Anfang und Ende: Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne 9783050065137, 9783050060545

This book explores the categories of beginning and ending in their narratological, cultural, and anthropological dimensi

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German Pages 288 Year 2013

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung
Anfang und Ende
I. Narration und Kultur
ΑΡΧΗ: Anfang als Ursprungs- und Herrschaftskonzept. Zu religiösen und literarischen Aspekten des Archaischen in der griechischen Antike
Apokalypse und visuelle Narrative: Der Genter Altar
Von der Unendlichkeit der Ursprünge: Transformationen des Mythos in der Origo gentis Langobardorum und der Historia Langobardorum des Paulus Diaconus
Zur Darstellung der ‚Anfänge‘ von mittelalterlichen Klöstern und Adelsfamilien
II. Literarische Paradigmen von Anfang und Ende
Beowulf und das Problem des absoluten Anfangs:Der Gesang des scop in Heorot
Der Tod des Heros, die Geburt des Helden –und die Grenzen der Narratologie
Göttlich-menschliche Anfänge. Zeitparadoxien im Fließenden Licht der Gottheit
Anfänge. Heinrich Seuses Vita als Dekonstruktion einer Aufstiegsbiographie
Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden
III. Ende und Nichtenden: Zyklik, Finalität
Zeit im Hohen Sang. Exemplarische Überlegungen zu Walther von der Vogelweide
commencer und finer bei Chrétien de Troyes und die Poetik des arthurischen Romans
Finalität. Grabinschriften in der Untergangserzählung des Prosalancelot
Anfang und Ende: Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im Erec Hartmanns von Aue
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Anfang und Ende: Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne
 9783050065137, 9783050060545

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Anfang und Ende

Literatur | Theorie | Geschichte Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik Band 3 Herausgegeben von Udo Friedrich, Bruno Quast und Monika Schausten

Udo Friedrich, Andreas Hammer, Christiane Witthöft (Hg.)

Anfang und Ende Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne

Akademie Verlag

Titelbild: Albrecht Dürer. Randzeichnung eines Urobolos, 1512/13. ÖNB/Wien, Cod. 3255 fol. 3v. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung der ÖNB. Einbandkonzept: hauser lacour Einbandgestaltung: pro:design, Berlin Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2014 Akademie Verlag GmbH www.degruyter.de/akademie Ein Unternehmen von De Gruyter Gedruckt in Deutschland Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN eISBN

978-3-05-006054-5 978-3-05-006513-7

Inhaltsverzeichnis

Vorwort .......................................................................................................................... 7

Einleitung Udo Friedrich, Andreas Hammer, Christiane Witthöft Anfang und Ende. ........................................................................................................ 11

I. Narration und Kultur Renate Schlesier ΑΡΧΗ: Anfang als Ursprungs- und Herrschaftskonzept. Zu religiösen und literarischen Aspekten des Archaischen in der griechischen Antike ........................................................................................... 31 Wolfgang Müller-Funk Apokalypse und visuelle Narrative: Der Genter Altar ................................................. 49 Wolfgang Haubrichs Von der Unendlichkeit der Ursprünge: Transformationen des Mythos in der Origo gentis Langobardorum und der Historia Langobardorum des Paulus Diaconus ........................................................... 67 Gerd Althoff Zur Darstellung der ‚Anfänge‘ von mittelalterlichen Klöstern und Adelsfamilien ......................................................................................... 91

Inhaltsverzeichnis

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II. Literarische Paradigmen von Anfang und Ende Andrew James Johnston Beowulf und das Problem des absoluten Anfangs: Der Gesang des scop in Heorot ....................................................................................105 Hartmut Bleumer Der Tod des Heros, die Geburt des Helden – und die Grenzen der Narratologie ................................................................................119 Christian Kiening Göttlich-menschliche Anfänge. Zeitparadoxien im Fließenden Licht der Gottheit ........................................................143 Bruno Quast Anfänge. Heinrich Seuses Vita als Dekonstruktion einer Aufstiegsbiographie .............................................................157 Andreas Hammer Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden .........................................................173

III. Ende und Nichtenden: Zyklik, Finalität Susanne Baumgartner und Beate Kellner Zeit im Hohen Sang. Exemplarische Überlegungen zu Walther von der Vogelweide ..................................201 Volker Mertens commencer und finer bei Chrétien de Troyes und die Poetik des arthurischen Romans .....................................................................225 Christiane Witthöft Finalität. Grabinschriften in der Untergangserzählung des Prosalancelot .........................................................................................................243 Udo Friedrich Anfang und Ende: Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im Erec Hartmanns von Aue ...........................................267

Vorwort

Der vorliegende Band enthält die Beiträge eines Kolloquiums, das unter dem Titel „Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne“ vom 25.–27. März 2010 im schwäbischen Kloster Irsee stattgefunden hat. Versammelt sind Beiträge aus verschiedenen Disziplinen, in denen sich die vormoderne Zeitproblematik je anders stellt. Den Teilnehmern der Tagung sei hier noch einmal herzlich für Ihre Beiträge gedankt. Der Fritz-Thyssen-Stiftung danken wir für die großzügige Finanzierung der Tagung; dem Akademie Verlag für die Aufnahme in sein Verlagsprogramm und dem Kloster Irsee für den angenehmen Rahmen. Die Einrichtung des Manuskripts ist von Michael Schwarzbach mit der Unterstützung von Verena Pohl besorgt worden. Auch ihnen sei an dieser Stelle noch einmal herzlich gedankt. Udo Friedrich, Andreas Hammer, Christiane Witthöft

Einleitung

Udo Friedrich, Andreas Hammer, Christiane Witthöft

Anfang und Ende

Anfang und Ende sind nicht nur einfache Zeitkoordinaten, sondern elementare Kategorien der Orientierung, die den Rahmen von komplexen Ordnungsleistungen markieren. Im Kontext einer Erzählung dienen sie der Strukturierung von Komplexitäts- und Kontingenzerfahrung in Raum und Zeit. Erzählen stellt einen Ordnungs- und einen Sinnbildungsvorgang dar, eine Verkettung von Ereignissen in der Zeit, die immer schon den Anfang auf das Ende und das Ende auf den Anfang bezieht. Diese konstitutive Wechselbeziehung von Anfang und Ende hat die Erzähltheorie wiederholt thematisiert.1 Jede Erzählung enthält nicht nur eine Teleologie, sondern auch ein Moment der Begründung und stiftet gerade dadurch den Zusammenhang der Erfahrung. Als Ordnungskategorien sind Anfang und Ende aber nicht nur zentrale narratologische, sondern auch anthropologische Einheiten. Sie betreffen den Status des Subjekts, mit Geburt und Tod im Kern Fragen seiner Identität.2 Das Subjekt hat einen Anfang 1

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„Die narrative Struktur der Geschichte verbindet Anfang und Ende nicht nur als ein faktischer Verlauf, sondern als eine konzeptuelle Konfiguration“, durch die sich Sinn allererst konstituiert. Karlheinz Stierle: Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie. In: Theorie und Erzählung in der Geschichte. Hrsg. von Jürgen Kocka, Thomas Nipperdey. München 1979 (Beiträge zur Historik 3), S. 85–118, hier 93; Juri M. Lotman: Die modellbildende Bedeutung des Begriffs Anfang und Ende in künstlerischen Texten. In: Semiotica Sovietica 1. Sowjetische Arbeiten der Moskauer und Tartuer Schule zu sekundären modellbildenden Zeichensystemen (1962–1973). Hrsg. und eingeleitet von Karl Eimermacher. Aachen 1986, S. 829–834; Arbogast Schmitt: Teleologie und Geschichte bei Aristoteles oder Wie kommen nach Aristoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte? In: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hrsg. von Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1996 (Poetik und Hermeneutik 16), S. 528– 563. Vgl. auch Anfang und Ende. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs. Stuttgart/Weimar 1985 (LiLi Heft 99), S. 1–8; Paul Ricoeur: Narrative Funktion und menschliche Zeiterfahrung. In: Romantik. Literatur und Philosophie. Hrsg. von Volker Bohn. Frankfurt/Main 1987 (Internationale Beiträge zur Poetik 1), S. 45–79, hier 54f., 61f. u. 68f.; Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien/New York 2002, S. 19. Vgl. zuletzt Albrecht Koschorke: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie. Frankfurt/Main 2012, S. 61–67, 396f. Zu philosophisch-anthropologischen Aspekten vgl. Ludger Lutkehaus: Vom Anfang und vom Ende. Zwei Essays. Frankfurt/Main, Leipzig 2008.

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und ein Ende, verfügt aber nicht über sie, und solche Unverfügbarkeit ist traditionell das Einfallstor für Sinnfragen, die über Narrative und Metaphern strukturiert werden. Deswegen sind Weg, Reise und Kreis so suggestive Metaphern für das Leben geworden:3 Aufbruch, Umkehr, Heimkehr, Neubeginn, Vollendung etc. sind Ausdrücke für elementare Orientierungen des menschlichen Lebens, die die Erfahrung von Kontinuität und Diskontinuität organisieren und sich in Erzählungen umsetzen lassen. Sie können gar den Status von Erzählprogrammen annehmen. Das Leben konstituiert sich als Erzählung und im Idealfall soll es wie die Erzählung in Linearität und Geschlossenheit münden.4 Darüber hinaus betreffen Anfang und Ende als Grenzmarken der Zeitlichkeit auch kollektive Identitäten, die sich z.B. über genealogische Horizonte formieren. Sie lassen sich bekanntlich zu komplexen geschichtsphilosophischen Sinnfiguren, zu so genannten Metanarrativen, ausbauen. Nicht nur das Subjekt hat einen Anfang und ein Ende, sondern auch die Gemeinschaft (die Sippe, der Stamm oder die Menschheit insgesamt) steht entweder in einem labilen Zeithorizont (Genesis/Apokalypse) oder sie ist auf ein Ziel ausgerichtet: Heil, Fortschritt, Zivilisation. Die Narrative der Geschichtsphilosophie beziehen sich auf kollektive Subjekte. Von der Lebenszeit über den Entwurf von Generationenverhältnissen bis hin zu den Vorstellungen von Geschichte insgesamt formiert sich Erfahrung narrativ über die Modellierung von Anfang und Ende. Wie die lebensweltliche und die geschichtliche Problematik eng mit dem Vorgang des Erzählens verknüpft sind, so vollzieht sich Erzählen stets im Horizont lebensweltlicher und kultureller Vorgaben. Unter der Perspektive von Anfang und Ende soll daher in diesem Band die Erfahrungs- und Darstellungsform des Erzählens sowohl mit den anthropologischen Problemfeldern von Zeitlichkeit, Kontingenz und Komplexität als auch mit einer kulturellen Konfiguration von Erinnerung und Gedächtnis verbunden werden. Im historischen Verlauf unterliegen die Vorstellungen von Zeitlichkeit und ihre Bedeutung für den Menschen manifesten Veränderungen. Dynamisiert zu Prozesskategorien, zu Kausalität und Finalität, nehmen Anfang und Ende epochenspezifische Ausprägungen an.5 Was bereits im mythischen Bewusstsein verankert zu sein scheint,6 wird im Mittelalter christlich transformiert, verändert sich aber als natürlicher und kultureller 3

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Vgl. Matthias Christen: „To the End of the Line“. Zur Formgeschichte und Semantik der Lebensreise. München 1999. Vgl. Müller-Funk (Anm. 1), S. 27. Vgl. Jürgen Fohrmann: Darstellung. Über die Beziehung von Wissenschaft, Literatur und Stil in der ‚Kunstperiode‘. In: Zukunft der Literatur – Literatur der Zukunft. Gegenwartsliteratur und Literaturwissenschaft. Hrsg. von Reto Sorg, Adrian Mettauer, Wolfgang Proß. München 2003, S. 93– 103, hier 95. Vgl. zur Finalität des mythischen Denkens Ernst Cassirer: Philosophie der Symbolischen Formen. Bd. 2: Das mythische Denken. Darmstadt 1977, hier besonders S. 58ff., 104ff. u. 129ff. Vgl. zur impliziten Rationalität des mythischen Denkens auch Fritz Stolz: Der mythische Umgang mit der Rationalität und der rationale Umgang mit dem Mythos. In: Mythos und Rationalität. Hrsg. von Hans H. Schmid. Gütersloh 1988 (Veröffentlichungen der Wiss. Gesell. für Theologie 5), S. 81–106.

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Zeithorizont mit der Moderne und Postmoderne noch einmal gravierend. Im Mittelalter scheint die Zeitordnung jenseits des zyklischen Heiligenkalenders natürlichen Organisationsschemata zu unterliegen: In Tages-, Wochen-, Monats- und Jahreszeitenrhythmus, in Altersstufen und Generationenfolge liegen diskrete Zeiträume vor, die ihre je eigene natürliche Prozesslogik (Wiederholung, Finalität) besitzen. Das Subjekt ist mithin immer schon zugleich in verschiedenen (mythischen, natürlichen, biographischen, historischen) „Zeitreihen“ situiert.7 Sie lassen sich auch auf andere Ebenen übertragen (z.B. die alternde Welt)8 und sind ihrerseits wieder in übergeordnete Zeithorizonte eingebettet. Auf die geringe[ ] zeitliche[ ] Komplexität ohne nennenswerte qualitative Differenzierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft [...] antwortet zum Beispiel die biblische Zeitvorstellung dadurch, daß sie die Geschichte von Extremlagen am Anfang und am Ende her konzipiert, die ein Urteil über den Sinnzusammenhang des Ganzen ermöglichen, ohne die Zwischenzeit allzu stark (etwa im Sinne moderner Evolutionstheorie) zu differenzieren. Zwischen Sündenfall und Jüngstem Gericht spannt sich eine irdische Zeit, die zwar in Epochen eingeteilt, aber gleichwohl als moralisches Kontinuum und als einheitliche Heilsgeschichte begriffen werden kann.9

In dem Augenblick, in dem die Zeit die Koordinaten der Schöpfungsordnung zersetzt und Ordnungen (z.B. der Natur, der Geschichte) beweglich werden, verändert sich auch der Status von Anfang und Ende, von Kausalität und Finalität.10 Seit dem 18. Jahrhundert lässt sich in den Ordnungen des Wissens – Natur, Geschichte, Sprache – eine Verzeitlichung räumlicher Ordnungskonzepte beobachten.11 Dass solche Veränderungen im Raum-Zeit-Gefüge auch im kulturellen Feld Wirkungen zeitigen und den Wandel von 7

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Michail Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt/Main 2008 (stw 1879), S. 27–29. Vgl. Johannes Zahlten: Das Ende und der Anfang. Zum Zusammenhang von Weltaltermodellen, menschlichem Lebensalter und Sechstagewerk in der mittelalterlichen Kunst. In: Ende und Vollendung. Eschatologische Perspektiven im Mittelalter. Hrsg. von Jan A. Aertsen, Martin Pickavé. Berlin/New York 2002 (Miscellanea Mediaevalia 29), S. 348–370. Niklas Luhmann: Funktion der Religion. Frankfurt/Main 1982 (stw 407), S. 159. Für das komplizierte Verhältnis von Kausalität und Finalität zitiert Roman Jakobson Charles Sanders Peirce: „Wirkursächlichkeit ist die Art von Ursächlichkeit, durch die die Teile das Ganze bilden; finale Ursächlichkeit ist die Art der Ursächlichkeit, durch die das Ganze die Teile hervorruft. Finale Ursächlickeit ohne Wirkursächlichkeit ist hilflos. […] Wirkursächlichkeit ohne finale Ursächlichkeit jedoch ist schlimmer als hilflos; […] sie ist gar nichts.“ (1,220). Jakobson setzt fort: „Es ist keine strukturale Klassifikation möglich ohne diese beiden Ursächlichkeiten, die zusammen gegenwärtig sind und sich wechselseitig beeinflussen, zu berücksichtigen.“ Roman Jakobson: Peirce, Bahnbrecher der Sprachwissenschaft. In: Ders.: Semiotik. Ausgewählte Texte 1919–1982. Hrsg. von Elmar Holenstein. Frankfurt/Main 1988, S. 99–107, hier 106. Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/ Main 1989 (stw 757); Wolf Lepenies: Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 1976; Arno Seifert: „Verzeitlichung“. Zur Kritik einer neueren Frühneuzeitkategorie. In: Zeitschrift für historische Forschungen 10 (1983), S. 447–477.

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Wissensordnungen und Darstellungsweisen betreffen, lässt sich auf verschiedenen Ebenen erkennen. Für die Erklärung von Gesellschaft und Kultur treten an die Stelle mythisch, metaphysisch oder natürlich fundierter Prozesskategorien – Zyklik, Eschatologie, Entelechie und Genealogie – künstliche, vom Menschen gemachte „Meistererzählungen“: Geschichtsphilosophie, Fortschritt, Zivilisation etc.12 Mit dem Übergang zur Postmoderne sind dann aber auch Kategorien wie Kontinuität, Linearität und Teleologie prekär geworden.13 Blicken Antike und Mittelalter noch auf den nächtlichen Kosmos als ein geschlossenes und stabiles Gehäuse, so schaut die moderne Wissenschaft zunehmend in einen zeitlichen und räumlichen Abgrund (Assmann). Auch dort, wo die Perspektive des Subjekts durch das System ersetzt wird, wie in der Soziologie, wo das Subjekt nur noch als Funktionselement der Autopoiesis sozialer Systeme fungiert, absorbieren Evolution und Selektion jegliche Dignität von Anfang und Ende.14 Während aus evolutionärer Perspektive Zeitpunktreihen indifferent dagegen sind, „was geschehen war, was jeweils geschieht und geschehen wird“, bleibt die Kultur von Subjekten und Kollektiven offenbar narrativen Kohärenzfiguren verhaftet.15 Dennoch ist auch hier ein Erzählen, das sich durch eine „Fixierung auf Anfang und Ende“, eine „Unterschlagung der Kontingenz“ und eine „Manie der Kontinuität“ auszeichnet, im Übergang zur Postmoderne noch einmal problematischer und als „mythologische Konfiguration des Erzählens“ bezeichnet worden.16 Im literarischen Feld steht für den gesamten Prozess exemplarisch gemeinhin die Ablösung des Epos durch den Roman,17 einer kollektiven Erzählform der stabilisierenden Wiederholung gegenüber einer individuellen des offenen Endes und der ‚transzendentalen Obdachlosigkeit‘ (Lukács). Je nachdem, ob man die jeweilige Gattung vom Subjekt oder vom Kollektiv her denkt, ergeben sich alternative Befunde. Während in anthropologischer Perspektive das Ende des Romans gegenüber dem perennierenden epischen Erzählen die Problematik 12

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Vgl. Thomas Mergel: Kulturgeschichte – die neue „große Erzählung“. Wissenssoziologische Bemerkungen zur Konzeptionalisierung sozialer Wirklichkeit in der Geschichtswissenschaft. In: Kulturgeschichte heute. Hrsg. von Wolfgang Hardtwig, Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 1996 (Geschichte und Gesellschaft; Sonderheft 16), S. 41–77; Frank Rexroth: Meistererzählungen und die Praxis der Geschichtsschreibung. In: Meistererzählungen vom Mittelalter. Epochenimaginationen und Verlaufsmuster in der Praxis mediävistischer Disziplinen. Hrsg. von Dems. München 2007 (Historische Zeitschrift, Beiheft N.F. 46), S. 1–22. Müller-Funk (Anm. 1), S. 17–35. Vgl. Luhmann (Anm. 9), S. 166. Ebd., S. 164. Müller-Funk (Anm. 1), S. 32; Linearität und Kohärenz finden indes als Sinnbildungsmuster vor allem in der Massenkultur auch weiterhin ihre sozialen Orte; ebd., S. 31. Während das Epos über die „epische Distanz“ vergangenheitsorientiert ist und einen kollektiv verbindlichen Wissensraum tradiert, besetzt der Roman mit seiner ihm „spezifischen Unabgeschlossenheit“ die Dimension des Werdens. Michail Bachtin: Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung. In: Ders.: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Hrsg. von Edward Kowalski, Michael Wegner. Frankfurt/Main 1989, S. 210–251, hier 214, 220f.

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der Zeitlichkeit hervortreibt und das Subjekt dramatisch mit der Sinnfrage konfrontiert (Benjamin), stellt der Roman in politischer Perspektive gegenüber der geschlossenen Totalität des Epos die offene Form dar, die alle anderen Gattungen zu integrieren vermag (Bachtin).18 Auf der Ebene der Darstellung stünde für den Wandel auch das Ende der Rhetorik als leitendes Paradigma der literarischen Produktion und das Aufkommen des individualisierenden Stils in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, ein Wandel, der als Ausdruck dieser Tendenz hin zur (offenen) Verzeitlichung gelesen worden ist.19 Die Vorstellungen von der Natur, vom Menschen und seiner Geschichte dynamisieren sich und mit ihnen die Formen, von ihnen zu erzählen. Der Tagungsband nimmt eine spezifische Konfiguration vormodernen Erzählens in den Blick, um am Beispiel mittelalterlicher Erzählungen die narratologischen, anthropologischen und kulturellen Implikationen der Kategorien Anfang und Ende zu hinterfragen. Er geht von der Hypothese aus, dass weite Teile mittelalterlichen Erzählens in besonderer Weise anfangs- und endfixiert sind und dies vielfach mit mythischen/christlichen Akzentuierungen verbunden ist. Dem mittelalterlichen Erzählen attestiert z.B. Juri Lotman eine spezifische Anfangsfixierung, Clemens Lugowski eine mythosanaloge Finalität.20 Genealogien und Gründungsmythen zeugten gerade im Mittelalter von dem Bedürfnis, über die kontingenten Zeitverläufe hinaus sich einer Kontinuität und Ordnung zu vergewissern.21 Eschatologien entwerfen dagegen das Ende als Gerichtssituati-

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Zentrales Merkmal ist das Eindringen der Zeit in das ‚Leben‘ der Figur (Entwicklung). Hier: Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Darmstadt/Neuwied 1977 (Sammlung Luchterhand 36); Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Bd. 2: Aufsätze, Essays, Vorträge. Frankfurt/Main 1977, S. 438–465; vgl. auch Bachtin (Anm. 17), S. 210–251. Vgl. Fohrmann (Anm. 5), S. 95: An die Stelle der Nachahmung fester topischer Muster tritt der sich in der Zeit ausbildende Stil. Das rhetorisch-topische Raummodell einer Erinnerungskultur wird durch ein prozessuales Zeitmodell abgelöst, das seine Resultate durch eine dynamische Strukturierung und nicht durch Nachahmung einer statischen Struktur erreicht. Vgl. Roland Barthes: Die alte Rhetorik. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/Main 1988 (Edition Suhrkamp 1441; N.F. 441), S. 15–101, hier 51f. Vgl. Müller-Funk (Anm. 1), S. 92f. Juri M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 21981 (Uni-Taschenbücher 103), S. 305f.; Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Frankfurt/Main 1976 (stw 151), etwa S. 27, 79f. Vgl. Beate Kellner: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München 2004. Dieser Befund betrifft aber nicht nur literarische Erzählungen. Vgl. Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation. Hrsg. von Peter Wunderli. Sigmaringen 1994; František Graus: Troja und die trojanische Herkunftssage im Mittelalter. In: Kontinuität und Transformationen der Antike im Mittelalter. Hrsg. von Willi Erzgräber. Sigmaringen 1989, S. 25–43; Jörn Garber: Trojaner – Römer – Franken – Deutsche. ‚Nationale‘ Abstammungstheorie im Vorfeld der Nationalstaatsbildung. In: Nation und Literatur im Europa der frühen Neuzeit. Hrsg. von Klaus Garber. Tübingen 1989 (Frühe Neuzeit 1), S. 108–163; Gert Melville: Vorfahren und Vorgänger. Die Genealogie als Legitimation dynastischer Herrschaft im Spätmittelalter.

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on, als finale Herstellung von Gerechtigkeit.22 Die strukturelle Überdetermination von Anfang und Ende in vielen mittelalterlichen Erzählungen verweist auf ein historisch spezifisches, kulturelles Sinnbedürfnis, das sich im Rahmen eines stabilen Zeithorizonts konstituiert.23 Es knüpft an natürliche (Zyklik) und metaphysische (Genesis/Apokalypse) Konstellationen an. Gewissermaßen als Komplement zur Kontingenzbewältigung der Gründungsmythen und Eschatologien hat die volkssprachige Literatur des Mittelalters zeitgleich eine Fülle von individuellen und kollektiven Untergangserzählungen hervorgebracht, die das Problem der Kontingenz vom Ende her angehen: eher christlich geprägte wie z.B. Rolandslied, Helmbrecht und Prosa-Lancelot, aber mehr noch säkulare wie Hildebrandslied, Nibelungenlied, Trojaroman, Eckenlied, Ortnit, Tristan, Titurel, Wilhelm von Österreich, Reineke Fuchs u.a. Sie dramatisieren das Ende und stellen ungleich stärker die Frage nach dem Sinn. Neben ein Erzählen als Kontingenzbewältigung treten offenbar schon im Mittelalter Ansätze eines Erzählens als Kontingenzexposition.24 Schon hier zeigt sich, dass die Erzählformen zwar stark von christlichen Modellen geprägt sind, dass sich darüber hinaus aber rivalisierende – etwa mythische und politische – Konfigurationen zu behaupten scheinen. In Verbindung mit den anfangs- und endfixierten Modellen sind aber auch solche zu reflektieren, die die Probleme der Zeitlichkeit und Kontingenz auf eigene Art suspendieren, etwa in der Wiederholungsstruktur der Legende25 oder in der zeitlosen Märchenstruktur der Artusepik („Sinnerfüllung des Zufalls“).26 Die Beiträge dieses Bandes versuchen, Anfang und Ende in unterschiedlichen Fokussierungen zu fassen. Auf einer grundsätzlichen Ebene und in interdisziplinärer Ausrichtung zielen sie darauf ab, das Verhältnis von Narration und Kultur zu beschreiben. In der ersten Sektion finden sich Beiträge, die exemplarisch nach historisch wirkungsmächtigen Sinnbildungsmustern unterschiedlicher Kulturen fragen. In der zweiten Sek-

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In: Die Familie als sozialer und historischer Verband. Hrsg. von Peter-Johannes Schuler. Sigmaringen 1987, S. 203–309. Vgl. Das Ende (Anm. 1); Ende und Vollendung (Anm. 8); Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen. Hrsg. von Wolfram Brandes, Felicitas Schmieder. Berlin 2008 (Millenium-Studien 16). Vgl. Luhmann (Anm. 9), S. 159; Corinna Biesterfeldt: Moniage – Der Rückzug aus der Welt als Erzählschluß. Untersuchungen zu „Kaiserchronik“, „König Rother“, „Orendel“, „Balaam und Josaphat“, „Prosa-Lancelot“. Stuttgart 2004. Vgl. Harald Haferland: Kontingenz und Finalität. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Cornelia Herberichs, Susanne Reichlin. Göttingen 2010 (Historische Semantik 13), S. 337–363; Frank Kermode: The Sense of an Ending. Studies in Theory of Fiction. Oxford 2000. Vgl. etwa Elke Koch: Erzählen vom Tod. Überlegungen zur Finalität in mittelalterlichen Georgsdichtungen. In: Kein Zufall (Anm. 24), S. 110–130. Erich Köhler: Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit. München 1973, S. 29. Vgl. Ralf Simon: Die Interferenz der Texte im Roman als Ursprung seiner Möglichkeit. Poetologische Überlegungen zum ‚Prosa-Lancelot‘. In: Artusroman und Intertextualität. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Gießen 1990 (Beiträge zur deutschen Philologie 67), S. 147–164.

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tion werden die Strukturierungsformen von kulturellen Texten sowie einzelner Gattungen und Erzählungen in den Blick genommen. Hier gilt es, ein Inventar von Erzähltypen auf seine Relationen zu den Zeitordnungen der kulturellen Kontexte zu untersuchen. In Sektion drei erfolgt eine Auseinandersetzung mit Texten, die das Problem der Finalität in Konzepten der suspendierten Zeit und der Zeitlosigkeit zu bewältigen versuchen. Auch hier steht das Finalitätsproblem des Erzählvorgangs in Spannung zu kulturellen Vorstellungen oder Metanarrativen.

I. Narration und Kultur Die Problematisierung des Anfangs schon auf der Ebene des Wortfeldes zeigt der Beitrag Renate Schlesiers auf: Die Semantik des Begriffes ajrcaiÖo" in der griechischen Dichtung kennzeichnet bereits bei den attischen Tragikern eine Bedeutungsverengung von politisch-religiös konnotierter Ehrwürdigkeit hin zu Herrschaft und Macht. Die semantische Breite des Wortfeldes ajrcaiÖo" im Gegensatz zu palaiov" stabilisiert in den Werken des Aischylos, Sophokles und Euripides nicht einfach die politisch-religiöse Tradition, vielmehr macht sie deutlich, dass selbst in dem Ursprünglichen, auf göttliche Anfänge Zurückbezogenem, keine Dauerhaftigkeit liegt. Bereits aus dem Wortfeld lassen sich konventionelle Vorstellungen über den Lauf von Geschichte und den Verlauf von Geschichten extrapolieren, gegenüber denen kritische Distanz bezogen wird. Die Poeten durchbrechen auf diese Weise die kulturelle Norm, indem sie die Negativität des Ursprungs durch kulturelle Errungenschaften zu überwinden trachten. Obwohl Erzählen als anthropologische Universalie angesehen werden kann, vollzieht es sich immer in Abhängigkeit von Kontexten, d.h. von seinen kulturellen Rahmenbedingungen. Die Relation von Text und Kultur ist wechselseitig, komplex und überdies historisch determiniert.27 Die Erzählung kann nicht nur inhaltlich kulturelle Sachverhalte verarbeiten, sondern auch selbst als kulturelles Zeichensystem (Barthes’ Indexikalität) oder als ‚Anschauungsform kultureller Erfahrungen‘ (Stierle) aufgefasst werden, gar als ‚Kulturmodell‘ fungieren (Lotman). Die Kultur kann offenbar ihrerseits Narrative entwickeln, die sich nicht als expliziter Textzusammenhang realisieren, sondern übergeordneten Formationsregeln unterliegen, die als Subtext strukturierend wirken.28 27

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Vgl. Gerhard Neumann: Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Ein Entwurf. In: Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung. Beiträge zur Identität der Germanistik. Hrsg. von Kathrin Stegbauer, Herfried Vögel, Michael Waltenberger. Berlin 2004, S. 131–160. Vgl. Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart/Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23). Die Entwicklung von Barthes Texttheorie zeigt eine immer stärkere Verankerung in einer Kulturtheorie. Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders. (Anm. 19), S. 102–143; Vgl. Eva Erdmann, Stefan Hesper: Roland Barthes’ Text(-Theorie) in der Enzyclopädia Universalis. In: Text – Welt. Karriere und Bedeutung einer grundlegenden Differenz. Hrsg. von Thomas Regehly u. a. Gießen 1993 (Parabel 16), S. 9–25; Gerhard Neumann: Literatur

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Gegenwärtig wird von „grands recits“ (Lyotard), von Metanarrativen (White), von „großen Erzählungen“ (Mergel), von „Meistererzählungen“ (Rexroth) oder von „kulturellen Narrativen“ (Müller-Funk) gesprochen.29 Der Terminus Narrativ bezieht sich mithin nicht nur auf den plot oder eine Gattungsstruktur, sondern auch auf eine übergeordnete Axiologie von Werten – z.B. Gut/Böse, Recht/Unrecht, Heil/Unheil, Leben/Tod, Transzendenz/Immanenz –, die hierarchisiert und verzeitlicht und dadurch zur Matrix für das Aushandeln kultureller Orientierung wird. Heuristisch sollen deshalb hier Narrative (Meistererzählungen, Erzählkerne), Gattungen und Erzählungen (Oberflächenrealisierungen) auseinander gehalten werden. Narrative sind auch nicht nur auf sprachliche Realisierungen begrenzt. So greift Wolfgang Müller-Funk die durch Paul Ricoeur im Anschluss an Augustinus postulierte Funktionsbestimmung der Erzählung als „Vergegenwärtigung des Vergangenen“ auf und überträgt sie auf ein Zukunftsnarrativ. Er fragt am Beispiel der Apokalypsedarstellung auf dem Genter Altar nach den spezifischen Möglichkeiten visueller Narrative. Im Unterschied zu sprachlich formatierten Erzählungen eröffnet das Bildmedium komplexere Optionen, um gleichzeitig unterschiedliche Zeitstrukturen darzustellen. Die Apokalypse als heilsgeschichtliche Wende, die ein ‚Danach‘ am Ende aller Zeiten bringt, wird auf dem Genter Altar mit anderen, auch gegenläufigen Zeitreihen korreliert. Im Bemühen, einerseits Ereignisse der Vergangenheit und der Geschichte insgesamt festzuhalten, sich zu erinnern und zu erzählen, andererseits anthropologische Gegebenheiten (Krankheit, Sterblichkeit u.a.) mit Sinn zu versehen, setzt das fundierende Gedächtnis der Vormoderne im genealogischen und mythischen Erzählen einen festen Haltepunkt in der Vergangenheit: Einen Ursprung, einen Mythos, der die klassische Erzählform mit dominanter Fixierung auf Anfang, Linearität und Kontinuität darstellt.30 Unterscheiden lassen sich etwa markierte Strategien der Fundierung und Verstetigung von Herrschaft: die Geburt des Heros, die Geschichte der Eltern, die Verlängerung in die Genealogie, schließlich ihre ultimative Fundierung im mythischen Ursprung.31

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als Ethnographie. Zum Konzept einer Semiologie der Kultur. In: Verhandlungen mit dem New Historicism: Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Jürg Glauser, Annegret Heitmann. Würzburg 1999, S. 23–48; Müller-Funk (Anm. 1), S. 51–62; Stierle (Anm. 1), S. 85–118; Lotman (Anm. 20); vgl. Jan-Dirk Müller: Imaginäre Ordnungen und literarische Imaginationen um 1200. In: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, S. 41–68; Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik. Hrsg. von JanDirk Müller. München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 64). Vgl. Mergel (Anm. 12), S. 41–77; Müller-Funk (Anm. 1), S. 270–273; Rexroth (Anm. 12). Vgl. André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 71999, S. 91–125; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1997; Kellner (Anm. 21), S. 104–127; Susanne Bürkle: Erzählen vom Ursprung: Mythos und kollektives Gedächtnis im ‚Annolied‘. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Udo Friedrich, Bruno Quast. Berlin 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 99–130. Zur biblischen Genesis als Anfangsgeschichte vgl. Michaela Bauks: Die Welt am Anfang. Zum Verhältnis von Vorwelt und Weltentstehung in Gen 1 und in der altorientalischen Literatur. Neu-

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Wolfgang Haubrichs befasst sich mit dem Ursprungsmythos der Langobarden, wie sie die Origo gens Langobardorum erzählt, die eigentlich weniger den Ursprung eines Volkes, als vielmehr den ihres Namens bietet. Im Laufe der Rezeption dieses kulturellen Narrativs, etwa bei Paulus Diaconus und Pseudo-Fredegar, memoriert die mythische Erzählung nicht einfach nur das Gründungsereignis, sie wird vielmehr einer komplexen kausalen Begründungslogik zugeführt. Die duale Struktur des Mythos, die sich sowohl auf der Ebene der Herrschaft, als auch der Geschlechterdifferenz und noch der Götterwelt manifestiert, erfährt eine Rationalisierung und Historisierung, die als Arbeit am Mythos aufgefasst werden kann. Der Beitrag von Gerd Althoff setzt sich mit den Anfängen bzw. Gründungsmythen mittelalterlicher Klöster und Adelsfamilien auseinander und betont – jenseits der Debatte von ‚Fakten und/oder Fiktionen‘ – den konstruierten Charakter der zumeist historiographisch überlieferten Erzählungen und Anekdoten. Gerade die Anfänge von Klöstern und Adelsfamilien, etwa der Welfen und ihres Leitnamens oder des Klosters Petershausen bei Konstanz, seien geprägt von „sinnstiftenden Erzählungen mit zielgerichteten Inhalten“. Pointiert wird, wie ein fehlendes gesichertes Wissen um Anfänge durch Übernahmen von Erzähltraditionen und wiederkehrenden Erzählmustern, wie etwa die Abstammung von Exilierten, ersetzt wird. Gerade Reflexionen über die Anfänge von Genealogien und Institutionen eigneten sich, „um aktuelle Problemlagen dadurch zu beeinflussen, dass man Aufgaben, Rechte und Ansprüche einer Einrichtung durch Gründer oder himmlische Mächte fixieren lässt und sie so überzeitlich verbindlich macht.“ Anekdoten und Gründungsmythen werden so zu Argumenten in aktuellen politischen Auseinandersetzungen. Das genealogische Erzählprogramm wird darüber hinaus auf die Ebene der kulturellen Rahmung ausgedehnt, in der Genealogie nicht nur als ‚Denkform‘, sondern auch als Metanarrativ mit eigenen Aktanten fungiert: z.B. die Genealogie von Herrschaft (Ninus) und Ständehierarchie (Noahs Söhne), von geistlichen und weltlichen Orden (Ursprung der Ritterschaft, des Adels), vom Ursprung der Sprachen und des Wissens. Sie alle ergeben die „Meistererzählung“ von ursprünglicher Ordnung einerseits, von Kontinuität und offenem Prozess andererseits. Der ‚Traum vom Ursprung‘, in dem die Ordnung der Dinge für alle Zukunft garantiert ist, reicht noch bis in das klassisch utopische Denken hinein. Wenn Michel Foucault zwei Typen von Utopien des Wissens unterscheidet, „Utopien des Ursprungs als Traum oder solche der Vollendung“, und sie der Vormoderne und der Moderne zuordnet, bezieht er kulturelle Ideale des Wissens nicht nur auf alternative Zeithorizonte (Anfang/Ende), sondern schreibt ihnen auch die spezifische Fähigkeit zu, Fabeln und Diskurse zu errichten, d.h. Wissensideale über narrative Orientierungen in der Zeit zu etablieren.32 Unter der Perspektive von Anfang und Ende

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kirchen 1997 (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 74); Thomas Hieke: Die Genealogien der Genesis. Freiburg 2003 (Herders Biblische Studien 39). Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt/Main 1974 (stw 96), S. 321; Rita Casale: Heterotopien statt Utopien. Michel Foucault als Kri-

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lässt sich der Sachverhalt reflektieren, dass die ‚Denkform der Genealogie‘ aus der kulturellen Wirkung heraus (vom Ende her, d.h. dem elitären Wertbewusstsein einer mittelalterlichen Gruppe, einer Sippe, eines Stammes, Reiches) erst die Ursache konstruiert. Kausalität und Finalität scheinen hier offensichtlich vertauscht.

II. Literarische Paradigmen von Anfang und Ende Im zweiten Teil dieses Bandes werden die Strukturierungsformen literarischer Erzählungen und Gattungen in den Blick genommen. Der kulturelle Horizont des Erzählens rückt hier insofern mit ins Zentrum, als die Erzählmuster nicht nur für sich, sondern auch in Relation zu anderen Mustern untersucht werden und dadurch ein kulturelles Profil gewinnen. Der vorliegende Band versucht daher, innerhalb der Literatur Typen der Markierung von Anfang und Ende herauszuarbeiten, die kulturspezifische Relevanz besitzen. Dies geschieht in zwei Richtungen, von denen die erste sich mit dem Problem des Anfangs beschäftigt: Anders als in den vorangegangenen Beiträgen werden hier jedoch die Brüche und Paradoxien innerhalb der mittelalterlichen Literatur, die Unverfügbarkeit des Anfangs sowie dessen Doppelungen und Verschiebungen diskutiert – bis dahin, dass das Ende als Figur des Anfangs erscheint, wie es beispielsweise in legendarischen Erzählungen der Fall ist. Der zweite Teilaspekt erfasst dagegen näher die Figur des Endes, und auch hier steht zum einen die Verklammerung des Endes mit dem Anfang im Mittelpunkt, überdies zyklische Verfahren sowie das Problem des Nicht-Endens. Als konzeptueller Ausgangspunkt für die Analyse mittelalterlicher Erzählformen bietet sich nicht zuletzt das Modell des „kulturellen Textes“ an, wie es Aleida und Jan Assmann formuliert haben.33 Gemeint sind damit „verbindliche Texte, die Werte und

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tiker der Utopien. In: Utopische Perspektiven. Hrsg. von Gisela Engel, Birgit Marx. Dettelbach 1998 (Forum für interdisziplinäre Forschung 18), S. 59–72, hier 63. Noch die politische Theorie ist durch diesen verdeckten Rousseauismus des „doppelten Einst“ geprägt: des verloren gegangenen Ursprungs und der fernen Utopie. Joseph Vogl: Einleitung. In: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Hrsg. von Dems. Frankfurt/Main 1994 (Edition Suhrkamp 1881; N.F. 881), S. 7–27, 8. Zu neuzeitlichen Anfangserzählungen und kulturellen Gründungsmythen vgl. Albrecht Koschorke: Vor der Gesellschaft. Das Anfangsproblem der Anthropologie. In: Urmensch und Wissenschaften. Eine Bestandsaufnahme. Hrsg. von Bernhard Kleeberg u. a. Darmstadt 2005, S. 245–258; Ders.: Zur Logik kultureller Gründungserzählungen. In: Zeitschrift für Ideengeschichte I/2 (2007), S. 5–12; Ders.: Götterzeichen und Gründungsverbrechen. Die zwei Anfänge des Staates. In: Neue Rundschau 115 (2004), S. 40–55; Ders.: System. Die Ästhetik und das Anfangsproblem. In: Grenzwerte des Ästhetischen. Hrsg. von Robert Stockhammer. Frankfurt/ Main 2002 (stw 1602), S. 146–163. Vgl. Am Anfang war… Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne. Hrsg. von Inka Mülder-Bach, Eckhard Schumacher. München 2008. Aleida Assmann: Was sind kulturelle Texte? In: Literaturkanon – Medienereignis – Kulturelle Texte. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung. Hrsg. von Andreas Poltermann. Berlin 1995 (Göttinger Beiträge zur internationalen Übersetzungsforschung 10), S. 232–244; Jan

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Normen einer Gemeinschaft vermitteln und kollektive Identität stabilisieren“.34 Für das Mittelalter kann unstreitig der Bibel ein solcher Status zuerkannt werden: Die Bibel fungiert als konkreter kultureller Text, der elementare Sinnstrukturen und Darstellungsmuster sowie den geschichtsphilosophischen Rahmen vorgibt und damit der volkssprachigen Erzählliteratur Muster zur Verfügung stellt. Sie verbindet aber auch schon Narrative mit anthropologischen, genealogischen und geschichtsphilosophischen Konzepten. Die Bibel als ‚heilige Schrift‘ stiftet zentrale Werterelationen, Narrative, Topoi, Metaphern und Praktiken der Modellierung von Zeit- und Kontingenzerfahrung. Weite Teile mittelalterlichen Erzählens adaptieren diese Muster, selegieren, variieren, kombinieren sie und strukturieren sie um, passen sie in tradierte und konkurrierende Sinn- und Erzählstrukturen ein und entwickeln sie weiter. Als Metanarrativ schlägt sich die Bibel unzweifelhaft in den Texten der Hagiographie und der Mystik nieder, mit denen sich die Beiträge von Christian Kiening, Bruno Quast und Andreas Hammer exemplarisch befassen, sie ist als kultureller Text jedoch auch für nicht-religiöse Erzählungen von Bedeutung, wie nicht zuletzt die Beiträge von Christiane Witthöft und Udo Friedrich zeigen. Auch wenn die Bibel in Status und Wirkungsgeschichte singulär ist, haben auch andere kulturelle Texte epochenübergreifend gewirkt und dementsprechend andere kulturelle Muster freigesetzt: etwa Vergils Aeneis und in deren Rezeption das ‚TrojaNarrativ‘ (Vertreibung – Neuanfang – Heimkehr). Die Herleitung der eigenen Herkunft von den Trojanern nach dem Vorbild Roms hat nicht nur die mittelalterliche Historiographie (z.B. Geoffrey of Monmouth) stark gemacht, auch in literarischen Modellen (Trojaroman) wird sie immer wieder aufgegriffen, vor allem im Spätmittelalter wird dieses Narrativ dann von zahlreichen europäischen Stadtgründungsmythen verwendet.35 Unter dieser Perspektive wird die Konkurrenz christlicher Narrative mit Narrativen (Meistererzählungen, Gattungsmustern, Erzählkernen) älterer oder paralleler Kulturen virulent. Denn das zugrundeliegende Frageinteresse fokussiert ja gerade auf Gemeinsamkeiten und Differenzen in der Modellierung von Anfang und Ende in antiken (Ilias, Aeneis, Alexanderroman), keltischen (‚Feenmärchen‘, Immrama) oder germanischen (Jordanes, Beowulf, Hildebrandslied, Edda, Nibelungenlied) Narrativen sowie auf deren Relationen zu genuin christlichen und damit verbundenen kulturellen Einstellungen. So beschäftigen sich die Beiträge von Andrew Johnston und Hartmut Bleumer mit dezidiert nordisch-germanischen Bezugsetzungen auf Anfang und Ende. Während die Ori-

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Assmann: Kulturelle Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Ebd., S. 270–292. Günter Oesterle: Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung. Göttingen 2005 (Formen der Erinnerung 26), S. 187. Vgl. Garber (Anm. 21); Graus (Anm. 21), S. 25–43, bes. 32–35; Gerd Melville: Troja: Die integrative Wiege europäischer Mächte im ausgehenden Mittelalter. In: Europa 1500. Integrationsprozesse im Widerstreit: Staaten, Religionen, Personenverbände, Christenheit. Hrsg. von Ferdinand Seibt, Winfried Eberhard. Stuttgart 1987, S. 415–432.

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go gentis Langobardorum als Ursprungserzählung vom Anfang der Langobarden immer stärker in einen christlichen Welt- und Wertehorizont gerückt wird und damit auch einen direkten historischen Bezugspunkt sucht, setzen sich Beowulf und Edda auf literarische Weise mit den kulturellen Narrativen der nordischen Erzählwelt auseinander. Andrew Johnston kann anhand verschiedener Episoden des altenglischen Beowulf zeigen, dass eine Trennung von Anfang und Ende dort immer wieder unterlaufen wird, sei es am eigentlichen Beginn des Epos, der von der Herkunft des Dänenkönigs Scyld Scefing berichtet, oder bei der Deutung des Schwertgriffes, den Beowulf nach seinem endgültigen Sieg über das Ungeheuer Grendel Hrothgar überreicht: Immer wieder sorgen Kontinuitätsbrüche für (Neu-)Anfänge, die die Unmöglichkeit eines absoluten Anfangspunktes markieren: „Das Narrativ vom Ursprung verdankt sich einer eher epistemologischen Problematik und nicht so sehr dem Telos einer Historie“. Besonders deutlich kann Johnston diese „Dialektik von Kontinuitätsbruch und Kontinuität“ am christliche Anfangs-Narrative zitierenden Schöpfungsgesang des scop herausstellen, den er mit Caedmons Hymnus kontrastiert. Der Schöpfungsgesang des Beowulf konstituiert eine „poetische Gegengeschichte“ zur altenglischen Literatur, die gegenüber dem Modell von Diskontinuität in Caedmons Hymnus ein Konzept von Kontinuität paganer und christlicher Traditionen inszeniert. Demgegenüber problematisiert der Beitrag von Hartmut Bleumer, inwiefern der Anfang einer Erzählung eigentlich als das Zentrum der Narration anzusehen ist. Ausgehend von den Weisheitsliedern der Jüngeren Edda, in denen die Problematik des Anfangs vom Anfang narrativ entfaltet wird, stellt er für das Nibelungenlied ein eigenes Zeitkonzept mit einem doppelten Anfang fest. Siegfried ist, so arbeitet Bleumer heraus, eine aktantielle Figur ohne Axiologie; das scheinbare Paradox, dass der Anfang der Geschichte erst mit dem Tod, dem Ende des Helden, gegeben ist, resultiere eben aus Siegfrieds fehlender Axiologie: Denn ohne die Unterscheidung aktantieller Werte und axiologischer Setzungen ist es nicht möglich, eine Geschichte zu erzählen. Siegfrieds Tod wäre dann „geradezu als Ort einer Systemumstellung von einer primär aktantiellen (metaphorischen) zu einer primär axiologischen (metonymisch) narrativen Semantik anzusehen“, dessen „metaphorische Färbung“ von da an auf den weiteren Erzählverlauf ausgreift. Erzählungen vom Anfang sind vor allem Erzählungen für die Gegenwart. Sie legitimieren und stabilisieren Konzeptionen von Religion und Ritual, von Nationalität und Genealogie, von Macht und Gewalt. Ursprungserzählungen begründen und legitimieren die gegenwärtigen Verhältnisse narrativ, der so gesetzte Anfang ist jedoch stets einer zeitlichen Ambiguität ausgesetzt: Einerseits muss der Anfang in eine weit entfernte, ja bisweilen geradezu mythische Vergangenheit zurückreichen, um von da aus seine begründende Funktion ableiten zu können, andererseits darf die Anbindung an die Gegenwart nicht verloren gehen. Dies stellt nicht zuletzt die Unverfügbarkeit derartiger Anfänge in der Vergangenheit heraus, zugleich jedoch deren Verfügbarmachung für die

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Gegenwart – eine Paradoxie, die vor allem narrativ, durch die Erzählung, überbrückt wird. Derartige Ambivalenzen zeigt Christian Kiening in seinem Beitrag zu den Zeitparadoxien der göttlich-menschlichen Anfänge im Fließenden Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg. Ausgehend von Überlegungen zur Zeitlichkeit in alt- und neutestamentarischen Narrativen, problematisiert er Aspekte spezifisch anthropologischer und historiographischer Zeitlichkeit und thematisiert eben jene Unverfügbarkeit der Anfänge, die umso deutlicher bei Erzählungen von absoluten Anfängen aufscheint, die von der Entstehung der Welt als solche berichten. In den Überlegungen zu einer Gleichzeitigkeit der Abgeschlossenheit des Buches und der Offenheit seines Vollzuges im Medium der Schrift offenbart sich bei Mechthild, so Kiening, eine Spannung zwischen menschlicher und göttlicher Schriftlichkeit. Nicht zuletzt im Aufbau der Einsiedler Handschrift des Fließenden Lichts „kommt es zu Verknüpfungen sowohl auf der Ebene der Zeitlichkeit wie derjenigen der Textualität“. Die Anfänge jedoch sind gebunden an die mystische Schau des Subjekts und müssen daher immer wieder erneuert werden, ihre Unverfügbarkeit wird verfügbar gemacht nur in der Vision und letztlich dann auch im Medium der Schrift. Auch der Beitrag von Bruno Quast beschäftigt sich mit der mystischen Perspektive auf den Anfang, näher mit den erzählten Anfängen in der Vita Heinrich Seuses, die er als Dekonstruktion einer Aufstiegsbiographie liest. In der Vita stellt er verschiedene Konfigurationen des Anfangs fest, der Anfang wird in sich wiederholende Anfänge sequenzialisiert. Die Argumentation bezieht sich u.a. auf die Anfänge des mystischen Weges (der Weg des anfangenden Menschen und der Weg des fortschreitenden Menschen) und die mutterschaftsmystischen Bilder, die auf besondere Weise in der ‚Handreichung‘ Seuses für Elsbeth Stagel aufgegriffen werden. Insbesondere die Bilder sollen in diesem Teil des Werkes ‚ausgetrieben‘ werden, es findet eine ‚Entbildlichung‘ statt, die zu einer „Pluralisierung der Autorisierung“ und einer „Pluralisierung des Anfangs“ führt. Nicht verdoppelte, sondern immer neu verschobene Anfänge charakterisieren die Erzählstrategien hagiographischer Texte, welche vornehmlich auf das Ende ihrer heiligen Protagonisten fokussiert sind. Dies kann der Beitrag von Andreas Hammer insbesondere an der finalen Handlungskonstitution von Märtyrerlegenden aufzeigen, in denen der Tod der Heiligen im Mittelpunkt steht. Indem der Märtyrertod jedoch in der imitatio Christi erfolgt, der christliche Kreuzestod aber ein Ende darstellt, das für sich einen neuen Anfang konstituiert, nämlich die Erlösung des sündigen Menschen und das Heilsversprechen des ewigen Paradieses, wird der Tod nicht als Ende, sondern als neuer, als eigentlicher Anfang betrachtet (wie ja auch der Todestag des Heiligen in der Liturgie als ‚eigentlicher‘ Geburtstag des Heiligen gefeiert wird). Entgegen der aristotelischen Poetik stellt in der Legende das Ende gerade „eine Funktion des Anfangs dar“. Dieser Umstand zeigt sich (wenn auch variiert) gleichermaßen in der Narrativität von Bekennerlegenden, deren Erzählung z.T. zu überhaupt keinem Ende mehr gelangt, ja

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sogar (mit umgekehrten Vorzeichen) in sog. ‚Anti-Legenden‘, denen Hammer ein „endloses Ende“ zuspricht. Damit ist nicht nur die Blickrichtung auf das Ende geöffnet, sondern auch auf die Zyklik, die Kreisfigur, denn die nach dem liturgischen Jahreskreis geordneten Legendare (z.B. Legenda aurea) bilden eine Kreisbewegung ab, die am Ende des Kirchenjahres immer wieder zum Anfang (dem Advent) zurückkehrt und somit „Geschichte in Heilsgeschichte, Zeit in Zeitlosigkeit überführt“ (Hammer). Das Ende und die Kreisbewegung aber sind Figuren, die einen weiteren Teilaspekt der literarischen Paradigmen von Anfang und Ende aufzeigen und im dritten Teil des Bandes thematisiert werden.

III. Ende und Nichtenden: Zyklik, Finalität Narratologisch stecken Anfang und Ende den Rahmen von einzelnen Erzählfunktionen, von so genannten „Kardinalfunktionen“ (Barthes), ab, die die Handlung zu einer Alternative (Spannung) öffnen, die ihrerseits wieder geschlossen werden muss.36 Im Gegensatz zu einer linear auf ein Ende ausgerichteten Erzählsequenz stellt sich die Relationierung von Anfang und Ende in Darstellungsformen mit spezifischer Wiederholungsstruktur immer wieder neu. Ihre Sinnfiguren sind gleichfalls kulturell determiniert, etwa durch die Wiederholungsstruktur des mythischen, des typologischen oder des rhetorisch-exemplarischen Erzählens.37 Solche Operationen der Verkettung können semantisch ganz unterschiedlich codiert werden: als Krise und Suche, als zyklische Wiederholung, als Konversion und ritualisierte Lebenspraxis, als liminale Übergänge oder als narrativ gedehnte Annäherung an ein Ideal. Übergänge implizieren ein Ende und einen neuen Anfang: z.B vom Knaben zum Mann (Jugendgeschichten) oder der Wechsel in der Herrschaft (Parzival). Liminalität modelliert hier eine Zeit zwischen den Zeiten.38 36 37

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Vgl. Barthes (Anm. 28), S. 109–116. „Was sich geschichtlich ereignet hat, ist seinem Charakter nach nicht einmalig, sondern wiederkehrend.“ Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. Zur Pragmatik und Poetik narrativer Texte. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel. München 1973 (Poetik und Hermeneutik 5), S. 347–375, hier 357. „Sobald die Geschichte als bekannt vorausgesetzt werden kann, wie dies bei traditionsreichen, uns vertrauten Geschichten und bei Chroniken, die von gemeinschaftsstiftenden Ereignissen berichten, der Fall ist, wird aus der Kunst des Erzählens die Kunst des Wiederholens.“ Ricoeur (Anm. 1), S. 61. Vgl. Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna Vitrea 16), S. 128–142. Vgl. Jan-Dirk Müller: Jahreszeitenrhythmus als Kunstprinzip. In: Rhythmus und Saisonalität. Hrsg. von Peter Dilg u.a. Sigmaringen 1995, S. 29–47; Albrecht Graf Finck von Finkenstein: Festrhythmus, Jahreszeitenrhythmus und Lebensrhythmus im Mittelalter. In: Anknüpfungen. Kulturgeschichte – Landesgeschichte – Zeitgeschichte. Gedenkschrift für Peter Hüttenberger. Hrsg. von Volker Ackermann. Koblenz 1995 (Düsseldorfer Schriften zur neueren Landesgeschichte und zur

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Vor allem die christlich-anthropologische Betrachtung der Zeitproblematik erfolgt in unterschiedlichen Modellierungen von Anfang und Ende, die an der Metapher des Weges ausgerichtet sind.39 Neben dem Vertrauen auf das Gericht am Ende des Lebensweges steht das permanente Eingedenken des Endes (memento mori) während der Wanderung: „Wir sterben während wir leben, und wir hören nur dann zu sterben auf, wenn wir aufhören zu leben“ (Innozenz III.).40 Der ständigen Präsenz des Endes korrespondiert eine Sehnsucht nach dem Anfang, das Leben des Christen kommt einer Suche in der Fremde gleich: „zum christlichen Leben gehört, unterwegs, auf der Suche, in Gefahr zu sein.“41 Das Ziel bleibt hier stets der Anfang: Die Umkehrstruktur der Legende (conversio), die Heimkehr als Heilsfigur (Paradies) oder die Rückkehr zum Anfang durch die asketische Haltung des Anachoreten spiegeln die Sehnsucht nach dem Anfang in einem Prozess ohne definitives Ende. Der Finalität des Lebens als elementarste Unterbrechung von Kontinuität kann offenbar über verschiedene narrative Strategien gegengearbeitet werden. In diesen Fragekontext fügt sich der gemeinsame Beitrag von Susanne Baumgartner und Beate Kellner ein, der sich mit den besonderen Erzählformen der Zeitlichkeit des Nichtendens, der Zeit- und Endlosigkeit im Minnesang auseinandersetzt. Gerade durch die Tabuisierung jeglicher Verfallsprozesse, eines möglicherweise endenden Minnedienstes oder einer alternden Minnedame etc., ist die Werbung des Minnenden auf die Endlosigkeit ausgerichtet (st#te). In der Zeitmodellierung der Minnekonzeption, in der Freude und Leid zyklisch gegliedert sind, kann es daher „keinen Fortschritt geben […], sondern nur die Wiederholung der gleichen Affektkonstellation“. In den Imaginationen des Minners aber, so die grundlegende These in Auseinandersetzung mit Walthers von der Vogelweide Si wunderwol gemachet wîp, „wird eine Dynamik in der Minnebeziehung deutlich, eine Annäherung und Entwicklung, welche die Statik der Hohen Minne

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Geschichte Nordrhein-Westfalens 39), S. 73–80; Klaus Grubmüller: Meistererzählungen für die Literaturgeschichte. In: Rexroth (Anm. 12), S. 57–68. Der Weg wird etwa bei Augustinus zur Metapher, er wird enträumlicht und in gewisser Weise auf seine zeitliche Dimension, auf das Leben, fokussiert: „Quam purgationem quasi ambulationem quandam et quasi navigationem ad patriam esse arbitremur. Non enim ad eum, qui ubique praesens est, locis mouemur, sed bono studio bonisque moribus.” Sancti Avrelii Augustini De doctrina Christiana. Tvrnholti 1962 (CCSL XXX, 4,1), I,X,10. („Wir wollen annehmen, daß diese Reinigung sozusagen eine Wanderung und gleichsam eine Schiffahrt in die Heimat ist. Denn zu ihm, der überall gegenwärtig ist, bewegen wir uns nicht durch räumliche Dimensionen, sondern durch gutes Bemühen und gute Sitten.“ Augustinus: Die christliche Bildung. Übers. v. Karla Pollmann. Stuttgart 2002 [RUB 18165], Erstes Buch, X,10, 22). Lotario Segni (Papst Innozenz III.): Vom Elend des menschlichen Daseins. Aus dem Lateinischen übersetzt und eingeleitet von Carl-Friedrich Geyer, Hildesheim u. a. 1990 (Philosophische Texte und Studien 24), S. 60. Lotharii Cardinalis (Innocentii III), De Miseria Humanae Conditionis, ed. M. Maccarone, Lucca 1955. Max Wehrli: Iweins Erwachen. In: Geschichte, Deutung, Kritik. Literaturwissenschaftliche Beiträge, dargebracht zum 65. Geburtstag Werner Kohlschmidts. Hrsg. von Maria Bindschedler, Paul Zinsli. Bern 1969, S. 64–78, hier 72.

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gerade unterläuft“. Neben den Zeitmodellierungen von Statik und Dynamik werden in dem Beitrag auch poetologische Aspekte zum ursprünglichen Entstehungsprozess des Sanges in Analogie zum Schöpfungsmythos des Pygmalion aufgezeigt und sowohl Abweichungen von der Ewigkeitskonzeption der minne als auch inhärente Paradoxien einer vermeintlichen Endlichkeit in Walthers Alterston pointiert. Die Situierung der Handlung in Räumen der Zeitlosigkeit kann auf Enklaven der zyklischen Zeit begrenzt sein (Blumenmädchen-Episode, Lanzelets Zelt, Schiefdeire, Minnegrotte, Gralspalast etc.), sie kann aber auch ganze Gattungen betreffen, wie die Abenteuerzeit des Artusromans oder die präsente Heilsgeschichte in der Legende. Volker Mertens arbeitet anhand des Erec Chretiéns de Troyes spezifische Formen vormoderner Narrativität heraus: Da man grundsätzlich von einer Unabschließbarkeit des Artusmodells ausgehen müsse, kennzeichneten commencier und finir das Ende der Geschichte in besonderer Weise. Im Erec stünden die Haupthandlung und das abschließende Joie de la curt-Abenteuer in einem paradigmatischen Verhältnis zueinander und offerierten somit offene Schlüsse; eine Erzählung müsse allerdings syntagmatisch verknüpft sein. Beide ‚Zellen‘ seien in sich abgeschlossen, generierten aber Narration; das paradigmatische Erzählen in solchen Zellen werde im Artusroman mit einer syntagmatischen Erzählung im Doppelweg vereint. Auf die Überwindung der begrenzten Lebenszeit zielen auch die Verstetigungspraktiken der mittelalterlichen Erinnerungskultur.42 Sie entwerfen Praktiken der Verewigung wie das Gebetsgedenken oder der Sicherung des Namens mittels Ruhm, der in Grabmonumenten oder Liedern bewahrt und erinnert wird.43 Der Beitrag von Christiane Witthöft befasst sich mit den finalen Erzählfiguren und Erzählverfahren im Untergangsgeschehen des Prosalancelot. In einem Werk, in dem Romanende und Weltenende in eins gesetzt werden, markieren zahlreiche Grabinschriften das biographische Ende. Es wird hinterfragt, inwiefern Grabinschriften als besondere Schriftform im Bewusstsein von Endlichkeit und zugleich als Praktiken der Verstetigung zu verstehen sind. In der Finalität der Katastrophenerzählung sichern sie die memoria einzelner Pro42

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Vgl. die Sammelbände: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. Hrsg. von Karl Schmid, Joachim Wollasch. München 1984 (Münstersche MittelalterSchriften 48); Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters. Hrsg. von Otto Gerhard Oexle, Dieter Geuenich. Göttingen 1994 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 111); sowie Gerd Althoff: Adels- und Königsfamilien im Spiegel ihrer Memorialüberlieferung. Studien zum Totengedenken der Billunger und Ottonen. München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 47). Vgl. zur Entwicklung der Epitaphe Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München 21985, bes. S. 260ff.; Sebastian Scholz: Totengedenken in mittelalterlichen Grabinschriften vom 5. bis zum 15. Jahrhundert. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 26 (1999), S. 37–59, 37; Fidel Rädle: Literarische Typik und historischer Einzelfall in den lateinischen Epitaphien. In: Vom Quellenwert der Inschriften. Vorträge und Berichte der Fachtagung Esslingen 1990. Hrsg. von Renate Neumüllers-Klauser. Heidelberg 1992, S. 239–251; Karl Siegfried Guthke: Sprechende Steine. Eine Kulturgeschichte der Grabschrift. Göttingen 2006.

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tagonisten und problematisieren zugleich das Medium der Schrift in seiner Funktion als wahrheitssetzender Instanz. Udo Friedrich beschreibt am Beispiel der Ebstorfer Weltkarte sowie legendarischer und höfischer Erzählungen die Relation von linearen und zirkulären Erzählverläufen. Das heilsgeschichtliche Narrativ, das das Ende auf den Anfang zurückführt, prägt nicht nur mittelalterliche Karten und die Struktur der Brandanlegende. Sein Motivarsenal kann auch in den Artusroman eingehen. Im Erec nimmt Hartmann das heilsgeschichtliche Narrativ und Motivarsenal auf und macht es über Umbesetzungen und metaphorische Operationen literarisch produktiv. Die einzelnen Fallstudien des Bandes widmen sich je spezifischen Aspekten der Zeitmodellierung und arbeiten in ihrer Gesamtschau ein komplexes Funktionsspektrum von Anfang und Ende heraus. Erzählen erweist sich als Sinnbildungsprozess, der über rein narratologische Relationierungen hinausweist und immer auch anthropologische und kulturelle Faktoren miteinbezieht. Erzählungen rekurrieren auf ein Bild von Geschichte, auf übergeordnete Narrative, die sie stabilisieren, die aber auch kritisch hinterfragt und umgeformt werden können. Im historischen Prozess sind hier vielfältige Umbesetzungen und Funktionsänderungen beobachtbar. Erzählungen artikulieren sich auch in unterschiedlichen Medien mit ihren je eigenen Optionen der Zeitmodellierung; sie können im Kontext performativer Handlungen stehen und in Relation zu deren Zeithorizonten paradoxale Effekte bewirken. Anfang und Ende erweisen sich mithin nicht als feste Größen, sondern als ein komplexes zeitliches Relationsgefüge, das es erlaubt, Ereignisse in multiple und flexible Zeithorizonte einzubetten, ihnen einen festen Ort in einer Ordnung zu verleihen, sie aber auch durch künstliche Zeitarrangements zu dynamisieren und der Reflexion zu überantworten.

I. Narration und Kultur

Renate Schlesier

ΑΡΧΗ: Anfang als Ursprungs- und Herrschaftskonzept Zu religiösen und literarischen Aspekten des Archaischen in der griechischen Antike

Es war einmal eine Religionswissenschaft, die in allen Religionen die – zumindest rudimentäre – Vorstellung eines transzendenten ersten Ursprungs der Welt und des Menschen finden zu können glaubte. Die Begründer der Disziplin im 19. Jahrhundert, christliche Theologen, für die allein das Christentum eine Religion sui generis sein konnte, bemühten sich darum, ähnlich wie viele ihrer Nachfolger bis heute, das Skandalon vorchristlicher und nicht-christlicher Religionen zwar nicht mehr mit Feuer und Schwert zu bekämpfen, aber immerhin theoretisch abzuschwächen, dadurch dass solche nicht zu leugnenden Phänomene als Vorstufen und Analogien zum Christentum komparatistisch in ihre Grenzen verwiesen wurden.1 Grundlage dafür war die Auffassung eines alleinigen Schöpfergottes, aus dessen Vollmacht der Ursprung der Welt entstanden sei, und die Überzeugung, dass eine Religion ohne eine solche Auffassung als defizitär einzuschätzen wäre. Für die Entstehungsgeschichte des Christentums ist nun von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass es zunächst primär durch die griechische Sprache geprägt war, durch die ins Griechische übersetzte hebräische Bibel, die Septuaginta, und durch das auf griechisch, in der lingua franca des römischen Imperiums verfasste ,Neue Testament‘. Diese Sprache zeichnete sich aber dadurch aus, dass in ihrem Wortgebrauch und in den von ihm zum Ausdruck gebrachten Denkweisen die Vorstellung eines Schöpfergottes bis dato nicht zu finden war.2 Anders steht es hingegen um den Begriff des Anfangs. „Im Anfang“, ejn ajrch/,Ö ist die Formulierung, mit der die jüdischen Bibelübersetzer das erste Wort der hebräischen Bibel, bereschit, wiedergegeben hatten. Indem dieser 1

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Zur Entwicklung des Universitätsfachs vgl. Burkhard Gladigow: Religionswissenschaft. Historisches, Systematisches und Aktuelles zum Stand der Disziplin (zuerst 1996). In: Religionswissenschaft als Kulturwissenschaft. Hrsg. von Christoph Auffarth, Jörg Rüpke. Stuttgart 2005 (Religionswissenschaft heute 1), S. 40–50. Auch Hesiods und Aischylos’ Prometheus oder Platons ,Demiurg‘ sind nicht als Schöpfergott im jüdisch-christlichen Sinne konzipiert.

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Anfang jedoch im biblischen Text sogleich auf die göttliche Schöpfungstat bezogen wird („Im Anfang machte der Gott den Himmel und die Erde“: ejn ajrch/Ö ejpoivhsen oJ qeo;" to;n; oujrano;n kai; th;n ghÖn),3 wurde es möglich, die Idee von einem nicht weiter hintergehbaren, göttlich-personal bestimmten, absoluten Uranfang, einem transzendenten Kreationsakt, zu fundieren, die dem Wort ajrchv in der griechischsprachigen Tradition zuvor indessen keineswegs zugeschrieben worden war. In dieser Tradition ist das Wort ajrchv von Anfang an, seit den homerischen und hesiodischen Epen, den im 8. oder frühen 7. Jahrhundert v. Chr. entstandenen, ältesten Zeugnissen griechischer Sprache, präsent. Niemals bezeichnet es etwas Absolutes, aber immer wird es zum Zwecke einer finalen oder kausalen Erklärung verwendet, im Sinne von ,Anfang‘ oder ,Ursache‘ einer bestimmten Situation: Der trojanische Königssohn Alexandros (bekannter unter dem Namen Paris), so heißt es im 3. Gesang der homerischen Ilias (V. 100), war selbst die ajrchv, die „Ursache“, für den Streit mit dem griechischen Fürsten Menelaos, da er ihm dessen Gattin, die schöne Helena, entführte. Die Aufstellung der Waffen im Haus des Odysseus durch die Göttin Athene, so die Formulierung im 21. Gesang der homerischen Odyssee (V. 4), bildete die ajrchv, den „Anfang“ des Mordes an den Freiern von Odysseus’ Gattin Penelope. Bereits diese Beispiele zeigen, wie nahe es lag, durch den Gebrauch des Wortes ajrchv den Gedanken eines (zeitlichen und sachlichen) Anfangs mit dem einer (zeitlichen und sachlichen) Ursache zu verbinden, wenn nicht gar damit gleichzusetzen – ohne dabei jedoch auf die Referenz eines absolut gesetzten Ursprungs oder Prinzips angewiesen zu sein.4 Eine ähnlich situativ bestimmte, aber anders nuancierte Gedankenverbindung kennzeichnet nun erstaunlicherweise das ebenfalls schon vielfach bei Homer belegte Verbum ajrceiÖn, von dem das Substantiv ajrchv abgeleitet ist. Alle Wortverwendungen dieses Verbs akzentuieren die Priorität eines aktivischen Zustands oder einer Tätigkeit: ajrceiÖn bedeutet, der erste zu sein, und zwar in dreierlei Hinsicht; nicht allein der Zeit nach, also: etwas zuerst tun, früher als andere tun, etwas beginnen oder anfangen, sondern auch dem Raum nach, also: an erster Stelle gehen, vorangehen, anführen, und nicht zuletzt: dem Rang oder der Macht nach, also: befehligen, gebieten, herrschen. An die Stelle einer eher objektiven Ursache tritt demnach hier die einer subjektiven Voraussetzung: Die maßgebliche Gedankenverbindung ist diejenige zwischen einer zeitlich oder räumlich prioritären Handlung und einer sachlichen Vorrangstellung, ja Machtposition. Substantivisch schlägt sich diese Gedankenverbindung im Begriff des ajrcov", des Anführers und Fürsten, nieder, in der nachhomerischen Überlieferung dann auch in der Verwendung von ajrchv im Sinne von Herrschaft (allerdings erst seit dem Hymnendichter Pindar, der von einer auf das Diesseits beschränkten „Herrschaft des Zeus“ spricht, Ol. 2, 58, und den Tragödiendichtern des 5. Jahrhunderts v. Chr., auf die ich im Hauptteil dieses Aufsatzes noch ausführlich eingehen werde). 3 4

Genesis, 1, 1. Die Idee eines absolut gesetzten Ursprungs oder Prinzips: zuerst in der vorsokratischen Philosophie, bei Anaximander, fr. B 1 Diels-Kranz.

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Der erste griechische Epiker, der in seinem Werk seinen eigenen Namen nennt, Hesiod, hat der Bedeutung ,Anfang‘ des Wortes ajrchv noch eine weitere, eine spezifisch poetische Nuance verliehen. Man hat in ihm oft einen Vorläufer der philosophischen Vorstellung von einem Uranfang der Welt sehen wollen,5 da er in seiner Theogonie (V. 115) die Musen darum bittet, ihm alles über die Götter „von Anfang an“, zu sagen. Doch es ist ganz unwahrscheinlich, dass es sich hierbei um die Behauptung eines realen Uranfangs handelt. Vielmehr geht es offenbar um eine poetische Fiktion. Denn derselbe Ausdruck, ejx ajrchÖ", bezeichnet im Text zuvor (V. 45) einen anderen, späteren Anfang, der zeitlich nach dem ersten Götterpaar der hesiodischen Darstellung, der Erdgöttin Gaia und dem Himmelsgott Uranos, angesiedelt ist, einen neuen Anfang, von dem Hesiod die Musen singen lässt und den die Nachkommen dieses Paares repräsentieren. Und er selbst setzt gleich zu Beginn seines Werkes einen weiteren, einen spezifisch künstlerischen Anfang: Er nimmt sich ausdrücklich die Freiheit, sein Epos mit den Musen „anzufangen“ (Mousavwn @Elikwniavdwn ajrcwvmeq! ajeivdein, V. 1). Der Gedanke eines ,von Anfang an‘ wird also von Hesiod ausdrücklich vervielfältigt und zu einer variablen Befugnis des Dichters gemacht, analog zu derjenigen der Musen, denen der Dichter seine Sprachkunst leiht, nachdem er nicht etwa diese selbst, sondern nur deren Organ, seine Stimme, von ihnen empfangen hat.6 Dass ajrchv, der Anfang, etwas ist, dessen zeitliche Lokalisierung sich einer eindeutigen Festlegung entzieht und keineswegs einen klar oder gar absolut zu bestimmenden, nicht weiter hintergehbaren Ursprung bezeichnet, sondern allenfalls eine unbestimmte Stelle inmitten eines Zeitablaufs fixiert, der bereits vor diesem artifiziellen Anfangspunkt eine Vergangenheit besitzt, ist ein Gedanke, der sich bereits bei Homer findet. Und hier kommt eine Bedeutungsnuance ins Spiel, auf die ich im Folgenden näher eingehen möchte: die Verwendung von ,anfänglich‘ im Sinne von ,alt‘, oder auch: ,traditionell‘. Die von Hesiod in situativem Sinne gebrauchte Formulierung ejx ajrchÖ" begegnet nämlich bereits in der homerischen Odyssee (1, 188; vgl. 2, 254), dort jedoch mit der zeitlich ganz vage bleibenden Bedeutung ,von altersher‘. Diese semantische Nuance manifestiert sich dann seit dem 5. Jahrhundert v. Chr., vor allem innerhalb der Tragödiengattung, am ausgeprägtesten in dem Adjektiv ajrcaiÖo", ,alt‘, ,anfänglich‘, ,zur Herrschaft gehörig‘. Welche Reflexionsmodi des Anfangs die attischen Tragödiendichter diesem Eigenschaftswort abgewonnen haben, soll jetzt ausführlich zur Sprache kom5 6

Zur Kritik daran vgl. Christopher J. Rowe: ,Archaic Thought‘ in Hesiod. In: Journal of Hellenic Studies 103 (1983), S. 124–135. Vgl. Renate Schlesier: Künstlerische Kreation und religiöse Erfahrung – Verwendungsgeschichtliche Anmerkungen zum Begriff der Inspiration. In: Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Epistemische, ästhetische und religiöse Formen von Erfahrung im Vergleich. Hrsg. von Gert Mattenklott. Hamburg 2004 (Sonderheft 2004 der Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft), S. 177–194, hier 184–186; vgl. auch Renate Schlesier: Les Muses dans le prologue de la ‚Théogonie‘ d’Hésiode. In: Revue de l’Histoire des Religions 199/2 (1982), S. 131–167.

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men. Und dabei wird deutlich werden, dass „archaisch“ im Griechischen nicht einfach ursprünglich „ursprünglich“ meint.7 Vielmehr konnte das Wort alle semantischen Komponenten aufnehmen, die ajrchv von den früheren Dichtern eingeschrieben worden waren, und wurde zugleich von den Tragikern zu einem begrifflichen Instrument aufklärerischer Religions- und Gesellschaftskritik umgeformt, das erlaubte, Zeitliches und Kulturelles ohne Fortschrittsgläubigkeit oder Dekadenzdenken analytisch aufeinander zu beziehen.

I. Das Adjektiv archaios bei den attischen Tragikern Die antike griechische Sprache verfügte über drei Adjektive, die eine Person oder eine Sache als ,alt‘ bezeichnen und dennoch nicht als Synonyme angesehen werden können: palaiov", geraiov" (bzw. ghraiov") sowie ajrcaiÖo". Dass diese Qualifikationen bis in die modernen Sprachen weiterwirken, zeigt sich etwa an Substantiven wie Paläolithikum, Gerontologie oder Archaik. Im Unterschied zu palaiov" und geraiov", die bereits in den homerischen Epen gebraucht werden, ist ajrcaiÖo" jedoch nicht ein ganz altes, von Anfang an in der Überlieferung begegnendes Adjektiv. Es taucht vergleichsweise spät zum ersten Mal auf. Bei Homer und Hesiod kommt es nicht vor, und der einzige Beleg vor dem 5. Jahrhundert findet sich auf Papyrusfetzen in zwei Fragmenten des lyrischen Dichters Alkaios (fr. 67, 5 und fr. 178, 1 Lobel-Page). Erst bei Aischylos und seinem Zeitgenossen Pindar wird es wie selbstverständlich an zentralen Stellen verwendet, bevor Sophokles und Euripides, aber auch die Komödiendichter Aristophanes und Pherekrates, Lyriker wie Bakchylides und Dionysios Chalkous, die Historiker Herodot und Thukydides, die attischen Redner, besonders Demosthenes, und Philosophen, vor allem Demokrit, Platon und Aristoteles, das Wort in den unterschiedlichsten Zusammenhängen und mit divergierenden Bedeutungen verwenden. Meine folgende knappe Fallstudie8 wird sich auf das Korpus der bei den drei großen attischen Tragikern zu findenden Textstellen konzentrieren, da hier genügend kontextuelles Material zur Verfügung steht, um nach literarisch reflektierten, semantischen Spezifizierungen und eventuell generellen Gattungsbezügen bei der Verwendung des Adjektivs ajrcaiÖo" (im Unterschied zu palaiov") fragen zu können. Dazu kommt, dass sowohl Aischylos als auch Sophokles und Euripides in einigen Textpassagen auch di7

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So, vereinfachend, Glenn W. Most: Die Entdeckung der Archaik. Von Ägina nach Naumburg. In: Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Bernd Seidensticker, Martin Vöhler. Stuttgart/Weimar 2001, S. 20–39, hier 21 und 32. Vgl. auch meine Fallstudien zum Wortgebrauch von πάθος: Pathos dans le théâtre grec. In: Violentes émotions. Approches comparatistes. Hrsg. von Philippe Borgeaud, Anne-Caroline Rendu Loisel. Genève 2009 (Recherches et Rencontres 27), S. 83–100, und von κρίσις: Entscheidungsrisiken. Krisis und Kultus in der griechischen Antike. In: Krisis! Krisenszenarien, Diagnosen und Diskursstrategien. Hrsg. von Henning Grunwald, Manfred Pfister. München 2007, S. 21–40.

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rekt von der Möglichkeit Gebrauch machen, die Wortbedeutung von ajrcaiÖo" im Vergleich insbesondere mit palaiov" zu nuancieren. Eine genauere Analyse ist hier nicht zuletzt deshalb vielversprechend, weil in bisherigen philologischen Kommentaren die textuelle Kombination beider Adjektive oft als Pleonasmus oder gar Tautologie und Redundanz abgetan wurde. Demgegenüber geht es im Folgenden um die Frage, ob die drei Tragiker nicht gerade die Differenz beider Qualifikationen herausarbeiten und worin dann jene Differenz besteht, vor allem aber: wie im Falle von ajrcaiÖo" das Verhältnis zu den verschiedenen Bedeutungen von ajrchv (im Sinne von Anfang, Ursache, Erstrangigkeit, Herrschaft und alte Zeit) verhandelt wird. Textgrundlage der Untersuchung sind die jeweils sieben komplett überlieferten Tragödien des Aischylos und des Sophokles sowie die siebzehn vollständig tradierten Tragödien des Euripides nebst dem Satyrspiel Kyklops, wobei auch die FragmentÜberlieferung zu den drei Autoren hilfsweise herangezogen wird. Obwohl die tradierten Texte nur einen mehr oder weniger großen Teil des jeweiligen Gesamtwerkes der Tragiker bilden und möglicherweise keineswegs repräsentativ sein müssen, mag zu Beginn ein quantitativer Befund der Wortfrequenz nützlich sein. Hier ist nun eine bemerkenswerte und vielleicht unerwartete Differenz zwischen den drei Tragikern zu vermerken: Während das Wort ajrcaiÖo" in allen sieben Tragödien des Aischylos und auch bei Sophokles in fast allen Tragödien (mit Ausnahme des Philoktet) vorkommt, ist seine Verwendung bei Euripides auf drei Tragödien (Hekabe, Elektra, Ion) sowie das Satyrspiel Kyklops beschränkt.9 Instruktiv ist ebenso der Vergleich mit der Wortverwendung von palaiov" (dessen Frequenz im übrigen insgesamt merklich größer ist): Es fehlt in keiner Tragödie des Sophokles und nur in einer des Aischylos (Prometheus), aber auch bei Euripides ist es in nahezu allen Tragödien (mit Ausnahme der Troerinnen), und zwar meist häufig, vertreten.10 Im Unterschied dazu gilt für das Adjektiv ajrcaiÖo" grundsätzlich, dass jeder der drei Tragiker es innerhalb der jeweiligen Tragödie meist sehr selten, überwiegend nur an 9

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ajrcaiÖo" bei Aischylos: Ag. 579; Cho. 281; Eum. 728; Pers. 141, 658, 696, 775; PV 317; Sept. 212; Supp. 50, 323, 326 sowie fr. 235, 1 TrGF III; bei Sophokles: Aj. 1292; Ant. 594; El. 893; OC 106, 110, 684, 1382, 1632; OT 1033; Trach. 1, 555 sowie fr. 15a, 2 TrGF IV; bei Euripides: El. 287, 853; Hec. 609; Ion 1322, 1427 sowie Cyc. 435 und fr. 337, 2; 822a; 1088 TrGF V. Alle diese Textstellen werden im Folgenden untersucht. – Die Abkürzungen antiker Werktitel entsprechen hier und sonst den Vorgaben in: The Oxford Classical Dictionary. Third Edition Revised. Hrsg. von Simon Hornblower, Antony Spawforth. Oxford 2003. palaiov" bei Aischylos: Ag. 72, 764, 1197, 1378, 1480, 1501; Cho. 171, 650, 744; Eum. 69, 80, 394, 721, 727, 778, 808, 883; Pers. 17, 102, 158, 615, 703; Sept. 327, 740, 802; Supp. 538, 1021; bei Sophokles: Aj. 600, 621, 808; Ant. 999; El. 4, 484, 1311; OC 112, 595; OT 109, 290, 561, 961, 1246, 1282, 1395; Phil. 42, 421, 493, 1169; Trach. 157, 171, 263, 555; bei Euripides: Alc. 212; Andr. 1165, 1265; Bacch. 694; El. 1, 11, 200, 409, 497, 554, 587, 851; Hec. 1002; Hel. 604, 626; Heracl. 405, 1028; HF 769, 802; Hipp. 451, 908, 1380; IA 78, 419, 479, 868; IT 823; Med. 49, 68, 76, 79, 667, 824; Or. 811, 1442, 1570; Phoen. 100, 316, 934; Supp. 563, 658, 787; Ion 2, 250, 469, 737, 1030, 1338, 1619 sowie Cyc. 696.

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einer Stelle, verwendet. Ausnahmen bei Aischylos sind die Perser (wo es am häufigsten, nämlich viermal, auftaucht) und die Hiketiden (mit dreimaliger Verwendung). Bei Sophokles ist es besonders oft im Ödipus auf Kolonos (fünfmal) sowie zweimal in den Trachinierinnen zu finden. Euripides gebraucht es je zweimal in der Elektra und im Ion sowie je einmal in der Hekabe und im Kyklops. Zusammenfassend ergibt der quantitative Befund zwölf bzw. elf Textstellen bei Aischylos bzw. Sophokles (plus jeweils ein Fragment) sowie fünf Textstellen in den Tragödien des Euripides (plus, neben der Kyklops-Passage, drei Fragment-Stellen). Was die Verteilung zwischen lyrischen und dialogischen Partien der jeweiligen Tragödien betrifft, so fällt darüber hinaus auf, dass Aischylos das Adjektiv am häufigsten (fünfmal) in Chorliedern gebraucht, Sophokles jedoch nur zweimal und Euripides kein einziges Mal. Bevor danach gefragt werden kann, welche spezifische Qualität dabei jeweils bezeichnet wird und ob sich daraus eine generalisierbare Semantik des Wortes gewinnen lässt, muss zunächst gefragt werden, wer oder was an den insgesamt 34 Textstellen als ajrcaiÖo" qualifiziert wird. Sind es sowohl Personen als auch Sachen? Um was für Personen oder Sachen handelt es sich? Welchen Substantiven wird das Adjektiv zugeordnet, und in welchen Zusammenhängen wird es adverbial oder als substantiviertes Neutrum im Singular oder Plural absolut gebraucht? Der qualitative Befund ergibt zunächst eine generelle Übereinstimmung zwischen den Tragikern: Alle drei qualifizieren sowohl Personen als auch Sachen durch die Eigenschaft, ajrcaiÖo" zu sein. Ein genauerer Blick offenbart jedoch eine bemerkenswerte Differenz: Während bei Aischylos der Terminus in personaler Verwendung insbesondere Göttinnen (qeaiv = die Moiren, in den Eumeniden, V. 728) sowie nicht mehr lebende Menschen, eine mythische Stammmutter (mathvr = Io, in den Hiketiden, V. 50) und einen König (balhvn, den toten Dareios in den Persern, V. 658), bezeichnet und Sophokles in entsprechender Weise Skotos (das göttliche Dunkel, als Vater der Eumeniden, im Ödipus auf Kolonos, V. 106), Pelops (im Ajax, V. 1292, als Vorfahr des Agamemnon) und ein Untier (qhvr = der von Herakles getötete Kentaur Nessos in den Trachinierinnen, V. 555 f.) als ajrcaiÖo" – vorwiegend im Sinne von ,zu alter Zeit entstanden und machtvoll an sie gebunden‘ – charakterisiert, werden bei Euripides durch dieses Adjektiv personal ausschließlich ältere Menschen qualifiziert, die noch am Leben, ja an der dramatischen Handlung direkt beteiligt sind. Dabei handelt es sich jedoch niemals um Protagonisten oder deren Blutsverwandte, sondern ausschließlich um Personen, die nur durch soziale Abhängigkeitsbeziehungen, nicht durch genealogische, mit den Hauptfiguren zu tun haben: lavtri", in der Hekabe (V. 609), die alte Dienerin der Hauptfigur, der nach dem Sieg der Griechen nun selbst zur Sklavin gewordenen trojanischen Königin; in der Elektra der paidavgwgo" (V. 287), der alte Lehrer von Elektras Vater Agamemnon, sowie ein anderer Greis, gevrwn (V. 853), aus der Dienerschaft dieses Königshauses. Ein einziges Mal wird dies bei Euripides auf die göttlich-rituelle Sphäre übertragen, aber in keiner Tragödie, sondern im Satyrspiel Kyklops, wo Odysseus vom Gott Dionysos als ajrcaiÖo" fivlo" (V. 435), dem „alten Freund“ der Satyrn spricht.

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Zwar werden bei Aischylos und Sophokles noch lebende menschliche Personen niemals direkt durch das Adjektiv gekennzeichnet, jedoch ist es an einigen Stellen auf Qualitäten solcher Personen bezogen, allerdings gemünzt nicht auf Diener, sondern auf Hauptfiguren selbst: Aischylos lässt in den Choephoren Orest seine ajrcaiva fuvsi" (V. 281), seine ursprüngliche physische Naturanlage, erwähnen, die nach Apollons Orakelspruch im Anschluss an den Muttermord vom Aussatz zerstört werden soll. Sophokles lässt die Hauptfigur im König Ödipus von seinen durchbohrten Fußgelenken als von einem ajrcaiÖon kakovn (V. 1033), einem alten Übel, sprechen und im Ödipus auf Kolonos darauf aufmerksam machen, dass sein ajrcaiÖon devma" (V. 110), seine ehemalige königliche Gestalt, nun nicht mehr vorhanden sei.11 Was die Verwendung des Adjektivs als Sachbezeichnung betrifft, so fällt wiederum zunächst eine Übereinstimmung auf: In diesem Fall hat es immer mit altehrwürdiger Herrschaft, menschlicher oder göttlicher, zu tun. Alle Gegenstände, die bei den drei Tragikern als ajrcaiÖo" bzw. ajrcaiÖoi bezeichnet werden, sind durch den Bezug entweder zu einem Königshaus oder zu den Göttern sanktioniert: bei Aischylos das ajrcaiÖo" gavno", der herrscherliche glänzende Schmuck in den griechischen Tempeln, zu dem die trojanische Kriegsbeute nun verwendet wird (im Agamemnon, V. 579), die ajrcaiÖa brevth, die geschnitzten ehrwürdigen Götterbilder, bei denen der Chor in den Sieben gegen Theben (V. 212) Zuflucht sucht, sowie das stevgo" ajrcaiÖon (V. 141), das fürstliche Dach des persischen Königspalastes und seine qrovnoi ajrcaiÖoi (V. 775), die fürstlichen Sitzmöbel (in den Persern); bei Sophokles in der Elektra das Grab des Vaters der Hauptfigur (tavfo", V. 893) und im Ödipus auf Kolonos der Kranz von Narzissen (stefavnwma, V. 684), der den Großen Göttinnen von Kolonos bestimmt ist.12 Auch bei Euripides wird mit dem Adjektiv ajrcaiÖo" sowohl ein göttlich-königlicher Gegenstand – goldgetriebene Schlangen als ajrcaiÖonv ti (V. 1427), etwas besonders Würdevolles und Altes, ein „Geschenk“ (dwvvrhma) der Göttin Athene für die Nachkommen des athenischen Urkönigs Erichthonios – bezeichnet (im Ion) als auch, in einem Fragment, ein altehrwürdiger Königspalast (ajrcaiÖoi dovmoi, fr. 822a TrGF V). Auch mittels anderer, nicht materieller, aber verbindliche Handlungen einschließender Bezüge kann ajrcaiÖo" bei allen drei Tragikern die Beziehung zu einem Königshaus und vor allem zu den Göttern betonen. Dies geschieht bei Aischylos in den Hiketiden zum einen durch den Hinweis des Chors der Danaiden auf ihr ajrcaiÖon gevno" (V. 323), ihre genealogische Herkunft, zum anderen mittels einer adverbialen, auf ein Verbum bezogenen Konstruktion des Adjektivs (koinwneiÖn [...] tajrcaiÖon, V. 326), wodurch die Zugehörigkeit der in Argos Schutz suchenden Danaiden zum argivischen Königshaus vom amtierenden Herrscher als etwas beglaubigt wird, das von altersher besteht.13 Bei Sophokles im Ödipus auf Kolonos erinnert die Hauptfigur daran, dass es ajrcaiÖoi novmoi (V. 1382), herrschaftlich altbewährte, göttlich sanktionierte Gesetze, sind, die die Rechts11 12 13

Vgl. Sophokles, fr. 15a, 2 TrGF IV: ajrcaivwi podiv. Vgl. Aischylos, fr. 235, 1 TrGF III. Vgl. Euripides, fr. 1088 TrGF V.

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göttin Dike zur Beisitzerin des Zeus machen, und fordert Theseus auf, die ajrcaiva pivsti" (V. 1632), die tradierte fürstliche Treue, gegenüber den Töchtern des Ödipus nach seinem Tod zu praktizieren. In Euripides’ Ion ist es sogar die delphische Pythia selbst, die sich rühmt, den ajrcaiÖo" novmo" (V. 1322), das altehrwürdige Gesetz des Dreifußes, zu beschützen.14 Nur bei Aischylos und Sophokles finden sich zwei weitere Gebrauchsweisen von ajrcaiÖo": zum einen zur Qualifizierung von Gefühlen, zum anderen zur – problematisierenden – Qualifizierung von Sprachlichem. Die mit dem Adjektiv charakterisierten Affektzustände sind wiederum jedes Mal auf ein Königshaus bezogen: in Aischylos’ Persern das ajrcaiÖon tavrbo" (V. 696), die weiterhin andauernde Ehrfurcht, die der Chor der persischen Greise dem erscheinenden Geist des toten Dareios entgegenbringt, in Sophokles’ Antigone die ajrcaiÖa phvmata (V. 594 f.), die Generationen überspannenden Leiden im Hause der Labdakiden, die der Chor der thebanischen Ältesten ominös in Erinnerung ruft. Komplexer jedoch ist die Anwendung des Adjektivs auf Sprachliches: Während Deianeira vom ersten Vers von Sophokles’ Trachinierinnen an skeptisch über den ajrcaiÖo" lovgo", das sprichwörtliche „alte Wort“, reflektiert, dass niemand vor seinem Tode glücklich oder unglücklich zu nennen sei, bringt der urweltliche Okeanos in Aischylos’ Prometheus die Sorge zum Ausdruck, die von ihm eben geäußerte Berufung auf das delphische „Erkenne dich selbst“ könnte der Hauptfigur als ein ajrcaiÖ! i[sw" levgein (V. 317), ein gleichsam veraltetes Reden erscheinen. Gerade letzterer, sonst bei den Tragikern nicht belegter absoluter Wortgebrauch im abfälligen Sinne – die einzige direkte Umdeutung des Wortes ajrcaiÖo" in allen überlieferten Tragödien – wird dann bei den attischen Komödiendichtern und Rednern zu einem beliebten Disqualifizierungsterminus werden. Aus der hier vorgenommenen Skizze des qualitativen Befundes aller Textstellen, an denen das Adjektiv ajrcaiÖo" in den komplett überlieferten Dramen der drei attischen Tragiker verwendet wird, ergibt sich vorläufig folgende Zusammenfassung: Unbeschadet aller Differenzen zwischen den einzelnen Werken und Autoren ist eine auffällige Gemeinsamkeit im Wortgebrauch festzustellen. Bei der Qualifikation sowohl von Personen als auch von Sachen ist ajrcaiÖo" keineswegs nur eine das hohe Alter unterstreichende Bestimmung. Mit der Betonung des Alters ist dabei ausnahmslos eine besondere politisch-religiös konnotierte Ehrwürdigkeit verbunden, zumindest aber eine enge Beziehung der Personen oder Gegenstände, der praktischen Gebräuche oder der Affektzustände zu politisch oder religiös charakterisierter, bereits lang andauernder Herrschaft. Dies trifft in prinzipieller Weise zwar auch auf die Qualifikation von Sprachlichem mittels dieses Adjektivs zu, jedoch ist hier, und nur hier, eine explizite, problematisierende Reflexion über den Geltungsbereich dieser Qualifikation zu finden, so als ob es ausschließlich das Sprachliche sein kann, hinsichtlich dessen die Tragödiendichter Ais-

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Vgl. Euripides, fr. 337, 2 TrGF V.

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chylos und Sophokles als erste die Ehrwürdigkeit und Verbindlichkeit von ajrcaiÖo" direkt in Frage zu stellen wagen. Um diesen Befund zu überprüfen und den Vergleich mit der Wortverwendung von ajrcaiÖo" durch die Tragiker in engem textuellen Zusammenhang mit palaiov" vorzubereiten, soll das Material nun noch einmal unter einem weiteren Gesichtspunkt betrachtet werden: dem der Wortbildung, der sich daraus ergebenden Semantik und dem spezifischen Umgang damit, für den sich die Tragiker an der jeweiligen Textstelle entschieden haben. Wie die meisten Adjektive mit dem Suffix -io" ist ajrcaiÖo" von einem Substantiv abgeleitet, dem gegenüber das Adjektiv durch Zugehörigkeit oder Ähnlichkeit bestimmt ist, manchmal auch durch ein Herkunfts- oder Besitzverhältnis; ähnlich ist es im Falle des bereits bei Homer bezeugten Adjektivs palaiov", das vom Adverb pavlai, ,vormals‘, abgeleitet ist und den zeitlichen Bezug zur Vergangenheit zum Ausdruck bringt.15 Das Substantiv jedoch, dessen Derivat ajrcaiÖo" ist, ajrchv, besitzt, wie bereits erwähnt, vor allem zwei unterschiedliche Bedeutungen, die miteinander verbunden oder voneinander getrennt werden können und die in den jeweiligen Kontexten unterschiedlich nuanciert sind: ,Anfang‘ bzw. ,Ursprung‘ und ,Herrschaft‘, ,Macht‘. Während die Bedeutung ,Anfang‘ bzw. ,Ursprung‘ nicht einfach ein hohes Alter ausdrückt, sondern eine weit in die Vergangenheit zurückreichende autoritative Herkunft und Abkunft, betont die Bedeutung ,Herrschaft‘, ,Macht‘ die damit in der Gegenwart verbundene praktische Verbindlichkeit und Gültigkeit. Beide Bedeutungsaspekte beruhen auf einer religiösen und politischen Sanktionierung. Eine solche Sanktionierung kann im Falle von pavlai ebenfalls, als ein Zusatz, gegeben sein, ist aber nicht, wie im Falle von ajrchv, direkt mit der Semantik des Wortes verknüpft. Bei Aischylos ist das Adjektiv ajrcaiÖo" im etymologischen Wortsinne von ,ursprünglich und zugleich mächtig‘ auf den ersten Blick an den meisten Stellen gebraucht. Sieht man jedoch genauer hin, so ergibt sich, dass dabei die durch einen spezifischen Ursprung sanktionierte Macht kontextuell umfunktioniert, verunsichert oder gar vollständig in Frage gestellt ist. Das ajrcaiÖon gavno", der glänzende Schmuck im Agamemnon, der ursprünglich die Macht des trojanischen Königshauses verkörpert hat, ist nun, als Kriegsbeute, in ein neues Machtzeichen der griechischen Sieger transformiert; die Erinnerung in den Eumeniden an das Unrecht, das Apollon anderen ajrcaiÖai qeaiv (alten Göttinnen, nämlich den Moiren) schon früher angetan hat, beweist nur, dass die Macht dieser Göttinnen zu schwach war und antizipiert, dass auch die daran erinnernden Erinyen selbst von dem neuen Herrschergott, wiederum Apollon, überwunden werden. Doch zuvor hatte Apollon, wie in den Choephoren angekündigt worden war, die zumindest zeitweise Zerstörung der ajrcaiva fuvsi", der ursprünglichen physischen Natur seines Schützlings, des Muttermörders Orest, durch die Erinyen nicht verhindern kön15

Siehe dazu Carl Darling Buck, Walter Petersen: A Reverse Index of Greek Nouns and Adjectives. Arranged by Terminations with Brief Historical Introductions. Hildesheim 1970, S. 44; vgl. Pierre Chantraine: Dictionnaire étymologique de la langue grecque. Histoire des mots. Paris 1968, S. 121 (zu ajrcaiÖo") und S. 851 (zu palaiov").

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nen. Die Berufung der Danaiden in den Hiketiden auf Io, ihre ajrcaiva mathvr, ihre altehrwürdige Mutter, und auf ihr ajrcaiÖon gevno", ihre altehrwürdige Abstammung, ja sogar das Zugeständnis des argivischen Königs ihnen gegenüber, dass sie koinwneiÖn [...] tajrcaiÖon, also von altersher zum Herrscherhaus von Argos gehören, bewirkt gerade nicht, dass sie eben das erhalten, um dessentwillen sie sich auf diese uralte, mächtige Abkunft berufen hatten: die Verhinderung der Ehe. Das stevgo" ajrcaiÖon und die qrovnoi ajrcaiÖoi, der fürstliche Palast und die fürstlichen Thronsessel der persischen Könige, liegen, als der Chor in den Persern von ihnen spricht, in Schutt und Asche, und sein von ihm angerufener alter König, ajrcaiÖo" balhvn, ist tot und besiegt, ein noch bei seinem Erscheinen entmächtigter Totengeist. Und auch die ajrcaiÖa brevth, die altehrwürdigen Götterbilder, zu denen der Chor in den Sieben gegen Theben sich flüchtet, sind entgegen der Hoffnung des Chors nicht imstande, den unaufhaltsamen Gang der Tragödie, die gegenseitige Tötung der beiden Ödipus-Söhne, aufzuhalten. Dass der Weltenflussgott Okeanos im Prometheus berechtigte Zweifel äußert, ob die Hauptfigur tatsächlich durch ein ajrcaiÖ! i[sw" levgein, eine veraltete, überholt wirkende Redeweise, überzeugt werden kann, wurde bereits betont. Nur das ajrcaiÖon tavrbo", die Ehrfurcht der persischen Greise für Dareios, bleibt ungeschmälert; aber es ist nichts anderes als ein ohnmächtiges Gefühl von Besiegten für einen toten, gescheiterten König und unterstreicht nur den vollständigen Untergang ursprünglicher Macht. Auch bei Sophokles springt auf den ersten Blick die Bedeutung des Adjektivs ajrcaiÖo" im Sinne von ,ursprünglich und zugleich mächtig‘ an den meisten Stellen ins Auge. Zugleich aber wird dabei sofort unmissverständlich deutlich, wie gefährdet, problematisch und umstritten diese durch das Adjektiv bezeichnete ursprüngliche Macht in Wirklichkeit ist: Dass Agamemnon vom ajrcaiÖo" Pelops, dem alten fürstlichen Vorfahr, abstammt, woran ihn Teukros im Ajax erinnert, unterstreicht nur, wie ungesichert der Ursprung seiner Macht ist und lässt für deren Fortbestand nichts Gutes hoffen. Ähnliches gilt für die ajrcaiÖa phvmata, die überkommenen Leiden der Labdakiden in der Antigone, die den Chor das tragische Ende der Hauptfigur zu Recht befürchten lassen, und für die durchbohrten Fußgelenke, die der König Ödipus schließlich selbst als ajrcaiÖon kakovn, als das seinen eigenen Ursprung kennzeichnende Übel und damit als die determinierenden Auspizien erkennen muss, unter denen sein tragisches Handeln vor und während der Königsherrschaft stand. Der ajrcaiÖo" tavfo", das fürstliche Grab des Agamemnon in der Elektra bezeugt nur, dass dessen ursprüngliche Macht eben doch nicht stark genug war, um vor der mörderischen Überwindung durch seine eigene Ehefrau, Klytaimestra, geschützt zu sein. Auch der Gedanke an den ajrcaiÖo" lovgo", das Sprichwort vom Menschenleben, das vor dem Tode nicht glücklich zu preisen ist, bewahrt Deianeira in den Trachinierinnen nicht davor, bei dem Versuch zu scheitern, ihr Liebesglück als Herakles’ Ehefrau mit Hilfe des Zaubermittels wiedergewinnen zu wollen, das ihr von einem Feind und Rivalen ihres Gatten, dem Kentauren, einem ajrcaiÖo" qhvr, einem Untier aus der Urzeit, geschenkt worden war.

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Nur im Ödipus auf Kolonos, dem Drama, in dem das Adjektiv am häufigsten von allen vollständig überlieferten attischen Tragödien vorkommt, sieht es so aus, als ob, jedenfalls im engsten Bereich des Götterkultes, die mit ajrcaiÖo" bezeichneten Dinge und Gewalten noch in Kraft sind. Und dennoch: Bei genauerer Betrachtung erweist sich, dass der blinde, zum Sterben nach Kolonos kommende Ödipus, der sich auf diese ehrwürdigen Dinge und Gewalten in auffällig häufiger Weise beruft, dies explizit eben gerade deshalb tut, weil es in seinem speziellen Fall ganz ungewiss ist, ob ihre ursprüngliche Gewalt auch für ihn Gültigkeit hat, sei es die des Dunkels, des altehrwürdigen Nachtgottes, ajrcaiÖo" Skovto", des Vaters der Eumeniden, oder das ajrcaiÖon stefavnwma, das Ehrfurcht gebietende Kranzgebinde im Kult der Großen Göttinnen selbst, sei es die ajrcaiva pivsti", die traditionelle Treueregel, die die Beziehung zwischen königlichen Bündnispartnern erst verlässlich macht, oder seien es die ajrcaiÖoi novmoi, die altbewährten Gesetze, die Gerechtigkeit verheißen. Gewissheit hat Ödipus, solange er auf der Bühne steht, nur darüber, dass er nicht mehr genauso wie früher aussieht, also dem ajrcaiÖon devma", seiner ursprünglichen Gestalt, nicht mehr entspricht. Wie stellt sich die Sache nun bei Euripides dar, dem Tragödienautor also, der mit dem Adjektiv besonders sparsam umgeht? Hier ist auf Anhieb unübersehbar, dass die mit ajrcaiÖo" konnotierte ursprüngliche Macht ausgehöhlt ist: Die ajrcaiva lavtri", die altgediente Magd der zur Beutefrau der Griechen gewordenen trojanischen Königin in der Hekabe, wird zwar zu Recht von ihrer Herrin so bezeichnet, da sie von Anfang an zum Herrscherhaus Trojas gehörte. Damit ist jedoch ausschließlich ihre Abhängigkeit vom trojanischen Königshaus bezeichnet, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die ursprüngliche Herrschaft selbst, so stellte sich heraus, hatte keinen Bestand; die Dienerin teilt, wie vorher im Guten, so nun im Schlimmen, das Schicksal der Herrscherfamilie. Für die Art ihrer dienenden Tätigkeit allerdings ändert sich dadurch nicht viel: Wie zuvor schleppt sie auf Befehl ihrer Herrin das Meereswasser herbei – nur ist es nun zum Totenbad für die von den Griechen geopferte Tochter der Hekabe, Polyxena, bestimmt. Diese Kontinuität im Verhältnis der Diener zu ihren ursprünglichen Herren zeigt sich ebenso in der Elektra: Der ajrcaiÖo" paidavgwgo", der alte Lehrer des Agamemnon, dient noch nach dem Tode seines Herren dessen Kindern, die für die Rache an ihrer Mutter auf ihn angewiesen sind, und einem weiteren ajrcaiÖo" gevrwn, ebenfalls einem greisenhaften Diener des Vaters, wird Orest es zu verdanken haben, dass andere, jüngere Diener des Königshauses ihn nicht nach dem vollzogenen Mord an Aigisth selbst überwältigen und damit den noch ausstehenden Muttermord unmöglich machen. Die Pointe dabei ist, dass ohne diese beiden dienenden Alten die Tragödie niemals den mythisch vorgesehenen Verlauf genommen hätte, dass also zwar die ursprüngliche Macht, die des Königs von Argos, Agamemnon, wenn auch erst posthum, triumphiert, dass aber die Voraussetzung für das Gelingen weder einem Gott noch einem königlichen Menschen selbst obliegt, sondern einzig und allein den sozial schwächsten, den Königsdienern, anvertraut ist, und dass das Gelingen zwar faktisch in einem Sieg der Rä-

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cher besteht, schließlich aber für die Muttermörder in das Gegenteil eines überschwenglichen Triumphes einmündet. Anders scheinen die Dinge im Ion zu liegen, wo ajrcaiÖo" keinen Diener, überhaupt keine Person menschlicher oder göttlicher Art, bezeichnet, sondern einerseits (wie in Sophokles’ Ödipus auf Kolonos) den ajrcaiÖo" novmo", das überkommene göttliche Gesetz, das in Delphi von der Pythia beschützt wird, und andererseits den Schmuck aus goldgetriebenen Schlangen, das Unterpfand der Athene für das ursprüngliche Athener Herrschergeschlecht, ajrcaiÖovn ti, etwas Altehrwürdiges, hier ein fürstliches göttliches Erbe. Beides wird in dieser Tragödie allerdings erst in extremis ins Spiel gebracht, gerade noch rechtzeitig, damit Ion nicht unwissentlich zum Mörder an seiner Mutter Kreusa wird. Doch nachdem dies verhindert ist und der Schmuck, das ehrwürdige Geschenk der Göttin, seinen Dienst erfüllt hat, Mutter und Sohn einander erkennen zu lassen, kommt es in dieser Tragödie zu einem Ausgang, der für den Begriff der ursprünglichen Macht von Göttern und Menschen eine gänzlich illusionslose Lesart liefert: Niemand anders als der den ajrcaiÖo" novmo", das göttliche Gesetz von Delphi beherrschende Gott Apollon selbst war es, der für alles Schlimme verantwortlich ist, das diese Tragödie angetrieben hatte und das auch post festum weiterwirken soll. Gemäß seiner unbeschränkten göttlichen Gewalt hatte Apollon die athenische Königstochter Kreusa vergewaltigt, hatte mit ihr den Sohn, Ion, gezeugt, im Zeichen von Apollons ajrcaiÖo" novmo" war Ion als ausgesetztes, anscheinendes Waisenkind von der Pythia im delphischen Tempel aufgezogen worden, so dass er beinahe von seiner Mutter unwissentlich umgebracht worden wäre, beinahe seine Mutter zur Strafe für diesen Mordversuch unwissentlich getötet hätte, – und gemäß dem von der Pythia am Ende verkündeten ajrcaiÖo" novmo", dem auf der göttlichen Autorität Apollons beruhenden Willkürgesetz, sollen nun Mutter und Sohn über ihre eben ans Licht gekommene Blutsverwandtschaft in Zukunft schweigen, damit Kreusas aus der Fremde stammender, königlicher Gatte sich selbst für den Vater hält und Ion in fiktiver menschlichmännlicher Königsgenealogie zum Stammvater der Athener werden kann. Und so lässt sich vielleicht sagen: Unangefochten herrscht ursprüngliche politisch-religiöse Gewalt im Sinne der Qualifizierung durch das Adjektiv ajrcaiÖo" nur in den Tragödienhandlungen des Euripides. Aber von einer Verklärung dieser Gewalt kann nun offensichtlich bei ihm am wenigsten die Rede sein. Die Problematisierung dieser Qualität, die auch Aischylos und Sophokles, jeder auf seine Weise, ins Zentrum ihrer Wortverwendung rücken, erhält bei Euripides überdies eine Tiefendimension, die kritischer kaum darstellbar ist.

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II. Archaios versus palaios bei Aischylos, Sophokles und Euripides Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen, jedoch immer problematisierenden darstellerischen Reflexion der Dimensionen des Adjektivs ajrcaiÖo" durch alle drei Tragödiendichter sollen nun zum Schluss in aller Kürze noch einmal drei Textpassagen genauer betrachtet werden, in denen Aischylos, Sophokles und Euripides zu diesem Zweck jeweils die Konfrontation dieses Adjektivs mit dem semantisch verwandten Adjektiv palaiov" benutzen. Die erste dieser Textstellen findet sich in Aischylos’ Eumeniden am Ende der Gerichtsszene vor dem Areopag kurz vor der Stimmabgabe. Der abschließende Vorwurf der Erinyen, der Rachegöttinnen, gegenüber Apollon, dem göttlichen Beschützer des Muttermörders, lautet, dass er jetzt nicht zum ersten Mal uralte Göttinnen ihrer Macht beraubt, sondern bereits die Schicksalsgöttinnen mit List entmächtigt habe (V. 727 f.): suv toi palaia;" daivmona" katafqivsa" oi[vnwi parhpavthsa" ajrcaiva" qeav". [du nun hast die von altersher daseienden Göttinnen zugrunde gerichtet, indem du durch Wein überlistet hast die vom Ursprung her mächtigen Göttinnen.]

Wegen des Verdachts eines in der Überlieferung angeblich vorliegenden Pleonasmus (palaia;" daivmona", gefolgt von ajrcaiva" qeav") haben sich maßgebliche moderne Editoren gegen das übereinstimmende Zeugnis der Codices an Stelle von daivmona", einem Synonym für qeav", gewöhnlich für Konjekturen entschieden.16 Wie aber wäre die von diesen Konjekturen umgangene Frage danach zu beantworten, was sich denn nun aus der lectio der Codices ergäbe? Es würde sich dann bei Aischylos nicht etwa um eine Tautologie, sondern um eine Selbst-Kommentierung des Wortgebrauchs von palaia;" daivmona", der von altersher daseienden Göttinnen, mittels einer rhetorischen Steigerung handeln. Die Göttinnen waren schon seit Urzeiten da und haben weitergewirkt bis zu dem Moment, an dem der jüngere Gott sie überwältigt, ja vernichtet hat. 16

Lesart und Übersetzung der Tragödien-Textstellen (hier und sonst in diesem Aufsatz) von der Verf. Vgl. vor allem folgende Standard-Editionen: Aeschylus: Eumenides. Hrsg. von Alan H. Sommerstein. Cambridge 1989 (Cambridge Greek and Latin Classics); Aeschyli Tragoediae. Hrsg. von Martin L. West. Stuttgart 1990 (Bibliotheca scriptorvm Graecorvm et Romanorvm Tevbneriana); sowie die Übersetzung von Hugh Lloyd-Jones: Aeschylus: Oresteia. Eumenides, Oxford 1979 (The Loeb Classical Library 146). Sommerstein ad loc. übernimmt eine Konjektur von Maas aus dem Jahre 1933 (mit abweichender Akzentsetzung: daimonav", von daimonhv, einem ansonsten nur bei Alkman, fr. 65 Page, bezeugten Substantiv mit der Bedeutung ,Funktionsverteilung‘). Lloyd-Jones und West rekurrieren demgegenüber auf die lectio eines Euripides-Scholions (dianomav", von dianomhv, ,Aufteilung‘, ,Ausgenommenheit von etwas‘, ,Dispensierung‘, das jedoch sonst erst seit Platon und ausschließlich in Prosatexten bezeugt ist und deshalb von Sommerstein verworfen wird).

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Diese Göttinnen sind aber nicht nur palaiaiv, also durch ihr hohes Alter und ihre seit jeher andauernde (nun zerstörte) Wirksamkeit gekennzeichnet, sondern sie sind darüber hinaus ajrcaiÖai, eine vom Ursprung her sanktionierte Macht, die Apollon nur durch etwas nicht vom Ursprung her Daseiendes, eine neue flüssige Droge, den Wein, also etwas Kulturelles und nicht einfach Organisch-Natürliches wie das Blut, überlisten konnte. Aus dieser Lesart ergibt sich, dass es sich im ersten der beiden zitierten AischylosVerse eben nicht, wie an den oft herangezogenen ,Parallelstellen‘ aus dem Stück, um eine Durchbrechung der göttlichen Aufgabenverteilung durch Apollon handelt, sondern um die tatsächliche Zugrunderichtung von schon lange weiterwirkenden alten Göttinnen durch einen jungen Gott. Aber nur mit Hilfe eines anderen, ebenfalls nicht vom Ursprung her daseienden Gottes, des Weingottes Dionysos17, so wird im zweiten der beiden Verse insinuiert, konnte Apollon erst die weiblichen Ursprungsmächte, die Herrinnen des Schicksals, besiegen. Auch die zweite hier zu nennende Textpassage hat viele Kommentatoren irritiert. Es handelt sich um den Vers 555 aus Sophokles’ Trachinierinnen. Deianeira spricht: h\vn moi palaio;n dw'ron ajrcaivou pote; qhrov", [...] [mir ward ein von altersher wirksames Geschenk einst von einem ursprünglich mächtigen Untier, (...)]

Es geht hier konkret um das von Herakles’ Pfeilen vergiftete Blut des Nessos, das der sterbende Kentaur der Deianeira als angeblichen Liebeszauber, in Wirklichkeit zum Zweck seiner posthumen Rache an dem erfolgreicheren Freier dieser Frau, seinem Mörder, übergeben hatte. Das palaio;n dw'ron, das alte, seit langem existierende Geschenk, in Kombination mit potev, „einst“, hat man als rhetorisches Stilmittel gerade noch durchgehen lassen. Malcolm Davies, der Herausgeber der Oxforder Edition von 1991, ist jedoch nicht gewillt, dies auch für den im selben Vers verwendeten und auf den Geber selbst bezogenen Ausdruck ajrcaiÖo" qhvr, die alte Bestie, gelten zu lassen. Er reiht sich in die Phalanx der kanonischen Autoritäten, allen voran Eduard Fraenkel, ein, die glaubten, in einem Fall wie dem hier vorliegenden den Autor – oder doch zumindest irgendwelche anonymen Abschreiber innerhalb der Tradition – eines „mechanischen und geistigen Irrtums“ überführen zu müssen, wegen einer angeblich bloß repetitiven Wortassoziation. Davies plädiert daher für eine der von früheren Editoren vorgeschlagenen Konjekturen mit folgenden, ihm durchschlagend erscheinenden Argumenten: Es

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Zu weiteren zentralen Qualitäten dieses Gottes, dessen kultischer Verehrung die Theateraufführungen im klassischen Athen zugeordnet waren, siehe z. B. meine Aufsätze: Tragic Memories of Dionysos. In: Intentional History. Spinning Time in Ancient Greece. Hrsg. von Lin Foxhall u. a. Stuttgart 2010, S. 211–224; Der bakchische Gott. In: A Different God? Dionysos and Ancient Polytheism. Hrsg. von Renate Schlesier. Berlin/Boston 2011, S. 173–202.

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ist wahrscheinlich, so schreibt er,18 „that we have here a corruption of the sort analysed and illustrated by Fraenkel19 (ed. Aesch. Ag. iii. 655 n. 1; cf. JRS 56 (1966), 145 n.9), wherein ,two elements are combined, a mechanical error, arising from the literal similarity of two words, and a mental error, the writer’s thought straying to some word suggested by the context‘. In the present case ajrcaivou will have arisen under the influence of palaiovn one word before.“ Fest steht allerdings, dass an dieser Stelle der Trachinierinnen ebenfalls (wie im Falle der Eumeniden-Stelle) alle Codices übereinstimmen. Die Vermutung, dass hier dennoch eine Korruptel vorliegen könnte, drängte sich nur denjenigen Editoren auf, die den semantischen Unterschied von palaiov" und ajrcaiÖo" nicht berücksichtigten und daher unterstellten, allen mittelalterlichen Abschreibern oder gar dem antiken Autor selbst sei der Lapsus eines unbeabsichtigten Pleonasmus unterlaufen. Nimmt man die Sophokleische Textstelle aber als eine differenzierte Textaussage ernst, so ergibt sich, dass ein „seit langem existierendes Geschenk“, ein palaio;n dw'ron, offenbar für Sophokles’ Tragödienfigur Deianeira allein nicht ausreicht, um eine unfehlbare Wirkungsmacht davon zu erwarten. Erst die Zurückführung des Geschenks auf seinen Urheber, den Kentauren, den ajrcaiÖo" qhvr, das vorweltliche Untier, macht es Deianeira möglich, dem Geschenk einer solchen männlich-potenten, bestialischen Ursprungsmacht die Erzwingbarkeit des Liebesglücks zuzutrauen, das sie sich davon verspricht. Und dabei übersieht sie, dass die dabei statt dessen unwissentlich bewirkte Tötung ihres Gatten nur dadurch zustande kommen kann, dass sie selbst von einem ajrcaiÖo" qhvr, dem unterlegenen Rivalen des Heros Herakles, törichterweise nur eine positive Wirkung erwartet hatte. Zuletzt sei noch eine Euripides-Stelle herangezogen, die dem Pleonasmus-Vorwurf scheinbar besonders wenig entgegenzusetzen hat. Im Botenbericht über die von Orest vollzogene Tötung des Aigisth, des Liebhabers seiner Mutter, in der Elektra wird zunächst der Mörder zitiert und anschließend diese Situation vom Boten erzählerisch kommentiert (V. 850–853): [...] tlhvmwn !Orevsth": ajlla; mhv me kaivnete, patro;" palaioi; dmwÖe". oiJ d'!, ejpei; lovgwn h[kousan, e[scon kavmaka": ejgnwvsqh d'! uJpo; gevronto" ejn dovmoisin ajrcaivou tinov". [, (…) ich armer Orest. Doch tötet mich nicht, des Vaters ehemalige Kriegsgefangene.‘ Diese nun, als sie seinen Worten zuhörten, behielten die Speere fest in der Hand. Er wurde aber erkannt von einem Greis, einem im Königshaus zur ursprünglichen Herrschaft gehörigen.]

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Sophocles: Trachiniae. Hrsg. von Malcolm Davies. Oxford 1991, S. 156 f. ad loc. Aeschylus: Agamemnon. Hrsg. von Eduard Fraenkel. 3 Bde., Oxford 1950.

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Dass viele Kommentatoren an dieser Stelle Redundanz ausgemacht haben, überrascht nicht.20 Die gleiche Person wird als Greis (gevrwn) und noch dazu als zum Königshaus gehöriger ajrcaiÖov" ti", ein ehrwürdiger Alter, charakterisiert, und zu allem Überfluss ist zwei Zeilen zuvor bereits von patro;" palaioi; dmwÖe", von vormaligen Dienern des Vaters, die Rede. Die Übersetzer, die von Euripides ja ohnehin oft nichts anderes als Redundanz erwarten, stellen die Redundanz meistens aber erst selber her und sprechen zunächst von „alten Dienern des Vaters“ und dann von „einem Greis, einem alten Mann aus dem Haus“.21 Die Dramatik dieser Stelle, bei der Orests Leben kurz nach dem Mord an Aigisth buchstäblich auf des Messers Schneide steht, wird dadurch vollständig gekappt und verkannt. Denn Orest hat nur die ihn mit ihren Speeren bedrohenden Männer im Blick, die der Vater aus Troja als Kriegsgefangene mitgeführt hatte und die wenige Jahre nach Agamemnons Tod noch jung genug sind, um als bewaffnete Knechte von Klytaimestras Liebhaber Aigisth zu dienen. Diese hören ihm zwar zu und zögern nach dem Ende seiner Rede noch, gleich zuzuschlagen. Sie bedrohen ihn jedoch weiter mit ihren Waffen, wenn auch ohne sie vorerst anzuwenden. Von einem „Senken der Speere“,22 wie man es meistens verstehen wollte, ist keine Rede. Die Situation bleibt einen Augenblick ,in suspense‘, geht aber schließlich für Orest nur deshalb glücklich aus, weil eben nicht die trojanischen Kriegsgefangenen, von denen er unwahrscheinlicherweise Hilfe erhofft, ihn etwa auf sein Bitten hin verschonen, sondern weil in dieser rituellen Situation (einem von Aigisth den Nymphen zugedachten Opfer) in der Menge der Kultteilnehmer auch ein Greis anwesend ist, der schon vor Agamemnons Heimkehr aus Troja dem Königshaus diente, ja, der ursprünglich dem Vater als Diener zugehörig war und der deshalb auch den Sohn tatsächlich wiedererkennen und seine Partei ergreifen kann. * Von Redundanz und Pleonasmus bei der textlich hier jeweils eng verbundenen Verwendung der Adjektive ajrcaiÖo" und palaiov" kann also weder bei Aischylos, noch bei Sophokles, noch bei Euripides die Rede sein. Vielmehr haben alle drei großen attischen Tragiker die semantische Differenz der beiden Qualifikationen sorgfältig beachtet und die sich aus dieser Differenz ergebenden dramatischen Unterscheidungs-, Steigerungsund Kommentierungsmöglichkeiten in vielfältiger und situationsspezifischer Weise für ihr eigenes poetisches Projekt ausgenutzt. Denn es zeigte sich: Weit entfernt davon, 20 21 22

„Redundanz“: siehe z. B. Euripides: Electra. Hrsg. von John Dewar Denniston. Oxford 1939, ad 853 (mit 287). Siehe z. B. Euripides: Sämtliche Tragödien in zwei Bänden. Bd. 1. Nach der Übersetzung von Johann Jakob Donner bearbeitet von Richard Kannicht. Stuttgart 1958, S. 178. Siehe z. B. Euripides: Tragödien, Vierter Teil, Griechisch und Deutsch. Hrsg. von Dietrich Ebener. Berlin 1977 (Schriften und Quellen der alten Welt 30,4), S. 71.

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einfach nur mit Hilfe des Wortes ajrcaiÖo" die sprachlich gefasste, politisch-religiöse Tradition zu bestätigen und zu stabilisieren, setzen sich alle drei Tragiker vielmehr mit der überkommenen Wortbedeutung auseinander, nehmen zu ihr Stellung, messen ihre semantische Amplitude noch jenseits des konventionell gesetzten Rahmens aus und unterminieren die affirmative Qualität des Wortes auf subversive Weise. Ja, sie tun noch mehr: Sie demonstrieren durch den Wortgebrauch, wie wenig Garantie für Dauerhaftigkeit in etwas Ursprünglichem und Altehrwürdigen, durch menschliche oder auch göttliche Herrschaft Sanktionierten liegt, so sehr es sich auch auf weit zurückliegende Anfänge stützen mag. Und sie demonstrieren zugleich, dass solche entmächtigten Anfänge und Vorrangstellungen dennoch ihre Determinationsmacht innerhalb zukünftiger Zeiten nicht gänzlich eingebüßt haben müssen: Um als Leidensursachen für spätere Generationen, aber zuweilen auch als Rettung zu dienen, sind sie immer noch wirkungsmächtig genug. Was nicht zuletzt die in der Sprache aufbewahrte, an Erzählungen gebundene alte Weisheitstradition lehrt, die die antiken griechischen Dichter in transformierter, aktualisierter Form am Leben halten, weiterentwickeln und durch neue Perspektivierungen bereichern, außerhalb und innerhalb des dramatischen Genres, zum großen Missfallen von philosophisch-theologischen Konkurrenten der Dichter wie insbesondere Platon.23 Denn eine verlässliche ajrchv, einen ein für alle Mal autoritativen Anfang, einen zeitlich, räumlich und sachlich definitiven oder gar absoluten Ursprung kann es in diesen poetisch und eben nicht theologisch oder ontologisch bestimmten Darstellungszusammenhängen nicht geben. Das Besondere jedoch, das Neue und Weiterwirkende, das den Tragödiendichtern gelungen ist, hängt wohl damit zusammen, dass ihr künstlerisches Vorgehen selbst als reflektierend und widerständig angesehen werden muss, dass sie, wenn es ihnen notwendig erscheint, die kulturelle und religiöse Norm durchbrechen. Insofern wäre es, zur Überraschung vieler Textkritiker, vielleicht gerade das am meisten Poetische, das von intellektueller und ästhetischer Kritik nicht zu trennen ist. Tröstliche Heilsversprechen oder geschichtsphilosophische Konstruktionen von Anfang und Ende sind aber damit offensichtlich unvereinbar.24

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Vgl. dazu (mit weiterer Literatur) Renate Schlesier: Platons Erfindung des wahnsinnigen Dichters. Ekstasis und Enthusiasmos als poetisch-religiöse Erfahrung. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 51 (2006), S. 45–60. Eine Vorstudie zu diesem Aufsatz wurde bei der Tagung „Die Konstruktion des Archaischen“ in der Villa Vigoni, Menaggio (Juli 2003) präsentiert. – Ganz besonders danke ich den Veranstaltern der Tagung „Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne“ (März 2010) für die Gelegenheit, eine ausführlichere und überarbeitete Fassung des Textes zur Diskussion zu stellen und hier zu publizieren.

Wolfgang Müller-Funk

Apokalypse und visuelle Narrative: Der Genter Altar

I. Eine nachträgliche Konferenz zum Thema: Roland Barthes im Gespräch mit Gotthold Ephraim Lessing Beginnen wir in Umkehrung der üblichen Zeitabfolge mit dem späteren Denker, mit Roland Barthes, der ähnlich wie Frederic Jameson davon ausgeht, dass das Erzählen als Kulturtechnik und das Narrative als sein Ausfluss universell sind, elementare Symbolanordnungen, um das Sein, das eines in der Zeit ist, entsprechend zu formatieren, ihm durch die Erzählung Sinn, Ordnung und Wert zu verleihen und es in der Vergegenwärtigung zu halten.1 In seinem Aufsatzband Das semiologische Abenteuer schreibt Barthes: Die Menge der Erzählungen ist unüberschaubar. Da ist zunächst eine erstaunliche Vielfalt von Gattungen, die wieder auf verschiedene Substanzen verteilt sind, als ob dem Menschen jedes Material geeignet erschiene, ihm seine Erzählungen anzuvertrauen; Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos, in der Legende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, dem Epos, der Geschichte, der Tragödie, dem Drama, der Komödie, der Pantomime, dem gemalten Bild (man denke an die Heilige Ursula von Carpaccio), der Glasmalerei, dem Film, den Comics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch.2

Die Narration ist kulturell, sexuell, sozial allgegenwärtig, es gibt keine Kultur, in der nicht erzählt würde. Ausdrücklich betont Barthes indes auch, dass die Narration nicht auf Sprache und Schrift, also nicht nur auf das symbolische Zeichensystem gesprochener Lautfolgen bzw. geschriebener Buchstabensequenzen beschränkt ist. Ausdrücklich 1

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Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. 2. erweiterte Auflage. Wien u. a. 2008, S. 280. Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/Main 1988 (Edition Suhrkamp 1441; N.F. 441), S. 102–143, 102.

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erwähnt er die Glasbilder in den christlichen Kirchen oder das religiöse Tafelbild. Mittlerweile ist uns der Begriff des visuellen Narrativs geläufig, vor allem mit Blick auf den Film, die Neuen Medien oder die Welt des Internet. Ich denke in diesem Zusammenhang an die Studien der Feministinnen Teresa de Lauretis3 und Laura Mulvey4, die insbesondere, nicht ohne Bezugnahme auf die Psychoanalyse Lacans, die Bedeutung des Blickregimes und ihre geschlechtsspezifische Aufspaltung in weibliches Objekt und männlichen Betrachter herausgestellt haben. Aber diese spannenden Beiträge zu einer Theorie des visuellen Narrativs, die sich auf semiotisch gesprochen gemischte Systeme beziehen, tangieren nicht wirklich die Grundfrage, um die es hier geht, die Frage nämlich, ob das Visuelle im Allgemeinen und, um die Terminologie der Zeichentheorie Charles Sanders Peirce zu gebrauchen, das ikonische Zeichensystem im Besonderen, das auf der Ähnlichkeit zwischen Signifikant und Signifikat beruht, überhaupt imstande ist, jene raumzeitliche Dynamik aus sich heraus zu entfalten, die für die Narration erforderlich ist. Comic, Theater und Film enthalten sprachliche Elemente, die ausreichen, in die zeitliche Abfolge eine narrative Folie einzuschreiben bzw. den Plot explizit zu machen, der mit der Bilderfolge korrespondiert. Aber damit werden die Bilder mehr oder minder eindeutig zuordbar und in die jeweilige symbolische Ordnung, in den jeweiligen Erzählbestand einer Kultur integrierbar. Der Bildabfolge des sogenannten Stummfilms, der zumeist schriftliche Informationen enthielt, wurden nicht zufällig musikalische Sequenzen unterlegt, die nicht nur die Handlungsfolge und ihre untergründige Stimmung ‚untermalten‘, sondern auch den dynamischen Ablauf der Zeit markierten. Gibt es also autonome visuelle Narrative oder funktionieren visuelle Narrative, weil in einer gegebenen Kultur immer schon ein Bestand z.B. mündlich reproduzierter Narrative vorhanden ist? Ist das visuelle Narrative am Ende doch nur eine Illustration, die der Erzählung Plastizität und Konkretheit verleiht? Ob es also visuelle Narrative gibt, die ohne die Explizitiertheit des sprachlichen Zeichensystems auskommen, bleibt eine spannende Frage, ebenso jene, ob eine Kultur denkbar wäre, in der es keine Sprache, wohl aber narrative Formationen eben ikonischer Art gibt – das war der utopische Traum des ungarischen Filmtheoretikers Bela Bálazs.5 Bei der Beantwortung dieser Fragen spielt vor allem, wie wir noch sehen werden, die zeitliche Sequenzialität eine maßgebliche Rolle. Diese war es, die der klassische Strukturalismus nicht zufällig gleichsam hintangestellt hatte. Dass die Narration vornehmlich 3

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Teresa de Lauretis: Alice doesn´t. Feminism, Semiotics, Cinema. Bloomington 1984 (Language, Discourse, Society), S. 12–36. Laura Mulvey: Visual and other Pleasures. Basingstoke u. a. 22009 (Language, Discourse, Society). Béla Bálazs: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films (1924). Frankfurt/Main 2001 (stw 1536), S. 16–23. Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Zur Modernität der Avantgarde. Medialer und ästhetischer Wandel im Kontext der Weimarer Republik: Béla Balázs. In: An Bord der Bauhaus. Zur Heimatlosigkeit der Moderne. Hrsg. von Sonja Neef. Bielefeld 2009, S. 191–207.

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ein Zeitkunstwerk ist, entging diesem fast vollständig, tauchte nur gelegentlich und am Rand auf, etwa wenn die Handlungslogik ins Visier geriet. Erst mit Ricœurs bahnbrechender Studie Temps et Récit (Zeit und Erzählung) wurde das zeitliche Element zu einem zentralen Thema6 innerhalb einer Theorie des Narrativen, die sich nun längst nicht mehr auf die literarische Erzähltheorie beschränkt. Der Clou des Buches besteht darin, dass der Autor die Mythos-Fabel-Analyse aus der Poetik des Aristoteles mit der berühmten Zeitanalyse aus den Bekenntnissen des Augustinus verwob, um das Narrativ als Medium vergegenwärtigender Vergangenheit zu bestimmen.7 Die Kernthese von Ricœur läuft darauf hinaus, dass die Erzählung auf Grund ihrer formalen Struktur diese Synthesis des Gegenläufigen ermöglicht. In der Erzählung bekommt die Zeit eine Passform. An der aristotelischen Analyse des ‚Mythos‘, des Narrativs, hebt Ricœur deren Konsonanz hervor. Das Narrativ ist also jene symbolische Konstruktionsform, die die Dissonanz in Konsonanz überführt. Das lässt sich als Leistung, aber auch als Problem interpretieren: In der Erzählung wird, rein formal, das Dissonante und Diskontinuierliche in einen kontinuierlichen Zeitfluss gebracht, damit aber auch das Irritierende gelöscht. So wird das Erzählen als Sinnstiftung gepriesen und steht zugleich unter dem Verdacht der versöhnlichen Illusion und der Lüge. Die synthetische Leistung des Erzählens, aus dem Geringfügigsten und Nichtigsten, aber auch aus dem Schrecklichsten und Sinnlosesten etwas zu machen, wird gerade unter den Bedingungen einer Modernität, die unerschrockene Genauigkeit mit sich selbst zum ethischen und ästhetischen Ideal erhebt, beinahe zwangsläufig obsolet, und zwar in jenen professionellen Erzählwerkstätten, die zum Teil hochkomplexe, formal höchst unrealistische Erzählungen hervorbringen: jene im symbolischen Feld professioneller Literatur von Proust bis Thomas Mann.8 Was Ricœur nicht erörtert, das ist die Frage, ob es visuelle Darstellungsformen geben könnte, die diese Konsonanz des zeitlich Dissonanten, wie er das ganz generell für die Erzählung angenommen hat, mit der ihr eigenen Semiose herstellt. Oder anders ausgedrückt, ob Bilder vollständige Narrative enthalten, nicht nur präsupponieren, um eine zweite, wesentliche kulturelle Bedeutung des Dargestellten freizusetzen. Damit wären wir bei Lessing angekommen. Lessing hat sich wiederum nicht ausdrücklich mit der Frage des Narrativen in den verschiedenen Künsten beschäftigt, wohl aber mit dem Vergleich zwischen visueller und sprachlich-schriftlicher Kunst. Der deutsche Aufklärer ist kein Theoretiker der Umwege. Er geht geradlinig auf sein Thema, auf sein Ziel los, wenn er Plutarch zitiert: Υλῃ και τροποις μιμησεως διαφερουσι: Bildende Kunst und Poesie unterscheiden sich in ihrem stofflichen Gegenstand wie in der Art und Weise der Nachahmung. 6

7 8

Vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 1: Zeit und historische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. München 1988 (Übergänge 18,1), S. 157–163. Vgl. ebd., S. 65–86. Vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 2: Zeit und literarische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. München 1989 (Übergänge 18,2), S. 170–259.

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Lessing unterscheidet drei mögliche Positionen. Der Liebhaber beider Künste – Lessing erwähnt Nicolai – würde die Gemeinsamkeiten herausstellen, etwa dass Poesie und traditionelle Bildende Kunst abwesende Dinge als gegenwärtig darstellen und dadurch eine scheinhafte Wirklichkeit (Illusion) generieren. Der Philosoph in der Manier seines Freundes Mendelssohn wiederum würde auf die gemeinsame Quelle beider Künste verweisen, die ästhetisch schöne Darstellung von Handlung und Gedanken, die Konzentration auf die Form. Lessing zitiert den griechischen Philosophen, Theoretiker und Gedächtnistheoretiker Simonides, der die Malerei als stumme Poesie und die Poesie als redende Malerei bezeichnet hat.9 Der Kulturkritiker, heute würden wir wohl sagen der Kulturtheoretiker Lessing indes betont, dass diese allgemeinen Regeln unterschiedlich verteilt sind und dass es zwischen beiden Künsten prinzipielle Unterschiede gibt, wie der Subtitel des Aufsatzes das ja schon programmatisch ankündigt. Gegen die falsche Harmonie und Analogie, wie sie der Ausspruch des Simonides nahelegt, ist der Lessingsche Text geschrieben. Schieben wir alle historisch bedingten Momente von Lessings Ausführungen einmal beiseite, etwa die Frage nach dem Hässlichen, das Problem der Darstellung des nackten Körpers und den Zweifel, ob man das Leiden darstellen darf oder nicht, so konzentriert sich seine Argumentation ganz auf das zeitliche Moment. Das visuelle Kunstwerk, das Tafelbild, muss sich auf den Augenblick konzentrieren und beschränken, in dem – wie bei Bernini – die von Apollo verfolgte Daphne sich in einen Baum verwandelt oder Laokoon von der Schlange erwürgt wird. Die Kunst verleiht dem Augenblick auf unheimliche Weise Dauer, sie petrifiziert ein einziges zeitliches Moment, wie Lessing mit Blick auf eine antike Darstellung der Medea konstatiert, die er – die Abwesende – gleichsam dialogisch anruft: „Durstest Du denn beständig nach dem Blute deiner Kinder? Ist denn immer ein neuer Jason, immer eine neue Creusa da, die dich unaufhörlich erbittern?“10 Im Gegensatz dazu ist der Dichter nicht genötigt „sein Gemälde in einem einzigen Augenblick zu konzentrieren“. Er kann jedes Handlungssegment aufgreifen, „wenn er will“.11 Das Drama indes, und das ist höchst aufschlussreich, wäre die „lebendige Malerei des Schauspiels“, weil jedes Handlungselement einen sprechenden Körper in einem visuellen Raum zeigt.12 Lessing führt diesen Gedanken nicht weiter aus, weil es ihm ja um die Grenze geht, nicht aber um die Überwindung in Kunstausübungen, die Malerei und Poesie miteinander verschränken, um die jeweiligen Mängel zu kompensieren und zu neutralisieren und eine zweite Wirklichkeit zu generieren, die der Gekoppeltheit menschlicher Wahrnehmung entspricht und von daher eine perfektere Illusion generiert, so wie über 150 Jahre später der Film. 9

10 11 12

Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon. Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Werke und Briefe. In zwölf Bänden. Bd. 5,2: Werke 1766–1769. Hrsg. von Wilfried Barner u. a. Frankfurt/Main 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker 57), S. 14f. Ebd., S. 34. Ebd., S. 35. Ebd., S. 36.

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Lessing geht es um die prinzipielle Differenz zwischen Epik und Bildender Kunst; und diese manifestiert sich in der unterschiedlichen Bezugnahme auf Raum und Zeit. Die traditionelle Bildende Kunst in Gestalt der Skulptur stellt ein spatiales Phänomen dar, das das Unglück des Laokoon allenfalls in einem räumlichen Nebeneinander zeigen kann. Demgegenüber erfolgt die Beschreibung der Handlungsabläufe in der Poesie nacheinander. Lessing zufolge ist die Poesie die „weitere“ Kunst, die mehr Möglichkeiten in sich enthält, Möglichkeiten, Dinge dazustellen, die „unmalerisch“ sind. Insbesondere aber vermag sie Innenwelten darzustellen, die nicht sichtbar sind. Sie vermag durch Namen eine unmittelbare Referenz zu einer Person herzustellen, während die Bildende Kunst sie durch Attribute oder Symbole scheinbar umständlich umschreiben muss. Die Malerei ist, wie Lessing es so feinsinnig formuliert, durch ein „bequemes Verhältnis des Zeichens zum Bezeichneten“13 charakterisiert. Sie verbindet ihre Zeichen im Raum und etabliert so eine durchaus relationale, aber keineswegs chronische Ordnung. Oder wie Lessing es formuliert: Sie muss der Zeit „entsagen“. Sie kann Handlungen allenfalls nebeneinander stellen, indem sie auf einem Bild mehrere Augenblicke festhält. Die Poesie indes verdankt sich – wie Lessing es lange vor Saussure und Peirce präzis formuliert – einem System nachfolgender willkürlicher Zeichen, das eine sequentielle Ordnung etabliert, die strukturell besehen zeitlich ist. Das „Zeitgefüge ist das Gebiet des Dichters so wie der Raum das Gebiete des Malers.“14 Die Malerei wählt den prägnanten Augenblick, die Poesie beschreibt z.B. eine einzige Eigenschaft des Körpers und nach und nach – die Beschreibung wäre gleichsam die suspendierte Zeit – all seine anderen, sozusagen Punkt für Punkt. In der Beschreibung, die sich dem gemalten Bild annähert, schrumpft das, was man die erzählte Zeit genannt hat, auf Null, sie ist sistiert, während die Erzählzeit, der sequentielle Ablauf des Erzählens, sozusagen weiterläuft. Was Lessing, der spätere Dramentheoretiker, unterschlägt, ist, dass die bildliche Darstellung, das ikonische Zeichensystem, Plastizität erzeugt, körpernah und konkret ist, Evidenz erzeugt. Vor allem aber erfolgt die Erfassung des Signifikats, die Kenntnis des kulturellen Codes vorausgesetzt, überaus schnell. Ikonische Systeme sind, wie der romantische Mythenforscher Friedrich Creuzer schreiben wird, tendenziell brachylogisch,15 symbolisch langsam. Indirekt kommt dies in Lessings Argumentation zum Vorschein, wenn er den Malern und Bildhauern empfiehlt, die Poesie nachzuahmen, und zwar so, dass es den dieser Kunst inhärenten Möglichkeiten entspricht. Dass der Ästhetiker der Aufklärung die Möglichkeiten der Abstraktion höher bewertet als die plastische Epiphanie des Konkreten, darf nicht verwundern, genausowenig 13 14 15

Ebd., S. 114. Ebd., S. 130. Friedrich Creuzer: Symbolik und Mythologie der alten Völker besonders der Griechen. Theil 1. Leipzig 21819, S. 57, § 28. Vgl. auch Wolfgang Müller-Funk: Die Rückkehr der Bilder. In: Macht und Ohnmacht der Phantasie. Hrsg. von Dietmar Kamper. Darmstadt 1986 (Sammlung Luchterhand 609), S. 38–63.

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wie die in der romantischen Entgrenzungsästhetik antizipierte Entwicklung der modernen Kultur, die Grenze zwischen den Zeichensystemen durch Mischungen zu unterlaufen. Eine performative und dynamische Kunstausübung, die ohne die Verkopplung von Sprache, Körpersprache, Bühnenbild und Musik, also durch einen semiotischen Mix, nicht denkbar ist, hat es also schon zu Zeiten Lessings mit Theater und Oper gegeben. Damit sich Roland Barthes und Gotthold Ephraim Lessing streiten könnten, und das hieße auch, sich darüber zu verständigen, worin sie sich nicht einig sind, müssten wir denn klären, wie unabhängig visuelle Narrative von sprachlichen sein können und ob sie nicht – im Falle ganz bestimmter Narrative – etwas darstellbar machen, was der Poesie nicht so ohne weiteres gelingt, wo die literarische Kunst umständlicher wirkt als die Malerei, so wie etwa im Falle der Beschreibung, die man ja auch als eine Nachahmung der visuellen Kunst durch die sprachlich formatierte Literatur auffassen kann.

II. Zur strukturellen Eigenart apokalyptischer Narrative Roland Barthes hat in seiner lockeren und losen Aufzählung zwei Beispiele für visuelle Narrative gegeben, die bei Lessing interessanterweise nicht vorkommen, nämlich die Glasmalerei und das gemalte Bild. Er erwähnt zum Beispiel Vittore Carpaccios Heilige Ursula. Dieses ist aber kein einzelnes Bild, sondern eine Bildfolge, die die Geschichte der Heiligen erzählt – der Traum der frommen Frau bildet dabei den dramatischen Höhepunkt der Erzählung. Aber auch Glasbilder, soweit sie nicht einzelne Personen darstellen, werden in Kirchen oftmals als Medien für die Darstellungen biblischer Begebenheiten verwendet. Bildsequenzen gibt es natürlich auch in der Antike, die AltarFriese (Pergamon-Altar) sind das vielleicht bekannteste Beispiel, wobei wie bei der Schrift auch eine lineare Reihenfolge gegeben sein kann, aber nicht muss.16 Aber was Lessing, der sich an keiner Stelle mit der christlichen Ikonographie beschäftigt, zudem entging, ist die Tatsache, dass mit der christlichen Heilsgeschichte ein ganz neues narratives System kulturgeschichtlich Einzug hielt: Ich meine das apokalyptische Narrativ vom Ende der Zeit, ein überaus dynamisches und dramatisches Narrativ, das, wie noch zu zeigen sein wird, sich von der Logik des Mythos, aus dem Lessings Beispiele, voran der Laokoon, stammen, maßgeblich unterscheidet und die rein lineare Zeit transzendiert. Das ikonische System scheint besonders gut geeignet, den biblischen Erzählungen ein entsprechendes symbolisches Format zu geben, einmal weil es, die Kenntnis der entsprechenden Codes vorausgesetzt, universal, das heißt unabhängig von den ja stets regionalen symbolischen Zeichensystemen der Sprache ‚gelesen‘ werden kann, zum anderen aber scheint die spezifische Zeitlichkeit, die das Christentum aus-

16

Vgl. z.B. den Altaraufsatz in der Alten Kathedrale von Salamanca, die das Leben Christi und Marias darstellen. www.universpain.com/Spanisch/Monuments-Salamanca.php (05.04.2011).

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zeichnet, das man oftmals mit der Dominanz des Räumlichen bei den Griechen kontrastiert hat, im ikonischen Zeichensystem besser darstellbar zu sein. In Die Kultur und ihre Narrative habe ich die Apokalypse als eine ganz spezifische Matrix beschrieben. Ich möchte mich im folgenden auf einige formale Momente beschränken, zumal die kulturgeschichtliche Bedeutung dieses Narrativs Bände füllen könnte.17 Mit dem Mythos (im engeren Sinn) und der neuzeitlichen Utopie hat die Apokalypse gemeinsam, dass sie eine besondere zeitliche Struktur aufweist, die sie von allen anderen narrativen Typen und Prototypen unterscheidet. Die überwältigende Mehrheit von Narrativen sind Vergegenwärtigungen des Vergangenen im Sinne der Zeittheorie des Augustinus. Sie enthalten zwei Zeitebenen, t1 und t2, die zuweilen verborgen bleiben. So beinhaltet das erzählerlose Erzählen die Möglichkeit, Zeitgleichheit zwischen Erleben und Schreiben zu suggerieren. Ähnlich funktioniert der Film, der mit dem Phantasma und der Illusion des vor laufender Kamera ausgeübten Lebens spielt. Mythos, Apokalypse und Utopie haben gemeinsam, dass in ihnen die Zeit auf jeweils eigentümliche Weise ausgefällt ist. Mythos und Epos haben, worauf bereits Bachtin18 hingewiesen hat, einen auch zeitlich nicht greifbaren Erzähler, dank dessen die erzählte Zeit t1 unbestimmbar bleibt, in eine unvordenkliche Vergangenheit zurückweist. Die Stimme suggeriert ein Sprechen aus der Vorvergangenheit, die über die Vergangenheit noch Spuren in der Gegenwart hinterlässt, ohne dass diese Vergangenheit greifbar würde. Die Stimme des mythischen Erzählers enthält die Illusion der Zeugenschaft, des in der unvordenklichen Vergangenheit Dabei-gewesen-Seins, so wie uns das Diorama der Milleniumsausstellung, die den ungarischen Nationalmythos enthält, die ungarische Landnahme durch König Arpad, in einem Tigersprung in diese Zeit vor der Geschichte versetzt. Wie der mythische Erzähler, so imaginiert und versetzt sich auch der Maler dieses mit fiktiven Fundstücken ergänzten Rundgemäldes in diese Zeit der Anfänglichkeit, in die er den Rezipienten führt. Die radikalste Form des Mythos ist jener, der auf einen unvordenklichen Ursprung verweist, der zugleich ein Ur-Sprung der Sprache und ihres Binarismus ist. Die zeitliche Unbestimmtheit des Erzählaktes generiert noch andere Qualitäten: Dauer, Kontinuität und Unveränderlichkeit. Weil der Erzählakt scheinbar ort- und zeitlos ist, verweigert sich der Mythos seiner Kontextualisierung. Das plusquamperfektische Vorgestern verschmilzt mit der Gegenwärtigkeit des Jetzt. Dies wird in der Moderne dementiert. Insofern bedeutet die Arbeit am Mythos, wie ihn die moderne Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts unternommen hat, nicht bloß eine parodistische Wiederholung

17 18

Müller-Funk (Anm. 1), S. 287–308. Vgl. Michail Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik (1975). Aus dem Russischen von Michael Dewey. Hrsg. von Edward Kowalski, Michael Wegner. Frankfurt/Main 1989 (Fischer-Taschenbücher 7418), S. 221ff.

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der mythischen Erzählung, sondern durchbricht zugleich die narrative Logik des mythischen Narrativs.19 Die Utopie, die nicht selten als ein neuzeitliches Gegenstück zum Mythos angesehen worden ist, verweist indes, und abweichend von den meisten narrativen Standardtypen, in die Zukunft. Utopie ist im Sinne des Augustinus Vergegenwärtigung des Zukünftigen, dessen, was erwartet wird. Aber im Gegensatz zum Mythos, der das Vergessen der Gegenwart und der an sie stets angrenzenden jüngsten Vergangenheit impliziert, führt uns das klassische utopische Narrativ nicht in eine uneinholbare Zeit, sondern das, was als Zukunft gedacht wird, historisch zunächst einmal im Sinne einer positiven Erwartung oder einer Alternative zur eigenen Kultur, wird in einen anderen fremden Raum verlegt. Das mag damit zusammenhängen, dass sich seit der Neuzeit der Raum geöffnet hat, ästhetisch durch die Zentralperspektive, politisch durch die Entdeckung außereuropäischer Welten, deren unbekannte Räume Projektionsflächen des Zukünftigen werden. Überhaupt ist der Überhang des Räumlich-Geometrischen, der mit der Idee einer perfekten stabilen Ordnung korrespondiert (hier läge die Ähnlichkeit zum vormodernen Mythos) im utopischen Narrativ auffällig. In jedem Fall verweist uns der starke Druck auf die Tatsache einer Asymmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft, zumindest im Akt des Erzählens, das doch etwas formatiert, was schon geschehen ist. Wo die Zukunft nicht in den fernen Raum projiziert wird, stellt sich sehr bald jene eigentümliche Zeitform ein, die man als Futur II bezeichnet, als futurisches Perfekt. Das Besondere an der apokalyptischen Erzählung ist, dass sie auf ein Ende zusteuert, das das Ende schlechthin wäre: „Aufhebung“ der Zeit (durchaus im Hegelschen Sinn), indem das Ende der Zeit eine doppelte Bedeutung hat: das quantitative, letzte Ereignis der Weltgeschichte; Ende der Zeit überhaupt, radikale unvorstellbare Gegenwärtigkeit. Und drittens bedeutet radikale Offenbarung, dass es kein Geheimnis mehr geben wird, dass alles in vollständiger Transparenz erstrahlen wird. Johannes von Patmos Traumvision ist eine vorweggenommene Zukunft. Der vorFreudsche, antike, mittelalterliche, ja sogar der romantische Traum ist futurisch bzw. postfuturisch. Die Zukunft des absoluten Endes wird ausgemalt und im klassischen Gestus der Vergangenheit erzählt. Die Vision des Johannes von Patmos weist in eine unabsehbare Zukunft, deren Nähe und Ferne nicht berechenbar ist und die womöglich, je länger das Ende der Welt ausbleibt, so weit in die Zukunft vorausweist wie der Mythos in die Vergangenheit zurückführt. Die Vision, die stattgefunden hat und die der Seher beglaubigt, so wie vor ihm all die jüdisch-alttestamentarischen Propheten, in deren Tradition er sich einschreibt, hat stattgefunden, sie ist perfektisch, abgeschlossen, und sie wird immer wieder in den verschiedensten Medien wiederholt, erzählt und gelesen. Ihr Gegenstand ist eine Zukunft, die so dargestellt ist, dass sie sich schon ereignet hat. Offen ist nur, wann das Ende der Zeiten eintreten wird. 19

Ebd., S. 221ff.

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In der säkularen nach-religiösen narrativen Matrix der Apokalypse ist nur der Schrecken geblieben, der weder heilsam noch heilsbringend ist, weil durch die Säkularisierung das entscheidende narrative Glied herausgebrochen ist: das Heil am Ende der Zeiten. Die säkulare Apokalypse, atomar, ökologisch oder auch ganz natürlich, steht für einen Schrecken, der aber keine Kata-Strophe mehr ist, weil es keine Wendung gibt, so wie in der narrativen Logik des Heilsgeschehens. Am deutlichsten lässt sich dies bei dem Philosophen Günter Anders zeigen, dessen gesamtes Werk von einem säkularisierten, apokalyptischen narrativen Dispositiv unterlegt ist. Anders hat die postfuturische Struktur dieses Erzähltyps durchaus durchschaut, wenn er seinen Noah mit einem Kaddisch, einem Klagegebet, durch die Straßen laufen lässt.20 Sein ‚Held‘ trauert über den Untergang der Menschheit, weil es nach der Katastrophe niemand mehr geben wird, der klagen kann. Ganz nebenbei weist dies darauf hin, dass das Untergangsszenario in der Johanneischen Apokalypse sich sozusagen intertextuell auf die Katastrophen vor der Epiphanie des Messias bezieht: auf die Sintflut, auf die Geschichte von Sodom und Gomorra, auf die babylonische Sprachverwirrung, auf die katastrophalen Ereignisse, die die alttestamentarischen Propheten voraussagen. All diese Erzählungen sind als säkulare Erzählvarianten naheliegend, weil sie kein Heilsversprechen beinhalten, sondern sie sind sprechakttheoretisch besehen Warnungen: Es wird von einer vergangenen Zukunft erzählt, und zwar deshalb, damit sie nie eintritt. Das macht die paradoxe Position des warnenden Propheten aus: Ist er ein guter, und das bedeutet auch wirksamer Prophet, wenn das apokalyptische Endszenario nicht eintritt, weil die Menschen seine Warnungen beherzigen? Oder ist er ein wahrer Prophet, weil er schon früh sah, was sich einigermaßen unvermeidlich ereignen musste? Anders als der Mythos hat die jüdischchristliche Endzeitgeschichte einen identifizierbaren Sprecher, der von der Gegenwart, die mit der vergangenen Zukunft enggeführt ist, spricht. Die Apokalypse ist ursprünglich keine Warnung, sondern eine fromme und überwältigende Verheißung, die die Vernichtung von Menschen, aber nur der bösen, mit einschließt. Die Mitglieder der Erzählgemeinde sind davon tendenziell tangiert, auch wenn das Moment des Jüngsten Gerichtes das Moment der Drohung und Warnung, wie wir es aus der alttestamentarischen Prophetie kennen, durchaus enthält. Die Apokalypse unterscheidet sich darin, dass sie dem Schrecken ein heilsames und endgültiges Ende, das ein Ende der Zeit, der Geschichte und des Erzählens wäre, nachfolgen lässt. Oder werden die auferstandenen Frommen auf der neuen Erde sich der Geschichte, die zum ewigen, das heißt zeitlosen Heil führt, entsinnen können? Wohl eher nicht. Vielmehr kehrt die Geschichte zum Anfang zurück. Wie wir aus den Zeit-Spekulationen des Augustinus wissen, ist die Zeit selbst eine Schöpfung Gottes. Vor der Erschaffung der Zeit gab es keine Zeit.

20

Günther Anders: Die beweinte Zukunft. In: Ders.: Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen. München 1981, S. 1–10.

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Das Ende der Zeit bedeutet nämlich, dass es nach dem Jüngsten Tag überhaupt keine Zeit mehr geben wird. Am Ende der Zeit implodiert diese selbst, hebt alle Zeit auf. Aber das ist nicht mehr erzählbar in jener Erzählung, die eigentlich auch in ihrem Selbstverständnis die letzte Erzählung sein muss.

III. Textpassen und Bildpassagen: Die biblische Apokalypse des Johannes von Patmos und der Genter Altar Fassen wir zunächst einmal das Geschehen in der biblischen Apokalypse des Johannes von Patmos zusammen und verwenden dabei eine vorgefertigte Zusammenfassung aus einer einschlägigen Website: auch deshalb, um nicht durch meine eigene Zusammenfassung das Material im Hinblick auf meine narratologische Analyse vorzuformen: In den Eingangskapiteln 1-3 schaut Johannes in einer ersten Vision sieben Leuchter, welche die sieben Gemeinden in Kleinasien bedeuten, an die er sieben Sendschreiben schicken soll. Mitten unter den Leuchtern steht einer, der aussieht wie ein Mensch; sein Haar ist wie schneeweiße Wolle, seine Augen sind wie Flammen; in der rechten Hand hält er sieben Sterne, und aus seinem Mund kommt ein Schwert. In den Kapiteln 4 und 5 erlebt der Seher in der Vision des himmlischen Thronsaales, wie das Lamm, das Sinnbild des durch seinen Opfertod als Erlöser, Sieger und Herrscher ausgewiesenen Jesus, mit der Entsiegelung, d. h. Enthüllung und Erfüllung des göttlichen Heilsplanes beauftragt wird, der in dem ‚Buch mit sieben Siegeln‘ enthalten ist. Nun folgen in den Kapiteln 6-18 mehrere Visionsreihen über die Ereignisse bis zur Endzeit, die aber nicht in Form einer fortlaufenden Geschichte, sondern unter jeweils neuen Gesichtspunkten geschildert werden: Kap. 6-11 stellen die Schrecken der kommenden Epochen bis zur Wiederkunft Christi und die wunderbare Rettung der Erwählten in der Drangsal dieser Zeit vor Augen, wobei das Ganze durch das Öffnen der verschiedenen Siegel und – nach dem siebenten Siegel – durch das Ertönen von sieben Posaunen gegliedert ist. Kap. 12-14 berichten erst von der Verfolgung des apokalyptischen Weibes durch den Satansdrachen und seiner Besiegung durch den Engel Michael; dann von den zwei Tieren, die aus dem Meer und der Erde aufsteigen und die Menschheit, außer der Schar der Auserwählten, verführen. Kap. 14, 6 bis Kap. 18 künden das Gericht über alle Erdbewohner an, das durch sieben Engel, die Schalen des Zornes über die Erde ausgießen, vollzogen wird; dabei wird vor allem die Vernichtung der Hure Babylon, einem Symbol Roms und der gottlosen Weltmacht, geweissagt. Auf diese Bilder der Drangsale bis zur Endzeit folgt in den Kapiteln 19 und 20 die Wiederkehr Christi, der, auf einem weißen Pferd reitend und im Mund ein scharfes Schwert, das Tier und seinen falschen Propheten, den Antichrist, samt seinen Scharen besiegt. Der Drache wird im Abgrund angekettet und Christus errichtet für die auferstandenen Gerechten auf Erden ein tausendjähriges Reich des Friedens. Nach dieser Zeit stürmen Satan und seine Scharen, Gog und Magog, noch einmal gegen das Volk Gottes an, werden aber vernichtet, und das endgültige Weltgericht, das Jüngste (= letzte) Gericht, über alle Lebenden und Toten beginnt. Die Apokalypse schließt in den Kapiteln 21 und 22 mit den Bildern des neuen Himmels und der neuen Erde, wo Gott von nun an im Himmlischen Jerusalem, der heiligen Stadt, die vom Himmel herniedersteigt, inmitten der Menschen wohnt. Dann wird es keinen Tod mehr geben

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und keine Tränen. Und der, der auf dem Throne steht, spricht: „Ich mache alles neu. Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende.“21

Das ist also eine klassische philologische Zusammenfassung der Apokalypse, wie sie uns als schriftliche religiöse Erzählung vorliegt. Ich konfrontiere sie mit einer berühmten bildlichen Version, dem Genter Altar, von Jan und evtl. Hubert van Eyck:

Abb. 1: Genter Altar (geschlossen)

21

kunst.gymszbad.de/kunstgeschichte/motivgeschichte/apokalypse/texte/bibel-johannes.htm (12.2.2010).

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Abb. 2: Genter Altar (offen)

Dieser Altar ist unzählige Male, auch von prominenten Kunsthistorikern wie Ernst Panofsky und Hans Belting interpretiert worden, deren Interpretationen indes für die vorliegende Analyse nicht von Bedeutung sind. Die zum Teil kriminalistischen Fragen der Forschung stelle ich dabei zurück, so etwa die Frage, wer diesen Altar gemalt hat (das wäre semiologisch besehen eine indexikalische Frage, die das Bildwerk als Spur untersucht und nach der ‚Handschrift‘ ihres Malers fragt) oder – was damit zusammenhängt – ob es sich um ein einheitliches Werk handelt oder ob es aus heterogenen Teilen besteht, die später zusammengefügt worden sind. Einen Augenblick lang kann man auch den Zustand vollständigen kulturellen Unwissens simulieren, was uns die Besonderheit dieses visuellen Narrativs vor Augen führt. Anders als im Falle einer fremden, unverständlichen Textur bzw. einer unlesbaren Schrift, in der wir lediglich die betreffenden Signifikanten betrachten können, die uns das Ganze als ein Buch mit sieben oder auch mehr Siegeln erscheinen lässt, können wir auf dem Bild etwas erkennen. Als Menschen aus einer anderen Kultur, die weder die fragliche verschriftlichte Erzählung noch den christlichen Gesamtkomplex kennen, erkennen wir die Natur, die Züge von Menschen in den unteren Bildtafeln, wir erkennen vermutlich auch, dass die abgetrennten kleineren Bildtafeln trotz der Rahmen mit dem mittleren Teil konvergieren. Wir werden auch vermuten, dass auf diesen Bildern irgendetwas geschieht und auch die zentrale Position des Lammes, das auf einem Podest steht, bemerken; wir können die Landschaft beschreiben. Aber rätselhaft wird wohl der Zusammenhang zwischen den oberen einzelnen Bildtafeln bleiben (etwa die beiden nack-

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ten Menschen am Rande und die königliche Gestalt in der Mitte) und dann wiederum zwischen der oberen und der unteren Bildhälfte. Wir wissen, dass es sich um eine Geschichte handeln dürfte, aber wir kennen ihren Inhalt nicht, weil wir nur eine primäre Dekodierung vornehmen können. Wir wissen auch nicht, wie die einzelnen Teile zusammenhängen und ob es eine bestimmte Leserichtung gibt. Und wie sind z.B. die Grenzen zwischen den Bildern zu verstehen? Die wenigen schriftlichen lateinischen Verweise dürften uns nicht sehr viel weiterbringen, sie könnten uns auch in die Irre führen. Vollkommen rätselhaft muss etwa erscheinen, warum auf dem geschlossenen Teil des Artefakts der Schriftzug neben der weißgekleideten Frau im Vergleich zu jenem auf der gegenüberliegenden Seite mit dem geflügelten Menschen auf dem Kopf steht. Unsere ohnehin schon von einer hypothetischen, ganz anderen Kultur imprägnierte Wahrnehmung stößt also schnell auf prinzipielle Grenzen. Ganz offenkundig bedarf es eines sekundären Codes, um die Bedeutung des Narrativs zu ‚knacken‘. Diese Ebene ist nun semiologisch gesprochen nicht mehr rein ikonisch-bildlich, sondern trägt, darin der Sprache durchaus verwandt, symbolische Momente in sich. Zum einen geht es darum, die Menschen auf der Bildsequenz zu identifizieren; und zum anderen geht es wohl darum, die Bedeutung der verschiedenen Geschehenselemente, ähnlich wie in einem Akt des Lesens, zu klären. Damit betreten wir also eine Ebene, wo es in der Tat um das Lesen geht, das Lesen der Farben z.B. der großen übermächtigen Gestalten in der Mitte, es geht um die Bedeutung des blutenden Lamms oder um den achteckigen Brunnen im unteren Hauptbild. Selbst die Natur und die Stadt dürften eine Bedeutung in sich tragen, die über jene rein referentielle hinausgeht: Stadt oder grüne weite Landschaft. Je genauer wir das Bild betrachten, desto mehr wird uns deutlich, wie es gleichsam von Zeichen übersät ist, von einigen wenigen sprachlichen etwa, vor allem aber von piktographischen. Man denke etwa an die vielen Pflanzen, die nicht für sich sprechen, etwa die weißen Lilien, die roten Rosen, die Akelei, die Märzenbecher und die goldenen Sterne.22 Oder auch die Farben, die ganz konventionelle Bedeutungen haben. All diese sekundären Bedeutungen sind – wie die Zeichen des Buchstabensystems – einigermaßen willkürlich, auch wenn sie eine große Anschauungskraft besitzen. Man sieht der weißen Lilie nicht an, dass sie z.B. für die Unschuld und Jungfräulichkeit der Frau steht. Kurzum, um mit Roland Barthes zu sprechen,23 eine Milchstraße von Signifikanten, wenn man hinzufügt, dass diese bedeutungstragenden Elemente in ihrer Korrespondenz miteinander noch weitere Bedeutung generieren! Einer jüngeren Ikonographie folgend, jener des Kunsthistorikers Volker Herzner, der sich auf eine beeindruckende Masse von vorhergegangenen Publikationen bezieht,24 ließe sich folgende Lesart vorschlagen: Das obere große Bild in der Mitte zeigt links die Jungfrau Maria und rechts Johannes den Täufer, den Mann, der unter dem Prachtge22 23

24

Vgl. die Abbildungen auf Seite 59 und 60. Roland Barthes: S/Z. Aus dem Französischen von Jürgen Hoch. Frankfurt/Main 1987 (stw 687), S. 18. Vgl. Volker Herzner: Jan van Eyck und der Genter Altar. Worms 1995.

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wand ein Kamelhaarfell trägt. In der Mitte – aber hier beginnt schon der Streit der Gelehrten – befindet sich der Pantokrator, der Herr der Herrlichkeit, den Herzner mit guten Argumenten mit Jesus Christus identifiziert, der hier in seinem königlichen Aspekt gezeigt wird. Es ließe sich aber auch an Gottvater denken, was den Vorteil hätte, dass sich von oben nach unten sozusagen symmetrisch zum hoch oben thronenden Dreigestirn eine Trinität ergäbe, Vater, Sohn (Lamm) und Heiliger Geist (Taube).25 Die linke bzw. die rechte innere Seite stellen singende bzw. musizierende Engel dar, während wiederum zueinander symmetrisch sich Adam und Eva nach dem Sündenfall – sie halten ihre Geschlechtsteile bedeckt – gegenüberstehen, was mich zu der Hypothese bringt, dass der Altar von links nach rechts gelesen werden kann. Über den beiden nackten ersten Menschen befindet sich noch eine weitere Bildgeschichte, die die Geschichte von Kain und Abel erzählt. Das Bild unten in der Mitte, kleiner als das obere, aber wegen der zentralen, schier grotesken Position des Lamms durchaus ein Blickfang, stellt die Verehrung des Lamms durch Gruppen von heiligen und alttestamentarischen Männern, Propheten, Aposteln, Evangelisten sowie Jungfrauen, dar. Der Altar, auf dem das blutende Lamm steht, ist prächtig geschmückt und von einer Gruppe von Engeln umgeben. Unmittelbar darüber befindet sich eine überirdische Sonne, in der eine Taube zu sehen ist. Das Blut des Lamms, das einzig verstörende Moment in dem ansonsten unheimlich heiteren und friedlichen Bild, wird im doppelten Sinn in einem Kelch aufgefangen. Es sind Weihrauchfässer und Passionswerkzeuge zu sehen, letztere verweisen auf die Kreuzigung, die aber selbstverständlich nicht ins Bild kommt. Vorne befindet sich ein achteckiger Brunnen, der das Wasser des Lebens enthält, sowie ein geflügelter Drache. Von rechts her strömt ein Menschenzug auf die Mitte zu: Päpste und Bischöfe sowie Märtyrer, wie z.B. der Heilige Stephanus und der Heilige Livinus, dem man die Zunge abgeschnitten hat; von links her treffen Propheten und alttestamentarische Gestalten sowie Figuren aus der Antike (wie vielleicht Vergil) ein. Das Bild wird von einer grünen, mediterranen Landschaft geprägt; im Hintergrund bauen sich die prächtigen Bauten und Türme einer hoheitsvollen Stadt auf. Die vier Seitentafeln stellen weitere Heerscharen dar, die gerechten Richter und die Soldaten Christi (äußere bzw. innere Tafel links), die Pilger und die Eremiten (äußere bzw. innere Tafel rechts). Während die fünf unteren Bilder einen gemeinsamen Hintergrund zeigen, die schon erwähnte idyllische Ideallandschaft, ist die Landschaft im Vordergrund links und rechts von dem Hauptbild durchaus ‚irdisch‘ (Felsen, Braun). Der Bilderrahmen, so viel lässt sich hier schon sagen, markiert eine zeitliche Differenz. Während die Menschen im unteren Mittelbild schon ‚da‘ sind bzw. gerade ankommen, sind die Menschen auf den linken und rechten Bildern noch unterwegs, auch wenn der Chronotopos, der Weg zum Heil, schon sichtbar wird. Die Bilder des geschlossenen Altars zeigen unten die Stifter des Altars, Joos Vijd und Elisabeth Borluut, die zu zwei Gestalten beten, die sich als Johannes der Täufer 25

Ebd., S. 32.

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und als der Evangelist Johannes identifizieren lassen – im Kontext der christlichen Überlieferung handelt es sich bei dem bartlosen, weiblicheren Evangelisten um jene Erzählstimme, die in der Apokalypse spricht. Darüber befindet sich das Verkündigungsgeschehen mit dem Erzengel Gabriel und der Jungfrau Maria. Interessant sind zwei Details: die leere Mitte, die den Blick vom Innenraum durch das Fenster in den Außenraum der Stadt lenkt, sowie die Schriftzeichen, das eine in der gewohnten Weise, das andere auf den Kopf gestellt, angeblich damit Gott lesen kann, was Maria dem Erzengel antwortet, die positive Antwort auf die ihr gestellte Mission, den Gottessohn zur Welt zu bringen. In welchem Verhältnis steht nun das visuelle Bild, das ganz offenkundig die Apokalypse zum Ausgang hat, zur schriftlich fixierten, auf Griechisch verfassten, in der lateinischen Vulgata verfügbaren Erzählung? Handelt es sich wirklich nur um eine Illustration, um eine bildliche Nachahmung biblischer Poesie, salopp gesprochen um eine ‚Verfilmung‘, bei der die Bilder nicht selbst in Bewegung geraten, sondern nur durch ihre Korrespondenz durch den Betrachter? Denn dem Betrachter und der Betrachterin, für die stellvertretend das Stifterpaar steht, wird einiges abverlangt, eine Menge an kulturellem Wissen, aber auch die Fähigkeit zu einem aktiven Lesen, das ich als ein schweifendes bezeichnen möchte. Zwischen jedem der einzelnen visuellen Narrative lassen sich Bezüge herstellen, und durch diese Lesekombinatorik wird ein Wissen generiert, das nicht einfach auf den Bildern dargestellt ist. So wird der Betrachter zum Produzenten der Bilderzählung, der ‚Leser‘, die ‚Leserin‘ zum Autor, zur Autorin, die die Bildgeschichten jenes Künstlers mehr lesend als unmittelbar wahrnehmend explizit machen. Kultureller Kontext ist der Gottesdienst, in dessen Zentrum der Altar und das Lamm stehen. Denn das Abendmahl bedeutet ja nicht nur eine Erinnerung im Sinne eines Gründungsaktes, sondern antizipiert auch, wie das übermächtige Lamm sinnfällig macht, die Zukunft des Heilsgeschehens. Ganz offenkundig erzählt das Altarwerk zu Gent eine andere Geschichte, und es erzählt auf Grund seiner medialen Eigenart auch ganz anders als der schriftliche Text. Der Bildkomponist hat sich dafür entschieden, drei bzw. vier nicht zusammenhängende Textstücke miteinander zu verbinden und einige zentrale narrative Elemente des apokalyptischen Geschehens auszusparen. Bei den ausgewählten Handlungssegmenten und den mit ihnen korrespondierenden Textstücken handelt es sich um: Das Bild der Heerscharen, die zum großen heilsgeschichtlichen Ereignis strömen (Apk 7, 2–12) Das Bild des Lamms auf dem Berg Zion (Apk 14) Das Bild des neuen Jerusalem (Apk 21, 1) Das Bild des lebendigen Wassers: der Brunnen (Apk 22, 1)

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Wolfgang Müller-Funk

Die Textpassage 7, 2–12 verweist auf die Liturgie zu Allerheiligen, zu jenem Fest, das seit der Christianisierung des Pantheons Anfang des 7. Jahrhunderts begangen wird, das eben nicht nur ein Gedenken an die Verstorbenen darstellt, sondern sich auf das apokalyptische Heilsgeschehen bezieht, auf die Heerscharen des Jüngsten Tages. Aber der eigenwillige Bildschöpfer hat sich nicht auf dieses Geschehensmoment im apokalyptischen Narrativ beschränkt, sondern kombiniert dieses mit der Epiphanie des Lamms sowie mit dem Schluss der Apokalypse. Wie Herzner überzeugend zeigen kann, befinden wir uns also nach der Zeit des Jüngsten Gerichts und nach den Kämpfen mit den bösen Mächten, die vollkommen aus der Ikonographie ausgeschlossen bleiben, nicht visuell umgesetzt, nicht ‚verfilmt‘ worden sind.26 Nur dadurch entsteht jenes überwältigend lichte und freundliche Geschehen in dem Bildwerk, das sich wie gesagt kombinatorisch erschließt. Dass dem guten Ende im apokalyptischen Narrativ ein Ende mit Schrecken vorausgegangen ist, hat van Eyck, von dem es übrigens ein dem Sujet entsprechendes Bild des Jüngsten Gerichts gibt, in dieser Bilderzählung gänzlich ausgefällt. Wir befinden uns gleichsam schon am heilsgeschichtlichen rettenden Ufer, wir, das sind die dargestellten Figuren, das ist aber auch die christliche Erzählgemeinde, die sich durch das Altarbild konstituiert. Räumlich befinden wir uns bereits auf der neuen Erde und zeitlich ganz kurz vor dem Ende der Zeiten. Dieses wird, das ist ein bemerkenswertes Detail, angebrochen sein, wenn die Frommen von den Seitenbildern den heilsgeschichtlichen Raum mit dem Lamm betreten haben werden. Das Geschehen von Allerheiligen wird durch den Triumph Gottes und des Lamms ersetzt.27 Dafür finden sich in diesem kombinatorischen Bilderzählwerk andere Figuren und Geschichten, die in der Apokalypse nicht vorkommen, etwa Maria und Johannes der Täufer, die Verkündigung, der Sündenfall, die Geschichte von Kain und Abel. Sie stellen Eckpunkte der Heilsgeschichte dar, ohne die die apokalyptische Endzeitgeschichte undenkbar wäre. Insofern enthält der Altar einen Überschuss an Erzählmaterial wie an Interpretation. Er etabliert eine Handlungslogik und weitet das narrative Geschehen auf den biblischen Gesamttext aus, wobei er sich für eine fragmentarische und exemplarische Methode entscheidet. Um nun zu meiner entscheidenden These zu kommen: Diese Differenz zwischen schriftlicher und visueller Erzählung rückt nun – gegen Lessing gesprochen – die Leistung des visuellen Narrativs schlaglichtartig in den Vordergrund. Die besonderen komplexen zeitlichen Dispositionen des apokalyptischen Narrativs kommen der kombinatorisch zu realisierenden Bildsequenz des Altares entgegen. Das räumliche Nebeneinander gestattet nämlich die Aufhebung der zeitlichen Unterschiede, wie sie durch die Figuren des Alten Testaments, der Antike, des Neuen Testaments, der Kirchengeschichte und auch das Jahr 1432 (wohl das Jahr der tatsächlichen oder auch fingierten Fertigstellung des Altars) repräsentiert sind, das zusammen mit dem Familiennamen unten auf 26 27

Vgl. ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 39.

Apokalypse und visuelle Narrative

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dem Altar prangt. Das Nebeneinander der Zeiten lässt sich auf verblüffende Weise darstellen, kombiniert innere Logik mit zeitlicher Markierung, durchbricht die lineare Logik der messbaren Zeit: Synchronizität des Ungleichzeitigen, projiziert im Nebeneinander des Raums. Es ist die Erzählung der letzten Dinge und es ist konsequenterweise auch die letzte Geschichte, die sich erzählen lässt. Das Heilsgeschehen ‚hebt‘ die Zeit im Hegelschen Sinne ‚auf‘, indem das Narrativ sie beseitigt, bewahrt sie diese. Denn so wie es vor der Erschaffung der Welt keine Zeit gegeben hat, wie Augustinus schon meditierte, wird es am Ende der Zeiten keine Zeit mehr geben. Das impliziert deren Aufhebung als Beseitigung. Das Bildwerk hebt die Zeit aber zugleich im positiven Sinne auf, weil sie das Heilsgeschehen ein letztes Mal darstellt und dabei die zeitliche Differenz zwischen den Zeiten angesichts des letzten Augenblicks aufhebt. Jedes Ereignis ist nunmehr gleich nah zum Jüngsten Tag. Das lässt sich nur postfuturisch narrativ konstruieren, erscheint aber visuell als radikal gegenwärtig: Jeder Tag ist der Jüngste Tag, wenigstens für den gläubigen Menschen, der vor dem Altar steht und sich als Teil der apokalyptischen Erzählgemeinschaft begreift. Wir, die große Mehrheit von uns, sind davon ausgeschlossen, vertrieben aus dem zweiten Paradies in zeitlich unsicherer Zukunft, die fern sein mag und doch schon da ist, dank dieses visuellen Narrativs, das mit uns als Betrachter und Betrachterinnen kaum gerechnet haben mag. Es ist tatsächlich inkompatibel mit der Dichtung, wie Lessing meint, und es unterhält zugleich eine unaufkündbare Beziehung zu Sprache und Schrift, aber es ist keine Nachahmung, keine bloße Übersetzung oder ‚Verfilmung‘. Es bringt die Stimme des prophetischen Sprechers zum Verstummen und bringt zugleich in seiner Bildlichkeit die Geschichten zueinander.

Wolfgang Haubrichs

Von der Unendlichkeit der Ursprünge: Transformationen des Mythos in der Origo gentis Langobardorum und der Historia Langobardorum des Paulus Diaconus

Si daránno un passato per sfuggire alla morte Cesare Pavese, Dialoghi con Leucó

I. In einem kleinen, in Italien um 668/71 entstandenen, eigentlich recht trockenen, Könige in ihrer Abfolge aneinanderreihenden Werk, ohne Autornamen, aber schon früh mit dem Titel Origo gentis Langobardorum („Ursprung des Volkes der Langobarden“) überliefert, findet sich die einzige Aufzeichnung eines Göttermythos, eines Ursprungsmythos, eines Mythos vom initialen Sieg und der Erneuerung des Namens eines ‚germanischen‘ Volkes, eben der Langobarden, im frühen Mittelalter.1 Es ist zugleich die 1

Edition: Origo gentis Langobardorum. Introduzione, testo critico, commento. Hrsg. von Annalisa Bracciotti. Roma 1998 (Biblioteca di cultura romanobarbarica 2); vgl. Karl Hauck: Lebensnormen und Kultmythen in germanischen Stammes- und Herrschergenealogien. In: Saeculum 6 (1955), S. 186–223, 209– 214; Reinhard Wenskus: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der früh-mittelalterlichen gentes. Köln/Graz 1961, S. 485–494 u. ö.; Rolf Hachmann: Die Goten und Skandinavien. Berlin 1970 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N.F. 43=158), S. 30f.; Stefano Gasparri: La cultura tradizionale dei Longobardi. Struttura tribale e resistenze pagane. Spoleto 1983, S. 37ff.; Hermann Moisl: Kingship and orally transmitted ‚Stammestradition‘ among the Lombards and the Franks. In: Die Bayern und ihre Nachbarn. Hrsg. von Herwig Wolfram, Andreas Schwarcz. Bd. 1. Wien 1985 (Denkschriften. Österreichische Akademie der Wissenschaften 9), S. 111– 119; Jörg Jarnut: Die langobardische Ethnogenese. In: Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern. Hrsg. von Herwig Wolfram, Walter Pohl. Bd. 1. Wien 1990 (Denkschriften. Österreichische Akademie der Wissenschaften 12), S. 97–102; Huguette Taviani-Carozzi: La principauté lombarde de Salerne (IXe–XIe siècle). Roma 1991 (Collection de l’École Française de Rome 152), S. 99– 121; Bruno Luiselli: Storia culturale dei rapporti tra mondo romano e mondo germanico. Roma 1992 (Biblioteca di Helikon 1), S. 754–763; Herwig Wolfram: Origo et Religio. Ethnic traditions and literature in early medieval texts. In: Early Medieval Europe 3 (1994), S. 19–38; Stefano M. Cingolani: Le storie

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Wolfgang Haubrichs

früheste Erzählung (zusammen mit einer noch zu erwähnenden, fast zeitgleichen Parallelüberlieferung) aus der germanischen Götterwelt, weitaus früher als die so oft beschworene, aber viel später aufgezeichnete skandinavisch-nordische Überlieferung. Zusammen mit einigen Runeninschriften2, angelsächsischen Genealogien3, Abschwörformeln4, dem Zweiten Merseburger Zauberspruch5, einigen Namen und sekundären

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dei Longobardi. Dall‘ origine a Paolo Diacono. Roma 1995 (I libri di Viella 6), S. 37ff., 94f., 101ff.; Walter Pohl: Der Gebrauch der Vergangenheit in der Ideologie der Regna. In: Ideologie e pratiche del reimpiego nell alto Medioevo. Bd. 1. Spoleto 1999 (Settimane di studio del Centro Italiano di studi sull’Alto Medioevo 46), S. 149–175, 171ff.; Ders.: Origo gentis: Langobarden. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 22 (22003), S. 183–189; Ders.: Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration. Stuttgart 22005, S. 186–190; John Stanley Martin: From Godan to Wotan. An examination of two langobardic mythological texts. In: Old Norse Myths, Literature and Society. Hrsg. von Geraldine Barnes, Margaret Clunies Ross. Odense 2003 (The Viking Collection 14), S. 303–315; Ulrich Müller: Langobardische Sagen. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 18 (22001), S. 93–102; Anders Hultgård: Religion. In: ebd., Bd. 24 (2003), S. 429–457, 449; Nicholas Everett: Literacy in Lombard Italy, c. 568–774. Cambridge 2003 (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, Ser. 4, 53), S. 87–99; Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München 2004, S. 246–249; Wolfgang Haubrichs: Amalgamierung und Identität. Langobardische Personennamen in Mythos und Herrschaft. In: Die Langobarden. Herrschaft und Identität. Hrsg. von Walter Pohl, Peter Erhart. Wien 2005 (Denkschriften. Österreichische Akademie der Wissenschaften 9), S. 67–99, 72– 81, mit weiterer Literatur; Alheydis Plassmann: Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in frühund hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen. Berlin 2006 (Orbis mediaevalis 7), S. 191–201; Dies.: Herkunft und Abstammung im Frühmittelalter. In: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 147 (2007), S. 9–39, 29; Paolo Delogu: Kingship and the Shaping of the Lombard Body Politic. In: The Langobards before the Frankish Conquest. An Ethnographic Perspective. Hrsg. von Giorgio Ausenda, Paolo Delogu, Chris Wickham. Woodbridge 2009, S. 251–274, 260f. Als Quelle zumindest der Mythos-Partien der Origo wird mit beachtlichen Gründen nicht nur orale Überlieferung, sondern ein geprägtes Lied im Stabreimspiel angenommen: Wilhelm Bruckner: Die Quelle der Origo gentis Langobardorum. In: ZfdA 43 (1899), S. 47–58; Annalisa Bracciotti: La saga di Gambara e dei suoi figli nella Origo gentis Langobardorum. In: Romanobarbarica 12 (1992), S. 81–86. Das wichtigste Zeugnis ist die Bügelfibel von Nordendorf (Kr. Augsburg), 2. Hälfte 6. Jh. Vgl. Klaus Düwel: Runenkunde. Stuttgart/Weimar 32001 (Sammlung Metzler 72), S. 63f. Erwähnt werden Wōdan und Wīgiþonar („Weihe-Donar“). Zu den angelsächsischen Königsgenealogien, die – wie schon Beda Venerabilis († 735) bezeugt – angelsächsische Königsgeschlechter, aber auch die kentischen Landnahmeheroen Hengist und Horsa auf Wodan zurückführen, vgl. David N. Dumville: Kingship, Genealogies and Regnal Lists. In: Early Medieval Kingship. Hrsg. von Peter Sawyer, Ian Wood. Leeds 1979, S. 72–104; Herbert Moisl: Anglo-Saxon Royal Genealogies and Germanic Oral Tradition. In: Journal of Medieval History 7 (1981), S. 215–248; Craig R. Davis: Cultural Assimilation in the Anglo-Saxon Royal Genealogies. In: Anglo-Saxon England 21 (1992), S. 23–36; Richard North: Heathen gods in Old English Literature. Cambridge u. a. 1997 (Cambridge Studies in Anglo-Saxon England 22), S. 111– 132; Haubrichs (Anm. 1), S. 74f., mit weiterer Literatur. Die Abschwörformel im Altsächsischen Taufgelöbnis nennt drei Götter: Thunaer, Woden und den Stammesgott Saxnot. Vgl. Elias von Steinmeyer: Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler. Nr. 3, Berlin 1916 (Deutsche Neudrucke: Reihe Texte des Mittelalters), S. 20–22. Der im 10. Jahrhundert aufgezeichnete Zauberspruch nennt die – zum Teil sonst nur noch aus dem Norden oder überhaupt nicht bekannten – Götter und Kraftwesen Phol, Uuodan, Balder sowie die

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Zeugnissen6 bezeugt sie Elemente, Götter (wie Wodan, Frea) und damit die Lebendigkeit vorchristlicher Religion auf dem Kontinent für westgermanische Gruppen (bei den Ostgermanen – Goten, Wandalen, Burgunden usw. – fehlen diese Elemente in dieser, später vor allem im Norden kodifizierten und weiterentwickelten Form).7 Diese Geschichte, unmittelbar am Anfang des Textes platziert, berichtet von einem Betrug unter Göttern, auf den sich der Ursprung eines Volkes, und – indem sich dieses Volk seiner Ursprünge in der Memoria stets erneut versicherte – auch seine Geschichte gründete. Freilich, wie wir noch sehen werden, ist der erzählte Betrug als Katalysator der Geschichte keineswegs einzigartig. Die Ursprungslegende der Sachsen gründet ebenfalls auf einem listigen Betrug.8 Die Origo der Langobarden ist aber auch deswegen bemerkenswert und einzigartig, weil sie die Ursprünge auf eine Frau gründet. Aber beginnen wir mit dem Text selbst:9 Est insula qui dicitur Sca(n)danan, quod interpretatur excidia, in partibus aquilonis, ubi multe gentes habitant; inter quos erat gens parua quae Win(n)ilis uocabatur. Et erat cum eis mulier nomine Gambara, habebatque duos filios, nomen uni Ybor et nomen alteri Agio; ipsi cum matre sua nomine Gambara principatum tenebant super Win(n)ilis. Mouerunt se ergo duces Wandalorum, id est Ambri et Assi, cum exercitu suo, et dicebant ad Win(n)ilis: «Aut soluite

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beiden Schwesterpaare Sinthgunt und Sunna, Friia und Uolla. Vgl. von Steinmeyer (Anm. 4), Nr. LXII, 2, S. 365–367; dazu Wolfgang Beck: Die Merseburger Zaubersprüche. Wiesbaden 2003 (imagines medii aevi 16). Eine nützliche Übersicht dieser sekundären Zeugnisse gibt Anders Hultgård: Wotan-Odin. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 35 (22007), S. 759–785. Auch in den Personennamen findet sich paganes Reliktgut, wie etwa die Namen mit dem Erstelement *ansiz, -uz ‚Gott aus dem Geschlecht der A(n)sen‘ bezeugen, die freilich auf dem Kontinent nach dem Zeugnis des Jordanes (6. Jh.) bereits in Richtung einer Bedeutung semidei ‚Halbgötter‘ und Heroen tendierten; ferner die mit *albaz ‚Alb, Elf, dämonische Wesen‘ zusammengesetzten Namen. Bei den Baiern (Salzburger Verbrüderungsbuch) begegnet auch noch im 8. Jahrhundert ein mit dem Begriff der Nornen, der Schicksalsfrauen, zusammengesetzter Personenname. Vgl. Norbert Wagner: Nurnhari. Eine namenkundliche Anmerkung zur germanischen Religionsgeschichte. In: Beiträge zur Namenforschung NF 25 (1990), S. 287–289. Ob der göttliche Spitzenahn *Gaut (< Gapt) der Goten und der Amaler bei Jordanes in seinen Getica (6. Jh.) wirklich mit dem nordischen Odin-Gautr identifiziert werden darf, oder nicht einfacher ein Stammesgott der Goten ist, bleibt fraglich. Vgl. Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie. Stuttgart 21995, S. 124f. (Gaut, Gautr, Geat); Hultgård (Anm. 6), S. 760f.; Herwig Wolfram: Gotische Studien. Volk und Herrschaft im Frühen Mittelalter. München 2005, S. 28f., 222f., 235, 239; Maximilian Diesenberger: Gaut. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 10 (21997), S. 486f. Widukind von Corvey, Res gestae saxonicae, I, c. 3–7. In: Quellen zur Geschichte der Sächsischen Kaiserzeit. Hrsg. von Albert Bauer, Reinhold Rau. Darmstadt 1971 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 8), S. 22–25. Es handelt sich um eine listige Landnahme der Sachsen gegenüber den Thüringern im Lande Hadeln und auch um die Namengebung des Stammes, dessen Ethnonym auf as. sahs ‚Messer, Kurzschwert‘ zurückgeführt wird. Vgl. die kritische, aber auf den hier gar nicht zur Diskussion stehenden Realitätsgehalt gerichtete Darstellung bei Matthias Springer: Die Sachsen. Stuttgart 2004 (Urban-Taschenbücher 598), S. 75–81. Origo gentis Langobardorum, c. 1. Hrsg. von Bracciotti (Anm. 1), S. 105–107.

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nobis tributa, aut preparate uos ad pugnam et pugnate nobiscum». Tunc responderunt Ybor et Agio cum matre sua Gambara: «Melius est nobis pugnam preparare quam Wandalis tributa persoluere». Tunc Ambri et Assi, hoc est duces Wandalorum, rogauerunt Godan, ut daret eis super Win(n)ilis uictoriam. Respondit Godan dicens: «Quos sol surgente antea uidero, ipsis dabo uictoriam». Eo tempore Gambara cum duobus filiis suis, id est Ybor et Agio, qui principes erant super Win(n)ilis, rogauerunt Fream, uxorem Godan, ut ad Win(n)ilis esset propitia. Tunc Frea dedit consilium, ut sol surgente uenirent Win(n)ilis et mulieres eorum crines solute circa faciem in similitudinem barbe et cum uiris suis uenirent. Tunc luciscente sol dum surgeret, girauit Frea, uxor Godan, lectum ubi recumbebat uir eius, et fecit faciem eius contra orientem, et excitauit eum. Et ille aspiciens uidit Win(n)ilis et mulieres ipsorum crines solutas circa faciem; et ait: «Qui sunt isti longibarbae?» Et dixit Frea ad Godan: «Sicut dedisti nomen, da illis et uictoriam». Et dedit eis uictoriam, ut ubi uisi essent uindicarent se et uictoriam haberent. Ab illo tempore Win(n)ilis Langobardi uocati sunt. (Hervorhebungen durch den Autor)

Ich füge eine kommentierte, schon etwas strukturierende Nacherzählung des Langobarden-Mythos an:

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1.

Auf einer Insel hoch im Norden, die Scadanan hieß (gemeint ist wahrscheinlich Schonen in Südschweden, das man für eine Insel hielt)10 lebte neben vielen anderen Völkern ein kleines, das sich Winiles nannte. Es handelt sich um eine Variation der mehrfach, vor allem auch für Goten, Wisigoten und Gepiden nachgewiesenen Vorstellung von der Vagina gentium, der Völkerwiege des Nordens, vor allem Skandinaviens.11

2.

Über diese gens parva herrscht GAMBARA mit ihren Söhnen IBOR und AGIO – ein Dioskurensystem, das ebenfalls weiter verbreitet ist in Gründungs- und Landnahmelegenden – man denke nur an die angelsächsischen Landnahmeheroen Hengist und Horsa (mit sprechenden Namen) in Kent.12

3.

Es kommt zum Konflikt mit den ebenfalls dioskurischen duces AMBRI und ASSI, den Führern der Wandalen,13 die – ohne dass wir einen Grund dafür erfahren – Tribut fordern, und im Weigerungsfalle den Krieg androhen. GAMBARA und ihre Söhne entscheiden sich für die Schlacht, wiederum ohne dass wir den Grund dafür erfahren: Der heroische Entschluss kennt keinen Kontext.

Vgl. Ernst Schwarz: Germanische Stammeskunde. Heidelberg 1956 (Germanische Bibliothek: Reihe 5. Handbücher und Gesamtdarstellungen zur Literatur- und Kulturgeschichte), S. 191; Josef Svennung: Skandinavien bei Plinius und Ptolemaios. Kritisch-exegetische Forschungen zu den ältesten nordischen Sprachdenkmälern. Uppsala 1974 (Skrifter utgivna av K. Humanistiska Vetenskapssamfundet i Uppsala 45), S. 53. Vgl. Wenskus (Anm. 1), S. 19ff. Vgl. zur dioskurischen Tradition bei den Germanen Jan de Vries: Altgermanische Religionsgeschichte. Bd. 1. Berlin/Leipzig 1935, S. 226f.; Norbert Wagner: Dioskuren, Jungmannschaften und Doppelkönigtum. In: ZfdPh 79 (1969), S. 1–17, 225–247, 229ff.; Ders.: Getica. Untersuchungen zum Leben des Jordanes und zur frühen Geschichte der Goten. Berlin 1967 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N.F. 22=146), S. 148; Wenskus (Anm. 1), S. 486; Donald Ward: The Divine Twins. An Indo-European Myth in Germanic Tradition. Berkeley 1968 (Folklore Studies 19), S. 50–56; Wolfram (Anm. 1), S. 22f.; Haubrichs (Anm. 1), S. 75f., mit weiterer Literatur. Zum Problem der wandalischen Dioskuren als Stammesführer vgl. Helmut Castritius: Die Vandalen. Etappen einer Spurensuche. Stuttgart 2007 (Urban-Taschenbücher 605), S. 34–38. Eine Doppel-Anführerschaft bzw. ein Doppelkönigtum lässt sich bei den Wandalen mehrfach feststellen.

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4.

Die Wandalen-duces bitten den Gott GODAN (das ist die romanisierte Form von Wodan)14 den wir aus anderen, vorwiegend nordischen Quellen als Gott der Krieger und Spender des Sieges, Sigfaðir ‚Vater des Sieges‘ oder Sighöfundr ‚Geber des Sieges‘ kennen,15 um den Sieg.

5.

Der Gott antwortet: „Wen ich bei Sonnenaufgang zuerst sehe, dem werde ich den Sieg verleihen“. Auch hier erfahren wir kein Motiv: auch Gott spricht ohne Kontext. Es handelt sich um das aus Märchen und Legenden bekannte Angangsmotiv, das Motiv des occursus: z. B. „dasjenige Wesen, das dem Begünstigten als erstes in seinem Hause begegnet, ist zu opfern, dem Teufel verfallen, erwählt usw.“16

6.

GAMBARA und ihre Söhne bitten FREA, die Gattin Wodans, darum, dass sie den Winiles ihre Gunst schenken möge. Es wird also eine Konkurrenz unter den Göttern aufgebaut – eine Situation, die durchaus wiederum Parallelen kennt, unter anderem auch in der antiken Götterwelt, am bekanntesten die ebenfalls von Betrug gekennzeichnete „Täuschung des Zeus“ im 14. Gesang der Ilias, wo Hera und Zeus vom Himmelsberge den Kampf der Griechen und Trojaner beobachten, Hera aber den Siegbringer mit Liebeskünsten bezwingt und ihn danach in Schlaf versetzt, so dass die von ihr begünstigten Griechen die Oberhand gewinnen können.17

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In der Romania wird germ. [w] großflächig durch [gu] bzw. [g] vor [a, o] ersetzt. Vgl. Wolfgang Haubrichs, Max Pfister: In Francia fui. Studien zu den romanisch-germanischen Interferenzen und zur Grundsprache der althochdeutschen Pariser (Altdeutschen) Gespräche nebst einer Edition des Textes. Mainz/Stuttgart 1989 (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse. Akademie der Wissenschaften und Literatur 1989, 6), S. 23–31. Die neuerdings geäußerte Auffassung, dass der Godan der Origo und des Paulus Diaconus von Wodan gelöst werden könne und vielmehr mit Freyr, dem Gemahl der Freyja zu identifizieren sei, entbehrt jeder philologischen Grundlage. Paulus selbst weiß, das Godan mit Wodan identisch ist. Vgl. Marcello Meli: Eco scandinave nella Historia Langobardorum di Paolo Diacono. In: Paolo Diacono. Uno scrittore fra tradizione longobarda e rinnovamento carolingio. Hrsg. von Paolo Chiesa. Udine 2000 (Libri e biblioteche 9), S. 333–353, 335–341; Marco Sannazaro: Identità, tradizione, credenze longobarde alla luce della documentazione archeologica. In: I Longobardi dei ducati di Spoleto e Benevento. Atti del XVI Congresso internazionale di studi sull’alto medioevo. Bd. 1. Spoleto 2003, S. 643– 668, 650. Über das in gewissen langobardischen Schichten noch lange andauernde Heidentum vgl. Wilfried Menghin: Die Langobarden. Archäologie und Geschichte. Stuttgart 1985, S. 143–145. Vgl. Hjalmar Falk: Odensheite. Kristiania 1924 (Skrifter utg. av Videnskapsselskapet i Kristiania 2), S. 25; Simek (Anm. 7), S. 312f., 361f.; Martin (Anm. 1), S. 307. Lauri Honko: Erster, Erstes, Zuerst. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 4 (1984), S. 280– 293, 289–292; Fritz Boehm: Angang. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Bd. 1. Berlin/New York 32000, Sp. 409–435. Vgl. zu einem solchen Angangsmotiv in der griechischen Literatur aufschlussreich mit weiteren Parallelen Carl Werner Müller: Die Legende von der Erwählung des Dichters Archilochos. In: Fabula 33 (1992), S. 102–107, 106. C. W. Müller danke ich für wichtige Hinweise. Johann Heinrich Voß: Homers Ilias, 14. Gesang (1790). Leipzig 1886 (Reclams UniversalBibliothek), S. 216–221. Vgl. dazu Georg Baesecke: Vor- und Frühgeschichte des Deutschen Schrifttums. Bd. 1. Halle 1940, S. 315–322, bes. 318f.; Ernst Heitsch: Erzählung und Theologie in der Ilias. Eine Skizze. Mainz/Stuttgart 2008 (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse Jg. 2008, 3), S. 9; vgl. Wolfgang Kullmann: Das Wirken der Götter in der Ilias. Untersuchungen zur Frage der Entstehung

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7.

FREA gibt den Rat, dass die Winiles bei Sonnenaufgang kommen und ihre Frauen die aufgelösten Haare um das Kinn in Form eines Bartes arrangieren sollten. Hier – in der Antwort der Göttin – geht ein Bruch durch die Motivation des Geschehens: Einmal zielt die Erwähnung des Sonnenaufgangs ja auf die von GODAN / WODAN formulierte Siegesbedingung, zum andern aber kann der Sinn des Täuschungsmanövers der Frauen nur darin bestehen, dem Gegner, den Wandalen, eine größere Menge an Kriegern vorzutäuschen. So interpretiert die Szene die gleichzeitige burgundofränkische Chronik des Pseudo-Fredegar;18 und Theodor Frings hat bereits 1941 auf eine ähnliche Kriegslist in einer irischen Heldensage hingewiesen, in der die nach Anzahl unterlegenen Ulaid (ulchada liatha „die grauen Bärte“) über eine wikingische Invasionsstreitmacht mittels abschreckender künstlicher Bärte siegen.19

8.

Als die Sonne aufgeht, dreht FREA das Bett ihres Gatten, stellt so sein Gesicht nach Osten und weckt ihn. Der Satz enthält einige Präsuppositionen: Zunächst einmal wird vorausgesetzt, dass die Wandalen dem Westen zugeordnet sind, wohin WODAN ohne die List FREAs bei Sonnenaufgang sehen würde, die Winiles aber dem Osten, der aufgehenden Sonne. Vorausgesetzt wird auch eine Ausschau-Position der Götter, so wie es die Ilias zeigt, aber auch die nordische Grimnismàl, in deren Einleitung ein Göttertrug zwischen Frigg und Odin (das sind Frea und Wodan) berichtet wird, in dem es um die Meistbegünstigung der jeweiligen irdischen Favoriten (es sind 2 Brüder) geht:20 Odin schaut mit seiner Gattin vom himmlischen Hochsitz herab, „jedes für den eignen Liebling auf Erden besorgt, und dabei wird der Gott von ihr überlistet“.21 Das Umdrehen des Bettes hat – als Moment der List – ebenfalls seine narrativen Parallelen: Im Märchen vom Gevatter Tod wird so der zu Häupten des Bettes wartende Sensenmann betrogen.22

9.

WODAN sieht die Winiles und ihre Frauen mit ihrem Bartarrangement und fragt: „Wer sind diese Langbärte?“ Zu beachten ist, dass die winilischen Krieger schon vor dem Konflikt mit den Wandalen ihre Barttracht trugen.23 Lang-barðr „Lang-Bart“ ist im Nor-

des homerischen ‚Götterapparats‘. Berlin 1956 (Schriften der Sektion für Altertumswissenschaft / Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1), S. 144f. Chronicarum quae dicuntur Fredegarii libri quattuor, III, 134. In: Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts. Hrsg. von Andreas Kusternig, Herbert Haupt. Darmstadt 1982 (Ausgewählte Quellen zur Geschichte des deutschen Mittelalters 4a), S. 132–135. Theodor Frings: Langbärte und Wollbärte, in: PBB 65 (1942), S. 153–154. Die Edda. Götter- und Heldenlieder der Germanen. Übertragen von Arthur Häny. Zürich 1987, S. 91–104. Vgl. dazu bereits Jakob Grimm: Deutsche Mythologie. Bd. 1. Neuausgabe mit einer Einleitung von Leopold Kretzenbacher. Graz 1968, S. 112f.; de Vries (Anm. 12), Bd. 1, S. 226. Baesecke (Anm. 17), Bd. 1, S. 318. Vgl. zum Blick und Wirken vom Hochsitz herab auch Grimm (Anm. 20), Bd. 1, S. 112–114; Hultgård (Anm. 6), S. 781; Martin (Anm. 1), S. 309. Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Darmstadt 1955, Nr. 44, S. 208– 211 (Der Gevatter Tod). Zum weitverbreiteten Glauben an die in Haar oder Bart verborgenen magischen Kräfte vgl. Renate Rolle, Henning Seemann, Else Ebel: Haar- und Barttracht. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 13 (21999), S. 232–244; ferner Percy Ernst Schramm: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom dritten bis zum sechszehnten Jahrhundert. Bd. 1. Stuttgart 1954 (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 13,1), S. 118–127.

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den später sogar ein Odinsname.24 So hat Gottfried Schramm vermutet: „Die langen Bärte, aber auch das gescheitelt übers Gesicht fallende Haar, von dem uns die Namengebungssage dieses Volkes berichtet, müssen eine Kulttracht gewesen sein, durch die die Bindung an den Gott Wodan betont wurde“.25 Sicher ist dies für die Zeit nach der Namengebung, wie wir noch sehen werden.

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25

26

27

10.

FREA interpretiert listig die Frage WODANs als Namengebungsakt: „Wie Du ihnen den Namen gegeben hast, so gib ihnen auch den Sieg!“ Der Sinn ihres listigen Dictum: Die Namengebung begründet nach archaischem Denken eine besondere Verantwortung des Namenpaten für das Schicksal des Benannten.26

11.

Und so gibt der Gott den Langbärten den Sieg, so dass sie sich – wie es die Origo formuliert – rächen konnten, wie es ihnen gefiel.27

12.

Von dieser Zeit ab wurden die Winiles LANGOBARDEN genannt. Damit schließt der Mythos und offenbart sich in der Formulierung der Origo als aetiologische Sage.

Rolle, Seemann, Ebel (Anm. 23), S. 241; Simek (Anm. 7), S. 235. Robert Nedoma: Der Name der Langobarden. In: Die Sprache 37 (1995), S. 99–104, bestreitet einen Zusammenhang zwischen dem Odinsnamen und dem Ethnonym der Langobarden. Vgl. Alexander Sitzmann, Friedrich E. Grünzweig: Die altgermanischen Ethnonyme. Ein Handbuch zu ihrer Etymologie. Wien 2008, S. 190– 192. Gottfried Schramm: Zu einer germanischen Besonderheit in der Bildung zweistämmiger Männernamen. In: Beiträge zur Namenforschung 13 (1962), S. 39–53, 44f. Der von Schramm herangezogene langobardische Name Anse-granus, ein Unikat, komponiert aus *ansiz ‚Gott, göttlicher Heros‘ und ahd. grani ‚bärtig‘, ist nach ihm aus einem „Epitheton aus dem kultischen Bereich“ entstanden und nur aus dem Sinnzusammenhang der Ursprungsmythe zu verstehen, als ‚göttlicher Bart‘. Henning Kaufmann: Ergänzungsband zu Ernst Förstemann. Personennamen. München/Hildesheim 1968, S. 152, stellt zu romanisiertem *-gran < *-hram. Doch kommt der Lautersatz gallorom. [gr, kr] für germ. [hr] in Italien nicht vor. An der Origo demonstriert dies bereits Jakob Grimm (Anm. 20), Bd. I, S. 112: „Es war sitte, dass wer namen ertheilte gabe folgen lassen muste“. Ein frühmittelalterliches Beispiel für die Bindung zwischen Namengeber und Benannten liefert der a. 591 zu datierende Akt der Namengebung an den späteren König Chlothar II. (584–629) durch seinen Onkel König Gunthram. Der Neffe erhält den Namen seines Großvaters mit dem Wunsch, dass er dessen Taten nachstrebe und den Sinn des Namens (‚berühmter Krieger‘) erfülle; er wird in einer Quasi-Adoption zum Erben eingesetzt. Vgl. Wolfgang Haubrichs: Identität und Name. Akkulturationsvorgänge in Namen und die Traditionsgesellschaften des frühen Mittelalters. In: Die Suche nach den Ursprüngen. Von der Bedeutung des frühen Mittelalters. Hrsg. von Walter Pohl. Wien 2004 (Denkschriften. Österreichische Akademie der Wissenschaften 8), S. 85–105, 88f. Vgl. für die Schlachtenhilfe numinoser Wesen Wolfgang Speyer: Die Hilfe und Epiphanie einer Gottheit, eines Heroen und eines Heiligen in der Schlacht. In: Pietas. Festschrift für Bernhard Kötting. Hrsg. von Ernst Dassmann, K. Suso Frank. Münster 1980 (Jahrbuch für Antike und Christentum: Ergänzungsband 8), S. 55–77. Ein zeitgenössisches Beispiel bietet die unter König Grimoald (662–671) aufgezeichnete Historia von der Schlachtenhilfe des Erzengels Michael, der zur Errichtung seines Heiligtums auf dem Gargano und später zu seiner Etablierung als eines Königsheiligen der Langobarden führt. Vgl. Wolfgang Haubrichs: Michael – Fürst der militia caelestis und Patron der Ritterschaft. In: Helden und Heilige. Kulturelle und literarische Integrationsfiguren des europäischen Mittelalters. Hrsg. von Andreas Hammer, Stephanie Seidl. Heidelberg 2010 (GermanischRomanische Monatsschrift: Beiheft 42), S. 1–24.

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Dass die Langobarden ihre Tracht im Sinne des Mythos und zwar unter Einbezug der femininen Komponente des Konstrukts gestalteten, lässt sich sichern: Paulus Diaconus, ein Jahrhundert später als die Origo schreibend, hat eine von der Königin Theodelinde Anfang des 7. Jahrhunderts in ihrem Palast zu Monza in Auftrag gegebene Wandmalerei gesehen, welche die alte Tracht der Langobarden zeigte: „Da sieht man klar“, sagt er, „wie die Langobarden damals ihr Haupthaar schnitten – und wie ihre Tracht und ihr Aussehen war. Und zwar rasierten und entblößten sie den Nacken bis an den Hinterkopf, ließen die Haare über das Gesicht auf den Mund fallen und teilten sie durch einen Stirnscheitel nach beiden Seiten“28. Mit anderen Worten: „die auf beiden Seiten herabhängenden Haare gleichen langen Bärten, die kahlen Nacken lassen sie als absichtlich nach vorn gelegt erscheinen“ – so dass sie als Pseudo-Frauen kenntlich werden.29 Es handelt sich also um einen den Mythos bewusst memorierenden Habitus, der freilich zu Zeiten des Paulus Diaconus (um 789) bereits exotisch anmutete. Wir sind ferner über die quasi rituelle Realität der langobardischen Haartracht durch Bildquellen zumindest für die Oberschicht gut unterrichtet: Das älteste Zeugnis ist die für den mit Königin Theodelinde vermählten König Agilulf (a. 590/616) gefertigte Stirnplatte eines Helms, in der der König auf dem Thron, flankiert von zwei Speerträgern, sitzt – angetan mit der geschilderten Bart- und Haar-tracht.30 28

29 30

Paulus Diaconus: Historia Langobardorum, IV, c. 22. Hrsg. von Georg Waitz. Hannover 1878 (MGH SS in usu scholarum 48), S. 155. Nach Schramm (Anm. 23), S. 119, mit Berufung auf Walter von Wartburg: Die Entstehung der romanischen Völker. Tübingen 21951, S. 156, hat diese Haar- und Bartmode auch Spuren im italienischen Wortschatz hinterlassen: „Weil für die Einheimischen die langen Haare der Langobarden so auffallend waren, hat sich bis heute im Italienischen das germanische Wort zazza = Haarbüschel in der Form zàzzera = langes Haupthaar erhalten können“. Vgl. Manlio Cortelazzo, Paolo Zolli: DELI – Dizionario Etimologico della Lingua Italiana. Bologna 21999, S. 1847; Friedrich Kluge, Elmar Seebold: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin u. a. 242002, S. 1016 (Zotte, ahd. zata, zota). Von König Liutprand wird in der Vita Gregorii III (731–741) des Liber Pontificalis berichtet: „... multos nobiles de Romanis more Langobardorum totondit atque vestivit“. Der angestrebte Wechsel der Haartracht und der Kleidung ist als Versuch zu betrachten, eine neue, einheitlich langobardische Identität zu schaffen. Vgl. Louis Duchesne: Liber pontificalis. Bd. 1. Paris 1955, 21958, S. 420. Baesecke (Anm. 17), Bd. 1, S. 319f. Die Langobarden. Das Ende der Völkerwanderung. Hrsg. vom Landschaftsverband Rheinland. Bonn/Darmstadt 2008, S. 29, 375. Vgl. Gerhard Dilcher: Normen zwischen Oralität und Schriftkultur. Studien zum mittelalterlichen Rechtsbegriff und zum langobardischen Recht. Köln u. a. 2008, S. 319ff., mit weiterer Literatur; Cristina La Rocca, Stefano Gaspari: Forging an Early Medieval Royal Couple. Agilulf, Theodelinda and the Lombard Treasure (1888–1932). In: Archaeology of Identity – Archäologie der Identität. Hrsg. von Walter Pohl, Mathis Mehofer. Wien 2010 (Denkschriften. Österreichische Akademie der Wissenschaften 17), S. 269–288, 279ff. (mit letztlich doch im Spekulativen verbleibenden Zweifeln an der Authentizität der Agilulf-Platte). Wenn Hauck (Anm. 1), S. 211–213, bemängelt, dass viele der hier behandelten langobardischen Haar- und Barttracht-Zeugnisse nicht exakt der von Paulus Diaconus beschriebenen Tracht entsprechen, so lässt er die normale, auf Weiterentwicklung beruhende Variationsbreite solcher Bräuche außer Acht.

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Abb. 1: Stirnplatte des Königs Agilulf (Ausschnitt). Florenz, Museo Nazionale del Bargello.

Für das 7. Jahrhundert wird diese Tracht bezeugt von einer Gruppe von Siegelringen, auf der langobardische Adlige zu großem Teil in dieser Façon abgebildet sind.31 Hier eine Auswahl:

31

Vgl. Volker Bierbrauer: Langobardische Kirchengräber. In: Bericht der Bayerischen Bodendenkmalpflege 41/42 (2001/01), S. 225–242; Sannazaro (Anm. 14), S. 653–658, mit zahlreichen weiteren aufschlussreichen Beispielen; Wolfgang Haubrichs: Viri illustres. Romanizzazione e tratti conservativi nei nomi della nobiltà longobarda del VII secolo. In: I nomi nel tempo e nello spazio. Atti del XXII Congresso Internazionale di Scienze Onomastiche. Bd. 4. Pisa 2010, S. 513–540, 539f. und Nr. 22, 24, 26, 34, 50, 72, 79, 83, 85; Reine Hadjadj: Bagues mérovingiennes. Gaule du Nord. Paris 2007, Nr. 475.

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Siegelring (Gold) des RODCHIS V(ir) IL(luster) aus Trezzo sull’ Adda (Grab 2, 7. Jh.), Lombardei. Soprintendenza Archeologica per la Lombardia, Milano.

Abb. 2: Rodchis v(ir) i(llustris)32

Siegelring (Gold) des ANSVALDO aus Trezzo sull’ Adda (Grab 4, 1. H. 7. Jh.), Lombardei, Soprintendenza Archeologica per la Lombardia, Milano.

Abb. 3: Ansvaldo (wahrscheinlich ein notarius des Königs Rothari a. 643)33

32

33

Vgl. Axel G. Weber: Der Childebertring und andere frühmittelalterliche Siegelringe. Köln 2007, S. 75–77; Haubrichs (Anm. 31), Nr. 79. Paolo Diacono: Storia dei Longobardi. Introduzione di Stefan Gasparri, traduzione dal latino e note di Antonio Zanella. Milano 1991, Abb. IX (oben); Weber (Anm. 32), S. 75–77; Haubrichs (Anm. 31), Nr. 22.

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Bleisiegel des ANSO V(ir) I(lluster) DVX (7. Jh.). Rom, Museo Nazionale Crypta Balbi.

Abb. 4: ANSO V(ir) I(lluster) DVX auf einem Siegelabdruck34

Abb. 5: Goldsolidus des Fürsten Grimwald III., Münzstätte Benevent. Museo del Sannio, Benevento.

Noch im Münzbild Grimoalds III. (9. Jh.),35 des Fürsten von Benevent, im selbständigen und besonders traditionsbewussten Süden wird die langobardische Bart- und Haartracht 34

35

Gian Pietro Brogiolo, Alexandra Chiavarria Arnau: I Longobardi. Dalla caduta dell’Impero all’alba dell’Italia. Torino 2007, S. 74; Weber (Anm. 32), S. 95f.; Haubrichs (Anm. 31), Nr. 19. Mario Brozzi, Cate Calderini, Mario Rotili: L’Italia dei Longobardi. Mailand 1987, Nr. 69.

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memoriert und perpetuiert. Sie war wie das langobardische Recht und die Origo Teil der Memoria und der Identität, auch wenn man Langobardisch schon lange nicht mehr sprach.36 Abb. 6: Darstellung (Umzeichnung) des langobardischen Ursprungsmythos der ‚Origo gentis Langobardorum’. Biblioteca del Monumento Nazionale della Badia di Cava die Tirreni, Codex no. 4 (11. Jh.)

Dort, im Süden, bei Salerno, entstand auch im 11. Jahrhundert – im Kern wohl auf karolingischen Vorlagen fußend – der bebilderte Codex langobardischen Rechts, der heute in der Abtei Cava dei Tireni aufbewahrt wird und auch die Origo enthielt samt einer zweiteiligen Visualisierung des Mythos, der durch Beischriften von Namen erläutert wird:37 Die Bildkomposition ist in zwei Zonen eingeteilt, zwischen denen am rechten Bildrand eine Gruppe von Kriegern, die mit dem titulus < WINN(i) LI > überschrieben ist, quasi vermittelt. Man darf die untere Bildzone als die irdische interpretieren, in der – auf einem Faltstuhl herrscherlich thronend – die Mutter GAMBARA Anweisungen an ihre (noch ohne Bart abgebildeten) Söhne IBO(r) und AGIO gibt, die ihr in einer Geste der Kommendation die Hände entgegenstrecken. In der oberen, gewissermaßen himmlischen Zone, wird der Moment abgebildet, in dem FREA, mit der 36

37

Vgl. Haubrichs (Anm. 1); Ders.: Differenz und Identität. Sprache als Instrument der Kommunikation und der Gruppenbildung im frühen Mittelalter. In: Sprache und Identität im frühen Mittelalter. Hrsg. von Walter Pohl, Ulrich Zeller. Wien 2012 (Denkschriften. Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse 426), S. 23–38. Die Langobarden (Anm. 30), S. 24f., 393f.; Biblioteca della Badia di Cava, Codex No. 4. Vgl. Walter Pohl: Werkstätte der Erinnerung. Montecassino und die Gestaltung der langobardischen Vergangenheit. Wien/München 2001 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung: Ergänzungsband 39), S. 108–151.

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Linken auf die Winniler weisend, den bärtigen, langbehaarten GODAN / WODAN aufweckt, sodass dieser die langbärtigen winilischen Krieger erblickt und ihnen den Sieg gibt. Die Krieger wiederum, unter ihnen anscheinend auch Frauen, blicken ihrerseits auf ihre principessa GAMBARA, der Anführer reckt ihr einen Arm entgegen. Es ist kein Zweifel, dass die Doppelszene wie schon der Text von Frauen beherrscht wird, denen listiger Rat und Sieg verdankt wird. Hier ist auch der symbolische Wert der Namen des Mythos einzubringen: Der langobardische Historiker Paulus Diaconus, der eine weitere Fassung des Gründungsmythos kannte,38 interpretiert Gambara als ‚weise Frau‘ (wie sie in der Geschichte germanischer gentes mehrfach aufscheinen)39 und Ratgeberin, ja Prophetin: „inter suos et ingenio acris et consiliis provida“ („unter den Ihren durch ihren Verstand hervorragend und in ihrem Rat fürsorglich und entschlossen vorausschauend“). Ihr Name, zu ahd. gambar ‚tatkräftig, kraftvoll‘, auch „sagax“ zu stellen, betont genau diese Eigenschaften, deren Potential dann in den noms de guerre der Söhne und duces, nämlich Agio ‚Schrecken‘, und Ibor ‚Eifer‘ in das Feld von Aggression und Abschreckung hinein entfaltet wird.40 Die Historiker Walter Pohl und, ihm folgend, Patrick Geary, haben die feminine Strukturierung der gentilen Ursprünge der Langobarden, die ja dazu führen, dass die Genealogie eines Reichsvolkes mit einer Frau beginnt, mit einer ganz konkreten Situation des frühen siebten Jahrhunderts in Verbindung gebracht, in der bei einer Krise des langobardischen regnum die Translatio der Macht bei Frauen, bei Königinnen lag, und zwar bei der aus altem lethingisch-langobardischem Königsgeschlecht stammenden bairischen Prinzessin Theodolinde und ihrer Tochter Gundiperga.41 Diese Konkretion des Anlasses scheitert wohl daran, dass die Origo gentis Langobardorum erst unter 38

39 40

41

Das ergibt sich aus einigen Abweichungen bei Paulus Diaconus, I, 3 (Anm. 28) von den Sachaussagen der Origo; die wichtigsten sind wohl die Differenzen in den angeblichen Siedlungsgebieten der frühen Langobarden. Es fehlen der Origo die Angaben zu den regiones ... Scoringa und Mauringa (mit Kampf gegen die Assipitti); das Land Golaida heißt bei Paulus Golanda, das Land Bainaib dagegen Banthaib. Vgl. Paulus Diaconus (Anm. 28), I, 7; I, 11; I, 13. Simek (Anm. 7), S. 357–358. Vgl. Haubrichs (Anm. 1), S. 76f.; Ders.: Langobardic Personal Names. Given Names and NameGiving among the Langobards. In: Ausenda (Anm. 31), S. 195–236, 202. Ibor mit ahd. ebur ‚Eber‘ zusammenzubringen, verbietet sich, da westgerm. [e] nicht zu [i] wird, und auch in der Romania [i] > [e] werden kann, aber nicht umgekehrt. Die verbreitete Deutung des Heroennamen als ‚Eber‘ – wie etwa bei Georg Scheibelreiter: Tiernamen und Wappenwesen. Wien u. a. 21992 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 24), S. 37 – ist aufzugeben. Walter Pohl: Gender and Ethnicity in the Early Middle Ages. In: Gender in the Early Medieval World. Hrsg. von Leslie Brubaker, Julia M. H. Smith. Cambridge 2004, S. 23–43, 36–40; Patrick J. Geary: Am Anfang waren die Frauen. Ursprungsmythen von den Amazonen bis zur Jungfrau Maria. Aus dem Engl. von Andreas Wirthensohn. München 2006, S. 35–37. Vgl. zur Rolle mythischer Frauen in der germanischen Überlieferung des frühen Mittelalters auch Ute Schwab: Bekannte und unbekannte mythische Frauen im Bildprogramm des Franks Casket. In: Franks Casket. Fünf Studien zum Runenkästchen von Auzon. Hrsg. von Hasso C. Heliand. Wien 2008 (Studia medievalia septentrionalia 15), S. 17–64.

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König Grimoald (a. 668/71) entstand,42 doch haben wir – wie gleich zu zeigen sein wird – unter ihm eine durchaus vergleichbare Situation weiblicher Mitträgerschaft der langobardischen Kontinuität. Wichtiger ist die fundamentale Struktur dieses langobardischen Mythos vom Anfang. Er konstruiert eine grundsätzlich paarige, duale Welt, sowohl im Verband der Geschlechter als auch in der Sphäre des Krieges, der Herrschaft und des Ethnos. 1) Vandali stehen gegen Winiles 2) Beide Ethnien haben duale Führungsstrukturen, ein dioskurisches Paar von duces Ambri / Assi vs. Agio / Ibur 3) Dem entspricht der Gegensatz Wodan vs. Frea in der himmlischen Sphäre 4) Die Winiles und Gambara vs. Wandalen in der irdischen Sphäre 5) Selbst das Heer der Winiles ist dual, aus Männern und Frauen konstruiert 6) Auch das Ethnos der Winiles ist dual konstruiert: Es befindet sich in der Transformation zum neuen Ethnos der Langobarden. Der – vielen anderen Ethnonymen vergleichbare43 – ethnozentrische Vor-Name Win-iles ‚Freundchen; die, die einander Freund sind‘ (mit hypokoristischem Diminutiv-Suffix zu west-germ. *win-iz ‚Freund‘)44 wandelt sich zum an den Gott, der Siege schenkt, gebundenen Tracht- und Kult-Namen Lango-bardi45, der – nach dem Mythos – die Ethnogenese in einem göttergeleiteten, von Männern und Frauen getragenen Pakt begründet.

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Bracciotti (Anm. 1), S. 7ff. Nicht richtig ist, dass aus der Zeit Grimoalds nichts mehr berichtet würde; im Gegenteil: mehr (nämlich der Zug des byzantinischen Kaisers Konstans II. 663 nach Italien) als zum Vorgänger (H)Aripert. Richtig ist, dass der Tod Grimoalds und der Herrschaftsantritt von Berthari (671) nur noch in einer Version (RC) der Origo berichtet wird, was ebenfalls für eine Abfassung unter Grimoald spricht, der besonderen Grund hatte, sich der Legitimität seiner Abkunft zu versichern. Vgl. auch Lidia Capo: Paolo Diacono e il problema della cultura dell’Italia Longobarda. In: Langobardia. Hrsg. von Stefano Gasparri, Paolo Cammarosano. Udine 1990, S. 169– 235, 176. Vgl. Ludwig Rübekeil: Völkernamen Europas. In: Namenforschung – Name Studies – Les noms propres. Ein internationales Handbuch zur Onomastik. Hrsg. von Ernst Eichler u. a. Berlin/New York 1996, S. 1330–1343; Wolfgang Haubrichs: Nomen gentis. Die Volksbezeichnung der Alamannen. In: Röllwagenbüchlein. Festschrift für Walter Röll. Hrsg. von Jürgen Jaehrling, Uwe Meves, Erika Timm. Tübingen 2002, S. 19–42, 28f. Vladimir Orel: A Handbook of Germanic Etymology. Leiden u. a. 2003, S. 455. Das Element erscheint häufig in Personennamen, vor allem als Zweitelement, auch bei den Langobarden, z.B. Alb-win (Alboin), Aud-win (Audoin) etc. Wenn man die Form der Version RC bevorzugt, nämlich Winn-iles, stellte sich das Ethnonym zu west-germ. *winnan- ‚leiden, arbeiten, kämpfen‘. Vgl. auch Martin H. Graf: Die Ethnonyme Winnili und Assipitti in der lateinischen Überlieferung der langobardischen Frühgeschichte. In: Strenarum lanx. Beiträge zur Philologie und Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Festgabe für Peter Stotz zum 40-jährigen Jubiläum des Mittellateinischen Seminars der Universität Zürich. Hrsg. von Dems., Christian Moser. Zug 2003, S. 47–75. Vgl. die wandalischen Hasdingi (zu germ. *hazda- ‚Haar‘), Name eines Teilstamms oder einer Adelssippe: Castritius (Anm. 13), S. 17, interpretiert sie als kultisch gebundene „Langhaarträger“.

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Erst mit dem neuen Namen, erst mit dem originären Betrug des Anfangs vereindeutigt sich die Welt. Mit dem vom Gott akzeptierten und in der Namengebung sanktionierten Betrug wird sie eine Welt des Sieges, in der die Langobarden zu beiden Göttern gehören und siegen, so dass die ethnozentrische Welt eine langobardische Welt wird. Diese alte Mythe hat die Origo zum Ausgangspunkt einer Geschichte der Wanderungen und der königlichen Genealogien gemacht. Die gens verlässt Scadanan und wandert von Land zu Land, bis sie nach Pannonien und schließlich nach Italien gelangt. Sie setzen als ersten König Agilmund, den Sohn des Agio, ein und ihm folgt König auf König, Geschlecht auf Geschlecht. Indem die Origo auf den Ursprungsmythos die Reihe der Migrationen und die Serie der Könige (später auch mit ihren Taten) folgen lässt, zeigt sie eine erste Stufe der Historisierung, welche in Memorabilia mündet, den Mythos der Gründung selbst aber nicht historisiert.46 Dieses Geflecht von Migration und Genealogie, das aber die feminin-maskuline, duale Struktur des Mythos bewahrt, lässt sich durchaus mit der Situation des Usurpators Grimoald, des Herzogs von Benevent aus dem alten Königsgeschlecht der Gausen, unter deren Repräsentanten Audoin und Alboin die Eroberung Pannoniens und dann Italiens (568) gelang, in Verbindung bringen. In einem programmatischen Akt heiratete er eine Repräsentantin der zuvor herrschenden lethingisch-bairischen Dynastie, Theodorata, so die beiden großen alten genealogiae der gens vereinigend.47 Den Sohn aus dieser Verbindung nannte er programmatisch nach dem Stammvater der sog. bairischen Dynastie Garibald, aus der Linie der Mutter. Gerade Grimoald konnte also ein Interesse haben, die Folge der Wanderungen und königlichen Genealogien der Langobarden und zugleich die duale, feminine wie maskuline Struktur des Gründungsmythos zu memorieren.

II. Als Paulus Diaconus um 789, als das Langobardenreich im Norden und in der Mitte Italiens schon von den Franken erledigte Vergangenheit war, in seiner Historia Langobardorum die Anfänge der Langobarden, seines Volkes, zeichnete, bewahrte er die Narration des Gründungsmythos weitgehend (wobei er eine zweite Fassung kannte, was freilich nur die Hinzufügung weiterer Migrationen betraf, die hier nicht primär interes-

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Vgl. Wolfgang Haubrichs: Die ‚Erzählung des Helden‘ in narrativen Passagen der Historia Langobardorum des Paulus Diaconus. In: Narration und Heros. Möglichkeiten des Erzählens vom Helden in den Literaturen und der Bildkunst des frühen Mittelalters. Hrsg. von Victor Millet, Heike Sahm, im Druck. Vgl. Jörg Jarnut: Geschichte der Langobarden. Stuttgart u. a. 1982, S. 59–61; Menghin (Anm. 14), S. 138.

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sieren).48 Doch betrieb er die Rationalisierung des Mythos, die für ihn – zumindest im Detail der Götterhilfe – eine ridicula fabula war. Er betrieb diese Rationalisierung zunächst durch Kontextualisierung in Raum und Zeit, in geographische und historische Zusammenhänge, so wie er sie ermitteln konnte. Diese Strategie ist in seiner Wiedererzählung des Mythos omnipräsent; (1) Septemtrionalis plaga quanto magis ab aestu solis remota est et nivali frigore gelida, tanto salubrior corporibus hominum et propagandis est gentibus coaptata; sicut econtra omnis meridiana regio, quo solis est fervori vicinior, eo semper morbis habundat et educandis minus est apta mortalibus. Unde fit, ut tantae populorum multitudines arctoo sub axe oriantur, ut non inmerito universa illa regio Tanai tenus usque ad occiduum, licet et propriis loca in ea singula nuncupentur nominibus, generali tamen vocabulo Germania vocitetur; quamvis et duas ultra Rhenum provincias Romani, cum ea loca occupassent, superiorem inferioremque Germaniam dixerint. Ab hac ergo populosa Germania saepe innumerabiles captivorum turmae abductae meridianis populis pretio distrahuntur. Multae quoque ex ea, pro eo quod tantos mortalium germinat, quantos alere vix sufficit, saepe gentes egressae sunt, quae nihilominus et partes Asiae, sed maxime sibi contiguam Europam adflixerunt. Testantur hoc ubique urbes erutae per totam Illiricum Galliamque, sed maxime miserae Italiae, quae pene omnium illarum est gentium experta saevitiam. Gothi siquidem Wandalique, Rugi, Heroli atque Turcilingi, necnon etiam et aliae feroces et barbarae nationes e Germania prodierunt. Parietiam modo et Winnilorum, hoc est Langobardorum, gens, quae postea in Ita lia feliciter regnavit, a Germanorum populis originem ducens, licet et aliae causae egressionis eorum asseverentur, ab insula quae Scadinavia dicitur adventavit. (2) Cuius insulae etiam Plinius Secundus in libris, quos de natura rerum conposuit, mentionem facit. Haec igitur insula, sicut retulerunt nobis qui eam lustraverunt, non tam in mari est posita, quam marinis fluctibus propter planitiem marginum terras ambientibus circumfusa. Intra hanc ergo constituti populi dum in tantam multiudinem pullulassent, ut iam simul habitare non valerent, in tres, ut fertur, omnem catervam partes dividentes, quae ex illis pars patriam relinquere novasque deberet sedes exquirere, sorte perquirunt. (3) Igitur ea pars, cui sors dederat genitale solum excedere exteraque arva sectari, ordinatis super se duobus ducibus, Ibor scilicet et Aionem, qui et germani erant et iuvenili aetate floridi et ceteris praestantiores, ad exquirendas quas possint incolere terras sedesque statuere, vale48

Paulus Diaconus (Anm. 28), I, 1–11, S. 52–59. Vgl. zum Mythos bei Paulus Baesecke (Anm. 17), S. 316; Walter Goffart: The Narrators of Barbarian History. Jordanes, Gregory of Tours, Bede and Paul the Deacon. Princeton 1988, Notre Dame (Indiana) 22005, S. 382ff.; Jörg Jarnut: Die langobardische Ethnogenese. In: Wolfram, Pohl (Anm. 1), S. 97ff.; Lidia Capo: Paolo Diacono e il problema della cultura dell’Italia Longobardia. In: Langobardia. Hrsg. von Stefano Gasparii, Paolo Cammarosano. Udine 1990, S. 169–235, bes. 193ff.; Georg Scheibelreiter: Vom Mythos zur Geschichte. Überlegungen zu den Formen der Bewahrung von Vergangenheit im Frühmittelalter. In: Historiographie im frühen Mittelalter. Hrsg. von Anton Scharer, Georg Scheibelreiter. Wien/München 1994 (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 32), S. 26–40, 30–32; Walter Pohl: Paulus Diaconus und die Historia Langobardorum. Text und Tradition. In: Anton Scharer, Georg Scheibelreiter (wie oben), S. 375–405, bes. 380–384; Müller (Anm. 1), S. 94ff. Von Paulus Diaconus ist abhängig der dänische Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus, Gesta Danorum. Hsg. von Alfred Holder. Strassburg 1886, VII, S. 284f.; dazu W. Pohl (wie oben), S. 403.

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dicentes suis simul et patriae, iter arripiunt. Horum erat ducum mater nomine Gambara, mulier quantum inter suos et ingenio acris et consiliis provida; de cuius in rebus dubiis prudentia non minimum confidebant. (4) Haut ab re esse arbitror, paulisper narrandi ordinem postponere, et quia adhuc stilus in Germania vertitur, miraculum, quod illic apud omnes celebre habetur, sed et quaedam alia breviter intimare. [...]. (7) Igitur egressi de Scadinavia Winnili cum Ibor et Aione ducibus in regionem quae adpellatur Scoringa venientes, per annos illic aliquod consederunt. Illo itaque tempore Ambri et Assi Wandalorum duces vicinas quasque provincias bello premebant. Hi iam multis elati victoriis, nuntios ad Winnilos mittunt, ut aut tributa Wandalis persolverent, aut se ad belli certamina praepararent. Tunc Ibor et Aio, ad nitente matre Gambara, deliberant, melius esse armis libertatem tueri, quam tributorum eandem solutione foedare. Mandant per legatos Wandalis, pugnaturos se potius quam servituros. Erant siquidem tunc Winnili universi iuve nili aetate florentes, sed numero perexigui, quippe qui unius non nimiae amplitudinis insulae tertia solummodo particula fuerint. (8) Refert hoc loco antiquitas ridiculam fabulam: quod accedentes Wandali ad Godan victoriam de Winnilis postulaverint, illeque responderit, se illis victoriam daturum quos primum oriente sole conspexisset. Tunc accessisse Gambaram ad Fream, uxorem Godan, et Winnilis victo riam postulasse, Freamque consilium dedisse, ut Winnilorum mulieres solutos crines erga faciem ad barbae similitudinem conponerent maneque primo cum viris adessent seseque Godan videndas pariter e regione, qua ille per fenestram orientem versus erat solitus aspicere, conlocarent. Atque ita factum fuisse. Quas cum Godan oriente sole conspiceret, dixisse: „Qui sunt isti longibarbi?“ Tunc Fream subiunxisse, ut quibus nomen tribuerat victoriam condonaret. Sicque Winnilis Godan victoriam concessisse. Haec risui digna sunt et pro nihilo habenda. Victoria enim non potestati est adtributa hominum, sed de caelo potius ministratur. (9) Certum tamen est Langobardos ab intactae ferro barbae longitudine, cum primis Winnili dicti fuerint, ita postmodum appellatos. Nam iuxta illorum linguam „lang“ longam, „bart“ barbam significat. Wotan sane, quem adiecta littera Godan dixerunt, ipse est qui apud Romanos Mercurius dicitur et ab universis Germaniae gentibus ut deus adoratur; qui non circa haec tempora, sed longe anterius, nec in Germania, sed in Grecia fuisse perhibetur. (10) Winnili igitur, qui et Langobardi, commisso cum Wandalis proelio, acriter, utpote pro libertatis gloria, decertantes, victoriam capiunt. Qui magnam postmodum famis penuriam in eadem Scoringa provincia perpessi, valde animo consternati sunt.

Der Kapitelaufbau des Eingangs des 3. Buchs der Historia Langobardorum des Paulus lässt sich wie folgt skizzieren:49 Kapitel 1: Betonung des Völkerreichtums und der Übervölkerung des Nordens, der Germania. Diese Überbevölkerung war der Grund für den Ansturm zahlreicher Barbarenvölker gegen das Römische Imperium, so auch der Winniler aus jener Insel, quae Scadinàvia dicitur.50

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Die Skizze konzentriert sich auf die mit der Origo vergleichbaren bzw. differenten Momente der Erzählung.

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Wolfgang Haubrichs Kapitel 2: Geographischer Exkurs nach Plinius und zeitgenössischen Gewährsleuten über diese Insel; dann Motivation der Auswanderung der Winniler durch die vorbesprochene Überbevölkerung: Es folgt der Mythos, beginnend mit der Schilderung von Gambara. Kapitel 4–6: Zwischeneinschub eines nordischen Mirabile, eines „Wunders“, nämlich des Wunders von den sieben schlafenden Männern, Römern und Christen offenbar, die Gott unversehrt in einer Höhle der Germania erhielt (gewissermaßen eine Mischung der Legenden von den ‚Septem Dormientes‘ und der ‚Bergwerke von Falun‘).51 Dann handelt Paulus über das Skifahren der Scriti-Finni, der „Schreit-Finnen“52 und die hellen Nächte des Nordens;53 ferner über den „Nabel des Meeres“, einer Phantasie über das Gezeitenphänomen, das als schiffsverschlingender Schlund des Meeres interpretiert wird.54 Alles dies dient der Charakterisierung des Nordens. Kapitel 11 folgt nach der Schilderung des Konflikts zwischen Wandalen und Winnilern und rahmt den mit dem Auszug aus Scadinávia nach Scoringa („Ufer-Land“)55 beginnenden Bericht von den Anfängen der Langobarden durch die Erzählung einer aus einer Hungersnot zu erklärenden Weiterwanderung nach Mauringa.56 Beide Ortsangaben lassen sich nicht wirklich lokalisieren.57

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Scadin-àvia ließe sich als „Insel Scadan, d.h. Schonen“, im Anschluss an germ. *Ahwjō ‚Insel, Aue‘ verstehen. Vgl. Orel (Anm. 44), S. 4. Vgl. zu den ‚Siebenschläfern‘ Rainer Stichel: Siebenschläfer. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 9 (21964). Sp. 737–738. Der Casus der ‚Bergwerke von Falun‘, bei der eine Braut ihren im Eisenberg umgekommenen Verlobten, nachdem ihn der Berg nach 50 Jahren freigibt, in unveränderter Jugendlichkeit wiedersieht: Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes (1811). Kritische Gesamtausgabe mit den Kalender-Holzschnitten. Hrsg. von Winfried Theiss. Stuttgart 1981 (Universal-Bibliothek 142), S. 283–286 (Unverhofftes Wiedersehen). Vgl. Josef Svennung: Jordanes und Scandia. Kritisch-exegetische Studien. Stockholm 1967 (Skrifter utgivna av K. Humanistiska Vetenskapssamfundet i Uppsala 44,2 A), S. 43f.: anord. Skrithifinnar (zu anord. scrida ‚Skilaufen‘) war Bezeichnung für die samischen Ureinwohner Skandinaviens. „Hi a saliendo iuxta linguam barbaram ethimologiam ducunt“ – sagt Paulus (I, 5). Der Name – teilweise in anderer Schriftgestalt – kommt auch bei Jordanes, Prokop und im altenglischen Widsith vor, vgl. Ian Whitaker: Scridefinnas in Widsiþ. In: Neophilologus 66 (1982), S. 602– 608; Sitzmann, Grünzweig (Anm. 24), S. 241f. Verarbeitet Paulus hier den Reisebericht eines Händlers, der den Norden kennengelernt hat? Hier hat Paulus wohl Berichte von Seefahrern und (nach eigenem Bekunden) Adligen Nordgalliens am Hofe Karls des Großen, wo er eine Zeitlang lebte, verarbeitet. Die Landschaftsbezeichnung wird wohl zu Recht allgemein zu ahd. scorro, mhd. schor(re) ‚Felsvorsprung‘, mnd. schore ‚Gestade, Küste‘, me. scōr(e) ‚Küste‘, engl. shore, mit Ablaut anord. sker ‚Klippe‘ gestellt. Vgl. Kluge, Seebold (Anm. 28), S. 793f. (Schäre). Die Landschaftsbezeichnung wird durchweg – analog zu Scoringa – mit natürlicher Bodenbeschaffenheit in Verbindung gebracht: germ. mōra, as./ae. mōr ‚Moor, Sumpf'‘. Vgl. Moringen nordwestl. Göttingen: Ernst Förstemann: Altdeutsches Namenbuch II. Die Ortsnamen. Hrsg. von Hermann Jellinghaus. Bd. 2. Bonn 31913–16, Sp. 316; ferner Kluge, Seebold (Anm. 28), S. 630. Diese Etymologie funktioniert nur, wenn man die Graphie in romanischer Weise als Umschrift von [ō] auffasst. Vgl. Jarnut (Anm. 47), S. 11f.; Ders.: I Longobardi nell’epoca precedente all’occupazione dell’Italia. In: Gasparii, Cammarosan (Anm. 48), S. 3–34.

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Gerade diese Ausleitung der Erzählung zeigt eine Hauptintention des Paulus, nämlich die Motivation des im alten Mythos nur als Faktum berichteten, memorierbaren, aber nicht erklärbaren Geschehens. Gründe der Migrationen sind – antiken ethnographischen Mustern folgend – Überbevölkerung und Hungersnot. Die auswandernde Gruppe wird durchs Los bestimmt und gibt sich selbst zwei Anführer, die nun im Vordergrund stehen, nicht mehr die Mutter. Der Kampf der Winniler gegen die Wandalen wird begründet: Es geht um die Freiheit und die Freiheit siegte – „nach hartem Kampf“ (Kap. 7 und 10). Dass ihr Sieg der Drehung eines Bettes verdankt wird, dieses Schwankmotiv streicht Paulus – um den Preis, dass die ganze Betrugsgeschichte unverständlich wird. Der Mythos vom neuen, von Wodan gegebenen Namen „Lang-Bärte“ wird erzählt, aber negiert vom Besserwissenden, der seinen Isidor von Sevilla gelesen hat:58 Sie heißen – in Umkehrung der mythischen Erzählung – nach der longitudo barbae, denn „lang“ in ihrer Sprache ist so viel wie longus und „bard“ bedeutet barba – so Paulus Diaconus. Wodan, der angeblich hier wirkende Gott, wird euhemeristisch gedeutet: er ist „derselbe, der bei den Römern Merkur heißt und von allen Völkern Germaniens wie ein Gott verehrt wird; man sagt, dass er nicht damals, sondern viel früher, und auch nicht in Germanien, sondern in Griechenland gelebt habe“ (Kap. 9). Die Leistung des Gelehrten Paulus Diaconus ist die nahezu vollkommene Demythisierung, Historisierung und Rationalisierung des alten Mythos, sein Fall aus der Zeitlosigkeit der Ursprünge in die verortbare, gegliederte Zeit.

III. Ganz anders steht es mit jener Erzählung, die – noch vor der Entstehung der Origo Pseudo-Fredegars Chronik um 658/60 – sicherlich auf italienischen Quellen fußend,59 eine weitere Fassung der Gründungsmythe der Langobarden bietet: Langobardorum gens, priusquam hoc nomen adsumerit, exientes de Scathanavia, que est inter Danuvium et mare Ocianum, cum uxores et liberis Danuvium transmeant. Cum a Chunis Danuvium transeuntes fussent conperti, eis bellum conarint inferre, interrogati a Chuni, que gens eorum terminos introire praesumerit. At ille mulieris eorum praecipunt comam capitis ad maxellas et mentum legarint, quo pocius virorum habitum simulantes plurima multitudine hostium ostenderint; eo quod erant mulierum coma circa maxellas et mentum ad instar barbae 58

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Isidor von Sevilla: Liber Etymologiarum, IX, 2, 95. Hrsg. von Wallace M. Lindsay: Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum sive originum libri XX, Oxford 1911. Vgl. dazu Goffart (Anm. 48), S. 384f., der die Berufung des Paulus auf die Etymologie des Isidor sicherlich richtig als Relativierung und Rationalisierung der Origo-Mythe auffasst, doch wird gerade im Zitierenmüssen der ridicula fabula des Mythos deutlich, welche kommunikative Verbindlichkeit die Erzählung von den Ursprüngen noch für die Identität der Langobarden besaß. Vgl. Martin (Anm. 1), S. 305. Es gibt bei Fredegar weitere langobardische Nachrichten, z.B. über den Italienzug Alboins und seine Ermordung durch seine Gattin.

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valde longa. Fertur desuper uterque falangiae vox dixisse: 'Haec sunt Langobardi'; quod ab his gentibus fertur eorum deo fuisse locutum, quem fanatice nominant Wodano. Tunc Langobardi clamassent: 'Qui instituerat nomen, concidere victoriam!' Hoc prilio Chunus superant, partem Pannoniae invadunt.

Eingebettet ist die Erzählung bei Fredegar als Exkurs in die Narration von der Invasion der Langobarden in Italien (a. 568), die daraus erklärt wird, dass sie der Statthalter Ostroms, der Feldherr Narses, im Konflikt mit Kaiser Iustinus und dessen Gattin Sophia gerufen habe, ist sie doch ein ganz eigenes Stück, das besonderer Untersuchung bedarf.60 Es lässt sich narrativ wie folgt gliedern:

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1)

Es beginnt mit dem Auszug der Langobarden aus Scathanavia61 und der Autor weiß, dass dies geschah, bevor sie ihren jetzigen Namen angenommen hatten.

2)

In gewaltigem Sprung geht die Erzählung nun über zur Überschreitung der Donau durch die gens „mit ihren Frauen und Kindern“ – was weit über die frühen Migrationserzählungen der Origo hinausgeht.

3)

Sie treffen als Konfliktpartner nicht auf die Wandalen, sondern auf die Huni („Hunnen“; die Textform Chuni ist eine romanisierte Form), die im zeitgenössischen Kontext als Awaren zu interpretieren sind.62 Diese erfragen den Namen der Invasoren.

4)

„Die Langobarden aber geboten ihren Weibern“ – man bemerke die neue, entfeminisierte, imperative Struktur der Narration – „ihr Haupthaar um Wangen und Kinn zu binden, um durch den Anschein von Männertracht (das Haar der Frauen um Wangen und Kinn gelegt sieht nämlich wie ein sehr langer Bart aus) eine große Feindesmacht vorzutäuschen.“ Ganz anders als in der Origo, in der das Täuschungsmotiv unentschieden neben dem Angangsmotiv steht, in dem der Wille des Gottes sich manifestiert, steht hier die Kriegslist im Vordergrund.

5)

Eine Stimme über den Heeren (die Szene erinnert an die vox caeli, die Christi Gottessohnschaft in der Taufe bezeugt) nennt den Namen der gens: „Haec sunt Langobardi“.

6)

Hierzu kommentiert die Chronik, zweifellos in einer Art ‚reservatio mentalis‘: „Diese gentes behaupten, dies hätte ihr Gott gesprochen, den sie fanatice, d.h. auf heidnische Weise, Wodan(o) nannten.“

7)

„Daraufhin sollen die Langobarden gerufen haben: ‚Wer den Namen gegeben hat – der schenke auch den Sieg‘“.

8)

So geschieht es: Sie besiegen die ‚Hunnen‘ und besetzen einen Teil der Pannonia.

Chronicarum quae dicuntur Fredegarii libri quattuor, III, c. 65. In: Kusternig, Haupt (Anm. 18), S. 132–135. Die Version von Fredegar ist bisher eher selten genauer interpretiert worden: vgl. Baesecke (Anm. 17), S. 317; Hauck (Anm. 1), S. 209ff.; Scheibelreiter (Anm. 48), S. 31ff.; Pohl (Anm. 1), S. 171ff.; Fried (Anm. 1), S. 248f. Die mehrfach wiederholte, zuerst von Baesecke geäußerte Auffassung von Fredegars Version als der ursprünglichsten ist nirgendwo genauer begründet worden. Pseudo-Fredegar hat wie Paulus die Namenform Scathanavia. Kannte Paulus den fränkischen Geschichtsschreiber? So auch im Rithmus vom Sieg der Franken über die Awaren im Jahre 796: De Pippini regis victoria avarica. In: MGH Poetae I. Berlin 1881, S. 116f.

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Was an der Konzeption Fredegars sofort auffällt, ist die konsequente Maskulinisierung des Geschehens. FREA ist völlig aus der Mythe eliminiert, ebenso die ‚weise Frau‘ GAMBARA, freilich auch ihre Söhne. Die verkleideten Frauen handeln zwar in Männertracht, aber nicht auf Rat der Göttin, sondern auf Befehl ihrer Männer. Damit ist zugleich der initiale Göttertrug eliminiert, ja es ist zu fragen, ob nicht überhaupt eine repetitive Struktur vorliegt, welche nicht mehr den Namen erklären soll, sondern die Landnahme in Pannonien – eine Aufführung also, die den Mythos wiederholt, ein Ritus vielleicht. Darauf deutet das Wort Wodans, der nicht mehr fragt „Wer sind diese Langbärte?“, sondern diese Langbärte wiedererkennt, nicht unwillentlich den Namen gibt, sondern ihn schon weiß: „Dies sind die Langbärte“. Vielleicht liegt in Fredegars Erzählung ein vielfach gebrochener Bericht von einem Ritus vor, in dem sich die gens der Langobarden vor einer Schlacht ihrer Identität versicherte und ihrer Bindung an den Gott und damit ihrer im Gründungsmythos zuerst gewährten Fähigkeit zum Sieg, zu jener victoria, die – in Anlehnung an antike Vorbilder – auch auf den langobardischen Königsmünzen dargestellt wird63.

IV. Sanno favoleggiare, i mortali. Vivranno nell’avvenire secondo che il terrore di stanotte e di domani li avrà fatti fantasticare. Saran bestie selvatiche e rocce e piante. Saranno dèi. Oseranno uccidere gli dèi per vederli rinascere. Si daranno un passato per sfuggire alla morte. Non ci sono che queste due cose – la speranza o il destino. „Sie werden sich eine Vergangenheit geben, um dem Tod zu entfliehen“ sagen die Unsterblichen von den Menschen bei Cesare Pavese.64

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Es ist das Verdienst von Hauck (Anm. 1), S. 210f., den rituellen Charakter der Szene, den quasi „liturgischen langobardischen Schlachtruf“: „Wer den Namen gegeben hat – der schenke auch den Sieg“, herausgearbeitet zu haben. Mit guten Gründen plädiert Carlo Alberto Mastrelli: La religione degli antichi Germani. In: Storia della religione. Hrsg. von Pietro Tauhi Venturi, Giuseppe Castellani. Bd. 2. Torino 61971, S. 463–535, 478, dafür, dass auch hinter dem Bericht (Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, I, 20) der für die Langobarden siegreichen Heruler-Schlacht ein wodanischer Entscheid steht. Cesare Pavese: Dialoghi con Leucò. Torino 1947, Neudruck 1997 (Nuovi Coralli 58), S. 159. Vgl. die Übersetzung dieser Rede des Satiro in: Cesare Pavese: Gespräche mit Leuko. Deutsch von Catharina Gelpke. Düsseldorf 1989, S. 198: „Sie können Fabeln erzählen, die Sterblichen. Je nachdem sie die Schrecknis dieser Nacht und von morgen Phantastisches reden lässt, werden sie im Zukünftigen [eher: in der Zukunft] leben. Werden sie Wildtiere und Felsen und Pflanzen sein. Götter sein. Werden sie es wagen, die Götter zu töten, um sie von neuem erstehen zu sehen. Sie werden sich eine Vergangenheit geben, um dem Tod zu entfliehen. Es gibt nichts als diese zwei Dinge: die Hoffnung oder das Schicksal.“ Einzuordnen ist die Rede in ein Gespräch über das Schicksal der Sterblichen während der Sintflut. Der Satyr bemerkt, dass die Sterblichen nur dies eine verlangen, nämlich, dass es wie zuvor sei. Seine Gesprächspartnerin, die Hamadryade, bemerkt: „Merkwürdige Leute. Sie behandeln das Schicksal und das Kommende, als ob es eine Vergangenheit wäre“.

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Man wird in der Mythos-Formulierung der Origo vergeblich eine über diese selbst hinausweisende Zeitangabe suchen. Die Erzählung schwimmt in der Unendlichkeit, dem Meer der Anfänge. Sie erzählt eine Ethnogenese aus göttlichem Trug, in der das entscheidende, das zur Zeit gerinnende und den Habitus prägende Element der neue Name ist. Die Origo des siebten Jahrhunderts selbst ist schon Geschichtsschreibung – in der Form der Memoria der Anfänge. Sie verknüpft ab illo tempore, der ersten hinausweisenden Zeitangabe, den Mythos mit den Genealogien der Könige und den Migrationen des Volkes. Sie schildert Ethnogenese und Genese der Herrschaft, die an den Namen geknüpft ist, wie es wohl sonst noch öfter vorkam, wie wir es aber nur noch in der Verknüpfung des Stammvaters Gaut mit den Goten und ihrem Königsgeschlecht der Amaler, einer Konstruktion des 5./6. Jahrhunderts, kennen. Die Version, die die Origo bot, war eine entschieden feminisierte Version, in der sich die Anteile von Männern und Frauen an der Ethnogenese die Waage hielten. Die Version Fredegars, schon um 658/60 aufgezeichnet, maskulinisiert dagegen den Mythos. Ein Ritus, der im ‚èternel retour‘ des Mythos die Eroberung Pannoniens einleitet, scheint durch. Aber das eigentlich Wichtige ist doch, dass alle Frauenpartien, die der ‚weisen Frau‘ GAMBARA und die der Göttin FREA, beseitigt wurden. Die Bart-Mimikry der Frauen erfolgt auf Befehl der Männer. Sie bereitet die Epiphanie des männlichen Gottes vor. Kein Trug, kein Rat – nur die Sieg-Gabe des namengebenden Gottes bleibt. Die letzte Version, die wir kennen, die des Paulus Diaconus, betreibt die vollkommene Demythisierung des Mythos, seine Kontextualisierung und Historisierung. So ist der Kern nur noch eine ridicula fabula, ein Schwank, den er – weil man ihn kannte und erwartete – nicht unterdrücken kann, aber doch mit überlegenem Wissen dekonstruiert.65 Was heißt es mythentheoretisch, diesen Prozess zu beobachten und die Transformation der Erzählung zu beschreiben? Claude Lévi-Strauss hat – man weiß es – bei der Frage nach dem signifié des Mythos, nach seiner rationalen Organisation, es abgelehnt, nach der ursprünglichen Fassung zu fahnden, sondern gefordert, „jeden Mythos durch die Gesamtheit seiner Fassungen zu definieren.“66 Nur so lasse sich seine Struktur erkennen. Gewiss, aber will man im Ernst den Mythos des langobardischen Ursprungs so untersuchen, als ob alle Fassungen auf einer zeitlichen Ebene lägen? Lévi-Strauss hat

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Darauf der Satyr: „Das ist der Sinn der Hoffnung. Dem Schicksal einen Namen aus der Erinnerung geben“. Vgl. Goffart (Anm. 48), S. 384f. Claude Lévi-Strauss: The Structural Study of Myth. Deutsch in: Strukturale Anthropologie. Übersetzt von Hans Naumann. Frankfurt/Main 1969, S. 239. Vgl. Werner Petermann: Die Geschichte der Ethnologie. Wuppertal 2004, S. 862, 867. Die Idee der Gleichwertigkeit aller Fassungen des stetig in Transformation begriffenen Mythos stammt letztlich von Georges Dumézil. Auf ihn und seine Theorie der drei fundamentalen indoeuropäischen divinen und heroischen Funktionen greift auch die Differenzen der Fassungen allzusehr einebnende Interpretation des Langobarden-Mythos durch Taviani-Carozzi (Anm. 1), S. 99–121, zurück.

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aus der Not, dass seine Mythen-Materialien überwiegend undatierbar waren, eine Tugend gemacht. Schon Karlheinz Stierle hat in einer frühen Kritik gerügt, dass man so zu einer falschen, einer künstlichen Synchronie (nicht vergleichbar mit der realen Synchronie der Sprache etwa) komme.67 Lévi-Strauss hat ähnliche Kritik aufgenommen in seiner „bricolage“-Theorie.68 Die Fassungen funktionieren – so transformiert er seine Auffassung – den Mythos um, indem sie die alten Versatzstücke neu interpretieren, neue Versatzstücke hinzufügen. Dies ist ein Schritt zur konsequenten Historisierung der Texte, zu ihrer historischen Kontextualisierung (wenn uns denn die Quellen dies erlauben). Und hier lässt sich eine Brücke zu Hans Blumenbergs ‚Arbeit am Mythos‘ schlagen, der den rezeptiven Selektionsprozess der Erzählungen akzentuiert.69 In der Rezeption werde jeweils die Fassung des Mythos ausgewählt – ich würde eher sagen, neu konstruiert – welche die Gegenwart in eine dieselbe erklärende Geschichte übersetzt. Dieser selektive und konstruktive Akt ist „ein kollektiver Prozess“, der (anscheinende) „Irrtümer stetig korrigiert und den Mythos im Hinblick auf seine Erklärungsleistung umwandelt“.70 So lässt sich auch die Mikrogeschichte des langobardischen Ursprungsmythos verstehen. Und wir kommen vom Anfang zu einem Ende, das sich stets für einen Anfang hält.

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Karlheinz Stierle: Mythos als ‚bricolage‘ und zwei Endstufen des Prometheusmythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. von Manfred Fuhrmann. München 1971 (Poetik und Hermeneutik 4), S. 455–472, 456. Claude Lévi-Strauss: La pensée sauvage. Avec 11 illustrations dans le texte et 13 illustrations hors texte. Paris 1962; Stierle (Anm. 67), S. 457–463. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/Main 1979, S. 165–326. Eine Übersicht über „Mediävistische Mythosforschung“ geben Udo Friedrich, Bruno Quast. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Dens. Berlin u. a. 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. IX–XXXVII. So Lisa Regazzoni in einem Berliner Vortrag nach Thomas Thiel: Das zaudernde Tier. In: FAZ 11.2.2009.

Gerd Althoff

Zur Darstellung der ‚Anfänge‘ von mittelalterlichen Klöstern und Adelsfamilien

Der historischen Mittelalterforschung ist die Frage nach den Anfängen bestimmter historischer Phänomene, seien es Völker oder Stämme, Adelsgeschlechter oder Klöster, Bistümer oder Städte, spätestens seit dem Buch von František Graus, „Lebendige Vergangenheit“ vertraut, in dem der Prager und dann Basler Historiker 1975 Vergangenheitskonstruktionen des Mittelalters einer systematischen Analyse unterzog und ihre Konstruktionsprinzipien wie die zugrundeliegenden narrativen Techniken zum Thema machte.1 Gleich eingangs dieses in der Folgezeit intensiv rezipierten Buches, das so etwas wie den Beginn der ‚Vorstellungsgeschichte‘ moderner Prägung markiert, konstatierte er Folgendes: Älter als alle chronikalische [oder gar gelehrte] Geschichtsschreibung ist ein einfaches Bewußtsein der Vergangenheit, das verschiedenste Formen annehmen kann. Es kann sich in mythische Formen kleiden und von dem Anfang der Zeiten berichten, oder nur auf eine Generation beschränkt sein; es kann kunstvoll gestaltet oder formlos vorhanden sein, aber es ist stets in irgendeiner Form […] da. Dieses Bewußtsein verbindet die Mitglieder einer Gemeinschaft.2

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František Graus: Lebendige Vergangenheit. Überlieferungen im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter. Köln/Wien 1975. Das Buch beeinflusste die bis dahin positivistisch arbeitende Mediävistik der Bundesrepublik stark, indem es den konstruktivistischen Charakter der Überlieferung betonte und ideologiekritische Fragestellungen salonfähig machte. Es ist hier nicht der Raum, die seither intensive Bearbeitung dieses Themas zu dokumentieren; vgl. jedoch einschlägige Hinweise bei Hans-Werner Goetz: Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung. Darmstadt 1999, bes. S. 166ff. und 266ff.; Ders.: Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein im hohen Mittelalter. Berlin 1999 (Orbis mediaevalis 1). Graus (Anm. 1), S. 1. Die zitierten Sätze bilden den Anfang des Buches. Allgemein zu Ansatz und Inhalten von „Vorstellungsgeschichte“ vgl. Hans-Werner Goetz: Vorstellungsgeschichte. Menschliche Vorstellungen und Meinungen als Dimensionen der Vergangenheit. In: Archiv für Kulturgeschichte 61 (1979), S. 253–271; bereits betont interdisziplinär angelegt: Wahrnehmungs- und Deutungsmuster im europäischen Mittelalter. Hrsg. von Hartmut Bleumer, Steffen Patzold. Berlin 2003 (Das Mittelalter 8).

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Man wird auch heute die Existenz eines solchen Bewusstseins für möglich und denkbar halten, aber zugleich skeptisch fragen, wo und wie man es nachweisen soll, da seine schriftliche Fixierung durch Gestaltungs- und Verformungsvorgänge charakterisiert ist, die jede Suche nach dem ursprünglichen Gehalt oder dem historischen Kern eines solchen Bewusstseins vor der Verschriftlichung zu einem äußerst schwierigen Unternehmen macht, wie man inzwischen doch einigermaßen deutlich sieht.3 Dafür ist nicht zuletzt Jan Assmann verantwortlich, der alle „zur fundierenden Geschichte verdichtete Vergangenheit“, die „zum Motor der Entwicklung“ von Gruppen wurde, zum Mythos im Sinne sinnstiftender, aber eben unter Umständen auch fiktiver Erzählung rechnete, und damit zugleich klarmachte, dass der Wert solcher Geschichten sich nicht danach bemisst, ob sie historisch wahr sind.4 Auch ich werde mich im Folgenden nicht damit beschäftigen, historisch Wahres von Erfindungen und Konstruktionen unterscheiden zu wollen, sondern nach Mustern und Motiven fragen, die in den Erzählungen über und in den Konstruktionen von Anfänge(n) begegnen. In der Folge dieses Paradigmenwechsels sind jedenfalls zahllose Anstrengungen unternommen worden, die Vorstellungen von den Anfängen von Völkern, Geschlechtern oder Klöstern zu erfassen und damit Aussagen zum Selbstverständnis der Gruppen zu machen, die sich als Gemeinschaften mit einem Anfang interpretierten. Es sei nur en passant darauf hingewiesen, dass durchaus nicht alle Gruppenbildungen des Mittelalters auch die Konstruktion eines mythischen Anfangs dieser Gruppen zur Folge hatten. So fehlen solche Aktivitäten etwa bei genossenschaftlich strukturierten Gruppen wie Gilden oder Zünften, auch in Gefolgschafts- oder Lehnsverbänden. Gehäuft begegnen sie dagegen in Adelsgeschlechtern und Völkern, aber auch bei Bistümern und Klöstern. Hier setzten denn auch die angesprochenen Arbeiten der historischen Forschung vor allem an.5 3

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Die verformenden Kräfte mündlicher Überlieferung (wie der Überlieferung überhaupt) hat im letzten Jahrzehnt vor allem Johannes Fried (über)betont, vgl. Ders.: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München 2004, und viele andere Arbeiten, in denen allerdings argumentiert wird, ohne sich genügend mit der einschlägigen neueren Literatur auseinanderzusetzen. Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992 (C. H. Beck Kulturwissenschaft), dessen Konzept zu Recht die neuere mediävistische Forschung stark beeinflusst hat. Vgl. dazu bereits Hans Patze: Adel und Stifterchronik. Frühformen territorialer Geschichtsschreibung im hochmittelalterlichen Reich. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 100 (1964), S. 8–81 u. 101 (1965), S. 67–128; Jörg Kastner: Historiae fundationum monasteriorum. Frühformen monastischer Institutionsgeschichtsschreibung im Mittelalter. München 1974 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 18); Alheydis Plassmann: Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen. Berlin 2006 (Orbis mediaevalis 7); Bernd Schneidmüller: Constructing the Past by Means of the Present. Historiographical Foundations of Medieval Institutions, Dynasties, Peoples and Communities. In: Medieval Concepts of the Past. Ritual, Memory Historiography. Hrsg. von Gerd Althoff u. a. Cambridge 2002 (Publications of the German Historical Institute), S. 167–192.

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Diese Bemühungen haben zu durchaus diskussionswürdigen Ergebnissen geführt, wobei sie nicht zuletzt die Einsicht vermittelten, dass die bis dahin doch strikt beachteten Grenzen zwischen historiographischen und fiktionalen Texten sich nur recht willkürlich ziehen lassen. Denn gerade historiographische Texte, die über entfernte Anfänge handelten, wimmelten sozusagen von Nachrichten und Erzählungen, deren fiktionaler Charakter mit den Händen zu greifen war. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sie ganz offensichtlich Erzählmustern verpflichtet waren, die häufiger begegnen, was sie für eine interdisziplinäre Auswertung interessant macht.6 Es lohnt sich daher, diesen Vorgang an einigen bekannten Beispielen zu erläutern. Zwar artikuliert sich in den einschlägigen Arbeiten teilweise immer noch die ältere Empörung über die unhaltbaren Spekulationen und die Willkür des Strebens nach möglichst hohem Alter der Institution oder möglichst vornehmen Vorfahren, die den unterschiedlichsten Autoren attestiert wurde. Doch wuchs auch die Einsicht, dass hinter den auf den ersten Blick haltlosen Erfindungen häufig Argumente standen, die zwar spekulativ waren, aber durchaus nicht ohne Anhaltspunkte und auch nicht ohne methodisches Bewusstsein vorgebracht wurden. So arbeiteten auch schon mittelalterliche Genealogen, die den Adelsgeschlechtern vornehme Vorfahren mit außergewöhnlichen Leistungen zuordneten, mit ganz ähnlicher Methodik wie es die noch heute angewandte genealogisch-besitzgeschichtliche Methode vorschreibt.7 Das Grundprinzip der Konstruktion von Familienfolgen ist nämlich sehr einfach: Wer Besitz in der gleichen Gegend hat und einen gleichen oder durch Variation zustande gekommenen Namen trägt, ist verwandt. Mit Hilfe dieser Prämissen hat noch Reinhard Wenskus 1975 den Reichsadel wie den Stammesadel des frühen und hohen Mittelalters in Sippenverbände gepresst.8 So haben aber auch schon die Staufer ihre Abkunft von den Merowingern entdeckt. Die diesbezügliche Argumentation kann als Beispiel für viele gelten: Man hatte in Waiblingen, in der Nähe der staufischen Stammburg, eben dem Hohenstaufen, offensichtlich im 12. Jahrhundert ein Grabmonument entdeckt, das ein Clodius seiner Gemahlin errichtet hatte.9 Dieser Mann musste also in grauer Vorzeit in dieser Region 6

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Zum Begriff und der Sache ‚Erzählmuster‘ vgl. Jan-Dirk Müller: Einleitung. In: Text und Kontext. Fallstudien und theoretische Begründungen einer kulturwissenschaftlich angeleiteten Mediävistik. Hrsg. von Dems. München 2007 (Schriften des Historischen Kollegs 64), S. VII–XI. Vgl. dazu bereits Gerd Althoff: Genealogische und andere Fiktionen in mittelalterlicher Historiographie. In: Fälschungen im Mittelalter. Internationaler Kongreß der Monumenta Germaniae Historica. München vom 16. bis 19. September 1986. Band 1: Literatur und Fälschung. Hrsg. von Horst Fuhrmann. Hannover 1988 (MGH Schriften 33, 1), S. 417–441; wieder in: Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Althoff. Darmstadt 2003, S. 25–51. Vgl. Reinhard Wenskus: Sächsischer Stammesadel und fränkischer Reichsadel. Göttingen 1976 (Abhandlungen der Akademien der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse 93). Vgl. dazu ausführlich Karl Schmid: De regia stirpe Waiblingensium. Bemerkungen zum Selbstverständnis der Staufer. In: Gebetsgedenken und adliges Selbstverständnis. Hrsg. von Dems. Sigma-

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Herrschaft ausgeübt haben. Also hielt man ihn für einen Vorfahren des staufischen Geschlechts, da sich Herrschaft bekanntlich vererbt. Da das Grabmal sehr alt und ebenso kunstvoll wie aufwendig war, suchte man danach, in welchem Geschlecht der Frühzeit dieser Name begegnet. Und man war sicher nicht traurig, als man feststellte, dass es Merowinger dieses Namens gegeben hatte. So erklärt es sich, dass nach Burchard von Ursperg, der die hier knapp referierte Geschichte erzählt, Friedrich Barbarossa sich häufig rühmte, er stamme zweifach aus königlichem Geschlecht, von den Merowingern wie den Karolingern. Das Blut letzterer hatten die Staufer über ihre Vorfahren mütterlicherseits, die Salier, bekommen. Die merowingische Abstammung konstruierten sie aus der Tatsache, dass ja offensichtlich ein Merowinger dort geherrscht hatte, wo heute sie, die Staufer, ihr Zentrum hatten. Das ließ sich am besten mit Verwandtschaft erklären. Wenn es auch nicht unbedingt wahr war, hatte es doch Methode. Folgerichtig nutzte dann Otto von Freising einen neuen Namen für die Königsgeschlechter der Salier und Staufer und nannte sie Heinriche von Waiblingen.10 Fiktive Ansippungen dieser Art gibt es in einiger Fülle und es ist nicht meine Absicht, sie hier noch einmal zu dekonstruieren. Ich möchte lediglich darauf aufmerksam machen, dass die Spekulationen jeweils Anhaltspunkte nutzten, auch wenn diese noch so vage waren. Dies gilt etwa auch für den Herkunftsmythos der Welfen, die – oder deren lateinkundige Kleriker – wussten, dass der ungewöhnliche Leitname des Geschlechts – Welf – ins Lateinische mit catulus übersetzt werden konnte. Hieraus machte man nun die Geschichte, dass ein Vorfahr die Tochter Catilinas geheiratet hatte, die Welfen also aus altrömischem Senatorenadel stammten, allerdings habe es ihnen gefallen, den Namen einzudeutschen und die Mitglieder dieses Adelsgeschlechts eben Welf und nicht Catilina zu nennen.11 In diesem Falle ist es symptomatisch, dass sich außerdem eine Anekdote gebildet hatte, die den Namen anders, aber ebenfalls sehr ehrenvoll für die Welfen erklärt. Als einem der frühen Welfen ein Sohn geboren wurde, habe er den Kaiserhof verlassen, um dieses Ereignis zu Hause zu feiern. Daraufhin habe der Kaiser gespottet: „Wegen eines Welpen wolt ihr so eilig nach Hause?“ Die Geburt von Kindern scheint aus seiner Sicht eine reine Frauensache zu sein. Doch der junge Vater habe selbstbewusst gekontert, „den Namen, den ihr soeben dem Kinde gegeben habt, werdet ihr ihm künftig mit vol-

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ringen 1983, S. 454–466; zentrale Quelle für die staufische Vorstellung von ihren königlichen Vorfahren ist Burchard v. Ursperg: Chronicon. Hrsg. von Oswald Holder-Egger, Bernhard v. Simson. Hannover/Leipzig 21916 (MGH SSrG 16), S. 24f. Vgl. Ottonis et Rahewini Gesta Friderici imperatoris. Hrsg. von Georg Waitz. Hannover 1864 (MGH SSrG 46), II, 2, S. 83: „Duae in Romano orbe apud Galliae Germaniaeve fines famosae familiae actenus fuere, una Heinricorum des Gueibelinga, alia Gwelforum des Aldorfo, alia imperatores, altera magnos duces producere solita.“ Vgl. dazu Historia Welforum. Hrsg. von Erich König. Stuttgart 1938 (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 1), cap. 2, S. 6f.

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lerer Geltung geben müssen, denn, so Gott will, werdet ihr es unter diesem Namen aus der Taufe heben.“12 Die Anekdote zeigt den Welfen sozusagen auf Augenhöhe mit dem Kaiser, dem er nicht nur zu kontern in der Lage ist, sondern den er gleichzeitig auch noch ziemlich apodiktisch zum Taufpaten seines Sohnes bestellen kann. Wenn man bedenkt, dass es im Mittelalter üblich und unabdingbar war, dem Herrscher alle Wünsche und Anliegen in Form von untertänigen Bitten vorzutragen, wird klar, dass die Anekdote vor allem von hypotrophem Selbstbewusstsein der Welfen kündet, zugleich aber eine Erklärung dafür gibt, wie dieses Adelsgeschlecht zu dem ungewöhnlichen Namen kommen konnte. Hier wie anderenorts ist es müßig zu versuchen, festzustellen, ob diese Anekdote einen historischen Kern hat. Die beiden Beispiele mögen reichen, um davon auszugehen, dass an den Vorstellungen von den Anfängen mittelalterlicher Adelsgeschlechter ernsthaft und teilweise gelehrt gearbeitet wurde. Ziel war immer, die herausragende Vornehmheit des Geblüts zu belegen, die entweder durch die Abstammung von Königsgeschlechtern oder auch vom römischen Senatorenadel nachgewiesen wurde. Diese Bemühungen, bei denen man alle Anhaltspunkte der schriftlichen Überlieferung, baulicher Überreste, oder der Namensetymologie nutzte, waren so zahlreich und so erfolgreich, dass Alberich von Troisfontaines schon im 13. Jahrhundert klagte, es gebe nun in ganz Europa kein Adelsgeschlecht mehr, das nicht behaupte, von Karl dem Großen und dem Sachsenherzog Widukind abzustammen. Letzterer war dadurch ein erstrebenswerter Urahn für den Adel geworden, dass er in die schriftliche und bildliche Überlieferung als Stammvater der Ottonen eingegangen war.13 Ihren Höhepunkt aber erreichte diese Art von Ahnenprobe erst unter Maximilian I., der seine Genealogen in einem aufwendigen Forschungsprojekt nachweisen ließ, dass „sich alles edle Blut Europas im Hause Habsburg versammelt habe.“ Sie taten es mit den eben skizzierten genealogisch-besitzgeschichtlichen Methoden und waren so erfolgreich, dass Maximilians Ahnenreihe schließlich bis zu Priamus von Troja reichte. Die Voraussetzung dafür hatte Jakob Mennel geschaffen, der entdeckte, dass der Gründer des habsburgischen Hausklosters St. Trudpert, der im 7. Jahrhundert gelebt hatte, einen Namen trug, der dem des merowingischen Königs ähnelte, der eine Missionsreise an den Oberrhein gemacht hatte. So war die Verbindung zu den Merowingern geschaffen, die dann über die fränkische Trojanersage bis nach Troja verlängert wurde.14 So wie der Adel beträchtlichen Aufwand betrieb, sein vornehmes Geblüt und Spitzenleistungen seiner Vorfahren zur Betonung seines Ranges zu verwenden und daraus Ansprüche abzuleiten, so haben aber auch kirchliche und monastische Institutionen 12 13

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Ebd., S. 6. Vgl. dazu Nora Gaedecke: Zeugnisse bildlicher Darstellungen der Nachkommenschaft Heinrichs I. Berlin u. a. 1992 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 22). Vgl. dazu Gerd Althoff: Studien zur habsburgischen Merowingersage. In: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 87 (1979), S. 71–100.

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Wert auf ihr Alter und auf verschiedenste Formen einer besonderen Gotterwähltheit gelegt, und hierzu Geschichten konstruiert, die einmal ihren Rang verdeutlichten, nicht weniger aber auch darauf zielten, etwaige Angriffe auf Besitz und Rechte abzuwehren, indem sie mit exempla aus der Geschichte bewiesen, welche Konsequenzen solch ein Tun hatte. Es ist kein Zufall, dass die fünf Bände, die sich unter der Ägide von Horst Fuhrmann 1986 den „Fälschungen im Mittelalter“ widmeten, zu einem beträchtlichen Teil Beiträge über Fälschungen und Fiktionen bieten, die aus dem Umfeld von Adelsfamilien und von Kirchen und Klöstern stammen.15 So wie bei den Adelsfamilien Muster zu beobachten sind, mit denen sie Rang und Vornehmheit nachwiesen, so verwandten auch Kirchen und Klöster Mustergeschichten, die ihren Rang und ihre Bedeutung unterstrichen. Solche Muster stellen etwa die Erzählungen von Wundern oder Visionen dar, die sich im Zusammenhang der Gründung ereignet haben sollen und mit denen bewiesen wird, welche Aufgabe Gott oder Heilige der Neugründung zugedacht hatten. Zur Beurteilung solcher Geschichten darf nicht vergessen werden, dass einschlägige Überlieferung nicht selten dann produziert wurde, wenn die kirchliche Einrichtung eine Krise ihrer Existenz zu bewältigen hatte.16 Dann begründete man mit solchen Geschichten Rechte und Ansprüche, indem man sie als alte, wohlerworbene Rechte darstellte, deren Verletzung die Rache Gottes oder der Heiligen nach sich zog. Man hat inzwischen an unterschiedlichen Beispielen beobachtet, wie sehr die causa scribendi jeweils die Absichten der Darstellung bestimmte; dass die geschichtlichen exempla häufig auf die Beeinflussung einer bestimmten aktuellen Situation zielten; dass sie Argumente enthielten, mit denen Ansprüche und Rechte verteidigt werden konnten. So findet sich etwa in Hausklöstern der Ottonen dann einschlägige Überlieferung, wenn die Existenz oder der Rang dieser Klöster bedroht war. In Gandersheim etwa schrieb die Nonne Hrotswith die Primordia Gandersheimensis in einer Zeit, in der Quedlinburg als Königsgrablege Gandersheim den Rang abgelaufen hatte. Die Darstellung beginnt mit einer Vision, die die ottonische Stammmutter, Oda, gehabt haben soll. Ihr erschien Johannes der Täufer, der ihr prophezeite, dass die Ottonen zur Königs- und Kaiserherrschaft aufsteigen und immer erfolgreich sein würden, so lange sie dieses Kloster unter-

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Vgl. Fuhrmann (Anm. 7), S. 101–780, mit zahlreichen Fallstudien aus dem gesamten Mittelalter. Vgl. dazu Gerd Althoff, Stephanie Coué: Pragmatische Geschichtsschreibung und Krisen, I. Zur Funktion von Brunos Buch vom Sachsenkrieg, II. Der Mord an Karl dem Guten (1127) und die Werke Galberts von Brügge und Walters von Thérouanne. In: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Hrsg. von Hagen Keller, Klaus Grubmüller, Nikolaus Staubach. München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), S. 95–129; Stephanie Haarländer: Vitae episcoporum. Eine Quellengattung zwischen Hagiographie und Historiographie, untersucht an Lebensbeschreibungen von Bischöfen im Regnum Teutonicum im Zeitalter der Ottonen und Salier. Stuttgart 2000 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 47).

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stützten. Es handelt sich leicht erkennbar um ein vaticinium ex eventu, das aber seine Wirkung auf die Zeitgenossen nicht verfehlt haben dürfte.17 Nicht anders haben in Nordhausen, der Gründung der Königin Mathilde, gleich zweimal Autorinnen oder Autoren zur Feder gegriffen und die Anfänge des Klosters detailliert beschrieben. Sie taten dies jeweils, als das Kloster in eine existentielle Notlage geraten war. Jedesmal bewiesen sie an der Geschichte des Klosters, dass die ottonischen Könige nur dann Erfolge hatten, wenn sie die Bemühungen Mathildes um die Förderung dieses Klosters nachhaltig unterstützten. Breit wird aber auch erzählt, was passierte, wenn die Könige es an dieser Unterstützung fehlen ließen. Dies war mehr als ein Wink mit dem Zaunpfahl für die Gegenwart. Da sie die Erzeugnisse zwei verschiedenen ottonischen Königen dedizierten, schrieben sie zwei sehr verschiedene Geschichten, die sich in mancher Hinsicht fast dreist widersprachen. Dieser Widerspruch aber war dem Anliegen geschuldet, die Unterstützung von Königen zu erreichen, die ganz verschiedene Interessen und Bindungen hatten.18 Anfänge, so kann man an diesen und vielen weiteren Beispielen nachweisen, eignen sich besonders gut dazu, aktuelle Problemlagen dadurch zu beeinflussen, dass man Aufgaben, Rechte und Ansprüche einer Einrichtung durch Gründer oder gar himmlische Mächte fixieren lässt und sie so überzeitlich verbindlich macht. Das hat dazu geführt, dass man in der einschlägigen Historiographie Geschichten konstruierte, die als ‚erbaulich‘ falsch eingeordnet sind. Es waren Argumente, mit denen auf eine aktuelle Problemlage gezielt wurde. Der fromme Zweck scheint hier Fiktionen erlaubt zu haben, auch wenn das Postulat durchaus bekannt war, dass man die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu Pergament zu bringen hatte.19 Griff man in diesem Zusammenhang, was häufig geschah, jedoch zur Textsorte der Urkunde, spricht man in der Forschung von Fälschung.20 Fiktionen und Fälschungen 17

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Vgl. dazu Hrotsvithae Opera. Hrsg. von Paul von Winterfeld, Berlin/Zürich 1965 (MGH SSrG 34). Primordia coenobii Gandeshemensis, V. 24–64, S. 230f.; s. dazu Gerd Althoff: Gandersheim und Quedlinburg. Ottonische Frauenklöster als Herrschafts- und Überlieferungszentren. In: Frühmittelalterliche Studien 25 (1991), S. 123–144. Vgl. Die Lebensbeschreibungen der Königin Mathilde. Hrsg. von Bernd Schütte. Hannover 1994 (MGH SSrG 66); zur Interpretation vgl. Gerd Althoff: Causa scribendi und Darstellungsabsicht. Die Mathilden-Viten und andere Beispiele. In: Litterae Medii Aevi. Festschrift für Johann Autenrieth. Hrsg. von Michael Borgolte, Herrand Spilling. Sigmaringen 1988, S. 117–133; Bernd Schütte: Untersuchungen zu den Lebensbeschreibungen der Königin Mathilde. Hannover 1994 (MGH Studien und Texte 9). Gegen Schütte, S. 23f., halte ich ausdrücklich die Einschätzung aufrecht, dass die Mathilden-Viten nicht in Quedlinburg, sondern in Nordhausen entstanden sind. Wie wäre in Quedlinburg die Aussage denkbar, dass Mathilde lieber in Nordhausen als in Quedlinburg begraben werden wollte, vgl. Vita posterior, S. 194 Z 18–195 Z 1. Vgl. zur Wahrheitsforderung in der ‚Theorie‘ mittelalterlicher Geschichtsschreibung Benoit Lacroix: L’historien au moyen age. Paris 1971, S. 16ff.; Franz-Josef Schmale: Funktion und Formen mittelalterlicher Geschichtsschreibung. Darmstadt 1985 (Die Geschichtswissenschaft: Einführun gen), S. 19ff. Reiches Material hierzu bei Fuhrmann (Anm. 7), Bd. 3: Diplomatische Fälschungen.

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aber waren zwei Wege zum gleichen Ziel: Rang und Stellung, Besitz und Rechte der Institution zu sichern, die in Frage gestellt wurden. Man kann diese allgemeinen Einschätzungen wenigstens an einem Beispiel ein bisschen ausführlicher vorführen, das sowohl ein Interesse an den Anfängen einer Adelsfamilie als auch das Interesse an den Rechten und Besitzungen eines Klosters offenbart. Dies ist die Klosterchronik Petershausens, der nahe Konstanz gelegenen monastischen Institution, deren unbekannter Verfasser in der Mitte des 12. Jahrhunderts schrieb und sowohl großes Interesse an dem Geschlecht der Klostergründer als auch an der Abtei selbst hatte.21 Deshalb konstruiert er beider Anfänge und liefert so Argumente für Rechte des Klosters wie für seinen besonderen Rang, der sich aus der besonderen Gottesnähe der Gründer wie der Insassen des Klosters ergibt, eine Nähe, deren Wirksamkeit in vielen Geschichten und Anekdoten nachgewiesen wird. Bei der Ausgestaltung dieser Geschichten nutzt der unbekannte Autor sehr intensiv Erzählmuster, die auch in anderen Zusammenhängen benutzt wurden. Nach einem Vorwort über das Wesen des Mönchtums und den Sinn verschiedener monastischer Einrichtungen beginnt der Autor seine Klostergeschichte mit einer Würdigung des Geschlechtes, aus dem der Gründer des Klosters, Bischof Gebhard II. von Konstanz († 995) stammte. Die ältesten Nachrichten über dessen Vorfahren bieten eine Geschichte, die zum verbreiteten Erzählgut gehört, das Adelsfamilien zur Konstruktion ihrer Anfänge verwandten: In jenem Teil Galliens, in dem man die Toga trägt – das meint Norditalien – habe ein Mann nobillissimo genere gelebt, der die Schwester des Frankenkönigs, der auch Kaiser war, geheiratet habe. Seine zwei Söhne hätten Streit mit dem König ihres Landes bekommen, so dass sie schließlich diesen König eigenhändig mit dem Schwert erschlugen. Daraufhin seien sie zu ihrem Oheim, dem Kaiser, geflohen, um der Rache ihrer Landsleute zu entgehen. Der habe sie gnädig aufgenommen und ihnen Wohnsitze in Alemannien und reiche Güter zugeteilt. Nachdem in ihrer ursprünglichen Heimat der Zorn über ihre Gewalttat verraucht war, hätten die alten Nachbarn und Freunde sie gebeten, zurück zu kommen. Doch nur einer sei diesem Ruf gefolgt, der andere, Odalrich, sei geblieben und habe allen Besitz übernommen, der genau aufgelistet wird.22 Man merkt schnell, dass diese Nachrichten sehr vage sind; bis auf Odalrich hat keine der erwähnten Personen einen Namen. Auch Zeitangaben fehlen, das Geschehen dürfte aber mit Sicherheit in die Karolingerzeit gehören, in der in der Tat erwähnt wird, dass die Gemahlin Karls des Großen, Hildegard, einen Bruder namens Odalrich hatte. Damit hat man so etwas wie einen historischen Kern der Geschichte, der jedoch um gebräuchliche Motive erweitert wird. Es wird nämlich das Erzählschema benutzt, dass der hoch21

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Vgl. dazu Die Chronik des Klosters Petershausen. Hrsg. von Otto Feger. Sigmaringen 1956 (Schwäbische Chroniken der Stauferzeit 3); Helmut G. Walther: Gründungsgeschichte und Tradition im Kloster Petershausen vor Konstanz. In: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 96 (1978), S. 31–67. Ebd., I, 2, S. 38ff.

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adlige und mit dem Kaiser verschwägerte Spitzenahn aufgrund einer Gewalttat oder Unbotmäßigkeit exiliert wird und sich in der Fremde eine neue Existenz aufbauen muss. Da dieses Schema in ähnlichen Formen auch bei anderen Adelsgeschlechtern begegnet, ist man berechtigt, es für ein Erzählmuster ohne einen historischen Kern zu halten.23 Die moderne historische Forschung ist mit den Nachrichten entsprechend umgegangen: Die Erinnerung an die Herkunft des Geschlechts, die Förderung seiner Angehörigen durch den Herrscher und die Ansiedlung insbesondere am Nordufer des Bodensees hat noch in der Chronik des Klosters Petershausen aus dem 12. Jahrhundert in der sog. „Ulrichsage“ einen späten Niederschlag gefunden.24

Mehr musste man dazu nicht sagen, mit der Einordnung als Sage war die Sache erledigt. Das zitierte Erzählmuster scheint aber so verbreitet gewesen zu sein, dass man später der Anschauung war, der gesamte schwäbische Adel stamme von aus Italien Exilierten, wodurch dann die Gewaltbereitschaft und Kriegstüchtigkeit dieser Adligen erklärt wurde. Es passt zu dem Befund, dass auch in anderen Fällen moralisch anrüchige Taten oder Eigenschaften wie etwa Heimtücke, List und Verschlagenheit durchaus geeignet waren, als rühmenswerte Leistungen der Ahnen im Gedächtnis behalten zu werden.25 Der nächste in der Chronik erwähnte Spross dieses Geschlechts war ein Otzo, der eigentlich auch Odalrich hieß, aber wegen seiner Zierlichkeit Otzo genannt wurde. Es wird nicht gesagt, ob er der Sohn des ersten Odalrich war. Otzos Profil wird nun interessanterweise mit ganz anderen Geschichten geschärft, die aber gleichfalls als Übernahmen von Erzählmustern aufgefasst werden dürfen. Er hatte nämlich ein besonderes Verhältnis zu Tieren, wie durch drei Geschichten verdeutlicht wird. Den tieferen Sinn der Geschichten spricht der Autor einleitend selbst an: „Die Frömmigkeit und Wohltätigkeit dieses Otzo war derart, dass sogar die Vögel seine Heiligkeit fühlten, zu seinem Tisch ohne Furcht herbeiflogen und Speisen aus seiner Hand nahmen. Wenn die einen gesättigt davonflogen, so kamen die anderen zur Fütterung herbei.“26 Ich muss hier vielleicht nicht weiter ausführen, wie üblich es war, dass Tiere und ihr Verhalten die Heiligkeit einer Person offenbarten. Der heilige Franziskus ist hierfür das berühmteste, aber nicht das einzige Beispiel.

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Vgl. etwa einschlägige Nachrichten in der ‚Hausüberlieferung‘ der Habsburger oder Wittelsbacher, vgl. dazu Gerd Althoff: Genealogische und andere Fiktionen in mittelalterlicher Historiographie. In: Fuhrmann (Anm. 7), S. 417–441, bes. 421 und 427. So Michael Borgolte: Die Grafen Alemanniens in merowingischer und karolingischer Zeit. Eine Prosopographie. Sigmaringen 1986 (Archäologie und Geschichte 2), S. 254. Vgl. dazu Thomas Zotz: Odysseus im Mittelalter? Zum Stellenwert von List und Listigkeit in der Kultur des Adels. In: Die List. Hrsg. von Harro von Senger. Frankfurt/Main 1999, S. 212–240; Gerd Althoff: Gloria et nomen perpetuum. Wodurch wurde man im Mittelalter berühmt? In: Person und Gemeinschaft im Mittelalter. Festschrift für Karl Schmid. Hrsg. von Dems., Dieter Geuenich u. a. Sigmaringen 1988, S. 297–313. Die Chronik (Anm. 21), cap. 3, S. 40ff.

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In der nächsten Geschichte klopft dann eine Hirschkuh an der Türe des Grafen. Der erkannte, dass sie ihn um Hilfe bitten wollte und beauftragte einen Diener, dem Tier in den Wald zu folgen. Und in der Tat führte es ihn zu seinem Gefährten, dessen Lauf in einer Schlinge gefangen war. Der Diener befreite das Tier und meldete dem Grafen den Erfolg. Eine dritte Geschichte handelt von einem Löwen, der am Kaiserhof aus seinem Käfig ausgebrochen war und überall Schrecken verbreitete. Darauf wurde dem Kaiser vorgeschlagen, „er möge den gottesfürchtigen Grafen Otzo beauftragen, durch die Kraft Gottes den Löwen ein wenig zu besänftigen.“ Der erschlug den Löwen nun nicht, sondern der „sprang […] wild herbei, als ob er ihn verschlingen wollte. Otzo aber empfing ihn mit ausgestreckten Armen, und der Löwe vergaß plötzlich seine Wut, legte sich der Länge nach vor dem Gottesmann nieder und begann seine Füße zu lecken.“ Dann ließ er sich widerstandlos zurück in seinen Käfig bringen. Der Kaiser wurde von Ehrfurcht ergriffen und reagierte entsprechend: „Da ich sehe, wie ihr mit Gott verkehrt, befreie ich euch von nun an von allen Lasten des königlichen Dienstes.“ Interessant ist aber auch der Erzählerkommentar: „Auf solche und ähnliche Weise scherzte Gott gewissermaßen mit diesem ehrwürdigen Manne. Denn ein froher Mensch, der auf den Herrn vertraut, bleibt zu allen Zeiten unerschüttert.“27 Die nächste rühmende Erzählung handelt dann von einem der vier Söhne Otzos, der schwächlich und unkriegerisch war und deshalb weniger geachtet wurde als seine Brüder. Dieses Defizit glich er jedoch durch Raffinesse aus: Aus Furcht, bei der Teilung des Erbes benachteiligt zu werden, ging er zu jedem seiner Brüder und versprach, bei ihm zu wohnen und ihm später seinen Anteil zu vermachen, wenn ihm jetzt Winterthur mit allen Besitzungen zugestanden würde. Die drei anderen Brüder versprachen ihm ihre Hilfe in der sicheren Erwartung, sich selbst damit zu begünstigen. So erlangte er mit List, was er wollte und dachte dann gar nicht daran, seine Ankündigungen wahr zu machen. Vielmehr heiratete er und hatte selbst Nachkommen, denen er das reiche Erbe vermachte.28 Auch hier wird ein bekanntes Erzählschema genutzt, das übrigens in dieser Zeit auch auf Friedrich Barbarossa angewandt wurde, der angeblich auf ganz ähnlich listige Art seine Rivalen um das Königsamt ausmanövriert hatte.29 Auch vom zweiten Bruder, Gebhard, dem späteren heiligen Bischof und Klostergründer, wird in diesem Zusammenhang eine ungewöhnliche Geschichte erzählt. Er sollte angeblich von seinen Brüdern gleichfalls um das Erbe betrogen werden. Sie argumentierten, er sei Kleriker und reich an kirchlichen Einkünften, deshalb brauche er das Erbe nicht. Darauf reagierte Gebhard sehr massiv. Er drohte nämlich angeblich so 27

28 29

Ebd., S. 42: „Talibus et his similibus sepius cum hoc venerabili viro Deus quasi ioculabatur, quia iocundus homo, qui miseretur in Domino, non commovetur in eternum.” Ebd., cap. 5, S. 45f. Vgl. dazu jetzt Knut Görich: Friedrich Barbarossa. Eine Biographie. München 2011, S. 104f., mit Hinweis auf mehrere Geschichten, unter denen die von Gislebert von Mons: Chronicon Hanoniense. Hrsg. von Léon Vanderkindere. Bruxelles 1904, S. 92f., hier besonders einschlägig ist.

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überzeugend mit der Anwendung von Waffengewalt, dass er die Brüder einschüchterte und sie ihm notgedrungen überließen, was ihm zustand. Ein solches Verhalten war nach Meinung des Autors mit seiner Heiligkeit gut zu vereinbaren, brauchte er den Besitz doch für fromme Zwecke.30 Wenn es um Besitzsicherung ging, verstand der Autor, wie viele seiner schreibenden Kollegen, insgesamt keinen Spaß. Dies zeigen die vielen Geschichten der Chronik, in denen der Erwerb oder die Verteidigung von Klosterbesitz detailliert kommentiert wird. Ich zitiere nur eine dieser Geschichten, in der drastisch ausgemalt wird, wie es demjenigen erging, der sich am Besitz des Klosters zu vergreifen wagte. Dies hatte angeblich Bischof Lambert von Konstanz getan, der Petershausen den vom Gründer geschenkten Kirchenschatz entzogen und nach Bamberg transferiert hatte. Doch ihn ereilte angeblich eine fürchterliche Rache Gottes: So begann es an ihm von Ungeziefer zu wimmeln, und zwar von kleinen Läusen in solcher Zahl, daß er durch keine Behandlung davon befreit werden konnte. Häufig wurde er von den Dienern teils im Rhein, teils in Bädern gewaschen, um seine großen Schmerzen etwas zu lindern. Aber selbst im Wasser quoll es ihm bald aus den Ohren, bald aus den einzelnen Gelenken hervor wie ein Bienenschwarm oder wie Ameisen aus einem Ameisenhaufen, bis er schließlich unter gräßlichen Qualen sein Leben aushauchte.

Auch hier aber ist offensichtlich auf eine literarische Tradition zurückgegriffen worden, denn bereits Sulla soll dieser ansonsten unbekannten Krankheit erlegen sein.31 Die Beispiele mögen ausreichen, um das zu belegen, was ich aus historischer Sicht zur mittelalterlichen Reflexion und Darstellung von Anfängen im Bereich von Klöstern und Adelsfamilien beitragen wollte. Das gesamte Feld, wie ich hier nur mit willkürlich gewählten Beispielen andeuten konnte, ist geprägt von sinnstiftenden Erzählungen mit zielgerichteten Inhalten. Fehlendes Wissen um solche Anfänge wird durch Erzählungen ersetzt, die Verhaltensexempel unterschiedlichster Art bieten und sich häufig als Verhaltensanweisungen an Zeitgenossen richten. Das ist insbesondere in klösterlicher Überlieferung der Fall, die an Beispielen der Geschichte zeigt, wie Gott diejenigen belohnte oder strafte, die dem Kloster Gutes oder Böses taten. Im Falle der Adelsfamilien, deren Herkunfts- und Anfangsgeschichten gleichfalls aus der Feder klerikaler Autoren stammen, ist die Botschaft dieser Geschichten vielfältiger: Einerseits dominieren Angaben, die Vornehmheit, Königsnähe oder -verwandtschaft behaupten und dabei jeden noch so vagen Anhaltspunkt für fiktive Ansippungen nutzen. Solche Fiktionen kann man definieren als Hypothesen, die ohne jede Anstrengung zur Falsifizierung des Behaupteten aufgestellt werden. Daneben werden aber auch rebellische Taten, fehlende 30

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Die Chronik (Anm. 21), I. cap. 32, S. 68: „Omnia quecunque habuit vel acquirere potuit Gebehardus ad suum monasterium fideliter Deo obtulit“; vgl. auch die Vita Gebehardi episcopi Constantiensis. Hrsg. von Wilhelm Wattenbach. Hannover 1852 (MGH SS 10), cap. 9, S. 586. Die Chronik (Anm. 21), II, cap. 5, S. 90. Der Hinweis auf Sulla schon bei Siegfried Hirsch: Jahrbücher des deutschen Reiches unter Heinrich II. Bd. 3. Berlin 1875 (Jahrbücher der deutschen Geschichte 11,3), S. 109.

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Bereitschaft zu Unterordnung unter Könige, Durchsetzungsvermögen und Ähnliches zum Thema der Rühmung, also Leistungen und Eigenschaften individueller Art, die neben dem Geblüt auch noch die Nachfahren sozusagen veredeln. Von den benutzten Eigenschaften und Leistungen, die dem Wertekanon der adligen Kriegergesellschaft verpflichtet sind, ist die Rühmung besonders frommen Verhaltens und besonderer Gotterwähltheit zu unterscheiden, wie sie nicht nur bei Otzo beschrieben wird, mit dem Gott zu scherzen pflegte. Für alle diese Rühmungen aber scheint zu gelten, dass die Autoren sich frei fühlten, sowohl Erzähltraditionen als auch literarische Vorbilder zu nutzen und zu verwenden. Diese ziemlich häufig nachzuweisende Technik der Anleihe und Übernahme, durch die nicht in erster Linie die berühmten historischen Kerne ummantelt, sondern Geschichten adaptiert und zur Füllung der Wissenslücken genutzt wurden, die eine schriftarme Zeit notwendig hat, rückt die Darstellungsarten der Anfänge, wie sie sich in der sog. historischen Überlieferung finden, in sehr deutliche Nähe von fiktionalen Texten. Dies berechtigt oder nötigt sogar dazu, das gesamte einschlägige Textcorpus auswertend in den Blick zu nehmen und nicht historische und literarische Texte dieser Art voneinander getrennt zu untersuchen. Ob sich Unterschiede ergeben, kann man dann immer noch sehen. Viel wichtiger aber scheint mir zu prüfen, ob die Texte nicht Gemeinsamkeiten aufweisen, was benutzte Erzählmuster, narrative Strategien und Ähnliches angeht. Ob sie, mit anderen Worten, nicht Vorstellungswelten zugänglich machen, die uns einen sehr unmittelbaren Einstieg in mittelalterliche Denkweisen ermöglichen. Dass in den fraglichen Texten Dinge behandelt werden, die für die Mentalität mittelalterlicher Menschen relevant sind, beweist schon die Größe des einschlägigen Textcorpus, zudem aber auch die wiederkehrenden Muster und Schemata, die verdeutlichen, was man in dieser Zeit als erstrebens- und rühmenswert ansah bzw. was als Unrecht und Sünde zu göttlicher Strafe und Verdammung führte.

II. Literarische Paradigmen von Anfang und Ende

Andrew James Johnston

Beowulf und das Problem des absoluten Anfangs Der Gesang des scop in Heorot

Das Problem des Anfangs gehört zu den wichtigsten Fragen, denen sich das altenglische Epos Beowulf stellt. Und es tut dies buchstäblich von Anfang an. Das Werk beginnt mit einer dynastischen Ursprungserzählung von der Ankunft des späteren dänischen Heldenkönigs Scyld Scefing in seinem zukünftigen Reich und bietet damit einen deutlich, ja fast überdeutlich markierten Anfang. Dieser Auftakt ruft die Erinnerung an eine heroische Vergangenheit wach und verspricht historische Sinnstiftung. Es wird erzählt, wie der spätere Herrscher als fremdes, unbekanntes Kind – in deutlicher Anlehnung an die Auffindung Mose – in einem mit Schätzen beladenen Schiff an die dänische Küste gespült wird. Der Knabe unbekannter Herkunft steigt zum Begründer der Dynastie der Scyldingas auf. Er raubt zahlreichen Völkern, wie es metaphorisch heißt, die Metbänke, sprich: Er unterwirft sie. Doch die so geweckte Erwartung an eine historische Sinnstiftung erfüllt sich nicht. Der allzu grandios inszenierte Anfang läuft eigentümlich ins Leere und berührt die eigentliche Handlung des Epos bloß indirekt, womit er zugleich auch seinen eigenen Anfangscharakter in Frage stellt. Denn nicht um Scyld Scefing und nur bedingt um seine Nachfahren wird es im weiteren Verlauf der Handlung gehen, sondern um den späteren Gautenherrscher Beowulf, der zwar die ersten beiden der drei geschilderten großen Abenteuer in Dänemark am Hofe der Nachkommen Scylds besteht, der jedoch – auch wenn man ihm an einer Stelle die Krone des Dänenreiches per Adoption anzubieten scheint – in eben jene gautische Heimat, aus der er gekommen war, zurückkehrt. Das Dänenreich und seine Herrscherfamilie aber, so deutet es der Text an, wird in einen nicht näher geschilderten Bürgerkrieg schlittern, dessen Vorboten Beowulf am Hofe des dänischen Königs Hrothgar möglicherweise bereits selbst erlebt und dem er sich durch seine Rückkehr in die gautische Heimat in kluger Zurückhaltung entzieht. Somit täuscht der Einstieg über den großen Dänen Scyld Scefing den Leser bei der ersten Lektüre zunächst über das, was ihn erwartet. Die Verankerung der Handlung des Epos in einem dynastisch und geographisch präzise definierten historischen Kontext erweist sich zumindest partiell als Trugschluss; das Reich, um das es letztlich gehen

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wird, ist das dem Untergang geweihte Gautenreich, dessen heldischem Herrscher Beowulf es eben nicht gelingen wird, einen Erben zu zeugen oder auch nur einen Nachfolger zu bestimmen. Der Tod Beowulfs bedeutet das Ende dieses Reiches. Folglich stehen Anfang und Ende des Epos nicht in einer direkten Verbindung miteinander, sondern bieten allenfalls einen jener motivischen Kontraste, die für das Epos so typisch sind. Doch auch sonst erweist sich die Inszenierung des dänischen Ursprungsmythos als zwiespältig. Denn der Anfang, mit dem das Kind Scyld Scefing aus dem Dunkel der Geschichte auftaucht, präsentiert sich als durchaus ambivalent. Keine näheren Angaben, Erläuterungen oder Hinweise bestimmen den Ursprung des Knaben von jenseits des Meeres. So scheint das aus dem Nichts angeschwemmte Schiff erst einmal das Versprechen eines absoluten Anfangs zu bergen, eines radikalen Bruchs und Neubeginns, der weder eine Vorgeschichte kennt, noch auf Vorfahren zurückblickt. (Dass es vor der Ankunft des Kindes in Dänemark eine Phase der Anarchie gegeben haben muss, für die der ebenso inkompetente wie verbrecherische Herrscher Heremod verantwortlich zeichnet, deutet sich erst im weiteren Verlauf des Epos an.) Nicht zuletzt bildet das schatzbeladene Schiff mit dem Kind eine ominöse motivische Parallele zu dem prachtvollen Schiffsbegräbnis des alten Scyld, mit dem die Anfangspassage im engeren Sinne schließt. Wie Andy Orchard betont, erweist sich die Beisetzung des Dänenherrschers auf dem eisigen und über die Fluten fortstrebenden Schiff als ähnlich mysteriös wie seine Ankunft. Aus dem Nichts gekommen, verschwindet der Heldenkönig wieder ins Nichts.1 Doch schon der Schatz an Bord zeigt, dass dieser Anfang kein absoluter ist. Die Reichtümer im Boot stellen vielmehr einen verstörenden Hinweis auf einen Kontinuitätsbruch dar, der sich als gleichsam frischer Neubeginn bloß maskiert.2 Das Kind im schatzbeladenen Schiff wirft Fragen auf, die das Epos nicht beantworten will: Woher kommt der Knabe? Ist er einer historischen Katastrophe entronnen? Zeugen die Beigaben von dynastischer Legitimität oder belegen sie das Gegenteil, verdanken sie sich gar Raub und Plünderung? Ist der Schatz womöglich verflucht oder zumindest Unglück bringend, wie es manch andere kostbare Objekte sind, die im Beowulf den Besitzer wechseln? Auf jeden Fall manifestiert sich ein Zweifel an der politischen Legitimität dynastischer Ursprungsmythen schlechthin und somit auch an ihrem sinnstiftenden Potenzial. Um es mit Eileen A. Joy und Mary K. Ramsey auszudrücken, die das Epos

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Andy Orchard: A Critical Companion to ‚Beowulf’. Cambridge 2003, S. 59. Interessanterweise sieht John M. Hill, für den die narrative Struktur des Beowulf-Epos ganz entschieden von Ankunfts- und Abreiseszenen geprägt ist, die Ankunft Scyld Scefings als ein „auspicious arrival“, einen positiv besetzten, vielversprechenden Anfang: John M. Hill: The Narrative Pulse of ‚Beowulf‘. Arrivals and Departures. Toronto 2008 (Toronto Old English Series 17), S. 5– 6. Die positive Natur dieser Ankunft werde durch den Anfangsvers des Epos verbürgt, in dem Scyld Scefing unzweideutig gepriesen wird. Genauso gut kann man jedoch argumentieren, dass das überschwängliche Lob Scyld Scefings durch das spätere Schicksal seiner Dynastie relativiert wird und dass dieses spätere Schicksal im Dunkel, das seine Ankunft umgibt, bereits vorgezeichnet ist.

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als Ganzes deuten: „Beowulf does not make sense of the past so much as it calls the supposed coherence of the past […] into question.“3 Wie die Beigaben unterstreichen, muss es vor diesem Anfang bereits eine Geschichte gegeben haben, die allerdings unbekannt ist. Dem Anfang haftet damit automatisch etwas Problematisches an: Aus der Perspektive der Leser wie des Erzählers entsteht er nicht so sehr aus einer logischen Struktur der Ereignisse als vielmehr aus einem schlichten Mangel an historischen Kenntnissen: Man weiß einfach nicht, woher das Kind kommt, wer ihm den Schatz ins Boot legte und sein Gefährt auf die Reise schickte.4 Zu Beginn des Epos wird der Anfang so als dasjenige konzeptualisiert, dessen Vorgeschichte man nicht kennt. Das Prinzip des Ursprungsmythos, das die Schilderung der Ankunft Scyld Scefings schon über die biblische Parallele aufzurufen bemüht ist, erweist sich bereits in seiner Grundstruktur als defizitär. Das Narrativ vom Ursprung verdankt sich hier einer eher epistemologischen Problematik und nicht so sehr dem Telos einer Historie, in der die Geburtsstunde oder der originäre Moment den Keim des Späteren notwendig in sich tragen und auf das unausweichlich historisch Kommende verweisen. Zudem begegnet der Leser im Verlauf des Beowulf-Epos immer wieder Hinweisen auf historische Ereignisse und Figuren, die vor der Ankunft Scyld Scefings stattgefunden bzw. gelebt haben müssen, ohne dass allerdings zwischen ihnen und Scyld Scefing ein beschreibbarer historischer Zusammenhang bestünde.5 Dass sich die Ordnung der Chronologie – und damit das Problem des Anfangs – letztlich vor allem einem Mangel an historischem Wissen verdankt und der scheinbare Anfang nichts anderes ist als ein erzählerischer Punkt, an dem das einsetzt, was man zu kennen glaubt, ist eine Struktur, die sich wie ein Grundton durch den gesamten Text zieht. Sie manifestiert sich beispielsweise immer dann, wenn es um archäologische Überbleibsel und Artefakte geht, die auf die eine oder andere Weise in den Blick der Protagonisten geraten, ohne von diesen in ein sinnvolles, übergreifendes Gefüge von Ereignissen eingeordnet werden zu können. Dieses breit ausgestellte Nicht-Wissen bleibt jedoch nicht nur auf die Figuren des Epos beschränkt. Auch der Erzähler kann nicht immer sagen oder gibt zumindest nicht immer preis, worum es sich bei dem jewei3

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Eileen A. Joy, Mary K. Ramsey: Introduction. Liquid Beowulf. In: The Postmodern ‚Beowulf’. A Critical Casebook. Hrsg. von Eileen A. Joy, Mary K. Ramsey. Morgantown 2006, S. xxix–lxvii, xxxiv. Schon 1995 erklärte John M. Hill: „Without characterizing the past as antique, the poet initially constructs a framework that suggests the clarity of what we know about events in the past, of what a good king is, and of what shape our lives have. We live days of valorous achievement bounded by the unknown.“ John M. Hill: The Cultural World in ‚Beowulf‘. Toronto 1995, S. 53. Dem würde ich entgegenhalten, dass dieses Unbekannte, das „unknown“, durch die dunkle Herkunft Scyld Scefings seinen Schatten auch auf den Bereich der eigentlichen Handlung des Epos vorauswirft und dem Publikum sein Nicht-Wissen schmerzlich vor Augen führt. Zu diesen Figuren und Ereignissen gehören Heremod, Sigemund (Siegmund), Eormenric (Ermanarich), Hama und Weland (Wieland) ebenso wie Kains Mord an Abel und die Sintflut (Orchard [Anm. 1], S. 98).

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ligen archäologischen Relikt eigentlich handelt. Als Beowulf und seine Gefährten nach Dänemark kommen und auf die Halle König Hrothgars zuschreiten, benutzen sie beispielsweise eine Römerstraße – sprich: einen gepflasterten Weg, der vor dem Hintergrund der altenglischen Literatur und der kulturellen Erfahrung der frühmittelalterlichen Engländer keine andere Deutung zulässt, als dass er einst der administrativen, ökonomischen und militärischen Durchdringung der römischen Provinz Britannien diente. Diese für den dänischen Schauplatz der Handlung im ersten Teil des Epos streng genommen anachronistische Hinterlassenschaft des Römischen Reiches deutet für die Topographie und Archäologie des Dänenreiches Ähnliches an, wie es auch schon für die Herkunft seines Gründers gilt: Das Dänenreich wurde auf den Ruinen einer anderen, fremden Vergangenheit errichtet – einer Vergangenheit, die die Figuren des Epos jedoch nicht kennen und über die auch der Erzähler nur eingeschränkt bis gar nicht berichten kann. Das Motiv setzt sich in der Königshalle mit dem gepflasterten Fußboden, dem „fagne flor“ fort, in dem die Forschung Überreste einer römischen Villa sieht.6 Die Halle Heorot, der Stolz des Dänenreiches, ruht buchstäblich auf den Fundamenten einer verlorenen Kultur. Im Beowulf definiert sich Anfang daher potenziell immer als der Punkt, an dem zwar das zumindest scheinbar Bekannte beginnt, vor dem irritierenderweise jedoch immer schon etwas existiert haben muss, dessen man sich nicht vergewissern kann. Ein geradezu typisches Beispiel für diese Wahrnehmung der Geschichte stellt der Schwertgriff dar, den Beowulf dem Dänenkönig Hrothgar überreicht, nachdem er Grendels Mutter im Zweikampf überwunden hat. In der Unterwasserhöhle mit der „ides āglæċwīf“7 kämpfend, hatte Beowulf nach einem Riesenschwert gegriffen, das an der Wand der Höhle hing – einer Waffe von gewaltiger Größe, die einst von Riesen geschmiedet worden war – und damit zuerst Grendels Mutter getötet, um danach den in einer Ecke liegenden, tödlich verwundeten oder vielleicht kürzlich verstorbenen Grendel zu enthaupten. Dann jedoch schmilzt die Schwertklinge und es ist nur noch der mit Schriftzeichen reich verzierte Griff, den Beowulf aus der Unterwasserhöhle mit an die Oberfläche nehmen kann, um ihn später, zurück in der Königshalle, dem Dänenkönig in die Hände zu legen. Indem auch diese Szene das Problem der durch Kontinuitätsbruch motivierten (Neu-) Anfänge wieder aufruft, trägt sie dazu bei, diesen Fragenkomplex schärfer zu konturieren. Als Hrothgar den Schwertgriff in die Hand nimmt und genauer studiert, bereitet der Erzähler dessen gleich folgende große Rede – die in der englischsprachigen BeowulfForschung gemeinhin als ‚Hrothgar’s Sermon‘ bezeichnet wird – durch das Wort „mathelode“ – „er sprach“ – vor. Mathelian ist ein Verb, das einen Sprechakt von besonderer Würde und herausgehobener Bedeutung charakterisiert. Umso auffälliger wirkt es, 6

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Seth Lerer: On ‚fagne flor‘. The Postcolonial ‚Beowulf‘. From Heorot to Heany. In: Postcolonial Approaches to the European Middle Ages. Hrsg. von Ananya Jahanara Kabir, Deanne Williams. Cambridge 2005 (Cambridge Studies in Medieval Literature 54), S. 77–102. Klaeber’s Beowulf and the Fight at Finnsburg. Hrsg. von Robert D. Fulk u. a. Toronto 42008 (Toronto Old English Series 21), V. 1259.

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dass auf den Anvers „Hrōðgār maðelode“8 nun aber nicht die Rede Hrothgars folgt, sondern zunächst eine Beschreibung des Artefakts, welches der Herrscher in den Händen hält. Erst nach dieser Beschreibung des Schwertgriffs folgt die eigentliche Rede, die dann allerdings wider Erwarten nichts mit dem Gegenstand zu tun hat, der sie allem Anschein nach motiviert hat. Die Beschreibung selbst erweist sich als eigentümliche Mischung aus konkreten Kenntnissen und deutlichen Informationslücken. Wir erfahren, dass das Schwert einst von Riesen gefertigt worden war, dass der Name des Schmiedes auf dem Schwert eingraviert ist und dass die Schriftzeichen – ausdrücklich ist von Schrift und nicht von Bildern die Rede – die Sintflut darstellen. Doch den Namen des Schmiedes erfahren wir nicht.9 Die Rekurrenz auf das biblische Ereignis der Sintflut verkörpert hier wiederum jene spezifische Dialektik von Kontinuitätsbruch und Kontinuität, von inszeniertem Abreißen einer Tradition und ebenso betontem Fortleben von Restbeständen und Fragmenten, die für den Umgang des Beowulf-Epos mit den Konzepten von Anfang und Ende und dem darin implizierten Verständnis von Geschichte prägend ist. Dem Buche Enoch zufolge waren es die Riesen aus der Nachkommenschaft Kains, die die Menschen die Schmiedekunst lehrten, und später von der Sintflut vernichtet wurden.10 Damit wird das Schwert zum Paradox: Es ist ein Riesenschwert, in diesem Falle wirklich eine von Riesen geschmiedete Waffe; gleichzeitig aber schildert der auf dem Schwertgriff eingravierte Text den Untergang eben jener Riesen. Darüber hinaus stellt das Epos ohnehin eine Verbindung zwischen Grendel und seiner Mutter und den Riesen her, denn der gewaltige Unhold mit den überirdischen Kräften wird ausdrücklich als „Cāines cynne“11 apostrophiert. Diese Zusammenhänge werfen neue Fragen auf: Wie konnten die Riesen ein Schwert schmieden, das bereits die Geschichte ihres eigenen Untergangs schildert? Die Szene, in der Beowulf Hrothgar das Riesenschwert überreicht, gehört zu den faszinierendsten des Epos und ist in vielfacher Weise gedeutet worden. An dieser Stelle soll nur darauf hingewiesen werden, dass die Szene dazu beiträgt, eine Spannung zwischen historischen Katastrophen, wie etwa der Sintflut, die Ende und Neuanfang zugleich setzen, und dem Fortdauern materieller Überreste zu konstruieren. Diese Spannung unterläuft die klare, gleichsam radikale Trennung von Ende und Anfang und deutet damit die Unmöglichkeit absoluter Anfangs- und Endpunkte an.

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Fulk (Anm. 7), V. 1687. Eine Diskussion dieser Szene aus medientheoretischer Perspektive findet sich in Andrew James Johnston: Medialität in ‚Beowulf‘. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 59 (2009), S. 129– 147. Vgl. Johann Köberl: The Magic Sword in ‚Beowulf’. In: Neophilologus 71 (1987), S. 120– 128, 124; Richard J. Schrader: The Language on the Giant’s Sword Hilt in ‚Beowulf’. In: Neuphilologische Mitteilungen 94 (1993), S. 141–147. Fulk (Anm. 7), V. 107.

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Vor dem Hintergrund dieser archäologischen Überreste – gepflasterte Straße, gefliester Fußboden, Riesenschwert – und der Art und Weise, wie sie die Idee vom Anfang unterlaufen, fällt auf, dass das Epos tatsächlich einen deutlich herausgehobenen Moment kennt, an dem von einer Art absolutem Anfang die Rede ist, der sich der ansonsten das Epos prägenden Dialektik von scheinbarem Neuanfang und bloß vorläufigem Ende entzieht. Dieser Moment ist der Schöpfungsgesang des scop in der Königshalle Heorot, der die Erschaffung der Welt durch Gott schildert und damit den ersten Angriff Grendels provoziert. Dieser Schöpfungsgesang ist im fiktionalen Kontext des Epos höchst anachronistisch, schildert er doch einen Akt originärer Erschaffung der Welt, wie er einer monotheistischen Tradition entspräche, mit der germanischen Mythologie aber nur bedingt vereinbar ist, der die paganen Figuren des Epos angeblich huldigen bzw. huldigen müssten. Vor allem aber die Verwendung des Begriffs Ælmihtiga für den Schöpfergott weist in eine christliche Richtung.12 Dieser Schöpfungsgesang scheint jener Tendenz des Textes zu entsprechen, in der die heidnischen Helden der Vergangenheit retrospektiv nobilitiert und in eine, wie auch immer prekäre, Kontinuität mit dem Christentum gestellt werden. Sowohl die im gesamten Epos deutlichen Anklänge an die christliche Heilsgeschichte als auch die Anspielungen auf christliche Symbole und Traditionen – wie etwa die Auffindung Mose – fänden damit in dem Schöpfungsgesang so etwas wie eine poetische Verdichtung. Als Gedicht im Gedicht gewänne der Gesang einen mis-en-abyme-Charakter, der die handelnden Figuren des Epos in die Heilsgeschichte einbettet. Ganz folgerichtig ist es dann auch dieser Gesang des scop, des Dichters, der das Ungeheuer Grendel weckt und dazu motiviert, die Königshalle Heorot anzugreifen und nachts systematisch unbewohnbar zu machen. In dieser Parallelsetzung steckt eine strukturelle Ironie: Der Schöpfungsgesang schildert den Anfang der Welt und bildet im Rahmen der Handlung zugleich den Auslöser für die Handlung des Epos. Er markiert damit einen doppelten Anfang. Zugleich aber scheint der Schöpfungsgesang auf eine dritte Erzählung vom Anfang zu verweisen, nämlich auf die legendarische Geburtsstunde der altenglischen Literatur, worin meines Erachtens das eigentlich Kunstvolle dieser Verknüpfungen besteht. Denn der Schöpfungsgesang des Beowulf ist in der altenglischen Literatur keineswegs singulär. Vielmehr findet er sein Pendant im Gesang Caedmons, welcher so etwas wie den mythischen Anfang nicht nur der englischen Literatur, sondern auch der englischen Literaturgeschichte und sogar der englischen Literaturgeschichtsschreibung bildet. Nun ist die Idee, einen Bezug zwischen dem Schöpfungsgesang aus Beowulf und Caedmons erstem Lied herzustellen, nicht unbedingt originell. Im Gegenteil, den Neuherausgebern 12

Auch die altnordische Literatur kennt durchaus Schöpfungsgesänge, wie sie etwa in der Voluspa und Snorris Prosa-Edda vorkommen. Vgl. Michael D. Cherniss: Ingeld and Christ. Heroic Concepts and Values in Old English Christian Poetry. Den Haag u. a. 1972 (Studies in English Literature 74), S. 137. Einen Überblick über Gemeinsamkeiten und Unterschiede altenglischer und anderer altgermanischer Schöpfungsgesänge bietet Constance B. Hieatt: Cædmon in Context. Transforming the Formula. In: Journal of English and Germanic Philology 84 (1985), S. 485–497.

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der erst kürzlich vollständig überarbeiteten Beowulf-Ausgabe Friedrich Klaebers ist sie sogar ein leicht verächtliches Schnauben wert: „The Song of Creation, while obviously based on Gen. 1 bears no special resemblance to Caedmon’s Hymn.“13 Diese Bemerkung der Herausgeber der überarbeiteten Standardausgabe ist nichts weniger als auffällig, denn die Kommentatoren beginnen ihre Notiz mit der klaren Zurückweisung einer möglichen Deutung, die erst in dieser Zurückweisung überhaupt spürbar wird. Sie beginnen also gleichsam mit einem interpretatorischen Präventivschlag. Durchaus zu Recht verweisen die drei Herausgeber in diesem Zusammenhang auf eine ganze Tradition literarischer Schöpfungsgesänge und Kosmogonien in der altenglischen Literatur und auch auf einen entsprechenden Passus in der Aeneis.14 Worum geht es hier genau? Die Schärfe der rhetorischen Strategie, die die drei Herausgeber hier anwenden, ist insofern verständlich, als sich der Vergleich mit Caedmons Hymnus in Bedas Historia ecclesiastica gentis Anglorum förmlich aufdrängt, auch wenn oberflächlich gesehen keine nähere Verwandtschaft zwischen den Texten erkennbar ist. Allerdings ist eine Ähnlichkeit im Wortlaut – denn darauf heben die Kommentatoren offenbar vor allem ab – zwischen Caedmons Hymnus und dem Beowulfschen Schöpfungsgesang auch gar nicht nötig, um eine Assoziation zwischen den beiden Texten herzustellen. Es reicht bereits die thematische und strukturelle Verwandtschaft. Um diesen Zusammenhang näher erläutern zu können, sei kurz an die Caedmon-Legende erinnert.15

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Fulk (Anm. 7), S. 121. In einer faszinierenden Spekulation hat Klaus von See die These entwickelt, dass die CaedmonEpisode in Bedas 731 abgeschlossenem Geschichtswerk vom Koran inspiriert worden sein könnte. Von See zufolge entsteht die Historia zeitgleich mit der Phase der größten arabisch-muslimischen Expansion, als die Araber das Westgotenreich niedergeworfen hatten (731) und die Pyrenäen überquerten, um ins Frankenreich vorzudringen, aus dem sie erst 732 durch ihre Niederlage gegen Karl Martell bei der Schlacht von Tours und Poitiers wieder vertrieben wurden. Beda sind diese Ereignisse durchaus vertraut. Es ist daher alles andere als abwegig, zu vermuten, dass Bedas Episode auf erste Informationen über den unvermutet expandierenden Islam zurückgeht. Vgl. Klaus von See: Caedmon und Muhammed. In: ZfdA 112/4 (1983), S. 225–233, 231. Ähnlich sieht es auch Zacharias P. Thundy, der sich jedoch nicht auf Klaus von See beruft. Vgl. Zacharias P. Thundy: The Qur’ān. Source or Analogue of Bede’s Caedmon Story? In: Islamic Culture 63/3 (1989), S. 105– 110. In einem interessanten Aufsatz, dessen Stoßrichtung allerdings eine andere ist als die hier verfolgte, hat J. B. Bessinger, Jr., den Beowulfschen mit dem Caedmonschen Schöpfungsbericht insofern verglichen, als dass beide eine vergleichbare metaphorische Struktur haben, derzufolge der Erdenschöpfer die Welt erst erschafft, um sie dann auszuschmücken. Auf diese Weise werde der Schöpfergott mit König Hrothgar, dem Erbauer der Halle Heorot, gleichgesetzt. Bessinger entwickelt hier nicht nur einen strukturellen Zusammenhang zwischen den beiden Schöpfungsgesängen, sondern baut diesen auf elegante Weise auch in das Erzähl- und Handlungsgefüge des Beowulf-Epos ein. Vgl. J. B. Bessinger, Jr.: Homage to Cædmon and Others. A Beowulfian Praise Song. In: Old English Studies in Honour of John C. Pope. Hrsg. von Robert B. Burlin, Edward B. Irving, Jr. Toronto 1974, S. 92–106, 94.

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Die quasi-hagiographische Episode – Caedmon findet nie zur Ehre der Altäre – schildert, wie der Viehhirt Caedmon, der im Dienste des Kloster Streanæshalh (heute: Whitby) steht, sich immer dann davon stehlen muss, wenn abends unter den am Herdfeuer sitzenden Hirten die Harfe kreist. Caedmon, dessen möglicherweise keltischer Name16 auch auf ethnisch-sprachliches Außenseitertum verweisen könnte, kann nämlich weder dichten noch singen – jedenfalls nicht in der erforderlichen Form der angelsächsischen Stabreimdichtung.17 Stattdessen zieht er sich zum Vieh in den Stall zurück. Dort erscheint ihm im Schlaf ein Mann, der ihn auffordert, einen Gesang zum Lobe von Gottes Schöpfung anzustimmen. Nachdem sich Caedmon erst einmal weigert, lässt er sich doch überreden und, siehe da, er produziert einen Preisgesang auf Gott in der besten Tradition alliterierender germanischer Heldendichtung. Am nächsten Morgen teilt Caedmon sein Erlebnis mit, wird ins Kloster gebracht und trägt dort den Mönchen seinen Gesang vor, den er nicht vergessen hat. Sein neu erworbenes poetisches Talent wird im Dienste der christlichen Religion mehrfach erfolgreich auf die Probe gestellt, woraufhin Caedmon ins Kloster aufgenommen wird und den Rest seines Lebens damit verbringt, unter Anleitung der Mönche biblische Episoden und Themen in angelsächsische Alliterationsdichtung zu fassen.18 Diese Geschichte hat für die historische Selbstverortung Englands im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle gespielt, scheint sie doch so etwas wie den Beginn der englischen Literaturgeschichte im doppelten Sinne des Begriffs darzustellen. Zum einen wird mit der Nennung des Dichters, der Darstellung seines Stils und seines Oeuvres und dessen Einbettung in einen doppelten Traditionsstrang – den der germanischen Heldendichtung und den der lateinisch-christlichen Literatur – die englische Literaturgeschichtsschreibung begründet. Zum anderen aber ist Caedmon – so wenig seine Person auch historisch wirklich belegbar sein mag – der erste namentlich bekannte Dichter 16

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Clare A. Lees, Gillian R. Overing: Birthing Bishops and Fathering Poets. Bede, Hild, and the Relations of Cultural Production. In: Exemplaria 6 (1994), S. 35–65, 41. Michael J. Swanton vermutet, dass Beda einen Sprachfehler oder gar eine Sprachbehinderung bei Caedmon andeutet. Vgl. Michael J. Swanton: English Poetry Before Chaucer. Exeter 1987/2002 (Exeter Medieval English Texts and Studies), S. 76. Die angebliche lateinische Übertragung des Gedichts lautet bei Beda folgendermaßen: „Nunc laudare / debemus auctorem regni caelestis, potentiam Creatoris et consilium illius, facta Patris gloriae: quomodo ille, cum sit aeternus Deus, omnium miraculorum auctor extitit, qui primo filiis hominum caelum pro culmine tecti, dehinc terram Custos humani generis omnipotens creauit.“ Vgl. Bede’s Ecclesiastical History of the English People. Hrsg. von Bertram Colgrave, Roger Mynors. Oxford 1969 (Oxford World's Classics), 4.24, S. 416. Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter. 3. aktualisierte Auflage. München 2000 (dtv 30777), S. 132, hat dies ins Deutsche übertragen: „Laßt uns loben den Herrn des Himmels, die Macht des Schöpfers und seinen Rat, die Taten des Herrn der Herrlichkeit; wie der Ewige alle Wunder schuf, zuerst den Himmel schuf als Dach für die Menschenkinder und dann die Erde, der allmächtige Hüter des Menschengeschlechts.“ Kartschoke geht davon aus, dass das Gedicht nur den Beginn eines längeren Werkes darstellt, welches es lediglich anzitiert. Diese Auffassung wird in der englischsprachigen Forschung allerdings nicht nennenswert diskutiert, vgl. ebd., S. 37.

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englischer Sprache. Auch in der wissenschaftlichen Diskussion hat die Caedmon-Episode eine bedeutende Rolle gespielt, wurden aus ihr doch weitreichende Schlussfolgerungen zum sozialen Kontext der altenglischen Dichtung, zu Fragen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zur relativen Chronologie von Einzelwerken und ganzen Genres sowie zum Verhältnis von Heidentum und Christentum gezogen.19 Fred C. Robinson spricht sogar von einer ‚pre-Caedmonian‘ und einer ‚post-Caedmonian‘ Phase der altenglischen Literatur, wobei die ‚post-Caedmonian‘ Phase die Periode der altenglischen Dichtung bezeichnet, in der die altenglische Literatursprache systematisch christlich appropriiert und umgedeutet wird. Aber nicht erst die Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts hat Caedmon eine herausragende Stellung zugebilligt. Schon in angelsächsischer Zeit stellte Bedas Historia ecclesiastica einen zentralen Text der historischen Selbstvergewisserung der Angelsachsen dar. Daher wurde das lateinische Geschichtswerk aus dem frühen achten Jahrhundert auch im späten neunten oder frühen zehnten, also während der mit dem Namen König Alfreds verbundenen Übersetzungswelle, ins Altenglische übertragen. Und dabei kam es auch zu einer altenglischen Übersetzung des zunächst nur in lateinischer Prosa vorliegenden Schöpfungsgesangs Caedmons – Caedmon’s Hymn. Tatsächlich geht nämlich ein Teil der Forschung heute davon aus, dass das unter dem modernen Titel Caedmon’s Hymn bekannte Gedicht aus der altenglischen Übersetzung der Historia ecclesiastica bloß eine altenglische Nachdichtung des lateinischen Prosatextes darstellt.20 Die Tatsache, dass sich die Übersetzer des späten neunten oder frühen zehnten Jahrhunderts möglicherweise bemüßigt fühlten, Caedmons Schöpfungshymnus gewissermaßen nachzudichten, also im streng positivistischen Sinne eine fromme Geschichtsfälschung zu begehen, unterstreicht besonders eindrucksvoll, welche Rolle der Text bereits in der historischen Selbstverortung der Angelsachsen spielte. Auch wenn zwischen Caedmons Schöpfungsgedicht und dem des Beowulf-Epos keine direkte Abhängigkeit konstruiert werden kann, so liegt es doch nahe – so wenig wir auch von den genauen Zusammenhängen der altenglischen Literaturgeschichte wissen –, dass zwischen diesen beiden Texten ein intertextueller Zusammenhang besteht 19

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Eine kritische Diskussion der Rolle des Caedmon-Mythos bietet Wilhelm G. Busse: Altenglische Literatur und ihre Geschichte: Zur Kritik des gegenwärtigen Deutungssystems. Düsseldorf 1987 (Studia humaniora 7), S. 35, der bezeichnenderweise sogar vom ‚Caedmon-Paradigma‘ spricht. Folgende Wissenschaftler argumentieren in diesem Sinne: Kevin Kiernan: Reading Cædmon’s Hymn with Someone Else’s Glosses. In: Representations 32 (1990), S. 157–174, 162–165; David Dumville: ‚Beowulf‘ and the Celtic World: The Uses of Evidence. In: Traditio 37 (1981), S. 109– 160, 148; Allen J. Frantzen: Desire for Origins. New Language, Old English, and Teaching the Tradition. New Brunswick/London 1990, S. 146; G. R. Isaac: The Date and Origin of Cædmon’s Hymn. In: Neuphilologische Mitteilungen 98/3 (1997), S. 217–228. Dagegen wenden sich unter anderem: James Hall: The Year’s Work in Old English Studies. In: Old English Newsletter 25/2 (1992), S. 7–89, 36; Frederick M. Biggs: Deor’s Threatened ‚Blame Poem’. In: Studies in Philology 94/3 (1997), S. 297–320, 307 (Anm. 46); Robert D. Fulk: A History of Old English Meter. Philadelphia 1992 (Middle Ages Series), S. 427–428.

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und dass der spätere Text, Beowulf, mit Kenntnis der Historia ecclesiastica entstanden ist. Dafür spricht nicht zuletzt auch die Tatsache, dass die Historia ecclesiastica in einer für die altenglische Zeit ungewöhnlich hohen Zahl an Handschriften überliefert ist: Es sind mehr als 160 Handschriften der lateinischen Version und immerhin sechs der altenglischen überliefert. Zudem besaß der Autor Beda selbst weit über Englands Grenzen hinaus ein hohes Ansehen, das auch nach dem frühen Mittelalter anhielt. Noch Dante setzte ihn in der Divina Commedia neben Isidor von Sevilla.21 Wenn also auch über den bloßen Wortlaut des Beowulfschen Schöpfungspreises keine direkte Abhängigkeit von Caedmons Hymnus zu konstruieren ist, so lässt sich meines Erachtens angesichts der manifesten Bedeutung sowohl Bedas als intellektueller Figur für das frühe Mittelalter insgesamt als auch seiner Historia ecclesiastica für das historische Selbstverständnis der gebildeten Angelsachsen doch ein engeres intertextuelles Verhältnis zwischen den beiden Texten postulieren, als es die Neu-Herausgeber des Klaeberschen Beowulf mit ihrem unwirschen Verweis auf die ‚bloße‘ Konventionalität des Topos suggerieren wollen. Gewiss liegt hier auch ein Rückgriff auf eine Konvention vor, aber diese Konvention hat im Kontext der altenglischen Literaturgeschichte eine ganz spezifische und zudem sehr prominente Ausprägung erfahren, die für das Publikum des Beowulf als Verweis auf eine ganz bestimmte Texttradition und auch auf eine ganz bestimmte literaturgeschichtliche Situation zu lesen war. Gerade weil sowohl Beda als auch Beowulf auf die gleiche Konvention zurückgreifen,22 entsteht ein spezifischer intertextueller Zusammenhang, der das Epos nicht allein in eine bestimmte motivische, sondern in eine spezifische literaturhistorische und sogar literaturhistoriographische Traditionslinie stellt. Anders ausgedrückt: Für einen mit dem Bildungskanon der altenglischen Epoche auch nur einigermaßen vertrauten Rezipienten muss sich beim Schöpfungsgesang des scop im Beowulf sogleich ein ganzes literaturgeschichtliches Narrativ aufdrängen, weil die hier aufgerufene Konvention dank Beda in der altenglischen Literatur bereits eine ganz bestimmte und speziell auf die angelsächsische Literaturgeschichte zugeschnitte Formung erfahren hat. Was bedeutet dies für unser Verständnis des Epos und seiner Problematisierung des Anfangs mit dem Schöpfungsgesang? Zunächst einmal stellt der aufgerufene Bezug einen Beitrag zur schon erwähnten Nobilitierung der paganen Vorfahren dar: So wie sich Caedmon dank göttlicher Inspiration in der Lage zeigte, christliche Glaubensinhalte in germanische Dichtung zu kleiden, kann es auch dem scop in der Halle Heorot vermittels göttlicher Begabung ermöglicht worden sein, eine Kosmogonie poetisch zu imaginieren, die er in seiner vorchristlichen Zeit eigentlich nicht hätte kennen dürfen. Die 21

22

Vgl. Wolfgang Becker u. a.: Beda Venerabilis. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 1. Hrsg. von Robert Auty, Robert-Henri Bautier. München 1980, Sp. 1774-1779. Eine Diskussion der Konventionalität des Caedmonschen Hymnus findet sich bei: Andy Orchard: Poetic Inspiration and Prosaic Translation. The Making of Caedmon’s Hymn. In: Studies in English Language and Literature, “Doubt Wisely”. Papers in Honour of E. G. Stanley. Hrsg. von M. J. Toswell, E. M. Tyler. London/New York 1996, S. 402–422.

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heidnischen Germanen partizipieren folglich an einer Art Ahnung des Christentums, dessen aber erst ihre Nachkommen in vollem Umfang teilhaftig werden dürfen. Zugleich wird damit auch ganz grundsätzlich das seherische Potenzial der Dichtung thematisiert. Es ist der Dichter als vates, der hier über ein religiöses (Vor)Wissen verfügt, auch wenn er selbst sich der heilsgeschichtlichen Tragweite seiner Kenntnisse nicht bewusst sein kann.23 Damit aber kommt der Dichtung in der speziellen historischen Situation, die das Beowulf-Epos entwirft, eine besondere Rolle zu: Sie kann den Abgrund überbrücken oder zumindest verringern, der zwischen der heidnischen und der christlichen Epoche besteht. Mithin stellt sie nicht zuletzt dank ihrer Konventionalität dort ein Element der Kontinuität her, wo die traditionelle heilsgeschichtliche Historiographie einen radikalen Bruch konstruiert. In dieser Perspektive ergibt sich ein wichtiger Unterschied zwischen der literaturgeschichtlichen Tradition, die die Caedmon-Episode verkörpert, und derjenigen, die Beowulf im Rückgriff auf jenen früheren historiographischen Text entwirft. Ist nämlich die Caedmon-Episode ganz gezielt auf die Dynamik des Bruches hin ausgerichtet, wird eben dieses historiographische Konzept im Beowulf subtil subvertiert. Bei Beda ist die Situation klar: Caedmon kann dank mirakulöser Eingebung zwei sich historisch zunächst ausschließende poetische und intellektuelle Traditionen miteinander verbinden, nämlich die Inhalte der Bibel mit den Formen der germanischen Dichtung. Weil dies jedoch nur mit Hilfe eines Wunders geschehen kann, wird der Antagonismus der beiden kulturellen Traditionen noch in seiner Überwindung deutlich herausgestrichen. Und vielleicht ist dies auch der Grund, weshalb sich das Wunder (möglicherweise) in der Person Caedmons einer dritten Figur bedienen muss, eines (möglicherweise) ethnisch und sprachlich ausgeschlossenen Kelten als poetischem go-between. In Anbetracht der Gegensätzlichkeit der hier miteinander kontrastierten Kulturen schaltet Gott gewissermaßen einen neutralen Vermittler ein. Demgegenüber würde Beowulf den klar herausgestellten Antagonismus der Caedmon-Episode wieder unterlaufen. Die den Angelsachsen zur Verfügung stehende altgermanische Dichtungstradition – hier allerdings durch einen Dänen vertreten – bedarf im Epos gerade keines Wunders, um eine Nähe zur christlichen Botschaft herzustellen und auch schon gar keines neutralen Vermittlers. Ganz im Gegenteil: Die altgermanische Dichtung besitzt gleichsam eo ipso einen privilegierten Zugang zu (eigentlich) christlichen Glaubenswahrheiten, einem Schöpfungsakt monotheistischer Prägung, und es ist folglich dieser Zugang, der sie zum Instrument der Vermittlung der christlichen Bot23

Edward L. Risden zufolge ist die altenglische Dichtung insgesamt von einem starken prophetischen Element geprägt, das unter anderem mit der Bedrohung des englischen Christentums durch die Dänen im neunten und zehnten Jahrhundert zu tun hat. Vgl. Edward L. Risden: Old English Heroic Poet-Prophets and Their (Un)stable Histories. In: Prophet Margins. The Medieval Vatic Impulse and Social Stability. Hrsg. von Edward L. Risden u. a. New York u. a. 2004, S. 13–28. Wenngleich diese Kontextualisierung das spezifisch Literarische dieses Topos ein wenig aus den Augen zu verlieren scheint, so hat Risden recht damit, dass das Seherische im Beowulf sehr präsent ist.

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schaft geradezu prädestiniert. Vor dem Hintergrund der Caedmon-Episode und auch im Kontrast zu ihr ergibt sich so ein ganz neues Bild. Aus der Beowulf-Perspektive wäre der in der Historia ecclesiastica legendarisch überhöhte Anfang der englischen Literaturgeschichte als ‚christliche Literaturgeschichte‘ am Ende gar keiner mehr, weil ja die altgermanische Dichtung den Keim der Offenbarung bereits in sich trägt, da sie in der Lage ist, ein kosmogonisches Szenario zu entfalten, das dem der Genesis weitgehend entspricht. Das von Wilhelm Busse so genannte „Caedmon-Paradigma“ würde auf diese Weise beiläufig demontiert, der radikale Bruch der Christianisierung implizit geleugnet und der wundersame (Neu)Anfang der altenglischen Literaturgeschichte zur bloßen Fortschreibung einer sowohl in formaler als auch in inhaltlicher Hinsicht wenn nicht bereits bestehenden, dann wenigstens strukturell angelegten Literaturtradition umgedeutet. In der Diktion des Postkolonialen gesprochen hieße das, dass sich im Beowulf eine poetische Gegengeschichte konstituiert, die die Kolonisierung der poetischen Traditionen der Germanen durch die monastische Kultur zurückweist, wie sie in der CaedmonEpisode allegorisch narrativiert wird. Damit soll nicht gesagt sein, dass der Autor des Beowulf ein Gegner des Mönchtums gewesen sei; aller Wahrscheinlichkeit nach war er selbst Mönch.24 Es geht lediglich darum zu zeigen, dass dieses Epos eine Alternative zu einem bestimmten Entwurf der altenglischen Literaturgeschichte anbietet. Und dieser Gegenentwurf passt perfekt in das heilsgeschichtliche Konzept, das dem Beowulf-Epos insgesamt unterliegt. Denn wenn auch die heidnischen Dänen sich ihrer christlichen Vorahnungen nicht bewusst sein können, so wird doch die Richtigkeit der These vom partiellen Offenbarungscharakter auch der altgermanischen Dichtung durch das Ungeheuer Grendel höchstselbst verifiziert: Was der pagane Dichter nicht wissen kann, das spürt der Nachkomme Kains umso instinktiver und fühlt sich durch den Schöpfungsgesang des scop sogleich so stark herausgefordert, dass er mit seinen Überfällen auf die Königshalle Heorot beginnt und somit den eigentlichen Anfang der Handlung des Epos setzt. Die hier skizzierte Refiguration des Anfangs der englischen Literaturgeschichtsschreibung ist jedoch nicht der einzige Aspekt, der dem Schöpfungsgesang im Beowulf inhärent ist. Es gibt mindestens noch einen weiteren, auf den ich im Folgenden noch zu sprechen kommen möchte. Es handelt sich dabei um das Moment poetischer Selbstreflexion, das dem Epos nicht zuletzt dank der Szene mit dem Schöpfungsgesang innewohnt. Hierbei ist der Caedmon-Kontext insgesamt weniger relevant als jene grundsätzliche Konventionalität, auf die die (Neu)Herausgeber des Klaeberschen Beowulf zu Recht, aber gleichwohl in anderer Absicht, verweisen.

24

Die ideologischen Implikationen der dichotomischen Konstruktion von lateinischer, monastischer Kultur und volkssprachlicher Mündlichkeit werden diskutiert in Andrew James Johnston: Caedmons mehrfache Anderssprachigkeit. Die Urszene der altenglischen Literatur im Spannungsfeld frühmittelalterlicher Sprach- und Kulturbeziehungen. In: Exophonie. Anderssprachigkeit (in) der Literatur. Hrsg. von Susan Arndt u. a. Berlin 2007, S. 66–86.

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Wenn nämlich einerseits behauptet werden kann, wie ich eben gezeigt habe, dass sich der Schöpfungsgesang in einem gezielt aufgerufenen intertextuellen Kontext entfaltet, so wird dadurch andererseits jene breitere intertextuelle Konventionalität, auf die Fulk, Niles und Bjork verweisen, ja keineswegs ausgelöscht. Mit dem Bezug auf die Caedmon-Episode bietet der Schöpfungsgesang des scop dem angelsächsischen Publikum zwar eine speziell markierte, intertextuell verankerte Variante der kosmogonischen Konvention, zugleich aber bleibt die Konventionalität dieser Konvention bestehen. Liest man den Gesang des scop im Beowulf nicht nur als intertextuelle Referenz oder gar als implizite Aussage im Rahmen einer bestimmten heils- und literaturgeschichtlich motivierten Debatte, sondern fiktionsintern als eine Handlung im Rahmen einer bestimmten geschichtlichen Situation, dann ergibt sich eine weitere, leicht veränderte Perspektive. Indem nämlich der heidnische Dichter sein kosmogonisches Lied anstimmt, wird auch er als Vertreter einer in hohem Maße durch Konventionen bestimmten Dichtkunst gekennzeichnet. Das muss an sich nicht überraschen, wird aber interessant angesichts der Überdeterminiertheit, die die Konventionalität des Schöpfungsgesangs in diesem Kontext gewinnt: Der Gesang verkörpert einen traditionellen Topos, der dichterisches und göttliches Schaffen parallelisiert. Er verweist zudem in zweifacher Hinsicht auf die Heilsgeschichte, einerseits, indem er das Problem der ‚guten Heiden‘ und in diesem Zusammenhang dasjenige der Vorahnung christlicher Glaubenswahrheiten durch pagane Figuren thematisiert, und andererseits auf der Handlungsebene, indem er den Kainsabkömmling Grendel zu seinen Gewalttaten provoziert. Er initiiert damit wiederum die eigentliche Handlung des Epos und stellt so zugleich eine Parallele zwischen dem göttlichen Schöpfungsakt und dem Beginn der Ereignisse im Text selbst dar. Die Vielseitigkeit, mit der der Topos hier genutzt und auf den unterschiedlichsten Ebenen relevant wird, muss erstaunen. Tatsächlich unterstreicht diese Vielseitigkeit die Konventionalität des Topos. Gerade weil der Topos Topos ist, erweist er sich als mehrfach einsetzbar, kann er unterschiedlichste Bedeutungsaspekte zugleich aufrufen. Virtuos, aber durchaus nicht als bloßes Schaustück, vermag der Schöpfungsgesang eine ganze Palette verschiedener Diskurse miteinander zu verknüpfen, ohne dass damit der eine oder der andere in seiner Relevanz geschmälert würde. Der Schöpfungsgesang erweist sich als eine Art Knoten, in dem alle Fäden des Beowulfschen Text- und Diskursgewebes zusammenlaufen. Poetologisch gelesen bricht der Text hier auf emphatische Weise eine Lanze für die Konvention, für die Trope, für den Topos. Allerdings wird damit nicht so sehr die Traditionsgebundenheit dieser Dichtung betont als vielmehr das kreative Potenzial, das sich gerade aus der geschickten Positionierung eines konventionellen Topos im Zentrum nur bedingt miteinander kompatibler oder auch nur zusammenhängender Diskurse ergibt. Die besondere Ironie, die sich im spezifischen Kontext der Handlung des Beowulf daraus ergibt, ist die folgende: Während der Topos des Schöpfungsgesangs strukturell einen Anfang setzt – den der eigentlichen Handlung des Epos – und zugleich auch inhaltlich von einem absoluten Anfang, weil originären Schöpfungsakt kündet, vertritt er

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doch auf der poetologischen Ebene eine Position, die im Widerspruch zu genau dieser Anfänglichkeit steht. So sehr der Schöpfungsgesang auch einen Anfang zelebriert, ist dieser doch so topisch – das heißt, auf Konventionen und Traditionen verweisend –, dass er per se die Möglichkeit des Anfangs wenn nicht in Frage stellt, so doch zumindest relativiert. So wie Scyld Scefing mit seinen Schätzen im Boot aus dem Dunkel der Geschichte auftaucht, womit der Text die Möglichkeit des absoluten Anfangs im gleichen Atemzug verwirft, wie er ihn noch zu postulieren scheint, so entfaltet auch der topisch aufgerufene absolute Weltenanfang im Beowulf eine strukturelle Ironie, die den Tatbestand der Konventionalität gegen das Prinzip des Anfangs ausspielt. Im bedeutendsten Epos der altenglischen Literaturgeschichte ist jeder Anfang nur ein scheinbarer, wird Anfang nicht so sehr durch das radikal Neue bestimmt als vielmehr durch den Verweis auf die Vielzahl von traditionellen Möglichkeiten einen Anfang zu setzen. Ein Anfang, der je nach Bedeutungsebene auf ganz unterschiedliche Zusammenhänge verweist, hört auf ‚ein‘, sprich: ein ‚einziger‘ Anfang zu sein und wird zu vielen verschiedenen Anfängen zugleich. Diese Anfänge schließen sich nicht aus, sondern bestehen – weil unterschiedlichen Diskurs- oder Strukturebenen angehörend – nebeneinander, aber sie illustrieren auf geradezu ideale Weise, wie sehr das Konzept des Anfangs durch narrative, strukturelle oder diskursive Kontexte bestimmt ist. ‚Anfang‘ ist demzufolge, was als Anfang gesetzt wird, und wenn ein Anfang im Grunde viele verschiedene Anfänge in sich birgt, dann verweist dies letztlich vor allem auf den willkürlichen Akt, jenen Anfang zu setzen, mit dem das Erzählen notwendig einsetzt. Doch der Text geht noch einen Schritt weiter, indem er das Prinzip der Konventionalität gegen die Idee des Anfangs ausspielt. Denn was soll ein Anfang Neues bieten, der so tief in erzählerischen Konventionen und kulturellen Traditionen verwurzelt ist? Dass es nun gerade der absoluteste alle Anfänge sein muss, die Schöpfung des Universums, an dem dies durchexerziert wird, stellt die eigentliche Ironie des Beowulf-Epos dar.

Hartmut Bleumer

Der Tod des Heros, die Geburt des Helden – und die Grenzen der Narratologie

I. Der Anfang vor dem Anfang: Mythische Begründung und narrative Hermeneutik Der schwedische König Gylfi möchte wissen, worin die Macht der Asen gründet. In kluger Voraussicht nimmt er die Gestalt eines alten Mannes an und macht sich nach Asgard, der Burg der Asen, auf. Doch die Asen besitzen die Sehergabe. Folglich sehen sie nicht nur Gylfis Gestaltentausch voraus, sondern beantworten auch die Frage nach ihrer Macht noch bevor sie tatsächlich gestellt wurde – mit einem Phantasma, in dem diese Macht sogleich aufscheint: Die Burg der Asen wird für König Gylfi als eine gewaltige Halle mit goldenem Dach imaginiert, auf der drei Hochsitze stehen, auf denen ihrerseits drei Könige thronen. In dem nun beginnenden, gefährlichen Rätselspiel voller metaphorischer Verschlüsselungen, in dem Gylfi nur dann mit seinem Leben davonkommen wird, wenn sich die Klugheit des Fragenden gegen das Wissen der Antwortenden behauptet, meint dieser den Königen seine Fragen vorzulegen.1 Insbesondere seine vierte Frage klingt logisch so schwierig, dass sie die Antwortenden immerhin in Verlegenheit bringen müsste. Sie lautet: „Was war am Anfang, wie entstand alles, und was war davor?“2 (4) 1

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Vgl. als Überblick zu den generellen Möglichkeiten der Rätselstruktur Helmut Fischer: Rätsel. In: Enzyklopädie des Märchens 11 (2004), Sp. 267–275, wobei mit Blick auf die nachfolgende Argumentation von vornherein festzuhalten ist: „Das wichtigste Mittel der Verrätselung […] ist die Metapher.“ (ebd., S. 269). Vgl. Burghart Wachinger: Rätsel, Frage und Allegorie im Mittelalter. In: Werk, Typ, Situation. Festschrift Hugo Kuhn. Hrsg. von Ingeborg Glier. Stuttgart 1969, S. 137– 160, bes. 143. „Hvat var upphaf eđa hversu hófsk, eđa hvat var áđr?“ Übersetzung: Die Edda des Snorri Sturluson. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Arnulf Krause. Stuttgart 1997 (RUB 782), hier S. 18, fußend auf den Ausgaben: Snorri Sturluson: Edda, udgiven af Finnur Jónsson, anden Udgave. Københaven 1926 (zit.); Edda Snorra Sturlusonar, udgivet efter håndskrifterne af Kommissionen for Det Arnamagnæanske Legat. ved. Finnur Jónsson. Københaven 1931, sowie ergänzend

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Hartmut Bleumer

Die Schwierigkeit dieser Frage, von der in der Gilfaginning, dem ersten Teil von Snorri Sturlusons Edda erzählt wird, liegt in ihrer zeitlich-paradoxen Struktur. Dass die Anfangsfrage ihrerseits am Anfang von Snorris poetologischem Skaldenlehrbuch situiert ist und dann noch einmal strukturell in der Ungleichzeitigkeit zwischen Vorausschau der Asen und den jeweils aktuellen Handlungen Gilfis gespiegelt wird, markiert schon historisch ihre hohe praktische Relevanz; die in der Frage aufgeworfene Problemstellung ist aber nicht zuletzt theoretisch äußerst aufschlussreich, und zwar sowohl für narratologische wie kultursemiotische Begriffsbildungen. Die Anfangsfrage zeigt nämlich die Entstehung einer offenbar unauflösbaren und darum beständig verschobenen Paradoxie. Zunächst konkretisiert sich diese in der Frage Gylfis: Weil die Frage nach einem Anfang vor dem Anfang ein zeitliches Vorher vor dem Anfang zulässt, müss te dieser Anfang eigentlich unanfänglich sein. Dann aber beginnt eine Verschiebungsbewegung, denn die Antworten der Asen lösen die Paradoxie dieser Voranfänglichkeit gerade nicht auf, sondern replizieren sie und berichten dann von immer neuen Anfängen. Dazu beziehen die Antworten ihr Wissen aus jenem der eddischen Weisheitslieder, das nicht nur in der sogenannten Lieder-Edda wiederum den Anfang bildet, sondern auch dort die Paradoxie des Anfangs visionär ausformuliert: Die Antwort narrativiert Züge aus der Völuspá.3 Danach wird geschildert, wie die Welt geschaffen wurde; doch ist sie ohne Schöpfer; in der Welt emergieren Riesen und Götter, und erst sie schaffen Himmel und Erde in ihrer Ordnung. Wie schon in der Frage angelegt, scheint so auf eine ganz eigene Weise von einem Anfang vor dem Anfang berichtet zu werden, von einer Schöpfung vor den Schöpfern, von einem Werden vor dem kreativen Gestalten. Zugleich bringt die besondere Struktur dieses Schöpfungsberichtes wiederum die Frage nach dem Anfang um ihre Begriffe. In ihrer rätselhaften Art wird zunächst die Antwort selbst wieder zur Frage, die eine Lösung verlangt.4 Und indem dann konkret vom Anfang der Götter nach dem Anfang des Weltgeschehens nicht nur berichtet, sondern zunehmend auch das Weltgeschehen über Geschichten der Götter erzählt wird, gerät der paradoxe zweite Anfang nach dem Anfang ins Zentrum eines narrativen Dreischritts aus Anfang, Mitte und Schluss. Damit führt das Problem des doppelten Anfangs auf ein Kernproblem der narrativen Struktur: Der Anfang der Geschichte ist eigentlich ihre Mitte.

3

4

Snorri Sturluson: Edda. Prologue and Gylfaginning. Hrsg. von Anthony Faulkes. Oxford 1982; Snorri Sturluson. Edda, gylfaginning of prosaforetellingene av Skáldskaparmál. Utg. av. Anne Holtsmark, Jón Helgason. Oslo u. a. 21976 (Nordisk Filologi. Serie A: Tekster 1). Ausgabe: Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern. Bd. 1: Text. Hrsg. von Gustav Neckel. 5. verbesserte Auflage von Hans Kuhn. Heidelberg 1983 (Germanische Bibliothek. Vierte Reihe. Texte). Vgl. auch Übersetzung und Kommentar: The Poetic Edda. Volume II. Mythological Poems. Ed. with Translation, Introduction and Commentary by Ursula Dronke. Oxford 1997. Vgl. die sprechakttheoretische Definition des Rätsels als „ungeregelte Prüfungsfrage“ durch Tomas Tomasek: Das deutsche Rätsel im Mittelalter. Tübingen 1994 (Hermaea NF 69), S. 53. An Tomaseks Kritik am Metaphernbegriff der Rätselforschung ist festzuhalten (S. 35f.).

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Diese zutiefst paradoxe Figur des Erzählens wird im weiteren Frage- und Antwortspiel perpetuierend variiert. Der Rationalität eines Differenzdenkens muss sie als widersinnig erscheinen, für klassisch-narratologische Begriffsbildungen ist sie daher in höchstem Maße prekär. Aber auch das narratologische Differenzdenken entgeht dieser Figur nicht, vielmehr kennt die Narratologie sie seit ihren wissenschaftsgeschichtlichen Anfängen – und sie scheint sich gerade am Beispiel der Anfangsfigur in einen Zirkel zu verstricken.5 Dieser Zirkel der Theorie braucht hier nicht eigens diskutiert zu werden, zumal er schon in der Snorra Edda ins Bild gebracht wird. Denn auch dies wird in einer Antwort erzählt (34): Loki – derjenige der zwölf Asen, der für die List und damit für Abspaltungsverhältnisse von den göttlichen Mächten steht – zeugt, wie zum Ausweis dieser Spaltung, drei Bastarde. Als diese zu den Göttern gebracht werden sollen, was die Abspaltung aufheben würde, entzieht sie der listige Ase dem göttlichen Zugriff. Einen von ihnen, Jörmungand, wirft Loki ins Meer, das die Erde umgibt. Jörmungand ist die Midgardschlange, die so sehr wächst, dass sie sich in den eigenen Schwanz beißt und so die Erde umschließt, womit ihr Anfang ihr Ende erreicht. Was hier als Weltmetapher angedeutet wird, lässt sich abstrakt und ohne Umschweife mit Blick auf das Erzählproblem so andeuten: Gerade die Differenz zwischen Macht und Wissen gebiert in der Mythenerzählung einen Zyklus. Die Passagen der Gilfaginning müssten damit gerade aus Sicht der jüngeren Diskussionen der germanistischen Mediävistik um spezifisch mittelalterliche Erzählkategorien etwas ungemein Faszinierendes haben. Nicht nur, dass sie für eine sogenannte ‚historische Narratologie‘ eine differenzlogische Problemstellung bieten,6 sie scheinen zugleich auch eine poetologische Lösung bereit zu halten, wie das narratologische Differenzproblem im Erzählen immer schon und immer wieder aufgehoben werden kann. In 5

6

Das Problem von Anfang und Ende erscheint als zeitliche Variante der klassischen, differenzlogisch unlösbaren, zirkulären Streitfrage um den Primat von Inhalt oder Form im russischen Formalismus, vgl. dazu grundsätzlich und umfassend Aage Ansgar Hansen-Löve: Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung. Wien 1978 (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Phil. Hist. Klasse. Sitzungsberichte 336), S. 188–197. Zusammenfassend jüngst Wolf Schmid: ,Fabel‘ und ,Sujet‘. In: Slavische Erzähltheorie. Russische und tschechische Ansätze. Hrsg. von Dems. Berlin/New York 2009 (Narratologia 21), S. 1–45. Als aktuelle Lösungsvariante zum semantischen Zirkel, der durch das Differenzdenken entsteht, ist für die Mediävistik auf die Metapher des ‚Magmas‘ nach Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt/ Main 21997 (stw 867), S. 310 u. 364–366, bes. durch die Denkfigur bei Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur Höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 14, hinzuweisen. Zur Problematik des Begriffs einer ‚historischen Narratologie‘, mit dem Hinweis auf die einschlägigen narratologischen Forschungsberichte Hartmut Bleumer: ‚Historische Narratologie‘? Metalegendarisches Erzählen im ‚Silvester‘ Konrads von Würzburg. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland, Matthias Meyer. Berlin/New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 231–261, 234–237. Als aktuellster Überblick zur Theorieentwicklung ist zu ergänzen Handbook of Narratology. Hrsg. von Peter Hühn u. a. Berlin/New York 2009 (Narratologia 19).

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der Gilfaginning könnte sich eine Verbindungsmöglichkeit von historischer Narratologie und mediävistischer Präsenz- und Medialitätsdiskussion andeuten: über eine narrative Poetik des dichtungsgebundenen Wissens vom Anfang der Welt auf der Grundlage einer mythischen Semantik. Dabei folgt die Arbeit, die Snorri Sturlusons poetologische Narration hier an den Mythologemen der eddischen Weisheitsliedern leistet,7 sogar noch einmal genau jenem paradoxen Muster, das zuerst in der Erzählung von Gylfis Täuschung und dann noch einmal in den Antworten auf die Fragen des Königs reproduziert wird, und zwar nicht nur mit Blick auf den Begriff des Anfangs, sondern auch mit Blick auf den Begriff des Endes. Schließlich wird erzählt, dass Gylfis Fragespiel zwar aufhört, seine narrative Dynamik aber eigentlich endlos ist: Die Welt der Asen, die ihm antwortete, löst sich letztlich vor seinen Augen auf, die Geschichte der Begegnung endet; dafür trägt Gylfi aber ihre Erzählungen in seine Welt hinein, die sich auch nach ihm weiter verbreiten – als endloses semantisches Geschehen.8 Als Glied dieser Überlieferungskette müsste so auch Snorris poetologische Erzählung letztlich jeden Rezipienten immer wieder in die Spielposition eines Fragenden bringen, dem die Snorra Edda ästhetisch in einer Weise antwortet, die dem Fragenden ihrerseits zur Frage wird. Und weil Snorris narrative Wissenspoesie in dieser artifiziellen Verschachtelung ihre Struktur auf ästhetisch vollkommen geschlossene Weise in Erfahrung bringt, wirkt sie zwar differenzierend, jedoch ohne damit schon ihr semantisches Zentrum aufzulösen. Für das verwendete Erzählmodell heißt das: Die hier gebotene narrative Form aus Anfang, Mitte und Ende dekonstruiert nicht, sie intensiviert. Sie wird zu einer endlos wiederholten, paradoxen Praxis hermeneutischer Mythenentschlüsselung. Die prekäre Herausforderung für die historische Narratologie zeichnet sich damit bereits ab: Die differenzierenden Grundbegriffe des Erzählens werden von der in der Gilfaginning angedeuteten fundamentalen Hermeneutik beständig unterlaufen und als sekundär ausgewiesen. Will man den dabei zugrundeliegenden historisch-semantischen Mechanismus der Erzählung Snorris noch etwas stärker profilieren, so ist dies wiederum, statt den Umweg über die Theorie zu nehmen, praktisch über die bereits angesprochenen Völuspá möglich, d.h. über das erste Weisheitslied der sog. Lieder-Edda, dessen Grundmuster in der Snorra-Edda Verwendung findet. Der Mechanismus spielt auf der Grenze zwischen mythischem Wissen und hermeneutischem Verstehen. Wie bei Snorri Gylfi den Asen gegenübersteht, wird hier Odin als das Gegenüber einer Seherin (Völa) vorausgesetzt. Die konkrete Textrelation zwischen Snorra-Edda und Lieder-Edda kann man dahingestellt sein lassen, worum es bei dem Textvergleich allein geht, ist der elementare, protohermeneutische Zirkel beider Gedichte. Das Zentrum der 7

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Im Sinne von Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/Main 1979, S. 165–191 zum Verhältnis von Mythos, Zeit und Geschichte/Erzählung als Kritik an Cassirers latentem Ursprungsdenken zugunsten der fortgesetzten narrativen Prozessierung (bes. S. 186). Zu Geschehen und Geschichte Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin/New York 2005 (Narratologia 8), S. 246–249.

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Antworten liegt hier jeweils bereits von vornherein in den Fragen vor, nicht nur, weil die eddischen Lieder älter sind als Snorris Erzählung, sondern auch, weil sich schon an der Komplexität der Antworten in der ‚Weisheit der Seherin‘ zeigt, dass jeder Zuhörer das Wissen der Seherin von vornherein teilen muss, um ihre Sprüche zu enträtseln. Vor allem macht die Seherin deutlich, dass die vom Hörer gesuchte Bedeutung erst durch einen anderen Blick zugänglich wird, in dem Sehen zugleich Verstehen ist. Die formelhafte Aufforderung dazu lautet: „vitoð ér enn, eða hvat?“ (27,6, u. ö.) – „Wisst/ seht ihr mehr, und was?“9 Dieses Sehen (vitom) ist ein Wissen, es beruht auf einem semantischen Blick. Mit dem semantischen Blick ist die Frage nach der Bedeutung aber von vornherein keine hermeneutische. Sie liegt noch ‚Diesseits der Hermeneutik‘. Die Frage nach der ‚Weisheit der Seherin‘, mit deren Hilfe Bedeutung gesehen werden kann, muss schon wissen, wonach sie fragt, um ihre genaue Antwort zu erhalten. Was der Fragende damit zuerst lernen muss, das scheint die geradezu uranfängliche hermeneutische Grundaufgabe zu sein, nämlich das Wissen zu verstehen.10 Diese paradoxe Zirkelstruktur des Wissens ist für das mythische Denken insgesamt charakteristisch:11 Die Bedeutung des Mythos ist zunächst eine rein immanente, darum ist sie in dem, der sie in der mythischen Welt erfragt, im Kern schon als Wissen vorhanden. Mythen bedürfen aus dieser Sicht noch keiner Auslegung. Die Frage nach der Bedeutung hat darum hier die Struktur des Rätsels. Mythisches Wissen hat für den Frager den Status einer kulturellen Wiedererinnerung.12 Von der älteren Völuspá auf die jüngere SnorraEdda übertragen heißt das dann weiter: Es ist die Rätselstruktur des Mythos, an der das Erzählen Snorris seine hermeneutische Arbeit beginnt. Was diese Kombination der geschlossenen Rätselstruktur aus Frage und metaphorischer Antwort mit der hermeneutischen Offenheit eines narrativen Prozesses speziell für die Zeitlichkeit von Anfang und Ende des Erzählens bedeutet, wird bei Snorri indes poetisch eindringlich klar gemacht. Auch die überlegene Wissensmacht der Asen steht in Verbindung mit deren Sehergabe. Diese ist überzeitlich und macht darum in der Geschichte einen paradoxen Eindruck: Die Asen wissen immer schon zuvor, was zukünftig geschehen wird, d.h. sie verlängern das schon in der mehrdeutigen zeitlichen Semantik 9

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Die Formel fasst damit die Wissensstruktur der Strophe 27 zusammen, zu deren präsentischem Charakter Ursula Dronke im Kommentar formuliert hat: „knowing and seeing – Veit hón … sér hón – in the present moment.“ Neckel (Anm. 3), S. 48. Zur hermeneutischen Logik der Frage auf der Grundlage der platonischen Rehabilitierung des Mythos gegenüber der sophistischen Rationalität Hans-Georg Gadamer: Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 6. durchges. Auflage. Tübingen 1990 (H. G. G. Gesammelte Werke 1), S. 351 u. 368–384. Zur Zirkelstruktur des Denkens als Variante mythisch-objektiver Zyklizität Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das Mythische Denken. Darmstadt 91994, S. 44. Vgl. zum spiegelbildlichen Verhältnis von Frage und Antwort in Rätsel und Mythos die Überlegungen bei André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 71999 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 15), S. 97–101 u. 129–149.

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des Wortes ‚Wissen‘ angelegte Präterito-Präsens in die Zukunft. Im Rahmen der Geschichte heißt das: Ihre Sehergabe setzt die Zeit voraus, vermag sie aber schließlich dialektisch aufzuheben. Diese Dialektik des semantischen Wissens begründet damit nicht nur die Weisheit der Seherin in der Völuspá und die Mächtigkeit der Asen in der Snorra-Edda, sie betrifft zugleich auch die darüber hinausgehenden Möglichkeiten des Erzählens im Kern. Wenn man nämlich davon ausgeht, dass die Zeit durch Erzählung und Geschichte überhaupt erst sinnvoll erfahrbar wird,13 dann ist noch die Erzählung von der Macht eines mythischen Wissens zutiefst paradox, weil sie zugleich zeitlich und überzeitlich sein soll. Eine Geschichte organisiert ihr Geschehen über eine Struktur aus Anfang, Mitte und Ende; aber das erzählte überzeitliche Wissen hebt diese Struktur sowohl am Anfang als auch am Ende auf. Es gibt demnach keine mythische Gegenwart im Auge der Seherin ohne die zeitkonstituierende Struktur der Geschichte, ebenso wie Anfang und Ende der Geschichte in ihrem wissenden Blick immer schon zusammenfallen. Diese mythische ‚Weisheit der Seherin‘ ist also etwas deutlich anderes als ein bloßes Wissen von vergangenen oder künftigen Ereignissen. Es geht dieser ‚Weisheit‘ als vorgängigem Wissen nicht nur darum, was geschah oder geschehen wird, es geht um die Semantik des Geschehens, die dem mythischen Blick permanent zugänglich ist. Der Blick der Seherin ist damit recht eigentlich ebenso protohermeneutisch wie protonarrativ, schon das Geschehen gilt als sinnvoll und wird diesem Blick auf seine Bedeutung hin durchsichtig. Im Mythos sind der narrativ konstituierte Sinn und die von ihm vorausgesetzte Bedeutung identisch.14 Verglichen damit erscheinen die narrativ entworfenen Diegesen als doppelte Welten. In ihnen muss durch die Geschichte jeweils ein neuer Sinn konstituiert werden, der immer wieder zur Interpretation eines voraufgehenden Geschehens und seiner Bedeutung taugt. Verglichen mit der mythisch-immanenten Sinn- und Bedeutungskonzeption heißt das aber, dass das Geschehen im Erzählen seine semantische Funktion verändert. Das Geschehen hat keinen Sinn mehr, dieser wird von ihm durch die Geschichte abgehoben. Das Geschehen hat nur noch Bedeutung. Solange das Erzählen dabei eine zeitlogische Kreisfigur produziert, indiziert dies einen protohermeneutischen Zirkel, in dem Geschichte und Geschehen kongruent sind, d.h. hier: Der Sinn der Erzählung repräsentiert die Bedeutung der Welt vollkommen. Aber selbst derartig idealtypisch geschlossene Erzählungen hätten damit ein semantisches Zentrum,

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14

Vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. I: Zeit und historische Erzählung. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. München 1988 (Übergänge 18), S. 87. Vgl. zur Terminologie in Anlehnung an Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung. In: Funktion – Begriff – Bedeutung. Hrsg. von Mark Textor. Göttingen 2002 (Sammlung Philosophie 4), S. 23– 46. Auf die Verbindung der Begriffe in den Grundlagen der Metapherntheorie Paul Ricœurs ist für den weiteren Begriffsgebrauch zur Metapher hinzuweisen: Ders.: Die lebendige Metapher. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe. Aus dem Französischen von Rainer Rochlitz. München 1986 (Übergänge 12), S. 209–251.

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das in einem Sinn und Bedeutung vorgängigen ‚Dazwischen‘ liegt. Zur unvermittelten Semantik des Mythos kann auch die ihm folgende Erzählung nicht mehr zurück. Aus Snorris Poetik ließe sich demnach folgende erzähltheoretische Figur einer frühen historisch-narrativen Semantik extrapolieren: Der eigentliche Anfang der Geschichte ist ihre Mitte, d.h. der Ausgangspunkt der narrativen Struktur ist ein semantisches Zentrum im Verlauf eines vorausgesetzten Geschehens, das sie in den Blick nimmt und zu dessen narrativer Interpretation die Geschichte als zeitliche Struktur mit Anfang, Mitte und Ende entworfen wird. Die Geschichte hätte so zunächst eine rein hermeneutische Funktion, deren Ziel dann vollkommen verwirklicht ist, wenn Anfang und Ende der Geschichte wieder sinnvoll über ihrem Ursprungspunkt in der Mitte der Geschehenssemantik zusammenfinden. Das Paradox dieser Vorstellung zeigt sich gerade im zeitlichen Verhältnis von Anfang und Ende der Geschichte: Solange ein Erzählen im Horizont eines semantisch organisierten, zeitlich fließenden mythischen Weltgeschehens operiert, fehlt dem Verhältnis von Anfang und Ende jene Differenzqualität, durch die das Erzählen überhaupt erst auf seinen Begriff kommt. Wo diese Differenz aber deutlicher zutage tritt, beginnt für das Erzählen eine endlose hermeneutische Arbeit, die nicht mehr abzuschließen ist. Es gilt also, diesen narrativen Differenzierungsprozess historisch näher zu verfolgen.

II. Siegfried vor der Geschichte „Was war am Anfang, und was war davor?“ – Auf diese Frage antwortet auch jener Text der mittelhochdeutschen Literatur, der wie kein zweiter in Verbindung mit der eddischen Überlieferung steht: das Nibelungenlied mit seiner Siegfried-Gestalt. Nicht nur, dass es zur Geschichte Siegfrieds von Xanten noch so etwas wie eine parallele Vorgeschichte gibt. Weil diese einem andersartigen Narrationstyp folgt, besitzt sie auch ein eigenes Zeitkonzept, das mit dem Zeitentwurf um den Helden von Xanten zu konkurrieren scheint. Im Moment von Siegfrieds Ankunft in Worms bricht diese Konkurrenz signalartig auf: als Konkurrenz von Figuren-, Geschichts- und Diskurstyp. Am Hof in Worms erscheint ein unbekannter Recke. Der Erzähler des Nibelungenliedes hat seine Figur bis dahin bereits ausführlich dargestellt: Formelhaft angedeutet gleich im ersten Vers der zweiten Aventiure „Dô wuohs in Niderlanden eins edelen küneges kint“ (20,1),15 ist die sogenannte Jugendgeschichte Siegfrieds als die eines heranwachsenden Adeligen skizziert worden, von seiner Ausbildung und Initiation zum Ritter bis zu seinem Werbungsentschluss um Kriemhild (44–49). Mit dem Werbungsentschluss nimmt zugleich das zentrale Erzählschema seine Dynamik auf: Siegfrieds Jugendgeschichte führt geradewegs auf das Brautwerbungsschema zu, das sich im Ni15

Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch. Hrsg. von Helmut de Boor. 22., revidierte und von Roswitha Wisniewski ergänzte Auflage. Mannheim 1988 (Deutsche Klassiker des Mittelalters).

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belungenlied bekanntlich in einer hochkomplexen, mehrfach-verschachtelten Form findet. Die ausführlichen Diskussionen um dieses Erzählmuster müssen hier nicht eigens noch einmal dargestellt werden. Es genügt, ihr doppeltes Ergebnis mit Blick auf die Siegfried-Figur ins Auge zu fassen. Auf der praktischen Beschreibungsebene kann man sagen: Siegfrieds Werbung um Kriemhild wird nicht vom Werber, sie wird von der Braut und ihrem gesellschaftlichen Umfeld her erzählt. Das ist das von Walter Haug so genannte ‚invertierte Brautwerbungsschema‘, das an Kriemhild und ihren Brüdern ansetzt: Diese sehen den Werber aus Xanten kommen, bewerten ihn und geben damit eine Lektürerichtung von Siegfrieds Werbung vor.16 Dagegen wird das zweite Brautwerbungsschema konventionell vom Werber her erzählt: In ihm wirbt Gunther um Brünhild, der Weg führt von Worms in den fernen Machtbereich von Isenstein. Diese Werbung ist von vornherein gefährlich, denn Brünhild muss in Isenstein unter Todesgefahr überwunden werden. Und weil Siegfried zum außergewöhnlichen Helfer Gunthers wird und als Lohn für den Erwerb Brünhilds im Gegenzug Kriemhild erhält, arbeiten die beiden Brautwerbungsmuster in Isenstein an einer gemeinsamen Gefahr: Über Brünhild wird nicht nur Gunthers Werbung von vornherein, sondern auch Siegfrieds Werbungen im Nachhinein als ‚gefährliche Brautwerbung‘ realisiert. Dieses Gefahrenmoment wird dem Brautwerbungsschema Siegfrieds nicht immer zugestanden,17 es ist aber von zentraler Bedeutung, gerade deshalb, weil es den ganzen Handlungsverlauf über nicht zu bannen ist. Die Gefahr ist besonders zu akzentuieren, denn sie bildet offenbar das semantische Zentrum des Textes: Sie geht nicht nur zunächst von Siegfried aus und schlägt dann in seiner Ermordung auf ihn zurück, sie kehrt dann auch in der dritten Brautwerbung wieder – in der Werbung Etzels um Kriemhild, die mit dem Tod aller Burgunden bzw. der Nibelungen endet. Vorerst heißt das mit Blick auf die Schemaverwendung im Nibelungenlied: Es handelt sich um drei Brautwerbungshandlungen, nach denen die Handlungsabläufe schematisch organisiert und variiert werden. In den Werbungen ist ein Gefahrenmoment permanent anwesend, das gerade anfangs über die Figur Siegfrieds deutlich wird und über den Versuch seiner Bannung in den Untergang führt: Das wäre grosso modo der praktische Befund der Forschung. Schon durch die Schemavariationen, die dieses Gefahrenmoment umkreisen, scheint jener staunenswerte autopoetische Mechanismus des Erzählens in Gang zu kommen, 16

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Vgl. Walter Haug: Normatives Modell oder hermeneutisches Experiment. Überlegungen zu einer grundsätzlichen Revision des Heuslerschen Nibelungen-Modells. In: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters. Hrsg. von Dems. Tübingen 1989, S. 308–332, 317f. Vgl. allgemein zum Brautwerbungsschema Christian Schmid-Cadalbert: Der Ortnit AW als Brautwerbungsdichtung. Ein Beitrag zum Verständnis mittelhochdeutscher Schemaliteratur. Bern 1985 (Bibliotheca Germanica 28), S. 83–100. Vgl. bes. Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied. In: Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hrsg. von Horst Brunner. Stuttgart 1993 (RUB: Interpretationen 8914), S. 146–172, 154.

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der sich noch im Narrativ seiner Interpretationsgeschichte fortsetzt. Weil das Brautwerbungsschema invertiert, verschränkt, variiert, umbesetzt und im zweiten Teil noch einmal repliziert wird, ist das Erzählen zweifellos von einer erheblichen narrativen Intensität. Dennoch lässt sich ebenfalls nicht übersehen, dass der Anfangspunkt dieser narrativen Intensität dem Erzählen prinzipiell vorausliegt, so wie das, was das Erzählen bewältigen will, am Ende von der Geschichte gerade nicht erfasst werden kann. Das wuchtige Ende des Textes besitzt einen narrativen Überschuss, der das Ende zugleich wieder übersteigt, ebenso wie im doppelten Begriff des Anfangs eine Schwierigkeit steckt, die den Erzählanfang überfordert. Der doppelte Anfangsbegriff manifestiert sich in jener hybriden Figurenkonzeption, mit der Siegfried nicht nur den Burgunden in der Geschichte, sondern auch dem Erzählen im Nibelungenlied selbst exorbitante Schwierigkeiten macht. Siegfried ist von Anfang an außergewöhnlich: Das lässt ihn zum außergewöhnlichen Helfer in Gunthers Werbung werden, d.h. er kann durch seine exorbitante Qualität seine Rolle im narrativen Schema übernehmen. Zugleich ist diese exorbitante Qualität aber auch radikal anders als die eines ritterlichen Werbers und übersteigt damit von vornherein die Grenzen des Erzählens. Im Sinne des vielzitierten Exorbitanzbegriffs nach Klaus von See wäre demnach zu sagen:18 Siegfried besitzt eine die kriegerischen Axiologien prinzipiell überschreitende Geschehensmächtigkeit, mit der sich seine exorbitante Figur in eine kategoriale Differenz zum gewöhnlichen Krieger setzt. Diese exorbitante Andersartigkeit scheint schon diskursiv auf: in den berühmten Worten Hagens, als Siegfried in Worms ankommt. Was Hagen über Siegfried zu sagen weiß, passt nämlich nicht zur Jugend der ritterlichen Siegfriedfigur. Die Ereignisse um Siegfried, von denen Hagen nun berichtet, haben keine Zeit, sind seltsam ortlos, wirklichkeitsfern, ja sie zeigen nicht einmal einen Helden, sondern einen Figurentypus, den besonders Jan-Dirk Müller immer wieder als „Heros“ bezeichnet hat.19 Es käme demnach in der Figur Siegfrieds zu einer Doppelung aus narrativem Helden und einem davon prinzipiell zu unterscheidenden heroischen Figurentypus. Als Siegfried am Hof in Worms erscheint, ist er dort ein Unbekannter. Erst Hagen vermag den ankommenden Siegfried zu identifizieren. Mit Siegfrieds Namen verbindet Hagen in seinem Diskurs eine Tatenreihe, deren Varianten aus der nordischen Überlieferung zur Sigurd-Gestalt wohlbekannt sind.20 In den Worten Hagens sehen diese Taten 18

19

20

Vgl. Klaus von See: Was ist Heldendichtung? In: Edda, Saga, Skaldendichtung. Aufsätze zur skandinavischen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Dems. Heidelberg 1981(Skandinavistische Arbeiten 6), S. 154–193, 183–193. Zur sonstigen, recht unterschiedlichen Verwendung des Terminus in der früheren Forschung aus skandinavistischer Sicht Matthias Teichert: Von der Heldensage zum Heroenmythos. Vergleichende Studien zur Mythisierung der nordischen Nibelungensage im 13. und 19./20 Jahrhundert. Heidelberg 2008 (Skandinavistische Arbeiten 24), S. 26–52, passim. Vgl. zusammenfassend die Artikel von Klaus Düwel: Sigurddarstellung. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 28 (2005), S. 412–423; Stefanie Würth: Sigurdlieder. In: ebd., S. 423–427.

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so aus (86–100): Siegfried sollte den Hort der Nibelungen teilen, dafür erhielt er von Schilbung und Nibelung das Schwert Balmung als miete. Aber der Hort erwies sich für Siegfried als unteilbar. Darum erschlug Siegfried, statt die Aufgabe zu lösen, seine Auftraggeber, unterwarf sich später auch den Zwerg Alberich und gewann ihm die Tarnkappe ab, was den Hortgewinn abschließt. Außerdem weiß Hagen zu sagen, dass Siegfried einen Drachen tötete, in dessen Blut gebadet habe und damit, ganz wie ein Drache, einen Hornpanzer besitze. Dieser Einschub in die Erzählung von Siegfrieds Ankunft in Worms konkurriert derart tiefgreifend mit der ritterlichen Konzeption der Siegfriedfigur am Xantener Hof, dass Müller in seinem furiosen Nibelungenliedbuch sogar von einer „doppelten Jugendgeschichte“ Siegfrieds gesprochen hat.21 Nimmt man diese Aussage beim Wort, geht also von zwei ‚Geschichten‘ Siegfrieds aus, dann ist es in der Tat nur folgerichtig, von Hagen als einem Erzähler zu sprechen, der eine zweite Jugendgeschichte Siegfrieds vorträgt, so wie der Erzähler des Nibelungenliedes den Text als Ganzes präsentiert. Dabei würde dann die zweite Jugendgeschichte einen drachentötenden ‚Heros‘ zeigen, der durch seine Exorbitanz charakterisiert ist, während der Figurentyp der ersten Jugendgeschichte lediglich den Blick auf einen Helden freigibt. Auf die Befunde, die zu dieser Einteilung in zwei ‚Jugendgeschichten‘ führen, wird man sich schnell einigen können. Die terminologische Brisanz des Gesagten ist dann aber ebenfalls festzuhalten. So formuliert auch Müller, nachdem er zugestanden hat, dass die Rede Hagens wie ein „erratischer Block“ anmutet: „Der Xantener Königssohn hatte eine Geschichte […]. Der Drachentöter dagegen hat keine Geschichte, die in einem raumzeitlichen Kontinuum verortet werden könnte“.22 Wenn das zutrifft, dann muss man freilich aus narratologischer Sicht genauer formulieren: Der Figurentypus, den Müller als Heros bezeichnet, hat nicht nur keinen rechten Ort in Raum und Zeit. Die Freistellung von der Diegese indiziert vielmehr auch: Der Heros hat keine Geschichte. Er wirkt gerade deshalb erratisch, erstaunlich und gefährlich, weil er inmitten der Erzählwelt gerade keine narrative Figur darstellt.

III. Hagens heroischer Diskurs Um den Effekt aufzuklären, durch den der heroische Figurentypus gleichsam aus dem raumzeitlichen Kontinuum der Diegese herausfällt, dürfte es nützlich sein, sich zunächst einiger narratologischer Grundbegriffe zu vergewissern. Dies auch deshalb, weil ihre Differenzierungen bisweilen vernachlässigt werden, wo der Anspruch der Narratologie überdehnt wird. So mag der frühe narratologische Universalismus zu der pauschalen Annahme führen, dass die westlichen Kulturen durchgreifend von Erzählmustern 21

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Vgl. Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, S. 125. Ebd., S. 132.

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bestimmt sind, aber selbst das heißt nicht, dass damit in diesen Kulturen einfach alles narrativ wäre.23 Eine etwas bescheidenere Einschätzung macht es dagegen möglich, eine zentrale Grundunterscheidung besser zu würdigen, mit der schon die Narratologie beständig umgeht, ja umgehen muss, denn ohne sie wäre sie sinnlos. Vermutlich ist sie einfach so basal, dass man sie leicht übersieht. Sie lautet: Die Semantik der Erzählung beruht ganz wesentlich darauf, dass schon in Erzähltexten eben nicht alle Elemente narrativ sind. Gerade dies ist die Leistung des Erzählens: Dass sie nicht-narrative Daten mit Hilfe der Geschichte interpretiert und dass sie dazu im narrativen Diskurs gerade auch wieder nicht-narrative Elemente verwendet, die sie dann erneut zu integrieren und zu interpretieren vermag. Die Erzählung ist damit gerade nicht homogen und nicht systematisch geschlossen, sie ist dynamisch und offen. Die Erzählung bricht ganz entsprechend immer wieder aus dem System aus, in das die klassische Narratologie sie zwingen will. Vor diesem Hintergrund mag man das narrative Problem des Heros und seinen Unterschied zum Helden im Nibelungenlied vielleicht sogar als einen Glücksfall ansehen. Am Beispiel des Begriffspaares von ‚Geschichte‘ und ‚Geschehen‘, dessen Verwendung im Folgenden vor allem an Überlegungen der strukturalistischen histoire-Narratologie anschließt, lässt sich jedenfalls verdeutlichen, inwiefern sich der ritterliche Held von Xanten und der heroische, der nordischen Sigurdfigur verwandte Siegfried unterscheiden.24 Demnach sei eine Geschichte als Phasenstruktur aus Anfang, Mitte und Ende definiert, die durch Spannungsverhältnisse von aktantiellen und axiologischen Werten bestimmt ist. In dieser Struktur verhalten sich die aktantiellen Werte zyklisch, die axiolo23

24

Vgl. das Universalitätspostulat in der narratologischen Gründungsphase bei Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Das semiologische Abenteuer. Hrsg. von Dems. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt/Main 1988 (es 1441, NF 441), S. 102–143. Vgl. das daran anschließende Problem bei Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien/New York 2002, einerseits den Erklärungsuniversalismus zu relativieren, indem die eingeschränkte Geltung der Erzählung für die Kultur durchaus konzediert wird (S. 14, u. ö.), dann aber im Plädoyer für den Übergang von streng literaturwissenschaftlichen zu weiter gefassten kulturwissenschaftlichen Begriffen durch den offenen Gebrauch der Terminologie den Allgemeinheitsanspruch zurückzuholen. Vgl. oben (Anm. 8). Zur Funktion der Werte in der Geschichte Algirdas Julien Greimas: A Problem of Narrative Semiotics: Objects of Value. In: On Meaning. Selected Writings in Semiotic Theory. Hrsg. von Dems. Translation by Paul J. Perron and Frank H. Collins. Foreword by Fredric Jameson. Introduction by Paul J. Perron. London 1987 (Open Linguistics Series), S. 84–105. Die Kritik von Rainer Warning: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Identität. Hrsg. von Odo Marquard, Karlheinz Stierle. München 1979 (Poetik und Hermeneutik 8), S. 553–589, die sich auf die frühe Stufe des Aktantenschemas mit seinem nur zirkulären Werteverständnis bezieht (vgl. Algirdas Julien Greimas: Die Struktur der Erzählaktanten. Versuch eines generativen Ansatzes. In: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Hrsg. von Jens Ihwe. 4 Bde., hier Bd. 3. II. Frankfurt/Main 1972 [Ars Poetica. Texte 8], S. 218–238), trifft das erweiterte Wertekonzept nicht mehr, bleibt aber grundsätzlich festzuhalten: Siehe Anm. 35.

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gischen Werte dagegen progressiv. Schließlich führt der axiologische Zuwachs zum hermeneutischen Überschuss der Geschichte, während die Zyklizität der aktantiellen Werte nur ein Nullsummenspiel des Geschehens ergibt. Das erlaubt in äußerster Verkürzung gesagt die abstrakte Feststellung: ohne axiologische Werte keine Geschichte. Oder konkreter spezifiziert: Ohne die Unterscheidung in Gut und Böse lassen sich Anfang und Ende einer Geschichte nicht sinnvoll definieren, es ergibt sich dann nur ein theoretisch endloses Geschehen. Erst wenn der Held im Verlaufe seiner Handlung besser wird, also einen axiologischen Ertrag an gesellschaftlichen oder moralischen Werten verzeichnet, wenn der Held am Ende also ein Anderer ist, als er am Anfang war, dann hat dieser Ertrag den semantischen Mehrwert, der es erlaubt, von einer sinnvollen Geschichte mit Anfang und Ende zu sprechen. Akzeptiert man diese Vorunterscheidung und wendet sie versuchsweise auf den heroischen Siegfried an, dann erweist sich der Begriff der Geschichte sofort als unpassend. Was Hagen am Wormser Hof schildert, ist vielmehr ein Geschehen. Die Handlung des heroischen Siegfried in der nibelungischen Sphäre erscheint als Abschnitt einer Tatenreihe, die gerade keine axiologische Markierung besitzt. Siegfried tötet, erlangt das Gold, tötet einen Drachen, erlangt einen Hornpanzer, aber dies macht ihn weder zum Bösen noch zum Guten. Als exorbitante Gestalt benötigt Siegfried keine gesellschaftlichen Werte. Auch die nibelungische Welt, in der Siegfried agiert, liegt damit noch diesseits von Gut und Böse und damit diesseits der Geschichte. Darum ist schon die Nebenwelt der Nibelungen, verglichen mit der Erzählwelt in Worms, eine schwierige, protonarrative Diegese. Sie ist lediglich der Raum des Geschehens. Denn in diesem Geschehensraum spielt Siegfried seine aktantiellen Werte aus, er besitzt aber keine Axiologie. Diese Einschätzung hat weitere terminologische Folgen: Hagens Diskurs am Wormser Hof ist damit nämlich, wenn er keine Geschichte präsentiert, keine Erzählung. Das gilt jedenfalls dann, wenn man die klassische Bestimmung der Erzählung bzw. des narrativen Diskurses von Gerard Genette akzeptiert.25 Ein Diskurs ist nur dann narrativ, wenn er auch eine Geschichte erzählt. Was für jeden Erzähler gilt, dass er nämlich über zwei Diskurstypen, einen narrativen und nicht narrativen Diskurs verfügt, wenn er etwa vom Erzählen zum Beschreiben wechselt, das ist in narrativen Text auch den erzählten Figuren zuzugestehen. Das hieße also: Hagen erzählt nicht von Siegfried als Held, er schildert die Taten einer heroischen Gestalt als Einzelheiten eines Geschehens. Welche enorme Herausforderung Hagens heroischer Diskurs damit gerade für das Erzählen darstellt, beweisen schon die wiederholten Versuche der Forschung, Hagens Rede als Erzählung zu fassen. Aber auch der Text selbst entwickelt eine Art narratives Desiderat mit Blick auf den heroischen Siegfried. Der ankommende Held, der sich als 25

Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. Mit einem Nachwort von Jochen Vogt. München 21998 (UTB. Literatur- und Sprachwissenschaft 8083), S. 17. Vgl. demgegenüber das für den bisherigen Begriffsgebrauch charakteristische, unentwegte Schwanken zwischen den Begriffen von Erzählung und Bericht bei Müller (Anm. 21), S. 130–136.

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Heros entpuppt, kann in einer narrativ entworfenen Welt offenbar gar nicht anders als narrativ begriffen werden. Weil aber die narrative Integration nicht gelingt, weil die Erzählwelt für die heroische Figur eben keinen Interpretationsschlüssel hat, wird die unbegriffene Gestalt zu einer unermesslichen Gefahr. Dass die Vorstellungen von Gut oder Böse an der heroischen Figur nicht haften bleiben, ist nicht nur ein typisch negativer Befund, der auf die Grenzen der narratologischen Beschreibungskategorien verweist; in der Gefährlichkeit Siegfrieds scheint auch ein semantischer Nexus auf, den die Narratologie noch nicht erfasst, den sie aber in den Blick zu nehmen hätte. Am Wormser Hof schildert Hagen das heroische Geschehen um Siegfried zwar als endliche Handlung und ohne jede axiologische Markierung. Die nibelungische Welt, in der Siegfried agiert, kennt keine Moral und liegt damit der narrativen Struktur voraus. Ihr Held ist dann aber auch in seiner „grôzen sterke“ (96, 4; vgl. 90, 3 „der starke Sîvrit“; 87, 4; 99, 4 „[sîner] grôze[n/r] krefte“; 101, 4 „sîner krefte“), um im Sinne der Gedankenfigur von Friedrich Nietzsche zu sprechen, vor der ‚Genealogie der Moral‘ ein gefährliches Tier.26 Hagen nennt Siegfried wegen seiner ungebändigten Macht darum auch den „vreislîche(n) man“ (97, 4). In der abschließend erwähnten Drachentötung Siegfrieds scheint diese unbändige Macht zusammenfassend metaphorisch auf (100). Im Sinne dieser Metaphorik kann man sogar sagen: Für den Wormser Hof ist Siegfried der mächtige Drache. Das gefährliche Tier, das er getötet hat, ist er zugleich selbst. Der heroische Siegfried in seinem Hornpanzer ist der Drache, den es auf dem Weg zu seiner Tränke zu töten gilt.27 Im Kontext der narrativen Verdichtungen des Nibelungenliedes hat diese wertfreie, protonarrative Metaphorik der nibelungischen Welt notwendig einen Zeiteffekt. Weil Erzählungen auf der Basis der zeitkonstituierenden Struktur der Geschichte als Zeitaneignungsformen schlechthin gelten dürfen, macht die nibelungische Welt im Gegensatz zu ihrer narrativen Umgebung einen außerzeitlichen Eindruck. Dabei ist die Paradoxie dieser Außerzeitlichkeit festzuhalten: Die Taten Siegfrieds werden von Hagen in der narrativen Diegese des Wormser Hofes erinnert, sie erscheinen im Rahmen der Geschichte der Burgunden wie eine vergangene Vorgeschichte; weil Siegfrieds Taten aber selbst keine narrative Struktur haben, fallen sie aus der narrativen Zeit zugleich wieder heraus. Ihre Vorgeschichtlichkeit ist damit unmittelbarer Ausdruck ihrer Protonarrativität. Darum sind Siegfrieds Hortgewinn und Drachentötung auch kein Teil der zuvor erzählten Jugendgeschichte: Weil Siegfrieds Hortgewinn noch nicht als Teil einer 26

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Zur Gefährlichkeit der amoralischen aktantiellen Mächtigkeit aus moralischer Perspektive bes. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft. In: Nietzsche. Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli, Mazzino Montinari. Sechste Abteilung. Zweiter Band. Berlin 1968, S. 1–257, bes. 123–125; ergänzend unter forciertem Gebrauch der Metapher des wilden räuberischen Tieres Ders.: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In: ebd., S. 257–431, bes. 280–282 u. 288–291. Vgl. Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. Göttingen 2009 (Historische Semantik 5), S. 216f.

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Geschichte funktionalisiert werden kann, ist er auch kein narrativer Anfang. Er markiert vielmehr ein andauerndes semantisches Geschehen, das sich im narrativen Kontext als fortwährende Gefahr geltend macht. Dieser protonarrative Effekt gilt nun aber nicht nur für Siegfried, er gilt auch für Hagen. In der narrativen Welt Xantens, als Siegfried seinen Werbungsentschluss fasst, ist Hagen wiederum derjenige der Burgunden, der von Siegfrieds Vater Sigmund als ausnehmend gefährlich charakterisiert wird (54).28 Welche Art von Übereinstimmung damit angebahnt wird, zeigt sich dann bei der Ankunft von Siegfried in Worms: Erst durch seinen heroischen Diskurs zu Siegfrieds nibelungischen Taten konstituiert sich Hagen als Figur des Textes. Hagen zeigt hier eine diskursive Mächtigkeit, die der aktantiellen Mächtigkeit Siegfrieds im Geschehen angemessen ist. Aus dieser diskursiven Mächtigkeit heraus kann er Siegfried auch erkennen, ohne ihn je gesehen zu haben: „Ich wil des wol verjehen / swie ich Sîvriden nimmer habe gesehen, / sô wil ich wol gelouben, swie ez dar umbe stât, / daz ez sî der recke, der dort sô hêrlîchen gât“ (86). Hagens Wissen von Siegfried, seine besondere Fähigkeit zur Personenerkenntnis, hat zu eindringlichen Überlegungen Anlass gegeben.29 Seiner Struktur nach hat Hagens wissender Blick auffällige Ähnlichkeit mit jenem mythischen Wissen der Seherin, von dessen Voranfänglichkeit die Snorra-Edda erzählt. Hagens Blick auf Siegfried ist demnach keine einfache visuelle Wahrnehmung, die sich auf sichtbare Phänomene richtet. Vielmehr ist er, wie das vitom im nordischen Text, ein Wissensakt, der eine Semantik im Geschehen direkt vernimmt und darum vor der Geschichte eine spezifische Zeitlichkeit besitzt: So wie Hagen später im zweiten Teil des Nibelungenliedes derjenige ist, der das zukünftige Ende der Burgunden schon vorher weiß, weil es ihm durch den Spruch der Meerfrauen vorhergesagt (1534–42) und durch die eigentümliche Schicksalsprobe mit dem Kaplan der Burgunden zur Gewissheit wird (1774–80), so ist Hagen zu Beginn des Liedes offenbar in der Lage, in Siegfrieds vermeintliche Vergangenheit zu sehen. Dabei kommt es aber jeweils zum zeitlichen Paradox der eddischen Seherin, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfallen: So wie Hagen das Ende der Burgunden schon kennt, so ist dieses Ende als Gefahr im Geschehen schon permanent anwesend; so wie Hagen von Siegfrieds vergangener axiologischen Ungebundenheit weiß, ist sie als Gefahr in der Gegenwart des Wormser Hofes präsent. Hagen sieht die Gefahr von Siegfrieds Macht: Gemäß dieser metaphorischen Operation erfasst Hagen die Bedeutung Siegfrieds unmittelbar. Die Gefährlichkeit von Siegfrieds 28

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Vgl. Armin Schulz: Fremde Kohärenz. Narrative Verknüpfungsformen im ‚Nibelungenlied‘ und in der ‚Kaiserchronik‘. In: Historische Narratologie. Hrsg. von Harald Haferland, Matthias Meyer. Berlin/New York 2010 (Trends in Medieval Philology 19), S. 339–360, 346. Vgl. Armin Schulz: Schwieriges Erkennen. Personenidentifizierung in der mittelhochdeutschen Epik. Tübingen 2008 (MTU 135), S. 64–66, sowie terminologisch weitergehend Ders. (Anm. 28), bes. 348–354, unter Bezug auf Jan Dirk Müller: Woran erkennt man einander im Heldenepos? Beobachtungen an Wolframs ‚Willehalm‘, dem ‚Nibelungenlied‘, dem ‚Wormser Rosengarten A‘ und dem ‚Eckenlied‘. In: Symbole des Alltags – Alltag der Symbole. Festschrift Harry Kühnel. Hrsg. von Gertrud Blaschitz u. a. Graz 1992, S. 87–111; Ders. (Anm. 21), S. 127f. u. 234f.

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Macht besteht dann aber nicht nur in der permanenten Bedrohung der burgundischen Welt, die schließlich mit der Ermordung Siegfrieds beseitigt werden soll; ihrer semantischen Struktur nach ist sie auch eine permanente Bedrohung des Erzählens im Nibelungenlied.

IV. Heroik und Metaphorik Weil Hagen Siegfrieds Macht nicht nur erkennen kann, sondern weil er sein Wissen von dieser Macht auch in eine Gegenhandlung umzusetzen weiß, erscheint seine Figur wie eine narrative Antwort auf den exorbitanten Heroentypus in der Geschichte der Burgunden. Als narrative Figur kann Hagen aber nicht als Heros im Sinne Siegfrieds gelten, d.h. das Exorbitanzkonzept im Sinne von Sees greift bei ihm nicht. Vielmehr erscheint Hagen als genau jener außergewöhnliche, idealisierte Heldentypus, mit dessen Beschreibung Wolfgang Weber das Exorbitanzkonzept bei von See kritisiert hat.30 Anstatt sich prinzipiell außerhalb der Möglichkeiten eines normalen Kriegers zu bewegen, symbolisiert dieser heroische Heldentypus im Sinne Webers eine verbindliche Handlungsnorm für die Kriegergesellschaft, indem er die Mitglieder dieser Gesellschaft dazu anspornt, über sich hinauswachsen, Außergewöhnliches zu leisten und darin ebenfalls das kriegerische Normengefüge zu symbolisieren. Damit ist seine Exorbitanz erstens nicht wertfrei, sondern gerade eine axiologische Qualität, vor allem aber ist – zweitens – diese außergewöhnliche kriegerische Axiologie keine Qualität seiner Gestalt, sie ist eine Qualität seines Handelns. Das hieße konkreter pointiert: Heroen brauchen keine heroischen Taten zu begehen, um ihren Status zu beweisen, das Heroische ist ihnen selbstverständlich zu eigen. Der Krieger mutet dagegen erst durch die Qualität seiner Taten heroisch an. Auch wenn also ein solcher Krieger bis in den Tod hinein heroisch handelt, zu einem eigentlichen Heros wird er nie. Dagegen handelt der Heros niemals heroisch, weil dies Prädikat aus seiner Sicht nicht von Belang ist. Mit Blick auf das Nibelungenlied war es offenbar für die Forschung bislang attraktiv, sich nicht festzulegen und beide Exorbitanzkonzepte zu vermischen. Gleichwohl kann man textintern differenzieren: Man hätte dann Siegfried im ersten Teil des Liedes als von vornherein exorbitanten Helden im Sinne von Sees anzusehen und könnte ihn vorläufig als Heros bezeichnen, den im zweiten Teil des Textes unter der Führung Hagens über sich hinauswachsenden Burgunden wären dafür im Sinne Webers exorbitante

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Gerd Wolfgang Weber: Sem konungr skyldi. Heldendichtung und Semiotik. Griechische und germanische heroische Ethik als kollektives Normensystem einer archaischen Kultur. In: Helden und Heldensage. Otto Gschwantler zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Hermann Reichert, Günter Zimmermann. Wien 1990 (Philologica Germanica 11), S. 447–481. Dazu die insistierende, hochkritische Antwort durch Klaus von See: Held und Kollektiv. In: ZfdA 122 (1993), S. 1–35, bes. 4–23.

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Handlungsqualitäten, d.h. heroische Taten zuzusprechen.31 Mit diesen Taten geht dann aber auch etwas von der Metaphorik des Geschehens um Siegfried auf die Burgunden und ihre Geschichte über. Wohl deshalb vollziehen sie dem Namen nach eine Art Gestaltenwandel: indem sie im zweiten Teil des Textes von den Burgunden zu den Nibelungen werden (ab 1523,1). Damit wäre aber auch sichtbar, wo genau die beiden genannten Exorbitanzkonzepte auseinander treten und wie sie zusammenhängen: Von Sees Modell des exorbitanten Heros zielt letztlich auf eine aktantielle Semantik im Geschehen, wie sie die eddischen Lieder vorführen. Webers Vorstellung des exorbitantheroisch handelnden Helden zielt dagegen auf eine axiologische Wertsteigerung des Kämpfers im Rahmen einer Geschichte, wie sie das Epos symbolisiert. So verstanden, widersprechen sich die beiden Figurenkonzepte hinsichtlich ihres narrativen Konzeptes. Verbunden sind sie dagegen nicht nur durch Hagens Wissen, sondern auch durch die Metapher. Die Darstellung des heroischen Figurentyps und seiner metaphorischen Semantik, die von der bloßen narrativen Handlungslogik zu unterscheiden wäre, lässt sich außerhalb des Nibelungenliedes wohl am Besten durch einen nochmaligen Rekurs auf das Skaldenlehrbuch von Snorri Sturluson illustrieren. Der zweite Teil der Snorra Edda, der die ‚Sprache der Dichtkunst‘, d.h. den poetischen Diskurs behandelt, verdeutlicht das zutiefst metaphorische Weltverständnis der nordischen Skaldik und entwickelt dabei jenen eigenen, semantischen Handlungsbegriff, den der Exorbitanzbegriff bei von See voraussetzt. Weil die Bedeutung der Welt in diesen Dichtungen von vornherein gegeben ist, kann diese Bedeutung in verschiedener Gestalt verschlüsselt und wieder enträtselt werden. Die Bedeutung dieser Poesie durchläuft, wenn man so will, zunächst in der Handlung und dann in der Sprache der Kenningar einen beständigen Gestaltentausch: Die damit entstehenden Metamorphosen und Entschlüsselungsprozesse verwenden demgegenüber die Struktur der Metapher. Das heißt: Nicht erst der poetische Diskurs der Skaldik mit seinen metaphorischen Verschlüsselungen der Kenningar, sondern schon die darin angedeuteten Ereignisse sind konkrete metaphorische Bedeutungsverschiebungen und nicht etwa realistische Handlungen, denen Sinn zugeschrieben wird. 31

Die Differenz zwischen Siegfried und Hagen, d.h. zwischen Heros und heroisch Handelndem, entspräche damit in etwa der Unterscheidung zwischen Achilles und Odysseus, wie sie Weber festgehalten hat: „Achill als der im Kampf unbezwingbare Krieger und Odysseus als der im Rat der Männer unübertroffene vorausschauende erfahrene ‚Gebieter des Volkes‘“, Weber (Anm. 30), S. 465. Durch seine Opposition zum Exorbitanzkonzept von Sees, d.h. seiner Forderung, Exorbitanz nicht als eine heroische Pragmatik, die gesellschaftlich-semantisch leer bleibt, sondern als eine kriegerische Semantik anzusehen, die Werte in übersteigerter Form symbolisiert, gelingt Weber damit eine entscheidende Differenzierung. Dass mit der Differenzierung dann zwei Exorbitanzkonzepte nebeneinander existieren können, die aufeinander bezogen sind, gesteht Weber jedoch nicht zu, weshalb er seine Differenzierung gerade in seiner Achilles-Interpretation wieder nivelliert: indem er den in der Unverwundbarkeit des Achilles aufscheinenden kategorialen Unterschied zum heroischen Helden zugunsten einer einfachen Repräsentationsbeziehung weginterpretiert (S. 475f. u. 480). Gerade im Interesse der Argumentation Webers scheint dies nicht überzeugend.

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Die Ereignisse sind Ausformungen einer Semantik, die eine andere Wirklichkeit entstehen lässt.32 Entsprechend formt sich die Handlung nicht zu einer sinnvoll endenden Geschichte, sie wird zu einem anhaltenden, bedeutsamen Geschehen. Dieser semantische Primat einer anderen Wirklichkeit zeigt sich nun am Beispiel der Sigurd-Gestalt darin, dass sie in dem Abschnitt erscheint, der auf die Frage antwortet, „Aus welchem Grund wird Gold Otterbuße genannt?“ (39) Die Schilderungen drehen sich im Wesentlichen um einen Mechanismus von Macht, Begehren, Verrat und Mord, der sich besonders am Gold manifestiert. Die drei Asen Loki, Odin und Hönir haben einen Otter getötet, von dem sich herausstellt, dass es sich um einen der drei Söhne des Bauern Hreidmarr handelt, Otr mit Namen. Der Vater fordert Gold als Buße für seinen erschlagenen Sohn Otr. Dieses Gold sowie einen Ring nehmen die Asen einem Zwerg mit Gewalt ab, woraufhin der Zwerg einen Fluch ausspricht: Wer zum Gold auch den Ring besitzt, wird den Tod finden. Als Hreidmarr die Goldbuße übergeben wird, fordert er zu dem Goldschatz auch den Ring. Daraufhin wird er von seinen beiden verbliebenen Söhnen später um des Goldes willen getötet. Und weil nun diese beiden Brüder, Fafnir und Regin, das Gold nicht teilen können, entzweien sie sich. Fafnir nimmt das Gold und bewacht es in der Gestalt eines Drachen; Regin trachtet ihm nach dem Leben, nimmt die Gestalt eines Schmiedes an und erzieht Sigurd. Die nun angeführten Motivresponsionen der Sigurd-Handlungen umspannen den gesamten Bereich der sogenannten Sigurd- oder Nibelungensage, sie variieren dabei indes stets den gleichen fatalen Mechanismus: Sigurd findet wegen des Ringes den Tod, so wie auch Gunnar und Högni als Besitzer des Goldschatzes bei Atli den Tod finden (vgl. 41). Die Kette der Geschehnisse setzt sich demnach thematisch fort, sie zielt nicht auf ein übergeordnetes narratives Ende, sondern auf einen geschehensimmanenten semantischen Mechanismus, der immer wieder metaphorisch die spaltende, zerstörerische Macht des Goldes herausstellt. Im altisländischen Kontext der Snorra-Edda ist diese perpetuierende, protonarrative Geschehensform, in der es kein Gut und kein Böse, kei32

Zuerst maßgeblich Rudolf Meissner: Die ‚Kenningar‘ der Skalden. Ein Beitrag zur skaldischen Poetik. Hildesheim u. a. 1984 (Nachdruck d. Ausg. Bonn/Leipzig 1921 [Rheinische Beiträge und Hülfsbücher zur germanischen Philologie und Volkskunde 1]), bes. S. 19f., zur Umschreibung des unabgeschlossenen sprachlichen Übertragungs- und Vertretungsprozesses, der eine definitorische Annäherung an die Kenningar erschwert, sowie S. 26f. zur Begründung in der voraufgehenden Wirklichkeitskonzeption. Zum Definitionsproblem der Forschung der Kenningar insbesondere in Bezug auf die Metapher zusammenfassend Edith Marold: Kenningkunst. Ein Beitrag zu einer Poetik der Skaldendichtung. Berlin/New York 1983 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 80, NF 204), S. 34–36, die zu der von der jüngeren Literatur zu unterscheidenden Verfremdungswirkung im Sinne Meissners festhält: „Kenningar schaffen keine ,entfremdete Welt‘. In ihrer Welt versagen die Kategorien der Weltorientierung des Hörers nicht wie in der des Grotesken, sie werden vielmehr bestätigt. […] In dieser interpretierenden Anstrengung des Hörers, in der sich sein Denken, seine Kategorien und seine Weltsicht bestätigen, entsteht ein Bewußtsein der Geordnetheit und Einheit der Welt“ (S. 56).

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nen Anfang und kein Ende gibt, unproblematisch. Im Zusammenhang der ausgeprägten narrativen Kontexte der mittelhochdeutschen Literatur mit ihrer metonymischen Syntagmatik ist die fortgesetzte Metaphorik aber prekär, weil sie die Geschichte unterwandert bzw. entgrenzt. Analog zur nordischen Überlieferung kennt auch das Nibelungenlied, ausgehend vom heroischen Siegfried, eine ähnliche, metaphorische Geschehenskette.33 Man könnte sie, nach dem Vorbild von Snorris Poetik, ausgehend von Hagens Diskurs etwa so aus dem Lied extrapolieren: Siegfried erringt das Gold der Nibelungen gewaltsam, indem er Schilbung und Nibelung mit dem Schwert tötet, das ihm als miete für die unlösbare, strittige Aufgabe gegeben worden war, den Hort zu teilen. Das Gold führt zu Streit und Tod, es entfesselt die Gewalt und ist damit eine potentielle Gefahr. Dieser Mechanismus ist auch dem Gold der Nibelungen inhärent, und er wiederholt sich im Kontext der Brautwerbungsmuster gerade deshalb, weil die Burgunden gegen ihn aufbegehren. Kriemhild ist hier die miete in der unlösbaren Aufgabe, um Brünhild zu werben. Wieder wird diese unlösbare Aufgabe von Siegfried gewaltsam bewältigt, und nun wird auch diese miete ausdrücklich mit dem Hort verbunden: Der Hort erweist sich als Kriemhilds „morgengâbe“ (1116,4). Damit wird nun auch Kriemhild unsagbar gefährlich. Dieses Gefahrenpotential gilt sogar zwischen Siegfried und Kriemhild. Die Schöne wird für den Heros zu jener Gefahr, die es ermöglicht, den praktisch Unverwundbaren wie ein wildes Tier zur Strecke zu bringen, und zwar ganz ähnlich, wie Sigurd in der nordischen Überlieferung den Drachen tötet: auf dem Weg zur Tränke. Mit der Ermordung Siegfrieds und der Versenkung des Hortes scheint der Mechanismus der Hortteilung, nach dem das Gold den Untergang bedeutet, vorläufig für die Burgunden abgewandt. Doch dafür behauptet er sich im zweiten Teil des Liedes mit Macht als verdecktes semantisches Zentrum, aus dem die Logik des Nibelungensemantik unerbittlich hervorbricht: Der Nibelungenhort wird von den Burgunden vergeblich versenkt, 33

Vgl. die zunehmend metaphorische Realitätsauffassung in den Interpretationen von Müller (Anm. 21), bes. zur semantischen Verbindung von Wein und Blut in Fest und Krieg S. 427–434, und zum ‚Tier-werden‘ Siegfrieds S. 448f., und bes. Friedrich (Anm. 27), S. 343–358. Die metaphorische Lektüremöglichkeit hat die ältere Forschung insbesondere dort genutzt, wo sie sich in methodisch schwer kontrollierbarer Weise an historisierend-mythisierenden Erklärungen versucht hat oder aber psychologisierend eine Art individuelle Symbolik in den Augen Kriemhilds auszumachen glaubte. So einerseits bes. Otto Höfler: Siegfried, Arminius und die Symbolik. Mit einem historischen Anhang über die Varusschlacht. Heidelberg 1961, S. 62, zum Helden als Wild auf der Jagd, S. 102 u. 120 zum Verhältnis Drache-Siegfried; andererseits Werner Schröder: Die Tragödie Kriemhhilds im Nibelungenlied. In: Nibelungenlied-Studien. Hrsg. von Dems. Stuttgart 1968, S. 48–156, 95f., zum Symbolwert von Hort und Schwert. Vermittelnd: Bert Nagel: Staufische Klassik. Deutsche Dichtung um 1200. Heidelberg 1977, S. 491 zur Gleichsetzung von Siegfried und Drache, S. 517f. zum Typus des ‚alten Heros‘ u. S. 533 zur „symbolisch-mythischen Repräsentanz“ Siegfrieds durch den Hort. Vgl. ferner nur noch: George T. Gillespie: Das Mythische und das Reale in der Zeit- und Ortsauffassung des ‚Nibelungenliedes‘. In: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985. Hrsg. von Fritz Peter Knapp. Heidelberg 1987 (Germanische Bibliothek), S. 43–60, 55 u. 59, zum Symbolwert von Balmung und Hort.

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sein Verderben klebt nun an ihnen, so dass sie schon dem Namen nach den besagten Gestaltenwandel durchlaufen und selbst von den Burgunden des ersten zu den Nibelungen des zweiten Liedteils werden. Angesichts der abschließenden Hortforderung finden die letzten der neuen Nibelungen, ähnlich wie zuvor Nibelung und Schilbung, den Tod, und zwar durch das Schwert Balmung, das zum Hort gehört.

V. Erzählen zwischen Metonymie und Metapher Man darf bezweifeln, ob diese nur skizzenhaft angedeutete metaphorische Lektüre im Sinne der nordischen Poetik, die sich verdichten ließe, aus der Sicht des vergleichsweise harten feudalgesellschaftlichen Realismus des Brautwerbungsschemas im Mittelhochdeutschen als plausibel erscheinen kann. In die Richtung dieses Zweifels verweisen die rationalisierenden Bearbeitungstendenzen der handschriftlichen Überlieferung. Aber auch das Wirklichkeitsverständnis der Narratologie stößt hier an seine Grenzen, jedenfalls solange, wie das prinzipielle Zusammenspiel zwischen Metapher und Metonymie im sprachlichen Kunstwerk zugunsten einer realistischen Handlungsauffassung vernachlässigt wird. Die Beschreibung des Textes über eine derartige Narratologie des Brautwerbungsschemas wirkt dann zwar plausibel, sie hat aber ihren Preis. Man ist versucht zu sagen: Die zunehmende narratologische Schematisierung bedeutet zugleich eine Trivialisierung. Fasst man nämlich die Schemavariation des Nibelungenliedes im Gefolge von Peter Strohschneider als konsequente Ausdifferenzierung einer narrativen Basismatrix auf, in der die Regel: ‚Der Beste bekommt die Schönste‘ gilt, dann unterlegt man der komplexen narrativen Dynamik einen Erklärungsmechanismus, aus dem sich zweifellos ebenso komplexe Beschreibungen generieren lassen.34 Historisch-semantisch bleibt er aber letztlich leer. Stark vereinfacht gesagt bleibt es dabei: Der Beste bekommt die Schönste, weil er sie eben bekommen muss, und das ist, ganz gleich wie viele Kurzschlüsse und Umbesetzungen man letztlich konzediert, immer nur eine Tautologie, die mit einer rigiden Vorstellung von Anfang und Ende operiert. Nicht zuletzt setzt diese Tautologie nur an den axiologischen Besetzungen der Geschichte an, die den Besten zwar qualifizieren, mit denen der axiologiefreie heroische Figurentypus aber noch nicht erfasst werden kann.35 Die narratologisch orientierte Handlungsauffassung

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35

Peter Strohschneider: Einfache Regeln – komplexe Strukturen. Ein strukturanalytisches Experiment zum ,Nibelungenlied‘. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift für Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Wolfgang Harms, Jan-Dirk Müller. Stuttgart/Leipzig 1997, S. 43– 74, mit dem ausdrücklichen Anspruch der weiteren „Differenzierung und Komplexisierung“ (S. 73). Damit ließe sich gegen Strohschneider im Übrigen mit geringen Modifikationen die Kritik am frühen Aktantenmodell durch Warning (Anm. 24) in Anschlag bringen, weil die Vorstellung des Wertetransfers auf das Ganze der Geschichte gesehen ohne semantischen Mehrwert bleibt.

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des Brautwerbungsschemas erweist sich damit als eine komplexe Form der Deskription, nicht aber der Interpretation. Das semantische Problem gilt aber nur solange, wie man der Narratologie mit ihrer modernen Handlungsrationalität vertraut: Die Beschreibung hängt von einem Wirklichkeitsbegriff ab, in dem sowohl die Handlungen in der Geschichte wie die Sprachhandlungen des Erzählers vorrangig als metonymisch organisierte Syntagmen aufgefasst werden. Die narratologisch-metonymische Auffassung des Brautwerbungsschemas privilegiert dann, im Sinne des klassisch-rhetorischen Metonymieverständnisses, kausale Verhältnisse eines realen sachlichen Zusammenhangs. Diese metonymische Wirklichkeitskonzeption wird aber dann zum Problem, wenn sie auf kulturell fremde Phänomene trifft. Und ein solches fremdes Phänomen ist vor allem Siegfried selbst. Man kann nun versuchen, diesem Problem zu begegnen, indem man das Metonymieverständnis erweitert, wie es Harald Haferland und Armin Schulz mit ihren höchst anregenden Plädoyers für ein ‚metonymisches‘ Erzählen versucht haben.36 Die Metonymie wird zunächst klassisch über kognitive Prozesse im Rahmen des Realitätskonzeptes der semioralen mittelalterlichen Kultur definiert, dann aber auch für thematisch-assoziative oder semantische Verbindungen in Anschlag gebracht, die man im bisherigen Begriffsverständnis als metaphorische zu definieren hätte.37 Damit ergäbe sich für das mittelhochdeutsche Erzählen um 1200 eine Art archaisch-mythische Weltsicht, in der die Wirklichkeit immer auch bedeutungsgeladen und Bedeutung praktisch zugänglich ist.38 Das Problem der historischen Semantik ist so zwar erkannt, aber diese Begriffserweiterung bedeutet eine Entdifferenzierung, denn man läuft sofort Gefahr, die Metapher als systematischen Gegenbegriff zur Metonymie vollends abzuschaffen. Denn die Begriffserweiterung zielt auf semantische Effekte, die andernorts als frühe Sonderformen

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Harald Haferland, Armin Schulz: Metonymisches Erzählen. In: DVjs 84 (2010), S. 3–43. Die Erweiterung geht in verschiedene Richtungen. Voraus geht der Versuch, den Begriff der Metonymie auf den des Symbols zu öffnen, bei Harald Haferland: Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden. In: Euphorion 99 (2005), S. 323–364, charakteristisch etwa S. 327, Anm. 14 im Hinweis auf ‚symbolisch-metonymische‘ Relationen. Maßgeblich scheint aber vor allem die Ausweitung auf den Begriff der Metapher zu sein, vgl. aus der Fülle von Beispielen etwa den Hinweis auf das ‚Nibelungenlied‘ durch Dens.: Verschiebung, Verdichtung, Vertretung. Kultur und Kognition im Mittelalter. In: IASL 33, 2 (2008), S. 52–101, 92f., wo die metaphorische Rede „Sîfrides wunden tâten Kriemhilde wê“ (1523, 4) als Metonymie gefasst wird. Grundlage der Erweiterung ist ein offener Kontiguitätsbegriff, vgl. Ders.: Kontiguität. Die Unterscheidung vormodernen und modernen Denkens. In: Archiv für Begriffsgeschichte 51 (2009), S. 61–104. Vgl. ausdrücklich auch im Beitrag von Schulz (Anm. 28), S. 345, sowie Haferland, Schulz (Anm. 36), S. 25. Der Kognitionsaspekt zuerst bei Harald Haferland: Das Mittelalter als Gegenstand der kognitiven Anthropologie. Eine Skizze zur historischen Bedeutung von Partizipation und Metonymie. In: PBB 126 (2004), S. 36–64. Im Hintergrund steht Cassirers Begriff der Koinzidenz oder Konkreszenz, Cassirer (Anm. 11), S. 82f.

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der Metapher definiert werden.39 Dass dieses Metaphernverständnis nicht wie im neuzeitlichen Sinne nur sprachlich verfasst, sondern über eine kulturelle Topik auch in re situiert ist, hat für das Bild des Kriegers Udo Friedrich gezeigt.40 Darum dürfte es nützlich sein, auf die klassische Unterscheidung von Roman Jakobson zu rekurrieren, die Schulz und Haferland verworfen haben.41 Die Poesie, so lautet Jakobsons Bestimmung, projiziert die paradigmatische Relation der Sprache in die syntagmatische, wobei zwei Optionen entstehen: Einmal kommt es zu metonymischen Relationen mit metaphorischer, einmal zu metaphorischen Relationen mit metonymischer Färbung.42 Die metonymische Option exemplifiziert Jakobson an der Epik, die metaphorische an der Lyrik, wobei die jeweilige Wahl einer der Optionen immer auch unterschwellig die Anwesenheit der anderen bedeutet. Was sich nach Jakobson damit für die moderne Poesie andeutet, gilt dann aber für die historische Semantik des Nibelungenliedes erst recht: Die Optionen von Metapher und Metonymie sind keine einfachen Alternativen. Das Erzählen vom Heros hat darum buchstäblich keine Wahl. Gerade dies scheint das narrative Wagnis des Nibelungenliedes zu sein: dass es sich der Aufgabe der Vermittlung beider Prinzipien sehr grundsätzlich stellt. Das Erzählen setzt an der metaphorischen Semantik des Heros an, aber deutet sie radikal um; es fasst das Geschehen nicht primär von seiner metaphorischen Bedeutung her auf, sondern begreift es als wirkliche Handlung, die es im Nachhinein durch eine narrative Wertbesetzung seiner heroisch handelnden Helden zu interpretieren versucht. Dabei zeigt sich jedoch umgekehrt, dass die Handlungen einer heroischen Welt keine derartigen Werte kennen. Der Heros lässt sich nicht narrativ bewältigen, es gibt für ihn im eigentlichen Sinne keine Gefahr, keine Herausforderung, kein Ereignis, das ihn semantisch verändert. Vor allem gibt es für ihn jene Axiologie nicht, ohne die von einer Geschichte nicht zu reden ist. Die Genealogie der Moral beginnt immer erst aus einer nachheroischen Position, die dem Heros Werte zuschreibt, die ihm eigentlich fremd sind. Mit Blick auf Siegfried heißt das: Siegfried kennt keine Schuld und kein morali39

40 41 42

Vgl. etwa den Hinweis im Handbuch von Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. Mit einem Vorwort von Arnold Arens. Stuttgart 31990, in dem für die Metapher vorformuliert ist, was Schulz und Haferland mit der erweiterten Metonymie zu erfassen suchen: „Die Metapher ist ein urtümliches Relikt der magischen Identifizierungsmöglichkeit, die nunmehr ihres religiös-magischen Charakters entkleidet ist und zum poetischen Spiel geworden ist.“ (S. 286) Vgl. ähnlich zum frühen Metaphernverständnis im Überblick von Ekkehard Eggs: Metapher. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 5. Darmstadt 2001, Sp. 1099–1183, 1106–1108, wo betont wird, dass der Metapher bei Aristoteles eine erkenntnistheoretische Dimension zukommt: In ihrer Analogierelation ist nämlich eine metaphysische Relation wirksam, die zuvor bei Empedokles noch als magische Relation aufgefasst wurde. Vgl. Friedrich (Anm. 27), S. 191–198. Vgl. Haferland, Schulz (Anm. 36), S. 8f.; Haferland (Anm. 36), S. 336f. Roman Jakobson: Der Doppelcharakter der Sprache. Die Polarität zwischen Metaphorik und Metonymik. In: Ihwe (Anm. 24), S. 323–333.

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sches Vergehen, er kann töten und täuschen, wenn es sein muss. Und so findet Siegfried als Heros niemals richtig in eine narrative Struktur hinein, diese Struktur kennen nur die anderen. Erst für sie stehen auf einen Schlag die Werte von Gut und Böse im Raum, die eine Geschichte in Gang setzen oder abschließbar machen: wenn der Heros ermordet wird. Damit kann recht eigentlich die Geschichte der Helden von Worms beginnen, in der über die Frage von Recht und Unrecht vor allem auch Kriemhild zur rächenden Heldin wird. In der Geschichte der Burgunden ist damit endlich das narrative Spiel von Gut und Böse freigesetzt. Das Nibelungenlied findet so im zentralen Tod des ‚Heros‘ jenes narrative Zentrum, aus dem heraus es seine Anfänge und sein Ende entwirft. Da die Geschichte der Burgunden erst jetzt ihre Dynamik gewinnt, könnte man also sagen: Mit dem Tod des Heros in der Mitte des Nibelungenliedes beginnt die Zeit der Helden in ihrer eigenen erzählten Wirklichkeit. Vor allem aber avanciert Kriemhild als durch den Verrat betroffene Figur zur narrativen Zentralgestalt des Nibelungenliedes, weshalb der Text in den Handschriften eben auch Buch von Kriemhild heißt.43 Siegfried jedoch gehört weiterhin eher in den protonarrativen, metaphorischen Zusammenhang, wie ihn die Sigurd-Figur kennt. Der Tod Siegfrieds könnte dann aber geradezu als Ort einer Systemumstellung von einer primär metaphorischen zu einer primär metonymisch-narrativen Semantik angesehen werden. Was vom Heros gleichwohl über seinen Tod hinaus bleibt, ist der Blick für die metaphorische Färbung, von der Jakobson gesprochen hat: Hagen, der Mörder Siegfrieds und Räuber des Hortes, stirbt von der Hand Kriemhilds durch das Schwert ihres Geliebten. Das Schwert, das der Lohn für die Teilung des Hortes hätte sein sollen, scheint zu seinem Fluch zu werden. Jedenfalls ist die Tötung Hagens ein narratives Ereignis mit erkennbar metaphorischer Bedeutung. Und metaphorische Züge dieser Art, das wäre nun systematisch zu zeigen, entfaltet das Nibelungenlied konsequent auf verschiedenen Ebenen. Wenn also für das Erzählen bewusst gehalten wird, dass auch seine narrativen Sinnbildungsprozesse ohne die metaphorische Relation nicht auskommen, dann würde das zugleich bedeuten, dass man sich weit stärker darauf besinnt, dass das Nibelungenlied, im Sinne der nordischen Liedüberlieferung, Poesie ist. Die narratologische Frage nach Anfang und Ende der Geschichte müsste dann anhand der Metapher einsehen, dass sie begrenzt ist. Sie erzeugt gegenüber dem Denken in Metaphern falsche Metonymien, über deren Fremdartigkeit sie sich dann nur wundern kann. Wenn die Narratologie indes die Einsicht in ihre eigene Begrenztheit in sich aufnimmt, kann sie sich erweitern: zu einer historischen Erzähltheorie, die eine Semantik jenseits vor dem Anfang und Ende ins Kalkül zieht, an der die Erzählung eine endlose Interpretationsarbeit leistet. Für das Nibelungenlied entspricht diesem poetischen Mechanismus 43

Vgl. die weitergehende, literatur- und mediengeschichtlich ansetzende These der dezidiert schriftlichen Lektüremöglichkeit des Geschehens über die Kriemhild-Figur bei Michael Curschmann: Zur Wechselwirkung von Literatur und Sage. Das ,Buch von Kriemhild‘ und Dietrich von Bern. In: PBB 111 (1989), S. 380–410.

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eine scheinbar endlose Geschichte der Interpretation, zu dessen Charakterisierung es erlaubt sein mag, mit dem letzten, emphatischen Satz von Jan-Dirk Müllers Nibelungenbuch zum Schluss zu kommen: „In der Radikalität dieses Verfahrens ist das Nibelungenlied eines der größten Kunstwerke des Mittelalters“.44 Wenn man dies am Ende behaupten möchte, dann wäre vielleicht über die poetisch-metaphorische Semantik des Nibelungenliedes auch erzähltheoretisch so etwas wie ein neuer Anfang zu machen.

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Müller (Anm. 21), S. 455.

Christian Kiening

Göttlich-menschliche Anfänge Zeitparadoxien im Fließenden Licht der Gottheit

I. Von Anfängen lässt sich nur paradox erzählen. Sie sind gleichzeitig in der Zeit und vor der Zeit. Sie stehen an der Grenze von Nicht-Sein und Sein. Sie eröffnen eine Kontinuität, der sie eine elementare Diskontinuität einschreiben. Sie werden von der Erzählung ins Leben gerufen und sind doch in ihr schon vorausgesetzt. Noch einmal potenziert begegnen diese Paradoxa in Geschichten absoluter Anfänge. Sie berichten nicht bloß von der Entstehung eines Volkes oder der Geburt eines Helden, sondern davon, wie es überhaupt zu der Welt kam, von der die Erzählung handelt. Sie präsentieren Nennakte, die eine ontologische Dimension beanspruchen und sich zugleich als Narrative ausweisen. Sie machen die Beziehung zwischen der Ordnung des Seins und der Ordnung der Worte als intrikate sichtbar – intrikat deshalb, weil jeder sprachliche Anfang immer schon eine Mittelbarkeit setzt im Verhältnis zu dem faktischen Anfang, auf den er sich bezieht, und weil er, indem er dies auch noch thematisiert, eine komplexe Verschränkung von Nachträglichkeiten und Vorgängigkeiten ins Werk setzt.1

1

Zu den philosophischen, literarischen und kulturellen Paradoxien von Anfangskonstruktionen vgl. Klaus Heinrich: Parmenides und Jona. Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie. Basel u. a. 31992, S. 9–28; Peter Strohschneider: Ur-Sprünge. Körper, Gewalt und Schrift im ‚Schwanritter‘ Konrads von Würzburg. In: Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter. Hrsg. von Horst Wenzel. Berlin 1994 (Philologische Studien und Quellen 143), S. 127–153; Am Anfang war... Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne. Hrsg. von Inka Mülder-Bach, Eckhard Schumacher. München 2008 (Anfänge). Aus narratologischer Perspektive: Gerd Driehorst, Katharina Schlicht: Textuale Grenzsignale in narrativer Sicht. Zum Problem von Texteingang und Textausgang. Forschungsstand und Perspektiven. In: Sprache in Vergangenheit und Gegenwart. Beiträge aus dem Institut für Germanistische Sprachwissenschaft der Philipps-Universität Marburg. Hrsg. von Horst Wenzel. Marburg 1988 (Marburger Studien zur Germanistik 9), S. 250–269.

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Die Anfänge sind in mehrfacher Hinsicht vom Späteren gezeichnet: durch die Anlagerungen der Geschichte, die zwischen ihnen und den Texten liegen, ebenso wie durch die Eigenzeitlichkeiten des Erzählens selbst. Sie erweisen sich damit als bewegliche Momente, die sich auf der Zeitachse in beide Richtungen verschieben können. Prägnantes Beispiel ist die biblische Ur- und Frühgeschichte. Sie besteht aus immer neuen Anfängen und immer neuen Gründerfiguren: Adam, Noah, Abraham, Josef, Moses, David, Salomon.2 Aber auch aus Rückverlängerungen der Ursprünge: Dem sog. jahwistischen Schöpfungsbericht stellte wohl zur Zeit des babylonischen Exils der Redaktor der sog. Priesterschrift einen zweiten, noch weiter ausholenden Schöpfungsbericht voran, der seinen Anspruch, an die Anfänge der Anfänge zurückzuführen, gleich deutlich sichtbar macht: „be-re’schît, ejn ajrch/Ö, in principio“ schuf Gott die Welt. Und er schuf sie performativ, durch sein Sprechen, das mit dem Handeln identisch oder von ihm allenfalls durch eine Zeitdifferenz geschieden scheint. Doch so einfach ist die Sache nicht. Die mit jedem einzelnen Schöpfungsakt neu aufgerufene Folge von Sehen, Handeln und Benennen, dann auch Urteilen und Segnen erzeugt eine Spannung zwischen Wort und Tat, eine offene Beziehung zwischen Schöpfungswort und Schöpfungshandeln. Es zeigt sich, dass dem Erzählen eine eigene zeitliche Logik innewohnt, die mit jener der Schöpfung nicht identisch ist. Der erste Satz, auch wenn man ihn als Überschrift oder Motto nimmt, nennt Himmel und Erde schon als unterschieden, erst am zweiten Tag aber wird Gott dem Himmel seinen Namen geben. Die Verse 4 und 5 berichten die Trennung von Licht und Finsternis sowie deren Benennung als Tag und Nacht, Vers 14 aber konstatiert dann, die Erschaffung der Lichter am Himmel diene dazu, „den Tag von der Nacht zu scheiden“.3 Will man Uneinheitlichkeiten wie diese nicht einfach als Ausdruck der vielsträngigen Vorgeschichte des Genesis-Textes lesen, kann man sie begreifen als spurhafte Worte, aufgeladen durch die Tradition, die ein Verfügbarkeitsproblem anzeigen. Zugleich ist ihnen abzulesen: Auch ein Erzählen, das an den Beginn aller Differenzen zurückzugehen verspricht, ist selbst immer schon von Differenzen gezeichnet, es tendiert immer schon dazu, im einen Anfang die Möglichkeit anderer Anfänge mitaufscheinen zu lassen. Das „be-re’schît, ejn ajrchÖ/, in principio“ ließ sich zwar so verstehen, dass Welt 2

3

Vgl. Beate Kellner: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München 2004. Vgl. Michaela Bauks: Die Welt am Anfang. Zum Verhältnis von Vorwelt und Weltentstehung in Gen 1 und in der altorientalischen Literatur. Neukirchen-Vluyn 1997 (Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 74). Außerdem: Odil Hannes Steck: Der Schöpfungsbericht der Priesterschrift. Studien zur literarkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Problematik von Genesis 1, 1–2, 4a. Göttingen 21981 (Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments 115/2); Claus Westermann: Biblischer Kommentar Altes Testament. Bd. 11: Genesis 1–11. Neukirchen-Vluyn 1974 (Biblischer Kommentar. Altes Testament I/1); Lothar Ruppert: Genesis. Ein kritischer und theologischer Kommentar. Teil 1: Gen 1, 1–11, 26. Würzburg 1992. Zum Weiterleben der Genesis: Genesis – Poiesis. Der biblische Schöpfungsbericht in Literatur und Kunst. Hrsg. von Manfred Kern, Ludger Lieb. Heidelberg 2009 (Kunst und Wissenschaft 12).

Göttlich-menschliche Anfänge

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und Zeit simultan entstanden sind. Es löste aber nicht das Problem, dass auch zum real Seienden immer noch eine konzeptuelle Vorstufe gedacht werden konnte. Der Talmud berichtet denn auch, vor den Dingen sei das Wort, seien die Buchstaben geschaffen worden, so dass im Alefbet bereits die ganze Schöpfung enthalten ist.4 Das Buch der Sprüche, dessen erster Teil vielleicht aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert stammt, reformuliert die Genesispassage aus der Perspektive der Weisheit, die von sich selbst sagt: „DER HERR hat mich geschaffen am Anfang seines Wegs, vor seinen anderen Werken, vor aller Zeit. In fernster Zeit wurde ich gebildet, am Anfang, in den Urzeiten der Erde“ (8, 22f.).5 Die Geschichten der Engelchöre, des Engelsturzes und der finalen Aufnahme des Menschen unter die Unsterblichen reagieren auf das Problem, wie das zeitlich-geschichtliche Verhältnis des Menschen zu anderen höheren Wesen zu denken sei. Diejenigen der Beratung über Erschaffung und Erlösung des Menschen unternehmen es, den alt- und den neutestamentlichen Schöpfungsplan als zugleich zeitlichen und überzeitlichen Prozess aufeinander zu beziehen. Eine ähnliche Vermehrung von Anfängen kennen dann auch die Evangelien. Wo der unter dem Namen des Matthäus laufende Bericht mit dem ersten Stichwort am Textbeginn Bivblio" genevsew" („liber generationis“) Überlieferungsträger und Herkunft miteinander verknüpft und Christus in die von Abraham und David ausgehende Linie integriert, überblendet der Markustext eingangs mit der Wendung vom „Beginn des Evangeliums“ (!Arch; touÖ eujaggelivou, „Initium evangelii“) Geschehen und Botschaft. Das Lukasevangelium (1,2 nach der Züricher Bibel) bezieht sich dann bereits auf die Überlieferung „derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren“. Und dasjenige des Johannes, am weitesten von den Anfängen entfernt, erzeugt (worin ihm viele folgen werden) die stärkste Figur des Ursprungs, indem es vor das zurückgreift, was die anderen Evangelien erzählt hatten – die Wirkungszeit Jesu vor der Gefangennahme Johannes des Täufers. Als Grund für diese Ergänzung vermerkt bereits Eusebius in seiner Kirchengeschichte, Johannes, der sich zunächst an die ungeschriebene, mündliche Überlieferung hielt, habe nach der Veröffentlichung der anderen Evangelien das Bedürfnis gehabt, diesen Aufzeichnungen einen Bericht über „das, was Jesus zuerst, d.h. am Anfang seiner Verkündigung“ („kat! ajrch;n touÖ khruvgmato"“), getan hat, zur Seite zu stellen.6 Es geht um die Ereignisse aus der Geschichte Johannes des Täufers, durch den zugleich der Ursprung auratisiert werden kann im Bezug auf das, was er nicht ist. Mit dem Täufer wird derjenige ins Zentrum gestellt, der ein Vorläufer dessen ist, der als der Anfang zu gelten hat: Christus, der nach dem Täufer kommen wird und zugleich vor ihm gewesen ist – nämlich in allem Anfang bereits gewesen ist. Durch den 4 5

6

Franz Dornseiff: Das Alphabet in Mystik und Magie. Leipzig/Berlin 21925 (ΣΤΟΙΧΕΙΑ 7), S. 120f. Zum Kontext vgl. Die Schöpfungsmythen. Ägypter, Sumerer, Hurriter, Hethiter, Kanaaniter und Israeliten. Mit einem Vorwort von Mircea Eliade, Darmstadt 1977. Eusebius: Kirchengeschichte. Hrsg. von Eduard Schwartz. Leipzig 21914. III 24, 7–13 (§7); vgl. Helmut Merkel: Die Pluralität der Evangelien als theologisches und exegetisches Problem in der Alten Kirche. Bern u. a. 1978 (Traditio Christiana 3).

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Rückgriff auf den Beginn der Genesis, die Wiederholung und gleichzeitige Umschrift der dortigen Eingangsformel wird Christus als logos, als verbum in der ,Urlogik‘ der Schöpfung selbst verankert – statt „in principio creavit“ nun „in principio erat“, und das Subjekt ist nun nicht mehr der Allmächtige selbst, sondern eine ihm zwar entsprechende, deutlich aber mit menschlichem Denken und Sprechen konnotierte Instanz. Das stellte mittelalterliche Bibelkommentatoren vor die Aufgabe, zu erklären, wie etwas gleichzeitig gezeugt und gleichursprünglich mit dem Zeugenden sein kann, oder auch, wie etwas anfänglich schon sein, aber später erst erscheinen und wirksam werden konnte. Thomas von Aquin argumentiert theologisch, Ursächlichkeit, Wesensgleichheit und Gleichewigkeit des Wortes mit dem Vater seien gleichermaßen gegeben; sprachlogisch verweist er auf den imperfektischen Charakter des Verbs „erat“ und auf dessen Wesen als verbum substantivum, ein Zeitwort, das nicht wie andere Verben eine zeitliche Veränderung, sondern das Sein des Gegenstands selbst bezeichne.7 Meister Eckhart führt zum „erat“ im Johannesprolog aus: „Weil es substantivisch ist, so ist das Wort die Substanz des Ursprungs selbst; weil es der Vergangenheit angehört, so ist es immer geboren; weil die Vergangenheit aber unvollendet ist, so wird es immer geboren.“8 Das entspricht nicht einfach der wirkungsreichen Unterscheidung des Boethius zwischen einem menschlichen Auffassen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und dem göttlichen Wesen der Ewigkeit, das „notwendigerweise, seiner selbst mächtig, immer als ein Gegenwärtiges in sich verweilen und die Unendlichkeit der bewegten Zeit als eine Gegenwart vor sich haben“ 9 kann. Vielmehr geht es um die Frage, wie eine unverfügbare Transzendenz weltimmanent aufscheinen, wie eine allumfassende göttliche Gegenwärtigkeit wirksam werden kann – in einer menschlichen Gegenwart, die einerseits von der Heilsgeschichte durchdrungen, andererseits von deren Anfängen immer weiter entfernt ist.10 Paradoxe Ineinanderblendungen von Zeitmomenten haben in diesem Zusammenhang eine zumindest doppelte Funktion: Sie dienen der Vergegenwärtigung der Heilsgeschichte und zugleich der Verankerung gegenwärtiger Erfahrungen und Überlieferungen in einer in der allerersten Vergangenheit verwurzelten Geschichte, 7

8

9

10

Thomas von Aquin: Der Prolog des Johannesevangeliums. Super evangelium S. Joannis lectura (caput I, lectio I–XI). Übersetzung, Einführung und Erläuterungen von Wolf-Ulrich Klünker. Stuttgart 1986, bes. S. 17–31. Meister Eckhart: Expositio sancti evangelii secundum Iohannem. Hrsg. und übersetzt von Karl Christ, Joseph Koch. Berlin 1936 (LW 3), S. 9, Z. 6f. (1, 8): „quia substantivum verbum est ipsa principii substantia; quia praeteritum, semper natum est; quia imperfectum, semper nascitur.“ Boethius: Der Trost der Philosophie. Lat.-dt. Hrsg. von Ernst Gegenschatz, Olof Gigon. München/ Zürich 2004 (Tusculum Studienausgaben), V, 6, 8. Vgl. zu diesem Komplex Aleksandra Prica: Heilsgeschichten. Untersuchungen zur mittelalterlichen Bibelauslegung zwischen Poetik und Exegese. Zürich 2010 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 8); Christian Kiening: Mitte der Zeit. Geschichten und Paradoxien der Passion Christi. In: Wiederkehr und Verheißung. Dynamiken der Medialität in der Zeitlichkeit. Hrsg. von Christian Kiening, Aleksandra Prica, Benno Wirz. Zürich 2011 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 16), S. 121–137.

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die wiederum auf die allerletzte Zukunft hin ausgerichtet ist. Diese grundsätzliche Spannung der Zeitstufen durchzieht thematisch die Texte, die sich der Heilsgeschichte widmen. Sie wird aber noch einmal potenziert durch die Materialität, die den Texten zu eigen ist. In ihr ist der Anfang ja schon per se mindestens ein dreifacher: derjenige der Schrift (die zum Beispiel zunächst einmal nur als Liniengeflecht erscheinen kann), derjenige des Textes (der zum Beispiel in Form von Inhaltsverzeichnissen oder anderen Einträgen erfolgen kann) und derjenige der narratio (die dann ihrerseits die Möglichkeit besitzt, die verschiedenen Zeitmomente zu thematisieren). Das „In principio“ des Johannesevangeliums etwa kann je nach Perspektive als eine I-Initiale begegnen, die zunächst einmal vor allem bildlich-figürlichen Charakter hat, als eine Überschrift, die den Text als solchen markiert, oder als Erzählbeginn, mit dem man sich bereits mitten in der Konstruktion der biblischen Heilsgeschichte und Heilszeit befindet. Eben das Verhältnis aber zwischen diesen verschiedenen Aspekten lässt sich, so wäre meine Annahme, in besonderer Pointierung an Texten beobachten, die sich am Rande der theologischen Diskurse bewegen, den Eigendynamiken literarischen Sprechens anvertrauen und dabei ihre eigenen Rahmungen schaffen. Mein Beispiel ist hier Das fließende Licht der Gottheit Mechthilds von Magdeburg, und zwar einerseits die Anfangspartie und andererseits die Partie von den Anfängen.11

II. Die Einsiedler Handschrift 277, die das Fließende Licht in oberdeutscher Form bietet, setzt eine ganze Fülle von Anfangspunkten.12 Schon der erste Buchstabe wirkt geradezu signalhaft: Mit einer dreizeiligen roten A-Lombarde beginnt der lateinische Prolog (Abb. 1: Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 277, f. 2r):

11

12

Originaltext (abgekürzt: FL) und Übersetzungen zitiert nach: Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit. Hrsg. von Gisela Vollmann-Profe. Frankfurt/Main 2003 (Bibliothek des Mittelalters 19); benutzt daneben: Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung. Hrsg. von Hans Neumann. Bd. 1: Text besorgt von Gisela Vollmann-Profe. München/Zürich 1990; Bd. 2: Untersuchungen ergänzt und zum Druck eingerichtet von Gisela Vollmann-Profe. München/Zürich 1993 (MTU 100/101). Zur Textualität jetzt Bálazs J. Nemes: Von der Schrift zum Buch – vom Ich zum Autor. Zur Textund Autorkonstitution in Überlieferung und Rezeption des ‚Fließenden Lichts der Gottheit‘ Mechthilds von Magdeburg. Tübingen u. a. 2010 (Bibliotheca Germanica 55).

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Er beginnt im Stile einer Chronik: „Anno domini M°CC°L°“. Doch das so markierte Ereignis ist kein irdisches, sondern ein überirdisches: der Beginn der gnadenvollen Offenbarung, auf die das vorliegende Buch („liber iste“) zurückgeht. Von diesem präzise auf 1250 datierten Ereignis her wird ein Bogen zu einer ihrerseits nicht präzise festgelegten Gegenwart geschlagen: Ungefähr („fere“) 15 Jahre habe sich die Offenbarung erstreckt, insgesamt 40 Jahre habe die Begine Gott gedient; dass sie als „virgo sancta“ bezeichnet wird, setzt wohl ihren Tod voraus; wann der Akt der Redaktion des Buches stattfand, wird nicht gesagt. Stattdessen folgt ein Inhaltsverzeichnis, dessen einzelne Rubriken durch kleine rote Lombarden hervorgehoben sind. Es orientiert sich indes nicht an der Chronologie des Buches, sondern derjenigen der Heilsgeschichte bzw. an theologisch zentralen Aspekten: Beginnend mit der Trinität führt die Linie über Christus, Maria, die Engel, die Heiligen, die Dämonen zum Menschen, dann von Himmel, Hölle, Fegefeuer zu den Tugenden und Lastern, schließlich zum Ende der Welt, zur Zeit des Antichrists. Dieses Verzeichnis mag „recht oberflächlich nur auf Grund der Kapitelüberschriften zusammengestellt“13 sein. Es etabliert aber auch gegenüber der eingangs genannten welt- und kirchengeschichtlichen Zeitlichkeit eine heilsgeschichtliche, die ihrerseits durch eine andere Zeitlichkeit ergänzt wird, eine anthropologisch-philosophische im Sinne des Augustinus: die Unterscheidung zwischen den drei grundsätzlichen Zeitstufen. Sie ist wiederum an den Status der Rede gekoppelt: Man könne, so heißt es, im Buch prophetische Aussagen über vergangene, gegenwärtige und zukünftige Dinge („prophecia de preterito, presenti et futuro“; 12, 2f.) finden. Soweit der erste Durchgang. Auf ihn folgt ein zweiter, der mit einer langgezogenen I-Initiale beginnt und wieder an den Anfang zurückführt: „In dem jare von gottes gebúrte drizehendhalp hundert jar“ (12, 5; Abb. 2: Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 277, f. 2v): 13

Hans Neumann: Beiträge zur Textgeschichte des ‚Fließenden Lichts der Gottheit‘ und zur Lebensgeschichte Mechthilds von Magdeburg (zuerst 1954). In: Altdeutsche und altniederländische Mystik. Hrsg. von Kurt Ruh. Darmstadt 1964 (Wege der Forschung 23), S. 175–239, 233.

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Es wiederholen sich die meisten Aussagen aus dem ersten Prolog, nun aber in der Volkssprache, mündend in einen Rückverweis auf die voranstehende Inhaltssystematik: „als in den tavelen ist vor gezeichent“ (12, 15), und in eine Anleitung zur Rezeption: das Buch sei „diemFteklich und andehtieklich núnstunt“ (neun Mal) zu lesen (12, 16). Direkt daran schließt sich aber ein weiteres Inhaltsverzeichnis an, dessen Einträge wieder durch kleine Lombarden markiert sind. Sie sind ebenfalls in der Volkssprache gehalten, nun aber tatsächlich chronologisch geordnet: Genannt werden die Kapitel des ersten ,Buches‘, die mit jenem Kapitel schließen, in dem von der neunfachen Dienerschaft der Seele die Rede ist. Am folgenden Textanfang ist dann wiederum ein neunmaliges Lesen des Textes gefordert. Auf diese Weise kommt es zu Verknüpfungen sowohl auf der Ebene der Zeitlichkeit wie derjenigen der Textualität. Das prekäre Moment, wie geoffenbarte Einsichten in das Göttliche zu einem Buch werden, wird ausgestellt und zugleich überspielt: durch eine Dynamik von Wiederholung und Abweichung, Zurückgreifen und Fortschreiten, die auch eine paradoxe Bewegung hin zu immer neuen Anfängen bedeutet – göttlich-onto-theologischen ebenso wie menschlich-textuellen. Die beiden Prologe sind sowohl parallel konstruiert als auch prozessual angelegt, nämlich durch den Übergang vom Latein zur Volkssprache und vom Index rerum zum Kapitelverzeichnis auf den folgenden Haupttext hingelenkt. Dieser führt in seinem Anfang die zuvor angedeuteten Zeitdimensionen in einer paradoxen Kommunikationssituation zusammen, die ihre eigene Dynamik besitzt: Sie lässt die Rede über das Buch in einen Dialog über dessen Ursprung und Titel und schließlich einen Dialog, in dem sich die Begegnung zwischen Seele und Minne im Wort vollzieht, übergehen. Zunächst verheißt eine rote Überschrift: „Dis bůch sol man gerne enpfan, wan got sprichet selber dú wort“ (I P 1; 18, 1f.; Abb. 3: Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Cod. 277, f. 3v):

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Eine zweizeilige rote Lombarde leitet den Kapitelbeginn ein. Die Rede selbst hebt an mit dem Modell des Boten, der doch in diesem Fall wie der absolute Mediator Christus ein Bote ist, in dem Sender und Botschaft zumindest als teilidentisch gedacht werden sollen: „Dis bůch das sende ich nu ze botten allen geistlichen lúten beidú bösen und gůten“ (18, 3f.). Was schon die vorangegangenen Teile prägte, kommt auch hier zur Geltung: eine Wiederholungsfigur, die zugleich Differenzen setzt. Die deiktische Formulierung „dis bůch“, die kurz darauf noch ein drittes Mal fällt, erzeugt eine selbstreferentielle Schleife zwischen Text und Codex und bindet zugleich Außenund Innenperspektive zusammen: zunächst die Ankündigung göttlicher Worte, dann die göttliche Artikulation selbst, beide enggeführt und doch nicht gleichgesetzt. Menschliche Rezeption und göttliche Produktion zeigen sich chiastisch aufeinander bezogen: Wo die menschliche Instanz die göttlichen Ursprünge im Blick hat, geht es der göttlichen um die Aufnahme des Buches seitens der Menschen. So ist einerseits in den menschlichen Anfang der Rede deren göttlicher Ursprung eingeschrieben, andererseits dieser von vornherein mit einer Referenz auf das Humane versehen. Was das Buch sei: ein Fundament des Glaubens, was sein Gegenstand sei: allein Gott selbst und seine „heimlichkeit“, wie es zu Wirkung gelange: durch neunmaliges Lesen – all dies wird hier zu Beginn nicht einfach von einer Sprecherin konstatiert, sondern als Teil der göttlichen Selbstoffenbarung präsentiert.14 Es zeigt sich „eine absolute 14

Zusammenfassendes Forschungsreferat zu dieser vieldiskutierten Stelle im Kommentar zur Ausgabe von Vollmann-Profe (Anm. 11), S. 702–704. Zur Heimlichkeit vgl. Marianne HeimbachSteins: Gottes und des Menschen ,heimlichkeit‘. Zu einem Zentralbegriff der mystischen Theologie Mechthilds von Magdeburg. In: Contemplata aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität. Hrsg. von Claudia Brinker. Bern u. a. 1995, S. 71–86; Bardo Weiss: Die deutschen Mystikerinnen und ihr Gottesbild. Bd. 1: Das Gottesbild der deutschen Mystikerinnen auf dem Hintergrund der Mönchstheologie. Paderborn 2004, S. 57–61.

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schöpferische Instanz, die im Akt des Sprechens das Buch und mit dem Buch sich selbst vergegenwärtigt. [...] In diesem Sinne ist das Buch das fließende Licht, der Vorgang der literarischen Inkarnation Gottes selbst.“15 Zugleich ist die Selbstoffenbarung Gottes eine, die sich performativ im Laufe des Textes entfaltet: Die Gottesrede des Anfangs erweist sich als Vorgabe für das Kommende. Ihre einzelnen Sätze werden später wörtlich in anderen Kapiteln wiederkehren. So ergibt sich gleichzeitig eine Abgeschlossenheit des Buches und eine Offenheit von dessen Vollzug.16 Oder anders gesagt: ein gleichzeitig buchhafter und das Buchhafte überschreitender Charakter der Offenbarungen. Die Überschreitung erfolgt gleich eingangs durch eine Wiederholung, die keine bloße Wiederholung ist, sondern selbst zur Figur der Gottesbeziehung wird: Die Wendung vom neunmaligen Lesen, durch das die „heimlichkeit“ Gottes erst zur Wirkung gelange, begegnet am Textanfang bereits zum dritten Mal, nachdem sie zuvor jeweils auch im lateinischen und im volkssprachigen Prolog gebraucht worden war. Gott selbst in den Mund gelegt, ermöglicht sie es nun, den vorherigen Leseanweisungen eine neue Dignität zu verleihen. Zugleich bringt sie aber schon durch ihre Position das trinitarische Muster zum Vorschein, als dessen Entfaltung wiederum auch das neunmalige Lesen erscheinen kann. Im zweiten volkssprachigen Prolog versichert sich dann das sprechende Subjekt bei Gott selbst der nicht-menschlichen Urheberschaft des Buches, das als Gabe begriffen wird. Und es versichert sich auch des Titels des vorliegenden Werkes und dessen unmittelbarer Kommunikation mit den reinen Seelen: „Es sol heissen ein vliessende lieht miner gotheit in allú dú herzen, dú da lebent ane valschheit“ (18, 12f.). Die Benennung ist hier nicht bloße Bezeichnung. Sie gibt den Akt an, ja geht syntaktisch in den Akt über, in dem das Bezeichnete von der Buch- zur Herzenskommunikation wechselt, einer Herzenskommunikation, die sich im Dialog entfaltet – in dem die Seele die zeitlose trinitarische Gottheit auf eigentümliche Weise temporalisiert: „Vro minne, ir hant manig jar gerungen, e ir habint die hohen drivaltekeit dar zů betwungen, das sú sich alzemale hat gegossen in Marien demFtigen magetům“ (18, 21–23). Genau diese ungewisse, zwischen Sündenfall und Inkarnation liegende Zeitspanne wird in einem späteren Kapitel wieder aufgenommen, wenn die durch den Sündenfall befleckte Seele sich verzweifelt an die Gottheit wendet: „Do schrei dú sele in grosser vinsternisse manig jar nach irem liebe mit ellender stimme“ (178, 18f.). Das Schreien ist Ausdruck eines qualvollen Vergehens von Zeit, das zugleich Stillstand auf der Achse der Heilsgeschichte 15

16

Christa Ortmann: Das Buch der Minne. Methodologischer Versuch zur deutsch-lateinischen Gegebenheit des ‚Fließenden Lichts der Gottheit‘ Mechthilds von Magdeburg. In: Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert. Hrsg. von Gerhard Hahn, Hedda Ragotzky. Stuttgart 1992 (Kröners Studienbibliothek 663), S. 158–186, 179, 172. Genauer zu den Tautologien und Paradoxien, die dabei entstehen, Cornelia Herberichs: Ereignis und Wahrheit. Authentisierungsstrategien inspirierter Rede in Mechthilds von Magdeburg ‚Das fließende Licht der Gottheit.‘ In: Das Authentische. Referenzen und Repräsentationen. Hrsg. von Ursula Amrein. Zürich 2009, S. 275–292.

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bedeutet: eine „lange not“ im Niemandsland zwischen denen, die vorausgesagt haben, wie es kommen wird, und dem, der die Voraussage einlösen wird. In diesem Niemandsland erfährt die Seele eine Transgression ihrer eigenen Zeitlichkeit.

III. Das angesprochene Kapitel trägt die rote Überschrift „Von dem angenge aller dingen, die got hat geschaffen von minnen“ (174, 9f.). Es ist das 9. des 3. Buches, wodurch sich die im Folgenden auch gleich genannte Dreifaltigkeit in einer weiteren internen Steigerungsfigur auch auf der Ebene des Buches manifestiert. Überdies erweist sich das Kapitel als eng verzahnt mit dem dreimal geforderten neunmaligen Lesen aus den Prologen und mit der dort aufscheinenden theologischen Systematik. Im lateinischen Index rerum führt gleich der zweite Eintrag unter dem ersten Stichwort de trinitate auf das Kapitel III, 9. Der erste führt auf das Kapitel II, 3, in dem die Seele eine Art Simultanbild der Heilsgeschichte wahrnimmt – in „der ewekeit, als es nu ist und iemer wesen sol“ (80, 13f.). Das Bild zeigt die thronende Trinität, von der vier Pfeile herab die neun Engelschöre treffen, Maria als Moschusgefäß, in dem Christus sich neun Monate aufhielt, zur Linken des Vaters, Christus selbst zur Rechten, mit blutenden Wunden, die den Gedanken evozieren an das Kleid, das er nach dem Gericht anlegen wird: ein Kleid, „wie es noch nicht geschaut wurde, es sei denn Gott zeigte es, noch bevor es entstand“. An diesem Ende der Zeiten, das sich mit dem Anfang zusammenschließt, „wird der ungeschaffene Gott alles Geschaffene neu machen, so neu, daß es niemals altern kann“. Diese Zeitparadoxie übersteigt das menschliche Denken und Sprechen: „Nu gebristet mir túsches, des latines kan ich nit“ (82, 24f.). Zugleich fordert sie zu immer neuen Versuchen des Verstehens und Sichvorstellens heraus, zu einer immer neuen Rückkehr zu den unsagbaren Anfängen und Enden. Im angesprochenen Kapitel III, 9 geht es um die beiden großen Krisen der Heilsgeschichte, die die Theologen seit der Patristik intensiv beschäftigt hatten: den Engelsturz und den Sündenfall. Seit dem hohen Mittelalter gab es dafür als Erklärungsmodell das Consilium trinitatis, die Beratung der drei göttlichen Personen über zunächst die Erschaffung, dann die Erlösung des Menschen. Damit war dem theologischen Dogma von der gleichwertigen Beteiligung der Trinität am Heilsgeschehen mythische Prägnanz und dramatische Wirkung verliehen, zugleich der Ursprung des alten wie des neuen Menschen noch über das Schöpfungs- bzw. Inkarnationsgeschehen zurück in den Schöpfungs- bzw. Inkarnationsentschluss hinein verlagert.17 17

Zur Tradition Friedrich Ohly: Die Trinität berät über die Erschaffung des Menschen und über seine Erlösung. In: PBB 116 (1994), S. 242–284; zur mythischen Dimension Christian Kiening: Arbeit am Absolutismus des Mythos. Mittelalterliche Supplemente zur biblischen Heilsgeschichte. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Udo Friedrich, Bruno Quast. Berlin/New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2), S. 35–57.

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Das ist auch genau das, was im Fließenden Licht im Zentrum steht. Hier allerdings nicht als mythisierende narratio, sondern als dialogisierendes Wechselspiel zwischen den göttlichen Personen wie zwischen der Seele und Gott, als szenische Vergegenwärtigung, gebunden an die Wahrnehmung des menschlichen Subjekts: Ich unwirdiger mensche danken dir aller trúwe, da du mich mitte hast gezogen usser mir selber in din wunder also, herre, das ich in diner ganzen drivaltekeit han geh=rt und gesehen den hohen rat, der vor unser zit ist geschehen, do du, herre, were besclossen in dir selben alleine (174, 11–15).

Das Subjekt wird also zurückversetzt an die Anfänge der Anfänge und erlebt synästhetisch jenen Moment mit, in dem die creatio ex nihilo ihren Ursprung hat. Das Augenmerk gilt dabei mehr den Gesprächen und Reden als den Handlungen und Ereignissen. Der Engelsturz wird gar nicht erzählt, sondern nur dahingehend kommentiert, dass, auch wenn es ihn nicht gegeben hätte, der Mensch doch hätte erschaffen werden müssen. Die Situation im Paradies wird skizziert, vor allem aber hinsichtlich ihrer Konsequenzen für die menschliche Leiblichkeit gedeutet: „als sie die verbotene Speise gegessen hatten, da wurden ihre Leiber so verunstaltet, daß man sich ihrer schämen muß. So ist es noch immer um uns bestellt.“ (176, 35–37) Auf diese Weise gibt es eine Spannung zwischen Providenz und Kontingenz: Vater und Sohn wissen, was kommen wird (176, 7f.: „Alleine ich grosses jamer vorsihe“; 176, 17: „du weist es wol, ich sol noch sterben“), und lassen sich doch auf die Erschaffung des Menschen ein, auch wenn nicht gesagt wird, dass das beginnen ein gutes Ende nehmen wird. So scheint zwar in Gott alles schon abgeschlossen zu sein, aber diese Abgeschlossenheit sich außerhalb von Gott noch nicht manifestieren zu können. Die durch die aufeinanderfolgenden Ratschlüsse charakterisierte Zeitlichkeit des göttlichen Plans scheint immer wieder durch das Faktische konterkariert zu werden. Immer wieder steht dem Soll- ein diametral abweichender Ist-Zustand gegenüber: „Die vollkommen reine Speise, die ihnen Gott im Paradies zugedacht hatte, die sollte ihren Leib in großer Heiligkeit bewahren. Als sie aber die falsche Speise, die ihrem reinen Leib nicht ziemte, gegessen hatten, wurden sie so ganz vom Gift erfüllt, daß sie die Reinheit der Engel verloren“.18 Aus den Verfehlungen resultieren Abweichungen vom ursprünglichen Plan, die gleichwohl auf einer höheren Ebene als dessen Erfüllungen erscheinen sollen, ohne dass aber diese Erfüllungen, da sie auf eine noch unverfügbare Zukunft bezogen sind, schon als solche formuliert werden könnten. Der im Text entworfene Zustand ist auf diese Weise geprägt durch eine genuin anthropologische Zeitlichkeit, gekennzeichnet durch die Zentralmomente von Lapsus und Inkarnation. Er wird aber seinerseits überwölbt durch eine kontinuierliche Beteiligung des Menschen am göttlichen Geschehen, die auch das Kontingente als nur scheinbar 18

FL 178, 12–16: „Dú vil reine spise, die inen got hatte gelobt in dem paradyse, die solte in grosser helikeit mit iren lichamen bliben. Mer do si die ungenemen spise, dú nit fůgte irem reinen libe, hatten gessen, do wurden si der vergift so vol gemessen, das si verluren der engele reinekeit.“

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kontingent ausweist – obschon sie dem Menschen seine Entscheidungsfreiheit bewahrt. Die ganze Schöpfung, so wie sie hier präsentiert wird, die „dinge“, von denen in der Überschrift die Rede ist, geschehen um seinetwillen. Ebenso die Erlösung – die wiederum ihren vorweggenommenen Ausdruck in jener Erfahrung findet, welche die Seele im Rückblick machen darf. Das Kapitel schließt mit dem Bericht von der „sch=ne[n] processio“ der Trinität vom Himmel herab in das „templum salomonis“, wo der allmächtige Gott „nún manode ze herberge wesen“ (FL 180, 15–17) wollte. Zeitliches Fortschreiten („processio“) und typologische Überzeitlichkeit konvergieren hier am Ende in einem Zeitraum (neun Monate), der zugleich das christologische Werk mit dem vorliegenden Werk verknüpft. Doch, wie es ist mit Anfängen? Sie sind nicht zu bewahren. Sie sind gebunden an die Visionen, in denen sie geschaut und miterlebt werden, und eben deshalb immer wieder zu erneuern. So kehrt der Text mehrfach zum gleichen Szenario zurück. Das 14. Kapitel des 4. Buches widmet sich erneut der Trinität. Anklingend an die Johannesapokalypse schaut die Seherin die ewige Dreifaltigkeit, erkannt ihrerseits von den Engeln, denen doch die menschliche Natur Christi noch vorenthalten ist: Sie begreifen ihn als „unbegunnen wisheit“ und werden Zeugen, ja Medien des Anfangs. Gabriel bringt den Namen Jesu mit dem englischen Gruß vom Himmel auf die Erde, nicht aber die Leiblichkeit des Sohnes: „Die zweite Person war immer der ewige Sohn. Obwohl er die Menschennatur noch nicht angenommen hatte, war er immer unser und wurde uns (doch) nie geschenkt, bevor Gabriel die Botschaft brachte. Hätte ebendiese zweite Person vor der Botschaft um unserer Erlösung (im Fleisch) willen existiert, so müßte sie einen Anfang haben; das war nie der Fall.“19 Die Aussage ist nicht ganz leicht zu erschließen; schon der Schreiber oder die Schreiberin der Handschrift hatte Mühe damit.20 Ich verstehe sie so: Würde Christus als Erlöser der Menschheit schon vor der Inkarnation existieren, hätte er insofern einen Anfang, als er an die Geschichte der Menschheit gebunden wäre, die mit dem Sündenfall ihre Unsterblichkeit verlor. Eben dieser Sündenfall ist, wie im Folgenden ausgeführt ist, der Ursprungspunkt der Differenz zwischen Mensch und Gott, die zuvor nach der Schöpfung durch das Wirken der Trinität eins geworden waren: „Die selbe ander persone was ein nature worden mit Adames menscheit, e er sich verb=sete mit den súnden“ (268, 5–7). Die Trinität soll also einerseits als zeitfrei-ewig gedacht werden, andererseits eine Geschichte haben, die Anfänge und Peripetien besitzt. Der Mensch wiederum soll einerseits diese Anfänge und Peripetien als zentrale Momente begreifen, an denen sich 19

20

FL 268,1–5: „Die ander persone das was ie der ewige sun. Alleine hette der die menscheit noch nit angezogen, was er ie únser und wart úns nie gegeben, e Gabriel die botschaft tet. Were die selbe ander persone vor der botschaft vleisch gewesen dur úns ze l=sende, so mFste ir ein beginne wesen; das geschach nie.“ In der Handschrift fehlt an der zitierten Stelle das Wort „vleisch“, steht statt „gewesen dur úns“: „dur úns gewesen“ und statt „ir ein beginne“: „er ein beginne“; zu den damit verbundenen Problemen vgl. den Kommentar zur Ausgabe von Vollmann-Profe (Anm. 11), S. 780f.

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ihm die Heilsgeschichte zeigt, andererseits in Form der Vision an jenem Zusammenhang teilhaben, der die Bedingung der Möglichkeit seiner eigenen Zeitlichkeit darstellt. Diese wird zugleich durch die Beteiligung am Ursprungsgeschehen transzendiert, weil der Mensch „mit seiner ganzen Natur Anteil an der heiligen Dreifaltigkeit“ hat. Die Anfänge werden solchermaßen je neu gesetzt, vermittelt u n d überspielt – letzteres etwa dadurch, dass im Ursprung Hervorgehen und Hervorgegangenes als gleichzeitig gedacht werden sollen. Explizit greift Mechthild dies in Buch 6, Kapitel 31 auf. Sie stellt eine Reihe von Fragen. „Wo war Gott, bevor er irgendetwas schuf? Er war in sich selbst und ihm waren alle Dinge gegenwärtig, wie sie heute sind.“ Wie war er? Wie eine Kugel ohne Tür und Schloss, in die alle Dinge eingeschlossen waren und deren Umfang, einem alten philosophischen Diktum gemäß, unendlich ist. Was passierte im Zuge der Schöpfung? Die Kugel blieb, wie sie ist, doch alle Kreaturen traten in ihrer Eigenständigkeit in Erscheinung: „an in selben offenbar“ (494, 29f.). Das entscheidende Stichwort ist „minne“: diejenige Gottes, die alles schuf, diejenige des Menschen, die alle Erkenntnis und Erfahrung überhaupt erst ermöglicht. Das schlägt einen Bogen zurück zu jenem Kapitel des 3. Buches, das überschrieben war: „Von dem angenge aller dingen, die got hat geschaffen von minnen“ (174, 9f.), und in dem das göttliche „beginnen“ sich binnenreimend mit der „minnen“ verband (176, 18f.). Zugleich aber wird die dort entworfene Zeitparadoxie nunmehr mit einer ihrerseits paradoxen Raummetaphorik verknüpft.

IV. Hier lässt sich innehalten. Das Fließende Licht der Gottheit umkreist Anfänge, die als solche unverfügbar sind, aber in der Vision und letztlich dann auch in der Schrift verfügbar werden. Diese Doppelung zwischen einer Teilhabe am Uranfänglichen und dessen Vermittlung in der Schrift ist wesentlich für die Anlage des Textes. Den Kern der jeweiligen Szenen bildet der Gedanke, der Mensch selbst sei Teil der göttlichen Anfänge, auf die wiederum das Buch zurückzuführen vermöge. Das wird entfaltet in der Spannung zwischen einer göttlichen und einer menschlichen Schriftlichkeit. Sie artikuliert sich nicht zuletzt in jenen Passagen, in denen die pointierten Buchaussagen des Prologs sich spiegeln.21 In dem Kapitel, in dem die Rede des Anfangs – „Dis bůch das sende ich nu ze botten allen geistlichen lúten beidú bösen und gůten“ – wiederkehrt, wird sie von Gott um die Aussage ergänzt: „dieses Buch ist mit meinem Herzblut geschrieben, das ich am Ende der Zeiten ein zweites Mal vergießen werde.“22 Auf diese Weise wird das Buch mit dem Inkarnations- und Passionsgeschehen identifiziert und zugleich als Vorgriff auf die Endzeit verstanden. In dem Kapitel aber, in dem die Wen21 22

Ebd., S. 702. FL 406, 13–15: „in disem bůche stat min herzeblůt geschriben, das ich in jungesten ziten anderwarbe giessen wil.“

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dung aus dem Prolog „das bůch (…) bezeichent alleine mich“ (136, 14f.) wieder auftaucht, geht es um die Materialität des Codex, seine Überlieferung und Sicherung. Eine sich andeutende Gefährdung des Buches wird durch den sich offenbarenden Gott aufgefangen. Er erscheint der Seele mit einem Buch in der rechten Hand – nicht dem des Lebens oder der Lehre, das Christus Pantokrator auf vielen bildlichen Darstellungen meist in der Linken hält, sondern dem vorliegenden Buch, dessen trinitarische Materialität Gott selbst auslegt: „Das Buch ist dreifaltig und verweist allein auf mich. Das Pergament, das es umschließt, bedeutet meine reine, klare, gerechte Menschennatur, die um deinetwillen den Tod erlitten hat. Die Worte bedeuten meine wunderbare Gottheit; sie fließen von Stunde zu Stunde aus meinem göttlichen Mund in deine Seele. Der Klang der Worte bedeutet meinen lebendigen Geist, und er wirkt aus sich selbst die unverfälschte Wahrheit.“23 Unterschieden ist damit zwischen drei Aspekten der Schrift: dem materiellen, dem inhaltlichen und dem performativen. Sie werden nicht einfach den drei göttlichen Personen zugeordnet, vielmehr als Aspekte der einen göttlichen Natur verstanden, Aspekte, die zugleich das Ganze der Zeit umschließen: das geschichtliche Geschehen des Opfers, das je neu gegenwärtige Ereignis unmittelbarer Kommunikation, das mit dem Geist verbundene Sich-Einstellen der Wahrheit. Menschwerdung und Buchwerdung erscheinen so aneinander gekoppelt. Die Allegorie des Buches führt vom Tod zum Leben und zugleich vom Körper des Buches zum Geist der Wahrheit. Sie impliziert mit der Wendung „von stunden ze stunde“ eine Zeitlichkeit, die einerseits die Konkretheit der monastischen Gebetsstunden aufruft, andererseits diese auf das Heilsgeschehen im Ganzen bezieht. Das Fließen, das sich kontinuierlich zwischen Gott und der Seele ereignet, ist Urbild und Modell dessen, was das immer wieder neu ansetzende und vom Lesenden immer wieder neu zu beginnende Fließende Licht der Gottheit als Buch ins Werk zu setzen versucht.

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FL 136, 14–21: „Das bůch ist drivaltig und bezeichent alleine mich. Dis bermit, das hie umbe gat, bezeichent min reine, wisse, gerehte menscheit, die dur dich den tot leit. Dú wort bezeichent mine wunderliche gotheit; dú vliessent von stunden ze stunde in dine sele us von minem gœtlichen munde. Dú stimme der worten bezeichenet minen lebendigen geist und vollebringet mit im selben die rehten warheit.“ Zur Stelle und ihrer Bildtradition auch Nigel F. Palmer: Das Buch als Bedeutungsträger bei Mechthild von Magdeburg. In: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und ihrer Funktion. Hrsg. von Wolfgang Harms, Klaus Speckenbach. Tübingen 1992, S. 217–234; Christian Kiening: Mystische Bücher. Zürich 2011 (Mediävistische Perspektiven 2).

Bruno Quast

Anfänge. Heinrich Seuses Vita als Dekonstruktion einer Aufstiegsbiographie

Die Heinrich Seuse zugeschriebene Vita, eine Autofiktion aus den 60er Jahren des 14. Jahrhunderts, von der man früher annahm, es handle sich um die erste Autobiographie in deutscher Sprache,1 ist aufgeteilt in einen narrativ gehaltenen ‚Seuse‘-Teil (Einleitung, I.–XXXII. Kapitel) und einen eher lehrhaft gehaltenen zweiten Teil (XXXIII.– LIII. Kapitel), der sich unter erneuter Aufbereitung von Szenen aus ‚Seuses‘ Leben mit der Unterweisung der Tösser Klosterschwester Elsbeth Stagel beschäftigt. Nach Ausweis der Vita war Elsbeth Stagel an deren Entstehung und Niederschrift – in welchem Umfang auch immer – beteiligt. Nachweislich unterhält der Eckhart-Schüler Seuse im Zusammenhang der den Dominikanern aufgetragenen cura monialium, der seelsorgerischen Unterweisung von Nonnen, einen intensiven Kontakt zur Priorin des Tösser Klosters. Die Vita Seuses gilt der Forschung heute als eine Art Handreichung, um im Kontext eben jener cura monialium ein exemplarisches Leben der Vervollkommnung vor Augen zu führen.2 Man hat bald die via triplex, das Dreistufen-Schema des geistlichen Weges, wie es sich etwa bei Bonaventura und Thomas von Aquin findet, als Strukturmuster der Vitenteile erweisen können. Diese via triplex, die den Anfang, das Voran1

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Stephanie Altrock, Hans-Joachim Ziegeler: Vom ‚diener der ewigen wisheit‘ zum Autor Heinrich Seuse. Autorschaft und Medienwandel in den illustrierten Handschriften und Drucken von Heinrich Seuses Exemplar. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150–1450. Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart u. a. 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 150–181, bes. 155, 167f., 174f., haben aufzeigen können, dass erst für die handschriftliche Überlieferung ein Interesse an der Verknüpfung des Exemplars mit dem Autornamen Seuse nachzuweisen ist. Dass es einen Autor mit Namen Seuse gegeben habe, ist ausschließlich im Prolog zum Exemplar im Augsburger Druck (Johann Othmar) von 1512 überliefert (vgl. ebd., S. 154). Werner Williams-Krapp: Nucleus totius perfectionis. Die Altväterspiritualität in der Vita Heinrich Seuses. In: Festschrift Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. von Johannes Janota. Bd. 1. Tübingen 1992, S. 407–421, bes. 418ff.; Ders.: Heinrich Suso's Vita between Mystagogy and Hagiography. In: Seeing and Knowing. Women and Learning in Medieval Europe. Hrsg. von Anneke Mulder-Bakker. Leiden 2004 (Medieval Women 11), S. 35–47.

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schreiten und die Vollendung des geistlichen Menschen beschreibt, präge sowohl den ‚Seuse‘- als auch den ‚Stagel‘-Teil der Vita. Der Prolog des so genannten Exemplars, einer von Seuse ins Werk gesetzten Versammlung mehrerer Schriften, darunter die Vita, kündigt die Applikation dieses Schemas in der Vita bereits an (3, 2–18). Daz erst seit úberal mit bildgebender wise von eim anvahenden lebene und git togenlich ze erkennen, in weler ordenhafti ein reht anvahender mensch sol den ussern und den inren menschen richten nah gotes aller liepsten willen. […] Es sait von aim zGnemenden menschen, wie er mit miden und mit lidenn und Fbenne einen durpruch sol nemen durch sin selbs unerstorben vichlichkeit hin zG grosser loblichen heilikeit. Wan och etlichú menschen sind, dero sin und mGt na dem aller nehsten und besten ze ervolgen ringet und in aber underschaides gebristet, da von sú veriert und verwiset werdent, hier umb git es vil gGten underschaid warer und valscher vernúnftekeit und lert, wie man mit rehter ordenhafti zG der blossen warheit eins seligen volkomen lebens sol komen (3, 2–18).3

In der Einleitung der Seuse zugeschriebenen Vita ist explizit vom Anfang die Rede. Von einem Prediger wird zu Protokoll gegeben, dass ihm Elsbeth Stagel aus dem Kloster Töss die Modalitäten seines Anfangs und seines Voranschreitens auf dem geistlichen Weg entlockt habe. „Wenn er zG ir kom, do zoch si im us mit heinlichen fragen die wise sines anvanges und fúrgangs und etliche Fbunge und liden, die er hat gehabt, dú seit er ir in g=tlicher heimlichi“ (7, 9ff.). Anfang und Voranschreiten, genauer „die wise sines anvanges und fúrgangs“ bilden also von vornherein das Zentrum der Vita.4 So plausibel die Übertragung der via triplex auf die Vita daherkommt, so deutlich stellen sich Irritationen ein, wenn man das Strukturmodell in seiner narrativen Entfaltung im ‚Seuse‘-Teil der Vita auf die Positionen des Anfangs und des Übergangs hin überprüft. Paul Michel lässt mit guten Gründen die Ausführungen zum anfangenden Menschen mit dem dritten Kapitel der Vita beginnen, in deren Zentrum die geistliche Vermählung des Dieners mit der ewigen Weisheit steht,5 Walter Blank bereits mit dem ersten Kapitel,6 in dem von einer schnellen Wendung, einer Abkehr von den bisherigen Lebensgewohnheiten die Rede ist. Beide Male ist im Text von einem Anfang die Rede. Kurt Ruh hält im Seuse-Kapitel seiner ‚Geschichte der abendländischen Mystik‘ beide 3 4

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Zitate nach: Heinrich Seuse: Deutsche Schriften. Hrsg. von Karl Bihlmeyer. Stuttgart 1907. Eine psychoanalytisch orientierte Lektüre der Vita findet sich bei Irmgard Gephart: Bilder einer ‚anfangenden‘ Seele. Innere Entwicklung in der Vita Heinrich Seuses im Spiegel seiner Visionen. In: ‚mit clebeworten underweben‘. Festschrift für Peter Kern zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Thomas Bein, Elke Brüggen u. a. Frankfurt/Main u. a. 2007 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung 16), S. 125–143. Paul Michel: Heinrich Seuse als Diener des göttlichen Wortes. Persuasive Strategien bei der Verwendung von Bibelzitaten im Dienste seiner pastoralen Aufgaben. In: Das „Einig Ein“. Studien zu Theorie und Sprache der deutschen Mystik. Hrsg. von Alois M. Haas, Heinrich Stirnimann. Freiburg/Schweiz 1980 (Dokimion 6), S. 281–367, 309 (Schema). Walter Blank: Heinrich Seuses Vita. Literarische Gestaltung und pastorale Funktion seines Schrifttums. In: ZfdA 122 (1993), S. 285–311, 289.

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Anfänge fest, er spricht mit Blick auf den erzählten Anfang des dritten Kapitels in Gestalt der geistlichen Vermählung diplomatisch „von einem anderen Anfang“7. Der Anfang des mystischen Vervollkommnungsprozesses entzieht sich offenbar einer Fixierung, die Vita spiegelt diese Problematik im Modus einer irritierenden, weil wiederholten textuellen Inszenierung von Anfang – und dies trifft in gleichem Maße auf den Übergang vom anfangenden zum voranschreitenden Menschen zu. In einem ersten Schritt versuche ich im Folgenden in einem close reading die textuellen Inszenierungen von Anfang und Übergang in der Vita zu veranschaulichen, um in einer daran anschließenden Überlegung die Problematik von Anfang und Übergang mit der bekannten Seuseschen Poetik zu konfrontieren, Bilder durch Bilder, „bild mit bilden“ (191, 9) auszutreiben. Ziel einer solchen Strategie ist die bildlose unio mit dem Göttlichen. Die Vielgestaltigkeit von Anfang und Übergang in Seuses Vita weist auf den KonstruktCharakter solcher Weg-Markierungen hin. Letztlich handelt es sich auch bei Anfang und Übergang um Bilder, die Seuse performativ auszutreiben sucht.

I. Der anfangende Mensch Wenn mit Blick auf den Protagonisten der Vita, den Diener, der Beginn des mystischen Weges in den Fokus genommen wird, spricht der Erzähler vom „erst anvang“ (8, 4) des Dieners und meint damit eine Lebenszäsur. Wie in anderen Viten stellt sich beim Diener durch göttliche Intervention eine abrupte Änderung ein, eine Abkehr von den Unruhe stiftenden äußeren Dingen hin zu einer inneren Sammlung. „Der erst anvang dez dieners beschah, do er waz in dem ahtzehendem jare“ (8, 4f.). Zu diesem Zeitpunkt hat der Diener bereits fünf Jahre im Inselkloster zu Konstanz zugebracht, der chronologische Beginn seines Klosterlebens liegt also längst hinter ihm. Die Rede vom ‚ersten Anfang‘ ist in sich paradoxal-tautologisch. Hier erweist sich bereits die Schwierigkeit, Anfang zu denken, erst recht offenbar den Anfang im Zusammenhang eines mystischen Lebenswegs zu fixieren. Der ‚erste Anfang‘ wird in Bilder einer Zähmung des „wilde[n] mGt[es]“ (9, 26) gekleidet. Eine im Ton summarisch gehaltene Vertikalperspektive (8, 4–8, 18) beschreibt die Änderung als göttlich verursachte „kere“ (8, 14), die das „wilde […] herz“ (8, 11) des Dieners befriedet. „Er hate alle zit ein widerbissen und konde doch im selb nit gehelfen, unz daz in der milte got dur von entledgot mit einem geswinden kere“ (8, 12ff.). Das Anfangen widerfährt dem Diener hier, menschliche Aktivität ist ausgeschlossen. Er leidet in Folge dieser „kere“ unter Anfechtungen, die sich auf die Intensität seines neuen Lebenswandels beziehen (8, 20–9, 25). So wird er durch feindliche Gedanken aufgefordert, Übertreibungen zu unterlassen. Doch die göttliche Weisheit steht ihm hilfreich 7

Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. Bd. 3: Die Mystik des deutschen Predigerordens und ihre Grundlegung durch die Hochscholastik. München 1996, S. 446.

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zur Seite, sie macht ihn darauf aufmerksam, dass es unmöglich sei, die Welt zu besitzen und zugleich Gott vollkommen dienen zu wollen. Der Vertikalperspektive steht eine gewissermaßen horizontale Perspektive auf das Anfangsgeschehen zur Seite. Des Dieners innere Ruhelosigkeit legt sich, als er sich in freiwillig gewählte Isolierung begibt. „Sin wilder mGt nam des ersten menges sterben von dem erbrechene, daz er tet von úpiger geselschaft“ (9, 26f.). Es ist hier nicht von ungefähr von „sterben“ die Rede, der Anfang des geistlichen Lebensweges im emphatischen Sinne geht bei dem Diener mit einem Vorgang des Beendens einher. Dem Anfang ist ein Ende eingeschrieben, das Ende figuriert als Anfang. Das Sterben des wilden Mutes geht auf die radikale soziale Selbsttransformation des Dieners zurück, auf das „erbrechen“, den Abbruch gesellschaftlichen Umgangs. Hier wird Anfangen als Fähigkeit imaginiert, von sich aus beginnen zu können. Formulierte die Vertikalperspektive des Anfangs – der Anfang als göttlich verursachte „geswinde kere“ – innere Anfechtungen des Dieners, kommen im Fall des abrupten Rückzugs äußere Anfechtungen zum Tragen. Underwilent, so er zG in kom, so Gptan sú in mit s=lichen worten. Eine sprach also: ‚waz sunder wise hast du dich an genomen?‘ Der ander sprach: ‚ein gemein leben weri daz sicherst‘ Der dritte seite: ‚es nimet niemer gGt ende‘ (9, 31–10, 1).

„kere“ und „erbrechen“ sind beides Figuren einer Abruptheit, einmal handelt es sich um eine verfügte Abruptheit, ein ander Mal um eine selbst gewählte. Durch den Aspekt des Wilden („wildez herz“ 8, 11; „wilder mGt“ 9, 26) werden Vertikal- und Horizontalperspektive des Anfangs unmissverständlich aufeinander bezogen. Dem Befrieden des wilden Herzens (Vertikalperspektive) und Sterben des „wilden mGtes“ (Horizontalperspektive) schließen sich zudem jeweils Anfechtungen an. Der Multiperspektivität des Anfangs korrespondiert eine Sequenzialisierung, der Anfang wird in anderer Perspektivierung wiederholt, in zeitlicher Hinsicht zerdehnt. Die Inszenierung des Anfangs lässt offen, welcher Perspektive zeitlich gesehen die Priorität einzuräumen ist. Auch schweigt sich der Text aus über kausale Ableitbarkeit etwa in dem Sinne, dass sich der abrupte Rückzug des Dieners als Folge der göttlich verfügten „kere“ ausnehme. Folgt man dem Fortgang der Erzählung, wird man indes die göttlich verfügte abrupte Abkehr als Initialgeschehen ansetzen müssen. Jedenfalls wiederholt sich – erzählerisch beleuchtet – der Anfang unter veränderter Perspektive. Ob nun eher Zerdehnung oder Wiederholung, die erzählerische Inszenierung des Anfangs in der Vita dokumentiert performativ die Schwierigkeiten, über den Anfang im Allgemeinen und den Anfang des mystischen Prozesses im Besonderen zu sprechen. Wie sich Anfang als verfügtes Ereignis (Vertikalperspektive) und Anfang als menschliches Handlungsvermögen (Horizontalperspektive) zueinander verhalten, bleibt offen. Zur Signatur der Schwierigkeit, über den Anfang zu schreiben, wird in diesem Zusammenhang ein Hinweis des Dieners auf ein anderes Buch, Seuses Büchlein der ewigen Weisheit, das den Anfang seiner liebenden Vereinigung mit der ewigen Weisheit beschreibe. „Aber wie daz des ersten gewunni einen anvang, daz mag man merken an

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sinem bFchlin der wisheit in tútsch und in latin, dú got dur in hat gemachet“ (11, 23– 26). Hier wird der Anfang über eine Leerstelle konstruiert, über einen lapidaren Verweis, als ob es einer Explikation nicht bedürfe. Angesichts des zweifachen Anlaufs in Gestalt von Vertikal- und Horizontalperspektive, den Anfang des mystischen Prozesses zu beschreiben, nimmt sich dieser lakonische Verweis nur auf den ersten Blick merkwürdig aus. In Wahrheit zeugt er davon, dass ein Anfang nicht bestimmt werden kann, dem uneinholbaren Anfangsgeschehen eine Verschiebungsdynamik eingeschrieben ist. Und obwohl er den Anfang seiner Minne zur ewigen Weisheit nicht entfalten will oder kann, indem er auf eine Anfangsbeschreibung im Büchlein der ewigen Weisheit verweist, setzt er unumwunden an, genau diesen oder zumindest einen Anfang zu explizieren. Hier wird also ein performativer Selbstwiderspruch inszeniert, ohne den die Rede vom Anfang offenbar nicht auskommt. Sich ausschließende Modi des Anfangens – Anfang als Verfügung und Anfang als Handlungsvermögen –, Anfang als Wiederholung, als Leerstelle, als performativer Selbstwiderspruch: Dies sind die auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelten textuellen Konfigurationen, die zum einen den entgleitenden Anfang des Textes der Vita markieren und zum andern den nicht minder fokussierbaren Anfang des mystischen Prozesses konturieren. Die soziale Isolierung als bewährte Gestalt asketischer Selbsttransformation reicht nicht aus, das „junge[.] wilde[.] herz“ (12, 14) des Protagonisten zu besänftigen. In Tischlesungen hört er, der „von jugent uf ein minneriches herz“ (11, 27) in sich trägt, von der hohen Minnenden, gemeint ist die weiblich gezeichnete ewige Weisheit, wie sie in den Weisheitsbüchern des Alten Testaments auftritt. Zu ihr, von der er „als gr=ssú wunder h=r sagen“ (12, 13f.), außergewöhnlich Wunderbares zu Gehör bekommt, fasst er zunächst eine auf Hörensagen beruhende Fernminne. Es kommen Zweifel auf, ob er sich die geeignete Geliebte ausgesucht hat, und erst als er sich entschieden hat, in ihren Dienst einzutreten – „ich wil ir diener sin“ (14, 3f.) – und sich die Frage stellt, wie die Gestalt der Dame denn nun beschaffen sei, schenkt sie ihm Gewährung. Sie zeigt sich ihm als sich stetig verändernde Gestalt – „So er iez wande haben ein sch=n jungfrowen, geswind vand er einen stolzen jungherren“ (14, 18f.) –, Eindeutigkeit herrscht nur mit Blick auf ihren Wesenszug des ungetrübten Minnens. „Sie bot sich zG im minneklich und grGzte in vil lechelich und sprach zG ime gFtlich: ‚Prebe, fili, cor tuum mihi! Gib mir din herz, kind mins!‘“ (14, 21ff.) Dem Wunsch, die Geliebte zu umfangen, begegnet die Geliebte, indem sie sich seiner Seele eindrückt. Die Minne zwischen dem Diener und seiner Geliebten wird in einem mutterschaftsmystisch vorgeprägten bildlichen Vergleich festgehalten, der aber bezeichnenderweise nicht zuletzt den Lebensanfang fokussiert, im Bild der das Jesuskind tragenden Mutter, die den sich emporstreckenden Säugling, ihn mit den Armen umfangend, auf dem Schoße stehen hat. Der Anfang des mystischen Weges wird also über eine literarische Schematik vermittelt – Fernminne, Verborgenheit der Dame, sich Zeigen der Dame und gegenseitiges Umfangen –, die den mystischen Prozess in bekannte Bilder bannt, das Moment des Anfangs wird aber

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wachgehalten durch die mutterschaftsmystische8 Perspektivierung der Minnebeziehung. Wenn etwas den sequenzialisierten ‚ersten Anfang‘ des Dieners der ewigen Weisheit zusammenspannt – die multiperspektivisch in Szene gesetzte abrupte Änderung, die inneren und äußeren Anfechtungen sowie die Minnebegegnung zwischen göttlicher Weisheit und dem Minnediener –, dann ist es die Wildheit des anfangenden Menschen („wildez herz“ 8, 11; „wilder mGt“ 9, 26; „jungez wildes herz“ 12, 14), die es abzulegen bzw. zu transformieren gilt. Die folgenden Kapitel der Vita bieten Tröstungen, mit denen Gott „etlichú anvahendú menschen reizzet“ (17, 13f.). So wird dem Diener etwa ein visionärer Einblick in das Minnespiel zwischen Gott und minnender Seele gewährt (20, 10–23) oder er wohnt dem Tanz der Engel bei (21, 26ff.). Um den Anfangsmoment des mystischen Prozesses zu betonen, wird beschrieben, wie der Diener die Feste des beginnenden Jahres begeht: Neujahr (VIII. Kapitel: „Wie er begie daz ingend jor“), Lichtmess (X. Kapitel: „Wie er begie die liehtmiss“), Fastnacht (XI. Kapitel: „Wie er begie die vasnaht“) und den Maibeginn (XII. Kapitel: „Wie er begie den meigen“). Mit Kapitel XIII setzen leidensmystisch imprägnierte Erfahrungen des Dieners ein. Got der hat in an der ersti vil zites verwennet mit himelschem troste, und waz dar inn so gar verliket: waz die gotheit an horte, daz waz im lustlich, so er aber únsers herren marter solte betrahten und sich dar in mit nachvolge solt geben, daz waz im swer und bitter (34, 4–8).

Die Zeit anfänglicher Verwöhnung durch himmlische Tröstungen mündet in ein verligen (vgl. 34, 5), denn der Diener der ewigen Weisheit tut sich schwer mit der Nachfolge Christi. In dieser womöglich dem verligen des höfischen Romans nachgebildeten Szene wird ihm die Erkenntnis zuteil, dass der leidende Christus das Tor ist, das durchschritten werden muss, um rechte Seligkeit zu erlangen. „Du mGst den durpruch nemen dur min gelitnen menscheit, solt du warlich komen zG miner blossen gotheit“ (34, 11f.). Fortan beginnt er mit etwas Neuem, er fängt an zu lernen, was er vorher nicht konnte, heißt es im Text. Allnächtlich ahmt er nunmehr die Passion Christi in imaginativer Praxis9 nach, durchwandert dabei Kapitelsaal und Kreuzgang des Konstanzer Inselklosters, die ihm zu Stationen des biblischen Passionsgeschehens werden, um sich im Chor auf der Kanzel im Angesicht eines Kruzifixes in Form von exzessiven Selbstgeißelungen mit Christus ans Kreuz zu nageln.10 Es folgen äußere Übungen, der Diener setzt sich 8

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10

Zur Mutterschaftsmystik vgl. Brigitte Zierhut-Bösch: Ikonografie der Mutterschaftsmystik. Interdependenzen zwischen Andachtsbild und Spiritualität im Kontext spätmittelalterlicher Frauenmystik. Freiburg u. a. 2008. Otto Langer: Memoria passionis. Spirituelle Praktiken und ihre Grenzen. Zu Heinrich Seuses Passionsmystik reiner Innerlichkeit. In: Wahrnehmen und Handeln. Perspektiven einer Literaturanthropologie. Hrsg. von Wolfgang Braungart u. a. Bielefeld 2004 (Bielefelder Studien zu Linguistik und Literaturwissenschaft 20), S. 57–74, 62–69. Vgl. hierzu Arnold Angenendt: Die Liturgie bei Heinrich Seuse. In: Vita Religiosa im Mittelalter. Festschrift für Kaspar Elm zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Franz J. Felten, Nikolas Jaspert. Berlin 1999 (Berliner historische Studien 31; Ordensstudien 13), S. 877–897, bes. 885f.; Harald Hafer-

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über Jahre – von fünfundzwanzig Jahren ist die Rede (46, 1) – härtesten asketischen Praktiken aus, die ihn an den Rand des Todes bringen. All dies wird unternommen „dur ungemach sines zartsGchendes libes“ (46, 3f.), seinem Behagen suchenden Körper zu Leide. Dieser Phase seines Lebens, die mit systematischem Entzug von Flüssigkeit einhergeht, wird schließlich wiederum durch göttliche Intervention ein Ende gesetzt. Etwas in seiner Seele spricht ihn hier erstmals als Ritter an – „hab gGten mGt […], frume riter“ (48, 21f.) – und nötigt ihn mit Blick auf eine künftige göttliche Begebenheit zu lachen – „ze lachene uf ein g=tlich kúnftig aventúre, dú im kúrzeklich von got werden s=lte“ (48, 26f.). Über die Anrede als Ritter wird auf ein Ereignis hingewiesen, das sich bald einstellen wird, die Investitur zum Ritter (55, 16ff.). Doch noch haben die selbst zugefügten Leiden kein Ende genommen. Erst ein göttlicher Gnadenerweis von besonderer Dignität sorgt dafür, dass der Diener von den asketischen Praktiken ablässt. Maria erscheint ihm und lässt ihn aus ihrem Herzen trinken, so wie Johannes Chrysostomus als Schüler, beeilt sich der Text explikativ hinzuzufügen, den Milchstrahl einer sich verlebendigenden Madonnenskulptur empfangen durfte (50, 18–30). Auf diese Weise wird dem Diener der fortdauernde Durst genommen, der hier exemplarisch für eine langwährende Zeit der äußeren Übungen steht. Es ist bezeichnend, dass Anfang und Ende dieser ersten Phase des mystischen Lebensweges – der Diener als Minnender auf dem Schoß der ewigen Weisheit (15, 10–15) und Marias Milchspende an den Diener (49, 25–51, 4) – den Status des Dieners als Säugling festklopfen: Der Anfang verstetigt sich. Die Leidensphase wird abgeschlossen durch eine einem Gottesfreund bereitete Vision, in der Christus als Arzt den Diener vollständig mit frischem Blut bestreicht, um dessen ausgezehrten Körper mittels dieser Minnezeichen aus Blut einer Genesung zuzuführen. Das Blut Christi und die Milch Marias wirken sich im geistlichen Sinne heilsam auf die Befindlichkeit des Protagonisten aus. Das Zeichnen des Körpers mit Blut, die Bluttaufe, geht mit einer Äußerung Gottes einher, die die Schöpfung des ersten Menschen anklingen lässt: „ich wil einen menschen us im machen nah allem minem herzen“ (52, 4f.)11. Die Gesundung des Dieners entspricht einer zweiten Schöpfung. Der Diener befindet sich zu diesem Zeitpunkt in seinem vierzigsten Lebensjahr. Hier tritt eine Wende ein, er lässt von einem „Fbig leben“ (52, 6), einem übungsreichasketischen Leben, ab, das sich auf den äußeren Menschen gerichtet hat. Was er bislang erlebt hat, ist ihm ein „gGter anvang und ein durprechen sines ungebrochen menschen“ (53, 2). Legt man das Schema des höfischen, näherhin des arthurischen Romans zugrunde, dann hat die Diener-Figur bisher die Phasen des Minnedienstes, des krisenhaften verligens und der Bewährungsübungen hinter sich. Aber das alles nimmt sich als Anfang aus und auch der „durpruch“ (34, 11), die Askeseübungen, die man ja als Wende oder Fortschritt werten könnte, werden als „heilige[r] anvang“ (53, 16) gewertet.

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land: Heinrich Seuse und die Apophthegmata patrum. Psychodynamiken der Askese. In: Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke, Julia Weitbrecht. Berlin/New York 2010 (Transformationen der Antike 14), S. 223–247, 237f. Vgl. Gen 1, 26: „et ait faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram.“

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II. Die Wende – ein zweiter Anfang Die Wende um das vierzigste Lebensjahr herum wird wiederum in verschiedene Bilder des Anfangs gekleidet. In einer Vision fordert ein Jüngling den Diener auf, die niedere Schule zu verlassen und in die „h=hst[e] schGle“ (53, 14) einzutreten, um dort die „h=hst[e] kunst“ zu lernen und den „heiligen anvang zG eim seligen end [zu] bringen“ (53, 15f.). Ziel des Lernens in der Schule der Fortgeschrittenen ist die Einübung rechter Gelassenheit, „ein genzú, volkomnú gelassenheit sin selbs“ (54, 2f.). Neben dem Schulübertritt wird das Bild der Ritterinvestitur bemüht. Ein Jüngling bringt dem Diener in einer Vision Ritterschuhe und -kleidung, legt ihm die Ritterkleider an und fordert ihn auf: „‚bis riter! Du bist unz her kneht gesin, und got wil, daz du nu riter siest‘“ (55, 25f.).12 Der Diener wundert sich über den abrupten Wechsel in den geistlichen Ritterstatus, wenn er bemerkt, dass es ihm lieber gewesen sei, durch Kampf zum Ritter zu werden (vgl. 55, 30–56, 1). Der Jüngling tröstet ihn mit dem Verweis, dass der geistliche Ritter im Vergleich mit den berühmten Helden der weltlichen Erzählungen ungleich mehr an Bedrängnis zu gewärtigen habe (56, 3–6). Dem geistlichen Ritter, in diesem Kontext als „suger“ (57, 17), als Säugling, ausgewiesen, wird ein so entbehrungsreicher Leidensweg vor Augen geführt, dass er in einer Art Gethsemane-Szene darum bittet, dass dieses Schicksal an ihm vorbeigehen möge. Der diener erschrak hier ab, daz ellú sin natur erzitrete, und wust uf toblich und viel da nider an die erde in krúzwise, und rGfte zG got mit schriendem herzen und mit húwlender stimme und bat in, m=ht es sin, daz er in denne úberhFbe dez grossen jamers dur sin milten veterlichen gFti; m=hti es aber nút sin, daz denn der himelsch wille siner ewigen ordnung an ime volbraht wurde (57, 25–30; vgl. Lk 22, 42f.; Mk 14, 32ff.; Mt 26, 39ff.).

Die Szene mündet darin, dass er aufsteht und sich der Hand Gottes überantwortet. „Er stGnd uf und ergab sich in die hend gotes“ (58, 1f.). Direkt im Anschluss an diese Szene erfolgt die berühmte, an Augustinus angelehnte conversio des Dieners:13 Heißt es bei Augustinus aus Kindermund „tolle et lege, nimm und lies“, vernimmt der Diener ein „lGg und lern“ (58, 5). Er wird durch eine innere Stimme aufgefordert, sein Zellenfenster zu öffnen. Der Diener sieht einen Hund, der mit einem Fußtuch spielt, indem er es herumwirft und Löcher hineinreißt. Diese Szene und vor allem das Fußtuch, das er sich 12

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Vgl. Julius Schwietering: Zur Autorschaft von Seuses Vita. In: Mystik und höfische Dichtung im Hochmittelalter. Hrsg. von Dems. Darmstadt 1960, S. 107–122, 112f.; Maria Bindschedler: Seuses Begriff der Ritterschaft. In: Heinrich Seuse. Studien zum 600. Todestag 1366–1966. Hrsg. von Ephrem M. Filthaut. Köln 1966, S. 267–304; Stephanie Altrock: ‚got wil, daz du nu riter siest‘. Geistliche und weltliche Ritterschaft in Text und Bild der Vita Heinrich Seuses. In: Encomiadeutsch. Sonderheft der deutschen Sektion der ICLS. Tübingen 2002, S. 107–122. Vgl. hierzu Michael Stolz: ‚Altitudo contemplationis humanae‘. ‚Conversio‘ bei Francesco Petrarca und Heinrich Seuse. In: Humanismus in der deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. XVIII. Anglo-German Colloquium Hofgeismar 2003. Hrsg. von Nicola McLelland, HansJochen Schiewer, Stefanie Schmitt. Tübingen 2008, S. 273–297.

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als eine Art Memorialding aneignet, wird ihm zum Bild, „daz er sich selb dar inne erkandi“ (58, 15f.). Auch nach diesem Bekehrungserlebnis bleibt Seuse ein anfangender Mensch, und es ist fraglich, inwieweit man von einer radikalen Änderung reden kann. Seuse lenkt seine Übungsenergie zwar in eine andere Richtung, er bleibt aber nach wie vor ein Übender. Er wendet sich von aller Welt ab und versucht darüber hinaus gemäß dominikanischer Blickpolitik, seinen visuellen Wahrnehmungshorizont zu begrenzen. „Wan abgescheidenheit eim anvahenden menschen als núz ist, do ward er ze rat, daz er bleib in sinem kloster me denn X jar abgescheiden von aller der welt“ (59, 29ff.). Der Wechsel zur höchsten Schule, die Investitur zum geistlichen Ritter, das Konversionserlebnis, all dies sind Bilder eines Neuanfangs, der indes das bereits Bekannte offenbar nur perpetuiert. Der Diener hat zu diesem Zeitpunkt den „anvahenden menschen“ noch keineswegs hinter sich gelassen. Mit inneren Leiden setzt er sein Leben fort. Nicht mehr die äußeren asketischen Übungen fügen ihm Leiden zu, es sind ab diesem Zeitpunkt die ihm zufallenden Widerfahrnisse, die seinen Leidensweg prägen. Dieser zweite Abschnitt der mystischen Vita beginnt wie der erste. Der Diener fühlt sich wie zu Beginn seines Weges Anfechtungen ausgesetzt, die nicht zuletzt auf den abrupten Wechsel des Lebensstils zurückgeführt werden. Im waz emzklich als swer in sinem gemFte, als ob ein berg uf sinem herzen leg; und waz daz ein teil da von: sin geswinder abker waz so scharpf, daz siner leblichen natur vil gross gedrang dur von beschah. Disú not werete im wol VIII jar (62, 1–5).

Zu Beginn seines Weges war davon die Rede, dass Gott „wurkte geswintlichen den abker“ (8, 18). Hier werden – zumindest sprachlich – erste und zweite Abkehr überblendet. Und wie ihn zu Beginn seines Weges äußere wie innere Anfechtungen quälen (z.B. 9, 4ff.), so geht auch der zweite Cursus mit allerdings viel länger anhaltenden Anfechtungen einher. Verortet wird die Beschreibung dieser Anfechtungen – gewissermaßen als Spiegelung des ersten Cursus – zu Beginn der zweiten ‚Wegstrecke‘. Auch die als Durchbruch gewertete Überformung durch Christus, wie sie sich im ersten Teil des Lebensweges als imaginative Praxis der Christusnachfolge (XIII. Kapitel) und schließlich als Inszenierung der Golgathaerfahrung (57, 25ff.) zeigt, wiederholt sich im zweiten Teil. In den Kapiteln XXIII, XXIV und XXX wird auf Szenen der Passion Christi angespielt. Es handelt sich jeweils um Situationen eines Leidens, das er sich selbst nicht zugefügt hat. Zunächst identifiziert sich der Diener mit Christus am Ölberg: „Und nam in sinen mGt die totlichen angst, die Cristus leid uf dem berge“ (69, 11f.). Diese Identifizierung wird in einer Situation großer Bedrängnis aufgegriffen und fortgeschrieben. Als er seine leibliche Schwester aufsucht, die das Kloster verlassen hat und vom rechten Weg abgekommen ist, gerät er in einen biblisch vorgezeichneten Zustand der Gottverlassenheit am Kreuz.

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Ieso er zG im selber kom, do hGb er uf heiserlich ze schriene und ze weinen und die hend ob dem hobt zesamen ze schlahene, und sprach: „owe, min got, wie hast du mich gelan!“ und vergiengen im denn dú ogen und gestGnd im der mund und geragetan im die hende, und gelag also hingescheiden in der unmaht ein wili (71, 22–27).

Das dreißigste Kapitel schließlich imaginiert unter Hinweis auf Psalm 22 eine Sterbesituation des Dieners, aus der er wunderbarerweise körperlich vollkommen restituiert hervorgeht. Seine letzte Bitte gilt gleich Christus, der bei seinem Hinscheiden seine Jünger dem göttlichen Vater anempfohlen habe (Joh 17, 9ff.), seinen geistlichen Kindern (89, 23–26). Der Tod wird von dem Diener als „abker von allen creaturen“ (89, 26) wahrgenommen: „Nu nim ich einen lidigen abker von allen creaturen, und ker mich hin zG der blossen gotheit in den ersten ursprung der ewigen selikeit“ (89, 26ff.). Der Begriff der „abker“ schlägt von hier aus den Bogen zum, mit der Vita gesprochen, ersten Anfang des mystischen Weges (vgl. etwa 8, 18) wie zum ‚zweiten‘ Anfang im Anschluss an die Bekehrungsszene (62, 3): der Tod, das Ende als Anfang. Der erste Teil der Vita endet mit dem Ostertag (XXXII. Kapitel). Er wird durch eine innere Stimme über einen Durchbruch unterwiesen („durpruch“, 94, 10), diesmal aber nicht als Bewegung hin zu einer Christusförmigkeit (vgl. „durpruch“, 34, 11), sondern zu einem Durchbruch als Entsinken („entsinkene im selben und allen dingen“, 94, 11), als ein Nichtwissen um sich selbst und die Dinge als Form des in Gott Eingegangenseins. Am Ende steht ein Anfang, vielleicht muss man schärfer formulieren: das Ende ist der eigentliche Anfang.

III. Die Formalisierung des Anfangs Im Elsbeth Stagel-Teil der Vita (XXXIII–LIII. Kapitel) dreht sich erneut alles um die Frage des Anfangs und des Voranschreitens. Der Diener bescheinigt Stagel, dass sie auf Grund ihrer Jugend und Ungeübtheit eingewiesen werden müsse in den „ersten begin, wie man súl an vahen“ (98, 11). Es sei nützlich, vom göttlichen Anfang anderer Gottesfreunde zu wissen, „wie sich die des ersten mit Cristus leben und lidene Gptin, waz sú eblich erliddin und wie sú sich von innen und von ussnan hieltin, ob sú got dur sFssekeit ald dur hertikeit zugi, und wenn ald wie in dú bild ab vielin“ (98, 13–16). Mit dem Abfallen der Bilder, dem Sich Abwenden vom Äußeren, sei jener Zustand erreicht, den anfangenden Menschen preiszugeben und „fúrbaz in daz nehst ze komen“ (98, 17f.), nämlich offen zu sein für die bildlose Unmittelbarkeit des Göttlichen – „daz got dis alles m=hti dem menschen in einem ogenblik geben“ (98, 18f.). Wieder wird – diesmal aus Sicht der Stagel – das Bild des jungen Schülers bemüht, der zu lernen habe, „daz zG der kintheit h=ret“ (98, 29), bis er „selber wirt ein meister der kúnsten“ (98, 30f.). Der Diener unterrichtet seine geistliche Tochter darüber, dass der Anfang eines heiligen Lebens verschiedengestaltig sein könne: „ainer sus, der ander so“ (99, 22f.). Er konkretisiert seine Lehre, indem er offenbar auf seinen eigenen Anfang –

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das legt der Kontext nahe – zu sprechen kommt.14 Und hier wird nun eine weitere Anfangsversion unterbreitet, die sich im ‚Seuse‘-Teil der Vita nicht findet. Der Diener spricht von einem Menschen in Christus, der, als er anfing, sich Gott zuzuwenden, sich einer Beichte unterzogen habe: „do rumde er des ersten siner gewúsni mit einer ganzen bihte […] Daz waz des selben menschen erster anvang zG gote“ (99, 25–100, 4). Was dieser Beichte folgt, die Separierung des Dieners von der Gesellschaft, schließt an die Ausführungen des Seuse-Teils wieder an (vgl. 9, 26f.). Der ‚Anfang‘ des Dieners wird im Stagel-Teil also zum wiederholten Mal anders perspektiviert. Der Stagel-Teil, dem es explizit um Unterweisung geht und der daher konsequent immer wieder die Form des Lehrgesprächs aufgreift, formalisiert den Anfang des mystischen Weges, indem der Beginn in die kirchlich autorisierte Form des sakramental unterstützten Neuanfangs gegossen wird. Der Eindruck, die Inszenierung des Anfangs folge hier einer legitimatorischen Notwendigkeit, den kirchlich vorgegebenen Ritus des Neuanfangens ins Recht zu setzen, entsteht wohl zu Recht. Im Endeffekt jedoch unterstreicht diese weitere Variante des Beginnens – in gewisser Weise gegen die Formalisierung oder auch Institutionalisierung des geistlichen Anfangens gerichtet – die Pluralisierung des Anfangs. Das inszenatorische Spiel, den Anfang zu bestimmen, findet damit allerdings ein Ende. Wie sich Elsbeth Stagels Anfang dagegen ausnimmt, erfährt der Leser eher punktuell. Sie erkrankt und der Diener bedeutet ihr, dass diese Erkrankung den strengen Übungen der als Vorbild herangezogenen asketischen Wüstenmönche gleichkomme. Eher summarisch wird das Ende des geistlichen Anfangs der Stagel auf den Punkt gebracht, um sich dem Übergang zum fortschreitenden Menschen zu widmen. „Fro tohter, es weri nu wol zit, daz du fúrbaz in ein nehers giengist, und dich uss dem nest biltlichs trostes eins anvahenden menschen uf erlupftist“ (156, 1–3). Sie soll sich aus dem Nest des bildlichen Trostes erheben und in vollkommener Gelassenheit der Vereinigung von menschlichem und göttlichem Geist entgegengehen. Das LII. Kapitel fasst den Aufstieg („trite kechlich ufwert“, 190, 6), den es zu bewerkstelligen gilt, um in das göttliche Geheimnis einzutreten, noch einmal prägnant zusammen: begerest du in die verborgen togenheit ze komen, so trite kechlich ufwert, und la vallen din ussren und din inren sinne und daz eigen werk diner vernunft, und alles, daz gesihtig ald ungesihtig ist, und alles, daz wesen und nút wesen ist (190, 5–9).

Im Unterschied zum Seuse-Teil der Vita ist der eher auf Rat und Beratung ausgerichtete Stagel-Teil nicht daran interessiert, Anfang und Übergang bildgewaltig zu problemati14

Elsbeth Stagel bittet ihn ausdrücklich, von sich selbst zu erzählen: „Er fraget, waz dú bet weri. Si sprach: ‚herr, ich han geh=ret sagen, daz der pellicanus s=licher natur sie, daz er in sich selben bisset und sinú jungú kind in dem neste von veterlicher minne mit sinem eigen blGt spiset. Ach herr, und da mein ich, daz ir ze glicher wise also mir, úwerm turstigen kinde, tFgent und mit geischlicher spise úwer gGter lere fGrent, und nit ze verr sGchent, denn daz ir úch selb nahe grifent; wan so es úh ie neher ist gewesen in usgewúrkter wise, so es ie enpfenklicher ist miner begirigen sele.‘“ (99, 1–9).

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sieren. Dies bleibt dem durchweg narrativ gehaltenen ‚Seuse‘-Teil vorbehalten. Die Komplexisierungen des narrativen ‚Seuse‘-Teils weichen im Stagel-Teil einer eher planen Handreichung.

IV. Anfang und Ende als bild Im letzten Kapitel der Vita (LIII. Kapitel) fasst der Diener auf Bitte Elsbeth Stagels hin noch einmal bildreich zusammen, was er ihr zuvor im Duktus eher spekulativer Mystik mitgeteilt hat. Aber doch, daz man bild mit bilden us tribe, so wil ich dir hie biltlich z=gen mit glichnusgebender rede, als verr es denn múglich ist, von den selben bildlosen sinnen, wie es in der warheit ze nemen ist, und lang red mit kurzen worten beschliessen (191, 9–12).

Vom bildlosen Göttlichen im Bild reden und mittels Bilder Bilder austreiben: Das ist das anspruchsvolle Programm der Vita. Seuse kennt die Liebe der Nonnen zu den frommen Bildern. Sie drücken sich Nagelkruzifixe in den Körper, um sich mit Christus unter Leiden zu vereinigen, sie legen rituell Christkindfiguren an die Brust um in einer mutterschaftsmystisch inspirierten imitatio Mariae das Jesuskind zu stillen und auf diese Weise die unio zu evozieren. Nicht zuletzt solch handgreifliche Bildpraxis bildet den Hintergrund für die Austreibung der Bilder.15 Aber Seuse liegt auch an den inneren Bildern und zuvörderst den sprachlich evozierten Bildern einer locutio figurata,16 die es gilt hinter sich zu lassen. Das Ziel des mystischen Weges ist die Entrückung, die bild- und sprachlose Einheit mit Gott, wie sie Paulus im dritten Himmel widerfahren ist. Ich kenne jemand, einen Diener Christi, der vor vierzehn Jahren bis in den dritten Himmel entrückt wurde; ich weiß allerdings nicht, ob es mit dem Leib oder ohne den Leib geschah, nur Gott weiß es. Und ich weiß, daß dieser Mensch in das Paradies entrückt wurde; ob es mit dem Leib oder ohne den Leib geschah, weiß ich nicht, nur Gott weiß es. Er hörte unsagbare Worte, die ein Mensch nicht aussprechen kann (2 Kor 12, 2–4).17

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Zur innerlichen Passionsfrömmigkeit bei Seuse als Kritik an Praktiken von Dominikanernonnen vgl. Bernard McGinn: Die Mystik im Abendland. Bd. 4: Fülle. Die Mystik im mittelalterlichen Deutschland (1300–1500). Freiburg u. a. 2010, S. 355. Vgl. auch Niklaus Largier: Figurata locutio. Hermeneutik und Philosophie bei Eckhart von Hochheim und Heinrich Seuse. In: Meister Eckhart. Lebensstationen – Redesituationen. Hrsg. von Klaus Jacobi. Berlin 1997 (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Dominikanerordens 7), S. 303– 315. Nach dem Text der Bibel-Einheitsübersetzung, Freiburg u. a. 1980. „Scio hominem in Christo ante annos quattuordecim sive in corpore nescio sive extra corpus nescio Deus scit raptum eiusmodi usque ad tertium caelum et scio huiusmodi hominem sive in corpore sive extra corpus nescio Deus scit quoniam raptus est in paradisum et audivit arcana verba quae non licet homini loqui […]“. Biblia Sacra iuxta Vulgatam Versionem. Hrsg. von Robert Weber. 5., verb. Auflage. Stuttgart 2007.

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Diese Entrückung wird in der mystischen Wissensliteratur wieder und wieder – so etwa bei Augustinus und Bernhard von Clairvaux – als Normbeispiel angeführt. Entbildung, ein Ausdruck Seuses für die Austreibung der Bilder, ist ein erster Schritt zu dieser – letztlich allerdings unverfügbaren – bildlos-unmittelbaren Gottesversunkenheit. Der Diener kennt diese Qualität der unio, sie ist ihm als anfangendem Mensch zuteil geworden und bleibt ihm oberste Leitvorstellung eines Vervollkommnungsweges. Im 2. Kapitel der Vita findet sich die Erzählung von dieser Entrückung: Und so er also stat trostlos und nieman bi im noh umb in waz, do ward sin sel verzuket in dem libe neiss uss dem libe. Da sah er und horte, daz allen zungen unsprechlich ist: es waz formlos und wiselos und hate doch aller formen und wisen fr=denrichen lust in ime. (10, 15–19).

Auch Anfang und Ende sind Bilder,18 die der Diener mit Blick auf das Ideal einer bildlosen Unmittelbarkeitserfahrung des Göttlichen auszutreiben im Begriff ist. Die Abkehr von der Welt als erster Schritt, als Anfang auf dem Weg zur Vervollkommnung in Gott wird von dem Diener explizit als Bild bezeichnet. „Daz erst bilde ist ein lidiger vonker von der welt lústen und von súntlichen gebresten“ (192, 15ff.). Im Prolog des Exemplars ist davon die Rede, dass „mit bildgebender wise von eim anvahenden lebene“ (3, 2) erzählt werde. Die Vita ist geprägt durch ein basales Spannungsverhältnis zwischen Plötzlichkeitsfiguren wie abker, vonker und durchpruch, die auf Neues weisen, und Wiederholungsfiguren, man denke an die äußeren wie inneren Übungen des Dieners, aber auch an Figuren sprachlicher Wiederholung (etwa die gezielte Wiederholung des Nomens abker), die die Vorstellung von Neuem abweisen oder doch zumindest relativieren. Die Vorstellung religiöser Vervollkommnung als Progression, als Aufstieg wird zwar einerseits zitiert, andererseits jedoch performativ abgewiesen. Denn auch das Voranschreiten auf dem religiösen Vervollkommnungsweg ist Anfang. Indem die Vita vor allem den Anfang pluralisiert und zerdehnt und ihn in der Wiederholung gewissermaßen stillstellt, jedenfalls die mit der Vorstellung von Anfang verbundene Bewegungsdynamik abfängt, zielt sie auf eine De-Konstruktion religiöser Aufstiegsvorstellungen. Die Vita übersetzt im Modus narrativer Entfaltung den Anfang als Bild in pluriforme Bilder des Anfangs. Diese De-Konstruktion, man könnte auch im Sinne Seuses von einer ‚Entbildung‘ sprechen, indem etwa in den Modi der Pluralisierung und Wiederholung der Konstruktionscharakter, die Bildhaftigkeit der Bilder von Anfang und Ende textuell vor Augen geführt wird, diese De-Konstruktion steht im Dienst mystischer Vervollkommnung. Seuse schreibt, wenn er die Vita des Dieners darlegt, mit dem Titel von Michel de Certeaus berühmtem Buch über die frühneuzeitliche Mystik gesprochen,19 eine fable 18

19

Dazu grundlegend Thomas Lentes: Der mediale Status des Bildes. Bildlichkeit bei Heinrich Seuse – statt einer Einleitung. In: Ästhetik des Unsichtbaren. Bildtheorie und Bildgebrauch in der Vormoderne. Hrsg. von David Ganz, Thomas Lentes. Berlin 2004 (KultBild – Visualität und Religion in der Vormoderne 1), S. 12–73. Michel de Certeau: Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert. Berlin 2010 (franz. Originalausgabe Paris 1982).

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mystique, eine mystische Fabel, er entfaltet wie die Fabel eine Bilderrede, die sich indes kaum mehr in das Vokabular spekulativer theologischer Rede übertragen lässt. Für Seuse – und das teilt er mit anderen Mystikern – wird nämlich die subjektive Erfahrung, die mit einer „Individualisierung der Praktiken“20 einhergeht, zu einer Berufungsinstanz, dies erklärt bei aller Bildlichkeit den Sinn systematisch eingestreuter, Authentizität beanspruchender Reminiszenzen in Seuses Text.21 Für die Institution Kirche muss eine solche das Subjekt ermächtigende Rede eine gefährliche Rede sein. Denn die Mystik hebt auf den Wahrheitsanspruch einer subjektiven Erfahrung ab. Insofern hat man es schon beim mystischen Sprechen des 14. und 15. Jahrhunderts mit einer historischen Formation zu tun, deren markantes Kennzeichen in letzter Zeit häufig mit dem Stichwort Pluralisierung umschrieben worden ist. Aber auch für das religiöse Subjekt ist ein die subjektive Erfahrung fokussierendes Sprechen alles andere als spannungsfrei. Der Anfang des Textes der Vita manifestiert eine ‚Ortlosigkeit‘ des mystischen Sprechens, die Seuse wiederum mit vielen Mystikern des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit teilt. Die institutionellen Parameter und Rahmungen traditioneller religiöser Rede greifen nicht mehr oder nur mehr partiell. Im Prolog zur Vita wird dargelegt, dass Elsbeth Stagel mündlich erteilte Auskünfte des Dieners über den Anfang und das Voranschreiten aufgezeichnet habe. Er wertet das als geistlichen Diebstahl. Sie muss ihm die Aufzeichnungen herausgeben. Was sie ihm gibt, verbrennt er. Ein Teil dieser Aufzeichnungen aber entgeht offenbar dem Feuer, Gott teilt ihm in einer himmlischen Botschaft mit, dass dieser Teil nicht vernichtet werden soll. Dieser nicht vernichtete Teil wird von Seiten des Dieners um lehrhafte Partien erweitert. Die Forschung hat sich lange Zeit mit Fragen zur Autorschaftsfiktion und einer etwaigen Co-Autorschaft der Tösser Priorin beschäftigt.22 Viel interessanter und wichtiger für das mystische Sprechen scheint indes die systematische Verunklarung zu sein, die Inszenierung einer Unschärfe,23 die diese den Geltungsanspruch mystischen Sprechens formulierende Passage hervorruft. Auf göttliche Autorisierung wird nicht verzichtet, es bleibt allerdings offen, auf welche 20 21

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Ebd., S. 135. Dazu zählen etwa auch Hinweise auf Örtlichkeiten des Konstanzer Inselklosters, die mit bestimmten spirituellen Erfahrungen des Dieners (radikale Askese in Form von Wasserentzug, 48, 6–10; imaginierter Kreuzweg, 34, 4–36,19) in Verbindung stehen. Seit Julius Schwietering: Zur Autorschaft von Seuses Vita. In: Ders (Anm. 12), S. 107–122, galt die Autorschaft Seuses als gesichert. Einwände wurden erneut erhoben durch Ursula Peters: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts. Tübingen 1988 (Hermaea NF 56), S. 135–142, und Susanne Bürkle: Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts. Tübingen/Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 38), S. 237–244. – Eine Zusammenfassung der Verfasserschaftsdebatte findet sich bei Frank Tobin: Henry Suso and Elsbeth Stagel. Was the Vita a Cooperative Effort? In: Gendered Voices. Medieval Saints and their Interpreters. Hrsg. von Catherine M. Mooney. Philadelphia 1999, S. 118–135. Vgl. hierzu Christian Kiening: Mystische Bücher. Zürich 2011 (Mediävistische Perspektiven 2), bes. S. 53–57.

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Teile der Vita sich diese Autorisierung bezieht. Die Gründe, warum ein Teil der Aufzeichnungen offenbar mit göttlicher Duldung verbrannt werden darf, erfährt man ebenso wenig. Diese Unschärfe bezeugt eben jene Ungesichertheit des mystischen Sprechens,24 das im Begriff ist, die institutionellen Sprachregelungen hinter sich zu lassen. So wie es in diesem Sprechen den einen legitimierenden Ort, von dem aus gesprochen wird, nicht gibt, so wenig gibt es den einen Anfang. Wenn es sich beim Bild des Anfangs um eine kulturelle Konstruktion handelt, die Seuse auszutreiben sucht, dann trifft dies auch auf die Gestalt ermächtigender Autorisierung zu. Die Pluralisierung der Autorisierung und die Pluralisierung des Anfangs, die in Seuses Vita ja nicht ohne Grund in engem textuellen Zusammenhang stehen, bilden, mit einer die Paradoxie suchenden mystischen Metapher gesprochen, den Ungrund eines Aufstiegs zu Gott.

24

Vgl. hierzu Daniel Bogner: Das Religiöse weiter denken. Mystik als heuristische Kompetenz. In: Michel de Certeau (Anm. 19), S. 491–532, 501–506.

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Ent-Zeitlichung und finales Erzählen in mittelalterlichen Legenden und Antilegenden

Die Vita des hl. Nikolaus von Myra beginnt mit seiner Geburt und der Erwähnung seiner Eltern und seines Geburtsortes. Sie erzählt weiter von Kindheit und Jugend, der Bischofsweihe und verschiedenen Stationen seines Wirkens, um schließlich vom Tod des Protagonisten und seinem Begräbnis zu berichten. Die Vita scheint damit, wie man es von einer Lebensbeschreibung erwartet, einer Art narrativer Biographie zu folgen, die mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet, dazwischen die einzelnen Etappen des Lebens in zeitlicher Abfolge. Heiligenbiographien orientieren sich dabei vielfach an bewährten poetologischen und rhetorischen Mustern, die nicht zuletzt bestimmen, auf welche Weise die einzelnen biographischen Abschnitte erzählerisch darzustellen sind, wie sie in einen heilsgeschichtlichen Bezug gebracht und angeordnet werden.1 Heiligenviten folgen also, so könnte man zunächst annehmen, einer chronologischen Folge des Lebens ihrer Protagonisten mit der Geburt am Anfang und dem Tod des oder der Heiligen am Ende. Dies gilt in der Tat für eine ganze Reihe legendarischer Erzählungen, aber längst nicht für alle: Insbesondere Märtyrerlegenden berichten vielfach kaum etwas über das Leben ihrer Protagonisten, sondern beschränken sich zumeist auf deren Tod im Martyrium und die damit verbundene Standhaftigkeit und Glaubensstärke angesichts schlimmster Folterungen. Darin aber zeigt sich ein charakteristischer Zug legendarischen Erzählens: Nicht der Anfang, sondern das Ende der heiligen Protagonisten steht im Fokus, die Erzählung ist ausgerichtet auf deren Tod, während eine Vorgeschichte bisweilen vollkommen vernachlässigt werden kann. Wenn also dem narrativen Substrat von Märtyrerlegenden (Prozess, Folterungen und Tod) überhaupt noch etwas vorangestellt wird, dann dient dies ausschließlich der Bestätigung und Heranführung an den finalen Märtyrertod des Heiligen. 1

Wie solche Heiligenbiographien im Einzelnen aussehen, hat Walter Berschin in seiner epochalen Studie Biographie und Epochenstil. 6 Bde. Stuttgart 1992–2004 ausführlich und an zahlreichen Beispielen insbesondere des Frühmittelalters gezeigt; ihm geht es v.a. darum, die Darstellung historischer Persönlichkeiten im Kontext von Hagiographie und Historiographie aufzuarbeiten. Dass eine Heiligenvita nicht mit den modernen Begriffen biographischen Erzählens zu fassen ist, versteht sich dabei von selbst (vgl. auch Band 5 von Berschins Studie: Kleine Topik und Hermeneutik der mittellateinischen Biographie. Stuttgart 2004).

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Edith Feistner hat in einer grundlegenden Untersuchung die spezifischen Erzählverfahren der Heiligenlegende dargelegt.2 Sie unterscheidet strukturell zwischen Märtyrer- und Bekennerlegende: Die Bekennerlegenden sind in einer paradigmatischen Aneinanderreihung unterschiedlicher Episoden konzipiert, die zwar ganz weit gefasst die Lebensspanne des Protagonisten mit den wichtigsten Stationen (Geburt, Kindheit, etc.) einschließt, ohne jedoch eine biographisch-chronologische Abfolge darzustellen; die Paradigmatizität dieser Legenden sorgt vielmehr dafür, dass die meisten Episoden an sich völlig austauschbar sind.3 Die Märtyrerlegenden sind dagegen anhand eines syntagmatisch organisierten ‚Basisnexus‘ aufgebaut, der die drei Komponenten Verhör, Haft und Hinrichtung beinhaltet (daran können sich die Elemente Folter, Wunder und Bekehrung anlagern) und der auf das Handlungsziel, den schlussendlichen Tod des Märtyrers, ausgerichtet ist.4 Eine Vorgeschichte des Protagonisten (die bereits auf die künftige Heiligkeit und den Märtyrertod hinweist) ist ebenso fakultativ wie eine eventuelle Nachgeschichte, die von Begräbnis, Translation der Gebeine, Wunder am Grab und dergleichen mehr berichtet.5 Mit dem Tod im Martyrium, und das ist ein weiterer entscheidender Punkt, beginnt jedoch erst eigentlich die Heiligkeit. Insofern stellt jede Legende, jede Heiligenvita genauer betrachtet auch nicht den Tod des Protagonisten in den Mittelpunkt, sondern dessen Aufnahme in die communio sanctorum. Erzählformen können ganz allgemein, wie Harald Haferland es formuliert hat, „als Gestaltungsbereich von Kontingenz und Finalität“6 bezeichnet werden, d.h., dass kontingente Ereignisfolgen in ihrer erzählerischen Realisation insofern letztlich Finalität konstituieren, als sie dazu dienen, ein bestimmtes Handlungsziel herzustellen. In besonders auffälliger Weise zeigt sich eine solche Struktur in Märchen, wo „systematisch erscheinende[ ] Kontingenzen“ dazu dienen, „das erwünschte Ende und damit die Finalität in die Erzählung hineinzubekommen“.7 Dass es vergleichbare Koinzidenzen und Kontiguitätsrelationen auch im legendarischen Erzählen gibt, liegt auf der Hand: Vordergründig zufällige, weil nicht kausal miteinander verknüpfte Handlungselemente konstituieren geradezu die Heiligkeit des Legendenprotagonisten. Damit aber wird klar, dass Finalität, die Ausrichtung auf das Ende, ein ganz spezifisches Erzählverfahren darstellt, welche die auf der Ebene des Erzählten erscheinenden kontingenten Ereignisse auf der discours-Ebene, 2

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Edith Feistner: Historische Typologie der deutschen Heiligenlegende des Mittelalters von der Mitte des 12. Jahrhunderts bis zur Reformation. Wiesbaden 1995. Vgl. ebd., S. 33ff. Vgl. ebd., S. 27f. Vgl. ebd., S. 29. Feistner hält insbesondere eine Nachgeschichte als nicht mehr zum Erzählsyntagma gehörend. Harald Haferland: Kontingenz und Finalität. In: Kein Zufall. Konzeptionen von Kontingenz in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Cornelia Herberichs, Susanne Reichlin. Göttingen 2010 (Historische Semantik 13), S. 337–363, 349. Ebd., S. 350. Unter Bezug auf Max Lüthi zeigt Haferland, dass die Ausrichtung auf ein finales Moment hin oberflächlich voneinander isolierte Vorgänge koordiniert: „Finalität und Kontingenz sind […] systematisch korreliert“ (S. 353).

Ent-Zeitlichung und finales Erzählen

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der Ebene des Erzählens, so anordnet, dass diese auf das von Beginn an feststehende Handlungsziel hinauslaufen;8 das kann soweit gehen, dass das Arrangement der Ereignisse diesen Erzählvorgang für den Rezipienten regelrecht herausstellt.9 In der Fixierung auf das Ende kommt dabei eine Anschauungsform zur Geltung, die Karlheinz Stierle von den Mythen vorschriftlicher Kulturen bis in die Moderne hin aufzeigen kann. Für Stierle sind beide, sowohl Anfang als auch Ende, „nach ihrer einen Seite durch ein Moment der Negation markiert“.10 Das, was beide auf ihrer anderen Seite miteinander verbindet, nennt er nach Aristoteles’ Poetik Mitte; in diesem Sinne hat für das Ganze gesehen das Ende Priorität über den Anfang.11 Selbst im (gewissermaßen antiaristotelischen) romantischen Drama kann Stierle die in Aristoteles’ Poetik für die Tragödie herausgearbeitete Konzeption feststellen, „die den Anfang als eine Funktion des Endes sieht.“12 Demgegenüber muss für die Legende gerade eine umgekehrte Konzeption vermutet werden: In ihr stellt das Ende eine Funktion des Anfangs dar. Entscheidend dabei ist die finale Handlungskonstitution legendarischer Erzählungen, die insbesondere in Märtyrerlegenden zum Vorschein tritt. Der von Feistner beschriebene Basisnexus führt die Handlung syntagmatisch auf das Ziel des Märtyrertodes. Doch mit dem Tod wird nicht nur die Heiligkeit des Protagonisten ersichtlich, sondern es manifestiert sich darin zugleich die Macht Gottes (auf der Ebene der Handlung zeigt sich dies zumeist in den wunderbaren Begleiterscheinungen des Todes) und der Übergang des Heiligen in die Sphäre der Transzendenz, seine Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen.13 Auf der 8

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Vgl. dazu ausführlich Harald Haferland: Metonymie und metonymische Handlungskonstruktion. Erläutert an der narrativen Konstruktion von Heiligkeit in zwei mittelalterlichen Legenden. In: Euphorion 99 (2005), S. 323–364, 343–348. Vgl. ebd., S. 345f., sowie Haferland (Anm. 6), S. 356f. Karlheinz Stierle: Die Wiederkehr des Endes. Zur Anthropologie der Anschauungsformen. In: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hrsg. von Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1996 (Poetik und Hermeneutik 16), S. 578–599, 579. Vgl. ebd. u. S. 582: Nach Aristoteles unterscheidet sich Dichtung von der Geschichtsschreibung gerade dadurch, dass erstere „aus einem Handlungsgewebe hervorgeht, das auf Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit gegründet ist“, letztere dagegen aus Ereignissen, „die zueinander in einem rein zufälligen Verhältnis stehen“ (S. 582). Freilich folgt auch die Darstellung geschichtlicher Ereignisse bekanntermaßen narrativen Verfahrensweisen, welche die einzelnen Ereignisse durchaus so arrangieren können, dass ihnen ein bestimmtes Telos inhärent ist; auf der anderen Seite wird hierin die unbedingte Narrativität und vor allem Poetizität hagiographischer Erzählungen besonders deutlich. Ebd., S. 586. Kontingenz ist in diesen Erzählungen dazu da, Alternativen für den Protagonisten zu eröffnen – nur, um sogleich wieder abgewiesen zu werden. Denn als ethische Leistung ist der Märtyrertod für den Glauben nur dann vollends zu bemessen, wenn er nicht völlig alternativlos ist – und trotzdem immer gewählt wird: als freie und bewusste Entscheidung; erst das macht den Heiligen zum ethischen Virtuosen, wiewohl seine Entscheidung narratologisch besehen stets final motiviert ist. Vgl. Elke Koch: Erzählen vom Tod. Überlegungen zur Finalität in mittelalterlichen Georgslegenden. In: Kein Zufall (Anm. 6), S. 110–130, 111: „es ist also gerade Transzendenz, nicht Kontingenz, die sich darin manifestiert, dass die Unausweichlichkeit des Todes in diesen Texten ausgesetzt erscheint“. Zu dem auf

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anderen Seite ist Heiligkeit nicht erst eine bloße Folge des Martyriums, sondern wird vom Tod nur noch vollends bestätigt, ist sie doch schon von Anfang an angelegt, so dass der Heilige paradoxerweise nun wird, was er immer schon gewesen ist. Das gilt jedoch nicht nur für Märtyrerlegenden, sondern auch für hagiographische Erzählungen im umfassenden Sinne: Sie laufen auf den ersten Blick gesehen final auf den Tod des Protagonisten zu, der erst dann auch als Heiliger Verehrung erfahren kann. Zugleich aber markiert der Tod des Heiligen seinen endgültigen ‚Übertritt‘ in die Transzendenz, stellt sein Ende somit zugleich einen neuen Anfang dar. Der Tod des Protagonisten, der in den meisten anderen Erzählungen auch das Ende der Erzählung selbst bedeuten würde, ist hier, um nochmals auf Stierles Ausführungen zu Aristotelischen Poetik zurückzukommen, nicht das Ende, sondern die Mitte.14

I. Konzeptionen von Zeit, Zeitlosigkeit und Geschichte mittelalterlicher Legendare Derartige Überlegungen sollen im folgenden Beitrag anhand mehrerer Legenden – sowohl Märtyrer- als auch Bekennerlegenden – vertieft werden. Als Textgrundlage dient dabei das mhd. Passional, das älteste deutschsprachige Legendar, das um 1300 wohl im Kontext des Deutschen Ordens entstanden ist.15 Die darin versammelten Texte gehen auf die zwischen 1252 und 1260 vom Genueser Bischof Jacobus de Voragine verfasste lateinische Legenda aurea zurück, eines der meistgelesenen Werke des späten Mittelalters,

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Max Weber zurückgehenden Begriff des Heiligen als ethischen Virtuosen vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Faszinationstyp Hagiographie. Ein historisches Experiment zur Gattungstheorie. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von Christoph Cormeau. Stuttgart 1979, S. 37–84. Vgl. Stierle (Anm. 10), S. 579. Das Passional ist bisher nur unzureichend ediert. Textgrundlage bilden: Das Alte Passional. Hrsg. von Karl August Hahn. Frankfurt/Main 1845 (Buch I und II) sowie Das Passional. Hrsg. von Friedrich Karl Köpke. Quedlinburg/Leipzig 1852 (Buch III). Bei den Zitatangaben beziehen sich Buch I und II somit auf die Ausgabe Hahns, Buch III auf die Ausgabe Köpkes (Abkürzungen sind jeweils aufgelöst, _ und s angeglichen). Hahns Text bietet nur den unkritischen Abdruck der Hs. D und wird in Kürze ersetzt durch die kritische Edition von Martin J. Schubert und Jürgen Wolf; vorerst bleibt sie aber die einzig verfügbare Textgrundlage. Zur Überlieferungsgeschichte vgl. grundlegend HansGeorg Richert: Wege und Formen der Passional-Überlieferung. Tübingen 1978 (Hermaea 40), ergänzend Kurt Gärtner: Zur Überlieferungsgeschichte des Passionals. In: ZfdPh 104 (1985), S. 35– 69. Die direkten Bezüge des Passionals zum Deutschen Orden sind indes zuletzt auch in Frage gestellt worden, wobei die Kritik vor allem auf die von Richert herausgearbeiteten sprachlichen Merkmale zielt, vgl. Martin J. Schubert: Das ‘Passional’ und der Deutsche Orden. In: Deutschsprachige Literatur des Mittelalters im östlichen Europa. Hrsg. von Ralf G. Päsler, Dietrich Schmidtke. Heidelberg 2006 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 139–155, sowie Ders.: Die neue Edition des Alten Passionals. Zur Reimsprache. In: Mittelalterliche Kultur und Literatur im Deutschordensstaat in Preußen. Leben und Nachleben. Hrsg. von Jarosław Wenta u. a. Toruń 2008, S. 411–421.

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das, verbreitet vor allem durch den Dominikanerorden, besonders für die mittelalterliche Hagiographie entscheidende Impulse in Bezug auf Poetik, Stil und Verfahren der Abbreviatur setzte.16 Der Passionaldichter überträgt seine lateinische Vorlage jedoch nicht einfach nur in die Volkssprache, sondern bearbeitet die einzelnen Legenden konsequent. Insbesondere wandelt er die lateinische Prosa in Reimpaarverse um und versieht die einzelnen Texte mit einem viel höheren Anteil an wörtlicher Rede, wodurch gegenüber der eher distanziert-resümierend berichtenden Prosa die erzählerische Lebendigkeit und szenische Ausgestaltung der einzelnen Legenden wesentlich gesteigert wird. Einigen gezielten Kürzungen, vor allem an den predigthaft-didaktischen Passagen, stehen an vielen Stellen jedoch auch entscheidende Erweiterungen gegenüber, was darauf schließen lässt, dass dem unbekannten, aber geistlich gebildeten Verfasser (etliche Aussagen lassen darauf schließen, dass er selbst Priester gewesen ist) neben der Legenda aurea noch andere Quellen zur Verfügung standen. Legenden sind Erzählungen der imitatio: Nicht nur fordern sie ihre Rezipienten zum Nachvollzug auf, auch ihre Handlungsträger stehen in der Nachfolge Christi, sodass jedes Heiligenleben eine imitatio Christi bildet.17 In besonderer Weise gilt das für das Martyrium als Nachvollzug der Leiden Christi. Eine Heiligenvita bildet immer auch Leben und Sterben Christi ab, doch zumindest für die Märtyrerlegenden gilt: Auf den Tod vor allem kommt es an.18 Denn hier erweist sich das besondere Zeitkonzept des Christentums mit der Bibel als kulturellem Narrativ. Es zeichnet die christliche Religion ja gerade aus, dass sie sich in der Geschichte verortet, nicht in illo tempore einer mythischen Vorzeit. Mehr noch als das Alte Testament ist ja das Neue in der menschlichen Geschichtlichkeit und Historizität verankert – so stark, dass sogar die Zeitrechnung unserer Kultur daran ausgerichtet ist.19 Und doch: Das kulturell und religiös bedeutsamste Moment ist nicht die Menschwerdung Jesu, sondern sein Tod. Es ist das Ende Christi auf Erden, welches die neue Religion begründet, das Verhältnis zwischen Gott und der Menschheit neu ordnet.

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Vgl. Barbara Fleith: Studien zur Überlieferungsgeschichte der lateinischen Legenda Aurea. Brüssel 1991 (Subsidia hagiographica 72); Reglinde Rhein: Die ‚Legenda aurea‘ des Jacobus de Voragine. Die Entfaltung von Heiligkeit in ‚Historia‘ und ‚Doctrina‘. Köln u. a. 1995 (Beih. zum Archiv für Kulturgeschichte 40). Den Aspekt der imitatio betont insbesondere André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Halle 1930, S. 23–61. Zur narrativen Ausgestaltung des Nachfolgegedankens in der mittelalterlichen Hagiographie vgl. jüngst Peter Strohschneider: Weltabschied, Christusnachfolge und die Kraft der Legende. In: GRM 60 (2010), S. 143–163. Vgl. Rolf Schulmeister: Aedificatio und Imitatio. Studien zur intentionalen Poetik der Legende und Kunstlegende. Hamburg 1971, S. 47–52; zu den Märtyrerkulten vgl. außerdem Arnold Angenendt: Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. München 1994, S. 35ff., zur Entstehung des Märtyrergedankens vgl. Theofried Baumeister: Die Anfänge der Theologie des Martyriums. Münster 1980. Wobei sie, um mit Paul Ricœur zu sprechen, den ‚axialen Moment‘ in der Geburt Jesu setzt; vgl. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung. Bd. 3. München 1991 (Übergänge 18), S. 165ff.

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Damit zeigt sich aber auch, dass die christliche Kultur auf immer wieder verschobenen Anfängen basiert: Der mythische Anfang der Schöpfungsgeschichte wird dekonstruiert, indem er mittels langer Genealogien an die Geschichtlichkeit angebunden und damit historisiert wird.20 Mit dem Eintritt Jesu in die Geschichte ändert sich die Konstellation von Versuchung und Erlösung, aber sie kann sich erst ändern durch den Kreuzestod; der so eingeleitete Neubeginn ist markiert durch die Auferstehung, die den Tod Jesu gerade nicht rückgängig macht, sondern ihn in eben diese neue Ordnung überführt, den Tod, das Ende, transformiert in einen neuen Anfang. Dieser im Ende begründete Anfang jedoch hebt wiederum die Zeitstrukturen einer Geschichtlichkeit auf, denn Christi Kreuzestod ist zugleich ein Versprechen an die Menschen auf das ewige Leben: Der Tod ist nicht mehr das Ende, sondern leitet über in ein Leben danach. Dieser Zustand setzt den Zustand des absoluten (man könnte auch sagen: mythischen) Anfangs wieder ein, vor der Schöpfung, vor dem Luzifersturz. Da dies allerdings zukünftig, nach der Apokalypse eintritt, befindet sich die Menschheit gegenwärtig in einer Zwischenzeit zwischen bereits geoffenbarter Heilsgewissheit und noch nicht erfüllter eschatologischer Heilserwartung. Die beiden angesprochenen Legendare setzen diese Vorstellung ganz unterschiedlich um. Die Legenda aurea des hochgebildeten Exegeten Jacobus bildet in ihrer Exposition und Gesamtstruktur eine regelrechte Aufhebung der Zeit ab: Im Prolog unterteilt Jacobus die geschichtliche Zeit in vier Abschnitte (von Adam bis Mose, von Mose bis Christi Geburt, von der Geburt bis zu seinem Tod und zuletzt von dort bis zur Gegenwart); diese vier Phasen werden unmittelbar aufs Kirchenjahr übertragen und spiegeln sich in den jeweiligen Festen der Liturgie. Die liturgische Zeiteinteilung wiederum wird dann auf die kalendarische übertragen, wenn es etwa im Prolog heißt: et potest accipi hec quadruplex temporum uariatio primo penes quatuor temporum distinctiones, ut hiemps referatur ad primum, uer ad secundum, estas ad tertium, autumpnus ad quartum, et ratio appropinquationis satis patet. Secundo penes quatuor diei partes ut nox referatur ad primum, mane ad secundum, meridies ad tertium, uespera ad quartum. (Prolog, 11f.). („Diese vier Unterschiede der geistlichen Zeit gleicht man den vier Teilen des natürlichen Jahres, also daß die erste den Winter, die zweite den Lenz, die dritte den Sommer, die vierte den Herbst bedeutet; und ist der Sinn dieser Vergleichung offenbar. Ein anderes Gleichnis ist zu den Teilen des Tages, also daß die erste geistliche Zeit sich gleichet der Nacht, die andre dem Morgen, die dritte dem Mittage, die vierte dem Abend.“)21 20

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Eine erneute Rückbindung an die mythischen Konzeptionen des Anfangs im Schöpfungsakt vollzieht sich in narrativer Gestalt vor allem im Frühmittelalter, indem dem Schöpfungsbericht die Erzählung vom Luzifersturz vorangestellt wird und die Erschaffung der Welt und der Menschen dadurch eine mythische Begründung erhält. Vgl. dazu Bruno Quast: Vom Kult zur Kunst. Öffnungen des rituellen Textes in Mittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen/Basel 2005 (Bibliotheka Germanica 48), v. a. S. 41–67. Die Legenda aurea wird zitiert nach: Jacopo da Varazze: Legenda Aurea. Hrsg. von Paolo Giovanni Maggioni. Florenz 1998 (2., revid. Aufl.); die dt. Übersetzung folgt der Ausgabe von Richard Benz: Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz. Mit einem Nachwort von Walter Berschin. Gütersloh 152007.

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Abb. 1: Das Jahresbild im Fuldaer Sakramentar. Göttingen, Staats- und Universitätsbibliothek, 2° Cod. Ms. theol. 231, fol. 250v.

Jacobus unterscheidet zwischen geistlicher Zeit und natürlichem Jahresablauf; beides wird in Einklang miteinander gebracht und bildet den historischen Zeitablauf der Menschen ab („die ganze Zeit vergänglichen Lebens“, wie es der erste Satz des Prologs formuliert).22 Unterschiedliche Zeitabschnitte (der Tag, das Jahr, die Geschichte) und Systeme (‚natürliches‘ Kalenderjahr, liturgisches Kirchenjahr) werden korreliert. Ikonographisch 22

„Vniuersum tempus presentis uite in quatuor distinguitur, scilictet in tempus deuiationes, renouationis siue reuocationis, reconciliationis et peregrinationis” (Prolog, 1).

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wunderbar umgesetzt ist eine solche Zeitkonzeption im Jahresbild des um 975 entstandenen Fuldaer Sakramentars.23 Auf diesem Konzept baut auch Jacobus sein gesamtes Legendar auf. Die Abfolge der einzelnen Heiligenlegenden ist in der Legenda aurea streng nach dem liturgischen Kalender des Kirchenjahres angeordnet, eingeschlossen die wichtigsten Hochfeste. Dementsprechend beginnt es mit dem Advent, es folgt die Andreas-Legende, und schließlich endet die Sammlung in den meisten Handschriften mit dem Kirchweihfest, das den Jahreszyklus abschließt. Die auch im Fuldaer Sakramentar abgebildete Kreisbewegung schließt sich, das Kirchenjahr beginnt von neuem, mit den immer gleichen Festen. Diese Kreisbewegung sorgt dafür, dass es eigentlich keinen Zeitverlauf gibt, Advent und Kirchweih sind in diesem System nicht Anfang und Ende, sondern markieren nur den Punkt, wo der Kreis sich schließt. Diese Aufhebung der Zeit bzw. der Zeitlichkeit durch das Auftreten Christi in der Welt formuliert Jacobus im Abschnitt zum Advent noch einmal prägnant mit den Worten des Kirchenvaters Augustinus: Denique ubi uenit plenitudo temporis uenit ille qui nos liberauit a tempore. Liberati autem a tempore uenturi sumus ad illam eternitatem ubi nullum est tempus (I, 19f.). („Als die Zeit erfüllt war, kam er, der uns von der Zeit erlöst hat: frei von dieser Zeit werden wir eingehen in die Ewigkeit, die keine Zeit ist“.)

Das Passional baut stofflich auf der Legenda aurea auf, konzeptionell verfolgt es dagegen andere Wege: Das in drei Bücher eingeteilte Legendar erzählt im ersten das Leben Marias und Jesu, das zweite Buch umfasst die Legenden der Apostel und wichtigsten Begleiter Christi, das dritte dann weitere 75 Legenden, zumeist Heiligenviten, aber auch von Festtagen wie Allerheiligen und Allerseelen oder der Kreuzesfindung. Erst dieses dritte Buch ist wie die Legenda aurea nach dem liturgischen Kalender geordnet, die anderen beiden folgen einer quasi chronologischen (das erste Buch richtet sich nach dem Ablauf der Heilsgeschichte: Geburt Marias – Verkündigung und Geburt Jesu – Passion und Kreuzestod – Himmelfahrt usw.), bzw. einer hierarchischen Ordnung (im zweiten Buch der Apostel). Der Passionaldichter folgt damit einem geschichtlichen Konzept: Ausgehend von Jesus und Maria als „houbt […] aller heilichkeit“ (Buch I, Prolog: 4, 54) werden dann im zweiten Buch die Lebensbeschreibungen derjenigen Personen vorgestellt, die unmittelbaren Kontakt zu Christus hatten; sie werden in einer hierarchischen Reihenfolge entsprechend ihrer Bedeutung präsentiert.24 Während also in der Legenda

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Zur Beschreibung des Jahresbildes, das das Frontispiz des Kalendars dieser Handschrift bildet, vgl. ausführlich Christoph Winterer: Das Fuldaer Sakramentar in Göttingen. Benediktinische Observanz und römische Liturgie. Petersberg 2009, S. 430–445 (Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 70); hier auch Überlegungen, in diesem Bild Zeit und Kosmologie als Gegenstand der monastischen Bild-Meditatio zu erfassen, vgl. ebd., S. 456–464. Die hierarchische Reihenfolge der einzelnen Apostel kann Wilbur Donald Jobe: Das gereimte Passional. Untersuchungen zu den Aufbauprinzipien. Lexington/Ky 1977 in seiner Untersuchung freilich wieder der Liturgie zuordnen: Er macht einen im Zusammenhang mit der Allerheiligenlitanei

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aurea die einzelnen Legendentexte ohne innere Kohärenz nebeneinander stehen und nur durch den äußeren Rahmen des Kirchenjahres verbunden sind, fügt das Passional die einzelnen Abschnitte in eine zeitlich aufeinander bezogene und insofern (nach den Maßstäben des Mittelalters) durchaus historisch zu nennende Abfolge von der Menschwerdung Christi über seine direkten Nachfolger, den Aposteln, hin zu den späteren Heiligen als Nachfolger in imitatio. Der Bogen wird aber noch weiter gespannt bis zu den Rezipienten der Gegenwart; nicht nur, weil prinzipiell jede Heiligenlegende auch ein Nachfolgeaufruf an die Leser ist, sondern vor allem, da zum Abschluss einer jeden Legende die Rezipienten noch einmal konkret angesprochen werden, zu den jeweiligen Heiligen zu beten und sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen, um selbst in die göttliche Ewigkeit einzutreten. Nicht zuletzt mit diesen (oft sehr umfangreichen, z.T. über 30 Verse langen) Schlussgebeten, die zumeist individuell auf den jeweiligen Heiligen und seine eben erzählte Vita abgestimmt sind, bildet das Passional ebenfalls eine christliche Zeitkonzeption ab: Geschichte wird in Heilsgeschichte, Zeit in Zeitlosigkeit überführt. Die beiden Legendare knüpfen dabei an die unterschiedlichen Lebenswelten ihrer Rezipienten an. Während den überwiegend geistlich gebildeten Lesern der Legenda aurea eine auf dem liturgischen Kalender basierende zyklische Zeitvorstellung präsentiert wird, setzt das Passional in der geschichtlichen Wirklichkeit seiner meist wohl laikalen, lateinunkundigen Zuhörerschaft an,25 indem es einerseits den für die Menschen realen Verlauf der historischen Zeit abbildet, zugleich aber in jeder Legende vorführt, wie diese in einer zeitlosen Ewigkeit, d.h. ohne Anfang und Ende, aufgehoben werden kann und gleiches am Schluss jeder Erzählung auch für die Menschen in Aussicht stellt: Das Ende der Erzählung weist stets auf eine endlose Ewigkeit voraus.

II. Das Ende als eigentlicher Anfang: Die Legenden von Longinus, Christophorus, Lucia und Nikolaus Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Konzeptionen mittelalterlichen Legendenerzählens sollen nun die konkreten Texte des Passionals betrachtet werden. Neben der eingangs bereits angesprochenen Nikolauslegende kommen im Folgenden zunächst die Legenden von Longinus, Christophorus und Lucia aus dem dritten Buch zur Sprache, um den narrativen Umgang mit dem Ende eines Heiligen zu untersuchen. Handelt es sich bei diesen Erzählungen um Märtyrerlegenden, die nach der von Edith Feistner entwickelten Typologie eine syntagmatische, auf den Märtyrertod des Protagonisten ausgerichtete und

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stehenden Messkanon (und nicht, wie früher vermutet, die Abdiassammlung) als Modell für die Anordnung der Apostel plausibel, vgl. dort, S. 141f. Zur Deutschordensliteratur vgl. Edith Feistner u. a.: Krieg im Visier. Bibelepik und Chronistik im Deutschen Orden als Modell korporativer Identitätsbildung. Tübingen 2007 (Hermaea 114).

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damit eine finale, auf dessen Ende hinauslaufende Struktur aufweisen, so stellt die Nikolausvita die Erzählung von einem Heiligen dar, der als Bekenner, nicht als Märtyrer zur Heiligkeit gelangt; inwieweit in der (wiederum nach Feistner) paradigmatischen Aneinanderreihung der einzelnen Episoden dieser Vita noch eine auf den Tod als Handlungsziel ausgerichtete Finalität zugrunde liegt, bleibt zu untersuchen. Die dabei zugrunde liegende Frage richtet sich darüber hinaus nicht nur nach Funktion und Status des Endes und den damit zusammenhängenden narrativen Strukturen, sondern auch nach der Verortung legendarischer Erzählungen in ein Zeitgefüge, das letztendlich den Kategorien von Anfang und Ende enthoben ist. Abschließend sollen diese Gedanken ausgeweitet werden auf solche Erzählungen, die unter der Bezeichnung ‚Antilegenden‘ firmieren. Die imitatio Christi umfasst nicht allein die Handlungsoberfläche der Legenden, vielmehr steht gerade der Tod des Heiligen und seine narrative Inszenierung in Bezug zum Tod Jesu. So wie dessen Tod gewissermaßen einen (heilsgeschichtlichen) Gründungsakt darstellt, markiert der Tod des Heiligen zwar das Ende seines irdischen Lebens, begründet aber zugleich dessen Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen: Die christliche Heilserwartung hebt den Tod in zeitlose Ewigkeit auf, doch der Heilige schafft diesen Sprung sogleich, nicht erst mit dem fernen Ende der Welt in der Apokalypse und dem Jüngsten Gericht. In den Heiligen erfüllt sich das göttliche Heilsversprechen unmittelbar, woraus ihre enorme Bedeutung für die Nachwelt resultiert. Für die Menschen, die Rezipienten der Legenden, sind die Heiligen darum nicht nur Vorbild, sondern auch Versprechen, und gerade deswegen sind ihre Viten so sehr auf ihren Tod ausgerichtet, den Punkt dieser Erfüllung. Kaum irgendwo wird diese Disposition im Passional so verdichtet wie in der mit etwa 180 Versen sehr kurz gefassten Longinus-Legende. Sie beginnt mit einem Ende, mit dem Kreuzestod Jesu. Longinus wird mit jenem römischen Hauptmann identifiziert, der in der Passionsgeschichte unter dem Kreuz als erster die Messianität Christi bestätigt.26 Ihm kommt bekanntlich auch die Rolle zu, mit dem Speer dem toten Christus die Brust zu öffnen. Longinus selbst wird dabei sogleich entlastet: „der ungetruwen iuden diet“ (III 215, 5) habe Jesus durch Verrat ans Kreuz gebracht, der Ritter27 Longinus lediglich auf Geheiß des Pilatus gehandelt. Zudem geschieht auf der Stelle ein Wunder: Das am Speer herabrinnende Blut Christi heilt Longinus’ schwache Augen. In einer legendentypischen Metapher wird dieses Augenöffnen sogleich übertragen auf Longinus’ Glauben: Gott habe ihn nicht nur äußerlich die fleischlichen Augen geheilt, sondern auch innerlich seine Gesinnung erleuchtet: „der gute got [...] der quam ouch in in tougen/ und erluchte im sinen mut“ (III 215, 30 u. 34f.). Angesichts der erschreckenden Begleiterscheinungen von 26

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Vgl. zum Stoff der Longinus-Legende und seiner Genese im Mittelalter überblicksartig Carla Dauven-van Knippenberg: ...einer von den Soldaten öffnete seine Seite... Eine Untersuchung der Longinuslegende im deutschsprachigen geistlichen Spiel des Mittelalters. Amsterdam 1990, S. 11–19. Mit dem Vers „Longinus ein riter was“ (III 215, 1) setzt die Erzählung ein; diese Bezeichnung dürfte für ein höfisch geschultes Publikum aus dem Bereich des Deutschen Ordens durchaus standesgemäß und programmatisch verstanden worden sein.

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Jesu Tod (Erdbeben, Finsternis etc.) bekehrt sich der Hauptmann vollends und lässt sich von den Jüngern taufen. In Longinus manifestiert sich der Tod Jesu als im Ende begründeter Anfang: Indem das vergossene Blut des Gekreuzigten zugleich Wunden heilt und Glauben schafft, wird die gesamte Wirkungsdimension des Kreuzestodes unmittelbar eröffnet. Christus stirbt zur Erlösung der Menschen von der Sünde (wie es nicht zuletzt die Einsetzungsworte der Eucharistie immer wieder formulieren), sein Blut ‚heilt‘ also vom Makel der Erbsünde; diese Kraft drückt sich gleichzeitig in der äußerlichen Heilung körperlicher Gebrechen aus. Auf diese Weise wird Longinus der Wirkung des christlichen Opfertodes unmittelbar teilhaftig und vollzieht den damit gesetzten neuen Anfang sogleich nach, indem er sich zu Christus bekennt, sein bisheriges Leben aufgibt und fortan weltabgewandt als Einsiedler lebt. Diese unmittelbare Partizipation am Kreuzestod bewirkt also zum einen eine Partizipation an der göttlichen virtus Christi, was sich zunächst ganz konkret in der Heilung der Augen ausdrückt, zum anderen eine conversio, die sich wiederum vorerst ganz konkret, äußerlich ausdrückt: Longinus beginnt ein neues Leben als Eremit und lässt das alte, ritterliche hinter sich. Diese Weltabkehr jedoch mündet zwangsläufig in die direkte Christusnachfolge – zwangsläufig nicht zuletzt deshalb, weil die Weltflucht des Longinus dies bereits vorbereitet: Der durch den Kreuzestod geschaffene Anfang hebt die Zeitlichkeit des Diesseits auf zugunsten einer Zeitlosigkeit im Jenseits, das aber erfordert eine Exklusion aus der Welt, die zunächst im moniage, endgültig dann aber im Martyrium vollzogen wird, das Longinus in imitatio der Leiden Christi, derer er selbst unmittelbar teilhaftig geworden ist, antritt.28 Vom eremitischen Dasein des Longinus gibt es daher auch nichts zu erzählen, nur die Dauer, 28 Jahre, stellt einen letzten Bezug zur Zeitlichkeit her, bevor schließlich auch diese mit dem Märtyrertod und der Aufnahme in die – ewig währende – communio sanctorum aufgegeben wird. Die Konsequenz und radikale Zielstrebigkeit, mit der die ganze Erzählung schließlich auf dieses Ende hin zustrebt, verdichtet sich noch einmal in der Martyriumsschilderung: Das ‚Aus der Welt Sein‘ des Longinus erweist sich schon darin, dass man ihm die Zunge herausreißt, er jedoch trotzdem weiterreden und Gott loben kann. Als Longinus dann auch noch die heidnischen Götzenbilder zerschlägt und die darin wohnenden Teufel vertreibt, verliert sein vor Wut tobender Richter selbst das Augenlicht. Da erkennt Longinus endgültig, dass er von Gott auserwählt ist und spricht zu dem Richter:

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Vgl. zum (auf Niklas Luhmann zurückgehenden) Begriff der Exklusion und dessen Erscheinungsformen im Konzept des christlichen Mönchtums und der Heiligkeit Peter von Moos: Vom Inklusionsindividuum zum Exklusionsindividuum. Persönliche Identität in Mittelalter und Moderne. In: Processi di Inclusione ed Esclusione: Identità ed Emarginazione/Prozesse der Inklusion und Exklusion: Identität und Ausgrenzung. Annali di Sociologia/Soziologisches Jahrbuch 16.2002/03. Hrsg. von Cornelia Bohn, Alois Hahn. Mailand/Berlin 2006, S. 253–265.

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an diner ougen gesunt, und swa du bist mit leide wunt, dar an wirt dir nicht vreude kunt, unz so hin zu der stunt, daz ich zu tode bin erslagen. so wil ich uf din heil iagen min gebet hin zu gote. (III 216, 89–95)

Nach Longinus’ Enthauptung wirft sich der Richter vor dem Leichnam nieder und fleht ihn um Hilfe an, die auch unverzüglich eintritt: Der zuvor so ungerechte heidnische Richter erhält sein Augenlicht wieder und bekehrt sich darauf ebenfalls zum Christentum. Damit ist die Finalität der Handlung auf die Spitze getrieben. Longinus sagt bereits voraus, dass er mit seinem Märtyrertod die Macht hat, Gott um Wunder zu bitten, unmittelbar nach seinem Tod wird zu ihm gebetet und er hilft darauf: Longinus muss gleichsam sterben, damit er als Heiliger und Märtyrer künftig angebetet werden und Wunder wirken kann. Die Dispositionen des Erzählanfangs wiederholen sich: War es zunächst Longinus, dem durch Christi Blut die Augen geöffnet wurden und den dessen Tod zur Umkehr bewegt hat, so ist es nun der Richter, der durch Longinus’ Blutopfer von der Blindheit befreit und dem christlichen Glauben zugeführt wird. Das Ende produziert also nicht nur einen Anfang auf einer anderen, jenseitigen Ebene (Longinus zieht ins Paradies ein), sondern es perpetuiert zugleich in der imitatio immer wieder einen neuerlichen Anfang in der Welt. Das Ende im Märtyrertod ist damit in zweifacher Hinsicht aufgehoben: Einmal, als Longinus’ Ende in der Zeit zugleich seinen Anfang in der Zeitlosigkeit disponiert, welche zudem in die Welt der Menschen hinüberragt, für die der Heilige durch Fürbitte Wunder wirkt; zum anderen durch das Perpetuieren dieser Disposition, das (narrative) Produzieren weiterer Anfänge in der imitatio, die zuletzt die Ebene der Narration verlässt und sich auch an den Rezipienten der Erzählung richtet (darauf wird noch zurückzukommen sein).29 Wenn Stierle im Anfang eine Funktion des Endes ausmacht,30 so ist an dieser Stelle für die Legende umgekehrt das Ende als Funktion des Anfangs zu konstatieren. Derartige Zusammenhänge lassen sich im Prinzip in jeder hagiographischen Erzählung fassen, wenn auch nicht in der gleichen Opazität wie der sehr prägnant erzählten Longinus-Legende. Exemplarisch soll dies in den anderen hier zur Disposition stehenden Legenden verdeutlicht werden, wobei ich mich auf einige wesentliche Aspekte beschränke, die die eröffneten Konstellationen weiterführen. Zunächst zur Christophorus-Vita,31 welche in gewisser Weise als Gegenstück betrachtet werden kann: Während die Longinus29

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Vgl. zum Heiligen als Imitabile, der nicht nur selbst durch sein Wirken, sondern auch durch seine Legende die Nachfolge Christi weiterführt, auch Strohschneider (Anm. 17), S. 147f. Vgl. nochmals Stierle (Anm. 10), S. 586. Zur Stoff- und Verehrungsgeschichte dieses im Mittelalter und darüber hinaus enorm populären Heiligen vgl. immer noch die ausführliche Untersuchung von Hans-Friedrich Rosenfeld: Der hl. Christophorus. Seine Verehrung und seine Legende. Eine Untersuchung zur Kulturgeographie und Legendenbildung des Mittelalters. Turku [Åbo] 1937.

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Legende auf engstem Raum und in extremer Verdichtung die beiden entscheidenden Stationen von Longinus’ Wirken (Konversion und Martyrium) abbildet und diese auch noch über die größtmögliche Nähe an die Heiligkeit Christi, den Anfang und die Begründung der christlichen Heilsoffenbarung, anbindet und als direkte imitatio weiterführt, überblickt die Christophoruslegende hingegen das ganze Leben des Protagonisten von der Geburt bis zum Tod. Doch auch hier strebt die Handlung gleichermaßen von Beginn an dem Märtyrertod zu. Erzählt wird dies mithilfe einer äußerst sinnfälligen Metaphorik: Der Protagonist wird im heidnischen Kanaa unter dem Namen Reprobus geboren, der als „ungeneme“ (III 345, 7), als hässlich ausgelegt wird, denn er ist ein ungefüger Riese. Mit seinen Riesenkräften macht er es sich zum Ziel, nur dem größten, höchsten Herrn der Welt zu dienen. Er gelangt zuerst zu einem König, dann zum Teufel (denn vor diesem fürchtet sich der König), zuletzt macht er sich auf die Suche nach Jesus, vor dem sich wiederum der Teufel fürchtet. So hofft er in Jesus den offenbar mächtigsten Herrscher der Welt zu finden. Die Suche nach dem rechten Glauben ist in dieser Legende die Suche nach dem größten Herrn und wird dargestellt als Weg, den der Protagonist zu beschreiten hat; der Text spricht explizit von einer Straße des Glaubens: Rechtes gelouben bant Cristoforo was unerkant und welch die straze were nach des gelouben mere. (III 346, 27–30)

Die einzelnen Stationen, die sich auftun, sind Alternativen des Lebenswegs und werden auch konkret benannt: Weltliche Herrschaft, Irrung und Tod, Glaube und Heil.32 Der Weg zum Teufel führt von der rechten Straße ab in die Wildnis, Christus dagegen ist nicht so einfach zu entdecken: Christophorus erfährt von einem Einsiedler, man könne Christus nur durch Demut dienen und trägt fortan Reisende über eine Furt (eine Metaphorik, die bereits auf die künftige Mittlerfunktion des Heiligen hinweist). Es kommt schließlich zur weitläufig bekannten Begegnung des Riesen mit Christus, wie sie auch fast alle ikonographischen Darstellungen dieses Heiligen zeigen, wenn nämlich der Riese das Christuskind übers Wasser trägt. Christophorus hört eine Stimme, die ihn um seine Furtdienste bittet; erst beim dritten Mal erblickt er ein kleines Kind, das er zunächst mühelos auf seine Schultern nimmt, in der Mitte des Flusses jedoch seine Last kaum mehr tragen kann und zu versinken droht. Das Kind gibt sich als Christus zu erkennen („ich bin ez Crist,/ der din got und din kunic ist“; III 349, 95f.) und erklärt dem 32

Der Text übersetzt die Stationen und die Wegmetaphorik immer wieder ganz konkret: Christophorus sagt dem König zum Abschied „ich wante, ich hete mir erkorn/ an dir der werlte herschaft“ (III 346, 62f.); wenn er dann den Teufel sucht, kommentiert der Erzähler: „sus gienc der irrende man“ (III 346, 78) und lässt ihn den Höllenfürst in der Wildnis finden. Wenn der Teufel dann einem Feldkreuz ausweicht, weil er die Macht des Kreuzes fürchtet, so leitet er Christophorus „uf einen unwec vil hart“ (III 347, 31); Christophorus erkennt die noch höhere Macht Christi, wendet sich vom Teufel ab und kehrt gewissermaßen zurück auf den rechten Weg.

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Riesen, er trage nicht nur ihn selbst, sondern zugleich die ganze Welt mit ihm auf seinen Schultern. Der bekehrt sich auf der Stelle und erhält damit den Namen Christophorus: Christusträger, zugleich ein Ehrentitel für Märtyrer. Was somit in der Longinuslegende am Anfang der Erzählung steht – die Begegnung mit Christus und die Hinwendung zum christlichen Glauben – ist hier der vorläufige Zielpunkt eines metaphorischen Lebensweges; vorläufig deshalb, weil der so gefundene Glaube sich im Märtyrertod noch erfüllen muss. Daher verlässt Christophorus nun seinen Platz an der Furt und begibt sich zu einer Stadt, um den Heiden dort von Christus zu predigen; hier erleidet er schließlich das Martyrium, nachdem er unzählige Menschen bekehrt hat. Während die Longinuslegende die Umstände der conversio ihres Protagonisten lediglich konstatiert, aber kaum Begründungsstrategien dafür entwickelt, arbeitet die Christophoruslegende eine klare Motivationsstruktur heraus, die Handlung ist motiviert von dem Wunsch, dem Höchsten zu dienen, was für den eingeweihten (christlichen) Rezipienten, für den der größte Herrscher der Welt natürlich nur Gott sein kann, zugleich die Finalität hinter dieser kontingenten Ereigniskette erkennen lässt. Der Dienst an Gott umfasst freilich mehr, als nur in Demut Menschen über einen Fluss zu tragen, er mündet (idealerweise) in imitatio des christlichen Kreuzestodes im Martyrium. Kontingente Handlungsstrukturen finden sich also allenthalben auf der histoire-Ebene (Christophorus’ Handlungsweise ist kausal motiviert, die einzelnen Ereignisse oberflächlich kontingent), Finalität auf der discours-Ebene – die geballte Kontingenz der Ereignisse führt auf die Begegnung mit Jesus und die conversio hinaus, bestimmendes Handlungsziel ist das Martyrium, durch das Christophorus den Status der Heiligkeit erlangt (s.u.). Dieser Status wird im Passionaltext aber schon von vornherein klargemacht, indem der (künftige) Heilige von Beginn an mit dem Namen Christophorus, der ihm ja eigentlich erst nach seiner Bekehrung von Christus verliehen wird, benannt wird; selbst Christus in der Gestalt des kleinen Kindes spricht ihn an der Furt schon so an (III 349, 36), während sein ursprünglicher Name Reprobus nur eingangs ein einziges Mal genannt wird („und e im Cristus were erkant,/ do was er Reprobus genant“; III 345, 5f.). Und so ist die anfängliche Metapher vom Weg eben nicht für die gesamte Legende bestimmend, die gerade nicht wie dieser einfach von einem Anfangs- zu einem Zielpunkt verläuft. Anfang und Ende scheinen auch hier keine Fixpunkte zu sein: Wiederum erweist sich das narrative Ziel der Legende als ein erneuter Anfang, zunächst in der conversio, die aus dem ungeschlachten Riesen einen frommen Verkünder des Glaubens macht, sinnfällig nicht zuletzt am Namenswechsel. In zwei volkssprachlichen Versionen wird der Namenswechsel und damit der Umschlagspunkt, an dem die Finalität der Handlung erkennbar wird, noch auffälliger markiert: Dort heißt der Riese Offerus, wird von Christus persönlich getauft und erhält den neuen Namen, indem Christus ihm ausdrücklich seinen eigenen Namen zum bereits vorhandenen dazugibt. Statt eines komplett neuen Anfangs im Namenswechsel von Reprobus zu Christophorus ist (gleich der Ablösung des Alten

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durch das Neue Testament) mit dieser Verschmelzung das Alte, Vergangene in den Neuen Anfang hinübergeholt.33 Christophorus’ Märtyrertod wird unter den gleichen Vorausdeutungen erzählt, wie sie für die Longinuslegende bereits umrissen wurden. Auch hier kündigt der künftige Heilige schon vor seinem Tod an, Wunder zu wirken: Er soll, da alle Foltern nicht anschlagen, mit Pfeilen beschossen werden, diese aber treffen nicht ihn, sondern wenden sich zu ihren Schützen zurück. Einer davon trifft den heidnischen König ins Auge (das Erblinden ist, wie schon die Longinuslegende zeigt, eine der häufigsten hagiographischen Metaphern für Unglauben), und Christophorus rät dem König, er solle ihn enthaupten lassen und das dabei vergossene Blut mit Erde mischen und auf die Wunde streichen. Dies geschieht und die Heilung tritt sogleich ein, worauf sich der König mit dem gesamten Volk bekehrt. Nicht wie bei Longinus durch seine Fürsprache, sondern mit dem im Martyrium vergossenen Blut des Heiligen wird das Augenlicht seines Richters wiederhergestellt, die Parallelen zum christlichen Opfertod sind augenscheinlich. Der Heilige teilt mit den Rezipienten der Erzählung das Wissen um die Wunderkraft seiner Reliquien. Zudem muss ihm in einigen Versionen wie den oben genannten Gott vor seinem Tod explizit zugestehen, dass die Menschen sich künftig im Gebet an ihn wenden können, bevor ihm der Henker den Kopf abschlagen kann. Der Text bestätigt, was nicht verwundert, Christophorus’ Funktion als Nothelfer, doch er tut das auf der Handlungsebene und zu einem Zeitpunkt, als ihm eine solche eigentlich noch gar nicht zukäme, da er ja erst nach seinem Märtyrertod in die communio sanctorum aufgenommen wird. Das Ende ist also auch hier im Anfang aufgehoben; Begründungsstrukturen und Vorher-Nachher-Relationen sind diffus geworden. Für die Lucialegende gelten im Wesentlichen ähnliche Voraussetzungen. Ein Unterschied allerdings besteht darin, dass keine Konversion erzählt wird, sondern Lucia sich von Beginn an für ein christliches Leben in Keuschheit berufen fühlt. Damit aber sind die weiteren Handlungskonstellationen bereits festgelegt: In einer Erzählung über eine Heilige, deren Virginität eigens betont wird, muss eben diese Jungfräulichkeit in Frage gestellt werden, genauso wie einem christlichen Märtyrer immer die Möglichkeit gegeben werden muss, das Martyrium mit der Preisgabe des christlichen Glaubens abzuwenden – damit diese Alternative negiert werden kann: Als Opfer, das freiwillig und bewusst eingegangen werden muss.34 33

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Beide Texte ediert von Anton Schönbach. In: ZfdA 17 (1874), S. 85–136 [Version A] bzw. ZfdA 26 (1882), S. 21–81 [Version B]. Besonders prägnant schildert diese Szene die vermutlich erst im 15. Jh. entstandene Version A; die Version B, die sogar Anspielungen auf die Artusrunde macht, ist eine der ältesten volkssprachigen Fassungen dieses Stoffes und vermutlich noch vor der Legenda aurea entstanden. In beiden Fassungen wird der Riese übrigens konsequent so lange Offerus genannt, bis der Namenswechsel auch tatsächlich stattgefunden hat; danach wird der Protagonist zudem mehrfach bereits mit dem Epitheton sante belegt. Erst wenn es eine Wahl gibt, die abgewiesen wird, können Virginität und Glaubensstärke im Martyrium als ethische Leistung erscheinen, als Tugenden, die ein religiöses Charisma herstellen und als

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Folgerichtig soll daher Lucia zur Ehe gezwungen werden, wird nach ihrer Weigerung zunächst in ein Bordell gesteckt und muss, als dies auch nicht verfängt, das Martyrium erleiden. All dies wird aber bereits von Anfang an klargemacht, wenn Lucia mit ihrer Mutter zum Grab der hl. Agatha pilgert, von deren Tugenden und Wundern, so heißt es im Passional, zu dieser Zeit viele Geschichten im Umlauf gewesen seien. Die Mutter nämlich leidet an Blutfluss, daher legt Lucia ihr nahe, das Grab zu berühren und zu beten, um auf Heilung hoffen zu können.35 In einer Vision erscheint Lucia jedoch die heilige Agatha persönlich und fordert sie auf, nicht um etwas zu bitten, was sie der Mutter durch ihre Glaubensstärke selbst geben könnte: sagan warumme du nu iages mit diner bete her zu mir die dinc, die du wol von dir verlihen diner muter macht? nu sich! ir ist itzu bracht des libes gute gesuntheit durch die vollenkumenheit, die an dime gelouben lit. (III 26, 50–57)

Augenblicklich wird die Mutter gesund; Lucia kann offensichtlich bereits zu Lebzeiten das bewirken, was die virtus der hl. Agatha in der Realpräsenz ihrer Reliquien vermag: Heiligkeit bedeutet Nachfolge, imitatio, was sich an dieser Stelle sogar auf das Wunderwirken Lucias ausdehnt, deren anschließender Martyriumsbericht dann in den wesentlichen Punkten dem Agathas gleicht, als deren Nachfolgerin sich Lucia sieht. Indem die Handlung an Agathas Grab exponiert wird, weist der Tod im Martyrium in mehrfacher Hinsicht über sich hinaus: Für die heilige Jungfrau Agatha bedeutet er den Anfang der Ewigkeit, Aufnahme in die Gemeinschaft der Heiligen, für Lucia wiederum produziert er in der imitatio ebenfalls einen Beginn, nämlich den ihrer eigenen Heiligkeit, die sich bereits in ihrer Wundertätigkeit der Mutter gegenüber erweist und sich schließlich im Martyrium erfüllt. Verklammert sind diese beiden Anfänge durch den Modus der Erzählung (Lucia pilgert zum Grab, weil man davon erzählt), und so verlagert sich das Produzieren immer neuer Anfänge auch auf die Erzählebene, denn es ist nicht zuletzt die Legende, die den Nachfolgeaufruf narrativ immer weiter aufrecht erhält. Damit komme ich wieder auf die Nikolaus-Vita zurück, die, wie schon anfangs beschrieben, den Bogen von der Geburt bis zum Tod des Heiligen spannt. Jedoch handelt es sich nicht um einen Märtyrertod, denn Nikolaus ist ein Bekenner-Heiliger, d.h. seine Heiligkeit und Glaubensstärke erweist sich nicht erstrangig in der imitatio Christi als

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Codierung von Heiligkeit, die herauszustellen ja das wesentliche Erzählziel der Legenden ist. Vgl. Strohschneider (Anm. 17), S. 145. Währenddessen wird im gleichzeitigen Gottesdienst das Evangelium von der blutflüssigen Frau verlesen – kein Zufall, sondern vielmehr jene Kontiguitätsbeziehung, wie sie Haferland als typisch für mittelalterliches Erzählen allgemein, besonders aber legendarisches Erzählen beschreibt, vgl. Haferland (Anm. 8), S. 333f., sowie Ders. (Anm. 6), S. 348.

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Blutzeugenschaft des Martyriums, der imitatio-Aspekt liegt vielmehr auf dem gesamten gottgefälligen Leben und Wirken. Anders als in Märtyrerlegenden kann in diesem Fall die Heiligkeit des Protagonisten nicht durch einen syntagmatisch auf den Märtyrertod zustrebenden Erzählverlauf herausgestellt werden, sondern geschieht paradigmatisch, durch ständige Wiederholung immer neuer Heiligkeitserweise, in Wundern, in Tugenden, in besonderer Glaubensstärke oder im Kampf gegen Dämonen usw. Trotz biographischer Eckpunkte wie Geburt, Tod, Jugend und Bischofsweihe sind Zeitstrukturen und kausale Verknüpfungen auf der Handlungsoberfläche höchstens innerhalb der einzelnen Binnenepisoden klar erkennbar. Diese sind jedoch gleichermaßen einer Finalität der Heiligkeit unterworfen, da sie die göttliche Auserwähltheit Nikolaus’ immer aufs Neue erweisen – sei es durch die Einhaltung des Fastengebots schon als Säugling, sei es durch Bilokationen, wodurch er mehrfach Bedrängten hilft.36 Ebenso final zu verstehen ist die Tatsache, dass die Menschen bereits zu Lebzeiten Bittgebete an ihn richten. Das sich ständig wiederholende Herausstellen von Nikolaus’ Heiligkeit lässt zeitliche wie räumliche Ordnungsmuster diffundieren. Der Tod bleibt in der Konzeption als neuer, quasi transzendenter Anfang, bestehen, ist aber weniger Kern der Erzählung und narratives Ziel, sondern lediglich Bestätigung der zuvor immer aufs Neue exponierten Auserwähltheit des Heiligen. Hinzu kommt aber noch eine andere Eigenart legendarischen Erzählens, die bisher außer Acht geblieben, aber gerade für die Nikolaus-Vita von besonderer Bedeutung ist: Die Erzählung endet nämlich nicht wie die vorangegangenen Beispiele mit Tod und Begräbnis des Heiligen, sondern präsentiert im Anschluss daran eine umfangreiche Mirakelsammlung.37 In ebenfalls paradigmatisch aneinandergereihten Wunderketten wird darin das spätere Wirken des Heiligen nach seinem Tod dargelegt. Der Tod (und das ist ja eine Kernaussage des Christentums) ist somit keinesfalls das Ende, auf der Handlungsebene ebensowenig wie auf der Ebene des Erzählens. Vielmehr scheint, so paradox es auf den ersten Blick erscheinen mag, der Tod, der ja eigentlich das Ende des Protagonisten darstellt, hier mehr noch als bei den Märtyrerlegenden eher die Funktion der Mitte zu erfüllen, wie sie Stierle nach Aristoteles beschreibt.38 Diese an Legenden anschließenden Mirakelsammlungen sind notwendigerweise paradigmatisch, da sie außerhalb des Lebens des Heiligen liegen, insofern also keine biographischen Bezugspunkte narrative Kohärenz stiften könnten. Doch es zeigt sich noch etwas anderes: Für jede Legende ist die Anbindung an die Geschichte bzw. die Ge36

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So erscheint der Heilige beispielsweise einer Schiffsbesatzung in Seenot, um sie sicher ans Ufer zu geleiten, oder er befindet sich plötzlich im Gemach eines ungerechten Herrschers, um die Freilassung Unschuldiger zu bewirken; hier scheint Nikolaus jeweils an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Dies ist selbstverständlich keine ausschließliche Eigenschaft von Bekennerlegenden, Mirakelerzählungen finden sich natürlich auch bei Märtyrern. Doch scheint es mir auffällig, dass es vor allem Bekennerlegenden sind, an die umfangreiche und ausführliche Mirakelsammlungen angelagert werden. „Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt, als auch etwas anderes nach sich zieht“; Stierle (Anm. 10), S. 579.

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schichtlichkeit ihrer Protagonisten ein wesentliches Faktum.39 Zugleich aber wird mit dem in einen Anfang transformierten Ende des Lebens die Zeitlichkeit in Zeitlosigkeit, Historizität in transhistorische Ewigkeit überführt. Die Mirakel wiederum bieten eine Möglichkeit, ebendiese Zeitlosigkeit erneut rückzubinden an die Geschichtlichkeit. Denn hier wird vorgeführt, wie der Heilige in der Realität der Gläubigen wirkt, und zwar bis in die Gegenwart der Rezipienten hinein. Auf diese Weise wird eine Gleichzeitigkeit von Ewigkeit und Geschichte erzeugt, die über die Erzählung hinausweist: Der Rezipient der Legende kann die Wunderkraft des Heiligen für sich selbst in Anspruch nehmen, dadurch dessen Heiligkeit immer wieder aufs Neue bestätigen und auf diese Weise selbst Teil einer sich theoretisch bis ins Unendliche fortschreibenden Mirakelkette werden. Solches zu tun fordert ihn die am tatsächlichen Ende der Erzählung stehende invocatio zudem explizit auf,40 und mit diesem Schluss der Erzählung verschmelzen die (historische) Vergangenheit des Heiligen, die Gegenwart der Rezipienten und die Heilsgewissheit der Zukunft untrennbar miteinander.41

III. Finalität des Bösen: Heilsnotwendigkeit und endloses Ende von Judas und Pilatus Diese Überlegungen gilt es zuletzt noch an solchen Texten zu überprüfen, die zwar ebenfalls Bestandteil hagiographischen Erzählens sind, dabei jedoch stets komplementär zu den übrigen Legenden stehen: Nicht um Heilige geht es, sondern um Un-Heilige, nicht um Legenden, sondern um Anti-Legenden.42 Als Anti-Legenden werden hier die Viten

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Zum Status der Historizität in legendarischen Erzählungen vgl. Benedikt Konrad Vollmann: Erlaubte Fiktionalität: die Heiligenlegende. In: Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter. Hrsg. von Fritz Peter Knapp, Manuela Niesner. Berlin 2002 (Schriften zur Literaturwissenschaft 19), S. 63–72; vgl. aus historischer Perspektive auch Klaus Schreiner: Zum Wahrheitsverständnis im Heiligen- und Reliquienwesen des Mittelalters. In: Saeculum 17 (1966), S. 131–169. „nu sul wir immer vechten/ gegen der untugende her;/ darzu sal uns wesen ein wer/ sante Nicolaus helfe“ usw. (III 25, 27–30). Man könnte diese paradigmatische Reihung der Mirakelerzählungen komplementär zur Paradigmatik des höfischen Romans, wie sie Rainer Warning beschrieben hat (vgl. Rainer Warning: Erzählen im Paradigma. Kontingenzbewältigung und Kontingenzexposition. In: Romanistisches Jahrbuch 52 [2001], S. 176–209), auffassen: Während im höfischen Roman durch Paradigmatik Kontingenz reduziert wird, exponieren die Wunderketten der legendarischen Mirakelsammlungen gerade die Providenz des göttlichen Heilsversprechens: Providenzexposition anstatt Kontingenzreduktion. Ich übernehme der Einfachheit halber den von André Jolles (Anm. 17), S. 51, geprägten Begriff, ohne die damit verbundene Problematik zu diskutieren, die gleichwohl in Rechnung zu stellen ist; vgl. dazu zuletzt Marina Münkler: Sündhaftigkeit als Generator von Individualität. Zu den Transformationen legendarischen Erzählens in der ‘Historia von D. Fausten’ und den Faustbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 2006. Hrsg. von Peter Strohschneider. Berlin/New York 2009, S. 25–61, 33f.

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solcher Personen bezeichnet, die als Negativexempel im direkten Gegensatz zu den Imitatio-Figuren der Heiligen stehen. Ihnen ist wie den Heiligen ein heilsgeschichtlicher Bezug ebenfalls inhärent, jedoch bestätigen sie die christliche Heilsgeschichte gleichsam ex negativo. Während sich an den Heiligen die Vorbildlichkeit im Glauben im Lohn des ewigen Lebens erweist, zeigt sich an den Bösen die Strafe der Verdammnis. Dabei werden die Erzähl- und Handlungsmuster der Heiligenlegende unter umgekehrten Vorzeichen verwendet. Von besonderem heilsgeschichtlichem Interesse sind dabei die Lebensbeschreibungen der beiden Mitverursacher am Tode Jesu: Judas, der ihn verraten und Pilatus, der ihn verurteilt hat. Sie reagieren auf die Frage nach der Schuld an Jesu Tod, hinter der wiederum die nach der Providenz des göttlichen Heilsplanes steht, für dessen Erfüllung die beiden Negativfiguren unerlässlich sind.43 Auf die Details, wie sich Kontingenz und Providenz, individuelle Schuld und tragisches Verhängnis narrativ überlagern, kann an dieser Stelle jedoch nur in einem kursorischen Ausblick eingegangen werden.44 Die Judaslegende45 ist im Passional, wie auch in der Legenda aurea, in die MatthiasVita integriert, ihr kommt also nicht der Status einer eigenständigen Legendenerzählung

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u. 49f., vgl. zur Diskussion auch Wolfgang Brückner: Ausprägungen und Nachwirkungen von Legende und Antilegende der Orthodoxie und der Kontroversisten. In: Volkserzählung und Reformation. Hrsg. von Dems. Berlin 1974, S. 260–294, 278ff.; kritisch zum Begriff vgl. Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter. Bd. 1. München 1990, S. 340–355. Aus diesem Grund sind Anti-Legenden durchaus fester Bestandteil der mittelalterlichen Legendare, denn auch an ihnen wird die Wirkungsdimension der christlichen Heilsgeschichte deutlich. So zählen Erzählungen wie die von der Zerstörung Jerusalems (in Passional und Legenda aurea integriert in die Vita des Jacobus minor) gleichermaßen zu den Anti-Legenden, geht es hier doch darum zu zeigen, dass die Juden, welche Jesus ans Kreuz gebracht haben, vom christlichen Heil ausgeschlossen sind und die Wirkungsdimension des Kreuzes wie auch die Macht Gottes somit durch ihren Untergang bestätigen; wie Judas oder Pilatus kommt freilich auch ihnen die erzählerisch notwendige Rolle zu, die Ereignisse um die Kreuzigung erst in Gang gesetzt zu haben, sie sind damit ‚heilsgeschichtlich‘ ebenso unentbehrlich wie die beiden größten Negativgestalten des Neuen Testaments. Für die Judasvita sei verwiesen auf die ausführliche Analyse von Christian Kiening: Arbeit am Absolutismus des Mythos. Mittelalterliche Supplemente zur biblischen Heilsgeschichte. In: Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Udo Friedrich, Bruno Quast. Berlin/New York 2004 (TMP 2), S. 35–57, 47–55, welche die oberflächliche Kontingenz und strukturelle Finalität dieser Erzählung vor dem Hintergrund mythischer Erzählstrukturen diskutiert. Vgl. zur Judas-Gestalt umfassend Hans-Josef Klauck: Judas, ein Jünger des Herrn. Freiburg u. a. 1987 (Quaestiones disputatae 111), zu den theologischen Deutungsmöglichkeiten vgl. ebd., S. 17– 32. Zum Judasbild im Neuen Testament vgl. Horacio E. Lona: Judas Iskariot. Legende und Wahrheit. Judas in den Evangelien und das Evangelium des Judas. Freiburg u. a. 2007 sowie Werner Vogler: Judas Iskarioth. Untersuchungen zu Tradition und Redaktion von Texten des Neuen Testaments und außerkanonischer Schriften. Berlin 1983 (Theologische Arbeiten 42). Zur Genese der lateinischen Legendentradition, welche die Legenda aurea und damit auch das Passional aufnimmt, vgl. die Studie von Paul Lehmann: Judas Ischarioth in der lateinischen Legendenüberlieferung des Mittelalters. In: Erforschung des Mittelalters. Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze von Paul Lehmann.

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zu, sondern sie wird vielmehr als Bestandteil der Vita dessen betrachtet, der für den aus dem Kreis der Zwölf Jünger ausgeschlossenen Verräter nachrückt. Dennoch bildet die Judaslegende einen völlig eigenständigen Teil dieser Legende (in den Handschriften der Legendare teils auch durch entsprechende Seitenüberschriften gekennzeichnet), die dann noch einmal neu ansetzt und von der Berufung des Matthias und seinem Wirken als Apostel berichtet. Zunächst aber handelt die Erzählung ausschließlich von Judas, und zwar von seiner Geburt und seiner Jugend bis zur Ankunft in Jerusalem. Ab dem Zeitpunkt, ab dem Judas sich Jesus anschließt und einer seiner Jünger wird, schweigt sich seine Vita aus und gibt nur wenige Hinweise aus den Evangelienberichten (der Verrat an Jesus selbst wird gar nicht behandelt, ist im Passional jedoch im Rahmen der Passionsgeschichte auserzählt); berichtet wird erst wieder sein Ende durch Selbstmord, bevor der Text dann zur Erwählung des Matthias als Nachfolger übergeht. Bei Judas tut sich eine regelrechte Finalität des Bösen auf, die mit der Implementierung des Ödipus-Musters eine externe Gerichtetheit erhält: Judas wird aufgrund eines warnenden Traumes als Säugling von den Eltern auf dem Meer ausgesetzt, wächst als Königssohn auf der Insel Scarioth auf (daher der Beiname), von der er fliehen muss, nachdem er seinen Stiefbruder heimlich erschlagen hat. Judas wird dabei durchaus auch mit individuellen Merkmalen der Bosheit und Heimtücke versehen. Er flieht zurück nach Jerusalem, wo er (ausgerechnet) bei Pilatus unterkommt, auf dessen Befehl er schließlich Äpfel aus einem Garten stiehlt und dabei den Besitzer erschlägt. Es fügt sich so, dass es sich hierbei um den eigenen Vater handelt, den er nicht erkennt; zur Sühne heiratet er dessen Witwe, seine eigene Mutter. Hier schlägt, wie im antiken Ödipus-Mythos,46 scheinbar das Fatum zu, wobei es gerade die kontingenten Versuche sind, dem zu entkommen, die das finale Handlungsziel erreichen lassen. Erstaunlich ist dann aber, dass das Fatalistische noch einmal verschoben wird: Judas erkennt seine Sünden, bereut und wird zum Jünger Jesu. Auch dort schlagen jedoch seine schlechten Eigenschaften, vor allem die Geldgier, durch, so dass es zum Verrat kommt und sich die Prophezeiung erfüllt, denn Judas ist ja gerade deswegen von seinen Eltern ausgesetzt worden, weil von ihm der Untergang des jüdischen Volkes ausgehen soll, indem es Jesus ans Kreuz bringt (s. die Erzählung von der Zerstörung Jerusalems). Beim letzten, folgenschweren Schritt scheint es, als ob Judas doch Entscheidungsfreiheit gewährt ist. Er ist zum Jünger Jesu geworden, und sein Verrat erfolgt aus freien Stücken. Erneut wird Kontingenz exponiert, greifen oberflächlich die Begründungsstrategien, dass er rein aus Bosheit und Geldgier handelt, wie es seine bisherige Vita ja vorgezeichnet

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Bd. 2. Stuttgart 1959, S. 229–250; zu den einzelnen Versionen und ihren volkssprachigen Bearbeitungen vgl. immer noch den breiten Überblick von Paull Franklin Baum: The Medieval Legend of Judas Iscariot. In: PMLA 31 (1916), S. 481–632. Zu den Parallelen des Ödipus-Stoffes vgl. Fritz Peter Knapp: legenda aut not legenda. Erzählstrukturen und Legitimationsstrategien in ‚falschen‘ Legenden des Mittelalters: Judas – Gregorius – Albanus. In: GRM 53 (2003), S. 133–154, vgl. hier die Übersicht S. 137f.

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hat. Wie die Märtyrer der zuvor besprochenen Legenden muss auch Judas eine Wahl haben – und wie die Finalität der Erzählung jene den Tod für den Glauben wählen lässt, sorgt sie hier für den notwendigen Verrat zur Erfüllung des göttlichen Heilsplanes. Die individuelle Schuld überlagert das unentrinnbare Schicksal – und ist doch providentielle Vorherbestimmtheit; diese Vorherbestimmtheit wird erkennbar seit seiner Geburt, durchzieht seine ganze Lebensbeschreibung, führt aber erst hier zum eigentlichen Ziel, und erst jetzt wird die ganze Providenz, die seine Vita eigentlich durchzieht, erkennbar.47 Aus diesem Grund ist Judas’ individuelle Schuld in der mittelalterlichen Theologie auch weniger in seinem Verrat, sondern vielmehr in der darauffolgenden desperatio und seinem Selbstmord gesehen worden.48 Ähnlich final ausgestaltet ist die Pilatus-Vita.49 Auch hier stehen die Vorzeichen von Beginn an ungünstig: Pilatus ist illegitimer Herkunft, der Sohn eines Heidenkönigs und einer Müllerstochter. Heroische Anlagen sind bei ihm durchaus vorhanden (werden in einigen anderen Versionen auch sehr stark betont), doch die schlechten schlagen immer wieder durch: Er wird am Hof seines Vaters erzogen, wo er im Streit seinen Halbbruder erschlägt (eine Parallele zur Judas-Vita).50 Dafür wird er als Geisel nach Rom gebracht und erschlägt dort – eine motivische Dublette – erneut einen hochgeborenen Fürstensohn. Begründet wird sein Verhalten immer wieder mit einer quasi von Natur aus boshaften Veranlagung, einer fast schon biologischen Determinierung zum Schlechten, die dazu führt, seinen Ziehbruder heimlich zu ermorden: sin vnart machte in also swach dar inne in sin bosheit vertruch daz er sinen bruder sluch dem er heimelich sin leben stal (I 82, 50–53)

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Vgl. hierzu Kienings (Anm. 44) genaue Analyse der finalen Handlungsstruktur der Judasvita, in deren Zielgerichtetheit er ein (über die Ödipus-Parallelen gerade hinausgehendes) mythisches Erzählmuster erkennt: „Die auf Unausweichlichkeit und Selbsterfüllung setzende Logik des Mythos wird aufgehoben durch die auf Barmherzigkeit und Gnade basierende Logik des Ethos, die ihrerseits aufgehoben wird durch die von Providenz und Sinntotalität geprägte Logik des Heilsplans, welche nun aber selbst mythische Züge trägt“ (S. 49). Vgl. zu diesem Motiv ausführlich Friedrich Ohly: Der Verfluchte und der Erwählte. Vom Leben mit der Schuld. Opladen 1976, 36–42. Zu Gestalt und Vita des Pilatus im Mittelalter vgl. die Untersuchung von Andreas Scheidgen: Die Gestalt des Pontius Pilatus in Legende, Bibelauslegung und Geschichtsdichtung vom Mittelalter bis in die frühe Neuzeit. Literaturgeschichte einer umstrittenen Figur. Frankfurt/Main u. a. 2002 (Mikrokosmos 68), mit weiterführender Literatur. Aus methodischer und terminologischer Sicht eher problematisch dagegen die Arbeit von Bettina Mattig-Krampe: Das Pilatusbild in der deutschen Bibelund Legendenepik des Mittelalters. Heidelberg 2001 (Germanistische Bibliothek 9); zur Pilatusvita des Passionals vgl. dort S. 166ff. Zum Vergleich von Pilatus- und Judasvita und den entsprechenden Motivdoppelungen vgl. Scheidgen (Anm. 49), S. 128–143.

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Allein der letzte Vers legt die ganze Perfidität des Mordplans dar: Pilatus führt den Mord „heimelich“ aus, eine von der Öffentlichkeit verborgene Tötung gilt jedoch als besonders unehrenhaft (im Gegensatz zum öffentlich geführten Zweikampf – hier sind erneut die Assoziationsfelder eines höfisch geschulten Publikums, mit denen der Passionaldichter offenbar immer wieder rechnet, zu erkennen), zudem stiehlt er ihm geradezu das Leben – eine deutlichere Wertung zum Negativen kann kaum gegeben werden.51 Der in diesem Zusammenhang ebenfalls gebrauchte Terminus nacheit (Pilatus wird z.B. I 83, 74 als „nachaft“ charakterisiert) wird im Passional auffälligerweise ausschließlich im Zusammenhang mit Anti-Heiligen gebraucht, und zwar bei den wirklich verdammenswürdigen Figuren Judas, Pilatus, Herodes, Julianus und Simon Magus, hingegen nicht einmal für Nero, der im Mittelalter immerhin als der gewalttätigste Christenverfolger und Inbegriff des bösen, unrechtmäßigen Herrschers galt.52 Weil nun jeder Pilatus’ nacheit fürchtet, wird dieser nur mit der Verbannung nach Pontus bestraft, wo man sich seiner durch die Unbezähmbarkeit dieses wilden Volkes zu entledigen hofft. Pilatus aber gelingt es, das Volk auszupressen – seine Gier ist stärker. Darum holt ihn schließlich auch Herodes zu sich nach Jerusalem, so dass die Biographien der drei größten Widersacher des Urchristentums – Herodes, Pilatus und Judas – zusammengeführt werden. Die Verurteilung Jesu durch Pilatus ist im Passional eingebettet in die Passionsdarstellung, die von der Pilatusvita zwischen Kreuzigung und Grablegung Jesu nur unterbrochen wird, sich ansonsten aber strikt an die Evangelien hält. Andere Versionen, nicht zuletzt wäre Johannes Rothes Passion zu nennen, stellen seine Vita dagegen in einen chronologischen Zusammenhang.53 Während die Konzeption des Passionals die Historizität der Figur betont, kommt dort die Finalität der Erzählung umso stärker zum Vorschein. Motivische Dubletten, die Pilatus’ Hang zum Bösen aufzeigen, der in der Verurteilung Jesu kulminiert, finden sich immer wieder: Auf ihn werden zwei Brudermorde (am Halbbruder und dem Ziehbruder in der römischen Geiselhaft) und zwei Tyranneien (Pontus und Jerusalem) projiziert; diese Determination zum Bösen versucht, seine Rolle als ungerechten Richter innerhalb der Passionsgeschichte zu motivieren und dem heilsgeschichtlichen Geschehen eine kausale Begründungslogik zu verleihen, die dennoch oberflächlich bleibt. Auch andere, im Passional und der Legenda aurea jedoch fehlende Einzelmotive tragen zur Unentrinnbarkeit des christlichen Heilsgeschehens bei, wie z.B. dass es der Teufel gewesen sei, der Pilatus’ Frau den warnenden Traum eingegeben habe, um auf diese Weise die Kreuzigung Jesu im letzten Moment doch noch abzuwenden –

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Entsprechend wird im Text auch wiederholt und explizit von mort gesprochen (vgl. I 82, 83 u. ebenso 83, 57). Besonders in der mhd. Kaiserchronik ist seine Bewertung von allen dort abgehandelten römischen Kaisern am negativsten; auch im Passional wird er in mehreren Legenden immer wieder als besonders übel charakterisiert, namentlich in der Petruslegende, wo Nero den Apostelfürsten zusammen mit Paulus hinrichten lässt. Vgl. Kiening (Anm. 44), S. 52f., 55.

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ein Zug, der in der lat. Exegese, aber auch schon im as. Heliand auftaucht.54 Es scheint, als müsse Pilatus’ (gleiches gilt für Judas) Bosheit und Schlechtigkeit auf der Ebene der Handlung vielfach überdeterminiert werden, um zu verdecken, dass sie einzig dazu dienen, die Heilsgeschichte zu ihrer Erfüllung zu bringen. Seine Bosheit ist determiniert, sie resultiert aus der Heilsnotwendigkeit des Passionsgeschehens. Die histoire-Ebene der Erzählung ist hiermit erneut durch Kontingenz bestimmt, hinter der jedoch die finale Ordnung des christlichen Heilsgeschehens steht, welcher sich Pilatus wie Judas von vornherein nicht entziehen können. Wie aber sieht das Ende eines solchen Unheiligen aus? Judas stirbt durch Selbstmord, seine Seele bricht aus den Eingeweiden heraus, da sie den Mund, der Christus geküsst hat, nicht berühren soll. Bei Pilatus fällt auf, dass der Tod immer wieder verschoben wird: Zweimal wagt es nach seinen Morden keiner, ihn zum Tod zu verurteilen, er wird immer nur fortgeschickt. Nachdem Kaiser Tiberius durch das Tuch der Veronika, dessen Legende in die Vita eingewoben ist, geheilt wird, stellt er Pilatus unter Anklage, war er es doch, der Christus, den eigentlichen ‚Heiler‘, unrechtmäßig zum Kreuz verurteilt hat.55 Doch Pilatus wird zweimal vom Kaiser verschont, da er den Rock Christi trägt, der auf quasi-magische Weise überall Frieden stiftet und Tiberius seine Wut und Anklage gegen Pilatus vergessen lässt. Erst als man ihm den Rock auszieht, wird er in den Kerker geworfen, doch auch hier will ihn niemand töten, Pilatus muss sich am Schluss selbst umbringen: Er, der als ungerechter Richter den unschuldigen Christus hinrichten ließ, wird nicht verurteilt sondern richtet sich selbst. Doch auch jetzt ist die Erzählung nicht zu Ende, denn sogar die Leiche kommt nicht zur Ruhe. Den mit einem Mühlstein (eine Replik auf seine uneheliche Herkunft als Sohn eines Königs und einer Müllerstochter) beschwerten „vnreinen lichamen“ (I 89, 30) wirft man in den Tiber, doch die Elemente lehnen sich mit Blitz und Donner dagegen auf, man verfrachtet daher den Körper in die Rhône, wo es zu Schiffsuntergängen kommt, so dass man ihn zuletzt in einen wilden Gebirgssee wirft, weitab von Menschen, die zu Schaden kommen könnten. Zweimal also muss der Körper umgebettet werden, wie als Gegenstück zur translatio der Gebeine eines Heiligen. Während jene aber für die Menschen heilkräftig sind, erweist sich Pilatus’ Leiche dagegen als schadenbringend, es zeigen sich alle negativen Begleiterscheinungen komplementär zu denen von Heiligenreliquien, womit sich Pilatus trotz der ihn kennzeichnenden Ambivalenz, dem Zaudern vor der Verurteilung Jesu, doch durch und durch als Anti-Heiliger erweist, als Unheiliger, dessen Leiche zuletzt, in einem Gebirgssee deponiert, von Teufeln in die Tiefe gerissen wird, anstatt dass Engel seine Seele in den Himmel führen. Das zeigt: Für die unheiligen Protagonisten der Anti-Legenden als Negativexempel des Bösen ist der Tod gerade kein Anfang mehr, sondern endgültig – endgültig wie ihre 54 55

Vgl. Scheidgen (Anm. 49), S. 54f. Die in die Erzählung implementierte Veronikalegende wird im Passional so gestaltet, dass Pilatus nicht nur als einer der Mörder Jesu, sondern auch noch als potentieller Kaisermörder erscheint – ein erneutes Skandalon in den Augen eines höfischen Betrachters.

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Schuld und ihre Verdammnis, die narrativ von Anfang an festgelegt ist. Ihr endgültiger Tod transportiert die ebenso zutiefst christliche Botschaft, das Böse zuletzt zu beenden.56 Besonders beim Tod des Judas handelt es sich im Gegensatz zu den vorhin besprochenen Heiligen nicht um einen Anfang im Ende, sondern vielmehr um ein unendliches Ende: er solde ouch hangen in der luft zvschen himel vnde erde wande er vil vnwerde mit aller sunden schimele sich von dem himele vnde von der erden lute schiet do er den gotes sun verriet des solde er dulden disen pin vnde zuschen himel vnde erden sin mit den vil ubelen geisten die im da solden leisten mit ewenclicher marterat swas er vf si geborget hat (II 318, 43–55).

Während der Tod der Heiligen einen zeitlosen Anfang in der göttlich-paradiesischen Ewigkeit bedeutet, ist Judas’ Tod ein zeitloses, ein endloses Ende, das durch die Ortlosigkeit des Hängens zwischen Himmel und Erde noch zusätzliches Gewicht erhält. Wenn man das Ende mit Karlheinz Stierle narrativ als „Scheitelpunkt von ‚noch nicht‘ und ‚nicht mehr‘“57 betrachtet, so verharrt Judas’ Tod dauerhaft genau auf dieser Schnittstelle. Über die „ewencliche marterat“, die Höllenstrafen des Judas, informieren andere Texte wie die Brandanlegende, während die Legendare dazu keinerlei Auskunft mehr geben – über seinen Tod hinaus gibt es nichts zu berichten. Betrachtet man abschließend die Bibel und die christliche Heilsgeschichte als kulturellen Prätext, so laufen die Heiligenlegenden (nicht zuletzt in der imitatio Christi) final auf diese christlichen Begründungszusammenhänge zu. Die Anti-Legenden weisen grundsätzlich die gleiche narrative Logik auf, jedoch mit umgekehrter Semantik. In der rituellen Praxis erzeugt die Heiligenverehrung eine Aufhebung der Differenz von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; diese Aufhebung begründen die Legenden narrativ. Die Erzählungen sind von Anfang an ausgerichtet auf die Aufnahme des Heiligen in die communio sanctorum; bei Märtyrerlegenden ist das primär der Tod durch die Blutzeugenschaft, bei

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Für die Rezipienten ist, nicht zuletzt durch die exakte Angabe des Ortes, an dem Pilatus’ Leichnam ‚entsorgt‘ wird (es ist die Namensätiologie des Berges Pilatus im schweizerischen Kanton Luzern), darüber hinaus durchaus ein Bezug zur eigenen Gegenwart vorhanden: „Es geht darum, die beständige Gefährdung des Menschen durch das Böse zu zeigen – ein Böses, das in der Leiche des Pilatus einen klaren Ursprung und Bezugspunkt hat [...] In Judas und Pilatus wiederholt sich das mit dem Engelssturz angebrochene heilsgeschichtliche Drama und sind zugleich die Bedingungen für dessen Lösung entworfen“ (Kiening [Anm. 44], S. 55). Stierle (Anm. 10), S. 578.

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Bekennerlegenden erweist es sich immer wieder aufs Neue in den einzelnen Stationen des Lebens. Zugleich ist dieses Ende aber aufgehoben in einem Anfang, denn die Legendenprotagonisten erreichen damit einen immerwährenden, zeitlos-ewigen Zustand der größtmöglichen Gottesnähe, ihr Tod ist ein transzendiertes Ende. Dieser ist jedoch ebenfalls wieder rückgebunden an die Zeit und die Gegenwart, in die der Heilige immer wieder eingreifen kann und die zuletzt über den Text hinaus auf den Rezipienten verweist. Judas und Pilatus dagegen, die Anti-Heiligen, sind zwar unabdingbar für die Erfüllung der christlichen Heilsgeschichte, ihre Erzählungen sind auch mit vergleichbarer providentieller Vorherbestimmtheit gestaltet, aber stets in direkter Komplementarität zu den Heiligenlegenden. Sie sind notwendige Opfer eines Gründungsaktes (des Christentums), können an diesem Anfang selbst aber nicht teilhaben. Während die christliche Heilsgeschichte und die daran ausgerichteten Legenden durch eine Finalität ausgezeichnet sind, die zum Anfang führt, liegt hier die Finalität eines endlosen Endes vor. Die Heiligenlegenden dagegen führen die ewige Vergegenwärtigung ihrer Protagonisten vor, so dass Anfang und Ende konvergieren und jegliche zeitliche Strukturierung aufgehoben ist.

III. Ende und Nichtenden: Zyklik, Finalität

Susanne Baumgartner und Beate Kellner

Zeit im Hohen Sang Exemplarische Überlegungen zu Walther von der Vogelweide

I. Als grundlegend für den volkssprachlichen Hohen Sang kann die Iteration der prima vista immer gleichen Konstellation der Hohen Minne gelten. Wiederholungsstrukturen kennzeichnen die stark formalisierte Kunstform daher ebenso sehr wie ‚lexikalische Armut‘,1 Neigung zur Abstraktion, weitgehende Ereignislosigkeit, Aussparung von Namen und historischen Referenzen. Die Thematik der Lieder konstituiert sich insofern über einen insgesamt extrem schmalen Bestand an ‚semantischen Isotopien‘, den Rainer Warning als Liebe, Gesang, Freude, Schmerz, Schönheit, Güte und Dienst umrissen hat.2 Zeit kommt im Hohen Sang zumeist als unspezifische Dauer in den Blick, als ‚Ewigkeit‘ eines unerfüllt bleibenden Minnedienstes. Die longue durée der Minnebindung manifestiert sich in der triuwe der Minner und Sänger, die gewissermaßen von jeher besteht und auch in einer sich in unbestimmte Ferne dehnenden Zukunft unveränderlich bleiben soll. Zwar wird mitunter erwähnt, dass es einen Zeitpunkt gegeben habe, an dem das Ich die Dame zum ersten Mal gesehen und zu seiner Geliebten auserwählt habe oder an dem es zu einer ersten Gunstbezeugung gekommen sei,3 doch wird der Beginn

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Vgl. Rainer Warning: Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. In: Deutsche Literatur im Mittelalter. Kontakte und Perspektiven. Hugo Kuhn zum Gedenken. Hrsg. von Christoph Cormeau. Stuttgart 1979, S. 120–159, 133–135, 138, 156–159. Vgl. Warning (Anm. 1), S. 134. Den Terminus ,semantische Isotopien‘ übernehmen wir von Warning. Vgl. Algirdas J. Greimas: Structural Semantics. An Attempt at a Method. Eingeleitet von Ronald Schleifer. Lincoln/London 1983 (französische Originalausgabe 1966), bes. S. 78–115. Etwa bei Heinrich von Morungen: „Ich hân sî vür alliu wîp / mir ze vrowen und ze liebe erkorn“ (MF 130, 31f.); „Ich bedarf vil wol, daz ich genâde vinde, / wan ich hab ein wîp ob der sunnen mir erkorn“ (MF 134, 25f.); „Dô si mir alrêrst ein hôchgemüete sande / in daz herze mîn“ (MF 139, 3f.). Die Lieder werden zitiert nach: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet

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Susanne Baumgartner und Beate Kellner

der Minnebindung in aller Regel nicht in besonderer Weise als Ursprung der Liebe inszeniert. Wenn vom ende4 die Rede ist, dann ist dies zumeist nicht zeitlich gedacht, sondern als das ferne und unerreichbare Ziel der Liebeserfüllung, auf das sich das Sehnen des Sängers fortwährend richtet. Ein zeitliches Ende des Dienstes darf es nach den Regeln der Hohen Minne im Leben des Minners und Sängers nicht geben, entsprechend ist dieses tabuisiert. Der Minner will der Dame vielmehr alle seine Tage, alle seine Jahre, sein ganzes Leben zu eigen geben.5 Akzentuiert wird in der überwiegenden Mehrheit der Lieder die Kontinuität der Werbungssituation, welche der Unausweichlichkeit der Bindung entspricht: Die Minne erscheint daher, obgleich jede zeitliche Dauer dem logischen Verständnisse nach durch Eckpunkte begrenzt sein müsste, zumeist als anfangsund endlos.6 Unhintergehbare zeitliche Grenzen der Minnebindung kommen ins Spiel, wenn der Sänger betont, dass er dem Dienst an der Dame bis zu seinem Tod treu bleiben wird.7 Doch selbst dieses durch die Zeitlichkeit des Lebens gesetzte natürliche Ende kann im Zeichen der staete überschritten werden. Prägnant zeigt sich dies in Heinrichs von Morungen Lied Vil süeziu senftiu toeterinne (MF 147, 4).8 Hier wird die Phantasie entfaltet, die Dame könne zwar den Minner töten, doch seine Seele würde weiterleben und sie weiterlieben.9 Der Dienst wird damit über

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von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Stuttgart 381988; und Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. Hrsg. von Christoph Cormeau. Berlin/New York 141996. Etwa in Morungens Narzisslied: „Owê leider, jô wânde ichs ein ende hân / ir vil wunnenclîchen werden minne. / nû bin ich vil kûme an dem beginne“ (MF 145, 29–31). So heißt es etwa bei Reinmar: „doch hân ich mir ein liep erkorn, / deme ich ze dienst – und waer ez al der welte zorn – / wil sîn geborn“ (MF 159, 25–27); „sô bin ich doch ûf anders niht geborn, / Wan daz ich des trôstes lebe, / wie ich ir gediene und sî mir swaere ein ende gebe“ (MF 172, 20– 22) und bei Morungen: „Mîn staeter muot gelîchet niht dem winde. / ich bin noch, als sî mich hât verlân, / vil staete her von einem kleinen kinde“ (MF 136, 9–11). Vgl. folgende typische Formulierungen: „iemer mê“ (MF 123, 13), „iemer“ (L 109, 5), „lange zît“ (L 47, 16), „lange wîle“ (MF 171, 6), „die wîle ich lebe“ (L 120, 17), „alle tage“ (MF 170, 5), „vil manic jâr“ (MF 172, 11). Vgl. Reinmar: „Diu jâr diu ich noch ze lebenne hân, / swie vil der waere, ir wurde ir niemer tac genomen“ (MF 159, 28f.); „jô hât si tugende, der ich volge unz an daz zil, / Niht langer wan die wîle ich lebe“ (MF 157, 34f.). „Vil süeziu senftiu toeterinne, / war umbe welt ir toeten mir den lîp, / und ich iuch sô herzeclîchen minne, / zwâre vrouwe, vür elliu wîp? / Waenent ir, ob ir mich toetet, / daz ich iuch iemer mêr beschouwe? / nein, iuwer minne hât mich des ernoetet, / daz iuwer sêle ist mîner sêle vrouwe. / sol mir hie niht guot geschehen / von iuwerm werden lîbe, / sô muoz mîn sêle iu des verjehen, / dazs iuwerre sêle dienet dort als einem reinen wîbe“ (MF 147, 4–15). Trude Ehlert deutet dies als Spiritualisierung der Minnebeziehung, vgl. Trude Ehlert: Das ‚klassische‘ Minnelied. Heinrich von Morungen: ‚Vil süeziu senftiu toeterinne‘. In: Gedichte und Interpretationen. Mittelalter. Hrsg. von Helmut Tervooren. Stuttgart 1993 (RUB 8864), S. 43–55. Ebenso Helmut Tervooren, vgl. Heinrich von Morungen: Lieder. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Text, Übersetzung, Kommentar von Helmut Tervooren. Stuttgart 32003 (RUB 9797), Anmerkungen, S. 189.

Zeit im Hohen Sang

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die Grenze des Lebens hinaus in das Jenseits transzendiert, wodurch er jede Vorstellung von Zeitlichkeit und zeitlicher Begrenztheit verliert. Die Konnotation der Minnebindung als einer ‚ewigen‘, die sich in vielen Liedern findet, wird in der Übertragung auf die Transzendenz mit aller Deutlichkeit formuliert. In dieser, dem Hohen Sang eigenen, im erwähnten Morungenlied ins Extreme gesteigerten Modellierung von Zeit kommt zum Ausdruck, dass es gerade keine weiterführenden Entwicklungen und Fortschritte in der Werbung um die angebeteten Damen geben kann und darf. Die staete der Minner ist verbunden mit der triuwe der adäquate ethische Ausdruck dieser zeitlichen Statik.10 Der Minner scheint in der Liebesbindung gefangen, es gibt für ihn kein Entkommen, und dementsprechend ist auch ein Ende des Dienstes als Befreiung nicht möglich.11 Zur skizzierten Statik dieser Minnekonstellationen gehört, dass die Dame als eine vollkommene gezeigt wird, als summum bonum stellt sie ein Abstraktum dar. Sie ist die Beste und Schönste schlechthin, unter allen Frauen ist sie die Höchste. Dies wird in den Liedern häufig in einer Raumsemantik der Höhe umgesetzt, welche die hohe Minne gewissermaßen auf einer vertikalen Achse illustriert.12 Die Raumvor-

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In einigen Liedern wird die staete des Sängers noch durch einen Vergleich oder eine Metapher verdeutlicht, z. B. bei Morungen: „Ez ist site der nahtegal, / swanne sî ir liep volendet, sô geswîget sie. / dur daz volge aber ich der swal, / diu durch liebe noch dur leide ir singen nie verlie“ (MF 127, 34–37); „hete ich nâch gote ie halp sô vil gerungen, / er naeme mich zuo zim. ach mîner tage!“ (MF 136, 23f.). Oder in parodistischer Bildlichkeit in MF 127, 1: Ein Wald, ein Sittich, ein Star oder ein Baum hätten bei seinem treuen Dienst schon lange reagiert, nicht aber seine Dame: „Der sô lange rüeft in einen touben walt, / ez antwürt im dar ûz eteswenne. [...] ôwê, jâ hât sî geslâfen allez her / alder geswigen alze lange. [...] Waer ein sitich alder ein star, die mehten sît / gelernet hân, daz si spraechen minnen. / ich hân ir gedienet her vil lange zît. / mac sî sich doch mîner rede versinnen? / Nein sî, niht, got enwelle ein wunder / vil verre an ir erzeigen. / jâ möht ich sît einen boum mit mîner bete / sunder wâpen nider geneigen“ (MF 127, 12f.; MF 127, 18f.; MF 127, 23–30). Walther von der Vogelweide übersteigert diesen Gedanken im Lied von der Stæte (L 96, 29) in der Personifikation einer „frô Stæte“, die den Minner gefangen hält und seiner Bitte, ihn frei zu lassen, nicht nachkommen kann, da sie – wie es in ironischer Zuspitzung heißt – beständiger sei als er selbst: „Stæte ist ein angest und ein nôt, / in weiz niht, ob si êre sî: / sî gît michel ungemach. / sît daz diu liebe mir gebôt, / daz ich stæte wære bî, / waz mir leides sît geschach! / Lât mich ledic, liebe mîn frô Stæte! / wan ob ich sis iemer bæte, / sô ist si stæter vil danne ich. / ich muoz von mîner stæte sîn verlorn, / diu liebe enunderwinde ir sich“ (L 96, 29–39). Bilder von Gefangenschaft und ‚Gewalt‘ sind ubiquitär im Hohen Sang, vgl. etwa folgende Liedpassagen aus dem Walther-Corpus: „Vil minneclîchiu Minne, ich hân / verlorn von dir mînen sin. / dû wilt gewalteclîchen gân / in mînem herzen ûz und in. [...] Gnædeclîchiu Minne, lâ! / owê, wes tuost dû mir sô wê?“ (L 55, 8–11; L 55, 26f.); vgl. Morungen: „Sî gebiutet und ist in dem herzen mîn / vrowe und hêrer, danne ich selbe sî“ (MF 126, 16f.); „der sî an siht, / der muoz ir gevangen sîn / und in sorgen leben iemer mê. / In den dingen ich ir dienstman / und ir eigen was dô, / dô ich sî dur triuwe und dur guot an sach, / dô kam si mit ir minnen an / und vienc mich alsô, / dô si mich wol gruozte und wider mich sô sprach. / Des bin ich an vröiden siech und an herzen sêre wunt“ (MF 130, 17–26); vgl. Reinmar: „mir machet niemen schaden wan mîn staetekeit“ (MF 171, 31). Zur Raumsemantik der Höhe vgl. Stephan Fuchs-Jolie: ungeheuer oben. Semantisierte Räume und Raummetaphorik im Minnesang. In: Außen und Innen. Räume und ihre Symbolik im Mittelalter.

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stellungen werden meist nur anzitiert und nicht konkretisiert, entscheidend ist oft, dass die Dame ‚ganz oben‘ angesiedelt wird.13 Die Raumsemantik der Höhe eröffnet immer wieder die Möglichkeit, die Vorstellungen über die Dame ins Religiöse zu überschreiten. Attribute und Symbole Mariens werden auf das innerweltliche summum bonum übertragen.14 Der räumlichen Enthobenheit der Dame und ihrer religiösen Transzendierung entspricht auf der Ebene der Zeitsemantik ihre Zeitlosigkeit. Trotz der vielen Jahre des Dienstes scheint jene nicht zu altern: Ihre Zeitlichkeit oder gar Prozesse ihres Verfalls anzusprechen, ist innerhalb der Hohen Minne tabu.15 Gerade hier wird deutlich, dass die Dame vielfach nicht als individuelle Person gedacht ist, sondern als die vornehme frowe schlechthin oder noch weiter gefasst als das wîp.16 Damit ist sie der Zeit enthoben, sie gewinnt geradezu überzeitlichen Charakter, was die individuelle Minnebindung im Rahmen des höfischen Frauendienstes übersteigt. Auf der affektiven Ebene manifestiert sich die unerfüllte Minnebindung in der swaere des Liebenden, deren ästhetischer Ausdruck die Minneklage ist. Die dysphorische Konstellation der swaere grundiert die Hohe Minne, bestimmt das Leben des Werbers in all den Jahren und Tagen seines Dienstes. Doch jene Zeit der swaere kann von Momenten des Glücks unterbrochen werden, die sich aus Gunstbezeugungen der Dame ergeben wie einem Blick, einem Lächeln oder einem gruoz. In der langen Dauer der swaere entstehen also auch Augenblicke der Hoffnung, in denen der Sänger sich zur Freude aufschwingen kann. Diese Wechsel von Dysphorie und Euphorie sind als grundlegend für ein Liebeskonzept der Hohen Minne zu betrachten, in dem Liebe und Leid

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Hrsg. von Nikolaus Staubach, Vera Johanterwage. Frankfurt/Main u. a. 2007 (Tradition – Reform – Innovation. Studien zur Modernität des Mittelalters 14), S. 25–42. Die Forschung hat sich, diese Raumsemantik verkennend, z. B. in der Analyse des Venusliedes mit der Frage beschäftigt, wo das Fenster über der Zinne liegen soll, dazu kritisch: Jan-Dirk Müller: Beneidenswerter kumber. In: DVjs 82 (2008), S. 220–236, bes. 226–228. Beispiele finden sich etwa in Morungens Si ist ze allen êren (MF 122, 1): „alse der mân wol verre über lant / liuhtet des nahtes wol lieht unde breit, / sô daz sîn schîn al die welt umbevêt, / Als ist mit güete umbevangen diu schône. / des man ir jêt, / si ist aller wîbe ein krône. [...] des ist vil lûter vor valsche ir der lîp [...] Dô man si lobte als reine unde wîse, / senfte unde lôs; / dar umbe ich si noch prîse. / Ir tugent reine ist der sunnen gelîch“ (MF 122, 4–9; MF 122, 14; MF 122, 25–27; MF 123, 1). Bei Reinmar etwa wird das Problem angesprochen, dass der Sänger zwar älter wird, sich aber an der Situation doch nichts ändert: „Ich alte ie von tage ze tage / und bin doch hiure nihtes wîser danne vert“ (MF 157, 1f.). Vgl. Walther von der Vogelweide Hie vor, dô man sô rehte minneclîchen warp (L 48, 12): „Wîp muoz iemer sîn der wîbe hôhste name, / und tiuret baz denne vrowe, als ich ez erkenne. / swâ nû deheiniu sî, diu sich ir wîpheit schame, / diu merke disen sanc und kiese denne. [...] wîbes name und wîbes lîp, / die sint beide vil gehiure. / swiez umbe alle frowen var, / wîp sint alle frowen gar [...] wîp dest ein lop, daz si alle krœnet“ (L 48, 38–49, 11).

Zeit im Hohen Sang

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als unio gedacht werden und in dem gerade keine Entwicklung vom Leid zur Freude und zum Glück als Endzustand erfolgen kann.17 Eben damit korrespondiert die beschriebene Modellierung von Zeit, in der es keinen Fortschritt geben darf, sondern nur die Wiederholung der gleichen Affektkonstellation. Das Auf und Ab zwischen Liebe und Leid kann in den Liedern in der Zyklik der Jahreszeitenfolge, mit der die Affekte und Gefühle korrespondieren oder gegen die sie kontrastieren, umgesetzt sein. Auch die zyklische Abfolge der Tageszeiten im Tagelied bildet Liebe und Leid auf der Zeitachse ab. Es sind diese zyklischen Strukturierungen der Zeit, welche die Erstreckung der Minnebindung in einer Reihe von Liedern gliedern, aber gerade deren Anfangs- und Endlosigkeit suggerieren. Leid und Freude scheinen sich abzuwechseln wie Sommer und Winter, wie Tag und Nacht. Eben dies unterstreicht die Monotonie des Dienstes und macht deutlich, dass er nicht auf ein offenes Ende angelegt ist. Der Gleichlauf wird nun jedoch nicht nur durch die seltenen Gunstbezeugungen der Dame zumindest ein wenig relativiert, sondern die Träume, Wünsche und Hoffnungen des Minners erlauben ihm, in der Imagination aus der statischen Minnebindung auszubrechen. Gerade in den Imaginationen, deren Verläufe in den Liedern inszeniert werden, kommen jene Komponenten von Zeitlichkeit ins Spiel, die in den Regeln der Hohen Minne tabuisiert bleiben müssen. In seinen Phantasien kann der Minner sich in die Nähe der Dame denken,18 er kann das Verhältnis der Geschlechter und damit auch die Relationen der Macht in Gewalt- und Rachephantasien verkehren,19 er kann beliebig über die Dame verfügen und sich sogar in die Liebeserfüllung hineinträumen.20 Gegen

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Vgl. in der höfischen Epik vor allem die unauflösbare Verbindung von Liebe und Leid in Gottfrieds von Straßburg Tristan. Insbesondere bei Walther finden sich zahlreiche solcher inszenierter Imaginationen. Vgl. z. B.: „Ich wünsche ‹mir› sô werde, daz ich noch gelige / bî ir sô nâhen, daz ich in ir ouge sehe / und ich ir alsô volleclîchen an gesige, / swes ich sie denne frâge, daz si mirs verjehe. / Sô sprich ich: ›wiltus immer mê / beginnen, dû vil sælic wîp, / daz dû mir aber tuost sô ‹sêre› wê?‹ / sô lachet si vil minneclîche. / wie nû, swenne ich mir […] sô gedenke, / bin ich von wünschen denne niht rîche?“ (L 185, 11–20). Die Phantasie von der Verkehrung der Machtverhältnisse zeigt sich etwa bei Morungen im Elbenlied (MF 126, 8); gleichzeitig ist das Lied ein Paradebeispiel für die enge Verbindung von Eros und Thanatos, von Liebe und Gewalt. Auch bei Morungen findet sich das Motiv der Vererbung des Dienstes an einen Jüngeren als eine Form der Rache: „Mîme kinde wil ich erben dise nôt / und diu klagenden leit, diu ich hân von ir. / waenet si danne ledic sîn, ob ich bin tôt, / ich lâze einen trôst noch hinder mir, / Daz noch schoene werde mîn sun, / daz er wunder an ir begê, / alsô daz er mich reche / und ir herze gar zerbreche, / sô sîn sô rehte schoenen sê“ (MF 125, 10–18); eine ähnliche Pointe findet sich in Walthers Sumerlatenlied: „Solde ich in ir dienste werden alt, / die wîle junget si niht vil. / sô ist mîn hâr vil lîhte alsô gestalt, / daz si einen jungen danne wil. / Sô helfe iu got, herre junger man, / sô rechet mich und gânt ir alten hût mit sumerlatten an!“ (L 73, 17–22). Vgl. etwa bei Walther L 39, 11; L 74, 20; L 91, 17 (Rede an einen jungen Mann): „Ist aber, daz dir wol gelinget, / sô daz ein guot wîp dîn genâde hât, / hei, waz dir danne fröiden bringet, / sô si

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die Statik der ‚Grundkonstellation‘ werden in den Imaginationen also Entwicklungen und Veränderungen in der Minnebeziehung als möglich gedacht. Damit wird hier, so möchten wir folgern, eine andere Vorstellung der Zeit greifbar. Ein Lied, welches beide Modellierungen von Zeit einschließt und gegeneinander ausspielt, ist Walthers von der Vogelweide Si wunderwol gemachet wîp (L 53, 25).21 Dieses stellt einerseits ein Preislied dar, welches die Minne ganz im Sinne der skizzierten Statik des Hohen Sanges entwirft, andererseits führt es Imaginationen des Liebenden vor Augen, in welchen andere Formen von Zeitlichkeit anklingen. Im Folgenden sollen nun zunächst die Modellierungen der Zeit in der Minnebindung betrachtet werden. In einem zweiten Schritt werden wir dann die implizite Poetologie des Liedes mit seinen Reflexionen auf die Konstitution des Singens analysieren.

II. Das Lied Si wunderwol gemachet wîp ist jeweils fünfstrophig in vier Handschriften überliefert, in der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift A (cpg 357), im Codex Manesse C (cpg 848), in der Heidelberger Handschrift D (cpg 350) sowie im lateinischen Codex N (Kremsmünster, Stiftsbibliothek CC 127).22 Dazu tritt jetzt mit dem Brünner

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sunder wer vor dir gestât. / Halsen, triuten, bî gelegen, / von sô rehter herzeliebe muost dû fröiden pflegen“ (L 91, 35–92, 2). Bei Cormeau (Anm. 3), Nr. 30. Den Forschungsstand zu diesem Lied repräsentieren folgende Beiträge: Olive Sayce: Si wunderwol gemachet wîp (L 53, 25ff.). A Variation on the Theme of Ideal Beauty. In: Oxford German Studies 13 (1982), S. 104–114; Elmar Seebold: Mhd. wengel Wänglein und Walthers Gedicht von der Frauenschönheit. In: Festschrift für Herbert Kolb zu seinem 65. Geburtstag. Hrsg. von Klaus Matzel, Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 1989, S. 626–641; Otfried Ehrismann: ‚Ich het ungerne ‚dicke blôz!‘ geruefet‘. Walther von der Vogelweide, die Erotik und die Kunst. In: Das Erotische in der Literatur. Hrsg. von Thomas Schneider. Frankfurt/Main u. a. 1993 (Giessener Arbeiten zur Neueren Deutschen Literatur und Literaturwissenschaft 13), S. 9–28; Thomas Cramer: Waz hilfet âne sinne kunst? Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik. Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen 148), bes. S. 87–93; Ricarda Bauschke: Die ‚Reinmar-Lieder‘ Walthers von der Vogelweide. Literarische Kommunikation als Form der Selbstinszenierung. Heidelberg 1999 (Germanisch-Romanische Monatsschrift Beiheft 15), bes. S. 109– 133; Susanne Fritsch: Vom Umkreisen und Einkreisen. Geschlechterdiskurse in der Minnelyrik. Eine Skizze. In: Edition und Interpretation. Neue Forschungsparadigmen zur mittelhochdeutschen Lyrik. Fs. Tervooren. Hrsg. von Johannes Spicker. Stuttgart 2000, S. 103–113; Corinna Laude: Walthers Enzwischen und Neidharts Spiegelraub. Beobachtungen zur poetologischen Funktion von Leerstellen im Minnesang. In: Der mittelalterliche und der neuzeitliche Walther. Beiträge zur Motivik, Poetik, Überlieferungsgeschichte und Rezeption. Hrsg. von Thomas Bein. Frankfurt/Main 2007 (Walther-Studien 5), S. 213–232; Mireille Schnyder: Minnesang (um 1200). In: Literarische Performativität. Lektüren vormoderner Texte. Hrsg. von Cornelia Herberichs, Christian Kiening. Zürich 2008 (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 3), S. 119–136, bes. 124–126. Letzterer überliefert fragmentarisch auch die Melodie, vgl. Walther von der Vogelweide: Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien. Abbildungen, Materialien, Melodietranskriptionen.

Zeit im Hohen Sang

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Fragment, das in verstümmelter Form ebenfalls fünf Strophen aufweist, ein fünfter Textzeuge, der D und N näher steht als A und C.23 D und N stimmen in der Strophenreihenfolge überein, das Brünner Fragment vertauscht demgegenüber nur die Reihenfolge der dritten und vierten Strophe, A und C weichen davon und auch untereinander ab. Trotz der Divergenzen sind auch Konstanten in der Überlieferung feststellbar: Die Strophe „Si wunderwol gemachet wîp“ (L 53, 25) erscheint in allen Versionen als Auftakt des Liedes, und die Abfolge „Got hât ir wengel hôhen vlîz“ (L 53, 35) und „Si hât ein küssen, daz ist rôt“ (L 54, 7) ist stabil in allen Handschriften als solche überliefert, das Brünner Fragment zeigt diese beiden Strophen in umgekehrter Reihenfolge.24 Wir lesen das Lied nach der Strophenfolge von D (Heidelberger Handschrift) und N (Stiftsbibliothek Kremsmünster) und konzentrieren uns auf D als Leithandschrift.25 Während A und C dem Lied einen höfischen Rahmen verleihen, gibt sich die Version nach D und N am deutlichsten als Preislied mit einer Schlusspointe zu erkennen, welche zur Sprache bringt, was in der Hohen Minne tabuisiert wird. Schon im Einsatz der ersten Strophe stellt der Sänger die Dame in wohlklingenden, die lautliche Folge geradezu auskostenden Alliterationen und volltönenden, fallenden Vokalen als wunderschöne und als wundervoll gestaltete Frau vor Augen: „Vil wundern wol gemach‹e›t wîp“ (V. 1).26 Der Sänger verwendet nicht das ständische frouwe, sondern den allgemeineren Begriff wîp. Diese virtuos tarierte Verszeile markiert mit ihrer rhetorischen Emphase den Einsatz der Rede und verschafft dem Frauenpreis Aufmerksamkeit.

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Hrsg. von Horst Brunner, Ulrich Müller und Franz V. Spechtler. Mit Beiträgen von Helmut Lomnitzer und Hans-Dieter Mück, Geleitwort von Hugo Kuhn. Göppingen 1977 (Litterae 7), S. 37f. und S. 50; vgl. den Abdruck der Neumen bei Ewald Jammers: Ausgewählte Melodien des Minnesangs. Tübingen 1963, S. 108f. und 227f.; vgl. dazu auch Horst Brunner: Melodien. In: Walther von der Vogelweide. Epoche – Werk – Wirkung. Hrsg. von Horst Brunner u. a. München 22009, S. 62–73. Vgl. Freimut Löser: Ein Walther-Fragment in Brno (Brünn). Neues zu ,Si wunderwol gemachet wîp‘ (L 53, 25). In: Walther von der Vogelweide – Überlieferung, Deutung, Forschungsgeschichte. Mit einer Ergänzungsbibliographie 2005–2009 von Manfred G. Scholz. Hrsg. von Thomas Bein. Frankfurt/Main 2010 (Walther-Studien 7), S. 9–38. Der wichtige Beitrag ist nach der Fertigstellung unseres Beitrags 2010 erschienen. In A als II und III, in C als IV und V und in D/N als III und IV. Einen schematischen Überblick über die jeweiligen Strophenfolgen der Handschriften bieten Cramer (Anm. 21), S. 90 und Bauschke (Anm. 21), S. 115. Vgl. zum Brünner Fragment Löser (Anm. 23), S. 11f. Wir zitieren daher auch – wenn nicht anders angegeben – nach der Handschrift D (Heidelberg, cpg 350) gemäß dem abgedruckten Text. Zu den metrischen Abweichungen von D gegenüber A, C und N vgl. Bauschke (Anm. 21), S. 116–118. Er lässt dabei die volltönenden Vokale in fallender Tonhöhe vom i über das u und das o zum a gleiten, um dann mit dem akzentuierten wîp wieder auf die Tonhöhe des Auftaktes zu klettern. Dass Vokalspiele im Waltherschen Œuvre eine Rolle spielen, zeigt Diu welt was gelf, rôt unde blâ (L 75, 25), in welchem alle Verse einer Strophe auf denselben Vokal enden und die fünf Strophen sich so je einem Vokal widmen in der Reihenfolge a-e-i-o-u.

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Susanne Baumgartner und Beate Kellner

A (89–93)

C (192–196)

Si wunderwol gemachet wîp, daz mir noch werde ir habe danc! ich setze ir minneclîchen lîp vil der in mînen hôhen sanc. gern ich in allen dienen sol: doch habe ich mir diz ûz erkorn. ein ander weiz die sînen wol: die lobe er âne mînen zorn; habe ime wîse und wort mit mir gemeine: lobe ich hie, so lobe er dort.

Si wunder wol gemachet wîp, daz mir noh werde ein habedanc! ich setze ir minneclîchen lîp vil hôhe in mînen werden sanc. gerne ich in allen dienen sol: doch hân ich mir dise ûz erkorn. ein ander weiz die sînen wol: die lob er âne mînen zorn; hab im wîse und wort mit mir gemeine: lob ich hie, so lob er dort.

Got hât ir wegel hôhen flîz, er streich so tiure varwe dar, so reine rôt, so reine wîz, hie rœseloht, dort lilien var. obe ich vor sünden tar gesagen, so sæhe ich [] si iemir gerner an danne himel wagen. owê, waz lob ich tumber man? mache ich si mir ze hêr, vil lîhte wirt mîns mundes lop mîns herzen sêr.

Ir houbet ist so wunnenrîch, als ez mîn himel welle sîn. wem möhte ez anders sîn gelîch? ez hât ouch himeleschen schîn. da liuhten zwêne sternen abe, da müeze ich mich noch inne ersehen, daz sî mirs also nâhe habe! so mac ein wunder wol geschehen: ich junge, und tuot si daz, und wirt mir gernden siechen senender sühte baz.

Si hât ein küssen, daz ist rôt: gewünne ich daz für mînen munt, so stüent ich ûf ûz dirre nôt und wære och iemer mê gesunt. dem sî daz an sîn wengel legt, der wonet da gerne nâhe bî: ez smeket, sô manz iender reget, alsam ez allez balsame sî. daz sol si lîhen mir: so dicke sô si ez wider wil, so gib ich ez ir.

Ir kel, ir hende, ietweder fuoz, daz ist ze wunsche wol getân. ob ich da enzwischen loben muoz, ich wenne ich nie beschowet hân. ich hete ungerne „deke blôz“ geruofet, do ich si nakent sach. si sach mich nicht, swie sî mich schôz, daz mich noch stichet, alz ez stach, swanne ich der lieben stat gedenke, dâ si ûz einem reinen bade trat.

Ir kel, ir hant, iewer fuoz, daz ist ze winsche wol getân. obe ich da entzwischent loben muoz, so wæne ich mê beschowet hân. ich het ungerne „dicke blôz“ gerüefet, do ich si nacket sach. si sach mîn niht, do sî mich schôz, daz stichet noch, alse do stach. ich lobe die reinen stat, da diu vil minneclîch ûz einem bade trat.

Got hât ir wengel hôhen flîz, er streich so tiure varwe dar, so reine rôt, so reine wîz, hie rœseloht, da lilien var. ob ichz getar von sünden sagen, ich sæhe si iemer gerner an danne alle himel oder himelwagen. owê, waz lob ich tumber man? mache ich mir sî ze hêr, vil lîhte wirt mînes herzen lop mîns herzen sêr.

Ir houbet ist so wunnenrîch, alse ez mîn himel welle sîn. wem solde ez anders sîn gelîch? ez hât doch himeleschen sin. da liuhten zwêne sternen abe, da müeze ich mich noch inne ersehen, daz sî mirs also nâhe habe! so möhte ein wunder wol geschehen: ich junge, und tuot si daz, und wirt mir gernden siechen seneder sühte baz.

Si hât ein küssen, daz ist rôt: gewünne ich daz für mînen munt, so stüende ich ûf von dirre nôt und wær ouch iemer mê gesunt. swa sî daz an ir wengel leget, da wær ich gerne nâhe bî: ez smeket, sô manz iender reget, als ez vollez balsemen sî. daz sol si lîhen mir: swie dike sîz hin wider wil, so gibe ichz ir.

Zeit im Hohen Sang

209

D (251–255), anonym

N (1–5), anonym

Vil wundern wol gemach‹e›t wîp, daz mir noch werde ir habedanc! ich setze ir minniclîchen lîp vil werde in mînen hôhen sanc. in allen ich gerne dienen sol: doch hân ich eine dise ûz erkorn. ein anderre weiz di sîne wol: di lobe er gar âne mînen zorn; hab er mit mir gemeine wîse und wort: lobe ich hie, so lobe er dort.

Vil wunder wol gemachet wîp, daz mir noch werde ir habe danch! ich seze ir minneclîhen lîp vil hôhen werde in mînen sanch. gerne ich in allen dienen sol: die hân ich mir ûz erchorn. ein ander waiz die sînen wol: die lobe âne mînen zorn; habe imme wîse und wort mit mir gemaine. lob ich hie, so lob er dort.

Ir houbet, daz ist so wunnerîch, als ez mîn himel welle sîn. wem solt ez anders sîn gelîch? ez hât wol himelschen schîn. da luhtent zwêne stern ab, müest ich mich dar inne ersehen, daz sî mir di so nâhen hab! so mac ein wunder dâ geschehen: ich junge[], unde tuot si daz, so wirt mir senedem siechen gernder sühte baz.

Ir houbet, daz ist so wunnenrîch, als ez mîn hiemel wolle sîn. wem moht ez anders sîn gelîch? ez hât ouch himeles‹ch›en scîn. da liuchent zwêne sterne abe, da müeze ich mich noch inne ersaehen, daz sie mir die so nâhen habe! so mac ein wunder wol gesc‹h›aehen: ich junge, und tuot si daz, so wirit mir gerndem siehen sender süthe baz.

Got het ir wengel hôhen flîz, er streich so tiure varwe dar, so reine rôt, so reine wîz, sô rôsen schîn, so lilien var. ob ichz vor sünden tar gesagen, so sæhe ich simmer gerner an denne himel oder himel tagen. owê, waz lob ich tumber man? vil lîhte mach ich mirs ze hêr, so wirt mîn selbes lop mînes seneden herzen sêr.

Got het [] ir wengel hôhen flîz, er straich so tiure varwe dar, so reine rôt, so reine wîz, hie rœselot, dort lielgen var. ob ichs vor sünden getar gesagen, so sæhe ich sie iemmer gerner an dan hiemel od hiemel wagen. ouwê, waz lob ich tumber man? mache ich sie mir ze hêr, so wirt vil liehte herze lop mîn herze sêr.

Si hât ein küssen, daz ist rôt: und würde mir daz für mînen munt, so wære ich frî vor seneder nôt und wære ouch immer mêre gesunt. so sî daz an ir wengel legt, da wære ich gerne nâhen bî: daz smekket, als siz irgen regt, alsam ez vollez balsams sî. daz sol diu guote lîhen mir: swie dicke sô siz wider wil, so gibe ichz ir.

Sie hât ein chussin, daz ist rôt: gewünne ich daz noch für mînen munt, so stüende ich ûf von dirre nôt und wære ouch iemmer mêr gesunt. so sie daz an ir waengel lait, wær ich ir danne nâhen bie, ez smechet, sô siez inder rait, reht als ez vollez balsmen sie. daz sol sie lîhen mir: swie diche siz hin wider wil, so lîhe ichz ir.

Ir arme, ir hende, itweder ir fuoz, die sint ze wunsche wol getân. ob ich da zwischen loben muoz, so wæne ich mêre gesehen hân. ich hette ungerne „decke blôz“ geruoft, do ich si sach. si sach mîn niht, do sî mich schôz, daz mich noch stichet, alz ez do stach, do wart ich so frô der stunden unt der stat, dâ di reine süeze ûz einem bade trat.

Ir chinne, ir chel, ietwer fuoz, der ist ze wunsche wol getân. ob ich da zwischen loben muoz, so wæn ich mê verschawet hân. si sach mîn niht, do sî mich schôz, wie sêr sie in mîn herze prach. ich het ungerne „dechet blôz“ geschriin, da ich si nachent sach. vil seilich sî diu stat, do diu vil minneclîch ûz einem bade trat.

Synopse des Liedes nach den Handschriften A, C, D, N27 27

Vgl. dazu Hubert Heinen: Mutabilität im Minnesang. Mehrfach überlieferte Lieder des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. Göppingen 1989 (GAG 515), S. 187–189. Um die Unterschiede zwischen den einzelnen Handschriften in der Synopse möglichst deutlich zu machen, verzichten wir sehr viel weitgehender als Heinen auf Konjekturen.

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Der Aufgesang akzentuiert die Logik des höfischen Frauendienstes und des hohen Sangs. Diese zeigt sich als ein Geben und Nehmen, die Dame erhält in diesem Gabentausch das Lob, der Sänger räumt ihr einen hohen Rang in seinem hohen Sang ein und begehrt dafür ihren Dank. Der Lobpreis der Dame als gesellschaftlicher Bonus für sie und die Wertschätzung des Sängers durch die Dame, welche seinen gesellschaftlichen Rang steigert, gehen in diesem Kalkül einher. Obgleich der Preis der einen Frau im Abgesang als exemplarische Spielart des Dienstes an allen Frauen erscheint, generiert die Auswahl der einen Dame dennoch eine exklusive Beziehung. Ihr liegt eine Entscheidung, ja eine Setzung zugrunde, die sich im „kiesen“ bzw. in „ûz erkorn“ (V. 6) und im „setze“ (V. 3) sprachlich zum Ausdruck bringt. Der Beginn der Werbung um die Dame, die Konstitution der Minnebindung, wird auf diese Weise zwar in knappster Form reflektiert, doch mit diesem Rekurs verbindet sich keine Emphase, die den Ursprung der Liebe als besonderen, als ausgezeichneten Moment einer beglückenden Totalität inszeniert, auf den man sich in der Erinnerung immer wieder zurückbesinnen könnte. Das Erwählen der Dame in der Minne und die Setzung der Dame im Sang werden vielmehr als Komponenten der verhandelten Bedingungen des Sanges eingeführt. Im Fortgang des Abgesangs wird sodann die Konkurrenz zu anderen Sängern thematisiert und als spielerischer Wettstreit dargestellt.28 Die zweite Strophe setzt nun mit dem eigentlichen Preis der erwählten Dame ein. Die folgenden Strophen führen den Frauenpreis in einer im Minnesang recht seltenen, der Vagantenlyrik und der antiken Poesie verpflichteten descriptio de capite ad calcem vor.29 Beginnend mit dem „houbet“ und den Augen (Str. 2) schreitet die Beschreibung über die Wangen (Str. 3), den Mund (Str. 4), die Arme, die Hände (Str. 5) – unter vermeintlicher Aussparung des Leibes – weiter bis auf die Füße (Str. 5).30 Der Blick des Sängers auf die gepriesene Dame wandert dieser rhetorischen Inszenierung nach von oben nach unten an ihrem Körper entlang und stellt damit auch ein formales Strukturprinzip des Liedes dar. Der zeitlichen Statik der Minnebindung entspricht die Modellierung des gleichsam statuarischen Frauenkörpers. Das Antlitz der Dame wird hyperbolisch als der Himmel für den Sänger verstanden und dementsprechend werden auch ihre Augen als Sterne metaphorisiert, die aus der Höhe herunterleuchten (V. 5f.).31 Der Sänger möchte sich in den Augen der Dame spie28 29 30

31

Den Aspekt der Sängerkonkurrenz wird Beate Kellner an anderer Stelle weiter ausarbeiten. Sayce sieht hier eine Kombination von drei Beschreibungstypen, vgl. Sayce (Anm. 21). Vgl. auch die Parallelen zu Morungen Uns ist zergangen, v. a. MF 140, 36ff.; MF 141, 1–7; MF 141, 8f. Der Himmel spielt als ‚Vergleichsgröße‘ im Lied eine wichtige Rolle. Zu beachten sind hier die Varianten in den Handschriften, die semantisch relevante Abweichungen zeigen. In der zweiten Strophe wird das „houbet“ (V. 1) der Dame mit dem Himmel verglichen und auf die rhetorische Frage „wem solt ez anders sîn gelîch?“ (V. 3) das tertium comparationis angegeben. In drei Handschriften ist dies der himmlische Glanz (C: „ez hât ouch himeleschen schîn“, D: „ez hât wol himelschen schîn“, N: „ez hât ouch himeles‹ch›en scîn“). In Handschrift A steht an dieser Stelle „ez hât doch himeleschen sin“, was als eine Aussage über die inneren Qualitäten der Dame gedeutet wer-

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geln, was ihre Nähe voraussetzt. Die in den Himmel gehobene Dame wird sozusagen konjunktivisch heruntergeholt, der Reim „ab“ / „hab“ (V. 5, 7) pointiert diese Bewegung. Der Grad der Nähe bleibt im Optativ zugleich semantisch offen: „sô nâhen“ (V. 7). Wäre die Nähe gegeben, könnte ein Wunder geschehen: Er könnte sich verjüngen32 und würde zugleich von seiner begehrenden Sehnsucht geheilt.33 Der Sänger stilisiert sich damit – das Bildreservoir der Hohen Minne ausschöpfend – in der Rolle des liebeskranken Minners (V. 7–10),34 während die Dame als Heil und Heilung spendende Person erscheint. Die Distanz zwischen Sänger und Dame wird hier in einer vertikalen Raumsemantik exorbitanter Höhe umgesetzt.35 Die Dame ist ganz oben, während der Sänger unten auf der Erde verhaftet bleibt. Indem die Verse die für den Hohen Sang zentrale Unnahbarkeit der Dame ins quasi Unermessliche steigern, wird jene religiös transgrediert, denn die kosmischen Metaphern des Himmels und der Sterne36 öffnen die Vorstellungswelt der Strophe in die christliche Symbolik hinein und analogisieren die Dame implizit mit der Gottesmutter Maria. Die Strophe spielt mit den im Minnesang häufigen Anklängen an die Marienlyrik, doch indem sie die Minnedame in der skizzierten Weise religiös überschreibt, legt sie auch die gefährliche Nähe des Minnesangs zu religiösem Sprechen nahe. Man könnte in der zweiten Strophe des Liedes dementsprechend eine Zuspitzung erkennen, welche die Grenzüberschreitungen des Minnesangs in die religiöse Kommunikation hinein über die gewählten Metaphern und mit Hilfe der forcierten Raumsemantik offenlegt. Die Semantik der Höhe symbolisiert, so möchten wir pointieren, auch die zeitliche Enthobenheit der Dame. Sie ist entrückt, transzendent und damit ist ihr Körper in seiner Vollkommenheit auch nicht der Zeitlichkeit und Prozessen des Alterns unterworfen. Sie ist entindividualisiert, sie ist sozusagen der Typus der Schönen und Besten und insofern zeitlos. In der Imagination einer Näherung dieser himmlischen Dame kommt dagegen

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35 36

den könnte. Auch der Bezug auf den Himmel in der dritten Strophe ist in den Handschriften unterschiedlich ausgeführt. Der Minner sähe immer lieber die Dame an, A: „danne himel wagen,“ C: „danne alle himel oder himelwagen,“ D: „denne himel oder himel tagen,“ N: „dan hiemel od hiemel wagen.“ Die Formulierung in der Handschrift D muss unseres Erachtens nach nicht als ein Schreibfehler verstanden werden. Der Vergleich mit dem Himmelwagen, der auf ein Sternbild verweist, könnte in Handschrift D durch das topische Bild von der Morgenröte ersetzt worden sein. Die Phantasie, die Frau hätte die Macht zu verjüngen, wird z. B. von Walther auch in der zweiten Strophe seines Liedes Waz hât diu welt ze gebenne (L 93, 19) thematisiert. Die Rhythmisierung und die Alliterationen der Strophencauda erinnern an magisches Sprechen, ja muten wie eine beschwörende Zauberformel der Heilung an: „so wirt mir senedem siechen gernder sühte baz“ (V. 10). Damit greift er ein im Minnesang bekanntes Motiv auf, vgl. dazu mit zahlreichen Belegen Werner Hoffmann: Liebe als Krankheit in der mittelhochdeutschen Lyrik. In: Liebe als Krankheit. 3. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik des Mittelalters. Hrsg. von Theo Stemmler. Tübingen 1990, S. 221–257. Zur Raumsemantik der Höhe im Minnesang vgl. Fuchs-Jolie (Anm. 12). Walther könnte hier intertextuell und wohl auch in parodistischem Sinne etwa auf Morungens Metaphern aus den Bereichen des Lichtes und des Kosmos reagieren.

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Zeitlichkeit ins Spiel. Näher an sie heranzukommen, so nah, dass sich der liebeskranke Sänger in ihren Augen spiegeln könnte, hieße geheilt zu werden und sich verjüngen zu können. Die folgende Strophe geht auf Gott als den Schöpfer der Dame ein. Der Vorstellung vom deus artifex nach wird Gott als Maler gezeigt, der die Dame mit kostbarer Farbe bestreicht, rosen- und lilienfarbig (V. 1–4).37 Jene wird hier wiederum in Analogie zu Maria stilisiert, denn bekanntlich galten gerade Rosen und Lilien als Attribute ihrer Reinheit und Keuschheit. Im Minnesang kommen der Farbe Rot und dem Erröten demgegenüber vor allem erotische Konnotationen zu. Das wîp wird in diesem Sinne über das Bemalen mit der symbolisch hochgradig bedeutsamen Farbe Rot zur erotisch begehrenswerten Minnedame gemacht. In summa verweist dieser göttliche Schöpfungsvorgang zumindest implizit auch auf die Erschaffung Evas als der ersten den Mann zur Sünde verlockenden Frau im Paradies zurück. Zugleich wird der knappe Rekurs auf den Beginn der Minnebindung und die Setzung der Dame im Sang auf die göttliche Schöpfung des Menschen als den Ursprungsmythos schlechthin überschritten. Mit Eva und Maria sind die zentralen Frauenfiguren der Heilsgeschichte impliziert, Typos und Antitypos, erotische Attraktivität und Verlockung zur Sünde versus Reinheit und Keuschheit. Das Spektrum aller Frauenrollen lässt sich – mittelalterlichem Verständnis nach – hier einordnen. Als Konnotationen deutet das Lied erotische Verlockung ebenso an wie Keuschheit, Reinheit, höfische Würde und Vornehmheit und es imaginiert die Frau als Heilende und Heil spendende, ja als Wunder wirkende Erlöserin. Für den Sänger selber hat der übersteigerte Lobpreis durchaus negative Konsequenzen, wie die Revocatio in V. 8 zeigt. Lobt er die Dame über den Himmel, gerät er nicht nur in die gefährliche Nähe zum religiösen Sprechen, sondern er ist auch selbst der Dumme, denn jene wird für ihn unerreichbar („ze hêr“, V. 9).38 37

38

Das Motiv der weißen Lilien und roten Rosen im Minnesang thematisiert – mit Belegen aus Walthers Nement, frowe, disen cranz (74, 20), Si wunderwol gemachet wîp (L 53, 25) und Von Rôme voget, von Pülle künic (L 28, 1) sowie aus Morungens Owê, war umbe volg ich tumbem wâne (MF 136, 1) – Johannes Keller: Intertextualität. Im Spiel der Textualitäten. In: Walther von der Vogelweide und die Literaturtheorie. Neun Modellanalysen von ‚Nemt, frouwe, disen kranz‘. Hrsg. von Johannes Keller, Lydia Miklautsch, S. 180–200, bes. 189–192. Auf die gesamte Strophe bezieht sich ein Pseudo-Reinmar-Lied: Moser, Tervooren (Anm. 3), S. 402, LXVII: Herre, wer hât sie begozzen mit der milche und mit dem bluote? Vgl. dazu Thomas Cramer: Kübel und Pinsel. Parodiert Reinmar Walther? In: Walther lesen. Interpretationen und Überlegungen zu Walther von der Vogelweide. Fs. Ursula Schulze. Hrsg. von Volker Mertens, Ulrich Müller. Göppingen 2001 (GAG 692), S. 133–146. Die Problematik der Selbstschädigung wird in den Handschriften je unterschiedlich akzentuiert. Während die Handschriften A und D betonen, dass der Schmerz des Herzens durch das (aus dem Mund kommende) Lob des Minners und Sängers hervorgerufen werde (D: „so wirt mîn selbes lop mînes seneden herzen sêr“; A: „vil lîhte wirt mîns mundes lop mîns herzen sêr“), verstärken die Handschriften C und N diese Paradoxie, indem deutlich gemacht wird, dass der Schmerz des Herzens durch das Lob entsteht, das auch im Herzen selbst seinen Ursprung hat (C: „vil lîhte wirt mînes herzen lop mîns herzen sêr“, N: „so wirt vil liehte herze lop mîn herze sêr“). Die Handschrif-

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Nach dem „houbet“ (V. 1) und den Augen wendet sich die dritte Strophe nun dem Mund der Dame zu. Jener, der im Minnesang eine zentrale Rolle als erotisches Zeichen einnimmt,39 wird nicht direkt benannt, sondern über eine doppeldeutige Metonymie evoziert: das küssen. Walther spielt hier mit der Homonymie von küssen, was zum einen ‚Kissen‘ im Sinne von Wangenkissen heißen kann, zum anderen soviel wie ‚Kuss‘. Dürfte er sie küssen, dann wäre er aus seiner Liebesnot geheilt und für immer gesund. Zwischen Auf- und Abgesang oszilliert die Bedeutung vom Kuss zum Kissen, wobei der Witz der Strophe gerade auch in der sich durchhaltenden Doppeldeutigkeit besteht. Neben der Homonymie wird diese auch durch die Polyreferentialität der Farbe ‚rot‘ geleistet, denn sprachlich kann sich die Röte sowohl auf den Mund der Dame wie auch auf das Kissen beziehen. Der Sänger wäre, so der Abgesang (V. 5–10), gerne dabei, wenn die Dame sich das Kissen an die Wange legt, denn es riecht, wenn sie es irgendwo berührt, als sei es voller Balsam. Dieses wünscht er sich nun als Leihgabe und Liebespfand, das er ihr gerne immer wieder zurückgeben wolle. In seinem Wohlgeruch und seiner heilenden Wirkung kommt dem Kissen ein quasi reliquienähnlicher Status zu. Auf einer psychologischen Ebene betrachtet, gewinnt das Spiel mit dem Kissen die Dimension des Umgangs mit einem Surrogat für die Dame. Es ermöglicht indirekte Berührungen der Dame, es ermöglicht Nähe trotz Distanz, denn es vergegenwärtigt die Dame im Sinne einer über das Verständnis der Metonymie gegebenen Präsenz. Zugleich leitet es die Phantasie des Liebenden von der Vorstellung des Schauens, wie sie in den Strophen 1 und 2 entwickelt sind, zur Hapsis und zum Geruch sowie auch zum Schmecken über. Die Kissenphantasie hat insofern geradezu synästhetischen Charakter. Dabei wird deutlich, wie die Grenzen der Hohen Minne auch gerade darin überschritten werden, denn der für den Hohen Sang zentrale Fernsinn des Sehens, des Schauens, wird hier durch eine Sinnlichkeit der Nähe abgelöst: Das Riechen, Berühren und Schmecken.40 Diese Nähe entfaltet sich in der Imagination, bleibt sprachlich betrachtet, im Konjunktiv. Im Sinne einer aemulatio versucht Walther hier, die Sangeskonkurrenten Reinmar und Morungen zu übertreffen, indem er deren Motiv des Kussraubs aufgreift,41 doch in

39 40

41

ten A, C und D markieren diese Spannung zusätzlich durch die zweifache Nennung des Possessivpronomens „mîn“. Vgl. etwa Heinrichs von Morungen Narzisslied, Mir ist geschehen als einem kindelîne (MF 145, 1). Wilhelm Wilmanns, Victor Michels: Walther von der Vogelweide. 2 Bde. Halle 41916/1924 (Germanistische Handbibliothek I.1/I.2), hier Bd. 2, Lieder und Sprüche Walthers von der Vogelweide mit erklärenden Anmerkungen, S. 224f. mit Belegen (z. B. aus Steinmar) dafür, dass der Wohlgeruch der Dame Wohlgeschmack im Mund des Sängers auslösen kann; Bauschke weist auf das Hohe Lied 7, 9f. hin. Darin „werden der Atem mit Apfelduft und der Mund mit Wein verglichen, wobei der Wein in den Bräutigam eindringt und dessen Lippen und Zähne benetzt“, Bauschke (Anm. 21), S. 122, Anm. 77. Vgl. MF 159, 37 (Reinmar) und MF 141, 37 (Morungen). Das Kussraubmotiv findet sich auch in einer anderen Strophe Walthers: L 111, 32. Die Nähe des Liedes Si wunderwol gemachet wîp zu Reinmar unterstreicht insbesondere der Beitrag von Löser (Anm. 23), S. 23–29.

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rhetorischer Artistik im oszillierenden Spiel von Metonymie und Metapher, das durch die Homonymie des Wortes küssen grundiert wird, übertrumpft. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich von der descriptio der Dame gerade hier auf das Spiel mit Wörtern und Tropen, d. h. auf die poetische Sprache selbst. Bezogen auf die Frage nach der Zeitlichkeit gilt: In den Imaginationen dieser Strophe wird eine Dynamik in der Minnebeziehung deutlich, eine Annäherung und Entwicklung, welche die Statik der Hohen Minne gerade unterläuft. Der Sänger denkt sich noch weit mehr als in der zweiten Strophe in die intime Nähe der Dame hinein. Strophe 5 nun setzt das Schema der descriptio des idealen Frauenkörpers fort, indem Arme, Hände und Füße der Dame42 als vollkommen gezeichnet werden, „ze wunsche wol getân“ (V. 1f.).43 Einmal mehr zeigt sich das enge Netz der paradigmatischen Bezüge des Liedes, denn hier wird der Eingangsvers der ersten Strophe erneut aufgegriffen. Dieses dem Minnesang generell eigene, hier allerdings auf die Spitze getriebene variierende Wiederholen des Wortmaterials führt zur lexikalischen Armut des Liedes, welcher ein großer Reichtum auf der konnotativen Ebene der verwendeten Lexeme gegenübersteht. Es ist nun gerade dieser konnotative Reichtum des Wortmaterials, mit dessen Hilfe die Imaginationen des Sängers sprachlich angedeutet werden. Die Semantik bleibt tendenziell offen, vieles wird in der Schwebe gehalten. Zwischen den Verszeilen und Wörtern bleibt dabei Raum für Imaginationen, Phantasien des Publikums, wenn jenes zwischen den Zeilen hören kann. Meisterhaft thematisieren dies die folgenden Verse: Vers 3 zielt auf ein Lob der Körperpartien „da zwischen“. Dieses semantisch unterbestimmte „da zwischen“ wird nun doch gefüllt, denn der Sänger gibt zu erkennen, dass er mehr gesehen habe: „so wæne ich mêre gesehen hân“ (V. 4).44 Er kann die Leerstelle, das „da zwischen“, daher durch 42

43

44

Die genannten Körperteile variieren zwischen den Handschriften: A: „Ir kel, ir hant, iewer fuoz,“ C: „Ir kel, ir hende, ietweder fuoz,“ D: „Ir arme, ir hende, itweder ir fuoz,“ N: „Ir chinne, ir chel, ietwer fuoz,“ Brünner Fragment: „Jr chin ir chel ir hant“. Vgl. Heinrich von Morungen, MF 140, 32: „Die ich mit gesange hie prîse unde kroene, / an die hât got sînen wunsch wol geleit. / in gesach nu lange nie bilde alsô schoene / als ist mîn vrowe; des bin ich gemeit“ (MF 141, 8–11). Bemerkenswert ist die in der Regel als fehlerhaft gedeutete und daher unterdrückte Variante des Verses in der Handschrift C: „ich wenne ich nie beschowet hân“. Sie irritiert sowohl durch die Form „wenne“ als auch durch das inhaltlich den übrigen Überlieferungsträgern widersprechende „nie“. Uns scheint der Vers jedoch durchaus sinnvolle Deutungen zuzulassen. Versteht man das „wenne“ im eigentlichen Sinn (nhd. wenn), könnte man die Passage wie folgt paraphrasieren: Dass ich nun das Dazwischen loben muss, ich, wenn ich sie doch nie gesehen habe! – Ich hätte (hätte ich sie gesehen, was ich nicht habe), ungerne „bedecke die Blöße“ gerufen. Versteht man „wenne“ als eine Form des Verbs „wænen“ (so auch Ehrismann (Anm. 21), S. 20), könnte paraphrasiert werden: Dass ich nun das Dazwischen loben muss! Ich, ich glaube, sie nie gesehen zu haben – (und wenn doch:) Ich hätte ungerne „bedecke die Blöße“ gerufen. In jedem Fall weist die Verneinung einer Begegnung die folgenden Verse noch deutlicher als Imagination aus. Auf eine ähnliche Konstruktion wie in C scheinen die Überreste dieses Verses im Brünner Fragment hinzuweisen, wo es heißt: „muoz ich waen ichs auch“.

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eine in der Vergangenheit liegende Szene füllen, die in knapper Narration dargeboten wird: Er habe die Dame im Bad gesehen und hätte ihr ungerne zugerufen, sie solle die Blöße bedecken (V. 5f.). Der Blick des Beobachters wird als voyeuristischer enthüllt, denn er sieht die Dame, aber jene nicht ihn (V. 7). Dennoch, so suggeriert die Verszeile zugleich, war auch die Dame nicht passiv, sie verschoss ganz offensichtlich wie Amor Pfeile und traf ihn so, dass es ihn noch in der Gegenwart schmerzt (V. 7–10). Die Zeitebenen der Vergangenheit und Gegenwart, die hier zunächst geschieden sind, werden auf diese Weise eng verknüpft. Die Szene ist zunächst einmal eine witzige Pointe, das „da zwischen“ zu füllen und damit das Tabu der Hohen Minne und des Minnesangs, den Körper der Dame zu enthüllen, zu brechen. Vielschichtig ist der Anspielungshorizont, der voyeuristische Blick verweist zurück auf Susanna im Bade, auf David und Bathseba, auf Diana und Aktaion und damit auf Urszenen, die das Tabu des verbotenen Blicks, des begehrenden, männlichen Blicks, zum Thema haben.45 Die kurze narratio wird auf diese Weise mythisch und literarisch aufgeladen und dazu passt es, dass das Bild der Dame im Bade über die Metaphorik der Liebespfeile auch Züge der schaumgeborenen Venus und Amors sowie ihrer mittelalterlichen Ausprägung, der Frau Minne, trägt.46 Wie die Epiphanie einer Gottheit, wie ein Wunder, so entsteigt jene nackt dem Bad (V. 10). Gerade dieser Anspielungsreichtum zeigt, dass das „wunder wol gemachet wîp“ eine überzeitliche Chiffre des Weiblichen ist. Die vermeintliche Natürlichkeit der Nacktheit erweist sich in höchstem Grade als kulturell konstruiert und durch vielfache kulturelle Zeichen, Zitate und Anspielungen überschrieben.47 Von Interesse ist, dass gerade Handschrift D den Tabubruch abmildert, indem „nacket“ gegen die anderen Überlieferungszeugen und zwar auch gegen das D und N nahestehende Brünner Fragment gestrichen ist.48 Ein Schlüsselwort der Strophe ist zweifellos das „wænen“, es macht deutlich, dass der Status der Szene zwischen Erinnerung, Vermutung, Imagination und Hoffnung oszilliert. Die Grenzen des Hohen Sanges und damit auch die inszenierte Statik, der ‚ewige‘ Gleichlauf der Minnebeziehung, können, so möchten wir argumentieren, in der Erinnerung und mit Hilfe der imaginatio durchbrochen werden. Sind auch Tabus gesetzt, ist die Dame des Hohen Sanges auch unnahbar, so bleibt dem Minner doch das „wænen“ und dem Sänger die Möglichkeit, die Entwürfe dieser Imagination zum Gegenstand zu machen. In diesem „wænen“ gehen Erinnerung, Imagination und Traum vielfach ineinander über, weshalb wir den Realitätsstatus einer Szene oft nicht ausmachen können. Zentral ist jedoch – und das führt die Badeszene meisterhaft vor – dass 45 46 47

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Bauschke (Anm. 21) mit Belegen; Ehrismann (Anm. 21); Sayce (Anm. 21). Hier lässt sich eine Parallele zu Morungen, Si hât mich verwunt (MF 141, 37), erkennen. Vgl. das Lied Ob ich mich selben rüemen sol (L 62, 6) von Walther, in dem der Körper der Frau als Kleid inszeniert wird, insbes. Str. 4, L 62, 36–63, 7. Die Nacktheit der Dame wird allerdings auch in dieser Handschrift durch die Betonung des „da zwischen“, des Bades und der Blöße evoziert. Mit dem Aussparen der Konkretion scheint die Imagination des Rezipienten geradezu noch mehr angeregt zu werden.

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der Sänger in der Imagination überall hinschauen kann, er kann sich ungestört, aus einer Position der Verborgenheit heraus, satt sehen, in seiner Phantasie ad libitum über die Dame verfügen, sich alles vorstellen, sie splitternackt ‚ausziehen‘, jede Grenze übersteigen und so zu Momenten höchster Intensität kommen. Es sind die Augenblicke dieser Hochgestimmtheit, in denen die Möglichkeit aufscheint, auf wunderbare Weise vom Liebesschmerz geheilt zu werden (Str. 2, 4 und 5). Die der Zeit enthobene und räumlich entzogene Dame wird in den Imaginationen ‚greifbar‘. Auf der Ebene des Sanges manifestiert sich dies als in das Lied eingelegte Narration, die ihre eigene Zeitlichkeit besitzt.

III. Die poetologischen Aspekte wollen wir nun weiter ausführen und dabei auch zeitliche Aspekte auf der Ebene der impliziten Poetologie des Liedes betrachten. Im Durchgang durch die Strophen dürfte deutlich geworden sein, dass die Dame als das die Sangeskunst initiierende Prinzip erscheint. Von ihr gehen nicht nur die affektiven Impulse aus, sondern der Eros erweist sich als eigentliche Triebkraft des poetischen Produktionsprozesses. Das Begehren in der sexuell unerfüllten Hohen Minne, in welcher die Geschlechter stets auf Distanz gehalten sind, stellt einen maßgeblichen Faktor der Poesis dar. Auf der poetologischen Ebene betrachtet, spielt die Frage nach dem Ursprung eine gewichtige Rolle. Der Aspekt des ‚Gemachtseins‘ der Dame dominiert das Lied von Anfang an, doch bleibt der Schöpfer in der passivischen Konstruktion verborgen. Wenn Strophe 3 den Schöpfer als Gott offenbart, so macht doch schon der Aufgesang der ersten Strophe auf eine konkurrierende Schöpfungsinstanz aufmerksam, das Ich, den Sänger, das sich bereits in der zweiten Verszeile über das mir im obliquen Kasus ins Spiel bringt, um dann im dritten Vers selbstbewusst zu verkünden: „ich setze ir minniclîchen lîp / vil werde in mînen hôhen sanc“ (V. 3f.). In forcierter Lesart heißt dies, dass der Körper der Dame recht eigentlich im Gesang des Dichters entworfen wird. Die Rolle Gottes wird im Lied zwar aufgerufen, doch auch, wie wir meinen, marginalisiert, denn jener malt die Figur der Dame lediglich an, während der Sänger sie ‚entwirft‘. Umgekehrt wird deutlich, dass der Vorgang ästhetischer ‚Schöpfung‘ mittelalterlich in Analogie zur göttlichen Schöpfung gedacht wird. Diese bietet den Metatext, die Matrix, um die ästhetische Produktion des Dichters zu reflektieren. Im letzten geht es im analysierten Lied um die Frage nach dem Ursprung der Produktion von Poesie, dem Ursprung des Sanges. Die Figur des Ursprungs ist dabei hochkomplex und problematisch, denn sie berührt die zentrale ontologische Frage, warum etwas ist. Sie ist generell und in Sonderheit im Hinblick auf ästhetische Produktion mit einem so hohen Grad an Aporien und Paradoxien belastet, dass es immer wieder vonnöten ist, vom Ursprung in Bildern, Allegorien, Mythen zu sprechen. Logisch auflösbar

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ist der Ursprung gerade nicht, und daher wird er in Bilder und Narrationen überführt und übersetzt.49 Gerade in diesem Sinne könnte man das Lied auch auf einen weiteren mythischen Kontext beziehen, den wir noch nicht benannt haben: den Mythos von Pygmalion.50 Bekanntlich schnitzt sich der artifex eine Elfenbeinstatue und verliebt sich in sein Werk (X, V. 249). Er behandelt die Statue wie eine Frau aus Fleisch und Blut und schließlich bittet er die Göttin Venus um eine menschliche Frau, die seiner Statue ähnlich sei (V. 274f.). Als er diese erneut berührt und küsst, beginnt sie lebendig zu werden und blickt ihn errötend an (V. 293f.). Die Verwandlung vom kunstvoll geschaffenen Werk des Pygmalion zur Frau hat sich dank der göttlichen Hilfe von Venus vollzogen. Das „wundern wol gemach‹e›t wîp“ ließe sich nun in unserem Verständnis als Analogie zur Statue des Pygmalion verstehen. Auch Pygmalion kann die Statue nicht aus eigener Kraft beleben, auch er benötigt eine göttliche Schöpfungsinstanz und daher ist auch hier der Rekurs auf die Gottheit, die Liebesgöttin Venus, gegeben. Strukturell steht der christliche Schöpfergott im mittelalterlichen Lied an der Position der Venus, so möchten wir folgern. Wie Pygmalion hat sich der mittelalterliche Sänger eine ideale Frau entworfen, und wie Pygmalion verliebt er sich letztendlich in dieses Bild. Hat man diese implizite Poetologie von Si wunderwol gemachet wîp nun soweit offengelegt, wird auch deutlich, dass das Lied seinen eigenen ästhetischen Entstehungsprozess – gewissermaßen in der Figur der Selbstreflexion nachzeichnet. Noch einmal richten wir jetzt den Blick auf die Vorstellung (Str. 2), der Sänger könne sich in den Augen der Dame spiegeln, wenn sie „sô nâhen“ (V. 7) kämen. Dabei sähe er – mittelalterlichem Verständnis nach – sein eigenes Bild in deren Pupille.51 Die Spiegelung führt den Sänger daher auf sich zurück im Sinne einer Reflexion im wortwörtlichen Sinne. Bezogen auf den Hohen Sang könnte man folgern, dass auch der Status der Minnedame zwischen Realität und Projektion bzw. – auf ästhetischer Ebene – der Status der Rede zwischen Authentizität und Fiktionalität oszilliert.

49 50

51

Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/Main 51990, S. 143. Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch – deutsch. In deutsche Hexameter übertragen von Erich Rösch. Hrsg. von Niklas Holzberg. Zürich 1996, Buch X, V. 243–297. Vgl. Eva B. Scheer: ‚daz geschach mir durch ein schouwen‘. Wahrnehmung durch Sehen in ausgewählten Texten des deutschen Mittelalters bis zu Frauenlob. Frankfurt/Main u. a. 1990 (Europäische Hochschulschriften, Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur 1211); Gudrun SchleusenerEichholz: Das Auge im Mittelalter. 2 Bde. München 1985 (Münstersche Mittelalter-Schriften 35/1 u. 2). Vgl. spezifisch zum Minnesang auch Christoph Huber: Ekphrasis-Aspekte im Minnesang. Zur Poetik der Visualisierung bei Heinrich von Morungen mit Blick auf die ‚Carmina Burana‘ und Walther von der Vogelweide. In: Der Tod der Nachtigall. Liebe als Selbstreflexivität von Kunst. Hrsg. von Martin Baisch, Beatrice Trînca. Göttingen 2009 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 6), S. 83–104.

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IV. Wir kommen nach diesen Überlegungen zur Reflexion auf das Singen und seinen Ursprung noch einmal auf die Ebene der Minnewerbung zurück. Wir haben deutlich gemacht, dass die Vorstellung von der Statik der Minnebindung im Lied Si wunderwol gemachet wîp durch die inszenierten Imaginationen relativiert und dynamisiert wird. Jene erlauben ein Ausschweifen in Raum und Zeit, sie bringen Bewegung in die starre Konstellation der Hohen Minne. Die Minnebeziehung wird in den Phantasien gewissermaßen dynamisiert, es werden mögliche Veränderungen im Verhältnis zur Dame angedeutet, der ewige Gleichlauf der Werbung wird durch diese Formen der Zeitlichkeit gebrochen. Sprachlich wird dies nicht selten in Narrativisierungen und szenischen Gestaltungen umgesetzt, welche die Iteration der immer gleichen Komponenten der Hohen Minne bereichern. Daneben gibt es bekanntlich auch Lieder, in denen der Gedanke der ‚Ewigkeit‘ der Minne selbst in Frage gestellt wird. Das nach den Regeln der Hohen Minne tabuisierte zeitliche Ende der Minnebindung wird in einigen Liedern Walthers thematisch. So droht das werbende Ich im Lied Mîn frowe ist ein ungenædic wîp (L 52, 23) mit Dienstaufkündigung und der Absicht, wegzuziehen und in fremden Ländern nach anderen Frauen zu fragen (L 53, 17–21). Auch das Alter des Minners kommt dabei ins Spiel: In der Perspektive der Rückschau auf eine lange und erfolglose Werbung wird der Minnedienst nicht nur als leidvoll, sondern pointiert auch als Zeitverschwendung gesehen. Es ist das Vergeuden von Lebenszeit, das der Sänger offenbar mehr beklagt als seinen Schmerz: „Lîde ich nôt und arebeit, / die klage ich vil kleine. / mîne zît aleine, / hab ich die verlorn, daz ist mir leit“ (L 53, 5–8). Im Sumerlatenlied (L 72, 31) wird schließlich nicht nur das Alter des Sängers, sondern auch jenes der Dame zum Gegenstand gemacht. Der Sänger entwickelt bekanntlich die krude Phantasie einer derben Rache an der altgewordenen Dame durch einen jungen Mann.52 Die statische Dame des Hohen Sangs wird hier in den Zeithorizonten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als eine sich verändernde, wie der Sänger der Vergänglichkeit und dem Tod unterworfene Person gezeichnet.53 Nicht nur der Sänger 52

53

Dazu unter dem Aspekt der Zeit Jens Pfeiffer: ‚Zeit‘ als Moment einer poetologischen Fiktionalitäts-Reflexion im Hohen Minnesang. Zu Walthers von der Vogelweide ‚Lange swîgen des hât ich gedâht‘ und Heinrichs von Morungen ‚Mir ist geschehen als einem kindelîne‘. In: Das Sein der Dauer. Hrsg. von Andreas Speer, David Wirmer. Berlin/New York 2008 (Miscellanea Mediaevalia 34), S. 473–494, vgl. dazu auch die Rachephantasie bei Morungen MF 124, 32, vgl. (Anm. 19). Christoph Cormeau: Minne und Alter. Beobachtungen zur pragmatischen Einbettung des Altersmotivs bei Walther von der Vogelweide. In: Mittelalterbilder aus neuer Perspektive. Diskussionsanstöße zur amour courtois, Subjektivität in der Dichtung und Strategien des Erzählens. Hrsg. von Ernstpeter Ruhe, Rudolf Behrens. München 1985 (Beiträge zur romanischen Philologie des Mittelalters 14), S. 147–165; Volker Mertens: Alte Damen und junge Männer. Spiegelungen von Walthers ‚sumerlaten‘-Lied. In: Walther von der Vogelweide. Hamburger Kolloquium 1988 zum 65.

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erscheint als abhängig von der Dame, sondern auch jene von ihm, wenn es in Umkehrung des berühmten Reinmarverses „stirbet sî, sô bin ich tôt“ (MF 158, 28) heißt, dass sein Tod respektive seine Tötung durch die Dame auch deren Tod bedeuten würde: „sterbet si mich, sô ist si tôt“ (L 73, 16).54 Zu dem, was die Dame in den Augen der Gesellschaft ist, hat sie der Sänger gemacht, denn er schuf ihre „werdecheit“ (L 73, 2). Insofern vergeht ihr Ansehen in der Gesellschaft mit dem Ende seines Sangs: „jôn weiz si niht, swenne ich mîn singen lâze, daz ir lop zergât?“ (L 73, 4). Der Sänger stilisiert sich hier deutlich als jener, der recht eigentlich Macht über Leben und Tod der Dame hat. Dies wiederum erinnert an die Setzung der Dame im Lied Si wunderwol gemachet wip. Von besonderem Interesse ist unter diesen Aspekten auch der in den Handschriften jeweils fünfstrophig überlieferte Alterston (L 66, 21), auf den wir abschließend nach der Version in B und C noch kurz eingehen möchten. Der Sänger, der sich einleitend an ein ausgewähltes Publikum wendet (L 66, 21), blickt in der Rolle des alten Mannes auf gute vierzig Jahre Dienst an der Gesellschaft durch seinen Sang zurück.55 Hatte der Sänger immer schon selbstbewusst den Dank des Publikums eingefordert, so gebührt ihm jener seiner Auffassung nach im Alter besonders (V. 1–5), denn im Unterschied zu früher nimmt sich der Sänger nun von höfischer Freude und höfischem Frauendienst aus. Sänger- und Minnerrolle fallen demnach auseinander und die Fiktionalität des Minnesangs tritt beim alten Sänger gegen die üblichen Authentizitätsbeteuerungen deutlich hervor. In der zweiten Strophe ist die Vorstellung der Ausgrenzung des Sängers noch weiter getrieben. Jener stilisiert sich als alter Mann, der am Stab geht („Lât mich an eime stabe gân“, L 66, 33), wobei dieser Begriff semantisch offen ist und auch Konnotationen des Fahrens, des Unterwegsseins, der Armut, des Bettelns und schließlich des Pilgerns einschließen kann. Als Ziel des Sängers, das er schon von Jugend an verfolgt habe, erscheint nun das ethisch, nicht ständisch gefasste „werben umbe werdekeit“ (L 66, 34), das als Formel weit besser zum Sangspruch passt als zum Minnesang. Am Schluss der Strophe greift der Blick des Sängers schließlich auf das Lebensende aus, dabei wird konstatiert: Was ein gelungenes, ein lobenswertes Leben ist, bestimmt sich von seinem Ende her. Diese Gedanken leiten über zur Weltabsage in der dritten Strophe. Nicht mehr das höfische Publikum wird hier adressiert, sondern die personifizierte Welt. Der Sänger spricht nun weder als Minnesänger, noch als Spruchdichter, er meldet sich vielmehr als Kreatur zu Wort, die sich repräsentativ für alle Geschöpfe (wir, zweimaliges uns) mit der trügerischen Welt auseinandersetzt. Tausendfach habe er Leib und Seele für die Welt auf das Spiel gesetzt, nichts könne er mitnehmen von dem, was die Welt ihm als Lohn gegeben habe (V. 1–7). Der Ausblick auf das Weltende und den Weltbrand mit

54 55

Geburtstag von Karl-Heinz Borck. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Franz Josef Worstbrock. Stuttgart 1989, S. 197–215; Pfeiffer (Anm. 52). Vgl. die Variante in der Handschrift E: „stirbe aber ich, so ist si tôt.“ L 66, 21: „wol vierzic jâr han ich gesungen unde mê / von minnen und alse iemen sol.“

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den biblischen Anklängen (vgl. 2 Petr. 3, 10 und Hiob 1, 21) dramatisiert den Gedanken der Absage an eine Welt, die selbst dem Untergang anheimfallen wird. In dieser Perspektive wird der in den beiden ersten Strophen vergegenwärtigte Dienst des Sängers an der Minnedame und der höfischen Gesellschaft, seine Lebensaufgabe, fragwürdig, denn auch dieser ist ein bloßer Teil seines sinnlosen Strebens nach dem Lohn der Welt. Die Minnedame und die höfische Gesellschaft erscheinen als bloße Repräsentanten der hinfälligen Welt. Die Konsequenzen der Weltabkehr für das individuelle Leben werden in der vierten Strophe weiter ausgezogen. Fokussiert wird nun der Dualismus von Leib und Seele.56 Der lîp wird aufgefordert von der vergänglichen und unzuverlässigen Frauenliebe, mit welcher die Gottesminne kontrastiert wird, abzulassen, denn jene sei nicht durch und durch das, als was sie erscheine, „niht visch unz an den grât“ (L 67, 31), wie es in der letzten Verszeile pointiert heißt.57 Die Strophe greift die gefährliche Nähe des Minnesangs zum religiösen Sprechen und die latente Konkurrenz von Frauenliebe und Gottesliebe auf, legt sie offen und spielt die Komponenten gegeneinander aus. Was in den Liedern der Hohen Minne als unvergängliche, immerwährende Minne verherrlicht ist, wird vor dem Hintergrund des Vanitasgedankens und in der Perspektive des Altersrückblicks in seiner Vergänglichkeit und Unbeständigkeit enthüllt. Die staete im eigentlichen Sinne kommt nicht der irdischen Minne, sondern nur der „wâren minne“ (L 67, 27) zu. Es ist die Perspektive des Altersrückblicks, die diese Sicht erlaubt, denn der Sänger steht nun außerhalb der höfischen Minne. Aus dieser (Außen)Position heraus ist der Blick frei auf die Gefahren des Minnedienstes mit dem ihm inhärenten körperlichen Begehren und auf den Minnesang mit dem Begehren als eigentlicher poetischer Triebkraft. Die ästhetische Positivierung dieses Begehrens im Hohen Sang wird in dieser Strophe zurückgenommen. In der angedeuteten Dichotomie von Schein und Sein wird die Minne in ihrer Scheinhaftigkeit entblößt. Die fünfte Strophe wendet diese Gedanken nun auf den Entwurf der Dame im Hohen Sang: Ich hâte ein schœne bilde erkorn, und owê, daz ichz ie gesach und ouch sô vil zuo ime gesprach! ez hât schœne und rede verlorn. Dâ was ein wunder inne, daz fuor ich enweiz war. dâ von gesweic daz bilde iesâ. sîn lilienrôsevarwe wart sô karkervar, daz ez verlôs smac unde schîn (L 67, 32–68, 3).

Den zentralen und die Strophe einleitenden Begriff „bilde“ verstehen wir nicht – im Sinne einer Fortsetzung des Leib-Seele-Dualismus aus der vierten Strophe – als Körper 56 57

„Lobe ich des lîbes minne, daz ist der sêle leit, / und giht, ez sî ein lüge, ich tobe“ (L 67, 25f.). Wilmanns, Michels (Anm. 40), S. 261f., bezeichnen den Ausdruck als sprichwörtliche Wendung und nennen entsprechende Belege.

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des Sängers,58 sondern als das Bild, das jener sich von der Dame gemacht hat.59 Dass „bilde“ auf die Dame zielt, zeigen das Attribut der Schönheit und die Zuordnung der „lilienrosevarwe“, die bei Walther geradezu topisch für Frauenschönheit steht. Es ist eben jenes Bild, in dem die Minnedame in ihrer Vollkommenheit im Hohen Sang inszeniert wird, wie der Sänger es in Si wunderwol gemachet wip vorführt. Vielfältig sind die Anklänge dieser Strophe an das oben besprochene Lied: Das Verb „kiesen“ („erkorn“) weist auf das Erwählen der Dame durch den Minner in Si wunderwol zurück, und auch die Vorstellung des Wunderbaren, das „wunder“ an der Dame, wird wieder bemüht. Weitere Parallelen könnte man in den Attributen von Glanz und Duft sehen. Doch die Dame, die im Begriff des Bildes repräsentiert ist, erscheint im Alterston nicht länger der Zeit enthoben, in ihrer zeitlosen Vollkommenheit, sondern das „bilde“ wird in seiner Vergänglichkeit gezeigt. Die „lilienrosevarwe“ ist fahl geworden, Glanz und Duft sind gewichen, das Wunderbare ist entschwunden, „daz fuor ich enweiz war“ (L 67, 36). Das „bilde“ ist verstummt, das könnte heißen, es ist nicht mehr in der Lage, die poetische Rede hervorzurufen. Man könnte folgern, dass das Bild der Dame, das in Si wunderwol entworfen bzw. gesetzt wird, hier im Sinne einer Reflexion auf Alter und Tod der Dame, auf das Ende des Minnedienstes und Minnesangs im Zerfall vor Augen gestellt wird. Pointiert gesagt: Im Zeichen der Zuwendung der Seele zur „wâren minne“ wird der Charakter des Minnedienstes als Projektion entlarvt.

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59

Anders die Mehrheit der Interpreten, vgl. etwa Fritz Peter Knapp: ‚Ein schoenez bilde‘. Ethik und Ästhetik in Walthers ‚Alterston‘. In: Poetica 25 (1993), S. 70–80, bes. 74–80; Horst Brunner: Vermächtnis und Abschied. Walthers Lied ‚Ir reiniu wîb, ir werden man‘ (L. 66, 21/C. Nr. 43). In: Annäherungen. Studien zur deutschen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Hrsg. von Horst Brunner. Berlin 2008 (Philologische Studien und Quellen 210), S. 113–125. Wachinger fasst bisherige Deutungen des „bilde“ zusammen; es wurde interpretiert als „eine verstorbene Geliebte, die Seele, das Herz, der Leib, das Fleisch, der Teufel, die Welt, die Gesellschaft, die Bilder der Welt, die der Dichter benutzt hat.“ Burghart Wachinger: Die Welt, die Minne und das Ich. Drei spätmittelalterliche Lieder. In: Entzauberung der Welt. Deutsche Literatur 1200–1500. Hrsg. von James F. Poag, Thomas C. Fox. Tübingen 1989 (Symposium des German Department der Washingtoner University 9), S. 107–118, 113. Die älteren Interpretationen resümieren Wilmanns, Michels (Anm. 40), S. 262. Vgl. dazu Jan-Dirk Müller: Walther von der Vogelweide ‚Ir reinen wîp, ir werden man‘. In: Minnesang und Literaturtheorie. Hrsg. von Ute von Bloh, Armin Schulz. Tübingen 2001, bes. S. 163– 170; vgl. auch Max Rieger: Walther 67, 32. ‚Ich hâte ein schœnez bilde erkorn‘. In: ZfdA 46 (1902), S. 181–185. Dieser hat schon sehr früh dafür votiert, dass „bilde“ im Zusammenhang der Verse 1–8 der fünften Strophe nicht dasselbe bezeichnet wie in den Versen 9–12 (zum einen nämlich die Geliebte des Sängers, zum anderen hingegen dessen „lîp“); diese Erwägungen unterstützt Carl von Kraus: Über Walthers Lied ‚Ir reinen wîp, ir werden man‘ (66, 21–68, 7). In: Germanistische Forschungen. Festschrift anlässlich des 60-semestrigen Stiftungsfestes des Wiener akademischen Germanistenvereins. Wien 1925, S. 105–116, bes. 109f. Noch differenzierter in diese Richtung argumentiert Timothy McFarland: Walther's bilde. On the Synthesis of Minnesang und Spruchdichtung in ‚Ir reinen wîp, ir werden man‘ (L 66, 21ff.). In: Oxford German Studies 13 (1982), S. 183–205, bes. 193–202.

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Es ist insbesondere die hier im Modus der Negation noch einmal aufgerufene Vollkommenheit der Dame, welche den Raum für Projektionen im Hohen Sang eröffnet hat, denn bereits in der Vollkommenheit der Dame liegt ein entscheidender Impuls zu ihrer Irrealisierung.60 In den Projektionen und Imaginationen des Minner- und Sänger-Ichs wird im Hohen Sang eine Serie von Bildern entworfen, in welchen das Faszinosum der Dame immer wieder in neuen Varianten ersteht. Es ist die produktive Ambivalenz zwischen den sinnlichen Reizen, die von der Dame ausgehen und ihrer Vollkommenheit und Entzogenheit, welche diesen Prozess in Gang setzt. Die reale Dame wird dabei durch Phantasmen immer weiter irrealisiert, sie muss letztendlich nicht mehr in einer kommensurablen Beziehung zu den Abschweifungen der Imagination stehen. Was auf der Ebene der Affektstruktur als staete und triuwe der Minne gefasst ist, wird ästhetisch zur creatio perpetua. All die Vorstellungen des Liebenden sind nur Supplemente, die ein Du, das merkwürdig abstrakt, fast möchte man sagen, leer bleibt, umkreisen. Als Abstraktum wird die Dame im Hohen Sang, semiotisch gesehen, zum unentzifferbaren Zeichen, psychologisch betrachtet wird sie zum Fluchtpunkt des Begehrens und der männlichen Wünsche und ästhetisch zum Movens der poetischen Rede. Eben diese Komponenten werden im Alterston gewissermaßen mit negativem Vorzeichen noch einmal aufgerufen. In der religiösen Perspektive erscheinen die Projektionen und Entwürfe von der Dame, die hier im Begriff des „schœnen bilde“ zusammengefasst sein könnten, als Illusionen und bloßer Ausdruck einer Weltverfallenheit. Das religiös Prekäre des Minnesangs, der die innerweltliche Liebe zum summum bonum erklärt, wird hervorgekehrt und der Sang im Zeichen der Weltabkehr kritisch distanziert. Insofern erscheint es uns nur konsequent, dass sich die Semantik von „bilde“ in den Schlussversen der Strophe und des Liedes (nach B und C) verschiebt. Wir können dieses Oszillieren der Begriffe in den Liedern Walthers öfter beobachten („stab“, „kranz“, „kissen“/„küssen“). Ab Vers 9 der fünften Strophe wird der Dualismus von Leib und Seele fokussiert und „bilde“ bezieht sich in dieser Logik primär auf den Körper des Sängers. Evoziert wird die in der Tradition seit Platon gängige Vorstellung vom Eingekerkertsein der Seele im Leib. Diese wird von Walther christlich gewendet, indem der Sänger sich wünscht, den Leib als das Hinfällige verlassen zu können, aber dereinst in der Auferstehung im Fleische wieder „frô“ in ihn zurückzukehren (vgl. Apk 21f.). Demnach haben wir es in der Strophe mit zwei Dichotomien zu tun, einerseits mit Leib und Seele, andererseits mit Sänger und Dame. Über den Begriff des „bilde“ sind beide Begriffspaare verbunden und daher kann die eine Vorstellung jeweils die andere grundieren.61 So schwingt, wie wir folgern, im Dualismus von Leib und Seele auch noch die Vorstellung von Sänger und Dame mit, die sich, im Diesseits aneinander gebunden, 60

61

Hans Robert Jauß: Das Vollkommene als Faszinosum des Imaginären. In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von Dieter Henrich, Wolfgang Iser. München 1983 (Poetik und Hermeneutik 10), S. 443–461. Vgl. dazu die nach D und N 4. Strophe von Si wunderwol gemachet wîp, in der durch die programmatische semantische Offenheit und die Konnotationsvielfalt der Begriffe „kissen“ und „rôt“ verschiedene Bildfelder unauflösbar überlagert werden.

Zeit im Hohen Sang

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einst im Jenseits wiederfinden, wie auch Morungen in Vil süeziu senftiu toeterinne (MF 147, 4) vor Augen gestellt hat. Am Strophenschluss ist vordergründig der Aspekt dominant, dass auch der Sänger in seinem Wunsch, den sterblichen Leib verlassen zu können, in seiner irdischen Hinfälligkeit gezeigt wird, was mit dem Verfallen des „schœnen bilde“ von der Dame korrespondiert. Die Hoffnung und das Wünschen richten sich auf die Hoffnung auf Auferstehung. In dieser Perspektive auf die Ewigkeit erscheint die Ewigkeit der irdischen Liebe als bloße Illusion. Und dennoch: Die Schlusspointe lässt sich, anders betrachtet, doch wiederum als Fortsetzung einer endlosen Minnegefangenschaft deuten, welche trotz aller Rhetorik der Welt- und Minneabsage auch auf die unhintergehbare Fortsetzung des Singens verweist: „daz wir ein ander vinden frô, / wan ich muoz aber wider in.“ Der letzten Verszeile wohnt in dieser Lesart eine poetologische Komponente inne, in welcher die revocatio des Minnedienstes und Minnesanges ihrerseits noch einmal relativiert wird. Das vermeintliche Ende des Minnedienstes wird solchermaßen noch einmal in die Endlosigkeit hinein perspektiviert.

Volker Mertens

commencer und finer bei Chrétien de Troyes und die Poetik des arthurischen Romans

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne1

Chrétien ist der Meister des Anfangens, hingegen hat er Schwierigkeiten, einen Schluss zu finden. Beides ist hier mein Thema: Ich beschäftige mich zuerst mit dem durch commencer signalisierten Beginn seiner Romane und den durch finer bestimmten Schlüssen. Dann konzentriere ich mich auf die entsprechend verbal annoncierten Binnenstrukturen von Erec et Enide. Daraus resultiert die Frage nach der Verallgemeinerbarkeit für die Poetik der Chrétienschen Romane. Ich untersuche darauf Hartmanns spezifische Rezeption im Erec und formuliere abschließend Thesen zur Poetik des arthurischen Romans.

I. commencer ist bei Chrétien ein Gliederungssignal. Es kennzeichnet meist das Ende des Prologs und kündet in allen seinen Romanen (mit Ausnahme des Yvain) den Beginn der eigentlichen Erzählung an. Anscheinend ist es eine topische Wendung, die eine mündliche Vortragssituation, Präsenz des Erzählers, evozieren soll sowie den Aufbruch in die narrative Welt. Das ist eine traditionelle Technik, denn so steht commencer schon im Prolog des Thebenromans: car ma reson veul conmencier a leur ayol dont voil treitier (V. 35f.).2

1

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Hermann Hesse: Stufen. In: Sämtliche Werke. Band 10. Hrsg. von Volker Michels. Frankfurt/Main 2002, S. 366. Roman de Thèbes. Der Roman von Theben. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Felicitas Olef-Krafft. München 2002 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 32). Chrétien bezieht sich in seinem Prolog zu Erec et Enide mehrfach auf den ‚Theben’-Prolog mit den Stichworten von verbergen (V. 1), verschweigen (V. 9), erinnern (V. 2).

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Volker Mertens

[Denn ich will meine Erzählung mit ihrem Großvater beginnen, von ihm will ich handeln.]

commencer ist also nicht nur ein mediales Signal, sondern auch ein poetologisches: Es verweist auf eine Erzählung, die hier einen Anfang hat, also dann auch eine Mitte und ein Ende, es handelt sich um die Bezeichnung des Syntagmas.3 Das ist unabhängig davon, ob auf eine ungelehrte mündliche Tradition zurückgegriffen wird, wie in Erec et Enide4 oder auf klerikale Schriftlichkeit, die als Vorlage behauptet wird, wie im Cligès oder im Perceval, wo der Erzähler im ersten Fall ein altes Buch in der Abtei Saint Pierre in Beauvais gefunden, im zweiten ein livre von seinem Gönner, dem Grafen Philipp von Elsass, erhalten haben will. Das Ergebnis hingegen wird, außer im Lancelot, nie als Buch bezeichnet, sonst ist es ein conte oder ein romanz, eine Erzählung in der Volkssprache. Sie wendet sich an Fürsten, an die Könige und Grafen, die bisher nur von berufsmäßigen Erzählern zerstückelte und verdorbene Geschichten vorgetragen bekamen, wie es im Erec-Prolog heißt. Oder diese bestellten, „kommandierten“, eine Erzählung wie Marie de Champagne den Lancelot und Graf Philipp die Gralerzählung. Mit dem topischen commencer wetteifert der gebildete Erzähler (wie er sich im CligèsProlog bibliografisch legitimiert) mit den conteurs, seine Überlegenheit gründet im verständigen Ausführen („san“; Erec V. 5), im gut Erzählen und in der richtigen Aneignung des Vorgegebenen („bien aprandre“, V. 12)5, was er dann seinem Publikum mitteilt. Das entspricht im Großen und Ganzen dem, was Franz Josef Worstbrock „Wiedererzählen“ genannt hat,6 die neue Ausgestaltung einer überkommenen materia. Ich komme später auf commencer zurück. Die Verwendung von finer scheint die Beobachtungen zur Mündlichkeit, zur Syntagmatik und zum Wiedererzählen zu bestätigen. Am Schluss des jeweiligen contes konstatiert der Erzähler, dass hier die Geschichte zu Ende sei: Li contes fine ci a tant (Er 6958)7 Ci fenist l’uevre Crestiien (Cl 6784)8

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Interpretatorisch verwendet u. a. von Rainer Warning: Fiktion und Transgression. In: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Festschrift Jan-Dirk Müller. Hrsg. von Ursula Peters, Rainer Warning. Paderborn u. a. 2009, S. 31–55. Ich sehe die Problematik der Dichotomie, meine jedoch, dass mit diesen Kategorien zu arbeiten ist, wenn man sie als „vorwiegend syntagmatisch/paradigmatisch“ in bestimmten Funktionen ansieht. Ich werde im Folgenden darauf zurückkommen. Ich zitiere im Folgenden die Ausgabe von Wendelin Foerster: Chrétien de Troyes, Erec et Enide, übersetzt und eingeleitet von Ingrid Kasten. München 1979 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 17). Ergänzend ziehe ich die gebesserte Edition von Mario Roques heran: Chrétien de Troyes, Erec et Enide/Erec und Enite. Übers. und hrsg. von Albert Gier. Stuttgart 1987 (RUB 8360). Wohl nicht als „Nützliches mitteilen“ (Gier) oder „gut belehren“ (Kasten) zu übersetzen. Franz Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna Vitrea 16), S. 128–142. Ausgabe Foerster, Kasten (Anm. 4). Chrétien de Troyes: Cligès. Auf der Grundlage des Textes von Wendelin Foerster übersetzt und kommentiert von Ingrid Kasten. Berlin u. a. 2006.

Commencer und finer

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Del Chevalier au lyeon fine Crestïens son romans ensi (Yv 6804f.)9

Zwei von seinen Romanen hat Chrétien allerdings gar nicht zu einem Schluss gebracht: den Lancelot und den Perceval. Mag bei Letzterem der Tod des Mäzens verantwortlich dafür sein, so kennen wir den Grund dafür, dass Godefroi de Leigny den KarrenritterSchluss verfasst hat, nicht: Es war wohl kaum Gönnerverlust (der Fortsetzer erwähnt Marie de Champagne zwar nicht, aber sie starb erst 1198), – war es ein liebesphilosophisches Problem, wie zumeist angenommen,10 oder war es ein poetologisches, die Schwierigkeit, einen aventiure-Roman zu Ende zu erzählen, da ‚Abenteuer‘ als Erzählmodul für eine beliebige Reihung offen ist (s. u.)? Chrétien zeigt das Ende seines Teils (etwa bei V. 6132) nicht an, die Erzählung geht vielmehr nahtlos weiter. Umso bemerkenswerter sind zwei Signalements für Binnenabschlüsse in Chrétiens Erec et Enide; mit ihnen beschäftige ich mich im Folgenden.

II. Ich greife damit poetologische Probleme auf, die seit geraumer Zeit diskutiert werden. Einen ersten Schub gab es mit dem Sammelband „Erzählstrukturen der Artusliteratur“ von 1999, vor allem mit den Beiträgen von Brigitte Burrichter11 und Friedrich Wolfzettel12 sowie dem enrangierten Plädoyer ‚Weg mit dem Doppelweg‘ von Elisabeth Schmid13, einen zweiten mit der Festschrift Jan-Dirk Müller von 2009 mit den Aufsätzen von Rainer Warning14, Walter Haug15 und Beate Kellner16. Ich beteilige mich an dieser Diskussion und lasse mich von den Überlegungen der Genannten anstoßen.

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Chrétien de Troyes: Le chevalier au lion (Yvain). Hrsg. von Mario Roques. Paris 1960 (Les classiques français du Moyen Âge 89). Anders Walter Haug, der befindet, Godefroi habe die Konzeption Chrétiens zu Ende geführt: „Das Land, von welchem niemand wiederkehrt“. Mythos, Wahrheit und Fiktion in Chrètiens ‚Chevalier de la Charrete‘, im ‚Lanzelet‘ Ulrichs von Zatzikhoven und im ‚Lancelot‘-Prosaroman. Tübingen 1978, S. 47–51. Brigitte Burrichter: „Ici fenist li premerains vers“ (Erec et Enide) – noch einmal zur Zweiteilung des Chrétienschen Artusromans. In: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Unter Mitwirkung von Peter Ihring. Tübingen 1999, S. 87–98. Friedrich Wolfzettel: Doppelweg und Biographie. In: Ders. (Anm. 11), S. 119–141. Elisabeth Schmid: Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung. In: Wolfzettel (Anm. 11), S. 69–85. Eine strukturelle Lesart mit der seit Hugo Kuhn üblichen Ontologisierung (s. u. Anm. 55) übergehe andere Dimensionen, die nicht in der Symbolstruktur funktionalisiert seien. Vgl. Anm. 3. Walter Haug: Fiktionalität und Literaturbewusstsein bei Chrétien de Troyes, Thomas von England und Gottfried von Straßburg. In: Warning, Peters (Anm. 3), S. 219–234. Beate Kellner: ein maere wil i’u niuwen. Spielräume der Fiktionalität in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘. In: Warning, Peters (Anm. 3), S. 175–203.

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Mein erstes Beispiel ist die Verwendung von „finer“ V. 1796 (Roques) bzw. V. 1844 (Foerster)17: „Ci fine li premerains vers“. Es ist zunächst nach den Wortbedeutungen zu fragen. „vers“ ist bei den Trobadors gut bezeugt: im übergreifenden Sinn von „Gedicht“; das Substantiv chanson (Lied) bezeichnet eine Untergattung,18 es handelt sich um etwas Abgeschlossenes, das Wort steht am Beginn und Ende von Liedern, so bei Wilhelm von Aquitanien und Poitou: „faray un vers tot covinen: / Farai un vers / Fag ai lo vers“19 oder in Tornadas/Envois. Es handelt sich um einen kunstvoll gemachten Text, auf den der Verfasser stolz ist, den er seiner Dame schicken will: E’t voill pregar, Vers, ab diz car que lai en Urgel te presenz (Raimbaut d’Aurenga)20 [und ich will dich bitten, Gedicht, dass mit teuren Worten du dich in Urgel präsentierst / gegenwärtig machst.]

Die semantische Komponente des „gut Vollendeten/Geschlossenen/Runden“ passt zu Chrétiens Formulierung. Das Wort premerains kann zwei Bedeutungen haben: Einmal ist es die Ordinalzahl „der erste“, dann ist es das Adjektiv „der/die/das vorzüglichste....“ wie in dem bekannten Lied Ma joie premeraine/M’est torneie en pesance („Meine vorzüglichste Freude ist in Leid verwandelt“) von Guiot de Provins R. 142)21, das Friedrich von Hausen kontrafaziert hat (Ich denke underwîlen MF 51, 33)22. Allerdings wird das Adjektiv in dieser Bedeutung zumeist nachgestellt (wie in dem zitierten Fall), so dass bei Chrétien die Ordinalzahl anzusetzen ist, obwohl kein zweiter oder dritter vers ausdrücklich genannt werden. Die auszeichnende Komponente scheint allerdings mitzuschwingen. Dass jedoch sehr wohl ein weiterer vers vorkommt, werde ich ausführen. Ich übersetze also die zitierte Zeile Chrétiens: „Hier endet die erste vorzügliche Runde“.23 In der Formulierung scheint der Stolz mitzuschwingen, mit dem Chrétien im 17 18

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Vgl. Anm. 4. Claudia Sebass-Linggi: Lecture d’Erec. Traces épiques et troubadouresques dans le conte de Chrétien de Troyes. Bern 1996, S. 249. Zitiert nach Erhard Lommatzsch: Provenzalisches Liederbuch. Lieder der Troubadours mit einer Auswahl biographischer Zeugnisse, Nachdichtungen und Singweisen. Berlin 1917: Lied 2, 1 (S. 3); Lied 3, 1 und 37 (S. 4f.). Walter Thomas Pattison: The Life and Works of the Troubadour Raimbaut d’Orange. Minneapolis 1952, Lied 17, V. 70–72. Guiot de Provins: Oeuvres. Réimprimer de l'édition de Manchester-Paris 1915. Hrsg. von John Orr, Genf 1974, Nr. I (S. 1). Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moriz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearbeitet von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Bd. 1: Texte. Stuttgart 381988. „Runde“ nimmt eine wichtige semantische Komponente von vers/verser auf: drehen, wenden. Vgl. Algirdas Julien Greimas: Dictionnaire de l’ancien francais jusqu’au milieu du XIVe siècle. Paris 1969. s. v. Die Übersetzungen (Anm. 4) von Kasten („Hier endet der erste Teil“) und Gier („So

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Prolog die conteurs überbietet, dass nämlich seine Geschichte bis zum Ende aller Tage im Gedächtnis bleiben wird: „l’estoire/ Qui toz jorz mes iert an memoire/ Tant con durra crestiantez/ De ce s’est Crestiiens vantez“ (V. 23–26). Den Anspruch gründet er auf die Qualität, nicht auf das Medium, denn er betont, seine Erzählung solle (wie die mündlicher Autoren) „an memoire“ bleiben. Das Wortspiel mit seinem Namen „crestiantez“ – „Crestiens“ ist bereits ein Hinweis auf diese sprachlich-gestalterische Meisterschaft, indem es auf ein Bibelwort referiert.24 Chrétien setzt an den Schluss seines Prologs den gelehrten Kontrapunkt zum eingangs zitierten vilains. Betrachten wir die Stellung des Endes der ‚Runde‘ genauer, so wird Chrétiens Leistung erkennbar. Der Einschnitt steht ausdrücklich am Abschluss der Hirschjagd-Costume: König Artus hat das andersweltliche Tier erlegt, darf und soll daher mittels eines Kusses den Schönheitspreis verleihen; mit Zustimmung aller zeichnet er Enide aus. Li rois par itel avanture Randi l’usage et la droiture Qu’a sacort devoit li blans cers (V. 1841–43).

Damit ist die Handlung, mit der der Roman begonnen hat, tatsächlich abgeschlossen. Chrétien hat seinen Conte du cerf blanc, sein Gedicht vom weißen Hirsch, vollendet in Konkurrenz zu den Berufserzählern und in Überbietung von deren Stückwerk. Er hat eine bele conjointure hergestellt, mit der Hirsch-Erzählung den Conte d’espervier verbunden und so eine zweite Schönheitspreis-Geschichte intrikat mit der ersten auf folgende Weise verschachtelt (Conte du cerf blanc: i. F.: recte; Conte d’espervier: i. F.: kursiv): Beginn der Hirschjagd – Erecs Ausritt, Zwergenschande und Aufbruch – Abschluss der Jagd, Ritterrevolte und Aufschub des Schönheitskusses – Erecs Sieg im Sperberturnier – Iders in Caradigan – Erecs und Enides Aufbruch zum Artushof, Enides Einkleidung: Abschluss der usage Pendragon durch Zuerkennung des Schönheitspreises.25 Beide contes, die Hirschjagd wie das Sperberabenteuer, handeln von Kontakten mit der Anderswelt, ihnen „wohnt ein Zauber inne“, sie stammen aus dem Erzählgut der Bretonen. Für den Conte d’espervier bezeugt das die vergleichbare Geschichte im 8. Kapitel des 2. Buches von Andreas Capellanus De amore.26 Hier ist der Gewinn des Sperbers mit der Liebe einer Fee verbunden. Anscheinend geht Andreas auf eine ähnliche mündliche Quelle zurück wie Chrétien, er gestaltet sie jedoch im Sinn einer Aitio-

24

25 26

fand die erste Episode schließlich ihr Ende“) berücksichtigen den Aspekt der Abgeschlossenheit des Vorhergehenden bzw. den Modellcharakter zu wenig. Mt 24, 35; Mk 3, 31; Lk 21, 33: „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen“. Der Autor Christianus ist ein „alter Christus“, eine spielerische Anmaßung. Vgl. die Darstellung bei Kurt Ruh: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 1. Berlin 21977, S. 113. Andreas Capellanus: De amore. Libri tres – Von der Liebe. Drei Bücher. Text nach der Ausgabe von E. Trojel. Übersetzt und mit Anm. und einem Nachwort versehen von Fritz Peter Knapp. Berlin u. a. 2006. Weitere Parallelen vgl. Anita Guerreau-Jalabert: Index des motifs narratifs dans les romans arthuriens en vers (XIIe – XIIe siècles). Genf 1992, H1596 (Sperber als Schönheitspreis): Bel Inconnu, Durmart, Meraugis.

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logie der höfischen Liebe um, denn es kommt nicht zu einer Vereinigung von Fee und dem an eine irdische Frau gebundenen Sperbersieger, sondern nur zu 31 Küssen; dafür überbringt letzterer 34 Liebesregeln an den Hof von Britannien. Chrétien hat zwei contes verbunden (und vielleicht meint er das mit conjointure),27 während aber der Conte du cerf blanc zu einem Abschluss gekommen ist, gilt dies nur bedingt für den Conte d’espervier. Abgeschlossen ist zwar die Schönheitspreis-Handlung sowie die neue Sinngebung, dass die Ordnung am Artushof zuerst gestört, dann aber wieder hergestellt ist, offen aber bleibt das Ziel des Sperberabenteuers, nämlich die Verbindung von Sieger und Fee; diese Leerstelle gibt den erzählerischen Impuls für das Folgende: die Hochzeit zwischen Erec und der durch den Sieg gewonnenen Enide. Verbunden damit ist ihre mangelnde Integrierbarkeit in die höfische Gesellschaft, wie es ein Grundmotiv der Feenerzählungen darstellt. Rainer Warning spricht in diesem Zusammenhang von „andersweltliche[r] Dysfunktionalität“28. So endet der erste vers: Er ist so gestaltet, dass die Geschichte weiter gehen muss, und darin liegt die eigentliche Kunst des Erzählens, zugleich die Episode zu schließen und den Übergang der Erzählung zu induzieren, also einen Impuls für kausales Erzählen zu geben.29 Es gibt einen zweiten vers, aber dieser lässt auf sich warten. Zunächst verläuft die Handlung nach dem linearen Schema, das als ‚Doppelweg‘ eine mittlerweile problematische Berühmtheit erfahren hat: Erec und Enide erreichen einen ersten Gipfel mit Hochzeit, Turnier und glänzendem Empfang in Carnant; dann folgt der Absturz in der recreantise und der zweite Aufstieg, der seinen vorläufigen Höhepunkt in der nunmehr verdienten Behaglichkeit in Penefrec findet. Es schließt sich die zweite in sich gerundete Episode an: Joie de la cort. Wieder handelt es sich um ein Feenabenteuer30 mit einem Besuch der Anderswelt. Chrétien hat es aus Versatzstücken der Matière de Bretagne konstruiert (wieder eine conjointure).31 Der Baumgarten ist nur über die Schwelle des 27

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E. Jane Burns: Rewriting Men’s Stories. Enide’s Disruptive Mouths. In: Arthurian Women. A Casebook. Hrsg. von Thelma S. Fenster. New York/London 1996 (Arthurian Characters and Themes 3), S. 19–40, 29, und Evelyn Birge Vitz: Orality and Performance in Early French Romance. Cambridge 1999, S. 92, sehen einen inhaltlichen (deutlich erotischen) Bezug auf die Unio von Erec und Enite. Zum Jagdmotiv vgl. Guerreau-Jalabert (Anm. 26), F 989.15. Vgl. Warning (Anm. 3), S. 47. Das ließe sich mit dem Aktantenschema beschreiben: Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen [frz. 1966]. Braunschweig 1971. Pierre Gallais: La Fée à la Fontaine et à l’Arbre. Un archetype du conte merveilleux et du récit courtois. Amsterdam/Atlanta 1992, zum Baumgarten S. 136; Jean-Claude Aubailly: La fée et le chevalier. Essai de mythanalyse de quelques lais féeriques des XIIe et XIIIe siècle. Paris 1986 (Collection Essais 10). Laurence Harf-Lancner: Les fées au Moyen Âge. Morgane, Mélusine et la naissance des fées. Paris 1984 (Nouvelle bibliothèque du Moyen Âge 8), S. 347ff. (der Riese und die Fee), S. 359 (der mysteriöse Garten), S. 360 (rot als Jenseitsfarbe). Guerreau-Jalabert (Anm. 26): D961 (Magischer Garten), H901.1; Q421; S139.2.2.1 (Totenkopfzaun); F527.1.1 (Roter Ritter); F530.1 (G) (besonders großer Ritter); F846 (besonderes Bett); N746 (Treffen der Cousinen); T25713 (G) (eifersüchtige Frau isoliert Liebhaber), jeweils mit Verweisen auf das Vorkommen.

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Todes, den Zaun mit den achtzig abgeschlagenen Köpfen, zu betreten; in ihm findet Erec die ‚Fee unter dem Baum‘, bewacht von einem jenseitigen Wächter, dem Roten Riesen. Dem Helden gelingt es, diesen zu besiegen. Aber das eigentliche Ziel der Handlung wird, ähnlich wie im ersten vers, wieder nicht erreicht. Der Gewinn der Feenliebe ist blockiert, denn Erec besitzt ja bereits eine Frau aus einem Feenabenteuer. Diese Leerstelle wirkt abermals als narrativer Impuls, es muss auch jetzt eine Fortsetzung folgen. Dass die Erzählung nicht in der Tradition existiert, sondern sein Eigentum ist, macht Chrétien deutlich: Die Damen verfassen einen „Lai de Joie“ (V. 6188), also eine Dichtung in der Form eines Feenmärchens. Doch dieser Lai ist, so sagt der Erzähler, kaum bekannt. Er kann allerdings auch gar nicht bekannt sein, weil er nicht auf ein volksläufiges Substrat zurückgeht. Chrétien spielt ironisch mit seiner Autorrolle. Neben dieser poetologischen Dimension hat der erfundene Lai eine inhaltliche: Es gibt tatsächlich einen solchen Lai, nur mit ganz anderem Inhalt, es ist der Lai de Chievrefeuille der Marie de France.32 Dort heißt es am Schluss: Pur la joie qu’il ot eüe De s’amie qu’il ot veüe E pur ceo k’il aveit escrit Si cum la reïne l’ot dit Tristram, ki bien saveit harper, […] En aveit fet un nuvel lai (V. 107–113). [Aus der Freude, die er empfand, weil er seine Geliebte wiedergesehen hatte, und um an das, was er geschrieben hatte (so wie die Königin es las), zu erinnern, machte Tristram, der gut Harfe spielen konnte, einen neuen Lai.]33

„Pur la joie“ heißt es. Der „Lai de Joie“ gehört also in die Reihe der Tristananspielungen im Erec: Enide überbietet Iseut in deren Signatur-Schönheitsmerkmal, denn sie hat goldenere Haare (V. 424f.), sie war in der Brautnacht noch Jungfrau (V. 2075–77), ihre Schönheit ist adliger, denn Iseut wäre vor ihr wie eine Dienerin erschienen (V. 496). Erec überbietet seinerseits Tristan. So heißt es V. 1247–50: Onques, ce cuit, tel joie n’ot La ou Tristanz le fier Morhot An l’Isle saint Sanson veinqui, Con l’an feisoit d’Erec iqui. [Niemals herrschte, glaube ich, eine solche Freude wie hier (nach dem Gewinn des Sperberabenteuers) über Erec, auch nicht, als Tristan den tapferen Morhold auf der Insel Sankt Samson besiegte.]

Erec hat also Tristan schon im ersten vers überboten, hier, im Fall von Joie de la cort, tut er es endgültig, indem er das tristaneske gesellschaftsfeindliche Leben des Paares 32

33

Marie de France: Die Lais. Übersetzt und eingeleitet von Dietmar Rieger. München 1980 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 19), S. 366–373. Übersetzung V. M.

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überwindet. Das ist der wahre „Lai de Joie“ – nicht der über die verbotene Liebe Tristans zur Königin. Wie der erste vers wird auch der zweite durch eine entsprechende Bemerkung abgeschlossen: „la Joie fine“ – die [Erzählung von der] Freude endet (V. 6410). Damit ist der bretonische Teil der Erzählung gemeint, es folgt das Fest am Artushof, die Parallele zum Beginn des Romans. Das Feenmärchen kann keinen Abschluss bieten, weil es prinzipiell den Helden der Gesellschaft entfremdet (wie die Fortführung des ersten vers gezeigt hat), dieser soll aber vom Programm her zu den Grafen und Königen, die im Prolog als das Publikum der zerstückelnden conteurs apostrophiert wurden, also an den Hof, zurückgeführt werden. Die Abenteuer sind zu Ende. Den Bogen zur ersten ‚Runde‘ schlägt Enides Erzählung des conte d’espervier (V. 6294–6328; „Comant Erec vint a Lalut“ V. 6320) für ihre Cousine, die aus Gründen der Brevitas nicht ausgeführt wird, die aber das verbindende Thema ‚Gewinn und Bändigung der Fee‘, anschlägt. Erec, sagt sie, habe sie als „fiz de roi“ (V. 6310) mit Zustimmung ihrer Sippe in die Gesellschaft integriert (V. 6294–6362). Auf jeden der beiden vers, das bretonische und das in ihrem Stil erfundenen Märchen, folgt jeweils ein höfischer Anschluss mit repräsentativen Festen, eine Rückkehr in die „Realität“. Rainer Warning hat den Teil am Artushof mit Fest und Krönung als Doppelung von Joie de la cort bezeichnet, ich sehe ihn eher als den Versuch, aus dem Abenteuerprinzip mit seiner Fortsetzbarkeit herauszutreten und durch die Inthronisation Erecs einen Schlusspunkt zu setzen: Er wird nunmehr als idealer Herrscher etabliert, die Abenteuerzeit ist vorbei. Der Krönungsmantel, den er erhält, umfasst das Programm der Poetik: Feen haben ihn gewebt, dargestellt aber ist das Quadrivium. Die Textur kommt aus der Matière de Bretagne, den Gehalt liefern die Freien Künste, so sind Chevalerie und Clergie vereint, ähnlich wie es dann der Cligès-Prolog weiter ausführen wird: Ce nos ont nostre livre apris, Que Grece ot de chevalerie Le premier los et de clergie (V. 30–32).34 [Das haben uns unsere Bücher gelehrt, dass Griechenland die erste Blüte der Ritterschaft besaß und der Gelehrsamkeit.]35

Im Erec wird zudem das Thema Mündlichkeit – Schriftlichkeit aus dem Prolog angesprochen: Der Erzähler beruft sich auf das „livre“ des Macrobius (V. 6680), die Feenweberinnen hingegen sind Garanten der Oralität. Dann kann der Erzähler den Schlussstrich ziehen:

34 35

Chrétien de Troyes (Anm. 8). Diese Übersetzung von V. M. Erich Köhler sieht hier die geistliche Dimension der clergie missachtet (Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung. Tübingen 21970 [Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 97], S. 40), Chrétien interessiert sich nicht für diese. Zum Prolog vgl. Michelle A. Freeman: Cligès. In: The Romances of Chrétien de Troyes. A Symposion. Hrsg. von Douglas Kelly. Lexington 1985 (The Edward C. Armstrong monographs on medieval literature 3), S. 89–131.

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Li contes fine ci a tant. (V. 6958)

– so endet der Roman in den meisten Handschriften. Mit dieser expliziten Wendung schließt der Erzähler die Geschichte nicht nur programmatisch, sondern auch poetologisch: Er verweigert die dilatatio, wenn er vom Krönungsmahl (das er analog zum Roman d’Eneas an den Schluss stellt) sagt, er wolle nur die Wahrheit berichten, andererseits habe er die Gerichte nie gesehen und müsse sich mit etwas anderem befassen als mit einem Bericht über das Essen: De mes divers sont tuit servi: Neporquant, se je ne les vi, Vos an seüsse reison randre; Mes il m’estuet a el antandre, Que a reconter le mangier (V. 6939–44). [Von den Gerichten, die ihnen serviert wurden, wüsste ich, obwohl ich sie nicht sah, Auskunft zu geben, aber ich muss meine Aufmerksamkeit Anderem zuwenden, als die Speisenfolge zu berichten.]

Der Rest kann nur Schweigen sein, denn damit leitet der Erzähler über in die (nicht wohl ganz so ideale) ‚Realität‘ des höfischen Festes. Blicken wir zurück auf die vom Roman selber angebotene Gliederung. Es gibt zwei bretonische Erzählteile, den „premerains vers“ als „conjointure“ aus „conte du cerf blanc“ und „conte d’espervier“ und den „Lai de Joie“. Beide stehen in einem paradigmatischen Verhältnis zueinander, beide sind Feenmärchen, die aber nur zu Teillösungen führen und Fragen offen halten als Impulse für das kausal verknüpfte Weitererzählen. Zuerst bleibt ungelöst, wie die Sperberfee integrierbar ist, am Schluss ist die Konsequenz des Nicht-Gewinns einer Fee gesellschaftlich funktionalisierbar gemacht, und das muss gezeigt werden – am Artushof. Wenn man die nicht dichotomisch zu verstehende Differenzierung von paradigmatischem und syntagmatischem Erzählen benutzt, bilden die beiden Feengeschichten den paradigmatischen Erzählkomplex, der Doppelweg dazwischen den syntagmatischen, der allerdings von paradigmatischen Elementen ‚durchschossen‘ ist, wie aus der Wiederholung der Stationen des ersten im zweiten Teil deutlich wird – die eben Variationen und keine Doppelungen sind, worauf Rainer Warning und Walter Haug hingewiesen haben.36 Ganz evident ist dies bei den Guivret-Abenteuern: Zuerst gewinnt Erec, dann muss er verlieren, weil er die falsche Motivation besitzt und mit einem haudegenhaften Automatismus reagiert, der eines Artusritters unwürdig ist. Gerade durch die Wiederholung wird die Aufmerksamkeit für die Unterschiede geschärft, was zur Kenntnis der Programmatik führen soll. Insofern hat Elisabeth Schmid nicht recht mit der These, die zweite Guivret-Begegnung sei nicht in die Doppelung des zweiten Zyklus integrierbar.37

36 37

S. o. Vgl. Schmid (Anm. 13).

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Die Forscher, die sich mit dem „premerains vers“ beschäftigt haben, sind vornehmlich auf den Inhalt fixiert gewesen, da sie die zweite Erzählung nicht als respondierende erkannt haben, ist ihnen die poetologische Bedeutung verborgen geblieben. Ich sehe diese in zwei Dimensionen: einmal in der genannten exemplarischen Paradigmatik, dann in der ebenfalls exemplarischen experimentellen Eigenart dieser beiden Runden, der „conjointure“ von Erzählungen bzw. Motiven. Paradigmatik als Erzählprinzip ist bereits in der ersten Runde realisiert: Hirschjagd und Sperbercostume sind Variationen des gleichen Modells, Gewinn einer Fee durch eine agonale Qualifikation wie die Gefangennahme des andersweltlichen Tieres in Konkurrenz mit Anderen beziehungsweise der erfolgreiche Kampf ebenfalls im Wettbewerb. Die Verschränkung beider Erzählungen lässt ihre Ähnlichkeiten und Differenzen deutlicher hervortreten. Die zweite Runde steht erst am Ende der Abenteuersequenz, in ihrer Spiegelfunktion kann sie nun als Bestätigung derselben dienen. Das Experiment der ersten Runde besteht in der Verflechtung zweier Geschichten mit dem Ziel, die eigentliche Erzählung anzustoßen, indem der narrative Impuls der Sperberaventiure die kausale Motivation für Erecs Liebesisolation und damit seine daraus resultierende Qualifikation bietet. Das Experimentelle der zweiten Runde liegt in der Neuerfindung eines bretonischen Lais aus entsprechenden Versatzstücken und mit ebenfalls weiter tragendem narrativen Impuls. Nur am Rande interessiert mich die Frage, ob das Zusammenfügen von Geschichten und Motiven mit dem viel diskutierten Terminus der „conjointure“ (V. 14) gemeint sein könnte, also eher eine handwerkliche Bricolage des Erzählers als die Erfindung einer großen und letztlich trivialen symbolischen Struktur, die ein allzu universelles narratives Prinzip darstellt, als dass man den demonstrativen Autorstolz daran festmachen könnte. In Erec et Enide ist die Struktur nach dem Roman d’Eneas modelliert mit den zwei Formen der Liebe, der herrschaftsgefährdenden zu Dido und der Herrschaft stützenden zu Lavine, hier abgehandelt an einer einzigen Frau.38 Chrétien verweist wiederholt implizit und explizit auf diesen Text,39 am deutlichsten bei der Beschreibung von Enides Sattel. Dort ist eben die Eneasgeschichte dargestellt. Angefertigt hat ihn ein bretonischer Schnitzer, was poetologisch zu deuten sein dürfte: Der Erzähler kann mit der Matière de Bretagne das Programm des Antikenromans gestalten. Enide setzt auf ihre typologischen Vorbilder Dido und Lavine. Der Doppelweg wäre also keine originäre Erfindung Chrétiens, sondern aus dem Roman d’Eneas adaptiert. Bevor ich auf die Adaption der skizzierten Poetik durch Hartmann von Aue komme, eine kurze Bilanz. Chrétien organisiert den Erzählprozess nach zwei jeweils dominie38

39

Anderer Ansicht ist Hans Fromm: Doppelweg. In: Werk – Typ – Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur. Hugo Kuhn zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Ingeborg Glier u. a. Stuttgart 1969, S. 64–79. Volker Mertens: Enites Sattel und andere Bezüge auf den Eneasroman. Oder: Kein Stil ohne Semantik. In: Un transfert culturel au XIIe siècle. ‚Erec et Enide‘ de Chrétien de Troyes et ‚Erec‘ de Hartmann von Aue. Hrsg. von Patrick del Duca. Clermont-Ferrand 2010, S. 129–140.

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renden Prinzipien: dem paradigmatischen, exemplarisch verkörpert in den beiden Runden, sowie dem syntagmatischen, das die Erzählung zwischen diesen beiden, wie Pfeiler wirkenden, trägt, aber selbst paradigmatische Elemente enthält. Die erste Runde sensibilisiert den Rezipienten durch ihre thematische Doppelung für diese Dimension. Das ist ein einmaliges erzählerisches Experiment und, hier unterscheide ich mich von Brigitte Burrichter,40 kein Modell für die anderen Romane. Sie hat versucht, das Prinzip zu verallgemeinern und kam zu zwei Erzähleinheiten: einer Initialkrise der Artusrunde, die gelöst wird, und einer Heldengeschichte, im Fall von Erec und Enide wäre das die Befriedung der Ritterrevolte (durch Erecs Sperbersieg und den Feengewinn) und die Erzählung von Erecs Versagen und Wiederaufstieg. Im Yvain entspricht ersterem die durch Calogrenants Bericht hervorgerufene Artushofkrise, im Cligès die durch den Vater des Helden, Alixandre, abgewendete Bedrohung der Artusherrschaft, im Perceval die Herausforderung der Tafelrunde durch den „chevalier merveille“. Der Karrenritter ließ sich nur schwer in dieses Zweiteilungsschema fügen. Mir scheint diese Bestimmung zu abstrakt. Ich sehe durchgängig, wie bereits betont, einen experimentellen Umgang mit der Matière de Bretagne, der in jedem Roman ein anderer ist. Gerade das scheint mir ein Vorteil der skizzierten Poetik, dass sie eben nicht mit einem durchgehend exerzierten Schema operiert und letztlich die Romane diesem anzupassen sucht, sondern letztere als mit bestimmten Bauelementen individuell agierende Narrationen auffasst. Am ehesten mit dem Erec vergleichbar ist der Yvain: die erste Runde ist die ‚falsche‘ Variante eines Märchens von der Brunnenfee, nämlich der Nicht-Gewinn derselben. Diese wirkt als Impuls für das Weitererzählen vom Gewinn der Andersweltfrau. Die zweite Runde am Schluss bietet eine erneute Variante dieses Modells, nämlich den Wiedererwerb der Quellenfrau ohne Kampf. Der Reiz des Romans liegt gerade in der dreifachen Wiederholung des gleichen Erzählkerns unter jeweils variierten Bedingungen: Calogrenant – Yvain – Chevalier du lion. Über den narrativen Reiz hinaus wird eine poetologische Dimension geboten: Es handelt sich im Sinn von Rainer Warning um eine „metapoetische Inszenierung der Wiederholungsstruktur“41, insofern sie Modellcharakter hat für die paradigmatischen Dimensionen des Abenteuerweges in der Gestalt der variierten Befreiungsaventiuren. Im Cligès wird die erste Runde von der Vatergeschichte gebildet, einem Modell aus der Chanson de geste, nicht der Matière de Bretagne. Entsprechendes gilt für die Enfance im Perceval. Der Impuls für das Gralabenteuer geht von dem Abschluss der Kindheitsepisode, vom Verlassen der Mutter aus, nicht von der Provokation am Artushof. Im Karrenritter schließlich ist es die Entführung der Königin, die die Handlung in Gang setzt, aber es ist weniger die Tatsache als solche, als vielmehr der Hilferuf Guenievres an ihren ungenannten Freund:

40 41

Vgl. Burrichter (Anm. 11). Warning (Anm. 3), S. 48.

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Ha! amis se vos ce seüssiez ja, ne croi, ne l’otroisiez que Kex me menast un seul pas (V. 209–211).42 [Ach, Geliebter, wenn Ihr es wüsstet, ich glaube, Ihr ließet es nicht zu, dass Keu mich auch nur einen Schritt fortführt.]

Hier wird die Möglichkeit, dass Keu der Befreier sein könnte, ausdrücklich abgewiesen, und eben das dient als Impuls für das Auftauchen des richtigen Befreiers, Lancelot. Die Runde ‚Entführung‘ wird also so konzipiert, dass die dem Motiv inhärente Zielsetzung der Befreiung verändert wird. Es geht nunmehr um den Befreier, nicht die Aktion, und damit um die Liebe jenseits des Hofes. Das ist nicht wie in Erec et Enide als conjointure gestaltet, sondern rein verbal, als Wortimpuls. Das nehme ich als Signal dafür, dass das Gegen- und Miteinander von Anderswelt und Artuswelt nicht, wie im ersten Roman, mit der Poetik der conjointure lösbar ist, denn die ehebrecherische Liebe wäre nur als ménage à trois vermittelbar – aber das machte bekanntlich noch Goethe Probleme, wie die Fassungen seiner Stella bezeugen.

III. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es ‚die‘ Poetik ‚des Artusromans‘ nur im allgemeinsten Sinne gibt, geben kann, es sei denn, man bestimmt sie als immer wieder neu ausgehandeltes Montieren von paradigmatischen Erzähleinheiten auf einen syntagmatischen narrativen Strang, der dann auch ‚Doppelweg‘ heißen darf. Für die Sinngebung (oder die vermiedene Sinngebung) ist jedoch nicht die feste (spezifisch abgewandelte) ideale Struktur verantwortlich, sondern die Binnenvariation der Episoden, wie Rainer Warning gesehen hat und worin ihm Walter Haug beipflichtet.43 Das ist in den mündlich-mythisch bestimmten Runden verdichtet, in denen sich die sowohl gesellschaftliche wie poetische Dysfunktionalität manifestiert. In diesem Zusammenhang erhält das nur allgemein als Mündlichkeitssignal betrachtete commencer eine weitergehende Bedeutung: Charakteristisch für mündliche Erzählungen ist ein Raum, der frei ist von historischen, wissensvermittelnden, moralisch-ethischen Vorgaben und Einengungen.44 commencer steht für die Lizenz zum Experimentieren mit den Quellen, seien sie mündlich oder, wie im Cligès und im Perceval, fiktiv schriftlich. commencer als Terminus signalisiert die Schwellensituation des volkssprachigen Erzählens zwischen Mündlichkeit 42

43 44

So zu lesen mit einigen Handschriften in der Edition von Mario Roques, S. 221 (in: Burrichter [Anm. 11]). Ohne die Nennung Keus: Chrétien de Troyes, Lancelot. Übersetzt und eingeleitet von Helga Jauss-Meyer. München 1974 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 13) [Text von Wendelin Foerster, 1899]. Vgl. Warning (Anm. 3) und Haug (Anm 15). Vgl. Wolfgang Haubrichs: Die Narration der Normen oder die Beschreibung des Ungeschriebenen. Das Beispiel Erec. In: Frühmittelalterliche Studien 41 (2007), S. 415–433.

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und Schriftlichkeit nicht nur im Produktions- und Rezeptionsmodus, sondern auch im Blick auf den mit diesen Medien verbundenen Glaubwürdigkeitsanspruch. commencer ist, zugespitzt gesagt, eine Aufforderung an das Publikum, das Folgende als subskriptural und damit als Fiktion zu rezipieren.

IV. Ich werfe einen Blick auf Hartmanns Erec und seine Adaption des Chrétienschen Romans. Für den verlorenen Beginn entschädigt uns der überlieferungsbedingte Einstieg medias in res, wie ihn ein Autor gar nicht besser hätte erfinden können. Aus ihm sind (fast) alle Momente des Anfangsgeschehens abzuleiten: Artus kündigt die „costume Pendragon“ an, Gawein äußert Bedenken wegen des Konfliktpotentials einer agonalen Lösung. Hartmann folgt weiter Chrétien, verschränkt allerdings beide contes etwas weniger komplex, er zieht den Bericht vom Abschluss der Hirschjagd in die Szene von Iders’ Ankunft am Artushof und vereinfacht so den vierfachen Schauplatzwechsel seiner Vorlage zu einem zweifachen. Eine abschließende Formulierung für den „premerains vers“ verwendet der Erzähler nicht, er setzt jedoch eine vergleichbare Zäsur an späterer Stelle, nachdem Erec seinen Schwiegervater mit einer kostbaren Ausstattung und zwei Burgen versorgt hat: nû grîfe wir wider an die vart, dâ von der rede begunnen wart (V. 1838f.).45

Das ist auf den Beginn der Erzählung zurückzubeziehen, auf das Fest am Artushof vor der Irritation durch die „costume Pendragon“. Nunmehr sind in der ersten Runde die Spannungen gelöst, die aus der Hirschjagd resultierten. Der Impuls des Sperberabenteuers beginnt nun unmittelbar zu wirken: Enite reizt das Begehren Erecs und empfindet ein gleiches. Die Situation wird durch den Habichtvergleich ambiguisiert: Die beiden verlangen nacheinander wie der Raubvogel nach der Beute, sind beide füreinander Jäger und Wild. Das droht die soziale Ordnung zu gefährden, die ein derartiges Begehren in der Ehe domestiziert. Hartmann hat diese Spannungsdimension verstärkt, indem er das Exempel gegenüber Chrétien vorverlegt hat: bei dem französischen Autor steht es in der Hochzeitsnacht, also an gesellschaftlich richtigem Platz (V. 2083f.). Dieser Wechsel kompensiert den Bedeutungsverlust der Feendimension Enites im deutschen Sprachraum, wo eine intertextuelle Anknüpfung an die bretonischen Contes nicht möglich war. Enite wird zudem durch Bezüge auf Dido aus Veldekes Eneas mit der „gefährlichen“

45

Ich zitiere meine Ausgabe: Hartmann von Aue: Erec. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Volker Mertens. Stuttgart 2008 (RUB 18530).

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Volker Mertens

erotischen Dimension ausgestattet.46 Sie betreffen zwei Aspekte: Enites Kleidung in der ‚Armen Herberge‘ und vor dem Artushof, sodann die Parallele zu Mabonagrins Freundin in der „aventiure Joie de la cort“. Zuerst zu Enites Ausstattung: Bei Chrétien trägt sie in der ‚Armen Herberge‘ ein weißes Unterkleid und eine weiße Bluse (V. 403–405), bei Hartmann ist sie hingegen grün gekleidet (V. 324). Diese Farbe ist bei Veldeke mit Didos Jagdgewand verbunden, als sie sich anschickt, Eneas zu verführen (V. 29, 28ff). Hartmann hat Enites Aufzug vor der Tafelrunde nach dieser Beschreibung gestaltet und ihr auch dort einen grünen Mantel über einem weißseidenen Unterkleid gegeben (V. 1543f.; 1529). Die ursprüngliche Trägerin, die Liebesjägerin Dido, ist die Verkörperung der herrschaftsgefährdenden Liebe. Hartmann stellt also die Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung des Begehrens durch Enite einmal durch die Neupositionierung des Habichtvergleichs, dann durch die intertextuellen Bezüge auf den Eneasroman heraus; eben weil es im deutschen Sprachraum anscheinend kein Märchen von der gefährlichen Sperberfrau gab, das diesen Subtext beisteuerte, musste der deutsche Erzähler andernorts Bedeutungskonnotationen akquirieren, um diesen Subtext beisteuern zu können: in Veldekes Eneas. Der zweite Aspekt betrifft die zweite Runde. Die erste Runde ist also mit geringen, durch den Transfer bedingten, vereinfachenden Veränderungen übernommen. Entsprechendes gilt für die zweite Runde, Joie de la cort. Hier gibt es ebenfalls leicht veränderte Details in der Binnenerzählung. Mabonagrins Freundin ist nicht die „Fee unter dem Baum“ wie bei Chrétien, sondern die „Fee im Zelt“. Damit stellt Hartmann wiederum einen intertextuellen Bezug zum Eneasroman her, denn dessen Beschreibung ist nach der des Zeltes gestaltet, das Dido Eneas geschenkt hat (V. 247, 4–31)47. Damit wird die dort virulente Konnotation der außergesellschaftlichen Liebe auf das Paar im Baumgarten übertragen. Für das deutsche Publikum war diese Konnotation wiederum nicht durch die Feenmotivik gegeben, sie wurde daher, wie schon zuvor, durch Intertextualität mit dem Eneas ersetzt. Aus dem gleichen Grund, dass nämlich der tristanische Lai de Joie unbekannt war, gibt es auch keinen erfundenen Freuden-Lai und so kommt auch das Chrétien entsprechende Schlusssignal der Episode nicht vor. Dennoch ist der Charakter der Runde klar markiert durch den Namen „Joie de la cort“, der, da in Deutschland unbekannt, vom Erzähler ausdrücklich übersetzt wird: Guivreiz sagt Erec, er wolle ihm die aventiure erklären: sist Joie de la curt genant. daz selbe wort ist unerkant uns tiutschen liuten: durch daz wil ichz bediuten: des hoves vreude sprichet daz (V. 8002–06). 46

47

Volker Mertens: Enites dunkle Seite. Hartmann interpretiert Chrétien. In: Vom Verstehen deutscher Texte des Mittelalters aus der europäischen Kultur. Hommage à Elisabeth Schmid. Hrsg. von Dorothea Klein. Würzburg 2011, S. 173–190. Vgl. Mertens (Anm. 33).

Commencer und finer

239

Entsprechend erscheint dieser Signaltitel nach Abschluss des Abenteuers. Man hört: daz des hoves vreude wære widere gewunnen (V. 9759f.)

und: mit vreuden wirt zebrochen diu swære gewonheit (V. 9773f.)

Aus dem Lai de Joie hat Hartmann im Gegenzug ein episodisches „vil vroelîchez liet“ (V. 8158) gemacht, das Erec auf dem Weg zum Kampf im Baumgarten singt. Es ist in seiner eigentlichen Bedeutung nur vor dem Hintergrund des Tristan-Lais voll verständlich und das nur für die Kenner. Erecs Freude ist programmatisch anders als die Tristans: nicht (mehr) die sozial zerstörerische Liebe (gegen die er jetzt, wie er weiß, antritt), sondern eben der Kampf gegen diese gesellschaftsfeindliche Macht. Hartmann zumindest hat Chrétiens Subtext verstanden, wer unter seinen Zuhörern ihm dabei folgen konnte, muss offen bleiben. Auch die zweite Runde erweist sich als narrative Einheit, ähnlich wie bei Chrétien. Stark geändert hat der Erzähler den folgenden Abschnitt, der in seiner Vorlage die prinzipielle Wiederholbarkeit der aventiuren still stellte. Hier gibt es keine Krönung, bei der Erec den Krönungsmantel mit den Freien Künsten als Zeichen der Integration von Clergie und Chevalerie trägt. Das zentrale Ereignis ist vielmehr die Versorgung der achtzig Witwen, ein Motiv, das eine Parallele im mittelkymrischen Owein (Iarlles y Ffynnawn/ Die Gräfin vom Brunnen) findet: Dort nimmt der Held vierundzwanzig Witwen aus der Burg zum Schlimmen Abenteuer mit an den Artushof.48 Erec erscheint so als Rex justus,49 nicht als Rex litteratus, als den ihn der Krönungsmantel mit den Darstellungen des Quadriviums bei Chrétien ausweist (V. 6744–6790).50 Darüber hinaus stellt die Witwenintegration den Versuch dar, die Verbindung von Eros und Gewalt, die sich in Joie de la cort mit dem Todeszaun manifestiert hat, arthurisch-höfisch zu lösen und zu demonstrieren, dass die richtige Liebe, die nunmehr zwischen Erec und Enite herrscht, Gewalt nicht nur überwindet, sondern auch durch die Einbindung in die höfische Ordnung die Folgen der Gewaltausübung zu heilen vermag.51 Doch dabei bleibt es bekanntlich nicht. Während bei Chrétien die Erzählung in das höfische Fest innerhalb (und 48

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Vgl. Helmut Birkhan: Keltische Erzählungen vom Kaiser Arthur I. Nach dem Text des ‚Weißen Buches‘ aus dem Mittelkymrischen übertragen. Mit einer Einführung und mit Anmerkungen versehen von Helmut Birkhan. Wien u. a. 1985 (Fabulae mediaevales 5), S. 125; ob Hartmann eine keltische mündliche Quelle kennengelernt hatte (auf einer der diplomatischen Reisen im Dienst der Zähringer nach Boulogne? Vgl. Helmut Tervooren: Ida von Boulogne, Gräfin von Geldern, Herzogin von Zähringen. In: ZfdPh 110 [1991], S. 113–120), muss offen bleiben; grundsätzlich ist diese Möglichkeit nicht auszuschließen! Ursula Peters: Artusroman und Fürstenhof. Darstellung und Kritik neuerer sozialgeschichtlicher Untersuchungen zu Hartmanns Erec. In: Euphorion 69 (1975), S. 175–196, 190f. Das Leitbild des Rex litteratus ist zu dieser Zeit im deutschen Raum nicht virulent. Zur Interpretation der aventiure vgl. Haubrichs (Anm. 44).

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Volker Mertens

außerhalb) der Narration und damit in die Artuswelt einschwenkt, deren Störung nach dem Muster der Hirschjagd-aventiure beseitigt erscheint, führt der deutsche Erzähler die Helden nach Karnant zu den herrscherlichen Pflichten des Paares. Der Grund liegt einmal darin, dass im deutschen Sprachraum König Artus keine Faszinationsfigur war, nicht der große Kultur- und Politheros, der letztlich alle Fragen löst. Dann aber war Hartmanns Erec nicht im Auftrag der Zentralgewalt, sondern des Zähringer Herzogs verfasst, anders als Chrétiens Werk, das für einen Monarchen, vielleicht für den französischen König Philippe August oder aber für Heinrich II. von England entstand.52 Bei Hartmann musste der Artusritter Erec fern vom Königshof selber zum idealen Herrscher stilisiert werden, der selbst, wie es im Epilog heißt, den Wünschen seiner Frau die gebührenden Grenzen setzt: der künec selbe nû huoter ir willen swâ er mohte, und doch als im tohte (V. 10119–21).

Gleich, ob wir das als Hinweis auf Enites fortdauernde Gefährlichkeit lesen oder ironisch verstehen als Hinweis auf Erecs persistierende Misogynie, eine Irritation des Lieto fine bleibt.

V. Abschließend einige Thesen zur Poetik des Erec bei Chrétien und Hartmann: Chrétien arbeitet mit der Matiere de Bretagne auf zweifache Weise: 1. Er schafft narrative ‚Runden‘ aus vorgegebenen oder aus traditionellen Motiven erfundenen Contes d’avanture, die in paradigmatischer Relation zueinander wie Pfeiler am Beginn und am Ende der Abenteuerreihe stehen. 2. Er entwirft diese Reihe zwischen den Pfeilern nach dem Muster des Doppelwegs, wie er u. a. im Roman d’Eneas verwirklicht ist, systematisiert ihn jedoch durch die Einführung paradigmatischer Elemente in das Syntagma; dass er dieses Vorgehen als „conjointure“ bezeichnet, halte ich für zweifelhaft, eher scheint die Konstruktion unter 1. die kunstreiche („bele“) Neuerung zu sein. Hartmann hat Chrétiens Poetik genau erkannt und abwandelnd adaptiert. Seine Änderungen erklären sich mehrheitlich aus dem Fehlen des Referenzobjekts Conte d’avanture im deutschen Sprachraum. Daneben aber weist die Umgestaltung des Schlusses auf eine politisch-gesellschaftliche Zielsetzung. Das arthurische Modell (nicht nur das aventiure-Modell) genügt ihm nicht, sondern er führt den Helden in eine stärker sozial konstruierte Lebensform. 52

Vgl. Beate Schmolke-Hasselmann: The Evolution of Arthurian romance. The Verse Tradition from Chrétien to Froissart. Cambridge 1998 (Cambridge Studies in Medieval Literature 35), S. 232–237: unausgesprochene, aber deutliche Bezüge auf Heinrichs Fest in Nantes 1169.

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‚Die‘ Poetik des Artusromans (etwa den ominösen Doppelweg) gibt es nicht, vielmehr experimentiert jeder Text neu mit den Vorgaben der Matière de Bretagne. Die Beobachtung der ‚Runde‘ als Strukturelement fokussiert, im Unterschied zum Doppelweg, auf die Probleme, nicht auf die Lösungen. So wird Chrétiens „Arbeit am Mythos“53 sichtbar gemacht. Während das Interpretationsmodell des Doppelwegs die unbegriffliche Narration54 in Thesen und ein quasi-religiöses Lernprogramm vom Eros, der Ehe und dem ‚Wesen‘ von Mann und Frau55 verwandelt, lässt die ‚Runde‘ Raum für das Ambige, das Sowohlals-Auch, gibt durch das Abrufen der bretonischen Materie der Diskussion eine besondere, eine mythische Tiefendimension, die die antike Materie nicht bietet. Die Spannung zwischen der Macht des Begehrens und seiner Domestizierung erscheint als nur vorläufig befriedet. Auch die „Arbeit am Mythos“ wird immer nur vorläufig zu einem Ende gebracht, sie beginnt immer wieder aufs Neue. Auch mein Beitrag ist ein erster Versuch, die Elemente einer Poetik des Artusromans anders als mit dem „selbstverständlichen“ Doppelweg56 zu beschreiben: „ici finist li premerains vers“.

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Ich greife den Buchtitel von Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/Main 1996, auf. Das ist stärker inhaltsbezogen als Beate Kellners „Spiel aus Selektion und Kombination“ (nach Roman Jakobson) bei Wolfram (Anm. 16), S. 203. Dazu vgl. Haubrichs (Anm. 40). Vgl. auch Warning (Anm. 3), der „affektives Reizpotential“ erkennt (S. 33). Hier wäre mit Überlegungen zur Rezipientenpsychologie anzusetzen, vgl. (Anm. 55). Hugo Kuhn: Erec. In: Festschrift Paul Kluckhohn und Hermann Schneider: gewidmet zu ihrem 60. Geburtstag. Hrsg. von ihren Tübinger Schülern. Tübingen 1948, S. 122–147, 145. Essentialistische Deutungen sind zählebig. Zu der grundsätzlichen Möglichkeit einer nicht auf Botschaften hin, sondern auf das Leseerlebnis bezogenen Lektüre mit empathischer Teilhabe an den Figuren vgl. die Überblicksdarstellung bei Erich Schön: Geschichte des Lesens. In: Handbuch Lesen. Hrsg. von Bodo Franzmann u. a. München 1999, S. 1–85. Zu weiteren Möglichkeiten vgl. Matthias Meyer: Struktur und Person im Artusroman. In: Wolfzettel (Anm. 11), S. 145–163. Es geht ihm um die Identität des jeweiligen Protagonisten, die im Erec und Iwein Hartmanns je unterschiedlich gestaltet ist; Fotis Jannidis: Figur und Person. Beiträge zu einer historischen Narratologie. Berlin 2004 (Narratologia 3), geht nicht ins Mittelalter zurück. Ein anderes Strukturmodell als der Doppelweg bei Norris J. Lacy: The Craft of Chrétien de Troyes. An Essay on Narrative Art. Leiden 1980 (Davis Medieval Texts and Studies 3), bes. S. 74f. Vgl. auch Danièle James-Raoul: Chrétien de Troyes. La griffe d’un style. Paris 2007 (Nouvelle bibliothèque du Moyen Âge 81), der von „îlots“ und „archipels textuels “, einer „association soigneusement organisé d’une multitude d’ èléments simples“ spricht (S. 438), was v. a. für unsere zweite ‚Runde’ zutrifft; die Konzeption der ‚Inseln‘ besitzt jedoch nichts von dem abgeschlossenen Charakter der ‚Runden’.

Christiane Witthöft

Finalität. Grabinschriften in der Untergangserzählung des Prosalancelot

I. In der Erinnerungskultur des Mittelalters stehen Grabinschriften im Bewusstsein von Endlichkeit und sind zugleich Praktiken der Verstetigung.1 Als „Schrift-Ort zwischen den Zeiten“2 verweisen sie auf Vergangenes, um die memoria für Zukünftiges zu wahren. Neben den Nekrologien und Gebetsbrüderschaften sind die Inschriften ein beredtes Zeugnis für die Vergegenwärtigung der Verstorbenen durch die Lebenden.3 Grabinschriften sind also ein „Sonderfall von Schriftlichkeit“, die „konzeptionell der Vergäng1

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Zur wechselhaften Geschichte der Epitaphien seit der Antike vgl. Philippe Ariès: Geschichte des Todes. München 21985, bes. S. 260ff.; sowie Karl Siegfried Guthke: Sprechende Steine. Eine Kulturgeschichte der Grabschrift. Göttingen 2006, S. 11ff. Martin Roussel: Kleists Gräber. Schrift, Identität, Modernität (Epigraphien). In: Einschnitte. Identität in der Moderne. Hrsg. von Martin Roussel. Würzburg 2007 (Forum. Studien zur Moderneforschung 2), S. 243–262, 243 mit Anm. 2. Vgl. Arnold Angenendt: Theologie und Liturgie der mittelalterlichen Toten-Memoria. In: Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter. Hrsg. von Karl Schmid, Joachim Wollasch. München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 48), S. 79–199, bes. 179ff. u. 161f.; Gerd Althoff: Adels- und Königsfamilien im Spiegel ihrer Memorialüberlieferung. Studien zum Totengedenken der Billunger und Ottonen. München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 47), bes. S. 15ff.; Dieter Geuenich: Zukunftsvorstellungen im Mittelalter. Duisburg 1990 (Veröffentlichungen des Fachbereichs 1. Philosophie. Religionswissenschaft, Gesellschaftswissenschaften), S. 3ff.; sowie Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters. Hrsg. von Otto Gerhard Oexle, Dieter Geuenich. Göttingen 1994 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 111). Zur grundlegenden Funktion der Grabdenkmäler, die der memoria dienen und zugleich „Monumente für Rechte und Privilegien, Mahnungen für geistliche Pflichten und Mittel zur politischen Selbstdarstellung“ waren, Sebastian Scholz: Totengedenken in mittelalterlichen Grabinschriften vom 5. bis zum 15. Jahrhundert. In: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 26 (1999), S. 37– 59, 37; Renate Kroos: Grabbräuche-Grabbilder. In: Schmid, Wollasch (s.o.), S. 285–353, 298f. u. 329f.; sowie Rudolf M. Kloos: Einführung in die Epigraphik des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Darmstadt 1980 (Die Kunstwissenschaft), S. 71ff.

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lichkeit entgehen“, indem sie sich „über die Zeitlichkeit stellen“.4 Derart stehen sie in einer „totale[n] Zeitperspektive, die sich in die Vergangenheit, auf die Gegenwart und die Zukunft erstreckt“.5 Bereits im 5. Jahrhundert wurden Grabinschriften von Augustinus in ihrer Funktion einer symbolischen Verbindung zwischen dem Diesseits und Jenseits umschrieben.6 Diese einführenden Hinweise mögen als Begründung reichen, warum gerade Grabinschriften im Interesse des Tagungsthemas über ‚Anfang und Ende‘ und Formen der narrativen Zeitmodellierung stehen. Ursache für die thematische Zuspitzung aber war die Lektüre einer Erzählung, in der eine Grabinschrift auf sehr eigentümliche Art und Weise den Vollzug des Totengedenkens sichert: In Polen war eine Gräfin von P..., eine bejahrte Dame, die ein sehr bösartiges Leben führte, und besonders ihre Untergebenen, durch ihren Geiz und ihre Grausamkeit, bis auf das Blut quälte. Diese Dame, als sie starb, vermachte einem Kloster, das ihr die Absolution erteilt hatte, ihr Vermögen; wofür ihr das Kloster, auf dem Gottesacker, einen kostbaren, aus Erz gegossenen, Leichenstein setzen ließ, auf welchem dieses Umstandes, mit vielem Gepränge, Erwähnung geschehen war. Tags darauf schlug der Blitz, das Erz schmelzend, über den Leichenstein ein, und ließ nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen, die, zusammen gelesen, also lauteten: sie ist gerichtet! – Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen (Heinrich von Kleist: Der Griffel Gottes).7

In dieser Anekdote, die 1810 anonym in den Berliner Abendblättern publiziert wurde und Kleist zugeschrieben wird,8 impliziert der Hinweis auf die Stiftungstätigkeit und Absolution der Gräfin von P. die Erinnerungskultur des Mittelalters als zeitlichen Kon4

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Nikolaus Henkel: Die Stellung der Inschriften des deutschen Sprachraums in der Entwicklung volkssprachiger Schriftlichkeit. In: Vom Quellenwert der Inschriften. Vorträge und Berichte der Fachtagung Esslingen 1990. Hrsg. von Renate Neumüllers-Klauser. Heidelberg 1992, S. 161–187, 161. Fidel Rädle: Literarische Typik und historischer Einzelfall in den lateinischen Epitaphien. In: Neumüllers-Klauser (Anm. 4) S. 239–251, 241. Der Tod ist also keine finale Zäsur, sondern ein „Tor, das in beide Richtungen innerhalb gewisser Grenzen durchlässig bleibt.“ Geuenich (Anm. 3), S. 3. Vgl. auch Christian Kiening: Inszenierte Tode, ritualisierte Texte. In: Zwischen Körper und Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Literatur. Hrsg. von Dems. Frankfurt/Main 2003, S. 295–317, 295. „[…] sed non ob aliud uel ‚memoriae’ uel ‚monumenta’ dicuntur ea quae insignite fiunt sepulcra mortuorum, nisi quia eos, qui uiuentium oculis morte subtracti sunt, ne obliuione etiam cordibus subtrahantur, in memoriam reuocant et admonendo faciunt cogitari.“ Augustinus: De cura pro mortuis gerenda, VIII. Hrsg. von J. Zycha, Prag u. a. 1900 (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 41), S. 630. Vgl. Scholz (Anm. 3), S. 37. Nach Isidor von Sevilla (Et. 1, 39,20) werden auf Epitaphien von Verstorbenen „ihr Leben, die Wesenszüge ihrer Persönlichkeit und ihr Alter niedergeschrieben“. Rädle (Anm. 5), S. 241. Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Helmut Sembdner. 2 Bde. München 1965. Bd. 2, S. 263. Vgl. zur Problematik der Zuordnung der anonym erschienenen Texte in den ‚Berliner Abendblättern‘ Ekkehard Zeeb: Die Unlesbarkeit der Welt und die Lesbarkeit der Texte: Ausschreitungen des Rahmens der Literatur in den Schriften Heinrich von Kleists. Würzburg 1995 (Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft 169), S. 105–120, 109f.; Bianca Theisen: Bogenschluss: Kleists Formalisierungen des Lesens. Freiburg 1996 (Rombach Wissenschaft: Reihe Litterae 28), S. 95; Fabian Dierig: Zu ‚Der Griffel Gottes‘. In: Brandenburger Kleist-Blätter 11 (1997), S. 10–28, 11ff.

Finalität

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text. Kleist rekurriert hier auf eine Inschriftentradition, die seit dem 12. Jahrhundert „die Aufnahme von Stiftungsvermerken in Grabinschriften“ umsetzte, „um damit den Vollzug des Totengedenkens zu sichern“.9 Die die Zeitlichkeit überwindende memoria der Gräfin aber scheint kräftig misslungen, wenn diese durch den Griffel Gottes nicht lobend verstetigt, sondern final gerichtet wird. Durch das inszenierte Scheitern einer positiven memoria macht die Anekdote Kleists somit auf einige Besonderheiten der Inschriftenpoetologie aufmerksam: Grabinschriften ziehen als kleinste, reduktionistische Geschichten „über Leichen hinweg in die Nachwelt“ ein.10 Gerade aufgrund ihrer Reduktion auf das Wesentliche zeichnen sie sich nicht durch poetologische Raffinesse aus, sondern bedürfen einer „Poetologie der Lektüre“.11 Denn der Griffel Gottes schreibt, indem er Leerstellen entstehen lässt, die eine neue Lektüre ermöglichen.12 Für die richtige Lesart, für das Verstehen der Auslese an Buchstaben, die ein ‚Urteil‘ bilden, bedarf es der Schriftgelehrten. Dabei spielt die ‚testamentarische Funktion‘ des Epitaphs eine Rolle, welche eine bestimmte Wirkung für die Nachwelt instruiert.13 Derart setzt sich die Grabinschrift mit dem Medium der Schrift als wahrheitssetzender Instanz auseinander. In der Anekdote wird die Schriftfläche „zur Szene einer Offenbarung“,14 wenn die Absolution der Gräfin nachträglich verurteilt wird. Als Anagramm bleibt der vermeintlich wahre, göttliche Spruch übrig: „sie ist gerichtet“.15 Die Schrift widersetzt sich somit der Gnade des Vergessens, welche der Gräfin durch die Absolution erteilt wurde. Im „Reduktionsverfahren“ verändert sich der Inschriftentext, das Gottesgericht hinterlässt ein Urteil, welches wiederum ausgelegt werden muss.16 Auch die 9

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Scholz (Anm. 3), S. 48. „Das Modell für die motivisch instruierende Rolle epigraphischer Schriftlichkeit scheint die mittelalterliche Epik bereitzustellen.“ Roussel (Anm. 2), S. 261 mit Anm. 61. Roussel (Anm. 2), S. 256f. Walter Benjamin prägte den Begriff der ‚Leichenpoesie‘, deren Spuren ins Mittelalter führen. Vgl. ebd., S. 261 mit Anm. 61. Roussel (Anm. 2), S. 259. Theisen (Anm. 8), S. 96, spricht von einem „anagrammatischen Subtext“ für den Lesenden. Die Leerstellen ermöglichen das „Lesen, was nicht geschrieben wurde“, die Rezeption von Sinn. Ebd., S. 95. Zur Besonderheit des Griffels, der schreibt, „indem er löscht“, Zeeb (Anm. 8), S. 110; sowie Dierig (Anm. 8), S. 16. Zum Blitz als Metapher für den ‚Griffel Gottes‘ vgl. Wolfram Groddeck: Grab und Griffel. Kleists semiologische Anekdote vom ‚Griffel Gottes‘. In: Die kleinen Formen der Moderne. Hrsg. von Elmar Locher. Innsbruck u. a. 2001 (Essay & Poesie 13), S. 57–77, 66, 71. Zu einem epigraphischen Schriftbegriff, „der die Aufspaltung in Leben und Tod, Schreiben und Lesen, Wille und Wirkung, Graphem und Testament organisiert und mit der Richtung auf die Nachwelt instruiert“ s. Roussel (Anm. 2), S. 259 mit Anm. 55. Bettine Menke: Der Witz, den die Lettern und den die Löcher machen, … In: Die Sichtbarkeit der Schrift. Hrsg. von Susanne Strätling, Georg Witte. München 2006, S. 203–216, 205: „Der erzählte Vorfall hat den Grabstein zu einem (erzählten) ‚gerahmten Schauplatz‘ der Schrift gemacht, d.i. zu dem ihrer Sichtbarkeit, Sichtbarkeit der Lettern und Löcher (im Erzählten)“. Vgl. Menke (Anm. 14), S. 203. Diese Worte vermögen an diejenigen in Goethes Faust I zu erinnern, mit denen das „Urteil (Mephistos) bekanntlich – durch eine ‚Stimme von oben‘ – in ein ‚Ist gerettet‘ (…) aufgelöst wird.“ Zeeb (Anm. 8), S. 112f.; Groddeck (Anm. 12), S. 62; sowie Theisen (Anm. 8), S. 99. Theisen (Anm. 8), S. 96.

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angefügten Zeugen, die den Leichenstein sehen, spielen mit dem fingierten ‚Wahrheitsgehalt‘ des Erzählten.17 Sowohl der Aspekt der Wahrheit als auch der Aspekt der Sinngebung durch Auslassungen bzw. Reduktionen sollen nun im Zusammenhang der Grabinschriften der Mort Artu weiter verfolgt werden. Thesen zum Ende des um 1215 entstandenen Prosalancelot, welcher bekanntlich in der Auflösung des Artusreiches und in der Absenz des Grals mündet, sind zahlreich: Entstehungsgeschichtlich wurde von einem klerikalen Sieg über die autonome Literatur gesprochen;18 zudem wurde die Finalität des Erzählvorgangs in Auseinandersetzung mit eschatologischen, apokalyptischen Vorstellungen oder der Weltalterlehre Joachims von Fiore erklärt.19 In der Finalität der Katastrophe wiederum sichert gerade das Epigraphische, genauer die Gräber bedeckende Schrift, das Überleben.20 Als Mikroerzählungen, als ‚Erzählungen in den Erzählungen‘, begleiten Grabinschriften das Sterben in der untergehenden Artuswelt.21 Wem aber setzt der Text Denkmäler und ‚was‘ soll nach 45.000 Zeilen Erzählung memoriert werden? Welche Wahrheit, welches Wissen, welche erlebte Handlung findet sich auf den Grabsteinen erneut wiedergegeben? Und wie stehen die Inschriften zum finalen Erzählstil im letzten Buch des Prosalancelot?22 Sind Gräber ein Wahrheitsindex der erzählten Geschichte? Verleihen die Inschriften dem erzählten Handlungsgeschehen einen neuen Sinn? Mit 17 18

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Vgl. auch Groddeck (Anm. 12), S. 60. Vgl. zusammenfassend Walter Haug: Das Endspiel der arthurischen Tradition im Prosalancelot. In: Brechungen auf dem Weg zur Individualität. Kleine Schriften zur Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Dems. Tübingen 1997, S. 288–300, 290. Vgl. Klaus Speckenbach: Endzeiterwartung im ‚Lancelot-Gral-Zyklus‘. Zum Problem des Joachitischen Einflusses auf den Prosaroman. In: Geistliche Denkformen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Klaus Grubmüller, Ruth Schmidt-Wiegand, Klaus Speckenbach. München 1984 (Münstersche Mittelalter-Schriften 51), S. 210–225; sowie Karin Pratt: Aristotle, Augustine or Boethius? ‚La Mort le roi Artu‘ as Tragedy. In: Nottingham French Studies 30 (1991), S. 81–109. Vgl. Roussel (Anm. 2), S. 255 u. 261 mit Anm. 60. Vgl. zu den Epitaphien der mittelhochdeutschen Literatur Heiko Hartmann: Gahmurets Epitaph (Pz. 107,29ff.). In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 61 (2006), S. 127–149, 127ff. Zur Schrift der aventiure-Bücher im Prosalancelot, welche die Vergangenheit des Artusreiches memoriert, vgl. Judith Klinger: Der mißratene Ritter. Konzeption von Identität im Prosa-Lancelot. München 2001, S. 442. Zum Aspekt der Mortalität vgl. Odo Marquard: Finalisierung und Mortalität. In: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hrsg. von Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1996 (Poetik und Hermeneutik 16), S. 467–475, 469. Diese Reflexionsinstanz scheint umso deutlicher, als dass die Autorenkommentare, wie im Lancelot propre, als auch die „Wertungen privilegierter Figuren“ im Mort Artu fehlen. Michael Waltenberger: Das große Herz der Erzählung. Studien zur Narration und Interdiskursivität im ‚ProsaLancelot’. Frankfurt/Main 1999 (Mikrokosmos 51), S. 135. Zur Unterscheidung zwischen Aufhören und Enden vgl. Arbogast Schmitt: Teleologie und Geschichte bei Aristoteles oder Wie kommen nach Artistoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte? In: Stierle, Warning (Anm. 20), S. 528–563, 528f. Zur Unterscheidung von Romanende und Handlungsabschluss vgl. Monika Unzeitig-Herzog: Überlegungen zum Erzählschluß im Artusroman. In: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 1999, S. 233–253, 240ff.

Finalität

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diesen Fragen schließe ich an Überlegungen von Michael Waltenberger und Judith Klinger an, die sich mit der ‚poetologischen Position‘ der Grabinschriften des Prosalancelot auseinandergesetzt haben.23

II. Von Beginn an haben Friedhofsszenen und Gräber einen festen Platz im Text: Gräber werden geöffnet, um Inschriften lesen zu können oder um Tote umzubetten.24 Nikola von Merveldt hat eingehend nachvollzogen, inwiefern in den Grabinschriften und Friedhofsaventiuren genealogische Zusammenhänge und die Erwartung von Zukünftigem offenbart werden. Am Grab von Lancelots Großvater etwa eröffnet sich eine zeitliche Perspektive über einige Generationen hinweg.25 Lancelot selbst wird als junger Artusritter gleich in der ersten aventiure, in der Dolorose Garde-Episode, auf einem Friedhof mit seinem eigenen Grab konfrontiert. Durch eine Inschrift auf dem Sargdeckel erfährt er seinen Namen, seine Identität und seine genealogische Herkunft: „In dißem grab sol Lancelot ligen von dem Lacke, des kóniges Banes son von Bonewig und Alenen synes wibes“ (I 454,4f.).26 Auf dem gleichen Friedhof werden für zahlreiche 23

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Waltenberger (Anm. 21), S. 149 mit Anm. 418, warnt unter Hinweis auf Zuurdeeg, der die Grabinschriften in der Summe als „the whole story in a nutshell“ darstelle, vor der Gefahr, „die vermeintlich privilegierte Aussageform der Epitaphe gegenüber den Spannungen des Erzählprozesses zu verabsolutieren.“ Klinger (Anm. 20), S. 482: „Die Vermutung, daß die Texte der Epitaphien eine poetologische Position formulieren, indem sie der Offenheit linearer Erzählungen Vollständigkeit und nur in dieser Vollständigkeit auch Sinn verleihen, bedarf der genaueren Überprüfung.“ Vgl. auch ebd., S. 462 u. 478ff.; sowie Regine Colliot: Les Epitaphes Arthuriennes. In: Bibliographical Bulletin of the International Arthurian Society 25 (1973), S. 155–175; Helen Solterer: Conter le terme de cest brief: L‘inscription dans la ‚Mort le Roi Artu‘. In: Actes du 14e Congrès International Arthurien. Bd. 2, S. 558–568. Vgl. Martin Baisch, Matthias Meyer: Zirkulierende Körper. Tod und Bewegung im ProsaLancelot. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2007, S. 383–404, 383f. u. 390. Vgl. Nikola von Merveldt: Translatio und Memoria. Zur Poetik der Memoria des Prosa Lancelot. Frankfurt/Main 2004 (Mikrokosmos 72), S. 190ff., 200. Hier und im Folgenden zitiert nach Prosalancelot I–V. Nach der Heidelberger Handschrift Cod. Pal. germ. 147. Hrsg. von Reinhold Kluge. Ergänzt durch die Handschrift Ms. allem. 8017–8020 der Bibliothèque de l’Arsenal Paris. Übers., komm. und hrsg. von Hans-Hugo Steinhoff. 5 Bde. Frankfurt/Main 1995–2004 (Bibliothek des Mittelalters 14–18). Zu einem Vergleich mit der Darstellung in der ‚Charette‘ vgl. Friedrich Wolfzettel: Der Lancelot-Roman als Paradigma. Vom geschlossenen symbolischen Stil des Chrétienschen Versromans zur offenen Welterfassung der Prosa. In: Lancelot. Der mittelhochdeutsche Roman im europäischen Kontext. Hrsg. von Klaus Ridder, Christoph Huber. Tübingen 2007, S. 13–28, 18, unter Hinweis auf Marc Le Person: Les métamorphoses du cimetière: de la tombe prophétique au terrain d’aventure. In: L’Oeuvre de Chrétien de Troyes dans la littérature française. Hrsg. von Claude Lachet. Lyon 1997, S. 107–125, 108 u. 110ff. In einer anderen Friedhofsszene erfährt Lancelot, dass nicht er die Gralsaventiuren beenden kann, sondern sein Sohn Galaad (II

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Artusritter Grabstätten freigehalten. Während die Zinnen, die die Köpfe der Toten tragen, noch vereinzelt leer sind, verweisen Steinplatten bereits auf die Toten in spe: „In dißem grab sol der ligen, und in dißem der“ (I 452,15f.). Der Tod Einzelner hat also von Beginn an einen (un)festen Ort im Text. Die Grabstätten sind bereitet und warten unter Hinweis auf zukünftiges Geschehen geduldig auf den Ablauf, der noch zu erzählenden Lebenszeit.27 Im letzten Buch des Prosalancelot nun, welches den beredten Namen Des konigs Artus Dott trägt, sind die Grabinschriften von Beginn an nur noch retrospektiv ausgerichtet.28 Das mag damit zusammenhängen, dass das dritte und letzte Buch des Prosalancelot ganz im Zeichen einer „Poetik der Endlichkeit“ steht.29 Dem Erzählen über das Ende wird eigens ein Prolog vorangestellt, in dem sich der fingierte Verfasser, Walter Map,30 geradezu selbstkritisch von dem noch zu Berichtenden distanziert: Das gesamte Romanprojekt sei durch die erfolgreich beendete Gralsaventiure bereits abgeschlossen. Die Vollendung durch die Entrückung des Grals und den Tod Galaads werde jedoch von seinem königlichen Auftraggeber, Heinrich II., nicht als Ende akzeptiert. So unterliegt der Autor dem Zwang seines Mäzens, den nun folgenden, aus seiner Sicht überflüssigen, Romanteil anzuhängen:31 „da meynte der konig Heinrich syn herre das mit dem das er gemacht hett nit genung were, er sagete dann das ende von dem das er zuvor geredet hett und von wem das er die fromkeyt gesaget hett in synem buch“ (V 544,4–7). In der Kapitelüberschrift werden das Ende fest- und die Erzählintention offengelegt: Nachdem das zyklische Erzählen der Gralssuche beendet ist, folgt ein biographisches

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356–364). Vgl. auch Joachim Heinzle: Zur Stellung des Prosa-Lancelot in der deutschen Literatur des 13. Jahrhunderts. In: Artusrittertum im späten Mittelalter. Ethos und Ideologie. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Gießen 1984 (Beiträge zur deutschen Philologie 57), S. 104–113, 106. Einige Leichname entgehen in speziellen Steinsärgen gar der Vergänglichkeit (II 356,32; II 666,19–22). Zur Mode der Hochgräber, der Tumben, seit dem 13. Jahrhundert, vgl. Kloos (Anm. 3), S. 74; sowie Erwin Panofsky: Grabplastik. Vier Vorlesungen über ihren Bedeutungswandel von Alt-Ägypten bis Bernini. Hrsg. von Horst W. Janson. Köln 1964, S. 58ff. Vgl. Monika Unzeitig-Herzog: Jungfrauen und Einsiedler. Studien zur Organisation der Aventiurewelt im Prosalancelot. Heidelberg 1990 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 154f. Klinger (Anm. 20), S. 442, 470 u. 477. Waltenberger (Anm. 21), S. 144, formuliert, dass das „Ende zum Erzählprinzip“ erhoben werde. „Man hat es mit dem experimentellen Vollzug eines sich selbst konsequent als Prinzip verstehenden Endens zu tun.“ Haug (Anm. 18), S. 300. Vgl. auch UnzeitigHerzog (Anm. 28), S. 160ff. Der Oxforder Archidiakon wird an mehreren Stellen im Text als Verfasser genannt. Vgl. HansJoachim Ziegeler: Schrift und Wahrheit im deutschen „Lancelot“. In: Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Paris. Hrsg. von Ingrid Kasten, Werner Paravicini, René Pérennec. Sigmaringen 1998 (Beihefte der Francia 43), S. 201–213, 206; sowie Karl Heinz Göller: König Artus in der englischen Literatur des späten Mittelalters. Göttingen 1963 (Palaestra 238), S. 65. Zur Verfasserfiktion vgl. Fritz Peter Knapp: Erzählen, als ob es Geschichte sei. Antifiktionaliät und Geschichtstheologie im ‚Prosa-Lancelot‘. In: Ridder, Huber (Anm. 26), S. 235–248, 238f.; sowie Uwe Ruberg: Lancelot (Lancelot – Gral – Prosaroman). In: VL 5 (1985), Sp. 530–546, 533. Vgl. Waltenberger (Anm. 21), S. 142.

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Erzählen, welches im Tod der Protagonisten und somit in ihren Grabinschriften mündet. Die für den arturischen Roman typischen zyklischen Zeitstrukturen werden durch lineare Zeitverläufe ersetzt.32 Das ‚Zu-Ende-Erzählen‘ wird zum leitenden Erzählprinzip,33 welches Gräber und Totendienst als institutionelle Zeichen hervorbringt: „In der zyklischen Zeitperspektive bedeutet das Ende den Anfang eines neuen Zyklus. Ende und Erneuerung gehören zusammen. Das Ende ist der Tod, aus dem das Leben kommt. In der linearen Zeitperspektive bedeutet das Ende Vollendung als Vorbedingung unwandelbarer Dauer. Das Ende ist das Ziel, wo das Werden in das Währen, Dauern und Bleiben umschlägt. Beide Denkformen des Endes haben ihren festen Ort in den Institutionen der Kultur, das zyklische Ende in Kult und Kalender, das lineare Ende in Grab, Totendienst und Ethik“.34 Im Prosalancelot wird die Literaturproduktion der Artusritter, die vormals aventiureBerichte verfassen, auf das Verfassen von Epitaphien verlagert.35 Diese sind Retrospektiven, die dem Sterben Einzelner kausale Ursächlichkeiten zuschreiben. Die aus der lateinischen Tradition bekannten „teils klagende[n], teils Taten feiernde[n] Epitaphien“36 werden im Untergangsgeschehen des Prosalancelot insbesondere auf einen Aspekt reduziert: auf den der Todesursache.37 In den Grabinschriften der Mort Artu wird bis auf zwei Ausnahmen nicht nur der darunterliegende Tote verewigt,38 sondern

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In den ersten beiden Büchern dient etwa die zyklische Folge der Feste zur Zeitstrukturierung. Vgl. Uwe Ruberg: Raum und Zeit im Prosa-Lancelot. München 1965 (Medium Aevum 9), S. 124ff.; sowie zur „Linearisierung des Erzählens“ Klinger (Anm. 20), S. 442. Vgl. ebd. S. 460ff. Die Gralsgeschichte aber ist nicht zyklisch, sondern eschatologisch; die Möglichkeit einer Rückkehr des Grals wird verneint. Vgl. Ralf Simon: Die Interferenz der Texte im Roman als Ursprung seiner Möglichkeit. Poetologische Überlegungen zum ‚Prosa-Lancelot’. In: Artusroman und Intertextualität. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Gießen 1990 (Beiträge zur deutschen Philologie 67), S. 147– 164, 156. Zu zyklischen und linearen Zeitverläufen vgl. Peter Czerwinski: Gegenwärtigkeit. Simultane Räume und zyklische Zeiten, Formen von Regeneration und Genealogie im Mittelalter. München 1993, S. 251f. Zum „genealogisch-biographischen Muster“ s. Corinna Biesterfeldt: Moniage – Der Rückzug aus der Welt als Erzählschluß. Untersuchungen zu ‚Kaiserchronik‘, ‚König Rother‘, ‚Orendel‘, ‚Barlaam und Josaphat‘, ‚Prosa-Lancelot‘. Stuttgart 2004, S. 111. Vgl. Unzeitig-Herzog (Anm. 28), S. 160 u. 172. Jan Assmann: Denkformen des Endes in der altägyptischen Welt. In: Stierle, Warning (Anm. 21), S. 1–31, 22. Zum Wahrheitsgehalt der aventiure-Berichte vgl. Ziegeler (Anm. 30), S. 206; vgl. auch Knapp (Anm. 30), S. 236ff. Zur „Substitution des Buchs durch das Epitaph“ s. Waltenberger (Anm. 21), S. 180 mit Anm. 518. Zum Ende der aventiuren vgl. auch Biesterfeldt (Anm. 32), S. 117. Wolfgang Haubrichs: Memoria und Transfiguration. Die Erzählung des Meisterknappen vom Tode Gahmurets (‚Parzival‘ 105,1–108,30). In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland, Michael Mecklenburg. München 1996 (Forschungen zur Geschichte der älteren deutschen Literatur 19), S. 125–154, 134 mit weiterführender Literatur. Vgl. Unzeitig-Herzog (Anm. 28), S. 154f.; sowie Klinger (Anm. 20), S. 480. Die geforderte Totenmemoria wird deutlicher noch im afrz. Text. Vgl. Knapp (Anm. 30), S. 238.

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die den Tod verursachenden Täter als kausale Ursache des Todes.39 Die Epigraphen sind daher nicht in Schrift „eingelagerte Aktualisierungen“ der jeweils begrabenen Identität, sondern vielmehr Aktualisierungen der Todesursache.40 Bekannt sind derartige fiktionale Grabinschriften seit der Antike: Epigraphische Minneklagen, die den Grund oder die Art des Minnetodes angeben,41 finden sich etwa in Ovids Metamorphosen.42 Auch in den Liebesbriefen lässt Ovid die beiden Selbstmörderinnen Phyllis und Dido über eine geeignete Grabinschrift reflektieren: Auf meinem Grab [gemeint ist das Grab Phyllis’] wirst du [Demophoon] als verhaßte Ursache stehen. / So oder ähnlich der Vers, der dich bekannt machen wird: /‚PHYLLIS WAR DEMOPHOONS OPFER, DES GASTS, DEN SIE LIEBTE; / ER GAB ZU STERBEN IHR GRUND, SIE LIEH ZUM TOD IHRE HAND.‘43

Noch bekannter sind die Worte Didos kurz vor ihrem Selbstmord: Bin ich verbrannt, so lese man nicht ‚DES SYCHAEUS’ ELISSA‘,/ sondern der folgende Vers steht dann auf marmornem Grab: / ‚IHR HAT AENEAS DEN GRUND UND DAS SCHWERT ZUM STERBEN GEGEBEN, DARUM MIT EIGENER HAND TÖTETE DIDO SICH SELBST.‘44

Auch in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters werden in den Grabinschriften die Todesursachen angegeben.45 In der antikisierenden Epik Veldekes liest man über die Beisetzung Didos: „mit goldînen bûchstaben / was ir name dâ [auf den Sarkophag] gescriben, / wie si tôt was beliben. / die bûchstaben sprâchen sô: / ‚hie liget frouwe Dîdô, / diu mâre und diu rîche, / diu sich sô jâmerlîche / dorch minne zû tôde erslûch‘“

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Rädle (Anm. 5), S. 243, betont, dass ein „Epithaphium nicht etwa den Toten betrifft, auf den es sich bezieht, sondern die Hinterbliebenen“. Roussel (Anm. 2), S. 248 mit Anm. 26. Vgl. Haubrichs (Anm. 36), S. 133. „Erbarme dich der, die ihr Lieben drum nur gesteht, weil die äußerste Glut sie zwingt, und verdiene nicht, daß man dich als den Grund meines Todes mir schreib auf den Grabstein“ – so Byblis an ihren Bruder: „‚miserere fatentis amores,/ et non fassurae, nisi cogeret ultimus ardor,/ neve merere meo subscribi causa sepulcro!‘“ Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. In deutsche Hexameter übertragen von Erich Rösch. Hrsg. von Niklas Holzberg. Zürich 1996 (Sammlung Tusculum), IX, V. 561–563, S. 347. Zu weiteren Grabinschriften im Werke Ovids vgl. die Hinweise bei Henkel (Anm. 4), S. 172 mit Anm. 26. „‚inscribere meo causa invidiosa sepulcro. / aut hoc aut simili carmine notus eris: / ‘PHYLLIDIA DEMOPHOON LETO DEDIT HOSPES AMANTEM. / ILLE NECIS CAUSAM PRAEBUIT, IPSA MANUM.’” Publius Ovidius Naso: Liebesbriefe. Heroides – Epistulae. Lateinisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Bruno W. Häuptli. Zürich 1995 (Sammlung Tusculum). Epistula II, V. 145– 148, S. 22f. „‚nec consumpta rogis inscribar ELISSA SYCHAEI, / hoc tamen in tumuli marmore carmen erit: / ‚PRAEBUIT AENEAS ET CAUSAM MORTIS ET ENSEM. / IPSA SUA DIDO CONCIDIT USA MANU‘“. Publius Ovidius Naso (Anm. 42), Epistula VII, V. 193–196, S. 74f. Vgl. Hartmann (Anm. 20), S. 130f.; Henkel (Anm. 4), S. 171f. u. 177; sowie Haubrichs (Anm. 36), S. 133f.

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(V. 2513–2519).46 Deutlicher noch wird der Todesgrund auf der kostbaren Grabplatte des Pallas mit dem Namen desjenigen versehen, der ihn erschlagen hat: dar an stunt als man wol gesach / sîn epitaphium gescriben / und wie her tôt was gebliben / und wie her hiez und wer her was, / des kuneges sun Pallas, / und wie in Turnûs erslûch / des êrsten tages dô her trûch / schilt und wâfen unde swert (V. 8332–8339).

Auch Camilla wird in ihrem Grabtempel mit einer Grabinschrift verewigt, die auf den Verursacher Ihres Todes verweist: hie liget frowe Kamille / diu mâre und diu rîche, / diu sich sô manlîche / ritterschefte underwant, / daz nie man ne vant / ir gelîchen noch ne sach. / deheines werk sie ne phlach, / wande si ûbete ritterschaft / und hete grôze heres kraft / und wart vor Laurente erslagen (V. 9500–9509).

Eine weitere Rezeption einer derartigen Grabinschrift findet sich im Minnesang Heinrichs von Morungen: Wan sol schrîben kleine / reht ûf dem steine, / der mîn grap bevât, / wie liep sî mir waere / und ich ir unmaere; / swer danne über mich gât, / Daz der lese dise nôt / und ir gewinne künde, / der vil grôzen sünde, / die sî an ir vründe / her begangen hât“ (VIII / MF 129,36–130,8).47

Das Epitaph Gahmurets hingegen ist in Wolframs von Eschenbach Parzival in 26 Versen auf dem Helm verewigt (Parzival, 107,29–108,28): Detailliert wird geradezu in Umkehrung „des genus panegyricum“ darauf verwiesen,48 wer Gahmuret den Tod brachte: „sus sagent die buochstabe. / ‚durch disen helm ein tjoste sluoc / den werden der ellen truoc‘“ (108,2–4). Indem Wolfram den von Bocksblut aufgeweichten Helm selbst zum Epitaph werden lässt, wird die schriftlich dargelegte Todesursache in der materiellen Todesursache selbst verewigt: ein regelrechtes mise en abyme. Im Epitaph

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Zitiert nach Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Nhd. übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986 (RUB 8303). Zu den Grabmälern vgl. auch Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin/New York 2003 (Trends in Medieval Philology 3), S. 71–115; Joachim Hamm: Camillas Grabmal. Zur Poetik der dilatatio materiae im deutschen Eneasroman. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 45 (2004), S. 29–56, bes. 44f.; Gabriele Schieb: Veldekes Grabmalbeschreibungen. In: PBB (Halle) 87 (1965), S. 201–243. Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren. Bd. I: Texte. 38., erneut revidierte Auflage. Stuttgart 1988, S. 250. Vgl. zur relevanten letzten Strophe auch den Kommentar Des Minnesangs Frühling. Anmerkungen. Nach Karl Lachmann, Moriz Haupt und Friedrich Vogt neu bearb. von Carl von Kraus. Hrsg. von Helmut Tervooren, Hugo Moser. Stuttgart 1981 (Kommentare zu ‚Des Minnesangs Frühling‘ III/2), S. 460. Vgl. Henkel (Anm. 4), S. 179. Haubrichs (Anm. 36), S. 129. Vgl. auch Friedrich Panzer: Inschriftenkunde. Die deutschen Inschriften des Mittelalters und der Neuzeit (für die zweite Auflage bearb. von Heinrich Köllenberger). In: Deutsche Philologie im Aufriß. Hrsg. von Wolfgang Stammler. Bd. 1. 2. überarbeitete Auflage Berlin 1966, Sp. 334–378, 375f., zu weiteren Inschriften, die „zu bewegenden Motiven der Handlung geworden“ sind (ebd., S. 376).

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Gahmurets, so Haubrichs, findet der „Tod zum Leben“ zurück und „Tod und Leben, Leben und Tod [sind] ständig verschränkt.“49 Im Prosalancelot nun scheinen die Inschriften, die ebenfalls die Angabe der Todesart umfassen, gezielt einige Situationen interpretativ betonen zu wollen. Denn auf sechs der finalen acht Grabinschriften der Mort Artu finden sich die Namen von bekannten Protagonisten als Ursache des Todes Dritter: Artus, Ginover, Lancelot und Gawan töten, bevor sie selbst sterben. Die Protagonisten erfahren nicht nur ihren eigenen Tod, sondern werden zur direkten Ursache eines fremden Sterbens. Ihre Opfer werden durch Grabinschriften aus dem Erzählfluss memorierend hervorgehoben.

III. Das erste Opfer im Untergangsgeschehen ist ein nicht näher bekannter Ritter, der nach dem Verzehr eines vergifteten Apfels stirbt, welcher ihm von der Königin Ginover gereicht wird. Vor aller Augen fällt der Ritter tot zu Boden (V 666).50 Es unterliegt sicherlich nicht dem Zufall, dass die erste kausale Begründung eines Todesfalls im Untergangsgeschehen mit einer Anspielung auf den Ursprungsmythos des Sündenfalls einhergeht.51 Das Wissen um die eigene Sterblichkeit, die Entfremdung von Gott und die Vertreibung aus der bestehenden, göttlichen Ordnung sollen fortan das Geschehen beherrschen. Ginovers Apfelgabe setzt den Anfang vom Ende.52 Neben der Gabe Evas lässt sich auch an die Gabe der Pandora denken, die der Welt das Unheil bringt. In bei-

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Haubrichs (Anm. 36), S. 130. Zur erzählerischen Komposition des Epitaphs vgl. grundlegend Hartmann (Anm. 20), S. 132ff. In seinem Stellenkommentar gibt Steinhoff (Anm. 26), V, S. 1187, zwei mögliche Quellenstränge an: Er verweist auf Chanson de Geste aus dem frühen 13. Jahrhundert und auf Geoffreys Vita Merlini. Vgl. Christoph Huber: Von der ‚Gral-Queste‘ zum ‚Tod des Königs Artus‘. Zum Einheitsproblem des ‚Prosa-Lancelot’. In: Positionen des Romans im späten Mittelalter. Hrsg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1991 (Fortuna Vitrea 1), S. 21–38, 35f.; Waltenberger (Anm. 21), S. 149. Kritisch dazu Cornelia Reil: Liebe und Herrschaft. Studien zum altfranzösischen und mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot. Tübingen 1996 (Hermaea, N.F. 78), S. 134 mit Anm. 59. „Der Zufall: Anfang und Ursprung von allem – die Erbsünde. Und doch eignet er sich wegen seiner Unberechenbarkeit nicht, in irgendeine Kette von Ursache und Wirkung eingefügt zu werden. Die Erbsünde, die zugleich auch das Weltgericht ist. Anfang wie auch Ende, Ursache wie auch Wirkung. Ein Ausdruck der durcheinandergeratenen Ordnung der Welt – doch so, daß die Welt gerade durch dieses Durcheinander geordnet wird.“ László F. Földényi: Heinrich von Kleist. Im Netz der Wörter. München 1999, S. 532. Vgl. auch Klaus Schreiner: Adams und Evas Griff nach dem Apfel – Sündenfall oder Glücksfall?. In: Der Fehltritt. Vergehen und Versehen in der Vormoderne. Hrsg. von Peter von Moos. Köln u. a. 2001 (Norm und Struktur 15), S. 151–176, 151 u. 156. Der Todesbezug im Sündenfall wurde zudem bereits in der Queste explizit angedeutet. Vgl. Huber, (Anm. 51), S. 36. Vgl. auch Volker Mertens: Der Gral. Mythos und Literatur. Stuttgart 2003, S. 118.

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den Mythen „öffnet sich eine Diskrepanz zwischen einem intendiertem Effekt der Gabe und einer überwältigenden Wirkung.“53 Auch im Prosalancelot sind die Gabe Ginovers und ihre Wirkung keineswegs intendiert. Ginover bekommt die giftige Frucht von einem Ritter namens Avalan gereicht, der damit Gawan zu töten beabsichtigt. Die ahnungslose Königin aber schenkt die Frucht Gaheries. Der Falsche stirbt und die Falsche wird beschuldigt: Anstelle Gawans stirbt Gaheries, anstelle Ginovers ist eigentlich Avalan der Mörder. Das Kontingente und Nichtintentionale des Geschehens zeichnet sich durch eine mehrfache Verschiebung der Handlungsführung aus. Und dabei spielt der Zufall eine Rolle, der nach Aristoteles allererst dadurch entsteht, „daß voneinander unabhängige Determinationsketten unvermutet aufeinandertreffen.“54 Die umstehenden Artusritter nennen den Todesfall ein wunder. Damit ist nicht gemeint, dass Naturgesetze außer Kraft gesetzt wurden, sondern dass eine denkwürdige Koinzidenz eingetreten ist.55 Unberechenbar sind eben die Gaben der Fortuna, „die mit der einen Hand gibt und mit der anderen Hand nimmt.“56 Umso klarer steht das Dilemma vor Augen, denn der mord ist nicht zu leugnen. Jeder hat gesehen, dass Ginover dem Ritter die Frucht gab (V 684f.). Die „Ursache-Wirkungs-Kette“,57 der Weg des Apfels, ist Schritt für Schritt nachzuvollziehen – in einer deutlichen „kausalempirischen Motivation von vorn“.58 Auf syntagmatischer Ebene weisen die kausalen Zusammenhänge des Erzählten keine Lücken auf. Und dennoch wirkt der Zufall, denn der Zweck der Handlung, die Absicht Ginovers war eine andere.59 53 54

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Gisela Ecker: ‚Giftige‘ Gaben. Über Tauschprozesse in der Literatur. München u. a. 2008, S. 26. Gerhart von Graevenitz, Odo Marquard: Vorwort, in: Kontingenz. Hrsg. von Dens. München 1998 (Poetik und Hermeneutik 17), S. XI–XXV, XIII. Allerdings verwendet Aristoteles weder den Begriff der Kontingenz noch des Zufalls – beide Begriffe wurden „im 4. Jahrhundert von Marius Victorinus zum ersten Mal mit ‚contingere‘ übersetzt“ – so Franz Josef Wetz: Der Begriff ‚Zufall‘ und ‚Kontingenz‘. In: ebd., S. 27–34, 29. Vgl. Matías Martínez: Fortuna und Providentia. Typen der Handlungsmotivation in der Faustinianerzählung der ‚Kaiserchronik‘. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Hrsg. von Dems. Paderborn u. a. 1996 (Explicatio), S. 83–100, 99. Ecker (Anm. 53), S. 27. Matías Martínez: Formaler Mythos. Skizze einer ästhetischen Theorie. In: Ders. (Anm. 55), S. 7–24, 17. Zur „handlungsfunktionale(n) Motivation von hinten“ oder einer „kausalempirischen Motivation von vorn“ vgl. Martínez (Anm. 57), S. 17. Als kausal motiviert sind auch „nichtintendierte Handlungsfolgen, Handlungsgemengelagen und Geschehnisse ohne Beteiligung intentionsbegabter Agenten“ zu verstehen. Matías Martínez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens. Göttingen 1996, S. 22. Zum Begriff der kausalen Motivierung in Anlehnung an Lugowskis Motivation von vorn vgl. ebd., S. 28 u. 96. „Licet igitur definire casum esse inopinatum ex confluentibus causis in his, quae ob aliquid geruntur, eventum.” [„So darf also bestimmt werden: Zufall ist das unerwartete Ergebnis eines Zusammentreffens von Ursachen in dem, was zu irgendeinem Zweck unternommen wurde“]. Boethius: Trost der Philosophie. Consolatio Philosophiae. Lateinisch und deutsch. Hrsg. und übers. von Ernst Gegenschatz, Olof Gigon. München u. a. 1990, V, I, S. 232f. Vgl. Martínez (Anm. 55), S. 87.

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Als dem getöteten Ritter zu seiner Ehrung im Stephansmünster ein Grab bereitet wird, findet sich nun das Kontingente gerade nicht in der Inschrift verewigt: „Die gesellen von der tafelrunden gemeynlich schrieben buchstaben daroff: ‚Hie lyt Gaharies der Wise von Karahen, Madors bruder von der Porczen, der dott ist mit vergifft!‘“ (V 670,12–15). Die Grabinschrift, nur mit dem Namen des Toten und der Todesursache versehen, reduziert das Geschehen auf eine unmittelbare Ursache-Wirkung-Relation. In dieser Reduktion bilden die Grabinschriften einen ganz eigenen, geradezu realistischen, dokumentarischen Erzählduktus aus, der fortan zur Norm wird.60 Die Handlungen werden durch die Grabinschriften im wahrsten Sinne des Wortes spruchreif. Noch pointierter findet sich das Geschehen zusammengefasst, als der Bruder des Ermordeten zum Artushof kommt, das Grab entdeckt und die Inschrift liest, die nun um einen deutlichen Hinweis auf das handelnde Subjekt erweitert ist: „Und da er gesah die buchstaben die da sprachen: ‚Hie lytt Gaharies von Tarahen, den die koniginne Genievre det sterben mit vergifft‘“ (V 682,6–8). Die memorierenden Worte der Inschrift verweisen nun ganz gezielt auf Ginover als Täterin.61 Hier ließe sich diskutieren, inwiefern die Buchstaben, „die da sprachen“, auf die Rezeptionssituation rekurrieren; inwiefern die „Geltung der Schrift“ sich auf die Erkenntnis des lesenden Subjekts verlagert.62 Da der Wandel der Inschrift aber nicht mehr ist als eine Konkretisierung des bereits Geschriebenen, und sich auch in der französischen Vorlage sofort die vollständige Inschrift auf dem Epitaph findet, würde ich die Veränderung der Inschrift nicht überinterpretieren wollen – im Gegenteil: Die Inschrift bewahrheitet weiterhin das Geschehen, allein noch konkreter wird der Tathergang bezeugt. Schließlich hat Ginover vor den Augen der ganzen Hofgesellschaft den Artusritter getötet. In der Reduktion aber auf die objektiv wahrnehmbaren Begebenheiten, durch die nur die halbe Wahrheit ersichtlich wird,63 da die subjektiven Geschehnisse, die Intentionen nicht berücksichtigt werden, sind weitere Verwicklungen vorprogrammiert. Es bilden sich Leerstellen aus, die durch den Rezipienten und/oder die Protagonisten ausgefüllt werden müssen.64 Die Absicht der Tat, der intendierte Effekt, wird der jeweiligen Auslegung anheimgegeben. Gerade das ist der Kompromiss des Erzählens. Auch das Buch der Genesis – um auf den Sündenfall zu-

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Grabschriften stehen in der Tradition einer objektiven Schreibweise, die „wiederholbar und auf Dauer angelegt“ ist. Rädle (Anm. 5), S. 241. Bei der ersten Grabinschrift ohne Nennung ihres Namens findet sich in der Handschrift P eine ergänzende Korrektur (K III 490,7). Vgl. Reil (Anm. 51), S. 133; sowie Waltenberger (Anm. 21), S. 149 mit Anm. 419. Klinger (Anm. 20), S. 486. Zu Inschriften, die sich ‚wundersam‘ in „die Sprache dessen, der sie lesen will“ verwandeln, s. Henkel (Anm. 4), S. 171. Zur Rolle der Wahrheit bzw. Halbwahrheit im Untergangsgeschehen vgl. Elisabeth Schmid: Wahrheitsspiele in der Mort Artu. In: GRM 49 (1999), S. 373–389, 375, 386 u. 389; sowie Ziegeler (Anm. 30), S. 211f. Allein dem Rezipienten ist – im Unterschied zu den Protagonisten – die ganze Wahrheit bekannt. Vgl. Unzeitig-Herzog (Anm. 28), S. 155.

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rückzukommen – verliert sich nicht in einer „moralischen Kasuistik“, Fragen der Intentionalität, der Absicht, werden der Exegese überlassen.65 Im Prosalancelot will der Bruder des Verstorbenen nach der Grabinschriftenlektüre zunächst von der Wahrheit der Schrift überzeugt werden und verlangt intradiegetisch einen Rezeptionshinweis. Seine Nachfrage, ob die Inschrift wahr sei, wird umgehend bejaht – „Wißent das es also ware ist als es die schrifft bezúget“ (V 682,17f.). So geht der unmittelbar affektiv betroffene Bruder von einer vorsätzlichen Tat aus und fordert vom König Gerechtigkeit, da Ginover seinen Bruder „in verretniß“ (V 684,35) getötet habe. Die Rezeption der Grabinschrift aber ist als individueller Akt fehlerhaft. Nicht die Schrift lügt, sondern der lesende und interpretierende Rezipient füllt die Leerstellen fehlerhaft auf.66 Folge ist, dass für den rechtsentscheidenden Zweikampf Lancelot an den Hof zurückkehrt, was wiederum Voraussetzung dafür ist, dass die Ehebruchsliebe zwischen ihm und Ginover öffentlich wird und so den finalen Krieg auslöst. Das Untergangsgeschehen ist durch und durch kausal motiviert und unterliegt dennoch der Kontingenz. Noch deutlicher wird die Differenz zwischen Kontingenz im Handlungsgeschehen und Reduktion derselben in der Verschriftlichung im Todesfall eines weiteren Unschuldigen. Wie Ginover macht sich auch Artus ungewollt eines Tötungsdeliktes schuldig. Nach der finalen Schlacht betet der schwerverletzte König kniend in einer Kapelle für sich und alle Gefallenen: „das er sich uber yne erbarmet und uber sin lúte die des tages waren alda by im erschlagen“ (V 1000,18–20). Diese Bitte um Gnade für die Getöteten erfährt eine denkwürdige Reaktion: Nicht Gott antwortet, sondern Fortuna.67 Denn als der Mundschenk Lucan, einer der drei letzten Überlebenden, zu dem betenden König tritt und ihn anspricht, tötet er diesen versehentlich: da stůnt er recht off, wann er was groß und schwere, wann er was noch alle gewapent, und begreiff Lucas, der da ungewapent was, und zoh yne nach im und trůckte yn als hart das er yn dot truckt von dem großen weewen den er hett in synem herczen, und trůckt yn in der wyse das er yn nye wort hort gesprechen, und die sele schied im von dem libe. Und da yne der konig 65 66

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Schreiner (Anm. 52), S. 151. Ein unbeteiligter Artusritter wiederum, der zum Medium der Nachricht wird, fasst die Rezeptionsschritte exakt zusammen: Als der Artusritter Lancelot von dem Vorfall berichtet, zeigt sich nämlich, dass der Vorwurf des Verrats erst im Zusammenhang mit der Anklage vor dem König steht, nicht aber im Zusammenhang mit der Schrift: „Und da er synes bruder grab hett gesehen, da kam er vor den konig, da er wúst das yne die kóniginne gedót hatt, und sprach die koniginne an von dem verretniß“ (V 698,28–31). Der Beweis für Ginovers unbeabsichtigte Tötung wird auf Handlungsebene, wenn auch zeitlich verzögert, durch das Rechtsinstitut des Zweikampfes nachgeliefert. Wie bei fast allen fiktionalen Zweikampfschilderungen wird wiederum nur eine halbe Wahrheit beurteilt – nämlich die der Intentionalität der Tat. Die Tat selbst bleibt ungesühnt. Lancelot vermag im Zweikampf zu siegen, weil Mador sich nicht um die Rede kümmert – so wird allein um den (falschen) Sachverhalt gekämpft, dass Ginover „ungetrúwelich und mit verretniß“ (V 716,15f.) den Bruder getötet habe. Zur Rolle der profanen Schicksalsinstanz und dem Fehlen einer heilsgeschichtlichen Perspektive bezüglich der „Frage nach der göttlichen Regie“ s. Unzeitig-Herzog (Anm. 28), S. 159.

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lang hett also gehalten, nit umb das er yn also haßte, sůnder umb den großen wewen den er in synem herczen hett, da stunt er off und gedacht nit das er dot were (V 1000,28–37).

Artus, der noch im Schlachtgeschehen zum heroischen Helden wird, der seine Kraft und Eigenständigkeit im Kampf zur Schau stellt, tötet nun mit dieser Kraft ungewollt.68 Die Diskrepanz zwischen Intention und Tat, zwischen Liebe und Leid, wird bei Füetrer auf den Punkt gebracht: „Vor lieb und nicht von laide / Artus den held umbfieng / mit seinen armen paide. / wie im dy lieb zú laide da ergieng! / mit sollicher kraft den helld er an sich schmucket, / als er in auss den armen lies, / do saig er hin und was zú tod erdrucket“ (5884).69 Wenn selbst eine Umarmung, selbst die Liebe tötet, dann wird die Finalität der Katastrophe deutlich dramatisiert.70 Artus betet zu Gott und als Reaktion erfährt er das Walten des scheinbar unberechenbaren Schicksals: „‚gelůck das mir biß herre ist gewest ein frauwe und ein frúndin, nu ist es mir worden ein stiefmůtter und ein unfrúndin!‘“ (V 1002, 8–10).71 Blind ist dieses indes nicht, denn Artus selbst erkennt, dass er fortan in Leid und Betrübnis leben soll (vgl. auch V 944).72 Während die Handlungen des Königs dem Walten des Glückes ausgesetzt sind, zeugt die Grabinschrift erneut von einem reduktiven Verfahren: Auf dem Sakrophag des unglücklich Getöteten steht die schlichte Inschrift: „‚Hie lyt Lucas der Bukeler, den der kónig Artus dot truckt úber im‘“ (V 1008,29f.). Dass die Protagonisten gegen Ende des Textes zunehmend dem Zufall ausgesetzt werden, ist Teil der erzählten Welt, nicht aber der schriftlichen Reflexion. Erneut werden alle (fehlenden) Motivationen ausgeblendet und nur auf die wahre Todesursache verwiesen. Während also die Handlungen der Protagonisten von Willkür und Nichtintentionalität dominiert sind, grenzt die Schrift (der Grabsteine) gerade die Kontingenz aus. Die Grabinschriften nivellieren bestimmte Kausalitäten, die intradiegetisch vorgegeben sind. Sie geben Resultate wieder, setzen den Schlusspunkt einer Biographie – Sinnfragen aber werden ausgeblendet und der Sinn „irdisch-sozialen Handelns“ geradezu negiert.73

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Bereits den toten Gaheries umfängt der König derart, dass er „yn gedötet hätte mit dem umbgriffen das er det“ (V 760,15). Ulrich Füetrer: Lannzilet. Aus dem ‚Buch der Abenteuer‘, Str. 1123–6009. Hrsg. von Rudolf Voss, Paderborn 1996 (Schöninghs Mediävistische Editionen 3). Bereits Frappier (Anm. 30), S. 360, hat die Struktur der Mort Artu als dramatisch umschrieben. Vgl. Waltenberger (Anm. 21), S. 135 mit Anm. 385. Zu einer Bildlegende aus dem 16. Jahrhundert, die den Vergleich mit der „mütterliche[n] Wohltäterin“ und der „ungerechte[n] Stiefmutter“ aufgreift, s. Klaus Reichert: Fortuna oder die Beständigkeit des Wechsels. Frankfurt/Main 1985, S. 51. „‚Und das thůt es darumb das ich das ander teil mynes lebens in liden und in betrúbniß habe, und also můß es sin, das weiß ich wol‘“ (V 1002,10–12). Die unglücklichen Ereignisse sind aber auch im Nachhinein nicht göttlich determiniert, wie es in anderen Erzählungen der Fall ist, in denen „das Geschehen zu einem sinnvollen Ganzen“ wird. Martínez (Anm. 58), S. 15. Knapp (Anm. 30), S. 242. Vgl. auch Haug (Anm. 18), S. 296; Unzeitig-Herzog (Anm. 28), S. 156.

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Auf Handlungsebene ist wiederum gerade das intendierte und autonome Handeln von Artus und Ginover ursächlich für den Untergang.74 Zum einen führt Ginovers aktiv betriebene Ehebruchsminne zum großen Krieg, zum anderen treibt die persönliche Rache Artus’ in den finalen Kampf gegen seinen eigenen Sohn. Mit „unerbittlicher Konsequenz“ treibt Artus „der vernichtenden Katastrophe zu“.75 Ganz in dem Sinne „Großes zerstört sich selbst“,76 treibt der finale Mechanismus der Rache den vormals Passiven an und lässt ihn mit einem geradezu tragischen Zwang zur Wiederholung alle Warninstanzen und Prophezeiungen ignorieren. Die Grabinschriften von Nebenfiguren zeigen nun aber, dass auch das nichtintendierte Handeln von Artus und Ginover den Tod zur Folge hat. Durch die beiden Grabsteine der Opfer des königlichen Ehepaares wird eines für die Nachwelt kolportiert: Die Mächtigen haben Schuld. Sie werden zur Todesursache für unbeteiligte Dritte, indem sie zum Instrumentarium einer schicksalhaften Fatalität werden.77 Fragen der Intentionalität werden in den Inschriften ausgeblendet, die so Wahres berichten.78 Auch wenn die meisten Schriftstücke im Prosalancelot Fälschungen sind oder Unwahres berichten,79 werden die Grabinschriften nur zu Beginn des Romans manipuliert. So werden etwa die Namen von lebenden, aber gefangenen Artusrittern, auf Grabsteine geschrieben, um ihren Tod vorzutäuschen (I 168). Im ‚Tod des Königs Artus‘ werden die Grabinschriften dieser Varianz entzogen. Die Epitaphien reflektieren vielmehr den Umgang der Schrift mit dem dargestellten – und somit wahren – Geschehen. Auf den Grabsteinen wird ein erzähltes Leben abgeschlossen, resultativ ohne ein „Wissen um Kausalitäten und Intentionalitäten“ der Ereignisse zu berücksichtigen.80 Für das Zu-Ende-Erzählen sind Grabinschriften die prädestinierte 74

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Vgl. Knapp (Anm. 30), S. 243f.; sowie Klinger (Anm. 20), S. 475: „Die Kausallogik des Untergangs ist damit eindeutig von Motiven und Entscheidungen der Beteiligten abhängig gemacht, das Ende des Artusreiches und den Tod des Königs schildert der Roman als Effekte intentionalen Handelns und mangelnder Einsicht seitens der Subjekte“. Vgl. auch Waltenberger (Anm. 21), S. 140. Biesterfeldt (Anm. 32), S. 116. Zur Verbindung von „Fatalismus und Fatalitäten“ und zur Form einer heldenepischen Untergangsfabel vgl. Matthias Meyer: König und Verräter. Ambivalenzen, Fatalismus und Fatalität im mittelhochdeutschen Prosa-Lancelot. In: Lancelot – Lanzelet. Hier et aujourdhui. Hrsg. von Danielle Buschinger, Michael Zink. Greifswald 1995 (WODAN 51), S. 285– 300, 295ff. Zum Aspekt des Tragischen, insbesondere auch im Zusammenhang mit dem VaterSohn-Kampf, vgl. Victoria Guerin: The Fall of Kings and Princes. Structure and Destruction in Arthurian Tragedy. Stanford 1995, S. 5ff. Otto von Freising: Chronica sive Historia de duabus civitatibus. Hrsg. von Adolf Hofmeister, Walther Lammers. Übers. von Adolf Schmidt. Darmstadt 1961 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 16), Bd. VI, Prologus, S. 431, zitiert hier Lukans Pharsalia (1,18). Hinweis bei Ursula Schulze: Das Nibelungenlied. Stuttgart 1997 (RUB 17604), S. 256. Zum Begriff der Schicksalskontingenz vgl. von Graevenitz, Marquard (Anm. 54), S. XIV. Vgl. auch Martínez (Anm. 55), S. 18. Zur „Ambiguität der Epitaphe“ Waltenberger (Anm. 21), S. 145. Vgl. auch Klinger (Anm. 20), S. 482f. Vgl. E. Jane Burns: Arthurian Fictions. Rereading the Vulgate Cycle. Columbus 1985, S. 8ff.; Ziegeler (Anm. 30), S. 203 u. 208ff.; Klinger (Anm. 20) S. 445ff. u. 483ff.; Schmid (Anm. 63), S. 388. Waltenberger (Anm. 21), S. 146. Vgl. auch ebd., S. 178f., zur „final-resultative(n) Perspektive“.

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Erzählfigur. Geprägt von einem Reduktionsverfahren sind sie der schriftliche Abschluss eines Lebens, aber keine Summe oder moralische Bewertung. Zeigen lässt sich dies eindringlich an einem Epitaph, welches einer Figur gewidmet ist, die im Zusammenhang mit ihrem Tod ihren ersten und einzigen Auftritt hat.81 Es handelt sich dabei um die Frau von Biellot, die aufgrund überschwänglicher Trauer um Gawan von ihrem eifersüchtigen Ehemann ermordet wird. Während die Trauernde neben dem Aufgebahrten steht, trifft sie der tödliche Schlag, der durch ihren Körper hindurch auch in den Leichnam fährt – und beide Figuren im wahrsten Sinne des Wortes im Tode vereint. Noch während der tödliche Schlag ausgeführt wird, interpretiert die Sterbende das Geschehen – „‚Ach lieber herre Gawin, nů nu bin ich dot umb uwern willen!‘“ (V 948,22f.) – und bittet die Ritter, sie neben Gawan zu bestatten: „‚also das alle die jene die unser greber besehent wißent das ich umb synen willen dot bin‘“ (V 948,26f.). Diese kurze Episode ist im Erzählzusammenhang strukturell völlig isoliert82 – wäre da nicht das Epitaph, was eines verdeutlicht: Dort steht exakt das Wissen, welches mit dem der Rezipienten als auch der intradiegetischen Protagonisten übereinstimmt. Wie in der Art einer mise en abyme ist das Vergangene in der Inschrift aufgegriffen; eine Art Selbstbezüglichkeit zwischen Handlung und ihrer Reflexion in der Schrift:83 „Und off der frauwen grab, das da nahe by stunt, taden sie schriben: ‚Hie lyt die frauwe von Belot, die ir man dot schlug umb herrn Gawins willen‘“ (V 950,31–33). Das Geschehene findet sich in identischer Reduktion wieder und der Rezipient kann die Todesursache und Wirkung in der Erzählung und in der Wiedererzählung miteinander vergleichen. Wenn man davon ausgeht, dass das Epitaphium „die species der epigrammatischen Gattung [ist], die am stärksten mit historischen Fakten beladen ist“,84 nutzt der Prosalancelot diese Mikroerzählungen, um die Wahrheit des Erzählten zu hinterfragen. Auch für die Grabinschrift eines zweiten Minneopfers legt der Text Wert darauf, dass der Rezipient die Wahrheit der Schrift nachvollziehen kann. Als der Leichnam der Frau von Challot den Artushof auf einem führerlosen Schiff erreicht,85 liegt der Leiche ein Totenbrief bei, in dem die Verstorbene ihre unerfüllte Liebe zu Lancelot als Todesgrund offenbart (V 690). In der komplexen Erzählepisode um die unerfüllte Liebe der Frau 81

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Ein erstes Minneopfer des Textes ist Galahot. Seine Inschrift lautet: „Hie liegt Gallehaullt ain sohne der ryßin, der umb Lanntzelots willenn gestorbenn ist“ (II 658,31–33). Vgl. Baisch, Meyer (Anm. 24), S. 401. Vgl. Waltenberger (Anm. 21), S. 150 mit Anm. 423. Rädle (Anm. 5), S. 241. Zum Inhalt der historischen Grabinschriften im Hochmittelalter vgl. Ariès (Anm. 1), S. 280: „Bis zum 14. Jahrhundert setzt sich das allgemein verbreitete Epitaph also aus zwei Abschnitten zusammen: der eine, ältere, ist eine Identitätsangabe, die den Namen, die Stellung, das Todesdatum und zuweilen ein kurzes Lobeswort mitteilt“. Im Anblick des Schiffes äußert Gawan die Hoffnung, dass die Abenteuer wieder anfangen: „das ist wůnder, und ich möcht bald sprechen das die abenture wiedder angingen“ (V 688,33f.). Die Hoffnung auf einen Neuanfang, auf neuen Stoff für aventiure-Berichte aber wird zerschlagen, stattdessen muss erneut ein Epitaph verfasst werden.

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von Challot – die mehrfach unterbrochen und neu aufgegriffen wird –, ist der Tod ganz klar motiviert. In einem Erzählkommentar liest man „wann one zwyvel, sie starb umb Lanczlots willen“ (V 610,22f.). Der Totenbrief nun frischt dieses Wissen um die Umstände des Todes erneut auf und betont den „Wahrheitswert des Gesagten“:86 „[…] das ich zu mynem ende komen bin von getruwer lieben“ (V 692,2). In letzter Instanz soll nun auf dem Grabstein die Wahrheit verewigt werden und für memoria sorgen: „und laßent uns off ir grab buchstaben schriben die da bezugent die warheit von irme tode, also das alle die nach uns koment ir gedencken“ (V 692,30–33). Im Stephansmünster, welches sich langsam zu einem „Nekrolog der Artusgesellschaft“ entwickelt, ist dann folgende Inschrift zu lesen:87 „‚Alhie lyt die jungfrawe von Challot, die umb Lanczlots mynne gestorben ist‘. Und von dißen buchstaben so waren die eyn von golde und die andern von lasure gemacht sere rychlich“ (V 696,17–21).88 Im Medium der Schrift soll die Wahrheit des Todes offenbart werden. In diesem Fall aber lässt sich der Grabinschrift eine gezielte semantische Mehrdeutigkeit nicht absprechen. Denn offen bleibt, ob in der Formulierung „umb Lanczlots mynne“ Lancelot als genitivus subiectivus oder aber als genitivus obiectivus zu verstehen ist. Auf diesen Minnekasus hat Michael Waltenberger hingewiesen.89 Gerade in dieser Unschärfe aber liegt für den wissenden Rezipienten die Wahrheit, denn die Liebe Lancelots zu Ginover ist der Auslöser der unerfüllten Liebe von der Verstorbenen zu Lancelot. Die doppelte Lesart ist wahr und schafft intradiegetisch Klarheit über die Treue Lancelots, an der Ginover zwischenzeitlich gezweifelt hat.90 Die Grabinschriften sind also in der Mort Artu nicht für Täuschungen und Betrug verfügbar, sondern dienen vielmehr der innertextuellen Konstitution von Wahrheit.91 Auf den Grabsteinen werden faktische Tatbestände aufgezeigt, die nicht von subjektiven Erkenntnissen abhängen. In der Reduktion auf einige, wenige Zeilen liegt die Gewissheit, dass nichts Unwahres dort steht. Die Welt verliert so einen Teil ihrer Unüberschaubarkeit der Pluralität an Perspektiven und Werturteilen. Alle Grabinschriften sind paradoxerweise aufgrund ihrer Unvollständigkeit wahr, wenn auch ohne tieferen Sinn. Erlebtes wird in reduktionistischer Weise verewigt. Insbesondere in den Szenen der 86 87 88

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Baisch, Meyer (Anm. 24), S. 399. Vgl. auch von Merveldt (Anm. 25), S. 248. Klinger (Anm. 20), S. 481; von Merveldt (Anm. 25), S. 243. Während in den Antikenromanen oder den Chansons de Geste die Materialität der fingierten Särge oftmals im Mittelpunkt steht, interessiert diese im Prosalancelot nur am Rande. Eine Ausnahme ist das Grabmal Galahots (II 656f.; II 724f.). Zum Edelsteinsarg Galahots vgl. Baisch, Meyer (Anm. 24), S. 396. Waltenberger (Anm. 21), S. 147; sowie Baisch, Meyer (Anm. 24), S. 400f. Auf Handlungsebene beendet die Inschrift zudem mehrere Fehlinterpretationen der Protagonisten, hatte doch Ginover Lancelot – aufgrund einer Falschaussage Gawans – eine Minnebeziehung zum Fräulein von Challot unterstellt. Auch Gawan erkennt angesichts der Leiche seine Fehlinterpretation der Geschehnisse. Schließlich hatte er Lancelot aufgrund eines Pfandes ein Liebesverhältnis mit der Verstorbenen – im wahrsten Sinne des Wortes – angedichtet. Anders Waltenberger (Anm. 21), S. 145.

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Minnetodopfer verdichten sich diese Interpretationshinweise, denn gerade hier lässt sich für den Rezipienten das Handlungsgeschehen mit der dargestellten Wahrheit der Epitaphe abgleichen. Der Rezipient kann die Wahrheit der Aussage geradezu nachprüfen. Dass die Grabinschriften nicht nur eine wandelbare „individuelle Wahrheit als Ausdruck subjektiver Erkenntnis“ darstellen oder als „tendenziöse Interpretationen des Todes“ zu verstehen sind,92 kann deutlicher noch mit einem weiteren Grabstein belegt werden, mit dem das Leben Gawans schriftlich beendet wird. Kurz vor seinem Tod bittet Gawan Artus darum, neben seinen Brüdern in Camelot bestattet zu werden – und zwar mit folgender Sarginschrift: Und důnt schreiben off den sarck: Hie lyt Gahariet und herre Gawin, die herre Lanczlot erschlůg umb herrn Gawins hoffart.‘ Das wil ich das es also geschrieben stee, darumb das ich gescholten werde nach mynem tode, als ich es verdienet hann‘ (V 942,20–24).

Obgleich Gawan seine eigene Grabinschrift verkündet, um die Nachwelt zu instruieren, wird sein testamentarischer Wunsch so nicht umgesetzt. Gawan versucht die Wahrheit zu manipulieren, indem er posthum seinen eigenen Hochmut für zwei Todesfälle verantwortlich sehen möchte. Grabinschriften bieten aber subjektiven Wertungen keinen Platz. Der Einzelne kann die Kausalitäten des Todes nicht selbst instrumentalisieren. So steht dem letzten Willen des Toten eine ausdifferenzierte Inschrift der Überlebenden gegenüber: „Und daruber schriben sie: ‚Hie ligent zwen bruder, Gahariet und herre Gawin, die herre Lanczlot dot schlug, wann herre Gawin wart dot geschlagen umb synen úbermůt“ (V 950,27–30). Und genau dies gibt auch das Erzählte wieder. Denn allein Gawans Tod hat den Hochmut zur Ursache. Mehrfach lehnt er Bußangebote Lancelots ab und forderte die Entscheidung im Zweikampf. Die Verwunderung des Königs über die genannte Todesursache – „múßent ir dann umb hern Lanczelots willen sterben?“ (V 942,26f.) – gibt Anlass, die Ursache des Todes für den Rezipienten erneut zu verbalisieren: Gawan ist in der Tat an den Folgen eines Zweikampfes mit Lancelot gestorben, wenn auch zeitlich verzögert. Die Wunde, die ihm Lancelot zufügte, „ernúwete“ sich und zeigt in einem späteren Kampf gegen die Römer ihre tödlichen Folgen.93 Hier zeigt sich, dass das wahrheitsgebende Institut des Zweikampfes nicht mehr nur einer providentiellen Ordnung unterliegt. Das Urteil Gottes, welches eigentlich auf dem Kampfplatz getroffen wird, wird erst zeitlich verzögert vollendet:94 Aus dem „streng ritualisierten Entscheidungsaugenblick der Wahrheit“ wird ein längerer

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Klinger (Anm. 20), S. 486. Baisch, Meyer (Anm. 24), S. 394. Vgl. auch Ziegeler (Anm. 30), S. 212. „Ja ich herre, umb die wunden die er mir schlug in das heubt so muß ich sterben. Wann doch so hett es mir nit geschadt, wann sie ernúwete sich da wir mit den Römern stritten, wann ich were zu mal genesen, enhett das nit gewest‘“ (V 942,27–31). Das bekannteste Wahrheitsinstrumentarium, angesichts mehrerer Teilwahrheiten, ist der Zweikampf. Auch dieses Narrativ wird je nach Erzählkontext immer wieder variiert (Legende, Artusroman, Heldenepik etc.).

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Prozess.95 Gleiches gilt für den finalen Kampf zwischen Artus und Mordret, in dem ebenfalls kein klares göttliches Urteil gesprochen wird. Zwar tötet Artus den Usurpator Mordret, er selbst wird aber auch halb getötet, wie es bei Füertrer zusammenfassend heißt: „Sunnst was in disem streitte / das volk so gar gefallenn, / das do zú paider seitte / nicht mer wann drey noch lebten von in allen. / dz was Artus, der halber was erstorben“ (Lannzilet, 5881,1–5).96 Artus stirbt zeitlich verzögert an den Folgen des Kampfes. In der Finalitätsfigur Zweikampf ist ein Fehlen Gottes zu spüren: Die Urteile werden zwar noch auch dem Kampfplatz gefällt, aber letztlich zeitlich verzögert vollendet,97 da Gott als klare Entscheidungsinstanz über Recht und Unrecht fehlt.98 Während der Zweikampf eine Finalitätsfigur auf Handlungsebene ist, ist die Grabinschrift eine Finalitätsfigur auf Ebene der intradiegetischen Schriftlichkeit. Sowohl der Zweikampf als auch die Grabinschriften sind Wahrheitsinstanzen,99 allerdings nur für Halbwahrheiten. In den Zweikämpfen siegt zwar die richtige Partei, die Urteile aber werden erst zeitlich verzögert vollends vollstreckt. Umso deutlicher werden die Grabinschriften zur finalen Beurteilung des Kampfes herangezogen. Auf den Grabsteinen stehen wahre Informationen, auch wenn die ganze Wahrheit erneut verschwiegen wird. Gawans testamentarischer Wille wird unterlaufen, um die Wahrheit der Inschrift zu wahren. Die Norm, nur wahre Täter und wahre Todesursachen auf den Grabinschriften zu verewigen, setzt sich durch. Die Inschriften sind der Wahrheit verpflichtet und in

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Gerhard Neumann: Ritualisierte Kontingenz. Das paradoxe Argument des ‚Duells‘ im ‚Feld der Ehre‘ von Casanovas „Il duello“ (1780) über Kleists „Zweikampf“ (1811) bis zu Arthur Schnitzlers Novelle „Casanovas Heimfahrt“ (1918). In: von Graevenitz, Marquard (Anm. 54), S. 343–372, 357. Bei Füetrer, Lannzilet (Anm. 69), liest man über den Zweikampf zwischen Vater und Sohn: „Ein epytaff er lesen / tet, die do macht bekannt: / ‚Artus, der ist gewesen / ain here úber zwelff kroneparé lanndt, / der ligt alhie in dieser grebt erstorben. / durch ainen pasthart, was sein sun, / ist er und das lannd all zú mal verdorben‘“ (5897). In den finalen Zweikämpfen des Prosalancelot greift kein göttlicher Heilsplan, sondern vielmehr bereits das, was Neumann als konstitutiv für das neuzeitliche Erzählen ansieht: „War es im 16. und 17. Jahrhundert der Zweikampf als Gottesurteil, durch den ein sozialer Unordnungs-Fall (durch höheres Eingreifen und göttliches Die-Wahrheit-Sprechen) wieder in den Heilsplan als Weltplan zurückgeführt wurde, so erscheint das Urteil, das im Duell des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts gefällt wird, nun mehr und mehr als sein paradoxes Argument, das auf unauflösbare Weise zwischen Providenz und Kontingenz eingespannt erscheint: weder zur Gänze der Verantwortung eines allmächtigen Gottes, noch der Entscheidungsautorität der irdischen Gerichte, noch auch vollends der Verantwortung des Einzelkämpfers und Selbsthelfers – also dem Waffengeschick und der Körpertüchtigkeit des autarken Subjekts – anvertraut oder auferlegt.“ Neumann (Anm. 95), S. 345. „Aber in die irdischen Handlungen greift Gott niemals sichtbar ein, weder helfend noch lohnend oder strafend, wie dies im augustinischen Weltbild zu erwarten wäre.“ Knapp (Anm. 30), S. 244. „Die Wahrheit selbst ist das Ende, die Bestimmung, daß die Wahrheit sich enthüllt, ist die Vollendung des Endes“. Jacques Derrida: Apokalypse. Graz u. a. 1985 (Edition Passagen 3), S. 64. Vgl. zu diesem Zitat Wolfgang Müller-Funk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien/New York 2002, S. 258.

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ihrer Reduktion des Geschehens wahr.100 Bei zwei erschlagenen Gawan-Brüdern, deren Mörder nicht namentlich genannt werden können, wird daher auf eine begrenzte Erkenntnisfähigkeit verwiesen: „Und daten auch off die andern zwen schriben die yene die sie duchten die sie erschlagen hetten, nach yren besten kúnsten“ (V 768,8–10). Erneut werden also auf alle Sarkophage die Namen derer geschrieben, die für den Tod als ursächlich angesehen werden – ungeachtet ihrer Absichten. Auffälligerweise wird gerade auch die Unsicherheit über die Täter markiert („die sie duchten“). Die Erkenntnis der schreibenden Subjekte ist begrenzt. Da aber auch der Rezipient die wahren Mörder nicht kennt, ist in der gewahrten Anonymität der Täter erneut die Wahrheit des Erzählten wiedergegeben. Interessanterweise aber ändert sich genau dieses Erzählverfahren in den beiden abschließenden Epitaphien von König Artus und Lancelot, welche die Todesursachen verschweigen und Retrospektiven im weitesten Sinne sind. Sie erinnern an die Taten der verstorbenen Helden und verknüpfen deren Namen mit weltlichem Ruhm – wenn auch nur sehr bedingt.101 Wurden bislang alle Biographien von Figuren der Zeitlichkeit übergeben, werden anhand des größten Königs und des besten Ritters abschließend zwei Modelle der Entzeitlichung vorgestellt. Im Tod des Königs wird diese Hoffnung angedeutet, indem auf das kulturelle Modell der Entrückung nach Avalon Bezug genommen wird. Der sterbende König wird zuletzt auf einer Barke gesehen, die im See entschwindet. In der Tradition der Artussage ist derart die Wiederkehr des Königs denkbar.102 Es entbehrt nun nicht einer gewissen Ironie, wenn der sterbende König zwar nach Avalon aufbricht, sich aber alsbald in einem Grab wiederfinden muss – gar neben Lukan, den er vorab getötet hat. Auf dem reich verzierten Sarkophag steht: „Hie lyt konig Artus, der da mit syner byderbekeit im undertenig gemacht hatt zwölff kónigrich“ (V 1008,31–33).103 Ganz deutlich wird hier dem Mythos der Entrückung die Finalität des Untergangsgeschehens entgegengesetzt. Durch die zahlreichen Hinweise darauf, dass die Grabinschriften nur Wahres kolportieren, überschreibt die Grabinschrift die Avalon-Tradition im wahrsten Sinne des Wortes. Denn der Rezipient muss davon aus100

Vgl. zur ‚relativen Wahrheitserkenntnis‘ der Inschriften Unzeitig-Herzog (Anm. 28), S. 155. Zum abweichenden Muster der Epitaphe vgl. Waltenberger (Anm. 21), S. 179. Zu weiteren Epitaphien, „welche die res gestae der erschlagenen Helden erinnerten“ Haubrichs (Anm. 36), S. 134; sowie Henkel (Anm. 4), S. 176–187. 102 Etwa in der Tradition der Historia Regum Britanniae, in der davon berichtet wird, dass der verletzte König zur Heilung der Wunden nach Avalon gebracht wird. Noch intensiver reflektiert Wace das mögliche Überleben und die Rückkehr des Königs. Vgl. Unzeitig-Herzog (Anm. 28), S. 167; sowie Norris J. Lacy: König Artus. Mythos und Entmythologisierung. In: Herrscher, Helden, Heilige. Hrsg. von Ulrich Müller, Werner Wunderlich. St. Gallen 1996 (Mittelalter Mythen 1), S. 47–63, 48 u. 56. 103 Giflet sieht den schwer verwundeten König auf der Barke mit seiner Schwester auf dem See. Nach der Abholung des sterbenden Königs kehrt Giflet zur schwarzen Kapelle zurück, um zu sehen, ob man Lucan bestattet hat. In der Kapelle findet er zwei prunkvolle Sarkophage. Auf dem einfacheren steht geschrieben: „Hie lyt Lucas der Bukeler, den der kónig Artus dot truckt úber im“ (V 1008,29f.). 101

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gehen, dass die Inschrift, wie alle anderen der Mort Artu, wahr ist. Zudem bestätigt ein anwesender Einsiedler die Wahrheit der Schrift.104 Die Möglichkeit der ewigen Rückkehr des weltlichen Messias, des Weltenretters, wird verneint: Der König ist, wie es die Inschrift bestätigt, tot.105 Das weltliche Modell der Entrückung des Königs nach Avalon wird also nur angedeutet, bevor dann der königliche Leichnam in einer Kapelle seine letzte Ruhe findet und die Grabinschrift dem Mythos ein Ende setzt. Es gibt nur zwei Biographien, die der Katastrophe entkommen und tatsächlich aus dem linearen Gang der Welt, der Zeitlichkeit, ausscheren: Galaad und Lancelot. Lancelots Seele wird nach seinem Tod von Engeln empfangen: „und die fůrten hinweg Lanczlots selen“ (V 1026,9f.).106 So steht eine ‚individuelle Begnadigung‘ dem kollektiven Untergang gegenüber. Mit der Buße und Moniage Lancelots lässt sich die kulturellreligiöse Vorstellung verbinden, dass nur die Mönche und Nonnen „von den jammervollen Wechselfällen des Weltlaufs“ unberührt bleiben.107 Nur bedingt aber lässt sich von einem christlich geprägten Untergangsgeschehen sprechen, denn auch im Ende lässt sich keine finale, eschatologische Gerechtigkeit feststellen – allein Lancelot wird errettet. Das biographische Erzählen über Lancelot mündet in einem schriftlichen Substrat, welches wenig Platz für weltliche Taten erübrigt. Nach Lancelots Tod wird sein Leichnam neben seinem Freund Galahot bestattet: „Hie lyt Galaat von den Ferren Inselen und herre Lanczlot von dem Lach, der da was der beste ritter der ye in das konigrich von Logres kam, sunder alleyn Galaat syn son“ (V 1028,5–8).108 In der finalen Grablegung und Inschrift werden Teilaspekte seines Lebens aufgegriffen, die memoriert werden 104

Denn als der letzte lebende Artusritter Giflet sich bei einem Einsiedler nach der Wahrheit der Inschrift erkundigt – „‚Herre, umb got, ist diß schrifft ware?‘“ (V 1008,37) – bestätigt dieser den Tod des Königs. Beendet wird der Wiederkehrmythos durch den Hinweis auf das Grab des Königs von Giraldus Camprensis. Vgl. Waltenberger (Anm. 21), S. 181 mit Anm. 521. 105 Vgl. auch Unzeitig-Herzog (Anm. 28), S. 169: „Der König stirbt, die Erzählung ist tot“. 106 Vgl. Biesterfeldt (Anm. 32), S. 146. Die Entrückung einer sozial hervorgehobenen Figur wird u. a. als „kausales Eingreifen einer Gottheit“ erfahren. Christoph Daxelmüller: Entrückung. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 4 (1984), Sp. 42–58, 43. 107 Zu dieser Vorstellung Ottos von Freising vgl. Geuenich (Anm. 3), S. 21; sowie Gert Melville: Geltungsgeschichten am Tor zur Ewigkeit. Zur Konstruktion von Vergangenheit und Zukunft im mittelalterlichen Religiosentum. In: Geltungsgeschichten. Über Stabilisierung und Legitimierung institutioneller Ordnung. Hrsg. von Dems., Hans Vorländer. Köln u. a. 2002, S. 75–107, 75. Anders Jörg O. Fichte: Telling the End: Arthur’s Death. In: Wolfzettel (Anm. 23), S. 275–290, 275: „Indem Lanzelot zur exemplarischen Persönlichkeit stilisiert wird, überwindet er in dieser Version von Artus’ Tod die Geschichtlichkeit der Artuswelt“. 108 „Des nachtes daten sie Galaats grab off thůn, das also schön und also rych was von aller der welt. Des andern tages da daten sie Lanczlot darinn legen“ (V 1028,2–4). Die ursprüngliche Grabinschrift, die zu Beginn des Romans sein Grab zierte, war nur ein Platzhalter: „In disem grab sol Lancelot ligen von dem Lacke, des kóniges Banes son von Bonewig und Alenen synes wibes“ (I 454,4f.).

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Christiane Witthöft

sollen: Die Freundschaft zu Galahot, mit dem er im Tod vereint ist, und seine ideale Ritterschaft – mit dem einzigen Makel, dass nicht er, sondern sein Sohn Galaad der Gralsritter und Vollender der aventiuren ist. Die Retrospektiven auf den Grabinschriften von Artus und Lancelot beschränken sich auf das Lebenswerk der Protagonisten.109 Allerdings sind es ziemlich unvollständige Summen, ohne schmückendes Beiwerk wie Lob oder Würdigung. Die Taten werden auch in keine überzeitlichen Dimensionen gerückt und weisen keine teleologische oder christlich eschatologische Ausrichtung auf. In dieser Reduktion kann die Grabinschrift als kultureller Ausdruck der „Geringschätzung des Irdischen“ verstanden werden.110 Anders etwa als in der epitaphischen Würdigung Gahmurets bei Wolfram werden weder Lancelot noch Artus „ins Exemplarische“ erhoben, sie werden nicht zum „Maßstab aller künftigen Ritterschaft“.111 Es bedarf keiner Verklärung, denn schließlich gibt es keine Nachahmer mehr. Während das Grabmal bei Wolfram in einem beginnenden Handlungsprozess integriert wird, ist die Geschichte im Prosalancelot zu Ende erzählt. Die Genealogien kommen zu einem Ende, es gibt kein Kontinuum.112 Artus tötet seinen eigenen Sohn Mordret im finalen Zweikampf und die Söhne Mordrets werden von Lancelot umgebracht.

IV. Die Finalität des Prosalancelot steht außer Frage. Es ist ein Werk des Vollendens. Das Ende aber ist keine Apokalypse, in der eine Wahrheit offenbart wird.113 Denn während das „apokalyptische Narrativ“ auf den Wandel, auf das Entstehen einer neuen Welt setzt,114 wird im Prosalancelot die alte Artuswelt erzählerisch abgeschlossen:115 sei es in den intradiegetischen Schriftformen der aventiure-Bücher oder auch in Inschriften, die als Erinnerungsorte über bereits Vergangenes berichten. Ein Neuanfang wird nicht postuliert. Der Prosalancelot erzählt keine Heilsgeschichte, ein Zukunftsmythos

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Vgl. Scholz (Anm. 3), S. 41f.; sowie Panzer (Anm. 48), Sp. 363ff., zu entsprechenden historischen Beispielen. 110 Rädle (Anm. 5), S. 250f.: „Zum andern ist immer zu bedenken, daß die entschiedene Geringschätzung des Irdischen in der christlichen Lehre a priori das Interesse an den historischen Fakten eines Lebens mindert, dessen Nichtigkeit und Hinfälligkeit ja geradezu durch den zur Debatte stehenden Tod erwiesen wurde.“ 111 Haubrichs (Anm. 36), S. 153; sowie Hartmann (Anm. 20), S. 143f. 112 Vgl. Unzeitig-Herzog (Anm. 28), S. 154ff.; Klinger (Anm. 20), S. 442. 113 Apokalypse bezeichnet das Hervortreten einer finalen Wahrheit, einer „radikale(n) Unverborgenheit […]. Das Ende ist auch ein Ende aller Geheimnisse“. Müller-Funk (Anm. 99), S. 252. Vgl. auch Klinger (Anm. 20), S. 453. 114 Müller-Funk (Anm. 99), S. 249. 115 Vgl. u. a. von Merveldt (Anm. 25), S. 152ff., 190ff., 215ff., 229ff. Haug (Anm. 18), S. 299f.; Unzeitig-Herzog (Anm. 28), S. 169; sowie Klinger (Anm. 20), S. 459.

Finalität

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fehlt.116 Es kommt weder zu einer dynastischen Kontinuität noch zu einer Vermittlung eines überzeitlichen Ideals, eines abschließenden Sinns oder aber eines Neuanfangs.117 Gerade das Vollenden, das Enden, wird in seiner Sinnhaftigkeit hinterfragt. Die Grabinschriften sind Symbole dessen: In ihnen dominieren die einfachen, unmittelbar wahren Kausalitäten, ohne Rücksicht auf eine übergeordnete Wahrheit, Intentionalität oder gar einen tieferen Sinn. Es sind kleine Tatsachenberichte, mit dem Namen des Toten und der Todesursache versehen, die allein die Umstände des Todes aufzeigen. Die Inschriften sind dem kontingenten Handeln der Erzählwelt entgegengesetzt, sie lösen sich aus dem Bann der erzählten Geschichte und richten sich als Finalitätsfiguren in ihrer Reduziertheit gegen die narrativ entfaltete Kontingenz. Am Ende ist die Schrift wahrhaftig, allein im Akt der Rezeption entstehen die Fehler. In der Reduktion folgen die fingierten Grabinschriften so einem ganz eigenen, geradezu realistischen Erzählduktus, der dem ausschweifenden Erzählen des Prosalancelot diametral gegenübersteht. In einem Text, der Romanende, Weltende und Lebensende der Figuren gleichsetzt, evozieren die Inschriften kontrastive Akzente;118 ein Griffel Gottes aber fehlt.

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„Die abendländische Heilsgeschichte, wenn sie denn überhaupt einen Mythos darstellt, ist ein Zukunftsmythos, der beschreibt, wie am Ende der Zeiten die Welt wieder ganz und heil wird.“ Müller-Funk (Anm. 99), S. 253. 117 Vgl. Klinger (Anm. 20), S. 453, 477 u. 486. 118 Zu Hans Blumenbergs Ausführungen über ein Endzeitdenken, in dem „das eigene Lebensende und das Weltende“ zusammenfallen s. Müller-Funk (Anm. 99), S. 257.

Udo Friedrich

Anfang und Ende Die Paradieserzählung als kulturelles Narrativ in der Brandanlegende und im Erec Hartmanns von Aue

I. Paradies und Narrativ Als Jeronimo Rugera und Josephe Asteron, das unglückliche Paar aus Kleists Erdbeben in Chili, aufgrund ihrer folgenreichen Beziehung hingerichtet werden sollen, erschüttert ein Erdbeben den Ort der Delinquenz und ermöglicht dem Paar innerhalb der allgemeinen Verwirrung die Flucht. In einem Tal, in das die Überlebenden der Stadt sich geflüchtet haben, findet die zerstreute Familie wieder zusammen. Die Naturidylle realisiert für einen Moment eine Menschheitsutopie: eine von allen Unterschieden der Stände befreite Gemeinschaft, in der die Menschen wie in einem Paradies friedlich miteinander leben.1 Kleists symmetrisch konzipierte Erzählung rahmt die paradiesische Szene durch das vorausgehende Erdbeben und den folgenden Mord in der Kirche. Indem der Verlauf der Handlung nicht nur christliche Sinnentwürfe verkehrt, sondern auch das Verhältnis von Natur und Kultur auf den Kopf stellt, wendet sich Kleist auf knappstem Raum gegen ein Erzählmodell, das von zeitloser Attraktivität zu sein scheint und in der Paradieserzählung seinen wohl wirkungsmächtigsten Vertreter besitzt: die Utopie einer harmonischen Ordnung der Gemeinschaft, die Einbettung des Lebens in eine große kohärente Erzählung.2 Was bei Kleist nur noch eine momenthaft aufscheinende Illusion bezeichnet, besitzt für die gelehrte Reflexion und für viele Erzählungen im Mittelalter einen dominanten 1

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Heinrich von Kleist: Das Erdbeben in Chili, in: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 2. Hrsg. von Helmut Sembdner. München 91993, S. 144–159. David E. Wellbery: Semiotische Anmerkungen zu Kleists ‚Das Erdbeben in Chili‘. In: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists ‚Das Erdbeben in Chili‘. Hrsg. von Dems. München 21987, S. 69–87; Roland Reuß: Im Freien? Kleists Erdbeben in Chili – Zwischenbetrachtung ‚nach der ersten Haupterschütterung‘. In: Brandenburger Kleist-Blätter 6 (1993), S. 3–24; Saskia Herrath: Zurück zum Ursprung oder das kultivierte Paradies. Voltaires ‚Candide‘ und Kleists ‚Erdbeben in Chili‘. In: Kleine Lauben, Arcadien und Schnabelewopski. Festschrift für Klaus Jeziorkowski. Hrsg. von Ingo Wintermeyer. Würzburg 1995, S. 27–39.

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Orientierungsrahmen: das Paradies als realer irdischer Ort, als Ursprung und Ziel der Geschichte, als präsente Spur des Heils. Wie auf mittelalterlichen Weltkarten das Heilige Land den geographischen Raum definiert und nicht wie in der Antike die Oikumene, so gehen theologische Reflexion und Chronistik vom Paradies als einer Realität aus.3 Das Paradies steht dabei in einer besonderen Beziehung zu Jerusalem. Als Ort der Himmelfahrt Christi, als Zentrum der Welt und als Tor zum Paradies nimmt Jerusalem paradigmatischen Wert für den Christen an.4 Paradies und Jerusalem verbinden die Vorstellung von Vergangenheit und Zukunft mit der eines gegenwärtigen ewigen Raumes. Sie halten Leben und Geschichte zusammen und verleihen ihnen allererst Kohärenz.5 Deshalb kann die Legende das Grab Adams nach Golgatha verlegen, deshalb auch kann die Arche zum Bild der Kirche werden, das Paradies und Jüngstes Gericht verbindet.6 Die Paradieserzählung bildet ein eigenes kulturelles Narrativ aus, das die Anschauung von Geschichte und die Struktur vieler mittelalterlicher Erzählungen prägt. Es ist 3

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Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München u. a. 2003, S. 159; Herbert Vorgrimler: Geschichte des Paradieses und des Himmels. Mit einem Exkurs über Utopie. Paderborn/München 2008, S. 47. Radulf Glaber zitiert den Kreuzfahrer Lethbalt: „Credo enim, quoniam secut te secutus sum corpore, qualiter ad hunc devenirem locum: sic anima mea illaesa et gaudens post te sit ingressura ad paradisum.” Radulfus Glaber: Les cinq livres de ses histoires (900–1044). Hrsg. von Maurice Prou, Paris 1886 (Collection des textes pour servir à l'étude et à l'enseignement de l'histoire 1), S. 107. Vgl. Christoph Auffahrt: Himmlisches und irdisches Jerusalem. Ein religionswissenschaftlicher Versuch zur Kreuzzugseschatologie. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 2 (1993), S. 25–49, 91–118; Franz Niehoff: Umbilicus mundi – Der Nabel der Welt. Jerusalem und das Heilige Grab im Spiegel von Pilgerberichten und -karten, Kreuzzügen und Reliquiaren. In: Ornamenta Ecclesiae. Kunst und Künstler der Romanik, Katalog zur Ausstellung des Schnütgen-Museums in der JosefHaubrich-Kunsthalle, Bd. 3. Hrsg. von Anton Legner. Köln 1985, S. 53–72. Alfred Doren: Wunschräume und Wunschzeiten. In: Vorträge der Bibliothek Warburg 35 (1924), S. 158–205; Otto Gerhard Oexle: Entstehung und Funktion des utopischen Denkens in Mittelalter, Früher Neuzeit und Moderne. In: Die Wahrheit des Nirgendwo. Zur Geschichte und Zukunft des utopischen Denkens. Hrsg. von Jörg Calließ. Loccum 1994 (Loccumer Protokolle 1993,12), S. 33–83. Zu Adams Grab vgl. Textquelle: Schatzhöhle. In: Erich Weidinger: Die Apokryphen. Verborgene Bücher der Bibel. Augsburg 1992, S. 47–100, 53; „diese historie hat genomen einen anefang des namen von Ierusalem vnd ende vnd mittel“, so endet auch Robertus Monachus in seiner Historia Hierosolymitana mit einem heilsgeschichtlichen Überblick über die Geschichte Jerusalems von ihrer Gründung durch Noahs ‚Sohn‘ Melchisedech bis zum Himmlischen Jerusalem. Historia Hierosolymitana von Robertus Monachus in deutscher Übersetzung. Hrsg. von Barbara Haupt. Wiesbaden 1972 (Beiträge zur Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts 3), S. 169–172, 169; Hugo von St. Viktor bemerkt zur Funktion der Arche, „daß der Arche Anfang nach Osten zeigt, ihr Ende aber an den Westen rührt, und nach wunderbarem Plan von gleichem Anfang her die Anordnung der Räume zusammen mit der Zeitordnung abläuft, so daß das Weltende auch das Ende der Welt ist.“ („In hoc spatio mappa mundi depingit it, ut caput arcae ad orientem convertatur, et finis ejus occidentem contingat, ut mirabili dispositione ab eodem principio decurrat situs locorum cum ordine temporum et idem sit finis mundi, qui est finis saeculi.”) Hugo v. St. Viktor: De arca Noe mystica. In: PL 176, 700 C, zitiert nach Friedrich Ohly: Die Kathedrale als Zeitraum. Zum Dom von Siena. In: Ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977, S. 171–273, 244.

Anfang und Ende

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überdies eng mit der Figur der Metapher verbunden, da beide aufgrund analoger Strukturen als Sinnbildungsmuster fungieren. Ich gehe in vier Schritten vor: 1. Wodurch konstituiert die Paradieserzählung ein Narrativ? In diesem Zusammenhang werden die Erzählkoordinaten der Heilsgeschichte in narratologische Termini übersetzt. 2. Inwiefern generiert das Paradies ein kulturelles Narrativ? Dies betrifft die Frage nach den verschiedenen Prozesslogiken, die das heilsgeschichtliche Erzählmuster in Gang setzt. 3. Wie gestaltet sich in diesem Zusammenhang das Verhältnis von Narrativ und Metapher? Hier ist die Frage leitend, inwieweit beide Darstellungsformen die Funktion erfüllen, Relationen zu setzen und Ordnungen zu stiften. 4. Wie realisiert sich das Paradiesnarrativ in mittelhochdeutscher Literatur? Ich werde nach einer theoretischen Einleitung das Thema am Beispiel der Ebstorfer Weltkarte, der Legende vom Heiligen Brandan und des Erec Hartmanns von Aue illustrieren. Aristoteles definiert bekanntlich in der Poetik die Handlung des Mythos (Erzählung) als ein Ganzes, das sich aus Anfang, Mitte und Ende zusammensetzt, und noch die moderne Erzähltheorie ist ihm darin gefolgt.7 Kardinal für die Ereignisstruktur einer Erzählung scheint zu sein, dass sich im Handlungsraum eine Alternative eröffnet, über die die Erzählung Spannung entfaltet und die in ihrem Verlauf wieder geschlossen wird.8 Die Erzähltheorie hat diesen Spannungsbogen von Öffnung und Schließung über eine Axiologie von Werten hierarchisiert und über ein Handlungsschema in eine feste Struktur überführt.9 Über Handlungsschemata verzeitlichen Narrative Oppositionen, hierarchisieren und finalisieren sie. In seiner einfachsten Form, im Märchen, wird der Held mit dem Bösen konfrontiert, er durchschreitet einen Weg und bringt am Ende das Gute zum Erfolg. Erzählformen organisieren sich bekanntlich über syntagmatische und paradigmatische Relationen. Einzelne Erzählformen wie Märchen und Fabel können dominant pa-

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Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt u. hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1989 (RUB 7828), I,7. Vgl. Arbogast Schmitt: Teleologie und Geschichte bei Aristoteles oder Wie kommen nach Aristoteles Anfang, Mitte und Ende in die Geschichte? In: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hrsg. von Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1996 (Poetik und Hermeneutik 16), S. 528–563; Karlheinz Stierle: Erfahrung und narrative Form. Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie. In: Theorie und Erzählung in der Geschichte. Hrsg. von Jürgen Kocka, Thomas Nipperdey. München 1979 (Beiträge zur Historik 3), S. 85–118; Juri M. Lotman: Die modellbildende Bedeutung des Begriffs Anfang und Ende in künstlerischen Texten. In: Semiotica Sovietica 1. Sowjetische Arbeiten der Moskauer und Tartuer Schule zu sekundären modellbildenden Zeichensystemen (1962–1973). Hrsg. u. eingeleitet von Karl Eimermacher, Aachen 1986, S. 829–834. Vgl. Anfang und Ende. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs. Stuttgart/Weimar 1985 (LiLi Heft 99), S. 1–8. Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt/Main 1988, S. 102–143, 112f. Rainer Warning: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Grundriss der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. 4. Hrsg. von Hans Robert Jauss, Erich Köhler. Heidelberg 1978, S. 25–59, 30–33.

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radigmatische Relationen repräsentieren.10 Komplexe Erzählungen stellen sich demgegenüber als entfaltete Syntagmen oder als ein „geschichtetes Gefüge von Strukturen“ dar, die unterschiedliche Sinnpotentiale miteinander in Beziehung bringen können.11 Die moderne Erzähltheorie geht davon aus, dass Erzählungen nicht mehr nur ein kohärentes Narrativ realisieren, sondern aus einem Cluster sich berührender Geschichten („a cluster of contiguous histories“) bestehen.12 Bereits der Artusroman verhandelt gegenüber dem Märchen außer der Opposition von Gut und Böse auch diejenige von Subjekt und Gemeinschaft sowie die von Minne und Ehe, die sich in einem komplexen Erzählgefüge überlagern. Paradiesmythen besitzen paradigmatischen Wert, die erzählten Ereignisse stehen für grundsätzliche Orientierungen der Menschheit. Strukturalistisch betrachtet, erzählt der „Mythos […] von Lebensordnungen, er „setzt Beziehungen und ordnet sie.“13 Der Religionshistoriker Fritz Stolz hat in einer strukturalen Lektüre des babylonischen Dilmunmythos das Problem der Geburtenregulierung herausgearbeitet, eine soziale Grundproblematik, die den gesamten Erzählvorgang bestimmt: Einer ungebremsten Fortpflanzung durch den Gott Enki schiebt die Muttergöttin Ninhursag durch Krankheit einen Riegel vor. Die wilde Dynamik des Lebens – Vitalität, Promiskuität und Inzest – wird durch Lähmung und Sterblichkeit begrenzt: ein sinnvoller Mechanismus nicht nur gegen Überbevölkerung. Paradiesmythen erzählen von Gegenwelten zur Normalität, deren Begründung sie in Abgrenzung von jenen suchen. Der Paradiesmythos leistet nach Stolz eine Transformation des Unkontrollierbaren in Kontrollierbares, er erklärt z.B., wie elementare Oppositionen wie Leben und Tod nicht nur entstehen, sondern sinnvoll sind.14 Auch die biblische Paradieserzählung öffnet eine Alternative im Handlungsraum, die über die Axiologie von Gut und Böse ausgerichtet und über das Handlungsschema Gesetz, Übertretung und Strafe geschlossen wird. Da das Böse aber über das Gute triumphiert, ist sie kein Märchen, sondern ein Mythos, denn sie erzählt, wie ein Defekt in die 10 11 12

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Barthes (Anm. 8), S. 112. Wellbery (Anm. 2), S. 70. Ansgar u. Vera Nünning: Von der strukturalistischen Narratologie zur ‚postklassischen‘ Erzähltheorie: Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen. In: Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Hrsg. von Dens. Trier 2002 (WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium 4), S. 1–33, 5. Fritz Stolz: Paradiese und Gegenwelten. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 1 (1993), S. 5–23, 11–15; Vorgrimler (Anm. 3), S. 22f.; Alois Hahn: Soziologie der Paradiesvorstellungen. Trier 1976; 1001 Nacht – Wege ins Paradies. Hrsg. von Andrea Müller, Hartmut Roder. Mainz 2006; Paradies. Topografien der Sehnsucht. Hrsg. von Claudia Benthien, Manuela Gerlof. Köln u. a. 2010 (Literatur – Kultur – Geschlecht. Kleine Reihe 27), S. 8. Das Gilgameschepos verhandelt demgegenüber das Problem der individuellen Sterblichkeit: Der Gottmensch Gilgamesch begibt sich auf den Weg nach Dilmun, um die Unsterblichkeit zu finden: Er findet sie, verliert sie aber wieder: ein ebenfalls sinnvoller Vorgang. Das Gilgameschepos. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Albert Schott. Neu hrsg. von Wolfram von Soden. Stuttgart 1988 (RUB 7235).

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Welt gekommen ist. Syntagmatisch erzählt sie vom Ursprung des Mängelwesens Mensch. Die conditio humana wird aber zugleich in eine Spannung von dignitas und miseria hominis überführt, wird verzeitlicht und damit zur Alternative.15 Zwar funktioniert die Erzählung wie ein Mythos, indem sie die Frage nach dem Mängelwesen Mensch narrativ, d.h. über eine Geschichte erklärt, sie stellt aber die Frage nicht still, sondern eröffnet einen Ausweg und generiert weitergehenden Erzählbedarf.16 So lässt sich die Paradieserzählung nicht nur syntagmatisch auf das Schema Gesetz, Übertretung und Strafe reduzieren. Ihr narratives Programm scheint komplexer zu sein. Vor allem ihre Folgen konstituieren ein ganzes Bündel zusätzlicher Werterelationen, die den Ausgangspunkt für neue Alternativen, für narrative Schemata und Fortsetzungsgeschichten bilden: Fülle-Mangel etwa für die Opposition Natur-Kultur, die in das Narrativ der Kulturgeschichte mündet; Gesundheit-Krankheit für die Opposition Leben-Tod, die biographische und eschatologische Narrative hervorbringt; schließlich Heimat-Exil für die Opposition des Eigenen und des Fremden, die das wirkungsmächtige Narrativ der Entfremdung generiert: Mangel, Vergänglichkeit und Entfremdung als Generatoren von neuen „narrativ formatierten Sehnsüchten“.17 Narratologisch besteht die Raffinesse der Paradieserzählung darin, dass sie auf höherer Ebene eine geschlossene Struktur in eine neue Öffnung überführt. Der Mythos öffnet sich bekanntlich zur Geschichte und Geschichtsphilosophie. Ein narratives Programm, das durch ein solches Ensemble von Gegensätzen (Axiologien) gebildet wird, möchte ich im Anschluss an Wolfgang Müller-Funk als kulturelles Narrativ bezeichnen. Polare Werterelationen dieser Art grundieren die so genannten Groß- oder Meistererzählungen, nach denen Kulturen ihre Sinngefüge ordnen: Fortschritt, Emanzipation, Zivilisation etc.18 Solche Metaerzählungen setzen Werte und Koordinaten für kollektive Orientierung, und sie setzen sich gleichfalls aus einem Ensemble „geschichteter Strukturen“ zusammen. Wird die Mangelsituation des Menschen nicht als anthropologische Disposition, sondern als Effekt einer Geschichte begriffen, kann auch die Befreiung vom Leiden zum Ziel einer Erzählung werden: Aufhebung des Mangels, der Vergänglichkeit, der Entfremdung. Darauf werden sich noch die Meistererzählungen der Aufklärung, des Rousseauismus und Marxismus berufen. Die Literaturwissenschaft hat sich lange Zeit damit begnügt, Erzählmuster als Gattungsmuster zu 15

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Der Mythos „berichtet davon, wie die Zeit entstand und wie sich in der Zeit die Welt in Gegensätze aufspaltete, Gegensätze, die durch die Wirksamkeit der Sprache gegeben sind.“ Wolfgang MüllerFunk: Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung. Wien 22008, S. 106. Zur Ursprungsfixierung des Mythos vgl. André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. Tübingen 71999 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 15), S. 91–125; Claude Lévi-Strauss: Das Ende des Totemismus. Frankfurt/Main 1965 (Edition Suhrkamp 128), S. 95–134; Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt/Main 1979. Müller-Funk (Anm. 15), S. 21. Francois Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Graz u. a. 1986 (Edition Passagen 7); Müller-Funk (Anm. 15).

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beschreiben , um ein für das eigene Gebiet isolierbares Textkorpus zu definieren. Narrative als Großerzählungen überschreiten aber Gattungsmuster, wie sie als Erzählkerne diese auch unterschreiten können.19 Für das Christentum steht in dieser Spannung das Paradies nicht mehr nur am Anfang der Geschichte, es rückt im kulturellen Narrativ auch an das Ende.20 Aber erst wenn eine weitere Axiologie eingezogen und diese in den Horizont einer verantworteten Geschichte gestellt wird, erhält das Leiden auch einen übergeordneten Sinn. Hier lautet das Schema dann Buße und Erlösung. Beide Schemata zusammen, das vergangenheitsorientierte von Übertretung und Strafe und das zukunftsorientierte von Leiden und Erlösung, die zugleich die Narrative des Alten und des Neuen Testaments abbilden, konstituieren die Koordinaten des heilsgeschichtlichen Narrativs. Beide Teilnarrative spannen das Schicksal des Menschen zwischen einen Anfang und ein Ende, wodurch die Typologie ihre narrative und das Narrativ seine metaphorische Grundstruktur ausweist. Die narrative und metaphorische Struktur der Paradieserzählung illustriert die Ebstorfer Weltkarte in besonderer Weise.21 Narratologisch betrachtet, stellt das Bild nebeneinander, was die Bibel als ein Nacheinander entfaltet. Oppositionen: Adam und Christus, Altes Testament und Neues Testament, Fall und Erlösung; mithin ein typologisches Verständnis von Geschichte.22 Die Karte gibt die Oppositionen aber nicht nur als eine zeitliche Sukzession von Anfang, Mitte und Ende wieder, sondern führt beide Pole auch zusammen. Um aber die Identität von Anfang und Ende zu gewährleisten, muss Linearität in Zirkularität, müssen syntagmatische in paradigmatische Relationen übergehen. In der Figur des Kreises findet diese Verbindung ihre evidente Form. Die Kreisfigur aber stellt eine zentrale mythische Figur der „Bedeutsamkeit“ dar, „die den Ordnungstenor der Welt und des Lebens gegen jeden Anschein von Zufall und Willkür verbürgt.“23 Der Kreis markiert sowohl einen räumlichen als auch einen zeitlichen Rah19

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Müller-Funk (Anm. 15); Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 6–45. Reinhold R. Grimm: Paradisus coelestis – paradisus terrestris. Zur Auslegungsgeschichte des Paradieses im Abendland bis um 1200. München 1977 (Medium aevum 33); Benthien, Gerlof (Anm. 13), S. 7, 12. Die Ebstorfer Weltkarte. Hrsg. von Hartmut Kugler. 2 Bde. Berlin 2007; Ders.: Ein Weltbild vor Columbus. Die Ebstorfer Weltkarte. Interdisziplinäres Colloquium 1988. Hrsg. von Hartmut Kugler. Weinheim 1991. Vgl. Cornelia Herberichs: quasi sub unius pagine visione coadunavit. Zur Lesbarkeit der Ebstorfer Weltkarte. In: Text – Bild – Karte. Kartographien der Vormoderne. Hrsg. von Jürgen Glauser, Christian Kiening. Freiburg i.Br. 2007 (Rombach-Wissenschaften: Reihe Litterae 105), S. 201–217. Zur Typologie: Friedrich Ohly: Vom geistlichen Sinn des Wortes im Mittelalter. In: Ders.: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1977, S. 1–31; Rudolf Suntrup: Typologische Heilsgeschichts-Konzepte in mittelalterlicher geistlicher Literatur. In: Germanistische Mediävistik. Hrsg. von Volker Honemann, Tomas Tomasek. Münster 1999 (Münsteraner Einführungen: Germanistik 4), S. 277–304. „Das zyklische Schema war ein Grundriß des Weltvertrauens gewesen […].“ Blumenberg (Anm. 16), S. 86, 97; „ein Schema bietet sich für eine Bedeutung viel stärker an als eine Zeichnung, […]“ Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt/Main 1964, S. 87.

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men. Indem die Welt zum Kreis und die Geschichte zum Kreislauf wird, entsteht eine homogene Ordnung von Raum und Zeit: Raumordnung und Zeitordnung, Topologie und Chronologie fallen in der gleichen Figur zusammen. Indem Anfang und Ende hier nicht nur syntagmatisch, sondern auch paradigmatisch miteinander verbunden sind, zeichnet sich das Wechselspiel einer narrativen und einer metaphorischen Operation ab.

Abb. 1: Ebstorfer Weltkarte

Abb. 2: Detail: Paradies und Christus

Raum und Zeit, Komplexität der Welt und Zeitlichkeit des Lebens, bilden die beiden zentralen Sphären der Kontingenzerfahrung, und beide Komplexe werden über lineare narrative und bildlich-metaphorische Figurationen bewältigt. Etwas unerwartet kann das die Sentenz als klassisches Mittel der Komplexitätsreduktion illustrieren. Wenn Christus predigt „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6), bietet er sich selbst nicht nur als Maßstab (Wahrheit) für die Orientierung in Raum und Zeit an, sondern übersetzt dieses Angebot auch in eine Metapher, die ein Narrativ impliziert: der Lebensweg als Wanderung mit einem Anfang und einem Ende.24 Wie der Kreis die Komplexität der Welt und die Zeitlichkeit der Geschichte in eine anschauliche und kohärente Form überführt, so der Weg die Komplexität und Zeitlichkeit des Lebens. Die christliche Wegmetaphorik realisiert mit der Rückkehr zum Anfang linear, was der Kreisstruktur inhärent ist. Vinzenz von Beauvais gibt Empfehlungen für die christliche Orientierung, „so daß wir sicherer vorwärts schreiten, um zum ewigen Leben zu gelangen. […] Daher ist es notwendig, daß wir mit dem Morgen der Jugend, welcher der Anfang des Lebenstages ist, unsern Weg zum Paradies anfangen“.25 Die Metapher 24

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Matthias Christen: To the End of the Line. Zu Formgeschichte und Semantik der Lebensreise. München 1999, S. 11–63. Vinzenz von Beauvais: Über die Erziehung. Aus dem Lateinischen übersetzt und mit biographischem Anhang versehen von August Millauer. Donauwörth 1890, S. 96f. Vgl. Vincent of Beauvais:

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nimmt narrativen und das Narrativ metaphorischen Wert an. In der Ebstorfer Weltkarte werden beide auf Christus projiziert: Christus ist nicht nur Mittelpunkt (Jerusalem) und Umkreis der Welt, Anfang und Ende der Geschichte (Adam/Christus), sondern auch Ziel des Lebensweges. Die Metaphern des Kreises und des Weges werden zu Medien, zu Chronotopoi, die zwischen dem religiösen System (Christus) und der unüberschaubaren Komplexität von Welt und Leben vermitteln.26 Welt und Geschichte, Leben und Gott, werden über ein und dieselbe Figur zu einem Weltbild synthetisiert: Anfang und Ende, Mittelpunkt und Umkreis, schließlich Bild, Metapher und Narrativ. Christus hält Welt, Leben und Geschichte im wahrsten Sinne des Wortes zusammen. Wenn die narrativierte Metapher nur auf das Vorbild Christi zielt, dem nachzufolgen ist, um ein besserer Mensch zu werden, handelt es sich um ein einfaches Narrativ. Wenn die imitatio Christi aber zugleich auf die Aufhebung von Mangel, Vergänglichkeit und Entfremdung zielt und in eine geschichtsphilosophische Dimension ausgreift, weitet sich das einfache Narrativ zu einem kulturellen. Das aristotelische Modell der Erzählung aber ist ein dezidiert vormodernes, das der Kontingenzerfahrung über Linearität und Kohärenzbildung gegenarbeitet.27 Leben (Geschehen), Welt und Geschichte, die für sich keinen Sinn enthalten, erfahren über die Form eines Bildes (Kreis) und einer Erzählung, über Linearität und Kohärenz, einen Mehrwert an Bedeutung. Das Modell inszeniert damit eine „mythologische Konfiguration des Erzählens“.28 In diesem Sinn aber meint Mythos keine Ursprungs-, sondern eine Finalitätsfigur: eine erfüllte Teleologie, die von Erzählungen in das so genannte „mythische Analogon“ übersetzt wird.29 Kulturgeschichtlich verbindet das heilsgeschichtliche Narrativ das mythische Narrativ des Ursprungs mit dem utopischen einer erfüllten Zukunft und bildet geschichtsphilosophisch gewissermaßen die Schnittstelle zwischen zwei großen kulturellen Formationen: antikem Ursprungsdenken und moderner Zukunftsorientierung.30

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27 28 29

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De eruditione filiorum nobilium. Hrsg. von Arpad Steiner, Cambridge/Mass. 1938 (The Mediaeval Academy of America 32). XXIV, S. 84: „Tercia est, quia securius procedit, ut ad uitam eternam admittatur. […] Ideoque in mane puericie, que est inicium diei huius uitae, oportet, ut iter nostrum ad paradysum aggrediamur.” Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen übersetzt von Michael Dewey. Frankfurt/ Main 2008 [zuerst Moskau 1975], S. 21f. Müller-Funk (Anm. 15), S. 17–35, 27, 32. Ebd., S. 32. Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Mit einer Einleitung von Heinz Schlaffer, Frankfurt/Main 1976 (stw 151); Heinrich Detering: Zum Verhältnis von ‚Mythos‘, ‚mythischem Analogon‘ und ‚Providenz‘ bei Clemens Lugowski. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen. Hrsg. von Matias Martinez. Paderborn u. a. 1996, S. 63–79. Emil Angehrn: Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos. Frankfurt/Main 1996 (stw 1271). Zur Finalität moderner Utopie vgl. Müller-Funk (Anm. 15).

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II. Identitätsparadigma Brandan: Paradigmatik Welt und Leben als zentrale Orte der Kontingenzerfahrung werden über Narrative und Metaphern in Anschauung überführt. So konkurriert das Meer als konventionelle Metapher für die Kontingenz der Welt mit der Reise als Sinnbild für den Lebensweg.31 Entsprechend wird die Seereise zum Prüfstein des Weltbezugs. Für den Christen bedeutet Leben mit einem Satz Max Wehrlis immer „unterwegs, auf der Suche, in Gefahr zu sein“, gerade weil er in der Welt nicht mehr zu Hause ist.32 „Im stürmischen Meer dieser Welt“ dem Sünder beizustehen, bittet etwa Otto von Freising im letzten Satz seiner Weltchronik.33 Solche Narrative und Metaphern können in die Struktur ganzer Erzählungen übersetzt werden. Der irische Mönch Brandan liest ein Buch über die Wunder Gottes, gerät darüber in Zweifel und verbrennt es. Er wird daraufhin von Gott zu einer Seereise verurteilt, um dessen Allmacht kennen zu lernen. Brandan baut ein Schiff, stattet es mit Reliquien aus und macht sich mit 70 Gefährten auf die Reise. Er wird unterwegs mit verschiedenen Wundern konfrontiert: z.B. mit einem Inselfisch, dem Magnetberg und Sirenen; die Reisenden müssen sich verschiedener Seemonster erwehren, vor allem aber treffen sie auf eine Serie von Inseln, auf denen Mönche und Büßer leben und Sünder schreckliche Strafen erleiden; unterwegs geraten die Reisenden an den Rand des Paradieses und des Fegefeuers. Nachdem Brandan bis ans Ende der Welt gereist ist, kehrt er nach neun Jahren in die Heimat zurück, stirbt und fährt gen Himmel.34 31

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Vgl. Hugo Rahner: Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Kirche. Salzburg 1964, S. 272–303 (Das Meer der Welt); Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Frankfurt/Main 1979; Hugo de Folieto erläutert das Konnotationsfeld der Metapher. „Moraliter bezeichnet das Meer die Welt, das Schiff das Leben dieser Zeit, der Schiffbruch die Gefährdung des Lebens, das Verlassen des Meeres den Rückzug aus der Welt, die Insel, die aus dem Meer ragt, den Hafen des rechten Aufenthalts.“ („Moraliter igitur mare, mundum, navis hujus saeculi vitam, naufragium vitae periculum, egressio de mari renuntiationem mundi, insula quae mari supereminet portum rectae conversationis significat.“) PL 176, Sp. 1018f. Max Wehrli: Iweins Erwachen. In: Geschichte, Deutung, Kritik. Literaturwissenschaftliche Beiträge dargebracht zum 65. Geburtstag Werner Kohlschmidts. Hrsg. von Maria Bindschedler, Paul Zinsli. Bern 1969, S. 64–78, 72. Vgl. Arnold Angenendt: Die irische Peregrinatio und ihre Auswirkungen auf dem Kontinent vor dem Jahre 800. In: Die Iren und Europa im frühen Mittelalter. Hrsg. von Heinz Löwe, Stuttgart 1982, S. 52–79; Julia Weitbrecht: Aus der Welt. Reise und Heiligung in Legenden und Jenseitsreisen der Spätantike und des Mittelalters. Heidelberg 2011 (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte), S. 17–19. Otto Bischof von Freising: Chronik oder die Geschichte der zwei Staaten. Übersetzt von Adolf Schmidt. Hrsg. von Walther Lammers. Darmstadt 1961 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 16), VIII, 35. Von sand Brandan. In: Sanct Brandan. Ein lateinischer und drei deutsche Texte. Hrsg. von Carl Schröder. Erlangen 1871, S. 163–192; Brandan. Die mitteldeutsche ‚Reise‘-Fassung. Hrsg. von Reinhard Hahn, Christoph Fasbender. Heidelberg 2002 (Jenaer germanistische Forschungen; N.F. 14); Clara Strijbosch: Himmel, Höllen und Paradies in Sanct Brandans ‚Reise‘. In: ZfdPh 118

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Wenn die Metaphern von Meer und Reise hier zum Handlungsraum und Handlungsschema konkretisiert und in eine Erzählung übersetzt werden, nehmen Raumordnung und Bewegungsform paradigmatische Gestalt an. Die Geschichte erzählt nicht nur von der Erfahrung der Wunder Gottes, sondern auch von dem Verhältnis von Leben und Welt. Die Reise des Heiligen steht aber unter besonderen Bedingungen, wenn die Gefährdungen der Welt einerseits potenziert, andererseits von vornherein depotenziert werden. Vor den Angriffen dämonischer Monster rettet sich Brandan immer wieder in die Obhut Gottes. Die scheinbar zufällige Aggregation der Stationen wird durch die Koordinaten der Heilsgeschichte zusammengehalten. Die Differenz zur neuzeitlichen Reiseliteratur besteht bekanntlich darin, dass die legendarische Reise nicht Schrift durch Erfahrung ersetzt, sondern bestätigt und Kontingenz durch Providenz aufgehoben wird.35 Das Schiff, nach Michel Foucault Inbegriff der Heterotopie, bezeichnet hier nicht den Traum von einem anderen Ort, sondern vielmehr Heimat, Arche Noah, Kirche, d.h. eine Metapher.36 Vor dem Hintergrund des skizzierten Fragerahmens sind zum einen die Raum- und Zeitordnung, zum andern die narrativen Schemata, schließlich die Metaphern zu befragen. Die zentralen Räume bilden vertikal Himmel, Erde und Hölle, horizontal Kloster, Meer und die Stationenfolge der Inseln. Die vertikale Topologie der Heilsgeschichte wird in die horizontale Topographie der Welt übertragen.37 Brandans paradigmatischer Weg durch das Meer der Welt durchläuft aber auch verschiedene Stationen der Vermittlung: Zwischen Himmel und Hölle konstituieren sich innerhalb der Welt verschiedene Übergangsräume: Paradies und Fegefeuer.38 Horizontal wird eine Serie von heiligen Enklaven inmitten von Meer, Finsternis und Unheil inszeniert. Wenn die Reise aber zwischen Aufbruch und Ankunft den Stationen Kloster – Meer – Kloster folgt, ergibt

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(1999), S. 50–68; Peter Strohschneider: Logbuch und heilige Schriften. Zu einer Version der deutschen Brandan-‚Reise‘. In: Gutenberg und die Neue Welt. Hrsg. von Horst Wenzel u. a. München 1994, S. 159–169; Ders.: Der Abt, die Schrift und die Welt. Buchwissen, Erfahrungswissen und Erzählstrukturen in der Brandan-Legende. In: Scientia Poetica 1 (1997), S. 1–34; Ingrid Kasten: Brandans Buch. In: Ir sult sprechen willekomen. Grenzenlose Mediävistik. Festschrift für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Christa Turczay u. a. Bern 1998, S. 49–60; Walter Haug: Brandans Meerfahrt und das Buch der Wunder Gottes. In: Raumerfahrung – Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident. Hrsg. von Laetitia Rimpau, Peter Ihring. Berlin 2005, S. 37–55; Andreas Hammer: St. Brandan und das ander paradîse. In: Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter. Hrsg. von Kathryn Starkey, Horst Wenzel. Stuttgart 2007, S. 153–176; Weitbrecht (Anm. 32), S. 195–206. Strohschneider (Anm. 34), S. 16–19, 26. Michel Foucault: Von anderen Räumen. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits IV 1980– 1988. Hrsg. von Daniel Defert, Francois Ewald. Frankfurt/Main 2005, S. 931–942, 942. Jurij M. Lotman: Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibungen. In: Ders.: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Hrsg. von Karl Eimermacher. Kronsberg/Ts. 1974 (Forschungen Literaturwissenschaft 1), S. 338–377. Paradies und Hölle sind nicht nur Orte der Vergangenheit und Zukunft, sondern auch der Gegenwart. Zum Status des „liminalen Kontaktbereichs“ vgl. Weitbrecht (Anm. 32), S. 197f.

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sich eine Kreisstruktur von Heimat, Exil und Heimat. Die Vertreibung aus dem Schutzraum Kloster in die Gefährdungen der äußeren Welt folgt sichtbar dem Syntagma der Heilsgeschichte. Brandans Reise endet im Anfang, im Hafen des Klosters, der zugleich der Hafen seines Lebens und seiner Himmelfahrt ist. Und wenn Brandan schon zu Beginn wie auch am Ende im Kloster Gottes Stimme vernimmt, zeigt das, dass er sich schon von Anfang an in einem geschlossenen heilsgeschichtlichen Kreislauf bewegt. Brandans Abenteuer lassen sich auf drei elementare Handlungsschemata reduzieren: Das erste folgt den Stationen von Gesetz, Übertretung und Strafe, das zweite der Verbindung von Buße und Erlösung, das dritte der Überwindung des Bösen durch das Gute. Den Mönchen stehen als Gegner einzelne Monster und der Teufel mit seinen Heerscharen gegenüber. Die Erzählung kennt aber nicht nur Gegenspieler, sondern mit dem büßenden Sünder auch eine Übergangsfigur zwischen Gut und Böse. Laien, Mönche und selbst Engel sind allesamt Beispiele für das gleiche Sündenparadigma. Brandans eigene ‚Übertretung des Gesetzes‘ und sein Bußweg wiederholen sich strukturell immer wieder innerhalb der Binnenerzählungen. Michel Foucaults Befund über die Allegorese als reichster und ärmster Denkform zugleich, die in immer neuer Variation dieselbe Wahrheit zum Ausdruck bringe, bestätigt sich auch an Brandans Reise.39 In der Erzählung von Brandans Reisen, so lässt sich zusammenfassen, besetzt das Kloster im Syntagma die Position des Paradieses mit seiner narrativen Öffnung und Schließung der Handlung. Während die Reise des Lebens im Meer der Welt sich vollzieht und nur noch durch das Schiff der Kirche und durch einzelne Inseln der Hoffnung stabilisiert wird, bildet das Kloster als Substitut des Paradieses die Klammer von Anfang und Ende der Reise. In der Erzählung von St. Brandan wird das Kloster zur Metapher und in das Syntagma der kreisförmigen Rückkehr übersetzt.40 Nicht nur Räume, Dinge und Figuren haben paradigmatischen Wert, sondern auch das Syntagma selbst.41 Das Paradies wird im Syntagma der Erzählung aber auch zum realen Ort. Nicht nur trifft Brandan auf ein Inselkloster, dessen Mönche ihre Nahrung direkt aus dem Paradies beziehen, zweimal wird er auch selbst unmittelbar mit Paradiesen konfrontiert.42 Das reale Paradies erscheint dabei nur als unüberwindbare Burg. Die Gegenwärtigkeit 39 40

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Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt/Main 31980 (stw 96), S. 6ff. Klostergarten (simulachrum paradisi) und Kloster gelten in der christlichen Ikonographie als Substitute von Paradies und Himmlischem Jerusalem; Georges Duby: Der heilige Bernhard und die Kunst der Zisterzienser. Stuttgart 1981, S. 128–131; Claus Bernet: Das Himmlische Jerusalem im Mittelalter: Mikrohistorische Idealvorstellung und utopischer Umsetzungsversuch. In: Mediävistik. Internationale Zeitschrift für interdisziplinäre Mittelalterforschung 20 (2007), S. 9–35, 18f; Ursula Frühe: Das Paradies als Garten – der Garten als Paradies. Studien zur Literatur des Mittelalters unter der Berücksichtigung der bildenden Kunst und Architektur. Frankfurt/Main 2002. Das Narrativ selbst ist Träger einer eigenen historischen Semantik. Hans-Jürgen Lüsebrink: Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte und Narrativität. In: Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte. Hrsg. von Rolf Reichardt. Berlin 1998 (Zeitschrift für historische Forschung: Beiheft 21), S. 29–44. Von sand Brandan (Anm. 34), V. 330ff.; 515ff.; 1113ff.

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des Paradieses aber hebt die Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft, d.h. die historische Zeit, auf und etabliert im Hintergrund eine mythische Dimension der Zeitlosigkeit, der das Paradiesnarrativ seine Finalität verdankt. Jahre später trifft Brandan mit seinen Gefährten auf eine weitere Paradiesinsel. Hier betreten die Reisenden zunächst einen Raum, der mit ewigem Frühling gesegnet ist, Korn und Wein bringt das Land ohne Arbeit (labor) hervor, die Tiere sind auf natürliche Weise dem Menschen untertan, Mangel und Vergänglichkeit scheinen hier aufgehoben.43 Dieser natürlichen Kulturlandschaft wird nun eine ideale künstliche gegenüber gestellt. Bei ihrer Wanderung treffen die Reisenden auf eine prächtige Burg, die hoch über der Insel schwebt und unzugänglich ist, da Ungeheuer den einzigen Zugangsweg versperren.44 Nur der Heilige verfügt über die Mittel, die Grenze mit seinen Brüdern zu passieren. Aber auch dieser glanzvolle und höfisch gezeichnete Raum besitzt seine heilsgeschichtliche Hypothek. Bewohnt wird die Burg von Zerrfiguren des Menschen, von Tiermenschen, wie sie etwa aus dem Herzog Ernst bekannt sind. Es handelt sich um die Nachfahren der neutralen Engel, denen Gott an diesem Ort eine kulturelle Form von Fegefeuer errichtet hat und die vor allem unter dem Verlust ihrer Gottebenbildlichkeit leiden.45 Die Erzählprogramme von Vergehen und Strafe einerseits, von Hoffnung auf Erlösung andererseits, prägen auch diesen Ort und rücken ihn über den Sündenfall hinaus in einen weiteren geschichtsphilosophischen Horizont: Die Paradiesszene wird vertikal an den Engelssturz als mythischer Anfang vor dem Anfang angeknüpft. Die Raumstruktur der Inselwelt ist sichtbar zweigeteilt: Der paradiesisch indizierten Naturszene bei der Landung korrespondiert eine ideale höfische Kulturkulisse auf der Burg. Wie der idealisierte Naturraum nur ein natürliches Substitut des Paradieses ist, so changiert der höfische Kulturraum zwischen künstlichem Paradies und höfischem Fegefeuer. Beide Orte aber sind nicht nur Metaphern, sondern reale Orte der Handlung und machen innerhalb der Welt heils- und kulturgeschichtliche Spannungen erfahrbar. Die geschichtete Raumordnung bildet noch einmal die Stationen der Heilsgeschichte ab und ‚überträgt‘ sie in eine vertikale Topographie: vom natürlichen Paradies über das höfische Fegefeuer in den Himmel. Der ambivalenten Lage des höfischen Fegefeuers korrespondiert der Status der Gesprächspartner: Hier der heilige Sünder in der Nachfolge Christi (der von unten kommt), dort die gefallenen und in Tiermenschen verwandelten Engel (die von oben kommen). Auch dieses Fegefeuer ist auf paradigmatische Weise semantisiert: Seine Geschichte, seine Lage und seine Bewohner verweisen auf die Spannungen zwischen Fülle und Mangel, Leben und Tod, Heimat und Exil. Unter strukturalistischer Perspektive ist die Legende eine dominant paradigmatische Erzählform. Ihr Erzählschema lebt nicht von syntagmatischer Ausdehnung, sondern 43 44 45

Von sand Brandan (Anm. 34), V. 113–1140. Vgl. Hammer (Anm. 34), S. 168f. Von sand Brandan (Anm. 34) V. 1141–1159. Strijbosch sieht in dieser Episode sowohl Reminiszenzen an das Paradies wie an das Himmlische Jerusalem; sie skizziert auch in Bezug auf die Vorstellung von den neutralen Engeln die Analogien zur Navigatio-Fassung und zeigt weitere mögliche Quellen auf; Strijbosch (Anm. 34), S. 58–60.

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basiert wie Märchen, Fabel oder Gleichnis auf dominant paradigmatischen, d.h. aber letztlich metaphorischen Relationen. Im Brandan werden Räume, Handlungen, Figuren und Dinge zu Metaphern, deren Konnotationsfeld aber von vornherein eingeschränkt ist. Das Meer ist kein Meer, die Reise keine Reise, das Schiff kein Schiff, die Insel keine Insel mehr. Die Metaphern beziehen ihre Semantik aus einer geschlossenen symbolischen Ordnung: Noch das Narrativ realisiert eine Kreisbewegung. Unter der Perspektive des Reisenarrativs ist die Legende von St. Brandan syntagmatisch leer, sie inszeniert dafür in vielfacher Variation und auf verschiedenen Ebenen immer die gleichen paradigmatischen Figuren.46 Brandan selbst z.B. ist Typus des Heiligen, der seinerseits wiederum dem Vor-Bild Christi nachgezeichnet ist. Er ist überdies in mehrfachem Sinn Typus zu christlichen Antitypen: zum einen Typus Adams, der ein Gesetz überschreitet und mit Exil bestraft wird, zum andern Typus Christi: der Heilige mit seinen Gefährten auf der Reise durch die Welt, der Gott Gnadenakte abbitten kann. Schließlich ist Brandan Typus Noahs, nach dessen Bauplänen er sein Schiff entwirft. Brandan ist mithin sowohl exemplarischer Sünder als auch Heiliger und damit paradigmatischer Erlöser: erster und letzter Mensch. Als Figuralexempel verbindet er die beiden Schemata des heilsgeschichtlichen Narrativs: einerseits Gesetz-Übertretung-Strafe, andererseits Buße und Erlösung: Brandan synthetisiert den Gehalt von Narrativ und Metapher zugleich.47

III. Differenzparadigma Erec: Metaphernspiele Wie die Legende folgt der Artusroman einer mythologischen Erzählkonzeption, die auf Versöhnung und Happy End angelegt ist. Den Grundriss der Handlung bildet eine Märchenstruktur, die ihrerseits aber bereits die soziale Thematik von Inklusion und Exklusion in sich aufnimmt.48 Das Erzählprogramm folgt einem symmetrischen Handlungsschema. Die Handlung des Erec etwa ist zweigeteilt und auf eine markierte 46

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Vgl. Stephan Fuchs: Hybride Helden. Gwigalois und Willehalm. Beiträge zum Heldenbild und zur Poetik des Romans im frühen 13. Jahrhundert. Heidelberg 1997, S. 88. Zum Figuralexempel vgl. Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die ‚historiae‘ im ‚Policraticus‘ Johanns von Salisbury. Hildesheim u. a. 1988 (Ordo 2), S. 74f., 104f. Vgl. Karlheinz Stierle: Geschichte als Exemplum – Exemplum als Geschichte. In: Geschichte – Ereignis und Erzählung. Hrsg. von Reinhart Koselleck, Wolf-Dieter Stempel. München 1983 (Poetik und Hermeneutik 5), S. 347–375. Ralf Simon: Einführung in die strukturalistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Analysen zu deutschen Romanen der matière de Bretagne. Würzburg 1990 (Epistemata 66), S. 1–8, 14f. Vgl. Hugo Kuhn: Erec [1948]. In: Hartmann von Aue. Hrsg. von Dems., Christoph Cormeau. Darmstadt 1973 (Wege der Forschung 359), S. 17–48; Walter Haug: Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach. In: DVjs 45 (1971), S. 668–705; Friedrich Wolfzettel: Doppelweg und Biographie. In: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von Dems. Tübingen 1999, S. 119–141.

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Stationenfolge von Anfang, Mitte und Ende ausgerichtet, die eine Kreisstruktur beschreibt: Sie beginnt zweimal mit dem Verlassen eines Hofes und führt am Ende mit der glücklichen Heimkehr an den Hof zurück.49 Die Erzählsequenzen des zweigeteilten Weges sind durch zentrale Oppositionen gekennzeichnet, die über den Erzählprozess vermittelt werden: Gut und Böse, Mann und Frau, Rivalität und Freundschaft. Gegenüber dem einfachen Märchenmodell handelt es sich beim Erec sichtbar um ein ‚Gefüge aus geschichteten Strukturen‘. Auch der höfische Ritter ist nicht nur realiter unterwegs, auf Suche, in Gefahr. In einer Art geistlichen Allegorese sind der Fahrt des Ritters wiederholt christliche Wegschemata wie der mystische Aufstieg oder der ‚Weg zu sich selbst‘ unterlegt worden.50 Der metaphorische Status der Wegstruktur aber ist ambivalent. Zwar entwirft der Artusroman keine Allegorie, keine Figuration eines geistlichen Lehrgehalts, doch berührt der fahrende Ritter in seiner Krise sichtbar das Modell der legendarischen Vita, gerade weil sein Weg dem gleichen Syntagma folgt. Während sich Brandan aber in christlicher Gesinnung auf die Reise macht, verortet sich die Suche des Aventiureritters innerhalb eines anderen Erzählprogramms. Im Syntagma des Erzählschemas ersetzt der Hof das Kloster, der Wald das Meer, die aventiure die Seefahrt und der Kampf das Beten.51 Die Bewegung des Helden wird im Artusroman nicht über die peregrinatio oder die Seefahrt, sondern über die aventiure ins Bild gesetzt. Der Handlungsgang des zweiten Teils folgt offenbar einem analogen Syntagma bei abweichenden Besetzungen. Die Bemühungen des taxonomischen Strukturalismus, eine Gattungsstruktur Artusroman auf der Basis des Zaubermärchens zu bestimmen, haben ihre Grenzen nicht nur in zahlreichen Umdefinitionen des Proppschen Modells, sondern mehr noch in der Blindheit für die Kategorie der Krise. Weil das Zaubermärchen keine Funktionseinheit Krise kennt, wird sie im Erec zum Oberflächenphänomen erklärt.52 Vor dem Hintergrund des heilsgeschichtlichen Narrativs besitzt sie aber geradezu konstitutive Funktion. Die Krise in Karnant hat ihren Grund nicht in einer äußeren Aggression, sondern in einem inneren sozialen Vorgang. Sichtbar wird in Umrissen das Schema von Übertretung und Strafe einerseits, von Buße und Erlösung andererseits. Während aber im ersten Teil die Schemata auf den Opponenten projiziert werden, so im zweiten auch auf die beiden Protagonisten. Wenn aber die Norm unausgesprochen bleibt und 49

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Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff, 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner. Tübingen 2006 (Altdeutsche Textbibliothek 39). Walter Ohly: Die heilsgeschichtliche Struktur der Epen Hartmanns von Aue. Berlin 1958; John M. Clifton-Everest: Christian Allegory in Hartmann’s Iwein. In: The Germanic Review 48 (1973), S. 247–259. Vgl. Max Wehrli: Roman und Legende im deutschen Hochmittelalter. In: Formen mittelalterlicher Erzählung. Hrsg. von Dems. Zürich u. a. 1969, S. 155–176; Dieter Kartschoke: Geschichte der deutschen Literatur im frühen Mittelalter. München 1990 (dtv 4551), S. 335f.; Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik 1), S. 13f.; Bruno Quast: Ein saelic spil. Virtuosentum im arthurischen Roman. In: Zeitschrift für Germanistik 19 (2009), S. 510–521. Simon (Anm. 45), S. 17.

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die Strafe nicht verhängt, sondern selbst auferlegt ist, wenn die Erlösung schließlich säkularisiert wird, erfahren die Koordinaten des heilsgeschichtlichen Narrativs eine signifikante Umbesetzung. Sowohl auf struktureller und raumsemantischer Ebene als auch in inhaltlicher und motivischer Hinsicht finden sie Eingang in den Erec. Sie werden überdies deutlich indiziert. So bezeichnet der Mangel die Grundsituation der aventiure, prägen Mühsal und Leiden den Weg des Paares, der überdies von ihnen selbst als Leidensweg aufgefasst wird.53 Hartmann selbst unterlegt dem Vorgang ein religiöses Muster. Als Erec die Mühen des zweiten Aventiurezyklus bewältigt hat und die Sphäre des Waldes verlässt, greift der Erzähler zu einem signifikanten Vergleich: wan im vil dicke swebete / sîn lîp in selher wâge, / als ûf des meres wâge / ein schefbrüchiger man / ûf einem brete kaeme dan / ûz an daz stat gerunnen. / ofte hete er gewunnen / ein leben zwîvellîchez / und disem wol gelîchez: / nû hete in an der genâden sant / ûz kumbers ünden gesant / got und sîn vrümekeit, / daz er nû allez sîn leit / hâte überwunden, […]. (V. 7061ff.)

Aventiure als Seefahrt und als Ziel die Befreiung von Mühsal und Leid. Die Metapher ist im Syntagma wohl platziert, sie ruft an signifikanter Stelle einen semantischen Horizont auf, vor dessen Hintergrund das Aventiuregeschehen eingeordnet werden will. Den deutlich markierten Analogien zum religiösen Syntagma stehen aber ebenso deutliche Differenzen gegenüber. Weniger inhaltlich als strukturell wird die peregrinatio zum Bezugsrahmen der aventiure. Anstatt auf die Analogie zum christlichen Lebensweg fixiert zu sein, kommt es mehr noch auf die variierende und kontrastierende Modellierung der geistlichen Metapher vom Lebensweg an. Während die peregrinatio der Legende in der Spur Christi erfolgt und einen vorgegebenen Weg nachvollzieht – „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ –, ist die aventiure syntagmatisch auf Offenheit und Selbstbehauptung angelegt. Folgt Erec im ersten Teil noch den Spuren seines Kontrahenten, verändert sich der Status der Suche im zweiten Teil.54 Der Chronotopos des ritterlichen Aventiurewegs eröffnet zwar eine gerichtete Bewegung zwischen Anfang und Ende des Weges, ihre Motivation bleibt aber ebenso unbestimmt wie das konkrete Ziel. Aventiure realisiert sich über das Narrativ der Suche entlang eines unbestimmten Weges. Orientierung gibt zunächst nur der Weg selbst: „nû wîste si der wec / in einen kreftigen walt“ (V. 3113f.).55 Obwohl der Weg kein festes Ziel hat, beharrt Erec wiederholt darauf, die einmal eingeschlagene Bahn nicht zu verlassen und weiter zu verfolgen: ich „enmac ze disen zîten / ûz dem wege niht gerîten. […] ir sult mich ze dirre wîle / mîne strâze lâzen varn“ (V. 4670ff.). Nicht Umkehr und Nachfolge, sondern bis zum Ende gehen lautet das Programm. Erecs Unterwegssein ist unbestimmt, 53

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Hugo Kuhn nennt dezidiert ungemach und arebeit als Hauptmerkmale des ersten Aventiureteils des Doppelweges. Kuhn (Anm. 48), S. 17–48, 31f. Hartmann von Aue: Erec, V. 221, 4340. Vgl. Ernst Trachsler: Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman. Bonn 1979 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 50), S. 204f. Ebd., V. 3477, 4276, 5289. Vgl. Dennis H. Green: Der Weg zum Abenteuer im höfischen Roman des deutschen Mittelalters. Göttingen 1974; Irrwege. Zu Ästhetik und Hermeneutik des Fehlgehens. Hrsg. von Matthias Däumer u. a. Heidelberg 2010.

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räumlich desorientiert und allein durch die Hoffnung auf eine aventiure motiviert: „nû reit der ritter Êrec, / als in bewîste der wec, / er enweste selbe war: / sîn muot stuont niuwan dar, / dâ er âventiure vunde“ (V. 5288ff.). Und doch irrt er nicht umher, sondern behauptet seinen Weg in doppelter Hinsicht. Zum einen folgt er dem vorgezeichneten konkreten Weg, auf den er trotz aller Störungen immer wieder zurückkehrt. Zum anderen verleiht er dem Weg über seine Taten allererst eine Bedeutung, indem er ihm Geschichten einschreibt, die erinnert und erzählt werden können. So wird der Ritter selbst zum Maßstab. Erec, so heißt es am Ende, erfülle über seine Bewegung die Welt mit seinem Namen, so dass er die Bedingungen von Raum und Zeit aufhebt: „alsô was sîn diu werlt vol: / man sprach eht niemen dô sô wol“ (V. 10052f.). Mit aventiure formiert sich ein neues Erzählprogramm, das zwar auch dem Spannungsbogen von Suchen und Finden folgt, sich aber von antiken und christlichen Entwürfen dadurch unterscheidet, dass er das Verhältnis von Kausalität und Finalität anders entwirft, anders aufeinander bezieht. Nicht die Heimat (Odyssee), nicht die Geliebte (Äthiopica), auch nicht das Seelenheil (Legende) sind Ziel der Suche, sondern ein sozialer Wert: „Die Suche führt zum Finden, und der Fund heißt Ehre.“56 Statt eines Prozesses der Verinnerlichung der Werte wird einer der Entäußerung entworfen. Ehre, d.h. das Ansehen durch die Anderen, bildet das entscheidende Agens von Krise und Aventiurebewegung. Nicht Leben, sondern Gesellschaft, nicht Sünde und Gnade, sondern Ehrverlust und soziale Reintegration sind das Thema. Der Umstand, dass Erec sich im Vergleich zu anderen Artushelden zusammen mit Enite auf den Weg macht, impliziert bereits die Dominanz der sozialen Thematik. Indem die aventiure Kontingenz exponiert, erweist sie sich auch als das Gegenteil des Wunders. Während dieses Kontingenz durch einen metaphysischen Eingriff bewältigt, sucht der Ritter die Grenzerfahrung des Zufalls. Ein aleatorisches Moment kommt ins Spiel. Nirgends wird die Kontingenzexposition so deutlich wie in der elementaren Situation adeliger Selbstbehauptung, im Zweikampf, dem Hartmann im Erec wie im Iwein wiederholt eine Spielmetaphorik einschreibt: Bieten, Überbieten und Verausgaben im Iderskampf, Wetten und Würfeln im Kampf gegen Mabonagrin. Aventiure ist ein Risiko- und Gewinnspiel, statt Würfel Gewalt, statt Geld Ehre.57 Gott ist zwar noch mit im Spiel, doch geht es nicht um das Seelenheil. In letzter Instanz ist aventiure ein Spiel, eine Wette um das Leben: „sleht er mich, sô bin ich tôt“ (V. 8046). Organisiert wird das Spiel mit der christlichen Semantik und ihren Umbesetzungen über die Figur der Metapher, die mittels Analogie und Differenz Relationen stiftet und eine Ordnung eigener Art etabliert. Über die metaphorische Operation wird dem Syntagma der aventiure das Syntagma der peregrinatio unterlegt, so dass das säkulare Mo56

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Friedrich Ohly: Die Suche in Dichtungen des Mittelalters. In: ZfdA 94 (1965), S. 171–184, 171; Bachtin (Anm. 26), S. 81. Ludgera Vogt: Ehre in traditionalen Gesellschaften. Eine soziologische Analyse des „Imaginären“ am Beispiel zweier literarischer Texte. In: Ehre. Archaische Momente in der Moderne. Hrsg. von Ders., Arnold Zingerle. Frankfurt/Main 1994, S. 291–314.

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dell der Reise als Komplement der geistlichen Wanderung firmiert. Aufgrund ihrer Analogien und Differenzen verhalten sich beide Syntagmen analog proportional zueinander und markieren damit eine metaphorische Relation, die sie von der Allegorese unterscheiden. Basiert diese auf einer Identität von Typus und Antitypus, die immer nur eine vorgegebene Lehre (Christus) ins Bild setzt, stiftet die Metapher ein relationales Verhältnis. Es ist das Spezifikum des literarischen Modells, dass hier geistliche und feudale Räume, Handlungsschemata, Situationstypen und Figuren in eine Spannung zueinander gesetzt, aber nicht zur Identität gezwungen werden. Die peregrinatio wird zwar nicht explizit genannt, über ihre Strukturanalogie und über Motiveinspielungen aber wird sie zur Hintergrundmetapher. Der Erzähler, der seinen Protagonisten auf die Reise geschickt hat, lässt ihn an das Ziel seiner Suche gelangen. Öffnung und Schließung der narrativen Sequenzen korrespondieren der Spannung von Erwartung auf Seiten des handelnden Subjekts und der Erinnerung des Erzählers.58 Damit ist ein Modell geschaffen, das über die Aventiurekonzeption die Erzählung als sich formierenden Sinnbildungsprozess zu beschreiben erlaubt: „Und ist âventiure im erlebten Geschehen eine unbekannte Größe, ist sie in der retrospektiven Erzählung das Ende der Geschichte, von dem her sich – im Blick zurück – das Vorher ordnet. Sie ist Erzählung, die das Ende schon im ersten Wort weiß, die das Ziel in sich trägt.“59 Während Erec auf Suche ist, weiß der Erzähler schon um sein Ziel. Die Bewährung Erecs findet ihr großes Finale in der Joie de la curt-Episode.60 Sie ist nicht unmittelbar in die Episodenstruktur des Doppelwegs integriert und besitzt gerade dadurch einen herausgehobenen Stellenwert am Ende der Aventiurekette. Ihre lose Position im Syntagma markiert ihren paradigmatischen Status. Sie ist entsprechend von Hugo Kuhn als Bild, als erzählte Allegorie gelesen worden, und in konzentrierter Form stellt sich hier erneut die Frage nach dem Verhältnis von Metapher und Narration.61 Auch diese Episode besitzt offensichtliche topische Anspielungshorizonte. Auf dem Weg zum Artushof reiten Erec, Enite und Guivreiz seltsam desorientiert: „sus riten si nâch wâne / und doch der gewisheit âne“ (V. 7808f.), bis sie gegen Mittag „an eine wegscheide“ (V. 7813) gelangen. Es gehört zu Hartmanns Ironie, sein Spiel mit topischen Traditionen zu treiben, wenn er die klassische Semantik des Scheidewegs um58

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Ansgar Cordie: Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts. Berlin/New York 2001 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 19=253), S. 20. Mireille Schnyder: Âventiure? Waz ist daz? Zum Begriff des Abenteuers in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Euphorion 96 (2002), S. 257–272, 259f. Hartmann von Aue: Erec, V. 8521ff.; Kuhn (Anm. 48), S. 35–39; Christoph Cormeau: Joie de la curt. Bedeutungssetzung und ethische Erkenntnis. In: Formen und Funktionen der Allegorie. Hrsg. von Walter Haug. Stuttgart 1979 (DVjs Sonderband 1979), S. 194–205; Walter Haug: Joie de la curt. In: Blütezeit. Festschrift für L. Peter Johnson zum 70. Geburtstag. Hrsg. von Marc Chinca u. a. Tübingen 2000, S. 271–290. Kuhn (Anm. 48), S. 35f.; vgl. Ders.: Allegorie und Erzählstruktur. In: Formen und Funktionen der Allegorie (Anm. 64), S. 206–218.

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kehrt: „welh wec ze Britanje in daz lant / gienge, daz was in unerkant. / die rehten strâze si vermiten: die baz gebûwen si riten“ (V. 7814ff.). Der geographisch falsche und bequeme Weg wird aber zum richtigen, der Erec nach Brandigan und damit in ungeahnte Herausforderungen führt.62 Der Scheideweg ist aber kein Wendepunkt in Erecs Leben, er wird jeglicher moralischen oder heilsgeschichtlichen Semantik beraubt, eine Dramatik der Entscheidung existiert nicht. Seine Funktion ist formal und signalisiert, dass Erecs Weg noch nicht zu Ende ist, wie es der direkte Weg zum Artushof markiert hätte. Der Chronotopos des Weges impliziert ein räumliches und ein zeitliches Ziel, eine Finalität der Handlung, sie wird an der Weggabelung mit dem falschen Weg offengehalten, so dass das zeitliche Narrativ der Suche sich gegenüber der zielgerichteten Reise im Raum (Britannien) behauptet. Der Scheideweg wird damit auch zur Chiffre dafür, dass der Weg zum Artusritter kein realer, sondern ein metaphorischer ist. Damit verändert sich aber die Semantik des Weges, die nun nicht mehr räumliche Orientierung am vorgegebenen Weg ist, sondern Erecs eigener Weg wird, der im Narrativ der Suche auch eine zeitliche Finalität bezeichnet. Abweichung erhält hier eine spezifische Semantik. Wenn Erec auf diese Enklave trifft, findet seine Suche ihr definitives Ende: ich weste wol, der selbe wec / gienge in der werlde eteswâ, / rehte enweste ich aber wâ, / wan daz ich in suochende reit / in grôzer ungewisheit / unz daz ich in nû vunden hân. (V. 8521ff.)

Unabhängig davon, ob es sich um einen Heilsweg handelt oder eine andere Art des Weges, werden Aventiureweg und Suche auf ein ersehntes Ziel hin perspektiviert.63 Gezeichnet wird schon bei Chretien ein hortus conclusus, in dem, abgesondert von der Gesellschaft, ein Minnepaar lebt, ein magisch geschützter, aber auch belasteter Ort, der gegen Eindringlinge verteidigt werden muss. Es ist nun gar nicht überraschend, dass der legendenkundige Hartmann, deutlicher als Chretien, in die Brandiganszene die Reminiszenzen an das Paradies verstärkt: magische Abgeschlossenheit, locus amoenusTopik, mythischer Zusammenfall der Jahreszeiten, Abwesenheit von Leid, Repräsentation einer lebensechten Fauna. Am deutlichsten markiert die Selbstbeschreibung der Minnedame das Thema. Nachdem Mabonagrin besiegt ist, erzählt er seine Geschichte und legt die Gründe für die abgesonderte Lebensweise offen. Er hatte seiner Dame einen Wunsch in die Hand versprochen, und diese hatte die hermetische Zweisamkeit mit der Begründung gefordert: „wir haben hie besezzen / daz ander paradîse“. (V. 9541f.)64 Die implizit und explizit markierten Paradiesanspielungen rufen nun zugleich aber die ganze Topik des heilsgeschichtlichen Narrativs auf: das Schema von Verbot, Übertretung und Vertreibung, auch das von Buße und Erlösung. Die Paradiessituation ver62

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Andrea Glaser: Der Held und sein Raum. Die Konstruktion der erzählten Welt im mittelhochdeutschen Artusroman des 12. und 13. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 2004, S. 52f. Zur Konjektur vgl. Manfred Günter Scholz: Der hövesche got und der Saelden wec. Zwei ‚Erec‘Konjekturen und ihre Folgen. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber u. a. Tübingen 2000, S. 135–151, 145–151. Vgl. Mireille Schnyder: Daz ander paradîse. Künstliche Paradiese in der Literatur des Mittelalters. In: Benthien, Gerloff (Anm. 13), S. 63–75, 64–67.

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engt sich sichtbar auf eine Minnebeziehung und damit auf den blinden Fleck des theologisch gedeuteten Paradieses. Die Legende mit ihrem monastischen Rahmen kennt die Paarbeziehung nicht, die der Paradiesmythos selbst so deutlich markiert hatte. Im Erec wird die paradigmatische Situation des Menschenpaares offenbar durch eine paradigmatische Situation der Liebenden ersetzt. Die höfischen Paradiese akzentuieren die Paarbeziehung in der Enklave und interpretieren sie um.65 Bereits in die höfische Liebesmythologie, wie sie die Minneallegorie entwirft, wird der paradiesische Horizont eingefügt.66 An die Stelle des Mythos, der die Spaltung erklärt, tritt die Utopie der wieder gefundenen Einheit. In Brandigan aber wird die Inversion des aventiure-Gedankens und der Paradieserzählung zugleich inszeniert. Statik tritt an Stelle der dynamischen Bewegung, Einschließung statt Ausschließung wird zum Problem. Mabonagrin erzählt nach dem Zweikampf die Geschichte eines Versprechens, das aufgrund seiner Unbedingtheit eine Störung der gesellschaftlichen Ordnung nach sich zieht. Nicht das gebrochene Versprechen (Tabu) führt in die Vertreibung (Krise), sondern das gehaltene Wort in eine Art Gefängnis. Die Situation des christlichen Paradieses scheint verkehrt zu sein. Die Härte des Gesetzes wird zum Problem, es handelt sich um ein gestörtes Paradies, eine Heterotopie des Privaten gegen die Ansprüche der Öffentlichkeit. Es entbehrt nicht der Ironie, dass Erecs „selben/saelden wec“ auf einen paradiesischen Raum trifft, der aufgelöst werden muss. Die Geltung des Gesetzes verhindert eine Öffnung (Kommunikation), so dass die Erlösung von außen kommen muss. Es ist Erec auf seinem selbst auferlegten Bußweg zurück in die Gesellschaft, der hier eine doppelte Erlösung stiftet. Sein innerer Bußweg findet in Brandigan sein Ziel, und als säkularisierter Heiliger erlöst er zugleich das Minnepaar. Die Erlösung kommt aber nicht nur in der Gestalt des Stärkeren, sondern auch in der der Gnade. Anders als der gesetzesfixierte Mabonagrin tötet Erec seinen Gegner nicht. Mabonagrin spricht denn auch von einer Art Befreiung: „hiute ist mînes kumbers zil: / nû var ich ûz und swar ich wil.“ (V. 9588f.).67 Die Verschiebung der Paradiessituation auf ein weltliches Minnepaar verändert nicht nur die Relation von Gesetz und Gnade, sondern auch die von Vertreibung und Erlösung: Während die Frau aus dem Minneparadies vertrieben wird, wird der Mann, der unter dem Bann des Gesetzes stand, erlöst. Die Joie de la curt-Episode säkularisiert die Koordinaten des heilsgeschichtlichen Narrativs und stellt ihre Semantik auf den Kopf. 65

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Vgl. die Minnegrotte in Gottfrieds von Straßburg Tristan, das Wunderzelt in Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet (Lanzelet. Eine Erzählung. Hrsg. von Karl August Hahn. Mit einem Nachwort und einer Bibliographie von Frederick Norman [Texte des Mittelalters]. Berlin 1965 [Neudruck der Ausgabe Frankfurt 1845], V. 4836) oder das magische Reich Meliurs in Konrads von Würzburg Partonopier und Meliur (Partonopier und Meliur. Hrsg. von Karl Bartsch. Wien 1871, V. 2330). Hans Robert Jauß: Allegorese, Remythisierung und neuer Mythos. Bemerkungen zur christlichen Gefangenschaft der Mythologie im Mittelalter. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hrsg. von Manfred Fuhrmann. München 1971 (Poetik und Hermeneutik 4), S. 187–209, 198. Kuhn (Anm. 48), S. 35.

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Die Vertreibung aus Karnant ist eine selbst verursachte, der Weg in die fremde Aventiurewelt einer der Bewährung, das Ziel ist die Rückkehr. Am Ende treten eine Reihe von paradigmatischen Szenen auf, die die Einheit betonen: Penefrec als Ort der Versöhnung der Geschlechter und der Gesellen; Brandigan als Ort einer doppelten Erlösung, der Artushof als Ort finaler sozialer Integration, zum Schluss Karnant mit Heimkehr und Himmelfahrt.68 Wie die Legende ist der Erec auf Heimkehr angelegt: Aufhebung der Entfremdung heißt soziale Integration, heißt Einheit von Mann und Frau, Freundschaftsbindung, Einfügung in die Gesellschaft, schließlich Fortsetzung der Genealogie. Erlösung wird als soziale Integration reformuliert und räumlich wie figurativ aufgespaltet. Das Paradies wird durch soziale Räume der Einheit ersetzt. Hartmanns Rückgriff auf Chretiens Strukturmodell beinhaltet auch die Säkularisierung der heilsgeschichtlichen Struktur. Hartmann arbeitet aber deutlicher die Relationen des geistlichen und weltlichen Narrativs heraus. Er setzt nicht nur eine bekannte Paradiestopik ein, er interpretiert sie zugleich um und projiziert sie auf ein anderes narratives Programm. Die Paradiestopik hilft, die beiden zentralen Handlungsfelder der höfischen Kultur schärfer zu profilieren: Minne und Gewalt. Dass solches Ende aber stets ein gutes Ende ist, dass Erec Iders einholt und besiegt, dass Artus den weißen Hirschen erlegt und dass Erec sich wider alle Erwartung gegen Mabonagrin durchsetzt, verdankt sich noch einer übergeordneten Instanz, die Bachtin dem Märchen zuschreibt und Müller-Funk als „mythologische Erzählkonzeption“ bezeichnet. Damit ist auf Lugowskis „mythisches Analogon“ angespielt, der Umstand, dass die Erzählung einer kulturellen Logik von Anfang, Mitte und Ende folgt und den glücklichen Ausgang, das Happy End, vorgibt. Die „Sinnerfüllung des Zufalls“ im höfischen Roman bezeichnet eine Form von Kontingenzbewältigung, in der über die Erzählform der Zufall den Ritter in seinem Streben nach Selbstbehauptung nicht beeinträchtigen kann.69 Wie im christlichen Entwurf die Buße auf die Erlösung rechnet, so im Aventiuremodell das Risiko mit dem Gewinn. Erecs und Enites Weg ist sichtbar ein Bußweg, der eine Schuld („verligen“) abträgt. Und noch der Leser wird in die doppelte Semantik der Fremde mit einbezogen, wenn es am Ende heißt, dass Enite „in dem ellende“ (V. 10107) viel Leid erdulden musste, dafür aber letztlich mit Glück und Seelenheil belohnt wurde, ein Schicksal, das auch uns als Leser „nâch disem ellende“ (V. 10134), d.h. in diesem Leben als Exil, hoffen lässt. Die Koinzidenz geistlicher und weltlicher Topiken bei unterschiedlichen Erzählprogrammen wird von Hartmann literarisch produktiv gemacht. Ein rhetorisches Dichtungsverständnis verfährt topisch, operiert mit Techniken der Kombination und Variation von Topoi, Räumen, Handlungsmustern und Figuren. Die Koordinaten des heilsgeschichtlichen Narrativs werden im Erec geöffnet, kombiniert und variiert. 68

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Vgl. Monika Unzeitig-Herzog: Überlegungen zum Erzählschluß im Artusroman. In: Wolfzettel (Anm. 48), S. 233–253. Hans-Robert Jauß: Epos und Roman – Eine vergleichende Betrachtung an Texten des XII. Jahrhunderts. In: Ders.: Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956–1976. München 1977, S. 310–326, 320.

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IV. Ausblick Wo endet das heilsgeschichtliche Narrativ? Bereits in Kleists Dekonstruktion des Schemas oder erst in den orientierungs- und bewegungslosen Figuren Samuel Becketts? Wie kein zweiter hat Beckett die christlichen Narrative und Metaphern ausgehöhlt und auf ihren leeren anthropologischen Grund reduziert: Warten auf Godot, Das Endspiel. Wenn Beckett in seinem Roman Der Namenlose seine alten Romanfiguren um das Erzähler-Ich sich bewegen lässt, geschieht das bereits ohne Richtung, ohne Rhythmus, ohne Anfang und Ende und ohne Kreisform: „Nirgendwohin gehend und nirgendwoher kommend zieht Malone vorbei.“70 Das ist das Gegenteil der christlichen Botschaft – „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ –, eher die postmoderne Steigerung des von Max Wehrli anthropologisch verankerten Programms der christlichen peregrinatio: Wir sind „immer unterwegs, auf der Suche, in Gefahr.“ Besitzt das Christentum seine Narrative und Metaphern, die ihm im geo- und anthropozentrischen Weltbild einen Halt in geben, so gehen diese dem modernen Menschen verloren. Hans Blumenberg hat dem Phänomen eine weitreichende Reflexion gewidmet: Nicht einmal mehr die Heliozentrik helfe, weil jede Form von Zentrik obsolet geworden sei. Die Erde erscheint der modernen Wissenschaft als ein verlorener Planet in den unendlichen Tiefen des Weltalls. Für die Koppelung von Mythologie und Metaphorologie aber ist signifikant, dass das Paradiesnarrativ selbst diesen negativen Befund ausgehalten hat. Blumenberg hat darauf verwiesen, dass die einsam in der Welt schwebende Erde nun selbst den Rang eines Paradieses einnimmt. In der Leere, Kälte und Verlorenheit des Weltalls wird die Erde zum Ort des Lebens und der Fülle: zur Heimat. Der Ertrag der Mondfahrt mag auch nicht annähernd die Kosten seiner Realisierung aufwiegen, die Mondfahrt hat aber nicht unerheblich die Umkehrung der Blickrichtung mit befördert, aus der der Mensch die Erde betrachtet.71 Nirgends wird diese Umkehr so deutlich, wie in den divergierenden Statements des ersten und des bislang letzten Menschen auf dem Mond. Während Neil Armstrongs berühmter Satz 1969 noch das technologische Fortschrittsnarrativ bemüht: „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer für die Menschheit“, zeigt der Satz von Eugene Cernan (Apollo 17) aus dem Jahr 1972 bereits den veränderten Bewusstseinsstand, das Missverhältnis von Entdeckungspathos und Resultat an: „Wir zogen aus, den Mond zu erforschen. In Wirklichkeit aber haben wir die Erde entdeckt.“72 Das Fortschrittsnarrativ, erhält sichtbar Konkurrenz durch das neue ökologische Narrativ, das nicht weniger paradiesisch fokussiert ist.

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Samuel Beckett: Der Namenlose. Roman. Frankfurt/Main 1959, S. 10. Hans Blumenberg: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Bd. 3: Der kopernikanische Komparativ. Die kopernikanische Optik. Frankfurt/Main 1981 (stw 352), S. 783–794, 787. Joachim Krausse: Buckminster Fullers Vorschule der Synergetik. In: Richard Buckminster Fuller: Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften. Amsterdam u. a. 1998 (Fundus-Bücher 137), S. 268–273, 270 (Die Entdeckung der Erde).

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Abb. 3: Erde

Das Bild von der Erde im Weltall legt noch einmal in Bezug auf die Position des Betrachters oder Erzählers die narrativen Implikationen offen: Diegese, d.h. die Spaltung von Erzähler und Erzähltem, als Mittel der Abstandgewinnung zu therapeutischen Zwecken.73 Vollzieht sich der mittelalterliche Blick als Nahblick auf die unüberschaubare Fülle der Welt, die ihren Sinnhorizont erst im kreisförmigen Rahmen erhält, der mit Christus gleichgesetzt wird, so kehrt sich der Befund mit der Gewinnung von Abstand um. Das Foto tritt an die Stelle der symbolischen Karte. Das Foto aus der Entfernung konfrontiert das Paradies Erde mit Lebensfeindlichkeit, die die Bedrohung in den Rahmen verlegt. Der vom Mond aus gewonnene Abstand bezeichnet aber zugleich die Diegese, den Standort des Erzählers für ein neues, ökologisches Narrativ. Beide Bilder, das mittelalterliche wie das moderne produzieren divergierende Narrative, oder alternative „narrativ formatierte Sehnsüchte“ (Müller-Funk). Die jahrhundertelange Wirkungsgeschichte des heilsgeschichtlichen Narrativs, die konstante Rezeption seines anthropologischen Gehalts, die zahlreichen Umbesetzungen, die es erfahren hat, die Destruktionsbemühungen, die es überlebt hat, all das kennzeichnet es als einen Mythos mit verblüffender „ikonischer Konstanz“.74 Das Bild des abgeschlossenen Gartens, des Paares, der Inszenierung von Fülle, Leben und Heimat, konstituiert einen visuellen und narrativen Rahmen. Wenn aus der Sicht der Wissenschaft dem Mythos auch keine Wahrheit eignet, so bezeugt seine lange Rezeptionsgeschichte eine rhetorische Wirkungsmächtigkeit, die jenseits aller Logik liegt. Es ist dieses rhetorische Moment, das auf Wirklichkeit statt auf Wahrheit zielt, die dem Mythos und der Metapher jenseits des Begriffs ihre überzeitliche Geltung garantieren.75 73 74 75

Vgl. Müller-Funk (Anm. 15), S. 27f. Zur „ikonischen Konstanz“ des Mythos vgl. Blumenberg (Anm. 16), S. 165. Jörg Villwock: Mythos und Rhetorik. Zum inneren Zusammenhang zwischen Mythologie und Metaphorologie in der Philosophie Hans Blumenbergs. In: Philosophische Rundschau 32 (1985), S. 68–91, 80–83.