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German Pages 192 [194] Year 2022
Gernot Böhme (1937–2022) war einer der bekanntesten deutschen Philosophen. Er studierte Mathematik, Physik und Philosophie; danach war er von 1969 bis 1977 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt tätig. 1977–2002 Professor für Philosophie an der TU Darmstadt, 2005–22 Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie. Zahlreiche Publikationen zu allen Bereichen des philosophischen Denkens.
wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-89790-645-7
Praxis der Philosophie 1
Die Corona-Krise hat die Digitalisierung der Gesellschaft immens vorangetrieben. Von der Schule über den Kulturkonsum bis zum E-Commerce – digitale Medien ersetzen flächendeckend analoge Verhaltensweisen. Im Dunkeln bleibt dabei, was im Rücken dieser Entwicklung geschieht. Das beleuchtet der erste Band der Schriftenreihe Praxis der Philosophie, der nach den analogen Kompetenzen fragt: Denn diese veröden, werden verlernt oder – in der heranwachsenden Generation – gar nicht erst erworben.
Gernot Böhme (Hg.) | Analoge Kompetenzen im digitalen Zeitalter
Gernot Böhme (Hg.)
Analoge Kompetenzen im digitalen Zeitalter
Gernot Böhme (Hg.) Analoge Kompetenzen im digitalen Zeitalter
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Praxis der Philosophie Schriftenreihe des Instituts für Praxis der Philosophie (IPPh), Darmstadt Herausgegeben von Kai Buchholz und Ute Gahlings Band 1
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Gernot Böhme (Hg.)
Analoge Kompetenzen im digitalen Zeitalter
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Die Beiträge dieses Buches sind im Zusammenhang mit der am 16. und 17. Oktober 2020 vom Institut für Praxis der Philosophie e.V. IPPh im Literaturhaus Darmstadt durchgeführten Tagung Analoge Kompetenzen im digitalen Zeitalter. Die Lage in Zeiten von Corona entstanden. Diese Tagung wie auch die Drucklegung der Beiträge wurde gefördert von der FAZIT-Stiftung und der Merck’schen Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Covergestaltung: Kai Buchholz/Justus Theinert Satz und eBook: Justus Theinert Bildretusche: Justus Theinert Coverabbildung: Oksana Lyniv dirigiert die Düsseldorfer Symphoniker, Tonhalle Düsseldorf, 2019 © Susanne Diesner Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-30185-0 Elektronisch erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-30186-7
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Inhalt
Vorbemerkung 7 Gernot Böhme 9 Einführung des Herausgebers. Analog versus digital Gernot Böhme 27 Corona pusht die Digitalisierung der Gesellschaft Wolfgang Reinert 43 Was Hänschen mit dem Tablet lernt – Digitalisierung in Schule und Bildung Rebecca Böhme 63 Leibliche Kommunikation und Interaktion im Analogen und Digitalen Ute Gahlings 77 Die Sehnsucht des homo hapticus nach existenzieller Resonanz in virtualisierten Lebenswelten Kai Buchholz/Justus Theinert Gestaltung und sinnliche Erfahrung
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Über die Autorinnen und Autoren
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Bildnachweis 192 5
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Vorbemerkung
Gernot Böhme, der Herausgeber dieses Bandes, ist am 20. Januar 2022 für uns unerwartet verstorben. Sein Tod lässt uns traurig und fassungslos zurück. Böhme zählte zu den einflussreichsten Philosophen der Gegenwart. Nach seiner akademischen Laufbahn initiierte er 2005 in Darmstadt die Gründung des Instituts für Praxis der Philosophie (IPPh), das daran arbeitet, Philosophie im persönlichen und gesellschaftlichen Leben praktisch werden zu lassen. Bis zuletzt wirkte Böhme als Direktor des Instituts. Das Thema des vorliegenden Buches lag ihm besonders am Herzen und wurde am IPPh über einen langen Zeitraum diskutiert. Die Arbeit als Herausgeber konnte er noch abschließen, so dass der Band jetzt ganz in seinem Sinne und ihm zum Andenken den Weg in die Öffentlichkeit finden kann. Analoge Kompetenzen im digitalen Zeitalter erscheint als Band 1 der neuen IPPh-Schriftenreihe Praxis der Philosophie. Wir danken der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft für die Einrichtung der Reihe und freuen uns auf eine fruchtbare und vertrauensvolle Zusammenarbeit bei der Entstehung der zukünftigen Bände. Darmstadt, im Februar 2022 Ute Gahlings 2. Vorsitzende des IPPh
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Einführung des Herausgebers Analog versus digital
Zu den Begriffen Es herrscht gegenwärtig eine unverantwortliche Digitalisierungsideologie. Ich habe dagegen schon vor 20 Jahren polemisiert1, als die erste Welle der Digitalisierung der Schulen lief, schon damals mit der Kritik einer Politik, die von der technischen Seite her die Schulen revolutionieren wollte, ohne ein pädagogisches Konzept. Ich stellte die These auf, dass Bildung antizyklisch2 sein müsse, nämlich gerade die Kompetenzen ausbilden und stärken müsse, die durch die Mainstream-Entwicklungen in den Hintergrund gedrängt würden. Ein wichtiger Punkt war auch, dass sich nach den Forschungen zur Intelligenzentwicklung bei Kindern die analytische Intelligenz erst spät – nach einer Phase der synthetischen oder eher bildhaften Intelligenz – ausbildet, so dass der zu frühe Einsatz von Digitalisierungstechniken in der Schule, nämlich Techniken, die auf analytischen Methoden beruhen, Entwicklungsschäden anrichten könnten. Ich habe ferner durch Untersuchung der Wahlprogramme zu den Bundestagswahlen von 2017, insbe1 Vgl. Gernot Böhme: Bildung als Widerstand. Was sollen die Schulen und Hochschulen lehren? Ein Versuch über die Zukunft des Wissens. In: Die Zeit vom 16. September 1999; Ders.: Eine vierte Kulturtechnik? – Über Bildungspolitik in der Wissensgesellschaft. In: Protokolldienst – Evangelische Akademie Bad Boll. 2001, Heft 32. S. 14–22; überarbeitete Fassung in: Jahrbuch der Hessischen Gesellschaft für Demokratie und Ökologie. 3 (2001). S. 27–38; Ders.: A fourth basic cultural competence? In: The Canadian Journal of Sociology. 27 (2002). S. 199–210. 2 Gernot Böhme: Antizyklisch denken. In: Aargauer Zeitung, am Wochenende vom 29. April 2000. S. 3; auch in: Schlüsselqualifikation Medienkompetenz. Bildung am Bildschirm. Hg. Fraktion der Grünen im Bayerischen Landtag. München 2000. S. 31–36.
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sondere des Programms der CDU3, dann aber auch durch Analyse des „GroKo-Vertrages“4 gezeigt, dass hier politisch eine so genannte vierte technisch-industrielle Revolution vorangetrieben wurde – ohne die geringste Anstrengung eines Technology-Assessment, das heißt also einer Untersuchung der einzuführenden oder durchzuführenden Technologie im Hinblick auf ihre möglichen menschlichen und gesellschaftlichen Folgen. Diese blinde Propaganda von Seiten der Technopolitik findet sich aber auch bei höchsten Meinungsträgern innerhalb unserer Zivilisation. So schreibt etwa Stephen Hawking in seinem Buch Kurze Antworten auf große Fragen, dass durch eine volle Ausbildung Künstlicher Intelligenz in Zukunft Krankheiten und Armut auf der Welt abgeschafft würden.5 Wir werden hier den Ausdruck „digital“ gegenüber dem heute in der öffentlichen Diskussion verbreiteten in einem eingeschränkten Sinne verwenden, nämlich im Gegensatz zu „analog“. In der öffentlichen Diskussion ist „Digitalisierung“ dagegen ein Ausdruck, der nicht eigentlich ein Begriff ist, sondern vielmehr die programmatische Fassung eines diffusen allgemeinen Trends. In diesem Sinne meint Digitalisierung: 1. flächendeckende Vernetzung mit hoher Sendekapazität. Es geht hier eigentlich um die Schaffung von Infrastrukturen für die Vernetzung von Informations-, Kommunikations- und Produktionsprozessen. Sie dient der Verlagerung dieser Prozesse aus der realen in die virtuelle Welt. Hier wird durch die Rede 3 Siehe z. B. CDU/CSU: Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. Regierungsprogramm 2017–2021. o. O. 2017. S. 53: „Deshalb brauchen wir eine ‚Digitale Bildungsoffensive‘: Für Schüler, Auszubildende, Studenten und Lehrkräfte gleichermaßen. […] Wir werden mit einem Digitalpakt dafür sorgen, dass unsere allgemeinbildenden und beruflichen Schulen über die erforderliche Ausstattung verfügen, um ausreichend junge Menschen auf ihr Berufsleben im digitalen Zeitalter vorzubereiten.“ 4 Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. Berlin 2018. S. 37: „Wir wollen Neugier auf digitale Technologien wecken und Souveränität im Umgang mit ihnen schaffen. Wir sind überzeugt, dass sie das Leben der Menschen verbessern können […].“ 5 Stephen Hawking: Kurze Antworten auf große Fragen. Stuttgart 2018. S. 214: „So hat beispielsweise die KI das Potential, Krankheit und Armut endgültig zu beseitigen, doch die Forschung muss an der Entwicklung einer kontrollier- und steuerbaren KI arbeiten.“
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Einführung: Analog versus digital
von der Digitalisierung das Paradox überdeckt, dass die virtuelle Globalisierung eine starke regionale Infrastruktur und lokalisierbare Hardware voraussetzt. 2. Digitalisierung im Bildungssystem oder, wie es immer wieder in politischen Statements heißt: „Die Jugend fit machen für das digitale Zeitalter“. Hier zeigt sich, dass – jedenfalls ohne ein besonderes pädagogisches Konzept – auf der Schule nur wiederholt werden soll, was außerhalb der Schule ohnehin geschieht. Fakt ist, dass die gegenwärtige Jugend durch die Alltagspraxis des Umgangs mit digital arbeitenden Geräten und dem Internet bereits von klein auf Kompetenzen erwirbt, mit denen sie häufig ihren Lehrern voraus ist. Die Digitalisierung der Schule kann darauf hinauslaufen, dass die Lehrer zu Kontrolleuren degradiert werden und zu „Springern“, die in den Unterricht eingreifen, wenn der digitale Lernprozess bei dem einen oder anderen Schüler bzw. einer Schülerin ins Stocken gerät. Das Lernen selbst dagegen geschieht durch Benutzung von Suchmaschinen und damit verbundener Informationsaufnahme bzw. durch Abarbeiten eines programmierten Aufgabenprogramms am PC. 3. Digitalisierung meint in der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion auch so viel wie Automatisierung oder Roboterisierung von Arbeits- und Produktionsvorgängen. Eine solche Entwicklung war bereits in den frühen 70er Jahren anvisiert und wurde gesehen als eine Befreiung des Menschen von körperlicher und repetitiver Arbeit – einer Befreiung zu Kontroll-, Reparatur-, vor allem aber kreativer Tätigkeit. Diese erste Welle der Automatisierung und Roboterisierung war im Wesentlichen eine Maschinisierung der Handarbeit. Heute dagegen handelt es sich um eine Maschinisierung der intellektuellen Tätigkeit. Das heißt aber, dass Digitalisierung in diesem Sinne vor allem die Entwicklung von Software bedeutet, durch die maschinelle Prozesse gesteuert und vernetzt werden. Es fragt sich, zu welcher Art von Tätigkeit der Mensch durch diese Maschinisierung von intellektueller Arbeit geführt wird. Es ist zu vermuten, dass die menschliche Tätigkeit im Ganzen nicht kreativer wird, sondern dass vielmehr die Kreativität im Ge11
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genteil durch eine kleine Gruppe von Menschen monopolisiert wird. Digitale Kompetenzen ausbilden Unter der Ausübung digitaler Kompetenzen wird im öffentlichen Diskurs in der Regel nicht das professionelle Programmieren verstanden. Letzteres dient der für die Digitalisierung im landläufigen Sinne zentralen Herstellung von Software. Natürlich könnte man auch auf der Schule zumindest elementare Fähigkeiten des Programmierens lehren. Doch wozu? So wie durch den Literaturunterricht die Schüler nicht zu Dichtern, wie durch den Physikunterricht sie nicht zu Physikern gemacht werden sollen, so durch den Informatikunterricht nicht zu Programmierern. Letzteres ist eine Kompetenz, deren Ausbildung zum Lernprogramm einer bestimmten Berufsgruppe gehört. Allerdings ist festzustellen, dass die Erfahrung einfachen Programmierens in der Schule ein Bildungserlebnis sein kann, nämlich zu einer prinzipiellen Einsicht in das, was hinter Bildschirm bzw. Desktop geschieht. Als Kompetenz für Arbeit, Kommunikation und Verkehr in unserer Gesellschaft ist das Programmieren-Können jedoch überflüssig. Was also sind digitale Kompetenzen, die im Alltag, in Arbeit und Verkehr oder auch in gegenwärtiger Kommunikation Verwendung finden? Es geht vor allem um den Umgang mit Geräten, wobei hier mit „Gerät“ spezielle Geräte für die Aufsuchung und Verarbeitung von Informationen gemeint sind. Es handelt sich also nicht um Werkzeuge, mit deren Hilfe man in der Welt der Dinge agiert, sondern um solche, mit denen man sich vielmehr in der virtuellen Welt bewegt. Dabei ist mit „virtueller Welt“ eine Welt gemeint, die nicht aus Dingen und Prozessen besteht, sondern vielmehr aus Informationen bzw. aus in bestimmten Codes aufgezeichnetem Wissen. Der entscheidende Punkt ist, dass man es im Umgang mit oder beim Arbeiten am PC nicht mit der realen Welt zu tun hat, sondern vielmehr mit ihrer virtuellen Repräsentation. Die Gestaltung von Desktops und Touchscreens, das heißt also der Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine, ist insofern 12
Einführung: Analog versus digital
weit fortgeschritten, als sie dem Benutzer gerade keine digitale Kompetenz abverlangt, wobei hier mit „digitale Kompetenz“ im engeren Sinne die Herstellung von digitaler Information und ihrer Verarbeitung gemeint ist. Vielmehr ist diese Digitalisierung im engeren Sinne bereits immer schon geleistet und hinter dem Desktop bzw. Touchscreen verborgen. Deshalb meint im mehr landläufigen und inzwischen politischen Sinne die digitale Kompetenz das Aufrufen von Programmen, das Recherchieren von Informationen bzw. Abrufen von Informationen und allenfalls die Fähigkeit zu „kleinen“ Reparaturen – wobei der durchschnittliche PC-Benutzer, wenn es irgendwo hakt mit dem Gerät, in der Regel doch den Fachmann oder einen computererfahrenen Bekannten fragen muss. Eine etwas höhere digitale Kompetenz wird dann verlangt, wenn es darum geht, den Schutz von Privatheit durch Benutzung von Verschlüsselungsprogrammen zu bewerkstelligen bzw. sich gegen die Transformation der eigenen Person in ein „Profil“ zu wehren. Hier könnte man eher von negativen digitalen Kompetenzen reden, insofern die Kompetenz hier auf die Fertigkeit zum Ausweichen, zum Sich-Verstecken bzw. zum Vermeiden der Fallstricke, in die man als Teilnehmer einer Netzgesellschaft gerät, hinausläuft. Das Benutzen von Servicefunktionen und das Verlernen von analogen Kompetenzen Die Digitalisierung besteht nach dem bisher Gesagten vor allem darin, dass dem Benutzer – vom Alltag über die Arbeit bis zum Verkehr – mit Hilfe von Softwareprogrammen Service-Apparaturen zur Verfügung gestellt werden, durch die ihm die direkte Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit abgenommen wird. Die natürliche oder erlernte Kompetenz im Umgang mit der Wirklichkeit zu bestimmten Zwecken kann dadurch veröden bzw. wird bei der heranwachsenden Generation, die von Anfang an mit den Service-Apparaturen aufwächst, ggf. gar nicht erst ausgebildet. Ein Paradebeispiel dafür ist das so genannte „Navi“, das heißt ein Gerät, mit dem man vom Standort aus ein räumliches Ziel 13
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erreichen kann. Dieses Navigationsgerät wurde zunächst vor allem von Autofahrern genutzt, heute aber in zunehmendem Maße – und zwar über das Smartphone – auch von Fußgängern in der Stadt und in der Landschaft. Das Navigationsgerät erspart es dem Benutzer, an seinem Standort und auf sein Ziel hin sich räumlich zu orientieren. Das Navigationsgerät zeigt ihm oder sagt ihm Schritt für Schritt den Weg an, den er zu fahren oder zu gehen hat, um am Ende der Kette dieser Schritte schließlich sein gewünschtes Ziel zu erreichen. Dadurch geht für den Benutzer die Orientierung im Raum verloren und das gezielte Aufsuchen von Orten mit Hilfe von Raumorientierung – etwa an charakteristischen Ortsmarken, ferner mit Hilfe des Sonnenstandes und des Kompasses mit einer Richtungsorientierung im Raum und schließlich mit Hilfe von Karten. Er verzichtet auf eine selbstgewählte Wegeorientierung. Die Benutzung der Navigationsgeräte enthält erstens die Gefahr, dass der eigene Aufenthaltsort bzw. auch der eigene Weg über GPS beobachtet und aufgezeichnet wird. Zweitens, dass über dem durch das Gerät geführten Aufsuchen des Zielortes kein Wissen über den Weg entsteht und der Zielort nicht mehr in eine Umgebung eingebettet ist, sondern vielmehr wie eine Insel im unbestimmten Meer der Möglichkeiten erfahren wird. Wenn man mit Hermann Schmitz Philosophie als das „Sichbesinnen des Menschen auf sein Sichfinden in seiner Umgebung“ versteht, so geht hier eine existenzielle Dimension des Lebensvollzuges verloren. Kennenlernen Ein zweites Beispiel des Verlustes von analogen Kompetenzen durch das Überhandnehmen von digitalisierten Praktiken ist das Kennenlernen von Personen. Natürlich hat es schon lange Partnersuche über Annoncen in der Zeitung gegeben, so dass die Digitalisierung der Partnersuche über das Netz und durch Aufsuchen von Datenspeichern hier nur eine Steigerung darstellt – allerdings eine Steigerung, die dazu führen kann, dass diese Art von „Kennenlernen“ in der Netzgesellschaft schließlich zur „natürlichen“ wird. Der Unterschied dieser Art des Sich-Kennenlernens im Gegensatz zur traditionellen Art ist folgender: 14
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In traditionellen Verhältnissen war das Kennenlernen von Einzelpersonen zunächst grundiert dadurch, dass man „schon immer“ zu einer Gemeinschaft oder Gesellschaft (etwa einem Betrieb oder einem Sportverein) gehörte, so dass das Kennenlernen der Individuen bereits von einer geteilten Lebenswirklichkeit getragen wurde. Ferner entwickelte sich das „Sich-Näherkommen“ aufgrund von Anmutungen, heute sagen wir physiognomischer Attraktivität. Die Kritik der Physiognomik hat gezeigt, dass keineswegs damit zu rechnen ist, dass die „Züge“, die eine Person hat und diese gegebenenfalls attraktiv erscheinen lässt, einen Schluss auf ihren „Charakter“ zulassen.6 Aber es genügt ja, dass diese physiognomische Anziehung da ist, um nämlich ein Näherkommen und einen kommunikativen Prozess in Gang zu bringen. Erst durch diesen erfahren die betroffenen Personen dann voneinander etwas, das vielleicht ihre gegenseitige Attraktivität verstärken kann oder zu einer mehr rationalen Basis für sich bildende Freundschaft oder Gemeinschaft werden kann. Beim digital vermittelten SichKennenlernen ist dagegen die Richtung dieses Miteinander-Bekanntwerdens genau umgekehrt. Werbung beginnt mit einem Satz von Informationen (Daten) über die betroffene Person, mit der man in Kontakt kommen will; und dass man sich um die entsprechende Person überhaupt kümmert, hat seinen Grund darin, dass ein Algorithmus die Passung der jeweiligen Charakter- und Bedürfnisprofile miteinander abgeklärt hat. Auf diesem Hintergrund kommt es dann zu ersten Kommunikationen – meistens noch digital – und schließlich zu einem so genannten persönlichen Kennenlernen, also einem face-to-face-Treffen. Dieses kann enttäuschend sein, oder es kann auch – nun wieder auf Grund von analogen Attraktivitäten – zu einer Festigung der Beziehung führen. Entscheidend aber ist, dass die Basis dieser Beziehung nicht mehr wie in der Tradition eine Anmutung oder eine geteilte Lebenswirklichkeit ist, sondern vielmehr ein Wissen um das „Profil“ der Zielperson, also ihrer aggregierten Daten. 6 Zu dieser Kritik an der Physiognomik siehe das Kapitel Über die Physiognomie des Sokrates und Physiognomik überhaupt in meinem Buch Der Typ Sokrates. Frankfurt a. M. 3 2002.
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Natürlich muss man einschränkend sagen, dass diese meine Darstellung quasi romantisch ist, insofern sich nämlich die Bildung von Ehepaaren erst seit etwa der Romantik durch persönliche Anmutungen („Liebesheirat“) vollzog (siehe dazu Schlegels Roman Lucinde von 1799). Davor und auch jetzt noch in vielen anderen Ländern, insbesondere etwa Indien, wird die Paarbildung durch Heiratsvermittler bzw. durch die Recherchen von Eltern zu Wege gebracht.7 Es ist hinzuzufügen, dass fortschreitend das Sich-Kennenlernen über digitale Medien in unserer Gesellschaft grundiert wird durch ein De-Gendering der Bildungs-, der Arbeits-, ja sogar der Sportinstitutionen und eine Isolierung nicht nur der Personen, sondern ihrer sozialen Bedürfnisse gegenüber ihren sonstigen Lebensverhältnissen. Man sucht und findet Partner immer weniger nebenher in Arbeit, Sport und Spiel, vielmehr wird die Partnersuche zu einem besonderen „Job“, also einer Tätigkeit, die man ganz neben anderen Lebensvollzügen betreibt. Umgang mit Werken der bildenden Kunst Ein weiteres Beispiel ist die medienvermittelte Bekanntschaft und Auseinandersetzung mit Werken der bildenden Kunst. Hier ist in erster Linie an die heute praktisch in allen Museen bereitgestellten Audioguides zu denken, mit denen man durch das Museum von Bild zu Bild bzw. Skulptur zu Skulptur geführt wird. Diese Guides versehen einen mit einer Fülle von Informationen über den jeweiligen Künstler, seine Zeit, seine Techniken, über das Material und das Schicksal des Kunstwerkes wie auch über die Bedeutungen seiner signifikanten Teile. In dieser Flut von kunstgeschichtlichen, kunsttheoretischen, hermeneutischen und semiotischen Informationen kommt der Besucher nicht mehr dazu, eigene Erfahrungen an dem Bild zu machen – diese bleiben diffus im Hintergrund und kommen ihm nicht recht zu Bewusstsein bzw. es fehlt allein die Zeit, dass sich im Besucher eine Reso7 Sehr eindrucksvoll wird diese Praxis des Arrangements von Ehen für jüdische Familien um 1700 dargestellt in dem Buch Denkwürdigkeiten der Glückel von Hameln. Mainz 1999.
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nanz auf das Kunstwerk regt.8 Zu dieser digitalen Vermittlung der Beziehung zum Kunstwerk kommt hinzu, dass das Kunstwerk oft überhaupt nicht dem Betrachter leiblich in geteilter Anwesenheit gegenübersteht, dass es vielmehr der Kunstbetrachter in der überwiegenden Zahl der Fälle, nämlich etwa in der Schule oder im Kunstunterricht einer Universität, nicht mit dem Kunstwerk selbst, sondern mit seiner medialen Repräsentation zu tun hat. Durch Reproduktion werden dem Kunstwerk aber seine Materialität, sein Rahmen und seine Beziehung zu seiner Umgebung genommen. Das Gemälde wird vom tableau zur puren image, die ja dann auf Seiten der Reproduktionsgeräte eigentlich nur noch in einem digitalen Datensatz besteht. Das Wesen des Kunstwerks als digitalisierter Datensatz!9 Durch diese Praktiken wird den Menschen, ja durchaus auch den Kunstliebhabern, ein abstraktes Verhältnis zum Kunstwerk antrainiert. Es geht ein Wissen davon verloren, was ein Kunstwerk in seiner leiblichen Anwesenheit bedeutet – Benjamin spricht vom „Auraverlust“10 –, und der Betrachter wird nicht darin eingeübt, sich dessen zu vergewissern, wie es ihm in Anwesenheit des Kunstwerkes geht. Eine weitere Stufe der Digitalisierung bildender Kunst besteht darin, dass man auf der Basis der Bilddateien besondere Bildbetrachtungen inszeniert. Da ist als erstes die Animation von Gemälden zu nennen, wie sie beispielsweise mit Bildern von Hieronymus Bosch und Pieter Bruegel dem Älteren vorliegen.11 Bei dem einen werden die fantastischen und skurrilen Figuren auf dem Bilde in Bewegung gesetzt, bei dem anderen die Wimmelbilder des Alltagslebens „belebt“. Bei dem ersten Typ der Digitalisierung (Animation des Bildgeschehens) wird dem Betrachter die Tätigkeit seiner Einbildungs8 Siehe dazu den Aufsatz Das Bild und seine Atmosphäre in meinem Buch Leib. Die Natur, die wir selbst sind. Frankfurt a. M. 2019. 9 Dazu Gernot Böhme: Das Bild und sein Medium. In: Die Medien der Kunst – die Kunst der Medien. Hg. G. J. Lischka/P. Weibel. Wabern 2004. S. 40–65. 10 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 2011. 11 Vgl. www.youtube.com/watch?v=L6fc6vDtFX4; www.youtube.com/watch?v=wQTBaVHEdf4.
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kraft erlassen, durch die er – etwa im Sinne des fruchtbaren Augenblicks nach Lessing – im „stillen Bild“ Bewegungstendenzen sieht. Bei der anderen Art der Digitalisierung von Bildern besteht die Gefahr, dass man den Gesamteindruck des Bildes über dem genauen Blick auf die Details verliert, und insbesondere wird hier eine bestimmte Bildbetrachtungstradition auf die Spitze getrieben, nämlich die hermeneutisch-semiologische: dass das Bild von Bedeutungen, gar von den Bedeutungen seiner Elemente her „verstanden“ wird. Zusammenfassend muss gesagt werden, dass die Digitalisierung von Bildern eine Betrachtungsweise nahelegt, die das Bild unabhängig von seiner konkreten materiellen Erscheinung in einer Umgebung, das heißt als bloße image, zum Thema macht bzw. dass bei den zuletzt genannten Möglichkeiten die Tätigkeit der Einbildungskraft in der Bildbetrachtung quasi stillgestellt wird. Lesen und übersetzen Ich nehme diese beiden Themen zusammen, weil sie sich gegenseitig erhellen bzw. weil das Übersetzen eines Textes selbstverständlich voraussetzt, dass man ihn gelesen hat. Die Frage ist bloß wie. Hier fehlt uns vorläufig ein klares Beispiel dafür, worin eigentlich digitales Lesen besteht. Nach der PISA-Studie bedeutet lesen können, Informationen aufnehmen und verarbeiten zu können.12 In jedem Fall ist digitales Lesen, eingeübt vor allem durch PCund Smartphone-Gebrauch, lineares Lesen, das heißt, man liest Wort für Wort, Zeile für Zeile, Satz für Satz. Demgegenüber ist eine grundlegende Maxime der Hermeneutik, dass jemand die Einzelheiten eines Textes vom Ganzen her verstehen muss. Auch hier, beim hermeneutisch-kompetenten Lesen, wird der Text von vorne nach hinten gelesen, allerdings, weil man sich erst einmal durch Lektüre des Ganzen eine Vorstellung davon macht, worum es in dem Text geht, um dann noch einmal in den Text einzusteigen, so dass dieses hermeneutische Lesen eine Art Kreisgang ist. 12 Siehe den Wikipedia-Artikel Lesekompetenz, abgerufen am 10. September 2020.
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Nehmen wir an, dass digitales Lesen Informationsaufnahme ist: Der Text, so wird unterstellt, übermittelt Informationen. Doch was sind Informationen? Informationen sind Feststellungen über Tatsachen, die eine zuvor bestehende Unsicherheit verringern. Im Beispiel: „Was für Wetter ist heute?“ „Es regnet.“ Es ist interessant, dass der Informationsbegriff offenbar eine Frage, eine Vormeinung oder ein unbestimmtes Vorwissen voraussetzt.13 Es wird angenommen, dass sich durch die Lektüre eines Textes, vermittels einer Reihe von Tatsachenfeststellungen am Ende ein relativ bestimmter Sachverhalt als Textgehalt herausstellt. In Ermangelung genauerer Kenntnis, was unter informationellem Lesen verstanden wird, habe ich probeweise eine automatische Übersetzung des Textes Instanz des Geistes von Elisabeth Langgässer14 initiiert. Dabei unterstelle ich, dass die automatische Übersetzung des Textes Satz für Satz erfolgt. Das Ergebnis dieses Experimentes ist lehrreich. So übersetzt die Maschine (Google-Übersetzer) „Geist“ zunächst mit „mind“, was so viel wie Gemüt heißt, später dann aber mit „spirit“, was durchaus Intelligenz heißen kann, aber auch Geist im Sinne von Vernunft bzw. – im Sinne von Hegel – vernünftige Verhältnisse. Im dritten Absatz wechselt die Maschine innerhalb von drei Zeilen von „mind“ zu „spirit“. Mit dem Wort „Instanz“ kommt die Maschine gar nicht zurecht. Zunächst, das heißt in der Überschrift, wählt sie „instance“. Nachdem sie allerdings am Anfang des dritten Absatzes gelesen hat, dass eine solche Instanz beispielsweise die platonische Akademie sein kann, wechselt sie in der Übersetzung von „instance“ zu „agency“. Letzteres trifft den Sinn wohl besser. „Instanz“ kann im Deutschen sehr wohl so etwas wie Handlungssubjekt, aber eben auch Behörde bedeuten – wie etwa in der Wendung „den Instanzenweg gehen“. „Instance“ heißt im Englischen jedoch in der Regel so etwas wie „Beispiel“.
13 Siehe den Wikipedia-Artikel Information, abgerufen am 10. September 2020: „Information ist die Verringerung von Ungewissheit“. 14 Elisabeth Langgässer: Instanz des Geistes: Wo Trümmer sind, muss Kultur werden. In: Neue Zürcher Zeitung vom 28. November 2019.
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Es kann durchaus Texte geben, deren Inhalt in der Mitteilung von Sachverhalten besteht. Texte, an denen die Lesekunst der Hermeneutik15 entwickelt wurde (die Bibel, literarische und juristische Texte) gehen aber darüber hinaus. Es geht dann beim Lesen nicht nur um die Feststellung von Sachverhalten, sondern um das Verstehen von Sinn. Frege führte den Unterschied von Sinn und Bedeutung ein. Nach ihm ist die Bedeutung eines Zeichens der Gegenstand, auf den dieses Zeichen verweist, der Sinn dagegen die Gegebenheitsweise dieses Gegenstandes.16 Wenn man das zusammennimmt und auf Textlektüre anwendet, dann heißt das so viel wie: Der Text bezieht sich auf einen Gegenstand oder Sachverhalt, stellt ihn aber in besonderer Weise – durch Sprachstil, Sprachgestus, Wortwahl etc. – dar, so dass der Gegenstand „in besonderem Licht“ erscheint, beispielsweise „faszinierend“ oder „in kritischem Licht“.17 Das bedeutet auch, dass im geschriebenen Text die Doppelheit der gesprochenen Sprache berücksichtigt wird, die bereits Kant in der Kritik der Urteilskraft18 feststellt und die später von dem Sprachpsychologen Bühler19 auf den Punkt gebracht wird, nämlich Inhaltsaspekt und Beziehungsaspekt: Es wird etwas zu jemandem gesagt, doch der Ton, in dem es gesagt wird, stellt zwischen Sprecher und Hörer eine besondere, in der Regel emotional getönte Atmosphäre her. Beim geschriebenen oder gedruckten Text muss dieser Ton allerdings im Text selbst enthalten sein, also etwa durch den rhetorischen Gestus.
15 Die Lesekunst ist sehr alt. Als Begründer der Hermeneutik gilt jedoch Friedrich Schleiermacher. Die wichtigsten seiner Schriften finden sich in Friedrich Schleiermacher: Hermeneutik und Kritik. Frankfurt a. M. 82004. Es ist allerdings schwer, aus ihnen das Wesentliche herauszuziehen. Deshalb empfiehlt sich Wolfgang Detel: Geist und Verstehen. Frankfurt a. M. 2011. Detel zeigt auch, dass die Postmoderne (Derrida und andere) eigentlich nichts vorgebracht hat, das nicht schon in Reichweite der Hermeneutik liegt. 16 Gottlob Frege: Über Sinn und Bedeutung. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. 100 (1892). S. 25–50. 17 Freges eigene Verwendung des Ausdrucks „Sinn“ ist allerdings enger als die hier vorgeschlagene, da sie alle subjektiven Vorstellungen und Gefühle ausschließt, siehe ebd., S. 29/30. 18 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 53, B 219. 19 Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Stuttgart 2009.
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Wodurch wird nun ein Text zu einem Ganzen? Beziehungsweise schon: Wodurch wird ein Satz zu einem Ganzen? Natürlich durch die Grammatik und den logischen Zusammenhang. Doch Letzteres ist nicht das einzige Einheitsprinzip, vielmehr ist der Sinn des Ganzen ein Prinzip, das die Mannigfaltigkeit des Gesagten zusammenhält. Die dadurch entstehende Einheit des Ganzen kann, so Bergson, eine qualitative sein.20 Aber auch Kant21 redet von einer „qualitativen“ Einheit bzw. der Einheit des Themas. Heute wird man vielfach vom „Narrativ“ sprechen. Daraus folgt für die Bedeutung der einzelnen Worte, dass sie sich nicht nur vom kollektiven Sprachgebrauch her – wie er beispielsweise in Grimms Wörterbuch der deutschen Sprache mitgeteilt wird –, sondern aus dem Zusammenhang des ganzen Textes ergibt. Um hier noch einmal Bergson heranzuziehen: Die einzelnen Töne in der Folge einer Melodie erhalten ihre Funktion durch ihre Stellung im Ganzen der Melodie.22 So erhalten auch die einzelnen Worte innerhalb eines Textes ihre jeweilige Bedeutung nicht bloß aus dem kollektiven Sprachgebrauch, sondern aus dem Sinn des ganzen Textes. So viel zum Thema Synthesis oder Einheit des Textes. Es ergibt sich, dass die Einheit des Textes für das einzelne Wort gewissermaßen eine Selektion aus dem Spektrum seiner lexikalischen Bedeutungen vornimmt. Daraus folgt schon, dass das einzelne verwendete Wort „schillern“ kann, nämlich zwischen der dominanten oder landläufigen Bedeutung und der in diesem Zusammenhang spezifischen Verwendungsform des Wortes im Text. Das ist nun besonders deutlich bei der Verwendung von Metaphern oder Bildern. Ob ein Wort eine Metapher ist, sieht man ihm als solchem eigentlich nicht an, es ergibt sich vielmehr erst aus seiner Verwendung im Text. Dabei ist wichtig, dass die Differenz von wörtlicher und übertragener Bedeutung spürbar bleibt. Das Zu-Sagende wird dann im Text durch Worte angesprochen, die einem ganz anderen Sachzusammenhang angehören, so etwa, wenn 20 Henri Bergson: Essai sur les données immédiates de la conscience. Paris 1889. S. 76–79. 21 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, § 12, B 114. 22 Bergson: Essai (wie Anm. 20).
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man von der Abenddämmerung sagt, dass sie sich als „weiches Tuch“ über alles legt. Metaphern wie Bilder präsentieren das Gesagte in der Regel in größerer Anschaulichkeit und Konkretion, als es möglich wäre, wenn man direkt die entsprechenden Sachverhalte darlegte. Aber ihr eigentlicher Effekt besteht darin, dass man sehr wohl merkt oder hört, dass es sich um Metaphern und Bilder handelt, so dass durch die Differenz von Sachverhalt und metaphorischer oder bildlicher Darstellung das Wie der Präsentation spürbar wird, also, dass das Mitgeteilte in einem bestimmten Sinn artikuliert wird. Einen ähnlichen Effekt erzeugen Autoren durch die Verwendung intertextueller Bezüge oder durch mehr oder weniger explizites Zitieren. Dabei berufen sie sich nicht wie üblich und notwendig auf den kollektiven Sprachgebrauch, sondern beziehen sich auf explizit vorliegende Verwendungsformen der Wörter bzw. Wortfolgen in anderen Texten. Zwar sind diese intertextuellen Bezüge nicht so fundamental anders als der durchschnittliche Sprachgebrauch, zumal ja auch die Grimms in ihrem Wörterbuch diesen allgemeinen Sprachgebrauch durch Anführung von Zitaten aus anerkannten Texten belegen. Doch durch die intertextuellen Bezüge werden die Bedeutungsvarianten der verwendeten Worte spezifiziert, und durch den mehr oder weniger expliziten Hinweis auf die anderen Texte, aus denen zitiert wird, stellt sich der vorliegende Text in den Zusammenhang bereits vorliegender, meist kanonisierter Texte. Das impliziert auch mehr oder weniger deutlich eine Anrufung der Autorität der Urheber jener anderen Texte, das heißt die intertextuellen Bezüge – wie auch die Zitate – sind eine Art „Beleg“. Zugleich geschieht hier wieder das, was bereits bei Metaphern und Bildern formuliert wurde, nämlich dass zwischen den darzustellenden Sachverhalten und ihrer Darstellung eine Spannung entsteht, die gewissermaßen explizit dementiert, dass es sich hier um bloße Information handelt, oder eine Spannung, die das Wie des Sagens oder Schreibens spürbar werden lässt, das heißt, dass es sich hier nicht bloß um Mitteilung, sondern um Sinnstiftung handelt. Schließlich unterscheidet sich ein Text von der bloßen Mitteilung über Sachverhalte – die durch die Frage nach dem Informa22
Einführung: Analog versus digital
tionsgehalt des Textes identifiziert werden können – durch den Sprachgestus. Wir haben es hier wieder mit dem Wie der Mitteilung, das heißt mit dem Textsinn zu tun. Dieser Sprachgestus kann in der Verwendung einer Sondersprache, einer Unterformation der allgemeinen Alltagssprache, der Verwendung eines Dialektes, aber auch explizit in einem rhetorischen, das heißt bewusst auf ein Publikum bezogenen Gestus bestehen. Auch hier haben wir es wieder mit dem „Ton der Musik“ zu tun, das heißt mit der Artikulation des Wie des Sagens oder Schreibens, das in aktueller Rede beispielsweise durch Tonhöhe, Sprechmelodie und Emphase spürbar werden kann. Der Bezug auf ein bestimmtes Publikum kann durch Redewendungen geschehen, die in diesem Publikum gängig sind, oder auch durch Anspielung auf Bildungsinhalte, die bei diesem Publikum vorausgesetzt werden können. Das heißt aber zugleich, dass ein Text durch den Sprachgestus, spezieller noch durch die verwendeten Redewendungen, andere Hörer oder Leser von den Angesprochenen ausschließen kann. Freilich lässt sich auch diese Art des Sprachgestus paradox einsetzen, nämlich dann, wenn ein bestimmtes Publikum herausfordernd, vielleicht auch verstörend durch den Text oder die Rede mit Sachverhalten konfrontiert wird, die in den entsprechenden Kreisen gerade verpönt sind. Ein charakteristisches Beispiel ist das Buch Darm mit Charme (2014) von Giulia Enders. Hier werden Sachverhalte gegenüber einem allgemeinen, für uns: einem bürgerlichen Publikum vorgetragen. Und das in einem schludrigen Jargon, der die Sagbarkeit dieser Sachverhalte gerade, weil sie im Jargon einer Unterschichten- oder Jugendsprache formuliert werden, trotz ihrer Verpöntheit möglich macht. Das Resultat ist ein befreiendes Lachen, ein Erfolg von Sprachgesten, die gegenüber einem Publikum gezielt das hier Übliche überschreiten. Sprachgestus und Jargon erfüllen in der Regel also eine ausgrenzende Funktion: Gewisse Hörer oder Leser werden durch Sprachgesten vom Verständnis ausgeschlossen, obgleich die Rede oder die Texte öffentlich sind. Für diese Schreib- oder Sprechweise hat Victor Klemperer den Begriff „enzyklopädisches Spre23
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chen“ geprägt.23 Klemperer bezieht sich mit dieser Charakterisierung auf die Art und Weise, wie die Enzyklopädisten im 18. Jahrhundert, das heißt Aufklärer wie D’Alembert, Diderot etc., die ja als Aufklärer in einem absolutistischen Staat mit Zensur lebten, sich ausdrückten. Sie schrieben Texte, die vielleicht verständlich, aber in ihrem Sinn nur Eingeweihten durchsichtig waren. Es wurden für Eingeweihte auch Sachverhalte, Einschätzungen, Selbstverständlichkeiten artikuliert, die Außenstehende nicht erkennen konnten. Sicher war dieser Sprachgestus für die Enzyklopädisten zu rechtfertigen, er kann aber in anderen Verhältnissen als Arroganz und Elitismus gewertet werden. In jedem Fall wird durch den Sprachgestus und den verwendeten Jargon eine zweite Quelle oder besser eine zweite Ebene kollektiven Sich-Verstehens jenseits des durchschnittlichen Sprachgebrauchs aktualisiert.24 Zusammenfassung: Warum gilt es, analoge Kompetenzen, die im Zeitalter der Digitalisierung im Schwinden sind, zu bewahren oder neu einzuüben? 1. Raumorientierung: Es wurde darauf hingewiesen, dass das Sichfinden des Menschen in seiner Situation für sein Selbstgefühl und sein Selbstbewusstsein existenziell notwendig ist. Die analogen Kompetenzen der Orientierung erlauben dieses Sichfinden im Sinne des Spürens von Anwesenheit im leiblichen Raum. Die digitalisierten Orientierungsmöglichkeiten lassen die persönliche Situation auf den Nahebereich zusammenschrumpfen, machen das In-der-Welt-sein zur unsinnlichen Existenz im virtuellen Raum. 2. Die Digitalisierung der Möglichkeiten und Strategien des SichKennenlernens drehen das traditionelle Verhältnis zwischen Anmutung und Personenkenntnis geradezu um. Das digitale 23 Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945. Berlin 2015. 24 Siehe dazu ausführlicher Gernot Böhme: Lesen ist nicht einfach lesen. Was einen Text zum Text macht und was Verstehen bedeutet. In: Neue Zürcher Zeitung vom 10. Mai 2021. S. 32.
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Auffinden eines möglichen Partners setzt ein bei einem Bescheidwissen über den anderen und kann von dem algorithmisch ermittelten Passend-Sein der Partner in der anschließenden leiblichen Begegnung zum Ereignis der Enttäuschung führen. Dagegen ist die traditionelle Form des Sich-Kennenlernens von der Anmutung getragen, die eine Verheißung bezüglich der Person des anderen Menschen enthält. Gerade deren Unbestimmtheit macht das Sichfinden zum Ereignis. 3. Mediales Sehen von Werken der bildenden Kunst: Die Digitalisierung von Werken der bildenden Kunst isoliert am Gemälde die image und abstrahiert vom tableau. Das führt zum Verlust der Atmosphäre eines Bildes im Raum seiner Anwesenheit. Digitale Bildanimationen stellen die Einbildungskraft des Betrachters still, und die Betrachtung des Bildes oder der Skulptur auf der Basis digitaler, also gepixelter, Daten verführt zu einer Bildbetrachtung von seinen bzw. ihren analytischen Elementen her. Dadurch verliert das Bild an Tiefe. Die Tiefe eines Werkes bildender Kunst konstituiert sich durch die Komplexität innerbildlicher Synthesen. Gerade sie werden durch die digital angeleitete Analyse des Bildes nicht mehr zustande kommen. 4. Das digitalisierte Lesen und Übersetzen von Texten legt ein lineares Durchgehen des Textes nahe und damit eine Aufreihung der in ihm enthaltenen Informationen zum Aufbau eines Sachverhaltes, den der Text im Ganzen mitteilen soll. Demgegenüber ist hermeneutisches Lesen oder Deep Reading das Aufsuchen eines Sinns des ganzen Textes, von dem her sich die Bedeutung und Verwendung einzelner Worte im Text erschließen und ferner die Sprachgesten als zweite Ebene der Mitteilung, nämlich der Mitteilung des Sinns, in dem gesprochen oder geschrieben wird, wirksam werden. Zusammenfassend muss gesagt werden, dass digitale Methoden der Orientierung, der Kommunikation und der Kunsterfahrung als Instrumente sehr nützlich sein können. Sie sind dann aber mehr als Hilfsmittel und im Rahmen analoger Vorgangsweisen einzusetzen. 25
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Vorspann Die Digitalisierung aller Lebensbereiche, vor allem der Industrie, aber auch der Bildung, der Kommunikation, der Administration, der Medizin ist nicht nur eine technische Entwicklung, die sich – quasi darwinistisch – durch ihre rationalitäts- und effizienzsteigernde Wirkung durchsetzt, vielmehr wurde sie in Deutschland zu einem politischen Programm. Mit der Unterstellung, dass wir uns in der vierten Industriellen Revolution befinden (mit dem Signum 4.0 bezeichnet), erscheint es den Regierungsparteien, die Hauptaufgabe für eine führende Industrie- und Exportnation zu sein, die Digitalisierung durch besondere Institutionen und Strategien voranzutreiben. „Wir schaffen die ‚Gigabit-Gesellschaft‘“, hieß es schon im Regierungsprogramm der CDU/CSU von 2017. Und weiter: „Wir werden mit einem Digitalpakt dafür sorgen, dass unsere allgemeinbildenden und beruflichen Schulen über die erforderliche Ausstattung verfügen, um ausreichend junge Menschen auf ihr Berufsleben im digitalen Zeitalter vorzubereiten.“ Dabei wird mit optimistischen Prognosen nicht gespart. So etwa für den Bereich der Medizin: „Durch den Einsatz von Telemedizin wird es einfacher, qualitativ hochwertige medizinische Versorgung für immer mehr Menschen unabhängig von ihrem Wohnort zugänglich zu machen.“1 Und mit Versprechungen: „Wir werden daran arbeiten, dass Industrie 4.0 ein Erfolgsmodell für Deutschland wird.“ 1 CDU/CSU: Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. Regierungsprogramm 2017–2021. o. O. 2017. S. 49, 53/54.
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Diese Positionen sind im Koalitionsvertrag mit der SPD dann im Wesentlichen übernommen worden, allenfalls etwas gemildert durch die sanft-kritische Haltung zur Digitalisierung, die die SPD in ihrem Parteiprogramm eingenommen hatte. Doch gerade die zuletzt genannte Formulierung wurde noch im Blick auf die internationale Konkurrenz verschärft: „Angesichts der Dynamik der Veränderung müssen wir große Schritte wagen, um an die Spitze zu kommen.“ Voraussetzung ist dafür nicht nur die „Digitale Bildungsoffensive“, sondern die Schaffung einer digitalen Infrastruktur, insbesondere das 5G-Netz des Mobilfunks. Für Schulen ist von der Schaffung einer „digitalen Lernumgebung“ die Rede, und auch an den Hochschulen sollen „mehr Online-Lernangebote und digitale Inhalte“2 entstehen. Von Technologie-Assessment, das heißt vorgreifenden Analysen der Einführung digitaler Technologien, ist nirgends die Rede. Stattdessen spricht die Koalitionsvereinbarung optimistisch von einem „besseren Leben durch Fortschritt“. Und die dann amtierende Bundesregierung wird in ihrem Magazin SCHWARZROTGOLD3 diese Programmatik den Bürgern didaktisch nahelegen. Doch die anvisierten politischen Anstrengungen, die Digitalisierung voranzutreiben, erwiesen sich als überflüssig, weil die CoronaPandemie ihr einen mächtigen und unverhofften Schub erteilt hat. Die Digitalisierung der Kommunikation Technisch gesehen hat die Corona-Krise für die Digitalisierung der Kommunikation nichts Neues gebracht, allenfalls Devices wie Zoom, wodurch interaktive Zusammenkünfte im Virtuellen stattfinden können. Natürlich konnte man seit langer Zeit miteinander telefonieren und nun schon seit geraumer mit Bildtelefon oder Skype. Bemerkenswert ist hier eher die Tatsache, dass die an sich vorhandenen Möglichkeiten etwa zu Videokonferenzen 2 Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. Berlin 2018. S. 37–40. 3 Siehe die Ausgabe 3/2019.
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im politischen und wirtschaftlichen Bereich bisher kaum genutzt wurden und man immer noch bevorzugte, sich im Realen zu treffen. Der Schub, der jetzt unter Corona-Bedingungen stattfand, besteht einfach in der – nun erzwungenen – Erfahrung: Es geht auch so. Es ist ferner zu erwarten, dass wegen der Zeit- und Reisekostenersparnis man nach dieser Erfahrung dieses Format viel mehr nutzen wird. Erste Anzeichen dafür sind die Ankündigungen von Fluggesellschaften, ihre Kapazitäten wesentlich zu verkleinern. Umso wichtiger ist es zu fragen: Wodurch unterscheiden sich Videokonferenzen von realen Meetings und damit indirekt die Frage zu beantworten, warum diese Möglichkeit bisher so wenig genutzt worden ist. Dass sie Zeit und Geld ersparen, haben wir schon erwähnt. Doch ist die netzvermittelte Kommunikation anders? Man kann wohl vermuten, dass Videokonferenzen effizienter sind: 1. Es erfolgt eine strikte Konzentration auf den Verhandlungspunkt. Das heißt, es gibt keinen Smalltalk, kein Pausengespräch, kein Vorher (also auch keine Aufbereitung einer Gesprächsatmosphäre) und kein Nachher (keine konzilianten Bemerkungen gegenüber den Gegnern und Andeutungen von zukünftigen Alternativen). 2. Die Videokonferenzen sind auch deshalb effektiver, weil sie erzwingen, in einer begrenzten Zeit zum Ergebnis zu kommen. Es ist erstaunlich, wie Verhandlungen mit realen Menschen vielfach in die Länge gezogen werden, dagegen verlangt die Videokonferenz eine quasi verschärfte Präsenz – man hat kaum die Möglichkeit, sich für einige Zeit auszuklinken. Wegen der größeren Effektivität von Videokonferenzen gegenüber realen Meetings ist zu erwarten, dass sie nach der CoronaKrise weitgehend beibehalten werden. Es fragt sich, ob die Verluste durch den Wegfall informeller und vor allem atmosphärischer Kommunikation dagegen ins Gewicht fallen. Die Digitalisierung von sach- und ergebnisbezogenen Verhandlungen könnte in diesem Bereich einen Rationalisierungsschub bedeuten. 29
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Anders ist das mit der allgemeinen Kommunikation über soziale Netze und per Telefon. Die ungeheure Ausweitung dieser Kommunikationsform ist ja gegenwärtig nicht etwa ihrer höheren Effizienz geschuldet, vielmehr ist sie eine Folge der Kontaktsperre während der Corona-Epidemie, sie ist also von Anfang an die breite Etablierung eines Substitutes. Deshalb muss hier explizit gefragt werden, was diese Art der Kommunikation leistet, welche Einschränkung sie gegenüber Kommunikation in leiblicher Anwesenheit der Partner hat. Teilen: Der deutsche Ausdruck „teilen“ hat durch die Beziehung zum englischen „to share“ Bedeutungen angenommen, die dem Deutschen eigentlich fremd sind. „Teilen“ bedeutet sonst eher trennen und vereinzeln. Es bedeutet aber vom englischen Sinn her in diesem Zusammenhang (nämlich der virtuellen Kommunikation), dass man den Partner an etwas teilhaben lässt. Am stärksten formuliert ist dieser Gedanke in Dave Eggers’ Roman The Circle mit der Maxime „Sharing is caring“.4 Doch dieses virtuelle Teilen ist eine Illusion. Wenn ich etwa im Café sitze und mein Tortenstück fotografiere und meinen Freunden poste, so haben diese bei dieser Art des Teilens allenfalls die Möglichkeit, am Anblick des Tortenstückes teil zu haben. Aber eben nicht am Tortenstück selbst. Das gilt natürlich noch in stärkerem Maße bei den hilflosen Versuchen, Freunde an meinen Urlaubserlebnissen teilhaben zu lassen – so etwa, wenn ich ein Selfie von der Akropolis poste: Seht mal hier, wo ich bin! Abgesehen davon, dass solche Mitteilungen auch mit Gefühlen angenommen werden können, die fern von einer gemeinsamen Lust sind – also etwa Eifersucht und Neid –, täuscht diese Art der Mitteilung zwischen den Partnern nur eine Verbundenheit vor. Man sagt zwar, dass man durch den zumindest eng getakteten Smartphone-Kontakt für den anderen ständig präsent ist, geradezu mit der Suchttendenz, das Gefühl der eigenen Existenz von der Sichtbarkeit für andere abhängig zu machen (so wie Roquentin in Sartres Roman Der Ekel meint, dauernd denken zu müssen, um im Sein zu blei-
4 Dave Eggers: The Circle. London 2014.
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ben5). Ich behaupte, dass diese Art von Kommunikation eine Verbundenheit mit den Freunden oder Followern nur vortäuscht, denn faktisch bleiben die Kommunikationspartner ja in ihren getrennten Situationen, und die Mitteilung kann allenfalls eine Information darüber vermitteln, in welcher Situation ich mich befinde. Der andere, der über meine Situation informiert wird, ist ja dadurch nicht in derselben Situation, und die Mitteilung darüber wird ihn in der Regel nicht dazu veranlassen, meine Situation mitzutragen oder davon betroffen zu sein. Diese neutralisierende Wahrnehmung von Informationen ist ja längst durch den Fernsehgebrauch eingeübt – sonst wäre ja auch das ständige Mitansehen dessen, was überall in der Welt an Schlimmem passiert, unerträglich. Der Ausdruck „Social Networks“ ist schon als solcher ein Euphemismus: Die Verlagerung menschlicher Beziehungen ins Virtuelle bedeutet ja nicht, dass diese dadurch vergesellschaftet werden. Der Mensch wird in sozialen Netzwerken nicht als konkretes Individuum, sondern als Adresse vergesellschaftet. Was man dem anderen übermitteln kann und was den anderen erreicht, ist ein Datensatz, der allenfalls durch seinen Herkunftsaccount identifizierbar ist. Der konkrete Mensch geht in die Mitteilung nicht mit ein. Man erkennt diese Tatsache insbesondere an den Fällen, in denen bei gemeinsamen, netzvermittelten Computerspielen einzelne Mitspieler – zumindest zeitweise – durch einen Computer ersetzt werden können. Diese Lage ist ein bisschen besser bei der direkten Netzkommunikation wegen ihres ephemeren Charakters – ich meine solche, die an augenblicklicher (simultaner) Übermittlung hängt. So ist etwa beim Telefonieren der andere durch Zögern, sich versprechen, Sprechmelodie und Tonlage, bei Skype auch durch Mimik präsent. Das ist ein interessantes Phänomen, insofern hier gerade das Ephemere der Kommunikation ein Signum der Authentizität ist. Früher – vor Zeiten – war es das Bleibende, der Charakter, was Authentizität garantierte. Wir sehen also, dass durch eine 5 Jean-Paul Sartre: Der Ekel. Reinbek b. Hamburg 1975. S. 115: „Mein Denken, das bin ich, deshalb kann ich nicht aufhören. Ich existiere, weil ich denke.“
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Kommunikationsform, bei der die Partner durch augenblickliche Aktion ihr Dabeisein ständig mitteilen, sie in gewisser Weise tatsächlich präsent sein können. Man denke an die Situation, in der ein Telefonpartner auffällig eine Zeit lang schweigt. Schon ist man veranlasst zu fragen: „Bist du noch da?“ Doch die Corona-Krise verdeutlicht, dass die Telekommunikation kein hinreichendes Substitut für Kommunikation in leiblicher Anwesenheit sein kann. Das zeigt sich vor allem dann, wenn das Einsteigen in die Situation des anderen und die Betroffenheit dadurch wirklich erfahrbar werden sollen, so wie bei Krankenbesuchen oder wo immer durch human touch 6, also durch Zärtlichkeit und überhaupt Berührung, das Beieinandersein spürbar wird. Es kann sogar sein, dass das telekommunikative Substitut von Beisammensein eher schmerzliche Gefühle erzeugt – so wenn bei Partnern, die eigentlich in Zärtlichkeit verbunden sind, die geforderte Distanz die Beziehung zum anderen schal werden lässt. Die Digitalisierung des Kulturkonsums Es hat schon vor Jahren als Video einen Rundgang durch die Vatikanischen Museen gegeben – sogar zum Teil interaktiv: Man konnte die Bilder heranzoomen. Dass sich diese Möglichkeit bisher noch nicht ausgebreitet hat, liegt vielleicht an dem kommerziellen Interesse, das die Museen an ihren zahlenden Besuchern haben. Jetzt, in der Corona-Krise, bieten verschiedene Museen derartiges zum Trost für die Besucher, die gerne zum Museum kämen, an. Verwandt mit dieser technischen Vermittlung von Kunstrezeption sind die verbreiteten Audioguides, noch näher dran die Möglichkeit, die zum Beispiel im Städel in Frankfurt gegeben ist, dass man das Bild vor einem auch im Internet samt Bilderklärung abrufen kann. Worauf das alles hinausläuft, lässt sich kurz sagen: Es handelt sich um die tendenzielle Reduktion der Kunstwerke auf einen Datensatz. Am Beispiel des Bildes kann man das verdeutlichen durch den Unterschied von image und 6 Siehe Rebecca Böhme: Human Touch. Warum körperliche Nähe so wichtig ist. München 2019.
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tableau. Was als Gemälde in Powerpoint-gestützte Kunstvorträge oder in kunstgeschichtliche Bücher eingeht, ist immer das Bild als image, das heißt, es wird reproduziert als das, was auf ihm zu sehen ist. Davon ist das Bild als tableau zu unterscheiden, das heißt als konkreter Bildgegenstand, der im Museum an einer bestimmten Stelle und mit seiner eigenen Größe, in einem Raum mit anderen Bildern hängt. Was in den digitalen Kunstrezeptionen verloren geht, ist genau dies: die Einbettung von Kunstwerken in eine Situation, also beispielsweise ein Museum oder – bei Musik – in einen Konzertsaal oder – bei Architektur – in Landschaft und Stadt. Das heißt: Der digitale Kulturkonsum geschieht ohne leibliche Anwesenheit oder besser gesagt, es fehlt das Ineinander von leiblich gespürtem Raum und dem Raum, in dem das Kunstwerk faktisch ist. Durch dieses Ineinander nämlich ereignet sich eine Interaktion zwischen dem Sein des Kunstwerks und dem Sein seines Betrachters. Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass Walter Benjamin in seinem berühmten Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1937 dieses Geschehen – wir würden heute sagen: der Digitalisierung – als Verlust der Aura des Kunstwerkes bezeichnet hat.7 Es ist nun zu befürchten, dass diese Digitalisierung des Kulturkonsums, die heute als eine Substitution, also behelfsmäßige Befriedigung von Bedürfnissen angesehen werden kann, auch nach der Corona-Krise beibehalten wird und zumindest, was Kunstkonsum ist, verändern wird. Natürlich konnte man schon vor der Krise feststellen, dass Museumsbesucher durch die Audioguides, die sie mit einer Überfülle von Informationen über die Kunstwerke vor ihnen versorgten, um eine unmittelbare und damit persönliche Erfahrung des Kunstwerkes gebracht wurden. Auch ist das Hören eines Konzertes von der CD und gar mit Kopfhörern eine gerade von Musikliebhabern praktizierte Sterilisierung und das heißt Reinigung von Spuren der Situation, die doch eigentlich zum Kunstwerk gehört. Dass die genannten Angebote von digi7 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 2011.
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talem Kunstkonsum sich verbreiten werden, liegt vor allem daran, dass sie ein brennendes Problem lösen, nämlich das Tourismusproblem. Schon vor vielen Jahren hat man in Frankreich die Höhle von Lascaux geschlossen, weil die Ausdünstungen der vielen Besucher die Höhlenmalerei darin gefährdeten. Heute können Besucher in einer Fake-Höhle eine täuschend echte Reproduktion bewundern. Das war ein frühes Signal. Heute gibt es bereits Proteste aus der Bevölkerung, etwa auf Mallorca, in Venedig und auf Sylt, gegen den unerträglichen Andrang des internationalen Tourismus. Tatsächlich ist das, was der Tourist an vielen der berühmten Orte wie etwa im Louvre, im British Museum, auf der Akropolis noch als Erlebnis verzeichnen kann, lediglich die Tatsache, überhaupt da gewesen zu sein. Das Übermaß an Besuchern verhindert für den einzelnen Besucher zu erfahren, was er eigentlich sucht. Dieses Doppelproblem des weltweiten Tourismus, nämlich schädigende Überlastung der attraktiven Orte und ihrer dortigen Bewohner und Mitarbeiter auf der einen Seite und das Dahinschwinden von Erfahrungsmöglichkeiten für den Besucher auf der anderen, könnte durch die Digitalisierung gelöst werden. Vielleicht wird man auf lange Sicht die Verluste, die durch diese Lösung des Tourismusproblems erzeugt werden, nicht mehr spüren, da man schließlich die perfekte technische Reproduktion der Kunstwerke für sie selbst hält. Für den Besucher allerdings fällt die Begegnung mit dem Kunstwerk als biografisches Ereignis fort. Ein Vorläufer dieser Entwicklung ist die weltweite filmische Reproduktion von Aufführungen der Metropolitan Opera in New York bzw. der schon seit langer Zeit praktizierte Konsum von Musik über Schallplatte oder CD und Kopfhörer. Handel online Der Online-Handel hat durch die Corona-Krise einen ungeheuren Zuwachs erhalten. Da mit Ausnahme von Lebensmittelgeschäften, Discountern und Apotheken alle Geschäfte, Kaufhäuser, Shopping Malls geschlossen wurden, blieb den Konsumenten nichts anderes übrig, als sich über Online-Bestellungen zu ver34
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sorgen. Gewiss, das ist nur die Fortsetzung eines Trends, der seit langem schon besteht: Das klassische Kaufhaus ist praktisch schon verschwunden, und die überlebenden haben sich zu einem Konglomerat von Boutiquen entwickelt.8 Auch die hohe Zeit der Shopping Malls ist längst überschritten, zumal sich die Mall auf der grünen Wiese und dadurch die Verlagerung des Handels aus den Innenstädten als keine gute Idee erwiesen hat. Malls werden nur noch überleben, wo sie sich durch Diversifikation – etwa durch Integration von Behörden, Arztpraxen oder gar eines Thermalbades wie beim Nord-West-Zentrum in Frankfurt – zu einer Art kommunalem Zentrum entwickeln, in dem man nicht mehr nur einkauft, sondern flaniert, sich trifft und Feste feiert.9 Doch die Corona-Krise könnte dem Einzelhandel in den Städten weitgehend den Garaus gemacht haben. Die schlichte Notwendigkeit hat auch diejenigen Fraktionen der Kunden, die teils aus Tradition, teils aus Widerstand gegen die Monopolisierung im Handel (insbesondere bei Amazon), teils einfach auch aus Lust am Shopping am Einzelhandel festgehalten haben, in die Arme des Online-Handels getrieben. Hatten bisher vor allem Berufstätige, die keine Zeit mehr zum Einkaufen hatten, sich des Online-Handels bedient, so hat jetzt ein großer Teil der Bevölkerung, der bisher gegenüber dem Online-Handel resistent war, die Erfahrung gemacht: Es geht auch so. Es ist ja viel einfacher und in den meisten Fällen sogar billiger. Das alles zusammen hat eine gewaltige Verschiebung von Kaufaktivitäten ins Netz bewirkt, die sich kaum wird rückgängig machen lassen. Amazon hat in den USA bereits eine Ausweitung der Belegschaft um 100.000 Personen angekündigt, und in Deutschland beginnt das Unternehmen, einen eigenen Auslieferungsservice zu organisieren. Natürlich hat diese Verlagerung von Einkäufen ins Netz auch eine Ernüchterung und Rationalisierung des Einkaufsverhaltens mit sich gebracht: 8 Siehe dazu Wolfgang Christ: ‚Die Zeit ist reif für ein Deutsches Handelsmuseum‘. In: Textilwirtschaft, 27. Dezember 2019, www.textilwirtschaft.de/business/gastbeitrag/gastbeitrag-die-zeit-ist-reif-fuer-ein-deutsches-handelsmuseum-223099, abgerufen am 6. September 2021. 9 Siehe dazu Gernot Böhme: Ästhetischer Kapitalismus. Berlin 22018 (engl. Übersetzung: Critique of Aesthetic Capitalism. Mailand 2017).
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recherchieren, bestellen, zu Hause anprobieren und gegebenenfalls zurückschicken – fertig. Damit ist etwas verloren gegangen, das für viele Menschen ein lustvoller Vollzug war: Shopping als Entertainment. Man kann das kritisch beurteilen, und doch war diese Art des Einkaufens für viele Leute zu einer befriedigenden Tätigkeit geworden, vor allem der Kaufvorgang selbst mit den entsprechenden Räumen, mit Bedienung und Beratung und lang anhaltenden Anprobezeremonien. Vielfach wurden auf diese Weise Waren gekauft, die man eigentlich gar nicht brauchte. Das mag man kritisieren, doch gerade diese Art von Kaufbedürfnissen könnte kleineren Geschäften – vor allem dann, wenn sie regional versammelt und mit Cafés und Restaurants durchmischt sind – ein Comeback ermöglichen. Doch das sind vage Hoffnungen. Was bleibt, ist die Verlagerung eines gewichtigen und umfangreichen Bereichs menschlicher Tätigkeiten ins Virtuelle.10 Dieser Prozess ist bereits seit langem im Gange, erhält durch die Corona-Krise aber erst seinen letzten Durchbruch gegenüber konservativen Resistenzen. Handel, ein Geschäft abschließen, war und ist ja ein sozialer Akt, bei größeren Geschäften explizit ein Vertrag zwischen Käufer und Verkäufer. Der Käufer garantierte in leiblicher Anwesenheit für seine Bonität: bei kleinen Geschäften in der Regel durch Bargeld, bei größeren durch den leiblichen Akt der persönlichen Unterschrift. Das alles sind heute nur noch romantische Reminiszenzen. Im Online-Geschäft ist der Käufer gar nicht mehr als leibliche Person involviert, er erscheint im Vorgang des Kaufens nur noch als Adresse und schließt den Kaufvertrag durch Angabe von Codewort, PIN-Nummer und sonstigen digitalen Sicherheiten ab. Die Corona-Krise hat zudem einen Schub bargeldlosen Geschäftsverhaltens bewirkt, weil die Übergabe von Bargeld auch in Supermärkten möglichst vermieden werden soll. In manchen Ländern wie zum Beispiel Schweden oder China ist der Bargeldverkehr bereits vollständig zum Erliegen gekommen. Bei uns hat es noch 10 Siehe dazu Wolfgang Christ: Konsumkultur und Raumstruktur. Aktuelle Entwicklungen in den USA und Großbritannien. In: Informationen zur Raumentwicklung. 2014. S. 67–80.
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einen gewissen Widerstand dagegen gegeben – nämlich aus Datenschutzgründen: Der bargeldlose Zahlungsverkehr erzeugt natürlich Daten von Kunden bezüglich ihres Konsumverhaltens und fördert damit, was man warnend schon „Überwachungskapitalismus“ genannt hat. Tourismus Ich bin schon darauf eingegangen, dass der Tourismus durch das ungeheure quantitative Wachstum in den letzten Jahrzehnten bereits an Grenzen gestoßen war, so dass hier die Corona-Krise tatsächlich eine heilsame Kur11 sein könnte: Man entdeckt die eigene Region wieder und hat Anlass, Tourismus als Sightseeing kritisch zu betrachten. Man hört bereits, dass besonders betroffenen Gegenden und Städten wie Venedig durch Corona eine Regenerationsphase beschert worden ist. Und Sightseeing? Schon in der Frühzeit der Videos gab es Prognosen, dass Tourismus durch heimisches Betrachten von Filmen ersetzt werden könnte. Diese Prognosen haben sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil sind die fantastischen Naturfilme, die man im Fernsehen sieht, und Serien wie Traumschiff eher zu Anreizen geworden, nun einmal auch selbst an die Orte zu kommen oder an den Touren teilzunehmen, über die sie berichten. So ist zum Beispiel der Mount Everest zum Ort von Massentourismus geworden, und die Traumschiffserie hat sich als eine Werbung für Kreuzfahrten entpuppt. Das ist ein erstaunliches Phänomen, zeigt aber doch, dass sehr viele Menschen mehr oder weniger bewusst das Bedürfnis haben, etwas nicht bloß zu sehen, sondern an den Orten, wo es etwas zu sehen gibt, auch selbst leiblich zu sein. Die große europäische Tradition der Landschaftsmalerei hat zwar dazu geführt, dass man unter Landschaft wesentlich einen Anblick – ein Bild – versteht, aber gleichwohl hat sie das für den Tourismus seit dem 18. Jahrhundert entschei11 So sollte mein NZZ-Artikel ursprünglich überschrieben sein. Siehe Gernot Böhme: Seit Corona ist alles anders. Aber heisst das, dass vorher alles besser war? – Warum wir nicht zu rasch zur Normalität zurückkehren sollten. In: Neue Zürcher Zeitung online, 1. Mai 2020, www.nzz.ch/feuilleton/corona-alles-ist-anders-aber-war-vorher-alles-besser-ld.1553818, abgerufen am 6. September 2021.
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dende Bedürfnis beflügelt, in einer bestimmten Landschaft zu sein. Dieses unbewusste Bedürfnis dürfte durch die Corona-Krise und die dadurch bedingte Unterbindung von Tourismus tatsächlich ins Bewusstsein vorgedrungen zu sein. Das könnte allerdings dazu führen, dass nach Corona ein ungeheures Nachholund Reisebedürfnis sich geltend macht, so dass die Zeit der Corona-Einschränkungen dann rückblickend nur als ein vorübergehendes Atemholen der betroffenen Gegenden angesehen werden würde. Natürlich könnte es auch sein, dass die Gefahren des Ferntourismus nachhaltig ins Bewusstsein vorgedrungen sind. Davon könnte insbesondere die Kreuzfahrtindustrie betroffen sein. Die Vorstellung, dass auf mehreren Schiffen 2.000 Passagiere und Besatzungsmitglieder Wochen bis Monate lang eingesperrt waren, weil einzelne Corona-Fälle festgestellt wurden, ist eine Horrorvorstellung, wie sie durch die von Jean Negulesco in seinem Film Der Untergang der Titanic (1953) inszenierte panische Fröhlichkeit vermittelt wurde. In summa: Die Corona-Krise könnte einen Wandel in touristischen Bedürfnissen und Verhaltensweisen bewirken, die ihren Grund allerdings nicht in der Verlagerung des Sightseeings ins Virtuelle hat. Jedenfalls werden hier die Veränderungen, die durch die Einschränkungen in der Corona-Periode erzwungen waren, nicht von selbst dazu führen, dass Verhaltensänderungen in diesem Bereich auf Dauer gestellt werden. Vielmehr wird man das neu Gelernte oder wieder Entdeckte wie die Wertschätzung der eigenen Region und das Bedürfnis nach leiblicher Anwesenheit bewusst pflegen müssen. Die Digitalisierung religiöser Praktiken Die Digitalisierung des religiösen Lebens ist die erstaunlichste und für die betroffenen Gläubigen wohl einschneidendste Entwicklung der Gegenwart. Der Betrachter von außen, wie der Philosoph Gerd Achenbach (siehe seinen YouTube-Beitrag Gelassenheit. Mein Wort zur Corona-Krise), kann nur seine Verwunderung und – vielleicht mitfühlend – sein Befremden äußern. Die Einschnitte betreffen 38
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nicht nur die christlichen Religionen mit ihren Hauptkonfessionen der protestantischen und der katholischen, sondern ebenso die jüdische und die muslimische Religion wie auch die orthodoxen Kirchen. Es ist schon erstaunlich, wie fraglos alle religiösen Organisationen in unserem Lande die Schließung ihrer Gotteshäuser hingenommen haben. Wenn man sich daran erinnert, dass den immer wiederkehrenden Plagen in der europäischen Geschichte von Seiten der Kirche durch große Bittgottesdienste begegnet wurde, so erübrigt sich das offenbar für die Gläubigen unserer Tage: Sie erwarten Hilfe nicht mehr vom Himmel, sondern von wissenschaftlicher Rationalität. Eine Kommentatorin der Tagespost schreibt in ihrem Tagesposting vom 12. März 2020 von einer „Ratio ohne den Glauben“12. Ferner heißt es: „Die Kirche kommt in der Moderne an“. Das ist die eigentliche Säkularisierung – Gott mag auch weiterhin für die Seelennöte des Menschen zuständig sein, mit einschneidenden Naturereignissen, humanitären Katastrophen, hat er nichts mehr zu tun: Nicht im Entferntesten ist das zu deuten, als ob der Schöpfer ohne Seele war, er fragt nur nicht so einzeln nach den Leuten, nach ihren Klagen, Krebsen, Haut und Haar, […] Gottfried Benn: Melancholie
Wir, die Außenstehenden, sind befremdet davon, in welchem Maße religiöse Lehren inzwischen entrümpelt worden sind. Die klaglose Transformation religiöser Reden und Bräuche ins Virtuelle scheinen mit der Aufgabe von Essentials religiösen Lebens verbunden zu sein, die wir nicht für möglich gehalten haben. Seit Nero, schreibt die genannte Kommentatorin, habe es solche Eingriffe ins religiöse Leben von Seiten der Politik nicht gegeben. Selbst die Nationalsozialisten haben von Kirchenschließungen 12 Kristina Ballova: Tagesposting: Glauben in Zeiten des Corona-Virus. In: Die Tagespost online vom 12. März 2020, www.die-tagespost.de/gesellschaft/feuilleton/TagespostingGlauben-in-Zeiten-des-Corona-Virus;art310,206269, abgerufen am 6. September 2021.
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abgesehen. Ein Kommentator im Deutschlandfunk bezeichnet diese Digitalisierung in seinem Beitrag vom 20. März 2020 als „epochale Zäsur“13. Was waren die vermeintlichen Essentials religiöser Praxis? Zunächst die Gottesdienste selbst. Sie waren nicht vom Priester allein durchzuführen, sondern ein gemeinsamer Akt der versammelten Gemeinde, geordnet durch die Liturgie und vollzogen durch gemeinsames Singen, durch Anrede und Respons. Die Gemeinde, heißt es in der Bibel, sei der Leib Christi. Ferner die Sakramente. Die Taufe geschieht durch Besprengen mit Wasser, das Abendmahl durch essen der Oblate und trinken von Wein, Segnung durch achtsame Berührung des Sterbenden oder Kranken14. Das heißt also: Zu den Sakramenten gehört essenziell ein leiblicher Vollzug: „Sakramente sind sichtbare Zeichen einer unsichtbaren Gnade“, heißt es in einer Erläuterung der katholischen Sakramente. Die Digitalisierung kirchlicher Praxis vollendet einen Grundzug des Christentums, den man ihm immer schon vorgeworfen hat, nämlich seine Leibfeindlichkeit. Damit wird diese Religion zur reinen Geistreligion transformiert – so wie es Leo Tolstoi schon vor mehr als hundert Jahren gefordert hat15. Tolstois Adressat war damals die orthodoxe Kirche Russlands – auch sie ist heute betroffen, obgleich sie sich resistenter gegenüber politischer Einmischung gezeigt hat. So wurden in Russland weiterhin Gottesdienste durchgeführt, aber ein Essential religiöser Praxis, das zur Orthodoxie gehört, war verboten: nämlich das Küssen der Hand des Priesters, des Altars und der Ikonen. Wir können kaum einschätzen, was das für die gläubigen Christen russischer Orthodoxie bedeutet. Christen protestantischer Konfession waren allerdings seit Luther schon auf diesem Wege. Seit Luther wird betont, dass religiöse Handlungen wesentlich durch das Wort geschehen – und das kann man auch digital vermitteln. Dagegen hielt man unter Ka13 Autor Henning Klinger, er bezieht sich auf den Theologen Jan-Heiner Tück. 14 Es ist besonders erschreckend, dass man in Italien, einem katholischen Land, sterbende Corona-Patienten allein gelassen hat. 15 Leo N. Tolstoi: Kurze Darlegung des Evangelium. Leipzig 1892.
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Corona pusht die Digitalisierung der Gesellschaft
tholiken an dem – ursprünglich heidnischen – Glauben an die Anwesenheit Gottes im Tempel und in den Sakramenten fest. Hatte nicht Christus selbst gesagt: „Wenn Zwei oder Drei in meinem Namen versammelt sind, so bin ich mitten unter ihnen“? Nun – wenigstens zwei Personen durften ja auch bei uns sich trotz Kontaktsperre in der Öffentlichkeit versammeln.
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Wolfgang Reinert
Was Hänschen mit dem Tablet lernt – Digitalisierung in Schule und Bildung
Über Schule sprechen Mir ist klar: Wer über Schule spricht, begibt sich auf gefährliches Terrain, denn ich weiß, dass ich nur Expertinnen und Experten vor mir habe. Wir alle waren einmal Schülerinnen oder Schüler, und viele von uns haben den Schulbetrieb als Eltern ein zweites Mal miterlebt oder tun dies gerade. Aber da schon wurde sicher deutlich, dass Schule sich ständig verändert, dass man, wie Heraklit gesagt hätte, nicht zweimal in dieselbe Schule geht. Schule verändert sich ständig – Schulreformen der letzten Jahrzehnte Diese ständige Veränderung des Schulsystems habe ich in der Zeit meiner aktiven Berufstätigkeit als Lehrer in den letzten 43 Jahren hautnah miterlebt. Als Referendar war ich an einer der damals neu gegründeten Integrierten Gesamtschulen, und in den Siebziger- und Achtzigerjahren war die Debatte um das veraltete dreigliedrige Schulsystem bzw. seine Abschaffung das zentrale Thema der Schulreform. Die Grabenkämpfe um diese Fragen der Schulorganisation wurden damals mit einer Erbitterung geführt, die heute kaum mehr vorstellbar ist. Eine Kollegin, Franziska Conrad, die lange Jahre das Studienseminar für das Lehramt an Gymnasien in Darmstadt leitete, erinnert sich in einem Artikel in der Hessischen Lehrerzeitung vom Mai 2020, dass wir „unseren Weg zwischen der antiautoritären Pädagogik, die die hierarchischen Gehorsamsstrukturen in der Schule aufbrechen 43
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wollte, und den bestehenden konservativen, auf Anpassung und Regelfixierung zielenden Strukturen finden“1 mussten. In den Neunzigerjahren sollten „Handlungs- und Projektorientierung […] mehr Erfolge bringen als die bloß kognitive Herangehensweise an den Stoff “2. Ab Mitte der Neunzigerjahre kam dann die Methodenorientierung hinzu: Jetzt wurde viel Wert darauf gelegt, wie man lernt und nicht nur was. Und aus eigener Erinnerung füge ich hinzu, dass wir damals in den Lehrerkollegien manchmal den Eindruck hatten, dass fast jedes Jahr eine neue heilsbringende Reform propagiert wurde, die jeweils aber wirklich das Nonplusultra moderner Pädagogik realisieren sollte. Dann kam der PISA-Schock, der im Jahr 2001 die ganze Nation aufschreckte. Die PISA-Untersuchungen der OECD messen alle drei Jahre in vielen Industrie- und Schwellenländern die Leistungen der Fünfzehnjährigen in Lesekompetenz, mathematischer Kompetenz und naturwissenschaftlicher Grundbildung. Bei der ersten PISA-Studie landete Deutschland im unteren Mittelfeld, was den genannten Schock auslöste und Erinnerungen an die schon von Georg Picht in den Sechzigerjahren beschworene „Bildungskatastrophe“ mobilisierte.3 Die Antwort der Bildungspolitik war erstens die Kompetenzorientierung: Nicht mehr die Inhalte des Lernstoffes sollten im Mittelpunkt stehen, sondern die darüber zu vermittelnden Kompetenzen. Zweitens wurden bundeseinheitliche Bildungsstandards entwickelt, und drittens gab es jetzt immer mehr Tests, so dass in den Lehrerkollegien schon von einer auf die Dauer lästigen „Testeritis“ die Rede war. Im Laufe der Jahre verbesserten sich die Leistungen der deutschen Schülerinnen und Schüler tatsächlich. Dies täuschte aber darüber hinweg, dass nach wie vor grundlegende Defizite des deutschen Bildungssystems nicht angegangen wurden, so vor allem die bis heute anhaltende Tatsache, dass die Testergebnisse direkt mit der sozialen Lage der Lernenden zusammenhingen, dass also diejenigen Schü1 Franziska Conrad: Autonomie macht schön. In: Hessische Lehrerzeitung. 73 (2020), Heft 5. S. 29. 2 Ebd. 3 Vgl. den Wikipedia-Artikel PISA-Studien, abgerufen am 10. September 2020.
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lerinnen und Schüler am schlechtesten abschnitten, die im Elternhaus am wenigsten Unterstützung erfuhren. Das bedeutet, dass es unser Schulsystem bis heute nicht schafft, einen signifikanten Beitrag zum Ausgleich sozialer Ungleichheit in unserer Gesellschaft zu leisten. Was sich durch die Digitalisierung ändern soll Dass sich dies durch die Digitalisierung ändern soll, wird von ihren Protagonisten noch nicht einmal behauptet. Wenn jetzt also die Digitalisierung der neueste Schrei der Schulreform ist, so muss man fragen, was durch sie an unseren Schulen eigentlich besser werden soll. Der Ausbruch der Corona-Pandemie war dafür die Probe aufs Exempel. Schon zuvor war immer wieder nach mehr und schnellerer Digitalisierung gerufen worden, ohne dass dafür überzeugende pädagogische Konzepte vorgelegt worden wären, die aufgezeigt hätten, wie sich das Lernen in unseren Schulen dadurch verbessern würde. Schon zuvor waren digitale Geräte wie zum Beispiel Whiteboards, also digitale Tafeln, eingeführt worden – paradoxerweise oft genug begleitet von einem Verbot der Handynutzung im Unterricht, so als ob nur die Lehrkraft in der Lage wäre, mit digitalen Geräten umzugehen. Solche Whiteboards, ich habe in meiner aktiven Zeit selbst damit unterrichtet, haben den großen Vorteil, dass man damit zum Beispiel das im Unterricht Erarbeitete abspeichern und per E-Mail an die Schülerinnen und Schüler verschicken kann, das heißt, der Tafelanschrieb ist am Ende der Unterrichtsstunde nicht mehr einfach weg. Darüber hinaus kann man leichter Filme zeigen, oder Lernende können Präsentationen vorführen. Sie haben aber auch den Nachteil, dass sie das Unterrichtsgeschehen wieder, wie früher in der Zeit des Frontalunterrichts, auf einen Punkt konzentrieren und dass das gemeinsame Erarbeiten in Gruppenarbeit oder im Lehrer-Schüler-Gespräch wieder mehr in den Hintergrund tritt. Das heißt, die Schülerin und der Schüler wird durch sie wieder mehr zum Konsumenten, die zuvor geförderte aktive Mitarbeit nimmt ab.
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Schaut man sich die Argumente der Befürworter einer schnellen Digitalisierung in Schule und Bildung an, kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass es vornehmlich darum geht, neue Geräte einzuführen. Whiteboards, Tablets, Internetanschluss und Smartphones sollen jetzt beim Lernen helfen. Ein Artikel in der Zeitschrift Erziehung & Wissenschaft, dem Publikationsorgan der Bildungsgewerkschaft GEW, beschreibt dies beispielhaft so: Die Lehrkraft startet eine App, und die Schüler „können mit GoogleEarth […] die Erde erkunden“4. Was da anders ist, als bei der analogen Erkundung der Erde mit dem Atlas, wird nicht gesagt, und es wird auch nicht reflektiert, welche der beiden Methoden für das Erreichen der Lernziele die sinnvollere wäre. Aber es wird gelobt: „Das Internet ist voll von Lern-Apps für jede Schulart, jedes Fach und jedes Alter.“5 Und so wird die Digitalisierung euphorisch nicht nur für weiterführende Schulen, sondern auch für Grundschulen und sogar Kindergärten und Kitas gefordert; in einem anderen Artikel der genannten Zeitschrift wird beschrieben, wie die Kinder einen „Ausflug mit dem Tablet in den Wald“ machen, bei dem „die Kids die Natur filmen, fotografieren und in der Kita daraus einen Film schneiden“. Dies lehre sie, „analoge und digitale Welt zu verbinden“6. Schaut man sich dieses Beispiel genauer an, so sieht man aber gerade daran, was Hänschen – und natürlich auch Gretel – mit dem Tablet tatsächlich lernt: Er und sie lernen wischen und tippen, sie lernen, wie man eine Maschine bedient. Welche Naturvorgänge sich im Wald abspielen, was da wächst und sich bewegt und aufeinander einwirkt, das kann ihnen das digitale Gerät nicht vermitteln. Nun hat ja zum Glück die GEW auch viele kritisch mitdenkende Mitglieder, ich selbst rechne mich dazu. Deshalb kam es zu einer Flut von Leserbriefen, in denen die oben beschriebene Haltung als „naive Sichtweise“7 zurückgewiesen wurde. Beispiel-
4 Sven Heitkamp: Einfach machen. In: Erziehung & Wissenschaft. 71 (2019), Heft 12. S. 6. 5 Ebd. 6 Anja Dilk: Trial and error – Sollten digitale Medien nicht auch in der Kita eingesetzt werden? In: Erziehung & Wissenschaft. 71 (2019), Heft 12. S. 14. 7 Hermann Forkl: Naive Sichtweise. In: Erziehung & Wissenschaft. 72 (2020), Heft 2. S. 42.
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haft möchte ich aus der Stellungnahme eines Kollegen zitieren, Wilfried Richert, der schreibt: Die Propheten der Digitalisierung scheinen zu vergessen, dass es verschiedene Lernalter mit je spezifischen Anforderungen gibt, in denen ein Tablet eher stört als nützt. […] Im Alter von vier Jahren beginnt das Kind, sich mehr und mehr in einer eigenen, von ihm selbst geschaffenen Welt zu bewegen. Es entwickelt ständig eigene neue Welten. Beobachtet man Kinder in dieser Phase, so erlebt man oft, wie sie ganz konzentriert in ihre Spielsituationen vertieft sind, nichts kann sie ablenken. Das intuitive Denken wird trainiert.8
Ein Tablet als Spiel- oder Lernzeug ist hier „nicht sinnvoll“9. Richert weiter: Ab dem Alter von ungefähr sieben Jahren beginnen Kinder, die sie umgebende Welt verändern zu wollen. Es geht darum, selbst konkrete Dinge zu erschaffen, zum Beispiel ein kleines Boot oder eine Flöte aus Holz zu schnitzen, echte Plätzchen zu backen, ein Bild zu malen. In diesem Alter verhindert das Tablet die „handgreifliche“ Auseinandersetzung mit der konkreten Umwelt. Nahezu gleichzeitig durchlebt das Kind eine Phase intensiver körperlicher Betätigung, endloses Seilspringen, halsbrecherische Kletterpartien – die Fähigkeiten des eigenen Körpers auszuprobieren, steht auf dem Programm. Dabei geht es auch darum, in sozialen Kontakt zu kommen, das miteinander Spielen durch gemeinsam vereinbarte Regeln zu gestalten. Auch hierbei ist ein Tablet sinnlos. Mit dem Tablet zu spielen bzw. zu lernen, bedeutet im Wesentlichen, immer nur ein und dasselbe in den Händen zu halten und Programmen zu folgen, die Erwachsene ausgedacht haben. „Lernen im Netz“ im wahrsten Sinne des Wortes.10
Christine Bär, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Erziehungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen, 8 Wilfried Richert: Tablets sind überflüssig. In: Erziehung & Wissenschaft. 72 (2020), Heft 2. S. 42/43. 9 Ebd., S. 43. 10 Ebd.
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kritisiert ebenfalls den „euphemistischen Grundjargon“11 vieler Befürworter eines frühen Einsatzes digitaler Medien – schon in Kitas und Grundschulen. Dieser lasse „die Basis des Lebens und Lernens, die Kinder durch soziale Beziehungen und feste Bezugspersonen vermittelt bekommen“12, außer Acht. Bär mahnt: Von vielfältigen Forschungen der Neurobiologie wissen wir, dass die kognitive Funktionsreifung des Gehirns durch die frühe Nutzung digitaler Medien in Schule und Freizeit in Gefahr ist. Eine vertiefte Lese- und Schreibfähigkeit kann sich durch das flüchtige Wischen und Springen auf Tablet oder Smartphone nicht bilden. Zudem ist die Hemmung der Sprachentwicklung in Kitas und Schulen allgegenwärtig. Immer mehr Kinder haben bereits im Kita- und Grundschulalter mit ADHS und schweren emotionalen Störungen zu kämpfen. Einer Vielzahl ist es kaum möglich, notwendige Schreib- und Lesekompetenzen zu erwerben, geschweige denn abstrakteres Denken und Schriftsprachenkompetenz. Die wichtigen emotionalen Grundlagen wie Triebaufschub, Impulskontrolle und Solidarität lassen sich in der Grundschule und Kita nur durch Beziehungsarbeit und soziales Miteinander erwerben. […] Insbesondere im Kita- und Grundschulalter gilt es zu verhindern, dass wertvolle Beziehungsarbeit durch digitale Medien ersetzt wird und die Kinder kognitiver und emotionaler Grundlagen beraubt werden.13
Der Eindruck, dass es hauptsächlich darum geht, möglichst viele von diesen neuen Geräten zu verkaufen, verstärkt sich, wenn man sich den so genannten „Digitalpakt“ genauer ansieht, mit dem die Bundesregierung seit 2019 die Digitalisierung an den allgemeinbildenden Schulen fördern will. 5 Milliarden Euro wurden hierfür bereitgestellt, diese sind aber eben „nur für die technische Ausstattung gedacht, die Kosten für Wartung, Support und Fortbildung der Lehrkräfte sind darin nicht eingerechnet“14. Weil 11 Christine Bär: Euphemistischer Jargon. In: Erziehung & Wissenschaft. 72 (2020), Heft 3. S. 44. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Verena Kern: Ein bürokratisches Monster. In: Erziehung & Wissenschaft. 72 (2020), Heft 1. S. 42.
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das Antragsverfahren aber von vielen Schulen als ein „bürokratisches Monster“15 erlebt wird, verläuft die Implementierung dieses Digitalpakts äußerst schleppend: Bislang ist erst ein geringer Teil der 5 Mrd. Euro abgerufen worden. Und gleichzeitig wird gewarnt: Allein die Einführung neuer Geräte ist „kein Ersatz für gute Pädagogik“16. Das für Schule zuständige GEW-Vorstandsmitglied Ilka Hoffmann weist in Erziehung & Wissenschaft darauf hin, dass „digitale Medien nur dann zu einem pädagogischen Mehrwert [führen], wenn sie sinnvoll in ein gutes Unterrichtskonzept mit dem Primat der Pädagogik eingebunden“ sind. Technologie sei „kein Ersatz für gute Lehrkräfte“, zugleich warnt Hoffmann vor einer „Hegemonie internationaler Konzerne an Schulen“17. Damit ist auch gleich ein weiterer wunder Punkt der Digitalisierung in Schule und Bildung angesprochen. Denn es geht dabei nicht nur darum, dass die Digitalkonzerne, die sich bekanntermaßen dadurch auszeichnen, dass sie es verstehen, sich ihrer Steuerzahlungspflicht weitgehend zu entziehen, durch den Verkauf der Geräte riesige Profite einheimsen. Es geht auch um den Datenschutz: Einzelne Datenschutzbeauftragte der Länder haben Schulen bereits vor der Nutzung von Cloud-Angeboten wie von Microsoft Office, aber auch Apple- und Google-Cloud gewarnt. Denn wenn persönliche Daten der Schülerinnen und Schüler auf Konzernserver in die USA gehen, kann keiner kontrollieren, ob der Datenschutz beachtet wird.18
Und ein weiterer wichtiger Aspekt muss erwähnt werden, der von den Protagonisten der Digitalisierung ganz unterschlagen wird: das Problem der Strahlenbelastung. Unter der Überschrift Zwangs15 Ebd. 16 Toralf Hieb, Schulleiter der Goethe-Schule in Schleiz, zitiert nach Heitkamp: Einfach machen (wie Anm. 4). S. 6. 17 Ilka Hoffmann, zitiert nach ebd., S. 7. 18 Roman Pusep: Juristisch auf dünnem Eis. In: Erziehung & Wissenschaft. 71 (2019), Heft 12. S. 10.
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bestrahlung von Kindern schreiben Thomas und Janin Warmbold in einem Brief an Erziehung & Wissenschaft: Eine weitere Herausforderung sind die WLAN-Router, Tablets und Co., die dauerhaft strahlen. Dabei gibt es Studien, die Hinweise auf eine schädliche Wirkung der hochfrequenten elektromagnetischen Felder (EMF) geben. Diese Studien legen einen Einfluss der EMF auf die Gehirnfunktionen nahe, was negative Auswirkungen auf das Lernen, die Aufmerksamkeit und das Verhalten hat. In den Schulen wird spätestens mit dem Digitalpakt eine Zwangsbestrahlung für die Kinder und uns Kollegen eingeführt. […] Bei all den Bedenken müsste das Vorsorgeprinzip der Europäischen Union greifen (Art. 191), doch die zuständigen Politiker und Behörden verweisen auf die Einhaltung der Grenzwerte, die allerdings nur auf die thermischen, nicht aber auf die biologischen Auswirkungen ausgelegt sind.19
Was durch die Digitalisierung verloren geht Die Digitalisierung wird oft so dargestellt, dass sie als notwendig erscheint, als geradezu übermächtige Erscheinung, der sich niemand mehr entziehen kann. Dennoch lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen, was Digitalisierung alles nicht kann bzw. was verloren geht, wenn wir uns ihr so ausliefern, wie es ihre Propagandisten offensichtlich wünschen. Ich möchte dies im Bildungsbereich an zwei Beispielen deutlich machen: am Kopfrechnen und am Erlernen einer Fremdsprache. Am Beispiel des Kopfrechnens kann man zunächst sehen, dass das Thema Digitalisierung uns schon lange beschäftigt. Mit dem Aufkommen des Taschenrechners und seiner Einführung in den Schulunterricht in den Achtzigerjahren war zugleich die Frage verbunden, wie dieser Vorgang die grundlegende Kulturtechnik des Kopfrechnens verändern würde. Viele befürchteten, dass die Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen, eine einfache mathe19 Thomas und Janin Warmbold: Zwangsbestrahlung von Kindern. In: Erziehung & Wissenschaft. 72 (2020), Heft 3. S. 44.
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matische Operation im Kopf auszuführen, zum Beispiel auszurechnen, was 13 × 8 ist, darunter leiden würden. Zu beobachten war dann aber eine Entwicklung in zwei Richtungen: Einerseits gab es in der Tat mehr und mehr junge Menschen, die bei jeder, auch der einfachsten Rechenaufgabe den Taschenrechner zückten und sich das Ergebnis von der Maschine nennen ließen. Es gab aber auch andere, vor allem unter den intelligenteren Schülerinnen und Schülern, die an sich selbst höhere Ansprüche stellten und die den Wettbewerb mit dem Taschenrechner aufnahmen: Sie wollten das Ergebnis „104“ schneller nennen können als diejenigen, die die Aufgabe eingetippt hatten, und kultivierten so ihre Rechenfertigkeiten. Neuere Studien belegen genau diese zwiespältige Auswirkung der ersten Einführung eines digitalen Geräts in den Unterricht: Eine Studie der Pädagogischen Hochschule Weingarten, veröffentlicht 2017 in der Schriftenreihe Beiträge zum Mathematikunterricht, kommt zum Ergebnis, dass sich „die Annahme, die in der Grundschule erworbenen Fähigkeiten im Kopfrechnen [… würden] im Verlauf der Sekundarstufe […] so sehr vernachlässigt, dass sie schwinden“, als falsch herausgestellt habe. Und sie konstatiert: „Im Beispiel des Addierens […] sind die Leistungen im Kopfrechnen je Schulart im Vergleich zwischen den beiden Klassenstufen 5 und 7 nie zurückgegangen, in der Regel sogar deutlich gestiegen.“20 Nun muss man allerdings darauf hinweisen, dass diese Studie nur eine begrenzte Aussagekraft hat, weil in den meisten deutschen Schulen der Taschenrechner frühestens ab Klasse 7, in manchen sogar erst ab Klasse 9 benutzt werden darf. Deshalb ist wohl die Tatsache aussagekräftiger, dass viele Hochschulen in Deutschland die mangelnden mathematischen Fähigkeiten der Studienanfängerinnen und -anfänger beklagen. Laut einem Bericht der Zeit vom 13. Januar 2014 hat Professor Bernhard Ströbel von der Hochschule Darmstadt „die gleiche Erfahrung gemacht“ wie viele seiner Kollegen: „Erstsemestern fehlt das Basiswissen in Ma20 Markus Wehrle: Kopfrechnen in der Sekundarstufe: Erste Ergebnisse einer aktuellen Studie. In: Beiträge zum Mathematikunterricht 2017. Bd. 3. Hg. U. Kortenkamp/A. Kuzle. Münster 2018. S. 1029–1032.
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thematik. Dabei geht es nicht nur um Lücken aus der Oberstufe, sondern schon um Mittelstufenstoff.“21 In den MINT-Fächern, so der Artikel weiter, gebe es eine hohe Abbrecher- und Durchfallquote: „Günter Törner, Mathematik-Professor an der Universität Duisburg-Essen, hat 2012 ausgerechnet, dass nur 20 Prozent der für Mathematik Immatrikulierten ihr Studium abschließen.“22 Auch Professorin Astrid Baumann, die Mathematik für Bauingenieure an der FH Frankfurt unterrichtet, konstatiert einen „Mathe-Notstand in den Ingenieurfächern“: Sie beklagt den zu frühen und häufigen Einsatz des Taschenrechners, durch den die Fähigkeit zum Kopfrechnen schwinde. […] Ihr Rat: Regelmäßiges Üben zur rechten Zeit sei in der Mathematik so wichtig wie in der Musik. „Das sind Kulturtechniken, die zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr im Zeitraffer erlernt werden können.“23
Diesen Schwierigkeiten versuchen Universitäten und Fachhochschulen bundesweit zu begegnen. Dafür wird ein hoher und kostspieliger Aufwand getrieben. Zum Beispiel wird das MINT-Kolleg Baden-Württemberg von Bund und Land mit rund 9 Mio. Euro gefördert. Seine Leiterin Claudia Goll sagt: „Wir müssen einem sehr großen Fachkräftemangel begegnen. Wir sind darauf angewiesen, möglichst viele Interessenten zum Studienerfolg zu führen.“24 Und im Auftrag der Stiftung Rechnen, der Gesellschaft für Sozialforschung forsa und zweier Universitäten „wurden erwachsene Deutsche hinsichtlich ihrer mathematischen Kompetenz in Alltagssituationen getestet“. Die Ergebnisse dieses Tests zeigten „deutliche Defizite der Deutschen beim Rechnen im Alltag“25. Betrachtet man genauer, was beim Rechnen mit dem Taschenrechner im Unterschied zum Kopfrechnen geschieht, so sieht man, dass das Ausrechnen nicht ganz elementarer Aufgaben im Kopf, 21 Astrid Ludwig: Vor dem Studium zur Mathenachhilfe. In: Die Zeit vom 13. Januar 2014. 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Ebd. 25 Christoph Drösser: Deutschland braucht Nachhilfe in Mathe. In: Die Zeit vom 29. Mai 2013.
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ich komme hier auf mein Beispiel „13 × 8“ zurück, eigentlich eine Übertragung der in der Grundschule erlernten Fähigkeit zum Rechnen ist. Denn wenn man 13 × 8 im Kopf rechnet, rechnet man in der Regel zunächst 10 × 8 = 80 und dann 3 × 8 = 24. Diese beiden Zwischenergebnisse addiert man im Kopf und erhält 80 + 24 = 104. Hier bestätigt sich die schon von dem Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget gefundene Erkenntnis, dass die intuitive, bildhafte Intelligenz die Voraussetzung für die analytische ist. Wichtig in unserem Zusammenhang ist vor allem, dass bei dem Kind, das nicht im Kopfrechnen geübt ist, sondern den Rechner verwendet, überhaupt kein mathematischer Vorgang mehr im Kopf stattfindet: Das Kind lernt nicht rechnen, sondern tippen, die Fähigkeit zum Kopfrechnen verkümmert bzw. wird gar nicht erst entwickelt und eingeübt. Das hat auch zur Folge, dass der oder die Lernende gar nicht mehr intuitiv abschätzen kann, ob das digital errechnete Ergebnis überhaupt plausibel ist. Das alles zusammen legt den Schluss nahe, dass der Taschenrechner tatsächlich negative Auswirkungen auf das Kopfrechnen hatte und hat. Ich selbst kann dies aus den Erfahrungen meiner beruflichen Praxis bestätigen. Und wir sehen: Das, was hier durch die Digitalisierung verloren geht, führt nicht nur dazu, dass junge Menschen gelegentlich steif und fest glauben, 13 × 8 sei nicht 104, sondern 117 (weil sie nämlich versehentlich 13 × 9 eingetippt haben), und dass immer weniger Menschen in der Lage sind, im Kopf einfache Überschlagsrechnungen auszuführen. Es produziert am Ende auch hohe gesellschaftliche Kosten. Als Konsequenz aus alledem empfiehlt der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer: Wer möchte, dass aus seinen Kindern Mathematiker oder Spezialisten für Informationstechnik werden, der sorge für Fingerspiele statt für Laptops in den Kindergärten. Und wer die Schriftsprache ernst nimmt, der sollte eher für Bleistifte als für Tastaturen plädieren.26
26 Manfred Spitzer: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München 2012. S. 203.
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Mein zweites Beispiel betrifft das Erlernen einer Fremdsprache. Wir alle kennen inzwischen die Apps mit den hilfreichen Übersetzungsprogrammen von Google oder anderen großen Internetkonzernen. Die meisten von uns werden solche – wie auch ich selbst – auf unseren Smartphones gespeichert haben. Mit ihnen können wir jederzeit nachschlagen, was ein bestimmtes Wort auf Dänisch, Suaheli oder Chinesisch heißt. Das ist aber noch längst nicht alles, denn die Entwicklung geht inzwischen über die Übersetzung einzelner Worte weit hinaus. Zum Beispiel berichtete Die Zeit am 25. Juni 2020 vom gegenwärtigen Stand der Digitalisierung im Bereich der Sprachen. Ich zitiere: Die Technik […] macht gerade große Schritte hin zu einem fantastischen Gerät aus der Welt der Science-Fiction: dem universellen Dolmetscher. […] 2020 ist die Menschheit tatsächlich auf dem Weg, die Sprachgrenzen zu überwinden: Spracherkennung macht aus Gesprochenem augenblicklich Geschriebenes, Übersetzungsprogramme dolmetschen, und die Sprachsynthese verwandelt Buchstaben zurück in Laute – so werden Maschinen zu Souffleusen. […] Ein Menschheitstraum nähert sich seiner Erfüllung: müheloses Verstehen über alle Sprachgrenzen hinweg.27
Angesichts dieser Entwicklung erhebt sich in der Tat die Frage, ob es in Zukunft noch sinnvoll sein wird, sich der Mühe zu unterziehen, eine Fremdsprache zu erlernen, wenn die Maschine dies doch viel schneller und vielleicht sogar besser können wird. Die Autorin und der Autor des Zeit-Artikels, Stefanie Kara und Stefan Schmitt, warnen aber davor, eine solche Konsequenz zu ziehen, und gehen der Frage nach, „was verloren geht, wenn wir Kommunikation in fremden Sprachen mithilfe von Apparaten erledigen“28. Es sei nicht nur so, dass in der Corona-Zeit viele Menschen angefangen hätten, sich eine neue Fremdsprache anzueignen, und dass es „vielen Menschen Freude [macht], neue Wörter, fremde
27 Stefanie Kara/Stefan Schmitt: Damit wir uns richtig verstehen. In: Die Zeit vom 25. Juni 2020. S. 27. 28 Ebd.
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Klänge und ungewohnte Ausdrucksweisen zu erlernen“29. Darüber hinaus führe der Erwerb einer Fremdsprache auch zu einer verbesserten Hirnleistung, die die Maschine gerade verhindere. Der Psycholinguist Scott Schroeder komme zu dem Ergebnis: Zweisprachige Kinder können sich tatsächlich besser in andere hineinversetzen. Sie haben einen Vorteil bei dem, was die Wissenschaftler „Theory of mind“ nennen – also bei der Vorstellung davon, was in den Köpfen anderer vor sich geht. [… Es handelt sich um] die Erkenntnis, dass es nicht nur eine Ausdrucksweise gibt und nicht nur einen Blick auf die Dinge. „Meine Sprachen bewahren mich vor der Selbstgefälligkeit, zu denken, meine Weltanschauung sei die einzige und unfehlbar“, sagt die Linguistin Aneta Pavlenko. „Sie helfen mir, den Grenzen meiner eigenen Welt zu entkommen.“30
Deshalb könne Zwei- oder Mehrsprachigkeit eine große Bereicherung sein. Und ein weiterer positiver Effekt wird genannt: Mehrsprachigkeit trage dazu bei, den kognitiven Abbau im Alter teilweise aufzuwiegen.31 Kein Computer kann diese Vorteile des analogen Sprachenlernens bieten. Deshalb ziehen die Zeit-Autoren das Fazit: „Übersetzungstechnik mag demnächst für weltweite Verständigung sorgen – doch Verständnis wecken für die Welt und für andere Menschen, das kann nur eine echte Kulturtechnik. Das Eintauchen in eine fremde Sprache.“32 Digitalisierung von Schule und Bildung in Corona-Zeiten Der plötzliche und massive Einbruch der Corona-Pandemie ab März 2020 war, wie schon erwähnt, die Probe aufs Exempel für die Qualität des deutschen Schul- und Bildungssystems. Und das winzige Virus legte seine Mängel schonungslos offen. Überdeutlich wurde die soziale Ungerechtigkeit, der die Schulen und Lehrkräfte nur bedingt entgegenwirken können, wenn 29 30 31 32
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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sie in dieser Hinsicht zu wenig politische Unterstützung erfahren. Mit der bundesweiten Schließung der Schulen am 16. März sollte von heute auf morgen digitaler Unterricht im Homeschooling eingeführt werden. „Es geht auch so“, verlautete nun von den Befürwortern einer schnellen Digitalisierung. In der Praxis zeigte sich aber, dass viele Schülerinnen und Schüler zu Hause keinen Computer oder Laptop hatten. Manche mussten ihre Arbeitsblätter auf dem kleinen Handy-Bildschirm abrufen, konnten sie aber nicht ausdrucken, um sinnvoll mit ihnen zu arbeiten. Hinzu kamen Probleme innerhalb der Familien, wenn nur ein Computer vorhanden war und sich die Eltern, die zur gleichen Zeit im Homeoffice arbeiteten, und mehrere Geschwister diesen teilen mussten. Eine Kollegin aus dem GEW-Bezirksverband Südhessen beschreibt die praktischen Probleme dieser Zeit sehr anschaulich: Eltern sehen alles sehr unkritisch zur Zeit. Und wir haben gerade in meiner Grundschule große Probleme, uns gegen Eltern abzugrenzen, die massiv Videokonferenzen, Lernvideos oder generell digitalen Unterricht fordern. Wir haben uns bewusst als Kollegium dagegen entschieden, da wir viele Kinder haben, die diese digitalen Möglichkeiten nicht haben und die Schere zwischen den Kindern, die eh schon durch die Situation immer weiter auseinander geht, nur noch weiter wird. Unser Grundverständnis unseres Berufes ist es, nicht nur privilegierte Kids zu bilden, sondern alle! Deshalb telefonieren wir und fahren auch persönlich bei den Kids vorbei. Es sind [Grundschul-]Kids und keine Abiturienten. Alle sollen auch in schwierigen Zeiten die Chance haben, etwas zu lernen und nicht nur die, die einen Drucker, einen Laptop und Eltern, die das dann noch alles für sie managen, haben.33
Wenn wir den Blick auf das richten, was in dieser Zeit des digitalen Unterrichtens tatsächlich gut war, sehen wir, dass zum Beispiel ein Kollege an der Heinrich-Emmanuel-Merck-Schule in Darmstadt die „Verknüpfung einer elektronischen Lernplattform 33 Christine Dietz/Michael Köditz/Manon Tuckfeld: GEW-Bezirksverband Südhessen. Rundschreiben Nr. 2. Mischt Euch ein! vom 5. Mai 2020, https://gew-suedhessen.de/home/ details/rundbrief-2, abgerufen am 6. September 2020.
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mit einem Video-Konferenz-System“34 lobt, aber auch dieser Lehrer hält die Präsenz vor Ort „weiterhin für unverzichtbar“35. Noch deutlicher werden die Vorteile digitalen Unterrichtens in der Google-Heftreihe Aufbruch herausgestellt. Dort berichtet eine Kollegin, die an der August-Dicke-Schule, einem Gymnasium in Solingen, unterrichtet und in dieser Broschüre als Angehörige einer „fortschrittlichen Minderheit“ gelobt wird, sie habe ihre „Klassen online zum Abitur geführt“36. Ganz nebenbei werden dann die Vorteile der Lernplattform Google Classroom gepriesen, einer Anwendung, „in der Lehrkräfte ihren Schülern Aufgaben zuweisen können“37. Weiter heißt es: Die virtuelle Schule, die an der ADS in kürzester Zeit ihre Pforten öffnete, ähnelt in mancherlei Hinsicht der echten. Auf der ClassroomPlattform richten Lehrkräfte ihre Kurse ein, aber auch Bereiche, zu denen die Kinder keinen Zutritt haben – zum Beispiel ein Lehrerzimmer, in dem sich das Kollegium über die Erfahrungen mit dem digitalen Unterricht austauscht. Die Schüler wiederum nutzen für jedes Fach einen eigenen Bereich, in dem die jeweilige Lehrkraft Aufgaben einstellt und korrigiert, aber auch Erklärungen postet und Fragen beantwortet.38
Auch wenn dieses von Google propagierte Beispiel zeigt, was als digitaler Unterricht möglich ist, finden sich insgesamt nur sehr wenige Stimmen, die das Positive hervorheben. In einer Zwischenbilanz erläutern Landeselternbeirat, Landesschülervertretung und die GEW Hessen ihre Erfahrungen aus dem digitalen Lernen in der Corona-Krise: Innerhalb kürzester Zeit wurden angesichts dieser unvorhergesehenen Notlage allerorten Wege gesucht und gefunden, das Lernen zu Hause bestmöglich zu gestalten. Dabei konnte man mitunter auf 34 Thomas Wolff: Corona-Krise als Chance: Raus aus der Schule! In: Darmstädter Echo vom 15. Mai 2020. S. 10. 35 Ebd. 36 Max Brunnert: Per Videokonferenz zum Abitur. In: Aufbruch. Heft 20. o. J. S. 5. 37 Ebd. 38 Ebd.
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bereits vorhandene Ansätze zum Einsatz digitaler Medien zurückgreifen, zumeist musste aber auf die Schnelle improvisiert werden. Die Verzögerungen und Unzulänglichkeiten bei der Umsetzung des Digitalpakts kamen so leider besonders zum Tragen. Dennoch haben diese drei Wochen [gemeint ist der Zeitraum vom 16. März bis 4. April 2020, W. R.] sehr deutlich gezeigt: Digitale Medien können einen wichtigen Beitrag zum erfolgreichen Lernen leisten. Genauso deutlich hat sich aber auch gezeigt, dass noch so gut gemachte digitale Angebote das Lernen im Kontext der Schule keinesfalls ersetzen können. Die unmittelbare Interaktion, das Lernen von den Mitschülerinnen und Mitschülern und nicht zuletzt auch das soziale Miteinander in der Schule lassen sich nicht ersetzen.39
Genau dieses Fehlen des sozialen Miteinanders wurde in vielen Umfragen als wichtigster Mangel in der Zeit der Schulschließungen kritisiert. In einem Interview der Zeit mit vier Schülerinnen und Schülern über ihre Erfahrungen beim Homeschooling während der Corona-Krise wurden diese gefragt, was sie dabei am meisten vermisst hätten. Die Antwort war einhellig: „Die Lehrer! Und die Pausen mit den anderen.“40 Aber auch das Lernen selbst gelingt online nicht so gut wie erhofft. In einer Mathearbeit wollte die Lehrerin prüfen, wie weit die Schüler beim Alleinarbeiten zu Hause gekommen sind. Ergebnis: Der Klassenbeste hatte 30 Prozent – das entspricht der Note „mangelhaft“.41 Und der Medienpädagoge Peter Holnick weist darauf hin, dass Online-Unterricht hilfreich bei der „reinen Wissensvermittlung“ sein könne, dass die Menschen aber „vor allem im Handeln und in der Bewegung“ 42 lernen. Ein anderer Kollege, Murat Alpoguz, Gesamtschullehrer in Darmstadt-Kranichstein, zieht aus seinen Erfahrungen den folgenden Schluss: „Dass der Online-Unterricht daheim nach den 39 Lou-Marleen Appuhn/Paul Harder/Piet Henrik Pohlmann/Korhan Ekinci/Birgit Koch/ Maike Wiedwald: Gemeinsam für den Dialog. Erklärung von Landeselternbeirat, Landesschülervertretung und GEW. In: Hessische Lehrerzeitung. 73 (2020), Heft 5. S. 8. 40 Lisa Frieda Cossham/Elke Michel: Was sagt Ihr dazu, Kinder? In: Die Zeit vom 18. Juni 2020. S. 59/60. 41 Ebd. 42 Wolff: Corona-Krise als Chance (wie Anm. 34).
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Corona-Erfahrungen die Lernform der Zukunft sein wird, glaubt keiner der Fachleute.“43 Aber werfen wir nochmals einen Blick auf die Verhältnisse in Deutschland insgesamt. Es gibt in Deutschland 43.000 Schulen, darunter sind, wie Die Zeit am 19. März 2020 schreibt, „nicht besonders viele“, die früh mit der Digitalisierung angefangen haben: „Nur ein Viertel [der deutschen] Kinder und Jugendlichen besucht hierzulande eine Schule, in der Lehrer wie Schüler Zugang zu einem WLAN haben, international waren das 64 Prozent.“44 Vier Prozent der deutschen Achtklässler arbeiten täglich im Klassenraum mit dem Computer – „in Dänemark, weltweiter Spitzenreiter in Sachen Digitalisierung, waren es über neunzig Prozent“45. Die Schulschließung werde der Digitalisierung einen „großen Schub“ geben. Selbst die Digitalskeptiker unter den Lehrern interessierten sich plötzlich dafür. Und: Die Internetindustrie „nutzt die Gunst der Stunde“46. „Deutschland agiert auf dem Feld zu langsam und zu bürokratisch“, sagt die Pädagogikprofessorin Birgit Eickelmann.47 Die Föderalismusreform von 2006 nahm dem Bund jede Zuständigkeit – und verbaute den Weg, eine nationale Schul-Cloud aufzubauen. […] Hätte der Bund damals die digitale Infrastruktur der Schulen samt einer Cloud als gesamtgesellschaftliche Aufgabe definiert, wäre die Bundesrepublik heute wahrscheinlich der digitale Musterschüler Europas.48
Als 2016 ein neuer Anlauf genommen wurde, wollte man eine nationale Schul-Cloud schaffen, 40.000 Schulen sollten in einer einzigen Wolke fusionieren. Heute sind nur 250 Schulen angeschlossen, weil die Länder auf ihre Kulturhoheit pochen. Baden43 Ebd. 44 Christian Füller/Martin Spiewak: Digitale Hausaufgabe. In: Die Zeit vom 19. März 2020. S. 37. 45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd.
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Württemberg „boxte in dem von Corona ausgelösten Durcheinander ein umstrittenes Vorhaben durch“, das Land „gab die datenschutzrechtlich bedenkliche Cloud ‚O 365‘ von Microsoft frei. Dies verschaffte dem Goliath unter den Cloud-Anbietern Wettbewerbsvorteile.“49 Diese Entwicklung zeigt, dass die Kulturhoheit der Länder, eines der Kernstücke des bundesdeutschen föderalistischen Systems, an dieser Stelle eher hinderlich wirkt. Im September 2020 hat sich das noch einmal bestätigt, als ein „Bildungsgipfel“ von Bundeskanzlerin und Kultusministerinnen und -ministern der Länder mit dürftigen Ergebnissen endete, die von allen Akteuren im Bildungswesen als unzureichend kritisiert wurden. Zusammengefasst kann über die bisherige Entwicklung des deutschen Bildungssystems in der Corona-Zeit gesagt werden, 1. dass die soziale Ungerechtigkeit des Systems aufgrund ungleicher Verteilung digitaler Geräte noch verstärkt wurde, 2. dass das Lernen mit solchen Geräten nicht die großspurigen Ankündigungen ihrer Protagonisten erfüllte, 3. dass der Wert sozialer Kontakte der Schülerinnen und Schüler untereinander sehr deutlich wurde und 4. dass die Bildungspolitik von einer Lösung dieser Probleme noch weit entfernt ist. Die positiven Einzelinitiativen engagierter Lehrkräfte allein können daran nur wenig ändern. Fazit Wenn ich jetzt ein Fazit aus all dem Gesagten ziehe, möchte ich eines vorausschicken: Das deutsche Schulsystem ist meiner Meinung nach – allen Unkenrufen zum Trotz – eines der besten der Welt. Dies hat zwei Gründe: Erstens realisiert das System der dualen Ausbildung, also der gleichzeitigen Berufsausbildung in Betrieb und Berufsschule, eine weltweit vorbildliche Verbindung von 49 Ebd.
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Theorie und Praxis, die inzwischen von immer mehr anderen Ländern übernommen wird. Und zweitens wird in den deutschen Schulen seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr so viel Wert gelegt auf das bloße Pauken und Auswendiglernen von Fakten, Formeln und Vokabeln, sondern darauf, dass die Schülerinnen und Schüler das Gelernte kritisch durchdenken und sich über das Gelernte ein eigenes Urteil bilden. Vielleicht hat hier der berühmte Aufsatz Erziehung nach Auschwitz von Theodor W. Adorno seine Spuren hinterlassen, in dem er gefordert hatte, „dass Erziehung das Ziel habe, den Rückfall in die Barbarei des Holocaust zu verhindern“50. Jedenfalls ist das Ziel der schulischen Ausbildung, die Kinder und Jugendlichen zu kritischen und mündigen Staatsbürgerinnen und -bürgern zu erziehen, in den Schulgesetzen der Bundesländer, auch im Hessischen Schulgesetz, verankert.51 Als Ergebnis meines Beitrags möchte ich im Hinblick auf die Digitalisierung von Schule und Bildung formulieren: 1. Die Digitalisierung darf sich nicht auf die technische Ausstattung beschränken. Notwendig sind vielmehr angemessene pädagogische Konzepte, die den Lehrkräften helfen, den Einsatz der digitalen Geräte sinnvoll in die Unterrichtsarbeit einzubetten, und die das Denken-Lernen nicht behindern oder unterminieren. 2. Eine Einführung digitaler Medien in den Unterricht sollte frühestens ab einem Alter von ca. 14 Jahren, also zum Beispiel ab Klasse 7, erfolgen. 3. Die Digitalisierung darf nicht zum Einfallstor für die Partikularinteressen der großen IT-Konzerne werden. 4. Beim Einsatz digitaler Geräte muss der Datenschutz gewährleistet werden. Es muss verhindert werden, dass die anfallenden Daten auf den Servern der US-amerikanischen Großkonzerne landen. 5. Beim Einsatz digitaler Geräte muss der Schutz vor Strahlenkrankheit gewährleistet werden. 50 Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt a. M. 1971. S. 88. 51 Hessisches Schulgesetz (HSchG) vom 1. August 2017, § 2.
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6. Das vordringlichste Reformprojekt des deutschen Schul- und Bildungswesens ist nicht die Digitalisierung, sondern die Beseitigung der sozialen Ungerechtigkeit. Und es muss darauf hingewiesen werden, dass die Erhaltung einer guten Bausubstanz, zum Beispiel das Vorhandensein sauberer und menschenwürdiger Toiletten, in den Schulen mindestens genauso wichtig und finanzierungswürdig ist wie die Bereitstellung neuer Computer oder Laptops. Vor gut zehn Jahren veröffentlichte der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie eine viel beachtete Metastudie über die Frage, was für erfolgreiches Lernen in der Schule nötig ist. Sein Ergebnis: Auf die Lehrerin und den Lehrer kommt es an! Die stärksten Effekte hätten nicht unbedingt „kleine Klassen, jahrgangsgemischtes Lernen oder offener Unterricht“, sondern „Feedback, direkte Instruktionen […], konsequente Klassenführung und regelmäßige Leistungsüberprüfungen“52. Und ich ergänze aus eigener Sicht, dass auch Fachkompetenz, Respekt gegenüber den Lernenden und das Herstellen einer demokratischen, positiven Lernatmosphäre im Klassenraum dazu gehören. Wo das gegeben ist, findet guter Unterricht statt – unabhängig von den verwendeten Hilfsmitteln.
52 Barbara Kerbel: Auf den Lehrer kommt es an. In: Der Tagesspiegel vom 31. Juli 2013.
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Leibliche Kommunikation und Interaktion im Analogen und Digitalen
Mit der Corona-Pandemie verstärkt sich ein bereits vor Jahren in Bewegung gesetzter Trend: die Digitalisierung. Diese umfasst alle Lebensbereiche, betrifft insofern alle Altersklassen und Gesellschaftsschichten. Jedoch lässt sich vermuten, dass die Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, die sich noch in der Entwicklung befinden, besonders gravierend sein werden. Mit welchen Folgen der immer tiefer in unsere Lebenswirklichkeit eingreifenden Digitalisierung und Technisierung wir zu rechnen haben, ist aktuell noch weitgehend unabsehbar. Es handelt sich um ein gesamtgesellschaftliches, ja weltweites Experiment – ohne Kontrollbedingung. Der gern angeführte Vergleich mit den neuartigen Technologien früherer Zeiten, dem Buchdruck, dem Radio, dem Fernsehen, die ja häufig ebenfalls verschrien waren, die Jugend zu verderben, greift zu kurz: Damals handelte es sich um Technologien, die lediglich einen oder wenige Bereiche des Lebens veränderten. Die Digitalisierung jedoch dringt in jeden Bereich unseres Lebens ein, und das ist gewollt, sowohl von den entsprechenden Konzernen als auch von der Politik. Ein unkritischer Umgang erlaubt den digitalen Technologien ein unkontrolliertes Vordringen in Bildung, Erziehung, in den Alltag, in die Freizeit, in unser Zuhause, unseren Körper und unsere Beziehungen. Die Konsequenzen sind bisher größtenteils unbekannt. Einige Studien können jedoch Anhaltspunkte liefern, mit welchen Folgen wir rechnen sollten. Diese sind nicht ausschließlich positiv. Aus dem Bereich der Bildung, in dem die Digitalisierung von der Politik besonders gefördert wird, zeigen sich in Untersuchungen bereits unerfreuliche Zahlen und Sachlagen – einige 63
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Beispiele: Kinder, die Tablets in der Schule zur Verfügung haben, nutzen die Pause seltener, um nach draußen zu gehen, sich zu bewegen und miteinander zu spielen.1 Ein persönlicher Laptop in der Schule verschlechtert die Leistung in Mathematik bei Jugendlichen, insbesondere wenn sie in Haushalten mit niedrigem sozioökonomischem Status leben.2 Anstatt also, wie gehofft, Unterschiede zwischen gesellschaftlichen Schichten abzuschwächen, deutet diese Untersuchung auf eine Vergrößerung der Ungleichheit hin. Auch die Hoffnung, dass das digitale Lernen dem analogen Lernen gleichkommt und dass die im Digitalen erworbenen Kenntnisse sich problemlos in die analoge Welt übertragen ließen, scheint sich nicht zu bewahrheiten: Es findet beispielsweise lediglich ein geringer Transfer von digitaler Interaktion mit einem Baustein-Puzzle zur analogen Version statt.3 Die Leistung des Kurzzeitgedächtnisses ist besser für Inhalte, die in Form eines analogen Textes präsentiert werden, als bei Multimedia-Material.4 Doch zumindest die Nutzung der sozialen Medien sollte doch dazu führen, dass man leicht Anschluss findet, besser in Kontakt bleibt und sich daher weniger isoliert fühlt. Auch dies bewahrheitet sich nicht, das Gegenteil ist der Fall: Jugendliche verbringen heutzutage weniger Zeit offline miteinander, sind öfter depressiv und fühlen sich einsamer.5 Den letzten Punkt wollen wir näher untersuchen. Obwohl Jugendliche heutzutage sicherer leben, das heißt vor allem, weniger Un1 Vgl. Theresa Schilhab: Impact of iPads on break-time in primary schools—a Danish context. In: Oxford Review of Education. 43 (2017). S. 261–275. 2 Vgl. Caroline Hall/Martin Lundin/Kristina Sibbmark: A Laptop for Every Child? The Impact of ICT on Educational Outcomes. Uppsala 2019. 3 Vgl. Alecia Moser/Laura Zimmermann/Kelly Dickerson/Amanda Grenell/Rachel Barr/ Peter Gerhardstein: They can interact, but can they learn? Toddlers’ transfer learning from touchscreens and television. In: Journal of Experimental Child Psychology. 137 (2015). S. 137–155. 4 Vgl. Glenn-Egil Torgersen/Herner Sæverot: Multimedia vs. analogue text: learning outcome and the importance of short-term memory capacity. In: Arts and Social Sciences Journal. 7 (2016), Heft 5. DOI: 10.4172/2151-6200.1000224. 5 Vgl. Jean M. Twenge/Brian H. Spitzberg/W. Keith Campbell: Less in-person social interaction with peers among U.S. adolescents in the 21st century and links to loneliness. In: Journal of Social and Personal Relationships. 36 (2019). S. 1892–1913.
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Leibliche Kommunikation und Interaktion
fälle haben (da sie das Haus seltener verlassen), sind sie nachweislich unglücklicher. Hier hat also die neue Technologie nicht den Effekt einer Befreiung der Jugend, einer Erweiterung des jugendlichen Horizonts, wie im Falle von Buchdruck, Radio oder auch Fernsehen. Zwar eröffnen die digitalen Technologien Zugang zur gesamten Welt, doch schwächen sie die zwischenmenschlichen Beziehungen, reduzieren Interaktionen auf audiovisuelle Kanäle und verringern Möglichkeiten für sensorisch vermittelten Bezug zu anderen und zur Welt. Der Zusammenhang dieser beunruhigenden Entwicklung mit dem Einzug digitaler Medien in unseren Alltag lässt sich recht deutlich nachvollziehen: So zeigte sich in Umfragen zur Lebenswirklichkeit von Jugendlichen in Amerika, dass es einen deutlichen Einbruch auf verschiedenen Skalen gab, und zwar um das Jahr 2010 – dies entspricht genau dem Zeitpunkt, zu dem mehr als 50 % der Amerikaner ein Smartphone besaßen. Ab diesem Zeitpunkt nahm beispielsweise die Zustimmung zu den Statements „Treffe meine Freunde täglich“ und „Gehe mindestens einmal monatlich auf eine Party“ rapide ab. Was erklärt diese Zusammenhänge? Sicherlich handelt es sich um ein komplexes Zusammenspiel zahlreicher Faktoren. Doch einer, der wortwörtlich „auf der Hand liegt“, ist das Faktum, dass Digitalisierung zur Abnahme von Berührungen führt, und zwar von Berührungen in ihrer ganzen Bandbreite: aktiv und passiv, sozial und explorativ. Die taktile Interaktion mit der Welt wird – wenn man es extrem formulieren möchte – auf das Streicheln, Tippen und Wischen auf und über einen Bildschirm reduziert. Der Bildschirm wiederum ist eine glatte, uninteressante Oberfläche, die dem taktilen Sinn keinerlei anregende Erfahrung bieten kann. Um das Thema Berührung wird sich der Großteil des vorliegenden Essays drehen. Bevor wir uns diesem Fokus zuwenden, gehe ich kurz auf einige weitere Faktoren ein, die nahe mit der Thematik Berührung zusammenhängen und bei der Diskussion zu den Konsequenzen der Digitalisierung vor allem in Bezug auf die kindliche Entwicklung Beachtung finden sollten: die Naturerfahrung und die Möglichkeiten für freies und für riskantes Spiel. 65
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Naturerfahrung – Bei der Interaktion mit der Natur erleben Kinder eine Stimulation aller ihrer Sinne, sie interagieren mit anderen Lebewesen als mit den Mitmenschen und sind hierbei auf andere Kommunikations- und Interaktionsstrategien angewiesen. Weiterhin bietet das Spiel in der freien Natur unmittelbare und eindeutige Konsequenzen und erlaubt so den spielerischen Umgang mit Risiko (riskantes Spiel, s. u.). Hinzu kommt, dass Spiele in der Natur meist aktiver sind, die Bewegung und Beweglichkeit der Kinder fördert. So ist es nicht überraschend, dass Studien einen klaren Zusammenhang zwischen Naturerfahrung in der Kindheit und psychischer Gesundheit im Erwachsenenalter belegen. Eine Studie untersuchte die Häufigkeit psychischer Störungen im Erwachsenenalter im Zusammenhang mit der Menge an Grünfläche, die das Elternhaus während der Kindheit umgaben.6 Es zeigte sich ein deutlich höheres Risiko für eine psychiatrische Diagnose bei denjenigen, die in Nachbarschaften mit der geringsten Grünfläche aufwuchsen relativ zu denen mit der meisten Grünfläche: Das Risiko war um 55 % erhöht. Dieser Effekt war stabil, selbst wenn die Ergebnisse für die Zugehörigkeit zu einer sozioökonomischen Schicht korrigiert wurden. Zudem zeigte sich ein Dosierungs-Wirkungs-Effekt: Je mehr Zeit der Kindheit in einer grünen Nachbarschaft verbracht wurde, desto geringer das Risiko von psychischen Problemen im Erwachsenenalter. Freies Spiel – Beim freien Spiel kann ein Kind ganz den eigenen Impulsen folgen, wird in seiner Kreativität gefordert, aber auch in seiner Fähigkeit, mit Langeweile und Phasen geringer Stimulation umzugehen. Aus der Langeweile heraus kann ein Kind lernen, sich selbst zu beschäftigen, sich zu genügen und die eigenen Emotionen zu regulieren. Im Spiel mit digitalen Medien kommt eben dieser Moment der Langeweile, der entscheidend für die Entwicklung ist, nie auf. Digitale Medien fordern ständig 6 Kristine Engemann/Carsten Bøcker Pedersen/Lars Arge/Constantinos Tsirogiannis/ Preben Bo Mortensen/Jens-Christian Svenning: Residential green space in childhood is associated with lower risk of psychiatric disorders from adolescence into adulthood. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America. 116 (2019). S. 5188–5193.
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Input und bieten pausenlos Stimulation und Neuheit. Diese Überstimulation überfordert insbesondere kleine Kinder, die sich noch nicht innerlich abgrenzen können und deren Sinneskanäle für alle Erfahrungen offen sind. Doch da sie so fesselnd ist, kann das Kind sich nicht abwenden. Gleichzeitig aktiviert die digitale Unterhaltung lediglich den visuellen und den auditiven Sinn. So befindet sich das Kind in einem ständigen Spannungsfeld aus Überstimulation und Unterstimulation. Riskantes Spiel – In allen Kulturen zeigen Kinder riskantes Spielverhalten und ein Interesse an riskanten Aktivitäten und gefährlichen Gegenständen.7 Hierzu zählen beispielsweise das Spiel mit Feuer und scharfen Gegenständen, hoch zu klettern, schnell zu rennen oder Fahrrad zu fahren. Diese Affinität für ein gewisses Maß an Gefahr könnte ein evolutionsbiologischer Mechanismus sein, um den Umgang mit Risiken zu trainieren und sich selbst zu desensibilisieren. Wer spielerisch Risiken und Gefahren erkundet, der weiß diese besser einzuschätzen und ist gleichzeitig als Erwachsener nicht überängstlich. Doch um diesen Effekt zu erzielen, muss ein Risiko auch echte Konsequenzen haben. Nur wer sich tatsächlich blaue Flecken beim Fall von einem instabilen Ast holt, wird die Höhe respektieren. Wer auf weiche Matten fällt, wahrscheinlich nicht. Wer in einem Videospiel fällt, spürt nichts und hat womöglich noch weitere Leben oder startet einfach neu, so dass selbst gefährliche Risiken in der digitalen Spielwelt keinerlei Konsequenzen haben. Bei all diesen drei Thematiken – der Naturerfahrung, dem freien und dem riskanten Spiel – ist eines besonders wichtig: die ganzheitliche Stimulation aller Sinne, insbesondere die direkte, leiblich-sensorische Interaktion mit der Umwelt und den Mitmenschen. Wie notwendig der Berührungssinn für den Menschen ist, lässt sich leicht daran verdeutlichen, dass Babys blind oder taub geboren werden können, doch nie ohne Berührungssinn – dieser 7 Vgl. z. B. Ellen Beate Hansen Sandseter/Leif Edward Ottesen Kennair: Children’s risky play from an evolutionary perspective: the anti-phobic effects of thrilling experiences. In: Evolutionary Psychology. 9 (2011). S. 257–284.
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ist so essenziell, dass sich ein Embryo ohne diesen Sinn nicht entwickeln würde. Der Berührungssinn ist auch der Sinn, der sich als erster ausbildet. Noch bevor wir sehen oder hören können, ja schon in der 14. Schwangerschaftswoche berühren sich Embryonen gezielt selbst und berühren die sie umgebende Wand des Uterus. Zwillinge berühren sich sogar gegenseitig im Mutterleib.8 Mit Hilfe des Berührungssinnes lernen Menschen von klein auf einerseits sich selbst, den eigenen Körper und dessen Grenzen kennen, und andererseits erschaffen Berührungen vom Beginn des Lebens an das Verständnis, dass eine Welt außerhalb von diesem Selbst existiert, angefüllt mit Dingen und mit anderen Lebewesen – welche uns wiederum berühren. Nach der Geburt interagieren Babys mit Eltern und Bezugspersonen zuallererst durch Berührung. Der Seh- und Hörsinn sind noch nicht voll entwickelt, doch der Berührungssinn gibt dem Neugeborenen das Gefühl von Sicherheit: Jemand ist da, ich bin nicht allein, jemand passt auf mich auf. Wenn die Eltern oder Pflegepersonen das Baby liebevoll berühren, lernt das Baby dabei, wo sich die Grenzen seines eigenen Körpers befinden – und entwickelt so eine erste Form der Selbstwahrnehmung, nämlich die des Körper-Selbst. Wie wichtig der frühe Körperkontakt für Babys ist, konnte in zahlreichen Studien belegt werden. Beispielsweise konnten Forscher zeigen, dass Frühchen, die die so genannte Känguru-Pflege erhalten hatten, also von den Eltern und vom Pflegepersonal täglich einige Stunden am Körper getragen werden, ihre Körpertemperatur besser regulieren konnten.9 Auch Herz- und Atemfrequenz waren einheitlicher und ruhiger. Doch es blieb nicht bei diesen akuten physiologischen Konsequenzen: Nach 10 Jahren zeigte sich, dass die Kinder der Kontakt-Gruppe sich selbst besser beruhigen konnten, besser schliefen und über bessere kognitive 8 Vgl. Umberto Castiello/Cristina Becchio/Stefania Zoia/Cristian Nelini/Luisa Sartori/ Laura Blason/Giuseppina D’Ottavio/Maria Bulgheroni/Vittorio Gallese: Wired to be social: the ontogeny of human interaction. In: PLoS ONE. 5 (2010). e13199. 9 Ruth Feldman/Zehava Rosenthal/Arthur I. Eidelman: Maternal-preterm skin-to-skin contact enhances child physiologic organization and cognitive control across the first 10 years of life. In: Biological Psychiatry. 75 (2014). S. 56–64.
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Fähigkeiten verfügten als eine Vergleichsgruppe, die nicht am Känguru-Programm teilgenommen hatte. Weitere Studien zeigen, dass sich körperliche Nähe positiv auf die Beziehung zwischen Bezugsperson und Kind auswirkt, die Bindung stärkt und dadurch einen weitreichenden Einfluss auf das emotionale Wohlergehen des Kindes und auch der Eltern hat.10 Zwischenmenschliche Berührung ist demnach zwingend notwendig für die normale Entwicklung des leiblichen Selbst, des Verständnisses für andere und der sozialen Fähigkeiten in der frühen Kindheit. Mangelhafte oder veränderte Berührungserfahrungen hingegen führen vermutlich zu Störungen des Selbst und der sozialen Kompetenzen, wie zum Beispiel bekannt bei Autismus, Anorexie und Schizophrenie. Da Berührung so primär, so grundlegend ist, benötigen wir ein besseres Verständnis und eine größere Wertschätzung der sozialen Berührung. Bei einer positiven zwischenmenschlichen Berührung werden im Gehirn Bereiche aktiv, die mit der Verarbeitung von taktilen Reizen in Verbindung gebracht werden, und zwar handelt es sich hierbei vor allem um den somatosensorischen Kortex. Allerdings werden zusätzlich auch Gehirnareale aktiviert, die für das Spüren des eigenen Körpers zuständig sind (Insula) sowie für das Einfühlungsvermögen (temporoparietale Junktion). Interessanterweise zeigen sich die Aktivierungen der Insula und der temporoparietalen Junktion nur bei typisch sozialen Berührungen wie einem langsamen Streicheln, nicht jedoch bei taktilen Reizen, die durch das Ertasten von Oberflächen erzeugt werden.11 Bei der Selbstberührung hingegen zeigt sich ein völlig anderes Aktivitätsmuster: Der Motorkortex, der die streichelnde Hand steuert, ist aktiv.12 All 10 Bahia Abdallah/Lina Kurdahi Badr/Mirvat Hawwari: The efficacy of massage on short and long term outcomes in preterm infants. In: Infant Behavior and Development. 36 (2013). S. 662–669. 11 Vgl. Malin Björnsdotter/Line Löken/Håkan Olausson/Åke Vallbo/Johan Wessberg: Somatotopic organization of gentle touch processing in the posterior insular cortex. In: The Journal of Neuroscience. 29 (2009). S. 9314–9320. 12 Vgl. Rebecca Boehme/Steven Hauser/Gregory J. Gerling/Markus Heilig/Håkan Olausson: Distinction of self-produced touch and social touch at cortical and spinal cord levels. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America. 116 (2019). DOI:10.1073/pnas.1816278116.
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die Regionen, die jedoch bei der Berührung durch andere aktiviert wurden, zeigen nun eine Deaktivierung. Dies lässt sich leicht erklären: Das Gehirn sagt vorher, wie sich die Selbst-Berührung anfühlen wird, und schwächt die Wahrnehmung des selbsterzeugten Berührungsreizes ab. Dieser Mechanismus der Abschwächung selbsterzeugter Reize ist bereits bekannt aus der Forschung am visuellen und auditiven Sinn und wurde schon 1867 von Helmholtz beschrieben.13 Die liebevolle, zwischenmenschliche Berührung hat weitreichende Konsequenzen, auch bei Erwachsenen. Physiologisch messbar ist beispielsweise, dass Blutdruck, Herz- und Atemfrequenz sinken14, weniger Stresshormone im Blut unterwegs sind15, dafür aber mehr Oxytocin. Bei Oxytocin handelt es sich um ein Hormon, das vor allem in der zwischenmenschlichen Bindung eine wichtige Rolle spielt. Seine Ausschüttung stärkt partnerschaftliche und Eltern-Kind-Bindungen, aber verstärkt auch das Gefühl von Nähe und Verbundenheit in Freundschaften und anderen familiären Beziehungen. Neben der Selbsterfahrung durch Berührung ist auch die Welterfahrung durch Berührung essenziell, sowohl für die kindliche Entwicklung als auch für das psychische und physische Wohlergehen in jedem Alter. Diese beiden Aspekte, die Selbsterfahrung und die Welterfahrung, hängen immer miteinander zusammen: Wenn ich berühre, spüre ich die Welt und meine Mitmenschen – gleichzeitig spüre ich auch immer mich selbst und meinen eigenen Körper. Wir brauchen sensorische Erfahrungen, um zu verstehen, wie die Welt funktioniert, und um komplexe Konzepte in unser Denken zu integrieren. Hierzu tragen alle Sinne bei, und alle sind wichtig, da sie uns unterschiedliche Aspekte der Welt erfahren lassen, die erst gemeinsam ein Gesamtverständnis hervorrufen 13 Hermann von Helmholtz: Handbuch der physiologischen Optik. Leipzig 1867. S. 598–622. 14 Vgl. Karen M. Grewen/Bobby J. Anderson/Susan S. Girdler/Kathleen C. Light: Warm partner contact is related to lower cardiovascular reactivity. In: Behavioral Medicine. 29 (2003). S. 123–130. 15 Vgl. Beate Ditzen/Inga D. Neumann/Guy Bodenmann/Bernadette von Dawans/Rebecca A. Turner/Ulrike Ehlert/Markus Heinrichs: Effects of different kinds of couple interaction on cortisol and heart rate responses to stress in women. In: Psychoneuroendocrinology. 32 (2007). S. 565–574.
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können. Der Berührungssinn vermittelt andere Informationen als die Fernsinne (Sehen/Hören), zum Beispiel über das Gewicht und die Dreidimensionalität einer Form, über deren Härte und Weiche. Eine spannende Mischform von Selbst- und Welt-Erleben ist der so genannte peripersonale Raum.16 Hierbei handelt es sich um den uns direkt umgebenden Raum, allerdings ist dieser nicht fest definiert durch einen bestimmten Radius um unseren Körper herum, sondern vielmehr ein stochastischer Interaktionsraum, der die Wahrscheinlichkeit repräsentiert, dass ein externer Stimulus mit uns in Kontakt kommen könnte – der Bereich um unseren Körper, mit dem wir durch Bewegungen interagieren könnten oder auch in welchem es möglich ist, dass Dinge oder andere Lebewesen uns berühren. Dieser Raum lässt sich anhand von neuronaler Aktivität und von Verhaltensmessungen genauer untersuchen und bestimmen (abgrenzen lässt er sich jedoch nicht, da dieser Raum dynamisch ist und keine klare Grenze hat): Audiovisuelle Reize in der Nähe unseres Körpers interagieren umso stärker mit taktiler Verarbeitung, je näher sie am Körper sind.17 Das Gehirn sagt vorher, wo Objekte uns möglicherweise berühren könnten. Neurone im ventralen premotor Kortex und im posterioren parietalen Kortex reagieren auf Berührung eines bestimmten Körperteils – und auf auditive Reize in der Nähe dieses Körperteils (nicht aber, wenn der auditive Reiz weiter weg ist). Auch anhand von einfachen Verhaltensmessungen lässt sich der peripersonale Raum aufspüren: Die Reaktionsgeschwindigkeit auf einen Reiz, zum Beispiel einen Ton oder einen Lichtblitz, im peripersonalen Raum ist schneller als auf einen Reiz, der weiter weg ist. Die Reaktionsgeschwindigkeit nimmt langsam ab, je weiter entfernt vom Körper der Reiz auftritt. 16 Vgl. Andrea Serino/Jean-Paul Noel/Robin Mange/Elisa Canzoneri/Elisa Pellencin/Javier Bello Ruiz/Fosco Bernasconi/Olaf Blanke/Bruno Herbelin: Peripersonal space: an index of multisensory body–environment interactions in real, virtual, and mixed realities. In: Frontiers in ICT. 4 (2018). DOI:10.3389/fict.2017.00031. 17 Vgl. Jean-Paul Noel/Andrea Serino/Mark T. Wallace: Increased neural strength and reliability to audiovisual stimuli at the boundary of peripersonal space. In: Journal of Cognitive Neuroscience. 31 (2019). S. 1155–1172.
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Doch der Mensch interagiert mit der Umwelt nicht nur direkt, sondern häufig indirekt, mit Hilfe von Werkzeugen und Gegenständen. Diese erweitern den Raum, mit dem eine Interaktion stattfinden kann – und so auch den messbaren peripersonalen Raum. Wir spüren unsere Umwelt durch Objekte und Werkzeuge hindurch. Dies beschrieb bereits Descartes anhand des Beispiels, dass Blinde ihre Umgebung durch ihren Stock wahrnehmen. Auch sehende Menschen nutzen Werkzeuge, um ihren Interaktionsraum zu erweitern: Ein Besen verlängert den peripersonalen Raum um die Länge des Besens. Wenn wir ein Auto fahren, entwickeln wir innerhalb kürzester Zeit ein Gefühl für die Ausmaße des Autos, so dass wir mit etwas Übung nach Gefühl einparken und die visuellen Signale nur noch als zusätzliche Evidenz nutzen. Diese Integration von Werkzeugen in unser Spüren der Umwelt lässt sich auch neurobiologisch nachweisen: Wenn wir etwas in unserer Umwelt mit Hilfe eines Objektes berühren, wird der somatosensorische Kortex aktiv, also der Bereich im Gehirn, der für Berührungsverarbeitung zuständig ist.18 Das bedeutet, im Gehirn treten dieselben neuronalen Prozesse auf, wenn wir eine Berührung direkt wahrnehmen oder indirekt durch ein Objekt. Das Gehirn interpretiert ein solches Werkzeug als eine Art Verlängerung des eigenen Körpers und somit des peripersonalen Raumes. Das Nutzen von Werkzeugen verändert den peripersonalen Raum. Eines der heute am meisten genutzten Werkzeuge, die Computermaus, hat dieselbe Wirkung: Sie erweitert den peripersonalen Raum auf den Bildschirm hinaus. Steht der Bildschirm weiter weg – außer Reichweite –, findet sich ein besonders spannender Effekt: Nun bildet sich ein zweiter peripersonaler Raum, der nicht zwingend mit dem, der den eigenen Körper umgibt, verbunden sein muss. Inwiefern die Nutzung des Internets, welches man ja als eine Verbindung zur gesamten Welt verstehen 18 Vgl. Luke E. Miller/Cécile Fabio/Valeria Ravenda/Salam Bahmad/Eric Koun/Romeo Salemme/Jacques Luauté/Nadia Bolognini/Vincent Hayward/Alessandro Farnè: Somatosensory cortex efficiently processes touch located beyond the body. In: Current Biology. 29 (2019). S. 4276–4283.
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kann, den peripersonalen Raum verändert, ist bisher nicht näher untersucht worden. Eines ist jedoch bekannt: Die Nutzung des Smartphones, welches heutzutage für die meisten das versatilste Werkzeug und daher unentbehrlich ist, führt zu dessen Embodiment. Das geht so weit, dass Wissenschaftler eine erhöhte Herzfrequenz messen, wenn sie ihren Probanden zum Zwecke der Versuchsteilnahme das Smartphone abnehmen und es außer Sichtweite legen. Das Gerät wird so sehr Bestandteil des eigenen Körpers, dass das Wegnehmen, das Nicht-Sehen, eine Stressreaktion auslöst. Der Effekt ist derart stark, dass er die Durchführung der Experimente stört, was zur Folge hat, dass Wissenschaftler nun häufig darum bitten, das Smartphone auf Flugmodus zu schalten, damit die Versuchsperson es weiter bei sich tragen kann. Der peripersonale Raum ist jedoch nicht bloß definiert durch Dinge und Werkzeuge, mit denen wir interagieren, sondern auch wichtig für unsere zwischenmenschliche Interaktion. Welche Distanz wir zu unseren Mitmenschen halten, steht in Abhängigkeit zum Beziehungstyp (zumindest vor der Corona-Pandemie). Je näher uns jemand emotional steht, desto näher lassen wir diesen Menschen an uns heran, wortwörtlich. Wie groß dieser persönliche Raum ist, ist individuell und auch kulturell verschieden, doch die Abhängigkeit von der emotionalen Nähe zeigt sich immer und scheint biologisch gegeben. Allerdings sollten wir vorsichtig sein, hier bereits Ursache und Wirkung zu definieren. Zumindest entwicklungsbiologisch scheinen Ursache und Wirkung hier umgekehrt zu sein: Wer dem Baby regelmäßig körperlich nahe ist, zu dem entwickelt es eine Bindung und somit emotionale Nähe. Ähnliches sehen wir auch später im Leben in romantischen Partnerschaften: Körperliche Nähe verstärkt hier nicht nur Verbundenheit, sondern auch emotionale Nähe.19
19 Vgl. Anik Debrot/Dominik Schoebi/Meinrad Perrez/Andrea B. Horn: Touch as an interpersonal emotion regulation process in couples’ daily lives: the mediating role of psychological intimacy. In: Personality and Social Psychology Bulletin. 39 (2013). S. 1373–1385.
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Berührung spielt zudem eine entscheidende Rolle in der non-verbalen Kommunikation.20 Doch in der digitalen Kommunikation bleibt eben dieser Kommunikationskanal auf der Strecke: Zumindest mit dem aktuellen Stand der Technik stimuliert die bildschirmbasierte Kommunikation lediglich den Seh- und Hörsinn. Das hat dramatische Folgen, derer wir uns oft gar nicht bewusst sind. Denn wie wir non-verbal kommunizieren, also ob durch Mimik, Gestik oder Berührung, ist keineswegs gleichgültig. Während wir Gefühle wie Freude oder Traurig-Sein am ehesten durch Gesichtsausdrücke kommunizieren, wird die Berührung vor allem genutzt, um Liebe und Mitgefühl zu vermitteln. Dies konnte in einer Studie gezeigt werden, bei der Teilnehmer die freie Wahl hatten, welchen non-verbalen Kommunikationskanal sie nutzen wollten, um eine Emotion zu vermitteln.21 Zur Wahl standen Mimik, Gestik, Körperhaltung und Berührung. Berührung war nicht nur der bevorzugte Kanal für die Kommunikation von Liebe und Mitgefühl, sondern diese beiden Emotionen wurden auch vom Versuchspartner am leichtesten identifiziert, wenn sie über eben diesen Kanal vermittelt wurden. Die Folgen dieses Zusammenhanges liegen auf der Hand: Fällt in der stark digitalisierten Kommunikation nun die Berührung als Kommunikationsmittel weg, wird es schwerer, die Gefühle Liebe und Mitgefühl zu vermitteln. Natürlich kann man auch Worte nutzen, doch diese lösen nicht eine vergleichbare Reaktion beim Gesprächspartner aus wie beispielsweise eine liebevolle Umarmung: Es fehlen entscheidende sensorische Eindrücke wie Wärme, Druck, Nähe. Eine Umarmung vermittelt ein Gefühl nicht rein kognitiv, nicht als Konzept, sondern leiblich-viszeral. So fällt auch die entsprechende emotionale Antwort anders aus: Wir wissen nicht nur, dass wir geliebt werden – wir spüren es. 20 Vgl. z. B. Sarah McIntyre/Athanasia Moungou/Rebecca Boehme/Peder M. Isager/Frances Lau/Ali Israr/Ellen A. Lumpkin/Freddy Abnousi/Håkan Olausson: Affective touch communication in close adult relationships. In: 2019 IEEE World Haptics Conference (WHC). Hg. M. A. Otaduy/J.-H. Ryu/G. Gerling/M. O’Malley. Piscataway/N. J. 2019. S. 175–180. 21 Betsy App/Daniel N. McIntosh/Catherine L. Reed/Matthew J. Hertenstein: Nonverbal channel use in communication of emotion: how may depend on why. In: Emotion. 11 (2011). S. 603–617.
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Leibliche Kommunikation und Interaktion
Natürlich hat der kapitalistische Markt diese Zusammenhänge längst für sich entdeckt und versucht, Abhilfe zu schaffen. Nicht etwa, indem den Menschen mehr Möglichkeiten zu echter Berührung ermöglicht werden, nein, indem versucht wird, auch die Berührung zu digitalisieren und technisch zu vermitteln. Ein Beispiel hierfür ist das so genannte „Hug-Shirt“: ein Shirt, das eine Umarmung aufzeichnen kann und dann über eine App an ein anderes Shirt verschickt. Dort kann der Träger dann die Umarmung von seinem oder ihrem Shirt simulieren lassen. Ein weiteres Beispiel ist der so genannte „CuddleBot“, der eine Art Stofftierroboter darstellt, welcher registriert, wie er berührt wird – und entsprechend reagieren kann. Anhand der Berührung soll der Roboter erkennen, in welcher Stimmung sich der Berührende befindet. Der Roboter kann dann durch Bewegung und simulierte Atemgeschwindigkeit zum Beispiel versuchen, einen aufgeregten oder ängstlichen Streichler zu beruhigen. Doch zumindest bisher lässt sich das Gehirn nicht so leicht überlisten. Selbst wenn eine Berührung physikalisch vergleichbar ist, also die Berührungsrezeptoren in der Haut vergleichbar stark aktiviert, so finden sich unterschiedliche Aktivierungsmuster im Gehirn für menschliche und nicht-menschliche Berührungen.22 Es genügt zu wissen, ob die Berührung menschlich oder künstlich erzeugt ist, um deren Wahrnehmung und Verarbeitung messbar zu verändern. Durch so genannte Top-Down-Mechanismen (also von oben nach unten, in Bezug auf die Hierarchie der Verarbeitungsschritte im Gehirn) verändert das Wissen darum, wer oder was uns berührt, die neuronalen Prozesse bereits in den frühesten Verarbeitungsschritten im Gehirn und möglicherweise sogar im Rückenmark. Selbst bei fortgeschrittener Technologie genügt es also zu wissen, ob ein echter Mensch oder eine Maschine uns berührt, um die neuronale Verarbeitung und somit die Wirkung der Berührung auf Leib und Psyche zu verändern.
22 Vgl. Sjoerd J. H. Ebisch/Francesca Ferri/Gian Luca Romani/Vittorio Gallese: Reach out and touch someone: anticipatory sensorimotor processes of active interpersonal touch. In: Journal of Cognitive Neuroscience. 26 (2014). S. 2171–2185.
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Die Politik versucht nun also, durch Finanzspritzen die digitalen Kompetenzen und die digitale Infrastruktur in allen Bereichen der Gesellschaft – des öffentlichen wie des privaten Lebens – zu fördern. Doch die digitale Technik wird sich so oder so ihren Weg in immer mehr Bereiche unseres Lebens bahnen. Leuchtende Farben, sich ständig verändernde Stimulation, blinkende und klingende Belohnung in digitalen Spielen ziehen besonders Kinder in ihren Bann. Selbst wer über die Wirkung der digitalen Medien informiert ist, wer die Strategien der App-Entwickler kennt, kann sich ihrem Sog nur schwer widersetzen. Die Corona-Pandemie sollte uns allen deutlich vor Augen geführt haben, wie eine Welt ohne leibliche Nähe und zwischenmenschliche Berührung aussehen würde. Viele Menschen berichten nach einem Jahr pandemiebedingter Einschränkungen von Berührungshunger, von Isolation und Depression.23 Isolation und Einsamkeit zählen zu den größten Gesundheitsrisiken in den Industrienationen.24 Daher sollten Bildungs- und Gesundheitspolitik vor allem dafür sorgen, die analogen Kompetenzen der Kinder zu fördern – und die der Erwachsenen zu schützen und zu bewahren. Heutige Bildung, aber auch Gesundheitsfür- und -vorsorge müssen der sensorischen Verarmung entgegenwirken, den leiblich-sensorischen Weltbezug und das Zwischenmenschliche fördern sowie soziale Kompetenzen stärken.
23 Vgl. Joanne Durkin/Debra Jackson/Kim Usher: Touch in times of COVID-19: Touch hunger hurts. In: Journal of Clinical Nursing. 30 (2021). S. e4/e5; Tiffany Field/Samantha Poling/Shantay Mines/Debra Bendell/Connie Veazey: Touch deprivation and exercise during the COVID-19 lockdown April 2020. In: Medical Research Archives. 8 (2020). DOI:10.18103/mra.v8i8.2204. 24 Vgl. Julianne Holt-Lunstad/Timothy B. Smith/Mark Baker/Tyler Harris/David Stephenson: Loneliness and social isolation as risk factors for mortality: a meta-analytic review. In: Perspectives on Psychological Science. 10 (2015). S. 227–237.
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Ute Gahlings
Die Sehnsucht des homo hapticus nach existenzieller Resonanz in virtualisierten Lebenswelten
Einführung Lange vor den Debatten um die Technikfolgenabschätzung in den 1970er Jahren hat Hermann Keyserling 1942 in seinem Buch vom Ursprung die „Welt der Künstlichkeit“ als Grundproblem menschlichen Existierens beschrieben.1 Im Mythos von Adam und Eva sieht er dies veranschaulicht: Nachdem die ersten Menschen vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, werden sie sich ihrer Nacktheit bewusst und fertigen Kleider, also Künstliches, für sich an. Keyserling konstatiert, dass dem Menschen als normale Lebensform nicht eine natürliche, wie beim Tier, sondern eine künstliche selbstverständlich ist. Alles menschliche Leben sei von Künstlichkeiten durchdrungen. Da der Verstand die Wirklichkeit nur von außen erfasst, kann er nicht unmittelbar auf sie einwirken. Er bedarf der Werkzeuge, um die äußere Welt zu verändern und das Überleben des Menschen zu sichern. Der Ur-Typus des Verstandesmenschen ist nach Keyserling daher der Handwerker, der Techniker, nicht der Denker: „Ursprünglich ist Denken zugleich Behandeln; es ist eine rein praktische Angelegenheit.“2 Im Be-Greifen wirken das Greifen der Hand und das Von-außen-Sehen des Verstandes zusammen: „Das Denken ist damit das eine Verbindungsglied zwischen Materie und Geist“3, das den Menschen zum „Herrn der Erde“ hat werden 1 Hermann Keyserling: Das Buch vom Ursprung. München 1973. S. 11–52. 2 Ebd., S. 23. 3 Ebd., S. 18.
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lassen. Das Steuern eines Automobils war zu Keyserlings Lebzeiten eine beeindruckende technische Befähigung. Im Chauffeur, der es fertigbringt, „ohne viel zu wissen, Ungeheures zu leisten“4, sieht Keyserling den Menschentypus des technisierten Zeitalters. Die zunehmende Vermenschlichung des Lebensraums, wie sie in der Verstädterung, der Modernisierung und Technisierung zu Tage tritt, ist ein Vorgang der Verkünstlichung. Das Künstliche ist dem Lebendigen vordergründig betrachtet überlegen, es ist perfekt, weil es mechanischen Gesetzen folgt. Es zeigt sich allgemein die Tendenz einer Überbewertung des Mechanischen gegenüber dem Lebendigen. In seiner Anthropologie hatte Keyserling dargelegt, inwiefern der Mensch verschiedenen Daseinsordnungen mit je eigenen Gesetzmäßigkeiten angehört.5 Das gilt auch für rationale Ordnung – „das Denken selbst gehört zum mechanischen Teil des lebendigen Geschehens“6. Mit einer eigenen zwingenden Logik steht das Denken als Organ der Erd-Sphäre im Dienst von UrAngst und Ur-Hunger. Es ist „Lebensmittel“, „dem organischen Leben unterstellt […] utilitarisch, praktisch und terre à terre durch und durch“7, stets am Wozu, nicht am Warum orientiert und ursprünglich ohne geistige Motive. Selbst in der Philosophie, die ja vornehmlich über das bloße Denken hinausgehen und dem Ideal der Wahrhaftigkeit verpflichtet sein soll, werden Konstruktionen errichtet, die gänzlich im Reich der Künstlichkeit wurzeln und lediglich das Denken befriedigen – so Keyserlings lebensphilosophische Kritik an der Philosophenzunft8: So ist denn die systematische Philosophie und nicht die Technik die Krönung der Welt der Künstlichkeit, in welche das Menschen4 Ebd., S. 24. 5 Vgl. Hermann Keyserling: Südamerikanische Meditationen. Stuttgart 1932. 6 Keyserling: Ursprung (wie Anm. 1). S. 32. 7 Ebd., S. 36. 8 Die Kritik an der System-Philosophie ist charakteristisch für die Denker der Lebensphilosophie, so etwa bei Schlegel, der die „Philosophie des Lebens“ der „Philosophie der Schule“ gegenüberstellt. Vgl. Karl Albert: Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Lukács. Freiburg, München 1995.
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Tier die Welt einzuspinnen versucht, um sie zu bewältigen. In diesem Zusammenhang dürfen wir die Welt der Verstandesbegriffe geradezu mit dem Netz der Spinne vergleichen.9
Keyserling kommt zu dem überraschenden, aber konsequenten Schluss, dass die moderne Technisierung eigentlich keine Entfremdung von der Natur ist, sondern eine fortschreitende Entfaltung des Denk-Organs, das ganz und gar zur menschlichen Natur gehört. Das Übel der Zeit liegt aber in einer Überbewertung des Denkens und weiterhin darin, das Verstehen als genuin schöpferische Fähigkeit abzudrängen. Die Allmächtigkeit des Verstandes führt zu einer kalten Welt der Künstlichkeit, in der die Seele gleichgültig, das Lebendige unterdrückt, das Leben sinnlos wird. So lebt der Mensch in einer Spannung von verschiedenen Gegenwirklichkeiten, die ihm unauflöslich bleiben: [Die] sonderliche Daseinsebene des Menschen liegt weder in der Natur noch im Geist, weder im Göttlichen noch im Tierischen – und Gleichsinniges gilt von allen übrigen feststellbaren Gegensätzlichkeiten – sondern in einem Zwischenreich, welches zunächst als solches, als ebenso bestimmte und weder weiter zurückführbare noch aufzulösende Einheit existiert, wie das Reich des Tierischen, und darum als Urtatsache hinzunehmen ist.10
Das Zwischenreich entsteht „aus der Berührung des ganzen Menschen mit seiner ganzen Umwelt“11; zu ihm gehören die vom Verstand herausgestellten Künstlichkeiten ebenso wie sämtliche kulturellen Gestaltungen, die sich in den kollektiven Lebensformen herausbilden. Die menschliche Welt sei eine „von Konventionen bestimmte“12. Ihre konkreten Formen sind immer unvollkommen, niemals endgültig oder notwendig, aufgrund der Freiheit des Menschen wandelbar. Sie verkörpern nichts Metaphysisches, kein Ideales, nichts Wahres und sind, vom Ursprung her betrachtet, schlicht 9 Keyserling: Ursprung (wie Anm. 1). S. 42. 10 Ebd., S. 54. 11 Ebd., S. 60. 12 Ebd., S. 65.
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Lüge. Daher empfindet der Mensch seine Existenz im Zwischenreich stets als vorläufige, zu überwindende und ist von einer Sehnsucht nach dem Ursprung ergriffen. Anknüpfend an diese Metapher von der Sehnsucht nach dem Ursprung möchte ich, bezogen auf die virtualisierten Lebenswelten von heute – besonders unter den Bedingungen der CoronaPandemie –, von einer Sehnsucht nach existenzieller Resonanz sprechen. Wenn ich mit Keyserling das Zwischenreich als eine Welt der Künstlichkeit begreife, die notwendig ins menschliche Existieren eingelassen ist, es aber doch nicht wesentlich und in der Tiefe erfüllt, so ergibt sich hier eine bedeutsame ethische Perspektive. Je weiter die Virtualisierung voranschreitet und die Welt der Künstlichkeit in die Lebensformen eingeschrieben wird, desto mehr reduziert sich die Erlebnisfähigkeit des Menschen und desto stärker wird sein Bedürfnis nach Authentizität. Von Sehnsucht wird der Mensch ergriffen, wenn er etwas schmerzlich vermisst. In seinen Interaktionen sehnt er sich durch Fassade, Konvention und Bildschirm hindurch nach dem Antlitz des anderen, um mit Levinas zu sprechen, und danach, selbst Antlitz für den anderen zu sein. Diese zwischenmenschliche Bezogenheit liegt vor allen sprachlichen Dimensionen, und der Mensch ist darin lebenslang ganzheitlich involviert. Diese Beziehung der Nähe, dieser Kontakt ist nach Levinas „die ursprüngliche Sprache, Sprache ohne Worte und Sätze, reine Kommunikation!“13 Wir sehnen uns danach, von der Lebendigkeit des anderen berührt und angesprochen zu werden und beim anderen die Spuren des lebendigen Eindrucks von uns selbst zu entdecken. Wir sehnen uns danach, uns in gemeinsam kreierten Atmosphären leiblich anwesend zu spüren, uns in unmittelbaren Blickkontakt zu bringen und unsere Berührbarkeit mit allen Verstehensfähigkeiten wechselseitig auszulesen, wenn möglich auch mit den vielfältigen Sinneseindrücken bei den habitualisierten körperlichen Berührungen, etwa beim Handschlag das Spüren der Haut, der Wärme oder Kälte der Hand des anderen oder in der freundschaftlichen Umarmung 13 Emmanuel Levinas: Die Spur des Anderen – Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg, München 1983. S. 280.
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das Einatmen seines bzw. ihres Körperdufts, das Erlebnis sanfter leiblicher Abstimmung, das Aneinanderschmiegen der Wangen usw. Durch die Maßnahmen in der Corona-Krise, die uns abverlangen, viel mehr als sonst üblich in der Welt der Künstlichkeit zu verbringen, sind wir auf schmerzliche Weise in Kontakt mit dieser Sehnsucht nach existenzieller Resonanz gekommen. Die Qualität menschlichen Lebens ist ja wesentlich durch unsere Beziehung zur Welt und zu den anderen Lebewesen, besonders den Mitmenschen, bestimmt. So definiert Hartmut Rosa den Begriff „Resonanz“ unter anderem als eine durch „Affizierung und Emotion, intrinsisches Interesse und Selbstwirksamkeitserwartung gebildete Form der Weltbeziehung, in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren“14. Die in wechselseitigen körperlichen Berührungen liegende Transformation zeichnet sich darüber hinaus durch eine komplexe einfühlend mitgehende zwischenleibliche Responsivität aus. Der spätmoderne Mensch leidet nun ohnehin schon unter Resonanzdefiziten jedweder Art und befindet sich allenthalben auf der Suche nach stabilen Resonanzverhältnissen. Unter Corona-Bedingungen wird dieser Suche eine beispiellose Absage erteilt. Unter Umständen liegt darin nun für alle die Chance einer neuen Wertschätzung authentischen Existierens und lebendiger Begegnung. Die Krise hat uns auch erneut für Gefahren sensibilisiert: Wer die Welt der Künstlichkeit für die wahre eigentliche Welt (also die Matrix für das Leben) hält, dem entgeht allmählich und mitunter nachhaltig auch eine Vorstellung davon und Erinnerung daran, wonach er sich sehnen könnte. Werden dann bedeutsame Aspekte des Menschseins längerfristig nicht mehr gelebt, so wird dieser Mensch Zug um Zug verarmen und schließlich eine Welt affirmieren und für selbstverständlich halten, die nur noch von Künstlichkeit als das ihm Bekannte, Perfekte, Mechanische durchzogen ist und kaum noch Spielräume für die Resonanzfähigkeit lässt.
14 Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016. S. 298.
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Bezeichnenderweise haben sich in der Alltagssprache schon längst Phrasen aus der Computersphäre für menschliche Lebensvollzüge etabliert: „Ich muss das mal abspeichern“, „Ich habe das nicht mehr auf dem Schirm“‚ „Ich muss mich rebooten oder meinen Akku laden“ etc. Das mag harmlos oder amüsant erscheinen – gravierender ist der zeitintensive Aufenthalt in der digitalen Welt vor allem durch die Eindimensionalität von Filterblasen und Echokammern in den sozialen Netzwerken. Die damit verbundene fortlaufende Repetition der eigenen Meinung im Spiegel der angedienten anderen verengt den Blick und schränkt die Möglichkeit ein, sich für andere Perspektiven zu öffnen oder gar einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Während damit gleichzeitig die Fähigkeit zur kritischen Bewertung etwa von Fake-News und politischer Propaganda schwindet, steigt die Empfänglichkeit für weltanschauliche Radikalisierung. Der in der Welt der Künstlichkeit verloren gegangene Mensch läuft Gefahr, kalt, herz- und seelenlos das eigene Bedürfnis nach Lebendigkeit zu ignorieren, das Antlitz des anderen zu negieren und die innere Leere mitunter mit eruptiven Ausbrüchen von Wut und Hass zu kompensieren. Für die philosophische Ethik eröffnen sich hier wenigstens drei Aufgaben: 1. Den Bildungsauftrag der Philosophie ernst zu nehmen und die komplexen, das heißt vernunft- und emotionsgestützten Verstehensorgane des Menschen zur Kritik-, Diskurs- und Begegnungsfähigkeit umfassend auszubilden und konkret anzuwenden. Dies entspricht einer reformierten Bildungsoffensive, für die unter anderem Martha C. Nussbaum eintritt, die in den aktuellen Entwicklungen sogar eine Gefahr für die Demokratie sieht.15 2. In der Öffentlichkeit die Erkenntnis darüber zu schärfen, wie diese Welt der Künstlichkeit beschaffen ist und mit der vielbeschworenen Medienkompetenz das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer kritikgeleiteten Lebenspflege in den virtua15 Vgl. Martha C. Nussbaum: Nicht für den Profit! Warum Demokratie Bildung braucht. Überlingen 2012.
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lisierten Räumen zu erweitern. Dieser Auftrag betrifft nicht nur Privatpersonen, sondern alle Personen, Institutionen, Unternehmen, die beruflich mit den Stakeholdern der Digitalisierung zu tun haben. Dies wurde unlängst im Wiener Manifest für Digitalen Humanismus festgehalten, dessen Text mit dem bekannten Zitat des Internetgründers Tim Berners-Lee beginnt: „The system is failing.“16 3. Initiativen zu ergreifen, um Schutzzonen für die private, institutionelle und öffentliche Kultivierung von Authentizität zu errichten, also stabile, vielfältige und umfriedete Möglichkeiten für existenzielle Resonanz zu etablieren. Dazu gehört auch eine weitere Erforschung der Auswirkungen von Emissionen der digitalen Infrastruktur auf die leibliche Existenz und die Schaffung mobilfunkfreier oder -reduzierter „Weißer Zonen“ sowie die Minimierung, Vermeidung und Abschirmung von Funkstrahlen zur Verbesserung der Lebensqualität.17 Nassehis Theorie der digitalen Gesellschaft Es ist bemerkenswert, mit welcher Treffsicherheit Keyserling die Probleme der Digitalisierung der Lebenswelt antizipieren konnte, ohne jemals einen Computer kennengelernt zu haben, und lange bevor dieser zum Alltagswerkzeug wurde. Zur Position Keyserlings passt indes, was der Soziologe Armin Nassehi in seiner Theorie der digitalen Gesellschaft herausarbeitet. Die Frage „Für welches Problem ist die Digitalisierung eine Lösung?“18 verbindet er mit der Annahme, dass offenbar ein gesellschaftlich relevanter Bedarf bestanden hat und nach wie vor besteht, der den Siegeszug der Datenverarbeitung provoziert hat. Bereits mit Beginn des 19. Jahrhunderts sei es notwendig geworden, „Unsichtbares sichtbar zu machen“:
16 Vgl. Wiener Manifest für Digitalen Humanismus. www.dighum.ec.tuwien.ac.at, abgerufen am 21. März 2021. 17 Vgl. u. a. das Informationsportal unter www.diagnose-funk.org, abgerufen am 23. März 2021. 18 Armin Nassehi: Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München 2019. S. 12.
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Die Komplexität der Gesellschaft, die Multiplikation von Wirkkräften, die voraussetzungsreichen Formen von Steuerung, die Professionalisierung von wirtschaftlichem, politisch-administrativem, wissenschaftlichem und nicht zuletzt militärischem Handeln erforderte die Entbergung latenter Strukturen, für die die Einführung statistischer Methoden die Grundbedingung darstellt.19
Die Bedingung der Möglichkeit solcher Darstellung „ist die Abbildung der Welt in Form von zählbaren Einheiten und die Codierung von analogen Sachverhalten durch diskrete Formen“. Der Titel von Nassehis Buch lautet bezeichnenderweise Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. Die datenförmige Erfassung der Welt ermöglicht eine umfängliche Mustererkennung, auch solcher Muster, die dem Denken nie aufgefallen wären. Nassehi macht indes geltend, dass „die Codierung von Sachverhalten in Datenform keine Abbildung der Welt darstellt“. Es ist ein voraussetzungsreicheres Verfahren, das wissenschaftlichen Praktiken ähnelt. Es bringt ein Eigenleben und eine Eigendynamik in Form von geschlossenen Systemen hervor. Nassehis These lautet: „Daten verdoppeln die Welt, enthalten sie aber nicht.“20 Mit dieser Figur der Verdoppelung stößt er auf ein weiteres „Strukturmerkmal moderner Gesellschaften, die letztlich ihre eigene Digitalität nahelegen“21. Verdoppelung sei jedoch ein „ironischer Ausdruck“, der auf eine Paradoxie verweise. Es verhalte sich nämlich eigentlich so, dass das, „was praktisch als Verdoppelung erscheint, exakt das Gegenteil bedeutet: eine Neuschöpfung“. Durch die Verdoppelung der Welt in Daten und Datennetze entsteht, so lässt sich Nassehi lesen, eine eigene Sphäre mit völlig neuen formalen Zusammenhängen. Diese Sphäre stabilisiert sich dann selbst und zwar praktisch, weil wir in und mit ihr im Alltag agieren: Wenn wir die Welt digital „verdoppeln“, etablierten wir eigentlich neue Lebenswelten, zugleich täten wir so, als sei die Welt so, wie sie jetzt lebensweltlich erscheine. Dabei seien Daten „hoch aggregierte Formen“, die zunächst nur für sich selbst stünden und erst be19 Ebd., S. 108. 20 Ebd., S. 108/109. 21 Ebd., S. 109.
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arbeitet werden müssten, um für uns verständliche Oberflächen zu bilden (z. B. digitales Kartenmaterial zur Raumorientierung). Repräsentiert werde letztlich keine „virtuelle Realität“, sondern eine praktisch mögliche, in der wir uns zurechtfinden und wirksam werden könnten. Die Analogien zwischen der Digitalisierung und den Strukturmerkmalen moderner Gesellschaften erklärt Nassehi anhand mehrerer Thesen: Funktional differenzierte Gesellschaften haben ihre traditionelle Ordnung verloren und benötigen Ersatz dafür. Da Ordnung ein Sieg der Einfalt über die Vielfalt ist, brauchen diese Gesellschaften eine vorgehaltene unstrittige Regelmäßigkeit, um in der Vielfalt Halt zu finden. Diesen Halt finden sie in der „Einfalt der funktionalen binären Codierungen ihrer Funktionssysteme“. Die Einfalt ermöglicht wiederum den Aufbau von Vielfalt. Das Bezugsproblem dieser Gesellschaften ist also die Befähigung, „das Verhältnis von Einfalt und Vielfalt zu bearbeiten“. Die Lösung ist bereits eine digitale, da den Funktionssystemen eine „brutale Alternativlosigkeit“ inhärent ist. Digitaltechnik folgt dem Muster der gesellschaftlichen Funktionssysteme, die bereits am Verhältnis von Einfalt und Vielfalt etabliert sind. Digitalität ist also eine „technische Form“, „deren Struktur ein ähnliches Ordnungsproblem löst wie die Funktionssysteme der modernen Gesellschaft: auf dem Boden eines einfältigen Mediums vielfältige Formen zu entwickeln“. Eine anders konstituierte Gesellschaft hätte womöglich keine Verwendung für Digitaltechnik.22 Digitalisierung setzt also „am Bezugsproblem gesellschaftlicher Komplexität an“ und ist „kein Fremdkörper in der Gesellschaft“, sondern „Fleisch vom Fleische der Gesellschaft“23. Die Parallelen zu Keyserling sind augenfällig – auch Nassehi lässt uns erkennen, dass wir es nicht mit einem „Schreckgespenst“ zu tun haben, sondern mit „hausgemachten“ Auswüchsen, Verlängerungen, ja Entsprechungen von gesellschaftlich bereits vorhandenen Verfahren struktureller Zurichtung und Verdoppelung.
22 Ebd., S. 175–177. 23 Ebd., S. 177, Hervorhebung im Original.
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Mit Blick auf die Folgen zunehmender Virtualisierung ist es philosophisch durchaus konsequent, den Finger in die Wunden der längerfristig gewachsenen Mentalitäts- und Rationalisierungsvorgänge zu legen. So ist die Geschichte der europäischen Wissenschaft von einer umfassenden Selbst- und Weltbemächtigung geprägt, die schon, wie Hermann Schmitz herausgestellt hat, in der vorsokratischen Philosophie einsetzt. Bei allen damit verbundenen Chancen und Erfolgen geschah dies aber um den Preis des Vergessens und Ausblendens „der wichtigsten Inhalte der unwillkürlichen Lebenserfahrung“24. Schmitz führt hier beispielhaft an: der spürbare Leib – zwischen Körper und Seele wie in eine Gletscherspalte gefallen – und die leibliche Kommunikation (beim Blickwechsel und unzähligen anderen Anlässen im täglichen Leben), die Gefühle als Atmosphären, die bedeutsamen Situationen und unter ihnen die vielsagenden Eindrücke, die flächenlosen (vom Leitbild der griechischen Geometrie übergangenen) Räume des Wetters, des Schalls, der Stille, der Gebärde, der leiblichen Regungen, der Gefühle usw., ferner die Halbdinge wie die Stimme, der Wind, die reißende Schwere, der Schmerz als zudringlicher Widersacher und nicht bloß Seelenzustand, die Gefühle als leiblich ergreifende Halbdinge.25
Die unwillkürliche Lebenserfahrung ist hochkomplex, chaotischmannigfaltig und lässt sich nur um den Nachteil einer Reduktion sprachlich nachbuchstabieren und aus der Ebene subjektiver Erfahrung in objektive Beschreibung bringen. Wenn nun behauptet wird, der spätmoderne haltlos gewordene Mensch brauche Ersatz für verloren gegangene Ordnung und Struktur, was sicher richtig ist, so lässt sich doch auf dem Boden der Leibphänomenologie und neuerer Erkenntnisse der Haptikforschung zeigen, dass jeder Mensch bereits existenziell vom Problem der Strukturierung von Einfalt und Vielfalt betroffen ist und unentwegt Lösungen dafür hervorbringt – und zwar ohne dabei auf die Herausbildung von Künstlichkeiten angewiesen zu sein.
24 Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. Freiburg 2014. S. 22. 25 Ebd., S. 22/23.
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Ein Beispiel ist der in unsere körperlich-leibliche Existenz tief eingelassene Tastsinn, der auf komplexe Weise die lebensweltlich gebotene Diversität meistert und dadurch schlechthin unser Überleben sichert. Im Rückgriff auf die Grundbedingungen leiblicher Existenz kann gleichsam durch eine andere Perspektive als die von Keyserling und Nassehi deutlich gemacht werden, dass und wie wir in Chaotisch-Mannigfaltiges eingebunden sind und uns darin zurechtfinden. Diese Fähigkeit wird erstaunlich früh herausgebildet und entfaltet sich in existenzieller Berührung mit anderen Menschen. Tragisch ist nun, dass der Aufenthalt in virtuellen Räumen unsere Empfänglichkeit für die Vielfalt der Welt reduziert, unsere Interpretationsfähigkeit verarmen lässt und wir somit gerade durch das haltlos zu werden drohen, was uns Struktur geben soll. Der Tastsinn – ein biologisches Supersystem Eindrucksvolle Fakten zur Wirkung des Tastsinns unter anderem auf unser Denken, Fühlen und Handeln liefert das Haptik-Labor der Universität Leipzig, das bereits 1996 von dem Psychologen und Hirnforscher Martin Grunwald gegründet wurde. Dort werden neue Messverfahren und körperorientierte Therapieansätze entwickelt, aber auch Fragen des haptic design für die Industrie beantwortet. In naturwissenschaftlicher Perspektive präsentiert sich der Tastsinn als ein biologisches Supersystem, das sich vor allen anderen Sinnen schon wenige Wochen nach der Befruchtung herausbildet. Wir wissen heute, „dass jede Zelle in der Lage ist, physikalische Veränderungen der eigenen Oberfläche zu registrieren und sich in gewissen Grenzen durch Eigenbewegungen an diese Veränderungen anzupassen. Diese Fähigkeit kann man sich als einfachste Form der Berührungs- und Kontaktsensibilität vorstellen“, die sich über biochemische Signalketten rasend schnell im Organismus verbreitet. Hier wirkt ein Naturgesetz, das Grunwald „Kontaktgesetz“ nennt.26 26 Martin Grunwald: Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. München 2017. S. 25.
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Schon beim Embryo antwortet das gesamte Zellensemble auf einen Druckreiz an den Lippen: „Bis zur 14. Schwangerschaftswoche wird sich die passive Berührungssensibilität auf alle Körperregionen ausdehnen und für taktile Reize empfänglich werden.“27 Und wenige Tage später hat der Fötus sein Bewegungsrepertoire meist vollständig entwickelt, das heißt, er nimmt Lageund Positionsveränderungen der Gliedmaßen und des Kopfes vor, Streckbewegungen des Körpers und Eigenberührungen des Gesichts, er kann die Hände öffnen, einzelne Finger bewegen. So gelingt es dem Fötus, ohne sehen zu können, seinen Daumen zum Mund zu führen und den Saugreflex zu stimulieren. Schließlich bilden sich drei Teilleistungen des Tastsinnsystems heraus: 1. Die Exterozeption, „die es dem Organismus ermöglicht, von außen auf den Körper einwirkende physikalisch-chemische Ereignisse – zum Beispiel die Wärme der Sonnenstrahlen oder die Hautverformung durch einen Berührungsreiz – zu registrieren und neuronal zu verarbeiten.“ 2. Die Interozeption, „die es dem Organismus erlaubt, den spezifischen Versorgungs- und Aktivierungszustand des gesamten Körpers und seiner Organe zu registrieren und neuronal zu verarbeiten – beispielsweise Schmerzen oder die Tätigkeit von Organen und Muskeln.“ 3. Die Propriozeption, „dank derer der Organismus den Status und die Veränderung der räumlichen Lage des Körpers und der Gliedmaßen (einschließlich des Kopfes) in Bezug zu sich selbst und in Relation zur Schwerkraft registrieren und neuronal verarbeiten kann. Beispiel: Positionswahrnehmung der Körperglieder in völliger Dunkelheit.“28 Nun ist ein Großteil der Arm- und Handbewegungen des Fötus auf den eigenen Körper gerichtet, besonders auf das Gesicht. Neurobiolog*innen vermuten dahinter eine lebensnotwendige Selbststimulation. Gesichtsberührungen nehmen zum Beispiel 27 Ebd. 28 Ebd., S. 253/254.
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in Korrelation zum subjektiv empfundenen Stresslevel der Mutter zu, ebenfalls häufiger sind sie bei Föten, deren Mütter rauchen. Sinnvoll erscheinen solche Befunde, wenn man davon ausgeht, dass diese Selbstberührungen zu einer „Veränderung des neurochemischen Zustands“ führen, dass sie also „eine physiologische und emotionale Beruhigung bewirken, was sich unter anderem in einer Verlangsamung der Herzfrequenz äußert“. Der Fötus ist somit „den mütterlichen Stressoren nicht völlig hilflos ausgesetzt, sondern kann durch die aktive Stimulation seiner Gesichtshaut seinen neurophysiologischen Zustand teilweise selbst regulieren“29. – Welche Erkenntnisse sich daraus für das Verständnis von Individuation ergeben, lässt sich noch nicht ermessen. Interessant ist jedenfalls, dass auch Erwachsene „im Laufe eines Tages ca. 400 bis 800 derartige Selbstberührungen“ ausführen und ein komplexes Verhaltensmoment zeigen, das sie „bereits als Föten generiert haben“30. Die größte Tastsinneslernerfahrung des Fötus besteht darin, „den eigenen Körper und sich selbst wahrzunehmen und zu erkunden“. Er entwickelt ein neuronales Konzept seiner Körperlichkeit, das Körperschema. Dessen zentrale Leistung besteht darin, zu beurteilen, „was an unserem Körper hinten und vorn, oben und unten ist“, und eine „räumliche und auch zeitliche Relation zwischen dem eigenen dreidimensionalen Körper und der dreidimensionalen Außenwelt herzustellen“31. Dieses Körperschema ist wesentlich „für die biologische Reifung eines körperlichen Selbst und eines Ichbewusstseins“32, schreibt Grunwald. Leibphänomenologisch spreche ich von leiblicher Lotung, in der unser Selbstgefühl zum Ausdruck kommt. Neben dem Körperschema entwickelt der Fötus ein weiteres internes Konzept, das sich „lebenslang im Gedächtnis verankern wird“33: das Konzept von Nähe, hier primär durch das Eingebundensein in den Schutz- und Wachstumsraum der uteralen Um29 30 31 32 33
Ebd., S. 35. Ebd., S. 36. Ebd., S. 42/43. Ebd., S. 44. Ebd., S. 45.
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gebung. „Die Verknüpfung der umfassenden Körperberührung durch den Mutterbauch mit positiven Emotionen wird sinnvollerweise zu einem universellen Konzept von Nähe.“ Einfach formuliert: „Etwas, das meinen Körper berührt, zugleich warm und weich ist, ist gut für meinen Körper.“34 Das Nähekonzept ist Bedingung dafür, dass der Säugling nach der Geburt sofort positiv auf den Kontakt mit der Mutter reagieren kann. Hilflos und extrem weltoffen, ist er auf die Fürsorge anderer angewiesen, auf wohlwollende Berührung durch ihre Körper, Blicke und Ansprache. Das Konzept der Ferne entwickelt sich erst mit der haptischen und oralen Exploration der äußeren Welt, zunächst im innigen Körperkontakt mit den Bezugspersonen, dann auch in gewisser räumlicher Entfernung, aber in kontinuierlicher Bezogenheit auf sie, etwa durch den gesuchten Blickwechsel, schließlich in Abwesenheit von ihnen. Heranwachsende entziehen sich Zug um Zug dem Nahraum ihrer Eltern. Nichts schützen Erwachsene dann so sehr vor unmittelbarem Kontakt durch Gewalt, Unachtsamkeit etc. wie ihren Körper. Andererseits fürchten sie aber auch das „Gegenteil von Nähe: die Einsamkeit – im körperlichen wie im emotionalen Sinn“ und suchen wohltuende Berührungsinteraktionen. Dafür liefert das sexuelle Begehren ausreichend Motivation. Die positiven Veränderungen des körperlichen Gesamtzustands und des leiblichen Befindens durch Berührungen sind mittlerweile umfänglich naturwissenschaftlich belegt. Die Wirkungen auf den Blutdruck, den Hormonspiegel, das Immunsystem und die Aktivierung des körpereigenen Drogenlagers mit seinen Glücks-, Wohlfühl- und Behaglichkeitsstoffen sind so vielfältig, dass man darüber abendfüllend referieren könnte. Doch schon unabhängig von allen diesen objektiv ermittelbaren Forschungsergebnissen erleben wir subjektiv in der Regel wohlwollende körperliche Berührungen als extrem angenehm und können meist gar nicht genug davon bekommen. In jedem Lebensalter hinterlässt das Fehlen menschlicher Nähe „tiefe seelische Furchen“, schreibt der Haptikexperte Grunwald,
34 Ebd., S. 47, Hervorhebung im Original.
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„die im Säuglingsalter sogar zum Tod führen können“35. Die Berührungsempfindlichkeit des Tastsinnsystems hält indes bis ins hohe Alter an, und selbst ein gradueller Verlust lässt sich ausgleichen. Auch darin unterscheidet sich das überlebensnotwendige, den gesamten Körper durchziehende Tastsinnsystem von den anderen Sinnen. Der Tastsinn ist so besonders, weil man dessen Rezeptoren nicht nur, wie bei den anderen Sinnen, in regional umgrenzten Bereichen, sondern fast überall vorfindet, außer im Gehirn, in Knorpel- und Hornhautgewebe und in den meisten Organen: Aufgrund ihrer großen Fläche, die mit ca. zwei Quadratmetern der Größe eines mittelgroßen Esstischs entspricht, ist die menschliche Haut nicht nur das größte Organ des Menschen, sondern enthält auch eine sehr hohe Anzahl tastsensibler Rezeptoren. Besonders zahlreich sind sie an den Haarfollikeln, an den Fingerspitzen, der Zunge, den Genitalien und den Lippen. Ob jedoch die Haut die Körperregion mit den meisten tastsensiblen Rezeptoren ist, kann bezweifelt werden, denn die sonstigen Bindegewebsstrukturen im Körper – einschließlich der Knochenhäute – sind ebenfalls mit tastsensiblen Rezeptoren ausgestattet, außerdem die Schleimhäute, die Wände von Venen und Arterien, die Muskeln, die Sehnen und Gelenke.36
Pausenlos, auch im Ruhezustand, senden diese tastsensiblen Rezeptoren über die angeschlossenen Nervenfasern eine gigantische Flut von Milliarden elektrischer Impulssalven ans Gehirn. So können wir Berührungsreize an der Haut stets sofort und nicht erst verzögert wahrnehmen. Grunwald vermutet, dass „dieses permanente Hintergrundrauschen die biologische Basis für unser stetiges Körpererleben und auch für unsere Bewusstseinstätigkeit darstellt“. Und er räumt ein: Es ist „dieser unglaublichen Menge an Rezeptorimpulsen geschuldet, dass es uns immer noch so schwerfällt, die Entstehung bewusster Wahrnehmungen vollständig zu verstehen“37. 35 Ebd., S. 47. 36 Ebd., S. 96/97. 37 Ebd., S. 98.
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Berühren und berührt werden: leibliche Phänomene Lange vor der neueren Haptik-Forschung wurde in der Philosophie mit Beginn des 20. Jahrhunderts ein lange ausgeblendeter Phänomenbezirk virulent: der Leib mit seinen Regungen, Erfahrungen und Widerfahrnissen, also Angst und Schmerz, Hunger und Durst, Schreck und Ekel, Frische und Müdigkeit, Begehren und Trauer, Scham und Zorn, Mitgefühl etc. Der spürbare Leib im Unterschied zum dinghaften Körper wurde anfänglich von Edith Stein, Edmund Husserl und Max Scheler entdeckt, dann von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und Maurice Merleau-Ponty, schließlich von Bernhard Waldenfels, Hermann Schmitz und – aus unserem Kreis – von Gernot Böhme intensiv beforscht.38 Die geschlechtliche Differenzierung, ein weiterer blinder Fleck der Philosophie, der sich sogar in diesem Feld fortzusetzen drohte, haben zuerst Stein und Beauvoir erschlossen.39 Wie schon Schopenhauer herausarbeitete, ist der Körper sowohl Objekt unter anderen Objekten, Ding in der Dingwelt, als auch stets spürbarer Leib. Tatsächlich handelt es sich um das einzige Objekt in der Welt, zu dem wir zusätzlich eine andere Zugangsweise, nämlich die subjektive, haben. Dieser Umstand bedingt zahlreiche Berührungsmodifikationen. Edith Stein forderte ihre Studierenden auf, mit der Hand den Tisch zu berühren und die erfahrbaren „Sinnesdaten“ zu beschreiben. Husserl regte an, bei ineinandergelegten Händen das Berühren und das BerührtWerden der einen bzw. anderen Hand zu erspüren. Welche Änderung ergibt sich erst, wenn meine Hand die Hand eines anderen berührt? Unsere Wahrnehmung kann taktil sein, wenn der Körper durch ein Ding der Außenwelt verformt oder berührt wird, oder haptisch, wenn wir selbst etwas berühren oder verformen, oder beides zugleich. 38 Vgl. Ute Gahlings: Die Wiederentdeckung des Leibes in der Phänomenologie. In: Information Philosophie. 2008, Heft 2. S. 36–47. 39 Vgl. Ute Gahlings: Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen. Freiburg, München 2 2016. S. 19–142.
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Dabei ist der Körper unentwegt mit irgendeinem Ding der äußeren Welt verbunden: Der Körper, selbst Materie, berührt andere Materie, so will es die Gravitation. Meine Füße berühren den Boden, das Becken berührt den Stuhl usw. – das ist uns nicht immer bewusst, weil das Tastsinnsystem und die anderen Sinne überwiegend unbemerkt funktionieren. Aber ich kann dorthin spüren, wo meine Füße den Boden berühren. Zu jedem Zeitpunkt habe ich auch ohne Zuhilfenahme der äußeren Sinne Kenntnis meiner räumlich ausgedehnten Form. Berührungen fühlen sich unterschiedlich an, und jede Sprache verfügt über zahlreiche Wörter, um Berührungsempfindungen wiederzugeben: Sie können weich, sanft, zart bis zärtlich, roh, rau, grob, schmerzhaft, angenehm, unangenehm etc. sein. Dort, wo wir berührt werden, bildet sich aus einer zuvor völlig eingeebneten Gemengelage eine Spürinsel heraus. Wir erfahren diese Region manchmal annähernd abgegrenzt, meist präsentiert sie sich aber mit diffusen Rändern. Unser Spürvermögen endet auch nicht an der Grenze der Haut, sondern geht weit über diese hinaus. In vielen Verrichtungen sind wir passiv und aktiv durch Phänomene von Einleibung mit der Dingwelt verbunden.40 Beim Anziehen spüren wir die Kleidung kurzfristig durch ihre Berührung auf der Haut, bald aber wird sie zu einer Art zweiten Haut. Weniger trivial sind objekthafte Erweiterungen des Spürraums. Der Philosoph und passionierte Motorradfahrer Matthew B. Crawford beschreibt, wie er durch die Reifen seines Gefährts die Beschaffenheit des Straßenbelags spürt und sein Fahrverhalten darauf abstimmt.41 Ähnliches wird von Sportler*innen oder Chirurg*innen in ihren jeweiligen Zeugzusammenhängen berichtet. Doch schon beim Kartoffelschälen erfolgt eine konzertierte dynamische Einleibung von Messer, Händen und Kartoffel, die im ganzen Leib mitschwingt. Intensiv und hochkomplex sind Einleibungen im Bewegungskontakt zwischen zwei Menschen (etwa 40 Vgl. Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Bonn 1995. S. 137–140. 41 Vgl. Matthew B. Crawford: Die Wiedergewinnung des Wirklichen. Eine Philosophie des Ichs im Zeitalter der Zerstreuung. Berlin 2016. S. 86–96.
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beim Paartanz) oder mit Tieren (etwa beim Reiten). In hervorgehobenen Leibesregionen, die Schmitz als Leibesinseln bezeichnet, finden Einverleibungen von Materie statt.42 Die orale Zone ist eine ausgezeichnete Region für das Spüren des leiblichen Dialogs von Enge/Weite und Spannung/Schwellung bei der Aufnahme von Nahrung. Für die anale Zone sind Ausleibungen typisch. In der genitalen Zone der Frau kann sich eine ungeheure Bandbreite von Einleibung, Einverleibung und Ausleibung manifestieren. Von den häufigen Selbstberührungen aller Menschen, bevorzugt im Gesicht, war schon die Rede. Ebenso berühren sich einzelne Leibesglieder ganz von selbst: Die Beine sind übereinandergeschlagen, die Arme verschränkt, Finger, Augenlider und Lippen berühren sich. Wir werden durch körpereigene Flüssigkeiten berührt: Schweiß und Tränen strömen auf der Haut, ungefragt bahnen sich Menstruationsblut und Fruchtwasser ihren Weg, in Responsivität zum Säugling oder in emotionaler Rührung spritzt und tropft einer Stillenden zuweilen die Milch aus der Brust. Und wir berühren unseren Körper absichtsvoll – in der Körperpflege oder wenn wir uns kratzen. Indes kann man sich zwar nicht selbst kitzeln, aber zum Orgasmus führen. Vielfältig berühren wir andere und werden von anderen berührt – ob willkürlich oder unbeabsichtigt, wohltuend und intim, neutral, übergriffig oder gewalttätig. Für manche Leibeszonen gelten (etwa aufgrund ihrer besonderen Reaktionsfähigkeit) Berührungstabus, die nur unter besonderen Bedingungen aufgehoben werden. Auch für ganze Menschengruppen wurden bzw. werden Kontaktverbote ausgesprochen: Dazu gehörten im christlichen Mittelalter zum Beispiel Menstruierende und Wöchnerinnen oder in Indien die Kaste der „Unberührbaren“. Allgemein gibt es entlang der in den Lebensformen ausgehandelten Vereinbarungen zahlreiche Berührungsetiketten. Werden diese nicht beachtet, folgen Sanktionen bis hin zu strafrechtlicher Verfolgung. Der Begrüßungshandschlag entstand ursprünglich als eine Geste, bei der man sich wechselseitig versicherte, keine Waffe in der Hand zu haben. Dass bestimmte Berührungsformen auch 42 Vgl. Schmitz: Gegenstand (wie Anm. 40). S. 119–121.
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Herrschaftsausübung bedeuten (z. B. in Klassen-, Rassen- und Geschlechterhierarchien), wurde unlängst wieder durch die MeToo-Bewegung offenkundig. Übergriffige Berührungen haben verheerende Auswirkungen auf die Würde des betroffenen Menschen. Tabuisierte oder strikt regulierte Berührungen wie zum Beispiel bei kulturspezifisch sozialisiertem Rollenverhalten in der Sexualität tangieren jedoch auch, freilich in anderer Weise, Fragen der Würde und Selbstbestimmung. Selbst ohne unmittelbaren körperlichen Kontakt werden wir durch die Blicke, die Ansprachen, die Gefühle sowie das Leiden anderer berührt und erfahren, dass auch sie durch uns berührbar sind. In leiblicher Resonanz mit der Um- und Mitwelt reagieren wir auf Halbdinge wie das Wetter, auf Klänge und Musik, auf Atmosphären, Anmutungen und Bewegungssuggestionen aller Art in Natur und Kunst sowie auf Stimmungen, die wir in Menschengruppen und Behausungen vorfinden. In der Diversität von Sinneseindrücken und Resonanzmöglichkeiten entfaltet sich eine er- staunliche Reichhaltigkeit unserer leiblichen Erfahrung. Wir interagieren durch Berührungen auch mit Lebewesen anderer Gattungen – unfreiwillig (teilweise angstbehaftet durch Koexistenz im Lebensraum) und absichtsvoll, wobei wir speziezistische Macht über die Freiheit und das Leben von Nutztieren ausüben oder Haustiere zur Befriedigung sozialer Bedürfnisse im körperlichen Nahbereich halten. In allen Modifikationen von berühren und berührt werden ist der Leib eine persönliche Situation, eingebettet in kollektiv gewachsene Lebensformen und eine biografische Genese, die durch individuelle Lotung Subjektivität konstituiert. Subjektivität und leibliche Lotung Wenn der Mensch seinen Körper „bewohnen“, ja „erobern“ lernt, so geschieht dies dadurch, dass er anfänglich in mühsamen Ausrichtungsprozessen sein leibliches Lot findet und leibliches Selbst wird. Dabei sind die Interaktionen des Tastsinnsystems mit den anderen Sinnen für eine Austarierung des Gleichgewichts bedeut95
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sam. Leibphänomenologisch verstehe ich darunter einen übergeordneten Phänomenbezirk, der auf komplexe Weise das affektivemotionale Resonanzvermögen integriert, das den Leib subjektiv durchzieht. Es geht also noch um anderes als den Leib als „Nullpunkt der Orientierung“ bei Stein und Husserl oder als „Gesichtspunkt aller Gesichtspunkte“ bei Merleau-Ponty, auch um anderes als die „Theorie der Leibesinseln“ bei Schmitz oder die „Situations- und Positionsräumlichkeit“ bei Waldenfels.43 Die leibliche Lotung betrifft die Weise, wie der Mensch sich in seiner Stimmung als leiblich erstreckter Raum und im Raum, präziser auf dem Boden, mit den Dingen und mit den anderen Lebewesen in seiner Umgebung spürt. Mit Blick auf die an Widerständen erfolgende Ausrichtung beruht die leibliche Lotung auf Einleibung, getragen durch die Einpassungen in die Lebensform und individual-biografische Erfahrungen, die sich im Leibgedächtnis anlagern. So verweist das leibliche Lot auf die von Schmitz bezeichnete „leibliche Ökonomie“44 – das In-der-Mitte-Stehen zwischen Enge und Weite, zwischen personaler Regression und personaler Emanzipation – und drückt als basale leibliche Disposition die durch aktuelle Befindlichkeit eingefärbte Haltung des Menschen zu sich und zur Welt aus. Die vor Freude hüpfenden Kinder, die leichtfüßig „schwebenden“ Verliebten, der hochfahrende Zornige, die niedergedrückte Traurige: Sie alle loten nicht nur eine Körpermasse aus, sondern fühlen ihren Leib in situativer Lotung. Zugleich sind sie prinzipiell offen, ja anfällig für spontane Änderungen ihrer Lage. So können die stolz geschwellte Brust und der triumphale Gang eines Studenten, der gerade seine Masterprüfung bestanden hat, schlagartig weichen, wenn er in einen Raum hereinplatzt, in dem sich eine Trauergemeinschaft versammelt hat. So kann ein schwer an seinem Leib schleppender Betagter sich mit einem Mal aufrichten, wenn er die heitere Stimme seiner Enkelin hört. Und so mag eine Frau, die zu später Stunde in eine Kneipe kommt, um Hilfe bei einer Autopanne zu erfragen, sich plötzlich unbehaglich fühlen, 43 Vgl. Gahlings: Leiberfahrungen (wie Anm. 39). S. 116–122. 44 Vgl. Schmitz: Gegenstand (wie Anm. 40). S. 135–137.
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wenn sie von den Blicken betrunkener Männer auf ihre Weiblichkeit hin taxiert wird. Möglicherweise ist ein Mensch aber durch intergenerationale Vorbelastungen, persönliche Traumatisierungen oder kulturelle Zwangslagen nur bedingt ansprechbar oder selektiv aufgeschlossen für atmosphärische Eindrücke. Derartige Imprägnierungen der Resonanzfähigkeit können eine solche Tragweite haben, dass man Situationen nicht adäquat einschätzt und sogar in Gefahr gerät oder starren Wiederholungsmustern verfällt.
Kritik der Lebensformen In leiblicher Lotung manifestiert sich allgemein die Grund- und Hintergrundtönung der Lebensformen. Unsere „zivilisierte“ Sitzkultur führt zum Beispiel häufig zur Ausbildung starrer Leibesinseln (steifer Nacken, hochgezogene Schultern, eingeschnürte Brust oder eingedrückter Oberbauch). Die Arbeit am Computerbildschirm formt den Körper zusätzlich (fixierte Augenstellung, Kurzsichtigkeit, typische Maushand). Habitualisierte Fehlhaltungen oder Verspannungen wirken sich schon bei trivialen Gleichgewichtsaufgaben und in vielen Feindifferenzierungen auf das Selbstgefühl aus. Sie können wiederum durch Körper- und Atemtraining, Gleichgewichts- und Symmetrieübungen, aber auch durch Berührungen (etwa in Massagen oder leiblicher Liebe) gelockert werden. Durch Responsivität entfaltet sich in ungemein enger Verwobenheit zum Beispiel von Körperhaltung, Atmungsverhalten und Gefühlsdisposition die leibliche Integrität. Diese kommt nicht nur individuell zum Tragen, sondern ebenso kollektiv als typische Disposition für bestimmte Zeitalter, Jahreszeiten oder Menschengruppen. Schmitz spricht hier von leiblichen Klimata, die in einem Zeitalter oder einer Generation die „Gestaltungskraft und spezifische Resonanzfähigkeit beeinflussen“45. Die leibliche Integrität ist immer schon geschichtlich (Körper als Speicher) und schreibt stetig Geschichte fort (Habitus als lebendes System). Sie kann mit Pierre Bourdieu gedeutet werden als labile Einheit zwischen einverleibtem Sozialem und sozialisierter Leib45 Ebd., S. 128.
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lichkeit.46 Der Mensch hat an den sozialen Determinanten nicht selbst mitgewirkt, bevor sie sich ihm inkorporierten, und ebenso wenig kann er den Resonanzboden abstreifen, der sein Erleben vorzeichnet. Daher wirken hier unentwegt individuelle Vermittlungsund Anpassungsprozesse in einer zugleich strukturierenden wie strukturierten Struktur. Damit sind Prozesse beschrieben, die in allen Lebensformen ausschlagen, so dass, wie Rahel Jaeggi geltend macht, durch kollektive Willensbildung bereits Entscheidungen darüber getroffen wurden und immerzu werden, wie man zu leben hat, also welche Selbstgefühle, Reflexionsweisen und Lebenskompetenzen, welche somatischen Kulturen und Berührungsetiketten, welche Leibbeziehungen etc. sich zugunsten anderer herausbilden sollen; und das betrifft zugleich Verfügungen darüber, welche Entfaltungsmöglichkeiten den menschlichen Fähigkeiten eingeräumt werden. Und da sich solche „Entscheidungen“ nachbuchstabieren und auf ihre normativen Implikationen hin examinieren lassen, zielt eine Kritik von Lebensformen auf „die innere Gestalt jener Institutionen und überindividuellen Zusammenhänge, die unser Leben formen und innerhalb derer sich unsere Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten erst ergeben“47. Die „öffentliche und auch philosophische Reflexion über Lebensformen“ ist also, nach Jaeggi, „weniger eine problematische Intervention in nicht zu hinterfragende Residuen individueller oder kollektiver Identität als vielmehr die Bedingung der Möglichkeit einer Transformation und Aneignung der eigenen Lebensbedingungen“48. Grundsätzlich kann man eine Lebensform daraufhin befragen, ob in ihr im guten Sinn zu leben ist, ob das Leben in ihr gelingt. Für alle Lebensformen ist aber anzuerkennen, dass wir erstens in sie hineingeboren werden, ohne sie selbst ausgewählt und mit entwickelt zu haben, und dass wir zweitens an unhintergehbare Existenzbedingungen gebunden sind – beides ist als Faktizität zu ver46 Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a. M. 1987. 47 Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen. Berlin 22014. S. 11/12. 48 Ebd., S. 12.
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buchen. Heranwachsende kommen aber zu einem Selbstverhältnis und beziehen Stellung zu der Lebensform, in der sie sich vorfinden. Sie entwerfen sich in, mit oder auch gegen sie. Dass dies überhaupt möglich ist, selbst in der schärfsten Gefährdung und Verweigerung individueller Um- und Mitgestaltung, hat Hannah Arendt mit dem Paradigma der Natalität deutlich gemacht, indem sie den Menschen als Initium bestimmte.49 Dass es möglich sein sollte und dass alle Menschen und die Regierungen eine moralische Verpflichtung dazu haben, Menschen ihr dadurch zum Ausdruck kommendes Menschsein zu ermöglichen, hat Nussbaum mit ihrem Capability-Approach deutlich gemacht.50 Zu den Fähigkeiten, die ein Mensch entfalten können soll, gehört die Fähigkeit, eine Vorstellung des Guten zu entwickeln und kritische Überlegung zur Lebensplanung anzustellen sowie die Fähigkeit, sein eigenes Leben und nicht das eines anderen zu leben. Aus der Möglichkeit, initiativ zu werden, und aus der Fähigkeit, ein eigenes Leben zu leben, ergibt sich generell, dass Lebensformen keine Naturgewächse sind, sondern „fluide, historisch variable und gestaltbare Gebilde“51. Gleichwohl fassen sie „das Handeln des Einzelnen ein“. Lebensformen lassen uns handeln, prägen und begrenzen also die verfügbaren Optionen.52 Als überindividuelle Praxiszusammenhänge strukturieren sie das Handeln der Einzelnen, aber sie werden auch von ihnen mitgestaltet und geschaffen. In diesem Wechselverhältnis lassen sich Lebensformen nach Jaeggi als „lernende Lernumgebungen“53 auffassen: Es kann in ihnen gelernt werden und dadurch „lernen“ sie selbst, insofern sich Erfahrungen, Interpretationsmuster, Rationalitätsformen etc. in ihnen anlagern. So sind auch die aus der Digitalisierung resultierenden Veränderungen der Lebensformen daraufhin zu befragen, ob sich gut damit leben lässt bzw. ob das Leben unter diesen Voraussetzungen gelingen kann. Dies gilt heute vor allem bezogen auf die 49 50 51 52 53
Vgl. Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Zürich 2007. S. 215. Vgl. Martha C. Nussbaum: Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Frankfurt a. M. 1999. Jaeggi: Lebensformen (wie Anm. 47). S. 188. Ebd., S. 70. Ebd., S. 330–332.
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Erkenntnisse, die sich aus der erweiterten Virtualisierung unserer Lebenswelt in der Corona-Pandemie zwangsläufig gewinnen lassen. Hier sind in unserem Kontext die Resonanz-Notlagen mit Blick auf das menschliche Grundbedürfnis nach Berührung, Geselligkeit und authentischer Begegnung bedeutsam. Berührungslose Gesellschaft? In ihrem Buch Die berührungslose Gesellschaft (2018) analysiert Elisabeth von Thadden eine öffentliche Reklametafel, auf der eine duschende Frau abgebildet ist, die von einem schemenhaften Phantasiegebilde aus weißem Seifenschaum innig umarmt wird. Der Sinn dieses Seifenwesens, das sich gänzlich androgyn einer geschlechtlichen Zuordnung entzieht, wird mit den Worten „Um Ihre Haut in Schutz zu nehmen!“ kolportiert. Für die Autorin ist diese Werbung eine Momentaufnahme unserer Gesellschaft: In dem Dilemma, Schutz vor Verletzung des Körpers und zugleich zärtliche Zuwendung zu brauchen, ist der Seifenschaum, in den man sich selbst hüllt, eine sichere Lösung.54 Und tatsächlich wird heutzutage schon für Kinder ein Duschschaum beworben, der eine verblüffende Materialität aufweist: Er ist dicht, geradezu fest und schmiegt sich spürbar haftend an die Haut. Die Ambivalenzen scheinen unbestreitbar: Im Horizont einer immensen kulturellen Errungenschaft, nämlich des modernen Rechts und Versprechens auf körperliche Unversehrtheit, erfährt der Mensch ein Defizit an zwischenmenschlicher Nähe und damit möglicherweise einen Selbstverlust. Es ist mittlerweile gut belegt, dass dort, wo früher erzwungene Nähe herrschte, heute die selbstbestimmte, meist sogar unfreiwillige Einsamkeit einen erheblichen Leidensfaktor darstellt.55 Auch tritt durch digitalisierte Sozialwelten schon seit etwa drei Jahrzehnten der direkte Kontakt zwischen den Menschen zurück. Doch sind wir wirklich unterwegs zu einer „berührungslosen“ Gesellschaft? Als Phänomenologin würde ich mich darauf nicht versteifen und den Menschen – 54 Elisabeth von Thadden: Die berührungslose Gesellschaft. München 2018. S. 9–16. 55 Manfred Spitzer: Einsamkeit. Die unerkannte Krankheit. München 2018.
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wie gezeigt – als homo hapticus ausweisen. Selbst wenn unsere Berührungsakte einige Veränderungen durchlaufen, negative und positive, ist es gar nicht möglich, unberührt bzw. berührungslos zu leben, das gehört zum Widerfahrnis-Charakter leiblicher Existenz. Will man dann noch gesund und glücklich leben, ist körperliche Nähe in jedem Lebensalter unabdingbar. Dieses Wissen, das inzwischen auf soliden neurobiologischen Erkenntnissen beruht56, hat das philosophische Verständnis von Intersubjektivität bestätigt und den Alltag längst erreicht. Das Bedürfnis nach Berührung wird in den lukrativen Körperindustrien, in Wellnessoasen, bei Kuschelpartys und Tantrakursen ebenso bedient wie auf dem Sexmarkt und bei Elternkursen für Babymassagen. Es findet Niederschlag in Free-Hugs-Angeboten und Eye-Contact-Aktionen oder im Zuwachs der Haustierhaltung. Es wird psychologisch im Umgang mit Kunden verkaufsfördernd eingesetzt und ist in der medizinischen, therapeutischen und pflegerischen Arbeit bekannt. Die Chancen stehen also eigentlich gar nicht so schlecht, dass wir in Berührung bleiben. Im Zuge der Corona-Pandemie wurden diese allerdings für einen langen Zeitraum auf ein nahezu unerträgliches Maß reduziert. Resonanz-Notlagen in der Coronazeit Durch die Einschränkungen des sozialen Miteinanders verzeichnen wir aktuell bedeutsame Resonanz-Notlagen bezogen auf Geselligkeit, Berührung, authentische Begegnung und Spontaneität im leiblichen Kontakt. Im Zuge weltweiter Informationskampagnen mit „Imagofixierung“ (emblematische Visualisierung des Coronavirus; dramatische Bilder von Kranksein, Intensivstationen, Tod, Begräbnis) sowie „Gefühls- und Bewusstseinsimprägnierung“ (Angst vor Infektion, Eingenommenheit) befinden wir uns derzeit in einer seltsam anmutenden polarisierenden Gemen56 Vgl. neben Grunwald: Hapticus (wie Anm. 26) auch Rebecca Böhme: Human Touch. Warum körperliche Nähe so wichtig ist. Erkenntnisse aus Medizin und Hirnforschung. München 2019.
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gelage in unserem Verhältnis zum Mitmenschen. Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie haben die oben erwähnten Körperindustrien und alle kulturell bedeutsamen Stätten für existenzielle Resonanz temporär vom Markt entfernt. Zudem ist allgemein das soziale Miteinander empfindlich gestört. Die Berührung, ja schon der Kontakt auf Riechnähe ist zur Bedrohung geworden und wird in disziplinierenden Verfahren neu geordnet. Wenn Berührungen in bestimmten Personenkreisen erlaubt sein sollen, müssen ihr Rituale vorangehen: Händewaschen, Händedesinfizieren mit besonderen Sinneseindrücken (Riechen des Desinfektionsmittels, Spüren des Einziehens der Flüssigkeit auf der Haut etc.), das Anlegen bestimmter Bekleidungsstücke (Gesichtsmaske nach differenzierten Vorgaben) oder ein Besuch in der Arztpraxis bzw. im Testzentrum zur Abnahme und Untersuchung von Körpersekreten in Nase oder Rachen. Es wird uns abverlangt, unser Bedürfnis nach leiblicher Nähe zu rationalisieren. So werden im gegenwärtigen Geschehen die Berührungsetiketten umfänglich reguliert und völlig neu ausgehandelt, mit weitreichenden Konsequenzen. Die Kontaktrestriktionen und Berührungstabus beeinträchtigen unser Bedürfnis nach Geselligkeit und interpersonaler Bezogenheit. Nach einer langen Zeit mit immer wieder wechselnden Begrenzungen unserer sozialen Spontaneität haben sich unsere Umgangsformen deutlich verändert: 1. Der Begrüßungshandschlag ist völlig obsolet geworden. 2. Umarmungen unter Freunden finden nicht mehr spontan statt, sondern nur nach vorheriger Rückversicherung und Einholung der Erlaubnis des oder der anderen. 3. Im Miteinander hält man Abstand und rückt bewusst voneinander ab. 4. Unter hohen Inzidenzzahlen wechselt man selbst im Freien die Straßenseite, wenn man Menschen begegnet. 5. Kinder laufen nicht mehr spontan ihren Großeltern oder anderen Verwandten in die Arme, sondern zügeln solche leiblichen Impulse der Wiedersehensfreude. 102
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Das gesamte soziale Klima hat sich verwandelt, und besonders empfindlich leiden Kinder und Jugendliche in ihrer leiblichen Spontaneität und ihren vielfältigen Berührungsgesten unter der Notwendigkeit, radikale Formen der Selbstdistanzierung einzuüben. Allenthalben wird die Digitaltechnik gelobt, die uns die Krise sehr erleichtert – was wären wir gerade jetzt wohl ohne sie!? Und doch lassen uns die virtualisierten Kontakte deutlich die Sehnsucht nach einer anderen Resonanz spüren. Das betrifft zunächst einmal den privaten Lebensbereich: In unserer liberalen und offenen Gesellschaft ist es für alle herausfordernd, sich in unmittelbaren zwischenmenschlichen Begegnungen obrigkeitskonform zu disziplinieren. Wesentliche Momente unbefangener Kontaktgestaltung rational durchbrechen zu müssen und in Selbstdistanzierung zurückzuhalten, läuft unserem Verlangen nach Resonanz zuwider. Dies wird vor allem durch die Dauer der Beschränkungen leidvoll. Die staatlichen Eingriffe in das private Leben mit Vorschriften für die persönliche Lebenspflege und unsere Berührungshandlungen tangieren unser Recht auf ein selbstbestimmtes soziales Leben im Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis sowie in größeren Menschengruppen. Die Verlagerung der privaten Kontaktsphären in den virtuellen Raum bereitet mit der datenförmigen Verdopplung der Welt (Nassehi) in dem auf Künstlichkeit basierenden Zwischenreich (Keyserling) etliche Schwierigkeiten. Während man normalerweise en passant, also durch die Gegenwart der anderen, pathisch erfasst und in Intuitionen verarbeitet, was die anderen betrifft und wie im guten Sinn kommuniziert werden kann, werden im digitalen Kontakt ja gerade die leibgebundenen Stimmungen und chaotisch-mannigfaltigen Eindrücke abgeblendet. Das Gegenüber wird im Kamerabildausschnitt nicht über den ganzen Körper erstreckt und auch nicht in den üblichen Bewegungsanmutungen erfasst. Der Leiteindruck von der Gestalt des anderen ist auf den Kopf, Teile des Oberkörpers und einen kleinen Bewegungsradius beschränkt. Das leibliche Spüren findet kaum einen Anker in der flachen Präsentation des anderen am Bildschirm und weicht dann zwangsläufig gegenüber visuell und kognitiv-rational gestützten Einschätzungen zurück. Es entwickeln sich im 103
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Zuge der Erfahrung in digitalen Kontakträumen durchaus neue, freilich veränderte Möglichkeiten der „Einleibung“, die mit einer Filterung und Kanalisierung der Sinneseindrücke (vor allem einer Konzentrierung auf Seh- und Hörsinn) einhergehen. Diese werden indes teils als quälend reduziert erfahren und reichen in keiner Weise an die Mannigfaltigkeit des Spürens heran, die sich in „analogen“ Begegnungen ereignet. Augenfällig wird dies an dem seltsam zeit- und raumverschobenen asynchronen und damit nur vermeintlichen Blickkontakt im virtuellen Raum. Ein Blickwechsel ist hier nämlich überhaupt nicht möglich. Der Mensch vor dem Bildschirm kann sich gleichwohl einbilden, vom anderen angeblickt zu werden, und man kann auch lernen, so in die Kamera zu schauen, dass dem anderen dieser Eindruck vermittelt wird, jedoch kommt es nicht zum wechselseitigen unmittelbaren Blickwechsel vis-à-vis. Die Erfahrung des Eintauchens in das Antlitz des anderen in eins mit der Erfahrung der eigenen Aufgehobenheit im Antlitz des anderen entfällt. Diese aus der Ungleichzeitigkeit und der nicht geteilten Räumlichkeit resultierende Resonanzeinschränkung verursacht eine seltsame Empfindung von Abwesenheit des anderen und des Nicht-Wahrgenommen-Werdens durch ihn. Hier nimmt die Sehnsucht nach existenzieller Resonanz einen bedeutsamen Ausgang. Im Zuge der neu etablierten Umgangsformen im virtuellen Kontaktraum zeigt sich ein aufschlussreiches Detail, das bei Videotreffen immer wieder spontan in Erscheinung tritt: das Winken mit einer Hand oder sogar mit beiden Händen zur Begrüßung und zur Verabschiedung. Es ist, als würde man aus der Ferne dem anderen zuwinken, der ja paradoxerweise eigentlich am Bildschirm ganz nah, manchmal sogar allzu nah ist. Bemerkenswert ist auch, dass man dem anderen seine sich bewegende Hand in die Kamera rückt, ein Körperteil, das ansonsten im Kameraausschnitt meist nicht sichtbar ist. Möglicherweise eine Adaption des Begrüßungsund Verabschiedungshandschlags, in jedem Fall eine Geste besonderer leiblicher Zuwendung und Hinwendung, die häufig von einer gewissen Lebendigkeit auch der Ansprache und Gesichtsmimik begleitet ist. 104
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Dies alles tangiert noch in anderen Facetten den beruflichen Bereich: Einmal abgesehen von der Situierung in den privaten Wohnungen geht die Bildschirmarbeit im Homeoffice mit erheblichen Beschwernissen einher, vor allem, wenn der Beruf von zwischenmenschlichen Kontakten abhängt. Da sind die technischen Lästigkeiten, die vor allem zu Beginn der Beschränkungen, als sich die Routinen noch nicht herausgebildet hatten, häufig eine Verlässlichkeit der Interaktionen in Frage stellten und damit ein besonderer Stressfaktor waren. Da sind die Bewegungseinschränkungen aufgrund der Fixierung auf den Bildschirm. Da sind vor allem die merkwürdig anders wahrgenommenen Menschen, zu denen man als Berufstätige aber doch Beziehungen zu pflegen hat. Wenn die Kommunikation, ja sogar wichtige Verhandlungen und Geschäftsabschlüsse mit Kolleg*innen, Geschäftspartner*innen, Kund*innen oder sogar eine auf körperliche oder seelische Bedürftigkeit reagierende professionelle Begegnungskultur nur über den Bildschirm ablaufen, entgehen uns wesentliche atmosphärische und leibliche Interaktionen, mithin bedeutsame Kenntnisse über unser Gegenüber und des Gegenübers über uns. Hier müssen neue Formen der Verständigung und des Auslesens des anderen entwickelt und erprobt werden. Mit diesen Lernfeldern sind besondere Anstrengungen verbunden. Noch dazu ist immer wieder unser Rollenverständnis auf dem Prüfstand, wenn sich unser berufliches Leben mit einem Mal ausschließlich in unseren privaten Räumen abspielt. Diese unselige Vermengung und Entgrenzung von Privatem und Beruflichem stellt uns vor Herausforderungen. Der private Bereich ist ja gerade dadurch privat, dass wir uns in ihm in einer geschützten Weise der Um- und Einhegung unserer Gefühlswelten aufhalten können. Schmitz schreibt, Wohnen ist Kultur der Gefühle im umfriedeten Raum, wobei sich der Mensch mit den abgründigen Atmosphären, die diesen durchziehen, so arrangiert, dass er zu ihnen ein Verhältnis findet, in dem er mit einem gewissen Maß an Harmonie und Ausgeglichenheit leben kann.57 57 Schmitz: Gegenstand (wie Anm. 40). S. 318.
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Dem Geschäftsreisenden, der sich ständig an anderen Orten aufhalten muss, fehlten solche Möglichkeiten des Wohnens, auch wenn er ein Dach über dem Kopf habe und für seine alltäglichen Verrichtungen gesorgt sei. Die spezifische Räumlichkeit der Gefühle werde, so Schmitz, daran eindringlich, „dass Menschen immer wieder solcher Stätten des Wohnens – statt bloßer Unterbringung unter Dach und Fach – bedürfen“, um „die Gefühle gewissermaßen einzufangen, zu verwalten und an ihnen zu gestalten“58. Wird nun das Berufsleben in die Räume des Wohnens verlegt, werden die Möglichkeiten, sich in der Sphäre individueller und familiär umhegter Gefühle aufzuhalten und zu erholen deutlich reduziert. Das ist ohne die Corona-Maßnahmen bereits ein grassierendes Problem: bezogen auf den Anspruch an die ständige digitale Erreichbarkeit von Berufstätigen in der Freizeit und sogar im Urlaub. Hier sind sowohl eine individuelle Lebenspflege als auch eine entsprechende Unternehmenskultur im Umgang mit dem Mobiltelefon unabdingbar geworden. Unter den Umständen der pandemiebedingten Einschränkungen handelt es sich aber um ein viel schwerwiegenderes Problem, indem nämlich die privaten Schutzstätten zur Erholung und Umfriedung der Person von beruflichen Inhalten, Prozessen und Atmosphären über einen längeren Zeitraum hinweg „durchzogen“ und „bevölkert“ werden. Kolleg*innen, Geschäftspartner*innen und Kund*innen, die man im Leben nicht persönlich nach Hause eingeladen, geschweige denn ins persönliche Arbeitszimmer gelassen hätte, „kommen“ mit einem Mal in zutiefst private Lebensbereiche. Zudem sind ja die Möglichkeiten des Ausweichens auf andere Verweilorte für die Frei- und Familienzeit ebenfalls beschränkt – einmal abgesehen von den Problemen mancher Menschen, im privaten Wohnraum überhaupt einen abgesonderten Bereich für die berufliche Tätigkeit zu finden, beispielsweise in wenig finanzkräftigen oder von vielen Personen, zusätzlich vielleicht auch Haustieren bewohnten Haushalten.
58 Ebd., S. 319.
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Es ist im Lockdown durchaus nicht unüblich, dass sich Arbeitende, entgegen der verbreiteten Meinung, sie würden im lockeren „Schlabber-Outfit“ auf der häuslichen Couch im unaufgeräumten Wohnzimmer bequem das Arbeitsleben bestreiten, ihre professionelle Kleidung anlegen, ein büroähnliches Ambiente schaffen, ja sogar häufig, um nur ein Beispiel zu nennen, das für die Arbeitswelt übliche Parfüm oder Rasierwasser auftragen, um leichter in die berufliche Rolle zu schlüpfen oder auch vor den Kindern die andere Persönlichkeit deutlich zu verkörpern. Dennoch bleiben die Probleme mit den Atmosphären des Arbeitsumfeldes. Selbst wenn man technisch den Hintergrund, vor dem man für andere dann am Bildschirm sichtbar ist, verfremden oder sogar durch virtuelle Bilder ersetzen kann, hält man sich ja leiblich im privaten Kontext auf. Während sich der normale Arbeitsalltag außerhalb der Privatsphäre ereignet, mit Wegstrecken zum Arbeitsplatz und einem Eintauchen in die dortigen Atmosphären mit ihren Geräuschen, Gerüchen, Farben, Möbeln etc., den Kolleg*innen und sonstigem Personal, verkürzt sich die Einfindung in die Rolle dramatisch, wenn wir vom Frühstückstisch in der Küche aufstehen und eine Vorstandssitzung bestreiten. Von den Nöten der Familien, die neben und meist parallel zu ihrem Homeoffice auch noch das Homeschooling beaufsichtigen, kann hier schon gar nicht angemessen gesprochen werden. Die aufoktroyierte und auf lange Dauer gestellte unausweichliche Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern ohne die dringend benötigte Entlastung für beide hat schon zu dramatischen Konflikten geführt. Nach einem Jahr der pandemiebedingten Beschränkungen wissen wir durch Studien, dass jedes dritte Kind psychisch auffällig ist und unter dem Druck dieser Situation erheblich leidet.59 Die Not der Eltern, die schweren Herzens und unangemessen oft gezwungen sind, ihre Kinder abzuweisen oder den Fernsehern, Videospielen und Handys zu überlassen, weil sie zu Hause arbeiten 59 Vgl. Ulrike Ravens-Sieberer/Anne Kaman/Michael Erhart/Janine Devine/Robert Schlack/Christiane Otto: Impact of the COVID-19 pandemic on quality of life and mental health in children and adolescents in Germany. In: European Child and Adolescent Psychiatry. 30 (2021). DOI:10.1007/s00787-021-01726-5.
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Ute Gahlings
müssen, wurde nicht untersucht. Das dürfte aber nicht der einzige Leidensfaktor sein. Die berufliche Benachteiligung von Eltern mit heranwachsenden Kindern ist schon außerhalb eines pandemischen Geschehens signifikant, in der Corona-Zeit sind der Radius und die Signifikanz der Belastungen erheblich erweitert worden. Die deutlich zu Tage getretene Erschöpfung der unter den Covid-19-Einschränkungen leidenden Bevölkerung breitet sich wie in einer niederdrückenden Stimmungsglocke atmosphärisch aus. Sie hat sicher ihre Ursache in einer massiven Überforderung, vor allem in den Familien und bei den vielen von Existenzangst Betroffenen, bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, erholsame Situationen im privaten oder öffentlichen Bereich aufsuchen oder ausreichend dem Grundbedürfnis nach Geselligkeit nachkommen zu können. Zusammenfassend ist zu sagen, dass bei aller Schwere des pandemischen Geschehens und der Notwendigkeit von Solidarität viel stärker als bisher das Leiden der Menschen an eingeschränkter oder sogar versagter existenzieller Resonanz Berücksichtigung finden sollte, und zwar differenziert bezogen auf besonders betroffene Gruppen der Bevölkerung wie zum Beispiel Heranwachsende, Schwerkranke, Ältere oder Menschen in besonderen Lebenslagen, wie etwa Gebärende, Sterbende oder Trauernde. Die Sehnsucht nach Resonanz, die uns durch die Beschränkungen des „analogen“ Lebens in der Corona-Krise bewusst wird, ist ernst zu nehmen, wenn wir verhindern wollen, dass Menschen in der Welt der Künstlichkeit verloren gehen und sich kaum noch leiblich auf die Mitwelt bezogen fühlen. Gerade jetzt brauchen wir eine Neubesinnung auf die intersubjektive Bezogenheit und eine Ethik existenzieller Resonanz, die dem menschlichen Grundbedürfnis nach Berührung, Geselligkeit und unmittelbarer wechselseitiger Aufgehobenheit im Antlitz des anderen wieder zur Geltung verhilft. Zur Aneignung und Transformation unserer von Digitalgeräten durchwalteten Lebensformen erscheint es unabdingbar, die eingangs entwickelten ethischen Aufgaben im gesellschaftlichen Diskurs nachhaltig zu ventilieren: die vernunft- und emotionsgestützten Verstehensorgane hin zur Kritik-, Diskurs- und Begegnungsfähigkeit auszubilden 108
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und anzuwenden, das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer kritikgeleiteten Lebenspflege in den virtualisierten Lebensräumen zu schärfen und Schutzzonen für die private, institutionelle und öffentliche Kultivierung von existenzieller Resonanz zu etablieren.
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Einleitung Gestaltung lässt sich grob vereinfachend als eine Tätigkeit charakterisieren, die darauf abzielt, Form, Farbe und Material ausgewählter Ausschnitte unserer sinnlich erfahrbaren Lebenswelt festzulegen. Das können einzelne Gebrauchsgegenstände sein, die sich zu alltäglichen Wohn-, Arbeits-, Verkehrs-, Freizeit-, Lernund anderen Umgebungen zusammenfügen1, aber auch Dinge, die der zwischenmenschlichen Kommunikation dienen, wie Bücher, Zeitschriften, Zeitungen oder Websites. Hinzu kommen die gestalterischen Aufgaben der Architekten und Landschaftsarchitekten.2 Gestalterisches Handeln erfolgt dabei nicht beliebig, sondern so, dass seine Resultate zu einem guten beziehungsweise sinnerfüllten menschlichen Leben beitragen.3 Insofern setzt gelungene Gestaltung das voraus, was Gernot Böhme „Achtsamkeit“ nennt: „Eine wache Zuwendung zu mir selbst, anderen Menschen, Dingen und Lebewesen, durch die die Adressaten der Achtsamkeit 1 Zum Beispiel Kleidungsstücke, Schmuck, Brillen, Leuchten, Möbel (Tische, Sitzmöbel, Betten, Schränke), Elektrogeräte (Staubsauger, Waschmaschinen, Geschirrspüler, Plattenspieler, Blu-ray-Spieler, Radios, Fernsehgeräte, Computer, Drucker, Scanner), Fahrzeuge (Fahrräder, Automobile, Bahnen, Flugzeuge, Schiffe), Investitionsgüter. 2 Zu diesen gehören unter anderem Wohnhäuser (Villen, Siedlungen, Hotels, Wohnheime), Kraftwerke, Bahnhöfe, Straßen, Brücken, Flugplätze, öffentliche Verwaltungsgebäude, Produktionsstätten, Handelsstätten, Schulen, Hochschulen, Bibliotheken, Archive, Ausstellungsgebäude, Veranstaltungsgebäude, Sportstätten, Heilanstalten, Militäranlagen, Sakralbauten sowie zoologische und botanische Gärten, Parks und Wälder (vgl. exemplarisch Kai Buchholz/Phillip Oswalt (Hg.): 100 Jahre Moderne in Hessen. Berlin 2019). 3 Vgl. z. B. Kai Buchholz: Design und Philosophie. Auf der Suche nach dem guten Leben. In: Design & Philosophie. Hg. J.-C. Dissel. Bielefeld 2016. S. 17–30.
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in ihrer Individualität und Bedürftigkeit wahrgenommen werden.“ 4 Von Achtsamkeit begleitete Gestaltung schafft Lebenszusammenhänge, die gutes menschliches Handeln optimal unterstützen und ästhetisches Wohlbefinden hervorrufen. Da sich diese Handlungen und Empfindungen in unserer realen, analogen Lebenswelt abspielen, ist davon auszugehen, dass Gestaltung differenzierte analoge Kompetenzen – vor allem auch eine feinfühlige ästhetische Bildung5 – voraussetzt. Bereits lange vor der Erfindung und Verbreitung von Computern, nämlich mit dem Beginn der technischen Zivilisation, wird die ästhetische Bildung jedoch zugunsten einer einseitigen Verstandesbildung vernachlässigt. So kritisiert der Lebensreformer Heinrich Pudor 6 1902 in seinem Buch Laokoon: Thatsache ist […], dass ebensogut als der Verstand auch die Sinne Existenzberechtigung haben und dass es nur eine traurige Folge der einseitigen Verstandesherrschaft im 19. Jahrhundert ist, dem Jahrhundert der Wissenschaft, dass unsere Sinne stumpf wurden: wir sehen schlecht, wir hören schlecht, wir riechen schlecht […]. Man wird sich wohl heute zum mindesten darüber klar sein, dass die Verstandesherrschaft nicht eine so einseitige sein dürfe, wie sie es heute ist, dass vielmehr die Bildung des Herzens der Bildung des Verstandes das Gleichgewicht halten muss. Der Verstand ist kalt und trocken, nüchtern und knöchern, seelenlos, unfruchtbar und eng; das Herz ist weit und warm – aus dem Herzen kommt das Blut und aus dem Blute kommt die Blüte.7
Ähnlich äußert sich der Architekt Hermann Muthesius 1911 auf der Jahresversammlung des Deutschen Werkbunds. Er kritisiert, dass sich die Menschheit seit dem 18. Jahrhundert einseitig in Richtung des „verstandesmäßigen Erkennens“ entwickele. Indem 4 Gernot Böhme: Gut Mensch sein. Anthropologie als Proto-Ethik. Zug 2016. S. 247. 5 Vgl. dazu u. a. Kai Buchholz/Elisabeth Mollenhauer-Klüber/Justus Theinert (Hg.): Herausforderung ästhetische Bildung. Bielefeld 2017. 6 Zu Pudor vgl. Kai Buchholz: Gegen Papageiennaturen. Ethik und Ästhetik der Sprache bei Heinrich Pudor. In: Die Literatur der Lebensreform. Hg. T. Carstensen/M. Schmid. Bielefeld 2016. S. 137–152. 7 Heinrich Pudor: Laokoon. Kunsttheoretische Essays. Leipzig 1902. S. 217/218.
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sich die Mathematik mit den Naturwissenschaften verbunden habe, sei die exakte Forschung entstanden und daraus wiederum die wissenschaftlich begründete Technik. Deren Erfolge ließen sich nicht von der Hand weisen. Zugleich seien jedoch ein „Rückgang des Kunstempfindens“ sowie allgemein eine wachsende Gleichgültigkeit gegen die „Empfindungswerte“ zu beklagen: Noch das achtzehnte Jahrhundert folgte in seinen Umgangsformen, in seinen Festen, in der Einrichtung des Hauses, des Gartens, festumgrenzten Regeln, alle diese Dinge gingen aus einem Gefühl der wohltuenden Schicklichkeit hervor, ein Sinn für Rhythmus beherrschte das ganze Leben. Damals konnte denn auch eine Architektur als Überzeugung eines Zeitalters lebendig sein, denn in gewissem Sinne war die ganze Lebensführung architektonisch. Diese rhythmischarchitektonische Lebensbetätigung war im übrigen nur das Ende eines Zustandes, der bis dahin die Menschheit aller Kulturen überhaupt beherrscht hatte. Sehen wir doch schon bei den Urvölkern in jeder Tätigkeit, sei es im Tanz, in der Sprache, selbst bei Verrichtung ihrer primitiven Arbeiten, das Walten eines unbewußten rhythmischen Instinkts. Die Musik dient dem Tanz und der Geste als Taktmesser. Die Baukunst ersteht aus ihren primitivsten Äußerungen zu unzweifelhaft rhythmischen Gebilden, bei denen die reguläre Grundform, die Symmetrie und die rhythmische Reihung der Glieder von Anfang an vorhanden sind. Die Sprache aller jungen Völker ist gebunden. Die Form tritt bei ihr stärker hervor als die Präzision des Gedankenausdruckes. Das Drama, das sich aus dem Tanze der Urvölker entwickelt, ist von strenger Architektonik beherrscht. Die Kleidung, bei der von Anbeginn die Schönheit über der Nützlichkeit steht, folgt künstlerisch-architektonischen Grundsätzen und fügt sich dem Wohllaut des menschlichen Äußerungskreises harmonisch ein. So hat die Form stets uneingeschränkt geherrscht, und es wäre undenkbar gewesen, daß andere Gesichtspunkte, wie solche nützlicher oder sentimentaler Art, ihren wohltätigen Zwang beseitigt hätten.8
8 Hermann Muthesius: Wo stehen wir? In: Die Durchgeistigung der deutschen Arbeit. Jahrbuch des Deutschen Werkbundes 1912. Jena 1912. S. 12/13.
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Handwerk versus Maschinenarbeit Auf diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die industrielle Massenproduktion von gestalterischer Seite kritisch begleitet wird. Bei der ersten Weltausstellung 1851 in London zeigt sich augenfällig, dass die Industrienationen zwar verblüffende technische Erzeugnisse vorzuweisen haben, hinsichtlich der gestalterischen Qualität jedoch zurückgefallen und von Ländern wie Indien überholt worden sind.9 Der Architekt Gottfried Semper wird beauftragt, Auswege aus dieser unbefriedigenden Lage aufzuzeigen. Noch im selben Jahr verfasst er seinen Bericht mit dem Titel Wissenschaft, Industrie und Kunst, in dem er den Überfluss an technischen Produktionsverfahren als das Hauptproblem benennt. Dieses Überflusses könne man nicht in kurzer Zeit Herr werden, da Gebrauchsgegenstände von strenger Notwendigkeit und geistiger Freiheit nur dann entstehen könnten, wenn ihre Eigenschaften zuvor vom „Bieneninstinkt des Volkes“ durchgeknetet worden seien. Die Lösung sieht Semper darin, Kunstgewerbemuseen einzurichten, in denen mustergültige Alltagsprodukte der Vergangenheit gezeigt werden. Diese sollen Konsumenten, Produzenten und Händlern wie auch den Studierenden von Kunstgewerbeschulen als Anschauungsmaterial dienen, um sich Geschmack und Sinn für gestalterische Qualität anzueignen. Zudem müsse die Formgebung den maschinellen Herstellungsweisen angepasst werden.10 Sempers Vorschläge treffen auf fruchtbaren Boden – bereits 1852 gründet Queen Victorias Gemahl Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha zusammen mit dem Kunstmäzen Henry Cole in London das South Kensington Museum (heute Victoria and Albert Museum). Institutionen nach diesem Modell entstehen wenig später auch in Wien (Österreichisches Museum für Kunst und Industrie, 1863) und Berlin (Deutsches Museum für Kunst und Gewerbe, 1868). 9 Vgl. Kai Buchholz/Justus Theinert: Designlehren. Wege deutscher Gestaltungsausbildung. Bd. 1. Stuttgart 2007. S. 15. 10 Vgl. Gottfried Semper: Wissenschaft, Industrie und Kunst. Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühles. Bei dem Schlusse der Londoner Industrie-Ausstellung. Braunschweig 1852. S. 12–15.
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Zeitgleich fordert der einflussreiche englische Kulturtheoretiker John Ruskin dagegen, zum Handwerk zurückzukehren. Nur durch die lebendige Tätigkeit des Handwerkers, dessen Arbeit von Herz (heart) und Geist (mind) beseelt werde, könnten qualitativ hochwertige und humane Dinge des alltäglichen Gebrauchs entstehen. Solche handwerklichen Produkte wirkten wie gut vorgetragene, tief empfundene Gedichte, während maschinell erzeugte Güter mit unachtsam heruntergeleierten Versen zu vergleichen seien.11 An anderer Stelle plädiert Ruskin für eine ästhetische Bildung, bei der analoge Kompetenzen eine Schlüsselrolle spielen – gärtnern, reiten, segeln, spinnen, weben, nähen, kochen, singen und tanzen.12 Auch der Gestalter William Morris, der später die Arts-and-Crafts-Bewegung begründet und damit Ruskins Ideen in die Tat umsetzt, hält ästhetische Bildung für eine notwendige Voraussetzung, um die bürgerliche Gesellschaft in eine humane Gesellschaft zu transformieren. Das 19. Jahrhundert charakterisiert er als das Jahrhundert des Kommerzes, in dem die Menschen das Leben von Maschinen führten, das ihnen nur wenige Stunden am Tag Zeit lasse, um nachzudenken, und das nicht geeignet sei, ihren Körper und ihren Geist förderlich zu entwickeln.13 Diese Form der Zivilisation sei auf dem Wege, „alle Schönheit des Lebens niederzutreten und uns zu Geringerem als Menschen zu machen“14. Morris hofft darauf, dass sich das 20. Jahrhundert zum Jahrhundert der Bildung aufschwinge, und er lässt keinerlei Zweifel daran, dass wahre Bildung seiner Auffassung nach nicht ohne künstlerische Erziehung gelingen könne.15 Als Mitbegründer der britischen Labour Party hat Morris auch das Wohlergehen der Mitarbeiter im Blick, die für seinen Handwerksbetrieb Morris & 11 Vgl. John Ruskin: The Seven Lamps of Architecture. New York 1854. S. 141. 12 Vgl. John Ruskin: Fors Clavigera. Letters to the Workmen and Labourers of Great Britain. Bd. 1. London 1907. S. 96, 143. Vgl. dazu auch Charles Robert Ashbee: An Endeavour towards the Teaching of John Ruskin and William Morris. Strand 1901; Gerda Breuer: John Ruskins Konzept ästhetischer Bildung und die Arts-and-Crafts-Bewegung. In: Herausforderung ästhetische Bildung. Hg. K. Buchholz/E. Mollenhauer-Klüber/J. Theinert. Bielefeld 2017. S. 52–71. 13 Vgl. William Morris: Die Schönheit des Lebens. Leipzig 1902. S. 23/24. 14 Ebd., S. 6. 15 Vgl. ebd., S. 24.
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Co. tätig sind – die von sinnlicher Erfahrung geleitete handwerkliche Tätigkeit erfülle den Menschen, während das Bedienen von Maschinen ihn unbefriedigt und leer zurücklasse. Doch trotz wirtschaftlicher Erfolge setzt sich die von Ruskin und Morris propagierte Rückkehr zum Handwerk nicht durch. Bereits die Reformbewegung der Zeit um 1900, die künstlerisch an die Arts-and-Crafts-Bewegung anknüpft, hebt immer wieder die Chancen hervor, die sich aus den maschinellen Fertigungsverfahren ergeben. Das bezeugt beispielsweise ein Vortrag, den der britische Schriftsteller Oscar Wilde 1882 vor US-amerikanischen Arbeitern hält. Wilde erklärt dort unter anderem: Do you think, for instance, that we object to machinery? I tell you we reverence it; we reverence it when it does its proper work, when it relieves man from ignoble and soulless labour, not when it seeks to do that which is valuable only when wrought by the hands and hearts of men. Let us have no machine-made ornament at all; it is all bad and worthless and ugly. And let us not mistake the means of civilisation for the end of civilisation; steam-engine, telephone and the like, are all wonderful, but remember that their value depends entirely on the noble uses we make of them, on the noble spirit in which we employ them, not on the things themselves.16
Nur wenn sich Menschen Dinge von Wert zu sagen hätten, seien Telefone nützlich. Wenn ein durchschnittlicher Engländer dagegen mit dem Zug nach Italien reise und sich anschließend an nichts anderes erinnere, als dass er von einem Boten in Rom betrogen worden sei oder in Verona ein schlechtes Abendessen vorgesetzt bekommen habe, dann bringe die Erfindung der Eisenbahn ihm oder der Zivilisation nichts Gutes. Pudor hält die massenhafte industrielle Herstellung von Gebrauchsgegenständen für einen Segen, weil sich so künstlerisch wertvolle Entwürfe verbreiten ließen. Man müsse nur darauf achten, dass keine „erbärmlichen“, „mit der Lüge vermählten“ und „vom Krebs der Ideenarmut an-
16 Oscar Wilde: Art and the handicraftsman. In: Ders.: Essays and Lectures. London 41913. S. 177.
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gefressenen“ Werke vervielfältigt würden.17 Auch wichtige Mitglieder des 1907 gegründeten Deutschen Werkbunds betonen die Vorteile industrieller Produktion: Der Volkswirt Bruno Rauecker unterstreicht den geringeren Preis bei gleicher Qualität, Friedrich Naumann bescheinigt den neuesten maschinellen Herstellungsverfahren erhebliche Qualitätsverbesserungen, Muthesius lobt die ästhetische Erscheinung des Fahrrads als eines Gegenstandes, dessen Formgebung aus dem industriellen Fertigungsprozess hervorgegangen sei.18 Der Werkbundler Peter Behrens, der für die AEG als erster Industriedesigner unter anderem Ventilatoren, Heizöfen, elektrische Wasserkessel, Lampen, Haushaltsmotoren, elektrische Uhren und Zahnbohrer entwirft19, fordert dagegen unter Berufung auf Houston Stewart Chamberlain, dass die zivilisatorischen Fortschritte der Technik durch kulturelle Fortschritte der Kunst veredelt werden müssten20. Bereits 1910 entwickelt der Bauhausgründer Walter Gropius Ideen zum industrialisierten Wohnungsbau, der in seinen Augen vor allem zwei Vorteile biete: günstige Häuser in guter künstlerischer und technischer Qualität zu schaffen sowie einen einheitlichen, sachlichen Zeitstil zu befördern.21 Auch die spätere Entwurfsarbeit in den Bauhauswerkstätten orientiert sich an der industriellen Produktion, deren serielle Fertigung günstigere Preise ohne Einbußen an Materialund Ausführungsqualität ermöglichen solle.22 Der Bauhäusler László Moholy-Nagy prägt die Formel „nicht gegen die Technik, 17 Vgl. Heinrich Pudor: Erziehung zum Kunstgewerbe. Berlin 1906. S. 104–106. 18 Vgl. Bruno Rauecker: Das Kunstgewerbe in München. Stuttgart, Berlin 1911. S. 21; Friedrich Naumann: Die Kunst im Zeitalter der Maschine. (Ein Vortrag). In: Der Kunstwart. 17/2 (1904). S. 319; Hermann Muthesius: Kunst und Maschine. In: Dekorative Kunst. 9 (1902). S. 143/144. 19 Vgl. Peter Behrens: Prof. Peter Behrens über Ästhetik in der Industrie. In: AEG-Zeitung. 11/12 (1909). S. 5–7; Tilmann Buddensieg/Henning Rogge: Industriekultur. Peter Behrens und die AEG 1907–1914. Berlin 1979. 20 Vgl. Peter Behrens: Die Zukunft unserer Kultur. In: Frankfurter Zeitung vom 11. April 1909; Kai Buchholz: Die Landauer Festhalle und die Theaterreform um 1900. In: Jugendstil in der Pfalz. Hg. C. Zuschlag/G. Moeller. Petersberg 2017. S. 315–329. 21 Vgl. Walter Gropius: Programm zur Gründung einer allgemeinen Hausbaugesellschaft auf künstlerisch einheitlicher Grundlage m. b. H. In: Walter Gropius. Bd. 3. Hg. H. Probst/C. Schädlich. Berlin 1988. S. 18–25. [1910] 22 Vgl. Walter Gropius: Grundsätze der Bauhausproduktion. In: Neue Arbeiten der Bauhauswerkstätten. Hg. W. Gropius/L. Moholy-Nagy. München 1925. S. 8.
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sondern mit ihr“: Nur mit Hilfe moderner technischer Erfindungen ließen sich ein hoher Lebensstandard und die „Befriedigung von Massenbedürfnissen“ erreichen. Zugleich leide der schöpferische Mensch aber darunter, dass die „tiefen Lebenswerte“ in der technischen Zivilisation unter dem Druck von Geldverdienst, Wettbewerb, Geschäftsmentalität und Profitinteressen zunehmend zerstört würden. Die Technik dürfe auch niemals das Ziel sein, sondern immer nur das Mittel – im Zentrum müsse der Mensch stehen: Noch heute glauben viele Menschen, daß die biologischen Bedürfnisse, das triebhafte Leben, auf Grund der vorhandenen exakt-technischen, berechenbaren Lösungen weniger beachtet zu werden brauchen. Sie glauben, daß Schlaf mit Veronal, Schmerzstillung mit Pantopon dem organischen Ablauf gleichwertig erzielt werden können. Die zivilisatorischen Fortschritte haben in dieser Beziehung sehr viel Unklarheit und Gefahr mit sich gebracht. Scheinbare Ökonomie kann hier natürlich leicht blenden. Aber erst, wenn dem Menschen klar wird, daß er auch innerhalb der Produktionsgemeinschaft die Lebensgemeinschaft der Menschen, und innerhalb dieser sein eigenes Leben herauskristallisieren muß, wird er der wahren Erkenntnis vom Sinn des technischen Fortschritts näher sein. Denn nicht der Form, nicht dem erstaunlichen technischen Prozeß der Produktion soll unser wahres Interesse gelten, sondern dem gesunden Lebensplan des Menschen.23
Ein Thema, das von Gestaltern und Gestaltungstheoretikern im Rahmen der frühen Industrialisierung vielfach diskutiert wird und das für unseren Zusammenhang höchst aufschlussreiche Einsichten bietet, ist die Materialimitation. Der Journalist und Kulturphilosoph Egon Friedell stellt die damalige Situation wie folgt dar: Jeder verwendete Stoff will mehr vorstellen, als er ist. Es ist die Ära des allgemeinen und prinzipiellen Materialschwindels. Getünchtes Blech maskiert sich als Marmor, Papiermaché als Rosenholz, Gips 23 László Moholy-Nagy: Von Material zu Architektur. München 1929. S. 13.
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als schimmernder Alabaster, Glas als köstlicher Onyx. Die exotische Palme im Erker ist imprägniert oder aus Papier, das leckere Fruchtarrangement im Tafelaufsatz aus Wachs oder Seife. Die schwüle rosa Ampel über dem Bett ist ebenso Attrappe wie das trauliche Holzscheit im Kamin, denn beide werden niemals benützt; hingegen ist man gern bereit, die Illusion des lustigen Herdfeuers durch rotes Stanniol zu steigern.24
In seinem 1883 erschienenen Buch Die Imitationen stellt Sigmund Lehner sogar zahlreiche Verfahren vor, mit denen sich billiger Ersatz für kostbare Werkstoffe herstellen lässt. Konkret schildert er, wie Materialien produziert werden, die den Anschein erwecken, Elfenbein, Perlen, Perlmutt, Korallen, Horn, Alabaster, Marmor, Meerschaum, edles Holz, Leder oder Seide zu sein. So entstehen: Elfenbeinimitat aus Schellack, Ammoniak und Zinkoxyd, Korallensurrogat aus Zelluloid und Zinnober oder holzartige Masse aus Rinderblut, Knochenmehl und Leim.25 Der Wert dieser Materialien, so Lehner, liege darin, dass sich Menschen mit geringem Einkommen dank ihrer Hilfe nicht nur „schön geformte“ Gegenstände leisten könnten, sondern auch solche, die wenigstens den Schein „edelster Stoffe“ hervorriefen.26 Es fragt sich, ob es in solchen Fällen nicht angemessen wäre, Granit statt Marmorimitat oder Tannenholz statt falschen Palisanders zu verwenden. Auch Pudor beurteilt die Herstellung und Verwendung imitierender Werkstoffe kritisch. Er ist der Meinung, dass Lehners Buch verboten werden müsse, da es in zielbewusster Weise der Unehrlichkeit und dem Betrug Vorschub leiste.27 Im selben Jahr, in dem Pudors Stellungnahme erscheint, richtet Gustav Pazaurek als Vorstand des Königlichen Landes-Gewerbemuseums in Stuttgart ei24 Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Bd. 3. München 1931. S. 359/360. 25 Vgl. Sigmund Lehner: Die Imitationen. Eine Anleitung zur Nachahmung von Naturund Kunstproducten, als: Elfenbein, Schildpatt, Perlen und Perlmutter, Korallen, Bernstein, Horn, Hirschhorn, Fischbein, Alabaster, Marmor, Malachit, Avanturin, Lapis Lazuli, Onyx, Meerschaum, Schiefer, edlen Hölzern, sowie zur Anfertigung von Kunst-Steinmassen, Nachbildungen von Holzschnitzereien, Bildhauer-Arbeiten, Mosaiken, Intarsien, Leder, Seide u. s. w. Für Gewerbetreibende und Künstler. Wien, Pest, Leipzig 21893. S. 75/76, 120–122, 165/166. 26 Vgl. ebd., S. 1. 27 Vgl. Heinrich Pudor: Imitationen. Ein Beitrag zu dem Thema ‚Treu und Glauben in Produktion und Handel‘. In: Kunstgewerbeblatt. N. F. 20 (1909). S. 186.
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ne eigene Ausstellungsabteilung für „Geschmacksverirrungen“ ein, um mit Negativbeispielen zur ästhetischen Erziehung der Bevölkerung beizutragen.28 1912 veröffentlicht Pazaurek sein Buch Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe, in dem er die verschiedenen Formen der Geschmacksverirrung systematisiert und ausführlich erörtert. Den Materialimitationen widmet er dabei ein umfangreiches eigenes Kapitel.29 In Form von PVC-Bodenbelägen, die Marmor, Fliesen oder Parkett vortäuschen, selbstklebenden, mit Holzmaserung bedruckten Folien, Kunstleder, Kunstpelz und Kunstrasen oder Geräten der Unterhaltungselektronik, deren silberfarbene Kunststoffgehäuse den Eindruck hochwertigen Metalls vorgaukeln, lebt die Materialimitation bis heute fort. Aus der Perspektive gestalterischer Qualität und ästhetischer Bildung ist deren Einfluss verheerend – Materialimitationen gefährden ein feinfühliges sinnliches Wahrnehmungsvermögen und tragen dazu bei, dass unser Gespür für das Konkrete, Besondere, Lebendige und Gegenwärtige verloren geht.30 Es wäre äußerst wünschenswert, dass sich der Mensch achtsam den vielfältigen atmosphärischen Nuancen widmet, die von unterschiedlichen Werkstoffen ausgehen.31 Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Entwicklung des Produktdesigns ist der Wandel von einer materialorientierten zu einer immer stärker prozessorientierten Gestaltung – einer fortschreitenden Anpassung der Naturmaterialien an die Maschinenwelt. Diese Verfügbarmachung beginnt beim Holz im 17. Jahrhundert mit Furnieren, die zunächst nur für hochwertige Oberflächen und Intarsien genutzt werden. Hinzu kommen das ab 1830 von Michael Thonet entwickelte Form- und Bugholz sowie die Halbzeuge Sperrholz (ab ca. 1860) und Spanplatte (ab 1932), die den 28 Vgl. dazu Konrad Lange: Geschmacksverirrungen im Kunstgewerbe. In: Dekorative Kunst. 12 (1909). S. 448–458. 29 Vgl. Gustav Edmund Pazaurek: Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe. Stuttgart, Berlin 1912. S. 16–134. 30 Vgl. auch Kai Buchholz: Imitationen – mehr Schein als Sein? In: Im Designerpark. Leben in künstlichen Welten. Hg. K. Buchholz/K. Wolbert. Kat. Institut Mathildenhöhe Darmstadt 2004. S. 82–87. 31 Vgl. dazu auch Gernot Böhme: Der Glanz des Materials. Zur Kritik der ästhetischen Ökonomie. In: Ders.: Atmosphäre. Berlin 72013. S. 49–65.
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Werkstoff Holz für die maschinelle Verarbeitung leichter handhabbar machen.32 Metall wird in Form von Pulver, Blechen, Rohren und Stangen angeboten. 1925 entwickelt Marcel Breuer die ersten Stahlrohrmöbel, die das Unternehmen Thonet in Serie herstellt und vermarktet. Sie sind perfekt an die Industrieproduktion angepasst – das Halbzeug ist stabil, elastisch und kann kaltverformt sofort weiterverarbeitet werden. Breuer etabliert damit ein Prinzip, das der Elektrogerätehersteller Braun nach dem Zweiten Weltkrieg aufgreift und auf seine elektrischen Gebrauchsobjekte überträgt: technische Ästhetik im Wohnraum. Radio- und Phonoapparate – bisher überwiegend als Möbel in das Wohnumfeld integriert – werden von Brauns Designstratege Fritz Eichler ab den 1950er Jahren als eigenständige Produktgattung für modernes Wohnambiente positioniert. In diesem Zuge wird die Gestaltung konsequent auf eine rationelle Produktion hin optimiert und die Hochschule für Gestaltung Ulm als Partner für Produktentwicklung und Unternehmenskommunikation gewonnen. Diesen Übergang verkörpert in prototypischer Weise die Radio-Phono-Kombination Braun SK4 (1956), die mit ihrer Acrylglashaube als „Schneewittchensarg“ in die Designgeschichte eingeht.33 Neuartig ist die Gehäusekonstruktion aus industriell gestanztem und abgekantetem Blech, das an den unbearbeiteten scharfen Seiten mit einer einfachen, furnierten Industriespanplatte abgedeckt wird. Diese kompromisslose Konzentration auf die industriellen Möglichkeiten und der funktionalistische Stil verlagern auch den Schwerpunkt in der Designmethodik: Fragen nach den Empfindungsqualitäten von Materialien geraten in den Hintergrund. Die handwerklich fundierte Ausbildung am Material gilt als veraltet, künstlerische Kompetenzen scheinen obsolet. Zeitgleich setzen sich die industriell leicht formbaren synthetischen
32 Vgl. z. B. Hermann Heller: Von der kleinen Tischlerwerkstätte zum Weltindustriehaus. Michael Thonet – der Erfinder und Begründer der Bugholzmöbel-Industrie. Brünn 1920; Max Himmelheber/Walter Kull: Die moderne Spanplattenfertigung: Rohstoffeinsatz und Plattenqualität. In: Holz als Roh- und Werkstoff. 27 (1969). S. 397–406. 33 Vgl. Jo Klatt/Günter Staeffler (Hg.): Braun+Design Collection. Braun Produkte von 1955 bis heute. Hamburg 1990. S. 25, 28.
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Thermoplaste zunehmend durch. Ein markantes Beispiel ist die von Wilhelm Wagenfeld gestaltete tragbare Radio-Phono-Kombination Braun combi (1955).34 Der Nachkriegswohlstand und die beginnende Sättigung der Märkte ermuntern die Industrie bald zu neuen Geschäftsmodellen. Bedürfnisse sind erfüllt, neue müssen geweckt werden, um die Profite nicht stagnieren zu lassen. Werbe- und Marketingstrategien treten jetzt in den Vordergrund und verwenden Design als mächtiges Verkaufswerkzeug, das durch vordergründige Attraktivität einen schnellen, unreflektierten Kaufimpuls beim Kunden provozieren soll.35 Zu erwähnen ist auch das dem US-amerikanischen Rasierhobel-Hersteller Gillette zugeschriebene Razorand-Blades-Geschäftsmodell36, bei dem die Profitinteressen nicht durch die Produkte, sondern durch die mit ihnen verbundenen Verbrauchsmaterialien (z. B. Rasierklingen) befriedigt werden. Die 1986 von Nestlé eingeführten Nespresso-Kapseln sowie die teuren Tinten- und Tonerpatronen für EDV-Drucker37 folgen diesem Modell. Mit zunehmender Digitalisierung werden solche indirekten Gewinnstrategien immer weiter auf die Spitze getrieben.38 Mittlerweile spioniert die Branche in subtiler – wenn nicht gar perfider – Weise den Lebensalltag der Menschen systematisch aus: Sie präpariert PCs, Smartphones und neue Haushaltselektronik mit Sensoren und Algorithmen, die das Nutzerverhalten bis ins Detail analysieren und interpretieren, um die so gewonnenen Daten für eine gezielte Konsummanipulation zu 34 Vgl. ebd., S. 34, 36. 35 Vgl. auch Raymond Loewy: Häßlichkeit verkauft sich schlecht. Düsseldorf, Wien, New York, Moskau 1953 [1951]. S. 237–259; Vance Packard: Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewussten in jedermann. Düsseldorf 1958 [1957]; Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik. Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus. Frankfurt a. M. 2009 [1971]; Gernot Böhme: Die Atmosphäre. In: Von der guten Form zum guten Leben. 100 Jahre Werkbund. Hg. M. Andritzky. Frankfurt a. M. 2008. S. 107–114; Ders.: Ästhetischer Kapitalismus. Berlin 2016. 36 Vgl. Randal C. Picker: The razors-and-blades myth(s). In: University of Chicago Law Review. 78 (2011). S. 225–255. 37 Vgl. dazu Jochen Siegle: Flüssiges Gold. Überteuerte Tintenpatronen von Computerdruckern sind ein ewiges Ärgernis für Konsumenten. In: Der Spiegel. 2004, Heft 45. S. 115. 38 Vgl. Chris Anderson: Free = Kostenlos. Geschäftsmodelle für die Herausforderungen des Internets. Frankfurt a. M., New York 2009.
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nutzen oder zu verkaufen. Die Systeme setzen zunächst da an, wo Menschen am einfachsten zu ködern sind: im sozialen Raum (z. B. Facebook, Instagram, Snapchat), bei der Erotik (z. B. Tinder, Parship, ElitePartner) und beim Spiel. Speziell die Lust am Spiel wird durch Gamification in immer breiteren Bereichen des Lebens gezielt bedient und ausgenutzt. Analog – digital Die bisherige Betrachtung zeigt sehr deutlich: Wesentliche analoge Kompetenzen im ästhetisch-gestalterischen Bereich werden in unserer technisch geprägten Kultur lange vor der Digitalisierung stiefmütterlich behandelt. Doch worin besteht der Unterschied zwischen analogen und digitalen Gegenständen genau? Analoge Objekte breiten sich stufenlos kontinuierlich im Raum aus, während sich digitale aus diskreten Einheiten zusammensetzen. Sie verhalten sich ähnlich zueinander wie die reellen Zahlen (ℝ) einerseits und die natürlichen Zahlen (ℕ) andererseits. In diesem Sinn findet eine Digitalisierung der Zeit bereits durch die im 14. Jahrhundert eingeführten tickenden Zeiger der Räderuhren statt. Digitale Bilder entstehen im 19. Jahrhundert mit der Körnung des fotografischen Films sowie mit der Erfindung des Rasterdrucks, später auch in Form des zeilenweise aus Bildpunkten zusammengesetzten Fernsehbildes. Ein weiterer interessanter Schritt in der Entwicklung ist die um 1800 von Joseph Marie Jacquard erfundene Webmaschine, die mittels Lochkarten automatisch Muster erzeugen kann.39 Mit der Verbreitung elektronischer digitaler Rechner setzt dann eine besonders umfassende und folgenreiche Digitalisierung des menschlichen Lebens ein. Diese „Computer“40 verknüpfen binär diskrete Transistorenzustände nach den Prinzipien der Booleschen Algebra miteinander, um mathematische Operationen auszuführen.41 39 Vgl. z. B. Friedrich Kohl: Geschichte der Jacquard-Maschine und der sich ihr anschliessenden Abänderungen und Verbesserungen. Berlin 1873. 40 Von engl. to compute = berechnen. 41 Vgl. z. B. D. Müller: Informationsverarbeitung. In: Meyers Handbuch über die Technik. Hg. Fachredaktion Technik des Bibliographischen Instituts. Mannheim, Wien, Zürich 21971. S. 718–728.
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In vielfältigster Weise lassen sich auf dieser Grundlage über eine Tastatur, eine Maus oder eine andere Steuerungsvorrichtung eingegebene Daten automatisch in erwünschte neue Daten transformieren, die dann in einem spezifischen Ausgabeformat beziehungsweise -medium (z. B. Bildschirmdarstellung, Druck-, Audio- oder Videodatei) gespeichert, weiterverarbeitet oder direkt genutzt werden können. Im Folgenden soll es darum gehen, wie diese Computertechnologie die gestalterische Praxis – vor allem das Produktdesign – verändert hat und welche Konsequenzen sich daraus für die Qualität unserer menschlich gestalteten Lebenswelt ergeben. Dabei ist zu unterscheiden: 1. die im Entwurfsprozess verwendeten digitalen Werkzeuge und Strukturen, 2. die digital geprägten Umfelder aktueller Produktionsverfahren und Industrieerzeugnisse (z. B. additive Fertigung, Industrie 4.0, Smart-Home-Geräte). Zudem muss man beachten, welche Rolle einerseits die jeweils verwendete Hard- und Software spielt und wo es andererseits auf die Vernetzung von Rechnern ankommt. Wenn heute von Digitalisierung als politischer Agenda gesprochen wird, steht nämlich meist der zweite Aspekt im Vordergrund. Das ergibt sich unter anderem aus dem Koalitionsvertrag der letzten Bundesregierung unter Angela Merkel, der neben der Vermittlung „digitaler Kompetenzen“ vor allem folgende Ziele in den Mittelpunkt rückt: eine „flächendeckende digitale Infrastruktur von Weltklasse“, mehr „Sicherheit im Cyberraum“, mehr „Bürgernähe durch eine moderne, digitale Verwaltung“ sowie einen Rechtsrahmen, der einen „Ausgleich von Freiheit und Sicherheit“ leistet.42 Zu den ersten digitalen Werkzeugen für Gestalter zählt das um 1985 eingeführte Desktop-Publishing (DTP), das rechnergestützte Erstellen von Druckvorlagen am PC. Kompetenz und Verantwortung müssen damals zwingend vom Designer übernommen werden – Reproanstalten und Belichter sind die Opfer.
42 Vgl. Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD. Berlin 2018. S. 37.
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Als zweiter „Pionierbereich“ ist die Architektur anzusprechen. Hier interessiert man sich frühzeitig für die Möglichkeiten digitalen Modellierens, Visualisierens und Entwerfens. Manche hegen gar die Hoffnung, dass sich mit EDV-Technik eine „Architekturmaschine“43 entwickeln lasse. Ein anschauliches Beispiel erster baupraktischer Verwendung von Computern ist die von Carlfried Mutschler, Joachim Langner und Frei Otto für die Mannheimer Bundesgartenschau 1975 erbaute Multihalle – die bis heute größte freitragende Holzgitterschale weltweit. Die Form der Halle wird damals zunächst durch ein analoges Hängemodell ermittelt44, dann an der Universität Stuttgart fotogrammetrisch ausgemessen, am dortigen geodätischen Institut in ein digitales Koordinatenmodell übertragen und nochmals optimiert. Die statischen Berechnungen führt das Büro Ove Arup & Partners in London wiederum in herkömmlicher analoger Weise durch.45 Für die Werkplanung zieht man den Großrechner CDC 6600 der Universität hinzu. Damit ist es möglich, die zahllosen Raumwinkelvarianten, die sich bei der Kreuzung der Latten ergeben, zu berechnen, um sie dann auf die unterschiedlichen Zuschnitte der einzelnen Latten zu übertragen. Das beschleunigt die Umsetzung erheblich. Als sich solche Berechnungen in der Spätphase von Architekturprojekten immer weiter durchsetzen und zu deutlichen Einsparungen führen, regt der Mathematiker und Designmethodologe Horst Rittel an, die so freiwerdenden Mittel zur Intensivierung der analogen Anfangsphase des Entwerfens einzusetzen, weil die meisten Fehlplanungen aus Erkenntnislücken zu Projektbe43 Die interdisziplinär aus Ingenieuren, Architekten und Programmierern zusammengesetzte Architecture Machine Group wird 1967 von Nicholas Negroponte und Leon Groisser am Massachusetts Institute of Technology (MIT) gegründet. 44 Weil damalige CAD-Systeme wie CADAM nur zweidimensional ausgelegt sind, setzt Frei Otto auf die bewährte Technik der Hängemodelle aus dem frühen 18. Jahrhundert, die, zunächst in Vergessenheit geraten, Ende des 19. Jahrhunderts von Antoni Gaudí wiederbelebt worden war. 45 Vgl. Clara Frey: Multihalle Mannheim. In: Die Architekturmaschine. Die Rolle des Computers in der Architektur. Hg. T. Fankhänel/A. Lepik. Basel 2020. S. 46. Weil man der Konstruktion und den Berechnungen nicht vertraut, setzt man zur Schneelast-Simulation auf analoge Mittel: 205 wassergefüllte Mülltonnen mit jeweils 90 kg Gewicht werden an verschiedene Knotenpunkte gehängt. Die gemessene Durchbiegung von 79 Millimeter liegt nur einen Millimeter über den Berechnungen.
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ginn resultierten.46 Bald entstehen auch fotorealistische Visualisierungen, die jedoch einseitig auf die Simulation der Wirklichkeit setzen. Ganz anders geht dagegen die Architektin Zaha Hadid vor. Ihre analog erzeugten Darstellungen sind freie Ausformulierungen projektiver Geometrien in verformten Perspektiven, mit denen sie eine neue Sichtweise auf die Architektur und das Entwerfen erreichen will. Hadids Gemälde repräsentieren keine zukünftigen Gebäude, sondern imaginieren – auf äußerst differenzierte und wirkmächtige Art – Mögliches. Mit solchen Bildern beteiligt sich Hadid an zahllosen Ausschreibungen und gewinnt 1982 den Wettbewerb für den Peak Leisure Club in Hongkong (vgl. Abb. 1). 1988 geht sie mit dem Architekten, Philosophen und Mathematiker Patrik Schumacher eine kongeniale Zusammenarbeit ein, die vom raschen Fortschritt der Computertechnik begleitet wird. Die Darstellungsmöglichkeiten des Computers kommen ihrer künstlerischen Vorgehensweise ideal entgegen. Gemeinsam entwickeln sie den Parametrismus47, mit dem sie sich gegen die tradierte tektonische Gestaltbildung wenden. Sehr vereinfacht formuliert, basiert ihre Methode auf drei negativen Prinzipien (Tabus) und drei positiven (Dogmen). Die Tabus sind: 1. keine strengen Formen (keine platonischen Körper, Zylinder), 2. keine bloßen Wiederholungen, 3. keine Collage von isolierten, unverbundenen Elementen (Kakophonie). Die Dogmen lauten: 1. alle Formen sind weich (formbar), 2. alle Systeme sind differenziert, 3. alle Systeme korrelieren miteinander. Die parametrische Struktur bietet ein Höchstmaß an Flexibilität – die Skalierung lässt sich beispielsweise intuitiv an der fertigen Simulation verändern, die nicht gegebene Maßstäblichkeit erweist sich in diesem Fall als kreativer Freiheitsgrad.48
46 Vgl. Horst Rittel: Architekten und Computer. In: Ders.: Thinking Design. Transdisziplinäre Konzepte für Planer und Entwerfer. Basel 2013. S. 194. [1984] 47 Vgl. z. B. Patrik Schumacher: Parametrismus. Der neue International Style. In: Arch+. 195 (2009). S. 106–113. 48 Vgl. Nicole E. Stöcklmayr: Architektur ohne Maßstab. Digitale Visualisierungen im Entwurfsprozess. In: Maßlose Bilder. Visuelle Ästhetik der Transgression. Hg. I. Reichle/S. Siegel. Paderborn, München 2009. S. 279–294.
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Abb. 1 Zaha Hadid: The Peak – Blue Slabs, Acryl auf Leinwand, 1983 © Zaha Hadid Foundation
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Dieser virtuose Umgang mit digitalen Mitteln setzt vertiefte sinnliche Erfahrung und hohe künstlerische Kompetenz voraus. Auch Gestalter, die gute Gebrauchsgegenstände entwerfen wollen, benötigen solche Erfahrungen mit unserer (analogen) Lebenswelt. Erst diese Erfahrungen ermöglichen es ihnen, die gestalterischen Dimensionen Form, Farbe und Material angemessen zu beherrschen. Konkret müssen sie in der Lage sein, Form-, Farb- und Materialeigenschaften sensibel voneinander zu unterscheiden und wirkungsadäquat zu kombinieren. Form Im 19. Jahrhundert orientiert sich die Formgebung vor allem am Ornament. Ausgehend von Sempers Vorschlägen, gehört das Ornamentzeichnen vor Exponaten der neuen Kunstgewerbemuseen zu den wichtigsten Fächern an den Kunstgewerbeschulen. Die Vertreter des Jugendstils kritisieren dieses Kopieren vergangener Stile und den damit einhergehenden Historismus gegen Ende des Jahrhunderts scharf. Sie begeben sich auf die Suche nach einem neuen Stil, der keine sterile Maskerade sei, sondern den modernen Lebensverhältnissen entspreche.49 Als Inspirationsquellen zur Entwicklung eines angemessenen Zeitstils dienen ihnen die Muster der Volkskunst, geometrische Formen, rhythmisierte Linienführungen und die Natur. Wie sich Formqualitäten in einem solchen Zusammenhang adäquat lehren und lernen lassen, schildern Hermann Obrist und Wilhelm von Debschitz, die Begründer der 1902 in München eröffneten Lehr- und Versuch-Ateliers für angewandte und freie Kunst. Obrist plädiert für einen einjährigen Elemen49 Vgl. z. B. August Endell: Originalität und Tradition. In: Deutsche Kunst und Dekoration. 9 (1901/02). S. 291: „Schon unser äusseres Leben ist von dem früheren tausendfältig verschieden durch die andere Art unseres Verkehrs, des Geschäftslebens und nicht zum wenigsten unserer entwickelten Beleuchtung. Wichtiger sind: die gänzlich andere soziale Schichtung, das eigentümliche Tempo unseres Lebens und die grundverschiedene Art unserer Lebens-Bilanz und unseres Glückes. All das verlangt nach eigenem Ausdruck“; vgl. auch Emile Gallé: Décor symbolique. In: Mémoires de l’Académie de Stanislas. 17 (1900). S. XXXVI; Henry van de Velde: Kunstgewerbliche Laienpredigten. Leipzig 1902. S. 155–163; Paul Schultze-Naumburg: Häusliche Kunstpflege. Leipzig 31900. S. 2/3.
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tarunterricht, bei dem die Schüler größtmögliche Freiheit genießen. Sie sollten außerhalb der Schule nach Motiven suchen, die ihr persönliches ästhetisches Interesse weckten: die Verästelungen hängender Birkenzweige, eine mit Moos und Flechten bewachsene Baumrinde oder auch die alte Giebelkonstruktion eines Bauernhauses. Durch zeichnerische und plastische Bearbeitung dieser Motive bildeten sie dann ihre allgemeinen künstlerischen Fertigkeiten aus. Der Lehrer fungiere in diesem Zusammenhang als Anreger, Ansporn und Berater bei der Lösung formästhetischer Probleme.50 Debschitz beschreibt diese Methode wie folgt: Das Naturstudium hat den Zweck, der Natur ihre eigenen Ausdrucksmittel abzulauschen, „ihr auf die Schliche zu kommen“. Vor mir sehe ich eine Haferrispe, einen Baum oder sonst eine Naturform. Zunächst handelt es sich darum, gegenüber der Vielfältigkeit der Erscheinung einen einheitlichen Gesichtspunkt zu gewinnen, das Problem zu erkennen. Eine Haferrispe könnte mich interessieren vornehmlich durch die Harmonie ihrer Verhältnisse oder den Eindruck der Zartheit und Leichtigkeit oder durch den Rhythmus ihrer Linien, durch ihre rhythmische Harmonie, durch ihre Konstruktion oder was da noch sein kann. […] Schaffe ich nun eine Studie, ein Bild dieser Haferrispe, welche mich – sagen wir – durch ihre zarte Leichtigkeit besonders enthusiasmierte, so muß ich das so vollbringen, daß der Nichtkünstler, der beim Anblick der Natur entweder nicht diesen oder gar keinen Eindruck hatte, nun von meiner Zeichnung diesen Eindruck empfängt, ohne sich vielleicht über dessen Art Rechenschaft geben zu können. Ist dies gelungen, so habe ich das Problem gelöst, andernfalls kopierte ich die Haferrispe, brachte das Problem ungelöst wieder auf die Fläche und überlasse es dem unkünstlerischen Auge des Beschauers, über die Zeichnung ebenso hinwegzusehen, wie über die Naturerscheinung.51
Aufgabe der Schüler ist es also, die systematischen Gesetzmäßigkeiten zu erfassen, die ästhetisch veranlassten Gefühlswirkungen 50 Vgl. Hermann Obrist: Ein künstlerischer Kunstunterricht. In: Ders.: Neue Möglichkeiten in der bildenden Kunst. Leipzig 1903. S. 62–83. 51 Wilhelm von Debschitz: Eine Methode des Kunstunterrichts. In: Die Kunst. 10 (1904). S. 212.
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zugrunde liegen. Dieser Ansatz stützt sich auf die Theorien des mit Obrist befreundeten August Endell, der sein Studium der Philosophie, Mathematik und Psychologie abgebrochen hatte, um sich der praktischen Entwurfsarbeit für Kunstgewerbe und Architektur zu widmen. Besonders deutlich stellt Endell seine Auffassung von der seelischen Wirkung abstrakter Formen in dem Artikel Formenschönheit und dekorative Kunst (1897/98) dar, in dem er „Spannung“ und „Tempo“ zu empfindungstheoretischen Grundkategorien erklärt.52 Jedes Gefühl besteht für ihn in einer bestimmten Mischung aus Tempo und Spannung. Eigenschaften wie die Dicke und die Richtung von Linien führten zu unterschiedlichen Tempo- und Spannungsgraden. Die so entstehenden Gefühlswirkungen ordnet Endell in einem Koordinatensystem und umschreibt sie mit Hilfe von Adjektiven wie „elegant“, „kraftvoll“ und „wuchtig“ (vgl. Abb. 2). Einen verwandten Ansatz verfolgt der Zoologe Karl Möbius, der maßgeblich daran beteiligt ist, die neuen Naturkundemuseen in Kiel und Berlin einzurichten, und der 1908 sein Buch Ästhetik der Tierwelt herausbringt. In dieser Publikation arbeitet Möbius die Kriterien heraus, nach denen wir einzelne Tierarten als schöner oder hässlicher als andere beurteilen. Er ist davon überzeugt, dass wir Gegenstände dann als besonders schön einstufen, wenn sie beim Betrachten wenig „Wahrnehmungsarbeit“ verursachen und zugleich einen möglichst mannigfaltigen „Wahrnehmungsinhalt“ bieten. Diesen Zusammenhang illustriert Möbius zunächst am Beispiel unterschiedlicher Eiformen: Kugelförmige Eier von Schildkröten, Fröschen, Fischen, Insekten, Spinnen und anderen Tieren machen den Eindruck einer festgeschlossenen einförmigen Einheit. Alle Punkte der Oberfläche liegen dem Mittelpunkt gleich nahe. Kein Punkt wirkt stärker als alle anderen zum räumlichen Zusammenschlusse des Ganzen mit, keiner zieht die Aufmerksamkeit stärker an als die übrigen Punkte. Länglichrunde Formen, wie die Eier der Vögel, fesseln den Blick auch als festgeschlossene Einheiten, gefallen aber mehr als Kugelformen, weil sie 52 Vgl. August Endell: Formenschönheit und dekorative Kunst. In: Dekorative Kunst. 1 (1897/98). S. 75–77; 2 (1898). S. 119–125.
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Gestaltung und sinnliche Erfahrung boshaft frivol kokett geziert süßlich fade nüchtern stumpf
höhnisch übermütig chic graziös zierlich zart einfach kraftlos
hochmütig herausfordernd prächtig elegant geschmeidig hingebend innig müde
pathetisch stolz kühn energisch feurig groß warm bekümmert
kalt streng rücksichtslos kraftvoll stark vornehm ernst traurig
unerbittlich gewaltsam wuchtig derb gedrungen machtvoll tief schwermütig
grausam wild kolossal ungeschlacht gewaltig ungeheuer erhaben düster
fürchterlich grässlich scheußlich roh entsetzlich furchtbar grausig finster
Abb. 2 Charakterisierung der Wirkung abstrakter Formen nach August Endell. Von links nach rechts steigt die Spannung, von unten nach oben das Tempo. Die Adjektive innerhalb des Kastens umschreiben Lustgefühle, diejenigen außerhalb Unlustgefühle
länger sind als breit. Verschiedenes innerhalb einer abgeschlossenen Einheit überblickt man mit mehr Befriedigung als eine in sich unterschiedslose Einheit.53
Nach diesem Prinzip missfalle auch eine große Zahl gleichgeformter Folgestücke (Tausendfüßler) als langweilig, während gleichförmige Abteilungen, deren Größe schrittweise zu- oder abnehme (Turmschnecke), als schön empfunden würden. Die Schuppen der Fische, Schlangen und Eidechsen verschönerten deren Körper, sofern sie in Reihen angeordnet seien; übergroße Köpfe oder Schnäbel (Nilpferd, Tukan) wirkten hässlich, weil sie die Aufmerksamkeit von der Hauptfixiermasse (Rumpf) abzögen. Regelmäßig gebogene Oberflächen von Tierkörpern gefielen mehr als gerade oder unregelmäßig geformte, da sie angenehme, ineinander übergehende Lichtabstufungen hervorriefen.54 Interessante didaktische Konzepte zum gestalterischen Formenunterricht entstehen zudem am Bauhaus in der von Johannes Itten begründeten Vorlehre. Der ausgebildete Reformpädagoge Itten orientiert seine Lehre an den Kontrasten. Er geht davon aus, dass ästhetische Wirkung immer durch Kombination kontrastierender sinnlicher Qualitäten entstehe wie „groß – klein“, „gerade – gebogen“, „spitz – stumpf “, „glatt – rau“, „ruhig – bewegt“ oder „laut – leise“.55 Die systematische sinnliche Erkundung der Kontrastwirkungen gliedert Itten nach der Stufenfolge „erle53 Karl Möbius: Ästhetik der Tierwelt. Jena 1908. S. 26/27. 54 Vgl. ebd. S. 36, 50, 43, 46/47. 55 Vgl. Johannes Itten: Meine Bauhaus-Jahre. In: Werk. 51 (1964). S. 28.
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ben“ – „erkennen“ (objektivieren) – „können“ (gestalten). In seinem Formenunterricht56 setzt er bei den einfachen geometrischen Figuren Quadrat, Dreieck und Kreis an, wobei er den Charakter des Quadrats als „horizontal“ und „vertikal“, denjenigen des Dreiecks als „diagonal“ und den Kreischarakter als „zirkulär“ qualifiziert. Es beginnt damit, dass die Studierenden diese Formcharaktere in körperlichen Bewegungen nachbilden und innerlich fühlen (erleben): Stehend ließ ich sie mit dem Arm einer Kreislinie so lange folgen, bis schließlich der ganze Körper in eine entspannt schwingende Bewegung geriet. Diese Übung wurde mit dem linken und dem rechten Arm, zuerst getrennt, dann gleichzeitig ausgeführt, in paralleler und in entgegengesetzter Richtung. […] Das Erleben des Quadrates bedingt eine eckig gespannte Bewegungsform, weil immer der gleiche rechte Winkel auftritt. Beim Dreieck kommt die ganze Mannigfaltigkeit der Winkel zur Darstellung.57
Danach experimentieren die Studierenden grafisch, malerisch und plastisch mit Linien, Flächen und Körpern, die sie teilen, um die entstehenden Wirkungen – vor allem diejenigen der verschiedenen Proportionsverhältnisse – zu begutachten (erkennen). Die letzte Stufe besteht darin, bildliche Darstellungen wirkungsstarker Formkombinationen zu schaffen. Moholy-Nagy, Ittens Nachfolger am Bauhaus, richtet seine Formenlehre an den Funktionsformen des Biotechnikers Raoul Francé aus, den er in seinem Grundlagenbuch Von Material zu Architektur (1929) ausführlich zitiert: Jeder Vorgang hat seine notwendige technische Form. Die technischen Formen entstehen immer als Funktionsform durch Prozesse. Sie folgen dem Gesetz des kürzesten Ablaufes […]. Kühlung erfolgt nur an auskühlenden Flächen, Druck nur an Druckpunkten, Zug an Zuglinien; Bewegung schafft sich Bewegungsformen, jede Energie 56 Vgl. Johannes Itten: Gestaltungs- und Formenlehre. Mein Vorkurs am Bauhaus und später. Stuttgart 72003 [1963]. S. 62–97. 57 Ebd., S. 62.
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ihre Energieform. […] Es gibt keine Form der Technik, welche nicht aus den Formen der Natur ableitbar wäre. […] Die Gesetze des geringsten Widerstandes und der Ökonomie der Leistung erzwingen es, daß gleiche Tätigkeiten stets zu den gleichen Formen führen. […] Der Mensch kann sich der Naturkräfte noch in ganz anderem Maße bemächtigen, wie er es bisher getan hat. Wenn er nur alle die Prinzipien anwendet, die der Organismus in seinem Betriebe zur Anwendung gebracht hat, hat er allein auf Jahrhunderte hinaus Beschäftigung für alle seine Kapitalien, Kräfte und Talente. Jeder Busch, jeder Baum kann ihn dabei belehren, ihn beraten und ihm Erfindungen, Apparate, technische Einrichtungen sonder Zahl vorweisen.58
Entsprechend orientiert sich Moholy-Nagy bei der Formfindung nicht an Quadrat, Dreieck und Kreis, sondern an den sieben von Francé herausgearbeiteten grundlegenden technischen Formen Kristall, Kugel, Kegel, Platte (Fläche), Spirale (Schraube), Band und Stab.59 Dabei räumt er durchaus ein, dass die funktionsgerechte Formgebung Spielräume eröffne und dass erst dort das schöpferisch-gestalterische Problem einsetze.60 1948 veröffentlicht der finnische Architekt und Designer Eliel Saarinen sein nachdenkliches Buch The Search for Form in Art and Architecture, in welchem er Intuition, Instinkt und Vorstellungskraft zu den wichtigsten Triebfedern gelungener Formfindung zählt. Angesichts einer stetig zunehmenden Mechanisierung des menschlichen Lebens und ernüchtert von der politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs, wagt Saarinen einen fragenden Blick in die Zukunft. Er maßt sich dabei nicht an, den weiteren Gang der Menschheit vorherzusehen, formuliert jedoch sehr prägnant, worauf es in seinen Augen ankommen wird: Nur wenn die Menschheit zu Wahrhaftigkeit (sincerity of heart) und kreativer Lebendigkeit (creative vitality) finde, könne es zu einer kulturell bedeutsamen Formenentwicklung kommen, denn alle kulturell wertvol58 Raoul Heinrich Francé: Die Pflanze als Erfinder. Stuttgart 1920. S. 13, 20, 25, 47. Vgl. Moholy-Nagy: Von Material zu Architektur (wie Anm. 23). S. 60. 59 Vgl. Francé: Pflanze als Erfinder (wie Anm. 58). S. 18; Moholy-Nagy: Von Material zu Architektur (wie Anm. 23). S. 148. 60 Vgl. Moholy-Nagy: Von Material zu Architektur (wie Anm. 23). S. 69/70.
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len Formen seien lebendig und ehrlich.61 Auch Muthesius hatte bereits 1911 den kulturellen Wert sorgfältiger Formgestaltung hervorgehoben: Kultur ist ohne eine bedingungslose Schätzung der Form nicht denkbar, und Formlosigkeit ist gleichbedeutend mit Unkultur. Die Form ist in demselben Maße ein höheres geistiges Bedürfnis, wie die körperliche Reinlichkeit ein höheres leibliches Bedürfnis ist. Dem wirklich kultivierten Menschen bereiten Roheiten der Form fast körperliche Schmerzen, er hat ihnen gegenüber dasselbe Unbehagen, das ihm Schmutz und schlechter Geruch verursachen.62
Ein bis heute herausragendes Beispiel gelungener Form entwirft Trude Petri 1931 für die Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin: das Porzellanservice Urbino (Abb. 3). Sie schlägt die Brücke von der Renaissance-Keramik aus dem italienischen Urbino zu den Idealen funktionaler Sachlichkeit des frühen 20. Jahrhunderts. Die typische fahnenlose Form der Renaissanceteller63 und die klare Gestalt asiatischer Deckelschalen bilden das historischkulturelle Fundament ihres Gestaltungsansatzes. Darauf baut Petri eine wohlüberlegte formale Dramaturgie auf. Sie variiert und kombiniert gespannte, komprimierte und gedehnte Kugelvolumina, wobei stets die plastische Materialqualität der Keramik in der Komposition spürbar wird. Geometrischen Formalismus, der in der gestalterischen Avantgarde der damaligen Zeit verbreitet ist, vermeidet sie. Die kluge Varianz der einzelnen Elemente zeugt von souveränem dinglichen Ausdrucksvermögen und zeigt, insbesondere bei einigen später entworfenen Serviceteilen, figurativen Humor. Die Kaffee- und die Teekanne sowie die Zuckerdose64 vermitteln den Eindruck prall gefüllter Gefäße – ihre Form scheint geradezu von innen heraus gespannt zu sein. Die 61 Vgl. Eliel Saarinen: The Search for Form in Art and Architecture. New York 1985 [1948]. S. 102. 62 Muthesius: Wo stehen wir? (wie Anm. 8). S. 19. 63 Als Fahne wird der abgesetzte Rand eines Tellers bezeichnet, als Spiegel die vertiefte Fläche. 64 Tee- und Kaffeeservice wurden erst 1947 eingeführt.
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Abb. 3 Trude Petri: Tafel-, Tee- und Kaffeeservice Urbino, Porzellan, Hersteller: Königliche Porzellan-Manufaktur Berlin (KPM), 1931/47
Krüge weisen dieselbe Grundidee auf, kombiniert mit einer spendenden Geste des Ausgusses. Die entgegengesetzte, empfangende Geste ist charakteristisch für die Schälchen, Tassen und Suppenteller. Speise- und Frühstücksteller wiederum spiegeln trotz des relativ hohen Randes ihre Bestimmung als Ablagen oder Platten wider. Auch die Deckel der Terrinen können dank des asiatisch inspirierten Ringgriffes umgedreht als Platten oder Schalen Verwendung finden. Auf der Tafel spielen die einzelnen Stücke in einer lebendigen, harmonisch ausbalancierten Choreografie miteinander zusammen. Überraschend figürlich sind die 1950 ergänzten Öl- und Essigflaschen sowie Salz- und Pfefferstreuer ge135
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raten. Möglicherweise zeigen sich hier Einflüsse von Petris Kollegin Eva Zeisel. Beide leben in den späten 1940er Jahren in den USA. Zeisel entwirft zwischen 1942 und 1945 für Castleton das Service Museum White, das einen sehr hohen Grad an formaler Verwandtschaft zu Urbino aufweist. Ihre Serie Town and Country (1947) wiederum wirkt wie das Vorbild für die Urbino-Salzund Pfefferstreuer von Petri. Obwohl heute fast ausschließlich in Weiß bekannt, waren von dem Service immer auch Varianten mit Dekorstreifen in Platin, Gold und Schwarz65 im Angebot, gelegentlich kombiniert mit kräftiger, vollflächiger Farbgebung66. Besonders lebendig ist das Dekor 55 Farbtupfen mit sich überlagernden kreisförmigen Flächen unterschiedlicher Färbung. Für die geistige Arbeit hinter einer solchen Gestaltungsleistung sind digitale Werkzeuge unbedeutend. Vielmehr sind profundes fachliches Wissen, handwerkliche Erfahrung mit den Gesetzmäßigkeiten des Materials und ein ausgereiftes Vorstellungsvermögen von den Beziehungen zwischen Menschen und Dingen gefragt. Erst wenn nach abgeschlossener Gestaltungsarbeit die Umsetzung in die industrielle Produktion ansteht, wären heutzutage digitale Werkzeuge von Nutzen. Farbe Zur Farbe und zum sinnlichen Farberleben äußert Pudor: Durch Alkohol und Verstandesdrill sind wir vergröbert und mehr oder weniger entseelt und dadurch der Fähigkeit beraubt worden, die Natur zu verstehen, vollends den Schaum und die Blüte der Natur zu verstehen, den Farbenduft und Dunst, das Aetherhafte und Traumhafte der Natur: wir sind unfähig, die Natur als Farbensymphonie, als buntes Bild, als Brechung des Sonnenstrahles in tausend
65 Dekor 00 Weiß – ab 1936 auch Dekor 05 Goldrand, Dekor 11 Platinrand, Dekor 12 Canto (schwarzer Rand). 66 Als Dekor 56 Multicolore werden heute noch Espresso-Tassen in den Varianten 5601 Eisenrot, 5603 Blau und 5604 Zitronengelb in Kombination mit Goldrand angeboten. 5602 Dunkelpurpur, 5605 Mausgrau und 5606 Gelbgrün sind dagegen aktuell nicht verfügbar.
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Farben, als Triumph der Freude und des Lichtes zu sehen – denn Farbe ist Licht, und in der Nacht giebt es keine Farben.67
Wer sich in der Mannigfaltigkeit der Farberscheinungen zurechtfinden will, benötigt einen guten Überblick über die unterschiedlichen Farben und Farbtöne. Diesen vermittelt beispielsweise das 1979 von Anders Hård, Lars Sivik und Gunnar Tonnquist am Skandinaviska Färginstitutet AB in Stockholm entwickelte Natural Colour System® (NCS).68 Es basiert auf den Elementarfarben Weiß (W), Schwarz (S), Gelb (Y), Rot (R), Blau (B) und Grün (G) (vgl. Abb. 4). Jede Farbnuance lässt sich in diesem System als eine bestimmte Zahlen-Buchstaben-Folge benennen. „4030-R90B“ bedeutet beispielsweise, dass die Farbnuance einen Schwarzanteil von 40 % (erste zwei Ziffern), einen Buntanteil von 30 % (dritte und vierte Ziffer) sowie einen Weißanteil von 30 % (= Differenz zu 100 %) aufweist. Der mit diesen Schwarz- und Weißanteilen gemischte Buntton verbirgt sich in der Angabe „R90B“: 90 % reines Blau und 10 % reines Rot. „0560-G10Y“ bezeichnet entsprechend eine Mischung aus 5 % Schwarz, 35 % Weiß, 54 % Grün und 6 % Gelb.69 Rein graue Farbnuancen werden mit Ausdrücken wie „4000-N“ (= 40 % Schwarzanteil, 0 % Buntanteil, 60 % Weißanteil) angegeben, wobei „N“ für „neutral“ steht. Beschränkt man sich auf ganzzahlige Prozentanteile, lassen sich im NCS etwa zwei Millionen verschiedene Farbnuancen unterscheiden. In der realen Welt kommen diese Farben natürlich immer in materialisierter Form vor: als lackierte Oberflächen, farbig bedruckte Papiere, gefärbte Kunststoffe und Textilien, LED67 Heinrich Pudor: Die neue Erziehung. Essays über die Erziehung zur Kunst und zum Leben. Leipzig 1902. S. 149. 68 Gebräuchlich sind auch die Farbsysteme RGB und CMYK sowie die Farbenkataloge von RAL und Pantone, vgl. Norbert Welsch/Claus Christian Liebmann: Farben. Natur, Technik, Kunst. Berlin 32018. S. 129–132; Deutsches Institut für Gütesicherung und Kennzeichnung (Hg.): RAL-D2 Design. Alle 1.625 Farben des RAL DESIGN Systems auf 9 Farbdarstellungen pro Blatt. St. Augustin 2016; Pantone (Hg.): Formula Guide – Solid Uncoated. Carlstadt/N. J. 2016; Pantone (Hg.): Pastels & Neons – Coated & Uncoated. Carlstadt/N. J. 2016; Pantone (Hg.): Metallics – Solid Coated. Carlstadt/N. J. 2019. 69 Vgl. Swedish Standards Institute (Hg.): NCS. Färgatlas – Colour Atlas – Farbatlas – Atlas des couleurs – Atlas del color – Atlante dei colori. Stockholm 42004.
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Abb. 4 Natural Colour System® (NCS) – Farbkreis
beleuchtete Flüssigkristallbildschirme etc. Das Trägermaterial und die Bindemittel der Farbpigmente lassen dieselbe Farbnuance dabei unterschiedlich erscheinen (zum Beispiel einerseits mit matter, andererseits mit glänzender Oberfläche), was bei der gelungenen Farbgestaltung zu beachten ist. Nicht zu vernachlässigen ist zudem, dass die Farbe eines Gegenstandes je nach Lichtsituation variiert, etwa im weichen, gelb-rötlichen Licht direkt nach Sonnenaufgang oder während der „blauen Stunde“ unmittelbar nach Sonnenuntergang. Auch Kunstlicht führt zu speziellen Farbeindrücken: Im Gegensatz zu Glühlampen, die ein warmes und kontinuierliches Spektrum abgeben, weisen Leuchtstofflampen – wie alle Entladungslampen und viele LEDs – ein diskretes Spektrum auf. Betrachtet man ihr Licht durch ein Prisma, so findet man er138
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hebliche Lücken im Spektrum, einzelne Farben fehlen ganz oder sind stark unterrepräsentiert. Die Kombination der verschiedenen Spektralanteile erzeugt für das menschliche Auge zwar einen weißen Lichteindruck, der aber farbige Flächen oder Gegenstände verfälscht erscheinen lassen kann. Alle Kunstlichtquellen geben darüber hinaus ein unnatürlich gleichbleibend helles Licht ab, das Tageslicht dagegen variiert in Helligkeit und Farbtemperatur lebendig in dynamischer Art und Weise. Schließlich ist zu betonen, dass alle Farberscheinungen auf Bildschirmen und aus digital angesteuerten Druckgeräten Farbe nur simulieren können: Sie basieren auf Rastern aus lediglich drei (RGB bei Bildschirmen), vier (CMYK bei Druckern) oder maximal zehn Farben (bei Fotodruckern). Echte Volltonfarben, wie sie beispielsweise in der Malerei und im Siebdruck noch Verwendung finden, existieren hier nicht. Als Simulationen sind diese Farberscheinungen jedoch Trugbilder – sie blockieren den unmittelbaren sinnlichen Zugang zum Phänomen, was die Empfindungsfähigkeit des Menschen so weit verkümmern lassen kann, dass der Verlust echter Farbe und der dilettantische Umgang damit nicht mehr bewusst werden. Erste aufschlussreiche Einsichten in die ästhetische Wirkung von Farben vermittelt Johann Wolfgang Goethe in dem Abschnitt Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe seines Buches Zur Farbenlehre (1810). Goethe unterscheidet dabei acht Grundfarben voneinander: Gelb, Rotgelb (Orange), Gelbrot (Zinnober), Blau, Rotblau (Lila), Blaurot, Rot (Purpur) und Grün. Gelb, Rotgelb und Gelbrot rechnet er der „Plusseite“ zu, denn diese Farben stimmten seiner Auffassung nach regsam, lebhaft und strebend. Zur „Minusseite“ zählten Blau, Rotblau und Blaurot – sie bewirkten im Menschen eine unruhige, weiche und sehnende Stimmung.70 In der Detailbeschreibung gilt Goethe Gelb als warm, heiter, munter, sanft reizend, im Rotgelb träten diese Eigenschaften noch mächtiger und herrlicher hervor, während Gelbrot als gewaltsam, erschütternd und maximal energiegeladen empfunden werde. Blau erscheint Goethe weit, leer und kalt, Rotblau lebhaft, unruhig und freudlos. 70 Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Zur Farbenlehre. Bd. 1. Tübingen 1810. S. 289, 294.
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Im Blaurot steigere sich die Unruhe dann ins Unerträgliche.71 Zum Rot bemerkt Goethe: Die Wirkung dieser Farbe ist so einzig wie ihre Natur. Sie gibt einen Eindruck sowohl von Ernst und Würde, als von Huld und Anmuth. Jenes leistet sie in ihrem dunklen verdichteten, dieses in ihrem hellen verdünnten Zustande. Und so kann sich die Würde des Alters und die Liebenswürdigkeit der Jugend in Eine Farbe kleiden.72
Über das Grün ist bei ihm zu lesen: Wenn beyde Mutterfarben [Gelb und Blau] sich in der Mischung genau das Gleichgewicht halten, dergestalt, daß keine vor der andern bemerklich ist, so ruht das Auge und das Gemüth auf diesem Gemischten wie auf einem Einfachen. Man will nicht weiter und man kann nicht weiter. Deswegen für Zimmer, in denen man sich immer befindet, die grüne Farbe zur Tapete meist gewählt wird.73
Auch Farbakkorde finden Goethes Beachtung. So erscheint ihm der Zusammenklang von Gelb und Blau arm und gemein, die Verbindung von Gelb und Purpur einseitig, aber heiter und prächtig. Gelb und Grün wirkten zusammen gemein-heiter, Blau und Grün gemein-widerlich.74 Der französische Chemiker und Leiter der Manufacture nationale des Gobelins in Paris Michel-Eugène Chevreul publiziert 1839 eine farbtheoretische Monografie, in der er seine experimentellen Untersuchungen zum Simultankontrast vorstellt und davon ausgehend Empfehlungen zur Farbgestaltung von Druckerzeugnissen, Gebäuden, Innenausstattungen, Kleidung und Gärten formuliert. Als Simultankontrast (contraste simultané) bezeichnet Chevreul das Phänomen, dass eine farbige Fläche in Farbintensität und Farbwert verändert erscheint, wenn sie gegen eine anders71 Vgl. ebd., S. 290–297. 72 Ebd., S. 299. 73 Ebd., S. 300. 74 Vgl. ebd., S. 305–310. Zum Einfluss von Helligkeitswerten auf die Farbwirkung vgl. ebd., S. 310/311.
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farbige Fläche gehalten wird. Beispielsweise tendiere Rot neben Orange ins Violette und neben Blau ins Gelbe, Grün neben Orange ins Blaue und neben Blau ins Gelbe.75 Kombiniert mit Weiß, Schwarz und Grau erschienen die Farben tiefer, brillanter und reiner.76 Für die Gestaltung leitet Chevreul aus seinen Untersuchungen unter anderem ab, dass die Wände von Skulpturensammlungen in Perlengrau, Chamois oder Orangegrau gestrichen werden sollten, damit sich die Statuen aus weißem Marmor, Stein oder Gips wirkungsvoll absetzten. Der Hintergrund naturkundlicher Sammlungen müsse dagegen weiß sein, um den Farbeindruck während des wissenschaftlichen Studiums nicht zu verfälschen. Theaterlogen dürften keinesfalls rosarot, weinhefefarbig oder amarantfarben ausgeschlagen werden, da die Haut der Zuschauer sonst grünlich erscheine; vor blassgrünem Hintergrund wirke sie dagegen frisch und rosig.77 Zur farblichen Zusammenstellung von Blumen rät Chevreul: Les fleurs jaunes, surtout celles qui tirent sur l’orangé, vont très-bien avec les fleurs bleues. Les fleurs d’un jaune plutôt verdâtre qu’orangé, sont d’un bon effet avec les fleurs d’un rose tirant sur l’amaranthe plutôt que sur l’orangé. Les fleurs d’un rouge foncé s’allient bien avec les fleurs d’un bleu foncé. Les fleurs orangées ne sont pas déplacées auprès des fleurs violettes. Il est sans doute superflu de remarquer que le blanc s’allie plus ou moins heureusement à toutes ces associations.78
Möbius weist in seinem tierästhetischen Werk darauf hin, dass neben Graustufen, tiefstem Schwarz und strahlendem Weiß alle Farben des Regenbogens im Tierreich zu finden seien: „Bald sind die Farben glänzend, bald matt; bald stoßen sie grell zusammen, 75 Vgl. Michel-Eugène Chevreul: De la loi du contraste simultané des couleurs, et de l’assortiment des objets colorés, considéré d’après cette loi dans ses rapports avec la peinture, les tapisseries des Gobelins, les tapisseries de Beauvais pour meubles, les tapis, la mosaïque, les vitraux colorés, l’impression des étoffes, l’imprimerie, l’enluminure, la décoration des édifices, l’habillement et l’horticulture. Paris 1839. S. 12/13. 76 Vgl. ebd., S. 28–37. 77 Vgl. ebd., S. 370–375. 78 Ebd., S. 469.
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bald gehen sie allmählich ineinander über.“79 Beim ersten Anblick zögen die bunten Farben von Tieren die Aufmerksamkeit stärker an als deren Formen, doch als Träger der Farben seien die Formen ästhetisch bedeutsamer. Kinder und „ästhetisch ungebildete Erwachsene“ pflegten den Wert des Bunten zu überschätzen. Farbige Tiere erachtet Möbius als schön, wenn ihre gleichartigen Formteile auch gleiche Farben tragen. Auffallend gefärbte Flügelränder von Schmetterlingen verschönerten diese Tiere, da sie sie von ihrer Umgebung abhöben und so leichter als ästhetische Einheit erfassen ließen. Sehr schön seien auch nebeneinanderliegende Ergänzungsfarben wie Rot und Grün auf den Flügeln des Oleanderschwärmers oder Gelb und Blau beim Schwalbenschwanz. Zudem seien glänzende Farben schöner als matte: Glänzende und schillernde Farben reizen das Auge durch wechselnde Helligkeitsgrade und ineinander übergehende Farbenstufen; deshalb gefallen sie mehr als gleichmäßig matte Farben. Man erblickt Mannigfaltiges in der farbigen Einheit. Beispiele: der Hals der Feldtaube, der blau und grün schillert; der Glanzstar, Lamprotornis aeneus, ein dunkelblau und grün schillernder afrikanischer Vogel; Morpho Sulkowskyi, ein großer, prächtig blau und grün schillernder südamerikanischer Schmetterling.80
Während farbige Tiere als solche faszinieren, stoßen in der Gestaltung – wie schon bei Chevreul deutlich wurde – vor allem farbige Pflanzen auf Interesse, namentlich im Wald- und Gartenbau. So widmet beispielsweise der Forstwirt Heinrich von Salisch den Farbwirkungen in seinem Buch Forstästhetik (1895) ein eigenes Kapitel81, und Pudor veröffentlicht einen Artikel Zur Farbenästhetik des Waldes (1906), in dem er vor allem den dunklen, bläulich-grünen Nadelwald mit seinen tiefen, warmen und regelmäßig geformten Schatten vom vergleichsweile hellen, eher gelblich-grünen Laubwald mit kalten, flachen und unregelmäßigen
79 Möbius: Ästhetik der Tierwelt (wie Anm. 53). S. 67. 80 Ebd., S. 74/75. 81 Vgl. Heinrich von Salisch: Forstästhetik. Berlin 21902 [1895]. S. 39–57.
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Schatten unterscheidet.82 Bemerkenswert sind auch die Farbengärten, die Joseph Maria Olbrich für die Allgemeine GartenbauAusstellung 1905 in Darmstadt entwirft und über die er schreibt: „In dieser grünen Basis ruhen nun die blau, rot und gelb blühenden Gärten. Gleich feingeschliffenen Juwelen sind sie auf samtenem smaragdfarbigen Grund gefaßt.“83 Itten legt in seinem kontrastbasierten Vorlehreunterricht besonderen Wert auf die Farbgestaltung, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass er diesem Thema ein eigenes Buch widmet, in dem er ausführlich die sieben von ihm herausgearbeiteten Farbkontraste erläutert: den Farbe-an-sich-Kontrast, den Hell-DunkelKontrast, den Kalt-Warm-Kontrast, den Komplementär-Kontrast, den Simultan-Kontrast, den Qualitäts-Kontrast und den Quantitäts-Kontrast.84 Die Studierenden erlernen diese objektiven farbästhetischen Zusammenhänge, indem sie Schachbrettmuster mit entsprechenden Farbproben füllen. Dabei entdecken sie, wie sich die Wirkung einer Farbe durch das Zumischen von Weiß beziehungsweise Schwarz ändert (Hell-Dunkel-Kontrast) oder wie sich die unterschiedliche Leuchtkraft zweier Farben bei ihrer Kombination dadurch ausgleichen lässt, dass die Farbe mit dem höheren Lichtwert eine entsprechend kleinere Fläche zugewiesen erhält (Quantitäts-Kontrast). Hier geht Itten von Goethe aus, der reinen Farben folgende Leuchtwerte zuordnet: Gelb = 9, Orange = 8, Rot = 6, Violett = 3, Blau = 4, Grün = 6. Ein harmonisches Quantitätsverhältnis zwischen Gelb und Violett ergebe sich demnach dann, wenn die violette Fläche dreimal so groß sei wie die gelbe.85 Eine Übung widmet sich auch der „subjektiven Farbgebung“. Dabei füllen die Studierenden Farbkombinationen in das Schachbrett ein, die ihnen besonders großes Wohlgefallen bereiten. Im expressiven Teil des Farbenunterrichts studieren die Schüler die 82 Vgl. Heinrich Pudor: Zur Farbenästhetik des Waldes. In: Die Gartenkunst. 8 (1906). S. 242–244. 83 Joseph Maria Olbrich: Neue Gärten von Olbrich. Berlin 1905. S. 4. Vgl. auch Ausstellungs-Leitung (Hg.): Allgemeine Gartenbau-Ausstellung Darmstadt. Illustrierter Katalog. 19. August bis 17. September 1905. Darmstadt 1905. S. 44–46. 84 Vgl. Johannes Itten: Kunst der Farbe. Subjektives Erleben und objektives Erkennen als Wege zur Kunst. Stuttgart 282003 [1961]. 85 Vgl. ebd., S. 59–63.
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seelische Wirkung von Farbkontrasten. Zu diesem Bereich liefert Itten treffende sprachliche Umschreibungen, zum Beispiel „Steht Gelb auf Dunkelgrün, so wirkt es ausstrahlend, das Grün überstrahlend“, „Gelb auf Violett besitzt charaktervolle Kraft, es ist hart und unerbittlich“ oder „Gelb auf Rot ergibt einen mächtigen, lauten Akkord, wie Posaunen am Ostermorgen“.86 Auch Josef Albers, der 1920/21 Ittens Vorkurs durchläuft und nach Moholy-Nagys Weggang den Grundlagenunterricht am Bauhaus übernimmt, entwickelt eine eigene Farbenlehre. Wie Itten hatte er vor seinem künstlerischen Studium eine pädagogische Ausbildung absolviert. Sein didaktisches Konzept orientiert sich an John Deweys Learning-by-Doing-Methode und an der Arbeitsschule Georg Kerschensteiners. Albers lehrt weder physikalische noch physiologische Zusammenhänge und auch keine Farbsysteme. Mit Hilfe farbiger Papiere sollen seine Studierenden vielmehr selbst praktische Erfahrungen im Umgang mit Farben sammeln: Instead of mechanically applying or merely implying laws and rules of color harmony, distinct color effects are produced—through recognition of the interaction of color—by making, for instance, 2 very different colors look alike, or nearly alike. The aim of such study is to develop—through experience—by trial and error—an eye for color. This means, specifically, seeing color action as well as feeling color relatedness. As a general training it means development of observation and articulation. […] Just as the knowledge of acoustics does not make one musical—neither on the productive nor on the appreciative side—so no color system by itself can develop one’s sensitivity for color. […] What counts here—first and last—is not so-called knowledge of so-called facts, but vision—seeing.87
Mit seinem Buch Das Gesetz der Farbe (1968) bemüht sich der Ornithologe, Philosoph und Farbenpsychologe Heinrich Frieling um einen Gesamtüberblick, der auch farbgestalterische Aspekte umfasst. Seine Ausführungen zur Physik, Sinnesphysiologie und 86 Ebd., S. 85. 87 Josef Albers: Interaction of Color. New Haven/Conn., London 42013 [1963]. S. 1/2.
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Systematisierung der Farben wie auch seine tiefenpsychologischen Spekulationen und experimentalpsychologischen Untersuchungsergebnisse tragen wenig zum Verständnis von Farberleben und Farbwirkung bei. Interessant sind dagegen seine Darstellungen synästhetischer Verwandtschaften – assoziativer Verbindungen zwischen Farben, Tonarten, Gerüchen, Geschmacksqualitäten und Tasterlebnissen.88 Dabei stellt er unter anderem folgende Zusammenhänge her: „C-Dur – Weiß, Sonnengold, Lichtgrün“, „cis-moll – Rot, Gold, Beige“, „süß – Rot, Orangerosa“ und „sauer – Gelb, Gelbgrün“. Im lebenspraktischen Kapitel seines Buches befasst sich Frieling mit der Farbgestaltung in Architektur, Werbung und Mode. Große Aufmerksamkeit widmet er dabei der Farbgebung des Bodens, der Wände und der Decke von Innenräumen, die in abgemilderten Farbtönen gehalten sein sollten: Besitzt ein Raum grüne Wände, eine gelbe Decke und einen braunen Boden, so ist das Primärerlebnis des Eintretens: Anhalten zur Sammlung (erdhaft), die Betrachtung der Wand bringt dazu: Sammlung, Umfriedung, Hege (Hüllung); der schweifende Blick zur Decke stimmt das Gesamterlebnis ein unter den Aspekt des Leichten, Beweglichen, Beschwingten, das uns beim Blicken weiterleitet, wodurch wir wieder vom Gelb zu den grünen Wänden kommen, die nun im Vergleich zum Gelb als festigend, sichernd wirken. Die Ernüchterung findet ihren Fortgang bei der Zweitbetrachtung des Bodens: primitives Behagen. Haben wir es mit einem Raum zu tun, der einen roten Teppich, blaue Wände und weiße Decke zeigt (wobei das Blau nicht laut zu sein braucht), wäre die Erlebnisfolge: „Aha“ über Repräsentation – mit der Folge des Verhaltens; die Wand zieht dagegen weg, bringt uns nichts, und die Decke läßt uns mit unserem zerrissenen Erlebnis allein, da sie nichts Emotionales beiträgt. Von der Decke wird das Blau der Wand dann als kalt beurteilt, der Boden heiß: differenziertes Unbehagen. Ästhetisches Behagen tritt ein, wenn farbton- und sättigungsmäßige konstante Beziehungen bei allen Blickrichtungen geschaffen wurden.89
88 Vgl. Heinrich Frieling: Das Gesetz der Farbe. Göttingen, Zürich, Berlin, Frankfurt a. M. 1968. S. 197–211. 89 Ebd., S. 216.
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Die Effekte der einzelnen Farben an Boden, Wand und Decke stellt Frieling in einer tabellarischen Übersicht zusammen. Orange beispielsweise wirke am Boden motorisch, an der Wand warm und an der Decke stark anregend, Violett am Boden störend, an der Wand herabstimmend und an der Decke bedrückend, Grün am Boden sanft haltend, an der Wand umfriedend und an der Decke deckelnd, Schwarz am Boden vertiefend, an der Wand umkerkernd und an der Decke begrabend. Sehr aufschlussreiches Anschauungsmaterial zur Wirkung von Farben liefern auch die Spielfilme Les parapluies de Cherbourg (1964) und Les demoiselles de Rochefort (1967) von Jacques Demy sowie 8 femmes (2002) von François Ozon. Ein vorbildliches Beispiel zeitgenössischer Farbgestaltung findet sich in dem 2016 eröffneten Europa-Gebäude in Brüssel, dem Hauptsitz des Europäischen Rates und des Rates der Europäischen Union. Der von Samyn and Partners entworfene Bau mit annähernd quadratischem Grundriss integriert einen Teil der mondänen, zwischen 1922 und 1927 von Michel Polak im Stil des Art Déco errichteten Apartmentanlage Résidence Palace. Seine vorgesetzte Außenfassade mit aufgearbeiteten Altbaufenstern aus verschiedenen EU-Staaten, die sowohl dem Schallschutz wie der thermischen Isolation dient, gefällt sich in einer eher banalen Symbolik: Sie will die Geschichte und Vielfalt europäischer Kultur vermitteln und zugleich die Idee der Nachhaltigkeit transportieren. Ganz anders die Farbgestaltung im Innern des Gebäudes: Sie symbolisiert nicht – wie in oberflächlichen Presseberichten kolportiert – die Vielfalt Europas. Ebenso wenig würfelt sie die Farben der europäischen Nationalflaggen zusammen oder propagiert Frohsinn und Diversität. Das in vielerlei Hinsicht brillante Kunstwerk des Belgiers Georges Meurant erstreckt sich an Decken, Aufzugschächten und Türen innerhalb des gesamten Gebäudes, um schließlich im großen Sitzungssaal (Abb. 5) zu kulminieren. Farbflächen verschiedener Intensität, Helligkeit und Tönung sind hier auf dem Teppich in unterschiedlich großen Kreissegmenten, an der Decke in einem für den Künstler typischen orthogonalen Raster ausgebreitet. Beim Betrachten entfalten diese physisch-materiellen Gegebenheiten an den gestaltgebenden Konturen ein feinsinniges Spiel ästhetischer Eindrü146
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Abb. 5 Samyn and Partners/Georges Meurant: Europa-Gebäude – Sitzungssaal, Brüssel, 2005–16
cke90: Durch Meurants ausgeklügelte Komposition von Warm-Kalt-, Hell-Dunkel-, Komplementär- und Sättigungskontrasten scheint sich in einem Moment eine Gruppe von Rechtecken zu einem größeren Rechteck zu vereinen, das im nächsten Moment wieder zerfällt, während sich der gleiche Prozess mit einer anderen Gruppe wiederholt und kurz darauf mit einer weiteren in neuer Form. Kontinuierlich und unaufhaltsam bannen diese Permutationen unseren passiven Blick – wir können nichts tun, um sie zu verhindern. Dadurch entsteht eine dynamische Gesamtwirkung, die den Betrachter in ein völlig neues – unendliches oder unbestimmtes – Zeiterleben hineinzieht.91 Die unaufhörlich pulsierende, vom Künstler selbst als Perpetuum mobile bezeichnete Gestaltbildung erzeugt einen den gesamten Raum erfüllenden fortwährenden Atmosphärenwechsel. Damit tritt Meurant in ebenso erstaunlicher wie sensibler Weise in die Fuß90 Zum Verhältnis von physisch-materiellen Gegebenheiten (factual facts) und ästhetisch-sinnlichen Eindrücken (actual facts) vgl. auch Josef Albers: One plus one equals three or more: factual facts and actual facts. In: Ders.: Search Versus Re-Search. Hartford/ Conn. 1969. S. 17–23. 91 Vgl. Georges Meurant: Peindre un perpetuum mobile/Painting a perpetuum mobile. Brüssel 2013. S. FR 22, EN 22.
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stapfen Bruno Tauts, der in den 1920er Jahren gefordert hatte, „die abstrakte Raumform, die der bloße Rohbau gibt“, mittels Farbe zu „wirklichem Leben“ 92 zu führen. In das menschliche Farbempfinden mischen sich symbolische Eigenschaften und Werte, die von Kultur zu Kultur variieren und die teils konventionell, teils ikonisch geprägt sind. In der evangelischen Liturgie stehen beispielsweise Schwarz für Dunkel und Trauer (z. B. Karfreitag), Violett für Umkehr und Neuanfang (z. B. Bußund Bettag), Grün für Gedeihen und Hoffnung (z. B. Erntedankfest), Rot für Feuer und Liebe (z. B. Reformationsfest) sowie Weiß für Licht und Freude (z. B. Ostern, Heiligabend). Die Farben der Trikolore repräsentieren die drei Grundwerte der Französischen Revolution: Freiheit (Blau), Gleichheit (Weiß) und Brüderlichkeit (Rot). Die italienische Nationalflagge verweist dagegen auf Natur und Landschaft (Grün), auf die Gletscher der Alpen (Weiß) und auf das Blut, das in den italienischen Unabhängigkeitskriegen vergossen wurde (Rot). Im Produktdesign können Farben auch dazu dienen, bestimmte Funktionen anzuzeigen, zum Beispiel Rot (= warm) und Blau (= kalt) beim Wasserhahn oder dunkles Orange für den UKWSchalter beim Weltempfänger T 1000 von Braun. Material Während Formen vornehmlich visuell und taktil, Farben meist rein visuell 93 wahrgenommen werden, sind die Stoffe und Materialien, aus denen Gebrauchsgegenstände entstehen, visuell, taktil, akustisch und olfaktorisch zu erkunden. Neben die sinnliche Wahrnehmungsschulung tritt hier die praktische Erfahrung im wirkungsvollen und sorgfältigen Bearbeiten dieser Werkstoffe wie stanzen, sägen, schneiden, biegen, brechen, strecken, bohren, fräsen, nieten, gravieren, schweißen, schrauben, kleben, nähen, formpressen, schleifen, polieren, entgraten usw.94 Henry van de Velde weist zu Recht darauf hin, 92 Bruno Taut: Ein Wohnhaus. Stuttgart 1927. S. 90. 93 Vgl. zur Farbwahrnehmung bei Blinden allerdings Ursula Burkhard: Farbvorstellungen blinder Menschen. Basel, Boston/Mass., Stuttgart 1981. 94 Vgl. dazu auch Wilhelm Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding. Frankfurt a. M. 42004 [1953]. S. 19–22.
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dass eine ansprechende Materialanmutung auf sensible Bearbeitungsmethoden angewiesen ist: In den Händen eines Arbeiters oder eines Menschen ohne Genie gelten Holz, Stein, Ton, Metall, Glas und Rohr nicht mehr als ihr praktischer Wert, währenddem alle diese Stoffe imstande sind, unsere Sinne zu erregen, sobald die Leidenschaft desjenigen sie berührt und durchdringt, der sie zum Leben erwecken will, der sich zu ihnen hingezogen fühlt, von dem Wunsche beseelt, ihnen Leben zu schenken, ihnen höhere Daseinsmöglichkeiten zu eröffnen. An sich ist kein Material schön, und es wäre leicht, Beweise hierfür aufzubringen. Holz, Metall, Steine und Edelsteine verdanken ihre eigenartige Schönheit dem Leben, das die Bearbeitung, die Werkzeugspuren, die verschiedenen Arten, in welchen sich die begeisterte Leidenschaft oder die Sensibilität desjenigen, der sie bearbeitet, äußert, ihnen aufprägt. Dieses Beleben des Stoffes läßt jede Steigerung zu, und die Fähigkeit der daraus folgenden Erregbarkeit kann Empfindungen hervorrufen, die sich vom leisesten Reiz bis zu völliger Trunkenheit steigern können.95
Wie bei den Farben und Farbtönen müssen Gestalter auch einen Überblick über die zahlreichen verschiedenen Werkstoffe erlangen. Grob lassen sich die Materialien in natürliche und künstliche 96 einteilen. Die natürlichen gliedern sich wiederum in anorganische 97, pflanzlich-organische 98 und tierisch-organische 99. Oft 95 Henry van de Velde: Die Belebung des Stoffes als Prinzip der Schönheit. In: Ders.: Zum neuen Stil. München 1955. S. 169. [1910] 96 Die Kunststoffe gliedern sich in Elastomere (z. B. Buna), Duroplaste (z. B. Phenolharze (PF), Harnstoffharze (UF), Melaminharze (MF)) und Thermoplaste (z. B. Polyamide (PA), Polyester (PET), Polyethylen (PE), Polypropylen (PP), Polycarbonat (PC), Polyvinylchlorid (PVC), Polystyrol (PS), Polymethylmethacrylat (PMMA)). 97 Metall (z. B. Aluminium, Kupfer, Zinn, Eisen, Blei, Titan, Zink, Silber, Gold, Platin, Bronze (Kupfer und Zinn), Messing (Kupfer und Zink), Stahl), Stein (z. B. Granit, Kalkstein, Marmor, Sandstein, Schiefer), Edelsteine (z. B. Diamant, Smaragd, Rubin, Saphir), Halbedelsteine (z. B. Achat, Bernstein, Jade, Opal), Beton, Glas und Keramik (Tongut, Fayencen, Ziegelsteine, Steinzeug, Porzellan). 98 Holz (z. B. Ahorn, Birke, Buche, Birnbaum, Ebenholz, Eiche, Esche, Kastanie, Kirsche, Linde, Mahagoni, Nussbaum, Palisander, Palmenholz, Pappel, Robinie, Teak, Ulme, Zebraholz, Eibe, Fichte, Kiefer, Lärche, Tanne, Zeder), Bambus, Kautschuk, Kork, Papier, Pappe, Hanf, Baumwolle. 99 Leder (z. B. Eidechse, Galuchat (Hai, Rochen), Hirsch, Krokodil, Pferd, Rind, Schaf, Schlange, Schwein, Strauß, Ziege), Pelz (z. B. Blaufuchs, Chinchilla, Hermelin, Kaninchen, Leopard, Nerz, Opossum, Rotfuchs, Silberfuchs, Zobel), Wolle (z. B. Alpaka, Angorakanin-
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wird übersehen, dass nicht nur eine wachsende Zahl an Maschinen und Geräten die technische Zivilisation kennzeichnet, sondern auch die kontinuierliche Entwicklung so genannter ›neuer Materialien‹. In den 1920er Jahren rechnet der Architekt Hannes Meyer unter anderem die folgenden Werkstoffe dazu: Euböolith, Ruberoid, Torfoleum, Eternit, Rollglas, Triplexplatten, Glasbausteine, Trolith, Galalith, Cellon, Goudron und Ripolin.100 Zu den aktuellsten neuen Materialien zählen Holz-Metall-Schaum, carbonfaserverstärkter Kunststoff (CFK), Biotinte und diverse ›intelligente Werkstoffe‹ (smart materials), die zielgerichtet auf veränderte Umweltbedingungen reagieren können (z. B. thermische und magnetische Formgedächtnislegierungen (FGL), Piezokeramik, elektroaktive Polymere). Karl Schmidt, der Leiter der Deutschen Werkstätten in Dresden-Hellerau, äußert sich zur sinnlichen Erkundung von Material bereits 1917 sehr treffend. In seinem Aufsatz Materialgefühl bemängelt er, dass die Menschen kein Empfinden für die alltäglichen Dinge besäßen, obwohl damals an den höheren Schulen Kunstgeschichte gelehrt werde. Bildung gelte einseitig als ein Wissen über die Dinge. Wirklich gebildeten Menschen seien die Dinge dagegen lebendig, weil sie sie fühlten: „Wie reich sind solche Menschen, und wie arm ist dagegen der nur wissenschaftlich Gebildete!“101 Um seinen Standpunkt zu unterfüttern, schildert Schmidt zunächst, wie man an einem Stück Holz dessen Entstehungsgeschichte ablesen kann – wie die Jahresringe über feuchte und trockene Sommer erzählen, wie sich Standort und Bodenbeschaffenheit in den Eigenschaften des Materials niederschlagen. Zur Qualität von Leder merkt er an, dass vor 1850 in Leder gebundene Bücher heute noch schön aussähen, chemisch behandeltes industrielles Leder sei dagegen nach wenigen Jahren verschossen, zerfressen, zermürbt. Schmidt regt auch dazu an, sich ein Stück handgeschöpftes Papier anzusehen und mit gängigem modernen
chen, Kamel, Schaf), Elfenbein, Schwamm, Horn, Seide. 100 Vgl. Hannes Meyer: Die neue Welt. In: Das Werk. 13 (1926). S. 222. 101 Karl Schmidt: Materialgefühl. In: Deutscher Wille. 31/1 (1917). S. 177.
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Papier zu vergleichen oder auch japanisch-chinesische Schwertstichblätter, die zeigten, was für ein edles Material Eisen sein könne. In gestaltungsdidaktischer Hinsicht innovativ sind die sinnlichen Materialstudien der Bauhausvorlehren von Itten und Moholy-Nagy. Itten beginnt diesen Teil seines Unterrichts damit, dass die Studierenden lange Listen unterschiedlicher Materialien erstellen. Dann lässt er die visuell und taktil erfahrbaren Eigenschaften dieser Stoffe dazuschreiben. Grundlage der sprachlichen Umschreibung ist dabei, dass die Schüler das Material intensiv sinnlich erkunden, dass sie Kontraste wie „glatt – rau“, „hart – weich“ oder „leicht – schwer“ nicht nur sehen, sondern auch erfühlen. Nach diesen Übungen lässt Itten Montagen aus kontrastierenden Materialien herstellen, um das Erlebte zu objektivieren: Bei der Lösung dieser Aufgaben gerieten die Studierenden geradezu in ein Gestaltungsfieber. Sie begannen die Schubladen der sparsamen Großmütter, Küchen und Keller zu durchstöbern, sie durchsuchten die Werkstätten der Handwerker und die Abfallhaufen der Fabriken und Bauplätze. Die ganze Umwelt wurde neu entdeckt, rohe Hölzer und Hobelspäne, Stahlwolle, Drähte, Schnüre, poliertes Holz und Schafwolle, Federn, Glas und Stanniolpapier, Gitter und Geflechte aller Art, Leder, Pelze und glänzende Konservenbüchsen. Manuelle Fähigkeiten wurden entdeckt und neue Texturen wurden gefunden […]. Eine tolle Bastelei begann, und der geweckte Spürsinn fand einen unerschöpflichen Reichtum an Texturen und Kombinationsmöglichkeiten. Die Schüler beobachteten, daß Holz faserig, trocken, rauh, glatt oder gefurcht, daß Eisen hart, schwer, glänzend oder matt sein konnte. Sie untersuchten schließlich, mit welchen Mitteln diese Textureigenschaften dargestellt werden konnten […]. Für die zukünftigen Architekten, Handwerker, Fotografen, Grafiker und IndustrialDesigner waren diese Studien von großem Wert.102
Moholy-Nagy unterscheidet in seiner Materiallehre begrifflich zwischen der Struktur, der Textur und der Faktur eines Materials. Unter „Struktur“ versteht er dabei die innere Aufbauform des Ma102 Itten: Gestaltungs- und Formenlehre (wie Anm. 56). S. 34.
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terials (z. B. kristallin bei Metall oder faserig bei Holz), unter „Textur“ dessen Oberflächeneigenschaften, wie sie ohne äußere Einflüsse entstehen (natürliche Epidermis) und unter „Faktur“ die durch äußere Einflüsse (Wetter, Tiere, Menschen) hervorgebrachten Oberflächeneigenschaften (künstliche Epidermis).103 Ähnlich wie bei Itten beginnt der Schüler auch bei Moholy-Nagy mit eingehenden Tastübungen: Er holt sich die verschiedensten Materialien zusammen, um mit ihrer Hilfe möglichst viele verschiedene Empfindungen registrieren zu können. Er stellt sie zu Tasttafeln zusammen, die teils verwandte, teils kontrastierende Tastempfindungen enthalten. Nach kurzer oder längerer Übung ist er fähig, diese Elemente so zusammenzustellen, daß sie einem vorgefaßten Ausdruckswunsch entsprechen. Mit Wissenschaftlichkeit oder praktischer Konstruktionsabsicht haben die Übungen nichts zu tun. Doch lehrt die Erfahrung, daß ihre erlebnishafte Verarbeitung weite Auslegungsmöglichkeiten, auch für die Praxis, ergibt. Sie ist der gute Boden für die allseitigen Konsequenzen im Bereich der Materialien, auf dem Gebiet der Technik und Kunst.104
An diese Tastübungen schließen sich dann systematische Fakturübungen an – zum Beispiel die Herstellung von Papierfakturen mit einem einzigen Werkzeug, die Herstellung von Papierfakturen mittels frei gewählter Werkzeuge (Nadel, Zange, Messer etc.) in beliebiger Arbeitsweise (stechen, drücken, reiben, feilen, bohren usw.) oder die Herstellung von Fakturen aus dem Material verschiedener Werkstätten (Wolle, Metall, Holz usw.).105 Ein herausragendes Beispiel anspruchsvoller Materialgestaltung stammt von dem dänischen Möbeldesigner Hans Jørgensen Wegner. Nach ersten sachlichen Einrichtungsgegenständen für das um 1940 von Arne Jacobsen erbaute Aarhuser Rathaus und einigen eigenständig-expressiven – von chinesischen, philippini-
103 Vgl. Moholy-Nagy: Von Material zu Architektur (wie Anm. 23). S. 33–56. 104 Ebd., S. 21. 105 Vgl. ebd., S. 57–59.
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schen und britischen Vorbildern inspirierten106 – Arbeiten gelingt ihm 1949 mit dem Stuhl JH 501 (Abb. 6) ein Entwurf von überwältigender ästhetischer Selbstverständlichkeit. Seine prototypische Gestalt führt dazu, dass dieser Stuhl bis heute schlicht als „The Chair“ bekannt ist. Wie bereits Wegners vorherige Möbel zeichnet sich auch der JH 501 durch eine feinsinnige und vielschichtige Entwurfshaltung aus. Gleichzeitig zeugt er von profunder handwerklicher Expertise und ästhetischem Sinn für das Material. Im Massivholz ist – anders als bei den industrialisierten Holzwerkstoffen – die organische Kraft des Wachstumsprozesses spür- und sichtbar. Wegner fasst das obere, Armlehnen und Rückenlehne verbindende Holzelement aus drei Teilen in einer Form zusammen. Die äußerst komplexe Komposition eleganter Kurven, geschwungener Linien, konkaver und konvexer Flächen ist so gekonnt harmonisiert, dass daraus eine bemerkenswert natürliche Gestalt erwächst. Sowohl das Ganze als auch jedes Detail sind glaubhaft, ja geradezu zwingend ausgearbeitet, weil es die formbestimmenden Kräfte des Materials selbst sind, die Wegners Entwurf leiten. So verschmelzen visuelles und taktiles Empfinden zu einer atmosphärischen Einheit, die selbst beim Betrachten eines Fotos noch die haptische Qualität des Materials spürbar werden lässt. Die elegant-kräftigen Beine sind gerade so stark verjüngt, dass sie muskulös, aber nicht plump wirken. Durch die Neigung nach außen wird die stabile Anmutung zusätzlich unterstrichen. Die konkave Biegung der Querzargen visualisiert die elastisch-tragende Qualität des Holzes. So ergibt sich in Kombination mit dem Oberteil die charakteristische einladende Geste der Tragstruktur, die durch die luftige Bespannung aus Rohrgeflecht stets sichtbar bleibt. Bis heute entzieht sich das Oberteil industrieller Fertigung. Zwar lässt sich die grobe Form mittlerweile mit CNC-Fräsen vorfertigen, die fließenden Übergänge zu den Stuhlbeinen und die plastische Form der Lehnen werden aber nach wie vor von Hand 106 Wegners Chinastuhl (Kinastolen, 1944) orientiert sich an Sitzmöbeln der frühen QingDynastie (1644–1911), sein Pfauenstuhl (Påfuglestolen, 1947) nimmt Elemente philippinischer Rattansessel und die Formensprache britischer Windsor-Stühle von Anfang des 18. Jahrhunderts auf.
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Abb. 6 Hans J. Wegner: Armlehnstuhl Modell JH 501 („The Chair“), Eschenholz/Korbgeflecht, Hersteller: Johannes Hansen, 1949
vollendet. In der digitalen Welt existiert Material nicht, somit gibt es hier auch keine materialästhetischen Phänomene, die einen Entwurf lenken könnten. Die oben beschriebene Form ist in der digital gesteuerten Welt wohl ansatzweise fertigbar, aber ohne die sinnliche Erfahrung des Materials entwerferisch nicht denkbar. Unter der Überschrift Material der bildenden Kunst betont schon Goethe, dass der Künstler (so sehr er sich auch zum „Herrn der Materie“ machen möge) die Natur des Materials nicht verändern könne. Vielmehr müssten sich die Er154
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findungs- und Einbildungskraft des Gestalters mit dem von ihm bearbeiteten Material „unmittelbar“ verbinden.107 Vom sinnlichen Erleben der unterschiedlichen Werkstoffe zu unterscheiden sind – wie bei den Farben – die symbolischen Begleiteigenschaften, die sich aufgrund gesellschaftlicher Regeln und Moden an Materialien heften108. Diese können unter anderem kultisch-religiöser, magischer, ökonomischer oder auch politischer Art sein. Ein prägnantes Beispiel liefert das von Paul Ludwig Troost entworfene Haus der Kunst in München. Die Deutsche Bauzeitung feiert das Gebäude 1937 nicht zuletzt wegen der verwendeten Werkstoffe als charakteristischen Ausdruck des „nationalsozialistischen Bauwillens“: Als Baustoffe sind durchweg solche deutscher Herkunft verwendet worden. Der Gebäudesockel besteht aus Nagelfluh aus der Gegend von Brannenburg in Bayern, der Fassadenaufbau aus Kalkstein, der im Donau- und im Nabtal in der Gegend von Kelheim gewonnen wurde. Die Säulen und die Eckpfeiler sind ebenfalls aus Kalkstein, die Stufen der Freitreppe und der Plattenbelag auf den Terrassen aus Granit hergestellt, der aus dem Fichtelgebirge, und zwar aus der Gegend bei Wunsiedel, stammt. Die Sockel der Ausstellungsräume sind in gelbem Jura-Marmor aus der Gegend von Gundelsheim-Treuchtlingen verkleidet; aus dem gleichen Baustoff bestehen die Türeinstellungen der Ausstellungshallen. Für die Türeinstellungen der Ehrenhalle, die Sockel- und die Säulenverkleidungen in dieser wurde rötlicher Tegernseer Marmor, der bei Scherfen in der Nähe von Tegernsee gewonnen wurde, verwendet. Der Bodenbelag der Ehrenhalle ist aus großen roten Marmorplatten aus der Gegend von Saalburg in Sachsen zusammengesetzt. Aus dem gleichen Baustoff sind die Treppen und die Verkleidungen der sechs Treppenhäuser hergestellt. Aus Solnhofen stammen die großen Platten für den Bodenbelag der Ausstellungsräume. Das Flachdach besteht teils aus verzinktem Eisenblech (das ursprünglich vorgesehene Kupferblech war nicht mehr erhältlich), teils aus besonders starkem Drahtglas, das in
107 Johann Wolfgang Goethe: Auszüge aus einem Reise-Journal. In: Der Teutsche Merkur. 64 (1788). S. 43/44. 108 Vgl. z. B. Thomas Raff: Die Sprache der Materialien. Anleitung zu einer Ikonologie der Werkstoffe. Münster, New York, München, Berlin 22008 [1994].
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Bleistreifen kittlos wetterfest verlegt ist. Das „Haus der Deutschen Kunst“ in München gehört zu jener Gruppe von Bauten des Staates und der Partei, in denen eine Baugesinnung zum Ausdruck kommt, die bewußt an die Stelle einer reinen Zweckarchitektur das Bekenntnis zu einer großen Idee setzt. Dieses Bekenntnis kommt in der einfachen Klarheit der gewählten Bauformen, in der Monumentalität der gesamten Erscheinungsform und in der Würde der ganzen Bauschöpfung zum Ausdruck. Wie in den bereits vorangegangenen Bauten des Dritten Reiches, insbesondere in den Parteibauten am Königlichen Platz, so hat auch im Hause der Deutschen Kunst der nationalsozialistische Bauwille die materialistischen Baugedanken der Vergangenheit überwunden. Ganz Deutschland aber ist mit dem „Haus der Deutschen Kunst“ in München durch den Führer eine einzigartige, würdige und festliche Heimstätte zeitgenössischer Kunst geschenkt worden.109
Raum Um angemessen einzuschätzen, wie Form, Farbe und Material der Gebrauchsgegenstände zusammenwirken und welche Rolle dabei analoge Kompetenzen spielen, lohnt ein Blick auf das Phänomen Raum. Seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. verfügt die abendländische Kultur über eine mathematische beziehungsweise geometrische Raumtheorie. Damals begründete der Mathematiker Eukleides den nach ihm benannten euklidischen Raum, den er in den Büchern 11 bis 13 seines Werkes Elemente (Στοιχεῖα) als axiomatische Theorie dreidimensionaler mathematischer Körper (Pyramide, Prisma, Kegel, Zylinder, Kugel, Tetraeder, Oktaeder, Würfel, Dodekaeder, Ikosaeder) entwickelt. Sein Ausgangsaxiom lautet: „Ein Körper ist, was Länge, Breite und Tiefe hat“110 (Στερεόν ἐστι τὸ μῆκος καὶ πλάτος καὶ βάϑος ἔχον). Mit der Zentralperspektive erfinden Künstler der frühen Neuzeit später eine anschauliche zweidimensionale Darstellungsform euklidischer Raumverhältnisse.111 Als kartesischen 109 G.: Das Haus der Deutschen Kunst in München. In: Deutsche Bauzeitung. 71 (1937). S. 101. 110 Eukleides: Euklid’s Elemente. Halle 51824. S. 315. 111 Vgl. z. B. Albrecht Dürer: Underweysung der messung mit dem zirckel un richtscheyt in
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Raum bezeichnet man schließlich ein nach René Descartes112 benanntes dreiachsiges orthogonales Koordinatensystem, in dem sich zahlreiche raumgeometrische Sachverhalte beschreiben lassen (z. B. als Kanten, Punktmengen, Funktionen etc.) und das heutigen digitalen 3-D-Programmen zugrunde liegt. Diesem „mathematischen Raum“ steht der – wie wir ihn in Anlehnung an Eugène Minkowski113 nennen wollen – „menschlich gelebte Raum“ (espace vécu) gegenüber. Anknüpfend vor allem an die phänomenologische Philosophie des Raums, untersuchen wir den gelebten Raum auf drei verschiedenen, aber miteinander verbundenen Ebenen: als Handlungsraum, als Wahrnehmungsraum und als Gefühlsraum. Grundlegende Einsichten in den Handlungsraum verdanken sich Martin Heideggers existenzialontologischer Analysen in dessen Hauptwerk Sein und Zeit. Heidegger begreift den einzelnen Menschen als ein Seiendes, das der Welt nicht passiv-neutral gegenüberstehe. Vielmehr gehe es dem Menschen in seinem Leben um etwas, weshalb Heidegger das Wesen des Menschen als „Sorge“ umschreibt, die sich als „Besorgen“ auf die leblose Dingwelt richte und als „Fürsorge“ auf die Mitmenschen. Auf dieser Basis kritisiert Heidegger das Weltverständnis Descartes’, der die Welt als res extensa auffasse, als eine zunächst unterschiedslose Ansammlung vorhandener Gegenstände: So macht die Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe die Natur der körperlichen Substanz aus […]. Denn alles andere, das einem Körper zugesprochen werden kann, setzt Ausdehnung voraus und ist überhaupt nur ein bestimmter Zustand eines ausgedehnten Dinges (Nempe extensio in longum, latum & profundum substantiae corporeae naturam constituit […]. Nam omne aliud quod corpori tribui potest, extensionem praesupponit, estque tantum modus quidam rei extensae).114 Linien ebnen unnd gantzen corporen. Nürnberg 1525. 112 Vgl. auch René Descartes: Discours de la méthode. Pour bien conduire sa raison, & chercher la vérité dans les sciences. Plus La Dioptrique. Les Météores. et La Géométrie. Qui sont des essais de cete méthode. Leiden 1637. S. 295–413. 113 Vgl. Eugène Minkowski: Le temps vécu. Paris 2019 [1933]. S. 366–398. 114 René Descartes: Principia philosophiae. Amsterdam 1644. S. 20 (= I, LIII).
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Demgegenüber vertritt Heidegger die Ansicht, dass sich dem Menschen die Welt erst im besorgenden Umgang mit zuhandenem Zeug (Schreibzeug, Nähzeug, Werkzeug, Fahrzeug, Messzeug115) erschließe: Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft „etwas, um zu …“. Die verschiedenen Weisen des „Um-zu“ wie Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit. […] Zeug ist seiner Zeughaftigkeit entsprechend immer aus der Zugehörigkeit zu anderem Zeug: Schreibzeug, Feder, Tinte, Papier, Unterlage, Tisch, Lampe, Möbel, Fenster, Türen, Zimmer. Diese „Dinge“ zeigen sich nie zunächst für sich, um dann als Summe von Realem ein Zimmer auszufüllen. Das Nächstbegegnende, obzwar nicht thematisch Erfaßte, ist das Zimmer, und dieses wiederum nicht als das „Zwischen den vier Wänden“ in einem geometrischen räumlichen Sinne – sondern als Wohnzeug. Aus ihm heraus zeigt sich die „Einrichtung“, in dieser das jeweilige „einzelne“ Zeug.116
Diese Einsichten in den menschlichen Handlungsraum sind für das Produktdesign von grundlegender Bedeutung, denn sie veranschaulichen, dass gebrauchstaugliche Gestaltung den zu gestaltenden Einzelgegenstand (z. B. Sessel, Wasserhahn oder Staubsauger) nicht isoliert betrachten darf, sondern immer die lebenspraktischen Gesamtzusammenhänge im Auge behalten muss. Sehr deutlich wird das an einem von Raymond Loewy vorgeschlagenen Gedankenexperiment, in dem es darum geht, sich einen typischen Tagesablauf des fiktiven Durchschnittsbürgers Jack Smith vorzustellen: mit den darin vorkommenden verschiedenen Einzelhandlungen (z. B. aus dem Bett aufstehen, die Heizung andrehen, ins Badezimmer gehen, sich rasieren, den Toaströster anschalten, Kaffee zubereiten, frühstücken) sowie den zugehörigen Gebrauchsgegenständen (z. B. Bett, Wecker, Lichtschalter, Teppichboden, Heizkörper, Rasierapparat, Badewanne, Waschbecken, Zahnbürste, Kühlschrank, 115 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. 8 (1927). S. 68 (= § 15). 116 Ebd., S. 68/69.
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Toaster, Kaffeemaschine, Brotmesser).117 An einzelnen „Zeugzusammenhängen“ – Küche und Armaturenbrett – lässt sich exemplarisch herausstellen, wie ausgeklügelt und sensibel die gelungene Gestaltung von Handlungsräumen sein muss.118 Einen aufschlussreichen Zugang eröffnen an dieser Stelle die entsprechenden Illustrationen aus dem Duden-Bildwörterbuch.119 In der Küche (vgl. Abb. 7) bilden die Dinge des alltäglichen Gebrauchs ein komplexes Geflecht, das die Handlungen der Speisen- und Getränkezubereitung erleichtern, aber auch behindern kann – von der zuhandenen oder unzuhandenen Aufbewahrung von gekühlten und ungekühlten Lebensmitteln, Schüsseln, Töpfen und Pfannen, Kochmessern, Fleischmessern, Brotmessern, Schneebesen, Kochlöffeln, Schaumlöffeln, Schöpflöffeln, Gewürzbehältern, Zitronenpressen, Salatschleudern, Käsereiben, Flaschenöffnern und Korkenziehern über die Größe, Höhe und Anordnung der Arbeitsflächen bis zur Regelung von Backofen und Herdplatten.120 Die in der Küche ausgeführten Handlungen sind äußerst vielfältig: Hier wird gewaschen, geschnitten, geschält, gehackt, geraspelt, gehobelt, gemahlen, ausgenommen, entkernt, entbeint, enthäutet, verrührt, geknetet, paniert, mariniert, gewürzt, blanchiert, gegart, gekocht, angebraten, gegrillt, gratiniert, flambiert, gebacken, filetiert, tranchiert und aufgeschäumt. Auch die beim Autofahren vollzogenen Tätigkeiten (vgl. Abb. 8) sind weitaus variantenreicher als gemeinhin angenommen. Kuppeln, schalten, Gas geben, bremsen und lenken müssen sich sicher und geschmeidig an die jeweilige Straßenlage anpassen lassen. Türen und Fenster sind zu öffnen und zu schließen, die Zündung ist zu betätigen, die Anzeigen für Tempo, Kraftstoff, Öldruck und Kühlmitteltemperatur sind kontinuierlich zu überwachen, und zahlreiche Hilfsgeräte sind ein- und auszuschalten: Scheinwerfer, Blinker, Warn117 Vgl. Loewy: Häßlichkeit (wie Anm. 35). S. 203–206. 118 Vgl. dazu auch Kai Buchholz: Brauchbarkeit, Lebensformen und unsichtbares Design. In: Im Designerpark. Leben in künstlichen Welten. Hg. K. Buchholz/K. Wolbert. Kat. Institut Mathildenhöhe Darmstadt 2004. S. 96–105. 119 Vgl. Dudenredaktion (Hg.): Duden. Das Bildwörterbuch. Berlin 72018. S. 108, 614/615. 120 Vgl. auch Kai Buchholz: Die private Wohnung. In: Kultur der Privatheit in der Netzgesellschaft. Hg. G. Böhme/U. Gahlings. Bielefeld 2018. S. 74–76.
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Abb. 7 Illustration „Küche“ aus dem Duden-Bildwörterbuch – 1 Küchenlampe, 2 Brotkasten, 3 Küchenmaschine, 4 Getreidemühle, 5 Trinkwassersprudler, 6 Spülplatz, 7 Wasserhahn, 8 Geschirrspüle, 9 Abtropfständer, 10 Frühstücksteller, 11 Kaffeemaschine, 12 elektrische Kaffeemühle, 13 Gewürzregal, 14 Gewürzglas, 15 elektrische Zuleitung, 16 Küchenuhr, 17 Kurzzeitmesser, 18 Wandsteckdose, 19 Hauptarbeitsplatz, 20 Handrührgerät, 21 Schlagbesen, 22 Dunstabzugshaube, 23 Topflappenhalter, 24 Topflappen, 25 Koch- und Backplatz, 26 Wasserkessel, 27 Kochfeld aus Ceran®, 28 Elektroherd/Gasherd, 29 Backofen, 30 Backofenfenster, 31 Messerblock, 32 Messer, 33 Toaster, 34 Grill, 35 Grillspieß, 36 Mikrowellenherd, 37 Kühlschrank, 38 Gefrierfach, 39 Kühlfach, 40 Gemüseschale, 41 Türfach für Flaschen, 42 Gefrierschrank, 43 Hängeschrank/Küchenschrank, 44 Glastür, 45 Unterschrank, 46 Besteckschublade, 47 Eckschrank, 48 Drehtablett, 49 Kochtopf, 50 Kanne, 51 Küchentisch, 52 Küchenstuhl, 53 Teller mit Essen, 54 Geschirrspülmaschine, 55 Geschirrwagen, 56 Essteller
licht, Scheibenwischer, Heizung, Frischluftzufuhr und Radio. Jedes Bedienelement ist vom Designer so anzuordnen und zu gestalten, dass es sich handlich in diese Handlungsabläufe einfügt.121 Vergleicht man die Abbildungen des Bildwörterbuchs von 2018 mit denen aus dem Jahr 1977122, zeigt sich außerdem, welche neuen technischen, teils computergesteuerten Geräte in diesem Zeitraum 121 Zum Thema Handlung und Auto fahren vgl. auch Kai Buchholz/Ingrid Weber: Was ist dichte Beschreibung? In: Die Zukunft des Wissens. Hg. J. Mittelstraß. Konstanz 1999. S. 541–548. 122 Vgl. Kurt Dieter Solf/Joachim Schmidt: Bildwörterbuch der deutschen Sprache. Mannheim, Wien, Zürich 31977. S. 84, 331.
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Abb. 8 Illustration „Cockpit“ aus dem Duden-Bildwörterbuch – 53 Schalter für Standlicht und Abblendlicht, 54 Schalter für die Nebelscheinwerfer, 55 Seitenfensterluftdüse, 56 Schalter für die Nebelschlussleuchte, 57 Nebelscheinwerferkontrolllampe, 58 Wassertemperaturanzeige, 59 Rücksteller für den Tageskilometerzähler, 60 Tachometer, 61 Blinkerleuchte, 62 Fernlichtkontrolllampe, 63 Handbremsenkontrolllampe, 64 Öldrucklampe, 65 Drehzahlanzeige, 66 Tankanzeige, 67 Uhr, 68 Multifunktionsschalthebel für Blinklicht, Fernlicht, Scheibenwaschanlage und Hupe, 69 Lenkrad mit integriertem Airbag, 70 Lenkradspeiche, 71 Schaltwippe zur Lautstärkeregelung, 72 Schaltwippe zur Titel- oder Senderwahl, 73 Zündschloss, 74 Zündschlüssel, 75 Kupplungspedal, 76 Bremspedal, 77 Gaspedal, 78 Lüftungseinstellrad, 79 Lüftungsgitter, 80 Schalter für das Warnblinklicht, 81 Autoradio mit CD-Player und Navigationssystem, 82 CD-Einführöffnung, 83 Display mit Menüanzeige, 84 Tastaturfeld zur Dateneingabe, 85 Menüauswahltasten, 86 Lautstärkeregler, 87 Funktionswahltasten, 88 Schalter für die Heckscheibenheizung, 89 Schalter für die Windschutzscheibenheizung, 90 Klimaautomatik, 91 Tipptaster zur Temperaturerhöhung, 92 Tipptaster zur Temperatursenkung, 93 separate Temperaturanzeige für Fahrer- und Beifahrerseite, 94 Ein-/Ausschalttaste, 95 Einstellrad für die Lüftungsleistung, 96 Schalttasten für die Sitzheizung von Fahrer und Beifahrer, 97 Schaltknüppel, 98 Ledermanschette, 99 Handbremshebel, 100 Mittelkonsole, 101 Beifahrerairbag (angedeutet), 102 Airbagabdeckung, 103 Handschuhfach, 104 Handschuhfachschloss
hinzukommen. In der Küche sind es: die Küchenmaschine (3), der Trinkwassersprudler (5), das Kochfeld aus Ceran® (27), der Grill (34) und der Mikrowellenherd (36); am Armaturenbrett: die Airbags für Fahrer und Beifahrer (69, 101), die Schaltwippe zur Lautstärkeregelung (71), die Schaltwippe zur Titel- oder Senderwahl (72) sowie das Autoradio mit CD-Player und Navigationssystem (81–87). Zwei zusätzliche aktuelle Trendfotografien (Abb. 9, 10) 161
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Abb. 9 Smart-Home-Werbefoto des Herstellers Busch-Jaeger, Interieur Küche – BuschpriOn®, 2020
führen vor Augen, dass digitale Geräte immer stärker in diese Räume eindringen, wo sie unser Handeln nicht nur hilfreich unterstützen, sondern auch dazu beitragen können, dass unsere motorischen und geistigen Fertigkeiten verkümmern, dass fehleranfällige Rechnerprogramme unseren Lebensalltag verkomplizieren oder auch dass digital vernetzte Computer unsere persönlichen Daten preisgeben und uns damit zu Konsumsklaven abrichten oder uns einer engmaschigen Überwachung ausliefern.123 Weitere inspirierende Erkenntnisse zum Handlungsraum eröffnet der Phänomenologe Wilhelm Schapp mit seinem Buch In Geschichten verstrickt (1953). Er geht davon aus, dass menschliche Handlungen nur aus den Geschichten heraus verstanden werden könnten, in welche die jeweiligen Akteure verstrickt seien. Er ist sogar der Auffassung, dass „sich das Menschsein erschöpft im Verstricktsein in Geschichten“124. Doch was genau versteht Schapp unter einer Geschichte? Geschichten seien lebendige Zusammen123 Vgl. dazu auch Buchholz: Wohnung (wie Anm. 120). S. 84–90. 124 Schapp: In Geschichten verstrickt (wie Anm. 94). S. 123.
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Abb. 10 Armaturenbrett des Tesla Model 3, 2016
hänge, offene, nicht klar begrenzte Gebilde – zeitlich von Vor- und Nachgeschichten umrahmt und räumlich in Vordergrund und Hintergrund geteilt. Das Zentrum einer Geschichte bilde die jeweils in die Geschichte verstrickte Person, die im Vordergrund wie auf einer beleuchteten Bühne agiere. Ein einzelner Mensch befinde sich immer in mehrere Geschichten zugleich verstrickt, die sich in der Regel mit den Geschichten anderer Menschen unentwirrbar verbänden. Erlebte Geschichten seien erzählten Geschichten verwandt, aber nicht vollständig ergründbar, da einige ihrer Aspekte immer im Dunkeln lägen. Dennoch spielten in ihnen bestimmte Dinge und Umstände eindeutige Schlüsselrollen wie im Märchen Rotkäppchen beispielsweise das Alter des Mädchens, das für deren Leichtgläubigkeit gegenüber dem Wolf verantwortlich sei, der Wald, der dem Wolf die Gelegenheit biete, das Rotkäppchen unbeobachtet anzusprechen, oder die Blumen und Schmetterlinge am Wegesrand, die Rotkäppchen davon abhielten, vor dem Wolf bei seiner Großmutter einzutreffen. Derartige Schlüsselrollen können im konkreten Fall auch gestaltete Gegenstände ein163
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nehmen: eine rutschige Duschwanne, ein perfekt schneidendes Fleischmesser, ein handlicher Blinkschalter oder ein unhandlicher Spaltbohrer. Der Hinweis auf Geschichten lenkt zudem die Aufmerksamkeit auf das, was wir mit unseren jeweiligen Handlungen eigentlich bezwecken. Bei näherer Betrachtung zeigt sich dann, dass wir viele Dinge tun, um fernere Ziele zu erreichen (z. B. den Mantel anziehen – ins Auto steigen – zum Opernhaus fahren – den Wagen parken – den Mantel an der Garderobe abgeben – die Eintrittskarte vorzeigen – die Ballettvorstellung genießen).125 Zugleich schälen sich aber auch einige Handlungen heraus, die wir in bestimmten Einzelfällen um ihrer selbst willen ausführen, zum Beispiel tanzen, musizieren, schwimmen oder Schach spielen. Überzeugend erläutert van de Velde den sinnstiftenden Wert solcher Selbstzweckhandlungen: Die meisten Menschen bilden sich ein, gelebt zu haben, während sie in Wahrheit jeden Augenblick mit vollen Händen dem Tode opfern – sie halten für Leben, was Tod ist, und vermeinen, besser zu leben, wenn sie freiwillig auf etwas verzichten, das einen wesentlichen Bestandteil des Lebens bildet. Sie beschränken sich auf das Allernotwendigste, sie weisen den Vorteil eines verfeinerten Dekors zurück und sehen geringschätzig herab auf die stille Hilfe, die sie aus solchen Dingen in ihrer Umgebung gewinnen würden. Die Kunst ist der wundersame Schmuck des Lebens. Sie kann nichts anderes sein, weil das Wesen aller Künste darin besteht: zu schmücken. Musik und Poesie sind der Schmuck der Sprache, der Tanz ist der Schmuck des Ganges, Malerei und Bildhauerkunst hinwieder der Schmuck der Gedanken – auf leere Wände übertragen. Man kann am Ende auch ohne Sprache leben, ohne Gang, ohne Gedanken, und ohne sein Haus in diesem Sinne zu schmücken, aber wer so lebt, giebt den besten Teil seines Lebens preis und ist verantwortlich für das heilige Pfand, das einem jeden von uns, damit zu wuchern, anvertraut ist. Ein Leben ohne Schmuck ist ebenso wenig wahres Leben, als das man in Klöstern führt, in denen Männer oder Frauen in steter Negation ihrer natürlichen Bestimmung dahinleben.126 125 Vgl. dazu auch Friedrich Kambartel: Ist rationale Ökonomie als empirisch-quantitative Wissenschaft möglich? In: Methodenprobleme der Wissenschaften vom gesellschaftlichen Handeln. Hg. J. Mittelstraß. Frankfurt a. M. 1979. S. 309. 126 Henry van de Velde: Allgemeine Bemerkungen zu einer Synthese der Kunst. In: Pan. 5
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Dieser Gedankengang führt letztlich zu der Einsicht, dass sich die qualitätsvolle Gestaltung von Handlungsräumen danach bemisst, inwieweit diese Räume zu einem gelungenen, sinnvollen Leben beitragen.127 Eine systematische Erkundung des Wahrnehmungsraums setzt voraus, die menschlichen Wahrnehmungsweisen zu durchdringen. Bis heute alltäglich verbreitet ist die Einteilung in die fünf Sinne „sehen“, „hören“, „riechen“, „schmecken“ und „tasten“. Verglichen mit den vier anderen Sinnesleistungen, erscheint der Tastsinn, der sich unter anderem an der gesamten Peripherie des menschlichen Körpers abspielt (Haut, Haare, Finger- und Zehennägel, Lippen, Zähne, Zahnfleisch, Zunge), diffus: Ähnliche Reize führen an unterschiedlichen Körperpartien zu verschiedenen Empfindungen. Während wir über relativ klar umrissene „visuelle Bilder“, „Klänge“, „Gerüche“ und „Geschmackserlebnisse“ reden können, bleiben die „Tasteindrücke“ seltsam vage, da sie sich in mehreren Dimensionen bewegen („hart – weich“, „rau – glatt“, „starr – elastisch“, „schwer – leicht“, „kalt – warm“, „fest – klebrig – flüssig“, „trocken – nass“ etc.). Die theosophisch geprägten Wahrnehmungslehren gehen dagegen von zwölf Sinnen aus. Dabei unterscheidet die Mazdaznanlehre, von der sich Itten stark inspirieren lässt und die vor allem auf „vollkommene und ebenmäßige Entwicklung aller Sinne“128 abzielt, um den Menschen zu Erkenntnis, Glück und Erfolg zu führen: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Tastsinn, Gefühl, Intuition, Gedankenübertragung, Telepathie (Fernwirkung), geistiges Unterscheidungsvermögen, Hellsehen (Klarsehen) und Realisation (Verwirklichung).129 Rudolf Steiners Anthroposophie unterteilt die sinnlichen Vermögen in Tastsinn, Lebenssinn, Bewegungssinn, (1899). S. 265/266. Zu der Auffassung, dass nur Selbstzweckhandlungen dem Leben einen Sinn verleihen können, vgl. vor allem Moritz Schlick: Vom Sinn des Lebens. In: Symposion. 1 (1927). S. 331–354. 127 Vgl. dazu auch Hugo Dingler: Das Handeln im Sinne des höchsten Zieles. München 1935. S. 38–74. 128 Otoman Zar-Adusht Ha’nish: Mazdaznan Atmungs- und Gesundheitslehre. Leipzig 4 o. J. S. 1. 129 Vgl. ebd.
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Gleichgewichtssinn, Geruchssinn, Geschmackssinn, Gesichtssinn, Wärmesinn, Gehörsinn, Sprachsinn, Denksinn und Ichsinn.130 Steiners Einteilung schlägt sich später in der Sinneslehre von Hans Jürgen Scheurle, in Wulf Schneiders Gestaltungslehre sowie auch – in abgewandelter Form – in der Sinnesschulung von Hugo Kükelhaus und Rudolf zur Lippe nieder.131 Radikale Kritik an den traditionellen Wahrnehmungslehren übt schließlich die Neue Phänomenologie. Sie beginnt nicht bei physiologisch bestimmten Sinneskanälen, sondern beim leiblichen Spüren und beim ganzheitlichen Erleben. Dadurch wird klar, dass weder die Rede von „Sinnesqualitäten“ und „Gegenstandseigenschaften“ noch die Unterscheidung von „Wahrnehmungssubjekten“ und „Wahrnehmungsobjekten“ selbstverständlich ist. Im Gegenteil: Hermann Schmitz und Gernot Böhme zeigen in ihren Arbeiten über die menschliche Wahrnehmung, wie verfehlt die traditionellen Ansätze sind und welche theoretischen und praktischen Probleme sie aufwerfen.132 Überzeugend präparieren sie heraus, in welcher Weise Atmosphären, Suggestionen, mannigfaltige Eindrücke, Gestaltverläufe, synästhetische Charaktere und Ekstasen grundlegend für unser Wahrnehmen sind. Zugleich verdeutlichen sie, welche Konsequenzen sich daraus für die Gestaltung unserer Umwelt ergeben.133 Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, ein umfassendes Bild der menschlichen Wahrnehmung auszubreiten. Die bisherigen Hinweise machen aber bereits deutlich, dass die gängige 130 Vgl. Rudolf Steiner: Anthroposophie. Ein Fragment (= GA 45). Dornach 42002 [1910]. S. 21–33; Ders.: Weltwesen und Ichheit (= GA 169). Dornach 31998 [1916]. S. 59–63. 131 Vgl. Hans Jürgen Scheurle: Die Gesamtsinnesorganisation. Überwindung der SubjektObjekt-Spaltung in der Sinneslehre. Phänomenologische und erkenntnistheoretische Grundlagen der allgemeinen Sinnesphysiologie. Stuttgart, New York 21984 [1977]; Wulf Schneider: Sinn und Un-Sinn. Umwelt sinnlich erlebbar gestalten in Architektur und Design. Wiesbaden, Berlin 1987; Hugo Kükelhaus/Rudolf zur Lippe: Entfaltung der Sinne. Ein ‚Erfahrungsfeld‘ zur Bewegung und Besinnung. Frankfurt a. M. 1982. 132 Vgl. vor allem Hermann Schmitz: Die Wahrnehmung (= System der Philosophie. Bd. III/5). Bonn 2005 [1978]; Gernot Böhme. Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001. 133 Vgl. z. B. Hermann Schmitz: Das Göttliche und der Raum (= System der Philosophie. Bd. III/4). Bonn 2005 [1977]. S. 207–367; Gernot Böhme: Für eine ökologische Naturästhetik. Frankfurt a. M. 1989; Ders.: Architektur und Atmosphäre. München, Paderborn 2006.
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Vorstellung von den fünf Sinnen zu kurz greift und unsere tatsächliche Wahrnehmung nur sehr unzureichend einkreist. Natürlich erfahren wir unsere Lebenswelt beispielsweise auch in unseren vielfältigen Bewegungen auf besondere Weise – wenn wir gehen, laufen, springen, eine Rutsche hinabgleiten, rudern oder schwimmen. Vor allem das Tanzen zeigt, wie facettenreich unsere Bewegungserfahrungen sind. Man denke nur an so unterschiedliche Tanzformen wie Boogie-Woogie, Breakdance, Cancan, Cha-ChaCha, Charleston, Flamenco, Lambada, Memphis, Polka, Rock ’n’ Roll, Samba, Schuhplattler, Tango, Twist und Wiener Walzer. Sie alle rufen im Tänzer je eigentümliche Erlebnisse hervor, die sich nicht in bestimmten visuellen und haptischen Eindrücken erschöpfen. Zugleich belegen sie, dass unser alltägliches Wahrnehmen synästhetisch geprägt ist, was eine Passage aus Michel Serres’ schönem Buch Les cinq sens (1985) plastisch vorführt: Die Nacht betäubt nicht die Haut, sie steigert ihre Empfindsamkeit. Der Körper strafft sich und sucht den Weg inmitten der Dunkelheit; er liebt die kleinen Wahrnehmungen im unteren Bereich des Spektrums: unscheinbare Zeichen, kaum wahrzunehmende Nuancen, ungewöhnliche Gerüche; er zieht sie allem vor, was aufdringlich und dröhnend daherkommt. Was da in Stille und Dunkelheit umherschweift, hilft ihm, zu Übungen zurückzufinden, die seit Jahrtausenden in seinen vergessenen Gewohnheiten schlummern. Die technischen Krücken sind erst so spät in unserer Geschichte entstanden, daß unsere gedemütigten Knochen aufleben, wenn sie diese vergessene Partitur wieder einmal spielen dürfen. Unsere Muskeln, unsere Sehnen, unser Hautkleid singen vor Freude, wenn wir unsere Holzbeine, Lampen und Automobile wegwerfen, diese sensorischen und motorischen Krücken. […] Doch die Welt bietet nicht nur Nacht oder Dunkelheit, um die Geschicklichkeit des Aufmerksamen herauszufordern. Die Dunkelheit hüllt uns zwar ein, aber sie greift nicht die Haut an, wie es der Nebel tut. Die Angst, die der Nebel uns einflößt, resultiert nicht allein daraus, daß er uns blind macht; sie rührt auch daher, daß der Nebel in Schwaden über Arme, Schultern, Schenkel, Bauch und Rücken zieht. Er kriecht. Was bedeutet „verschleiern“? Auf welche Weise bedeckt ein Schleier die Dinge? Die Dunkelheit weckt die Glieder auf, sie eilen den Augen zu Hilfe, sind auf höchst intensive Weise gegenwärtig, wenn der Blick sich ver-
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schleiert. Verschleiert er sich? Der Nebel schläfert den Körper ein, macht ihn trunken, betäubt ihn; die Haut bemüht sich, Stelle für Stelle dem Druck zu widerstehen, aber der Druck läßt die Eindrücke schwächer werden. Die Haut verliert ihre Fähigkeit, dem unsicheren Blick zu Hilfe zu kommen. Der Nebel reißt uns die Hilfsaugen aus; er bandagiert oder panzert uns. Der Nebel zieht Schleier über Schleier; die Nacht dagegen kennt keine Schleier.134
Soll Gestaltung tatsächlich zu ästhetischem Wohlbefinden beitragen, muss sie das gesamte Spektrum des so umrissenen Wahrnehmungsraums feinfühlig berücksichtigen. Darüber hinaus ist unser Wahrnehmungsraum eng mit unserem Handlungsraum verwoben: Handlungen finden ja immer in konkreten Situationen statt, in denen wir unser Tun fortlaufend an die von uns wahrgenommenen Gegebenheiten anpassen müssen, etwa wenn wir einem entgegenkommenden Fahrzeug ausweichen, einen singenden Vogel beobachten oder einen Salat zubereiten. Insofern setzt auch die lebenspraktisch angemessene Gestaltung tiefe Einsichten in den menschlichen Wahrnehmungsraum voraus.135 Während Heideggers Kritik an der geometrischen Raumauffassung beim Handlungsraum ansetzt, liefert Hermann Schmitz phänomenologische Darstellungen, die das flächenhaltige geometrische Raummodell aus der Perspektive des Wahrnehmens als unzureichend erweisen: Flächenlos ist z. B. der Raum des Schalls, in dem sonore und dumpfe Klänge weit ausladen, schrille Pfiffe sich scharf und schmal zusammenziehen, Bewegungssuggestionen wie der Rhythmus und andere Schallgebärden (Aufstrahlen der Trompete u. a.) Bewegungen vorzeichnen, die mehr oder weniger auf den hörenden Leib überspringen, Höhe und Tiefe der Töne sich ebenso ereignen wie eine Entfernung ohne umkehrbaren Abstand, da man spontan zwar hört, ob ein Schall weiter weg ist als ein anderer, aber nicht wie beim Sehen 134 Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische. Frankfurt a. M. 1998. S. 84/85. 135 Vgl. dazu auch Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropologie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik. Mannheim, Wien, Zürich 1973. S. 73–82.
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unmittelbar mit bemerkt, wie weit man selbst weg von ihm ist. Flächenlos ist ebenso der Raum der feierlichen oder drückenden Stille; jene ist weiter, diese schwerer, aber beide sind dichter als die gleichfalls weite zarte Morgenstille. Flächenlos ist auch der Raum des Windes, von dem man getroffen wird, mit einer Bewegung, die frei von Ortswechsel ist, es sei denn, man deutet den erlebten Wind, ein Halbding, in bewegte Luft, ein Vollding, um. Flächenlos ist das unauffällige Rückfeld, das man bei vorwärts gerichteter Tätigkeit durch Zurücklehnen, Dehnen, Biegen unaufhörlich in Anspruch nimmt. Flächenlos ist der Raum des Wetters, den man z. B. erfährt, wenn man aus dumpfer, überfüllter Stube mit befreiendem Aufatmen ins Freie tritt, in eine Atmosphäre, in der sich der spürende Leib reicher als zuvor entfalten kann. Er vollbringt es mit frei sich entfaltender Gebärde, und deren Raum ist ebenfalls flächenlos. Flächenlos ist auch der Raum der spürbaren leiblichen Regungen, z. B. des benommenen Kopfes, des Ein- und Ausatmens, der Frische und Müdigkeit. Schließlich ist flächenlos der Raum des Wassers, wie es dem Schwimmer und Taucher begegnet, sofern er sich nicht optisch orientiert und auch nicht Vorstellungsbilder des eigenen Körpers oder anderer, etwa berandender, Festkörper in das Begegnende projiziert. Im Wasser gibt es keine Flächen, Punkte, Linien, daher auch keine dreidimensionalen Körper, wohl aber erlebtes Volumen, das dem Schwimmer mehr oder weniger Widerstand leistet, gegen den er sich durchkämpfen muss, wenn es ihn nicht sanft trägt. Wasser hat Volumen, das aber nicht dreidimensional ist, sondern dynamisch aus Spannung und Schwellung, die, wenn es sich als sanft tragendes Element darstellt, von privativer Weitung durchsetzt sind.136
Die dritte Dimension des gelebten Raums, der Gefühlsraum, entspricht dem hier von Schmitz angeführten Raum der spürbaren leiblichen Regungen und in etwa auch der Sphäre von Steiners „Lebenssinn“. Konkret handelt es sich um das, was wir ohne Zuhilfenahme unserer nach außen gerichteten „fünf Sinne“ in der Gegend unseres Körpers spüren: Hunger, Durst, Mattigkeit, Behagen, Schreck, Schmerz, Wollust, Angst, Ekel oder Ergriffenheit
136 Hermann Schmitz: Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie. Freiburg, München 2009. S. 74/75.
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von Gefühlen. Diese Regungen nehmen wir ganz selbstverständlich wahr. Dass sie in der abendländischen Sinneslehre unter den Tisch gefallen sind, beweist, wie sehr wir sie aus dem Blickfeld verloren und aus unserer Kultur verdrängt haben. Meist werden wir auf diese Regungen erst aufmerksam, wenn sie sich in negativer Weise aufdringlich melden – etwa als Zahnschmerzen, Hunger oder Müdigkeit. Es gehört zu den wichtigsten Bildungsaufgaben von heute, den Gefühlsraum aufmerksam zu erkunden und unser Gespür für ihn zu kultivieren. Ohne diese Form der Selbstkultivierung kann auch gute Gestaltung nicht gelingen, da der Gefühlsraum in intimster Weise mit dem Handlungs- und dem äußeren Wahrnehmungsraum verwoben ist. Das betrifft unter anderem den gesamten Bereich der Atmosphären, die uns in jeder Situation entgegenströmen. Böhme begreift die Arbeit von Gestaltern geradezu als das Herstellen bestimmter Atmosphären.137 Sehr eindrucksvoll hat der Gefühlsspezialist Endell am Beispiel der Stadt beschrieben, wie menschlich gestaltete Umwelt und natürlicher Wandel hier zusammenspielen, um immer wieder neue Atmosphären zu schaffen, die gute Gestaltung zur Geltung und schlechte – zumindest temporär – zum Verschwinden bringen können: Der Nebel […] verändert eine Straße ganz und gar. Er überzieht die Häuser mit einem dünnen Schleier, grau, wenn Wolken über ihm die Sonne bedecken; warm, goldig und bunt, wenn über ihm ein freier Himmel sich breitet. Er verändert die Farben der Häuser, macht sie einheitlicher, milder; er verwischt die starken Schatten, ja hebt sie ganz auf, und diese Gebäude, die fast alle an einem sinnlos übertriebenen Relief kranken, erscheinen feiner, zurückhaltender, flächiger. […] Der Nebel verfeinert die schlechte Architektur, er füllt die Straßen, die sonst ins Endlose laufen, und schafft so aus dem Leeren einen schließenden Raum. […] Ganz anders wirkt der Regen, er verwischt die Farben nicht, sondern macht sie schwerer, dunkler, satter. Der hellgraue Asphalt wird sattbraun, die Umrisse werden härter, die Luft wird sichtiger, die Tiefe scheint tiefer, alles bekommt 137 Vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre als Grundbegriff einer neuen Ästhetik. In: Ders.: Atmosphäre. Berlin 72013. S. 21–48.
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Bestimmtheit, Schwere; aber darüber legt sich das Wunder des Glanzes und der Spiegelungen, die alles in ein glitzerndes Netz einhüllen, und aus der vernünftig nützlichen Straße ein schimmerndes Märchen, einen funkelnden Traum machen. Noch wilder, noch phantastischer ist die Dämmerung; sie verdichtet den Dunst des Tages, legt immer dunkler werdende Wolken in die Tiefen der Häuser, die Straßen scheinen sich unten rechts und links anzufüllen, alle Formen werden ruhiger und schwerer, alle Farben matter und milder, alles dunkelt allmählich, nur einige Punkte leuchten, die tagsüber grellen Farben eines Wagens oder die schreienden Plakate einer Anschlagsäule klingen nun hell und fein in dem sinkenden Grau. Aber der Himmel übertönt mit seinem Leuchten alles, er blendet die Augen und breitet über die ganze Straße einen Mantel von flimmerndem, ungewissem, zuckendem Licht, das überall ist und doch nirgends herkommt. Und dann leuchtet mit einemmal das Abendrot auf, warm glühend wird alles, das vorher grau und sterbend schien. Die ganze Luft ist erfüllt von warmen, bunten Farben, alle Töne werden lebhaft, die Spitzen der Häuser und Kirchen erglühen in grellem Gelbrot, und in den dämmernden Straßen breitet sich das strahlende Blau des Abends. […] Es ist ein unvergleichliches Erlebnis, um diese Zeit in einem der Stadtcafés zu sitzen, die im ersten Stock sich befinden, auf die immer dunkler werdenden Menschenmassen herabzublicken, über sich das kleine Stückchen Himmel plötzlich aufflammen zu fühlen und dann zu sehen, wie die blaue Flut die ganzen Straßen ausfüllt, durch die großen Fenster in die verrauchten Räume dringt und auf Momente alles verdrängt, die Zeitung, die Karten, die Gespräche und all die Kümmerlichkeiten eines banalen Erlebens.138
Ebenso aufschlussreich ist Schmitz’ Unterscheidung zwischen „richtungslosen“ Gefühlen (z. B. Zufriedenheit), „diffus gerichteten“ (z. B. ziellose Sehnsucht) und „zentrierten“ (d. h. auf „etwas Bestimmtes“ gerichteten). Zentrierte Gefühle wiederum könnten sich an Sachverhalte (Verankerungspunkte) heften (z. B. die Furcht davor, ermordet zu werden) oder auch an Dinge respektive Personen (Verdichtungsbereiche) (z. B. ein geliebter Mensch).139 Für die Gestaltung 138 August Endell: Die Schönheit der großen Stadt. Stuttgart 1908. S. 48–52. 139 Vgl. z. B. Hermann Schmitz: Die Liebe. Bonn 1993. S. 55–58.
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relevant ist diese begriffliche Klärung insofern, als sie Designern konkrete Hinweise liefert, welche verschiedenen Gefühlsaspekte sie bei der ästhetischen Dimension des Entwerfens zu berücksichtigen haben. Die terminologischen Vorschläge, die der Kognitionswissenschaftler Donald A. Norman in seinem Buch Emotional Design (2004) unterbreitet140, können einen solchen Anspruch dagegen nicht einlösen (obwohl sie unter Gestaltern breit rezipiert werden). Sowohl in erkenntnistheoretischer wie auch in menschlicher Hinsicht kranken sie an den Defiziten einer „psychologistischreduktionistisch-introjektionistischen Vergegenständlichung“141, die die tatsächlichen Phänomene des menschlichen Lebens in szentistischer und zuweilen auch geschwätziger Weise überspringt.142 Entwurfsprozesse und die dafür notwendigen analogen Kompetenzen Die Gestaltung von Produkten ist ein vielschichtiger Prozess, der sich abstrahierend in aufeinanderfolgende Schritte einteilen lässt: Aufgabe, Überprüfung, Analyse, künstlerische Phase, Recherche, Synthese, Konzeption, Variantenfindung, Variantenbildung, Entwicklung und Fertigung (vgl. Abb. 11). Zur Beschreibung dieser Abläufe gibt es zahllose, im Detail unterschiedliche methodische Ansätze, die sich vor allem aus der Architektur, dem Ingenieurswesen und der Planungstheorie herleiten.143 Eine künstlerische Phase ist in diesen Ansätzen allerdings nicht vorgesehen. 140 Donald A. Norman: Emotional Design. Why We Love (or Hate) Everyday Things. New York 2004. 141 Schmitz: Einführung (wie Anm. 136). S. 22. 142 Vgl. dazu auch Peter Janich: Gestaltung und Sensibilität. Zum Verhältnis von Konstruktivismus und Neuer Phänomenologie. In: Ders.: Konstruktivismus und Naturerkenntnis. Frankfurt a. M. 1996. S. 154–177. 143 Zu den verschiedenen Methodenansätzen in der Gestaltung der 1960er Jahre vgl. L. Bruce Archer: Systematic method for designers. In: Developments in Design Methodology. Hg. N. Cross. Chichester, New York, Brisbane, Toronto, Singapur 1984. S. 57–82. [1965]; Sydney A. Gregory (Hg.): The Design Method. New York 1966; Gui Bonsiepe: Arabesken der Rationalität. Anmerkungen zur Methodologie des Design. In: Bauen+Wohnen. 21 (1967). S. VI 4–VI 16; Horst W. J. Rittel: Der Planungsprozeß als iterativer Vorgang von Varietätserzeugung und Varietätseinschränkung. In: Ders.: Thinking Design. Transdisziplinäre Konzepte für Planer und Entwerfer. Basel 2013. S. 71–86. [1970]. Aktuellere Beiträge finden sich u. a. in Ralf Michel (Hg.): Design Research Now. Basel, Boston/Mass., Berlin 2007.
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Abb. 11 Struktureller Ablauf eines Entwurfsprozesses
Als Computer Mitte der 1960er Jahre in die Produktgestaltung einziehen, sollen sie zunächst verschiedene Routineaufgaben übernehmen: The role of the computer must be to take over as much as possible of the routine aspects of design in order to leave designers free to concentrate their abilities on the fundamental design, work where the computer is very much inferior.144
144 Vgl. K. C. Parton: The use of a digital computer in design offices. In: The Design Method. Hg. S. A. Gregory. New York 1966. S. 167.
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Etwa 20 Jahre später erweitert sich das Einsatzgebiet der Rechner: Grafikprogramme wie Adobe Illustrator, mit denen man Linien und Flächen zu bildlichen Darstellungen zusammenfügen kann, eröffnen jetzt neue Visualisierungsmöglichkeiten. Zugleich lassen sich mittels CAD-Programmen wie AutoCAD dreidimensionale Körper in kartesischen Räumen definieren und so digitale 3-DModelle von Produktentwürfen erstellen.145 Solche Modelle können problemlos variiert werden, wenn man sie in parametrischer CAD-Software anlegt, die Kenngrößen wie Länge, Breite oder Durchmesser in Form von Variablen erfasst.146 Auch detailgetreue 3-D-Renderings (die zuvor aufwendig von Hand erstellt werden) lassen sich seit den 1990er Jahren dank Raytracing-Algorithmen automatisch am Computer generieren.147 Mit Hilfe so genannter VR-Brillen kann man heute in solche Renderings eintauchen und dadurch wirklichkeitsähnliche Eindrücke erhalten. Die Gestaltgebung ist meist so aufgebaut, dass Formen durch Addition und Subtraktion geometrischer Körper sowie durch geometrische Definition von Formübergängen entstehen. Nicht-geometrische oder plastische Formen sind nur mit größerem Aufwand über so genannte nicht-uniforme rationale B-Splines (NURBS)148 zu verwirklichen. Das größte Problem bei der Entwurfsarbeit am Computer liegt darin, dass sich die Gestalter auf die Beschränkungen der Software einlassen müssen. Vilèm Flusser charakterisiert das sehr treffend, indem er bemerkt, dass der Mensch hier „nur wollen kann, was der Apparat tun kann“149. Computer beschleunigen die gestalterischen Entwicklungsprozesse erheblich und steigern so die Effizienz. Eine sorgfältige 145 Zur Zeit wird hauptsächlich folgende CAD-Software eingesetzt: CATIA, PTC Creo, Rhinoceros 3D, Siemens NX und SOLIDWORKS. 146 Vgl. z. B. Florian Böhm: Parametrisches Entwerfen. In: Arch+. 158 (2001). S. 72/73. 147 Zu den aktuell verbreiteten Rendering-Programmen zählen SketchUp, Maya, Blender, Alias und Cinema 4D. 148 NURBS können jeden beliebigen nicht-verzweigenden stetigen Linienzug darstellen. Sie gehen auf die Anfang der 1960er Jahre von Pierre Bézier und Paul de Casteljau entwickelten „Bézierkurven“ zurück, die damals von Renault und Citroën für das rechnergestützte Konstruieren eingesetzt werden. 149 Vilèm Flusser: Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Designs. Göttingen 1993. S. 72/73.
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Formentwicklung bleibt dabei jedoch aus verschiedenen Gründen auf der Strecke: Die Bildschirmdarstellung belässt Materialqualitäten, plastische Wirkung und tatsächliche Größe im Ungefähren.150 Ihre wirklichkeitsähnliche, zugleich aber substanzlose Simulation erzeugt zudem sehr frühzeitig die Illusion, es würde ein bereits fertiges Objekt vorliegen. Dadurch erlahmt die Vorstellungskraft, und Entwicklungsmöglichkeiten werden nicht ausgeschöpft. Wegen genau dieser Gefahren lehnt bereits der Renaissance-Künstler Michelangelo eine Simulation durch detaillierte Modelle ab: „Seine Wirklichkeit war die seines Kopfes. Was er abbildete, waren die Bewegungen seiner Ideen, gegenüber denen jedes Modell eine Erstarrung bedeuten mußte. Modelle verkörperten für ihn die Stillstellung der Dynamik seines Denkens.“151 Sehr viel geeigneter sind spontan und analog hervorgebrachte abstrakte Darstellungen. Wie der Designer Axel Kufus anschaulich erläutert, lässt sich aber auch digitales Rapid Prototyping so einsetzen, dass der Spielraum der Vorstellungskraft nicht begrenzt, sondern weiter geöffnet wird: Wenn der Entwurfsprozess nicht linear verlaufe, biete dieses Verfahren die Chance, „Ideen und Welten, Daten und Späne auf spannende Art zusammenzubringen“152. Die Ergebnisse aktueller digitaler Entwurfspraxis zeigen allerdings, dass ein solches Vorgehen eher selten ist. Zu sehen sind meist unreife und austauschbare Formgebilde, die auf den ersten Blick dem alten Ideal der Einfachheit zu ähneln scheinen. Bedauerlicherweise werden sie ob ihrer Schlichtheit von Designjurys153 durchgewunken, was Gewinner des iF Design Award 2020 exemplarisch belegen (vgl. Abb. 12). Die fatale Folge: Bereitwillig 150 Vgl. Chup Friemert: Das Geistige im Design wird mit der Hand gemacht. In: Form + Zweck. 23 (1991), Heft 1. S. 8. 151 Vgl. Horst Bredekamp: Michelangelos Modellkritik. In: Architekturmodelle der Renaissance. Die Harmonie des Bauens von Alberti bis Michelangelo. Hg. B. Evers. München, New York 1995. S. 116–123. 152 Axel Kufus/Petra Schmidt: Natur steht Modell. In: form. 2004, Heft 198. S. 45. Vgl. auch Hans Dehlinger: ‚Das Pappmodell ist wertvoller als alles andere‘. In: K. Buchholz/J. Theinert: Designlehren. Wege deutscher Gestaltungsausbildung. Bd. 1. Stuttgart 2007. S. 237–239. 153 Zu Sinn und Wert von Designpreisen vgl. Justus Theinert: Deutsche Designpreise – ‚Moral ist hier gleichbedeutend mit Volkswirtschaft‘. In: Good Bad Taste. Ein Versuch über guten und schlechten Geschmack. Hg. K. Buchholz. Darmstadt 2015. S. 54–58.
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orientiert sich die Zunft weiter an dieser Richtschnur. Ein Teufelskreis, der vor allem die Hochschulen vor besondere Herausforderungen stellt. Selbstverständlich soll die dortige Lehre den Umgang mit digitalen Werkzeugen schulen. Aus den genannten Gründen ist es jedoch zugleich dringend geboten, die Beschränktheit dieser Mittel durch den Vergleich mit sorgfältig analog modellierten Formen anschaulich zu machen und so ästhetisches Erfahrungswissen aufzubauen. Damit ist später – in der beruflichen Praxis – gewährleistet, dass ein gut ausgebildetes formales Empfindungsvermögen kritische Distanz ermöglicht. Angemessen erstellt und eingesetzt, können Modelle durchaus einen inspirierenden und vorstellungsfördernden Charakter haben: Als ein „Vorschein des zu Verwirklichenden“ besitzen sie einen „Überschuß“154, der die Bereitschaft zum Handeln und Denken stimuliert. Entscheidend ist jedoch der richtige Zeitpunkt. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass in dem Moment, in dem Vorstellungen in ein Modell gegossen werden, Denken und Urteilskraft „nach diesen Ideen greifen“. Nur ein gut entwickeltes Gespür dafür, ob die Idee schon reif ist, um „gedacht, geschrieben oder als Zeichen abgelegt zu werden“, oder ob es nicht besser ist, „das Auftauchende wieder zurücktauchen zu lassen“155, kann davor schützen, Ideen durch verfrühte Konkretisierung im Keim zu ersticken. Erst wenn sich eine Idee in Vorstellung und Fantasie hinreichend verfestigt hat, sollte damit begonnen werden, ein in der Wirklichkeit stehendes Abbild zu erzeugen. In diesem Prozess erfolgt dann ein intuitiver Abgleich zwischen virtueller Vorstellung und materieller Darstellung – gewissermaßen die Vergegenwärtigung der Zukunft. Ein schwieriger Vorgang, den die Gestalterin Lioba Munz treffend schildert: Bei dem Bemühen, die dem geschauten Bild adäquate Wirklichkeit zu schaffen, erleide ich andauernd sich steigernd respektive hinabfallend ein völliges Mißlingen, in dem sich alles mir entzieht, um auf 154 Horst Bredekamp: Modelle der Kunst und der Evolution. In: Debatte. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. 2 (2005). S. 14. 155 Otto Bartning: Otto Bartning, Professor Dr. h. c., Dr. e. h., Darmstadt. In: Das Unbewußte als Keimstätte des Schöpferischen. Hg. O. Kankeleit. München, Basel 1959. S. 171.
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Abb. 12 Diverse Gewinner des iF Design Award 2020
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einem toten Punkt zu enden. Erst wenn ich den Kampf ums Gelingen so völlig aufgebe, daß kein Gedanke mehr mit dem endlichen Gelingen liebäugelt, gelingt es, […] das Bild zu fassen. Die Durcharbeitung und Durchformung jedoch geschieht mit vollem Bewußtsein, mit Fleiß und viel Mühe.156
Wenn die digitale Technik es nun aber nicht ermöglicht, vorstellungsadäquate Formen zu realisieren, muss man entweder andere Mittel wählen oder Kompromisse eingehen. Mit Kompromissen allerdings werden angemessene Formen nie gelingen. Diese sind nämlich weit mehr als ihre äußere Erscheinung: When masses are balanced, colors harmonized, and lines and planes meet and intersect fittingly, perception will be serial in order to grasp the whole and each sequential act builds up and reënforces what went before. Even at first glance there is the sense of qualitative unity. There is form.157
Das gilt für alle Bereiche der Gestaltung, weil es seit jeher deren Ziel ist, eine konsistente und harmonische Erfahrung mit der gestalteten Welt zu erreichen. Dieser Idee von Form unterliegt selbstverständlich auch das Entwerfen digital gesteuerter Objekte. Ein gut gestaltetes digital fundiertes System zeichnet sich ebenfalls dadurch aus, dass im Ablauf der kleinsten Bedienungsschritte stets das Ganze erfasst wird – hier spricht man neuerdings von „User Experience“. Der Prozess des Gestaltens erfordert es, technisch-funktionale mit intuitiv-ästhetischen Anforderungen in Einklang zu bringen, was prinzipiell gelingen kann. Doch ein in der technischen Zivilisation immer weiter fortschreitendes Spezialistentum verhindert, dass sich Verstandes- und Empfindungsvermögen gleichmäßig entfalten. In seinem Aufsatz Der harmonische Mensch (1919) bringt der Architekt und Produktgestalter Heinrich Tessenow diese fatale Entwicklung eindrücklich auf den Punkt: 156 Lioba Munz: D. Lioba Munz, OSB. Bildende Künstlerin, Abtei St. Maria, Fulda. In: Das Unbewußte als Keimstätte des Schöpferischen. Hg. O. Kankeleit. München, Basel 1959. S. 173. 157 John Dewey: Art as Experience. New York 101958 [1934]. S. 136.
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Wir sind heute klügste Techniker und Ingenieure, mächtigste Krieger, kaltblütigste Kaufleute, empfindlichste Maler, Musiker usw., sind große Spezialisten, aber wir sind nicht überhaupt groß, sind nicht große Menschen; denn es fehlt uns als Spezialisten in dem Vielfachen die Harmonie. Der harmonische Mensch ist nicht immer groß, aber wenn der Mensch groß ist, ist er immer auch harmonisch, ist er nicht spezialistisch. Je mehr aus der Vielheit unserer ursprünglichen Interessen und Kräfte einzelne hervortreten, um sich dann einseitig zu entwickeln, um so mehr ist das Menschliche gefährdet.158
Die Digitalisierung befeuert diesen Spezialisierungsprozess jedoch: Auf endlichen Regelmengen basierend, trägt sie ebenso unbemerkt wie entscheidend dazu bei, dass die zu harmonisierenden komplementären Pole Verstand und Intuition zunehmend als isolierte, in sich abgeschlossene Welten erscheinen, die sich unversöhnlich gegenüberstehen. Dies gilt in beide Richtungen. So wundert sich beispielsweise der Architekt Christopher Alexander über den Widerstand gegen seine systematische Methode von Seiten derer, die – seiner Meinung nach völlig zu Recht – den Wert der Intuition betonen, diesen aber dermaßen überhöhen, dass jede vernünftige Diskussion im Keim erstickt wird.159 Alexander verfolgt eine vom Lebenskontext des Menschen ausgehende Systematik. Er vergleicht zwei kulturell unterschiedliche Vorgehensweisen – die unreflektierte (unselfconscious) und die reflektierte (selfconscious). Dabei strebe die reflektierte Vorgehensweise danach, das ganze System (ensemble) zu durchdringen, die unreflektierte hingegen praktiziere ein gestaltendes, optimierendes Eingreifen im Detail, ohne das Ensemble in Frage zu stellen. Alexander unterteilt das Ensemble mittels mengentheoretischer Begriffe in überschaubare kleinere Einheiten, um in diesen dann möglichst viele Unangemessenheiten (misfits) entdecken und eliminieren zu können. Durch dieses Verfahren lasse sich das Ensemble so ordnen, dass es komplexen menschlichen Bedürfnissen gerecht werde. 158 Heinrich Tessenow: Der harmonische Mensch. In: Ders.: Geschriebenes. Braunschweig, Wiesbaden 1982. S. 165. [1919] 159 Vgl. Christopher Alexander: Notes on the Synthesis of Form. Cambridge/Mass., London 1973. S. 9.
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Anschauliche aktuelle Beispiele für den Wert einer solchen Vorgehensweise finden sich in den Entwürfen des britischen Kollektivs Assemble, das 2015 für das Projekt Granby Four Streets in Liverpool mit dem wichtigsten Kunstpreis des Landes ausgezeichnet wird: dem renommierten Turner Prize.160 Das sorgte aus zwei Gründen für Aufsehen. Das erste Mal in der Geschichte geht der Preis an ein Kollektiv, zudem fragen sich viele, ob es sich bei dessen konkret angewandter Arbeit überhaupt um Kunst handele. Das liegt daran, dass die künstlerischen Potenziale Intuition und Imagination gemeinhin eher als wundersame Mysterien oder fantastische Spielereien gelten, die sich außerhalb methodischer Rahmen bewegen. Da sie nicht greifbar scheinen, werden sie wiederum in heutigen Designerkreisen entweder dem Zufall überlassen, ins Museum verwiesen oder gänzlich abgelehnt. Das Ergebnis einer solchen, schematischen Regeln verhafteten Designauffassung ist ein spannungsfreier Planungsprozess auf Kosten von menschlichem Gespür und visionärer Bedeutsamkeit. Die fortschreitende Digitalisierung befördert diese Haltung zusätzlich, weil sie ausschließlich die technisch-konstruktiven und planerischen Anteile des Entwurfs unterstützt und damit die Gewichtung einseitig in diese Richtung verschiebt. Aus technokratisch-entwicklerischer Perspektive lassen sich die einzelnen Schritte des Entwurfsprozesses von der Aufgabe bis zur Fertigung in planerischer Manier zielgerichtet durchlaufen. Kommen im Verlauf der Arbeit neue Erkenntnisse hinzu, müssen Rückkoppelungen zu vorhergehenden Arbeitsschritten möglich sein.161 Durch den gesamten Prozess hindurch sind Vorstellungsvermögen, Kreativität, ästhetische Empfindungsfähigkeit, menschliche Empathie und technische Lösungskompetenz erforderlich und der Einsatz digitaler Technik möglich (vgl. Abb. 13). Als angewandt-künstlerische Tätigkeit unterliegt das Entwerfen an einem Punkt jedoch einer fundamental anderen Dynamik. Notwendiger160 Vgl. z. B. Susan Holden: Assemble’s Turner Prize. Utility and creativity in the cultural economy. In: Trading Between Architecture and Art. Strategies and Practices of Exchange. Hg. W. Davidts/S. Holden/A. Paine. Amsterdam 2019. S. 51–64. 161 Vgl. R. J. McCrory: The design method in practice. In: The Design Method. Hg. S. A. Gregory. New York 1966. S. 11–18.
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Abb. 13 Analoge und digitale Werkzeuge im Entwurfsprozess
weise vor der Recherchephase, die immer nur die Vergangenheit betrachten kann, liegt bei dieser Art des Vorgehens eine zusätzliche Imaginationsphase, die durch offene Kreativität, divergentes Denken und assoziativen Dialog mit unspezifischen Darstellungen die Vorstellungskraft beflügelt. Methodisch gut eingeübt, ist das ein Zustand, der Fantasie und Möglichkeitssinn stimuliert, ein Zustand, in dem tatsächlich alles möglich ist. Im Unterschied zu den irreführend als „virtuell“ bezeichneten digitalen Computersimulationen realisieren sich hier wirklich virtuelle Welten,
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in denen die Ahnung von Zukunft gelingt.162 Weil dieses Vorgehen kein Ziel verfolgt, also vollkommen offen ist, kann es nicht zielorientiert, sondern nur ergebnisorientiert ablaufen163 – stets ist auf das zu achten, was sich überraschend neu ergibt: „Die Zukunft ist der Raum des Design. Die Vergangenheit ist bereits geschehen und Entwurfsakten somit verschlossen. Design ist nur möglich in einer Gestimmtheit von Zuversicht und Hoffnung. Wo Resignation, das heißt keine Aussicht auf Zukunft herrscht, gibt es kein Design.“164 Die Fähigkeit, zukünftige Möglichkeiten zu entdecken und zu entwerfen, ist unabdingbar für Utopien und für wirklich Neues. Das verlangt immer wieder, methodische Rahmenbedingungen zu hinterfragen, zu durchbrechen oder zu ignorieren. Computer sind in dieser virtuellen Realität vollkommen nutzlos, weil sie lediglich Daten auf bestimmte festgelegte Ziele hin clustern, interpolieren und mehr oder weniger vage extrapolieren können. Das „individualisierte Massenprodukt“ Ebenso relevant wie die Digitalisierung des Entwerfens ist für Gestalter die Digitalisierung der Herstellungsverfahren. Neueste digital gesteuerte additive Fertigungsmethoden wie Stereolithografie, Pulverbettverfahren, Strangablegeverfahren, Binderdrucken, Schichtlaminatverfahren, 4-D-Druck und 4-D-Textilien165 rücken die Vision individualisierter Massenwaren in greifbare Nähe, auch wenn sie bislang nur im Ausnahmefall für die Serienproduktion geeignet sind. Als Materialien kommen aktuell Kunststoffe, Metalle, Keramik, Gips, Sand und Holz in Betracht.166 162 Vgl. Justus Theinert: Einfälle nicht dem Zufall überlassen. Künstlerische Intuition in der Gestaltungsdidaktik. In: Herausforderung ästhetische Bildung. Hg. K. Buchholz/E. Mollenhauer-Klüber/J. Theinert. Bielefeld 2017. S. 157–175. 163 Der Nobelpreisträger Niels Bohr bevorzugte eine solche Vorgehensweise, vgl. Léon Rosenfeld: Niels Bohr in the Thirties. Consolidation and extension of the conception of complementarity. In: Niels Bohr. His Life and Work as Seen by His Friends and Colleagues. Hg. S. Rozental. New York 1967. S. 117. 164 Gui Bonsiepe: Interface. Design neu begreifen. Mannheim 1996. S. 26. 165 Vgl. z. B. Hessen Trade & Invest (Hg.): Additive Fertigung. Der Weg zur individuellen Produktion. Wiesbaden 2018. S. 8–31. 166 Vgl. ebd., S. 9.
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Nicht zufällig fällt die Euphorie um individuell maßgeschneiderte Massenprodukte in eine Zeit, in der hedonistische Selbstverwirklichung die gesellschaftliche Stimmung prägt.167 Zunehmende Ichbezogenheit spiegelt sich in zeittypischen Produkten wie dem Walkman (1979), der Swatch (1983) oder dem ersten „persönlichen“ Computer (PC) IBM 5150 wider – letzterer ziert nach Markteinführung 1981 sogar als „Machine of the Year 1982“ im Januar 1983 die Titelseite des US-Magazins Time.168 Unter dem Aspekt gestalterischer Qualität sind solche „individualisierten“ Massenprodukte, die der Marketingverheißung „persönliche Identitätsstiftung durch exklusiven Konsum“ folgen169, jedoch wertlos: Die individuelle Persönlichkeit eines Menschen wird nicht durch die Waren geprägt, mit denen er sich umgibt, sondern durch sein Denken, Handeln und Einfühlungsvermögen. Gestalterisch rele167 Vgl. z. B. Michael Theunissen: Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. Zur Kritik des gegenwärtigen Bewußtseins. Berlin, New York 1982; Bazon Brock/Hans Ulrich Reck (Hg.): Stilwandel als Kulturtechnik, Kampfprinzip, Lebensform oder Systemstrategie in Werbung, Design, Architektur, Mode. Köln 1986; Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a.M., New York 1993. 168 Ein weiteres Beispiel sind die ab 1975 produzierten Mercedes-Modelle der Serie W 123, die wahlweise mit Sitzbezügen aus Leder, Kunstleder, Velours oder Stoff in den Farben Schwarz, Blau, Tabak, Bambus, Pergament, Moos, Dattel, Creme, Olive, Siena oder Hennarot und in den Außenlackfarben Tiefgrün, Coloradobeige, Ahorngelb, Kaledoniengrün, Blau, Pastellblau, Cayenneorange, Mittelrot, Gelb, Nickelgrün, Topasbraun, Englischrot, Saharagelb, Pastellgrau, Classicweiß, Schwarz, Dunkelblau, Mimosengelb, Apricotorange, Moorbraun, Weizengelb, Agavengrün, Chinablau, Heliosgelb, Mangogrün, Hansablau, Goldbraun, Hellelfenbein, Orientrot, Braun, Altrot, Labradorblau, Liasgrau, Riedgrau, Surfblau, Sandbeige, Signalrot, Taigabeige, Eibengrün, Maroonbraun und Barolorot sowie in den Metallictönen Milanbraun, Ikonengold, Brillantrot, Silbergrün, Citrusgrün, Graublau, Magnetikblau, Anthrazitgrau, Astralsilber, Inkarot, Zypressengrün, Champagner, Manganbraun, Silberblau, Lapisblau, Petrol, Silberdistel, Blauschwarz, Diamantblau, Pajettrot und Rauchsilber verfügbar waren. Als zusätzliche Sonderausstattungen erhältlich waren unter anderem: Anhängevorrichtung, Antenne (automatisch oder mechanisch), Außenspiegel rechts, Autotelefon, Becker-Autoradios Europa, Grand Prix, Europa Kurier oder Mexico, Dachantenne, elektrische Fensterheber, elektrische Sitzheizungen, Gepäcknetze an Fahrerund Beifahrerlehne, Handschuhkastenschloss, Heckantenne, Klimaanlage, Kokosmatten, Leichtmetallräder, Scheinwerferwischanlage, Schiebedach (mechanisch oder elektrisch), Servolenkung, Skihalter und Tempomat. Zu erwähnen sind auch die 1969 entworfenen Tür- und Fensterbeschläge Modell 111 aus Polyamid der Marke HEWI, die derzeit in den Farben Signalweiß, Reinweiß, Lichtgrau, Felsgrau, Anthrazitgrau, Tiefschwarz, Sand, Umbra, Senfgelb, Orange, Koralle, Rubinrot, Apfelgrün, Maigrün, Aquablau und Stahlblau angeboten werden. 169 Vgl. dazu Ziad Mahayni: Individualität und Konsum. In: Wie lebt es sich in unserer Gesellschaft? Hg. G. Böhme/U. Gahlings. Bielefeld 2015. S. 57–78.
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vant sind in der Regel nicht individuelle Menschen, sondern individuelle Lebensweltausschnitte – es geht um das Problem, dass sich neue Gegenstände hinsichtlich ihrer Form, ihrer Größe, ihrer Farbe und ihres Materials in gegebene Situationszusammenhänge einfügen, was nicht nur geeignete Produkte, sondern auch mündige Konsumenten170 erfordert. Eine Perspektive, die sich der angeschlagenen deutschen Industrie Anfang der 1980er Jahre eröffnet, wird in den trägen Großunternehmen jedoch nur halbherzig angegangen: Durch die Integration von Mikroprozessoren sind jetzt vielfältigere und flexiblere Produkte möglich. Die japanische Industrie erkennt dieses Potenzial sofort und ist in der Umsetzung konsequenter, so wird sie zum gefürchtetsten Konkurrenten.171 Deutsche Forscher entwickeln dagegen wegweisende Experimente, an denen sich auch die Gestalter beteiligen. Diese sehen sich berufen, einerseits mit computergesteuerter Fertigung eine neue Produktkultur abseits der Massenproduktion zu begründen, andererseits rätseln sie, wie das (missverstandene) Dogma, dass die Form der Funktion folgen möge, im Fall von Halbleiterprodukten noch einzulösen sei172. Der Deutsche Werkbund greift das Thema deshalb 1986 im Rahmen eines Seminars mit dem Titel Fish and Chips auf, wo die Potenziale digitaler Produkte unter Federführung etablierter Designerpersönlichkeiten wie Bořek Šípek, Uri Friedländer und David Palterer experimentell ausgelotet werden sollen. Angesichts der neuen Technologie machen sich dann aber Ratlosigkeit und Heilsfantasien breit, was sich in grotesk überhöhter Symbolik und fetischartigen Entwürfen ausdrückt. Erfrischend bodenständig sind dagegen die Entwicklungen von Jochen Gros und Friedrich Sulzer am 1993 gegründeten C-Lab173 170 Vgl. Kai Buchholz: Der mündige Konsument. In: Der mündige Mensch. Hg. G. Böhme. Darmstadt 2009. S. 131–142. 171 Vgl. Michael J. Piore/Charles F. Sabel: Das Ende der Massenproduktion. Studie über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft. Berlin 1985. S. 250. 172 Vgl. Deutscher Werkbund (Hg.): Fish and Chips. Gestaltung für Menschen im elektronischen Zeitalter. Darmstadt 1986. o. S. 173 Das „C“ steht für Computer-Aided Design (CAD), Computerized Numerical Control (CNC) und Computer-Aided Manufacturing (CAM).
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der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Grundlegend ist hier die Frage: Werden mit digitaler Technologie zu fertigende Produkte das Design, seine Vermarktung, seine kulturelle Aneignung und somit auch die Produktsprache so tiefgreifend verändern, wie dies am Übergang vom Handwerk zur Industrie der Fall gewesen war?174
Gros und sein Team setzen die numerisch gesteuerten Fräsen zur Bearbeitung flachliegender Plattenmaterialien ein. In historischer Tradition arbeiten sie daran, die Gestaltung den neuen Technologien anzupassen, anstatt umgekehrt zu versuchen, die Möglichkeiten der Technologie zu hinterfragen und gemäß visionärer Erfordernisse weiterzuentwickeln. Experimente wie der C-Stool 175 können deshalb gestalterisch nicht überzeugen. Beeindruckender ist der Ansatz, arbeitsintensiven handwerklichen Holzverbindungen durch CNC-Fertigung zu einer Renaissance zu verhelfen. Die Daten mitsamt Montageanweisungen werden – gewissermaßen als „digitales Musterbuch“ – auf einer CD-ROM veröffentlicht und vertrieben.176 Nach kurzer Zeit verläuft dieses Experiment zunächst im Sande. Heute, da Downloads technisch selbstverständlich sind, gibt es eine Reihe von Websites, die Datensätze für Möbel bereitstellen.177 Die Beschränkungen der Technologie verhindern aber nach wie vor ästhetisch brauchbare Resultate. Eine Ausnahme bilden Kastenmöbel: Schreiner sind heute bei maßgefertigten Schrankmöbeln nur noch für Aufmaß und Montage zuständig. Der Plattensatz wird extern in CNC-Fabriken gefräst und mitsamt den erforderlichen Verbindungselementen als Paket zur Montage geliefert.178
174 Jochen Gros: Stilwandel unter Mitsprache des Designs. Rückblick auf die Entwicklung und den Gebrauch der Theorie der Produktsprache. In: Der Offenbacher Ansatz. Zur Theorie der Produktsprache. Hg. T. Schwer/K. Vöckler. Bielefeld 2021. S. 242. 175 Vgl. ebd., S. 242/243. 176 Vgl. Jochen Gros: CD-ROM als Musterbuch. In: Politische Ökologie. 1997, Sonderheft 9. S. 26. 177 Vgl. z. B. www.opendesk.cc. 178 Vgl. u. a. www.speedmaster.at oder www.invido.de.
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Ebenfalls 1993 sieht Julia Ehrensberger als Diplomandin der Produktgestaltung an der Kunstakademie Stuttgart andere Möglichkeiten. Sie entwickelt ein überlegtes und umfassendes Servicekonzept zur Selbstgestaltung von Brillengestellen. Der Nutzer ist dabei nicht auf fertige Dateien angewiesen. Er kann vielmehr am heimischen Bildschirm verschiedene Brillenformen auf ein Bild seines zuvor eingescannten Gesichts aufsetzen und in Form, Material und Farbe so lange variieren, bis ein zufriedenstellendes Ergebnis vorliegt. Die fertige Form wird anschließend als Datensatz zur Produktion geschickt und dann beim Optiker mit den individuellen Gläsern versehen. Ehrensberger erkennt dabei den entscheidenden Schwachpunkt individualisierter Massengestaltung: Wie bewahrt man den Nutzer, der meist nicht über die nötige Expertise verfügt, vor gestalterischem Überschwang? Ein Algorithmus, der extreme Proportionen, absurd gekrümmte Kurven und allzu schrille Farbkombinationen identifiziert, soll das Schlimmste verhindern. Doch auch solche durchdachten Konzepte setzen sich am Markt nicht durch.179 Die Gründe sind vielfältig. Konsumentscheidungen sollen am besten schnell und unreflektiert erfolgen, und die wenigsten Menschen sind noch in der Lage, sich Neues vorzustellen, weil die Konsumwirtschaft sie darauf konditioniert hat, stets nur aus dem bestehenden Sortiment auszuwählen.180 Inzwischen zeigt die Digitaltechnik ganz andere Möglichkeiten auf: Dinge werden persönlich konfigurierbar. Die Entscheidung, ein sportliches oder ein komfortables Automobil zu kaufen, muss heute niemand mehr im Vorfeld treffen – Antrieb und Fahrwerk können jetzt einfach während der Fahrt per Knopfdruck oder Sprachbefehl variabel eingestellt werden. Auch die nächtliche Farbstimmung im Innenraum lässt sich jederzeit individuell justieren. Zu179 Online-Konfiguration und -Bestellung finden sich anfangs auch für Turnschuhe (customatix.com), Armbanduhren (idtown.com), Accessoires (Xaaaz.de), Kosmetika (reflect.com), Reiseführer (booktailor.com), Barbie-Puppen (barbie.com) und Geschenkverpackungen für Schokolade (caliebe.de). Alle diese Plattformen sind nur wenige Jahre am Markt, vgl. Dagmar Steffen: Nachindustrielle Perspektiven für die Produktgestaltung. In: Arch+. 158 (2001). S. 105. 180 Dieser kreativitätstötende Einfluss der Konsumgesellschaft wird bei kritischen Diskussionen bis heute kaum thematisiert.
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sätzlich kann die Automobilindustrie heute noch wenige Tage vor Auslieferung Änderungswünsche der Kunden umsetzen. Wem das nicht ausreicht, sieht sich in der Tuning-Branche um. Diese profitiert in besonderem Maß von den digitalen Kleinserien-Fertigungsverfahren181, mit denen sie fast jeden individuellen Wunsch – auch als Einzelanfertigung – erfüllen kann. Der eigentliche Wandel durch Digitalisierung zeigt sich im Automobilbau jedoch an anderer Stelle: Additive Herstellungsverfahren revolutionieren im Hintergrund den Werkzeugbau182, und Industrie 4.0 flexibilisiert die Fertigungsprozesse. Problemlos lassen sich unterschiedlichste Fahrzeugtypen parallel an autarken Inseln in einer Halle produzieren, wobei die digital vernetzten Handwerkszeuge der Facharbeiter sich jeweils selbstständig so konfigurieren, dass exakt das richtige Drehmoment für diese eine Schraube für dieses spezifische Fahrzeug in diesem Moment anliegt. Zudem dokumentieren und optimieren sie über WLAN alle Fertigungsschritte. Fahrerlose Transportsysteme liefern Komponenten, die per RFID nachverfolgbar und vernetzt sind. Big-DataAnalysen und vorausschauende Instandhaltung (Predictive Maintainance) sorgen dafür, dass die Produktion reibungslos läuft und Wartungen rechtzeitig erledigt werden.183 Die Risiken einer solchen, immer differenzierteren Automatisierung beschreibt B. Joseph Pine, ein Pionier der „maßgeschneiderten Massenfertigung“, bereits 1993 am Beispiel von Toyota: Die Firma installiert damals entlang des Fließbandes Monitore, die den Arbeitern demonstrieren, wie sie ein bestimmtes Auto zusammenbauen sollen. Zusätzlich beleuchten automatisch gesteuerte Scheinwerfer die Behälter mit 181 Vgl. Hessen Trade & Invest (Hg.): Additive Fertigung (wie Anm. 165). S. 8–31. 182 Die üblicherweise im Guss- oder Senkerosionsverfahren hergestellten Werkzeuge zur Blechumformung sind an die Gesetze der Entformbarkeit gebunden. Das gilt für im Lasersinterverfahren gefertigte Werkzeuge nicht, so dass sich Kühlkanäle hier exakt an den Stellen positionieren lassen, wo die Kühlung erforderlich ist. Das wiederum ermöglicht höhere Verformungsgrade und längere Standzeiten der Werkzeuge. 183 Das aktuellste Beispiel für Industrie 4.0. ist die im September 2020 eröffnete Factory 56 von Daimler, vgl. z. B. Ralf Bretting: Blaupause. Weltpremiere für die Produktion der Zukunft: Zum ersten Mal hebt Daimler den Vorhang und zeigt Details der Factory 56 in Sindelfingen. Sie konzentriert so viel Digitaltechnik unter einem Dach wie keine andere Autofabrik auf der Welt – und dient als Vorbild für andere Werke des Autobauers. In: Automobil Produktion. 2018, Heft N. S. 36–41.
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den zum jeweiligen Zeitpunkt benötigten Komponenten. Diese Maßnahmen nehmen den Mitarbeitern die Möglichkeit, Prozesse zu verinnerlichen und zu reflektieren, und reduzieren so ihre Fähigkeit, diese zu verbessern. Ein Toyota-Manager bringt es auf den Punkt: „Roboter machen keine Vorschläge.“184
184 Vgl. B. Joseph Pine/Bart Victor/Andrew C. Boynton: Making mass customization work. In: Harvard Business Review. 1993, Heft September/Oktober. S. 110; B. Joseph Pine: Maßgeschneiderte Massenfertigung. Neue Dimensionen im Wettbewerb. Wien 1994 [1993].
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Über die Autorinnen und Autoren
Gernot Böhme studierte Mathematik, Physik, Philosophie. 1969–77 wiss. Mitarbeiter am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt (C. F. v. Weizsäcker, J. Habermas), 1978–2002 Professor für Philosophie an der TU Darmstadt. 2005–22 Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie e.V., IPPh (www.ipph-darmstadt.de). Bis 2020 1. Vorsitzender der Darmstädter Goethe-Gesellschaft. Zahlreiche Bücher und Aufsätze zur Anthropologie, Naturphilosophie, Ästhetik und zu Klassikern der Philosophie (Kant, Platon). Zum Thema dieses Buches: Die Technostrukturen der Gesellschaft. In: Technik und sozialer Wandel. Hg. B. Lutz. Frankfurt a. M. 1987. S. 53–65; Lesen ist nicht einfach lesen. Was einen Text zum Text macht und was Verstehen bedeutet. In: Neue Zürcher Zeitung vom 10. Mai 2021. S. 32. Rebecca Böhme ist Neurowissenschaftlerin und forscht am Zentrum für soziale und affektive Neurowissenschaften (CSAN) der Universität Linköping in Schweden, u. a. an den Fragen, wie das Gehirn zwischen Selbst und anderen unterscheidet und wie Berührungen zur Ausbildung des minimalen Selbst beitragen. Sie studierte Biologie und Neurowissenschaften und promovierte an der Humboldt Universität Berlin zum Thema Lernmechanismen bei Schizophreniepatienten. Neben zahlreichen wissenschaftlichen Artikeln veröffentlichte sie: Human Touch – Warum körperliche Nähe so wichtig ist (C.H. Beck 2019), Resilienz (C.H. Beck 2019) und gemeinsam mit Gernot Böhme Über das Unbehagen im Wohlstand (Suhrkamp es 2021). 189
Kai Buchholz, *1966 in Berlin. Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und Romanistik in Berlin, Rennes, Saarbrücken, Utrecht und Aix-en-Provence. 1991 Maître ès lettres an der Université de Provence, 1996 Promotion an der Universität des Saarlandes. 2000–05 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Mathildenhöhe Darmstadt. Lehr- und Forschungstätigkeit in Darmstadt, Bergen, Nancy und Paris. Ausstellungskurator und freier Hörspielautor. Seit 2012 Professor für Geschichte und Theorie der Gestaltung an der Hochschule Darmstadt. Wichtige Buchveröffentlichungen: Der Amerikanische Traum (2020); (mit J. Theinert) Gestalt und Hinterhalt (2020); Landschaftskultur und Kulturlandschaft (Hg. 2018); Herausforderung ästhetische Bildung (Hg. 2017); (mit J. Theinert) Designlehren (2007); Im Rhythmus des Lebens (2007); Ludwig Wittgenstein (2006); Die Lebensreform. 2 Bde. (Hg. 2001). Ute Gahlings, *1963, Dr. phil. habil. M. A., ist Privatdozentin für Philosophie an der TU Darmstadt und Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten im In- und Ausland. Sie hatte Gast- und Vertretungsprofessuren in Darmstadt und Berlin. Sie war Gründungsmitglied und ist seither zweite Vorsitzende des Instituts für Praxis der Philosophie (IPPh) Darmstadt. Seit 2017 ist sie Vorstandsmitglied und seit 2019 Präsidentin der Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis (IGPP) Berlin. In Frankfurt am Main führt sie die Philosophische Praxis Solidarität. Veröffentlichungen unter anderem: nicht allein mit dem Kopf – Perspektiven auf Hermann Keyserling (Hg. 2021); Kultur der Privatheit in der Netzgesellschaft (Hg. mit G. Böhme 2018); Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen (22016); Wie lebt es sich in unserer Gesellschaft? (Hg. mit G. Böhme 2015); Lebensdenkerinnen (Hg. mit H. Bennent-Vahle/R. Kozljanič 2014); Praxis der Philosophie (Hg. mit D. Croome/R. Kozljanič 2007); Hermann Graf Keyserling. Ein Lebensbild (1996); Sinn und Ursprung. Untersuchungen zum philosophischen Weg Hermann Graf Keyserlings (1992).
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Wolfgang Reinert, *1949 in Waldhausen im Remstal/Baden-Württemberg, 1969–76 Studium der Evangelischen Theologie, Mathematik, Geschichte und Philosophie in Tübingen und Darmstadt, 1977–2013 Unterricht als Gymnasiallehrer an verschiedenen Schulen in Darmstadt und Umgebung, zweimal als Auslandslehrer tätig (Deutsche Schule Paris, Deutsche Höhere Privatschule Windhoek/ Namibia), seit 2013 ehrenamtlicher Mitarbeiter am Institut für Praxis der Philosophie Darmstadt, ehrenamtliches Engagement in der Flüchtlingshilfe und in der Kommunalpolitik. Justus Theinert, *1963 in Hannover, Designer und Designdidaktiker. Studium der Produktgestaltung an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart (ABK). Danach Felduntersuchung zur europäischen Designdidaktik und -methodik in Arnheim, Berlin, Halle, Helsinki, London, Mailand und Paris sowie Assistent des Rektors der ABK Stuttgart. Beteiligt an der Entwicklung des europäischen Studiengangs „Master of European Design“. Entwurfsarbeiten in unterschiedlichen Branchen: Möbel, Transportation, Investitionsgüter, Mode, Medizintechnik, Bildungskonzepte und Corporate Design. Internationale Lehr- und Beratungstätigkeit zur Designdidaktik in China, Taiwan, Ägypten und Jordanien. Seit 2001 Professor für Entwurf und Theorie am Fachbereich Gestaltung der Hochschule Darmstadt.
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Bildnachweis
KPM Berlin (S. 135); NCS INFO; CC BY-SA 4.0 (S. 138); © European Union/Philippe Samyn and Partners architects and engineers – lead and design Partner Studio Valle Progettazioni architects Buro Happold engineers/Colour compositions by Georges Meurant (S. 147); pp møbler (S. 154); © 2018 Bibliographisches Institut GmbH (Duden), Berlin. Illustratorin: Nicole Krohn (S. 160/161); Bild: Busch-Jaeger (S. 162); © Tesla, Inc. (S. 163); Fotos: iF Design (S. 177) © VG Bild-Kunst, Bonn 2022: Georges Meurant, Philippe Samyn Trotz sorgfältiger Recherche war es nicht in allen Fällen möglich, die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Berechtigte Ansprüche sind an den Verlag zu richten.
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Gernot Böhme (1937–2022) war einer der bekanntesten deutschen Philosophen. Er studierte Mathematik, Physik und Philosophie; danach war er von 1969 bis 1977 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt tätig. 1977–2002 Professor für Philosophie an der TU Darmstadt, 2005–22 Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie. Zahlreiche Publikationen zu allen Bereichen des philosophischen Denkens.
wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-89790-645-7
Praxis der Philosophie 1
Die Corona-Krise hat die Digitalisierung der Gesellschaft immens vorangetrieben. Von der Schule über den Kulturkonsum bis zum E-Commerce – digitale Medien ersetzen flächendeckend analoge Verhaltensweisen. Im Dunkeln bleibt dabei, was im Rücken dieser Entwicklung geschieht. Das beleuchtet der erste Band der Schriftenreihe Praxis der Philosophie, der nach den analogen Kompetenzen fragt: Denn diese veröden, werden verlernt oder – in der heranwachsenden Generation – gar nicht erst erworben.
Gernot Böhme (Hg.) | Analoge Kompetenzen im digitalen Zeitalter
Gernot Böhme (Hg.)
Analoge Kompetenzen im digitalen Zeitalter