finden: "I perceive the wisest heads prove at last, almost all Scepticks, and stand like Janus in the field of knowledge" (2.8, 66). Browne empfiehlt in humanistischer Manier, es sei "better to sit downe in a modest ignorance, & rest contented with the naturall blessing of our owne reasons, then buy the uncertaine knowledge of this life, with sweat and vexation, which death gives every foole gratis" (ebd.). Dennoch widmet er sein über sechshundert Druckseiten starkes Hauptwerk, die über einen Zeitraum von 26 Jahren immer wieder überarbeitete Pseudodoxia Epidemica, der Ausmerzung falschen Wissens und der Verbesserung jenes von ihm beklagten "uncertaine knowledge".102 Der Skeptiker stellt sich darin in den Dienst eines quasi-Popperschen Programms der Falsifizierung wissenschaftlicher Hypothesen im Dienste des Fortschritts. Das zugrundeliegende Prinzip findet sich bereits in der Religio·, "wee doe but learne to day, what our better advanced judgements will unteach us to morrow" (2.8, 66). Das Vorwort zur Pseudodoxia bestätigt diesen Leitsatz: "knowledge is made by oblivion; and to purchase a clear and warrantable body ofTruth, we must forget and part with much wee know" (1). Ein solches, an Bacon erinnerndes Programm trennt die Pseudodoxia von Burtons Anatomy und anderen enzyklopädischen Projekten der Zeit. Es geht Browne nicht darum, von Autoritäten übernommenes Wissen zu sammeln und weiterzugeben, sondern falsches Wissen auszusortieren. Dadurch, daß sein Buch "vulgar errors" (bezeichnenderweise ein
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Zur Bandbreite der Stoa-Rezeption im England des 17. Jahrhunderts, mit literarischem Schwerpunkt, siehe Shifflett 1998. Zur Skepsis in der frühen Neuzeit siehe Popkin 1964; Allen 1964; Kahn 1985; Lobsien 1999. Erstausgabe 1646, sechste Ausgabe 1672. Pseudadoxia wird in der modernen Browne-Rezeption vernachlässigt. Im Zeitraum zwischen 1686 und 1981 gibt es insgesamt nur drei englische Ausgaben (1835-36, 1904-07, 1928-31); siehe Robbins 1981, liii. Hack-Molitor 2001 widmet Pseudodoxia ein eigenes Kapitel unter der Überschrift „Wissenschaft als Religion" (107-160). Sie bezeichnet es als „zweifellos Brownes schriftstellerisches Hauptwerk" (109).
alternativer Titel, unter dem es bekannt wird) aufzeichnet, erliegt es jedoch einer Paradoxie: Falsches Wissen wird nicht eliminiert, sondern gesammelt und weitergegeben. Es entsteht ein literarisches Kuriositätenkabinett des Wissens. Die Irrtümer darin sind keineswegs "vulgar", sondern entstammen jahrhundertealten gelehrten Traditionen. Sie reichen vom Aberglauben über Alltagswissen zum Esoterischen, von historischen Fragen zu solchen der Bibelauslegung.103 Dabei konzentriert sich Browne, anders als in der Religio, auf Adiaphora, Fragen ohne dogmatische Relevanz: "indifferent truths" (4). Theologische Spekulationen werden vermieden: "We cannot expect the frowne of Theologie herein; nor can they which behold the present state of things, and controversie of points so long received in Divinity, condemne our sober enquiries in the doubtfull appertinancies of Arts, and Receptaries of Philosophy" (3f.). Dementsprechend ist auch der Stil weitaus weniger ,individualistisch' als in der Religio: sachlich, verhalten, defensiv, auf Konfliktvermeidung ausgerichtet. Anstelle der ,rekreativen' Isolation der Religio herrscht in der Pseudodoxia ein Modus von literarischer Öffentlichkeit vor, der auch die Verfasserschaft mehrerer Autoren (als nicht realisierte Möglichkeit) in Betracht zieht: Es hätte der Wahrheit zum Vorteil gereichen können "to have fallen into the endeavours of some cooperating advancers [...] which the privacie of our condition, and unequall abilities cannot expect" (1). So haben Brownes "single and unsupported endeavours" (1) viel mit dem wissenschaftlichen Geist der Royal Society in der Nachfolge Bacons gemein. Die Titelseite der Erstausgabe ziert ein Spruch Scaligers, der einen Gegensatz zwischen ,unsicherem' Buchwissen und empirischem Beobachtungswissen aufstellt: "Ex Libris colligere quae prodiderunt Authores longe est periculosissimum; Rerum ipsarum cognitio vera e rebus ipsis est."104 Entsprechend sieht Browne sein Ziel nicht nur darin, eine "large and copious List" von Irrtümern vorzulegen, sondern diese auch "from experience and reason" zu korrigieren (1). In einem Zusatz von 1658 bezeichnet er "experience and solid reason" als "the two great pillars of truth" (288). Dem Buch liegt Bacons Vorstellung des Wissensfortschritts zugrunde. In The Advancement of Learning (1605/23) empfiehlt Bacon die Einrichtung eines "Calendar of Dubitations, or Problemes in Nature" und eines "Calendar of Falshoods, and of popular Errors [...] that Sciences be no longer distemper'd and embased by them".105 Browne beginnt wie Bacon mit einer allgemeinen Untersuchung von Irrtumsgründen, und er orientiert sich weitgehend an der Struktur von Bacons Advancement, das ihm in der Ubersetzung von Gilbert Wats (1640) vorliegt. Im Vorwort findet sich eine Anspielung auf den Titel: "those honoured Worthies, who endeavour the advancement ofLearning" (4).106 Doch Bacon selbst
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Siehe ζ. Β. die Kapitelüberschriften von Pseudodoxia 2.6; 3.23; 7.18; 7.4. Siehe Browne 1981, o.S.(lxv). Zit. nach Robbins 1981, xxx. Eine detaillierte Liste solcher Bacon-Echos in Pseudodoxia liefert Robbins 1981, xxx—xxxiv und im Kommentar.
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wird nur ein einziges Mal erwähnt in einer späteren Passage, in der Browne ein eher unwichtiges Experiment des "learned Lord Verulam" widerlegt (316).107 Diese Anklänge an den Experimentaldiskurs der Zeit können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß Brownes Interessen im Humanismus verwurzelt sind. Seine Darstellung entspricht der scholastischen Disputation, obwohl deren Form seinem Gegenstand oft nicht mehr angemessen erscheint. An den Stellen, wo diese Unangemessenheit besonders deutlich wird, kommuniziert Browne Ungewißheit mit den Mitteln des 'wit', der Zweideutigkeit und des Spiels mit wörtlichen und übertragenen Bedeutungen - mit einer Rhetorik der Kontingenz, die er auch einsetzt, um alte Denkmuster leichter überwinden zu können.108 Zudem bleibt seine Sichtweise ausgesprochen religiös: Sinn und Zweck der Erweiterung des Wissens ist das Staunen über den Reichtum der Schöpfung. So steht 'knowledge' in der Pseudodoxia sowohl für 'scientia' (Wissen über die Natur der Dinge) als auch für 'sapientia (moralisch-spirituelles Wissen); es umfaßt sowohl 'learning' als auch 'wisdom'. Die Wahrheit ist ein Attribut Gottes, an das der Mensch stets nur unvollkommen und in Annäherungen, durch sorgfältige Beseitigung von "untruths" (4) heranreichen könne.109 Skepsis und Neugier legen als Strukturmodell für die Pseudodoxia den frühneuzeitlichen Reisebericht nahe. Dieses Modell, das ja auch bei Burton eine Rolle spielt, wird zwar zunächst gemeinplatzartig verwendet, wenn Browne sich als Reisender in einem noch unentdeckten Land imaginiert, "in the America and untravelled parts of truth" (3) - ähnliche Formulierungen gibt es ζ. B. auch bei Glanvill. Aber das Modell des Reiseberichts ist hier auch strukturbildend: Pseudodoxia präsentiert in Analogie zum Reisebericht eine Mischung von empirischer Beobachtung und Quellenmaterial; sie enthält detaillierte Spekulationen über kulturelle und natürliche Phänomene, einschließlich Mythen und Sagen; der Reisende entdeckt nicht nur neue "parts of truth", sondern auch die Relativität und Ungewißheit des eigenen Standpunkts.110 Dadurch weist auch dieses Buch sich als Wegmarke zu einer als Kontingenzkultur verstandenen literarischen Kultur aus.
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Bacons Einfluß wird von Browne nie offen zugegeben - über die Gründe läßt sich nur spekulieren. Vgl. Hack-Molitor 2001, 113-44. Nardo (1991, 174f.) gibt eine Reihe von Beispielen: "That a Bever to escape the Hunter, bites off his testicles or stones, is a tenent very ancient, and hath had thereby advantage of propagation" (Pseudodoxia 3.4.172, Herv. IB); "Of white powder and such as is discharged without report, there is no small noise in the world" (2.5.129, Herv. IB). Eine weitere diskursive Strategie Brownes ist die Abschweifung, die ihn zuweilen zu einem Vorläufer von Laurence Sterne macht:: "Each [digression] isolates snippets of cultural knowledge, rejoins them in startling ways, and thereby both loosens an obsolescent cultural framework and prepares minds for a new one" (Nardo 1991, 175). Vgl. Hack-Molitor 2001,129-33. Zur skeptischen Anlage der Pseudodoxia siehe auch Guibbory 1976,492: "'If,' 'may,' 'might,' 'seem,' 'suspicious,' 'dubious,' and 'questionable' occur with striking frequency"; der Text sei "riddled with words suggesting incertitude". Zum Reisebericht im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit siehe u.a. Harbsmeier 1994; Wunderli 1993; Campbell 1988; Münkler 2000.
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Der Reisebericht dient zugleich der Information als auch der Unterhaltung seiner Leser. Die in der Erstausgabe enthaltene Druckgenehmigung (Stationer's licence) empfiehlt Pseudodoxia als "adorned with great variety of matter, and multiplicity of reading". 111 Browne erhält Glückwunschbriefe, in denen der Unterhaltungsaspekt seines Buches ausdrücklich hervorgehoben wird: "the greatest entertainement the kingdome could affoord mee". 112 Die Sachgebiete des Buches erstrecken sich u.a. auf die Mineralogie, Botanik, Zoologie, Physiologie, Ikonographie, Geographie, Geschichte, Theologie, Altertumsforschung. 1 1 3 Hier verbinden sich die beiden kulturellen Topoi Brownes: die Bibliothek u n d die Wunderkammer. Allein für die Erstausgabe soll Browne etwa 210 FolioBände, 120 Quartbände und 120 Bände in kleineren Formaten benötigt u n d konsultiert haben — ein hochgradig intertextuelles Unternehmen also.114 Von den Kuriosa zeigt er sich oft so fasziniert, daß er das Interesse an ihrer Richtigstellung aus den Augen verliert. In drei ausführlichen Kapiteln zur "Blacknesse of Negroes" gelingt es ihm nicht, eine befriedigende Erklärung für unterschiedliche Hautfarben zu finden; aber er sieht sich und seine Leser für die "capitall indiscovery" entschädigt durch die "many things of truth disclosed by the way": T h u s have we at last drawne our conjectures u n t o a period; wherein if our contemplations afford n o satisfaction u n t o others, I h o p e o u r a t t e m p t s will bring n o c o n d e m n a tion on our selves; for (besides that adventures in knowledge are laudable, a n d t h e assayes of weaker heads afford oftentimes improveable hints u n t o better) although in this long j o u r n e y we misse the intended end, yet are there m a n y things of t r u t h disclosed by the way: A n d the collaterall verity, m a y u n t o reasonable speculations, s o m e w h a t requite the capitall indiscovery. (529f.).
Statt eine eindeutige Wahrheit zu präsentieren, führt Browne seinen Lesern perspektivisch aufgefächerte kontingente Wahrheiten vor. Die Kontingenz des Wissens wird nicht, wie bei Burton, resignativ registriert, sondern als Kontingenzwissen positiv gefaßt. Dies kann als grundlegende Denk- und Schreibstrategie Brownes gelten. Er führt ein Denken vor, das mit Gegensätzen, Aporien u n d Paradoxien spielt, die entweder in einer höheren ontologischen Einheit (einer coincidentia oppositorum) oder in einem Eingeständnis der Unentscheidbarkeit
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Siehe Browne 1981, o.S. (lxiv). Vgl. auch Pebworth 1982. Brief von Henry Bate, Bodleian Library MS Rawl. D 391, fo. 79", zit. nach Robbins 1981, xxxix. Dunn (1950, 16) nennt Pseudodoxia "largely a curiosity and a work of entertainment rather than instruction". Vgl. die Aufzählung bei Robbins 1981, xlix. Zu Browne im Kontext der antiquarischen Geschichtsforschung (ihr Hauptvertreter ist William Dugdale, dessen Antiquities of Warwickshire 1656 im Druck erscheinen) siehe Parry 1997 und Preston 2005. Robbins 1981, xxi Anm. 1. Die Zahlen wirken eindrucksvoller, als sie sind. Englische Privatbibliotheken des 17. Jahrhunderts konnten 2.000, sogar 8.000 Bände enthalten (erste Zahl: John Evelyn, zweite: John Seiden). Locke war Herr über 3.200 Bücher. Siehe Rhodes/Sawday 2000b, 14 Anm. 8; die Verf. berufen sich auf Kiessling 1988, xxvii. Burtons eigene Bibliothek umfaßte mehr als 1.700 Titel. Siehe auch Bamborough 1989, xxii.
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aufgehoben werden.115 Denken hat fur ihn weniger die Funktion der Problemlösung als vielmehr die eines spielerischen Genießens.116 Seine Darstellung von Denkvorgängen in der Religio und anderen Schriften ist nicht cartesisch-dualistisch, nicht "rigorous and logical", sondern "subjectively pleasing and imaginatively coherent".117 Brownes imaginativer, eher unsystematischer Gebrauch metaphysischer Begriffe ist jedoch kein Beleg dafür, daß er metaphysische Fragen nicht mehr ernstnehme. Zwar riskiert er eine Fiktionalisierung des metaphysischen Sprechens.118 Aber dies wird für ihn nie problematisch, denn das Risiko ist abgefedert durch einen festen Bezugspunkt, eine stabile metaphysische Grundlage: Gott - das einzige nichtkontingente Element in Brownes Denken. Das Streben nach einer Fortdauer menschlichen Seins und Andenkens über den Tod hinaus läßt sich für ihn nur im christlichen Auferstehungsglauben sicherstellen: "But the most magnanimous resolution rests in the Christian Religion, which trampleth upon pride, and sets on the neck of ambition, humbly pursuing that infallible perpetuity, unto which all others must diminish their diameters, and be poorly seen in Angles of contingency."119 Gott ist "the true and infallible cause of all".120 Sein .kleiner Finger' (1.21, 21) genügt zur Erklärung aller biblischen Wunderberichte, deren Mysterien nicht mit dem wissenschaftlichen Verstand, sondern mit "devout and learned admiration" (1.13, 13), also einer alternativen Rezeptionshaltung aufgefaßt sein wollen: "As for those wingy mysteries in Divinity, and ayery subtilties in Religion, which have unhindg'd the braines of better heads, they never stretched the Pia Mater of mine; me thinkes there be not impossibilities enough in Religion for an active faith; [...] I love to lose my selfe in a mystery to pursue my reason to an oh altitude" (1.9, 9).121 Brownes Theologie basiert auf der Unerkennbarkeit Gottes: God hath not made a creature that can comprehend him, 'tis the privilege of his owne nature; I am that I am, was his owne definition unto Moses·, and 'twas a short one, to confound mortalitie, that durst question God, or aske him what hee was; indeed he
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Zu neuplatonisch-mystischen Einflüssen bei Browne siehe Hack-Molitor 2001, 77-105. Vgl. Wiley 1952, 138 zu Brownes "enjoyment" der Wahrheit. Grant 1985, 109. Vgl. Grant 1985, 104. Hydriotaphia\2A. Religio 1.18, 19. Weitere Zitate in Klammern im Text. Die lateinische Anspielung bezieht sich auf Römer 11.33, "o altitudo sapientiae et scientiae Dei" (Vulgata). Diese Textstelle der Religio hat zu Interpretationen Anlaß gegeben, die Browne als transrationalistischen (nicht antirationalistischen) Mystiker auffassen; siehe Ockershausen 1930 und die sehr detaillierte Untersuchung von Hack-Molitor 2001. Ob sich in diesem Zshg. überhaupt von Mystik i. Ggs. zu Rationalismus sprechen läßt, ist noch nicht hinreichend geklärt. Brownes Begriff des "reason" ist ja nicht mit .Rationalismus' gleichzusetzen, sondern als inklusives Kontinuum von .Rationalitäten' zu verstehen: "At best, reason has the pliability of a faithful [religious] imagination, at worst it is demonic, and in the middle its instrumentality, like that of a hawk, is variously effective and 'haggard' or 'unreclaimed'" (Barbour 2002, 194).
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only is, all others have and shall be, but in eternity there is no distinction of Tenses; [...] what to us is to come, to his Eternitie is present, his whole duration being but one permanent point without succession, parts, flux, or division. (1.11, 11) G o t t u n d die Engel "have an extemporary knowledge, and u p o n the first m o t i o n of their reason doe what we cannot without study or deliberation"; Menschen dagegen sind auf das Unterscheiden u n d Trennen angewiesen. 122 W e n n sie ihr Wissen ausdrücken wollen, müssen sie die Regeln der G r a m m a t i k beachten. Z u m spirituellen Reich der absoluten Gewißheit gehören "demonstrations"; im Diesseits dagegen, d e m Reich des Kontingenten, gibt es nur "probabilities" (ebd.). 123 G o t t ist bei Browne diejenige Instanz, die d e m Diskurs der Wahrscheinlichkeit u n d Kontingenz einen festen metaphysischen Halt u n d eine objektive Rechtfertigung gibt. G o t t ist der Kreis, der alle kleineren Kreise in sich versammelt: Dieses abstrakte Bild ist Brownes liebste „allegorische Beschreibung" Gottes: "Sphasra, cujus c e n t r u m ubique, circumferentia nullibi". 124 Kreisu n d Räderbilder durchziehen Brownes Schriften als eine Art Grundfigur, in der die Spannungen u n d A n t i n o m i e n des Denkens aufgehoben werden können. 1 2 5 Das rollende Rad wird zu einem selbstreflexiven Bild des eigenen literarischen Verfahrens einer flexiblen, auf Kontingenz u n d Wahrscheinlichkeit fundierten Epistemologie, die im Zirkel des Kreises vor d e m Zerfall bewahrt bleibt. Diese literarische Methode ist nicht einfach zirkulär, sondern folgt der dynamischen Bahn einer Schleife: projektiv u n d rekursiv, ö f f n e n d u n d schließend, sich ausdehnend u n d wieder zusammenziehend, ausdifferenzierend u n d wieder vereinend. Im Vorwort zur Pseudodoxia heißt es: "in this Encyclopasdie and r o u n d of knowledge, like the great and exemplary wheeles of heaven, wee must observe 122 123
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Religio 1.33, 32; vgl. auch 1.34, 33: "divided and distinguished worlds". Die Vorstellung unterschiedlicher Wissensbereiche läßt sich auf Römer 11.20 zurückverfolgen ("noli altum sapere"). Im Mittelalter wird aus diesem moralischen Lehrsatz eine epistemologische Beschränkung. In barocken Emblem-Büchern wird es mit dem Sturz des Ikarus assoziiert; vgl. das Titelbild der Religio (o.S. [xxix]), auf dem der Sturz von der Hand Gottes — "a caslo salus" - aufgehalten wird. Siehe Ginzburg 1976; Ardolino 1977. Die rettende Hand auf dem Titelbild ist übrigens eine linke; dies könnte Browne gefallen haben, da fur ihn Gottes kleiner Finger ausgereicht hätte. Religio 1.10, 10; Kursivierung aufgehoben. Browne verweist auf Hermes Trismegistos; sein moderner Kommentator L. C. Martin zitiert aus dem Uber xxiv philosophorum (12. Jahrhundert): "sphaera infinita, cuius centrum est ubique, circumferentia nusquam" (Religio 291). Browne gebraucht diese Beschreibung erneut in Christian Morals 3.2: " 7rismegistus his Circle, whose center is every where and circumference no where, was no Hyperbole" (229). Vgl. auch im Garden of Cyrus·, "the Notion of Trismegistus, and that intelligible Sphere, which is the Nature of God" (171); dem Kommentar zufolge heißt "intelligible" hier soviel wie "spiritual, non-material" (291). Grant 1985, 112. Vgl. Huntley 1953; Griebel 1979. Siehe auch Breiner 1977. Zur Kreisform im Denken der Renaissance siehe Poulet 1966. Die detaillierteste Beschreibung einer rekursiven Kreisform in Bewegung findet sich in Brownes Garden of Cyrus·, "the soul of man [...] hath a double aspect, one right, whereby it beholdeth the body, and objects without; another circular and reciprocal, whereby it beholdeth it self. The circle declaring the motion of the indivisible soul, simple, according to the divinity of its nature, and returning into it self; the right lines respecting the motion pertaining unto sense, and vegetation, and the central decussation, the wondrous connexion of the severall faculties conjointly in one substance" (186).
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two Circles: that while we are daily carried about, and whirled on by the swindge and rapt of the one, wee may maintaine a naturall and proper course, in the slow and sober wheele of the other" (1). Brownes Epistemologie und seine Rhetorik der Kontingenz sind also theologisch verankert. Da die Einheit Gottes mit der Schöpfung sich der Beobachtung entzieht, gibt es für Browne nur ein kontingentes, figurales Verhältnis zwischen dem Sprechen über Wirklichkeit und der Wirklichkeit selbst.126 Dieser virtuelle Fixpunkt bzw. blinde Fleck ermöglicht es Browne, "content in uncertainties" zu sein.127 Sein "movement towards uncertainty [...] culminates in a transcendent reliance on God."128 Diese Struktur wird in Hydriotaphia besonders deutlich, einem Text, in dem die Erwartung eines Wissensfortschritts letzten Endes zunichte gemacht wird. Die in einem Acker bei Walsingham ausgegrabenen Urnen versprechen eine Erkenntnis über die Vergangenheit; aber diese stummen und doch kommunizierenden Gegenstände129 enthalten nicht einfach Informationen über die Vergangenheit, die man nur abzulesen hätte. Vielmehr werden sie im Prozeß der Auslegung zu Symbolen menschlicher Unwissenheit und vanitas, zu Mahnzeichen intellektueller Demut und Bescheidenheit.130 Aus konkreten Anlässen - der Selbstbeobachtung in Religio, den Bestattungsriten in Hydriotaphia, der mathematischen Harmonie der Natur im Garden of Cyrus - konstruiert Browne abstrakte Sprachbilder, die nicht einfach .irrational' sind, sondern dem Leser eine Möglichkeit geben, die kontingenten Relationen und den Abstand zwischen Bild und Abgebildetem zu erkennen. Es handelt sich dabei weder bloß um Metaphern noch um logische Begriffe; es sind Begriffsbilder.131 Der Bildgebrauch Brownes ist immer gegenstandsbezogen und 126 127 128 129 130
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Silver 1990, 101. Bennett 1962, 192 in Anspielung auf Keats. Guibbory 1976, 494. "Silently expressing": Hydriotaphia 83. Guibbory 1976, 494. Zum Kommunikationspotential der Urnen vgl. Hydriotaphia 89 ("communication with our forefathers"), 109 ("sensible Rhetorick of the dead"). Als Medien sind sie von dubioser Qualität: Sie liefern keine Informationen, sondern nur einen verstärkten Widerhall der Erwartungen des Antiquars. "We cannot but wish these Urnes might have the effect of Theatrical vessels, and great Hippodrome Urnes in Rome·, to resound the acclamations and honour due unto you. But these are sad and sepulchral Pitchers, which have no joyful voices; silently expressing old mortality, the ruines of forgotten times" (83). Im postum veröffentlichten Letter to a Friend, Upon occasion of the Death of his Intimate Friend schreibt Browne angesichts der Unmöglichkeit, mit den Geistern der Toten in Kontakt zu treten: "we must rest content with the common Road, and Appian way of Knowledge by Information" (179). Vgl. auch Kitzes 2002. Kitzes' Deutung verläßt sich jedoch auf das äußerst dubiose "Fragment on Mummies", zu finden in Bd. 3 von Brownes Works (469-72), bei dem es sich wahrscheinlich um eine Fälschung aus dem 19. Jahrhundert handelt; siehe hierzu Post 1987, 154, sowie Vande Kieft 1957. Vgl. Löffler 1972, 155ff., der Brownes Bilder als „Vehikel des Gedankens" analysiert (157). „Seine Sprache ist weder als sachliche Mitteilungsrede zu verstehen noch als erlebnishafter Gefühlsausdruck" (163). Ihr musikalischer Aspekt sei ein Ausdruck universaler Harmonie (vgl. ebd.). Eine solche historisch und darstellungsstrategisch argumentierende Erläuterung des Browneschen Sprachgebrauchs wendet sich gegen vereinfachende Darstellungen; siehe ζ. B. Williamson 1964.
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häufig visuell konkret. Anders als die Romantiker, die ihn so bewundert haben, interessiert Browne sich nicht für eine realistische' Verschmelzung von Subjekt und Objekt; seine Begriffsbilder erzeugen vielmehr eine nominalistische Distanz zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Dies wird besonders deutlich in den hochgradig stilisierten Spätschriften Hydriotaphia und The Garden of Cyrus. Es m a g auch zur Erklärung der ,Stillosigkeit' Brownes beitragen. Brownes Stil ist ein operationales flexibles Arrangement verschiedener diskursiver Ebenen, das sich dem jeweiligen Gegenstand anpaßt und zugleich deutlich werden läßt, daß Sprache mit Wahrscheinlichkeiten operieren muß und sich einem Gegenstand nur kontingent nähern kann. Brownes abstrakte Bilder sind sozusagen immer schon gerahmt: sie distanzieren sich von Wirklichkeit und indizieren ihren eigenen Bildcharakter. Bei diesen Sprachbildern handelt es sich zumeist entweder u m konkrete Visualisierungen abstrakter Vorstellungen oder u m Abstraktionen konkreter Bilder. Erzielt wird dies entweder durch das Wörtlichnehmen von Metaphern oder die Metaphorisierung eines Literalsinns. M a n könnte, einen Neologismus kreierend, von einer Technik der ,Litaphorisierung' sprechen: der Verwischung des U n terschieds zwischen wörtlicher und übertragener Bedeutung. Ein Beispiel aus Hydriotaphia:132 T h o u g h if Adam
were made out of an extract o f the Earth, all parts might challenge
a restitution, yet few have returned their bones farre lower then they might receive them; not affecting the graves o f Giants, under hilly and heavy coverings, but content with lesse then their owne depth, have wished their bones might lie soft, and the earth be light u p o n them; Even such as hope to rise again, would not be content with centrall interrment, or so desperately to place their reliques as to lie beyond discovery, and in no way to be seen again; which happy contrivance hath m a d e c o m m u n i c a t i o n with our forefathers, and left unto our view s o m e parts, which they never beheld themselves. 1 3 3
In diesem Abschnitt wird die abstrakte Bedeutung des Wortes "parts" (Begabung, Talent) zusammengebracht mit der konkreten Bedeutung ,Körperteile'; ein ähnlich abstrakt-konkreter pun verfremdet das Wort "depth"; zudem wird die Auferstehung als abstrakte Vorstellung bildlich konkretisiert: "to rise again" — "to be seen again". Weitere Textstellen belegen die grundsätzliche Bedeutung abstrakt-konkreter Bildlichkeit bei Browne. Verwendet er ζ. B. die metaphorische Analogie von Leben und Feuer ("Life is a pure flame, and we live by an invisible Sun within us"), dann schlägt dieses Bild sogleich u m in das konkrete Bild eines brennenden Scheiterhaufens: "A small fire sufficeth for life, great flames seemed too little after death" (123).
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Der vollständige Titel lautet: Hydriotaphia. Urne-Buriall. Or, Α Brief Discourse of the Sepulchrall Urnes lately found in NORFOLK. Hydriotaphia 89. Weitere Zitate in Klammern im Text.
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Hydriotaphia zeichnet sich besonders durch solche raschen Übergänge aus: In wenigen Sätzen springt Browne von Beobachtungen zum Verhältnis zwischen Körpergewicht und dem Gewicht der Asche nach der Verbrennung des Körpers zum Brennverhalten unterschiedlicher Holzarten, einer Kritik an betrügerischen Geschäftspraktiken ("the common fraud of selling Ashes by measure, and not by ponderation"); sodann werden in rascher Folge einige historische und biblische Beispiele aufgezählt, die zeigen sollen "how little Fuell sufficeth", wie gering also die zur Einäscherung nötige Brennstoffmenge sei, und die in der Beobachtung gipfeln, daß ein Mann — nach dem Vorbild Isaaks — imstande sei, den eigenen Scheiterhaufen zu tragen. Der Text ist voller visueller Vorstellungsbilder der "deformity of death" (111), die mitunter einen makabren Humor erkennen lassen ("the body compleated proves a combustible lump", 108), mitunter recht morbide, den literarischen Kontext des europäischen Barock evozierende Todesbilder inszenieren: To be gnaw'd out of our graves, to have our sculs made drinking-bowls, and our bones turned into Pipes, to delight and sport our Enemies, are Tragicall abominations, escaped in burning Burials. [...] In carnall sepulture, corruptions seem peculiar unto parts, and some speak of snakes out of the spinall marrow. [...] Teeth, bones, and hair, give the most lasting defiance to corruption. In an Hydropicall body ten years buried in a Church-yard, we met with a fat concretion, where the nitre of the Earth, and the salt and lixivious liquor of the body, had coagulated large lumps of fat, into the consistence of the hardest castle-soap; whereof part remaineth with us. (110)134
Auch hier wird, trotz aller Schaurigkeit, die Distanz zwischen Worten und Wirklichkeit deutlich markiert. Die Passage wirkt durchkomponiert', rhetorisch und rhythmisch gestaltet. Der Rhythmus ist sehr regelmäßig: "In cärnall sepulture, corruptions seem peculiar unto parts". Alliterationen und Assonanzen sind fast überdeutlich präsent ("carnall sepulture, corruptions [...] some speak of snakes out of the spinall marrow", "body ten years buried", "lixivious liquor"), sie lenken die Aufmerksamkeit auf den Text als künstlerisches Artefakt. Wie die Urnen, deren Entdeckung dem Text als Anlaß dienen, sind auch die Worte nicht mehr unmittelbar informativ oder wörtlich zu verstehen. Sie sind in gewissem Maße entreferentialisiert; im Gegenzug gewinnen sie an rhetorischer Strahlkraft. Der Text wird emblematisch: Er stellt seine eigene Nicht-Funktionalität als Informationslieferant heraus und macht sich dadurch zu einem den Urnen ähnlichen Symbolgefäß. The Garden of Cyrus ist als Begleittext zu Hydriotaphia konzipiert (beide erscheinen im Erstdruck in einem Band), der die gleiche Problematik von einem
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Nardo (1991, 169) merkt hierzu lakonisch an: "Dorothy Browne must have been an indulgent housekeeper." L. C. Martin kommentiert, das von Browne beobachtete Phänomen "was afterwards observed in a Paris cemetery and named adipocire'" (322). Da Browne anscheinend der erste ist, der dieses Phänomen erwähnt, kann es als seine einzige naturwissenschaftliche Entdeckung gelten.
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anderen Blickwinkel aus erkundet.135 In Hydriotaphia stellen sich konkrete Gegenstände (Urnen) als unzureichende Zeugnisse vergangenen Lebens heraus und erhalten eine symbolisch-metaphorische Bedeutung. In The Garden of Cyrus wird dagegen die abstrakte Vorstellung des Paradieses zunächst konkretisiert und mit einer großen Zahl historischer und sagenhafter Gärten in Verbindung gebracht - der irdische Garten als Metapher des göttlichen. Es geht Browne um den Nachweis eines universalen Musters in der Natur: des Rhomboids oder 'Quincunx'.136 Dieses Muster wird in Pflanzen, Tieren und Menschen nachgewiesen, was die Weisheit der göttlichen Ordnung belegen soll ("wisedome", 142): "All things began in order, so shall they end, and so shall they begin again; according to the ordainer of order and mystical Mathematicks of the City of Heaven" (174). Der Schluß des Textes wird inszeniert als nächtliches Schreiben ("But the Quincunx of Heaven runs low, and 'tis time to close the five ports of knowledge", ebd.), wobei die Themen Schlaf und Tod den Garden mit dem Sterblichkeits- und Auferstehungsthema in Hydriotaphia verbinden: "when sleep it self must end, and as some conjecture all shall awake again" (ebd.). Die Verbindung der beiden Texte wird auch in Brownes Vorwort deutlich: "the delightfull World comes after death, and Paradise succeeds the Grave. Since the verdant state of things is the Symbole of the Resurrection, and to flourish in the state of Glory, we must first be sown in corruption".137 Sinn und Zweck der langatmigen Darstellung einer universalen Harmonie ist erneut nicht die Erzeugung einer Gewißheit in theologischen Fragen, sondern die Präsentation einer Vielfalt von "delightful Truths" (174). Der Text endet nicht mit einer feierlichen Gewißheit, sondern beläßt es bei Vermutungen, "conjecture" (175). Wäre der Zweck dieses Textes die Lösung der in Hydriotaphia gestellten Probleme, dann wäre dieser Zweck wohl kaum erreicht. Die Korrelation beider Texte ist vielmehr strategisch. Laut Brownes Beschreibung ähnelt The Garden einer um Hydriotaphia geschlungenen Blumengirlande (vgl. 87); es handelt sich also um einen ornamentalen Text, einen Text über ein Muster, der bewußt musterartig angelegt und konstruiert ist analog zur Figur des Quincunx. Es ist ein Ornament, das seine Ornamentalität herausstellt und selbst kommentiert. Den Aspekt der Künstlichkeit haben beide Texte gemeinsam. In beiden werden Konkretion und Visualität nicht aus der Dingwelt in den Text hineintransportiert, sondern werden als Effekte einer selbstreflexiven Sprachkunst präsentiert. Es handelt sich nicht um fiktionale Texte, sondern um Texte, die den immer gegebenen Abstand
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Huntley (1962, 2 0 4 - 2 3 ) interpretiert sie als "twin essays" (204) in Thema und Form (jeder Text besteht aus fünf Kapiteln). Huntleys binäres Spiegelmuster (Tod/Leben, Körper/Seele, Leidenschaft/Vernunft, Zufall/Absicht, Substanz/Form, vgl. 209) wirkt jedoch überkonstruiert. Garden ist nicht einfach die Lösung der in Hydriotaphia aufgeworfenen Probleme; es ist eine alternative Durcharbeitung des Problems der Referentialität und Metaphorizität von Sprache. Der vollständige Titel lautet: The Garden of Cyrus. Or, The Quincunciall, Lozenge, or Net-work Plantations of the Ancients, Artificially[,] Naturally, Mystically Considered. Hydriotaphia 87, Kursivierung aufgehoben.
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zwischen Sprache und Wirklichkeit deutlich markieren. Sie stellen heraus, daß Worte mindestens ebenso viel verbergen, wie sie offenbaren — wie das Licht, das einiges sichtbar macht und anderes überstrahlt (vgl. 167: "Light that makes things seen, makes some things invisible"). Selbst dort, wo der Eindruck von Konkretion am stärksten ist, verzeichnet der Text eine Distanz zwischen Darstellung und Dargestelltem. Diese Technik einer auf der kontingenten Beziehung zwischen Gegenstand und Zeichen aufbauenden sprachlichen Darstellung nennt Browne "adumbration".138 Auch dieses Wort ist abstrakt und konkret zugleich. Es kehrt die epistemologische Lichtmetaphorik um und verdeutlicht dadurch den für Browne notwendigen Perspektivwechsel von einer unmittelbaren zu einer vermittelten, reflektierten Beobachtung, von einer absoluten zu einer relativen und relationalen Wirklichkeitserkenntnis. Worte werfen einen Schatten, der es erlaubt, auf die hinter ihnen liegende Lichtquelle zu schließen — die höhere, wahre Wirklichkeit, die "greatest mystery of Religion" (167). Wenn Samuel Johnson 1756 Garden of Cyrus als "a sport of fancy" bezeichnet,139 wird er der epistemologischen Funktion von Textualität bei Browne nicht gerecht. Obwohl das Wort "delight" oft als Beschreibung einer Wirkungsintention bei Browne dient, sind die Akte des Schreibens und Lesens für ihn nie ganz entpragmatisiert; es handelt sich dabei stets um Vorgänge des Entdeckens und der Erprobung neuer und bisher unbekannter Selbst- und Weltbilder. Literarische Kultur ist bei Browne ein Modus der Neuschöpfung (recreation), der zwar auch unterhaltsam und imitativ sein kann, aber doch die zentrale Funktion einer Neuorientierung zur Welt in all ihren Aspekten (zu Gott, zu anderen Menschen und Kulturen, zu Naturerscheinungen, zur Vergangenheit und ihrer Geschichte) niemals aus den Augen verliert. Zu diesem Zweck werden bewußt künstliche, kontingente Standpunkte erzeugt und erprobt, wird Sprache bis an die Grenzen ihrer Ausdrucksfähigkeit geführt. Brownes flexibles Posieren dient nicht in erster Linie einer ästhetischen Sprachkunst, sondern hat die Funktion der Modellbildung für ein mehrstufiges Denken. 140 Diese Funktion läßt auch die Erklärungsinsuffizienz eines traditionellen Stilbegriffs in bezug auf Browne noch verständlicher werden. Brownes Stil ist uneinheitlich und "soft and flexible", weil er Teil eines mit seinen epistemologischen Beobachtungen kongruenten Programms formaler Variabilität ist, Teil einer Rhetorik der Kontingenz. Manchmal sind exakte Begriffsbestimmungen nötig, mitunter Metaphern; dann wird die Unterscheidbarkeit von Wörtlichkeit und Metaphorizität selbst in Frage gestellt, wird die Unterscheidung von Definition und Beschreibung als künstliche Konstruktion sichtbar, gehen wörtliche und metaphorische Bedeutungen ineinander über. Wahrheit ist für Browne (mindestens) "double-faced", und diese zwei Gesichter oder Facetten der Wahrheit 158 135 ,40
Religio 1.10, 10; Garden 167. Zit. nach Post 1987, 145. Vgl. Nardo 1991, 174: "a model for multilevel thinking".
108
schließen einander nicht aus, sondern sind "collaterall". Es bedarf eines intelligenten Beobachters, um den jeweils passenden Modus zu erkennen und zu wissen, wann man die Beobachterposition wechseln muß: "Many Positions seem quodlibetically constituted, and like a Delphian blade will cut on both sides. Some Truths seem almost Falshoods, and some Falshoods almost Truths; wherein Falshood and Truth seem almost aequilibriously stated, and but a few grains of distinction to bear down the balance".141 Mit dieser Beliebigkeit von Beobachterstandpunkten stimmt auch Brownes Empfehlung einer Balance zwischen 'reason und 'faith' überein. Es gibt für ihn eine Grenze, über die hinaus man rationale und wissenschaftliche Fragestellungen besser nicht ausdehnen sollte, schon aus alltagsästhetischen Gründen: Affection should not be too sharp-Eyed, and Love is not to be made by magnifying Glasses. If things were seen as they truly are, the beauty of bodies would be much abridged. And therefore the wise Contriver hath drawn the pictures and outsides of things softly and amiably unto the natural Edge of our Eyes, not leaving them able to discover those uncomely asperities, which make Oyster-shells in good Faces, and Hedghoggs even in Venus s moles.142
Die Einübung flexibler Beobachterstandpunkte bleibt auch in den späten Texten die wirkungsstrategische Grundfunktion des Browneschen Schreibens. Dabei wird die Konstruktivität und Begrenztheit auch natürlicher' Beobachtungen - "the natural Edge of our Eyes" - hervorgehoben. Noch die geradezu artistisch zu nennende Wortkunst in Hydriotaphia und Garden geht von dieser epistemologischen Prämisse aus und läßt dem Leser ausreichend Freiheit, im literarischen Wechselspiel der Limitierung und Potentialisierung von Sinn die eigene Wahrnehmungsfähigkeit zu trainieren. Dieses Training ist "recreation" in mehrfacher Hinsicht: mit Bezug auf das Nach-Denken der im Text inszenierten Denkbewegungen durch den Leser; mit Bezug auf den Aspekt des Vergnügens (auf hohem Niveau); schließlich mit Bezug auf die Lebenspraxis des Lesers Neuschöpfung und .Reform' (Hack-Molitor). Ein von Browne gebrauchtes Synonym für "recreation" ist "novellizing". Es weist schon auf die Zukunft ,rekreativer' literarischer Kommunikation voraus und belegt zugleich Brownes Stellung in einem proto-literarischen Diskursfeld. Das Wort ist bei ihm noch keineswegs gattungstheoretisch zu differenzieren. "The uncertainty and ignorance of Things to come makes the World new unto us by unexpected Emergences, whereby we pass not our days in the trite road of affairs affording no Novity; for the novellizing Spirit of Man lives by variety, and the new Faces of Things." 143 Hier erfährt die klassische Vorgabe 'varietas delectat' eine charakteristische anthropologische und (proto-)konstruktivistische 141
Christian Morals 2.3, 220.
142
Christian Morals 2.9, 224. In dieser Ablehnung der Mikroskopie stimmt Browne mit Margaret Cavendish überein; s.u. Kap. III.
143
Christian Morals 1.25, 212. 109
Wendung. Wie kommt das Neue in die Welt? Durch das Zusammenwirken von Ungewißheit in bezug auf die Zukunft ("ignorance of Things to come") mit dem Eintreffen des Unerwarteten, Überraschenden, Unwahrscheinlichen, das eine neue Sicht der Dinge erforderlich macht und den Dingen in der Tat ein neues Antlitz verschafft ("new Faces of Things").
4. Universalismus und Kontingenz zwischen Späthumanismus und Neoklassizismus An den Schriften Burtons und Brownes lassen sich wesentliche proto-literarische Charakteristika aufzeigen, die für die literarische Kultur des 17. Jahrhunderts bestimmend sind. Sie verweisen auch auf die Probleme, zu deren Lösung andere Diskursformen im 17. Jahrhundert antreten und die in den folgenden Kapiteln vorgestellt werden sollen. Burton und Browne stehen hier stellvertretend für die eine Seite einer Bruchlinie, die etwa um die Jahrhundertmitte verläuft und die - vielleicht allzu schematisch, aber in zweckmäßiger Komplexitätsreduktion — mit den Begriffen ,Späthumanismus' vs. ,Neoklassizismus' bezeichnet werden kann. Der Neoklassizismus ließe sich als alternative Antwort auf spezifische Kommunikationsprobleme verstehen, die dann auf den Plan tritt, wenn die Problemlösungskapazität der späthumanistischen Vorschläge sich erschöpft hat. Als Grundproblem späthumanistischer proto-literarischer Kommunikation läßt sich nach dem Vorhergehenden die Unvereinbarkeit von Universalismus und Kontingenz ausmachen. Formale Folgen für Textkommunikation sind einerseits eine erhöhte Hybridisierung von Gattungen (Folge des Unsicherwerdens traditioneller Kommunikationsformen) und andererseits eine verstärkte appellative Aktivierung des Lesers durch Rhetorik (Versuch der Kompensation verlorener unmittelbarer Publikumsbindung und Wirkungssicherheit). Diese Veränderungen stehen in Bezug zu den veränderten Bedingungen intellektuellen Lebens in der frühen Neuzeit - verändert durch die Wissenstechnologien des Buchdrucks, der Bibliothek und der Wunderkammer, die im frühen 17. Jahrhundert noch hochgradig flexibel und nicht vollständig institutionalisiert sind. Die Unterscheidung zwischen .privaten' und öffentlichen' Räumen und Kommunikationen bleibt fließend. Mit der Ausdehnung und fortschreitenden Differenzierung einer Buchdruckkultur - und dem endgültigen Zusammenbruch der im Spätmittelalter noch postulierbaren Korrespondenz zwischen Sein und Wissen - entsteht mehr und mehr die Möglichkeit alternativer, vergleichender Beobachtungen von Wirklichkeit, entsteht mithin die Grundform von ,Kultur' im modernen Verständnis einer Relativierung von Beobachtungshaltungen und einer Befragung von Gegebenem auf alternative Möglichkeiten hin. Wenn etwa John Florio in seiner Montaigne-Übersetzung von 1603 schreibt "We have no communication 110
with being",144 dann registriert er (auch) ein gesteigertes Kontingenzbewußtsein. Damit wird jedoch der enzyklopädische Anspruch an die textförmige Aufbereitung von Wissen doppelt in Frage gestellt: zum einen durch die unmittelbar von der Ausdehnung der Wissensbestände motivierte Krise des Universalismus, zum anderen durch die gesteigerte Problematik der Kontingenz von Kommunikation selbst. In einer solchen Situation wird die Beziehung zwischen Autoren und Lesern immer problematischer. Die Texte Burtons und Brownes reagieren darauf mit virtuosen Inszenierungen von Wissen und Denken, die den Leser zu eigener Aktivität anregen sollen. Dies ist mit dem Humanismus eines Morus, Erasmus oder Luther durchaus vereinbar, wird aber bei Burton und Browne in zwei ganz unterschiedliche Richtungen erweitert und, so paradox das klingen mag, zugleich eingeengt. Es zeigen sich deutliche Tendenzen einer Fiktionalisierung, die den entpragmatisierten Spielcharakter des literarischen Textes hervorhebt und zugleich die Vorbildfunktion der mündlichen Interaktion fur Schriftkommunikation in den Hintergrund drängt. Auktoriale Darstellungsstrategien werden komplexer und auch vordergründiger — was man schon als Beleg fur die schwindende Uberzeugungskraft des humanistischen Diskurses ansehen kann. Bei Burton handelt es sich um ein kompliziertes Arrangement von z.T. fikdonalisierten Thematisierungen des hochgradig instabilen Verhältnisses zwischen Autor, Buch und Leser. Die Kontingenz des modernen Wissens wird ambivalent bewertet. In der theatralen Inszenierung der Akte des Schreibens und Lesens kommt ein unstillbarer Spielcharakter zum Ausdruck; Ziel und Intention des Textes ist die Aktivierung der Selbsterkenntnis des Lesers und dessen Verwandlung in einen Beobachter globaler Melancholie und eigener Narrheit - eine Verwandlung, die auch als religiöse Bekehrung verstanden werden kann. Melancholie wird bei Burton zu einem Aspekt, von dem aus die ganze Welt — einschließlich Autor und Leser als in dieser Welt lebende Personen - darstellbar und verstehbar wird. Es ist jedoch nur ein möglicher Aspekt neben anderen, die etwa auch durch die galenische Humoralpathologie vorgegeben werden könnten: man stelle sich z. B. eine Anatomie des Phlegma' vor. So steht die Welthaltigkeit der Burtonschen Anatomy unter dem Index einer strikten Aspekthaftigkeit; auch diese Welt ist immer auch anders möglich. Burton gebraucht zwar eine antike und mittelalterliche medizinische Vorstellung, aber seine Verwendung macht zugleich auf die in dieser Vorstellung angelegte Kontingenz menschlicher Befindlichkeiten aufmerksam, die zur Grundlage ganzer Weltentwürfe werden können. Der Universalismus der Anatomy wird so durch Kontingenz gebremst und gebunden. Für Browne dagegen ist Kontingenz keine Beschränkung, sondern eine Bedingung erweiterter Möglichkeiten des Umgangs mit Wirklichkeit. Sie ist für ihn der Anfangspunkt eines Programms der Selbstbeobachung und Selbstkultivierung, an dem Autoren und Leser gleichermaßen beteiligt sind. Kommu-
144
Montaigne 1 9 6 7 , 3 2 9 .
111
nikation wird, anders als bei Burton, enthierarchisiert und für die Interpretationsfreiheit des Lesers geöffnet. Bildlich gesprochen ist der Text bei Burton ein Netz, um den Leser darin zu fangen und festzuhalten: ihm wird eine bestimmte Sichtweise (die der Melancholie) aufgezwungen. Bei Browne dagegen kommt es auf die Lücken im Netz an, durch die der Leser Durchblick erhält auf andere Möglichkeiten der Weltwahrnehmung. Bei Burton steht Textualität unter dem Signum der Komplexitätsreduktion und der Kontingenzbändigung, bei Browne im Zeichen der Erzeugung von Alternativen: Kontingenzwissen anstelle von Wissenskontingenz. Während also Burton einen komplexen, auf zahllosen intertextuellen Verweisen beruhenden, letztlich aber in sich geschlossenen Text auf dem stabilisierenden Fundament der Melancholie als sinngenerierendem Aspekt aufbaut, entsteht bei Browne eine Öffnung literarischer Kommunikation in Richtung auf vielfältige Sinneffekte. Kontingenzwissen bedeutet im Falle Brownes jedoch keine ,Verwilderung' des Diskurses durch einen übertriebenen Möglichkeitssinn, sondern wird - nicht nur rhetorisch, sondern auch epistemologisch - aufgefangen und stabilisiert durch einen Gottesbegriff, der die Risiken der Kontingenz depotenziert, indem er Kontingenz selbst kontingent setzt. Alles außer Gott ist kontingent; Kontingenz ,ist' nur außerhalb Gottes. Nur Gott beobachtet total; alle anderen Beobachtungen sind dagegen auf einen bestimmten (kontingenten) Blickwinkel festgelegt, finden statt in "Angles of contingency". Gott ,ist' Wahrheit; kontingente Beobachtungen aber sind — operational und in ihren Wirkungen - immer nur mehr oder weniger wahrscheinlich. Unter dem Index des Wahrscheinlichen steht somit auch die literarische Kommunikation, die im Zeitalter der Wissenskontingenz nicht mehr wahrheitsunmittelbar operieren kann (sofern sie es denn je konnte), sondern allenfalls als vermittelnde Instanz. Ihr medialer Charakter gerät so auch in epistemologischer Hinsicht in den Blick. Die Frage nach der Funktion literarischer Kommunikation in einer sich (zunehmend funktional) differenzierenden Gesellschaft bleibt das 17. Jahrhundert hindurch und darüber hinaus wesentlich. Dazu werden jedoch, wie im folgenden zu zeigen sein wird, andere Lösungen als die von Burton und Browne (hier exemplarisch) vorgestellten erforderlich. Weder die humoralmedizinisch-aspekthafte Rückbindung von Wirklichkeit an den menschlichen Wahrnehmungsapparat (Burton) noch die theologische Rückbindung von Kontingenzaspekten bei Browne vermögen in einer von epistemischen (Naturwissenschaft, Rationalismus, "analytico-referential discourse"145) und (religions-)politischen Umbrüchen (Bürgerkrieg, Republik, Restauration, Revolution) geprägten Gesellschaft länger zu überzeugen. Es geht, entlang der Bruchlinie zwischen Späthumanismus und Neoklassizismus, um weit mehr als um binnenliterarische Probleme der Wissensvermittlung und Unterhaltung; die Nützlichkeit' literarischer Kommuni-
145
112
Reiss 1982a.
kation (der Aspekt des 'prodesse' im horazischen 'prodesse et delectare') ist im 17. Jahrhundert äußerst weit gefaßt. In den folgenden Kapiteln wird daher eine literarische Spurensuche unternommen, die sich den fiinktionalen Bedingungen der als ,Neoklassizismus' bekanntgewordenen Diskursform widmet. Zunächst (Kap. III) wenden wir uns der literarischen Epistemologie' um 1650 zu und untersuchen Funktionsbezüge zwischen visueller und textueller Kommunikation. Bereits hier wird auch die politische Rolle rhetorisch operierender Texte und Bilder deutlich, die von einigen Autoren (Davenant, Milton) durchaus aggressiv vorangetrieben wird; die Kontingenz, der Alternativenreichtum und Spielraum von Schreibsituationen, wenn man so will: die differance, mit der ein Thomas Browne noch .unschuldig' spielen kann, wird zu einem ethischen, sozialen und politischen Problem, das aus höchst unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet werden kann (Beispiele wiederum Davenant, Milton) — Potenzierung und Radikalisierung von Kontingenz auf der Beschreibungsebene. Beschreibungsprobleme wachsen sich zu Normkonflikten aus, die auch ein allfälliger Gottesbezug (z.B. bei Hobbes) nicht mehr lösen kann. Die Bezugsgrößen der Wertedebatte, in deren Sog literarische Kommunikation im 17. Jahrhundert immer tiefer hineingerät, können nur noch innerweltliche sein: die Natur und/oder der Staat (Kap. IV). Nostalgische Vorstellungen von gesellschaftlicher Einheit werden zusehends durch rationalistische Kalküle ersetzt. Dies zeigt sich nicht nur in Hobbes' Leviathan. Auch Paradise Lost ist in dieser Hinsicht ein zutiefst realistischer' Text, der die verlorene Einheit historisiert und als Vorbedingung menschlicher Geschichte reflexiv für Gegenwartsdiagnostik (und natürlich auch -polemik) nutzbar macht. Erst spät im 17. Jahrhundert gelingt die Institutionalisierung und politische Implementierung einer spezifischen ,gepflegten Semantik', 146 die eine nicht-deterministische Einstellung zu Sprache, literarischer Kommunikation und politischen Differenzen befördert, die epistemologisch wiederum (wie schon implizit bei Browne) auf Wahrscheinlichkeit basiert (erkenntnistheoretisch: 'probability', darstellungstechnisch: 'verisimilitude'), kommunikationspragmatisch jedoch auf Höflichkeit (politeness, civility). Neoklassizismus als literarische Kultur etabliert sich auf diesen Grundlagen nicht als diskursiver Bruch mit der Vergangenheit (des Humanismus), sondern als evolutiver Prozeß einer - im einzelnen pragmatisch-taktisch motivierten - Weiterentwicklung vorhandener Potentiale und Problemlösungsstrategien in Anpassung an neue Situationen. Er formiert sich zu einer außerordentlich stabilen (und damit hoch unwahrscheinlichen) Diskursordnung, die ζ. T. bis ins frühe 19. Jahrhundert bestimmend bleibt (Beispiel Jane Austen) und Grundzüge eines modernen Verständnisses von Literatur etabliert. Die epistemischen, ethischen und politischen Grundlagen dieser Diskursordnung sollen im folgenden an einigen Beispielen dargestellt werden.
Luhmann 1980a, 18, 19f., 46.
113
III. Visualität und Kontingenz: Zur literarischen Epistemologie des frühen Neoklassizismus
S t r a n g e it is that in the m o s t perfect sense [sc. vision, I B ] there s h o u l d b e so m a n y fallacies, that w e are fain to m a k e a doctrine, a n d o f t e n to see b y Art. B r o w n e , Christian
Morals
3.15, 2 3 7
. . . b u t to nobler sights Michael
f r o m Adam's eyes the F i l m remov'd
W h i c h that false Fruit that promis'd clearer sight H a d bred; then purg'd with E u p h r a s y a n d R u e T h e visual N e r v e , for h e h a d m u c h to see[.] Paradise
Lost
11.411-15
S u c h as were blinde, a n d n o w can see, Let ' e m use this R e c e i p t with me, 'Twill cleare the Eye, preserve the S i g h t , A n d give the u n d e r s t a n d i n g Light. A u f d e m Titelblatt zu The Eye Cleared
(1644)1
1. Literarische Epistemologie. Interdependenzen zwischen Empirismus und Neoklassizismus Empirismus und Neoklassizismus des 17. Jahrhunderts gelten in der Literaturund Wissenschaftsgeschichte als wichtige Vorläufer späterer Entwicklungen: Aufklärung einerseits, Asthetisierung und Autonomisierung des Literarischen andererseits. In einer nicht teleologisch operierenden, funktionsgeschichtlichen Perspektive stellen diese parallelen kulturellen Strömungen jedoch mehr dar als nur eine Vorgeschichte oder eine Durchgangsstation zu etwas weniger Unvollkommenem. Sie sind Teil einer kulturellen Kontextur. Es handelt sich um spezifische, organisierte bzw. sich selbst organisierende Problemlösungsstrategien, die auf eine zunehmend gesteigerte Differenzierung von Einzeldiskursen, Medien und Kommunikationsformen im 17. Jahrhundert mit einer theoretischen Differenzierung reagieren, um Kontingenzdruck zu reduzieren. .Neoklassizismus'
1
Zit. nach Achinstein 1994, 156. 115
beinhaltet weit mehr als die Rückbesinnung auf klassische literarische bzw. literaturtheoretische Traditionen, auf die der Begriff zunächst abhebt. Es handelt sich um eine übergreifende Diskursformation, die u.a. eine Literaturtheorie enthält, allerdings im Zusammenhang einer epistemologischen Konvergenz von empiristisch-naturwissenschaftlichen und politisch-kulturellen Orientierungen. Charakteristisch ist für den Neoklassizismus das Bemühen um eine Verbindung zwischen konkreten Einzelfällen und überzeitlichen Geltungsnormen. Auf der Ebene der Literaturtheorie äußert sich dies in einer (,proto-systemischen') Tendenz zur isolierten Betrachtung von Einzelwerken, verbunden mit einer Bezugnahme auf die abstrakte generative Matrix ihrer normativen Fundierungen. Es geht ihm m. a. W. darum, die Codierung eines literarischen Werks zu entziffern und auf der Basis dieser Codierung einen kritischen Wertungsdiskurs im Sinne des normativen 'decorum' aufzubauen. Im Unterschied zum französischen Neoklassizismus gilt jedoch in England, analog zum Brauchtumsrecht, eine weniger scharfe Unterscheidung zwischen abstrakter Norm, konkretem Einzelfall und historischem Normenwandel, die sich vielmehr in einem evolutiven Kontinuum zueinander bewegen. 2 Doch die Feststellung einer solchen Diskursdifferenzierung und ihrer theoretischen Reflexion bedeutet noch nicht das gleiche wie eine Tendenz zur Autonomisierung des Literarischen bzw. der beginnenden Ausdifferenzierung eines Literatursystems in Abgrenzung von anderen Kulturformen, anderen performativen Dimensionen menschlichen Handelns und Verhaltens. Normative Verallgemeinerungen über Literatur und die anderen Künste einerseits (von T. Reiss als .ästhetischer Rationalismus' beschrieben3) und das empirische Funktionieren literarischer und anderer Kommunikation andererseits können zwar korrelieren und sich gelegentlich überschneiden, gehören jedoch zunächst einmal unterschiedlichen Ebenen an. Die theoretische Verklammerung dieser Ebenen ist eine spezifische Leistung des Neoklassizismus, sie steht aber historisch nicht im Zusammenhang einer Ausdifferenzierung, sondern einer engeren Koppelung an und Verschränkung mit anderen Teilsystemen, deren zentrifugale Dynamik - wie wir bei Burton und Browne gesehen haben — zusehends zu einem Kontingenzproblem von Ordnungsvorstellungen und damit auch zu einem Problem literarischer Kommunikation wird. Die folgenden Kapitel werden die Teleologie der Ausdifferenzierung mit einer sich aus dem Material ergebenden Notwendigkeit unterlaufen und stärker auf Trägheits- und Uberschneidungsphänomene, auf das komplexe Ineinanderspielen von Kontinuitäten und Diskontinuitäten abstellen. Ziel ist es, Detailbeobachtungen und Analysen zu einer historisch gesättigteren und nicht überabstrahierten Perspektive auf die literarische Epistemologie des englischen
2 3
Siehe Norton 1999, 17-20. Reiss 1997.
116
Neoklassizismus zusammenzuführen und deren Entwicklung zwischen 1650 und 1700 in den performativen Kontexturen der englischen Kultur (den Medienkonfigurationen, in welche Texte und Rezeptionsvorgänge historisch eingebettet sind) darzustellen. Dabei sind folgende Leitfragen entscheidend: Was folgt auf die Komplizierung, Desintegration und Selbstdekonstruktion des literarischen Humanismus, die wir bei Burton und Browne beobachtet haben? Wie wird Kontingenz im Zusammenhang mit Textkommunikation neu bewertet, und wie wird sie in Bezug gesetzt zu sich wandelnden Ideen von sozialer Gemeinschaft (entweder als 'commonwealth' oder als 'state')? Wo ist in der neoklassischen Ordnung der Dinge der Ort des .Individuums', jenes gefeierten Phantoms der frühen Neuzeit, und wie wird in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Relation zwischen Individualitäten und Textualitäten (kon)figuriert?4 Wie entsteht aus vormodernen Schreib- und Lektüresituationen moderne Kommunikation? Nach allem, was man über die Konstitution der 'republic of letters' im England des 17. Jahrhunderts weiß, kann zunächst nicht von einer Autonomie des Literarischen in Bezug auf andere Diskurssysteme die Rede sein, sondern vielmehr von einer Verwirbelung der Diskurse, befördert durch das instabile System der Patronage und die unterentwickelten wirtschaftlichen Möglichkeiten eines literarischen Marktes. 5 Neoklassische Literaturkritik und Textproduktion bringen in England keine homogene (National-) Literatur hervor, sondern sind vielmehr gekennzeichnet durch die Kopräsenz verschiedener Mischformen, durch "an interorientation of urbane decora and a levelling confluence between polite and popular urban modes".6 Es ist nicht zu bestreiten, daß im englischen 17. Jahrhundert eine Entwicklung ihren Anfang nimmt, die zur Folge hat, daß ein bestimmter Typus des Geschriebenen zumindest theoretisch (und nach 1688 zunehmend auch wirtschaftlich und faktisch) als von anderen Typen unterscheidbar, sammelbar, anthologisierbar angesehen wird.7 Richtig ist auch, daß dieser Typus des Geschriebenen
4
5
6 7
Die Formulierung dieser Frage wäre ohne die Arbeiten Michel Foucaults kaum denkbar. Meine Antworten darauf (s. u. Kap. V) werden jedoch davon abweichend auf der Entfaltung ihrer eigenen Ungereimtheiten bestehen. Foucaults Methodik scheint mir die konfliktgeladenen Diskontinuitäten innerhalb dominanter diskursiver Strukturen zu vernachlässigen, die einen wesentlichen Teil der Selbstbeschreibungen einer Epoche ausmachen. In dieser Hinsicht erscheint mir Certeaus Vorschlag einer .polemologischen Kulturanalyse' mit Blick auf die situationengebundene (und rhetorisch artikulierte) Wechselwirkung zwischen Taktiken und Strategien überzeugender. Siehe Certeau 1980a, 18, 8 2 - 9 4 sowie ders. 1980b. Einen konzisen Abriß des Übergangs von der höfischen Patronage zum 'corporate sponsorship' liefert Schoenfeldt 1999b. Manley 1999, 347. Siehe Zwicker 2003, 297ff-, 310f.; Benedict 1996. Auch dies mag der grundsätzlicheren Entwicklung geschuldet sein, die dazu führt, daß Kommunikation (konkret: Literatur, Künste, Techniken) im Ausgang des Mittelalters nicht mehr als .organisches' Element des Kulturschaffens einer Gemeinschaft erlebt werden kann, sondern rationale Strategien in Reaktion auf spezifische Anforderungen entwickelt werden müssen. Siehe hierzu Reiss 1992.
117
mehr und mehr der Individualität eines Autors zugerechnet wird, dessen primäre Schreibmotivation im Erlangen öffentlicher Anerkennung besteht.8 Aber dies bedeutet immer noch nicht Autonomisierung, sondern resultiert vielmehr aus einer Art der .konditionierten Koproduktion' (Spencer Brown) von literarischen und gesamtkulturellen Entwicklungen, für die hier der Begriff ,Neoklassizismus' als eine Art Kürzel verwendet wird. So sind es nicht nur der philosophische Skeptizismus eines Montaigne oder die religiöse Innenschau eines Morus, die zu einer intensiveren Selbstbefragung und/als 'self-fashioning' führen,9 sondern auch eine Tendenz zur individuellen Gratifikation in einer Gesellschaft, die gekennzeichnet ist durch öffentliche Spektakel und private Bereicherung, durch Zurschaustellung von Luxusgütern und den fließenden Kreislauf der Warenzirkulation. Empirismus, Materialismus und Neoklassizismus sind Reflexionstheorien einer kulturellen Dynamisierung von Diskursen, die in der Denkfigur des Kreislaufs selbst bildhaft vorstellbar wird. Greenblatts Metapher der "circulation of social energy" findet daher erst ab etwa 1630 konkrete Ausprägungen in der englischen Kultur - sie ist fur Harvey, Hobbes und Milton brauchbar, aber noch nicht fur das Theater Shakespeares, für das Greenblatt sie veranschlagt.10 Als neue — sowohl anthropologische als auch ökonomische — Wesensmetapher des menschlichen Körpers (nach der Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey 1628) betreibt der Kreislauf die analytische Spaltung eines diffus gefühlten Ganzen in seine Einzelteile, die mechanisch und separat arbeiten und deren einzige Verbindung der Bewegungsfluß selbst ist. Im Kreislauf wird der einzelne zum mobilen und flexiblen Beobachter seiner selbst und anderer dynamisiert. Stoppt die Bewegung, endet das Leben. Die Kreislaufmetapher wird zu einem Element der politischen Theorie, insbesondere in Hobbes' Leviathan, wo Leben als bloße Bewegung definiert und so der traditionelle Gegensatz von Natur und Kunst dekonstruiert wird; sie ersetzt zudem die mittelalterliche Konfiguration einer tiefen sympathetischen' Verbindung zwischen Menschen durch eine Konfiguration der Separierung, Isolierung und Vereinzelung." Zum Beispiel Davenants, der zugibt, aus Ruhmsucht zu dichten, s. u. III.3; zum Beispiel M . Cavendishs III.4. Zur Emergenz des modernen Autorbegriffs siehe Woodmansee 1984; Long 1991; Loewenstein 2002. Zu früheren Konfigurationen siehe Minnis 1984 sowie Miller 1986. Eine kurze Übersichtsdarstellung dieser Entwicklung findet sich in Berensmeyer 2000, 3 7 - 4 6 ; siehe auch ders. 2001b. ' Siehe Greenblatt 1980. 10 Siehe Greenblatt 1988; Kroll 2002, 27ff.; ders. 2000, 1 0 4 - 1 1 . Zu Harvey und dem ökonomischen Paradigma des Merkantilismus siehe auch Rogers 1996, 16-27. " Siehe Sennett 1 9 9 4 , 2 5 5 - 8 1 , Zit. 255. Zu Hobbes siehe "The Introduction" in Leviathan, 9; vgl. auch 1.6: "Life it seife is but Motion" (46) und 1.11: "the Felicity of this life, consisteth not in the repose of a mind satisfied. For there is no such Finis ultimus, (utmost ayme,) nor Summum Bonum, (greatest Good,) as is spoken of in the Books of the old Morall Philosophers. Nor can a man any more live, whose Desires are at an end, than he, whose Senses and Imaginations are at a stand. Felicity is a continuall progresse of the desire, from one object to another, the attaining of the former, being still but the way to the later" (70). 8
118
Die Entwicklung des Buchhandels bietet nur ein Beispiel fur diesen epistemischen Wandel. Das zu vermarktende Buch, abgeschnitten von der intimen Leserschaft handschriftlicher Publikationen, wird zu einer zirkulierenden beweglichen Ware bzw. zu einem Hobbesschen Objekt der Begierde, das einen Sinn nur aus der Zirkulation und aus dem realen oder potentiellen Kontakt mit einzelnen Lesern oder Lesergruppen gewinnt. Sein Wert läßt sich nun an seiner Verkaufbarkeit messen und im Medium des Geldes ausdrücken. Ein gutes Beispiel hierfür ist das vom Verleger Tonson entwickelte Subskriptionssystem, mit dem gegen Ende des 17. Jahrhunderts Drydens Vergil-Ubersetzung finanziert wird. Der Name des Autors wird zu einem Zeichen, einer Signatur, einer Synekdoche fur das Werk, dessen Mobilität und freies Zirkulieren er garantiert. Der Name simuliert den nichtkontingenten Ursprung von Kommunikation als eine wiedererkennbare Totalität und Kohärenz, die dem einzelnen, isolierten Buch ohne ihn abginge. Er unterstützt dadurch die Operation des Marktes, auf dem er gehandelt wird. Der Funktionswandel literarischer Kommunikation in der englischen Kultur des 17. Jahrhunderts verläuft mithin von einem .natürlichen' bzw. vitalistischen zu einem mechanistischen Kommunikationsbegriff: von den humanistischen Metaphern der Verdauung, der Angleichung und alchemistischen Umwandlung, die bei Burton und noch in Miltons Areopagitica vorherrschen, zu einem eher technischen Vokabular der maschinenartigen Interaktion, das die fundamentalen Modalitäten des ,Schrift-Erlebens' in Vorgängen der Unterscheidung, des Koppelns/Entkoppelns und des 'imprinting' verortet.12 Ein abstrakter Kommunikationsbegriff oder auch ein analytisch-semiotisches Verständnis des Zeichengebrauchs sind vor diesem epistemischen Wandel, dessen Anfänge wohl in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu suchen sind, eigentlich nicht denkbar. Das neuartige Verständnis des experimentellen Diskurses im 17. Jahrhundert (nämlich als unabschließbarer, kooperativer und gemeinschaftlicher Austausch von Ideen,13 mithin also als eine soziale Form des Kreislaufs) bildet in diesem Zusammenhang die paradigmatische epistemische Grundlage neoklassischer literarischer Kultur - nicht etwa, weil es Zugang zu einer objektiven Wahrheit verspräche, sondern weil es gerade die Schwierigkeit anerkennt, zu einem gesicherten Wissen über Forschungsgegenstände zu gelangen, und weil es die Entwicklung diskursiver Strukturen und Prozeduren des Umgangs mit Ungewißheit fördert. Wissen muß sprachlich vermittelt werden; Sprache jedoch wird als ein intransparentes Medium wahrgenommen. Der kontingente Wahrheitsbezug von Sprache muß daher öffentlich aushandelbar und verantwortbar gemacht werden, was durch die Etablierung einer Rhetorik der Kontingenz geschieht, die
12
13
Zum Begriff des,Schrift-Erlebens' (literate experience), der auf Francis Bacons experientia literata und damic auf das frühmoderne Streben nach methodisch abgesichertem Wissenserwerb zurückgeht, siehe Barnaby/Schnell 2002, 1—12, 197—201. Zum imprinting s.u. die Kapitel zu Hobbes und Davenant. Barnaby/Schnell 2002, 197. 119
auch den Diskurs des Neoklassizismus dominiert.14 Kontingenz und Differenz, nicht Autonomie und Homogenität bestimmen das diskursive Feld. Gleichwohl besteht in einzelnen Bereichen eine — auch durch den neoklassischen Diskurs vorangetriebene — Tendenz zur Homogenisierung spezifischer Differenzen, etwa im Begriff der Nation und seiner Koppelung an literarische Phänomene wie den englischen 'mixed mode'.15 Dieser Diskurs beinhaltet mithin weit mehr als nur Literaturtheorie. Er dominiert das politische Denken und die Naturphilosophie ebenso wie Debatten über Religion zwischen Konformisten und Dissentern. Man unterschätzte also die kulturellen Eigenleistungen und Wirkungen des Neoklassizismus, wollte man ihn bloß als ersten Schritt auf dem Weg zur Autonomisierung eines modernen Literatursystems betrachten. Der Neoklassizismus hebt nicht auf eine Isolierung, sondern auf die Beobachtung der Zirkulation zwischen unterschiedlichen Ebenen und Elementen des Gesellschaftlichen ab, die von ihm bereits als mobil, dynamisch und durchaus heterogen präsentiert werden. Seine Modernität liegt aus heutiger Sicht genau in seiner Konzentration auf die Konnektivität zwischen dem einzelnen Element und größeren Konfigurationen, zwischen dem Teil und dem Ganzen, zwischen dem natürlichen und dem Staatskörper. Solche Verbindungen können im späteren 17. Jahrhundert nicht mehr als selbstverständlich und nichtkontingent vorausgesetzt werden: Das alte Analogieverhältnis zwischen Mikround Makrokosmos, das noch bei Browne vorherrscht, hat seine bindende Kraft verloren. Es wird durch die Semantik der mechanischen Zirkulation ersetzt.16 Die Unterscheidung zwischen literarischen Texten und anderen Diskursformen, die Fixierung auf das einzelne literarische Werk und dessen Stellenwert in Relation zu den als allgemeingültig postulierten Regeln der Kunst, all das gewinnt an kulturhistorischer Konkretion, wenn man es etwa mit der Medienkonfiguration der Londoner Bühnen nach 1660 in Bezug setzt. Ohnehin wird ja der englische Neoklassizismus (im engeren Sinne: als Literaturkritik) häufig mit Drydens Essay
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Siehe Kroll 1991, der Wahrscheinlichkeit als Epistemologie, Methode und Rhetorik analysiert, d. h. als "a coherent and decisive attitude to representation" (52). Es handele sich dabei um eine Rhetorik, die Kontingenz und "contingent reading" (85) fördere, indem sie Möglichkeiten des Andersseins anerkenne und antizipiere. Kroll betrachtet die Episteme der Wahrscheinlichkeit als diskursiven Standard der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, der auch politische Implikationen beinhalte, indem er von Formen der Gewaltanwendung auf Formen der Zustimmung umstellt: "Unlike an a priori figure of identity (a form of determinism), the neoclassical example achieves only a modified authority or power, because analogy is as much unlike as like what the perceiver already knows, so his or her movement across the gap this difference creates respects the reader's individual integrity because it can only be made willingly" (77). Zum Beispiel Drydens siehe Docherty 1999; auch das ist jedoch mit einer Autonomisierung des Literarischen nicht zu verwechseln. Siehe Bylebyl 1979; Rogers 1996, 16-27. Auf Harvey folgende Physiologen des 17. Jahrhunderts — Sir George Ent, Thomas Willis und Samuel Garth — "encouraged the idea that the body partly reproduced the ordinary landscape inhabited by Englishmen" und "that the political and fiscal economies of the nation not only bore some mutual relation to each other, but also to the economies expressed in physiological speculation" (Kroll 2000, 104f).
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of Dramatick Poesy geradezu identifiziert. Ohne die kulturellen Einbettungen in Betracht zu ziehen, in denen Objekte und Bedeutungen zirkulieren können und in denen sie ihre empirische Spezifik gewinnen, bliebe alles Reden von ,Form' geschichtsblind. Aus seiner Kontextur herausgelöst, hätte das Werk keine historische Spezifik. Ein Beispiel: Davenant thematisiert 1650 das Verhältnis von heroischer Dichtung und ihrer gesellschaftlichen Situierung. Für ihn besteht Dichtung aus einem Repertoire kultureller Werte, zu dem funktional spezifizierte Elemente des Gemeinwesens (Armee, Justiz, Kirche) in kontingenten Relationen stehen. Auch die Beziehungen dieser Elemente untereinander sind kontingent geworden, was immer wieder zu Zwistigkeiten Anlaß gibt (eine Lektion des Bürgerkriegs); bitter nötig sei daher ein gemeinsames vereinheitlichendes Band zwischen ihnen, wozu sich die Dichtung vorzüglich eigne. Doch dieses Werterepertoire der Dichtung (vorgestellt als Auswahl moralischer Lehrsätze) bleibt nicht auf immer und ewig konstant; es kann und muß vielmehr dann und wann verändert und angepaßt werden, wenn die Dichtung zur Erhaltung der öffentlichen Ordnung beitragen soll. Dichtung (epische, lyrische und dramatische) existiert also um 1650 nicht in einem aus der Gesellschaft herausgehobenen Raum, sondern steht zu dieser in unmittelbarem Bezug. Ihre Funktion wird letztlich als rhetorisch und hortatorisch verstanden, performativ und nicht etwa ästhetisch, zur bloßen Unterhaltung dienend oder als Ausdruck einer bestimmten, bereits feststehenden Wahrheit. Selbst wenn man beginnt, Literarisches von anderen Diskursen isoliert zu betrachten, so bleibt dieses doch fest verbunden mit gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten; nicht zuletzt hat auch die Theoretisierung von Literatur im 17. Jahrhundert, wie wir noch sehen werden, zumeist politische Hintergründe. Sowohl Empirismus als auch Neoklassizismus legen also eine bestimmte Sichtweise auf literarische Kommunikation nahe: eine Sichtweise, die, ohne einfach utilitaristisch oder ideologisch zu sein, literarische Aktivitäten in einem Netz beweglicher Relationen verortet, in einem Spielraum pragmatischer Verhandlungen, der (nach heutigem Verständnis) ideologisch zu nennende Determinierungen nicht ausschließt. Als eine wissenschaftliche Haltung bzw. genauer: als ein historischer Denk- und Darstellungsstil fuhrt der .analytisch-referentielle Diskurs' (Reiss) die Kontingenz von Erfahrungen und Beobachtungen systematisch in eine generalisierte, normative Diskursordnung ein. In seiner Studie zum Verhältnis von Wissenschaft und Gentleman-Ideal im England des 17. Jahrhunderts hat S. Shapin die auf Treu und Glauben beruhenden moralischen Verpflichtungen untersucht, die über Annahme oder Ablehnung neuer wissenschaftlicher Tatsachenbehauptungen entscheiden. Shapin beschreibt den epistemologischen Wandel im 17. Jahrhundert als eine „Umkehrung der Autoritätsverhältnisse zwischen Wort und Welt". Sind in der Renaissance das persönliche Zeugnis und personale Autorität noch primäre Faktoren bei der Beurteilung der Legitimität einer neuen Beobachtung, die in bereits „bestehende Plausibilitätsschemata" eingepaßt werden muß, so gehe es nun darum, jene Schemata 121
anzupassen oder gänzlich abzulehnen, „da sie mit legitimen neuen Erfahrungen in Widerspruch gerieten". Das Wahrscheinliche werde nicht mehr als dasjenige definiert, dessen Wahrheit durch autoritative und respektierte Quellen garantiert werden könne (probity), sondern als ein Maß der verbleibenden Ungewißheit einer Behauptung in Relation zur empirischen Beweislage - was der modernen Definition von Wahrscheinlichkeit (probability) entspricht.17 Es mag paradox erscheinen, daß die modernen Begriffe der Wissenschaftlichkeit und des Wissenszuwachses ein höheres Maß an Ungewißheit enthalten, als dies noch in der Renaissance der Fall ist, wo man sich deutlich stärker auf überlieferte Autoritäten verläßt, wenn es darum geht zu definieren, was als wahres Wissen gelten darf und was nicht. Im 17. Jahrhundert kann diese Ungewißheit immer noch durch gesellschaftliche Verhaltenskonventionen wie das GentlemanIdeal zumindest teilweise abgefedert werden. Die Semantik des Wissenschaftlers als Gentleman fungiert als Bindeglied zwischen der älteren Form von Autorität und den neuen Idealvorstellungen wissenschaftlicher Objektivität. Jedoch erfordert die Evolution der Wissenschaft zu immer komplexeren und immer breiter gefächerten Disziplinen ebenso komplexe Vorgehensweisen der Sortierung von wahrem und falschem Wissen - was mit bloßen Moralappellen nicht mehr zu leisten ist. Vertrauen wird nicht mehr in einzelne Autoritäten, sondern in generalisierte Strukturen oder Institutionen investiert: bestimmte Orte der Forschung wie das Labor oder der Seziersaal, Forscherverbünde wie die Royal Society, bestimmte Publikationsorgane etc. Die stilistischen Normen wissenschaftlicher Kommunikation werden dieser Verschiebung angepaßt. Denk- und Erlebnisstile von Abstraktion und Konkretion werden weiter auseinandergetrieben.18 Die miteinander verknüpften Begriffe .Erlebnisstil' und ,Denkstil' stellen eine wichtige Verbindung her zwischen einer Sozialgeschichte des Wissens und älteren Formen der Ideen- oder Mentalitätsgeschichte — eine Verbindung, die deutlicher wird, wenn man das neuzeitliche Wissenschaftskonzept mit dem von Blumenberg als ,offenen Kontext' beschriebenen modernen Wirklichkeitsbegriff in Bezug setzt.19 Der Diskurs des Empirismus ist ein Fall, an welchem man diesen modernen Begriff exemplifizieren kann - und der mit dem hier verwendeten Begriff Neoklassizismus, und damit auch mit einer Beschreibung der epistemologischen Grundlagen literarischer Kultur im 17. Jahrhundert kompatibel ist. Sein Horizont ist offen, insofern er ständig durch neue Beobachtungen und Entdekkungen modifiziert wird, so daß die Diskursteilnehmer lernen müssen, das Unerwartete zu erwarten und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Für den einzelnen
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"
Shapin 1 9 9 4 , 1 8 - 3 3 . Siehe auch Hacking 1 9 7 5 ; Shapin/Schaffer 1 9 8 5 . Siehe Ciaessens 1 9 9 3 . Dieses Auseinanderdriften und verschiedene Arten des Umgangs damit in Naturwissenschaft und Fiktion der Moderne werden verhandelt in Berensmeyer 2 0 0 0 , 102—24. Z u m Begriff des Erlebnisstils siehe Schütz/Luckmann 1 9 7 5 ; zum Begriff des Denkstils Fleck 1935. Siehe Blumenberg 1 9 6 4 .
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und seinen Denk- oder Erlebnisstil müssen die weiterreichenden Konsequenzen dieser Offenheit keine unmittelbaren Folgen haben und werden wahrscheinlich in Alltagsroutinen ausgeblendet. Aber eine Reflexion auf die wachsende Wissensproduktion und ihre Auswirkungen - die kontinuierliche Veränderung auch der erlebten Wirklichkeit - führt nicht nur zur Verunsicherung einzelner, sondern verlangt auch nach institutionellen Konsequenzen, um Ungewißheit zu absorbieren und zu ritualisieren. Man bemerkt nun, daß der Wissenszuwachs unweigerlich verbunden ist mit einem Zuwachs des Nichtwissens, der Leerstellen und der Ungewißheit. Wächst das Wissen, so erweitert sich auch der Horizont des Nichtgewußten. Schon bei Burton und Browne haben wir diese Dialektik beobachten können. In der frühen Neuzeit erweitert sich der Horizont möglichen Wissens - einschließlich der Zahl möglicher Anschlußfragen - ins Unendliche.20 Dem Neoklassizismus geht es nun um die Entwicklung von Strategien des Umgangs mit der epistemischen, aber auch der sozialen und politischen Kontingenz, die aus der radikalen Horizonterweiterung der Neuzeit resultieren. Er ist somit eng verbunden mit gesellschaftlichen und epistemischen Entwicklungen, insbesondere mit dem Aufstieg des analytisch-referentiellen Diskurses in der europäischen Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts.21 Es sind dies allesamt Bewegungen, die sich dem Problem der Kontingenz stellen, indem sie Techniken und Prozeduren entwickeln, innerhalb derer mittels Methode, regelgeleiteter Beobachtung und Wahrscheinlichkeitskalkül legitimes Wissen sichergestellt werden soll. Des weiteren beinhalten diese Bewegungen ein neues Verständnis der Sprache bzw. Rhetorik als Medium des öffentlichen Austauschs von Ideen und Meinungen. In diesem epistemischen Wandel weichen traditionelle Ideale der Stabilität, Kohärenz und Gewißheit einem dynamischen Wertesystem, das Ausdruck findet in Begriffen der Beweglichkeit, Zirkulation, Kontingenz und Wahrscheinlichkeit. Identifiziert man Neoklassizismus als spezifische Strategie des Umgangs mit Kontingenz, auch auf literarischer Ebene, so muß man angeben, von welchen epistemologischen Voraussetzungen diese Strategie ausgeht, auf welchen Grundlagen sie operiert, schließlich wie sie die Funktion literarischer Kommunikation in Relation zu anderen Medien bestimmt. Dieser Leitperspektive folgend widmen sich die nachstehenden Lektüren dem vielumkämpften, polemischen und polemogenen Verhältnis zwischen literarischen und visuellen Kommunikationsformen, zwischen Modalitäten der visuellen Unmittelbarkeit und sprachvermittelten Formen der Rhetorik, die eine wichtige Kontextur für literarische Produktion und Literaturtheorie im 17. Jahrhundert bilden. Wie sich an den Schriften Miltons, Hobbes', Davenants und Cavendishs zeigen läßt, ist dieses komplexe Verhältnis vielschichtig belastet mit epistemologischen und politischen, aber auch ästhetischen und poetischen Problemen und Implikationen, die sich nicht
20 21
Vgl. (am Beispiel Pascals) Berensmeyer 2003. Siehe hierzu auch Reiss 1999; ders. 1997, 135-200.
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immer sauber voneinander trennen lassen. Es geht dabei immer auch um das Wirkungspotential literarischer im Vergleich mit anderen, vorherrschend visuellen Kommunikationsformen sowie um die Frage, wie Schreibende im 17. Jahrhundert sich den Akt des Lesens vorstellen und wie sie ihre literarischen Strategien und Taktiken22 dementsprechend anpassen. Wir wenden uns zunächst der Korrelation empiristischer Theorien der Sinneswahrnehmung und der Medienwirkung zu, vor deren Hintergrund sich ein genaueres Bild der Medienkonkurrenz im 17. Jahrhundert abzeichnet, in der auch literarische Kommunikation und ihre neoklassische Reflexion stehen. Zu diesem Zweck werden wir zunächst Bild- und Textfunktionen bei Milton und Hobbes analysieren und dann die Theoretisierung speziell literarischer Kommunikation bei Hobbes, insbesondere der epischen Dichtung, indem wir uns auf Hobbes' literaturtheoretische Zusammenarbeit mit Davenant konzentrieren, die einen wichtigen Stellenwert in der Entwicklung einer neoklassisch-materialistischen Poetik einnimmt. Daß die Medien- und Gattungstheorie des Neoklassizismus zwangsläufig auch politische Dimensionen einschließt, illustriert neben Davenants Preface to Gondibert auch Margaret Cavendishs Blazing World, in der eine Hierarchisierung der Diskurse mit politischer Hierarchisierung konvergiert.
2. "Not Truth, But Image, Maketh Passion". Optik und die Macht des Lesens bei Milton und Hobbes Bei aller sonstigen Gegensätzlichkeit zeichnet sowohl Milton als auch Hobbes ein geschärftes Bewußtsein für die epistemische und politische Wirkung von Bildern aus. Sie sollen daher in diesem Kapitel als vorrangige Beispiele für die Korrelierung von Theorien der (v. a. visuellen) Sinneswahrnehmung und medialer (v. a. literarischer) Praxis im 17. Jahrhundert gelesen werden. Die Konvergenz zwischen Empirismus und literarischer Kultur wird an ihnen besonders deutlich; bei beiden steht diese Konvergenz in einem politischen Zusammenhang. 1649, fast zeitgleich mit der Hinrichtung König Charles' I., erscheint ein Buch, das den Anspruch erhebt, ein authentisches und wahres Bildnis, ja eine religiöse Ikone dieses Königs zu präsentieren. Das von William Marshall stammende Frontispiz zum Eikon Basilike (Abb. 3) greift diesen Gestus der Idealisierung heraus, indem es den König als einen heiligen Märtyrer darstellt, der seine weltliche Krone bereits abgelegt hat. In seiner rechten Hand hält er eine Dornenkrone; seine Augen sind himmelwärts gerichtet, wo sie eine strahlend hell leuchtende Krone erblicken. Ein Lichtstrahl verbindet diese Himmelskrone mit den Augen des knienden Monarchen. Miltons Ziel in seiner noch im gleichen Jahr erscheinenden Entgegnung auf Eikon Basilike, dem Eikonoklastes, ist
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Vgl. Certeau 1980a, 8 2 - 9 4 .
Abb. 3. William Marshall, Frontispiz zu Eikon Basilike (1649).
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es, dieses Ikonenbild zu dekonstruieren, das Götzenbild des Aberglaubens mit der Kraft rationaler Argumentation zu zerschmettern und das Bild des Königs als Märtyrer durch das - sprachlich erzeugte - Bild eines Tyrannen zu ersetzen.23 Gegen die royalistische Rhetorik der Bilder setzt Milton eine republikanische Rhetorik des Wortes - die er, wie auch in der Areopagitica, mit Rationalität und Analyse gleichsetzt. Die persuasive Bildhaftigkeit des Eikon Basilike verhöhnt er als "quaint Emblems and devices".24 Er betont das Theatrale, den Illusionsund Inszenierungscharakter, d. h. die mangelnde Wahrhaftigkeit dieser Bilder: sie seien "begg'd from the old Pageantry of some Twelf-nights entertainment at Whitehair (343) - ein Vergleich, der auch dazu dient, die aristokratische Distanz des königlichen Bildes zum gemeinen Volk zu unterstreichen, das ja die Zielgruppe des Eikon Basilike (sowohl des Buch als auch, unmittelbar visuell ansprechend, des Bildes auf dem Frontispiz) darstellt. Gegen die visuell vermittelte, (krypto-) katholische Ideologie und Eidologie der Tyrannei setzt der Republikaner Milton "the old English fortitude and love of Freedom" (344). Das Volk ("the People"), so Milton, neige nicht von Natur aus zur Barbarei, müsse daher auch nicht durch eine starke Hand unter Kontrolle gebracht werden; im Gegenteil, seine "low dejection and debasement of mind" seien das Produkt der Ideologie und Propaganda der ,Prälaten' ("Prelats") und der "factious inclination of most men divided from the public by several ends and humors of thir own" (344). Auch Milton muß sich im Eikonoklastes dem Hobbesschen multitudo-Problem stellen — dem Problem gesellschaftlicher Einheit, die in der Inszenierung des monarchischen Bildes einfach vorausgesetzt wird, von Milton aber alternativ dazu erst theoretisch konstruiert und dann rhetorisch vermittelt werden muß. Bilder haben es da leichter aufgrund ihrer suggestiven Wirkung, die auch und gerade des Lesens Unkundige, die das geschriebene Wort allenfalls über Umwege erreichen kann, unmittelbar anspricht. Dieser Bildwirkung wird sich wenig später auch Hobbes im Titelbild zum Leviathan bedienen, um seine Theorie des Staates visuell anschaulich zu machen. Milton, der sich im Eikonoklastes als Bilderstürmer präsentiert, muß dagegen einiges an Rhetorik aufwenden, um eine Öffentlichkeit allererst zu konstruieren, die in der Lage ist, das multitudoProblem auszuhalten: die Spaltung zwischen denjenigen "who adhere to wisdom and to truth" und den Angehörigen der unteren Schichten, "the vulgar sort", die dem abergläubischen Eiferertum und dem Bilderzauber der antirepublikanischen Kräfte unweigerlich erliegen müssen (348). Mil tons Satzbau ächzt geradezu unter dem Gewicht dieser semantischen Belastung: Er muß die disparaten Kräfte zusammenhalten und unter allen Umständen den Eindruck vermeiden, daß auch seine eigene Seite (die der rational denkenden, aufrechten Republika-
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Eine detaillierte Analyse liefert Loewenstein 1990, 51-73. Milton, Complete Prose 3: 343. Weitere Zitate in Klammern. Zu Areopagitica s.u. Kap. IV.2.
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ner, die sich dem "rage and torrent" der Unvernunft entgegenstemmen) nur "a sect or faction" sein könnte: Certainly, if ignorance and perversness will needs be national and universal, then they who adhere to wisdom and to truth, are not therfore to be blam'd, for beeing so few as to seem a sect or faction. But in my opinion it goes not ill with that people where these vertues grow so numerous and well joyn'd together as to resist and make head against the rage and torrent of that boistrous folly and superstition that possesses and hurries on the vulgar sort. (348)
Diese Textstelle wirkt etwas nebulös bezüglich der Frage, wer hier was mit wem unternimmt und wozu genau. Miltons Sprache verrät eine nahezu desperate Nervosität, wenn es um den persuasiven Einfluß der Bilder auf die "vulgar sort" geht. Die bildgeleitete royalistische Propaganda, so Milton, möge keinen Weisen und keinen "knowing Christian" überzeugen, und doch könne sie sehr wohl catch the worthies approbation of an inconstant, irrational, and Image-doting rabble; that like a credulous and hapless herd, begott'n to servility, and inchanted with these popular institutes of Tyranny, subscrib'd with a new device of the Kings Picture at his praiers, hold out both thir eares with such delight and ravishment to be stigmatiz'd and board through in witness of thir own voluntary and beloved baseness. The rest, whom perhaps ignorance without malice, or some error, less then fatal, hath for the time misledd, on this side Sorcery or obduration, may find the grace and good guidance to bethink themselves, and recover. (601, Herv. IB)
Die im letzten Satz ausgedrückte Hoffnung verrät zugleich einen gewissen Grad der Ungewißheit bezüglich der Möglichkeit, die durch Bilder irregeleiteten' mittels argumentativer Vernunft und diskursiver Rede auf den rechten Weg zurückzubringen. Aber wenn die Zustimmung des ,Pöbels' ("rabble") nichts wert ist, warum ist sie fur Milton dennoch so wichtig? Die Schwierigkeit, die er mit der irrationalen Macht der Bilder in Relation zur rationalen Sprache hat, läßt sich auch als politisches Problem begreifen, wie mit den größtenteils nichtlesenden unteren Schichten, dem "Image-doting rabble" umzugehen sei. Welchen politischen Status haben für ihn die Massen Londons, die sich durch visuelle viel eher als durch verbale Medien ansprechen lassen?25 Welche Rolle ist für sie in einem (republikanischen) politischen Ordnungsgefüge vorgesehen? Wie kann rationale Kommunikation diese unteren Teile der Gesellschaft erreichen, die für Frieden und Stabilität des Gemeinwesens von entscheidender Bedeutung sind, obwohl sie intellektuell "worthies" und "begott'n to servility" seien, also eigentlich keine politische Rolle spielen dürften? Sind Bilder geeigneter als das gesprochene oder gedruckte Wort, um die Zustimmung des Pöbels zu gewinnen? Das .katholische' Bildnis des Königs auf dem Frontispiz des Eikon Basilike scheint, im Gegensatz zu Miltons protestantischem Glauben an die Macht des Wortes, hiermit keine Schwierigkeiten zu haben. Im Gegenteil: obwohl das auf25
Vgl. Harris 1987.
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geschlagene Buch auf dem königlichen Altar "In verbo tuo spes mea" verkündet (,meine H o f f n u n g ruht auf deinem Wort'), ist der Blick des Königs nicht auf das Buch und auf diese Worte gerichtet, sondern zum Zwecke eines unmittelbaren visuellen Kontaktes mit dem Jenseits, ohne den U m w e g über das Wort der Bibel, gen Himmel gewandt. Der Konflikt zwischen Bild und Wort wird komplexer, sobald es sich u m gedruckte und nicht um gehörte Worte handelt, u m Worte also, die einen Leser sozusagen über den gleichen Kanal erreichen wie Bilder, über den Gesichtssinn. D a s weitverbreitete Mißtrauen gegenüber der trügerischen Schrift läßt sich nur geringfügig dadurch auffangen, daß man die Schriftsprache der gesprochenen Sprache so ähnlich wie möglich gestaltet. Miltons Areopagitica etwa ist eine solche im M e d i u m der Schrift simulierte Rede; sie wirkt jedoch in hohem Maße (und wohl auch absichtlich) künstlich. Mit wachsender Intensität wenden sich Miltons Texte Effekten der Oralität und der Auralität zu, die den visuellen Eindruck einer Seite ignorieren und umgehen. Dies wird in den Dichtungen seiner späteren Jahre besonders auffällig. Die Syntax in Paradise Lost arbeitet immer wieder gegen die Zeilengrenzen an, was durch das Fehlen des Endreims im Blankvers noch verstärkt wird. Milton vertraut dabei v. a. auf die Hörfähigkeit des Lesers, nicht auf dessen Fähigkeit zur Visualisierung. Es k o m m t ihm weniger auf Imagination als auf Intuition an; nicht auf admiratio', sondern auf Verstehen. Ziel der Lektüre von Miltons Epos ist die Uberwindung einer leidenschaftlichen' (passiven, identifikatorischen) und bilderverehrenden (,satanischen') Lektüre zugunsten der Einübung einer reflektierenden, kritischen, konfrontativen und selbsttransformativen Lesehaltung. Paradise Lost und Paradise Regained smA ein .Trainingsprogramm' in der D e u t u n g von und im U m g a n g mit Bildlichkeit und — ganz allgemein — Zeichenhaftigkeit. Dies wird besonders deutlich in den letzten zwei Büchern von Paradise Lost, in denen Adam - stellvertretend für den (männlichen) Leser — vom Erzengel Michael nicht nur einen Einblick in heilsgeschichtliche Zusammenhänge, sondern auch einen Crashkurs in Lektüre- und Interpretationstechniken erhält. Wenn die Wirkung von Paradise Lost weniger die einer imaginativen Bebilderung des christlichen Mythos als die einer intellektuellen, reflexiven Distanzierung vom Mythos (und von den epischen Vorbildern von Homer bis Tasso) ist, dann m a g zu dieser Wirkung auch Miltons Bevorzugung von Ora-/Auralität gegenüber der Visualität beitragen. Paradise Lost lehrt seine Leser, ihre — durch den Text immer wieder auch angeregten - Visualisierungen des Dargestellten zu hinterfragen, zu suspendieren, ja zu unterdrücken, u m so zu einem .besseren', einem rationaleren Verständnis der unüberbrückbaren Kluft zwischen Gottheit und Menschheit zu gelangen. Wenn Raphael den "war in heaven" mit homerisch-epischen Mitteln beschreibt und dabei modernstes Kriegsgerät, nämlich Artillerie verwendet (was von Voltaire bekanntlich als höchst unpassend und unfreiwillig komisch empfunden wurde), so tut er dies im vollen Bewußtsein der Undarstellbarkeit des himmlischen
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Geschehens und nach dem paulinischen Prinzip der 'accommodatio'. Paradise Lost arbeitet mit den Mitteln des Wortklangs und Wortspiels, 26 um den Leser zu einer Konfrontation mit den Paradoxien des Sehens, der Blindheit und der nichtvisuellen Einsicht zu bringen - Paradoxien, die ebenso wie die Probleme der Sprache, des Sinns und der poetischen Form auch den Sprecher des Epos umtreiben und sein Projekt der Rechtfertigung ("to justify the ways of God to men") erschweren.27 Es liegt zwar nahe, in Miltons eigener Erblindung eine Motivation für seine Hervorhebung der Paradoxien des Sehens und der (inneren) Einsicht heranzuziehen; aber sie ist (wohl auch für ihn selbst) kein wesentlicher Faktor. Miltons Unternehmung partizipiert vielmehr an einem für Philosophie und Naturwissenschaft wie auch für religiöse Meditationstechniken seiner Zeit charakteristischen Projekt der epistemologischen Abwertung des Visuellen. In der Arithmetik und Geometrie, die im 17. Jahrhundert den Status von Leitdisziplinen für das Wissenschaftsethos der Abstraktion, der universellen Gültigkeit und der zwingenden Überzeugungskraft innehaben, werden reale Gegenstände, die dem Auge mit all ihren Ungewißheiten erscheinen, auf absolut rationale Idealkonstruktionen reduziert und durch diese ersetzt. Somit wird ausgerechnet der Blinde, der durch die visuellen Illusionen derphainomena nicht getäuscht werden kann, zum Garanten ,solider und wahrer Urteile'. Für Descartes verkörpert der Blinde die "intuition distincte et claire de la verite". 28 In der Defensio Secunda verwendet Milton genau dieses Argument gegen diejenigen seiner Gegner, die ihm seine Blindheit als göttliche Nemesis auslegen wollen. An seinen Kontrahenten Alexander More gewandt, schreibt er: as to m y blindness, I w o u l d rather have m i n e , if it b e necessary, than either theirs, M o r e , or yours. Your blindness, deeply i m p l a n t e d in the i n m o s t faculties, obscures the m i n d , so that y o u m a y see n o t h i n g w h o l e or real. M i n e , w h i c h y o u m a k e a reproach, merely deprives things o f color a n d superficial a p p e a r a n c e . W h a t is true a n d essential in t h e m is n o t lost to m y intellectual vision. 2 9
In den darauffolgenden Sätzen werden Licht und Dunkel umgewertet, wie dies auch an manchen Stellen in Paradise Lost der Fall ist, um Blindheit von einer "infirmity" in einen Zustand der Vollkommenheit umzuwandeln, der die "keen [...] vision" eines "inner and far more enduring light" erst möglich mache. 30 Doch Miltons
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Zahlreiche Beispiele in Leonard 2001. Milton, Paradise Lost 1.26. Diese Erschwernis wird v. a. in den sukzessiven Proömien deutlich, die nach einem sehr selbstbewußten Beginn immer verhaltener werden (s. u.). Descartes, Regulae ad directionem ingenii (c. 1628); frz. Übers. Regies pour la direction de l'esprit in Descartes 1953, 3 7 - 1 1 9 , 37 "des jugements solides et vrais", 67 "Pintuition distincte et claire de la verite"; vgl. ebd. 41 f. zu Arithmetik und Geometrie. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Certeau 1980a, 358 Anm. 5. Descartes ist jedoch nur der bekannteste Vertreter dieses Gedankens; siehe Reiss 1997, 146 zum Euklid des Niccolö Tartaglia (1500—57). A Second Defense of the English People (1654), übers. Helen North, Complete Prose 4.1; 589. Ebd. 590.
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Proömien in Paradise Lost - die Stellen, an denen er auf das T h e m a der Blindheit seines Sprechers eingeht - sind bei weitem komplexer als seine Gegenpolemik in der Defensio Secunda. Zunächst scheinen sie, wie Miltons frühere Prosaschriften, die privilegierte Wirklichkeit einer .höheren' intellektuellen und theologischen Schau hervorzuheben im Gegensatz zur Unzuverlässigkeit des bloß körperlichen Sehenkönnens. Deutet man sie so, dann hieße das, der Leser sei aufgefordert, am privilegierten ,inneren' (blinden) Sehen des Sprechers teilzuhaben oder diese nachzuahmen, wohingegen Satan (und bis zu einem gewissen Grad auch Adam und Eva) als,schlechte' Leser präsentiert werden, die sich durch den trügerischen Glanz äußerer Erscheinungen täuschen lassen und die tieferen Ebenen der göttlichen Wirklichkeit entweder (im Fall Satans) absichtlich nicht zur Kenntnis nehmen oder (im Fall der Menschheit) bedauerlicherweise mißverstehen. D o c h die Musenanrufungen in Paradise Lost stehen in einem Gegensatz sowohl zum rationalistisch-cartesischen Glauben an "intuition distincte et claire" als auch zu mystischen Behauptungen einer überlegenen, höheren Erkenntnis der All-Einheit. Statt dessen wenden sie den Tropus der Blindheit zu einem dramatischen Zeugnis von Prüfungen, Leiden und radikaler Ungewißheit um. Oberflächlich gelesen, könnten sie wie bloß konventionelle Elemente epischer Dichtung erscheinen oder, schlimmer noch, wie eine poetische Neuformulierung von Miltons früherer Polemik als Behauptung der epistemischen und prophetischen Vorteile des Blindseins: [...] W h a t in m e is dark Illumine, w h a t is low raise a n d s u p p o r t ; T h a t to the highth o f this great A r g u m e n t I m a y assert Eternal Providence[.] 3 1 S o m u c h the rather t h o u Celestial Light Shine inward, a n d the m i n d t h r o u g h all her powers Irradiate, there plant eyes, all mist f r o m thence Purge a n d disperse, that I m a y see a n d tell O f things invisible to m o r t a l sight. 3 2
Rückt man diese Passagen jedoch in den Zusammenhang der Dichtung, muß man feststellen, daß sie, so injunktiv sie auch seien, niemals auch nur die geringste Bestätigung seitens der von ihnen angerufenen Instanz erfahren. Der Sprecher scheint sogar zu Beginn des neunten Buches eine skeptische Reaktion zu erwarten, wenn er seinen Zweifeln Ausdruck verleiht, ob die epische Form fiir seine Zwecke überhaupt geeignet sei. Diese Zweifel könnten doppelt ironisch zu lesen sein, als Ausdruck einer Disparität zwischen Milton und seinem Sprecher: [...] unless an age t o o late, or cold C l i m a t e , or Years d a m p m y intended w i n g
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Paradise Lost 1.22-25. Paradise Lost 3.51-55.
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Deprest; and much they may, if all be mine, Not Hers who brings it nightly to my Ear.33
Die Blindheit des Sprechers steht also weder für die gerechte Strafe des Sünders noch für eine mystische Einheit mit dem Göttlichen, sondern akzentuiert die Kontingenz menschlicher Erfahrung und die undurchschaubare Verborgenheit Gottes - zwei Pole, zwischen denen es (außer der Offenbarung durch die Heilige Schrift), wie in der protestantischen Theologie, so auch bei Milton, keine Vermittlung geben kann. 34 Folgt man der Analyse V. Silvers, dann ist das Rechtfertigungsprojekt des Sprechers weniger ,visionär' als ,revisionär' ("revisionary", 207). Entwickelt wird es im Gedicht als Erzählung von geistiger Arbeit, als unendlicher Lernprozeß und Suche, die niemals bei der Gewißheit der Vollendung ankommen kann. "The speaker too has only the ordinary consolation of his own perseverance in telling the story, with the result that speech here is the locus of revelation in a transfigured but not a supernatural sense" (195). Das Gedicht löst das Dilemma des Sprechers nicht auf: Seine Blindheit ist vielleicht keine Strafe Gottes, aber sie ist auch nicht das sichere Zeichen eines privilegierten Wissens vom Göttlichen. Glaube und Hoffnung können sich also nur auf das Wort der Offenbarung gründen, wie dies auch das Frontispiz zum Eikon Basilike behauptet — jedoch niemals in der selbstsicheren und selbstgefälligen Art und Weise, in der der König als Märtyrer präsentiert wird, der gleichsam über einen direkten Draht zur Gottheit verfügt und dessen Blickrichtung mit derjenigen Gottes korrespondiert, um so eine Kontinuität zwischen dem Weltlichen und dem Göttlichen zu suggerieren. Der Text von Paradise Lost reproduziert vielmehr das lutherische Verständnis der Heiligen Schrift als widerständiger Gegner des Lesers. Er widerstrebt der Assimilierung durch einen Leser, der nach bloßer Bestätigung oder Erbauung sucht und nicht nach Selbstverwandlung. Der Text vestrickt den Leser in die Arbeit des Verstehens und Rechtfertigens, der Milton und sein Sprecher sich unterziehen. Er plädiert also, wie Miltons Prosa zuvor, für die schmerzvolle, aber letztlich als heilsbringend verstandene Arbeit am Entziffern und Vervollständigen des immer unvollständigen Textes der Wahrheit 35
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Paradise Lost 9.44—47. N.b.: Die vom Sprecher erlebten nächtlichen Eingebungen sind auralen, nicht visuellen Charakters. Siehe das Kapitel "Miltons Speaker" in Silver 2001, 1 5 3 - 2 0 7 . Weitere Zitate in K l a m m e r n . Silvers Darstellung zufolge wird in Paradise Lost die epische A n r u f u n g der himmlischen M u s e als dramatischer GewißheitspfT/aii inszeniert, als ein nicht ratifiziertes Ersuchen u m prophetische Eingebung (196, 199). Für Milton als Protestanten, so Silver, würde die A n n a h m e einer wirksamen A n r u f u n g dagegen einem Akt des Götzendienstes "of the same order as the Catholic mass" gleichkommen (202). Auf dieser Ebene seien auch die Idolatrie bzw. der .Visualismus' Satans und Adams in Paradise Lost zu verorten, die eine Negation der Kontingenz implizieren u n d ein Verfallensein an die "delusion of absolute and self-evident meaning" (338). Rechtfertigung im Miltonschen Sinn bleibt also - entsprechend ihrer protestantischen Funktion - ein unvollendetes Projekt. S. u. IV.2 zu Areopagitica .
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und gegen die götzendienerische Befriedigung der Neugier an deutlichen und scharfen Bildern. Aber diese Komplexität der unfertigen und heterogenen Wahrheit, die alle Anstrengungen der Interpretation als 'right reading' erfordert, läßt sich nur äußerst schwierig umsetzen in eine neue politische Ordnung — eine Erfahrung, der auch Milton sich stellen muß und aus der sein Spätwerk, einschließlich Paradise Lost, seine äußerst komplexe Dynamik gewinnt. In England stellt sich die Unfähigkeit des neuen republikanischen Staatswesens, überzeugende Bilder für seine öffentliche Repräsentation zu finden, als eines seiner größten Probleme heraus. Nachdem die Statue des Königs an der Royal Exchange geköpft und entfernt ist, wird sie ersetzt durch eine Leerstelle, versehen mit der Inschrift "Exit Tyrannus regum Ultimus, anno primo restitutae libertatis Angliae 1648."36 Kein Bildnis, sondern ein Text, noch dazu auf Latein - dieses ikonoklastische Extrem wird nicht gerade dazu beigetragen haben, die "approbation" der Massen für das neue politische System zu gewinnen. Die Abwesenheit des königlichen Körpers lenkt den Blick auf ein bildloses Vakuum, das von vielen als unnatürlich und zutiefst beunruhigend empfunden wird angesichts einer traditionellen Semantik der Einheit von königlichem Doppelkörper und commonwealth.37 Die offensichtlichen Schwierigkeiten des neuen Staates mit der politischen Ikonographie steigern sich noch während des Protektorats, das von einer weniger eindeutigen Haltung zur öffentlichen Zurschaustellung von Machtsymbolik gekennzeichnet ist. Einen unheimlichen Effekt bewirkt ζ. B. eine Radierung, die Cromwell zu Pferde zeigt und die (bis auf das Gesicht) in allen Details mit einem Bildnis Charles' I. übereinstimmt.38 Cromwell, der alle Angebote einer Krönung ablehnt, erhält nichtsdestotrotz ein zeremonielles und pseudo-königliches Staatsbegräbnis nach seinem Tod 1658, bei dem auch der traditionelle wächserne Scheinleib mit den königlichen Insignien nicht fehlt.39 Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Flugschriften und chapbooks, die ihre Botschaften zu propagandistischen Zwecken in Bilder kleiden, einen weitaus größeren Erfolg bei den nur wenig lesefähigen Massen erzielen, als Miltons komplexe Rhetorik dies jemals für sich erhoffen kann.40 Eine Verbindung zwischen
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„Der Tyrann tritt ab, der letzte der Könige, im ersten Jahr der wiederhergestellten Freiheit Englands, 1648[/9]". Die Inschrift ist im alten Stil datiert. Zit. nach Norbrook 1999, 199. Zur visuellen Armut des Commonwealth und des Protektorats siehe auch Sharpe 2000b, 223-65· Siehe Kantorowicz 1957. Beide von Peter Lombart nach Anthonis van Dyck; abgedruckt bei Schama 2001, o. S. Siehe Norbrook 1999, 379-82 und ebd. Abb. 15, die eine Darstellung von Cromwells Effigie zeigt. Zur Bestattungspraxis des Scheinleibes siehe Giesey 1960; zur Rolle des Scheinleibs als Stabilisator, der ein Machtvakuum überbrücken und politische Zeit auf Dauer stellen soll, siehe Bredekamp 1998, 107ff. Ein Beispiel liefert Abb. 9 bei Norbrook 1999, 198: die Titelseite zu Anthony Weldon [>],A Cat May Look upon a King, 1652. Vgl. auchyl True Narrative ofthe Horrid Hellish Popish-Plot, the first part... (1682), wo die Bild-Text-Kombination wie ein moderner Comic funktioniert (Schama 2001, ο. S.).
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Vulgarität und Visualität wird auch von Browne hergestellt, wenn er von "those vulgar heads that looke asquint on the face of truth" schreibt.41 Browne betrachtet im Gegenzug (sowohl verbale als auch visuelle) Illustration und Vulgarisierung als Hilfsmittel zum Verständnis der Offenbarung: "unspeakable mysteries in the Scriptures are often delivered in a vulgar and illustrative way, and being written unto man, are delivered, not as they truely are, but as they may bee understood". 42 Wenn also selbst Gott sich einer Art von Propaganda bedienen muß, um sicherzugehen, daß seine Schäfchen die göttliche Botschaft verstehen, so wird man von weltlichen Autoritäten kaum erwarten können, daß sie ihren Untertanen größere intellektuelle Fähigkeiten zutrauen. In der Tat sind Texte und Bilder, Lektüre und Visualität in der frühen Neuzeit noch auf einer tieferen Ebene miteinander verflochten. Auf dieser Ebene, die von sozialen Unterscheidungen wie zwischen der Masse und der 'person of quality' unabhängig ist, sondern vielmehr den physiologischen Vorgang des Lesens selbst betrifft, findet in der frühen Neuzeit noch keine strikte Unterscheidung zwischen Bild- und Textwahrnehmung statt, die in der optischen Sinneswahrnehmung konvergieren und so v. a. auf die menschlichen Leidenschaften einwirken. So erklärt sich auch das im 17. Jahrhundert weitverbreitete „Mißtrauen gegen das gedruckte Buch"43 nicht nur aus den üblichen Bedenken hinsichtlich Beredsamkeit und Rhetorik, 44 sondern auch aus der visuellen Bedingtheit des Lesens. Der Konflikt zwischen Sehen und Hören bei Milton speist sich auch aus der kulturellen Dominanz des Gesichtsinns, insbesondere unter den Materialisten. Für Hobbes ist er "the noblest of ye senses".45 Hobbes' Theorie der Sinneswahrnehmung und davon ausgehend der Medienwirkung beruht auch aus diesem Grund auf detaillierten Studien und Experimenten auf dem Gebiet der Optik. Die optischen Arbeiten von Hobbes und Descartes sind beispielhaft für die wissenschaftliche Erforschung des Lichts und des Sehens in der frühen Moderne. Ihre Erklärungen sind mechanistisch und mediumistisch. Hobbes und Descartes vereint ein Verständnis des Gesichtssinns als erworbene Fähigkeit, "based on complicated, unconscious inferences, presumably based on comparing experiences through trial and error".46 Für beide, so J. Prins, und, wie zu ergänzen wäre, auch für Milton, ist die Beziehung zwischen dem Sehen und dem Sichtbaren das Produkt einer Illusion. Da sich für Hobbes sämtliche Naturphänomene auf die Bewegung materieller Körper zurückfuhren lassen, stellt er sich Licht als die dem Auge durch ein Medium mitgeteilte Fernwirkung eines leuchtenden Körpers vor. Visuelle Wahrnehmung entstehe infolge des Drucks eines 41 42 43 44 45
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Browne, Religio 1.3, 5. Religio 1.45,43. Johns 1998, 423. S. u. Kap. IV.2. Hobbes, Α Minute or first Draught ofthe Optiques, British Library, Harley MS. 3360, Einleitung, 2v. Zit. nach Bredekamp 1999, 83 Anm. 170. Prins 1996, 138.
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Agens, dessen Bewegung über das Medium vom (passiven) Auge empfangen und über den Sehnerv weitergegeben wird an (so Hobbes vorsichtig, aber durchaus treffend) "the brain, or spirits, or some internal substance in the head". 47 Das Sehen sei die mechanische Reaktion auf einen Reiz: "Now the interior coat of the eye is nothing else but a piece of the optic nerve, and therefore the motion is still continued thereby into the brain, and by resistance or reaction of the brain, is also a rebound in the optic nerve again, which we not conceiving as motion or rebound from within, think it is without, and call it light." 48 Beim Empfänger der Lichtwirkung ist das Sehen demnach nicht als 'actio', sondern als 'passio' zu verstehen. 49 Ein Agens hat die Kraft zu bewegen, ein Patiens die Potenz, bewegt zu werden. Diese epistemologischen Vorstellungen bilden die Grundlage der Hobbesschen Psychologie und letztlich auch seiner Gesellschaftstheorie. Im mechanistischen Verständnis sind Sinnesempfindungen, Verstand und Begehren allesamt Funktionen der 'animal spirits', die als nicht wahrnehmbare, aber dennoch materielle Substanzen im Körper zirkulieren, die einzelnen Teile des Körpers miteinander verbinden und alle Operationen des Organismus lenken, indem sie Bewegungen von einem Teil des Körpers an die anderen Teile weiterleiten. Diese 'spirits' sind passiv: sie können nur dann als Agens fungieren, wenn sie durch etwas anderes in Bewegung versetzt werden, wenn sie einen mechanischen Reiz erhalten. In der Hobbesschen Epistemologie besteht menschliche Wirklichkeitswahrnehmung aus inneren Erscheinungsbildern ("phantasmata") äußerer Gegenstände. Diese Erscheinungbilder kommen durch Bewegungen zustande. „So berechnen wir [... nichts] anderes als unsere Erscheinungsbilder." 50 Der ontologische Status der Außenwelt lasse sich nur aus der Tatsache erschließen, daß es ,dort draußen' etwas geben müsse, das auf die Sinne und das Gehirn einwirke, denn "there is nothing whereof there is not some cause". 51 M . a. W.: "The things that really are in the world without us, are those motions by which these seemings are caused." 52 Die Bewegungen der visuellen Linien bzw. der optischen Achsen sind kontrollierte Bewegungen, bestimmt durch Aufmerksamkeit und Interesse, "based on the motions around the heart". 53
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Hobbes 1994a, 1.2.7, 25. Hobbes 1994a, 1.2.8, 25. "Omnis actio est motus localis in agente, sicut et omnis passio est motus localis in patiente: Agentis nomine intelligo corpus, cujus motu producitur effectus in alio corpore; patientts, in quo motus aliquis ab alio corpore generatur." Hobbes, Tractatus Opticus I (ca. 1640), in Hobbes 1839, 5: 216—48, 217. "ne [...] quidem [...] aliud computamus, quam phantasmata nostra." Hobbes, De corpore 1: 2.7.1, in ders. 1839, 1: 82. Deutsch nach Hobbes 1997, 100. Vgl. Hobbes 1971a, 49: "memory is the World (though not really, yet so as in a looking glasse)". Hobbes 1994a, 1.6.9,42. Hobbes 1994a, 1.2.10, 26. Prins 1996, 143 mit Bezug auf Hobbes' zweiten Tractatus Opticus (1644).
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Auf dieser Ebene sind Sehen und Lesen analoge Vorgänge. Das stille Lesen als Visualisierung von geschriebener Sprache ist ein Sonderfall der visuellen Sinneswahrnehmung.54 Die mechanistische Epistemologie ist in den intellektuellen Zirkeln des 17. Jahrhunderts so weit verbreitet und so einflußreich, daß es durchaus seine Berechtigung hat, sie zum Verständnis des politischen Mißtrauens gegenüber der Ausbreitung von Druckschriften und der diese begleitenden wachsenden Alphabetisierung der Bevölkerung heranzuziehen. Am Beispiel von Hobbes (und, im nächsten Kapitel, Davenant) nähern wir uns damit auch einem zeitgenössischen Verständnis der Funktion von Literatur, das bemüht ist, den von Milton immer wieder problematisierten Widerspruch von Schrift und Bild zu überwinden. A. Johns faßt die frühneuzeitliche Vorstellung des Lesevorgangs wie folgt zusammen: "They saw letters on a page through eyes that resembled the device known as the camera obscura, which conveyed images, through the body's animal spirits, onto the brain's sensus communis. There imaginative and perceptual images combined, and animal spirits mingled and departed to drive the body's responses to both."55 Das Lesen hat eine Wirkung also auf Geist und Körper zugleich; es ist gerade deshalb problematisch und wird als gefährlich erachtet, weil es an der Nahtstelle zwischen Körper und Geist angesiedelt ist, zwischen denen auch bei Hobbes noch keine scharfe ,cartesische' Trennung besteht; Herz und Hirn sind Sinnesorgane. So kann es besonders bei schwächeren Geistern durch seine Wirkung auf die Leidenschaften potentiell gefährliche mentale und körperliche Reaktionen hervorrufen. Der Begriff,Leidenschaft' ("passion") ist bei Hobbes nicht ganz eindeutig, und seine Bedeutungen können mitunter auf interessante Weise überlappen. In einigen Fällen, wenn das Wort in einem abstrakteren Sinn gebraucht wird, meint es die passive Eigenschaft eines Patiens im Gegensatz zum Agens. Häufiger wird es jedoch in enger Nachbarschaft zum Begriff der "affections" verwendet. Sowohl "passions" als auch "affections" sind konkrete Akte jener "power of the mind which we call motive", im Gegensatz zur "power cognitive" oder "conceptive".56 Die "power motive" ist definiert als "that by which the mind giveth animal motion to that body wherein it existeth". Die von der "power conceptive" hervorgerufene Bewegung wird über die "power motive" des Bewußtseins ("mind") an das Herz weitergegeben: dort stimuliert oder hemmt sie, je nach Erwartung von Lust oder Schmerz, die "vital motion" des Körpers.57 Vernunft und Leiden-
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Zur "visualization of language" als Folge der Buchdruckkultur siehe auch Elsky 1989, 128; Saenger 1997; Olson 1994. Johns 1998, 442. Siehe auch ders. 1996. Für (den frühen) Hobbes gilt ebenfalls die Zentralität des Gehirns als "the common organ [...] of all the senses": 1994a, 1.10.1, 60. Hobbes 1994a, 1.6.9, 43. Die konkreten Akte der "power conceptive" sind "sense, imagination, discursion, ratiocination, and knowledge", ebd. Hobbes 1994a, 1 . 7 . 1 , 4 3 .
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schaft, "the principal parts of our nature", 58 sind also keine entgegengesetzten Kräfte (Kopf/Herz oder Geist/Körper), sondern gehören zu einem Kontinuum von Bewegungen in verschiedenen Regionen des Körpers, "within the head" und "about the heart". 59 Der bei dieser physiologischen Beschreibung auffallende Mangel an Präzision ist wahrscheinlich beabsichtigt, um die Ubiquität und Kontinuität der "internal [...] animal motion" 60 in der Hobbesschen Anthropologie hervorzuheben, die nicht von einer sauberen cartesischen Trennung zwischen res cogitans und res extensa ausgeht. Lust und Schmerz werden verstanden als innere Bewegungen der Anziehung und Abstoßung; diese seien "the first unperceived beginnings of our actions". 61 Im Ubergang von innerer, nicht wahrnehmbarer Bewegung zu äußerer, wahrnehmbarer Bewegung spielen die Leidenschaften die Rolle eines Katalysators, intensivierend oder inhibierend: "appetite" und "aversion" (oder prospektiv, als Erwartung zukünftiger Unlust: "fear"). Der eher weit gefaßte, terminologisch unpräzise Begriff der Leidenschaft bietet Hobbes die Möglichkeit einer (obgleich porösen) Grenzziehung zwischen emotionalen und rationalen Wünschen (als Beispiel für letzteres etwa der langfristige Wunsch nach Selbsterhaltung). Die in den Elements of Law (1.9) und im Leviathan (1.6) aufgezählten einzelnen Leidenschaften umfassen, was heutige Psychologen wohl als emotional getönte Geisteszustände beschreiben würden, von Liebe und Haß bis hin zu Neugier und Bewunderung. Für Hobbes sind das Rationale und das Emotionale nicht deutlich voneinander getrennt, sondern bilden ein Kontinuum, das von 'reason' bis 'madness' reicht, von der Beherrschung der Leidenschaften bis zu ihrem unkontrollierten Exzeß. 62 Emotionale Wünsche sind also nicht per se irrational, können es aber werden, wenn sie in Konflikt geraten mit dem, was als rational wahrgenommen wird. Durch ihren Einfluß auf menschliches Handeln sind die Leidenschaften von entscheidender Bedeutung, wie eine Kapitelüberschrift der Elements (1.12) unmißverständlich verdeutlicht: "HOW BY DELIBERATION FROM PASSIONS PROCEED MEN'S ACTIONS." Hier liegt die wesentliche Schnittstelle zwischen Anthropologie, Epistemologie und politischer Theorie. Im Leviathan bekräftigt Hobbes die optischen Fundamente seiner Wahrnehmungstheorie, indem er die Leidenschaften mit Vergrößerungsgläsern oder Teleskopen vergleicht: "For all men are by nature
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Hobbes, Widmungsschreiben zu Elements of Law (1994a, 19). Hobbes 1994a, 1.7.1, 43. Etwa von 1643 an lokalisiert Hobbes das zentrale Organ der Sinneswahrnehmung, wo die ,Phantasmata' verarbeitet werden, ausdrücklich im Herzen und nicht mehr im Gehirn. Prins (1996, 141) zitiert als Belegstelle für diesen Wendepunkt eine Passage aus Hobbes' Kritik von Thomas Whites De mundo (1643). Der Akt des Sehens werde dann "defined as an outwardly directed reaction evoked in the heart by the action of a luminous or illuminated body" (142). Z u m Stellenwert des Herzens im frühneuzeitlichen Denken siehe auch Erickson 1997. Hobbes 1994a, 1.7.2, 43f. Hobbes 1994a, 1.12.1,70. Uber Wahnsinn als Exzeß der Leidenschaft siehe Leviathan 1.8 (Hobbes 1996, 53f.). Zur zeitgenössischen Diskussion über die Leidenschaften von Wright bis Charleton siehe Kroll 1991, 2 1 9 - 2 3 ; Johns 1996, 147-50; Paster/Floyd-Wilson/Rowe, 2004.
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p r o v i d e d o f n o t a b l e m u l t i p l y i n g g l a s s e s , ( t h a t is t h e i r P a s s i o n s a n d S e l f e - l o v e , ) t h r o u g h w h i c h , e v e r y little p a y m e n t a p p e a r e t h a g r e a t g r i e v a n c e . " 6 3 D u r c h d i e L i n s e der L e i d e n s c h a f t e n betrachtet, erschienen d e m einzelnen seine Pflichten g e g e n ü b e r der G e m e i n s c h a f t u m seines Eigeninteresses willen o p t i s c h vergrößert u n d m a ß l o s ü b e r t r i e b e n . W o r a n es d e n M e n s c h e n m a n g e l e , w a s sie a b e r l a u t H o b b e s d r i n g e n d b e n ö t i g t e n , sei d a s K o r r e k t i v d e r " p r o s p e c t i v e g l a s s e s , ( n a m e l y M o r a l l a n d C i v i l l S c i e n c e , ) " ; d a d u r c h erst k ö n n t e n s i e d e n h ö h e r e n W e r t d e s Gemeinwohls erkennen.64 Die Leidenschaften sind Wahrnehmungsfilter,
die über die D e u t u n g
der
.Phantasmen' des W a h r g e n o m m e n e n entscheiden.65 Will m a n Einfluß n e h m e n a u f die H a n d l u n g e n der M e n s c h e n , m u ß m a n diese Filter beeinflussen; dies k a n n d u r c h ( s p r a c h l i c h e o d e r a n d e r e , ζ. B . v i s u e l l e ) M e d i e n g e s c h e h e n . D i e L e i d e n schaften ,tönen' nicht nur die W i r k l i c h k e i t s w a h r n e h m u n g der M e n s c h e n (auch i m H i n b l i c k a u f p o l i t i s c h e Z u s t ä n d e ) , sie v e r z e r r e n s i e a u c h ; es b i e t e s i c h d a h e r an, diese a n t h r o polog is che G r u n d s i t u a t i o n für politische (ideologische) k e a u s z u n u t z e n . E i n e w e i t e r e K a p i t e l ü b e r s c h r i f t a u s d e n Elements
of Law
Zweklautet
"HOW BY LANGUAGE MEN WORK UPON EACH OTHER'S MINDS." H o b b e s e n t w i r f t e i n e f r ü h e F o r m d e r S p r e c h a k t t h e o r i e , i n d e m er S p r a c h e n i c h t n u r als W e r k z e u g z u r B e s c h r e i b u n g der Welt ansieht, s o n d e r n auch ihre p r a g m a t i s c h e n u n d perform a t i v e n F u n k t i o n e n b e r ü c k s i c h t i g t . 6 6 S p r a c h e k ö n n e a u f d i e L e i d e n s c h a f t e n er-
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Hobbes 1996, 2.18, 129. Ebd. Zu den optischen Eigenschaften von Perspektivgläsern, die einzelne Bildfragmente zu einem neuen Bild zusammenfugen, als Metapher für höherstufige Erkenntnis bei Hobbes und als Analogie zur Funktion des Leviathans, siehe Bredekamp 1999, 83-94. Siehe ebd. die Detailanalyse des berühmten Titelblatts des Leviathan, das Bredekamp als visuelle Verkörperung der komplexen politischen Theorie Hobbes' in einem einzigen Bild liest. Hobbes' Sprachskepsis als auch sein Interesse für Optik machen es sehr wahrscheinlich, daß dieses Bild nach seinen Plänen ausgeführt wurde und geradezu ein bildrhetorisches Schlüsselelement der Theorie darstellt, das dazu dient, die Theorie visuell zwingend und überzeugend erscheinen zu lassen. Der fiir diesen Filter verwendete Begriff ist wiederum ein optischer: "colour". Zudem ist es ein terminus technicus der klassischen Rhetoriktheorie, der bei Quintilian und Seneca d. A. einen manipulativen .Drall' bezeichnet, mit dem der Rhetor seiner Sicht der Dinge Ausdruck verleiht. Vgl. Francis Bacon, " O f the Coulers of Good and Evill" in der ersten Ausgabe der Essayes (1597); Hobbes, Α Briefe of the Art ofRhetorique (1637; Hobbes 1986). Zur Geschichte dieses Begriffs siehe Skinner 1996, 195-98. Siehe etwa Leviathan 1.14 über Versprechen; vgl. Breide 1975, 295; Sorell, 1996, 163; Kamm 1996, 148—59. Hobbes ist natürlich nicht der geistige Vater eines pragmatischen Sprachverständnisses in der frühen Neuzeit; er synthetisiert in seiner Auffassung von Sprache die Skeptiker, Bacon und Grotius. Vgl. zu einem performativen Sprachverständnis in der frühen Neuzeit Hugo Grotius, Inleiding tot de HolUndsche Rechts-gheleertheyd (geschr. 1619-21, Erstdruck 1631), 3.1.5: "Trouw-schuld ontstaet uit de spraecke ofte let dat spraecksghelijk is: welcke spraeck den menschen alleen onder alle dieren tot beter betrachtinghe van de onderlinghe ghemeenschap is gegeven, om daer mede bekent te maken 't gunt in 't gemoed is verholen: waer van de behoorlickheid bestaet in de over-een kominghe van het teicken met het beteickende, 't welck waerheid werd genoemt. Maer alzoo de waerheid alleen inghezien zijnde niet anders medebrengt als een over-een koming van de tael met het ghemoed voor die tijd als de tael werd gebruickt, zijnde des mensches wil uit haer eigen aerd veranderlick, zoo heeft een middel moeten gevonden werden om die wille voor het toekomende vast te stellen, welcke middel is belofte." In der eng137
regend oder besänftigend wirken. Sie k ö n n e dazu dienen, die Meinungen u n d Ansichten eines Sprechers mitzuteilen u n d die M e i n u n g e n u n d Handlungen anderer Menschen zu beeinflussen. Sprache transportiere die "tincture o f our different passions". 67 And therefore in reasoning, a man must take heed of words; which [...] have a signification also of the nature, disposition, and interest of the speaker; such as are the names of Vertues, and Vices; For one man calleth Wisdome, what another calleth feare·, and one cruelty, what another justice·, [...] And therefore such names can never be true grounds of any ratiocination. 68 Sprache ermögliche Wissenschaft, aber sie könne auch Mißverständnisse u n d Verwirrung hervorrufen. Die negativen Folgen .moralischer' 6 9 oder meinungsgesteuerter K o m m u n i k a t i o n f ü r das Sozialleben werden detaillierter beschrieben in Hobbes' De homine
( 1 6 5 8 ) . Im Unterschied zum Tier sei es eine Besonderheit
des Menschen, seine Irrtümer an andere Menschen weitergeben zu können. 7 0 Auch kann der Mensch, wenn es ihm beliebt - belieben wird es ihm aber, sooft er meint, daß es für seine Absichten vorteilhaft ist - vorsätzlich Falsches lehren, d. h. lügen, und die Mitmenschen den Bedingungen von Gemeinschaft und Frieden abgeneigt machen. Bei tierischen Gesellschaften kann das nicht vorkommen, weil Tiere Gut und Übel nur nach eigenem Empfinden, nicht nach fremden Klagen schätzen, deren Gründe sie nicht begreifen können, wenn sie sie nicht sehen. Weiter bringt die Gewohnheit zu hören es bisweilen mit sich, daß die Worte der Philosophen und Lehrer [scholasticos] von ihren Schülern unbesehen hingenommen werden, wenn sich ihnen auch kein Sinn entlocken läßt, ζ. B. wenn die Worte nur ersonnen sind, u m die Unwissenheit der Lehrer zu bemänteln. Die Schüler bedienen sich dann dieser Worte in dem Glauben, damit etwas zu sagen, während doch nichts mit ihnen ausgedrückt wird. Endlich verfuhrt die Mühelosigkeit des Sprechens den Menschen auch dazu, zu reden, wenn er überhaupt nichts denkt, und indem er, was er redet, fur wahr hält, sich selbst zu täuschen. Das Tier kann sich nicht selbst täuschen. So wird der Mensch durch die Sprache [oratione] nicht besser, sondern nur mächtiger [potentior]. 71
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lischen Übersetzung (Grotius 1977, 1: 292-93): "The duty of keeping faith arises from speech or anything that resembles speech. Speech is given to men alone amongst animals for the better furtherance of their common interest in order to make known what is hidden in the mind; the fitness whereof consists in the correspondence of the sign with the thing signified, which is called 'truth'. But since truth considered in itself implies nothing further than the correspondence of the language with the mind at the actual moment when the language is used, and since man's will is from its nature changeable, means had to be found to fix that will for time to come, and such means are called 'promise'." Hobbes 1996, 1.4, 31. Ebd. Im Sinne von Luhmann 1978. „nach falschen Regeln zu handeln und diese auch anderen mitzuteilen, damit sie danach handeln": Hobbes, De homine 10.3 (1839, 2: 91): "regulas [...] solus etiam falsis uti potest, easdemque aliis utendas tradere"; Hobbes 1994b, 17. Hobbes 1839, 2: 91f.; 1994b, 17f.
In diesem Z u s a m m e n h a n g überschneiden sich die beiden B e d e u t u n g e n von Leidenschaft/passio. D i e Sprache ist ein Agens, das a u f d e n Geist als a u f einen passiven E m p f ä n g e r einwirkt; genauer: die Sprache wirkt a u f die Leidenschaften als Katalysatoren innerer Bewegungen ("endeavours"), durch welche G e d a n k e n in H a n d l u n g e n übersetzt werden. M a n darf a n n e h m e n , d a ß fernwirkende K o m m u nikation, etwa mittels gedruckter Flugschriften, die Mißbrauchsmöglichkeiten der Sprache nur vergrößern kann, i n d e m sie d a f ü r noch m e h r Möglichkeiten bereitstellt als die m ü n d l i c h e Interaktion. 7 2 In einer v o n Rhetorik geprägten Öffentlichkeit fällt es der Beredsamkeit besonders leicht, die Leidenschaften des Mitleids u n d der E m p ö r u n g zu steigern. Sie kann etwa auch den Erfolg u n d damit das Ansehen einer Person ,vergrößern' ("magnify"). 7 3 Schwache bzw. ungebildete Geister, denen es schwerfällt, ihre Leidenschaften zu beherrschen (weil sie, u m in der optischen M e t a p h e r aus d e m Leviathan
zu bleiben, nur Fragmente der Wirklichkeit sehen k ö n n e n , die durch
die verzerrenden Linsen der Leidenschaft vergrößert werden, u n d weil sie nicht in der Lage sind, das vollständige Bild aus seinen verstreuten Teilen z u s a m m e n zusetzen), fallen der Rhetorik sehr leicht z u m O p f e r u n d bedürfen daher besonderer Aufmerksamkeit, Erziehung u n d Kontrolle. Hier nähert H o b b e s sich sogar Miltons A r g u m e n t für die Bildungs- u n d D e u t u n g s h o h e i t eines zahlenmäßig kleinen Kontingents des Staatskörpers; er merkt an, d a ß " c o m m o n l y truth is on the side o f the few, rather than o f the multitude". 7 4 Wenn die Ursache für moralische u n d soziale Konflikte i m Widerstreit privater Werturteile zu finden ist, d a n n schlägt H o b b e s als ihre L ö s u n g die Politik vor, verstanden als Entscheidungsfindung einer Minderheit z u m Wohle des G a n z e n der Gesellschaft als L ö s u n g des multitudo-Problems: But this is certain, seeing right reason is not existent, the reason of some man, or men, must supply the place thereof; and that man, or men, is he or they, that have the sovereign power [...]; and consequently the civil laws are to all subjects the measures of their actions, whereby to determine, whether they be right or wrong, profitable or unprofitable, virtuous or vicious; and by them the use and definition of all names not agreed upon, and tending to controversy, shall be established. As for example, upon the occasion of some strange and deformed birth, it shall not be decided by Aristotle, or the philosophers, whether the same be a man or no, but by the laws.75
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„Schrift fugt Möglichkeiten hinzu, die in mündlichen Kulturen nicht verfugbar waren. Es waren nicht unmittelbar Möglichkeiten der Kommunikation, sondern Möglichkeiten, die Sprache zu benutzen. Mit der Schrift verschiebt sich die Wahrnehmung von der Akustik zur Optik." Luhmann 1993, 354. Hobbes 1994a, 1.9.1 Of., 53f. Das Wort "magnifying" ist ein Vorläufer der im Leviathan ausgearbeiteten optischen Metapher. Vgl. Leviathan 2.17: "that art of words, by which some men can represent to others, that which is Good, in the likenesse of Evill; and Evill, in the likenesse of Good; and augment, or diminish the apparent greatnesse of G o o d and Evill; discontenting men, and troubling their Peace at their pleasure" (Hobbes 1996, 119f.). Hobbes 1994a, 1 . 1 3 . 3 , 7 4 . Hobbes 1994a, 2.10.8, 181.
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Hobbes' politische Theorie ist mithin ein Absolutismus, der auf einem epistemologischen Relativismus basiert. Seine Grundannahme ist die Unfähigkeit größerer Menschenmengen zu rationalem und konsensuellem Handeln. Das Fehlen objektiver Vernunftkriterien ftir menschliches Handeln macht die Koordination individueller Moralurteile durch den Souverän erforderlich. 76 In seinen Reflexionen zur Pädagogik zeigt sich Hobbes Büchern und Bücherwissen gegenüber besonders mißtrauisch. Ein solches Mißtrauen wird, wie wir gesehen haben, von der literarischen Epistemologie seiner Zeit bestätigt. Wie bereits angedeutet, ist die Bedeutung von Wörtern für Hobbes stets abhängig von ihrem Gebrauch in einem definierten oder definierbaren Kontext. Theoretisch läßt sich daher das Kontingenzproblem für ihn nur dadurch lösen, daß besonders umstrittene Begriffe vom Souverän definiert werden. Das wiederum macht Hobbes' Skepsis gegenüber dem Lernen aus Büchern verständlich, da Bücher die "contexture" ihrer Äußerungen nicht eindeutig anzeigen können. 77 Daraus resultiere die Schwierigkeit, die wahren "opinions and intentions" eines Autors herauszufinden. Dagegen sei dieses Problem auch nicht annähernd so gravierend in "the presence of him that speaketh". In Interaktionssituationen ließen sich die gegenwärtigen Intentionen eines Sprechers (das, was er in einem gegebenen Moment mitteilen will) aus sichtbaren Zeichen erschließen. Für gedruckte Texte sei es daher leichter zu überreden als zu lehren.78 Aus solchen Erwägungen wird verständlich, warum die Kontrolle über das Gedruckte von so großer politischer Bedeutung sein konnte. Wenn der Akt des Lesens aufgrund seiner physiologischen, insbesondere optischen Grundlagen (wie auch die Rhetorik) mehr die Leidenschaften als den Verstand anspricht, dann muß diese gefährliche ideologische Waffe unter Kontrolle gebracht und für den .richtigen' Zweck eingesetzt werden - den nur der Souverän bestimmen kann. Dies erscheint um so dringlicher geboten, als rhetorisch geschickte Demagogen mit Hilfe des Buchdrucks den verderblichen Einfluß ihrer zum Aufruhr anstiftenden Worte enorm ausweiten und so die Stabilität der politischen Ordnung gefährden können. In Ermangelung sicherer moralischer Kriterien der individuellen Entscheidungsfindung müsse daher der Herrscher die Uberzeugungen seiner Untertanen manipulieren, um den öffentlichen Frieden zu gewährleisten:
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Vgl. Hobbes 1996, 1.6, 39. Hobbes 1994a, 1.13.8, 76. Hobbes 1994a, 1.13.8, 76f. S. o. das Motto zu Kap. I, das dieser Passage entnommen ist. Die Unterscheidung zwischen Lehren und Überreden ist analog derjenigen zwischen Wissenschaft und Rhetorik - das eine erzeuge Wissen, das andere "bare opinion" (1.13.2, 73). Vgl. Luhmann 1993, 364: „Bücher sind [...] nicht mehr einfach Texte, die Wissen bewahren: sie behaupten, neues Wissen darzustellen [„.]. Es handelt sich u m Kommunikation [...]. Aber es ist nicht länger Informationsübertragung von Individuum zu Individuum. Der Autor kann den Leser nicht kennen, und er kann auch seinen Wissensstand nicht kennen. Es wird unmöglich, Bedürfnisse und Interessen auf der Ebene der beteiligten Individuen zu kontrollieren." Siehe auch Hobbes 1994a, 1.5.14, 39, wo er die Introspektion als einen Weg zur Entdeckung erster Prinzipien empfiehlt: "instead of books, reading over orderly one's own conceptions."
140
it is annexed to the Sovereignty, to be Judge of what Opinions and Doctrines are averse, and what conducing to Peace; and consequently, on what occasions, how farre, and what, men are to be trusted withall, in speaking to Multitudes of people; and who shall examine the Doctrines of all bookes before they be published.
For the Actions of
men proceed from their Opinions; and in the wel [sic] governing of Opinions, consisteth the well governing of mens Actions, in order to their Peace, and Concord. 7 9
Eine Spezifizierung der besonderen Funktion literarischer Kommunikation liegt nun bereits nahe, und Hobbes' Amalgamierung politischer, anthropologischer und epistemologischer Theorieelemente liefert sie auch. Im Schaubild der SUBJECTS OF KNOWLEDGE im Leviathan ist die Dichtung, Seite an Seite mit Rhetorik, Logik und der "Science of J U S T and UNJUST", ein Zweig der Naturphilosophie, genauer der Physik (hier verstanden als das Wissen von den aus Eigenschaften — "qualities" - entstehenden Folgen). Rhetorik wird funktional bestimmt als Wissen von den aus der Sprache resultierenden Folgen "In Perswading, Logik dito "In Reasoning'·, Dichtung sei Wissen von den Folgen der Sprache "In Magnifying, Vilifying, &c." 8 0 Dichtung ist bei Hobbes mithin kein eigenständiges Fachgebiet, sondern eine der sprachwissenschaftlichen Disziplinen neben Rhetorik und Logik. Dabei fällt auf, daß seine Unterscheidung zwischen Dichtung und Rhetorik eher fließend ist, rührt doch seine Definition der Dichtung von der rhetorischen Epideixis her: "Magnifying, Vilifying . Dichtung kommuniziere Meinungen, die auf die Leidenschaften einwirken, ähnlich wie dies die rhetorischen 'colours' tun.81 Sie lasse einzelne Bruchstücke der Wirklichkeit wie mittels eines optischen Tricks größer erscheinen, als diese wirklich sind. Die Dichtung bediene sich dabei "Metaphors, and Tropes of speech",82 die eher auf die 'fancy' als auf 'judgment' einwirken. Solche .unbeständigen' Formen des Zeichengebrauchs hätten jedoch in der Dichtung eine eher dekorative als persuasive Funktion. Sie seien "less dangerous, because they profess their inconstancy" (ebd.). Gefährlich werde es aber dann, wenn dichterischer Sprachgebrauch mit wörtlichem Sprechen verwechselt wird, wenn die Grenze zur persuasiven Rhetorik überschritten und "reasoning" auf Metaphern anstelle von Definitionen gegründet wird - was nur zu "contention, and sedition" führen könne.83 Es bedürfe daher der Urteilskraft, um diese Demarkationslinie zwischen Dichtung und
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Hobbes 1996, 2.18, 124, Herv. IB. Hobbes 1996, 1.9, 61. Zur Unterscheidung von Rhetorik und Logik bei Hobbes s. u. Kap. IV.2. Im Gegensatz zum Schema Bacons in The Advancement of Learning (1605) und De Augmentis Scientiarum (1623), in dem die Geschichte (als das geistige Vermögen der memoria), die Dichtung (als Vermögen der imaginatio) und die Philosophie (als Vermögen der ratio) als unterschiedliche Wissensdisziplinen firmieren (siehe Nate 1994), unterscheidet Hobbes zwischen "Knowledge of Fact" (hierzu gehören Natur- und Gesellschaftsgeschichte) und "Knowledge of the Consequence of one Affirmation to another", also "SCIENCE [...] called also PHILOSOPHY" (Hobbes 1996, 1.9, 6 0 , 6 1 ) . S. o. zum rhetoriktheoretischen Begriff'colour' als Wahrnehmungsfilter. Hobbes 1996, 1 . 4 , 3 1 . Hobbes 1996, 1.5, 36.
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Rhetorik stabil zu halten.84 Im Hobbesschen Denken ist die Grenze zwischen fiktionalen und pragmatischen Darstellungsmodi nicht systematisch und eindeutig zu ziehen. Wie die Bedeutung von Wörtern sind auch diese Modi kontextabhängig und gebrauchsdeterminiert. Dies geht recht deutlich aus den Elements of Law hervor: Another use of speech is INSTIGATION and APPEASING, by which we increase or diminish one another's passions; it is the same thing with persuasion: the difference not being real. [...] And as in raising an opinion from passion, any premises are good enough to infer the desired conclusion; so, in raising passion from opinion, it is no matter whether the opinion be true or false, or the narration historical or fabulous. For not truth, but image, maketh passion; and a tragedy affecteth no less than a murder if well acted.85
Imaginative Literatur habe unabhängig von der Gattung ("whether it be Epique, or Dramatique") eine Wirkung auf Leser oder Zuschauer, da sie gleichsam auf der Klaviatur ihrer Leidenschaften spiele. Was für Hobbes zählt, sind nicht formale Gattungsgrenzen, sondern deren performativer und funktionaler Charakter: Literatur erzeuge aus Leidenschaften Meinungen. Zu diesem Zweck seien "any premises [...] good enough to infer the desired conclusion". Die Wirkung (Erregung oder Besänftigung) sei abhängig vom Kontext, in dem sie auftritt, von der Absicht derer, die sie hervorrufen wollen, und schließlich vom Grad der Vollkommenheit der Darstellung ("ifwell acted"). Wie es scheint, denkt Hobbes hier an größere Zuschauermengen, an Massen in einem griechischen Amphitheater oder an ganze Populationen, nicht an den einzelnen Leser. Wenn er an anderer Stelle den einzelnen Leser behandelt, hebt er entsprechend die Erzeugung fiktiver Bilder im Kopf hervor: So when a man compoundeth the image of his own person, with the image of the actions of an other man; as when a man imagins himselfe a Hercules, or an Alexander, (which happeneth often to them that are much taken with reading of Romants) it is a compound imagination, and properly but a Fiction of the mind. 86
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So möchte ich die knappen und verstreuten Passagen zur Literaturtheorie im Leviathan verstehen. Vgl. 1.8, 51: "In a good Poem, whether it be Epique, or Dramatique·, as also in Sonnets, Epigrams, and other Pieces, both Judgement and Fancy are required: But the Fancy must be more eminent; because they please for the Extravagancy; but ought not to displease by Indiscretion." Im selben Abschnitt wird die Vorherrschaft der fancy der persuasiven Rhetorik zugeschlagen. Dichtung sei nur dann legitim (,unschuldig'), wenn sie innerhalb der Grenzen .ornamentaler' Sprache verbleibt: "to please and delight our selves, and others, by playing with our words, for pleasure or ornament, innocently" (1.4, 25). Hobbes 1994a, 1.13.7,76. Hobbes 1996, 1.2, 16. Die Gefahren eines solchen 'compounding' werden in einer ähnlichen Passage in den Elements of Law herausgestellt: "the gallant madness of Don Quixote is nothing else but an expression of such height of vain glory as reading of romants may produce in pusillanimous men" (Hobbes 1994a, 1.10.9, 63).
Das Wort "image" hat an dieser Stelle eine komplexe Bedeutung. Setzt man es in Bezug zum schon zitierten Satz "image maketh passion", wird deutlich, daß "image" nicht einfach als eine visuelle Darstellung im Kopf verstanden werden darf, sondern zu lesen ist als eine Darstellung, die von einer Meinung (hier im Sinne des "Magnifying") .eingefärbt', rhetorisch koloriert ist. Wer sich als ein Herkules imaginiert, hat eine vergrößerte Meinung von seinen eigenen Fähigkeiten oder seinem heldenhaften Charakter. Ein Bild kann in diesem Sinne niemals ,wahr' sein, sondern hat immer einen verfälschenden bzw. verschönernden ,Drall' (colour). Somit nimmt "image" bei Hobbes schon die Bedeutung vorweg, die es heute im Bereich der PR und Werbung angenommen hat. All dies belegt, daß Hobbes' Denken über Literatur weitgehend ohne ästhetische Terminologie auskommt; nicht, weil ihm eine solche Terminologie nicht zur Verfügung stünde (der Neuplatonismus, aber auch der französische Neoklassizismus böten ihm hierzu genügend Anknüpfungsmöglichkeiten), sondern eher weil er sie aus strategischen Gründen vermeidet. Statt dessen stellt er Dichtung in (dann für den englischen Neoklassizismus entscheidende) wahrnehmungspsychologische Zusammenhänge. In Abgrenzung von Sir Philip Sidneys neuplatonischer Rede von "everlasting beauty" oder "inward light"87 basiert Hobbes' Literaturtheorie auf seiner materialistischen Epistemologie, derzufolge "Light is a fancy in the minde, caused by motion in the braine, which motion againe is caused by the motion of the parts of such bodies, as we call lucid."88 Dichtung hat wie Rhetorik eine ideologische Funktion für Hobbes, die darin besteht, die Meinung der Bevölkerung über ihre Lebensbedingungen und ihre Regierung zu beeinflussen. Hobbes expliziert und radikalisiert damit, was in der Literaturtheorie der Renaissance bereits angelegt ist: die Verbindung zwischen poetischer Sprache und menschlichem, auch politischem Handeln. Für Sidney ζ. Β. definiert sich Dichtung nicht aus formalen Kriterien ("it is not rhyming and versing that maketh a poet"), sondern aus ihren Absichten und Wirkungen. Was einen Dichter ausmache, sei "that feigning notable images of virtues, vices, or what else, with that delightful teaching", das zu "virtuous action" anleite.89 Hobbes, dessen Bezugsgröße nicht so sehr Individuen als Populationen sind, wandelt Sidneys Feier der Dichtung als "of all sciences [...] the monarch"90 um in eine pragmatische Ermahnung an den Souverän bezüglich der Gefahren und Nutzanwendungen poetischer Sprache. Das Studium der Dichtung ist für Hob-
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Sidney 1973,77, 91. Hobbes, Α Minute or First Draught of the Optiques (1646), zit. nach Prins 1996, 150 Anm.17. Sidney 1973, 81, 83; Herv. IB. Sidney zufolge ist Dichtung für moralische Unterweisung besser geeignet als eine mit abstrakten Lehrsätzen operierende Philosophie, da sie mit anschaulichen Beispielen und spannenden Handlungsketten arbeitet (84, 91 f.; "holdeth children from play, and old men from the chimney corner", 92). Sidney läßt sich über physiologische Einzelheiten nicht weiter aus, sondern übernimmt sein Konzept aus der klassischen Tradition, insbesondere von Horaz (movere, prodesse et delectare). Sidney 1973, 91. 143
bes die Wissenschaft: von der E i n d ä m m u n g dieser Gefahren und von ihrer Transformation in nützliche Werkzeuge der Politik. Dieses Konzept wird elaboriert in Hobbes' Zusammenarbeit mit Davenant. Obwohl H o b b e s sich in Paris mitten in der Niederschrift des Leviathan befindet, gewährt er Davenant, der ebenfalls seit 1646 im Pariser Exil lebt, eine schriftliche Antwort auf dessen Vorwort zum Gondibert, in d e m Davenant sich ausdrücklich auf Hobbes als spiritus rector seiner epischen Dichtung beruft. Beide Texte werden 1650, ein Jahr bevor das unvollständige Epos und der fertige Leviathan in Druck gehen, zusammen in Paris veröffentlicht. 9 1 Hobbes' "Answer to the Preface" enthält die klarste Darstellung seiner Theorie der 'fancy und seiner Ideen zur Funktion der Dichtung. Z u s a m m e n g e n o m m e n bilden die beiden Texte eine Art Manifest für ein materialistisches Literaturverständnis u m die Mitte des 17. Jahrhunderts, ein Jahr nach der Hinrichtung des Königs und der Ausrufung der Republik. 9 2 H o b b e s wiederholt zu Beginn die auch bei Sidney zu findende gemeinplatzartige Renaissance-Definition der Rolle des Dichters: "by imitating humane life, in delightfull and measur'd lines, to avert men from vice, and encline them to vertuous and honorable actions." 9 3 Sodann entwirft er eine Gattungsmatrix zur Beschreibung der "Nature and differences of Poesy" (45) in der Form eines gleichermaßen konventionellen Systems von Analogien: 9 4 'Regions of the universe'
Caelestiall
Aeriall
Terrestrial
'Regions of mankind'
Court
Citty
Country
'Sorts of Poesy'
Heroique
Scommatique
Pastorall
Diese "sorts o f Poesy" werden des weiteren unterschieden "in the manner of Representation, which sometimes is Narrative [...] and sometimes Dramatique" (45f-). So erhält man sechs verschiedene Gattungen: Heroique
Scommatique
Pastorall
Narrative
Epique Poeme
Satyre
Pastorall or Bucolique
Dramatique
Tragedy
Comedy
Pastorall comedy
Wenn dieses Klassifikationsschema auch keine größere Rolle in der weiteren Argumentation spielt - eine seiner primären Aufgaben mag es sein, die Gattung des Epos (und damit des Gondibert) über allen anderen "sorts" der Dichtung einzu-
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" 54
Die Verbindung zwischen Hobbes und Davenant wird in Literaturgeschichten gelegentlich am Rande erwähnt, aber nur äußerst selten genauer untersucht. Wichtige Ausnahmen sind Dowlin, 1934; Reiss 1982b; Sharpe 1987, 101-8; Young 1986; Jacob/Raylor 1991; Springborg 1997. Überraschenderweise ist es Davenant und nicht Hobbes, der sich ausdrücklich und extensiv mit den politischen und ideologischen Anwendungsmöglichkeiten der Dichtung beschäftigt. S. u. Kap. III.3. Hobbes 1971a, 45. Vgl. Sidney 1973, 81, 83. Vgl. Reik 1977, 139; Nate 2001, 187.
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o r d n e n - , s o w e i s t es d o c h v o r a u s a u f d i e T e n d e n z z u r n o r m a t i v e n K l a s s i f i z i e r u n g u n d Regularisierung in der neoklassischen Poetik, f ü r die H o b b e s ' "Answer to the P r e f a c e " in ihrer S y s t e m a t i k , ihrer K r i t i k d e r ' f a n c y , i h r e m P l ä d o y e r f ü r W a h r s c h e i n l i c h k e i t s k r i t e r i e n , ihrer B e t o n u n g d e s D e k o r u m s ( p e r s p i c u i t y , p r o p e r t y , d e c e n c y ) e i n w i c h t i g e r V o r l ä u f e r ist. 9 5 W i e in s e i n e n a n d e r e n S c h r i f t e n g e w i n n t H o b b e s s e i n e n S t i l b e g r i f f a u s d e r r h e t o r i s c h e n T r a d i t i o n . G u t e r Stil d e f i n i e r t s i c h d u r c h s e i n e A n g e m e s s e n h e i t a n eine gegebene K o m m u n i k a t i o n s s i t u a t i o n , ermittelt d u r c h konventionelle u n d r a t i o n a l e P r i n z i p i e n . H o b b e s ' D e f i n i t i o n v o n 'wit' 9 6 b e z e i c h n e t d i e F ä h i g k e i t z u e r k e n n e n , w a s in u n t e r s c h i e d l i c h e n S i t u a t i o n e n a n g e m e s s e n ist, u n d d a n a c h zu handeln. D i e s e Fähigkeit h ä n g e v o n der Urteilskraft ( j u d g m e n t ) ab (auch als ' d i s c r e t i o n ' b e z e i c h n e t : d i e r a t i o n a l e F ä h i g k e i t , U n t e r s c h i e d e u n d Ä h n l i c h keiten festzustellen) u n d nicht v o n der assoziativen Vorstellungskraft (fancy).97 D i e U r t e i l s k r a f t ü b e K o n t r o l l e ü b e r d i e f a n c y a u s . I n d e r D i c h t u n g ist sie f ü r "strength a n d structure" zuständig, fancy dagegen für "ornaments".98
Wieder
n i m m t H o b b e s etwas vorweg, das zu einem G e m e i n p l a t z der neoklassischen T h e o r i e b i l d u n g in E n g l a n d w e r d e n w i r d : d i e N o t w e n d i g k e i t e i n e r r a t i o n a l e n
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Leviathan 1.8 enthält eine ähnliche schematische Übersicht von Textsorten. Kontinentaleuropäische, insbesondere französische und italienische Einflüsse auf Hobbes' Literaturtheorie sind nicht unwahrscheinlich, lassen sich aber nicht beweisen. Siehe Reik 1977, 151, 220 Anm. 45 zu Minturno; Simon 1971, 15; Nate 2001, 183-90. Vgl. Leviathan 1.8. Die Unterscheidung zwischen judgment und fancy in der "Answer" unterscheidet sich ein wenig von der im Leviathan: Judgment, die "severer Sister" der Erinnerung, "busieth her seife in grave and rigide examination of all the parts of Nature, and in registring by Letters, their order, causes, uses, differences and resemblances". Fancy dagegen sei eine "swift motion over" die vom judgment zum Gebrauch vorbereiteten "materials at hand", also eine mit hoher Geschwindigkeit ablaufende mentale Verarbeitung von "copious Imagery" (49). Vgl. Bredekamp 1999, 68-71. Im Leviathan wendet Hobbes diese Begriffe außerhalb eines literarischen Zusammenhangs an und verleiht ihnen eine erweiterte psychologische und moralische Bedeutung. Dort identifiziert er fancy (oder "imagination") mit der Verarbeitung von Ähnlichkeiten und judgment mit der Verarbeitung von Unterschieden, reiht sie in eine hierarchische Wertordnung ein und fugt einen dritten Begriff hinzu: wit. "Fancy, without the help of Judgement, is not commended as a Vertue: but the later which is Judgement, and Discretion, is commended for it selfe, without the help of Fancy. [...] So that where Wit is wanting, it is not Fancy that is wanting, but Discretion. Judgement therefore without Fancy is Wit, but Fancy without Judgement not" (Hobbes 1996, 1.8, 5If.). "Discretion" ließe sich mit 'Takt' übersetzen: korrektes Verhalten in einer sozialen Kommunikationssituation; dazu Hobbes' Beispiel: "An Anatomist, or a Physitian may speak, or write his judgement of unclean things; because it is not to please, but profit: but for another man to write his extravagant, and pleasant fancies of the same, is as if a man, from being tumbled into the dirt, should come and present himselfe before good company" (ebd. 52). In Lockes Essay Concerning Human Understanding wird die Trias wit-judgment-fancy durch eine binäre Opposition zwischen judgment und wit ersetzt, letzterer Begriff zum Status der Hobbesschen fancy degradiert. Literaturtheoretische Erwägungen spielen in Lockes Theorie keine Rolle mehr, aber seine Unterscheidung zwischen judgment und wit taucht in Popes Essay on Criticism wieder auf. Siehe hierzu Nate 2001, 19If.; Sitter 1991, 49-70. Hobbes 1971a, 49. 145
Beschränkung der als "wild and lawless" aufgefaßten Imagination." Im Zusammenhang des Hobbesschen Denkens läßt sich diese Konkurrenz zwischen Phantasie und Urteilskraft noch als ein Reflex seiner philosophischen Arbeiten zur Beziehung zwischen Bildern und Wahrheit sowie zwischen Rhetorik und Wissenschaft erklären - letztendlich aus seinen Bemühungen um eine korrekte Handhabung sprachlicher Potentiale und sprachlichen Handelns. Die "copious Imagery discreetly ordered, and perfectly registred in the memory", aus der Hobbes zufolge die "materials" der fancy bestehen, muß nicht ausschließlich bildlich konzipiert sein, obwohl sie quasi-optisch operiert. Hobbes' Gebrauch des Wortes 'image' schließt rhetorische Einfärbungen, Sprachbilder und Redensarten ein. "Hobbes's thesis is [...] that the use of ornatus represents the natural way of expressing the imagery of the mind, a commitment that makes him one of the earliest writers in English to employ the general term 'imagery' to refer to the figures and tropes of speech".100 'Fancy' ist ebenso verbale wie visuelle Kreativität, und ihre Hervorbringungen sind potentiell trügerisch, sofern sie nicht durch rationale Prinzipien der Selektion, Kontrastierung und Anordnung (judgment) - die methodischen Grundlagen der Wissenschaft - ergänzt und gesteuert werden. In dieser Hinsicht, aufgrund seines Beharrens auf einer sauberen Trennung zwischen 'fancy' und 'judgment', wirkt Hobbes 1640 ,neoklassischer' als 1651. Im Leviathan ereignet sich eine .rhetorische Wende', die zum Teil in der "Answer" vorbereitet wird: Hier geht es weniger um eine deutliche Unterscheidung als um eine Allianz zwischen den zwei entgegengesetzten Vermögen oder Formen von 'wit'. Wissenschaftliches Schreiben (science) kann sich dann ganz legitim rhetorischer Ausschmückungstechniken (adornment) bedienen und Sprachbilder ("similes, metaphors, and other tropes"101) gezielt einsetzen, um andere von der Wahrheit dessen zu überzeugen, was die Urteilskraft erkannt hat, und um dadurch "very marvellous effects to the benefit of mankind" 102 zu
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John Dryden, Widmungsbrief zu The Rival Ladies (1664): "Imagination in a Poet is a faculty so Wild and Lawless, that, like an High-ranging Spaniel it must have cloggs tied to it, least it out-run the Judgment" {Works 8: 95—102, 101); Widmungsbrief zu Annus Miräbilis (1666): "the faculty of imagination in the writer [...], like a nimble Spaniel, beats over and ranges through the field of Memory, till it springs the Quarry it hunted after" (Works 1: 49—56, 53). Selbst der Spaniel scheint von Hobbes zu stammen, der in den Elements of Law die schnelle Suchbewegung ("quick ranging") des Denkens mit dem "ranging of spaniels" vergleicht, die eine Fährte aufzunehmen suchen (Hobbes 1994a, 1.4.3, 31). Vgl. Watson 1962, 1: 8 Anm. 2. Drydens Beschreibung der Arbeitsweise von judgment und fancy ist eine exakte Wiedergabe von Hobbes' empiristischer Theorie: "When the Fancy was yet in its first Work, moving the Sleeping Images of things towards the Light, there to be Distinguish'd, and then either chosen or rejected by the Judgment [...]" (ebd. 95)· Zu den Spuren Hobbes' bei Dryden siehe Dryden, Works 12: 328f. Anm. 56; Winn 1987, 133f., 216fF. Skinner 1996, 365. Diese Beobachtung qualifiziert Bredekamps Deutung der Hobbesschen fancy als visueller „Bildspeicher"; vgl. Bredekamp 1999, 68—72. Diese Deutung steht auch nicht im Einklang mit Hobbes' Beschreibung der Vorstellungskraft als "decaying sense" (1996, 1.2, 15). Hobbes 1994a, 1.10.4, 61. Hobbes 1971a, 49.
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erzielen. "For wheresoever there is place for adorning and preferring of Errour, there is much more place for adorning and preferring of Truth, if they have it to adorn." 103 In der "Answer" wird das Argument für eine notwendige Allianz zwischen Urteilskraft und Phantasie auf literarische Werke ("Poesy", "fiction" 46, 51) übertragen. Dies führt zu einem normativen Verständnis von literarischem Schaffen und Literaturtheorie, parallel zu den normativen Bestimmungen der Hobbesschen Morallehre. Sowohl in der Politik als auch in der Literaturtheorie geht es Hobbes um die Grenzen der Freiheit; dies zeigt sich schon in seiner Aussage, Wahrscheinlichkeit ("the Resemblance of truth") sei "the utmost limit of Poeticall Liberty",m Aus diesem normativen Verständnis folgt die Aufstellung von Wahrscheinlichkeits- und Dekorumskriterien, d.h. die Setzung von Diskurs- und Gattungsgrenzen;105 außerdem die Betonung einer innerweltlichen, empirischen und rationalen Fundierung von Sujet106 und Poetologie.107 Hobbes' Literaturtheorie basiert auf einer wörtlichen und pragmatischen (handlungsorientierten) Auslegung der Renaissancepoetik und der frühneuzeitlichen Praktiken und Konventionen der Lektüre und Interpretation. Wie auch in seinen politischen Schriften108 findet dabei ein Ebenenwechsel statt vom einzelnen Leser zu einer größeren Gruppe von Lesern, einer Vielzahl oder einer ganzen Bevölkerung. Imaginative Literatur wird unter dem Aspekt ihrer gesellschaftlichen Funktionen und ihrer politischen Nutzbarkeit betrachtet. In der Renaissance ist es weithin üblich, dem Ratschlag Plutarchs bezüglich der ,wahren Lektüre' zu folgen: "to search for Philosophie in the writings of Poets: or rather therein to practise Philosophie, by using to seek profit in pleasure, and to love the same",109 d.h. "the moral philosophy that good authors mixed with their fictions"110 zu extrahieren oder von außerhalb zu importieren und aus literarischen Beispielen anwendbare Lehrsätze abzuleiten. Der einzelne Leser genießt dabei eine vergleichsweise
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Hobbes 1996, 484. Vgl. Skinner 1996, 364ff. Hobbes 1971a, 51, Herv. IB. Dabei handelt es sich um normative Unterscheidungen zwischen Dichtung und Geschichtsschreibung oder Philosophie (46) und um normative Unterscheidungen zwischen den verschiedenen literarischen sorts', s.o. die tabellarische Übersicht. "the subject of a Poeme is the manners of men, not naturall causes" (46). In enger Anlehnung an seine politischen Argumente gegen die Schwärmerei (enthusiasm) verspottet Hobbes jene Verseschmiede, die "would be thought to speake by a divine spirit" (48) oder die von sich behaupten - und hier bedient er sich einer fur ihn ganz charakteristischen satirischen Technik, die auch im Leviathan häufig vorkommt: er entlarvt eine Metapher, indem er sie ganz wörtlich liest — "to speake by inspiration, like a Bagpipe" (49). Mit der gleichen Assoziation an die Schwärmerei bezeichnet Davenant .Inspiration' als "a dangerous word" (1971b, 22). Vgl. Tuck 1996, 193. Plutarch, "How a yoong man ought to heare poets, and how he may take profit by reading poemes", Plutarch's Philosophie, commonlie called, the Morals, übers. Philemon Holland (1603), 19f.; zit. nach Wallace 1974-75, 278. Wallace 1974-75, 278.
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hohe Flexibilität ("wide latitude of response" 111 ), aber es wird gemeinhin angenommen, daß man literarische oder historische Texte zum Zwecke einer zumeist moralischen Anwendbarkeit lesen solle und daß etwa jedes Gedicht einen argumentativen Kern enthalte: eine moralische oder philosophische Wahrheit, die sich auch in nicht-poetischen Sentenzen ausdrücken lasse. 112 In der "Answer" kehrt Hobbes den Spieß um, indem er ein wirkungsästhetisches Programm in eine produktionsästhetische Norm umwandelt. Er fragt nicht danach, wie der Leser aus einem Text eine Aussage destillieren soll, sondern wie der Autor einen Text konstruieren muß, damit dieser eine bestimmte Botschaft übermitteln und auf seine Leser die beabsichtigte Wirkung haben wird. 113 Es ist der Vorschlag einer wirkungstheoretischen Lösung des Kontingenzproblems der frühneuzeitlichen Textkommunikation. Die beabsichtigte Wirkung wird laut Hobbes erzielt durch eine Methode, die dem optischen Prinzip des Perspektivglases ähnelt: I beleeve (Sir) you have seene a curious kind o f perspective, where, he that lookes through a short hollow pipe, u p o n a picture conteyning diverse figures, sees none o f those that are there paynted, but s o m e one person m a d e up o f their partes, conveighed to the eye by the artificiall cutting of a glasse. I find in my imagination an effect not unlike it from your Poeme. T h e vertues you distribute there amongst so many noble Persons, represent (in the reading) the image but of one mans vertue to m y fancy, which is your owne; and that so deeply imprinted, as to stay for ever there, and governe all the rest o f my thoughts, and affections [...]. 114
Beim Lesen schreibt, ja druckt sich ein Bild der 'vertue' in die 'fancy' des Lesers ein ("deeply imprinted"). Dieses Bild enthält der Text nicht an der Oberfläche; es wird dem Leser vielmehr durch einen optischen Trick mitgeteilt: Fragmente eines Bildes werden zu einem unerwarteten neuen Bild zusammengefügt. 115 Das so erscheinende Bild zeigt "some one person made up of their partes". Dieser
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Wallace 1974-75, 275. Daß diese Ansicht in der Tat Allgemeingut gewesen ist, wird durch Forschungen zu einzelnen Akten des Lesens und zu Gewohnheiten der Annotation belegt. Siehe Graftons und Jardines Entwurf eines Transaktionsmodells der Lektüre, die sie als performative Tätigkeit "intended to give rise to something else' auffassen (1986, 30, vgl. 32) und als auf eine "application to specified goals" (33) hin orientierten Vorgang. Solche Lesegewohnheiten richten sich nicht auf den Sinnvollzug einzelner Werke, sondern beinhalten die Simultanlektüre von mehreren für eine bestimmte Gelegenheit ausgewählten Texten bzw. Textauszügen, zuweilen unter Zuhilfenahme maschineller Vorrichtungen wie dem Bücherrad (45—48, siehe Illustration S. 47). Diese Fragestellung mag Auswirkungen gehabt haben auf Hobbes' eigenes Schreiben, was zur Erklärung seiner rhetorischen Wende' im Leviathan beitragen könnte. Hobbes' dankbare Anerkennung des Einflusses Davenants auf seine Arbeit ("I have used your Judgment no lesse in many thinges of mine, which comming to light will thereby appeare the better", 54; Herv. IB) könnte fundiert sein in Davenants Beitrag zu diesem Meinungswechsel bezüglich literarischer Strategien. Vgl. Skinner 1996, 366. Hobbes 1971a, 55. Zur "curious perspective" siehe Gilman 1978. Dem Epos, so könnte man weiter folgern, gelingt durch diese Technik eine Verbindung von narrativer Zeitlichkeit und überzeitlicher Aussage, von Partikularität und Totalität.
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Bildaufbau entspricht genau dem Verfahren, nach dem sich bei Hobbes politische Souveränität konstituiert und das der Künstler des Leviathan-Tixdb'AAs als Kompositbild darstellt: "This is more than Consent, or Concord; it is a reall Unitie of them all, in one and the same Person [...], the Multitude so united in one Person, is called a COMMON-WEALTH, in latine CIVITAS. This is the Generation of that great LEVIATHAN, or rather [...] of that Mortall God, to which wee owe under the Immortal God, our peace and defence."116 Dieser ,Eindruck' (imprint) soll für immer in den Vorstellungen des Lesers verbleiben und dessen Gedanken beherrschen ("to stay for ever there, and governe all the rest of [his] thoughts"). Das Gedicht hat sein beabsichtigtes Ziel erreicht, wenn es seine Funktion der moralischen Unterweisung erfüllt hat: durch ein permanentes Imprinting des zusammengefügten Herrscherbildes. Hobbes lobt Davenants Heldendichtung, weil sie dieses Idealziel erreiche, aber auch weil der Gehalt ihrer Lehre seiner eigenen politischen Philosophie entspreche: "when I considered that also the actions of men, which singly are inconsiderable, after many conjunctures, grow at last either into one great protecting power, or into two destroying factions, I could not but approve the structure of your Poeme, which ought to be no other then such an imitation of humane life requireth".117 Für eine solche "imitation of humane life" ist die Hilfe metaphysischer Begriffe nicht mehr vonnöten; sie können jedoch noch zur metaphorischen Illustration einer rationalen Theorie nützlich sein. Dies geschieht ζ. B., wenn Hobbes die "wonderfull celerity" der Vorstellungskraft in einer der Hermetik entlehnten Sprache beschreibt. Die Vorstellungskraft könne "fly from one Indies to the other, and from Heaven to Earth [...], into the future, and into her selfe, and all this in a point of time" (49).118 Metaphysische Metaphorik wird auch gebraucht, wenn er den Einfluß des Souveräns mit dem Einfluß der Sterne auf menschliches Verhalten vergleicht: "For there is in Princes, and men of conspicuous power (anciently called Heroes) a lustre and influence upon the rest of men, resembling that of the Heavens" (45). 119 Hobbes liest Davenants Gedicht als eine Maschine, die mit diesem ,Einfluß' operiert. Ihr "motive" sei es, "to adorne vertue, and procure her Lovers" (48), d.h. das Gedicht will Leser von der "vertue" des Souveräns überzeugen und den einzelnen, die das Gemeinwesen ausmachen, beibringen, daß sie "vertue" lieben müssen. Hat sich dieses Bild der "vertue" bei ihnen festgesetzt, werden sie freiwillig und gehorsam dem Souverän sich unterordnen und das Kompositbild eines Leviathans formen, um
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Hobbes 1996, 2.17, 120. Hobbes 1971a, 50. Weitere Zitate in Klammern. Schuhmann 1985 hat nachgewiesen, daß Hobbes' Beschreibung der fancy aus der hermetischen Tradition stammt, vor allem aus dem Lob der Vorstellungskraft im Poimandres. Vgl. Bredekamp 1999, 68-71. Beide Vergleiche kommen in Davenants Vorwort vor: " Witte is [...] dexterity of thought; rounding the world, like the Sun, with unimaginable motion; and bringing swiftly home to the memory universall survays" (1971b, 18); zum astrologischen Einfluß vgl. 13, 38. 149
Frieden und Sicherheit zu erlangen. In der "Answer" wendet Hobbes die Prinzipien seiner Theorie auf diesen kurzen Text selbst an: das Bild, das der Leser sehen soll, muß aus verstreuten Fragmenten und "diverse figures" des Textes zusammengesetzt werden. Aus einer solchen "curious kind of perspective" (55) wird es dem Leser ermöglicht, ein ganz anderes Bild zu visualisieren; nur ein Jahr später wird dieses Verfahren im Leviathan-TiteWAlA graphisch umgesetzt. In der erst dichterischen und dann visuellen Hervorbringung dieses Kompositbildes wird der Konflikt zwischen visueller und literarischer Rhetorik endgültig aufgelöst. Ein größerer Gegensatz als der zwischen Milton einerseits und Hobbes und Davenant andererseits scheint kaum vorstellbar. Und doch verwenden sie mitunter ähnliche Metaphern und Sprachbilder; trotz extremer Unterschiede in Herkunft, Religion und politischer Überzeugung haben sie das gleiche rhetorische Training durchlaufen, sind mit dem Erbe des Renaissancehumanismus und des klassischen politischen Denkens aufgewachsen; zudem arbeiten sie alle sich an einem gemeinsamen Problem ab — vielleicht dem politischen Grundproblem des 17- Jahrhunderts: Wie läßt sich das schwierige Verhältnis zwischen 'state' und 'people', zwischen den Interessen der Macht und denen der Freiheit, lösen oder zumindest entschärfen? Obwohl ihre Lösungsvorschläge äußerst unterschiedlich ausfallen, sind ihre Mittel zur Lösungsfindung doch die gleichen, aus derselben Bildungstradition und derselben Kultur gewonnen. Davenants großes Epos erweist sich zwar als noch größerer Rohrkrepierer; aber auch Hobbes' Leviathan ist kein besseres Schicksal bestimmt: Er findet keine Zustimmung bei Hofe und wird nach der Restauration verboten. Miltons Epos schließlich wird schon gleichsam im politischen Untergrund geschrieben in der vagen Hoffnung auf eine "fit audience [...], though few".120 Und doch tauchen einige Ideen Hobbes', sogar einzelne sprachliche Wendungen, in der liberalistischen politischen Theorie Lockes in den 1680er Jahren wieder auf, und Davenant genießt zumindest ein Nachleben in der neoklassischen englischen Poetik, als deren Erfinder er gelten darf. Die Literaturgeschichte, so D. Gladish, hat zwar Milton gefeiert, aber sie ist Davenant gefolgt,121 dessen rationalistischer und realistischer .Modernismus' (sit venia verbo) das Ende der Renaissancepoetik und den Beginn von etwas Neuem markiert. Wenn Hobbes' Behauptung zutrifft, daß Davenant einige Ideen zum Leviathan beigesteuert habe,122 lassen sich hierzu einige Indizien in Davenants Vorwort zu Gondibert finden. Bei ihnen geht es um Hobbes' Spezialität: optische Metaphern und Perspektiven. In Davenants Text beobachten die Heerführer die Politiker "with the Eye of Envy (which iniarges objects like a multiplying-
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Paradise Lost 7.Μ.
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Gladish 1971, xxiii. "I have used your Judgment no lesse in m a n y thinges of mine, which c o m m i n g to light will thereby appeare the better", heißt es in der "Answer" (Hobbes 1971a, 54).
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glasse [...] and think them immense as Whales".m In Leviathan 2.18 wird dieses Bild zu einer Definition des Egoismus verallgemeinert: "For all men are by nature provided of notable multiplying glasses, (that is their Passions and Selfe-love,) through which, every little payment appeareth a great grievance."124 Davenant gebraucht an anderer Stelle das Bild eines umgedrehten Teleskops: "who think the best objects of theire owne country so little to the size of those abroad, as if they were shew'd them by the wrong end of a Prospective" (11). Ein weiteres optisches Sprachbild ist der Spiegel der Mimesis: "in a perfect glasse of Nature [the Heroick Poem] gives us a familiar and easy view of our selves" (3). Auch Hobbes sieht Dichter als Maler der Wahrheit: "Poets are Paynters: I would faine see another Painter draw so true perfect and natural a Love to the Life, and make use of nothing but pure lines".125 Doch Hobbes fügt eine charakteristische Qualifikation ein, die ihn von Davenants Selbstgefälligkeit und Konventionalität abhebt: "For in him that professes the imitation of Nature, (as all Poets do) what greater fault can there be, then to bewray an ignorance of nature in his Poeme."126 Hobbes scheint weniger an Davenants "perfect glasse" interessiert als an ,kunstvoll geschliffenen' Gläsern (vgl. 55), die nicht einfach ein Bild wiedergeben, sondern ein neues, anderes Bild technisch herstellen. Hobbes antwortet auf Davenants Optik der Reflexion mit einer Optik der Analyse und Rekombination. Um zu sehen, wie eine dichterische Umsetzung von Hobbes' optischer, lektürephysiologischer und politischer Theorie aussehen könnte, die zur Einheit von Bild und Text, von literarischer und politischer Sinnbildung vorstoßen möchte, müssen wir uns nun Davenants poetischer ,Parallelaktion' zum Leviathan, dem Preface to Gondibert zuwenden.
3. Strategische Visualität, poetische Repräsentation und soziale Mimesis in Davenants Preface to Gondibert (1650) Anders als Hobbes in der "Answer" äußert sich Davenant sehr direkt. Er empfiehlt seinen Gondibert ganz offen als ideologisches Werkzeug, um dem Volk Gehorsam gegenüber dem Souverän beizubringen, und bietet sein Gedicht
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Davenant 1971b, 35. Der Wal taucht bereits in einem früheren Abschnitt von Davenants Text auf, wo es heißt "the Mindes of Men are more monstrous [...] then the Bodies ofWhales" (31). Man sollte nicht vergessen, daß Leviathan der Name eines biblischen Meeresungeheuers ist, das oft mit einem Wal gleichgesetzt wird (vgl. Hiob 40f.). Hobbes' Theorie nutzt diese Ungeheuerlichkeit des Leviathans als Antriebsenergie (Angst) zu ihrer Beseitigung durch Übersetzung auf die höhere Ebene des .Staatskörpers', der nur auf Feinde von außen ungeheuerlich wirkt und nicht auf seine Bewohner, die er beschützt. Hobbes 1996, 2.18, 129. Hobbes 1971a, 50. Hobbes 1971a, 51f., Herv. IB
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d e m M o n a r c h e n als eine Form der politischen Beratung in der Art eines 'courtesy book' an. 127 Seine politische Botschaft ist eine Rechtfertigung absoluter Souveränität, legitimiert nicht durch göttliches Dekret, sondern durch die Existenz innerweltlicher Probleme. 1 2 8 W i e Hobbes schließt er folgerichtig das Ubernatürliche aus seinem Konzept der epischen D i c h t u n g aus (6). Davenants Vorwort u n d auch sein Epos selbst lesen sich wie ein Repertoire aristokratischer politischer u n d literarischer Klischees, aber wie Hobbes' "Answer" sind sie auch D o k u m e n t e der literarischen Kultur des Neoklassizismus u n d n e h m e n Entwicklungen der Restaurationszeit vorweg. Das Vorwort faßt ethische, ästhetische u n d politische Diskussionen der Zeit u m 1650 zusammen, nicht in der Art einer theoretischen Analyse, sondern aus einer bestimmten Perspektive u n d mit einer deutlichen politischen, handlungsorientierten Intention, programmatisch adressiert an ein royalistisches u n d höfisches Publikum. Sein unmittelbarer Kontext ist der englische Bürgerkrieg u n d die Abschaffung der Monarchie in England. Die H i n r i c h t u n g Charles' I. liegt k a u m ein Jahr zurück; dessen Sohn Charles II. ist aus England geflohen u n d lebt n u n als Zwanzigjähriger o h n e politische M a c h t im Pariser Exil. Auch das absolutistische Frankreich wird zu dieser Zeit von gewaltsamen U n r u h e n erschüttert: der Fronde-Aufstand zwingt die französische Königsfamilie 1649, sich zeitweise nach Saint Germain zurückzuziehen. 129 Davenants vorrangige Zielgruppe sind die Anhänger des thronlosen Königs in Paris, letztlich auch Charles II. selbst. Nicht o h n e G r u n d gebraucht Davenant daher zahlreiche martialische Metaphern u n d Vergleiche aus der Kriegskunst; er war selbst unmittelbar an K a m p f h a n d l u n g e n im Bürgerkrieg beteiligt. Im Stil eines Briefes wendet sich der Text in der zweiten Person an H o b bes ("Sir"), den er als philosophische Autorität, als Repräsentanten der ,neuen Wissenschaft' u n d als einen "Guide" durch das Schlachtfeld des Wissens anspricht: For such is the vast field of Learning, where the Learned (though not numerous enough to be an Army) lye as small Partys, malitiously in Ambush, to destroy all new Men that looke into their Quarters. And from such, you, and those you lead, are secure; because you move not by common Mapps, but have painfully made your
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Siehe den Kommentar von D. Gladish in Davenant 1971a, 290: "Davenant wanted the new king to assert himself." - Auch hieraus wird ersichtlich, daß Davenant Gondibert und Leviathan als funktional äquivalente Texte ansieht; auch Leviathan wird ja nach Fertigstellung dem König als Prachtband überreicht. Davenant 1971b, 30, 36. Weitere Zitate in Klammern. Zu Davenant als Machiavellist siehe Gladish 1971, xix: "His rather Machiavellian attitude is that, since the worst people are the most ambitious, order must be maintained by violent means. Practically every passage [in Gondibert\ about man's bloodthirstiness can be matched with a passage about the necessity of slaughter in a good cause." Siehe Knachel 1967.
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owne Prospect; and travaile now like the Sun, not to informe your selfe, but enlighten the World. (24)130
Davenant geht es wie Hobbes um die gleiche Frage, die Burton und Browne zur Entwicklung komplexer literarischer Strategien bewog: Wie ist mit der prekären Beziehung zwischen Autoren und Lesern in der Kultur des Buchdrucks umzugehen, in der Kommunikationsabsichten (seitens des Lesers) schwer herauszufinden und (seitens des Autors) ebenso schwer zu erreichen sind? Davenants Antwort auf diese Frage fällt jedoch radikal einfacher aus als alles Bisherige. Für ihn sind Kritiker und Leser allesamt "Enemyes" (17) der Schriftsteller; ein Autor müsse sie auf militärische Art und Weise überrumpeln und bezwingen. Er beklagt diese Ausgangssituation nicht, sondern erklärt sie - ähnlich wie Burton — aus den "imperfect Stomacks" übersättigter Leser, die "either devoure Bookes with over hasty Digestion, or grow to loath them from a Surfet" (25). Die Ursache dafür, daß Leser sich den Magen verderben, sieht er in literarischer Uberproduktion, welche zu einer Abnahme des Leseinteresses und Vertrauens führe: "so shy men grow of Bookes" (24). Dies erkläre, weshalb "commonly Readers are justly Enemyes to Writers" (17). Der Autor müsse daher besonders erfindungsreich werden, müsse "court, draw in, and keep [the reader] with artifice" (24), müsse "have [...] successe over the Reader (whom the Writer should surprize, and as it were keep prisoner for a time) as he hath on his Enemy's" (17). Ästhetische Strategien erweisen sich so als Stratageme. Für Davenant wie fair Milton und Hobbes sind die Kunstgriffe der Rhetorik Waffen, mit denen sich ein Publikum ,bezwingen' lasse, mit denen man Feinde in Verbündete, "incredulity" (11) in Vertrauen verwandeln könne. Die didaktische Funktion der Heldendichtung ist hier noch voll intakt; es geht Davenant wie Sidney und auch Milton um "the Conquests of Vertue" (39).131 Er
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Weitere militärische Wendungen: "this short File of Heroick Poets" (6); "like a grave Scowte in ambush for his Enemy" (18); "It being no more shame to get Learning [...] then for a forward Scoute, discovering the Enemy, to save his owne life at a Passe, where he then teaches his Party to escape" (23); "wee must joyne forces to oppose them" (25): "Conscience [...] is after melancholy visions like a fearfull Scout, after he hath ill survayd the Enemy, who then makes incongruous, long, and terrible Tales" (26); "the Gentry [...] lack sufficient defense against [the People], and are hourely surpris'd in (their common Ambushes) their Shops" (29); "the People no more esteeme able men, whose defects they know [...] then an Enemy values a Strong Army having experience of their Errors" (33); "the Conquests of Vertue be never easy, but where her forces are commanded by Poets" (39). Es ist wahrscheinlich unbeabsichtigt, aber durchaus ein Effekt der kulturellen Kontextur, daß Davenants didaktisch-politische Dichtungskonzeption mit Miltons konvergiert. In The Reason of Church Government (1642) schreibt Milton der Dichtung eine reformatorische Kraft zu, "beside the office of a pulpit, to imbteed and cherish in a great people the seeds of vertu, and publick civility, to allay the perturbations of the mind, and set the affections in right tune [...]. Teaching over the whole book of sanctity and vertu through all the instances of example with such delight to those especially of soft and delicious temper who will not so much as look upon Truth herselfe, unlesse they see her elegantly drest, that whereas the paths of honesty and good life appear now rugged and difficult, though they be indeed easy and pleasant, they would then appeare to all men both easy and pleasant though they were rugged and difficult indeed" (Complete Prose 1: 816ff). Vgl. Silver 2001,339f.
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entwickelt sogar ein frühes funktionalistisches Verständnis literarischer Illusion - dessen, was später bei Coleridge "willing suspension of disbelief" 132 heißen wird: For wee m a y descend to c o m p a r e the d e c e p t i o n s in Poesy to those o f t h e m that professe dexterity o f H a n d , w h i c h resembles C o n j u r i n g , a n d to such w e e c o m e n o t with the intention o f Lawyers to e x a m i n e the evidence o f facts, b u t are c o n t e n t (if wee like the carriage o f their feign'd m o t i o n ) to pay for b e i n g well deceiv'd. ( I I ) 1 3 3
"I shall think to governe the Reader (who though he be noble, may perhaps judge of supreme power like a very Commoner, and rather approve authority, when it is in many, then in one)" (24). Poetische Kommunikation wird hier (analog zu Hobbes, wenn auch vereinfacht) pragmatisch, zielorientiert und strategisch verstanden; eine offene Problematisierung der Kontingenzen zwischen Autoren und ihrer Leserschaft wird dadurch vermieden. Das Kontingenzproblem soll vielmehr durch kommunikative Strategien, nämlich den wirkungsvollen Gebrauch literarischer Techniken wie Spannung und Illusion ('deception') überwunden werden. Hier wird zwischen Bildern, Texten und Theaterauffuhrungen nicht mehr unterschieden. Der Einfluß dieser Konzeption in der neoklassischen Literaturtheorie ist unübersehbar, ζ. B. bei Dryden, der Davenants machiavellistisches Verständnis des Autors als absolutem Souverän und des Publikums als seinen Untertanen, die es zu überzeugen und zu bezwingen gelte, nahezu wörtlich wiederholt, etwa in dem Essay " O f Heroique Playes" (1672), in dem er für den Gebrauch realistischer Theatereffekte plädiert: these warlike I n s t r u m e n t s , a n d , even the representations o f fighting o n the Stage, are no m o r e than necessary to p r o d u c e the effects o f an H e r o i c k Play; that is, to raise the i m a g i n a t i o n o f the A u d i e n c e , a n d to perswade t h e m , for the time, that what they behold o n the T h e a t e r is really perform'd. T h e Poet is, then, to e n d e a v o u r an absolute d o m i n i o n over the m i n d s o f the Spectators: for, t h o u g h o u r f a n c y will contribute to its o w n deceipt, yet a Writer o u g h t to help its operation. 1 3 4
Davenant unterscheidet nicht zwischen Bildern und Texten, sondern zwischen performativen und imitativen Darstellungen. Imitativ etwa sei die Geschichts-
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"that willing suspension of disbelief for the moment, which constitutes poetic faith": Coleridge 1965, 169. Über ein halbes Jahrhundert später findet dieser Ausdruck ein satirisches Echo in Swifts Tale of a Tub (1704): "Happiness [...] is a perpetuall Possession of being well Deceived" (Swift 1958, 171). Er taucht zuvor auch in Aphra Behns Love-Letters Between a Nobleman and His Sister auf; siehe hierzu unten Kap. V.2. Dryden, " O f Heroique Playes. An Essay" (Vorwort zu The Conquest of Granada, Part Γ), Works 11: 8 - 1 8 , 13f. Im selben Essay bezeichnet Dryden Davenant als den Erfinder des 'heroic play'. Siehe Clarke 1932, 438; Kamm 1996, 37. Auch andere Elemente der Literaturtheorie Drydens erinnern an Davenant, ζ. B. die poetische Idealisierung der Natur ("Nature wrought up to an higher pitch", Essay of Dramatick Poesie, Works 17: 74; "a Poem is a Picture to be seen at a distance, and therefore ought to be bigger then the life", "Notes and Observations", Works 17: 182).
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Schreibung, denn deren Aufgabe sei es, "to record the truth of [past] actions" (5). Sie befasse sich mit "Truth narrative, and past", Dichtung dagegen mit "truth operative, and by effects continually alive" (11). Literatur vermittle eine "truth in the passions" (5); gleichwohl tue sie dies "in reason" (11). Davenants Poetik ist gegründet auf Wahrscheinlichkeit, 135 auf "explicable vertue, [...] plaine demonstrative justice" (9). Dichtung wird vom Nützlichkeitsaspekt her beurteilt - "how usefull it is to Men" (28) - und nicht vorrangig aus formalen, ästhetischen Qualitäten: "Poets are of all Moralists the most usefull" (41). Dichtung "charm's the People, with harmonious precepts" (30). Sie präsentiere in Verse gefaßte Moralia in einer hochstilisierten rhetorischen Sprache; ihr Endzweck sei die Erzeugung einer "willing and peaceful obedience" gegenüber dem Souverän und "Superiors" im allgemeinen (30). Aber Davenants Poetik hat auch eine soziologische Dimension, die das Zielpublikum seiner Dichtkunst begrenzt. Vom Adelstitel der ,Feinde' eines Autors werden die unteren Schichten der Gesellschaft ausgeschlossen. Dichtung sei nicht für alle bestimmt. So erspart sich Davenant komplizierte rhetorische Manöver zur Umgehung des Problems gesellschaftlicher Einheit; er weicht der Frage aus, die schon bei Milton und Hobbes hochproblematisch geworden war: wie es möglich sei, dem gemeinen Volk mit rationalen und sprachlichen Mitteln Gehorsam beizubringen. Davenant gibt sich diesbezüglich keinerlei Illusionen hin. "The People" sind für ihn der Pöbel: "the Rabble", "the meanest o f the multitude" (15), "this wilde Monster" (30). Der positive Einfluß der Dichtung reiche nicht so weit die soziale Stufenleiter hinab. Für Davenant steht das Volk auf der gleichen Stufe wie wilde Tiere: "They looke upon the outward glory or blaze of Courts, as Wilde beasts in darke nights stare on their Hunters Torches" (12). "The common Crowd (of whom we are hopelesse) we desert; 136 being rather to be corrected by lawes (where precept is accompany'd with punishment) then to be taught by Poesy; for few have arriv'd at the skill of Orpheus [...] whom wee may suppose to have met with extraordinary Grecian Beasts, when so successfully he reclaim'd them with his Harpe" (13). Der in diesen Vergleichen lesbare Antagonismus verrät eine tiefe Unsicherheit bezüglich der Stabilität der Bindung zwischen Regierenden und Regierten. Diese ist vielleicht nur zu verständlich, wenn man in Rechnung stellt, daß in England soeben eine Demokratie etabliert wurde: die "Wilde beasts" könnten ihre Jäger jederzeit angreifen, und keines Orpheus Gesang wäre in der Lage, sie zu besänftigen. Davenants Argumentation scheint hier im übrigen stärker von Machiavelli als
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"Story, where ever it seemes most likely, growes most pleasant" (3); "leaving such satisfaction o f probabilities with the Spectator, as may persuade h i m that neither Fortune in the fate o f the Persons, nor the Writer in the Representment, have been unnaturall or exorbitant" ( 1 6 ) .
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Vgl. auch 8: "for with the usuall pride o f Poets, I passe by c o m m o n crowds, as negligently as Princes move from throngs that are not their owne Subjects" - dieser Vergleich könnte von der Situation Charles' II. in Paris, eines Königs ohne Volk, angeregt worden sein.
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v o n H o b b e s inspiriert: " w h o can imagine lesse then a necessity o f oppressing the people, since they are never willing either to buy their peace or to pay for Warre?" (12). 1 3 7 Davenant n i m m t jedoch H o b b e s ' O p t i k der Leidenschaften auf, wenn er darlegt, jeder einzelne bilde sich ein, er sei ein Souverän, u n d aus diesem E g o ismus rühre der H a n g des Volkes zu Widerstand und U n g e h o r s a m : "being themselves a courser sort o f Princes, apter to take then to pay" (12). 1 3 8 A n a l o g hierzu wird Zwietracht i m G e m e i n w e s e n a u f theoretisch sehr diffuse u n d wenig entwickelte Weise - aber ganz ähnlich wie bei Wright oder Browne - mit inneren Zwistigkeiten einzelner Menschen in Bezug gesetzt. In seiner A n t w o r t zieht H o b b e s es denn auch vor, hierauf nicht einzugehen. D a s Problem resultiert aus der Schwierigkeit, "publique Interest" mit den Rechten von "Private m e n " (36) in U b e r e i n s t i m m u n g zu bringen. Anders als H o b b e s sieht D a v e n a n t Staat u n d Volk als antagonistisches Gegensatzpaar analog z u m Gegensatz von Vernunft u n d Leidenschaft. Seine gelegentliche B e z u g n a h m e a u f "the L a w o f Nature" als rationale u n d nicht göttliche Legitimationsgrundlage (das Naturrecht nämlich, so Davenant en passant, verpflichte uns zu rationalem H a n d e l n u n d zur Beherrschung unserer Leidenschaften), bleibt im Vergleich zu den Komplexitäten der zeitgenössischen Naturrechtsdiskussion 1 3 9 allenfalls schemenhaft: a n d so the State a n d the People are divided, as wee m a y say a m a n is divided within h i m selfe, w h e n reason a n d passion d i s p u t e a b o u t c o n s e q u e n t actions; a n d if wee were calld to assist at such intestine warre, wee m u s t side with R e a s o n , a c c o r d i n g to o u r duty, by the L a w o f Nature; a n d N a t u r e s Law, t h o u g h n o t written in S t o n e (as was the L a w o f Religion) hath taken d e e p impression in the H e a r t o f M a n , w h i c h is harder then m a r b l e o f Mount-Sinai.
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H o c h g r a d i g unklar bleibt in dieser Darstellung der genaue B e z u g zwischen " M a n " im Abstrakten, in dessen ,Herz' das Gesetz der N a t u r dauerhaft eingeschrieben sei, u n d "a m a n " i m Konkreten, der zwischen Vernunft u n d Leidenschaft hin u n d her schwanke. K ö n n t e der konkrete einzelne M e n s c h das Gesetz der N a t u r lesen, m ü ß t e er schließlich nicht mehr "dispute about consequent actions", sondern könnte gleich v o n rationalen Prinzipien geleitet beherzt zur Tat schreiten. H o b b e s ' Leviathan
liefert auf diese knifflige Frage eine theoretische
Antwort, i n d e m er Souveränität u n d M a s s e in Einheit miteinander u n d nicht i m Gegensatz zueinander denkt. Davenants textuelle Suchbewegungen belegen
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Davenant spielt auf die Kontroverse um die Schiffssteuer (Ship Money) an, die den Konflikt zwischen König und Parlament in den dreißiger Jahren eingeleitet hatte. In der Hobbesschen Konstruktion des Staatskörpers wird die Masse nicht wie bei Davenant unterdrückt, sondern zu einer protektiven Einheit geformt, die interne Antagonismen und Konflikte zum Wohl des Gemeinwesens überwindet. Vgl. die oben bereits zitierte Stelle aus Leviathan 2.18 (Hobbes 1996, 129): "For all men are by nature provided of notable multiplying glasses, (that is their Passions and Selfe-love,) through which, every little payment appeareth a great grievance". S . u . K a p . IV. 1.
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jedoch, wie groß das Verlangen nach einer Neubewertung und Neukonzeptualisierung des Verhältnisses von Anthropologie und politischer Theorie um 1650 ist. 140 Die Lücke zwischen der Nützlichkeit der Dichtung für die oberen Ränge der Gesellschaft und ihrer Nutzlosigkeit für die Masse des Volkes ist bei Davenant nicht zu schließen, doch sie wird insofern kompensiert, als er seiner Mimesistheorie eine soziale Komponente hinzufugt. Es genüge, behauptet er, jene zu bilden, die sich bilden lassen; die anderen folgten von sich aus nach, weil sie ohnehin stets ihre "Superiors" nachahmten: to Imitation, N a t u r e [...] perhaps doth needfully encline us, to keepe us from excesses. For though every m a n be capable o f worthinesse and unworthinesse (as they are defin'd by O p i n i o n ) yet no man is built strong enough to beare the extremities o f either, without unloading himselfe u p o n others shoulders, even to the wearinesse o f many. (8)
Nachahmung gilt ihm als anthropologische Konstante ("constant humor", 9) einer Zurückhaltung, die soziale Auswüchse "for the safety of mankinde" einschränke, indem sie gewisse Stoppregeln einführe: "limits to courage and to learning, to wickedness and to erour" (9). Davenant beschreibt hier einen sozialen Mechanismus der Selbstbeherrschung, der ganz zentral ist für ein aristokratisches frühneuzeitliches Verständnis von Individualität: Nachahmung ist eine Technik der Selbstbeobachtung als Fremdbeobachtung. Dieses Sich-Beobachten aus der Sicht von anderen forciert eine Mäßigung der selbstbezogenen Leidenschaften und fördert sozialkonformes Verhalten. 141 Das Heldengedicht präsentiert "patternes of human life, that are (perhaps) fit to be follow'd" (12). Es fügt sich ein in das Gesamtbild einer bis in die Ästhetik, die Fürstenspiegel und die Pädagogik der Restaurationszeit einfließenden Sozialkybernetik. Auch der 'pattern drill' ist eine Erfindung des 17. Jahrhunderts. 1 4 2 Das didaktische Ideal der Nachahmung und Wiederholung ist noch am Ende des Jahrhunderts voll gegenwärtig. Im Vorwort seiner Vergilübersetzung stellt Dryden die These auf: "The shining Quality of an Epick Heroe, his Magnanimity, his Constancy, his Patience, his Piety, or whatever Characteristical Virtue his Poet gives him, raises first our Admiration: We are naturally prone to imitate what we admire: And frequent Acts produce a habit." 1 4 3 Auch schon früher, etwa in seiner Widmungsschrift zu The Conquest of Granada an den Herzog von York, verteidigt Dryden den erhabenen Gestus des heroischen Dramas mit Davenants Argumenten: " T h e feign'd Heroe inflames the true: and the dead vertue animates
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Und dies nicht nur in royalistischen Kreisen. S. u. Kap IV.2 zu Areopagitica. Vgl. hierzu auch Turner 1995, 97 und s. u. Kap. V.l. Joseph Webbe, An Appeale to Truth (1624) stellt die erste ,behavioristische' Methode fiir den Lateinunterricht vor. Siehe Salmon 1979, 26f.; Kamm 1996, 65 . Dryden, " T O T H E M O S T H O N O U R A B L E John, Lord Marquess of Normanby, EARL of MULGRAVE, &c. [...]" (Widmung Aet/Eneis, 1697), Works 5: 267-341, 271.
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the living. Since, therefore, the World is governed by precept and Example; and both these can onely have influence from those persons who are above us, that kind of Poesy which excites to vertue the greatest men, is of greatest use to humane kind." 144 Wenn soziale Beobachtungs- und Nachahmungstechniken gesellschaftliche Rangunterschiede überwinden können, ist keine Anpassung der Dichtung ,nach unten' notwendig, um die beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Diese wird vielmehr durch einen Prozeß osmotischer sozialer Mimesis von oben nach unten weitergereicht, angefangen bei "those persons who are above us" bis zu den "Common men" am unteren Ende der Skala: "Nor is it needfull", schreibt Davenant, "that Heroique Poesy should be levell'd to the reach of Common men; for if the examples it presents prevaile upon their Chiefs, the delight of Imitation [...] will rectify by the rules, which those Chiefs establish of their owne lives, the lives of all that behold them" (13). 145 Soziale Mimesis als gesellschaftliches Funktionsprinzip der Dichtung ist jedoch nur ein Teil von Davenants Literaturtheorie. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Frage nach spezifischen inhaltlichen Vorgaben der "Vertue", die mittels Dichtung transportiert und gesellschaftlich verwirklicht werden sollen. Auch hier stößt Davenant auf ein Kontingenzproblem, denn auch die "Chiefs" sind sich untereinander alles andere als einig, welche Ordnungsvorgaben und Handlungsmuster politisch erstrebenswert seien. In einem Bild, das auf die Kontingenz der Fortuna anspielt (und damit an Machiavelli erinnert), wird der Staat mit einem Schiff verglichen, das von unsicheren Winden vorangetrieben wird, während die verschiedenen Lotsen ("Pilots") sich nicht auf den richtigen Kurs zum "Land of Peace and Plenty" (34) einigen können. Das Bild variiert den Topos des Narrenschiffs, ist aber auch eine Reminiszenz an das politische Denken der Antike: 146 me thinks Goverment [sic] resembles a Ship, where though Divines, Statesmen,
and Judges
Leaders
of Armys,
are the trusted Pilots; yet it moves by the means of Windes, as
uncertaine as the breath of Opinion; and is laden with the People; a Freight much loosser, and more dangerous then any other living stowage; being as troublesome in faire weather, as Horses in a Storme. (34)
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Dryden, "To His ROYAL HIGHNESS The DUKE" (Widmungsschreiben zu The Conquest of Granada, 1672), Works 11: 3-7, 3. Vgl. Hobbes 1971a, 45: "there is in Princes [...] a lustre and influence upon the rest of men, resembling that of the Heavens"; siehe auch Davenant 1971b, 38: die "operations [of poets] are as resistlesse, secret, easy, and subtle, as is the influence of Planetts". Siehe Piaton, Politikos 297e—298e, 302a. Die Analogie zwischen Regierungsfuhrung und Navigation ist bereits im griechischen Wort kybernetes (Steuermann) angelegt, dem wir sowohl das Wort,Kybernetik' als auch das englische government verdanken. Schon Piaton betont dabei den Aspekt der Ungewißheit, besonders die Gefahren des (Staats-)Schiffbruchs aufgrund der Unfähigkeit des Steuermanns oder aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zwischen den Seeleuten. Für den Hinweis auf diese Textstelle danke ich Nicola Glaubitz.
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Nachdem er die unterschiedlichen Ansichten und wechselseitigen Beobachtungen der vier Lotsen dargestellt hat, schlußfolgert er, daß deren Wirklichkeitswahrnehmung jeweils von ihrer Perspektive abhängig sei. Dies verleite sie zu einem sehr unproduktiven "emulous warr among themselves". Um sie vor solchen Mehrfach-Kontingenzen zu bewahren, schlägt er die nützliche Dichtung als "collaterall help" vor. Nun scheint plötzlich auch die vorher so wichtige soziale Restriktion vergessen: Dichtung könne, suggeriert er an dieser Stelle, als ideologische Waffe hilfreich sein, um den unzulässigen Freiheitsdrang des Volkes einzudämmen: wee shall not erre by supposing that this conjunction of Fourefold Power [Religion, Armes, Policy, Law] hath faild in the effects of authority, by a misapplication; for it hath rather endeavord to prevaile upon their bodys, then their mindes; forgetting that the martiall art of constraining is the best; which assaults the weaker part; and the weakest part of the People is their mindes; for want of that which is the Mindes only Strength, Education··, but their Bodys are strong by continuall labour; for Labour is the Education of the Body. Yet when I mention the misapplication of force, I should have said, they have not only faild by that, but by a maine error; Because the subject on which they should worke is the Minde; and the Minde can never be constrain'd, though it may be gain'd by Persuasion: And since Persuasion is the principall Instrument which can bring to fashion the brittle and misshapen mettall of the Minde, none are so fitt aides to this important worke as Poets: whose art is more then any enabled with a voluntary, and cheerfull assistance of Nature; and whose operations are as resistlesse, secret, easy, and subtle, as is the influence of Planetts. (37f.)
Gerade die Ungebildeten seien leichte Beute für rhetorische Überredungswaffen; hierzu sei Heldendichtung besonders geeignet, denn sie verfüge über "a force that overmatches the infancy of such mindes as are not enabled by degrees of Education" (38).147 Diese strategische Bestimmung der Dichtung ist Welten entfernt von Miltons reflexiver, anti-bildlicher und ikonoklastischer Epik. In Begriffen, die an Francis Bacons Feier der neuen Wissenschaft als (auch sexuell konnotierte) Überwältigung der Natur erinnern, stellt Davenant den ideologischen Sieg über die geistig Armen als "ravishment of Reason" dar (38). Während jedoch Bacons aggressive wissenschaftliche Exploration einem Wissenszuwachs dienen soll, zielen Davenants "delightfull insinuations" (38) auf die Erzeugung politischen Gehorsams durch einen proto-behavioristischen Vorgang des 'imprinting' — dies vielleicht auch als Widerhall der von Descartes kurz zuvor in Passions de l'Ame
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Der Widerspruch zwischen dieser Passage und dem vorangegangenen Ausschluß des gemeinen Volks von den persuasiven Kräften der Dichtung wird erst in Davenants späterer Proposition for Advancement of Moraiitie aufgelöst. In diesem Text verteidigt er den Nutzen heroischer Multimedia-Spektakel für die Erziehung des .Vulgus' und vertritt dabei eine Demokratisierung des höfischen Maskenspiels. (Ein gutes Beispiel hierfür liefert Tukes Adventures of Five Hours; s. u. Kap. IV.4.) Was Davenant im Sinn hat, ist also vielleicht eine Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Arten der Dichtung fur zwei verschiedene Arten von Publikum: ein erhabener Stil für die Gebildeten und ein einfacher Stil für die Ungebildeten. Siehe Jacob/Raylor 1991.
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(1649) vorgetragenen These, emotionale Reaktionen auf Sinnesreize seien manipulierbar.148 Davenants Definition von 'wit' als "dexterity of thought; rounding the world, like the Sun, with unimaginable motion; and bringing swiftly home to the memory universall survays" (18) enthält nicht nur eine Anspielung auf die Hermetik.149 Ihre Konstruktion einer (geozentrischen) Äquivalenz zwischen dem Bewegungsbild der Vorstellungskraft und der Bewegung der Sonne impliziert zugleich auch eine panoptische, hierarchische und kontrollierende Beobachterposition.150 Davenants Dichtung will keine Transzendenz sichtbar machen, sondern "the world", und dies in "universall survays". 'Wit' bezeichnet dabei die Fähigkeit, die schwer zu fassende Komplexität gesellschaftlicher Wirklichkeit zu überblicken wie ein Sonnenkönig und diese Wirklichkeit überzeugend zu beeinflussen: auf die Wirkungen des 'wit' komme es an.151 Die Dichter nehmen hier eine Sonderstellung ein, denn die Wirkung des 'wit' bestehe bei ihnen in einer umfassenden - und damit auch entdifferenzierenden — "comprehension" von ansonsten nach einzelnen officia funktional differenzierten Werten.152 Funktion der Dichtung ist demnach die normative Darstellung des "true measure of what is of greatest consequence to humanity, (which are things righteous, pleasant and usefull)" (19). Diese Funktion ist ausschließlich innerweltlich und rational: Es geht darum, die verschiedenen Perspektiven protosystemischer ,officieller' Trennungen und Teilungen (religiös, politisch, militärisch, juristisch) in einer vereinten höherstufigen Sicht ("what is of greatest consequence to humanity') wieder zusammenzufuhren. Ihr Ziel ist nicht die Totalisierung einer dieser Perspektiven, sondern die Herstellung einer Harmonie in der Vielfalt. 'Humanity' bezeichnet
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"Car puis qu'on peut avec un peu d'industrie changer Ies mouvements du cerveau, dans les animaux depourvues de raison, il est evident qu'on le peut encore mieux dans les hommes." Descartes, zit. nach Jacob/Raylor 1991, 219. Im Leviathan stellt sich Hobbes einen ungebildeten Geist als leeres Blatt Papier vor (eine Vorwegnahme der Lockeschen Metapher der tabula rasa); er wendet sich jedoch indirekt gegen Davenants "ravishment of Reason" und empfiehlt nüchtere Erziehung durch logische Argumentation "that any unprejudicated man, needs no more to learn it, than to hear it." Jacob und Raylor (227f.) sehen darin einen Widerspruch zu Hobbes' Begriff des 'imprinting', der visuell und unmittelbar gefaßt sei, nicht diskursiv und logisch. Für Hobbes ist — wie fur Milton - aber anscheinend auch ein aurales Imprinting denkbar; s. u. IV.2 zur Rhetorik bei Hobbes und Milton. Hermfcs Trismegiste 1980, 1: 154; siehe Bredekamp 1999, 68-71. Zur Panoptik im äge classique siehe Foucault 1976. Foucault behauptet, daß ,Beobachtungshierarchien' in der frühen Moderne dazu dienen, die verinnerlichten Werturteile epistemologisch .eingesperrter' Subjekte zu normalisieren. "all that finde its strength [...] worship it for the effects" (Davenant 1971b, 18). Hierauf ist oben (Kap. 1.2) bereits hingewiesen worden. "It is in Divines Humility, Exemplarinesse, and Moderation; In Statesmen Gravity, Vigilance, Benigne Complaisancy, Secrecy, Patience, and Dispatch. In Leaders of Armys Valor, Painful nesse, Temperance, Bounty, Dexterity in Punishing, and rewarding, and a sacred Certitude of promise. It is in Poets a full comprehension of all recited in all these; and an ability to bring those comprehensions [sic] into action" (Davenant 1971b, 18f).Zum Begriff der 'officia' siehe Condren 2002 u. o. Kap. 1.2.
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dabei keinen Kollektivbegriff (,Menschheit') oder eine allen Menschen gemeinsame Eigenschaft (Menschlichkeit), sondern im klassischen Sinn von 'humanitas' eine Tugend (Wohlwollen, Großzügigkeit), die die Spezifikationen der 'officia transzendiert - ein Residuum, das der potentiellen Respezifizierung durch weitere ,officielle' Attribute vorbehalten bleibt.153 Dieser Perspektivismus höherer Ordnung steht in Bezug zu Davenants Vergleich zwischen Dichtung und Malerei, insbesondere zeitgenössischer Landschaftsmalerei. Literarische Texte machen, so Davenant, wie die Malerei Gebrauch von Illusionstechniken, um ihre beabsichtigte Wirkung zu erzielen. Wie der Landschaftsmaler, der die Technik der Zentralperspektive benutzt - und wie die Sonne, die in Anspielung auf die Hermetik Gottes Vogelperspektive innehat - kann der Dichter, sofern er über wit' verfügt, eine privilegierte Beobachterposition einnehmen, von der aus er wie die Spinne in ihrem Netz154 das ihn Umgebende in einem Raster anordnen und kontrollieren kann, um von dieser zentralen Position aus anderen Betrachtern "the Worlds true image" darzubieten: "Poets (whose businesse should represent the Worlds true image often to our view) are not lesse prudent than Painters, who when they draw Landschaps entertaine not the Eye wholy with even Prospect, and a continu'd Flatte; but (for variety) terminate the sight with lofty Hills, whose obscure heads are sometimes in the Clowdes" (4). 'Wit' bedeutet für die Dichtkunst soviel wie der Fluchtpunkt für die Malerei: Er stellt sicher, daß die Darstellung so konfiguriert ist, daß der Betrachter/Leser ,das wahre Bild der Welt' genau so sieht, wie es der Maler/ Dichter beabsichtigt hat. Die Wahrheit des Bildes ist dabei durchaus der Absicht
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C o n d r e n 2002, 116. Vgl. Cicero, De oratore 1.8.32: "quid esse potest in otio aut iucundius, aut magis p r o p r i u m humanitatis, q u a m sermo facetus ac nulla in re rudis?" Die Übersetzer der Loeb-Ausgabe (Cicero 1942, 24f.) geben 'humanitas' etwas unpräzise u n d anachronistisch mit "culture" wieder: "what in hours of ease [d.h. außerhalb ,officieller' Bestimmungen] can be a pleasanter thing or one more characteristic of culture, than discourse that is graceful a n d nowhere uninstructed?" Das deutsche W o r t ,Bildung' wäre genauso unzutreffend. Bei Cicero bedeutet humanitas die Kultivierung wohlwollender, menschenfreundlicher E m p f i n d u n g e n , alsdann die Praxis der Freigebigkeit, Großzügigkeit, Dankbarkeit. Bei Seneca (De beneficiis), so Skinner (1996, 77f.), konstituiert sich humanitas aus "the giving of benefits and the receiving of t h e m with proper gratitude"; siehe z u m begriffsgeschichtlichen Nachleben von humanitas bei den englischen Moralisten der frühen Neuzeit (Elyot, Robinson, Hall, Blundeville) ebd. 78—81; bei Hobbes, 3 1 6 - 1 9 .
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Davenants Spinnenvergleich ist komplex u n d interessant nicht nur, weil er Tieren intentionales Verhalten zuschreibt: "[Wit] is a W e b b consisting of the subtlest threds, and like that of the Spider is considerately woven out of our selves; for a Spider may be said to consider, n o t only respecting his solemnesse, and tacite posture (like a grave Scowte in a m b u s h for his Enemy) b u t because all things done, are either f r o m consideration, or chance; and the workes of chance are accomplishments of an instant, having c o m m o n l y a dissimilitude; b u t hers are the works of time, and have their contextures alike" (18). Die Passage fehlt im Folio der Works von 1673. Das Spinnennetz u n d das Raster des Zeichners haben den Aspekt der perspektivischen Kontrolle einer Aussicht gemein; beider Absicht ist es, etwas von der Wirklichkeit jenseits des Rasters einzufangen. Die (nicht nur metaphorischen) Implikationen des Rasters für das Verhältnis zwischen Kontrolle ("consideration") u n d Kontingenz ("chance") in der frühen M o d e r n e werden sehr virtuos in Peter Greenaways Film The Draughtsman's Contract gegeneinander geführt.
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untergeordnet, wie wir bereits gesehen haben, denn diese ist perspektivabhängig und - nach Belieben - ideologisch determinierbar. Das Preface to Gondibert nimmt nicht nur zentrale Punkte neoklassischer Literaturtheorie in England, vor allem aus Drydens berühmten Essays, um einige Jahre vorweg - insbesondere das rationalistische Verständnis der Dichtung als "the best Expositor of Nature" (40).155 Es ist auch ein hochgradig taktischer Text, der nicht nur über Literatur als taktisches Machtmittel reflektiert, sondern diese Taktiken auch selbst einsetzt. Davenant benutzt dabei die von ihm wahrgenommene Autorität und den Einfluß Hobbes', des früheren Mathematiklehrers Charles' II., der 1650 auf dem besten Wege ist, ein wichtiger politischer Ratgeber am Exilhof zu werden und dessen Karriere nur wenig später, höchstwahrscheinlich durch eine Intrige Edward Hydes, bereits beendet ist. Indirekter Adressat des Textes ist der Monarch selbst, um dessen Gunst Davenant wirbt. Die extreme Dichte rhetorischer Schnörkel und politischer Unterwürfigkeitserklärungen legt nahe, daß Davenant das Vorwort und zweifellos auch seinen Gondibert selbst als Eigenwerbung einsetzt: Ziel ist nicht nur eine Stärkung der realen und theoretischen Positionen Hobbes' und des Königs, sondern auch seiner eigenen Stellung als oberster Hofdichter und als politischer Berater des Königs in poeticis. Eine solche Lesart läßt sich durch Davenants eigene Äußerungen erhärten. Im Vorwort offenbart er seine utilitaristische Haltung nicht nur zur Dichtkunst, sondern auch zu den eigenen Beweggründen: "the desire of Fame made me a Writer", bekennt er freimütig (26). Er ist sensibel für die Beobachtung durch andere, also auch für die An- oder Abwesenheit königlicher Gunst und Wertschätzung. Nachdem die ersten Bücher des Gondibert keine geneigten Leser finden, bricht er das Unternehmen ab und wendet sich wieder dem Theater zu. So wird er nicht nur zum ,Vater' des englischen Neoklassizismus, sondern auch der englischen Oper (noch unter Cromwell mit The Siege of Rhodes) und des Dramas der Restaurationszeit. Im Jahre 1660, nach der Rückkehr des Königs auf den englischen Thron, bevollmächtigt Charles II. Thomas Killigrew und Davenant für den Betrieb der beiden einzigen offiziellen Bühnen Londons, der King's und der Duke's Company. Die hierzu erforderliche Urkunde entwirft Davenant selbst.156 Theater und Oper erweisen sich als Davenants zweite und, wie man annehmen darf, erfolgreichere Lösung des Problems der Integration verbaler, visueller und akustischer Medien zum Zwecke der Integration von Literatur und Politik.
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Bei Dryden: "Nature wrought up to an higher pitch" (Works 17: 74). Public Record Office, London, Manuskript SP 29/8/1.
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4. Visualität und Imagination zwischen Naturwissenschaft und Fiktion. Margaret Cavendishs Observations upon Experimental Philosophy und The Blazing World (1666) For what's unequal cannot joyned be So close, but there will be Vacuity}''1 In Burtons Anatomy
sind peritextuelle Fiktionalisierungselemente Teil einer
Strategie der Lesermobilisierung, der den Leser zur Erkenntnis der eigenen Beschränkungen führen soll. Bei Browne gehen diese E l e m e n t e nahtlos in d e n H a u p t t e x t über, u m den Leser a u f die Vielfalt u n d K o n t i n g e n z v o n Wirklichkeitswahrnehmungen a u f m e r k s a m zu machen. W i e in d e n vorangegangenen Analysen zu beobachten war, wird d e m FiktionsbegrifF i m D i s k u r s des N e o klassizismus eine genauere u n d zugleich engere B e s t i m m u n g zuteil: Fiktionen werden dort eingesetzt, u m b e s t i m m t e rhetorische F u n k t i o n e n zu erzielen. S o geschieht es bei D a v e n a n t u n d H o b b e s , zu einem gewissen G r a d auch bei M i l ton. In markanter A b g r e n z u n g zur humanistischen Praxis handelt es sich dabei häufiger u m allegorische u n d / o d e r ironische als u m metaphorische Funktionen. Fiktion wird nicht als M e d i u m einer e m p f u n d e n e n Einheit verwendet, sondern als Zeichen einer intellektuellen Distanzierung. Sie dient weniger der A n r e g u n g als der Kontrolle des Leserimaginären 1 5 8 u n d seiner p h y s i o g n o m i s c h e n , identifikatorischen
oder leidenschaftlichen Reaktionen a u f einen Text. Fiktionen wer-
den nicht gebraucht, u m die Komplexität des Erlebens zu steigern, sondern u m sie zu reduzieren oder wenigstens zu kontrollieren. D e s h a l b ζ. B . bedient sich die 'romance' der schematischen F o r m e n pastoraler Literatur als eines Mittels, u m die harten Wirklichkeiten gesellschaftlicher u n d politischer M o d e r n i s i e r u n g in der Zeit des Interregnums u n d der Restauration außer A c h t lassen zu können. 1 5 9 Deshalb auch richtet sich D a v e n a n t s Ehrgeiz inmitten seines französischen Exils a u f die Produktion eines in der L o m b a r d e i des Mittelalters angesiedelten Heldenepos. Fiktionalisierung als Distanzierung geht einher m i t einer T e n d e n z zur stärkeren Beachtung v o n z u n e h m e n d normativ b e s t i m m t e n Gattungsunterschieden. Dies läßt sich beobachten z u m einen an nahezu formelhaften Theaterproduktionen, deren Gattungszugehörigkeit nach relativ eindeutigen Regeln zu bestimm e n ist; z u m anderen an den zahlreicher werdenden poetologischen Texten wie Drydens Essays u n d später d e n literaturkritischen Reflexionen eines D e n n i s oder Gildon, die das N a c h d e n k e n über literarische G a t t u n g e n zu einer eigenen G a t tung erheben. In der literarischen Kultur der Restaurationszeit hat diese Sepa-
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Margaret Cavendish, The Philosophical and Physical Opinions (1655), 4. Vgl. Costa Lima 1990. Zurv. a. royalistischen 'romance' im 17. Jahrhundert (Sales, Theophania·., Herbert, The Princess Cloria) und zu Izaak Waltons CompUat Angler s. u. Kap. IV.3.
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rierung deutliche Folgen auch für das Verhältnis zwischen oral-auralen, visuellen und textuellen Formen von Erkenntnis und Rhetorik, die sich immer deutlicher voneinander abspalten und unterschiedlichen Funktionsbereichen zugeordnet werden. Die schon bei Hobbes, Milton und Davenant deutlichen Spannungen zwischen Visualität, (weitgehend) oral-aural bestimmter Rhetorik und Textualität verschärfen sich und weiten sich aus zu der für den englischen Empirismus des 18. Jahrhunderts normativen Trennung zwischen (kognitiv-abstrakter) 'reason und (visuell-poetisch-konkreter) 'fancy', die erst bei Burke und Coleridge wieder aufgeweicht wird. Symptomatisch für die immer schärfere Spaltung zwischen philosophischwissenschaftlichem Diskurs einerseits und literarisch-fiktionalem Diskurs andererseits ist auch eine der vielen, lange von der Forschung vernachlässigten Publikationen der Herzogin von Newcastle, Margaret Cavendish: Observations upon Experimental Philosophy. To which is added, The Description of a New Blazing World (1666; 2 1668). Das Buch trägt der Diskurstrennung bereits äußerlich dadurch Rechnung, daß es die kulturelle Priorität der Naturphilosophie über die literarische Fiktion getreu reproduziert: Die Fiktion ist nur Beiwerk oder Beigabe ("added") zu ihrem ernsthafteren Gegenstück. Moderne Editionen haben diese Spaltung noch dadurch vergrößert, daß sie die Observations und The Blazing World als voneinander vollkommen unabhängige Texte behandeln: erstere als ein lange vernachlässigtes, ernstzunehmendes naturphilosophisches Traktat aus dem 17. Jahrhundert, letztere als dessen unwahrscheinliches und eher frivoles "fictional companion piece".160 Was durch eine solche Spaltung unweigerlich verloren geht, ist der Eindruck einer engen Beziehung, einer geradezu physischen Nähe und Nachbarschaft zwischen Wissenschaft und Fiktion, die durch die Form von Cavendishs Buch in Szene gesetzt wird: Es unterscheidet zwischen zwei Schreibarten und kombiniert sie doch. Die sich daraus ergebende Spannung läßt sich jedoch kaum als ironisch, dialektisch oder (im Bachtinschen Verständnis) dialogisch bezeichnen. Das fiktionale Addendum baut nicht etwa eine übergeordnete, kritische, ironisierende oder distanzierende Perspektive zu seinem wissenschaftlichen .Begleiter' auf, sondern erweist sich im Gegenteil als höchst affirmativ: Es erweitert, ornamentiert und unterstützt eine Reihe philosophischer Theoreme, die in den Observations aufgestellt werden. So erfüllt es, im Rahmen eines bewußt fiktionalisierten Settings, eine rhetorische Funktion im Sinne Hobbes': als Verstärker eines theoretischen Arguments. Ausdrücklicher als in anderen Fällen wird hier IM O'Neill 2001, xxxv; Lilley 1994, xii. Erstaunlicherweise hebt ausgerechnet Lilley, die Herausgeberin der Blazing World, die Seriosität und Nichtfiktionalität der Observations hervor (xxiv). O'Neill treibt den Respekt für den philosophischen Teil des Buches noch weiter, indem sie Blazing World in ihrer Einleitung nicht einmal erwähnt. Eine andere Seriosität erhält Blazing World durch Aufnahme in die Ausgabe von Cavendishs Political Writings (Cavendish 2003); auch eine neuere Aufsatzsammlung zu Cavendish (Cottegnies/Weitz 2003) unterscheidet ihre Sachgebiete — wenig sinnvoll — nach "non-fictional" und "imaginative writings" (5).
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der literarische Aspekt des Werks losgelöst; er wird jedoch nicht autonomisiert, sondern dem philosophischen Hauptteil nach- und untergeordnet. Die Observations sind denn auch etwa dreimal so lang wie The Blazing World. Die Kluft zwischen Wissenschaft und Fiktion wird nicht überbrückt, sondern bleibt als Leerstelle offen. Wie thematisiert Cavendish die Beziehung zwischen Wissenschaft und Fiktion in ihren Schriften, und wie rechtfertigt sie deren Handhabung vor ihrer potentiellen Leserschaft? Um diese Frage zu beantworten, muß man zunächst Cavendishs Sonderstellung in der literarischen Landschaft des englischen 17. Jahrhunderts berücksichtigen. Cavendish betreibt Naturphilosophie aus der Position einer Außenseiterin, einer Frau ohne formalen philosophischen Bildungshintergrund, der kein offizieller Kontext außerhalb ihres privaten Kreises zur Verfügung steht, um ihre Ideen öffentlich zur Diskussion zu stellen. In diesem Sinne lassen sich ihre Bücher als Vanity publications' bezeichnen: aufwendig hergestellte Privatdrucke, die sie unablässig an Universitäten verschickt in der Hoffnung, so ein (sich weitgehend als unwillig erweisendes) Publikum männlicher Gelehrter zu erreichen, auf die sie jedoch bestenfalls lästig wirkt und die sie im schlimmsten Fall für verrückt erklären. Cavendish wird getrieben von einem nicht zu unterdrückenden Schreibdrang und einer offen eingestandenen Ruhmsucht (darin Davenant ähnlich); in ihren Büchern drängt sich peritextuelles Material, das um ihre Anerkennung als "Authoresse" und Originalbegabung durch den Leser buhlt, in den Vordergrund.161 In ihrer extravaganten Inszenierung und Zelebrierung von Autorschaft und Originalität geht Cavendish über Burton hinaus, der ja die Möglichkeit einer direkten Kommunikation zwischen Autoren und Lesern viel skeptischer gesehen hatte. So zeigt ζ. B. das Frontispiz ihrer Philosophical and Physical Opinions (1655) ein Porträt der Autorin in einem leeren Arbeitszimmer; die Inschrift dazu lautet: "Her library on which She look's / It is her Head her Thoughts her Books".162 Der sie umgebende leere Raum soll wohl Cavendishs Originalität, ihre Unabhängigkeit von anderen Quellen hervorheben - ein Gedanke, der Burton völlig fremd ist - , aber er illustriert auch, eher unfreiwillig, das Fehlen ernsthafter Resonanz auf ihr Werk.163 Diesem Mangel versucht Cavendish selbst abzuhelfen, indem sie etwa in selbstverfaßten "commentaries" (Ο 13) einen Dialog mit ihren eigenen Ideen erzeugt und ihr System eines orga-
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Siehe Douglas 2000; Rees 2003. Zit. nach O'Neill 2001, )cvi. Zur Rezeptionsgeschichte siehe O'Neill 2001, xvii-xxi. Die Unwilligkeit der Zeitgenossen, sich auf Cavendish einzulassen, läßt sich wohl am besten illustrieren durch einen Brief Henry Mores an Anne Conway anläßlich des Erscheinens von Cavendishs Philosophical Letters, in dem More feststellt, Cavendish "may be secure from anyone giving her the trouble of a reply" (Conway 1992,237).
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nizistischen Materialismus 164 kommentiert; indem sie in fiktiven Briefen die Denksysteme anderer mit ihrer eigenen Theorie vergleicht {Philosophical Letters, 1664); und indem sie Vorworte und andere Peritexte ausufern läßt. Ihr fünftes Buch, Nature's Pictures drawn by Fancy's Pencil to the Life (1656), beginnt mit sechs Vorworten an den Leser. Das ,Phänomen' Cavendish ist denn auch nicht selten als pathologisch beschrieben worden, und Cavendish selbst hätte einer solchen Beschreibung in gewissen Grenzen sogar zugestimmt. 163 Doch eines ihrer Hauptziele bei der Inszenierung ihrer Autorschaft und Originalität ist es, die Leerstelle der ausbleibenden öffentlichen Resonanz mit fiktionalisierten Diskurselementen und mit einer über das Ziel hinausschießenden Apotheose ihrer Autorposition zu besetzen. Die Fiktionalisierung dient bei ihr nicht der Kaschierung oder der bloßen Ornamentierung, noch wird sie skeptisch gebraucht, um (wie bei Burton und Browne) das Verhältnis zwischen Autor, Text und Leser zu hinterfragen. Vielmehr wird sie bei Cavendish dazu verwendet, aller faktischen Selbstbezüglichkeit zum Trotz eine fest etablierte hierarchische Beziehung zwischen Autorin, Text und Leserschaft zu suggerieren und um die Akzeptanz und Mitarbeit des "Courteous Reader" zu werben (Ο II). 1 6 6 Die Philosophical Letters entwickeln einen Monolog in Form eines brieflichen Dialogs. In den Observations gibt es einen vorgeschalteten "Argumental Discourse" (23—42), der einen "dispute between the rational parts of [Cavendish's] mind concerning some chief points and principles in natural philosophy" (23) inszeniert, ja sogar einen .Krieg' (ebd.) zwischen Cavendishs älteren und neueren Gedanken. In Anlehnung an die Gepflogenheiten der neoklassischen Kontingenzrhetorik wird dieser Disput der "arbitration of the impartial reader" anheimgestellt, "desiring the assistance of his judgment to reconcile their controversies, and, if possible, to reduce them to a settled peace and agreement" (ebd.). In den Observations wird der Leser/die Leserin unmittelbar einbezogen in einen hierarchisch strukturierten Dialog im Vorwort "To the Reader" (Ο 11-22), das Cavendish dazu verwendet, auf zwanzig Einzelpunkte des Textes
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Cavendishs naturphilosophisches System wird von O'Neill (2001, xxi-xxv) als .organizistischer Materialismus' zusammengefaßt, der (im Gegensatz zur von Hobbes und Descartes vertretenen Partikeltheorie) Materie als Kontinuum betrachtet. Die Hauptelemente dieses Systems nach O'Neill sind Materialismus, vollständige Durchmischung, Pan-Organizismus und Pan-Psychismus, eine Kontinuumstheorie der Materie sowie nicht-mechanischer natürlicher Wandel.
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Vgl. ihre Bemerkungen zu Beginn des "Preface to the Ensuing Treatise" in den Observations: "It is probable, some will say, that my much writing is a disease; but what disease they will judge it to be, I cannot tell; I do verily believe they will take it to be a disease of the brain; but surely they cannot call it an apoplectical or lethargical disease; but I hope they will rather call it a disease of wit" (7). Cavendish gibt für "the disease of writing" (ebd.) keine der Burtonschen Melancholie vergleichbare Ursache an, sondern nennt das Schreiben "the only pastime which employs my idle hours" (ebd.). Im Vorwort zur Blazing World erwähnt sie jedoch ihr "melancholy life" (124). In dieser Hierarchisierung der Textkommunikation erweist sich Cavendish als neoklassische Erbin Hobbes' und Davenants.
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erläuternd und kommentierend einzugehen, um so Kritik vorwegzunehmen. Dies geschieht in stark repetitiver Syntax, nach dem Schema „Wenn ich X sage, meine ich nicht Y, sondern Z." Nach diesen Erläuterungen wird der Leser/die Leserin gebeten, sein/ihr Urteil aufzuschieben, bis er/sie alles gelesen hat ("read all", 20). Der Vorgang der Lektüre wird so antizipiert und in den Text eingebaut: Der vollständigen Lektüre wird ein wichtiger Stellenwert in der Vervollkommnung des Werkes zugewiesen, aber sie wird nicht als schöpferische oder unabhängige Tätigkeit aufgefaßt, da das Werk in sich bereits alle Antworten enthalte: These are (Courteous Reader) the scruples which I thought might puzzle your understanding in this present work, which I have cleared in the best manner I could: and if you should meet with any other of the like nature, my request is, you would be pleased to consider well the grounds of my philosophy; and, as I desired of you before, read all before you pass your judgments and censures; for then, I hope, you'll find but few obstructions, since one place will give you an explanation of the other. In doing thus, you'll neither wrong yourself, nor injure the authoress, who should be much satisfied, if she could benefit your knowledge in the least; if not, she has done her endeavour, and takes as much pleasure and delight in writing and divulging the conceptions of her mind, as perhaps some malicious persons will do in censuring them to the worst. 167
Während ihre Darstellung der hierarchischen Beziehung zwischen Autorin und Leser(in) auf einer impliziten Fiktionalisierung beider Positionen basiert, erweist sich Cavendishs expliziter Fiktionsbegriff als eher konventionell und als rhetorisch im oben bereits angesprochenen Verständnis. Fiktion dient nach Cavendish — wie die rhetorischen 'images' bei Hobbes - dazu, die "conceptions of the mind" appetitanregend zu verpacken und so ihre Akzeptanz als wahr bzw. zutreffend zu erleichtern. Fiktion liefere "pleasure and delight" (21). Obschon sie selbst Fiktionalisierungsstrategien verwendet, um Kommunikation mit (meist männlichen) unwilligen Lesern herzustellen oder zuweilen zu simulieren, wird ihr Fiktionsbegriff dem der Philosophie ausdrücklich untergeordnet. Sie unterscheidet sehr deutlich zwischen "serious philosophy" und "poetical fancy" (Ο 129). Der Fiktion als Medium der 'fancy' wird eine spezifische kommunikative Gattung und Funktion zugewiesen. In ihrer ersten Publikation, Poems, and Fancies (1653), die eine Reihe von Gedichten über Atome enthält, entschuldigt sich Cavendish dafür, daß sie Naturphilosophie in Versform betreibe: "the Reason why I write it in Verse, is, because I thought Errours might better passe there, then in Prose·, since Poets write most Fiction, and Fiction is not given for Truth, but Pastime."168 Wie es in ihrem Vorwort zu The Blazing World heißt: "The end of reason, is truth;
167
Cavendish 2001, 20f„ Herv. IB. Cavendish, Poems, and Fancies (1653), "To Naturall Philosophers", o. S. (Sig. A Gr).
167
the end of fancy, is fiction."169 Fiktion ist hier wie bei Hobbes u n d Davenant rhetorisches adornment': ein verdecktes Transportmittel f ü r W a h r h e i t ' bzw. eine schöne Falle für den unvorsichtigen Leser, der für Suggestionen offen ist u n d sein Urteil situationsbedingt aufschiebt, wenn er bestimmte, nach Gattungskriterien markierte Texte liest. Fiktion steht hier im Dienst einer ästhetischen Rationalität als List der Vernunft. Cavendishs spätere Werke n e h m e n von einem derart expliziten Eindringen der Fiktion in den Diskurs der Wissenschaft wieder Abstand. Z u groß ist ihr Wunsch, ernstgenommen zu werden, als daß sie sich mit solchen Nichtigkeiten wie der 'fancy' abgeben dürfte. Die späteren Bücher legen auch das strategische Spiel mit Text u n d Gattungszugehörigkeit nicht mehr so radikal offen, wie es die eben zitierte frühe poetologische Bemerkung tut. Die Beziehung zwischen Fiktion u n d Philosophie ist in späteren Texten ebenso hierarchisch gegliedert wie ihr Kommunikationsmodell — eine Widerspiegelung des streng hierarchischen Gesellschaftsmodells, das Cavendish vertritt u n d das sie in The Blazing World im M o d u s der Fiktion reproduziert. Diese Hierarchie begründet auch die Spaltung zwischen Wissenschaft u n d Fiktion, die den Band durchzieht, in d e m sowohl die Observations als auch The Blazing World enthalten sind. Ihre Rechtfertigung für den fiktiven Zusatz zu einem wissenschaftlichen Werk beruht auf einem sehr konzisen Plädoyer für die Unterscheidung zwischen Wahrheit u n d Fiktion, zwischen 'reason' u n d 'fancy', während sie gleichzeitig die Einheit des Unterschiedenen herausstellt: If you wonder, that I join a work of fancy to my serious philosophical contemplations; think not that it is out of a disparagement to philosophy; or out of an opinion, as if this noble study were but a fiction of the mind; for though philosophers may err in searching and enquiring after the causes of natural effects, and many times embrace falshoods for truths; yet this does not prove, that the ground of philosophy is merely fiction, but the error proceeds from the different motions of reason [...]; and since there is but one truth in nature, all those that hit not this truth, do err, some more, some less; for though some may come nearer the mark than others, which makes their opinions seem more probable and rational than others; yet as long as they swerve from
m
"To the Reader", Cavendish 1994, 123f., 123. Zum Verhältnis von philosophischem und poetischem Diskurs in Blazing World vgl. Nate 2001, 210—14, der den Baconianischen und skeptischen Verästelungen nachgeht und zu Recht feststellt, die Separierung unterschiedlicher Diskurse sei nicht gleichzusetzen mit deren wechselseitiger Inkommunikabilität. Siehe ebd. 217—20 zu den narratologischen Schwierigkeiten dieses Textes, die auch das Problem der Anwendbarkeit moderner narratologischer Modelle auf frühneuzeitliche Erzähltexte aufwerfen; gleichwohl liefert Nate eine schematische Darstellung der fiktionalen .Welten' von The Blazing World (228). Ich verzichte auf eine Inhaltszusammenfassung und eine detaillierte Darstellung der komplizierten Struktur dieses Textes und konzentriere mich statt dessen auf Probleme der Visualität und Politik, mit denen sich die Forschung bisher allenfalls am Rande beschäftigt hat. Siehe auch Lobsien 1999, 263-87 zur diskursgeschichtlichen Einordnung von The Blazing World in die Zusammenhänge des frühneuzeitlichen Empirismus, Skeptizismus, Neuplatonismus und Kabbalismus.
168
this only truth, they are in the wrong: nevertheless, all do ground their opinions u p o n reason; that is, upon rational probabilities, at least, they think they do: 170
Vernunft und Wahrheit werden fest miteinander verknüpft in einer epistemologischen Perspektive, die zum einen in der Betonung der "rational probabilities" empiristisch und zum anderen in ihrer Anerkenntnis epistemischer Kontingenz ("some may come nearer the mark than others") neoklassisch gearbeitet ist. Dies ist die eine Seite der Unterscheidung Cavendishs; die andere Seite wird in den darauffolgenden Sätzen beschrieben: But fictions are an issue of man's fancy, framed in his own mind, according as he pleases, without regard, whether the thing he fancies, be really existent without his mind or not; so that reason searches the depth of nature, and enquires after the true causes of natural effects; but fancy creates of its own accord whatsoever it pleases, and delights in its own work. T h e end of reason, is truth; the end of fancy, is fiction[.]171
Die 'fancy', deren Produkt die Fiktion ist, erscheint so abgeschnitten von jeglichem Bezug zu dem, was bei Cavendish 'truth' heißt und was sie als Entsprechung zu einer außerhalb des Bewußtseins existierenden Wirklichkeit (nature) definiert. Aber 'fancy' ist deshalb noch nicht völlig von 'reason' losgelöst: but mistake me not, when I distinguish fancy from reason; I mean not as if fancy were not made by the rational parts of matter; but by reason I understand a rational search and enquiry into the causes of natural effects; and by fancy a voluntary creation or production of the mind, both being effects, or rather actions of the rational parts of matter; of which, as that is a more profitable and useful study than this, so it is also more laborious and difficult, and requires sometimes the help of fancy, to recreate the mind, and withdraw it from its more serious contemplations. 1 7 2
Im Einklang mit ihrer Kontinuumstheorie der Materie werden alle "parts of matter" (123) durch eine einzelne rationale Kraft vereint,173 und daher sind auch 'fancy' und 'reason', obgleich verschieden, dadurch verbunden, daß beide als "actions of the rational parts of matter" (124) konzipiert sind. Es handelt sich bei ihnen sozusagen um unterschiedliche Gattungen von unterschiedlichem Wert: 'reason' ist "more profitable and useful", "more serious" (124), 'fancy' dagegen hat die Aufgabe, "to recreate the mind", "to divert [the author] [...] and to delight the reader with variety, which is always pleasing" - allesamt Standardelemente neoklassischer Literaturkritik. 'Reason' und 'fancy' sind so trotz ihrer Gegensätzlichkeit in Cavendishs Buch verbunden: "joined as two worlds at the ends of their poles" (124). Dieses Bild zweier Welten ist ein Echo der Weltbeschreibung innerhalb des fiktiven Textes selbst, in dem die andere Welt, in die es die Heldin verschlägt, an den Nordpol
170 171 172 173
Cavendish 1994, 123; Herv IB. Ebd; Herv. im Orig. Cavendish 1994, 123f.; Herv. im Orig. Siehe O'Neill 2001, xxviii.
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angrenzt ("joined close to", 126). Im Bild der zwei Welten spiegelt sich die Bipolarität des Bandes, der die Observations (reason, truth) und The Blazing World (fancy, fiction) enthält. Liest man die beiden Texte parallel, so ergeben sich eine Reihe offensichtlicher Verbindungen oder Anknüpfungspunkte, die man auch als Verbindungen zwischen dem wissenschaftlichen Empirismus und dem literarischen Neoklassizismus interpretieren kann. Die 'fancy' ermöglicht einen anderen, weniger strengen Zugang zu den Beobachtungen der 'reason'. Als "a voluntary creation or production of the mind" (123) löst sie einen theoretisch unbegrenzten Prozeß der imaginären Welterzeugung aus. 174 Dieser kann gleichzeitig als grenzenlose (und unerwarteterweise demokratische) Wunscherfüllung fungieren, wie Cavendishs Schlußbemerkungen im Vorwort verdeutlichen: though I cannot be Henry the Fifth, or Charles the Second, yet I endeavour to be Margaret the First, and although I have neither power, time nor occasion to conquer the world as Alexander and Caesar did; yet rather than not to be mistress of one, since Fortune and the Fates would give me none, I have made a world of my own: for which no body, I hope, will blame me, since it is in every one's power to do the like.175 Hier verwandelt Cavendish Hobbes' Warnung vor den potentiellen Gefahren einer exzessiven imaginativen Lektüre in ein Loblied auf die Macht der Fiktion. Hobbes' Bemerkung zur Bildersynthese in der 'fancy' verdient daher, ein zweites Mal zitiert zu werden: "So when a man compoundeth the image of his own person, with the image of the actions of an other man; as when a man imagins himselfe a Hercules, or an Alexander, (which happeneth often to them that are much taken with reading of Romants) it is a compound imagination, and properly but a Fiction of the mind." 176 Wie oben gezeigt, bezeichnet 'image' für Hobbes nicht nur einen visuellen Eindruck im Bewußtsein, sondern beinhaltet auch eine gefühls- oder meinungsbedingte Schattierung, die für rhetorische Verstärkungswirkungen benutzt werden kann. Dies erklärt die Nützlichkeit der 'images' fur die Dichtung. Muß Cavendishs kompensatorische Selbstvergrößerung in Hobbes' Augen den absonderlichen Charakter einer Donquichotterie an sich haben, so wird diese pathologische Ebene der 'fancy' für Cavendish selbst durch die Freiheit imaginativer Fiktion als distinkte Gattung abgefedert: als ein Kommunikationstyp, für den die gewöhnlichen Wahrheits- und Dekorumsregeln nicht gelten. Fiktion ist hier bereits ein Modus des bloßen Spiels, unterschieden und abgeschottet von Wirklichkeit und Ernst. Daher wagt Cavendish zu hoffen, niemand werde ihr daran etwas übelnehmen: "no body, I hope, will blame me" (123). Diese Unterscheidung wird erst ermöglicht durch eine klare rationalistische Trennung zwischen
174 175 176
Vgl. Goodman 1978. Cavendish 1994, 123; Herv. im Orig. Hobbes 1996. 1.2, 16.
170
unterschiedlichen Diskursbereichen. Erst diese Unterscheidung ermöglicht dann die Beobachtung von Verbindungen zwischen den getrennten Bereichen. Eine solche Verbindung zwischen den Observations und The Blazing World ist das epistemologische Problem der modernen Optik, Tele- und Mikroskopie. Das Buch ist zumindest in Teilen eine Antwort auf Robert Hookes Micrographia (1665) und der Versuch einer "devaluation of optical science".'77 In den Observations äußert sich Cavendish optischen Hilfsmitteln gegenüber extrem kritisch. Im "Preface to the Ensuing Treatise" behauptet sie, daß "the art of augury was far more beneficial than the lately invented art of micrography; for I cannot perceive any great advantage this art doth bring us" (8f.). Sie betrachtet die meisten dieser ,Künste' ("arts") als "fallacies, rather than discoveries of truth", ihre Ergebnisse als unzuverlässige Täuschungen der menschlichen Sinnesorgane ("cannot be relied upon", 9). Zentrale Abschnitte des Textes fuhren diese Argumentation weiter aus, in direkter und detaillierter Reaktion auf Hooke und auf Henry Powers Experimental Philosophy von 1664: "Of Micrography, and of Magnifying and Multiplying Glasses" (50-53), "Of Pores" (55), "Of the Eyes of Flies" (59ff.), "Of the Seeds of Vegetables" (68—72), "Of Telescopes" (135f.) etc. In satirischer ,Optik' kehrt dieses Thema der Tele- und Mikroskopie in The Blazing World wieder, wo die Kaiserin akademische "societies of the vertuosos" einrichtet (136), um sich mit deren Mitgliedern auf intellektuelle Debatten einzulassen und ihnen Fragen zu stellen: über die Substanz der Luft, die Entstehung des Schnees (139) oder das Wesen von Blitz und Donner. In einem leidenschaftlichen Wutanfall, der sich gegen die unzureichende Erkenntniskraft der Teleskope richtet, befiehlt die Kaiserin ihren "bird-men", alle Teleskope zu zerstören, denn diese seien "false informers, and instead of discovering the truth, delude your senses" (141). Schließlich läßt sie sich dazu bewegen, den Virtuosi ihre Ferngläser weiterhin zu erlauben, aber nur "upon condition, that their disputes and quarrels should remain within their schools, and cause no factions or disturbances in state, or government" (142). Im Rahmen ihrer fiktiven Welt äußert Cavendish eine stark an Hobbes erinnernde Bemerkung zu Kunst und Wissenschaft. Wie die potentiell trügerische Wirkung der Fiktion müssen auch die potentiell aufrührerischen Wirkungen wissenschaftlicher Disputationen eingedämmt und unter Kontrolle gebracht werden - mittels einer sorgsamen proto-systemischen Differenzierung oder Entflechtung von Diskursebenen. Ihr hierarchisches Gesellschaftsmodell gestattet eine kontingente Vielfalt unterschiedlicher, konkurrierender Stimmen, aber nur, wenn sie ihre "disputations" auf ihre jeweiligen "schools" beschränken, "lest be-
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Siehe hierzu Linden 2001, 614. Linden liefert eine detaillierte Analyse auffallender Parallelen zwischen den Texten Hookes und Cavendishs und liest Blazing World als satirische Kritik der experimentellen Naturforschung. Der vollständige Titel von Hookes Buch lautet Micrographia: or Some Physiological Descriptions of Minute Bodies Made by Magnifying Glasses, with Observations and Enquiries Thereupon. Siehe auch Battigelli 1996.
171
sides the commonwealth of learning, they disturb also divinity and policy, religion and laws, and by that means draw an utter ruin and destruction both upon church and state" (162). Die Aspekte der Transgression und ihrer notwendigen Eindämmung stehen nahezu paradox im Vordergrund dieses Textes: "Natural desire of knowledge [...] is not blameable, so you do not go beyond what your natural reason can comprehend" (178f.). Zwar erkennt die Kaiserin an, daß "no particular knowledge can be perfect" (162), aber sie überträgt diese Anerkenntnis des Unvollständigen und Kontingenten nicht auf ihr Verständnis von Politik und Religion. In diesen letzteren Hinsichten ist The Blazing World ein unmißverständliches Plädoyer für religiöse Uniformität und Gehorsam gegenüber dem Souverän. In der utopischen Gegenwelt der Blazing World wird Monarchie als "a divine form of government" dargestellt, aus dem einfachen Grund, "as there is but one God, whom we all unanimously worship and adore with one faith, so we are resolved to have but one Emperor, to whom we all submit with one obedience" (134). Einheit Gottes, Einheit der Religion und Einheit des politischen Gehorsams fügen sich zu einer Einheit zusammen. Als die Kaiserin die in religiösen Dingen unterentwickelte Gesellschaft der Blazing World zu ihrer eigenen Religion bekehrt, verfolgt sie — weise, wie sie ist — einen Kurs der gewaltlosen Überzeugung/Überredung und wiederholt dabei Davenants Thesen zur Bildung der Öffentlichkeit: And thus the Empress, by art, and her own ingenuity, did not only convert the Blazing World to her own religion, but kept them in a constant belief, without enforcement or blood-shed; for she knew well, that belief was a thing not to be forced or pressed upon the people, but to be instilled into their minds by gentle persuasions; and after this manner she encouraged them also in all other duties and employments, for fear, though it makes people obey, yet does it not last so long, nor is it so sure a means to keep them to their duties, as love. (164)
Diese Zeilen zu den "gentle persuasions" der ,Liebe' stehen in harschem ironischen Kontrast zu einer späteren Stelle, an der die Herzogin von Newcastle selbst (deren Seele die Blazing World betritt, um der Kaiserin als Schreiberin dienstbar zu sein) behauptet: "the chief and only ground in government, was but reward and punishment" (183). Während die Kaiserin den Lehren Hobbes' und Davenants zu folgen scheint, hat die Herzogin offenbar die machiavellistischen Ansichten ihres Gatten William Cavendish verinnerlicht.178 Die Herzogin rät der Kaiserin, an den von ihr etablierten Grundsätzen der Uniformität festzuhalten: to have but one sovereign, one religion, one law, and one language, so that all the world might be as one united family, without divisions; nay, like God, and his blessed saints and angels: otherwise, said she, it may in time prove as unhappy, nay, as miser-
178
Siehe Cavendish 1984; Condren 1993. Als die Herzogin versucht, eine Welt nach den Hobbessehen Prinzipien von Druck und Gegendruck zu erfinden, bekommt sie - Kopfschmerzen (188).
172
able a w o r l d as that is f r o m which I c a m e , wherein are m o r e sovereigns than w o r l d s , a n d m o r e p r e t e n d e d governors than g o v e r n m e n t s , m o r e religions than g o d s , a n d m o r e o p i n i o n s in those religions than truths; m o r e laws than rights, a n d m o r e bribes t h a n justices, m o r e policies than necessities, a n d m o r e fears than dangers, m o r e c o v e t o u s ness than riches, m o r e a m b i t i o n s than merits, m o r e services than rewards, m o r e languages than wit, m o r e controversy than k n o w l e d g e , m o r e reports than n o b l e actions, a n d m o r e gifts b y partiality, than a c c o r d i n g to merit[.] ( 2 0 1 )
Cavendish bedient hier den seit Morus' Utopia vertrauten Topos der verkehrten Welt; nur kehrt sie die aus der Utopie bekannte Erzählsituation um, indem sie eine Figur aus der realen Welt in der imaginären Gegenwelt über jene berichten läßt. Die polemische Stoßrichtung hinter The Blazing World- als Vehikel absolutistischer Werte im England der Restaurationszeit — wird hier evident. Es ist nur scheinbar paradox, daß sie ihr Loblied auf die Monarchie als natürlichste und vernünftigste Regierungsform in eine Epistemologie der Kontingenz einbettet, welche auf die Unvollständigkeit der Erkenntnis, auf die Vielheit der Welten und auf einen ethischen Imperativ der Mäßigung gegründet ist. 179 Zuvor hatte die Kaiserin ihren Wissenschaftlern die Freiheit ihrer akademischen Tätigkeiten zugestanden unter der Bedingung, diese müßten "beneficial to the public" sein (155). Jetzt dringt die Herzogin a u f die Auflösung aller wissenschaftlichen Gesellschaften: "for 'tis better to be without their intelligences, than to have an unquiet and disorderly government". Der Leser von The Blazing World darf im weiteren Verlauf der Geschichte annehmen, daß es dieser inneren Stärke des reformierten Staates zu verdanken ist, wenn die Kaiserin im zweiten Teil die Seeschlacht für sich entscheiden kann - regiert sie doch nun "most happily and blessedly". Aus der Sicht des Hobbesschen Souveräns bestätigt sich der Satz aus La Fontaines Fabel: "la raison du plus fort est toujours la meilleure". 1 8 0 Cavendishs Text operiert zwar nach den Regeln eines imaginären Liberalismus, aber die von ihm ins Visier genommene politische Dimension der literarischen Kultur ist durch und durch absolutistisch. Literarische Kommunikation ist für Cavendish ein Mittel zum Zweck der Realisierung absoluter Souveränitätsphantasien in einem literarischen Setting. Sie verwandelt so die (nach Davenant und Hobbes) schädliche Wahnvorstellung eines jeden Untertanen in ein politisch harmloses fiktionales Spiel - und entschärft dadurch zeitweilig die schwelenden Konflikte zwischen Visualität und Rhetorik, zwischen Philosophie und Dichtung, zwischen der privaten Unmittelbarkeit der 'fancy' und der öffentlich vermittelten 'reason'.
179
180
"I perceive that the greatest happiness in all worlds consists in moderation" (190). Zur Vielheit der Welten siehe 184f. Cavendish antizipiert hier Fontenelles Entretiens sur lapluralitedes mondes von 1686. Eine literaturgeschichtliche Übersichtsdarstellung zu diesem Thema bietet Lobsien 2003, erwähnt jedoch seltsamerweise Cavendish mit keinem Wort. Jean de La Fontaine, "Le loup et l'agneau" (1991, 44).
173
5. Literarische Weltentwürfe. Zusammenfassung und Ausblick In der frühen Neuzeit wird die Beziehung zwischen Autoren und Adressaten asymmetrisch und kontingent. Es folgen zahlreiche Versuche der Neustrukturierung dieser Beziehung: hierarchisch-monarchisch (Davenant, Cavendish) oder auch republikanisch-prophetisch (Milton), auf jeden Fall didaktisch (Sidney, Hobbes), mitunter auch agonistisch. Aus der Notwendigkeit, die Kluft zwischen Autor und Publikum zu überbrücken, entstehen politische Modelle der Textualität. Miltons Areopagitica entfaltet eines dieser Modelle,181 Davenants Vorwort zu Gondibert ein anderes; auch die Texte Hobbes', Cavendishs und Drydens reflektieren, je anders gelagert, implizit und explizit politische Voraussetzungen und Strategien literarischer Kommunikation. Auch als Reaktion auf politische Kontingenzerfahrungen entwickelt der Neoklassizismus sein globalstrategisches Kalkül einer methodischen Rationalisierung und Hierarchisierung von Kommunikation. Kontingenz und Ungewißheit finden sich in den Schriften Brownes zwar reflektiert, werden aber als letztlich unproblematisch dargestellt vor dem Hintergrund einer als nichtkontingent ausgewiesenen Eschatologie. Die Gnade Gottes setzt irdische Kontingenz selbst kontingent. Das Jüngste Gericht werde es schon richten und alle hienieden unlösbaren Differenzen in Wohlgefallen auflösen. Aus dieser theologischen Perspektive folgt jedoch, daß es einem Akt der Hybris gleichkäme, die Lösung besonders dorniger Probleme der Religion und Philosophie schon im Diesseits angehen zu wollen. Politische und gesellschaftliche Differenzen werden zwar als problematisch erfahren, ihr Realitätsdruck wird jedoch eher ausgeblendet. Was Browne sichtlich fehlt, ist eine Sprache182 außerhalb des humanistischen Erbes und der klassischen Bildung; eine Sprache, in der er seine intellektuellen Belange mit den politischen Fragen seiner Zeit verknüpfen könnte. Zu diesem Zweck müßte er einen Begriff der sozialen Kontingenz entwickeln, in enger Nachbarschaft zu seinem philosophischen Kontingenzbegriff. Dies scheint jedoch außerhalb seiner Reichweite zu liegen. Für ihn sind eine bestimmte Gesellschaftsordnung, eine bestimmte Verteilung von Rechten und Eigentum, selbst eine bestimmte religiöse Orientierung von einiger Flexibilität und Toleranz, unhinterfragbare soziale Normen, die jedem wohlmeinenden Bürger bzw. jeder 'person of quality' unmittelbar einsichtig sein müßten. Auch daher rührt der Schock, das echte Erschrockensein angesichts des Undenkbaren und Unerhörten, das 1643 im Vorwort zur Religio Medici registriert wird, wenn er eine Parallele zieht zwischen dem Schicksal seines Textes und dem drohenden Fall der Monarchie. Die "liberty of these times" kommt fur ihn einer Denaturierung gleich, die sich konkret im veränderten Umgang mit Texten äußert und im
181 182
S. u. Kap. IV.2. Im Sinne Pococks (1971, 3-41).
174
Zusammenbruch der Zensur manifestiert. An dieser Stelle konvergieren auch für Browne Textualität und Politik. Im textuellen ,Lärm' des Bürgerkriegs bleibt sein Entwurf einer flexiblen, nicht-persuasiven Rhetorik jedoch kraftlos. Die Stunde der Rhetoriker hat geschlagen — auf beiden Seiten der politisch-religiösen Trennlinie, wie wir am Beispiel Miltons und Hobbes sehen werden (IV.2). Brownes humanistischer Entwurf einer Analogie zwischen äußerer und innerer, weltlicher und spiritueller Natur (Garden of Cyrus) wird im Compleat Angler des Izaak Walton säkularisiert und vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse des englischen Bürgerkriegs transformiert in eine pastorale Gegenwelt, deren Fiktionscharakter unmittelbar evident ist. Der Garten ist nun nicht mehr Gottes freie Natur, sondern ein künstliches, der Zivilisation entgegengesetztes Paradies, dessen Verlust — anders als bei Milton — nur noch mit Wehmut, aber ohne eschatologische oder auch nur politische Perspektive quittiert wird (IV.3). Mit Margaret Cavendish haben wir bereits eine ähnliche fiktionale Individualwelt kennengelernt, die sozial folgenlos bleibt und Spielcharakter hat. Ihr Entwurf einer weiblichen Gegenöffentlichkeit bleibt phantastisch.183 The Blazing World eröffnet literarisch ein Feld der politischen Individualphantasie, indem es Davenants und Hobbes' neoklassisch-materialistische Perspektive auf die psychosoziale Funktion der Dichtung wiederaufnimmt und radikalisiert. Der aus den Fragmenten des Gondibert und in Hobbes' Leviathan synthetisierte imaginäre Souverän findet bei Cavendish sein weibliches Gegenstück in der glücklich regierenden Kaiserin, die u. a. deshalb glücklich regiert, weil sie ihr Reich vor dem dräuenden Einbruch epistemischer Kontingenzen in Gestalt von trügerischen Teleskopen bewahren kann. So führt das Thema der Visualität fast unausweichlich von epistemologischen zu stärker politisch konturierten Fragen. Im neoklassischen Diskurs (poetisch, naturwissenschaftlich, politisch) werden Bestimmungen dessen, was als rational und natürlich gelten soll, auch durch politische und historische Kontingenzen konturiert. Diese sollen im nächsten Kapitel genauer in den Blick genommen werden. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf Vorstellungen des 'state of nature' im politischen Imaginären und in der literarischen Kultur zwischen Bürgerkrieg und Restaurationszeit.184 Wie sich zeigen wird, bilden Natur- und Naturrechtsdebatten eine wichtige kulturelle Kontextur für Literaturtheorie, Rhetorik und literarische Praxis im England des 17. Jahrhunderts. In diesen Diskussionen werden die nun schon bekannten Konflikte zwischen visuellen, verbalen und auralen Kommunikationsformen nicht gelöst, sondern auf eine andere kulturelle Argumentationsebene transponiert, die sich speist aus dem gesteigerten Bewußtsein einer wohl nicht mehr auflösbaren, durch den Bürgerkrieg und seine gesellschaftstheoretischen Reflexionen
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Jedoch nicht ohne Nachahmerinnen. Siehe hierzu Schabert 1997, 2 1 1 - 2 5 . Dem deutschen Wort .Naturzustand' fehlt die Konnotation des .Staates', die im englischen 'state' wie in den romanischen Äquivalenten enthalten ist. Ich behalte daher das englische 'state of nature' bei, wenn diese Konnotation wichtig ist.
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bestätigten und zugleich verstärkten Gegensätzlichkeit zwischen natürlichen und politischen bzw. gesellschaftlichen Ordnungsvorgaben. Natur wird bei den Royalisten zu einer dem Politischen entgegengesetzten Heterotopie, einer fiktiven Gegenwelt. Bei Walton, in der royalistischen 'romance' und auch in Davenants Gondibert sind diese fiktiven Welten zwar noch politisch konnotiert, aber nur in Absetzung von der .echten' Politik, die auf ganz anderen Schlachtfeldern stattfindet. Hieran kann auch Davenants Vorwort mit seiner geradezu brachialen Betonung der politischen Funktion epischer Dichtung nichts mehr ändern; die von ihr zu befördernde 'humanitas' bleibt eine Leerformel. Die langobardische Ritterwelt des Gondibert mit ihren höfischen Tugenden wird zu einer Allegorie im Leerlauf, ohne Kontakt zur politischen Wirklichkeit um 1650. Diese politische Wirklichkeit sieht zwar nach der Restauration der Monarchie 1660 wieder anders aus, aber der in diesen Texten reflektierte Bruch zwischen Natur und 'civitas' läßt sich nicht mehr vollständig heilen, trotz aller Bemühungen, an denen wiederum die literarische Kultur eminenten Anteil hat (IV.4). Dies ist sicher auch weiterreichenden diskursiven und ökonomischen Veränderungen zu verdanken.185 Das höfische System Charles' II., das sich einer idealisierten Sicht des elisabethanischen Zeitalters verpflichtet fühlt,186 entfernt und isoliert sich zusehends von seiner städtischen und parlamentarischen Umwelt, die sich als weitaus flexibler, heterogener und dynamischer erweist. Diese konträre Entwicklung, deren Ausgang in einem offenen politischen Konflikt zwischen Hof und Parlament vorprogrammiert erscheint, gipfelt literarisch einerseits in der hermetisch geschlossenen Porno-Welt eines Rochester (Sodom), andererseits in den auf Offenheit und Revidierbarkeit, Kontingenz und Wahrscheinlichkeit angelegten - neoklassischen - Weltentwürfen Miltons (Paradise Lost) und Lockes (Two Treatises of Government). Der mittlere und späte Dryden ist eben daher besonders interessant, weil er zwischen diesen Polen vermitteln will, um die alte Ordnung in die neue Zeit hinüberzuretten, und weil er zu diesem Zweck ebenfalls den Gegensatz zwischen Natur und Politik zu überwinden oder zumindest zu kaschieren sucht (IV. 5). So bilden Natur und Naturrecht nicht nur entscheidende Grundlagen politischer Ordnungsbildung im 17. Jahrhundert, sondern stellen auch eine begriffliche Kontextur literarischer Kommunikation bereit, in der antike, v. a. stoische Denkmuster und moderne Erfahrungen korrelieren und neue Formen literarischer Öffentlichkeit sich ausbilden. Im begrifflichen Spielraum zwischen Natur und 'civitas' müssen literarische Konturierungen gesellschaftlichen Erlebens im 17. Jahrhundert sich immer wieder neu positionieren und zwischen Rhetorik, Politik und Theater, zwischen Erinnern und Vergessen jeweils angemessene mediale Strategien im Umgang mit Kontingenz entwickeln.
185 186
Siehe Schweikart 1986; Sennett 1994, 255-81. Deutlich wird dies bereits in William Cavendishs Advice von 1660.
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IV. Zwischen Natur und civitas·. Literatur als Bürgerkrieg Nature; a thing so almost Infinite, and Boundless, as can never fully be Comprehended, but where the Images of all things are always present. Dryden, Vorwort zu The Rival Ladies (1664) 1 Rome is but a wilderness of tigers. Titus Andronicus 3.1.53
1. 'State of Nature' und Naturrecht im kulturellen Imaginären des 17. Jahrhunderts Kann der von Gott gestiftete B u n d zwischen dem Souverän und seinen Untertanen gebrochen werden, und was sind die Konsequenzen dieses Bruchs? Wird die Gesellschaft in den Naturzustand zurückfallen, in einen Zustand der totalen Anomie und Amoralität, in dem, wie manche glauben, alles erlaubt sei - und von dem nur einige wenige Theoretiker behaupten, nicht alles sei dort erlaubt, sondern nur was dem Zweck der Selbsterhaltung diene? Werden die Menschen wieder, wie es bei Cicero heißt, „nach Art der wilden Tiere umherschweifen", wie vorzeiten, ehe die Macht der Rhetorik und des vernünftigen Denkens sie eines besseren belehrte?2 Wie auch immer die Antwort auf diese Fragen ausfällt, sie kann im 17. Jahrhundert nicht anders formuliert werden als in der Sprache der Naturlehre und Naturrechtstheorie. Sie liefert den Bezugsrahmen fur historische, anthropologische 1 2
Dryden, Works 8: 9 5 - 1 0 2 , 97. Cicero, De inventione 1.2 (1998, 1 Of.): „Denn es gab einmal eine Zeit, in der die Menschen auf den Feldern weit zerstreut nach Art der wilden Tiere umherschweiften [bestiarum m o d o vagabantur] und mit roher Nahrung ihr Leben fristeten und nichts durch geistige Tätigkeit [ratione animi], vielmehr das meiste durch ihre Körperkräfte besorgten; noch nicht beachtete man die religiöse Scheu vor den Göttern, nicht die Pflichterfüllung gegenüber den Menschen [humani officii ratio], niemand hatte gesetzmäßige Eheschließungen gesehen, keiner seine Kinder mit Sicherheit als seine eigenen betrachtet, keiner hatte wahrgenommen, welchen Nutzen gleiches Recht [ius aequabile] bringt." In diesem Gründungsmythos des Politischen treten die Menschen aus dem Naturzustand in die Zivilisation ein, nachdem ein Redner sie durch seine Vernunft und Beredsamkeit .besänftigt' und davon überzeugt hat, eine Gesellschaft zu bilden: "deinde propter rationem atque orationem studiosius audientes ex feris et immanibus mites reddidit et mansuetos" / „wobei sie dann aber, weil der Mann Vernunftgründe vorbrachte und gewandt sprach, aufmerksamer zuhörten, machte er sie aus wilden und schrecklichen zu sanften und zugänglichen Wesen" ( 1 0 - 1 3 ) . Siehe auch Cicero, De oratore 1.33.
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und politische Spekulationen. Die Sprache des Naturrechts verleiht den vagen Ängsten und Hoffnungen, die im kulturellen Imaginären zirkulieren, Formbarkeit. Der Naturzustand ist in diesem Sinne ein fiktives Diskurselement, das auf Imaginäres reagiert und dieses artikulierbar, für Kommunikation einsetzbar und der Rationalisierung zumindest partiell zugänglich macht.3 Es wird nicht zuletzt in literarischen Fiktionen und auf dem Theater immer wieder aufgerufen und bearbeitet, vom Compleat Angler über Paradise Lost bis zu Absalom and Achitophel. Wie vom Ausbruch der Gewalthandlungen im englischen Bürgerkrieg aus dem kulturellen Imaginären heraufgerufen, beginnen die Gespenster der Anarchie und des gesellschaftlichen Zerfalls in Gestalt des 'state of nature' auf den Feldern des politischen Denkens umherzuschweifen. Bestialität und Schrecken verbinden sich in der Denkfigur des 'state of nature' zu einem zentralen PlotElement in politischen und literarischen Fiktionsbildungen. Es läßt sich daher in Analogie zu Pococks 'Machiavellian Moment' mit einiger Berechtigung von einem 'Ciceronian Moment' in der englischen Kultur sprechen, die sich zu dieser Zeit entschieden vom aristotelischen Begriff des Menschen als eines von Natur aus gesellschaftsfähigen zoon politikon abkehrt4 und sich dagegen der stoischen Vorstellung einer vor-politischen natürlichen Wildheit des Menschen zuwendet. Gesellschaft und Zivilisation entstehen nach dieser Theorie durch einen radikalen Bruch mit dem, was ihnen (als ,Natur') vorausgeht. Von royalistischen Traktaten bis zu den Flugschriften der Levellers, von der satirischen Dichtung bis zum staatstragenden heroischen Drama arbeiten zahlreiche Texte mit der von Ciceros Urszene politischer Institutionalisierung bereitgestellten Begriffssprache und ihrem Bildrepertoire. Die stoische Vorstellung des Naturzustands wird bereits im 16. und frühen 17. Jahrhundert von den thomistischen Denkern der Gegenreformation wiederentdeckt (Vitoria, Molina, Suärez, Bellarmin), die einen Begriff des 'status naturae' als Argument ftir die Notwendigkeit - nicht nur die bloße Möglichkeit - benötigen, politische Institutionenbildung als eine menschliche Erfindung zu begreifen und nicht, wie die Lutheraner, als eine Gabe Gottes.5 Angesichts der Bandbreite
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Zu den Begriffen des Imaginären und Fiktiven siehe Castoriadis 1984; Iser 1991, 350-77. In unserem Zusammenhang ist Castoriadis' Begriff des radikal Imaginären besonders relevant, da er konzipiert ist als, so Iser, „unvordenkliche Voraussetzung der Institutionalisierung von Gesellschaft" (ebd. 354, siehe auch 350-77). Aristoteles, Politik 1.2, 1253a. Suärez' Tractatus de Legibus ac Deo Legislators (Über die Gesetze und Gott als Gesetzgeber) von 1612 entwickelt eine komplexe und detaillierte konstitutionalistische Theorie, die in ihrer Erklärung, wie ein von Natur aus freies Individuum zum Untertan eines legitimen Staatswesens werden kann, teilweise auf Locke und Rousseau vorausweist. Der Gedanke des Naturzustands spielt auch eine Rolle im politischen Denken der Hugenotten in den 1570er Jahren und in der calvinistischen Widerstandstheorie, besonders deutlich in George Buchanans De Iure Regni apud Scotos (1579), einem Text, der u. a. Cromwell zur Rechtfertigung der Hinrichtung des Tyrannen' Charles' I. gedient haben soll. Siehe Skinner 1978, 2: 135—84 und 338 48. Die klassische Abhandlung zum Thema ist Gierke 1981.
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seiner unterschiedlichen Akzentuierungen läßt sich der Begriff des state of nature' als eine Art Passepartout verstehen: eine Denkfigur, die den Zweck erfüllt, den Ursprung politischer Rationalität als menschheitsgeschichtliches Ereignis vorstellbar werden zu lassen. Hierfür spricht, daß sämtliche Gruppierungen des politischen Spektrums sich ihrer bedienen. Sie ermöglicht es allen Lagern und Parteien, über die politische Bedeutung des Menschseins zu diskutieren, und zwar so anschaulich, daß nahezu jeder Leser dem folgen kann. Die zahlreichen Tiermetaphern bei Hobbes und anderen weisen den Leser immer wieder auf die Gefahr einer Rückkehr zur Bestialität der "meer Nature" 6 hin, in der Menschen sich angeblich kaum von "bruit Beasts" unterscheiden und ein Leben führen wie "Lyons, Bears, and Wolves". 7 So läßt sich die Denkfigur des 'state of nature' auch als funktionales Äquivalent des in den Schriften Burtons und Brownes fehlenden universalen Signifikanten interpretieren. Sie erfüllt eine kompensatorische Funktion, indem sie als homogenisierender Kommunikator eines verallgemeinerten Normenverständnisses in einer von raschem Wandel und zunehmender Heterogenität charakterisierten Gesellschaft dient. Der Naturzustand und die von ihm abhängenden theoretischen Konstruktionen des Naturrechts und der Naturgesetze heben die Kontingenzen der modernen politischen Ordnung in der Setzung eines geschichtlichen (erst später, mit Locke, außergeschichtlichen) Ursprungs auf. Sie legitimieren dadurch einerseits die Institutionen der Gesellschaft, deren Diskussion als potentiell revidierbare menschliche Einrichtungen sie andererseits erst ermöglichen. Der Naturzustand enthält zudem einen narrativen Kern, der flexibel genug ist, um unterschiedlichen Versionen des Ursprungs und Sinns politischer Einrichtungen (liberal, oligarchisch, absolutistisch, puritanisch) als Grundlage dienen zu können. In Ciceros Version der Erzählung spielt die Macht der Beredsamkeit eine Schlüsselrolle bei der Verwandlung viehischer Barbaren in zivilisierte Staatsbürger: Sie macht sie empfänglich für Argumente der Vernunft, indem sie sie dazu bewegt, aufmerksamer zuzuhören. Beredsamkeit wird nun von einigen Theoretikern dazu verwendet, die Schrecken des .Anderen' der Zivilisation in immer grelleren Farben auszumalen - um ihre Leser dazu zu bewegen, lieber das bestehende politische Arrangement zu akzeptieren, als für die Versprechungen einiger fehlgeleiteter Radikaler alles aufs Spiel zu setzen, was ihnen lieb ist, einschließlich ihres Wohlergehens im Jenseits. Unter dem Aspekt des Naturrechts wird insbesondere der Freiheitsbegriff problematisch. Für die eher konservativen Denker des Great Tew-Kreises um Lucius Cary, Viscount Falkland (darunter der Politiker Edward Hyde, der Theologe William Chillingworth und der Dichter Edmund Waller)
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Hobbes, Leviathan 1.13 (1996, 90). Leviathan 1.14 (Hobbes 1996, 97); 1.4 (24). Eine derartige Tiermetaphorik ist bereits im 16. Jahrhundert als Gegenstück pastoraler Idyllen, wie T. Reiss (1992, 1 Ο^ί 1) gezeigt hat, Teil einer .Poetik kultureller Abscheu' vor einer aus dem Gleichgewicht geratenen Welt und einem Autoritätsverlust humanistischer Textualität. Siehe auch Yates 1977, 74ff.
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bedeutet "native liberty", also Freiheit im Naturzustand, die "unlimited power to use our abilities, according as will did prompt." Das Fehlen moralischer Schranken im Naturzustand bringe jedoch schwere Folgen fur jeden einzelnen mit sich: "feares and jealousies, wherein every single person look't upon the world as his enemy".8 Für Henry Hammond ist daher der Naturzustand ein "state of common hostility", "a wilderness of Bears or Tygers, not a society of men".9 Der berühmteste Vertreter dieser Denkrichtung ist natürlich Hobbes: "the estate of men in this natural liberty is the estate of war";10 "quin status hominum naturalis antequam in societam coiretur, bellum fuerit; neque hoc simpliciter, sed bellum omnium in omnes";" "In such condition, there is no place for Industry; because the fruit thereof is uncertain: and consequently no Culture of the Earth; [...] no account of Time; no Arts; no Letters; no Society; and which is worst of all, continuall feare, and danger of violent death; And the life of man, solitary, poore, nasty, brutish, and short."12 Auch Hobbes nutzt Tiermetaphern, die er der römischen Tradition entnimmt, insbesondere sein "homo homini lupus"13 aus Plautus' Asinaria. Hobbes und sein Umkreis bewegen sich in den Fußstapfen des englischen Humanisten und Rechtsgelehrten John Seiden (1584-1654), dessen Hauptbeitrag zur Naturrechtstheorie in der Einfuhrung einer zumindest in Teilen „stark individualistisch geprägten Psychologie und Ethik" besteht.14 Seiden leitet die Bindungskraft moralischer Verpflichtungen aus egoistischen Motivationen ab. Er postuliert einen Ursprungszustand absoluter Freiheit, dessen Beschreibung er nahezu wörtlich von Cicero übernimmt.15 Seidens Naturzustand wird jedoch nicht nur — wie bei Cicero - durch 'recta ratio' (right reason, die intuitive Einsicht des für das Gemeinwohl Richtigen) unwiederbringlich verändert, sondern auch durch die (Hobbes präludierende) Einführung von Gesetzen: durch einen
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Dudley Digges, The Unlawfulnesse of Subjects, Taking up Armes against their Soveraigne (1644), sig. Alv, A2; zit. nach Tuck 1979, 103. Henry Hammond, Works, hg. William Fulman (1684), 1:311. Vgl. das zweite Motto zu diesem Kapitel aus Titus Andronicus. Elements 14.11 (Hobbes 1994a, 80). De Cive 1.12 (Hobbes 1839, 2: 166); „daß der natürliche Zustand der Menschen, bevor sie zur Gesellschaft zusammentraten, der Krieg gewesen ist, und zwar nicht der Krieg schlechthin, sondern der Krieg aller gegen alle" (1994b, 83). Leviathan 1.13 (Hobbes 1996, 89); eine Variation aufCiceros Deinventione 1.2 (s. o.): "nondum divinae religionis, non humani officii ratio colebatur, nemo nuptias viderat legitimas, non certos quisquam aspexerat liberos, non ius aequabile quid utilitatis haberet, acceperat". Widmungsschreiben zu De Cive (Hobbes 1839, 2: 135); Hobbes 1994b, 59: „Der Mensch ist ein Wolf für den Menschen". Tuck 1979, 82. .Zumindest in Teilen', denn Seidens Schriften sind weitaus weniger systematisch als Hobbes' und enthalten neben erastischen auch grotianische Elemente; siehe Tuck 1993, 205-21; Sommerville 2001. "tempus quoddam fuisse cum in agris homines passim bestiarum more vagabantur, & sibi victu ferino vitam propagabant, nec ratione animi quidquam sed pleraque viribus corporis administrabant": Seiden, Opera Omnia, hg. D. Wilkins (1726), Bd. 1, Sp. 139, zit. nach Tuck 1979, 93. „Es gab eine Zeit, da streiften die Menschen wie wilde Tiere durchs Land, ernährten sich wie wilde Tiere und richteten ihr Leben nicht nach der Vernunft, sondern nach ihrer Körperkraft aus."
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Vertrag, der jeden einzelnen dazu verpflichtet, seine Interessen dem Gebot einer höheren Macht unterzuordnen. „Denn die einfache Vernunft allein kann zwar darlegen und empfehlen, aber sie befiehlt nicht und wirkt nicht verpflichtend, sofern nicht die Autorität eines dem jeweiligen Menschen Höherstehenden hinzutritt." 16 Ein Vertragsbruch zieht nach Seiden unweigerlich Bestrafung nach sich, sei es durch die weltliche Gewalt, sei es letztlich durch Gott. Angst vor der Strafe Gottes sei der tiefste Beweggrund für die Umwandlung absoluter in beschränkte Freiheit, die aus potentiell gefährlichen Mitmenschen gesetzestreue Untertanen macht. Untertanen haben bei Seiden keine andere Wahl, als sich an einen Vertrag zu halten, an den sie durch die bloße Tatsache ihrer Geburt gebunden sind. Ein Widerstandsrecht, wie es etwa der liberalere Grotius vorsieht, gibt es bei Seiden selbst in Extremsituationen nicht. In seinen Tischreden heißt es unmißverständlich: "Every law is a contract between the king and the people, and therefore to be kept. "17 Angesichts dieses nach absolutistischer Apologetik klingenden Arguments ist man erstaunt zu erfahren, daß Seiden sich während des Bürgerkriegs auf die Seite des Parlaments und damit gegen den König stellt. Die Idee des Vertrages führt eine Zweiseitigkeit in die Politik ein, die einen Rückfall in alte Selbstverständlichkeiten etwa des Gottesgnadentums unmöglich macht und statt dessen neue, rationale Kalküle entwickelt. Für Seiden ist der Vertrag fiir beide Seiten rechtlich bindend, was fiir das richtige Gleichgewicht zwischen Prärogativ und Freiheit sorgt: "To know what obedience is due to the prince, you must look into the contract between him and his people; as if you would know what rent is due from the tenant to the landlord, you must look into the lease".18 In seiner mittlerweile klassischen Arbeit zum historischen Denken im England des 17. Jahrhunderts hat J. G. A. Pocock untersucht, wie der Naturzustand (als ein Zustand der absoluten Freiheit, Gleichheit und Angst) und die Denkfigur der zivilisatorischen Institutionalisierung durch Rechtsverpflichtung bei Seiden und seinen Nachfolgern, also auch bei Hobbes, ihren Fiktionscharakter verlieren und den Status historischer Wahrheiten erlangen. 19 Erst mit Locke kehrt sich diese Entwicklung wieder um. 20 Der historische Realitätscharakter des 'state of nature' bleibt bei Hobbes eher unbestimmt: "It may peradventure be thought,
"Quin ratio, quatenus talis solum est & simplex, suadet et demonstrat, non jubet, aut ad officium, nisi superioris eo qui jubetur accedat simul autoritas, obligat" Seiden, Opera 1, Sp. 139; zit. nach Tuck 1979, 94. 17 Seiden, Opera 3, Sp. 2041, zit. nach Tuck 1979, 96. 18 Seiden, Opera 3, Sp. 2076, zit. nach Tuck 1979, 99. Siehe zu Seiden auch Barbour 2003. " Pocock 1987a, 37. 20 In Lockes Konzept des Naturzustands in den Two Treatises wird ein solcher historischer Literalismus dann durch einen normativen Idealismus ersetzt. Der Naturzustand wird nicht mehr in der menschlichen Vergangenheit lokalisiert, sondern ist die gottgegebene conditio humana aller Menschen auf der Welt "prior to the lives which they live and the societies which are fashioned by the living of these lives" (Dunn 2003, 53). Lockes Spekulationen zum Naturzustand sind daher weniger anthropologisch und naturalistisch (wie bei Hobbes) als vielmehr theologisch und legalistisch. Siehe hierzu die detaillierten Ausführungen von Dunn 1969, 96-119, insbes. 97, 101, 103. 16
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there was never such a time, nor condition of warre as this; and I believe it was never generally so, over all the world: but there are many places, where they live so now. [...] Howsoever, it may be perceived what manner of life there would be, where there were no common Power to feare." 21 Es handelt sich dabei mithin für Hobbes um eine nicht bloß hinreichende, sondern notwendige und hochgradig wahrscheinliche Fiktion. In einer „polemischen Situation" 22 ist es nicht verwunderlich, daß der Naturzustand als Denkfigur eines historischen Ursprungs von Sozialität auch zu Munition fur gewaltsam ausgetragene Konflikte werden kann. Eine solche Situation stellt der englische Bürgerkrieg dar, der vor allem das Resultat einer sich insbesondere im Rechtsverständnis manifestierenden Sinnkrise traditioneller Institutionen ist. Im 17. Jahrhundert kommt es u. a. zu einem Zusammenbruch der mittelalterlichen Vorstellung eines universalen "unmade law" (234), d. h. eines aus unvordenklicher Zeit herrührenden Brauchtumsrechts; dieses wird durch ein Konzept der Souveränität und der Institution ersetzt. Seiden und seine Schüler gehören zu denen, die den Ursprung eines jeden Gesetzes auf den Willen eines Menschen zurückführen, der Souveränität besessen und diese an seine Erben weitergegeben haben müsse (234f.). Der Mythos vom 'state of nature' erzählt von der Ablösung des Naturzustands durch die Zivilisation. Als historische Ursprungsfiktion löst er den Mythos des unvordenklichen Brauchtums ab. Eine Figur der Erhaltung des Immergleichen wird ersetzt durch eine Figur radikalen, voluntaristischen und autoritären Wandels. Bei Hobbes wird die Entstehung politischer Ordnung weiter radikalisiert zu einer Schöpfung aus dem Nichts. Das Politische könne sich nur im Gegensatz zu seiner vollkommenen Abwesenheit formieren. 23 Der durchschlagende Erfolg des Konzepts .Naturzustand und Transformation' auch (und gerade) außerhalb von Programmen einer absoluten Monarchie, in denen weiterhin eine Legitimation von Gottes Gnaden bevorzugt wird, ist selbst für eine so polemische Epoche radikalen gesellschaftlichen Wandels erstaunlich. Seine unterschiedlichen Versionen stimmen in der Grundannahme eines geschichtlichen Ursprungs überein; sie unterscheiden sich jedoch in der wesentlichen Frage, wie und zu welchen Bedingungen die Menschheit aus dem Naturzustand heraustritt. Ist es ein Redner oder ein Jurist, der sie davon überzeugt, eine 'civitas' zu bilden? Basiert das Politische auf Einsicht oder Überredung? Entscheiden die Menschen sich dafür aufgrund der 'recti ratio', der rationalen Erkenntnis des Richtigen, wie der frühe Locke (im Gegensatz zum späten Locke) annimmt? 24 Oder, wie Seiden und Hobbes behaupten, weil
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Leviathan 1.13 (Hobbes 1996, 89f.). Pocock 1987a, 53.Weitere Zitate in Klammern. Vgl. Bredekamp 1999, 117ff. "omnis enim obligatio conscientiam alligat et animo ipsi vinculum injicit, adeo ut non poenae metus sed recti ratio nos obligat" (Locke 1958, 184f.). „Jede Verpflichtung bindet das Gewissen und fuhrt eine Fessel in den Geist selbst ein, so daß wir verpflichtet werden nicht durch die Furcht vor Bestrafung, sondern durch die rationale Erkenntnis des Richtigen."
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der Wille und die Autorität des Souveräns sie dazu zwingen? "It is not Wisdom, but Authority that makes a Law", bekräftigt Hobbes, der die Existenz einer "right reason" bestreitet. 25 Oder verlassen sie den Naturzustand, wie die calvinistischen Widerstandstheoretiker meinen, weil Gott ihnen dies befiehlt? (Nach ihrer Ansicht ergeht das göttliche Gebot dazu nach der Sintflut; daher sei politisches Leben keine der gefallenen Menschheit selbst zuzuschreibende Erfindung.) Religiöse Widerstandsgruppen heben zu Beginn des Bürgerkriegs den göttlichen Ursprung des Politischen besonders hervor, um ihre Opposition gegen den König zu rechtfertigen. 26 Die Frage nach den anthropologischen und historischen Grundlagen politischer Ordnung - eine Frage, die den Humanisten nicht einmal sinnvoll erschienen wäre 27 — stellt sich mit immer größerer Dringlichkeit. In späteren Entwicklungen, vor allem in den Niederlanden, führt eine weitaus weltlichere Verbindung der Ideen Machiavellis, Hobbes' und Descartes' zu einem entschieden republikanischen Bild vom Ursprung des Politischen. Velthuysen, de la Court und auch Spinoza erweitern Hobbes' Vorstellungen zum Naturzustand um eine cartesische Psychologie und eine machiavellistische Politik. In de la Courts Entwurf des Naturzustands stellen die Menschen machiavellistische Berechnungen darüber an, welche Verfassungen und Gesellschaftsformen am besten geeignet seien, um ihre Leidenschaften zum Nutzen der Gemeinschaft einbringen und kontrollieren zu können. 28 Auch die kontraktarischen Ideen Seidens werden später wieder aufgenommen, jedoch mit einer von Grotius inspirierten liberalistischen Wende. Schon in den 1640er Jahren entwickeln die Leveller eine politische Theorie, in der die Beziehung zwischen Volk und Souverän nicht als Autoritäts-, sondern als Vertrauensverhältnis aufgefaßt wird: "I conceive it is now sufficiently cleared, that all rule is but fiduciary, and that this and that Prince is more or lesse ab-
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Hobbes 1971b, 55. Zur "right reason" siehe Elements 2.10.8 (Hobbes 1994a, 181): "seeing right reason is not existent, the reason of some man, or men, must supply the place thereof". Das calvinistische Argument entwickeln ζ. Β. John Ponet, A Shorte Treatise ofPolitike Power (o. O. [Straßburg?], 1556), sig. A4, und George Buchanan, De Iure Regni apud Scotos, Dialogos (Edinburgh, 1579), 8-11. Siehe Tuck 1979, 42fF„ 144. Bei Lipsius ζ. B. treten die Menschen fast automatisch nach der Entstehung von Städten aus dem Naturzustand heraus; die genauen Umstände dieser Veränderung bleiben jedoch vage: „Denn nachdem die Menschen aus dem wilden und einsam umherschweifenden Leben vom Land in die Stadt getrieben worden sind, und Häuser und Mauern zu bauen, Gemeinschaften [coetus] zu bilden, dem Volk gemäß Gewalt auszuüben und Gewalt von sich fernzuhalten begonnen haben, da ist notwendigerweise eine Gemeinschaft [communio quaedam necessario] unter ihnen entstanden und eine Verbindung vieler Dinge [societas variarum rerum]" (Lipsius 1998, 1:11, 72-75). Die englische Übersetzung von 1595 gibt "societas variarum rerum" präziser mit "a social anticipation of divers things" wieder (1939, 1.11). Tuck (1979, 141) faßt Lambert van Velthuysen, Tractatus de Poena Divina et Humana (1664) und Johan de la Court (van den Hove), Consideratien van Staat ofte Polityke Weeg-schaal (1661) zusammen. 183
solute, as he is more or lesse trusted", schreibt Henry Parker 1642;29 und 1647 stellt Richard Overton die These auf, Autorität kehre nach ihrem Zerfall "as all things else in dissolution" an den Ort ihres Ursprungs ("from whence it came") zurück, nämlich zum Volk als " Trustees" der Macht. 30 Diese Theoretiker wenden sich gegen Seidens Vorstellung, die naturgegebene Freiheit werde zu einem bestimmten Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte aufgegeben. Die aufklärerische Idee natürlicher und nicht übertragbarer Menschenrechte erscheint bei ihnen schon in embryonaler Form. Wie bei Grotius hat der Staat in ihren Augen keine Rechte (besonders nicht das Recht der Bestrafung), welche die einzelnen nicht zuvor - und bereits im Naturzustand - besäßen.31 Des weiteren interpretieren sie den Vertrag zwischen Volk und Souverän als aufkündbar in schweren Krisen oder in Fällen des Vertrauensbruchs. Am bekanntesten ist Lockes These im zweiten Treatise of Government, wonach die Souveränität konsensuell erzeugt werde und daher kein Souverän das Recht habe, seine Macht zu mißbrauchen und seine Untertanen ungerecht zu behandeln. Manche Staatstheoretiker und Polemiker setzen den Naturzustand als historische Wirklichkeit einfach voraus; andere, darunter Hobbes, sehen ihn als in hohem Maße wahrscheinlich an; wieder andere, darunter Grotius, machen Wahrscheinlichkeitsberechnungen zu einem Schlüsselement nicht nur der eigenen Argumentation, sondern auch ihrer Beschreibung des Heraustretens aus dem Naturzustand: Die Entscheidung, den Naturzustand zu verlassen, gründe auf einem rationalen Kalkül, nämlich der "probability [that] we shall be in lesse danger, living amongst men who have agreed to be governed by certaine Lawes, then if every one followed his owne inclination".32 Alte, langgehegte Selbstverständlich29
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Observations upon Some of His Majesties Late Answers and Expresses (1642), 2. Ausg., sig. C2v, zit. nach Tuck 1979, 146. Laut Tuck taucht die Idee zuerst in einer Flugschrift vom April 1641 auf, A Question Answered: How Laws are to be Understood, and Obedience Yeelded, aber Parkers Text ist weitaus einflußreicher. Richard Overton, An Appeale from the Degenerate Representative Body (1647), in Wolfe 1944, 162. "Imo vero ut a republica ad magistratum, ita ad rempublicam jus omne a singulis devenit [...]. Quare cum transferre nemo possit, quod non habuit, jus illud antiquius penes privatos fuisse quam penes rempublicam necesse videtur. Est et hoc argumentum in earn rem efficacissimum. Respublica non tantum subditos sibi ob maleficium punit, sed etiam extraneos. In hos autem potestam non habet jure civili, ut quod cives tantum ex consensu obliget. Habet igitur ex jure naturae seu gentium" (Grotius 1868, 91). „So wie jedes Recht des Magistrats vom Staat herkommt, so kommt alles Recht des Staates von den einzelnen Menschen her. [...] Da niemand etwas übertragen kann, was er nie gehabt hat, wird daher deutlich, daß das Recht der Bestrafung zuerst ein Privatrecht war, bevor es auf den Staat überging. Auch das folgende Argument ist diesbezüglich höchst wirksam: Der Staat bestraft nicht nur die eigenen Untertanen, sondern auch Ausländer, die sich gegen ihn vergangen haben. Über diese hat er jedoch nach dem Zivilrecht keine Gewalt, weil dieses nur Staatsbürger aus ihrer Zustimmung heraus verpflichtet. Er empfängt diese Gewalt also aus dem Natur- oder Völkerrecht." An answer to a Printed Book, intituled, Observations upon Some of His Majesties late Answers and Expresses (Oxford, 1642), sig. C3v, zit. nach Tuck 1979, 104. An answer ist ein Produkt desTewKreises, gemeinsam verfaßt von Lord Falkland, William Chillingworth, Dudley Digges u. a. als Antwort auf Parkers Observations.
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keiten werden zu Unsicherheiten, denen nur noch durch Wahrscheinlichkeitskalküle (mithin im weitesten Sinne durch Fiktionen) beizukommen ist.33 Für alle Seiten in den politischen und religiösen Spannungen des 17. Jahrhunderts spielen derartige Kalküle und Fiktionen eine wichtige Rolle. Was ihre unterschiedlichen Positionen im wesentlichen verbindet, ist die stoische Vorstellung, daß der Mensch nicht fertig zivilisiert auf die Welt komme, sondern Zivilisation erst erlernen und sich "the meanes of peaceable, sociable, and comfortable living"34 erst erarbeiten, womöglich gar erkämpfen müsse. Bildung und Erziehung, auch durch Medien wie Theater und Bücher, werden daher zu zentralen Faktoren.35 Im politischen Streit zwischen Republikanern und Royalisten, zwischen Gottesfürchtigen und Säkularen, geht es nicht nur um körperliche, sondern auch um geistige Eroberungen, mithin um ideologische Munition für Polemik und Propaganda. Texte aller Art und kulturelle Kommunikation allgemein spielen eine Schlüsselrolle in diesem Zusammenhang als wichtige Vermittler zwischen gegenwärtigem politischem Handlungsdruck, Erwartungen an die Zukunft und den legitimierenden Funktionen der Vergangenheit. Wie im folgenden zu zeigen sein wird, besteht hier eine nahezu bruchlose Kontinuität zwischen argumentativen, theoretischen Schriften und narrativen literarischen Erzeugnissen sowohl auf der Bühne als auch im gedruckten Buch. Die Fiktion des Naturzustands durchstreift sämtliche „Wahrheitskriege" (Milton) 36 Englands im 17. Jahrhundert, wo und in welcher Form auch immer sie ausgefochten werden: Lyrik, Drama, pastorale Allegorie, politische Theorie. Eine wesentliche Gelenkstelle zwischen Vergangenheit und Gegenwart, aber auch zwischen politischen Zielen und den Wegen zu ihrer Verwirklichung (durch Kontrolle der öffentlichen Meinung), sowie zwischen theoretischen und narrativen Fiktionen, bietet dabei die Rhetorik. In der Rhetorik bündelt sich das Sprach- und Diskursverständnis der Zeit und artikulieren sich Grundannahmen ihres Politikbegriffs. Es zeigt sich, daß in der 'republic of letters' zirkulierende Texte eine eminent politische Funktion in einer eminent politisierten und nahezu unendlich spaltbaren Gesellschaft erfüllen. Das Wort von der literarischen 'republic' unterstreicht den politischen Charakter literarischer Kultur in der frühen Moderne, verweist aber zugleich auf das Fehlen einer zentralen Kontrollinstanz und den potentiell egalitären Charakter öffentlicher Kommunikation im Zeitalter des Buchdrucks. 33
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Chillingworth arbeitet zuvor bereits in seinem Buch The Religion of Protestants a Safe Way to Salvation (1638) mit einem Pascalschen Wahrscheinlichkeitskalkül; siehe auch hierzu Tuck 1979, ebd. Obwohl Hobbes über einen durchaus modernen Wahrscheinlichkeitsbegriff verfugt (vgl. Elements 1.4.10), wendet er ihn nicht auf seine politische Theorie an; es scheint ihm zu widerstreben, Menschen im Naturzustand Wetten auf ihre Zukunft abschließen zu lassen, denn er will, daß sie sich der Vorteile einer zivilisierten Gesellschaft gewißsind, analog zur Darstellung seiner eigenen Theorie 'more geometrico', d.h. anhand von unfehlbaren Deduktionsschlüssen. Siehe Tuck 1979, 128. Hobbes, Leviathan 1.15 (1996, 111). S. u. Kap. IV.2 zu Miltons Of Education und Areopagitica·, zum Theater vgl. Jacob/Raylor 1991 und s. u. Kap. IV.4 zu Tuke. "wars ofTruth": Milton, Areopagitica, Complete Prose 2: 562.
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Seitens der Mächtigen werden Texte aufgrund ihrer unheimlichen rhetorischen Überredungskraft als mögliche Gefährdungen der öffentlichen Ordnung und des öffentlichen Gehorsams eingestuft; andererseits kann diese Kraft extrem nützlich sein, sofern sie von den .richtigen' Leuten in den passenden Situationen eingesetzt wird. Thema und Praxis des 'state licensing' (also der Zensur) tauchen in den Diskussionen über Schrift und Rhetorik immer wieder auf.37 Politische Argumente aus allen Richtungen werden zudem in literarische Texte aus allen Gattungen eingebettet; dabei spielen, wie bereits gezeigt, auch visuelle Elemente (Frontispize, Illustrationen, Gemälde, Medaillen) eine wichtige Rolle beim Transport rhetorisch aufgeladener Thesen. Miltons Eikonoklastes und Drydens The Medal sind Beispiele für Texte, die mit allen sprachlichen Ressourcen der Rhetorik, der Ironie und des Witzes gegen die politische Macht visuell eindrucksvoller Bilder ankämpfen. Dem Theater und der Oper fällt es dagegen (zunehmend) leichter, visuelle und akustische Formen der Darbietung zu integrieren.38 Eine nach ästhetischen Kriterien verfahrende Trennung einzelner Gattungen, wie in vielen Literaturgeschichten üblich, führt hier nicht weiter. Statt dessen ist vielmehr die medienpragmatische Frage zu stellen, wie die Zeitgenossen auf Texte und Bilder reagieren und mit ihnen umgehen — inmitten von Debatten über Naturrecht, Politik und Rhetorik. Unter Berücksichtigung der sowohl integrativen als auch potentiell destruktiven Funktion der Rhetorik fur die 'polis' (und der Artikulation dieser Doppeldeutigkeit der Rhetorik in aus dem kulturellen Imaginären gespeisten Fiktionen) ist die innere Struktur der 'republic of letters' als komplexe Medien- und Verhaltenskonfiguration zu beschreiben. Diese Konfiguration bietet die Plattform für den unvermeidlichen Zusammenprall von Uberzeugungen, Diskursen und Uberredungstechniken. Sie ist die spezifische (und sehr heterogene) Form von Öffentlichkeit, in der im 17. Jahrhundert literarische Kultur ihren gesellschaftlichen Ort hat.
2. Worte als Waffen. Rhetorik und Politik bei Hobbes und Milton Had you dissembl'd better, Things might have continued in the state of Nature. Congreve, The Way of the World 1.66f.
Schon in der antiken Tradition werden Worte als Waffen verwendet. Der Rhetor, der die Menge allein durch die Macht des Wortes auf seine Seite bringt, kann für das Gemeinwesen von großem Nutzen sein, ihm aber auch schaden. Aus Ciceros Ursprungsmythos des Politischen läßt sich denn auch eine weitere wich37 38
Vgl. Patterson 1984. Siehe Milhous 1984.
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tige Konsequenz ziehen: Vorsicht vor der Beredsamkeit. Wurden die Grundlagen des Gemeinwesens allein durch persuasive Rhetorik etabliert, kann niemand garantieren, daß es einem anderen mächtigen Redner nicht gelingen könnte, an diese Fundamente zu rühren und die Gesellschaft in einen erneuten Bürgerkrieg zu stoßen. Worte sind mithin zweischneidige Schwerter. Quentin Skinner hat darauf hingewiesen, daß der in der klassischen Rhetoriktheorie für den Wortschmuck gebräuchliche Terminus 'ornatus' in der Alltagssprache der Römer zur Beschreibung von Waffen und Kriegsgerät verwendet wurde. 'Ornatus' bezeichnet die technische Kriegsausrüstung des Redners. Seine 'vis verborum', die Kraft der Worte, ist nach Quintilian ein Schwert, das gegen den Gegner geführt wird. 39 Die Rhetoriker der Renaissance und jene Intellektuelle, die wie Hobbes und Milton Latein und Griechisch beherrschen, sind sich dieser militärischen Herkunft noch bewußt. Wohingegen jedoch klassische Theoretiker die Ansicht vertreten, der Redner solle soweit als möglich die Sache der Wahrheit voranbringen, hebt Hobbes die aggressive, gewaltsame und manipulative Dimension der Rhetorik hervor.40 Die Sprache des Redners ist 'ornatus', weil sie eine bestimmte Funktion zu erfüllen hat: Gekämpft wird um öffentliche Zustimmung, Ziel ist das Umstimmen der Gegner zum Nutzen einer bestimmten Sache. In der klassischen Tradition wird Öffentlichkeit durch (mündliche) Rede hergestellt. Dem begabten Kommunikator ist mithin eine große Verantwortung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auferlegt. Für Cicero überwiegen die positiven Aspekte der Beredsamkeit: Dies eine ist doch unser wesentlichster Vorzug vor den Tieren, daß wir miteinander reden und unseren Gedanken durch die Sprache Ausdruck geben können. Wer sollte darum nicht mit Recht bewundernd daran denken und es der höchsten M ü h e wert erachten, in dem einen Punkt, in dem die Menschen einen wesentlichen Vorzug vor den Tieren haben, die Menschen selbst zu übertreffen? Ja, welche Macht sonst, u m zum Allerwichtigsten zu kommen, vermochte die zerstreuten Menschen an einem Orte zu versammeln, sie von einem wilden und rohen Leben zu unserer menschlichen und politischen Gesittung hinzuführen [ad hunc h u m a n u m cultum civilemque deducere] oder schon bestehenden Staatswesen [iam constitutis civitatibus] die Gesetze, Gerichte und Rechtsnormen vorzuschreiben? U m nicht weitere Einzelheiten anzuführen - denn es gibt fast unzählige - fasse ich mich kurz: Ich stehe nämlich auf dem Standpunkt, daß sich auf das Walten und die Klugheit des wahren Redners [perfecti oratoris moderatione et sapientia] nicht nur sein eigener Rang, sondern auch das Wohl der meisten Privatpersonen und des gesamten Staats entscheidend gründet. 4 1
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Quintilian, Institutio oratoria 8.3.5; siehe Skinner 1996, 49f. mit weiteren Quellenangaben (Ad Herennium, Tacitus). Aristoteles, Rhetorik 1.1.2,1.9; Hobbes, Α Briefe of the Art ofRhetorique (1637); siehe Tuck 1996, 195 ff. Cicero, De oratore 1.33f. (1976, 60f.). Zu Ciceros Ideal des vollendeten Redners als vollendetem Staatsmann und zum Nachleben seines Erziehungsideals im Humanismus siehe Grafton/Jardine 1986, 210-20; siehe auch Kahn 1985.
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Von wirkmächtiger Rede muß nach Cicero mit Bedacht und Sorgfalt, mit Klugheit und Maß Gebrauch gemacht werden, damit staatsbürgerliche Tugenden unterstützt und der "cultus humanus civilisque" bewahrt werden. Ein solcher Gebrauch hängt jedoch ganz von den guten Absichten des Redners ab, und daher rühren die großen Bedenken der Rhetoriker des 17. Jahrhunderts: Rhetorik könne in der Absicht verwendet werden, Publika und deren unterschiedliche Sinnerwartungen miteinander in Einklang zu bringen; sie könne jedoch auch durch den Gebrauch von Metaphern und Doppeldeutigkeiten spalten und verwirren, könne das Verstehen fragmentieren durch Ausbeutung der Wünsche und Vorurteile einzelner.42 Als öffentliche Kommunikationsform liefert Rhetorik ein zentrales politisches Bindeglied zwischen einzelnen Menschen, der Bevölkerung als Masse einzelner Untertanen und dem Souverän. Sie ist machtvoll in ihren politischen Wirkungen und Implikationen; daher ist nach Hobbes ihre Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Stabilität in jenen Gesellschaftsformen am größten, in denen souveräne Kontrolle am schwächsten ausgeprägt ist, insbesondere in Demokratien: Dagegen können bei der Volksherrschaft so viele ein Nero sein, als Volksredner d e m Volke schmeicheln. Jeder von ihnen vermag so viel wie das Volk selbst [...]. Außerdem m u ß die M a c h t eines jeden Bürgers eine gewisse Grenze einhalten, über die hinaus sie den Staat [civitati] gefährden würde; deshalb m u ß der M o n a r c h eine gewisse Vorsorge üben, damit der Staat [respublica] von daher nicht Schaden leide. [...] Das Gleiche geschieht gewöhnlich auch in der Demokratie: so schickten die Athener machtvolle Bürger, auch ohne daß sie ein Verbrechen begangen hatten, in die Verbannung, nur weil sie mächtig waren. In R o m wurden die, welche die G u n s t des Volkes durch G e schenke zu gewinnen suchten, als des Strebens nach der Königsherrschaft verdächtig, getötet. 4 3
Für Thomas Sprat, den Historiker der Royal Society, ist Sprache eine "Weapon [...] as easily procur'd by bad men as good", und er ist daher der Ansicht, man solle die Redner - wie bei Piaton die Dichter - aus dem Staat verbannen: "eloquence ought to be banish'd out of civil societies as a thing fatal to Peace and good Manners." 44 Hobbes nähert sich diesem Thema mit einem höheren begrifflichen Auflösungsvermögen. Er unterscheidet zwei Arten der Beredsamkeit: die eine nennt er Logik, die andere Rhetorik. Erstere sei „der klare und elegante Ausdruck der Gedanken und der Begriffe, entstanden zum Teil aus der Betrachtung der Dinge selbst, zum Teil aus einem Verständnis der Worte in ihrer eigentlichen und bestimmten Bedeutung". 45 Dies ist die Art der Beredsamkeit, die er für 42
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Silver 1996, 338. Zum Verhältnis von Rhetorik und Logik bei Hobbes siehe auch Kahn 1985, 152-81. Hobbes, De Cive 10.7 (1839, 2: 270f.; 1994b, 180). Sprat 1958, 111; Herv. im Original. Hobbes, De Cive 12.12 (1839, 2: 294): "sententiae et conceptuum animi perspicua et elegans explicatrix, oriturque partim a rerum ipsarum contemplatione, partim a verborum in propria et definita significatione acceptorum intelligentia"; 1994b, 201 f.
seine eigene Wissenschaftssprache reklamiert. So heißt es etwa in der Einleitung zu den Elements of Law. "whilst I was writing I consulted more with logic, than with rhetoric." 46 Im Leviathan wird Logik definiert als Wissen von den aus der Sprache resultierenden Folgen "In Reasoning , Rhetorik "In Perswading ,47 Die Idealvorstellung logischer Beredsamkeit ist die „zwingend verständliche Rede", 48 die er an den Beispielen Euklids und Thukydides' bewundert. An Euklid fasziniert ihn die demonstrative Klarheit der Geometrie, an Thukydides die "coherent, perspicuous and persuasive [...] narration". 49 Diese Art der Beredsamkeit "doth secretly instruct the reader, and more effectually than can possibly be done by precept" 50 — eine Art logisches 'imprinting' der Wahrheit, ohne welches die Wahrheit weniger wirksam wäre. Die zweite Art der Beredsamkeit ist die gefährliche: sie verwandelt die menschliche Zunge in „die Trompete des Krieges und Aufruhrs". 51 D i e andere [Beredsamkeit] ist eine Erregung der Leidenschaften [affectuum animi], wie H o f f n u n g , Furcht, Zorn, Mitleid, u n d s t a m m t her von d e m übertragenen G e brauch der Worte [ex usu verborum metaphorico], der den Leidenschaften angepaßt ist. Jene webt ihre Rede aus wahren Grundsätzen, diese aus den herrschenden Meinungen, gleichviel welcher Art sie seien; die K u n s t jener ist die Logik, dieser die Rhetorik; das Ziel jener ist die Wahrheit, dieser der Sieg. [...] Wer aber seine Zuhörer aus d u m m e n Menschen zu verrückten machen kann; wer bewirken kann, daß die Armen ihren Z u s t a n d fur noch elender und die in guten Verhältnissen Befindlichen ihren Z u s t a n d fur schlecht halten; wer die H o f f n u n g e n verstärken u n d die Gefahren verharmlosen kann, trotz aller G r ü n d e der Vernunft: der vermag das nur durch Beredsamkeit; nicht durch die, welche die D i n g e so darstellt wie sie sind, sondern durch jene andere, welche die Gemüter aufregt und d a m i t ihnen alles so erscheinen läßt, wie der Redner selbst in seiner Aufregung es vorher aufgefaßt hat. [...] D e n n die D u m m heit und die Rednerkunst verbinden sich zum U m s t u r z des Staates [ad subversionem civitatis] [...]. 52
Im Leviathan zählt Hobbes zu den "Abuses of Speech" die Möglichkeit der Nutzung von Sprache als einer Waffe, mit der sich Menschen gegenseitig Schmerzen zufügen: "for seeing nature hath armed living creatures, some with teeth, some with horns, and some with hands, to grieve an enemy, it is but an abuse of Speech, to grieve him with the tongue". 53 Er trifft jedoch eine wichtige Unterscheidung zu diesem Mißbrauch der Sprechwerkzeuge, insofern der Souverän das Recht und die Pflicht habe, sich der Waffe der Rhetorik zu bedienen: Falls es 46
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Hobbes 1994a, 19. Leviathan 1.9 (1996, 61). "compulsively intelligible speech" (Silver 1996, 341). Hobbes 1975, 17. Hobbes 1975, 18. Hobbes, De Cive 5.5: "hominis autem lingua tuba quaedam belli est et seditionis" (1839, 2: 212f.); 1994b, 127. Hobbes, De Cive 12.12f. (1839, 2: 294ffi); 1994b, 202f. Leviathan 1.4 (1996, 26). 189
sich bei dem Gegner um jemanden handelt, ,den wir zu regieren haben' ("whom wee are obliged to govern"), "then it is not to grieve, but to correct and amend" (ebd.). In Rebellenhand ist rhetorische Macht für Hobbes gefährlich und ungesetzlich; in den Händen des Souveräns ist auf Rhetorik fußende Propaganda ein Werkzeug der Korrektur und Erziehung. Das Studium der Geschichte unterweise den Souverän in den Verbindungen zwischen Rhetorik und politischem Handeln. Indem sie Beispiele aus der Geschichte liefere, biete die Historie eine Art Wahrheitsspeicher: eine intellektuelle Methode, um gegenwärtige Problemlagen mit Hilfe künstlich gewonnener Erfahrungen verstehen zu können. 54 Hobbes' Widmungsschreiben zu seiner Thukydides-Ubersetzung (1629) an den Earl of Devonshire kommentiert diese Funktion sehr prägnant. 55 Hobbes weiß um die politische Bedeutung der Rhetorik, dient er doch dem jungen William Cavendish - dem späteren Herzog von Newcastle und Ehemann Margaret Cavendishs - als Rhetoriklehrer und Berater. Die Thukydides-Ubersetzung ist denn auch als „Vorbild fiir den Staatsbürger" gelesen worden.56 Bereits die Titelseite der Eight Bookes of the Peloponnesian Warre (Abb. 4) stellt in ihrem visuellen Layout eine explizit politische These auf: einen Vergleich zwischen Sparta und Athen, zwischen Monarchie und Demokratie. Links, auf spartanischer Seite, sieht man eine Art Ratsversammlung (unter der Überschrift "hoi aristot'), der ein gekrönter König mit Zepter vorsitzt. Die aristoi scheinen eine ruhige, vernunftgeleitete Diskussion zu fuhren, so ruhig, daß einer von ihnen sogar die Zeit findet, in einem großen Buch etwas nachzuschlagen. Hier verläßt man sich auf Vernunft und Bildung, vielleicht sucht man Rat bei der Historiographie. Auf der rechten, der Athener Seite wird dagegen eine Menschenmasse ("hoi polloi") von einem Redner aufgewiegelt, der erhöht auf einer Kanzel steht. Die Botschaft dieses rhetorisch operierenden Bildes ist unmißverständlich: Der Gegensatz zwischen Logik (Weisheit, gute Regierung) und Rhetorik (Wahnsinn, Tumult, Revolte) ist selbst ein politischer Gegensatz. Hobbes sagt dies auch ausdrücklich in seinem einleitenden Aufsatz: For his [Thucydides'] opinion touching the government of the state, it is manifest that he least of all liked the democracy. And upon divers occasions he noteth the emulation and contention of the demagogues for reputation and glory of wit; with the crossing of each other's counsels, to the damage of the public; the inconsistency of resolutions, caused by the diversity of ends and power of rhetoric in the orators; and the desperate actions undertaken upon the flattering advice of such as desired to attain, or to hold what they had attained, of authority and sway amongst the common people.57
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Davenant bezeichnet die Historiographie bekanntlich als "Truth narrative" (1971b, 11). Siehe Hobbes, "To the Right Honourable Sir William Cavendish [...]" (1975, 3ff.). Hobbes empfiehlt die Schriften des Thukydides "as having in them profitable instruction for noblemen, and such as may come to have the managing of great and weighty actions" (4). Vgl. Silver 1996, 334-37. "a model for the citizen": Norbrook 1999, 60. Hobbes 1975, 13.
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In einem autobiographischen Gedicht von 1672 verdichtet Hobbes diese Position zu einem einzigen Paarreim: Thukydides, so Hobbes, "says Democracy's a Foolish Thing, / Than a Republick Wiser is one King." Rückblickend will er seine Thukydides-Ubersetzung als "a Guide to Rhetoricians" verstanden wissen, d. h. als zeitgemäße Warnung vor den Unterstützern eines parlamentarischen Systems.58 Hobbes' Lehre von Logik und Rhetorik hat mithin eine notwendige und unausweichliche politische Richtung: Ihr Zweck ist es sicherzustellen, daß die rhetorischen Massenüberredungswaffen in der gichtigen' Situation in den Händen der gichtigen' Leute sind. Milton teilt Hobbes' Sicht auf Rhetorik als potentiell gefährliches politisches Instrument. Für den Republikaner, der von 1649 bis 1659 als eine Art Außenminister (Secretary for Foreign Tongues) fur den Staatsrat tätig ist und gegen Ende dieser Zeit die Arbeit an seinem dichterischen Hauptwerk beginnt, ist Wissen jedoch nicht das Resultat einer Evidenzerfahrung, eines 'imprinting' der Wahrheit, sondern gestaltet sich als fortwährender Kampf zwischen widerstreitenden Ideen. Die Wahrheit, die aus dem Kampf der Diskurse hervorgeht, ist für ihn eine kriegerische Gestalt, gekleidet in militärische Metaphern. 59 Während für Hobbes die Wahrheit und der Gehorsam gegenüber dem Souverän so notwendig zusammengehören wie die wissenschaftliche Gewißheit der Geometrie und die Legitimation weltlicher Herrschaft, ist Miltons Wahrheitsbegriff zugleich dynamischer und weniger stabil als Hobbes'. 60 Dies wird besonders deutlich in Miltons Schriften aus der Zeit des Bürgerkriegs. Im folgenden werden als Beispiele Of Education und Areopagitica herangezogen, die beide 1644 erscheinen.61 In Of Education zieht Milton eine Parallele zwischen Erziehung und republikanischer Militärdisziplin. Dabei ruft er ganz ausdrücklich die Militärmetaphern der klassischen rhetorischen Terminologie wieder auf.62 Seine Schülergruppen werden der Größe nach einer Kompanie von Infantristen gleichgesetzt: "a foot company, or interchangeably two troops of cavalry" (381). Der Lernfortschritt wird mit den Kampflinien einer Armee verglichen ("middle ward" 406, "rear" 407), während die Bestätigung und Festigung
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Hobbes, The Verse Life (1994a, 254—64, 256). Der englische Text ist eine anonyme Übersetzung aus dem Jahre 1680 von Hobbes' 1672 geschriebenem und 1679 veröffentlichtem lateinischen Original Thomae Hobbes Malmesburiensis Vita Carmine Expressa. In der Originalfassung wird der mahnende Charakter des "Guide" viel deutlicher: "Is democratia ostendit mihi quam sit inepta / Et quantum coetu plus sapit unus homo. / Hunc ego scriptorem verti, qui diceret Anglis, / Consultaturi rhetoras ut fugerent" (Hobbes 1839,1: lxxxi—xcix, lxxxviii, Z. 80—4). Siehe Skinner 1996, 229f. Siehe Barker 1990. Siehe hierzu vor dem Hintergrund der Diskussionen um Kirchen- und Liturgiereform auch Rosendale 2004. Complete Prose 2: 357—415 (Of Education), 2: 480-570 (Areopagitica). Weitere Zitate in Klammern. Vgl. Norbrook 1999, 119.
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Interpreted/ [...] / By Thomas Hohhes. 1629. Titelseite.
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des Gelernten "like the last embattelling of a Romane legion" sei (407). Erziehungsziel ist die Förderung staatsbürgerlicher Tugend oder "civility"63 (381): "I call therefore a compleate and generous Education that which fits a man to perform justly, skilfully and magnanimously all the offices both private and publike of peace and war" (378f.). Das Studium der Gesetze und der Politik soll die Schüler zu Bollwerken gegen die Tyrannei machen, "stedfast pillars of the State" (389). Ihre tägliche Routine schließt neben theoretischer Kontemplation auch praktische Übungen ein: Schwertkampf, Ringen (409), militärische Manöver under skie or covert, a c c o r d i n g to the season, as was the R o m a n e w o n t ; first o n f o o t , then as their age p e r m i t s , on horse back, to all the art o f cavalry; T h a t having in s p o r t , b u t with m u c h exactnesse, a n d dayly muster, serv'd o u t the r u d i m e n t s o f their S o u l d iership in all the skill o f embattailing, m a r c h i n g , e n c a m p i n g , fortifying, beseiging a n d battering, with all the helps o f ancient a n d m o d e r n stratagems, Tactiks a n d warlike m a x i m s , they m a y as it were o u t o f a l o n g warre c o m e f o r t h r e n o w n e d a n d p e r f e c t C o m m a n d e r s in the service o f their country. [...] S o m t i m e s taking sea as farre as to o u r Navy, to learn there also w h a t they can in the practicall k n o w l e d g e o f sailing a n d o f sea fight. ( 4 1 1 - 1 2 , 4 1 3 )
Erziehung ist für Milton ganz wörtlich ein Kriegsgeschäft, sein idealer Schüler eine Art republikanischer Samurai. Zum konkreten Umgang mit Rhetorik, gar zur Eingrenzung ihrer Gefahren für den Staat, erfährt man in Of Education jedoch wenig. Dies ist das Thema der Areopagitica, einem weitaus komplexeren und in der neueren Miltonforschung besonders häufig und intensiv studierten Text. Die Areopagitica assoziiert bereits in ihrem Titel London mit Athen und das englische Parlament mit dem Areopag, dem alten athenischen Gericht auf dem Hügel des Kriegsgottes Ares, das von republikanischen Theoretikern — u. a. von James Harrington und Algernon Sidney — als gerechte und ehrwürdige Institution hochgeschätzt wird.64 Die republikanische Orientierung wird bereits durch die Bevorzugung des athenischen Demokratiemodells deutlich (vgl. oben zu Hobbes' Thukydides). Der Areopag dient jedoch auch als aristokratisches Gegengewicht zur demokratischen Versammlung, der ekklesia. Miltons Bezug darauf könnte ironisch sein, könnte aber auch sein Vertrauen in die Stabilität etablierter Institutionen (konkret: des Oberhauses) signalisieren und in deren Fähigkeit, eine Ochlokratie zu verhindern. Anders als die Leveller wendet sich Milton gegen die Abschaffung des Oberhauses und spricht in der Areopagitica durchgängig "Lords and Commons" gemeinsam an.65 Areopagitica wendet sich an das Parlament mit einer stark rhetorisch aufgeladenen Argumentation "For the Liberty of Unlicenc'd Printing" (486). Es geht
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Der Kommentar der Herausgeber glossiert "civility" als "good citizenship" (2: 381, Anm. 63). Das Prestige des Areopags im 17. Jahrhundert geht auf Jean de Meurs' Schrift Ioannis Meursi Areopagus, sive, De Senatu Areopagitico (Leiden 1624) zurück, der Titel Areopagitica auf eine berühmte Rede des Isokrates. Siehe Norbrook 1999, 130, 132
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mithin um die Haltung einer neuen, republikanischen, auf das Prinzip der 'liberty' gegründeten Staatsform zur Verbreitung und Kontrolle von Druckschriften und allgemein zur Rede- und Meinungsfreiheit von Andersdenkenden'. Es geht letztlich um einen Versuch, Politik und literarische Kultur in Übereinstimmung zu bringen, und dabei auch um eine Neubewertung der Rhetorik selbst, die sich schon in der Form des Textes niederschlägt. Areopagitica ist eine Kunstrede, die nie vor dem Parlament gehalten wird (wo Milton als Sprecher gar nicht zugelassen ist). Dies hat sie mit der ,Rede' des Athener Rhetorikers Isokrates gemeinsam, von der ihr Titel angeregt ist. Es ist ein Text, der Mündlichkeit simuliert und so den pseudo-oralen Charakter vieler zeitgenössischer Flugschriften nachahmt und ausnutzt. 66 Zur Illustration seiner Argumente gegen die staatliche Vorzensur verwendet Milton den Mythos des Kadmos, des Gründers und ersten Königs von Theben. Kadmos gilt der Legende nach als derjenige, der die Erfindung der Schrift aus Phönizien nach Griechenland importiert. 67 Milton assoziiert diesen Mythos mit der (alchimistisch-animistisch beschriebenen) .Lebendigkeit' der Schrift und des gedruckten Buches selbst über den Tod des Autors hinaus: Books are not absolutely dead things, but doe contain a potencie of life in them to be as active as that soule was whose progeny they are; nay they do preserve as in a violl the purest efficacie and extraction of that living intellect that bred them. 68 1 know they are as lively, and as vigorously productive, as those fabulous Dragons teeth; and being sown up and down, may chance to spring up armed men. (492)
Nachdem Kadmos die Marsschlange erschlagen hat, die einen heiligen Hain nahe seiner neugegründeten Stadt bewacht, befolgt er den Befehl Pallas Athenes, die Zähne des Drachen auf dem Acker auszusäen. Sogleich verwandeln sich die drei Zahnreihen in waffenstarrende Krieger, die gegeneinander antreten. Nach ihrem Kampf, dem Kadmos mit Interesse zusieht, bleiben nur fiiinf Krieger am Leben, die ihm nun beim Aufbau seiner Stadt behilflich sind.69 Milton nutzt diesen Mythos nicht nur, um deutlich zu machen, daß Texte potentiell todbringende Waffen sein können; das hätte man als Argument flir die Vorzensur und die Kontrolle der Druckerpresse "to prevent Discord and Civill Warre"70 verste66
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Vgl. Norbrook 1999, 129, wonach die Unterscheidung zwischen einer mündlichen Parlamentsrede und einer schriftlichen "demonstration" in den 1640er Jahren gar nicht scharf zu treffen sei. Zum einen sei es üblich gewesen, Parlamentsreden zur Information der Allgemeinheit in Druck zu geben; zum anderen seien Petitionen aus der Bevölkerung vor dem Parlament verlesen worden. Vgl. Hobbes, Leviathan 1.4 und 1971a, 47: "For it is certaine, Cadmus was the first that (from Phoenicia, a country that neighboureth Judad) brought the use of Letters into Greece." Ein Gemeinplatz: siehe etwa Bacon, Advancement of Learning 1.8.6; Davenant (1971b, 24): "Men past (of whom Bookes are the remayning mindes)"; ebenso Gondibert{ 1651), 2.5.36 "The Monument of vanish'd Mindes", was später in satirischer Absicht von Dryden in MacFlecknoe (1676), Z. 82 zitiert wird. Ovid, Metamorphosen 3.95-126. Leviathan 2.18 (1996, 125).
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hen können, wie Hobbes es wenige Jahre später vorschlägt und wie es nach dem Verbot seiner Bücher ironischerweise auf ihn selbst angewendet wird. Milton benutzt den Mythos auch, um nahezulegen, daß diese ,Waffen' sich gegenseitig bekämpfen und ausschalten werden. Abweichende Meinungen setzen sich einem öffentlichen Selektionsprozeß aus; die überlebenden helfen die Stabilität des Gemeinwesens zu festigen. Lebendigkeit und Schöpferkraft ("vigorously productive") sind zudem nicht unbedingt übliche Beschreibungen für Staatsfeinde. Das Bemühen um die Wahrheit wird fur Milton angetrieben von der Energie wettstreitender Meinungen. Auf den Sieg über Tyrannei und Bürgerkrieg folgt keine Rückkehr in den Naturzustand, sondern der Aufbau eines erstarkten und energischen republikanischen Staatswesens. Folglich überwiegt im Falle der Vorzensur der Verlust einer möglicherweise wertvollen Wahrheit den kurzfristigen Gewinn öffentlicher Sicherheit: W e should be wary [...] what persecution we raise against the living labours of publick men [...] since we see a kinde of homicide may be thus committed, sometimes a martyrdome, and if it extend to the whole impression, a kinde of massacre, whereof the execution ends not in the slaying of an elementall life, but strikes at that ethereall and fift essence, the breath of reason it selfe, slaies an immortality rather then a life.
(493) Anders als Hobbes fürchtet Milton die Rhetorik nicht als eine zerstörerische politische Kraft, sondern stellt sich als Fürsprecher eines offen ausgetragenen Streites zwischen verschiedenen Meinungen dar, aus dem die (republikanische) Wahrheit siegreich hervorgehen werde: "all opinions, yea errors, known, read, and collated, are of main service & assistance toward the speedy attainment of what is truest" (513). Vor Hobbes' bete noire, der Meinung, hat er keine Angst, "for opinion in good men is but knowledge in the making" (554). Hobbes hält dagegen: "if every man were allowed this liberty of following his conscience" — .Gewissen' ist bei ihm nicht religiös definiert, sondern als bloße "opinion of evidence" im Gegensatz zu wissenschaftlicher Gewißheit - "in such difference of consciences, they would not live together in peace an hour".71 Milton fürchtet offensichtlich den durch Zensur vorangetriebenen Niedergang von Bildung und Forschung, die "dull ease and cessation of our knowledge" (545) mehr als die dem Staat aus abweichenden Meinungen potentiell erwachsende Gefahr. Beide, Milton wie Hobbes, berufen sich bei ihren Argumenten auf'reason'. Aber während für Hobbes Vernunft und Widerstreit einander ausschließen, betrachtet Milton die Vernunft als mehrstimmig und vielgestaltig ("all manner of reason", 517; Wahrheit "may have more shapes then one", 563). Das Gemeinwesen ist für ihn eine dynamische Struktur, die aus dem Widerstreit hervorgeht und die
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Hobbes, Elements 2.24 (1994a, 137). Hobbes' Definition des Gewissens findet sich ebd. 1.6 (42). Vgl. De Cive 6.11 und 12.1—7 zu aufrührerischen Meinungen als Grundlage einer Zersetzung des Staatswesens, wiederholt in Leviathan 2.29.
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geschützt wird durch jene reinen "pillars of the State", die so gut ausgebildet sind, daß ihr Anstand und ihre Tugendhaftigkeit von der gelegentlichen Lektüre eines schlechten Buches keinen Schaden nehmen können: For books are as meats and viands are; s o m e of good, some of evill substance [...]. W h o l e s o m e meats to a vitiated stomack differ little or n o t h i n g f r o m unwholesome; and best books to a naughty m i n d are n o t unappliable to occasions of evill. Bad meats will scarce breed good n o u r i s h m e n t in the healthiest concoction; b u t herein the difference is of bad books, that they to a discreet and judicious Reader serve in m a n y respects to discover, to confute, to forewarn, and to illustrate. (512f.)
Hier klingt die gemeinplatzartige Assoziation von Lektüre und Nahrungsaufnahme wieder an, die uns schon in Burtons Anatomy begegnet ist.72 Milton schmückt diesen Topos weiter aus und lädt ihn mit politischer und ideologischer Bedeutsamkeit auf. Die eben zitierten Sätze sind auch ein Widerhall seiner Empfehlung in OfEducation, den Schülern beizubringen, wie sie sich bei verdorbenem Magen verhalten sollen ("how to manage a crudity", 392f.) und wie sie durch sorgfältige Ernährung und Leibesertüchtigung ihre "healthy and stout bodies" (393) bei guter Gesundheit erhalten können. Um dies zu erreichen, sei sowohl geistig als auch körperlich ein gutes Gleichgewicht zwischen inneren Zuständen und äußeren Einflüssen (erläutert als "those actions which enter into a man, rather then issue out of him", 513) vonnöten. Im Falle der Lektüre wie beim Essen zielt Miltons Vorschlag darauf ab, sich gegen schädliche Einflüsse dadurch zu immunisieren, daß man sich ihnen kontrolliert aussetzt: "He that can apprehend and consider vice with all her baits and seeming pleasures, and yet abstain, and yet distinguish, and yet prefer that which is truly better, he is the true warfaring Christian. [...] [T]hat which purifies us is triall, and triall is by what is contrary" (514£). Miltons Metaphern sind physiologisch und epidemiologisch,73 aber sie sind auch merkantilistisch und militärisch. Sie heben den Offentlichkeitscharakter gedruckter Schriften hervor und den Wert der Wahrheit als öffentliches Gut, gar als (Export-)Ware: "our richest Marchandize" (548). Areopagitica nimmt so eine Zwischenstellung ein zwischen einem humanistischen und einem neoklassisch-rationalistischen Welt- und Menschenbild - eine Stellung, die sich auch an anderen Schriften Miltons und nicht zuletzt in seinen Dichtungen belegen ließe. Dabei macht Milton in Areopagitica recht geschickt Gebrauch von dem
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Auch in Bacons Essay "Of Studies" (1597): "Some books are to be tasted, others to be swallowed, and some few to be chewed and digested" (Bacon 1996, 81). Vgl. Hobbes, Leviathan, Review and Conclusion: "it is an argument of Indigestion, when Greek and Latine Sentences unchewed come up again, as they use to doe, unchanged" (1996,490); Davenant 1971b, 25: "Readers have so imperfect Stomacks, as they either devoure Bookes with over hasty Digestion, or grow to loath them from a Surfet." "infection" 517, 519; "contagion" 518; "to instill the poison" 518; "infuse" 518, "drugs", "med'cins" 521, "to take nothing down but through the pipe" 536f. etc.; siehe auch den ausgedehnten Vergleich zwischen öffentlicher Moral und physischer Konstitution 557.
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traditionellen analogischen Austausch zwischen dem Staatskörper (body politic) und dem menschlichen Körper (body natural), aber dieser Austausch wird im Bild der Zirkulation mechanisiert. Die Dringlichkeit des rhetorischen Vortrags, mit dem Milton für die Freiheit der Druckpresse eintritt,74 verstellt leicht den Blick dafür, daß er sich keineswegs gegen eine Staatszensur bereits veröffentlichter Schriften wendet. 75 Reaktionäre Royalisten oder katholische Propagandisten bleiben unterdrückt; Miltons Anliegen ist vielmehr der Schutz radikaler protestantischer Gruppen vor einem zentralistischen Staatsmonopol auf den religiösen Diskurs.76 In der Areopagitica feiert er das utopische Idealbild einer auf griechischen und römischen Vorbildern gegründeten Republik: "a Nation not slow and dull, but of a quick, ingenious, and piercing spirit, acute to invent, suttle and sinewy to discours, not beneath the reach of any point the highest that human capacity can soar to" (551). Dieses Idealbild entspricht einem Gemeinwesen, in dem sich der notwendige Kontrollaspekt mit einem flexiblen, dynamischen und militanten Wahrheitsbegriff verbindet, der aus einem mit rhetorischen Mitteln ausgefochtenen Krieg der Diskurse hervorgehen soll. Die Rede kulminiert im ebenso pathetischen wie patriotischen Bild Londons als einer von Gott beschützten "vast City; a City of refuge, the mansion house of liberty" (553f.). In dieser Stadt, einem neuen Jerusalem, werden die "plates and instruments of armed Justice in defence of beleaguer'd Truth" geschmiedet, sowohl im wörtlich-militärischen als auch im übertragen-literarischen Sinn: "others as fast reading, trying all things, assenting to the force of reason and convincement" (554). Die Logik der Uberzeugung funktioniert hier analog zu Hobbes' Vorstellung des 'imprinting'. Doch Miltons religiöser Rationalismus beschreibt einen zivilisatorischen Prozeß, der sich aufs schärfste von Hobbes darin unterscheidet, daß er nicht als ein einmaliges Ereignis, sondern als permanent fortschreitende "reformation" konzipiert ist (vgl. 550f., 555). Falls Hobbes die Areopagitica je gelesen hat, muß er dies als permanenten Bürgerkrieg verabscheut haben. Ganz im Gegensatz zu Hobbes fungieren der Dissens und auch der religiöse Dissent bei Milton als formatives Element in der architektonischen Struktur seines Idealstaats, dem "house of God": w h e n every stone is laid artfully together, it [the house of G o d ] c a n n o t be united into a continuity, it can b u t be contiguous in this world; neither can every peece of the building be of o n e form; nay rather the perfection consists in this, that o u t of m a n y m o d e r a t varieties and brotherly dissimilitudes that are n o t vastly dispropor-
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"see, and know, and yet abstain", 516; "To be still searching what we know not, by what we know [...], this is the golden rule [...]; not the forc't and outward union of cold, and neutrall, and inwardly divided minds", 551. Shawcross 1989, 9; vgl. Kolbrener 1997, 11-27; Norbrook 1994. Norbrook 1999, 120f.
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tionall arises the g o o d l y a n d the gracefull s y m m e t r y that c o m m e n d s the w h o l e pile a n d structure. ( 5 5 5 )
Das Gleichgewicht dieses Gemeinwesens ist eine concordia discors, eine "symmetry", die aus der Spannung zwischen integrierenden und (bis zu einem gewissen Grad) desintegrierenden sozialen und intellektuellen Kräften resultiert. Es handelt sich dabei um eine Ordnung, die aus dem Wechselspiel zwischen Information und Rauschen, Ordnung und Unordnung hervorgeht. Diese Ordnung manifestiert sich auf der sprachlichen Ebene des Textes in seinem selbstreflexiv rhetorischen Stil: "manifest by the very sound of this which I shall utter" (487). Ordnung und die Entstehung von Ordnung werden dramatisiert in der asymmetrischen Syntax und den surrealen Bildhäufungen des Tetxtes, der ein Klangbild erzeugt, aus dem die Schwierigkeit und Prozeßhaftigkeit der Strukturierung unterschiedlicher Ansichten zu einem Ordnungsgefüge hörbar und lesbar abgebildet werden.77 Es ist bezeichnend, daß Milton in der Areopagitica nicht auf die stoische Tradition des Naturzustands rekurriert; so bleibt unklar, was geschieht, wenn das politische System und die öffentliche Ordnung zerfallen. Die Möglichkeit eines Scheiterns des Reformationsprozesses ist nicht vorgesehen. Hingegen verwendet er sehr wohl ciceronische oder Hobbessche Adjektive, um den Zustand des Volkes unter dem ancien regime mit der neuen Staatsform zu vergleichen: "We can grow ignorant again, brutish, formall, and slavish, as ye found us; but you then must first become that which ye cannot be, oppressive, arbitrary, and tyrannous, as they were from whom ye have free'd us" (559). Der Naturzustand der Bestialität ist hier nicht naturgegeben, sondern das Produkt einer falschen Regierung. Konstant bleibt bei Milton der vergleichende Kontrast einer zivilisierten Gegenwart mit einer barbarischen Vergangenheit; in der Areopagitica findet sich die gleiche Legitimierungsstruktur wie in anderen politischen Traktaten der Zeit. Aber hier wird die barbarische Vergangenheit nicht mit einem vom Naturrecht beherrschten 'state of nature' gleichgesetzt, sondern - weitaus polemischer - mit einer (für Milton und die Republikaner
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Norbrook 1999, 134ff. liefert eine sorgfältige Analyse des komplexen sprachlichen Gleichgewichts in Areopagitica. Zum eben zitierten Absatz schreibt er: "Small-scale formal balances are here set against large-scale conceptual and syntactic asymmetries [...]. Throughout the text, present participles [...] are given predominance over past participles with their possible overtones of premature completion [...]. Milton's sinuous syntax dramatizes the difficulty of accommodating differing views, in order to give the impression of a structure that is ultimately all the more solid for the work it has done" (134f.). Norbrooks Verknüpfung von Miltons prekärer Stil-Asymmetrie mit republikanischen Interpretationen von Longinus' Peri hypsous und dem Begriff des Erhabenen (137ff.) scheint mir überzeugend. - Eine republikanische Rhetorik wie die der Areopagitica könnte das polemische Ziel von Lockes 1660 gemachter Bemerkung bilden, "that there hath been no design so wicked which hath not worn the vizor of religion, nor rebellion which hath not been so kind to itself as to assume the specious name of reformation [...], that none ever went about to ruin the state but with pretence to build the temple" (Locke 1993, 144).
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u m 1644) überwundenen Herrschaftsform. Für den religiösen Dichter u n d monistischen Denker Milton kann die N a t u r nicht als Gegenbild göttlicher und menschlicher O r d n u n g e n herhalten, ist sie doch selbst Teil der einen u n d unteilbaren göttlichen Substanz. 7 8 D a r a u s folgt jedoch auch, daß bei M i l t o n - wie bei H o b b e s - Politik als irdisch-menschliches Geschäft alles andere als ,natürlich' ist und der Rationalismus insofern die O b e r h a n d behält, als die Menschen für ihre politische O r d n u n g selbst die Verantwortung zu tragen haben. 7 9 Trotz aller deutlichen Unterschiede haben Leviathan und Paradise Lost diese Botschaft gemein. Es gibt Anhaltspunkte dafür, daß Milton seine eher optimistischen Ansichten zur Rhetorik, wie sie in der Areopagitica anklingen, nach d e m Scheitern der englischen Republik revidiert hat. Es ist nicht zu übersehen, wie sehr Satan in Paradise Lost nach dem Vorbild antiker Rhetoren auf die persuasive M a c h t der Rede baut, u m den freien Willen Adams und Evas zu korrumpieren. Es ist eine Rhetorik der akustischen Fallstricke und der verbalen Fesselung, die an bildliche Darstellungen des Hercules Gallicus erinnert (siehe Abb. 5), ein "abuse of Speech" im Hobbesschen Sinn 8 0 - für Milton sicher auch zu verstehen in Anspielung auf typisch royalistische rhetorische Volten und sprachkünstlerische Inszenierungen von der Declaration of Breda zu Drydens Astraa Redux.S[ In Paradise Regained weist Miltons Jesus die Einladung Satans zurück, sich die Techniken der "famous Orators" des antiken Athen anzueignen, "whose resistless eloquence / Wielded at will that fierce Democraty" (4.268f.). 8 2 Als normative Grundlage für politisches D e n k e n hat die Natur bei H o b b e s und - spätestens nach 1660 - auch bei Milton ausgedient; Rhetorik und/als Politik ist eine Technik der Gestaltung und Manipulation natürlicher' Vorgaben zum Zweck der Beherrschung und Steuerung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Als solche wird sie auch von den Royalisten gepflegt und in den weiteren ,Wahrheitskriegen' der Restaurationszeit, vor allem in den Krisen der späteren Stuartzeit (Popish Plot, Exclusion) von beiden Seiten des emergierenden Zweiparteiensystems (Whigs/Tories) gegeneinander verwendet. Dabei driften (auch literarische) Ordnungsversuche und eine zusehends mit Kontingenzen belastete, heterogene und komplexer werdende gesellschaftliche Wirklichkeit immer weiter auseinander. D i e Rhetorik verliert an Überzeugungs- und Geltungskraft, wenn sie auf bereits nach Parteilinien gespaltene Publika trifft. Dies läßt sich bereits am pastoralen Diskurs des Royalismus in den 1650er Jahren, also der
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Paradise Lost 5 . 4 6 9 - 7 4 : "one Almighty is, from whom / All things proceed [...] / [...] one first matter all, / Indu'd with various forms, various degrees / O f substance". Z u Miltons Monismus siehe Lewalski 2 0 0 3 , 4 1 9 , 427f, 475f.; Fallon 2001, 3 3 4 - 3 9 . Wie es Gottvater in Paradise Lost formuliert: "Authors to themselves in all / Both what they judge and what they choose; for so / 1 form'd them free, and free they must remain" (3.122ff.). Leviathan 1.4 (1996, 26). S. u. Kap. IV.4. Siehe Q u i n t 1993, 2 6 8 - 3 2 4 , 2 6 9 .
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Abb. 5.
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Die Rhetorik als Hercules Gallicus. Holzschnitt aus Vincenzo Cartari, Imagini, 1647-
Cromwellzeit, nachweisen, dem wir uns im folgenden am Beispiel Izaak Waltons zuwenden. Die nostalgische Bukolik Waltons, die auf Sidney und Spenser und damit, wie viele royalistische Texte dieser Zeit, auf ein idealisiertes Bild des elisabethanischen Zeitalters zurückblickt, stellt den Versuch einer temporären Gegenbewegung zur rationalistischen Ent-Natürlichung und allfälligen Rhetorisierung von Politik dar. Natur wird bei Walton und in der royalistischen 'romance' zum utopischen, ,romantischen' Gegenbild einer unwillkommenen politischen Wirklichkeit; zu einem vorübergehenden Refugium, dessen befristeter Glückscharakter zum Teil auf die positive Umwertung des Naturzustands bei Rousseau vorausweist - und dessen Ermöglichung doch von bereits gesellschaftlichen Vorgaben abhängt.
3. Pastorale Naturdarstellung als politische Allegorie. Der Kryptoroyalismus des Compleat Angler (1653—1676) Of all recreations, Fishing is the most agreeable to contemplative Spirits, as being a sedate quiet sport; free from those clamours, and disturbances of the senses, which usually accompany other pleasures of the field; and not so ingrossing the mind, but that withal it is at a freedom to intertain it self with good thoughts. Sir William Waller, Divine Meditations Upon Several
Occasions (1680)83 Bei Sir Thomas Browne, besonders in der Religio Medici, steht das flexible Umschalten der 'reason'zwischen verschiedenen epistemischen Ebenen und Beobachtungsstandpunkten (Wissenschaft, Glauben, Phantasie, Gewissen) im Dienst einer 'recreation' genannten Lebenskunst. Diese 'recreation' hat eine klare pragmatische Funktion: ihr Ziel ist eine Neuorientierung des einzelnen Menschen in seinem Verhältnis zur Welt in all ihrer Vielschichtigkeit. Dieses Ziel ist erreicht, wenn unterschiedliche geistige Fähigkeiten in Einklang gebracht sind.84 1653, zehn Jahre nach der ersten autorisierten Ausgabe der Religio, veröffentlicht der Tuchhändler Izaak Walton (1593-1683) ein Buch, das der Popularität der Religio in nichts nachstehen wird: The Compleat Angler or the Contemplative Man's
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Zit. nach Zwicker 1993, 2 2 6 A n m . 28. Waller (ca. 1 5 9 8 - 1 6 6 8 ) ist in den ersten drei Jahren des Bürgerkriegs führender K o m m a n d e u r der Parlamentstruppen in Südengland, später A n f u h r e r der Presbyterianer im Unterhaus. Die musikalische Analogie soll hervorheben, d a ß Browne weder auf .kognitive Dissonanz' n o c h auf eine .dissociated sensibility' aus ist. Sein Begriff der .reason' ist vielmehr in h o h e m Grade inklusiv, obwohl die angestrebte H a r m o n i e immer gefährdet bleibt (siehe die Schlachten- u n d Kriegsmetaphorik).
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Recreation kann mit allem Recht als ein Bestseller des 17. (und zuletzt noch des 19.) Jahrhunderts bezeichnet werden. 85 Dieser Text lädt aus mehreren Gründen zum Vergleich mit Brownes Religio ein: nicht nur wegen ihrer zeitlichen Nähe zueinander, ihrer gemeinsamen royalistischen Sympathien, oder weil Waltons Text Brownes Schlüsselwort "recreation" auf der Titelseite fuhrt, sondern vor allem weil Walton einen bedeutenden Schritt vollzieht: Er entfernt sich von Brownes dringlichen Meditationen (.dringlich' wegen der prekären Balance zwischen unterschiedlichen Ebenen von 'reason' und 'passion') und nähert sich einem ,kontemplativen' Lebensstil an, der inhaltsleer und nur durch seine Freiheit von pragmatischen Alltagssorgen bestimmt zu sein scheint. Die 'recreation' Waltons steht der modernen Wortbedeutung von ,Entspannung, Urlaub, Unterhaltung' um einiges näher als diejenige Brownes. Im politischen Kontext des republikanischen England, das sich erst später als kurzlebiges Interregnum herausstellt, bietet sie den Royalisten die Möglichkeit eines passiven Widerstands durch Rückzug in die ländliche Natur. In seiner Feier einer idyllischen Natur allegorisiert Walton einen pastoralen Naturzustand, der weniger an Cicero und die politischen Theorien des Neoklassizismus gemahnt, als er Rousseau und die Romantik präludiert. Der Text enthält sich dabei öffentlicher politischer Rhetorik. Er inszeniert einen Rückzug ins Private als mögliche Negation des Politischen. Seine pastorale Qualität ist offen antipolitisch, obwohl sie eine politische Allegorie enthält. Intention des Textes, wie im Vorwort angegeben, das sich an den Leser, aber besonders an den "honest ANGLER" richtet, sei es, diesem ein nicht nur informatives, sondern auch unterhaltsames Angelhandbuch an die Hand zu geben - mindestens so unterhaltsam wie der darin beschriebene und gelobte Zeitvertreib des Angelns selbst: I wish the Reader [...] to take notice, that in writing o f it, I have made a recreation, of a recreation; and that it might prove so to thee in the reading, and not to read and tediously,
dull,
I have in severall places mixt some innocent Mirth; of which, if thou be
a severe, sowr complexioned man, then I here disallow thee to be a competent Judg.
For Divines say, there are offences given·, and offences taken, but not given. (59) Wie Browne benutzt auch Walton das Vorwort zur Rechtfertigung seines Vorhabens und zur Werbung um das Wohlwollen des Lesers. Anders als Browne geht es ihm jedoch nicht um einen Wahrheitsdiskurs; er muß sich also nicht für ,bloß metaphorische' Redeweisen rechfertigen, die sich auch nichtmetaphorisch hätten ausdrücken lassen.86 Seine "innocent Mirth" soll nicht dazu dienen,
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Fünf jeweils stark revidierte Auflagen erscheinen zu Waltons Lebzeiten, die letzte 1676. Im folgenden wird zitiert nach der von Jonquil Bevan besorgten Ausgabe, die sowohl die Fassung von 1653 als auch die von 1676 enthält (Walton 1983); zitiert wird, wo nichts anderes angegeben ist, der Text von 1653. Zur immensen Beliebtheit des Buches (nur die Bibel scheint häufiger nachgedruckt worden zu sein) siehe Hörne 1970. Browne 1964a, 2.
die Diskussion über religiöse Lehrmeinungen zu erleichtern, sondern dazu, das Thema des Buches unterhaltsamer zu gestalten. Die Wendung "innocent Mirth" ist dennoch nicht ohne Polemik. Mögliche puritanische Einwendungen werden von vornherein ausgeschlossen, und dies geschieht weitaus polemischer, als es je bei Browne der Fall ist: "if thou be a severe, sowr complexioned man, then I here disallow thee to be a competent Judg". Waltons Buch soll seinen (nichtpuritanischen, ,honetten'87) Lesern nicht zu einer neuen Sichtweise auf die Wirklichkeit oder die Wahrheit der Religion verhelfen, sondern ihnen praktische und technische Kenntnisse zum Thema "fish and fishing' (59) vermitteln, aufgelokkert durch "innocent Mirth". Gefeiert wird eine Kultur der Geselligkeit, die eng mit der alten, feudalen Gesellschaftsordnung und den ritterlich-höfischen Idealen der Royalisten verknüpft ist. Besonders weil Walton ihre Harmlosigkeit und ,Unschuld' hervorhebt, läßt sich "mirth" analog zur Funktion von Brownes "points indifferent"88 interpretieren: Sie dient wie jene zur Verteidigung des Textes als harmlos und für die bestehende Ordnung unschädlich. In einer durch Flugschriften von allen Seiten überschwemmten Gesellschaft, in der viele Leser ein besonderes Gespür für polemische und kontroverse Nuancen entwickeln, ist es nicht ganz unwahrscheinlich, daß ein Angelhandbuch auch als Allegorie des Menschenfischens gelesen wird, der Angler als Codewort für den Anglikaner.89 Nach zehn Jahren Bürgerkrieg werden Waltons Leser 1653 soeben Zeugen der Auflösung des Rumpfparlaments; sie erleben den Aufstieg Cromwells als mächtiger Lord Protector. Im Namen der 'godly rule' urteilen die Theologen ("Divines") inzwischen nicht mehr nur in Angelegenheiten der Religion, sondern auch in denen der Unterhaltung. Walton bedient sich daher sehr geschickt ihres Jargons, um sein Buch gegen mögliche Einwände seitens der Puritaner ("severe, sowr complexioned") zu verteidigen. Er vermeidet es zudem, deutlich zu machen, welcher Seite im vielzersplitterten Glaubensstreit seine "Divines" genau angehören. Sie sind eine Autorität ohne Namen und Ort, eine bloße Anspielung auf das ,Meinungsklima' der Zeit, in deren religiösen und politischen Debatten es ansonsten auf feinste Unterscheidungen ankommt ("offenses given" / "offenses taken, but not given"). Diese scheinbare Ortlosigkeit gehört zur Grundstrategie des Compleat Angler. Wie Browne sucht auch Walton nach einem Ausweg aus dem Glaubensstreit, aber der seinige führt nicht mehr durch religiöse Fragen hindurch, sondern vollzieht einen vollständigen Rückzug aus ihnen. So wird sein Buch lesbar als Teil einer verbreiteten royalistischen Kommunikationsstrategie,
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Der "honest Angler" des Vorworts impliziert wohl das Idealbild des königstreuen Gentleman, des honnete homme oder 'Cavalier'. Browne, Religio 1.5 (1964a, 5). Siehe Greenslade 1954; Nardo 1991, 188. Zur politischen Bedeutung des Begriffs 'mirth' im 17. Jahrhundert siehe Marcus 1986. Die polemischen Untiefen des Compleat Angler werden ausgelotet in Zwicker 1993, 60-89.
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in der allegorisierende und antikisierende Gesten und/oder bukolische Elemente des Rückzugs in ländliche Idyllen vorherrschend sind.90 Der Rückzug aus religiösen Fragen macht Waltons Buch auch lesbar als eine säkularisierte' Neufassung von Brownes Religio. Gemeinsamkeiten wie Unterschiede beider Texte deuten auf eine geradezu epochale Veränderung hin - vom Ausdünnen der Verbindlichkeiten des Späthumanismus zur neuen diskursiven Ordnung des Neoklassizismus. Im Brennpunkt des Compleat Angler steht wie bei Browne und den älteren Neostoikern der einzelne Mensch; es geht um die "recreation" des "contemplative man". Wie bei Browne spiegelt auch Wal tons Text die "disposition" seines Verfassers wider und geht von der Annahme aus, daß Menschen sich bei unterschiedlichen Unternehmungen nach flexiblen Verhaltensmustern richten. Dabei spielen jedoch bei Walton schwierige kognitive Unterscheidungen wie die zwischen Rationalität und Glauben keine Rolle mehr: sie werden einfach ausgeklammert. Der Zeitvertreib des Fischens erzeugt ein Verhaltensmuster der Muße, in dem solche Unterscheidungen zeitlich befristet aufgehoben werden. Es deutet sich eine Ästhetisierung des Verhaltens an, die auch als Demokratisierung von Elementen der höfischen Kultur und ihrer Rituale, etwa der Maskenspiele, gelesen werden kann. Waltons "contemplative man" stellt keine Betrachtungen über Gott, den Teufel und den Zustand seiner Seele mehr an, sondern allenfalls über den besten Köder zum Karpfenfischen oder das beste Forellenrezept. Brownes "soft and flexible sense" entpuppt sich bei Walton als Vorwegnahme modernen Freizeitverhaltens: nicht als Ergebnis eines hochkomplexen mentalen Balanceakts, sondern eines auf Zeiteinteilung gegründeten erfolgreichen Sozialverhaltens. Wesentlich hierfür ist die Absonderung von "daies and times", die ausschließlich der Muße und dem Vergnügen gewidmet sind: "I am the willinger to justifie this innocent Mirth, because the whole discourse is a kind of picture of my owne disposition, at least of my disposition in such daies and times as I allow my self, when honest Nat. and RR. and I go a fishing together" (59). Daß der Compleat Angler die (auch politisch bedeutsame) Perspektive einer konservativen Oberschicht widerspiegelt, zeigt sich auch in der ausdrücklichen Bekundung Waltons, er schreibe nicht um des Geldes und auch nicht, wie Davenant oder Cavendish, um des Ruhmes willen, sondern "for pleasure" (60). Dieses Vergnügen möchte er mit gleichgesinnten Lesern teilen. Der Unterhaltungsaspekt des Buches wird denn auch stärker hervorgehoben als sein informativer Charakter: The Compleat Angler ist mehr als ein Angelhandbuch, und 90
Zwicker 1993, 223 Anm. 4 zählt eine Reihe von Publikationen auf, die den royalistischen Pastoralismus begründen, darunter II Pastor Fido (1647), Mildmay Fanes Otia Sacra (1648), Clement Barksdales Nympha libethris, or The Cotswold Muse (1651), The Bucolicks of Baptist Mantuan (1656) und Evelyns Essay on... Lucretius (1656). Siehe auch Patterson 1984; Potter 1989; Loxley 1997. Zu den griechischen und römischen Ursprüngen pastoraler Literatur von Theokrit bis Vergil siehe Snell 1946, 233-58. Siehe auch Kermode 1972; Williams 1973; Empson 1974; Iser 1991, 52-157; McKeon 1998.
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dieser Mehrwert zeichnet wohl verantwortlich für den großen Erfolg des Buches. Der Zusammenhang von Vergnügen und Geld ist eine (wenn auch kaum offen zugegebene) thematische Konstante des Textes. Walton ist durchweg bemüht, die Bedeutung des Geldes für seine angelnden Gentlemen herunterzuspielen; zugleich weiß er sehr wohl, daß das Angelvergnügen (bei dem es nicht etwa um Nahrungssuche, sondern um angenehmen Zeitvertreib geht) ohne hinreichende finanzielle Sicherheit gar nicht möglich wäre. Die direkte Thematisierung dieser Abhängigkeit (wie auch anderer Bedingtheiten der Geschlechter- und Klassenzugehörigkeit) stellte jedoch einen Verstoß gegen die Gattungskonventionen des pastoralen Idylls dar. Das Vorwort rückt zudem den Aspekt des Lesevergnügens in den Vordergrund. Der Leser (er wird auch hier stets als männlich imaginiert) müsse gar kein konkretes Interesse an den dargebotenen Informationen zur Praxis des Angelns haben, um in der Lage zu sein, das Buch mit Genuß zu lesen. Selbst wenn ihm der Text mißfalle, könne er sich immer noch an den Abbildungen erfreuen ("the pictures of the Trout and other fish", 58). Während Browne zumindest im Vorwort zur Religio darauf bedacht ist, eine gewisse Distanz zwischen der auktorialen Persona und seinen Lesern zu wahren, spricht Walton den Leser unmittelbar mit dem familiären "thou" an. Er identifiziert sich mit dem Leser als einer Art Vertrautem; er stellt sich sogar die ideale, konkrete Lektüresituation vor: "[I] wish thee a rainy evening to read this book in" (60). Viel bewußter als Browne hat Walton eine bestimmte Leserschaft und eine bestimmte Lektüresituation vor Augen. The Compleat Angler ist geschrieben für einen Teil der Bevölkerung, der gewisse Werte, Normen und Überzeugungen teilt und diese daher getrost unthematisiert lassen kann. Obwohl Rechtfertigungsfloskeln und die Verbeugung vor theologischen Autoritäten immer noch obligatorisch sind, bedient Wal ton bereits einen ganz anderen literarischen .Markt': er liefert seiner Zielgruppe leichte Unterhaltung in Buchform. Das Argument wird dabei zum versteckten, codierten Subtext. Walton bedient sich der Dialogform, einer altbewährten Darstellungstechnik, die im Humanismus (bei Erasmus, Castiglione, Galilei, Morus) zur Mitteilung von Wissen häufig, wenn auch in England nicht ganz so häufig verwendet wird. Ebenfalls in Anlehnung an die humanistische Tradition gibt Walton seinen Dialogfiguren lateinische Namen: Piscator (der Fischer) und Viator (der Wanderer).91 Ihre Lehrer-Schüler-Beziehung wird im Text schon früh etabliert; Piscator und Viator sprechen einander als "Master" und "Scholer" an (vgl. 84). Einige wenige Nebenfiguren treten kurz auf und verschwinden dann wieder: der Jäger,
"
Zum Compleat Angler und der Dialogtradition siehe Cooper 1968, 77-105. Cooper weist auf den Einfluß von William Samuels The Arte of Angling (1577) hin, gleichfalls ein Dialog zwischen einem Piscator und einem Viator; im Unterschied zu Waltons Buch zeichne sich dasjenige Samuels durch seinen "sense of earthy realism" aus, während Waltons Welt "more formal, more aristocratic, and, above all, more literary" sei (83).
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die Wirtin, die "handsome Milk-maid" (89) und ihre Mutter in Kap. 2; Piscators Bruder Peter und sein Freund Coridon in Kap. 3 (auffallend ist die Mischung von .realistischen' und bukolischen Phantasie-Namen). Die Dialogstruktur des Textes bzw. die längeren Monologe Piscators werden dadurch jedoch nicht weiter gestört; die Nebenfiguren tragen allenfalls Zusatzinformationen bei (wie im Falle des Jägers) oder dürfen durch Vortrag eines Gedichtes oder Liedes etwas "innocent Mirth" beisteuern. 92 Das fiktionale Setting des Textes ist unterentwickelt. Es wird keine .realistische' Landschaftsschilderung versucht, wie es auch keine Beschreibung der äußeren Erscheinung der Sprecher gibt, geschweige denn eine Darstellung ihres Innenlebens oder ihrer Geschichte. Es gibt keine dem Dialog externen Erzählpassagen; Übergänge sind oft unsanft und plötzlich. 93 Auch in späteren Ausgaben wird nichts unternommen, um diese harten Ubergänge zu glätten. Doch die Integration von skizzenhaften Beschreibungen in den Dialog erzielt etwas sehr Wichtiges: Sie verbindet das humanistische Diskursmodell mit einem pastoralen Setting, mit einem Lob des Landlebens und des Wertesystems des "honest Country man" (92). 9 4 Der durch den Dialog selbst hergestellte ,Wirklichkeitseffekt' 95 bleibt dürftig und skelettartig. Immerhin sind O r t und Zeit der .Handlung' eindeutig markiert. The Compleat Angler .spielt' im ländlichen Hertfordshire im Frühsommer. Einige Ortsnamen werden in den ersten Zeilen des Textes genannt: "Totnam
Hif',
"Ware",
"Hodsden".
D i e b u k o l i s c h e W e l t d e s Compleat
Angler
ist
also nicht Arkadien oder das europäische Festland, sondern das ländliche England. Sein T h e m a ist nicht das (aus Sidneys Arcadia
und der royalistischen 'ro-
mance' bekannte) hetero-erotische Liebesgebaren schäferspielender Adliger im Wechselspiel der Maskierung und Aufdeckung von Subjektivität, sondern das (streng homosoziale) Hobby biertrinkender Bettgenossen und Angelbrüder, deren Subjektivität eher nebensächlich, jedenfalls weitaus weniger problematisch oder auch nur interessant erscheint als bei Sidney. Die Wirtin ist zum Kochen da, sie kommt nicht als erotisches Objekt und erst recht nicht als Vollperson in den Blick. Die Bukolik Waltons umfaßt nicht das kodifizierte Spiel der Selbst-
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In späteren Ausgaben wird diese Struktur durch die Einführung dreier Hauptfiguren etwas kompliziert: diese heißen dann Piscator, Venator (der Jäger) und Auceps (der Falkner), "each commending his Recreation" (173). Vgl. etwa diese Passage: Pise. Wei Sir, and you shal quickly be at rest, for yonder is the house I mean to bring you to. Come Hostis, how do you? wil you first give us a cup of your best Ale, and then dress this Chub, as you drest my last, when I and my friend were here about eight or ten daies ago? but you must do me one courtesie, it must be done instantly. Host. I will do it, Mr. Piscator, and with all the speed I can. Pise. Now Sir, has not my Hostis made haste? and does not the fish look lovely? (84) Cooper 1968, 3 0 - 7 6 stellt die Beziehung des Compleat Angler zur Georgik und Hirtendichtung ausführlich dar. Paul Salzmans ansonsten verläßliche Überblicksdarstellung zu English Prose Fiction 1558—1700 (1985) erwähnt Waltons Buch nicht einmal - rechnet es also vielleicht aufgrund seiner Gattungshybridität gar nicht zur fiktionalen Prosa. Siehe Barthes 1994 .
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transformation, sondern die (nicht weniger kodifizierte) Erholungskultur des Wochenendurlaubers. In den Worten Anna K. Nardos, die den Compleat Angler im Licht der von M. Csikszentmihalyi entwickelten 'Flow'-Psychologie liest: "Fishing and writing about fishing are a temporary retreat from conflict, not a way to live within it. [...] Leaving all controversy, whether theological or legal, behind, the angler delimits his field of action to exclude the unpredictable world of humans and to include only the predictable habits of fish."96 Und dennoch scheint unterhalb der "innocent Mirth" so etwas wie eine Agenda auf. Die Ausblendung von Konflikten ist die befristete pastorale Utopie des in einer von ihm selbst kontrollierten Spielwelt schaltenden und waltenden Gentleman. Die "most honest, ingenious, harmless Art of Angling" (69), die Walton durch Zitate biblischer und klassischer Autoritäten nobilitiert und die er als die ideale Verbindung von vita contemplativa und vita activa anpreist (vgl. 68fF.), dient dem Gentleman als 'recreation' in politisch schwieriger Zeit. Es finden sich zahlreiche Anspielungen auf Religiöses, ζ. B. auf die Parabel vom Saatgut ("Trust me, good Master, you shall not sow your seed in barren ground", 93), auf die frühen Christen (112), auf die "Fishers of men' (97) und die Bergpredigt ("what my Saviour said, that the meek possess the earth", 150). Die Angler rezitieren Verse von Marlowe und Ralegh, aber auch von George Herbert ("Vertue", 11 If.) und John Donne ("Come live with me, and be my love", 138). So wird der Compleat Angler auch zur literarischen Anthologie.97 Die zweite Ausgabe von 1655 enthält auch das Gedicht "Common-Prayer" aus Christopher Harvey's The Synagogue (2. Ausg. 1647, 260f.). Zehn Jahre nach Abschaffung des Book of Common Prayer ist die Aufnahme dieses Gedichts "perhaps Walton's most explicit statement of his unswerving Anglicanism".98 Aber jeglicher Religionsstreit wird (wie im übrigen auch jeglicher andere Konflikt) vermieden; religiöse Differenzen werden suspendiert oder als kontingent markiert. In diesem Zusammenhang zitiert Piscator das Gedicht eines anonymen Poeten (es könnte Waltons eigener Feder entstammen), in dem ein von Charron und Montaigne, aber auch von Lipsius her vertrautes Argument wiederholt wird: — M a n y a one Owes to his C o u n t r y his Religion: And in another would as strongly grow, Had but his Nurse or Mother taught him so. (82)
Piscator lobt dieses Gedicht als "reason put into Verse, and worthy the consideration of a wise man" (82). In dieser geographischen Relativierung religiöser Unterschiede (nach dem Motto: cuius regio, eius religio) könnte man eine
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Nardo 1991, 187. Siehe Csikszentmihalyi 1990. Zum Aufstieg der Anthologie im 17. Jahrhundert siehe Benedict 1996. Cooper 1968, 171. 207
— obgleich etwas banalisierte — Konsequenz aus Brownes Indifferenz gegenüber unterschiedlichen Lehrmeinungen und aus seinem englischen Kosmopolitentum sehen." Es nimmt jedoch auch die in der zweiten Jahrhunderthälfte wachsende Beachtung der Umwelteinflüsse auf Verhalten und Bildung vorweg, die in Lockes Theorie der Sinneswahrnehmung und des Verstandes gipfelt.100 Im Kontext des Royalismus um die Jahrhundertmitte erinnert es an rationalistische Bemühungen um eine Vermittlung zwischen Religion und 'reason'. Im Gondibert ζ. B. wird der Court of Astragon für seinen Umgang mit der Religion wie folgt gelobt: "Religions Rites, seem here, in Reasons sway; / Though Reason must Religion's Laws obay."101 Im Compleat Angler wird die Unterscheidung zwischen substantiellem Glauben und akzidentellem Habitus soweit heruntergespielt, bis sie fast völlig verschwindet. "But of this no more", fährt Piscator fort und lenkt die Konversation sogleich auf ein weniger umstrittenes Gebiet um, "for though I love civility, yet I hate severe censures: I'll to my own Art, and I doubt not but at yonder tree I shall catch a Chub, and then we'll turn to an honest cleanly Ale house" (82-83). Was sich hier bereits andeutet, ist ein frühes Beispiel für eine spätere Höflichkeitsregel der Elite, "a new social rule", die unter den Bannern der 'civility', des 'common sense' und der 'politeness' einherschreitet. Die Regel lautet: "civilized, civil people keep politics and religion out of the conversation".102 Im unmittelbaren Kontext von 1653 macht die Bevorzugung von Privatheit, Indirektheit und Geheimnis gegenüber Öffentlichkeit und öffentlicher Kommunikation deutlich, wie sehr der Compleat Angler im politischen Denken des Royalismus verankert ist.103 Waltons Buch ist ein Rezept fur das ,gute Leben', ein Leben der Muße, das religiös motivierte Zwistigkeiten ebensowenig kennt wie ökonomisch motivierte Probleme oder Wünsche: "No life, my honest Scholer, no life so happy and so pleasant as the Anglers, unless it be the Beggers life in Summer; for then only they take no care, but are as happy as we Anglers" (112). Spätere Ausgaben lassen
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Vgl. Religio Medici 2.1: "All places, all ayres make unto me one Country; I am in England, every where, and under any meridian" (1964a, 55). Siehe hierzu Novak 2001, 48. Novak zitiert Charles Morton, den Lehrer Defoes und Verfasser von The Spirit of Man (Boston 1693): "Men are much what the Custom and usual practice of the place is, where they live. He that is bred, or much conversant in the country; gets there a simple plain heartedness; or perhaps a Rough Rusticity: He that is much in the City, has more of Civility, Sagacity, and Cunning" (zit. ebd.). Lockes Essay concerning Human Understanding wird in den Dissenting Academies, an denen auch Morton lehrt, in den 1690ern zu einem "standard text" (40). Davenant, Gondibert 2.6, "The A R G U M E N T " (1971a, 159). Spurr 1998,27. Vgl. Potter 1989. Achinstein (1994,132f.) vertritt die Ansicht, daß die royalistische "philosophy of secrecy" nicht bloß als Resultat von Zensur und Unterdrückung zu verstehen sei, sondern als Teil eines royalistischen Politikverständnisses, das die Coterie und das autokratische System der "personal rule" der öffentlichen Debatte grundsätzlich vorziehe. Siehe zum Hintergrund auch Sharpe 1987 und 1992.
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die Bettler beiseite und betonen statt dessen den Unterschied zwischen Müßiggang und Berufsarbeit: N o life, my honest Scholar, no life so happy and so pleasant, as the life of a well governed Angler, for when the Lawyer is swallowed up with business, and the States-man is preventing or contriving plots, then we sit on Cowslip-banks, hear the birds sing, and possess our selves in as much quietness as these silent silver streams, which we now see glide so quietly by us. (261)
In dieser Änderung wird deutlich, wie rasch die Sprache der Religion, die (bis zur Restauration und darüber hinaus) Diskurse des Selbst und seiner '(re-)creation' strukturiert, durch die Sprache der Politik, des Geldes und der Arbeit überlagert und verdrängt wird. Es geht dann weniger um Selbsterkenntnis und 'self-fashioning' als um Selbstbesitz ("possess our selves"). Auf ganz ähnliche Weise hält in den Komödien der Restaurationszeit die Metaphorik des Merkantilismus Einzug in die Sprache der Liebe. 104 So wird bei Walton das nächtliche Zurücklassen einer Angelrute im Wasser mit dem Zinsgewinn verglichen: "let me tell you, this kind of fishing, and laying Night-hooks, are like putting money to use, for they both work for the Owners, when they do nothing but sleep, or eat, or rejoice, as you know we have done this last hour" (112). Spätere Ausgaben zeugen von einem größeren Bewußtsein für soziale Distinktionen und deren finanzielle Grundierung. Die pastorale Illusion weicht einer realistischeren Schilderung des Müßiggangs im Gegensatz zur Arbeit. Die Bettler werden nicht mehr um ihr angenehmes Leben beneidet, und in einem der zahlreichen Gedichte und Lieder wird die Zeile "Hail blest estate of poverty!" (150) ab der dritten Ausgabe durch die weniger spezifische "Hail blest estate of lowliness!" ersetzt (334). In beiden Fällen dient die zweite Epode des Horaz als klassische Vorlage für das Lob des geruhsamen Landlebens im Gegensatz zu Geschäft, Krieg und politischen Machtspielen. 105 Die bukolische Gesellschaft, synekdochisch dargestellt in der homosozialen Beziehung zwischen Piscator und Viator (bzw. in späteren Ausgaben Venator), basiert auf "simple courtesy and affection". 106 Höflichkeit und Zuneigung sind jedoch weniger "simple", als sie auf den ersten Blick erscheinen. Die Gesellschaft im pastoralen Naturzustand funktioniert (vorübergehend) aufgrund von spezifischen Ausklammerungen gesellschaftlicher Wirklichkeit. Sie funktioniert, weil beide Dialogteilnehmer sich über ihre hierarchische Rollenverteilung einig sind. 104
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Allein aus Aphra Behns Rover ließen sich zahlreiche Beispiele fur diese neue Sprache anfuhren, ζ. B. aus der Diskussion zwischen Willmore, Angellica und Moretta in 2.2, in der die Liebe auf verschiedenste Arten und Weisen .verkauft' wird:"by retail", "at a cheap rate", "at higher rates", "the whole cargo or nothing" usw (Behn 1995, 28). Siehe hierzu auch Kap. V.2. In der Übersetzung Drydens (1995, 2: 3 7 8 - 8 5 ) : " H o w happy in his low degree, / How rich in humble poverty is he / W h o leads a quiet country life! / Discharged of business, void of strife, / And from the griping scrivener free." 'Poverty' könnte, so der Herausgeber, hier die Bedeutung des lateinischen 'paupertas' haben: "the state of having just the necessities o f life" (378). Cooper 1968, 66.
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In ähnlicher Weise stellen auch die Bauern und die Wirtin ihre niedere Stellung niemals in Frage: sie wissen um ihre Position in der Ordnung der Dinge.107 Selbst bei den Gesangswettbewerben seiner Figuren betont Walton die Abwesenheit jeglichen echten Wettstreits. Im Einklang mit den Konventionen der Bukolik und mit der verbreiteten royalistischen Nostalgie ftir die elisabethanische Epoche werden die ländlichen Qualitäten der Einfachheit und der moralischen Reinheit kontrastiert mit der freudlosen Plackerei des viel zu komplizierten und geschäftigen Städterlebens. Dieser Hang zum Moralisieren wird in der Ausgabe von 1676 noch verstärkt durch die Einarbeitung einer langen Predigt gegen Ende des Textes, in welcher Piscator einen reichen Menschen mit einer Seidenraupe vergleicht: "that when she seems to play, is at the very same time spinning her own bowels, and consuming herself. And this many rich men do; loading themselves with corroding cares, to keep what they have (probably) unconscionably got. Let us therefore be thankful for health and a competence; and above all, for a quiet Conscience" (363). Dieses bukolische Ideal der Ruhe, die einen politischen Quietismus einzuschließen schient, ist Teil von Waltons Ehrenkodex des Gentleman, der bereits 1653 voll entwickelt ist und auch später nicht mehr verändert wird: I would rather prove my self to be a Gentleman, by being learned and humble, valiant and inoffensive, vertuous and communicable, then by a fond ostentation of riches·, or (wanting these Vertues my self) boast that these were in my Ancestors; (And yet I confesse, that where a noble and ancient Descent and such Merits meet in any man, it is a double dignification of that person) [.] (68; vgl. 191)
Waltons Gentleman-Ideal verbindet eine stratifikatorische SozialdifFerenzierung nach 'rank' mit einem Moralbegriff, demzufolge ein Gentleman sich durch sein Verhalten als solcher zu erkennen gibt.108 Er lehnt zugleich die sich entwickelnde Distinktionsform des 'status' ab, die C. B. Macpherson als "political theory of possessive individualism" bezeichnet hat.109 Seine traditionelle pastorale Vision ist durchdrungen von der Kritik an materiellem Reichtum als Statussymbol. In der Welt des Compleat Angler hat Geld keine reale Funktion; der Besitz oder Mangel materieller Güter stellt nie ein Problem dar, so daß die Herrschaften einfach sich selbst genug sein können. Als sei es ein bloß kontingentes Phänomen, kann Geld dem ,Selbstbesitz' des Gentleman weder etwas hinzufügen noch
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Vgl. Empson 1974, 11 zu Klassenbeziehungen in der pastoralen Literatur. Dieser auf Tugendhaftigkeit und Selbstbeherrschung gegründete Begriff von 'gentility* ähnelt stark dem von Richard Brathwait in The English Gentleman (1630) entwickelten. Im .Interregnum' ist die Ansicht verbreitet, daß die alten feudalen Strukturen, in denen sozialer Rang größtenteils von unverdienten Privilegien abhängt, in Auflösung begriffen sind. Der Konflikt zwischen patriarchalen Privilegien und politischer Tugend läßt sich als wesentlich für ein Verständnis von Gesellschafsstruktur und Semantik im 17. Jahrhundert ausmachen. Auch er beruht letztlich auf unterschiedlichen Ansichten zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft; siehe hierzu auch IV. 5. Macpherson 1962.
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etwas nehmen. Ähnliches gilt für die Religion. Der Unterschied zwischen dem Compleat Angler und traditioneller pastoraler Literatur liegt darin, daß Geld und Status überhaupt thematisiert werden, immerhin soweit, daß die Lobpreisung idyllischer Armut aus späteren Ausgaben getilgt wird. Auch wenn Geld bei ihren Interaktionen keine Rolle spielen darf, so wird doch klar, daß Waltons Figuren nur deshalb zum bloßen Vergnügen angeln gehen können, weil es ihnen finanziell an nichts mangelt. Setzt man den Compleat Angler in Bezug zu den überhitzten religiösen und politischen Konflikten seiner Gegenwart und zu einer Gesellschaft, die sich durch ein wachsendes Bewußtsein der politischen Relevanz ökomischer Bedingungen auszeichnet, dann erscheint seine virtuelle Welt nicht so sehr als eine natürliche' Gegenwelt dazu, sondern vielmehr als eine bewußt sehr begrenzte Auswahl von Wirklichkeitsausschnitten, als "reduction of social complexity to a manageable scale".110 Diese Selektion fußt auf drei Hauptfaktoren: auf einer zeitlichen Differenzierung von Muße und Arbeit; auf einem gesellschaftlichen Wertesystem (dem Gentleman-Ideal); und schließlich auf der Prämisse, daß nur Männern das Privileg des Angelns zukommt, während Frauen für Grundversorgung und .harmlose' Unterhaltung zuständig sind. Der Wirklichkeitskontakt dieser virtuellen Welt ist nur schwach ausgeprägt. Sie bietet einen zwar befristeten, aber vollständigen' ("compleat") Rückzug vom Alltag — "innocent" auch insofern, als sie keine Auswirkungen hat auf das außerbukolische Leben. Der mangelnde Kontakt zwischen Waltons pastoraler Fiktion und seinem historischen Kontext verstärkt sich noch in späteren Bearbeitungen des Textes bis 1676, in denen der Compleat Angler zunehmend nostalgische und anachronistische Züge annimmt. In der veränderten Wirklichkeit der Restaurationszeit mit all ihrem Gepränge und ihrer rücksichtlos kultivierten Immoralität muß Waltons Loblied des stillen und tugendhaften Lebens ("quiet", "vertuous" 371) merkwürdig altmodisch gewirkt haben - darin vielleicht sogar vergleichbar mit Miltons Dichtung vom verlorenen Paradies, die freilich von einem ganz anderen politischen und künstlerischen Kaliber ist als Waltons Handbuch der Angelkunst. Dessen Paradies ist schon 1653 ein bewußt künstliches; sein Verlust wird 1676 nostalgisch quittiert, bleibt aber anders als bei Milton folgenlos: And I am the willinger to justifie the pleasant part of it, because though it is known I can be serious at seasonable times, yet the whole discourse is, or rather was, a picture of my own disposition, especially in such days and times as I have laid aside business, and gone a fishing with honest Nat. and R. Roe; but they are gone, and with them most of my pleasant hours, even as a shadow, that passeth away, and returns not. (170)
Der Abstand zur Wirklichkeit wächst: von der Distanz einer durch Muße erzeugten Reduktion gesellschaftlicher Komplexität zu einer noch größeren zeitlichen und soziohistorischen Entfernung. Diese intensiviert sich für spätere 110
Nardo 1991, 189. 211
Lesergenerationen, die den informativen Teil zugunsten der unterhaltsamen Passagen überschlagen, die in einer Ausgabe aus dem 18. Jahrhundert sogar typographisch abgesetzt werden.111 Waltons 'recreation wird weiter ausgedünnt zu einem Leseerlebnis, das die instruktiven Aspekte des Textes getrost ignorieren kann und soll. Der (1653 immerhin als Gegenbild zum zeitaktuell Politischen codierte) Naturzustand des Compleat Angler wird zum Inbegriff romantischer Weltflucht. Das Buch wird im 18. und 19. Jahrhundert als Fiktion gelesen, in die sich die Romantik einschreibt. Wortwörtlich vollzieht dies Wordsworths Sonett "Written upon a Blank Leaf in 'The Compleat Angler'" (1819). Es ist symptomatisch für die veränderte Funktion des Textes, daß Wordsworth Waltons Naturschilderung als unnatürlich ansieht: "Fairer than life itself, in this sweet Book, / The cowslip-bank and shady willow-tree; /And the fresh meads".112 Wordsworth hat den politischen Kontext vergessen, in dem diese Idealisierung und .Verschönerung' der Natur im 17. Jahrhundert steht. Der Compleat Angler von 1653 mit seiner idyllischen Darstellung einer friedlichen Naturwelt mitten in 'merry old England' hat Teil am strategisch-politischen Diskurs des Royalismus. Er steht im Kontext der royalistischen Bukolik und Romanzendichtung seiner Zeit - zu nennen wären etwa Theophania von Sir William Sales (1645) oder The Princess Cloria von Sir Percy Herbert (2. Ausg. 1661) 113 — obwohl er sich im Gegensatz zu diesem Genre bemüht, die Gegenwartspolitik eher auszublenden als zu reflektieren. Die Natur dient ihm als Gegengewicht zur Wirklichkeit des öffentlichen Lebens; nur in ihr, so scheint Walton sagen zu wollen, sei herrschaftsfreie Kommunikation unter Gleichen möglich. In Waltons Naturzustand werden politische Differenzen von Naturschönheit gleichsam aufgesogen und in rekreativer Muße aufgehoben. Im Compleat Angler ist der 'state of nature' nicht mehr eine historische Grundlage für gesellschaftliche Institutionalisierung, sondern ein proto-romantisches Ideal, dessen Ort sowohl außerhalb der Geschichte als auch außerhalb der Komplexitäten menschlicher Gesellschaft liegt. Walton nutzt ihn jedoch auch (noch) nicht, wie später Locke und Rousseau, als normativen Grund für zivilisiertes Verhalten und politische Legitimierung. Die Funktion des Textes scheint 1653 allenfalls darin zu bestehen, seinen Lesern, insbesondere den Grundbesitzern aus der Gentry, ein Rüstzeug fur das Uberleben im Cromwellschen Interregnum an die Hand zu geben. Nach der Restauration der Monarchie wird die politische Dimension der im Text vorgeführten Privatheit und der Geheimhaltung royalistischer Gesinnung obsolet. Utopie verwandelt sich in Nostalgie. Die letzte von Walton selbst besorgte Ausgabe erscheint 1676, zwei Jahre vor dem 'Popish Plot'. In den politischen Krisen der späten 1670er
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Cooper 1968, 5f. Es handelt sich um die Ausgabe von Moses Browne (1750). Cooper zitiert ebd. auch den Ratschlag, den Charles Lamb seinem Freund Coleridge erteilt: "All the scientific part you may omit in reading" (Lamb 1935, 1 : 2 1 ) . Wordsworth, "Written upon a Blank Leaf i n ' T h e Compleat Angler'", 1819 (1977, 398, Z. llff.). Siehe Salzman 1985, 1 5 5 - 7 6 .
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und der 1680er Jahre ist die Botschaft des Compleat Angler nicht mehr relevant. Politik und Literatur werden dann erneut Teil einer öffentlichen Debatte über die Fundamente des Gemeinwesens, aus der ein einfacher Rückzug in die (äußere oder innere) ,Natur' nicht mehr möglich erscheint.
4. Zwischen Astraa Redux und Paradise Lost. Kulturelles Gedächtnis und Gegengedächtnis in der Restaurationszeit Alter d i n n e r , t h e K i n g a n d D u k e [...] altered t h e n a m e of s o m e of t h e Shipps, viz. t h e Nazeby into Charles — t h e Richard, James;
t h e Speaker,
t h e Henery - Winsby, mond-
Lamport,
— Bradford,
Happy
t h e Henretta
Mary — T h e Dunbar returne — Wakefield, - Cheriton,
the
[...] Rich-
Speedwell
t h e Successe. S a m u e l Pepys' Tagebuch, 23. M a i 1 6 6 0 " 4
T h e Devil take h i m t h a t r e m e m b e r s first, I say. C o n g r e v e , The Way of the World 3 . 4 7 7 f .
Waltons Compleat Angler ist ein politisches Manifest der kreativen Ignoranz, das sich in nicht völlig unsubtiler Weise der formalen Konventionen Sidneyesker Bukolik und arkadischer Fiktion bedient, die Davenant bereits 1650 in unverkennbar Hobbesschen Begriffen als unrealistisch kritisiert angesichts der wölfischen, unzivilisierten Natur des Menschen.115 Mit seiner Eloge auf ländliche Wertvorstellungen dient Waltons Text als royalistisches Palliativ, dessen Wirksamkeit größtenteils auf dem Ausschluß jeglichen gesellschaftlichen Konfliktpotentials - und zugleich auf ganz bestimmten sozialen und ökonomischen Vorgaben beruht. Sein Lob des 'merry England' ist zugleich nostalgisch und (im Kontext der Cromwell-Zeit) polemisch, weil er zur Rückkehr in eine vorrepublikanische Ära aufruft.116 Der Erfolg des Buches demonstriert, daß in einer entwurzelten, 114 115
116
Pepys 1970-83, 1: 154. Davenant 1971b, 12f.: "If any man can yet doubt of the necessary use of Armys, let him study that which was anciently call'd a Monster, the Multitude (for Wolves are commonly harmlesse when they are met alone, but very uncivill in Heards) and he will not finde that all his kindred by Adam are so tame, and gentle, as those Lovers that were bred in Arcadia ". Vgl. Hobbes' Widmungsbrief zu De Cive: "Profecto utrumque vere dictum est, homo homini deus, et homo homini lupus. Illud, si concives inter se; hoc, si civitates comparemus" (1839, 2: 135); „Nun sind sicher beide Sätze wahr: Der Mensch ist ein Gottfiir den Menschen, und: Der Mensch ist ein Wolffiir den Menschen; jener, wenn man die Bürger untereinander, dieser, wenn man die Staaten untereinander vergleicht" (1994b, 61). Der Ausdruck 'merry England' assoziiert die elisabethanische Epoche und ist somit eine starke Projektion royalistischer Weltanschauung im 17. Jahrhundert. Siehe den Brief Cavendishs an Charles II. (1659): "feasteing Dayly will bee, In merry England, for England is So plentifall of all provition, That iff wee Doe not Eate them, they will Eate us, So wee Feaste, in our owne Defence" (Cavendish 1984, 64). An dieser seltsam zwiespältigen Bemerkung zur politischen Nützlichkeit feierlichöffentlicher Verschwendung hätte Georges Bataille seine Freude gehabt; siehe ders. 1967. 213
verunsicherten und gespaltenen Gesellschaft wie dem vom Bürgerkrieg gezeichneten England um die Mitte des 17. Jahrhunderts Strategien des Vergessens, der Amnesie und Amnestie realistische Optionen der Politik werden können - besonders in einer literarischen Kultur, der es immer schwerer fällt, überzeugende ästhetische und rhetorische Techniken zur Vermittlung politischer Ideale mit gesellschaftlicher Erfahrungswirklichkeit zu finden. Wie S. Zwicker dargestellt hat, fungieren insbesondere nach 1660 Ironie und Gattungsmischung, Maskerade und Satire als solche Techniken des Umgangs mit sozialer Instabilität und einem weit verbreiteten Opportunismus. Wenn in dieser Sichtweise die Restauration der Monarchie selbst als ein zumindest teilweise ironisches und anachronistisches Ereignis erscheint ("the fixing of old forms atop new facts"), so ist Ironie der dazu passende kulturelle Reflex und die repräsentativste literarische Technik der Epoche, da sie zum einen „die Notwendigkeit vertrauter politischer, geistiger und kultureller Formationen" evoziert und zum anderen deren Autorität und Integrität in Zweifel zieht. 117 Ironie konstituiert die überzeugendste und zeitgemäßeste Poetik der Restaurationskultur, denn sie verkörpert und feiert eine Stabilität des Als Ob 118 und einen damit einhergehenden, immer wieder suspendierten Glauben an bewußt erzeugte und verbreitete „Staatsfiktionen". 119 In der Vergessens- und Erinnerungskultur der späten Stuartzeit und im Wechselspiel von Gedächtnis und Gegengedächtnis 120 erfüllen Ironie und Satire eine zentrale Funktion der Distanzierung und der Reflexion politischer Kontingenzen. Diese werden besonders wichtig, insofern sich die Restauration nicht als politisches und kulturelles Einzelereignis analysieren läßt, etwa als eindeutige Reaktion gegen das .Interregnum', sondern sich darstellt als „multiple diskursive Umorientierung", die genau die Begriffe und Modi ins Spiel bringt, in denen eine Gesellschaft auf den Druck der unmittelbaren Vergangenheit zu reagieren und diese zu revidieren sucht. 121 Zu diesen Modi gehören auch rhetorisch aufbereitete Darstellungen dessen, was (in Relation zu den Kontingenzen von Kultur, Geschichte und Politik) als .natürlich' gelten soll. Als kultureller Moment oder Serie von Momenten zeichnet sich die Restauration vor allem durch die Dringlichkeit aus, mit der inmitten widerstreitender Rhetoriken nach akzeptab-
117 1,8 119
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Zwicker 1997, 182. Siehe Vaihinger 1922. "Fictions of state": Love 1993, 164. Kahn sieht eine solche Fiktion in Hobbes' politischer Theorie am Werk, in der sich Klugheitserwägungen der „notwendigen Fiktion eines Gemeinwesens" unterordnen. Für Kahn markiert dieser willkürliche Glaube an eine "necessary fiction" (1985, 181) das Ende des Renaissancehumanismus. Der Begriff .Gegengedächtnis' ist angelehnt an eine Definition des Begriffs "counterhistory" als "the systematic exploitation of the adversary's most trusted sources against their grain"; siehe Funkenstein 1992. Der Begriff eignet sich fur eine strategische Beschreibung von Drydens Absalom andAchitophelebenso wie für Miltons Paradise Lost (u. a.). Kroll 1991, 38f.
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len, gegenwartsstabilisierenden Darstellungen von Geschichte und Erinnerung gesucht wird. Es soll in diesem und im folgenden Unterkapitel um kulturelle Gebrauchsformen von Vergessen und Erinnern zwischen 1650 und 1688 gehen sowie um die Dynamik zwischen offiziell produzierten oder sanktionierten Fiktionen und abweichenden literarisch-politischen Darstellungen oder Gegenfiktionen. Die ,Helden1 dieser beiden Unterkapitel können aus offensichtlichen Gründen keine anderen als Dryden und Milton sein, aber es werden auch weniger kanonische Texte eine wichtige Rolle spielen: die Gedichte Abraham Cowleys und die Komödie The Adventures of Five Hours von Sir Samuel Tuke (1662). Neuere Forschungen zum kulturellen Gedächtnis akzentuieren das Erinnern immer noch weitaus stärker als das Vergessen, selbst wenn sie das notwendige Ineinandergreifen und Zusammenarbeiten beider Funktionen in Gedächtnisvorgängen anerkennen.122 Ohne Vergessen kann es keine Erinnerung geben; eine vollständige Retention ('total recall') von Sinneseindrücken, Erlebnissen und Gedanken ist schwer vorstellbar und würde aller Wahrscheinlichkeit nach in der Psychose enden. Dennoch kann oberflächlich Vergessenes oder ins ,Unbewußte' Verdrängtes zu einem späteren Zeitpunkt wieder auftauchen oder wiedererinnert werden.123 Das Pendeln zwischen Vergessen und Erinnern, das die Latenzen des kulturellen Gedächtnisses stukturiert, ist auch für die politische und soziale Erfahrungswelt der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts signifikant. Im Streit um politisch aussagekräftige, repräsentative Bilder der Macht nach dem Sturz der Monarchie haben wir hierfür bereits erste Beispiele gesehen.124 Den überraschend unblutigen Regimewechsel von 1660 umgibt eine Atmosphäre arkadischer Unschuld, die so bewußt künstlich erzeugt wie als .natürlich' dargestellt wird und dadurch den Eindruck erweckt, als sei sie unmittelbar aus der royalistischen 'romance', dem Gondibert, dem Compleat Angler und einer Neuauflage elisabethanischer 'pageants' entsprungen. Diese ,Staatsfiktion' kann angesichts der soziokulturellen Drift, die Hof und Gesellschaft immer weiter auseinandertreibt, nicht lange stabil bleiben. Sie wird ausgehöhlt durch die Rückkehr realistischerer und brachial,natürlicher', katastrophaler Ereignisse: Pest, Brand, Kriege, später Intrigen, innere Spaltung und Rebellion. Die ,Unschuld' der Restauration ist wie der Compleat Angler von der Ausblendung bestimmter Differenzen abhängig; diese lassen sich jedoch nicht einfach dadurch zum Verschwinden bringen, daß man sie vergißt. Daher ist der ,Waltoneske' Umgang mit diesen beunruhigenden Rissen im Fundament des neuen Staatsgebäudes mittelfristig zum Scheitern ver122
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Siehe ζ. B. Assmann/Harth 1991; Assmann 1999; Bal/Crewe/Spitzer 1999. Die Selektivität des Gedächtnissess und das Wechselspiel von Erinnern und Vergessen werden prägnant dargestellt in Luhmann 1995, 45ff. in Anlehnung an die Kybernetik Heinz von Foersters. Vgl. Sigmund Freud, „Die Verdrängung" (1915) in Freud 1975, 115-17; zur Latenz des Gedächtnisses „Das Unbewußte" (1915) ebd. 126 und die „Notiz über den Wunderblock" (1925) ebd. 3 6 5 - 9 . Vgl. auch Jameson 1981. S. o. Kap. III.2.
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urteilt. Die rhetorischen Appelle, was oder wen man vergessen bzw. erinnern solle, klingen zunehmend nervöser. Aus einer Vielzahl unterschiedlicher Meinungen über Religion, Philosophie und Staatsverfassung erwachsen zwei einander entgegengesetzte politische Gruppierungen: die Whigs und die Tories. Literarische Texte sind in dieser Zeit mehr als nur seismographische Register und Laufkommentare zu diesen Geschehnissen; sie sind ein integraler Teil des kulturellen Prozesses der strategischen Handhabung der Differenz von Erinnern und Vergessen, sowohl auf seiten der Unterstützer als auch auf seiten der Gegner der Regierungspolitik. Das kulturelle Gedächtnis wird so im England des 17. Jahrhunderts zu einem Ort des politischen Konflikts. Ironie und Satire sind rhetorische Waffen in diesem Konflikt um Erinnern und Vergessen, aber sie werden zumeist - mit Ausnahme der Gedichte des Earl of Rochester125 — im Dienste einer bestimmten Seite eingesetzt und nicht, um den Konflikt selbst zu ironisieren. Nach dem Bürgerkrieg avanciert das Vergessen der Vergangenheit zunächst zu „einem positiven Wert, dem Thema für ein neues intellektuelles Ethos".126 Auf die Schleifung königlicher Denkmäler nach der Hinrichtung Charles' I. 1649 folgen komplexe Akte der Wiedereinschreibung, die ihrerseits nach der Restauration von 1660 ,vergessen' und ersetzt werden müssen. Die euphemistische Etikettierung der republikanischen und Cromwellschen 1650er Jahre als eine Zeit des .Interregnum' (ein Begriff, der auch heute noch von Historikern benutzt wird) spricht in diesem Zusammenhang Bände.127 Die 1650er wie die 1660er Jahre sind eine Zeit der rekonstruktiven und rekuperativen Bemühungen um gichtiges' Erinnern und Vergessen. Das Vergessen (nicht unbedingt das Vergeben) der "late troubles" und der "differences that caused them" sind zunächst nach 1649 notwendige Teilnahmebedingungen für die Konstruktion einer englischen Republik, die sich ihre eigene politische Gegenwart, Geschichte und Ikonologie zu ihren eigenen Konditionen schaffen will.128 Abraham Cowley, ehemals Autor des royalistischen Bürgerkriegsepos The Civil War, leuchtet dies spätestens 1656 ein; in diesem Jahr nämlich schreibt er im Vorwort zu seinen Poems von der Verpflichtung, sich den "conditions of the Conqueror' - dem Cromwellschen .Engagement' - zu unterwerfen: "we must lay down our Pens as well as Arms, we must march out of our Cause it self, and dismantle that, as well as our Towns and Castles, of all the Works and Fortifications of Wit and Reason by which we defended it".129 Nach der Restauration müssen Cowley diese Zeilen äußerst peinlich gewesen sein, aber sein voreiliger Kniefall vor Cromwell wird
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Siehe "Upon Nothing" und "SATYR." (besser bekannt u. d. T. "Satire against Reason and Mankind") in Wilmot 1984, 62ff., 91-97. Shifflett 2003, 101. Siehe Norbrook 1999, passim. Cowley 1971 [1656], sig. [a]4. Cowley 1971, ebd.
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ihm gnädig verziehen. In einem zweiten Akt des Ausradierens tilgt er diese Zeilen aus einer 1667 erscheinenden Neuausgabe seiner Poems. Zehn Jahre früher geht er jedoch noch weiter; denn es geht um mehr als nur um Unterordnung unter das neue Regime: The truth is, neither We, nor They [weder die Besiegten noch die Sieger, IB] ought by the Representation of Places and Images to make a kind of Artificial Memory of those things wherein we are all bound to desire like Themistocles, the Art of Oblivion. T h e enmities of Fellow-Citizens should be, like that of Lovers, the Redintegration of their Amity. The Names of Party, and Titles of Division, which are sometimes in effect the whole quarrel, should be extinguished and forbidden in peace under the notion of Acts oi Hostility."0
Ironischerweise wird Cowleys nominalistische "Art of Oblivion" von 1656 nach der Wiedereinsetzung des Königs 1660 zur offiziellen Politik der Regierung Charles' II. In den Augen seiner königstreuen Weggefährten liegt Cowleys Vergehen nicht darin, daß er die Vergangenheit auf sich beruhen lassen will; auch nicht darin, daß er die Grausamkeiten des Bürgerkriegs wie einen Streit unter Liebenden darstellt; sondern darin, daß er seine Dichtung als Vehikel und Instanz der Vergebung und des Vergessens anbietet - die (jedenfalls aus royalistischer Sicht) eindeutig in den Hoheitsbereich des Königs gehören.131 Es fällt dem restaurierten Hof schwer genug, das Vergessen als politische Fiktion der Milde zu behaupten; es ausdrücklich als dichterische Fiktion angepriesen zu sehen, und das noch dazu von einem abtrünnigen Royalisten, ist ihm unerträglich. Nach 1660 ist es erneut der Hof, der die Autorität über von ihm unterstützte und propagierte Fiktionen für sich beansprucht; die Dichter spielen erneut mit. Dabei ist es wiederum Cowley, der in seinen Poems von 1656 unwissentlich auch der höfischen Politik nach 1660 bereits vorgreift und ihr wesentliche Stichworte liefert: For the past sufferings of this noble Race [...] Let presentjoys fill up their place, And with Oblivions silent stroke deface Of foregone Ills the very trace.132
In der Declaration of Breda (4. April 1660) kündigt Charles II. vor seiner triumphalen Rückkehr nach England eine Generalamnestie an, "a free and general pardon [...] to all our subjects". Im Wortlaut dieser Erklärung, die Schlüsselelemente restaurativer Politik festlegt, trägt das Wort "restoration" das ganze Gewicht von Cowleys "silent stroke" des Vergessens. Es signalisiert die vollständige Tilgung
130
Cowley 1971, sig. [a]4—[a]4v. Zum Bezug auf Themistokies siehe Cicero, Definibus und Shifflett 2003, 105f. Shifflett 2003, 109. 132 " T h e Second Olympique Ode of Pindar", Cowley 1971, sig. 3Β1ν.
2.32.104f.
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des republikanischen Jahrzehnts aus Englands Nationalgedächtnis: "restoration both of king, peers and people to their just, ancient and fundamental rights". Im Gegensatz zu dieser relativ präzisen konstitutionellen Skizze einer Rückkehr in die Vergangenheit versinken jüngste politische Ereignisse im Nebel äußerst allgemeiner Formulierungen: "the general distraction and confusion", "so long misery and sufferings", "the passion and uncharitableness of the times", "the continued distractions of so many years and so many and great revolutions". Zum Abschluß des Dokuments wird das Jahr 1660 als "the twelfth year of our reign" bezeichnet. Damit wird die dynastische Lücke zwischen Vater und Sohn mit einem leisen Federstrich geschlossen, einem "silent stroke', der die magischen Heilkünste des Königs mimetisch vorwegnimmt: "that those wounds which have so many years together been kept bleeding may be bound up". Von diesem Schlußstrich an, so verkündet es Charles II., gelte es, die jüngere Vergangenheit zu vergessen: "Henceforward all notes of discord, separation, and difference of parties [are to] be utterly abolished among all our subjects, whom we invite and conjure to a perfect union among themselves".133 Die Rückkehr zur idealisierten Vergangenheit (nostalgisch verbrämt als Rückkehr ins 'merry England' Elizabeths - Astraea redux134) wird in der Erklärung von Breda als ein Schritt nach vorn in eine friedvolle und tolerante Zukunft dargestellt. Dieser Schritt wird ermöglicht durch einen bewußten, als Heilmittel dargebotenen Akt des Vergessens. Er wird rechtskräftig in der Indemnitätsakte von 1660, dem Act of Free and General Pardon, Indemnity and Oblivion,135 Namentlich werden darin diejenigen Personen aufgeführt, fur die diese Amnestie nicht gelten soll. In den Prozessen gegen die Königsmörder ('regicides') werden siebenundzwanzig Personen wegen Hochverrats verurteilt, zehn von ihnen werden hingerichtet.136 Die Art des Umgangs mit den 'regicides' erweckt eher den Eindruck eines chirurgischen Eingriffs als eines Rituals der Rache, obschon die Hinrichtungen mit der üblichen Grausamkeit durchgeführt werden. Es scheint, als solle der imaginäre Staatskörper dadurch in seinen natürlichen Gesundheitszustand zurückversetzt (.restauriert') werden. Die Strategie der Stunde ist die Heilung von Wunden durch die Beilegung oder zumindest das äußerliche Absehen von Meinungsverschiedenheiten. Dies schlägt sich deutlich nieder in offiziell genehmigten Veröffentlichungen und Theaterauffiiihrungen der frühen 1660er Jahre, die der ideologischen Vorgabe mit unterschiedlichem Geschick Folge leisten. Die höchste Priorität, so scheint es, genießt dabei die Vermeidung eines Rückfalls in den Hobbesschen Naturzustand, den Bürgerkrieg. 1662 erhält Samuel Tuke (er wird 1664 zum Ritter geschlagen) angeblich von Charles II. persönlich den Auftrag, ein spanisches Theaterstück mit dem
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"The Siehe Siehe Siehe
Declaration of Breda", Kenyon 1986, 331f. Yates 1977. Kenyon 1986, 339—44, wo dieses intrikate Dokument in Auszügen abgedruckt ist. Nenner 1997b.
Titel Los Empenos de seis horas (von dem man heute annimmt, daß es der Feder Antonio Coellos entstammt) für das englische Publikum zu bearbeiten. The Adventures of Five Hours (eine Stunde geht bei der Bearbeitung verloren) hat im Dezember 1662 Premiere bei Hofe und wird im Januar 1663 erstmals öffentlich aufgeführt. Es entwickelt sich zu einem der Lieblingsstücke von Samuel Pepys, der es in seinem Tagebuch (20. August 1666) sogar Shakespeares Othello vorzieht.137 Die Wahl des Stoffes durch den König persönlich zu Beginn seiner Regierungszeit macht jedenfalls den Eindruck eines intelligenten Schachzugs.138 Die Adventures sind zutiefst antipuritanisch und bringen zugleich die Überwindung von Differenzen (konkret: die Vermeidung von Blutrache) und die Versöhnung von Liebenden (vgl. Cowleys Metapher vom Bürgerkrieg als Liebesstreit) auf die Bühne. Der "Prologue at Court" gibt dem Stück einen ,staatsfiktionalen' Rahmen und folgt dabei der epischen Konvention der Musenanrufung, indem er geflissentlich die Inspiration des Dichters durch den König in Szene setzt. Dies geschieht in provokant religiös gefärbter Sprache: die Eingebung erfolgt durch einen Lichtstrahl von oben ("Light [...] by a Ray from th' upper Sphere") - ein ikonographisches Klischee: siehe den Lichtstrahl auf dem Frontispiz zum Eikon Basilike - , auf welchen der Dichter mit Eifer ("Zeal") reagiert.139 Ganz unmißverständlich wird hier eine ironische Aneignung protestantisch-puritanischer Grundbegriffe nach Maßgabe des höfischen 'wit' betrieben. Der Akt des Schreibens auf Geheiß des Musenkönigs wird als praktischer Gehorsam und zugleich in untertäniger Bescheidenheit - wohl auch, um ein eventuelles Scheitern des Stücks nicht auf den König als Inspirator zurückfallen zu lassen - als Versuch des Gedankenlesens dargestellt und als politisches Modell der Beziehung zwischen Souverän und Untertan empfohlen: So should Obsequious Subjects catch the Minds Of Princes, as your Sea-men do the Winds. If this Attempt then shews more Zeal, than Light, 'T may teach you to Obey, though not to Write. (4)
Die Unterweisung im Gehorsam ist, entprechend der dramatischen und poetischen Theorie Davenants, die wichtigste Funktion literarischer Produktionen.140 In diesem Sinne ist The Adventures nicht mehr und nicht weniger als auf die Bühne gestellter Royalismus. Für die Inszenierung des Stückes ist Davenant
"Up and to Deptford by water, reading Othello, Moore ofVenice, which I ever heretofore esteemed a mighty good play; but having so lately read The Adventures of five hours, it seems a mean thing" (Pepys 1970-1983, 7:255). •3« Vgl. die (dürftigen) Informationen des Herausgebers in Womersley 2000, 2. Ich zitiere The Adventures of Five Hours nach dieser Ausgabe, deren Text auf dem Erstdruck von 1663 basiert. 139 Tuke 2000, 4; Kursivierung aufgehoben. Weitere Zitate in Klammern. 140 Siehe neben dem Vorwort zu Gondibert die Proposition for Advancement of Moralitie, By a new way of Entertainment of the People (1653), im Anhang zu Jacob/Raylor 1991, 241—48.
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direkt verantwortlich - er feiert damit einen seiner größten Erfolge.141 Tukes Stück bietet eine Form der Unterhaltung, die dem offiziellen Geschmack der frühen Restaurationszeit vollkommen entspricht. Daß es heute in kaum einer Literaturgeschichte auch nur erwähnt wird, allenfalls in Spezialuntersuchungen zur Restaurationskomödie, ist vielleicht symptomatisch für die enge Verbundenheit mit den politischen und literarischen Gegebenheiten seiner Entstehungszeit.142 Pepys' Vergleich der Adventures mit Othello ist insofern berechtigt, als beide Stücke die gefährliche Leidenschaft der Eifersucht zum Thema haben; sie gehen damit jedoch höchst unterschiedlich um. Die Adventures spielen im spanischen Sevilla; der kulturelle Kontext der Religionskriege in den spanischen Niederlanden bleibt jedoch weitgehend ausgeblendet und bildet nur „den weitgehend neutralen Hintergrund für eine Reihe romantischer Eskapaden".143 Schon dieser Bedeutungsschwund religiös motivierter Kriegshandlungen läßt sich als wohlkalkulierter Kommentar zur historischen Situation Englands interpretieren, in der es um das Vergessen der Grausamkeiten des Bürgerkriegs und der "Names [...] and Titles of Division" geht.144 So setzt das Stück nicht nur durch seine szenischen Konventionen und sein spanisches Setting zukunftsweisende Akzente für das Theater der frühen Restaurationszeit, sondern auch durch seine „provokante Seichtheit".145 Tukes Umgang mit den gefährlichen Leidenschaften der Eifersucht und des übertriebenen Ehrgefühls paßt sich der Hauptintention des Stückes perfekt an: Sein Daseinszweck ist die Unterweisung in staatsbürgerliche Tugenden, v. a. in Gehorsam. Wie Davenant es in seiner Übung in angewandtem Hobbismus, der Proposition for Advancement of Moralitie (1653) darstellt, können und sollen die Möglichkeiten des Theaters darauf verwendet werden, im Publikum positive oder negative Leidenschaften zu wecken: die Zuneigung zu allem, was der Souverän gutheißt, die Abneigung gegen alles, was er ablehnt. So ließen sich möglicherweise gefährliche und zerstörerische Leidenschaften - wie ζ. B. die so
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Visser 1975, 57. Tukes Stück wird regelmäßig wiederaufgenommen: 1666, 1669, 1672, 1674 und 1676; gedruckt wird es 1663, 1664 und (in einer Neubearbeitung) 1671. Siehe Visser 59. Stichprobe: Fehlanzeige bei Schirmer, Standop/Mertner, Seeber, Schwanitz, Sanders, Wagner. Einzige Ausnahme ist Sutherland (Oxford History), der jedoch auf die politische Dimension überhaupt nicht eingeht. (Siehe Bibliographie, Abschnitt 3.) Womersley 2000, 2. Cowley 1971, sig. [a]4v. Womersley 2000, 2. Die von Tuke eingeleitete Begeisterung für .spanische' Komödien läßt sich etwa an Drydens Theaterstücken ablesen: The Rival Ladies (1664), An Evening's Love (1668) und auch noch an The Assignation (1672), obschon letzteres in Rom spielt. Visser (1975, 57, 118) spekuliert, die erste Inszenierung von Drydens Assignation in Lincolns Inn Fields (1672) könnte das Originaldekor der Adventures verwendet haben. Die von Tuke und Davenant etablierten Bühnenkonventionen umfassen "the whole apparatus of houses, balconies, doors, night gardens, walks and arbours" (Visser 1975, 119): die Adventures setzen damit ein Benchmark sowohl fur die Bühnenmaschinerie der Restaurationszeit als auch für formale Konventionen der Stücke, zumindest bis zur Eröffnung des aufwendigeren Dorset Garden Theatre 1671. Siehe zu letzterem Milhous 1984.
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oft v o m Parlament als Rechtfertigung seiner H a n d l u n g e n im Bürgerkrieg angeführten "fears a n d jealousies" — überwinden, i n d e m m a n sie durch p o l i t i s c h korrekte' Leidenschaften ersetzt. 1 4 6 Schon der Prolog des Stückes ü b e r n i m m t in diesem Z u s a m m e n h a n g eine wichtige poetologisch-politische Funktion. D i e o p p o r t u n e Sakralisierung des K ö n i g t u m s u n d die M e t a p h o r i k des Lichtes u n d der B l e n d u n g wird noch gesteigert in einer Reminiszenz an das höfische Maskenspiel der jakobäischen u n d ersten karolinischen Epoche. D e r K ö n i g wird persönlich angesprochen u n d so unmittelbar in die D a r b i e t u n g u n d deren paratextuelle E i n b e t t u n g einbezogen: Ha! he is there himself. Pardon my sight, My Eyes were dazled with Excess of Light; Even so the Sun, who all things else displays, Is hid from us i' th' Glory of his Rays; Will you vouchsafe your Presence? You, that were given To be our Atlas, and support our Heaven? Will You (Dread Sir) Your Pretious Moments lose To Grace the first Endeavours of our Muse, This with Your Character most aptly suits Even Heaven it self is pleas'd with the first Fruits. 147 Tukes Prolog m a g nicht viel mehr sein als ein Virtuosenstück royalistischer Speichelleckerei, aber auch darin setzt er ein Merkzeichen: D i e vorgeblich .unschuldige' Sorglosigkeit, die D o p p e l m o r a l , der Witz, die ironische M i s c h u n g von G a t t u n g e n - all das zeichnet die (offizielle) Ästhetik der Restaurationszeit im allgemeinen aus, zugleich aber auch das höfische L e b e n u n d d e n " C h a r a c t e r " Charles' II. selbst. D e r K ö n i g wird nicht nur in Tukes Prolog, sondern auch außerhalb des Theaters durchgängig als Schauspieler dargestellt, der das K ö n i g t u m inszeniert u n d performativ vollzieht. Dies geschieht sogar in D r y d e n s feierlichsten Gedichten, Astraa
Redux u n d Annus Mirabilis.Ui
"Sun", "Glory", "Atlas",
"Heaven", " M u s e " , "first Fruits": In dieser Passage des Prologs — die a u f geradezu unheimliche Weise an das erste P r o ö m i u m von Paradise Lost erinnert — werden N e u p l a t o n i s m u s , griechische Mythologie u n d mosaisches Gesetz 1 4 9 u n b e k ü m mert zu einer Q u a s i - " p e r f e c t union" miteinander kommunizierender, wenngleich inhaltlich u n d syntaktisch nicht zusammenpassender M e t a p h e r n verschmolzen, die nur in der Person, der zeichenhaften Persona, d e m " C h a r a c t e r " des K ö n i g s zusammengehalten werden. Was in Miltons E p o s eine eher vorsichtige, tentative Vermittlung v o n heidnischer u n d christlicher Tradition - unter A n e r k e n n u n g
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Jacob/Raylor 1991, 205, 225.
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T u k e 2 0 0 0 , 4 ; K u r s i v i e r u n g a u f g e h o b e n ; Herv. i m O r i g i n a l . Siehe G o r d o n 2 0 0 2 . Z u r Persönlichkeit Charles' II. siehe H u t t o n 1 9 8 9 , 4 4 6 - 5 8 . "first Fruits" bezieht sich a u f die D a r b r i n g u n g der Erstlingsfrüchte (oblation o f firstfruits), ticus 2 3 .
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Levi-
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ihrer Heterogenität - bedeutet, ist hier unbekümmertes Spiel mit heterogenen Elementen, die zu einer Ideologie geglättet und verschmolzen werden. Die allzu vertraut wirkende Liebesgeschichte des Stücks verrät einen Hang zum Erbaulichen und ist schnell erzählt. Zwei junge Liebespaare, Porcia/Octavio und Camilla/Antonio, müssen mitansehen, wie ihre Heiratspläne durch die Brüder der Mädchen, Carlos und Henrique, durchkreuzt werden. Im Fortgang des Stücks stellen sich die Einwände der Brüder als unbegründet heraus: sie beruhen auf einer Kette von Mißverständnissen und Fehlinformationen. Parallel zum hochmoralischen Hauptplot enthält das Stück eine komische Nebenhandlung, in deren Mittelpunkt Octavios Diener Diego steht, der sich am Ende gezwungen sieht, Porcias Zofe Flora zu ehelichen. Eine Hauptcharakteristik, die das Stück mit vielen anderen der frühen sechziger Jahre teilt, ist das Bemühen um Vermeidung eines potentiell tragischen Ausgangs.150 Hierzu ist fast jedes Mittel recht, und die didaktische Absicht des Stücks ist dadurch schnell festgelegt. Don Henrique ist ein strenger, hitzköpfiger Spanier mit einem strikten Ehrenkodex: "The Blemish once received, no Wash is good / For stains of Honor, but th'Offenders blood", erklärt er gleich zu Beginn des ersten Akts. Sein Vetter Don Carlos antwortet ihm darauf, er sei "too severe a Judge of point of Honor" (4). Die Notwendigkeit des Verzichts auf voreilige Verurteilungen; die Beherrschung und Mäßigung der Leidenschaften (übermäßige Ehr- und Eifersucht); schließlich die Suche nach einem Weg zur Vermeidung zukünftiger "Love-disasters" (5) sind zentrale Themen des Stücks. Während die von ihm gebotene Unterhaltung von kalkulierter Seichtheit und konventioneller Komik geprägt ist, wird die kulturelle und politische Intention des Stücks — sein Eintreten gegen Radikalismus und Rachsucht - überall augenfällig.151 Spätere Bearbeitungen passen die Sprache des Stücks den modischen, hochgradig stilisierten Sprechmustern des heroischen Dramas an, damit es der höfischen Kultur der Restaurationszeit und ihrer öffentlichen Darstellung in der City noch mehr entspricht und so auf der Höhe der Zeit bleibt. Mit typischer royalistischer Nonchalance entwickelt sich das Stück zu einem Plädoyer für elegante und huldvolle Akte des Vergessens. Es enthält eine Aufforderung, die Leidenschaften der Religion und des Ehrgeizes abzukühlen, die als Anreize zu öffentlicher Unruhe und Rebellion gedeutet werden. Wenn die spanischen Diener über die Rebellion in den Niederlanden diskutieren, beweisen sie ihr erstaunlich zeitgemäßes Verständnis für internationale Politik, als deren Triebkräfte sie die merkantilistischen Mächte des Handels und des Geldes erkennen:
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Vgl. Kamm 1996, 44. Diesen antiradikalen, antipuritanischen Affekt teilt es mit Sir Robert Howards The Committee (1662), einem Stück, das im London Cromwells spielt und vom Versuch zweier Kavaliere erzählt, ihre beschlagnahmten Güter zurückzuerlangen. Siehe hierzu Hume 1976, 111-16; Corman 2000, 58.
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Geralde. Pr'ythee, Friend, can these Dutch Borraccios Fight? Ernesto. They can do even as well, for they can Pay Those that can fight. Sylvio: But where, I pr'ythee, do they get their Money? Em. Oh, Friend, they have a Thriving Mystery; They Cheat their Neighbouring Princes of their Trade, And then they Buy their Subjects for their Soldiers. (9)
In derselben Diskussion mobilisiert Tuke die bei seinen englischen Zuschauern bereits vorhandenen anti-holländischen Ressentiments, um so die Rolle religiöser Differenzen als Motivation für bürgerkriegsartige Konflikte in England herunterspielen zu können: Ger. What a Gods name could come into the Heads O f this People, to make them Rebell? Em. W h y Religion, that came into their Heads A Gods name. Ger. But what a Devil made the Noble-men Rebel? Em. W h y that which made the Devil himself Rebel, Ambition. (9)
Dieser Wortwechsel denunziert religiöses Erleben als eine unnatürliche, von außen eindringende Kraft ("Religion [...] came into their Heads") - das ironisch angefügte "a [= in] God's name" legt indirekt eine der Religion übergeordnete Position der Staatsklugheit nahe, aus der heraus der Souverän sein Urteil fällt. Durch die Erwähnung des Teufels wird zudem eine Politisierung der christlichen Mythologie suggeriert, die alsdann ä la Hobbes auf eine physiologische Beschreibung aufrührerischer Leidenschaften ("Ambition") reduziert und dadurch rationalisiert wird. So wird die Relevanz der Religion fur säkulare Politik negiert. All dies ist eine altbekannte Strategie antipuritanischer Polemik — vgl. nur Waltons oder auch Drydens Bemerkungen zum Verhältnis von Religion und Nationalität - eine Strategie, die Milton zu genau dieser Zeit in Paradise Lost auf den Kopf (oder, je nach Blickwinkel, die Füße) zu stellen sucht, indem er satanische Ambition als sarkastisches Analogon zur Regierungspraxis der Stuarts präsentiert. 152 Während Paradise Lost es darauf anlegt, die Differenzen und Dissonanzen seiner Zeit mit geradezu schmerzhafter Konsequenz offenzulegen und in der Schwebe zu halten, schnurrt der Plot der Adventures zu einem unmißverständlichen moralischen Appell an die ehrenhafte Tugend der Mäßigung zusammen. Gegen die Verirrungen aufgewühlter Leidenschaft wird die bändigende Kraft der "Reason" (39) gesetzt:
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Siehe Quint 1993, 269; Davies 1983, 3-8. Siehe auch Bennett 1989, 33-58; Hill 1977, 341—448. Diese politische Anspielungsebene von Paradise Lost verbirgt sich hinter literarischer Komplexität und Dekorum, die Miltons Epos aus der allegorischen Tendenz extremer Sektierer herausheben und am Zensor vorbeischleusen. Siehe hierzu von Maitzahn 1996, 486.
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[Carlos.} Good Cozin, I conjure you to restrain Your Passion for a while, there does lie hid Some Mystery in this, which once unfolded, May possibly produce the means of making That Reconcilable, which now seems Desp'rate. (37)
In diesen Worten, die Carlos - dessen Name nicht zufällig Charles II. assoziiert — an seinen Vetter Henrique richtet, hallt die erst zwei Jahre zurückliegende Absichtserklärung des wiedereingesetzten Königs wider ("conjure to a perfect union").153 Die Absichten Carlos' decken sich mit dieser Erklärung, in der die Heilung des Landes durch Zurückhaltung und Versöhnung als oberstes politisches Ziel vorgestellt wird. "Sweetly propos'd, Sir, an Accommodation?" fragt Henrique, der damit indirekt die ,Süße' des karolinischen Kompromisses bestätigt, der zwischen den rivalisierenden Impulsen Ehre, Liebe und Rache zu vermitteln sucht ("adjust this Competition", 38). Der Epilog, gesprochen vom Diener Diego, bekräftigt die Parallele zur Erklärung von Breda ausdrücklich. Der Stil des Stücks, so Diego, sei "as easie as a Proclamation, / As if the play were Pen'd for th'whole Nation."154 So wird zugleich der öffentliche, hortative und rhetorische Charakter des Stücks noch einmal deutlich gemacht. Es richtet sich, auch wenn dieser Anspruch in einem zeittypischen "As if" aufgehoben bleibt, (vorgeblich) an keine Einzelpartei aus dem Bürgerkrieg, sondern - das macht schon der niedrige 'rank' des Sprechers Diego deutlich — sowohl an die höheren als auch die niederen Stände. Es ist eine Staatsfiktion für die .ganze Nation' und hat als solche den gemeinverständlichen Charakter einer Verlautbarung ("Proclamation"). So geht Tuke konform mit Davenants pädagogischen Vorstellungen zur Unterweisung der einfachen Leute durch das Medium des unterhaltenden Theaters. Das einende Band, das gesellschaftliche und politische Differenzen überwinden helfen soll, ist der noch junge Begriff der "Nation" — der hier bereits gegen die Niederlande mobilisiert wird.155 Der ideologische Beitrag der Adventures richtet sich auf die Instituierung eines sorgsamen, gemäßigten Abwägens von Differenzen: "how Nicely he does Honor weigh! / Justice her self holds not the Scales more Even" (39). Das Stück empfiehlt Vergebung und die Vermeidung von Blutvergießen als Mittel zur Lösung sozialer Probleme. Doch es warnt zugleich vor den Gefahren einer vorschnellen Versöhnung und eines übereilten Vergessens dieser Differenzen und Probleme im allgemeinen Jubel. Der leidenschaftliche Don Henrique, der im Stück die Stelle des puritanischen Anti-Royalisten einnimmt, kann den am Ende erzielten Kompromiß der "union" (Charles II.) und der "Redintegration of [...] Amity" (Cowley) immer noch gefährden:
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Declaration of Breda (Kenyon 1986, 332). Tuke 2000, 41; Kursivierung aufgehoben. Vgl. die obigen Bemerkungen zu Drydens Essay of Dramatick
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Poesie, Kap. 1.1.
Carl. But let's take heed, Antonio, lest whilst we Are Joying in our mutual Happiness, Don Henrique's scarcely yet compos'd Distemper Revive not, and Disorder us afresh: I like not his Grim Posture; you know well After a Tempest, though the Wind be laid, There often does remain for a good while A dangerous Agitation of the Waves; He must not yet be trusted with himself. (40) Don Henrique sieht schließlich ein, daß er sich fugen muß: "I must consent, I see, or worse will follow", denn "Our Strength, and Wisdom must submit to Fate. / Stript of my Love, I will put off my Hate" (40). Er akzeptiert also Cowleys Lösung: Vergessen als notwendiger und heilsamer zivilisatorischer Fortschritt. Die Tragödie ist abgewendet, und das Stück schließt mit einer friedvollen Versöhnung, die erneut im Klischee des sich legenden Sturmes beschrieben wird: "Thus end the Rare Adventures of Five Hours; / As sometimes Boisterous Storms in Gentle Shouts" (41). Zahlreiche Lobgedichte auf die Rückkehr Charles' II., darunter auch Drydens Astraa Redux, bedienen sich dieses Topos. 156 Der "Epilogue at Court" verortet das Stück fest im zeitgenössischen konstitutionellen Setting eines restaurierten Sakralkönigtums; die feudalistische Bezeichnung der Parlamentarier als .Vasallen' des Königs ist sicher nur teilweise ironisch gemeint. Abgerundet wird dieser zusätzliche Epilog durch eine zirkuläre Bestätigung des königlichen Willens, ohne den das Stück nie geschrieben worden wäre. Indem es die Zuschauer ,passiert' wie ein Gesetz das Parlament, werden zudem noch einmal legislative, politische und ästhetische Praxis der 'personal rule' miteinander in Verbindung und Ubereinstimmung gebracht: W'have pass'd the Lords, and Commons; and are come At length, Dread Sir, to hear Your Final Doom. 'Tis true, Your Vassals, Sir, may Vote the Laws, Their Sanction comes from Your Divine Applause. This Shining Circle then will all sit Mute, Till one pronounce from you, Le Roy le Veut. 157 In seiner Anspielung auf den französischen Absolutismus und die durch und für Ludwig XIV. entwickelte Sonnenkönigs-Imagologie bestätigt das Finale der Adventures die Konsolidierung königlicher Politik und ihrer Selbstdarstellung in
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Vgl. ζ. B. Cowleys Ode, upon the Blessed Restoration and Returne of His Sacred Majestie (1660), 1: "To calm the stormy World, and still the rage of Warrs." Drydens Astraa Redux (s. u.) arbeitet durchgängig mit der Bildsprache des Sturms, da es zugleich die Überfahrt des Königs von Holland nach Dover nacherzählt. Auch vor dem Hintergrund der nautischen Metaphorik der Staatskunst in Davenants Vorwort zu Gondibert ist diese Bildsprache bedeutsam. Aufschlußreich ist, wie Milton sie in Paradise Lost rekontextualisiert und karikiert in den Beschreibungen des 'Parliament of Hell'; siehe 2.284-90, 476f„ 488-95. Tuke 2000, 41; Kursivierung aufgehoben; Herv. im Original.
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den frühen sechziger Jahren. Im Vergleich hierzu registriert Drydens Lobgedicht auf die Rückkehr Charles' II., geschrieben nur einen M o n a t nach dessen triumphaler Ankunft in London im Mai 1660, noch eine Atmosphäre der Unsicherheit und Instabilität, obwohl sein erklärter Zweck in ungemischtem Lobpreis besteht. Astraa Redux. A Poem on the Happy Restoration and Return of His Sacred Majesty Charles the Second}™ wird Ende Juni veröffentlicht. Für den achtundzwanzigjährigen Dryden, der nur ein Jahr zuvor eine Elegie auf Cromwell veröffentlicht hat und in Cromwells Beerdigungszug an der Seite Miltons und Marvells gegangen ist, bedeutet dieser Seitenwechsel einen biographischen Einschnitt, den er nicht weiter kommentiert. Wie viele seiner Zeitgenossen scheint er diese Kehrtwende nicht als Bruch zu empfinden. Auch Astraa Redux gehört mithin in eine Reihe von Texten der Vergessenskultur der 1660er. Es ist nicht nur ein Gedicht der Lobpreisung, sondern auch der Negation, der Verdrängung und des Exorzismus. Der lateinische Titel ist vielschichtig: Er evoziert das vergilische Motiv der Rückkehr der Göttin der Gerechtigkeit (Astraea), einer Figur, die auch mit imperialer weltlicher Macht und der Wiederkehr des goldenen Zeitalters nach dem eisernen verbunden ist, das man nun mit Cromwells Herrschaft zu assoziieren beginnt. 1 5 9 Gerechtigkeit als rationale Antwort auf Gewalt avanciert in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einem Kernbegriff neoklassischer Ordnung und ihrer Repräsentation in Politik und Ästhetik. 1 6 0 Die Wiederkehr der Astraea markiert auch eine Rückkehr in die nostalgisch verklärte elisabethanische Epoche, 'merry England'. Für Drydens modernen Biographen deutet der Bilderreichtum, ja Bilderüberschuß des Gedichtes — auch wenn die Bilder selbst traditionell bleiben — auf mehr als bloße Euphorie hin; er verrate einen „Kontrollverlust": "Dryden, like many of his countrymen, appears to have believed, at least for a moment, that the Restoration could miraculously negate or exorcise the events o f the previous twenty "161
years. Erst aus der Verbindung von Panegyrik und Verdrängung erklärt sich die poetische Kraft dieses Gedichts, das in der Tat „eine neue, muskulösere Art der politischen Dichtung" 1 6 2 einleitet, weil es poetische Autorität über das kulturelle Gedächtnis beansprucht. Es lanciert sich als magischer, mythopoetischer Akt, als Zaubertrick, der das hervorbringen soll, was die Erklärung von Breda eine "per-
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Dies ist der Titel der Erstausgabe; siehe Dryden 1995, 1: 3 7 und Dryden 2001, 11. Ich zitiere den Text des Gedichts nach der kalifornischen Ausgabe (Works 1: 22—31). Drydens literarischer Anknüpfungspunkt ist Vergils vierte Ekloge. Vgl. den Kommentar des Herausgebers in Dryden, Works 1: 2 1 1 - 1 9 , 213, 219; Yates 1977. Der Ausdruck "this damn'd Iron Age" taucht auch in Tukes Adventures auf, im Munde des Dieners Diego (2000, 17). Siehe die detaillierten Ausführungen zur Idee der Gerechtigkeit im 17. Jahrhundert in Reiss 1992, 130f„ 1 6 0 - 9 1 . Winn 1987, 104. Winn 1987, 112.
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feet union" zwischen Nation und König nennt. 163 In einer religiösen Rhetorik der Schuld, Buße und Vergebung gelingt es ihm, die Zeitstimmung einzufangen und dadurch - auch indem es die Aspekte der Heilung und der Einheit hervorhebt - seinen Lesern und nicht zuletzt dem Dichter selbst den Wechsel zum neuen Regime zu erleichtern. Besonders auffallend an Astraa Redux ist die Vermischung klassischer allegorischer Topoi (die sich zumeist auf Vergils Äneis beziehen und Charles II. mit Aneas assoziieren) mit gewagten Anspielungen auf die christliche Offenbarung. Beide kulturellen Traditionen dienen Dryden - und anderen, wie das Beispiel Tukes zeigt - als Repertoire für politische Metaphorik, subtile Wortspielerei und eine assoziationsreiche Bildsprache. Religiöse Erlebensdimensionen (Offenbarung) und Lesegewohnheiten (Typologie) 164 werden auf gewagte und provokante Weise in dichterisches Material verwandelt, das von heidnischen Elementen so gut wie nicht differenziert wird. Charles II. wird mit der gleichen eleganten Frechheit mit Jupiter und Aneas verglichen wie mit Adam, Moses, David und Christus. In der Unbekümmertheit des Umgangs mit christlichen und paganen Traditionen scheint Astraa Redux seiner Zeit weit voraus zu sein und ζ. B. Goethe und Shelley zu präludieren. Im konkreteren Bezug zu seiner Entstehungszeit läßt es sich aber auch lesen als Negation des Anspruchs der Puritaner auf eine religiös unterfutterte Deutungshoheit über politische Ereignisse der Gegenwart. Dryden schmettert diesen Anspruch ab, indem er die typologischen Waffen der Puritaner gegen diese verwendet. Wie wird Vergangenheit im Gedicht inszeniert und zur Deutung der Gegenwart mobilisiert? Welche Vergangenheit, welche Traditionsbestände werden ausgewählt, welche ignoriert? Unter diesem Aspekt der Selektion und Manipulation weist Astraa Redux auf Drydens spätere strategische Verwendung eines biblischen Stoffes in Absalom and Achitophel voraus. Zudem wird hier der Gegensatz zwischen Dryden und seinem stärksten dichterischen Rivalen, Milton, besonders deutlich. Astraa Redux und Paradise Lost lassen sich als konkurrierende, diametral entgegengesetzte Akte kulturellen Erinnerns und Vergessens in der Restaurationszeit lesen. Ihr Kontrast und Konflikt ist um so faszinierender, als Dryden und Milton über gleichwertige dichterische Fähigkeiten verfügen und sich sogar der gleichen Stoffe bedienen, um ihre konträren Argumente vorzubringen: antike und christliche Mythologie, Vergil und die Bibel. Drydens Sprecher in Astraa Redux wirkt selbstbewußt, aber auch angespannt. Er gibt an einer Stelle sogar seine Unsicherheit zu ("doubtful thoughts"), wenn auch nur bezüglich der Frage, in welches ästhetische Licht die Abenteuer des jungen Königs am besten zu rücken seien. Das rechte Licht, so stellt sich heraus, ist das religiös getönte Licht des 'fortunate fall', des als Voraussetzung des Heils umgedeuteten Sündenfalls: "How shall I then my doubtful thoughts express / 163
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Kcnyon 1986, 332. Zur puritanischen Tradition typologischer Lektüre siehe Brumm 1963; Berry 1976; C o h n 1970, 179-94; Miner 1977; Achinstein 1994, 18.
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That must his suff'rings both regret and bless!"165 Charles II. wird sodann unmittelbar mit David verglichen, der in typologischen Bibellektüren als Stammvater Jesu auf den Messias vorausweist: "Thus banish'd David spent abroad his time, / When to be Gods Anointed was his Crime" (79f.). Dryden bedient sich auch der traditionellen christlichen Metaphorik von Licht und Dunkelheit, von (körperlicher) Blindheit und (spiritueller) Einsicht - einer Metaphorik, die auch von Tuke im Prolog zu den Adventures zur Lobpreisung des Königs eingesetzt wird und auf die Milton in ganz anderer Weise antworten wird: "struck with rayes of prosp'rous fortune blind / We light alone in dark afflictions find" (95f.); wieder der Sündenfall als Glücksfall.166 Auch Charles wird, wie weiland Adam, zur Weisheit gezwungen: "Made [...] at his own cost like Adam wise" (114). Wie von Christus heißt es von ihm, er sei sowohl himmlischer als auch irdischer Herkunft ("Heavn'ly Parentage and earthly too", 257); wie die Geburt Christi, so wird auch Charles' Geburt im Jahre 1630 vom Erscheinen eines Sterns zur Mittagszeit begleitet: "The Star that at your Birth shone out so bright / It stain'd the duller Suns Meridian light" (288f.).167 Dryden geht jedoch weiter als schwächere Panegyriker, die sich damit zufriedengeben, diese Himmelsbeobachtung als Vorzeichen fur "future Glories"168 auszulegen. Er zieht ausdrücklich eine Parallele zum Stern von Bethlehem, ja, er behauptet, derselbe Stern sei 1660 wieder erschienen, "Guiding our eyes to find and worship you" (291) - erneut der göttliche Lichtstrahl als 'Guide' der Blickrichtung, der als basales Bildelement auch das Frontispiz des Eikon Basilike und den Prolog bei Hofe in Tukes Adventures beherrscht. Diese Anspielung auf die Weihnachtsgeschichte fügt sich in Drydens Strategie, die Restauration der Monarchie fest in englisches Brauchtum zu integrieren. Die Wiederbelebung alter Volksbräuche, die von den Puritanern als Sakrileg und Aberglauben abgetan werden, ist ein wichtiges Element royalistischer Politik.169 Wenn Charles II. bei seiner Parade durch London den "expiring
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Astr&a Redux, Ζ. 71f. Weitere Zitate mit Zeilenangabe in Klammern. Diese Figur taucht noch einmal auf in Z. 209f.: "But since reform'd by what we did amiss, / We by our sufF'rings learn to prize our bliss." Zur Metaphorik von Blindheit und Einsicht s. ο. Kap. III.2. "It is observed, that at his Nativity at London, was seen a Star about Noon-time; what it portended, good, or evil, we leave to the Judgment of the Astrologers." Edward Phillips, Chronicle of the Kings of England (1660), 497, zit. nach Dryden, Works 1: 232. Siehe ebd. zu weiteren Beispielen royalistischer Loblieder, die den Symbolwert dieses meteorologischen Phänomens ausschlachten. Cowley, Ode, upon the Blessed Restoration, zit. nach Dryden, Works 1: 232. Siehe Cavendishs Advice (1659) zur Notwendigkeit der Wiederbelebung von "Country recreations": "all the old Hollydays, with Their mirth, & rightes Sett upp agen [...] May Games, Moris Dances, the Lord of the may, & Lady of the May, the Foole & the Hoby Horse, muste not bee forgotten". Cavendish verweist ausdrücklich auf das Book of Sports James1 I. und beruft sich in machiavellistischer Absicht auf ein nostalgisches Bild des elisabethanischen 'merry England': "These Devertismentes will amuse the peoples thoughts And keepe them in harmless actions, which will free your Majestie from Faction, & Rebellion" (Cavendish 1984, 64).
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Pomp of MayT erneuert (285), dann ist er für Dryden ein heidnischer Maifürst und zugleich ein wiedergeborener Christus beim Einzug in Jerusalem.170 Hinter der affektierten Frivolität solcher Analogien und Figuren für Charles II. steckt wahrscheinlich ein wohlberechneter Gegenentwurf zu puritanischer Mäßigung und Strenge. Zu dieser Taktik passen die Verweise auf Fruchtbarkeit und Frühling, die dynastische Potenz versprechen. In seiner Vermischung von heidnischen (englischen wie griechisch-römischen) und christlichen Anspielungen ist das Gedicht bestrebt, religiöse Semantik aus der puritanischen Kultur herauszulösen und sie in ein royalistisches Weltbild wiedereinzufügen, dessen Ideologie zutiefst antipuritanisch ist: festlich und körperzentriert, neo-elisabethanisch, neo-heidnisch und deistisch.171 Der christliche Himmel ("Heaven") wird viele Male angesprochen (Z. 13, 38, 40, 59, 73, 137, 145, 147, 196, 238 und 318). Andere Worte mit christlichen Konnotationen sind "Pilgrimage" (54), "Miracles" (14, 241), "Fate" (13, 51, 321), "Destiny" (63), "blessings" (137, 141), "Martyrs" (186), "indulgence" (240), "th'Almighty" (262), "Vowes" (319), sowie Verben wie "sinn'd" (207), "worship" (291) und "bless'd" (240). Besondere Beachtung verdienen die wiederholten Bezüge auf die calvinistische Prädestinationslehre: "Providence" kommt zweimal vor in Verbindung mit politischen Ereignissen (151, 238); eine Variante dazu ist "Heav'ns prefixed hour" (147). Ohne offenkundige Ironie wird die Macht des Gebetes und seine Rolle bei der Rückführung des Königs unterstrichen: Yet as he knew his blessings worth, took care That we should know it by repeated pray'r; Which storm'd the skies and ravish'd Charles from thence As Heav'n itself is took by violence. (141—44)
In seinen Bestrebungen, die Sprache des Puritanismus und des alten Regimes zu diskreditieren und zu invertieren, erweist sich das Gedicht als äußerst konsistent. "Jealousies" (213), ein Schlüsselwort der parlamentarischen Seite im Bürgerkrieg, taucht ganz unschuldig auf in einem Vergleich der Engländer mit "early Lovers whose unpractis'd hearts / Were long the May-game of malicious arts" (21 If.). Die Eifersüchteleien' der Liebenden erweisen sich dann als "vain" (213); 170
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Damit scheint auch impliziert zu sein, daß man das ganze Spektakel nicht allzu ernst nehmen dürfe. Der Vergleich mit dem 'May King' ist tückisch und zwiespältig, ebenso wie der Vergleich mit Adam in Z. 114 (welcher Versuchung ist Charles erlegen?); der 'May Day' ist ja ein Tag des Karnevals und der Umwertung der Werte: ein Tag nicht der Gerechtigkeit und Ordnung, wie sie in den offiziellen Verlautbarungen zur Restauration proklamiert wird, sondern der Ungerechtigkeit und des 'misrule'. Vgl. die einleitenden Bemerkungen von Arthur F. Kinney zu Sidneys The Lady of May in Kinney 1999, 37f. Der Schauspielcharakter des Königs, der unter enormem Darstellungsdruck steht ("foreshew / The World a Monarch" Z. 322f.) und sich — zum Schein? - zum Narren macht, wird auch in Absalom and Achitophel eine wichtige Rolle spielen. Zu Drydens Deismus kann hier nicht ins Detail gegangen werden; deistischen Charakters ist z. B. die mechanistische Physiologie in den berühmten Zeilen, in denen der natürliche Körper mit dem Staatskörper verglichen wird. In ihnen wird Gott in deistischer Manier als "Mans Architect" bezeichnet (165).
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das Gleichnis endet in Versöhnung und gesteigerter Liebe. Dryden verfolgt hier die gleiche Strategie des Vergessens, die schon Cowley in seinen Poems von 1656 als Möglichkeit der Uberwindung von Differenzen vorgeschlagen hatte: Bürger (bei Dryden: Untertanen) als Liebende darzustellen, deren Konflikte in eine "Redintegration of their Amitie" münden.172 Im vorhergehenden Couplet spielt Dryden auf den puritanischen Diskurs der religiösen Reformation und der politischen Reform an und invertiert ihn, um die Rückkehr zur Monarchie als Ergebnis eines Prozesses des Leidens, der Reue und Buße zu beschreiben ("vertuous shame", 206): "But since reform'd by what we did amiss, / We by our suff'rings learn to prize our bliss" (209f., Herv. IB). Mit geringerer Subtilität denunziert sein antipuritanischer Affekt die Beweggründe der Republikaner als egoistisch, maßlos und blasphemisch (besonders in Z. 186, wo diese sich „bis zum Exzeß auf den Gräbern von Blutzeugen" betrinken): "Religions name against it self was made; / The shadow serv'd the substance to invade" (191f.).173 Eine echte theologische Argumentation wird in diesen Zeilen sorgsam vermieden, aber die Unterscheidung zwischen Schein und Sein, Schatten und Substanz, legt nahe, daß echte Religiosität auf Seiten der Royalisten und der etablierten Kirche zu suchen sei. Das republikanische Experiment, so Dryden, habe hingegen nur zu einer Ochlokratie geführt, zur Destruktivität, Rechtlosigkeit und Anarchie eines Hobbesschen bzw. ciceronischen Naturzustands: The Rabble now such Freedom did enjoy, As Winds at Sea that use it to destroy: Blind as the Cyclops, and as wild as he, They own'd a lawless salvage Libertie, Like that our painted Ancestours so priz'd Ere Empires Arts their Breasts had Civiliz'd. (43-48)
Der sakrale Maienkönig, der - legitimiert durch Gott und durch den Gehorsam seiner Untertanen - die Unrechtsherrschaft der Cromwell-Zeit ablöst, wird aufgerufen, Gnade vor Recht ergehen zu lassen: "Not ty'd to rules of Policy, you find / Revenge less sweet then a forgiving mind" (260f.). Für Dryden in Astraa Redux steht der König nur in seiner Güte ("Goodness") über dem Gesetz, ordnet er seine Macht der Idee der Gerechtigkeit unter (266f.). Wie man am Beispiel des Compleat Angler sehen kann und wie sich detailliert an Filmers eher humorloser und unironischer Patriarcha belegen ließe, ist der Zustand der "perfect union" aller Untertanen unter einem patriarchalen Sakralkönigtum für einen orthodoxen Royalisten gleichbedeutend mit der natürlichen Ordnung der Dinge (im Unterschied zum Hobbesschen Naturzustand der Unordnung). In dieser Ordnung sind alle Untertanen aufgrund göttlicher Weisung
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Cowley 1971, sig. [a]4v. Hammond erläutert das Wort "made" in Ζ. 191 als "pressed into military service, enlisted (OED 15a)". Siehe Dryden 1995, 1: 47.
Eigentum des Souveräns.174 Diese Semantik spielt auch im Gnadenersuchen der Astraa Redux eine wichtige Rolle und wird letztlich, trotz aller anderslautenden staatstheoretischen Überlegungen, auch am Schluß von Absalom and Achitophel noch einmal ratifiziert (s. u.). Vor diesem Hintergrund einer royalistischen Poetik der Geschlossenheit, die nicht zuletzt durch die Form des Paarreims als Reflexion eines harmonischen bzw. harmonisierten, in Einklang gebrachten Verhältnisses von Text und Welt, Form und Inhalt, Dichtung und Ideologie hergestellt wird, gewinnt Paradise Lost (erstveröffentlicht 1667) eine vielleicht überraschende Aktualität175 als nonkonformistisches Gegengedächtnis zur royalistischen Politik des Vergessens. Wenn die Restauration der Monarchie allgemein als Rückkehr zu einem imaginären Ursprung und als Auslöschung der republikanischen .Zwischenzeit' idealisiert wird, dann läßt sich Paradise Lost als Zurückweisung nahezu sämtlicher kultureller Werte dieser Restauration lesen. Eine ähnliche Idealisierung des Natürlichen gibt es auch ζ. B. in der Areopagitica, wo sie in strategischem Bezug zum Reformationsbegriff und seinen religiösen, staatsbürgerlichen und individuellen Konnotationen steht. Paradise Lost kompliziert nun eine solche Idealisierung, indem es zwischen einem prä- und postlapsarischen Naturzustand unterscheidet und vor diesem Hintergrund 'reformation gerade nicht als naturgegebenen, sondern als rationalen und politischen Prozeß konzipiert. Paradise Lost entgegnet auf die royalistische Umwertung und Verdrängung des Reformationsbegriffs nicht einfach dadurch, daß es Witz, Ironie und Kompromiß in die Hölle verbannt 176 — dann wäre es ein weitaus weniger faszinierender Text — sondern vor allem, indem es eine viel größere Geschichte von Unschuld, Versuchung und Fall erzählt und die Bedingungen eines solchen Erzählens in der Moderne reflektiert. Der Tagespolitik scheint es dadurch zunächst enthoben. Aus der eschatologischen Perspektive von Paradise Lost erscheinen die Verfehlungen und Verirrungen, aber auch die Erfolge der frühen Restaurationszeit als bloß kontingente Ereignisse, die zwar bedauerlich, aber ohne heilsgeschichtliche Bedeutung sind.177 Astraa Redux verwendet eine christliche Bildsprache gleichberechtigt neben einem aus paganen literarischen und volkstümlichen Traditionen stammenden Repertoire, um einer bestimmten Interpretation der politischen Ereignisse von 1660 Autorität und Legitimität zu verleihen - wobei das Gedicht an manchen Stellen den fiktiven Charakter einer solchen Autorisierung nahezulegen scheint. Diese rhetorische Struktur, das Verhältnis von Strategie und Repertoire, wird in Paradise Lost und Paradise Regained umgekehrt. Für Miltons christliche Epen
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Siehe Filmer 1991; Dunn 1969, 58-76. Von einer "surprising topicality" spricht Zwicker 1997, 192. Dies gegen Zwicker 1997, 192. Gleichwohl wartet Milton, sofern man den Angaben über den Zeitpunkt der Fertigstellung des Epos (um 1665) trauen darf, weitere zwei Jahre mit der Publikation, bis die ersten Risse im karolinischen Kompromiß unübersehbar werden. Siehe von Maitzahn 1996.
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vom Sündenfall und der Versuchung Christi liefern die politischen Ereignisse von 1660 und ihre Folgen bloß Stoff für sarkastische Seitenhiebe innerhalb von Erzählungen, deren kulturelle Autorität für Milton außer Frage steht und keiner weiteren Legitimation bedarf. Insofern hat Milton eine oberflächliche Ironie gar nicht nötig, u m seine politische Gegenwart und Gegnerschaft angemessen zu relationieren. Aus der Sicht seiner Epik sind die Restauration und Charles II. nur Episoden - bereits vergessene Episoden. 1 7 8 In Astraa Redux feiert Dryden Charles II. als Wiedergänger Jupiters, Aneas', Davids und Christi. Milton tadelt ihn (und zahllose andere) indirekt für dieses allegorische Durcheinander, indem er ein Epos über die ersten und letzten Dinge schreibt, einen Text, der die royalistischen Lobgedichte der 1660er seicht und unbedeutend dastehen läßt, indem er die Frivolität ihrer überschüssigen und ζ. T. unsinnigen biblischen Anspielungen exponiert. Paradise Lost ist eine Kritik des allegorischen (Bilder-) Denkens und des magischen Sprachverständnisses, das in vielen royalistischen Texten vorherrscht. 179 D i e Royalisten ähneln Mil tons Satan darin, daß sie ihre Äußerungen so behandeln, als könnten diese das hervorbringen, was sie ,beschwören' ("conjure" — jenes Schlüsselwort aus der Erklärung von Breda). Ihr Streben nach der Macht des göttlichen Wortes ist jedoch — nach Ansicht Miltons - illegitim, denn das postlapsarische Sprechen ist der Konjektur und Kontingenz unterworfen, ist gekennzeichnet durch einen Mangel an .Rahmenfestigkeit'. 1 8 0 Es ist eine Angelegenheit der individuellen Deutung, nicht der nationalen .Verlautbarung' ("Proclamation"). 1 8 1 Ein T h e m a von Paradise Lost ist die Selbstverantwortlichkeit des Menschen in seinen Handlungen und in seinem Sprachgebrauch: [...] Authors to themselves in all Both what they judge and what they choose; for so I form'd them free, and free they must remain, Till they enthrall themselves[.] 1 8 2
Diese Freiheit schließt die Verantwortung vor der Erinnerung mit ein, und sie impliziert die Möglichkeit des Treffens eigenständiger Unterscheidungen als rationale Möglichkeit: "Reason also is choice" (3.108), also auch die verantwortliche Wahl der richtigen, nicht verdrängenden Erinnerung — auch und gerade wenn nach dem Sündenfall die Homologie von "true Liberty" und "right Reason" ( 1 2 . 8 3 - 8 4 ) verloren ist. Es ist der politisch ins Hintertreffen geratene radikale Protestant Milton, "fall'n on evil days" (7.25), der im Sündenfall die Möglich-
178
Z u M i l t o n s S a r k a s m u s "in his criticism o f m e n a n d things" siehe M a s s o n 1 9 9 3 , 3 4 7 .
179
S. o. K a p . III.2.
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„Weder G o t t n o c h N a t u r ( u n d nicht Vernunft) k ö n n e n garantieren, d a ß k o m m u n i k a t i v e A n schlüsse ,rahmenfest' erwartbar sind u n d nicht durch abweichende B e o b a c h t u n g e n durchkreuzt w e r d e n " (Fuchs 1 9 9 3 , 8 5 ) .
181
Tuke 2 0 0 0 , 4 1 . Paradise Lost 3.122—25; weitere Zitate in K l a m m e r n . Sprecher dieser Zeilen ist der allmächtige Vater.
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keit einer Rettung durch Selbstbehauptung erkennt und diese dichterisch formt: Seinem Adam und seiner Eva steht die Welt am Ende offen ("The World was all before them", 12.646), während eine solche Offenheit für Dryden, der später offen zum Katholizismus konvertiert, gleichbedeutend sein muß mit einem Sturz ins Chaos. Miltons Epos wirkt insofern .moderner' als andere Texte seiner Zeit, als es die Suche nach einer konstruierbaren Ordnung (und deren gefährdeten Status) als einen im wesentlichen offenen Prozeß darstellt, während Dryden die klassischen Homologien der epischen Dichtung (v. a. Vergils) stehen läßt und die darin vorgeprägte, von ihm erneut postulierte Ordnung als natürliche, immer schon gegebene präsentiert. Er kann damit zwar ironisch - im Sinne des 'wit' von einer höheren Warte aus — umgehen, aber diese Ironie dient letztlich immer einer erneuten Stabilisierung, die sich auch in der Form des Couplets niederschlägt. Dryden zufolge ist der Reim "more fit for the ends of government". Miltons dramatischer Blankvers mit seinen zahlreichen Zeilensprüngen wird dagegen vom Dichter selbst als .offene Form' und als literarisches Äquivalent der "ancient liberty recover'd" beschrieben.'83 In Lukacs' Terminologie wären Astraa und Absalom Epopöen, Paradise Lost dagegen wäre ein Roman.184 Dryden selbst ist einer der ersten, die diese drastische zeitdiagnostische und gegenwartskritische Qualität von Miltons Epos erkennen und anerkennen — jedenfalls, wenn man die ihm zugeschriebene Bemerkung, die er anläßlich des Erscheinens von Paradise Lost gemacht haben soll, für authentisch hält: "that Poet has cutt us all out".185 Der Ausdruck "to cut someone out" bezieht sich zunächst auf das Kartenspiel (jemanden ausstechen, einen besseren Stich haben), hat aber auch einen Bezug zum zeitgenössischen Verständnis von Rhetorik als Waffe. In seinem eigenen späteren "Discourse concerning the Original and Progress of Satire" (1693) vergleicht Dryden die erfolgreiche Satire mit der scharfen Klinge eines geschickten Henkers: "A witty Man is tickl'd while he is hurt in this manner; and a Fool feels it not. [...] Yet there is a vast difference betwixt the slovenly Butchering of a Man, and the fineness of a stroak that separates the Head from the Body, and leaves it standing in its place."186 Man darf mithin unterstellen, daß Dryden den ,Schnitt' Miltons sehr wohl gespürt hat - schließlich war er kein Narr - , aber daß er sich davon eher kitzeln als verletzen ließ. (Die körperlichen Folgen von Satire — seiner eigenen - bekommt er selbst erst zu spüren, als er am 18. Dezember 1679 in der Rose Alley von drei Schergen brutal zusammenge-
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Dryden, "Defence of the Epilogue", Works 9: 7; Milton, "The Verse", Vorbemerkung zur zweiten Auflage von Paradise Lost (Milton 1957, 210). „Die Epopöe gestaltet eine von sich aus geschlossene Lebenstotalität, der Roman sucht gestaltend die verborgene Totalität des Lebens aufzudecken und aufzubauen" (Lukäcs 1971, 51). Zit. nach Winn 1987, 81. Vgl. Dryden, Works 12: 343, wo der Ausspruch ein wenig anders lautet: "This Man [...] Cuts us All Out, and the Ancients too". Quelle dieser Anekdote sind Jonathan Richardson (d. Ä. und d. J.), Explanatory Notes and Remarks on Paradise Lost (1734), cxix-cxx. Zweifel an ihrer Authentizität äußert Freedman 1958, 14ff. Works A: 71.
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schlagen wird.187) Er wird auch daraus gelernt haben. Als die Krise der späteren Stuart-Monarchie sich in den späten siebziger und frühen achtziger Jahren deutlich verschärft, verfolgt er in Absalom and Achitophel eine ganz ähliche Strategie wie Milton in Paradise Lost. Diesmal jedoch verwendet er einen biblischen Stoff ausdrücklich dazu, den Herrschaftsanspruch der Stuarts zu stützen. Vielleicht zum letzten Mal wagt er den Versuch, politische Kontingenzen mittels kalkulierter Akte des Vergessens in einer literarischen Erzählung zu bündeln, die die Kühnheit besitzt, Unaufrichtigkeit und Ironie als Momente der 'virtü' mit Dekorum und Urbanität gleichzusetzen und als natürliche' Kardinaltugenden der Moderne darzustellen.
5. Kontingenz, Ironie, Sexualität. Natur and Gesetz in Absalom and Achitophel
(1681)
Kings Titles commonly begin by Force, Which Time wears off and mellows into Right: So Power, which in one Age is Tyranny, Is rip'n'd in the next to true Succession. Dryden, The Spanish Fryar 4 . 2 . 3 0 3 - 6 1 8 8
Nähert man sich Drydens Absalom and Achitophel aus einer kulturanthropologischen Perspektive, insbesondere im soeben diskutierten Zusammenhang wechselnder Inszenierungen von kulturellem Gedächnis und Gegengedächtnis, dann erschließt sich dieser Text als ein weiterer dichterischer Meilenstein Drydens im Bemühen um eine Entwertung und Umbewertung des von den Gegnern der Krone immer wieder mobilisierten spezifischen politischen Diskurses des Puritanismus und seiner traditionellen bibelbasierten Semantik der Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit.189 Wie schon in Astraa Redux spielt hierbei die typologische Lektüretradition eine große Rolle; schließlich ist die Typologie das Vehikel, mit dem die puritanischen Revolutionäre die Ereignisse ihrer Zeit der Geschichte entheben, um so „ihren Kampf mit dem der Israeliten gleichsetzen und dadurch ihre Revolution als Werk Gottes rationalisieren" zu können, das sie als seine Vertreter auf Erden vollbringen.190 Diesen Tendenzen arbeitet Absalom and Achitophel dezidiert entgegen, indem es einen normativen gesellschaftlichen Konsens imaginiert, durch welchen die vom Dissens (und den Dissentern) ausgehende politische Bedrohung eingedämmt werden soll. Die Risiken eines solchen Unter187 188 189
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Zu Mutmaßungen über den/die Verantwortlichen und ihre Motive siehe Winn 1987, 325—29. Dryden, Works 14: 176. Eine historische Sicht auf die kulturelle und literarische Entwicklung dieses Diskurses zwischen 1650 und 1700 - von hebräischer Rechtschaffenheit zu römischer Tugend - entwickelt Zwicker 1988. Berry 1976, 129.
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nehmens der Unterminierung der von den antiroyalistischen Whigs eingesetzten Bibelrhetorik in einem historischen Augenblick der Krise sind gar nicht hoch genug einzuschätzen, wie S. Zwicker ausführt: to allegorize political crisis as sacred history in 1 6 8 1 was hardly to present an original template; it was rather to insist o n an i d i o m that n o t o n l y excited the m e m o r y o f familiar ways b u t i n d e e d risked, a n d p e r h a p s willingly c o u r t e d , p l a t i t u d e rather than novelty. Politics allegorized as S c r i p t u r e c o u l d o n l y have recalled the days o f " d r e a m i n g saints," o f insurrection a n d e n t h u s i a s m . T h a t was o f course the p o i n t : to s u g g e s t to the w h o l e o f the poem's readership that the ill-affected were o n c e a g a i n stirring civil war a n d that the history o f the J e w s a p p l i e d to E n g l i s h politics allowed m o r e t h a n o n e party to claim narratives o f exile a n d election as their o w n . " 1
Absalom and Achitophel kann auch als Kulminationspunkt eines dichterischen Kampfs um die legitime Verwendung biblischer und heidnischer Quellen und Idiome gelten, unter dessen Signum auch Astma Redux und Paradise Lost stehen. Was als weltanschaulicher und ästhetischer Konflikt zwischen Dryden und Milton gelesen werden kann, weist zum Teil voraus auf die literaturkritische Grundsatzdebatte der ,Querelle des Anciens et des Modernes'.192 Milton und Dryden, die einander auf entgegengesetzten politischen Seiten gegenüberstehen, kämpfen in einem .modernen' Umfeld um die Deutungs- und Adaptionshoheit über alte Quellen und Traditionen. Beide wenden sich dabei gegen bestehende, aber nicht mehr überzeugende Lösungsangebote des Kontingenzproblems. Sie entwickeln strategische Antworten auf die Frage, wie eine (moderne) Zeitlichkeit der Kontingenz zu vermitteln sei mit einer überzeitlichen und außer- oder gegengeschichtlichen Dimension - der Gegenzeit des 'state of nature' bzw. des Paradieses als „Ursprungsbedingung, die dazu benutzt werden kann, unliebsame Teile der Geschichte zu verwerfen".193 Dies soll nicht heißen, Dryden habe Milton immer noch unmittelbar als politischen Gegner und poetischen Rivalen im Sinn, als er Absalom and Achitophel inmitten der 'Exclusion Crisis' plant und schreibt.194 Die intellektuelle Haltung Drydens zu Milton ist gekennzeichnet durch eine eher abstrakte theoretische Anerkennung und zugleich in der konkreten dichterischen Arbeit durch Momente des Ausweichens und der Revision.195 In seiner Opernfassung von Paradise Lost (The State of Innocence and Fall of Man, 1674) entschärft und transformiert er die
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Zwicker 1998c, 107. Zur Querelle und zum Standpunkt Drydens siehe Gelber 1999, 193-200; zum größeren Zusammenhang Levine 1991. Dunn 1969, 101. Zum historischen Kontext siehe Jones 1978, 197—216. Absatom and Achitophel erscheint anonym im November 1681 kurz vor dem Prozeß gegen Shaftesbury, in dem jener von den Geschworenen freigesprochen wird. Siehe die Anmerkung der Herausgeber in Dryden, Works 2: 209. Dies gilt zumindest bis zum Fall James' II., in dessen Gefolge Dryden sich plötzlich in einer ähnlichen kulturellen und religiösen Randposition wiederfindet, wie Milton sie nach der Restauration innehat.
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zeitkritischen, polemischen und politischen Belange von Miltons Epos. Lange vor Dennis, Addison und Johnson kann Dryden so als einer der ersten Kritiker gelten, die Paradise Lost ästhetisieren, entpolitisieren und universalisieren.196 Miltons Schatten jedoch durchzieht das Werk Drydens wie der Schatten Hobbes' das Werk Lockes.197 Zur Zeit der Krise um die Thronfolge Charles' II. sind die alten Anhänger der 'good old cause' aus Miltons Generation bereits durch andere, ernstzunehmendere politische Gegner ersetzt worden, allen voran Anthony Ashley Cooper, den ersten Earl of Shaftesbury (Großvater des Philosophen). Milton stirbt 1674, sechs Jahre bevor Absalom and Achitophel geschrieben wird. Dennoch ist Drydens Technik der Verwendung eines Bibeltexts zum Zwecke der politischen Allegorie so wohlkalkuliert, daß seine Leser sofort einschlägige Vorbilder - einschließlich Paradise Lost — assoziiert haben werden. Absalom behauptet, ja demonstriert, daß die Domäne der Heiligen Schrift und der Typologie nicht ausschließlich Republikanern und puritanischen Sektierern vorbehalten ist. Ein solches Projekt ist allerdings 1681 ungleich schwieriger als noch in den Jahren unmittelbar nach der Restauration. Die 1660er sind, wie die Beispiele Astma Redux und The Adventures of Five Hours zeigen, voller Versuche, die englische Geschichte in royalistischer Manier umzuschreiben. Nun aber finden sich diejenigen, die die Rückkehr des Königs 1660 gefeiert haben, zusehends in der Defensive, während die verdrängten Probleme des Restaurationskompromisses immer deutlicher wieder zum Vorschein kommen. Zur Zeit des 'Popish Plot' und der Thronfolgekrise gewinnt dann auch in der Literatur, wie T. Corns in Bezug auf Absalom beobachtet, „eine Politik der Schadensbegrenzung" an Geltung: "Dryden, far from celebrating the monarch, [...] concedes that dissent, contradiction, and the construction of alternatives abide at the heart even of the royal court".198 Absalom geht in der Tat von der Fragwürdigkeit traditioneller Semantiken und Praktiken der Herrschaftslegitimation aus, die das Gedicht eigentlich bekräftigen will und soll.'99 Es läßt sich daher als ein entscheidender Wendepunkt in der literarischen Kultur des 17. Jahrhunderts betrachten, weil das in ihm entworfene Verhältnis von Dichtung und Gesellschaft sich stark von Vorhergehendem unterscheidet, nicht zuletzt in seiner Diagnose des veränderten Verhältnisses zwischen Dichter und Öffentlichkeit. .Beschwörung' allein genügt nicht mehr. Auch in dieser Hinsicht zeichnet sich an Absalom eine neue Konfiguration literarischer Kultur ab.
Zum Stellenwert Miltons in Drydens kritischem Kanon siehe Gelber 1999, 18, 20, 232. Zu Drydens revisionistischem 'rewriting' Miltons in The State of Innocence siehe Frank 1993; Giulietti 1999. Zur Konkurrenz zwischen Milton und Dryden als Dramatiker siehe auch Sauer 2002. Eine politische Lektüre von Paradise Regained als Gegenentwurf zum 'heroic drama' der Restaurationszeit liefert Zwicker 1995. 157 Vgl. Dunn 1969, 81. Zu Dryden und Milton siehe auch Williamson, 1970 sowie Ferry 1968. "» Corns 1992, 302. 199 .Politische' Interpretationen von Absalom sind Legion; siehe v. a. Kinsley 1955; Schilling 1961; Maresca 1974; Conlon 1979; Zwicker 1993, 130-72. 1,6
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Wie so oft: wird auch diese Konfiguration in einem auktorialen Peritext eingeführt, reflektiert und verteidigt. Dieses Vorwort "To the Reader" ist auffallend kurz, es besteht nur aus etwa achtzig Zeilen Prosa - fast nichts im Vergleich zur weitschweifigen Redseligkeit eines Davenant. Der Witz, aber auch die Komplexität dieses Vorworts resultieren aus seiner gleichzeitigen Arbeit auf mehreren diskursiven Ebenen: des Kommentars, der Anspielung, der Ironie und der Beleidigung. (Es bereitet damit wesentliche Aspekte des Gedichts vor.) D a der Text anonym veröffentlicht wird, kann Dryden sich nicht auf seine Bekanntheit verlassen; die Aufdeckung seiner Autorschaft würde auch seine Parteilichkeit, seine Loyalität zum Königshof von vornherein offenlegen. Statt dessen bekundet er sein Vertrauen auf die literarische und nicht die politische Qualität des Gedichts: "if a Poem have a Genius, it will force its own reception in the World. For there's a sweetness in good Verse, which Tickles even while it Hurts: And, no man can be heartily angry with him, who pleases him against his will." 200 Das in der Horazischen und neoklassischen Doktrin des 'docere et delectare' implizierte Gleichgewicht wird ausdrücklich zum Pol des 'delectare' hin verschoben, was für die Gattung der Satire, die Dryden als literarischen Modus seines Absalom deklariert, zumindest ungewöhnlich ist: "I confess, I have laid in for those [= the more Moderate sort (of readers)], by rebating the Satyre, (where Justice would allow it) from carrying too sharp an Edge" (3). An dieser Stelle und im ganzen Vorwort erweckt die Akzeptanz der Leserkontingenz (als nicht weiter problematische Tatsache) durch Drydens auktorialen Sprecher den Eindruck der Scheinhaftigkeit. Dies wird besonders deutlich im letzten Absatz, der die Metaphorik der veröffentlichten Schrift als Medizin für den Staatskörper wiederaufnimmt: eine Metaphorik, die diesen Text ebenso durchzieht wie den Diskurs der Restauration in den frühen 1660ern. 201 Drydens Text vermischt diese Rede vom Heilen und Kurieren mit den Metaphern des Schneidens und der Chirurgie, vermischt das Verbinden mit dem Beibringen von Wunden: T h e true e n d o f Satyre, is the a m e n d m e n t o f Vices by correction. A n d he w h o writes Honestly, is n o m o r e an E n e m y to the O f f e n d o u r , t h a n the Physician to the Patient, when he prescribes harsh R e m e d i e s to an inveterate D i s e a s e : for those, are o n l y in order to prevent the Chyrurgeon's w o r k o f an E n s e r e s c i n d e n d u m , w h i c h I wish n o t to m y very E n e m i e s . T o c o n c l u d e all, If the B o d y Politique have any A n a l o g y to the N a t u r a l , in m y w e a k j u d g m e n t , an Act o f O b l i v i o n were as necessary in a H o t , Distemper'd State, as an O p i a t e w o u l d be in a R a g i n g Fever. (5)
"Ense rescindendum" (= „es muß mit dem Messer weggeschnitten werden") ist ein Zitat aus den Metamorphosen des Ovid (1.190f.), dessen ursprünglicher Kontext - sicher nicht zufällig — der Aufstand der Titanen gegen Jupiter, der Subalternen gegen den Monarchen ist. Es bezieht sich auf die chirurgische Praxis der
200 201
Dryden, Works 2: 3, Kursivierung aufgehoben. Weitere Zitate in Klammern im Text. S.o. Kap. IV.4 zur Declaration of Breda.
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Amputation eines infizierten Gliedes, wenn weniger harte Mittel ("harsh Remedies") erfolglos bleiben; eine offene Drohung gegen potentielle ,Verräter', die das gleiche Schicksal zu gewärtigen haben wie die 'regicides' nach 1660. Innerhalb dieses Vorworts verweist das Ovid-Zitat auf frühere Messermetaphern zurück: "too sharp an Edge" und "Tickles even while it Hurts". Letztere registriert die Möglichkeit der Gewalt, die das Literarische als rhetorische Waffe in sich birgt. Dieser Eindruck wird noch verstärkt durch den Vergleich mit der oben bereits kurz zitierten Passage aus Drydens "Discourse concerning the Original and Progress of Satire" (1693), das die englische Übersetzung der Satiren Juvenals "by Mr. Dryden, and Several other Eminent Hands" einleitet.202 Dryden vergleicht dort Juvenal mit Horaz und bemerkt, das Dichten des ersteren sei "an Ense rescindendum" gewesen, das des Horaz dagegen "a Pleasant Cure, with all the Limbs preserv'd entire" (4: 7If.). Er fugt noch hinzu, daß zu Juvenals Zeiten solch eine "more painful kind of Operation" notwendig gewesen sei (72). 1693, zu einer Zeit, als Dryden zumindest politisch nichts mehr zu verlieren hat, tritt die aggressive Haltung hinter seiner satirischen ,Kitzelei' deutlich zu Tage. So bemerkt er zum „Mysterium jenes edlen Geschäfts" der Satire (70): Neither is it true, that this fineness of Raillery is offensive. A witty Man is tickl'd while he is hurt in this manner; and a fool feels it not. The occasion of an Offence may possibly be given, but he cannot take it. If it be granted that in effect this way does more Mischief; that a Man is secretly wounded, and though he be not sensible himself, yet the malicious World will find it for him: Yet there is still a vast difference betwixt the slovenly Butchering of a Man, and the fineness of a stroak that separates the Head from the Body, and leaves it standing in its place. (71)
Er fügt hinzu, daß er seinen Absalom fur in dieser Hinsicht erfolgreich hält, zumindest in der Figur des Zimri (des Herzogs von Buckingham). Im Vorwort zu Absalom wird die später ausgearbeitete und ausgekostete Phantasie des Satirikers als öffentlicher Vollstrecker des Rechts strategisch gemildert und ist doch nichtsdestoweniger lesbar. Drydens Dichtung ist immer noch Dichtung im Dienste der Krone, genau wie diejenige Davenants vor ihm. Aber die von dieser Dichtung zu leistenden Aufgaben haben sich spürbar verändert: von positiver moralischer Didaxe durch das epische Gedicht zur Remedur des blutigen Herausschneidens von "Follies" und "Vices" aus dem Staatskörper mit den Mitteln der Satire (2: 3). Drydens Gebrauch der konventionellen Analogie von Satire und Medizin ist mit beißender Ironie versetzt, wenn er einen zweiten "Act of Oblivion", eine zweite Generalamnestie als Opiat gegen das "Raging Fever" verschreibt, das den "Hot, Distemper'd State" befallen habe (5). Gegen Fieber helfen, wie auch die Medizin
202
So auf der Titelseite der Erstausgabe; siehe Dryden, Works 4: 2.
238
des 17. Jahrhunderts weiß, keine Betäubungsmittel; im Gegenteil: im Gedicht selbst heißt es (Z. 926): "Lenitives fomented the Disease".203 Die Zeit fur Generalamnestien, für eine Kultur des Vergessens religiöser und politischer Differenzen ist vorüber; das weiß Dryden. Die 'Exclusion Crisis' hat die Unfähigkeit des Hofes, die politische Öffentlichkeit zu integrieren, offensichtlich werden lassen. Es besteht die Gefahr, daß sich der Konflikt zwischen Krone und Parlament um einen potentiellen katholischen Thronfolger (Charles' Bruder James, Herzog von York und später James II.) zu Rebellion und Bürgerkrieg steigern könnte. Drydens Situation als royalistischer Apologet ist 1681 mithin eine völlig andere als die des jungen Panegyrikers, der Astraa Redux verfaßt. Die veränderte Kommunikationssituation wird zu Beginn des Vorworts griffig formuliert: "'Tis not my intention to make an Apology for my Poem. Some will think it needs no Excuse; and others will receive none. The Design, I am sure, is honest: but he who draws his Pen for one Party, must expect to make Enemies of the other. For, Wit and Fool, are Consequents of Whig and Tory. And every man is a Knave or an Ass to the contrary side" (3). Dichtung vermittelt keine ewigen Wahrheiten mehr, noch kann man sich einfach darauf verlassen, daß sie dem Volk oder dem Adel die Tugenden der civility' und des Gehorsams gegenüber dem Souverän beibringt. Das Problem besteht nicht mehr darin, wie eine Vielzahl potentiell widerstrebender Leser eines Besseren zu belehren sei, sondern darin, daß der Autor sich der Ablehnung durch einen bestimmten Teil seiner Leserschaft sicher sein kann. Folglich wird eine de facto bestehende Kontingenz der literarischen Wirkung von vornherein vorausgesetzt. Zuvor (ζ. B. bei Hobbes und Davenant) war jede einzelne Meinung potentiell aufrührerisch in Relation zur .Wahrheit' offizieller Verlautbarungen. Jetzt steht Meinung gegen Meinung, werden die Verlautbarungen selbst von parteipolitischen Ansichten und Unterscheidungen unterwandert. Autor und Öffentlichkeit sind kein Gegensatzpaar mehr; der Autor selbst ist impliziert in ein Netzwerk einander ausschließender und sich gegenseitig beargwöhnender Beobachtungspositionen. Ohne es ausdrücklich theoretisch zu formulieren, beschreibt Dryden die Auswirkungen der Emergenz eines modernen politischen Systems.204 Sehr deutlich registriert er die Abhängigkeit der Wahrnehmung von Vorurteilen und die Ersetzung einer hierarchischen Wahrheit durch eine dezentrierte, kontingente Häufung von Beobachtungen, die rekursiv operieren: die Begriffe " Wit and Fool, are Consequents of Whig and Tory. And every man is a Knave or an Ass to the contrary side."
203
204
In ihrer Ausgabe der Selected Poems Drydens merken Zwicker und Bywaters lakonisch an: "contemporary medical theory held that an opiate was no remedy for a raging fever" (Dryden 2001, 542). Siehe auch Poyet 1995, 114. Das Wort "Party" bezeichnet noch keine Partei im modernen organisationssoziologischen Sinn, sondern eine eher lockere Gruppierung von Personen mit gemeinsamen Interessen und Ansichten. 239
Wenn die politische Ansicht zur Richtschnur des intellektuellen und künstlerischen Geschmacks wird, kann Literatur keine nichtkontingente, überzeitliche Beobachterposition mehr für sich beanspruchen und behaupten, sie nehme eine die individuellen und kollektiven Handlungsmuster unterschiedlicher Gruppierungen übersteigende Perspektive ein. In der epischen Dichtung Davenants wie Miltons geht es um die Darstellung einer höherwertigen Ordnung der Wirklichkeit, welche eine gegebene oder zu entwickelnde politische Ordnung entweder (bei Davenant) idealisieren oder (bei Milton) rechtfertigen soll. In Gondibert wird diese normative Idealisierung im Ritter-Ethos der Heldendichtung und der 'romance' lokalisiert; für Milton kann es Rechtfertigung nur im religiösen Sinn geben. Es wird offensichtlich, daß alle diese Optionen Dryden in Absalom nicht mehr zur Verfügung stehen. Politik zerfällt in gegenteilige Meinungen ohne die Möglichkeit eines ordnenden Uberblicks, von dem aus sich ein (traditionelles, rationales oder religiöses) Urteil über diese Meinungen fällen ließe. Die Krise der Politik im späten 17. Jahrhundert ist auch eine Krise der literarischen Repräsentation. Der Ausruf "What shall we think!"205 steht in Absalom zumindest teilweise als echtes Symptom der Ratlosigkeit, als Aufruf zur rationalen Begriffsbildung in einem von Skepsis zerfressenen Zeitalter, das sich nicht mehr auf einen Begriff bringen läßt — bestenfalls auf zwei ('Whig' und 'Tory'). Die Ironien dieses Gedichts lassen letztlich auch seine eigene Funktion nicht unbeschadet, drohen es mitunter gar auf die Ebene bloß zeitaktueller Kontingenz herabzuziehen - auf die Ebene einer politischen Allegorie, deren ,Schneide' oder ,Biß' ("Edge", 2:3) von vornherein abgestumpft ist, weil seine Ziel-Leserschaft sich bereits nach politischen Linien zweigeteilt hat. Offizieller Adressat des Gedichts ist "the more Moderate sort" (3); es ist nicht ganz klar, ob Dryden zumindest einen Teil der anderen Hälfte seiner Leserschaft noch zu überzeugen hofft. Das Erstarken der öffentlichen Meinung führt zu einem Geltungsverlust literarischer Kommunikation, während es zugleich aus einem Gedicht eine explizit zeitgebundene politische Geste machen kann. Das Hierarchieverhältnis zwischen Dichtung und Politik kehrt sich um und wird durch eine Vielstimmigkeit von Meinungen ersetzt, in die das Gedicht sich einreihen muß. Dies zwingt den Text zu größerer Konsistenz und Kohärenz. Anstelle der feierlich-spielerischen Streuung von Anspielungen {Astrxa Redux) setzt Absalom auf eine einzelne, wohlkontrollierte Allegorie: eine zielstrebig verfahrende, geradlinige Deutung der Gegenwartspolitik durch den Fokus des zweiten Buchs Samuel. Kreative Energie wird in Absalom eher gebändigt als freigesetzt - auch wenn der Text mit Bildern der sexuellen Promiskuität Davids (Charles' II.) einsetzt. Charles ist zwar nicht mehr Moses oder Christus wie in Astma Redux, aber dafür muß er nun in weit größerem Detail - bis zur Peinlichkeit - den David geben, eine komödiantische
205
240
Dryden, Absalom andAchitophel,
Z. 759. Weitere Zitate mit Zeilenangabe in Klammern.
bis pikareske Figur.206 Diese Rolle ist nicht dazu angetan, Dryden die propagandistische Aufgabe der Legitimierung des königlichen Prärogativs zu erleichtern. Diese Verengung des Blicks geht einher mit einer Koppelung von ästhetischen und moralischen Urteilen im Vorwort: "If you like not my Poem, the fault may, possibly, be in my Writing: [...] But, more probably, 'tis in your Morals, which cannot bear the truth of it" (4). Dryden stilisiert sich als Historiker ("Historian") seines Stücks ("Piece"), nicht als Erfinder ("Inventour", ebd.). Er mag damit auf seine Doppelrolle als Poeta Laureatus und als 'Historiographer Royal' anspielen, unterschlägt dabei jedoch Davenants Unterscheidung zwischen "Truth narrative" und "truth operative"207 zugunsten einer (literalen und vorgeblich tatsachenbasierten) Wahrheit. Auch diese Bemerkung birgt zudem eine doppelte Ironie, wenn man sie in Bezug setzt zum puritanischen Verständnis der Bibel als Geschichte und damit als Grundlage fundamentaler politischer Wahrheitsansprüche. Durch diesen miltonesken Zug, den Dryden zugleich abstreitet und praktisch imitiert, sucht er das kontingent gewordene Verhältnis zwischen Beobachtung und Wahrheit in einem modernen politischen Umfeld subversiv zu unterlaufen - bzw. ein solches Unterlaufen zu simulieren. Auf dieser Ebene der antipuritanischen, gegen die Whigs gerichteten Polemik gibt es in dem kurzen Vorwort noch eine weitere, sogar noch explizitere Anspielung auf Paradise Lost. Selbstverständlich läßt sich Absalom als satirischer Gegenentwurf zu Miltons Epos lesen; eines seiner ,Themen' ist "Dryden's absorption and compression of Paradise Lost into its own poetic intentions".208 Es findet sich eine Bemerkung im Vorwort, an der sich zeigen läßt, mit welcher Sorgfalt Dryden seine biblische Allegorie nach dem Vorbild von Miltons Verwendung der Genesis modelliert hat. Anläßlich einer Charakterisierung Absaloms (des illegitimen Sohnes Charles' II., des Herzogs von Monmouth) schreibt Dryden: "'tis no more a wonder that he withstood not the temptations of Achitophel, than it was for Adam, not to have resisted the two Devils; the Serpent, and the Woman" (4).209 Indem er Achitophel/Shaftesbury an die Stelle von Miltons Satan setzt und ihn so der ewigen Verdammnis ohne Hoffnung auf Erlösung überantwor-
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207 208
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Oder mit den Worten Thomas Hardys: "Shrewd bandit, skilled as banjo-player". Zit. nach Carroll/Prickett 1997, 342. Davenant 1971b, 11. Kroll 1991, 305. Hierzu ist qualifizierend zu sagen, daß - wie Philip Harth (1993, 119ff.) festgestellt hat - sämtliche Anspielungen auf Milton in Absalom sich auf Paradise Regained zurückfuhren lassen und nicht auf Paradise Lost. Auf die Parallelen zu Paradise Regained verweist auch Canfield 1989, 199-209. Vgl. Gelineau 1994, 41f.; Walker 2001. Zwei weitere Stellen des Vorworts spielen allgemeiner auf theologische Begriffe an, ohne unmittelbaren Bezug zu Paradise Lost·, die eine auf Origenes' "hope [...] that the Devil himself may, at last, be sav'd" (4f-, in Bezug auf Achitophel/Shaftesbury), die andere auf Gottes unendliche Gnade im Vergleich zur begrenzten Gnade des Königs als Gottes weltlichem Statthalter ("Vicegerent", 5). Vgl. im Gedicht selbst Z. 30: "And Paradise was open'd in his face", Z. 51 f. "These Adam-Wns, too fortunately free, Began to dream they wanted libertie".
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tet, respezifiziert und rekonkretisiert Dryden Miltons abstraktere theologische Erzählung — in der es u. a. um das Problem der Willensfreiheit geht - zu einem satirischen Rufmord im Rahmen einer politischen Abhandlung. Adams Fehltritt wird hier, wie auch in Astraa Redux (Ζ. 114), entschuldigt und zu einem sexuellen Witz heruntertransformiert; Absalom/dem Herzog von Monmouth wird dadurch eine Hintertür zur Versöhnung mit seinem Vater offengehalten. Bei seiner Verkürzung der epischen Form210 kann Dryden auf die Bibelfestigkeit seiner Leser vertrauen und damit rechnen, daß sie die Geschichte von Absalom und Achitophel selbst vervollständigen können - einschließlich des Selbstmords Achitophels. Epische Konventionen und epische Bedeutsamkeit werden zum Zweck der politischen Satire eingesetzt, wobei der Schwerpunkt auf der Gegenwartsseite der Allegorie liegt (dem Bildempfänger) und nicht, wie bei Milton, auf dem biblisch-theologischen Fundament (dem Bildspender). Der bei einem solchen Vorgang notwendigerweise eintretende Kraftverlust der religiösen Dimension wird bewußt in Kauf genommen, wie schon die berühmte erste Zeile des Gedichts deutlich macht: "In pious times, e'r Priest-craft did begin". Drydens Gebrauch der Heiligen Schrift ist zuallererst polemisch, gestattet ihm jedoch die Entwicklung eines Arguments, das politische mit religiöser Rebellion gleichsetzt211 und beide als widernatürlich und gotteslästerlich ausweist. Drydens Reaktion auf die politische Krise des Augenblicks besteht nicht in einer Transzendenz des Politischen um einer höheren, ζ. B. religiösen Wirklichkeitsordnung willen, sondern in der Subordination einer biblischen Bezugsebene unter eine Erzählung aus der politischen Gegenwart: "The system is designed to bring the past to bear on the present in all its polemical particularity, particularity heightened by the poem's ability to hold the details at a very slight distance."212 Einen beträchtlichen Teil seiner Arbeit' verwendet das Gedicht auf eine Neubestimmung eben der Begriffe, mit denen es operiert, und auf seine Handhabung des Systems von Anspielungen und Korrespondenzen, von dem es abhängt und das es nichtsdestoweniger ironisiert. Durch die geringe Distanz, die es zu den Gegenständen seiner Satire einnimmt, stellt es die Künstlichkeit und Kontingenz der eigenen Konstruktion heraus. Es bewahrt dabei ein prekäres poetisches Gleichgewicht zwischen der Stabilität und Instabilität des allegorischen Zeichengebrauchs - ein Gleichgewicht, das im Gedicht auch als politisch zweckmäßig und tugendhaft empfohlen wird. .Gleichgewicht' ist für Dryden ein Schlüsselwort nicht nur der figuralen und poetischen, sondern auch der politischen Ökonomie. 213 So bleiben für ihn die Homologien der klassischen Politik und Ästhetik gewahrt, wenn auch 210
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Absalom and Achitophel ist kein Kurzepos (wie Paradise Regained), sondern vielmehr ein verkürztes Epos, das seinen biblischen Stoff nicht zu Ende erzählt. Es trägt außerdem Züge des 'mock-epic': anstatt heroische Taten zu vollbringen, handelt es sich bei Drydens Protagonisten um Parlamentarier, die einander mit Worten bekämpfen. Siehe Canfield 1989, 202. Vgl. Canfield 1989, 205. Zwicker 1993, 153. Vgl. Poyet 1995, 109.
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nur in einer elaborierten "fiction of state".214 In seinem König David wird diese Balance zwischen Standfestigkeit und Beweglichkeit, Stabilität und Dynamik modellhaft personifiziert: In pious times, e'r Priest-craft did begin, Before Polygamy was made a sin; When man, on many, multiply'd his kind, E'r one to one was, cursedly, confind: When Nature prompted, and no law denyd Promiscuous use of Concubine and Bride; Then, Israels Monarch, after Heaven's own heart, His vigorous warmth did, variously, impart To Wives and Slaves: And, wide as his Command, Scatter'd his Makers Image through the land. Michal, of Royal blood, the Crown did wear, A Soyl ungratefull to the Tiller's care: Not so the rest; for several Mothers bore To Godlike David, several Sons before. But since like slaves his bed they did ascend, No True Succession could their seed attend. (1-16)
Die in diesen Zeilen verfolgte rhetorische Strategie zielt auf eine Sexualisierung von Schlüsselwörtern zeitgenössischer politischer Theorie ab, die sich in der Sexualisierung der Versuchung Adams im Vorwort bereits andeutet. 'Nature' wird in diesen Zeilen zum Synonym des Geschlechtstriebs codiert; Monarchie heißt hier zuallererst eine hierarchische Sexualbeziehung zwischen dem Monarchen und seinen Frauen. Der Fokus liegt dabei auf dem Persönlichen und dem Familiären, ganz konkret auf der Person Davids, dessen Königsherrschaft wie in Astraa Redux vage mit der Theorie des Gottesgnadentums in Verbindung gebracht wird ("after Heavens own heart", "his Makers Image"). Es fragt sich, ob dieses Sich-Einlassen auf die wohlbekannten und oft - ζ. B. bei Rochester - satirisch verhandelten promisken Gepflogenheiten des Königs keine potentiell subversive und für Dryden kontraproduktive Wirkung haben könnte; aber die bloße Andeutung dieser Möglichkeit gehört bereits zum subtilen Kalkül des Textes. Im Gegensatz zur Grobheit eines Rochester geht es Dryden darum, David/Charles als Person mit den Begriffen der Natur und des Natürlichen in Verbindung zu bringen - wobei der NaturbegrifF wie viele andere aus dem Feld der politischen Theorie in Absalom bewußt vage und mehrdeutig gehalten wird. Indem er die Sexualität des Königs als Segen der Natur darstellt, seligiert Dryden aus den vielen möglichen Bedeutungen des Wortes nature' eine anthropologische, im engeren Sinne eine sexuell stilisierte Dimension des Begehrens, die er kontrastiert mit einem .unnatürlichen', das natürliche Begehren einschränkenden und verbietenden Gesetz ("law", 5). In der rhetorischen Ökonomie von Absalom bleibt der 214
Love 1993, 164.
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Gegensatz zwischen (hier sexualisiertem) Naturzustand und politisch-juridischer Ordnung zunächst gewahrt; dann jedoch werden die beiden Terme "Nature" und "law" in der Person Davids/Charles' zur Konvergenz und Kongruenz gebracht. Ihre anfängliche Disjunktion ist der Versuch einer Negation, zumindest einer Abwertung, des von Seiten der Whigs immer wieder bemühten Begriffs des Naturrechts als einer juristischen und politischen, der Etablierung politischer Ordnung und Souveränität vorgelagerten Möglichkeit. Derselben Entwertung politischer Sprache qua Erotisierung fällt das Wort "slaves" anheim, das dadurch eine fast ausschließlich sexuelle Konnotation annimmt: "like slaves his bed they did ascend". Indem es die wenig wählerischen Begierden des Königs als das N a türliche' ausgibt, erweitert das Gedicht diese Natürlichkeit auch mit Bezug auf die ,gottähnliche' Großmut des Monarchen ("Godlike David").,Natürlich', d. h. in seiner (erotischen) Natur, versöhnt der König den scheinbaren Gegensatz von Natur und Gesetz; sogar seine „Lust" kann demzufolge als .göttlich' bezeichnet werden. 215 Diese besondere Qualität des Königtums muß auch der durch den bösen Ratgeber Achitophel/Shaftesbury zur Rebellion angestachelte Absalom/Monmouth, des Königs illegitimer Sohn, anerkennen: M y Father Governs with unquestion'd Right; T h e Faiths Defender, and Mankinds Delight: G o o d , Gracious, Just, observant of the Laws; And Heav'n by Wonders has Espous'd his Cause. Mild, Easy, Humble, Studious of our G o o d ; Enclin'd to Mercy, and averse from Blood. If Mildness 111 with Stubborn Israel Suite, His Crime is God's beloved Attribute. ( 3 1 7 - 2 0 ; 3 2 5 - 2 8 )
Leichtigkeit ('ease') ist neben Gnade und Milde eine bedeutende Eigenschaft für einen König, dessen Verhalten natürlich ist und der - natürlich - sogar bei der Unzucht die Gesetze beachtet ("observant of the Laws", 319). Der gerechte König vereint die Attribute der Natur mit denen der politischen Ordnung; er versöhnt, ja heilt den Bruch zwischen Natur und 'civitas'. Die Leichtigkeit, mit der er dies vollbringt, ist zudem eine Eigenschaft, die er an seinen illegitim verstreuten ("Scatter'd", 10) Nachwuchs weitergegeben hat. In der ersten Charakterschilderung Absaloms steht zu lesen: "Whate'r he did was done with so much ease, /In him alone, 'twas Natural to please" (27f.). Leichtigkeit, Natürlichkeit und Höflichkeit werden so zu Beinahe-Synonymen, die für die positiven Eigenschaften eines von Gottes Gnaden legitimierten Königtums einstehen - Eigenschaften, hinter denen sich die eher deftigen Aspekte des Charakters Charles'
215
Vgl. Z. 19f.: "Whether, inspir'd by some diviner Lust, /His Father got him [Absalom] with a greater Gust[.]"
244
II. leicht verstecken lassen. Seine Fruchtbarkeit, obschon sie sich nur außerhalb des ehelichen Bettes manifestiert, ist dann nur mehr ein weiterer Beleg für sein Erwähltsein "after Heaven's own heart". In krassem Gegensatz zu dieser Stabilität von Ordnung, Gerechtigkeit und Güte, garantiert durch die im ,gottähnlichen' König verkörperte Einheit von Natur und Gesetz, 216 stellt Drydens Sprecher die Kontrahenten des Königs als schlüpfrige, unsichere und instabile Gestalten dar. Dabei werden Begriffe wie 'liberty' und 'fortune' gegen 'loyalty' und 'virtue' ausgespielt, so daß erstere (Schlüsselwörter im Vokabular der Whigs) rhetorisch mit Sprachbildern der Instabilität, der Unsicherheit und des Gleitens, der Illegitimität und Gesetzlosigkeit in Verbindung gebracht werden. Im "natural Instinct", der die Bevölkerung dazu bewege, alle zwanzig Jahre ihren Souverän zu wechseln (218f.), wird der Naturbegriff wieder dem der Gesetzlosigkeit angenähert, dem Hobbesschen Naturzustand, der Drydens Schreckensbild darstellt: "Nature's state: where all have Right to all." In diesen Zustand der Anarchie müsse, schaffte man das Erbkönigtum ab, "Government it self" zurückfallen (793f.). Während die Begierden des Königs bloß erotischer Natur und letztlich harmlos sind, hat die Mißachtung des Gesetzes bei seinen Gegnern "wild desires" zur Folge, ein wildes (also Hobbes-natürliches) Verlangen nach Rebellion: T h e s e Adam-Wils,
t o o f o r t u n a t e l y free,
B e g a n to d r e a m they w a n t e d libertie; 2 1 7 A n d w h e n n o rule, n o president w a s
found
O f m e n , by L a w s less circumscrib'd a n d b o u n d , T h e y led their wild desires to W o o d s a n d C a v e s , A n d t h o u g h t that all b u t Savages were Slaves. ( 5 1 - 5 6 )
Freiheit wird hier mit Gesetz- und Regellosigkeit gleichgesetzt, die unmittelbar aus der Zivilisation heraus- und in "Woods and Caves" zurückführen. Die schlimmste Anklage, die Drydens Erzähler gegen Achitophel finden kann, ist, daß er "unfixt in Principles and Place" sei (154), ein gesellschaftlicher Aufsteiger und Opportunist, dessen Ehrgeiz ebenso ,wild' sei wie die Begierden des Pöbels und dessen Name für die Instabilität der 'passion' - hier: des Ehrgeizes - im Gegensatz zur Festigkeit königlicher Tugend steht: "But wilde Ambition loves to slide, not stand; And Fortunes Ice prefers to Vertues Land" (198f.). In der figurativen Ökonomie des Gedichts liefert "Ice" einen weiteren Kontrast zur "vigorous warmth" (8) des Königs, einer Metapher, die - neben einer möglichen Anspielung auf die antike griechische Physiologie 218 — die Temperatur des königlichen Spermas mit den persönlichen Eigenschaften der Warmherzigkeit und
216
2,7
218
Gelineau (1994, 30) merkt an, das Motto des königlichen Wappens laute Semper Eadem, „immer dieselbe". Eindeutig als Parodie der Schlußzeilen von Paradise Lost lesbar mit ihrer Betonung des Freiheitsaspekts ("the World was all before them", 12.646) und des 'fortunate fall'. Siehe Sennett 1994, 31-67, bes. 34, 42.
245
Großzügigkeit verbindet. Die Temperatur der Intrige dagegen ist eiskalt, und ihr Boden bietet keinen festen Halt. Die Mobilität der Fortuna Machiavellis wird mit der "Vertue" eines traditionellen Herrscherideals kontrastiert, die sich (noch) nicht als 'virtü' zu erkennen gibt.219 In dieser Welt der klassischen Homologien und Korrespondenzen verwundert es kaum, wenn Achitophels Sohn als "a shapeless Lump, like Anarchy" zur Welt kommt (172), während Davids Sohn Absalom die Grazie und den Charme seines königlichen Vaters erbt (29-32). Deformiertheit, aber vor allem die Desintegration der Persönlichkeit und ein Mangel an Charakter sind für den Sprecher sichere Zeichen des politischen Extremismus und der fehlenden Vertrauenswürdigkeit. Dies wird besonders deutlich an der Gestalt des Zimri/Buckingham, der geschildert wird als A man so various, that he seem'd to be Not one, but all Mankinds Epitome. Stiff in Opinions, always in the wrong; Was every thing by starts, and nothing long: But, in the course of one revolving Moon Was Chymist, Fidler, States-Man, and Buffoon: Then all for Women, Painting, Rhiming, Drinking; Besides ten thousand freaks that dy'd in thinking. (545—52)
Zimri kann seine zahlreichen Interessen und Widersprüche nicht zu einem Charakter integrieren: er vergeudet zuerst seinen Reichtum und schließlich sich selbst (vgl. 559-68) in einer Vielzahl von Rollen, Tätigkeiten und mentalen ,Mißgeburten' ("freaks", 552). Das Motiv der Zeugung und Fortpflanzung, das Absalom durchzieht, wird hier in der Totgeburt krauser Einfälle wieder aufgenommen: Zimris Unfruchtbarkeit wird mit der Fruchtbarkeit Davids kontrastiert. In der ,Nahsicht' von Absalom and Achitophel ist eine solche Fragmentierung des Charakters ein zentrales Darstellungsmittel der Konkretisierung abstrakter politischer Reflexionen über Unordnung, Anarchie und Ungerechtigkeit. Im Gegensatz zu diesen leichtlebigen und gesetzlosen Gestalten erscheint der König — wiederum in phallischer Metaphorik — als,Säule', die das Gebäude rechtmäßiger Herrschaft stützt und so die Nation vor dem Untergang bewahrt: "Kings are the publick Pillars of the State, /Born to sustain and prop the Nations weight" (953f.).220 Drydens Metaphern spielen mit der Angst vor dem Fallen und Ertrinken; das StaatsschifF21 muß vor dem Sinken bewahrt werden ("sustain and prop the Nations weight"). Wasser und Überschwemmung symbolisieren Gefahr für den Staat. "For as when raging Fevers boyl the Blood,222 / The standing Lake soon
215 220
221 222
Siehe Pocock 1975; ders. 1985; Skinner 1981. Milton hatte bekanntlich in Of Education (1644) seine republikanischen Schüler-Samurai als "stedfast pillars of the State" bezeichnet (Complete Prose 2: 389). S.o. Kap. III.3 zu Davenants Gebrauch dieses Bildes. Vgl. die im Vorwort (5) gemachte Bemerkung zu Fieber und Opiaten.
246
floats into a Flood" (136f.). Dem getreuen Barzillai wird nachgesagt, er habe den Rebellen Widerstand geleistet "In Regions Waste, beyond the Jordans Flood: /Unfortunately Brave to buoy the State; /But sinking underneath his Masters Fate" (819ff.). Drydens ergänzendes Bildrepertoire fur die politische Moderne speist sich ebenfalls aus biblischem Material, das konstant die Sintflut assoziiert — und damit das Hinüberretten des einzig Gerechten (Noah), mit dem hier David/Charles indirekt gleichgesetzt wird, in eine neue Epoche, eine neue, von Gott sanktionierte politische Ordnung. Unterhalb der Geschichte Davids eröffnet Dryden damit eine zweite, versteckte allegorische Anspielungsebene. Diese Sprachbilder erfüllen ihre rhetorische Funktion, wenn sie in jenen Teilen des Gedichts wieder vorkommen, die sich unmittelbar der politischen Theorie zuwenden; dort bewahren sie dann eine konservative Position vor ihrer drohenden Auflösung: "That Kingly power, thus ebbing out, might be /Drawn to the dregs of a Democracy" (226f.). "What Standard is there in a fickle rout, /Which, flowing to the mark, runs faster out?" (785f). In seiner zentralen politiktheoretischen Passage fordert der Erzähler die Leser schließlich auf, eine »Markierung' zu setzen, eine Grenze der Reformierbarkeit des politischen Systems zu ziehen, jenseits welcher der Untergang beginne: "Thus far 'tis Duty; but here fix the Mark" (803). Diese Markierung kann auch als Gezeitenmarkierung gelesen werden, als Anzeige der notwendigen Deichhöhe zur Flutabwehr. Das Reimwort "Ark" in der nächsten Zeile ("For all beyond it is to touch our Ark", 804) wäre dann doppeldeutig: Es bezieht sich zwar zuerst auf die Bundeslade, in der die Zehn Gebote aufbewahrt werden und deren Berührung verboten ist (Ark of the Covenant), assoziiert in diesem Kontext aber zugleich die Arche Noah als vom König über Wasser gehaltenes StaatsschifF.223 Die figurativen Termini, in denen politische Fragen in Absalom verhandelt werden, sind bereits zu Beginn sorgsam vorbereitet. Wird das Wort 'slave' am Anfang erotisiert und feminisiert ("like slaves his bed they did ascend", 15), behält es diese Konnotation, wenn der Sprecher an späterer Stelle seiner Besorgnis Ausdruck verleiht, Könige könnten zu Sklaven der öffentlichen Meinung werden: "slaves to those whom they Command, /And Tenants to their Peoples pleasure stand" (775f.). Auch das Wort "pleasure" nimmt damit eine erotische Konnotation an. Der sorgfältige Einsatz figurativer Kalküle zeigt sich desgleichen in Achitophels Rede an Absalom (230—302), die ihre satanische Versuchungsstrategie in miltonesken Anspielungen auf "Fruit [...] upon the Tree" (250f.) und den "Prince of Angels" offenleg:, der "from his height, /Comes tumbling downward with diminish'd light" (273f.). Achitophel erhebt Fortuna über 'virtus', Begehren über Gesetz und Instinkt über Schrift, wenn er verkündet:
223
Das Berühren der Lade wurde mit sofortiger göttlicher Vergeltung geahndet. Siehe die Bestrafung des Usa in 1 Chronik 13. — Zum politischen Topos der Arche Noah bei Dryden siehe auch W i n n 1987, 339ff.
247
[...] Nobler is a limited C o m m a n d , Giv'n by the Love o f all y o u r Native Land, Than a Successive Title, Long and Dark, D r a w n f r o m the M o u l d y Rolls o f Noah's
Ark. ( 2 9 9 - 3 0 2 )
Hier werden Arche und Bundeslade zum erstenmal in Absalom miteinander gleichgesetzt: "Ark" als Noahs Schiff und als Aufbewahrungsort der mosaischen Gesetze, die von Achitophel kühn als "Mouldy Rolls" verunglimpft werden. Das Gesetz wird mit dem Medium seiner Speicherung kurzgeschlossen - es verliert seine Geltung analog zum physischen Zerfallsprozeß des Verschimmeins. Als Schrift ist das Gesetz vergänglich, weil sein Speichermedium vergänglich ist; statt dessen setzt Achitophel auf die immer wieder neu zu erlangende ,Liebe' des Volkes, das rhetorisch gewonnen sein will. Im Kontrast Schrift (Gesetz)/ Wort (Rhetorik) ruft Achitophel den Hobbesschen Gegensatz zwischen Sparta (Königtum, Schrift, Weisheit, Stabilität) und Athen (Demokratie, Redekunst, Demagogie, Instabilität)224 wieder auf und optiert - wie Satan in Paradise Lost — für Athen. Mit dieser Verwechslung von Arche und Lade entlarvt sich Achitophel — wie Satan in Paradise Lost - als schlechter Theologe.225 Später ruft jedoch auch, wie wir oben gesehen haben, Drydens Sprecher den Doppelsinn von "Ark" als Staatschiff und Gesetzesspeicher wieder auf. Ein Versehen Drydens kommt kaum in Frage. Ein Gleiten zwischen Sprecher- und Figurenperspektive — oder eine ironisch-indirekte Zurechtweisung Achitophels durch den Sprecher? In Achitophels zweiter Rede (376-476) verdichtet sich sein subversives Verständnis des Königtums im Begriff des ,Vertrauens' ("Trust"), den er der Tradition oder dem geschriebenen Gesetz entgegenhält: "All Empire is no more than Pow'r in Trust, /Which when resum'd, can be no longer Just" (41 If.). Implizit wird so Achitophels instabiler Begriff der Herrschaftsgrundlage mit Ungerechtigkeit assoziiert. Gerechtigkeit ist für Achitophel der öffentlichen Meinung Untertan; aber der Reim von "Trust" und "Just" stellt ex negativo eine Verknüpfung her zur ,wahren' Verbindung zwischen von Gott instituiertem Erbkönigtum und der vom göttlichen Gesetz herrührenden Gerechtigkeit. Dryden geht ein hohes Risiko ein, wenn er Achitophel eine oppositionelle politische Theorie in den Mund legt - eine Theorie, die in der Tat derjenigen ähnelt, die Locke in seinen Two Treatises of Government darlegt.226 Er tut dies jedoch nur, weil er von der Wirksamkeit seiner rhetorischen und figurativen Strategien überzeugt ist und darauf vertraut, daß seine figurative Ökonomie Achitophels Thesen ironisieren, verkehren und entlarven wird — weil er vielleicht auch darauf baut, daß Shaftesbury im bevorstehenden Prozeß wegen Hochverrats verurteilt wer-
224 225 226
248
Aus der Thukydides-Übersetzung; s.o. Kap. IV.2. Vgl. ζ. Β. Paradise LostySll-AS, insbes. Ζ. 538. Da diese erst 1689 anonym veröffentlicht werden, kann Dryden von ihnen natürlich noch keine Kenntnis haben — selbst wenn sie 1681 schon zum Teil entworfen sein sollten. Siehe zur Datierungsfrage Laslett 1988 und Wootton 1993.
den wird. Seine Bereitschaft, sich auf eine (Schein-)Debatte mit der Opposition über Fragen der politischen Theorie und der Grundlage legitimer Herrschaft einzulassen, könnte ihm als Schwäche ausgelegt werden und als Symptom der in der Tat ernsten konstitutionellen und politischen Schwierigkeiten von 1681 im Vergleich mit 1660. Indem er aber den Argumenten so viel Raum zugesteht, beweist er auch sein beträchtliches rhetorisches Selbstvertrauen und seine Fähigkeit zur Argumentation "in utramque partem".227 Die Debatte wird inszeniert, um die Argumente des Gegners zu entkräften und bloßzustellen. Der machiavellistische Okkasionalismus des Achitophel, der Absalom ermutigt: "Prevail your self of what Occasion gives" (461), findet sich auf brillante Weise in der Zeile karikiert: "They who possess the Prince, possess the Laws" (476). Hier und an anderen Stellen spielt Dryden einen theologischen Gesetzesbegriff (der das Königtum stützen und vor dem Untergang bewahren soll) gegen einen vollständig säkularen, skeptischen und Hobbesschen Begriff des von Menschen gemachten Gesetzes aus. Letzterem gehorche man nicht, weil es weise und gerecht sei, sondern weil seine Übertretung vom Souverän geahndet werde.228 Schlüpfrig, schlangenartig und inkonsistent in seiner Argumentation, spricht Achitophel wenige Zeilen zuvor von "Self-defence" als "Natures Eldest Law" (458), beruft sich also auf eine Naturrechtstheorie, die nur schlecht - wenn überhaupt — mit seinem folgenden machiavellistischen Argument zusammenpaßt. Drydens Sprecher hat denn auch keine Mühe, Achitophels fadenscheinige Argumente in der zentralen politiktheoretischen Passage auseinanderzunehmen. Er beruft sich dabei auf den Begriff der 'ancient constitution' ("Native Sway", 760) und setzt die Macht des Gesetzes mit der Macht der Tradition gleich 229 Im Filmerschen Patriarchalismus230 findet er Schutz vor Anarchie und "publick Lunacy" (788): What shall we think! can People give away Both for themselves and Sons, their Native sway? Then they are left Defensless, to the Sword Of each unbounded Arbitrary Lord: And Laws are vain, by which we Right enjoy, If Kings unquestiond can those laws destroy. (759-64)
Die Maßstäbe der Masse ("the Crowd", 765; "Crowds", 787) seien überhaupt keine Maßstäbe, denn sie böten keine Sicherheit für Besitztum und Privatrecht 227 228
229
230
Cicero, De oratore 3.21.80. Dies entspricht genau der Hobbesschen Position: "It is not Wisdom, but Authority that makes a Law" (1971b, 55). Siehe Poyet 1995, 109: "A l'antinomie entre droit et force se substitue une confusion entre legalite et tradition somme toute avalisee par le systeme juridique anglais oil la tradition a force de Ιοί. Aucune reference est faite ä Γ aspect surnaturel du pouvoir, a la theorie de droit divin, et ici se rivele une autre solution de continuite dans l'articulation de la vision politique de Dryden." Zur ancient constitution siehe Pocock 1987a. Siehe Filmer 1991.
249
("private Right", 779, "Property", 777). Daß der Konsens der Vernünftigen nicht eo ipso ein vernünftiger Konsens ist (Luhmann), weiß bereits Drydens Sprecher: "The most may err as grosly as the few" (782). Hier wiederholt er die vertrauten antidemokratischen Vorbehalte gegen die monströse 'multitudo', die wir schon bei Browne, Hobbes, Davenant und in einer komplexeren Artikulation bei Milton vorgefunden haben. Für ihn steht fest, daß Legitimation und Autorität bei den wenigen, nicht bei den vielen zu suchen sind. Seine Garantie politischer Stabilität ist die persönliche Integrität des Monarchen, der durch göttliches Gebot und die bindende Kraft der Tradition legitimiert ist. Nur in der Person des Königs seien Natur und Gesetz versöhnt; nur in ihr könnten die chaotischen und kontingenten Kräfte willkürlicher Begierden harmonisiert und den beschränkenden Kräften von Moral und Ordnung untergeordnet werden. Diese Sichtweise auf das Persönliche, Kontingente und Partikulare, die den narrativen Fokus des Gedichts bildet, verstärkt den Eindruck, daß seine politischen Diskussionen großenteils ironisch und rhetorisch zu verstehen sind. Eine echte Debatte über politiktheoretische Fragen scheint nicht beabsichtigt; vielmehr ist Absalom ein Text, der begriffliches Theoretisieren vermeidet und durch Strategien der Personalisierung und bildlichen Konkretisierung ersetzt. Selbst dort, wo auf politische Debatten angespielt wird, wird der politische Diskurs abgeschwächt und zugunsten einer metaphorischen Begrifflichkeit der Flickschusterei aufgegeben.231 Zwar wird der Hobbessche Naturzustand als Bedrohung der Zivilgesellschaft heraufbeschworen, aber weder die Legitimation der Monarchie noch die Negation eines Widerstandsrechts werden in präzisen theoretischen Begriffen erörtert: All other Errors but disturb a State; But Innovation is the Blow of Fate. If ancient Fabricks nod, and threat to fall, To Patch the Flaws, and Buttress up the Wall, Thus far 'tis Duty; but here fix the Mark: For all beyond it is to touch our Ark. To change Foundations, cast the Frame anew, Is work for Rebels who base Ends pursue: At once Divine and Humane Laws controul; And mend the Parts by ruine of the Whole. The Tampering World is subject to this Curse, To Physick their Disease into a worse. ( 7 9 9 - 8 1 0 )
Anstelle von politischen Begriffen verwendet Dryden hier wieder die Metapher des Regierens als Form der Heilkunst - dieselbe Analogie zwischen Staatskörper und natürlichem Körper, die bereits im Vorwort auftaucht. Im Gedicht wirkt seine Argumentation paradox, da sie seine Empfehlung drastischer Mittel - die
231
Siehe Zwicker 1 9 9 3 , 1 5 0 - 5 3 .
250
gleichsam chirurgische Entfernung der "Rebels who base Ends pursue" - nur übertüncht. Diese nimmt gedanklich den realen Justizmord an Algernon Sidney und William Russell als Antwort auf die 'Exclusion Crisis' vorweg. Logisch ist diese Passage inkonsistent, da sie einerseits das Ausbessern von Fehlern als gute Regierungskunst anpreist, jedoch im gleichen Atemzug der "Tampering World" vorwirft, sie verschlimmere ihren Zustand nur durch das Herumkurieren an Symptomen, wo doch nur ein 'ense rescindendum' wirklich Abhilfe schaffen könne. Und doch verdankt die rhetorische Kraft des Gedichts einiges seinem (miltonesken) Drang nach Uberwindung des Kontingenten durch das Absolute: konkret nach Überwindung des Politischen (auf der Ebene der Flickschusterei) durch das Göttliche; Überwindung von Instinkt und Begierde durch Gesetz und Methode; Überwindung der Erosion gesellschaftlichen Sinns (im "process of speech"232 mündlicher Kommunikation) durch permanente Einschreibung: "here fix the Mark".233 In seiner Schlußrede antwortet der König - gleichwohl mündlich - seinen Kontrahenten, indem er seine "Lawfull Pow'r" bekräftigt (1024) und seine Gegner mit dem ,Schwert der Gerechtigkeit' bedroht (1002). Nach Beendigung seiner Rede wird er als zugleich natürlicher und rechtmäßiger Herrscher von Gottes Gnaden bestätigt durch eine Botschaft des ^Allmächtigen' persönlich, die zunächst wie eine verkürzte Parodie auf das dritte Buch von Paradise Lost anmutet: He said. Th'Almighty, nodding, gave Consent; A n d Peals of Thunder shook the Firmament. Henceforth a Series of new time began, The mighty Years in long Procession ran: Once more the Godlike David was Restor'd, A n d willing Nations knew their Lawfull Lord. ( 1 0 2 6 - 3 1 )
Der Kontakt des Kontingenten mit dem Absoluten, der (als immer wieder aufscheinendes Problem) in nahezu allen Thematisierungen des Verhältnisses von Natur und Politik, Naturrecht und 'civitas'-Modellen in der Literatur des 17. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielt, wird hier deutlich, wohl überdeutlich inszeniert. Gerade in der Kompression auf so wenige Zeilen wirkt das theologische Modell der Legitimation weltlicher Herrschaft wie eine Selbstparodie — eine Desavouierung des puritanischen Ethos, die auf sich selbst zurückschlägt. Daß Dryden am Ende von Absalom den Theaterdonner eines Deus ex machina bemühen muß, ist um so symptomatischer für den Niedergang jeglicher Selbstverständlichkeit im Verhältnis zwischen Natur- und Rechtsbegriffen gegen Ende des 17. Jahrhunderts. In der terminologischen Entwicklung des Ge-
232 233
ParadiseLost7.178. Zur Spannung zwischen Instinkt und Schrift in Absalom siehe Kroll 1991, 3 0 5 - 2 1 , bes. 310, 317f.
251
dichts wird der "Consent" des Volkes (978) am Ende durch den "Consent" Gottes (1026) ersetzt: Einmal mehr ("Once more", 1030) und diesmal endgültig wird der König als Grundlage einer ,natürlich' legitimierten Herrschaftsform restauriert. Dies ist keineswegs parodistisch intendiert, es sei denn in der Form eines Doppel-Bluffs. Absalom stellt einen letzten Versuch dar, die auseinandertreibenden Kräfte politischer, sozialer und privater Kontingenz in einem sakralen Bild des Königtums zu bündeln und zu versöhnen — dies wieder, wie schon in Eikort Basilike und in The Adventures of Five Hours, als unmittelbarer Kontakt mit der Gottheit, die hier kopfnickend Bestätigung sendet, dargestellt. Aber in mancherlei Hinsicht ist Absalom auch bereits bloß ein Gedicht, bloß polemische Satire und nicht mehr (und noch nicht wieder) politische Theorie. Der Kontakt zwischen Literatur und der sie umgebenden Gesellschaft ist mit dem Verlust politischer und kultureller Selbstverständlichkeiten brüchig und schließlich fragwürdig geworden. Drydens Inszenierung des Verhältnisses von Natur und 'civitas' wird nur noch ,harte' Tories wirklich überzeugt haben; fraglich ist, ob er selbst noch daran glauben kann oder es vielmehr als „notwendige Fiktion"234 vertreten muß. Die Schere zwischen öffentlichen Verbindlichkeiten, literarischen Schreibsituationen und privaten Räumen der Selbsterkundung, Selbstthematisierung und -Inszenierung wird breiter. So entstehen neue Möglichkeiten der sozialen Verknüpfung und der literarischen Exploration von Innerlichkeit und Öffentlichkeit, die auf Tendenzen des 18. Jahrhunderts und der Aufklärung — und nicht zuletzt auf den .modernen' Roman - vorausweisen und denen wir uns im folgenden zuwenden.
6. Räume der Distinktion. Zusammenfassung und Ausblick Vor dem Hintergrund des Geltungsverlustes klassischer politischer Ordnungsmodelle und der Modalitäten ihrer literarischen Kommunikation wird auch eine Neuorientierung der Verhältnisse zwischen einzelnen Menschen, Menschenmengen und Gesellschaftsstruktur immer dringlicher. In Gestalt des MultitudoProblems wird der Bedarf einer solchen Neuorientierung bereits bei Hobbes, Milton und Dryden diagnostiziert. Ihr politisches Scheitern mag symptomatisch sein für die Schwere des Problems und die Belastungen, die sich aus der notwendigen Korrelation von semantischen Traditionsbeständen und politischem Gegenwartsdruck ergeben. Wie läßt sich öffentliche Kommunikation mit der Heterogenität diverser Publika und nicht zuletzt mit den Interessen jedes ein-
234
Vgl. Kahn 1985, 181.
252
zelnen .Subjekts' (als Untertan oder Bürger, als Element der crowd' oder der Nation) vermitteln, wenn die 'fancy' des einzelnen unberechenbar ist?235 Das Problem stellt sich mit verschärfter Dringlichkeit in den 1680er Jahren. In dieser Zeit politischer Krisen, vor einer systematischen Neufundierung und Konsolidierung nach 1688, werden viele der älteren Ängste und Begierden noch einmal wachgerufen, stehen die Fundamente des Gesellschaftlichen zur Disposition, erscheint das Schreckgespenst des Bürgerkriegs und des dahinter lauernden 'state of nature' in der Exclusion Crisis noch einmal als ernsthafte Bedrohung der sozialen Ordnung. Literatur kann hier jedoch keine überzeugenden Lösungen mehr anbieten, sondern wird selbst zu einem Teil des Problems. Sie kann eine politisch und konfessionell gespaltene Gesellschaft nicht mehr versöhnen und muß sich auf eine Seite der politischen Bruchlinie zwischen Whig und Tory positionieren. Das in Drydens Absalom noch einmal mit dem größten Geschick mobilisierte Bildrepertoire der klassischen Zweikörpertheorie hat seine soziale und politische Bindungskraft verloren. Wie kann das Verhältnis von einzelnen 'subjects' und der Gesellschaft neu fundiert, der Bruch zwischen Einzel- und Gemeinschaftsinteressen gekittet werden? Bei Browne und anderen Humanisten ist das menschliche Innenleben eine 'polis', die von ζ. T. beängstigenden inneren und äußeren Kräften gestört wird — Kräften, die eine rigorose Selbstbeobachtung, Selbstbeherrschung und Selbstkultivierung notwendig erscheinen lassen. Auch für Burton ist der einzelne eine Schnittstelle zwischen unterschiedlichen Informationsströmen, "both private and publike".236 Diese beiden Einflußsphären können in politischen Krisenlagen und gesellschaftlichen Umbruchsphasen — so Browne im Vorwort zur Religio — auf gefährliche Weise aus dem Gleichgewicht geraten. Selbst wenn 'seif als innerer Ort,privater' geistiger und spiritueller Betätigung und Reflexion konzipiert wird (Denken, Lesen, Schreiben, Meditieren, Beten), wird es durchkreuzt von gefährlichen Einflüssen und Affekten, von Leidenschaften und Begierden, nicht zuletzt von (das Private bewußt einbeziehender) Rhetorik, die die Leidenschaften und Begierden jedes einzelnen zu mobilisieren und dadurch die einzelnen zur gefügigen politischen Manövriermasse zu vereinen sucht. Dabei steht das Wort "private", wie bei Montaigne (prive) noch nicht im modernen Verständnis einer affirmativ definierten Subjektivität, sondern wie in Antike und Mittelalter als Bezeichnung nicht durch öffentliche Amtsfunktionen (officia) in Anspruch genommener Daseinsbereiche (privatus) — eine Definition ex negativo also, deren Bedeutung nicht aus sich selbst heraus bestimmt, sondern nur durch den Bezug zu ihrem Gegenbegriff (,öffentliches Leben') ermittelt werden kann. Es handelt sich um ein Begriffsfeld, das auf antike Vorgaben, auf die Anthropologie der römischen Moralisten und auf das römische Recht zurückgeht
235
S. ο. 1.1 zu Drydens Essay of Dramatick Poesie als Beispiel.
236
Burton 1 9 8 9 , 5.
253
und das in der frühen Neuzeit noch die Dualität des mystischen und materiellen Körpers des Königs unterspannt.237 In der Zweikörpertheorie wird die Differenz von Öffentlichkeit (als Allgemeinheit) und Privatheit (als deren nicht eigens bestimmtes und bestimmbares Gegenteil) als Einheit vorgestellt, die unauflöslich ist. Diese Theorie liegt auch noch der Darstellung Davids/Charles' II in Drydens Absalom and Achitophel zugrunde. In einem solchen Gesellschaftsmodell gibt es keine Möglichkeit des Gegensatzes zwischen ,privatem' Willen und öffentlichem' Gemeinwohl, zwischen Souveränität und Gesetz und - offiziell in England - zwischen Politik und Religion, da jeweils beide Terme in einer Kontextur vereint sind. So heißt es etwa in einem Gedicht von Thomas Carew um 1624, mit Bezug auf die letzte schwere Erkrankung James' I.: "Entring his royal limbs that is our head, / Through us his mystic limbs the paine is spread, / That man that doth not feel his part, hath none / In any part of his dominion".238 Neuere Vorstellungen von Privatheit als räumliche Absonderung des einzelnen von anderen entstehen parallel zur Kontinuität solcher paulinisch-mystischen Vorstellungen: Sie manifestieren sich ζ. B. in der architektonischen Absonderung privater Bibliotheken und anderer, häufig sehr kleiner Rückzugsräume (closet) von den übrigen, allen jederzeit zugänglichen Räumlichkeiten eines Hauses.239 Auch hier ist Privatheit - als Privileg zeitweiligen Alleinseins — zuallererst ein soziales Distinktionselement. Auch literarische Produktion und Rezeption sind im England des 17. Jahrhunderts noch weitgehend öffentliche, nicht private Tätigkeiten. Die 'republic of letters' ist ein weitgespanntes Netz von Relationen, in denen die Frage nach dem Gegensatz von privaten und öffentlichen Aspekten der .Individualität' selten gestellt wird; wo dies geschieht, steht es zumeist im Zusammenhang klassischer Vorgaben, etwa von Diskussionen um die jeweiligen Vorzüge und Nachteile der vita contemplativa und der vita activa;240 doch wird die Frage nach spezifischen Beobachtungsformen von Innerlichkeit und Öffentlichkeit auch politisch dringlicher, wenn diese klassischen und humanistischen semantischen Vorgaben an Geltung verlieren und der Erfahrungsdruck der Gegenwart nach neuen Lösungsvorschlägen verlangt. Vor dem Hintergrund dieser Problematik konturiert sich der Diskurs des Neoklassizismus, der auch - aber
237 238
239
240
Kantorowicz 1957: Reiss 2003, 441-45; Bredekamp 1998; Condren 2002. Zit. nach Reiss 2003, 443. Reiss zitiert ebd. auch aus Senecas De dementia 1.5.1, wo der Kaiser (Nero) als Seele des Staates, der Staat als des Kaisers Körper bezeichnet wird: "tu animus reipublicae tuae es, illa corpus tuum". — Ludwig XIV. verkürzt und .rationalisiert' diese Vorstellung in dem Ausspruch "I.eut c'est moi". Montaignes Bibliothek ζ. B. "was located on the upper floor of a tower overlooking the courtyard, with a chapel and a chamber where he could rest below and an adjoining gallery where he could take a stroll. In this private space Montaigne was completely cut off from the rest of his family" (Morse 1989, 258). 'Family' hat zu dieser Zeit noch die Bedeutung .Haushalt'. Siehe auch ebd. das Zitat aus Montaignes Essais und Morse' Interpretation der Bibliothek als "private sanctum". Vgl. Jagodzinski 1999, 13-17 zu Alberti. Siehe ζ. B. Mackenzie/Evelyn 1986. Auch die Texte Burtons, Brownes und Waltons lassen sich in diesen Zusammenhang einordnen.
254
keineswegs ausschließlich — Konsequenzen für literarische Darstellungsweisen von Innerlichkeit hat. Das 17. Jahrhundert verzeichnet den endgültigen Zusammenbruch antiker und mittelalterlicher Vorstellungen gesellschaftlicher und menschlicher Einheit. Andere Fragen, andere Antworten als die der Tradition entnehmbaren werden notwendig: Bacon und Descartes begründen neue Epistemologien, Hobbes und Locke neue Theorien der Politik — in weitgehender Emanzipation von, aber durchaus noch im Kontakt mit der Tradition.241 Dabei verändert sich auch der Begriff der Person: "Person was no longer nexus of multiple communal circles, exemplary figure or divine instrument, nor fraught erratic mover. Person was becoming universal actor and knower in a rational universe, whose agency could intervene in and resolve the very sources of conflict."242 Mit der Umstellung auf eine mechanistische und materialistische Metaphorik für Körper und Staat (nach William Harvey) wird auch das Verhältnis von privaten und öffentlichen Tätigkeiten, von Person und Staat, von Individuum und Kommunikation neu konzipiert - weniger mystisch-partizipatorisch als rational, atomistisch und dynamisch.243 Die neue Metaphorik des Kreislaufs bietet ein genuin modernes, die Moderne durchziehendes Bildrepertoire.244 Vorbereitet wird eine diskursive Vermittlung (nicht länger: Einheit) unterschiedlicher Ebenen, eine normative Ordnung, die bereits im späten 17. Jahrhundert, aber durchschlagend im 18. Jahrhundert (dann unter dem Signum der Aufklärung) zu beobachten ist und die in diesem Buch als .Neoklassizismus' bezeichnet wird. Der Neoklassizismus vermittelt Einzelwahrnehmung und gesellschaftlichen Sinn: in der Erkenntnistheorie mit dem rationalen Werkzeug des Begriffs, in der Politik mit dem des Vertrags und in der Ästhetik mit dem des Geschmacks.245 Vor diesem Horizont entstehen neoklassische Perspektiven auf das Verhältnis von Innerlichkeit und Öffentlichkeit, die im folgenden am Beispiel des Romans und des Theaters untersucht werden sollen. Zwischen 1680 und 1700 werden die Beziehungen zwischen Autor(inn)en, Figuren und Leser(inne)n auf dem Theater und in Frühformen des Romans neu relationiert. Wie und in welchen Kontexten dies geschieht; welche Funktionen Literatur dabei - als Einübung in (und Reflexion von) Lektüre- und Kommunikationstechniken - übernimmt; und wie der englische Neoklassizismus sich auf der Grundlage von Kontingenz und Wahrscheinlichkeit als normativer Diskurs stabilisiert, wird im folgenden am Beispiel von Aphra Behns Love-Letters Between a Nobleman and His Sister (1684—87) und Congreves The Way of the World {1700) zu belegen sein.
241 242
Aufschlußreich hierzu die Descartes-Kapitel in Reiss 2 0 0 3 , 4 6 9 - 5 1 8 . Reiss 2 0 0 3 , 5 1 9 .
243
Die theoretische Rede von einer "circulation o f social energy" (Greenblatt) hat erst mit dieser semantischen Umstellung eine sachliche Grundlage — fiir die Shakespearezeit ist sie, wie bereits festgestellt, kaum brauchbar. Vgl. Rogers 1 9 9 6 , 1 6 - 2 7 .
244
Noch Robert Musil schreibt 1 9 1 9 von der Kultur als „Energie" eines Staates und von der „Stromstärke seines Blutkreislaufes" (Musil 2 0 0 0 , 1 0 3 1 ) .
245
Vgl. Reiss 2 0 0 3 , 5 2 4 f f .
255
V. Innerlichkeit und Öffentlichkeit: Neoklassische Perspektiven
There was as yet no internal man, no "man for himself" (I for myself), nor any individualized approach to one's own self. An individual's unity and his self-consciousness were exclusively public. Man was completely on the
surface. Bachtin1 I have that within which passeth show.
Hamlet 1.2.85
1. Innerlichkeit, Wahrscheinlichkeit und 'wit' Die Relationen zwischen menschlicher Innerlichkeit (Denken, Fühlen, Wahrnehmen, Erleben) und Formen der Kommunikation (Sprache, auch Körpersprache; Schrift und Bild) sind grundsätzlich vielschichtig, aber insbesondere in ihrer historischen Spezifik schwierig zu erfassen. Dies gilt in besonderem Maße für die frühe Neuzeit: eine Epoche, in der ,unsere' Begriffe von Individualität oder Öffentlichkeit oft noch keine oder eine ganz andere Geltung besitzen. So gibt es zu diesem Thema unterschiedliche soziologische und historische Modelle, verschiedene wissenschaftliche (begriffliche oder philosophische) Zugänge, die zu erklären und zu verstehen suchen, was oft (aber eben auch nicht immer) als Emergenz einer .modernen' Selbstbewußtheit von .Individuen' zwischen 1300 und 1800 beobachtet wird. 2 Die Probleme beginnen schon damit, daß etwa das englische Wort 'individual' im 17. Jahrhundert noch nicht im heutigen Sinn verwendet wird, 3 das Wort 'seif noch nicht die Bedeutung eines intrinsisch-authen1
2 3
Bakhtin 1981, 132, Herv. im Original. Die Bemerkung steht im Kontext der Hagiographie, insbesondere der Funktion biographischen Schreibens unter den Bedingungen des griechischen öffentlichen Platzes, wo, so Bachtin (bzw. seine amerikanischen Übersetzer), "the self-consciousness of the individual originated" (ebd). Siehe ζ. Β. Greenblatt 1980; Taylor 1989; Luhmann 1983; ders. 1997, 1016-36; Pott 1995; Mascuch 1996; Porter 1997. Zum frühneuzeitlichen Bedeutungsspektrum des Wortes 'individual' siehe Ferry 1983, 33-39; Stallybrass 1992, 594—607. Nach Stallybrass bezeichnet das Wort 'individual' im Kontext der frühen Neuzeit "a relation [...] not a separate entity" (606).
257
tischen Wesenskerns eines Menschen hat4 und das Wort 'subject' keineswegs ein .autonomes' Entscheidungs- und Handlungssubjekt, sondern den Untertanen (subditus) bezeichnet, manchmal im Gegensatz zum 'citizen'.5 In Abweichung von der (v. a. im Anschluß an Foucault) geäußerten Behauptung, es lasse sich in der frühen Neuzeit kein kohärenter, stabiler Selbst- und Subjektivitätsbegriff ausmachen, sprechen jüngere Arbeiten sich dafür aus, die "conceptual importance of personal inwardness" nicht länger zu unterschätzen.6 Neuere Perspektiven auf frühneuzeitliche Innerlichkeit gehen nicht mehr von zeitlosen Unterscheidungen zwischen Begriffen wie Privatheit, Innerlichkeit und Individualität aus; auch nicht von einer klaren Distinktion zwischen bürgerlicher' (moderner) und ,vorbürgerlicher' (vormoderner) Subjektivität. Sie konzentrieren sich vielmehr auf die - ζ. B. in Textstrukturen - auffindbaren Spuren historisch spezifischer Koppelungen zwischen jenen Begriffen und optieren für eine pragmatischere und stärker begrenzte Analyse der Lesbarkeit von ,Individualität', indem sie sich auf die historische Reichweite und konkrete Handhabung von Unterscheidungen zwischen Innen und Außen, zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre konzentrieren. In einer solchen Sichtweise erscheint Subjektivität nicht mehr als präzise konturierter und philosophisch vorstrukturierter Begriff, sondern allenfalls als "a loose and varied collection of assumptions, intuitions, and practices that do not all logically entail one another and need not appear together at the same cultural moment".7 M. a. W.: die Vorannahme einer radikalen Differenz zwischen verschiedenen geschichtlichen Formationen von Innerlichkeit kann ebenso fehlgeleitet sein wie die Unterstellung von Kontinuität.8 Kontinuitäten werden in Begriffsgeschichten nahezu unvermeidlich evoziert, wenn es um den semantischen Wandel von Wörtern wie .selbst'/,Selbst' und ,Individuum' geht; allzu leicht wird davon auf die Existenz einer diesen Wörtern entsprechenden Wesenheit geschlossen. Aber auch das Fehlen eines Wortes in einer bestimmten Epoche ist nicht notwendigerweise ein Beweis für das Nichtvorhandensein des betreffenden Begriffs. Dabei ist nicht nur der unmittelbare textuelle, sondern auch der kommunikative (performative) und begriffsgeschichtliche Kontext zu berücksichtigen, genauer: die kontexturale Struktur, in der Worte verwendet werden und bedeuten.9
Siehe auch hierzu Ferry 1983, 3