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German Pages 236 [119] Year 2002
Birgit Rommelspacher
Anerkennung und Ausgrenzung Deutschland als multikulturelle Gesellschaft
Birgit Rommelspacher ist Professorin für Psychologie mit dem Schwerpunkt Interkulturalität und Geschlechterstudien an der Alice Salomon Hochschule Berlin.
Campus Verlag FrankfurtlNew York
Inhalt
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Selbst- und Fremdbilder .....................................
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Fremdheit und Machtinteressen ............................... . Selbst- und Fremdbilder in der europäischen Moderne ............. . Nationale Selbst- und Fremdbilder ............................. . Gleichheitsanspruch und Ungleichheits verhältnisse ............... . Universalismus und Dominanz ................................ .
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Kulturen im Konflikt
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Der Islam und das westliche Selbstverständnis Vom Orientalismus zum »Kampf der Kulturen« ................... . 99 Kultur - Geschlecht - Religion Am Beispiel der Kopftuchdebatte .............................. . 113 Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland ................ . 132 Segregation und Integration Zur Situation ethnischer Minderheiten in Deutschland ............. . 151
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7 8 9 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-593-36863-3 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Copyright © 2002 Campus Verlag GmbH, FrankfurtlMain Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Druck und Bindung: KM-Druck, Groß-Umstadt Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier. Printed in Germany
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111 Modelle des Zusammenlebens
............................... 173
10 Die multikulturelle Gesellschaft Konzepte und Kontroversen 175 11 Erfahrungen aus den USA Affirmative Action ..................................... . 193 12 Pluralität und Egalität ....................................... 205 Literatur
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1 Fremdheit und Machtinteressen
Der Fremde im klassischen Sinn ist derjenige, der aus der Ferne kommt, der unbekannt und unvertraut ist. Er muss aber nah genug sein, um fremd sein zu können, denn Menschen, von denen man nichts weiß, sind einem nicht einmal fremd. Der Fremde ist derjenige, der nah genug ist, um ihn als ein Gegenüber zu begreifen. Das Bild vom Fremden, der aus der Ferne kommt, ist eine Metapher, die einiges verdeutlicht, anderes aber wiederum verdeckt. Es verweist auf das Unbekannte und Unvertraute, das die Fremdheit des Anderen ausmacht. In diesem Bild ist der Fremde in Aktion: Er kommt herein, vielleicht dringt er sogar ein. Unklar bleibt in diesem Bild, warum der Fremde kommt. Kommt er aus eigenem Antrieb oder wurde er gerufen? Vielleicht war er schon vorher da und wurde erst später zum Fremden? Das Bild verstellt den Blick auf die Möglichkeit, dass der Fremde auch ein Vertrauter gewesen sein kann, der - aus welchen Gründen auch immer zum Fremden geworden ist. Der Fremde ist hier schon immer fremd. Insofern erfahren wir nichts darüber, wie er zum Fremden wird. Dies Bild verdeckt also die Genese von Fremdheit und so auch die Möglichkeit des Fremd-machens, der aktiven Grenzziehung und des Ausschließens. So können Menschen, die schon lange in einer Gesellschaft leben, als Fremde betrachtet werden. Das gilt z. B. für Juden in Deutschland, die trotz einer jahrhundertealten gemeinsamen Geschichte von vielen nichtjüdischen Deutschen oft als fremd empfunden werden. Dabei stellt sich die Frage, was macht in dem Fall die Fremdheit aus? Warum macht man sich nicht miteinander vertraut? Was sind die Motive, die die Distanz aufrecht erhalten lassen? Georg Simmel spricht vom Fremden als dem Gast, der heute kommt und morgen bleibt (1908/1992). Aber wie lange bleibt der Fremde ein Gast? Wie verändert sich die Beziehung im Laufe der Zeit? Das Bild vom Fremden, der aus der Ferne kommt, bricht die Geschichte an der Stelle ab, an der das Subjekt aktiv wird und die soziale Distanz festschreibt oder auch aufzuheben versucht. Es verdeckt damit den aktiven Part des Subjekts, indem es ein Überwältigtwerden durch die Unbekanntheit des Anderen nahe legt. Die Beteiligung des Subjekts an der Fremdheit des Anderen zeigt sich schon darin, dass es meist sehr bestimmte Vorstellungen davon hat, was seine Fremdheit 9
ausmacht. Die Gewissheit des Fremdbildes steht dabei in einem eigenartigen Kontrast zur Unbekanntheit des Fremden. Für dieses Phänomen liefert die Psychoanalyse jedoch eine plausible Erklärung, indem sie im Fremdbild die Kehrseite des J Eigenen sieht, ein Produkt der Projektionen eigener verdrängter Impulse. Denn I i gerade der Fremde in seiner Unbekanntheit ist eine geeignete Projektionsfläche. I_ SO spricht Sigmund Freud (1966) davon, dass das Heimelige und Vertraute heimlich, d. h. verdrängt werden musste und dann als Unheimliches beim Anderen erscheint/Dem Selbst werden dabei in erster Linie positive Attribute zugeordnet wie Kompetenz, Reinheit und Stabilität, dem Fremden die negativen wie Gewalt, [' Schmutz und Chaos. Diese Psychodynamik der Fremdheitskonstruktion dient dazu, das Selbst abzusichern, indem im Bild des Fremden all das angesammelt wird, was für das Ich bedrohlich erscheint. Damit steht das Fremdbild in einer geradezu intimen Beziehung zum Subjekt, ist es doch aufs Engste mit dem Selbstbild verwoben. Daraus lässt sich auch die Faszination des Fremden erklären, er stellt die Kehrseite des Eigenen dar. Das 1__ Fremde fasziniert, weil es das symbolisiert, was das Eigene nicht enthält. So kann es z. B. auch für das Abenteuer, die Ungebundenheit, die Lebensfülle, die Natür-\ lichkeit und die Lebendigkeit stehen - also die Kehrseite all dessen, was die Anpassung an die gegebene Ordnung erfordert. Je mehr vom Selbst an das Fremde ; delegiert wird, desto unkenntlicher wird jedoch auch das Selbst. Das Innere wird , zunehmend leer, das Eigene kaum mehr greifbar. So fällt es oft leichter, den Fremjden zu schildern als zu beschreiben, was das Eigene ausmacht. Fremdheit speist sich also aus der Entgegensetzung zum Eigenen. Dabei gibt es sehr unterschiedliche Bilder vom Fremden, die jeweils nicht nur unterschiedliche Aspekte des Selbst repräsentieren, sondern auch unterschiedliche Erfahrungen mit den jeweils Anderen zum Ausdruck bringen. Denn nicht jeder Fremde ist auf gleiche Weise fremd. So gibt es in der deutschen Gesellschaft ganz unterschiedliche Prototypen des Fremden, z. B. wenn wir an das Bild von »dem« Moslem als dem Fremden denken oder aber an die Fremdbilder, wie sie von Juden existieren, von Sinti und Roma oder von Menschen mit schwarzer Hautfarbe. Und hier liegt auch I die Grenze der psychoanalytischen Erklärungskraft, die den [Fremden als leere Projektionsfläche versteht, auf der die eigenen Phantasien ~bgebildet werden. Denn tatsächlich ist es nicht gleichgültig, wer der Fremde ist. Auch die jeweiligen Beziehungen gehen in die Bilder von ihm ein. Die Projektionsebene vermischt sich mit der Beziehungsebene, so dass das Bild vom Anderen sowohl etwas über das Selbst aussagt, wie auch über die Beziehung zum Anderen. D. h. das Bild vom Fremden ist weder ausschließlich ein Produkt eigener Projektionen, noch ist es ein Abbild des Anderen, sondern in dem Bild kommt vor allem die Beziehung zueinander und ihre Geschichte zum Ausdruck. Dabei muss hier zwischen einer allgemeinen Kategorie des Anderen und 1
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einer spezifischeren des Fremden unterschieden werden. Beide Begriffe zielen auf die Konstruktion eines Gegenübers und decken sich insofern weitgehend auf der analytischen Ebene. Im Grunde kann jede Differenz als Fremdheit interpretiert werden. Sie wird jedoch umso mehr als Fremdheit verstanden, je mehr die U nvertrautheit in den Vordergrund geschoben und die Differenz als symbolische Grenze erfahren wird, die zwischen »Ihr« und »Wir« trennt. Fremdheit in einem sehr allgemeinen Sinn kann auf Erfahrung von Differenzen zurückgeführt werden, die wir im Alltag ständig erleben. So gibt es eine Reihe von Theoretikern, die die immer weitere funktionale Differenzierung in unserer Gesellschaft dafür verantwortlich machen, dass jeder Mensch sich mehr oder weniger ständig selbst als fremd erfahrt. Das Individuum gehört immer gleichzeitig verschiedenen sozialen Welten an. Deshalb ist es, etwa nach der Analyse von Zygmunt Baumann, aus jeder »entwurzelt« und in keiner »zu Hause«. »Man kann sagen, dass es der universale Fremde ist« (1992a, S. 124, vgl. dazu auch Beck 1996b). So wird Fremdheit zur Grunderfahrung des Lebens in der postmodernen Gesellschaft überhaupt. Mit dieser Analyse wird deutlich, dass man auch sich selbst fremd werden kann, je nachdem wie sehr die unterschiedlichen sozialen Rollen Distanzen zum eigenen Selbstkonzept herstellen beziehungsweise die Entwicklung eines solchen überhaupt erschweren. Die Tatsache fragmentierter Lebenserfahrungen hat jedoch in unterschiedlichen Kontexten ein unterschiedliches Gewicht. Es kommt darauf an, ob die Zugehörigkeit zu verschiedenen Lebenssphären auch als konflikthaft oder gar als unzulässige Überschreitung symbolischer Grenzziehungen interpretiert wird. Die Erfahrung der Selbstentfremdung, die sich aufgrund der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Systemen innerhalb der Gesellschaft entwickeln kann, ist also zu unterscheiden von Fremdheitskonstruktionen, die z. B. die Anderen vom Zugang zur Gesellschaft insgesamt oder aber zu bestimmten Ressourcen ausschließen. Die Grenzlinien besitzen also unterschiedliche Bedeutungen: Je mehr die Grenzen für die Beteiligten problematisch sind und zu Irritationen führen, je mehr sie mit dem Verweis auf die Unbekanntheit des Anderen gezogen, also mit Fremdheit begründet werden, und schließlich, je mehr sie auch pragmatische Konsequenzen im Sinne von Ausschluss haben, desto mehr werden die jeweils Anderen zu Fremden. Es geht also nicht nur um die Tatsache von Differenzen überhaupt, sondern auch um die Frage, welche Intentionen mit der Feststellung von Unterschieden verknüpft sind, d. h. inwiefern sie der Exklusion und symbolischen Grenzziehung dienen. Je entschiedener die Grenzen gegenüber dem Anderen gezogen und die Gemeinsamkeiten getilgt werden, desto mehr wird der Fremde zum Feind. Fremdes und Eigenes wird nun als unvereinbar und die Andersheit des Anderen als gegen das Selbst gerichtet empfunden. Die Distanz wird verabsolutiert. Das hebt jedoch 11
nicht die Bindung zu ihm auf, sondern im Gegenteil, sie wird umso stärker je mehr dabei der Fremde zum Gegenbild des Selbst (Schäffter 1991), zum negativen Vergleichsobjekt wird. Die Bestimmtheit des Feindbildes weist auf die Entschiedenheit,hin, mit der die Distanz aufrecht erhalten werden soll. Fremdheit lässt sich also nicht auf Unbekanntheit reduzieren, sondern in ihr drückt sich immer auch eine spezifische Beziehungsdynamik aus. Insofern konstituiert sich Fremdheit nach der Analyse der Forschungsgruppe um Herfried Münkler (1998) immer aus der kulturellen und der sozialen Fremdheit. Kulturelle Fremdheit meint die Unvertrautheit zwischen Menschen aufgrund von unterschiedlichem Wissen, Erfahrungen und unterschiedlichen Weltanschauungen. Soziale Fremdheit hingegen zeigt sich in der sozialen Distanz, die den Anderen zu einem Menschen außerhalb der eigenen Bezugsgruppe macht. Fremdheit ist also keine anthropologische Konstante, die dem jeweils Anderen zukommt, sondern sie ist eine Beziehung, in der es vor allem um die Frage von Nähe und Distanz geht. Die soziale Distanz basiert dabei auf der Feststellung von Unvertrautheit. Wie sehr die Anderen dabei als etwas dem Eigenen Entgegengesetztes verstanden werden, hängt wiederum entscheidend davon ab, auf welcher Geschichte die Beziehung zum Anderen basiert, in welchem Kontext die Fremdheit entstanden ist und welche Motivation sie aufrecht erhält. Im Folgenden wird es nun um die Frage gehen, wie die Genese der verschiedenen Fremdbilder zu erklären ist, und was sie über die jeweiligen sozialen Beziehungen aussagen. Dabei wird auch zu fragen sein, wer jeweils die Definitionsmacht inne hat, um die Bilder vom jeweils Anderen durchzusetzen. Zuvor geht es aber zunächst um die Frage, wie in unserer Gesellschaft die Grenzen zwischen »Ihr« und »Wir« gezogen werden, wie Fremdheit erlernt und aufrecht erhalten wird.
Grenzziehungen In der Kindheit hängt Fremdheit zunächst mit den Grenzen des eigenen Aktionsradius zusammen, der sich im Laufe der Entwicklung immer mehr ausweitet. Fremde sind zunächst alle außerhalb des unmittelbaren Nahraums, also die Menschen außerhalb der Familie, der Wohnung und der Nachbarschaft. Später sind es die Leute aus dem anderen Stadtviertel, aus einem anderen Ort etc. Aber dann geschieht etwas Interessantes: Das Fremdheitserleben koppelt sich zunehmend von der Dimension örtlicher Nähe und Distanz ab und verknüpft sich mit sozialen Kriterien wie der Ethnizität oder auch der sozialen Schicht: So werden z. B. von den Kindern der Mittelschicht die Menschen in der Obdachlosensiedlung als ebenso 12
fremd empfunden wie die Reichen in den Villenvierteln, denen sie zunehmend mit Scheu begegnen. Die Fremdheitserfahrungen markieren die Bereiche des Erlaubten und Verbotenen in der Gesellschaft und geben den Kindern eine sozial-emotionale Landkarte mit, die ihnen zeigt, in welchen Bereichen sie sich aufhalten können und wovon sie sich fern zu halten haben. Die Emotionen von Faszination und Angst haben dabei eine wichtige Steuerungsfunktion, die das Kind auf das Neue zugehen oder davor zurückschrecken lassen. Diese Emotionen sind aber einem sozialen Lernprozess unterworfen, der das Kind in einer spezifischen Weise in die Gesellschaft hineinführt (ausführlicher dazu Rommelspacher und Holzkamp 1995). Im Laufe der Entwicklung kann sich Fremdheit aber auch gegenüber den Vertrauten entwickeln. So können etwa in der Jugendzeit den Heranwachsenden ihre eigenen Eltern fremd werden, wie auch umgekehrt die Eltern in dieser Zeit oft ihre eigenen Kinder nicht mehr wiedererkennen. Aus denjenigen, die am vertrautesten waren, sind Fremde geworden. Die Jugendlichen sehen ihre Eltern plötzlich mit anderen Augen, denn sie beginnen in dieser Phase, ihre Eltern zu relativieren und sich von ihnen zu distanzieren. Diese Distanzierung erfordert Trennungsaggression. So sagt Freud (1967), nicht Fremdheit macht aggressiv, sondern in der Aggression machen wir uns die Anderen fremd. Wir schieben sie von uns, so wie wir umgekehrt in der Liebe und Zuneigung die Anderen an uns heranziehen. Die Jugendlichen gehen in Distanz zu ihren Eltern, weil sie nicht so sein, nicht so werden möchten wie sie. Sie wollen und müssen ihren eigenen Weg gehen, der sich von dem der Eltern unterscheidet. Fremdheit ist also eine dynamische Kategorie, die sich je nach Art der Beziehung ändern kann. Auf der individuellen Ebene spielen dabei die Emotionen eine wichtige Rolle, die einen vom Anderen wegdrängen oder ihn attraktiv erscheinen lassen. In diese Emotionen geht aber nicht nur die persönliche Bedeutung des Anderen ein, sondern auch seine soziale und gesellschaftliche Relevanz. Gefühle wie Angst oder Aggression ebenso wie Bewunderung und Sympathie sind nicht nur persönliche Angelegenheiten, sondern werden in einem Kontext gelernt, für den sie im Interesse der Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung funktional sind. Das wird anhand einer Untersuchung deutlich, die Ruth Frankenberg (1993) in den USA über die soziale Konstruktion von Weiß-Sein durchgeführt hat. Darin geht sie der Frage nach, wie weiße Kinder im Laufe ihrer Sozialisation lernen, sich selbst als weiße zu begreifen. Anhand von Biographien weißer Frauen zeigt sie, wie diese nicht nur gelernt haben, sich mit ihrer sozialen Umwelt vertraut zu machen, sondern sich auch vor allem schwarzen 'Menschen fremd zu machen, indem sie diese mit Stereotypien und meist negativen Emotionen belegen und sie zunehmend als gefährlich und fremd erleben lernen. In den Interviews können sich zum Beispiel einige der weißen Frauen kaum an schwarze Menschen in ihrer 13
Kindheit erinnern, selbst wenn sie ihnen etwa als Kindermädchen sehr nahe gestanden haben. Die Menschen, die sie kannten, verschwinden gewissermaßen hinter den Stereotypien und werden als Personen häufig ganz »vergessen«. Die Bedeutung, dje sie für sie hatten, wird ihnen entzogen. Frankenberg bezeichnet diesen Prozess des Fremdrnachens und Vergessens als De-Familialisierung. In der De-Familialisierung werden also die beiden Dimensionen von Fremdheit miteinander verknüpft, und zwar zum einen die soziale im Sinne von Nicht-Zugehörigkeit und zum anderen die kultureIle im Sinne von Unvertrautheit. Die Anderen werden sowohl aus dem sozialen Umfeld ausgeschlossen als auch zu Unbekannten und Unvertrauten gemacht. Dabei begründet die »Andersartigkeit« der Anderen die soziale Distanz. Fremd machen bedeutet also, die Anderen kognitiv, emotional und sozial in die Distanz zu schieben und diese aufrechtzuerhalten, indem die Anderen mit Bildern besetzt werden, die als Gegenbilder zum Eigenen fungieren. Das Gemeinsame wird aus der Wahrnehmung ausgeschlossen und das Trennende wird betont und so ins Extrem gesteigert, dass die Unterscheidung immer selbstverständlicher, ja »normal« und »natürlich« erscheint. Herfried Münkler und Bernd Ladwig (1998) nennen die Fremdheit, die sich aus dem Vertrauten ergibt, »sekundäre Fremdheit«. Um das Interesse an Abgrenzung zu verbergen, wird die Unterscheidung polemisch aufgeladen, »weil es einen Bedarf an drastischen Distinktionen gibt, der aber als solcher wegerklärt werden muss, um wirken zu können« (S. 21). Das gelingt umso leichter, je mehr geseIlschaftliche Stereotype die Fremdheit des Anderen betonen und ihn als gefl:ihrlich und bedrohlich schildern. Mit der De-FamiIiaiisierung werden die Anderen in die Distanz geschoben und zugleich entwertet. In der Untersuchung von Frankenberg zeigt sich das z. B. am »Vergessen« der schwarzen Kindermädchen: Sie werden aus dem Gedächtnis getilgt, denn sie sollen keine Bedeutung mehr für das Subjekt haben. Sie gelten nicht nur als fremd, sondern auch als so unbedeutend, dass man sich an sie nicht einmal mehr erinnert. Denn die Schwarzen sind nach herrschender Auffassung »kein Umgang« für die Weißen. Sie werden aus der Erinnerung ausgelöscht, so wie sie aus dem sozialen Umgang ausgeschlossen werden. Mit der Distanzierung wird also auch eine soziale Asymmetrie hergesteIlt, indem den Anderen Wertschätzung und Anerkennung verweigert wird. Die soziale Distanz ist dabei notwendige Voraussetzung für die Abwertung, denn aus der Nähe betrachtet ist nicht zu verstehen, warum z. B. Menschen mit schwarzer Hautfarbe weniger Wert haben und weniger Ansehen genießen sollen als Weiße. Insofern haben in dem Fall die Stereotypien die Funktion, gesellschaftliche Statuszuweisungen zu rechtfertigen. Dabei »erklärt« die Fremdheit der Anderen die soziale Distanz, und ihre negativen Konnotationen begründen die Herabsetzung. Der Zusammenhang zwischen Fremdheit und sozialer Hierarchie, also zwi14
schen der gleichsam horizontalen Achse der Differenz und der vertikalen Achse sozialer Ungleichheit, stellt sich jedoch, wie wir im Laufe dieser Untersuchung noch vielfach sehen werden, je nach Kontext und Interessenslage jeweils unterschiedlich her. Die Etablierung eines solchen Zusammenhangs konnten wir in Deutschland z. B. während der deutsch-deutschen Vereinigung gewissermassen in statu nascendi beobachten: Beim Fall der Mauer wurden zunächst einmal Gleichheitserwartungen aktiviert indem auf die nationale Einheit, die kulturellen Gemeinsamkeit und die soziale Verbundenheit der »Brüder und Schwestern« aus Ost und West hingewiesen wurde. Im Laufe der Zeit wurden jedoch immer mehr Differenzen festgestellt, die aus der jeweils unterschiedlichen Geschichte resultierten, die sich aber zunehmend mit asymmetrischen Beziehungserfahrungen verbanden, denn die nun herrschende Normalität wurde im wesentlichen von den Westdeutschen bestimmt. Durch den Beitritt der DDR hatten alle Regelungen des politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens der alten Bundesrepublik nun auch in den »neuen Ländern« Geltung. Das wurde zur Grundlage vieler konkreter Asymmetrieerfahrungen wie Horst Stenger in seiner Untersuchung über ostdeutsche WissenschaftlerInnen feststellt, denn: »Die westdeutschen Wirklichkeitsvorstellungen galten mit derVereinigung unvermindert fort, während das in der ostdeutschen Vergangenheit bewährte Wirklichkeitswissen schlagartig obsolet wurde« (1998, S. 323). Das zeigt sich bei den ostdeutschen WissenschaftlerInnen z. B, darin, dass sie sich nicht als »normale« Deutsche empfinden, sondern als die anderen Deutschen. Sie fühlen sich ihrem eigenen Deutsch-Sein ein Stück weit entfremdet, denn ihre bisherigen Erfahrungen wurden weitgehend entwertet. Sie müssen ihr gesamtes Wissen noch einmal daraufhin überprüfen, ob es unter den neuen Bedingungen für ihre Arbeit und ihre Lebensbewältigung noch dienlich ist. Einer der Befragten drückt dies in dem Bild aus, dass er das Gefühl habe, seit der Wende nach Westdeutschland umgezogen zu sein, ohne dass er tatsächlich seinen Wohnort gewechselt habe. Ihre Kompetenz als Wissenschaftler wird tendenziell in Frage gestellt, so dass sie vielfach das Gefühl haben, als »Ost-Laien« den» West-Experten« gegenüber zu stehen. Sie leben in den »neuen« Bundesländern, d. h. ihnen wird das Stigma der »Spätgekommenen« aufgedrückt und oft haben sie das Gefühl, dass sie von den Westdeutschen als Belastung erlebt werden. Ihnen wird, wie Stenger resümiert, die Gleichwertigkeit verweigert. Der zunächst vielleicht naive Glaube an Gleichheit und die Erwartung von Gemeinsamkeit wird enttäuscht. Die Ungleichheitserfahrung wird zum Fremdheitserleben. Die Einseitigkeit, mit der die Westdeutschen die Standards vorgeben und die Anderen als abweichend davon stigmatisieren, drückt die soziale Hierarchie aus. Der Experte und der Laie stehen in einer hierarchischen Beziehung zueinander, ebenso wie der Alteingesessene und der Neuankömmling. Diese Asymmetrie15
struktur ist eine Rahmenbedingung, die alle Ost-West Kontakte prägt. Sie kann jeweils im konrekten Fall aktualisiert werden, muss es aber nicht (ebd. S. 323). Um die Distanz und die Hierarchie aufrechtzuerhalten, müssen die symbolischen Grenzen zwischen »Ihr« und »Wir« immer wieder neu gezogen und bestätigt werden. Das geschieht vor allem dadurch, dass die Stereotypen über die Anderen in den Medien, im Alltag, in der Wissenschaft und der Politik immer wieder reproduziert werden. Das gilt für die Grenzziehung zwischen Ost- und Westdeutschen ebenso wie zwischen den Deutschen und denen, die als nicht »eigentlich« Deutsch gelten, wie Menschen mit dunkler Hautfarbe oder Menschen nichtdeutscher Herkunft. Die Grenzen werden dabei mithilfe von Identifikationsritualen gezogen, bei denen die Anderen als Fremde identifiziert und auf ihre Fremdheit hingewiesen werden. Das geschieht in unserer Gesellschaft häufig z. B. mithilfe solch alItäglicher und harmlos erscheinender Fragen wie» Woher kommen Sie?«, wenn diese Fragen direkt und unvermittelt Menschen gesteIlt werden, die nicht den VorsteIlungen von einem Normdeutschen entsprechen. Die Frage ist oft freundlich gemeint und soll Interesse am Anderen bekunden - aber an ihm als dem Fremden. Denn wenn der Andere, z. B. ein Mensch mit schwarzer Hautfarbe, sagt, er komme aus Köln, gibt man sich in der Regel nicht damit zufrieden, sondern möchte gerne wissen, woher er denn nun wirklich komme. Erst wenn er auf seine Vorfahren, z. B. aus Nigeria verweist, ist man beruhigt. Dann hat er die Fremdheitsvermutung bestätigt, nach der schwarze Menschen nicht. aus Deutschland kommen können. Der Ritualcharakter dieser Fragen zeigt sich darin, dass das Interesse an der anderen Person meist sehr schnell erlischt, wenn Informationen im gewünschten Sinn gegeben worden sind - ihre Funktion ist erfüllt und die Ordnung wieder hergestellt. Die Identifizierung des Anderen als Fremden gibt einem dabei selbst die Gewissheit dazuzugehören. In der Aneignung des Eigenen und Ausgrenzung des Fremden wird die Welt gegliedert, sie wird verständlich und verfügbar gemacht. Gleichzeitig zeigen diese Grenzziehungen immer auch, dass es Alternativen zu der so konstruierten Ordnung gibt, andere Perspektiven, andere Lebensweisen und Ordnungsvorstellungen. So führt Fremdheit die Kontingenz der bestehenden Ordnung vor Augen: Es könnte alles auch anders sein. Deshalb ist Fremdheit immer auch irritierend, und »Der Stachel des Fremden« (Waldenfels 1990) ist ebenso Antrieb für Entwicklung und Dynamik wie für permanente Absicherungs- und Abschottungsbemühungen. Dabei bekommen die Abschottungsbemühungen ein besonderes Gewicht, wenn sie mit Machtinteressen verknüpft sind.
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Fremdheit und soziale Hierarchie Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (1996) unterscheidet in seiner Analyse strukturelle Distanzen in der Gesellschaft, die sich durch unterschiedliche Zugänge zu Ressourcen wie Einkommen, Bildung und beruflichem Status ergeben, von kulturellen Distanzen, die sich aufgrund unterschiedlicher Werte etwa in Bezug auf die Lebensführung, das Geschlechterverhältnis oder die Religion ergeben. Aus dem Zusammenwirken dieser Faktoren ergeben sich »kulturell-strukturelle Segregationen«, also Trennungen zwischen Einkommens- und Statusklassen aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Wenn die Fremden den ihnen zugewiesenen Platz in den Nischen der Gesellschaft verlassen und ihren Anteil an den gesellschaftlichen Ressourcen einfordern, wie wir das derzeit zum Teil bei der zweiten und dritten Generation der so genannten GastarbeiterInnen erleben, dann müssen die Etablierten in Konkurrenz mit denen treten, die sie vorher als nicht ebenbürtig betrachtet haben. Das erscheint erniedrigend, denn »ihr überlegener Status, der ein integrales Element des individuellen Selbstwertgefühls und des persönlichen Stolzes vieler ihrer Angehörigen bildet, wird dadurch bedroht, dass die Mitglieder einer im Grunde verachteten Außenseitergruppe nicht nur soziale Gleichheit, sondern auch menschliche Gleichwertigkeit beanspruchen« (Elias 1984, S. 50f.). Es droht den Etablierten also nicht nur der Verlust ihrer sozialen Position, sondern auch der der persönlichen Identität, da diese sich eben auch auf Status und Macht stützt und durch Entwertung des Anderen abgesichert wird. Die alte Ordqung droht ihre Gültigkeit zu verlieren, und ohne die Attribute sozialer Überlegenheit scheint das Leben wertund sinnlos zu werden. Das heißt, dass mit der sozialen Ordnung immer auch das Selbstverständnis der Etablierten zur Disposition steht. Die ArbeitsmigrantInnen, die in den 50er und 60er Jahren ins Land gerufen worden waren, bildeten damals die neue Unterklasse, und die einheimische Bevölkerung konnte auf ihre Kosten aufsteigen. Die Spannung besteht nun - nach der Analyse von Hoffmann-Nowotny - vor allem darin, dass Positionen, die prinzipiell für alle offen sein sollten, wenn sie die entsprechende Leistung bringen, bevorzugt an die vergeben werden, die der helTschenden Kultur angehören. Diese doppelte Moral macht die Position der Etablierten prekär. Deshalb bedarf es vermehrter Bemühungen vonseiten der Alteingesessenen, ihre Positionen zu verteidigen und zu legitimieren - und das umso mehr, je selbstbewusster die Minderheiten auftreten und ihren gerechten Anteil an den gesellschaftlichen Ressourcen einfordern. Der Widerspruch zwischen Leistungsprinzip und ethnischer Privilegierung führt dann zu einer forcierten Selbstbehauptung bei den Etablierten, indem die Anderen besonders drastisch zu Fremden gemacht werden und die Unvereinbarkeit zwischen den Kulturen unterstrichen wird, um das eigene Distinktions17
bedürfnis zu rechtfertigen und hinter der Kulturdifferenz zum Verschwinden zu bringen. Soziale Schließungen von seiten der Etablierten setzen sich im Alltag vor allem mithilfe der ,herrschenden Normalitätsvorstellungen durch. Die Mehrheitsangehörigen glauben, dass das Leben in der Normalität sie befugt, die Bedingungen zu diktieren, unter denen sie sich bereit erklären, den Anderen die Tür ein Stück weit zu öffnen und sie gegebenenfalls auch wieder zu schließen. Besonders deutlich und direkt kommt dieser Anspruch in Äußerungen von Rechtsextremen zum Ausdruck, die ohne Umschweife zahlreiche Bedingungen nennen, die die Fremden zu erfüllen hätten, wenn sie Ansprüche an die Gesellschaft geltend machen wollten. So fordern die Rechten z. B., dass die »Ausländer« nur dann das Wahlrecht, ein Recht auf Arbeits- oder Kindergartenplätze bekommen sollten, wenn sie sich in ihrem Alltagsverhalten und Erscheinungsbild vollständig deutschen Gepflogenheiten anpassen (vgI. Kap. 8). Aber meist laufen diese Ausgrenzungsprozesse subtiler ab und sind den Mehrheitsangehörigen vielfach nicht einmal bewusst. Das erklärt auch die häufig anzutreffende Diskrepanz zwischen der faktischen Diskriminierung von ethnischen Minderheiten in unserer Gesellschaft und der Selbstwahrnehmung vonseiten der Mehrheitsangehörigen, dies weder zu woUen noch tatsächlich zu tun. So zeigen z. B. Untersuchungen an deutschen Hochschulen, dass dort Angehörige ethnischer Minderheiten auf vielfältige Weise ausgegrenzt werden. Auf der anderen Seite sind die deutschen Studierenden sich aber in der Regel dessen kaum bewusst. Im Gegenteil, die meisten empfinden sich als offen, interessiert und tolerant. Dennoch werden z. B. die nicht-deutschen Studierenden sehr häufig vom sozialen Kontakt in studentischen Arbeitsgruppen und damit vom Zugang zu inf-ormellem Wissen ausgeschlossen, was für den Studienerfolg von ganz erheblicher Bedeutung ist (vgl. Gaitanides und Kirchlechner 1996 und Nave-Herz 1994). Dabei gibt es immer gute Gründe, den Ausschluss zu rechtfertigen, so etwa dass man unter Stress und Zeitdruck stehe. Die Effizienz wird gewissermaßen zu einem »neutralen« Kriterium, das niemand in Frage stellt. Aber auch wenn es in einzelnen Fällen aufgrund von Sprachproblemen zu Verzögerungen in der gemeinsamen Arbeit kommen kann, so wird diese Norm doch oft generalisiert auf eine Fremdheit hin, die stört, auch wenn sie den Ablauf nicht beeinträchtigt, wie etwa das Sprechen mit einem nicht-deutschen Akzent. Der Bezug auf das reibungslose Funktionieren scheint den Mehrheitsangehörigen das Recht und die Macht zu geben, diejenigen, die davon abweichen, zurückzusetzen. Das Privileg der Normalität ist jedoch nicht umsonst zu haben. Es fordert Unterordnung unter die herrschenden Regeln, denn wollen die Mehrheitsangehörigen die Macht der Normalität für sich nutzen, müssen sie selbst in der Norm leben. Sie müssen sich zumindest nach außen auch den Normen fügen. Sie müs18
sen gerade in der Vorbildlichkeit ihrer Anpassung den Anderen ihren abweichenden Status demonstrieren. Dies haben Norbert Elias und John Scotson in ihrer Untersuchung über »Etablierte und Außenseiter« (1990) sehr anschaulich dargestellt, nämlich wie z. B. die Kinder der Etablierten teilweise mühsam lernen mussten, sich den herrschenden Regeln zu unterwerfen, wie etwa den Leistungsnormen, den Normen von Anständigkeit und Rechtschaffenheit, und wie sie das Zelebrieren von Distinktion zu erlernen hatten anhand der Körperhaltung oder Kleiderordnung. Der Preis für die zukünftige Privilegierung ist die Unterwerfung unter die bestehende Autorität und Internalisierung der herrschenden Normalität. Den Nachkommen der Etablierten wird ein Platz in der Gesellschaft versprochen, wenn sie sich einordnen. Sie lernen die Umgangsformen, die sie als Mitglieder der »besseren Gesellschaft« ausweisen, und informelles Wissen, das für die Erreichung prestigeträchtiger Positionen wichtig ist. In diesem Sinn ist die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, einer sozialen Klasse wie auch einer ethnischen Gruppe immer Ressource wie auch Quelle von Repression. Mit der sozialen Positionierung erfährt man also nicht nur, wo man hingehört, sondern lernt zugleich, sich von denen zu distanzieren, die nicht dazugehören sollen. Die eigene Zugehörigkeit verspricht Stabilität und Sicherheit, erfordert zugleich auch Anpassung und Unterordnung. Somit ist auch die Privilegierung durchaus ambivalent - und im Verhältnis zu den Ausgegrenzten zeigt sich dieser Widerspruch, indem diese als bedrohlich und faszinierend zugleich erlebt werden. Sie erinnern an das Andere der sozialen Ordnung und an den Preis, den man für die Zugehörigkeit zu den Etablierten zahlen muss. Nun ist es kein Zufall, wer in einer Gesellschaft als fremd gilt und wer nicht. Insofern sollen im Folgenden unterschiedliche Dimensionen herausgearbeitet werden, die die Fremdbilder in unserer Gesellschaft bestimmen - dies in erster Linie aus Sicht der Angehörigen der Mehrheitskultur, weil diese im Wesentlichen über den Umgang mit Differenzen in dieser Gesellschaft entscheiden. Dabei wird es vor allem um kulturelle Differenzen gehen. Unter Kultur wird dabei in Anlehnung an Bhikhu Parekh (2000) die Art verstanden, wie eine Gesellschaft das menschliche Leben versteht und organisiert. In Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt und ausgehend von den jeweiligen Traditionen entwickeln die Menschen unterschiedliche symbolische Ordnungen, also unterschiedliche Systeme von Bedeutungen, die ihnen Sinn vermitteln und Orientierung bieten. Dabei werden die Rollen und die Verantwortung in der Gesellschaft nach bestimmten Mustern verteilt und so bestimmte Macht- und Prestigesysteme etabliert. Auch innerhalb der Kultur ergeben sich jeweils konfligierende Erzählungen und Interpretationen, die zu ständigen Umarbeitungen in der jeweiligen Kultur führen. Ebenso wie sich unterschiedliche Kulturen im Laufe der Zeit herausbilden und sich kontinuierlich verändern, so entwickelt und verändert sich auch das, was als 19
fremd empfunden wird. Fremdheit ist nicht nur Ausdruck einer aktuell erlebten Beziehung, sondern meist auch Niederschlag einer langen Geschichte der Auseinandersetzung und eines tradierten» Wissens« über die Fremden. Dabei wurden die Fremdbilder immer in Korrespondenz zu den Selbstbildern geschaffen. Deshalb werden wir uns im Folgenden auch mit den Hintergründen und Entwicklungen des eigenen Selbstverständnisses befassen und fragen, was die wesentlichen Faktoren sind, die die Selbstbilder der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland als einem modernen europäischen Land bestimmen. Eine wesentliche Basis dieses Selbstverständnisses liegt in dem, was wir heute mit dem geopolitischen und zugleich kulturellen Begriff der »westlichen Welt« meinen. Dieser stützt sich wiederum auf den im Laufe der christlichen abendländischen Geschichte entwickelten europäischen Kulturraum. Dabei ist das Spezifische dieser Kultur vor allem das, was wir die Moderne nennen, denn Europa nimmt für sich in Anspruch, diese hervorgebracht zu haben - im Unterschied zu allen anderen Kulturen der Welt. Ein weiterer zentraler Faktor in der Konstruktion von Eigenem und Fremdem war im Zuge der modernen europäischen Entwicklung die Nation. Sie schuf neue politische Einheiten, die neue Selbst- und Fremdbilder notwendig machten. Diese wurden für das Selbstverständnis der Menschen so bedeutsam, dass auch vormals Vertraute nun teilweise in tödlicher Feindschaft einander gegenüberstanden. Bis heute prägen die nationalen Grenzen das Selbst- und Fremdbild entscheidend, so dass etwa in Deutschland der Begriff »Ausländer« zum Synonym für den Fremden geworden ist. Im Zuge der Nationbildung spielt aber auch die Frage des Politischen eine entscheidende Rolle, d. h. die Frage, wie das Zusammenleben der Menschen zu organisieren, wie mit unterschiedlichen Interessen und Differenzen umzugehen sei. Die modernen Demokratien hatten mit der Deklaration der Menschenrechte die Gleichheit aller zum Programm gemacht. Die Frage ist nun, inwiefern dies Egalitätspostulat Raum für Verschiedenheit lässt und Pluralität unterstützt oder inwiefern die Gleichheitsvorstellungen selbst zur Konstruktion von Differenzen beitragen, die soziale Ungleichheiten legitimieren. Schließlich geht es um die Bedeutung des Universalen, da der Blick auf die ganze Menschheit gerade in der abendländischen Geschichte immer eine wichtige Rolle spielte. Zudem wird die Besonderheit der je unterschiedlichen Nationen oder Kulturen angesichts der weltweiten Vernetzungen zunehmend obsolet, d. h. die Frage wird immer dringlicher, wie wir mit Differenzen umgehen angesichts des angeblichen» Verschwindens von Fremdheit« in einer globalisierten Welt.
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2 Selbst-und Fremdbilder in der europäischen Modeme
Mit der Moderne und ihren elementaren Umwälzungen der gesamten Lebensverhältnisse, der Wirtschaft, Politik und Religion, entstanden neue Selbst-und Fremdbilder. Die Menschen mussten sich neu in der Gesellschaft und im Kosmos verorten, da die politischen Revolutionen den mittelalterlichen Ständestaat aufgelöst und die Aufklärung die von Gott gewollte Ordnung in Frage gestellt hatten. In den Jahrhunderten zuvor war das europäische Selbstverständnis im Wesentlichen durch die christliche Kultur geprägt worden und der Protoyp des Fremden waren hier die Heiden, die Ungläubigen oder die Ketzer gewesen. Diese Vorstellungen vom Fremden transformierten sich in der Neuzeit zunehmend in Bilder vom »Wilden«, denn durch die weltweiten Eroberungszüge des Kolonialismus wurde Fremdheit vor allem im kolonial Unterworfenen symbolisiert. Bekanntlich »entdeckte« Rousseau vor allem den »Edlen Wilden«, wohingegen Hobbes die »Wilden« in erster Linie als böse ansah. Diese Polarisierung in der Wahrnehmung macht bereits den projektiven Charakter dieser Fremdheitskonstruktionen deutlich. Der »Edle Wilde« steht dabei für die Harmonie des Urzustandes, an die sich die Erlösungsphantasien der Paradiesvorstellungen knüpfen können. Hier gibt es noch die Ganzheitlichkeit, Authentizität und das Gute einer »natürlichen« Ordnung, die im Zeitalter der Industrialisierung, politischer Revolutionen und Massengesellschaften verloren gegangen war. Er »zeigt das fiktive Idealbild, das Ziel eines gewaltlos gelingenden Lebens« (Fink-Eitel 1994, S. 9). Das Paradies ist aber unwiderruflich verloren und die Welt strebt auf ein neues Paradies zu, das nun aber den ganzen Erdkreis umfassen soll. Und so ist auch nach Rousseau der Edle Wilde zu »zivilisieren«, der in seiner Naivität noch einem Urzustand anhängt, den es längst nicht mehr gibt. Der »Edle Wilde« wird zum Inbegriff von Harmlosigkeit, Fügsamkeit und Zivilisierbarkeit. Der »Böse Wilde« hingegen stellt das Bedrohliche und Gefahrliche der »Natur« dar und zeigt, wie weit die Menschheit auf ihrem Weg der Höherentwicklung schon gegangen ist. Der »Böse Wilde« liefert dabei auch die Legitimation für repressive und gewalttätige Formen der Eroberung. Die Vorstellung vom Fremden als dem» Wilden« war dabei Teil einer Weitsicht, in der die Menschheit in eine »skala nature«, in eine »große Kette des 21
fremd empfunden wird. Fremdheit ist nicht nur Ausdruck einer aktuell erlebten Beziehung, sondern meist auch Niederschlag einer langen Geschichte der Auseinandersetzung und eines tradierten» Wissens« über die Fremden. Dabei wurden die Fremdbilder immer in Korrespondenz zu den Selbstbildern geschaffen. Deshalb werden wir uns im Folgenden auch mit den Hintergründen und Entwicklungen des eigenen Selbstverständnisses befassen und fragen, was die wesentlichen Faktoren sind, die die Selbstbilder der Mehrheitsgesellschaft in Deutschland als einem modernen europäischen Land bestimmen. Eine wesentliche Basis dieses Selbstverständnisses liegt in dem, was wir heute mit dem geopolitischen und zugleich kulturellen Begriff der »westlichen Welt« meinen. Dieser stützt sich wiederum auf den im Laufe der christlichen abendländischen Geschichte entwickelten europäischen Kulturraum. Dabei ist das Spezifische dieser Kultur vor allem das, was wir die Moderne nennen, denn Europa nimmt für sich in Anspruch, diese hervorgebracht zu haben - im Unterschied zu allen anderen Kulturen der Welt. Ein weiterer zentraler Faktor in der Konstruktion von Eigenem und Fremdem war im Zuge der modernen europäischen Entwicklung die Nation. Sie schuf neue politische Einheiten, die neue Selbst- und Fremdbilder notwendig machten. Diese wurden für das Selbstverständnis der Menschen so bedeutsam, dass auch vormals Vertraute nun teilweise in tödlicher Feindschaft einander gegenüberstanden. Bis heute prägen die nationalen Grenzen das Selbst- und Fremdbild entscheidend, so dass etwa in Deutschland der Begriff »Ausländer« zum Synonym für den Fremden geworden ist. Im Zuge der Nationbildung spielt aber auch die Frage des Politischen eine entscheidende Rolle, d. h. die Frage, wie das Zusammenleben der Menschen zu organisieren, wie mit unterschiedlichen Interessen und Differenzen umzugehen sei. Die modernen Demokratien hatten mit der Deklaration der Menschenrechte die Gleichheit aller zum Programm gemacht. Die Frage ist nun, inwiefern dies Egalitätspostulat Raum für Verschiedenheit lässt und Pluralität unterstützt oder inwiefern die Gleichheitsvorstellungen selbst zur Konstruktion von Differenzen beitragen, die soziale Ungleichheiten legitimieren. Schließlich geht es um die Bedeutung des Universalen, da der Blick auf die ganze Menschheit gerade in der abendländischen Geschichte immer eine wichtige Rolle spielte. Zudem wird die Besonderheit der je unterschiedlichen Nationen oder Kulturen angesichts der weltweiten Vernetzungen zunehmend obsolet, d. h. die Frage wird immer dringlicher, wie wir mit Differenzen umgehen angesichts des angeblichen »Verschwindens von Fremdheit« in einer globalisierten Welt.
2 Selbst- und Fremdbilder in der europäischen Modeme
Mit der Moderne und ihren elementaren Umwälzungen der gesamten Lebensverhältnisse, der Wirtschaft, Politik und Religion, entstanden neue Selbst-und Fremdbilder. Die Menschen mussten sich neu in der Gesellschaft und im Kosmos verorten, da die politischen Revolutionen den mittelalterlichen Ständestaat aufgelöst und die Aufklärung die von Gott gewollte Ordnung in Frage gestellt hatten. In den Jahrhunderten zuvor war das europäische Selbstverständnis im Wesentlichen durch die christliche Kultur geprägt worden und der Protoyp des Fremden waren hier die Heiden, die Ungläubigen oder die Ketzer gewesen. Diese Vorstellungen vom Fremden transformierten sich in der Neuzeit zunehmend in Bilder vom »Wilden«, denn durch die weltweiten Eroberungszüge des Kolonialismus wurde Fremdheit vor allem im kolonial Unterworfenen symbolisiert. Bekanntlich »entdeckte« Rousseau vor allem den »Edlen Wilden«, wohingegen Hobbes die »Wilden« in erster Linie als böse ansah. Diese Polarisierung in der Wahrnehmung macht bereits den projektiven Charakter dieser Fremdheitskonstruktionen deutlich. Der »Edle Wilde« steht dabei für die Harmonie des Urzustandes, an die sich die Erlösungsphantasien der Paradiesvorstellungen knüpfen können. Hier gibt es noch die Ganzheitlichkeit, Authentizität und das Gute einer »natürlichen« Ordnung, die im Zeitalter der Industrialisierung, politischer Revolutionen und Massengesellschaften verloren gegangen war. Er »zeigt das fiktive Idealbild, das Ziel eines gewaltlos gelingenden Lebens« (Fink-Eitel 1994, S. 9). Das Paradies ist aber unwiderruflich verloren und die Welt strebt auf ein neues Paradies zu, das nun aber den ganzen Erdkreis umfassen soll. Und so ist auch nach Rousseau der Edle Wilde zu »zivilisieren«, der in seiner Naivität noch einem Urzustand anhängt, den es längst nicht mehr gibt. Der »Edle Wilde« wird zum Inbegriff von Harmlosigkeit, Fügsamkeit und Zivilisierbarkeit. Der »Böse Wilde« hingegen stellt das Bedrohliche und Gefährliche der »Natur« dar und zeigt, wie weit die Menschheit auf ihrem Weg der Höherentwicklung schon gegangen ist. Der »Böse Wilde« liefert dabei auch die Legitimation für repressive und gewalttätige Formen der Eroberung. Die Vorstellung vom Fremden als dem» Wilden« war dabei Teil einer WeItsicht, in der die Menschheit in eine »skala nature«, in eine »große Kette des
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Seins« (Voltaire) eingeordnet wurde. Danach ist auf der untersten Entwicklungsstufe der Geist allein dem bloßen Sein verhaftet, von dem er sich dann zunehmend löst, bis er den Begriff des allgemeinen Geistes erreicht hat. Dieser Evolutionsgedanke prägte die gesamte Philosophie der Aufklärung. So hat etwa Kant die unterschiedlichen »Rassen« und Nationen als unterschiedliche Objektivierungen der Vernunft verstanden, als unterschiedliche Qualitäten in der Entwicklung des natürlichen Daseins. Auf der höchsten Stufe, der Ebene des Geistes, sind dann jedoch keine qualitativen Unterschiede mehr feststellbar. Auf dieser Ebene ist die Vernünftigkeit des Geistes und seine qualitätslose Allgemeinheit vorherrschend. Mit diesem Evolutionsgedanken wurden also die Menschen einerseits in unterschiedliche Stufen eingeteilt, andererseits wurde ihnen aber auch die Möglichkeit der Entwicklung eingeräumt. Er diente also einmal der Hierarchisierung der Menschheit, zum anderen aber auch dem Versprechen, diese Unterschiede im Zuge von Entwicklung und Fortschritt aufzuheben. Der Evolutionsgedanke versuchte also den Widerspruch zu überbrücken, dass das moderne Europa auf der einen Seite die universalen Menschenrechte von Freiheit und Gleichheit verkündete und auf der anderen Seite die Europäer auf ihren »Entdeckungsreisen« Millionen von Menschen verschleppten, versklavten und ermordeten und ihnen den Status des Menschseins absprachen. Aber auch innerhalb der europäischen Gesellschaften zeigte sich der Widerspruch zwischen der Propagierung der republikanischen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und der Fortführung bestehender sowie Etablierung neuer sozialer Hierarchien, wie z. B. in Bezug auf die Frauen, die unteren sozialen Schichten, auf behinderte Menschen und psychisch Kranke. Diese galten als weniger zivilisiert, als unvernünftig und a-normaJ. Die Mehrdeutigkeit des Naturbegriffs ließ es durchaus offen, ob diese »Defizite« in erster Linie als angeboren oder aber als veränderbar angesehen wurden und zwar je nachdem, ob man auf die »allgemeine menschliche Natur« abhob, die alle Menschen prinzipiell zu Gleichen macht, oder aber auf die naturgegebenen Anlagen, die Menschen unumstößlich voneinander unterscheidet. So konnten aufgrund der »naturgegebenen« Unterschiede zwischen den Menschen sowohl Hierarchisierung und Ausgrenzung legitimiert wie auch aufgrund der Formbarkeit der »menschlichen Natur« Anpassung eingefordert aber auch Gleichheit versprochen werden. Die zwiespältigen Folgen dieser »Naturalisierung« werden besonders an der Transformation des christlichen Antijudaismus in den modernen Antisemitismus deutlich: Bis zur Moderne wurde die christliche Judenfeindschaft im Wesentlichen mit religiösen Differenzen begründet, konkret mit dem Vorwurf, die Juden hätten Christus getötet. Allgemeiner gesprochen lag die Ursache der Ressentiments vor allem in der Tatsache, dass das Christentum ein Abkömmling des Judentums war. Solange die Juden Christus und seine Göttlichkeit nicht anerkann-
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ten, stellten sie die Existenzberechtigung des Christentums in Frage. Sie symbolisierten mit ihrer Existenz den Zweifel an seiner Wahrheit. Diese Rivalität um die Wahrheit war eine der wesentlichsten Ursachen für die jahrhundertelangen Verfolgungen der Juden durch die Christen. Mit der Moderne jedoch wurden diese religiösen Differenzen in einen Unterschied zwischen »Rassen« transformiert, d. h. in einen biologisch begründeten Unterschied umgedeutet. Die Rassenlehre ordnete nun die Juden auf der Basis der semitischen Sprachgemeinschaft der semitischen »Rasse« zu und zog damit unüberbrückbare, absolute Grenzen. Die sozial-kulturellen Differenzen gingen sozusagen ins »Blut« über. Die Unterschiede galten nun als angeboren und wurden angeblich auch weiter vererbt. Gleichzeitig wurde aber von den Juden erwartet, sich zu assimilieren und an die MehrheitsgeseIlschaft anzupassen. Dieser Widerspruch kommt selten so drastisch zum Ausdruck wie in dem berüchtigten Zitat von Fichte, der angesichts der Emanzipationsbestrebungen der Juden meinte: »Aber ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee mehr sey« (zit. n. Hentges 1999, S. 116). Nur wenn die Juden ihr JüdischSein abgelegt hätten und so zum »Allgemeinen der Menschheit« vorgedrungen wären, sollten sie als gleichberechtigte Bürger gelten. Dieser Ausspruch Fichtes hat kontroverse Diskussionen ausgelöst. Die einen wie z. B. Leon Poliakov verstehen ihn so, dass er wortwörtlich gemeint sei und Fichte damit direkt zum Pogrom aufgerufen habe, während andere diese Äußerung eher im übertragenen Sinn verstehen, nämlich dass Fichte lediglich damit sagen wollte, dass die Ideen der Juden radikal zu verändern wären. In ihrem Resümee der Rezeptionsgeschichte dieses Zitats meint deshalb Gudrun Hentges: »Die eigentliche Brisanz der nach Fichte zitierten Passage liegt somit in ihrer Ambivalenz. Das Bild des »Köpfe-Abschneides« legt einerseits - und dies nicht zufallig - die Assoziation mit einer Massenenthauptung und Pogromen nahe, setzt aber andererseits durch das Bild des »Neue-Köpfe-Aufsetzens« neue Akzente. Ziel der hier als gewaltsam beschriebenen Aktion ist nicht die physische Liquidierung einer Menschengruppe, sondern deren gewaltsame Assimilation ... « (1999, S. 119). Das heißt, es wurde sowohl eine unumstößliche Differenz behauptet, die nur durch Vernichtung aufgehoben werden könne, als auch eine vollständige Veränderbarkeit unterstellt, die die Forderung nach Anpassung legitim erscheinen ließ. Der schillernde Naturbegriff legte so die Grundlage für das Assimilationsparadox, das einerseits die Anpassung der Anderen fordert, diese gleichzeitig aber für unmöglich erklärt und das Bemühen der Anderen um Anpassung als Beweis für ihre »Andersartigkeit« nimmt. Die Unentschiedenheit zwischen Veränderbarkeit und Festgelegtheit in Bezug auf die »menschliche Natur« wurde jedoch im eigenen Selbstbild meist in Rich-
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tung Veränderbarkeit aufgelöst. Das europäische männliche Bürgertum unterstrich die eigene Selbsttätigkeit und Entwicklungskraft, während es den Anderen eher den Part der von ihren »natürlichen« Anlagen Bestimmten zuschrieb. So diente z. B. die »Anthropologie der Geschlechter« der Festschreibung der Frauen auf eine durch ihre »natürlichen Anlagen« begrenzte und untergeordnete Position, während sie den Männern aufgrund ihrer Vernunft, ihrer Tatkraft und ihres Willens uneingeschränkte Dynamik und Entwicklungsmöglichkeiten zusprach. Die Geschlechterhierarchie wurde mit der unzureichenden Begabung und der moralischen Unzuverlässigkeit der Frauen erklärt, ihre Minderwertigkeit wurde nun wissenschaftlich erforscht und galt als objektiv belegt. So wurde der Glaube an die von Gott bestimmte soziale Ordnung der Menschen durch die von der »Natur« gegebenen Hierarchien abgelöst - nun jedoch mit dem Gestus der Rationalität und Wahrheit (Foucault 1978) ausgestattet. Die moderne Ordnung ist also keineswegs so neu und die gesellschaftlichen Verhältnisse wurden keineswegs vollständig revolutioniert. Vielmehr wurden viele alte Hierarchien fortgeführt und neue geschaffen. Das stand jedoch im Gegensatz zu dem Anspruch der politischen Revolutionen, auf der Basis der Gleichheit und Freiheit aller Menschen alle nicht-gewollten Abhängigkeiten und Hierarchien aufzuheben. Dieser Grundwiderspruch der Moderne besteht in gewisser Weise bis heute fort, denn die Selbstverständlichkeit, mit der die westlichen Nationen sich als Demokratien verstehen, steht in keinem Verhältnis zu ihrem Bestreben, die hierarchischen Strukturen innerhalb ihrer Gesellschaft aufzubrechen und Ausgrenzung und Rechtlosigkeit zu bekämpfen; und die Emphase, mit der sie weltweit die universellen Menschenrechte propagieren, steht wiederum in keiner Relation zu ihrem Bemühen, die ökonomische und politische Kluft zwischen den mächtigen hoch industrialisierten Ländern und den weniger industrialisierten aufzuheben. Der Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Gleichheit und der Durchsetzung von Ungleichheit ist jedoch kein spezifisches Phänomen der Moderne, sondern tief in der abendländisch-christlichen Tradition verwurzelt.
Das Selbst im Spiegel des Anderen Für die Entwicklung des Selbst- und Fremdbildes in der europäischen Kultur war vor allem bedeutsam, dass in der christlichen Tradition die Anderen vergleichsweise eng an das eigene Selbstverständnis angebunden waren. Alle Menschen sind nach christlicher Auffassung Kinder Gottes, und somit sind alle auch miteinander verbunden. Das Schicksal jedes Einzelnen ist mit dem jedes Anderen verknüpft, denn die eigene Erlösung hängt auch von der des Anderen ab. Das 24
heißt, die Anderen können einem nicht gleichgültig sein - im Gegenteil, man ist in gewisser Weise von ihnen sogar abhängig. Diese allgemeine Verbundenheit führte einerseits zur gegenseitigen Anerkennung als Gleiche und zu einer prinzipiellen Offenheit aUen Menschen gegenüber. Auf der anderen Seite glaubten die Christen im Besitz der absoluten Wahrheit zu sein, was die Anderen zu Ungläubigen und zu Verdammten machte, wenn sie nicht zum »wahren« Glauben bekehrt wurden. Das heißt, der Anspruch auf Gleichheit mündete in dem Bestreben, die Anderen sich gleich zu machen. So war nach Ansicht von TzvetanTodorov (1985) das »Vorurteil der Gleichheit« mindestens so gefährlich wie das Vorurteil der Überlegenheit, wie er in seiner Untersuchung über die Eroberung Amerikas durch die spanischen Konquistadoren schreibt, weil aufgrund dieses Vorurteils die Christen nicht ruhten, bis sie die Anderen mit allen Mitteln und aller Gewalt ihren Vorstellungen angepasst hatten. Im Vorurteil der Gleichheit werden die Anderen mit dem eigenen Ich-Ideal identifiziert, in dem Fall mit der Gotteskindschaft aller Menschen. Diese gemeinsame Identität verpflichtete die Christen geradezu, alle anderen aus ihrer Verdammnis zu erlösen und im Sinne der apokalyptischen Vision so lange nicht zu ruhen, bis sie allen Völkern das Wort Christi verkündet hätten. So hatte Augustinus bereits Ende des 4. Jahrhunderts den Christen erklärt, dass Christus erst dann wiederkehre, wenn alle Völker seine Lehre gehört haben. Das eigene Schicksal ist also eng mit dem der Anderen verknüpft. Im modernen Denken wird dieser missionarische Eifer transformiert in ein anhaltendes Streben nach Integration. Hier gibt es nach Foucault kein radikal Anderes, das nicht zu integrieren wäre, sondern nur Gleiches, das aber immer noch integriert werden muss, um wirklich gleich zu sein. Von dieser nie zu beendenden Integrationstätigkeit verspricht sich der Mensch seine endgültige Wahrheit, ein ideales, autonomes Menschsein (vgl. Magiros, 1995 S. 52f.). Dieser rastlose Impuls zu missionieren, zu zivilisieren und zu integrieren hängt also einmal damit zusammen, dass die Entwicklung des Selbst unabdingbar mit der »Erlösung« des Anderen verbunden ist, und zum anderen mit dem Glauben an die Auserwähltheit des Selbst gegenüber der Verdammnis der Anderen. Dieser Widerspruch zwischen dem Glauben an die eigene Auserwähltheit und dem Anspruch auf Gleichheit aller bekam in der Moderne seine besondere politische Bedeutung dadurch, dass das Bürgertum seine Vormachtstellung auf das Gleichheitspostulat gründete. Mit der Forderung nach Gleichheit und Freiheit aller war es an die Macht gekommen, und nun konnte es seinen Führungsanspruch nur rechtfertigen, wenn es diese Vorstellungen zumindest ansatzweise auch umsetzte. Das führte z. B. dazu, dass das Bürgertum es im Gegensatz zur Feudalgesellschaft möglichst vermied, seine Dominanz mit Prunk und Pracht darzustellen. Man bemühte sich vielmehr darum, die eigenen Anstrengungen in den Vorder25
grund zu rücken und sich bescheiden zu geben, um den Abstand zu den Anderen nicht allzu groß werden zu lassen. Die eigene Überlegenheit wird nur begrenzt zur Schau gestellt, und bei der Darstellung von Dominanzgefühlen ist durchaus Zurückhaltung geboten, wie Helmut Kuzmics in seiner Untersuchung über den »Preis der Zivilisation« (1989) herausarbeitet. Vor allem aber wurde angesichts des Egalitätspostulats die Beziehung zum Anderen als ein Macht- und Ausbeutungsverhältnis zu negieren versucht. So war das Selbstbild des männlichen Bürgers von der Vorstellung geprägt, dass er seinen Erfolg und Reichtum allein sich selbst verdankt und nichts mit der Unterwerfung des Anderen zu tun hat. Diesem Bild hat vor allem Max Weber mit seiner wirkungsmächtigen Theorie von der »protestantischen Ethik« (1920/1963) Ausdruck verliehen. Hier wird hervorgehoben, wie sehr der Kapitalismus auf die Aktivitäten des europäischen Bürgertums zurückgeht und vor allem der Tüchtigkeit, Redlichkeit und dem Fleiß seiner männlichen Mitglieder zuzuschreiben ist. Die Motive von Fremdunterdrückung und Ausbeutung spielen hier so gut wie keine RoHe. Kernstück eines solchen Selbstbildes ist das der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung. Die Autonomie im Sinne von Selbstbestimmung setzt jedoch immer auch Andere voraus. Dabei hat der Begriff quasi eine doppelte Zielrichtung, denn er ist sowohl nach »oben« wie nach »unten« gerichtet. Zum einen meint er die Freiheit der Selbstbestimmung gegenüber Fremdbestimmung und Unterdrückung, und zum anderen verbirgt sich in ihm auch die Unfreiheit derer, auf der sie basiert. Denn die Autonomie des männlichen europäischen Bürgertums war zwar gegen feudale Abhängigkeitsbeziehungen gerichtet und durchgesetzt worden, aber ihre Umsetzung bedeutete auch die Unterwerfung der Anderen. Die Voraussetzung für den »freien« Bürger war die Disziplinierung der Anderen, um sie für sich in Dienst zu nehmen - wie die Frauen, die ArbeiterInnen oder auch die Kolonisierten. Demgegenüber wird jedoch der Kapitalismus wie die Moderne insgesamt als ein endogenes Phänomen (vgl. Wehling 1992) verstanden, das nahezu ausschließlich auf der autonomen Tätigkeit des männlichen Bürgertums gründet. Es wird alles ausgeblendet, was dem Selbstbild Europas als einem unabhängigen Schöpfer der Moderne zuwiderläuft. Die Voraussetzung der Kapitalakkumulation z. B. aufgrund des Kolonialismus, die Tatsache also, dass der Kapitalismus nur entstehen konnte, weil, wie Sombarth formuliert, »ganze Rassen und Volksstämme für uns gestorben, ganze Erdteile für uns entvölkert worden sind« (zit. n. Rehmann 1998, S. 247), tritt dabei völlig in den Hintergrund. Dementsprechend spielt der Bezug zum Kolonialismus bis heute - zumindest im deutschsprachigen Raum - in den Analysen der Moderne so gut wie keine Rolle. So stellen z. B. Gregor Husi und Marcel Meier Kressig in ihrer Untersuchung 26
zum »Geist des Demokratismus« (1998) die unterschiedlichsten Assoziationen zum Begriff der Moderne folgendermaßen zusammen: »Wenn wir Heutigen >Moderne« hören, denken wir an ökonomische Umwälzungen, politische Revolutionen, an das naturwissenschaftliche Experiment, technische Erfindungen, die Ausbeutung der äußeren Natur, an künstlerische Innovation, an Subjektivität und Reflexion, Rationalismus, Universalismus, Individualismus und Pragmatismus, an den Tod Gottes, den Verlust von Traditionen und letzten Gewissheiten, an den fundamentalen Wandel unserer Lebensformen« (S. 21). Und auf die Frage, wann denn die Moderne beginne, werde nach ihren Recherchen vor allem die Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg genannt, Luthers Aufstand gegen die Autorität der Kirche, das Ende des Dreißigjährigen Krieges, die amerikanische und französische Revolution, sogar die Traumdeutung Freuds oder der Fall Konstantinopels werden erwähnt. Aber bei dieser ganzen Aufzählung der Ereignisse, die die Ursprünge der Moderne anzeigen, findet die Tatsache des Kolonialismus keine Erwähnung. Demgegenüber lässt Hinrich Fink-Eitel (1994) in seiner Analyse die Moderne mit dem Tag beginnen, als Kolumbus Amerika »entdeckte«, nämlich dem 12.10.1492. Dies Datum markiert für ihn die »kolumbianische Wende«. Denn die Unterwerfung der Welt war seiner Auffassung nach Bedingung und Begleiterscheinung dessen, was wir die europäische Modeme nennen. Diese Moderne war universal angelegt, weil sie auf der Intention der Eroberung der Welt basierte. Dabei wurde diese Eroberung im Selbstverständnis des Bürgertums nicht als Machtanmaßung und Bereicherung verstanden, sondern als Pflicht, Bürde oder gar Selbstaufopferung, denn das Licht der Vernunft sollte genauso in die ganze Welt getragen werden wie vormals die Erlösungsbotschaft Christi. Zum »Sozialmythos der Moderne« (Wehling 1992), der diese als ein endogenes Phänomen versteht, gehört jedoch nicht nur die Negation der Macht- und Ausbeutungsbeziehungen, sondern auch die Abspaltung der eigenen Vorgeschichte. Der Begriff der Moderne hat zwar schon seit dem 5. Jahrhundert den Übergang einer Ära in eine andere bezeichnet (MilIer und Soeffner 1996, S. 12), doch erst mit der Aufklärung wurde dieser Übergang dichotomisiert. Moderne in diesem Sinn bedeutet nun permanenter Wandel: In allem steckt der Kern der Veralterung, die auf Dauer gestellte Veränderung impliziert eine ständige Revision der Tradition. Enttraditionalisierung wird zu einem Wesensmerkmal der Modeme. »Weil mit einer in die Gegenwart hineinreichenden Tradition gebrochen werden soll, muss der »moderne« Geist diese unmittelbare Vorgeschichte entwerten und auf Abstand bringen, um sich normativ aus sich selbst zu begründen«. Und weiter: »Weil die Moderne sich selbst im Gegensatz zur Tradition versteht, sucht sie sozusagen Halt in der Vernunft.« (Habermas 1998, S. 196) Indem die Modeme mit ihrer eigenen Tradition bricht, kann sie auch nicht den 27
Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart bei den Anderen sehen, denn der Bruch wird ideologisiert und zum Erkennungsmerkmal von »Zivilisation«. Oder wie Michel Foucault formuliert: Moderne ist der Wille, die Gegenwart zu »heroisieren« (1990, S. 43). Je mehr man sich von der eigenen Vergangenheit absetzen will, desto mehr muss man den Anderen in die »Vormoderne« zurückstoßen. Den Anderen wird damit die Gleichzeitigkeit verweigert. Wer nicht im Heute lebt, ist der Fremde. Er ist im Gegensatz zum modernen Menschen dem Traditionalismus und Aberglauben verhaftet. Auch wird Religiosität gerne auf die Anderen projiziert, ebenso wie alle Formen des Irrationalismus, die in der modernen Welt als überwunden gelten oder zumindest demnächst überwunden werden sollen. Was von der Norm der Moderne abweicht, ist nicht nur veraltet, sondern minderwertig. Die Moderne macht die Frage von »Fort«- und »Rück«schritt zu einer Frage der Moral: Die Vorherrschaft des Westens erklärt sich aus seiner Tüchtigkeit, seinem Fleiß und Erfindergeist, sowie aus seinem Mut zum Widerstand gegen feudale Herrschaftssysteme. Aufgrund dieser Leistungen und dieser moralischen und politischen Reife versteht sich dann sein Vorsprung den anderen Gesellschaften gegenüber von selbst. Moderne wird zu einem normativen Modell, an dem sich alle Anderen messen lassen müssen. In dieser Hinsicht übernimmt das Konzept der Moderne die Funktion von Ethnizität, nämlich sich vom Anderen abzugrenzen und unter den Menschen, die sich als modern begreifen, ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit zu stiften. Zwar ist das Selbstverständnis auf der Basis der Moderne im Unterschied zum ethnischen offener formuliert, da ja alle prinzipiell die Möglichkeit haben könnten, aufzuholen und an die Moderne anzuschließen, aber da das Verständnis von Moderne ständig weiterentwickelt, neu ausdifferenziert und umdefiniert wird, können die Anderen in der Regel die vorgegebenen Standards kaum erreichen. Der Fremde wird also in der europäischen Moderne in die räumliche und zeitliche Ferne gerückt. Das moderne Selbst versteht sich dabei als unabhängig und Schöpfer der eigenen Gesellschaft und Geschichte. Und dennoch spiegelt sich die Beziehung zum Anderen im eigenen Selbstbild wider. Das wird nirgendwo so deutlich wie in der Theorie von Sigmund Freud, der das Verhältnis der Europäer zum Fremden als dem» Wilden« in das Verständnis der eigenen »Natur« zurückholte. Er orientierte sich dabei an der Theorie von Hobbes, indem er ebenfalls den »Urzustand des Menschen« als einen Kampf aller gegen alle begreift, was sich in seiner Theorie in der aggressiven und triebhaften Natur des Es niederschlägt. Danach stoßen wir die Anderen immer von uns, weil sie uns gefährlich sind. Aber wir brauchen sie auch für unsere Triebbefriedigung. Dies Dilemma versucht das Projekt der Zivilisation zu lösen, indem es alle Menschen bestimmten Reglements unterwirft, die wiederum das Zusammenleben sichern und Stabilität versprechen. Es bleibt jedoch ein 28
ständiges »Unbehagen in der Kultur« (1963), da die Asozialität des Menschen Sigmund Freud zufolge niemals überwunden, sondern nur durch Gegenkräfte gezügelt werden kann. Die Herrschaft des Menschen über sich selbst im Sinne der Triebunterdrückung ist für ihn eine wesentliche Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben. In diesem Fall ist also der »Wilde« in einem sehr konkreten Sinn das Gegenbild des Selbst. Er wird zum Sinnbild für das Unbewusste im Menschen. Die Unterwerfung des Anderen im Zuge der Kolonisierung bringt also ein Selbstbild hervor, das diesen Unterwerfungsakt in das Selbst zurückprojiziert. Der »Wilde« außerhalb ist zu zähmen und zu zivilisieren, ebenso wie nach Freud dem Es mithilfe des Über-Ichs das Ich abzuringen ist. So wie die Menschen sich selbst unterdrücken müssen, um an der Zivilisation Anteil zu haben, so müssen sie auch die Anderen unterwerfen. Dieses Spiegel verhältnis zwischen Selbst- und Fremdbild ist, wie wir bereits sahen, nicht ein genuines Phänomen der Moderne, sondern schon in der abendländisch-christlichen Tradition angelegt. In der Verworfenheit der Anderen wird sichtbar, wie weit noch der eigene Weg zum Heil ist. Je mehr die Christen in sich selbst zerrissen waren und sich auf dem Weg zum Heil abmühten, desto mehr wurde auch im Anderen die eigene Unzulänglichkeit zu bekämpfen versucht. Und das umso mehr, als es nach christlicher Lehre nahezu ausgeschlossen war, ein sündenfreies Leben zu führen. So war es der Forschung z. B. lange Zeit ein Phänomen, wie es möglich war, dass die Christen im Rahmen der Kreuzzüge über mehrere Jahrhunderte hinweg bereit waren, dies äußerst riskante, teure und beschwerliche Abenteuer auf sich zu nehmen. Tausende waren Papst Urban gefolgt, als er sie aufrief »das Kreuz zu nehmen«. Nach Auffassung von Jonathan Riley-Smith (1999) war es weniger das Feindbild des Antichristen, das hauptsächlich diesen Massenaufbruch erklären kann, sondern die zündende Idee lag vielmehr darin, den Kriegern den Erlass ihrer Sünden zu versprechen und den Krieg zu einer Form der Buße zu erklären. Nach offizieller Beschreibung war der Kreuzzug ein Ausdruck ihrer Nächstenliebe zu ihren christlichen Brüdern und Schwestern in der Liebe zu Gott. Die Teilnahme galt als »wahres Opfer« des eigenen Selbst. Die Last der Schuld und Sünde drückte wohl so schwer, dass diese Bußleistung angemessen schien. Die ganze Welt wurde als ein Spiegel des inneren Kampfes um die eigene Erlösung betrachtet. Eine solche Vorstellung kann sich jedoch nur dann entwickeln, wenn man davon überzeugt ist, dass der eigene Glaube der einzig wahre sei. Insofern ist es interessant, dass sich der universalistische Wahrheitsanspruch der Christen erst allmählich entwickelte und verfestigte. Auch das Christentum war in seinen Ursprüngen zunächst nur eine Religion neben anderen gewesen. Mit seinem Aufstieg zur römischen Staatsreligion und später zur universalistischen mittelalter-
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lichen Kirche erhob es jedoch immer mehr den Anspruch, allein selig machend zu sein. Im Unterschied dazu zeichneten sich die religiösen Systeme z. B. in Asien durch einen hohen Grad an wechselseitiger Akzeptanz aus. In Indien, China oder Japan war und ist es heute noch üblich, sich mehreren Religionen bzw. Kultrichtun gen gleichzeitig verbunden zu fühlen. In Europa hingegen fand seit den Anfängen des Christentums sowohl zwischen Christen und Nichtchristen als auch zwischen Vertretern verschiedener theologischer Fraktionen und christlicher Konfessionen eine ständige und nicht selten blutige Auseinandersetzung um die »wahre« Religion statt. Erst nach der Auflösung der christlichen Einheit Westeuropas durch die Reformation begann man allmählich die Koexistenz verschiedener christlicher Religionen zu akzeptieren (Höllinger 1996, S. 125). Fragt man nun weiter, woher dieser absolute Wahrheitsanspruch kommt, so gibt Remi Brague (1993) mit seiner Theorie von der »Exzentrischen Identität« Europas eine Antwort: Er erklärt diesen Expansionismus mit dem doppelten Erbe, nämlich des römischen Reiches und des Christentums. Beide Erbschaften waren seiner Meinung nach von einer spezifischen Verunsicherung belastet. Das Römische Reich fühlte sich kulturell den Griechen unterlegen und das Christentum gegenüber den Juden. So erfuhr das christliche Europa nach Brague in doppelter Form seine Zweitrangigkeit. Daraus resultierte eine Selbstentfremdung mit der ständigen Suche nach dem Ursprung und den eigenen Wurzeln. In dem Sinne spricht er von Europa als einer »exzentrischen Identität«: Diese setzte sich dann in einen Eroberungseifer um, der »als eine seiner geheimsten Triebfedern den Wunsch in sich trug, durch die Beherrschung vorgeblich niedrigstehender Völker jenes Minderwertigkeitsgefühl gegenüber der klassischen Antike zu kompensieren, das der Humanismus zur gleichen Zeit wieder belebte« (S. 41). Das Spezifische der christlich-abendländischen Kultur in Bezug auf die Formung der Selbst- und Fremdbilder, wie es sich in Wechselwirkung von politischer Machtentfaltung und kulturellen Traditionen allmählich herausbildete, kann also in einer anhaltenden inneren Zerissenheit gesehen werden, die nach einer permanenten Selbst- und Weltverbesserung drängt. So sieht auch Helmuth Plessner (1959/1994) die Besonderheit der europäischen Geschichte darin, dass die Europäer von einem innerweltlichen Erlösungsglauben getragen waren, nämlich dem Glauben, dass die Menschheit die Fesseln der Natur sprengen kann, um »erlöst zu werden von dem, was ist und was man ist« (S. 33). Dieser permanente Veränderungswille schloss nicht nur das Selbst, sondern auch alle Anderen mit ein. Mit der zunehmenden Machtentfaltung und dem damit wachsenden Anspruch, im Besitz universal gültiger Wahrheit zu sein, formten sich zunehmend die Bilder vom Anderen als dem religiös und kulturell Unterlegenen und damit auch die Pflicht, die Anderen zu bekehren, d.h. zu unterwerfen und zu assimilieren. Diese Aufforderung ging Hand in Hand mit der Aufforderung der Selbstläuterung - so dass die 30
Bekämpfung des Anderen immer auch Ausdruck eigener innerer Kämpfe, der Buße und der Pflichterfüllung war. Das bedeutet nun nicht, dass nicht auch in anderen Kulturen und Religionen aufgrund der Wechselwirkung von Wahrheitsanspruch und politischem Expansionismus ebenfalls spezifische Legitimationsmuster für Herrschafts- und Dominanzverhältnisse entwickelt wurden. Auch andere Gesellschaften haben analoge Ideen über die »Minderwertigkeit« anderer Kulturen, Völker oder sozialer Gruppen innerhalb ihrer Gesellschaft entwickelt, ebenso wie so gut wie alle Gesellschaften eine Theorie über die Zweitrangigkeit der Frauen geschaffen haben. Hier geht es jedoch darum, die historischen und kulturellen Hintergründe aufzuzeigen, die zu den spezifischen Konstruktionen von Selbst- und Fremdbildern in der europäischen Moderne geführt haben. Diese Bilder waren also in erster Linie durch einen engen inneren Zusammenhang geprägt. Der Andere war der Spiegel des Selbst, und nur durch seine Entwicklung konnte das Selbst erlöst werden; d. h. der eigene Selbstentwurf wurde auch für den Anderen verpflichtend gemacht. Zugleich wird der Andere aber in die räumliche und zeitliche Ferne gerückt. Er gilt als unterentwickelt und traditionalistisch. In der widersprüchlichen Einheit von Vereinnahmung und Distanzierung behauptet sich das europäische Selbstverständnis als dominant und unabhängig zugleich. Es beansprucht ganz selbstverständlich die Deutungsmacht gegenüber dem Anderen, negiert aber zugleich die Beziehung zu ihm und macht so die Dominanzverhältnisse unsichtbar. Diese tauchen jedoch insofern wieder auf, als das Selbst sich als hierarchisch strukturiert versteht und die Unterdrückung der Anderen als Selbstunterdrückung auf sich zurückprojiziert. Das Gleichheitsversprechen, auf dem ganz wesentlich der moralische Führungsanspruch des europäischen Bürgertums basiert, wird vor allem auf den Evolutionsgedanken übertragen, nämlich auf die Vorstellung, dass jeder Mensch das Potenzial in sich trage, sich bis zur höchsten Form der Menschseins zu entwickeln. Dies wurde wiederum selbstredend vom männlichen europäischen Bürgertum repräsentiert; in seiner Modellfunktion meldet es wiederum seinen Dominanzanspruch an. Insofern drückt sich in seinem rastlosen Bemühen zu zivilisieren und zu integrieren immer auch der Wunsch aus, in der Rolle als Vorbild bestätigt zu werden. Dabei galt jedoch auch das Versprechen, dass bei anhaltender Entwicklung und unter seiner kundigen Führung alle Menschen dereinst einmal frei und gleich sein würden. Dieser Fortschrittsgedanke ist keineswegs von der Hand zu weisen, betrachtet man die anhaltenden Kämpfe zwischen Peripherie und Zentrum im Laufe der Geschichte der Moderne, angefangen vom Kampf der Arbeiterklasse gegen rechtliche Diskriminierung und ökonomische Ausbeutung über den Kampf zur Abschaffung der Sklaverei, die antikolonialen Befreiungsbewegungen weltweit, die 31
Frauenbewegung, die Bürgerrechtsbewegung der USA bis hin zu den »neuen sozialen Bewegungen« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In diesem Sinn spricht Habermas (1985) von »der Moderne als einem unvollendeten Projekt«, dessen befreiende Kraft bis heute nicht erschöpft sei. Inzwischen ist jedoch die Idee des Fortschritts in vieler Hinsicht diskreditiert. Was kann Fortschritt bedeuten angesichts einer immer weiter wachsenden Kluft zwischen Armut und Reichtum auf der Welt, angesichts einer stetigen Zunahme von Vertreibung und Flucht und angesichts der Gefährdung der Lebensbedingungen auf dem ganzen Planeten durch die Folgen der technischen Entwicklung. In diesem Zusammenhang spricht etwa Ulrich Beck (1996a) von der reflexiven Moderne, die sich kritisch auf ihre eigenen Folgen bezieht. Ob diese Selbstkritik jedoch so weit geht, den Führungsanspruch der westlichen Welt in Frage zu stellen oder zumindest die Vorstellungen von den Anderen als »unzivilisiert« oder traditionalistisch zurückzunehmen, ist damit keineswegs gesagt. Oder ob nicht diese kritische Selbstreflexion eine Attitüde bleibt, die sich wiederum den Anderen als Vorbild empfiehlt. Es fragt sich also, wie sich unter dem Vorzeichen der Selbstkritik der europäischen Moderne die Selbst- und Fremdbilder verändern, dies vor allem in Bezug auf die Frage, was unter diesen Umständen heute die Gegenüberstellung von Zivilisation und Barbarei bedeuten kann.
Zivilisation und Barbarei Narbert Elias (1981, 1982) hat mit seinem Konzept der Zivilisation den Fortschrittsgedanken aufgegriffen und ihn jedoch zugleich erheblich relativiert: Zwar hat für ihn der Prozess der Zivilisation eine Pazifizierung der »Barbarei in uns allen« zur Folge - aber Zivilisation bedeutet für ihn auch eine ständige Anstrengung, die nicht gelockert werden darf, da sonst die Barbarei wieder durchbreche. Er versteht unter Zivilisation die Gesamtheit der Technik, des Wissens und der Religionen sowie der Bräuche im Alltag und den daraus resultierenden Gefühls- und Verhaltensstandards. Das Motiv zur Zivilisierung liegt nach Elias in dem Bedürfnis, sich den Anderen gegenüber zu behaupten, seinen Status zu verteidigen und seine Überlegenheit unter Beweis zu stellen. Denn die Absicherung von Prestige ist für Elias einer der wichtigsten Antriebe für die zivilisatorische Entwicklung. Dabei dient das Zur-Schau-Stellen zivilisatorischen Verhaltens dazu, die Distanz zu den weniger Bevorrechtigten zu unterstreichen und die hierarchischen Unterschiede aufrechtzuerhalten und zu vergrößern. Mit dieser Einordnung des Zivilisations begriffs in eine Machttheorie wird al32
lerdings nicht ohne weiteres nachvollziehbar, warum Elias davon ausgeht, dass die Gewalt in der Gesellschaft zurückgehe, denn jede Form von Distinktion löst neuen Widerstand und damit wiederum neue Absicherungsversuche aus. Elias glaubt jedoch, dass die Gewalt nur noch an den Rändern der Gesellschaft »Wache (halte) als eine Kontrollorganisation für das Verhalten der Einzelnen« (1982, S. 325), während sie im Inneren weitgehend gebannt sei. Solange jedoch die Zivilisation vor allem die Funktion hat, Prestige abzusichern, tritt sie immer auch gewaltfördernd auf, wenn auch möglicherweise nicht innerhalb der »guten Gesellschaft«, aber zumindest gegenüber denen, die von ihr fern gehalten werden sollen. So sagt Elias selbst über die verdeckte Militanz des Zivilisationsbegriffs, dass »bei aller Säkularisierung in dieser Parole, der Zivilisation, doch immer ein Nachklang jener, des lateinischen Christentums und der ritterlich-feudalen Kreuzzugsidee spürbar« sei (1981, S. 65). Das heißt, dass die Zivilisation selbst gewalttätig ist _ auch wenn sie in bestimmten umgrenzten Bereichen friedliche Formen der Auseinandersetzung durchgesetzt hat. Sie bedeutet also einerseits verfeinerte Umgangsformen und die Fähigkeit Konflikte friedlich auszutragen, gleichzeitig aber sich genau dadurch auch von den Anderen abzusetzen und die Unterschiede »zu den weniger Bevorrechtigten« zu vergrößern, denn nach Elias ist dieser »Unterscheidungsdrang« (1982) der wichtigste Antrieb für Entwicklung. Dementsprechend wurde der Kolonialismus mit all seiner Grausamkeit von den Europäern durchaus als eine Form, ja geradezu als Ausdruck der Zivilisation verstanden. So meint etwa Dieter Oberndörfer (1994): »Zu den dunklen Seiten des Kolonialismus in Afrika gehören nicht nur die Brutalität und Kaltblütigkeit, mit denen er bis hin zum Völkermord durchgesetzt, sondern auch die Selbstverständlichkeit, mit der er von den zivilisierten Nationen praktiziert und sogar von Kar! Marx als >Fortschritt< gefeiert wurde« (S. 18). Das »finstere Mittelalter« wurde also nicht von einer friedlichen Moderne abgelöst, sondern vielmehr verschob sich lediglich der Fokus der Kriege, zunächst in erster Linie auf die außereuropäische Welt mit dem grauenvollen Auftakt von 20 Millionen Toten bei der Unterwerfung Mittel- und Südamerikas. »Die Geschichte der Moderne begann mit dem größten Massaker, das Menschen je an Menschen verübten, mit dem Massaker der Ureinwohner des von Europa als >Amerika< genannten Kontinents« (Fink-Eitel 1994, S. 9). Erst als sich das Morden wieder auf Europa zurückverlagerte und nicht mehr »nur« die Fremden in der Ferne betraf, schien auch die Barbarei zurückzukehren. Erst als mit den bei den »Weltkriegen« und vor allem dem Völkermord des Nationalsozialismus die »Eigenen« zu »Fremden« gemacht wurden, schien die Zivilisation fragwürdig zu werden, und der Nationalsozialismus wurde als ein Rückfall in die Barbarei, als Zivilisationsbruch verstanden. Die Frage ist aber, ob von einem »Bruch« gesprochen werden kann, da im Verständnis von Zivilisation die Bar33
barei den Anderen gegenüber von Anfang an enthalten war. Das gilt zumindest für die Unerbittlichkeit, mit der die Vorstellung von der eigenen Überlegenheit und der Verworfenheit des Anderen im Kolonialismus durchgesetzt wurden. Der Terror wurde erst dann als Barbarei bezeichnet, als er sich gegen Menschen der eigenen »Zivilisation« richtete. Die These vom Zurückdrängen der Gewalt im Zuge der Zivilisation, wie sie etwa Elias vertritt, kann also nur dann aufrechterhalten werden, wenn die Grenzen der »zivilisierten« Gesellschaft immer da gezogen werden, wo sie sich vom Anderen abgrenzt - sei es gegenüber den Menschen außerhalb Europas, oder gegenüber denen im eigenen Land, z. B. auch gegenüber dem anderen Geschlecht. So ist es nicht verwunderlich, dass Elias auch die anhaltende Gewalt gegenüber den Frauen »übersehen« hat. Die Frage bleibt also, wo die Grenzen der »zivilisierten« Gesellschaft gezogen und welche Gewalt thematisiert und zum Problem gemacht wird. Dabei ist der Zivilisations begriff dann zum Scheitern verurteilt, wenn er seine Bedeutung in erster Linie aus der Entgegensetzung gegenüber den Anderen gewinnt, denn indem der Zivilisierte die Anderen zu Barbaren macht, wird er selbst barbarisch. Vor allem Zygmunt Baumann (1992a) hat den Gedanken der Barbarei in der Zivilisation in neuerer Zeit ausgeführt. Für ihn ist die Barbarei das »verborgene Antlitz« der Moderne. Sie zeige sich vor allem in der »unerbittlichen Lust nach Ordnung, Transparenz und Unzweideutigkeit« (S. 69). Die Unfähigkeit, Ambivalenz zu ertragen, das Streben nach Klarheit, Eindeutigkeit, Homogenität und Monotonie produziere immer notwendig Abfall, Unordnung und das Unkontrollierte. In der Moderne geht es nach Baumann darum, die Welt zu zwingen, anders zu sein als sie ist. Die Gewalt wird dabei nicht ausgemerzt, sondern nur neu verteilt. Das Prinzip der Ordnung nimmt keine Rücksicht auf den Eigenwert der Wirklichkeit. Diese Gewalt der Ordnung, die trennt, was nicht zu trennen ist, und Eindeutigkeit herstellt, wo es keine gibt, diese Gewalt wird nicht als eine solche verstanden, sondern nur die Gewalt, die sich gegen diese Ordnung stellt. Nur Prinzipienwillkür gilt als Barbarei, wohingegen die Gewalt, die Ordnung schafft, nicht als solche erscheint. So wurde auch der Bau eines KZ bekanntlich nicht als Straftatbestand von der deutschen Justiz geahndet, im Gegensatz zur individuellen Brutalität und Normüberschreitung innerhalb des Gewaltsystems. Mit dieser Analyse wird die Barbarei zu einem Grundbestandteil der Moderne. Dabei erscheint die Moderne in Baumanns Charakterisierung als monolithisch. Dies entspricht durchaus der Logik des rassistischen Völkermords. Alle und alles, was als fremd galt, wurde ausgeschlossen und vernichtet. Allerdings ist die Frage, ob diese Analyse damit der ganzen Geschichte der Moderne gerecht wird. So fragt sich, woher die Gegenkräfte stammen, gegen die sich die Macht der Moderne durchsetzen, woher der Widerstand, gegen den sie sich behaupten musste. Macht nicht gerade das Scheitern der Moderne, eine solche eindeutige 34
Ordnung zu entwickeln, ihre Widersprüchlichkeit deutlich, schließlich ist es die Moderne, die auch Postulate der Ethik hervorgebracht hat, die auch Baumann als elementar ansieht, wie z. B. die der Menschenrechte. So zeigt sich die Widersprüchlichkeit der Moderne auch in einem Kampf zwischen Recht und Unrecht, zwischen Bemächtigung und Befreiung sowie zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit. Indem diese ambivalenten Züge aus dem eindimensionalen Bild einer totalitären Moderne weitgehend getilgt werden, wie Habermas in seiner Kritik an der kritischen Theorie formuliert, bringt sie auch das Versprechen auf Befreiung zum Verstummen (1998, S. 211). Ähnlich wie Baumann sieht auch Shmuel Eisenstadt (l996a und 1999) die spezifische Barbarei der Moderne in der Totalität des Wandels und damit der Missachtung der Wirklichkeit in ihrer Eigenart, Vielgestaltigkeit und Unberechenbarkeit. Die totalisierende Sichtweise verortet er jedoch in erster Linie in den Prinzipien des Jacobinismus. Unter Jacobinismus versteht er eine Politik, die getragen ist von einem missionarischen Eifer, der mit seiner Idee alles durchdringen möchte. Dabei wird die Wirklichkeit an idealen Prinzipien gemessen in der Tradition christlicher Eschatologie. Jacobinismus ist also die Verabsolutierung des Politischen in Form totalisierender Weltbilder und hier besonders der Heilsidee der Befreiung und Veränderung der Menschheit. Alles wird in Bezug auf einen »höheren Zweck« bewertet, der jedes Mittel rechtfertigt. Das Ziel ist eine totale Rekonstruktion der politisch-sozialen Ordnung, was letztlich zu einer von Prinzipien geleiteten Barbarei führt. Eisenstadts Analyse ist jedoch insofern weniger monolithisch als die Baumanns, da er im Jacobinismus die Verabsolutierung eines Prinzips innerhalb der modernen Gesellschaft sieht, die jedoch auch noch durch andere Dimensionen charakterisiert ist, wie das kultureIle oder partikulare und das universale Prinzip. Die partikulare und kulturelle Dimension bezieht sich auf spezifische Traditionen und Loyalitäten in Hinblick auf einen bestimmten territorial umgrenzten Raum, auf Zugehörigkeitsempfindungen und Alltagskonventionen. Die Politik hingegen bezieht sich auf die aktive Selbstschöpfung der Gesellschaft im Aushandeln der unterschiedlichen Interessen der verschiedenen Gruppen, während das Universale auf das Allgemeine der Menschheit abzielt. So liegt für Eisenstadt die Herausforderung eines demokratischen Zusammenlebens darin, die Spannungen zwischen der politischen Dimension, dem Universalismus und dem Partikularismus auszUtarieren. Die Herausforderung gelingt, wenn sowohl die spezifischen partikularen Bedürfnisse, etwa nach Identitätsverankerung und regionaler Integration, befriedigt werden und ebenso der Gesichtspunkt der universalen Gleichheit aller Menschen eingebracht wird. Die Politik muss also dem Spezifischen wie auch dem Allgemeinen gerecht werden, den Differenzen wie auch dem Anspruch auf Gleichheit. Wenn diese Balance nicht gefunden wird, besteht immer die Gefahr 35
des Abgleitens in die Barbarei. Das heißt, dass die moderne Gesellschaft für Eisenstadt immer die Potenz der Barbarei wie auch die zunehmender Menschlichkeit und Freiheit in sich trägt. Insofern kann die Zivilisation der Barbarei nicht einfach gegenübergestellt werden, weder indem pauschal die Anderen zu Barbaren gemacht werden, noch indem umgekehrt das Selbst bzw. die Moderne als barbarisch bezeichnet wird, sondern im Zivilisationsbegriff ist sowohl die Möglichkeit der Pazifizierung wie auch die der Militanz enthalten, je nachdem wo und mit welchem Nachdruck die Grenzen den Anderen gegenüber gezogen werden. Die Frage ist also, ob ein ziviles Verhalten auch den Anderen gegenüber gilt oder ob sich die Zivilisiertheit vor allem in der Absetzung von ihnen zeigt - ob Zivilisation also ihre Bedeutung in erster Linie dadurch gewinnt, dass sie die Anderen zu Barbaren macht, oder genau diese Gegensätze zu überwinden trachtet. Ähnlich widersprüchlich wie der Zivilisationsbegriff ist der der Emanzipation, da auch er sowohl die Möglichkeit der Befreiung wie der Unterdrückung enthält.
Emanzipation und Repression Das Projekt der Moderne im Sinne der Befreiung der Menschen aus ihrer Unmündigkeit ist nicht einfach eine Geschichte fortschreitender Emanzipation, sondern ihr ist, wie wir oben sahen, immer auch die Unterdrückung der Anderen implizit. Darüber hinaus setzt Emanzipation auch die Disziplinierung des Selbst voraus: »Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war« (1982, S. 33), so klagen Max Horkheimer und Theodor Adorno in der »Dialektik der Aufklärung« über die Kosten der Imperative der Moderne. Die Selbstunterwerfung braucht nach ihrer Meinung jeglichen Gewinn auf, den sich die Menschen mit dem Fortschritt und ihrer Emanzipation erkämpft haben. Insofern verstehen sie die Moderne eher als Bedrohung und Verlust denn als Fortschritt und Befreiung. Der Mensch opfere sich dem Fortschritt auf - er selbst habe nichts zu gewinnen. Die Geschichte der Zivilisation sei vielmehr eine Geschichte der Entsagung (S. 5]). Obgleich die bürgerlichen Revolutionen im Namen von Freihheit und Selbstbestimmung angetreten waren, hat die Moderne mit ihren Vorstellungen von Disziplin, Arbeitsethik und Zivilisiertheit eine gigantische Repressionsmaschinerie in Gang gesetzt. Sie kann als Geschichte einer kontinuierlichen Ausweitung des Zugriffs von Institutionen verstanden werden, und zwar sowohl in der Reichweite wie auch in der Tiefe der Durchdringung der Lebenswelten. Die soziale 36
Ordnung, die die puritanischen Gemeinden zunächst freiwillig und in kleinem Kreis für sich entwickelt hatten, sollte im großen Maßstab in der gesamten Bevölkerung zwangsweise durchgesetzt werden: In zahlreichen Institutionen wie Arbeitshäusern, Schulen, Gefängnissen, Kasernen, Fabriken und Spitälern wurden die Menschen mithilfe von Überwachung und Fürsorge der sozialen Kontrolle unterworfen. Dabei wurden die äußeren Autoritäten zunehmend durch innere Selbststeuerung abgelöst. Anstelle des göttlichen Gesetzes stand nun die Norm. Der Begriff der »inneren Mission« weist auf diese Durchdringung der säkularen Welt mit christlichen Wertvorstellungen im Sinne von Selbstdisziplin, Arbeitsethik und Pflichterfüllung hin. Die Menschen wurden assimiliert und ihnen wurde im »Zucht«haus Ordnung beigebracht. Durch diese Umerziehung nahezu der gesamten Bevölkerung etablierte sich das christliche, männliche Bürgertum als moralisch und geistig führende Schicht. Dennoch können diese Zurichtungen nicht nur als Unterdrückung verstanden werden, sondern sie bringen auch, wie Michel Foucault herausarbeitet, das moderne Subjekt hervor. Das System der Überwachung und Kontrolle ist zugleich eines von Anreizen und von Lenkung: Es ordnet, es entwickelt und bringt hervor, es steigert und vervielfältigt. Es wird nach Foucault (l976b) also nicht etwas »Natürliches« unterdrückt, sondern bestimmte Einstellungen, Motive, Verhaltensweisen, Denk- und Gefühlsmuster werden hervorgebracht. Die Unterwerfung hat demnach eine subjektkonstituierende Funktion. Indem das Subjekt in überindividuelle Ordnungsstrukturen eingebunden wird, erkennt es sich nun in Bezug auf die so internalisierten Normen und auch nur mithilfe von ihnen. Es gibt kein »Außen«, das auf das Subjekt einwirkt und seine »wahre« Natur verfälscht, sondern das Subjekt ist Produkt dieser Machtverhältnisse. Das bedeutet, dass Macht nicht nur repressiv, sondern auch produktiv ist. Bei der »Moralisierung der Arbeiterklasse« (Foucault) oder der Pädagogisierung der ganzen Gesellschaft geht es also nicht nur um eine möglichst raffinierte Fortsetzung von Herrschaft mit anderen Mitteln - sondern auch um die Generalisierung von Macht in die Gesellschaft hinein in Form der Verallgemeinerung von Kompetenzen, die die Möglichkeit der Selbstbestimmung und Selbststeuerung vergrößern. Es erhöht die Chancen des Einzelnen, selbst an der Macht teilzuhaben und sie für sich im Sinne von selbstgesetzten Zielen zu nutzen. Nach Peter Wagner (1995) enthalten alle modernen Praxen beide Bestrebungen, nämlich auf der einen Seite die Erhöhung der Autonomie und Erweiterung des Handlungsspielraums und auf der anderen Seite die Vergrößerung von rationaler Beherrschung und Selbstunterdrückung. So kann etwa Individualisierung sowohl geglückte Emanzipation wie auch repressive Vereinzelung bedeuten (S. 261). Und auch heute, in der postmodernen Debatte, stehen seiner Meinung nach die bei den Blickwinkel von Selbstbestimmung und Selbstunterwerfung weiterhin ein37
ander gegenüber: Auf der einen Seite wird in erster Linie eine Erweiterung des Möglichkeitsraums der Individuen im globalen Maßstab gesehen im Sinne einer Pluralisierung der Lebenswelten; auf der andern Seite wird die Postmoderne primär als Prozess der Desorientierung und Desintegration verstanden. Insofern wird weder ein ungebrochener Fortschrittsoptimismus, der überall die zunehmende Verwirklichung von Gleichheit und Freiheit sieht, der widersprüchlichen Wirklichkeit gerecht noch eine pauschale Verurteilung der Moderne als insgesamt repressiv und barbarisch. Beide Einschätzungen sind in ihrer Eindeutigkeit inadäquat und in ihrer Funktion immer auch ambivalent. Die kritische Perspektive ist kritisch, indem sie die barbarische Seite der Zivilisation aufzeigt und den Preis nennt, den Freiheit und Selbstbestimmung in Form von Selbst- und Fremdunterdrückung kostet. Sie wird jedoch affirmativ, wenn sie das System als solches anklagt und dabei den Preis für alle so hoch veranschlagt, dass anscheinend niemand mehr Gewinn aus den Machtverhältnissen zieht. Das erinnert in gewisser Weise an die Selbstdramatisierung des puritanischen Menschen, der von seinem Reichtum nichts wissen will, sondern für den nur die eigene Selbstaufopferung im Vordergrund steht. Alle leiden nach dieser Auffassung an den gesellschaftlichen Verhältnissen, und in diesen Leiden sind sich alle Menschen im Sinne einer »repressiven Egalität« (Horkheimer und Adorno 1982) gleich. Die optimistische Perspektive, die allenthalben eine Zunahme von Freiheit und Gleichheit sieht, ist hingegen so lange kritisch, wie sie an die Versprechen der europäischen Moderne erinnert und damit das Bewusstsein des Unrechts wach hält. Sie wird jedoch dann affirmativ, wenn sie eine quasi natürliche Evolution zu immer mehr Freiheit und Gleichheit annimmt anstatt deutlich zu machen, dass hier kein Automatismus vorliegt, sondern im Gegenteil die zunehmende Freiheit auch zunehmende und auch andere Formen von Repression nach sich ziehen kann. In Bezug auf das Fremdbild ist die kritische Selbstreflexion insofern eine Chance, als sie die Projektionen etwa des Barbarischen zurückzunehmen versucht und sie als Ausdruck eigener Widersprüche zu verstehen lernt. Damit macht sie den Weg frei für gegenseitige Anerkennung. Das würde aber bedeuten, den eigenen Monopolanspruch auf Zivilisation aufzugeben und das Potenzial von Zivilisation und Barbarei bei sich wie auch bei den Anderen wahrzunehmen. Ebenso ist in Bezug auf die Widersprüchlichkeit des Emanzipationsbegriffs zu fragen, wann der Preis zu hoch ist, der für die eigene Befreiung zu zahlen ist, und welchen Preis die Anderen dafür bezahlen müssen. Das bedeutet schließlich, die Ambivalenz einer Fortschrittsidee zu sehen, die auf der einen Seite für alle mehr Freiheit und Gleichheit verspricht und auf der anderen Seite die Grundlage für neue Ungleichheit legt bzw. die alten Dominanz-
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verhältnisse fortschreibt, vor allem indem sie das eigene Selbstbild in die Zukunft hinein entwirft und die Anderen darauf zu verpflichten versucht. Demgegenüber bedarf es auch der Pluralisierung der Zukunftsentwürfe, da Gleichheit nur im Rahmen der Anerkennung von Differenzen realisierbar ist. Es sind jedoch nicht nur die Vorstellungen von Moderne, Zivilisation und Emanzipation, die die europäisch-westlichen Selbst- und Fremdbilder prägen, sondern es war vor allem auch das Konzept der Nation, das in kürzester Zeit das Selbstverständnis der Menschen in Europa bestimmte. Zuvor hatten die Europäer die Differenzen untereinander in erster Linie als religiöse oder als regionale interpretiert. Nun aber entstanden neue politische Systeme, die die Loyalitäten der Menschen zu binden wussten. Die Nationen geben bis heute ganz wesentlich die Rahmenbedingungen dafür vor, wer als zugehörig definiert wird und wer nicht. Sie entscheiden weitgehend darüber, wem welche Rechte zustehen, und steuern damit den Zugang zu vielen anderen Ressourcen. Diese Steuerungsfunktion des Nationalstaates schlägt sich teilweise ganz unmittelbar in den Selbst- und Fremdbildern nieder. Dabei ist der Nationalstaat nichts, was ein für alle Mal festgeschrieben ist, sondern sein Selbstverständnis wie auch seine Grenzziehungen sind und waren immer umstritten.
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3 Nationale Selbst-und Fremdbilder
Mit der Bildung der modernen Nationalstaaten stellte sich die Frage, was eigentlich das Spezifische einer Nation im Unterschied zu den jeweils anderen ausmachte, wo jeweils die Grenzen zu ziehen seien und warum. Diese Fragen konnte von keinem der verschiedenen Konzepte von Nation schlüssig beantwortet werden, was bis in die heutige Zeit zu zahllosen Grenzkonflikten, Vertreibungen und Kriegen führte. Andererseits entwickelte die Nation auch eine enorme Attraktivität, so dass sich viele Menschen stark damit identifizierten. So ist bis heute die Nation einer der wichtigsten Bezugspunkte im Diskurs um das eigene Selbstverständnis wie auch um Fremdheit geblieben, nicht zuletzt weil so gut wie alle rechtlichen Ansprüche an den Geltungsbereich nationalen Rechts geknüpft sind. Der Staat bestimmt mit der Vergabe von Visa und Pässen, mit Einwanderungs- und Ausländergesetzen den rechtlichen Status und den Bewegungsspielraum jedes Einzelnen. Das gilt auch heute noch in Zeiten der Globalisierung, auch wenn nun vielfach von einem postnationalen Zeitalter gesprochen wird. Die Frage ist zunächst also, warum die Nation zu einem elementaren Bestandteil des modernen Selbstverständnisses geworden ist. Die Zugehörigkeit zu der christlich-abendländischen Kultur hinderte die Europäer offensichtlich nicht, im Zuge der Nationbildung plötzlich den Nachbarn als Erbfeind zu betrachten und in ihm das Sinnbild der Barbarei zu sehen. Das zivilisatorische Sendungsbewusstsein war nun auch zum nationalen Auftrag gegenüber den jeweils anderen Europäern geworden. Für die Deutschen ist diese Frage auch deshalb besonders virulent, weil nicht nur die Nationgründung mit ihrem Rekurs auf die Abstammungsgemeinschaft der Deutschen bereits ein ·äußerst problematischer Prozess war, sondern weil vor allem auch die Verabsolutierung des Ethnischen im Nationalsozialismus mit seinen katastrophalen Folgen das Selbstverständnis der Deutschen bis heute prekär macht. Insofern soll im Folgenden zunächst der Frage nach den unterschiedlichen Funktionen von Nation im historischen Kontext nachgegangen werden sowie nach deren Auswirkungen auf die Konstruktion von Selbst- und Fremdbildern, um dann nach Prozessen zu fragen, die die Tradierung des Nationalsozialismus bestimmen, und zu untersuchen, wie sich diese wiederum auf Selbst40
und Fremdbilder auswirken. Und schließlich soll die Frage nach einem deutschen Selbstverständnis dahingehend betrachtet werden, welche Bedeutung es in der Beziehung der Deutschen »untereinander«, also in Bezug auf diejenigen hat, die auch als Deutsche gelten. Allerdings ist nicht nur das ethnische Verständnis von Nation für die Entwicklung von Selbst- und Fremdbildern problematisch. Auch die republikanische Idee von Nation ist in sich höchst widerspruchsvoll und kann z. B. nicht einmal eine so grundlegende Frage klären wie die, wer zu einer Nation gehören soll und wer nicht.
Nation als politische und als ethnische Gemeinschaft Nationen sind nach der Definition von Ernest Gellner (1991) Artefakte menschlicher Überzeugungen, Loyalitäten und Solidaritätsbeziehungen: »Eine bloße Kategorie von Personen (sagen wir die Bewohner eines bestimmten Territoriums oder die Benutzer einer bestimmten Sprache z. B.) wird zu einer Nation, wenn und sobald die Mitglieder dieser Kategorie bestimmte gegenseitige Rechte und Pflichten anerkennen, die sie ihrer gemeinsamen Mitgliedschaft verdanken. Zur Nation werden sie durch ihre wechselseitige Anerkennung« (S. 16f.). Das ist die eher politische und voluntaristische Definition von Nation, da es sich hier um den Zusammenhang von Menschen handelt, die dauerhaft eine Gemeinschaft wollen. Die kulturelle Definition von Nation setzt hingegen stärker auf die Tatsache, dass diejenigen Menschen eine gemeinsame Nation bilden, die dieselbe Kultur teilen, d. h., dass sie aufgrund einer gemeinsamen Sprache, Geschichte und Lebensweise sich als zusammengehörig empfinden. Diese kulturelle Definition geht oft in eine ethnische über, indem diese Gemeinsamkeiten aus einer gemeinsamen Abstammung abgeleitet werden. Die ethnische Idee der Nation war vor allem für Deutschland entscheidend, gerade auch weil es zum Zeitpunkt der Nationgründung ein sehr heterogenes Gebilde war. Es war in unterschiedliche christliche Konfessionen und in eine Unzahl politischer Einheiten mit unterschiedlichen Verfassungen aufgespalten, und es bestanden große Gegensätze zwischen den unterschiedlichen Regionen. So war auch äußerst unklar, wo die Grenze des neuen Deutschlands verlaufen sollte, was letztlich dazu führte, dass das Deutsche Reich weder all die umfasste, die sich als Deutsche verstanden, noch waren all diejenigen, die sich innerhalb der Grenzen des neuen Reiches befanden, ihrem Selbstverständnis nach Qeutsche - wie etwa Böhmen, Polen und Dänen. Die relative ethnische Homogenität im heutigen Deutschland ist zum einen Resultat heftiger Kämpfe unterschiedlicher ethnischer 41
Gruppierungen innerhalb der Nation und zum anderen eine Folge von Vertreibung und Völkennord. Es gibt heute so gut wie keinen Staat auf der Welt, in dem die Idee »ein Staateine Nation« verwirklicht worden wäre. Nach Schätzungen der UNO gibt es etwa 640 verschiedene Ethnien, 8000 verschiedene Sprachen und rund 200 Staaten (GelIner 1991). Staaten mit Dutzenden oder gar mehr als hundert unterschiedlichen Sprachgemeinschaften sind z. B. in Afrika keine Seltenheit. Der Staat, der mehrere Ethnien umfasst, ist die Normalität. Alleine Japan kommt der Realität ethnischer Homogenität noch relativ nahe. In nahezu allen anderen Staaten herrscht eine ethnische Vielfalt. Besondere Probleme im Nationsbildungsprozess gab es in Europa vor allem auch bei der Gründung all der Nationalstaaten, die das Erbe von Imperien wie z. B. dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, dem Habsburgerreich oder dem osmanischen Reich antraten. Aber selbst in Frankreich, das sich auf ein relativ umgrenztes Territorium stützen konnte, treten bis heute Probleme mit ethnischen Minderheiten wie den Korsen und Basken auf. Dasselbe gilt für England mit seinen anhaltenden Konflikten in Nordirland und mit den Schotten und Walisern. Sie zeigen, wie schwierig oder gar unmöglich eindeutige Grenzziehungen sind und dass alle Staaten Verfahren entwickeln müssen, wie sie mit diesen Spannungen umgehen. Die Vorstellung ethnischer Homogenität als Grundlage der Nationbildung ist also höchst wirklichkeitsfremd. Demgegenüber scheint die republikanische Definition von Nation, wie sie vor allem in Frankreich entwickelt wurde, angemessener zu sein, die in der politischen Tat Ursprung und Zweck des Volkes sieht. Nation bildet sich hier - nach dem berühmten Diktum von Ernest Renan - im täglichen Plebiszit. Danach gehören all diejenigen zur Republik, die sich dafür entscheiden und in einem Vertrag dazu verpflichten, sich gemeinsam zu verwalten. Aber auch die Idee eines gemeinsamen Vertrages als Basis der Nation ist eine Fiktion, wenn auch vielleicht eine nicht ganz so wirklichkeitsferne wie die einer gemeinsamen Abstammung. Denn in der französischen Revolution wurde niemand gefragt, ob er/sie zu diesem neuen Frankreich gehören wollte, wenn er/sie auf dem Territorium des bis dahin absolutistisch regierten Frankreich lebte. FranzoselFranzösin war man in der Regel qua Geburt. Zwar wurde z. B. Friedrich Schiller zum Ehrenbürger der Französischen Republik ernannt, weil er ihre Auffassungen teilte, das war aber eine Ausnahme gewesen. Die meisten wurden nicht gefragt und traten auch nicht bewusst einer Gemeinschaft bei. Darüber hinaus wurde ein Großteil der Bevölkerung gar nicht zur politischen Selbstverwaltung zugelassen, wie vor allem die Frauen und die unteren Stände. Deshalb ging auch die Definition eines Franzosen oder einer Französin weit über ihre politische Teilhabe hinaus und wurde auch kulturell bestimmt. So hatten sich 42
die BewohnerInnen Frankreichs auch den herrschenden Vorstellungen eines »richtigen« Franzosen im Sinne eines französischen Sprach- und ZiviIisationsnationalismus anzupassen. Die sprachlichen Minderheiten innerhalb Frankreichs wie Bretonen, Basken oder Flamen mussten französisch sprechen und die Bürger Colmars ihre »teutsche« Tracht ablegen (Obern dörfer 1994, S. 62). Das heißt, es wurden entgegen einem strikten republikanischen Verständnis auch Gemeinsamkeiten im ethnischen Sinn eingefordert. Kollektive Loyalitäten werden in der geschichtlichen Realität nach Bruno Schoch (200 I) so gut wie nie allein aus demokratischen Verfahren und Institutionen abgleitet. Die Kohäsion der Staatsbürger kann nicht abstrakt hergestellt werden, sondern wird immer nur im partikularen Rahmen formuliert und muss, wie auch Rousseau glaubte, durch gemeinschaftsstiftende Bräuche und Symbole, durch eine regelrechte »Zivilreligion« abgesichert werden. Dies umso mehr, als das Konzept der Nation nicht nur eine Antwort auf die Frage der politischen Ordnung zu geben hatte, sondern angesichts der Umwälzung der gesamten Lebensverhältnisse auch neue Orientierungssysteme anbieten musste. Es mussten die Loyalitäten gegenüber dem Adel und der Kirche durch Bindungen an neue Gemeinschaften bzw. die gegenseitige Anerkennung der Bürger als Gleiche ersetzt werden. So stellte die Nation den Rahmen und die Instrumente einer neuen Integration und Identitätsverankerung bereit. Auch führte die Tatsache, dass sich ein Konglomerat unterschiedlichster Machtsphären in ein zunehmend einheitlich agierendes politisches Gebilde zu transformieren hatte, bei allen Nationbildungen zu anhaltenden Kämpfen verschiedener Ethnien um die Vorherrschaft. Die Gründung der Nation setzte erhebliche Homogenisierungsleistungen voraus. Es wurde notwendig, sich miteinander zu verständigen, was in der Regel bedeutete, sich auf eine gemeinsame Sprache und Schrift zu einigen, wie auch insgesamt das neue gemeinsame Selbstverständnis zu definieren, was vielfach mit der Entwicklung von Volkskunde, Volksmusik, Volksmärchen, Volkstracht und einer Ethnisierung von Natur und Architektur geschah. Durch Institutionen wie Schule, Kunst und Kultur, über politische Einbindung in nationale Versorgungs- und Rechtssysteme, über den Zugang zur Öffentlichkeit und zu politischer Verantwortung wurden neue Interaktions- und Kommunikationszusammenhänge geschaffen. Ein solches Beziehungsgeflecht wird dann zu einer Gemeinschaft, wenn sich die Menschen über Geschichte und Geschichten damit identifizieren und ihrer Gruppe eine besondere Bedeutung geben, denn mit der Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen ist die Identifikation und damit die gegenseitige Anerkennung keineswegs per se gegeben. Auch muss um die politische Mitwirkung der Beteiligten in einer Demokratie ständig geworben werden. Hat sich ein solches Zugehörigkeitsempfinden entwickelt, kann es jedoch auch erhalten bleiben, selbst wenn man der Nation nicht mehr angehört 43
oder sie als solche nicht mehr existiert. Das wird vor allem an all den Menschen deutlich, die im Exil leben müssen, aber auch z. B. an der Situation Nachkriegsdeutschlands, als trotz der Teilung in zwei Staaten bei den meisten Deutschen das Gefühl einer gemeinsamen Nation bestehen blieb (Weidenfeld und Korte 1999). Das heißt, ein zentrales Motiv für die Identifikation der Menschen mit der Nation war das Bedürfnis nach Selbstverortung und Wiedereinbettung in ein soziales Gemeinwesen. Dabei bekamen gemeinschaftsstiftende Mythen eine umso größere Bedeutung, je größer die tatsächliche Heterogenität war. »Nach den durch Herder, Fichte und nicht zuletzt Hegel vorbereiteten> Volksgeistlehren< ist die Nation eine vorgängige und >organische< d. h. mythisch-substantielle und durchaus personal zu verstehende Totalität, die sich gemäß den sie ausmachenden Anlagen oder Potenzen in einer je besonderen Sprache, besonderen Religion, besonderem Recht usw. manifestiert« (Estel 1994, S. 72). Diese politischen Mythen hatten zu erklären, warum diese Gemeinschaft so sein sollte und nicht anders. Sie stifteten Sinn als Basis für Zugehörigkeitsempfindungen. Mit diesen Mythen wurde die Vergangenheit und die Zukunft miteinander verknüpft und damit die Gegenwart überhöht. Ein weiteres Motiv für die Identifikation mit der Nation war sicherlich das Versprechen, dass alle Menschen, die zu einer Nation gehörten, gleich sein sollten, ohne besondere individuelle Leistung, denn die politische Gleichheit wurde mit der ethnischen Homogenität begründet. Alle waren gleichrangig und gleichberechtigt, soweit sie der »natürlichen Gemeinschaft« der Nation angehörten. In diesem Sinn war der Begriff »Volk« zunächst durchaus auch ein revolutionärer Begriff, der sich gegen die etablierte Herrschaftsordnung richtete. Er war im Ansatz auch egalitär: »Die nationalen Feste, Vereine, Denkmalsbewegungen vor 1848 sprengten die Stände- und Klassenbindungen und -grenzen auf. Volk war hier zumindest ein demokratisches Potential« (Nipperdey 1986, S. 123) und sollte dies, so mag man ergänzen, im sozialistischen Verständnis auch wieder zugesprochen bekommen. Das Neue bei Herder war u. a. die Wendung weg von der hohen Kultur der Gebildeten, der Eliten, hin zu der Kultur des einfachen vor-intellektuellen Volkes. Die demokratisch-egalitäre Tendenz zeigte sich in der Idee eines durch Sprache und Kultur konstituierten Volkes. Je weniger das Versprechen auf Gleichheit in den neuen Nationalstaaten eingelöst wurde, desto mehr wurde die Überlegenheit aller Mitglieder gegenüber denen behauptet, die außerhalb der Gemeinschaft standen. So trat das emanzipatorische Moment der Nationalidee bald hinter dem machtpolitischen Geltungsbedürfnis zurück. Es wurde z. B. in Deutschland zunehmend die Erinnerung an die vergangene Größe eines europaweit Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation gepflegt, was geradezu imperialistische Begehrlichkeiten hervorrief. Die mangelnde 44
Egalität nach innen wurde vielfach mit dem Anspruch an die Überlegenheit nach außen erkauft. Es entwickelte sich ein Gruppencharisma (Elias), das für die faktische Ungleichheit entschädigen sollte. Dabei wurde vielfach das Besondere der spezifischen Nation mit dem Allgemeinen der Menschheit gleichgesetzt. Mangels eigener politischer Erfahrung wurde die Basis für das deutsche Volk vor allem im Geist gesucht - einem Geist, der durch keine Realerfahrungen begrenzt oder relativiert im Prinzip Allgemeingültigkeit beansprucht, d. h. zur Weltgeltung drängt. Hier verschreibt sich der »Geist« wiederum einem Erlösungs- und Missionsgedanken, der mangels inhaltlicher Substanz in der Expansion seine Bedeutung suchen muss. Sie wird zu einer spezifisch deutschen Eschatologie, nach der »am deutschen Wesen die Welt genesen« (Emanuel Geibel) soll (vgl. Hoffmann 1994). Auch Frankreich sah seine Mission in einer universellen politischen Sendung, denn die »grande nation« verstand sich selbst als Vorreiterin im Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei. So hatte bereits Herder den Universalismus der Franzosen kritisiert, dass dieser nur ein Vorwand sei, um die eigenen Vorstellungen auszubreiten und damit die Vielzahl und Verschiedenheit der unterschiedlichen Völker zu zerstören. Die Identifizierung des Eigenen mit dem Allgemeinen der Menschheit, das bereits die koloniale Expansion gerechtfertigt hatte, führte nun auch zu tödlichen Feindschaften zwischen den europäischen Nationen. Die Nationen brachten mit ihren Grenzziehungen also neue Gegensätze hervor. Das Prinzip ethnischer Homogenität trennte nun scharf zwischen den Fremden und den Zugehörigen. Die einen wurden ausgegrenzt und die anderen zur Anpassung an die hegemoniale Kultur gezwungen. Je eindeutiger dieses Prinzip angesichts vielfältiger Uneindeutigkeiten vertreten wurde, desto mehr mussten die Gemeinsamkeiten überhöht und die Differenzen polemisch aufgeladen werden, denn wie sollte das Eigene einer Nation definiert werden angesichts der vielen Gemeinsamkeiten mit den Anderen, wie das Besondere angesichts des Allgemeinen der Menschheit? Auf der anderen Seite konnte das Konzept der Nation die Menschen überzeugen und vielfach auch begeistern, denn es versprach politischen Umsturz und politische Gleichheit für alle, es wurde dem Bedürfnis nach Verortung und Identitätsverankerung entsprochen, und schließlich wurde das Streben nach AuserwähItheit genährt und so ein kollektives Charisma entwickelt, das in der Regel auf Kosten der Anderen ging. Unklar blieb dabei immer jedoch die Kernfrage, nämlich wo die Grenzen einer Nation zu ziehen seien und warum. Darauf kann das ethnische Konzept keine Antwort geben, vielmehr entzieht es sich ihr durch die Flucht in den Mythos und die ferne Vergangenheit. Aber auch der Republikanismus bleibt, ~ie Habermas konstatiert, uns die Antwort schuldig, wie die Grundgesamtheit definiert wird, auf die sich die Bürgerrechte legitimerweise beziehen sollen (1996, S. 167). Die Republik 45
wollte universal sein und alle umfassen, die sich zu ihren Prinzipien bekennen, faktisch war sie aber partikular, d. h. nur auf die bezogen, die zu dem Staatsvolk gehörten; in Frankreich, dem klassischen Land des Republikanismus, bezog sie sich auf das Gebiet des ehemaligen Königreiches. Die Bürger fanden sich also nicht nach politischen Kriterien zusammen, sondern im Wesentlichen nach dem Territorialprinzip. Das Territorialprinzip schafft wiederum neue Probleme, denn es erkennt zwar diejenige als StaatsbürgerInnen an, die auf einem bestimmten Territorium leben und geboren werden, erklärt jedoch die Menschen, die ein- oder auswandern, oder solche, die keinen festen Standort haben, zur Ausnahme bzw. verurteilt sie gar zur Rechtlosigkeit. Mobilität ist in den modernen Staatstheorien nur bedingt vorgesehen. Das Nationverständnis auf der Basis des Territorialprinzips setzt Sesshaftigkeit als vorherrschende Norm voraus. Und diese musste deshalb mithilfe aufwendiger Grenzübertritts- und Passregelungen auch im Laufe der Jahrhunderte erst durchgesetzt werden. Das Problem der Definition von StaatsbürgerInnen wird mit dem Territorialprinzip in gewisser Weise an die geographischen Grenzen delegiert, und es privilegiert diejenigen, die bereits auf dem Staatsgebiet leben, sowie die, die in Zukunft dort geboren werden. Das Territorialprinzip widerspricht streng genommen dem Prinzip einer politischen Gemeinschaftsbildung im demokratischen Sinne. Im modernen Nationbegriff überschneiden sich also drei unterschiedliche Legitimationsstränge: Das Territorialprinzip, die politische Gemeinschaft und die gemeinsame kulturelle Tradition. Alle drei Gesichtspunkte haben eine gewisse Berechtigung, da sie jeweils verschiedene Aspekte der historischen Entwicklung thematisieren und unterschiedliche Dimensionen der neu zu schaffenden politischen Einheit in Prinzipien fassen. Dabei bezieht sich das Territorialprinzip auf die Tatsache vorgängiger politischer Einheiten, das republikanische auf die Notwendigkeit gegenseitiger Anerkennung und gemeinsamer Verwaltung, während das ethnische Prinzip auf Traditionen und Gemeinsamkeiten als Grundlage der gegenseitigen Verständigung und der Identifikation mit dem Gemeinwesen abhebt. Sie betreffen also jeweils nur bestimmte Aspekte des Zusammenlebens und stehen vielfach auch im Widerspruch zueinander. So kann im Extremfall das Prinzip des Ethnischen von dem des Politischen und Territorialen völlig losgelöst sein, indem ein Volk auf der ganzen Welt verstreut in verschiedenen Staaten lebt. Oder aber es kann ein Staat vom Territorium weitgehend abgelöst sein, z. B. wenn eine Regierung im Exil lebt oder sich auf unterschiedliche Regionen bezieht. Dass in einem Staat unterschiedliche Ethnien zusammengefasst sind, ist, wie wir sahen, ohnehin der Normalfall. Das Funktionieren des Nationalstaats besteht deshalb nach Eisenstadt (1998, 1999) vor allem in der Kunst, die verschiedenen ihn be-
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stimmenden Faktoren in der Balance zu halten, und keine auf Kosten der anderen zu verabsolutieren, denn dies hätte jeweils das Abgleiten in den Totalitarismus zur Folge. So führt die Verabsolutierung des Universalismus zum Imperialismus im Sinn einer Identifikation des Eigenen mit dem Ganzen und die Verabsolutierung des Ethnischen zu Nationalismus und Rassismus. In Deutschland bestand nun von Anfang an die Gefahr der Verabsolutierung des ethnischen Prinzips. Dabei war das Homogenitätsideal bei der Nationgründung geradezu eine direkte Folge des unklaren Selbstverständnisses, der politischen Unübersichtlichkeit und der Uneindeutigkeit der Grenzziehung gewesen. Die Betonung der Ethnizität machte es wiederum schwierig, eine demokratische Ordnung und eine universale Orientierung zu verankern. Ethnizität ist eine recht unbestimmbare, flüchtige Kategorie. d. h. jedoch nicht, dass sie beliebig wäre. Sie ist so etwas wie eine provisorische Erzählung, die bestimmte Gemeinsamkeiten hervorhebt und diese in Symbolen verdichtet. Ihre Bedeutung kann sich jedoch je nach Kontext verändern und je nach Perspektive unterschiedlich darstellen. Allein die lange anhaltenden Kämpfe in der Geschichte um die Bestimmung dessen, was das »deutsche Volk« sein sollte, zeigt, wie sehr diese Konstruktion von unterschiedlichen Interessen und politischen Machtkonstellationen abhängig war. Dem Nationalsozialismus blieb es vorbehalten, die Aporie der Festschreibung von etwas nicht Feststellbarem auf die Spitze zu treiben: Je mehr die Nationalsozialisten versuchten selbstgewiss zu behaupten, sie wüssten, wer sie seien und woher sie stammten, desto mehr mussten sie diese Zuordnung mithilfe gewissenhafter Prüfungen anhand einer Unzahl »wissenschaftlicher« Messungen und peinlichster Familien- und Ahnenforschungen »beweisen«. Das heißt, je gen au er die Festlegung sein sollte, desto größer war das Misstrauen, wer die »richtige« Abstammung habe und wirklich »reinrassig« sei. Diese Politik der Verabsolutierung des Ethnischen führte zu einer Entwertung des Politischen, wobei das Politische die Sphäre des Aushandeins, der Kompromissbildung, der Entwicklung gemeinsamer Ziele gerade angesichts von Gegensätzen und Differenzen meint (Dumont 1991). Ebenso ging damit eine Entwertung des Universalen einher, also der Tatsache, dass man nicht nur Mitglied einer Nation ist, sondern immer zugleich auch WeltbürgerIn, und dass sich auch dies in der Politik niederschlagen muss. Denn es gelten immer unterschiedliche Referenzräume und Loyalitätsebenen gleichzeitig, und die Identifikation mit der Nation kann beispielsweise regionale Zugehörigkeiten ebensowenig ersetzen wie die Zugehörigkeit zur Weltgesellschaft. In Deutschland zeigen sich nun bis heute - wie wir im Laufe dieser Untersuchung noch vielfach sehen werden - die Folgen dieser Geschichte vor allem in der Schwierigkeit im Umgang mit Differenzen und Heterogenität. So ist die Politik der Bundesrepublik seit Jahrzehnten von einer Politik der Negation geprägt, z. B.
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mit der kontrafaktischen Behauptung, Deutschland sei kein Einwanderungsland. An dieser Stelle interessiert uns jedoch vor allem die Frage, welche Auswirkungen diese politische Tradition auf das Selbstverständnis der Deutschen selbst hat. Interessant ist z. B., dass im europäischen Vergleich (Eurobarometer 1998) das Verhältnis der Deutschen zu ihrer nationalen Zugehörigkeit relativ stark polarisiert ist: Einerseits sind vergleichsweise viele Deutsche ihrer nationalen Herkunft gegenüber kritisch eingestellt, und auf der anderen Seite gibt es die besonders forcierte Identifikation mit dem Deutschsein in Form eines ausgeprägten Rechtsextremismus. Die Frage, die sich uns also stellt, ist, welche Auswirkungen diese Geschichte auf das Selbstbild der Deutschen und damit auch auf die Fremdbilder hat. Deshalb soll im Folgenden zunächst am Beispiel des Umgangs mit der nationalsozialistischen Geschichte in deutschen Familien gezeigt werden, wie die Nachkommen durch ihre Eltern und Großeltern in die Geschichte eingebunden werden und wie sich dies vor allem auf den Umgang mit den Anderen, den »Nicht-Zugehörigen« auswirkt. Anschließend geht es dann um den Umgang mit denen, die als zugehörig, also als deutsch gelten. Dabei wird deutlich, wie sehr der Kampf um kulturelle Hegemonie auch das »Binnenverhältnis« der Gesellschaft bestimmt, was zur Zeit am Prozess der deutsch-deutschen Vereinigung besonders sichtbar wird.
Die Tradierung nationalsozialistischer Geschichte _ Folgen für die Selbstbilder Der Nationalsozialismus ist weltweit zum Symbol absoluter Unmenschlichkeit geworden. Das politische und moralische Versagen des größten Teils der Deutschen hinterlässt bei ihren Nachkommen tiefe Spuren. Sie müssen um ihre eigene Selbstachtung und um die Anerkennung durch die Anderen ringen, denn diese ist nicht selbstverständlich. Viele Traditionen und Institutionen dieses Landes sind diskreditiert. Den Nachkommen wurde ein »beschädigtes Erbe« überlassen; denn ob es die Sprache ist, die Alltagskultur, Kunst und Wissenschaften, die gesellschaftlichen, politischen und religiösen Institutionen - sie alle sind seither immer auch mit dem Nationalsozialismus verknüpft. Das hat zur Folge, dass sich die Mehrheitsdeutschen I nicht unbefangen ihrer Traditionen bedienen können und die meisten von ihnen Probleme mit ihrem Deutsch-Sein haben. Die Nation als Medium von Integration und Stabilität hat sich verkehrt in eine Quelle von VerunMit Mehrheitsdeutschen sind hier die Nachkommen deljenigen Deutschen gemeint, die im Nationalsozialismus nicht verfolgt wurden.
sicherung. Die Heimat ist unheimlich geworden. Dementsprechend groß ist die Sehnsucht nach »Normalität«, wie dies z. B. in der viel diskutierten Rede von Martin Walser anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels 1998 zum Ausdruck kam. Mit seiner Rede hat Walser die Sehnsucht nach Normalität artikuliert. Anlässlieh der zahlreichen Reaktionen auf seine Rede schrieb er, dass er davon überzeugt sei, dass er Millionen von Deutschen aus der Seele gesprochen habe. Damit hat er vermutlich Recht - obgleich wenige Jahre zuvor ebenfalls zahlreiche Menschen den gleichsam entgegengesetzten Thesen Daniel Goldhagens, die er in seinem Buch »Hitlers willige Vollstrecker« (1996) darlegte, ebenfalls zugestimmt haben. Auf alle Fälle zeigen beide Ereignisse, wie sehr die Diskussion um das Damals die Deutschen heute beunruhigt. Sie werden in ihrem Selbstverständnis irritiert, denn die Verbrechen diskreditieren die Vorfahren und stellen so auch die moralische Substanz der Nachkommen in Frage - denn warum sollten sie so anders sein als ihre Eltern und Großeltern? Kollektive wie individuelle Selbstbilder entwickeln sich, wie wir sahen, über Erzählungen, die die Vergangenheit mit der Zukunft verknüpfen und damit der Gegenwart Bedeutung verleihen. Das heißt, die Konstruktion von Selbstbildern ist eine aktive Leistung im Sinne einer »Identitätsarbeit« (Keupp u. a. 1999). Dabei müssen die unterschiedlichen Erfahrungen in Bezug zum eigenen Selbst gesehen, gewertet und gewichtet und zu einer Erzählung verknüpft werden, die einen Zusammenhang herstellt. Was die Tradierung der nationalsozialistischen Geschichte anbetrifft, so zeigt sich heute eine höchst widersprüchliche Situation: In den Medien, aber teilweise auch im Schulunterricht wird ausführlich darüber berichtet, während in den Familien nach wie vor weitgehend geschwiegen wird (v gl. Arnim 1991, Heimannsberg/Schmidt 1988; RosenthaI 1995 u. 1997 Dan Bar-On 1993 und 1995, Rommelspacher 1995b und Schneider 2001). Die Untersuchungen dazu beziehen sich im Wesentlichen auf die westdeutsche Gesellschaft. Es hat jedoch den Anschein, dass dies in Ostdeutschland auch nicht grundsätzlich anders ist bzw. war (vgl. etwa Schneider 2001). Das Schweigen in den Familien führt bei den Nachkommen zu einem meist unterschwelligen Misstrauen gegenüber den Eltern und Großeltern, denn es weist auf etwas hin, das so ungeheuerlich sein muss, dass es nicht erzählt werden kann. Da von den Eltern und Großeltern eine Distanzierung zum Nationalsozialismus ausbleibt, wird implizit eine Verbundenheit mit dem NS-System vermittelt und von den Nachkommen um Verständnis dafür geworben. Im Interesse eines positiven Bildes und einer harmonischen Beziehung mit den Eltern und Großeltern werden jedoch kritische Nachfragen vermieden und negative Emotionen wie Misstrauen, Enttäuschung über den Verlust des Elternideals und Wut über das
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»beschädigte« Erbe abgewehrt. Oder aber die Nachkommen identifizieren sich forciert mit den unterschwellig vermittelten Ideen im Sinne eines offenen Rechtsextremismus. Das Misstrauen, das den Eltern und Großeltern gegenüber nicht direkt gezeigt werden kann, verwandelt sich oft in ein Misstrauen gegen sich selbst: Wie würde man sich selbst in einer solchen Situation verhalten? Woher sollte man die Gewissheit nehmen, dass man anders reagieren würde? Aber das Misstrauen richtet sich auch gegen eine Gesellschaft, die diese Verbrechen möglich machte. Ist es der den Deutschen eingeprägte Autoritarismus und ihre Staatsgläubigkeit, sind es ihre »Sekundärtugenden« von Fleiß, Ordnung und Sauberkeit, die sie so unmenschlich machten? Würden die Deutschen, wenn ähnliche Verhältnisse entständen, wie z.B. eine Situation der Massenarbeitslosigkeit und wirtschaftlichen Not, nicht wieder so oder ähnlich reagieren? Ein weiteres psychologisches Erbe dieser Geschichte und ihrer Tradierung ist bei vielen ein Schuldgefühl, das sie selbst als nicht gerechtfertigt empfinden. Sie selbst haben sich nicht schuldig gemacht und dennoch können sie sich nicht davon freisprechen. Dies Schuldgefühl resultiert ebenfalls aus der Beziehung zu ihren Eltern und Großeltern, denn je mehr sie sich mit ihnen identifizieren und sie schützen wollen, desto mehr werden sie auch die Schuld übernehmen, die diese nicht übernommen haben. So konnten wir in unserer Untersuchung (Rommelspacher 1995b) in Interviews mit jungen Frauen feststellen, dass die Mehrzahl der Befragten glaubte, dass ihre Eltern und Großeltern nicht schuldig geworden seien, wohingegen sie sich selbst aber schuldig fühlten. Bei diesem Phänomen der Schuldübernahme wird psychodynamisch gesehen die Schuld von »oben« nach »unten« delegiert und so die Hierarchie abgesichert. Dabei verharren die Nachkommen in einer kindlichen Beziehung zu ihren Eltern und Großeltern, indern sie die Schuld auf sich nehmen, die diese an sie delegieren. Eine solche Schuldübernahme ist jedoch unproduktiv. Sie belastet die Nachkommen mit einern Schuldgefühl, das auf keine konkrete Schuld verweist. Kontraproduktiv in dem Zusammenhang ist auch das christliche Verständnis von Erbschuld, bei dem die Schuld von Generation zu Generation weitergegeben wird. In unserem Zusammenhang bedeutet das, dass man sich schon alleine deshalb schuldig fühlt, weil man als Deutsche geboren wurde (vgl. »Schuldig geboren« von Peter Sichrovsky 1987). Wenn sich die Nachkommen für etwas schuldig fühlen, das sie aber tatsächlich nicht zu verantworten haben, dann werden sie ständig das Gefühl haben, ungerechtfertigt beschuldigt zu werden, und schließlich empört die Schuld von sich weisen und anderen die Schuld für ihre Schuldgefühle geben. Damit wird dann häufig gleich die Verantwortung für die Geschichte und ihre Folgen insgesamt zurückgewiesen, schließlich, so heißt es dann, wäre man ja viel zu jung, um damit noch etwas zu tun zu haben. Dabei wird die ungerechtfertigte 50
Beschuldigung zu einern Vorwand, um sich der eigenen Beziehung zu dieser Vergangenheit überhaupt zu entledigen, die jedoch gerade durch den Auftrag der Eltern und Großeltern zum Schweigen in besonderer Weise gegeben ist. Die Paradoxie liegt also darin, dass sich die Nachkommen gerade durch eine Übernahme der Schuld der Vorfahren in gewisser Weise schuldig machen, denn diese Schuldübernahme ist ein Indiz dafür, dass aus dem Wunsch heraus, die Eltern und Großeltern freizusprechen und zu entlasten, eine eigenständige Auseinandersetzung suspendiert wird. Diese würde eine kritische Distanzierung von ihnen notwendig machen, die jedoch umso schwieriger wird, je mehr die Nachkommen zu einer uneingeschränkten Loyalität mit ihren Eltern und Großeltern verpflichtet werden. Sie können sich dann in Bezug auf dieses Thema nicht differenziert auf sie beziehen, d. h. sie sowohl wertschätzen als auch kritisieren, haben sie doch nicht die Möglichkeit gehabt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Allerdings gibt und gab es auch Kritik und Auseinandersetzung zwischen den Generationen, insbesondere im Zusammenhang mit der 68er Bewegung. Die Wut und Enttäuschung über die Eltern wurde hier oft sehr direkt in Ablehnung und Abgrenzung ausgedrückt. Aber auch diese oft pauschale Distanzierung von der Eltern generation tradiert in gewisser Weise Aspekte der Geschichte fort, wie Elias (1990) in seiner Studie über die Deutschen herausarbeitet, indem er zeigt, wie die Unerbittlichkeit etwa der RAF-Fraktion auch ein Reflex auf die Gnadenlosigkeit des Nationalsozialismus war. Auf alle Fälle bleiben die Nachkommen an ihre Eltern und Großeltern und deren Position infantil gebunden, wenn sie sich nicht einen eigenständigen Standpunkt erarbeiten - jenseits pauschaler Kritik und identifikatorischer Verteidigungshaltung. Misstrauen, Selbstrnisstrauen und ein diffuses Schuldgefühl sind wesentliche Folgen der Art und Weise wie die nationalsozialistische Geschichte in deutschen Familien weitergegeben wird. Daraus resultiert ein Selbstverständnis, das der Frage nach der nationalen Herkunft ausweichen möchte. Nicht deutsch sein zu wollen und sich nicht selbst als deutsch zu begreifen ist eine der Folgen. Die Spannung zwischen identifikatorischer Bindung an die Vorfahren und dem Wunsch nach eigenständiger Auseinandersetzung zeigt sich in aktuellen Diskussionen, etwa in der enormen Resonanz auf das Buch von Daniel Goldhagen (»HitIers willige Vollstrecken< 1996) und den zahllosen Leserbriefen, die an ihn gerichtet wurden (vgl. Briefe an Goldhagen 1998). Goldhagen wird auf der einen Seite bewundert; ihm wird überschwänglich gedankt, und er scheint die Deutschen geradezu zu erlösen, denn er bietet ein Modell, sich unerschrocken mit der Geschichte auseinanderzusetzen. Zudem wird er aber auch in der Rolle des Anklägers wahrgenommen, der stellvertretend für die Nachkommen agiert und mit dessen Hilfe sie ihre unterdrückten Gefühle ausleben können. Sie selbst können dabei Zuschauer und damit »unschuldig« bleiben. Sie brauchen sich nicht zu exponieren 51
und sich nicht selbst zu hinterfragen. Im Gegenteil, sie können sich dann wiederum mit ihren Eltern und Großeltern identifizieren und Goldhagen vorwerfen, dass er die eigene Familie angreife. Dann wird er zum Anderen gemacht, zum Fremden, zum Amerikaner, zum Juden, der das »Nest beschmutzt«. In der aggressiven Wendung gegen ihn können die Nachkommen dann auch die Enttäuschung über sich selbst ausagieren, die sie darüber empfinden, dass sie nicht selbst offen in die Auseinandersetzung mit ihren Eltern und Großeltern gegangen und in diesem Sinne auch unreif geblieben sind. Das heißt, dass die Art des Umgangs mit der eigenen Geschichte sich unmittelbar auch auf die Beziehung zum Anderen auswirkt (ausführlicher dazu Rommelspacher 1999).
Die Tradierung nationalsozialistischer Geschichte Folgen für die Fremdbilder Das Bild vom Juden als dem »Nestbeschmutzer« setzt eine lange antisemitische Tradition fort. Durch den Holocaust hat der Antisemitismus aber auch einen Formwandel erfahren, denn nun soll mit ihm auch die Erinnerung an die Verbrechen der Deutschen abgewehrt werden. Bei diesem sekundären Antisemitismus werden die Juden zum Symbol für die nationalsozialistische Geschichte und stehen so gegen das Bedürfnis, vergessen zu wollen. Den Juden wird dann der Vorwurf gemacht, sie würden keine Ruhe geben wollen und wären deshalb auch Schuld an dem eigenen Schuldgefühl. Die Nachkommen der Mehrheitsdeutschen machen sie dafür verantwortlich, dass sie nicht mit ihren Vorfahren in Harmonie und Frieden leben, d. h. sich unkritisch mit ihnen identifizieren können. Von dem Vorwurf, die Juden würden den Deutschen ständig ihre Geschichte vorhalten, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt, ihnen auch noch zu unterstellen, daraus für sich persönlich Gewinn zu ziehen. So kann die Komplizenschaft mit den Eltern und Großeltern um den Preis der Abwertung der Anderen aufrecht erhalten bleiben. Dabei machen es die tradierten antisemitischen Bilder wie die vorn rächenden Juden leicht, die eigenen Probleme an ihnen festzumachen. So setzt der sekundäre den primären Antisemitismus fort. Kein Wunder, dass nun auch viele Deutsche der jungen Generation Juden und Jüdinnen als fremd empfinden, als nicht eigentlich deutsch. Dabei werden die Juden fremd gemacht, indem sie räumlich und zeitlich in die Ferne gerückt werden. Sie gelten als Menschen, die aus Israel oder den USA kommen, oder als solche, die man in erster Linie aus der Geschichte kennt, als Menschen des »Alten« Testaments, als Menschen der Tradition, der Riten und Bräuche (Rommelspacher 1995b und Schneider 2001). Oder aber sie werden, wie in unserer Untersuchung 52
deutlich wurde, distant im Sinne von unbekannt erlebt. Man kennt sie nicht und weiß auch nichts von ihnen. Sie werden als konkrete Menschen im gemeinsamen Lebenszusammenhang negiert, insbesondere mit ihren Erfahrungen als Juden im Hier und Jetzt. Denn wenn man doch welche kennen lernt, wie in unserer Untersuchung im Übrigen die meisten der befragten Frauen, wird in der Regel vermieden, das Thema Jüdisch-Sein anzusprechen bzw. es wird schnell abgebrochen, falls es auftaucht. Gefragt, wie sie sich das Leben von Juden in Deutschland vorstellen, fehlte den Befragten jegliche Vorstellungskraft und Phantasie. So haben bereits Alexander und Margarethe Mitscherlieh in »Die Unfahigkeit zu trauern« (1967) beschrieben, dass die innere Abwendung von der Geschichte auch zu einer Entwirklichung der Opfer führt mit der Folge, dass damit auch die Einfühlung in sie und ihr Schicksal verweigert wird. Die Juden werden fremd gemacht im Sinne einer De-Familialisierung (Frankenberg 1993). Sie werden zu Unbekannten, indem sie räumlich und zeitlich in die Distanz gerückt werden. Man mächte dem Thema Jüdisch-Sein ausweichen, da es aufgrund der Loyalitäten mit den eigenen Vorfahren Spannungen hervorruft. Das Problem, sich mit Eltern und Großeltern nicht kritisch auseinandergesetzt zu haben, verstellt den Zugang zu Juden und Jüdinnen. Und mehr noch, diese gelten dann als diejenigen, die den familiären »Frieden« stören und keine Ruhe geben wollen. Diese Ressentiments sind die Kehrseite der eigenen selbstverordneten Ruhe und des Bemühens, die Koalition des Schweigens mit den Eltern und Großeltern aufrechtzuerhalten. Das Fremd-Machen hat zudem die Funktion, das Bild von der deutschen Abstammungsgemeinschaft nicht allzu sehr zu irritieren, denn würden die Juden als Teil der eigenen Bevölkerung akzeptiert, so die Argumentation von Jens Schneider (2001, S. 275), entspräche ihre Ermordung nach dem Prinzip der »Nation als Familie« dem »Geschwistermord«. Dieser Tabubruch sei jedoch nicht in das deutsche Nationalgefühl integrierbar, und so wird durch das Fremd-Machen der Juden die Shoah zu einern Kriegsverbrechen wie viele andere. Aber es gibt nicht nur die Seite des Fremd-Machens, der De-Familialisierung, sondern gerade den Juden wird von den Deutschen auch eine besonders wichtige Rolle für den eigenen Umgang mit der nationalsozialistischen Geschichte zugesprochen. Auch das hängt wiederum mit der Beziehungsdynamik zwischen den Generationen zusammen: Indern die Eltern und Großeltern behaupten, nichts gehört und nichts gesehen zu haben, machen sie sich selbst unmündig. Damit haben sie aber auch keine Autorität mehr und können keine Hilfe mehr sein bei der Frage, wie mit dieser Geschichte umzugehen sei. Die Nachkommen müssen sich die Autorität woanders suchen und tun dies in der Regel bei denen, die sich auf keinen Fall schuldig gemacht haben, nämlich bei den Opfern. So werden vielfach Juden und Jüdinnen auf das Podest moralischer Autorität gestellt: Sie sind es 53
dann, die wissen, wie mit dieser Geschichte umzugehen sei. Natürlich ist dieses Arrangement eine narzisstische Kränkung, denn wer will wie ein Kind behandelt werden? Und so wird dieses selbstinthronisierte Über-leh wieder zu demontieren versucht, indem im Gespräch über Juden z. B. sofort auf die Politik Israels verwiesen wird mit der Behauptung, die Juden seien doch auch nicht besser. Die paradoxe Einheit von Nähe und Ferne ist hier in besonderer Weise gegeben, denn die Juden scheinen einem sehr nah und zugleich sehr fern zu sein. Sie sind Symbol einer Vergangenheit, die man vergessen möchte, an die man zugleich aber in besonderer Weise gebunden ist. Man möchte die Juden insofern nicht zu nahe an sich herankommen lassen und schiebt sie in die Distanz, sie könnten ja etwas wissen, was man selbst von sich nicht weiß und auch nicht wissen will. Auf der anderen Seite werden sie überhöht als Über-leh-Instanz, der gegenüber man von vornherein in der Schuld steht. So werden die eigenen inneren Widersprüche an den Anderen abreagiert, und zwar vor allem die Ambivalenz zwischen der Distanzierung von den Eltern und Großeltern und der Komplizenschaft mit ihnen, zwischen dem Bedürfnis nach eigenständiger Auseinandersetzung und kindlicher Fixierung an sie sowie zwischen Verantwortungsübernahme und dem Bedürfnis nach Verdrängung. Die Spannung zwischen dem Bedürfnis nach einem positiven Selbstbild und der negativen Geschichte wird externalisiert, indem die Anderen zur Ursache für diese Probleme erklärt werden. Dann sind es die Juden, die den Deutschen ihre Unbefangenheit und das Recht auf Normalität nehmen. Auch Martin Walser versteht Erinnerung in erster Linie als eine von Anderen gegen die Deutschen gerichtete Waffe. Er will sich nicht vorschreiben lassen, wie er zur deutschen Vergangenheit steht, und so fordert er im Namen,der Gewissensfreiheit das Schweigen der Opfer, wie er das vor allem in seiner Auseinandersetzung mit Ignatz Bubis, dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, deutlich machte (FAZ 14.12.98). Seiner Meinung nach sollten die Juden den Umgang mit der Geschichte den Deutschen überlassen. Walser will also das Monopol auf Geschichtsdeutung für sich reklamieren. Diese Geschichte gehört quasi den Deutschen alleine. Damit wird ein monologisches Geschichtsverständnis festgeschrieben, das die Anderen aus der Geschichtskonstruktion herausdrängt und der Dialog aufkündigt. Die Kluft zwischen »den« Deutschen und »den« Juden wird von Walser nach der Analyse von UrsulaApitzsch (2000) dadurch weiter vertieft, dass er eine »Ontologisierung der deutschen Schuld« vornimmt, die die Deutschen auszeichnet und »sie auf besondere Weise von allen >FremdenErrungenschaften< faktisch nichts >einzubringen