Andere Märkte: Zur Architektur der informellen Ökonomie 9783839435977

Globally, half of all economic activity is informal. In times of global insecurity, more and more importance is being pl

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German Pages 196 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Von anderen Märkten
Informalität als politisches Instrument
Taktiken wirtschaftlicher Diplomatie
Der Streit um die Erfassung von Informalität
Gemeingut Markt
Informelle Marktwelten
Die Bestimmung von Informalität
Informalität vorführen
Von »notorischen« Märkten zur Hipsterökonomie
Marktperspektiven
»Notorische« Märkte
Post-Konflikt-Märkte
Grenzmärkte
Zwischenmärkte
Containermärkte
Recyclingmärkte
Straßenhandel
Volksmärkte
Hipstermärkte
Bangkoks rote Zonen
Yiwu – Welthauptstadt des informellen Handels
Untergrundmärkte – Qipu Lu, Shanghai
Drehscheibe Dubai – Handeln in Eigenregie
Derb Ghallef Valley, Casablanca
Kaliforniens öffentlich-private Märkte
Außer Sichtweite – Dämmerungsmärkte in Hongkong
Der Hippie-Markt, Belo Horizonte
Neue alte Märkte – Encants Vells, Barcelona
Marktmode – Talad Rot Fai, Bangkok
Globale Informalität
Marktbeziehungen als Weltprojekt des 21. Jahrhunderts
(Staats-)bürgerliche Arrangements: Von Territorialrechten zu Handelswerten
Regierungsmacht und Ökonomie
Weltbildende Praxis: Die Gegenöffentlichkeit informeller Märkte
Index
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Andere Märkte: Zur Architektur der informellen Ökonomie
 9783839435977

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Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Andere Märkte

X T E X T E

Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer

Andere Märkte Zur Architektur der informellen Ökonomie

Diese Publikation wurde durch die Unterstützung folgender Institutionen ermöglicht: – Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF): P 22809-G17 – Goldsmiths College, University of London – University of California San Diego, Center for Urban Ecology und Center on Global Justice – University of Hong Kong, Shanghai Study Centre – Technische Universität Wien, Fakultät für Architektur und Raumplanung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Fotos: Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer Karten: Christian Frieß (Gestaltung), Andreas Kofler und Mario Pruner (Recherche) Satz: Christian Frieß Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3597-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3597-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Einleitung

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Von anderen Märkten

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Informelle Marktwelten

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Marktperspektiven

57

Informalität als politisches Instrument / Taktiken wirtschaftlicher Diplomatie / Der Streit um die Erfassung von Informalität / Gemeingut Markt

Die Bestimmung von Informalität / Informalität vorführen / Von »notorischen« Märkten zur Hipsterökonomie

»Notorische« Märkte / Post-Konflikt-Märkte / Grenzmärkte / Zwischenmärkte / Containermärkte / Recyclingmärkte / Straßenhandel / Volksmärkte / Hipstermärkte

Marktmode – Talad Rot Fai, Bangkok

84 90 100 108 116 124 132 140 148 158

Globale Informalität

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Index

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Bangkoks rote Zonen Yiwu – Welthauptstadt des informellen Handels Untergrundmärkte – Qipu Lu, Shanghai Drehscheibe Dubai – Handeln in Eigenregie Derb Ghallef Valley, Casablanca Kaliforniens öffentlich-private Märkte Außer Sichtweite – Dämmerungsmärkte in Hongkong Der Hippie-Markt, Belo Horizonte Neue alte Märkte – Encants Vells, Barcelona

Marktbeziehungen als Weltprojekt des 21. Jahrhunderts / (Staats-)bürgerliche Arrangements: Von Territorialrechten zu Handelswerten / Regierungsmacht und Ökonomie / Weltbildende Praxis: Die Gegenöffentlichkeit informeller Märkte

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Einleitung Die Schwerpunkte unserer Welt haben sich verschoben. Ehemalige Ränder sind ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und fordern nicht nur die wirtschaftliche und politische Vormachtstellung westlicher Kräfte heraus, sondern das gesamte System, auf dem die herrschende globale Ordnung gründet. Informelle Aktivitäten bilden einen entscheidenden Faktor in dieser Transformation, mit der neuartige Wirtschafts- und Organisationsformen auf bisher »unerschlossene« Bereiche zugreifen. Im Zuge dieser Entwicklungen geraten informelle Ökonomien, die einst als marginales Phänomen verstanden wurden, zunehmend in den Mittelpunkt des Interesses. Die derzeitigen Auseinandersetzungen über diese aufstrebenden Märkte werden vor allem am unterschiedlichen Ausmaß ihrer Integration in konkurrierende politisch-ökonomische Machtverbände festgemacht. Aber Informalität ist nicht nur eine wirtschaftliche Angelegenheit. Informelle Märkte sind auch Orte intensiver sozialer Interaktion, die Kulturen mit unterschiedlichen Mentalitäten und alternativen Beziehungen hervorbringen. Hier geht es nicht allein um die Zirkulation von monetären Werten, sondern es kommen Fragen ins Spiel, die mit nachhaltiger Ressourcennutzung, kooperativer Entscheidungsfindung und sozialem Zusammenhalt zu tun haben – Fragen, die in Zeiten der Krise von entscheidender Bedeutung sind. Das vorliegende Buch verbindet theoretische Aufsätze mit Fallstudien über die Entstehung und Entwicklung ausgewählter Marktplätze. Während die Fallstudien zum Ziel haben, informelle Märkte in unterschiedlichen Regionen der Welt zu verorten und damit die Bruchlinien des globalen ökonomischen Regierens sichtbar zu machen, verknüpfen die Aufsätze aktuelle Diskussionen in Architektur, Soziologie, Stadtanthro­ pologie und Globalisierungsstudien, um herauszuarbeiten, worum es in der Politik der Informalität im Zeitalter globaler Märkte tatsächlich geht. Was diese unterschiedlichen Formate miteinander verbindet, ist ihr Bemühen, die rivalisierenden Interessen, die dem Konzept von Informalität und seiner heutigen politischen Anwendung in verschiedenen Ländern der Welt zu Grunde liegen, zu identifizieren und sich mit ihnen auf unvoreingenommene Weise auseinanderzusetzen.

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Andere Märkte

Als der Anthropologe Keith Hart in seinem Artikel »Informal Income Opportunities and Urban Employment in Ghana« 1973 den Begriff der »informellen Ökonomie« prägte, gründete sein Unterfangen nicht zuletzt im Unbehagen über die Ignoranz der vorherrschenden Wirtschaftsdiskurse gegenüber einem wesentlichen Teil der weltweiten ökonomischen Vorgänge.1 Entgegen Harts seinerzeitigem Befund findet sich unter den vielen Dingen, die sich seitdem in der globalen Wirtschaftspolitik geändert haben, auch ein rasant steigendes Interesse an Informalität, ihren Umständen und Auswirkungen. Zahlreiche Konferenzen wurden mittlerweile über unterschiedlichste Aspekte von Informalität abgehalten: von informeller Arbeit und informeller Finanzwirtschaft bis zu informellen Behausungen und der informellen Stadt als auch informellem Regieren und informeller Macht. Internationale Studienprogramme an führenden Institutionen und Universitäten, die in den letzten Jahren verstärkt ihre Aufmerksamkeit auf die Erforschung des informellen Sektors gerichtet haben, beschäftigen sich mit dem Potenzial von Informalität, größere Bevölkerungsteile in gesellschaftliche Prozesse einzubinden. Für international ausgerichtete Architekturausbildungen sind Exkursionen in Entwicklungsländer, die eine unmittelbare Verbesserung von informellen Strukturen vor Ort anstreben – zum Beispiel ein gemeinschaftliches Bauen von multifunktionalen Stadtmöbeln für das Abhalten von Märkten –, beinahe so etwas wie ein Pflichtfach im Studienplan geworden. Auch wenn Schätzungen über die tatsächliche Größe der informellen Wirtschaft schwanken – manche Aufstellungen gehen für bestimmte Regionen davon aus, dass die Hälfte aller ökonomischen Aktivitäten als informell zu bewerten ist, 2 andere wiederum davon, dass bis zu zwei Drittel der arbeitenden lokalen Bevölkerung informell beschäftig sind 3 –, verkörpert sie auf jeden Fall einen gewaltigen potenziellen Markt. Zu Beginn wurde das Konzept der Informalität vor allem von Institutionen wie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) aufgegriffen, die 1 Keith Hart: »Informal Income Opportunities and Urban Employment in Ghana«,

The Journal of Modern African Studies, Bd. 11, Nr. 1 (März 1973), S. 61–89.

2 Colin C. Williams und Friedrich Schneider: The Shadow Economy, London: Institute

of Economic Affairs, 2013, S. 45–61.

3 Jaques Charmes: »Concepts, Measurements and Trends«, in: Johannes P. Jütting

und Juan R. de Laiglesia (Hg.), Is Informal Normal? Towards More and Better Jobs in Developing Countries, Paris: OECD, 2009, S. 27–62.

Einleitung

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sich für stark regulierte Wirtschaften aussprachen und Informalität mit einem Mangel an Beschäftigungsangeboten, den es zu überwinden gilt, gleichsetzten. Mittlerweile vermehren sich die Anzeichen dafür, dass sich diese Rahmung in Richtung einer erhöhten Aufmerksamkeit für die Anreize einer »Kultur der Informalität« und ihrer Auswirkungen auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft verschoben hat. Ein Vorzeigebericht der Weltbank aus dem Jahr 2007 etwa nähert sich dem steten Anstieg der informellen Ökonomie in Lateinamerika und der Karibik über die Dialektik von »Ausschluss und Ausstieg«.4 Neben den vielzitierten Mechanismen des Ausschlusses, für deren Bewältigung allgemeine politische Interventionen als dienlich erachtet werden, warnt der Bericht vor den Auswirkungen von Ausstiegsstrategien – der bewussten Entscheidung weiter Bevölkerungskreise des Kontinents, nicht an der regulierten Wirtschaft teilzunehmen. Jenseits von Fragen der Steuerhinterziehung oder dem Mangel an sozialer Absicherung stellt dieser Rückzug von offiziellen ökonomischen Institutionen aus der Perspektive der Weltbank ein weitaus größeres Problem dar, weil damit auch mit den Grundsätzen des steten Wachstums auf Basis steigender Produktion und Effizienz gebrochen wird. Die Vorstellung von Unabhängigkeit – davon, die Organisation des Lebens auf Werte auszurichten, die mehr mit der Qualität von sozialen Beziehungen als mit der Anhäufung von Vermögen zu tun haben – bildet auch den Kern vieler aktivistischer Projekte, die versuchen, informelle Arrangements als Katalysatoren für alternative Ökonomien zu nützen. In ihrem Bemühen, eine Anerkennung des Informellen als gleichberechtigter Lebensraum zu erwirken, beziehen sich diese Initiativen oft auf die räumlichen Realitäten informeller Organisation. Strukturen der Zusammenarbeit, die neben materiellen Ressourcen vor allem auf die Stützkraft von sozialen Kontakten zurückgreifen, werden als Muster für neue Gesellschaftsverträge gesehen. Das breite Spektrum an durchaus gegensätzlichen Interessen an Informalität wird somit sowohl von der Krisenerfahrung der Beschränktheit gegenwärtiger sozioökonomischer Modelle angetrieben als auch von einer Fülle an Spekulationen und Begierden, die auf diese »andere« Ökonomie projiziert werden.

4 Guillermo E. Perry et al. (Hg.): Informality. Exit and Exclusion, World Bank (Latin

American and Caribbean studies), 2007.

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Andere Märkte

Die Zielsetzung dieses Buchs ist damit eine doppelte: erstens die Dynamiken herauszuarbeiten, die diese mehrfachen Ansprüche an Informalität nähren, und zweitens Ansätze zu entwickeln, die mit vorherrschenden Auffassungen von informellen Aktivitäten brechen. Um das Potenzial von Informalität für von unten initiierte »andere Märkte« greifbar zu machen, verfolgen unsere Untersuchungen über die Schlüsselrolle von informellen Marktplätzen in der Erschließung neuer ökonomischer Abläufe sowohl situations- als auch ideologieorientierte Perspektiven. Zu erkunden, welche grundlegende politische Geisteshaltung unser Verständnis von Informalität und unseren Umgang damit formt, bildet so den verbindenden Faden in unserer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Schauplätzen des informellen Handelns. Um die geopolitischen Umstände des Strebens nach einer neuen politischen Ökonomie besser verstehen zu können, richtet sich eine der Kernfragen deshalb da­rauf, welches operative Kapital gewonnen wird, wenn informelle Ökonomien als der »andere Markt« festgelegt werden. Der erste Teil des Buchs widmet sich in diesem Sinn der Analyse des wachsenden Interesses an der Wirkkraft von Informalität in der Organisation unseres Zusammenlebens. Dies betrifft sowohl das Wirken sozialer Beziehungen vor Ort als auch – in zunehmenden Maße – die Ebene globaler Interaktion. Diese veränderte Aufmerksamkeit verweist auf die Fähigkeit informeller Arrangements, die Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Systems abzufedern. Ein wichtiger Ausgangspunkt für unsere Analysen ist daher das Bemühen, sowohl die Beweggründe für diese gesteigerte Beachtung von Informalität kritisch zu reflektieren als auch über die Bedingungen des Aufkommens einer alternativen politischen Ökonomie zu spekulieren. Das Kapitel Von anderen Märkten setzt bei einer Diskussion da­r über an, welche Machtstrukturen und -instrumente in die Politik der Informalität verwickelt sind. Unser Argument richtet sich hier darauf, dass die Parameter von Informalität nicht etwas gleichsam natürlich Gege­ benes sind, sondern eine Frage der Definition: Die Wertesysteme, die mit dem Informellen verbunden werden, sind ein Effekt von Rahmungen und Perspektiven, Interessen und Absichten. Daraus folgt, dass wir den Aufstieg informeller Märkten zu einem globalen Phänomen als zentralen Schauplatz weltweiter Auseinandersetzungen um wirtschaftliche Vorherrschaft verstehen. Mühevolle Versuche marginalisierter Gruppen, einen Platz in den brüchigen Geografien der Globalisierung zu erlangen,

Einleitung

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treffen hier auf permanente Bestrebungen von oben, die Kontrolle über das wichtigste Kapital informeller Märkte – gemeinschaftlich erschaffene Handelsumgebungen – zu gewinnen. Ausgehend vom Anliegen, die Auswirkungen der Verstrickung von informellen Märkten mit globalem Kapital und den zunehmendem Druck auf das untere Ende der ökonomischen Pyramide zu erfassen, wenden wir uns in diesem Kapitel einer Untersuchung von Informalität zu, die diese nicht als ein allein durch lokale Umstände hervorgerufenes Phänomen, sondern als ein in globale Logiken eingebettetes politisch-ökonomisches Gefüge versteht. Die Bezugspunkte für unsere Auseinandersetzungen sind daher nicht nur spezifische Plätze und Regionen, sondern auch jene entfernten Bereiche, in denen oft weitreichende Beschlüsse gefasst werden, wie etwa multinationale Handelsvereinigungen, globale Knoten der Finanzwirtschaft und elitäre Foren internationaler Politik. Vor diesem Hintergrund widmet sich das Kapitel Informelle Marktwelten nicht einfach nur spezifischen Ausprägungen der informellen Ökonomie, sondern den unterschiedlichen Bahnen, die in der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung rund um informelle Märkte gezogen werden. An der kreativen Energie, mit der sich informelle Märkte in den Leerstellen städtischer Infrastrukturen und den Schlupflöchern der öffentlichen Verwaltung einnisten, wird erkennbar, dass formelle und informelle Arrangements nicht entgegengesetzte, sondern komplementäre Facetten des Lebens im 21. Jahrhundert sind, die ineinander existieren und von einem Netz wechselseitiger Erwartungen und Expansionsbestrebungen gestützt werden. Angesichts des vielgestaltigen Auftretens von Informalität – von den »notorischen« Fälschermärkten Südostasiens bis zu den Hipstermärkten der heutigen Kreativmetropolen – ergibt sich für uns die Notwendigkeit, eine Vielfalt unterschiedlicher Marktperspektiven anzuerkennen, die über das von Staats- und Wirtschaftsakteuren vorgegebene Rahmenwerk weit hinausreichen. Diese multipolare Herangehensweise betont zum einen die performative Raumgreifung von Informalität – wie auf informellen Märkten über ein unbeauftragtes Zusammenkommen und kulturellen Austausch ein weitläufiger Handelsraum hergestellt wird –, und zum anderen die Bedeutung alltäglicher Praktiken und Prozesse in diesem Gefüge, die gerade nicht über vorherrschende, ästhetische Kategorisierungen des Informellen politisch greifbar sind.

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Andere Märkte

Wir haben dazu für dieses Buch zehn verschiedene Fallstudien – von Bangkoks kriminalisierten »roten Zonen« bis zu den derzeit viel propagierten Volksmärkten Lateinamerikas, und von den öffentlichkeitsscheuen Dämmerungsmärkten Hongkongs bis zur spektakulären Reinkarnation eines der ältesten Flohmärkte Europas – aus unserer jahrelangen Feldforschung zu informellen Märkten auf der ganzen Welt ausgewählt. Was sie über ihre zum Teil sehr unterschiedlichen Kontexte hinsichtlich Form, Größe, Geschichte, sozialer oder wirtschaftlicher Ausrichtung hinweg vereint, ist der Umstand, dass sie alle einer neoliberalen Politik der Informalität ausgesetzt sind. Indem wir die räumlichen Realitäten und mannigfaltigen Verbindungen zwischen diesen Märkten aufzeigen, wollen wir ein Gesamtbild der globalen wirtschaftlichen und politischen Machtkämpfe rund um Informalität zu Tage bringen. Das sich in der Entwicklung der untersuchten Märkte herauskristallisierende Muster räumlich-politischer Interventionen in marginalisierten Ökonomien macht deutlich, wie Informalität großteils als ein Problem des Regierens und eine Hürde in der Formalisierung von Märkten aufgefasst wird. Dabei ist die eigentliche Fragestellung nicht die des Ausgleichs zwischen formeller und informeller Wirtschaft. Vielmehr zeigt sich an diesen Fallbeispielen, wie der heute praktizierte Weg der Formalisierung, der ausschließlich auf eine Integration des wirtschaftlichen Outputs ausgerichtet ist, eine doppelte Verschlechterung der Situation vieler Menschen mit sich bringt, indem einerseits die ausbeuterischen Dimensionen von Informalität verfestigt werden und andererseits der soziale und kulturelle Reichtum informeller Beziehungen zerstört wird. Das abschließende Kapitel Globale Informalität unterstreicht die Notwendigkeit einer gesamtgesellschaftlichen Analyse, wenn es darum geht, Möglichkeiten für einen anderen Umgang mit Informalität auszumachen. Den einengenden Effekten von auf Kontrolle ausgerichteten Interventionen gilt es die gesamte Bandbreite der neuen Erscheinungen von Informalität entgegenzusetzen. Anders gesagt kann eine Suche nach alternativen Formen des Austauschs nicht ohne eine Analyse neu entstehender – grundsätzlich immer »informell« hervorgebrachter – Arbeitsformen des Kapitals geschehen. In diesem Sinn werden informelle Märkte als paradigmatische Schauplätze von territorialen und konzeptuellen Mobilisierungen ausgemacht, die sich über provisorische Landnutzungen, flexibilisierte Staatsbürgerschaften und transnationale Netzwerke »grauer« Produktion ausbreiten. Räumlicher Organisation kommt in

Einleitung

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diesen fortlaufenden Prozessen der globalen politischen Neuordnung eine bedeutungsgebende Rolle zu. Dabei zeigt sich, dass für den Erfolg aufkeimender Versuche, dieser Situation entgegenzuwirken (etwa jene von internationalen Vereinigungen von Straßenhändlern 5 oder neuen zivilgesellschaftlichen Einrichtungen), entscheidend ist, über eine Reduktion informeller Märkte auf Fragen der Raumnutzung hinausgehen und sie stattdessen als eine Form von Gegenöffentlichkeit und als Ausdruck sozialer Praxis anzuerkennen. Informelle Märkte sind zu einem lebenswichtigen Teil vieler Städte auf der ganzen Welt geworden. Von den neuen Megastädten des globalen Südens bis zu den alten Zentren politischer und ökonomischer Macht formen informelle Märkte Orte des Verhandelns zwischen mannigfaltigen politischen Ansprüchen, sozialen Akteuren und umweltbedingten Zwängen. Angetrieben von Deregulierung und beschleunigten globalen Strömen, werden sie in vielen Fällen als ausgleichende Überbrückungshilfe sozialer Spaltungen toleriert. Sobald diese Märkte jedoch Anzeichen zeigen, eigenständige Bereiche zu schaffen, werden sie von offizieller Seite als Gefahr für die soziale und wirtschaftliche Ordnung gesehen und an den Pranger gestellt. Oft sind behördlich angeordnete Zerstörung, Umsiedlung oder Privatisierung die Folge. Mit den Untersuchungen der räumlichen, kulturellen und politischen Entwicklungsbahnen informeller Ökonomien zielen die Aufsätze und Fallstudien dieses Buchs darauf ab, einen wichtigen Raum für ein Nachdenken über alternative Ansätze aufzumachen: Wie können die Praktiken und Mechanismen, die informelle Milieus aufrechterhalten, dazu beitragen, Politiken zu formulieren, die den transnationalen Realitäten heutiger Bevölkerungen tatsächlich gerecht werden? Dieses Buch baut auf den Ergebnissen eines mehrjährigen Forschungsprojekts auf, das wir in Zusammenarbeit mit dem Visual Cultures Department des Goldsmiths College London, dem Center for Urban Ecol­ogies und dem Center on Global Justice der University of California San Diego (UCSD) sowie dem Shanghai Study Centre der Hong Kong University (HKU) durchgeführt haben. Letztere Institutionen waren Gastgeber mehrtägiger internationaler Forschungstreffen, die sich als wegweisend 5 Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern

nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.

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Andere Märkte

für die Richtung und Ergebnisse dieser Forschung erwiesen. Ohne das inspirierende und kritisch-reflektierende Mitwirken von Laurent Gutierrez, Alfonso Hernández, Lawrence Liang, Gerald Murray, Valerie Portefaix, Fernando Rabossi, Ananya Roy, Ignacio Valero, Matias Viegener und vielen anderen hätte das Buch in dieser Form nicht zustande kommen können. Neben vielen anderen Beitragenden, Unterstützern und Helfern gilt unser Dank insbesondere Teddy Cruz und Fonna Forman als Mitveranstalter des Forschungstreffens in San Diego im Februar 2012 sowie Pascal Berger und Jonathan D. Solomon für das Folgetreffen in Shanghai im November desselben Jahres. Sowohl diese Forschungstreffen als auch unsere Feldstudien zu zahlreichen informellen Märkten, darunter die hier versammelten Fallstudien über Märkte in Bangkok, Barcelona, Belo Horizonte, Casa­blanca, Dubai, Hongkong, Los Angeles, San Diego, Shanghai und Yiwu, wären ohne finanzieller Unterstützung durch den österreichischen Fond zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) nicht möglich gewesen. Nicht zuletzt gebührt unser Dank all jenen Kollegen und Freunden, die erste Ergebnisse dieser Forschung publizierten, uns zu Vorträgen und Seminaren über diese Thematiken an Universitäten und Museen einluden und in der einen oder anderen Form zu unseren bisherigen Veröffentlichungen über informelle Märkte beitrugen. Im Besonderen möchten wir uns an dieser Stelle bei Emanuel Admassu, Juan Manuel Arbona, Gulsen Bal, Anette Baldauf, Andrew Ballantyne, Niko Besnier, Mabe Bethônico, Ursula Biemann, Adrian Blackwell, Yves Cabannes, Allan Cain, Andrew Charman, Marty Chen, Steven Chodoriwsky, Gracia Clark, Kari Conte, Mauricio Corbalan, Dana Cuff, Jonathan Darling, Vineet Diwadkar, Eveline Dürr, Ana Džokić, Alejandro Echeverri, Rika Febriyani, Eva Franch, Arpine Galfayan, Emiliano Gandolfi, Cordula Gdaniec, Stefan Gruber, Hou Hanru, Keith Hart, Jeanne van Heeswijk, Alice Hertzog, Caroline Humphrey, Jiang Jun, Jolyon Leslie, Denis Linehan, Claudia Martinez Mansell, Lydia Matthews, Rahul Mehrotra, Alejandro Meitin, Natalia Mirimanova, William Morrish, Juliane Müller, Marc Neelen, Robert Neuwirth, Irene Nierhaus, Mick O’Kelly, Ademola Omoegun, Kyong Park, Constantin Petcou, Doina Petrescu, Alessandro Petti, Olivier Pliez, Edgar Pieterse, Tadej Pogacar, Marjetica Potrč, Vyjayanthi Rao, Oliver Ressler, Lee Rodney, Irit Rogoff, Lorenzo Romito, Saskia Sassen, Caroline Schmitt, Richard Sennett, AbdouMaliq Simone, Vera Skvirskaja,

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Gayatri Chakravorty Spivak, Soranart Sinuraibhan, Chris Smith, Hakan Topal, Kazys Varnelis, Jean-Philippe Vassal, Felipe Vera, Asta Vonderau, Jo­anna Warsza, Aleksandra Wasilkowska, Helen Wilson und Emrah Yildiz bedanken. Ihre großzügigen Kommentare haben uns geholfen, Fragen über die Rolle von Informalität in globalen Verteilungskämpfen konsequent nachzugehen. Für die konzeptuelle Ausarbeitung der Argumentationslinien dieses Buches waren ihre Anregungen von unschätzbarem Wert.

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Von anderen Märkten Informalität als politisches Instrument In seinem im März 1967 gehaltenen und posthum publizierten Vortrag »Andere Räume« (»Des espaces autres«) skizziert Michel Foucault in eindrucksvollen Bildern, wie Raum heute vor allem als eine Form von Beziehungen zwischen verschiedenen Orten in Erscheinung tritt. Er erläutert, wie die paradoxe Gestalt der Beziehungen zwischen verschiedenen Schauplätzen – Gleichzeitigkeiten, Verstrickungen und Überlagerungen – im 20. Jahrhundert begonnen hat, immer mehr unsere Erfahrungswelt zu definieren und letztlich darüber zu entscheiden, welche Formen von Zirkulation, Austausch, Lagerung und Klassifizierung als tauglich empfunden werden. An die Stelle von Kontinuität und Dauer ist ein ständiges Verbindung-Schaffen in einem Netzwerk von Aktionsfeldern getreten, die sich je nach Stand ihrer Entwicklungs- und Verfallskurven als unterschiedlich wertvolle Gelegenheitsstrukturen anbieten.1 In seinem Vortrag listet Foucault Gärten, Friedhöfe, Bordelle und Schiffe als Beispiele solcherart »heterotopischer« Orte. Wenngleich informelle Marktplätze nicht explizit genannt werden, können wir sie dennoch als Verkörperung von Heterotopien verstehen: Zum einen im Sinn von »Krisenheterotopien«, die den Ausgestoßenen Schutz bieten, und zum anderen im Sinn von »Abweichungsheterotopien«, die alle möglichen Arten der Non­ konformität umfassen. Informelle Märkte haben ihren Ursprung meist in kritischen Momenten des Umbruchs, in denen gewohnte Versorgungsstrukturen wegbrechen oder aufgrund der Zerstörung und Verschiebung örtlicher und zeitlicher Verbindungen nicht mehr verfügbar sind. Informelle Märkte finden sich daher oftmals in Gebieten, die von Migration, Krieg und Katastrophen gezeichnet sind, und in Zeiten, in denen bestimmte Gruppen von Menschen als anders und unerwünscht ausgeschlossen werden. Ein Beispiel für diese Folgewirkung von gewaltsamen Restrukturierungsprozessen ist der sogenannte Arizona-Markt nahe Brčko in 1 Michel Foucault: »Andere Räume«, in: ders., Botschaften der Macht. Der Foucault-

Reader, hg. von Jan Engelmann, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1999, S. 145–57.

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Andere Märkte

Bosnien-Herzegowina, der an einer der am heftigsten umkämpften Frontlinien während des Zerfalls der ehemaligen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien Anfang der 1990er Jahre seinen Ursprung nahm. Auf ähnliche Weise international verstrickte und lokal wirkende Krisen lagen auch dem kurzlebigen Phänomen des sogenannten Iranischen Basars in der türkischen Grenzstadt Gaziantep zu Grunde. Dieser Basar richtete sich speziell an die Bedürfnisse der durch die zahlreichen Konfliktherde des Mittleren Ostens immer weiter nach Norden abgedrängten Schia-Pilger, bis schließlich der Syrienkrieg 2012 auch dieser »Konflikt-Umgehung« ein Ende machte. Informelle Märkte wie diese bilden Ausnahmeräume, die Machtsysteme sowohl aufrechtzuerhalten helfen als auch deren Unterwanderung an einem bestimmten Ort konzentrieren und somit Begegnungen zwischen anderswo unvereinbaren Handlungsrahmen und Interessen ermöglichen. Auf diese Art fungieren auch Orte des alternativen Austauschs in Aussteigergemeinschaften wie Quartzsite, einer saisonalen Hochburg von freigeistigen Wohnmobilisten in der Wüste Arizonas, oder die neue Welle kreativen Unternehmertums auf den jung-urbanen Hipstermärkten der globalen Metropolen sowohl als Orte des Widerstands als auch der fortschreitenden Kommodifizierung.2 Die Rolle und Funktion dieser zeitgenössischen Heterotopien wird vom fortschreitenden Wandel in der Produktion von Raum bestimmt. Verortete und ausgedehnte Räume werden von Beziehungsräumen abgelöst, die sich an bestimmten Verhältnissen von Nähe und Distanz, von »Gleichzeitigkeit« und »Gegenüberstellung« orientieren.3 In diesem Sinn bezieht sich »Andere Märkte« auf eine Vielheit von ökonomischen und nicht-ökonomischen Ereignissen, die in und über informelle Märkte zusammenkommen. Der jüngste Anstieg an informellen Schauplätzen und Prozessen wird vor allem von einer neuen Intensität an räumlichen Beziehungen genährt, die von den technologischen Fortschritten der letzten Jahrzehnte hervorgebracht worden sind. Diese infrastrukturellen Entwicklungen bilden auch die Grundlage der anhaltenden Globalisierung und des bisher nicht gekannten Ausmaßes ökonomischer Integration. Der damit verbundene Anstieg globalen Reichtums – allein zwischen 1993 und 2013 verdreifachte sich die weltweite Wertschöpfung von 25 auf 75 2 Für detaillierte Beschreibungen und Analysen der in diesem Kapitel erwähnten

Märkte siehe auch: Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer (Hg.): Informal Market Worlds Atlas, Rotterdam: nai010 publishers, 2015. 3 Foucault, »Andere Räume«, S. 145.

Von anderen Märkten

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Billionen US-Dollar – hat jedenfalls keinen entsprechenden Rückgang der informellen Wirtschaft mit sich gebracht. In vielen Regionen der Welt, insbesondere in Lateinamerika und der Karibik, steigt im Gegenteil der Anteil informeller Beschäftigung kontinuierlich und betrifft die Mehrheit der dortigen erwerbstätigen Bevölkerung.4 In Foucaults relationalem Modell der Raumproduktion finden die Dynamiken von Markttransaktionen einen deutlichen Widerhall. Jeder Austausch auf einem Markt berücksichtigt immer auch viele andere Transaktionen. Seine Abwicklung wird somit nicht nur durch die Einflüsse des konkreten Ortes, an dem der Handel geschieht, bestimmt, sondern auch von vielen anderen – nahen und fernen – Parametern geprägt, die in das weitverzweigte Gewebe von Handelsbeziehungen eingebunden sind. Tatsächlich ist ein zentraler Punkt von Marktabläufen ihre Fähigkeit, Kontakt und Austausch zwischen gegensätzlichen Milieus herzustellen, sei es durch Prozesse der Externalisierung oder den Einsatz von »Grenzobjekten«, die zwischen unterschiedlichen Bedeutungssystemen vermitteln können. Im Fall von informellen Märkten ist Externalisierung der Schlüssel für ökonomischen Erfolg. Soziales Kapital sowie Familien- oder Gemeinschaftsbande liefern meist entscheidende Unterstützung, um mangelnde Finanzen, ungenügende Ausrüstung und knappe Ressourcen zu kompensieren. Die kleinmaßstäbliche Struktur informeller Märkte steht dabei in engem Wechselspiel mit globalen Produktionsverhältnissen. Als Bindeglied dient ein mobiles Netzwerk von Zwischenhändlern, das Güter oft über eine Distanz von mehreren Tausend Kilometern hin und her transportiert. Damit diese Geschäfte erfolgreich abgewickelt werden können, ist der Rückgriff auf verwandtschaftlich oder ethnisch basiertes Vertrauen in translokale Beziehungen unerlässlich. Die Verteilerzentren dieser atomisierten Handelskanäle wie der 7-Kilometer-Markt in Odessa, der mittlerweile abgebrochene Tscherkisowoer-Markt in Moskau oder der sogenannte Markt der Morgenröte (Feirinha da Madrugada) in São Paulo, sind die Megaknoten des weltweiten informellen Handels. Mit oft weit über hunderttausend Beschäftigten bilden diese informellen Umschlagplätze eine eigene Stadt in der Stadt. Periodische und meist politisch motivierte Versuche von Behörden, diese Unternehmungen zu unterbinden 4 Siehe Leonardo Gasparini und Leopoldo Tornarolli: »Labor Informality in Latin

America and the Carribean. Patterns and Trends of Household Survey Microdata«, Desarrollo y Sociedad, Nr. 63 (2009), S. 13–80.

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Andere Märkte

und lokale Märkte aufzulösen, haben aufgrund dieser Netzwerkstruktur Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen von Millionen von Menschen rund um die Welt. Die ständige Bewerbung von Markenprodukten als begehrenswerte Konsumartikel diente lange Zeit als Erfolgsrezept für die Expansion großer Unternehmen. Paradoxerweise bereitet gerade diese Marketingstrategie auch den Boden für eines der erfolgreichsten Grenzobjekte, das in den Transaktionen informeller Märkte angewendet wird: Durch die Hintertür von Fälscherware und informellem Handel ermöglicht die visuelle Sprache von Markengütern eine wirtschaftliche und soziale Beteiligung unterschiedlichster Akteure. Ob es nun chinesische Fabriken sind, in denen Wanderarbeiter eine zusätzliche, offiziell nicht mitgezählte Nachtschicht einlegen und diese »Überschussware« auf ihren lokalen Straßenmärkten weiterverkaufen, gigantische Verkaufsausstellungen in rasch wachsenden Handelsplätzen wie Yiwu, mit ihrer besonderen Aufmerksamkeit für afrikanische und arabische Zwischenhändler, Boutiquen in Dubais Karama Center, die kopierte Handtaschen an ausländische Touristen verkaufen, oder vermeintlich lokales Handwerk anbietende Künstlermärkte in lateinamerikanischen Städten – die Heterotopien informeller Märkte bedienen sich Mitteln der Täuschung und Tarnung, um ungleiche Orte und Zeiten zu einem wechselseitig befriedigenden Handelsklima zu verbinden. Der jüngste Sprung in der Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien spielte zweifellos eine entscheidende Rolle in der rasanten Ausbreitung solcher Aktivitäten. Die damit verbundene neue Qualität von Beziehungen verleiht der wechselseitigen Bedingtheit »anderer Räume« eine gänzlich neue Bedeutung. Die neuen Kanäle, die sich in der Suche nach Herstellern, Händlern und Käufern eröffnet haben, gestalten sowohl Ausrichtung als auch Gebräuche von informellen Handelskanälen neu. Zugleich erfahren wir eine deutliche Vermehrung von Handelsbeziehungen, die etablierte Bezugsebenen ersetzen und die üblichen Engstellen und Kontrollpunkte wirtschaftlicher Vormächte umgehen. Orte wie Yiwu, die selbsterklärte Hauptstadt des Kleinwarenhandels in China, oder die asiatischen Handelsstützpunkte in Dubai verkörpern auf eindrucksvolle Weise diese Entwicklungen. Anstatt zwangsläufig zu einer verstärkten Marktintegration zu führen, wie dies oft propagiert wird, können eine Intensivierung von Verbindungen und breiter gefächerte Lieferketten im Gegenteil dazu beitragen, dass die Intentionen globaler ökonomischer Institutionen unterlaufen werden.

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Taktiken wirtschaftlicher Diplomatie Der mit dem globalen Wirtschaftswachstum parallel laufende Anstieg informeller Ökonomien bringt zwar ein immer dichteres Netz an Bezugnahmen einzelner Marktplätze auf die Geschehnisse und Entwicklungen an anderen Orten mit sich; diese wechselseitigen Einwirkungen sind aber nicht gleichzusetzen mit der Möglichkeit einer direkten Einflussnahme. Zugleich wird mit diesen Dynamiken deutlich, wie sich mittels verbesserter Transport- und Kommunikationsmöglichkeiten neue Handelsräume auftun. Über eine Vielzahl an Kanälen wird daher versucht, diese sub­ stanziellen Zukunftsmärkte des informellen Handels in die Einflusssphäre etablierter Wirtschaftsblöcke zu bringen. Dazu zählen zum einen direkte Versuche, die Operationsebenen informeller Märkte zu unterbinden bzw. aufzulösen, und zum anderen verschiedene Strategien, auf die Randbedingungen informeller Ökonomien einzuwirken, um über graduelle Reglements den Fluss dieser Aktivitäten umzulenken und in den größeren Verband der eigenen Interessen zu absorbieren. Anstatt informelle Handelsnetze zu zerschlagen, zielen Interventionen dieser Art oft auf eine weitaus grundlegendere Umgestaltung der ökonomischen Landschaft, die nicht nur auf informelle Aktivitäten selbst abzielt, sondern die gesamte Ökonomie einzelner Länder und Regionen neu ausrichten soll. Die jährlich veröffentlichte Liste der sogenannten »notorischen« Märkte (»notorious markets«) – ein mittlerweile regulärer Bestandteil der vom Büro des US-Handelsbeauftragten (USTR) erstellten Special301-Berichte – hat sich zu einem besonders schlagkräftigen Instrument entwickelt, das beide Vorgangsweisen in sich vereint. Aufbauend auf Eingaben von Interessensvertretungen verschiedener Wirtschaftssparten über Eingriffe in ihre Handelsinteressen (z.B. eine Verletzung von Urheberrechten und Markenschutz) auf bestimmten Marktplätzen werden einzelne Länder und deren staatliche Ordnungsmacht an den Pranger gestellt: Den Kern dieser Berichte bilden Länderlisten, in denen Fälle von Piraterie und Fälschungsunternehmen aufgezeichnet sind und spezifische Empfehlungen abgegeben werden, wie die Einhaltung von Urheberrechten verbessert werden kann, wie Sanktionen implementiert und Barrieren für den freien Marktzugang beseitigt werden können.5 Diese 5 Für weiterführende Analysen über die operationale Matrix der Special-301-Berichte

siehe auch das Kapitel »Globale Informalität«.

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Listen spielen eine wichtige Rolle in der Außenhandelspolitik, weil sie unter Androhung von Sanktionen diplomatischen Druck auf andere Staaten ausüben, um sowohl die Intervention von Behörden auf konkreten Marktplätzen als auch die Anpassung nationaler Wirtschaftspolitiken zu verlangen und im Zuge dessen die Zugänglichkeit für ausländische Investoren, Produzenten und Lieferanten durchzusetzen. Angesichts dieser folgenreichen Verknüpfung von lokalem Marktgeschehen mit dem Handlungsspielraum auf dem internationalen diplomatischen Parkett, achten Regierungen auf der ganzen Welt genau auf ihren Status in diesen Berichten und speziell darauf, ob sie in der jährlichen »Watch List« oder »Priority Watch List« aufscheinen.6 Als Abbild der Ausrichtung aktueller Handelsinteressen zeichnen diese Berichte eine globale Landkarte von Gut und Böse, letzteres mit einer auffälligen Konzentration auf China, Südostasien und Lateinamerika. Trotz des Umstands, dass den meisten Schätzungen zufolge informelles Wirtschaften in Nord- und Subsaharaafrika im höchsten Ausmaß auftritt, erscheint dieser Kontinent auf den Karten nach wie vor als blinder Fleck. Der umfangreiche Einfluss der Special-301-Berichte basiert auf dem grundsätzlich offenen Rahmen der Erstellung dieser Dokumente. Neben Eingaben von Hunderten Interessensgruppen, NGOs und Einzelpersonen, die Rechtsverletzungen auf informellen Märkten weltweit gezielt erkunden, kommen die meisten Beiträge von großen Wirtschaftskonzernen und -verbänden wie Oxfam, Time Warner, Motion Picture Association und IAAC. Die Jahresberichte sind also zentral organisierte Tatsachenermittlungen, aber die Erkundungen, die den Berichten zu Grunde liegen, spielen sich in einem Netzwerk von informellen Kanälen ab, wo Informationen gesammelt oder Nachforschungen von Wirtschaftsunternehmen in Auftrag gegeben werden. Das Ergebnis dieser immer umfassenderen Untersuchungen ist eine zunehmende Zahl von Sachverhaltsfeststellungen und ein immer größerer Umfang der Berichte. Der Special-301-Prozess hat dabei nicht einfach nur immer mehr an Umfang gewonnen, sowohl was die Quantität an Information und die Zahl der Länder auf der »Watch List« anbelangt, sondern hat sich auch zu einem flexiblen Instrument entwickelt, das den Gesetzesvollzug mit der Handels­politik vermischt. Während ursprünglich die Idee des Berichts 6 Für die vollständige, im April 2016 veröffentliche Version des 2016 Special-301

Report siehe online: https://ustr.gov/sites/default/files/USTR-2016-Special-301Report.pdf

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war, eine gesetzliche Basis für etwaige Wirtschaftssanktionen zu schaffen, geht es nun viel mehr um ein Instrument der Überwachung und Ermahnung. Der Bericht ist so zu einem Lenkungsinstrument geworden, das Gerichtsgewalt und politische Strategie kombiniert. Die beiden Komponenten werden zwar nominell auseinandergehalten, aber gleichzeitig auch »ökonomisch« koordiniert: Den ins Visier genommenen Staaten wird mit diesen Berichten nämlich nahegelegt, das Geschäft zur »Bereinigung« der Situation stellvertretend zu erledigen.7 In diesen Jahresberichten finden sich auch minutiöse Aufzeichnungen zu physischen Marktplätzen, die als »notorisch« bezeichnet werden, weil sie Rechte zum Schutz des geistigen Eigentums von US-Firmen oder -Staatsbürgern verletzen. Seit 2005 sind diese Aufzeichnungen nicht mehr Teil der Länderberichte, sondern werden in einem eigenen Dokument mit dem Titel »Notorische Märkte« zusammenfasst. Mit diesem Wechsel wurden auch die Kriterien flexibilisiert, die einen Markt für den jährlichen Bericht qualifizieren. Als berüchtigt gelten Märkte nun schon, wenn von lokalen Behörden verabsäumt wird, den eigenen Umgang mit dem Diebstahl geistigen Eigentums zu überdenken.8 Seit 2011 werden ausgewählte Fälle in einem mediengerechten außerplanmäßigen Bericht zu notorischen Märkten (Out-of-Cycle Review of Notorious Markets) kurz vor dem Erscheinen des umfangreicheren Special-301-Berichts der Öffentlichkeit präsentiert. Diese »Hitparade« informeller Märkte listet so unterschiedliche Marktplätze wie La Salada in Buenos Aires, Tepito in Mexiko-Stadt, Pekings Seidenmarkt, die Urdu-Basare in Karatschi und Lahore, den Petrivka-Markt in Kiew, das Shoppingcenter Harco Glodok in Jakarta oder das Einkaufszentrum Lo Wu in Shenzhen. Ohne die darin enthaltenen Behauptungen und Forderungen untermauern zu müssen, ist 7 Genaue Beschreibungen des Special-301-Verfahrens finden sich unter anderem in

Kim Newby: »The Effectiveness of Special-301 in Creating Long Term Copyright Protection for U.S. Companies Overseas«, Syracuse Journal of International Law, Bd. 21 (1995), S. 29–62; Joe Karaganis und Sean Flynn: »Networked Governance and the USTR«, in: Joe Karaganis (Hg.), Media Piracy in Emerging Economies, Social Science Research Council, März 2011, S. 75–98. Online: http://piracy.ssrc.org; Sean Flynn: »What is Special-301? A Historical Primer«, infojustice.org Blog, American University Washington College of Law, 1. Mai 2013. Online: http://infojustice.org/ archives/29465 8 Neil Turkewitz, Executive Vice President der Recording Industry Association of America, Brief an den USTR vom 4. November 2010: »[Many sites] fail to address their own conduct in facilitating the theft of intellectual property and therefore deserve to be identified as notorious pirate markets«.

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diese Auswahlliste mittlerweile zu einer weltweit rezipierten Quelle für Twitter-Feeds oder für Blitzmeldungen im Fernsehen über illegale ökonomische Aktivitäten geworden – das ideale Regierungsinstrument für staatliche und gewerbliche Akteure, um der Öffentlichkeit zur richtigen Zeit das richtige Signal zu geben und eine Einmischung in Marktplätze außerhalb der USA vorzubereiten. Mit dieser wirtschaftsdiplomatischen Vermessung der Verfehlungen informeller Märkte entsteht nicht nur eine Dokumentation von Markenschutzverletzungen und Urheberrechtsübertretungen, sondern eine Karte der Welt, auf der die globale Verteilung der aktuellen Fronten des Spätkapitalismus sichtbar werden. Die Stadtforscherin Ananya Roy hat in umfangreichen Studien zu den politischen Auseinandersetzungen über das »richtige« Management von Mikrokrediten auf eindrucksvolle Weise dargelegt, wie ein von den Zentren der Macht beauftragtes Engagement mit dem informellen Sektor immer auch eine Frage des Managements der »Wahrheit« über unsere sozialen und ökonomischen Systeme ist.9 Die Professionalisierung von Investitionen in Mikrokredite ist zugleich Angelpunkt der Spannungen rund um die finanzwirtschaftliche Anbindung des Mikrokreditmodells – einst von NGOs als ein Versuch zur Armutsbekämpfung in Entwicklungsländern gestartet – in die Kapitalmärkte des globalen Nordens. Damit ist diese Form von Mikrokapital zu einem der zentralen Schauplätze des Bemühens geworden, die Produktivität von Millionen von Armen in die globalen Wirtschaftskreisläufe zu integrieren.10 Die ersten Mikrokreditinitiativen zielten beispielsweise darauf ab, die Lebensbedingungen von Frauen in patriarchalischen Gesellschaften zu verbessern. Mittlerweile sind Kriterien wie Bildungszugang, Reduktion der Kindersterblichkeit oder Selbsterhaltungskraft in Krisensituationen durch finanztechnische Richtwerte wie Betriebskosten, Rentabilitätsrechnung oder Transferierbarkeit abgelöst worden. Mit der Festlegung solcher Richtlinien eines optimalen Geschäftsablaufs verschiebt sich der Fokus des Engagements mit dem unteren Ende der ökonomischen Pyramide. Aus aktuellem Blickwinkel betrachtet wird soziales Kapital kaum noch als eine informellen Gemeinschaften 9 Ananya Roy: Poverty Capital. Microfinance and the Making of Development, Lon-

don und New York: Routledge, 2010.

10 David Harvey: Rebel Cities. From the Right to the City to the Urban Revolution, New

York und London: Verso, 2012, S. 20–21; Robert Neuwirth: Stealth of Nations. The Global Rise of the Informal Economy, New York: Pantheon Books, 2011, S. 130–144.

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innewohnende Fähigkeit gesehen, sondern als potenzieller Anlagewert und Gewinnchance in Finanzspekulationen. Gleichzeitig beeinflussen diese Maßnahmen die öffentliche Meinung über die Motivationen, Leistungen und Aussichten der ökonomischen Aktivitäten der untersten Milliarde. Zum einen wird »harten« finanziellen Fakten und Parametern der Vorzug gegeben, wenn es darum geht, den Umgang mit den Armen der Welt zu bewerten und abzuschätzen; zum anderen verfestigt diese Herangehensweise die moralischen und ethischen Gebote einer quasi-natürlichen marktwirtschaftlichen Ordnung. Indem vermeintlich unumstößliche finanzielle Fakten mit ethischen Begründungen untermauert werden, liefert das damit formulierte Narrativ eines fundierten Sachwissens über Mikrokredite externen Akteuren ausreichend Rechtfertigung dafür, in informellen Ökonomien zu intervenieren und das soziale Kapital der Armen der Welt in das Finanzkapital globaler Investoren überzuführen. Ananya Roys Forschung zur Umwandlung des Instruments der Mikrokredite – von einer Initiative der Entwicklungshilfe zu einem spekulativen Finanzmarkt – hat deutlich gemacht, wie politisch unterstützte Beutezüge in neuen ökonomischen Feldern auf eine begleitende diskursive Aufbereitung angewiesen sind. In der Art und Weise, wie etwa der Vorzeigebericht der Weltbank über Lateinamerika und die Karibik aus dem Jahr 2007 die Muster und Auslöser informeller Ökonomien in seinen einleitenden Absätzen darlegt, werden diese Motive deutlich erkennbar.11 Anstatt von viel grundlegenderen Fragen über Ungleichheit als Prinzip und Motor der kapitalistischen Marktwirtschaft auszugehen, werden unter Bezug auf einschlägige Fachliteratur, wie etwa die entwicklungspolitischen Thesen Hernando de Sotos, an erster Stelle »belastende Einstiegsauflagen« als Grund für den Ausschluss vieler kleiner Unternehmen und Händler aus den »Kreisläufen der modernen Wirtschaft« genannt. Auch für den Umstand, dass informelle Arbeitsbedingungen nicht nur für selbständig und in Kleinunternehmen Arbeitende gelten, sondern dass sich auch zahlreiche Großunternehmen informeller Arrangements für ihre Arbeitskräfte bedienen, werden »übermäßige steuerliche und bürokratische Belastungen« als Haupthindernisse angeführt. Als bewusste Entscheidung für die Nichtteilnahme an formellen Institutionen präsentiert, werden aus diesen Phänomenen unverhohlen Anklagen über das Versagen staatlicher Vollstreckungsmacht abgeleitet. Genau 11 Perry, Informality. Exit and Exclusion.

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diese Versäumnisse zu korrigieren, sei primäres Ziel von Instrumenten wie den Special-301-Berichten. Aus diesen Interpretationen folgt für die Weltbank im Umkehrschluss, dass zur Eindämmung informeller Ökonomien und zur Vermeidung der damit verbundenen geringen Verpflichtung der Menschen gegenüber den Institutionen des Staats als dringendste wirtschaftspolitische Schritte die Reduzierung der Steuer- und Abgabenlast sowie eine generelle Deregulierung und »Entlastung« der Wirtschaft in diesen Ländern zu sehen sind. Die im Bericht der Weltbank vorgeschlagenen Maßnahmen zur Erzielung eines »förderlicheren Investitionsklimas« reichen von Reformen des Arbeitsmarkts, wie der Senkung von »überhöhten Arbeitskraftkosten, die sich aufgrund arbeitsrechtlicher Bestimmungen oder unrealistischer Forderungen der Gewerkschaften ergeben« (Grundlöhne, Abfertigungen, Lohnsteuern und Lohnnebenkosten), und der Umgestaltung der Wohlfahrtssysteme, sodass etwa frei erhältliche Sozialleistungen beitragsbezogene formale Versicherungssysteme nicht unterlaufen, bis zur Vereinfachung von Steuergesetzen und der Verbesserung des Zugangs zu Märkten, Dienstleistungen und Bankkrediten sowie einer verstärkten Vollstreckung staatlicher Kontrolle.12 Auf solche Maßnahmen zu setzen, folgt den üblichen Vorstellungen der internationalen Wirtschaftsvereinigungen zur Harmonisierung und Öffnung globaler Märkte und dem Vorantreiben ähnlicher Prinzipien in anderen Bereichen der sozioökonomischen Organisation (etwa im Betreiben von Bildungseinrichtungen, in der Errichtung von Wohnraum, der Absicherung von Pensionen oder der Steuerung des wachsendenden digitalen Sektors im Bereich von Kommunikations- und Informationstechnologien sowie in anderen öffentlichen Aufgaben). Mit dieser Ausrichtung auf Mängel des Regierens kommen dem Diskurs über Informalität zwei Aufgaben zu: erstens die Darstellung von informellen Ökonomien als negativer Zustand und zweitens die Untermauerung des Aufrufs Informalität zu bekämpfen und zu überwinden. Der an der Universität Sheffield in Großbritannien angesiedelte Cluster for Research on the Informal Sector and Policy (CRISP), der einige für die Ausarbeitung internationaler politischer Richtlinien maßgebende wissenschaftliche Berater zusammenbringt, sieht seine Aufgabe zum 12 Ebd., S. 13–19. Siehe auch Friedrich Schneider, Andreas Bühn und Claudio E. Mon-

tenegro: »Shadow Economies All over the World. New Estimates for 162 Countries from 1999 to 2007«, World Bank Policy Research Working Paper 5356 (Juli 2010).

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Beispiel darin, »ein Verständnis für die Eigenheiten des informellen Sektors und die Motive von Menschen, die im informellen Sektor arbeiten« zu entwickeln, »sodass Regelwerke für die Bewältigung dieser Probleme formuliert werden können«. Die Forscher von CRISP leiten diese Überlegung vom Umstand ab, dass »die Frage, was mit dem informellen Sektor gemacht werden muss, für Regierungen auf der ganzen Welt zu einer der dringlichsten Angelegenheiten geworden ist«.13 Einer der Grundzüge dieser Haltung beruht darauf, das Phänomen der Informalität selbst als Effekt äußerer Umstände darzustellen und so die kausale Grundlage für die Notwendigkeit und Möglichkeit von Interventionen zu schaffen. Informalität wird hier – unabhängig davon, ob sie als Überbleibsel ökonomischer Veränderungen oder als unumgängliche Begleiterscheinung schnelllebiger marktwirtschaftlicher Zyklen beschrieben wird – vor allem an missliebigen gesellschaftlichen Zuständen festgemacht, die sich durch Armut, Staatsversagen, Unverantwortlichkeit, Illegalität und Kriminalität auszeichnen.14 Anstatt nun in einen Streit über die Berechtigung einzelner Positionen einzutreten, erscheint es uns produktiver, jene Dynamiken näher zu betrachten, die hinter diesen Manövern liegen – bestimmte Konzeptionen von Informalität, deren Ursachen und Auswirkungen. Welchen Machtinteressen wird mit einer Rhetorik Vorschub geleistet, die formelle und informelle Ökonomien in einer auf einer normativen Vorstellung von Form beruhenden Dichotomie aneinander bindet? Ungeachtet der Vielfalt an informellen Märkten, die wir im Rahmen des Forschungsprojekts »Andere Märkte« studiert haben, ergibt sich mit Blick auf die widersprüchliche Geschichte behördlicher Interventionen ein zentrales Muster: die Anwendung von politisch-juristischen Instrumenten, die bestimmten ökonomischen Unternehmungen gesonderte Ansprüche und Rechte 13 Cluster for Research on the Informal Sector and Policy (CRISP), angesiedelt am

Centre for Regional Economic and Enterprise Development (CREED), University of Sheffield, Großbritannien. 14 Für eine Übersicht über wissenschaftliche Ansätze zu informellen Ökonomie siehe zum Beispiel: Jan L. Losby et al.: »Informal Economy Literature Review«, Newark, DE: ISED & Washington, DC: The Aspen Institute, Dezember 2002; Lalesh Nand: »A Theoretical Review of the Urban Informal Sector or Informal Economy in Develop­ ing Countries and Its Future Directions in an Era of Globalisation«, Forschungsbericht, Sydney: Western Sydney Institute, 2006. Für eine Übersicht über die Forschung zu Märkten siehe: Yolande Pottie-Sherman: »Markets and Diversity – Annotated Bilbiography«, MMG Working Paper 12–15, Göttingen: Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, 2012.

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zuweisen. Indem ausgewählte Aktivitäten als informell gerahmt und von entsprechenden disziplinierenden Handlungen begleitet werden, bereiten diese Festschreibungen den Boden (sprich: den »Markt«) für einzelne privilegierte Gruppen von Akteuren auf. Auffallenderweise geschehen diese Interventionen just dann, wenn informelle Märkte eine allzu erfolgreiche Entwicklung zu nehmen scheinen. Wenngleich diese Maßnahmen vordergründig im Rahmen von rechtsbezogenen Verfahren abgewickelt werden, herrscht doch in vielen Fällen der Eindruck von Willkür und Diskriminierung gegen bestimmte soziale oder ethnische Gruppen vor: sei es im Fall der Schließungen der riesigen Eurasienmärkte in Moskau-Izmailovo und des von Vietnamesen betriebenen Vier-Tiger-Markts in Budapest, der von den USA legistisch unterstützten Umwandlung des ArizonaMarkts in Bosnien und Herzegowina in eine privatwirtschaftlich geführte Shopping Mall oder des Widerstands der Straßenhändler von São Paulo gegen die Zerschlagung ihres Arbeitskampfs mittels einer strategischen Aufsplittung von behördlichen Zuständigkeiten. Informalität ist demnach eine Frage der Definition. Die Eigenschaften von Informalität zu definieren ist zum Schlüssel dafür geworden, informelle Ökonomien in bestimmten Bereichen zunächst auszumachen und in der Folge dann ein staatliches Vorgehen zu veranlassen, das den angeblich mit Informalität verbundenen Gefahren entgegentritt. Auf diese Art und Weise wird Informalität als ein Überbegriff für alle möglichen Aktivitäten gebraucht, die eine »Wachstumsbremse«, wie dies der Weltbankbericht zu Lateinamerika und der Karibik nennt, darstellen könnten. Anders ausgedrückt wird mit dem Konzept der Informalität – anstatt bloß eine gleichsam unvermeidliche Begleiterscheinung oder wesenshafte Komponente des Kapitalismus zu erfassen – ein Handlungsgefüge in die Wege gebracht, das auf die hegemonialen Glaubenshaltungen und strategischen Interessen in der Erweiterung kapitalistischer Märkte eingestimmt ist. Konkrete Prozesse als informell zu definieren ist Teil einer Langzeitstrategie, neue Märkte sowohl geografisch gesehen als auch hinsichtlich bestimmter Bevölkerungsgruppen zu »öffnen«. Das soll nicht bedeuten, dass die mit dem Begriff der Informalität angesprochenen Situationen keine widrigen Umstände von Armut, Ausbeutung und Missbrauch in sich bergen. Nichtsdestotrotz hat die Auffassung von Informalität, die sich internationale ökonomische Institutionen seit dem Aufkommen des Begriffs in den 1970er Jahren angeeignet haben, zur Umwandlung von »Informalität als Konzept« in »Informalität als Instrument« geführt,

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mit dessen Hilfe von oben gesteuerte Eingriffe entlang bestimmter sozio­ ökonomischer Vorgaben durchgeführt werden. Diese Instrumentalisierung von Informalität, die sich weniger auf die Entwicklung eines Verständnisses ihrer Implikationen als auf das Für und Wider von äußerer Intervention richtet, wirft auch Fragen über die sture Ausrichtung des akademischen Diskurses auf die »richtige« Konzeption von Informalität auf, die große Teile der Informalitätsstudien dominiert.15 Gerade der Konflikt über Mängel in der Definition und Versäumnisse beim Einbezug aller Formen an informellen Aktivitäten macht deutlich, dass das Konzept der Informalität in diesen Diskursen weniger eine Frage der Anerkennung vielfältiger Alltagsrealitäten ist, als dass es darum geht, ein auf die Ideologien von konkurrierenden Akteuren und Institutionen abgestimmtes Rahmenwerk festzulegen. Dass Informalität zur Debatte und zugleich auf dem Prüfstand steht, ist demnach ein Ausdruck gezielter wirtschaftspolitischer Intervention. Dazu dient nicht so sehr Informalität an sich, sondern vielmehr die Einführung von Formalität als Maßgabe, um bestimmte Märkte zu diskreditieren und im Gegenzug andere zu privilegieren. Dennoch erlaubt insbesondere die Dualität von formaler Ökonomie und einem vorgeblich geringwertigen informellen Gegenstück eine geschickte Verschiebung der Aufmerksamkeit auf letzteres, obwohl sich der Konflikt zwischen beiden Polen vor allem aus den Forderungen von Interessensgruppen ergibt, deren Tätigkeiten als formal legitimiert gelten. Gute Beispiele dafür sind die weiter oben angesprochenen Special-301-Berichte sowie die zahlreichen Maßnahmen, die auf eine Koordination und Integration von Märkten mittels Handelsübereinkommen abzielen. Der Begriff informell bezeichnet demnach nicht bloß, was »außerhalb staatlicher Regulierungen«16 stattfindet, sondern insbesondere, was außerhalb der direkten Zugriffsmöglichkeiten kapitalistischer Marktkreisläufe des globalen Nordens liegt. 15 Siehe zum Beispiel: Colin C. Williams und John Round: »Re-thinking the Nature

of the Informal Economy. Some Lessons from Ukraine«, International Journal of Urban and Regional Research, Bd. 31, Nr. 2 (Juni 2007), S. 425–441; Jens Beckert und Frank Wehinger: »In the Shadow. Illegal Markets and Economic Sociology«, Socio-Economic Review, Bd. 11, Nr. 1 (2013), S. 5–30. 16 Siehe Manuel Castells und Alejandro Portes: »World Underneath. The Origins, Dynamics, and Effects of the Informal Economy«, in: Alejandro Portes, Manuel Castells und Lauren A. Benton (Hg.), The Informal Economy. Studies in Advanced and Less Developed Countries, Baltimore, MD: John Hopkins University Press, 1989, S. 11–37.

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Der Streit um die Erfassung von Informalität Der Kapitalismus ist auf staatliche Interventionen angewiesen, wenn es darum geht, Wirtschaften für die Anhäufung von Wohlstand aufzubereiten und Investitionen abzusichern. Insbesondere die globale Finanzwirtschaft hat zahlreiche Strategien und Techniken entwickelt, um den Staat und seine Institutionen dafür einzuspannen, Wirtschaften den wechselnden Interessen gemäß handzuhaben und gegebenenfalls einzuschreiten. Der Vorlauf als auch die Auswirkungen der seit 2007 andauernden internationalen Schuldenkrise haben eine lautstarke Kampagne hervorgebracht, die auf der einen Seite ein politisches Klima zu erzeugen sucht, das der Schaffung neuer Investitionsgelegenheiten zuträglich ist, und auf der anderen Seite nach der Verlagerung der damit verbundenen Risiken verlangt. Während die erzielten Profite in privatem Besitz verblieben, wurden unzählige Regierungen dazu genötigt, die Haftung für missglückte Investitionen zu übernehmen und angehäufte Schulden mit Geldern des öffentlichen Haushalts abzudecken. Der nachfolgende Einbruch in der sogenannten »Realwirtschaft« hat zu weitverbreiteter Arbeitslosigkeit und zur Vernichtung des Vermögens der Massen geführt. Diese Entwicklungen wurden seitdem dafür herangezogen, nach weiteren »Anpassungen« nationaler Wirtschaften zu rufen (z.B. durch eine Privatisierung von Staatsunternehmen und -besitz oder die Deregulierung von Märkten). Zugleich wurden große Teile der Bevölkerung in den Bereich der Informalität abgedrängt, was der zyklischen Logik kapitalistischer Spekulation entsprechend erneut einen Anlass für Forderungen nach disziplinierenden Eingriffen liefern kann.17 In der Auseinandersetzung um politische Linien zu Informalität sind wir oft mit einer strukturierten Finanzprodukten ähnlichen »Bündelung« von komplexen Problemen konfrontiert, die als Ausgangspunkt herangezogen wird, um nach entsprechender Intervention von nationalen Behörden oder internationalen Körperschaften zu verlangen. Fraglich ist jedoch, wieweit diese Probleme auf das Metier von ökonomischer Steuerung und staatlicher Kontrolle beschränkt bleiben sollen. Angesichts der 17 Markante Beispiele sind die südeuropäischen Länder rund um das Mittelmeer,

die unter Aufsicht von EU und IMF zu massiven Umstrukturierungsmaßnahmen gezwungen und mit einer Arbeitslosenrate von 25 Prozent und mehr getroffen wurden (bei den Unter-25-Jährigen lag die Arbeitslosenrate zeitweise bei knapp 50 Prozent). Siehe online: eurostat: http://epp.eurostat.ec.europa.eu/cache/ITY_PUBLIC /3-02052014-AP/EN/3-02052014-AP-EN.PDF

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Kleinmaßstäblichkeit und des mehrheitlich auf Selbsterhaltung ausgerichteten Charakters informeller Aktivitäten könnte an viele der damit verbundenen sozialen Herausforderungen besser herangegangen werden, indem eine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Gesellschaft und Institutionen in Zeiten globaler Ungerechtigkeit geführt wird, anstatt Informalität in von oben kontrollierte globale Märkte zu integrieren. Steuersysteme könnten zum Beispiel sehr wohl auch anders konzipiert werden und Bereiche außerordentlicher Gewinnerzielung ins Visier nehmen, anstatt blind auf gesamte Bevölkerungen abzuzielen. Der vorgebrachte Vorwurf des Steuerhinterzugs würde damit für eine Mehrheit von (letztlich als Wirtschaften des bloßen Überlebens einzustufenden) Aktivitäten gegenstandslos. Auf ähnliche Weise könnte soziale Absicherung an Grundrechte und Umverteilungsprogramme gebunden werden und nicht an individuell finanzierte Versicherungssysteme, die wiederum einen kontrollierten Arbeitsmarkt erfordern. Auch wenn es um die Gewährleistung gewisser Standards und den Schutz von Konsumentenrechten geht, haben es, zumindest auf lokaler Ebene, gemeinschaftliche Kontrollen und kooperative Abkommen an vielen Orten über lange Zeiträume hinweg geschafft, diese Bedürfnisse auch ohne staatliche Bürokratien abzudecken. Was als Kern von Anreizprogrammen zur Reduktion von Informalität übrigbleibt, sind somit Fragen der Marktintegration und Rechte zum Schutz von geistigem Eigentum. Die Erschließung und Aufteilung von Märkten entlang von Urheberrechten ist zu einem wichtigen Steuerungsinstrument in zunehmend wissensbasierten Ökonomien geworden. Das begleitende Zusammenspiel verschiedener politischer Schachzüge wird durch das Lobbying mächtiger Wirtschaftsakteure und eine über Massenmedien und öffentlichkeitswirksame Gerichtsfälle heraufbeschworene Gleichsetzung von Informalität mit Illegalität angefacht. Die Verhandlungen im Vorfeld der Unterzeichnung des Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) seitens Marokkos als erstes Entwicklungsland im Oktober 2011 wurden zum Beispiel durch diplomatischen Druck vorangetrieben, der sich auf Berichte der jeweiligen US-amerikanischen diplomatischen Abteilungen für Politik und Wirtschaft über die Verletzung von Urheberrechten auf dem »berüchtigten Schwarzmarkt« Derb Ghallef in Casablanca stützte.18 Auf Geheiß einflussreicher Interessen ließ sich die marokkanische 18 Siehe auch das Kapitel »Derb Ghallef Valley, Casablanca«.

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Regierung dazu bewegen, das Land mit den Erforder​­n issen »liberalisierter« Märkte in Linie zu bringen: von der Forderung nach Verbesserung der Wirtschaftsverwaltung und behördlichen Kontrollaktionen bis zur Zulassung ausländischer Investoren und Unternehmen, insbesondere für die neuen Märkte im Bereich von Dienstleistungen und Informations- und Kommunikationstechnologien. Die Wechselwirkung zwischen verstärkter staatlicher Intervention und Anstieg des informellen Sektors, die Alejandro Portes und William Haller in ihrer Beobachtung des Paradoxons staatlicher Kontrolle beschreiben,19 tritt in derartigen Staatshandlungen zu Tage. Informalität ist in diesem Sinn ein relationales Konzept. In der unterschiedlichen Rahmung dessen, was Informalität ausmacht, zeigt sich, wie wichtig die Frage der Perspektive in der Politik von Informalität ist. Dass die quantitative Bestimmung von Informalität die Debatte zu dominieren begonnen hat, entspringt einer Logik, die auf eine einseitige Lenkung der Entwicklungen innerhalb des Arbeitsmarkts – jene von Kapitalflüssen und Handelsbeziehungen – abzielt. Sowohl die Unterscheidung von mannigfachen Kategorien und Aspekten, die speziell Migranten, Frauen oder ausgewählte ökonomische Aktivitäten betreffen, als auch die Art und Weise, wie diese auf konkrete Regionen wie Entwicklungsländer, ehemalige Ostblockstaaten oder Einwanderungsquartiere in westlichen Großstädten ausgerichtet sind, verdeutlicht in erster Linie das laufend zunehmende Verlangen wirtschaftlicher Großmächte nach Zugriff auf diese Bereiche. Informalität ist ein Effekt des Kapitalismus. Kapitalismus produziert Informalität – und dies nicht nur in dem Sinn, dass Teile der Weltbevölkerung in einer untergeordneten Lage verwahrt bleiben, sondern auch mittels einer politischen Definitionskraft, die bestimmte Teile des wirtschaftlichen Lebens als informell darstellt, um eine Intervention von außen zu ermöglichen. Dabei resultiert eine der größten Hürden für dieses Bestreben gerade aus dem Umstand, dass viele der Aktivitäten, die auf diese Weise in »formell« und »informell« eingeteilt werden, tatsächlich 19 Portes und Haller konstatieren: »The paradox of state control is that official efforts to

obliterate unregulated activities through the proliferation of rules and controls often expand the very conditions that give rise to these activities.« Alejandro Portes und William Haller: »The Informal Economy,« in: Neil J. Smelser und Richard Swedberg (Hg.), Handbook of Economic Sociology, New York: Russell Sage Foundation, 2005, S. 409.

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auf vielschichtige Weise miteinander verflochten sind. Darüber hinaus sind informelle Ökonomien dank selbstentwickelter und hochgradig differenzierter Organisationsformen oft sehr wohl in der Lage unabhängig zu funktionieren. Auch wenn die Schattenwirtschaften von Migranten und anderen an den Rand gedrängten Gemeinschaften oder jene von in Abhängigkeit gehaltenen Ländern häufig mit den Kreisläufen des »formellen« Kapitals interagieren, betreiben sie in vielen Fällen auch andere Netzwerke des Austauschs und der Kommunikation, die der direkten Kontrolle entkommen und nur zum Teil von außen beeinflussbar sind. Selbst wenn ausgewählte Marktplätze routinemäßig als Störungen von Normalität porträtiert und so zu Orten des Ausnahmezustands erklärt werden, zeigt eine nähere Betrachtung, dass die Mehrheit an informellen Märkten in Wahrheit Variationen von regionalen Regelfällen verkörpern und Teil einer historischen Abfolge von verwandten Phänomenen sind. Die Containermärkte in Osteuropa folgten einer langwährenden Vorliebe für modulare Raumsysteme, wie sie auch im sogenannten Kioskhandel zum Ausdruck kommen, der ebendort als sekundäres Versorgungsnetz die Gebiete seriell errichteten Massenwohnbaus weitflächig überzieht. Viele Straßen- und Freiluftmärkte in afrikanischen und asiatischen Ländern, die als Brutstätten illegalen Handels angeklagt werden, stellen ebenso Entwicklungen innerhalb langer Traditionen an Marktbeziehungen dar. Was sie als umfochtene Objekte mit formellen und informellen Attributen auszeichnet, ist häufig der Umstand, dass sie Aneignungsversuchen von nationalen und internationalen Kräften ausgesetzt sind. Die darin verwickelten, oft widersprüchlichen Absichten reichen von einem nationalistischen Programm der 1940er Jahre in Thailand, das einen Flohmarkt pro Dorf bewarb, um so ökonomische Unabhängigkeit von den benachbarten Großmächten zu erlangen, bis zur kolonialen Verbreitung modernistischer Planungsansätze, die eine funktionalistische Stadt bevorzugten und so zur Verbannung von Straßenhändlern in vielen lateinamerikanischen Städten beitrugen, und dem jüngsten Wiederaufleben solcher Richtlinien vielerorts in Afrika und Asien, um den Weg für nach westlichem Vorbild errichtete Shopping Malls und Vergnügungsviertel freizumachen.20 20 Siehe zum Beispiel die Entwicklungen rund um den Jarmark Europa in Warschau,

den Oshodi-Markt in Lagos, den Moran-Markt in Seongnam oder den Rot-FaiMarkt in Bangkok (siehe auch das Kapitel »Marktmode – Talad Rot Fai, Bangkok«).

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An der Vermehrung von politischen Programmen, die auf informelle Märkte ausgerichtet sind, zeigt sich ein deutlicher Wechsel in der Art, wie Macht ausgeübt wird. Während im 20. Jahrhundert Macht in einer räumlich beherrschten Verteilung von Bevölkerungen gründete, liegt im heutigen Umfeld transnationaler Kapitalflüsse der Schlüssel in der Kontrolle von Märkten. Der Kampf um Profit und Macht entfaltet sich in einer Jagd danach, wer als erster neue Investitionsgelegenheiten erkennt, besetzt, erweitert oder neu erschafft. Diese Spekulationen setzen auf eine Verfestigung der Bindung politischer Klassen an neoliberale ökonomische Weltanschauungen. Die immer enger werdende Verklammerung von kapitalistischer Denkweise und politischem Unternehmen hat Angelegenheiten des Regierens immer mehr zu einer Frage des wirtschaftlichen Ergebnisses werden lassen. Politische Regelwerke rund um Informalität werden so von einer Unzahl an verschobenen Motiven beeinflusst, welche Fragen über das Wohlergehen der Menschen, die alltäglich von Informalität betroffen sind, in den Hintergrund treten lassen. Eine weltweit zirkulierte Anekdote über die Hintergründe der Schließung des Tscherkisowoer-Markts in Moskau – einem der wichtigsten Knotenpunkte im eurasischen informellen Handel und zugleich Zufluchtsort für eine große Zahl an Vertriebenen – versinnbildlicht diese eigennützige Mischung an Medienmacht und Bereicherung, Populismus und Korruption, die hier zum Tragen kommt: der eigentliche Auslöser für diese plötzliche Aktion war demnach die Verärgerung russischer Politiker über die gar zu protzigen Geburtstagsfeiern eines der Oligarchen, die den Markt kontrollierten, in einem türkischen (sprich ausländischen) Luxusresort. An der Art der Verschmelzung von formell und informell, die durch die gemeinsame Front von Marktliberalisierung, Deregulierung und Harmonisierung erwirkt wird, lässt sich erkennen, welche Denkrichtung sich in diesem Rennen um ökonomische Vorherrschaft durchzusetzen begonnen hat. Das vorrangige Ziel in der Aneignung neuer Grenzbereiche ist dabei nicht eine Integration auf Augenhöhe, sondern die Schaffung eines externen Raums, in den die mit spekulativen Märkten verbundenen Kosten und Risiken verlagert werden können. In diesem Sinn ist die Rolle von informellen Märkten (als »andere« Märkte) vielfach bereits im Eröffnen und Betreiben von formellen Handelsgeschäften angelegt. Um ihre Investitionen zu schützen, sind individuelle Akteure stets damit beschäftigt, nachrangige Schauplätze auszumachen, die es ihnen erlauben, mögliche Krisengefahren abzuschwächen. Informelle Märkte binden sich so an eine

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Vielfalt von kritischen Punkten in neoliberalen Marktwirtschaften: Das beginnt bei der Abfederung des Risikos aus schwankenden Angeboten und Nachfragen im Fall der riesigen Zwischenhändlermärkte, mit ihren »Kofferhändlern« und Netzwerken an Kleinstfabrikanten 21, und reicht bis zur Absorption der Verschwendungen unserer Wegwerfgesellschaft in den globalen Verteilerzentren für informelles Recycling und entsprechend nachteiligen Folgen für die dortige Umwelt.22 Diese Strategie des »Outsourcing« ist kein einfach zu handhabender Prozess, sondern von zahlreichen Widersprüchen und konfliktreichen Entwicklungen geprägt. In der Tat öffnet gerade diese Vorgangsweise Raum für Abweichungen und Widerstand. Selbst wenn Macht, und damit auch Marktwirtschaft, zu zunehmender Abstraktion neigt, ist sie dennoch auf ihren Vollzug angewiesen, um wirksam zu werden. Macht, um nochmals eine foucaultsche Perspektive aufzugreifen, wird Subjekten nicht einfach aufgezwungen, sondern fließt über das Orchestrieren ihrer Handlungen gleichsam ein.23 Indem Macht durch die Körper von Subjekten geht und von diesen entsprechend weitergegeben werden muss, werden sie zugleich zu Schaltstellen in den Strömen der Macht. Gleich ob dies nun beabsichtigt ist oder nicht, enthalten alle diese machtbestärkenden Handlungen ein Element der Abweichung, das nicht gänzlich mit den vorgeschriebenen Protokollen und Normen übereinstimmt. Informelle Märkte bilden Schauplätze einer intensiven Konzentration von Menschen und verkörpern damit ein besonders hohes Risiko der Abweichung. Der augenfälligste Ausdruck dieser Umlenkung von Macht sind gefälschte Waren. Die Auslagerung von Produktion, und in zunehmenden Maße auch von Dienstleistungen, gehört zum Standardrepertoire postindustrieller Gesellschaften, wenn es darum geht, den Profit für Investoren in ihren Heimatländern zu erhöhen. Damit dieses Ziel erreicht werden kann, genügt es jedoch nicht, bloß die Befehlshoheit über erweiterte Nachschublinien zu erlangen, sondern es muss auch das für die Produktion nötige Wissen ausgelagert werden. Mit dem gegenwärtigen Wechsel 21 Vgl. zum Beispiel die Entwicklungen rund um den 7-Kilometer-Markt in Odessa und

den Tscherkisowoer-Markt in Moskau für die Situation in Osteuropa oder rund um La Salada in Buenos Aires und Feirinha da Madrugada in Saõ Paulo für die Situation in Lateinamerika. 22 Vgl. zum Beispiel die Entwicklungen rund um den Alaba International Market in Lagos, Lajpat Rai in Neu-Delhi und Märkte in Nairobi wie Gikomba oder Toi. 23 Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975–1976), Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001, S. 45.

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zu High-Tech-Produkten und dem dazugehörigen Bedarf höher qualifizierter Arbeitskräfte steigt der Grad der Verletzbarkeit von Schutzrechten und damit auch die Zahl an Gelegenheiten, Macht in Form von Wissens­ aneignung umzulenken. Das übergreifende Konzept der Informalität, wie es in internationalen Politiken zur Anwendung kommt, bezieht sich meist besonders auf die Brennpunkte dieser unerwünschten Aktivitäten seitens Gruppen an Personen, denen ansonsten eine untergeordnete Position zugewiesen wird. Mit dem zunehmenden Ausmaß, in dem Wissenstransfer zum Motor der globalen Wirtschaft geworden ist, hat Macht auch einen ungelegenen Grad an Unsicherheit erlangt, der den Anstieg an Bemühungen in der Bekämpfung informeller Wissensverteilung erklären hilft (Special-301-Programme, TRIPS-Vereinbarungen, ACTA, etc.). Die jährlichen Veränderungen in der Auflistung von Märkten in den Special-301-Berichten sowie die hochgradig selektive Auswahl bestimmter Marktplätze (etwa die Erwähnung von Büchermärkten in Indien oder des Vertriebs von Software und Medienprodukten in China und Lateinamerika) verdeutlichen sowohl die gegenwärtigen kritischen Schnittstellen von Machtströmen als auch bevorstehende ökonomische Auseinandersetzungen. Dabei könnte die Beschaffung von Informationen für die Special-301-Berichte im Wege von Eingaben durch Lobbyisten der Industrie selbst als informell gelten. Bereits Portes und Haller haben darauf hingewiesen, dass die Interaktionen der freien Marktkräfte umso »informeller« werden, je mehr Staatsbedienstete zur Bedienung partikularer Interessen (als »de-facto Beschäftige außenstehender Unternehmer«) eingesetzt werden. Gerade die Abgrenzungen des formellen Marktes, die diese Aktionen vorgeblich schützen sollten, werden damit letztlich aufgehoben.24

Gemeingut Markt Wenn man nun anerkennt, dass informelle Ökonomien durch Projektionen hergestellt werden, durch die Verlagerung zukünftiger Optionen und als Schauplätze des Kräftemessens zwischen internationalen Interessen, so stellt sich angesichts der Entwicklung von Wissensgesellschaften, die sich netzwerkartig über diese Orte spannen, die Frage, inwiefern und auf welche Weise diesen Marktplätzen auch Gelegenheiten entspringen können, 24 Portes und Haller, »The Informal Economy«, S. 405.

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Ressourcen anzueignen, Machtbeziehungen umzuleiten und ein Aufkommen anderer Interessen zu erlauben. Anders gesagt, die Frage welche Form von »anderen Märkten« jenseits des neoliberalen Grundsatzes von ungehindertem Wachstum und Vermögensanhäufung durch die Funktionsweise informeller Ökonomien hervorgebracht werden kann. Wenn die Möglichkeit von Veränderung als Wechsel in den herrschenden Machtbeziehungen ins Auge gefasst wird, dann kommen Interventionen in den dominanten Bezugssystemen und Alternativen gegenüber der üblichen, von oben verordneten Dualität von formell/legal versus informell/illegal eine Schlüsselrolle zu. Neue technologische Möglichkeiten, die folkloristischen Vorstellungen einer ursprünglichen Tauschgesellschaft hinter sich lassen, bieten einen wichtigen Orientierungspunkt in neu entstehenden Sphären umverteilter Kreativität und in der Entwicklung neuer Kapitalformen. Insbesondere veränderte Zugangsmöglichkeiten zu Information können die Wirkkraft des Mangel-Paradigmas als alles überschreibendes Regulativ des Marktes grundlegend entkräften. Dass kenianische Marktfrauen nun die Möglichkeit haben, per Mobiltelefon die Verfügbarkeit bzw. die Nachfrage nach gewissen Gebrauchsgütern zu überprüfen und auf verschiedenen Märkten erzielte Preise zu vergleichen,25 befreit sie nicht nur aus der Abhängigkeit von manipulierenden Mittelsmännern, sondern unterläuft auch traditionelle Vorstellungen von Zentrum und Peripherie, davon, wessen Kapital zählt und was als entbehrlich erachtet wird. Die begleitende Auflösung von Kontrollstrukturen trägt so zu einer fortwährenden Atomisierung ökonomischer Aktivitäten bei. Wenngleich das durch neue Technologien und soziale Medien beflügelte Eindringen von wirtschaftlichen Überlegungen in immer mehr Bereiche des Lebens meist unter der Linse von Prekarisierung betrachtet wird, bringt diese Veränderung auch bisher nicht gekannte Möglichkeiten mit sich – eine Leichtigkeit, mit der zwischen verschiedenen Rollen gewechselt werden kann. Die Verbreitung von Apps, die Mikrojobs und Mikrodienste bewerben – Aufgaben, die auf flexible Weise und in kurzer Zeit erbracht werden können, ohne mit weiteren Verpflichtungen verbunden zu sein oder eine bestimmte Ausrüstung zu verlangen – sind Teil einer größeren 25 Ein Beispiel dafür ist die von drei kenianische Frauen gestartete und 2010 mit dem

»IPO48 Tech Start-up Prize« ausgezeichnete App »M-Farm«. Siehe dazu auch: Heike Baumüller: »Assessing the Role of Mobile Phones in Offering Price Information and Market Linkages. The Case of M-Farm in Kenya«, Electronic Journal of Information Systems in Developing Countries, Bd. 68, Nr. 6 (2015), S. 1–16.

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Crowdsourcing-Bewegung, deren Folgen für konventionelle Systeme des Kapitalkreislaufs wir erst langsam zu verstehen beginnen. Die paradoxe Frage, die sich hier stellt, ist, inwiefern das allumfassende Eindringen von ökonomischen Abwicklungen und ihre unendliche Unterteilung in handelbare Einheiten letztlich nicht dazu führen, dass der Einfluss herkömmlicher Wirtschaftsmächte zu verpuffen beginnt. Wenn man zum Beispiel auf verschiedenen Plattformen für Klein- und Kleinsthandel laufend zwischen der Rolle als Händler in einem Moment und einer komplett anderen Rolle im nächsten Moment hin und her wechselt, schwindet damit auch der Zugriff jener Definitionsmacht, die einen in einer einzigen Position festzuhalten versucht. In diesen Experimenten geht es somit um die Frage, wer und was bestimmten ökonomischen Handlungen Bedeutung verleiht. In einem Großteil der Literatur über Informalität werden soziale Bande, die durch Solidaritätsbekundungen, ethnische Gemeinschaften oder verwandtschaftliche Beziehungen bekräftigt werden, als grundlegendes Rahmenwerk für das Funktionieren von informellen Märkten angeführt.26 Im Fall des jüngsten Phänomens der Hipstermärkte wird die Logik dieser Beziehungen jedoch ins Gegenteil verkehrt. Anstatt als Mittel für den Abschluss ökonomischer Transaktionen eingesetzt zu werden, liefert die Schaffung und Stärkung von sozialen Bindungen selbst einen wichtigen Grund für die Teilnahme an diesen Märkten. Ungeachtet vieler anderer Aspekte, die am Aufstieg von Hipstermärkten beteiligt sind, wie ihre Rolle als Wegbereiter von Gentrifizierung oder die Verklärung einer konsumgetriebenen Subjektformierung, kündigt der Umstand, dass ökonomische Entscheidungen von sozialen Sehnsüchten gelenkt werden, einen radikalen Wandel im Gleichgewicht globaler ökonomischer Kräfte an. Was diesen Entwicklungen ihre aktuelle Brisanz verleiht, ist eine globale Ausbreitung im Zuge des Entstehens neuer kreativer Klassen, die sich ihre ganz eigenen Welten an vielen Punkten der Erde schaffen und so ihre Aktivitäten von New York bis Bangkok ausbreiten.27 Eine technologiegeleitete Atomisierung von Entscheidungen bringt sowohl eine weitgehende Unkontrollierbarkeit mit sich als auch ein 26 Ebd., S. 408; siehe auch Mark S. Granovetter: »The Strength of Weak Ties«, American

Journal of Sociology, Bd. 78, Nr. 6 (1973), S. 1360–1380.

27 Vgl. zum Beispiel die jüngsten Expansionsbestrebungen des Brooklyn Night Bazaars

in New York oder des Rot-Fai-Markts in Bangkok (siehe auch das Kapitel »Marktmode – Talad Rot Fai, Bangkok«).

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Potenzial für eine »von unten« gelenkte Generierung von Werten. Wenn Informalität zu einem Dauerzustand wird, kann diese Situation nicht länger durch von Staatsorgane vollzogene Ausschlussmechanismen verbannt werden. Die Errichtung von Netzwerken informellen Austauschs mit Hilfe neuer Technologien kann ein erster Schritt sein, der gegen die Deterritorialisierungsstrategien des Spätkapitalismus gesetzt wird. Nicht unähnlich der Forderung vieler indigener Gemeinschaften nach einem »Recht auf Antenne« (sprich dem Recht auf Zugang zu globalen Kommunikationseinrichtungen für Empfang und Ausstrahlung von Nachrichten), die als Strategie der Verortung auf dem Weg zur formalen Anerkennung ihrer Rechtsansprüche eingesetzt wird, bildet auch die Besetzung von Raum, wie sie von informellen Märkten gelebt wird, eine wichtige Handlungsmöglichkeit, mit der der laufenden Privatisierung des öffentlichen Raums entgegengetreten werden kann. Die weithin nachgeahmte Reaktion seitens der Behörden, den Betrieb öffentlicher Marktplätze an private Unternehmen zu übertragen, fügt sich in die auf Wirtschaftsinteressen hörende Entpolitisierung städtischer Begegnungen (dem Ersatz von Straßenleben durch den Konsum programmierter Unterhaltung) ein. In diesem Zusammenhang bringen die Kampagnen von Straßenhändlern gegen eine generelle Kriminalisierung ihrer Existenz und für ihr Recht im öffentlichen Raum tätig zu sein »katalytische« Gemeinschaften hervor, die zu Vorreitern zeitgenössischer Bürgerbewegungen werden. Dieser Streit um die Befugnisse im öffentlichen Raum ist ein entscheidender Teil davon, unseren Platz in der Sphäre der Politik ein- und res publica zurückzufordern. Die Zuschreibung eines Status von Informalität – die instrumentelle Beschreibung einer Erscheinung als das Andere – ist zu einem willkommenen Vehikel für von oben gesteuerte Interventionen geworden und es ist Zeit, dass wir uns mit diesen Gefügen aus der Perspektive der davon Betroffenen auseinandersetzen. Eine der wichtigsten Bahnen dazu ist die Art und Weise, wie informelle Märkte an der Schaffung von Allmenden beteiligt sind, ob dies nun in Form von Gruppen junger Altersgenossen ist, die sich rund um den Austausch von Lifestyle-Accessoires bilden oder von Straßenhändlern, die sich in ihren juristischen Kämpfen zusammenschließen. Neben dem Umstand, dass informelle Märkte den Lebensunterhalt vieler Menschen sichern, besteht die größte Errungenschaft informeller Händler in der Schaffung eines gemeinsamen Guts, der Herstellung einer Marktumgebung. Informelle Märkte sind nicht eine natürlich gegebene Erscheinung, sondern kommen erst durch

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gemeinschaftliche Handlungen und Beiträge zustande. Und es ist gerade dieser Wert von informellen Märkten als ökonomische Ressource, der das Interesse von außenstehenden Parteien auslöst. Ganz ähnlich wie in den Auseinandersetzungen um die Kontrolle und Gewinnentnahme anderer gemeinschaftlich genützter Gemeingüter werden Fragen zu den in informelle Märkte verwickelten Menschen meist vom Streit überschattet, wie die durch diesen Handel erzeugten Kapitalflüsse am besten angeeignet werden können. Ein Großteil der Diskussion, wie mit informellen Märkten umgegangen werden soll, wiederholt die Argumentationen über das beste Management von Gemeingütern. »Dem Gut, das der größten Zahl gemeinsam ist, wird die geringste Fürsorge zuteil. Jeder denkt hauptsächlich an sein eigenes, fast nie an das gemeinsame Interesse«, 28 zitiert Elinor Ostrom Aristoteles in der Einleitung zu ihrem wegweisenden Buch Die Verfassung der Allmende aus dem Jahr 1990, um zu unterstreichen, wie die sogenannte »Tragik der Allmende« das westliche Denken über die individuelle Nutzung von gemeinschaftlichen Ressourcen bestimmt. Über Jahrhunderte hinweg bestand die allumfassende Schlussfolgerung darin, dass »wenn mehrere Nutzer frei über eine gemeinsame Ressource verfügen, die Summe der aus ihr entnommenen Ressourceneinheiten« – unweigerlich, wie es scheint – »größer ist als das optimale ökonomische Entnahmeniveau«.29 Wie Ostrom aufzeigt, leiten sich die beiden am häufigsten empfohlenen Lösungen für dieses Problem von einer Einmischung eines außenstehenden Agenten ab, der die Verwaltung der gemeinschaftlichen Ressource entweder in die Hände privater Unternehmen oder einer zentral organisierten staatlichen Behörde übergibt. Letzteres unterstützt meist die Überlegung, dass »eine externe Regulierung durch externe Instanzen, Staaten oder internationale Behörden erforderlich [sei], wenn man nicht damit rechnen [könne], dass private Interessen für den Schutz der öffentlichen Güter sorgen«.30 Die meisten Maßnahmen, die zur »Lösung«

28 Aristoteles: Politica, Buch II, Kapitel 3, zitiert in: Elinor Ostrom, Die Verfassung der

Allmende. Jenseits von Staat und Markt, übers. von Paul Siebeck, Tübingen: J.C.B. Mohr, 1999 [engl. Original: Cambridge und New York: Cambridge University Press, 1990], S. 3. 29 Ostrom, Die Verfassung der Allmende, S. 3. 30 David W. Ehrenfield: Conserving Life on Earth, Oxford und New York: Oxford University Press, 1972, S. 322; zitiert in: Ostrom, Die Verfassung der Allmende, S.12.

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der Spannungen rund um informelle Märkte gesetzt werden, folgen mit einer Kombination von Privatisierung und staatlicher Intervention diesem Muster. Diese Politiken fußen insbesondere auf Argumenten rund um räumliche Ressourcen als eine grundlegende gesellschaftliche Bedingung, die bestimmt, wie wir zusammenleben und miteinander umgehen. Raum ist zu einem der meistumstrittenen Parameter informeller Märkte geworden, denn diese werden routinemäßig beschuldigt, auf unverantwortliche Weise öffentlichen Raum zu blockieren oder dessen allgemeine Nutzung zu behindern. Das Vorhandensein einer überwachenden und kontrollierenden Behörde wird immer wieder als eine Grundvoraussetzung eingefordert, um, wenn schon nicht eine faire, dann zumindest eine sichere Art und Weise des Zusammenlebens zu garantieren. Das Ziel von Planung im Zusammenhang mit dem Gemeingut Raum ist damit überwiegend davon geprägt, eine Ordnung gegenüber ansonsten chaotischen und anarchistischen Zuständen städtischen Lebens zu bewahren. Dies hat zur Folge, dass jede räumliche Aktivität, die außerhalb der Reichweite der Planungsbehörde liegt und deren Regulierungen entkommt – wie zum Beispiel die räumliche Ausgestaltung informeller Märkte – als ein Scheitern des institutionellen Auftrags, für eine beherrschte Nutzung von Raum zu sorgen, wahrgenommen wird. Dabei liegt, wie Ostrom aufgezeigt hat, eine der größten Schwierigkeiten jeder zentral kontrollierten Verwaltung von Ressourcen in der Unmöglichkeit, zu allen Zeiten alle notwendigen Informationen zur Hand zu haben, um Regeln und Entscheidungen auf eine derart fundierte Basis zu stellen, dass sie tatsächlich den jeweiligen Situationen und Anforderungen vor Ort gerecht werden. Insbesondere in einer globalisierten Welt, in der nicht nur lokale Situationen zunehmend von weltweiten Entwicklungen beeinflusst werden, sondern die Makroordnungen an sich Gegenstand rascher und ständiger Veränderung geworden sind, scheint eine zeitgerechte und angemessene Regelsetzung zu einer nicht zu bewältigenden Herausforderung geworden zu sein. Die Kernfrage, die sich im Licht dieser Schwierigkeiten stellt, ist somit, ob eine Anerkennung von informellen Märkten als Gemeingut einen positiven Anstoß für zukünftiges Zusammenleben liefern kann. Die Untersuchung dieser Frage erfordert eine Auseinandersetzung mit den Fähigkeiten informeller Märkte jenseits rein ökonomischer Kategorien. Dies betrifft erstens die Frage, ob Informalität – als eine Form der

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Selbstorganisation – ein Umfeld hervorbringen kann, das der Entwicklung von Alternativen zur »Tragik der Allmende« förderlich ist und weder eine vollständige Individualisierung in Gestalt privater Unternehmen impliziert noch zur Gänze auf von oben gelenkte Regierungsweisen angewiesen ist. Konkrete Ansätze kooperativer Organisation sind in der Arbeit vieler Straßenhändlervereinigungen bereits ersichtlich. Auch Gewerkschaften und Nachbarschaftsgruppen haben damit begonnen, städtische Infrastrukturen von unten zu entwickeln. Der entscheidende Punkt ist hier, wie Wissen vor Ort für die Organisation von gemeinschaftlichen Aktionen genützt werden kann. Die Erfassung des Allgemeinwohls sowohl in langfristiger als auch in unmittelbarer Hinsicht führt uns zur zweiten Frage, die wiederum viele der aktuellen Diskussionen über Gemeingüter widerspiegelt – nämlich, ob die Elastizität und soziale Begründung von informellen Ökonomien eine Basis für einen verantwortlicheren und nachhaltigeren Umgang mit natürlichen und sozialen Ressourcen bieten kann. Die weltweite Entnahme von Ressourcen ist über die letzten 35 Jahre stetig angestiegen und wird, wenn es mit diesem Tempo weitergeht, im Jahr 2030 die 100-Milliarden-Tonnen-Marke – beinahe die doppelte Menge von 2005 – durchbrechen.31 Ein Großteil dieser steigenden Ausbeutung von Ressourcen wird von der parallel laufenden Beschleunigung weltweiter Verstädterung vorangetrieben. Nach derzeitigen Voraussagungen werden im Jahr 2025 zwei Drittel der Weltbevölkerung in städtischen Ballungsräumen leben.32 In vielen Teilen der Welt spielen informelle Systeme eine für das sozioökonomische Gefüge, das diese Prozesse der städtischen Ausdehnung trägt, entscheidende Rolle. Angesichts der intensiven Verwicklung in die Strukturen zeitgenössischen urbanen Lebens scheint Informalität dafür prädestiniert zu sein, eine zentrale Stelle in der Ideenfindung für neue Formen städtischer Ökonomien zu besetzen. Anstelle Informalität als eine »Wachstumsbremse« zu porträtieren, könnten wir sie auch als Ansporn für alternative Momente von Wachstum und Lebenskraft verstehen. In Anlehnung daran, wie Arjun Appadurai oder Paul Gilroy zeitgenössische Formen sozialer Organisation, die vom dominanten westlichen Modell von Modernität abweichen, als eine Art 31 Für laufend aktualisierte Trendanalysen siehe zum Beispiel das Onlineportal über

Materialstromdaten der Wirtschaftsuniversität Wien: http://www.materialflows.net

32 United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division:

World Urbanization Prospects. The 2014 Revision, Highlights (ST/ESA/SER.A/352), New York: Vereinte Nationen, 2014, S. 7.

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des Erdenkens und Schaffens »alternativer Modernitäten« beschrieben haben, 33 können wir auch über informelle Marktplätze anders nachdenken: nicht als eine Kraft, die Wohlstand entgegensteht, sondern als eine alternative soziale und räumliche Wiedergabe von Zeitgenossenschaft – als »marketscapes«, die von komplexen kulturellen Bedeutungen durchzogen sind, sich in unterschiedlichste Richtungen ausbreiten und eine Fülle an Formen ohne fester Gestalt anbieten. Im Gegensatz zum vorherrschenden Verständnis von Wachstum umfasst informeller Handel nicht notwendigerweise uneingeschränkte Ausdehnung und übermäßigen Ressourcenverbrauch. Diese alternative Perspektive beruht zum einen Teil auf den kleinmaßstäblichen Operationen von informellen Märkten, die einen differenzierteren und mehr auf die tatsächlichen Bedürfnisse von Bevölkerungen abgestimmten Handel erlaubt, und zum anderen Teil auf den Gelegenheiten, die sich mit dem Aufkommen von virtuellen Handels­ plattformen eröffnen, die umfangreichere Kreisläufe von Gebrauch und Wiederverwertung ermöglichen. Indem sich Güter und Beziehungen entlang dieser Bahnen bewegen, in legale und illegale Bereiche eintreten und auf unterschiedlichste Weise in Verwendung genommen werden, bringen sie ein zunehmend unentwirrbares Gewebe an wirtschaftlichen und sozialen Werten hervor, das letztlich die Vorherrschaft von rein wirtschaftlich durchgesetzter Macht unterlaufen könnte. Das Vermögen von informellen Märkten, sich unterschiedlichste Bereiche zu eigen zu machen, erlaubt einen Austausch von sehr viel mehr als Geld und Gütern. Indem sie auf mehr als rein wirtschaftliche Anforderungen reagieren, erzeugen informelle Marktbeziehungen eine Welt des »Gemein-Seins«.34 Solange jedoch Informalität als ein Mittel der Diskriminierung eingesetzt wird, als Denkhaltung, wonach geringes Kapitalvermögen ein Mangelkriterium darstellt und damit eine Einmischung von außen samt entsprechenden »Anpassungen« rechtfertigt, solange wird die Ausbeutung von Informalität die Oberhand behalten.

33 Arjun Appadurai: Modernity at Large. Cultural Dimensions of Globalization, Min-

neapolis, MN: University of Minnesota Press, 1996; Paul Gilroy: The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness, Cambridge, MA: Harvard University Press, 1993. 34 Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart: Edition Schwarz, 1988.

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Informelle Marktwelten Märkte zählen zu den weitverbreitetsten und zugleich verschiedenartigsten Orten des Austauschs. Sie sind Treffpunkt für einen fluktuierenden Kreis von Personen, in deren Begegnungen sich ökonomische, kulturelle und soziale Anliegen überschneiden. Was den Markt als solchen zusammenhält, ist seine Inanspruchnahme als Ort von Übereinkommen vielerlei Art. Märkte haben so eine lange Tradition im Hervorbringen einer grundlegenden Form von Öffentlichkeit. Die Agora – ein zentral gelegener Stadtplatz – galt in der griechischen Antike als politischer, religiöser und juristischer Versammlungsort ebenso wie als Marktplatz und als Ort für Beratungen der Bürgergemeinde (Polis). Sie war der Ort, an dem öffentliches Zusammenkommen stattfand und die Beschaffenheit der Öffentlichkeit auf vielen Ebenen verhandelt wurde. Doch die mit dem modernen Staatswesen erfolgte Trennung zwischen Räumen, in denen Politik gemacht wird, und jenen, die dem Marktwesen und der Regulierung von Kapitalströmen dienen, hat zu einer Unkenntlichkeit des geteilten öffentlichen Charakters von unterschiedlichen Foren des zivilen Zusammenkommens und der ökonomischen Mittelverteilung geführt. Diese räumliche Trennung trägt in der heutigen Phase des Neoliberalismus zu einer zunehmenden Verschleierung des Wirkgefüges bei, in dem politische und ökonomische Kräfte, Staat und Kapital immer mehr jenseits des jeweils eigenen Repertoires an Handlungsmöglichkeiten agieren, um Markträume für sich in Anspruch zu nehmen und spekulativ zu steuern. In Abhängigkeit von den jeweiligen politischen, ideologischen und kulturellen Umständen werden somit abweichende Einschätzungen zur Legitimität und Qualität des Geschehens einzelner Märkte vorgenommen. Plätze des öffentlichen Handelns werden heute wechselweise als Orte der Öffnung und der Neuerfindung, als Foren des Ausgleichs und der Integration, als soziales Sicherheitsnetz für Arbeitsmigranten oder als Orte der ethnischen Stigmatisierung und der Versklavung marginalisierter Bevölkerungsschichten gesehen. Je nach strategischem Interesse werden diese Zuordnungen zum Anlass genommen, manche Geschäftsaktivitäten zu begünstigen und gegen andere, deren Handel als gesetzeswidrig, schmutzig und rückständig eingeordnet wird, einzuschreiten. Die kon­ statierte »Informalität« dieser nicht konformen Märkte wird wahlweise

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an einem Mangel an Modernität, Legalität, Profitabilität oder Ordnung festgemacht: unzeitgemäße Infrastrukturen, Steuerbetrug, Verletzungen von Handelsbestimmungen, Produktfälschungen, undurchsichtige Geschäftsbeziehungen, Hygieneverstöße, ungeregelte Arbeitsverhältnisse, Besitzstörungen oder Verkehrsbehinderungen sind nur einige von vielen Verfehlungen, die informellen Märkten zum Vorwurf gemacht werden. Vor dem Hintergrund der Globalisierung des Welthandels, des Anstiegs der städtischen Bevölkerung und internationaler Migration in bislang unbekanntem Ausmaß betrachtet, ergibt sich jedoch ein anderes Bild, eines, in dem die doppelte Logik der weltweiten Ausbreitung von informellen Märkten seit den 1990er Jahren erkennbar wird: Indem sie politisch aufgezwungene Situationen neu arrangiert, fungiert Informalität als eine Antwort auf formalisierte Gesellschaftsstrukturen und ist zugleich an diese gebunden. Informalität tritt aber auch unabhängig davon auf und schafft eigene soziale, wirtschaftliche und kulturelle Lebensräume.1 Aus dieser Spannung heraus ist die Definition und Zuschreibung von Informalität immer mehr ein strategisches Element im globalen Ringen um ökonomischen Zugang geworden, insbesondere zu den ökonomischen Prozessen am unteren Ende der Wohlstandspyramide.2 Von besonderem Interesse sind für uns daher die instrumentelle Verwendung des Begriffs der Informalität und der Nutzen, der von unterschiedlichen Interessensgruppen daraus gezogen wird. Aus dieser praxisorientierten Perspektive kann nachvollzogen werden, wie sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte der Begriff der Informalität von einer einfach strukturierten ökonomischen Situation zu einer Figur entwickelt hat, die all die Komplexitäten aufnimmt, die aus dem Prozess der Globalisierung heraus entstanden sind. Die operative Dimension von Informalität, die im Zentrum dieser Untersuchungen steht, verweist also nicht auf einen abstrakten, eindimensionalen Handlungsplan, sondern auf ein weltweit ausgebreitetes Kräftefeld, in dem sich verschiedene Milieus von Akteuren, Interessen und Bestrebungen in unterschiedlichen Maßstäben und Örtlichkeiten entfalten. Dieses Feld ist sowohl Vehikel der globalen Ökonomie als auch Schauplatz von alltäglichen Überlebenskämpfen und feinmaschigen alternativen Vernetzungen. 1 AbdouMaliq Simone: City Life from Jakarta to Dakar. Movements at the Crossroads,

London und New York: Routledge, 2010.

2 Ananya Roy: Poverty Capital. Microfinance and the Making of Development, Lon-

don und New York: Routledge, 2010.

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Was kann mit dem Nachzeichnen dieser vielgestaltigen Interessen rund um informellen Handel erreicht werden? Eine solche Kartografie kann nicht nur bestehende Machtordnungen wiedergeben, sondern auch eine Möglichkeit zur Herstellung von Gegengeografien sein, indem sie Schauplätze des informellen Handels aus einer ideologischen Fixierung befreit, in der dem Leben von Händlern und der räumlichen Manifestation ihrer Alltagspraktiken oft keine Realität beigemessen wird, weder in politischen Narrativen noch in der medialen Repräsentation von Gebieten.3 Konkrete Standorte zu kartieren reterritorialisiert die kapitalistische Politik abstrakter Ströme und Beziehungen. Es konfrontiert den Fluss von Warenwerten mit konkreten Nachbarschaften, sozialräumlichen Milieus, alltäglichen Lebensrhythmen und urbanen Nischenkonstruktionen. Mit dem Kartieren informeller Ökonomien wird somit auch der Versuch unternommen, der Gewalt der Derealisierung dieser Alltagswelten entgegenzuwirken und die Beziehungssysteme informeller Märkte als politisch und sozial bedeutsame ökonomische Gebilde anzuerkennen.

Die Bestimmung von Informalität Karten und Tabellen sind so gesehen weniger eine Repräsentation der Wirklichkeit als ein epistemologisches Instrument, das einen Zugang zur Welt vorschlägt und ihn auf diese Weise zugleich in die Welt setzt, ein politischer Apparat, der Aufmerksamkeiten schafft, Blicke lenkt, Einteilungen vornimmt, Grenzen zieht und Unterschiede festlegt. Kartografien sind Mittel in Umverteilungsprozessen und nicht nur deren Abbild, das heißt, sie sind Apparat menschlicher Handlungsmacht und ein Teil deren Weltschaffens.4 Die Definition von Messwerten und die Festlegung von Schwellenbereichen für die Länderzugehörigkeit zu armen und reichen Regionen etwa produzieren so eine bestimmte Vorstellung über die territoriale Verteilung dieser Kategorien und senden zugleich ein Signal für nationale Maßnahmen, um dieses Bild aus der jeweils eigenen Perspektive zu beeinflussen. Als einer der bedeutsamsten Parameter gilt in diesem Zusammenhang der seit Beginn des 21. Jahrhunderts gegenüber 3 Pascal Dey und Chris Steyaert: »The Politics of Narrating Social Entrepreneur-

ship«, Journal of Enterprising Communities: People and Places in the Global Econ­ omy, Bd. 4, Nr. 1 (2010), S. 85–108. 4 Derek Gregory: Geographical Imaginations, Oxford und Cambridge, MA: Blackwell, 1994.

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der Wachstumskurve der Gesamtwirtschaft weitaus steilere Anstieg des Welthandels. Insbesondere der Aufstieg Chinas zur weltführenden Exportnation hat zu einem neuen Bild der globalen Verteilung wirtschaftlicher Potenz geführt. Im Mittelpunkt stehen nun der asiatische Raum und die Golfregion, selbst wenn sich in der Abhängigkeit nationaler Ökonomien vom Warenhandel eine weitaus differenziertere geografische Verteilung von ökonomischer Macht offenbart. Die Deregulierung des Welthandels, der zunehmende Einfluss von Handelsblöcken und die Verlagerung des Schwergewichts der Handelsmacht von traditionellen Industriestaaten zu transnationalen Konzernen haben zusätzlich zu einer komplex strukturierten Geografie von Armut und Reichtum im 21. Jahrhundert geführt.5 Reichtum korreliert in bislang ungekanntem Ausmaß mit der Einbettung von nationalen Ökonomien in transnationale Allianzen und deren jeweiligem Gewicht im globalen Kräfteringen. Diese Trennungen finden ihren Widerhall in weltweit aufkeimenden solidarischen Netzwerken in informellen Ökonomien – etwa in internationalen Vereinigungen von Straßenhändlern und örtlichen Gewerkschaftsbünden von informell Arbeitenden aber auch in der zunehmenden Bedeutung von Geldüberweisungen, die Migranten an ihre zurückge­ bliebenen Familien tätigen.6 In besonders abhängigen Ökonomien wie Tonga, Haiti oder Moldawien machen diese Zahlungen mehr als ein Viertel des gesamten Bruttoinlandsprodukts aus. In von Krieg und Konflikten betroffenen Ländern übersteigen sie Auslandshilfe, ausländische Direktinvestitionen und andere Geldeinfuhren sogar um das Fünffache. Globale Migration stellt daher einen wichtigen Link zwischen Niedriglohnarbeit in wirtschaftsstarken Ländern, Elitenbildung privater Profiteure, staatlicher Einnahmensicherung und dem Auskommen verarmter Bevölkerungen dar. Informelle Märkte bilden wichtige Umschlagplätze dieser Verteilungsketten, nicht zuletzt für die Abwicklung von nichtmonetären Unterstützungssendungen, wie etwa für den Weiterverkauf bestimmte Secondhandkleidung. Wenngleich sich die Räume, die 5 David Harvey: The Enigma of Capital. And the Crises of Capitalism, London: Profile

Books, 2011.

6 Saskia Sassen: Ausgrenzungen. Brutalität und Komplexität in der globalen Wirt-

schaft, übers. Sebastian Vogel, Frankfurt am Main: S. Fischer, 2015 und dies.: »Beyond Inequality: Expulsions«, Konferenzbeitrag, Center on Capitalism and Society 9th Annual Conference (Philosophical Foundations of Economics and the Good Economy), Columbia University, 23.–24. September 2011.

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migrantische Subjekte produzieren, im Zuge der Globalisierung immer mehr voneinander zu unterscheiden beginnen, macht der Umstand, dass weltweit fast jede siebte Person ihr Leben als internationaler oder interner Migrant bestreitet,7 die informellen Netzwerke von Migration zu einer wichtigen Komponente im Wandel politischer Ökonomien. Dabei handelt es sich um schwer zu schätzende Geldsummen, die mit informellem Handel erwirtschaftet werden. Wenn Berichten der ILO zu entnehmen ist, dass im subsaharischen Afrika annähernd 80 Prozent der nicht in der Landwirtschaft erwerbstätigen Bevölkerung informell beschäftigt sind,8 oder die Weltbank in ihren Statistiken anführt, dass die informelle Ökonomie in den meisten lateinamerikanischen Staaten etwa die Hälfte des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts ausmacht, geht aus diesen Zahlen in erster Linie hervor, in welchem Zusammenhang Informalität gesehen wird. Während für die ILO etwa die Art der Beschäftigung von Arbeitskräften und damit verbunden die Formalisierung informeller Arbeitsverhältnisse als Anliegen im Vordergrund stehen, attestiert die Weltbank steigender Steuerlast, Arbeitsmarktregulierung und mangelnder Qualität öffentlicher Güter und Dienste die Verantwortung für den hohen Prozentsatz informeller Ökonomie in Ländern wie Peru, Bolivien und Georgien, die mit einem Anteil der informellen Ökonomie am Bruttoinlandsprodukt von jeweils mehr als berechneten 60 Prozent 9 die Tabelle der Weltbank anführen. Entsprechend dieser ideologischen Unterschiede ergeben sich aus den jeweils gewählten Methoden deutliche Abweichungen in den Schätzwerten. Die Vielfalt der Berechnungsansätze reicht von direkten Methoden wie Befragungen oder Steuerprüfungen über eine breite Palette indirekter Verfahren basierend auf Einkommen-Ausgaben-Diskrepanzen, Arbeitsmarktwerten, Abweichungen im Geldverkehr oder nicht-monetären Parametern wie etwa Stromverbrauch bis hin zu komplexen Modellierungsansätzen, die verschiedene Variablen gemeinsam inkludieren. Egal, welche dieser Methoden aber letztlich zum Einsatz kommt, verdrängt der Streit über die Genauigkeit abstrakter 7 International Organization for Migration (IOM): »World Migration Report 2015«,

Genf: IMO, 2015. International Labour Organization (ILO): Women and Men in the Informal Economy. A Statistical Picture, zweite Auflage, Genf: ILO, 2013, S. 17. Online: http://www. ilo.org/stat/Publications/WCMS_234413/lang--en/index.htm 9 Friedrich Schneider, Andreas Bühn und Claudio E. Montenegro: »Shadow Economies All over the World. New Estimates for 162 Countries from 1999 to 2007«, World Bank Policy Research Working Paper 5356, Juli 2010. 8

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Schätzwerte in der Praxis oft eine theoretische Konzeption der ökonomischen Prozesse, aus denen die untersuchten Variablen herrühren.10 Er verstellt damit auch den Blick auf die Umstände und Motivationen von Menschen, die in informellen Ökonomien in unterschiedlicher Weise involviert sind. Anstatt sich an ungefähren Schätzungen über die zahlenmäßige Größe der informellen Ökonomie zu orientieren und ein meist negativ konnotiertes Gegenüber zur formellen Ökonomie nachzuzeichnen, halten wir es für sinnvoller, die Vielfalt der Verbindungen zwischen formellen und informellen ökonomischen Aktivitäten aufzuzeigen, um damit die vernachlässigten Aspekte von Informalität, etwa Fragen der rechtlichen Situation eingewanderter Arbeitskräfte, unterschiedliche kulturelle Einstellungen gegenüber staatlicher Organisation, die strategische Rolle von Schwellenmärkten in der globalen Ökonomie oder die politische Handhabe von Legalität und Opportunität ins Rampenlicht zu bringen. Dies soll einen theoretischen Rahmen bieten, um die Veränderungen im globalen Zusammenspiel von ökonomischen und anderen Parametern, deren Plattform und Effekt informelle Märkte zugleich sind, besser verstehen zu können. In diesen Veränderungen spielen »von oben« verordnete Prozesse, wie der von wohlhabenden Staaten erzwungene Zugriff auf externe Wachstumsmärkte, die immer mehr von Unternehmensinteressen bestimmte Handhabung von Staatsbürgerrechten11 oder die geografische Abgrenzung und Kontrolle struktureller Armut über die Herstellung eines entsprechend geordneten Raums12 ebenso eine wichtige Rolle wie die Entfaltung neuer sozialer Realitäten »von unten«.13 Deren Potenzial für eine ökologischere Form des Wirtschaftens zu erkunden, wird nicht zuletzt angesichts des mit dem Wachstumsparadigma der freien Marktwirtschaft verbundenen rasanten Anstiegs des weltweiten Ressourcenverbrauchs immer dringlicher. Unter diesem 10 George M. Georgiou: »Measuring the Size of the Informal Economy. A Critical

Review«, Central Bank of Cyprus Working Papers 2007, Mai 2007.

11 Margaret R. Somers: Genealogies of Citizenship. Markets, Statelessness, and the

Right to Have Rights, Cambridge: Cambridge University Press, 2008; Aihwa Ong: Flexible Citizenship. The Cultural Logics of Transnationality, Durham, NC: Duke University Press, 1999. 12 Zygmunt Bauman: Wasted Lives. Modernity and its Outcasts, Cambridge und Malden, MA: Polity Press, 2004. 13 Gustavo Lins Ribeiro: »Economic Globalization from Below«, Etnográfica, Bd. 10, Nr. 2 (2006), S. 233–249.

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Blickwinkel betrifft Informalität nicht länger nur einen kritisierten Zustand, der überwunden werden muss. Ihr komplexes Wissen kann wesentliche Ansätze für ein alternatives Zusammenspiel von Lebensräumen hervorbringen. In der konkreten räumlichen Realität informeller Marktplätze finden sich immer wieder Risse und Öffnungen, um dem ausufernden Autoritätsanspruch des Kapitals zu entgehen und einer anderen Marktlogik zum Durchbruch zu verhelfen. Die Alltagspraxis informeller Märkte gestaltet sich im Kontrast zur idealisierten Marktökonomie entlang eines jeweils momentbezogenen Zusammenspiels von verfügbaren Ressourcen und sozialen Verbänden. Die in diesem Buch ausgebreitete Bestandsaufnahme von Informalität ist so gesehen eine Zusammenstellung von weltweit verstreuten Schauplätzen kontingenter Beschaffenheit, deren gemeinsame Handlungsstrategie darauf beruht, Instabilitäten des Systems in Gelegenheiten umzuformen.

Informalität vorführen Während Sammelwerke üblicherweise auf einer Klassifikation aufbauen, die alle Entitäten eines untersuchten Gegenstandsbereichs widerspruchsfrei und klar geordnet abzubilden vermag, haben wir für unser Buch eine Zusammenstellung gewählt, die der Wandlungsfähigkeit, Unbeständigkeit und Gelegenheitsorientierung informeller Marktplätze besser Rechnung trägt. Anstatt eine umfassende Typologie von Räumen informellen Handels festzulegen, betrachten wir lieber die unterschiedlichen Bezugsrahmen, die dem Entstehen informeller Märkte zu Grunde liegen bzw. darauf angewendet werden. Verschiedenartige Informalitäten lassen sich auf diese Weise als charakteristische Muster von Transaktionen verstehen, mit denen unterschiedliche Räume und Ökonomien zusammengebracht werden.14 Diese Transaktionen stellen einen Prozess des Kompatibel-Machens von Ungleichheiten dar, in dem über informelle Berührungspunkte eine temporäre Kohärenz zur Nutzung dieser Ungleichheiten geschaffen wird. Uns geht es daher vor allem darum, jene weltweiten Zusammenhänge aufzuzeigen, die einen Einfluss auf das spontane Entstehen und die lokale Gestalt informeller Marktplätze ausüben. Aus diesem Grund untersuchen wir hier solche Schauplätze nicht entlang von geografischen Regionen, 14 Ananya Roy: »Urban Informality. Toward an Epistemology of Planning«, Journal

of the American Planning Association, Bd. 71, Nr. 2 (Frühling 2005), S. 148.

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Warenangeboten, Größenmaßstäben oder ähnlichen Kategorien, sondern in Bezug auf unterschiedliche Gelegenheitsstrukturen, die informellen Handel stattfinden lassen. Der Umstand, dass informelles ökonomisches Agieren nicht zu einer stabilen und hierarchischen Taxonomie zusammenzufassen ist, lässt uns an Borges fiktive »chinesische Enzyklopädie« denken, die Foucault zu seiner Schrift über Die Ordnung der Dinge inspiriert hat und in der höchst eigenwillige Rubriken der Tierwelt – Fabeltiere, gezähmte, herrenlose Hunde, die von weitem wie Fliegen aussehen, und so weiter – in rein alphabetischer Nachbarschaft zueinander angeordnet sind. Wie Foucault ausgeführt hat, besteht die Irritation hier nicht in der Nachbarschaft an sich, sondern vielmehr darin, dass es keinen Platz gibt, an dem solche unstimmige Kategorien nebeneinander treten könnten. Was den unterschiedlichen Klassifizierungsansätzen fehlt, ist der gemeinsame Raum des Zusammentreffens.15 Eine solche »Obdachlosigkeit« von Kategorien ist das Vorbild für unsere Zusammenstellung von Schauplätzen informellen Handels. Sie soll den Blick nicht auf eine diesen ökonomischen Aktivitäten vermeintlich zu Grunde liegende Ordnung lenken, sondern auf die Lage der politischen Ökonomie, in der getrennte Kohärenzsysteme für ökonomischen Austausch geschaffen werden – Regionen ohne expliziter Form, in denen immer wieder neue Motive, Gelegenheiten und Settings für informellen Handel hervorgebracht werden. Die von uns gewählte Struktur folgt somit in weiten Teilen den Bruchlinien, die von der weltweiten Allianz von Geld und Macht gezeichnet werden: Kriege, Grenzen, Gewinnzonen, Infrastrukturen, Abfälle, Graubereiche. Die hier betrachteten Marktplätze gliedern sich nach Logiken des Operierens und nach den Perspektiven, die diese Logiken beeinflussen. Jeweils abhängig davon, wer diese Perspektiven gestaltet und wessen Interessen sie dienen, koexistieren verschiedene Rahmungen, durch die bestimmte Interpretationen eines informellen Marktplatzes angeregt werden. Wir haben uns deshalb entschieden, Marktplätze so auszuwählen, dass die Unterschiedlichkeit von Perspektiven möglichst deutlich wird. Jede der im folgenden Kapitel diskutierten Rahmungen stellt so eine eigene informelle Marktwelt dar, ein Kohärenzsystem, das auf der ganzen Welt verteilt Formen von ökonomischer Beteiligung und Anfechtung produziert. 15 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaf-

ten, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1971, S. 19.

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Von »notorischen« Märkten zur Hipsterökonomie Den Beginn macht eine Perspektive, die nicht auf ein informellen Marktplätzen inhärentes Attribut verweist, sondern diesen mit der Bezeichnung als »notorische Märkte« durch das Büro des Handelsbeauftragten der USA aufgezwungen wird. Diese strategische Kriminalisierung bestimmter informeller Märkte mittels Bestandsaufnahmen, politischer Berichte, internationaler Anhörungen und Handelsgespräche reflektiert das Bestreben, aufblühende und schnellwachsende Wirtschaftsregionen in den globalen, vom Westen kontrollierten Handelsmarkt zu integrieren, indem die strikte Einhaltung von Rechten des geistigen Eigentums und die umfassende Zusammenarbeit in der Entwicklung ökonomischer Standards eingefordert werden. Urheberrechtsverletzungen, Medienpiraterie und das Herstellen gefälschter Markenprodukte bilden hier die gemeinsame Kennmarke, unter der in jährlichen Special-301-Berichten Dutzende informelle Marktplätze öffentlich gebrandmarkt werden. Diese Verfahren sind ein wichtiges politisches Instrument, mit dem die USA Druck auf andere Staaten ausüben, sei es in der Aushandlung von bilateralen Wirtschaftsabkommen oder in der Durchsetzung von Handelssanktionen. Auf andere Art und Weise hervorgerufen, jedoch ebenfalls eine Folge gezielter Einflussnahme sind informelle Märkte in Gebieten, deren Handel von der gewaltsamen Austragung zwischenstaatlicher oder interner Konflikte weitgehend eingeschränkt ist. Informelle Ökonomien dienen hier dem Erhalt von Versorgungs- und Dienstleistungsstrukturen. In Nachkriegszeiten wird ihnen häufig nicht nur eine friedenssichernde Rolle zugeschrieben, sondern zugleich auch ein Potenzial, die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen. Gleichzeitig stellt sich hier auch die Frage, welche Interessen in den Aufbau dieser neuen ökonomischen Strukturen einfließen und welche geopolitische Kontrolle dadurch angestrebt wird. Aufgrund der steuernden Rolle von Staats- und Ländergrenzen sind solche Märkte oft in Grenzregionen zu finden. Grenzen werden nicht nur gezogen, um Gebiete und Bevölkerungen voneinander zu trennen, sondern vor allem auch um Zirkulationen zu regeln, sprich den Austausch zwischen unterschiedlich leistungsfähigen Entitäten durch die Mechanismen und Protokolle der Grenze zu ordnen. Lateraler Handel auf Grenzmärkten kommt im Prinzip also nicht trotz vorhandener Grenzen zustande, sondern weil die Grenze diesem Austausch eine Gelegenheit bietet. Ökonomische Differenz und deren Kontrolle ermöglichen eine fein

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justierte Form von Zirkulation. Dies zeigt die Erfahrung mit informellen Märkten, die im Schatten von Staatsgrenzen operieren und lokalen Warenmangel, ökonomische Gefälle oder unterschiedliche Rechtssituationen zwischen benachbarten Gebieten als Gelegenheit wahrnehmen, um vor Ort Handel zu betreiben. Wie sehr diese Schauplätze nicht nur lokale Punkte betreffen, sondern weite Regionen, die von diesem Handel in unterschiedlicher Form profitieren, wird oft erst durch die aufwändigen erfinderischen Auswege deutlich, denen sich Akteure in der informellen Ökonomie bedienen, um die zahlreichen Regelungen und Einschränkungen der Grenzsituation zu umgehen. In vielen Fällen nehmen informelle Märkte etwas ein, das sich als Lücke auftut. Sie entstehen so nicht in einem Raum neben, sondern zwischen dem, was offiziell Beachtung findet. Seien es anderweitig ungenutzte Flächen im Stadtgebiet, Aneignungen von leerstehenden Infrastrukturen oder spezielle Zeitfenster, die eine andere Art von Handel ermöglichen – in der speziellen Improvisationsleistung von informellen Märkten in diesen Zwischenzonen zeigt sich eine ihrer Stärken: Anpassungsfähigkeit in buchstäblich jeder Situation. Damit erfüllen sie sowohl eine wichtige Funktion für ökonomisch benachteiligte Bevölkerungsteile als auch im Kalkül von staatlichen und privaten Akteuren, für die solcherart »bewirtschaftete« Grauzonen oft als Mittel zur Steuerung und Abfederung urbaner Transformation gelegen kommen. Umbrüche von politischen Systemen, wie beispielsweise der Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1990er Jahren, bringen über die reine Änderung des politischen Systems hinaus oftmals einen weitreichenden Wechsel in der Organisation des Lebens, in institutionellen, sozialen wie auch technologischen Bereichen. Die mit den standardisierten Containersystemen der westlichen Welt inkompatiblen und ausgemusterten Sowjet-Container etwa erfüllen nun in dieser Region ihren Zweck als modulare Baustruktur von Containermärkten gewaltigen Ausmaßes. Diese Orte bedienen sich des nutzlos Gewordenen, um neuen Nutzen daraus zu schlagen. Von diesem Prinzip des Recyclings betroffen sind nicht nur infrastrukturelle Einrichtungen, sondern oft auch die Waren, die auf informellen Märkten gehandelt werden. Spezialisierte Recyclingmärkte sind auf der ganzen Welt zu finden und ihr Angebot speist sich aus dem, was andernorts ausgeschieden wird. Der Abfall der Konsumgesellschaft des Nordens, von Altkleidung und Metallen bis zu Elektroschrott und kaputten Fahrzeugteilen, mündet so in einer weiteren Ökonomie, die nicht ausschließlich

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mit Elendsquartieren und miserablen Arbeitsverhältnissen gleichzusetzen ist, sondern in manchen Fällen auch Leitbild für einen nachhaltigeren Umgang mit Ressourcen sein könnte. Ressourcenbewusstsein spielt besonders dann eine große Rolle in der informellen Ökonomie, wenn die zur Verfügung stehenden Mittel äußerst eingeschränkt sind. Straßenhändler verfügen in der Regel über nicht viel mehr als die Waren, die sie mit sich tragen. Ihre kompakte Mobilität ermöglicht es ihnen umgekehrt, jene Geschäftsbereiche zu bedienen, die stationären informellen Märkten meist vorenthalten sind: unterversorgte Wohnviertel, Ränder von gut frequentierten Straßen oder Tourismus-Hotspots. Aber auch alteingesessene Märkte lassen am Rand oft informelle Geschäfte zu. Solche Märkte sind ein wichtiger Schauplatz für den Widerstand gegen die Marktdominanz globaler Marken und internationaler Konzerne. Indem sie etwa auf traditionelles Marktwesen mit lokalen Gütern und Gebräuchen beharren oder lokalem Unternehmungsgeist eine Gelegenheit bieten, widersetzen sich diese Marktplätze den kurzfristigen Perspektiven neoliberaler Wirtschaftspraxis. Ihre Verankerung in selbstorganisierten Strukturen wie Marktkooperativen oder Händlervereinigungen trägt viel zu einem starken Zugehörigkeitsgefühl bei. Neben rein ökonomischem Austausch bringen sie artikulations­ starke Gemeinschaften hervor, die ihre eigenen Infrastrukturen betreiben. Nachdem ihnen lange Zeit von offizieller Seite keine Beachtung geschenkt wurde, sind diese Märkte nun ins Interesse städtischer Investition gerückt. An vielen Orten ist die Politik gegenüber informellen Märkten an einem Scheidepunkt angelangt, wo diese Märkte entweder als Übel dargestellt werden, das abgewendet werden muss, um wertvollen Raum freizumachen und andere Profitchancen zu nutzen, oder auf Grund ihrer informellen Kreativität und Vitalität von Umsiedlungs- und Entwicklungsprogrammen ins Visier genommen werden. Hipstermärkte sind das aktuellste Abbild dieser Situation. Von Brooklyn bis Bangkok spielen diese Märkte mit dem Flair des Informellen im urbanen Raum und leisten mit ihren trendigen, am Lebensstil junger städtischer Eliten orientierten Angeboten einen wichtigen Beitrag in der strategischen Verteilung von Entwicklungschancen. Ihr Zugriff auf die Stadt und deren Möglichkeiten findet nicht wie im klassischen Fall der Gentrifizierung durch den Konsum von Raum statt, sondern durch den Konsum von Konsum. Die Kulturalisierung der informellen Ökonomie setzt die Versprechen fort, die mit der neoliberalen Ideologie von

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Privatisierung, Deregulierung und Do-It-Yourself-Kultur geschaffen wurden. Solche Praktiken der Informalisierung urbaner Strukturen sind heute immer weniger nur auf den ökonomischen Bereich beschränkt, sondern durchgängiges Prinzip, das die Entwicklung sozialer und kultureller Imaginationen lenkt. Eingehüllt in die Rhetoriken des freien Marktes hat das Informelle einen neuen Platz im Bewusstsein der reichen Industrie­länder gefunden: als städtische Wohlfühlzone, als Ablenkung von verdeckten ökonomischen Ausgrenzungen und als Instrument zur Erschließung neuer Märkte. Das Kartieren dieser vielschichtigen informellen Arrangements bringt eine weltweite Verteilung von Handelssituationen zum Vorschein, deren Form durch das Attribut »informell« oft in Frage gestellt wird. Im Nachspüren der Umstände dieser Marktplätze – technologische Veränderungen, politische Systemwechsel, Ungleichverteilung von Wohlstand, Kriegsgeschehen und viele andere Faktoren, die informellen Handel anfachen – fällt auf, wie elastisch etwa Begriffe von Legitimität, Chancengleichheit und Marktgerechtigkeit auf diese Konstellationen angewendet werden. Die Art von Welt, die sich aus dieser Situation ergibt, ist vom Gedanken getragen, dass informelle Märkte eine global vorhandene, aber stets an konkreten Gelegenheiten orientierte ökonomische Praxis darstellen, deren lokale Unterschiedlichkeit weder aus einer uniformen Gesamtperspektive noch aus einer rein örtlichen Perspektive heraus zu verstehen ist. Sie ist vielmehr Ausdruck einer globalen ökonomischen Situation, in der Kräfte unterschiedlicher Dimension und Reichweite aufeinander treffen und neue Marktkonventionen schaffen.

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Marktperspektiven »Notorische« Märkte Was macht informelle Marktplätze zu »notorischen Märkten«? Immer mehr scheint die Antwort auf diese Frage darauf zu beruhen, dass solche Märkte Teil eines allseits bekannten Berichts sind, der vom Büro des Handelsbeauftragten der USA (USTR) auf Basis von Paragraf 301 des US-Handelsgesetzes von 1974 jährlich erstellt wird. Diese Special-301Berichte listen physische Marktplätze auf der ganzen Welt, die als »notorisch« gelten, weil sie Rechte zum Schutz des geistigen Eigentums von US-amerikanischen Firmen oder Staatsbürgern zu verletzen scheinen. Egal ob es sich um raubkopierte DVDs handelt, die im Viertel Tepito in Mexiko-Stadt massenweise hergestellt und zu Schleuderpreisen angeboten werden, um nachgemachte Designerkleidung, die rasch und günstig in Dubais Karama-Center verkauft wird, oder um gefälschte Elektronikwaren, die in Bangkoks Straßenmärkten den Besitzer wechseln – es lassen sich unzählige Artikel nennen, die solche Marktplätze in ein schlechtes Licht rücken. Doch obwohl Handelsbeziehungen zweifelsfrei ethischen Ansprüchen unterliegen, hat der Begriff der Notorietät in diesem Zusammenhang eine speziellere Bedeutung und Zielsetzung. Er ist weniger als ethische Kategorie zu sehen, die auf Orte mit zweifelhaftem Ruf angewendet wird, denn als epistemologische und rechtliche Kategorie, mit der juristische Gewissheiten erfasst werden, die keine expliziteren Beweise brauchen. Notorium est, quod omnes sciunt – notorisch ist eine Tatsache, die allen bekannt ist. Dieses aus der römischen Antike stammende Rechts­ prinzip wurde im 12. Jahrhundert vom Kirchenrechtler Gratian in die mittelalterliche Rechtsprechung eingeführt und scheint nun eine Renaissance zu erfahren – als politische Taktik der USA, wenn es um die Beurteilung der Handelspolitik anderer Regierungen geht. Der Begriff der Notorietät erlaubt es, die üblichen Standards der Beweisführung zu umgehen, da schon das Benennen von umstrittenen Marktplätzen als »notorisch« die Beibringung weiterer Beweisstücke erübrigt. Im Fall des Special-301-Berichts dient dieses Prinzip vor allem der Vermeidung multilateraler Streitschlichtungsverfahren. Es wird dann eingesetzt,

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wenn ausländische Marktplätze dem Anschein nach geistiges Eigentum verletzen und den Handel der USA dadurch belasten bzw. einschränken. Anstelle aufwändiger Verfahren nehmen die mit Informationen der Industrie erstellten Jahresberichte in Anspruch, selbst darüber zu entscheiden, ob es zu Rechtsverletzungen gekommen ist und ob Sanktionen gegenüber Staaten verhängt werden sollen, die sich nicht nach der US-amerikanischen Politik zu geistigem Eigentum richten. Die Special-301-Verfahren begannen in den 1980er Jahren angesichts wachsender Handelsdefizite und des Scheiterns von Freihandelsabkommen nach US-amerikanischer Rechtsprechung. Seit 1989 finden sich mehr als 80 Staaten auf der sogenannten »Watch List« bzw. »Priority Watch List« des Handelsbeauftragten der USA. Als eine Art Frühwarnsystem sollen diese Listen einzelne Staaten dazu ermahnen sich an den internationalen Handelsethos zu halten. Ungeachtet der rechtlichen Rahmenwerke, die aus umfassenden multilateralen Übereinkünften der Welthandelsorganisation (WTO) in den vergangenen zwei Jahrzehnten hervorgegangen sind (insbesondere das als TRIPS-Übereinkommen bekannte Vertragswerk über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums und dessen nachträgliche Änderungen), wird der Special-301-Bericht nach wie vor als wirksames Druckmittel eingesetzt, um Entwicklungsländer zu zwingen, sich nach der Außenwirtschaftspolitik der USA zu richten. Dieser beharrliche Einfluss des Special-301-Programms ist zu einem gewissen Teil auf die Einführung »außerplanmäßiger Berichte« zu berüchtigten Märkten im Jahr 2010 zurückzuführen. Diese Sonderberichte beinhalten keine Länderdaten, sondern eine kurze Liste von Marktplätzen auf der ganzen Welt, mit der die Sorgen der USA über Produktfälschung und Copyright-Piraterie exemplarisch dargestellt werden sollen. Notorietät ist in diesen Fällen nicht das Ergebnis richterlichen Ermessens im Rahmen einer Tatsachenerhebung. Sie ist die Behauptung eines unumstrittenen wirtschaftlichen Schadens, der aus der Existenz »solcher Orte« hervorgeht. Informelle Märkte mit Schimpf und Schande zu belegen, muss als Teil eines weltweiten Ringens um neu entstehende Märkte und führende Wachstumswirtschaften gesehen werden, speziell in Bereichen wissens­ intensiver Produktion, die sich in den Großstädten konzentriert und einen 70-Prozent-Anteil des Welthandels darstellt. Im raschen Wandel des Wirtschaftswachstums von Entwicklungsländern hin zu den Metropolengebieten des globalen Südens sind informelle Märkte ein wichtiger

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Wettbewerbsfaktor im Kampf um die Kontrolle von Gebieten, Netzwerken und Allianzen geworden, auch wenn dies aus dem unscheinbaren, zweckmäßigen Charakter der ins Visier genommenen Orte – etwa die Einkaufszentren in Shanghais Qipu Lu, die Tausenden Verkaufsflächen in Yiwus International Trade City oder die zahlreichen asiatischen Shops in der Metropolregion rund um Toronto – oft nicht unmittelbar hervorgehen mag. Doch mit dem steilen Anstieg von Hochschulbildung und Hochtechnologiebranchen in China – 2012 rückte China mit 28 Prozent des Weltanteils an Patentanmeldungen in dieser Kategorie international an die Spitze – ist in Asien der Antrieb entstanden, eigene attraktive High-End-Marken und innovative einheimische Produkte zu entwickeln. Eine Konsolidierung verbesserter Lebensstandards in den Entwicklungs- und Schwellenländern könnte zu weitreichenden Veränderung von Handelsbeziehungen führen und die territoriale Umschichtung von Produktion, Konsum und Profit weiter beschleunigen. Dies könnte auch einen einschneidenden Wandel in der Einstellung der Öffentlichkeit zu kulturellen Ausdrucksformen zur Folge haben und weltweit vermarktete Waren weniger begehrenswert erscheinen lassen. Doch bis es soweit ist, hat noch die vom Handelsbeauftragten der USA erstellte Geografie »notorischer Märkte« – mit Südostasien und Lateinamerika im Brennpunkt der Aufmerksamkeit und Afrika als blindem Fleck – das Sagen. Diese sehr spezielle Weltkarte macht deutlich, mit welchen Ambitionen und Ängsten die heutigen Industrieländer auf räumlich weit entfernte Anlagemöglichkeiten und die Gefahr wirtschaftlicher Misere zugehen.

Post-Konflikt-Märkte Informelle Märkte entstehen oft in Situationen der Not. Dies kann mit lokaler Verarmung, Umweltkatastrophen oder politischen Unruhen zu tun haben, doch die häufigste Ursache dafür, dass sich informelle Märkte über ganze Länder ausbreiten, stellen Kriege dar. In Situationen bewaffneter Konflikte und in Nachkriegszeiten spielt informeller Handel zumindest kurzfristig eine wichtige Rolle für die Absicherung der Grundbedürfnisse von großen Teilen der betroffenen Bevölkerung. Abgesehen von der unmittelbaren Aufgabe der Existenzsicherung auf beiden Seiten des Konflikts werden informelle Märkte oft auch zum Bindeglied zwischen den beteiligten Konfliktparteien. Indem sie Angehörige verschiedener Gemeinschaften trotz wechselseitiger Abneigung

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und Verfeindung zusammenbringen, schaffen sie eine gemeinsame Basis für den Austausch in vom Krieg zerrissenen Regionen und spielen eine entscheidende Rolle in der Friedenskonsolidierung. Eine der Grundlagen gesellschaftlicher Interaktion, die in gesetzlosen Zeiten fehlt, ist ein gemeinsamer Sinn für die Rechtmäßigkeit wirtschaftlicher Aktivitäten, insbesondere dann, wenn die Wirtschaftsbeziehungen von einer der kriegsführenden Parteien dominiert werden. In einer Situation, in der es keine Beteiligten gibt, deren Rechtmäßigkeit von allen Seiten anerkannt wird, sind gerade die Unregelmäßigkeit und der »unerlaubte« Charakter von informellen Märkten dafür verantwortlich, dass neue Muster von Geschäftsvorgängen entstehen. Die Notwendigkeit, zusammenzuarbeiten und langfristige, auf Vertrauen und Vorhersehbarkeit beruhende Beziehungen aufzubauen, kann günstige Auswirkungen auf andere Bereiche des täglichen Lebens in einer Region haben. Dieses katalytische Potenzial informeller Märkte ruft zwangsläufig unterschiedliche Interessen und Anliegen hervor. Es ist mannigfaltigen und oft auch einander zuwiderlaufenden Kräften unterworfen. Während manche Personen Prinzipien der wirtschaftlichen Selbs­torganisation als Impulsgeber für Bottom-up-Ansätze im Schaffen neuer Gesellschaftsverträge begreifen, neigen andere dazu, in Post-Konflikt-Situationen eine Gelegenheit für geschäftliche Interessen zu sehen, die mit alten Machteliten, Korruption und Erpressung verbunden sind, oder schlimmer noch ehemalige Kriegsherren und Konfliktparteien in ihrem ungebrochenen Drang nach politischer Vormachtstellung gegenüber anderen Gruppen unterstützen. Darüber hinaus kann die auf Konfliktzonen gerichtet internationale Aufmerksamkeit unterschiedliche Formen annehmen, von humanitären Hilfeleistungen und Notmaßnahmen bis zum eigennützigen Engagement im Friedensprozess einer Region, das die Kontrolle der Struktur neuer Märke ermöglichen soll. Ungeachtet des Potenzials informellen Handels als Aktivposten in der Wiederaufbauphase nach überstandenen Konflikten unterscheidet sich die Rolle informeller Marktplätze als Mittel zur Wirtschafts- und Wachstumsentwicklung ganz wesentlich von ihrer Rolle als friedenskonsolidierende Kraft: Handel, der auf ungerechten sozioökonomischen Beziehungen oder auf Erpressungs- und Bestechungsgeldern ehemaliger Kriegsherren aufbaut, mag vielleicht eine Art von regionaler Wirtschaft ankurbeln helfen, stellt aber keine nachhaltige Vertrauensbasis her, mit der sich ein von Sicherheit und Unterstützung getragenes

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gesellschaftliches Klima erzielen lässt. Ganz ähnlich können auf hoher Ebene angesiedelte politische Prozesse langfristig wenig fruchten, wenn bei der Umsetzung von Geschäftsinteressen eine Vielfalt lokaler zivilgesellschaftlicher Akteure ausgeklammert wird. Die komplexen Verbindungen zwischen Geschäft und bewaffnetem Konflikt zu ignorieren, ver-­ stärkt oft nur die strukturellen Ungleichheiten, die im Zentrum von Gewalt und kriegerischen Auseinandersetzungen stehen. Zwar machen die Dynamiken von Post-Konflikt-Märkten – ihr spontanes Auftreten, ihr Wachstum und manchmal auch ihre Formalisierung – den Zusammenhang von Wirtschaft und Konflikt auf lokaler Ebene deutlich, aber die Darstellung dieses Zusammenhangs auf einer Weltkarte gestaltet sich problematischer, als dies der erste Anschein vermuten lässt. Weit verbreitete Instrumente, wie die jährlich vom Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung erstellten »Konfliktbarometer«, tendieren dazu, Konflikte auf jene Regionen zu beschränken, wo es zu offener Gewalt kommt.1 Nicht sichtbar gemacht wird hier jedoch, welche Weltregionen zu Ausbruch, Verlauf und Entschärfung dieser Konflikte beitragen. Staatliche Eingriffe, internationale Entwicklungs- und Friedensorganisationen sowie andere externe Akteure können in kriegsgeplagten Ländern bleibende Spuren hinterlassen, nicht nur in Form von Institutionen und Beziehungen, die mit ihrer Hilfe aufgebaut werden, sondern auch in Hinblick auf die Ökonomien, die ihre Anwesenheit erzeugt. Tausende Container, die an afghanische Händler versteigert oder von Taliban- und Milizkämpfern geplündert wurden, waren beispielsweise Teil einer Architektur der Kriegsführung, die von Firmen aus der ganzen Welt beliefert wurde. Friedenskonsolidierende Maßnahmen können in solche parasitären Schattenwirtschaften meist nicht eingreifen, weil es keine entsprechenden Eintrittspunkte in deren Aktivitäten gibt. In Fällen, wo lokale Behörden und internationale Organisationen die positiven Auswirkungen informeller Märkte, die von ehemaligen Konfliktgegnern betrieben werden, einstimmig anerkennen, kommt es anstelle der ansonsten häufig angewendeten Kriminalisierung zu einer Formalisierung der Aktivitäten, um die Handelsflüsse zu stabilisieren und letzten Endes auch zu kontrollieren. Diese Formalisierung trägt jedoch selten etwas zur Verbesserung der Beziehungen zwischen den verfeindeten Gruppen bei. In vielen Fällen 1

Siehe online: www.hiik.de/de/konfliktbarometer

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klaffen die neuen Markteinrichtungen und die Bedürfnisse der Personen, die am Aufbau der ursprünglichen informellen Handelsumgebung beteiligt waren, weit auseinander. Nach dem Bürgerkrieg in Angola hat zum Beispiel die Umsiedlung des Roque-Santeiro-Markts, der das Herzstück der informellen Ökonomie des Landes dargestellt hat, in renovierte Räumlichkeiten außerhalb der Stadt dazu geführt, dass zahlreiche Gelegenheitsarbeiter, örtliche Hausbesitzer und Straßenhändler um ihr Einkommen gebracht wurden. In ähnlicher Weise haben es die nach dem Umbau des basarartigen Arizona-Markts im Sonderverwaltungsgebiet Distrikt Brčko in ein modernes Shoppingcenter steigenden Kosten für viele lokale Händler schwierig gemacht, ihr Geschäft fortzusetzen. Diese Entwicklungen offenbaren, wie informelle Märkte in Post-Konflikt-Gebieten durch Eingriffe, die keine Verbindung zu den bestehenden Netzwerken und Organisationen innerhalb und außerhalb des Markts herstellen, zu Schauplätzen wiederkehrender sozialer und politischer Konflikte werden können.

Grenzmärkte Grenzen sind ein Schlüsselinstrument politischer Ordnung und wirtschaftlichen Manövrierens. In neoliberaler Rhetorik wird die Schaffung grenzenloser offener Märkte und uneingeschränkte Bewegungsfreiheit als die begehrenswerteste und vorteilhafteste Bedingung für das Gedeihen der Wirtschaft und das Wohl der Menschen präsentiert. Dabei stellt das geschickte Zusammenspiel zwischen sozialräumlichen Aufteilungen und zonenübergreifendem Austausch eines der geläufigsten Muster für profitable Märkte dar. Die Abgrenzung verschiedener Einheiten mittels erzwungener Ein- oder Ausschlüsse – ein kalkuliertes Voneinander-getrennt-Halten – wird oft als das vorrangige Ziel von Grenzziehungen angesehen. Im Herstellen dieser Abgrenzungen zwischen Reich und Arm, zwischen Besitzenden und Besitzlosen, bringen diese ungleichen politischen Handhabungen auch ein Ungleichgewicht an Bewertungen hervor, das Handel anregt. Anstatt bloß physische Trennungen und Ausgrenzungen umzusetzen, fördert das System von Grenzen so eine ganze Reihe von Mechanismen und Interaktionsabläufen zwischen voneinander abweichenden Wertgefügen. Als eine Form der Intervention trägt die Grenze somit dazu bei, die im Zentrum der kapitalistischen Wirtschaft stehende Zirkulation von Waren und Dienstleistungen voranzutreiben. Die Grenze

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kann ökonomischen Austausch regulieren und kontrollieren, ihn ermöglichen oder verhindern. Marktstrategien, die diskriminierende Grenzpolitiken mit speziellen ökonomischen Verlagerungen kombinieren, entfalten besonders entlang der Ränder großer Wirtschaftsblöcke enorme Wirkkraft. Die Grenzlinie zwischen den USA und Mexiko zum Beispiel wurde in den letzten Jahren zu einer der am stärksten bewachten und abgeriegelten Grenzen der Welt umgestaltet. In einem gewaltigen Unternehmen, das den vollständigen Umbau der physischen Landschaft umfasste, wurde die Landesgrenze in einen von mehrreihigen Absperreinrichtungen gesäumten Hochsicherheits-Highway umgewandelt, auf dem die motorisierte Grenzpolizei nun auf und ab patrouilliert, um jeglichen unautorisierten Versuch, in die USA zu gelangen, abzuwehren. Zur gleichen Zeit hat sich der Grenzübergang von San Isidro zwischen San Diego und Tijuana mit täglich bis zu 80.000 Grenzübertritten 2 – meist von Tagespendlern aus Mexiko – zu einem der meistfrequentierten der Welt entwickelt. Diese Grenze-als-Methode3 stützt die kontrollierte Verteilung eines geringer bewerteten Reservoirs an Arbeitskräften, das jederzeit verfügbar ist, ohne dass dafür gesorgt werden muss. Der Vollzug des ökonomischen Grundsatzes der Externalisierung durch Grenzstrukturen bringt einen ganz bestimmten räumlich-wirtschaftlichen Rhythmus globaler Kontrollen hervor. Im Gegensatz zur materiellen Präsenz der linearen Befestigung der territorialen Grenzlinie verwandelt sich die Grenze hier in einen elastischen Raum. Biopolitisch vereinnahmt und gleichzeitig ausgeschlossen tragen die Körper der Abertausenden Pendelarbeiter die Grenze tief ins Landesinnere. Anstatt »immaterielle« Grenzlinien, so wie sie auf einer Karte gezogen werden, zu begründen, produzieren die heutigen Grenzregime eine Fülle an räumlichen Nischen und Zwischenmomenten. Grenzmärkte greifen auf diese allgegenwärtigen »Grauräume«4 zu. Sie finden sich im europäischen Schengen-Raum als Überbleibsel an ehemaligen 2 »Border Crossing/Entry Data«, United States Department of Transportation, Office

of the Assistant Secretary for Research and Technology, Bureau of Transportations Statistics. Online: http://transborder.bts.gov/programs/international/transborder/ TBDR_BC/TBDR_BC_Index.html 3 Sandro Mezzadra und Brett Neilson: Border as Method, or, the Multiplication of Labor, Durham, NC: Duke University Pres, 2013. 4 Oren Yiftachel: »Critical Theory and ›Gray Space‹. Mobilization of the Colonized«, City, Bd. 13, Nr. 2–3 (2009), S. 241–256.

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Grenzübergängen, entlang der alten und neuen Grenzräume des ehemaligen Ostblocks und quer durch die postkolonialen Geografien von Amerika, Afrika und Asien. Von der Nähe ungleicher Realitäten angelockt, bilden sich diese Märkte als flüchtige Schnittpunkte heterogener Umstände und widersprüchlicher Interessen. Gemeinsam ist ihnen, dass die sich lokal offenbarende Staffelung von Werten, Gelegenheiten und Rechten oft durch eine Intervention internationaler Politik hervorgerufen wurde. Unter dem Einfluss dieser geopolitischen Zugriffe schaffen sich die Benachteiligten dieser Welt Nischen für sich selbst. Es sind die Händler, Käufer und Helfer, die durch das Aufspannen von vielschichtigen grenzüberschreitenden Beziehungen das vorgegebene Wertgefälle real werden lassen. An dieser leibhaftigen Vollziehung von Handelsgeschäften wird das alles bestimmende »ökonomische Grundprinzip« greifbar: sei es im Fall der sacoleiros im Drei-Grenzen-Gebiet von Ciudad del Este, Paraguay, den Kinderarbeitern, die als Träger unentwegt zwischen Aranyaprathet und Poipet an der thailändisch-kambodschanischen Grenze hin und her laufen, oder den Fahrern von verbeulten mexikanischen Pick-ups, die den Süden Kaliforniens auf der Suche nach Secondhandwaren abgrasen, um sie auf einem der Hunderten Märkte von Tijuana weiterzuverkaufen. Im Fall der geteilten karibischen Insel Hispaniola haben die Nachwirkungen von 200 Jahren unterdrückerischer Politik gegenüber der Sklavenrevolution und dem Nachfolgestaat Haiti zu einem kolossalen Unterschied in den wirtschaftlichen Möglichkeiten des Landes gegenüber der benachbarten Dominikanischen Republik geführt. Die Politik der Dominikanischen Republik, Einreisebeschränkungen an festgelegten Markttagen temporär und räumlich begrenzt auszusetzen, hat eine Kette an umsatzstarken Grenzmärkten hervorgebracht. Diese Märkte werden von Abertausenden haitianischen Marktfrauen bedient, deren einzeln organisierter Verschub von Waren 15 Prozent aller Importe aus der Dominikanischen Republik ausmacht.5 Hier, wie auch anderswo, begründet sich die Macht von Grenzpolitik im Ausüben von Definitionshoheit: die Autorität zu haben, über Rechte und Ausnahmen zu verfügen, Bewegungen zu beschränken und zu steuern und somit Ressourcen und Gelegenheiten zuzuteilen. Grenzmärkte sind damit auf 5 Für eine detaillierte Beschreibung eines haitianisch-dominikanischen Grenzmarkts

siehe die Fallstudie von Melisa Vargas über den Markt in Dajabón auf der Website des Forschungsprojekts »Other Markets«. Online: http://www.othermarkets.org/ index.php?tdid=25

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besondere Weise den willkürlichen Ergebnissen von widerstreitenden Autoritätsansprüchen ausgesetzt. Diese prekäre Lage von Grenzmärkten veranschaulicht, wie Grenzpolitiken vor allem über einen konstant aufrechterhaltenen Zustand der Unsicherheit wirksam werden, in dem eine elastische Grenzziehung entlang räumlicher und zeitlicher Ausschlüsse erfolgt.

Zwischenmärkte Informelle Märkte sind Meister der Anpassung. Sofern Informalität überhaupt definiert werden kann, ist eine der charakteristischen und l igen Eigenschaften informeller Märkte ihre Fähigkeit, dem auffäl­ regulierenden Zugriff der Behörden zu entkommen. Dies ist zu einem wesentlichen Teil auf das kreative Geschick zurückzuführen, mit dem informelle Märkte Situationen außerhalb des regulären Laufs der Dinge aufgreifen. Als Ort des direkten Austauschs sind Märkte auf das Vorhandensein eines physischen Treffpunkts, an dem Käufer und Händler zusammenkommen können, angewiesen. Angesichts der Knappheit an ökonomischen Mitteln, die informellen Ökonomien zu Grunde liegt, sind informelle Märkte daher davon abhängig, dass sie sich »verfüg-­ bare« Räume zu eigen machen können. In wirtschaftlichen Umgebungen, die auf Privateigentum und Landbesitz aufbauen, sind Räume mit erschwinglichen Mieten häufig Mangelware. Informelle Märkte sehen sich deshalb gezwungen, Lücken im städtischen Gefüge auszumachen und eine Vielfalt an Ausprägungen anzunehmen. Manche Märkte besetzen räumliche Ränder oder das Dazwischen unterschiedlicher Raumnutzungen bzw. Hoheitsgebiete; andere machen von bestehenden Versammlungsorten Gebrauch, indem sie sich dort zu jenen Zeiten einnisten, an denen diese nicht der zweckgewidmeten Nutzung oder offiziellen Kontrolle unterliegen. Die Dämmerungsmärkte in Hongkong etwa finden ihre Zuflucht in der zeitlichen Randzone der frühen Morgenstunden, wenn die städtischen Straßenhandelskontrolleure außer Dienst und öffentliche Räume die Domäne der Alten und Armen sind. Die großen Zwischenhandelsmärkte, die quer durch Lateinamerika zu finden sind, wiederum werden zu Nachtzeiten betrieben, um nicht mit den Interessen der bei Tageslicht operierenden Geschäfte zu kollidieren und so eine allfällige unerwünschte Aufmerksamkeit zu unterbinden.

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In diesem Sinn sind die Zwischenräume, auf die informelle Märkte angewiesen sind, nicht einfach als solche gegeben. Vielmehr handelt es sich meist um Leerstellen im Zeitkontinuum der offiziellen Macht, die ansonsten offen bleiben würden und erst durch ihre Aneignung konkrete Gestalt annehmen. Die Lücken, in denen sich informelle Märkte bilden und konzentrieren, sind daher vor allem räumliche Effekte von zwischendurch vorhandenen Gelegenheiten. Im Zuge politischer Umbrüche und angesichts der Schwächung öffentlicher Institutionen sind diese zeitlichen Brüche in der behördlichen Kontrolle von Raum nicht bloß wie in den oben beschriebenen Fällen auf ein paar Stunden pro Tag beschränkt, sondern können sich auf viele Monate und Jahre erstrecken. In solchen Momenten des Wandels können die opportunistischen Qualitäten von informellen Märkten zu einer lebenswichtigen Ressource werden – sowohl als Quelle der täglichen Grundversorgung als auch als sozialer Zufluchtsort zur Sicherung von Zusammenhalt und Zugehörigkeit. Anstatt sich die Vorzüge städtischer Umgebungen auf rein parasitäre Art und Weise zu Nutze zu machen, bringen informelle Märkte große Teile der Bevölkerung und bedeutende Mengen an kreativer Energie in einem Prozess wechselseitiger Neuordnung zusammen. Indem sie sich oft zu umfangreichen materiellen Ansammlungen entwickeln, bauen sie nicht nur die räumlichen Bestandteile des städtischen Gefüges sprichwörtlich um, sondern verformen auch deren allgemeine Bedeutung. Warschaus Jarmark Europa, einer der größten Übergangsmärkte, die nach 1989 in Osteuropa entstanden sind, besetzte 21 Jahre lang die Krone des symbolträchtigen Stadiums des 10. Jahrestags, das nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Schutt der zerstörten Stadt errichtet worden war. Als dieser Markt schließlich geschlossen wurde, beseitigte man im Einklang mit Polens Übergang in die freie Marktwirtschaft die spärlichen Reste dieses Symbols einstiger Errungenschaften. Über solche wirtschaftlichen Koppelungen hinaus sind informelle Märkte oft auch von außerwirtschaftlichen Interessen angetrieben und treten in Verbindung mit so unterschiedlichen Massenversammlungen wie kulturellen Festivals, politischen Protesten und religiösen Pilgerfahrten auf. Wenngleich informelle Märkte in den meisten Fällen nur kurzzeitig in Erscheinung treten und Zyklen der Vertreibung und Umsiedlung nicht entkommen, sind sie kein vorübergehendes Phänomen. Städte sind Orte der Interaktion und des Austauschs. Ein ständiges Verhandeln und Neuordnen ist ihnen implizit. Informelle Märkte bilden die Füllmasse für die

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Risse in der wirtschaftlich vorangetriebenen städtischen Transformation. Während auf der einen Seite Raum eines der grundlegendsten Elemente im Erschaffen von Städten ist, bilden auf der anderen Seite Menschen die entscheidende Ressource, um Städte in Gang zu halten und sind zugleich deren dynamischstes Kapital. Die fluktuierenden Zusammenballungen von Menschen, die unsere heutigen Wachstumsmetropolen kennzeichnen, bringen vielgestaltige zwischenräumliche Marktformationen hervor. Geschäftige Verkehrsknotenpunkte, die Schutz für alle möglichen Arten von Aktivitäten bieten, gehören zu den besonders bevorzugten Orten des flüchtigen informellen Handels. Im Zuge der kürzlich erfolgten Errichtung des Umsteigeknotens Topkapı in Istanbul etwa überlagerte das Ungeplante das Geplante, als sich wandernde Menschenmassen an arbeitsfreien Tagen auf dem ausgedehnten Gelände der Baustellen zum Handeln trafen. Dank ihrer Fähigkeit zur unmittelbaren Inbesitznahme sind informelle Märkte besonders schnell in der Entwicklung von Hilfsstrukturen, die – oft zwischen Genialität und Illegalität hin und her pendelnd – es ihnen erlauben, sich an die zentralen mobilitätssichernden Infrastrukturen unserer heutigen globalen Wirtschaften anzubinden. In der chinesischen Schlafstadt Songgang hat sich ein Markt für Wanderarbeiter unterhalb einer erhöht geführten Autobahntrasse, die für den beschleunigten Umschlag von Waren aus dem Perlflussdelta im Süden Chinas errichtet wurde, eingenistet. Auf dem Eisenbahnmarkt im thailändischen Songkhram haben Händler mobile Verkaufstische entwickelt, die millimetergenau auf die zwischendurch vorbeifahrenden Züge angepasst sind. Indem sie Knoten von provisorischen Netzwerken bilden, werden Zwischenmärkte selbst zu Infrastrukturen, die den untersten Schichten der Globalisierung essenzielle Unterstützung bieten.6 Ihre räumliche Ausbreitung kennzeichnet die mannigfaltigen Verbindungen zwischen Informalität, zunehmender Migration und den Auswüchsen des wirtschaftlichen Umbaus von Städten.

Containermärkte Technologische und infrastrukturelle Veränderungen im internationalen Warenhandel gehen oft mit neuen Entwicklungen in der Lenkung 6 Für eine detaillierte Beschreibung der hier erwähnten Zwischenmärkte in Istanbul,

Songgang und Songkhram siehe die jeweiligen Fallstudien auf der Website des Forschungsprojekts »Other Markets«. Online: http://www.othermarkets.org/

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politischer, operativer und wirtschaftlicher Bereiche einher. Besonders deutlich wird diese Verbindung im Fall des starken Wachstums der Weltwirtschaft in den 1950er Jahren, das sich in der Einführung einer neuen kosten- und zeitsparenden Art des Transports von Rohmaterial und (Halb-)Fertigwaren widerspiegelte: Containerisierung. Normierte Großraumbehälter begannen damals die üblichen, klein dimensionierten Container, die Teil von individuellen Unternehmenstechnologien waren und in Größe und Handhabung stark voneinander abwichen, zu ersetzen. Fehlende Standardisierung und Elementierung bedeuteten für die frühen, regional unterschiedlichen Containersysteme, dass eine große Zahl an Arbeitskräften benötigt wurde, um der wachsenden Nachfrage im internationalen Handel gerecht zu werden. Dem amerikanischen Spediteur Malcolm McLean wird zugeschrieben, dass er auf der Suche nach einem Baukastensystem, mit dessen Hilfe Großraumbehälter mechanisch befördert und gestapelt werden können, einen Prozess losgetreten hat, der letzten Endes zur weltweiten Standardisierung von Frachtcon­ tainern und zur Entwicklung spezieller Eckstücke (Twistlocks und Eckbeschläge) für den kombinierten Güterverkehr Straße-Schiene-Schiff geführt hat. Die USA waren treibende Kraft im Technischen Komitee der Internationalen Organisation für Normung (ISO TC104), das 1962 den Vorschlag angenommen hat, einheitliche Containerdimensionen in Übereinstimmung mit den Straßenverkehrsvorschriften der USA festzulegen. ISO-Container der Baureihe 1 – eine 8x8x10/20/40 Fuß große, sattelzug­ artige Kastenkonstruktion – wurden zur Norm für den weltweiten Containerverkehr. Diese nahtlose Integration des Güterverkehrs hat nicht nur Transportkonzepte revolutioniert, sondern auch Skaleneffekten im interkontinentalen Handel den Vorrang gegeben. Seit den 1960er Jahren vermehrte sich der Einsatz von Containern rasch, während gleichzeitig das Transportvolumen anderer Systeme zurückging. Als politische Geste gegenüber der Sowjetunion, wo kleinere Container in Gebrauch waren, begannen in den späten 1960er Jahren Arbeiten an einem neuen Containertyp (»Baureihe 3«). Indessen machte sich aber auch die Angst breit, dass Entwicklungsländer ihre eigenen Handhabungsverfahren und Einrichtungen für diese Art von Container etablieren könnten, was zu Wachstumsverlusten in den Industrieländern führen würde. Im Wettbewerb um die Vorherrschaft im Welthandel wurde deshalb von führenden Reedereien vom Einsatz der Baureihe 3 und anderer Container kleinerer

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Baugröße abgeraten. Derartige Modelle wurden als rein kontinentaler Typus abgetan. Im Normieren von Containersystemen lässt sich somit eine klare geografische Ausrichtung feststellen, die den ISO-Container als politisch eingefahrenes Projekt mit weitreichenden Folgen für den internationalen Handel erkennen lässt. Noch deutlicher wurde die Kluft zwischen den Vorteilen der Standardisierung für unterschiedliche Weltregionen in den 1990er Jahren, als es nach der Auflösung der Sowjetunion zur Eingliederung des Handels in ein weltweites Containertransportsystem mit speziell normierten Schiffen, Greifvorrichtungen, Bahnsteiganlagen und Lastkraftwagenfahrgestellen kam. Modulare Prinzipien spielten zwar auch in der sowjetischen Politik der Massenproduktion eine wichtige Rolle, jedoch waren die normierten Dimensionen nicht mit den Standards westlicher Staaten kompatibel. Zahllose im Umlauf befindliche Schiffscontainer waren so mit einem Schlag funktionslos geworden und wurden deshalb in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und den ehemaligen Warschauer Vertragsstaaten als kostengünstige Infrastruktur für Lagerhaltung, Logistikunternehmen, öffentliche Anlagen, Geschäfte und Marktstände wiederverwertet, sei es als temporäre Einrichtung oder als Ad-hoc-Lösung, um eine minimale öffentliche Grundversorgung in neuen Wohngebieten sicherzustellen. Vor diesem Hintergrund war es nach 1989 keineswegs verwunderlich, dass sich im Wandel dieser Region riesige Containermärkte auszubreiten begannen. Mit ihrer Festigkeit, Modularität und Anpassungsfähigkeit eigneten sich Schiffscontainer sehr gut als preiswerte mehrgeschossige Strukturen, die einer großen Bandbreite an Unternehmen dienlich sein konnten, vom Dienstleistungsbereich bis zum Großund Einzelhandel mit Waren aller Art. Sie ermöglichten auch eine rasche und flexible Erweiterung von Marktflächen: So lange unbebautes Land zur Verfügung stand, konnten weitere Reihen aufeinander gestapelter Container hinzugefügt werden, unten die Verkaufsebene, darüber oft ein Lager mit Bergen von Textilien, die sich leicht in ein improvisiertes Schlaflager verwandeln lassen. Einige dieser informellen Marktplätze, etwa der 7-Kilometer-Markt am Stadtrand von Odessa oder der Dordoi-Basar in Bischkek mit ihren Tausenden Händlern, die sich um den Verkauf von Billigpreiswaren bemühen, breiten sich über mehrere Dutzend Hektar Land aus. In merkwürdiger Übereinstimmung mit ihrer eigenen Geschichte dienen diese Ansammlungen ausgemusterter

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Großraumbehälter nun als Umschlagplatz für billige Konsumgüter, die in genormten ISO-Containern um die Welt transportiert werden. Einige dieser Märkte sind bis heute erhalten geblieben, andere dagegen mussten dem Druck von Landeigentümern, Politikern, Interessensgruppen und Investoren weichen und wurden zugunsten profitablerer Geschäfte geschlossen. Anstatt die in der Architektur seit langem gehegte Idee von modularen Städten in die Tat umsetzen zu helfen, sind Containereinheiten erneut ein Ziel im Kampf um wirtschaftliche Vorherrschaft geworden.

Recyclingmärkte Auf die Dynamiken einer ungebremsten Konsumgesellschaft zu setzen, bildete über die letzten Jahrzehnte hinweg das zentrale Modell des weltweiten ökonomischen Strukturwandels. Die geografische Verlagerung von Produktionsstätten und andere kostensparende Maßnahmen auf der einen Seite und die Entwicklung einer Wegwerfmentalität auf der anderen Seite bereiteten den Boden für das unablässige Bewerben einer sich stets vergrößernden Verfügbarkeit von Massenartikeln. Während sowohl Verbraucher als auch Unternehmen von billiger Massenproduktion, insbesondere im Bereich von Elektronikwaren, profitierten, brachte die rasche Abfolge technologischer Sprünge auch einen Anstieg des weltweiten Abfallaufkommens mit sich. Die Verwertung dieser Überreste wird dem informellen Sektor überlassen und hat die Gruppe der Müllsammler zu einer wichtigen Figur in der informellen Wirtschaft werden lassen. Infrastrukturelle Änderungen, wie etwa der Wechsel von analogem zu digitalem Fernsehen, aber auch ein ausgeklügeltes Management von sozialen Anreizen rund um die zyklische Einführung neuer Modelle begehrenswerter Konsumartikel haben dazu beigetragen, dass auch einwandfrei funktionierende Geräte in immer kürzeren Abständen weggeworfen werden, wenn sie nicht mehr länger den persönlichen Ansprüchen zu genügen scheinen. Bereits im Jahr 2005 betrug die durchschnittliche Lebensdauer von Computern zwei Jahre – jene von Mobiltelefonen lag noch darunter. Um diese Kaufwut zu bedienen, wurden im Jahr 2012 an die 2,5 Milliarden neue Computer, Tablets, Fernsehgeräte und Mobiltelefone auf den Markt gebracht. Das Erreichen der Drei-Milliarden-Grenze wird für das Jahr 2017 erwartet. Nach Schätzungen der Initiative »Solv­ ing the E-waste Problem« (StEP), einer Partnerorganisation der Vereinten Nationen, wird das entsprechende weltweite Müllvolumen von

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48,9 Millionen Tonnen im Jahr 2012 auf 65,4 Millionen Tonnen im Jahr 2017 ansteigen.7 Nur ein geringer Teil des weltweiten Elektroschrotts wird recycelt. Für die Europäische Union und die USA, von wo im Jahr 2012 zwei Fünftel des gesamt angefallenen Elektromülls stammten, liegt die Quote zwischen 15 und 20 Prozent. Ungeachtet zahlreicher internationaler Abkommen wie der WEEE-Direktive der EU oder dem Baseler Übereinkommen landet ein signifikanter Anteil dieses schädlichen Abfalls in den informellen Recyclingzentren Afrikas oder Asiens. Wichtige Zielpunkte dieser meist als Gebrauchtwaren anstatt als Abfall deklarierten Überreste sind Accra in Ghana (der »Geburtsort« des Informalitätsbegriffs in der Ökonomie) und Guiyu in China sowie die Metropolen Lagos in Nigeria und Delhi in Indien. Im Fall von Delhi, das den zweifelhaften Titel »Welthauptstadt der Müllverwertung« errungen hat, schätzt die Vereinigte Handels- und Industriekammer Indiens (ASSOCHAM), dass 85.000 Stadtbewohner als Wiederverwerter tätig sind und täglich an die 8500 Mobiltelefone, 5500 Fernsehgeräte und 3000 PCs auseinandernehmen, um ihre Einzelteile und Materialien wiederzuverwerten.8 Die territoriale Verteilung dieser Wiederverwertungsorte unterstreicht die weltweite räumlich-wirtschaftliche Spaltung in Orte der Ressourcenausbeutung, der Herstellung, des Konsums und der nachfolgenden Entledigung. Von den Gruben für seltene Erden und einem Fertigungswerk für Prozessoren in China bis zu einem Kinderzimmer in den USA und einer Hinterzimmerwerkstatt in Delhi durchlaufen die in diesen Schritten in Gebrauch genommenen Materialien einen Weg von den sogenannten Entwicklungsländern in die Zentren der Industriestaaten und wieder zurück. Informelle Märkte, die mit diesen Materialflüssen entstehen, entwickeln oft eine besondere Expertise auf bestimmten Gebieten, die es ihnen ermöglich, sich über das Geschäft der Wiederverwertung hinaus zu engagieren. Der Alaba International Market in Lagos, Nigeria, trat in verschiedenen Ausprägungen an unterschiedlichen Standorten in Erscheinung und hat sich nun als primäres Verteilerzentrum für elektronische Importe nach Westafrika fest etabliert. Altmetallsammler in Jessore, 7 »E-Waste World Map Reveals National Volumes, International Flows«, StEP Initia-

tive, 21. Dezember 2013. Online: http://www.step-initiative.org/news/world-e-waste -map-reveals-national-volumes-international-flows.html 8 »E-Waste in India by 2015«, ASSOCHAM, 29. August 2013. Online: http://assocham.org /newsdetail.php?id=4153

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Bangladesch, wiederum haben ihren Tätigkeitsbereich um die Herstellung von Fahrzeugen erweitert. Als Heimstätte für mehr als 1500 Werkstätten hat sich die Stadt zu einem nationalen Wissensdrehkreuz entwickelt, wenn es um maßgeschneiderte Anfertigungen von innovativen und kostensparenden Transportmitteln wie zum Beispiel umweltfreundliche Elektro-Rikschas geht. Wenngleich die mit der Wiederverwertung von Elektroschrott verbundenen Gefahren für Mensch und Umwelt augenscheinlich sind, werfen diese Unternehmungen auch wichtige Fragen über die Nachhaltigkeit des dominanten Modells des Wirtschaftswachstums auf. Neben der Verbraucherelektronik findet sich die Bekleidungsindustrie in diesen weltweiten räumlichen und zeitlichen Aufteilungen an vorderster Stelle: Angeheizt wird dieser Kreislauf von einer immer weiter fortschreitenden Auslagerung der Produktion in kostengünstigere Regionen, der immer kürzere und schnellere Zyklen des Konsums gegenüberstehen. Auch bei weggeworfenen Textilien wird nur ein geringer Anteil wiederverwertet. Der Großteil davon wird an afrikanische, asiatische und osteuropäische Länder weiterverkauft. In Ghana, das an der Spitze der Import- und Distributionsländer steht, erzielten die Importe an Secondhandkleidung im Jahr 2011 ein Handelsvolumen im Wert von 169,8 Millionen US-Dollar. Die statistische Datenbank der Vereinten Nationen über den Handel mit Verbrauchsgütern (UN Comtrade) gibt den weltweiten Gesamtwert des Handels mit Secondhandkleidung für das gleiche Jahr mit 3,8 Milliarden US-Dollar an.9 Allerdings sind diese Angaben mit Vorbehalt zu betrachten, da die konkreten Warenkennzeichnungen gelegentlich abgewandelt werden, um allfällige Einfuhrbeschränkungen, die einzelne Länder zum Schutz ihrer nationalen Textilindustrie eingeführt haben, zu umgehen. Die laufende Debatte über die Folgen informeller Wiederverwertungswirtschaft – etwa die Frage, ob sich Recyclingmärkte auf die Lebensumstände lokaler Bevölkerungen positiv auswirken oder nicht – zeigt zugleich, dass es sich hier nicht nur um lokale Angelegenheiten handelt. Sinkende Nachfrage nach neuer Kleidung kann zum Beispiel die Beanspruchung der Umwelt durch großflächigen Baumwollanbau reduzieren. Darüber hinaus werfen die Größe und Ausdehnung von Recyclingmärkten Fragen über die Praktiken der Industriestaaten und die 9 UN Comtrade Database, Datenabfrage für Warengruppe 26701 (old clothing & other

textile waste imported) für das Jahr 2011. Online: http://comtrade.un.org

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Schrankenlosigkeit der Konsumwirtschaft auf. Die zyklischen Krisen, die dieses auf dem Prinzip der Schuldenanhäufung basierte Modell begleiten, haben langwirkende und weitreichende Folgen. Anstatt einen minderwertigen Zustand darzustellen, der auf dem Weg zu einer wirklichen ökonomischen Integration überwunden werden muss, können Wiederverwertungsmärkte aber sehr wohl auch Laboratorien einer »weichen« Intelligenz sein, die viel flexibler und weniger verschwenderisch auf lokale Bedürfnisse zu reagieren vermag. Indem sie sich die Vorteile der weltweiten Ausbreitung von informellen Märkten zu Nutze macht, kann diese unmittelbare Ebene Möglichkeiten für ein umweltfreundlicheres Modell von Angebot und Konsum bieten.

Straßenhandel Der Straßenverkauf gehört zu den direktesten und weitverbreitetsten Formen des informellen Handels. Die außergewöhnlich hohe Zahl an selbständig beschäftigten Personen in Ländern wie Bangladesch (75%) oder Bolivien (68%) im Vergleich zum durchschnittlichen Anteil selbständiger Beschäftigung in den Industriestaaten (12%) legt nahe, dass die Vorherrschaft individuellen Unternehmertums weniger als Indikator einer besonders fortgeschrittenen Wirtschaftsumgebung fungiert, sondern ein Ausdruck mangelnder Chancen ist.10 In Zeiten von Krisen, steigender Arbeitslosigkeit und schwindender staatlicher Unterstützung bildet der Straßenhandel die zugänglichste Form von einkommensgenerierender Tätigkeit. Als Hauptressource dieser wirtschaftlichen Betätigung dient der Körper der Straßenhändler selbst. Ihr körperlicher Einsatz ermöglicht den Transport von Gütern, die Zuschaustellung von Verkaufsstücken für interessierte Laufkundschaft und – der größte Vorteil des Straßenhandels – dazu, sich potenziellen Kunden direkt mit der Ware zu nähern. Rund um die Welt haben Straßenhändler eine umfangreiche Typologie von Vorrichtungen entwickelt, die ihre eigenen Körper mit allen möglichen Arten von »prothesenhaften« Zusätzen erweitern und in ausgeklügelten mobilen Strukturen gipfeln. Am oberen Ende des Aufstiegs in dieser Handelshierarchie findet sich der improvisierte Verkaufsstand, der 10 Die Zahlen für Frauen sind oft signifikant höher. Erhebungen über selbständige

Beschäftigung werden häufig als Grundlage für Schätzungen von informeller Beschäftigung herangezogen.

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einen festen Stellplatz besetzt. Dass Straßenhändler ständig auf der Suche nach alternativen Gelegenheiten sind, ist dabei nicht unbedingt Ausdruck einer gleichsam archetypischen Form von wachstumsgetriebenem kapitalistischen Unternehmertum. Vielmehr sind es die Unsicherheit ihres Handels, die Ungewissheit über Nachschubquellen oder drohende Strafverfolgung, die Straßenhändler dazu zwingen können, plötzlich vom Handel mit Secondhandkleidung zum Verkauf von Imbissen oder billigst produzierten Ramschartikeln zu wechseln. Diese Unbeständigkeit ist bezeichnend für das Leben von Straßenhändlern, da in vielen Fällen nicht nur ihre Beschäftigung sondern ihre Anwesenheit im öffentlichen Raum an sich als illegal erachtet wird. Damit machen die verschiedenen Geografien des Straßenhandels sowohl globale Migrationsströme als auch die ihnen zugeschriebenen rechtlichen Rahmenwerke und Ungleichheiten lesbar. In Südeuropa streifen »illegale« Migranten mit einem unerschöpflichen Angebot an Fälscherware durch Stadtzentren und Tourismuszonen. In einem ständigen Katz- und Mausspiel mit der Polizei werden Raubkopien von Designertaschen und andere Modeartikel auf großen Tüchern ausgebreitet, die mit einem Ruck in die Höhe gezogen werden können, wenn sich die Straßenhändler unvermittelt aus dem Staub machen müssen. Auf ähnliche Weise verdeutlicht der Anstieg des Straßenhandels in lateinamerikanischen Städten eine jahrzehntelange Ignoranz gegenüber dem Schicksal von ethnischen Minderheiten und Zuzüglern aus den Landgebieten. In China wiederum sind Straßenhändler, die Millionen Wanderarbeiter auf den Baustellen und in den Arbeitslagern mit Essen und anderen Dienstleistungen versorgen, zu einer Begleiterscheinung der Rhythmen wirtschaftlicher Expansion geworden. Dank ihrer Mobilität besetzen Straßenhändler die räumlichen und zeitlichen Ränder des städtischen Alltagslebens. Sie suchen sich ihre Kunden in Wohngebieten, an Haltepunkten belebter Kreuzungen und bei periodischen Menschenansammlungen, wie das in Stoßzeiten oder bei wiederkehrenden Massenveranstaltungen der Fall ist. Entlang von beliebten Fußgängerrouten verwandeln sich manche Standorte des Straßenhandels nach offiziellem Ladenschluss in umfangreiche Nachtmärkte. Andere wiederum schaffen sich eine Nische, indem sie Waren, Dienste oder Reparaturen anbieten, die vom regulären Handel und Gewerbe nicht wahrgenommen werden. Auch wenn der Straßenhandel in vielen Fällen keine direkte Konkurrenz für etablierte Betriebe darstellt, wird er oft zum Ziel polizeilicher Initiativen zur Eindämmung von Schattenwirtschaften.

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An diesem unteren Ende der ökonomischen Hierarchie wird die Verwicklung von staatlichem Apparat und neoliberalem Wirtschaftsinteresse besonders bemerkbar. Im Namen moderner, sauberer und sicherer städtischer Umgebungen wirken legislative Gewalten, Planungsabteilungen, Polizeikräfte und Amtsgerichte zusammen, um öffentliche Räume von Straßenhändlern frei zu bekommen. In den letzten Jahren hat sich der Charakter vieler der gegen die Anwesenheit von Straßenhändlern gerichteten Aktionen geändert: von reiner Vertreibung und Strafverfolgung zu koordinierten Programmen räumlich-organisatorischer Kontrolle. Von Johannesburg bis Santiago de Chile, von Cusco bis Seoul setzen immer mehr Obrigkeiten auf eine Umsiedlung von Straßenhändlern in zweckerrichtete Markthallen. Aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt aufgrund der Einhebung von Standmieten, scheitern diese neuen, abseits der Straße gelegenen Märkte oft; zurück bleiben halbleere Anlagen mit reihenweise herabgelassenen Rollläden. Die größte Schwierigkeit liegt in vielen Fällen darin, dass diese neuen, zweckerrichteten Märkte eine räumliche Distanz zwischen den Händlern und ihren angestammten Kunden schaffen. Die Vertreibung von Händlern aus ihrem gewohnten Gebiet zielt damit nicht nur auf den Straßenhandel selbst ab, sondern ist in vielen Fällen Teil einer darüber hinaus gehenden Umwandlung des sozialen Gefüges städtischer Nachbarschaften. Der Umstand, dass Straßenverkäufer die verwundbarsten aller Händler sind, hat auch dazu geführt, dass sie zu den lautstärksten geworden sind. Rund um die Welt finden sich Vereinigungen von Straßenhändlern an vorderster Front politischer Bewegungen für die Rechte der Armen in den Städten. Sie haben damit den Weg für transnationale Allianzen (z.B. StreetNet und WIEGO) geebnet, um die Bedürfnisse eines breiten Spektrums an informell Beschäftigten, wie etwa jene von Müllsammlern, aber auch jene von informellen Lohnarbeitern im Bereich von Landwirtschaft, Transportgewerbe oder häuslicher Tätigkeit anzusprechen. In ihrem Kampf gegen Diskriminierungen und willkürliche Schikanen werden diese Graswurzelorganisationen jedoch häufig in einem Netz offizieller Machtpolitik eingefangen: seien es die Zerstreuungsstrategien von weitverzweigten staatlichen Bürokratien, die Hürden beim Einbringen von Einsprüchen gegen einen Platzverweis oder der Umstand, dass Straßenhändlern als nicht anerkannten Teilnehmern der städtischen Wirtschaft die Grundlage fehlt, auf der sie ihre Ansprüche auf das Recht auf städtischen Raum geltend machen könnten. Die wichtigste Forderung

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von Straßenhändlern dreht sich daher letztlich darum, eine Auseinandersetzung mit Informalität nach ihren eigenen Bedingungen führen zu können.

Volksmärkte In der politischen Praxis werden informelle Märkte oft auf Grundlage infrastruktureller Logiken behandelt. Die ausgeprägte räumliche Erscheinung von informellen Märkten bestimmt nicht nur ihren individuellen Charakter, sondern setzt sie auch von ihrer städtischen Umgebung ab, als vermeintlich klar eingrenzbares Phänomen. Gerade auf solche materiellen Parameter nehmen funktionalistische Konzepte in der Regulierung von Stadt besonders gerne Bezug: Grundstückseinteilungen werden mit Besitzansprüchen, Funktionen und Nutzungen zusammengebracht und so Fragen von Zugang, Rechten und Verantwortlichkeiten bestimmt. Der Umstand, dass Märkte meist alltägliche Bedürfnisse bedienen, fördert eine Auffassung von diesen Orten als simple Bindeglieder in der Mechanik des städtischen Geschehens, dessen reibungsloser Ablauf zu einer Aufgabe für technokratischen Lösungen wird. Informelle Märkte sind jedoch weder einfach nur eine Frage struktureller Maßnahmen noch eine quasi-natürliche Erscheinung des städtischen Lebens. Neben räumlichen Objekten stellt vor allem die Versammlung von Menschen eine grundlegende Bedingung für das Zustandekommen von Marktumgebungen dar. Von einer derart ungebrochenen Lebendigkeit beseelt, können informelle Märkte eine Vielfalt an komplexen sozialen Milieus hervorbringen. So unterschiedliche Schauplätze wie Bandungs Pasar Kaget Gasibu in Indonesien (ein vor allem zur Freizeitgestaltung besuchter Markt an einem der wichtigsten zivilen Versammlungsorte der Stadt), Seongnams Moran-Markt in Südkorea (ein Hort traditioneller Lebens- und Heilmittel) oder die Samstagsmärkte von Nuku’alofa auf Tonga (als Verkaufsorte von Secondhandkleidung die zentralen Umschlagplätze für nicht-monetäre Unterstützungssendungen durch Emigranten an den kleinen pazifischen Inselstaat) stützen vielfältige Gemeinschaften und bieten sowohl Gelegenheiten für ein Zusammenkommen als auch einen Raum, um marginalisierte kulturelle Traditionen weiter zu pflegen. Diese öffentliche Gegenwart von Marktversammlungen kann störend und verändernd wirken: wenn etwa die omnipräsente Stauplage in

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den neuen Megastädten als Gelegenheit für spontanen Handel genutzt wird, wie dies noch vor Kurzem am dauerverstopften Verkehrsknotenpunkt Oshodi im nigerianischen Lagos der Fall war; oder wenn etwa, sprichwörtlich und symbolisch, ein Dreh- und Angelpunkt in politischen Umbruchsprozessen besetzt wird, wie dies El Alto in Bolivien und dessen unermessliche informelle Wirtschaft deutlich macht. Anstatt bloß eine untergeordnete, »unvollständige« Version des ordentlichen Systems marktbasierten wirtschaftlichen Austauschs darzustellen, bietet das – aus widrigen Umständen hervorgebrachte – Allgemeingut eines informellen Markts eine einzigartige Gelegenheit, die Prinzipien der Marktwirtschaft umzuarbeiten und eine andere Form von Sozialität entstehen zu lassen. Selbst wenn informelle Märkte als relevanter Ort wirtschaftlicher Aktivität anerkannt werden, gehen die meisten der mit ihnen aufgenommen offiziellen Beziehungen von der Annahme einer zwangsläufigen »Tragik der Allmende« aus. Laut dieser These kann ein effizienter Umgang mit Gemeingütern nur durch eine von oben eingesetzte Kontrolle oder das Streben nach individuellem Vermögen erzielt werden. Demgemäß sehen wir, dass informeller Handel unter dem Vorwand, er würde die öffentliche Ordnung stören, zunehmend von den Straßen verbannt und in zweckerrichtete städtische Markthallen oder privat betriebene überdachte Märkte abgedrängt wird. In der Mehrzahl der Fälle erweisen sich diese Versuche als wenig ergiebig. Demgegenüber gibt es zahlreiche Erfolgsbeispiele von selbstverwalteten Märkten, mit denen die Möglichkeit eines kollektiven und demokratischen Bewirtschaftens von Gemeingütern durch Kooperativen, Marktvereinigungen und Gewerkschaftsbewegungen unter Beweis gestellt wird. In solchen Fällen werden Märkte oft zum Herzstück von Gemeinschaften und fördern das Entstehen von zivilen Initiativen, die über die unmittelbare Aufgabe einen Markt zu betreiben weit hinausreichen. Ein Beispiel hierfür ist etwa der kleine ländliche Markt von Kiwira in Tansania, dessen gewählte Führung damit begonnen hat, sich um eine Fülle von Bedürfnissen zu kümmern und beispielsweise Durchgangsunterkünfte oder Mikrokredite für Händler organisiert.11 Nachdem sich in den letzten Jahren ein beträchtlicher Anteil des informellen Handels in den virtuellen Raum verschoben hat und 11 Zu den hier erwähnten Märkten siehe auch Peter Mörtenböck und Helge Moosham-

mer (Hg.): Informal Market Worlds Atlas, Rotterdam: nai010 publishers, 2015.

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Onlinequellen für den Nachschub auf vielen physischen Marktplätzen immer wichtiger geworden sind, haben sich neue Herausforderungen für selbstkontrollierte Marktumgebungen ergeben. So wie informelle Märkte für gewöhnlich auf die Aneignung von Zwischenräumen angewiesen sind, gibt es auch bei Online-Märkten eine ähnliche Abhängigkeit vom Zugang zu einer Handelsumgebung. Im Unterschied zur Beweglichkeit von informellen Märkten und der kurzen Zeit, in der ein Markt an einem physischen Ort eingerichtet werden kann, ist die Bereitstellung einer Online-Handelsplattform ein sehr viel aufwändigeres Unternehmen. Selbst wenn soziale Medien für das Senden von Handelsnachrichten, das Posten von Angeboten oder Suchanzeigen genützt werden, ist dieser Austausch auf private Dienste angewiesen, die von ein paar wenigen globalen Akteuren kontrolliert werden. Darüber hinaus sind bisher kaum regulierte Online-Aktivitäten nun vermehrt direkter staatlicher Kontrolle und Einflussnahme ausgesetzt. Informeller Online-Handel kann demnach noch anfälliger für Eingriffe von außen sein, als das instabile Gefüge von ein paar rasch zusammengebastelten Marktständen. In der Folge nehmen die Rufe nach als »Online-Commons« organisierten alternativen Handels­plattformen zu – nach echten »Volksmärkten«, die weniger anfällig für staatlich ermächtigte Interventionen oder die Willkür privater Profitinteressen wären. Was die zukünftige Entwicklung von informellen Märkten betrifft, befinden wir uns heute an einem Scheidepunkt: Auf der einen Seite werden Handelsgeschäfte zunehmend online abgewickelt, auf der anderen Seite üben Politiken, die saubere und überwachte Stadtlandschaften forcieren, verstärkten Druck auf physische Marktplätze aus. Während traditionelles Marktleben im Vergleich mit dem alltäglichen Online-Shopping zur Ausnahme gerät, wird die »echte« Welt von physischen Marktplätzen immer mehr zu einer inszenierten städtischen Erfahrung. Als Orte der Unterhaltung werden aufgemotzte Marktplätze dazu eingesetzt, einen Mehrwert für Immobilienbesitz und Stadtmarketing-Kampagnen zu erzeugen. In Barcelona zum Beispiel hatte der Flohmarkt des »Alten Charmes« (Encants Vells) einen erstklassigen Standort an der Plaça de les Glòries Catalanes, einem zentralen Knotenpunkt in Ildefonso Cerdàs berühmtem Stadterweiterungsplan inne und bildete so fast ein ganzes Jahrhundert lang einen widerspenstigen Gegenpol zur Strategie der großmaßstäblichen Stadtplanung. Mit der Umsiedlung in eine spektakuläre neue Anlage auf der anderen Seite des Platzes im Jahr 2013 wurde der

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Markt nun in Barcelonas werbekräftige Aufreihung von ikonenhaften Architekturentwürfen eingegliedert. Worum es in den Auseinandersetzungen um informelle Märkte, die entweder geschlossen, umgesiedelt und an den Rand gedrängt oder privatisiert, umgebaut und zu kulturellen Attraktionen erhoben werden, damit geht, ist die Frage, ob diese Orte in die Lage versetzt werden, ein produktives, allen offen stehendes Gemeingut hervorzubringen, oder ob sie vielmehr selbst in eine Ware umgewandelt werden.

Hipstermärkte Die schwankungsanfälligen Dynamiken neoliberaler Wirtschaftspolitik haben zum Entstehen einer gerade erst aufkeimenden aber zugleich höchst zuversichtlichen Art des informellen Handels geführt: Hipstermärkte. Mit steigender Arbeitslosigkeit und nicht bedienbaren Schulden konfrontiert, sehen sich viele gebildete junge Städter zu einer Art Mikrounternehmertum hingetrieben, das aus jeder erdenklichen Laune urbanen Konsums Profit zu schlagen versucht. In vielerlei Hinsicht, nicht zuletzt in Hinblick auf die Anfälligkeit gegenüber Änderungen des politischen Willens, der rechtlichen Zusammenhänge und Besitzverhältnisse, ist die schnelle Ausbreitung von Hipstermärkten in den städtischen Zentren der Industrieländer derselben Unsicherheit unterworfen wie informeller Handel anderswo. Hipstermärkte verwandeln eine Ausnahmesituation in ein gefälliges Bekenntnis zur Raffinesse. In mannigfaltiger Gestalt agieren sie als materieller Anziehungspunkt im Entstehen einer alternativen Szene rund um Vorstellungen von nachhaltiger Entwicklung, gerechtem Handel und neuen sozialen Grundlagen. Trotz dieser antihegemonialen Rhetorik teilen die Förderer von Hipstermärkten die an Eigeninteresse und Gewinn orientierte Perspektive des weltweiten Firmenkapitals. Hipstermärkte nehmen eine privilegierte Stellung ein, die vom Unterschied zwischen frisch zubereiteten Delikatessen und Grundnahrungsmitteln, maßgeschneiderten Modeaccessoires und Überschussware, luxuriösem Genuss und zwingender Notwendigkeit gekennzeichnet ist. Dieses Privileg von Hipstermärkten wird oft auch als Zeichen eines anspruchsvollen Lebensstils erkannt, das in Stadterneuerungsprozessen gern als Speerspitze der Gentrifizierung eingesetzt wird. In einer Zeit, in der gefühlsbedingte Werte immer mehr den Ton angeben, machen sich Immobilienspekulationen in boomenden Metropolen dieses neue Profil

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von Marktplätzen als Freizeitdestination bereitwillig zu Nutze. Aus Orten der Grundversorgung werden Räume für gesellschaftliche und kulinarische Erlebnisse.12 Die mit diesen Entwicklungen verbundene Retro- und Secondhand-Ästhetik nimmt Anleihen an der langjährigen Tradition von Flohmärkten als einer Art Hafen für unterschiedlichste Aktivitäten. Als Wohltätigkeitsveranstaltung genießen Flohmärkte zum Teil noch immer Ausnahmen von den sonst üblichen Normen und Standards.13 Sie bieten eine seltene Chance zum Austausch zwischen lokalen Traditionen und neuen sozioökonomischen Konstellationen. In vielen westlichen Staaten dienen Flohmärkte der migrantischen Bevölkerung als wichtiger Versorgungskanal und führen oft zum Entstehen ethnisch ausgerichteter Märkte. Im Osteuropa der 1990er Jahre bildeten die aus der Sowjetzeit stammenden Flohmärkte immer wieder das Fundament für massiv expandierende informelle Märkte. Wie bei solchen Märkten üblich, stieß der Erfolg dieser Orte oft auf das Interesse Dritter, was in der Folge auch die Behörden zum Einschreiten bewegte. Zur Auflösung und Zerschlagung dieser informellen Märkte kam es meist am Höhepunkt ihrer Expansionsphase – immer dann, wenn sie deutlich über den Status des Flohmarkts hinausgewachsen waren. Ob informelle Märkte, die von einer kollektiv erfahrenen Not oder von einem Begehren nach alternativen Ökonomien angetrieben werden, überdauern können, hängt daher oft vom Ausmaß ihrer »Entblößung« ab. In diesem Sinn haben periphere Schauplätze, die nicht mit anderen Nutzungen in Konkurrenz treten, bessere Chancen lange bestehen zu bleiben. Die Wüstengebiete im Südwesten der USA beispielsweise stellen seit langem ein Rückzugsgebiet für Aussteiger und an den Rand gedrängte Gruppen dar. In Arizonas Quartzsite, einem Sammelpunkt für »Snowbirds« – Rentner, die während der Wintermonate in diesen wärmeren Gegenden in Wohnmobilen herumreisen – sind die Errichtung und der Besuch von Märkten und Tauschbörsen zu einer wichtigen einigenden Aktivität für die bunt gemischte, herumziehende Gemeinschaft 12 Im New Yorker Stadtteil Williamsburg, einer der aktuellen Fronten der dortigen

Wohnraumentwicklung, preisen die Broschüren von Immobilienunternehmen sehr oft die trendigen Feinkostläden und Flohmärkte dieser Gegend als besonderen Anziehungspunkt im Stadtraum an. 13 Ein Beispiel hierfür ist der »vrijmarkt« in den Niederlanden, ein karnevaleskes nationales Flohmarktgeschehen, das jährlich am Geburtstag des Königs stattfindet.

Marktperspektiven

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geworden. Wie der dortige Mix von Mineralienmärkten und anderen Eigentümlichkeiten zeigt, bringen solche temporären Begegnungen Gleichgesinnter oft kuriose Formen alternativer Beziehungsmuster und Wertsysteme hervor. Die Frage der Kontrolle über die Veränderung sozialer Werte und die Art, wie diese das Verbraucherverhalten beeinflussen und zu einer neuen Orientierung der Machtstrukturen in Produktion, Handel und Konsum führen, stehen im Zentrum heutiger wirtschaftlicher Kontroversen. Im Zusammenwirken von neuen Technologien und kommenden Generationen werden kulturelle Überzeugungen geformt, deren ökonomische Auswirkungen noch unklar sind. In diesem Zusammenhang machen Hipstermärkte vor, wie sich neue Marktprotokolle schaffen lassen, in denen spezifische Erfahrungsqualitäten zum Schlüsselelement von Kundenbindung und Markenidentifikation werden. Kunden, die schier endlos persönliche Berichte und Bildgeschichten ihrer Markterlebnisse verfassen, werden zu »Freunden«, die sich aktiv im Entwickeln kultureller Vorstellungen rund um neue wirtschaftliche Möglichkeiten einbringen. Die Zahl der »Likes« auf Facebook (im Fall von Bangkoks Hipster-Mekka Talad Rot Fai mehr als eine Viertelmillion allein in den ersten vier Geschäftsjahren) gibt nicht nur eine bessere Auskunft über die Ertragsaussichten als das veranschlagte Umsatzvolumen, sondern unterstreicht auch die Nähe zu anderen neu entstehenden Marktbereichen, wie etwa Peer-to-Peer-Services oder Crowdfunding-Plattformen, deren Rhetorik des Tauschens und Teilens von kulturellen Versprechungen getragen wird. Der Erfolg von Hipstermärkten in sogenannten Schwellenländern deutet darauf hin, dass die bisherigen Annahmen über hierarchische Marktbeziehungen nicht unbedingt der heutigen Wirklichkeit entsprechen. Diese Beziehungen folgen nicht mehr einem klar umgrenzten geografischen Muster, in dem politische Machtzonen mit Knowhow und Kreativität gleichgesetzt werden können, und Regionen, in die Produktion ausgelagert wird, mit passivem Konsum und Nachahmungsverhalten.14 Die Kreativität von Hipstermärkten, die eingesetzt wird, um auf wirtschaftliche Herausforderungen mit neuen kulturellen Gütern zu antworten, markiert heute die 14 Während Bangkoks Märkte oft als »notorisch« abgestempelt werden, hat die Begeis-

terung rund um Talad Rot Fai auch Berichte über Urheberrechtsverletzungen der anderen Seite zur Folge: Westlichen Textilketten wird oft nachgesagt, dass sie auf diesem thailändischen Hipstermarket Ausschau nach originellen, neuen Designs halten, die sie in der nächsten Saison kopieren.

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Andere Märkte

vorderste Linie im Kampf um ökonomische Vorherrschaft. Der Streit um die Kontrolle über informelle Märkte beruht damit nicht nur auf Uneinigkeit in Hinblick auf Urheberrechtsverletzungen, Steuerhinterziehungen oder Beeinträchtigungen der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Wohls. Worum es hier geht, ist nicht weniger als die Kontrolle über den Zugang zur sich ändernden Gestalt von Märkten in einer globalen Wissensgesellschaft.

Ang

Rote Zone

Klon

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Gelbe Zone

Bangkok

Ma h

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Thanon Ch aro en Kru ng

Saphan Lek

(Abbruch 2015)

Mega Plaza Wangburapa

N

Museum of Counterfeit Goods

50m

Royal Dusit Golf Club

Ratchathewi Phra Nakhon Pantip Plaza

Baan Mor

Saphan Lek

MBK Center Bangkok Railway Station

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Central World

Siam Paragon

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Klong Thom

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The Royal Bangkok Sports Club

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Lumphini Park

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Bangkoks rote Zonen Als Drehscheibe für globale Firmengeschäfte in Südostasien verfügt Bangkok über zahlreiche innovative Unternehmensgründungen und eine blühende Handelskultur, die das Zusammenspiel von Märkten in der ganzen Region bereichert. Bangkok ist aber auch eine Stadt mit einer langen Tradition des Straßenhandels, mit mehr als 100.000 Verkäufern, die in den Straßen der Stadt sowohl Touristen als auch Einheimischen Billigprodukte und einfache Dienstleistungen anbieten. Mobile Imbissstände, die sich samt improvisierten Küchen überall am Straßenrand finden, und vielerlei Buden, die Schnickschnack, Kleidung, Elektronikwaren, CDs und Videos verkaufen, sind die Fortsetzung einer langen Tradition informellen Handels in diesem Land. Im 18. und 19. Jahrhundert war Bangkok als Venedig des Ostens bekannt und Wandergewerbetreibende gingen ihrem Geschäft entlang der vielen Wasserwege Bangkoks von Booten aus nach. Als die Kanäle gegen Ende des 19. Jahrhunderts überbaut und in Straßen umfunktioniert wurden, verlagerten die Kaufleute ihren Handel vom Boot zum Straßenrand, wo sie ihre Produkte von Karren aus vertrieben. Für große Teile der Bevölkerung sind diese Dienste auch heute noch ein wichtiger Faktor, weil sie darauf angewiesen sind, ihr Essen unterwegs zu sich zu nehmen oder Lebensmittel in kleinen Mengen zu erwerben. Die örtlichen Behörden haben 300 Standorte in der Stadt festgelegt, wo es lizenzierten Händlern an bestimmten Tagen und zu bestimmten Zeiten gestattet ist, Waren und Dienstleistungen anzubieten – bei weitem nicht genug, um der steigenden Zahl jener gerecht zu werden, für die Straßenhandel der einzige Weg zu einem Einkommen ist, vor allem angesichts der jüngsten Weltwirtschaftskrise und der asiatischen Finanzkrise, von der Bangkok 1997 schwer getroffen wurde. Im Lauf der vergangenen zwei Jahrzehnte ist die Zahl informeller Straßenhändler in Bangkok dramatisch angewachsen. Die Zusammensetzung dieser Gruppe hat sich darüber hinaus verändert, und nicht nur arme Leute, sondern auch Personen aus der Mittelschicht, die ihre Jobs verloren haben, oder junge aufstrebende Unternehmer, die sich die Miete in einem der wie Pilze aus dem Boden schießenden Einkaufszentren der Stadt nicht mehr leisten können, betreiben vor ihren Häusern oder entlang von verkehrsreichen Straßen in der Nähe einer Skytrain-Station einfache Stände.

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Andere Märkte

Neben der starken Zunahme des Straßenhandels hat sich auch die Zahl der Orte, die von den thailändischen Behörden als »rote Zonen« festgelegt werden, vervielfacht. Zu diesen genau kontrollierten Gegenden gehören beliebte Innenstadtgebiete, wie Baan Mor, Patpong und Silom, das Mah Boon Krong (MBK) Center und Sukhumvit, die aufgrund internationalen Drucks wegen angeblicher Produktpiraterie und Fälschungsvorwürfen allesamt im Blickpunkt von Razzien stehen. Solche Bestimmungen laufen der früheren Anerkennung von informellem Straßenhandel als integralem Bestandteil des Stadtlebens zuwider und haben heftige Kontroversen zwischen örtlichen Behörden, Hauseigentümern, Straßenhändlern, Kunden, NGOs und Urheberrechtsvertretern über Fragen von Rechtmäßigkeit, Einkommenserwerb, Landnutzung und Zugänglichkeit preiswerter Produkte und Dienstleistungen ausgelöst. In den Jahren der Konjunkturflaute wurde der Straßenhandel in asiatischen Ländern unterstützt, um das Problem der Arbeitslosigkeit zu lösen. In Zeiten wirtschaftlicher Hochkonjunktur galt er dagegen als Bedrohung von Sauberkeit und Ordnung. Als die aktuelle Weltwirtschaftskrise begann, änderte sich die politische Haltung gegenüber dem Straßenhandel erneut, weil auf die Regierungen in diesen Staaten, speziell in Schwellenländern, verstärkter Druck ausgeübt wurde, Urheberrechtsverletzungen und Fälschungsaktivitäten einzudämmen. Im Jahr 2007 kritisierten der Handelsbeauftragte der USA (USTR) und die von ihm repräsentierten Unternehmen in ihrem Special-301-Bericht die Schwächen der thailändischen Gesetzgebung hinsichtlich der Anfertigung raubkopierter Bücher und Computersoftware, der unerlaubten Vervielfältigung von Speichermedien und des boomenden Geschäfts mit Durchfuhrwaren aus China, die über Orte wie den Rong-Kluea-Markt in Aranyaprathet am Grenzübergang zu Kambodscha ins Land kommen. Dies hatte zur Folge, dass Thailand in der vom USTR jährlich erstellten Watchlist »notorischer Märkte« in prioritärer Position aufgenommen wurde, was den schwindenden Schutz und Vollzug von Urheberrechtsgesetzen in diesem Land reflektieren soll. Seither haben Beamte des thailändischen Referats für besondere Ermittlungen gemeinsam mit nationalen Polizeieinheiten immer wieder Razzien in »berüchtigten« Einkaufszentren durchgeführt und dabei Zehntausende Produkte beschlagnahmt. Wie das 1992 gegründete Department of Intellectual Property in regelmäßigen Abständen berichtet, wird jährlich eine in die Millionen gehende Zahl von wegen Urheberrechtsverletzungen

Sukhumvit Road, Bangkok

beanstandeten Waren vernichtet. Im Februar 2013 stimmte die International Intellectual Property Alliance (IIPA), eine mächtige Interessensgruppe, die maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidungen des USTR hat, nach sechs Jahren der Bemühungen um Vollzugsmaßnahmen, politische Debatten, Aufklärungskampagnen und Initiativen gegen Produktpiraterie Thailands Ansinnen zu, in Anerkennung der »verbesserten Kooperation und politischen Orientierung« einen abgemilderten Status auf der Watchlist des USTR zu erhalten. Doch obwohl Thailand 2013 zum Jahr des Schutzes intellektuellen Eigentums erklärt hatte, einen nationalen Arbeitskreis eingerichtet und zur Gründung eines Koordinationszentrums für die Durchsetzung von Rechten an geistigem Eigentum in den ASEAN-Staaten beigetragen hatte, blieb dem Land auch 2015, im neunten Jahr in Folge verwehrt, von der Prioritätenliste des USTR gestrichen zu werden. Im Gegenzug berichtete die Bangkok Post in einer Reihe von Leitartikeln immer wieder erbost über die Einmischungspolitik der USA, mit der auf nationale Gesetzgeber Druck ausgeübt wird, die US-amerikanischen Urheberrechtsgesetze blind zu übernehmen. Ungeachtet dieser internationalen Auseinandersetzungen regelt eine weitaus bodenständigere Vorgehensweise die Situation des Straßenhandels in Bangkok: Wer dazu gezwungen ist, seinen Unterhalt mit Straßenhandel zu bestreiten, kann es sich nicht leisten, von der Polizei gefasst zu werden und Geldstrafen zu bezahlen. Viele nehmen daher lieber Gefängnisstrafen auf sich.

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Andere Märkte

Aufgrund der hohen Zahl nicht lizenzierter Händler würden Haftstrafen aber den städtischen Haushalt Bangkoks schwer belasten. Deshalb kommt es allen im Endeffekt günstiger, wenn die Polizei ein Auge zudrückt und illegalen Straßenhandel einfach toleriert. Zwar könnte der Gesetzesvollzug den Handel von Endverkäufern zumindest prinzipiell ins Visier nehmen, doch eine der wirklichen Sorgen ist der Mangel an Rechtsgrundlagen, mit denen Vermieter für die unerlaubten Geschäfte ihrer Mieter verantwortlich gemacht werden können. Nachdem es für die Besitzer kommerziell genutzter Gebäude wenig Anreiz gibt, mit der Polizei zusammenzuarbeiten, lassen sich die Vertriebswege und Geldflüsse, die zu den Herstellern der illegalen Waren führen könnten, nur schwer nachverfolgen. Bangkoks MBK Center, ein riesiges Shoppingcenter mit Tausenden kleinen Läden, war 2010 Gegenstand einer Untersuchung, die herausfand, dass dort Unternehmen, die gegen das Urheberrecht verstoßende Produkte vertreiben, im Schnitt 2000 US-Dollar Monatsmiete zahlen und mehr als tausend Kunden am Tag bedienen. Trotz der hohen Mieten, die Standinhaber in diesem Einkaufszentrum bezahlen, wirft ihr Geschäft hohen Profit ab. Dies verdankt sich zum einen der starken Kundenfrequenz und den gut organisierten Zulieferketten, zum anderen aber auch technologischen Fortschritten, die auf die besonderen Bedürfnisse informeller Märkte ausgerichtet sind. Dazu zählen unter anderem sogenannte »Medienkisten« – Festplatten mit einer großen Zahl an raubkopierten Filmen und der entsprechenden Technik, weitere Filme gegen eine geringe Gebühr aus dem Internet herunterzuladen. Wenngleich die meisten anderen der in Bangkoks roten Zonen angesiedelten Märkte nicht vor einer so harmlos wirkenden Kulisse stattfinden, sind sie auf gleiche Weise mit einer preiswerten Auswahl an hochwertigen Elektronikwaren, Hollywoodfilmen, Plagiaten von Luxusuhren und Videospielkonsolen bestückt. Die behelfsmäßigen Verkaufsbuden entlang der ein Meter breiten Gänge des ehemaligen Eisenbrückenmarkts (Saphan Lek) boten bis vor kurzem alles Erdenkliche an, von raubkopierter Software und nachgemachten Designer-Sonnenbrillen bis zu nicht lizenzierten Tonbandkassetten und Schusswaffenattrappen. Wirklich bekannt war dieser Markt aber für sein umfassendes Angebot an Spielkonsolen und Videospielen, die hier Händler für wenig mehr als einen Dollar von Original-Spielkassetten auf Festplatten kopierten. Für solche günstigen Artikel nahmen Kunden die Hitze und den schlechten Geruch in diesem 200 Meter langen Labyrinth bereitwillig in Kauf. Hunderte Verkaufsstände

Bangkoks rote Zonen

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fanden sich in diesem über dem Klong Ong Ang errichteten, höhlenartigen Gebilde dicht aneinander gedrängt, ehe der Markt im Oktober 2015 auf Anordnung der Behörden abgerissen wurde. Im Zuge großangelegter Säuberungsmaßnahmen machte die neue Regierung zur gleichen Zeit auch dem geschäftigen Treiben eines anderen, für den Verkauf von aus Japan, China und Südkorea importierten Pornos, Erotikgegenständen und Aphrodisiaka bekannten Markts am nördlichen Rand von Chinatown ein Ende: Klong Thom lag ebenfalls über einem ehemaligen städtischen Was­ serweg und erstreckte sich über mehrere dicht gedrängte Straßen. Tausende Einheimische und Touristen hielten hier samstagnachts bei einem ausgiebigen Flohmarktbummel Ausschau nach Raritäten – vergriffene Bücher, Retro-Kameras oder Möbel der Jahrhundertmitte, die sich zwischen dem typischen Angebot an einfalllosen Kleidungsstücken, Haushaltswaren, Arbeitswerkzeug und billigen Elektronikartikeln finden ließen. Der Anteil der Touristen nahm im Vergleich zu Einheimischen nicht nur auf diesen Marktplätzen stetig zu, sondern auch in den anderen roten Zonen, wo Standinhaber immer mehr auf ausländische Kundschaft angewiesen sind – so sehr, dass die Verkaufszahlen in Tourismusgebieten wie Silom in den Jahren der Regierungsproteste 2010 und 2013 um 80 Prozent zurückgingen. Während in Bangkoks berüchtigtem Ausgehviertel Go-Go-Bars und Marktbetreiber üblicherweise voneinander profitieren, musste Siloms Patpong-Markt im Zuge der Demonstrationen, Plünderungen und Ausschreitungen ums Überleben kämpfen. Angesichts der immer wiederkehrenden Verluste des informellen Sektors erscheint es manchen vielleicht angebracht, dass die thailändische Regierung vor kurzem das Projekt »Creative Thailand« gestartet hat, mit dem die Kreativwirtschaft als Motor der Entwicklung des Landes angekurbelt werden soll. Diese Initiative unterstützt eine mit den USA vereinbarte »Kreativ­partnerschaft«, die binationale Kooperationen im Bereich der Kreativindustrie umsetzen will, von der Entwicklung von Prototypen kreativer Städte bis zu Aufklärungsmaßnahmen gegen Produktpiraterie. Die in Bangkok ansässige Anwaltskanzlei Tilleke and Gibbins betreibt ein eigenes Museum gefälschter Waren, mit mehr als 4000 Produkten, die bei Razzien im Auftrag der wohlhabenden Klienten der Kanzlei beschlagnahmt wurden. Im anhaltenden Wettstreit um ausländisches Kapital treffen sich so die Interessen der unterschiedlichen Akteure in Bangkoks Wirtschaftsleben – zwar nicht in Bezug auf die konkreten Ansprüche, aber in Hinblick auf die Waren, um die es geht.

Special Districts 1

Schals

8

Elektronik

2

Ornamente und Armaturen

9

Bettwaren

Weihnachtsdekoration

10

3

Haushaltswaren Sanitärwaren

4

Schmuck

11

5

Zier- und SchmuckAccessoires

12

Blumen

13

Nahrungsmittel

Feuerzeuge

14

Lampen

Türen

15

Rohstoffe und Maschinen

6 7

International Trade City

1 2 3

4

Yiwu Airport / Railway Station (3km) Yiwu International Logistics Center Ai

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5

International Exhibition Center

6

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10

11

Zhejiang Construction Material Market

Decoration City

Binwang Market

8

Meihu Stock Market

9

N a c h tm

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7

Exotic Street Yiwu Railway Freight Station (8km)

12

Xiuhu Square

14 13

15

Yiwu Furniture Market

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Huangyuan Garment Market

Große Moschee

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Tongdian Furniture Market

Hangzhou

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Shanghai

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500m

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Ningbo

Yiwu

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Yiwu – Welthauptstadt des informellen Handels

Ohne große Medienbeachtung hat im Dezember 2014 ein transkontinentaler Schienentransport Geschichte geschrieben: Nach 21 Tagen und einer Rekordstrecke von 13.000 Kilometern hatten Dutzende Güterwaggons mit über 1400 Tonnen Ladung das Ziel der bis dato längsten Zugfahrt der Welt, die spanische Hauptstadt Madrid, erreicht. Entlang dieser Strecke, die über Kasachstan, Russland, Weißrussland, Polen, Deutschland und Frankreich bis nach Spanien führt, soll nach den Plänen der chinesischen Regierung eine neue Seidenstraße des 21. Jahrhunderts entstehen.1 Ausgangspunkt der Reise war Yiwu, eine kreisfreie Stadt in der chinesischen Provinz Zhejiang. Als eine von Hunderten neuen Millionenstädten im Land war Yiwu nicht zufällig für Chinas Vorstoß in ausländische Märkte ausgewählt worden. Mit etwa einer Million Einwohnern und 1,3 Millionen Wanderarbeitnehmern ist diese Provinzstadt in den letzten zwei Jahrzehnten zu einem der weltweit größten Knotenpunkte des Kleinwarenhandels, und damit zu einer der wichtigsten Drehscheiben für den Verkauf von Made-in-China-Produkten auf der ganzen Welt aufgestiegen. Noch vor 30 Jahren war nichts von der heutigen Betriebsamkeit, dem internationalen Handel mit mehr als 200 Ländern und den Hunderttausenden Großeinkäufern, die jedes Jahr hierher strömen, zu erahnen. Bis in die frühen 1980er Jahre galt Yiwu als unbedeutende Ortschaft, in der lokale Bauern und Handwerker als Händler durch die Straßen zogen und dabei ihre eigenen Erzeugnisse anboten. Ausschlaggebend für Yiwus Wandel war die Bildung lokaler Initiativen, die bereits kurz nach den 1979 eingeleiteten Wirtschaftsreformen mit einem offensiven Ausbau der Infrastruktur begannen, um die Attraktivität des Standorts – sowohl für regionale Produzenten als auch für den innerstaatlichen Handel mit lokal hergestellten Waren – zu erhöhen. Waren es anfänglich vor allem Knöpfe, Socken, Feuerzeuge, Büroklammern und ähnliche Kleinartikel, so kam es nach der unter Jiang Zemin begonnenen Dezentralisierung, mit der auch der Handel mit nicht lokal produzierten Waren ermöglicht wurde, 1 Satarupa Bhattacharjya: »Merchants of Yiwu«, China Daily, 11. September 2015.

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Andere Märkte

zu einer raschen Vervielfältigung des Warenangebots. Im Schatten des Booms von Shanghai, und in knapp 280 Kilometer Entfernung zum wirtschaftlichen Herz Chinas, entwickelte sich die Stadt Yiwu damit nicht nur zum führenden Großhandelsmarkt für Kleinwaren, auf dem heute an die zwei Millionen verschiedener Produkte vertrieben werden, sondern auch zum weltweiten Logistikzentrum des informellen Handels. Die Fülle an Weltrekorden rund um die »China Commodity City Yiwu« verweist aber auch auf die zunehmend forcierten Anpassungen des chinesischen Wirtschaftsmodells. Während lange Zeit kontinuierliches Wachstum und massive Investitionen in den materiellen Ausbau von Infrastrukturen dominierten, kommen nun Spezialisierung und räumliche Konzentration als neue Richtmarken hinzu. Was Yiwu seit den 1990er Jahren zu einer wahren Stadt der Kleinwaren werden ließ, war vor allem eine Zahl von Special Districts: ganze Viertel dicht geschlichteter und im gleichen Stil errichteter Zeilenbauten, in deren Erdgeschoßzonen sich Hunderte auf die gleiche Warengruppe spezialisierte Verkaufsräume aneinanderreihen. Diese Spezialisierungen bringen einen oft abrupten Bruch im Ambiente mit sich: Mit dem Wechsel von Feuerzeugen zu Holz­ ornamenten, von halbfertigem Metallschmuck zu Glaswaren oder von Kunstblumen zu Weihnachtsdekorationen ändert sich auch das ganze Straßenzüge prägende Spektrum von Farben, Gerüchen und Geräuschen. Ungeachtet dieser Inselmerkmale zeichnen sich diese Sonderbezirke aufgrund des gemeinsamen Transportnetzwerks und der Versorgung mit Essen und anderen Dienstleistungen durch eine enge Verzahnung mit dem Rest der Stadt aus. Die frühen Sonderbezirke sind damit grundlegende Bestandteile des urbanen Gefüges von Yiwu. Spätestens seit der Finanzkrise von 2008 hat sich jedoch ein typologischer Wandel bemerkbar gemacht, in dessen Zuge die »Straßenmärkte« der Sonderbezirke Schritt für Schritt in neuerrichtete, freistehende Komplexe umgesiedelt werden. Dank ihrer Lage am Stadtrand von Yiwu können diese ohne große Einschränkungen ausgebaut werden. Als Hybrid von Shopping Mall und mehrgeschossiger Messehalle fungieren diese Bauten als Dauermessen, deren Werbestände für sich abgeschlossene Geschäftslokale bilden. Der größte und wichtigste dieser neuen Komplexe ist die wenige Wochen vor dem offiziellen Beitritt der Volksrepublik China zur Welthandelsorganisation (WTO) im Jahr 2001 gegründete International Trade City (ITC) am Nordrand der Stadt. Seit dem ersten, 2002 eröffneten Bauteil ist die ITC in mehreren Phasen bis zu mittlerweile

Yiwu – Welthauptstadt des informellen Handels

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fünf zusammenhängenden Distrikten mit einer Gesamtlänge von mehr als 3 Kilometern erweitert worden. Bei einem Ausbaustand von knapp 50.000 Verkaufskojen werden heute drei Viertel aller Geschäftsabschlüsse in Yiwu innerhalb der ITC getätigt.2 Insbesondere die jüngsten Erweiterungen der als Fünf-SterneMärkte angepriesenen Sektionen 3 bis 5 setzen auf ein gezieltes Branding durch symbolstarkes Design, hochwertige Materialien sowie optimale technologische Ausstattung (E-Services, bauökologische Ausrichtung, etc.). Die sich geschossweise wiederholende, parallele Anordnung innenliegender Korridore, deren schier endloser Horizont in der Spiegelung von Hochglanzböden und Glastrennwänden verschwindet, lassen die ITC wie eine sterile, futuristische Raummaschine wirken. Fast alle Verkaufskojen sind nach dem gleichen Muster eingerichtet: An verglasten Schaufenstern und Seitenwänden laufen Regale zur Ausstellung der zahlreichen Varianten des jeweils angebotenen Produkts (etwa Hunderte Varianten von Glasperlen, Haarkämmen, Thermosflaschen oder Überwachungskameras) entlang, in der Mitte ein freistehender Schreibtisch, an dessen beiden Seiten Käufer und Verkäufer Platz nehmen können. Zu Mittag schwirren unzählige Essensträger aus, um im Eiltempo die verschiedenen Bestellungen an das an seine Kojen gebundene Verkaufspersonal auszuteilen. Dass die Zehntausenden Verkäufer auch dann, wenn keine Kunden anwesend sind, unermüdlich ihre Rechenmaschinen bearbeiten, verstärkt nur noch den orwellschen Charakter einer ferngesteuerten Arbeitswelt. Alles, was die makellose Zurschaustellung der Produkte beeinträchtigen könnte, wird vor den gläsernen Kojen am Gang abgestellt. Es sind diese kleinen Überreste des Alltags – Putzgeräte, Kinderspielzeug, Plastikhocker –, die eine leichte Störung in die sonst penible Erscheinung der ITC bringen und auf das konkrete Leben verweisen, das für den alltäglichen Betrieb hier erforderlich ist. Tatsächlich zielen die Planungen für die ITC darauf ab, den gigantischen Gebäudekomplex als einen zweckdienlichen und für Einkäufer bequemen One-stop-Shop zu etablieren. Mit integrierten Hotels, Banken, Servicestellen der Zoll- und Regierungsbehörden, Post und Polizei wird die ITC damit zu einer unabhängig funktionierenden, in sich geschlossenen Stadt in der Stadt. Ähnlich wie bei den Special Districts bringen 2 Aufgrund der kostensparenden Praxis, Verkaufskojen mit anderen Unternehmen

zu teilen, liegt die Gesamtzahl der in der ITC tätigen Verkaufsunternehmen etwas höher, bei 55.000.

nur die jeweiligen Spezialisierungen auf bestimmte Warengruppen etwas Abwechslung in die uniformen Routinen des allgegenwärtigen Verkaufs. Meist geschossweise gruppiert, reicht das Spektrum der angebotenen Produkte von Handschuhen, Schals und Reißverschlüssen über Werkzeuge, Schlösser und Küchengeräte bis zu Unterwäsche, Socken und Bettwaren. Die im Zuge des Ausbaus der Distrikte 4 und 5 erfolgte Erweiterung des Sortiments ist auch ein Indikator für die laufende Neuorganisation des innerstaatlichen und internationalen Großhandels in China: Neben der Aufnahme von Sportartikeln und Autozubehör hervorzuheben ist vor allem die erstmalige Widmung eines ganzen Geschosses für Importwaren. In 370 Verkaufskojen werden an die 45.000 Produkte aus 80 Ländern ausgestellt. Diese Praxis bricht mit der bisher alleinigen ökonomischen Ausrichtung des Markts auf den weltweiten, oft informellen Export von Kleinwaren. Als Meilenstein der Transformation von Yiwu in ein multi-direktionales Handelszentrum wird unter anderem das 2011 im Sektor 5 der ITC eröffnete African Imports Emporium gefeiert.3 Auf Anregung der im November 2009 abgehaltenen 4. Ministerkonferenz des Forums für chinesisch-afrikanische Kooperation (FOCAC) bietet es 49 3 Siehe China Ministry of Commerce, Department of Western Asian and African

Affairs: »An Interpretation of New Measures on Economic and Trade Cooperation from 4th Ministerial Conference«, Forum on China-Africa Cooperation, 24. Mai 2010. Online: http://www.focac.org/eng/zxxx/t690236.htm

International Trade City, Yiwu

kooperierenden afrikanischen Staaten ein Handelsfenster für den Import afrikanischer Waren nach China. Das im Dezember 2013 eröffnete ASEAN Products Exhibition Center soll nach ähnlichem Muster helfen, den Warenimport aus den 10 ASEAN-Ländern nach China anzuregen. Zu den wichtigsten Veränderungen der letzten Jahre zählt damit auch Yiwus verstärkte Aufmerksamkeit in Richtung inländischem Konsum. Mit der zunehmenden Kaufkraft der rasch wachsenden chinesischen Mittelschicht steigt zugleich die Nachfrage nach internationalen Produkten. Yiwus Expansion beginnt sich nun auf dieses Handelspotenzial einzustellen, indem die Stadt in den kommenden Jahren auch zu einem Schlüsselstandort für den Vertrieb von importierten, für den chinesischen Markt bestimmten Verbrauchsartikeln ausgebaut werden soll. Neben der Einfuhr von Konsumartikeln geht es vor allem um moderne Maschinenanlagen und hochwertige Rohstoffe, die das wirtschaftliche Wachstum des Landes gewährleisten sollen. Die Zielsetzung der massiv vorangetriebenen Entwicklung von Infrastrukturprojekten, Fabrikations-, Lager- und Verkaufsflächen in Yiwu ist daher ein ökonomisches Gesamtpaket, mit dem ein flexibles Zusammenspiel von Import, Export und Produktion für ganz China bewerkstelligt werden kann. Yiwu wird so zu einem wichtigen Prüfstand für die strategische Erweiterung von Chinas Außenhandel. Im Mittelpunkt dieser Anstrengungen steht der seit den 1990er Jahren kontinuierlich betriebene Aufbau eines leistungsstarken Logistiksystems,

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Andere Märkte

das ein komplexes Netzwerk von Straßen-, See- und Luftwegen umfasst und Märkte auf der ganzen Welt bedient. Vereinfachung und Beschleunigung des Handels sind die beiden Vorgaben, an denen sich hier alles orientiert. Zu den für diese Zwecke jüngst errichteten Bauten zählen unter anderem ein futuristisch anmutender Bahnhof, der die Stadt mit Hochgeschwindigkeitszügen an den internationalen Flugverkehr anbindet sowie ein rasch expandierender Frachtenbahnhof, der den Warentransport auf dem Landweg um ein Vielfaches beschleunigen soll. Anstatt in den Häfen von Ningbo und Shanghai komplizierte Abfertigungsprozeduren zu durchlaufen, findet die Zollabfertigung seit kurzem in papierloser Form im Binnenhafen von Yiwu statt, sodass täglich mehr als 2000 Containerladungen die Stadt verlassen können. Und auch die zunehmende Zentralisierung von Geschäftsabschlüssen in One-stop-Shops wie der ITC soll dazu beitragen, dass gegenüber anderen Handelsstandorten die Anziehungskraft der Stadt für Zwischenhändler aus aller Welt ungebrochen bleibt. Das dem Wachstum von Yiwu zu Grunde liegende Muster, Wettbewerbsvorteile durch eine hohe Zahl von Anbietern zu generieren, hat aber auch zu einem erbitterten Preiskampf unter Produzenten und Verkäufern geführt, der sich nicht nur in teils zweifelhafter Qualität der Waren bemerkbar machte, sondern auch in einer steigenden Attraktivität der Stadt für Handelsnetzwerke, die informelle Märkte in Mexiko, Paraguay, Bangkok, Dubai und vielen anderen Städten mit Billigwaren beliefern. Der früh gefestigte Ruf Yiwus, weltweites Zentrum für Herstellung und Vertrieb von gefälschten Produkten zu sein, lockte zahlreiche internationale Händler an, die hier die Möglichkeit sahen, florierende Geschäfte mit ihren Herkunftsländern aufzubauen. Es wird geschätzt, dass in den ersten Jahren des explosionsartigen Wachstums der Stadt etwa 90 Prozent des Umsatzes mit urheberrechtsverletzenden Fälschungen und Imitaten gemacht wurden.4 Sowohl aufgrund des Anscheins der behördlichen Duldung illegaler Formen von Produktion und Handel als auch aufgrund der strategischen Bedeutung Yiwus für die Entwicklung chinesischer Anteile am globalen Markt findet sich die Hauptstadt der Kleinwaren regelmäßig in den berüchtigten Special-301-Berichten des US-amerikanischen Handelsbeauftragten wieder. Im Zentrum steht dabei der Vorwurf, Ausgangs4 Daniel C.K. Chow: »Organized Crime, Local Protectionism, and the Trade in Coun-

terfeit Goods in China«, China Economic Review, Bd. 14, Nr. 4 (2003), S. 473–484.

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punkt eines weltumspannenden Markts von Warenfälschungen zu sein, die über gut organisierte Netzwerke in die unterschiedlichsten Regionen der Welt gebracht werden.5 Auch wenn die großen Zwischenhandelsmärkte zunehmend in geschlossenen Gebäuden verschwinden, ist das Straßenbild der Stadt durch die Präsenz der internationalen Käufer und Verkäufer immer noch stark von Yiwus Rolle als Welthauptstadt der Kleinwaren geprägt. Die Fülle der auf Zehntausende ausländische Geschäftsleute ausgerichteten Dienstleistungen – von Luxushotels und Spezialitätenrestaurants für kaufkräftige Handelsreisende bis hin zu allen Arten von Beratungs-, Vermittlungs- und Transportdiensten – macht täglich spürbar, dass der Daseinszweck dieser städtischen Agglomeration fast ausschließlich im internationalen Handel besteht. Rund um diese deutlich sichtbaren und allen zugänglichen Serviceeinrichtungen prägt ein dichtes informelles Netz an persönlich angebotenen Dienstleistungen die Stadt, darunter Scharen junger Frauen, die in den Vorfahrten der Fünfsternehotels oder bei den Eingängen der großen Märkte »potenzielle Kunden« auf ihren Bedarfs an Mittelspersonen ansprechen und sich mit exklusiven Visitenkarten als Dolmetscherinnen, Handelsagentinnen und Einkaufsberaterinnen zu erkennen geben. Wie groß die Vielfalt der ethnischen Gruppen in dieser Stadt ist, zeigt allein die Zahl der gastronomischen Betriebe, die auf die speziellen Bedürfnisse der Einkäufer aus unterschiedlichen asiatischen, afrikanischen und europäischen Ländern zugeschnitten sind: Hunderte arabische, türkische und koreanische Restaurants eifern mit internationalen Fastfood-Ketten, Pizzaservices und Kaffeehäusern um die Wette. Arabische, indische und koreanische Schulen kümmern sich um die pädagogischen Anliegen der ausländischen Einwohner, und mehr als 30 Moscheen, eine Kirche, ein Hindu- und ein Sikh-Tempel belegen die geografisch vielfältige Herkunft der Händler in der Stadt. Die internationale Präsenz drückt sich besonders in den zahlreichen ethnisch dominierten Vierteln aus, die das Stadtbild von Yiwu mittlerweile so sehr prägen, dass einzelne Gegenden von der Stadtregierung offensiv als Tourismusdestinationen beworben werden. Am bemerkenswertesten ist in diesem Zusammenhang das als Exotic Street deklarierte Viertel, das sich in unmittelbarer 5 United States Trade Representative: »2012 Out-of-Cycle Review of Notorious Mar-

kets«, Dezember 2012, S. 8

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Andere Märkte

Nähe des ersten Großhandelsmarkts herausgebildet hat, um Händler aus dem arabischen und afrikanischen Raum mit einem speziellen Angebot an Halal-Restaurants, Shisha-Lokalen, Herrenfriseuren, Hotels, Massagestudios, Sprachkursen und religiösen Gegenständen zu bedienen. Ein eigener Nachtmarkt bildet die Kulisse für muslimische Händler, die nach Ladenschluss der großen Märkte hierher kommen, um den Abend mit geselligem Austausch und privaten Einkäufen zu verbringen. Das Viertel der Exotic Street ist eines der sichtbarsten Zeichen des Wiederaufblühens der alten Seidenstraßen. Die seit 2011 den arabischen Raum erfassenden politischen Konflikte und die von ihnen ausgelöste Zerstörung urbaner Infrastrukturen und sozialer Netzwerke lassen es jedoch unsicher erscheinen, wie lange die Pioniere dieser neuen Handelsbeziehungen mit Nordafrika und dem Nahen Osten ihre Geschäfte weiter aufrecht erhalten können.6 Mittlerweile haben in ihrem Sog allerdings afghanische und pakistanische Händler, Kaufleute aus Ostafrika sowie russische und ukrainische Mittelsmänner klandestine Handelsnetzwerke aufgespannt, die wie ein Fächer den gesamten kontinentalen Bogen vom tiefen Süden Afrikas bis zum hohen Norden Europas erfassen.7 Mit Projekten wie »One Belt, One Road«, mit denen die historische Seidenstraße in Form eines Hochleistungsnetzwerks von Land- und Seerouten wiederauferstehen soll, und zu denen auch die transkontinentale Eisenbahnverbindung (Eurasian Land Bridge) als Teil des Silk Road Economic Belt gehört, versucht die chinesische Regierung seit 2013 verstärkt das Entwicklungspotenzial dieser Handelskontakte in das offizielle nationale Wirtschaftsprogramm zu integrieren. Trotz oder wegen der massiven US-amerikanischen Bestrebungen um Vorherrschaft im internationalen Handel und dem Einsatz einer Vielzahl von politisch-ökonomischen Druckmitteln wie dem Special-301-Bericht führen die neuen Seidenstraßen nicht in die USA. Der Mittelpunkt jener Welt, als dessen Hauptstadt sich Yiwu – »a sea of commodities, a paradise for shoppers« – versteht, liegt anderswo. 6 Vgl. Said Belguidoum und Olivier Pliez: »Yiwu. The Creation of a Global Market

Town in China«, Articulo – Journal of Urban Research (Inconspicuous Globalization), Nr. 12 (2015). Online: http://articulo.revues.org/2863 7 Siehe auch Harry G. Broadman: Africa’s Silk Road. China and India’s New Economic Frontier, Washington DC: The World Bank, 2007; sowie »Yiwu. Trust, Global Trad­ ers and Commodities in a Chinese International City«, ERC-Forschungsprojekt, 2015–2020, University of Sussex.

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Untergrundmärkte – Qipu Lu, Shanghai Wenige Orte demonstrieren die in den letzten 100 Jahren erfolgte Verschiebung globaler Machtverhältnisse derart nachdrücklich durch ihre Architektur wie die chinesische Metropole Shanghai, wo gegenüber der historischen Uferfront des Bunds die ultramoderne Skyline von Lujiazui hochgezogen wird. Während die aufgereihten Finanzpaläste der Alten Welt an den kolonialen Zugriff auf Asien, der über extraterritoriale Gebietszugeständnisse an das Britische Empire, Frankreich und die Vereinigten Staaten von Amerika das städtische Gefüge von Shanghai wesentlich prägte, erinnern, bezeugt das sich immer wieder selbst überbietende Spektakel von glänzenden Formen und beleuchteten Wolkenkratzern auf der Halbinsel Pudong den scheinbar unbegrenzten Glauben an die Kraft des chinesischen Wirtschaftsaufschwungs. Der rasante Aufstieg der Shanghaier Börse von der bescheidenen Wiedereröffnung im Tanzsaal des Astor House Hotel im Jahr 1990 zu ihrem derzeitigen Platz im Mittelfeld unter den – gemessen an der Marktkapitalisierung – zehn größten Aktienmärkten der Welt steht beispielhaft für Shanghais neue Glanzrolle als globaler Anziehungspunkt für Investitionen. Dass der Hafen von Shanghai regelmäßig die Ranglisten der stärksten maritimen Umschlagplätze anführt, ist ein weiteres Indiz für die Führungsposition der Stadt in punkto Produktionskapazität und Warenausstoß. All diese Errungenschaften verbinden sich mit den architektonischen Superlativen der Bautätigkeit in der Stadt, um Shanghais wirtschaftliche Blüte und Schlüsselposition in der Steuerung des weltweiten Handels zu untermauern. Die sichtbare Oberfläche einer Stadt zeigt jedoch nur einen Bruchteil ihres Lebens. Wie in anderen modernen Metropolen auch wird Shanghais städtischer Organismus von komplex ineinandergreifenden Versorgungsströmen über und unter der Erde aufrechterhalten. Tausende Menschen drängen sich entlang von Unter- und Überführungen, um verkehrsreiche Straßen zu queren und Bahnhöfe zu erreichen. In vielen Megastädten der Welt sind diese labyrinthischen Verbindungsgänge zu einem Magnet für Straßenhändler geworden, die Fußgängertunnels in ungeplante Einkaufszentren verwandeln und dabei ihre informellen Geschäfte sprichwörtlich in den Untergrund verlagern. Eines der dichtesten Netzwerke solcher

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Andere Märkte

Marktplätze hat sich in Shanghai rund um die auch als »Cheap Street« bekannte Qipu Street (Qipu Lu) entwickelt. Etwas nördlich des Stadtzentrums, im Distrikt Hongkou, ist an diesem Knotenpunkt einer der wichtigsten Bekleidungsmärkte der Region entstanden. In der Mitte liegen die von der U-Bahnstation Tiantong Road ausgehenden unterirdischen Passagen des Qipu Costume Gift Market, die auf der einen Seite zum mehrstöckigen Verkaufskomplex der XingWang International Finery City führen, der wiederum über eine gedeckte Brücke mit dem Qipu-XingWang Clothing Market verbunden ist. Auf der anderen Seite führt der unterirdische Markt zur Qipu Litful Clothing Plaza sowie zu mehrgeschossigen Einkaufszentren, die sich im Westen entlang beider Seiten der Qipu Street aneinanderreihen, darunter der Shanghai Xinqipu Costume Market, der Qipu Street Costumes Wholesale Market, die Haopu Apparel City und der Xinjinpu Garments Wholesale Market. Die meisten dieser Verkaufszentren wurden zwischen 2004 und 2006 im Vorfeld der Schließung des berüchtigten XiangYang Crafts and Gifts Market im Juni 2006 errichtet und profitierten von der Not vieler Händler, die sich gezwungen sahen, neue Standplätze zu finden.1 Im Inneren der aneinanderhängenden Einkaufszentren lässt einen die Dichte an Gängen und Verkaufskojen jegliche Orientierung verlieren und stattdessen in ein Universum des Kaufrauschs eintauchen. Tausende Kojen sind nach verschiedenen Warensegmenten, wie Kleidung, Schuhe, Taschen, Modeschmuck, Kosmetika oder Haarschmuck, die oft ganze Geschosse einnehmen, gruppiert. Dieses Organisationsmuster wiederholt sich quer durch die verschiedenen Einkaufszentren und erzeugt damit einen der meistgepriesenen Vorzüge von Qipu Lu: eine schier endlose Auswahl. Sollte sich bei einem Verkäufer das Handeln als unergiebig erweisen, stehen immer noch Dutzende, wenn nicht Hunderte andere bereit, die das Gleiche oder zumindest Ähnliches für einen vielleicht noch besseren Preis offerieren. Die oberen Stockwerke sind etwas besser organisiert und bieten angeblich eine höhere Qualität, während die unteren am geschäftigsten sind und häufig in ein undurchdringbares Gemenge aus Menschen, Kleidung und Verpackung übergehen. Viele der Kojen sind so mit Stapeln an fabrikverpackten Kleidungsstücken angefüllt, dass die Verkäufer übereinander klettern müssen, um raus und rein zu kommen. 1 Zu den Nachfolgemärkten von XiangYang zählt auch das unterirdische Einkaufszen-

trum der U-Bahnstation beim Wissenschafts- und Technologiemuseum am Century Square in Pudong.

Untergrundmärkte – Qipu Lu, Shanghai

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Qipu Lu, Shanghai

Standlose Händler versammeln sich bei Aufzügen, an den Rändern von Treppenpodesten und Übergängen. Sie breiten ihre Waren auf dem blanken Boden aus oder verkaufen direkt aus den Transportschachteln. Zur allgegenwärtigen Überfülle tragen die als lebendige Modepuppen eingesetzten jungen Frauen bei, die sich zur besseren Anpreisung der zur Schau gestellten Bekleidung auf kleine Schemeln oder Kisten vor der jeweiligen Verkaufsbox stellen, um so aus der Menge herauszuragen. An den Wochenenden wird Qipu Lu von der wachsenden Klasse der konsumverrückten jungen Arbeiter und Angestellten massenweise überschwemmt.2 Da Qipu Lu als Großmarkt fungiert, kann Bekleidung in der Regel nicht vor Ort anprobiert werden und muss stattdessen verpackt gekauft werden. Das Risiko von schlechtsitzenden oder beschädigten Stücken wird durch die Summe an Textilien, die in einem Zug gekauft werden, ausgeglichen. Ziel der Verkäufer ist es, große Mengen möglichst rasch umzusetzen, und so besteht, abgesehen vom Direktverkauf an die Bewohner von Shanghai, das Hauptgeschäft der Einkaufszentren im Großverkauf an regionale Zwischenhändler. Während junge Schleicher die Straßeneingänge nach Touristen abgrasen und diese mit Zurufen wie 2 Die Bevölkerung von Shanghai hat sich innerhalb der letzten 20 Jahre fast verdop-

pelt und ist bis 2015 auf etwa 24 Millionen angestiegen. Davon sind 9 Millionen als Langzeitmigranten eingestuft, von denen wiederum 40 Prozent jünger als 30 Jahre sind.

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Andere Märkte

»Copy watch, Gucci, Prada« und aufklappbaren Prospekten mit Bildern von Uhren, iPads und iPhones, Designerbekleidung, Taschen und Accessoires ins Innere zu locken versuchen, füllen sich die Hintergassen mit großen Haufen an zusammengeschnürten Kleiderbündeln, geschäftigen Trägern, wartenden Reisebussen und Straßenverkäufern, die sich auf reisende Händler spezialisiert haben und Straßenimbisse oder nützliche Gegenstände anbieten, wie etwa Klappkarren oder die allgegenwärtigen karierten Wäschetaschen aus Kunststoff.

Überschussproduktion Die Einbeziehung von Qipu Lu in die Special-301-Berichte des Handelsbeauftragten der USA zur Sicherung von geistigen Eigentumsrechten ist auf die Ausbreitung von »Nachtdurchläufen« – die nicht autorisierte »Überschuss«-Produktion von westlichen Markenwaren, die auf den Märkten von Qipu Lu weiterverkauft werden – zurückzuführen. Zwischen 2001 und 2011 hat sich der Exportwert von in China produzierten Handelsgütern mehr als versechsfacht.3 Zur gleichen Zeit stieg der Anteil Chinas am weltweiten Export von Bekleidung von 18 auf 37 Prozent, wobei sich der Anteil an Exporten in die USA und die Europäische Union auf 39 bzw. 47 Prozent erhöhte.4 Laut China National Garment Association (CNGA) produzierten im Jahr 2012 mehr als 100.000 Hersteller 43,6 Milliarden Bekleidungsstücke. Dieser Boom wird von einem ungebrochenen Trend zur Auslagerung der Produktion von westlicher Markenbekleidung gestützt, der zu einer immer komplexeren logistischen Aufsplittung von Entwurf, Bezug von Stoffen, Zuschnitt, Zusammensetzung und Etikettierung von Kleidungsstücken auf viele verschiedene Orte geführt hat. Die damit einhergehende räumliche Auffächerung von industriellem Knowhow und gut ausgestatteten Produktionsstätten, in Verbindung mit der Tatsache, dass die Inhaber von geistigen Eigentumsrechten deren Einhaltung unmöglich überall zugleich kontrollieren können, hat dazu geführt, dass die Herstellung von Imitaten nicht mehr länger allein in die 3 »Merchandise Exports«, The World Bank, Data. Online: http://data.worldbank.org 4 »Table II.70 – Clothing exports of selected economies, 1990-2011« und »Tables II.68a

and II.68b – Clothing imports of selected economies by origin«, in: World Trade Organization (WTO), International Trade Statistics 2012, Abschnitt II. Merchandise Trade. Online: http://www.wto.org/english/res_e/statis_e/its2012_e/its12_merch_ trade_product_e.pdf

Untergrundmärkte – Qipu Lu, Shanghai

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Domäne von geheimen Fabriken fällt, die schnell ein paar grobe Kopien auf den Markt werfen. Mittlerweile wird die nicht beauftragte Ware einfach mit den gleichen Maschinen hergestellt, die auch für die offiziellen Aufträge verwendet werden. Die Aufwendungen für diese Überschussproduktion verschwinden in den Lieferzahlen vielstufiger Halbfertigungen und im wiederholten Hin- und Hersenden von Waren. Chinas vorgebliche Spitzenposition in der Produktfälschung spiegelt sich im nationalen Anteil an weltweit konfiszierten Waren wider. Laut Weltzollorganisation stammten etwa 67 Prozent der zwischen 2008 und 2010 beschlagnahmten illegalen Produktkopien aus China. Bezogen auf die USA und die Europäische Union liegen die Zahlen sogar noch höher: demnach ist China das Ursprungsland von 87 bzw. 75 Prozent aller beschlagnahmten gefälschten Produkte.5 Allerdings ist China nicht nur zum weltweit größten Hersteller und Exporteur sondern zugleich auch zum wichtigsten Abnehmer der Bekleidungsindustrie geworden. Zwischen 2000 und 2008 hat sich der Pro-Kopf-Verbrauch von Textilfasern in China verfünffacht.6 Angesichts der Größe von Chinas Bevölkerung und dem relativ gesehen immer noch sehr niedrigen Verbrauch an Bekleidung ergibt sich in diesem Bereich ein enormes Wachstumspotenzial. Sowie die heimische Nachfrage für die Gesamtverkaufszahlen überdurchschnittlich an Bedeutung gewinnt, wird der innerchinesische Markt auch für Händler von Imitaten immer lukrativer. In diesem Kontext hat sich die internationale Aufmerksamkeit den Einkaufszentren von Qipu Lu zugewandt. Während zu Kolonialzeiten Handelsinteressen über die Besetzung von Territorien – im Fall von Shanghai durch die Festlegung internationaler Konzessionsgebiete – bedient wurden, setzen die heutigen, industriegeleiteten Regierungen vor allem auf juristischen Druck. Maßnahmen wie die jährliche Zusammenstellung des Special-301-Berichts sind Teil eines ganzen Katalogs an außenpolitischen Instrumenten, die darauf abzielen, lokale Verwaltungen zur Übernahme bestimmter politischer Regelwerke und 5 United Nations Office on Drugs and Crime (UNODC): »Transnational Organized

Crime in East Asia and the Pacific«, April 2013. Online: http://www.unodc.org/ documents/data-and-analysis/Studies/TOCTA_EAP_web.pdf 6 International Trade Centre (ITC): »The Chinese Market for Clothing«, Genf, 2011. Online: http://www.intracen.org/uploadedFiles/intracenorg/Content/Exporters/ Sectors/Food_and_agri_business/Cotton/AssetPDF/China%20final%20technical %20document%20for%20print1.pdf

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Andere Märkte

zur Ausrichtung ihrer behördlichen Prozesse auf sogenannte handelsfreundliche Umgebungen zu bewegen. Um dem fortlaufenden Vorwurf der USA hinsichtlich angeblicher Verletzungen von Handelsrechten entgegenzuwirken, hat Chinas Staatsrat eine Reihe an hochrangigen politischen Initiativen gestartet: 2005 wurde eine nationale Arbeitsgruppe für den Schutz von geistigen Eigentumsrechten gegründet, 2011 wurde eine Rahmenvereinbarung zur Kooperation in punkto geistiger Eigentumsrechte zwischen China und den USA unterzeichnet, die im Kern die Einrichtung einer gemeinsamen Beratungsgruppe zur Entwicklung und Beobachtung der Umsetzung von jährlichen Arbeits- und Ausbildungsprogrammen umfasst.7 Allerdings steht eine solche Auslagerung der Verantwortlichkeiten für vorschriftsgemäßes Verhalten vor dem gleichem Problem wie die Auslagerung von Produktionsstätten, die diese Situation ursprünglich hervorgebracht hat: der Unmöglichkeit, Kontrolle vor Ort zu erlangen. Auch wenn die Situation in Shanghai als, »was den Schutz von geistigen Eigentum in China betrifft, relativ vielversprechend« gepriesen wird, so verweisen die Special-301-Berichte dennoch immer wieder auf die Unzufriedenheit des Büros des US-amerikanischen Handelsbeauftragten über die »beschränkte Wirksamkeit von verwaltungstechnischen Abhilfen« und den ausbleibenden Erfolg in der Reduktion des Angebots von gefälschten und nachgeahmten Waren auf den physischen Marktplätzen der Stadt.8 China wiederum pocht auf eine Reihe von umfangreichen Kampagnen über den Schutz von geistigen Eigentumsrechten, die auf hoher politischer Ebene organisiert werden, um den Kampf gegen Verletzungen von Schutz- und Urheberrechten zu verstärken und besser zu koordinieren. In Verbindung mit öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen wie der »Nationalen Woche des geistigen Eigentums« werden die Ergebnisse dieser Bemühungen wiederholt hervorgehoben, um internationale Bedenken über das Missverhältnis zwischen diplomatischer Rhetorik und der realen Welt von Wettbewerbsmärkten zu besänftigen. So erklärte etwa das chinesische Ministerium für öffentliche Sicherheit in einer Aussendung im Juli 2011, dass die chinesische Polizei in einer neun Monate dauernden 7 »The United States – China Intellectual Property Rights (IPR) Cooperation Frame-

work Agreement«, unterzeichnet in Chengdu, 21. November 2011, siehe U.S. Department of State: »Reporting International Agreements to Congress: 2012–0077«. Online: http://www.state.gov/documents/organization/198475.pdf 8 Siehe Special-301-Berichte 2007 bis 2015.

Untergrundmärkte – Qipu Lu, Shanghai

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Operation mehr als 13.000 illegale Produktionsstätten durchsucht, an die 29.500 Verdächtige festgenommen und mehr als 4900 Großhandelsunternehmen und sonstige in Verletzungen von geistigen Eigentumsrechten verwickelte Gruppen aufgelöst hat.9 Ungeachtet des eindrucksvollen Erfolgs, den solche Polizeiaktionen verbuchen konnten, scheinen Rufe nach strengeren Kontrollen von physischen Marktplätzen wenig fruchtbringend zu sein. Allerdings sind diese Märkte auch an anderer Front mit einem zunehmenden Wettbewerb konfrontiert: Von allen Seiten haben die Dynamiken der Stadterneuerung begonnen, sich dem Knotenpunkt von Qipu Lu zu nähern und auf eine kommerziell höherwertige Note zu drängen. Der Bezirk Hongkou hat sich zum Ziel gesetzt, zu Shanghais »Hedge Fund Park« zu werden – ähnlich wie Mayfair in London oder Midtown in New York –, und das Gebiet östlich von Qipu Lu wurde für die Entwicklung eines »Nordbunds« entlang des Huangpu vorgesehen. Ein weites Gebiet von »shikumen longtangs« (traditionelle, mit Steintoren versehene Hofhäuser), das vom Suzhou Creek bis an die westliche Kante von Qipu Lu reichte, wurde bereits abgebrochen. So wie vor wenigen Jahren ähnliche Quartiere und die Stände des alten Qipu-Markts für die heutige Ballung von Einkaufszentren Platz machen mussten, so scheint es, dass die größte Bedrohung für die jetzigen Geschäfte von Qipu Lu nicht rechtlicher, sondern räumlicher Natur sein wird.

9 »China Police Raid over 13.000 Dens for IPR Violations«, China IP Magazine,

3. August 2011. Online: http://www.chinaipmagazine.com/en/news-show.asp?id= 3393

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Drehscheibe Dubai – Handeln in Eigenregie

Auch wenn Dubai vor allem für seine hypermoderne Skyline und seinen überschäumenden Immobilienmarkt bekannt ist, bildet dennoch der Handel die wichtigste Komponente in der Erfolgsgeschichte des Emirats. Als Schlüsselstelle für den Weitertransport von allen möglichen Arten von Waren – legalen wie illegalen – war und ist Dubai das Tor des Mittleren Ostens zu einem Netzwerk weltweiter Wirtschaftsbeziehungen. Jahrhundertlang galt Dubai als die »Stadt der Händler« – eine Anspielung auf den internationalen Handel, der sich entlang der die Stadt teilenden Flussmündung entwickelt hatte. Ein Großteil der räumlichen Expansion des Emirats und seiner infrastrukturellen Investitionen leitet sich von dieser zentralen Stellung des Handels ab. In diesem Zusammenhang sind auch Dubais Ambitionen zu sehen, die geografische Lage des Emirats für seine Etablierung als Welthafen1 und »aerotropolis«2 zu nützen, darunter die Neuerrichtung zweier internationaler Flughäfen und der großangelegte Ausbau der Seehäfen, die einen entsprechenden Wirtschaftsantrieb mit sich bringen sollen. Jebel Ali ist der größte Hafen der Region und rangiert unter den Top Ten der weltweit wichtigsten Containerterminals. In Bezug auf Handelsverbindungen übertrifft Jebel Ali heute jede Hafenstadt zwischen Singapur und Rotterdam. Dazu haben nicht nur Großinvestitionen in Infrastruktur, Technologie und Logistik beigetragen, sondern auch die Entwicklung einer investitionsfreundlichen »weichen« Infrastruktur, wie unternehmensorientierte Gesetze und Bestimmungen sowie Sonderwirtschaftszonen, die den grenzüberschreitenden Transfer von Waren und Kapital für multinationale Unternehmen erleichtern sollen. Die seit 1985 bestehende Jebel Ali Free Trade Zone (JAFZ) gehört zu den ältesten und größten von mehreren Dutzend solcher Zonen, deren Gestaltung darauf ausgerichtet ist, ausländische Unternehmer zu Investitionen in Dubai zu bewegen. Als Standort von etwa 6000 Betrieben 1 Stephen J. Ramos: Dubai Amplified. The Engineering of a Port Geography, London:

Ashgate, 2010.

2 Nasser Saidi: »Joining the Dots«, Vision – Fresh Perspectives from Dubai 4, Septem-

ber 2011. Online: http://vision.ae/en/special_report/articles/joining_the_dots

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Andere Märkte

bietet diese Freihandelszone ihren Kunden nicht nur Erleichterungen bei Steuervorschriften, Umweltauflagen und verfassungsrechtlichen Einschränkungen, sondern auch einen direkten Anschluss an ein Hochleistungsnetzwerk, das sich vom Indischen Ozean über den Arabischen Golf bis zum Mittelmeer erstreckt. Durch den nahtlosen Zusammenschluss mit dem neuerrichten Internationalen Flughafen Al Maktoum in Dubai World Central (dem sogenannten Dubai Logistics Corridor) ergibt sich so einer der weltweit wichtigsten Knotenpunkte im internationalen Frachtverkehr: eine gemeinsame Zollzone, als deren Vorteile signifikant kürzere Zeiten bei der Frachtlöschung (die durchschnittliche Umschlagzeit für die Verladung eines Containers von Schiff auf Flugzeug wird mit unter einer Stunde beworben) und unbürokratische Zollabfertigungen dank eines einheitlichen elektronischen Portals angepriesen werden. Die Verbreitung von Freihandelszonen und ihre Einbindung in weltweite Vertriebsnetzwerke soll ermöglichen, dass Waren ohne Behinderung durch schlecht verwaltete Infrastrukturen oder einengende behördliche Vorschriften auf effiziente Weise rund um die Welt gehandelt und versandt werden können. Der Aufstieg Dubais zu einem weltweit führenden Umschlaghafen hat das Emirat aber nicht nur zur informellen Hauptstadt der Region werden lassen, sondern auch zum regionalen Zentrum des informellen Handels. Dank seiner strategisch günstigen Lage zwischen Asien, Europa und Afrika und der ungehinderten Ein- und Ausfuhr von Gütern, die nicht in Dubai verbleiben sollen, haben zweifelhafte Unternehmen damit begonnen, die Freihandelszonen als unauffällige Schnittstellen zum Weißwaschen der Herkunft bestimmter Produkte oder zum Umetikettieren gefälschter Waren zu nützen. Mit 14 Millionen TEUs (ein TEU entspricht dem Volumen eines 20-Fuss-ISO-Containers), die in einem Jahr abgewickelt werden, sind Dubais Häfen zu beliebten Durchgangsstationen in der weltweiten Zirkulation von Gütern geworden, darunter auch eine geschätzte Million TEU an Waren, die Rechte zum Schutz des geistigen Eigentums verletzen. Um Beanstandungen zu vermeiden, werden solche Güter oft zwischen verschiedenen Sonderzonen in Dubai oder der größeren Region hin und her geschickt. Mittlerweile ist der Anteil von in Europa beschlagnahmten Raubkopien, die aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) eingeführt wurden, auf 20 Prozent gestiegen, eine Zahl, die nur von direkt aus China importierten illegalen Waren übertroffen wird. Ob gefälschte Medikamente, nachgebaute Elektronikgeräte, Imitate von Designerkleidung oder nicht autorisierte Kopien von Filmen

Drehscheibe Dubai – Handeln in Eigenregie

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Dragon Mart, Dubai

und Computersoftware – angesichts des enormen Warenvolumens, das Dubais Freihandelszonen passiert, und der Geschwindigkeit, mit der Sendungen abgewickelt werden, gibt es so gut wie keine Beschränkungen hinsichtlich der Güter, die von Schleichhändlern und Internetverkäufern über diese wirtschaftlichen Enklaven vertrieben werden. Aber nicht die gesamte Fälscherware, die in Dubai ankommt, wird auch wieder ausgeführt. Beliebte Einkaufsviertel wie Karama oder das Fachmarktzentrum Dragon Mart werden regelmäßig mit Raubkopien von DVDs, nachgemachten Handtaschen oder illegalen Nachbauten aktueller Elektronikartikel überschwemmt, sobald neue Ladungen die Häfen von Jebel Ali, Rashid, Sharjah oder Fujairah erreichen. Die Atmosphäre in Karama – auch »Fake City« genannt – ist meilenweit entfernt vom Glanz und Glamour schicker Gegenden wie Palm Jumeirah, Dubai Marina oder dem Gebiet entlang der Sheikh Zayed Road. Reihen vernachlässigter Wohnblöcke mit unzähligen Satellitenschüsseln auf den Dächern und vergitterten Balkonen bilden die Kulisse für einen der größten Fälschermärkte in Dubai, der sich über zwei Kilometer hinweg in einem dicht bebauten Raster niedriger Wohnbauten, die in den 1970er Jahren für Familien mit geringem Einkommen errichtet worden waren, erstreckt. Nahe des Dubai Creeks und eingezwängt zwischen einem Diplomatenviertel im Norden und einem Technologiepark im Süden, hat sich Karama seinen eigenen Charakter als Nachbarschaft verschiedener ausländischer Gemeinschaften

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Andere Märkte

bewahrt, darunter viele Fremdarbeiter aus Südostasien und eine nationale Gemeinschaft beachtenswerter Größe aus dem Oman. Diese Vielfalt an Herkunftsländern findet eine sonderbare Widerspiegelung in der bunten Mischung ortsbezogener Geschäftsnamen, die – ungeachtet des tatsächlichen Ursprungs der angebotenen Waren – die Läden in Karama zieren: New York City Trading, San Pedro, Las Vegas, Persepolis, Milan, San Rimo (sic!), Atlantic, Lima, Liverpool, Houston Gear oder Mountains Way. Karama ist sowohl eines der vielfältigsten und dicht bevölkertsten Wohngebiete des Emirats als auch ein bevorzugtes Ziel von Touristen und Einheimischen auf der Suche nach leistbarer Markenmode. Nach außen hin zeigt sich das Viertel auf Straßenebene als eine Aneinanderreihung von Geschäften, die Billigmöbel und andere preisreduzierte Waren anbieten, mit dazwischengestreuten Cafés, Shishalokalen und Schnellrestaurants mit chinesischen, indischen, thailändischen oder philippinischen Speisen. Für ausgewiesene Schnäppchenjäger bildet jedoch eine versteckte Ansammlung von »Spezialgeschäften« die wirkliche Attraktion des Viertels: geheime Dachstuben, Räume hinter verborgenen Türen und kleine Lagerhallen am Rande von Karama, voll mit Schweizer Uhren, Smart­ phones und Designerimitaten, wohin nervöse Käufer – nach Besuch der Frontgeschäfte – zu Fuß oder per Auto geführt werden. In den Regalen dieser »Geheimgeschäfte« finden eingeladene Käufer von billigen Nachahmungen bis zu hochwertigen Kopien von Luxusartikeln jeder erdenklichen Marke alles – und dies zu äußerst erschwinglichen Preisen. Manche Geschäfte bieten sogar an, Produkt und Designerlogo getrennt zu erwerben. Aktuell ist der Fälschermarkt in den Vereinigten Arabischen Emiraten geschätzte fünf Milliarden Euro wert, aber niemand weiß genau, wie lange Plätze wie das Karama Center weiter bestehen bleiben. Gemeinsam mit der lokalen Polizei und der Hafen- und Zollbehörde hat Dubais Amt für Wirtschaftsentwicklung (DED) vor kurzem begonnen, sowohl in den von Touristen frequentierten Vierteln als auch in den Freihandelszonen gegen informellen Handel vorzugehen. Dabei werden jährlich mehrere Tausend Verletzungen von Urheberschutzrechten registriert und Millionen gefälschter Produkte zerstört.3 Neben der Beschlagnahmung inkri3 Siehe dazu die wiederholten Pressemeldungen der Commercial Compliance and

Consumer Protection Einheit des Departments of Economic Development. Online u.a.: http://www.uaeinteract.com/docs/Record_Dh195m_fake_goods_haul_in_ Dubai/70955.htm; http://www.uaeinteract.com/docs/Over_a_million_items_

Drehscheibe Dubai – Handeln in Eigenregie

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minierter Waren resultieren Razzien in heftigen Strafen für die Beschuldigten und vorübergehenden Schließungen von Geschäften. Hinzu kommt der steigende Druck seitens der Behörden und Immobilienentwickler, den Gebäudebestand in zentralen Lagen »umzustrukturieren« und im Zuge dessen ganze Blöcke abzubrechen, wie dies etwa mit der auch »7000er-Häuser« genannten Sheikh-Rashik-Wohnanlage in Karama geschehen ist. Der Spitzname dieses sozialen Wohnbaus bezog sich auf den bei 7000 Emiratischen Dirham (AED) eingefrorenen Mietpreis, in Zeiten als anderswo in Dubai die Wohnungspreise in die Höhe schnellten. Die ehemaligen Bewohner wurden 10 bis 20 Kilometer ins Landesinnere in neue Satellitenstädte wie Dubai International City umgesiedelt. Im Vergleich zu den Massenquartieren in den Arbeitslagern werden diese Billigbauten von vielen Fremdarbeitern als klare Verbesserung gesehen, auch wenn sie kaum über städtische Infrastruktur verfügen und sich in unmittelbarer Nähe zu einer Abwasserkläranlage befinden. Gleich neben der Dubai International City liegt ein weiteres markantes Bauwerk, das nur wenige Touristen zu sehen bekommen: Der sogenannte Drachenmarkt (Dragon Mart) ist das größte chinesische Verkaufszentrum außerhalb von China und einer der wichtigsten Vertriebsplätze für Billigimitate in die Wachstumsmärkte des Mittleren Ostens und Nordafrikas. Dieses 1,2 Kilometer lange Einkaufszentrum ist der Ort, wo die materiellen Sehnsüchte der ansässigen Mittelschicht mit den sozialen Ambitionen der Abertausenden nach Dubai gekommenen Fremdarbeiter zusammentreffen. Als im Jahr 2008 der Immobilienmarkt der Emirate zusammenbrach, entstand angesichts des Vakuums internationaler Investitionen eine neue Gruppe von Konsumenten, die das Bauen in die eigenen Hände nahm: Von Baumaschinen und -materialien, nachgemachten antiken Säulen und eleganten Terrassenmöbel, Badezimmerausstattungen und Schlafzimmereinrichtungen bis zu Tapeten, dekorativen Bildern und sonstigen Waren bietet Dragon Mart alles, was das private Bauherrenherz begehrt. Am Ende des Handelswegs, der

of_counterfeit_medicine_and_cosmetics_seized_in_Dubai/63660.htm. Neben zahlreichen Kooperationsabkommen mit anderen Regierungen, ausländischen Unternehmen und Spitzenmarken wie Nike oder Louis Vuitton bildete die Gründung des Intellectual Property Protection Advisory Boards im November 2015 als weltweit erste öffentlich-private Partnerschaft zum Schutz geistiger Eigentumsrechte einen weiteren Mosaikstein in der konzertierten Kampagne der Regierung, Dubai als attraktiven und profitablen Handelspartner zu etablieren. Online: http://www. dubaided.gov.ae/English/MediaCenter/Pages/PressReleasesDetails.aspx?ItemId=21

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Andere Märkte

mit großer Wahrscheinlichkeit in Yiwu, der inoffiziellen Hauptstadt des chinesischen Zwischenhandels begonnen, von Shanghai oder einem der anderen großen Containerhäfen in China nach Jebel Ali und sodann in das dem Drachenmarkt gegenüberliegende, riesige Logistikzentrum von COSCO, der staatseigenen China Ocean Shipping Company, geführt hat, stehen die an den Parkplatzrändern wartenden Tagelöhner, von denen die erworbenen Güter gleich auf die Baustelle gebracht werden. Mit kleinen, dafür umso zahlreicheren Geschäften liefert der chinesische Drachenmarkt auf diese Weise kontinuierlich frisches Material für eine in Richtung Wüste ausgedehnte Landschaft selbsterträumter Villen und historisierender Minipaläste. Mit über 4000 Geschäftslokalen und ehrgeizigen Plänen für eine Verdoppelung der Verkaufsfläche in den kommenden Jahren steht der Drachenmarkt für neue Handelsrouten, die Europa zunehmend umgehen und sich stattdessen Dubai als zweckdienlicherer Plattform für Verbindungen zwischen Asien, dem Mittleren Osten, Afrika und darüber hinaus bedienen. Insbesondere chinesische Hersteller und Anbieter nützen den Drachenmarkt als willkommenes Schaufenster für Zwischenhändler auf der Suche nach neuen Nachschubquellen für den Weiterverkauf an anderen Orten, wobei Afrika den am schnellsten wachsenden Markt für in Dubai ansässige chinesische Firmen darstellt. Diese neu entstehenden Handelsbeziehungen unterstreichen die komplexen politischen und ökonomischen Aspekte des internationalen Handels in Dubai. Dies gilt sowohl für den Betrieb von interkontinentalen Lieferketten als auch für die erlaubten und unerlaubten Geschäfte innerhalb der Region selbst, einschließlich des umfangreichen Handels mit dem Iran, der trotz international auferlegter Handelssanktionen über die Häfen des Emirats abgewickelt wurde. Allein offiziellen Zahlen nach ging in den Jahren vor dem Ende der nuklearbezogenen Einschränkungen bis zu ein Fünftel der von Dubai aus weitergehandelten Güter in den Iran. Die islamische Republik auf der anderen Seite des Persischen Golfs bildet damit für den Transferhandel in Dubai – nach Hongkong und Singapur der drittgrößte Wiederexporteur der Welt – das zweitwichtigste Bestimmungsland.4 Auch wenn ein Großteil dieses Handels den Gesetzen und Vorschriften zu entsprechen scheint, macht es das enorme Ausmaß der Wiederexporte 4 Karim Sadjadpour: »The Battle of Dubai. The United Arab Emirates and US-Iran

Cold War«, The Carnegie Papers, Washington, D.C.: The Carnegie Endowment for International Peace, 2011.

Drehscheibe Dubai – Handeln in Eigenregie

115

und die auf einen raschen Umschlag ausgerichtete Servicepolitik der Häfen Dubais schwierig, zwischen legalem Handel und Schmugglerware – und nicht zuletzt zwischen den Interessen einzelner Kaufleute einerseits und regierungsgeleiteten Interessen andererseits – zu unterscheiden. In diesen Grauzonen haben sich viele der Straßenmärkte in den einzelnen Emiraten angesiedelt, darunter der auf halber Strecke zwischen Ostund Westküste gelegene, weithin bekannte Freitagsmarkt in Masafi oder der Iranische Markt im alten Hafen von Abu Dhabi. Viele dieser bunten Märkte mit ihren geschmuggelten Teppichen, Keramiken und Imitationen alter Möbel, die gerade erst von ein paar traditionellen Dhau-Booten an Land gebracht zu sein scheinen, wirken wie Überbleibsel aus einer verlorengegangenen Zeit. Bei genauerer Inspektion wird jedoch klar, dass diese Märkte schon seit langem ein fester Bestandteil der Handelswirtschaft der Vereinigten Arabischen Emirate sind: Ihre Aufgabe ist der Vertrieb jenes Überschusses, der am Rand des boomenden Geschäfts mit dem Umladen, Wiederverpacken und Neubewerten der gesamten Güterproduktion der Welt vor Ort hängen bleibt.

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Markt 1905–1959

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Derb Ghallef Valley, Casablanca Das bereits zur Zeit des Französischen Protektorats (1912–1956) zum wirtschaftlichen Zentrum der Region erklärte Casablanca gilt seit langem als Tor für alle möglichen Arten des Handels aus und nach Marokko. In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts ist dieser Handel Ziel einer neuen Welle von Initiativen geworden, die darauf ausgerichtet sind, den Zugriff ausländischer Wirtschaftsmächte auf den marokkanischen Markt zu regulieren. Den Anfang machte das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Marokko im März 2000, gefolgt vom Freihandelsabkommen mit den USA, das seit Januar 2006 in Kraft ist. Diese Bemühungen wurden mit der Aufnahme von Verhandlungen über eine vertiefte und umfassende Freihandelszone (DCFTA) zwischen der EU und Marokko im März 2013 nochmals verstärkt. Laut Europäischer Kommission ist das vorrangige Ziel von DCFTA, die Integration der marokkanischen Wirtschaft in den gemeinsamen Markt der EU zu fördern, indem die marokkanischen Handelsvorgaben näher an die Gesetzgebung der EU herangebracht werden, und die Bearbeitung eine Reihe von weiteren Bereichen, die für moderne, transparente und abschätzbare Handels- und Investitionsabläufe entscheidend sind.1 Im Zuge dieses Unterfangens ist der Flohmarkt (»Joutia«) Derb Ghallef, »Marokko’s größter Schwarzmarkt«2, ins internationale Rampenlicht gerückt. Der »Joutia« ist eine dicht gepackte Ansammlung von blechgedeckten Ständen, die einen ganzen Baublock südlich der Altstadt von Casa­blanca einnehmen. Umgeben von breiten Boulevards und mehrstöckigen Apartmenthäusern wirkt er wie ein Gegenstück zur rasanten Modernisierung der Stadt, die mit der an ihm vorbeigleitenden hochmodernen Straßenbahn so eindrücklich vorgeführt wird. Die staubigen, als Parkplätze genutzten Brachflächen am Rand des Markts unterstreichen 1 Europäische Kommission: »EU und Marokko nehmen Verhandlungen über engere

Handelsbeziehungen auf«, IP/13/344, 22. April 2013. Online: http://europa.eu/rapid/ press-release_IP-13-344_de.htm 2 »Piracy still thriving in Marokko« (09CASABLANCA132_a), diplomatische Nachricht der US-Botschaft in Casablanca, Marokko, an das Handelsministerium und den Außenminister der USA, 8. Juli 2009; veröffentlicht als Teil von »PlusD - The WIKILEAKS Public Library of US Diplomacy«. Online: http://www.wikileaks.org/plusd /cables/09CASABLANCA132_a.html

118

Andere Märkte

seine Inselfigur ebenso wie ein angrenzendes, von einer Mauer umgebenes Bidonville, auf dessen Dächern sich Berge an gesammelten Altmaterialien türmen und diese informelle Siedlung auf den ersten Blick als Müllhalde erscheinen lassen. Der äußere Eindruck – rostiges Blech, Schutt und Müll – täuscht jedoch: Tatsächlich ist der Markt eine der wichtigsten Quellen für den Kauf der neuesten elektronischen Geräte, wie Laptops, Kameras oder Mobiltelefone, nicht selten bevor diese über den regulären Handel erhältlich sind. Mit der zunehmenden Instrumentalisierung von geistigen Eigentumsrechten als Mittel zur Öffnung und Besetzung neuer Märkte wächst allerdings auch der internationale Druck, den Handel mit Raubkopien und gefälschten Waren einzudämmen. Dieser Druck stieg nach einer 2008 in Casablanca abgehaltenen und vom Patentamt der Vereinigten Staaten (USPTO) durchgeführten Konferenz massiv an, nachdem Angehörige des diplomatischen Personals der USA Derb Ghallef besucht hatten und darüber berichteten, dass »für die neuesten Kassenschlager aus Hollywood, wie zum Beispiel Wolverine, The Hangover oder Gran Torino, nicht mehr als 1 USDollar verlangt wird. Neben diesen umfangreichen Sammlungen an westlichen Filmen wird nicht lizenzierte Software, wie etwa Windows Vista (Microsoft) oder Final Cut (Apple), zum etwas höheren Preis von 3 US-Dollar angeboten«.3 Die in diesem Bericht der diplomatischen Vertretung der USA aus dem Jahr 2009 festgehaltene Bewertung von Marokkos Erfolg in der Bekämpfung von Verstößen gegen Urheberschutzrechte spiegelt die allgemeine Stimmung internationaler Lobbyisten gegenüber Marokko wider. Aufgrund seiner vielgepriesenen wirtschaftlichen Öffnung nach außen wird Marokko oft als ein Modell für die gesamte Region hochgehalten, wenn es etwa um das Abschließen von Verträgen, den Beitritt zu Abkommen oder die Zusammenarbeit mit internationalen Einrichtungen geht. Marokko war zum Beispiel eines der ersten Länder – und das einzige »Entwicklungsland« –, die das umstrittene Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) im Oktober 2011 unterzeichnet haben. Was internationale Interessensgruppen jedoch nach wie vor stört, ist die in ihren Augen weiterhin vorherrschende Kluft zwischen einer beispielhaften Verpflichtung auf 3 Ebd. Übersetzung durch die Verfasser.

Derb Ghallef Valley, Casablanca

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dem Papier einerseits und dem Ausbleiben einer tatsächlichen Umsetzung dieser Aufgaben, wie etwa einer erfolgreichen Strafverfolgung von Urheberrechtsverletzungen, andererseits. Zahlen von weniger als hundert Verhaftungen jährlich stehen in starkem Gegensatz zur fortwährenden Bedeutung und Verbreitung des informellen Handels im Land. Der urbane Mythos, dass Derb Ghallef jährlich von der Hälfte der Bevölkerung des Landes besucht wird, veranschaulicht die anhaltende Bedeutung von informellen Märkten in der marokkanischen Kultur. Meldungen der marokkanischen Business Software Alliance, wonach der nationale Markt für CDs, DVDs und Computersoftware zu 70 Prozent mit Raubkopien bestritten wird, tragen das ihrige zu einem gern ins Spiel gebrachten Gegennarrativ bei, der Derb Ghallef als ein Zentrum kreativer Intelligenz und bahnbrechender IT-Kenntnisse darstellt. Das mit dem Begriff »Ghallef Valley« gezeichnete Bild eines Silicon Valley von unten unterstreicht die Rolle, die räumliche Dichte, wie sie eben der Markt bietet, spielt, wenn es darum geht, stets neue Kompetenzen zu entwickeln und sich im Wettbewerb zu behaupten. Angesichts der aufgrund seines informellen Charakters unsicheren Zukunft des Standorts ist Derb Ghallef auch zu einem Symbol für die augenscheinliche Ignoranz der Führungseliten gegenüber der jungen Generation des Landes geworden. Zahlreiche Blogs beklagen, wie das Talent hochqualifizierter College-Absolventen vergeudet wird, wenn sie gezwungen werden, sich ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf von raubkopierter Software oder geknackter Codes für Satellitenfernsehempfänger auf dem Markt zu verdienen. Anstatt Derb Ghallef als einen Schauplatz illegaler und krimineller Aktivitäten zu dämonisieren – so ein weitverbreiteter Tenor – sollte die Entwicklung des Landes nicht auf der neoliberalen Agenda von Einfuhrmärkten aufbauen, sondern auf eigenes Talent und das Potenzial der informellen Wirtschaft zurückgreifen. Andere Blogs bestreiten dagegen, dass Derb Ghallef der Zufluchtsort unausgelasteter Intelligenz sei und verweisen darauf, dass das Kerngeschäft der IT-Verkaufsstände auf dem Markt nicht wirklich ausgeklügelte Hackerkenntnisse verlangt. Die Mehrheit der jungen Händler, so wird argumentiert, seien bloße »Bracker«, die das Internet nach Anleitungen durchsuchen, wie Software-Codes geknackt werden können, und deren einzige Fähigkeit darin besteht, bereits geknackte Codes aus dem Netz herunterzuladen. Während diese gegensätzlichen Darstellungen eine wichtige Rolle für die Lobbyarbeit der unterschiedlichen Seiten spielen,

120

Andere Märkte

haben sich die Händler auf dem Markt bereits neuen Geschäften zugewandt. War der Zeitraum der Austragung des FIFA Weltcups 2006 von einer starken Nachfrage nach gehackten Satellitenfernsehempfängern und gefälschten Dreamboxen geprägt, so haben technologische Fortschritte und veränderte Konsumentenvorlieben dazu geführt, dass sich die Markthändler neue Kenntnisse aneignen und ihr Produktangebot samt Lieferketten und Geschäftsmodellen entsprechend anpassen mussten. Die nachhaltige Stärke von Derb Ghallef liegt somit weniger in seinem aktuellen Auftritt als Drehscheibe von Billigelektronik und nachgeahmten Lifestyle-Accessoires, als vielmehr in seiner Fähigkeit, sich immer wieder neu zu orientieren. In der Tat besticht Derb Ghallef nicht zuletzt durch seine knapp hundertjährige Geschichte, die bis in die Kolonialepoche, einer Zeit lange vor dem digitalen Zeitalter und dem Aufkommen von Verbraucherelek­t ronik, zurückreicht. Derb Ghallef nahm seinen Ursprung als informelle Siedlung auf einem zentral gelegenen Stück Land, das für die Erweiterung der neuen »europäischen« Stadt von Casablanca vorgesehen worden war. Es wird erzählt, dass Erbstreitereien dazu führten, dass kleine Parzellen vorübergehend verpachtet und sodann informell bebaut wurden. Dank der umliegenden wohlhabenderen Nachbarschaften begannen die Bewohner dieser informellen Behausungen, sich auf den Weiterverkauf von Altwaren, die sie in diesen Vierteln einsammelten, zu spezialisieren. In der Folge wurde der »Joutia« rasch zum wichtigsten Markt in der Umgebung. Bereits um 1920 versuchte die Stadtverwaltung den Markt und seine Händler zu vertreiben. Allerdings blieb eine Einigung zur Umsiedlung innerhalb von zwanzig Jahren und der Errichtung von breiten Straßenzügen, wie sie der offizielle Bebauungsplan vorgesehen hatte, ohne Erfolg, da die diesbezüglich eingegangenen Verpflichtungen stets zwischen Erben, Eigentümern und Mietern hin und her geschoben wurden. Die undurchsichtige Verwicklung von Land, Eigentum, Untervermietungen und Nutzungsrechten machte es unmöglich festzustellen, wer letztlich als rechtmäßiger Adressat für diese Maßnahmen heranzuziehen wäre. Als ein Brandanschlag im Jahr 1959 den Markt zerstörte, zogen die Händler an die Ufer eines ausgetrockneten Bachbetts entlang der alten Straße nach Bouskara. 1982 fiel auch dieser Markt einem Feuer zum Opfer. Als Ausgleich für die städtische Übernahme des Geländes des zerstörten Markts ermöglichten die städtischen Behörden eine »vorübergehende« Übersiedlung des Markts an seinen derzeitigen Standort – unter der Auflage, dass

Derb Ghallef Valley, Casablanca

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Derb Ghallef, Casablanca

die Geschäfte ohne festem Fundament und für eine Dauer von maximal zehn Jahren errichtet werden. Ungefähr einen Kilometer weiter südlich gelegen, war auch der neue Platz das Ergebnis eines unauflösbaren Geflechts verschachtelter Erbfolgen, die zur Folge hatten, dass dieses hochwertige Grundstück in bester Stadtlage unbebaut geblieben und sich selbst überlassen worden war. Gegenüber den anfänglich an die ehemaligen Händler des vorigen Standorts ausgegebenen 700 Verkaufsberechtigungen hat sich die Zahl der Stände mittlerweile verdoppelt. Dieses Wachstum beruht auf einem komplexen System von Untervermietungen und Aufteilungen. Geschäftsbesitzer nützen ihre Frontseiten doppelt, indem sie etwa Fensterplätze an selbständige Verkäufer und Reparateure von Mobiltelefonen vermieten. Monatliche Mieten für Geschäfte bewegen sich zwischen 7000 und 20.000 marokkanischen Dirhams (840 und 2400 US-Dollar), beziehungsweise zwischen 3000 und 6000 marokkanischen Dirhams (360 und 720 US-Dollar) für eigenständige Verkaufsplätze für Mobiltelefone. Trotz der unsicheren Zukunft des Markts hat das knappe Raumangebot zu einem Immobilienmarkt geführt, in dem die verlangten Quadratmeterpreise doppelt so hoch sein können wie für bestausgestattete Büroräumlichkeiten in den Spitzenlagen der Stadt. Eine besondere Eigenheit des Schwebezustands zwischen offizieller Anerkennung und drohendem Abriss des Markts ist seine Teilintegration

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Andere Märkte

in offizielle Verwaltungssysteme, die ganz spezielle Arrangements zur Folge hat. Da es bis heute keine abschließende Klärung der Bodenrechte gab, zahlen die Händler »tanazoul«, eine Art Vorauszahlung; jedoch ist keineswegs klar, wer letztlich der Empfänger dieser Gelder ist. Darüber hinaus zahlt die Mehrzahl der Händler sowohl jährliche Gebühren für ihre Verkaufsberechtigungen als auch einen pauschalen Steuersatz, abhängig von Art und Größe ihrer Geschäfte (im Durchschnitt zwischen 5000 und 10.000 marokkanische Dirham, bis zu 50.000 marokkanische Dirham im Jahr für ein zwölf Quadratmeter großes Elektronikgeschäft). Trotz dieser Beiträge wird der Markt nicht in die umgebende städtische Infrastruktur eingebunden. Als Folge dieser ungeklärten Eigentumsverhältnisse gibt es in Derb Ghallef keine öffentliche Strom- und Wasserversorgung und auch keine Entsorgung der Abwässer. Es ist geradezu paradox, dass Derb Ghallef auf der einen Seite als Marokkos Silicon Valley und als Schlüsselstelle für den Erwerb von Kompetenzen im Elektronikbereich gesehen wird, und auf der anderen Seite nicht einmal an das Stromnetz der Stadt angeschlossen ist. Bislang sind alle Versuche, den Markt in das städtische Versorgungsnetz zu integrieren, daran gescheitert, den Fragenkomplex hinsichtlich Grundeigentümer, rechtlicher Verantwortlichkeiten und betroffener Vertragsparteien zu entwirren. Stattdessen ist der Markt immer noch auf den Betrieb von Generatoren – einer pro Gang – angewiesen. Diese selbstorganisierte Stromerzeugung hat sich zu einem eigenen Geschäftszweig entwickelt: 200 marokkanische Dirham zahlt jeder einzelne Stand den Betreibern dafür pro Woche. Vor dem Hintergrund politischer Absichtserklärungen, nach denen alle Slums von Casablanca bis zum Jahr 2010 beseitigt hätten werden sollen, befürchten viele Händler in Derb Ghallef, dass die Schließung des Markts jederzeit bevorstehen könnte. Eine ausführliche interdisziplinäre Studie4 über Derb Ghallef, die Geografen, Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler der Hassan-II-Universität in Casablanca 2007 durchgeführt haben, hat die Spannungen zwischen den verschieden auf dem Markt tätigen Gruppen aufgezeigt: Seit langem etablierte Händler, die ganze Imperien mit vielen Ständen betreiben, konkurrieren mit Neuankömmlingen vom Land, die nach wenig kapitalintensiven Gelegenheiten suchen, und Straßenhändlern, die direkt vom benachbarten 4 Rajaa Mejjati Alami und Jamal Khalil: »Etude sur la jouteya de Derb Ghallef«, La

revue economia 2 (Februar–Mai 2008), S. 66–104. Online: http://www.cesem.ma/pdf economia2/etude-et-enquetes.pdf

Derb Ghallef Valley, Casablanca

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Müllsortierplatz übernommene Altwaren auf den Gehsteigen vor dem Markt zum Kauf anbieten. Diese äußerst unterschiedlichen Arten des Handelns sind mit ein Grund, warum sich immer noch keine starke Händlervereinigung gebildet hat, die im Namen aller Verhandlungen mit der Stadtverwaltung führen könnte. Die Tatsache, dass die Geschäfte in Derb Ghallef trotz dieser Widrigkeiten immer noch gut laufen, unterstreicht die Bedeutung seiner ausgeklügelten Raumlogiken. Die gedrängte Dichte der Anbieter bringt für Käufer einen besonderen Anreiz hervor, wie er sonst nirgendwo existiert. Der Standort des Markts und seine konkrete Form – die Art, wie sich die Stände ineinander verschachteln – werden so zu einem entscheidenden Kapital. Die undurchschaubaren Verwicklungen der Geschäftstätigkeiten mit unklaren Besitzverhältnissen und das gleichzeitige Betreiben von mehreren Klein- und Kleinstgeschäften an einem einzelnen Stand machen es umgekehrt für die Behörden mehr oder weniger unmöglich, individuelle Händler ins Visier zu nehmen. Gegenüber außenstehenden Beobachtern bringt dieses räumliche Konglomerat mit seinen sprichwörtlich ineinander gebauten Interessen eine widerständige Einheit hervor, die nur als Ganzes angesprochen werden kann. Wenig überraschend haben die Behörden die Aufgabe der großflächigen Räumung nun an private Unternehmen übergeben – mit dem Auftrag, Gruppen mit unterschiedlichen Berechtigungen, Beteiligungen und Ansprüchen herauszufiltern und damit den Markt letztlich in willkommene und unerwünschte Elemente aufzuspalten.

Flohmärkte in Autokinos Flohmärkte mit mehr als 20.000 Besuchern

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Kaliforniens öffentlich-private Märkte Flohmärkte sind in Kalifornien eine große Sache. Ihre zunehmende Beliebtheit als Freizeitbeschäftigung hat ein dichtes Netz an Marktplätzen in den urbanen Agglomerationen von Los Angeles und San Diego sowie der Bucht von San Francisco hervorgebracht. Allein die Größe von manchen dieser lokal als »swap meets« (Tauschtreffen) bekannten periodischen Flohmärkte ist beeindruckend. Einer der bekanntesten davon findet im legendären Rose-Bowl-Stadion des UCLA-Bruins-FootballTeams in Pasadena im Großraum von Los Angeles statt und bietet Platz für 2500 Anbieter, die im Durchschnitt an die 25.000 Käufer und Bummler zwischen dem frühen Morgen und mittleren Nachmittag anziehen.1 Während der Rose-Bowl-Flohmarkt nur einmal im Monat auf einem dazu angemieteten Gelände stattfindet, hat sich ein beachtlicher Teil der kalifornischen Flohmärkte zu einer dauerhaften Einrichtung mit festen Baulichkeiten entwickelt. Der nach der ersten Welle von »swap meets« im südlichen Kalifornien im Jahr 1960 eröffnete San-Jose-Flohmarkt bot als wesentliches Unterscheidungsmerkmal Händlern die Möglichkeit, ihre Waren in Lagerstätten direkt am Markt aufzubewahren. Heute beansprucht der San-Jose-Flohmarkt für sich, mit seinen 2200 Ständen, die sich über eine Länge von mehr als 13 Kilometer erstrecken, der weltweit größte Markt dieser Art zu sein. Mit seinem breit gefächerten Vergnügungsangebot aus Karussellen, Live-Musik, Spielhallen sowie 25 Restaurants wird der Markt nach eigenen Angaben von vier Millionen Menschen im Jahr besucht und liegt mit diesen Zahlen an vierter Stelle der beliebtesten Ausflugsziele in den USA.2 Diese »Superstars« unter den Flohmärkten Kaliforniens werben von sich als Orte der Gelegenheit für jeden, wo man als Verkäufer »zusätzliches Geld verdienen und Spaß dabei haben kann«3 und als Käufer ein Schnäppchen erhaschen, ungewöhnliche Dinge aufstöbern und glückliche Familienerinnerungen beim gemeinsamen Spielen, Kaufen 1 Selbstbeschreibung des Markts auf der Homepage des Veranstalters. Online: http://

www.rgcshows.com/rosebowl.aspx

2 Selbstbeschreibung des Markts auf der Homepage der Betreiber. Online: http://www.

sjfm.com/

3 Siehe Anmerkung 1.

126

Andere Märkte

und Essen schaffen kann. »Gelegenheiten ergreifen« ist aber nicht nur das Leitthema der angebotenen Aktivitäten, sondern durchdringt das gesamte Geschäftsmodell der kalifornischen Flohmarktunternehmen: von den ersten Anfängen Mitte des 20. Jahrhunderts bis zu den heutigen Versuchen, sich an geändernde wirtschaftliche Bedingungen anzupassen und diese in das Marktgeschäft zu integrieren. Eine Schlüsselstelle und zugleich Grundvoraussetzung für die Anpassungsfähigkeit dieser Märkte ist ihre parasitäre Nutzung von Raum, die weniger Zwischenräume als Zwischenzeiten besetzt. Die Tatsache, dass die Marktbetreiber auf die Verfügbarkeit von großen befestigten Freiflächen angewiesen sind,4 hat in Südkalifornien zu einer seltsamen Verbindung zwischen Flohmärkten und einer der markantesten Architekturformen des amerikanischen Traums – dem Autokino – geführt. Wenngleich das erste Autokino5 an der amerikanischen Ostküste, genauer gesagt im von der Weltwirtschaftskrise geplagten New Jersey, am 6. Juni 1933 seinen Betrieb aufnahm, wurde das Konzept des Freiluftkinos erst im autofreundlichen Klima der Mitte des 20. Jahrhunderts rasch wachsenden kalifornischen Vorstädte von Erfolg gekrönt. Angesichts der Tatsache, dass Freiluftkinos nur bei Dunkelheit betrieben werden können, blieben die in dieser Periode errichteten und für bis zu 4000 PKWs ausgelegten Freiflächen die meiste Zeit des Tages ungenützt. Einige der bekanntesten Märkte gehen bis auf die frühen Jahre dieser Anlagen Ende der 1950er bzw. Anfang der 1960er Jahre zurück; in manchen Fällen wurden die ersten Märkte bereits zwei bis drei Jahre nach Eröffnung des jeweiligen Autokinos abgehalten. Letztlich war es jedoch die große Krise der Autokinos, die in den 1980er Jahren mit der zunehmenden Leistbarkeit von neuen Heimsystemen (Videorecorder, etc.) und dem Aufkommen von Multiplexkinos ihren Anfang nahm und das Abhalten von Flohmärkten auf den Arealen von Autokinos zu einem derart verbreiteten Phänomen werden ließ. In diesem Sinn spiegelt der Boom von »swap meets« den Niedergang des kollektiven Filmgenusses an öffentlichen Orten wider.6 4 Typischerweise werden Flohmärkte daher auf Parkplätzen von Stadien oder Ein-

kaufszentren, auf Messegeländen und in leerstehenden Lagerhallen abgehalten, in den USA oft aber auch in ehemaligen Kinosälen, wie dem Westlake Theater am Wilshire Boulevard in Los Angeles (1991–2011). 5 Patentiert von Richard Milton Hollingshead am 16. Mai 1933. 6 Der Umstand, dass sich die Umnutzung von Autokinos für Flohmärkte und ihre zunehmende Inanspruchnahme als wirtschaftliche Nischenräume durch migrantische Gruppen an verschiedenen Orten gleichzeitig (nicht nur in den USA, sondern

Kaliforniens öffentlich-private Märkte

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Roadium, Los Angeles

Der Reiz von Flohmärkten liegt für Grundstückseigentümer zum einen darin, dass sie schnell und einfach einzurichten sind, während zum anderen die Verantwortlichkeiten und der logistische Aufwand für den eigentlichen Marktbetrieb an die einzelnen Händler abgegeben werden kann. Diese müssen sich selbst um Nachschubquellen und die Erfüllung der Steuervorschriften kümmern und noch dazu das wirtschaftliche Risiko unverkaufter Ware allein tragen. Was an Aufgaben für den Platzbetreiber übrigbleibt, ist die Zuweisung der einzelnen Verkaufsflächen, die Betreuung der sanitären Grundausstattung und das Management des Besucherstroms – alles Tätigkeiten, die dem Kinobetrieb nicht unähnlich sind. Der Originalentwurf für Autokinos sah vor, Standplätze in leichter Schräglage zwecks ungehinderter Sicht auf die Leinwand zu errichten. Die durchgängige Wellung des Areals gibt dementsprechend das prinzipielle Layout der Märkte vor. In den meisten Fällen dienen die Markierungen für die Autostellplätze des Kinos zugleich auch als Abgrenzungen der einzelnen Verkaufsflächen und ergeben so die für »drive-in swap meets« so typische Anordnung der Markstände in zwiebelschalenartig geschichteten auch in Europa, wie etwa im Fall des unmittelbar hinter der Stadtgrenze von Wien gelegenen Autokinos in Großenzersdorf) entwickelt hat, unterstreicht die »aktive Form« (Keller Easterling) der Architektur des Autokinos, d.h. dass Investitionen in die Errichtung von Autokinos von Beginn an als dispositiv ausgerichtete Spekulationen über zukünftige wirtschaftliche Expansionsmöglichkeiten angelegt waren.

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Andere Märkte

Kreisbögen. Obwohl die Abhaltung dieser Märkte zu Beginn häufig nur als zusätzliches Unternehmen gedacht war, sind sie für viele Kinobesitzer mittlerweile die Haupteinnahmequelle geworden.7 Die größte Bedrohung für diese Art von Geschäft resultiert heutzutage vor allem aus einem zunehmenden Interesse an »untergenützten« Immobilien: Waren Autokinos ursprünglich oft auf billigen Grundstücken am Stadtrand oder in Industriegebieten errichtet worden, so stellen viele dieser Orte mittlerweile wertvolle Vermögensgüter dar. »Unbebaute« Flächen dieser Größe werden als seltene und hochbewertete Entwicklungsmöglichkeiten gesehen, die hohe Gewinne erzielen können, wenn sie etwa für die Errichtung von Einkaufszentren, Universitäten oder »gated communities« herangezogen werden.

Brennpunkt Mexiko Nicht alle Standorte können mit den beeindruckenden Besucherzahlen von Megamärkten wie dem San-Jose-Flohmarkt mithalten. Trotzdem versorgen die rund 90 über Südkalifornien verstreuten professionellen »swap meets« mit jeweils über 200 Verkaufsständen pro Woche mehrere Millionen Käufer. Zur ungebrochenen Popularität dieser Märkte trägt nicht zuletzt die anhaltende Arbeitsmigration aus Mexiko bei, mit der sich die soziale Zusammensetzung Kaliforniens wesentlich verändert hat. Nach den vom US-amerikanischen Volkszählungsbüro im Rahmen des American Community Survey durchgeführten Erhebungen hatten im Jahr 2014 38 Prozent der 38,8 Millionen Einwohner Kaliforniens einen hispanischen Hintergrund.8 In diesem Zusammenhang stellen »drive-in swap meets« einen Anziehungsort für eine auf die Latino-Community ausgerichtete 7

Von Nord nach Süd umfasst die Liste der (stillgelegten und noch betriebenen) kalifornischen Autokinos, auf deren Flächen im Jahr 2015 regelmäßig Märkte abgehalten wurden, das Solano Drive-In in Concord, das Coliseum Drive-In in Oakland, das Capitol Drive-In in San Jose, das Sun Set Drive-In in San Luis Obispo, das Hi-Way Drive-In in Santa Maria, das Twin Drive-In in Goleta; im Großraum von Los Angeles das Vineland Drive-In in der City of Industry, das Starlite Drive-In in El Monte, das Mission Tiki Drive-In in Pomona, das La Mirada Drive-In in Santa Fe Springs, das Rubidoux Drive-In and das Van Buren Drive-In in Riverside, das Roadium Drive-In in Torrance (mit einem der ältesten, seit 1954 bestehenden Markt); and südlich von Los Angeles das Mission Drive-In in Oceanside und das South Bay Drive-In in San Diego. 8 »Hispanic Origin Data«, United States Census Bureau. Online: http://www.census. gov/population/hispanic/data/

Kaliforniens öffentlich-private Märkte

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Marktkultur dar. Der mexikanische Einschlag auf vielen kalifornischen Märkten ist aber nicht nur auf ansässige Hispanoamerikaner zurückzuführen. Einkaufstouristen aus Mexiko grasen diese Flohmärkte sowohl nach Gütern zum Weiterverkauf auf einem der zahllosen Straßenmärkte in Tijuana als auch für den Eigenbedarf ab, letzteres umso mehr, je näher der Markt zur Grenze liegt.9 Ungeachtet der zentralen Rolle, die Hispanoamerikaner hier als Käufer und Verkäufer spielen, unterscheidet sich das Marktleben auf den kalifornischen »swap meets« wesentlich von den Straßenmärkten in Tijuana und anderen mexikanischen Städten, auch wenn sie auf den ersten Blick angesichts des typischen »Lieferwagenumfangs« der Geschäfte, der Aufmachung der Stände und der angebotenen Waren ähnlich erscheinen mögen. Die Unterschiede beruhen in erster Linie auf den Eckpunkten liberaler Marktwirtschaft: der Organisation von Besitzverhältnissen und des Zugangs zu Märkten. Im Gegensatz zu Tijuana finden praktisch alle Flohmärkte nördlich der Grenze auf privatem Boden und nicht auf öffentlichen Straßen statt. Anstatt von Händlergewerkschaften organisiert zu werden, sind sie Gegenstand privater Unternehmen. Zwei wichtige Eigenschaften unterstreichen die private Natur der kalifornischen »swap meets«: Vorschriften und Gebühren. Viele Standorte haben genaue Regeln ausgearbeitet, die sowohl Bestimmungen zur Einhaltung der offiziellen Gesetzgebung als auch detaillierte Vorgaben über das Verhalten von Händlern am Platz umfassen, einschließlich mehrstufiger Strafmaßnahmen bei Missachtung dieser Richtlinien.10 Wenn zum Beispiel ein Händler beim Verkauf von gefälschten Waren erwischt wird, kann dies zur sofortigen und dauerhaften Platzverweisung führen. Wenngleich auf der visuellen Ebene eine starke Ähnlichkeit zwischen den Straßenmärkten von Tijuana und den kalifornischen »swap meets« besteht, ist im Falle letzterer ein gewisses Defizit anderer Sinneserfahrungen, der Mangel an mitreißenden Gerüchen und Klängen, umso auffallender. Die von Musikanten und Tanzgruppen 9 Mehr als die Hälfte der 100.000 täglichen Grenzübertritte von Mexiko in die USA

werden zu Einkaufszwecken getätigt. SANDAG: »Economic Impacts of Wait Times at the San Diego–Baja California Border« (Final Report), San Diego Association of Governments: San Diego, 2006. 10 Auf vielen Märkten haben sich einzelne Stände auf das Angebot von »swap meet supplies«, wie spezielle Fixiereinrichtungen für die Verkaufstische und allerlei sonstige vorgeschriebene Verkaufsutensilien, spezialisiert.

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Andere Märkte

dargebotene Stehgreifunterhaltung, die ein fester Bestandteil mexikanischer Märkte ist und wesentlich zum Gefühl von »mercados populares« (Volksmärkten) als miteinander geteilter öffentlicher Sphäre beiträgt, steht in starkem Gegensatz zur strengen Lärmkontrolle auf den kalifornischen Märkten, die es Händlern untersagt, ihre Waren durch das Abspielen von Musikkassetten oder CDs zu bewerben. Um den staatlichen Hygieneverordnungen für den Verkauf von Nahrungsmitteln zu entsprechen, ist dort das Anbieten von unverpackten oder für den unmittelbaren Konsum geeigneten Lebensmitteln untersagt. Dies hat neben dem Verbot von Messern und Reiben detaillierte Richtlinien über Mindestmengen im Verkauf zur Folge – bei Getränken mindestens eine Sechserpackung, auch bei Bagels und anderem Gebäck Packungen mit sechs oder mehr Stück, Kuchen nur im Ganzen und nicht in einzelnen Stücken, und Nüsse oder Trockenfrüchte in Packungen von mindestens einem halben Pfund Gewicht –, um klar zwischen Lebensmittel- und Imbissständen unterscheiden zu können. Die Tatsache, dass die Betreiber von »swap meets« diese Vorschriften im Namen der staatlichen Behörden durchsetzen, verleiht ihnen die Macht, die Ausrichtung des Markts allein zu bestimmen und alles zu verbannen, was nicht unmittelbar ihrem Hauptinteresse, nämlich der Einhebung von Mieten, zuträglich ist. Auf den größeren, fest etablierten Märkten bewegen sich die täglichen Standgebühren für die Händler zwischen 15 und 30 US-Dollar an Wochentagen und zwischen 30 und 80 US-Dollar an den Wochenenden. Für besonders bevorzugte Lagen auf Spitzenmärkten wie dem Rose-BowlFlohmarkt können die Mieten auch bis zu 250 US-Dollar betragen. Allerdings gehören die Händler, die solche Plätze buchen, zu einer anderen Liga als die hispanischen Familienunternehmen, die sich auf den Weiterverkauf von meist bei Lagerräumungen oder über andere prekäre Lieferketten erstandene Waren spezialisiert haben. Auf manchen Märkten kann mittels vorzeitig oder monatsweise durchgeführten Reservierungen bei den Standgebühren etwas eingespart werden. Nichtdestotrotz muss ein Händler, der beabsichtigt, an zwei Wochentagen sowie am Wochenende seinen Stand zu betreiben, und dazu vielleicht auch noch einen Lagerraum vor Ort anmietet, eine Summe von etwa 1000 US-Dollar Monatsmiete aufbringen. Auch Käufer müssen für den Besuch dieser Märkte etwas zahlen. Auswüchse wie bei Rose Bowl, wo 8 US-Dollar und mehr für den allgemeinen Einlass und bis zu 20 US-Dollar für eine spezielle VIP-Vorschau zwischen fünf und sieben Uhr früh eingehoben werden,

Kaliforniens öffentlich-private Märkte

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sind allerdings die Ausnahme. Typischerweise belaufen sich die Eintrittsgebühren auf 50 US-Cent an weniger stark frequentierten Wochentagen bzw. 2 US-Dollar an Wochenenden. Mit durchschnittlich zehn bis zwanzig Einkäufern, die auf einen Stand kommen, tragen die Marktbesucher somit wesentlich zu den Direkteinnahmen der Marktbetreiber bei. Eintrittsgebühren können zwischen 25 und 40 Prozent ihrer gesamten Einnahmen ausmachen und an manchen Tagen sogar die Summe der von den Händlern eingehobenen Standgebühren übertreffen. Dass Konsum die Voraussetzung sozialen Lebens geworden ist, spiegelt die Logik des »anderen« Marktplatzes, der moderne Gesellschaften zu dominieren begonnen hat, wider: Shopping Malls. Vielerorts hat diese räumliche Technologie den öffentlichen »Stadtplatz« als Treffpunkt und Versammlungsort abgelöst. Der Austausch dient in diesen privat errichteten, privat besessenen und privat verwalteten Räumen in erster Linie aber dem Erwirtschaften von Profit und nicht dem Sammeln von bereichernden sozialen Erfahrungen. Gegenüber den Straßenmärkten in Tijuana, die als Annäherung an eine durch kooperative Körperschaften bewirtschaftete soziale und ökonomische Allmende gesehen werden können, bezeugen die kalifornischen »swap meets« die fortlaufende Privatisierung öffentlicher Sphären in den liberalisierten Wirtschaften des Nordens. Das von diesem Leitbild geprägte städtische Gewebe unserer Zeit präsentiert sich als eine flächige Ausbreitung isolierter Einheiten, die nur durch ein unaufhörliches Propagieren der Auto-Mobilitätskultur zusammengehalten wird. Es mag vielleicht als Ironie der Geschichte erscheinen, dass sich Flohmärkte die Räume von Autokinos angeeignet haben; doch der Umstand, dass diese einst für das moderne Amerika so symbolträchtigen Architekturen nun als Ort des schnellen Billighandels firmieren, sagt auch viel über die Alltagsrealität des amerikanischen Traums im 21. Jahrhundert aus.

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Sham Shui Po

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Außer Sichtweite – Dämmerungsmärkte in Hongkong Bilder von Freiluftmärkten sind ein bekanntes Klischee in der Präsentation von Hongkong als schillernde Metropole. Nahaufnahmen von Nachtmärkten und über dampfenden Straßenküchen schwebenden Neonschriften werden routinemäßig eingesetzt, um zu illustrieren, wie Hongkongs Rolle als Knotenpunkt globaler Kapitalflüsse fest in einer tatkräftigen lokalen Handelskultur verankert ist. Meist zeigen diese Bilder einen der vielen großen Straßenmärkte, die das Rückgrat der inneren Gewerbebezirke auf der Halbinsel Kowloon bilden. In der Tat sind einige dieser Märkte, wie etwa der Ladies Market und die daran anschließenden, auf Elektronik spezialisierten Einkaufsgalerien mittlerweile so bekannt, dass sie auf der berüchtigten, vom Büro des US-Handelsbeauftragten erstellten Liste »notorischer Märkte« gelandet sind. Um aber von potenziellen Kunden erkannt zu werden, ist Sichtbarkeit auf diesen Märkten, wo feste Stände mit umherziehenden Straßenverkäufern um die Aufmerksamkeit der Passanten buhlen, unerlässlich. Am unteren Ende der Skala dieser zwischen Legalität und Illegalität changierenden Märkte findet sich jedoch ein Typus, dessen bestimmende Eigenschaft gerade die Vermeidung von Sichtbarkeit ist. Die sogenannten Dämmerungsmärkte sind jene Orte, die von den Ärmsten der Armen aufgesucht werden, flüchtige Zusammenkünfte, wo sich Rentner, ältere Arbeitslose und Obdachlose aufreihen, um alles, was auch nur den geringsten Wert haben könnte, zu verkaufen. Neben aus Müllcontainern aussortierten Altwaren offerieren die Händler kleine Mengen von selbst angebautem Gemüse und Essensreste, die bei nahe gelegenen Märkten, Geschäften und Restaurants eingesammelt werden. Der Handel auf diesen Dämmerungsmärkten ist fast ausschließlich ein Tag-zu-Tag-Unternehmen, bei dem die Händler nur jene Waren mitbringen, die sie am gleichen Morgen zu verkaufen hoffen. Angesichts ihrer wirtschaftlichen und physischen Schutzlosigkeit besteht die einzige Chance der Händler, den umfangreichen Maßnahmen der Hongkonger Behörden zur Bekämpfung und Verfolgung unerlaubten Straßenhandels zu entkommen, darin, jegliche unerwünschte Aufmerksamkeit von vornherein zu vermeiden. Aus diesem Grund betreiben sie

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Andere Märkte

ihre Geschäfte nur während der frühen Morgenstunden und nutzen dabei jene räumlichen und zeitlichen Lücken, die sich während der Ruhezeiten des Hawker Control Team (HCT) des Food and Environmental Hygiene Department von Hongkong zwischen 23.30 Uhr und 7.00 Uhr auftun. Die Dämmerungsmärkte sind vor allem auf die Bedürfnisse der Über-65-Jährigen, die ein Drittel der Bevölkerung Hongkongs ausmachen und großteils in Armut leben, ausgerichtet. Die meisten dieser Märkte haben sich an den Rändern von sozialen Wohnbauten, etwa in Tin Shui Wai in den Neuen Territorien, oder in vernachlässigten innerstädtischen Bezirken wie Sham Shui Po in Kowloon angesiedelt. Sie erstrecken sich oft entlang von Fußgängerrouten, die von der Straße nicht eingesehen werden können, in der Hoffnung, dass sich unter den Arbeitern, die auf dem Nachhauseweg von ihrer Nachtschicht sind, oder unter den frühaufstehenden Rentner, die hier ihrer Morgengymnastik nachgehen, Kunden für ihre Waren finden. In Sham Shui Po hat der dortige Dämmerungsmarkt Zuschlupf unter den vor Regen und Sonne schützenden aufgestelzten Trassen der West-Kowloon-Stadtautobahn gefunden. Im Sichtschutz einer Zeile des offiziellen Frischmarkts legen die Händler ihre Waren auf dem Gehweg aus, der die Grünflächen der Wohnanlage Nam Cheong entlangführt. Während die beiden Enden Richtung Yen Chow Street und Nam Cheong Street vor allem von Obdachlosen besetzt sind, wird der offene Platz im mittleren Bereich von Händlern mit größerem Warenangebot – darunter alte Kleidung und einfache elektronische Geräte, die sie in großen Haufen auftürmen – bestimmt. Für diese professionelleren Händler ist der Dämmerungsmarkt meist nur der erste Zwischenstopp auf ihrer täglichen Tour zu einer ganzen Reihe von – legalen wie illegalen – Brennpunkten des Straßenhandels in Sham Shui Po. Auf den Abschnitten dazwischen, hinter den am Morgen noch geschlossenen Frischmarktgebäuden, breiten Rentner fein säuberlich sortierte Altwaren, wie Fernbedienungen, Kabel, Töpfe, Tassen, Decken und Schuhe, und kleine Päckchen mit Essen aus. Marktbesucher können sich bei improvisierten Friseurplätzen im Freien die Haare schneiden lassen oder einfach nur ein beiläufiges Gespräch führen. In der Tat zielen Argumente, die zur Verteidigung dieser Märkte ins Spiel gebracht werden, meist weniger auf ihre wirtschaftliche Leistungskraft ab, als vielmehr auf den von ihnen kostenfrei geschaffenen sozialen Raum. Nichtsdestotrotz bleibt den illegalen Dämmerungsmärkten tagtäglich keine andere Wahl, als sich noch vor 7.00 Uhr Früh, wenn die

Außer Sichtweite – Dämmerungsmärkte in Hongkong

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Dämmerungsmarkt in Sham Shui Po, Hongkong

Mitarbeiter des HCT ihre Arbeit aufnehmen, wieder vollständig aufzulösen. Zurück bleiben Orte ohne jeglicher Spur der geschäftigen sozialen Atmosphäre, die hier noch kurze Zeit zuvor vorhanden war.

Straßenhändler unter Kontrolle Trotz Bewerbung einer starken lokalen Marktkultur führt Hongkong seit vielen Jahrzehnten die Riege jener Weltstädte an, die vehement gegen Straßenhändler vorgehen. Als kolonialer Außenposten diente Hongkong dazu, eine wirtschaftliche Umgebung bereitzustellen, die den westlichen Marktinteressen zuträglich war und zugleich auf ein Heer an billigen Arbeitskräften aus Asien zugreifen konnte. Das gesamte 20. Jahrhundert hindurch galt die Ausbreitung von informellen Wirtschaften infolge mangelnder sozialer Versorgung der wachsenden Arbeiterklasse als ein Übergangsphänomen, das auf dem Weg zur modernen Gesellschaft bald verschwinden würde. Bis 1970 konzentrierten sich die politischen Maßnahmen zur Beherrschung des Straßenhandels vor allem auf die Ausgabe und Verwaltung von Berechtigungsscheinen. Erst die politische Entscheidung, den Straßenhandel vollständig von Hongkongs öffentlichen Plätzen zu verbannen, brachte eine radikale Richtungsänderung mit sich: Die städtischen Behörden boten Straßenhändlern einmalige Kulanzzahlungen an, wenn diese bereit waren, ihre Berechtigungsscheine freiwillig zurück

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Andere Märkte

zu geben (eine Zeit lang wurden Betreibern von Imbissbuden Kompensationszahlungen von bis zu 60.000 HK-Dollar angeboten), und begannen zugleich die Einhaltung von Vorschriften strikt zu kontrollieren, um so die Bevölkerung davon abzuhalten, illegalen Straßenhandel aufzunehmen bzw. damit fortzufahren.1 Das HCT beschäftigt 191 Patrouillengruppen, die einerseits die Lizenzen von Betreibern fester Stände und mobilen Straßenhändlern inspizieren und anderseits nicht lizenzierten Straßenhandel bekämpfen sollen. Was Letzteres betrifft, führen sie gezielte Kontrollgänge in ausgewählten Sektoren und Razzien an Brennpunkten des Straßenhandels durch. Daneben arbeiten sie immer wieder auch in Nachtschichten, um gegen nicht genehmigten Straßenhandel in den späten Abend- und frühen Morgenstunden vorzugehen. Wie das HCT hervorstreicht, sei es damit gelungen, »straßenhandelsfreie Zonen« entlang der wichtigsten Durchfahrtsrouten, Fähranlegestellen, Busbahnhöfe und touristischen Hauptattraktionen zu gewährleisten. Darüber hinaus wird geltend gemacht, dass sich seit dem Spitzenwert von 30.000 lizenzierten und 20.000 nicht lizenzierten Straßenhändlern in den 1980er Jahren deren Anzahl in den letzten Jahren auf 7000 bzw. 1800 reduziert hat. Allerdings macht ein Vergleich der offiziell ausgewiesenen Zahlen mit den durch den strikten Vollzug der Kontrollteams erwirkten Strafverfolgungen (allein im Jahr 2012 kam es zu 30.490 Strafbescheiden aufgrund von Anzeigen nicht genehmigten Straßenhandels oder Übertretungen von Straßenhandelsbestimmungen 2) deutlich, dass die Aufrechterhaltung von »straßenhandelsfreien Zonen« einen hohen Preis – umfangreiche und teure Polizeiüberwachung des öffentlichen Raums – fordert (im Jahr 2012 betrugen die Kosten für das 2204 Mann starke HCT, das in diesem Zeitraum über 100.000 Razzien durchführte, 850 Millionen HK-Dollar3). Den offiziellen Erklärungen 1 Siehe auch Leung Chi Yuen, »Everyday Life Resistance in a Post-Colonial Global

City – A Study of Two Illegal Hawker Agglomerations in Hong Kong«, Dissertation, Hong Kong University of Science and Technology, November 2008. Online: http:// repository.ust.hk/ir/Record/1783.1-3615 2 »Control of Licensed and Unlicensed Hawkers«, Food and Environment Hygiene Department, Government of Hong Kong Special Administrative Region (HKSAR). Online: http://www.fehd.gov.hk/english/pleasant_environment/hawker/control.html 3 Legislative Council of the HKSAR of the People’s Republic of China: »Replies to initial written questions raised by Finance Committee Members in examining the Estimates of Expenditure 2013-14«, Session 18 FHB(FE), Question Serial No.: 0552, Reply Serial No.: FHB(FE)156, 28. März 2013.

Außer Sichtweite – Dämmerungsmärkte in Hongkong

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nach übertrifft die Zahl der in Hongkong beschäftigten Straßenhandelskontrolleure damit die geschätzte Zahl an illegalen Straßenhändlern. Dieser schonungslose Zugang hat sich mit der Rückgabe des Gebiets von Hongkong an die Volksrepublik China im Jahr 1997 nicht geändert, auch wenn sich die offizielle Haltung zu Straßenmärkten in jüngster Zeit etwas geändert hat und die Aufgaben der Straßenhandelskontrolle von der reinen Durchsetzung der Vorschriften um die »Umsiedlung von berechtigten Händlern in neue öffentliche Märkte« erweitert wurden.4 Der politische Jargon präsentiert diese Initiativen als Bemühen um den Schutz lokaler Kultur. In der Praxis folgen sie einem Model der Privatisierung, das von Lateinamerika bis Asien zum Leitprinzip im Umgang mit Straßenhändlern geworden ist. Unter dem Vorwand, Verkehrsbehinderungen und andere Ärgernisse wie Lärm und Schmutz zu reduzieren, werden Straßenhändler aus dem öffentlichen Raum verbannt und stattdessen »öffentliche Märkte« abseits der Straße errichtet. Diese werden sodann an private Betreiber, die Kontrolle ausüben und im Namen der Behörden die Einhaltung von Vorschriften sicherstellen, vergeben. Ein einschlägiges Beispiel ist der Tin-Wau-Basar in Tin Shui Wai in den Neuen Territorien, der am 1. Februar 2013 eröffnet wurde. Im wegen seiner ghettoartigen Dichte an sozialen Wohnbauten auch »Stadt der Traurigkeit« genannten Bezirk Tin Shui Wai hatte sich zuvor ein beliebter Dämmerungsmarkt an einem Spazierweg entlang des lokalen »nullah« – eines betonierten Überschwemmungskanals – entwickelt. Dieser Markt bot eine Alternative zum Monopol, das der Immobiliengigant Link über die örtlichen Supermärkte hält und das, wie die Bewohner beklagen, zu einem Preisniveau weit über jenem im Zentrum von Hongkong geführt hat. Nach einem sechs Jahre dauernden Prozess politischer Verhandlungen investierte die Regierung 10 Millionen HK-Dollar in den Bau eines neuen Markts, dessen Betreuung an die Abteilung für kommunale Versorgungseinrichtungen der gemeinnützigen Spitalsgruppe Tung Wah übergeben wurde.5 Obwohl das ursprünglich angemeldete Interesse für die neuen Marktstände die Zahl der tatsächlich verfügbaren Plätze um das Vierundzwanzigfache übertraf, hat sich der Markt mittlerweile als 4 »Hawker Control«, Food and Environment Hygiene Department, Government of

HKSAR. Online: http://www.fehd.gov.hk/english/pleasant_environment/hawker/ overview.html 5 Legislative Council Panel on Home Affairs: »Tin Shui Wai Open Bazaar«, LC Paper No. CB(2)321/12-13(03), Dezember 2012.

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Andere Märkte

unprofitabel erwiesen, und viele der Marktbuden stehen leer bzw. bleiben die meiste Zeit über geschlossen. Diese Probleme sind nicht zuletzt auf das räumliche und wirtschaftliche Konzept des Markts selbst zurückzuführen. Nicht nur, dass der neue Standort abseits der wichtigen Fußgängerrouten gelegen und rundum eingezäunt ist, auch der einzige Eingang in den Markt liegt auf der den großen Wohnanlagen des Viertels abgewandten Seite. Dazu kommen Einschränkungen punkto Waren, die verkauft werden dürfen, samt einem kompletten Verbot von frischen, gekochten oder gefrorenen Lebensmitteln. Die Nutzung der Standplätze ist streng geregelt und es ist den Mietern untersagt, selbständige zusätzliche Vorrichtungen – etwa Regen- oder Sonnenschutz – anzubringen. Weiters müssen monatliche Umsatzberichte abgeliefert werden und die Stände an 20 Tagen im Monat für mindestens vier Stunden am Tag geöffnet sein – alles Anforderungen, die das Kapital und die Kapazitäten der zuvor auf dem Dämmerungsmarkt tätigen Händler bei weitem übersteigen. Der ursprüngliche Markt war von den Bewohnern für seine niedrigschwelligen Möglichkeiten für sozialen Austausch gepriesen worden und das Management des neuen Tin-Wau-Basars setzt nun verstärkt auf die Organisation von Veranstaltungen für die lokale Bevölkerung, um die Besucherfrequenz zu erhöhen und damit den Markt rentabel zu halten.6 In ähnlicher Weise kommt die größte Bedrohung für den Dämmerungsmarkt in Sham Shui Po weniger von den zur Eindämmung des Straßenhandels eingesetzten Kontrollteams – auch wenn der Markt gezielt als einer von 45 ausgewählten »schwarzen Flecken« ins Visier genommen wird7 – als vielmehr vom räumlichen Umbau seines Milieus. Während lokale Märkte wie der Flohmarkt in der Apliu Street und das nahegelegene Golden Shopping Centre, das als »Akihabara8 von Hongkong« beworben wird, gefördert werden, gerät die physische Struktur von Sham Shui Po aufgrund seiner innerstädtischen Lage und der Nähe zu den neuen Landgewinnungsgebieten von West Kowloon immer mehr unter Druck. Unter

6 Legislative Council Panel on Home Affairs: »Operation of Tin Sau Bazaar in Tin

Shui Wai«, LC Paper No. CB(2)1299/12–13(07), Juni 2013.

7 Legislative Council of the HKSAR of the People’s Republic of China: »Replies to

initial written questions raised by Finance Committee Members in examining the Estimates of Expenditure 2013–14«, Session 18 FHB(FE), Question Serial No.: 2820, Reply Serial No.: FHB(FE)118, 28. März 2013. 8 Einkaufsviertel in Tokio und Zentrum des japanischen Elektronikhandels.

Außer Sichtweite – Dämmerungsmärkte in Hongkong

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Aufsicht der Stadterneuerungsbehörde (URA)9 wurde ein großer Teil der während der 1950er und 1960er Jahre in Sham Shui Po errichteten und zunehmend baufälligen Gebäude zum Abbruch bestimmt. An die zehntausend Bewohner sind von dieser großflächigen Sanierungsinitiative betroffen. Unter den ausgewählten Gebäuden befinden sich ganze Baublöcke entlang des Dämmerungsmarkts an der östlichen Seite der Tung Chau Street.10 Es ist gut möglich, dass die Errichtung von neuen Hochhäusern und verschönerten Fußgängerbereichen anstelle der alten Häuser mit ihrer gemischten Wohn- und Gewerbenutzung jenen Erfolg bringen wird, der trotz intensiver Strafverfolgung der bisherigen Anti-Straßenhandels­ politik verwehrt geblieben ist. Mit dem Abbruch dieser Gebäude gehen jedoch wertvolle physische und wirtschaftliche Nischen verloren (Seitengassen für die Lagerung von Waren und Karren; der Zugang zu Mülltonnen, um Altwaren auszusortieren, und zu Hintertüren, um Essensreste und andere Almosen einzusammeln, etc.). Über kurz oder lang wird der Austausch der baulichen Substanz von Sham Shui Po auch zu einer Verdrängung der verarmten älteren Bevölkerung führen und damit den Markt einer seiner wichtigsten Ressourcen berauben.

9 Die 2001 gegründete und mit einem Budget von mehreren Milliarden HK-Dol-

lar ausgestattete Urban Renewal Authority (URA) ist als ausgelagerte Behörde der Stadtregierung von Hongkong mit der »Durchführung, Förderung, Bewerbung und Unterstützung der Sanierung der alten städtischen Gebiete von Hongkong« beauftragt. »About URA«, URA Homepage. Online: http://www.ura.org.hk/en/aboutura.aspx 10 Siehe u.a. das »Hai Tan Street / Kweilin Street & Pei Ho Street Development Scheme«. Online: http://www.ura.org.hk/en/projects/redevelopment/sham-shui-po/hai-tanstreet-kweilin-street-pei-ho-street-development-scheme.aspx

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Belo Horizonte

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Der Hippie-Markt, Belo Horizonte Jeden Sonntag wird die prächtige Avenida Afonso Pena im Zentrum von Belo Horizonte für den Autoverkehr geschlossen, um sich in einen der größten Freiluftmärkte Lateinamerikas mit durchschnittlich 70.000 Besuchern zu verwandeln. Bereits in den frühen Morgenstunden wird mit den Aufbauarbeiten für die über 2500 modularen Stände begonnen. Abschnittsweise einheitlich gefärbte Planen bilden leuchtende Blöcke in Rot, Blau, Grün und Gelb, die in starkem Kontrast zum üppigen Tropengrün des Stadtparks Américo Renné Giannetti auf der einen Seite und den strengen Linien der modernistischen Bauwerke auf der anderen Seite dieses breitangelegten Boulevards stehen. Von weitem betrachtet scheint der Markt mit seiner strikten Ordnung und dichtgedrängten Aufreihung von Ständen auf einer der wichtigsten Hauptstraßen der Stadt eher einem durchorganisierten Aufmarsch als dem ungezwungenen Zusammentreffen eines alternativen Markts zu gleichen. Und dennoch sprechen die Einheimischen von diesem Aufgebot gleichförmiger Stände – 12 parallele Reihen mit jeweils 220 Standplätzen – immer noch als dem »Hippie-Markt«. Diese umgangssprachliche Bezeichnung des offiziell »Feira de Arte, Artesanato e Produtores de Variedades da Avenida Afonso Pena«1 genannten Markts verweist auf seine eigentümlichen Anfänge im Jahr 1969 als Treffpunkt von Kunststudenten, Aussteigern und politisch Andersdenkenden auf der Praça da Liberdade in Belo Horizontes kulturellem Zentrum Savassi. Zu dieser Zeit war die selbstorganisierte Herstellung von Schmuckgegenständen und anderen hippiesken Accessoires bereits zu einem festen Bestandteil in den Versuchen der Hippie-Bewegung, eine ganzheitliche Gegenkultur hervorzubringen, geworden. Alternative Märkte dienten nicht nur dem Freizeitvergnügen, sondern wurden als experimentelle Plattformen für eine autonome Lebensgestaltung gesehen. In diesen Jahren wurden ungebetene Ansammlungen junger Menschen mit abweichenden Ansichten an vielen Orten mit Argwohn betrachtet; nicht zuletzt in Brasilien, das seit 1964 von einer Militärdiktatur regiert wurde, und wo öffentliche Äußerungen dem herrschenden Regime allein vorbehalten waren. Bür1 Kunst-, Handwerks- und Gemischtwarenmesse auf der Avenida Afonso Pena.

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Andere Märkte

gerliche Freiheiten und Rechte waren massiv eingeschränkt (darunter die Habeas-Corpus-Garantien – das Recht von Verhafteten auf Anhörung vor einem Gericht oder Richter) und Studenten und Universitäten nach ausgedehnten Protesten im Jahr 1968 von den Regierungskräften besonders ins Visier genommen. Wieweit sich die Gruppe der Hippiestudenten mit jener der etwa hundert Künstler und Kunsthandwerker, die sonntags ihre Arbeiten an eine zumeist bürgerliche Klientel verkauften, tatsächlich überschnitt, darüber gehen die Meinungen auseinander. Was zweifelsohne zum langfristigen Fortbestand des Markts beigetragen hat, war die baldige Übernahme der Organisationsarbeit durch die Stadtverwaltung von Belo Horizonte. Bereits 1973 reglementierte die Stadt den Markt im Zuge einer Verordnung über das regelmäßige Abhalten der »Freiheitsmesse«, worin auch eine ganze Reihe an Bedingungen festgelegt wurde – etwa, dass das Anbieten von »Werkstücken, Arbeiten oder Erzeugnissen, die öffentliche Moral und gute Sitten verletzen, verboten ist«.2 Um ideologischen Gehorsam sicherzustellen und diffuse Ängste über das Aufkommen radikaler nicht-akademischer Kunst abzuwehren, wurde in der Verordnung darüber hinaus die Bestellung eines technischen Beratungskomitees festgelegt, das mit Angehörigen des Stadtrats sowie Personen, die aus einer Liste von anerkannten Künstlern und Kunstkritikern zu wählen waren, beschickt wurde. Die Ausstellung von Verkaufsberechtigungen wurde so von einer Prüfung des Nachweises künstlerischer Befähigung abhängig gemacht. Künstler mussten sich auch für eine gewisse Materialkategorie entscheiden (Metall, Kunststoff, Holz, Fell, Edelmetall, Halbedelstein, Edelstein, etc.), wobei die Werke nach jenem verwendeten Material eingestuft wurden, das entweder mehr als die Hälfte des Gewichts oder die Hälfte des Verkaufswerts ausmachte. Während es diese Handhabe der Stadtverwaltung von Belo Horizonte – einer Stadt mit beachtlichem Wohlstand und extremer sozialer Ungleichheit – erlaubte, eine direktere Kontrolle über den Markt auszuüben, setzte sie zugleich auf eine bestens bekannte Instrumentalisierung der Künste, um über soziale und politische Unterschiede hinweg eine ausgleichende kulturelle Bande zu erwirken. Dieser Rückgriff auf ein gängiges Selbstverständnis von Belo Horizonte als Hort künstlerischen Reichtums und Genusses bildet seit damals den Rahmen aller politischen 2 Präfektur von Belo Horizonte, Dekret Nr. 2437, 26. Oktober 1973.

Der Hippie-Markt, Belo Horizonte

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Auseinandersetzungen rund um den Markt und ist auch in heutigen Verhandlungen immer noch der entscheidende Bezugspunkt.

Volksmarkt Politische Neffenwirtschaft führte in den frühen 1980er Jahren, als eine steigende Zahl von Verkaufsberechtigungen auf »Einladung« vergeben wurde, anstatt Ergebnis von Begutachtungen durch das technische Beratungskomitee zu sein, zu einer häufig beklagten Aufweichung der künstlerischen Grundlage des Markts.3 Auf dem Markt selbst hatte dies zur Folge, dass immer mehr öffentlicher Raum in Anspruch genommen wurde. In den Jahren der Wiederherstellung der Demokratie nach 1985 bot die angebliche Verwüstung der historischen Parkanlagen auf dem Freiheitsplatz den Anlass für einen Ortswechsel und eine strengere Kontrolle des Markts. Tatsächlich kam es in diesen Jahren auch in vielen anderen lateinamerikanischen Städten zu einer sogenannten »Vermarktung« städtischer Plätze, die zunehmend als Standort für Nebenverdienste und informellen Handel genützt wurden. Als die Stadtverwaltung von Belo Horizonte die Umsiedlung der »Freiheitsmesse« in die Avenida Alonso Pena anordnete, wurde zugleich auch eine Reihe anderer Straßenmärkte, die entlang des Praça Raul Soares, der Rua Gonçalves Dias und des Praça Rui Barbosa entstanden waren, in diese Maßnahme einbezogen. Dies ließ nicht nur den Kunst- und Handwerksmarkt zu seiner jetzigen Größe anwachsen, sondern beseitigte mit einem Schlag auch den gesamten informellen Handel im Zentrum der Stadt. Zwei Strömungen haben die Veränderungen auf dem Markt während der zwei Jahrzehnte seit seiner Umsiedlung besonders geprägt: auf der einen Seite ein immer engerer Zugriff der Stadtverwaltung auf den Betrieb des Markts und auf der anderen Seite eine zunehmende Ausrichtung auf den Billighandel. Beide Entwicklungen sind an der laufenden räumlichen Umstrukturierung des Markts deutlich erkennbar. Die zwölf Abschnitte der im September 2013 umgesetzten neuen Marktgliederung umfassen insgesamt 2555 Stände; davon sind 374 für Bekleidung vorgesehen, 204 für Babykleidung, 340 für Modeschmuck, 224 für Taschen und 3 Siehe Alexandre de Pádua Carrieri, Luiz Alex Silva Saraiva und Thiago Duarte

Pimentel: »O Processo de Institucionalização da Feira Hippie de Belo Horizonte«, Konferenzbeitrag, XXXI Encontro da ANPAD 2007, Rio de Janeiro, 22.–27. September 2007.

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Andere Märkte

262 für Schuhe, aber nur 137 für bildende Kunst und Bildhauerei – kaum mehr als fünf Prozent aller Verkaufsstände. Aber auch ungeachtet dieser Zahlen wurden Künstler und Kunsthandwerker sprichwörtlich an den Rand gedrängt: Anstatt ihre Werke innerhalb des eigentlichen Markts in einem der auf der Avenida Alonso Pena aufgestellten Stände zu präsentieren, säumen sie mit ihren Bildern und Skulpturen den Eisenzaun, der an der Kante des angrenzenden Stadtparks entlangläuft. In offiziellen Erklärungen wird der Kunst- und Kunsthandwerks­ charakter des Markts immer noch stark betont. Allerdings hat die Aufnahme der etwas unscharfen Kategorie der »Hersteller von Gemischtwaren« eine beträchtliche Grauzone geschaffen. Dass der Markt immer öfter als »camelódromo« (Markt der Straßenhändler) bezeichnet wird, unterstreicht die zunehmende Einschätzung, dass der ehemalige Hippie-Markt heute vorwiegend von »sacoleiros« (Kofferhändler) beschickt wird, um hier über Paraguay ins Land gebrachte Massenware aus China weiterzuverkaufen.4 Auf dem Papier sollen die Vorschriften und Verordnungen helfen, die Präsenz von Kunst und Kunsthandwerk sicherzustellen, indem zum Beispiel die erlaubte Motorkraft der für die Herstellung der angebotenen Waren verwendeten Maschinen auf fünf Kilowatt beschränkt oder der Weiterverkauf von Waren anderer Erzeuger untersagt wird. Bei der jährlichen Erneuerung der Verkaufsberechtigung müssen Standmieter die Adresse ihrer Werkstätte bekanntgeben, und die Behörden sind dazu verpflichtet, regelmäßig zu überprüfen, ob tatsächlich Handwerksproduktion vorliegt, etwa anhand der Menge an vorrätigen Rohwerkstoffen, des Ausmaßes der wöchentlichen Produktion und des Vorhandenseins von Wissen und Können, das in den einzelnen Phasen des jeweiligen Herstellungsprozesses erforderlich ist.5 Diese Veränderung Richtung Billigökonomie geschieht nicht ohne die Unterstützung offizieller Gruppen. In Einklang mit der landesweiten Ausrichtung auf eine solidarische Volkswirtschaft (Economia Popular Solidária) hat die Stadtverwaltung von Belo Horizonte eine Reihe an 4 Diese sich verändernde Zusammensetzung des Markts hat auch eine Welle des Inte-

resses seitens etablierter ökonomischer Akteure mit sich gebracht. Brasilianische Großbanken haben begonnen, den Markt nach potenziellen Kunden für Mikrokredite zu durchkämmen und bieten sogenannte »innovative Kreditkartensysteme« an, die auf einen für Markthändler typischen, unregelmäßigen Fluss von Einnahmen zugeschnitten sind. 5 Präfektur von Belo Horizonte, Dekrete Nr. 14.245 und Nr. 14.246, 30. Dezember 2010.

Der Hippie-Markt, Belo Horizonte

145

Feira de Artesanato, Belo Horizonte

politischen Programmen und Koordinierungsstellen in Gang gebracht, die entsprechende unternehmerische Aktivitäten fördern sollen. Ein Beispiel für das Konzept einer auf Solidarität aufbauenden Wirtschaft ist etwa die Anordnung, fünf Prozent der Standplätze für gemeinnützige und kooperative Initiativen zu reservieren, was in etwa der derzeit für die Künste vorgesehenen Zahl an Standplätzen entspricht. Darüber hinaus wurde im Jahr 2007 das technische Beratungskomitee durch eine paritätische Kommission (Comissão Paritária) abgelöst, in der auch jährlich gewählte Vertreter der »Aussteller« vertreten sind. Ungeachtet des offiziellen Diskurses über integrative Politiken bleibt der Betrieb des Markts nicht von Konflikten verschont. Dies zeigte sich besonders im Februar 2011, als bei einer online durchgeführten Auktion für die Erneuerung der jährlichen Verkaufsberechtigungen ein Programmfehler dazu führte, dass die Zahl der verfügbaren Verkaufsplätze um das Fünffache überzeichnet wurde. Dies führte zu ernsthaften Turbulenzen und zur Mobilisierung der städtischen Bereitschaftspolizei. Die Situation konnte schließlich entspannt werden, indem die Stadt den bestehenden Standbetreibern erlaubte, nochmalige Ansuchen abzugeben. Im Sommer 2013 kam es anlässlich der Neuanordnung des Markts neuerlich zu einem Streit zwischen der Verkäufervereinigung ASSEAP und den städtischen Behörden, diesmal über unfaire Zuteilungen von »guten« und »schlechten« Plätzen. Die schlussendlich erzielte Lösung sieht die

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Andere Märkte

Anordnung von Vierergruppen anstelle von ununterbrochenen langen Reihen vor, sodass jeder Stand einen Eckplatz bekommt und zumindest theoretisch für die Passanten auf gleiche Weise sichtbar ist. Wenngleich der nun verordnete und strikt kontrollierte Isomorphismus mit seinen breiteren Verkehrswegen einen besseren Zugang in Notfällen ermöglicht und den Einkaufenden hilft, nicht »verloren« zu gehen, bringt er zugleich auch eine immer deutlichere Erfahrung behördlicher Kontrolle mit sich. Angesichts des Fokus auf Kunst und Kunsthandwerk, individuelles Design und kreatives Talent könnte der ursprüngliche Hippie-Markt in Belo Horizonte auch als ein Vorläufer der heutigen Hipstermärkte betrachtet werden. Unterschiedliche Zeiten und politische Kontexte haben allerdings bewirkt, dass ersterer eine andere Entwicklung eingeschlagen hat, als sie allgemein für letztere vorausgesagt wird. Anstatt eine auf Wertsteigerung ausgerichtete Ökonomie der Gentrifizierung einzuläuten, bietet die Erweiterung des umgesiedelten Hippie-Markts einen Schutzmantel für einen niedrigpreisigen Straßenhandel, der üblicherweise von Stadtverwaltungen aufgrund seiner Assoziation mit illegalen Aktivitäten nicht gerne gesehen wird. Paradoxerweise haben die kunsthandwerklichen Gegenstände und der Mythos von echtem künstlerischen Ausdruck ermöglicht, dass sich die Hippie-Ideologie privilegierter An­ dersdenkender mit den Interessen der herrschenden politischen Klasse, eine authentische brasilianische Kultur zu propagieren, populäre Unterhaltung zu bieten und Wählern wirtschaftliche Möglichkeiten zu bieten, vereinen konnten. Dieser Wechsel von einer Kritik der kapitalistischen Konsumgesellschaft zum offiziell beworbenen Kulturerbe ist von Widersprüchlichkeit und Zwiespalt gezeichnet. Auf der einen Seite könnte man argumentieren, dass der Markt seinen Anspruch auf Schaffung einer subversiven autonomen Zone angesichts der Überschwemmung mit massengefertigten Billigimporten verloren hat. Auf der anderen Seite kann die Entwicklung des Markts auch als eine positive Errungenschaft gesehen werden, in dem Sinn, dass er nun einen weit größeren Teil der Bevölkerung erreicht und innerstädtischen Raum für viele Menschen geschaffen hat, um sich hier zu versammeln und auf alle möglichen Arten austauschen zu können. Ungeachtet seiner gleichförmigen und geordneten Erscheinung befindet sich der Markt auch heute noch in einem andauernden Prozess kritischer Veränderungen: von einem Platz für die Zurschaustellung von Kunst und Kunsthandwerk zu einer anerkannten Plattform des wirtschaftlichen

Der Hippie-Markt, Belo Horizonte

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Zugangs für die Massen. Die Kluft zwischen wirtschaftspolitischen Programmen des 21. Jahrhunderts einerseits und einer kulturellen Vorstellung vom Erfolg lokaler künstlerischen Produktion, die in offiziellen Bekundungen immer noch für die Legitimation des »Hippie-Markts« herangezogen wird, andererseits, bringt eine fortwährende Spannung in den Interaktionen des Markts mit den staatlichen Regierungsstrukturen hervor – ein Konflikt, der paradigmatisch für den ungleichen Vollzug ökonomischer »Harmonisierungsprozesse« weltweit ist.

Avinguda Meridiana

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Neue alte Märkte – Encants Vells, Barcelona

Märkte werden zunehmend interessanter. Die ökonomischen Veränderungen der letzten Jahre haben nicht nur zur weltweiten Ausbreitung informeller Märkte beigetragen, sondern auch einen überraschenden Wiederaufschwung historischer Marktplätze mit sich gebracht. Diesen wurde in der modernen, verkehrsorientierten Stadtplanung des vergangenen Jahrhunderts oft nur noch marginale wirtschaftliche Bedeutung zugemessen. Sie galten zwar im Einzelfall als schützenswertes kulturelles Erbe, das Touristen anzulocken vermag, en gros wurden sie aber als eine überkommene Form städtischer Versorgung und als Belastung für kommunale Haushalte angesehen. Das überraschend wiederaufgelebte Interesse an Märkten – auch jenseits der von globaler Migration hervorgerufenen ethnischen Nischenökonomien – hat viel mit einer neuen Form atomisierten Wirtschaftens zu tun. Ausschlaggebend dafür war das Zusammentreffen zweier Entwicklungen: auf der einen Seite die seit der weltweiten Finanzkrise von 2007/2008 zunehmende Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse jüngerer Generationen und auf der anderen Seite die rasante Ausbreitung neuer Kommunikationstechnologien und damit verbundene kulturelle Trends. Das von sozialen Medien geprägte Paradigma des individuellen Geschmacks und personalisierten Lebensstils trifft hier auf eine gleichermaßen erstrebte wie erzwungene Start-up-Kultur, die sich am fotogensten am Pop-up-Stand mit ausgefallenen Modeaccessoires, händisch verzierten Keksen und recycelten Dekoartikeln konsumieren lässt. Hier trifft der Hang der Hipstergeneration zur ästhetisch aufgeladenen Selbstfindungsexpedition auf mehreren Ebenen mit den Interessen liberalisierter Stadtpolitik zusammen – an vorderster Stelle der Wunsch, kreatives Schaffen und kulturellen Genuss auf scheinbar unaufwändige Weise in ökonomischen Gewinn zu verwandeln. Dazu gehören auch die Festivalisierung des öffentlichen Raums und ein gezieltes Auslagern von Aufgaben aus dem öffentlichen Bereich, um Risiken an andere abzuschieben. Die Abfederung dieser Risiken wird in letzter Konsequenz meist an den informellen Sektor abgegeben. Für neuentstehende Stadtökonomien

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und Stadträume von besonderer Bedeutung ist dabei die Zunahme von Hybridformen des Formellen/Informellen, die in der aktuellen Politik bewusst eingesetzt werden. Flohmärkte sind ein lang erprobtes Vorbild solcher hybriden Kulturen: Während die Marktbetreiber eine respektable Fassade bieten, die mit den formalen Erfordernissen der Behörden im Einklang steht, laufen die Geschäfte der einzelnen Standbeschicker zum überwiegenden Teil informell ab – ob es sich nun um selbstimportierte Waren oder um zu Hause gebackene Cupcakes handelt. Eines der schillerndsten Beispiele für eine solche Aneignung der kulturellen Werte von Märkten stellt der jahrhundertealte Encants Vells1 in Barcelona dar, ein Freiluftmarkt, der im Herbst 2013 in eine neue und doppelt so große Markthalle umgesiedelt wurde. Encants Vells gilt als einer der ältesten Märkte Europas, dessen Abhaltung sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, wo er auf verschiedenen Kirchplätzen der mittelalterlichen Stadt stattfand. Bereits damals zeichnete sich der Markt durch seine Auktionen aus, auf denen meist der Nachlass von Verstorbenen versteigert wurde, um allfällige Schulden zu begleichen und Barvermögen für die Nachkommen zu generieren. Auch heute noch werden jeweils Montag, Mittwoch und Freitag früh Waren aus Lagerauflösungen, Konkursmassen oder anderen Quellen auf dem Markt durch »Sub-Master«2 unter den Händlern verteilt und von diesen dann auf dem am gleichen Ort abgehaltenen Flohmarkt weiterverkauft. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden diese Auktionen mit dem während der napoleonischen Besatzungsjahre außerhalb der Stadtmauern entstandenen Altwarenmarkt Fira de Bellcaire zusammengeschlossen. Nach mehreren Übersiedlungen im Zuge der Weltausstellungen von 1888 und 1929 errichtete der nunmehr kombinierte Auktions- und Flohmarkt im Jahr 1928 seine für die nächsten 85 Jahre permanente Stätte am Rand der drei Kilometer östlich des Stadtzentrums gelegenen Plaça de les Glòries Catalanes. Später folgende Korrekturen der umliegenden Straßenniveaus hatten dazu geführt, dass der Markt in einer Grube zu liegen kam. Auf 1 Nach weithin zitierter Ansicht rührt der Name des Markts (Encant [Vells]: kata-

lanisch für »[Alter] Charme-[Markt]«) von der lautstarken Anpreisung – d.h. dem »An-Singen« – der Waren während der Auktionen. 2 Der Begriff »Sub-Master« leitet sich aus der Römerzeit ab, als Legionäre ihre Kriegsbeute unterhalb ihres in den Boden gepflanzten und mit einer Flagge versehenen Speers zum Verkauf ausbreiteten.

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beiden Seiten des den Markt in der Mitte durchschneidenden Carrer del Dos de Maig führten Stufen zu einer tieferliegenden Reihe blechgedeckter Stände, die vor allem Haushalts- und Eisenwaren anboten. Auf der westlich davon gelegenen Freifläche wurden die berühmten Auktionen und anschließenden Flohmärkte abgehalten. Mit seinen dicht gedrängten Haufen an kuriosen Warensortimenten – der Horizont von Palmen und Neonreklamen gesäumt – war es vor allem dieser Teil, der das populäre Image des Markts geprägt hatte. Das östlich des Carrer del Dos de Maig gelegene Grundstück war mit Reihen fixer Marktstände besetzt, die sich um einen kleinen, unregelmäßigen Platz im Inneren gruppierten und vor allem für den Verkauf von Möbeln, Sanitärgegenständen und Bettwaren sowie sonstigen Einrichtungsgegenständen genutzt wurden. Am nördlichen Ende dieser Straße, am Übergang zu den Wohnvierteln von Camp de l Arpa del Clot schlossen Textil- und Stoffhändler an, die oft auch Lagerräume in den angrenzenden ehemaligen Fabrikgebäuden angemietet hatten und von diesen aus ihre Verkaufstische auf der Straße betrieben. Dieses wachsende Angebot an billigen Neuwaren, insbesondere Textilien und Haushaltswaren, hatte in den letzten Jahren dazu beigetragen, den Markt zu einem beliebten Treffpunkt der migrantischen Bevölkerung in Barcelona zu machen. Am Ausgang zum Kreisverkehr der Plaça de les Glòries Catalanes und entlang der Fußgängerverbindung zur nahe gelegenen U-Bahnstation boten Straßenhändler aus Somalia, Marokko und Rumänien aus Schachteln verkaufte Wäsche oder am Boden ausgebreitete und über Absperrzäune gehängte Altkleider an. Auch wenn diese Straßenhändler im Vergleich zum gesamten Marktgeschehen nur eine Rand­ erscheinung waren, genügte ihre sichtbare Präsenz, um politisch und medial Druck für eine Neugestaltung des Platzes zu machen.3 In einer so umfassend gestalterisch geprägten Stadt wie Barcelona verkörpert die Plaça de les Glòries Catalanes einen besonders markanten Ort gescheiterter Planung. Als Kreuzungspunkt der breiten Straßenzüge Meridiana, Diagonal und Gran Via de Les Corts Catalanes sah Ildefons Cersàs Masterplan von 1859 die Plaça de les Glòries Catalanes als ein neues Zentrum der Stadterweiterung Richtung Nordosten vor. Allerdings ‘

3 Siehe auch Ricard Morén-Alegret, Albert Mas und Dawid Wladyka: »Inter-Group

Perceptions and Representations in Two Barcelona Neighbourhoods. Poble Sec and Sagrada Família Compared«, in: Ferruccio Pastore und Irene Ponzo (Hg.), Intergroup Relations and Migrant Integration in European Cities. Changing Neighbourhoods, IMISCOE Research Series, Heidelberg, u.a.: Springer Open, 2016, S. 107.

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tangierte die Trasse der kurz zuvor errichteten Bahnlinie nach Frankreich den planmäßigen Schnittpunkt von Hauptachsen und Diagonalen derart unpassend, dass im orthogonalen Raster der Umgebung ein neun Hektar großes Niemandsland übrigblieb. Initiativen für eine monumentale Ausgestaltung diese Platzes verliefen im Sand, und so blieb die Nachbarschaft des neuen Standorts über viele Jahre hinweg von Brachflächen, Frachtschuppen und nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Notunterkünften bestimmt. Mit dem Ausbau zum Autobahnanschlussknoten wurde in den 1960er und 1970er Jahren die ursprünglich anvisierte Funktion der Plaça de les Glòries Catalanes als Schnittpunkt primärer Verkehrsachsen realisiert. Zugleich bewirkte der auf Hochtrassen geführte Motorverkehr eine Wahrnehmung des Orts als unwirtliche und abweisende Gegend. Die Lage im Schatten großer Verkehrsbauwerke und die Besetzung von Restflächen, die den Standort von Encants Vells das gesamte 20. Jahrhundert hindurch prägten, sind typisch für die Situation vieler Flohmärkte, die sich oft in Randlagen ansiedeln, um einerseits noch genügend Kundschaft zu finden und andererseits dem Zugriff der Behörden zu entkommen. Ein bekanntes Beispiel dafür sind etwa die großen Flohmarktbetriebe, die sich in Paris außerhalb der Thiersschen Stadtbefestigung (und der heutigen, durch die Ringautobahn deutlich markierten Gemeindegrenze) ausgebreitet haben, unter anderem an der Porte de Clignancourt und der Porte de Montreuil. Tatsächlich war auch die Gegend um Glories im 18. Jahrhundert Teil der von Bebauung freizuhaltenden Glacis – eine Bedingung, die diese Flächen oft zu Orten ungeklärter Zwischennutzungen werden ließ. Die Lage des Markts im städtischen Niemandsland von Les Glòries hat aber nicht nur das lange Überleben des Markts gesichert, sondern hat ihn dadurch auch zum Gegenstand strategischer Planungen werden lassen und somit wesentlich zu seiner jüngsten Reinkarnation als strahlendes Zeugnis für Barcelonas stolzen Handelsgeist beigetragen. Die jüngste, im Zuge der Sommerolympiade 1992 durchgeführte Neugestaltung von Les Glòries hat mit Fertigstellung des aufgestelzten Schnellstraßenrings zwar den lang geplanten monumentalen Kreisplatz endlich umgesetzt, mit dem Einbau eines Parkhauses unterhalb dieser Trasse und einer geschlossenen Grünfläche im Inneren die Inselwirkung des Platzes aber nur noch verstärkt. Letztlich bedeutsamer war die mit dieser Neugestaltung verbundene Verlängerung der Avinguda Diagonal bis ans Meer, die mit einer

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Serie hochkarätiger Architekturen (etwa dem Forumgebäude von Herzog & de Meuron oder dem Torre Agbar von Jean Nouvel) die Umgestaltung des früheren Arbeiter- und Industriebezirks Poblenou (Neues Dorf) in ein neues »Innovationsviertel« mit dem Marketingnamen 22@ einläutete.4 Auch die Plaça de les Glòries Catalanes wurde von diesem Umbau erfasst und von der Stadtverwaltung zum »Fokus der sozialen und ökonomischen Dynamisierung des gesamten Gebiets« erkoren, der »neue urbane Praktiken für die Zukunft inspirieren« soll.5 Zu Beginn dieser Entwicklung hatte sich in linken und anarchistischen Netzwerken noch Widerstand gegen diese flächenweite ökonomische und soziale Transformation des ehemaligen »Manchesters von Barcelona« formiert; insbesondere rund um die Besetzung des nördlich der Avinguda Diagonal gelegenen Fabrikgeländes Can Ricart, das bis zum Frühjahr 2006 von kleinen Werkstätten und Studios besetzt war und für das Architekten- und Künstlergruppen wie straddle3 Pläne eines alternativen »Central Parks« ausgearbeitet hatten, der nicht auf den Abbruch »obsoleter Objekte« und gewinnbringende Neubauten setzte, sondern die Einbeziehung der Potenziale und Interessen der ansässigen Bevölkerung in der Entwicklung einer neuen »Stadt des Wissens« im Auge hatte.6 Auch wenn sich in den Anfangsphasen des 2003 eingeleiteten Prozesses für ein Nachfolgeprojekt der 1992 durchgeführten Umgestaltung von Les Glòries unter Teilen der Marktbeschicker von Encants Vells Widerstand regte, haben die im 2007 beschlossenen »Kompromiss« für den Ersatzstandort angebotenen organisatorischen und räumlichen Verbesserungen letztlich die Mehrheit dafür gewinnen können, ihren seit 1928 angestammten Platz für eine andere Art von »Central Park« zu räumen: Nach den Plänen der Wettbewerbsgemeinschaft Agence Ter und Ana Coello Llobet wird nun bis zum Jahr 2017 die monumentale 4 Nach Angaben der Stadtverwaltung von Barcelona sind zwischen 2000 und 2010

etwa 4500 Unternehmen, davon 47 Prozent Start-Ups, im Gebiet von 22@ zugezogen. Die Zahl der Arbeitsplätze hat sich um 62,5 Prozent auf 90.000 erhöht, wobei 72 Prozent der im Distrikt 22@ Beschäftigten über eine akademische Ausbildung verfügen. Barcelona 22@ Urban Planning Management: »Barcelona 22@ Plan: A programme of urban, social and economic transformation«, Juni 2012, S. 49. Online: http://www.22barcelona.com/documentacio/Dossier22@/Dossier22@English_p.pdf 5 Vgl. Projektwebsite der Stadtverwaltung von Barcelona. Online: http://ajuntament. barcelona.cat/glories/ 6 Straddle3: »can ricart – un espai urbà pel s xxi; un patrimoni viu: obert, productiu, creatiu, en xarxa ...«. Online: http://straddle3.net/context/media/print/060121_dos sier_canricart_s.pdf

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Ringautobahn abgetragen und an ihrer Stelle eine »urbane Baumkrone« angelegt, die das urbane Mikroklima verbessern und zugleich einen dem New Yorker Central Park gleichenden innerstädtischen Raum für Aktivitäten im Freien anbieten soll. Die im September 2013 groß gefeierte Eröffnung der neuen Markthalle von Encants Barcelona/Fira de Bellcaire an der südwestlichen Ecke des Platzes bildete einen wichtigen Schritt im radikalen Umbau von Les Glòries. Die in Fachkreisen viel beachtete Konstruktion7 setzt auf eine spektakuläre Inszenierung des Marktgeschehens. Während der Längsschenkel des dreiecksförmigen Grundstücks mit Blick auf den Torre Agbar von Bebauung freigehalten wurde, führen an den beiden kürzeren Schenkeln Rampen die Marktbesucher wie auf einem Möbiusband an den Ständen entlang. Unten reihen sich Verkaufstische mit dahinterliegenden Rollschränken zur Aufbewahrung einfacher Verkaufsutensilien. Hierher sind die Textil-, Schuh- und Haushaltswarenverkäufer übersiedelt. Auf den oberen und weiter hinten liegenden Rampen finden sich begehbare Boxen, die ganze Geschäftsräume ausbilden und meist von Antiquitätenund Möbelhändlern betreiben werden. Auf der untersten Ebene, im Zentrum der Halle, findet sich schließlich die von den Händlern geforderte 7500 Quadratmeter große Freifläche für die Abhaltung der Auktionen und des eigentlichen Flohmarkts8. Von den höher gelegenen Rampen können Besucher auf diese »Arena des Handelns« hinabblicken. Den Höhepunkt der Inszenierung bildet jedoch das von dünnen Stahlsäulen in luftiger Höhe von 15 Meter gehaltene Flugdach, dessen Unterseite mit spiegelnden Metalltafeln verkleidet ist und so, wie es in zahlreichen Beschreibungen heißt, das »ganze Kaleidoskop des Markttreibens« auf einen Blick erfassbar macht. Mit seinen 35.000 Quadratmetern bietet der neue Markt den knapp 300 Händlern eine mehr als doppelt so große Nutzfläche wie das frühere Marktgelände und zieht nach Angaben des städtischen Marktamts (IMMB) wöchentlich bis zu 100.000 Besucher an. Dass die neue Markthalle an vorderster Stelle neben dem Katalonischen Nationaltheater, dem Musikauditorium und dem neuen Designmuseum in diese demonstrative Schaufront des 22@-Quartiers, Barcelonas Paradeviertel des 21. Jahrhunderts, einbezogen wurde, unterstreicht, wie Märkte mittlerweile zu einem gleichwertigen Element im 7 U.a. Finalist des 2014 European Prize for Urban Public Space. 8 L’Ajuntament de Barcelona: »Compromis per Glories«, 2007, S. 16.

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Encants Barcelona/Fira de Bellcaire, Barcelona

Repertoire zeitgenössischer Stadtplanung aufgerückt sind, vor allem dann, wenn wirtschaftsorientierte Stadtentwicklung auf kulturelle Belebung setzt.

Marktspektakel In diesem Sinn brachte die Verlagerung des Markts von »draußen« nach »drinnen« auch eine Verschiebung von informellen Verwertungen zu formalisierten Investitionen. Demnach liegt das Hauptmotiv für die Errichtung der neuen Markthalle nicht bloß darin, den bisher Sonne und Regen ausgesetzten Händlern ein Dach über dem Kopf zu bieten, sondern einen direkteren Zugriff auf das Innovationspotenzial von Märkten als Inkubator neuer Geschäftsideen zu erlangen. Die architektonische Geometrie des Neubaus bietet mit seinen scharf begrenzten Verkaufszonen und unterschiedlichen Arten von Standmodellen (78 Geschäftsboxen, 156 fixe Verkaufstische, 39 Auktionsplätze, 2 Bars, 1 Restaurant und 6 Imbissstände) der städtischen Marktverwaltung ein flexibles räumliches Schaltbrett zur Steuerung der ökonomisch-sozialen Ausrichtung des Markts. Gab es auf dem alten Freiluftmarkt nur zwei Imbissbuden, die Händler wie Käufer gleichermaßen bedienten, so finden sich im neuen Geschäftemix auch ein exquisiter Meeresfrüchtekiosk und ein hipper Sandwichläden, für dessen Delikatessen-Hotdog das beste Wiener Gebäck der Stadt herbeigeschafft

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Andere Märkte

wird. Obwohl fast alle ursprünglichen Händler vom alten an den neuen Standort übersiedelt sind, tragen die mit diesen zusätzlichen Nutzungen einhergehenden neuen Besuchergruppen zu einer spürbaren Veränderung des Marktgeschehens bei. Was den neu gestalten Encants Vells dennoch von der in vielen anderen urbanen Zentren der neuen Kreativwirtschaft virulenten »gastronomischen Rettung« und hippen Aneignung historischer Märkte, wie der Markthalle 9 in Berlin, dem Naschmarkt in Wien oder dem Old Spital­­fields Market in London, unterscheidet, ist die Koexistenz verschiedenster Geschäftsfelder, von der Wermutbar mit Ausblick auf die Flohmarktauktionen bis zu den Ständen mit gefälschter Calvin-Klein-Unterwäsche und afrikanischen Stoffen. Diese Mischung, die weit voneinander entfernte Örtlichkeiten und Lebensläufe unter einem Dach vereint, mag nicht nur das weitere Überleben dieses Jahrhunderte alten Markts für die nächsten Jahre und Jahrzehnte garantieren; die in der Neugestaltung von Encants Vells aktivierte Verknüpfung von Vergangenheit und Zukunft ist da­r über hinaus Vorbote und Verkörperung einer neuen »Ökonomie der Referenzkultur«. Indem der Handel von Waren die Lebenssituation von Produzenten an einem Ort mit jener von Konsumenten an einem anderen Ort zusammenbringt, fungieren Märkte immer auch als Träger von kultur- und zeitenübergreifenden Verknüpfungen. Im heutigen Zeitalter der »Tag-Ökonomie« wird jedoch der Verweis auf eine andere Vergangenheit selbst zu einem entscheidenden affektiven Kapital und damit zu einem zentralen Element der Unternehmens- und Produktstrategie: der Vintage-Look neuer Dekoartikel, die tradierten Rezepte von Wohlfühlgerichten, historisch-kulturell aufgeladene Labels, ein wiederentdecktes Ambiente als Ort für genussvollen Konsum. Auf dem neuen Encants Vells von 22@ werden nicht mehr einfach nur Verlassenschaften aufgelöst, hier wird – der darwinistischen Logik des freien Markts folgend – kulturelles Erbe in eine glänzende Zukunft investiert.

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ehemaliger Güterbahnhof

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Talad Rot Fai (2010–2013)

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(seit 2013)

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(seit 1982)

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(seit 2016)

(2010–2013)

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(seit 2015)

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Talad Rot Fai (seit 2013)

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Marktmode – Talad Rot Fai, Bangkok Es spricht für die gemeinschaftsstiftende Funktion von Märkten, dass es ihnen immer wieder gelingt, Menschen nicht nur deshalb anzuziehen, weil sie an diesen Orten ihre Grundbedürfnisse stillen möchten, sondern auch um ihre Freizeit dort zu verbringen. Bangkok ist mit seiner Fülle von Märkten ein typisches Beispiel dafür: so sehr ist der informelle Handel mit dem Stadtgewebe verbunden, dass es in nahezu allen Vierteln eine Ansammlung von Straßenhändlern gibt, die frisch zubereitetes Essen, Billigtextilien oder Haushaltswaren verkaufen und den Konsum auf Straßenmärkten zu einer der ganz normalen Routinen im thailändischen Alltagsleben machen. Bangkok kann sich aber auch mit einem der größten Wochenendmärkte der Welt rühmen. Der Jatujak-Markt, kurz auch JJ genannt, ist bekannt dafür, dass er jeden Samstag und Sonntag an die 200.000 Besucher anzieht. Als Einkaufs- und Freizeitdestination misst er sich mit Bangkoks dichter Konzentration von luxuriösen Einkaufszentren wie Central World oder Siam Paragon. Im Gegensatz zu den makellosen Räumlichkeiten, die diese klimakontrollierten Umgebungen ihren Kunden bieten, müssen Marktbesucher im Fall von JJ die heiße, stickige Luft der engen blechverkleideten Gänge erdulden, wenn sie in den in 15 Reihen aufgefädelten 15.000 Läden etwas finden wollen. Die angebotenen Produkte sind in 27 Bereiche unterteilt und reichen von Mode, Wohneinrichtungen und Sammlerstücken bis zu Kunstgegenständen, Gartengeräten und Haustieren – letzteres hat dem Markt den Ruf eingebracht, illegalen Handel mit geschützten Arten zu betreiben. Die Anfänge von JJ reichen bis ins Jahr 1948 zurück, als sich der damalige Premier, Plaek Phibunsongkhram, dafür stark gemacht hat, dass jede Stadt einen Flohmarkt haben sollte. Der erste dieser Flohmärkte fand in Bangkok am Sanam Luang, einer offenen Esplanade neben dem Großen Palast statt.1 In den frühen Jahren kam es mehrmals zu einer Übersiedlung des Markts, er blieb aber immer im politischen Viertel der Stadt. Um für Bangkoks Zweihundertjahrfeier Platz zu machen, wurde 1 Zur urbanen und wirtschaftlichen Umgestaltung Bangkoks unter Phibunsongkhram

siehe auch: Brian McGrath: »War, Trade and Desire. Urban Design and the Counter Public Spheres of Bangkok«, FOOTPRINT 12 (Future Publics: Politics and Space in East Asia’s Cities), Frühling 2013, S. 75–90.

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Andere Märkte

der Markt 1982 an den heutigen Standort – ein eingezäuntes, 14 Hektar großes Grundstück, das die Thailändische Staatsbahn zuvor als Golfplatz genutzt hatte – verlegt. Im historischen Zusammenhang betrachtet, mag dieses Flohmarktprogramm geradezu paradox erscheinen, gingen doch im 20. Jahrhundert von den meisten Schwellenländern Initiativen aus, den Straßenhandel zu unterbinden, weil er nicht ins angestrebte Bild westlich-moderner Staaten passte. Auch wenn der faktischen Diktatur Phibuns oft eine Modernisierung Thailands zugutegehalten wird, trug die Politik des Staatsführers zugleich auch einen ausgesprochen nationalistischen Charakter. In jeder Stadt einen offenen Markt zu errichten, sollte nicht nur die Bevölkerung zum Kauf thailändischer Waren anregen, sondern auch die Importe senken, speziell jene aus China, um auf diese Weise Thailands Unabhängigkeit von den benachbarten Mächten zu sichern. So wie viele andere Straßenmärkte in Bangkok (siehe auch das Kapitel »Bangkoks rote Zonen«) scheint JJ heute nicht mehr konform mit Thailands schrittweiser Eingliederung in globale Verbrauchermärkte zu gehen. Die aufstrebende junge Generation von Konsumenten, die sich in den ultra-modernen Einkaufsgalerien der Stadt vergnügt, stimmt weitaus besser mit dem von Thailand erklärten Ziel überein, der kapitalistische Vorzeigestaat der Region zu werden, als das unkontrollierbare Chaos überfüllter Märkte, deren Aktivitäten zu müllüberhäuften Straßen und unerwünschten Einträgen in den Special-301-Berichten des Handelsbeauftragten der USA führen. Im Schatten von JJ ist jedoch ein neuer Markttypus entstanden, der in der Lage sein könnte, jene Herausforderungen anzunehmen, die ein von weltweiten Handelsketten monopolisierter Markt mit sich bringt – eine Marktkultur, die von einer neuen Generation junger Kreativunternehmen genährt wird und deren Beschäftigungs- und Identitätssuche Arbeit und Vergnügen in einer selbstfabrizierten Atmosphäre miteinander vereint. Nur 500 Meter von JJ entfernt, hat das vielbejubelte Hipsterparadies Talad Rot Fai Bangkok an die Spitze des weltweiten Phänomens der »Kreativstadt«, das üblicherweise mit hart umkämpften Gentrifizierungsprozessen in alten Machtzentren wie New York, London oder Berlin verbunden ist, gehievt. Der Name Talad Rot Fai (Zugmarkt) bezieht sich auf den ursprünglichen Standort des Markts, einen ehemaligen Güterbahnhof mit gepflastertem rechteckigen Platz, der am hinteren Ende von ausrangierten Eisenbahnwagons umgeben und seitlich zwischen zwei Reihen von Frachtmagazinen gefasst ist. Die Idee zu diesem Markt stammt von

Marktmode – Talad Rot Fai, Bangkok

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Talad Rot Fai (2010–2013), Bangkok

zwei Antiquitätenhändlern, die im Juli 2010 ihr Unternehmen erweitern wollten und mit der Thailändischen Staatsbahn einen Dreijahresvertrag für ein dreieinhalb Hektar großes Grundstück abschlossen. Nachdem die riesigen Lagerhallen weitaus mehr Platz boten, als für den Verkauf der eigenen Waren nötig war, luden sie andere Händler ein, bei ihnen mitzumachen. Das Gelände wurde in der Folge unterteilt, sodass Retro-Boutiquen und verschiedene Läden, die Kunstgegenstände, Handwerkswaren und Möbel verkaufen, ebenso untergebracht werden konnten wie ausgefallene Oldtimer und entsprechendes Autozubehör. Um den Entdeckungseifer der Besucher jedoch nicht zu sehr zu beschränken, blieb ein großer Teil der alten Gebäude unrenoviert. In den damaligen Verwaltungsräumen des Güterbahnhofs, im Herzen des ursprünglichen Talad Rot Fai, befand sich das Musik- und Esslokal Rod’s, das von einem der beiden Marktgründer betrieben wurde und im Charakter ganz auf dessen Antiquitätenladen im Lagerteil des Areals abgestimmt war. Diese spezielle Mischung aus Verkauf und Vergnügen war entscheidend dafür, dass der »Zugmarkt« rasch zu einem der beliebtesten Ausgehviertel Bangkoks wurde. Eine angenehme Zeit zu verbringen ist auch am neuen Standort nach wie vor das zentrale Versprechen von Talad Rot Fai und der Grund dafür, dass sich dort Woche für Woche eine junge, modebewusste Szene trifft. Den »Zauber« von Talad Rot Fai macht seine besondere räumliche Komposition aus – lange Reihen

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buntgefärbter, pavillonartiger Stände, die handgefertigte Modeartikel, T-Shirts, Schuhe, Brillen, Schmuck und andere Accessoires verkaufen und an beiden Enden von Restaurants und Pop-up-Bars umgeben sind. Was zählt, ist nicht die Jagd nach dem besten Angebot, sondern der Bummel entlang von Marktständen, der einen von einer Bar zur nächsten führt, ähnlich dem in italienischen Städten als »passegiata« bekannten Ritual des sonntäglichen Flanierens. Auf dem Markt etwas zu konsumieren oder zu kaufen, ermöglicht einem, Zeit mit Freunden zu verbringen und eine bestimmte kulturelle Zugehörigkeit zu erfahren.

Nostalgiegemeinschaft Ästhetik spielt eine wichtige Rolle, um diese Art von Gegenkultur hervorzubringen. Im Fall von Talad Rot Fai bilden schicke Objekte von einst, speziell amerikanische Artefakte aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, einen wichtigen Orientierungspunkt. Nachdem die meisten der angebotenen Waren nach Kundenwünschen »angepasst« oder einfach nur gezielt ausgesucht werden, bedarf es keiner wirklichen Handwerksarbeit, um die Aura des Einzigartigen aufrecht zu erhalten. Worauf es am Ende ankommt, ist ein mitreißendes Gefühl von Gemeinschaft, bei dem Käufer- und Verkäuferschaft zu einer Art Gesamtkunstwerk verschmelzen. Der starke Glaube daran, dass beide Gruppen gemeinsam diesen Ort erschaffen, ist grundlegend für den Erfolg dieser neuen Form von sozialer Ökonomie. Mit den unscharfen Rollen von Händlern und Kunden verschwinden auch die klaren Grenzen von Geschäft und Vergnügen. Indem die Werthierarchien vermeintlich aufgelöst und die Profitinteressen auf diese Weise heruntergespielt werden, kann der Markt als ein gemeinsamer kultureller Rahmen in Anspruch genommen werden. Lebensstilgenuss derart in den Mittelpunkt zu stellen, unterscheidet Talad Rot Fai auch von anderen JJ-Ablegern wie Jatujak Plaza oder JJ Mall, die vor allem auf eine Erweiterung und Festigung des von JJ verfolgten Geschäftsmodells setzen. Die Eigentümer von Talad Rot Fai verbreiten gern die Botschaft, dass sie in den ersten drei Monaten alle Verkaufsflächen kostenlos zur Verfügung gestellt hatten, doch erst dann auf wirkliches Interesse stießen, als sie von den Händlern Miete zu verlangen begannen. Diese Rhetorik lässt sich zwar leicht als modisches Geplänkel abtun, mit dem heute Geschäftsunternehmen als eine Art kreatives Experiment präsentiert werden; eine solche Haltung übersieht aber, dass der

Marktmode – Talad Rot Fai, Bangkok

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rasche und unmittelbare Erfolg von Talad Rot Fai auch auf das Zusammentreffen zweier äußerer Faktoren zurückzuführen ist: Zum einen profitierte der neue Markt von der Schließung des nahegelegenen Ratchada, einem samstäglichen Nachtmarkt, der für die zunehmende Begeisterung der jungen Bevölkerung Bangkoks für Retro-Schick zweifellos eine Vorreiterrolle gespielt hatte (viele der kultig ausgestatteten Verkaufsstände – darunter umgestaltete VW-Busse und auf alt gestylte Pritschenwagen – zierten bereits den als Flohmarkt für Oldtimer-Ersatzteile etablierten Ratchada). Zum anderen galt die Gegend, in der Talad Rot Fai gegründet wurde, schon längere Zeit als trendiges Ausgehviertel, mit zahlreichen Bars und Clubs entlang der Kamphaeng Phet Road zwischen JJ und Talad Rot Fai, die sich im Abseits eines Gewerbegebiets angesiedelt haben. Während auf dem riesigen Flohmarktgelände von JJ heute hauptsächlich aus China importierte Billigprodukte und massengefertigter Schnickschnack für Touristen verkauft werden, lässt sich Talad Rot Fai auf andere Weise auf den Weltmarkt ein. Für ihn drückt sich Globalisierung weniger über einen weltweiten Warenkreislauf aus, als über ein globales kulturelles Vokabular jugendlichen Lifestyles. Amerikanischer Retro-Stil dient als Verständigungsbasis, um sowohl in sozialer als auch in wirtschaftlicher Hinsicht eine »glokale« Identität, für die kreativer Ausdruck und selbstgestaltete Umwelten wichtige Komponenten sind, in Anspruch zu nehmen. Um das weltweite Verlangen nach individuellem Stilempfinden zu erfüllen, wird ununterscheidbare chinesische Massenproduktion durch kundenspezifische Mode ersetzt. Unbeabsichtigt – wenngleich in unterschiedlicher Weise – scheinen die jungen Unternehmer des Talad Rot Fai mit ihrer Flohmarktkultur Phibulsongkhrams Politik der ökonomischen Unabhängigkeit fortzuführen. Die heutige Referenz ist nicht mehr nationales Volkstum, sondern eine Schmelzmasse von globalen Stilen und Ikonografien. Als im Juni 2013 der Dreijahresvertrag für den ehemaligen Güterbahnhof auslief, wurde der Markt geschlossen; kurz darauf begannen schon die ersten Arbeiten für die Errichtung der neuen SRT Red Line, die eine bessere Verkehrsanbindung des Gebiets gewährleisten soll. Im Vorfeld dieser Entwicklungen hatten die Zwischennutzer des Geländes bereits einen Schwesterstandort in Srinakarin nahe dem Flughafen Suvarnabhumi im Osten der Stadt aufgebaut. Dorthin ist nun der ganze Markt übersiedelt. Während jedoch die Anziehungskraft des ursprünglichen Markts zu einem nicht unwesentlichen Teil von der Atmosphäre

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Andere Märkte

der alten, abgenutzten und verlassenen Gebäude ausging, wurde die zweite, größere Version von Talad Rot Fai in einem auf einer Brachfläche am Stadtrand errichteten Neubau untergebracht. Standardisierte Leichtbauelemente aus Metall unterteilen das gesamte Marktgebiet, das mit allerlei nostalgischen Attrappen bestückt ist, darunter eine nachgebaute Tempelanlage und ein Eingangstor, das von kitschigen Kriegerstatuen aus Messing flankiert wird. Das gesamte Ambiente lässt einen eher an ein Outlet-Center mit inszeniertem Dorfcharakter denken, als an einen Untergrundmarkt. Zumindest dem Namen nach handelt es sich noch immer um den »Zugmarkt«, obwohl der neue Standort nichts mehr mit Zügen zu tun hat. Stattdessen dominiert die Nachbarschaft hier das 500 Meter lange Einkaufs- und Vergnügungscenter Seacon Square. Nachdem Branding für einen ständigen Zulauf neuer Kunden unerlässlich geworden ist, hat sich Talad Rot Fais Ästhetik dem Modell heutiger Verkaufsprinzipien mittlerweile angepasst. Das Nomadentum von Bangkoks Hipstermärkten verweist aber auf eine besondere Verbindung zwischen prekären Geschäftsbedingungen und dem von der Modebranche ausgehenden Verlangen nach ständiger Veränderung und immer neuem Rummel. Der aktuelle Prozess der Erweiterung und Festigung am neuen Standort von Talad Rot Fai mag vielleicht auf einer Linie mit Thailands offizieller Politik liegen, die Kultur- und Kreativwirtschaft mehr in den Vordergrund bringen möchte, allen voran Thailands König, der gern als künstlerischer Unternehmer dargestellt wird. Der nachhaltige Erfolg dieses Schritts – in Richtung einer Marktumgebung, die von gemeinsamen kreativen Prozessen getragen wird und nicht von einer an Markenpflege und Marktanteilsgewinnen orientierten Standardvorlage – bleibt jedoch abzuwarten.

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Globale Informalität Marktbeziehungen als Weltprojekt des 21. Jahrhunderts Die in den letzten Jahren erlebte Beschleunigung von Globalisierung und Liberalisierung hat zu neuen Formen informeller Wirtschaftsaktivität geführt, mit denen Informalität immer »näher« an die traditionellen Machtzentren heranrückt.1 Diese Veränderung beruht auf zwei Dynamiken: Zum einen treffen weltweite Flucht und Migration auf eine zunehmende Segregation der Bevölkerung in den westlichen Großstädten, und zum anderen bedienen sich globale Konzerne mit ihren eigenen Marktinteressen beharrlich an den sogenannten Entwicklungsländern. Dies hat in weiten Teilen der Welt zu einer Explosion und Instrumentalisierung von Informalität geführt, deren Tragweite mit den heute verbreiteten Erklärungsmodellen schwer zu fassen ist. Weder strukturell bedingte Arbeitslosigkeit und zunehmende Einkommensunterschiede, die in den Analysen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für den Anstieg von Informalität verantwortlich gemacht werden, noch gesetzliche Barrieren, die ein Untertauchen in Informalität notwendig machen, wie dies die Advokaten des Mikrounternehmertums argumentieren, erklären für sich allein die wachsende Grauzone informeller ökonomischer Aktivitäten, in die immer mehr Regionen, Personengruppen und Lebensbereiche eingebunden sind: Vom neuen Ethos des experimentellen Selbstunternehmertums in der westlichen Welt bis zur Flexibilisierung von Landnutzungsrechten und staatlichen Zugehörigkeiten, und von den rasch zunehmenden Peer-to-Peer-Branchen und mit Sozialen Medien betriebenen Finanzierungsplattformen bis zum Mikrohandel mit Mobiltelefonen in Asien, Afrika und Lateinamerika, breiten sich Technologien aus, die neue Zusammenhänge zwischen Räumen, Menschen und Kulturen schaffen. Informelle Systeme haben so einen weltumspannenden Handlungsradius erlangt – bei der Strukturierung sozialer Beziehungen, im Gestalten unserer Umwelten und in der Teilnahme an politischen und gesellschaftlichen 1 Für eine detaillierte Beschreibung dieser Entwicklung im Kontext von lateinameri-

kanischen, südostasiatischen und Nahost-Staaten siehe z.B. Nezar AlSayyad: »Urban Informality as a ›New‹ Way of Life«, in: Ananya Roy und Nezar AlSayyad (Hg.), Urban Informality, Lanham, MD: Lexington, 2004, S. 7–30.

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Prozessen ebenso wie im Schaffen individueller Einkommen und in kultureller Produktion. Diese Art von Bottom-up-Strategien, die überall dort ansetzen, wo die Kräfte der institutionalisierten Ökonomie nicht auf direkte Weise einwirken können, deuten nicht nur auf Maßstabsveränderungen hin, sondern auch auf Veränderungen, die mit den konzeptuellen, institutionellen und operativen Ebenen von etwas zu tun haben, das wir gemeinhin als »wirtschaftliche Transaktionen« verstehen. Zu den Symptomen dieses Wandels zählen neue (staats-)bürgerliche Arrangements und das Entstehen eines vielfältigen Spektrums an migrantischen Subjekten ebenso die weltmodellierende Praxis neoliberaler Stadtentwicklung, die eine beschleunigte Zirkulation von Modellen, Protokollen und Praktiken des Stadtschaffens zur Folge hat.2 Die Metropole ersetzt mit diesem ausbaubaren Repertoire die Fabrik als primäre räumliche Bezugsebene für eine globalisierte Produktion von Gütern, Ideen und Werten.3 Städtisches Wachstum und informelle Handlungsmuster stärken sich hier gegenseitig. Einflussreiche Mitstreiter in diesem weltumspannenden Raum von Informalität sind neue Finanzinstitutionen in Entwicklungsund Schwellenländern, die einer von Krediten der führenden Nationen unabhängigen Finanzierung von Infrastrukturprojekten in diesen Ländern dienen sollen, wie etwa die 2014 von den BRICS-Staaten vis-à-vis von IMF und Weltbank gemeinsam errichtete Entwicklungsbank, die einen Wirtschaftsraum mit beinahe der Hälfte der Weltbevölkerung bedient. Ein solcher Einsatz von Informalität als Graubereich, Reservekapazität und infrastrukturelles Pioniergebiet durchzieht unser soziales Leben mit den Imperativen informeller Produktion und bringt mit sich, dass alles Erdenkliche mit einer neuen Art von ökonomischer Vernunft befallen wird – ein Gemisch, das in unzähligen Einrichtungen von städtischen »Laboratorien« destilliert wird und ein bereitwilliges Publikum in seinen Bann zieht. Der Zauber informellen Lifestyles bindet so das vorhandene Begehren unauffällig und geschmeidig an die verheißungsvollen Erträge der Ökonomie. Nicht direktes Handeln, sondern distanzierte Kontrolle kennzeichnet immer mehr die Steuerung dieser Prozesse: Seien es 2 Ananya Roy: »Urbanisms, Worlding Practices and the Theory of Planning«, Planning

Theory, Bd. 10, Nr. 1 (2011), S. 6–15.

3 Michael Hardt und Antonio Negri: Commonwealth, Cambridge, MA: Harvard Uni-

versity Press, 2009, S. 244–260.

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behördliche Ferndiagnosen über die Verletzung von Handelsabkommen, um diese Verstöße als politisches Druckmittel einsetzen zu können, sei es die staatliche Überwachung von Einwanderungsgebieten und Grenzregionen durch ferngesteuerte Drohnen oder die aktuelle Planungsrhetorik von urbanen »Akupunkturen« in informell gewachsenen Stadtgebieten – im Zeichen neoliberaler Globalisierungspolitik besteht die Kunst der Kontrolle von Informalität, wie wir später noch erörtern werden, im Aufrechterhalten einer Distanz zu ihrer »natürlichen« Entfaltung und einem gezielten Abschöpfen der Erträge, die sie erbringen kann. In einem Interview mit der Architekturgruppe Urban-Think Tank (U-TT), das wir ein paar Monate vor der Verleihung des Goldenen Löwen der Architekturbiennale Venedig 2012 geführt hatten,4 fragten wir, wie sie dazu stehen, dass sich in den letzten Jahren ein spezialisiertes Repertoire an Raumpraxen entwickelt hat, das unterschiedlichste Welten miteinander zu verbinden weiß – lokale Bevölkerungen mit urbanem Expertentum, das »Eins-zu-Eins-Labor« des globalen Südens mit dem akademischen Bereich. Sie antworteten, dass ihnen aus eigener Erfahrung bekannt sei, wie wenig ernst der Wille zu echter Kooperation oft ist und dass sie daher keine Illusionen darüber haben, dass sich am Verhältnis zwischen globalem Norden und Süden etwas fundamental ändern wird – wenn nicht aufgrund der wirtschaftlichen Verschiebungen, die unsere Aufmerksamkeit heute nachhaltig auf Städte wie Caracas, São Paulo oder Mumbai lenken, in denen U-TT mit Gleichgesinnten das urbane Experimentierfeld des 21. Jahrhunderts realisieren wollen.5 Ganz gleich, ob der ökonomische Wandel tatsächlich zu Veränderungen in der politischen Weltordnung führen wird, scheint die Verräumlichung von Informalität – als Flickwerk ungezügelter Großstadtgrenzen – heute ein wichtiger Motor für die Verbreitung von Mythen über informelles Unternehmertum, Selbstfinanzierung 4 U-TT wurde der Goldene Löwe 2012 für das Projekt Torre David/Gran Horizonte

verliehen. Das Projekt widmete sich der mehrjährigen Besetzung des dritthöchsten, jedoch nicht fertiggestellten venezolanischen Gebäudes in der Innenstadt von Caracas, das mittlerweile zwangsgeräumt wurde. In der Presseaussendung der Architekturbiennale Venedig war zu lesen: »The jury praised the architects for recogniz­ing the power of this transformational project. An informal community created a new home and a new identity by occu­pying Torre David and did so with flair and conviction. This initiative can be seen as an inspirational model acknowledg­i ng the strength of informal societies.« 5 Interview von Peter Mörtenböck mit Urban-Think Tank, veröffentlicht in konstruktiv 284 (Dezember 2011), S. 20–26.

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und Selbstbeschäftigung zu sein. In Einklang mit dem Expansionsdrang kapitalistischer Marktbeziehungen setzt diese Verräumlichung auf systematische und gezielte Aktionen, Techniken der Unterbrechung und Unterschlagung, eingeübte Protokolle und Rituale, radikale Gesten und Ausdrücke, kodierte Werte und Ästhetiken. Jeder Versuch, die heutigen Grenzbereiche globaler Informalität auszuloten, muss daher berücksichtigen, wie transnationale Neuorientierungen im Wirtschaftsbereich von diesen Experimenten mit Unternehmensmustern, ästhetischen Trends, Organisationstechniken und (staats-)bürgerlichen Positionierungen Gebrauch machen. Angesichts dieser territorialen und konzeptuellen Mobilisierungen steht hinter den hier folgenden Ausführungen eine dreifache Absicht: Erstens geht es uns darum, städtische Informalität entlang einer Überscheidung von ökonomischen, politischen und kulturellen Vektoren zu positionieren, mit denen der globale Kampf um die Konstitution von Menschen als Staatsbürger ausgetragen wird. Zweitens wollen wir uns informellen Märkten durch die Art und Weise nähern, wie diese Räume inmitten neuer Anordnungen von staatlichen und nichtstaatlichen Technologien entstehen. Und drittens soll unsere Aufmerksamkeit jenen transnationalen Praktiken gewidmet sein, mit denen sich unterschiedliche Akteure dieser Schauplätze bedienen. Einen wichtigen Referenzpunkt dafür bilden die postkoloniale Weltordnung und die mit ihr verbundene Produktion transnationaler Räume, die durch eine genau kalkulierte, aber scheinbar grenzenlose Mobilität von Arbeitskraft, weltweiten Datenverkehr, ungezügelten Kapitalfluss und die Ausbreitung hybrider Lebensstile gekennzeichnet sind. Diese grenzüberschreitenden Flüsse werden durch das ökonomische Kalkül von »location intelligence« (ortsbezogene Dienste), Outsourcing und Geomarketing gelenkt, durch zwischenstaatliche Wirtschafts- und Handelsabkommen unterstützt und durch Arbeitsmigration, wirtschaftliche Flucht und politische Vertreibung zustande gebracht. Neue Welten entstehen überall dort, wo diese Flüsse neu gebündelt werden – an den zahlreichen Knotenpunkten des fortgeschrittenen Kapitalismus, wo menschliche Fähigkeiten gemeinsam mit dinglichen und ideellen Kapazitäten zu hybriden Ressourcenagglomerationen verschmelzen und massive Konzentrationen von Infrastrukturen eine weltweite Verbreitung von Waren ermöglichen. In den Rhythmen dieser Kreisläufe spielen Wachstumsmetropolen, seien es die klassischen, an der virtuellen Steuerung von Finanzkapital orientierten »global cities«

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oder die riesigen urbanen Ballungsräume in den aufstrebenden Weltregionen, eine zentrale Rolle. Sie alle sind Schachfiguren im Wettkampf um den besten Standort, neu formatierte Territorien deren unberechenbare Eigenlogiken staatliche und private Stakeholder unter ihre Kontrolle zu bringen versuchen, um im globalen Wettbewerb der »Stadtwelten« erfolgreich zu sein.

(Staats-)bürgerliche Arrangements: Von Territorialrechten zu Handelswerten Städtische Deregulierungsprozesse und die verstärkte Bewirtschaftung transnationaler Räume haben in den letzten Jahren eine neue Art Stadtsystem entstehen lassen – die »erweiterte Stadt«, ein Cluster von miteinander vernetzten Standorten, das durch neue Technologien, gesetzliche Rahmenwerke, politischen Druck, Migrationsströme, Steuerungsanliegen und andere, lokal wirksame Kräfte in Schwung gebracht wird. Diese Landschaften »lateralisierter Marktmacht« sind mehr als ein Effekt beschleunigter Globalisierung. Sie zeichnen sich aus durch kulturgebundene Praktiken und Interaktionsformen, die in neu gebildeten Gefügen stattfinden.6 Diese Dynamik manifestiert sich in einer Zahl von transterritorialen Raumerfahrungen, die politisch-ökonomische Interessen mit Prozessen der Subjektbildung vereinen. So unterschiedliche Schauplätze wie Sonderwirtschaftszonen, Grenzmärkte, besetzte Gebäudekomplexe, Flüchtlingslager oder die Lager von Arbeitsmigranten sind ein fester Bestandteil unserer sozialen und physischen Umwelt geworden. Unsere Auffassung von Phänomenen wie Mobilität, Staatsbürgerschaft und Landnutzung hat sich dadurch deutlich verschoben: Diese Begriffe werden immer mehr aus ihren Eigenlogiken heraus verstanden, als miteinander verbundene, flexible und bedingte Praktiken, und immer weniger als Konsequenz von Festlegungen durch Verwaltungs- und Behördenapparate. Entsprechendes gilt auch für neue Formen von (Staats-)Bürgerschaft, die sich nicht aus der Inanspruchnahme territorialer Rechte ableiten, sondern aus der jeweiligen Art, wie sich die differenzierte Ausübung staatlicher Macht mit internationalen Konzerninteressen und den Anstrengungen von (Staats-) Bürgern überschneidet. 6 Aihwa Ong: Neoliberalism as Exception. Mutations in Citizenship and Sovereignty,

London und Durham, NC: Duke University Press, 2006.

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»Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger.«7 – Robert Musils These vom Staatsbürger ist nur noch in abgewandelter Form für die Beschreibung der »seltsam ungeklärten Mischverhältnisse« unserer Tage gültig: Nicht die Frage, ob jemand als Bürger zählt, sondern welche Komponenten von Staatsbürgerschaft Teil eines individuell beanspruchbaren Pakets sind, charakterisiert den »Mann ohne Eigenschaften« im 21. Jahrhundert. Das Leben ohne Eigenschaften lässt nicht länger auf Stabilitäten hoffen, zumal die Aussicht darauf, Krisensituationen durch ein prägendes Ereignis zu überwinden, auf Dauer verschwunden ist. Mobilität ist zu einer Grundkonstante der Globalisierung geworden, und mit ihr der Zwang zur ständigen Aufmerksamkeit auf die Akkumulation von strategischen Werten, die einen zu einem würdigen Staatsbürger machen. So ist ein Diskurs von Staatsbürgerschaft entstanden, der sich beinahe ausschließlich an der Fähigkeit von Individuen orientiert, zum ökonomischen Wachstum etwas beizutragen. Im Zentrum dieses Wandels steht eine Destabilisierung der vormals exklusiven Verbindung von nationalstaatlichen Territorien und Staatsbürgerschaften zugunsten einer »vertraglichen Festlegung« der Staatsbürgerschaft in Übereinstimmung mit den Quid-pro-quo-Prinzipien von Marktbeziehungen8 – wirtschaftliche Funktionsfähigkeit, Effizienzanforderungen, Wettbewerbsdruck und Handelsbedingungen. Im Licht der andauernden Wirtschaftskrise richtet sich die Art der Aufnahme von Arbeitskräften in wohlhabenden Regionen immer mehr nach dem Gewinn, der mit ihnen erzielt werden kann. Die Schaffung von Zonen mit unterschiedlichen Formen der Souveränität, die flexible Verleihung abgestufter Rechtstitel und die Festlegung von an beruflicher Qualifikation orientierten Einwanderungskontingenten sind einige der Folgen dieser Entwicklung.9 Eine neu hinzu gekommene Variante stellen die von immer mehr Staaten offerierten Einwanderungsprogramme für Kapitalanleger (»immigrant investor programmes« bzw. IIPs) dar, die wohlhabenden Einwanderern eine beschleunigte und umfassende Zuerkennung der Staatsbürgerschaft versprechen, wenn diese bereit sind, in die nationale Ökonomie zu investieren. 7 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, hg. von Adolf Frisé, Bd. 1: Erstes und

zweites Buch, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1981, S. 33.

8 Margaret R. Somers: Genealogies of Citizenship. Markets, Statelessness, and the

Right to Have Rights, Cambridge: Cambridge University Press, 2008.

9 Aihwa Ong: Flexible Citizenship. The Cultural Logics of Transnationality, Durham,

NC: Duke University Press, 1999.

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Während diese Denationalisierung von Staatsbürgerschaft 10 die mit den jeweiligen Staatsgrenzen ehemals klar markierten räumlichen Parameter der Bindung von Nationen und Staatsbürgern in den Hintergrund gedrängt hat, verräumlicht im Gegenzug die wachsende symbolische und politische Bedeutung von »unternehmerischen« Staatsbürgern neue Machtverhältnisse und Austauschbeziehungen. Raum als solcher ist in dieser Umwandlung ökonomischer Zusammenhänge keineswegs aus seiner Verklammerung mit dem Konstrukt der Staatsbürgerschaft verschwunden, er wird jedoch zur flexiblen Steuerung von Bevölkerungen neu aus diesem hervorgebracht: In diesem Prozess wird, wie Saskia Sassen ausgeführt hat, das aus vielen Komponenten bestehende, fest geschnürte und naturalisierte »Bündel« an Staatsbürgerschaftsrechten angefochten, aufgeschnürt und in einer Vielfalt von neuen Zusammensetzungen »abverkauft«, als für einen bestimmten ökonomischen Status passendes Pendant. Aus nur einem Immigrationsraum sind dadurch viele Immigrationsräume geworden, die unterschiedliche Marktanforderungen bedienen – Räume für Billiglohnarbeiter, IMF-Bürger, IIP-Bürger, »sans-papiers« und »paper citizens«11. Als Konsequenz kommen Firmen und Konzernen immer mehr Staatsbürgerschaftsrechte zu, während Individuen an Staatsbürgerschaftsrechten verlieren.12 Im Licht dieser Entwicklung befinden sich migrantische Bevölkerungen in mehrfach gestaffelten Rechtssituationen oder, anders gesagt, in Räumen, deren Elastizität die Vorstellung von alternativen Identitätsprojekten und sozialer Integration abseits staatlicher Kontrolle beflügeln, wenngleich die Chancen ihrer Realisierung ziemlich bescheiden sind. Solche »Grauräume«, wie Oren Yiftachel dauerhaft informell gehaltene Zwischenräume bezeichnet, in denen die Grenzen von Akzeptanz und Ablehnung willentlich unklar gehalten werden, bilden eine neue politische Geografie, in der urbane koloniale Beziehungen umkodiert werden.13 »Gray spacing«, der daran gekoppelte Prozess des Herstellens 10 Saskia Sassen: »Towards Post-National and Denationalized Citizenship«, in: Engin

F. Isin und Bryan S. Turner (Hg.), Handbook of Citizenship Studies, London: Sage, 2002, S. 277–291. 11 Kamal Sadiq: Paper Citizens. How Illegal Immigrants Acquire Citizenship in Developing Countries, Oxford: Oxford University Press, 2009. 12 Saskia Sassen: Ausgrenzungen. Brutalität und Komplexität in der globalen Wirtschaft, übers. Sebastian Vogel, Frankfurt am Main: S. Fischer, 2015. 13 Oren Yiftachel: »Critical Theory and ›Gray Space‹. Mobilization of the Colonized«, City, Bd. 13, Nr. 2–3 (2009), S. 241–256.

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neuer sozialer Beziehungen, in den mächtige staatliche und private Akteure ebenso involviert sind wie schwache und marginalisierte Gemeinschaften, erzeugt lokal fokussierte Sondierungszonen, in denen laufend Konflikte darüber ausgetragen werden, welche Beziehungen erwünscht, toleriert oder kriminalisiert sind – Konflikträume, deren geografische Isolation darüber hinweg täuscht, dass sie ein dominantes Kennzeichen von strukturellen Beziehungen sind, die sich auf der ganzen Welt entfalten. Als Konsequenz dieser Dynamiken sieht der postkoloniale Theoretiker Achille Mbembe eine zunehmende Partikularisierung von Konflikten in unserer Zeit: Die Ausweitung der Informalisierung vom ökonomischen Bereich auf das gesamte Spektrum unserer sozialen und kulturellen Vorstellungswelt habe die Dauerhaftigkeit politischer Prozesse zu einem wechselhaften Mosaik an Einzelkämpfen werden lassen.14 Der vormals durch Gewerkschaften, Interessensverbände und andere traditionelle Institutionen verkörperte Zusammenhang von politischen Anliegen gehe verloren. Fragen der spontanen Allianzbildung und der improvisierten Koordination von Interessen treten dagegen in den Vordergrund. Informelle Organisation in Form von kurzlebigen, unmittelbaren und schwankenden Abmachungen bildet so ein dominierendes Prinzip der Lebensführung, bei dem sich Arbeit, Kultur, Bildung und Soziales derart an globalen Wirtschaftsinteressen und deren Mechanismen zu orientieren beginnen, dass die von Karl Polanyi anhand der industriellen und bürgerlich-politischen Revolution konstatierte Marktorientierung gesellschaftlicher Verhältnisse15 zu einem allumfassenden Verhaltensmuster wird.

Regierungsmacht und Ökonomie Das unaufhörliche »Wachsen« der Welt (Bevölkerung, Urbanisierung, Ressourcenverbrauch, etc.) hat Raum zu einem der wichtigsten Gegenstände der voranschreitenden Ökonomisierung gemacht. Fragen der 14 Achille Mbembe: »Sovereignty as a Form of Expenditure«, in: Thomas Blom Hansen

und Finn Stepputat (Hg.), Sovereign Bodies. Citizens, Migrants, and States in a Postcolonial World, Princeton, NJ: Princeton University Press, 2005, S. 153–154. 15 Karl Polanyi: »Our Obsolete Market Mentality. Civilization Must Find a New Thought Pattern«, Commentary 3 (Februar 1947 [wiederveröffentlicht in: George Dalton (Hg.), Primitive, Archaic and Modern Economies. Essays of Karl Polanyi, Garden City, NY: Doubleday Anchor, 1968]), S. 109–117.

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Landnutzung stehen daher ständig im Mittelpunkt der heutigen Auseinandersetzung über die Informalisierung von Städten. Informellen Märkten und ihrer Fähigkeit, Räume temporär zu nutzen, kommt dabei ein besonderer Rang zu. Im Verlauf der letzten Jahre hat die Verlagerung der Wirtschaftstätigkeit auf die Finanzen in Sachen informeller Urbanität enorm an Einfluss gewonnen. Die Finanzökonomie ist zum wichtigsten Motor des Urbanen geworden, nicht nur in der Gentrifizierung von vielversprechenden Stadtgebieten, sondern ganz generell im Entwickeln von Wachstumsmustern im städtischen Gewebe. Parallel dazu propagieren die Institutionen des globalen Finanzmarkts eine Planungspolitik, die zum Ziel hat, Menschen aus dem informellen Sektor in formelle Umwelten einzubinden. Informelle Urbanität wird hierbei als Herausforderung für die moderne Stadt gesehen. Entsprechende Politiken operieren auf Basis der Annahme, dass Informalität immer nur provisorisch zu verstehen ist, als Hilfsmaßnahme, deren Kreativität in Anspruch genommen werden kann, um einen verbesserten Zustand herbeizuführen. Informalität stellt in dieser Perspektive einen Ausnahmeraum dar, dem nur mit der Absicht begegnet werden kann, einen systemkonformen Wandel einzuleiten, der rückwirkend die bestehenden Normen und Regelungen legitimiert. Einen wichtigen Einfluss auf dieses Zusammenspiel von Staat, Bevölkerung und Markt übt der in der Entwicklung der westlichen Moderne gebildete Zusammenhang von Regierungsmacht und Ökonomie aus, den Giorgio Agamben in Herrschaft und Herrlichkeit umfassend beleuchtet hat.16 Agamben leitet diesen Zusammenhang aus der Theologie, genauer gesagt aus der christlichen Trinitätslehre ab. Während Foucault, auf den Agamben hier zum Teil aufbaut, mit seinem Begriff der Gouvernementalität vor allem die Ergründung von charakteristischen Rationalitäten der Steuerung im Auge hat,17 geht es Agamben mit seinem Bezugsrahmen von Regierung und christlicher Trinitätslehre darum, zu zeigen, wie die ökonomische Ausrichtung der christlichen Dreifaltigkeit als Laboratorium für die Gliederung der modernen westlichen Regierungsmaschine diente. 16 Giorgio Agamben: Herrschaft und Herrlichkeit. Zur theologischen Genealogie von

Ökonomie und Regierung – Homo Sacer II.2, übers. Andreas Hiepko, Berlin: Suhrkamp, 2010. 17 Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernmentalität I, Vorlesungen am Collège de France, 1977–1978, übers. Jürgen Schröder, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006 und ders.: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernmentalität II, Vorlesungen am Collège de France, 1978–1979, übers. Jürgen Schröder, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006.

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Der Begriff der Ökonomie bezeichnet nach Agamben eine fortschreitende Erweiterung der (göttlichen) Geltungssphäre über die eigenen Grenzen der Macht hinaus – eine Kraft, die aus dem Inneren heraus das Ganze regiert und verwaltet. Ökonomie ist in diesem Sinn eine Praxis, die außerhalb der Politik ansetzt, eine Praxis, die anordnet, einteilt, darstellt und umsetzt, und mit diesen Prozessen zugleich die herrschende Macht begründet. In Zusammenhang mit der flexiblen Positionierung von informellen Märkten ist vor allem der Umstand interessant, dass diese Säkularisierung nicht im Weberschen Sinne eine zunehmende Entzauberung und Enttheologisierung der modernen Welt darstellt, sondern – ähnlich wie bei Foucault – eine Signatur, die Zeichen und Begriffe von einem Bereich in einen anderen verschiebt.18 Dieser Mechanismus hilft zu verstehen, wie einfach eine Transplantation von Herrschaftsformen zwischen unterschiedlich klassifizierten ökonomischen Gefügen (formell/informell, erlaubt/unerlaubt, etc.) stattfinden kann, ohne die vorhandenen Bedeutungsmuster aufzuheben. Ökonomie ist damit zur leitbildgebenden Figur für alle Aspekte unseres öffentlichen Daseins geworden. Unter ihrem Einfluss beruht Machtausübung auf einer Form der Stellvertretung, die nicht nur eine Spaltung von Sein und Praxis bewirkt, in deren Zeichen verschiedene Formen urbaner Informalität entstehen, sondern auch die Verdrängung der klassischen Ontologie (also eines ursprünglichen, substanziellen Kerns der Macht) durch ein ökonomisches Paradigma, in dem nichts ursprünglich ist, außer die Beziehung zwischen Herrschaft und Regierung selbst. Es gibt in der Folge, wie Agamben schreibt, »kein Wesen, sondern nur eine ›Ökonomie‹ der Macht, nur ›Regierung‹.«19 So wie sich die Regierung auf die Herrschaft beruft, deren Amt sie ausübt, so bezieht auch letztere ihre Geltung durch das Ausüben einer stellvertretenden Praxis. Um das zu ermöglichen, braucht es einen komplexen Zusammenhalt: eine Koordination und einen gleichzeitigen Bruch von Sein und Handeln,20 in dem die Praxis in gewissem Sinn befreit und »anarchistisch« wird, weil sie nicht auf Anweisung handelt, sondern lediglich im Zeichen der Ökonomie. Freies Handeln – sowohl als Bezeichnung für das Ausüben einer selbstbestimmten Praxis als auch im Sinne eines 18 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaf-

ten, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1974, S. 56–61.

19 Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit, S. 169. 20 Ebd., 87.

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uneingeschränkten Warenverkehrs – ist in dieser Weise zwar nicht sub­ stanziell, aber ökonomisch kontrolliert. In dieser Kontrolle spielt der politische Raum der Grenze und dessen Konfrontation mit der weitgehend ökonomisch orientierten Regulierung des transnationalen Raums eine wichtige Rolle.21 Informelle Märkte sind oft Teil solcher Grenzökonomien und bilden Korridore für transnationale Unternehmen, die nicht nur dem Umlauf von Menschen, Dienstleistungen und Waren dienen, sondern auch als Mittel zur Einflussnahme auf undurchschaubare Gebiete. Diese Untergrundwirtschaft bietet auf vielen Ebenen Platz für »Betreiber«, »Mittelsleute« und »Anbieter«, die den räumlichen und politischen Kontext für die Zugänglichkeit und Kontrolle von noch unerschlossenen Märkten hervorbringen. Einen besonders aufschlussreichen Schauplatz hierfür stellen informelle Marktplätze in Nordkorea dar. Seit Beginn dieses Jahrhunderts sind speziell in Pjöngjang und in den nördlichen Provinzen nahe zu China, wo Waren über die Grenze geschmuggelt werden, Schwarzmärkte entstanden. Eine Reihe westlicher Thinktanks, darunter das Peterson In­­stitute for International Economics (PIIE) in Washington, feiert in ihren Berichten Personengruppen, die in Nordkorea informellen Straßenhandel betreiben, als »kleine Revolutionäre«, obwohl ähnliche Aktivitäten in Ländern wie Paraguay, Mexiko oder China als »kriminell« verurteilt werden. Diese unterschiedlichen Bewertungen von informellen Marktplätzen haben weniger mit der Zahl oder Schwere von Gesetzesübertretungen zu tun, als mit strategischem Interesse an einer bestimmten Region. Im Fall Nordkoreas geht es, wie das PIIE selbst schreibt, darum, das politisch-ökonomische System Nordkoreas durch den Einfluss externer Akteure zu transformieren, und, in einer längeren Zeitperspektive betrachtet, um Möglichkeiten für die Entwicklung auswärtiger Wirtschaftsbeziehungen mit den USA.22 Daher brauche die Hoffnung, die in diese Entwicklung gesetzt wird, lokal agierende, risikobereite »Graswurzel-Kapitalisten«, die sich als treibende Kraft der aufkeimenden »Zweitökonomie« den laufenden politischen Veränderungen annehmen und diesen Entwicklungsmarkt informell (oder anders gesagt »anarchistisch«) managen. 21 Für eine ausführlichere Analyse von informellen Grenzwirtschaften siehe auch das

Kapitel »Marktperspektiven«.

22 Stephan Haggard und Marcus Noland: Witness to Transformation. Refugee Insights

into North Korea, Washington, DC: Peterson Institute for International Economics, 2011, S. 125.

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Nachdem die nordkoreanische Regierung im November 2009 die staatliche Währung radikal abgewertet hatte, um gegen informelle Märkte und rund um sie entstandene Infrastrukturen (private Imbissstände, Gastwirtschaften, Nähereien, Finanzdienste, etc.) vorzugehen, kam es zu einer Beschleunigung der vorhandenen Entwicklung. Trotz intensiver Bemühungen der Regierung konnten diese Märkte durch die monetäre Intervention nicht zerschlagen werden, vor allem deshalb, weil viele Leute mit ausländischer Währung zu handeln begonnen hatten, anstatt Waren und Dienstleistungen in nationaler Währung auszupreisen. Ironischerweise zogen so ausgerechnet die international gut vernetzten Händler den meisten Gewinn aus dieser Maßnahme, während gesetzestreue Bürger, die keinen Zugriff auf größere Summen ausländischer Währung hatten, den Schaden davontrugen. Laufend aktualisierten US-Militärberichten zufolge haben sich informelle Märkte in Nordkorea inzwischen zu einem äußerst ausgereiften und ständig wachsenden Netzwerk entwickelt. Diese Untergrundstruktur spielt für das Alltagsleben der Menschen in Nordkorea eine derart große Rolle, dass aus ihr wichtige Informationen über die sich ändernde politische Situation des Landes gewonnen werden können.23 Deshalb wird der Zugang zu diesem dichten Gewebe an persönlichen wie institutionellen Beziehungen von Entscheidungsträgern in den USA als zentraler Punkt im Ausüben politischen und ökonomischen Einflusses gesehen. Aus diesem Beispiel geht zum einen hervor, in welchen komplexen Bahnen die Verwicklung von informellen Marktplätzen mit dem Leben von Millionen Menschen stattfindet. Teil dieser Komplexität ist ein spezielles Wissen, das aus der Praxis informellen Handelns hervorgeht; zum anderen zeigt sich, wie das Sondieren und Erkunden informeller Marktplätze einen Mechanismus darstellt, um Möglichkeiten für die Umgestaltung globaler Beziehungen zu identifizieren. Zu diesem Unternehmen tragen im Fall Nordkoreas unterschiedliche Prozesse bei, darunter Nachforschungen im Auftrag von Regierungen, Berichte von Überläufern, Thinktank-Operationen oder auch wissenschaftliche Konferenzen, wie etwa eine 2011 vom United States Institute of Peace (USIP) in Washington abgehaltene Konferenz, die sich der Frage widmete, wie informelle 23 Andrew Chack, John V. Farr und James H. Schreiner: »A Systems Perspective of

Foreign Intervention with Regards to the Democratic Peoples Republic of Korea«, White Paper 2012-1, West Point, NY: Center for Nation Reconstruction and Capacity Development, United States Military Academy, Juni 2012, S. 14.

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Märkte in Nordkorea expandieren und welche Rolle neue Technologien, insbesondere Mobiltelefone, spielen können, um den Aktionsradius informeller Märkte in Nordkorea in Art und Maßstab zu erweitern.24 All diese Aktivitäten bringen zum Ausdruck, dass es bei dem von staatlicher oder unternehmerischer Seite auf informelle Märkte gerichteten Blick nicht um Legalität oder Illegalität an sich geht. Es geht auch nicht darum, eine bestimmte Wirtschaftspraxis zu verbessern oder Unrecht zu beseitigen. Und gewiss nicht darum, die ökonomischen Anstrengungen zu würdigen, mit denen die lokale Bevölkerung in benachteiligten Regionen ihr Überleben sichert. Der strategische Zugriff auf informelle Märkte von außen ist mit dem Ausüben von Macht in Form einer Ökonomie verbunden. Dieser Zugriff wird, wenn wir Agambens Modell hier weiter folgen, erst durch die Unterscheidung zwischen einer »allgemeinen« und einer »besonderen« Ökonomie möglich,25 das heißt, durch die Trennung zwischen intellektueller Erkenntnis und ausübender Praxis, Ewigkeit und Zeitlichkeit, distanzierter Autorität und direktem Regierungshandeln. Anders ausgedrückt orientieren sich staatliche Interventionen in informelle Märkte an einer doppelten Gestalt von Ökonomie: zum einen an einer »allgemeinen« Ökonomie, für die das Handeln außerhalb der Konventionen als Rechtsbruch gilt, und zum anderen an einer »besonderen« Ökonomie, für die das Außerhalb einen Erweiterungsraum darstellt, der von stellvertretenden Kräften annektiert werden kann. Wie bereits erwähnt, gebraucht Agamben diese Unterscheidung, um das Regierungsmodell der Ökonomie und insbesondere die hegemoniale Logik der westlichen Welt zu analysieren. In einem Kommentar zum Weltsystem der westlichen Großmächte schreibt er: »Gleich ob dies dadurch erreicht werden soll, dass bereits bestehende Verfassungsnormen zersetzt werden, oder dadurch, dass sogenannte demokratische Verfassungsmodelle Völkern, die diese Modelle nicht umsetzen können, mit militärischen Mitteln aufgezwungen werden, entscheidend ist, dass es darum geht, ein Land – und letzten Endes die Welt – so zu regieren, dass man ihm gegenüber absolut fremd bleiben kann.«26 24 »Informal Markets and Peacebuilding in North Korea«, internationale Konferenz

des United States Institute of Peace, Washington, 19. Juli 2011.

25 Agamben, Herrschaft und Herrlichkeit, S. 171. 26 Ebd., S. 170. Der hier in der deutschen Übersetzung gebrauchte Begriff »fremd« ist

ein etwas verfänglicher Ausdruck, denn es geht in diesem Zusammenhang nicht

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Die Einführung dieser Ökonomie in die politische Praxis und die vom ökonomischen Paradigma produzierten »Kollateraleffekte« lassen sich im Fall von Nordkoreas »Zweitökonomie« gut anhand eines 2011 auf YouTube geposteten Clips veranschaulichen: Im Video zu sehen ist ein Pizzarestaurant in Pjöngjang, in dem eine internationale Gästegruppe unter anderem eine Dose Coca Cola konsumiert. Dieses im Bild festgehaltene »Beweisstück« schien Gerüchte zu bestätigen, wonach der Softdrink-Konzern bereits Geschäfte mit Unternehmen des kommunistischen Landes macht. Nachdem dieser Schritt aber den Gesetzen und Wirtschaftsvereinbarungen, die gegenwärtig die US-amerikanischen Beziehungen mit Nordkorea regeln, widersprechen würde, dementierte Coca Cola die von vielen Medien berichteten Gerüchte. Um die Existenz eines Markts für Softdrinks in Nordkorea aber nicht ganz in Abrede zu stellen, wurde die Schuld lokalen Schwarzmarkthändlern zugeschoben, die das Produkt illegal in das Land gebracht haben könnten. Nordkorea ist in Hinblick auf die Lenkung der öffentlichen Meinung zu ökonomischen »Übertretungen« keinesfalls ein Einzelfall. Einen Überblick über solche Rechtsverletzungen zu schaffen, gilt als Aufgabe der weiter oben diskutierten Special-301-Berichte. Diese jedes Jahr neu zelebrierte Verurteilung ausgewählter informeller Marktplätze als »verrufene Märkte« erzeugt ein vorhersehbares Muster, das auf politischen und ökonomischen Interessen beruht und mit einem Schulterschluss von industrieeigener Nachforschung und staatlicher Macht umgesetzt wird. Während informelle Märkte in Wachstumsregionen wie dem Dreistaatengebiet Paraguay/Argentinien/Bolivien oder Bangkoks »rote Zonen« regelmäßig auf der Liste der »verrufenen Märkte« aufscheinen, gibt es in dieser Aufstellung keine Aufmerksamkeit für Kubas oder Nordkoreas ebenso berüchtigte Untergrundmärkte. Was diese Praxis von politischen Instrumenten wie dem Special301-Bericht deutlich macht, ist die Konstruktion von informellen Märkten als ein unter Beobachtung stehendes Territorium, dessen Beurteilung vom jeweiligen Markt selbst entfernt und in besser kontrollierbare

um eine epistemologische Facette, also um eine Unkenntnis gegenüber der Welt, sondern um eine ontologische Distanz. Aus der englischen Übersetzung geht dies besser hervor: »the basic point is that a country – and even the entire world – is being governed by remaining completely extraneous to it«. Giorgio Agamben: The Kingdom and the Glory. For a Theological Genealogy of Economy and Government (Homo Sacer II.2), Stanford, CA: Stanford University Press, 2011, S. 140.

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Sphären, wie die Büroräume des US-Handelsbeauftragten in Washington verlagert wird, wo jedes Jahr in einer öffentlichen Sitzung mittels eingeholtem Beweismaterial und umfangreicher Zeugeneinvernahme beraten wird, welche Länder im Anklagebericht aufscheinen sollen. Dieser rechtspolitische Zugriff auf informelle Märkte eröffnet einen transnationalen Schauplatz für Aktivitäten, anhand derer informelle Geschäfte nahtlos mit politischen Spekulationen und Strategien verbunden werden können. Die Politik der größten Weltmacht kann auf diese Weise direkten Einfluss auf die Gestalt der vielen lokalen Öffentlichkeiten nehmen, die mit informellem Markthandel verbunden sind. Jeder in den Länderbeschreibungen des Special-301-Berichts notierte Vorfall wird zu einem individuellen Konflikt mit der ständig wachsamen »Weltbehörde«. Damit ist ein Bericht, der offiziell eigentlich nur Empfehlungscharakter tragen sollte, zugleich eines der politisch einflussreichsten Instrumente in der Steuerung von Hunderten Knotenpunkten informellen Handels und im Modellieren der Abhängigkeit von vielen Tausenden Personen, deren Existenz mit diesen Märkten untrennbar verbunden ist.

Weltbildende Praxis: Die Gegenöffentlichkeit informeller Märkte Entscheidend für die informelle Ökonomisierung globaler Beziehungen ist das Vorhandensein von spontan strukturierbaren und einfach zugänglichen Räumen, in denen materielles und soziales Kapital ausgetauscht wird und ein Transfer von Werten stattfinden kann. Weder integriert noch eliminiert, stellen diese Räume aber nicht nur wehrlose Peripherien dar, sondern auch Orte, an denen neue Mobilisierungen und innovative Taktiken des Widerstands entstehen, um gegen Geringschätzung, Verdrängung und Entzug von Staatsbürgerschaftsrechten anzukämpfen. In diesen Überschneidungszonen von global wirksamen (De-) Regulierungen und lokal aufkeimenden Bottom-up-Prozessen nehmen informelle Märkte einen speziellen Platz ein. Sie sind delinquenter Raum, Einsatzzone und Produktionsstätte zugleich. Die Art informeller Märkte, »Welt zu werden«, orientiert sich nicht an einer universell anwendbaren Doktrin des Weltschaffens – an globalem Branding, Produktplatzierung, Vermarktung und Verwertung – sondern an der wechselseitigen Beeinflussung von unterschiedlichen Kräften, die aneinander reiben und deren Kontakt jeweils neue Formen von Veränderung nach sich zieht. Diese unsteten Bewegungen sind, wie AbdouMaliq Simone schreibt,

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Andere Märkte

»a way of urbanising relationships by foregrounding the dynamic that is created when different histories and logics of urban operation are allowed to work. This bouncing off things is movement, and it is a rough-and-tumble game, and not the smooth fantasies of easy circulation where everything blends and moves on.«27 Der informelle Markt lebt von der Vielfalt von Möglichkeiten, auf die Akteure in jeweils unterschiedlichem Maße zugreifen können. Er setzt nicht auf uniforme Erwartungen, Logiken und Wirkmechanismen, sondern auf situative Bedürfnisse, Initiativen und Gelegenheiten. In dieser Weise geben uns informelle Märkte zu erkennen, wie wenig ein einzelnes Konzept darüber bestimmen kann, was urbane Welten ausmacht, egal wie verführerisch die Versprechen sind, die mit kommerziellen Bildern von modernen städtischen Lebensstilen gezeichnet werden. Die Kapazität von Informalität, eine Vielfalt struktureller Verbundenheit und die in den Umständen des Alltagslebens verankerte Wechselseitigkeit von Einflussmöglichkeiten anzuerkennen, eröffnet eine Perspektive für ein ethisches Verständnis globaler Interaktion, das Rosi Braidotti mit dem Begriff »Welt-Werden« (becoming-world) umrissen hat 28 – eine Abkehr von moralischen und kognitiven Universalismen in der Konzeption von Welt zugunsten einer prozessorientierten Sichtweise, in der Beziehungsvielfalt und Einzigartigkeit jeglichen Subjekts als Baustein komplexer Weltgefüge gesehen wird. Diese von einem Drang nach Veränderung getragenen Transaktionen und die davon gezeichneten Geografien sind, wie Aihwa Ong argumentiert hat, im Alltagsleben verankerte »Experimente mit der Zukunft« – Gesten, die Raum und Bedeutung hervorbringen und von jeweils unterschiedlichen Arten global zu sein beflügelt werden.29 Die an alternativen Konfigurationen orientierte Ambition des »Welt-Werdens« macht informelle Marktplätze und die um sie entstehenden Agglomerationen zu einem wichtigen Schauplatz für Einblicke in globale Transformationen, aber auch zu einem Zielobjekt unterschiedlicher »Welt-Projekte«. 27 AbdouMaliq Simone: City Life from Jakarta to Dakar. Movements at the Crossroads,

London und New York: Routledge, 2010, S. 189.

28 Rosi Braidotti: »Becoming-world«, in: dies., Patrick Hanafin und Bolette B. Blaa-

gaard, After Cosmopolitanism, London und New York: Routledge, 2013, S. 8–27.

29 Aihwa Ong: »Worlding Cities, or the Art of Being Global«, in: Ananya Roy und

Aihwa Ong (Hg.), Worlding Cities. Asian Experiments and the Art of Being Global, Malden, MA: Wiley-Blackwell, 2011S, S. 12.

Globale Informalität

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Wenn hiermit das Überschreiben und Verändern von bestehenden Machtverhältnissen in Aussicht gestellt wird, gilt es gleichzeitig zu bedenken, dass in jedem Neuschreiben immer auch bestehende Macht- und Repräsentationsinteressen involviert sind. Dass informeller Handel »auf der grünen Wiese« stattzufinden scheint, ist bestenfalls eine naive Vorstellung, oft aber auch eine »weltmachende« (worlding) Praxis, die, wie Gayatri Chakravorty Spivak dargelegt hat, maskiert, wie Perspektiven der Ersten Welt einem angeblich unberührten Territorium aufgezwungen werden.30 »Weltmachen« bezeichnet in diesem Sinn die Art und Weise, wie kolonialisierter Raum in Form von Narrativen, Politiken und Repräsentationen in die Welt gebracht wird, »die Neueinschreibung einer Kartografie, die sich als makellos (re)präsentieren muss.«31 Folglich stechen daher gerade jene Regionen, in deren wirtschaftlicher Abhängigkeit der Einfluss der kolonialen Vergangenheit tief eingeschrieben ist, immer wieder als Schauplatz einer Pioniermentalität hervor, für die informelle Märkte als »unentdeckter« Raum gelten, der nach genauer Kenntnis und Beschreibung verlangt, weil er letzten Endes als aufstrebender Markt von Interesse ist. Informelle Marktwelten sind auf diese Weise Ort und Ausdruck eines Ringens zwischen eigenen und fremden Interessen, historischen und gegenwärtigen Einflüssen, globalen und lokal bedingten Formen des Austauschs. Welche Möglichkeiten bestehen angesichts dieser Art der »Ökonomisierung« informeller Märkte für die Schaffung und Pflege von selbstbestimmten transnationalen Aktionsräumen? Entscheidend für diese Orte des Zusammenkommens ist der überindividuelle Charakter der Anstrengungen, die unternommen werden, um Marktumgebungen zu gestalten, in denen Fairness, Sicherheit und Solidarität vorrangige Prinzipien sind. Diese Entwicklung beruht häufig auf einer engen Verflechtung von ökonomischen und sozialen Interessen. Zahlreiche informelle Märkte sind aufgrund des gemeinsamen Überlebenskampfs und der gemeinsamen Geschichtserfahrung so sehr mit dem vorhandenen sozialen Gewebe eines Gebiets verbunden, dass sich der Handel nicht von anderen Aspekten des täglichen Lebens trennen lässt. Ein Beispiel dafür ist etwa Tepito in Mexiko-Stadt, ein zentral gelegenes Viertel, das nach der mexikanischen Revolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus den Strukturen 30 Gayatri Chakravorty Spivak: Kritik der postkolonialen Vernunft. Hin zu einer

Geschichte der verrinnenden Gegenwart, Stuttgart: Kohlhammer, 2014, S. 226.

31 Ebd., S. 230.

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Andere Märkte

selbstorganisierten Handels entstanden ist. Informelle Produktion, Handel und Verkauf stellen nach wie vor einen wichtigen Aspekt des Gemeinwesens und des Klassenbewusstseins dieses Viertels dar, wiewohl oder gerade weil es sich bei den gehandelten Waren oft um gefälschte Artikel, Raubkopien und wiederverwertete Produkte handelt. Im außerplanmäßigen Bericht zu notorischen Märkten (Out-of-Cycle Review of Notorious Markets) des US-Handelsbeauftragten gilt Tepito deshalb seit Jahren als zentrales Lager und Verteilungsknoten für illegale Produkte, die für zahlreiche andere Märkte in ganz Mexiko bestimmt sind.32 Gerade auf diesen kollektiv praktizierten Umgang mit Originalen – die Aneignung von Formen kulturellen Kapitals, wie etwa Musik-CDs und Spielfilm-DVDs – bezieht sich aber auch der Stolz der Bewohner und Händler von Tepito. Sie sind Teil eines dichten sozialen Gewebes, das sich rund um die gemeinsam in die Hand genommene Arbeit und Kultur hier entwickelt hat, sowohl trotz als auch wegen der vielen Anfeindungen, die sie vom Normen- und Wertesystem der Erste-Welt-Wirtschaft erfahren. Tepito ist damit nicht nur ein Marktplatz, dessen Informalität Ausdruck von kollektiver Selbstbestimmung und politischem Widerstand ist, sondern auch ein Ort, in dessen öffentlichen Einrichtungen, Institutionen, Ritualen, Verhaltensformen und Beziehungsmustern sich all das strukturiert, was wir als Gegenöffentlichkeit beschreiben können.33 Orte, wie das lokale Zentrum für Tepito-Studien spielen eine wichtige Rolle im Gestalten dieser Gegenöffentlichkeit, indem sie institutionelle Unterstützung anbieten, politische und ökonomische Zusammenhänge erklären helfen und so für längerfristige Orientierung in der flüchtigen Welt des informellen Handels sorgen können. In ähnlicher Weise tragen Kunst und Literatur zu einer erweiterten Perspektive auf die lokale Informalität bei, denn Tepito ist auch bekannt für seine vielen selbstinitiierten Literaturzirkel, Zeitschriften und Galerien, die sich kreativ mit der Alltagskultur des Viertels auseinandersetzen und dabei eigene künstlerische Ausdrucksformen entwickelt haben. Dieses öffentlichkeitsbezogene und zugleich außerökonomische Engagement bildet nicht nur einen Fokus im Entstehen des komplex strukturierten Wirklichkeitsregimes informeller 32 United States Trade Representative: »2015 Out-of-Cycle Review of Notorious Mar-

kets«, Dezember 2015, S. 21.

33 Alfonso Hernández, »El mercado de Tepito«, in: Peter Mörtenböck und Helge Moos-

hammer (Hg.), Informal Market Worlds. Informal Market Worlds Atlas, Rotterdam: nai010 publishers, 2015, S. 74–79.

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Märkte, sondern schafft auch eine Verhandlungsebene, die im Konfliktfall zwischen Händlern und Regierungsbehörden vermitteln kann. Oft dienen solche außerökonomischen Einrichtungen auf direkte Weise der Kommunikation zwischen Marktleuten. Auf vielen informellen Märkten finden sich etwa Radiostationen, deren interaktive Programme Nachrichten über das Marktgeschehen senden, aber auch die unterschiedlichen am Markt beteiligten Akteure selbst zu Wort kommen lassen. So können Allianzen gebildet und verschiedene Interessen öffentlich zum Ausdruck gebracht werden, ohne latent vorhandene Konflikte eskalieren zu lassen. Neben der Organisation öffentlicher Dienstleistungen gehört in der Regel auch die Errichtung von gemeinschaftlich genutzten Infrastrukturen, wie Sanitäranlagen, Wasserentnahmestellen, Stromanschlüssen oder Straßenbeleuchtungen, zu den Unternehmungen, in denen die Kompetenz kollektiver Selbstorganisation auf informellen Märkten zum Ausdruck kommt. Nicht jeder informelle Markt ist in dieser Hinsicht gleich gut ausgestattet, aber Gemeinschaftseinrichtungen, in denen Informationen ausgetauscht, Techniken erlernt und Ratschläge eingeholt werden können, finden sich auf vielen Märkten, die über einen längeren Zeitraum bestehen. Gewerkschaftsräume und improvisierte religiöse Versammlungsstätten sind in Marktgebieten größerer Dimension ebenso oft Teil dieses Repertoires wie spezielle Räume, die der Zusammenkunft von Frauen, Jugendlichen oder anderen Personengruppen dienen. Die ständige Bedrohung informeller Märkte durch wirtschaftspolitische Verbände, lokale Verwaltungsbehörden, private Investoren und Immobilienwirtschaft wird daher zugleich auch immer als Bedrohung der selbstgeschaffenen Nischen erfahren, in denen sich autonome Gemeinschaften bilden können. Um diese Gefahren abzuwehren, haben sich zahlreiche lokale Organisationen etabliert, die für Verbleib, Schutz und bessere Ausstattung informeller Märkte eintreten. Auf nationaler Ebene existieren darüber hinaus in vielen Ländern Organisationen, die nicht nur Dispute zwischen einzelnen Marktakteuren regeln und für die gesellschaftliche Anerkennung von informellen Märkten kämpfen, sondern auch den Regierungen konkrete Vorschläge unterbreiten, wie informeller Straßenhandel besser in die Nutzung öffentlichen Raums eingebettet werden und auf vielen Ebenen zum Gemeinwesen beitragen kann. Verbände, wie die Kenya National Alliance of Street Vendors and Informal Traders (KENASVIT), die National Alliance of Street Vendors of India (NASVI) oder die National Federation of Korean Street Vendors

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Andere Märkte

(NFKSV) erarbeiten gemeinsam mit Behörden und Regierungsvertretern unter anderem Richtlinien, mit denen ein verbessertes Zusammenspiel von informellen Märkten, Straßenhändlern und anderen Stadtakteuren erzielt werden kann. Eine wirklich transnationale Ebene des Agierens ist erst in jüngster Zeit durch die Gründung internationaler Organisationen geschaffen worden, die als Dachverband auf andere Körperschaften wie die ILO oder internationale Handelsgewerkschaften einwirken. Die 2002 in Südafrika ins Leben gerufene Allianz StreetNet International etwa umfasst Dutzende Mitgliedsorganisationen, die meisten davon aus afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Ländern.34 Ein wichtiges Anliegen von StreetNet International ist die Umsetzung der Pläne, die 1995 bei einem Treffen von Straßenhändler-Organisationen, Aktivisten, Juristen und Forschern aus elf Ländern in der Bellagio International Declaration of Street Vendors in Italien beschlossen wurden. Im Mittelpunkt der Deklaration steht die Entwicklung nationaler Strategien, mit denen die Rechte von Straßenhändlern geschützt und gestärkt werden sollen. Beitragen dazu sollen eine verbesserte Rechtssituation, gesicherter Zugang zu städtischem Raum, stärkere Berücksichtigung von informellem Handel in der Stadtentwicklungsplanung und nicht zuletzt adäquate Mechanismen, mit denen der eigene Anspruch auf Öffentlichkeit gleichberechtigt in eine Diskussion mit anderen Öffentlichkeitsagenten (Regierungen, Verwaltungsbehörden, NGOs, Polizei, etc.) eingebracht werden kann. Die in Bellagio verfasste Erklärung der Straßenhändler war zwar dem Ton und Inhalt nach an staatliche und städtische Regierungskräfte gerichtet, ihr Ziel war aber auch die Schaffung einer Öffentlichkeit, um Missstände der aktuellen Rechtspolitik aufzuzeigen und dem Anliegen der Straßenhändler Nachdruck zu verleihen. Während also staatliche Akteure und die an sie gekoppelte internationale Politik die direkten Adressaten der Deklaration sind, wenden sich die darin enthaltenen Aussagen auch an gesellschaftliche Akteure, deren Einstellungen, Beziehungen und Handlungen für das Entstehen transnationaler Öffentlichkeiten ausschlaggebend sind: soziale Netzwerke und Bewegungen, NGOs und ähnliche Verbände, sowie zahlreiche andere Plattformen zivilgesellschaftlichen Engagements, die den transnationalen Raum zunehmend strukturieren. Eine Erklärung dieser Art ist damit sowohl ein Appell, der sich an politische Entscheidungsträger 34 Online: http://www.streetnet.org.za. Siehe auch Caroline Skinner: »Street Trading

Trends in Africa: A Critical Review«, in: Sharit Bhowmik (Hg.), Street Vendors in the Global Urban Economy, New Delhi: Routledge, 2010, S. 201.

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(also an gewählte Repräsentanten der Öffentlichkeit) richtet, als auch eine Konstitution von Öffentlichkeit, die durch die Erklärung selbst bewirkt wird. Die Bellagio International Declaration of Street Vendors hat daher nicht nur die Artikulation von politischen Forderungen im Auge, sondern auch die Bildung einer Öffentlichkeit, in der diese Forderungen unterstützt und umgesetzt werden. Zur Diskussion stehen dabei sowohl die Beziehungsstrukturen, Raumformationen und transnationalen Bahnen der unterschiedlichen Formen informellen Handels als auch ihr Verhältnis zu anderen Wirtschaftsmodellen, seien es solidarische Ökonomien, Schenk­ ökonomien, ressourcenbasierte Ökonomien oder ökonomische Experimente im Zusammenhang mit künstlerischer und kultureller Produktion. Alle diese Facetten des Ringens um politische Handlungsräume machen deutlich, dass die Entwicklung alternativer ökonomischer Allianzen im Schatten der globalen Ökonomie keine uniforme Bewegung ist, sondern ein Prozess, der von vielen Akteuren, hegemonialen wie nicht-hegemonialen getragen ist. So wie das über weite geografische Distanzen ausgebreitete Zusammenspiel von ökonomischen Interessensgruppen mit lokalen Informanten, Regierungskräften, juristischen Behörden und Medienberichten Einfluss auf unsere Vorstellungen von gesellschaftlich nutzbringender Produktion, legitimem Warenverkehr und rechtschaffendem Handelsverhalten nimmt, lassen sich auch im transnationalen Zusammenwirken von Straßenhändlern mit Gewerkschaften, Aktivisten, Forschern und vielen weiteren Gruppen, die Teil eines globalen zivilgesellschaftlichen Engagements für soziale und ökonomische Gerechtigkeit sind, dissidente Vorstellungswelten und alternative transnationale Handlungsräume entwickeln. Internationale Konferenzen, Bildungszirkel, Demonstrationen, kulturelle und künstlerische Produktion 35 35 Neben internationalen Konferenzen, wie der im Mai 2010 in Los Angeles abgehalte-

nen Veranstaltung »Contesting the Streets: Street Vending, Open-Air Markets, and Public Space« oder dem im März 2008 an der University of Toronto stattgefundenen Symposium »Markets: From the Bazaar to eBay« haben in den letzten Jahren auch zahlreiche künstlerische Projekte die Funktion informeller Märkte als Begegnungsraum unterschiedlicher gesellschaftlicher Interessen sichtbar gemacht, darunter Joanna Warszas umfangreiche Arbeiten zum Jarmark Europa in Warschau, Tadej Pogačars Street Economy Archive, Oliver Resslers Videoarbeit über den Bangladesh Bazaar in Jerewan, Giacomo Castagnolas Dokumentation der Kreativität von Straßenhändlern in Lima und Tijuana, Daniele Pario Perras fotografische Sammlung zu Handelsrouten in Sizilien und die Interventionen von Mobile Kultur Byrå am Russischen Markt im norwegischen Kirkenes (siehe dazu auch die jeweiligen Fallstudien in: Mörtenböck und Mooshammer, Informal Market Worlds Atlas).

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Andere Märkte

zählen mit zu den vielen Formaten, in denen diese Verflechtungen aktuell Gestalt annehmen. Dieser Wandel ist von entscheidenden Veränderungen der Paradigmen, Reichweiten und Bedingungen wirtschaftlicher Macht begleitet. Eine der wichtigsten Erfahrungen ist dabei jene der in allen Bereichen zunehmenden Ökonomisierung und unentwegten Verhandelbarkeit von Beziehungen. In dieser übergreifenden Ökonomie wird alles in Umlauf gebracht: Personen, Politiken, Prinzipien. Das Streben nach ökonomischer Macht beflügelt eine Art von informeller Politik, in der alle Marktbestandteile ständig verändert werden können: vom marktorientierten politischen Diskurs zur Flexibilisierung von Staatsbürgerschaft und der Vermarktung des Lebens als Ware. Unter dem Imperativ von unbegrenzt anpassbaren Interessenslagen wird der geschickte Umgang mit Unbestimmtheit zum Schlüssel des Erfolgs. Unentwegt auf rasche Gelegenheiten zuzugreifen, prägt selbst wiederum ein unendlich formbares Gewebe flüchtiger Arrangements, die auf die Gestalt, Streuung und Verteilung von gesellschaftlicher Interaktion einwirken. Informelle Märkte sind ein allgegenwärtiger Ausdruck dieser Dynamiken. Ihre Alltagsrealität bringt eine Fülle von Ideen hervor, wie alles das, was irgendwie ergattert wurde, genutzt oder weitervertrieben werden kann. Doch trotz oder gerade wegen dieser offen zur Schau gestellten Marktmentalität gibt es heute ein heftiges Gerangel über die Daseinsberechtigung solcher Märkte. Von lokalen Entwicklungsbelangen bis zur internationalen Diplomatie schließt sich immer mehr die Front gegen diese inkriminierten Formen wirtschaftlicher Beziehungen. Es mag wohl sein, das sich aus informellen Märkten allein nicht die aussichtsreichste Perspektive einer zukunftsweisenden politischen Ökonomie ableiten lässt. Der Streit um ihre Existenz verweist aber durchaus auf die Notwendigkeit einer solchen Alternative.

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Index A ccra 71

Afghanistan 61, 98 Afrika 20, 33, 49, 59, 64, 72, 95, 97, 110, 114, 156, 165, 184 Nord- 98, 113 Subsahara- 22 West- 71 Agamben, Giorgio 173–174, 177–178 Agora 45 Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights (TRIPS) 36, 58 Allmende 36, 39–42, 77, 79, 131 Amerika 64, 68, 101, 126, 131, 162–163 Latein- 9, 12, 19–20, 22, 25, 28, 33, 35 Fn. 21, 36, 49, 59, 65, 74, 137, 141, 143, 165, 184 Angola Roque Santeiro 62 Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) 31, 36, 118 Appadurai, Arjun 42 Aranyaprathet 64 Rong-Kluea-Markt 86 Arbeitslosigkeit 30, 73, 79, 86, 165 Argentinien 178 Aristoteles 40 Arizona 17–18, 28, 62, 80 ASEAN-Staaten 86–87, 95 Asien 33, 64, 71, 101, 110, 114, 135, 137, 165 Südost- 11, 22, 59, 85, 112, 165 Fn. 2 Autokino 126–128, 131

B andung

Pasar Kaget Gasibu 76 Bangkok 12, 38, 55, 57, 81, 96, 161 Baan Mor 86 Jatujak 162 Klong Thom 89 Mah Boon Krong (MBK) Center 86, 88 Patpong 86 rote Zonen 85–86, 160, 178 Saphan Lek 88 Silom 86, 89 Srinakarin 163 Sukhumvit 86–87 Talad Rot Fai 33 Fn. 20, 38 Fn. 27, 81, 159–164 Bangladesch 72–73 Barcelona 79 Can Ricart 153 Encants Vells 78, 149–153, 156 Bellagio International Declaration of Street Vendors 184–185 Belo Horizonte 142-143 Hippie-Markt 141, 144, 146–147 Berlin 160 Markthalle 9 156 Bidonville 118 Bischkek Dordoi-Basar 69 Bolivien 49, 73, 77, 178 Borges, Jorge Luis 52 Bottom-up-Prozess 166, 179 Braidotti, Rosi 180 Brasilien 141, 144 Fn. 4, 146

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Brčko Arizona-Markt 17, 62 BRICS-Staaten 166 Budapest Vier-Tiger-Markt 28 Buenos Aires La Salada 23, 35 Fn. 21

camelódromo 144 Caracas 167 Casablanca 14 Derb Ghallef 31, 117–123 Castagnola, Giacomo 185 Fn. 35 China 20, 22, 36, 48, 59, 67, 71, 74, 86, 89, 91–92, 94–96, 98, 104–107, 110, 113–114, 136, 144, 160, 163, 175 Ciudad del Este 64 Cluster for Research on the Informal Sector and Policy (CRISP) 26–27 Crowdfunding 81 Crowdsourcing 38 Cusco 75 d e Soto, Hernando 25

Denationalisierung 171 Deregulierung 13, 26, 30, 34, 48, 56, 169 Dominikanische Republik 64 Dubai 57, 96, 109–110 Dragon Mart 111, 113-114 Karama Center 112

E l Alto 77 Europa 12, 33 Fn. 20, 98, 110, 114, 127 Fn. 6, 150, 185 Fn. 35 Ost- 33, 35 Fn. 21, 66, 72, 74, 80 Süd- 30, 74 Europäische Union (EU) 30 Fn. 17, 71, 104–105, 117

F inanzkrise 30, 85, 92, 149 Finanzwirtschaft 8, 11, 24, 30, 173 Flucht 165, 168 Forum für chinesisch-afrikanische Kooperation (FOCAC) 94 Foucault, Michel 17, 19, 35, 52, 173–174 Frankreich 91, 101, 152 Freihandelszone 110–112 Deep and Comprehensive Free Trade Area (DCFTA) 117 Jebel Ali Free Trade Zone (JAFZ) 109 G aziantep

Iranischer Basar 18 Gemeingut siehe Allmende Gentrifizierung 38, 55, 79, 146, 160, 173 Georgien 49 Gewerkschaft 26, 42, 48, 77, 172, 183, 185 Ghana 8, 71–72 Gilroy, Paul 42 Globalisierung 7, 10, 18, 46, 49, 67, 163, 165, 167, 169–170 Golfregion 48, 98, 110 Gratian 57 Grauzone 52, 54, 63, 115, 144, 165–166, 171 Guiyu 71

H acker 119

Haiti 48, 64 Haller, William 32, 36 Hart, Keith 8, 14, 25, 160 Hawker Control Team (HCT) 134–136 Heterotopie 17–18, 20

Index Hongkong 12, 65, 114, 139 Fn. 9 Apliu Street 138 Golden Shopping Centre 138 Kowloon 133–134, 138 Ladies Market 133 Sham Shui Po 134–135, 138–139 Tin Shui Wai 134, 137 Tin-Wau-Basar 137, 138

I llegalität 27, 31, 67, 133, 177 immigrant investor programmes (IIPs) 87, 170–171 Immobilienspekulation 79 Indien 36, 71 Indonesien 76 Informations- und Kommunikationstechnologien 20, 32, 119 International Intellectual Property Alliance (IIPA) 87 International Monetary Fund (IMF) 30, 166, 171 Internationale Arbeitsorganisation (ILO) 8, 49, 165, 184 Iran 18, 114–115 Istanbul 67 J akarta

Harco Glodok 23 Japan 89 Jerewan Bangladesh Bazaar 185 Fn. 35 Jessore 71 Johannesburg 75 Joutia 117, 120 Jugoslawien 18

Kalifornien 64, 125, 128 Kambodscha 86 Kapitalismus 10, 25, 28–30, 32, 34, 47, 62, 74, 146, 160, 168

191

Karatschi Urdu-Basar 23 Karibik 9, 19, 25, 28 Kenia 37 Kenya National Alliance of Street Vendors and Informal Traders (KENASVIT) 183 Kiew Petrivka-Markt 23 Kirkenes Russischer Markt 185 Fn. 35 Kiwira 77 Kofferhändler 35, 144 Korruption 34, 60 Krieg 17, 48, 52, 56, 59–61, 150 Fn. 2, 164 Kuba 178 Kunst 92, 104, 141–144, 146, 159, 161, 167, 182 Kunsthandwerk 142, 144, 146

L agos 77

Alaba International Market 35 Fn. 22, 71 Oshodi-Markt 33 Fn. 20 Lahore Urdu-Basare 23 Landnutzung 12, 86, 165, 169, 173 Lima 112, 185 Fn. 35 London 13, 107, 160 Old Spitalfields Markt 156 Los Angeles 125, 126 Fn. 4, 127, 128 Fn. 7, 185 Fn. 35

M -Farm 37 Madrid 91 Markt Container- 33, 54, 67, 69 Dämmerungs- 12, 65, 133–135, 137–139

192

Andere Märkte

Floh- 12, 33, 78, 80, 89, 117, 125–127, 129, 131, 138, 150–152, 154, 156, 159–160, 163 Grenz- 53, 62–65, 169 Hipster- 11, 18, 38, 55, 79, 81, 146, 164 »notorischer« M. 23, 57, 81 Fn. 14 Online- 78 Post-Konflikt- 59, 61 Recycling- 54, 70, 72 Volks- 12, 76, 78, 130, 143 Zwischen- 65, 67 Marktkooperative 55 Marktmentalität 186 Marktwirtschaft 25, 27, 35, 50, 66, 77, 129 Marokko 31, 117–118, 122, 151 Mbembe, Achille 172 Mexiko 23, 57, 63, 96, 128–129, 175, 181–182 Mexiko-Stadt Tepito 23, 57, 181–182 Zentrum für Tepito-Studien 182 Migration 17, 32–33, 46, 48–49, 67, 74, 80, 126 Fn. 6, 149, 151, 165–166, 169, 171 Mikrokredit 24–25, 77, 144 Mikrounternehmertum 79, 165 Mobile Kultur Byrå 185 Fn. 35 Moldawien 48 Moskau 28 Tscherkisowoer-Markt 19, 34 Mumbai 167 Musil, Robert 170

N achhaltigkeit 7, 42, 55, 60,

72, 79, 120, 164, 167 Nairobi Gikomba-Markt 35 Fn. 22 Toi-Markt 35 Fn. 22

National Alliance of Street Vendors of India (NASVI) 183 National Federation of Korean Street Vendors (NFKSV) 183–184 Neoliberalismus 12, 34–35, 37, 45, 55, 62, 75, 79, 119, 166–167 Neu-Delhi Lajpat Rai 35 Fn. 22 New York 107, 112, 154, 160 Brooklyn 38 Fn. 27, 55 Williamsburg 80 Fn. 12 NGO 22, 24, 86, 184 Nigeria 71, 77 Nordkorea 175–178 Nuku’alofa 76

O dessa

7-Kilometer-Markt 19, 35, 69 Oman 112 Ostblock 32, 64 Osteuropa 33, 35 Fn. 21, 66, 72, 80 Ostrom, Elinor 40–41 Outsourcing 35, 168

P akistan 98

Paraguay 64, 96, 144, 175, 178 Paris Porte de Clignancourt 152 Porte de Montreuil 152 Peking Seidenmarkt 23 Perra, Daniele Pario 185 Fn. 35 Peru 49 Peterson Institute for International Economics (PIIE) 175 Phibunsongkhram, Plaek 159 Pogačar, Tadej 185 Fn. 35 Poipet 64 Polanyi, Karl 172

Index Polen 29, 66, 91 Portes, Alejandro 32, 36 Postkolonialismus 64, 168, 172, 181 Privatisierung 13, 30, 39, 41, 56, 131, 137

Q uartzsite 18, 80 R essler, Oliver 14, 185 Fn. 35 Roy, Ananya 14, 24–25, 46, 165 Fn. 1 S an Diego 13–14, 63, 125,

128 Fn. 7 San Francisco 125 San Jose 128 Fn. 7 Santiago de Chile 75 São Paulo 28, 167 Feirinha da Madrugada 19, 35 Fn. 21 Sassen, Saskia 14, 171 Schengen-Raum 63 Schuldenkrise 30, 85, 92, 149 Secondhandkleidung 48, 72, 74, 76 Seidenstraße 91, 98 Selbstorganisation 42, 60, 183 Seongnam Moran-Markt 33 Fn. 20, 76 Seoul 75 Shanghai 13–14, 92, 96, 106, 114 Qipu Lu 59, 101–105, 107 Shenzhen Lo Wu 23 Shopping Mall 28, 33, 92, 131 Simone, AbdouMaliq 14, 179–180 Singapur 109, 114 Sizilien 185 Fn. 35 Songgang 67 Songkhram 67 Sowjetunion 54, 68–69

193

Spanien 91 Special-301-Bericht 21 Fn. 5, 22–23, 26, 29, 36, 53, 57–58, 86, 96, 98, 104–106, 160, 178–179 Out-of-Cycle Review of Notori-ous Markets 23, 97, 182 Priority Watch List 22, 58 Watch List 22, 38 Spivak, Gayatri Chakravorty 15, 181 Staatsbürgerschaft 12, 50, 169–171, 179, 186 straddle3 153 Straßenhandel 13, 28, 33, 39, 42, 48, 55, 62, 65, 73–76, 85–88, 101, 122, 133–138, 144, 146, 151, 159–160, 175, 183–185 StreetNet International 184 Südafrika 184 Südkorea 76, 89 swap meet 125–131

Tansania 77

Thailand 33, 86–87, 89, 160, 164 Tijuana 63–64, 129, 131, 185 Fn. 35 TRIPS siehe Agreement on TradeRelated Aspects of Intellectual Property Rights Tonga 48, 76 Toronto 59, 185

U nited States Institute of Peace

(USIP) 176 Urban-Think Tank (U-TT) 167 Urheberrecht 21, 24, 31, 53, 81 Fn. 14, 82, 86–88, 96, 106, 119 US-Handelsbeauftragter (USTR) 21, 57, 86–87, 133, 179, 182

194

Andere Märkte

V ereinigte Arabische Emirate

(VAE) 110 Vereinigte Staaten von Amerika (USA) 24, 28, 53, 57–59, 63, 68, 71, 80, 86–87, 89, 98, 104–106, 117–118, 125, 126 Fn. 4, 129 Fn. 9, 160, 175–176 Vereinte Nationen (UN) 72 vrijmarkt 80

W arschau 69

Jarmark Europa 33 Fn. 20, 66, 185 Fn. 35 Warsza, Joanna 15, 185 Fn. 35 Washington 175–177, 179 Weber, Max 174

Weltbank 9, 25–26, 28, 49, 166 Welthandelsorganisation (WTO) 58, 92 WIEGO 75 Wien 126 Fn. 6, 155 Naschmarkt 156 Wissensgesellschaft 36, 82

Y iftachel, Oren 171

Yiwu 20, 91–98, 114 International Trade City 59, 92, 95

X-Texte zu Kultur und Gesellschaft Andreas Weber Sein und Teilen Eine Praxis schöpferischer Existenz Oktober 2016, ca. 96 Seiten, kart., ca. 13,99 €, ISBN 978-3-8376-3527-0

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