An den Rändern der Stadt?: Soziale Räume der Armen in St. Petersburg (1850-1914) [1 ed.] 9783412513047, 9783412513023


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German Pages [403] Year 2019

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An den Rändern der Stadt?: Soziale Räume der Armen in St. Petersburg (1850-1914) [1 ed.]
 9783412513047, 9783412513023

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PERIPHERIEN Beiträge zur Europäischen und Globalgeschichte

Herausgegeben von Christof Dejung, Johannes Feichtinger, Antje Flüchter, Martin Lengwiler, Ulrike Lindner, Bernhard Struck und Jakob Vogel

Band 4

Die Reihe »Peripherien« versteht sich als Beitrag zur Erneuerung der europäischen Geschichte. Sie greift transnationale, postkoloniale oder globalhistorische Ansätze auf, um die Geschichte Europas global einzubetten. Zugleich interessiert sie sich für die vermeintlich peripheren Felder der europäischen Geschichte seit der Frühen Neuzeit. Die Peripherien der europäischen Geschichte bieten einen innovativen Standpunkt für neue Einsichten auf vermeintlich Vertrautes. Die Beschäftigung mit Randzonen – geografischen wie intellektuellen stellt traditionelle historiografische Narrative der europäischen Moderne (etwa zur Industrialisierung, Urbanisierung, Demokratisierung) in Frage und sucht nach neuen Wegen jenseits eines methodologischen Nationalismus. Die Reihe leistet damit einen Beitrag zur Dezentrierung und Provinzialisierung der europäischen Geschichte. Die Herausgeber

Hans-Christian Petersen

AN DEN RÄNDERN DER STADT? Soziale Räume der Armen in St. Petersburg (1850 –1914)

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR



Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek    : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie    ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung  : Der Heumarkt von St. Petersburg im Jahr 1900. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sennaia-1900.jpg Korrektorat  : Ute Wielandt, Baar-Ebenhausen Einbandgestaltung    : Michael Haderer, Wien Satz  : büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51304-7

Моей семье – Диана, Пина Марит, Оскар Коля и Тоня Майкен

Inhalt Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Einleitung  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. New Social History  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Sozialer Raum  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. „Zentrum“ und „Peripherie“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. „Slums“ und „Unterschichten“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Ort und Zeitraum  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6. Forschungsstand und Quellen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. St. Petersburg 1850 – 1914: Zentrum und Peripherien  . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Ausbau und Ungleichheiten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Enge Welten?  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. ‚Jenseits des Flusses‘  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4. ‚Jenseits des Flusses‘. Artikulationen des „Rechts auf Nichtausschluss“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. „Eine der brennendsten Fragen der Gegenwart“: Wohnen in der Hauptstadt  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Wohnungsnot  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Exkurs: Gentrifizierung in historischer Perspektive?  . . . . . . . . . . . . 3.3. Reaktionen auf die Wohnungsnot  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Märkte und Händler  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 4.1. Neuordnung und Segregation  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 4.2. Reaktionen auf die Neuordnung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 Farbtafeln   .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

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Inhalt

5. Soziale Räume der Armen: Resümee und Ausblick  . . . . . . . . . . . . . . . . 361 Anhang  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karten, Abbildungen, Tabellen und Maße  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen und Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortsregister  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vorwort Die Arbeit, die d ­ iesem Buch zugrunde liegt, war der schriftliche Teil meines Habili­tationsverfahrens, das im Sommer 2016 an der Johannes Gutenberg-­ Universität Mainz abgeschlossen wurde. Damit ging ein Forschungsprojekt zu Ende, dessen Anfänge ich nur noch annäherungsweise datieren kann, die aber definitiv in Kiel liegen und mit der Person meines Doktorvaters, Rudolf Jaworski, verbunden sind, dem ich für das Schlagen erster Schneisen bei der Themenfindung sehr dankbar bin. In die seitdem vergangene Zeit fallen nicht nur drei Umzüge, sondern auch der Beginn des gemeinsamen Wegs mit der Frau, die mich zwischenzeitlich zum Umzug nach München bewegt hat, sowie die Geburt unserer drei Kinder. Dies macht mir mehr als alles andere deutlich, dass das Ergebnis der Arbeit jetzt zwar in der üblichen Form einer Monographie vorliegt, über der ein Name steht – dass es aber zugleich ein gemeinschaftlicher Prozess war, bei dem mich zahlreiche Menschen durch fachlichen Austausch und persönliche Unterstützung motiviert und bereichert haben, die jetzt zugleich heilfroh sind, dass nun ein Abschluss erreicht ist. Es ist mir ein nachdrückliches Anliegen, ihnen an dieser Stelle zu danken. Der Wechsel von Kiel nach Mainz ist mit der Person von Jan Kusber verbunden, der mir nach seiner Berufung auf den dortigen Lehrstuhl für Osteuropä­ ische Geschichte die Möglichkeit gab, ihn als Wissenschaftlicher Mitarbeiter zu begleiten. Damit war nicht nur die finanzielle Basis für das Schreiben des ‚zweiten Buches‘ gelegt, sondern zugleich landete ich in einem Arbeitszusammenhang, der sich stets als „Team“ begriff und dem ich konzeptionell für diese Arbeit sehr viel verdanke. Dass die Mainzer Zeit so schön war, wie sie war, liegt zuvorderst an ihrem Leiter – wie sich ein Arbeitsbereich kollegial und zugleich produktiv führen lässt, habe ich neben vielem anderen bei Jan Kusber gelernt, und damit Dinge fürs weitere Leben, die weit über ­dieses Buch hinausgehen. Hauptschauplatz der Entstehung dieser Studie war, neben wechselnden Arbeitszimmern und Küchen zu vorgerückter Stunde, natürlich St. Petersburg, die russische Metropole an der Ostsee. In den Monaten, die ich dort verbrachte, ist Piter mir zwischenzeitlich zu einer zweiten Heimat geworden, und die Erinne­ rungen daran bleiben, wie ich bei jeder Rückkehr feststellen kann. Dass diese längeren Forschungsaufenthalte möglich waren, verdanke ich nicht zuletzt dem Deutschen Historischen Institut in Moskau, das mir ein Habilitationsstipendium

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Vorwort

gewährte. Ein kollektiver Dank geht zudem an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Nationalbibliothek, des RGIA , des CGIA sowie des Petersburger Instituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften, die vieles möglich gemacht und mir mehr als einmal weitergeholfen haben. Und Alexander Bauer (Mainz) danke ich für die unvergessene Kommunalka im Spasskij pereulok – was ich anfangs nicht wirklich einzuschätzen wusste, erwies sich als eine großartige Zeit, verbunden durch die gemeinsame Begeisterung für die Geschichte der Stadt an der Neva. Mein Interesse an Stadtgeschichte ‚von unten‘ und sozialen Räumen zu einem gangbaren Forschungsdesign zu bündeln, erwies sich als veritable Herausforderung. Diese begann beim Auffinden aussagekräftiger Quellen und endete bei der Auslotung der Übertragbarkeit heutiger Konzepte der Raumsoziologie auf den Kontext der vermeintlich ‚dunklen Ecken‘ einer Stadt im ausgehenden 19. Jahrhundert. Umso wichtiger und im besten Sinne produktiv beunruhigend waren die zahlreichen Kolloquien, Konferenzen und Workshops, im Rahmen derer ich das Projekt vorstellen durfte. Stellvertretend sei der Mainzer Forschungsschwerpunkt „Historische Kulturwissenschaften“ (HKW) genannt, der mir in Form einer Konferenz samt anschließender Publikation einen internationalen Diskussionszusammenhang ermöglichte, der die Anlage meiner Arbeit punktuell verschoben, mich insgesamt aber in meinem Vorhaben bestärkt hat. Jeder Text, an dem man so lange sitzt, bedarf der Menschen, die ihn mit wachen und aufmerksamen Augen lesen und rechtzeitig die richtigen Fragen stellen. Freia Anders (Mainz), Alexander Bauer (Mainz), Alexander Kaplunovskij (Mainz), Andreas Frings (Mainz) und Heinke Kalinke (Oldenburg) haben sich dieser zeitaufwendigen Aufgabe angenommen – tausend Dank dafür! Ebenfalls mit der Lektüre beschäftigt sind die Gutachterinnen und Gutachter eines solchen Verfahrens sowie die Mitglieder der Habilitationskommission. Jan Kusber (Mainz), Hans-­Christian Maner (Mainz) und Julia Obertreis (Erlangen-­ Nürnberg) sei an dieser Stelle dafür gedankt, dass sie sich trotz ihrer vielfältigen weiteren Tätigkeiten zur Begutachtung der Arbeit bereit erklärt haben. Zwischen der Verleihung der Venia legendi und dem Erscheinen ­dieses Buches lag die Frage des Publikationsortes und der Finanzierung. Es war mir hierbei wichtig, das Thema wenn möglich in einer gesamteuropäischen Perspektive zu platzieren – weshalb es mich sehr freut, dass Martin Lengwiler (Basel) und J­ ohannes Feichtinger (Wien) großes Interesse daran zeigten, es in die neu begründeten Reihe „Peripherien. Beiträge zur Europäischen Geschichte und zur

Vorwort

Globalgeschichte“ aufzunehmen, Dem Förderungsfonds Wissenschaft der VG Wort danke ich für die Ermöglichung dieser Publikation, und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Böhlau Verlags für ein gründliches und sehr hilfreiches Korrektorat sowie eine stets freundliche Zusammenarbeit. Abschließend sei der Bogen zurück zu den lebensweltlichen Veränderungen geschlagen, die das Entstehen dieser Arbeit begleitet haben. Eindrücklicher noch als während der Dissertation ist mir in diesen Jahren klar geworden, wie künstlich die in wissenschaftlichen Kontexten immer noch vorherrschende Ausblendung des ‚Privaten‘ ist, und wie wenig sich Denken, Forschen und Schreiben vom ‚Rest des Lebens‘ trennen lassen. Dieses Buch gäbe es nicht, hätten nicht Eltern, Lebenspartner und Schwiegereltern unzählige Male ausgeholfen, wenn sich die Stränge Berufstätigkeit, Kinder und Forschungsaufenthalte scheinbar unlösbar verknotet hatten. Hierfür, und für das beständige Gefühl, dass sie mich in meinem Tun unterstützen, danke ich Sabine Petersen, Josef Vasthoff sowie Helga und Manfred Weilepp von ganzem Herzen. Und ohne die mitunter leidenschaftlichen Diskussionen mit meinem leider viel zu früh verstorbenen Vater hätte ich wohl auch nicht das nachhaltige Interesse an gesellschaftlichen Zuständen und ihren historischen Tiefendimensionen entwickelt, das es braucht, um sich so lange einem Thema zu widmen. Last, but not least möchte ich Diana und der Rasselbande danken, die uns täglich auf Trab hält, und uns doch zugleich seit dem ersten Moment dadurch eine innere Ruhe gegeben hat, dass sie uns gezeigt hat, wie relativ die eitlen Aufgeregtheiten des akademischen Zirkus im Grunde sind. Es ist ein immer wiederkehrender Topos in Danksagungen wie dieser, die zahllosen Tage und Nächte zu bedauern, in denen man nicht da war, und damit zu schließen, dass sich so etwas nicht wiederholen werde. Das tue ich nicht – dafür kenne ich mich und meine Leidenschaft für ­Themen, die mir wichtig sind, zu gut. Aber dass es insgesamt besser ist, mehr Zeit auf dem Deich in Westerhever und auf dem Abenteuerspielplatz zu verbringen, als jeder sich bietenden Publikationsmöglichkeit hinterher zu hecheln, das ist eine Erkenntnis, die ich mir bewahren werde. Oldenburg, im Dezember 2018

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1. Einleitung Ein Geschlecht von Bastards kam von den Inseln – nicht Menschen, noch Schatten – und ließ sich nieder an der Grenze zweier sich fremder Welten. Apollon ­Apollonowitsch liebte die Inseln nicht: die Menschen dort sind Fabrikvolk, ungeschliffen; ein vieltausendköpfiger Menschenschwarm schleppt sich dort früh zu den vielschlotigen Fabriken […]. Die ruhelosen Inseln – zerquetschen, zerquetschen! Sie an die Erde schmieden mit dem Eisen der riesigen Brücke und in alle Richtungen mit Prospektpfeilen durchschießen …1

Die Person, die sich derart vor ‚den Inseln‘ fürchtet und der diese Gedanken durch den Kopf gehen, ist der Senator Apollon Apollonovič Ableuchov, Hauptfigur in Andrej Belyjs zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlichtem Roman Petersburg. Der hohe Regierungsbeamte Ableuchov glaubt an den Fortschritt, er verehrt das Rationale und Harmonische, dessen Manifestierung für ihn die geraden Linien sind, mit denen Peter I. seine 1703 neu begründete Hauptstadt durchziehen ließ. Am sichersten fühlt er sich auf dem Nevskij prospekt, jenem Prachtboulevard, der zum Inbegriff der Stadt an der Neva geworden ist und den Karl Schlögel treffend als Stein gewordene „Projektion einer Lebensform“ 2 beschrieben hat. Im Inneren seiner Droschke über den Nevskij rasend, gibt sich Apollon Apollonovič der Vorstellung hin, Milliarden Werst vom „menschlichen Tausendfüßler“ entfernt zu sein, „der denselben Prospekt mit Füßen tritt.“ 3 Andrej Belyj macht in seinem Roman rasch deutlich, dass diese vermeint­liche Sicherheit eine Illusion ist. Bereits nach wenigen Seiten lässt er den Senator mitten auf dem Nevskij auf einen Inselbewohner treffen, der zu einer Gruppe junger Revolutionäre gehört, die ein Attentat auf Ableuchov planen. Als sich ihre Blicke kreuzen, schlägt der Senator schnell die Hände vors Gesicht und rast in seiner Kutsche davon. Zurück bleiben jedoch die Bilder von der „Unendlichkeit des

1 Belyj, Andrej, Petersburg, Frankfurt/Main, Leipzig 2005 (im Original erstmals 1912/13), S. 22 f. 2 Schlögel, Karl, Petersburg. Das Laboratorium der Moderne, 1909 – 1921, München 2002, S. 208. 3 Belyj, Petersburg, S. 30.

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Einleitung

Chaos“ 4, die er in den Augen jenes Unbekannten glaubt gesehen zu haben, der für ihn zweifelsfrei ein Bewohner der Inseln gewesen sein muss. Bei den Stadtvierteln, die für Apollon Apollonovič die bedrohliche Gegenwelt zum Zentrum St. Petersburgs verkörperten, handelte es sich um die Vasilij-­Insel, die Petersburger Seite sowie die Vyborger Seite. Zwischen ihnen und der Admiralitätsseite mit dem Winterpalast als Sitz des Zaren floss die Große Neva, und es sagt viel über die zeitgenössischen Vorstellungen von „Zentrum“ und „Peripherie“ aus, dass die Viertel als „jenseits des Flusses“ (zarečnoj) liegend bezeichnet wurden. Für viele Petersburger 5 dieser Zeit waren sie eher Vorstädte als Teil der Hauptstadt, auch wenn sie zu Fuß über die zu Beginn des 20. Jahrhunderts größtenteils noch schwimmenden Brücken nur wenige Minuten entfernt waren. Bewohnt wurden sie vom „schwarzen Volk“ (černyj narod), so die gängige zeitgenössische Kollektivbezeichnung für die armen Schichten der Bevölkerung, die dem deutschen „Pöbel“ entsprach.6 Seit dem Erscheinen des „Metropolenromans“ 7 von Andrej Belyj sind rund 100 Jahre vergangen – die in der Figur des Senators Ableuchov satirisch überzeichneten stereotypen Urteile über die ‚Peripherien‘ haben sich jedoch bis in unsere Gegenwart gehalten, auch in den Werken prominenter Vertreter der Osteuropahistorie. Laut Jörg Baberowski „ertranken“ die russischen Städte am Ende des 19. Jahrhunderts „im Meer bäuerlicher Zuwanderer“, sie wurden zu „Bauernmetropolen“, von denen die aus dem Umland kommenden „Bauernmassen […]

4 Ebd. 5 Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung sind in d ­ iesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer alle sozialen Geschlechter gemeint. 6 Der Begriff narod erfuhr ab Ende der 1830er Jahre eine Verlagerung seines semantischen Schwerpunktes: Während das Adjektiv narodnyj bis dahin sowohl für „national“ wie auch für „populaire“ verwendet wurde, verschob sich die Bedeutung nun zunehmend in Richtung „einfaches Volk“ (prostoj oder černyj narod), während sich für „Nation/national“ sukzessive nacija/nacional’nyj etablierte. Vgl. Ebbinghaus, Andreas, „National“ (narodnyj) und „nationale Eigenart“ (narodnost‘) in der russischen Literaturkritik der 1820er Jahre, in: Thiergen, Peter (Hg.), Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsdesiderat, Köln u. a. 2006, S. 51 – 81; Miller, Aleksej I., Istorija ponjatija nacija v Rossii, in: Ponjatija o Rossii. K istoričeskoj semantike imperskogo perioda, 2 toma, Moskva 2012, hier tom 2, S. 7 – 50. 7 Kissel, Wolfgang Stephan, Andrej Belyjs Roman Petersburg und die Revolution von 1905, in: Aust, Martin/Steindorff, Ludwig (Hg.), Russland 1905. Perspektiven auf die erste russische Revolution, Frankfurt/Main u. a. 2007, S. 129 – 141.

Einleitung

Besitz ergriffen.“ 8 Die auf der Suche nach Arbeit in die Stadt kommenden Migranten waren nach Baberowski unfähig, eine neue Identität im städtischen Umfeld zu entwickeln, vielmehr erfolgte die „Verbäuerlichung der Städte“ durch „das werktätige Volk“, das unter Freiheit vor allem die Freiheit verstanden habe, „sich hemmungslos zu betrinken“, und sein Dasein an den „geographischen und kulturellen Rändern“ der Städte gefristet habe, in denen es „nicht heimisch“ 9 geworden sei. Kurz: Die „Gewalt- und Konfliktkultur“ 10 des russischen Dorfes habe Einzug in die Städte gehalten. Die suggestive und althergebrachte Bedrohungsszenarien evozierende Sprache Baberowskis wäre eine eigene Analyse wert – ganz offensichtlich wird hier daran gearbeitet, Russland in Gestalt ‚des‘ russischen Bauern aus Europa heraus­ zuschreiben, weshalb es auch nicht verwundert, dass bar jeglicher Quellenkritik zustimmend zeitgenössische Berichte westeuropäischer Reisender zitiert werden, denen Städte wie Moskau „asiatisch“ 11 vorkamen. Aber auch inhaltlich sind ­solche Darstellungen nicht weniger fragwürdig – entbehren sie doch jeglicher Differenzierung, sei es ­zwischen den Städten und deren unterschiedlichen sozialräumlichen Strukturen, sei es innerhalb der Gruppe der „Bauernmassen“. Zumal Baberowski selbst konzediert, dass die von ihm behauptete strikte Trennung ­zwischen Peripherien und Zentrum zumindest für St. Petersburg nicht zutreffe und dass bisher „noch kaum erhellt“ worden sei, was dies für die „Protestkultur der Armen“ 12 bedeutet habe. Der letzte Punkt Baberowskis wird in der vorliegenden Arbeit aufgegriffen, indem die vermeintlichen Ränder ins Zentrum der Darstellung rücken. Es soll danach gefragt werden, ob es tatsächlich „zwei fremde Welten“ waren, die sich hier begegneten, und dem vom Senator Ableuchov gefürchteten „vieltausendköpfigen Menschenschwarm“ wird in seinem individuellen und gemeinschaftlichen Handeln ein Gesicht gegeben. Auch die im Eingangszitat erwähnten Brücken und „Prospektpfeile“ werden wieder auftauchen, als Mittel der Planung und Regulierung des städtischen Raums, vor allem aber in der Wahrnehmung 8 Baberowski, Jörg, Die Entdeckung des Unbekannten. Russland und das Ende Osteuropas, in: ders./Conze, Eckhart/Gassert, Philipp/Sabrow, Martin (Hg.), Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, Stuttgart, München 2001, S. 9 – 43, hier S. 25. 9 Ebd., S. 23, 26, 28. 10 Ebd., S. 23. 11 Ebd., S. 26. 12 Ebd., S. 28.

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Einleitung

der Bewohner der ‚Peripherien‘ selbst. ‚Peripherie‘ bzw. ‚Ränder‘ werde ich hierbei nicht allein als eine geographische Größe begreifen, die sich anhand der Lage diesseits oder jenseits der Neva festmachen ließe. Eine ­solche Begrenzung würde nur einen Ausschnitt des Lebens der dortigen Bewohner erfassen, deren Alltag vielfältig auch mit anderen Stadtteilen verbunden war, wie zu zeigen sein wird. Letztendlich würde eine Beschränkung auf die geographischen Ränder der Stadt die Zentrum–Peripherie–Dichotomie der oben angeführten Zitate nur reproduzieren – weshalb es mir vielversprechender erscheint, nach den Interaktionen zu fragen, also danach, w ­ elche Räume diesseits und jenseits der Neva von den unteren Schichten aufgesucht und wie sie wahrgenommen wurden. Es geht mir mithin um die Untersuchung von Peripherien in einem umfassenderen Sinne: Um Ungleichheiten sozialer, ökonomischer und kultureller Art, die den Stadtraum St. Petersburgs durchzogen, sowie um die Frage, was wir über die Strategien der Angehörigen der städtischen Unterschichten sagen können, mit denen diese auf ihre Marginalisierung reagierten. Struktur und Handeln sollen also gemeinsam, in ihrer gegenseitigen Bedingtheit, betrachtet werden.13 13 Eine erste konzeptionelle Skizze dieser Arbeit ist 2011 erschienen: Petersen, Hans-­ Christian, On the Margins of Urban Society? Inequalities and the Formation of Social Space in a Metropolis of Modern Age – St. Petersburg 1850 – 1914, in: InterDisciplines. Journal of History and Sociology, Vol. 2 (2011), No. 1, p. 85 – 112, URL : http://www.inter-­ disciplines.de/bghs/index.php/indi/article/viewFile/29/25 (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). Als frühere Versionen einzelner Abschnitte wurden zudem bereits publiziert: Petersen, Hans-­Christian, Doppelte Marginalisierung? Orte der Unterschichten in St. Petersburg und ihre Unsichtbarkeit im heutigen Stadtbild, in: Conrad, Benjamin/Bicknell, Lisa (Hg.), Stadtgeschichten. Beiträge zur Kulturgeschichte osteuropäischer Städte von Prag bis Baku, Bielefeld 2016, S. 141 – 157; ders., Gentrifizierung in historischer Perspektive? Aufwertung und Verdrängung in Sankt Petersburg, Wien und London (1850 – 1914), in: Schulz, Günther (Hg.) Arm und Reich. Zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Geschichte, Stuttgart 2015, S. 17–-207; ders., Eine Frage der Hygiene? Die Neuordnung der St. Petersburger Märkte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Riha, Ortrun/Fischer, Marta (Hg.), Hygiene als Leitwissenschaft. Die Neuausrichtung eines Faches im Austausch z­ wischen Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert, Internationale Tagung, Leipzig, 7. –8. 10. 2013, Aachen 2014, S. 279 – 302; ders., „… not intended for the Rich.“ Public Places as Points of Identification for the Urban Poor – St. Petersburg (1850 – 1914), in: Petersen, Hans-­Christian (Hg.), Spaces of the Poor. Perspectives of Cultural Sciences on Urban Slum Areas and Their Inhabitants, Bielefeld 2013, S. 71 – 97.

New Social History

1.1. New Social History Es ist noch nicht allzu lange her, dass in den Kommentaren und Feuilletons deutscher Tageszeitungen die Rückkehr der sozialen Frage in den Diskurs der Historikerzunft diagnostiziert wurde. Anlass für diese Feststellungen war der 47. Deutsche Historikertag, der 2008 in Dresden stattfand. Hatte man sich doch mit dem Rahmenthema „Ungleichheiten“ ein Motto gewählt, das wie kaum ein zweites geeignet erschien, die Brücke zur Soziologie und ihr benachbarter Disziplinen zu schlagen, und das zugleich Bezug nahm auf sich aktuell vollziehende Prozesse zunehmender gesellschaftlicher Polarisierungen. Wohin man auch blickte, wurden Stichworte wie „Prekarisierung“, „Gentrifizierung“ oder die bereits damals ihre gesellschaftlichen Spuren hinterlassende Finanz- und Wirtschaftskrise in Verbindung gebracht mit einer Wiederentdeckung der sozialen Frage durch die Historikerzunft und einer Ablösung kulturgeschichtlicher Ansätze durch eine Rückkehr der Sozialgeschichte.14 Ein Blick auf das Dresdener Programm macht rasch deutlich, dass von einer solchen Kehrtwende nicht die Rede sein konnte – die weit überwiegende Zahl der Sektionen legte weiterhin den Schwerpunkt auf kulturgeschichtliche Fragestellungen, auf die Analyse von Symbolen, Lebenswelten und Diskursen. Zudem wäre zu fragen, ob eine solch starre Gegenüberstellung von Sozialgeschichte auf der einen und Kulturgeschichte auf der anderen Seite wirklich erkenntnisfördernd ist – oder ob es nicht fruchtbarer ist, die jeweiligen Stärken und Schwächen zu beleuchten und hiervon ausgehend zu einer Modifikation bestehender Ansätze zu gelangen, mithin zu einer Verknüpfung von ‚harten Fakten‘ und den ­inzwischen doch weitgehend unbestrittenen Erkenntnisfortschritten der Betrachtung von Prozessen historischer Wahrnehmungs- und Sinnstiftungsweisen. Christoph Cornelißen hat in ­diesem Zusammenhang von einer „Rückkehr der Sozialgeschichte“ gesprochen, die aber „sicher nicht mehr die alte Arbeiterbewegungs- und Organisationsgeschichte“ sein werde. Es gehe vielmehr um eine „neue Sozialgeschichte“, die die zahlreichen turns der letzten Jahre mit einbeziehe, darunter auch die „jüngsten Bewegungen hin zur Geschichte des Raums.“ 15 14 Vgl. exemplarisch Bollmann, Ralf, Harte Fakten für harte Zeiten, in: die tageszeitung, 06. 10. 2008. 15 Cornelißen, Christoph, Die Sozialgeschichte kehrt zurück, in: Der Tagesspiegel, 30. 09. 2008.

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Einleitung

Nun ist eine ­solche Forderung nach einer Verknüpfung kultur- und sozialgeschichtlicher Ansätze an sich nicht neu. Blickt man auf die internationale Ebene, so wird rasch klar, dass vor allem im englischsprachigen Raum seit Mitte der 1990er Jahre die kritischen Stimmen lauter wurden, die sich gegen einen zu weitgehenden Deutungsanspruch des Cultural Turn wandten und Konzepte für eine kulturgeschichtlich erweiterte New Social History einforderten.16 Es ging und geht hierbei um die Beibehaltung des gesellschaftskritischen Impetus’, der der Sozialgeschichte zugrunde lag, und um die Befürchtung, dass im Zuge kulturgeschichtlicher Mikrostudien die weiter ausgreifenden und erklärenden Perspektiven der Geschichtswissenschaft verloren gehen könnten, wie dies Geoff Eley in seiner autobiographisch-­historiographischen Standortbestimmung 2005 zusammenfasste: History’s priorities became refocused by decentering the discipline’s established ­subject matters; by claiming the neglected contexts of the personal, the local, and the everyday; and by allowing historians to better face questions of political subjectivity. But why should the earlier concerns of social historians be forgotten, as opposed to fruitfully reengaged? Why should embracing the possibilities of microhistory require leaving macrohistory entirely behind?17

Im deutschsprachigen Raum steckt diese Debatte hingegen noch in den Anfängen.18 Nach der Zeit der Annäherung z­ wischen Geschichts- und Sozialwissenschaften 16 Stellvertretend ­seien genannt: Corfield, Penelope J., New Approaches for Old Towns? in: Journal of Urban History 23 (1996), No. 1, S. 94 – 107; Halpern, Rick, Respatializing Marxism and Remapping Urban Space, in: Journal of Urban History 23 (1997), No. 2, S. 221 – 230; Bonnell, Victoria E./Hunt, Lynn (Hg.), Beyond the Cultural Turn. New Directions in the Studies of Society and Culture, California 1999; Eley, Geoff, A Crooked Line. From Cultural History to the History of Society, University of Michigan, Ann Arbor 2005, sowie die entsprechende Diskussion seiner Thesen im Forum der „American Historical Review“: American Historical Review Forum: Geoff Eleys’ A Crooked Line, in: American Historical Review 113 (2008), No. 2, S. 391 – 437. 17 Eley, A Crooked Line, S. 199. 18 Was nicht untypisch ist, wenn man die jeweiligen Zeitpunkte der Diskussionen über grundlegende Paradigmenwechsel in der Forschung im deutsch- und im englischsprachigen Diskurs vergleicht. Vgl. hierzu Conrad, Christoph, Die Dynamik der Wenden. Von der neuen Sozialgeschichte zum Cultural Turn, in: Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft, 22 (2006): Wege der Gesellschaftsgeschichte, S. 133 – 160.

New Social History

in den 1960er und 70er Jahren 19 und der nachfolgenden Dominanz kulturgeschichtlicher Ansätze werden erst in jüngerer Zeit Stimmen laut, die für eine Rückkehr des Sozialen unter erweiterten Vorzeichen plädieren. 2007 legten Lutz Musner und Wolfgang Maderthaner ein streitlustiges Plädoyer vor. Sie diagnostizierten eine „Selbstabschaffung der Vernunft“ 20 und warfen großen Teilen der Kulturwissenschaften vor, Kultur als selbstreferenzielles System zu analysieren und sich mittels eines solchen „Kulturalismus“ 21 des eigenen kritischen Potentials zu entledigen. Wenn man die materielle Bedingtheit von Kultur ausblende, verliere man jene Personen und Gruppen aus dem Blick, die „weder über die materiellen noch über die symbolischen Ressourcen verfügen, sich wirkungsvoll in Szene zu setzen und damit mediale Beachtung zu kapitalisieren.“ 22 Nachdrücklich plädierten Maderthaner und Musner für eine „relationale Kulturanalyse“, die „kulturelle Fragen in das Soziale übersetzt und soziale Problemlagen in ihrer Korrespondenz zur kulturellen Semantik untersucht.“ 23 Weiterhin zu erwähnen ist die seit 2007 an der Universität Bielefeld entstandene Graduate School in History and Sociology (BGHS). Sie versteht sich als Forum, im Rahmen dessen sich Promovierende nicht nur über ihr Thema im engeren Sinne, sondern auch über die Grenzen der Fächer hinweg austauschen können.24 Mit der Zeitschrift InterDisciplines gibt die BGHS seit 2010 ein Online-­Journal heraus, das dem interdisziplinären Dialog ­zwischen Sozial- und Geschichtswissenschaft gewidmet ist.25 Und 2014 konstatierten Friedrich Lenger und Dietmar Süß im Archiv für Sozialgeschichte ein wieder erwachendes Interesse an der Erforschung sozialer Ungleichheit, plädierten jedoch zugleich nachdrücklich dafür, eine neue 19 Vgl. hierzu kritisch Welskopp, Thomas, Irritating Flirtations. Reflections on the Relationship Between History and Sociology since the 1970s, in: InterDisicplines 1 (2010), No. 1, S. 9 – 42, URL: http://www.inter-­disciplines.de/bghs/index.php/indi/article/viewFile/5/10 (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 20 Maderthaner, Wolfgang/Musner, Lutz, Die Selbstabschaffung der Vernunft. Die Kulturwissenschaften und die Krise des Sozialen, Wien 2007. Vgl. ebenso Musner, Lutz, Jenseits von Dispositiv und Diskurs. Historische Kulturwissenschaften als Wiederentdeckung des Sozialen, in: Kusber, Jan u. a. (Hg.), Historische Kulturwissenschaften. Positionen, Praktiken und Perspektiven, Bielefeld 2010, S. 67 – 80. 21 Maderthaner/Musner, Die Selbstabschaffung der Vernunft, S. 86. 22 Ebd., S. 90. 23 Ebd., S. 115. 24 URL: http://www.uni-­bielefeld.de/bghs (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 25 URL: http://www.inter-­disciplines.de/index.php/indi (letzter Aufruf am 28. 10. 2018).

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Forschungsagenda ohne den „antikulturalistische[n] Affekt“ 26 früherer Arbeiten zu entwickeln. Mein Buch schließt an diese Überlegungen an, indem durch eine gleichzeitige Betrachtung von Strukturen, Handeln und Raum der Fokus wieder stärker auf die soziale Frage gerichtet wird, ohne die kulturgeschichtlich gewonnenen Erkenntnisfortschritte über Bord zu werfen. Von zentraler Bedeutung wird hierbei das Konzept des sozialen Raums sein.

1.2. Sozialer Raum Die Kategorie des „Raums“ gehört zweifellos zu den Aufsteigern der letzten Jahre unter den Forschungsfeldern der Geschichts- und Sozialwissenschaften. Der Spatial turn ist oft beschrieben worden und hat unseren Blick für zahlreiche gesellschaftliche Räume jenseits eines traditionellen Raumverständnisses geschärft.27 Zugleich ist er jedoch gerade in der Debatte unter Historikern teilweise etwas zu einem Label verkommen, indem man bei der, zweifellos wichtigen, Erkenntnis stehen bleibt, dass Räume nicht einfach sind, sondern von Menschen fortwährend gemacht werden – ohne jedoch hierüber hinausgehende, differenzierende Überlegungen anzustellen. Weiterführender erscheinen mir demgegenüber die Ansätze der Raumsoziologie. Namentlich im Rahmen des Forschungsschwerpunkts „Stadtforschung“ der Technischen Universität Darmstadt sind hochinteressante theoretische Überlegungen angestellt worden, die zunächst einmal auf eine neue Raumsoziologie abzielen, zugleich jedoch für die Geschichtswissenschaft fruchtbar gemacht werden können.28 26 Lenger, Friedrich/Süß, Dietmar, Soziale Ungleichheit in der Geschichte moderner Indus­ trie­gesellschaften, in: Archiv für Sozialgeschichte 54 (2014): Dimensionen sozialer Ungleichheit. Neue Perspektiven auf West- und Mitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert, S. 3 – 25, hier S. 13. 27 Vgl. für einen Überblick über den Forschungsstand Günzel, Stephan (Hg.), Lexikon der Raumphilosophie, Darmstadt 2012; ders. (Hg.), Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2010. Für den Bereich der Osteuropäischen Geschichte: Schenk, Frithjof ­Benjamin, Das Paradigma des Raumes in der Osteuropäischen Geschichte, in: Zeitenblicke 6 (2007), Nr. 2, URL: http://www.zeitenblicke.de/2007/2/schenk/index_html (letzter Aufruf am 28. 10. 2018), sowie als Beispiel für die Relevanz des Spatial Turn im Bereich der Forschung zur Frühen Neuzeit: Williamson, Fiona, The Spatial Turn of Social and Cultural History: A Review of the Current Field, in: European History Quarterly 44 (2014), No. 4, S. 703 – 717. 28 URL: http://www.proloewe.de/eigenlogik (letzter Aufruf am 28. 10. 2018).

Sozialer Raum

Gemeinsamer Ausgangspunkt der verschiedenen Projekte ist das Bestreben, den Dualismus z­ wischen Naturraum und Sozialraum zu überwinden, der die raumtheoretischen Forschungsdebatten lange dominiert hat. Idealtypisch zugespitzt standen sich hierbei zwei Auffassungen darüber gegenüber, wie Räume entstehen: Auf der einen Seite die Vertreter eines unter anderem von dem Geographen Friedrich Ratzel geprägten absoluten Raumbegriffs, die von einer Vorstellung des Raums als einem Container ausgehen, welcher zwar einerseits auf die in ihm befindlichen Objekte wirkt, seinerseits aber nicht von diesen beeinflusst werden kann; und am anderen Ende der Skala eine von Émile Durkheim und Georg Simmel begründete Forschungslinie eines relativen Raumbegriffs, die das Primat der sozialen Ordnung betont und physische Räume als Folge, nicht als Voraussetzung sozialer Organisation und Machtstrukturen begreift.29 Martina Löw hat demgegenüber einen von Anthony Giddens und Pierre Bourdieu ausgehenden, handlungstheoretisch fundierten Raumbegriff entwickelt, den sie als „relational“ 30 bezeichnet. Er basiert auf der Annahme, dass Räume von Menschen geschaffen, wahrgenommen und fortwährend neu konstituiert oder verändert werden. Raum ist nach d ­ iesem Verständnis eine „relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern“ 31 an bestimmten Orten. Der Dualismus z­ wischen Naturraum und Sozialraum wird damit zugunsten eines einzigen „sozialen Interaktionsraums“ 32 aufgehoben. In der Konsequenz bedeutet dies, dass es an einem Ort mehrere Räume geben kann, abhängig von der Perspektive der Handelnden, die sich jeweils den Raum aneignen, und dass sich dies nicht auf konkrete, physische Räume beschränkt, sondern auch nichtphysische Räume wie Assoziationen oder kognitive Karten umfasst. Löw knüpft damit an eine Unterscheidung an, die bereits Michel de Certeau getroffen hat, indem er einen „Ort“ als „momentane Konstellation von festen Punkten“ definierte und ihn vom „Raum“ abgrenzte, den er als „Geflecht

29 Vgl. hierzu neben den beiden genannten grundlegenden Publikationen von Günzel auch: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan (Hg.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main 2006. 30 Löw, Martina, Raumsoziologie, Frankfurt/Main 2001. 31 Ebd., S. 271. 32 Dünne, Jörg, Soziale Räume. Einleitung, in: Dünne/Günzel, Raumtheorie, S. 289 – 304, hier S. 302.

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von beweglichen Elementen“ 33 beschrieb. „Insgesamt“, so Certeau, „ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht [Hervorhebung im Original – H.-C. P.].“ 34 Martina Löw hat zudem zwei Begriffe eingeführt, w ­ elche die Konstituierung sozialer Räume beschreiben und damit analytisch fassbar machen: Spacing und Syntheseleistung. Unter Spacing versteht sie das Platzieren oder sich selbst Platzieren von sozialen Gütern und/oder Menschen im Raum, woraus dann die erwähnten „relationalen (An)Ordnungen“ entstehen. Diese (An)Ordnungen ergeben jedoch nach Löw noch keinen sozialen Raum – dies erfolgt erst dadurch, dass Menschen die (An)Ordnungen durch Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse zu einem Raum zusammenfassen. Letzteres bezeichnet sie als Syntheseleistung.35 Zugleich, und hieran gilt es meines Erachtens stärker zu erinnern, als dies in manchen kulturgeschichtlichen Arbeiten der Fall ist, findet die fortlaufende Konstituierung sozialer Räume nicht in einem luftleeren Raum statt. Räume werden durch die jeweils herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse maßgeblich mit strukturiert, und nicht alle Individuen haben die gleichen Möglichkeiten, mittels Spacing und Syntheseleistung an ihrer Gestaltung mitzuwirken. Auf den konkreten Ort der Stadt bezogen, folgt hieraus die Notwendigkeit danach zu fragen, welcher weiteren Voraussetzungen es außer der schlichten physischen Anwesenheit bedarf, um an der Konstituierung städtischer Räume tatsächlich teilhaben zu können: „Man kann durchaus ein Wohngebiet physisch belegen, ohne wirklich und im strengen Sinne darin zu wohnen; wenn man nämlich nicht über die stillschweigend geforderten Mittel dazu verfügt, angefangen mit einem bestimmten Habitus.“ 36 Zudem, und hierauf hat Markus Schroer überzeugend aufmerksam gemacht, sollte aus der Abkehr von einem Raumdeterminismus kein Raumvoluntarismus 33 Certeau, Michel de, Praktiken im Raum, in: Dünne/Günzel, Raumtheorie, S. 343 – 353 (Text ursprünglich von 1988), hier S. 345. Für einen Vergleich der Konzepte des sozialen Raums bei de Certeau und Bourdieu sei verwiesen auf Lippuner, Roland, Sozialer Raum und Praktiken: Elemente sozialwissenschaftlicher Topologie bei Pierre Bourdieu und Michel de Certeau, in: Günzel, Stephan (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 265 – 279. 34 Certeau, Praktiken im Raum, S. 345. 35 Vgl. Löw, Raumsoziologie, S. 158 f. 36 Bourdieu, Pierre, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Wentz, Martin (Hg.), Stadt-­Räume, Frankfurt/Main 1991, S. 25 – 34, hier S. 31.

„Zentrum“ und „Peripherie“

folgen.37 Auch wenn man Raum als etwas in beständiger Aushandlung Begriffenes versteht, so verlieren die entstehenden Räume noch nicht ihre Wirkung auf die in ihnen Handelnden. Räume sind Folgen von Handeln und Bedingungen des Handelns, durch die Bedeutungen und Wertigkeiten, die Menschen ihnen geben.38 Diese Feststellung wird im Folgenden aufgegriffen, indem ich neben der Konstituierung von Räumen im Sinne des relationalen Raumbegriffs von Martina Löw auch der Frage nachgehen werde, inwieweit sich zugleich von einer Wirkungsmächtigkeit bestimmter Räume sprechen lässt. Damit schließe ich mich der von Schroer getroffenen Feststellung an, dass es nicht darum gehen sollte, einen allein gültigen Raumbegriff zu finden, sondern dass es adäquater ist, dies von der jeweiligen Fragestellung abhängig zu machen. Die meisten Arbeiten, und dies gilt auch für die Untersuchung sozialer Räume in St. Petersburg, haben es mit einer Pluralität verschiedener Räume zu tun, weshalb es nur folgerichtig erscheint, ihre Analyse mit Hilfe verschiedener Raumkonzepte anzugehen.

1.3. „Zentrum“ und „Peripherie“ Wie bereits erwähnt, werden die Begriffe „Zentrum“ und „Peripherie“ im Rahmen dieser Studie nicht allein als geographische Größen verstanden. Ausgangspunkt ist vielmehr die Annahme, dass die Definition bestimmter Orte St. Petersburgs als „zentral“ oder „peripher“ das Ergebnis beständiger Aushandlungsprozesse war und somit fortlaufender Veränderung unterlag. Zudem knüpfe ich an die Feststellung Markus Schroers an, dass „Zentrum“ und „Peripherie“ keine neu­ tralen Begriffe darstellen, sondern „mit eindeutigen Wertungen“ 39 behaftet sind: Im „Zentrum“ findet sich demnach das Wesentliche, das eine Stadt ausmacht, während die „Peripherie“ als randständig erscheint. 37 Vgl. Schroer, Markus, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt/Main 2006, hier S. 175, sowie ders., „Bringing space back in“. Zur Relevanz des Raums als soziologische Kategorie, in: Döring, Jörg/Thielmann, Tristan (Hg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, S. 125 – 149, hier S. 137. 38 Vgl. in d ­ iesem Sinne neben Schroer auch: Gunn, Simon, The Spatial Turn. Changing Histories of Space and Place, in: Identities in space. Contested Terrains in the Western City since 1850. Edited by Simon Gunn and Robert J. Morris, Aldershot 2001, S. 1 – 15. 39 Schroer, Räume, Orte, Grenzen, S. 241.

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Für das Zentrum-­Peripherie-­Konzept, das zu Zeiten des Kalten Kriegs wesentlich durch Edward Shils geprägt wurde,40 bedeutet dies, dass die Begriffe im Folgenden nicht affirmativ verwandt werden, sondern als relationale Kategorien, die durch Interaktionen verschiedener Gruppen hervorgebracht werden. Manolis Patiniotis hat, im Anschluss an Studien der Postcolonial Studies, für den Bereich der Wissenschaftsgeschichte ein vergleichbares Vorgehen vorgeschlagen: Anstelle des nach wie vor weitverbreiteten Modells einer Dichotomie von „Zentrum“ und „Peripherie“ spricht er sich für das Konzept der appropriation aus – appropriaton im Sinne der aktiven Aneignung der aus dem „Zentrum“ kommenden Konzepte durch die „Peripherie“. Zugleich fordert er eine verstärkte Fokussierung auf lokale Kontexte ein, in denen die agency der vermeintlich „peripheren“ Akteure sichtbar wird.41 Es geht mithin um den, wie Christof Dejung und Martin Lengwiler dies in ihren konzeptionellen Überlegungen zur Begründung der Reihe, in der die vorliegende Arbeit erscheint, formulieren, „verstärkten Einbezug der europäischen Binnenperipherien in die Europäische Geschichte“ in dem Sinne, dass die Begriffe selbst als „Argument[e] zur Gewinnung der Deutungshoheit“ 42 verstanden werden und ihre alltägliche Hervorbringung zum Gegenstand der Analyse gemacht wird. Um dies an einem Beispiel kurz zu illustrieren: Ein Ort wie der Heumarkt (Sennaja ploščad‘), dem der Ruf eines sozialen Brennpunkts und einer ‚Brutstätte‘ für Epidemien anhaftete, befand sich infolge des Wachstums der Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr am Rande, sondern mitten in St. Petersburg, nur wenige Gehminuten vom Nevskij prospekt entfernt. In der öffentlichen Meinung der damaligen Zeit handelte es sich um eine „Peripherie“ im Zentrum, um einen ‚dunklen‘ Ort auf der mental map der „imaginäre[n] Geographie des ‚anderen Petersburgs“ 43. Beließe man es bei dieser Charakterisierung, 40 Shils, Edward, Centre and Periphery, in: The Logic of Personal Knowledge. Essays Presented to Michael Polanyi on his Seventienth Birthday 11th March 1961, London 1961, S. 117 – 131. 41 Vgl. Patinoitis, Manolis, Between the Local and the Global: History of Science in the European Periphery Meets Post-­Colonial Studies, in: Centaurus 55 (2013), S. 361 – 384. 42 Dejung, Christof/Lengwiler, Martin, Einleitung: Ränder der Moderne. Neue Perspektiven auf die Europäische Geschichte, in: Dies. (Hg.), Ränder der Moderne. Neue Perspektiven auf die Europäische Geschichte (1800 – 1930), Köln, Weimar, Wien 2016, S. 7 – 37, hier S. 26. Vgl. hierzu auch das Themenheft: Journal of Contemporary European History 25 (2017), 4: City Margins, City Memories. 43 Jahn, Hubertus F., Armes Russland. Bettler und Notleidende in der russischen Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart, Paderborn u. a. 2010, S. 122.

„Zentrum“ und „Peripherie“

dann bliebe die Frage ausgeblendet, ­welche Bedeutung der Heumarkt für die Menschen gehabt haben könnte, die regelmäßig diesen Ort aufsuchten. Eine ­solche Perspektive, bei der marginalisierte Räume mit einem ‚Minuszeichen’ versehen werden, ohne nach ihren Binnenstrukturen zu fragen, ist von Loïc Wacquant treffend als „Exotisierung des Ghettos“ 44 kritisiert worden. Sie übersieht, dass auch an und in den Rändern Machtstrukturen entstehen, dass es dort Selbstorganisation und umkämpfte Räume gibt. Möchte man nicht bei solchen äußerlichen Zuschreibungen verharren, sollten die vermeintlich klaren Grenzen ­zwischen „Innen“ und „Außen“, ­zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ nicht unhinterfragt übernommen, sondern selbst zum Gegenstand der Analyse gemacht werden: Die Homogenität der Viertel entsteht durch den Blick von außen, dem die inneren Differenzierungen entgehen. […] Die Behauptung der Homogenität täuscht über die individuellen Schicksale und die Differenzen hinweg, die sich hinter den allgemeinen Bildern von homogenen Stadtvierteln verbergen. Wenn man die Mühe nicht scheut, näher hinzusehen, erfährt man dagegen, wie wenig die Bilder, die wir uns von benachteiligten Wohngebieten, Ghettos, Favelas und Banlieus machen, mit den Realitäten ihrer Bewohner zu tun haben.45

Dies bedeutet nicht, die gesellschaftlichen Ungleichheiten zu relativieren und in einem möglichst bunten Panorama verschwinden zu lassen. Vielmehr wird es mir im Sinne Wacquants darum gehen, die aktive Auseinandersetzung mit diesen Ungleichheiten mittels kultureller und sozialer Praktiken ‚von unten‘ sichtbar zu machen und damit den Blick auf die Heterogenität und Individualität hinter den Fassaden zu werfen: 44 Wacquant, Loïc J., Drei irreführende Prämissen bei der Untersuchung der amerikanischen Ghettos, in: Heitmeyer, Wilhelm/Dollase, Rainer/Backes, Otto (Hg.), Die Krise der Städte. Analysen zu den Folgen desintegrativer Stadtentwicklung für das ethnisch-­kulturelle Zusammenleben, Frankfurt/Main 1998, S. 194 – 211, hier S. 203. Ich folge der Diagnose der „Exotisierung“, während ansonsten zu betonen ist, dass „Ghetto“ und „Slum“ keine synonymen Begriffe darstellen und ich im folgenden Abschnitt noch erläutern werde, warum ich im Rahmen dieser Arbeit von „Slums“ (und nicht von „Ghetti“) sprechen werde. Die Problematisierung der Beschreibung bestimmter Stadtviertel als soziale Brennpunkte ist auch Gegenstand der Habilitationsschrift von Christiane Reinecke (Leipzig). Vgl. u. a. dies., Localising the Social: The Rediscovery of Urban Poverty in Western European ‚Affluent Societies‘, in: Contemporary European History 24 (2015), S. 555 – 576. 45 Schroer, Räume, Orte, Grenzen, S. 249 f.

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Die Ghettobewohner müssen folglich als Handelnde erkannt und näher beschrieben werden, so dass ihre Gewohnheiten und Lebensformen nicht nur als Derivate von Zwängen auftauchen, die sich ‚automatisch‘ an den strukturellen Bedingungen ‚ablesen‘ lassen, sondern als das Produkt ihrer aktiven Auseinandersetzung mit den externen und internen sozialen Kräften, die ihre Welt durchkreuzen und formen.46

Es geht mithin um das, was Henri Lefèbvre als das „Recht auf Stadt“ bezeichnet hat. Lefèbvre sprach von dem „Recht auf Stadt“ als einem „Recht auf Nichtausschluss“ 47, auf Nichtausschluss sowohl von der Nutzung konkreter städtischer Räume als auch von den mit der Stadt verbundenen sozialen Verhältnissen und Praktiken. Es wird in d ­ iesem Sinne danach zu fragen sein, in welchem Maß die armen Bewohner St. Petersburgs ein solches „Recht auf Stadt“ überhaupt einfordern konnten und wollten, und in welcher Form sie dies gegebenenfalls taten.

1.4. „Slums“ und „Unterschichten“ Um die Exotisierung marginalisierter Räume und Menschen nicht fortzuschreiben, bedarf es der Differenzierung, beginnend bei der Sprache und den Begriffen, mit denen wir die uns umgebende Welt beschreiben. „Ghetti“ sind nicht identisch mit „Slums“, worauf Loïc Wacquant überzeugend hingewiesen hat. Auf der Basis seiner jahrzehntelangen Forschungen zu US -amerikanischen Ghetti und französischen Banlieues definiert er das Ghetto „as a spatially based implement of ethnoracial closure“ und verweist darauf, „that not all ghettos are

46 Wacquant, Drei irreführende Prämissen, S. 203. Als wichtige Pionierstudien in d ­ iesem Bereich ­seien genannt: Bourdieu, Pierre u. a., La misère du monde, Paris 1993; Wacquant, Loïc, Body & Soul: Notebooks of an Apprentice Boxer, Oxford 2004. Vgl. hierzu auch den Forschungsbericht von Sighard Neckel: Zwischen Robert E. Park und Pierre ­Bourdieu: Eine dritte „Chicago School“?, in: Soziale Welt 48 (1997), H. 1, S. 71 – 85. Ein sehr pointiertes Plädoyer, sich den städtischen Unterschichten mittels der Analyse sozialer Praktiken anzunähern, bietet mit Blick auf Russland auch: Gerasimov, Ilya V., The Subalterns Speak Out. Urban Plebeian Society in Late Imperial Russia, in: Petersen, Spaces of the Poor, S. 47 – 7 1. 47 Lefèbvre, La révolution urbaine, Paris 1970, S. 199. Vgl. auch ders., Le droit à la ville, Paris 1968.

„Slums“ und „Unterschichten“

poor and not all poor areas are (inside) ghettos.“ 48 Hieran anschließend werde ich im Folgenden bestimmte Orte St. Petersburgs wie die berühmt-­berüchtigte Vjazemskaja lavra am Heumarkt oder „Vasjas Dorf “ auf der Vasilij-­Insel nicht als „Ghetti“, sondern als „Slums“ bezeichnen, verstanden als Orte, an denen sich die städtische Armut konzentrierte. Für „Slum“ gibt es mit „Truščoba“ eine zeitgenössische russische Entsprechung. „Truščoba“ meint ursprünglich einen dichten, schwer zugänglichen Wald, ein Dickicht. Später trat die Bedeutung „Einöde, abgelegener Winkel“ hinzu.49 Beide Inhalte entsprachen damit zentralen Charakteristika des Bildes, das man sich auch in Russland gemeinhin von städtischen Armutsvierteln machte: Sie lagen vermeintlich weit ab vom Zentrum, und sie waren die ‚dunklen‘ Ecken der Stadt, die man als ‚normaler‘ Bewohner der Stadt üblicherweise nicht betrat und nicht durchdringen konnte. Zum Synonym für „Slum“ avancierte „Truščoba“ im Zuge der Rezeption des englischen Diskurses über die urban poor, deren Orte in London und anderen Städten seit den 1840er Jahren als „Slums“ bezeichnet wurden.50 Das Erscheinen des voluminösen Texts Peterburgskie truščoby (Petersburger Slums) von Vsevolod Krestovskij 51 markierte ab 1864 den Beginn der Popularisierung des Begriffs in der russischen Öffentlichkeit. Schaurige und obszöne Geschichten über das ‚andere‘ Petersburg entwickelten sich ebenso wie in west- und mitteleuropäischen Metropolen zu einem einträglichen Geschäft,

48 Wacquant, Loïc, A Janus-­Faced Institution of Ethnoracial Closure. A Sociological Specification of the Ghetto, in: The Ghetto. Contemporary Global Issues and Controversies. Edited by Bruce D. Haynes and Ray Hutchison, Boulder, Colorado 2012, S. 1 – 33, hier S. 10. 49 Vgl. Šanskij, N. M.,/Borbova, T. A., Škol’nyj ėtimologičeskij slovar‘ russkogo jazyka. ­Proizchoždenie slov, 7-e izd., Moskva 2004, URL: http://www.slovorod.ru/etym-­shansky/ shan-­t.htm (letzter Aufruf am 28. 10. 2018); Ožegov, S. I./Švedova, N. Ju., Tolkovyj slovar‘ russkogo jazyka. 2-e izd., ispr. i dop., Moskva 1994, S. 803. 50 Vgl. Dyos, Harold J., The Slums of Victorian London, in: Victorian Studies 11, 1 (1967), S. 5 – 40; Jones, Gareth Stedman, Outcast London. A Study in the Relationship between Classes in Victorian Society, Oxford 1971; Gaskell, Martin (Hg.), Slums, Leicester et al. 1990; Green, David R., From Artisans to Paupers. Economic Change and Poverty in London, 1790 – 1870, Aldershot, Brookfield 1995. Zur russischen Rezeption auch Buckler, Julie A., Mapping St. Petersburg. Imperial Text and Cityshape, Princeton, Oxford 2005, S. 171 – 179. 51 Das Werk erschien zunächst in Fortsetzung in der Zeitschrift Otečestvennye zapiski. Zugleich wurde es mehrfach als Monographie herausgegeben, zuletzt vor wenigen ­Jahren: Krestovskij, Vsevolod V., Peterburgskie truščoby. Kniga o sytych i golodnych. Polnoe izdanie v odnom tome, Moskva 2011.

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Bücher wie Mir truščobnyj (Welt der Slums) von Aleksej Svirskij 52 oder Novyja peterburgskija truščoby (Neue Petersburger Slums) von Jurij Angarov 53 waren ebenso wie die zahlreichen Artikel in der lokalen Presse Teil des Slumming 54, bei dem ‚die Armen‘ ‚entdeckt‘, vermarktet und dem ‚besseren‘ Teil der Bevölkerung zur Unterhaltung präsentiert wurden. Unabhängig vom Sensationsstreben, das solchen Werken zugrunde lag, bezog sich der Begriff jedoch auf real existierende Orte in St. Petersburg, für die mit „Truščoba“ nun eine etablierte Bezeichnung existierte. Zugleich war der Terminus „Slum“ seit seinem Aufkommen im London der 1840er Jahre kein neutraler Begriff, sondern transportierte stets auch moralische (Ab)Wertungen. Slums waren nicht nur Orte größter Armut, sondern auch ‚Ansammlungen‘ der moralisch ‚verfallenen‘ Teile der Gesellschaft, die als ‚undeserving poor‘ außerhalb der übrigen Gemeinschaft standen und von d ­ ieser keine Hilfe mehr zu erwarten hatten.55 Zu Recht hat Alan Gilbert deshalb ­darauf hingewiesen, dass Begriffen gerade beim Sprechen über Armut und die von ihr betroffenen Menschen eine Bedeutung zukommt.56 Begriffe wie „Slum“ sind

52 Svirskij, Aleksej, Pogibšie ljudi. 3 Bände, hier Band 1: Mir truščobnyj, Sankt-­Peterburg 1898. 53 Angarov, Jurij, Novyja peterburgskija truščoby: Očerki stoličnoj žizni, vyp. 1 – 4, Sankt-­ Peterburg 1909 – 1910. 54 Der Begriff wurde im Viktorianischen England geprägt. Vgl. Koven, Seth, Slumming. Sexual and Social Politics in Victorian London, Princeton 2006; Schwarz, Werner Michael/Szeless, Margarethe/Wögenstein, Lisa (Hg.), Ganz unten. Die Entdeckung des Elends. Wien, Berlin, London, Paris, New York. 338. Sonderausstellung des Wien Museums, Wien 2007; Lindner, Rolf, Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung, Frankfurt a. M. 2004. Für St. Petersburg hat Hubertus Jahn in seiner Habilitationsschrift diesen Prozess der ‚Entdeckung‘ der urban poor nachgezeichnet: Jahn, Armes Russland. Zur nach wie vor aktuellen Relevanz des Slumming liegt jetzt der folgende Band vor: Slum Tourism. Poverty, Power and Ethics. Edited by Fabian Frenzel, Ko Koens and Malte Steinbrink, Abingdon, New York 2012. Er ist im Rahmen des inzwischen abgeschlossenen Forschungsprojekts „Slumming. Forschungsprojekt zum städtischen Armutstourismus im globalen Süden“ am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIS ) der Universität Osnabrück entstanden. URL : https://www.imis.uni-­osnabrueck.de/forschung/abgeschlossene_projekte/slumming. html (letzter Aufruf am28. 10. 2018). 55 Vgl. hierzu u. a. Lindner, Walks on the Wild Side; Koven, Slumming; Davis, Mike, Planet der Slums, Berlin 2007, S. 25 – 27. 56 Vgl. Gilbert, Alan, The Return of the Slum. Does Language Matter?, in: International Journal of Urban and Regional Research 31, 4 (1997), S. 697 – 7 13.

„Slums“ und „Unterschichten“

prädestiniert für politische Instrumentalisierungen – erwähnt ­seien nur die ‚slum clearances‘ als vermeintliche ‚Lösungen‘ des Problems, sei es im viktorianischen London des 19. Jahrhunderts 57 oder im Rio de Janeiro unserer Tage, wo mit Blick auf die Fußball-­Weltmeisterschaft 2014 sowie die Olympischen Spiele 2016 die Favelas durch Polizei und Militär ‚gesäubert‘ wurden.58 Dass der Terminus trotz seiner problematischen Etymologie in dieser Arbeit Verwendung findet, ist dem Umstand geschuldet, dass er de facto die allgemein gängige Beschreibung für eine städtische Konzentration größter Armut darstellt. Dies gilt sowohl historisch als auch heute und ist auch nicht auf den englischsprachigen Bereich begrenzt, wie das Beispiel „Truščoba“ zeigt. Einer Perpetuierung der dem Begriff inhärenten Wertigkeiten soll damit jedoch nicht das Wort geredet werden. Ich werde dies vielmehr zum Anlass nehmen, hinter die vermeintlich eindeutige Fassade der Slums zu schauen.59 Ein zweiter für die Arbeit zentraler Begriff ist der der „Unterschichten“, in ­diesem Fall der städtischen Unterschichten in St. Petersburg in einem Zeitraum von 1850 bis 1914. Auch dieser Terminus stellt eine „Vermischung von sozialen und moralischen Kriterien“ 60 dar und beinhaltet ebenso wie „Slum“ seit dem 19. Jahrhundert eine Grenzziehung z­ wischen den ‚deserving‘ und den ‚­ undeserving poor‘, z­ wischen einer nach Anerkennung strebenden Arbeiterschaft und dem Lumpenproletariat als dem ‚Bodensatz‘ der Gesellschaft. Im Kontext der internationalen Forschung hat sich der Begriff dennoch etabliert – als „städtische Unterschichten“ im deutschsprachigen Bereich,61 als „urban poor“ oder „lower 57 Vgl. Yelling, James Alfred, Slums and Slum Clearance in Victorian London, London u. a. 1986; Allen, Michelle, Cleansing the City. Sanitary Geographies in Victorian London, Ohio 2008. 58 Vgl. u. a. Gibson, Owen/Watts, Jonathan, World Cup: Rio favelas being ‘socially cleansed’ in runup to sporting events, in: The Guardian, 05. 12. 2013, URL: http://www.theguardian. com/world/2013/dec/05/world-­cup-­favelas-­socially-­cleansed-­olympics (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 59 Vgl. hierzu auch, mit einer Reihe weiterer internationaler Fallbeispiele: Petersen, Spaces of the Poor. 60 Lindner, Rolf, „Unterschicht“. Eine Gespensterdebatte, in: Ders./Musner, Lutz, Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der Armen in Geschichte und Gegenwart, Freiburg u. a. 2008, S. 9 – 19, hier S. 11. 61 So etwa bei Jahn, Armes Russland; Rustemeyer, Angelika/Siebert, Diana, Alltagsgeschichte der unteren Schichten (1861 – 1914). Kommentierte Bibliographie zeitgenössischer Titel und Bericht über die Forschung, Stuttgart 1997, oder auch bei Goehrke, Carsten, Russischer

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classes“ in der englischsprachigen Forschung 62 und als „gorodskaja bednota“ oder „gorodskie nizy“ in russischen Publikationen.63 In ­diesem Sinne, als Analysekategorie, findet er auch in dieser Arbeit Verwendung. Wer aber waren in den Städten Russlands und insbesondere in St. Petersburg zur Zeit der Urbanisierung und Industrialisierung die urban poor? Ginge man von einem absoluten Armutsbegriff aus, müsste man für einen bestimmten Zeitpunkt für die gesamte Stadt oder Teile derselben ein absolutes Existenz­ minimum festlegen und alle, die mit dem ihnen zur Verfügung Stehenden unter dieser Grenze liegen, als Arme fassen. Nur – was bedeutet dies forschungspraktisch für eine Arbeit, die nicht nur mehrere, sehr heterogene Räume in den Blick nimmt, sondern auch einen Zeitraum von gut 60 Jahren umfasst? Und zudem mit den Jahrzehnten von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des ­Ersten Weltkriegs eine Zeitspanne, die von massiven Änderungen der Sozialstruktur sowie der politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen durchzogen ist? Annegret Bautz hat in ihrer Arbeit über den Wandel städtischer Fürsorge in St. Petersburg die verschiedenen Schwierigkeiten, die beim Versuch einer solchen Definition entstehen, deutlich gemacht:64 Eine entsprechende Statistik, die man als Datengrundlage heranziehen könnte, existierte russlandweit erst ab den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts – nämlich erst im Zuge des Wahrnehmungswandels der Armutsfrage seitens der staatlichen Stellen. Zudem erfassten diese Statistiken nur diejenigen Personen als „arm“, die in den zu ­diesem Zeitpunkt bestehenden Wohlfahrtseinrichtungen versorgt wurden – womit maßgebliche Teile der Bevölkerung nicht erreicht wurden (etwa die auf der Straße lebenden Bettler) und entsprechend nicht in der Statistik auftauchten. Zwar wurden im Jahr 1900 in einer Erhebung des Kuratoriums der Einrichtungen der Kaiserin Maria Fedorovna (Vedomstvo Alltag. Eine Geschichte in neun Zeitbildern vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. 3 Bde, Zürich 2003 – 2005. 62 Vgl. u. a. Neuberger, Joan, Hooliganism. Crime, Culture, and Power in St. Petersburg, 1900 – 1914, Berkeley u. a. 1993; Frank, Stephen P./Steinberg, Mark D., Cultures in Flux. Lower-­ Class Values, Practices and Resistance in Late Imperial Russia, Princeton, New Jersey 1994. 63 Vgl. etwa Mironov, Boris, Social’naja istorija Rossii perioda imperii (XVIII-načalo XX v.). 2 toma. 3-e izd., ispr., dop., Sankt-­Peterburg 2003; Moiseev, Vladimir V., Istorija Rosii. Učebnik, Moskva 2014. 64 Bautz, Annegret, Sozialpolitik statt Wohltätigkeit? Der Konzeptionswandel städtischer Fürsorge in St. Petersburg von 1892 bis 1914, Wiesbaden 2007.

„Slums“ und „Unterschichten“

učreždenij Imperatricy Marii), einer seit Nikolaus I. bestehenden zarischen Verwaltungsinstitution verschiedener Wohlfahrtseinrichtungen,65 auch die Bettler unter die Zahl der Bedürftigen subsumiert – weitere statistische Annäherungen an eine adäquate Erfassung der Armutsproblematik erfolgten bis zum Ende des Zarenreichs jedoch nicht mehr. Dies macht es sehr schwierig, die Gruppe der „Unterschichten“ in einer handhabbaren Weise einzugrenzen, zumal weitere Probleme durch das Spannungsverhältnis z­ wischen ständischen Kategorien und sozialer Realität entstehen.66 Nicht nur in St. Petersburg waren die Grenzen, wer wann unter oder knapp über einem errechneten Existenzminimum lag, fließend. Erfasst wurden hiervon zeitweise oder auch dauerhaft weite Teile der Bauern sowie der meščane, die um 1900 zusammen über 80 % und 1917 bereits mehr als 85 % der Gesamtbevölkerung der Hauptstadt stellten 67 – womit deutlich wird, dass Armut kein alleiniges Problem einer einigermaßen 65 Vgl. zur Person Maria Fedorovnas die Biographie von Marianna Butenschön: Maria, Kaiserin von Russland. Die Württembergerin auf dem Zarenthron, Darmstadt 2015. Zur Geschichte der Wohltätigkeit in Russland u. a. Lindenmeyr, Adele, Poverty Is Not a Vice. Charity, Society, and the State in Imperial Russia, Princeton 1996; Pavlova, Irina P., Social’noe popečenie v Rossii v konce XIX -načalo XX veka, Krasnojarsk 2003. Zu St. Petersburg, neben der Arbeit von Bautz, auch Pavlova, Olga K., Predprinimatel’stvo, prizrenie i blagotvoritel’nost’ v Sankt-­Peterburge. Vtoraja polovina XIX-načalo XX vekov, Sankt-­Peterburg 2007. 66 Vgl. aus der langjährigen Forschungsdiskussion hierzu u. a. Freeze, Gregory, The Soslovie (Estate) Paradigm and Russian Social History, in: American Historical Review 91 (1986), S. 11 – 36; Rieber, Alfred J., Sedimentary Society, in: Russian History 16 (1989), No. 1 – 4, No. 353 – 376; Schmidt, Christoph, Ständerecht und Standeswechsel in Russland 1851 – 1897, Wiesbaden 1994; Confino, Michael, The „Soslovie“ (Estate) Paradigm; Reflections on some open questions, in: Cahiers du Monde russe 49 (2008), No. 4, S. 681 – 699. 67 Vgl. Bautz, Sozialpolitik statt Wohltätigkeit?, S. 84, sowie Solov’ev, Valerij, Social’naja istorija Sankt-­Peterburga, Sankt-­Peterburg 2007, S. 155 f. Der Begriff meščane besaß als Bezeichnung für die unterprivilegierten Stadtbewohner eine pejorative Bedeutung und wird durch das in deutschsprachigen Arbeiten häufig als Übersetzung verwandte „Kleinbürger“ nicht wirklich adäquat wiedergegeben. Vgl. zu den Schwierigkeiten, die meščane sozialhistorisch zu fassen und eine Entsprechung für den Terminus zu finden: Hildermeier, Manfred, Was war das meščanstvo? Zur rechtlichen und sozialen Verfassung des unteren städtischen Standes in Russland, in: Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte 36 (1985), S. 15 – 33; Schmidt, Ständerecht und Standeswechsel, S. 128 – 139: Kaplunovskij, Aleksandr, Meščanskaja obščina, in: Zorin, Aleksandr N. u. a., (Hg.), Očerki gorodskogo byta dorevoljucionnogo Povolž’ja. Ul’janovsk 2000, S. 294 – 4 16.

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klar abgrenzbaren Personengruppe, wie etwa Bettlern oder Prostituierten, war, sondern ein Massenphänomen, unter das potentiell der größte Teil der Stadtbewohner fiel oder zumindest fallen konnte.68 St. Petersburg steht damit exemplarisch für die russlandweite Schwierigkeit, einen Begriff wie den der „lower classes“ auch nur einigermaßen zu fassen. Dementsprechend müsste man sich entweder auf eine Untergruppe der Unterschichten konzentrieren, etwa die Lebenswelten der Prostituierten 69, der Dienstboten 70 oder der Bettler 71 – oder, und dass ist der Ansatz dieser Arbeit, man wählt einen Zugang über den städtischen Raum. Wie bereits erwähnt, werde ich mich hierbei auch, aber nicht nur auf die vom Senator Ableuchov so gefürchteten geographischen ‚Peripherien‘ konzentrieren, sondern diesseits und jenseits der Neva nach Orten suchen, die für die arme Bevölkerung Petersburgs wichtig waren, und danach fragen, inwieweit sie soziale Räume der ‚kleinen Leute‘ darstellten.

68 Vgl. hierzu auch Steindorff, Ludwig, „Ein Mensch ist nicht deswegen arm, weil er nichts hat, sondern weil er nicht arbeitet.“ Wandlungen in der Einstellung zur Armut in Russland (18. – 20. Jahrhundert), in: Christiana Albertina. Forschungen und Berichte aus der Christian-­Albrechts-­Universität zu Kiel 52/53 (2001), S. 26 – 43, hier insbesondere S. 36 f. 69 So u. a. Stites, Richard, Prostitute and Society in Pre-­Revolutionary Russia, in: ­Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, N. F., 31 (1983), H. 3, S. 348 – 364; Engel, Barbara Alpern, St. Petersburg Prostitutes in the Late Nineteenth Century. A Personal and Social Profile, in: Russian Review 48 (1989), No. 1, S. 21 – 44; Bernstein, Laurie, Sonia’s Daughters. ­Prostitutes and Their Regulation in Imperial Russia, Berkeley u. a. 1995; Lebina, Natal’ja B./Škarovskij, Michail V., Prostitucija v Peterburge: 40-e gg. XIX v.-40-e gg. XX v., Moskva 1994; Fieseler, Beate, „Stell’ Dich doch auf den Nevskij“. Prostitution im Russland des 19. Jahrhunderts, in: Osteuropa 56 (2006), H. 6, S. 285 – 301. 70 Vgl. Angelika Rustemeyer, Dienstboten in Petersburg und Moskau, 1861 – 1917. Hintergrund, Alltag und soziale Rolle, Stuttgart 1996. 71 Vgl. hierzu v. a. die Arbeiten von Hubertus Jahn, neben der bereits erwähnten Monographie von 2010 u. a.: Bettler in St. Petersburg. Gedanken zur kulturellen Konstruktion sozialer Realität, in: Hausmann, Guido (Hg.), Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreiches, Göttingen 2002, S. 433 – 447; Ders., Das St. Petersburger Bettlerkomitee, 1837 – 1917, in: Althammer, Beate (Hg.), Bettler in der europäischen Stadt der Moderne. Zwischen Barmherzigkeit, Repression und Sozialreform, Frankfurt/Main u. a. 2007, S. 91 – 113.

Ort und Zeitraum

1.5. Ort und Zeitraum Schauplatz meiner Untersuchung wird St. Petersburg sein. Die 1703 von Peter I. unter dem Namen Sankt-­Piter-­Burch begründete Festung im Nordwesten des Russischen Reichs entwickelte sich neben Moskau rasch zur zweiten Metropole des Imperiums. Ebenso wie andere russische Städte erlebte die schon bald in St. Petersburg umbenannte Ansiedlung in Folge der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 und der beschleunigten Industrialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts einen rasanten Bevölkerungsanstieg. So vervierfachte sich ­zwischen 1850 und 1914 die Zahl der Einwohner und lag zu Beginn des ­Ersten Weltkriegs bei über 2,2 Millionen.72 Was die Stadt an der Neva von anderen urbanen Zentren des Zarenreichs unterschied, war ihre innen- und außenpolitische Funktion: Als Haupt- und Residenzstadt bildete sie das administrative Zentrum des Reichs und fungierte zugleich als das von Karl Schlögel beschriebene „Laboratorium der Moderne“ 73, in dem neue Ideen und soziale Utopien umgesetzt werden sollten. Dementsprechend zeigten sich die Veränderungen der Moderne im russischen Kontext zuerst und am deutlichsten in St. Petersburg, und dies gilt auch für die zunehmende Verschärfung der sozialen Frage ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zugleich folgt aus der herausgehobenen innen- und außenpolitische Funktion St. Petersburgs, das sich die an seinem Beispiel gewonnenen Erkenntnisse nur bedingt auf andere russische Städte übertragen lassen, sieht man einmal von Moskau ab. Die beiden Metropolen waren bis zu einem gewissen Grad die Ausnahmen, und ihre Entwicklungen ähneln teilweise eher denen mittel- und westeuropäischer Metropolen. Eine vergleichende (oder gar

72 Die Literatur zur Geschichte St. Petersburgs ist deutlich zu umfangreich, um sie hier auch nur halbwegs angemessen darstellen zu können. Verwiesen sei deshalb auf die von der Russischen Nationalbibliothek herausgegebene, fortlaufende Bibliographie: Literatura o Peterburge. Bibliografičeskij ukazatel‘ knig, žurnal’nych i gazetnych statej na russkom jazyke, Sankt-­Peterburg 1987 ff., sowie auf die entsprechende Online-­Datenbank, URL: Ėlektronnye katalogi Rossijskoj nacional’noj biblioteki. Literatura o Sankt-­Peterburge: http://www.nlr.ru/rlin/SPB_IBO.php (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). Als neuere westsprachliche Einführung in die Geschichte der Stadt sei zudem genannt: Kusber, Jan, Kleine Geschichte St. Petersburgs, Regensburg 2009. Die wichtigsten Arbeiten für meine Untersuchung werden im folgenden Abschnitt skizziert. 73 Schlögel, Petersburg.

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verflechtungsgeschichtliche), gesamteuropäische Betrachtung der Städte im Westen wie im Osten Europas blieb jedoch lange ein Desiderat der Forschung, auch wenn sie wiederholt eingefordert wurde. So hat etwa Andreas R. Hofmann mit Blick auf fehlende komparative Untersuchungen zur Wohnungsfrage darauf hingewiesen, dass es „wenig fruchtbar“ sei, per se von dem „verbreiteten, aber wenig erkenntnisfördernden Theorem der ‚Entwicklungsverspätung‘ als vermeintlichem Spezifikum Ost- und Ostmitteleuropas auszugehen. Dies gilt gerade auch für die empirische Bestandsaufnahme der Wohn- und Lebensverhältnisse des städtischen Proletariats: Bei näherer Betrachtung waren die Unterschiede ­zwischen Ost und West wohl eher gradueller als qualitativer Art […].“ 74 Und auch Jürgen Osterhammel gelangte in seiner Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts zu der Schlussfolgerung, dass Dichotomien zu statisch s­ eien und dass es „interessanter [ist], danach zu fragen, wie die Zwecke von Städten unter spezifischen Umständen angestrebt und erreicht wurden, als von vornherein kulturell jeweils eigentümliche Morphologien anzunehmen.“ 75 Inzwischen hat sich d ­ ieses Bild ein Stück weit gewandelt. Es liegen nicht nur grundlegende Arbeiten vor, in denen Stadtgeschichte aus einer europä­ ischen oder globalhistorischen Perspektive betrachtet wird,76 sondern auch 74 Hofmann, Andreas R., Von der Spekulation zur Intervention. Formen des Arbeiterwohnungsbaus in Janatková Alena/ Kosińska-­Witt, Hanna (Hg.), Lodz und Brünn vor und nach dem ­Ersten Weltkrieg, in: Wohnen in der Großstadt 1900 – 1939. Wohnsituation und Modernisierung im europäischen Vergleich, Stuttgart 2006, S. 225 – 249, hier S. 226. 75 Osterhammel, Jürgen, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2011, S. 357. Ebenfalls in ­diesem Sinne: Schubert, Dirk, Mythos „europäische Stadt“. Zur notwendigen Kontextualisierung eines umstrittenen Begriffs, in: Die alte Stadt 28 (2001), No. 4, S. 271 – 290. Der klassische Text zur Typologisierung von Städten stammt bekanntermaßen von Max Weber: Nippel, Wilfried (Hg.), Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass, Teilband 5: Die Stadt, Tübingen 1999 (erstmals erschienen 1921). Russland und das gesamte östliche Europa stellen bei Weber ­zwischen der „okzidentalen“ und der „orientalen“ Stadt allerdings weitgehend eine Leerstelle dar, trotz seiner ansonsten eingehenden Beschäftigung mit der Geschichte des russischen Konstitutionalismus sowie der Revolution von 1905. Vgl. hierzu Dahlmann, Dittmar, Max Weber und Russland, in: Dahlmann, Dittmar/Potthoff, Wilfried (Hg.), Deutschland und Russland. Aspekte kultureller und wissenschaftlicher Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Wiesbaden 2004, S. 253 – 276. 76 Die Forschungsstelle Vergleichende Stadtforschung der Universität Hamburg legte erstmals 1978, und dann in deutlich erweiterter Form 1985, eine umfangreiche Untersuchung

Ort und Zeitraum

Studien, die den Blick auf die Aneignung städtischer Räume an den urbanen ‚Peripherien‘ richten 77 – mithin also Fragestellungen verfolgen, wie sie auch zur Stadtentwicklung in kapitalistischen und realsozialistischen Ländern vor: Friedrichs, Jürgen (Hg.), Stadtentwicklungen in West- und Osteuropa, Berlin, New York 1985. Sie verblieb jedoch auf einer strukturellen Ebene und kam entsprechend zu der bekannten Feststellung einer „verspäteten“ Entwicklung der osteuropäischen Städte (ebd., S. 132). Als russisches Beispiel wurde hierbei Moskau ausgewählt. Eine erste, instruktive Einbettung St. Petersburgs in die Reihe europäischer Metropolen bot dann Zimmermann, Clemens, Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, 2. Auflage, Frankfurt/Main 2000. Allerdings stehen die die Skizzen der verschiedenen Städte eher additiv nebeneinander, so dass keine wirklich vergleichende Perspektive eröffnet wurde. Genannt ­seien zudem Ruble, Blair A., Second Metropolis. Pragmatic Pluralism in Gilded Age Chicago, Silver Age Moscow, and Miji Osaka, Washington 2001; Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006). Rahmenthema „Integration und Fragmentierung in der europäischen Stadt“. Die im Themenheft des AfS behandelten Beispiele beschränken sich auf west- und mittel­europäische Beispiele, konzeptionell lag der Fokus auf der kommunalen Sozialpolitik und philanthropischen Initiativen. Vgl. zur Anlage des Bandes Saldern, Adelheid von, Integration und Fragmentierung in europäischen Städten. Zur Geschichte eines aktuellen Themas, in: ebd., S. 3 – 60; Roth, Ralf (Hg.), Städte im europäischen Raum. Verkehr, Kommunikation und Urbanität im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 2009; The Oxford Handbook of Cities in World History. Edited by Peter Clark, Oxford 2013; Lenger, Friedrich, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013. Lenger nimmt eine tatsächlich gesamteuropäische Perspektive ein, auch wenn er sich hinsichtlich der russischen Städte auf die deutsch- und englischsprachige Literatur beschränkt. The Cambridge World History. Volume VII: Production, destruction, and Connection. 1750–Present. Part 2: Shared Transformations? Edited by J. R. McNeill and Kenneth Pomeranz, Cambridge 2015, sowie, aus der Perspektive der Imperial History, den Tagungsbericht von Laura Ritter: Imperial Cities. The Tsarist Empire, the Habsburg Empire and the Ottoman Empire in Comparison, 26. 04. 2018 – 27. 04. 2018 Moscow, in: H-Soz-­Kult, 11. 07. 2018, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-7780 (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 77 Genannt ­seien für Wien Maderthaner, Wolfgang/Musner, Lutz, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900, 2. Aufl., Frankfurt/Main, New York 2000; für London Davis, Jennifer, Jennings’ Buildings and the Royal Borough. The construction of the underclass in mid-­Victorian England, in: Metropolis London. Histories and representations since 1800. Edited by David Feldman and Gareth Stedman Jones, London, New York 1989, S. 11 – 40. Nach wie vor grundlegend: Stedman Jones, Gareth, Outcast London. A Study in the Relationship between Classes in Victorian Society, Oxford 1971; ebenfalls sehr instruktiv für eine Geschichte Londons ‘from below’: White, Jerry, London in the Nineteenth Century. ‘A Human Awful Wonder of God’, London 2008. Aktuell arbeitet zudem Ole Münch (Konstanz) an seiner Dissertation über „Die soziale Organisation des Lumpenhandels im frühviktorianischen London – migrantische Sozialstrukturen“.

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für den Kontext dieser Arbeit zentral sind. Entsprechende Überlegungen, ­hieran anknüpfend St. Petersburg in einem breiteren Kontext, etwa gemeinsam mit Wien und London, in den Blick zu nehmen, habe ich für den Rahmen dieser Arbeit aus zeitökonomischen Gründen wieder verworfen – das Buch würde dann sicher heute nicht gedruckt vorliegen. Das Potential einer solchen übergreifenden Stadtgeschichte ‚von unten‘ soll jedoch zumindest an einigen Punkten exemplarisch skizziert werden. Denn so unterschiedlich die strukturellen Herausforderungen, vor denen die armen Bewohner der Städte standen, bei genauerer Betrachtung auch gewesen sein mögen – überall mussten sich die Menschen doch zu den sie umgebenden Strukturen verhalten. Wie groß die Unterschiede oder Ähnlichkeiten in ihrem Handeln ausfielen, ist eine Frage, der nachzugehen auch zukünftig und über St. Petersburg h ­ inaus lohnenswert erscheint. Den zeitlichen Rahmen des Buches bilden die Jahre 1850 und 1914. Dieser Untersuchungszeitraum ermöglicht es, das Thema in einer Phase der rasanten Urbanisierung und über mehrere zentrale politische Ereignisse hinweg zu verfolgen. Genannt ­seien nur die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861, die Stadtreform Alexanders II . 1870, in deren Folge unter anderem die Armenfürsorge als Teil städtischer Wohlfahrt in kommunale Verantwortung überging, die Stadtreform Alexanders III . 1892 und die erste russische Revolution 1905.78 Den zeitlichen Schlusspunkt markiert das Jahr 1914. Der Erste Weltkrieg, die Februarrevolution 1917 und der ‚rote Oktober‘ führten zu so grundlegenden Veränderungen im städtischen Gefüge, dass die Untersuchung auf die Zeit bis zum Beginn dieser Umwälzungen begrenzt wurde. Dem räumlichen Ansatz entsprechend, gliedert sich die Arbeit entlang bestimmter Orte. Stadtviertel ‚diesseits‘ und ‚jenseits des Flusses‘, verschiedene Formen des Wohnens sowie die Märkte St. Petersburgs werden als zentrale Punkte des Lebens der städtischen Unterschichten näher in den Blick genommen. Die Analyse erfolgt hierbei jeweils auf zwei Ebenen: Auf der Ebene Struktur und Raum wird die sozialräumliche Entwicklung beleuchtet und danach Vgl. von ihm die Vorabstudie: Henry Mayhew and the Street Traders of Victorian ­London. A Cultural Exchange with Material Consequences, in: The London Journal, DOI : http://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/030580 34. 2017.1333761 (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 78 Vgl. hierzu, mit dem Fokus auf St. Petersburg: Surh, Gerald D., 1905 in St. Petersburg. Labor, Society, and Revolution, Stanford, California 1989.

Forschungsstand und Quellen

gefragt, wie und warum sich diese Orte im Betrachtungszeitraum strukturell veränderten. Hierauf aufbauend, werden diese Entwicklungen dann jeweils im Anschluss ‚von unten‘ betrachtet (Handeln und Raum): Reportagen, Stellungnahmen, Erinnerungen und Eingaben werden daraufhin untersucht, was wir aus ihnen über die Sicht der Bewohner dieser Orte erfahren können. Gab es eine aktive Auseinandersetzung der Angehörigen der städtischen Unterschichten mit ihrer marginalisierten Position, und wenn ja, in welcher Form? Ist es gerechtfertigt, von „sozialen Räumen“ zu sprechen, die sich die Menschen trotz ihrer prekären Situation geschaffen haben? Auf diese Weise sollen Struktur und Handeln im städtischen Raum zusammengeführt und in ihrer gegenseitigen Bedingtheit beleuchtet werden.

1.6. Forschungsstand und Quellen Als ein klassisches Feld der „alten“ Sozialgeschichte (um in der Unterscheidung von Cornelißen zu bleiben) kann sicherlich die Geschichte der Industrialisierung und Urbanisierung bezeichnet werden. Ausgehend von der Annahme, dass sich gesellschaftliche Prozesse wie unter einem Brennglas zuerst und in schärferer Ausprägung in den Städten ablesen lassen, sind Legionen von Studien zum Wachstum der Städte, zur Entwicklung der in ihnen lebenden Bevölkerung und der hiermit zusammenhängenden sozialen Frage entstanden. Der geographische Schwerpunkt lag hierbei jedoch lange, wie erwähnt, auf Westeuropa, vor allem auf Großbritannien, wohingegen die Stadtgeschichte des östlichen Europas erst in den 1970er und 80er-­Jahren eine breitere Aufmerksamkeit der westlichen Forschung erfuhr.79 Zugleich existiert eine umfangreiche sowjetische Historiographie, die sich eingehend mit den sozialen Gegensätzen in den Zentren des ausgehenden Zarenreichs befasst hat und der auch heute noch viele wertvolle Informationen zu entnehmen sind, die jedoch zugleich in der Regel mit den 79 Bater, James H., St. Petersburg. Industrialization and Change, London 1976; Bradley, Jospeh R., Muzhik and Muscovite. Urbanization in Late Imperial Russia, Berkeley 1985; Hamm, Michael, The City in Late Imperial Russia, Bloomington 1986; Hildermeier, M ­ anfred, Bürgertum und Stadt in Russland 1760 – 1870. Rechtliche Lage und soziale Struktur, Köln 1986; Brower, Daniel R., The Russian City between Tradition and Modernity, Berkeley 1990. Vor allem die Arbeit von Bater besitzt für die Geschichte St. Petersburgs in der Zeit der Industrialisierung fundamentalen Charakter.

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der marxistisch-­leninistischen Ideologie eigenen kollektivistischen und teleologischen Interpretamenten behaftet ist.80 Seit 1991 hat die Stadtgeschichtsforschung zum Russischen Imperium einen deutlichen Aufschwung erlebt, für den hier nur stellvertretend das Stichwort der „lokalen Gesellschaft“ genannt sei.81 Guido Hausmann 82, Lutz Häfner 83, Kirsten Bönker 84 und andere haben Entwicklungen zivilgesellschaftlicher Strukturen in Gestalt einer liberalen lokalen Öffentlichkeit und städtischer Selbstverwaltung aufgezeigt und damit Dietrich Geyers für das 18. Jahrhundert getroffenem Diktum von der russischen Gesellschaft als einer „staatlichen Veranstaltung“ 85 das Bild einer Gesellschaft als „lokale Veranstaltung“ entgegengesetzt. So wichtig und begrüßenswert diese Diskussion zweifellos war und ist, so klar ist auch, dass sie sich lediglich auf einen kleinen Ausschnitt der städtischen Bevölkerung des Imperiums bezieht. An der Formierung einer lokalen Gesellschaft in Form von Stadtdumen, Pressewesen und bürgerlicher Repräsentation nahmen nur wenige Prozent der Bewohner der Städte teil – der Großteil der Einwohner gerät bei einer solchen Perspektive weitgehend aus dem Blickfeld bzw. erscheint, wenn überhaupt, nur als Objekt und Empfänger bürgerlicher Wohltätigkeit. Letztendlich wurde auf diese Weise noch einmal der von Daniel R. Brower bereits 1986 getroffene Befund der „dual city“ 86 80 Vgl. zu St. Petersburg u. a. Kruze, Ė., Rabočee dviženie v Petrograde v 1912 – 1917 gg. Dokumenty i materialy, Leningrad 1958; Ders., Peterburgskie rabočie 1912 – 1914 gg., Moskva, Leningrad 1961; Semanov, S., Peterburgskie rabočie nakanune pervoj russkoj revoljucii, Moskva, Leningrad 1966. 81 Einen ausführlichen Forschungsbericht bis zum Jahr 2005 bietet: Küntzel-­Witt, Kristina, Eine Renaissance. Stadtgeschichte(n) des vorrevolutionären Russlands, 2006, URL: https:// epub.ub.uni-­muenchen.de/788/ (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 82 Hausmann, Guido, Universität und städtische Gesellschaft in Odessa, 1856 – 1917. Soziale und nationale Selbstorganisation an der Peripherie des Zarenreiches, Stuttgart 1998; Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung. 83 Häfner, Lutz, Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Die Wolgastädte Kazan‘ und Saratov 1870 – 1914, Köln 2004. 84 Bönker, Kirsten, Jenseits der Metropolen. Öffentlichkeit und Lokalpolitik im Gouvernement Saratov (1890 – 1914), Köln u. a. 2010. 85 Geyer, Dietrich, „Gesellschaft“ als staatliche Veranstaltung. Bemerkungen zur Sozialgeschichte der russischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 14 (1966), H. 1, S. 21 – 50. 86 Brower, Daniel R., Urban Revolution in the Late Russian Empire, in: Hamm, The City in Late Imperial Russia, S. 319 – 353, hier S. 341.

Forschungsstand und Quellen

bekräftigt, demzufolge die Städte des Russischen Reichs im Zuge ihres rasanten Wachstums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend in ein reiches, modernes, ‚helles‘ Zentrum einerseits sowie die armen, von bäuerlichen Traditionen geprägten, ‚dunklen‘ Ränder andererseits zerfallen s­ eien. Offen blieb aber nach wie vor, was innerhalb der Ränder geschah, und inwieweit deren Bewohner die Grenzen z­ wischen ‚hellen‘ und ‚dunklen‘ Stadtteilen möglicherweise durch ihr Handeln überwanden. Damit soll nicht gesagt sein, dass es keine Studien zu den Petersburger Unterschichten gäbe. Neben den bereits genannten Arbeiten sind vor allem jene Publi­ kationen zu nennen, die das Agieren und das Selbstverständnis der Arbeiter und, wenn auch in geringerem Maße, der Arbeiterinnen in den Fabriken in den Blick nehmen.87 Nach wie vor gibt es aber kaum Untersuchungen zur Wahrnehmung und Aneignung des städtischen Raums durch die Angehörigen der unteren Schichten jenseits der Fabriktore.88 Die 1990 von Heiko Hamann für 87 Vgl. u. a. Zelnik, Reginald, Labor and Society in Tsarist Russia. The Factory Workers of St. Petersburg, 1855 – 1870, Stanford Calif. 1971; Bonnell, Victoria E., Roots of Rebellion. Worker’s Politics and Organizations in St. Petersburg and Moscow, 1900 – 1914, Berkeley 1983; Bonnell, Victoria E. (Hg.), The Russian Worker. Life and Labor under the Tsarist Regime, Los Angeles 1983; Glickman, Rose L., Russian Factory Women. Workplace and Society, 1880 – 1914, Berkeley u. a. 1984; Steffens, Thomas, Die Arbeiter von St. Petersburg 1907 bis 1914. Soziale Lage, Organisation und spontaner Protest ­zwischen zwei Revolutionen, Freiburg 1985; Steinberg, Mark D., Moral Communities. The Culture of Class Relations in the Russian Printing Industry 1876 – 1907, Berkeley 1992; Engel, Barbara Alpern, Between the Fields and the City. Women, Work, and Family in Russia, 1861 – 1914, Cambridge 1994. ­Darüber hinaus existiert ein reichhaltiger Fundus an Erhebungen zur Lage der Arbeiter aus der frühen Sowjetzeit. Diese Untersuchungen waren jedoch als Längsschnittforschungen angelegt, deren Fokus auf dem Allgemeinen und Übergreifenden, und damit gerade nicht auf dem individuellen Selbstverständnis und Handeln der betreffenden Personen lag. Vgl. hierzu Haumann, Heiko, „Ich habe gedacht, dass die Arbeiter in den Städten besser leben“. Arbeiter bäuerlicher Herkunft in der Industrialisierung des Zarenreiches und der frühen Sowjetunion, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 43 (1993), H. 1, S. 42 – 60. 88 Eine immer wieder zitierte Ausnahme stellen die von Reginald Zelnik edierten Aufzeichnungen Semen Kanačikovs dar: Zelnik, Reginald E. (Hg.), A Radical Worker in Tsarist Russia. The Autobiography of Semen Ivanovich Kanatchikov, Stanford, Calif. 1986. Zu nennen sind in ­diesem Kontext zudem Neuberger, Hooliganism; Frank/­Steinberg, Cultures in Flux; Goehrke, Russischer Alltag; Rustemeyer, Dienstboten, sowie der Aufsatz von David Sittler, der die Bedeutung der Aneignung der Straße, insbesondere des Nevskij prospekt, durch demonstrierende Arbeiter beschrieben hat: Sittler, David, Die Straße als politische Arena und Medium der Masse. St. Petersburg 1870 – 1917, in: Geschke,

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Einleitung

die in St. Petersburg ankommenden ‚Bauern-­Arbeiter‘ getroffene Feststellung, dass „über die Probleme, die für die Zuwanderer beim Zurechtfinden in einer fremden Umgebung und bei der Umstellung auf neue Arbeitsverhältnisse entstanden, […] kaum etwas bekannt“ 89 ist, trifft nach wie vor zu. Dies ist nicht nur eine Folge der schwierigen Quellenlage – die Zahl der überlieferten Ego-­Dokumente zum Leben der urban poor in den russischen Städten lässt sich „an den Fingern abzählen“ 90 – sondern auch eine Frage der Perspektive. Während die bäuerliche Autobiographik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ‚entdeckt‘ wurde und aufgrund ihrer vermeintlichen ‚Ursprünglichkeit‘ als Stimme des ‚anderen‘, ‚wahren‘ Lebens ihre Verleger fand,91 galt die Welt der städtischen Unterschichten als „banal, minderwertig und dreckig“ 92, mithin einer näheren Betrachtung nicht wert. Über die politischen und historiographischen Umbrüche hinweg hat sich an d ­ iesem Forschungsdesiderat bis heute nichts Grundlegendes geändert. Einige neuere Publikationen, die für den Kontext dieser Arbeit wichtig sind, ­seien genannt. Hinsichtlich der Baugeschichte St. Petersburgs stellt die äußerst dichte und die gesamten drei Jahrhunderte seit der Stadtgründung umfassende Dissertation von Sergej Semencov das maßgebliche Werk dar.93 Als nicht minder informativ erwiesen sich die Arbeiten von Valerija Nardova über die Petersburger Stadtduma von 1846 bis 1918,94 von Anna Suchorukova über die (Nicht) thematisierung der Wohnungsfrage in den Debatten der städtischen Duma um

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Sandra Maria (Hg.), Straße als kultureller Aktionsraum. Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes an der Schnittstelle z­ wischen ­Theorie und Praxis, Wiesbaden 2009, S. 111 – 142. Haumann, Heiko, Konfliktlagen und Konflikte ­zwischen Stadt und Land. Ein Vergleich von vier Regionen im östlichen Europa (1850 – 1917), in: Hardtwig, Wolfgang/Tenfelde, Klaus (Hg.), Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich 1850 bis 1933, München 1990, S. 17 – 37, hier S. 30. Rejtblat, A[bram] I., N. I. Svešnikov. Knigotorgovec, memuarist, p’janica, in: S­ vešnikov, ­N[ikolaj], Vospominanija propaščego čeloveka, Moskva 1996 (erstmals 1896/97 in Istoričeskij Vestnik), S. 5 – 13, hier S. 5. Vgl. hierzu jetzt die Arbeit von Julia Herzberg, Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik ­zwischen Zarenreich und Sowjetunion, Bielefeld 2013. Rejtblat, N. I. Svešnikov. Knigotorgovec, memuarist, p’janica, S. 5. Semencov, Sergej, Gradostroitel’noe razvitie Sankt-­Peterburga v 1703 – 2000-e gody. Unveröffentlichte Dissertation, 2 Bde, Sankt-­Peterburg 2007. Nardova, Valerija, Peterburgskaja gorodskaja duma, 1846 – 1918, Sankt-­Peterburg 2005.

Forschungsstand und Quellen

die Jahrhundertwende 95 sowie das auf einer Dissertation an der Russischen Akademie der Wissenschaften beruhende Buch von Ekaterina Juchneva über die Petersburger Mietshäuser.96 Für die noch weitgehend unerforschte Geschichte der Märkte St. Petersburgs bietet das anschauliche Bändchen von Ljudmila P ­ rocaj 97 einen guten Einstieg, und Zoja Jurkova hat vor wenigen Jahren eine Monographie zur wechselvollen Geschichte des Petersburger Heumarkts vorgelegt.98 Aus dem Bereich der neueren westsprachlichen Forschung sei der auf eine Sommerschule der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius zurückgehende Band Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte erwähnt, der 2007 erschien und zahlreiche Beiträge zur Geschichte des städtischen Raums beinhaltet, auch wenn die Räume der städtischen Unterschichten nur am Rande thematisiert werden.99 Im gleichen Jahr publizierte Monica Rüthers unter dem Obertitel Moskau bauen ihre Habilitationsschrift.100 Am Beispiel der Entwicklung öffentlicher Räume in Moskau in der Zeit von Lenin bis Chruschtschow illustrierte sie höchst instruktiv das Potential der analytischen Kategorie des „Raums“. Rüthers ging hierbei vom relationalen Raumbegriff Martina Löws aus und betrachtete mit Märkten und Höfen auch Orte der ‚kleinen Leute‘, wie sie ebenso für den Kontext dieser Arbeit zentral sein werden. Und 2010 erschien Armes Russland, die bereits erwähnte Druckfassung der Habilitationsschrift von Hubertus Jahn.101 Jahns Aufmerksamkeit gilt der Untersuchung von Armut und Bettelei als „Objekte[n] sozialer Imagination“ 102, also der Frage nach der Wahrnehmung, D ­ arstellung

95 Suchorukova, Anna, Peterburgskaja gorodskaja duma i problemy gradostroitel’stva v konce XIX-načale XX veka. Unveröffentlichte Dissertation, Sankt-­Peterburg 2000. 96 Juchneva, Ekaterina, Peterburgskie dochodnye doma. Očerki iz istorii byta. Izdanie 3-e, ispravlenoe i dopolnennoe, Moskva, Sankt-­Peterburg 2012. 97 Procaj, Ljudmila, Rynki Peterburga. Konec XIX-načalo XX veka, Sankt-­Peterburg 2005. 98 Jurkova, Zoja, Sennaja ploščad‘. Včera, segodnja, zavtra, Moskva, Sankt-­Peterburg 2011. Die wörtliche Übersetzung lautet „Heuplatz“. Im Deutschen hat sich jedoch die Bezeichnung „Heumarkt“ etabliert. 99 Schlögel, Karl/Schenk, Frithjof Benjamin/Ackeret, Markus (Hg.), Sankt Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, Frankfurt/Main, New York 2007. Am ehesten findet eine Perspektive ‚von unten‘ in den Artikeln über das Wohnen in der Stadt (Julia Obertreis und Ilja Utechin) Berücksichtigung. 100 Rüthers, Monica, Moskau bauen von Lenin bis Chruščev. Öffentliche Räume z­ wischen Utopie, Terror und Alltag, Wien, Köln, Weimar 2007. 101 Jahn, Armes Russland. 102 Ebd., S. 16.

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Einleitung

und Klassifizierung von Armen in verschiedenen historischen Kontexten, mit einem Schwerpunkt auf St. Petersburg im ausgehenden 19. Jahrhundert. Jahn wählte damit einen ähnlichen Ansatz wie Julie Buckler, die in ihrer Studie Mapping St. Petersburg 103 den Zusammenhang z­ wischen dem Schreiben über die Stadt und der Gestalt derselben untersuchte und hierbei auch auf das Literary slumming einging. Beide Studien sind für die vorliegende Arbeit zweifellos von großer Bedeutung, auch wenn die marginalisierten Räume aus einer anderen Perspektive betrachtet werden. 2011 erschien Mark Steinbergs Studie über das Petersburg des Fin de Siècle.104 Steinberg thematisiert den sich in den Petersburger Zeitungen artikulierenden Diskurs über die Zeit der Jahrhundertwende als eine Zeit des Verfalls, der Gewalt und der Niedergangs. Er beschreibt somit in erster Linie die Perspektiven eines gebildeten, künstlerisch-­intellektuellen Publikums, zugleich enthält sein Buch aber auch eine ganze Reihe von Beobachtungen zu alltäglichen Räumen der ‚kleinen Leute‘, etwa zur Straße oder zur Nacht, die auch für meine Arbeit wertvoll sind. Die Quellen, auf denen die folgenden Ausführungen basieren, umfassen Publikationen, Zeitschriften, Zeitungen und Karten sowie archivalische Dokumente. Für die erste Ebene der Arbeit, Struktur und Raum, erwiesen sich die fortlaufenden Berichte über die Sitzungen der Petersburger Duma (Izvestija Sankt-­Peterburgskoj gorodskoj obščej dumy, ISPGOD ) als äußerst informativ, zumal sie den Zeitraum von 1863 bis 1914 vollständig abdecken. Auch eingedenk der Tatsache, dass Protokolle keine neutrale Wiedergabe der Parlamentsdebatten darstellen, sondern ihrer Publikation ein Entscheidungsprozess vorausgeht, was überhaupt und in welcher Form veröffentlich wird, und vieles somit nicht dokumentiert ist, lässt sich den Berichten der Duma doch sehr viel über die ‚peripheren‘ Räume der Stadt entnehmen, da sie zugleich eine Vielzahl an Eingaben der Bewohner der betroffenen Stadtteile beinhalten. Des Weiteren habe ich Zeitschriften auf Berichte über die ‚dunklen‘ Ecken Petersburgs durchgesehen, darunter das liberale Periodikum „Städtische Angelegenheiten“ (Gorodskoe delo), den „Wohlfahrtsboten“ (Vestnik blagotvoritel’nosti) sowie das „Archiv für Gerichtsmedizin und öffentliche Hygiene“ (Archiv sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny), das (unter wechselnden Namen) über einen Zeitraum 103 Buckler, Mapping St. Petersburg. 104 Steinberg, Mark, Petersburg. Fin de Siècle, New Haven, London 2011.

Forschungsstand und Quellen

von 1865 bis 1917 erschien. Hinzu kommt eine Auswertung der lokalen Presse. Zeitungen wie das „Petersburger Blatt“ (Peterburgskij listok) bieten einen guten Einblick in das städtische Alltagsleben und stellen zudem mit Blick auf ihre ungleich größere Verbreitung eine interessante Quelle dar. In Kombination mit weiteren zeitgenössischen Publikationen, in denen zum Teil äußert detailliert und bis in jedes Haus hinein über die armen Räume der Stadt berichtet wird, entstanden mosaikartig Gesamtbilder, vor allem über die Wohnungsproblematik und über die Veränderung der Märkte Petersburgs. Hinzu kommen die Ergebnisse meiner Recherchen im Russischen Historischen Staatsarchiv (Rossijskij gosudarstvennyj istoričeskij archiv, RGIA ), im Petersburger Stadtarchiv (Central’nyj gosudarstvennyj istoričeskij archiv Sankt-­ Peterburga, CGIA SPb) sowie in der Bibliothek und im Archiv des Petersburger Instituts für Geschichte der Akademie der Wissenschaften (Rossijskaja Akademija Nauk, Sankt-­Peterburgskij institut istorii, RAN II). Anhand der vorhandenen Akten lassen sich Entscheidungsprozesse und Maßnahmen nachvollziehen, an denen von zentralstaatlichen Einrichtungen wie dem Innenministerium über die Organe der lokalen städtischen Selbstverwaltung bis hin zu mit spezi­fischen Fragen der stadträumlichen Entwicklung befassten Gremien wie der Sanitärkommission und der vor Ort eingesetzten Polizei eine Vielzahl von Insti­tutionen beteiligt waren. Im RGIA erwiesen sich vor allem die Bestände 218 (Hauptverwaltung für Verkehrswege und öffentliche Gebäude), 1248 (Sonderamt für Zwangsenteignungen von Grundstücken beim Staatsrat), 1287 (Haushalts­abteilung des Innenministeriums) und 1293 (Baukomitee des Innenministeriums) als sehr ergiebig. Während das RGIA in seinem neuen Gebäude hervorragende Arbeitsbedingungen bietet, gestaltete sich dies beim CGIA ungleich schwieriger. Die zu kleinen Räumlichkeiten sowie die häufigen und oft kurzfristig erfolgenden Schließungen des Archivs ließen eine Nutzung der dortigen Bestände nur sehr bedingt zu. Das ist sehr bedauerlich – verfügt das CGIA doch über hochinte­ ressante Bestände, darunter die Unterlagen mehrerer Gesellschaften, die um den Bau billiger Wohnungen und Nachtasyle bemüht waren, sowie die im Fonds 513 aufbewahrten Akten der Petersburger Stadtverwaltung, die in Kombination mit den Berichten der Petersburger Duma für weitere Einblicke in die Wege städtischer Entscheidungsfindungen zweifellos wichtig gewesen wären. Ich habe mich bemüht, die Schätze des CGIA so weit als möglich zu heben. Grundsätzlich wird sich an dem für alle Seiten unbefriedigenden Zustand wohl erst nach einem Umzug in ein neues Gebäude etwas ändern.

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Einleitung

Weiterhin werden Karten, stadträumliche Planungen und zeitgenössische Abbildungen Verwendung finden. Vor allem in der Abteilung für Kartographie der Russischen Nationalbibliothek lagert diesbezüglich vielfältiges und aussagekräftiges Material, anhand dessen sich sowohl die Entwicklung der Stadt insgesamt als auch spezifische Aspekte wie etwa die Lage der Märkte verfolgen lassen. Damit ist bereits die zweite Ebene der Arbeit, Handeln und Raum, berührt. Die hierfür von mir ausgewerteten Quellen werde ich in den einzelnen Kapiteln eingehend thematisieren – führt doch die Frage, was wir überhaupt, und wenn, aus w ­ elchen Quellen, über das Leben der urban poor St. Petersburgs sagen können, bereits mitten in das Thema hinein. Dies gilt nicht nur für die häufig sehr dünne Überlieferung, sondern auch für die Bilder und Stereotype, die über ‚die Armen‘ existier(t)en und die Perspektive vieler Quellen prägen. ­Hubertus Jahn  105 und Mark Steinberg 106 haben in ihren erwähnten Arbeiten deutlich gemacht, in welchem Ausmaß die ‚dunklen‘ Gegenden der Stadt immer auch „Objekte sozialer Imagination“ 107 waren und in einem kolonialistischen Diskurs als ‚das Andere‘ ‚entdeckt‘ und vermarktet wurden. Vor d ­ iesem Hinter­ grund habe ich mich nicht nur aufgrund der schwierigen Quellenlage, sondern auch aus erkenntnistheoretischen Überlegungen dafür entschieden, eine Auswahl unterschiedlicher Dokumente heranzuziehen – von Reportagen und Stellungnahmen bis hin zu Eingaben und Erinnerungen der armen Bewohner der Stadt. Diese bewusste Vielfalt an Quellen ermöglicht neben den aus ihnen zu gewinnenden Informationen zugleich eine Reflektion darüber, wie nah wir den marginalisierten Räumen der Stadt auf ­welchen Wegen kommen können, und wo die Grenzen einer solchen Annäherung liegen.

105 Jahn, Armes Russland. 106 Steinberg, Petersburg. Fin de Siècle. 107 Jahn, Armes Russland, S. 16.

2. St. Petersburg 1850 – 1914: Zentrum und Peripherien „Im 19. Jahrhundert, so hat man oft gesagt, wurde die Stadt ‚modern‘, und die ‚Moderne‘ entstand in der Stadt.“ 1 Diese Feststellung nimmt Jürgen ­Osterhammel zum Ausgangspunkt, in seiner Geschichte des 19. Jahrhunderts danach zu fragen, w ­ elche Punkte in einer globalen Perspektive und vor dem heutigen Forschungsstand als essentiell für die Entstehung städtischer Modernität benannt werden können. Insgesamt führt er, neben der rein quantitativen Ausdehnung, acht Prozesse an, die aus der Stadt im ‚langen‘ 19. Jahrhundert eine moderne Stadt werden ließen.2 Neben solchen, die sich auf einer global-­vergleichenden Ebene bewegen (wachsende Diskrepanzen in Städtewachstum und Urbanisierungsgrad; eine größere Diversifizierung der unterschiedlichen Stadttypen; die Entstehung eines Weltstädtesystems ­zwischen den globalen Metropolen) sowie zwei Punkten, die auf die Stadt als „lokale Gesellschaft“ der gebildeten Eliten abzielen (eine neue städtische Öffentlichkeit; neue Diskurse über Urbanität) nennt er drei Charakteristika, die eng mit den hier interessierenden Fragestellungen verknüpft sind: Einen historisch beispiellosen Infrastrukturausbau, der dazu geführt habe, dass die Städte „zum Ende des Jahrhunderts hin sauberer und heller“ geworden s­ eien; die Kommerzialisierung des städtischen Grundbesitzes, in deren Folge städtischer Grund und Boden zur „Vermögensanlage“ und zum „Spekulationsobjekt“ wurde, sowie die Entstehung eines „munizipiale[n] Planungswille[ns]“, um, wenn auch oft vergeblich, zu versuchen, die rasanten Veränderungsprozesse zu steuern. Wie modern war St. Petersburg nach dieser Definition um das Jahr 1850, und wo stand die Stadt 1914? Und was bedeutete dies für die städtischen Unterschichten und ihre Orte in der Stadt? Die folgenden Ausführungen sollen Antworten auf diese Fragen geben – ausgehend von einer Skizzierung der allgemeinen sozialräumlichen Entwicklung der Stadt an der Neva.3

1 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 365. 2 Alle folgenden Punkte sowie Zitate ebd., S. 362 – 365. 3 Bei der Umschrift aus dem kyrillischen Alphabet verwende ich im Folgenden die wissenschaftliche Transliteration, mit der Ausnahme im Deutschen eingebürgerter Schreibweisen wie „Fjodor Dostojewskij“ oder „Datscha“. Die Datierung erfolgt nach dem julianischen

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St. Petersburg 1850 – 1914: Zentrum und Peripherien

2.1. Ausbau und Ungleichheiten Die gängige Narration der Urbanisierungsgeschichte Russlands ist die einer verspäteten Entwicklung – und auf einer strukturellen Ebene gibt es hierfür auch nach wie vor gültige, gute Argumente. Urbanisierung im Sinne von Verstädterung setzte im Russischen Reich in Gestalt eines rasanten städtischen Wachstums erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein, und damit deutlich später als im Westen Europas. Zudem blieb die von Daniel Brower beschriebene „urbane Revolution“ 4 auf einige administrative und industrielle Zentren beschränkt, auch wenn die Stadtbevölkerung von 328.000 bzw. 3 % der Gesamtbevölkerung im Jahr 1724 über 3,5 Millionen (7,8 %) 1851 auf 26,8 Millionen (15 %) 1914 anwuchs.5 Russland blieb in der Fläche ein Agrarland, auch wenn sich die am Ende des 19. Jahrhunderts rapide verlaufende Industrialisierung nicht ausschließlich in Städten manifestierte, sondern ein gewichtiger Teil zu Industrieansiedlungen auf dem Land führte, die keinen Stadtstatus besaßen.6 Zudem verlief die Urbanisierung im russischen Kontext sehr ungleich: Während Moskau und St. Petersburg 1913 zusammen rund vier Millionen Menschen beherbergten, lagen die nächstgrößeren Städte des Reiches wie Kiew, Riga und Odessa deutlich unter der Millionengrenze.7 Als reichsweit entscheidende Veränderung wird allgemein die Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 angesehen, in deren Folge im gesamten Land Bauern, und in einem deutlich geringeren Ausmaß Bäuerinnen, auf der Suche nach Arbeit in die Städte gingen. 1897

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Kalender, der für das 19. Jahrhundert zwölf Tage und für das beginnende 20. Jahrhundert 13 Tage hinter dem gregorianischen Kalender lag. Brower, Urban Revolution. Vgl. Bohn, Thomas M., Urbanisierung, in: Bohn, Thomas M./Neutatz, Dietmar (Hg.), Studienhandbuch Östliches Europa. Bd. 2: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion, Köln u. a. 2002, S. 282 – 289, hier S. 283. Vgl. hierzu u. a. Hildermeier, Manfred, Industrialisierung, sozialer Wandel und Rückständigkeit, in: Schramm, Gottfried (Hg.), Handbuch der Geschichte Russlands. Band 3: 1856 – 1945. Von den autokratischen Reformen zum Sowjetstaat. Erster Halbband, Stuttgart 1983, S. 102 – 145; Haumann, Heiko, Geschichte Russlands, zweite, überarbeitete Ausgabe, Zürich 2003, S. 258 – 262. Sowohl Hildermeier als auch Hausmann betonen zudem die entscheidende Rolle des Staats als Motor der Industrialisierung. Zum Leben in den Industriesiedlungen: Goehrke, Russischer Alltag, Bd. 2: Auf dem Weg in die Moderne, Zürich 2003, S. 292 – 302. Vgl. hierzu die entsprechenden Beiträge in Hamm, The City in Late Imperial Russia.

Ausbau und Ungleichheiten

gehörten 6,5 Millionen bzw. knapp 39 % der Stadtbewohner der ständischen Kategorie der Bauern an.8 Während diese quantitativen Eckdaten einer gegenüber dem Westen ‚verspäteten‘ Entwicklung weitgehend unstrittig sind, gibt es erhebliche Differenzen darüber, wie dieser Prozess auf einer qualitativen Ebene verlief. Die dominierende Erzählung beschreibt eine ‚Ruralisierung‘ der Stadt durch die mehrheitlich ­zwischen Stadt und Land pendelnden Bauern und Bäuerinnen. Und zweifellos gab es fortwirkende Bindungen der „Bauern-­Arbeiter“ 9 an ihre Dorfgemeinde (Mir, Obščina), genannt sei nur der Umstand, dass die Gemeinde darüber entschied, wer überhaupt in die Stadt gehen durfte, und dass sie es war, die die hierfür notwendigen Pässe ausstellte und verlängerte. Bedeutet dies aber zugleich, dass eine Stadt wie St. Petersburg eine „Bauernmetropole“ 10 blieb, und dass, wie Jörg Baberowski apodiktisch behauptet, die 6,5 Millionen Menschen, die am Ende des 19. Jahrhunderts formal als Bauern in den Städten des Russischen Reichs lebten, keinerlei Bindung an ihre neue Umwelt entwickelten, sondern sich wie ein Fremdkörper durch die Städte bewegten und unverändert ihr ländliches Leben fortführten? Daniel Brower hat bereits 1990 dafür plädiert, die Erfahrungen der Arbeitsmigranten in den Städten des Zarenreichs nicht aus offiziellen Berichten abzuleiten, sondern als eigenständige Stimmen („in their own terms“ 11) ernst zu nehmen. Clemens Zimmermann hat seine Kapitelüberschrift über St. Petersburg als „Stadt der Bauern“ 1996 mit einem Fragezeichen versehen,12 und auch Heiko Haumann argumentiert deutlich differenzierter, wenn er zwar ebenso wie ­Baberowski konstatiert, dass ein Großteil der Arbeitsmigranten in der Stadt „nicht heimisch“ geworden sei, zugleich aber festhält, dass dies nur „eine Seite“ sei, da sich „eine ganze Anzahl der ehemaligen Dorfbewohner […] recht gut an das städtische Leben“ 13 angepasst habe. Zudem haben vor allem kulturgeschichtlich 8 Vgl. Bohn, Urbanisierung, S. 284. 9 Haumann, Geschichte Russlands, S. 267. 10 Bohn, Thomas, Bauernmetropole und sozialistische Großstadt. St. Petersburg/Leningrad im Industriezeitalter, in: Hubel, Helmut/Puttkamer, Joachim von/Steltner, Ulrich (Hg.), Ein europäisches Rußland oder Rußland in Europa? 300 Jahre St. Petersburg, Baden-­ Baden 2004, S. 125 – 141. 11 Brower, The Russian City between Tradition and Modernity, S. 85 12 Zimmermann, Clemens, Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadtentwicklung, 2. Auflage, Frankfurt/Main 2000, S. 79 (Erstauflage 1996). 13 Haumann, Geschichte Russlands, S. 270.

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St. Petersburg 1850 – 1914: Zentrum und Peripherien

arbeitende Forscher deutliche Zweifel an der These einer ‚Ruralisierung‘ der russischen Städte geäußert. So wies etwa Julia Obertreis auf die „Sogwirkung der Städte“ als Gegengewicht zur Beharrungskraft des Dorflebens hin und darauf, dass städtische Räume als vieldimensionale Gebilde sowohl ‚von oben‘ als auch ‚von unten‘ umkämpft s­ eien und beständig neu konstruiert würden.14 Hierauf werde ich im Folgenden zurückkommen. St. Petersburg fügt sich in einigen Punkten in das skizzierte Urbanisierungsmuster der russischen Städte ein, teilweise nahm die Stadt aber auch eine gesonderte Entwicklung. Wenn man zunächst die quantitative Dimension betrachtet, so erfuhr auch die russische Hauptstadt den größten absoluten Zuwachs an Einwohnern nach der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 und im Zuge der beschleunigten Industrialisierung: Zwischen 1850 und 1914 stieg die Zahl der Bewohner um mehr als das Vierfache, von knapp 500.000 um 1850 auf rund 2,2 Millionen zu Beginn des E ­ rsten Weltkriegs.15 Zugleich, und dies unterscheidet St. Petersburg von den anderen urbanen Zentren des Reiches, wuchs die Zahl der Menschen in der Stadt aber auch bereits zuvor beständig an, mit der Ausnahme einer Stagnation während des „Vaterländischen Krieges“ gegen Napoleon 1812. Und wenn man nicht die absoluten Zahlen, sondern die relativen Steigerungsraten betrachtet, dann hat sich die Einwohnerzahl z­ wischen 1725 und 1850 mehr als verzehnfacht. Ausschlaggebend hierfür war zum einen die Funktion Petersburgs als Verwaltungs- und Handelsmetropole des Reichs, wodurch beständig neue Menschen in die Stadt kamen. Und zum anderen hatte es in der neuen Hauptstadt eine „Frühindustrialisierung“ 16 gegeben, beginnend mit Peter I., der Produktionsbetriebe für Waffen, Munition und zivile Güter in der Stadt ansiedeln ließ. 14 Vortrag von Julia Obertreis im Rahmen der Sektion „Raumkulturelle Disparitäten in europäischen Stadtregionen des 20. Jahrhunderts“ auf dem 47. Deutschen Historikertag 2008 in Dresden. Vgl. meinen Tagungsbericht in: H-Soz-­u-­Kult, 06. 11. 2008, URL: http:// hsozkult.geschichte.hu-­berlin.de/tagungsberichte/id=2323 (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 15 Daten zur Bevölkerungsentwicklung, auch in der Tabelle 1, nach: Sankt-­Peterburg. Istoriko-­statističeskij očerk s planom i ukazatelem. Izdanie S.-Peterburgskogo Gorodskogo Obščestvennogo Upravlenija, Sankt-­Peterburg 1909, S. 22; Bater: Petersburg, S. 68, 310, sowie Solov’ev, Social’naja istorija St.-Peterburga, S. 40, 144 f., 155 f. Ab 1881 wurden auch die Vororte (Prigorody) mit in die Volkszählungen einbezogen. Die Angaben in der Tabelle beziehen sich ab d ­ iesem Zeitpunkt auf die Gesamtzahl der Einwohner, also auf Stadt und Vororte. 16 Zimmermann, Die Zeit der Metropolen, S. 75.

Ausbau und Ungleichheiten

Tabelle 1: Einwohnerzahl St. Petersburgs, 1725 – 1914 Jahr

Einwohner

1725

40.000

1750

95.000

1790

220.000

1825

420.000

1850

487.500

1869

667.200

1897

1.264.920

1900

1.439.600

1910

1.905.600

1914

2.200.000

Auch wenn die wirklich großen Wachstumsschübe, die das soziale Gefüge „in Aufruhr“ 17 versetzen sollten, also erst nach 1861 erfolgten, so war Petersburg doch bereits um 1850 nicht mehr die geordnete Stadt, die ihren Gründern vorgeschwebt hatte. Zwar kam der erste Bauplan für die Stadt, den Domenico Trezzini 1715 vorlegte und der vier verschiedene Typen von Häusern vorsah, die die Stände und Ränge der Gesellschaft repräsentieren sollten (Handwerker, Kaufmannschaft, Beamte und Adel), noch ohne eine Erwähnung der städtischen Unterschichten aus, für die kein Ort im Zentrum der neuen Herrschaftsresidenz vorgesehen war.18 Und vor allem in den Regierungszeiten der Zarinnen Anna und ­Katharina II. entstanden auf der Admiralitätsseite und am Ufer der Vasilij-­Insel jene repräsentativen steinernen Bauten und Magistralen, die das Stadtbild bis heute prägen. St. Petersburg sei „ganz aus Riesengebäuden und Palästen zusammengesetzt“, schrieb der deutsche Geograph und Reiseschriftsteller Johann Georg Kohl 1845, und es sei keine übertriebene Beobachtung, dass „ein jedes Haus in Petersburg eine Stadt sei.“ 19 Ebenso wie für den Senator Ableuchov war auch für Kohl das Rationale und Harmonische das Charakteristikum der Stadt an der Neva: Im 17 So der Titel des entsprechenden Kapitels bei Bater, St. Petersburg, S. 150 – 213 (A City in Turmoil). 18 Vgl. Kusber, Kleine Geschichte St. Petersburgs, S. 20 f. 19 Kohl, Johann Georg, Petersburg in Bildern und Skizzen. 3 Bde, Dresden, Leipzig 1841 – 1846, hier Bd. 1. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage, Dresden, Leipzig 1845 (erste Ausgabe 1841), S. 20, 23. Zur Person Kohls liegt eine detaillierte Biographie vor: Elsmann, Thomas, Johann Georg Kohl. Ein Leben ­zwischen der Alten und der Neuen Welt, Bremen 2010.

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Gegensatz zu „unseren alten Städten mit ihren engen Straßen und winkeligen Häusern“ sei in Petersburg alles geradezu „überflüssig bequem und weitläufig, die Straßen breit, die Plätze regelmäßig, die Gehöfte groß, die Häuser geräumig.“ 20 Dies bedeutet freilich nicht, dass es in St. Petersburg keine Unterschichten gegeben und diese nicht auch das Stadtbild geprägt hätten. Kohl selbst berichtet nur wenige Seiten später: „Trotz dem, daß die Regierung den steinernen Häusern allerlei Vortheile gewährt und die hölzernen auf allerlei Weise zu verdrängen sucht, giebt es der letzteren in Petersburg doch noch überwiegend mehr als der ersteren.“ 21 Die Menschen, die in ihnen wohnten, waren zum großen Teil aus dem Umland kommende Bauern, die als Lohnarbeiter in den Fabriken tätig waren.22 Auch sie hatten ihre Orte in der Stadt – sei es an den ‚Peripherien‘ wie der Petersburger Seite, der Kohl „größtenteils den Charakter einer Petersburger Vorstadt“ 23 attestierte, sei es im Zentrum, in Gestalt der ‚Arbeitsbörsen‘ wie jener an der Grünen Brücke in unmittelbarer Nähe zur Isaakskatedrale 24 oder in Form der zahlreichen städtischen Märkte. Die planerischen Visionen entsprachen bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr den sozialräumlichen Realitäten einer Stadt, deren beständiges Wachstum sich nur begrenzt kontrollieren und lenken ließ. Wenn James Bater trotzdem für diese Zeit von Petersburg als einer „schlafenden Stadt“ 25 spricht, so ist d ­ ieses Urteil vor allem einer Ex-­post-­ Perspektive geschuldet, die um das Ausmaß der folgenden Veränderungen weiß. Tatsächlich war St. Petersburg um 1850 eine Stadt mit einem imperialen Antlitz, deren Alltag maßgeblich von den Bauern und meščane bestimmt wurde, die ausweislich der Volkszählung bereits 1857 gut 50 % der Stadtbevölkerung stellten.26 Eine moderne Großstadt im Sinne der Charakteristika Osterhammels war Petersburg noch nicht. Dies sollte sich aber in den folgenden Jahrzehnten ändern. Neben der bereits genannten Vervielfachung der Einwohnerzahl infolge der Aufhebung der Leibeigenschaft 1861 ist vor allem die Stadtverordnung von 1870 als 20 Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen, Bd. 1, S. 1. 21 Ebd. S. 25. 22 In St. Petersburg etablierte sich das System der Lohnarbeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, womit die Stadt eine Vorreiterrolle für das gesamte Reich einnahm. Vgl. Solov’ev, Social’naja istorija, S. 144 f. 23 Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen, Bd. 1, S. 7. 24 Vgl. Solov’ev, Social’naja istorija, S. 145 f. 25 Bater, St. Petersburg, S. 84. 26 Vgl. Solov’ev, Social’naja istorija, S. 146.

Ausbau und Ungleichheiten

wichtige Wegmarke für die weitere Entwicklung Petersburgs zu nennen – zumindest hinsichtlich der Zuständigkeiten, die der kommunalen Ebene damit zugesprochen wurden. Nachdem sich eine erste Städteordnung unter Katharina II. aus dem Jahr 1785 in der Praxis nicht hatte durchsetzen können und auch die maßgeblich von Nikolaj Miljutin entwickelte Stadtordnung von 1846 eher die staatliche Kontrolle als die gesellschaftliche Selbstverwaltung gestärkt hatte,27 erhielten die Städte 1870 ein „nie dagewesenes Maß an Eigenständigkeit und Selbstverantwortlichkeit.“ 28 Viele Kompetenzen waren hierbei nicht grundsätzlich neu, wurden aber präzisiert und teilweise erweitert. Für den Kontext dieser Arbeit ist vor allem die Zuständigkeit der Kommunen für die munizipale Wohlfahrtspflege (gorodskoe ­blagoustrojstvo) von Bedeutung:29 Sie umfasste unter anderem die Instandhaltung und den Ausbau der Straßen, Plätze und Brücken, der Kanalisation sowie des öffentlichen Nahverkehrs, Maßnahmen gegen die Wasserverschmutzung, den Schutz der allgemeinen Gesundheit („Volksgesundheit“, narodnoe zdravie) und die Eindämmung von Infektionskrankheiten, die Aufsicht über die „innere Ordnung“ 30 der Jahrmärkte, Märkte und Basare sowie Maßnahmen zur Wahrung der „Ordnung 27 Vgl. hierzu u. a. Hanchett, Walter, Tsarist Statuory Regulation of Municipal Governement in the Nineteenth Century, in: Hamm, The City in Russian History. Edited by Michael Hamm, Lexington 1976, S. 91 – 114; Hartley, Janet, Town Government in St. Petersburg Guberniya after the Charter to the Towns of 1785, in: Slavonic and East European Review 62 (1984), No. 1, S. 61 – 84; Hildermeier, Bürgertum und Stadt, S. 73 – 91, 271 – 290; Mironov, Boris, Local Government in Russia in the First Half of the Nineteenth Century: Provincial Government and Estate Self-­Government, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 42 (1994), H. 2, S. 161 – 201. Eine gewisse Stärkung der lokalen Selbstverwaltung brachten die Modifikationen der Stadtordnung 1862, vgl. PSZ II, Bd. 37, Teil 1, No. 38080: Ob izmenenii i dopolnenii nekotorych postanovlenij o obščestvennom upravlenii v S.-Peterburge, 20. 03. 1862, S. 244 f. 28 Hildermeier, Bürgertum und Stadt, S. 286. Wichtig sind für diesen Kontext zudem die Arbeiten von Valerija Nardova, u. a: Gorodskoe samoupravlenie v Rossii v 60-ch-­načale 90-ch godov XIX v. Pravitel’stvennaja politika, Leningrad 1984; Samoderžavie i gorodskie dumy v Rossii v konce XIX-načale XX veka, Sankt-­Peterburg 1994; Municipal Self-­ Government After the 1870 Reform, in: Russia’s Great Reforms, 1855 – 1881. Edited by Ben Eklof, John Bushnell and Larissa Zakharova, Bloomington 1994, S. 181 – 196, sowie speziell zur Duma in St. Petersburg: Peterburgskaja gorodskaja duma. 29 Vgl. die folgende Auflistung in PSZ II, Bd. 45, Teil 1, No. 48498: Vysočajše utverždennoe Gorodovoe Položenie, 16./28. 06. 1870, S. 821 – 839, hier Artikel 2 (S. 823) sowie Artikel 103 (S. 832 f.). Eingehend zur Entstehungsgeschichte der Stadtverordnung von 1870 neben der Arbeit von Hildermeier auch: Weiss, Gebhardt, Die Russische Stadt ­zwischen Auftragsverwaltung und Selbstverwaltung. Zur Geschichte der russischen Stadtreform von 1870, Bonn 1977. 30 PSZ II, Bd. 45, Teil 1, No. 48498, S. 832.

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auf öffentlichen Plätzen“ 31 und zur Begrenzung des dort durchgeführten Handels. Erstmals erhielten die Städte das Recht, diesbezügliche Entscheidungen per Verordnung durchzusetzen, die bisher weitreichende Macht des Gouverneurs wurde auf eine Rechtsaufsicht beschränkt.32 Städte wie St. Petersburg erhielten damit zuvor nicht vorhandene Möglichkeiten, die Entwicklung des urbanen Raums aktiv zu gestalten – Möglichkeiten, die angesichts der allgegenwärtigen Probleme zugleich eine Verpflichtung darstellten. Es stellt sich die Frage, inwieweit die neuen Kompetenzen genutzt wurden. Wenn Jürgen Osterhammel von einem „munizipiale[n] Planungswille[n]“ spricht, der ein Kennzeichen städtischer Modernität gewesen sei, und von einem historisch beispiellosen Infrastrukturausbau, der dazu geführt habe, dass die Städte „zum Ende des Jahrhunderts hin sauberer und heller“ geworden s­ eien, dann beschreibt dies auch die Entwicklung St. Petersburgs – allerdings nur für zentrale Teile der Stadt, und auch dort nicht flächendeckend. Johann Georg Kohl stellte Ende der 1830er Jahre fest, dass es sich mit der Straßenbeleuchtung in Petersburg exakt umgekehrt wie in London verhalte: Während dort „bei Tage eine dumpfe Nacht“ herrsche, die „erst am Abende durch den hellen Schein der Gaslampen in Tag verwandelt wird“, so sei in der russischen Hauptstadt „am Tage oft kein Schatten zu gewinnen“, während sich „bei Nacht alle Paläste mit Finsternis bedecken.“ Zudem ­seien es nur „unbedeutende Öllampen“, die in den Straßen „wie kleine in der Finsterniß schimmernde Sterne“ etwas Licht verbreiteten, und dies auch lediglich entlang einiger großer Magistralen, während viele Stadtteile „ganz den Mächten der Finsterniß“ 33 überlassen blieben. Diese Schilderung war durchaus zutreffend: Waren es anfangs noch Öl- und Gasleuchten, die die Petersburg Lampenwächter des Nachts entzündeten, so kamen ab 1863 auch Petroleumlampen zum Einsatz.34 Elektrisches Licht gab es ab 1883, und es vermag nicht zu überraschen, dass die ‚Einweihung‘ der ersten 31 32 33 34

Ebd., S. 833. Vgl. ebd., Art. 6, S. 823, und Art. 12, S. 824. Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen, Bd. 1, S. 39 f. Vgl. Karpenko, I., Osveščenie, in: Tri veka Sankt-­Peterburga. Ėnciklopedija v trech tomach. Bd. 2: Devjatnadcatyj vek, Buch 4, Sankt-­Peterburg 2005, S. 773 – 776, hier S. 774. Interessant sind in ­diesem Kontext die Erinnerungen von Dmitrij Zasosov und Vladimir Pyzin, die sie Ende der 1950er Jahre verfassten und in ­welchen sie von den Petersburger Lampenwächtern berichten, die morgens die Lampen aus den Laternen entnahmen, um sie in einer Truhe zu verstauen und abends wieder einzusetzen: Zasosov, Dmitirj/Pyzin, Vladimir, Iz žizni Peterburga 1890 – 1910-x godov. Zapiski očevidcev. 2-e izd., dop., Sankt-­Peterburg 1999, S. 29.

Ausbau und Ungleichheiten

elektrischen Straßenleuchten auf dem Nevskij prospekt erfolgte, in einer schachbrettartigen Anordnung ­zwischen Mojka und Admiralität.35 Die folgende Tabelle verdeutlicht den Ausbau, der z­ wischen 1820 und 1898 im Bereich der Straßenbeleuchtung erfolgte, zeigt aber auch die diesbezüglichen Ungleichheiten: Tabelle 2: Straßenlaternen in St. Petersburg, 1820 – 1898 36

Distrikt Admiraltejskaja I Admiraltejskaja II Admiraltejskaja III Admiraltejskaja IV Narvskaja Moskovskaja Litejnaja Karetnaja Roždestvenskaja Vasilij-­Insel Petersburger Seite Vyborger Seite Ochta Insges.

1820

1832

Zahl der Laternen

Zahl der Laternen 680 364 668 191 189 435 499 65 158 280 441 123 40

Keine Angaben vorhanden

3407

4133

1850 Zahl der Laternen 698 405 763 204 319 456 500 113 302 293 521 112 40 4726

1898 Sažen‘  / Laterne 2

Zahl der Laternen

101,25 121,75 126,5 457,83 499,5 333,8 Keine 294,83 Angaben 1243,0 vorhanden 482,83 816,0 440,67 931,75 877,5 485,0 (Durchschnitt)

17339

Ein Sažen‘ 2 entspricht rd. 4,54 Meter.

Blickt man auf die Gesamtzahl der Straßenlampen im Stadtgebiet, so hat sich diese bis zum Ende des Jahrhunderts mehr als verfünffacht. Zugleich werden aber auch die großen Diskrepanzen z­ wischen den Stadtteilen deutlich: Zwar unterschied sich die absolute Zahl der Laternen auf der Petersburger Seite nicht wesentlich von jener im ersten bis dritten Bezirk des Admiralitätsdistrikts.37 Berücksichtigt 35 Karpenko, Osveščenie, S. 776. Ausführlich zur Geschichte und Bedeutung des Nevskij prospekt: Schlögel, Petersburg, S. 201 – 253. 36 Karpenko, Osveščenie, S. 776. 37 Nach der Verwaltungsreform 1865 wurden aus den vier Admiralitätsbezirken eigene Dis­ trikte: Der erste Bezirk bildete fortan den neuen Admiralitätsdistrikt, der zweite Bezirk den Kazaner Distrikt, der dritte den Spasskaja-­Distrikt und der vierte den Kolomna-­Distrikt.

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St. Petersburg 1850 – 1914: Zentrum und Peripherien

man jedoch die um ein Vielfaches größeren Ausmaße der Petersburger Seite, so zeigt sich, dass die Beleuchtungsdichte im Stadtzentrum zwar zu ­diesem Zeitpunkt auch alles andere als ausreichend war, aber immer noch rund vier Mal so hoch wie ‚jenseits des Flusses‘. Eine vergleichbar dünne Abdeckung wie die Petersburger Seite wies nur der vierte der Admiralitätsbezirke auf – was nicht verwunderlich ist, handelte es sich hierbei doch um den späteren Kolomna-­Distrikt, einen stark von Arbeitern geprägten und wenig entwickelten Stadtteil. Andere ‚Peripherien‘ wie etwa die Vyborger Seite waren noch einmal deutlich schlechter gestellt: Hier ­trafen die Menschen des Nachts im Schnitt nur alle zwei Kilometer auf eine Laterne, wobei große Teile ­dieses Stadtviertels gänzlich im Dunkeln lagen, da sich die 112 1850 gezählten Leuchten auf wenige große Straßen konzentrierten. Karte 1: Die Stadtbezirke St. Petersburgs, 1840 38

I: Admiraltejskaja I; II: Admiraltejskaja II; III: Admiraltejskaja III; IV: Admiraltejskaja IV; V: Narvskaja; VI: Moskovskaja; VII: Karetnaja; VIII: Roždestvenskaja; IX: Litejnaja; X: Vasilij-­Insel; XI: Petersburger Seite; XII: Vyborger Seite; XIII: Ochta.

38 Plan Sankt-­Peterburga v 1840 godu, RAN II, ЛОИИ IIIr 7088/IIIr8176.

Ausbau und Ungleichheiten

Karte 2: Die Stadtbezirke St. Petersburgs, 1869 39

AD: Admiraltejskaja; KZ: Kazanskaja; SP: Spasskaja; KO: Kolomenskaja; NA: Narvskaja; MO: Moskovskaja; A-N: Alexandro-­Nevskaja; RO: Roždestvenskaja; LI: Litejnaja; VAS: Vasilij-­Insel; PET: Petersburger Seite; VYB: Vyborger Seite; N-D: Novo-­Derevnaja; Ochta.

39 Bater, St. Petersburg, S. 470.

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Karte 3: Die Stadtbezirke St. Petersburgs, 1910 40

AD: Admiraltejskaja; KZ: Kazanskaja; SP: Spasskaja; KO: Kolomenskaja; NA: Narvskaja; MO: Moskovskaja; A-N: Alexandro-­Nevskaja; RO: Roždestvenskaja; LI: Litejnaja; VAS: Vasilij-­Insel; PET: Petersburger Seite; VYB: Vyborger Seite; N-D: Novo-­Derevnaja; Ochta.

40 Ebd., S. 471.

Ausbau und Ungleichheiten

Die im Vergleich hierzu große Zahl von über 12.000 Laternen, die bis zum Ende des Jahrhunderts entlang der Petersburger Straße aufgestellt wurden, erhellte weiterhin in erster Linie die repräsentativen, zentralen Stadtteile. Die Liste der Straßen, an denen nach der erfolgreichen ‚Generalprobe‘ auf dem Nevskij prospekt die nächsten elektrischen Straßenleuchten installiert wurden, veranschaulicht dies: die Bol’šaja Morskaja ulica, das linke Ufer der Fontanka von der Aničkov-­Brücke bis zur Izmajl-­Brücke sowie der Voznesenskij und der ­Izmajlovskij prospekt – bis auf den letzteren, der deshalb ausgewählt wurde, weil er häufig vom Zaren passiert wurde, lagen alle diese Orte im innersten Bereich ­zwischen Fontanka und Großer Neva.41 Bis 1914 gab es dann ein Netz von rund 500 Kilometern beleuchteter Straßen, davon 100 Kilometer mit elektrischem Licht. Es wurde also tatsächlich „heller“ in St. Petersburg, aber nur in einem kleinen Teil der Stadt. Was für die Beleuchtung der Stadt galt, lässt sich analog auch hinsichtlich der Frage konstatieren, ob St. Petersburg „sauberer“ wurde. In der im Nevadelta gelegenen Stadt mit ihren häufigen Überschwemmungen war „Sauberkeit“ nicht zuletzt eine Frage der Befestigung der Straßen und Bürgersteige. Hierfür waren an sich in erster Linie die Hausbesitzer verantwortlich: Sie unterlagen seit 1718 der Verpflichtung, die Wege vor ihren Häusern zu befestigen. Im Falle staatlicher Gebäude oblag dies der jeweils dort ansässigen Institution, während die Stadt St. Petersburg lediglich für den Zustand der Uferbefestigungen, der Brücken sowie bestimmter Plätze und Chausseen zuständig war.42 In der Praxis kamen viele Hausbesitzer dieser Verpflichtung jedoch nicht nach, und die Abgeordneten der städtischen Duma fassten trotz zahlreicher Debatten über ­dieses Thema erst 1910 den Beschluss, anstelle der bisherigen Regelung von den Immobilienbesitzern eine Steuer zum Ausbau des Wegenetzes zu erheben.43 So blieben auch im Zentrum der Hauptstadt große Teile der Straßen und Gehwege lange Zeit unbefestigt: Während Teile des Nevskij prospekt ab 1740 mit Kopfsteinpflaster versehen wurden, erfolgte ein umfangreicherer Ausbau an anderen Stellen erst gegen Ende des 18. und vor allem im Laufe des 19. Jahrhunderts. 41 Vgl. hierzu auch die Schilderung bei Zasosov/Pyzin, Iz žizni Peterburga, S. 29 f, sowie bei Svetlov, Sergej, Peterburgskaja žizn‘ v konce XIX stoletija (v 1892 godu), Sankt-­Peterburg 1998, S. 48 f. 42 Vgl. hierzu Ivanov, Ju., Mostovye gorodskie, in: Tri veka, Bd. 2, Buch 4, S. 307 – 314, hier S. 307 und 310 f. 43 Vgl. ebd., S. 314, sowie ders., Mostovye raboty, in: ebd., S. 314 – 317.

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St. Petersburg 1850 – 1914: Zentrum und Peripherien

Neben Kopfsteinpflaster wurden die Straßen zunächst mit Holzbelägen befestigt, ab 1855 dann auch mit Asphalt.44 Für die Bürgersteige verwandte man lange Zeit Granitplatten. Blickt man auf die Namen der Straßen, die ausgebaut wurden, dann sind es weitgehend dieselben, die mit elektrischer Beleuchtung versehen wurden: Neben dem Nevskij wurden der Voznesenskij prospekt, die Gorochovaja ulica, die Bol’saja Morskaja ulica sowie weitere Straßen im Zentrum der Stadt sukzessive befestigt. Auch hier stellt sich die Frage, ob, und wenn, in welcher Weise, die ‚Ränder‘ der Stadt Anteil an dieser Entwicklung hatten – hierauf werde ich im folgenden Kapitel näher eingehen. „Sauberkeit“ war in einer maritimen Großstadt wie St. Petersburg eng verbunden mit sanitären Aspekten, mit der Gefahr von Epidemien und einer hohen Sterblichkeit. Neben dem Dreck, der über unbefestigte und häufig schlammige Wege in die Wohnungen getragen wurde, war die schlechte Qualität des Trinkwassers ein notorisches Problem. Zwar gab es ab 1866 in dem zentralen Bereich ­zwischen Großer Neva und Obvodnyj kanal eine Wasserleitung, und zehn Jahre später erhielten Teile der Vasilij-­Insel, der Petersburger sowie der Vyborger Seite eine Wasserversorgung. Allerdings lag der Abgabepreis für Leitungswasser mit acht Kopeken für rund 1250 Liter für die Mehrheit der Bevölkerung zu hoch, so dass die Wasserversorgung auf die wohlhabenderen Gegenden der Stadt beschränkt blieb.45 Wer die Gebühr nicht entrichten konnte, musste sich ebenso wie die Arbeiter in entfernter gelegenen Stadtteilen wie Staraja Derevnja oder Ochta, in denen es auch nach der Jahrhundertwende noch keine Wasserleitungen gab, sein Wasser aus Brunnen oder aus der Neva und den Kanälen holen. Vor allem aber mangelte es der gesamten Stadt bis 1917 an einer funktionierenden Kanalisation – obwohl andere Städte des Imperiums wie Kiew, Odessa und (wenn auch erst nach einer fast zwanzigjährigen Planungsphase) Moskau 44 Vgl. Ivanov, Mostovye gorodskie, S. 307 f. 45 Die Wasserleitungen in Petersburg errichtete zunächst eine private Aktiengesellschaft, der die Stadt 1858 eine 35-jährige Konzession erteilt hatte. 1891 wurde die Wasserversorgung in kommunale Verantwortung übernommen, wodurch der Preis auf sieben Kopeken sank. Vgl. Späth, Manfred, Wasserleitung und Kanalisation in Großstädten: ein Beispiel der Organisation technischen Wandels im vorrevolutionären Russland, in: Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte 25 (1978), S. 342 – 361, hier S. 347 f.; Bater, James H., Modernization and Public Health in St. Petersburg, 1890 – 1914, in: Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte 37 (1985), S. 357 – 372.

Ausbau und Ungleichheiten

bereits über moderne Abwasseranlagen verfügten, und trotz 48 Bauplänen, die in der Petersburger Duma bis 1917 diskutiert wurden.46 Für einen kleinen Teil der Petersburger Bevölkerung lassen sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Verbesserungen bei der Wasserversorgung konstatieren. 1890 verfügten immerhin rund drei Viertel der Drei- bis Fünfzimmerwohnungen über fließendes Wasser, und bei einer Größe von mehr als sechs Zimmern war dies mit über 90 % fast flächendeckend gegeben.47 Aber wie bereits bei der Straßenbeleuchtung und der Straßenbefestigung zeigen sich auch hier markante Diskrepanzen: Von den Einzimmerwohnungen hatte nur jede vierte einen Wasser­ anschluss, und, von der offiziellen Statistik gar nicht erfasst, aber in Petersburg weit verbreitet: Die Ecken, Keller und Dachgeschosse, in denen ein großer Teil der städtischen Unterschichten lebte, verfügten in aller Regel über gar keine eigene Wasserversorgung. Es war also eine Frage der ökonomischen Möglichkeiten, für wen St. Petersburg tatsächlich „sauberer“ wurde. Tabelle 3: Wohnstandard in Petersburger Wohnungen, 1890 48 Zimmer

Wasseranschluss

Toilette

Badewanne

1

25 %

12 %

0,1 %

2

53 %

37 %

0,3 %

3 – 5

76 %

67 %

8 %

6 – 10

93 %

92 %

57 %

über 10

97 %

96 %

70 %

46 Vgl. Späth, Wasserleitung und Kanalisation, S. 347 – 354. Die Unfähigkeit der Stadtverwaltung, die Qualität des Trinkwassers zu verbessern, war Gegenstand zahlreicher zeitgenössischer Analysen und scharfer Kommentare; vgl. exemplarisch: Gran, M., ­Peterburg i cholera, in: Gorodskoe delo 1 (1909), No. 5, S. 187 – 193; Fajnberg, G., K voprosu o kanalizacii Peterburga, in: Gorodskoe delo 1 (1909), No. 15, S. 743 – 748; Archangel’skij, Grigorij, Žizn‘ v Peterburge po statističeskim dannym, in: Archiv sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny 5 (1869), No. 2, S. 33 – 85 und No. 3, S. 84 – 143. 47 Vgl. hierzu Juchneva, Ekaterina, Blagoustrojstvo peterburgskogo žilišča 100 let nazad, in: Istorija Peterburga 1 (2001), No. 1, S. 29 – 34, hier S. 30. 48 Sankt-­Peterburg po perepisi 15 dekabrja 1890 g. Teil 4, Sankt-­Peterburg 1892, S. 80.

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Folgen dieser für den Großteil der Bevölkerung unzureichenden sanitären Bedingungen waren häufige Epidemien, vor allem Cholera und Typhus, und eine sehr hohe Sterblichkeitsrate. Bis in die 1880er Jahre übertraf das Ausmaß der Todesfälle in Petersburg die Zahl der Geburten – was bedeutet, dass das kontinuierliche Wachstum der Stadt allein von der Zuwanderung getragen wurde.49 Die Epidemien erfassten grundsätzlich alle Stadtteile und sozialen Schichten, da Arm und Reich in Petersburg auch im Zentrum dicht beieinander lagen. Als Konsequenz der geographischen Lage der Stadt im Nevadelta und des unzureichend entwickelten Personennahverkehrs (zunächst Kutschen und Pferdebahn, ab 1907 verkehrten erste Linien einer elektrischen Straßenbahn) gab es weder eine stadträumliche Segregation im klassischen Sinn 50 noch einen Prozess der Suburbanisierung, wie er etwa für London im 19. Jahrhundert charakteristisch war. Zwar wurden seit den 1830er Jahren größere Industriebtriebe an den Rändern der Stadt, westlich des Zentrums, zur Ostsee hin, sowie entlang des Obvodnyj kanal angesiedelt 51 – insgesamt blieb das Ausmaß funktioneller Segregation aber begrenzt, und auch 1913 verteilten sich die knapp 1000 Petersburger Fabriken über das gesamte Stadtgebiet.52 Vor allem im Stadtzentrum ließen sich deshalb ärmere und wohlhabendere Gegenden nicht trennscharf voneinander abgrenzen und die sozialen Unterschiede verliefen häufig quer durch einzelne Straßen oder Häuser. James Bater hat vor d ­ iesem Hintergrund zutreffend von einer „dreidi53 mensionalen Segregation“  als dem Charakteristikum Petersburgs gesprochen: Neben einer nur begrenzt gegebenen Differenzierung in der Fläche war es nicht 49 Vgl. Archangel’skij, Žizn‘ v Peterburge po statističeskim dannym, No. 2, S. 42 – 45; Bater, Modernization, S. 359; Solov’ev, Social’naja istorija, S. 144. Vgl. für Moskau: Lee, K ­ yoo-­Sik, Das Volk von Moskau und seine bedrohte Gesundheit, 1850 – 1914, Frankfurt/Main u. a. 1996; Martin, Alexander M., Sewage and the City: Filth, Smell and Representations of Urban Life in Moscow, 1770 – 1880, in: The Russian Review 67 (2008), H. 2, S. 243 – 274. 50 Zum Begriff der Segregation: Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter, Die Mühen der Diffe­ renzierung, in: Martina Löw (Hg.), Differenzierungen des Städtischen (Stadt, Raum und Gesellschaft 15), Opladen 2002, S. 29−69; Saldern, Adelheid von, Integration und Fragmentierung in europäischen Städten. Zur Geschichte eines aktuellen Themas, in: Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), S. 3 – 60, sowie jetzt Nightingale, Carl H., Segregation. A Global History of Divided Cities, Chicago 2012. 51 Vgl. hierzu eingehend Zuev, Georgij, Kanal-­rabotjaga. Obvodnyj i ego okrestnosti, Moskva 2009, S. 153 – 190. 52 Vgl. Bater, St. Petersburg, S. 228 – 254. 53 Ebd., S. 379.

Ausbau und Ungleichheiten

zuletzt die Höhe, die den Unterschied symbolisierte: Die armen Bewohner der Stadt lebten in großer Zahl entweder in den Kellern oder auf den Dachböden der Häuser, während das Residieren in der im ersten Stock befindlichen Beletage als Ausdruck von Wohlstand galt – ein Befund, der nicht nur für St. Petersburg Gültigkeit besitzt, sondern das „kontinentaleuropäische Grundmuster“ 54 der europäischen Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellte, von dem sich nicht St. Petersburg oder Moskau abhoben, sondern der in England seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert stattfindende Prozess der Suburbanisierung in Gestalt der Auszugs der bürgerlichen Schichten aus den Stadtzentren. Dieser Befund bedeutet jedoch nicht, dass es nicht auch in St. Petersburg reichere und ärmere Stadtteile gegeben hätte. Wie bereits anhand der Verteilung von Straßenbeleuchtung und Wasseranschlüssen über das Stadtgebiet gezeigt, folgte die Anordnung von Armut und Reichtum trotz der im Zentrum anzutreffenden großen Nähe einem klassischen sozialräumlichen Muster: Mit wachsender Entfernung vom Zentrum stieg der Anteil der ärmeren Bevölkerung. Die markante und oft erwähnte Ausnahme bildete lediglich der dritte Bezirk des Spasskaja-­ Distrikts, in dem sich der Heumarkt befand. Das Gefälle ­zwischen Zentrum und Rändern schlug sich auch in der Verteilung der Sterblichkeit nieder. Der Mediziner Julij Gjubner, Begründer der russischen Sanitärstatistik,55 veröffentlichte 1871/72 eine Studie, die zeitgenössisch als „epochal“ 56 wahrgenommen wurde. Gjubner untersuchte darin erstmals die Häufung der Todesfälle eines Jahres in den verschiedenen Stadtteilen. Die von ihm angefertigte Sanitärkarte zeigte mit wachsender Entfernung vom Stadtzentrum eine klare Zunahme der Sterblichkeit: 54 Lenger, Metropolen der Moderne, S. 106. 55 Vgl. zu seiner Person den Eintrag in: Russkij biografičeskij slovar‘. 20 Bde, Moskva 1998 – 2001, hier Bd. 6, Moskva 1999, S. 115. 56 Dr. med. Šmelev, M., Desjatiletie izdanija medicinskim departamentom „Archiva ­sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny“ i „Sbornika“. Obzor otdela obščestvennoj gigieny, in: Sbornik sočinenij po sudebnoj mediciny, sudebnoj psichatrii, medicinskoj policii, obščestvennoj gigieny, ėpidemiologii, medicinskoj geografii i medicinskoj statistike 11 (1875), S. 206 – 242, hier S. 218. Die Studie Gjubners erschien in der gleichen Zeitschrift: Statističeskija issledovanija sanitarnogo sostojanija Peterburga v 1870m godu, in: ebd. 7 (1871), No. 4, S. 101 – 116; Očerki sanitarnogo sostojanija S.-Peterburga v 1870 g. (S sanitarnoj kartoj Peterburga), in: ebd. 8 (1872), No. 2, 82 – 234, und 1872 dann auch als Monographie: Statističeskija issledovanija sanitarnogo sostojanija Peterburg. 1870 god. S chromolitografirovannoj kartoj S.-Peterburga, Sankt-­Peterburg 1872.

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Karte 4: Sterblichkeit in den verschiedenen Stadtteilen St. Petersburgs, 1870 57

Die Karte zeigt die Opfer der Cholera-­Epidemie des Jahres 1870 in den verschiedenen Stadtteilen. Je dunkler die Färbung, desto höher die Zahl der Todesfälle (von unter 20 bis zu über 45 Opfern/1000 Einwohner).

57 Gjubner, Statističeskija issledovanija sanitarnogo sostojanija Peterburg, Sankt-­Peterburg 1872, Anhang.

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Eine zweite Karte, die Gjubner 1877 erstellte und auf der er die Entwicklung der Verteilung der Todesfälle von 1870 bis 1874 darstellte, zeichnete ein ähnliches Bild.58 Entsprechend vehement wandte er sich gegen die allgemein verbreitete Vorstellung, dass allein der Heumarkt im Spasskaja-­Distrikt die Ursache aller sanitären Probleme der Stadt darstelle: Der Heumarkt habe seinen „üblen Ruf “ zwar nicht zu Unrecht, aber vieles über die dortigen Verhältnisse sei in den Vorstellungen der Petersburger deutlich übertrieben und werde von Leuten verbreitet, „die nichts über den sanitären Zustand der gesamten Stadt wissen.“ 59 Tatsächlich lebten die Bewohner des dritten Spasskaja-­Bezirks „nicht nur nicht schlechter als die Bewohner einiger anderer Stadtteile, sondern sogar ungleich besser“ 60, wie sich am Beispiel der Verteilung der Sterblichkeit zeige. Auf den Gedanken, dass Cholera und Typhus in anderen Vierteln deutlich höhere Opferzahlen gefordert haben könnten, sei „niemand gekommen.“ Stattdessen würden die immer gleichen Anschuldigungen gegen den Heumarkt gedruckt, mit der für die übrige Stadtbevölkerung beruhigenden Schlussfolgerung, dass „die einzigen Opfer die ewig betrunkenen und gefräßigen Bewohner der klassischen Slums des Fürsten Vjazemskij sind.“ 61 Der Blick auf die Karte beinhalte deshalb für sehr viele eine „unangenehme Enttäuschung“ 62 über die Ränder (Okrainy) der Stadt – wobei, so Gjubners Annahme, sicher schnell eine Menge anderer Erklärungen gefunden würden, um sich nicht mit den wahren Ursachen auseinandersetzen zu müssen. Für ihn gab es hingegen keinen Zweifel, dass die Sterblichkeit umso höher lag, je höher der Anteil der „besitzlosen Klassen der Bevölkerung“ 63 (neimuščich klassov naselenija) war, und zwar aufgrund der völlig unzureichenden Lebensumstände dieser Menschen. Wolle man hier Abhilfe schaffen, müsse man in erster Linie die Wohnbedingungen radikal verändern – ein Punkt, den nicht nur Gjubner als zentral ansah und auf den ich noch ausführlich eingehen werde.

58 Die Karte ist über Dokusfera, die elektronische Bibliothek der Russischen Nationalbibliothek, einsehbar: http://leb.nlr.ru/edoc/5585/План-­С-Петербурга-­в-­санитарном-­ отношении (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 59 Gjubner, Očerki sanitarnogo sostojanija, S. 114 f. 60 Ebd. S. 115. 61 Ebd. 62 Ebd., S. 132. 63 Ebd., S. 133.

Ausbau und Ungleichheiten

Die mit Vehemenz vorgetragenen Ergebnisse des Mediziners, der anfangs als Arzt für die Petersburger Stadtverwaltung gearbeitet hatte, ehe er dann in anderen Städten des Reiches die sanitären Zustände zu verbessern suchte, wurden von den offiziellen Statistiken bestätigt. Dem jährlich publizierten Bericht des Petersburger Stadthauptmanns (gradonačal’nik) ist zu entnehmen, dass sich auch gut 20 Jahre später nichts Grundlegendes an den Befunden ­Gjubners geändert hatte: Tabelle 4: Todesfälle in St. Petersburg pro Jahr, 1887 – 1893 64 Distrikt

Todesfälle/ 1000 Einwohner pro Jahr

Admiraltejskaja

13,9

Litejnaja

16,8

Kazanskaja

17,7

Moskovskaja

19,8

Spasskaja

23,0

Kolomenskaja

24,0

Vasilij-­Insel

24,4

Petersburger Seite

24,8

Narvskaja

26,8

Alexandro-­Nevskaja

28,9

Roždestvenskaja

30,0

Vyborger Seite

30,6

64 Obzor dejatel’nosti Sankt-­Peterburgskogo gradonačal’stva i stoličnoj policii za 1895 god, Sankt-­Peterburg 1896, S. 116. Vgl. auch die eine ähnliche Verteilung aufweisenden Zahlen der Opfer der Choleraepidemie von 1892: Vsepoddannejšij otčet Sankt-­Peterburgskogo gradonačal’nika za 1892 god, Sankt-­Peterburg 1893, S. 9 f.

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Karte 5: Sterblichkeit in den verschiedenen Stadtteilen St. Petersburgs, 1886 – 1895 65

Die Karte zeigt die Zahl der Todesfälle innerhalb eines Jahrzehnts (1886 – 1895) in den verschiedenen Stadtteilen. Je dunkler die Färbung, desto höher die Zahl der Todesfälle (von unter 15 bis zu über 30 Opfern/1000 Einwohner pro Jahr).

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass sich z­ wischen 1850 und 1914 nicht nur die Bevölkerung St. Petersburgs rasant vergrößerte und veränderte, sondern dass auch tatsächlich jener „munizipiale Planungswille“ einsetzte, den Jürgen O ­ sterhammel als Kennzeichen städtischer Modernität anführt. Die hieraus resultierenden Planungsprozesse waren oft nicht effizient und blieben manchmal, wie im Falle der Kanalisation, ganz ohne Ergebnisse – aber dass die städtische Infrastruktur in mehreren Bereichen ausgebaut wurde, ist eindeutig. 65 Ėnciklopedičeskij slovar’ Brokgauza i Ėfrona, Bd. 28a, Sankt-­Peterburg 1900, S. 308. Hier zitiert nach: Historic Cities. St. Peterburg. URL : http://historic-­cities.huji.ac.il/russia/ peterburg/maps/brockhaus_efron_56_spb_mortality.html (letzter Aufruf am 28. 10. 2018).

Enge Welten?

Ebenso eindeutig ist jedoch auch, dass die St. Petersburg durchziehenden sozialräumlichen Ungleichheiten nicht behoben wurden – die Viertel jenseits des Zentrums (sowie bestimmte Gegenden innerhalb desselben) waren auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts dunkler, dreckiger und für ihre Bewohner tödlicher als die Gegenden, die nachts zum „Lichterzentrum“ 66 der modernen Stadt wurden.

2.2. Enge Welten? Zeugnisse ‚von unten‘ aus dem Zentrum der Stadt Bevor die Viertel ‚jenseits des Flusses‘ näher betrachtet werden, soll zunächst die bisherige, strukturelle Skizze durch die Perspektive des individuellen Handelns ergänzt werden. Im Folgenden werden in einer „dichten“, mikrohistorischen Beschreibung 67 autobiographische Texte daraufhin untersucht, was wir aus ihnen über die Wahrnehmung und Aneignung des städtischen Raums ‚von unten‘ erfahren können. Wie gezeigt, beschränkten sich Armut und die Ungleichheiten der Stadtentwicklung nicht auf die geographischen Ränder St. Petersburgs, auch ‚diesseits des Flusses‘ mussten sich die Angehörigen der städtischen Unterschichten zu den strukturellen Bedingungen verhalten, die ihr Leben formten. Über ­dieses Handeln, mit dem die Menschen auf ihre Marginalisierung reagierten, wissen wir bisher kaum etwas. Grundlage der Betrachtung sind einerseits die Erinnerungen des später als „Bauerndichter“ (Poėt-­krest’janin) bekannt gewordenen Spiridon Drožžin, der vor seinem gesellschaftlichen Aufstieg zeitweise auf den Straßen der Hauptstadt

66 Schivelbusch, Wolfgang, Licht, Schein und Wahn. Auftritte der elektrischen Beleuchtung im 20. Jahrhundert, Berlin 1992, S. 62. 67 Vgl. zu den Grundlagen und Fragestellungen der Mikrogeschichte den instruktiven Überblick bei Ulbricht, Otto, Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt/Main 2009, S. 7 – 61. Als bahnbrechend sind die Arbeiten Carlo Ginzburgs zu nennen. Vgl. seine Pionierstudie: Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, 7. Auflage, Berlin 2011 (italienische Originalausgabe erstmals 1976), sowie ders., Microhistory: Two or Three Things That I Know about It, in: Critical Inquiry 20 (1993), No. 1, S. 10 – 35. Vgl. zur „dichten Beschreibung“ die nicht minder fundamentale Arbeit von Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt/Main 1987.

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lebte, und zum anderen die Aufzeichnungen von Matrjona Ključeva, einer Weißnäherin aus dem Kolomna-­Distrikt St. Petersburgs. Die Erinnerungen Drožžins und Ključevas bieten sich deshalb für eine eingehende Betrachtung an, weil sich ihr geographischer Fokus im Unterschied zu den Aufzeichnungen der Arbeiter aus den Fabriken nicht auf die Arbeitsstätten beschränkt. Beide geben ihr Leben im gesamten städtischen Raum in einer Ausführlichkeit wieder, wie wir dies in kaum einer anderen Quelle der urban poor finden.68 Darüber hinaus heben sich die Texte Drožžins und Ključevas durch die außergewöhnlich großen Zeiträume, die sie umfassen, von anderen Ego-­Dokumenten ab. Ključevas Erinnerungen beschreiben mit den Eckdaten 1880 und 1905 eine Zeitspanne von 25 Jahren, und Drožžin begann 1867 mit dem Führen eines Tagebuchs und setzte dies bis in die zweite Hälfte der 1920er Jahre fort. Beide Quellen stellen damit eine in ihrer zeitlichen Erstreckung seltene Grundlage für eine eingehende Analyse dar. Als dritter maßgeblicher Punkt bei der Entscheidung für diese beiden Texte ist der Umstand zu nennen, dass sich durch ihre vergleichende Lektüre die Möglichkeit eröffnet, die Räume der städtischen Unterschichten aus einer männlichen und einer weiblichen Perspektive zu betrachten. Damit kann ein Beitrag dazu geleistet werden, die von Claudia Kraft ausgemachten zahlreichen „weiße[n] Flecken und Forschungsdesiderate“ 69 in der osteuropabezogenen Frauen- und 68 Zur Entwicklung der Alphabetisierung und der Rezeption von Literatur in breiten Bevölkerungsschichten nach wie vor grundlegend Brooks, Jeffrey, When Russia Learned to Read. Literacy and Populare Literature, 1861 – 1917, Evanston, Illinois 2003 (erste Ausgabe 1985). Zum autobiographischen Schreiben von Bäuerinnen und der Bedeutung von Archivierungs- und Sammlungspraktiken, bei denen weibliche Autorinnen deutlich benachteiligt wurden, vgl. Herzberg, Gegenarchive, S. 384 – 403. 69 Kraft, Claudia, Wo steht die Frauen- und Geschlechtergeschichte in der Osteuropaforschung?, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 20 (2002), H. 1, S. 102 – 107, hier S. 103. Vgl. zum Forschungsstand sowie der nach wie vor fehlenden strukturellen Förderung einer osteuropabezogenen Genderforschung auch: Fieseler, Beate, „Ein Huhn ist kein Vogel – ein Weib ist kein Mensch.“ Russische Frauen (1860 – 1930) im Spiegel historischer Forschung, in: Fieseler, Beate/Schulze, Birgit (Hg.), Frauengeschichte: gesucht – gefunden? Auskünfte zum Stand der historischen Frauenforschung, Köln u. a. 1991, S. 214 – 236; Scheide, ­Carmen/ Stegmann, Natalie, T ­ hemen und Methoden der Frauen- und Geschlechtergeschichte, 2003, URL: http://epub.ub.uni-­muenchen.de/578/1/scheidestegmann-­frauengeschichte. pdf ­(letzter Aufruf am 28. 10. 2018); Stegmann, Natalie, Die osteuropäische Frau im Korsett westlicher Denkmuster. Zum Verhältnis von Osteuropäischer Geschichte und Geschlechtergeschichte, in: Osteuropa 52 (2002), H. 7, S. 932 – 945, sowie den Bericht zu

Enge Welten?

Geschlechterforschung ein wenig zu füllen, und zwar für einen Bereich, der bisher kaum thematisiert wurde: Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Schaffung sozialer Räume durch Frauen in der männlich dominierten Welt der städtischen Unterschichten. Die Erinnerungen Spiridon Drožžins und Matrjona Ključevas sollen auch daraufhin untersucht werden, w ­ elche Geschlechterhierar­ chien in ihnen lesbar werden, inwieweit diese von den Autoren reflektiert wurden, und wie sie sich zu ihnen verhielten.

Selbstdarstellung und Rezeption Von Spiridon Drožžin ist nicht nur ein autobiographischer Text überliefert, sondern seine Erinnerungen liegen in mehreren unterschiedlichen Versionen vor. Julia Herzberg hat in ihrer lesenswerten Dissertation über bäuerliche Autobiographik herausgearbeitet, dass es insgesamt zehn (auto)biographische Skizzen von und über Drožžin gibt, die sich über einen Zeitraum von 1884 bis 1931 erstrecken.70 Drožžin selbst war hierbei derjenige, der die Darstellung immer wieder veränderte. Wie Herzberg zeigt, war das Umschreiben der eigenen Lebensgeschichte Teil dessen, was sie als „Gemachtwerden“ 71 von Autobio­ graphien bezeichnet: Entgegen einem traditionellen Verständnis von Autobiographik als einem individuellen und intimen Prozess vertritt sie eine Lesart solcher Dokumente als Ergebnisse komplexer Kommunikationssituationen, bei der deutlich mehr Personen und Strukturen in den Blick geraten als nur der Verfasser selbst.72 Mit ­diesem Begriff von Autobiographik als sozialem Handeln vermag sie überzeugend darzulegen, dass Drožžin gezielte Änderungen an der 2001 von der Basler Initiative für Gender Studies in der Osteuropaforschung (BIG-O, URL: http://www.hist.net/datenarchiv/projekte/big-­o/; letzter Aufruf am 28. 10. 2018) organisierten Tagung „Gender Studies in der Osteuropaforschung“: Hausbacher, Eva, Gender Studies in der Osteuropaforschung, in: Österreichische Osthefte 42 (2001), H. 4, S. 555 – 560. 70 Vgl. Herzberg, Gegenarchive, S. 116 – 162. 71 Ebd., S. 15. 72 Dieser Ansatz erweitert das dominierende Verständnis autobiographischer Texte und zeigt die Grenzen bisher weitgehend unbestrittener Konzepte der Autobiographieforschung auf, so etwa des „autobiographischen Pakts“ z­ wischen Autor und Leser nach Lejeune, der auf einer Einheit von Autor, Erzähler und Figur beruht. Vgl. Lejeune, Philippe, Der autobiographische Pakt (1973/1975), in: Günter Niggl (Hg.), Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 214 – 257.

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seiner Lebensgeschichte vornahm, um sich in bestimmte zeitgenössische Diskurse einzuschreiben. Präsentierte er 1884 in der Zeitschrift Russkaja starina (Russisches Altertum) noch das klassische „Aufstiegsnarrativ“ 73 des bäuerlichen Autodidakten (Samoučka), der aus eigenem Antrieb seine Herkunft hinter sich lassen konnte und in die Stadt ging, so verschob sich der Fokus in den folgenden Fassungen immer mehr in Richtung einer Betonung seiner bäuerlichen Wurzeln. Drožžin idealisierte nun das Leben des ‚einfachen‘ russischen Menschen in der Dorfgemeinschaft und zeichnete die Stadt, die er in erster Linie während seiner Aufenthalte in St. Petersburg und Moskau kennen gelernt hatte, zunehmend in düsteren Farben. Mit dieser Wandlung entsprach Drožžin den sich ändernden Erwartungen seiner Verleger und Förderer. Als im Herbst 1884 das erste Mal ein autobiographischer Text von ihm publiziert wurde, präsentierten ihn die Herausgeber einleitend als einen Vertreter jener „Talente“, die „direkt aus dem Volk“ kommen und sich, „ausgestattet mit dieser oder jener Begabung, dank ihrer persönlichen Energie, Arbeit und Ausdauer einen Weg gebahnt und durch ihre Werke im Bereich der Künste einen berühmten, ehrenhaften Namen gemacht haben.“ 74 Zugleich wurde betont, dass Drožžin auch mit 36 Jahren noch nicht jenen „äußerst schweren Lebensumständen“ entkommen konnte, „die seine Selbstbildung und die Entwicklung seines künstlerischen Werks behindern.“ 75 Vergleicht man diese Einleitung mit den späteren Darstellungen seines Lebens, dann zeigt sich eine Umdeutung der bäuerlichen Herkunft Drožžins: War sie anfangs noch ein bildungsfernes Hemmnis, von dem sich der Verfasser zu emanzipieren suchte, wandelte sie sich nun zum Inbegriff von Ursprünglichkeit. Der Umstand, dass Drožžin 1896 endgültig in sein Heimatdorf zurückkehrte, entsprach den Vorstellungen seiner damaligen Förderer,76 die im einfachen russischen Volk (Narod) die Verkörperung einer besseren Zukunft sahen. Drožžin bediente diese agrarromantischen Projektionen, indem er das Dorf nun als Sehnsuchtsort beschrieb, während er die Stadt als düsteren Ort schilderte, der ihn in seiner Entfaltung gehemmt habe. 73 Herzberg, Gegenarchive, S. 121. 74 Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach, in: Russkaja starina 15 (1884), Bd. 43, S. 503 – 522, hier die Einleitung der Redaktion, S. 503. 75 Ebd. 76 Zu diesen zählten u. a. Michail Semesvkij, Aleksandr Jacimirskij sowie Lev Tolstoj. Vgl. Herzberg, Gegenarchive, S. 144 – 151.

Enge Welten?

Im Folgenden sollen nicht die beständigen Wandlungen in der Selbstinszenierung Drožžins nachgezeichnet, sondern ein Widerspruch aufgegriffen werden, den auch Julia Herzberg erwähnt, ohne ihm jedoch weiter nachzugehen. Spiridon Drožžin hat nicht nur bestimmte Aspekte seines Lebens in der Stadt bewusst ausgespart,77 sondern die zunehmende Dämonisierung des urbanen Lebens lässt auch die Frage unbeantwortet, wie es ihm denn dann trotz seiner jahrelangen Aufenthalte in St. Petersburg und Moskau gelingen konnte, sich so fortzubilden, dass er anschließend zum gefeierten „Bauerndichter“ aufstieg. Die These, die im Weiteren überprüft werden soll, lautet, dass es entgegen dem Narrativ des ‚Molochs Stadt‘ gerade die dort vorhandenen Bildungsangebote waren, die Drožžin überhaupt erst in die Lage versetzt haben, später das großstädtische Leben prominent zu verdammen. Wie Herzberg zutreffend feststellt, verleiht dieser von Drožžin selbst produzierte Widerspruch seinen autobiographischen Texten „paradoxe Züge“ 78. Und er wirft die Frage auf, in welcher Weise er die Stadt tatsächlich für sich nutzte, und inwieweit sich dies trotz der wechselnden Bilder, die er von sich entwarf, aus seinen Aufzeichnungen ablesen lässt. Die Erinnerungen Matrjona Ključevas weisen keine derart verzweigte Überlieferungsgeschichte auf. Sie wurden in einem Zeitraum von 1880 bis 1910 verfasst und erfuhren keine nachfolgenden Veränderungen seitens der Verfasserin. Im Unterschied zu den Texten Drožžins, die mit zunehmendem Erfolg publiziert wurden, blieben die Aufzeichnungen Matrjona Ključevas zudem über Jahrzehnte unbekannt. Erst in den 1950/60er Jahren erstellte Vladimir Malygin, ein Verwandter der Fabrikbesitzerin Pelageja Malygina, in deren Nähatelier Matrjona arbeitete, auf der Basis des Originaltextes von Matrjona Ključeva das Typoskript Vospominanija belošvejki (Erinnerungen einer Weißnäherin). Es gelangte anschließend in die Sammlung des Petersburger Bücherliebhabers Anatolij Ioffe, wodurch es vor der Makulatur gerettet wurde. 1993 erhielt Aleksej Dmitrenko das Typoskript und sorgte für dessen Publikation in der lokalhistorischen Zeitschrift Nevskij Archiv.79 Der Text Ključevas basiert teilweise auf Tagebucheinträgen und teilweise auf retrospektiven Erinnerungen. Sie verfasste ihn mit dem Anspruch eines subjektiven

77 Vgl. hierzu ebd., S. 137 – 144. 78 Ebd., S. 150. 79 Vgl. das Vorwort von Aleksej Dmitrenko in: [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­ Peterburga. Publikacija A. L. Dmitrenko, in: Nevskij Archiv 3 (1997), S. 164 – 232, hier S. 164 – 166.

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und zugleich authentischen Zeugnisses der Zeit und der Umstände, in denen sie aufwuchs: „Alles, was niedergeschrieben wurde, sind meine persönlichen Beobachtungen, deren Zeugin ich selbst bin. […] Ohne Verfälschungen, ohne Übertreibungen und ohne Fantasie habe ich mich bemüht, jene Zeit so wiederzugeben, wie ich sie wahrgenommen und erfahren habe.“ 80 Auch Ključeva hegte die Hoffnung, dass ihre Aufzeichnungen eines Tages rezipiert werden könnten, auch wenn sie keine Strategie der Selbstinszenierung verfolgte, wie dies bei Drožžin der Fall war: „Ich erlaube mir, die Hoffnung nicht aufzugeben, dass meine Aufzeichnungen einen Beitrag dazu leisten können, dass die Jugend eine Seite des alten und zugleich nicht fernen Lebens kennenlernt.“ 81 Dieser Wunsch sollte sich wie erwähnt erst viel später erfüllen – die kommentierte Version im Nevskij archiv erschien 1997. Auch seitdem sind die Erinnerungen Matrjona Ključevas weitgehend unbemerkt geblieben, obwohl sie eines der seltenen Zeugnisse darstellen, in denen Frauen aus den unteren städtischen Schichten von ihrem Leben berichten.82 Eine Ausnahme bildet Carsten Goehrke: Er geht in seiner Geschichte des russischen Alltags ausführlich auf die Aufzeichnungen Matrjona Ključevas ein und unterstreicht einleitend deren exzeptionellen Charakter als „eine der wenigen Innenansichten aus dem Leben der Petersburger Unterschicht […].“ 83 Zugleich macht jedoch bereits die von ihm gewählte Überschrift deutlich, dass er den Text Ključevas vor allem als Ausdruck von Rückständigkeit und Limitierung begreift: „Die Enge einer Lebenswelt in der Weite der Hauptstadt – Erinnerungen der Weißnäherin Matrjona Kljutschewa“ 84. Nach Goehrke erscheint uns die Welt der Verfasserin heute wie eine „Nussschale innerhalb des riesigen Gefäßes der Hauptstadt“; ihr Leben sei durch „Eintönigkeit“ und „Mühsal“ bestimmt gewesen, und insgesamt blieb „Matrjonas Welt“ für ihn „so überschaubar wie der Kreis, in dem sie verkehrte.“ 85 Was bei einer solchen Sicht ignoriert wird, ist 80 Ot avtora, in: ebd., S. 166. 81 Ebd. 82 Zur grundsätzlichen Frage, warum sich heute in den Archiven deutlich weniger autobiographische Texte russischer Frauen als Männer finden, sei auf das entsprechende Kapitel in der Arbeit Julia Herzbergs verwiesen. Sie unterstreicht vor allem die Bedeutung männlicher Netzwerke, die darüber entschieden, was aufbewahrt oder publiziert und was dem Vergessen anheim gegeben wurde. Vgl. Herzberg, Gegenarchive, S. 384 – 403. 83 Goehrke, Russischer Alltag, Bd. 2: Auf dem Weg in die Moderne, S. 337. 84 Ebd. 85 Ebd., S. 339.

Enge Welten?

die Perspektive von innen – und damit die Frage, was diese ‚enge Welt‘ für ihre Bewohner bedeutete, in ­diesem Fall für Matrjona Ključeva.

Topographien und Hierarchien Im November 1860 kam Spiridon Drožžin das erste Mal nach St. Petersburg. Zu ­diesem Zeitpunkt war er elf Jahre alt, und es war sein erster längerer Aufenthalt fernab des heimatlichen Dorfes Nizovka im Governement Tver‘, in dem er 1848 geboren wurde.86 Da seine Eltern während dieser Zeit in St. Petersburg lebten, wuchs Drožžin bei seinen Großeltern auf, von denen er auch das Lesen und die Anfänge des Schreibens erlernte. Die Zeit von 1860 bis 1884 verbrachte er größtenteils in der russischen Hauptstadt, unterbrochen von wiederholten Aufenthalten in Nizovka, in Moskau sowie einer einjährigen Tätigkeit in einer Tabakfabrik in Taškent. Ab Mitte der 1880er Jahre begann sich seine finanzielle Situation zu verbessern, er wurde ein angesehenes Mitglied der Petersburger Literatenkreise und erlangte Bekanntheit. Zugleich verbrachte er immer mehr Zeit in seinem Heimatdorf, auch wenn er zur Präsentation neuer Editionen seiner Werke nach Petersburg, Moskau und in andere Städte wie etwa Char’kov fuhr. 1896 verlegte er seinen Lebensmittelpunkt endgültig nach Nizovka und pflegte von dort aus sein Image eines „Bauerndichters“, der „Pflug und Feder gleichermaßen zu führen wusste.“ 87 Im Dezember 1930 verstarb Spiridon Drožžin. 86 Die biographische Skizze beruht auf den folgenden publizierten Versionen der (Auto)biographie Drožžins: Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884. Ottiski iz istoričeskogo žurnala „Russkaja starina“ izd.  1884 goda, Sankt-­Peterburg 1884 (diese Ausgabe ist identisch mit dem Abdruck in der Zeitschrift im gleichen Jahr: ­Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach, in: Russkaja starina 15 (1884), Bd. 43, S. 503 – 523; ebd., Bd. 44, S. 93 – 123; ebd., Bd. 44, S. 307 – 335); Zapiski o žizni i poėzii, in: Stichotvorenija S. D. Drožžina, 1866 – 1888, Moskva 1907, S. 1 – 96; Biografija S. D. Drožžina, in: Brusjanin, Vasilij, Poėt-­krestjane Surikov i Drožžin (Z dvumjami portretami), Moskva 1910, S. 36 – 64; Žizn‘ poėta-­krest’janina S. D. Drožžin (1848 – 1915gg.), opisannaja im samym, i izbrannyja stichotvorenija. Tret’e, značitel’no izpravlennoe i dopolnennoe avtorom izdanii redakcii „Junaja Rossija“, Moskva 1915; Belousov, Ivan, S. D. Drožžin. Biografičeskij očerk, in: Poėt-­krest’janin S. Drožžin. Ego žizni i pesni, pod redakciej I. A. Belousova, Moskva 1923, S. 5 – 17; Spiridon Dmitrievič Drožžin, in: Antologija ­krest’janskoj literatury posleoktjabrskoj ėpochi, Moskva 1931, S. 95 – 100. 87 Herzberg, Gegenarchive, S. 144.

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Betrachtet man die Dauer der Aufenthalte Drožžins an den verschiedenen Stationen seiner Biographie, so stellt St. Petersburg den Ort dar, an dem er, nach Nizovka, die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. Rund 25 Jahre lang kämpfte er in der Metropole an der Neva darum, Anerkennung für sein dichterisches Werk zu finden. Für den Kontext dieser Arbeit ist diese Zeit, von 1860 bis zur Mitte der 1880er Jahre, die entscheidende – zumal sie auch diejenige ist, in der Drožžin das Leben eines armen Bewohners der Stadt führte, während danach sein gesellschaftlicher Aufstieg begann. Den grundlegenden Text für diese Phase seiner Biographie stellt die erste, 1884 veröffentlichte Version seiner Aufzeichnungen dar. Ebenso wie bei Ključeva besteht sie sowohl aus retrospektiv verfassten Erinnerungen (wie erwähnt begann Drožžin 1867, im Alter von 18 Jahren, mit seinen autobiographischen Notizen) als auch aus längeren Passagen mit Einträgen aus einem Tagebuch, das er phasenweise führte. Die Rahmendaten seiner Darstellung der Aufenthalte in Petersburg in der Version von 1884 decken sich mit denen in den nachfolgend publizierten Fassungen. Abweichungen gibt es hingegen im Detail und in den Wertungen.88 Matrjona Ključeva kam nicht vom Land in die Stadt, sondern wuchs in St. Petersburg auf. Ihr Vater, der 1878 im Russisch-­Türkischen Krieg gekämpft hatte und dabei verwundet worden war, arbeitete als Kutscher in der russischen Hauptstadt und verfiel dem Alkohol.89 Da ihre M ­ utter offenbar früh verstarb, 90 wuchs die um 1870 geborene Matrjona  ebenso wie Spiridon Drožžin nicht bei ihren Eltern auf, sondern bei ihrer Tante Tanja. Diese wohnte im Arbeiterdistrikt Kolomna im Westen des Stadtzentrums, nahe der dort gelegenen Schiffswerft an der Mündung der Fontanka in die Neva. Die Tante Matrjonas verdiente den Unterhalt für sich und ihre Nichte als Wäscherin. Da sie selbst infolge dieser Arbeit bereits an Rheumatismus litt, war sie darum bemüht, Matrjona einen anderen Berufsweg zu ermöglichen. Nachdem diese die ersten drei Klassen der 88 Neben der Version von 1884 stellen die Ausgaben von 1907 und 1915 die ausführlichsten autobiographischen Texte Drožžins dar. Beide sind für die Zeit bis 1907 vollkommen identisch (jedoch nicht deckungsgleich mit der Ausgabe von 1884), weshalb ich im Folgenden für die Jahre bis 1907 die Version aus ­diesem Jahr als Abgleich heranziehen werde, und für die folgenden Phase bis 1914 die späteren (auto)biographischen Skizzen. 89 Die biographische Skizze beruht auf der Einleitung von Aleksej Dmitrenko sowie den Angaben Ključevas: [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga. 90 Ein genaues Geburtsdatum ist nicht bekannt. Aus den Angaben im Text lässt sich jedoch schließen, dass Matrjona um das Jahr 1870 geboren worden sein muss.

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Grundschule nicht erfolgreich abgeschlossen hatte, gelang es ihrer Tante, unter Vortäuschung der Lese- und Schreibfähigkeit ihrer Nichte, Matrjona einen Platz im Nähatelier Pelageja Malyginas am Kalinkinplatz zu besorgen.91 Dort arbei­ tete Matrjona ab 1880 für zwei Jahrzehnte als Gesellin. Zugleich absolvierte sie die vierjährige städtische Abendschule, so dass sie ab 1900 das Atelier verlassen und selbständig Schneiderkurse an einer Frauenberufsschule anbieten konnte. Damit gelang ihr ebenso wie Spiridon Drožžin ein gewisser sozialer Aufstieg, der nicht nur eine geringere Arbeitszeit und einen besseren Verdienst mit sich brachte, sondern auch eine örtliche Veränderung innerhalb der Hauptstadt. 1910 beendete sie die Niederschrift ihrer Erinnerungen, in einem Alter von etwa 40 Jahren. Über ihr weiteres Leben ist nichts bekannt. Wie „eng“, um die Charakterisierung Goehrkes aufzugreifen, waren nun die Welten von Spiridon Drožžin und Matrjona Ključeva? Wie nahmen sie den städtischen Raum wahr und eigneten sich ihn gegebenenfalls auch an? Um diese Fragen zu beantworten, soll zunächst ausgelotet werden, inwieweit die sozialräumliche Struktur der Stadt ihr Handeln reglementierte. Einen Maßstab hierfür kann der Radius darstellen, innerhalb dessen sie sich in ihrem Alltag im städtischen Raum bewegten: Welche Wege gingen sie, und ­welche Teile der Stadt waren für ihr Leben relevant? Blickt man zunächst auf Matrjona Ključeva, so wird in ihren Aufzeichnungen ein Umstand deutlich, der an die Tagebücher und Erinnerungen der Arbeiter in den Fabriken der Stadt erinnert: Das moderne Arbeitsregime ließ wenig Zeit und Kraft für ein Leben jenseits der Werktore. Die erst ab 1897 überhaupt gesetzlich begrenzte Arbeitszeit lag noch 1913 im gesamtrussischen Durchschnitt bei 13 bis 14 Stunden am Tag.92 Dies spiegelt sich auch in den Aufzeichnungen Matrjona 91 Es handelt sich um den heutigen Repinplatz. Er wurde in den 1730er Jahren errichtet und trug anfangs den von einer früheren finnischen Siedlung abgeleiteten Namen Kalinkinplatz. Von 1882 bis 1895 lebte Ilja Repin im gleichen Haus, in welchem sich auch das Nähatelier befand. 1952 erfolgte die bis heute gültige Umbenennung auf seinen Namen. Vgl. Čekanova, Ol’ga, Repina ploščad‘, in: Ėnciklopedija Sankt-­Peterburga, URL: http:// encspb.ru/object/2804018912 (letzter Aufruf am 28. 10. 2018); Kukuškina, Valentina, Toponimika Peterburga-­Petrograda vtoroj poloviny XIX-načala XX vv. (do 1917 g.) po planam goroda, Sankt-­Peterburg 2000, S. 284. 92 Die Angabe bezieht sich auf die Bruttoarbeitszeit, also die eigentliche Regelarbeitszeit sowie Überstunden, Mittagszeit und den Weg von und zur Arbeit. Vgl. hierzu eingehend: Puttkamer, Joachim von, Fabrikgesetzgebung in Russland vor 1905. Regierung und Unternehmerschaft beim Ausgleich ihrer Interessen in einer vorkonstitutionellen Ordnung,

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Ključevas wider: Ihre Arbeitstage waren lang, sie begannen in der Regel um halb neun und endeten mit dem Abendessen um 21 Uhr. Die knapp bemessene Freizeit unterlag ebenfalls klaren Regeln: Unter der Woche durfte sie bis maximal 22:30 Uhr die Werkstatt verlassen, und auch dies nicht allein, sondern nur in Begleitung ihrer Kolleginnen.93 Zudem gehörte sie zu der Minderheit unter den Arbeitern, bei denen die Arbeitsstätte zugleich der Wohnraum war 94 – Matrjona teilte sich ein Bett mit einer Kollegin. Dies war einerseits ein Schutz vor der gerade im privaten Bereich verbreiteten männlichen Gewalt; andererseits stellte es aber auch eine starke Reglementierung ihres Lebens mit wenig Freizeit und Freiraum dar. Dementsprechend verbrachte Matrjona den allergrößten Teil ihrer Zeit im Kolomna-­Distrikt. Auch wenn der Weg zu den „Lichterzentren“ der Stadt von dort nicht weit war, blieben Aufenthalte auf dem Nevskij prospekt oder an anderen zentralen Orten der Stadt die Ausnahme. Allein zum Gostinyj dvor fuhr Matrjona häufiger, da das dort angesiedelte Weißwäschegeschäft zu den regelmäßigen Kunden des Ateliers zählte.95 Ansonsten beschränkten sich weitere Ausflüge, etwa in den Sommergarten, nach Katharinenhof oder in das südöstlich von Petersburg gelegene Kolpino, auf vereinzelte Sonn- und Feiertage, während sich das alltägliche Leben Matrjonas, außer an ihrem Arbeitsplatz, in den Straßen, Hinterhöfen und Parks rund um den Kalinkinplatz abspielte. Hierauf gründet sich denn auch Goehrkes Charakterisierung ihres Lebens als eines Daseins in einer „Nussschale“. Rein geographisch betrachtet ist ihm also zuzustimmen. Zusätzlich zu diesen alle Lohnabhängigen betreffenden Konsequenzen eines weitgehend unreglementierten Arbeitsregimes unterlag Matrjona Ključeva als Frau einer doppelten Marginalisierung.96 Eine Arbeiterin erhielt für die g­ leiche Tätigkeit deutlich niedrigere Löhne als ihre männlichen Kollegen und war im allgemeinen Verständnis dem Mann untergeordnet, was bei den Arbeiterinnen, die nicht wie Matrjona direkt an ihrer Arbeitsstätte wohnten, unter anderem bedeutete, dass von

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Köln u. a. 1996, sowie Glickman, Russian Factory Women. Beschränkungen der Kinderarbeit sowie ein Verbot der Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche unter 17 Jahren waren bereits 1882 bzw. 1885 eingeführt worden. [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 171 f. Vgl. Engel, Between the Fields and the City, S. 150 f. Vgl. [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 172 f., 203 f. Rose Glickman spricht in ­diesem Kontext von den Arbeiterinnen als einer „‚race‘ within a ‚race‘, as it were, a special subcategory on the lowest ranks of this hierarchy.“ Glickman, Russian Factory Women, S. 25.

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ihnen erwartet wurde, neben ihrem Beruf auch noch die häuslichen Arbeiten zu verrichten. Dies schränkte ihre Möglichkeiten, jenseits des Arbeitsplatzes irgendeine Nutzung des städtischen Raums für sich zu entwickeln, noch einmal deutlich ein. Eine Petersburger Arbeiterin beschrieb diese Situation mit den Worten: „We women have two burdens. At the factory we serve the boss, and at home the husband is our ruler. Nowhere do they see the woman as a real person.“ 97 Matrjona war von dieser Doppelbelastung insoweit befreit, als dass sie zumindest für den Zeitraum ihrer Aufzeichnungen unverheiratet blieb und während der ersten Jahrzehnte in dem Nähatelier nicht nur arbeitete, sondern auch wohnte. Der dortige Alltag war so organisiert, dass die insgesamt drei Meisterinnen und fünf Arbeiterinnen zu festen Zeiten gemeinsame Pausen hatten, aber über keinen eigenen Haushalt verfügten, den sie hätten führen müssen. Was ebenfalls in den Erinnerungen Matrjonas lesbar wird, ist die Strukturierung der Orte, an denen sie sich aufhielt, durch die Dominanz männlicher Raumansprüche. In großen Teilen ihres Alltags führte dies zu einer weitgehenden Separierung der Geschlechter: Im Atelier arbeitete Matrjona nur mit Frauen zusammen, inklusive ihrer Chefin Pelageja Malygina, und auch die Freizeitwege in die nähere und manchmal auch fernere Umgebung der Stadt fanden anfangs nur in Begleitung von Kolleginnen, zumeist ihrer Freundin Ol’ga, statt. Von ihrer Chefin wurden sie stets dazu angehalten, keinen Kontakt mit Unbekannten aufzunehmen, „insbesondere nicht mit Männern.“ 98 Hierfür gab es gute Gründe, schließlich waren sexuelle Übergriffe und der von jungen Männern ausgehende Hooliganismus im Leben der städtischen Armen Petersburgs allgegenwärtig.99 Matrjona Ključeva berichtet in ihren Aufzeichnungen von entsprechenden Kämpfen ­zwischen Jugendlichen, die sich am Katharinenkanal, in unmittelbarer 97 So die Formulierung aus dem Jahr 1908, hier zitiert nach ebd., S. 26. Vgl. zu den aus ­dieser Doppelbelastung entstehenden Abhängigkeiten auch Barbara Alpern Engel, Breaking the Ties That Bound. The Politics of Marital Strife in Later Imperial Russia, Ithaca, London 2011, S. 131 – 157, sowie Jane McDermid/Anna Hillyar, Women and Work in Russia 1880 – 1930. A Study in Continuity through Change, London, New York 1998. 98 [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 172. 99 Vgl. hierzu neben dem grundlegenden Werk von Joan Neuberger (Neuberger, ­Hooliganism) auch: Bobroff, Anne Louise, Working Women, Bonding Patterns, and the Politics of Daily Life. Russia at the End of the Old Regime. 2 Volumes. Dissertation, Michigan 1982, hier Vol. II, S. 640 – 686, sowie Steinberg, Mark, Blood in the Air. Everyday Violence in the Experience of the Petersburg Poor, 1905 – 1917, in: Petersen (Hg.), Spaces of the Poor, S. 97 – 121.

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Nähe des Kalinkinplatzes, eine blutige Auseinandersetzung lieferten, indem sie sich über den Kanal hinweg mit Steinen beschossen.100 Für Matrjona war dies, besonders an Feiertagen, ein gewohntes Bild, das jedoch nichtsdestotrotz dazu führte, dass sie und ihre Kolleginnen sich möglichst schnell von solchen Orten entfernten. Und auch unterhalb der Schwelle physischer Gewalt gab es Orte in Matrjonas Alltag, die klar als Männerdomänen codiert waren. Als Beispiel ­seien nur die im Kolomna-­Distrikt zahlreich vorhandenen Kneipen (Traktiry) genannt. Für die Männer stellten sie wichtige Orte ihrer Freizeitgestaltung dar, von Frauen wurden sie aber schon deshalb gemieden, weil diese sonst Gefahr liefen, als Prostituierte zu gelten.101 Die im städtischen Raum präsenten Geschlechterhierarchien finden in den Erinnerungen Matrjonas Ključevas nur insoweit Erwähnung, als dass sie die typische Differenzierung gesellschaftlicher Bereiche ­zwischen Frauen und Männern beschreibt. Während Matrjona und ihre Kolleginnen als Näherinnen in der ‚klassischen‘ Frauendomäne der Textilarbeiterinnen tätig waren,102 begegneten ihr Männer, darunter auch Ilja Repin,103 als Auftraggeber, als Feuerwehrmänner (die sie als „Helden“ 104 beschreibt), und als Kutscher, die in ärmlichen Verhältnissen lebten und häufig dem Alkohol verfallen waren,105 hierunter auch ihr Vater, den sie gelegentlich besuchte, um ihn finanziell zu unterstützen. Auch Matrjonas Schilderung der Kneipe, die sich gegenüber ihrem Atelier in der Mjasnaja ulica befand, vermittelt eher ein idyllisches Bild 106 – als einem Ort, der bereits morgens um sechs mit Kutschern bevölkert war und in dem sie und ihre Kolleginnen heiße Getränke erhielten, um sich dann auf den steinernen Eingangsstufen 100 Vgl. [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 201. 101 Vgl. Bobroff, Working Women, Vol. II, S. 469 – 473; Kelly, Catriona, ‘Better Halves’? Representations of Women in Russian Urban Popular Entertainments, 1870 – 1910, in: Women and Society in Russia and the Soviet Union. Edited by Linda Edmondson, Cambridge 1992, S. 5 – 32, hier S. 12; Beneder, Beatrix, Männerort Gasthaus? Öffentlichkeit als sexualisierter Raum, Frankfurt/Main, New York 1997, S. 79 – 86. 102 Vgl. Glickman, Russian Factory Women, S. 61 ff., sowie von Puttkamer, Fabrikgesetzgebung, S. 145 – 153. 103 Vgl. [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 173. 104 Ebd., S. 196. 105 Vgl. zur sozialen Situation der in St. Petersburg großen Gruppe von zu Beginn des 20. Jahrhunderts rund 20.000 Kutschern auch Solov’ev, Social’naja istorija Sankt-­Peterburga, S. 153 – 155. 106 Vgl. [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 167 f.

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niederzulassen und der Musik aus dem Inneren zu lauschen. Eine Bemerkung darüber, dass die Männer drinnen und sie draußen saßen, findet sich nicht – wie insgesamt die alltäglichen Geschlechterhierarchien kein Gegenstand der Reflektion oder gar der Kritik sind. Dies ist besonders augenfällig im Vergleich zu dem Platz, den die Schilderung sozialer Gegensätze in Matrjonas Erinnerungen einnimmt. Die Kontraste von Arm und Reich macht sie hierbei häufig an bestimmten Orten fest, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. Blickt man nun auf den Radius, innerhalb dessen sich Spiridon Drožžin bewegte, und auf die Orte, die für sein Leben relevant waren, so bietet sich ein auf den e­ rsten Blick deutlich anderes Bild. Im Gegensatz zu dem Nähatelier am Kalinkinplatz, welches ein Gravitationszentrum im Alltag Matrjona Ključevas bildete, waren die Jahre, die Drožžin in der Metropole an der Neva verbrachte, von häufigen Ortswechseln und einer geringen Verweildauer an seinen jeweiligen Stationen geprägt. Als er Ende November 1860 zum ersten Mal dem aus Tver‘ kommenden Zug entstieg und vom Bahnhof auf die überfüllten Straßen der Hauptstadt trat, war Spiridon Drožžin dem Rat seines Großonkels Vasilij Kasatkin gefolgt. Dieser hatte ihm eine Tätigkeit in einem Gasthaus versprochen, in dem er selbst arbeitete. Bei d ­ iesem Gasthaus handelte es sich um das „Europa“ (Evropa), in der Nähe der Černyšev-­Brücke (der heutigen Lomonossov-­Brücke) gelegen, w ­ elche die Fontanka überquerte und an den Apraksin dvor grenzte. Drožžins Aufgabe bestand darin, von vier Uhr morgens bis spät in die Nacht in einem von Rauch und Wodkageruch gefüllten Hinterzimmer die Gäste zu bedienen, anschließend noch den Boden zu säubern, um dann bis zum Beginn der nächsten Schicht einige wenige Stunden Schlaf zu finden.107 Seine erste Station in Petersburg war somit das Milieu der ‚kleinen Leute‘ im Zentrum der Stadt, entlang der „Straße der Märkte“ und nur wenige Minuten vom Heumarkt entfernt. Nach ein paar Monaten wurde Drožžin in einen anderen Teil des „Europa“ versetzt. Hier servierte er für zwei Rubel/Monat und traf zum ersten Mal auf ‚fliegende‘ Händler, die lubki (Bilderbögen) und Bücher verkauften. Von den Kopeken, die er als Trinkgeld erhielt, erwarb er seine erste eigene Lektüre. 1863 wechselte Drožžin als Verkäufer in das benachbarte Tabakgeschäft – gemäß seiner Darstellung einerseits eine Folge des Umbaus des „Europa“ nach dem verheerenden Brand auf dem Apraksin dvor 1862, vor allem aber ein Resultat dessen, dass er zuvor in dem Geschäft für seinen Chef häufig Zigaretten und Zigarren 107 Vgl. Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 17.

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gekauft hatte und im Zuge dessen er der jungen Besitzerin, Praskovaja Semenova, positiv aufgefallen war.108 Sein Verdienst verbesserte sich an der neuen Arbeitsstätte nicht, aber im Gegensatz zum „Europa“ konnte er nun ungestört lesen und dank der Bekanntschaft mit Vasilij, Sohn der Besitzerin und Schauspielschüler, erhielt er die Möglichkeit, die Vorstellungen am nahe gelegenen Aleksandrinskij-­Theater zu besuchen. Hinzu kamen die Gesellschaftsabende, die die Familie Semenov in den Winter- und Sommermonaten ausrichtete und bei denen Drožžin für den Verkauf zuständig war. Da diese Abende außer am Obuchovskij prospekt auch am Kamennoostrovskij prospekt stattfanden, stellten sie zugleich die ersten Anlässe dar, zu denen er den Spasskaja-­Distrikt verließ und die Petersburger Seite der Stadt zu Gesicht bekam. Im Herbst 1864 wechselte Drožžin in das Tabakgeschäft von Štol’c, einem Bekannten von Praskovaja Semenova, am Obuchovskij prospekt. Geographisch verblieb er damit im Umfeld des Heumarkts, konnte jedoch seinen Verdienst auf fünf Rubel/Monat steigern und dank der zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften, die der Besitzer vorhielt, seine Lektüre fortsetzen.109 Nachdem er Ostern 1865 bei seiner Familie in Nizovka verbracht hatte und anschließend nach Moskau gereist war, musste sich Drožžin bei seiner Rückkehr nach Petersburg erneut nach einer Unterkunft und einem Job umschauen. Dank der Empfehlungen von Praskovaja Semenova fand er zunächst eine Anstellung im Gasthaus „Moskau“ (Moskva) und anschließend in einem Geschäft der bekannten Tabakfirma Gabaj und Mičri 110. In letzterem erhielt er einen Lohn von zunächst sechs und später 10 Rubel/Monat, den er ausweislich seiner Autobiographie in erster Linie für Bücher ausgab.111 Im Sommer 1866 eröffnete Gabaj und Mičri eine Filiale an der Ecke Bol’šaja Morskaja ulica/Gorochovaja ulica. Drožžin wurde dorthin versetzt und arbeitete damit in den folgenden Jahren im Admiralitätsdistrikt, unweit der Admiralität, 108 Vgl. Zapiski o žizni i poėzii, S. 43. In der Version von 1884 gibt Drožžin keine Erklärung für das Zustandekommen seines Wechsels in das Tabakgeschäft. 109 Vgl. in den Grundzügen übereinstimmend, wenn auch unterschiedlich detailliert: Poėt-­ krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 19; Zapiski o žizni i poėzii, S. 44. 110 Vgl. als Überblick über die Geschichte der zahlreichen Tabakgeschäfte und -fabriken in Petersburg: Tabačnye fabriki i fabrikanty v Rossii. 2 čast‘, URL : http://mytabak.ru/ tabachnye-­fabriki-­i-­fabrikanty-­v-­rossii-2-chast.html (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 111 Vgl. Zapiski o žizni i poėzii, S. 46.

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aber ebenso nach wie vor nur wenige Minuten von der Gartenstraße entfernt. Im Juli 1869 verlor er seine Anstellung aufgrund eines Konflikts mit dem Fabrikvorsteher in einer der Fertigungsstätten von Gabaj und Mičri: Während er auf die in der Fabrik bestellte Ware wartete, hatte er ein Gespräch mit seinem Freund Sokrates begonnen, der dort arbeitete. Als er sich weigerte, der barschen Aufforderung des Vorstehers, die Unterhaltung zu beenden und in gebührendem Abstand zu warten, Folge zu leisten, wurde er der Fabrik verwiesen und anschließend gekündigt.112 Angesichts seiner prekären Lage kehrte Drožžin zu den Semenovs zurück. Für vier Rubel/Monat arbeitete er an verschiedenen Standorten, auch wenn er sich damit gegenüber der vorherigen Entlohnung bei Gabaj und Mičri finanziell spürbar verschlechterte. Eine weitere Verschärfung erfuhr seine Situation durch eine schwere Krankheit, die ihn im Februar 1870 zu einem mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt zwang. Als er im April wieder entlassen wurde, hatte er in der Zwischenzeit seinen Job verloren. Für Drožžin bedeutete dies, dass er entweder bei Bekannten wie Sokrates Unterschlupf und Verpflegung finden musste, oder dass er auf den Straßen der Hauptstadt lebte. Wie seinen Aufzeichnungen zu entnehmen ist, schlief er unterer anderem am Ufer der Großen Neva, am Admiralitätsboulevard und im Aleksandrovskij Park auf der Petersburger Seite.113 Spiridon Drožžin wurde damit für mehrere Wochen Teil der stetig wachsenden Zahl an Obdachlosen in St. Petersburg, die nicht mehr nur an einschlägigen Adressen wie der Vjazemskaja lavra anzutreffen waren,114 wie auch die von ihm angeführten Orte zeigen. Um dieser Notlage zu entkommen, nahm Drožžin Ende Mai 1870 einen Job im „Ėriwan“ an, einer Kneipe am Apraksin pereulok. Damit war er geographisch und hinsichtlich seiner Tätigkeit wieder dort angelangt, wo er zehn Jahre zuvor bei seiner Ankunft in Petersburg begonnen hatte. Diesmal gelang es ihm jedoch bereits nach kurzer Zeit, die „schmutzige Kneipe“ 115 zu verlassen: Anfang Juli erhielt er über eine Empfehlung eines alten Freundes eine Anstellung in einem Beleuchtungsgeschäft in der Vladimirskaja ulica, in der Nähe des Litejnyj sowie des Nevskij prospekt. Damit arbeitete er erstmals jenseits der Fontanka, im 112 Vgl. weitgehend identisch: Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 27 f.; Zapiski o žizni i poėzii, S. 49 f. 113 Vgl. übereinstimmend: Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 29; Zapiski o žizni i poėzii, S. 51. 114 Vgl. hierzu auch Jahn, Armes Russland, S. 93 – 113. 115 Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 29.

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Moskauer Distrikt, und verfügte mit einem Gehalt von 15 Rubel/Monat über ein eigenes Zimmer 116 samt Tisch. Es erscheint nicht nur als nachträgliche Inszenierung, wenn er angesichts dessen schreibt, dass er nach der Zeit der Obdachlosigkeit und der Arbeit im „Ėriwan“ nun habe „frei durchatmen“ 117 können. Allerdings sollte auch diese Zeit nicht lange andauern. Bereits im Februar 1871 kündigte Drožžin aus Verärgerung über die Vorhaltungen, die er sich von seinem Chef über seine Arbeitsmoral anhören musste. Die folgenden Monate verbrachte er erneut in ziemlich prekären Verhältnissen: Zunächst wohnte er, unweit seiner vorherigen Arbeitsstätte, für einen Rubel und 25 Kopeken/Monat am Kuznečnyj pereulok im Winkel einer Küche, z­ wischen Vladimirskij und Ligovskij prospekt. Insbesondere letzterer stellte trotz seiner vergleichsweise zentralen Lage eine Straße der unteren Schichten Petersburgs dar und war unter der Bezeichnung Ligovka als eine der gefährlichsten Gegenden der Stadt verrufen.118 Die Küche befand sich im Keller eines zweistöckigen Hauses und war entsprechend feucht und spärlich beleuchtet. An den Wänden bildeten sich Schimmelpilze, den Boden bevölkerten Wanzen und Kakerlaken, und das Bett Drožžins bestand aus morschen Brettern. Den Raum teilte er sich mit zwei Mädchen und deren Vater, die sich mit der Reparatur alter Stiefel über Wasser zu halten versuchten, sowie einem Bettler, der auf einem Ofen nächtigte.119 Folgt man den Aufzeichnungen Drožžins, so dachte er in dieser Zeit nicht nur einmal daran, seinem Leben ein Ende zu setzen.120 Im April 1871 nahm Drožžin erneut eine Arbeit in einer Kneipe an. Am Zagorodnyj prospekt gelegen, befand sie sich in der Nähe seines bisherigen ‚Wohnwinkels‘ und gehörte dem gleichen Besitzer wie der Traktir am Apraksin pereulok. Allerdings wurde sie bereits Anfang Juni wieder geschlossen, laut Drožžin infolge

116 In der Version von 1884 spricht Drožžin von einer „Wohnung“, 1907 hingegen von einem „Zimmer“. In Anbetracht seines trotz der Lohnsteigerung für Petersburg nach wie vor bescheidenen Einkommens erscheint es wahrscheinlich, dass mit „Wohnung“ ein Zimmer gemeint war. Vgl. Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 29; Zapiski o žizni i poėzii, S. 51. 117 Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 29. 118 Vgl. Steinberg, Petersburg. Fin de Siècle, S. 59, 70 f. 119 Vgl. übereinstimmend: Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 30 f.; Zapiski o žizni i poėzii, S. 53. 120 So zumindest die Darstellung in: Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego ­vospominanijach 1848 – 1884, S. 31. In der Version von 1907 finden diese Gedanken keine Erwähnung.

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des Missmanagements des Besitzers.121 Er selbst sah sich daraufhin genötigt, seine Bettwäsche zu verkaufen und seinen letzten Mantel zu verpfänden. In den folgenden Wochen schlief er erneut „unter freiem Himmel“ 122 (pod otkrytym nebom) auf den Straßen der Hauptstadt, bis er im Juli eine Anstellung in einer Kneipe auf der Vasilij-­Insel fand. Die groben Umgangsformen dort hätten es allerdings selbst ihm, der er „kein Neuling in d ­ iesem Gewerbe“ mehr war, sehr schwer gemacht, so dass er schließlich im November nach Nizovka zurückkehrte, „des Umherirrens in der Hauptstadt wegen eines Stücks Brot überdrüssig.“ 123 Nach dieser rund elfjährigen Zeit, die er fast durchgängig in Petersburg verbracht hatte, lebte Drožžin nun bis Ende 1876 jenseits der Hauptstadt, mit Ausnahme eines k­ urzen Intermezzos als Angestellter eines Tabakgeschäfts 1873/74. Stattdessen verbachte er zunächst einige Zeit in seinem Heimatdorf, um dann in Moskau und später in Taškent sein Glück zu versuchen, ohne dass hieraus jedoch eine gesicherte Existenz erwachsen wäre. Zudem fiel seine Heirat mit Marija Čurkina, der Tochter einer Bäuerin aus Nizovka, in diese Phase. Nach seiner Vermählung arbeitete Drožžin im Nachbardorf als Lehrer in einer Milchwirtschaftsschule, bis diese aufgrund zu geringer Schülerzahlen ihren Betrieb einstellen musste und er sich entschloss, nach Petersburg zurückzukehren. Seinen zweiten längeren Aufenthalt in der Stadt begann Drožžin als Arbeiter in einer der zahlreichen Tabakfabriken, ehe er bald darauf für einen Lohn von 10 Rubel/Monat im Tabaklager des Kaufmanns Goroškov anfing. Im April 1877 kam Drožžins Frau nach Petersburg, und Goroškov stellte ihnen ein Zimmer in dem Teil seines Hauses zur Verfügung, der der Dienerschaft vorbehalten war. Wenig später, am 1. Mai, eröffnete Goroškov ein Tabakgeschäft am Nevskij prospekt, gegenüber der Publička, der von Katharina II. begründeten Öffentlichen Bibliothek und heutigen Russischen Nationalbibliothek. Er beförderte Drožžin zum leitenden Angestellten, mit einem monatlichen Verdienst von 20 Rubel. Zwar lag auch ­dieses Geschäft im Untergeschoss und litt unter einer derart „schrecklichen Feuchtigkeit“ 124, das sich die Einbände der von Drožžin in der Bibliothek entliehenen Bücher grün färbten – aber der Standort vis-­à-­vis der Publička bot ihm einen unmittelbaren Zugang zu jeder Lektüre, die er sich wünschte. 121 Vgl. Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 32. 122 Ebd. 123 Beide Zitate: Zapiski o žizni i poėzii, S. 54. 124 Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 51.

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Im Juni 1878 musste Goroškov das Geschäft wegen des zu geringen Umsatzes schließen. Drožžin fuhr daraufhin für kurze Zeit nach Nizovka, wo er jedoch von seinen Eltern wegen der fehlenden Einnahmen mit Vorwürfen überhäuft wurde, so dass er rasch nach Petersburg zurückkehrte und im Oktober erneut eine Arbeit in einem Tabakgeschäft annahm, diesmal am Litejnyj Prospekt im Haus des Grafen Šeremetev. Neben einem monatlichen Lohn von 15 Rubel bekam er vom Besitzer ein großes Zimmer mit Wasserversorgung und eigenem Herd gestellt, so dass er seine Frau und seine Tochter in die Stadt holen konnte. Im Rückblick bezeichnete Drožžin dies als die bis dahin „beste Zeit seines ganzen Lebens“ 125. Im Februar 1879 zog Drožžin in das an der Bahnlinie Moskau-­St. Petersburg gelegene Dorf Malaja Višera, wo er dank der Empfehlung eines Bekannten einen gut bezahlten Job an der dortigen Bahnstation antrat.

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Abb. 1: Bahnstation Malaja Višera, mit ­Kirche, 1855 – 1864 

125 Zapiski o žizni i poėzii, S. 66. 126 URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/4/41/Railway_station_Malaya_ Vishera._10.jpg (letzter Aufruf am 28. 10. 2018).

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Bereits 1881 kehrte er jedoch an die Neva zurück, nachdem er seinen Posten in Malaja Višera verloren hatte. Obwohl er eine Anstellung in einem Petersburger Buchgeschäft fand, die mit 25 Rubel/Monat entlohnt wurde, reichte das Geld kaum für ihn und seine Familie, zumal der Vater beständig einen Teil des Geldes für sich reklamierte und auch nicht davor zurückschreckte, seinen Forderungen mittels der Polizei Nachdruck zu verleihen.127 Erneut prekär wurde die Situation dann im August 1882, als das Buchgeschäft schloss. Drožžin zog mit seiner Familie in ein Zimmer im fünften Stock eines Hauses an der Ecke Voznesenskij/Ekateringofskij prospekt und damit zurück in den Spasskaja-­Distrikt. Da Drožžin nun nur noch von der gelegentlichen Veröffentlichungen seiner Gedichte lebte, war er nicht mehr in der Lage, zumindest das Lebensnotwendigste zu kaufen, vor allem die Medikamente für seine Frau, die aufgrund der Feuchtigkeit des Zimmers erkrankt war.128 Neben einer kurzzeitigen Beschäftigung in einem Tabakgeschäft am Voznesenskij prospekt konnten sie sich in dieser Zeit vor allem dank einer Unterstützung von 75 Rubel über Wasser halten, die ihnen der „Puschkinzirkel“ gewährte – ein Zusammenschluss Petersburger Schriftsteller, dem Drožžin inzwischen angehörte. Im Juli 1883 kehrte die Familie nach Nizovka zurück, wo bald darauf die zweite Tochter geboren wurde. An der schwierigen finanziellen Lage änderte sich jedoch erst langsam etwas. Ein weiterer Aufenthalt in Petersburg im November des gleichen Jahres erbrachte auch keine dauerhafte Anstellung, so dass er erneut auf Unterstützung angewiesen war, die d ­ ieses Mal der Literaturfonds gewährte.129 Erst in den folgenden Jahren begann sich seine finanzielle Situation zu verbessern, Drožžin wurde ein angesehenes Mitglied der Petersburger Literatenkreise und erlangte Bekanntheit. Zugleich verbrachte er immer mehr Zeit in seinem Heimatdorf, bis er schließlich 1896 seinen Lebensmittelpunkt endgültig nach Nizovka verlegte. In die Stadt kehrte er nur noch punktuell zurück – und wenn, hatten diese Aufenthalte nun einen deutlich anderen Charakter als das bisherige „Umherirren in der Hauptstadt wegen eines Stücks Brot“. Dies wird nicht zuletzt an den Orten deutlich, die er in den verschiedenen Phasen seiner städtischen 127 Vgl. Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 68. In der Ausgabe von 1907 wird d ­ ieses Verhalten des Vaters nicht erwähnt, vermutlich, da es nicht in das idealisierte Bild des Dorflebens passte. 128 Vgl. Zapiski o žizni i poėzii, S. 72. 129 Vgl. übereinstimmend: Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 74; Zapiski o žizni i poėzii, S. 75.

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Biographie aufsuchen musste oder konnte: Die ersten zwei Jahrzehnte seines Lebens an der Neva lesen sich mit den verrauchten Hinterzimmern der Kneipen, dem Winkel einer Küche, dem feuchten Dachzimmer und der Obdachlosigkeit auf den Straßen und in den Parks wie ein Querschnitt durch das Spektrum der prekären Wohnformen der Unterschichten Petersburgs. Zugleich wird ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre jedoch auch eine andere Entwicklung sichtbar: Zunächst kam Drožžins Frau nach Petersburg, und zumindest temporär gelang es ihnen, wenigstens ein Zimmer anzumieten und damit ein Mindestmaß an Privatheit zu ermöglichen. Parallel hierzu bekam Drožžin sukzessive Zutritt zu den Literatenkreisen Petersburgs, auch wenn diese Welt der Hochkultur anfangs noch im scharfen Kontrast zu seiner nach wie vor unsicheren Existenzbasis stand: Während er tagsüber in dem feuchten Tabakgeschäft Goroškovs in einem Untergeschoss des Nevskij prospekt arbeitete, besuchte er abends den Schriftsteller Alexander Šeller-­Michajlov in dessen Wohnung am Nevskij.130 Šeller-­Michajlov war Mitglied eines Literaturzirkels, zu dem Drožžin über Aleksandr Sal’nikov gefunden hatte, der wiederum über einen gemeinsamen Bekannten davon gehört hatte, dass der Verkäufer in dem Tabakgeschäft zugleich Gedichte schrieb.131 Auf diese Weise eröffnete sich für Drožžin die Möglichkeit, erstmals eine der repräsentativen Wohnungen am Prachtboulevard Petersburgs zu betreten, die er bis dahin nur als nahen und zugleich weit entfernten Kontrast zu seinem eigenen Leben wahrgenommen hatte. Bei seinen folgenden, nur noch punktuellen Aufenthalten in Petersburg konnte Drožžin dann auf einen wachsenden Bekanntenkreis an Literaten zurückgreifen, bei denen er stets unterkam.132 Zudem hatten sich die Beweggründe für seine Abstecher in die Hauptstadt grundlegend geändert: Nicht mehr die materielle Not diktierte sein Handeln, sondern neue Editionen seiner Werke und Ehrungen bildeten nun die Anlässe für den Weg in die Stadt. So gehörte Drožžin 1907 zu den geladenen Gästen, die im Saal der städtischen Duma an den Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen des Literaturfonds teilnahmen, wobei anschließend ein Porträt von ihm in die Galerie der russischen Schriftsteller aufgenommen wurde.133 Und 1913 berichtete die Petersburger Presse enthusiastisch darüber, 130 131 132 133

Vgl. Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 55. Vgl. ebd., S. 54 f. Vgl. hierzu für die Aufenthalte 1886 und 1898: Zapiski o žizni i poėzii, S. 87, 94 f. Žizn‘ poėta-­krest’janina S. D. Drožžin (1848 – 1915gg.), S. 107.

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dass der „ehrwürdige Volks-­Dichter Spiridon Drožžin“ 134 an einem der bekannten Gesellschaftsabende des Übersetzers und Literatursammlers Fedor Fidler (Friedrich Fiedler) teilgenommen habe. Der Kontrast zu seinem früheren Leben in den Hinterzimmern und auf den Straßen der Hauptstadt muss für Drožžin zweifellos groß gewesen sein. Vergleicht man den Petersburger Teil der Biographie Drožžins mit dem Leben Matrjona Ključevas, so gibt es einerseits grundlegende Differenzen: Während Matrjonas Alltag um das Nähatelier am Kalinkinplatz kreiste, waren Spiridon Drožžins Aufenthalte von einer geringen Verweildauer an seinen jeweiligen Stationen geprägt.135 Dieser Kontrast steht exemplarisch für die unterschied­ lichen Lebensumstände und Bewegungsmöglichkeiten der Arbeiter, die an den Rhythmus des modernen Arbeitsregimes gebunden waren, einerseits und die unsicheren Existenzen der subproletarischen Schichten andererseits. Personen wie Drožžin unterlagen einer erzwungenen hohen Mobilität – auf ihn trifft zu, was der Aufseher einer Schulbehörde in Bethnal Green, einem Armutsviertel der britischen Hauptstadt London, um 1889 feststellte: Die Armen s­ eien gezwungen, sich „like fish in a river“ 136 durch den städtischen Raum zu bewegen. Blickt man jedoch auf den Radius, innerhalb dessen sich die Zeit Drožžins in Petersburg abspielte, dann überwiegen die Gemeinsamkeiten mit dem Leben Matrjona Ključevas. Die häufigen Ortswechsel Drožžins erfolgten großteils im Spasskaja- und Moskauer Distrikt diesseits und jenseits der Fontanka, die Gartenstraße mit ihren Märkten, Kneipen und kleinen Geschäften stellte sein primäres Umfeld dar, innerhalb dessen er sich von einem Job zum anderen hangelte. Aufenthalte in anderen Stadtteilen oder ‚jenseits des Flusses‘ waren nicht ausgeschlossen (in Drožžins Fall etwa auf der Petersburger Seite und auf der Vasilij-­Insel), sie blieben jedoch die Ausnahme. Rein geographisch würde also auch in seinem Fall das Bild der „Nussschale“ zutreffen. Dieses Leben in einer „Nussschale“ entsprang jedoch nicht einer „engen“ und „überschaubaren“ Lebenswelt, sondern war aus ökonomischen Gründen alternativlos: Drožžins Aufzeichnungen zeigen, dass die arme Bevölkerung nicht anders handeln konnte, als an den Orten

134 So die Formulierung in den „Birževye Vedomosti“, hier zitiert nach ebd., S. 100. 135 Vasilij Brusjanin sprach 1910 zutreffend davon, dass Drožžin „beständig von einem Ort zum anderen vagabundiert“ sei: Biografija S. D. Drožžina, S. 48. 136 Zitiert nach: White, Jerry, London in the Nineteenth Century. ‚A Human Awful Wonder of God‘, London 2008, S. 117.

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und bei den Netzwerken zu bleiben, über die man an Jobs zu gelangen hoffte. Auch dies ist kein speziell Petersburger oder auch nur russisches Phänomen: In London blieben die urban poor ebenfalls in aller Regel in ihrem Viertel, selbst nach den als ‚slum clearances‘ bezeichneten gewaltsamen Räumungen ganzer Straßenzüge: „The poor are indeed displaced, but they are not removed. They are shoveled out of one side of a parish, only to render more over-­crowded the stifling apartments in another part.“ 137 Die im städtischen Raum präsenten Geschlechterhierarchien finden in den Erinnerungen Drožžins, ähnlich wie bei Matrjonas Ključeva, eher beiläufige Erwähnung. Dies bedeutet nicht, dass sie für sein Leben in der Stadt keine Rolle gespielt hätten: Mit Ausnahme von Praskovaja Semenova, der jungen Besitzerin des Tabakladens am Rande des Apraksin dvor, waren sämtliche Chefs, bei denen Drožžin eine Anstellung fand, Männer. Gleiches gilt für die von ihm erwähnten Freunde sowie für die Mitglieder der Literaturzirkel, mit deren Hilfe ihm sein gesellschaftlicher Aufstieg gelang. So wie Matrjona Ključeva von der Protektion durch ihre Chefin profitierte und sich ansonsten vor allem im Kreis ihrer Arbeitskolleginnen bewegte, so waren es bei Spiridon Drožžin männliche Netzwerke, die er sich aufbaute und von denen er später profitierte. Die Differenzierung gesellschaftlicher Bereiche ­zwischen Frauen und Männern wird mithin in der vergleichenden Lektüre der Aufzeichnungen ebenso sichtbar wie die Bedeutung, die einer solchen Vernetzung jeweils zukam. Frauen finden demgegenüber in den Aufzeichnungen Drožžins deutlich seltener Erwähnung als Männer, und wenn, dann zumeist mit den für eine patriar­ chale Sicht typischen Zuschreibungen. Seine Ehefrau Marija charakterisierte Drožžin als eine ungebildete, aber kluge und im höchsten Sinne sympathische Frau. Sie sticht nicht durch Schönheit hervor, aber fesselt durch die Ausdruckskraft ihrer schwarzen Augen, liebt es sehr, sich zu unterhalten, und kann präzise und mit einem typisch russischen Humor erzählen. Volkslieder singt sie sehr gut, aber meine Beschäftigung mit Literatur und Poesie hält sie für Zeitverschwendung.138

137 So die Beobachtung von Reverend William Danton 1861, hier zitiert nach: Allen, C ­ leansing the City, S. 119. 138 Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 48.

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Entsprechend schildert Drožžin auch die beständige Auseinandersetzung mit seinen Eltern in erster Linie als einen Konflikt z­ wischen seinem Vater und ihm, während die ­Mutter in der Darstellung im Hintergrund verbleibt. Überhaupt keine Erwähnung findet die Frage des Verhältnisses zu anderen Frauen während seiner langjährigen Aufenthalte in der Stadt. Dies ist zum einen nicht verwunderlich, galt es doch allgemein als unziemlich, sich öffentlich hierüber auszulassen. Wie Julia Herzberg gezeigt hat, war es im Falle Drožžins jedoch vor allem die Diskrepanz ­zwischen publiziertem und unpubliziertem Text, die sich hier niederschlug: Während sich Drožžin in seinen unveröffentlichten Aufzeichnungen recht ausführlich seiner Affären mit einer ganzen Reihe von Frauen rühmte, fand sich hiervon nach dem Druck kein Wort mehr.139 Inwieweit er selbst diese Kürzungen vorgenommen hat oder ob seine Verleger korrigierend eingegriffen haben, muss offenbleiben. In jedem Fall entsprachen s­ olche Episoden nicht dem gewünschten Bild des bäuerlichen Autodidakten, der seine gesamte Zeit dem Studium der Literatur widmete. Und es passte nicht in ein Narrativ, in dem Männer und Bücher dominierten.

Bildung, Netzwerke, Orte: Aneignungen des städtischem Raums Was lässt sich nun nach der Betrachtung von Topographien und Hierarchien darüber aussagen, ­welche Bedeutung die Orte ihres Alltags für Matrjona Ključeva und Spiridon Drožžin besaßen? Wenn man zunächst auf Spiridon Drožžin blickt, so steht vor der Antwort auf diese Frage seine gezielte Selbstdarstellung mit ihrer Idealisierung des Dorflebens und der düsteren Skizzierung der Stadt. Zudem waren die ersten beiden Jahrzehnte seiner Zeit in Petersburg auch jenseits der narrativen Strategie von tatsächlich schwierigen Bedingungen geprägt. So vermag es nicht zu verwundern, wenn er in einem Brief an seine Eltern im Mai 1871 schrieb: Dieses Leben und diese Hauptstadt namens Petersburg ekeln mich an. Ich würde dauerhaft in Nizovka bleiben und dort irgendeine Arbeit ausüben. […] In Petersburg gibt es keine Verwandten. Hätte ich mehr Geld oder zumindest eine abgesicherte und dauerhafte Bleibe, dann würden diese sogenannten Verwandten um mich 139 Vgl. hierzu detailliert Herzberg, Gegenarchive, S. 138 – 140.

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herumschwänzeln wie Hunde. In der Not ist von ihnen jedoch außer Gleichgültigkeit oder gar Verachtung nichts zu erwarten. […].140

War die Zeit in Petersburg für Drožžin also ein reiner Überlebenskampf, so dass sich seine Handlungen „als Derivate von Zwängen […] ‚automatisch‘ an den strukturellen Bedingungen ‚ablesen‘ lassen“ 141, um die Formulierung Loïc Wacquants aufzugreifen? Oder hat er trotz seiner prekären Lage versucht, den ihn umgebenden Strukturen einen Sinn zu verleihen und sie für sich zu ­nutzen? Nach meinem Dafürhalten lässt sich letztere Frage mit „Ja“ beantworten, und zwar auf zwei Ebenen: Dem individuellen Agieren Drožžins und den Netzwerken, die er aufbaute und von denen er profitierte. Das individuelle Handeln Drožžins ist, wie erwähnt, Teil seiner Selbstinszenierung, der zur Folge er praktisch jede verdiente Kopeke in neue Lektüre investierte und sich hiervon auch unter schwierigsten Bedingungen nicht abbringen ließ. Gleichzeitig ist es jedoch nicht hinreichend, diesen zweifellos begradigten Ich-­ Entwurf allein als narrative Strategie zu entlarven. Dies zeigt schon der Umstand, dass Drožžin ausweislich seiner Erinnerungen seine ersten Gedichte 1866/67 verfasste, zu einem Zeitpunkt, als er gleichfalls begann, ein Tagebuch zu führen.142 Hinter ihm lagen damals bereits sechs Jahre in der Stadt. Als er Nizvoka Ende 1860 verlassen hatte, konnte er dank seiner Großeltern lesen und rudimentär schreiben – was für einen elfjährigen Jungen vom Dorf nicht selbstverständlich war, zugleich aber auch noch ein gutes Stück von der Fähigkeit entfernt lag, selbst Gedichte zu verfassen. Zudem besuchte er bereits seit einiger Zeit nicht mehr die Dorfschule, da er davon ausging, dass er dort hinsichtlich seiner Lese- und Schreibfähigkeit „nichts mehr lernen“ 143 werde. Dementsprechend kann es nur einen Ort gegeben haben, an dem sich Drožžin seine spätere Ausdrucksfähigkeit aneignete: die Stadt. Stellt man dies in Rechnung, so ändert es zwar nichts an seiner Selbststilisierung zum bäuerlichen Autodidakten, es wird jedoch deutlich, dass Drožžin die Bildungsangebote St. Petersburgs auch tatsächlich nutzte, und dies trotz seiner hierfür sicher nicht günstigen Lebensumstände. Die billigen Bücher, die er in den Hinterzimmern des „Europa“ erwarb, die Tageszeitungen 140 141 142 143

Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 32. Wacquant, Drei irreführende Prämissen, S. 203. Vgl. Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 20 f. Ebd., S. 16.

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im Tabakgeschäft von Štol’c und nicht zuletzt die Bekanntschaft mit dem Sohn von Praskovaja Semenova, der ihm seine ersten Theaterbesuche ermöglichte, erscheinen dann nicht nur als Anhängsel einer ökonomisch prekären Existenz, sondern zugleich als Stationen einer beharrlichen Aneignung von Bildung unter schwierigen Bedingungen. Hierzu passt auch, dass die immensen Literaturbestände der Publička nicht erst im Mai 1877 in Drožžins Leben traten, als er von Goroškov zum leitenden Angestellten des neu eröffneten Tabakgeschäfts am Nevskij prospekt ernannt wurde. Bereits Jahre vor dieser durch äußere Umstände herbeigeführten Annäherung an die Bibliothek war er selbst aktiv geworden: Schon 1866 hatte sich Drožžin als Benutzer der Publička eingeschrieben, laut seiner Aufzeichnungen, weil ihm die „bisher von mir erworbenen Bücher nicht mehr genügten.“ 144 Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Stilisierung, wenn er angibt, nach seinem Zutritt zur Bibliothek als Erstes das Gesamtwerk Puschkins gelesen zu haben und dies zum Auslöser für seinen Entschluss erklärt, „selbst etwas zu schreiben.“ 145 Aber auch eingedenk solcher möglicherweise überzeichneter Wirkungslinien bleibt der Umstand bestehen, dass Drožžin von sich aus den Weg zum klassischen Kanon der russischen Literatur suchte und hierbei vom „Prinzip der allgemeinen Zugänglichkeit“ 146 profitierte, das der Publička zugrunde lag, an der in der Reformära der 1860er Jahre die letzten schichtenspezifischen Restriktionen beseitigt worden waren. Er gehörte damit zu der wachsenden Zahl neuer Benutzer aus den „armen Schichten der Petersburger Bevölkerung“ 147, die in die Lesesäle der Bibliothek strömten. Die Publička war für Drožžin in den folgenden Jahren nicht nur der Ort, an dem er seinen Lesehunger stillen konnte, sondern in den schwierigsten Phasen auch ein Dach über dem Kopf. So berichtet er davon, dass er im Frühjahr 1870 als Obdachloser häufig in der Bibliothek gewesen sei, um sich „vom Staub und Dreck der Petersburger Straßen zu säubern.“ 148 Und auch während seiner Zeit im Winkel der Küche am Kuznečnyj pereulok sei er der Enge häufig dadurch entflohen, dass er „einen großen Teil des Tages“ 149 in der Publička verbracht habe. 144 Ebd., S. 20. 145 Zapiski o žizni i poėzii, S. 46. 146 So die Formulierung in der historischen Skizze auf der Seite der Bibliothek: http://nlr. ru/nlr_history/ (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 147 Zitat von Afanasij Byčkov, der von 1868 bis 1882 die Bibliothek leitete, ebd. 148 Zapiski o žizni i poėzii, S. 51. 149 Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 31.

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Es lässt sich also konstatieren, dass die Stadt für Drožžin nicht nur ein Ort existentieller Not und großer Einsamkeit gewesen ist, sondern zugleich ein Umfeld, das ihm Zuflucht bot und das es ihm mit seinen Bildungsangeboten überhaupt erst ermöglichte, den aus seiner Sicht unbefriedigenden Zuständen auf dem Dorf zu entkommen. In der Erstveröffentlichung seiner Autobiographie aus dem Jahr 1884 benennt Drožžin seine Probleme in Nizovka auch explizit – etwa, wenn er schreibt, dass nicht nur seine Frau seine Beschäftigung mit Literatur und Poesie für Zeitverschwendung gehalten habe, sondern dass dies auch „die generelle Ansicht meiner Familie und unserer ganzen ungebildeten Leute“ 150 gewesen sei. So betrachtet, lässt sich der frühen Version seiner Erinnerungen ein höheres Maß an Plausibilität zusprechen als den späteren Fassungen, in denen das Dorf immer mehr zum Idyll der Ursprünglichkeit und die Stadt zum Moloch mutierten – eine Darstellung, die im Widerspruch zur persönlichen Entwicklung Drožžins während seiner Petersburger Zeit steht. Die zweite Ebene, auf der eine durchweg negative Einordnung der Jahre in der Stadt wenig plausibel erscheint, stellen die Netzwerke dar, von denen Drožžin in mehrfacher Hinsicht profitierte. Zum einen gilt dies für sein ökonomisches Auskommen: So instabil seine Situation über lange Zeit war, so gelang es ihm in der Regel doch, relativ rasch einen neuen Job zu finden, auch wenn dieser zumeist erneut nur von kurzer Dauer war. Folgt man der Darstellung Drožžins, so war d ­ ieses ‚erfolgreiche‘ Durchhangeln durch die Niederungen des hauptstädtischen Lebens nicht zuletzt ein Verdienst seiner persönlichen Zielstrebigkeit. Schaut man sich jedoch die Orte seiner Tätigkeiten und die beteiligten Personen an, so wird deutlich, dass er in hohem Maße davon profitierte, wer wen kannte oder wen er selbst kennengelernt hatte. Praskovaja Semenova ermöglichte im Herbst 1864 seinen Wechsel in den Tabakladen von Štol’c, inklusive einer besseren Bezahlung. Sie war es auch, der er nach seiner Rückkehr nach Petersburg 1865 zunächst die Anstellung im Moskva und anschließend bei Gabaj und Mičri zu verdanken hatte. Und 1869 konnte er nach seinem Rauswurf infolge des Konflikts mit dem Fabrikvorsteher zu den Semenovs zurückkehren. Als er 1870 ‚ganz unten‘ angekommen war und auf den Straßen Petersburgs lebte, fand Drožžin Zuflucht bei Bekannten und Freunden wie Sokrates. Diese ebneten ihm auch den Weg zurück zu einem geregelten Einkommen in Gestalt seiner Anstellung in dem Beleuchtungsgeschäft, die durch die Empfehlung eines 150 Ebd., S. 48.

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alten Freundes zustande kam. Und 1877 war es die Beförderung durch Goroškov, die es ihm ermöglichte, zu einem höheren Lohn direkt gegenüber der Publička zu arbeiten. Nur dank dieser wiederholten Unterstützung konnte es Drožžin gelingen, trotz aller Rückschläge seine Situation langsam zu verbessern und schließlich auch seine Familie nach Petersburg zu holen. Damit soll nicht gesagt sein, dass er selbst keinen Anteil daran gehabt hätte, nicht völlig zu scheitern. Es wird jedoch deutlich, dass die „Nussschale“ auch als Auffangbecken fungierte, das aus ­kurzen Wegen und vielfachen Kontakten bestand, die für Personen am Rande der Gesellschaft wie Drožžin überlebensnotwendig sein konnten. Dass er es vermochte, sich als vom Dorf kommender Fremder in dieser Welt zurechtzufinden und die Netzwerke für sich zu ­nutzen, darin liegt sicherlich sein persönlicher Anteil begründet. Ein zweiter Bereich, in dem Drožžin von seinen in Petersburg geknüpften Kontakten profitierte, war sein Aufstieg zum landesweit bekannten „Bauerndichter“. Neben seiner skizzierten persönlichen Fortentwicklung begann er bereits als einfacher Tabakverkäufer damit, Personen aus der Welt der Wissenschaft und der Literatur anzusprechen. 1866 lernte er während seiner Zeit bei Gabaj und Mičri die ersten Studenten kennen. Sie gehörten zu seinen Kunden, und bald erwuchsen daraus Bekanntschaften, bei denen man sich auch abends oder an Feiertagen traf.151 Im gleichen Jahr schrieb er sich wie erwähnt in die Publička ein, womit sich ihm nicht nur der Zugang zu den dortigen Beständen eröffnete, sondern auch der Kontakt zu weiteren Nutzern der Bibliothek. Zu diesen studentischen Bekannten und Freunden traten ab 1877 die Mitglieder des Literaturzirkels hinzu, in den Drožžin wie erwähnt dank eines gemeinsamen Bekannten durch die Empfehlung Aleksandr Sal’nikovs Aufnahme fand. Damit betrat er nicht nur erstmals die repräsentativen Wohnwelten in den besseren Lagen der Stadt, sondern stieg auch in gesellschaftliche Schichten auf, die ihm bisher verschlossen geblieben waren. Symbolisch für diesen Wandel steht die Begehung seines Namenstages am 12. Dezember 1878: Erstmals besaß Drožžin ein eigenes Zimmer, um Gäste einzuladen. Am Tag zuvor waren seine Frau und Tochter nach Petersburg gekommen, und nun konnte er in ihrem Beisein seine „neuen literarischen Freunde“ 152 um sich versammeln, unter ihnen die 151 Vgl. Zapiski o žizni i poėzii, S. 46. 152 Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 58.

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Schriftstellerin Anna Sacharova. Verschiedene Reden wurden auf ihn gehalten, und auf Bitten seiner Gäste trug er einige seiner eigenen Gedichte vor – eine Wertschätzung, wie sie Drožžin nie zuvor erfahren hatte: „Mit einem Wort: Niemals zuvor habe ich so ausgelassen meinen Namenstag gefeiert wie ­dieses Mal.“ 153 Zum gesellschaftlichen Aufstieg kam der berufliche Erfolg. Zum ersten Mal erhielt Drožžin für seine Werke Honorare, von denen er zumindest eine Zeit lang leben konnte. Ermöglicht wurde dies vor allem durch die Publikationsmöglichkeiten, die ihm seine neuen Bekanntschaften eröffneten. Die prominente Erstveröffentlichung seiner Autobiographie in mehreren Heften von Russkaja Starina 1884 wäre ohne die vorhergehende Vernetzung in den Petersburger Literatenkreisen sicher nicht möglich gewesen. Hätte der später als Dichter des ‚einfachen Volkes‘ idealisierte Spiridon Drožžin sein ganzes Leben in Nizovka verbracht – es erscheint sehr fraglich, ob er eine ebensolche Bekanntheit erlangt hätte. Von dem Fundament, das er während seiner Jahre in Petersburg für sein weiteres Leben gelegt hatte, profitierte Drožžin auch noch, als er sich bereits ­dauerhaft in sein Heimatdorf zurückgezogen hatte. So ermöglichten es die Empfehlungen seiner „literarischen Freunde“, dass er mehrmals von der Akademie der Wissenschaften gefördert wurde: 1895 mit 100 Rubel, 1911 erhielt er die mit 500 Rubel dotierte Prämie der Akademie, und seit 1903 bezog er eine lebenslange Pension in Höhe von 180 Rubel.154 Dies bedeutet nicht, dass Drožžin bis zu seinem Lebensende über einen bescheidenen Wohlstand hinaus gekommen wäre. Aber er hatte doch ein Auskommen erreicht, mit dem er frei von materiellen Sorgen bis zu seinem Tod in Nizovka leben konnte. Es versetzte ihn zudem in die Lage, vieles an die Bauern in seinem Heimatdorf zurückzugeben, sei es durch Leseund Schreibunterricht oder durch eine Bibliothek, die im Gouvernement Tver‘ errichtet wurde und seinen Namen trug.155 Wie bereits Vasilij Brusjanin zutreffend feststellte, konnte er dies, weil er „einige Jahre in der Stadt gelebt und das dortige Leben betrachtet, sich durch die Lektüre von Büchern fortgebildet, mit Literatur beschäftigt und mit gebildeten Leuten unterhalten hatte […].“ 156 Entgegen seiner 153 Ebd., S. 59. In der Ausgabe von 1907 ist diese Feier nicht erwähnt. 154 Vgl. Žizn‘ poėta-­krest’janina S. D. Drožžin (1848 – 1915gg.), S. 94, 108; Zapiski o žizni i poėzii, S. 95. In der Ausgabe von 1915 erwähnt Drožžin zudem noch eine Pension von 300 Rubel, die er seit 1909 von der Selbsthilfekasse der Künstler und Gelehrten erhalten habe. Vgl. Žizn‘ poėta-­krest’janina S. D. Drožžin (1848 – 1915gg.), S. 107. 155 Vgl. Zapiski o žizni i poėzii, S. 96 156 Biografija S. D. Drožžina, S. 57.

Enge Welten?

Selbstdarstellung hatte Drožžin es trotz seiner lange Zeit prekären Lage in Petersburg vermocht, den ihn umgebenden Strukturen einen Sinn zu verleihen und sie für sich zu ­nutzen. Netzwerke und die Aneignung von Bildung waren auch für das Leben Matrjona Ključevas von Bedeutung. Ihre Arbeit im Atelier Pelageja Malyginas beschreibt sie als hart und eintönig, aber auch als eine Zeit der Gemeinschaft, die sich z­ wischen ihr und den anderen Lehrlingen entwickelt habe. Ihre Kolleginnen wurden zu wichtigen Bezugspersonen, vor allem ihre Freundin Ol’ga, mit der sie auch den Großteil der knapp bemessenen Freizeit verbrachte. So entstand ein Netzwerk, das andere Beziehungen ersetzte – als gebürtige Petersburgerin verfügte Matrjona nicht über die regionalen Bindungen, wie sie für viele vom Land kommende Arbeiter typisch waren,157 und einen familiären Rückhalt besaß sie mit ihrer Tante Tanja auch nur bedingt. Im Falle Matrjona Ključevas traten somit die Arbeitskolleginnen an die Stelle der Familie. Eine weitere wichtige Person im Leben Matrjonas war ihre Chefin. Pelageja Malygina nahm sie zu gesellschaftlichen Ereignissen mit, darunter zu einem Wohltätigkeitskonzert des Petersburger Bettlerkomitees an der Fontanka,158 und gab ihr Freibillets für Konzerte. Damit eröffnete sie Matrjona Einblicke in Orte und Ereignisse jenseits des Ateliers und des Kolomnaviertels. Pelageja Malygina war es auch, w ­ elche die Empfehlung für die Lehrtätigkeit an der Frauenberufsschule aussprach, nachdem Matrjona die vierjährige städtische Abendschule erfolgreich abgeschlossen hatte. Matrjona trat damit an die Stelle ihrer Chefin, ­welche die Kurse bis dahin selbst gehalten hatte – nun jedoch zugunsten ihrer Schülerin verzichtete, da sie nicht mehr die nötige Geduld für den Unterricht besitze und die Schülerinnen sie „bis auf den letzten Tropfen Blut ausgesaugt“ 159 hätten. Für Matrjona bedeutete dies die Emanzipation von der Welt des Ateliers, in dem sie zwei Jahrzehnte gearbeitet hatte. Die Frage der Aneignung von Bildung spielt in den Erinnerungen Matrjona Ključevas keine so prominente Rolle wie in den Aufzeichnungen Spiridon Drožžins – was nicht verwundert, sah sie sich im Gegensatz zu dem Jungen

157 Vgl. Engel, Between the Fields and the City, S. 79 – 81, 229 f.; Steinberg, Moral Communities. 158 Vgl. [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 197 f. Vgl. zum Bettlerkomitee Jahn, Das St. Petersburger Bettlerkomitee. 159 [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 224.

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aus Nizovka auch nicht als zukünftige Schriftstellerin. Nichtsdestotrotz nutzte sie ebenfalls die städtischen Bildungsangebote. Während Drožžin sich in die Publička einschrieb, begannen Matrjona und ihre Kolleginnen, Bücher aus der Griboedovbibliothek zu entleihen. Diese befand sich am Ekateringofskij prospekt 117 und damit in unmittelbarer Nähe des Ateliers, woraus sich auch der Kontakt zur Bibliothek entwickelte, da deren Leiterin zu den regelmäßigen Kunden Pelageja Malyginas zählte.160 Die kleine, nach Alexander Griboedov benannte Bibliothek gehörte zu den städtischen, kostenlosen Volkslesehallen (narodnye čital’nye). Diese wurden seit 1877 gezielt in den armen Gebieten Petersburgs eröffnet, um der dortigen Bevölkerung einen über die an der Schule erworbenen Grundkenntnisse hinausgehenden Zugang zu Literatur zu ermöglichen.161 Matrjona und ihre Kolleginnen verkörperten mithin genau jene Klientel, die man mit den Lesehallen zu erreichen suchte, und sie nutzten diese Möglichkeit. Neben ihren persönlichen Netzwerken und der Aneignung von Bildung waren es vor allem bestimmte Orte, die für Matrjona Ključeva die Stadt ausmachten. Der für sie zunächst einmal wichtigste Ort war der Kolomna-­Distrikt, in dem sich wie erwähnt das Atelier Pelageja Malyginas befand. Was in den Erinnerungen deutlich wird und sich angesichts des harten Arbeitsregimes auch leicht nachzuvollziehen lässt, ist das Bestreben, die wenige verbleibende Freizeit dafür zu ­nutzen, das Atelier zu verlassen und die Umgebung zu erkunden. Interessant ist hierbei, wie Matrjona diese Ausflüge beschreibt. Es war ihr sehr deutlich bewusst, dass sie sich in einem der armen Viertel Petersburgs bewegte, was unter anderem darin zum Ausdruck kommt, dass sie von ihrer Nachbarschaft als dem „Kolomna Feuerdistrikt“ 162 (Kolomenskaja požarnaja čast‘) spricht. Mit ­diesem Begriff beschreibt sie die fast jede Nacht ausbrechenden Brände in einem Stadtteil, der im Unterschied zu den steinernen Bauten der zentralen Distrikte noch weitgehend aus Holzhäusern bestand und in dem aufgrund der Verwendung von Petroleum für die Beleuchtung wie auch als Wodkaersatz jede Nacht 160 Vgl. ebd., S. 179. Beim Ekateringofskij prospekt handelt es sich um den heutigen Prospekt Rimskogo-­Korsakova. Die Nr. 117 befindet sich nur wenige Meter vom damaligen K ­ alinkinund Repinplatz entfernt. 161 Vgl. hierzu das Protokoll der Dumasitzung vom 23. 12. 1885, in: ISPGOD 1885, No. 48, S. 1214 – 1216; 1887, No. 48, S. 1125 f.; 1888, No. 18, S. 730 – 733, No. 31, S. 450, No. 32, S. 522 – 524; 1890, No. 21, S. 7 – 11; Pervaja bezplatnaja gorodskaja čital’naja, in: Russkaja starina 19 (1888), Bd. 57, S. 265 – 269. 162 [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 194.

Enge Welten?

die Feuerwehr im Einsatz war. Zudem verweist Matrjona darauf, dass es in dem Distrikt keine befestigten Straßen und kaum Telefone gab,163 so dass der Feueralarm durch das Läuten von Glocken ausgelöst werden musste und die Brandlöschung sich verzögerte, was entsprechend viele Opfer unter den Bewohnern sowie unter den von den Kutschern im Distrikt gehaltenen Pferden forderte. Im August 1899 berichtet Matrjona davon, dass in einem nah gelegenen Gymnasium die elektrische Beleuchtung eingeführt worden war. Bei den Bewohnern des Viertels habe dies zu einem regelrechten Massenauflauf geführt – alle wollten Zeuge werden, wie das Licht per Schalterdruck eingeschaltet wurde. Die Hoffnung Matrjonas und ihrer Kolleginnen, nun ebenfalls an dieser von ihr als „Luxus“ 164 (Roskoš‘) bezeichneten Neuerung teilhaben zu können, erfüllte sich jedoch nicht – sie mussten weiter täglich die Petroleumlampen mit der Hand säubern und auffüllen. Feuer und mangelhafte Beleuchtung waren für Matrjona mithin alltägliche Erinnerungen daran, in einem der armen Stadtteile Petersburgs zu leben. Trotz dieser Widrigkeiten fällt die Beschreibung ihrer näheren Umgebung keinesfalls so negativ aus, wie man es erwarten könnte. Den an das Atelier angrenzenden Hof skizziert sie als einen Ort des täglichen Markts, bei dem sie die Händler bereits an deren Stimme erkannte: „Jeder schrie in seiner Tonlage, jeder hatte sein Motiv, seine Noten und seine Käufer.“ 165 Für Matrjona und ihre Kolleginnen war der Hof ein Mikrokosmos des Imperiums, in dem sie tatarische Händler aus Kazan‘ kennenlernten, die mit dem Ausruf „Chalat, Chalat!“ gebrauchte Kleidung aufkauften, wo man holländische Heringe essen und vor allem dem Leierkastenmann lauschen konnte, der dort täglich spielte.166 Ein weiterer für Matrjona zentraler Ort war der im angrenzenden Spasskaja-­ Distrikt gelegene Heumarkt. Für zehn Kopeken konnte sie sich mit dem Pferd dorthin bringen lassen: Am Heumarkt angekommen, nahm ich das Aroma des gesäuerten Kohls, des getrockneten Fischs, der Heringe und den scharfen Geruch des Pferdedüngers in mich auf. Die Verkaufsreihen waren mit Menschen überfüllt. Unsere Hauswirtschafterinnen

163 164 165 166

Vgl. ebd., S. 194 und 203. Ebd., S. 214. Ebd., S. 206. Vgl. ebd., S. 206 f.

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gingen gerne auf den Heumarkt, dort gab es alles Erdenkliche, und immer um einige Kopeken billiger.167

Der Heumarkt war für Matrjona, trotz der schillernden Gestalt, die er durch die Werke von Autoren wie Krestovskij und in den Boulevardblättern der Stadt angenommen hatte, in erster Linie ein wichtiger und durch bestimmte Gerüche sowie eine große Vielfalt gekennzeichneter Punkt in der Stadt, der Abwechslung vom harten Arbeitsalltag bot. Ihre Eindrücke stehen exemplarisch für die Bedeutung, die ihm im Leben der ‚kleinen Leute‘ Petersburgs zukam. Die Unterscheidung ­zwischen ihrem eigenen Distrikt und den anderen Teilen der Stadt machte Matrjona außer an der Feuergefahr und der unzureichenden Befestigung und Beleuchtung der Straßen noch an weiteren Kriterien fest. Hierzu zählte die Farbe der Pferde, die sich nach ihrer Wahrnehmung von Stadtviertel zu Stadtviertel unterschied: Während sie die Pferde des Kolomna-­Distrikts als „rabenschwarz“ 168 beschreibt, erinnert sie jene des Spasskaja-­Distrikts als feuerrot und die des Roždestvenskaja-­Distrikts als hellgrau mit dunklen Flecken. Diese Sicht auf die Binnengliederung der Stadt war zunächst durch ihren Alltag und die in ihrer Umgebung hohe Präsenz an Kutschern und Pferden geprägt. Sie lässt sich jedoch zugleich als Teil einer ‚anderen‘ Topographie der Stadt deuten, die ihre eigenen Kriterien entwickelte und sich im Gegensatz zum herrschenden Diskurs nicht darin erschöpfte, die Stadt in einige ‚helle‘ Zentren einerseits sowie in die ‚dunklen‘, nicht weiter unterschiedenen ‚übrigen‘ Viertel zu unterteilen. Neben dem Hof in der Nachbarschaft sind es vor allem die kleinen Parks des Viertels, die in Matrjonas Erinnerungen immer wieder Erwähnung finden. In ihnen verbrachte sie mit ihren Kolleginnen einen großen Teil ihrer knapp bemessenen Freizeit. Die lokalen Parks waren im Gegensatz zu den großen, repräsentativen Grünanlagen Petersburgs für alle und ohne bestimmte Statussymbole zugänglich. Dass dies nicht überall galt, hatten Ol’ga und Matrjona vor einem Besuch im Petersburger Sommergarten erfahren. Bevor sie dorthin aufbrachen, liehen sie sich von ihrer Chefin Sommerhüte, ohne die der formal kostenlose Zutritt zum Garten als nicht statthaft galt.169 Noch beim Betreten des Gartens 167 Ebd., S. 203. 168 [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 195. 169 Dies lässt sich als Fortwirken der ursprünglichen Konzeption des Sommergartens sowie weiterer großer Stadtgärten in Moskau und Petersburg als Ausdruck herrschaftlicher

Enge Welten?

rechnete Matrjona damit, plötzlich den Eintritt verwehrt zu bekommen; und während ihres Spazierganges galt ihre Aufmerksamkeit weniger den zahlreichen Statuen des Sommergartens als dem in ihm flanierenden Publikum, vor allem den von ihr im Gegensatz zu sich selbst als „Damen“ 170 bezeichneten Besucherinnen in ihren Korsetts. Später, nach ihrem erfolgreichen Abschluss der vierjährigen Abendschule, bekam Matrjona von Pelageja Malygina einen jener Sommerhüte als Symbol für ihren gesellschaftlichen Aufstieg geschenkt. Sie wuchs also damit auf, dass Kleidung zu den „feinen Unterschieden“ 171 gehörte, die die (Nicht)Zugehörigkeit zu bestimmten Räumen und Orten anzeigten. Bei den kleinen Parks ihres Viertels gab es s­ olche Fremdheitsgefühle für Matrjona nicht. Vor allem der aufgrund eines in seiner Mitte befindlichen Obelisks allgemein als „kahlköpfiger kleiner Park“ 172 (plešivyj sadik) bezeichnete kleine Grünstreifen auf dem Kalinkin-­Platz direkt vor ihrem Atelier wurde für sie zu einem zentralen Ort. Er war erst in den 1870er Jahren von der Stadt angelegt worden, als Reaktion auf eine entsprechende Initiative zweier Petersburger Kaufleute, die im Kolomna-­Distrikt einen Ort für die Bewohner und Bewohnerinnen schaffen wollten, der „auch in hygienischer Hinsicht von Nutzen“ 173 sein werde. Während die Petersburger Duma noch über diesen Vorschlag beriet, schuf die Stadt Fakten und ließ den Platz errichten.174 Ab 1881 trug er den Namen Kalinkinpark (Kalinkinskij skver).175 Was seitens der Initiatoren und der Stadt mit dem Ziel angelegt worden war, einen Ort für die lokale Bevölkerung zu schaffen, der sich zugleich besser regulieren ließ, erscheint in den Erinnerungen Matrjonas als „Park der einfachen Leute“ 176, in dem sich die Arbeiter der Admiralitätswerft, die Köche, F ­ euerwehrmänner, Repräsentation interpretieren. Vgl. zur Genese dieser Gartentopographie die Dissertation von Ananieva, Anna, Russisch Grün. Eine Kulturpoetik des Gartens im Russland des langen 18. Jahrhunderts, Bielefeld 2010. 170 [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 214. 171 Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/Main 1982 (französ. Original 1979). 172 [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 174. 173 Bericht der Stadtverwaltung vom 25. 10. 1874, in: ISPGOD 1875, No. 2, S. 198 – 200, hier S. 198. 174 Vgl. den Bericht über die Sitzung der Duma am 21. 05. 1875, in: ebd. 1875, No. 12, S. 1119. 175 Vgl. die entsprechende Verfügung: ebd. 1881, No. 26, S. 2091. Vgl. auch Kukuškina, Toponimika Peterburga-­Petrograda, S. 266. 176 [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 174.

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Dienstmädchen, Handwerker jeder Art und Kleinhändler, mithin die Menschen aus dem Viertel trafen. An Sonntagen sei der Park so überfüllt gewesen, dass „kein Apfel mehr auf den Boden“ 177 habe fallen können. Es vollzog sich also das, was Martina Löw als Spacing bezeichnet: Das bewusste sich selbst Platzieren von Menschen im Raum, um einen Ort für sich zu reklamieren. Für Matrjona war der Kalinkinpark zugleich der Ort, an dem sie erstmals nachhaltig die sonst so dominanten Geschlechtergrenzen überschreiten konnte. Ihre Freundin Ol’ga lernte dort Vasilij, einen Meister aus der angrenzenden Schiffswerft, kennen, und von da an saßen sie häufig zu viert (mit einem Freund Vasilijs) in dem Park oder waren im Viertel unterwegs. Des Weiteren stellten Parks für Matrjona Orte dar, an denen sie Kontakt zu anderen sozialen Gruppen und damit auch zu neuen Lebenswelten bekam. Ein Beispiel, das sie ausführlich schildert, ist ein illegales Treffen mit politisch aktiven Studenten und Arbeitern im Park von Katharinenhof, bei dem ein Redner über die Notwendigkeit einer Erhebung der Arbeiter sprach.178 Die Versammlung wurde zwar wegen der heran­nahenden Polizei recht bald wieder aufgelöst, sie ist jedoch nur eine in einer ganzen Reihe von Zusammenkünften mit Vasilij, die Matrjona schildert und von denen sie rückblickend schrieb, dass Vasilij Ol’ga und ihr „die Augen geöffnet“ 179 habe. Die allermeisten dieser Treffen fanden in den Parks der Stadt, vor allem im Kolomna-­Distrikt statt. Um aus einem Ort einen sozialen Raum im Sinne Martina Löws zu machen, muss das hinzukommen, was sie als Syntheseleistung bezeichnet: die Zusammenfassung der neu entstandenen (An)Ordnungen zu einem Raum durch Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse. Im Falle Matrjona Ključevas und des „kahlköpfigen kleinen Parks“ lässt sich eine ­solche Verstetigung der Bedeutung des Orts zum einen daran festmachen, dass es keinen anderen Punkt der Stadt außerhalb des Nähateliers gibt, der in ihren Aufzeichnungen so oft genannt wird und an dem sie so viel Zeit verbracht hat, die sie zudem der Erwähnung wert fand. Und zum anderen kommt die Konstituierung eines sozialen Raums durch Wahrnehmung und Erinnerung am Ende ihres Textes zum Ausdruck, als sie auf ihre Zeit als Lehrling Pelageja Malyginas zurückblickt. Viele Dinge hatten sich geändert – ihr Vater war inzwischen gestorben, Ol’ga hatte 177 Ebd. 178 Ebd., S. 198 – 201. 179 Ebd., S. 186.

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geheiratet, und sie selbst war zur selbständigen Meisterin aufgestiegen. Ihre Beschreibung des Kalinkinplatzes mit seinem Park zeugt jedoch von Kontinuität: „Wie viele Erinnerungen sind mit ­diesem kleinen Garten verbunden, er wird für immer als das Teuerste und Naheste in meinem Herzen bleiben. Ich werde alleine in ihm sitzen und mich den Erinnerungen an die vergangenen Jahre hingeben.“ 180 Der Park war für Matrjona zu einem sozialen Raum geworden – eine Aneignung eines Orts, wie sie sich in den Erinnerungen Drožžins nicht findet. Am ehesten wäre dies in seinem Fall vielleicht noch die Publička, aber ob er sie wirklich als ‚seinen‘ Raum in Petersburg ansah und ob sich dies gegebenenfalls auch verstetigte, lässt sich eher erahnen als wirklich am Text festmachen. Diese auffällige Differenz in der Bedeutung, die man bestimmten Orten der Stadt beimaß, kann mit den unterschiedlichen Motivationen und Lebenssituationen der beiden Akteure erklärt werden: Während Spiridon Drožžin aufgrund von Wissensdurst, aber auch aus ökonomischer Notwendigkeit nach Petersburg kam und dort ein Leben führte, das von einer unfreiwillig hohen Mobilität geprägt war und wenig Zeit zum Verweilen an bestimmten Orten ließ, war die Metropole an der Neva für Matrjona Ključeva ihre Heimatstadt und vertraute Umgebung, auch wenn sie sich vor allem in einem kleinen Teil des großen Ganzen bewegte. Entsprechend unterschiedlich war denn auch die Bereitschaft, sich auf die Stadt und ihre Orte einzulassen, zumindest ausweislich der autobiographischen Texte, die uns heute vorliegen. Bei Drožžin dominiert ein Narrativ, dem zufolge er die Stadt vor allem so schnell wie möglich wieder verlassen wollte (ungeachtet dessen, dass er wie gezeigt de facto von seiner Zeit in Petersburg nachhaltig profitierte), während Matrjonas Text eher einer Liebeserklärung an ihr Viertel und Piter gleicht. Entsprechend war es für sie nur folgerichtig, sich dort ihren ‚eigenen‘ Ort zu suchen. Jenseits dieser Differenzen ist für beide zu konstatieren, dass sich ihr Handeln im städtischen Raum nicht auf ein reines Reagieren auf die prekären Umstände ihres Alltags reduzieren lässt. Sowohl Spiridon Drožžin als auch Matrjona Ključeva vermochten es, die sie umgebenden Strukturen für sich zu n ­ utzen und ihnen einen Sinn zu verleihen. Interessant ist angesichts dessen die Frage, inwieweit sich in ihren Texten Reflektionen über die eigene, von Armut geprägte Situation sowie über den Kontrast zu dem in der Stadt präsenten Reichtum finden, und woran sie dies jeweils festmachten.

180 Ebd., S. 227.

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Lichterzentren der Metropole: Wahrnehmungen und Wirkungen Die Feststellung, dass Arm und Reich im Zentrum Petersburgs nur wenige Minuten und manchmal auch nur wenige Meter auseinanderlagen, galt auch für das Leben Spiridon Drožžins und Matrjona Ključevas. Während Drožžin den größten Teil seiner Zeit im Spasskaja- und Moskauer Distrikt und damit unweit des Nevskij prospekt verbrachte, lebte Matrjona zwar am südwestlichen Ende der Gartenstraße und damit nicht mehr in fußläufiger Entfernung des Prachtboulevards, zugleich fuhr sie jedoch im Auftrag ihrer Chefin häufig zum Gostinyj dvor und kannte daher das andere und ungleich wohlhabendere Ende der Gartenstraße gut. Darüber hinaus kamen einige der besser betuchten Kunden Pelageja Malyginas mit ihren Anliegen auch persönlich ins Atelier, weil sie, wie etwa Ilja Repin, in der Nachbarschaft lebten. Wie bereits gezeigt, war sich Matrjona Ključeva des Umstands, in einem der armen Viertel Petersburgs zu leben, deutlich bewusst. Neben der allgegenwärtigen Feuergefahr und den im Vergleich zu den besseren Gegenden der Stadt unzureichend befestigten und beleuchteten Straßen des Kolomnaviertels waren es das äußere Erscheinungsbild und der Habitus, die den Unterschied machten. Außer in ihrer Schilderung des Besuchs im Sommergarten kommt dies auch in der Beschreibung des erwähnten Besuchs des Wohltätigkeitskonzerts des Petersburger Bettlerkomitees an der Fontanka zum Ausdruck. Den Zutritt zu der Veranstaltung verdankten Matrjona und ihre Kolleginnen einer Einladung Pelageja Malyginas. Dort angekommen, bewunderten sie ihre Chefin dafür, dass diese weder durch ihr Verhalten noch durch ihr Äußeres als Näherin auffiel und problemlos die Konversation mit ‚wichtigen‘ Leuten zu pflegen verstand. Zugleich sinnierte Matrjona jedoch über den Umstand, dass ihre Tante früher an eben ­diesem Ort häufig für sich und ihre Nichte etwas zu Essen geholt hatte. Sie berichtet von ihrem Gefühl, von den „glänzenden Damen“ 181 der geladenen Gesellschaft „argwöhnisch“ 182 angeschaut zu werden, und davon, dass sie und ihre Kolleginnen vor Beginn des eigentlichen Balls gehen mussten, da sie nicht über die angemessene Garderobe verfügten. Die Wahrnehmung der Kleidung als Mittel sozialer Distinktion zieht sich wie ein roter Faden durch die Erinnerungen Matrjonas. An Ostern traf sie auf 181 [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 197. 182 Ebd., S. 197 f.

Enge Welten?

der Rückfahrt aus Kolpino am Bahnsteig auf eine Gruppe Bauern, die vor dem Betreten des Zuges ihre Bastschuhe gegen Stiefel tauschten, um sich für die Stadt angemessen zu kleiden.183 Und es verbindet ihre Aufzeichnungen mit denen Spiridon Drožžins. Dieser berichtet davon, wie es 1881, nach dem Attentat auf Alexander II., zu Polizeirazzien in der ganzen Stadt kam, darunter auch in dem Haus, in dem sich sein Zimmer befand. Als er auf die Frage, was sich in seiner Kiste befände, wahrheitsgemäß antwortete, dass er darin seine Bücher aufbewahre, erntete er Ungläubigkeit und die erboste Antwort: „Wie, Bücher!? Wie kann er Bücher besitzen, wenn in seinem Pass glasklar geschrieben steht: Bauer des Gouvernements und Kreises Tver‘, Amtsbezirk Gorodensk, Dorf … Sag‘ bitte, ich frage Dich, w ­ elche Bücher sollte er besitzen, und wozu!? Hä?!“ 184 Zwar war es in d ­ iesem Fall nicht die Kleidung, die ihn verdächtig erscheinen ließ, sondern die ungewöhnliche Kombination aus seinem Stand und der von ihm angesammelten Literatur. Aber ebenso wie Matrjona Ključeva wurde Drožžin aufgrund äußerer Merkmale deutlich gemacht, dass er nicht zur städtischen Gesellschaft gehöre, und dies über 20 Jahre nach seiner erstmaligen Ankunft in Petersburg. Es erscheint nachvollziehbar, wenn er dies mit dem Eintrag kommentiert: „Welch rohe Sicht auf unseren Bauern von Leuten, die sich für mehr oder weniger gebildet halten: Als ob er keinerlei Ahnung von Büchern zu haben braucht und auch nicht haben sollte.“ 185 Neben den in die städtische Gesellschaft eingeschriebenen „feinen Unterschieden“ waren es bestimmte Orte St. Petersburgs, die sowohl bei Matrjona Ključeva als auch bei Spiridon Drožžin Reflektionen über das eigene Leben auslösten. So beschreibt Matrjona gegen Ende ihrer Aufzeichnungen, nach dem Abschluss der Abendschule, einen Spaziergang, der sie mit ihrer Freundin Ol’ga über den Nevskij prospekt führte. Matrjona charakterisiert den Nevskij als eine für sie „besonders feierliche Straße“, einen Ort, an dem es „wenig Hektik und Gedränge gab, sondern wo alles angemessen war.“ 186 Und beruhigt notiert sie, nun nicht länger „schlechter als die anderen“ 187 angezogen zu sein. Dies zeigt erneut ihre Reflektion der sozialen Unterschiede und die Bedeutung, die sie der ‚richtigen‘ Kleidung beimaß, verweist

183 Ebd., S. 193. 184 Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 66. 185 Ebd. 186 [M. I. Ključeva], Stranicy iz žizni Sankt-­Peterburga, S. 217. 187 Ebd., S. 218.

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zugleich aber auch darauf, dass bestimmten Orten im Sinne Markus Schroers durch die Symbolkraft, die Menschen ihnen beimaßen, eine besondere Wirkungsmächtigkeit zukam. Der Nevskij prospekt als der zentrale Boulevard Petersburgs war ein solcher Ort, und dementsprechend ist es kein Zufall, dass Matrjonas Gedanken über ihre ‚Gleichwertigkeit‘ genau hier entstanden. Die Wirkmächtigkeit bestimmter Orte verstärkte sich noch, wenn der Kontrast von Helligkeit und Dunkelheit hinzutrat. So ging Matrjona abends, nach dem Ende der Arbeit im Atelier, mit ihren Kolleginnen häufig ans Ufer der Neva, dorthin, wo die Boote der Fährmänner für die Überfahrt zur Vasilij-­Insel lagen und wo die Fischer ihre Ware feilboten. Für Matrjona war dies ein Ort, den sie mit anderen armen Bewohnern der Stadt teilte, da sie dort billig Fisch einkaufen konnten. Zugleich hebt sie in ihren Erinnerungen jedoch besonders den Weg an die Neva hervor – er war mit Gaslampen gesäumt und bot damit ein gänzlich anderes Bild als ihr eigenes, weitgehend dunkles Viertel.188 Als eindrücklich beschreibt sie ebenfalls die hell erleuchteten Straßen der Hauptstadt an den zu Ehren der zarischen Familie abgehaltenen Feiertagen (carskie dni)189 sowie ihren Besuch in der Isaakskathedrale an Ostern. Letztere erinnert sie als eine „grandiose Kathedrale“, die „mit einfachen K ­ irchen nicht zu vergleichen“ 190 gewesen sei. Besonders habe sich ihr die anschließende Prozession eingeprägt, die vor dem Hintergrund der nächtlichen Dunkelheit ein „märchenhaftes Bild“ 191 abgegeben habe. Ähnliches wird in den Aufzeichnungen Spiridon Drožžins lesbar. Als er Ende November 1860 zum ersten Mal auf die überfüllten Straßen der Hauptstadt trat, war es bereits Abend. Die ersten beiden Dinge, die ihn beim Verlassen des Bahnhofsgebäudes „verblüfften“, waren „der Glanz der Gaslampen und die außergewöhnlich lebhafte, unüberschaubare Menschenmenge, die hin und her über die Bürgersteige eilte.“ 192 Damit entstand genau jener Eindruck, der mit dem hell erleuchteten Zentrum Petersburgs vermittelt werden sollte: Das Licht der Großstadt galt als „Ausweis der Modernität“ 193 und als Überwindung der mit 188 Ebd., S. 207. 189 Ebd., S. 205. 190 Ebd., S. 191. 191 Ebd. 192 Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 17. 193 Schlör, Joachim (Hg.), Nachts in der großen Stadt. Paris, Berlin, London 1840 bis 1930, München 1994, S. 68; vgl. auch ders., Wenn es Nacht wird. Streifzüge durch die Großstadt, Stuttgart 1994. Zum Bedeutungswandel von „Nacht“ in der Frühen Neuzeit liegt

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Rückständigkeit assoziierten Dunkelheit. Entsprechend wurde es auch gezielt zur Inszenierung bestimmter Ereignisse verwendet. Was Matrjona Ključeva über die an den carskie dni erstrahlenden Straßen Petersburgs zu berichten weiß, erlebte Drožžin am 26. Mai 1867: Nach einem gescheiterten Attentatsversuch auf den Zaren in Paris wurde die Stadt abends „prunkvoll illuminiert“. Auf den Boulevards der Stadt spielten Militärorchester, und „eine dichte Menschenmenge bedeckte den Schlossplatz und die Straßen und erfüllte sie mit unaufhörlichen Rufen der Begeisterung.“ 194 Ebenso wie Matrjona maß auch Drožžin dem Nevskij prospekt eine besondere Bedeutung zu. Nach einem nächtlichen Spaziergang über den hell erleuchteten Boulevard notierte er Anfang April 1869 in seinem Tagebuch: Elend, Bruder, ist unser Leben, sagte ich zu meinem Freund Sokrates, während wir über den strahlenden Nevskij prospekt gingen. Und kann man ­dieses Leben, in dem wir uns wie dumme Entlein in einem dreckigen Sumpf abstrampeln, wirklich noch als Leben bezeichnen, wenn keine Minute ohne Kummer vergeht […]?195

Der Nevskij als Symbol des Reichtums und der Moderne löste auch bei ihm Reflek­ tionen über den Kontrast zu seinem eigenen Leben aus. Und dies noch einmal jetzt die Studie von Craig Koslofsky vor: Evening’s Empire. A History of the Night in Early Modern Europe, Cambridge 2011. Für den russischen Kontext findet sich ein Kapitel über die “Moscow Nights” in Martin, Alexander M., Enlightened Metropolis. ­Constructing Imperial Moscow, 1762 – 1855, Oxford 2013, S. 51 – 64. Zur Thematik der Nachtforschung sei zudem auf den vom BMBF geförderten, interdisziplinären Forschungsverbund „Verlust der Nacht“ verwiesen, URL : http://www.verlustdernacht.de/ (letzter Aufruf am 28. 10. 2018), sowie auf: Hasenöhrl, Ute, Die Stadt im Licht. Städtische Beleuchtung als Infrastruktur, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte, 1/2015, Themenschwerpunkt: Stadt und Infrastruktur, S. 30 – 42. Vgl. speziell zur Frage der Wahrnehmung städtischer Beleuchtung auch ihren Bericht über die im Rahmen des Forschungsverbundes durchgeführte Tagung „The Bright Side of Night. Perception, Costs and the Governance of Urban ­Lighting and Light Pollution, URL : http://hsozkult.geschichte.hu-­berlin.de/ tagungsberichte/id=5042 (letzter Aufruf am 28. 10. 2018), sowie jetzt, am Beispiel des nächtlichen Basel: ­Massmünster, Michel, Im Taumel der Nacht. Urbane Imaginationen, Rhythmen und Erfahrungen, Berlin 2017. 194 Poėt-­krest’janin Spiridon Drožžin v ego vospominanijach 1848 – 1884, S. 22. 195 Ebd, S. 27. In der Ausgabe von 1915 gibt Drožžin diese Passage nicht als Gespräch mit Sokrates wieder, sondern als seine Gedanken. Der Wortlaut ist jedoch derselbe. Vgl. Žizn‘ poėta-­krest’janina S. D. Drožžin (1848 – 1915gg.), S. 54.

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verstärkt, wenn er wie im Falle Drožžins nachts hell erleuchtet war, und damit dem entsprach, was Wolfgang Schivelbusch als „Lichterzentrum“ 196 der modernen Stadt bezeichnet hat. Für Matrjona und Spiridon konnte der Kontrast zu ihren eigenen, des Nachts kaum erleuchteten oder völlig dunklen Vierteln kaum größer sein. Als letztes Beispiel für die Bedeutung, die bestimmten Orten zukam, sei Drožžins Schilderung seines Besuchs im Marmorschloss des Großfürsten Konstantin Konstantinovič im Jahr 1912 erwähnt. Schon länger habe er dem Großfürsten für eine wohlwollende Rezension danken wollen, die dieser über Drožžins Werke verfasst und mit der er maßgeblich dazu beigetragen hatte, dass Drožžin die erwähnte Prämie der Akademie der Wissenschaften erhalten hatte. Durch die Vermittlung eines befreundeten Schriftstellers wurde ihm schließlich eine Audienz gewährt.197 Detailliert beschreibt Drožžin, wie er sich für den Anlass den Gehrock eines Bekannten auslieh und sich dann mit der Straßenbahn auf den Weg zum Sommergarten machte. Dort angekommen, betrat er, eine signierte Ausgabe seiner Werke in der Hand, den ausladenden Hof des Schlosses, wo er in Empfang genommen und in das Gebäude geleitet wurde. In der mit Marmorsäulen und Malachitvasen ausgestatteten Empfangshalle stellte er sich ans Fenster und blickte über die Neva auf die gegenüberliegende Peter-­und-­Pauls-­Festung. „Gefangen und ergriffen von der Schönheit der Aussicht“ 198, wurde seine Bewunderung jäh unterbrochen: „[…] ich blickte zufällig nach unten und erblickte an der graniten Ufermauer in armseligen Lumpen einen kranken oder betrunkenen, zappelnden Menschen, und schlagartig war meine festliche Stimmung zerstört.“ 199 Zwar wurde der Betreffende rasch aus dem Blickfeld Drožžins entfernt, so dass er sich wieder dem Anblick seiner „vertrauten Schönheit“, der Neva widmen konnte – der Eindruck des unglückseligen Menschen wirkte jedoch fort: Beim Blick auf die Neva habe er sich an lang vergangene Jahre erinnert, an die bezaubernden weißen Petrograder Frühlingsnächte, als ich als armer Jüngling an ihren granitenen Ufern umherstreifte und mich gedanklich nach anderen, noch mehr geliebten Ufern sehnte – jenen der heimatlichen Wolga, beim weit entfernten, aber immer geliebten Nizovka […].200

196 Schivelbusch, Licht, Schein und Wahn, S. 62. 197 Vgl. Žizn‘ poėta-­krest’janina S. D. Drožžin (1848 – 1915gg.), S. 111. 198 Ebd., S. 112. 199 Ebd. 200 Ebd., S. 112 f.

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Der Blick auf die Uhr riss Drožžin aus seinem Gedankengang. Kurz darauf wurde er zum Großfürsten vorgelassen, es folgte eine sehr wohlwollende Audienz, so dass er den Marmorpalast beseelt wieder verließ. Neben der Einheit ­zwischen „Bauerndichter“ und Autokratie, die mit der ausführlichen Schilderung dieser Episode 1915 unterstrichen werden sollte,201 ist für den Zusammenhang dieser Arbeit vor allem der Kontrast ­zwischen dem luxuriösen Ambiente und der Not interessant, derer Drožžin beim Blick aus dem Fenster gewahr wurde. Er nahm ihn nicht nur zum Anlass, noch einmal den Gegensatz z­ wischen der Stadt, symbolisiert durch den Granitstein des Nevakais, und seiner ‚eigentlichen Liebe‘, dem Dorf Nizovka, für das als Antipode zur begradigten Neva die Wolga steht, zu beschwören, sondern er erinnerte ihn auch an sein eigenes, früheres Leben auf den Straßen und Ufermauern St. Petersburgs.202 Die Wahrnehmungen, die Matrjona Ključeva und Spiridon Drožžin über die Stadt bei Tag und Nacht, über Helligkeit und Dunkelheit und über die repräsentativen Orte St. Petersburgs notiert haben, stellen in mehrfacher Hinsicht Korrekturen weit verbreiteter Klischees dar. Die Seiten der Petersburger Boulevardpresse waren reich an sensationslüsternen und voyeuristischen Berichten über das, was nach Sonnenuntergang in der Stadt geschah. Folgt man diesen Darstellungen, so war es auf den Straßen so dunkel, neblig und gefährlich, dass der ‚normale Bürger‘ es kaum noch wagen konnte, des nachts seine Wohnung zu verlassen.203 Für Autoren wie Nikitin wandelte sich der Nevskij von dem Prospekt, der er tagsüber war, zu einer Straße (Ulica), die „alle möglichen Geheimnisse in sich birgt.“ 204 Welche dies waren, erfuhr der Leser dann in Form verschiedener, reißerischer Anekdoten, wobei die Boulevards und die Parks als besondere Brennpunkte ­dieses vom ‚Laster‘ dominierten nächtlichen St. Petersburgs erschienen.205 201 Dem entspricht es, dass die Autobiographie Drožžins aus dem Jahr 1915 vom Ministerium für Volksaufklärung als subventionierte Schullektüre herausgegeben wurde. Vgl. ­Herzberg, Gegenarchive, S. 152. 202 Drožžin starb im Jahr 1930. Während der frühen Sowjetzeit konnte er seine Autobiographie noch dreimal veröffentlichen. Er nahm hierbei leichte Anpassungen vor, musste sein Leben aber nicht ganz neu bewerten. Vgl. Herzberg, Gegenarchive, S. 151 – 157. 203 Vgl. u. a. Pčela, Den‘ za den‘, in: Petersburgskij listok, 14. 05. 1907, S. 2; [o. N.], Poboišče na Nevskom, in: ebd., 13. 07. 1910, S. 4; Sledopyt, „Krasnyj fonar“ i narodnago nravstvennost‘, in: Malen’kaja gazeta, 28. 11. 1914, S.  3; Nepsjaščij, Kolja, Petrograd noč’ju, in: ebd., 10. 12. 1914, S. 4. Vgl. hierzu auch Steinberg, Petersburg. Fin de Siècle, S. 67 – 69, 106 – 108. 204 Nikitin, N., Peterburg noč’ju. Bytovye očerki, Sankt-­Peterburg 1903, S. 41. 205 Vgl. ebd., S. 40 – 52, 97 – 102.

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Die Beispiele Matrjona Ključeva und Spiridon Drožžin zeigen, dass ­solche populären Darstellungen wenig mit dem Leben der ‚kleinen Leute‘ an diesen Orten gemein hatten. Für Drožžin war die Nacht vor allem während seiner Zeit der Obdachlosigkeit in erster Linie mit Kälte und der Suche nach einem sicheren Schlafplatz verbunden, und Parks waren für Matrjona Ključeva keine Stätten des Lasters, sondern wichtige Freiräume in ihrem ansonsten sehr stark reglementierten Leben. Zugleich wird bei beiden deutlich, wie sie einerseits durch ihr Handeln ihre Umwelt prägten, wie aber zugleich bestimmten Orten eine Wirkungsmächtigkeit zukam, die wiederum auf ihr individuelles Verhalten zurückwirkte. Es waren vor allem die symbolisch aufgeladenen, glanzvollen Orte der modernen „Lichtstadt“ 206, die bei ihnen Erinnerungen an den von Armut geprägten Teil der eigenen Biographie auslösten.

2.3. ‚Jenseits des Flusses‘ Was lässt sich nun über den Befund der Ungleichheiten hinaus über die Entwicklung der Stadtteile ‚jenseits des Flusses‘ sagen, über die Julij Gjubner zu recht klagte, dass ein Großteil der Petersburger über sie nichts wisse? Profitierten sie zumindest partiell vom Ausbau der Infrastruktur, und wenn ja, wie veränderte dies ihre innere Ordnung und damit das Leben der Menschen? Diese Fragen sollen am Beispiel der drei eingangs dieser Arbeit erwähnten Viertel, der Vasilij-­Insel, der Petersburger sowie der Vyborger Seite, im folgenden Kapitel untersucht werden.

Die Vasilij-Insel Dass die Vasilij-­Insel zu den Gebieten zählte, die die Petersburger im 19. Jahrhundert „jenseits des Flusses“ verorteten, erscheint auf den ersten Blick erstaunlich und nur aus einer simplen geographischen Logik heraus nachvollziehbar: Nachdem die Entscheidung gefallen war, die Admiralitätsseite zum Mittelpunkt der neuen Hauptstadt auszubauen, lag die Vasilij-­Insel jenseits d ­ ieses Zentrums, auf der anderen Seite der Großen Neva. Nimmt man jedoch die Perspektive 206 Schlör, Nachts in der großen Stadt, S. 68.

‚Jenseits des Flusses‘

des Betrachters ein, der von der Admiralität auf das andere Flussufer schaut, dann wird man damals wie heute in dem dort versammelten Ensemble repräsentativer Gebäude mit Akademie, Kunstkammer, Universität und Börse wohl kaum das erblicken, was mit „jenseits des Flusses“ gemeint war: Zarečnoj wechselt sich in den Stadtbeschreibungen des 19. Jahrhunderts nicht zufällig häufig mit Okrainy, den „Rändern“, ab – beide Bezeichnungen transportierten neben einer rein geographischen Verortung eine Hierarchisierung ­zwischen dem diesseits des Flusses gelegenen Zentrum und den ‚jenseitigen‘, ‚peripheren‘ Gegenden. Die skizzierten Ungleichheiten beim Ausbau der Stadt zeigen, dass dies nicht nur eine Frage der mentalen Kartierung der Stadt war, sondern auch Konsequenzen in der politischen Umsetzung zeitigte. Der Blick auf die Uferpromenade der Vasilij-­Insel passt nicht in d ­ ieses Bild, sondern lässt den Betrachter glauben, dass es sich hierbei „nicht um die Inseln handelt, sondern um Zentralpetersburg […].“ 207 Dieser Eindruck zeugt davon, dass die Begriffe „Zentrum“ und „Peripherie“ historischen Wandlungen unterlagen, und dass die Vasilij-­Insel nicht immer jenen randständigen Status hatte, der vielen Petersburgern später so selbstverständlich erschien. Die Vasilij-­Insel war als größte der Inseln im Neva-­Delta von Peter I. ursprünglich zum Zentrum der neuen Hauptstadt auserkoren worden, ehe die Wahl Ende der 1730er Jahre unter der Zarin Anna auf die Admiralitätsseite fiel.208 Entsprechend viele staatliche Institutionen wurden in den ersten Jahrzehnten der Stadtgeschichte auf dem südlichen Ufer der Vasilij-­Insel errichtet, darunter die Kunstkammer, die Zwölf Kollegien sowie die Akademie der Wissenschaften. Zudem führte eine der ersten schwimmenden Brücken über die Große Neva ebenfalls auf die Vasilij-­Insel: Ab 1727 verband die Isaaksbrücke das Schloss des

207 Gubin, Dmitirj/Lur’e, Lev/Porošin, Igor‘, Real’nyj Peterburg. O gorode s točki zrenija nedvižimosti i o nedvižimosti s točki zrenija istorii, Sankt-­Peterburg 1999, S. 130. 208 Vgl. Semen’cov, Gradostroitel’noe razvitie Sankt-­Peterburga, S. 88 – 112. Die Insel trug in den ersten Jahrzehnten noch andere Namen, zunächst den des Fürsten Men’šikov, und ­zwischen 1727 bis 1730 hieß sie „Preobraženskij-­Insel“. Im Zuge der Verlegung des Zen­ trums auf die Admiralitätsseite und der damit verbundenen Neugliederung der Stadt wurde dann 1737 ein Vasilij-­Polizeidistrikt geschaffen, der die Vasilij-­Insel sowie die angrenzende Insel Golodaj umfasste. Dieser Distrikt ist gemeint, wenn im Folgenden von der Vasilij-­Insel die Rede ist. Vgl. Nikitenko, Galina/Sobol‘, Vitalij, Doma i ljudi Vasil’evskogo ostrova, Sankt-­Peterburg 2008 (Erste Ausgabe: Dies., Vasileostrovskij rajon. Ėnciklopedija ulic Sankt-­Peterburga, Sankt-­Petersburg 1999), S. 10.

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ersten Generalgouverneurs der Stadt, des Fürsten Alexander Men’sikov, mit der Isaakskirche auf der Admiralitätsseite.209 Nicht nur das Ufer, sondern auch das dahinter liegende Gebiet der Insel wurde in dieser Phase nachhaltig geprägt. Ein geometrisch angelegtes Netz von Linien brachte das herrscherliche Streben nach Rationalisierung und Ordnung zum Ausdruck. Eine Line bezeichnete hierbei eine Straßenseite, so dass jeweils die erste und die zweite, die dritte und die vierte Linie etc. eine Straße bildeten. Durch einen Teil dieser Linien wurden anfangs Kanäle geführt, die der Wasser­ versorgung, aber auch dem Schutz gegen Feuer und Überschwemmungen dienen sollten. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden die Kanäle zugeschüttet und zu Abwassergräben umfunktioniert.210 Rechtwinklig zu den Linien verliefen die großen Straßen (Prospekty) der Insel. Der Hauptboulevard der Insel, der Große Prospekt (Bol’šoj prospekt), der bis in die 1780er Jahre noch als „große Perspektive“ (Bol’šaja perspektiva) bezeichnet wurde, erstreckte sich in west-­östlicher Richtung und markierte bis ins 20. Jahrhundert hinein eine sozialräumliche Grenze: Während ­zwischen Bol’šoj prospekt und dem Ufer der Großen Neva im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts immer mehr steinerne Häuser entstanden, anfangs ein- bis zweigeschossige, später auch höhere, wurde der nördlich gelegene, deutlich größere Teil der Insel bis zum ­Ersten Weltkrieg von eingeschossigen Holzhäusern dominiert.211

209 Vgl. Bunin, Michail, Mosty Leningrada, Leningrad 1986, S. 44 – 54; Antonov, Boris, Mosty Peterburga, Sankt-­Peterburg 2002, S. 7. Bunin weist darauf hin, dass die Isaaksbrücke entgegen der gängigen Annahme nicht die erste schwimmende Brücke über die große Neva war, sondern dass eine frühere bereits 1707 in der Nähe der Ochtamündung existiert habe. Vgl. Bunin, Mosty Leningrada, S. 46. Das Schloss des Grafen Men’šikov, mit dessen Bau auf der Vasilij-­Insel 1710 begonnen wurde, gehörte zu den ersten steinernen Gebäuden in der gesamten Stadt. Vgl. Andreeva, Ekaterina, Načalo kamennogo stroitel’stva v Peterburge, in: Istorija Peterburga 5 (2005), No. 3, S. 6 – 12. Hierzu demnächst auch die Dissertation von Alexander Bauer (Mainz), die den Arbeitstitel „Die gebaute Utopie einer Herrschaft. Sankt Petersburg unter Katharina II .“ trägt. 210 Vgl. Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 10 – 12. 211 Vgl. Nikitenko, Galina/Sobol‘, Vitalij, Bol’šoj prospekt Vasil’evskogo ostrova, Leningrad 1981, S. 24 – 58; Bol’šoj prospekt, in: Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 49 – 103.

‚Jenseits des Flusses‘

Karte 6: Die Vasilij-­Insel, 1849 212

Mit dem Verlust des Status’ als Zentrum St. Petersburgs sank die Relevanz der Vasilij-­Insel für die weiteren Stadtplanungen deutlich ab. Einzig das Ensemble des repräsentativen Nevaufers durfte sich weiterhin der Aufmerksamkeit führender Architekten sicher sein. Diese Zäsur spiegelt sich auch in der Historiographie wieder: Während die ersten Jahrzehnte der Vasilij-­Insel fester Bestandteil jeder Stadtgeschichte sind, liegen bis heute kaum Darstellungen vor, w ­ elche auch die folgende Entwicklung und damit die gesamte Historie der Insel in den Blick nehmen. Als einzige neuere und wirklich umfassende Darstellung kann der von Galina Nikitenko und Vitalij Sobol‘ herausgegebene, enzyklopädisch

212 Vasil’evskaja čast’, 1849, RAN II, ЛОИИ IIIr 7088/IIIr8176.

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aufgebaute Band Doma i ljudi Vasil’evskogo ostrova 213 genannt werden. Aus sowje­ tischer Zeit existiert ein Überblick von Petr Pirogov,214 und Viktor Buzinov hat einen Band mit zehn Stadtteilrundgängen geschrieben, der jedoch nicht beansprucht, den Gesamtkontext darzustellen, sondern sich als Wegweiser durch die ‚schönen‘ Seiten der Insel versteht.215 Der Unterschied zur überbordenden Historiographie über das spätere und heutige Zentrum der Stadt ist augenfällig, vor allem in Anbetracht der zentralen Lage der Vasilij-­Insel und der zumindest phasenweise engen Verzahnung ihrer Entwicklung mit der ‚allgemeinen‘ Geschichte Petersburgs. Die Diskrepanz lässt sich wohl am ehesten durch den Bedeutungsverlust erklären, den die Insel in der allgemeinen Wahrnehmung ab dem Moment erfuhr, als sie nicht mehr das zukünftige Zentrum der neuen Hauptstadt verkörperte. Die weitere Entwicklung verstärkte diese Tendenz. 1767 wurden die Verwaltungsgrenzen der Stadt neu gezogen.216 Für die Vasilij-­Insel hatte dies zur Folge, dass die Stadtgrenze nun ­zwischen der 12. und 13. Linie verlief – womit alles westlich hiervon als Vorort galt,217 darunter auch der am Ufer zum Finnischen Meerbusen hin gelegene Hafen (Gavan‘), der eine Schiffswerft und viele Zulieferbetriebe beherbergte.218 Diese Industrieansiedlung wuchs beständig an, zugleich war sie jedoch durch das planmäßig angelegte Straßennetz fast völlig vom Rest der Insel abgeschnitten: Die Linien erstreckten sich nur über den südöstlichen Teil der Insel, der das Hinterland des Nevaufers bildete, während z­ wischen dem Hafen im Westen und dem Straßennetz lange Zeit ein großes, sumpfiges Gebiet lag, das Smolensker Feld (Smolenskoe pole). Der Bol’šoj prospekt war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nur ­zwischen der ersten und der 18. Linie eine wirklich breite Straße, danach ging er in einen unbefestigten Weg über. Seitens der Stadt wurden in dieser Zeit keine Anstrengungen unternommen, eine stabile 213 Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi. Von Galina Nikitenko stammt auch der entsprechende Artikel zur Vasilij-­Insel in der aktuellen Enzyklopädie zur Stadtgeschichte: Tri veka, Bd. 2, Buch 6, Sankt-­Peterburg 2008, S. 476 – 480. Er stellt eine gekürzte Version des einleitenden Textes aus „Doma i ljudi Vasil’evskogo ostrova“ dar. 214 Pirogov, Petr, Vasil’evskij ostrov, Leningrad 1966. 215 Buzinov, Viktor, Desjat‘ progulok po Vasil’evskomu. Izdanie tret’e, dopolnennoe, Sankt-­ Peterburg 2006. 216 Vgl. Semen’cov, Gradostroitel’noe razvitie Sankt-­Peterburga, S. 131. 217 Vgl. Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 14 f. 218 Vgl. Pirogov, Vasil’evskij ostrov, S. 22.

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Verbindung ­zwischen dem Hafen und dem Rest der Insel zu schaffen – vielmehr zementierte man mit der Neuziehung der Stadtgrenzen 1767 noch einmal die Isolierung der Werft und ihrer Arbeiter. Letztere rückten nur dadurch näher an den Bol’šoj prospekt heran, dass ihre Ansiedlung beständig anwuchs. Der Bol’šoj prospekt fungierte mithin nicht nur als eine sozialräumliche Grenze in nord-­südlicher Richtung, ­zwischen Nevaufer und dem Rest der Insel jenseits des Prospekts, sondern symbolisierte auch das soziale Gefälle z­ wischen der isolierten Werft im Westen und der Spitze (Strelka) im Osten. Noch Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieb der Schriftsteller Ivan Panaev, wie man bei einem Spaziergang über den Bol’šoj prospekt z­ wischen der ersten und siebten Linie auf gefliesten Bürgersteigen ging, ab der siebten Linie dann auf Holzplanken, und hinter der 12. Linie kaum noch auf Fußgänger traf.219 1808 wurde die Abtrennung des westlichen Teils der Insel rückgängig gemacht, Gavan‘ gehörte fortan wieder zur Vasilij-­Insel, und der Bol’šoj prospekt wurde zumindest auf einer Seite näher an die Hafensiedlung herangeführt.220 An der Vernachlässigung des Gebiets änderte dies jedoch kaum etwas. Detaillierte Vorschläge zur Entwicklung der Vasilij-­Insel, wie sie etwa der französische Architekt Antoine Mauduit Alexander I. vorlegte, scheiterten am Desinteresse der politisch Verantwortlichen und an deren Fokussierung auf das sowieso schon gut ausgebaute Stadtzentrum.221 So blieb die Vasilij-­Insel auch in den folgenden Jahrzehnten einer, wenn nicht der am wenigsten erschlossene Teil St. Petersburgs,222 mit großen gänzlich unbebauten Gebieten wie dem Smolensker Feld oder dem westlichen Teil der Insel Golodaj, und war nach wie vor in weiten Teilen durch Holzhäuser geprägt. Angesichts der Bedeutung, die der Insel in den ersten Jahrzehnten der Stadtgeschichte zukam, ein bemerkenswerter Vorgang. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg die Einwohnerzahl der Vasilij-­ Insel, analog zu jener der Gesamtstadt, deutlich an:

219 Vgl. Bol’šoj prospekt, in: Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 50. 220 Der dem Nevaufer zugewandte, südliche Teil des Prospekts wurde verlängert. Der nördliche, der an das Smolensker Feld angrenzte, blieb weiter unbefestigt. Vgl. Bol’šoj prospekt, in: Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 49. 221 Vgl. Jurkova, Zoja, Process formirovanija architekturno-­planirovočnoj struktury Sankt-­ Peterburga pervoj treti XIX veka (na primere torčestva A. A. Modju). Unveröffentlichte Dissertation, Sankt-­Peterburg 2009, S. 35 – 43. 222 Zoja Jurkova spricht von dem am wenigsten erschlossenen Teil der Stadt. Vgl. ebd., S. 42.

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Tabelle 5: Einwohnerzahl der Vasilij-­Insel, 1869 – 1906 223 Jahr

Einwohner

1869

65.918

1881

83.204

1890

91.393

1897

114.004

1900

131.087

1906

171.283

Dieser starke Zuwachs veränderte den sozialen Charakter der Insel. Waren es im ersten Drittel noch Adlige und Kaufleute, die im Auftrag des Zaren den Aufbau vorantreiben sollten, und später die Bediensteten der am Nevaufer begründeten Bildungseinrichtungen, die das Gesicht der Insel prägten, so wurde nun auch über Gavan‘ hinaus eine ganze Reihe großer Industriebetriebe auf der Vasilij-­ Insel errichtet. Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch den Bau der Mariä-­ Verkündigungs-­Brücke (Blagoveščenskij most), die ab 1850 als erste ständige, gusseiserne Brücke über die Große Neva führte. Die 1855 nach dem verstorbenen Zaren Nikolaus I. umbenannte Brücke verband das Ufer der Vasilij-­Insel ­zwischen 3./4. und 5./6. Linie mit der Admiralitätsseite.224 Die Notwendigkeit, in der am Wasser gelegenen und beständig wachsenden Stadt eine feste Brücke über die Große Neva zu bauen, war offensichtlich und bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Gegenstand verschiedenster Entwürfe, ohne dass diese jedoch zu einem Ergebnis geführt hätten.225 Die Entscheidung für den letztendlichen Verlauf der Brücke wurde dann nicht mit Blick auf die Vasilij-­Insel gefällt, sondern resultierte aus Überlegungen, die um die Weiterentwicklung des Admiralitätsviertels kreisten: Ein von der Regierung eingesetztes Komitee entschied sich 1842 dafür, den Mündungsbereich des Krjukov-­Kanals trockenzulegen, dort einen Platz mit einer K ­ irche zu errichten und auf diese Weise das Netz unterirdischer Wasserleitungen im Admiralitätsviertel auszuweiten. Der 223 Otčet S.-Peterburgskogo gorodskogo obščestvennogo upravlenija za 1906 g. Čast’ vtoraja, Sankt-­Peterburg 1907, S. 1. 224 Vgl. Bunin, Mosty Leningrada, S. 118 – 29; Volkova, Mal’vina, Pervyj postojannyi most čerez Nevu, in: Istorija Peterburga 5 (2005), No. 4, S. 9 – 13. 225 Vgl. hierzu Kočedamov, V., Proekty pervogo postojannogo mosta na Neve, in: Architekturnoe nasledstvo 3 (1953), No. 4, S. 189 – 220.

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neu entstandene Platz wurde zum Ausgangspunkt, von dem aus die Brücke zum gegenüberliegenden Ufer geführt wurde.226 Obwohl der Fokus bei der Entscheidungsfindung damit erneut ‚diesseits‘ und nicht ‚jenseits‘ des Flusses lag, verbesserte der Bau der Brücke die Anbindung der Vasilij-­Insel an das Zentrum. Dies machte sich vor allem beim Schienenverkehr bemerkbar: Ab den 1870er Jahren gab es ein Depot für Pferdebahnen auf der Vasilij-­Insel, und ab 1907 fuhren dort die ersten Linien der elektrischen Straßenbahn. Dies waren zweifellos Fortschritte, die jedoch für viele Bewohner dadurch wieder relativiert wurden, dass die Trassen nur durch den südöstlichen Teil der Insel sowie entlang des Bol’šoj prospekt führten, während etwa die Insel Golodaj, die lediglich drei Kilometer von der Börse entfernt lag, bis 1914 ohne Anbindung blieb. Hinzu kam, dass die Preise für den öffentlichen Nahverkehr für einen Großteil der Bevölkerung zu hoch waren, so dass vor allem die Arbeiter weiter zu Fuß zu den Fabriken gelangen mussten.227 Trotz dieser Einschränkungen erfuhr die Vasilij-­Insel infolge des Bevölkerungswachstums sowie der zumindest partiell besseren Anbindung an das Zentrum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine „Verdichtung“ 228: Bisher freie oder für Gemüsegärten genutzte Flächen wurden bebaut, und im Einzugsbereich der Fabriken entstanden Arbeiterwohnungen mit den für Petersburg charakteristischen beengten und prekären Lebensbedingungen.229 Zudem wuchs die subproletarische Schicht der Tagelöhner weiter an. Im Bereich der Siedlung Gavan‘ war dies bereits seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts der Fall, da die Werft zwischenzeitlich an Bedeutung verloren hatte und die Holzhäuser des Gebietes immer mehr zu einer Gegend der Ärmsten der Armen wurden.230 Es ist nicht erstaunlich, dass sich im Zuge dieser Veränderungen auch einer der größten Slums der Stadt auf der Vasilij-­Insel entwickelte: „Vasjas Dorf “.

226 Vgl. Bunin, Mosty Leningrada, S. 118 f.; Bogdanov, G., Mosty i Peterburg, Sankt-­Peterburg 2007, S. 25 f. Bei dem Platz handelt es sich um den heutigen Platz der Arbeit (Ploščad‘ truda). Die 1850 eingeweihte Brücke war mit knapp 300 Metern die damals längste in Europa. 227 Vgl. Enakiev, Fedor, Zadači preobrazovanija S.-Peterburga, Sankt-­Peterburg 1912, S. 40; Bater, St. Petersburg, S. 330 – 335. 228 Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 18. 229 Vgl. Pirogov, Vasil’evskij ostrov, S. 30 – 32. 230 Vgl. ebd., S. 25 f.; Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 14 f.

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Karte 7: Existierende und geplante Straßenbahnlinien in St. Petersburg, 1912 231

Die blauen Linien markieren die bereits realisierten Straßenbahnlinien, während die roten die noch in Planung befindlichen anzeigen.

231 Enakiev, Zadači preobrazovanija S.-Peterburga, o. S. Die Pläne für den Bau einer Metro in St. Petersburg wurden bis zum Zusammenbruch des Zarenreichs nicht mehr realisiert. Vgl. hierzu die Karte mit der beabsichtigten Linienführung in ebd., o. S. Ab 1906 verkehrten die ersten benzinbetriebenen Omnibusse in der Stadt, allerdings zunächst nur

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Auf „Vasjas Dorf “ werde ich im Kapitel über die Wohnungsnot noch näher eingehen – an dieser Stelle sei der Slum jedoch als Beispiel dafür erwähnt, dass durch die Verdichtung nun auch auf der Vasilij-­Insel die für St. Petersburg typische räumliche Nähe ­zwischen Arm und Reich entstand. „Vasjas Dorf “ lag ­zwischen der 17. und 18. Linie, in den Häusern Nummer 18 und 27, und damit nur wenige Meter vom Bol’šoj prospekt entfernt.232 Im direkt an den Slum angrenzenden Haus Nummer 20 lebte zwischenzeitlich der bekannte Meteorologe Michail Rykačev, Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Zugleich waren die 17. und 18. Linie nicht nur Standort von „Vasjas Dorf “, sondern auch mehrerer Einrichtungen für Waisenkinder und Arme.233 Diese direkte Nachbarschaft von Arm und Reich bedeutete jedoch für die Vasilij-­Insel ebenso wenig wie für den gesamten Stadtraum, dass es keine sozialräumlichen Unterschiede mehr gegeben hätte. Vielmehr bildeten die drei Bezirke, in die die Insel 1866 unterteilt worden war,234 gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch die sozialen Ungleichheiten ab. ´ Im ersten Bezirk, der sich entlang des Ufers der Großen Neva von der ­ersten bis zur 12. Linie und gen Norden bis zum Mittleren Prospekt (Srednyj ­prospekt) erstreckte, lebten vor allem Bedienstete und Studenten der Akademie und der Universität sowie wohlhabende Kaufleute und Händler. Arbeiter gab es hier kaum, abgesehen vom Dienstpersonal.235 Auffällig ist zudem, dass sich die z­ wischen den Bahnhöfen, und damit nicht auf der Vasilij-­Insel. Vgl. hierzu Lenkin, A., Avtobusy Peterburga, in: Istorija Peterburga 7 (2007), No. 2, S. 15 – 18. 232 Vgl. Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 423, 432; Glezerov, Sergej, Sankt-­Peterburg ot A do Ja. Istoričeskie rajony. 2-e izd., ispr. i dop., Sankt-­Peterburg 2005, S. 17, sowie den Plan der Vasilij-­Insel samt Hausnummern in: Ves‘ Peterburg na 1902 god. Adresnaja i spravočnaja kniga g. S.-Peterburga. Plan Vasil’evskoj časti – Suvorovskogo učastka, Sankt-­Peterburg 1902, S. 620. 233 Vgl. Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 423; Ėnciklopedija blagotvoritel’nosti: Sankt-­ Peterburg, URL: http://encblago.lfond.spb.ru/search.do?objectType=2805596371 (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 234 Bis dahin war die Insel in sechs Bezirke aufgeteilt. Vgl. Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 18. 235 Vgl. Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii. Sostavleno po rasporjaženiju G. S.-Peterburgskago Gradonačal’nika General-­Major N. V. Klejgel’sa vračami Peterburgskoj stoličnoj policii, pri učasti i pod redakcij Staršago Vrača I. Erem’eva, SPb 1897, S. 625, 628 f. Dieses Werk hatte ebenso wie die Studien von Julij Gjubner fundamentalen Charakter. Es stellte erstmals detaillierte Daten zur Entwicklung der einzelnen Stadtteile in einer Gesamtschau zusammen. Es ging auf eine Initiative des Petersburger Stadthauptmanns

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­ evölkerungszahl ­dieses Bezirks ­zwischen 1890 und 1896 kaum veränderte und B mit einer Entwicklung von 29.900 auf 30.380 praktisch stagnierte. Bei den beiden weiteren Bezirken sah dies deutlich anders aus. Der zweite umfasste das Territorium nördlich des Srednyj prospekt bis zum Finnischen Meerbusen, und gen Westen das gesamte Gebiet nördlich des rechten Ufers des Flusses Smolenka. Er beherbergte 1890 35 Fabriken sowie zahlreiche kleinere Betriebe und war deshalb stark von Arbeitern geprägt. Zudem gab es noch einmal eine interne sozialräumliche Grenze: Während die Bewohner ­zwischen Mittlerem und Kleinem Prospekt (Malyj prospekt) noch vergleichsweise wohlhabend waren (naseleno bolee dostatočnym klassom), lebte nördlich des Malyj prospekt, vor allem auf der Insel Golodaj, der ärmere Teil der Arbeiter.236 Der dritte, anfangs nach General Suvorov benannte Bezirk umfasste den westlichen Teil der Insel jenseits der 13. Linie und war ebenfalls von Fabriken geprägt. Allein die Baltische Schiffswerft beschäftigte zu d ­ iesem Zeitpunkt rund 4.000 Arbeiter. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Straßen z­ wischen der 13. und 18. Linie: Hier lebten viele Kaufleute, Zwischenhändler und Makler. Ab der 19. Linie begannen dann die Fabrik- und Eckwohnungen der Arbeiter.237 Die letzteren beiden Bezirke waren denn auch diejenigen, ­welche den Bevölkerungszuwachs aufnahmen und im Gegensatz zum ersten stark anwuchsen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich in der Entwicklung der Vasilij-­Insel jene Ungleichheiten widerspiegeln, die die gesamte Stadt prägten. Bestimmte, als „zentral“ wahrgenommene Bereiche erfuhren eine sichtbare infrastrukturelle Förderung, während der flächenmäßig deutlich größere ‚Rest‘ weitgehend sich selbst überlassen blieb. Was hierbei als „zentral“ und was als „peripher“ galt, bemaß sich auch ‚jenseits des Flusses‘ aus der Entfernung zum ‚eigentlichen‘ Zentrum der Stadt auf der anderen Seite: Während die der Admiralität gegenüberliegende Uferpromenade samt ihrem Hinterland so ­gestaltet wurde, dass man dort leben konnte, „als sei man in Petersburg geblieben und nutze zugleich die Vorteile der Abgeschiedenheit der Insel“ 238, sank der L ­ ebensstandard mit zurück und basierte auf den Angaben der Polizeiärzte der verschiedenen Bezirke. Vgl. die Einschätzung als „vollständigste“ und „sehr repräsentative Publikation“ auch bei ­Juchneva, Petersburgskie dochodnye doma, S. 14. 236 Vgl. Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii, S. 626, 628 f. 237 Vgl. ebd., S. 626, 630. 238 So die Feststellung von Dmitirj Gubin, Lev Lur’e und Igor‘ Porošin, die sich auf das heutige Petersburg bezieht, aber ebenso gut für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts

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wachsendem Abstand zum linken Nevaufer immer mehr. Das Beispiel des zweiten Bezirks, in dem der Malyj prospekt eine weitere sozialräumliche Grenze bildete, ‚jenseits‘ derer es noch einmal schlechter wurde, unterstreicht dies ebenso wie die Entwicklung der ganz im Westen gelegenen Siedlung Gavan‘. Es ist augenfällig, wie stark die soziale Stellung der Wohngegenden auf der Vasilij-­Insel mit der Nähe respektive Entfernung zum Stadtzentrum korrelierte. Und dies auf zwei Ebenen – der des Planungs(un)willens der Stadt wie auch bei der Frage, ­welche Bewohner der Insel wo lebten.

Die Petersburger Seite Die Entwicklung der Petersburger Seite weist Parallelen zu jener der Vasilij-­Insel auf. In beiden Fällen lässt sich eine anfangs zentrale Stellung in der Stadtgeschichte konstatieren, der dann eine lange Zeit der Randständigkeit folgte, ehe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grundlegende Veränderungen in der inneren ‚Ordnung‘ eintraten. Und ebenso wie bei der Vasilij-­Insel illustriert die Historiographie diesen Bedeutungsverlust. Im Falle der Petersburger Seite ist es die Funktion der Peter-­und-­Pauls-­Festung auf der Haseninsel als Nukleus der Stadt, die Bestandteil jeder historischen Darstellung St. Petersburgs ist. Die Zahl der Veröffentlichungen, die auch die hierauf folgende Zeit beleuchten, ist demgegenüber deutlich geringer. Als einzige neuere Publikationen, die die Geschichte der gesamten Petersburger Seite in den Blick nehmen, sind die Monographie von Antonina Kaljužnaja und der von Andrej Grečuchin und Genadij Popov herausgegebene Band Progulki po Petrogradskoj zu nennen.239 Daneben liegen mehrere Arbeiten zu den wichtigsten Magistralen der Petersburger Seite vor 240 sowie ein Artikel von Marina Tiščenko, in dem hätte getroffen werden können: Gubin/Lur’e/Porošin, Real’nyj Peterburg, S. 132. 239 Kaljužnaja, Antonina, Peterburgskaja storona, Sankt-­Peterburg 2007; Grečuchin, Andrej/Popov, Genadij, Progulki po Petrogradskoj, Sankt-­Peterburg 2002. Der Band von Grečuchin und Popov ist zum 300-jährigen Stadtjubiläum in leicht erweiterter Form unter dem Titel Petrogradskaja storona. Očerki istorii i architektury starejšego rajona Sankt-­ Peterburga erneut erschienen. Diese Ausgabe war mir leider nicht zugänglich, so dass ich im Folgenden die aus dem Jahr 2002 verwenden werde. 240 Kudašev, Boris, Po Kamennoostrovskomu prospektu, Sankt-­Peterburg 1994; P ­ rivalov, Valentin, Kamennoostrovskij prospekt, Moskva 2005; Nikitenko, Galina/Privalov,

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sie zum Stadtjubiläum 2003 einen Überblick über die 300-jährige Geschichte der Petersburger Seite gab.241 Aus sowjetischer Zeit sind ein Konferenzband 242 und die bereits etwas ältere Studie von Alexander Suknovalov 243 zu nennen. Die Veröffentlichungen zur Geschichte der Petersburger Seite sind also ähnlich überschaubar wie die zur Vasilij-­Insel, und die Diskrepanz zur ‚allgemeinen‘, vornehmlich um das heutige Zentrum der Stadt kreisenden Historiographie ist auch in ­diesem Fall beträchtlich. Der Petersburger (ab 1914: Petrograder) Distrikt, der allgemein als Petersburger Seite bezeichnet wurde, setzte sich aus mehreren Inseln zusammen. Den historischen Kern bildeten die Petrovskijinsel (Petrovskij ostrov), die Petersburger Insel (Peterburgskij ostrov) und die Apothekerinsel (Aptekarskij ostrov). Später kamen dann noch die Kreuzinsel (Krestovskij ostrov), die Steininsel (Kamennyj ostrov) sowie die Elagininsel (Elagin ostrov) hinzu, die sich bis 1917 im Privatbesitz der Zarenfamilie und anderer führender Persönlichkeiten befanden.244 Vor der Petersburger Insel lag zudem die bereits erwähnte Haseninsel (Zajačcij ostrov) mit der Peter-­und-­Pauls-­Festung.245 In den ersten Jahren nach der Begründung der Festung stellte die Petersburger Seite den Mittelpunkt der neu zu errichtenden Stadt dar. Der am Ufer der Großen Neva gelegene Dreifaltigkeitsplatz wurde zum ökonomischen Zentrum, mit einem Hafen, einer Börse, einem Kaufhof (Gostinyj dvor) sowie dem ersten Lebensmittelmarkt der Stadt (Obžornyj rynok). Und nachdem St. Petersburg 1712 in den Status der Hauptstadt Russlands erhoben worden war, eröffneten auch die ersten diplomatischen Vertretungen auf der Petersburger Seite.246 Valentin, Petrogradskaja storona. Bol’šoj prospekt. 2-e izd., dorab. i dop., Moskva, Sankt-­ Peterburg 2011. 241 Tiščenko, Marina, Tri veka Petrogradskoj storony, in: Istorija Peterburga 3 (2003), No. 2, S. 16 – 27. 242 Lur’e, Lev/Kobak, Aleksandr, Petrogradskaja storona. Istorija i architektura. Tezisy dokladov kraevedčeskoj konferencii, 27. – 28. sentjabrja 1988 g., Leningrad 1988. 243 Suknovalov, Aleksandr, Petrogradskaja storona, Leningrad 1960. 244 Vgl. hierzu detailliert Kaljužnaja, Peterburgsakaj storona, S. 204 – 226. 245 Heute besteht der Petrogradskij rajon aus den sieben genannten Inseln. Vgl. Grečuchin / Popov, Progulki po Petrogradskoj, S. 10 f., sowie zum genauen Zuschnitt der insgesamt vier Bezirke der Petersburger Seite am Ende des 19. Jahrhunderts: Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii, S. 670. 246 Vgl. Suknovalov, Petrogradskaja storona, S.  13 – 15; Grečuchin  /Popov, Progulki po Petrogradskoj, S. 12 – 17.

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Karte 8: Die Inseln der Petersburger Seite 247

Dieser Prozess wurde jedoch bereits 1716 wieder unterbrochen, als auf der Grundlage des erwähnten Stadtbauplans von Domenico Trezzini die Vasilij-­Insel zum zukünftigen Zentrum bestimmt wurde. Die meisten staatlichen Institutionen wurden ebenso wie der Hafen und der Gostinyj dvor dort neu errichtet.248 Auf der Petersburger Seite verblieben der Zollhof, auch wenn dieser vom Dreifaltigkeitsplatz an das Ufer der Kleinen Neva, gegenüber der Vasilij-­Insel, verlegt wurde, sowie der größte Lebensmittelmarkt der Stadt. Nachdem der Obžornyj rynok 1710 einem Feuer zum Opfer gefallen war, trat der Sytnyj rynok an seine Stelle, der an die Esplanade grenzte, w ­ elche sich auf der Rückseite der Peter-­und-­ Pauls-­Festung erstreckte. Insgesamt konzentrierte sich der Aufbau der Petersburger Seite also neben der Festung auf das südliche Ufer entlang der Großen Neva sowie die hieran angrenzenden, rückwärtigen Gebiete. Blickt man auf die nun folgende Entwicklung der Petersburger Seite, so sind zwei Prozesse von zentraler Bedeutung: Ebenso wie bei der Vasilij-­Insel fielen große Teile der Petersburger Seite bis weit ins 19. Jahrhundert hinein immer weiter 247 Grečuchin /Popov, Progulki po Petrogradskoj, S. 11. 248 Tiščenko, Tri veka Petrogradskoj storony, S. 16 f.

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hinter die Entwicklung auf der Admiralitätsseite zurück. Und zum anderen, und auch hier zeigen sich Parallelen zur südwestlichen Nachbarinsel, konzentrierte sich die infrastrukturelle Förderung, die es gab, auf wenige Magistralen und ganz bestimmte Gebiete. Der erste Punkt kam darin zum Ausdruck, dass die Petersburger Seite nach dem Verlust ihres zentralen Status‘ fortan als Randgebiet (okraina) galt und in den Planungen zum Ausbau der Stadt kaum noch eine Rolle spielte. Zwar erfolgte ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zwischenzeitlich eine verstärkte Ansiedlung von Industriebetrieben auf der Petersburger Seite, aber nur die allerwenigsten von ihnen konnten sich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts halten.249 Ursächlich hierfür waren nicht zuletzt die größtenteils gänzlich unbefestigten Wege, das Fehlen von Wasserleitungen und die ungenügende Anbindung ans Zentrum. Der Schriftsteller Georgij Polilov sprach von einem „gewaltigen Brachland“, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts charakteristisch für die Petersburger Seite gewesen sei, und Alexander Herzen schrieb 1832: „[…] zwei Werst vom Winterpalast entfernt auf die Petersburger Seite – ­welche Ödnis, welch Schmutz.“ 250 Zugleich gab es ab den 1730er Jahren Bestrebungen, bestimmte Teile der Petersburger Seite zu regulieren und besser zu erschließen. Nach der schweren Überschwemmung und den verheerenden Bränden 1736/37 beschloss eine von Petr Eropkin geleitete Kommission den Bau mehrerer großer Magistralen im Stadtgebiet. Im Falle der Petersburger Seite betraf dies zum einen deren südwestlichen Abschnitt, welcher der Vasilij-­Insel gegenüber lag. Ebenso wie auf der Nachbarinsel begann man mit dem Bau eines Großen Prospekt (Bol’šoj prospekt), der anfangs entlang der Route eines alten Grabens geführt wurde und zunächst nur „Großer Weg“ (Bol’šaja doroga) hieß. Parallel hierzu wurden zwei weitere Straßen angelegt (der Malyj prospekt und die Bol’šaja Puškarskaja ulica) und 1759 mit der Tučkov-­ Brücke eine erste, schwimmende Verbindung zur Vasilij-­Insel geschaffen.251 Diese Maßnahmen führten zu einem sukzessiven Ausbau des bis dahin sumpfigen Ufers der Kleinen Neva sowie des südwestlichen Abschnitts der Petersburger Seite. 249 Vgl. Suknovalov, Petrogradskaja storona, S. 32 f. 250 Beide Zitate nach Nikitenko, Galina, Peterburgskaja storona, in: Tri veka, Bd. 2, Buch 5, Sankt-­Peterburg 2006, S. 186 – 196, hier S. 188. 251 Vgl. hierzu detailliert Nikitenko/Privalov, Petrogradskaja storona. Bol’šoj prospekt, S. 5 – 9. Die zweite schwimmende Brücke, die im 18. Jahrhundert auf der Petersburger Seite errichtet wurde, war die Samsonievskij-­Brücke. Sie verband ab 1784 den südöstlichen Teil mit der Vyborger Seite. Vgl. Antonov, Mosty Sankt-­Peterburga, S. 57 – 60.

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Der primäre Grund, weshalb dieser Teil der Petersburger Seite zumindest mittels einer schwimmenden Brücke mit der Vasilij-­Insel verbunden wurde, lag einige Kilometer weiter nordöstlich: Die hauptstädtische Elite strebte nach einem besseren Zugang zu ihren Villen und Datschen auf der Steininsel. Da bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine direkte Verbindung über die Große Neva zur Petersburger Seite führte, war der einzige Weg der über die Vasilij-­Insel und von dort über die Petersburger Seite zur Steininsel. Dies erklärt auch, weshalb der Große Prospekt in der zweiten Hälfte häufig als Kamennoostrovskaja doroga, Bol’šoj Kamennoostrovskij prospekt, Bol’šoj prospekt na Kamennyj ostrov oder Bol’šoj prospekt k Kamennomu ostrovu bezeichnet wurde.252 Auf der Petersburger Seite veränderte sich infolgedessen die soziale Zusammensetzung in d ­ iesem Teil der Insel: Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entstanden entlang des Malyj prospekt die ersten steinernen Häuser, und nachdem der Bol’šoj prospekt in den 1830er Jahren direkt mit der Tučkov-­Brücke verbunden worden war, fanden sich unter den dortigen Anwohnern immer mehr Kaufleute, während die Zahl der Handwerker und Meščane sank.253 Obwohl der Bol’šoj prospekt im Vergleich zu den Magistralen im Stadtzentrum oder auch zum ‚besseren‘ Abschnitt des Großen Prospekts der Vasilij-­Insel noch deutlich zurückfiel (bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden lediglich die Bürgersteige befestigt, mit Kopfsteinpflastern und vor allem mit Holzplanken), so war die Diskrepanz ­zwischen ­diesem Teil der Petersburger Seite und dem Rest des Distrikts für die Zeitgenossen dennoch offensichtlich: „Je weiter entfernt vom Bol’šoj prospekt, desto stiller, finsterer und ärmer …“ 254, so formulierte es der in St. Petersburg lebende ukrainische Schriftsteller Jevhen Hrebinka 1844. 252 Vgl. Nikitenko/Privalov, Petrogradskaja storona. Bol’šoj prospekt, S. 6 f. Zur Sozialund Kulturgeschichte der Datscha sei auf die inspirierende Studie von Stephen Lovell ­verwiesen: Summerfolk. A History of the Dacha, 1710 – 2000, Ithaca, London 2003. Zur Entstehung der Datschenlandschaft an den Rändern St. Petersburgs liegt jetzt die Disser­tation von Ol’ga Malinova-­Tziafeta vor: Iz goroda na daču. Sociokul’turnye faktory osvoenija dačnogo prostranstva vokrug Peterburga (1860 – 1914), Sankt-­Peterburg 2013. 253 Vgl. Nikitenko/Privalov, Petrogradskaja storona. Bol’šoj prospekt, S. 15. Die Tučkov-­Brücke verlief ursprünglich ein Stück weiter nördlich, über die Petrovskij-­Insel, und mündete in den Malyj prospekt, weshalb dort auch die ersten steinernen Häuser entstanden und der Kleine Prospekt zwischenzeitlich sogar als „Großer Prospekt“ bezeichnet wurde. In den 1830er Jahren wurde die Brücke dann gen Süden verlegt und bildete fortan, so wie auch heute, eine Linie mit dem (eigentlichen) Bol’šoj prospekt. Vgl. ebd., S. 6 – 15. 254 Zitiert nach Nikitenko, Peterburgskaja storona, S. 188.

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Die zweite Magistrale, die auf der Petersburger Seite angelegt wurde, war der Steininselprospekt (Kamennoostrovskij prospekt). 1738 erstmals als Bol’šaja Rucheinaja ulica auf einer Karte verzeichnet, bestand er zunächst aus mehreren, noch nicht miteinander verbundenen Abschnitten z­ wischen dem heutigen Kronverkskij prospekt und dem Fluss Karpovka.255 Anfang des 19. Jahrhunderts wurde er bis zur Steininsel verlängert, mit Kopfsteinpflaster befestigt und mit gefliesten Bürgersteigen versehen.256 Der Prospekt stellte damit die erste und für rund zwei Jahrzehnte auch einzige befestigte Straße der Petersburger Seite dar.257 Zieht man zusätzlich in Betracht, dass 1803 mit der schwimmenden Petersburger Brücke (Peterburgskij most) die erste direkte Verbindung zum Stadtzentrum geschaffen wurde, so wird deutlich, warum ausgerechnet an diesen Stellen in die Infrastruktur der Petersburger Seite investiert wurde: Erneut ging es darum, den Weg zu den Datschen und Villen auf der Steininsel zu erleichtern. Hieraus erklärt sich denn auch der Name, den die Straße ab 1802 trug und der quasi vom Bol’šoj prospekt ‚übernommen‘ wurde: Kamenno-­ Ostrovskij prospekt.258 Jenseits dieser Magistralen änderte sich am Zustand der Petersburger Seite lange Zeit nichts. Detaillierte Vorschläge, wie sie etwa der bereits erwähnte französische Architekt Antoine Mauduit Alexander I. vorlegte, wurden ebenso wie im Fall der Vasilij-­Insel nicht realisiert.259 Resignierend stellte ein mit dem Hochwasserschutz befasster Gutachter 1858 fest, dass man, „wenn man den Ideen Peters des Großen folgen würde, Sankt Petersburg auch auf die Inseln ausdehnen würde. Aber so schnell der Aufbau der Hauptstadt auf der anderen Seite auch vonstattenging – so sehr erscheint eine ­solche Maßnahme heute völlig unmöglich.“ 260 Andrej Grečuchin und Genadij Popov sprechen davon, dass die 255 Vgl. hierzu eingehend Privalov, Kamennoostrovskij prospekt. Eine Auflistung der wieder­ holt wechselnden Bezeichnungen des Prospekts findet sich ebd., S. 4. 256 Ebd., S. 11. 257 Vgl. Suknovalov, Petrogradskaja storona, S. 30. 258 Der Name wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts noch mehrmals minimal abgeändert bzw. mit dem Adjektiv bol’šoj versehen. Der Kern, der die Ausrichtung zur Steininsel wiedergab, blieb jedoch bis zur sowjetischen Zeit gleich. Zudem bezog sich der Name erst ab 1867 auf die gesamte Straße, was aber ebenfalls nichts an der primären Funktion dieser Magistrale ändert. Vgl. Privalov, Kamennoostrovskij prospekt, S. 4, 11 f. 259 Vgl. Jurkova, Process formirovanija architekturno-­planirovočnoj struktury Sankt-­ Peterburga, S. 43 – 46. 260 So V. Kiprijanov 1858, hier zitiert nach ebd., S. 46.

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Petersburger Seite bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Peripherie im historischen Zentrum der Stadt“ 261 (Okraina v istoričeskom-­to centre goroda) gegolten habe. Und den Literaturkritiker Alexander Skabičevskij erinnerten große Teile der Insel an eine „abgelegene, außerplanmäßige Kleinstadt, aber nicht an den Winkel einer europäischen Hauptstadt.“ 262 Karte 9: Die Petersburger Seite, 1849 263

Die Veränderungen setzten dann in den folgenden Jahrzehnten ein. Ebenso wie die Vasilij-­Insel wurde die Petersburger Seite zum Standort zahlreicher neuer Betriebe und großer Fabriken – am Ende des Jahrhunderts arbeiteten dort mehr als 5000 Arbeiter in 62 Fabriken.264 Neben dem Umstand, dass die häufig 261 262 263 264

Grečuchin /Popov, Progulki po Petrogradskoj, S. 85. Zitiert nach Nikitenko/Privalov, Petrogradskaja storona. Bol’šoj prospekt, S. 15 f. Peterburgskaja čast’, 1849, RAN II, ЛОИИ IIIr 7088/IIIr8176. Vgl. Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii, S. 699.

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­hochgradig umweltschädliche Produktion bereits seit dem 18. Jahrhundert an die Stadtränder verlegt wurde, beförderten die auf der Petersburger Seite zunächst noch sehr niedrigen Bodenpreise die Ansiedlung. Als Folge dessen wuchs die Bevölkerungszahl rasch an: Tabelle 6: Einwohnerzahl der Petersburger Seite, 1869 – 1906 265 Jahr

Einwohner

1869

42.611

1881

62.909

1890

76.988

1897

99.049

1900

119.625

1906

175.424

Die Tabelle zeigt, dass das Wachstum der Petersburger Seite jenes der Vasilij-­ Insel noch übertraf: Während sich die dortige Bevölkerung im gleichen Zeitraum annähernd verdreifacht hatte (von rund 66.000 auf gut 171.000), ist hier sogar ein Anstieg auf mehr als das Vierfache zu verzeichnen, an dessen Ende mehr Menschen auf der Petersburger Seite lebten als auf der Vasilij-­Insel. Dieses enorme Wachstum führte dazu, dass gegen Ende des Jahrhunderts infrastrukturelle Maßnahmen ergriffen wurden, die bisher, mit Ausnahme der Magistralen, unterblieben waren. Allerdings erfolgte auch jetzt keine flächendeckende oder zumindest gleichmäßige Versorgung, sondern ebenso wie auf der Vasilij-­Insel gab es offensichtliche Ungleichheiten beim Ausbau: Während ab den 1890ern sukzessive begonnen wurde, alle Bürgersteige der Petersburger Seite mit Kopfsteinpflaster zu befestigen, galt dies bei den Straßen nur für die größeren Verbindungswege. Ebenso wurde bei der Straßenbeleuchtung verfahren: Ab 1877 erhellten Gaslaternen Teile der Insel, aber nur entlang der Hauptstraßen, und zu einem Zeitpunkt, als nur wenige Jahre später im Stadtzentrum die elek­ trische Beleuchtung eingeweiht wurde. Eine Versorgung mit gefiltertem Wasser wurde ab 1893 aufgebaut.266 Lediglich im Bereich des Schienenverkehrs konnte 265 Otčet S.-Peterburgskogo gorodskogo obščestvennogo upravlenija za 1906 g. Čast’ vtoraja, Sankt-­Peterburg 1907, S. 1. 266 Vgl. Nikitenko, Peterburgskaja storona, S. 192.

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die Petersburger Seite von einem recht frühzeitigen Anschluss an das innerstädtische Netz profitieren: Bereits in den 1830er Jahren verkehrten hier die ersten Pferdebahnen, und damit deutlich früher als auf der Vasilij-­Insel. Allerdings wird bei einem Blick auf die Fahrtrouten und Verkehrszeiten rasch deutlich, warum dies so war: Die Pferdebahnen führten zu den Sommerresidenzen auf den nördlichen Inseln, und im Winter fuhren sie entsprechend gar nicht.267 Damit lag die Priorität ebenso wie beim Straßenausbau auf der Funktion der Petersburger Seite als Durchfahrtsgebiet – und wie die Karte 7 zeigt, änderte sich dies auch mit der Einführung der ersten Straßenbahnlinien zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht wirklich: Befahren wurden der Bol’šoj prospekt, der Kamennosotrovskij prospekt sowie die Verbindungswege zur Vyborger Seite. Einzig in den nordwestlichen Teil der Petersburger Insel, in dem sich unter anderem eine große chemische Fabrik befand, wurde parallel zum Fluss Ždanovka eine zusätzliche Pferdebahnlinie geführt.268 Tiefgehende Umwälzungen erfuhr die sozialräumliche Ordnung der Petersburger Seite dann ab dem Jahr 1903. Bereits seit den 1860er Jahren hatte es infolge der Bevölkerungsentwicklung einen Zuwachs an Häusern und Wohnungen gegeben, wobei vor allem die Anzahl steinerner Bauten stieg, auch wenn die Petersburger Seite als Ganze nach wie vor von eingeschossigen Holzhäusern dominiert wurde.269 Was dann jedoch ab 1903 einsetzte, war eine „stürmische Bautätigkeit“ 270 (burnoe stroitel’stvo), die innerhalb weniger Jahre das Antlitz eines Teils der Petersburger Seite grundlegend veränderte. Katalysator dieser Entwicklung war die Eröffnung der festen Dreifaltigkeitsbrücke (Troickij most), die ab 1903 die Zarinnenwiese (das heutige Marsfeld) mit dem Kamennoostrovskij prospekt verband.271 Damit gab es nach jahrzehntelangen Diskussionen und Planungen erstmals eine ständige Verbindung z­ wischen der Petersburger Seite und dem Zentrum. 267 Vgl. ebd. 268 Vgl. hierzu die Karten bei: Bater, St. Petersburg, S. 333, sowie: Ot konki do tramvaja. Iz istorii peterburgskogo transporta, Sankt-­Peterburg, Moskva 1994, S. 19. 269 Vgl. die entsprechenden Zahlen, gegliedert nach den vier Bezirken, in: Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii, S. 671, sowie die detaillierte Auflistung der Adressen der neu entstandenen steinernen Häuser in: Nikitenko, Peterburgskaja storona, S. 190 f. 270 Nikitenko/Privalov, Petrogradskaja storona. Bol’šoj prospekt, S. 23. 271 Vgl. Pavlov, Vladimir, Troickij most (k stoletiju so dnja otkrytija), in: Istorija Peterburga 3 (2003), No. 4, S. 13 – 19.

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Die Magistralen der Petersburger Seite erfuhren durch diese Anbindung eine deutliche Aufwertung. Stellten sie aufgrund ihrer skizzierten Genese bereits seit Langem die Vorzeigestraßen der Petersburger Seite dar, so wurden sie nun auch für wohlhabende Menschen ‚diesseits‘ der Neva interessant. Bereits in den 1890er Jahren verglich die Presse der Hauptstadt den Kamennoostrovskij prospekt mit den Champs-­Elysées in Paris, und die städtische Duma diskutierte darüber, ihn in „französischen Prospekt“ umzubenennen. Zudem wurde wiederholt vorgeschlagen, den Prospekt nach ‚großen‘ Personen der russischen Geschichte zu benennen – wahlweise nach Peter I., Puschkin oder den Romanovs.272 Die Errichtung der Dreifaltigkeitsbrücke führte zum Bau mehrgeschossiger, steinerner Häuser, vor allem, aber nicht nur entlang des Kamennoostrovskij prospekt und des Bol’šoj prospekt, mit aufwendigen Fassaden im Jugendstil, der im Russischen als Modern bezeichnet wird und dort seit dem Ende der neunziger Jahre Einzug hielt.273 Ganze Straßenabschnitte wandelten sich in vier- bis fünf­ stöckige „steinerne Korridore“ 274, und aus der zuvor als ‚peripher‘ wahrgenommenen Petersburger Seite wurde ein „prestigeträchtiges Viertel“ 275 (prestižnyj rajon). Die Folge dieser Aufwertung war ein sprunghafter Anstieg der Grundstückspreise. Zahlte man für einen Sažen‘2 entlang des Kamennoostrovskij prospekt 1885 noch sieben Rubel, so waren es 1901 275 – eine Steigerung auf knapp das 40-fache innerhalb von 16 Jahren. Bis 1914 erhöhte sich der Preis auf 320 Rubel, wobei der Fluss Karpovka die sozialräumliche Grenze bildete – ‚jenseits‘ des Flusses, im weiteren Verlauf des Prospekts bis zur Malaja Nevka, waren es dann nur noch 80 Rubel.276 Im Vergleich zum Nevskij prospekt, entlang dessen die Grundstückspreise bis deutlich über 1000 Rubel/Sažen‘² steigen konnten, mag dies immer noch moderat erscheinen – für die bisherigen Bewohner der eingeschossigen Holzhäuser war es schlicht unbezahlbar. Auch wenn sich nicht das gesamte Viertel änderte und etwa am Kamennoostrovskij prospekt rund 272 Vgl. Privalov, Kamennoostrovskij prospekt, S. 12. 273 Vgl. hierzu Schlögel, Petersburg, S. 57 – 64; Kirikov, Boris, Architektura peterburgskogo moderna. Osobnjaki i dochodnye doma. Izd. 2-e, ispr. i dop, Sankt-­Peterburg 2006, speziell zum 1901 bis 1906 entstandenen, markanten Jugendstilensemble entlang des Mnogougol’naja ploščad‘ am Kamennoostrovskij prospekt sowie zum nördlichen Teil des Bol’šoj prospekt S. 241 – 253, 485 – 499. 274 Suknovalov, Petrogradskaja storona, S. 40. 275 Tiščenko, Tri veka Petrogradskoj storony, S. 23. 276 Vgl. Privalov, Kamennoostrovskij prospekt, S. 15.

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die Hälfte der alten, einfachen Häuser stehenblieb, so verschob sich die soziale Zusammensetzung der Einwohnerschaft doch spürbar. Für wohlhabende Kaufleute, Akademiker, Lehrer oder Ärzte wurde es attraktiv, auf der Petersburger Seite und doch in der Nähe des ‚eigentlichen‘ Zentrums zu wohnen.277 Und Investoren erwarben dort Eigentum und spekulierten auf hohe Gewinne. Im Kapitel über die Wohnungsfrage werde ich hierauf zurückkommen und die Frage diskutieren, inwieweit diese Prozesse dem entsprechen, was mit Blick auf heutige Städte als Gentrifizierung bezeichnet wird. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass ähnlich der Vasilij-­Insel auch die Entwicklung der Petersburger Seite durch ein Gefälle ­zwischen einzelnen, als „zentral“ wahrgenommenen Gebieten und dem flächenmäßig deutlich größeren „Rest“ geprägt wurde. Die Entscheidung darüber, w ­ elche Straßen ausgebaut wurden, erfolgte nach der Interessenlage im Stadtzentrum, wobei im Fall der Petersburger Seite vor allem ihre Funktion als Durchfahrtsgebiet relevant war. Es ging mithin lange Zeit nicht um eine mögliche Entwicklung der Petersburger Seite selbst, sondern darum, sie besser passieren zu können. Ebenso wie auf der Vasilij-­Insel kam den Magistralen eine wichtige Funktion zu. Auch wenn ihre Ausgestaltung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht dem Niveau der innerstädtischen Boulevards entsprach, so dienten die „Prospektpfeile“ des Senators Ableuchov doch auch innerhalb der ‚Peripherie‘ als Wegbereiter der Planung und Regulierung des städtischen Raums und markierten zugleich das Gefälle ­zwischen Arm und Reich. Die rasanten Veränderungen auf der Petersburger Seite zu Beginn des neuen Jahrhunderts machen deutlich, wie sehr der Ausbau solcher Prospekte die Entwicklung ganzer Viertel beeinflusste. Zugleich belegen die deutlich geringeren Grundstückspreise jenseits des Flusses Karpovka, dass ebenso wie auf der Vasilij-­Insel der Lebensstandard mit wachsendem Abstand zum Zentrum sank.

Die Vyborger Seite Die Vyborger Seite stellt von den drei Stadtvierteln ‚jenseits des Flusses‘ das ‚peripherste‘ dar. Zu d ­ iesem Schluss könnte man nicht nur nach der Lektüre von 277 Vgl. Lur’e, Lev, Ėvolucija charaktera naselenija Petersburgskoj storony rubeža XIX–XX veka, in: Lur’e/Kobak, Petrogradskaja storona, S. 13 – 16; Nikitenko/Privalov, Petrogradskaja storona. Bol’šoj prospekt, S. 23 – 28.

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Ivan Gončarovs 1859 erstmals erschienenem Roman Oblomov gelangen, in dem der Protagonist den Vorschlag, auf die Vyborger Seite zu ziehen, voller Entrüstung zurückweist, da dort im Winter die Wölfe herumliefen und es „langweilig, öde und menschenleer“ 278 sei. Auch die Historiographie fällt noch einmal spärlicher aus, als dies bereits bei den anderen beiden ‚Rändern‘ der Fall war. Bis heute existiert genau ein neueres Werk, das sich der gesamten Geschichte der Vyborger Seite annimmt: Der von Anatolij Kogan, Anatolij Lichtin und Natal’jla Zaznobina im Vorfeld des 300-jährigen Stadtjubiläums herausgegebene Band Istorija Sankt-­Peterburga: Vyborgskaja storona.279 Des Weiteren liegt eine Publikation von Tat’jana Gusencova und Irina Dobrynina vor, die ähnlich dem Band von Viktor Buzinov über die Vasilij-­Insel mehrere historische Stadtteilrundgänge enthält und sich als Wegweiser durch die schönen Seiten des Distrikts versteht.280 Und mit Blick auf das 19. Jahrhundert ließe sich noch der Artikel in der aktuellen Petersburg-­Enzyklopädie nennen.281 Mehr gibt es nicht – was die Frage aufwirft, warum das so ist. Eine Erklärung liefert sicherlich die Tatsache, dass die Vyborger Seite zu keiner Phase ihrer Geschichte eine solch zentrale Stellung für die Stadtentwicklung besaß wie dies in den ersten Jahrzehnten bei der Petersburger Seite und der Vasilij-­ Insel der Fall war. Die Vyborger Seite war nie dazu ausersehen, den zukünftigen Mittelpunkt der neuen Hauptstadt zu bilden, womit sie von Beginn an eine randständige Position innehatte. Zudem, und hierin mag ein zweiter Grund liegen, der im Folgenden noch näher ausgeführt werden wird, gab es auf der Vyborger Seite keine Gegenden, die sich in einem solchen Maß den „Lichterzentren“ der Innenstadt angenähert hätten, wie dies in den ‚besseren‘ Abschnitten der anderen beiden Viertel der Fall war. Die Vyborger Seite blieb von den dreien bis ins 20. Jahrhundert hinein der am wenigsten entwickelte und am stärksten proletarisch geprägte Stadtteil – was eine Erklärung dafür sein könnte, weshalb zu seinen Magistralen im Unterschied etwa zum Kamennoostrovskij prospekt auf der Petersburger Seite keine gesonderten Studien vorliegen. 278 Iwan A. Gontscharow, Oblomow, 8. Auflage, München 1996, S. 60 (russische Erstausgabe 1859). 279 Kogan, Anatolij/Lichtin, Anatolij/Zaznobina, Natal’ja, Istorija Sankt Peterburga: Vyborgskaja storona, Sankt-­Peterburg 2001. 280 Gusencova, Tat’jana/Dobrynina, Irina, Putešestvie po Vyborgskoj storone, Sankt-­ Peterburg 2007. 281 Veksler, A., Vyborgskaja čast‘, in: Tri veka, Bd. 2, Buch 1, Sankt-­Peterburg 2005, S. 645 – 650.

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Karte 10: Die Vyborger Seite, 1849 282

Die „Vyborger Seite“ (Vyborgskaja storona), deren Name sich von dem alten Weg nach Vyborg ableitet, gab es als ­solche seit 1718. Im Zuge der ersten administrativen Gliederung der Stadt wurden hierunter die rechtsufrigen Gebiete der Neva bis zum Beginn der Großen Neva sowie die Territorien östlich der Großen Nevka gefasst. Hinzu kam das Ochta-­Viertel im Südosten der Stadt. Die wiederholten Neuaufteilungen der städtischen Verwaltungsgrenzen im 18. Jahrhundert ließen die Vyborger Seite dann zwischenzeitlich als eigenständigen Distrikt wieder verschwinden (sie wurde der Petersburger Seite zugeschlagen), ehe die Reorganisation der städtischen Polizei 1789 mit der Schaffung zehn neuer 282 Vyborgskaja čast’, 1849, RAN II, ЛОИИ IIIr 7088/IIIr8176.

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Distrikte einherging, von denen einer der „Vyborger Distrikt“ (Vyborgskaja čast‘) war. Das Ochta-­Viertel gehörte zunächst nicht mehr dazu, es verblieb anfangs außerhalb der Stadtgrenzen, bildete ab 1828 einen eigenen Distrikt und wurde schließlich 1858 wieder in den Vyborger Bezirk integriert, woran sich dann bis zum Februar 1917 nichts mehr änderte.283 Rein formal betrachtet gab es also die Bezeichnung „Vyborger Seite“ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr – wenn sie im Folgenden trotzdem auch hierüber hinaus Verwendung findet, so liegt dies daran, dass sie sich bis heute als gängiger Begriff für die hier interessierenden Gebiete gehalten hat. Die Bebauung der Vyborger Seite erfolgte anfangs „spärlich und verstreut“ 284. Abgesehen von wenigen zentralen steinernen Gebäuden wie der Samsonkirche dominierten einfache, eingeschossige Holzhäuser das Bild. Hieran änderte auch der bereits erwähnte, nach den schweren Überschwemmung und den verheerenden Bränden 1736/37 beschlossene, neue Generalplan für die gesamte Stadt nichts Grundlegendes. Zwar strebte die von Petr Eropkin geleitete Kommission ursprünglich den Bau fünf strahlenförmiger großer Straßen auf der Vyborger Seite an. Diese sollten von einem noch anzulegenden Platz beim Meereshospital (Morskoj gospital) abgehen, also vom südwestlichen Gebiet der Vyborger Seite am Beginn der Großen Neva, gegenüber der Uferpromenade des Zentrums.285 Letztendlich wurde das „‚fünfstrahlige‘ Projekt“ 286 jedoch bis auf eine Magis­trale nicht realisiert – und dies war der späterer Samsonprospekt (Samsponievskij prospekt), der ab den 1730er Jahren zunächst nördlich der Samsonkirche gen Vyborg verlief und bis zum Ende des 18. Jahrhunderts noch als „Perspektive“ (Samsonievskaja perspektiva) bzw. als „Straße“ (Samsonievskaja ulica) bezeichnet wurde. Zusammen mit der erst Mitte des 19. Jahrhunderts angelegten Nystader Straße (Njustadskaja ulica) gehörte er zu den wenigen „stadtbildenden“ 287 (gradoobrazujuščie) Magistralen der Vyborger Seite. Darüber hinaus gab es keine kohärente Planung für den Stadtteil. Er blieb ein Ort unzusammenhängender Vorstädte (Slobody), einiger Industrieansiedlungen, 283 Vgl. Kogan/Lichtin/Zaznobina, Istorija Sankt Peterburga: Vyborgskaja storona, S. 10 – 14. 284 Kogan/Lichtin/Zaznobina, Istorija Sankt Peterburga: Vyborgskaja storona, S. 26. 285 Das Krankenhaus gehörte zu den ersten Gebäuden auf der Vyborger Seite, sein Bau wurde 1715 von Peter I. angeordnet. Vgl. Gusencova/Dobrynina, Putešestvie po Vyborgskoj storone, S. 110 – 115. 286 Ebd., S. 113. 287 Veksler, Vyborgskaja čast‘, S. 644.

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darunter einer Werft, sowie zahlreicher Datschen, die sich vor allem entlang des Ufers der Großen Nevka befanden, mit oft beträchtlichem Landbesitz. Zu den Sommerresidenzen führte denn auch eine der schwimmenden Brücken, die im 18. Jahrhundert die Vyborger Seite mit den anderen Stadtteilen verbanden: Seit 1786 verlief die Stroganov-­Brücke z­ wischen dem Landsitz des gleichnamigen Grafen und der Steininsel. Allerdings befand sich die Brücke im Privatbesitz und war so konstruiert, dass sie sich hochklappen ließ, was wiederholter Auslöser für Streitfälle mit den Anwohnern war.288 Des Weiteren gab es ab 1758 die Grenadiersbrücke und seit 1784 die Vyborger Brücke als schwimmende Verbindungen über die Große Nevka. Alle diese Brücken führten jedoch zunächst einmal nur auf die Petersburger Seite – den einzigen direkten Weg auf das andere Ufer der Großen Neva stellte ab 1786 die Voskresenskij-­Brücke dar, ­zwischen ­Voskresenskij prospekt (dem heutigen Prospekt Černyševskogo) und der Vyborger Seite.289 Die weiteren Gebiete gen Südosten bis einschließlich des Ochta-­Viertels waren bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Schiffsverkehr angewiesen, oder auf weite Umwege über die genannten Brücken. Die Bevölkerung der Vyborger Seite, die sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts auf rund 4.500 und um die Jahrhundertwende auf knapp 10.000 belief, setzte sich im Wesentlichen aus Handwerkern, Soldaten und kleinen Beamten zusammen.290 Da sich auch der 1765 bis 1767 entwickelte, neue Bebauungsplan für St. Petersburg weitgehend auf die Innenstadt konzentrierte, blieben ­solche „Ränder der Stadt“ 291 wie die Vyborger Seite auch weiterhin so „unwirtlich“ ­(neblagoustroennyj) wie bisher. Aus der Sicht des Zentrums waren sie einfach nicht wichtig, und so „verbarg nur das Grün der Gärten und Vorgärten die Dürftigkeit der Hütten, in denen der Großteil der handwerklichen Bevölkerung hauste.“ 292 Die Qualität der Häuser sowie der allgemeine Zustand des Stadtteils entsprachen der Standeszugehörigkeit und der materiellen Situation der Bevölkerung. In seiner „Beschreibung der Russisch-­kaiserlichen Hauptstadt St. Petersburg und der Denkwürdigkeiten ihrer Umgebung“ stellte Johann Gregori, Arzt und Mitglied der Akademie der Wissenschaften, 1794 fest:

288 Vgl. Antonov, Mosty Sankt-­Peterburga, S. 55 f.; Veksler, Vyborgskaja čast‘, S. 644. 289 Vgl. Antonov, Mosty Sankt-­Peterburga, S. 30 f. 290 Vgl. Kogan/Lichtin/Zaznobina, Istorija Sankt Peterburga: Vyborgskaja storona, S. 71 – 74. 291 Dieses und das folgende Zitat ebd., S. 30. 292 Ebd.

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Dieser Teil, der für gewöhnlich als Vyborger Seite [Hervorhebung im Original – H.-C. P.] bezeichnet wird, [hat] nur eine Hauptstraße, die entlang des Ufers führt und überhaupt nicht befestigt ist. […] und auch die übrigen Häuser sind überwiegend klein und erinnern an Vororte [predmestnye], und die Bewohner üben sich in Viehzucht und Gartenarbeit.293

Das 19. Jahrhundert brachte dann auch auf der Vyborger Seite einige Veränderungen mit sich. In erster Linie sind hier die großen Fabriken zu nennen, die das Antlitz und die soziale Zusammensetzung des Stadtteils veränderten. Waren es in den ersten Jahrzehnten vor allem Betriebe der Textilindustrie wie die 1836 begründete Baumwollfabrik der Brüder Mal’cev, die ­zwischen dem Ufer der Großen Nevka und dem Samsonprospekt angesiedelt wurden, so kamen später auch Werke wie die erste Fabrik des russischen „Zuckerkönigs“ 294, Leopold Koenig, sowie metallverarbeitende Produktionsstätten hinzu. Zu den größten zählten die Kupfer- und Eisengießerei an der Simbirskaja ulica sowie die Druckfabrik des Kaufmanns Gustav Lesser am Ufer der Großen Nevka. 1861 existierten auf der Vyborger Seite bereits 24 metallverarbeitende Betriebe, und 1903 gab es in dem Distrikt insgesamt 43 große Fabriken mit fast 15.000 Arbeitern.295 Die Wandlung der Vyborger Seite zu einem stark proletarisch geprägten Stadtteil führte zu einem entsprechenden Anstieg der Bevölkerung, vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts:

293 Gregori, Iogan, Opisanie Rossijsko-­imperatorskogo stoličnogo goroda Sankt-­Peterburga i dostopamjanostej v okrestnostjach onogo, Sankt-­Peterburg 1794, hier zitiert nach ebd., S. 31. 294 Dahlmann, Dittmar, St. Petersburg, Bonn und Trostjanec. Leben und Werk von L ­ eopold Koenig, Russlands „Zuckerkönig“, von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1914, in: ­Dahlmann, Dittmar/Heller, Klaus/Petrov, Jurij A. (Hg.), Eisenbahnen und Motoren – Zucker und Schokolade. Deutsche im russischen Wirtschaftsleben vom 18. bis zum ­frühen 20. Jahrhundert, Berlin 2005, S. 45 – 59. 295 Vgl. hierzu eingehend Kogan/Lichtin/Zaznobina, Istorija Sankt Peterburga. Vyborgskaja storona, S. 111 – 158, sowie Veksler, Vyborgskaja čast‘, S. 646 f.

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Tabelle 7: Einwohnerzahl der Vyborger Seite, 1869 – 1906 296 Jahr

Einwohner

1869

22.821

1881

33.628

1890

41.227

1897

55.976

1900

69.087

1906

91.087

Die Tabelle zeigt, dass sich die Vyborger Seite im Zuge der Industrialisierung von einem ehemals „spärlich“ besiedelten Distrikt zu einem im Umfeld der Fabriken dicht bewohnten Viertel entwickelt hatte. Die absoluten Zahlen waren hierbei immer noch deutlich niedriger als die der anderen beiden Stadtteile ‚jenseits des Flusses‘, aber das Wachstum lag mit einer Vervierfachung nur knapp unter dem der Petersburger Seite und übertraf jenes der Vasilij-­Insel. Lebten dort 1869 noch rund drei Mal so viele Menschen wie auf der Vyborger Seite, so hatte sich dieser Abstand bis 1906 auf weniger als das Doppelte verringert. Was sich hingegen kaum veränderte, war die ausgeprägte Randständigkeit der Vyborger Seite bei der weiteren Stadtplanung. Während das Stadtzentrum bereits im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ein „strenges, harmonisches Antlitz“ erhalten hatte, wie Alexander Puschkin es formulierte, und viel Aufmerksamkeit auf die Gestaltung der Fassaden neuer Industriebauten verwendet wurde, gab es keine Richtlinien dazu, wo diese Fabriken an den ‚Rändern‘ platziert wurden und wie die Wohnungen der Arbeiter auszusehen hatten.297 Sie wurden „still und planlos“ 298 errichtet. Auf der Vyborger Seite erfuhr einzig das südwestliche Gebiet am Beginn der Großen Neva, gegenüber der Uferpromenade des Zentrums, eine sichtbare infrastrukturelle Aufwertung. Neben dem bereits erwähnten Meereshospital befand sich dort seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts das im klassizistischen Stil errichtete und mit dem dazugehörigen Garten 296 Otčet S.-Peterburgskogo gorodskogo obščestvennogo upravlenija za 1906 g. Čast’ vtoraja, Sankt-­Peterburg 1907, S. 1. 297 Vgl. auch das Zitat von Puschkin, Kogan/Lichtin/Zaznobina, Istorija Sankt Peterburga. Vyborgskaja storona, S. 38 f. 298 Grincevič, O., Proekty planirovki Peterburga vtoroj poloviny XIX-načala XX veka, in: Architekturnoe nasledstvo 9 (1959), S. 51 – 61, hier S. 58.

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sehr raumgreifende Gebäude der Kriegsmedizinischen Akademie (Voenno-­ medicinskaja ­akademija).299 Der Samsonprospekt wurde bis zum Gelände der Akademie verlängert und, neben und z­ wischen den Fabriken, zum Standort weiterer medizinischer und militärischer Einrichtungen, darunter der Artilleriebehörde.300 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verlief zudem mit der Nystader Straße eine zweite Magistrale durch diese Gegend, in deren unmittelbarer Nachbarschaft 1870 der Finnische Bahnhof eröffnet wurde. Und ab 1879 gab es mit der Litejnyj-­Brücke eine feste Verbindung zum anderen Ufer der Neva.301 Bereits zeitgenössisch wurde vermerkt, dass die Kriegsmedizinische Akademie der Gegend „eigenständige Züge [otličitel’nye čerty]“ verlieh und ein „besonderes Element innerhalb der Einwohnerschaft“ 302 mit sich brachte. Die Studierenden und Ärzte suchten sich Wohnungen im Umfeld der Akademie, die „sich hinsichtlich ihrer Ausstattung abhoben und natürlich nichts mit jenen Zimmern gemeinsam hatten, die von den Arbeitern der Fabriken bewohnt werden.“ 303 Der erste Bezirk, zu dem ­dieses südwestliche Gebiet an der Neva gehörte, war dadurch derjenige der Vyborger Seite, in dem ab den 1880er Jahren erstmals Mietwohnungen in größerer Zahl entstanden.304 Er wies einen größeren Anteil adliger Bewohner und einen höheren Prozentsatz steinerner Bauten auf als der nördlich hiervon gelegene zweite Bezirk und als das Ochta-­Viertel im Südosten.305 Diese Ungleichheiten bildeten sich auch im Verkehrsnetz ab. Die elektrische Straßenbahn verkehrte bis zum ­Ersten Weltkrieg an zwei Stellen auf der 299 Vgl. Gusencova/Dobrynina, Putešestvie po Vyborgskoj storone, S. 117 – 122. 300 Vgl. die detaillierte Karte sowie die entsprechenden Beschreibungen der einzelnen Gebäude ebd., S.8 ff., sowie auch: Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj ­policii, S. 710. 301 Es handelt sich um die heutige Litejnyj-­Brücke (Litejnyj most), die auf dem linken Neva­ ufer in den Litejnyj prospekt mündet. Sie stellte die zweite feste Brücke über die Neva dar und ersetzte die oben erwähnte Voskresenskij-­Brücke, ­welche ursprünglich etwas weiter östlich verlaufen, zu d ­ iesem Zeitpunkt jedoch bereits als Anbindung an den Litejnyj prospekt verlegt und in Litejnyj most umbenannt worden war. 1879 erfolgte somit ‚nur‘ noch der Wechsel von einer schwimmenden zu einer festen Brücke. Nach der Ermordung des Zaren Alexander II. trug die Brücke bis 1917 seinen Namen (Aleksandrovskij most/Most Imperatora Aleksandra). Vgl. Taran, V., Istorija odnogo mosta, in: Istorija Peterburga 7 (2007), No. 2, S. 62 – 67; Antonov, Mosty Sankt-­Peterburga, 30 – 35. 302 Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii, S. 709. 303 Ebd., S. 710. 304 Vgl. Veksler, Vyborgskaja čast‘, S. 648 f. 305 Vgl. Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii, S. 711, 730.

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Vyborger Seite: Über die Stroganov-­Brücke ein kurzes Stück gen Westen bis zum Küstenbahnhof (Primorskij vokzal), und über die Alexanderbrücke auf dem Samsonprospekt gen Norden. Ansonsten fuhren Pferdebahnen, in erster Linie vom Finnischen Bahnhof gen Osten bis zum Beginn des Großen Ochta-­ Viertels. Das südlich hiervon gelegene Kleine Ochtagebiet blieb bis 1914 ohne Anschluss an das Schienennetz.306 Damit war zwar der ‚zentrale‘ Teil der Vyborger Seite an das Verkehrsnetz angebunden – große Gebiete jedoch nach wie vor nicht. Der Ingenieur Fedor Enakiev stellte in seiner grundlegenden Arbeit über „Die Aufgaben der Umgestaltung Sankt Petersburgs“ denn auch 1912 zutreffend fest: „Die Unzulänglichkeiten und die Verteuerung der Verkehrsmittel in Sankt Petersburg erfordern vor allem die Entwicklung eines Straßenbahnnetzes.“ Die bisher existierenden Linien und deren geplante Erweiterungen würden sich weitgehend auf „eher dünn bewohnte Gebiete rechts der Neva und links der Fontanka“ beschränken. Mindestens ebenso „angebracht“ sei es jedoch, die „großflächigen Bezirke der Vyborger Seite sowie des Roždestvenskaja-­Distrikts“ 307 anzuschließen, was allerdings einen entsprechenden politischen Willen voraussetze. Dieser „munizipiale Planungswille“, um die Formulierung Jürgen Osterhammels noch einmal aufzugreifen, den Enakiev einforderte, war für große Teile der Vyborger Seite schlicht nicht gegeben. Ebenso wie der öffentliche Nahverkehr erstreckten sich auch Wasserversorgung, Straßenbefestigung und Beleuchtung nur auf wenige Abschnitte, vor allem rund um das südliche Teilstück des Samsonprospekts.308

306 Vgl. Veksler, Vyborgskaja čast‘, S. 649; die Karte bei Bater, St. Petersburg, S. 333, sowie: Ot konki do tramvaja, S. 234. 307 Enakiev, Zadači preobrazovanija S.-Peterburga, S. 40. Vgl. zur Bedeutung der Arbeit von Fedor Enakiev, die er gemeinsam mit Leontij N. Benois und Marian M. Peretjatkovič entwickelte, auch Schlögel, Petersburg, S. 35 – 49. 308 Vgl. Kogan/Lichtin/Zaznobina, Istorija Sankt Peterburga. Vyborgskaja storona, S. 416 – 418 und 421 – 425. Gasbeleuchtung gab es in diesen Abschnitten der Vyborger Seite ab 1878. Noch 1875 hatte die städtische Duma den Vertrag mit einer in London ansässigen Aktiengesellschaft über den Bau von Gaslaternen auf der Petersburger und Vyborger Seite gekündigt, da die vereinbarten Leistungen nicht erbracht worden waren. Der Auftrag ging danach an eine französische Gesellschaft. Vgl. die Vorlagen der städtischen Verwaltung sowie die entsprechenden Beschlüsse der Duma: ISPGOD, 1874, No. 11, S. 1981; 1875, No. 8, S. 705 f.; 1876, No. 7, S. 654 – 659.

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Abb. 2: Straßenbahn auf dem Samsonprospekt, um 1910 

Wie es in den anderen Gebieten des Distrikts aussah, zeigt ein Bericht, den Semen Verekundov 1902 der städtischen Sanitärkommission erstattete. Verekundov war als Sanitärarzt für den zweiten Bezirk der Vyborger Seite zuständig, der einen deutlich größeren Umfang als der erste hatte: sämtliche nördlich des ‚zentralen‘ Teils des Samsonprospekts gelegenen Territorien sowie im Nordosten die F ­ lächen bis zum Beginn von Novaja derevnja. Auf der Grundlage seines Bericht hielt die Sanitärkommission fest, dass es in St. Petersburg großflächige Gebiete [gibt], in denen die Straßen, ungeachtet der beträchtlichen Bevölkerung in diesen Stadtbezirken, keine Bürgersteige und Paneelen haben und in denen die Bevölkerung, und insbesondere die besitzlose Klasse, dazu gezwungen ist, den Dreck von den Straßen in ihre Wohnungen zu tragen, obwohl in ihm teilweise die Erreger epidemischer Krankheiten enthalten sind.310 309 Peterburg v starych otkrytkach/St. Petersburg in Ancient Post-­Cards. Ulicy i ploščadi, Sankt-­Peterburg 1993, S. 48. 310 Dieses und das folgende Zitat: Bericht der Sanitärkommission vom 27. 11. 1902 über die Befestigung von Straßen und den Bau von Bürgersteigen aus sanitären Gründen, CGIA SPb, f. 210, op. 1, t. 1., del. 131, ll. 12 – 14, hier l. 12ob. Die Sanitärkommission in St. Petersburg war russlandweit die zweite ihrer Art. Nachdem in Moskau 1866 eine s­ olche Kommission ins Leben gerufen worden war, folgte St. Petersburg ein Jahr später, als Reaktion

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Im zweiten Bezirk der Vyborger Seite gebe es bis zu 13 Werst befestigte Straßen, die überhaupt keine Bürgersteige haben, und darüber hinaus existieren noch etliche Werst völlig unbefestigter Straßen ohne Gehwege, und auch entlang vieler befestigter Straßen existierten als Bürgersteige nur Bretterstege, und dies in einem äußert unbefriedigenden Zustand. Angesichts solcher Bedingungen sind die Forderungen städtischer Sanitärerlasse über die Säuberung der Gehwege tote Buchstaben [mertvye bukvy], weil es dort, wo keine Bürgersteige sind, auch nichts zu reinigen gibt.

Neben der Verbreitung von Krankheitserregern bestand eine weitere Gefahr darin, dass die Bewohner ­dieses Teils der Vyborger Seite in Ermangelung von Bürgersteigen zum Laufen häufig die Fahrwege der Pferdebahnen benutzten, da diese vor allem im Winter noch die trockenste und sauberste Möglichkeit darstellten, sich zu Fuß fortzubewegen. Infolgedessen war es allein z­ wischen 1893 und 1899 zu insgesamt 50 Auffahrunfällen im nördlichen Teil des Samsonsprospekts gekommen. Und dies in einer Zeit, in der das Gebiet noch nicht so dicht bewohnt war wie jetzt, wie die Sanitärkommission unterstrich: Mit dem zunehmenden Anstieg der Bevölkerung im zweiten Bezirk des Vyborger Distrikts in den letzten Jahren gibt es jedoch entlang des Samsonprospekts und in den Vororten immer mehr und mehr Fußgänger in den Fahrwegen der Pferdebahnen, und im Ergebnis immer häufiger und häufiger Auffahrunfälle.311

Wie Verekundov berichtete, waren es ­zwischen 1888 und 1891 noch 14 solcher Unglücke, während sich deren Zahl z­ wischen 1896 bis 1899 bereits auf 27 erhöht hatte. Zudem erinnerte er daran, dass mehrere Grundschulen (načal’nye školy) in ­diesem Gebiet lagen und dass die Schüler keine andere Wahl hätten, als unter den skizzierten Umständen täglich „3, 5 oder mehr Werst“ 312 zu Fuß zurückzulegen. Insgesamt sei es offensichtlich, dass „die Frage der Notwendigkeit des Baus von Bürgersteigen in besagtem Bezirk deshalb wichtig ist, weil sie die

auf die schwere Cholera-­Epidemie des Jahres 1867. Vgl. Ob- učreždenii v S.-Peterburge ispolnitel’noj sanitarnoj kommissii, in: Archiv sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny 3 (1867), No. 2, S. 29 f.; zu Moskau: Lee, Das Volk von Moskau. 311 CGIA SPb, f. 210, op. 1, t. 1, del. 131, l. 13. 3 12 Ebd., l. 13 ob.

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Interessen einer mehrere Zehntausend Menschen umfassenden, äußert armen Bevölkerung berührt.“ 313 Die Sanitärkommission erstattete der städtischem Duma Bericht und forderte hierbei als erste Maßnahme den umgehenden Bau von Gehwegen entlang einer Reihe von Straßen, darunter des nördlichen Teils des Samsonsprospekts, des Fljugov pereulok, des Jazykov pereulok, des Murinskij prospekt sowie des Ufers westlich und östlich der Stroganov-­Brücke.314 Zudem beauftragte sie Verekundov, seine Bestandsaufnahme fortzusetzen und ihr erneut zu berichten. Grundsätzlich unterstrich die Kommission, dass „die Sauberkeit und Ordentlichkeit der Straßen und Gehwege die allererste Voraussetzung der Gepflegtheit einer jeden Stadt und ein direkter Gradmesser ihrer Kultiviertheit und ihres sanitären Zustandes sind.“ 315 Diese deutliche Kritik blieb ohne Wirkung – die Befestigung der betreffenden Straßen wurde ebenso wenig realisiert wie weiter­ gehende Pläne Enakievs zu einer besseren Erschließung des nordwestlichen Teils der Vyborger Seite. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass es das für die Vasilij-­Insel und die Petersburger Seite charakteristische Gefälle ­zwischen „zentralen“, ausgebauten Teilen und einem flächenmäßig deutlich größeren, ‚abgehängten‘ ‚Rest‘ auch auf der Vyborger Seite gegeben hat. Allerdings beschränkte sich der Ausbau hier im Wesentlichen auf den südlichen Teilabschnitt des Samsonsprospekts, dessen Zustand jedoch zu keinem Zeitpunkt das Maß der Aufwertung der Magistralen in den anderen Stadtteilen erreichte. Die Vyborger Seite war aus der Sicht des Zentrums immer Peripherie gewesen und blieb dies bis zum Ende der zarischen Herrschaft. Dies bedeutet nicht, dass es nicht grundsätzlich ähnliche Prozesse gegeben hätte: So stand etwa die Veränderung der Einwohnerstruktur rund um die Kriegsmedizinische Akademie in einem Zusammenhang mit dem Aufkommen von Mietwohnungen – ein Phänomen, dass sich bei dem ‚Bauboom‘ um die Jahrhundertwende auf der Petersburger Seite ebenfalls beobachten lässt und auf das ich im folgenden Kapitel im Kontext der Wohnungsfrage noch näher eingehen werde. Und wenn man sich die Lage des ‚besseren‘ Teils des Samsonprospekts ansieht, dann wird auch hier erneut die Relevanz der Nähe respektive Entfernung zum Stadtzentrum als entscheidender Faktor für die Höhe des 313 Ebd., l. 13. 314 Vgl. ebd., l. 14. 315 Ebd., l. 12.

‚Jenseits des Flusses‘

Karte 11: Plan zum Umbau des nördlichen Teils der Vyborger Seite, 1912 316

316 Enakiev, Zadači preobrazovanija S.-Peterburga, o. S.

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Lebensstandards deutlich. Insgesamt blieben ­solche Prozesse auf der Vyborger Seite aber deutlich weniger ausgeprägt als in den anderen beiden Vierteln. Welche Zwischenerkenntnisse lassen sich aus der Betrachtung der strukturellen Entwicklung der drei Viertel ‚jenseits des Flusses‘ gewinnen? Zöge man allein einen quantitativen Maßstab heran, so könnte man zu dem Schluss kommen, sich Jörg Baberowskis Urteil über die ‚dunklen‘ „geographischen und kulturellen Ränder“ der Stadt anzuschließen: Große Teile der Distrikte waren strukturell tatsächlich weit vom Standard des Zentrums entfernt. Nimmt man Henri Lefèbvres Konzept des „Rechts auf Stadt“ als ein „Recht auf Nichtausschluss“ zum Maßstab, so muss für die arme Bevölkerung an der Neva auf einer strukturellen Ebene der weitgehende Ausschluss von ­diesem Recht konstatiert werden. Beließe man es bei dieser Erkenntnis, dann würde man damit letztendlich nur das Unwissen über diese und wohl auch das Desinteresse an diesen ‚peripheren‘ Räumen reproduzieren, das seinen Ausdruck in der sehr überschaubaren zeitgenössischen und heutigen Literatur findet. Wenn in einem grundlegenden Werk wie dem 1897 erschienenen „Die Stadt St. Petersburg vom Standpunkt der Medizinalpolizei“ auf das Admiralitätsviertel rund 70 Seiten, auf den Kazaner Distrikt fast 200 und auf das Spasskaja-­Viertel rund 160 Seiten verwendet wurden, während die Vasilij-­Insel, die Petersburger und die Vyborger Seite auf jeweils 30 – 40 Seiten kamen und das Kolomna-­Viertel auf 10, dann zeigt dies, wie viel man über die einzelnen Stadtteile wusste, und wie viel man über sie wissen wollte.317 Es wäre jedoch eine arge Verkürzung, hieraus die Schlussfolgerung zu z­ iehen, dass es darüber hinaus keine nennenswerten Entwicklungen gegeben hätte. Ergänzt man die quantitative Perspektive um eine qualitative, dann wird deutlich, dass es ‚die‘ Peripherien nicht gab. Vielmehr stand ihre Entwicklung in einem engen Zusammenhang mit dem Stadtzentrum und wurde maßgeblich davon beeinflusst, was man von dort aus als ‚zentral‘ und was als ‚randständig‘ betrachtete. Das Zentrum wurde in gewissem Sinne über die Neva verlängert, und je weiter man sich von ihm entfernte, desto ‚peripherer‘ lebte man. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass alle drei Viertel von erheblichen inneren Differenzierungen durchzogen waren. Diese wurden im Zuge des infrastrukturellen Ausbaus nicht geringer, sondern nahmen zu – die Diskrepanzen z­ wischen den beleuchteten Prospekten der Vasilij-­Insel und der Petersburger Seite und ihrem 317 Vgl. Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii, Oglavlenie (Inhaltsverzeichnis). Vgl. zum fundamentalen Charakter des Buches Anm. 235 ­dieses Kapitels.

Artikulationen des „Rechts auf Nichtausschluss“

‚Hinterland‘ waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts im wahrsten Sinne des Wortes offensichtlich. Es ist mithin schon auf einer strukturellen Ebene unzureichend, Urteile über ‚die‘ Ränder der Stadt zu fällen. Hinzu kommt, dass diese Räume nicht allein durch Strukturen geprägt wurden, sondern ebenso durch das Handeln der Menschen, die dort lebten.

2.4. ‚Jenseits des Flusses‘. Artikulationen des „Rechts auf Nichtausschluss“ Wege ins Zentrum: Brücken Von grundlegender Bedeutung für die Entwicklung der Stadtteile ‚jenseits des Flusses‘ war ihre Anbindung an das Zentrum in Gestalt fester Brücken. Wie gezeigt, ermöglichte die Eröffnung der Mariä-­Verkündigungs-­Brücke 1850 den Anschluss der Vasilij-­Insel an das innerstädtische Verkehrsnetz: Ab den 1870er Jahren gab es dort ein Depot für Pferdebahnen, und von 1907 an fuhren die ersten Linien der elektrischen Straßenbahn auf der Vasilij-­Insel. Die Vyborger Seite erhielt hingegen erst 1879, mit der Fertigstellung der Litejnyi-­Brücke, einen stabilen und ganzjährigen Zugang zum Stadtzentrum, infolgedessen sich die Erreichbarkeit des nordwestlichen Teils des Distrikts verbesserte, während das südlich hiervon gelegene Kleine Ochtagebiet bis 1914 ohne feste Brücke über die Große Neva und damit auch ohne Anschluss an das Schienennetz blieb. Und im Falle des Nukleus der Stadtgeschichte, der Petersburger Seite, dauerte es sogar bis zum Jahr 1903, ehe die Eröffnung der festen Dreifaltigkeitsbrücke jene „stürmische Bautätigkeit“ 318 in Gang setzte, die innerhalb weniger Jahre das Antlitz eines Teils des Distrikts grundlegend veränderte. Ohne ­solche steinernen Wege ins Zentrum der Stadt blieben nur die schwimmenden Brücken, und im Winter der Fußweg über die zugefrorene Große Neva. Letzterer konnte vor allem in der Zeit der Schneeschmelze im Frühjahr und im Herbst, wenn die Neva noch nicht fest zugefroren war, sehr gefährlich werden. Welche Folgen dies für die Entwicklung der Stadtteile hatte, lässt sich einem Bericht entnehmen, den eine von der Duma eingesetzte Kommission 1879 vorlegte. In ihm stellte sie fest, dass auf der Petersburger Seite deutlich mehr Menschen in den westlichen und östlichen Randgebieten lebten, wo in Gestalt der 318 Nikitenko/Privalov, Petrogradskaja storona. Bol’šoj prospekt, S. 23.

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Tučkov-­Brücke respektive der Samsonievskij-­Brücke Verbindungen zu den Nachbarinseln existierten, die zudem mit halbwegs ausgebauten Straßen verbunden waren, während das eigentliche Zentrum des Distrikts in Ermangelung einer festen Brücke über die Große Neva vergleichsweise dünn bewohnt war. Die Kommission kritisierte, dass unter solchen Umständen keine auch nur halbwegs gleichmäßige Entwicklung des Stadtteils möglich sei und dass stattdessen die Ränder der Petersburger Seite praktisch zwei eigenständige Zentren bildeten.319 Dies traf insbesondere für die Gegend um die Tučkov-­Brücke zu, die sich wie gezeigt seit den 1830er Jahren deutlich verändert hatte. Für die anderen Bewohner der Petersburger Seite war der Weg über die Große Neva demgegenüber nach wie vor beschwerlich und wurde entsprechend nur selten zurückgelegt: „Wir fahren auf jene Seite, in die Stadt.“ 320 – so beschreiben Ganila Nikitenko und Valentin Privalov die Wahrnehmung der Distanz, die für viele ­zwischen dem eigenen Stadtteil und der ‚eigentlichen‘ Stadt lag. Die Petersburger Seite habe, so Nikitenko und Privalov weiter, um die Mitte des Jahrhunderts eine „in sich geschlossene Welt“ 321 gebildet, in der man sein gesamtes Leben verbringen konnte, ohne auch nur einmal auf „jener Seite“ gewesen zu sein. Die grundlegende Bedeutung des Baus von Brücken für die ‚peripheren‘ Teile der Stadt wurde nicht überall gesehen bzw. für relevant erachtet. Für einen Teil der politisch Verantwortlichen, aber auch für manchen Architekten waren die Wege über die Flüsse St. Petersburgs in erster Linie „Zierden“ 322 der Stadt, denen vor allem die Funktion zukam, die Repräsentativität der Hauptstadt zu mehren und ihren Ruf als „Venedig des Nordens“ zu festigen. Die Bedürfnisse der Menschen ‚jenseits des Flusses‘ waren aus einer solchen Perspektive zweitrangig – was die Frage aufwirft, ob sich die dortigen Bewohner selbst zu Wort gemeldet haben, oder ob sie auch weiterhin in einer geschlossenen Welt lebten und sich nicht als Teil der Stadt begriffen. Hierzu soll im Folgenden ein näherer Blick auf die Vorgeschichte des Baus der Brücken geworfen werden, die später die Vyborger sowie die Petersburger Seite mit dem Zentrum verbanden. 1861 erschien die Streitschrift eines anonymen Verfassers, der in scharfem Ton die Vernachlässigung der Petersburger Seite anprangerte. Große Teile der Insel 319 Vgl. den Bericht der Kommission in: ISPGOD, 1884, No. 19, S. 493 – 512. 320 Nikitenko/Privalov, Petrogradskaja storona. Bol’šoj prospekt, S. 16. 321 Ebd. 322 So der Architekt L. Il’in 1908, hier zitiert nach: Antonov, Mosty Sankt-­Peterburga, S. 4.

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glichen, so konnte man dort lesen, einer „Wüste“ 323, was vor allem an den fehlenden Brücken und den nicht befestigten Straßen liege. Zudem sei die Straßen­ beleuchtung völlig unzureichend und „aufgrund der unermesslichen Entfernung von einer [Laterne] zur anderen sowie angesichts der k­ urzen, äußert homöopathischen Zeiten, in denen sie eingeschaltet sind, praktisch ohne Nutzen.“ 324 Wenn die Stadtverwaltung, so heißt es weiter, ihren Auftrag, sich um das Wohlergehen der Bewohner zu kümmern, ernst nähme, dann müsse sie sich viel stärker um die Entwicklung der Ränder der Stadt kümmern – dies geschehe aber nicht, obwohl die dortigen Bewohner ebenso Steuern zahlten wie die Einwohner anderer Stadtteile auch. Sei es da nicht ihr gutes Recht, „Fürsorge, eine Verbesserung ihres Daseins und die Befestigung ihrer Straßen einzufordern?“ 325 Was hier noch in anonymer Form erschien, wurde im folgenden Jahr namentlich und direkt an die Verantwortlichen herangetragen. 1862 erhielt der Generalgouverneur eine Eingabe von Bewohnern der Petersburger Seite, in der diese genau das einforderten, was in der Streitschrift angemahnt worden war: Die Befestigung der Gehwege, die Verlegung von Wasserleitungen sowie eine Verbesserung der nächtlichen Beleuchtung.326 Der Generalgouverneur leitete die Angelegenheit an die Duma weiter und übernahm in ­diesem Zusammenhang auch den Hinweis auf die Steuern, die von den Bewohnern der Petersburger Seite ebenso gezahlt würden wie von anderen Einwohnern, zu einem weit überwiegenden Teil aber nicht in den Ausbau des Stadtteils, sondern in die zentralen Teile St. Petersburgs flössen.327 Die Kommission, ­welche die Duma daraufhin einsetzte, bestätigte die Mängelliste der Eingabe, erklärte aber zugleich, dass man zu wenig über den Zustand der Petersburger Seite wisse, um konkret etwas unternehmen zu können. Ohne eine grundlegende Bestandsaufnahme sei „der Bau irgendeines schlechten Gehwegs und unterirdischer Rohre […] nur eine nutzlose Ausgabe, die die Situation d ­ ieses Teils der Stadt nicht verbessern wird.“ 328 Letztendlich blieben die Investitionen, wie geschildert, aus, so dass der Abgeordnete Grazdov

323 [o. N.], Nastojaščee Peterburgskoj storony, Sankt-­Peterburg 1861, S. 2. 324 Ebd., S. 4. 325 Ebd., S. 5. 326 Vgl. den Bericht der daraufhin von der Duma eingesetzten Kommission in: ISPGOD, 1863, No. 6, S. 278 f. 327 Ebd., S. 278. 328 Ebd.

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1868 unverändert über die „schreckliche Unordnung“ 329 (strašnoe bezobrazie) schimpfte, die auf der Petersburger Seite herrsche und selbst die Feuerwehr an einem Fortkommen hindere. Die Thematisierung der Belange der Viertel ‚jenseits des Flusses‘ durch deren Bewohner hielt jedoch auch in den folgenden Jahren an. Eine der für die Menschen drängendsten Fragen war der Bau fester Brücken zum Stadtzentrum. Nachdem die erste seit 1850 zur Vasilij-­Insel führte, dauerte es wie erwähnt fast drei Jahrzehnte, bis 1879 mit der Litejynj-­Brücke eine dauerhafte Verbindung der Vyborger Seite mit dem linken Nevaufer eröffnet werden konnte. Trotz der allgemein anerkannten Notwendigkeit für den Bau dieser zweiten festen Brücke waren es nicht die städtischen Organe, die hierzu die Initiative ergriffen, sondern das Thema wurde in erster Linie ‚von außen‘ an sie herangetragen. Zum einen durch Personen und Firmen aus dem In- und Ausland, die Vorschläge unterbreiteten, den Bau einer solchen Brücke privat zu finanzieren und hierfür zukünftig die Einnahmen behalten zu können, was konkret zur Folge hätte haben können, dass eine Gebühr für das Passieren der Brücke erhoben worden wäre. Ähnlich wie im Fall der Märkte hätte dies also die Privatisierung eines für den Großteil der Bevölkerung unentbehrlichen Teils der städtischen Infrastruktur bedeutet – und ebenso wie bei den Märkten wurden derartige Vorschläge von der Duma mehrheitlich abgelehnt.330 Zum anderen waren es die Bewohner der betroffenen Stadtteile selbst, die sich zu Wort meldeten. Obwohl im Stadtparlament seit 1863 über Vorschläge zum Bau einer zweiten festen Brücke diskutiert wurde, waren die Menschen der zur Debatte stehenden Viertel seitens der Duma nicht eingebunden worden. Nachdem sie von den Beratungen erfahren hatten, bildeten die Einwohner der Petersburger und Vyborger Seite 1865/66 aus eigener Initiative und mit Zustimmung des Innenministers ein gemeinsames Komitee unter Vorsitz des Petersburger Stadtoberhaupts.331 Dieses erarbeitete eine Stellungnahme, in der einleitend 329 Ebd, 1868, No. 19, S. 1032 – 1034. 330 Vgl. hierzu die Zusammenstellung der entsprechenden Vorschläge und Beschlüsse seit 1863 in: ISPGOD, 1891, No. 37, S. 215 – 248, hier insbesondere S. 215 – 217. 331 Vgl. ebd., S. 217. Auf welchem Weg die Bewohner von den Beratungen erfuhren, ist dem Bericht leider ebenso wenig zu entnehmen wie das genaue Jahr der Gründung des Komitees. Aus dem Kontext lässt sich jedoch erschließen, dass es wahrscheinlich 1865 oder 1866 gebildet wurde. Seine genaue Zusammensetzung wird nicht genannt, es wird lediglich erwähnt, dass mehrere Mitarbeiter der Stadtverwaltung dem Komitee angehörten und dass das Stadtoberhaupt (gorodskaja golova) den Vorsitz innehatte.

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­festgehalten wurde, dass grundsätzlich beide Stadtteile eine feste Verbindung ins Zentrum benötigten. Da man dies aber nicht für kurzfristig realisierbar hielt, sprach man sich für den Distrikt aus, der die Brücke „dringender braucht“ 332 – und dies war aus Sicht des Komitees nicht die Vyborger, sondern die Petersburger Seite. Sie liege näher zum zentralen Handelsgebiet der Stadt ­zwischen Großer Neva und Fontanka, so dass die meisten Menschen beider Stadtteile sich ohnehin täglich in diese Richtung bewegten, wohingegen der Weg über die Vyborger Seite für sie einen Umweg darstellte. Des Weiteren wurde darauf verwiesen, dass die Petersburger Seite mehr Einwohner hatte, dass fast die Hälfte der Bewohner der Vyborger Seite auf dem rechten Ufer der Großen Nevka und damit näher zur Petersburger Seite als zur Litejnyj-­Brücke lebte und dass die bisherige Situation, die die Menschen zwinge, im Winter und Frühjahr von der Petersburger Seite zu Fuß die zugefrorene Neva zu überqueren, unhaltbar sei und den Bau einer festen Brücke an dieser Stelle äußerst dringlich mache. Außerdem führte das Komitee noch den starken Strom von Einwohnern an, der sich jeden Sommer aus den innerstädtischen Gebieten über die Petersburger Seite zu den dahinter gelegenen Datschen bewegte, sowie die voraussichtlich niedrigeren Baukosten.333 Im September 1867 übergab man die Stellungnahme dem Gouverneur, der sie in der Folge an die Duma weiterreichte. Die Abgeordneten des Stadtparlaments fanden die Argumente des Einwohnerkomitees durchaus überzeugend und sprachen sich ebenfalls mehrheitlich dafür aus, die zweite feste Brücke zur Petersburger Seite zu bauen. Dass die Entscheidung dennoch zugunsten der Vyborger Seite ausfiel, lag an der Regierung, deren Priorität im Zusammenhang mit dem 1870 fertiggestellten Finnischen Bahnhof auf dem Ausbau einer Eisenbahnverbindung über die Vyborger Seite gen Norden lag.334 Dem konnte sich die Duma letztendlich nicht verschließen und revidierte „mit Blick auf die gesamtstaatlichen Bedürfnisse“ ihr Votum, nicht ohne festzuhalten, dass dies „zum Nachteil der eigentlichen städtischen Interessen“ 335 geschehe.

332 Ebd. 333 Vgl. alle diese Punkte ebd., S. 217 f. 334 Vgl. hierzu Schenk, Benjamin Frithjof, Bahnhöfe. Stadttore der Moderne, in: Ackeret/ Schenk/Schlögel, Sankt Petersburg, S. 141 – 157. 335 Bericht der Stadtverwaltung und der hierzu gebildeten Kommission, 1883, in: ISPGOD, 1884, No. 19, S. 491 – 568, hier S. 491.

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Die Entscheidung stellte den Bewohnern der Vyborger Seite einen erleichterten Weg in das Innere der Stadt in Aussicht (sofern sie nicht im Ochtagebiet lebten), und bis zu einem gewissen Grad ließ sich das auch für die Einwohner der östlichen Randgebiete der Petersburger Seite behaupten, für die der Weg zur neuen Brücke nicht allzu weit war. Für alle anderen blieb die Situation hingegen unverändert, nach wie vor besaß die vor allem im Sommer stark frequentierte Petersburger Seite keine dauerhafte Verbindung über die Große Neva, obwohl sie, wie eine von der Duma eingerichtete Kommission zutreffend feststellte, in „topographischer Hinsicht das Zentrum der Hauptstadt“ bildete: „Wenn man entlang der Ränder der Stadt einen Kreis ziehen würde, dann wäre die Peter-­ und-­Paul-­Kathedrale in der Festung das Zentrum d ­ ieses Kreises.“ 336 Angesichts dessen vermag es nicht zu verwundern, dass die Debatte über die Notwendigkeit einer weiteren dauerhaften Brücke auch nach dem Votum für die Vyborger Seite unvermindert anhielt. Im Dezember 1875 machte der Abgeordnete Litvinov anlässlich der Grundsteinlegung für die Litejnyj-­Brücke darauf aufmerksam, dass mit deren Bau großen Teilen der Bevölkerung ‚jenseits des Flusses‘ nicht geholfen war. Hierfür genüge bereits ein oberflächlicher Blick auf den Stadtplan sowie auf die alltäg­ liche Bewegung von Menschen und Gütern, die nach wie vor über die Petersburger Seite erfolge.337 Man könne, so fuhr Litvinov mit Blick auf die Entscheidung der Regierung fort, „natürlich all das ignorieren, was das Leben der dortigen Bewohner hervorbringt, ihre Bedürfnisse außer Acht lassen“ und stattdessen ­solche Entscheidungen in erster Linie als Maßnahmen zur allgemeinen Entwicklung begreifen, die dann in „Jahrzehnten oder Jahrhunderten“ 338 positive Resultate zeitigen würden. Dies bedeute jedoch zugleich, dass dem Großteil der Bevölkerung bis dahin weiterhin „genau jener Hebel vorenthalten wird, den sie zur Hebung ihres ökonomischen und sittlichen Niveaus benötigt und auf den doch jeder Mensch ein absolutes und gesetzliches Anrecht hat.“ 339 Ohne den Bau einer festen Brücke werde die Petersburger Seite, so Litvinovs Prognose, auch weiterhin die „Ableitung“ für den armen Teil der Petersburger Bevölkerung sein, „insbesondere in den Fällen des Spekulationsfiebers, welches beim Kauf 336 337 338 339

Vortrag der Kommission, 1879: ebd., S. 493 – 512, hier S. 493. Vgl. die Stellungnahme von Litvinov vom 03. 12. 1875 in: ebd., S. 520 – 533. Ebd., S. 520. Ebd., S. 521.

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und Verkauf von Häusern und Grundstücken in den zentralen Teilen der Stadt [v nezarečnych častjach goroda] ausgebrochen ist.“ 340 Um dies zu verhindern, mahnte er die Einsetzung einer Kommission an, die den Bau einer weiteren festen Brücke über die Große Neva vorbereiten sollte. Die von Litvinov geforderte Kommission wurde 1879/80 gebildet,341 unter anderem, weil die Stadtverwaltung die Materie für zu komplex erklärte, als dass sie ohne externen Rat eine Entscheidungsgrundlage hätte erarbeiten können.342 Zugleich war die Einberufung der Kommission eine Reaktion darauf, dass die Einwohner der Petersburger Seite sich zu Wort meldeten und damit deutlich machten, dass das Thema für sie unverändert aktuell und relevant war. 1878 richteten insgesamt 312 Hausbesitzer und Bewohner eine Eingabe an den Zaren. Unter Bezugnahme auf die Meinungsverschiedenheiten im Vorfeld des Baus der zweiten ständigen Brücke nahmen sie für sich in Anspruch, derartige Differenzen hinter sich gelassen zu haben. Ebenso wenig würden sie „aufgrund persönlicher Interessen“ handeln, sondern hätten vielmehr ein „gesamtstädtisches Interesse“ 343 im Blick. An einer solchen Perspektive mangele es bisher, denn aus der Sicht der Bewohner der linksufrigen Stadtteile sei die Petersburger Seite derart „abgelegen und zu allmöglichen Entbehrungen verdammt“, dass sie „aufgrund ihrer Armut keinerlei Aufwendung aus den städtischen Einnahmen verdient und noch nicht einmal das Recht darauf hat, den gleichen Komfort des hauptstädtischen Lebens einzufordern wie die anderen, reicheren Teile der Stadt.“ 344 Demgegenüber betonten die Unterzeichner, dass die Armut einen konkreten Grund habe: Das Fehlen einer dauerhaften Verbindung in das an sich äußerst nah gelegene Stadtzentrum. Mit einer solchen Investition winke der Petersburger Seite eine „blühende Zukunft“ 345, von der auch der kommunale Haushalt profitieren würde: Der Bau einer festen Brücke würde umgehend zu einer Vervielfachung der Bodenpreise auf der Petersburger Seite führen, so dass die Stadt ihre Immobilien mit höherem Gewinn an private Käufer veräußern könne. Dementsprechend sei es sowohl im Sinne der Menschen ‚jenseits des Flusses‘ als auch aus ökonomischen 340 Ebd., S. 522. 341 Die Zeitangaben in dem entsprechenden Bericht sind nicht eindeutig, lassen sich aber auf die Jahre 1879 – 1880 eingrenzen. Vgl. ebd., S. 492 f. 342 Vgl. diese Begründung ebd., S. 493. 343 Vgl. die Erklärung ebd., S. 534 – 538, hier S. 535. 344 Ebd. 345 Ebd., S. 536.

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Gründen dringend geboten, am Ort der bisherigen, schwimmenden Dreifaltigkeitsbrücke eine dauerhafte Verbindung zu errichten. Im Oktober 1882 wandte sich ein zweiter Zusammenschluss aus 355 Hausbesitzern und 22 Institutionen der Petersburger Seite mit einer weiteren Eingabe an die städtische Duma. Im Gegensatz zu der Stellungnahme aus dem Jahr 1878 sprachen sie sich gegen eine Brücke über die Große Neva aus und plädierten stattdessen dafür, die Verbindungen vom westlichen Ufer des Distrikts auf die Vasilij-­Insel und von dieser über die Schlossbrücke (dvorcovyj most)346 ins Stadtzentrum auszubauen. Sie verwiesen darauf, dass ungefähr zwei Drittel der Einwohner der Petersburger Seite westlich des Kamennoostrovskij prospekt lebten und dass sich die allermeisten von ihnen täglich über die Vasilij-­Insel in Richtung Admiralitätsplatz bewegen würden.347 Die direkte Verbindung am Ort der Dreifaltigkeitsbrücke lehnte man hingegen ab. Eine ­solche Lösung diene nur den Interessen der Datschenbesitzer in den Sommermonaten, während der Weg über die Große Neva zu den übrigen Jahreszeiten vergleichsweise wenig genutzt werde. Zudem wurde auch in dieser Erklärung an das ökonomische Interesse der Stadt appelliert: Die Befestigung des Wegs über die Vasilij-­Insel werde zu einer Aufwertung der westlichen Gebiete der Petersburger Seite führen, von der nicht zuletzt die Stadt mit ihren dortigen Besitzungen profitieren werde.348 Neben diesen beiden von jeweils mehreren hundert Personen unterschriebenen Eingaben gab es im Laufe des Jahres 1882 noch einige weitere Petitionen und Erklärungen, sowohl für das Projekt einer direkten Verbindung mit dem Stadtzentrum als auch für den Weg über die Vasilij-­Insel. So unterstützte der frühere Rektor der auf der Vasilij-­Insel gelegenen Petersburger Universität, B ­ eketov, ebenso die westliche Variante wie das Komitee der auf der strelka befindlichen Börse.349 Demgegenüber plädierte der Abgeordnete Cvetkov dafür, die Brücke ­zwischen dem Stadtzentrum und der Peter-­und-­Paul-­Festung als dem historischen

346 Die schwimmende Schlossbrücke verband seit 1856 die südöstliche Spitze der Vasilij-­ Insel (strelka) mit der Admiralitätsseite. 1896 wurde sie geringfügig verlegt und befindet sich seitdem an ihrem heutigen Standort. Ihre Befestigung erfolgte jedoch erst 1916. Vgl. Volkova, Mal’vina, Istorija dvorcovogo mosta v Sankt-­Peterburge, in: Istorija Peterburga 6 (2006), No. 6, S. 3 – 8. 347 Vgl. die Eingabe vom 30. 10. 1882 in: ISPGOD, 1882, No. 34, S. 2422 – 2426, hier S. 2423. 348 Vgl. ebd., S. 2425 f. 349 Vgl. die Erklärungen ebd., 1884, No. 19, S. 540 f. und 568.

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und religiösen Ursprung der gesamten Stadt verlaufen zu lassen.350 Eine dritte Variante brachte der Meščanin M. Naumov ein: Als Unternehmer für den Bau von Dampfschiffen sprach er sich gegen beide zur Diskussion stehenden Standorte aus und schlug vor, den Personenverkehr anstelle von festen Brücken mittels Fähren sicherzustellen.351 Insgesamt erhielten die städtischen Organe somit allein in den fünf Jahren ­zwischen 1878 und 1882 eine ganze Reihe von Stellungnahmen von ‚jenseits des Flusses‘, in denen sehr unterschiedliche Positionen zum Ausdruck gebracht wurden. Nun ist sicherlich zu bedenken, dass der weit überwiegende Teil der Personen, die ihr Anliegen zu Gehör zu bringen versuchten, nicht den unteren Schichten der Stadtteile angehörte. Eine eindeutige Zuordnung lässt sich in Ermangelung individueller Angaben zu den Unterzeichnern leider nicht vornehmen, und zumindest finden sich unter den 22 Institutionen am Ende der Eingabe von 1882 auch acht Fabriken.352 Insgesamt dürfte aber deutlich geworden sein, dass es entgegen der in den Texten präsenten Rhetorik nicht zuletzt private Interessen wohlhabender Bürger und gewichtiger Institutionen waren, die bei der Abfassung handlungsleitend waren. Wenn in der Eingabe von 1878 die Aussicht auf höhere Immobilienpreise als Argument angeführt und dies in Kombination mit dem ‚Vorschlag‘ präsentiert wurde, dass die Stadt ihren Besitz dann gewinnbringend an private Käufer veräußern könne, so war dies eine ziemlich treffende Vorwegnahme des Booms, der auf der Petersburger Seite nach der Fertigstellung der Troickij most 1903 tatsächlich einsetzte. Profitiert haben hiervon jedoch lediglich die Immobilienbesitzer, während die breite Bevölkerung dem Preisanstieg nicht mehr gewachsen war – und deshalb verwundert es auch nicht, eine s­ olche Argumentation bereits 1878 in einem Text zu finden, der nicht zuletzt von Hausbesitzern unterzeichnet worden war. Ähnliches gilt für die Eingabe von 1882 und die Präferierung des Weges über die Vasilij-­Insel: Blickt man auf die sie unterstützenden Institutionen, so wird rasch klar, dass sie allesamt im westlichen Teil der Petersburger Seite angesiedelt waren und damit zu den ersten Nutznießern einer Aufwertung d ­ ieses Gebiets gehört hätten. Vor ­diesem Hintergrund ist die Kritik in einer Replik, mit der die Unterzeichner aus dem Jahr 1878 auf die Eingabe vom Oktober 1882 reagierten und in der sie 350 Vgl. ebd., S. 552 f. 351 Vgl. ebd., S. 538 – 540. 352 Vgl. ebd., 1882, No. 34, S. 24426.

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die Unterzeichner als „äußerst egoistisch“ 353 bezeichneten, sicherlich nicht ohne Berechtigung – sie galt jedoch für beide Seiten. Vor allem aber können die rasche Reaktion und die insgesamt hohe Dichte an Eingaben als Indizien dafür betrachtet werden, dass sich die handelnden Personen der ökonomisch Bedeutung des Baus einer festen Brücke sehr bewusst waren und sie als wichtigste Weichenstellung für die Zukunft der Petersburger Seite in den kommenden Jahrzehnten betrachteten. Wie die Entwicklung ab der Jahrhundertwende zeigte, sollten sie mit dieser Annahme Recht behalten. ‚Den‘ Armen kam in einer solchen Auseinandersetzung in erster Linie die Funktion eines Arguments zu. Während man 1878 beanspruchte, die Interessen eines völlig benachteiligten Stadtteils zu vertreten, wurde 1882 auf die breite Masse der Bevölkerung verwiesen, die ihren Weg zur Arbeit über die Vasilij-­Insel zurücklegen würde. Angesichts der von Arbeitern und Tagelöhnern geprägten Sozialstruktur der Petersburger Seite implizierte man hiermit ebenfalls, im Namen der ‚kleinen Leute‘ zu handeln, und verschwieg zugleich, dass es nicht nur Arbeiter, sondern auch die Angestellten der auf der Vasilij-­Insel und im Stadtzentrum gelegenen Ministerien und staatlichen Institutionen waren, die täglich diese Route zurücklegten, während zugleich ein Teil der Arbeiter die Petersburger Seite gar nicht verließ, sondern im Umfeld der dortigen Fabriken verblieb. In beiden Fällen war es also zunächst einmal eine argumentative Strategie, im Namen der einfachen Bevölkerung zu sprechen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass damit nicht zugleich auch tatsächliche Interessen der ‚kleinen Leute‘ berührt wurden. Angesichts des nur sehr selektiv ausgebauten und überteuerten öffentlichen Nahverkehrs waren die unteren Schichten dringender als alle anderen auf einen stabilen und kostenlosen Weg ins Stadtzentrum angewiesen. Und dass viele diesen Weg bisher, wie 1882 angeführt, in Ermangelung einer direkten Verbindung über die Vasilij-­Insel (oder, in geringerem Maße, ab 1879 über die Vyborger Seite) nahmen, traf ebenfalls zu. Denn gerade die subproletarischen Schichten, die Tagelöhner ohne feste Arbeit in einer der Fabriken vor Ort, mussten sich zu den ‚Arbeitsbörsen‘ bewegen, wie sie auf dem Heumarkt oder in der Nähe der Isaakskatedrale existierten. Die Realisierung ihres „Rechts auf Nichtausschluss“ begann ganz grundlegend mit dem Bau von Brücken, die ins Zentrum der Stadt führten. So gesehen fungierten die Initiatoren und Unterzeichner der Eingaben trotz ihrer primär privaten 353 Vgl. die Replik vom 21. 12. 1882 in: ebd., 1884, No. 19, S. 557 – 567, hier S. 564.

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Interessen zugleich als ‚Anwälte‘ ihres Viertels, und auf d ­ iesem Weg lässt sich auch etwas über die Anliegen erfahren, die die breite Bevölkerung der Petersburger Seite mit dem Bau einer festen Brücke verband. Darüber hinaus erweitern die Eingaben unser bisheriges Bild von ‚den‘ Peripherien der Stadt. Es waren keine ‚dunklen‘ Ränder‘, die ohne Anteilnahme an der Entwicklung der restlichen Stadt passiv und schicksalsergeben nur um ihre eigene, ‚kleine‘ Welt kreisten. Die Texte zeigen, dass sich die Menschen ‚jenseits des Flusses‘ selbstverständlich als Teil des ganzen St. Petersburg begriffen, und dass sie aktiv versuchten, ihre Situation zu verbessern. Zudem werfen die widersprüchlichen Positionen, die dabei artikuliert wurden, ein Licht auf die Heterogenitäten und unterschiedlichen Interessen, die das dortige Leben ebenso prägten wie in jedem anderen Teil der Stadt. Letztendlich fiel die Entscheidung zugunsten einer direkten Verbindung der Petersburger Seite mit dem Zentrum über die Große Neva. Duma und Stadtverwaltung gaben dabei den Initiatoren der Eingabe von 1882 insoweit recht, als dass sie anerkannten, dass bei einem Blick auf den Status quo der Ausbau des Wegs über die Vasilij-­Insel die beste Lösung für einen Großteil der Bevölkerung, „vor allem der armen Klasse“ 354, sei, der sich täglich auf dieser Route gen Admiralitätsviertel bewegte. Lege man jedoch nicht allein die Perspektive eines Teils der Einwohner, sondern das gesamtstädtische Interesse an der Entwicklung der Petersburger Seite zugrunde und gehe man anstelle der Admiralität vom G ­ ostinyj dvor als dem Zentrum der Stadt aus, dann sei die Befestigung der Dreifaltigkeitsbrücke die einzig sinnvolle Maßnahme. Zudem sei in einem solchen Fall mit einem raschen Anstieg der Grundstückspreise und infolgedessen mit sprunghaft steigenden Einnahmen der Stadt wie auch einer verstärkten Bautätigkeit von privater Seite zu rechnen.355 Die Begründung illustriert ein weiteres Mal, wie eng die Entwicklung oder Stagnation der Stadtränder mit dem verbunden war, was seitens der städtischen Organe als Zentrum der Stadt definiert wurde. Es machte nicht nur einen topographischen, sondern auch einen sozialpolitischen Unterschied, ob man das Admiralitätsviertel oder den Gostinyj dvor zum Ausgangspunkt der Entscheidungsfindung erklärte. Zudem wird erneut deutlich, dass eine Mehrheit der Verantwortlichen zu ­diesem Zeitpunkt kommunale Immobilien in erster Linie 354 Ebd., S. 497. 355 Vgl. ebd., S. 498.

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als Wertobjekte betrachtete, die man bei einer entsprechenden Preisentwicklung jederzeit zu verkaufen bereit war. Ein Bewusstsein dafür, dass städtischer Grundbesitz eine der wenigen Möglichkeiten der Kommunen darstellte, die Entwicklung eines Stadtteils zu beeinflussen, spielte hingegen keine relevante Rolle. Nichtsdestotrotz erleichterte die Befestigung der Dreifaltigkeitsbrücke zweifel­ los den Weg der Bewohner auf die andere Seite der Neva. Andere Probleme blieben bestehen – so etwa die nach wie vor für die meisten Menschen zu hohen Tarife des städtischen Nahverkehrs. Im Jahr der Eröffnung der Brücke wiesen die Einwohner der Petersburger Seite in einer Eingabe darauf hin, dass der Schub für die Entwicklung des Distrikts, der durch den Bau der Brücke zu erwarten sei, durch die hohen Preise „stark gehemmt wird […].“ 356 Dieser Punkt sollte in den kommenden Jahren noch an Bedeutung gewinnen, da viele Menschen aufgrund des rasanten Anstiegs der Grundstücks- und Mietpreise infolge des Baus der Troickij most in entferntere Gebiete des Distrikts ausweichen und damit noch weitere Weg ins Zentrum zurücklegen mussten. Eine Antwort der städtischen Organe auf diese sich gegenseitig verstärkenden Entwicklungen gab es bis 1914 jedoch nicht mehr.

Klagen gegen Regulierungen: Märkte und Straßen Die Interventionen von ‚jenseits des Flusses‘ beschränkten sich nicht auf den Bau von Brücken, und auch nicht auf die Petersburger Seite. Ein für die meisten Menschen nicht minder gewichtiges Thema war die Frage der Versorgung mit Grundnahrungsmitteln in Gestalt von Märkten. Die im ersten Teil dieser Arbeit skizzierten Planungen und Maßnahmen zur Neuordnung der hauptstädtischen Marktplätze besaßen für die Bewohner der diesbezüglich strukturell unterversorgten ‚Peripherien‘ zentrale Bedeutung – weshalb sie sich auch in ­diesem Prozess zu Wort meldeten. Im März 1889 richtete eine Gruppe von 77 Bewohnern und Hausbesitzern der Vasilij-­Insel, darunter auch der Siedlung Gavan‘, eine Eingabe an die Stadtverwaltung, in der sie ihre Position zu den in der Petersburger Duma diskutierten Überlegungen formulierten, in dem Distrikt neben dem bereits existierenden 356 Vgl. die Erklärung der Anwohner im Anhang des Protokolls der Dumasitzung vom 03. 12. 1903: ebd., S. 1987.

Artikulationen des „Rechts auf Nichtausschluss“

Andreevskij rynok einen zweiten Markt zu errichten. Im Unterschied zur Stadtverwaltung, die einen Standort entlang des Bol’šoj prospekt favorisierte, plädierten die Unterzeichner dafür, einen neuen Markt am Smolensker Feld (­ Smolenskoe pole) entlang des Srednyj prospekt zu errichten – also nicht im bereits dichter bewohnten Teil der Vasilij-­Insel, sondern näher an der Arbeitersiedlung Gavan‘. Sie verwiesen darauf, dass es gerade erst zwei Jahre her sei, dass die Stadt den Srednyj prospekt vollständig befestigt und mit Petroleumlampen versehen habe, und es angesichts dessen nur folgerichtig sei, nun die Anbindung der lange Zeit isolierten westlichen Gebiete der Vasilij-­Insel an die besser ausgebauten Viertel weiter voranzutreiben.357 Zudem gehörten große Teile der Grundstücke entlang des Srednyj prospekt der Stadt, weshalb es auch ihre Verantwortung sei, sich um deren Entwicklung zu kümmern, etwa durch den Verkauf an private Investoren. Zudem stimme es nicht, wie von den Befürworten des Standorts am Bol’šoj prospekt behauptet, dass die westlichen Gebiete der Vasilij-­Insel noch weitgehend unbewohnt s­ eien – es gäbe, so die Unterzeichner, inzwischen zwei „Zen­tren“ auf der Insel, die nordöstlichen Abschnitte entlang des Bol’šoj prospekt und die rasch anwachsende Arbeitersiedlung Gavan‘, und der Srednyj prospekt stelle die „Hauptarterie“ 358 dar, die diese beiden Zentren verbinde. Des Weiteren verwiesen sie darauf, dass die Stadtverwaltung selbst vor einiger Zeit den Bau einer Volksküche (narodnaja stolovaja) für Fabrik- und Gelegenheitsarbeiter auf dem Gebiet des Smolensker Feldes vorgeschlagen habe, und es sei „nicht im Interesse der Bewohner“ 359, die verschiedenen Einrichtungen zu zerstreuen, sondern viel naheliegender, den Markt an gleicher Stelle zu errichten. Zudem werde die Stadt auch ökonomisch von einer Entscheidung für diesen Standort profitieren: Die meisten dortigen, unbebauten Grundstücke befänden sich in städtischem Besitz, weshalb die Stadt an einem im Falle des Baus eines Markts zu erwartenden Wertzuwachs partizipieren werde, wohingegen eine s­ olche Aufwertung bei einer Entscheidung zugunsten des Bol’šoj prospekt nur den Profit privater Immobilien­besitzer erhöhen werde, da es dort praktisch keine freien städtischen Flächen mehr gäbe: „Die Interessen von Privatpersonen“, so die Unterzeichner, „dürfen jedoch nicht über denen der Stadtverwaltung und der Bewohner der Vasilij-­Insel stehen.“ 360 357 Vgl. die Eingabe vom 15. 03. 1889 in: ebd., 1889, No. 16, S. 334 – 340, hier S. 334 f. 358 Ebd., S. 336. 359 Ebd., S. 337. 360 Ebd.

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Die detaillierte Erklärung war nicht die einzige ihrer Art. Bereits 1884 hatten Hausbesitzer der Vasilij-­Insel eine Stellungnahme ähnlichen Inhalts in die Entscheidungsfindung eingebracht.361 Auch an den Stadthauptmann wandten sich Bewohner mit einem Plädoyer für eine Ansiedlung des Markts in den westlichen Gebieten der Vasilij-­Insel.362 Und letztendlich sollten sie hiermit Erfolg haben: Obwohl die Stadtverwaltung einen Standort am Bol’šoj prospekt präferierte, wurde der Neue Gavaner-­Markt Anfang des 20. Jahrhunderts eröffnet, und zwar an der Ecke Fürstinnenstraße/Srednyj prospekt.363 Ein weiteres Beispiel für einen Distrikt, in dem sich die Einwohner aktiv um die Errichtung eines Markts bemühten, war die Vyborger Seite. Im Unterschied zur Vasilij-­Insel existierte hier noch kein einziger zentraler Marktplatz, weshalb sich die Bewohner zunächst einmal dafür einsetzten, überhaupt einen solchen zu bekommen. Nachdem die Duma dem 1901 grundsätzlich zugestimmt und die entsprechenden Mittel bewilligt hatte, wandte sich eine „äußert bedeutende Gruppe lokaler Bewohner“ 364 an das Stadtoberhaupt. Sie verwiesen auf die letzte Volkszählung aus dem Jahr 1897, die noch einmal gezeigt habe, wie stark die Bevölkerung des Stadtteils wachse,365 und auf den dadurch „beträchtlich“ 366 gestiegenen Bedarf an einer besseren Versorgungsstruktur: „Das Fehlen eines zentralen Markts, der alle Bedürfnisse nach grundlegenden Produkten und Vorräten befriedigen könnte, macht sich in d ­ iesem Raum mit besonderem Nachdruck bemerkbar.“ Für die Bevölkerung, die vor allem aus Arbeitern und

361 Vgl. den Bericht der Stadtverwaltung vom 27. 04. 1889 in: ebd., S. 330 – 334, hier S. 332. 362 Vgl. den Bericht der Stadtverwaltung vom 29. 12. 1888 in: ebd., 1889, No. 3, S. 143 – 152, hier S. 147. 363 Vgl. Gorodskoj rynok v Gavani. 364 So die Formulierung im Bericht der Stadtverwaltung vom 04. 10. 1903, in: ISPGOD, 1903, No. 10, S. 119 – 127, hier S. 120. Weitere Angaben dazu, warum man die Gruppe als „äußerst bedeutend“ einschätzte, gibt es an der Stelle nicht, weshalb es sich nicht abschließend klären lässt, ob dies eine qualitative oder quantitative Einschätzung war. Aus der begleitenden Korrespondenz geht hervor, dass rund 30 Personen die Erklärung unterzeichnet hatten. Vgl. das Schreiben der Stadtverwaltung an den Petersburger Stadthauptmann vom 10. 10. 1903, RGIA, f. 1293, op. 137, del. 91, ll. 1 – 4, hier l. 1. Angesichts des Umstands, dass andere Stellungnahmen nur von Einzelpersonen stammten, ist es wahrscheinlich, dass sich die Einordnung als „äußerst bedeutend“ auf die Zahl der Unterzeichner bezog. 365 Allein z­ wischen 1890 und 1897 gab es einen Anstieg der Einwohnerzahl um gut ein D ­ rittel. Vgl. S. 101 dieser Arbeit. 366 ISPGOD, 1903, No. 10, S. 120.

Artikulationen des „Rechts auf Nichtausschluss“

Beamten bestehe und die nicht über den „Komfort verfügt, sich Kleidung oder Haushaltsartikel zu kaufen“, bedeute dies, dass sie „gezwungen ist, sich wegen alles unbedingt Notwendigem auf die Märkte in den zentralen Teilen Petersburgs zu begeben, die ziemlich weit von der Vyborger Seite entfernt liegen.“ 367 Die Stadtverwaltung werde sich ein „ewiges Denkmal“ 368 setzen, wenn sie den Bau eines Markts in dem Distrikt realisiere. Diese Erklärung ist insofern bemerkenswert, als dass sie im Gegensatz zu den anderen bisher skizzierten keinen konkreten Vorschlag enthält, wo das zur Diskussion stehende Projekt, in ­diesem Fall der Bau eines Markts, realisiert werden sollte. Damit ist sie zwar einerseits unspezifischer, andererseits aber auch weniger von den Interessen bestimmter Gruppen geprägt. Während die unterschiedlichen Eingaben zur Frage des Baus einer festen Brücke von der Petersburger Seite ebenso wie die Stellungnahmen der Hausbesitzer aus den westlichen Gebieten der Vasilij-­Insel unverkennbar immer auch die eigenen Vorteile widerspiegelten, die sich die Unterzeichner davon versprachen, wurde hier die Situation des gesamten Stadtteils thematisiert. Dieser Unterschied war auch der Stadtverwaltung bewusst: Gegenüber dem Stadthauptmann sprach sie davon, dass diese Eingabe die wichtigste sei, während andere „vielleicht vor allem daran interessiert sind, dass der Markt in der Nähe ihres Wohnorts errichtet wird.“ 369 Demgegenüber verlieh die zuletzt skizzierte Stellungnahme den massiven Problemen Ausdruck, die sich für alle, und vor allem für die armen Einwohner der Vyborger Seite, aus dem Fehlen eines zentralen Markts ergaben. So betrachtet war es tatsächlich eine Intervention von ‚jenseits des Flusses‘, die die Bedürfnisse der ‚kleinen Leute‘ zu Gehör brachte. Im Fortgang der Diskussion über den Bau eines Markts auf der Vyborger Seite gab es dann weitere Stellungnahmen, in denen analog zu den oben skizzierten aus den anderen Stadtteilen bestimmte Orte präferiert wurden.370 Letztendlich blieben sie jedoch wie geschildert alle erfolglos. Die Menschen auf der Vyborger Seite mussten bis 1914 ohne einen zentralen Markt auskommen. 367 Ebd. 368 Ebd. 369 Schreiben der Stadtverwaltung an den Petersburger Stadthauptmann vom 10. 10. 1903, RGIA, f. 1293, op. 137, del. 91, ll. 1 – 4, hier l. 1. 370 Vgl. u. a. die Erklärung von rund 50 Hausbesitzern: ISPGOD, 1903, No. 10, S. 127. Vgl. auch, bereits einige Jahr zuvor, die Stellungnahmen einzelner Bewohner der Vyborger Seite, wiedergegeben im Bericht der Stadtverwaltung vom 29. 12. 1888: ebd., 1889, No. 3, S. 143 – 152.

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Neben Versuchen, die Planung neuer Brücken oder Märkte aktiv zu beeinflussen, reagierten die Menschen auch auf die Veränderungen, die sich an den Rändern der Stadt bereits vollzogen. Ein Beispiel hierfür ist der Fall der Staatsbäuerin Kuznecova, der nicht nur die lokalen Entscheidungsträger, sondern auch gesamtstaatliche Institutionen wie das Justizministerium, den regierenden Senat sowie den Zaren selbst beschäftigte. Auslöser für die Klage, die Kuznecova und weitere Personen beim regierenden Senat einreichten, waren die Pläne zum Umbau des Sytnyj rynok. Wie im Kapitel über die Entwicklung der Märkte St. Petersburgs noch näher dargelegt werden wird, sah der Stadtentwicklungsplan von 1850 vor, den bisherigen offenen Markt mit seinen hölzernen Verkaufsständen durch zwei große, steinerne Markthallen zu ersetzen. Dadurch sollten die Einnahmen erhöht sowie die polizeiliche und sanitäre Situation, insbesondere die Minderung der stets präsenten Feuergefahr, verbessert werden. Letztendlich wurden die Überlegungen jedoch wieder fallengelassen, da man die Investitionen in Höhe von rund 350.000 Rubel angesichts des Zustands der Petersburger Seite und ihrer sozialen Zusammensetzung als „nicht nur nutzlos, sondern geradezu schädlich für die Stadt“ 371 ansah. Anstelle eines grundlegenden Umbaus entschied man sich dafür, die bisherigen Verkaufsstände durch neue, ebenfalls hölzerne, zu ersetzen und mit Blick auf die Feuergefahr einen Teich auf dem Marktplatz anzulegen.372 Dies war, gemessen an den ursprünglichen Plänen, nur ein geringer Eingriff in die Struktur des Markts, der jedoch gleichwohl dazu führte, dass die Plätze auf dem Sytnyj rynok neu angeordnet und damit neu vergeben wurden. Die Grundlage hierfür bildete ein Ukaz aus dem Jahr 1782, demzufolge nur meščane und Kaufleute der dritten Gilde berechtigt waren, sich um einen Verkaufsplatz zu bewerben. Die Zuteilung, für die die städtische Duma zuständig war, erfolgte per Los.373

371 Schreiben des Generalgouverneurs an die Hauptverwaltung für Verkehrswege und öffentliche Gebäude vom 16. 08. 1855, RGIA, f. 218, op. 3, del. 1288, ll. 2 – 3ob., hier l. 3. 372 Vgl. hierzu die Aktennotiz der Hauptverwaltung für Verkehrswege und öffentliche Gebäude vom 14. 10. 1855, ebd., l. 5 – 12ob. Die Überlegungen zum Umbau des Sytnyj rynok in den Jahren 1850 bis 1855 sind zudem dokumentiert in: PSZ II , Bd. 36, Teil 1, No. 36800: O porjadke razdači mest pod ustrojstvo lavok v Sytnom rynke, v S.-Peterburge, 05. 04. 1861, S. 533 – 536. 373 Vgl. PSZ II, Bd. 36, Teil 1, No. 36800: O porjadke razdači mest pod ustrojstvo lavok v Sytnom rynke, v S.-Peterburge, 05. 04. 1861, S. 534.

Artikulationen des „Rechts auf Nichtausschluss“

Dieses Verfahren stand im Widerspruch zur Zusammensetzung der Händler, wie sie sich im Laufe der Jahrzehnte entwickelt hatte. Der Sytnyj rynok war wie erwähnt um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein großer, offener Platz, auf dem vor allem die Bauern aus dem Umland ihre Waren verkauften. Sie gingen nun bei der Neuvergabe leer aus, da sie keinem der beiden zugelassenen Stände angehörten. Hieraufhin reichte die Staatsbäuerin Kuznecova gemeinsam mit weiteren Personen Klage beim regierenden Senat ein. Sie verwiesen darauf, dass sie bis zur Neuordnung der Plätze einen Verkaufsstand innegehabt hatten, der ihnen nun ohne eigenes Verschulden entzogen worden sei. Es sei ihr gutes Recht, auch bei der jetzigen Vergabe berücksichtigt zu werden. Die Klage löste eine rege Korrespondenz aus, in deren Verlauf sich der regierende Senat nicht nur mit der Petersburger Duma und dem Generalgouverneur abstimmte, sondern die Angelegenheit auch im Justizministerium prüfen ließ und dem Ministerrat zur Beratung vorlegte. Die letztendliche Entscheidung durch den Senat erfolgte Anfang April 1861, nachdem auch der Zar seine Zustimmung erteilt hatte. Demnach gab der Senat den Klägern insoweit recht, als dass der Ukaz von 1782 nur das Verfahren für die Vergabe von Plätzen auf neu zu gründenden Märkte regele – dies treffe aber auf den Sytnyj rynok nicht zu, der bereits lange existiere und bei dem jetzt lediglich die alten Holzstände ersetzt und im Zuge dessen die Plätze neu vergeben worden s­ eien.374 Dementsprechend sei die Beschränkung der Zulassung für einen Handelsplatz auf meščane und Kaufleute nicht rechtens. Zugleich wies der Senat jedoch auch darauf hin, dass die Kläger trotz ihrer jahrelangen Präsenz auf dem Sytnyj rynok „kein Eigentumsrecht“ 375 auf die Grundstücke erworben hätten, auf denen sich ihre Verkaufsstände befanden. Plätze auf städtischen Märkten würden grundsätzlich nur verpachtet, weshalb sich hieraus auch keine Besitz- oder Erbansprüche ergäben. Stattdessen müssten sich die Kläger nun um neue Standflächen bewerben, und zwar ebenso wie alle anderen im Rahmen einer öffentlichen Auktion. Allerdings besäßen sie angesichts der „beträchtlichen Einbußen, die sie durch den Verlust ihrer Plätze zu erleiden haben, ein Vorrecht, neue Plätze vor anderen Personen zu erhalten, ­welche dort bisher keine Verkaufsstände hatten […].“ 376

374 Vgl. ebd. 375 Ebd. 376 Ebd.

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Konkret bedeutete dies, dass das Verfahren zur Vergabe der Standflächen verändert wurde. Von den insgesamt 60 Plätzen wurden jetzt 35 per Los unter denjenigen verteilt, die bereits zuvor einen Stand auf dem Sytnyj rynok besessen hatten. Hierzu zählten auch Bauern wie die Klägerin Kuznecova. Die übrigen Flächen gingen per Vertrag an neue Händler.377 Ob Kuznecova und die weiteren Kläger auf d ­ iesem Weg wieder eine Standfläche bekamen und weiterhin auf dem Sytnyj rynok ihre Waren anbieten konnten, lässt sich den Quellen nicht entnehmen. In jedem Fall stellt ihre Klage jedoch ein Beispiel dafür dar, dass auch die ‚kleinen Leute‘ trotz ihrer begrenzten Möglichkeiten nicht alle Veränderungen einfach passiv erduldeten, sondern ihre Interessen und das, was sie als tradiertes Recht begriffen, zur Geltung zu bringen versuchten. Und dass sie hierbei durchaus Erfolg haben konnten. Die Auseinandersetzung um die Veränderungen auf dem Sytnyj rynok war kein Einzelfall. Auch in anderen Zusammenhängen kollidierten die Planungen der Stadtverwaltung mit den Vorstellungen der Menschen vor Ort. Namentlich die als „Regulierungen“ bezeichneten Infrastrukturmaßnahmen, die Teil des neuen Stadtentwicklungsplans vom März 1880 waren, führten zu einer Reihe von Klagen seitens der betroffenen Einwohner. Dies war kein alleiniges Phänomen der Stadtränder, (aus)gebaut wurde in der gesamten Stadt. Allerdings entstanden neue Straßen eher in den bisher weniger entwickelten Randgebieten als im bereits dicht bebauten Zentrum St. Petersburgs.378 Was dies für die 377 Vgl. ebd., S. 535 f.; Bericht der Stadtverwaltung vom 21. 04. 1882 in: ISPGOD, 1882, No. 25, S. 1610 – 1615, hier S. 1611. An anderer Stelle wird ein Verhältnis von 37 zu 23 Plätzen genannt, was jedoch an den grundsätzlichen Prinzipien der Vergabe nichts ändert: Bericht der Stadtverwaltung vom 26. 04. 1908 in: ebd., 1908, No. 23, S. 2009 – 2064, hier S. 2009. Vgl. zur letztendlichen Regelung auch die begleitende Korrespondenz z­ wischen dem General­gouverneur und der Hauptverwaltung für Verkehrswege und öffentliche Gebäude, 1859 – 1861: RGIA, f. 218, op. 4, del. 900. 378 Dies spiegelt sich auch in dem unterschiedlichen Umfang der Kapitel wider, in denen die geplanten Maßnahmen für die einzelnen Stadtviertel aufgelistet wurden. Während die Abschnitte zum Admiralitäts- und zum Kazaner Distrikt jeweils knapp drei Seiten lang waren, umfassten die Teile zur Vasilij-­Insel und zur Petersburger Seite jeweils zehn Seiten, und die Maßnahmen zur Vyborger Seite erstreckten sich über 13 Seiten, plus zwei Seiten für das Ochta-­Gebiet. Vgl. den Bericht der hierfür zuständigen Dumakommission vom 12. 04. 1876 in: ISPGOD , 1876, No. 8, S. 732 – 824. Über die Petersburger Seite heißt es dort, dass „bis auf wenige Ausnahmen fast alle Straßen ­dieses Bezirks für die Regulierung vorgesehen sind“ und dass diese eine „dringende Notwendigkeit“ sei, um eine „Belebung“ d ­ ieses noch „von weiten leeren Flächen“ geprägten Stadtteils

Artikulationen des „Rechts auf Nichtausschluss“

Anwohner bedeutete und wie diese hierauf reagierten, soll anhand einiger Beispiele illustriert werden. Der Stadtentwicklungsplan von 1880 stellte die Grundlage für die zukünftige Infrastrukturpolitik in der russischen Hauptstadt dar. Mit seinem Inkraft­treten musste fortan jegliche Änderung von der Stadtduma vorbereitet und dann vom Baukomitee des Innenministeriums genehmigt werden.379 Bereits in der Stadtverordnung von 1870 war zudem die Zuständigkeit der Kommunen für die munizipale Wohlfahrtspflege (gorodskoe blagoustrojstvo) festgelegt worden, worunter unter anderem die Instandhaltung und der Ausbau der Straßen, Plätze und Brücken, der Kanalisation sowie des öffentlichen Nahverkehrs der Stadt fielen.380 Erstmals erhielten die Städte das Recht, diesbezügliche Entscheidungen per Verordnung durchzusetzen,381 was im Folgenden dahingehend konkretisiert wurde, dass die Verwaltung St. Petersburgs befugt war, private Grundstücke, die auf dem Gebiet der beschlossenen Regulierungsmaßnahmen lagen und eine hohe Priorität besaßen,382 gegen Zahlung einer Entschädigung zu enteignen. Zugleich besaßen die Einwohner die Möglichkeit, Klage gegen eine s­ olche Maßnahme einzureichen. Die hieraus entstandenen Rechtsfälle werfen ein Licht darauf, inwiefern sich die Menschen zu den Veränderungen positionierten und wie groß ihre Chancen waren, den eigenen Interessen auch tatsächlich Geltung zu verschaffen. 1884 wandte sich die Bäuerin Anis’ja Emel’janova mit der Bitte an die Petersburger Stadtverwaltung, an ihrem bisher eingeschossigen Haus eine zweite Etage anbringen zu dürfen. Ihr Grundstück befand sich an der Großen Kol’tovskij-­Straße (Bol’šaja Koltovskaja ulica) im bisher wenig erschlossenen

zu erreichen. Ebd., S. 787. Der gesamte Stadtentwicklungsplan war bis zu seiner Veröffentlichung im März 1880 Gegenstand beständiger Überarbeitung. Vgl. die Auflistung der Änderungsvorschlage in: ebd., 1877, No. 5, S. 489 – 538. 379 Vgl. Suchorukova, Peterburgskaja gorodskaja duma i problemy gradostroitel’stva, S. 132 – 140. 380 Vgl. PSZ II , Bd. 45, Teil 1, No. 48498: Vysočajše utverždennoe Gorodovoe Položenie, 16./28. 06. 1870, S. 821 – 839, hier Artikel 2 (S. 823) sowie Artikel 103 (S. 832 f). 381 Vgl. ebd., Art. 5, S. 823. 382 Die potentiell in Frage kommenden Grundstücke wurden in drei Kategorien unterteilt, denen eine unterschiedliche Priorität zukam und die mit entsprechend abgestuften Auflagen verbunden waren, ehe die Stadt eine Enteignung vollziehen durfte. Vgl. hierzu detailliert ISPGOD, 1876, No. 8, S. 732 – 736.

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nordwestlichen Teil der Petersburger Seite.383 Anstelle der erhofften Genehmigung erhielt sie jedoch die Auskunft, dass ihr Anwesen auf einem Gebiet liege, das für die geplante Erweiterung der Kol’tovskij-­Straße vorgesehen sei und dass der größte Teil ihres Grundstücks samt ihres Wohnhauses hierfür zu weichen habe. Die für ­solche Fälle eingerichtete Taxierungskommission (gorodskaja ocenočnaja kommissija) berechnete den Wert des betreffenden Eigentums, ausgehend von einem Sažen‘²-Preis von 6 Rubel, bei einer Fläche von 135 Sažen‘² und inklusive des Wohnhauses und anderer Wertgegenstände auf insgesamt 4.594 Rubel, ­welche die Stadtverwaltung der Klägerin als Entschädigung anbot.384 Hiergegen legte Emel’janova Widerspruch ein. Sie verwies darauf, dass ihr Grundstück an der Kreuzung dreier Straßen lag und somit ein lokales Zentrum in der als Kol’tovskaja bekannten Gegend bilde. Neben dem reinen Immobilienwert habe es auch eine „geschäftliche Bedeutung“ 385: Im Innenhof hätten sich stets gut frequentierte Verkaufsstände befunden, deren Wert ebenfalls in die Berechnung mit einfließen müsse, weshalb sie 1.000 Rubel mehr als die von der Kommission vorgeschlagene Summe forderte. Die Stadtverwaltung nahm daraufhin zunächst einmal Abstand von der geplanten Enteignung des Grundstücks, ehe man sich letztendlich auf eine Summe von 5000 Rubel einigte.386 1885 klagte der Bauer Pavel Česnokov auf Entschädigung. Ihm war im Zuge des Ausbaus des Kuznečnyj pereulok auf der Petersburger Seite ein kleiner Teil seines Grundstücks entzogen worden, das sich an der Ecke Sytninskaja ploščad‘/ Kuznečnyj pereulok 387 in unmittelbarer Nähe zum Sytnyj rynok befand, und damit in einer deutlich zentraleren Lage als das Anwesen von Anis’ja ­Emel’janova.388 In Anbetracht dessen legte die Taxierungskommission einen Preis von 25 Rubel/ Sažen‘² zugrunde, was bei einer Fläche von 38,5 Sažen‘² 970 Rubel Entschädigung bedeutete. Česnokov verwies daraufhin auf den Boden des Grundstücks, 383 Vgl. den Bericht der Stadtverwaltung vom 03. 12. 1885 zu dem Fall in: ebd., 1886, S. 270 – 277. Bei der Bol’šaja Koltovskaja ulica handelt es sich um die heutige Pionerskaja ulica. 384 Vgl. ebd., S. 271. 385 Ebd., S. 272. 386 Vgl. ebd., S. 273 – 276, sowie das Protokoll der Dumasitzung vom 30. 04. 1886: ebd., 1886, No. 20, S. 574 f., und den Bericht der Stadtverwaltung vom 24. Mai 1886: ebd., No. 25, S. 1282 – 1284. 387 Es handelt sich um die heutige Ulica Markina. 388 Vgl. den Bericht der Stadtverwaltung vom 23. 01. 1886: ebd., 23. 01. 1886, No. 18, S. 446 – 450.

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den er selbst befestigt und unter dem er Rohre verlegt habe, und forderte einen deutlich höheren Preis von 40 Rubel/Sažen‘².389 Die Stadtverwaltung schlug ihm eine Entschädigung in Höhe von 30 Rubel/Sažen‘² vor, was zu einer Summe von 1165 Rubel führte, der Česnokov zustimmte. Diese Taxierung mag auf den ersten Blick willkürlich erscheinen – tatsächlich lag ihr jedoch einerseits, ähnlich wie im Fall Emel’janovas, eine Anerkennung der „geschäftlichen Bedeutung“ des Anwesens zugrunde (die man hier aufgrund der Lage am Sytninskaja ploščad‘ für gegeben hielt), und andererseits eine nüchterne ökonomische Kalkulation seitens der Stadtverwaltung: Gemäß der Verordnungen zur Durchführung der Regulierungsmaßnahmen musste im Falle eines dauerhaften Dissenses ­zwischen den Parteien über die Höhe der Entschädigung eine Regierungskommission gebildet werden, die eine erneute Bewertung vornahm. Erfolgte auch daraufhin keine Einigung, hatte der Kläger Anspruch auf eine Erhöhung der Entschädigungssumme um 1/5 des Streitwerts – was in ­diesem Fall 194 Rubel gewesen wären, und somit bis auf einen Rubel exakt jene Summe, die Česnokov nun letztendlich zusätzlich erhielt.390 Ebenfalls am Kuznečnyj pereulok wohnte die Bäuerin Antonova. Nach dem Verlust einer Fläche von 17 Sažen‘² im Zuge der Verbreiterung der Straße wandte sie sich an die Stadtverwaltung und erhielt eine Entschädigung in Höhe von 255 Rubel.391 Der für die Berechnung herangezogene Bodenpreis lag mit 15 Rubel/ Sažen‘² allerdings trotz identischer Straße deutlich unter dem, den Česnokov letztendlich erhalten hatte – eine Folge des Umstands, dass das Grundstück von Antonova in etwas größerer Entfernung zum Sytninskaja ploščad‘ lag und damit auch nur geringere ökonomische Bedeutung beanspruchen konnte. 1904 wurde der Fall des Bauern Semenov verhandelt. Er hatte im Zuge der Verlängerung des Malyj prospekt ­zwischen Ordinarnaja ulica und ­Kamennoostrovskij prospekt 127 Sažen‘² seines Grundstücks samt eines zweistöckigen Hauses, eines Schuppens und anderer Gegenstände verloren. Die ihm von der Stadtverwaltung angebotenen rund 9000 Rubel, basierend auf einem Preis von 40 Rubel/Sažen‘², lehnte er zunächst ab und forderte stattdessen eine

389 Vgl. ebd., S. 447. 390 Vgl. ebd., S. 449 f. Die Duma stimmte dem bald darauf zu. Vgl. das Protokoll der Sitzung vom 04. 06. 1886: ebd., 1886, No. 29, S. 73 f. 391 Vgl. zu dem Fall den Bericht der Stadtverwaltung vom 05. 11. 1887 in: ebd., 1887, No. 46, S. 895 – 901, sowie das Protokoll der Dumasitzung vom 12. 02. 1888: ebd., 1888, No. 7, S. 687.

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mehr als doppelt so hohe Entschädigung, ausgehend von einem Sažen‘²-Preis von 100 Rubel. ­Hierüber wurde jedoch keine Einigung erzielt, so dass der Vorschlag letztendlich zwangsweise vollstreckt wurde.392 Der Preis von 40 Rubel/ Sažen‘² lag jedoch immer noch höher als in den meisten anderen skizzierten Fällen – eine Folge der Verbindung von Malyj prospekt und Kamennoostrovskij prospekt, die für die Passierbarkeit und Entwicklung der Petersburger Seite eine wichtige Rolle spielte und an der sich das Grundstück von Semenov befand. Neben Bauern meldeten sich auch Personen anderer Stände und Schichten zu Wort. 1905 erstritt die meščanka Andreeva eine Entschädigung von 4000 Rubel für ihr Land samt Gebäude, das, ebenso wie im Fall von Anis’ja Emel’janova, der Erweiterung der Großen Kol’tovskij-­Straße weichen musste, sich jedoch an deren südlicherem, sprich: zentralerem Ende befand.393 1891 klagte der frühere Matrose Antonov, der an der Ružejnaja ulica auf der Petersburger Seite wohnte, und erhielt für eine Fläche von 10 ½ Sažen‘² 105 Rubel Entschädigung.394 Als weitere Personen, deren Klagen überliefert sind, lassen sich auf der Petersburger Seite der Kaufmann Zavitaev 395 und der ebenfalls als Kaufmann tätige Jurgenson-­Jurgens  396 sowie auf der Vyborger Seite die Frau des Ehrenbürgers Val’ter nennen. Das letztere Grundstück lag am Lomanskij pereulok, und damit an einem der Standorte, die für den Bau eines Markts auf der Vyborger Seite zur Diskussion standen. Hierdurch hätte die Klägerin einen Teil ihres Anwesens verloren.397

392 Vgl. die Dokumentation des Falls in: RGIA, f. 1248, op. 1, del. 25. 393 Vgl. RGIA, f. 1248, op. 2, del. 961. 394 Vgl. den Bericht der Stadtverwaltung vom 04. 01. 1891 über den Fall in: ISPGOD, 1891, No. 6, S. 392 – 394. 395 Vgl. den Bericht der Stadtverwaltung vom 23. 01. 1886 in: ISPGOD, 1886, No. 18, S. 451 – 457, sowie das Sitzungsprotokoll der Duma vom 04. 06. 1886, ebd., No. 29, S. 73 f. 396 Vgl. RGIA, f. 1248, op. 1, del. 144. 397 Vgl. den Bericht der Stadtverwaltung vom 01. 04. 1889 in: ISPGOD, 1889, No. 19, S. 557 – 567.

Artikulationen des „Rechts auf Nichtausschluss“

Karte 12: Grundstück des pensionierten Matrosen Antonov auf der Petersburger Seite, 1891 398

Die gestrichelten Linien markieren den Verlauf der Regulierungsmaßnahmen. Der Buchstabe „C“ kennzeichnet die Fläche von 10 ½ Sažen‘², die Antonov verlor und für die er entschädigt wurde.

398 Ebd., S. 394.

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Karte 13: Grundstück der Klägerin Val’ter auf der Vyborger Seite, 1889 399

Die schraffierten Flächen skizzieren die geplanten Neubauten für den Bau eines Markts. Die Buchstaben „A“ bis „D“ kennzeichnen die hierfür benötigten Flächen.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Menschen ‚jenseits des Flusses‘ nicht nur zu den Planungen größerer Infrastrukturmaßnahmen Position bezogen, sondern auch zu den kleineren Veränderungen, von denen sie direkt betroffen waren. Der lange Zeit vernachlässigte und grundsätzlich von der Mehrheit der Einwohner sicherlich begrüßte Ausbau der städtischen Randgebiete kollidierte in seiner Ausführung häufig mit den Vorstellungen der direkt Betroffenen vor Ort. Dies lag nicht zuletzt daran, dass die entsprechenden Beschlüsse ‚diesseits‘ der Großen Neva gefällt wurden, ohne die betroffenen Bewohner in den Prozess einzubinden. So blieb diesen nur der Weg der Klage gegen bereits getroffene

399 Ebd., S. 566.

Artikulationen des „Rechts auf Nichtausschluss“

Entscheidungen – und hiervon machten sie, wie die skizzierten Beispiele zeigen, über die unterschiedlichen Stände und Schichten hinweg Gebrauch. Während die Berufung auf die Interessen der ‚kleinen Leute‘ in den zunächst thematisierten Eingaben nicht zuletzt Teil einer argumentativen Strategie war, traten die ‚einfachen‘ Bewohner in den Entschädigungsklagen als Anwälte ihrer eigenen Interessen in Erscheinung. Die in den entsprechenden Akten dokumentierten Verfahren weisen zwar ein hohes Maß an Standardisierung auf, geben zugleich aber Aufschluss darüber, was die Menschen als tradiertes Recht und als ‚Eigenes‘ betrachteten und auf welchem Wege sie versuchten, ihren Ansprüchen Geltung zu verschaffen. Das Beispiel der Staatsbäuerin Kuznecova zeigt, dass sie hierbei durchaus Veränderungen erreichen konnten. Gleiches gilt für das nicht ungeschickte Argumentieren mit den stark differierenden Grundstückspreisen in den Auseinandersetzungen um die Enteignungen im Zuge der Regulierungsmaßnahmen. In gewissem Sinne machten sich die Einwohner die Entwicklung des Grund und Bodens zur „Vermögensanlage“ und zum „Spekulationsobjekt“ zu Eigen und versuchten, sie für sich zu n ­ utzen. Und dies in den meisten der skizzierten Fälle nicht ohne Erfolg.

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„Er dachte, dass das Leben teurer wird und das Arbeitervolk bald nichts mehr zu essen hat; dass von dort, von der Brücke her, Petersburg eindringt mit seinen Prospektpfeilen und der Rotte von steinernen Riesen; jene Rotte von Riesen wird unverschämt und brutal schon bald in Speicher und Keller sperren das ganze arme Inselvolk.“ (Andrej Belyj, Petersburg, 1912/13)

3. „Eine der brennendsten Fragen der Gegenwart“: Wohnen in der Hauptstadt Gab es in St. Petersburg ein Wohnungsproblem, eine Wohnungsfrage? Und falls ja, war dies ein spezifisches Thema der städtischen Unterschichten? Johann Georg Kohl hätte diese Fragen noch verneint: Die von „Arbeitern und Handlangern“ bewohnten Stadtteile St. Petersburgs glichen, so schrieb er 1841, in nichts unseren Armenvierteln. Es gibt in Paris und London Quartiere, w ­ elche die wahre Residenz des Hungers und Elends zu sein scheinen, in denen sich eine schmutzige, zerlumpte, sittenlose und freche Menschenrace bewegt, in denen die Häuser eben das zerfallene und kümmerliche Ansehen ihrer Bewohner haben, und worin Noth, Kummer und Entsittung in tausend gräßlichen Gestalten auf den schmutzigen Straßen schleichen. Dies ist in Petersburg nicht so.1

„Die Vorstädte der Arbeiter und die Quartiere des ‚schwarzen Volkes‘ in Petersburg sind“, so Kohl weiter, […] nicht anstößig und verletzend, obgleich allerdings wüste, öde und unschön, und also durch nichts wohlgefallend. Da in ganz Petersburg, wie überhaupt in ganz Rußland, die hohen turmartigen Dächer unserer Städte fehlen, so fehlt damit auch die ganze bei uns so zahlreiche Dachbevölkerung. Ein Dachstübchen giebt es wohl in Petersburg kaum, und so auch nicht die Dachpoeten, nicht die im höchsten ­Stocke wohnenden Gelehrten und Schriftsteller, und nicht alle die übrigen bei uns

1 Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen, Bd. 1, S. 10 f.

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unter den Schindeln und neben den Schornsteinen hausenden Gefangenen und Kummervollen.2

Während Kohl hier noch das Petersburg der 1830er Jahre beschreibt, haben die obigen Betrachtungen der drei Stadtviertel gezeigt, dass es wenige Jahrzehnte später auch in der russischen Hauptstadt große Gebiete gab, „in denen die Häuser eben das zerfallene und kümmerliche Ansehen ihrer Bewohner haben.“ Zudem ist in Betracht zu ziehen, dass sich in der Beschreibung Kohls nicht zuletzt die Perspektive eines westeuropäischen Reisenden ausdrückt, der sich vor allem im Zentrum der Stadt bewegte und über deren Ränder nicht viel wusste.3 Zugleich ließe sich jedoch der von Kohl beschriebene Eindruck, dass es gar keine drängende Wohnungsfrage in der russischen Hauptstadt gab, durch die zeitgenössische Literatur der folgenden Jahrzehnte wie auch durch die heutige Forschungslage stützen. Bis zum Zusammenbruch des zarischen Staats 1917 gab es gerade mal zwei Autoren, die sich in gesonderten Studien mit der Wohnsituation in Russland auseinandersetzten. Der erste war der Ökonom und Privatdozent der Petersburger Universität, Vladimir Svjatlovskij, der 1902 – 1904 ein fundamentales, fünfbändiges Werk über „Die Wohnungsfrage vom ökonomischen Standpunkt“ veröffentlichte, dessen erste beide Bände sich mit Westeuropa beschäftigten, während die Bände drei bis fünf dem russischen Fall sowie diversen Anhängen und Ergänzungen vorbehalten blieben.4 Wenige Jahre später folgten zwei Bücher des Char’kover Architekten Matvej Dikanskij, der sich ebenfalls der Wohnungsfrage und ihren Lösungsansätzen in Westeuropa wie auch in Russland widmete.5 Ansonsten erschienen noch eine Reihe zeitgenössischer Veröffentlichungen, in erster Linie Aufsätze, die die Wohnungsfrage als Teil des Gesamtkomplexes der sozial-­sanitären Probleme der 2 Ebd., S. 11 f. 3 Dies lässt sich bereits an den Inhaltverzeichnisse der drei Bände Kohls und den in ihnen genannten Orten ablesen. Vgl. ebd., Bd. 1 – 3. 4 Svjatlovskij, Vladimir, Žiliščnyj vopros s ėkonomičeskoj točki zrenija. Vyp. 1 – 5, Sankt-­ Peterburg 1902 – 1904. Die wesentlichen Teile der Arbeiten Svjatlovskijs, vor allem zur Wohnungsfrage in Russland, darunter auch in St. Petersburg, sind jetzt in einer kommentierten Neuausgabe erschienen, auf die ich mich im Folgenden stützen werde: Svjatlovskij, Vladimir V., Žiliščnyj i kvartirnyj vopros v Rossi. Izbrannye stat’i. Naučnyj redaktor A. P. Ševyrev, Moskva 2012. 5 Dikanskij, Matvej, Kvartirnyj vopros i social’nye opyty ego rešenija. 2-e izd., Moskva 1912 (erste Ausgabe Sankt-­Peterburg 1908); ders., Žiliščnaja nužda i stroitel’nye tovariščetva, Char’kov 1908.

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städtischen Unterschichten, vor allem hinsichtlich der weit verbreiteten Kellerund Eck-‚wohnungen‘, thematisierten.6 Letzteren Publikationen sind bis heute grundlegende Informationen zu entnehmen, da sie nicht selten auf empirischen Untersuchungen beruhten und damit zumindest für Teilbereiche die Daten lieferten, die ansonsten nicht vorhanden waren – die Petersburger Duma gab ebenso wie der russische Staat insgesamt bis 1914 überhaupt keine Untersuchung zur Wohnungsfrage in Auftrag. Zugleich stehen diese sozial-­sanitären Arbeiten aber auch exemplarisch dafür, dass die Wohnungsfrage in St. Petersburg, ebenso wie in weiteren europäischen Städten, erst im Kontext anderer Fragen ‚entdeckt‘ und ihre Bedeutung erkannt wurde.7 Und dies hat sich im Grunde bis heute kaum geändert: Nach wie vor gibt es nur sehr vereinzelte Veröffentlichungen, die sich

6 Vgl. zu St. Petersburg u. a. Ėrisman, Fedor (Friedrich Erismann), Podval’nyja žilišča v Peterburge, in: Archiv sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny 7 (1871), No. 3, S. 37 – 85; ders., Podval’nyja žilišča v Peterburge, in: ebd. 7 (1871), No. 4, S. 1 – 56; Pokrovskaja, Mar’ja, O žiliščach rabočich peterburgskich prigorodov, in: Vestnik obščestvennoj gigieny, ­sudebnoj i praktičeskoj mediciny 32 (1896), No. 3, S. 220 – 251; dies., O žiliščach peterburgskich rabočich, in: ebd. 34 (1898), No. 3, S. 203 – 228; dies., Vopros o deševych kvartirach dlja rabočago klassa, in: Russkij vestnik 36 (1901), No. 7, S. 188 – 204; dies., Po podvalam, čerdakam i uglovym kvartiram Peterburga, Sankt-­Peterburg 1903; Binštok, Venjamin, Nočležnye prijuty i postojalye dvory v S.-Peterburge, Sankt-­Peterburg 1898; Uvarov, M. S., Žilišča dla bednych, in: Vestnik obščestvennoj gigieny, sudebnoj i praktičeskoj mediciny 34 (1898), No. 3, S. 228 – 232; Rubel’, A., Žilišča bednogo naselenija Peterburga, in: ebd. 35 (1899), No. 4, S. 424 – 445; Dukel’skij, V., Očerki po kvartinomu voprosu, in: ebd. 39 (1903), No. 1, S. 1 – 33; Oppengejm, A., K voprosu ob ozdorovlenii gor. S.-Peterburga. „Uglovye kvartiry“ v svjazi s ustrojstvom i ulučeniem žilišč dlja nuždajuščichsja i rabočogo naselenija, Sankt-­ Peterburg 1905; Pažitnov, K., Kvartinyj vopros v Moskve i v Peterburge, in: Gorodskoe delo 2 (1910), No. 17, S. 1162 – 1165; ders., Kvartirnyj vopros v Peterburge, in: ebd. 2 (1910), No. 20, S. 1373 – 1383. Vgl. zudem für einen Überblick über die vorhandene Literatur auch Kac, M., Ukazatel’ knig i statej po žiliščnomu voprosu, Moskva 1928, S. 16 – 19, sowie das abschließende Kapitel in: Juchneva, Peterburgskie dochodnye doma, S. 370 – 375. 7 Vgl. diese Feststellung auch bei Obertreis, Julia, Die bürgerliche und die proletarische Wohnung, in: Schlögel/Schenk/Ackeret, Sankt Petersburg, S. 333 – 349, hier S. 333 – 335. Sie weist darauf hin, dass die Untersuchung der Wohnverhältnisse der städtischen Unterschichten nicht zuletzt der Angst des Bürgertums vor Epidemien, Gewalt und Einbrüchen entsprang. Vgl., mit einem entsprechenden Urteil über die Haltung der Moskauer Lokalpolitik gegenüber der dortigen Wohnungsnot, zudem Bradley, Joseph, „Once You’ve Eaten Khitrov Soup You’ll Never Leave!“: Slum Renovation in Late Imperial Russia, in: Russian History/Histoire Russe 11 (1984), No. 1, S. 1 – 28, hier S. 17. Vgl., mit einem analogen Befund für westeuropäische Städte, Lenger, Metropolen, S. 131 – 136.

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der Wohnungsproblematik in Russland oder auch nur in St. Petersburg in einer historischen Perspektive angenommen hätten. Irina Pirožkova hat sich am Fallbeispiel Tambov mit der Wohnungsfrage und ihrer Genese beschäftigt,8 und 2014 erschien die detailreiche Darstellung von Jurij Kružnov.9 Aus der Perspektive eines früheren Maklers hat er sich tief in die historischen Dimensionen der Thematik eingearbeitet – und obwohl er selbst seine Publikation im Graubereich z­ wischen Forschung und persönlicher Erinnerung verortet (und sie in der Tat, mit Blick auf die nur partiell vorhandenen Nachweise für seine Argumentation, nur bedingt wissenschaftlichen Standards genügt), so liefert er doch eine Vielzahl an Beobachtungen, die sich mit denen decken, die im Folgenden entwickelt werden. Für St. Petersburg sind ansonsten vor allem die in der Einleitung erwähnten Dissertationen von Anna Suchorukova 10 und Ekaterina Juchneva 11 zu nennen, die für Petersburg wichtige Teilaspekte der Thematik beleuchten. Dass die Wohnungsfrage trotz dieser dünnen Literaturlage für viele Menschen in der Hauptstadt ein Problem war, soll im Folgenden gezeigt werden. Jan Kusber weist in seiner Kleinen Geschichte St. Petersburgs darauf hin, dass „Wohnraum in St. Petersburg […] von Beginn an knapp“ 12 war. Und er benennt deutlich, für wen dies galt: Für alle, die nicht dem Adel oder den von Peter I. eingerichteten Kaufmannsgilden angehörten – denn nur diesen beiden Gruppen war anfangs der Grundbesitz in der Stadt erlaubt.13 Auch Johann Georg Kohl beschreibt nur wenige Zeilen nach seinen zitierten Passagen eine Entwicklung, die seine vorherigen Schilderungen relativiert: Es macht sich jetzt, da die Rhäume am Boden teurer zu werden beginnen, und die Stadt nicht mehr so bedeutend und zerstreuend um sich greift, sondern sich mehr

8 Pirožkova, Irina, Žiliščnyj vopros i gradostroitel’stvo Tambova v XIX-načale XX vv., Sankt-­ Peterburg 2004. Das Buch basiert auf einer 2002 an der Universität Tambov verteidigten Dissertation. Ein paar knappe Thesen finden sich zudem bei: Malinina, N./Malinina, K., Kvartirnyj vopros v Rossii v konce XIX-načale XX veka, in: Peterburgskie čtenija 1 (1992), S. 92 – 95. 9 Kružnov, Jurij, Istorija kvartirnogo voprosa v Rossii, ili Kommunalki navsegda. Zapiski kvartirnogo maklera, Sankt-­Peterburg 2014. 10 Suchorukova, Peterburgskaja gorodskaja duma i problemy gradostroitel’stva. 11 Juchneva, Peterburgskie dochodnye doma. 12 Kusber, Kleine Geschichte St. Petersburgs, S. 59. 13 Vgl. ebd.

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in sich selbst ausbaut, ein bedeutendes Streben in die Höhe geltend. Die neuen Häuser werden höher gebaut, und auf den alten ein- und zweistöckigen werden neue Etagen aufgesetzt. Während meiner Anwesenheit in Petersburg hätte man leicht ein paar hundert solcher Häuser zählen können, deren Dächer man abgedeckt hatte, um neue Etagen aufzusetzen.14

Nun war ein in der Tat zu beobachtendes zunehmendes Bauen in die Höhe sicher kein Problem an sich (außer vielleicht für manche unter ästhetischen Gesichtspunkten, was hier aber nicht weiter diskutiert werden soll.)15 Zu einem ­Problem konnte jedoch die von Kohl bereits 1845 bemerkte Verteuerung des Bodens und der Häuser werden – und diese stand in einem engen Zusammenhang mit der Frage, ob es nicht auch in Petersburg eine wachsende Dach-, und, so wäre zu ergänzen, Kellerbevölkerung gab, und zwar nicht in erster Linie in Gestalt der von Kohl so bezeichneten „Dachpoeten“, sondern von Menschen, die sich das Wohnen in allen übrigen Etagen kaum oder gar nicht mehr leisten konnten. Zu einem wirklich drängenden Thema wurde die Wohnungsfrage dann im Zuge des rasanten Wachstums der Bevölkerung der russischen Städte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Presse berichtete immer häufiger über das Thema „Wohnen“ und beklagte hierbei, dass keinerlei Verbesserung der Situation zu erkennen sei. So begann die Boulevardzeitung Peterburgskij listok Anfang 1879 einen Bericht über ein Nachtasyl (Nočležnyj dom/Nočležnyj prijut) mit der Feststellung, dass „die Wohnungen der arbeitenden Klasse bereits seit langer Zeit eine unserer wichtigsten gesellschaftlichen Fragen darstellen“, und dass vieles über ihre Verbesserung geschrieben und gesagt [wurde]. Aber alle diese Zeitungsartikel und Festreden, die in unseren wohltätigen und gelehrten Gesellschaften gehalten wurden, blieben lediglich Erinnerungen daran, dass man die Wohnungen der Arbeiter verbessern ‚wollte‘. Der Großteil unserer Arbeiter hat keine dauerhafte Wohnung und ist gezwungen, in so genannten ‚Herbergen‘ [Postojalych dvorach] zu übernachten.16

14 Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen, Bd. 1, S. 13 f. 15 Vgl. in ­diesem Sinne etwa den Artikel: Spekulativnye doma v S. Peterburge, in: Chudožestvennaja gazeta, 15. 09. 1840, S. 25 – 29. 16 [o. N.], Nočležnyj prijut G-ži Zaseckoj, in: Peterburgskij listok, 04. 01. 1879, S. 2.

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Fast dreißig Jahre später, im Dezember 1905, berichtete die ­gleiche Zeitung von einer Stellungnahme des Abgeordneten Grigorij Archangel’skij, der in der städtischen Duma darauf hinwies, dass „es unmöglich ist, die Frage der Wohnungen für arme Leute heutzutage außer Acht zu lassen.“ Die Stadt müsse, so ­Archangel’skij weiter, „umgehend den Bau billiger Wohnungen für die Arbeiter in Angriff nehmen, vor allem für s­ olche Arbeiter, die in städtischen Einrichtungen tätig sind; […].“ 17 Archangel’skij wusste, wovon er sprach – war er doch als langjähriger Militärarzt, Redakteur des Archiv sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny und Mitglied der Petersburger Sanitärkommission mit den sozial-­sanitären Problemen der russischen Hauptstadt bestens vertraut.18 Und 1912 berichtete die „Handels- und Industriezeitung“ (Torgovo-­promyšlennaja gazeta) auf ihrer Titelseite unter der Überschrift „Wohnungskabale“ davon, dass „gegenwärtig in sehr vielen Städten, darunter auch in St. Petersburg, die Mieter eine akute Wohnungskrise durchleben. Die Preise für Wohnungen steigen unaufhörlich, und von überall sind Klagen über die Verteuerung von Wohnungen und über für die Mehrheit untragbare Wohnungskosten zu hören.“ 19 Offensichtlich gab es also in den russischen Städten eine Wohnungsfrage, darunter auch in St. Petersburg, und dies über mehrere Jahrzehnte hinweg und ohne eine erfolgreiche Gegenstrategie. Allerdings machen bereits die wenigen Beispiele aus der Petersburger Presse deutlich, dass kein einheitliches Verständnis davon existierte, worin das Pro­blem genau bestand. Während in Peterburgskij listok die Wohnungsfrage als eine Pro­ blematik der Arbeiter bzw., breiter gefasst: der armen Bevölkerung der Stadt, thematisiert wurde, beschreibt die Torgovo-­promyšlennaja gazeta im Grunde eine noch größere Krise, nämlich eine Preis- und Kostenexplosion, von der potentiell alle Mieter, und keineswegs nur die städtischen Unterschichten, betroffen waren. Diese Unschärfen bei der Verwendung des Begriffs gab es auch an anderer Stelle. 1895 fand das Thema Eingang in die maßgebliche Enzyklopädie Russlands, das „Enzyklopädische Wörterbuch von Brockhaus und Ėfron“ (Ėnciklopedičeskij slovar’ Brokgauza i Ėfrona). Unter dem Stichwort Kvartirnyj vopros wurde die Wohnungsfrage als „Frage der Bereitstellung angemessener, gesunder und 17 [o. N.], Deševyja kvartiry dlja rabočich, in: Peterburgskij listok, 32. 12. 1905, S. 3. 18 Vgl. zu seiner Person die Einträge in: Russkij biografičeskij slovar’. 20 Bde, Moskva 1998 – 2001, hier Bd. 1, Moskva 1998, S. 454 – 457, und in: Tri veka, Bd. 2, Buch 1, S. 186 f., sowie den Nachruf: [o. N.], Grigorij Ivanovič Archangel’skij, in: Vestnik obščestvennoj gigieny, sudebnoj i praktičeskoj mediciny 50 (1914), No. 12, S. 26. 19 Rozenberg, V., Kvartirnaja kabala, in: Torgovo-­promyšlennaja gazeta, 29. 07. 1912, S. 1.

„Eine der brennendsten Fragen der Gegenwart“: Wohnen in der Hauptstadt

erschwinglicher Wohnungen für die weniger wohlhabenden Klassen der Bevölkerung“ definiert. Sie sei ein „Teil der Arbeiterfrage [čast’ rabočego voprosa], insoweit von Wohnungen für Arbeiter [Hervorhebung im Original – H.-C. P.] die Rede ist […]; aber in den großen Städten besitzt die Wohnungsfrage auch für breitere Schichten der Gesellschaft erstrangige Bedeutung.“ 20 Damit ist genau die Spannbreite des Begriffs abgedeckt, die sich auch in den Zeitungsartikeln findet. Gleiches gilt für die Arbeiten von Svjatlovskij und Dikanskij: Sie thematisieren die Wohnungsfrage in erster Linie als einen Teil der Arbeiterfrage, was auch nicht verwundert, da beide mehr oder weniger konsequent eine marxistische Analyse vornehmen.21 Dikanskij tut dies stringenter als Svjatlovskij, weshalb bei Letzterem auch nicht an allen Stellen nur von den Wohnungen der Arbeiter die Rede ist, sondern partiell auch von der „Bevölkerung der großen städtischen Zentren Russlands“ allgemein, die „in den letzten Jahren in dermaßen schwierige Wohnbedingungen geraten ist, dass die Frage der Wohnungen eine der brennendsten Bosheiten des alltäglichen, praktischen Leben geworden ist.“ 22 Und als letztes Beispiel sei der Kommentar von M. Uvarov zu einem Artikel von Mar’ja Pokrovskaja im Vestnik obščestvennoj gigieny, sudebnoj i praktičeskoj mediciny genannt: Pokrovskaja hatte dort als bekannte Petersburger Armenärztin unter der Überschrift „Über die Wohnungen der Petersburger Arbeiter“ die Ergebnisse ihrer Untersuchungen über die Arbeiterwohnungen auf der Vyborger Seite publiziert.23 Uvarov begrüßte dies in seinem Kommentar nachdrücklich, wies jedoch zugleich darauf hin, dass der Beitrag „zutreffender ‚Über die Wohnungen der armen Stadtbewohner‘ heißen [sollte], da in dem Artikel selbst deutlich wird, dass in den beschriebenen Wohnungen nicht nur Arbeiter hausen, und weil die

20 Ja., A., Kvartirnyj vopros, in: Ėnciklopedičeskij slovar’ Brokgauza i Ėfrona, 86 Bde, Sankt-­ Peterburg 1890 – 1907, hier Bd. 14a, Sankt-­Peterburg 1895, S. 853 – 855, hier S. 853. 21 Dies entspricht dem, angesichts der Brisanz der Wohnungsproblematik für die Menschen, nicht nur in St. Petersburg, auf den ersten Blick erstaunlich geringen Stellenwert, den die sozialistische Arbeiterbewegung bis 1914 der Wohnungsfrage zumaß. Vgl. diese Feststellung auch bei Lenger, Metropolen, S. 147 f. 22 Svjatlovskij, Žiliščnyj vopros v Rossi, in: ders., Žiliščnyj i kvartirnyj vopros v Rossi, S. 23 – 266, hier S. 23. 23 Pokrovskaja, O žiliščach peterburgskich rabočich. Vgl. zur Person Pokrovskajas die sehr gelungene Abschlussarbeit von Angelika Strobel (Zürich): Strobel, Angelika, Mar’ja ­Ivanovna Pokrovskaja. Ärztin, Hygienikerin, Feministin (1852 – 1922), Lizentiatsarbeit, Saarbrücken 2010.

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Arbeiter in diesen Wohnungen nicht in irgendeiner speziellen Form leben, sondern wie Arme allgemein.“ 24 „Wenn aber“, so Uvarov weiter, eine ausreichende und angemessene Ernährung die unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren des Organismus ist, dann können die Wohnbedingungen mit gleicher Berechtigung als die Ernährung des Gerüsts unseres gesellschaftlichen [Hervorhebung im Original – H.-C. P.] Lebens angesehen werden. Jene Slums [truščoby] der großen Städte, in denen die arme Bevölkerung zu leben gezwungen ist, schwächen nicht nur die Ernährung jedes Individuums, sondern bilden ein Umfeld, in welchem sich beharrlich die Massenkrankheiten einnisten, die auch besser genährte Menschen befallen.25

Die „Wohnungsfrage“ existierte also nicht nur in zwei verschiedenen Begriffen (Kvartirnyj vopros und Žiliščnyj vopros), die in allen hier genannten Arbeiten synonym verwandt werden,26 sondern wies auch eine inhaltliche Spannbreite auf – z­ wischen einem Verständnis, das sie als ein Problem der städtischen Unterschichten begriff, und einer Definition, nach der potentiell alle Bewohner größerer Städte zu den Betroffenen zählen konnten. Von welcher Wohnungsfrage jeweils die Rede war, war offensichtlich nicht zuletzt eine Frage des politischen Standpunkts. Da an dieser Stelle aber keine diskursgeschichtliche Abhandlung des Themas erfolgen soll, werde ich im Folgenden die Veränderungen in der Bevölkerungsverteilung sowie bei Miet- und Grundstückspreisen analysieren, um auf d ­ iesem Weg die Fragen zu beantworten, worin genau die Wohnungsproblematik in St. Petersburg bestand und ob sie tatsächlich ein spezifisches Thema der städtischen Unterschichten war. Damit wird zugleich der noch ausstehende dritte Punkt der von Jürgen Osterhammel genannten Charakteristika städtischer Modernität aufgegriffen: Neben einem „munizipiale[n] Planungswille[n]“ und einem Infrastrukturausbau führt er, wie skizziert, die Kommerzialisierung des städtischen Grundbesitzes als Kennzeichen moderner Städte an, in deren Folge der Grund und Boden zur „Vermögensanlage“ und zum „Spekulationsobjekt“ wurde. Gab es eine ­solche Entwicklung auch in St. Petersburg? 24 Uvarov, M., Žilišča dlja bednych, in: Vestnik obščestvennoj gigieny, sudebnoj i praktičeskoj mediciny 34 (1898), No. 3, S. 228 – 232, hier S. 228. 25 Ebd., S. 229. 26 Vgl. diese Feststellung auch bei Kružnov, Istorija kvartirnogo voprosa. Er präferiert den Begriff Kvartirnyj vopros, da dieser „konkreter“ sei als die „allgemeine, unbestimmte“ Bezeichnung Žiliščnyj vopros. Ebd., S. 3.

Wohnungsnot

3.1. Wohnungsnot Verteuerung und Verdrängung Blickt man zunächst in einem Zeitraum von 1869 bis 1906 auf die Einwohnerzahlen der einzelnen Stadtteile, so fällt auf, dass nicht alle solch starke Steigerungsraten aufzuweisen hatten, wie es die Bevölkerungsentwicklung in der gesamten Stadt nahelegen würde: Tabelle 8: Einwohnerzahl der Distrikte St. Petersburgs, 1869 – 1906 27 Distrikt

1869

1881

1890

1897

1900

1906

Admiraltejskaja

41.940

42.342

39.216

41.097

40.272

39.439

Kazanskaja

51.237

55.164

53.612

56.800

56.483

60.397

Spasskaja

87.524

98.350

104.313

114.204

112.773

114.481

Kolomenskaja

42.892

52.411

56.287

66.403

71.431

78.777

Narvskaja

52.361

79.556

88.897

109.687

121.909

162.238

Moskovskaja

88.901

117.349

130.532

143.044

154.658

165.238

Alexandro-­Nevskaja

38.999

63.088

79.187

104.806

124.931

147.355

Roždestvenskaja

46.615

65.911

76.536

94.487

105.361

125.020

Litejnaja

76.816

94.348

101.103

111.346

114.022

120.245

Vasilij-­Insel

65.918

83.204

91.393

114.004

131.087

171.283

Petersburger Seite

42.611

62.909

76.988

99.049

119.625

175.424

Vyborger Seite

22.821

33.628

41.227

55.976

69.087

91.807

Entgegen dem allgemeinen Wachstum der Stadt erlebten die beiden zentralsten Distrikte keinen bzw. keinen übermäßigen Anstieg der Zahl ihrer Einwohner: Lebten im Admiralitätsdistrikt 1869 noch knapp 42.000 Menschen, waren es im Jahr 1906 unter 40.000 – was bedeutet, dass dieser Stadtteil sogar einen Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen hatte. Der angrenzende Kazaner Distrikt erfuhr 27 Otčet S.-Peterburgskogo gorodskogo obščestvennogo upravlenija za 1906 g. Čast’ vtoraja, Sankt-­Peterburg 1907, S. 1.

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„Eine der brennendsten Fragen der Gegenwart“: Wohnen in der Hauptstadt

ebenfalls nur einen geringen Zuwachs um rund 9.000 Bewohner, von 51.240 auf gut 60.000. Alle anderen Stadtdistrikte wiesen hingegen starke Steigerungsraten auf. Dies gilt sowohl für die innerstädtischen Randgebiete wie den Alexander-­ Newski-­Distrikt, dessen Bevölkerung von rund 39.000 auf über 147.000 auf mehr als das Dreieinhalbfache anstieg, für den Narva-­Distrikt (von gut 52.000 auf über 162.000) wie auch für die bereits thematisierten drei Stadteile ‚jenseits des Flusses‘. Worin bestanden die Ursachen für diese ungleiche Entwicklung ­zwischen den zentralen und den übrigen Stadtvierteln? Eine Antwort liefert der Blick auf die Entwicklung der Miet- und Grundstückspreise. St. Petersburg hatte sich bereits seit einiger Zeit zur teuersten Stadt des Imperiums entwickelt, auch wenn der durchschnittliche Mietpreis für ein Zimmer ­zwischen 1881 und 1890 sogar von 409 auf 362 Rubel/Jahr gesunken war.28 Diesem Rückgang um gut 11 % standen jedoch in den folgenden Jahren in manchen Stadtteilen Steigerungsraten von über 30 % gegenüber, so dass sich die Wohnungspreise bis 1904 teilweise verdoppelten: Während 1890 die durchschnittliche Miete für eine Einzimmerwohnung bei 112 Rubel/Jahr lag, für zwei Zimmer bei 194 Rubel, für drei bis fünf Zimmer bei 375 Rubel und bei Wohnungen mit sechs bis zehn Zimmern 1106 Rubel jährlich betrug, kostete 1904 eine große Wohnung mit mehr als sechs Zimmern bereits durchschnittlich 2000 Rubel, eine mittlere Wohnung (4−6 Zimmer) 1000 Rubel/Jahr und Wohnungen mit weniger als vier Zimmern lagen bei einem durchschnittlichen jährlichen Mietpreis von 400 Rubel. Damit wies die russische Hauptstadt nicht nur enorme Steigerungsraten auf, sondern lag auch deutlich über den Preisen in fast allen anderen russischen Städten, darunter auch jenen in Moskau, das ein vergleichbares Lohnniveau wie St. Petersburg hatte: Der durchschnittliche Tageslohn eines männlichen Gelegenheitsarbeiters betrug in St. Petersburg 1904 70 Kopeken (Frauen 40 Kopeken), was in etwa den Moskauer Werten entsprach – dort erhielten Gelegenheitsarbeiter 70 bzw. 45 Kopeken am Tag.29 Einen deutlichen Unterschied gab es jedoch bei den Mietpreisen: In Moskau kosteten große Wohnungen mit mehr als sechs Zimmern 1904 durchschnittlich 1200 Rubel/Jahr, mittlere Wohnungen (4−6 Zimmer) 660 Rubel/Jahr und Wohnungen mit weniger als vier Zimmern 300 Rubel/Jahr.30 28 Vgl. diese und die folgenden Angaben bei Svjatlovskij, Žiliščnyj vopros v Rossi, S. 54 f., sowie, auf Svjatlovskij aufbauend: Juchneva, Peterburgskie dochodnye doma, S. 156 f. 29 Vgl. Tablica o dorogovizne žizni v russkich gorodach, S. 812 f. 30 Vgl. ebd. Die Tabelle beruht auf den Angaben des Zentralen Statistischen Komitees für das Jahr 1904 und bietet Daten für 105 russische Städte. Vgl. für weitere Angaben, die sich auf das Jahr 1900 beziehen und ebenfalls die im Vergleich zu Moskau deutlich höheren

Wohnungsnot

Der Wohnungsmarkt in St. Petersburg war somit einer der teuersten Russlands und hatte ein Niveau erreicht, das sogar über demjenigen westlicher Großstädte wie Berlin lag.31 Die Jahre um die Jahrhundertwende gehörten zu denjenigen, in denen sich die Situation besonders verschärfte, weshalb Vladimir Svjatlovskij für diese Zeit von einer „Wohnungskrise“ 32 (kvartirnyj krizis) spricht, die die russische Hauptstadt erfasst habe. Nun sagen diese Durchschnittswerte noch nicht viel über die Mietpreise an einem bestimmten Ort der Stadt oder über die Konsequenzen für eine spezielle Schicht aus. In St. Petersburg gab es neben der Ausstattung und der Größe einer Wohnung zwei Faktoren, die den Preis maßgeblich bestimmten: die Etage, in der man wohnte, und die Gegend, in der das Haus stand. Die preislichen Unterschiede ­zwischen den verschiedenen Stockwerken verdeutlicht die folgende Tabelle: Tabelle 9: Durchschnittliche Mietpreise für Wohnungen in St. Petersburg, 1890, unterteilt nach Etagen  33 Etage

Mietpreis

Keller

125 Rubel

Erdgeschoss

263 Rubel

1. Etage

375 Rubel

2. Etage

463 Rubel

3. Etage

450 Rubel

4. – 5. Etage

380 Rubel

Dachgeschoss

112 Rubel

Preise in St. Petersburg belegen: Pažitnov, K., Kvartirnyj vopros v Moskve i v Peterburge, in: Gorodskoe delo 2 (1910), No. 17, S. 1162 – 1165. 31 Vgl. Pažitnov, Kvartirnyj vopros v Moskve i v Peterburge, S. 1165; Gorbunov, A./Vasil’ev, K., Kvartirnyj vopros v Peterburge, in: Istorija Peterburga 7 (2007), No. 2, S. 27 – 34, hier S. 28; Juchneva, Peterburgskie dochodnye doma, S. 159 f. Lenger spricht diesbezüglich von einer „Verschärfung der Wohnungsproblematik von West nach Ost“: Ders., Metropolen, S. 119. 32 Svjatlovskij, Žiliščnyj vopros v Rossi, S. 54. 33 Ebd. Die Etagenangaben beziehen sich auf die im Deutschen übliche Zählung der Stockwerke – im Russischen wird das Erdgeschoss als erste Etage bezeichnet, so dass sich alle weiteren Bezeichnungen in der Tabelle um eins erhöhen würden.

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„Eine der brennendsten Fragen der Gegenwart“: Wohnen in der Hauptstadt

Die Zahlen zeigen zum einen, dass die traditionell prestigeträchtigste Wohnung im ersten Obergeschoss, die Beletage, am Ende des 19. Jahrhunderts gegenüber dem zweiten und dritten Stockwerk ‚zurückgefallen‘ war, was sich in erster Linie durch den zunehmenden Einbau von Liften in die besseren Häuser St. Petersburgs erklärt.34 Vor allem aber werden die großen Differenzen z­ wischen den eigentlichen Etagen einerseits und dem Wohnen im Keller oder auf dem Dachboden andererseits deutlich. Dementsprechend sind, wenn man nach den Auswirkungen der Wohnungskrise auf die städtischen Unterschichten fragt, in erster Linie die untersten und obersten Ebenen der Häuser von Bedeutung, denn dort lebte der Großteil der armen Bewohner der Stadt.35 Angaben zur Entwicklung der Preise für das Wohnen in den Kellern oder auf den Dachböden St. Petersburgs sind nur spärlich vorhanden – schon allein deswegen, weil die Vermietung von Kellern zu Wohnzwecken nie offiziell erlaubt und in vielen Stadtteilen mit Blick auf die häufigen Überschwemmungen sogar explizit untersagt war. Seit dem Hochwasser 1824 galt dies für die Vasilij-­Insel, und 1859 wurde das Verbot auf alle Teile der Stadt ausgedehnt, die unterhalb der 1824 erreichten Wasser­höhe lagen.36 Für die übrigen Distrikte erließ die Petersburger Duma 1882 eine Bauverordnung. Diese schrieb für bewohnte Keller eine Mindesthöhe von rund 2 ½ Metern (3 ½ Aršin) vor, wasserdichte Böden und Wände sowie „genügend Beleuchtung durch Fenster und die Möglichkeit einer natürlichen Belüftung.“ 37 Aufgrund einer völlig 34 Vgl. Juchneva, Peterburgskie dochodnye doma, S. 157. 35 Vgl. hierzu auch die zeitgenössische Karikatur über die Gegensätzlichkeiten des Verlaufs des Neujahrsfests in einem 5-Etagen-­Haus aus dem Jahr 1900: Kružnov, Istorija ­kvartirnogo voprosa, S. 96. 36 Vgl. PSZ II, Bd. 34, Teil 1, No. 342838: O vospreščenii ustraivat’ žilye ėtaži s polami niže poverchnosti trotuara v častjach S.-Peterburga, podvergšichsja navodneniju v 1824 godu, 26. 03. 1859, S. 225. Vgl. die Bestätigung des Verbots auch in der für ganz Russland gültigen Bauordnung: Ustav stroitel’nyj. Izdanie 1900 goda, S. 233, Artikel 197. Erinnerungen an das Hochwasser im Jahr 1824, von dem vor allem die arme Bevölkerung im westlichen Teil der Vasilij-­Insel betroffen war, finden sich in: Vospominanija dal’nych let s 1824 goda. Navodnenie v S.-Peterburge 1824 g., in: Russkaja starina 12 (1881), Bd. 37, S. 149 – 155. 37 Objazatel’nyja postanovlenija Peterburgskoj dumy po stroitel’noj časti dlja S.-Peterburga, §14, hier zitiert nach: Tilinskij, Aleksandr, Praktičeskaja stroitel’naja pamjatnaja knižka, Sankt-­Peterburga 1911, S. 87. Die Notwendigkeit für die Duma, eine s­ olche Verordnung zu erlassen, ergab sich aus Artikel 103 der Stadtverordnung von 1870. Bis dahin gab es gar keine diesbezüglichen Regelungen, und auch ­zwischen dem Jahr 1870 und der letztendlichen Verordnung vergingen noch einmal über zehn Jahre. Einen ersten Entwurf legte die Stadtverwaltung der Duma im Oktober 1879 vor: ISPGOD, 1879, No. 18, S. 1658 – 1675.

Wohnungsnot

ungenügenden Kontrolle 38 lebten jedoch ungeachtet dieser gesetzlichen Bestimmungen zahlreiche Menschen in Kellern, für die die Bezeichnung „Wohnung“ einen Euphemismus darstellen würde, und zwar in allen Teilen der Stadt. Nach offiziellen Zählungen gab es 1869 rund 7000 Keller-‚wohnungen‘ mit rund 46.000 Bewohnern, und 1890 lebten etwa 50.000 Petersburger in rund 8000 Kellern.39 „Keller“ bedeutete hierbei in der Regel ein kaum oder gar nicht ausgebautes Untergeschoss, in dem häufig mehrere Menschen gedrängt zusammen lebten, die der beständigen Gefahr von Überflutungen ausgesetzt waren. Entsprechend feucht waren diese Orte, die zudem zumeist über keinerlei Fenster und Licht verfügten.40 Den höchsten Anteil solcher Keller-‚wohnungen‘ wiesen die stark von Arbeitern geprägten innerstädtischen Randgebiete auf (Roždestvenskaja-­Distrikt, Litejnaja-­Distrikt sowie der erste Bezirk des Kazaner Distrikts), während die Zahlen vor allem auf der Petersburger und der Vyborger niedriger lagen,41 da dort, wie geschildert, vielfach noch die einfachen Holzhütten dominierten, die keine Keller hatten. Ungeachtet des zum Wohnen nicht geeigneten Zustands der meisten Keller wurden auch für sie Preise von bis zu 15 Rubel/Monat verlangt. So konnte etwa das Mieten einer solchen Unterkunft im Admiralitätsdistrikt 1896 ­zwischen 60 und 180 Rubel/Jahr kosten, und auch im angrenzenden Kazaner Distrikt lag der durchschnittliche Mietpreis für eine Keller-‚wohnung‘ bei 180 Rubel jährlich.42 Damit waren die Keller teilweise sogar teurer als Einzimmerwohnungen, die wie erwähnt 1890 durchschnittlich 112 Rubel/Jahr kosteten. Der zweite Faktor, der den Preis einer Wohnung maßgeblich bestimmte, war die Gegend, in der sie sich befand. Nicht anders als heute wurden auch in St. Petersburg im ausgehenden 19. Jahrhundert Zimmer, Wohnungen und Häuser in starker Abhängigkeit von ihrer Lage bewertet. Anna Suchorukova

38 Valerija Nardova spricht diesbezüglich von einem „Flickenteppich“ der Zuständigkeiten, der eine effektive Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen verhinderte: Nardova, Peterburgskaja gorodskaja duma, S. 97. Und Vlaidimir Svjatlovskij bezeichnet die Verordnung als „tote Buchstaben“ (mertvye bukvy): Svjatlovskij, Žiliščnyj vopros v Rossi, S. 102. 39 Vgl. Juchneva, Peterburgskie dochodnye doma, S. 296. 40 Detaillierte Schilderungen über die Keller-‚wohnungen‘ St. Petersburgs finden sich in den Studien von Mar’ja Pokrovskaja, Fedor Ėrisman und anderen. Vgl. hierzu die Verweise in Anmerkung 6 ­dieses Kapitels. 41 Vgl. Juchneva, Peterburgskie dochodnye doma, S. 296 f. 42 Vgl. ebd., S. 298; Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii, S. 42 f.; S­ vjatlovskij, Žiliščnyj vopros v Rossi, S. 60.

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„Eine der brennendsten Fragen der Gegenwart“: Wohnen in der Hauptstadt

spricht davon, dass der Wert eines Objekts „nicht durch die inneren Eigenschaften“, sondern durch dessen „Lage“ (mestopoloženie) bestimmt worden sei: „Man bewertete nicht das Grundstück an sich, sondern den Ort.“ 43 ­Hierin lag der entscheidende Unterschied zum Land, wo der Preis des Bodens nicht zuletzt von dessen Qualität und der auf ihm vorhandenen Arbeitskraft abhing. Nikolaj Suchanov, der 1911 unter Pseudonym in einer Streitschrift das fehlende Bewusstsein der russischen Stadtverwaltungen für die Bedeutung einer aktiven „Grundstückspolitik“ (zemel’naja politika) beklagte, bezeichnete dann auch nicht zu Unrecht die Grundstückspreise in den Städten als „kapitalisierte Rente“: „Das Wachstum der Grundstückspreise ist das Wachstum der Grundstücksrente.“ 44 Entsprechend groß waren die möglichen Gewinnmargen in einer Stadt wie St. Petersburg, in der am Ende des 19. Jahrhunderts eine „Wohnungskrise“ herrschte. Das Gefälle der Preise verlief hierbei einerseits ­zwischen Zen­trum und Rändern: Während die durchschnittliche jährliche Wohnungsmiete im Admiralitätsdistrikt am Ende des 19. Jahrhundert bei gut 1100 Rubel, im ­Kazaner Viertel bei 618 Rubel und im Litejnaja-­Distrikt bei 608 Rubel lag, kostete eine Wohnung auf der Vyborger Seite im Durchschnitt 172 Rubel und auf der Petersburger Seite 212 Rubel.45 In dieser Hinsicht ist Anna S­ uchorukova zuzustimmen, wenn sie schreibt, dass „sich das Grundstück in der Stadt von anderen Arten des Grundbesitzes dadurch unterscheidet, dass es absolut unveränderlich ist. Man kann nicht den einen Ort durch einen anderen ersetzen – der Nevskij prospekt bleibt immer der Nevskij prospekt und lässt sich nicht austauschen.“ 46 Andererseits zeigt gerade die Geschichte St. Petersburgs, dass selbst ein Ort wie der Nevskij prospekt nicht immer der unverrückbare Mittelpunkt der Stadt sein musste: In den Anfängen lag das Zentrum zunächst auf der Petersburger Seite und dann auf der Vasilij-­Insel. Zudem gab es auch entlang des ­Nevskij ein Preisgefälle um mehrere hundert Rubel. Nimmt man das 1909 von der städtischen Kreditgesellschaft erstellte Verzeichnis der Grundstückspreise als Anhaltspunkt, dann zeigt sich, dass die teuersten Gebiete der Stadt tatsächlich entlang des

43 Suchorukova, Peterburgskaja gorodskaja duma i problemy gradostroitel’stva, S. 101. 44 Gimmer, Nik. [Suchanov, Nikolaj], Voprosy gorodskoj zemel’noj politiki, Archan’gelsk 1991, S. 1. 45 Vgl. Juchneva, Peterburgskie dochodnye doma, S. 159. 46 Suchorukova, Peterburgskaja gorodskaja duma i problemy gradostroitel’stva, S. 101.

Wohnungsnot

Nevskij lagen, und zwar z­ wischen Polizeibrücke (der heutigen Grünen Brücke) und Fontanka mit 800 Rubel/Sažen‘² sowie z­ wischen Admiralität und Polizeibrücke mit 700 Rubel/Sažen‘².47 Zugleich sank der Grundstückswert jedoch bis auf 150 Rubel/Sažen‘² im letzten Teilabschnitt des Prospekts, der am Alexander-­ Nevskij-­Kloster endete.48 Gleiches gilt entsprechend für die drei Viertel ‚jenseits des Flusses‘. Während etwa in der Gegend des Ochta-­Viertels Grundstückspreise im einstelligen Bereich angesetzt wurden, die zu den niedrigsten der gesamten Stadt zählten, wies der Samsonprospekt eine Spannbreite von 55 bis 10 Rubel auf, und zwar von Süden nach Norden und somit mit zunehmender Entfernung vom Stadtzentrum abfallend.49 Noch deutlicher werden die internen Differenzen der Distrikte auf der Petersburger Seite und auf der Vasilij-­Insel: Auch hier lagen die ‚periphersten‘ Gegenden im einstelligen Preissegment, während Grundstücke entlang der Hauptmagistrale der Petersburger Seite, des Kamennoostrovskij prospekt, von der Kreditgesellschaft auf Werte ­zwischen 125 und 40 Rubel taxiert wurden.50 Die wertvollsten Abschnitte befanden sich auch hier vis-­à-­vis des Stadtzentrums, sie gingen von der Esplanade auf der Rückseite der Peter-­und-­Pauls-­Festung ab. Auf der Vasilij-­Insel reichte die Preisdifferenz entlang des Bol’šoj prospekt von 125 bis 25 Rubel, wobei das Gebiet ­zwischen erster und zehnter Linie das teuerste war, während der südwestliche Teilabschnitt bis zur Siedlung Gavan’ am niedrigsten angesetzt wurde.

47 Vgl. Rascenočnaja vedomost’ zemli i stroitel’nych materialov i rabot dlja ocenki imuščestv, zakladyvaemych S.-Peterburgskomu Kreditnomu Obščestvu, 1909, in: Tilinskij, ­Aleksandr, Praktičeskaja stroitel’naja pamjatnaja knižka, Sankt-­Peterburga 1911, S. 110 – 157, hier S. 133. Die Ermittlung annähernd exakter Grundstückspreise ist, wie Anna Suchorukova zu Recht feststellt, „hinreichend schwierig“ (Suchorukova, Peterburgskaja gorodskaja duma i problemy gradostroitel’stva, S. 102). Wie gezeigt, hingen die Preise von einer Reihe verschiedener Faktoren ab und unterlagen den ständigen Veränderungen des Markts. Deshalb hatte auch die städtische Verwaltung kein Monopol zur Festlegung der Grundstückswerte, was jedes Mal zu den skizzierten Rechtsstreitigkeiten führte, wenn im Zuge von Infrastrukturmaßnahmen private Grundstücke enteignet wurden. Als Anhaltspunkt bietet sich deshalb das Verzeichnis der Kreditgesellschaft an, welches auch Suchorukova als Grundlage für die entsprechenden Passagen ihrer Arbeit genommen hat. 48 Vgl. Rascenočnaja vedomost’ zemli, S. 134. 49 Vgl. ebd., S. 143. 50 Vgl. ebd., S. 123.

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„Eine der brennendsten Fragen der Gegenwart“: Wohnen in der Hauptstadt

Karte 14: Durchschnittliche Mietpreise/Person in den verschiedenen Stadtteilen St. Petersburgs, 1890 51

Die Karte zeigt die durchschnittlichen jährlichen Mietpreise/Person im Jahr 1890. Je dunkler die Färbung, desto höher die Miete (von unter 30 Rubel bis zu über 100 Rubel).

Die Liste ließe sich fortsetzen, auch mit weiteren Beispielen aus dem Stadtzentrum ‚diesseits‘ der Großen Neva. Insgesamt zeigt sich damit hinsichtlich der Entwicklung der Grundstückspreise in St. Petersburg zweierlei: Zum einen gab es grundsätzlich ein Gefälle ­zwischen Zentrum und Rändern – der Grund und Boden ­zwischen Admiralität, Nevskij und Fontanka war um ein Vielfaches teurer als der in den Peripherien der Stadt. Zugleich wird jedoch bei genauerem 51 Ėnciklopedičeskij slovar’ Brokgauza i Ėfrona, Bd. 28a, Sankt-­Peterburg 1900, S. 308. Hier zitiert nach: Historic Cities. St. Peterburg. URL : http://historic-­cities.huji.ac.il/russia/ peterburg/maps/brockhaus_efron_56_spb_mortality.html (letzter Aufruf am 28. 10. 2018).

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Hinsehen eine ebenfalls beträchtliche Spannbreite innerhalb der einzelnen Viertel und entlang zentraler Straßen sichtbar. Hier spielte die Frage des Prestiges ­prestižnost’52) der jeweiligen Wohngegend eine entscheidende Rolle, das sich nicht zuletzt nach der Nähe zum respektive der Entfernung vom Zentrum bemaß. Und, so wäre als dritter, für die Mieten bereits erwähnter Punkt zu ergänzen: Auch die Grundstückspreise stiegen beständig an. Insbesondere ab der Jahrhundertwende waren nicht selten Wertzunahmen von 100 % und mehr in zehn Jahren zu verzeichnen.53 Dies galt auch für die ‚Peripherien‘: Die achte Linie der Vasilij-­Insel erfuhr ­zwischen 1903 und 1913 einen Preisanstieg um 150 %, von 80 auf 200 Rubel/Sažen‘². Und auch auf der Petersburger Seite waren Zuwächse von 150 % und mehr keine Ausnahme. Selbst entlang des nur bedingt als zentral zu bezeichnenden dortigen Malyj prospekt stieg der Preis im gleichen Zeitraum von 50 auf 85 Rubel/Sažen‘² und damit um 70 %.54 Wenn man diese Entwicklungen mit den oben skizzierten enormen Steigerungsraten der Bevölkerung in den Vierteln jenseits des Zentrums zusammendenkt, so wird deutlich, dass neben den Neugründungen von Fabriken die Verteuerung des Wohnens eine maßgebliche Ursache dafür darstellte, dass ein immer kleinerer Teil der Menschen im innerstädtischen Bereich St. Petersburgs lebte. Für diejenigen, die sich die steigenden Mietpreise nicht mehr leisten konnten, gab es nur zwei Wege: entweder den Umzug in weiter entfernte Stadtteile oder das Ausweichen in die Winkel, Keller, Dachböden und Notunterkünfte oder auf die Straßen der immer teurer werdenden zentralen Viertel. Während sich die bisherige Literatur weitgehend auf letztere Entwicklung, vor allem auf die berühmt-­berüchtigten Petersburger Eck-‚wohnungen‘ fokussiert hat, lassen sich bei genauerer Betrachtung beide Entwicklungen beobachten. Fragt man nach dem Platz, den jeder Bewohner in den verschiedenen Stadtteilen zur Verfügung hatte, so lebte man an den Rändern St. Petersburgs auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch deutlich ‚geräumiger‘ als im Stadtinneren: Während 1909 auf der Vyborger Seite auf jeden Einwohner 27,7 Sažen‘² kamen, waren es im Admiralitätsviertel 10,9 Sažen‘² und im Moskauer Distrikt 52 Juchneva, Peterburgskie dochodnye doma, S. 26. 53 Vgl. die Auflistung bei Suchorukova, Peterburgskaja gorodskaja duma i problemy gradostroitel’stva, S. 104. Die Angaben basieren auf den Schätzungen der städtischen Verwaltung für bestimmte Straßen in verschiedenen Teilen der Stadt in einem Zeitraum ­zwischen 1903 und 1913. 54 Vgl. alle Werte ebd.

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gerade mal 4,0 Sažen‘².55 Diese Zahlen sagen jedoch wenig darüber aus, wie gedrängt die Menschen tatsächlich wohnten. Die skizzierten Entwicklungen der drei Viertel ‚jenseits des Flusses‘ zeigen, dass große Teile ­dieses Platzes pro Einwohner nach wie vor nicht bebaut waren, sich dort also auch keine Wohnungen befanden. Dementsprechend lässt sich eine Aussage über eine horizontale Verdrängung der ärmeren Bevölkerung aus dem Zentrum der Stadt nur treffen, indem man die Zahl der vorhandenen Wohnungen und Zimmer zur Bevölkerungszahl in Relation setzt. Jurij Gjubner hat dies in seinen bereits erwähnten Arbeiten getan. Bereits 1872 sprach er davon, dass alle Stadtteile, in denen im Durchschnitt mehr als 150 Personen auf 100 Zimmer kamen, einen „geschlossenen Ring um das Zentrum der Stadt“ 56 bildeten. Eine Ausnahme stellten lediglich die Gegend um den Heumarkt sowie der angrenzende zweite Kazaner Bezirk dar, die, so Gjubner, wie ein „Keil“ 57 von den dicht gedrängten Rändern in das Zentrum hinein ragten. Die skizzierte Entwicklung der Mietund Grundstückspreise hat diese Entwicklung weiter verstärkt, weshalb Fedor Enakiev 1912 zu der Feststellung gelangte, dass „viele Petersburger“ aufgrund der „Verteuerung und des Mangels an Wohnungen“ in den zentralen Stadtteilen „dauerhaft“ 58 an den Stadträndern leben würden und täglich zwei Stunden und mehr für den Weg zur und von der Arbeit aufbringen müssten. Ein Beispiel für eine ­solche Verstetigung des Wohnens in einer vorher kaum erschlossenen Gegend war Černaja rečka (schwarzes Flüsschen). Im Nordwesten der Vyborger Seite gelegen, befanden sich in dem Gebiet Jahrzehnte lang lediglich die Datschen Petersburger Stadtbewohner, und es war nur über wenige, enge Straßen zu erreichen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zogen immer mehr Menschen dorthin, und zwar, wie die Stadtverwaltung feststellte, „dauerhaft“ und „als Folge der Verteuerung der Wohnungen im Zentrum der Stadt“ 59, wodurch 55 Vgl. Enakiev, Zadači preobrazovanija S.-Peterburga, S. 28 f. 56 Gjubner, Očerki sanitarnogo sostojanija, S. 124. 57 Ebd. 58 Enakiev, Zadači preobrazovanija S.-Peterburga, S. 30. Vgl. für detaillierte Angaben zur Zahl der Einwohner/Wohnung und Zimmer in jedem Stadtteil, die Aussage Enakievs bestätigend: Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii. 59 Bericht der Stadtverwaltung vom 12. 09. 1899 und 12. 01. 1900 in: ISPGOD, 1900, No. 2, S. 203 – 209, hier S. 205, 208. Die örtlichen Hausbesitzer empfanden diese Entwicklung als störend und forderten die Stadt auf, Maßnahmen zur Regulierung des Gebietes zu ergreifen. Mehrere Dumaabgeordnete führten daraufhin eine Ortsbegehung durch und legten

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sich der Charakter der Gegend grundlegend veränderte. Die Wohnungsfrage zeitigte in der russischen Hauptstadt also nicht nur vertikale, sondern auch horizontale Konsequenzen. Zugleich, und hierauf hat vor allem James Bater detailliert hingewiesen, waren ­diesem auch in anderen Städten Europas zu beobachtenden Prozess einer Ausdehnung und Verdrängung in die Breite in St. Petersburg Grenzen gesetzt. Vor allem der unzureichend entwickelte und für die Masse der Arbeiter nicht bezahlbare öffentliche Nahverkehr zwang einen Großteil der Menschen dazu, nicht allzu weit von ihrem Arbeitsplatz entfernt zu leben.60 Allzu weit bedeutete hierbei um die Jahrhundertwende allerdings einen Radius von bis zu fünf Kilometern ­zwischen Wohnstätte und Fabrik, was einen täglichen Fußweg durch mehrere Stadtteile beinhalten konnte. Die Zeitung „Der Stern“ (Zvezda) beschrieb d ­ ieses Szenario 1911 mit folgenden Worten: Früh am Morgen erstrecken sich die Reihen der Arbeiter über den Kamennoostrovskij-­ Prospekt, über die Troickij-­Brücke und das Marsfeld. Sie kommen von irgendwoher aus dem Narva oder Moskauer Distrikt und gehen zur Arbeit ans entgegengesetzte Ende der Stadt. Ein ebensolcher Verkehr findet auch auf anderen Straßen und B ­ rücken statt. Die Straßenbahn fährt noch nicht […] Um sieben Uhr abends lässt sich der ­gleiche Zug in entgegengesetzter Richtung beobachten. Und dies jeden Tag.61

Auch wenn ein Großteil der Beschäftigten in mehr oder weniger großer Nähe zu den Fabriken lebte, wohnte man dort nicht unbedingt günstiger als im Stadtzentrum. Mar’ja Pokrovskaja wies 1903 darauf hin, dass die Mieten an den Stadträndern insbesondere im Umfeld der großen Produktionsbetriebe anstiegen: „Jede Fabrik bildet ein Zentrum, das den Wohnungspreis anhebt.“ 62 Die Wohnungsbesitzer waren sich der Abhängigkeit der Arbeiter von der Fabrik bewusst, und

Pläne zur Weiterentwicklung der Gegend vor, die jedoch bis 1914 nicht mehr umgesetzt wurden. Vgl. ebd., 1902, No. 14, S. 1101 – 1107; No. 23, S. 532. 60 Vgl. Bater, St. Petersburg, S. 268 – 295. 61 Stark, L., Neotložnaja nužda, in: Zvezda, 09. 04. 1911, hier zitiert nach Kruze, Ė., Uslovija truda i byta rabočego klassa Rossii v 1900 – 1914 gg., Leningrad 1981, S. 95. Vgl. hierzu auch die weiten Wege, die Semen Kanačikovs während seiner ersten Wochen in Petersburg zurückzulegen hatte: Zelnik, A Radical Worker, S. 86. 62 Pokrovskaja, Po podvalam, čerdakam i uglovym kvartiram Peterburga, S. 27.

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für viele Beschäftigte waren diese Unterkünfte, so das Fazit Pokrovskajas, „nicht nur nicht billiger, sondern sogar teurer als im Zentrum.“ 63 Diese Umstände setzten der beschriebenen Ausdehnung der Stadt und der Verdrängung der Unterschichten an deren Ränder Grenzen. Viele waren trotz der beständigen Verteuerung des Wohnens gezwungen, in ihrer bisherigen Gegend zu bleiben – womit sie nur noch in billigere und damit schlechtere Unterkünfte ausweichen konnten. In der Konsequenz nahm neben der Zahl der Behausungen in den Kellern und auf den Dachböden der Stadt auch das für St. Petersburg charakteristische ‚Wohnen‘ in einem Winkel (ugol) eines Zimmers weiter zu. Gab es 1888 noch rund 13.500 solcher Ecken, waren es 1900 bereits fast 18.000.64 Gleiches gilt für die auch bereits zuvor schon vorhandene Obdachlosigkeit: Je weiter sich die Wohnungskrise verschärfte, desto mehr Menschen lebten ohne eine feste Unterkunft auf den Straßen der Hauptstadt.65 Und auch die Orte größter Armut, die Slums St. Petersburgs, waren keineswegs mehr allein rund um den Heumarkt ­zwischen Fontanka und Katharinenkanal (dem heutigen Griboedov-­ Kanal) anzutreffen. Einer der größten Slums der Stadt, „Vasjas Dorf “, lag wie bereits erwähnt auf der Vasilij-­Insel, andere befanden sich entlang des Ligovskij prospekt und an den Ufern des Obvodnyj kanal.66 Sie waren der für jedermann sichtbare Ausdruck einer sich zuspitzenden Wohnungskrise in der russischen Hauptstadt. Dass es zu dieser Krise kam und dass aus dem Wohnen eine der drängendsten Fragen St. Petersburgs wurde, lässt sich hierbei nicht verstehen, ohne das Handeln respektive Nicht-­Handeln bestimmter Akteursgruppen und ihre Motive näher zu beleuchten.

63 Ebd., S. 28. Vgl. diese Feststellung auch bei Dikanskij, Žiliščnaja nužda i stroitel’nye tovariščetva, S. 9 f. 64 Vgl. Rubel’, Žilišča bednogo naselenija Peterburga, S. 436; Gorbunov/Vasil’ev, Kvartirnyj vopros v Peterburge, S. 29. Es handelt sich hierbei um die nach Angaben des Petersburger Stadthauptmanns offiziell bekannten Eck-‚wohnungen‘. Ebenso wie bei den Kellerunterkünften dürfte die tatsächliche Zahl deutlich höher gelegen haben. 65 Vgl. zu den Bettlern St. Petersburgs sowie zu deren Wahrnehmung jetzt Jahn, Armes Russland. 66 Vgl. u. a. [o. N.], Nočležnyj prijut G-ži Zaseckoj, in: Peterburgskij listok, 04. 01. 1879, S. 2; [o. N.], Peterburgskaja truščoba, in: Peterburgskij listok, 14. 04. 1879, S. 2; M. B., Peterburgskie truščoby, in: Peterburgskij listok, 31. 10. 1913, S. 4; Peterburgskie truščoby, in: Peterburgskij listok, 15. 02. 1914, S. 3.

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Akteure und Motive Blickt man zunächst darauf, wem die Stadt im Sinne Henri Lefèbvres gehörte, und beschränkt dies in einem rein ökonomischen Sinn auf die Eigentumsverhältnisse an Grund und Boden, so wird die zentrale Stellung deutlich, die den privaten Hausbesitzern in St. Petersburg zukam. Ende des 19. Jahrhunderts befanden sich rund 88 % der Häuser der Hauptstadt in der Hand von Privatpersonen. Die übrigen 12 % verteilten sich auf juristische Personen: 503 Gebäude (5,5 %) gehörten dem Staat, 226 (2,5 %) wurden als ­Kirchen und Klöster genutzt, und jeweils rund 1 % machten die Besitzungen von Wohltätigkeitsgesellschaften (105 Häuser), Industriegenossenschaften (164 Häuser) sowie ständischer Einrichtungen (96 Häuser) aus.67 Der weit überwiegende Teil, nämlich rund 98 %, dieser Immobilien wurde vermietet, und zwar fast durchweg als Mietwohnungen, und nur in Ausnahmefällen als Gaststätten, Pensionen oder Datschen. Anderen Nutzungsformen wie der als Eigentumswohnung oder in Gestalt von Genossen­ schaftswohnungen kam demgegenüber eine nachrangige Bedeutung zu.68 Damit war der Wohnungsmarkt in St. Petersburg in erster Linie ein Mietmarkt und befand sich weitgehend in privater Hand, wie auch die folgende Karte aus dem Jahr 1880 verdeutlicht. Während die Zahl der Häuser im Zuge des Wachstums der Stadt beständig zugenommen hatte, war der Anteil der Immobilienbesitzer an der Gesamtbevölkerung rapide zurückgegangen. Stellten die Hausbesitzer samt ihrer Familien in der Mitte des 18. Jahrhunderts noch rund ein Drittel der Einwohnerschaft St. Petersburgs, so waren es am Ende des 19. Jahrhunderts gerade einmal noch 0,5 %, die die Häuser der Stadt besaßen. Als Folge ­dieses enormen Konzentrationsprozesses kamen auf jeden Eigentümer durchschnittlich zwei Häuser. Der Großteil dieser Gruppe entstammte dem Adel, der Kaufmannschaft oder dem Stand der Ehrenbürger, während sich etwa ein Viertel der Häuser in der Hand von meščane befand.69

67 Vgl. Juchneva, Peterburgskie dochodnye doma, S. 129. 68 Vgl. ebd. 69 Vgl. ebd., S. 130 f.

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Karte 15: Besitzverhältnisse an den Gebäuden St. Petersburgs, 1880 70

Die rosafarbigen Flächen stehen für Gebäude in Privatbesitz, die lila gefärbten markieren staatliche und gesell­ schaftliche Gebäude und Paläste.

Eine Konsequenz dieser Eigentumsverhältnisse war die bis 1914 anhaltende Unfähigkeit des Wohnungsmarkts, zielgerichtet auf den immer größer werden­ den Bedarf zu reagieren. Zwar war die Zahl der Häuser ­zwischen 1869 und 1900 70 Plan S.-Peterburga, razdelennyj na časti Policejskogo upravlenija i priložen. podrobnyj ukazatel’. Sostavlen. i izdan. I. O. Ivanovym na 1880 god, Sankt-­Peterburg 1880.

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von 8242 auf 9643 gestiegen, und der Bestand an Wohnungen erhöhte sich im gleichen Zeitraum sogar von 86.940 (mit insges. 355.198 Zimmern) auf 154.882 (mit 690.495 Zimmern).71 Da sich die Bevölkerungszahl aber ebenfalls nahezu verdoppelte, änderte sich an der Belegungsdichte von rund 7 Personen/Wohnung fast nichts. St. Petersburg wies damit nicht nur im innerrussischen, sondern auch im europäischen Vergleich die höchste Zahl an Einwohnern pro Wohnung auf und verfügte zugleich über eine deutlich geringere Zahl an Häusern als etwa Moskau oder Berlin.72 Dies bedeutet nicht, dass nicht gebaut wurde. Die Bautätigkeit richtete sich jedoch nicht nach dem vorhandenen Bedarf, sondern wurde in großen Teilen vom Streben nach Rendite dominiert. Dies lässt sich an einer Vielzahl von Beispielen zeigen. Blickt man zunächst auf die innerstädtischen Viertel, so fällt auf, dass im Admiralitäts- und im Kazaner Distrikt im Jahr 1900 sogar weniger neue Wohnungen entstanden als 1869, während in den weiter entfernt gelegenen Distrikten mehr gebaut wurde.73 Diese Verlangsamung der Bautätigkeit musste zwangsläufig zu einer weiteren Verteuerung der Wohnungen im Zentrum der Stadt führen. Dass das private Kapital für Investitionen an sich vorhanden war, zeigt sich daran, dass stattdessen die Höhe der Häuser in diesen Stadtteilen beständig wuchs: Im Admiralitäts- und den angrenzenden drei Innenstadtdistrikten verschwanden hölzerne Häuser weitgehend aus dem Stadtbild und wurden durch steinerne und höhergeschossige Bauten ersetzt. Wenn 1910 in einem zeitgenössischen Artikel von „Gigantenhäusern“ 74 (Domov-­gigantov) die Rede war, bezog sich dies vor allem auf das Zentrum St. Petersburgs.75 Diese neuen Bauten, die bereits 1840 als „Spekulationshäuser“ kritisiert worden waren, seinerzeit aber noch aus einer konservativ-­ästhetischen Perspektive, der jegliches Bauen über mehr als zwei Etagen als Verstoß gegen die „natürlichen 71 72 73 74

Vgl. Pažitnov, Kvartirnyj vopros v Peterburge, S. 1373, 1377. Vgl. ebd., S. 1374. Vgl. ebd., S. 1373. Ebd., S. 1374. Vgl. zum Bau höhergeschossiger Häuser im style moderne als Ausdruck von Wohlstand und Modernität auch Brumfield, William Craft, Building for Comfort and Profit. The New Apartment House, in: ders./Ruble, Blair A. (Hg.), Russian Housing in the Modern Age. Design and Social History, Cambridge 1993, S. 55 – 85. 75 Schlögel spricht in d ­ iesem Zusammenhang von einer „Stadtlandschaft in Bewegung“ und konstatiert, dass Petersburg „in die Höhe“ wuchs und „buntscheckig“ wurde. Ders., Petersburg, S. 65.

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Bestimmungen“ 76 eines angenehmen Lebens galt, wurden nun zum Ort tatsächlicher Wohnungsspekulation. So gab es aus allen Stadtteilen Berichte über Wohnungen, die ungeachtet der immensen Nachfrage leer standen. Nach den offiziellen Angaben belief sich ihre Zahl 1906 in der gesamten Stadt auf 6875. Die meisten fanden sich auf der Vasilij-­Insel (1619) und auf der Petersburger Seite (1037), aber auch in den teuersten Vierteln gab es leerstehende Wohnungen – im Admiralitätsviertel 153 und im Kazaner Distrikt 132.77 Die tatsächlichen Zahlen dürften hierbei, ähnlich wie im Fall der Keller-‚wohnungen‘, deutlich höher gelegen haben. Die Leerstände wurden bereits zeitgenössisch als Ausdruck von Mietspekulation begriffen. So forderte der Dumaabgeordnete Zmeev die Stadt 1904 in einer Erklärung zu einem entschiedenen Vorgehen gegen die „Spekulation mit unbebauten Grundstücken“ 78 auf. Sie sei eine maßgebliche Ursache für den „Anstieg der Wohnungskosten“ 79 in St. Petersburg. Wie Zmeev darlegte, ließen die Besitzer die betreffenden Immobilien in Erwartung weiterer Wertsteigerungen bewusst unbewohnt, um sie später mit Gewinn wieder zu verkaufen. Oder sie unterteilten sie in möglichst viele Einheiten, um diese dann zu vermieten. So gab es etwa Berichte über Wohnungen im Admiralitätsviertel, die nicht als Ganzes vergeben, sondern in ‚Ecken‘ parzelliert und mit möglichst vielen Menschen belegt wurden.80 Ebenso wie im Fall der häufig von mehreren Personen ‚bewohnten‘ Keller wurde auf diese Weise versucht, aus dem Mangel an Wohnraum möglichst großen Profit zu schlagen, wodurch zugleich die Preise weiter in die Höhe getrieben wurden. Fedor Ėrisman hatte auf diesen Zusammenhang bereits 1871 hingewiesen: Der Bau von Kellern in den Häusern ist an sich sehr nützlich, weil auf diese Weise die Wohnungen vom Erdreich isoliert und vor Feuchtigkeit und Wärmeableitung geschützt werden. Aber die zunehmende Verteuerung der Grundstücke in den Städten hat die Hausbesitzer veranlasst, Häuser mit fünf, sechs und mehr Etagen zu bauen und sogar die Keller unter diesen in menschliche Unterkünfte zu verwandeln.81 76 Spekulativnye doma v S. Peterburge, S. 26. 77 Vgl. Otčet S.-Peterburgskogo gorodskogo obščestvennogo upravlenija za 1906 g. Čast’ vtoraja, Sankt-­Peterburg 1907, S. 5. 78 Bericht der Stadtverwaltung vom 17. 08. 1904, ISPGOD, 1904, No. 23, S. 1432 – 1436, hier S. 1432. 79 Ebd. 80 Vgl. Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii, S. 43. 81 Ėrisman, Podval’nyja žilišča v Peterburge, Archiv sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny 7 (1871), No. 3, S. 43.

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Und der Sanitärarzt Rubel’ berichtete fast dreißig Jahre später davon, dass mindestens 23 der von ihm im Auftrag der Sanitärkommission untersuchten 100 Wohnungen im Besitz von „Wohnungsökonomen“ 82 (Kvartiro-­chozjaeva, ­professionalisty) s­ eien. Ihr Gewinn liege im Schnitt bei über 50 %, und es gebe „viele“ Menschen in St. Petersburg, die allein davon lebten, dass sie „als einziges Gewerbe, als spezielle Profession“ 83 ein bis zwei Wohnungen besäßen, diese bis in die letzte Ecke unterteilten und vermieteten. Nicht wenige versuchten, so Rubel’, ihre Rendite noch dadurch zu steigern, dass sie die Ecken nächteweise vermieteten. In der Konsequenz schrumpfte der Platz, den die Menschen zum Leben hatten. Im Gegensatz zu den ausladenden Hallen der Palais’ St. Petersburgs, die bis heute unser Bild der Stadt prägen, wurden die Wohnungen insgesamt kleiner und niedriger. Ekaterina Juchneva spricht von einer „bemerkenswerten Verringerung“ der durchschnittlichen Zimmergröße, die sich vor allem im letzten Jahrzehnt des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts „besonders intensiv“ 84 vollzogen habe. In den Wohnungsanzeigen der hauptstädtischen Presse fanden sich denn auch keinerlei Angaben über die Größe der inserierten Zimmer.85 Im damaligen Sprachgebrauch wurde dieser Prozess der Entgrenzung dessen, was unter „Wohnen“ zu verstehen war, mit dem Begriff „Wohneinheit“ (žiliščnaja edinica) wiedergegeben – eine „Wohneinheit“ war eben nicht zwingend ein Zimmer oder gar eine Wohnung, sondern konnte ­zwischen Keller, Ecke oder einer halben Hängematte über die Bauernhütte bis hin zur Villa alles bedeuten.86 Die Petersburger sprachen zudem von „reinen Zimmern“ (čistye komnaty), wenn sie Zimmer meinten, die allein fürs Wohnen bestimmt waren, und keine Küchen oder Flure, in denen die Menschen auch nächtigten.87 Die Spekulation mit Grundstücken und Häusern beschränkte sich nicht auf das Zentrum der russischen Hauptstadt. Auch in den entfernter gelegenen Stadtteilen wurden große Flächen aufgekauft, um sie anschließend zu zerstückeln, bis 82 Rubel’, Žilišča bednogo naselenija Peterburga, S. 435. 83 Ebd. Mar’ja Pokrovskaja wusste von ähnlichen Gewinnspannen durch das Vermieten von Eck-‚wohnungen‘ zu berichten: Pokrovskaja, Po podvalam, čerdakam i uglovym ­kvartiram Peterburga, S. 28 f. 84 Juchneva, Peterburgskie dochodnye doma, S. 121. 85 So das Ergebnis der von Juchneva vorgenommenen Durchsicht von sieben Annoncenblättern, die Ende des 19. Jahrhunderts erschienen. Vgl. ebd., S. 120. 86 Vgl. ebd., S. 226 f. 87 Vgl. ebd., S. 115 f.

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hin zu den so genannten Klein- und Untergrößen (Malomerki, Nedomerki), deren Fläche so gering war, dass man auf ihnen kaum noch etwas bauen konnte.88 Sie wurden dann mit Gewinn weiterverkauft oder vermietet – eine ­Praxis, die von Vladimir Svjatlovskij als „Landräuberei“ 89 (Zemel’noe chiščničestvo) gebrandmarkt wurde. Zu den Leidtragenden zählte nicht nur die dortige Bevölkerung, sondern auch die Stadt selbst. Der Ankauf größerer Grundstücke für Infrastrukturmaßnahmen wie den Bau eines neuen Straßenbahndepots oder eines Krankenhauses lief, so Valerija Nardova, zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie eine „Geheimoperation“ 90 ab. Denn sobald das Interesse der Kommune an einem bestimmten Standort publik wurde (und dies geschah oft), kauften Spekulanten die Grundstücke auf, um sie anschließend der Stadt zum doppelten Preis anzubieten. Das Petersburger Stadtoberhaupt Ivan Tolstoj sprach 1914 sogar davon, dass der Erwerb von Grund und Boden durch die Stadt nur mit „heroischen Mitteln“ 91 möglich sei. Als Zwischenresümee lässt sich festhalten, dass sich der Wohnungsmarkt in St. Petersburg am Ende des 19. Jahrhunderts zu großen Teilen in privater Hand befand, und dass das Aufkaufen, Verkaufen und Vermieten von Immobilien zu einem sehr einträglichen Geschäft geworden war. Die große Wertsteigerung zeigt sich noch einmal darin, dass die offizielle Zahl der Mietshäuser ­zwischen 1869 und 1900 von 6437 auf 8481 gestiegen war, die mit ihnen erzielten Mieteinnahmen aber im gleichen Zeitraum fast eine Vervierfachung erfahren hatten (von 19.318 auf 73.862 Rubel).92 Durch die Transformation des Wohneigentums zu einer Ware und mit dem Vordringen des Mietverhältnisses als dominierender Wohnform hatte sich der Charakter der Wohnungsfrage „drastisch“ 93 gewandelt. Die von Jürgen Osterhammel als Kennzeichen städtischer Modernität angeführte Kommerzialisierung des städtischen Grundbesitzes, in deren Folge der Grund und Boden zur „Vermögensanlage“ und zum „Spekulationsobjekt“ wurde, lässt sich mithin auch für die russische Hauptstadt konstatieren.

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Vgl. Svjatlovskij, Žiliščnyj vopros v Rossi, S. 101. Ebd., S. 101. Nardova, Peterburgskaja gorodskaja duma, S. 251. Zitiert nach ebd. Vgl. Pažitnov, Kvartirnyj vopros v Peterburge, S. 1378. Dukel’skij, Očerki po kvartinomu voprosu, S. 3.

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Die Wohnungsspekulation fand als Problem nicht nur Eingang in die Schriften kritischer Beobachter wie bei Vladimir Svjatlovskij, sondern auch in die Enzyklo­ pädie von Brockhaus und Ėfron. In dem dortigen Artikel zur Wohnungsfrage wurde die „private Spekulation“ als „wesentliches Hindernis auf dem Weg zur Verbilligung und Verbesserung der Wohnungen“ 94 angeführt. Und unter dem Lemma „Arbeiterwohnungen“ (žilišča rabočich) wurden Staat und Gesellschaft aufgefordert, den „Kampf […] gegen die künstliche Aufrechterhaltung der hohen Preise für städtische Grundstücke, Gebäude und Wohnungen“ aufzunehmen und mittels einer anderen Steuerpolitik „die sich in den großen Städten entwickelnde Spekulation mit städtischen Grundstücken lahmzulegen.“ 95 Diese an prominenter Stelle geäußerte Kritik führt zu der Frage, w ­ elche Rolle die lokale Selbstverwaltung in der Wohnungsfrage spielte. Trat sie als Akteurin in Erscheinung, um die Verknappung und Verteuerung des Wohnraums zumindest abzumildern? Oder war sie tatsächlich so machtlos, wie es das obige Zitat von Ivan Tolstoj über die „heroischen Mittel“, die allein der Erwerb eines größeren Grundstücks erfordert habe, vermuten lässt? Grundsätzlich lag die Aufsicht über die Bautätigkeit in den Städten Russlands bis 1864 beim Zentralstaat, und zwar bei der Hauptverwaltung für Verkehrswege und öffentliche Gebäude (glavnoe upravlenie putej soobščenija i publičnych ­zdanij).96 Zugleich wurde bereits 1857 für das gesamte Reich ein Baustatut ­(stroitel’nyj ustav) erlassen. Mit ihm wurde die Zuständigkeit für die private Bautätigkeit den Kommunen übertragen, die zu ­diesem Zweck Bauabteilungen einrichten sollten. Ausgenommen waren staatliche Gebäude, die dem Baukomitee (technologičeskij-­stroitel’nyj komitet) des Innenministeriums unterstellt wurden.97 Um den Anforderungen des Statuts nachzukommen, gründete die Petersburger Duma 1862 eine Kommission, aus der dann drei Jahre später ein Komitee und 1872 schließlich eine Bauabteilung (stroitel’noe otdelenie) der Stadtverwaltung hervorging. Ab 1873 musste jeder, der in St. Petersburg bauen wollte, der Stadt einen entsprechenden Plan vorlegen, und für bestimmte, zentrale Viertel, Ufer 94 Ja., A., Kvartirnyj vopros, S. 854. 95 Jarockij, A., Žilišča rabočich, in: Ėnciklopedičeskij slovar’ Brokgauza i Ėfrona, Bd. 11a, Sankt-­Peterburg 1894, S. 954 – 958, hier S. 957. 96 In St. Petersburg war ­dieses Amt seit den 1850er Jahren verpflichtet, der Duma Bericht zu erstatten, was aber oft nicht geschah. Vgl. Suchorukova, Peterburgskaja gorodskaja duma i problemy gradostroitel’stva, S. 146. 97 Vgl. Nardova, Peterburgskaja gorodskaja duma, S. 91.

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und Gebäude bedurfte es darüber hinaus der Zustimmung durch die Zentral­ regierung.98 Den Rahmen gab hierbei im Falle St. Petersburgs der allgemeine Entwicklungsplan der Stadt (obščij plan goroda) vor. Beginnend mit dem erwähnten ersten Bauplan von Domenico Trezzini aus dem Jahr 1715 wurden diese Stadtentwicklungspläne in unregelmäßigen Abständen von zumeist mehreren Jahrzehnten erneuert und weiterentwickelt. Federführend war hierbei das Baukomitee des Innenministeriums.99 Im März 1880 legte es einen neuen Entwicklungsplan für die Hauptstadt vor, der bis 1917 Gültigkeit hatte. Mit seinem Inkrafttreten musste fortan jegliche Änderung von der Stadtduma vorbereitet und dann vom Baukomitee des Innenministeriums genehmigt werden.100 Insgesamt entstand damit eine Situation, in der viele Organe verschiedener staatlicher Ebenen mit- oder nebeneinander agierten. Es mangelte an einer einheitlichen Lenkung der Baupolitik in St. Petersburg, weshalb Anna Suchorukova ebenso wie Valerija Nardova von einem „Flickenteppich“ 101 der Zuständigkeiten spricht, der eine effektive Kontrolle verhindert habe. Zudem beließ es der langjährige Vorsitzende der Bauabteilung, Nikolaj Benua (Nicolas Benois), bei einer Unterteilung der Stadt in vier Baubezirke, denen jeweils ein Architekt vorstand, der die Aufsicht über die Bautätigkeit im gesamten Bezirk innehatte. Die Kontrolle blieb entsprechend unzureichend, wiederholt kam es zu Katastrophen wie dem Einsturz von Häusern, die dann Gegenstand von Debatten in der Duma wurden.102 An der grundsätzlichen Problematik der Wohnungsfrage in St. Petersburg, dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum für große Teile der Bevölkerung, änderte all dies nichts. Zwar erließ die städtische Duma wie erwähnt 1882 eine Bauverordnung, die bestimmte Mindeststandards für Bauten in der Hauptstadt festlegte.103 Zudem hob sie die Abgabe, die Besitzer von Immobilien zu entrich 98 Eine detaillierte Darstellung des Verfahrens findet sich in: ISPGOD , 1876, No.  13, S. 1260 – 1266. 99 Vgl. Semencov, Gradostroitel’noe razvitie Sankt-­Peterburga, S. 182 – 190. 100 Vgl. Suchorukova, Peterburgskaja gorodskaja duma i problemy gradostroitel’stva, S. 132 – 140. 101 Ebd., S. 143. Zu einer deutlich positiveren Wertung gelangt Sergej Semencov. Er attestiert der Stadt ab den 1880er Jahren eine „effektive Struktur der Lenkung der städtebaulichen Prozesse“ (Semencov, Gradostroitel’noe razvitie Sankt-­Peterburga v 1703 – 2000-e gody, S. 168). Hinsichtlich wirksamer Maßnahmen zur Behebung der Wohnungsknappheit würde ich mich ­diesem Urteil nicht anschließen. 102 Vgl. Suchorukova, Peterburgskaja gorodskaja duma i problemy gradostroitel’stva, S. 150. 103 Vgl. Objazatel’nyja postanovlenija Peterburgskoj dumy po stroitel’noj časti dlja S.-Peterburga, in: Tilinskij, Praktičeskaja stroitel’naja pamjatnaja knižka, S. 85 – 92.

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ten hatten, bis 1914 auf 8 % des Eigentumswerts an. Und für die Vermietung von Wohnungen musste zudem noch eine gesonderte Steuer gezahlt werden, auch von Eigentümern, die in ihrem eigenen Haus wohnten.104 Alle diese Regelungen hatten jedoch letztendlich reaktiven Charakter – sie stellten den Versuch dar, die größten Exzesse der allgegenwärtigen Wohnungskrise in den Griff zu bekommen. Die große Kluft ­zwischen den Texten der Verordnungen und der Lebensrealität in der Stadt ließ die Hilflosigkeit solcher Ansätze deutlich zu Tage treten. Eine Alternative hätte in einer aktiven kommunalen Wohnungspolitik bestanden. Die rechtlichen Kompetenzen hierzu besaß die Stadt. Zum einen konnte sie im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten als Akteurin auf dem Wohnungsmarkt tätig werden, Grundstücke erwerben und auf diesen Wohnungen errichten. Die Verhandlungsposition der Stadt war hierbei angesichts der Eigentumsverhältnisse in St. Petersburg zweifellos nicht einfach, zumal wie erwähnt bei Bekanntwerden eines städtischen Interesses der Preis des betreffenden Grundstücks durch Spekulation umgehend in die Höhe getrieben wurde. Nichtsdestotrotz wäre es angesichts der Wohnungssituation im Rahmen der munizipalen Wohlfahrtspflege (gorodskoe blagoustrojstvo) der Stadt ein Gebot der Fürsorgepflicht gewesen, zumindest den Versuch einer solchen aktiven Wohnungspolitik zu unternehmen.105 Zudem hielt der Artikel 116 der Stadtverordnung von 1870 noch einmal ausdrücklich das „Recht“ der Kommunen fest, „im Namen der Stadt immobile und mobile Güter zu erwerben oder zu enteignen […]“ 106 Entsprechend wurden Forderungen nach einer aktiven „Grundstückspolitik“ laut, und zwar von denen, die die Wohnbedingungen in St. Petersburg am besten kannten. Fedor Ėrisman benannte bereits 1871 in seiner Untersuchung über die Petersburger Keller-‚wohnungen‘ den großflächigen Bau bezahlbarer Wohnungen als einzige Möglichkeit, dem Geschäft mit der Vermietung unbewohnbarer Keller ein Ende zu bereiten.107 Zum gleichen Fazit gelangte 30  Jahre später Mar’ja Pokrovskaja in einer ihrer zahlreichen 104 Vgl. Juchneva, Peterburgskie dochodnye doma, S. 135 – 137. 105 Die Verantwortung für die Förderung der Entwicklung des Gemeinwesens ist im Kapitel III der Stadtverordnung von 1870 detailliert festgehalten: PSZ II, Bd. 45, Teil 1, No. 48498: Vysočajše utverždennoe Gorodovoe Položenie, S. 832 – 834. 106 Ebd., Artikel 116, S. 834. 107 Vgl. Ėrisman, Podval’nyja žilišča v Peterburge, Archiv sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny 7 (1871), No. 4, S. 22.

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Veröffentlichungen über die Lebensbedingungen der Arbeiter in der russischen Hauptstadt.108 Grundlegende Kritik kam zudem von Vladimir Svjatlovskij und Matvej Dikanskij. Für beide war die Wohnungsfrage Teil der sozialen Frage, weshalb sie nur in einer „radikalen Veränderung der herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen“ 109 die Grundlage für eine nachhaltige Veränderung des Status quo erkennen konnten. Konkret bedeutete dies für sie die Überführung des gesamten Wohnungsbestands in genossenschaftlichen oder staatlichen Besitz.110 Beide erkannten zwar den Wert reformerischer Schritte wie der Forderung nach einer Steuer auf leerstehende Immobilien an – in erster Linie forderten sie jedoch eine Veränderung der Eigentumsverhältnisse ein, ohne die es keine Lösung der Wohnungsfrage in den Städten geben werde. Und auch Nikolaj Suchanov, der 1911 in seiner erwähnten Streitschrift das fehlende Bewusstsein der russischen Stadtverwaltungen für die Bedeutung einer aktiven Grundstückspolitik kritisierte, verwies unter Bezugnahme auf deutsche Städte ­darauf, dass Kommunen sich über eine Vergrößerung ihres Grundbesitzes eine bessere finanzielle Basis sowie die Möglichkeit einer aktiven Wohnungspolitik eröffnen könnten.111 „Jede Stadt“ müsse sich, so Suchanov, „bewusst sein, dass auch der unbedeutendste Fetzen Land, der heute an den Rändern der Stadt liegt und einen verschwindend geringen Wert hat, mit der Zeit eine entscheidende Rolle sowohl im städtischen Budget als auch in der ökonomischen Politik der Stadt spielen kann.“ Unter keinen Umständen dürften die Kommunen „auch nur einen Aršin oder einen Fußbreit städtischen Bodens“ veräußern, „unter ­welchen Bedingungen und zu welchem Preis auch immer.“ 112 Die Praxis sah in den meisten russischen Städten anders aus. Sowohl in ­Archangel’sk, das Gegenstand der Polemik Suchanovs war, als auch in St. Petersburg wurde der ohnehin begrenzte städtische Grundbesitz lange Zeit nur als Einkommensquelle gesehen. Archangel’sk hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen gewichtigen Teil seines Grund und Bodens verkauft, um auf diese Weise 108 Vgl. Pokrovskaja, Vopros o deševych kvartirach dlja rabočego klassa, S. 203. 109 So Dikanskij, Kvartirnyj vopros i social’nye opyty ego rešenija, S. 4. Eine ähnliche Formulierung findet sich in Svjatlovskij, Kvartirnyj vopros. Izbrannye glavy, in: ders., Žiliščnyj i kvartirnyj vopros v Rossi, S. 266 – 356, hier S. 352. 110 Dikanskij betont in erster Linie die Notwendigkeit einer Vergesellschaftung in Form von Genossenschaften, während Svjatlovskij ein entschiedenes Handeln des Staats einfordert. 111 Gimmer [Suchanov], Voprosy gorodskoj zemel’noj politiki, S. 2 f. 112 Ebd., S. 3.

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kurzfristig die eigenen Einnahmen zu erhöhen.113 Und in der russischen Hauptstadt entwickelte sich erst im Zuge der Zuspitzung der Wohnungskrise ein Bewusstsein dafür, dass städtischer Grundbesitz eine der wenigen Möglichkeiten der Kommunen darstellte, die Entwicklung der Stadt zu beeinflussen. Während die städtischen Besitzungen zunächst mittels Verkauf oder Vermietung nur dazu genutzt wurden, zusätzliche Einkünfte zu generieren, zog man sie ab den 1870er Jahren auch für die Strukturpolitik heran: Der städtische Besitz wurde als Absicherung für Kredite eingesetzt, um auf diese Weise wichtige Bauvorhaben realisieren zu können.114 Im März 1900 legte dann eine von der Duma gebildete Kommission, die sich mit dem kommunalen Grundbesitz und den aus ihm erzielten Einnahmen befasst hatte, ihren Bericht vor. Sie betonte die dringende Notwendigkeit, neuen, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, und appellierte an die Abgeordneten, das Thema „aus einer breiteren Perspektive zu betrachten.“ 115 Es sei an der Zeit für „die Forderung nach einer Änderung des Kurses“ 116, nur durch eine Vergrößerung des kommunalen Besitzes werde es gelingen, die zukünftige Entwicklung der Stadt aktiv mitgestalten zu können. Zugleich trat die Kommission Befürchtungen entgegen, dass eine ­solche Politik zwangsläufig höhere Ausgaben bedeuten werde: Sie verwies auf das Beispiel eines großen unbebauten Platzes auf der Insel Golodaj, den die Stadtverwaltung in den 1880er Jahren nicht erwerben wollte und der sich nun in Privatbesitz befand, während sein Wert zwischenzeitlich um das 8-fache gestiegen war.117 1904 wandte sich der Abgeordnete Vasilij Krivenko mit einer Erklärung an das Petersburger Stadtoberhaupt. Krivenko thematisierte den „offensichtlichen“ Umstand, dass die Stadt nur einen „äußerst unbedeutenden Bestand an Immobilien besitzt, um die vielfältigen Anforderungen zu befriedigen, die das Leben stellt. Zugleich steigt der Wert des Bodens mit jedem Jahr und es 113 Vgl. ebd., S. 4. 114 1875 geschah dies erstmals in größerem Rahmen: Für die Finanzierung des Baus der heutigen Litejnyj-­Brücke nahm die Stadt einen Kredit in Höhe von 2,9 Mio. Rubel auf, für den sie mit ihrem gesamten Besitz haftete. Vgl. Suchorukova, Peterburgskaja gorodskaja duma i problemy gradostroitel’stva, S. 91. 115 Bericht der podgotovitel’naja komissija o gorodskich nedvižimych imuščestvach i ­dochodnych stat’jach, in: ISPGOD, 1900, No. 10, S. 97 – 222, hier S. 108. Vorsitzender der Kommission war Alexander Nikitin, der wenige Jahre später eine grundlegende Arbeit über die zukünftige Entwicklung der Stadt vorlegte: Nikitin, Aleksandr, Zadači Peterburga, Sankt-­Peterburg 1904. 116 ISPGOD, 1900, No. 10, S. 110. 117 Vgl. ebd., S. 121 f.

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wird immer schwerer, ihn zu erwerben.“ 118 Dementsprechend sei es eine vordringliche Aufgabe, Grundstücke zu kaufen, „vor allem an den Rändern der Stadt.“ 119 Die Inventarkommission, an w ­ elche die Erklärung Krivenkos weitergeleitet wurde, schloss sich dessen Forderungen vollständig an. Sie legte dar, dass die freie Fläche städtischer Grundstücke in den letzten Jahren nicht nur nicht gewachsen, sondern durch den Bau von Bahnhöfen, Bahngleisen und anderer Infrastrukturprojekte vielmehr beständig kleiner geworden war. Dies erfordere eine „Kompensation durch den Ankauf privater Grundstücke, in den zentralen Stadtteilen und insbesondere an den Rändern der Stadt, wohin die Bevölkerung im Zuge der Entwicklung der Stadt naturgemäß strömt […].“ „Der steigende Wert des Bodens im Allgemeinen und insbesondere in den Städten“, so die Kommission weiter, verpflichtet die Stadtverwaltung, sich umgehend um den Erwerb mehr oder weniger freier Grundstücke zu kümmern, die nicht auf den Markt geworfen worden und nicht den unentwegten Spielen an der Börse ausgesetzt sind, gleichgültig, ob in den zentralen Stadtvierteln oder an den Rändern der Stadt, und sich hierbei daran zu erinnern, dass sich eine natürliche Entwicklung der Städte vor allem in letzteren, das heißt an den Stadträndern, wiederspiegelt, und dass für die Hauptstädte des Imperiums bereits die Zeit begonnen hat, in der die Vororte, die wie selbständige Einheiten entworfen sind, faktisch bereits völlig mit der Stadt verschmolzen sind und ein hauptstädtisches Leben führen. Jedes neue Grundstück wird für den städtischen Haushalt ein kräftiges Plus bedeuten, und deshalb sollte die Stadt unbedingt nicht nur Grundstücke erwerben, die zum Verkauf angeboten werden, sondern auch s­ olche, die aufgrund ihrer günstigen Lage oder aus anderen Gründen den Kauf wert sind.120

Das Anliegen Krivenkos und der Inventarkommission scheiterte, ebenso wie weitere entsprechende Vorstöße in den folgenden Jahren,121 an der Ablehnung der Stadtverwaltung sowie der Mehrheit der Dumaabgeordneten. Die 118 Die Erklärung Krivenkos findet sich in dem Bericht der Stadtverwaltung vom 03. 12. 1904, in: ISPGOD, 1904, No. 33, S, 2098 – 2104, hier S. 2098. 119 Ebd. 120 Ebd., S. 2098 f. 121 So sprach sich etwa der Vorsitzende der Sanitärkommission, Oppenheim, 1905 in einem ausführlichen Bericht über die Eck-‚wohnungen‘ St. Petersburgs nachdrücklich für die Schaffung bezahlbaren Wohnraums durch die Stadt aus. Vgl. ISPGOD , 1905, No. 30,

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Stadtverwaltung wandte sich dagegen, den Ankauf von Grundstücken „irgendwelchen Reglementierungen“ 122 zu unterwerfen. Ein „systematischer Kauf “ von Grund und Boden sei weder finanzierbar noch sinnvoll – vielmehr müsse jeder Einzelfall eingehend geprüft und jeweils ein konkreter Nutzen für die Stadt nachgewiesen werden. Die Abgeordneten schlossen sich dieser Position mehrheitlich an, was auch nicht zu verwundern vermag, setzte sich das Petersburger Stadtparlament doch zu einem gewichtigen Teil aus vermögenden Hausbesitzern zusammen.123 Erst im Zuge der Wahlrechtsreform 1903 wurde der Kreis der Wahlberechtigten auch auf Mieter ausgedehnt, allerdings nur auf die wohlhabendsten unter ihnen, die mindestens 33 Rubel Wohnungssteuer im Jahr zahlten.124 Dennoch führte diese Wahlrechtsreform zu einer Veränderung der Zusammensetzung der Petersburger Duma, vor allem in Gestalt der so genannten novodumcy. Sie wandten sich gegen die bisherige Dominanz der vermögenden Hausbesitzer, der starodumcy, und forderten ein entschiedeneres Vorgehen gegen die Wohnungskrise.125 Zu einer wirklich aktiven städtischen Grundstücks- und Wohnungspolitik kam es jedoch nicht mehr. Zwar machte die Exekutive im Zuge der Umsetzung des Stadtentwicklungsplans vom März 1880 wiederholt von ihrem Recht Gebrauch, Grundstücke zu enteignen, die dem Bau neuer Straßen, Gleise und anderen infrastrukturellen Maßnahmen weichen mussten. Dies führte regelmäßig zu Rechtsstreitigkeiten mit den Besitzern. Eine stringente Politik zur Milderung der Wohnungskrise blieb jedoch aus. Initia­ tiven einzelner Abgeordneter, die die zunehmende Wohnungsspekulation in der

S. 1129 – 1165. Die Stellungnahme Oppenheims erschien noch im gleichen Jahr als Publikation: ders., K voprosu ob ozdorovlenii gor. S.-Peterburga. 122 ISPGOD, 1904, No. 33, S, 2102. 123 Vgl. Bater, St. Petersburg, S. 353 – 360; Suchorukova, Peterburgskaja gorodskaja duma i problemy gradostroitel’stva, S. 23 – 28. 124 Dies setzte eine jährliche Miete von mindestens 1.080 Rubel voraus. Vgl. Položenie ob obščestvennom upravlenii Peterburga 8 ijunja 1903 g., Sankt-­Peterburg 1903, Artikel 17; Nardova, Peterburgskaja gorodskaja duma, S. 148. 125 Vgl. Nardova, Peterburgskaja gorodskaja duma, S. 150 – 160. Eine Auflistung der Abgeordneten der sich aus den novodumcy bildenden „Gruppe der Erneuerung“ für das Jahr 1910 findet sich in: Gruppa obnovlenija v Spb. Gorodskoj dume v 1910 godu. Sostavlen glasnyj Al. Pilenko, Sankt-­Peterburg 1911. Vgl. zur Rolle der novodumcy im Kontext der Entwicklung städtischer „lokaler Gesellschaften“ Hausmann, Gesellschaft als lokale Veranstaltung; Häfner, Gesellschaft als lokale Veranstaltung.

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Hauptstadt thematisierten, wurden als grundlos abgelehnt.126 Stattdessen blieb es bei symbolischen Gesten. So fasste die Duma im Vorfeld des 50-jährigen Jahrestags der Aufhebung der Leibeigenschaft 1911 den Beschluss, zwei städtische Häuser mit günstigen Wohnungen für insgesamt 1000 Menschen zu errichten.127 Bis 1914 wurde jedoch keines der beiden realisiert. Gleiches gilt für das im Zuge der Vorbereitungen des 300-jährigen Thronjubiläums der Romanovs 1913 proklamierte Vorhaben, entlang der Eisenbahnlinie nach Oranienbaum ein Dorf für knapp 500 Arbeiterfamilien zu schaffen. Auch diese Wohnstätten gab es bis zum Ausbruch des ­Ersten Weltkriegs nicht.128

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Abb. 3: Fassade und Grundriss der für 1913 geplanten Arbeiterwohnungen 

126 Vgl. etwa die Begründung der Stadtverwaltung zur erwähnten Erklärung des Abgeordneten Zmeev: ISPGOD, 1904, No. 23, S. 1432 – 1436 Vgl. ebenso die gleichfalls folgenlose Initiative des Abgeordneten Borodulin: ISPGOD, 1884, No. 12, S. 1206 f. 127 Vgl. ISPGOD, 1908, No. 42, S. 1398 f., und No. 46, S. 2103 f.; 1909, No. 31, S. 298 f. 128 Vgl. ISPGOD, 1913, No. 12, No. 29, S. 2708 – 2715. 129 Ebd., S. 2714.

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Stattdessen setzte die Duma im April 1913 eine „Kommission zur Untersuchung der Frage einer Beteiligung der Stadt im Kampf gegen die Wohnungsnot“ ein 130 – zu einem Zeitpunkt, als die Wohnungskrise bereits seit Jahrzehnten das Leben der Menschen in der Stadt prägte. So lässt sich als einziger „Aktivposten in der städtischen Wohnungspolitik“ 131 die Errichtung von Nachtasylen benennen, allerdings auch dies nur in begrenztem Umfang und mit großer Verzögerung, wie noch zu zeigen sein wird. Die Kritik, ­welche die Kommission zur Vorbereitung der Erinnerungsfeiern an das Manifest von 1861 bereits 1908 geübt hatte, hatte somit bis 1914 nichts von ihrer Gültigkeit verloren: „Die Stadtverwaltung“ habe, so die Kommission, in letzter Zeit begonnen, Maßnahmen zur Linderung der Armut in der Hauptstadt zu ergreifen, indem sie etwa vergünstigte oder teilweise sogar kostenlose Nahrungsmittel zur Verfügung gestellt hat. Jedoch hat die Stadtverwaltung zur Befriedigung eines nicht minder dringenden und empörenden Bedürfnisses dieser hauptstädtischen Armut bisher gar nichts unternommen – und dies ist der Bedarf an billigen und zumindest irgendwie den minimalen hygienischen und sanitären Standards genügenden Wohnungen.132

Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass es in St. Petersburg tatsächlich ein Wohnungsproblem, eine Wohnungsfrage gab. Ebenso wie in anderen Städten des Reiches wurde das Leben „mit jedem Tag teurer und teurer“ 133, und ein Bereich, in welchem dies für große Teile der Bevölkerung spürbar wurde, war das Wohnen. Die Symptome dieser Krise bestanden in einem stetigen Anstieg der Grundstücks- und Wohnungspreise und einer hierdurch bedingten Veränderung 130 Vgl. ISPGOD, 1913, No. 29, S. 2045, und No. 32, S. 282. 131 Steffens, Die Arbeiter von Petersburg, S. 164. 132 ISPGOD, 1908, No. 42, S. 1398. Jurij Kružnov spricht in ­diesem Zusammenhang von einer „Geringschätzung“ der kommunalen Abgeordneten für die Belange der Wohnungsmieter: Kružnov Istorija kvartirnogo voprosa, S. 109. 133 So die Feststellung der Redaktion der auf Stadtentwicklung spezialisierten Zeitschrift Gorodskoe delo (Städtische Angelegenheiten) im Editorial der ersten Ausgabe: Ot ­redakcii, in: Gorodskoe delo 1 (1909), S. 1 – 4, hier S. 2. Vgl. zur Entwicklung in anderen russischen Städten u. a. Pažitnov, Kvartirnyj vopros v Moskve i v Peterburge; Žiliščnyj krizis v Moskve, in: ebd. 4 (1912), No. 5, S. 332 f.; Soobščenija s mest. Odessa, in: ebd. 4 (1912), No. 4, S. 246 – 248; Kiškin, N., Žiliščnyj vopros v Moskve i bližajšija zadači v razrešenii ego gorodskoj dumy, in: ebd. 5 (1913), No. 5, S. 291 – 300, und No. 6, S. 351 – 360.

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der Bevölkerungsverteilung. Wer seine Unterkunft nicht mehr bezahlen konnte, musste entweder an die Ränder der Stadt oder in die Winkel, Keller, Dachböden und Notunterkünfte oder auf die Straßen der zentralen Viertel weichen. Die Verteuerung bewirkte also eine Verdrängung, und zwar sowohl in horizontaler wie in vertikaler Richtung. Betroffen waren hiervon alle, die dem Preisdruck nicht mehr standhalten konnten, d. h., in erster Linie die städtischen Unterschichten, aber zugleich begann die Krise, wie am Beispiel der sich verändernden Belegung der Nachtasyle noch gezeigt werden wird, auch weitere Teile der Bevölkerung Petersburgs zu erfassen. Für Matvej Dikanski hatte sich die Wohnungsfrage zu „einer der brennendsten Fragen der Gegenwart“ 134 entwickelt, andere zeitgenössische Beobachter sprachen von einem „Notstand“, der „den bedrohlichen Charakter einer Katastrophe“ 135 angenommen habe. Die Spirale aus Verteuerung und Verdrängung beginne sich, so war in Gorodskoe delo 1911 zu lesen, mit all ihren Konsequenzen auf weitere Teile der Stadt auszudehnen: „Auch an den Rändern wird sich bald dasselbe Übel der Zusammenballung und Verteuerung entwickeln, von dem die Bevölkerung glaubte, ihm durch die Flucht aus dem Zentrum entronnen zu sein.“ 136 Diese drastischen Urteile belegen den zentralen Stellenwert, der der Wohnungsfrage zeitgenössisch beigemessen wurde, und weisen zugleich über St. Petersburg hinaus, sah doch die Situation in anderen Städten Europas nicht grundlegend anders aus. Friedrich Lenger spricht denn auch davon, dass sich „für die Zeitgenossen des später 19. Jahrhunderts in den Wohnungsverhältnissen fast alle Probleme der Großstadt überhaupt“ 137 bündelten. Ursächlich für den Mangel an bezahlbarem Wohnraum in St. Petersburg war die Struktur des Wohnungsmarkts, der sich am Ende des 19. Jahrhunderts zu großen Teilen in privater Hand befand und auf dem sich das Mietverhältnis zur dominierenden Wohnform entwickelt hatte. Durch die Transformation des Wohneigentums zu einer Ware war das Aufkaufen, Verkaufen und Vermieten von Immobilien zu einem einträglichen Geschäft geworden, und die Wohnungsspekulation tat ein Übriges, um die Preise weiter in die Höhe zu treiben. Selbst Fachleute wie der erwähnte Sanitärarzt Grigorij Archangel’skij, revolutionärer 134 Dikanskij, Kvartirnyj vopros i social’nye opyty ego rešenija, S. 1. 135 Polupanov, A., K kvartirnomu krizisu Peterburga, in: Gorodskoe delo 5 (1913), S. 1350 – 1357, hier S. 1350. 136 Pažitnov, K., Naselenie Peterburga po perepisi 15 dekabrja 1910 g., in: Gorodskoe delo 3 (1911), N. 4, S. 338 – 340, hier S. 340. 137 Lenger, Metropolen, S. 20.

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Umtriebe sicherlich unverdächtig, sprachen angesichts dieser Situation davon, dass die Hausbesitzer die „Herren der Stadt“ 138 s­ eien. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die jahrelange Weigerung der Stadt, das Problem überhaupt zur Kenntnis zur nehmen. Zu spät setzte bei einem Teil der Dumaabgeordneten ein Umdenken ein, die Frage des städtischen Grundbesitzes nicht mehr allein unter fiskalischen Gesichtspunkten zu betrachten. Zu einer wirklichen Bekämpfung der Wohnungsnot führte dies jedoch nicht mehr. Für die Betroffenen, die in den Kellern, Ecken oder auf den Straßen der Hauptstadt lebten, war die Wohnungsfrage ein im wahrsten Sinne des Wortes existentielles Thema. Zugleich waren sie in der schwächsten Position, das Problem selbst beeinflussen zu können – die Rahmenbedingungen gestalteten andere. Ob es dennoch Initiativen gab, aktiv auf die prekären Wohnbedingungen zu reagieren, und wie die Menschen in den Slums der Hauptstadt lebten, wird Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Zunächst soll jedoch in einem Exkurs eine Frage diskutiert werden, die mit Blick auf St. Petersburg bisher nicht gestellt wurde, sich aber angesichts der skizzierten Spirale aus Verteuerung und Verdrängung geradezu aufdrängt: Inwieweit entsprechen die skizzierten Prozesse auf dem Wohnungsmarkt der russischen Metropole am Ende des 19. Jahrhunderts dem, was heute als Gentrifizierung bezeichnet wird? Und lassen sich s­ olche Entwicklungen zeitgenössisch auch in anderen europäischen Großstädten finden?

3.2. Exkurs: Gentrifizierung in historischer Perspektive? St. Petersburg, Wien und London Der Begriff „Gentrifizierung“ in seiner heutigen Bedeutung geht auf die britische Soziologin Ruth Glass zurück. In einer Studie über die sozialen Veränderungen in den Londoner Innenstadtbezirken schrieb sie 1964: One by one, many of the working class quarters of London have been invaded by the middle classes – upper and lower. Shabby, modest mews and cottages – two rooms up and two down – have been taken over, when their leases have expired, and have become elegant, expensive residences. […] The current social status and value of 138 Archangel’skij, Žizn’ v Peterburge po statističeskim dannym, No. 3, S. 128.

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such dwellings are frequently in inverse relation to their size, and in any case enormously inflated by comparison with previous levels in their neighbourhoods. Once this process of ‚gentrification‘ starts in a district, it goes on rapidly until all or most of the original working class occupiers are displaced, and the whole social character of the district is changed.139

Der Prozess, den Glass beschrieb, war der eines Wandels der sozialen Zusammensetzung früherer Arbeiterwohngebiete in London, hervorgerufen durch den Zuzug wohlhabenderer Bewohner, der zu einer Aufwertung der Gegend und der Verdrängung der bisherigen Bevölkerung führte. Gentrification leitet sich von der Bezeichnung gentry für den englischen niederen Adel ab und attestiert den neuen Bewohnern der Viertel einen Habitus, der sich an dem privilegierten Leben der ländlichen Aristokratie orientiert.140 Inzwischen hat er sich nicht nur zu einem politischen Schlagwort, sondern auch zu einem Konzept in der Forschungslandschaft entwickelt. Eine Schwierigkeit der Gentrifizierungsforschung besteht bis heute darin, dass es eine Reihe von Definitionen gibt, die, abhängig von den jeweiligen theoretischen Vorannahmen, den Begriff unterschiedlich fassen.141 Der Soziologe Jürgen Friedrichs hat in ­diesem Kontext für eine einfache und breit angelegte Definition plädiert, da ein zu enges Verständnis die Anwendbarkeit des Konzepts zu stark einschränke. Eine offenere Definition biete demgegenüber den Vorteil, Prozesse synchron wie diachron mit einer größeren Reichweite verfolgen zu können.142 139 Glass, Ruth, London. Aspects of Change, London 1964, S. XVIII f. 140 Vgl. in ­diesem Sinne auch: Lees, Loretta/Slater, Tom/Wyly, Elvin (Hg.), Gentrification, London, New York 2008, S. 4 f. 141 Vgl. hierzu die Debatte über den schleichenden Verlust des kritischen Potentials der Gentrifizierungsforschung in: International Journal of Urban and Regional Research 32 (2008), No. 1, S. 179 – 223, die Beiträge im ersten Teil (Defining Gentrification) in: Lees, Loretta/ Slater, Tom/Wyly, Elvin (Hg.), The Gentrification Reader, London, New York 2010, S. 1 – 31, sowie Holm, Andrej, Gentrification, in: Eckardt, Frank (Hg.), Handbuch Stadtsoziologie, Wiesbaden 2012, S. 661 – 687, und Hannemann, Christine, Stadtsoziologie, in: Mieg, Harald A./Heyl, Christoph (Hg.), Stadt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar 2013, S. 64 – 87, hier S. 70 – 72. Zur Entwicklung und Etablierung des Begriffs bis 1990 jetzt ­Templin, David, Gentrification. Aufstieg eines Deutungsmusters in Großbritanien, den USA und Westdeutschland, 1964 – 1990, in: Moderne Stadtgeschichte 2 (2017), S. 49 – 66. 142 Friedrichs, Jürgen, Gentrification. Forschungsstand und methodologische Probleme, in: ders./Kecskes, Robert (Hg.), Gentrification. T ­ heorie und Forschungsergebnisse, Opladen

Exkurs: Gentrifizierung in historischer Perspektive?

Friedrichs schlägt deshalb eine vergleichsweise einfache Bestimmung des Begriffs vor: „Gentrification ist der Austausch einer statusniedrigeren Bevölkerung durch eine statushöhere Bevölkerung in einem Wohngebiet.“ 143 Eine s­ olche, auf zentrale Elemente reduzierte Definition hat sich mittlerweile in weiten Teilen der Forschung etabliert 144 und soll als Grundlage für die folgende Einordnung der Entwicklung in St. Petersburg sowie in Wien und London ­zwischen 1850 und 1914 dienen. Der zeitliche Fokus der Gentrifizierungsforschung lag bisher nahezu ausschließlich auf der Analyse (post)moderner Gesellschaften nach 1945. Was damit nicht geleistet wurde, ist eine Untersuchung der Frage, ob sich Gentrifizierungsprozesse auch in einer historischen Perspektive nachweisen lassen – ob es sich also, anders formuliert, um Vorgänge sozialräumlicher Differenzierung handelt, die bereits in vorhergehenden Jahrhunderten existierten und denen somit eine längerfristige Bedeutung zukommt als bisher angenommen. Während die Heraus­geber des Gentrification Reader entsprechende Überlegungen für vernachlässigbar erklären, indem sie die Benennung des Begriffs durch Ruth Glass 1964 zugleich als Ausgangspunkt des Phänomens als solches ansehen und eventuell doch nachweisbaren früheren Gentrifizierungserscheinungen attestieren, dass diese „certainly have little import into those discussions of gentrification that focus on the transition to post-­industrial cities, a post-­industrial age and the emergence of a new middle class“ 145, vertritt der nicht minder einschlägig ausgewiesene Humangeograph Eric Clark eine andere Position. Ähnlich wie Friedrichs argumentiert er gegen ein zu enges Verständnis des Gentrifizierungsbegriffs und kritisiert einen Teil der Forschung als zu einseitig auf angloamerikanische Phänomene konzentriert, was ihre Übertragung auf andere Kontexte behindere.146 Die Offenheit der Forschungsperspektive, die er einfordert, 1996, S. 13 – 41, hier S. 14 f., 39 f. 143 Ebd. S. 14. 144 Vgl. u. a. Lees/Slater/Wyly, Gentrification, S. XV ; Breckner, Ingrid, Gentrifzierung im 21. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 17 (2010), S. 27 – 33, hier S. 27, URL: https://www.bpb.de/apuz/32813/gentrifizierung-­im-21-jahrhundert?p=all (letzter Aufruf am 28. 10. 2018); Holm, Gentrification, S. 662. 145 Lees/Slater/Wyly, The Gentrification Reader, S. 5. 146 Clark, Eric, The Order and Simplicity of Gentrification − a Political Challenge, in: A ­ tkinson, Rowland/Bridge, Gary (Hg.), Gentrification in a Global Context. The New Urban Colonialis, London, New York 2005, S. 256 – 265.

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bezieht Clark auch auf die historische Dimension: Unter Verweis auf Friedrich Engels’ Untersuchungen über die englische Arbeiterklasse 147 sowie auf George-­ Eugène Baron Haussmanns radikale Umgestaltung des städtischen Raums in Paris verortet er den Beginn nachweisbarer Gentrifizierungsprozesse bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts.148 Nach wie vor gibt es jedoch kaum Untersuchungen, in denen die Feststellung Clarks über die historische Reichweite des Gentrifizierungskonzepts einer näheren Überprüfung unterzogen wird.149

St. Petersburg Auch für die russische Hauptstadt St. Petersburg ist diese Frage bisher nicht gestellt worden. Und in der Tat ist ein Gentrifizierungsprozess angesichts des engen Nebeneinanders von Arm und Reich auf den ersten Blick nicht erkennbar. Betrachtet man zunächst die Entwicklung der gesamten Stadt im oben untersuchten Zeitraum und misst sie an der Definition von Friedrichs, so lässt sich eine Verdrängung der statusniedrigeren Bevölkerung sicherlich feststellen. Diese verlief, wie gezeigt, sowohl horizontal als auch vertikal, was aber zugleich bedeutet, dass in den meisten Stadtteilen St. Petersburgs kein kompletter Austausch der Bevölkerung stattfand, da die Menschen, indem sie auf die Dachböden oder in die Keller und Ecken auswichen, oft im gleichen Viertel blieben. Von Gentrifizierung lässt sich also gemäß der Definition von Friedrichs (oder auch von Ruth Glass) nicht sprechen – was aber zugleich die Frage aufwirft, wie diese 147 Engels, Friedrich, Die Lage der arbeitenden Klasse in England nach eigner Anschauung und authentischen Quellen, Leipzig 1845. 148 Vgl. in ­diesem Sinne auch Smith, Neil, The New Urban Frontier. Gentrification and the Revanchist City, London, New York 1996, S. 34 – 40. 149 Für eine erste, vergleichende Analyse sei auf meinen folgenden Aufsatz verwiesen: Gentrifizierung in historischer Perspektive? Aufwertung und Verdrängung in Sankt Petersburg, Wien und London (1850 – 1914), in: Schulz, Günther (Hg.), Arm und Reich. Zur gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheit in der Geschichte, Stuttgart 2015, S. 177 – 207. Vor allem Wien stellt in d ­ iesem Zeitraum mit seiner „doppelte[n] Faltung“ (Maderthaner, Wolfgang/Musner, Lutz, Die Anarchie der Vorstadt. Das andere Wien um 1900. 2. Aufl., Frankfurt/Main 2000, S. 51) des städtischen Terrains ein geradezu idealtypisches Beispiel eines Gentrifizierungsprozesses dar. Vgl. hierzu jetzt auch: Harmat, Ulrike, Die Wohnungsfrage als Teil der „sozialen Frage“ am Beispiel Wiens 1848 – 1914, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2/2014, S. 52 – 62.

Exkurs: Gentrifizierung in historischer Perspektive?

Entwicklung dann zu bezeichnen ist. Die Antwort hierauf hängt davon ab, was man als den Kern von Gentrifizierung begreift. Ist es die komplette sozialräumliche Veränderung eines Viertels, dann trifft dies auf St. Petersburg größtenteils nicht zu. Nimmt man hingegen die Verdrängung als das zentrale Element des Begriffs,150 dann ist das Bild nicht mehr so eindeutig: Verdrängung gab es wie gezeigt auch in der Metropole an der Neva, der Unterschied besteht nur in der Himmelsrichtung, in ­welche sie sich entwickelte. Zudem wäre dann noch einmal daran zu erinnern, dass die vertikale Segregation in erster Linie eine Folge der strukturellen Alternativlosigkeit war: Die Stadtränder waren auch in St. Petersburg in den meisten Gegenden billiger als das Zentrum, und es spricht viel für die Annahme, dass deutlich mehr Menschen dorthin ausgewichen wären, wenn sie gekonnt hätten – allein: Aufgrund des ungenügend entwickelten und für viele nicht bezahlbaren öffentlichen Nahverkehrs stellte sich diese Alternative für den Großteil der Bevölkerung nicht. Die Menschen hatten keine andere Wahl, sie konnten sich nicht allzu weit von ihrem Arbeitsplatz entfernen.151 Ist dies dann aber ein grundlegend anderer Prozess? Wenn ja, wäre darüber nachzudenken, wie er sich stattdessen bezeichnen ließe. Oder verweist der Fall St. Petersburgs im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert vielmehr drauf, dass die bisherigen Definitionen von „Gentrifizierung“ nicht nur zeitlich, sondern auch geographisch zu eng gefasst sind? Erinnert sei noch einmal an die Kritik von Eric Clark, dass ein Teil der Gentrifizierungsforschung zu einseitig auf angloamerikanische Phänomene konzentriert sei, was ihre Übertragung auf andere Kontexte behindere.152 Das Beispiel der hier untersuchten russischen Hauptstadt bestätigt diese Beobachtung: Nimmt man die Verdrängung einer statusniedrigeren durch eine statushöhere Bevölkerungsgruppe als den Kern von Gentrifizierung, dann entspricht St. Petersburg nur deshalb nicht dem Muster, weil die Möglichkeiten 150 So u. a. Peter Marcuse: „Verdrängung ist das Wesen der gentrification, ihr Ziel, nicht ein unerwünschter Nebenffekt.“ (Ders., Gentrification und die wirtschaftliche Umstrukturierung New Yorks, in: Helms, Hans G. (Hg.), Die Stadt als Gabentisch. Beobachtungen ­zwischen Manhattan und Berlin-­Marzahn, Leipzig 1992, S. 80 – 91, hier S. 80.) Vgl. ebenso: Holm, Andrej, Zeitschleife Kreuzberg. Gentrification im langen Schatten der „Behut­samen Stadterneuerung“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-­Ausgabe, 11 (2014), H. 2, URL: http://www.zeithistorische-­forschungen.de/2 – 2014/ id=5105 (letzter Aufruf am 28. 10. 2018), Druckausgabe: S. 300 – 311. 151 Vgl. diese Feststellung ebenso bei Malinova-­Tziafeta, Iz goroda na daču, S. 69 – 74. 152 Vgl. Clark, The Order and Simplicity of Gentrification.

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der Mobilität nicht so weit entwickelt waren wie etwa in London. Blickt man auf die bisher unter dem Begriff „Gentrifizierung“ verhandelten Städte, so lässt sich eine Dominanz US-amerikanischer und westeuropäischer Beispiele kaum bestreiten.153 So betrachtet, sollte der Fall St. Petersburg Anlass dazu geben, über ein bisher zu westzentriertes Verständnis des Begriffs und über die Notwendigkeit neuer Definitionen nachzudenken, die auch den Entwicklungen jenseits des nordwestlichen Teils der Welt gerecht werden. Hinzu kommt, dass sich das Bild weiter differenziert, wenn man nicht die gesamte Stadt, sondern einzelne Viertel in den Blick nimmt. So setzte, wie skizziert, auf der Petersburger Seite mit der Eröffnung der festen Verbindung ins Zentrum ab 1903 rund um den Kamennoostrovskij prospekt eine rege Bautätigkeit ein, die nicht nur das Antlitz der Häuser, sondern auch die soziale Zusammensetzung der Gegend innerhalb weniger Jahre rasant veränderte. Dieses „Baufieber“ 154 (Stroitel’naja gorjačka) stand im Gegensatz zum allgemeinen Wohnungsmangel in der Stadt, führte jedoch nicht zu dessen Linderung, sondern verschärfte die Situation vielmehr noch weiter. Inseriert wurden halbfertige Häuser, die entgegen den gesetzlichen Bestimmungen innerhalb kürzester Zeit hochgezogen wurden 155 und von denen nicht wenige auf Kredit gebaut waren und damit im Grunde den Banken gehörten. In der Enzyklopädie von Brockhaus und Ėfron wurde bereits 1895 davor gewarnt, dass ein solcher Bauboom sehr anfällig für eine Immobilienkrise sei.156 Die Bauherren kümmerte dies wenig – sie versuchten in erster Linie, vom Wandel der Gegend zu einem „prestigeträchtige[n] Viertel“ 157 zu profitieren. Wie Matvej Dikanskij zutreffend feststellte, wurde nicht dort gebaut, wo der größte Bedarf bestand, sondern dort, wo die größten Gewinne zu erwarten waren.158 Nicht zufällig etablierte sich um die Jahrhundertwende ein neuer Begriff für die immer zahlreicher werdenden Mietwohnungen: dochodnye 153 Als eine erste Untersuchung, die hierüber hinausgeht, kann jetzt genannt werden: Röttjer, Julia/Kusber, Jan, Europe’s only Megacity. Urban Growth, Migration and Gentrification in 21st Century Moscow, in: Petersen, Spaces of the Poor, S. 209 – 237. 154 So eine zeitgenössische Charakterisierung aus dem Jahr 1903, hier zitiert nach Juchneva: Peterburgskie dochodnye doma, S. 26. 155 Vgl. ebd., S. 52 – 55. 156 Ja., A., Kvartirnyj vopros, in: Ėnciklopedičeskij slovar’ Brokgauza i Ėfrona, Bd. 14a, S. 854. 157 Tiščenko, Tri veka Petogradskoj storony, S. 23. 158 Vgl. Dikansikj, Kvartirnyj vopros i social’nye opyty ego rešenija, S. 8. Vgl. diese Feststellung auch bei Schlögel, Petersburg, S. 77.

Exkurs: Gentrifizierung in historischer Perspektive?

doma, abgeleitet vom Substantiv dochod (Gewinn, Ertrag).159 Zugleich führten die rasch steigenden Mietpreise dazu, dass immer mehr Immobilien gekauft und in Eigentumswohnungen umgewandelt wurden.160 Entlang des Kamennoostrovskij prospekt entstanden ‚angesagte‘ Restaurants,161 und Investoren erwarben Eigentum, um auf hohe Renditen zu spekulieren. Weichen mussten ­diesem Boom die vorher dort stehenden eingeschossigen Holzhäuser. Für deren Bewohner wurde die Gegend innerhalb weniger Jahre unbezahlbar, und auch wenn sich nicht das gesamte Viertel änderte, so verschob sich die soziale Zusammensetzung der Einwohnerschaft doch spürbar. Für wohlhabende Kaufleute, Akademiker, Lehrer oder Ärzte wurde es attraktiv, auf der Petersburger Seite und zugleich in der Nähe des ‚eigentlichen‘ Zentrums zu wohnen – die übrige Bevölkerung musste in die verbliebenen Ecken und Keller oder in weiter entfernte Gebiete ausweichen.162 Bezeichnenderweise spricht Alexander Suknovalov davon, dass nun auch auf der Petersburger Seite „eigene Ränder“ 163 entstanden. Nimmt man diese Entwicklung und misst sie an der Definition von F ­ riedrichs, so wird man kaum umhin kommen, sie als den Beginn eines Gentrifizierungsprozesses zu charakterisieren. Eine statusniedrigere Bevölkerung wurde durch eine statushöhere verdrängt und sukzessive ‚ausgetauscht‘. Allein die ab 1917 einsetzenden grundlegenden Umbrüche in der gesellschaftlichen Ordnung verhinderten, dass sich dieser Wandel fortsetzte, so dass es eine hypothetische Frage bleiben muss, ob sich mittelfristig die gesamte Zusammensetzung der Gegend gewandelt hätte. Bis zum Beginn der Zäsuren entwickelte sie sich jedenfalls in diese Richtung. Zu prüfen wäre zudem, ob auch in anderen Teilen der Stadt ähnliche Verschiebungen vonstattengingen. So sprechen Galina Nikitenko und Vitalij Sobol’ für die Vasilij-­Insel von einem „Bauboom“ 164 um die Jahrhundertwende, der zu einem Vordringen fünf- bis sechsstöckiger steinerner Häuser über den Bol’šoj prospekt und über die 12. Linie hinaus geführt habe. Und auf der Vyborger Seite 159 Vgl. Tiščenko, Tri veka Petogradskoj storony, S. 22. 160 Vgl. ebd. 161 Vgl. Zasosov/Pyzin, Iz žizni Peterburga, S. 28. 162 Vgl. Lur’e, Lev, Ėvolucija charaktera naselenija Petersburgskoj storone rubeža XIX – X X veka, in: Lur’e/Kobak, Petrogradskaja storona, S. 13 – 16; Nikitenko/Privalov, P ­ etrogradskaja storona. Bol’šoj prospekt, S. 23 – 28. 163 Suknovalov, Petrogradskaja storona, S. 40. 164 Nikitenko/Sobol’, Doma i ljudi, S. 18.

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weist der Wandel, der sich ab den 1880er Jahren im südwestlichen Gebiet am Beginn der Großen Neva vollzog, gewisse, wenn auch nicht so weit entwickelte Parallelen zu den Veränderungen auf der Petersburger Seite auf. Insgesamt lässt sich die Frage nach Gentrifizierungsprozessen in der russischen Hauptstadt an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert somit nicht pauschal verneinen. Zumindest partiell hatte eine ­solche Entwicklung bereits eingesetzt, und für die Stadt als Ganzes hängt die Antwort von der Definition des Begriffs ab, der bisher nahezu ausschließlich vor der Folie westeuropäischer und US-amerikanischer Beispiele entwickelt wurde. Aufwertung und Verdrängung gab es jedenfalls auch in St. Petersburg, an vielen Orten der Stadt. Weitet man nun den Blick über St. Petersburg hinaus und fragt danach, ob das Konzept der Gentrifizierung auch für andere Großstädte Europas in ­diesem Zeitraum erkenntnisfördernd sein könnte, so bietet sich ein Vergleich St. Petersburgs mit Wien und London an. Alle drei Städte besaßen strukturelle Gemeinsamkeiten: Es handelt sich um Hauptstädte multiethnischer Imperien, denen eine innen- wie außenpolitisch zentrale Funktion zukam. Die in ihnen stattfindenden Entwicklungen waren von großer Bedeutung für den jeweiligen gesamtstaatlichen Zusammenhang, weshalb im Folgenden das Potential eines solchen Vergleichs am Beispiel der Frage nach Gentrifizierungsprozessen exemplarisch aufgezeigt werden soll.

Wien Die Entwicklung der österreichischen Hauptstadt verlief auf den ersten Blick denkbar anders als jene St. Petersburgs. Mit einer Historie, die bis in die keltische und römische Zeit zurückreicht, war Wien seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert Sitz der Habsburgerdynastie, seit 1365 Universitätsstadt und erlangte infolge der zweimaligen Belagerung durch Truppen des Osmanischen Reichs 1529 und 1683 zentrale strategische Bedeutung weit über seine Grenzen hinaus.165 Der letztgenannte Punkt hinterließ dabei sichtbare Spuren in der Ordnung des städtischen Raums und seines Umfelds: Noch Mitte des 19. Jahrhunderts war die Altstadt 165 Für einen Überblick über die Geschichte Wiens sei verwiesen auf Csendes, Peter/Opll. Ferdinand (Hg.), Wien. Geschichte einer Stadt. 3 Bände. Wien, Köln, Weimar 2001; weiterhin: Bled, Jean-­Paul, Wien. Residenz – Metropole – Hauptstadt, Wien, Köln, Weimar 2002.

Exkurs: Gentrifizierung in historischer Perspektive?

Wiens von einer Stadtmauer umgeben, vor der sich mit dem Glacis eine Ebene erstreckte, die der besseren Verteidigung der Stadt dienen sollte. An das Glacis schlossen sich die Vorstädte an, ­welche wiederum vom Linienwall geschützt wurden. Jenseits ­dieses Walls lagen die Landsitze des Adels, die sich sukzessive entwickelnden Vororte Wiens sowie große, noch unbebaute Landflächen. Die gesamte Anlage der Stadt und ihres Umfelds glich somit einer Festung und war in mehrere, klar voneinander separierte Abschnitte unterteilt. Zugleich lassen sich mit Blick auf das 19. Jahrhundert auch einige Parallelen zur russischen Hauptstadt ausmachen. Ebenso wie in St. Petersburg war es das Jahrhundert der Industrialisierung, wobei diese in Wien in der ersten Jahrhunderthälfte und somit einige Jahrzehnte früher einsetzte. Die großen Fabriken siedelten sich vor allem in den Vorstädten und Vororten Wiens an, was analog zur Entwicklung an der Neva mit einem starken Anstieg der Bevölkerung einherging: Tabelle 10: Einwohnerzahl Wiens, 1840 – 1918 166 Jahr

Einwohnerzahl

1840

440.000

1870

843.000

1890

1.342.000

1910

2.005.000

1918

2.238.000

Die Tabelle zeigt, dass die Bevölkerungsentwicklung Wiens in etwa derjenigen St. Petersburgs entsprach und sowohl um die Mitte des Jahrhunderts als auch an der Wende zum 20. Jahrhundert ähnliche absolute Zahlen erreicht wurden wie in der russischen Hauptstadt. Zudem führte das rasante Wachstum zu einer Verstärkung des multiethnischen Charakters der Einwohnerschaft, wobei für die österreichische Metropole vor allem die zahlreichen tschechischen Arbeitsmi­ granten sowie die expandierende jüdische Gemeinde zu nennen sind.

166 Tabelle nach: Lichtenberger, Elisabeth, Wachstumsprobleme und Planungsstrategien von europäischen Millionenstädten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Das Wiener Beispiel, in: Jäger, Helmut (Hg.), Probleme des Städtewesens im industriellen Zeitalter, Köln, Wien 1978, S. 197−220, hier 201.

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Für die Frage nach einem Gentrifizierungsprozess sind vor allem zwei Punkte von entscheidender Bedeutung: die Transformation des historischen Stadtkerns zu einer Dienstleistungscity einerseits sowie die Eingemeindung der Vorstädte und der Bau der Ringstraße andererseits. In der Kombination führten sie zu einer deutlichen zonalen Verschiebung der Wiener Bevölkerung und zu einer zunehmenden sozialräumlichen Segregation. Die Wiener Altstadt entwickelte sich, parallel zur verstärkten Ansiedlung von Industriebetrieben an den Rändern der Stadt, ab der Mitte des 19. Jahrhunderts immer mehr zum Standort für Dienstleistungsbetriebe. Das Stadtzen­ trum versprach angesichts des noch in den Anfängen steckenden Ausbaus des Personennahverkehrs (bis 1865 Kutschen und Pferdeomnibusse, danach auch schienengebundene Pferdestraßenbahnen) den höchsten Kundenverkehr und damit die besten Aussichten auf Umsatzsteigerungen. Dies führte zu einem Prozess der „Nutzungshomogenisierung“ 167 in weiten Teilen der Altstadt, indem bis auf wenige Ausnahmen die bisher dort bestehenden Wohnverhältnisse durch Dienstleistungsbetriebe verdrängt wurden, ­welche deutlich höhere Preise zahlen konnten als private Mieter. Befördert wurde dieser Prozess der Citybildung durch die Eingemeindung der Vorstädte und die Schleifung der Stadtmauer. 1850 wurden die 34 z­ wischen Altstadt und Linienwall liegenden Vorstädte eingemeindet und zu sieben (ab 1861 acht) neuen Innenbezirken zusammengefasst.168 Und 1858 begannen die Abbrucharbeiten an der Stadtmauer, die bis Ende 1862 vollständig demoliert wurde. An ihrer Stelle entstand die Ringstraße, deren erster Abschnitt 1865 eingeweiht wurde. Diesen grundlegenden Veränderungen der Stadtstruktur waren langwierige Debatten vorausgegangen, in deren Verlauf von verschiedenen Seiten Bedenken geäußert wurden. Das Militär widersetzte sich dem Abriss der Befestigungsanlage unter Verweis auf die Kontrollmöglichkeiten über den Wiener Stadtraum, die man damit preisgeben würde. Hinzu kamen die Ängste vor einem Statusverlust beim wohlhabenden Bürgertum und konservativen Kreisen angesichts

167 Banik-­Schweitzer, Renate, Zur sozialräumlichen Gliederung Wiens 1869 – 1934, Wien 1982, S. 14 f. 168 Vgl. für eine detaillierte Auflistung der administrativen Umgestaltungen John, Michael, Wohnverhältnisse sozialer Unterschichten im Wien ­Kaiser Franz Josephs, Wien 1984, S. 248 f.

Exkurs: Gentrifizierung in historischer Perspektive?

der Angliederung von Bezirken mit einer deutlich zahlreicheren, ärmeren und politisch unruhigeren Bevölkerung.169 Die Bewohner der Vorstädte selbst fürchteten hingegen vor allem steigende Mieten und höhere Lebenshaltungskosten als Folge der Eingemeindung.170 Kaiser Franz Joseph setzte sich über diese Bedenken hinweg und verkündete per Erlass am 20. Dezember 1857 den Entschluss zum Abriss der Stadtmauer und zur „Verschönerung Meiner Residenz- und Reichshauptstadt“ 171. Am 30. Januar 1858 wurde ein Wettbewerb zur Gestaltung der Ringstraße ausgeschrieben, wobei als zentrale Aufgabe der Stadterweiterung die bessere Verbindung der Altstadt mit den Vorstädten genannt wurde. Leitlinie sollte es sein, „den gegebenen Raum […] in der Art zu disponieren, dass die Neubauten sich sowohl an die innere Stadt, mit Bedachtnahme auf eine thunlichst anzustrebende Regulierung derselben, als auch an die Vorstädte organisch anschließen“. Dies solle „mit Rücksicht auf die praktischen Bedürfnisse der Bevölkerung in technischer und künstlerischer Beziehung“ 172 geschehen. Im Ergebnis entstand mit der Ringstraße ein die Altstadt halbkreisförmig umschließender Prachtboulevard von über 50 Metern Breite, der beiderseits von Baumreihen flankiert wurde. Er wurde zum Sitz repräsentativer neuer Bauten wie des Parlaments, der Börse und der Hofoper, und zugleich zum Ort der Häuser der „zweiten Gesellschaft“ 173 Wiens, des wohlhabenden Großbürgertums. Felix Czeike hat die Ringstraße vor ­diesem Hintergrund treffend als die „Selbstdarstellung einer Epoche“ 174 bezeichnet. Neben der Symbolkraft, die dem Prachtboulevard zweifellos zukam, führte sein Bau zu einer weiteren Verschiebung der Wiener Bevölkerung, die mit dem Citybildungsprozess im historischen Stadtkern ja bereits begonnen hatte. An 169 Vgl. zu den Debatten um die Erweiterung des Stadtraums Bled, Wien, S. 146 – 148; C ­ sendes/ Opll, Wien, Band 3, S. 66 f. 170 Vgl. Lichtenberger, Wachstumsprobleme, S. 202 f. 171 Wiener Zeitung, 25. 12. 1857, URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-­content/anno?apm=0&aid= wrz&datum=18571225&seite=1&zoom=2 (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 172 Wiener Zeitung, 31. 01. 1858, URL: http://anno.onb.ac.at/cgi-­content/anno?apm=0&aid= wrz&datum=18580131&seite=4&zoom=2 (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 173 Vgl. zu dem Begriff Bled, Wien, S. 232 – 237. 174 Czeik, Felix, Probleme Wiens in der Ringstraßenära, in: Wilhelm Rausch (Hg.), Die Städte Mitteleuropas im 19. Jahrhundert, Linz 1983, S. 127 – 139, hier 130; vgl. auch Czeike, Felix, Wachstumsprobleme in Wien im 19. Jahrhundert, in: Jäger (Hg.), Probleme des Städtewesens, S. 229 – 273.

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der Ringstraße ließen sich große Teile des Adels und des Großbürgertums nieder, die sich das Wohnen in der Altstadt nicht mehr leisten konnten.175 Zugleich erfolgte eine Sanierung und Aufwertung der nun eingemeindeten und direkt mit der City verbundenen Vorstädte. Sie wurden zum Wohngebiet der vormals in der Altstadt ansässigen Mittelschicht, die weder dem Preisdruck in der City noch dem Residieren an der Ringstraße standhalten konnte.176 Ein „Überspringen“ der Vorstädte und die Niederlassung auf den unbebauten Flächen jenseits des Linienwalls, also ein Prozess der Suburbanisierung, wie er beispielsweise in London stattfand, stellte angesichts des bestehenden Personennahverkehrs keine Alternative dar – die ab 1865 verkehrende Pferdestraßenbahn befand sich in privater Hand und war mit ihren für den Alltag zu hohen Tarifen in erster Linie auf den Freizeitverkehr ausgerichtet. Zudem erscheint es in Anbetracht der erst wenige Jahre zurückliegenden revolutionären Ereignisse von 1848 sowie den im Vorfeld des Schleifens der Stadtmauer geäußerten Bedenken plausibel, dass ein Mittelschichtsgürtel ­zwischen den Luxuswohnungen der Ringstraße und den Arbeiterwohngebieten auch politisch gewollt war. Letztere Gruppe, die Arbeiter, und andere Angehörige der ärmeren Bevölkerungsschichten hatten bisher große Teile der Vorstädte bewohnt. Sie wurden nun ihrerseits zum Opfer der Verdrängung der Ober- und Mittelschicht aus der City und mussten sich weiter an die Peripherie der Stadt bewegen. Vor allem in den 1870er und 1880er Jahren ging der Anteil der Arbeiter und Tagelöhner in den acht neuen Wiener Bezirken spürbar zurück, von rund zwei Dritteln der Einwohnerschaft auf deutlich unter 50 Prozent.177 Die im Vorfeld des Ringstraßenbaus geäußerten Befürchtungen der Bewohner der Vorstädte hatten sich also bestätigt. Da Wien während dieser Zeit jedoch zugleich wie erwähnt einen Prozess der Industrialisierung und des rasanten Bevölkerungswachstums durchlief, bedurfte es neuer Unterkünfte für die Arbeiter. Diese entstanden in der Regel in der Nähe der Produktionsstätten. Mit Ausnahme weniger, traditionell industriell geprägter Innenbezirke wie dem zweiten (Leopoldstadt) und dritten (Landstraße) waren dies in erster Linie die Ränder des verbauten Gebiets, also der Bereich, in dem sich die Vororte Wiens befanden. Diese Entwicklung beschleunigte sich noch 175 Banik-­Schweitzer, Zur sozialräumlichen Gliederung, S. 16. 176 Ebd.., S. 17. 177 Ebd., S. 118 – 125. Vgl. die entsprechenden Tabellen zur Verteilung der Berufsgruppen auf die einzelnen Stadtbezirke.

Exkurs: Gentrifizierung in historischer Perspektive?

einmal nach 1890, als die 45 Vororte ebenfalls eingemeindet und aus ihnen die neuen Außenbezirke 11−19 gebildet wurden.178 Als Ergebnis d ­ ieses konzentrisch verlaufenden Verdrängungsprozesses wies Wien zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine ausgeprägte sozialräumliche Segregation auf: Der historische Stadtkern hatte sich zu einer Dienstleistungscity entwickelt, deren Einwohnerzahl ­zwischen 1870 und 1910 von rund 64.000 auf etwa 53.000 gesunken war und aus Angehörigen des Hochadels, Industriellen, Bankiers und sehr wohlhabenden Kaufleuten bestand.179 Die Ringstraße war zum bevorzugten Wohnort der neuen Oberschicht, des Großbürgertums, geworden. Sie schloss das Zentrum von den Vorstädten ab, womit an die Stelle des früheren militärischen Schutzwalls nun ein „Ring gesellschaftlicher Trennung“ 180 getreten war. Die Innenbezirke wurden von der Mittelschicht und einigen nach wie vor von Arbeiter/innen bewohnten, traditionell industriell geprägten Bezirken dominiert. Ihre Einwohnerzahl war, diametral zum Bevölkerungsrückgang in der City, im gleichen Zeitraum um knapp zwei Drittel angewachsen, von rund 544.000 auf knapp 890.000. Und die ärmeren Bevölkerungsteile fanden sich zum Großteil in der Nähe der Produktionsbetriebe wieder, an den Rändern der Stadt. Die Zahl der Menschen, die in diesen Außenbezirken lebte, hatte sich nahezu verfünffacht: von knapp 217.000 1870 auf rund 1.062.000 im Jahr 1910. Die Segregation 181 des städtischen Terrains Wiens ließe sich noch anhand weiterer Kriterien aufzeigen. So wurden die Häuser mit zunehmender Entfernung vom Zentrum kleiner und niedriger, während die Zahl der Personen, die sich eine Wohnung teilten, gen Peripherie immer weiter anstieg; der Anschluss an das Verkehrsnetz wurde ebenso wie die sanitären Verhältnisse mit steigendem Radius schlechter, und die Opfer typischer Armutskrankheiten fanden sich vor allem an den Rändern der Stadt.182 Für den hier interessierenden Zusammenhang 178 Vgl. hierzu detailliert John, Wohnverhältnisse, S. 248 f. 179 Vgl. zu diesen und den folgenden Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung Banik-­Schweitzer, Renate, Berlin – Wien – Budapest. Zur sozialräumlichen Entwicklung der drei Hauptstädte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Rausch, Wilhelm (Hg.), Die Städte Mitteleuropas im 19. Jahrhundert, S. 139 – 155, hier 148. 180 Maderthaner/Musner, Die Anarchie der Vorstadt, S. 53. 181 Maderthanes und Musner sprechen in d ­ iesem Zusammenhang von der „doppelten Faltung“ des Wiener Stadtraums: ebd., S. 51. 182 Vgl. hierzu u. a. Banik-­Schweitzer: Zur sozialräumlichen Gliederung; John: Wohnverhältnisse.

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ist jedoch vor allem wichtig, dass all dies das Ergebnis eines Aufwertungs- und Verdrängungsprozesses war, der sich von der City ausgehend bis an die Ränder der Stadt erstreckte und in eine zentrifugal angeordnete sozialräumliche Hierar­ chisierung der Wiener Bevölkerung mündete.

London Bezieht man nun neben St. Petersburg und Wien als dritte Stadt London in die Betrachtung mit ein, so weiten sich die zeitlichen wie räumlichen Ausmaße noch einmal erheblich. Gegründet im ersten Jahrhundert unter dem römischen Namen Londinium, setzten Industrialisierung und Urbanisierung in der „Mutter aller Städte“ bereits im 18. Jahrhundert und damit deutlich früher als in Kontinentaleuropa ein.183 Entsprechend rasch wuchs die Bevölkerung Londons, die bereits um 1840 mit über zwei Millionen bei einer Größenordnung lag, die St. Petersburg und Wien erst zur Zeit des ­Ersten Weltkriegs erreichten: Tabelle 11: Einwohnerzahl Londons, 1800 – 1911 184 Jahr

Einwohnerzahl

1800

rd. 1.000.000

1851

> 2.600.000

1881

rd. 4.500.000

1911

> 7.000.000

Hinsichtlich der sozialräumlichen Gliederung Londons hinterließen vor allem zwei Ereignisse im 17. Jahrhundert sichtbare Spuren in der Stadt: die „Große Pest“ 1664−1666 und der „Große Brand“ 1666. Während der ersten mit über 70.000 183 Die Literatur zur Geschichte Londons ist noch einmal umfangreicher als jene zu St. Petersburg und Wien. Als neuere Darstellungen der gesamten Stadthistorie s­ eien deshalb exem­ plarisch genannt Inwood, Stephen, A History of London, London u. a. 1998; The Cambridge Urban History of Britain. 3 Volumes. Edited by David Michael Palliser et al., Cambridge et al. 2000; Ackroyd, Peter, London. The Biography, London 2000. 184 Die folgenden Angaben nach Porter, Roy, London. A Social History, London 1995, S. 205, sowie nach Hollen Lees, Lynn, Urban Networks, in: The Cambridge Urban History of Britain. Vol. 3, Cambridge 2008, S. 59 – 95, hier S. 69.

Exkurs: Gentrifizierung in historischer Perspektive?

Menschen mehr als ein Fünftel der Einwohner/innen zum Opfer fiel, wobei die Arbeiter/innen in den Hafengebieten am Rande des historischen Stadtkerns, der City of London, besonders schwer betroffen waren, brachte der Brand zwar die Pest zum Erliegen, zerstörte aber zugleich rund 13.000 Häuser. Die angesichts der Verheerungen entwickelten Pläne zu einer völligen Neustrukturierung der Stadt scheiterten an den Kosten, so dass das mittelalterliche Straßennetz größtenteils beibehalten wurde, das Antlitz und die soziale Geographie Londons änderten sich aber dennoch spürbar. An die Stelle früherer Stroh- und Reetdächer traten nun Stein- und Ziegelbauten, entlang der Themse entstand ein befestigter Kai, das Abwassersystem wurde verbessert und zentrale Straßen erhielten eine Mindestbreite.185 Zugleich verließen die meisten wohlhabenden Adligen die am Fluss gelegene City in Richtung West End, während die Ärmeren sich in den weiter östlich gelegenen Hafengebieten konzentrierten. Dies führte dazu, dass sich die Stadt zu Beginn des 19. Jahrhunderts sozialräumlich in drei Schwerpunkte gliederte: den wohlhabenden Westen, der zugleich Sitz des Parlaments und der Regierung war, die zunehmend von Büros dominierte City sowie die Arbeiterbezirke im Osten. Die Lebenswirklichkeit gestaltete sich freilich deutlich differenzierter, da sich praktisch in allen Bereichen der Stadt Arbeiter/innen fanden und auch der Stadtkern von einem Gürtel ärmerer Bezirke umgeben war. In dieser Hinsicht glich London eher St. Petersburg als Wien, und es lässt sich zwar von sozialen Ungleichheiten in der Geographie der Stadt, nicht aber von einer klar abgrenzbaren Segregation sprechen.186 Inwieweit können nun in den folgenden Jahrzehnten Prozesse ausgemacht werden, die der eingangs genannten Definition von Gentrifizierung entsprechen? Zur Beantwortung dieser Frage sollen vier Bereiche der Stadtentwicklung in ihren Wechselwirkungen näher betrachtet werden: die Aufwertung des West Ends, die Entwicklung der City of London, der Prozess der Suburbanisierung und die ‚slum clearances‘ im East End. Der Westen Londons erfuhr im Laufe des 19. Jahrhunderts durch mehrere Maßnahmen eine deutliche soziale Aufwertung. Zunächst entstand in den ersten Jahrzehnten in St. Marylebone der Regent’s Park − eine rund zwei Quadratkilometer große Grünfläche, die als Gartenstadt für 50 Privatvillen konzipiert war, 185 Vgl. Ackroyd, London, S. 211 – 259. 186 Vgl. hierzu auch Dennis, Richard, Modern London, in: The Cambridge Urban History of Britain. Vol. 3, S. 95 – 133, hier S. 111 f.

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die sich über den Park verteilen sollten.187 Der Regent’s Park bildete zugleich über die Verbindungsstraßen Langham Place und Portland Place das nörd­liche Ende der Regent Street, die 1825 fertiggestellt wurde und sich im Süden bis in das exklusive Wohnviertel St. James in Westminster erstreckte. Der Regent Street, die 120 Fuß breit war und von mehrstöckigen Villen gesäumt wurde, kam eine ähnliche repräsentative Funktion wie der Wiener Ringstraße zu, sie war die „Triumph- und Paradestraße“ 188 der britischen Monarchie und des wohlhabenden Teils der Londoner Gesellschaft. Zugleich mussten ihr vorher dort gelegene Slumhäuser weichen, und die neue Straße separierte nun ebenso wie der Prachtboulevard ­Kaiser Franz Josephs die wohlhabenderen Teile der Stadt von den ärmeren Gegenden. Diese Aufwertung durch städtebauliche Maßnahmen bewirkte einen Anstieg der Mietpreise in den angrenzenden Gegenden und damit eine soziale Homogenisierung. Hinzu kam eine Maßnahme, auf die im Kontext der Entwicklung des East Ends noch näher eingegangen werden soll: die als Clearances bezeichnete Räumung ganzer Straßenzüge. Vor allem der z­ wischen dem West End und der City liegende Gürtel ärmerer Stadtbezirke war ab den 1840er Jahren Schauplatz dieser Räumungen, im Zuge derer bestimmte Wohngegenden als „problematisch“ identifiziert, die Häuser abgerissen und durch hochwertigere und teurere ersetzt wurden.189 Damit bedeutete Aufwertung zugleich Verdrängung, was sich an der Entwicklung der Einwohnerzahlen ablesen lässt: Die Zahl der Bewohner pro Wohnhaus fiel z­ wischen 1871 und 1891 nur in Westminster und in der City, während die weiter östlich und südlich gelegenen Bezirke wie Bethnal Green, Stepney oder Southwark Steigerungsraten von mindestens 20 Prozent zu verzeichnen hatten.190 Und eine Statistik zur Überfüllung von Mietshäusern wies, gemessen an einem Index von 100 im Jahr 1891, 1911 für die (nord)westlich gelegenen Bezirke deutlich unterdurchschnittliche Zahlen auf (City 56, Westminster 60, Holborn 61 und St. Marylebone 73), wohingegen die Werte im Süden und 187 Vgl. Olsen, Donald J., Die Stadt als Kunstwerk. London, Paris, Wien, Frankfurt/Main, New York 1988, S. 29 – 39. 188 Ebd., S. 37. Vgl. zur nationalen Bedeutung, die Regent’s Park und Regent Street zugeschrieben wurde, auch die Auszüge aus zeitgenössischen Kommentaren bei Olsen, Donald, The Growth of Victorian London, London 1976, S. 37 – 49. 189 Vgl. hierzu die Karte bei Yelling, James Alfred, Slums and Slum Clearance in Victorian London, London, Boston, Sydney 1986, S. 54. 190 Ebd., S. 148.

Exkurs: Gentrifizierung in historischer Perspektive?

Osten deutlich höher lagen: Stepney 103, Shoreditch 101, Bermondsey 100 und Bethnal Green 94.191 Aufwertung und Räumungen wirkten komplementär und führten zu einer Verdrängung der ärmeren Bevölkerungsteile aus dem West End in die östlichen Teile der Stadt. Parallel zu den Ereignissen im West End erlebte die City of London ebenfalls einen Prozess der sozialen Homogenisierung. Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde eine soziale und funktionale Spezialisierung wirksam, in deren Folge sich der Stadtkern immer stärker zu einer Businesscity mit immer weniger Bewohner/innen entwickelte. Namhafte Börsen, Banken und Versicherungen eröffneten hier bzw. erweiterten ihre schon bestehenden Gebäude, unter ihnen mit der Royal Exchange die bereits seit dem 16. Jahrhundert bestehende erste Börse der Stadt sowie die erste Aktienbank Londons, die London and Westminster Bank.192 Vergleichbar der Entwicklung in der Wiener Altstadt, fand auch hier eine „Nutzungshomogenisierung“ 193 statt, indem die bisher bestehenden Wohnverhältnisse zugunsten kommerzieller Interessen verdrängt wurden. Entsprechend waren die Einwohnerzahlen der City entgegen der allgemeinen Expansion Londons stark rückläufig – wohnten 1850 noch rund 130.000 Menschen dort, so waren es 1901 nur noch etwa 27.000.194 Wohin gingen die Bewohner Londons, die bis dahin im Westen der Stadt oder in der City gelebt hatten? Von denjenigen, die sich eine Wahl leisten konnten, entschieden sich viele für den Weg der Suburbanisierung und zogen an die Ränder der Stadt. Vororte wie Notting Hill, West Kensington, Putney oder Balham nördlich und südlich der Themse waren von Beginn an zu d ­ iesem Zweck und nur für eine bestimmte Schicht konzipiert worden.195 Grundlage dieser großen Bewegungsfreiheit war das im Vergleich zu St. Petersburg und Wien weit entwickelte Netz des öffentlichen Nahverkehrs in London. Es entstanden Vorortbahnen, und bereits 1863 verkehrte die erste, mit Dampflokomotiven betriebene U-Bahn-­Linie der Welt in der britischen Hauptstadt. Ab 1890 wurde sie von elektrisch betriebenen U-Bahnen abgelöst.196 191 192 193 194 195 196

Ebd., S. 150. White, London in the Nineteenth Century, S. 40. Banik-­Schweitzer, Zur sozialräumlichen Gliederung Wiens, S. 14 f. Porter, London, S. 204. Vgl. hierzu Olsen, Die Stadt als Kunstwerk, S. 173 f. Zur Bedeutung des Ausbaus des Nahverkehrs für den Prozess der Suburbanisierung vgl. Divall, Colin/Bond, Winstan (Hg.), Suburbanizing the Masses. Public Transport and

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Ab Ende des 19. Jahrhunderts zogen auch Arbeiterfamilien, die es zu einem gewissen Wohlstand gebracht hatten, in die ruhigeren und grüneren Vororte; insgesamt blieb die Suburbanisierung aber bis zum E ­ rsten Weltkrieg weitgehend eine Domäne der Mittel- und Oberschicht.197 Ebenso wie Wien und im Unterschied zu St. Petersburg expandierte London somit vor allem in die Fläche, wobei die soziale Konnotation des Lebens am Rande der Stadt jedoch konträr zu jener in der österreichischen Hauptstadt stand: Während in Wien der soziale Status gen Peripherie abfiel, zog man in London raus, um unter seinesgleichen zu sein – ein Vorgang, der heute als „freiwillige Segregation“ 198 bezeichnet wird. Die große Mehrheit derjenigen, die den Veränderungsprozessen im West End und in der City weichen mussten, besaß diese Option nicht. Die früheren Bewohner der abgerissenen oder aufgewerteten Häuser fanden sich zumeist im Osten der Stadt wieder, dem East End. Die Bezeichnung „East End“ war hierbei keine rein geographische, sondern bildete sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heraus; das „East End“ stand auf den mental maps der Bewohner der anderen Teile der Stadt für Armut, Schmutz und Immoralität, die sie mit den östlichen Bezirken wie Stepney, Bethnal Green und Poplar verbanden.199 Popularisiert durch Untersuchungen wie die Interviewsammlungen Henry M ­ ayhews oder die Kartierung der Armut durch Charles Booth sowie nicht zuletzt durch Romane wie jene von Charles Dickens und die Berichterstattung der Sensationspresse, entwickelten sich Geschichten aus und über das East End zu einem lohnenswerten Geschäft.200 Unabhängig vom Wahrheitsgehalt dieser oft reißerischen Reportagen waren die östlichen Stadtteile Londons jedoch auch realiter die größte Zusammenballung von Armut in der ganzen Metropole. Hier befanden sich traditionell Urban Development in Historical Perspective. Aldershot et al.. 2003; Roth, Ralf, Die Entwicklung der Kommunikationsnetze und ihre Beziehung zur europäischen Städtelandschaft, in: Roth, Städte im europäischen Raum, S. 23 – 63. 197 Vgl. White, London in the Nineteenth Century, S. 90−101. 198 Vgl. u. a. Heitmeyer, Wilhelm, Versagt die „Integrationsmaschine“ Stadt? Zum Problem der ethnisch-­kulturellen Segregation und ihrer Konfliktfolgen, in: Heitmeyer, Wilhelm/ Dollase, Rainer/Backes, Otto (Hg.), Die Krise der Städte. Analysen zu den Folgen desintegrativer Stadtentwicklung für das ethnisch-­kulturelle Zusammenleben, Frankfurt a. M. 1998, S. 443−469; Häußermann/Siebel: Die Mühen der Differenzierung. 199 Vgl. hierzu Fishman, William J., East End 1888. Life in a London Borough among the Laboring Poor, London 1988, S. 1−25. 200 Vgl. Lindner, Walks on the Wild Side; Koven, Slumming.

Exkurs: Gentrifizierung in historischer Perspektive?

der Großteil der Industrie und der Arbeiterschaft, und analog zu den Aufwertungs- und Verdrängungsprozessen im Westen der Stadt und in der City stieg die Bevölkerung im East End rapide an: Poplar erlebte ­zwischen 1841 und 1881 eine Verfünffachung seiner Bewohner (von rund 31.000 auf über 156.000), und auch in Bethnal Green vergrößerte sich ebenso wie in Stepney die Einwohnerzahl um ein Vielfaches.201 Auf die zunehmende Enge und Armut im Londoner East End gab es eine ganze Reihe von Antworten. Neben Wohltätigkeitsorganisationen, die häufig aus gesellschaftlichen Initiativen entstanden, und dem Versuch, in Form des Workhouse-­Systems mittels Zwang die Armen zu einem besseren Leben zu erziehen, verfolgte die Stadt eine Politik, die sie bereits im Westen der Stadt zur Anwendung gebracht hatte: die Räumung und den Abriss ganzer Straßenzüge. Vor allem mit Inkrafttreten des „Artisans’ and Labourers’ Dwellings Improvements Act“ 1875 avancierten die ‚slum clearances‘ zum Kernstück der städtischen Wohnungspolitik.202 Den Hintergrund für diese Politik bildete ein sozialhygienischer Diskurs, der auf der Annahme beruhte, dass die bestehenden Probleme in der ungesunden und unmoralischen Umgebung wurzelten, in welcher die Armen leben würden, weshalb die ‚clearances‘ als die ideale Maßnahme angesehen wurden, um sowohl die öffentliche Hygiene zu verbessern als auch die moralische Konstitution der Armen zu heben.203 Soziale Probleme sollten mithin räumlich gelöst werden. Die tatsächliche Bilanz der Räumungspolitik war eine andere, was in den 1880er Jahren in eine kontroverse öffentliche Debatte mündete: Die neuen Wohnungen, die anstelle der Slums entstehen sollten, wurden von den neuen, in der Regel privaten Besitzer oft nur mit großer Verspätung oder gar nicht gebaut. Und die Mieten lagen deutlich über den vorherigen, womit es für die früheren Bewohner unmöglich war, an gleicher Stelle wieder einzuziehen. Hinzu kamen Hausordnungen, die im Geiste der Sozialhygiene verfasst waren und etwa den Konsum von Alkohol strikt reglementierten, was unter medizinischen 201 Vgl. White, London in the Nineteenth Century, S. 82 f. 202 Vgl. hierzu ausführlich Yelling, Slums and Slum Clearance; Allen, Michelle, Cleansing the City. Sanitary Geographies in Victorian London, Athens, Ohio 2008. Vgl. zum Zusammenhang ­zwischen urbanen Sicherheitsentwürfen und Segregation jetzt auch Krüger, Christine, Soziale Konflikte im städtischen Raum – Hamburg und London im ausgehenden 19. Jahrhundert, in: Saeculum 18 (2018), Nr. 1, S. 37 – 60. 203 Vgl. Ebd..

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Gesichtspunkten sinnvoll erscheinen mochte, die Lebensrealität der Menschen, die man erreichen sollte, jedoch deutlich verfehlte.204 Als Ergebnis dieser Politik verloren allein bis 1882 mindestens 20.000 Menschen ihre Wohnungen durch Zwangsräumungen.205 Manche von ihnen verließen daraufhin die Innenstadt und begaben sich an die Ränder Londons, ohne dass ihre prekäre soziale Lage sich geändert hätte. Vielmehr entstanden nun in den Vororten neben der freiwilligen Segregation auch „suburban slums“ 206. Die meisten der Betroffenen blieben jedoch in ihrem Viertel, so dass die sozialen Probleme oft nur um wenige Straßenzüge verschoben wurden: „The poor are indeed displaced, but they are not removed. They are shoveled out of one side of a parish, only to render more over-­crowded the stifling apartments in another part.“ 207 Jerry White hat angesichts dessen von einer unfreiwillig hohen Mobilität der Armen gesprochen und einen Aufseher der Schulbehörde zitiert, der um 1889 feststellte, dass die Armen gezwungen ­seien, sich „wie ein Fisch im Wasser“ 208 durch London zu bewegen. Eine Aufwertung im Sinne eines Gentrifizierungsprozesses wurde hiermit im East End im Gegensatz zum Westen und zur City of London jedoch nicht erreicht, und die zugrundeliegenden Probleme wurden nicht gelöst, sondern wortwörtlich verdrängt und weiter verschärft. Lässt sich Gentrifizierung als historisch wirksames Muster sozialräumlicher Differenzierung nachweisen? Die Beispiele der drei Metropolen St. Petersburg, Wien und London sprechen dafür, diese Frage mit „Ja“ zu beantworten. Zwar zeigen sich bei einer vergleichenden Betrachtung einige markante Unterschiede, aber die grundsätzliche Existenz von Prozessen, wie sie eingangs ­dieses Kapitels definiert wurden, dürfte eindeutig sein. Die Unterschiede betreffen sowohl die räumliche als auch die zeitliche Dimension der untersuchten Phänomene. Während die „doppelte Faltung“ 209 des städtischen Terrains Wiens einen geradezu 204 205 206 207

Vgl. Yelling, Slums and Slum Clearance, S. 132−153. Vgl. Allen, Sanitary Geographies, S. 121. White, London in the Nineteenth Century, S. 115. Reverend William Denton 1861, hier zitiert nach Allen, Sanitary Geographies, S. 119. Vgl. zum hohen Identifikationsgrad der Bewohner mit ihrem Viertel auch die exemplarische Untersuchung zum Verlauf der Clearances in der Boundary Street (Bethnal Green) bei Yelling, Slums and Slum Clearance, S. 143−153. 208 White, London in the Nineteenth Century, S. 117. 2 09 Maderthaner/Musner, Die Anarchie der Vorstadt, S. 51.

Exkurs: Gentrifizierung in historischer Perspektive?

idealtypischen Verlauf einer Spirale von Aufwertung und Verdrängung darstellt, lässt sich Vergleichbares für London und St. Petersburg nur in bestimmten Teilen des Stadtgebiets und in unterschiedlicher Ausprägung nachweisen: Die von West nach Ost wirksam werdende Gentrifizierung in London war sicher weiter fortgeschritten als die vom Admiralitätsviertel ausgehenden „Veredelungen“ in der russischen Hauptstadt. Zudem setzte in London mit der Suburbanisierung bereits früh ein Prozess der freiwilligen Segregation ein, der den Gentrifizierungsdruck in zentralen Stadtteilen minderte und den es so weder in Wien noch in St. Petersburg gegeben hat. Zugleich, hierauf weist Jürgen Osterhammel hin, ist Suburbanisierung ohne den Zusammenhang mit der Slumbildung in der Innenstadt nicht zu verstehen: Das Wohnen am Stadtrand war nicht zuletzt eine Flucht vor der im Zentrum stattfindenden Verdichtung und Verelendung, ­welche wiederum durch die parallel zur Abwanderung aus dem Stadtkern stattfindenden Gentrifizierungsprozesse weiter verschärft wurden: Slumbildung und Suburbanisierung bildeten „zwei Aspekte ein und desselben kapitalistischen Prozesses“ 210. Neben diesen räumlich wie zeitlich sichtbar werdenden Unterschieden lassen sich jedoch auch wichtige Gemeinsamkeiten als Charakteristika der Gentrifizierung im Untersuchungszeitraum benennen. In allen drei Metropolen gab es infolge von Aufwertung und Verdrängung in bestimmten Stadtteilen einen, unterschiedlich weit fortgeschrittenen, „Austausch einer statusniedrigen Bevölkerung durch eine statushöhere Bevölkerung“, um die eingangs ­dieses Kapitels genannte Definition von Friedrichs noch einmal aufzugreifen. Ausgangspunkt waren in jedem Fall die zentralen Innenstadtbezirke – in St. Petersburg das Admiralitätsviertel, in Wien die Altstadt und in London die City und das West End. Von ihnen aus wurden Veränderungen in Gang gesetzt, die Verschiebungen in der sozialen Geographie der Städte nach sich zogen und Menschen dazu zwangen, ihr bisheriges Umfeld zu verlassen. In zwei der drei betrachteten Fälle lassen sich hierbei infolge einer Symbiose aus staatlichem und großbürgerlichem Repräsentationsbedürfnis städtebauliche Maßnahmen als maßgebliches Movens der Gentrifizierung benennen: in Wien die Anlage der Ringstraße sowie in London der Bau der Regent Street. Von zentraler Bedeutung für die tatsächliche Durchsetzung der Aufwertung eines Stadtteils war in allen drei Städten die Wohnungsfrage. Die Erhöhung der Mieten durch die in aller Regel privaten Eigentümer 210 Ebd., S. 448.

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erwies sich als entscheidender Hebel, mittels dessen sich eine Veränderung der sozialen Zusammensetzung der Einwohnerschaft bewerkstelligen ließ. Diese Feststellung schärft den Blick für die sozialräumliche Dimension gesellschaftlicher Ungleichheiten. Wenn Lothar Gall von dem „‚anderen‘ 19. Jahrhundert“ 211 spricht, das durch soziale Desintegration gekennzeichnet sei, und ­Clemens Zimmermann die „neuartige Raumstruktur“ als eines der „auffallendsten Phänomene“ 212 moderner Großstädte benennt, so stellt das Gentrifizierungskonzept eine Brücke z­ wischen beidem dar, mittels derer sich soziale wie räumliche Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge in ihrer gegenseitigen Bedingtheit analysieren lassen. Die Gentrifizierungsforschung ihrerseits könnte durch eine Öffnung hin zur historischen Dimension ihres Gegenstandes eine deutliche Erweiterung ihrer Perspektive erfahren. Nur durch die Betrachtung der historischen Genese aktueller Aufwertungs- und Verdrängungsprozesse lässt sich erkennen, was heute grundlegend anders ist bzw. ­welche Mechanismen nach wie vor wirksam sind und ­welche Antworten auf die durch Gentrifizierung hervorgerufenen Polarisierungen aus ­welchen Gründen gescheitert sind respektive erfolgreich waren. Das Beispiel St. Petersburg verweist hierbei auf die Notwendigkeit einer kritischen Reflektion der Standortgebundenheit der Begrifflichkeiten und ihrer Definitionen, wurde das Konzept der Gentrifizierung doch bisher nahezu ausschließlich vor der Folie westeuropäischer und US -amerikanischer Beispiele entwickelt. Auf einer derart verbreiterten Grundlage ließe sich dann fundiert darüber streiten, ob die Betrachtung historischer Gentrifizierungsprozesse tatsächlich nur wenig zu gegenwärtigen Debatten beizutragen hat.

3.3. Reaktionen auf die Wohnungsnot Nachtasyle, Wohlfahrtsgesellschaften und Wohnbaugenossenschaften Die Frage, w ­ elche Wege es geben könnte, der Wohnungsnot in der russischen Hauptstadt zu begegnen, stellte sich mit zunehmender Dringlichkeit. Je akuter die Problematik das Leben der Menschen in der Stadt beherrschte, desto 211 Gall, Lothar, Europa auf dem Weg in die Moderne 1850−1890. 5. Aufl., München 2009, S. 109 f. 212 Zimmermann, Die Zeit der Metropolen, S. 172.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

dringender bedurfte es praktikabler Lösungen. Im Folgenden werden zunächst die unterschiedlichen Ansätze auf institutioneller Ebene und deren Träger (Privat­personen, Wohlfahrtsgesellschaften, Wohnbaugenossenschaften, Stadt) skizziert, um anschließend am Beispiel zweier großer städtischer Slums danach zu fragen, wie die betroffenen Bewohner selbst ihr Leben unter prekären Bedingungen gestalteten. Eine erste Maßnahme, an die man im Kontext der Wohnungsnot der städtischen Unterschichten denken könnte, war die Schaffung von Fabrikwohnungen. Solche Wohneinheiten, die im unmittelbaren Umfeld der Produktionsstätten geschaffen wurden, waren bei den Arbeitern begehrt, waren sie doch allemal besser als die ‚Alternativen‘ auf dem sonstigen Wohnungsmarkt in Gestalt von Ecken, Kellern oder Dachböden. Zudem waren sie anfangs zumeist kostenlos, was sich jedoch im Zuge der steigenden Nachfrage änderte und ins Gegenteil verkehrte, so dass für fabriknahe Wohnräume an den Stadträndern wie erwähnt sogar höhere Preise verlangt wurden als für Unterkünfte im Zentrum St. Petersburgs. Als Reaktion auf die Wohnungsnot lassen sich die Fabrikwohnungen jedoch nicht fassen. Zum einen war die Motivation, die ihrer Schaffung zugrunde lag, eine andere: Den Unternehmern ging es nicht um die Linderung eines Missstandes, sondern um die möglichst unmittelbare Verfügbarkeit der Arbeiter für die Produktion, ohne die erwähnten, stundenlangen Fußmärsche durch die Stadt. Nicht selten wurden die Wohnungen denn auch als Druckmittel benutzt und im Falle von Konflikten mit ihrem Entzug gedroht.213 Und andererseits kann der vergleichsweise gut dokumentierte, in aller Regel völlig unzureichende hygienische Zustand dieser Arbeiterwohnungen nicht als Beitrag zur Lösung der Wohnungsfrage bezeichnet werden. Die ‚Wohnungen‘, die zumeist aus großen Schlafsälen oder von mehreren Personen genutzten, feuchten und kaum belüfteten Zimmern bestanden, waren vielmehr selbst ein Inbegriff der Krise und wie skizziert Stein des Anstoßes für die ‚Entdeckung‘ der Wohnungsfrage als Teil der sozial-­sanitären Probleme der städtischen Unterschichten.214 Dementsprechend fanden die Fabrikwohnungen in den zeitgenössischen

213 Vgl. Svjatlovskij, Žiliščnyj vopros v Rossi, S. 177. 214 Vgl. den Verweis auf den relativ guten Kenntnisstand über die Fabrikwohnungen auch bei Dikanskij, Kvartirnyj vopros i social’nye opyty ego rešenija, S. 190. Eine Auflistung der diesbezüglich für St. Petersburg relevanten zeitgenössischen Publikationen findet sich in Kapitel 3, Anm. 6, dieser Arbeit.

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„Eine der brennendsten Fragen der Gegenwart“: Wohnen in der Hauptstadt

Überlegungen zu möglichen Auswegen aus der Wohnungskrise, wenn überhaupt, auch nur kritisch Erwähnung und wurden stets mit der Forderung nach konsequenteren staatlichen Kontrollen verbunden.215 Eine andere Genese weisen die Nachtasyle auf. Einem breiteren Publikum durch das gleichnamige Stück Maxim Gorki’s bekannt geworden,216 entstanden sie als Reaktion auf die sich verschärfenden Wohnbedingungen. Sie stellten zumindest partiell den Versuch dar, denjenigen, die über keine sonstige Unterkunft verfügten, einen nächtlichen Schlafplatz zu bieten. Begrifflich wurden zwei Typen von Nachtunterkünften unterschieden: Nachtasyle (nočležnye doma) und Herbergen (postojalye dvory). Die Unterschiede waren allerdings gering, und zumeist wurden beide unter der Bezeichnung „Nachtasyl“ subsummiert. Entscheidender war die Frage der Trägerschaft: Diejenigen Einrichtungen, die von einer Wohltätigkeitsgesellschaft oder der Stadt betrieben wurden, waren häufig etwas besser ausgestattet als private Nachtasyle oder Herbergen.217 Zudem wurden letztere aus kommerziellen Gründen betrieben, waren mithin auf Gewinn ausgerichtet, so dass eine Übernachtung dort ­zwischen sieben und 35 Kopeken kosten konnte. Auf sie bezog sich der Verfasser des entsprechenden Lemmas in der Enzyklopädie von Brockhaus und Ėfron, wenn er davon sprach, dass an Orten wie dem Petersburger Heumarkt oder dem Chitrov-­Markt in Moskau die Besitzer der Nachtunterkünfte die Not ihrer Kunden „unbarmherzig ausnutzen“ 218 würden. In wohltätigen oder städtischen Nachtasylen lag der Preis hingegen bei fünf bis sieben Kopeken für eine Übernachtung, einschließlich Tee, Zucker und einem Kanten Brot.219

215 Vgl. diese Schlussfolgerung außer bei Svjatlovskij und Dikanskij auch bei Jarockij, Žilišča rabočich, S. 956. 216 Im Russischen erschien das Stück zunächst unter dem Titel Na dne žizni (Auf dem Lebensgrund). Es wurde 1902 in Moskau uraufgeführt. Die deutsche Erstaufführung folgte ein Jahr später in Berlin und trug den Titel „Nachtasyl“ (Nočležka). Vgl. das Nachwort von August Scholz, in: Gorki, Maxim, Nachtasyl, Stuttgart, 1998, S. 97 – 102. 217 Vgl. Binštok, Nočležnye prijuty i postojalye dvory, S. 5. 218 Najmer, A., Nočležnye doma, in: Ėnciklopediceskij slovar‘ Brokgauza i Ėfrona, Bd. 21, Sankt-­Peterburg 1897, S. 397 – 399, hier S. 398. 219 Vgl. die ausführliche Artikelserie zur Geschichte der Nachtasyle in den russischen Großstädten: Karaffa-­Korbut, K., Nočležnye doma v bol’šich russkich gorodach, in: Gorodskoe delo 4 (1912), No. 10, S. 627 – 643, No. 11/12, S. 691 – 7 13 sowie No. 13/14, S. 803––24, hier No. 11/12, S. 695 – 697.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

Das erste Nachtasyl in St. Petersburg eröffnete 1873 am Obvodnyj kanal. Zehn Jahre später konnte, nach langjährigen Vorarbeiten des Arztes I. Dvorjašin, die „Gesellschaft für Nachtasyle in St. Petersburg“ (Obščestvo nočležnych domov v S.-Peterburge) gegründet werden. Dvorjašin kannte die Zustände in den Wohnstätten der Petersburger Unterschichten aus eigener Anschauung. So hatte er im Rahmen der Volkszählung 1869 unter anderem die Vjazemskaja lavra aufgesucht und hieraus die Konsequenz gezogen, dass dringend alternative Übernachtungsmöglichkeiten geschaffen werden müssten, die zumindest gewissen sanitären Standards genügten.220 Die Gesellschaft errichtete zunächst 1884 drei Häuser, 1886 kam noch ein viertes hinzu, das 1899 wieder geschlossen wurde. In den ersten zehn Jahren übernachteten rund 2.200.000 Menschen in diesen Einrichtungen, was einem Schnitt von etwa 600 Besuchern/Nacht entspricht.221 Eine gemessen am Bedarf sicherlich nicht ausreichende Zahl, aber für die Betreffenden zweifellos eine existentielle Verbesserung. 1895 existierten in Petersburg dann insgesamt 14 Nachtasyle und 87 Herbergen, die zusammen 3466 Übernachtungsmöglichkeiten boten.222 Wie die städtische Sanitärkommission aus Anlass der schweren Typhusepidemie, die in d ­ iesem Jahr ausbrach, feststellte, wurden sechs der 14 Nachtasyle von Wohltätigkeitsorganisationen betrieben, während die übrigen acht ebenso wie alle Herbergen Privatper­ sonen gehörten. Städtische Nachtunterkünfte gab es zu ­diesem Zeitpunkt noch nicht. Neben dem grundsätzlichen Problem, dass d ­ ieses Angebot nach wie vor in einem deutlichen Missverhältnis zum Bedarf stand, zeigen die vom Sanitärarzt ­Venjamin Binštok für das Jahr 1895 publizierten Daten zugleich, in welch hohem Maße Armut und Wohnungslosigkeit auch eine Frage der Machtverhältnisse ­zwischen den Geschlechtern waren. Von den 2087 Plätzen in den Nachtasylen standen ganze 202 für Frauen zur Verfügung, während 1741 für Männer vorgesehen waren (und 144 als „Adelsplätze“ deklariert wurden, was u. a. bedeutete, dass sie anstelle einer Matratze mit einem Bett ausgestattet waren). Unter den 1379 Plätzen der Herbergen gab es gar kein Kontingent für weibliche Gäste.223 Dieses 220 Vgl. Svjatlovskij, Žiliščnyj vopros v Rossi, S. 188 f.; Najmer, Nočležnye doma, S. 398. 221 Vgl. [o. N.], Nočležnye doma i ich naselenie, in: Peterburgskij listok, 21. 02. 1893, S. 2; ­Najmer, Nočležnye doma, S. 399. Die Gesellschaft erstattete der Petersburger Duma regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeiten. Vgl. exemplarisch den Bericht für das Jahr 1884: ISPGOD, 1885, No. 48, S. 1296 – 1299. 222 Vgl. Binštok, Nočležnye prijuty i postojalye dvory, S. 2. 223 Vgl. ebd.

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„Eine der brennendsten Fragen der Gegenwart“: Wohnen in der Hauptstadt

Ungleichgewicht wird auch nicht durch den Umstand aufgewogen, dass infolge der patriarchalischen Strukturen der Dorfgemeinden zumeist die Männer vom Land in die Städte kamen. Denn neben ihnen gab es ebenso eine große Anzahl Frauen, die nicht nur in St. Petersburg täglich um ihr Auskommen ringen mussten und ebenfalls keine feste Bleibe hatten.224 Die fehlenden Nachtunterkünfte für Frauen waren vielmehr Ausdruck des Umstands, dass die ohnehin geringen Ressourcen vornehmlich Männern zugutekamen, während Frauen zumeist sich selbst überlassen wurden. Zugleich spiegelt die Verteilung der Nachtunterkünfte den beschriebenen Prozess der Verdrängung der ärmeren Bevölkerung aus dem Stadtzentrum ­wieder. 1895 befanden sich zehn, und damit rund drei Viertel der 14 Nachtasyle in den innerstädtischen Randgebieten Roždestvenskaja-, Alexander Newski- und Narva-­ Distrikt. Von den 87 Herbergen lagen 48 in diesen drei Distrikten und weitere 25 in den drei Vierteln ‚jenseits des Flusses‘, was über 80 % aller Herbergen entspricht. In den vier innerstädtischen Distrikten Admiralität, Kazaner, ­Spasskajaund Kolomna-­Distrikt gab es hingegen gerade einmal sieben Herbergen.225 Die städtische Duma nahm sich erst nach der schweren Typhusepidemie 1895 des Themas an. Zwar stand die Frage der Schaffung städtischer Nachtasyle ebenso wie die Wohnungsproblematik insgesamt wiederholt auf der Tagesordnung – eine Mehrheit der Abgeordneten sah aber lange Zeit keine Notwendigkeit zum Handeln. Stattdessen bezuschusste man die Aktivitäten wohltätiger Organisationen wie der „Gesellschaft für Nachtasyle in St. Petersburg“, die mehrfach in einer Höhe von jeweils 2000 Rubeln unterstützt wurde, und erklärte zugleich die Errichtung eigener Nachtunterkünfte für nicht vordringlich. So heißt es in einem Bericht der Stadtverwaltung an die Duma aus dem März 1884: Im Allgemeinen sollten der Bau und der Unterhalt von Unterkünften in erster Linie eine Angelegenheit des privaten Unternehmertums und der privaten Wohltätigkeit sein, und deshalb wäre es nur folgerichtig, die private Wohltätigkeit in dieser Richtung finanziell zu unterstützen, anstatt die Unterkünfte durch die Stadtverwaltung selbst zu leiten und zu unterhalten.226

224 Vgl. hierzu u. a. Bobroff, Working Women; Engel, Between the Fields and the City; ­McDermid/Hillyar, Women and Work in Russia. 225 Vgl. Binštok, Nočležnye prijuty i postojalye dvory, S. 2 f. 226 Bericht der Stadtverwaltung vom 13. 03. 1884, in: ISPGOD, 1884, No. 14, S. 57 – 77, hier S. 63.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

Zwei Jahre später wurden zwar mögliche Standorte für ein erstes städtisches Nachtasyl erwogen, letztendlich blieb man aber bei der Linie, die Frage einer aktiven kommunalen Wohnungspolitik vor allem unter fiskalischen Gesichtspunkten zu betrachten: Im Mittelpunkt der Überlegungen standen die Kosten, die ein städtisches Nachtasyl verursachen würde, und man entschied sich dafür, zunächst weiterhin die Erfahrungen zu beobachten, die die „Gesellschaft für Nachtasyle in St. Petersburg“ in dieser Hinsicht machte.227 Erst die schwere Typhusepidemie 1895 und die alarmierenden Berichte der Sanitärärzte ließen den Handlungsdruck so weit ansteigen, dass die Stadt begann, eigene Nachtunterkünfte zu errichten. Bis 1908 entstanden 675, und bis 1911 rund 2400 Plätze in städtischen Nachtasylen.228 Die Schaffung nächtlicher Schlafmöglichkeiten blieb damit jedoch nach wie vor in hohem Maße abhängig von Wohlfahrtsgesellschaften und Privatpersonen, die den Großteil der 1911 insgesamt rund 7000 Plätze in den Nachtasylen und Herbergen St. Petersburgs zur Verfügung stellten.229 Der tatsächliche Bedarf lag deutlich höher. Binštok schätzte ihn bereits 1895 auf bis zu 10.000 benötigte Plätze,230 die zuständige städtische Kommission kam 1911 auf eine vergleichbare Größenordnung, ausgehend von dem Befund, dass jede Nacht pro Unterkunft 20 bis 60 Personen abgewiesen werden müssten.231 Die städtische Sanitärkommission hatte 1905 von über 13.000 Menschen in der Stadt gesprochen, deren Wohnsituation sie allein in den von ihr überprüften Eck-‚wohnungen‘ als unannehmbar eingestuft hatte.232 Alle diese Zahlen boten letztendlich nur grobe Richtwerte, die auf den Angaben der offiziell registrierten und jeweils inspizierten Unterkünfte beruhten. Die zahlreichen Bewohner der Slums wurden hierbei ebenso wenig erfasst wie die Obdachlosen und Prostituierten auf den Straßen St. Petersburgs. Als gesichert kann lediglich gelten, dass mit den 1911 erreichten rund 7000 Plätzen zwar eine gewisse Struktur geschaffen worden war, dass aber nach wie vor jede Nacht mehrere Tausend Menschen ohne Schlafplatz blieben. 227 Vgl. den Bericht der Stadtverwaltung vom 04. 05. 1889, in: ISPGOD, 1889, No. 18, S. 449 – 463, sowie das Protokoll der Dumasitzung vom 22. 11. 1889 in: ebd., 1889, No. 48, S. 1054 f. 228 Vgl. die Berichte der Stadtverwaltung vom 19. 09. 1908, in: ISPGOD, 1908, No. 39, S. 899 – 901, hier S. 899, sowie vom 16. 02. 1911, in: ebd., 1911, No. 13, S. 2429 – 2462, hier S. 2430. 229 Vgl. ISPGOD, 1911, No. 13, S. S. 2430. 230 Vgl. Binštok, Nočležnye prijuty i postojalye dvory, S. 11. 231 Vgl. ISPGOD, 1911, No. 13, S. S. 2433 f. 232 Vgl. Oppengejm, K voprosu ob ozdorovlenii gor. S.-Peterburga, S. 23.

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Ein Teil der Dumaabgeordneten zog selbst ­solche zurückhaltend kalkulierten Zahlen in Zweifel. Als in Petersburg 1908 erneut eine schwere Choleraepidemie ausbrach, diskutierte die Duma darüber, ob die Zahl der Bedürftigen nicht eigentlich viel niedriger liege (genannt wurde eine Zahl von 3000 Menschen), da die meisten Bewohner der Nachtasyle doch nur Saisonarbeiter s­ eien, die die Stadt mit Beginn der kalten Jahreszeit wieder verlassen würden. Die Sorge der Parlamentarier galt vielmehr dem Umstand, dass nach Ausbruch der Epidemie ohne Rücksprache mit der Duma neue Notunterkünfte eröffnet worden ­seien, die man nur „schwer wird wieder schließen können“ 233, womit der Stadt dauerhaft zusätzliche Kosten entständen. Diese Einwände waren Ausdruck einer bewussten Ignoranz gegenüber der tatsächlichen Situation. Wie die Stadtverwaltung in ihrem Bericht vom ­Februar 1911 detailliert darlegte, lebten von insgesamt 7015 befragten Besuchern der Nachtunterkünfte 5542 dauerhaft in St. Petersburg, was einem Anteil von knapp 80 % entsprach, während sich die Zahl der sommerlichen Saisonarbeiter in den Nachtasylen und Herbergen auf gerade einmal 358, respektive rund 5 % belief.234 Dies deckt sich mit der Beobachtung, dass sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Zusammensetzung des Publikums der Nachtasyle und anderer Notunterkünfte zu ändern begann: Zusätzlich zu den dort schon seit längerem verkehrenden Allerärmsten blieb nun zunehmend auch gering bezahlten Lohnarbeitern, Handwerkern und anderen keine andere Möglichkeit mehr, als diese Art der Unterbringung zu ­nutzen.235 Auch die bereits erwähnte Konzentration des Großteils der Nachtunterkünfte in den innerstädtischen Randgebieten hielt an: 1911 lagen 26 der insgesamt 34 Häuser im Roždestvenskaja-, Alexander-­Newski- und Narva-­Distrikt.236 Die Stadtverwaltung selbst wies auf diesen Umstand hin, indem sie davon sprach, dass es eine „sehr ungleichmäßige Verteilung“ 237 über das Stadtgebiet gebe. Auch diese Feststellung blieb jedoch folgenlos, Reaktionen der Duma auf die Ergebnisse des Berichts erfolgten bis 1914 nicht mehr.

233 ISPGOD, 1908, No. 39, S. 900. 234 Vgl. ISPGOD, 1911, No. 13, S. 2452 f. (Anhang No. 6). 235 Vgl. ebd., S. 2432 f., 2442 – 2445 (Anhang No. 1), 2450 (Anhang No. 3). Vgl. diese Feststellung auch bei Steffens, Die Arbeiter von Petersburg, S. 165. 236 Vgl. ISPGOD, 1911, No. 13, S. 2440 f. (Anhang No. 1). 237 Ebd., S. 2432.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

Stattdessen gaben die teilweise drastischen Missstände in den Nachtunterkünften wiederholt Anlass für Berichte in der lokalen Presse. Insbesondere die von Privatpersonen geführten Häuser wurden in Augenschein genommen und häufig auf eine Stufe mit Slums gestellt. So bezeichnete Peterburgskij listok das Nachtasyl am Obvodnyj kanal Nummer 119 im Januar 1879 als Beispiel für „diese heutigen städtischen Slums“ 238. Und wenige Tage später wurde in der gleichen Zeitung die Unterkunft in der Gončarnaja ulica Nummer 7 mit der Vjazemskaja lavra verglichen, wie Krestovskij sie in seinem Roman beschrieben hatte.239 In der öffentlichen Wahrnehmung waren die nächtlichen Schlafstätten also viel eher ein weiteres Sinnbild für die in der Stadt herrschende Wohnungsnot, als dass man in ihnen einen wirkungsvollen Beitrag zu deren Lösung erblickt hätte. Eng verbunden mit der Frage der Nachtasyle waren die verschiedenen Petersburger Wohlfahrtsgesellschaften. Wie bereits gezeigt, unterhielten sie einen wesentlichen Teil dieser Einrichtungen. Die erste Gesellschaft, die sich speziell der Wohnungsfrage annahm, war die 1858 gegründete „Gesellschaft zur Verbesserung der Unterbringung der arbeitenden und bedürftigen Bevölkerung in St. Petersburg“ (Obščestvo dlja ulučšenija v S.-Peterburge pomeščenij rabočego i nuždajuščegosja naselenija). Sie errichtete keine Nachtunterkünfte, sondern bemühte sich um die Schaffung bezahlbaren Wohnraums. Ihre Tätigkeit erstreckte sich über mehrere Jahrzehnte, und es gelang ihr, mehrere Häuser in Petersburg zu eröffnen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfügte die Gesellschaft über zwei größere, kasernenartige Wohnanlagen mit insgesamt 346 Wohnungen, von denen sich die größere im Arbeiterbezirk Kolomna und eine kleinere auf der Vasilij-­Insel befanden. Hinzu kamen zwei Gebäude an anderen Stand­orten mit weiteren 149 Einzimmerwohnungen.240 Gegründet von wohlhabenden Petersburger Honoratioren, war die Gesellschaft in der Lage, die Wohnungen zu Preisen z­ wischen vier und 30 Rubel/Monat, inklusive Heizung, Wasser und Reinigung, und damit unter dem marktüblichen 238 [o. N.], Nočležnyj prijut g-­ži Zaseckoj, in: Peterburgskij listok, 04. 01. 1879, S. 2 f., hier S. 3. 239 Vgl. [o. N.], Dom Rozenberga i ego pritony, in: Peterburgskij listok, 10. 01. 1879, S. 2. 240 Vgl. Svjatlovskij, Žiliščnyj vopros v Rossi, S. 224 f. Das Gründungsjahr 1858 nennt ebenso Oppengejm, K voprosu ob ozdorovlenii gor. S.-Peterburga, S. 3. Dikanskij geht hingegen, ebenso wie der Verfasser des entsprechenden Lemmas in der Enzyklopädie von ­Brockhaus und Ėfron, von 1848 aus. Vgl. Dikanskij, Kvartirnyj vopros i social’nye opyty ego rešenija, S. 196 f.; Ja., Kvartirnyj vopros, S. 854.

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Niveau und in einem deutlich besseren Zustand zu vermieten.241 Es verwundert nicht, dass sie beständig ausgelastet waren und es stets eine Liste weiterer Interessenten gab.242 Dem Beispiel dieser ersten Wohlfahrtsgesellschaft im Bereich des Wohnungsbaus folgten weitere. So gründete sich 1861 die „Gesellschaft für günstige Wohnungen und Beihilfen für die bedürftige Bevölkerung St. Petersburgs“ (Obščestvo dostavlenija deševych kvartir i dr. posobij nuždajuščimsja žiteljam v S.-Peterburge). Sie vermietete keine ganzen Wohnungen, sondern einzelne Zimmer sowie Plätze in Schlafsälen.243 1908 gab es dann in Petersburg insgesamt 18 Einrichtungen, die zum Zweck der Schaffung bezahlbaren Wohnraums gegründet worden waren und einen Jahresumsatz von rund 200.000 Rubel aufwiesen.244 Darunter befanden sich neben Wohlfahrtsgesellschaften auch Wohnbaugenossenschaften. Diese waren ebenfalls bestrebt, der beständigen Verteuerung des Wohnens in der Hauptstadt eine Alternative entgegenzusetzen. Im Unterschied zu den Wohlfahrtsgesellschaften ging es den Genossenschaften jedoch nicht allein um die Schaffung günstiger Wohnungen, sondern auch um eine Abkehr von der dominierenden privaten Verfügungsmacht auf dem Immobilienmarkt zugunsten eines gemeinschaftlichen Besitzes der Häuser und Wohnungen ohne Profitorientierung. Gerade in Petersburg, wo sich wie gezeigt der weit überwiegende Teil der Wohnungen in privater Hand befand, war dies ein neuer und vergleichsweise weitgehender Ansatz. Inspiriert wurde er, neben der schlichten Notwendigkeit, Antworten auf die sich verschärfende Wohnungsfrage zu finden, durch die Rezeption entsprechender Bewegungen im Westen. Autoren wie Dikanskij und Pažitnov berichteten über die ersten Wohnbaugenossenschaften, die sich Ende des 18. Jahrhunderts in England gegründet hatten, sowie über die weitere Entwicklung in den USA und in Westeuropa im Laufe des 19. Jahrhunderts.245 Vor allem Dikanskij erblickte in den Genossen 241 Vgl. Ja., Kvartirnyj vopros, S. 854. 242 Vgl. Svjatlovskij, Žiliščnyj vopros v Rossi, S. 225. 243 Vgl. Ja., Kvartirnyj vopros, S. 854. 244 Vgl. Dikanskij, Kvartirnyj vopros i social’nye opyty ego rešenija, S. 197. Dies deckt sich weitgehend mit den Angaben in der Enzyklopädie von Brockhaus und Ėfron. Dort ­werden für 1895 17 Organisationen und ein Jahresumsatz von rund 135.000 Rubel genannt. Vgl. Ja., Kvartirnyj vopros, S. 854. 245 Vgl. Dikanskij, Žiliščnaja nužda i stroitel’nye tovariščetva; Pažitnov, K., Stroitel’nye tovariščestva v bor’be z žiliščnoj nužde, in: Gorodskoe delo 4 (1912), No. 5, S. 291 – 299.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

schaften den N ­ ukleus einer grundlegenden „Demokratisierung des munizipalen Lebens“ 246 in Gestalt einer Vergemeinschaftung des Wohneigentums. Stück für Stück könne es gelingen, die lokalen Genossenschaften zu einem reichsweiten Verbund zu vereinigen und somit eine „mächtige Kraft“ gegen den „grausamen Feind, die Wohnungsnot“ 247 zu schaffen. Die Realität war deutlich komplizierter. Zwar gründeten sich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auch im Russischen Reich erste Wohnbaugenossenschaften, und dies nicht nur in den Metropolen Moskau und St. Petersburg, sondern etwa auch in Odessa oder in Kiev.248 Insgesamt blieben dies bis 1914 jedoch Einzelfälle, von einer schlagkräftigen Bewegung konnte keine Rede sein. Die Gründe hierfür sollen kurz am Beispiel einer Petersburger Genossenschaft illustriert werden. 1902 gründete sich die „Genossenschaft für den Bau und die Verbesserung der Wohnungen der bedürftigen, arbeitenden Bevölkerung“ (Tovariščestvo ustroistva i ulučšenija žilišč dlja nuždajuščagosja trudjaščagosja naselenija), die sich bald darauf in „Genossenschaft zur Bekämpfung der Wohnungsnot“ (Tovariščestvo bor’by z žilišč’noj nuždoj) umbenannte. Sie verfolgte zwei zentrale Ziele: Zum einen sollten Wohnungen errichtet und unterhalten werden, die den sanitären Standards genügten und zu Preisen vermietet werden konnten, die für die „arme Bevölkerung, die von ihrer Arbeit lebt“ 249, erschwinglich waren; und zum anderen wollte man dies mit Einrichtungen wie einer Kantine, einem Lesesaal und einem Kindergarten verknüpfen, von denen man sich eine „Verbesserung des Daseins und der Lebensumstände dieser Bevölkerung“ 250 versprach. Beides sollte weder gewerblichen Zwecken noch wohltätigen Zielen dienen, sondern auf einer „strikt ökonomischen Grundlage“ durch die Einlagen der Genossenschaftsmitglieder realisiert werden, da man davon ausging, dass für „Menschen, die sich ihr Brot durch Arbeit verdienen, Wohltätigkeit nicht angemessen ist und sie lediglich verderben wird.“ 251

246 Dikanskij, Kvartirnyj vopros i social’nye opyty ego rešenija, S. 200. 247 Ders., Žiliščnaja nužda i stroitel’nye tovariščetva, S. 78. 248 Vgl. [o. N.], Soobščenija s mest. Odessa, in: Gorodskoe delo 4 (1912), No. 4, S. 246 – 248; Pažitnov, Stroitel’nye tovariščestva, S. 298. 249 Tovariščestvo bor’by s žiliščnoj nuždoj, Sankt-­Peterburg 1911, S. 8. 250 Ebd. 251 Ebd.

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Dank umfangreicher Zuschüsse und Darlehen seitens der Prinzessin Elena Georgievna von Sachsen-­Altenburg, des Innenministeriums sowie der Stadtverwaltung St. Petersburgs gelang es der Genossenschaft, in der Arbeitersiedlung Gavan‘ im Westen der Vasilj-­Insel ein Grundstück von 2200 Sažen‘² zu erwerben und dort bis zum September 1906 fünf jeweils fünfstöckige Gebäudekomplexe zu errichten.252 In ­diesem sogenannten „Gavaner Städtchen“ (Gavan’skij gorodok) entstanden 198 Wohnungen mit ein bis drei Zimmern, Küche und Toilette sowie 115 möblierte Einzelzimmer für bis zu vier Bewohner mit Gemeinschaftsküche. Zudem wurden eine Kantine, ein Lesesaal, ein Konzertraum, ein Kindergarten sowie eine Schule für 300 Kinder geschaffen.

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Abb. 4: Arbeitersiedlung Gavan’skij gorodok, 1911 

252 Elena Georgievna von Sachsen-­Altenburg übertrug das Grundstück an die Genossenschaft, zu dem Preis, zu dem sie es einst erworben hatte. Zudem entrichtete sie eine Einlage von 22.000 Rubel. Das Innenministerium unterstützte das Projekt 1903 mit einer Einlage in Höhe von 100.000 Rubel und gewährte 1905 einen Kredit über 200.000 Rubel, bei einem Zinssatz von 3,8 % und einer Laufzeit von 41 Jahren. 1906 erhielt die Genossenschaft zudem ein Darlehen der Stadtverwaltung über 150.000 Rubel, geknüpft an eine jährliche Rückzahlung von 5 %. Vgl. ebd., S. 6 f. 253 Tovariščestvo bor’by s žiliščnoj nuždoj, S. 4.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

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Abb. 5: Gavan’skij gorodok, Vortragsraum, 1911 

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Abb. 6: Gavan’skij gorodok, Speisesaal, 1911 

254 Ebd., S. 9. 255 Ebd., S. 11.

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Abb. 7: Gavan’skij gorodok, Arbeiterwohnung, 1911 

Die Mietpreise lagen ­zwischen 3,50 Rubel für ein Einzelzimmer und maximal 23 Rubel für eine Dreizimmerwohnung und damit deutlich unter dem Petersburger Durchschnitt. Sie waren so kalkuliert, dass die Unkosten und Versicherungen abgedeckt waren, ohne dass Gewinn erwirtschaftet wurde, und variierten in Abhängigkeit vom jeweiligen Einkommen und der Familiengröße der Mieter. Als Maxime für die Vergabe der Zimmer und Wohnungen diente hierbei die Richtlinie, dass die Miete nicht weniger als 1/5 und nicht mehr als ein 1/3 des monatlichen Einkommens ausmachen durfte. Auf diese Weise sollte sichergestellt werden, dass tatsächlich nur Personen einzogen, die ihr Auskommen durch eigene Arbeit finanzierten, und zugleich versuchte die Genossenschaft, sich auf diese Weise gegen Zahlungsausfälle abzusichern.257 Die Unterkünfte im „Gavaner Städtchen“ waren begehrt, die Zimmer und Wohnungen beständig ausgebucht und die Zahl weiterer Interessenten groß. Insoweit war die Genossenschaft ungewöhnlich erfolgreich, innerhalb weniger Jahre war es 256 Ebd., S. 13. 257 Vgl. ebd., S. 10 – 14; Dikanskij, Žiliščnaja nužda i stroitel’nye tovariščetva, S. 52.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

ihr gelungen, eine ganze Wohnsiedlung zu errichten, was auch zeitgenössisch entsprechend gewürdigt wurde.258 Die Bilanz fällt allerdings anders aus, wenn man auf das ursprüngliche Ziel blickt, die Mieter und damit die werktätige Bevölkerung der Stadt zugleich in den Aufbau der Genossenschaft einzubinden. Zwar entsprach die soziale Zusammensetzung der Mieterschaft durchaus den Erwartungen: Von 1908 bis 1910 stellten Handwerker und Arbeiter rund 50 % der Bewohner, wenn auch mit abnehmender Tendenz. Gut 30 % entfielen auf die in dem „Hafen-­Städtchen“ lebenden Kinder, während die Zahl der Angestellten (Služaščie) in diesen drei Jahren auf knapp 9 % anstieg.259 Letzteres erklärte sich durch die Erweiterung des städtischen Straßenbahnnetzes, wodurch Gavan‘ mit dem Zentrum der Stadt verbunden wurde, das nun in 15 – 20 Minuten zu erreichen war. Dieses Zusammenwirken z­ wischen privater respektive genossenschaftlicher Initiative und städtischem Infrastrukturausbau war in der Tat beispielgebend, zeigte es doch einen Weg auf, wie der Kreislauf von Verteuerung und Verdrängung durch eine gezielte Erschließung bisher vernachlässigter Gebiete für Bezieher niedriger Einkommen hätte durchbrochen werden können. Letztendlich verhinderte jedoch das skizzierte Desinteresse der Entscheidungsträger an den städtischen Peripherien, dass ­diesem Beispiel weitere folgten. Trotz der beträchtlichen Zahl an Arbeitern und Handwerkern wurde aus der Genossenschaft kein Zusammenschluss der arbeitenden und bedürftigen Bevölkerung. Ganze 20 der rund 1200 Mieter zahlten bis 1908 die erforderliche Einlage von 25 Rubel und wurden damit zu Genossen 260 – womit sie gerade einmal 500 Rubel in eine Genossenschaft einbrachten, die über ein Kapital- und Immobilienvermögen von rund einer halben Million Rubel verfügte.261 Damit konnte von einem gemeinschaftlichen Besitz nicht die Rede sein, ein autonomes

258 Vgl. u. a. die positive Einschätzung bei Dikanskij, Žiliščnaja nužda i stroitel’nye tovariščetva, S. 52. Ebenso aus dem Bereich der heutigen Forschung Bautz, Sozialpolitik statt Wohltätigkeit?, S. 189, die das „Städtchen“ als erstes „zukunftsweisendes Vorhaben zur Stadtplanung“ lobt, das auch tatsächlich realisiert wurde. 259 Vgl. Tovariščestvo bor’by s žiliščnoj nuždoj, S. 16 f. 260 Vgl. die Satzung der Genossenschaft, insbesondere § 13, abgedruckt in: Dikanskij, ­Kvartirnyj vopros i social’nye opyty ego rešenija, S. 230 – 239. 261 Vgl. den Bericht der Genossenschaft, in dem für den 1. Januar 1911 ein mobiles und immobiles Vermögen von 488.487,55 Rubel ausgewiesen ist. Vgl. Tovariščestvo bor’by s žiliščnoj nuždoj, S. 21. Dikanskij veranschlagte 1908 allein den Wert der Gavaner Wohnanlage auf mehr als 500.000 Rubel. Vgl. Dikanskij, Žiliščnaja nužda i stroitel’nye tovariščetva, S. 52.

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Agieren war praktisch nicht möglich. Vielmehr wäre das gesamte Projekt ohne die Zuschüsse der Prinzessin Elena Georgievna, des Innenministeriums sowie der Stadtverwaltung nicht nur nicht zustande gekommen, sondern auch nicht überlebensfähig gewesen. Die letztendliche Ausgestaltung der Genossenschaft unterschied sich damit kaum noch von den Wohlfahrtsgesellschaften, deren Ansatz 1902 noch als nicht zielführend verworfen worden war. Man war abhängig von den Zuwendungen privater Gönner und staatlicher Stellen. Letztere zeigten sich hinsichtlich des „Gavaner Städtchens“ wie erwähnt recht kooperativ, neben der Anbindung an das Straßenbahnnetz hatte die städtische Duma 1906 auch einen Kredit über 150.000 Rubel gewährt, um den Bau der Siedlung zu ermöglichen.262 Grundsätzlich war die Mehrheit der Dumaabgeordneten aber wie skizziert sehr zögerlich, im Bereich des Wohnungsbaus aktiv zu werden, und mit der Ablehnung einer Vergrößerung des städtischen Immobilienbesitzes hatte sie sich selbst der Möglichkeit beraubt, wohltätigen oder genossenschaftlichen Organisationen günstige Liegenschaften oder Gebäude in einem relevanten Umfang überlassen zu können. Die Motive für die sehr geringe Beteiligung der Arbeiter waren vielschichtig. Dmitrij Dril‘, einer der Begründer und erster Vorsitzender der Genossenschaft, führte als Erklärung an, dass die Arbeiter dem Konzept einer Genossenschaft „völliges Misstrauen [entgegen brächten] und unfähig ­seien, ihre Kräfte zur Erlangung des eigenen Wohlergehens zu bündeln.“ 263 Dieses Urteil ist in seiner essentialistischen Perspektive auf ‚den‘ Arbeiter sicher zu pauschal. Es übersieht, dass es einerseits eine Frage der finanziellen Möglichkeiten war, ob man zusätzlich zur Miete noch die Einlage für die Genossenschaft entrichten konnte oder nicht. Nicht wenige Bewohner hatten offensichtlich bereits mit der regelmäßigen Mietzahlung Schwierigkeiten – denn wie die Genossenschaft in ihrer Selbstdarstellung 1911 berichtete, waren die Mietrückstände bereits nach wenigen Jahren so hoch, dass sie dazu überging, säumigen Bewohnern zu kündigen.264 Nicht nur im Fall des „Gavaner Städtchens“ beschränkten sich die Genossenschaften letztendlich 262 Vgl. hierzu den Bericht der Stadtverwaltung vom 29. 03. 1906: ISPGOD 1906, No. 16, 1284 – 1290, sowie den Beschluss in der Dumasitzung vom 31. 05. 1906: ebd., No. 31, S. 391 f. Allerdings kam es im Folgenden zu Differenzen über die Modalitäten der Rückzahlung des Kredits. Vgl. den Bericht der Stadtverwaltung vom 11. 01. 1908, in: ebd., 1908, No. 13, S. 2576 – 2580; Beschluss in der Dumasitzung vom 18. 03. 1909: ebd., 1909, No. 14, S. 626. 263 Zitiert nach: Dikanskij, Žiliščnaja nužda i stroitel’nye tovariščetva, S. 56. 264 Vgl. Tovariščestvo bor’by s žiliščnoj nuždoj, S. 19 f.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

auf Mitglieder aus den „mittleren Klassen“ 265 der Gesellschaft, wie Pažitnov es in seinem Überblick über die Entwicklung der Wohnbaugenossenschaften in Russland formulierte. Als maßgebliche Ursache für diese Entwicklung führte er das niedrige Lohnniveau der russischen Arbeiter an. Zum gleichen Ergebnis gelangte ein ebenfalls in der Fachzeitschrift Gorodskoe delo erschienener Bericht über die Gründung einer Wohnbaugenossenschaft in Odessa. Auch dort setze sich die Mitgliedschaft „nur aus den mittleren Klassen, insbesondere aus der Beamtenschaft“ 266 zusammen. Die Menschen, deren Wohnungsbedingungen am schlimmsten waren, wurden von den Genossenschaften hingegen kaum erreicht.267 Zum anderen basierten wohltätige oder genossenschaftliche Initiativen in aller Regel auf bestimmten Leitlinien, die man in der alltäglichen Arbeit zu realisieren suchte. Im Falle der Gavaner Genossenschaft wird das aus ihrer Genese ersichtlich – sie entstand aus der „Kommission zum Kampf gegen den Alkoholismus“, die zur „Gesellschaft zur Bewahrung der Volksgesundheit“ gehörte.268 Dem entspricht es, dass man sich wie bereits zitiert ausschließlich an den Teil der armen Bevölkerung Petersburgs wandte, der sich sein „Brot durch Arbeit“ verdiente, während Wohltätigkeit als „verderblich“ angesehen wurde. Die subproletarischen Schichten der Stadt gehörten bei einem solchen Selbstverständnis nicht zu den Adressaten.269 Die Umsetzung dieser Maximen führte zu einem rapiden Rückgang der Zahl dauerhafter Mieter im „Hafen-­Städtchen“. Wie der Publikation der Genossenschaft zu entnehmen ist, sank die Zahl der mehrjährigen Bewohner von 1275 Ende 1908 auf lediglich 95 Ende 1910, bei unverändert hoher Nachfrage und vollständiger Auslastung aller Zimmer und Wohnungen.270 Die Genossenschaft selbst sprach davon, dass der Grund für diese Entwicklung „in nichts anderem liegt als in der immer strengeren Wahrnehmung der festgesetzten Normen.“ 271 265 Pažitnov, K., Stroitel’nye tovariščestva v bor’be z žiliščnoj nužde, in: Gorodskoe delo 4 (1912), No. 5, S. 298. 266 Vgl. Soobščenija s mest. Odessa, S. 246. 267 Jurij Kružnov bezeichnet das „Gavaner Städtchen“ folgerichtig auch als Beispiel für eine „kommerzielle Genossenschaft“: Kružnov, Istorija kvartirnogo voprosa, S. 127. 268 Vgl. Tovariščestvo bor’by s žiliščnoj nuždoj, S. 5. 269 Dies war kein Petersburger Spezifikum. Vgl. diese Feststellung für weitere europäische Städte auch bei Lenger, Metropolen, S. 139 f. 270 Vgl. ebd., S. 15. 271 Ebd., S. 16.

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Wohlfahrtsgesellschaften und Wohnbaugenossenschaften unterschieden sich in dieser Hinsicht nur graduell vom strengen Regiment der Arbeitshäuser 272 oder den Regeln, die in den Nachtasylen galten, beginnend mit dem obligatorischen Vorzeigen eines gültigen Passes.273 Aus der Sicht der Betreiber war dies sinnvoll und legitim – die Bedürftigen sollten nicht nur versorgt, sondern auch erzogen und diszipliniert werden. Zugleich besaßen s­ olche Reglements jedoch auch eine abschreckende Wirkung, die intendiert war und einen Teil der städtischen Unterschichten davon abhielt, bei diesen Institutionen vorstellig zu werden. ­Vladimir Svjatlovskij hat diesen Zusammenhang benannt: Bei aller Anerkennung für die Tätigkeit der Wohltätigkeitsgesellschaften kritisierte er zugleich deren Bestreben, die Bewohner zu regulieren. In Anbetracht der existentiell prekären Lebensumstände der betroffenen Personen müsse es zunächst darum gehen, bedingungslos günstigen Wohnraum zur Verfügung zu stellen, indem man die Einrichtungen so gestaltete, dass sie „für jedermann zugänglich und nicht einschüchternd“ 274 ­seien. Die gegenwärtige Praxis führe demgegenüber dazu, dass man die Ärmsten der Armen nicht erreiche und sie ihrem Schicksal überlasse. Die Kritik Svjatlovskijs traf zu. Zweifellos war es das Verdienst der verschiedenen, wohltätigen und genossenschaftlichen Initiativen, zumindest eine gewisse Struktur an Schlafplätzen, Zimmern und Wohnungen geschaffen zu haben, um die Konsequenzen der Wohnungsnot abzumildern, während sich die städtischen Entscheidungsträger auf Unterstützungsleistungen beschränkten und erst sehr spät selbst 272 Vgl. hierzu u. a. den Überblick von Gumbert, K., Doma trudoljubija v Rossii, in: Vestnik Blagotvoritel’nosti, 1897, No. 2, S. 23 – 34. Zur Diskussion um die mit der Errichtung von Arbeitshäusern verfolgten Ziele u. a. Lutkovskij, V., K voprosu o celjach i stroe domov trudoljubija, in: ebd., 1897, No. 3, S. 17 – 24. Auch in St. Petersburg gab es mehrere Arbeitshäuser. Vgl. u. a. zu einer solchen Einrichtung auf der Petersburger Seite [o. N.], O dome trudoljubija v Peterburge, in: ebd., 1870, No. 1, S. 22 – 26. Im Haus Nr. 95 an der Fontanka, das zum Gesamtkomplex der Vjazemskaja lavra gehörte, wurde 1898 ein Arbeitshaus errichtet, das sich an Kinder ­zwischen 7 und 14 Jahren richtete. Der dortige Tagesablauf war strikt reglementiert und bestand aus Schulunterricht, Handwerkskursen sowie religiöser Unterrichtung durch Geistliche. Vgl. die zur Eröffnung erschienene Publikation Detskij prijut trudoljubija v Vjazemskom dome, Sankt-­Peterburg 1898. 273 So zumindest die rechtliche Vorschrift für alle Nachtasyle und Herbergen. De facto wurde in vielen Häusern auf einen Identitätsnachweis verzichtet, wie auch andere Vorschriften in der Praxis häufig ignoriert wurden – was für die beteiligten Personen aber mit dem steten Risiko einer Polizeirazzia verbunden war, die dann entsprechende Sanktionen für Betreiber und Gast nach sich ziehen konnte. Vgl. Svjatlovskij, Žiliščnyj vopros v Rossi, S. 183 – 194. 274 Ebd., S. 191.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

aktiv wurden. Zugleich erreichte man jedoch nur einen kleinen Teil der Bedürftigen, was neben dem nicht zu bewältigenden Umfang auch eine Konsequenz der Konzepte war, die man verfolgte. Dies führt zu der Frage, wie die Menschen lebten, die nicht in Nachtasylen, Genossenschaftswohnungen oder Arbeitshäusern unterkamen. Was lässt sich über die inneren Strukturen und Differenzierungen jener Orte sagen, die für das ‚andere‘, das ‚dunkle‘ Petersburg standen? Und w ­ elche Quellen stehen uns hierfür zur Verfügung? Am Beispiel zweier großer städtischer Slums – der Vjazemskaja lavra am Rande des Heumarkts sowie „Vasjas Dorf “ auf der Vasilij-­Insel – sollen im Folgenden Antworten auf diese Fragen gegeben werden.

Horte versammelter Regellosigkeit? Die Slums der Hauptstadt Die Vjazemskaja lavra war im Petersburg des ausgehenden 19. Jahrhunderts ein Begriff, der schillernde Assoziationen weckte. Vsevolod Krestovskij hatte die lavra in seinen Peterburgskie truščoby so ausführlich und detailliert beschrieben wie keinen anderen Ort der Stadt,275 und in Fjodor Dostojewskijs „Verbrechen und Strafe“ 276 (Prestuplenie i nakazanie) ist es eine Kneipe namens „Kristallpalast“ (chrustal’nyj dvorec) innerhalb der lavra, in der Raskol’nikov aus den Zeitungen erfährt, dass über seinen Mord berichtet wird. Später trifft er sich hier mit Svidrigajlov, der ­Raskol’nikovs Geständnis mit angehört hat. Die Motive dieser vielgelesenen Romane wurden von der Petersburger Lokalpresse aufgegriffen und in Form sensationslüsterner Reportagen über spektakuläre Mordfälle und ausschweifende Orgien in der lavra ausgeschlachtet.277 Innerhalb weniger Jahre avancierte der Gebäudekomplex am Rande des Heumarkts damit zum Zentrum dessen, was Hubertus Jahn als die „imaginäre Geographie des ‚anderen‘ Petersburgs“ 278 bezeichnet hat, und ganz in der Tradition des aus London bekannten Phänomens des Slumming gab es regelrechte Exkursionen durch den berühmtesten Slum der russischen Hauptstadt.279 275 Vgl. Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 900 – 928. 276 Dostojewskij, Fjodor, Verbrechen und Strafe, 16. Auflage, Frankfurt/Main 2014 (Russische Erstausgabe 1866). 277 Vgl. u. a. M., Dom Vjazemskogo (Iz sudebnoj chroniki), in: Nedelja, 21. 05. 1895, S. 668 – 670; [o. N.], Dnevnik priključenij. V Vjazemskoj lavre, in: Peterburgskij listok, 07. 07. 1894, S. 3. 278 Jahn, Armes Russland, S. 122. 279 Vgl. Tereščuk, A. V., Vjazemskaja lavra, in: Tri veka, Bd. 2, Buch 1, Sankt-­Peterburg 2005, S. 667 f., hier S. 668.

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Karte 16: Das Gebiet der Vjazemskaja lavra im Spasskaja-­Distrikt, 1867 – 1870 280

Das Gebiet der Vjazemskaja lavra im nördlichen Teil des mit Ziffer III gekennzeichneten Gebiets, z­ wischen Obuchovskij prospekt, Heumarkt, Poltorackij pereulok und Fontanka.

Die Bezeichnung Vjazemskaja lavra, die sich am ehesten mit „Vjazemskij-­Kloster“ übersetzen lässt, stammte von den Bewohnern selbst. Ihre Verbreitung lässt sich auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts eingrenzen, während zuvor lediglich

280 Plan policejskich učastov S. Peterburga, 1867 – 1870. Plan tretjago učastka Spasskoj časti. RNB, Otdel kartografii, k 3-Пб/15 3.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

vom Dom Vjazemskogo (dem Vjazemskij-­Haus) die Rede war.281 Diese Verschiebungen in der Titulierung verliefen parallel zum Wandel des Anwesens – was später zum Inbegriff des Wortes Truščoba wurde, war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch ein reguläres Ensemble von insgesamt dreizehn zusammenhängenden Gebäuden, die in erster Linie aus Mietwohnungen bestanden. Das gesamte Anwesen erstreckte sich z­ wischen Heumarkt, Obuchovskij prospekt (dem späteren Zabalkanskij und jetzigen Moskovskij pospekt), Poltorackij pereulok (einer kleinen Gasse, die später in der Gorstkina ulica und heutigen Ulica Efimova aufging) und der Fontanka. Erster Besitzer des Grundstücks war seit Beginn der 1780er Jahre der Kaufmann Krasnoščekov.282 Von ihm erwarb Ende des 18. Jahrhunderts Mark ­Poltorackij das Anwesen. Poltorackij, Direktor der zarischen Gesangskapelle und Ahnherr des Adelsgeschlechts der Poltorackijs, errichtete mehrere neue Gebäude auf dem Gelände. Zu seinen Ehren wurde später die erwähnte kleine Straße, die das Anwesen im Osten begrenzte, Poltorackij pereulok genannt.283 Nach Poltorackijs Tod 1795 führte seine Witwe, Agafokleja Poltorackaja, geb. Šiškova, den Ausbau fort. So entstanden mehrere Handelshäuser sowie repräsentative Fassaden am Ufer der Fontanka.284 Ihr folgte als Besitzer Fürst Alexander E. Vjazemskij. Er ließ weitere Häuser auf dem Grundstück bauen, so dass schließlich in den 1830er Jahren die dreizehn Gebäude vorhanden waren, die bis zum Abriss der gesamten Anlage in sowjetischer Zeit Bestand haben sollten.285 Laut Nikolaj Svešnikov, einem langjährigen Bewohner der lavra, der später seine Erinnerungen an diesen Ort publiziert hat, worauf im Folgenden noch näher einzugehen sein wird, wohnte Fürst Vjazemskij bis in die 1850er Jahre auch persönlich in einem zur

281 Auch hierbei kam dem Roman Krestovskijs eine entscheidende Bedeutung zu: Das entsprechende Kapitel ist mit „Vjazemskaja lavra“ betitelt, wobei er in einer Anmerkung darauf hinwies, dass dies die unter den Bewohnern des Hauses gängige Bezeichnung sei. Vgl. Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 900. Die Bezeichnung „Vjazemskij-­Haus“ gab es auch weiterhin, aber im Alltag sprach man zunehmend einfach von der lavra. 282 So übereinstimmend Anciferov, Nikolaj, Ulica rynkov (Ėkskursija po b. Sadovoj ul. v Leningrade), in: Grevs, Ivan (Red.), Po očagam kul’tury. Novye temy dlja ėkskursij po gorodu. Metodičeskij sbornik, Leningrad 1926, S. 57 – 109, hier S. 90; Tereščuk, ­Vjazemskaja lavra, S. 667. 283 Vgl. Anciferov, Ulica rynkov, S. 90. 284 Vgl. Tereščuk, Vjazemskaja lavra, S. 667. 285 Vgl. Jurkova, Sennaja ploščad‘, S. 163 f.

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Fontanka gelegenen Flügel des Anwesens.286 Den Großteil der übrigen Wohnungen vermietete er und erzielte damit ein beträchtliches Einkommen – lagen der Heumarkt und seine Umgebung doch bald nicht mehr wie ursprünglich am Rande der Stadt, sondern mitten im Zentrum der rasch wachsenden Metropole. Insgesamt hatte das Anwesen somit bis hierhin eine Entwicklung genommen, die durch namhafte Besitzer und einen steten Ausbau charakterisiert war. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts befand es sich in bester Lage und hätte an sich das Potential besessen, zu einer ‚guten Adresse‘ der russischen Hauptstadt zu werden. Stattdessen entwickelte sich jedoch genau hier innerhalb weniger Jahre der bekannteste Slum St. Petersburgs, ein Truščoba, der entgegen der ursprünglichen Bedeutung des Wortes keine Einöde und kein abgelegener Winkel mehr war, sondern sich nur wenige Gehminuten von den repräsentativsten Orten der Stadt entfernt befand. Fragt man nach den Gründen für diese Entwicklung, so ist zum einen die Nähe zum Heumarkt zu nennen. Der Heumarkt war nicht nur der größte Lebensmittelmarkt der Stadt, sondern auch ein Ort der ‚kleinen Leute‘, ein Ort der Volksunruhen und ein hygienischer Problemfall. Im Kapitel über die Märkte St. Petersburgs wird all dies ausführlich thematisiert werden, an dieser Stelle sei jedoch festgehalten, dass das Grundstück des Fürsten Vjazemskij in einem Umfeld lag, das geprägt war von zahlreichen Spelunken, Bordellen und ärmlichen Unterkünften. Da die spätere lavra direkt an den Heumarkt grenzte, war sie entsprechend eng mit ­diesem verknüpft, wie noch zu zeigen sein wird. Vor ­diesem Hintergrund mag die weitere Entwicklung des Gebäudekomplexes nicht überraschen – zwangsläufig war sie jedoch nicht. Es hätte ebenso die Möglichkeit bestanden, die zahlreichen Wohnungen auf dem Gelände nach dem Vorbild der oben erwähnten Wohlfahrtsgesellschaften und Wohnungs­ genossenschaften für die Schaffung bezahlbarer Unterkünfte zu n ­ utzen und diese trotzdem in einem annehmbaren Zustand zu halten, so wie es später im „Gavaner Städtchen“ geschah. Über das entsprechende Kapital und vor allem über die notwendigen Beziehungen, um weitere vermögende Unterstützer zu gewinnen, verfügte Fürst Vjazemskij zweifellos. Stattdessen verweigerte er nach der Fertigstellung der Häuser jegliche Investition und zog zugleich einen beträchtlichen Profit aus der chronisch überfüllten Anlage. 286 Svešnikov, Nikolaj, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli. Original’nyj očerk s natury, napisannyj N. Svešnikovym, Sankt-­Peterburg 1900, S. 5.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

Während nach offiziellen Angaben 1871 rund 4000 Menschen in der lavra lebten,287 waren es nach anderen Schätzungen deutlich mehr. Krestovskij sprach von 10.000 Bewohnern,288 laut Fedor Ėrisman, der als Sanitärarzt die lavra aus eigener Anschauung kannte, waren es zwischenzeitlich bis zu 12.000 Menschen,289 und in der zum 300-jährigen Stadtjubiläum erschienenen Enzyklopädie ist von zwischenzeitlich bis zu 20.000 Bewohnern die Rede.290 Eine exakte Zahl ließ sich weder zeitgenössisch nennen noch ist dies heute möglich – Übereinstimmung herrscht jedoch darüber, dass die lavra chronisch überfüllt war und sich zum größten Slum der Hauptstadt entwickelt hatte, dessen Bevölkerung der einer „durchschnittlichen Kreisstadt“ 291 entsprach. Tausende Petersburger lebten in den dortigen Zimmern und Fluren, in völlig überfüllten Räumen, mit unzureichender Luftzufuhr, ohne ausreichend Tageslicht, schliefen an feuchten Wänden und auf nassen Böden und hatten nach der Einschätzung von Fedor Ėrisman bei einem dauerhaften Aufenthalt an d ­ iesem Ort eine drastisch reduzierte Lebenserwartung von nicht mehr als 25 – 30 Jahren.292 Zugleich zahlten sie für ihren Aufenthalt in der lavra, in der Regel nicht direkt an Fürst Vjazemskij, sondern an einen der Mieter, denen Vjazemskij die Wohnungen verpachtet hatte. Das hieraus entstehende System von Miete und Untervermietung führte zu beträchtlichen Preisschwankungen: So war es möglich, für wenige Kopeken eine Nacht in irgendeinem feuchten Winkel zu verbringen, während die Anmietung eines ganzen Zimmers über 30 Rubel im Monat kosten konnte.293 Ein beträchtlicher Teil des Profits floss dennoch an den letztendlichen Besitzer, Fürst Vjazemskij. 287 Vgl. Zasedanii v stoličnom mirovom sezde 15-go fevralja, po delu narušenii s­ anitarnych pravil domvladel’com knjazem Vjazemskim, in: Vedomosti Sankt-­Peterburgskogo gradonačal’stva i vedomosti Sankt-­Peterburgskoj gorodskoj policii, 1871, No. 64, 19. 03. 1871, S. 1 – 2, No. 65, 20. 03. 1871, S. 1 – 2 und No. 66, 21. 03. 1871, S. 1 – 2, hier No. 65, 20. 03. 1871, S. 1. 288 Vgl. Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 911. 289 Vgl. Dr. med. Ėrisman, F[edor], Nastojaščee sostojanie v sanitarnym otnošenii domov kn. Vjazemskogo v Peterburge, in: Archiv sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny 7 (1871), No. 2, S. 45 – 78, hier S. 55. 290 Vgl. Tereščuk, Vjazemskaja lavra, S. 667. 291 Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 911. 292 Die durchschnittliche Lebenserwartung des besser gestellten Teils der Bevölkerung lag laut Ėrisman demgegenüber bei rund 70 Jahren. Vgl. Ėrisman, Nastojaščee sostojanie, S. 60. 293 Vgl. hierzu anhand zahlreicher Beispiele Svešnikov, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli.

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Nach den Berechnungen von Fedor Ėrisman lag der jährliche Gewinn, den er mit der Vermietung von Zimmern in der lavra erzielte, ­zwischen 9000 und 12.000 Rubel, abhängig davon, w ­ elche Teile des Gebäudekomplexes gerade bewohnt und ­welche von der Stadt gesperrt waren.294 Die Zustände in der lavra entwickelten sich zu einem beständigen Gegenstand polizeilicher, sanitärärztlicher, politischer und juristischer Auseinandersetzungen. Die städtische Duma debattierte wiederholt über diesen Ort und setzte eine eigene Kommission zur Inspektion der Anlage ein.295 Die Ärzte der Sanitärkommission führten zahlreiche Begehungen der Wohnungen durch, und die Polizei wurde damit beauftragt, geltende Verordnungen durchzusetzen und den Zuzug weiterer Bewohner zu verhindern.296 Zudem ging die Stadt gerichtlich gegen ­Vjazemskij vor, um ihn auf d ­ iesem Weg zu Investitionen und Renovierungsarbeiten zu bewegen. Mithilfe seiner Anwälte gelang es ihm jedoch, die Verantwortung auf andere Personen wie etwa die vorherige Besitzerin abzuwälzen oder geltend zu machen, dass er von den Zuständen in seinen Häusern nichts gewusst habe. So übernahm 1871 in einem Berufungsverfahren vor dem städtischen Amtsgericht einer der bekanntesten Advokaten Petersburgs (Spasovič) die Verteidigung Vjazemskis. Er erwirkte einen weitgehenden Freispruch vom Vorwurf des Verstoßes gegen die sanitären Bestimmungen, indem er unter anderem den Nachweis führte, dass die Choleraepidemie, w ­ elche die Stadt 1870 heimsuchte, offiziell erst am 1. September ­dieses Jahres als eine ­solche erklärt worden war, wohingegen eine Aufforderung der Polizei an Vjazemskij, dringende Renovierungsarbeiten zur Verhinderung einer Epidemie umgehend durchführen zu lassen, vom 24. August datierte und damit von einem Zeitpunkt, zu dem der Adressat noch nichts von einem Cholera­ ausbruch habe wissen können.297 Dass sich das Gericht dieser Argumentation

294 Vgl. Ėrisman, Nastojaščee sostojanie, S. 74. 295 Vgl. u. a. die Sitzungsprotokolle vom 22.01. und 27. 01. 1882: ISPGOD, 1882, No. 9, S. 575 f., 583 f., vom 24. 11. 1882: ebd., 1882, No. 42, S. 685 f., sowie den ausführlichen Bericht über die (Un)wirksamkeit der in der lavra ergriffenen sanitären Maßnahmen im Anhang zur Dumasitzung vom 08. 12. 1882: ebd., 1883, No. 14, S. 872 – 885. 296 Vgl. neben Ėrisman, Nastojaščee sostojanie, auch die Korrespondenz über die Begehungen der lavra am 12. 09. 1868 sowie am 19. 09. 1870 sowie über die hieraus zu ziehenden Konsequenzen im Bestand der Bauabteilung der Stadtverwaltung: CGIA SPb, f. 256, op. 1, del. 3035, insbesondere ll. 5 f., 24 – 26ob., 130 f. 297 Vgl. die detaillierte Darlegung des Prozessverlaufs in: Zasedanii v stoličnom mirovom sezde 15-go fevralja.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

anschloss, blieb für einen Mediziner wie Fedor Ėrisman vollkommen unverständlich, konnte er doch detailliert auflisten, dass es de facto bereits seit Mitte August 1870 die ersten Choleraerkrankungen gegeben hatte und dass hygienische Missstände wie jene in der lavra hierfür ursächlich waren.298 Letztendlich bestanden die einzigen praktischen Ergebnisse in Ausbesserungen vereinzelter Gebäudeteile und darin, dass Teile der Anlage zwischenzeitlich geräumt und geschlossen wurden.299 Die betroffenen Bewohner wurden vor vollendete Tatsachen gestellt und sich selbst überlassen – was in der Regel bedeutete, dass sie in anderen Teilen der lavra Unterschlupf suchten, wodurch der Kreislauf aus Überbelegung und sanitären Missständen nur weiter verschärft wurde. Ein umfassendes Konzept, wie es von verschiedenen Seiten eingefordert wurde und das aus einer sukzessiven Renovierung oder Schließung bei einer gleichzeitigen Schaffung alternativer Wohnmöglichkeiten durch die Stadt hätte bestehen können,300 kam hingen nicht zustande. So konnte Fürst Vjazemskij weiterhin seine einträgliche Strategie verfolgen, möglichst wenig zu investieren und stattdessen maximale Einkünfte zu erzielen. Er avancierte hiermit zum wahrscheinlich prominentesten Petersburger Vertreter des Typus Hausbesitzer, der die Wohnungsnot gezielt ausnutzte und von ihr profitierte. Fedor Ėrisman gelangte angesichts dessen zu dem Urteil, dass sich Fürst Vjazemskij nicht nur der „groben Unterlassung“ seiner Sorgfaltspflicht gegenüber den Tausenden von Bewohnern der lavra schuldig mache, sondern hiermit auch das Wohlergehen „der Gesellschaft und damit aller Bewohner der Stadt“ 301 gefährde. In Anbetracht der vielfach dokumentierten Missstände sei es „unmöglich, die Durchdachtheit dieser Handlungen“ 302 in Abrede zu stellen, auch wenn die Anwälte Vjazemskijs genau dies glaubhaft zu machen versuchten. Innerhalb weniger Jahre war somit in der allgemeinen Wahrnehmung aus einem regulären Wohnungskomplex ein „Ort der Unordnung und des Mangels [Hervorhebung im Original – H.-C. P]“ 303 geworden, wie es Loïc Wacquant hinsichtlich der Darstellung US-amerikanischer Ghettos formuliert hat. Die Beob­achter und Analytiker gingen, so Wacquant weiter, davon aus, dass eine Untersuchung solcher 298 Vgl. Ėrisman, Nastojaščee sostojanie, S. 49 – 52. 299 So waren im März 1871 nur acht Flügel bewohnt. Vgl. ebd., S. 55 f. 300 Vgl. ebd., S. 77 f., sowie die entsprechende Stellungnahme des Abgeordneten Kitner in der Dumasitzung vom 22. 01. 1882: ISPGOD, 1882, No. 9, S. 575 f., hier S. 576. 301 Ėrisman, Nastojaščee sostojanie, S. 76. 302 Ebd. 303 Wacquant, Drei irreführende Prämissen, S. 200.

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Orte „mittels negativer Begriffe [Hervorhebung im Original – H.-C. P] zu befriedigenden Ergebnissen führe, indem [ihre] Unzulänglichkeiten und diejenigen [ihrer] Bewohner aufgezeigt werden und indem näher bestimmt wird, wie (und wie sehr) beide von einer ‚Mehrheits‘-Gesellschaft abweichen […].“ 304 Sie erschienen hierdurch als ein „Hort versammelter Regellosigkeit, Abweichung, Anomie und Atomisierung, vollgepfropft mit Verhaltensweisen, die die allgemeinen Normen von Moral und Anstand verletzen, sei es durch exzessive Handlungsweisen […] oder durch Versäumnisse […].“ 305 Diese Feststellungen, abgeleitet aus der Untersuchung des Diskurses über das Ghetto in der amerikanischen Gesellschaft und den amerikanischen Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert, beschreiben trotz der räumlichen und zeit­ lichen Differenz exakt das Bild, das in der Petersburger Öffentlichkeit von Orten wie der lavra gezeichnet wurde. Nicht zufällig sprach die lokale Presse in einer kolonialistischen Perspektive von den „Aborigines“ 306 (aborigenov), die sich dort sammeln würden, und ordnete das ganze Geschehen der „Ethnographie“ 307 St. Petersburgs zu. Und auch die Forschung ist bis heute bis auf wenige Ausnahmen 308 nicht darüber hinaus gekommen, die Orte der städtischen Unterschichten anders als allein mittels negativer Attribute zu beschreiben. Wie Loïc Wacquant zu Recht kritisiert, werden damit jedoch nur die immer gleichen „Bilderreihen“ 309 reproduziert, ohne dass wir etwas über die innere Struktur dieser Orte erfahren. Wolle man diesen Exotismus überwinden, müsse der Analytiker die Arbeit der kollektiven [Hervorhebung im Original – H.-C. P.] Selbsterzeugung untersuchen, durch ­welche die Ghettobewohner ihrer Welt eine Form, eine Bedeutung und einen Zweck verleihen, statt sich mit der Feststellung zu begnügen, dass dieser Modus sich von denjenigen, die in anderen Bereichen der Gesellschaft gültig sind, schlicht unterscheidet.310 304 Ebd. 305 Ebd., S. 201. 306 [o. N.], Nočležnye doma i ich naselenie, in: Peterburgskij listok, 21. 02. 1893, S. 2. 307 Skorodumov, Petr, Vjazemskie kadety, in: ebd., 02. 07. 1866, S. 4. 308 Jahn, Hubertus, Der St. Petersburger Heumarkt im 19. Jahrhundert. Metamorphosen eines Stadtviertels, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), H. 1, S. 162 – 177; Bradley, „Once You’ve Eaten Khitrov Soup You’ll Never Leave!“. 309 Wacquant, Drei irreführende Prämissen, S. 200. 310 Ebd., S. 203.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

Will man d ­ iesem Plädoyer Wacquants folgen, so stellt sich die Frage, w ­ elche Quellen uns hierfür mit Blick auf die lavra zur Verfügung stehen. Neuere Arbeiten, die sich explizit dem größten Slum Petersburgs widmen würden, existieren nicht. Einen guten, aber naturgemäß sehr knappen Überblick über die Geschichte d ­ ieses Orts bietet der Beitrag von Tereščuk in der aktuellen Petersburg-­Enzyklopädie.311 Zoja Jurkova verbleibt in ihrem ansonsten zweifellos wichtigen Überblickswerk zum Heumarkt in dem Kapitel zur lavra weitgehend dabei, ausführlich aus dem Roman Krestovskijs zu zitieren, ohne die Passagen einer weiteren Analyse zu unterziehen.312 Ähnlich verhält es sich diesbezüglich mit der Studie von A ­ nciferov über die „Straße der Märkte“, wobei seinem Text allerdings darüber hinaus interessante Informationen über die Veränderung des Anwesens in sowje­tischer Zeit zu entnehmen sind.313 So führt der Weg zu einer Beschreibung der inneren Strukturen der lavra in erster Linie über die zeitgenössischen Darstellungen. An deren Anfang steht der Roman Krestovskijs. Er ist insgesamt sicherlich dem Bereich des fiktionalen Erzählens zuzuordnen und somit als historische Quelle nur schwerlich verwendbar. Allerdings basierten die Beschreibungen Krestovskijs auf seinen mehrfachen Aufenthalten in der lavra sowie auf Exzerpten aus Gerichts- und Polizeiakten.314 Während die von ihm entworfenen Figuren sich einer Überprüfung entziehen und hier nicht weiter betrachtet werden sollen, bietet vor allem das erste seiner beiden diesbezüglichen Kapitel („Vjazemskaja lavra“ 315) eingehende Informationen über die Struktur der Anlage, die sich mit den Angaben in anderen Quellen wie den bereits erwähnten Prozessberichten oder den Begehungsprotokollen der Sanitärärzte decken. Und auch das zweite Kapitel („Obitateli Vjazemskoj lavry“ 316/ Die Bewohner der Vjazemskaja lavra) ist hinsichtlich der von Wacquant

311 312 313 314

Vgl. Tereščuk, Vjazemskaja lavra. Vgl. Jurkova, Sennaja ploščad‘, S. 162 – 178. Vgl. Anciferov, Ulica rynkov, S. 90 – 96. Vgl. hierzu das Vorwort in: Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 5 – 13, sowie Jahn, Armes Russland, S. 113 f., 120 – 123. Auch Nikolaj Svešnikov berichtet davon, dass er während eines seiner Gefängnisaufenthalte einen anderen Insassen kennengelernt habe, der Krestovskij mit Material über die lavra versorgt habe: Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 104. 315 Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 900 – 911. 3 16 Ebd., S. 911 – 921.

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eingeforderten Untersuchung der „kollektiven Selbsterzeugung“ der Bewohner nicht ohne Relevanz, wie noch zu zeigen sein wird. Neben dem vielzitierten Werk Krestovskijs sind vor allem die Aufzeichnungen Nikolaj Svešnikovs zu nennen. Svešnikov, Buchhändler, Autor und mehrjähriger Bewohner der lavra, veröffentlichte rund 30 Jahre nach Krestovskij seine Erinnerungen an diesen Ort.317 Er legte hierbei Wert darauf, dass alle bisherigen Texte über die lavra zu großen Teilen der „Fantasie“ entsprungen s­ eien, auch wenn sie „in vielem der Wirklichkeit ähneln.“ Er hingegen, dem „aufgrund verschiedener Zufälle das Unglück widerfahren ist, dort gelebt zu haben“, werde den Ort, „wenn auch vielleicht ungeschickt, wahrheitsgetreu“ beschreiben.318 Hubertus Jahn hat diese vollmundige Ankündigung zum Anlass genommen, die Erinnerungen Svešnikovs als das literarisch wertlose Werk eines „notorische[n] Trinker[s] und glücklose[n] Bouquinist[en]“ 319 zu verwerfen. Dies ist insoweit zutreffend, als dass Svešnikov tatsächlich Alkoholiker und Buchhändler war, wie sich seinen ebenfalls publizierten Erinnerungen 320 entnehmen lässt, auf die ich im Kapitel über die Märkte St. Petersburgs noch näher eingehen werde. Insoweit ist Jahns harsche Kritik zutreffend. Fraglich ist jedoch, ob die Aufzeichnungen Svešnikovs damit gleichsam auch als historische Quelle obsolet werden. Abram Rejtblat, Herausgeber der kommentierten Neuauflage der Erinnerungen Svešnikovs, die 1996 bei Novoe literaturnoe obozrenie erschienen ist, attestiert dem Verfasser, dass sich sein Text durch „die Weite des Panoramas (Hauptstadt, Provinzstädte, Dörfer), durch die Bandbreite unterschiedlicher Stände der ‚Helden‘ (von den Bewohnern der Nachtasyle bis zum Zaren) sowie durch die Exaktheit und Ausdruckskraft der Erzählung“ 321 auszeichne. Zu einem ähnlichen Urteil gelangten die Herausgeber der ersten kommentierten Ausgabe aus dem Jahr 1930: Die Autobiographie Svešnikovs sei von „exakter und bemerkenswerter Aufrichtigkeit“ und nähme aufgrund der „unverfälschten Persönlichkeit“ des Autors und dessen 317 Die Aufzeichnungen Svešnikovs erschienen erstmals 1892 unter der Überschrift ­„Vjazemskie truščoby“ (Vjazemskij-­Slums) in einer Artikelserie der Zeitung Novoe vremja. 1900 folgte ein Buch, das den Titel „Die Vjazemskij-­Slums und ihre Bewohner. Eine Originalskizze aus dem Leben“ trug: Svešnikov, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli. 318 Svešnikov, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli, S. 5. 319 Jahn, Armes Russland, S. 124. 320 Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996. 321 Rejtblat, N. I. Svešnikov. Knigotorgovec, memuarist, p’janica, S. 5.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

„eigentümlichen Lebensschicksals“ einen „einzigartigen Platz“ 322 in der vielfältigen russischen Memoirenliteratur ein. Und auch Julie Buckler kommt in ihrer Studie Mapping St. Petersburg zu einem wesentlich differenzierteren Urteil: Trotz ihrer deutlichen Skepsis hinsichtlich des literarischen Werts der Werke von Krestovskij und Svešnikov attestiert sie Letzterem eine realistischere und weniger sensationsheischende Herangehensweise: In contrast to the sensationalist Krestovskii, Sveshnikov walks his readers calmly through the notorious slum in order to dispel the persisent social mythology that clings to them. […] He thus sought to humanize the Viazemskii slums, rendering diverse individual histories in resident’s own words, rather than through the s­ hocked eyes of Krestovskii’s cultured-­but-­degraded protagonists, and emphasizing the ­circumstances that have led these people to such a place.323

Zudem weist Buckler darauf hin, dass Svešnikovs Perspektive schon deswegen ein anderes Gewicht habe, weil er infolge seines Alkoholismus tatsächlich jahrelange in der lavra gelebt hat, während Krestovskij sie nur zu Recherchezwecken aufsuchte.324 Dies ist nachweislich zutreffend, so dass die Erinnerungen S­ vešnikovs im Folgenden als Quelle herangezogen werden, die dort, wo dies möglich ist, mit anderen zeitgenössischen Texten abgeglichen wird. Fragt man nun auf dieser Grundlage nach den inneren Strukturen, Hierarchien und Aneignungen des Raums durch die Bewohner der lavra, so ist zunächst ein Blick auf den Grundriss des Gebäudekomplexes hilfreich. Wie bereits erwähnt, erstreckte sich die gesamte Anlage auf einer Fläche z­ wischen Heumarkt, O ­ buchovskij prospekt, Poltorackij pereulok und Fontanka. Nachdem Fürst Vjazemskij nach der Übernahme des Anwesens weitere Häuser hatte errichten lassen, war seit den 1830er Jahren die Grundstruktur aus dreizehn Gebäuden vorhanden, die bis zum Abriss der gesamten Anlage in sowjetischer Zeit Bestand hatte. Die verschiedenen Gebäudeteile waren untereinander verbunden und begehbar, so dass sie wie ein Ganzes wirkten. Hinzu kamen mehrere Höfe sowie drei Torwege in Richtung Fontanka, Obuchovskij prospekt und Heumarkt. Der Hauptzugang befand sich an 322 Predislovie, in: Svešnikov, N[ikolaj] I., Vospominanija propaščego čeloveka. S priloženiem očerka N. S. leskova „Spiridony-­Povoroty“, Moskva, Leningrad 1930, S. 5 – 9, hier S. 5. 323 Buckler, Mapping St. Petersburg, S. 175. 324 Ebd., S. 176.

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der Stelle, an der auch heute noch der Eingang zum Sennoj rynok liegt: Zwischen den Häusern Nr. 4 und 6 des jetzigen Moskovskij und damaligen Obuchovskij bzw. späteren Zabalkanskij prospekt.325 Von den drei Hauptflügeln des Komplexes gingen zwei zum Obuchovskij ­prospekt und einer zur Fontanka. Während die ersteren beiden wenig repräsentativ waren und zahlreiche Kneipen, Badehäuser und Geschäfte beherbergten, besaß der letztere große Spiegelfenster und war in rötlicher Farbe im Stil des Klassizismus errichtet worden.326 Hier wohnte bis zu Beginn der 1850er Jahre der Besitzer, Fürst Vjazemskij. Am Ende d ­ ieses Jahrzehnts stand der Flügel hingegen bereits leer, wie sich der Eröffnungsszene entnehmen lässt, mit der Krestovskij seine Beschreibung der lavra beginnt. Er spricht von einem Haus, in dem man niemals „Leben oder irgendeine menschliche Gestalt“ bemerken könne, es sei „stumm und öde, als wenn alle seine Insassen gestorben wären.“ 327 Einzig das Fenster des Portiers in der unteren Etage sei noch beleuchtet gewesen. Krestovskij führt den Leser anschließend durch ­dieses verlassene, fürstliche Anwesen. Detailliert beschreibt er die Zeugnisse des früheren Reichtums, die Marmorsäulen und Standbilder, die zahlreichen Treppen, den Wintergarten, die mit dunklem Holz vertäfelte Bibliothek und die mit seidenen Stoffen tapezierten Empfangszimmer.328 Zugleich gibt es in dieser Darstellung kein Anzeichen menschlichen Lebens, alles ist von Spinnenweben und dicken Staubschichten bedeckt. Mit dem Rundgang und der ausführlichen Schilderung der Überreste vergangenen Reichtums vermittelt Krestovskij dem Leser das Gefühl, ihn tatsächlich hinter die Fassade eines Slums schauen zu lassen. Das aristokratische Äußere des Gebäudes und das verlassene, einstmals luxuriöse Innere entsprechen hierbei allerdings in keiner Weise den Erwartungen und bilden den größtmöglichen Gegensatz zum überfüllten und prekären Innenleben der übrigen Gebäude der 325 Vgl. Jurkova, Senaja ploščad’, S. 163, sowie die Skizze ebd., S. 149. Svešnikov berichtet in seiner Autobiographie davon, wie er 1859 den Obuchovskij prospekt entlang ging, erstmals die Tore des Vjazemskij-­Hauses erblickte und d ­ ieses bald darauf betrat, um sich eine Ecke in einem Zimmer mit 25 Personen zu mieten. Vgl. ders., Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 55. 326 Vgl., in ihrem Lob d ­ ieses Gebäudes übereinstimmend: Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 900; Svešnikov, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli, S. 5. 327 Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 900. 328 Vgl. ebd., S. 901 – 904.

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Anlage – eine Kontrastierung, mittels derer Krestovskij seine folgenden Beschreibungen der weiteren Flügel noch einmal zu verstärkten suchte.329 Hinter dem repräsentativen Flügel an der Fontanka erstreckten sich in nördlicher Richtung entlang der Poltorackij pereulok bis zum Heumarkt mehrere Gebäudeteile. In ihnen befanden sich die nach den dort lebenden Korbmachern benannte „Korbfabrik“ (korzinočnyj fligel‘) sowie das Kontor der lavra und die Wohnung des Hausmeisters (Dvornik). Die Räume im unteren Teil der „Korb­ fabrik“ waren unter den Bewohnern der lavra als Nikanoricha bekannt – ein Name, der sich vom Namen der Besitzerin der dort befindlichen Kneipe ­(Nikanorovna) ableitete.330 Insgesamt galt die Poltorackij pereulok als eine der gefährlichsten Ecken des gesamten Anwesens, was darauf zurückzuführen war, dass sich dort neben den Korbmachern auch zahlreiche Kriminelle niedergelassen hatten. Folgt man Krestovskij, so galt die Gasse als so gefährlich, dass man sie „sogar am Tage nicht ohne Gefahr zu besuchen wagte.“ 331 Die „Korbfabrik“ grenzte an mehrere Innenhöfe, darunter auch an den so genannten „leeren Hof “ (pustoj dvor), an dessen einer Seite der „Bock“ (kozel) lag – ein fensterloses Gebäude, das zum Ort der Selbstjustiz in der lavra wurde, auf die ich noch näher eingehen werde. Dahinter existierten eine Kuttelküche, die bereits an den Heumarkt grenzte und in der alle möglichen Innereien ausgekocht wurden, sowie mehrere Bäckereien. In westlicher Richtung, gen Obuchovskij prospekt, lag der „Lumpenflügel“ (Fligel‘ trjapičnyj), ein großer, unbewohnter Gebäudeteil mit einem separaten Hof, der den zahlreichen in der lavra lebenden Lumpensammlern als Unterkunft und Lagerraum diente. Gegenüber dem Haupteingang erblickte man zudem den von Tischlern bewohnten „Tischlerflügel“ (stoljarnyj fligel‘) sowie den Eingang zur „Mausefalle“ (Myšelovka) – ein Ort, der vor allem Obdachlosen und Passlosen als Zuflucht diente und der seinen Namen deshalb trug, weil er bei Polizeirazzien schnell zur Falle werden konnte.332 Das größte und markanteste Gebäude im Inneren der lavra war der „gläserne Flügel“ (stekljannyj korridor‘). Er lag ­zwischen „Lumpenflügel“ und Poltorackij pereulok, erstreckte sich über zwei Etagen und war mit rund 50 Wohnungen 329 330 331 332

Vgl. hierzu auch Buckler, Mapping St. Petersburg, S. 174 f. Vgl. Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 904. Ebd., S. 909. Vgl. Svešnikov, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli, S. 8

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der am dichtesten bevölkerte Teil der gesamten Anlage. Nach Krestovskij war dies „der Slum der Petersburger Slums“ 333 (truščoba truščob Peterburgskich), die Zeitung Nedelja (Die Woche) sprach mit einem unverkennbar ironischen Unterton vom „berühmten Glaskorridor“ 334, und auch Fedor Ėrisman wählte gewiss nicht zufällig diesen Teil der lavra für seine ausführliche Schilderung der dortigen Missstände.335 Die Bezeichnung als „gläserner Flügel“ rührte von den oberen Stockwerken her, an denen sich balkonartige Galerien entlang zogen, die von großen Bogenfenstern geschützt wurden.336 In seiner Anlage erinnerte er, ebenso wie das Haus an der Fontanka, an die repräsentative Geschichte ­dieses Orts. Jetzt waren die meisten Scheiben zerschlagen, und die hohen Räumlichkeiten beherbergten dicht gedrängt lebende Menschen sowie eine „Fressmeile“ (obžornyj rjad), auf der einfache Speisen zu niedrigen Preisen angeboten wurden.

337

Abb. 8: Blick in das Innere der Vjazemskaja lavra, 1905 – 1910 

333 334 335 336 337

Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 909. M., Dom Vjazemskogo (Iz sudebnoj chroniki), S. 668. Vgl. Ėrisman, Nastojaščee sostojanie. Vgl. ebd., S. 910. http://p2.citywalls.ru/photo_338-346634.jpg?mt=1525371372 (letzter Aufruf 28. 10. 2018).

Reaktionen auf die Wohnungsnot

Neben den genannten Beispielen existierten auf dem Gelände der lavra noch diverse weitere Einrichtungen, darunter Kneipen, Teestuben, Bäckereien, Badehäuser, eine Tischlerwerkstatt und eine Schmiede. Die innere Struktur ­dieses Orts war mithin äußerst differenziert und mit der äußeren Klassifizierung als Slum nur sehr ungenügend erfasst. Das System der zahlreichen und für Außenstehende kaum zu durchschauenden Bezeichnungen entsprach vielmehr dem, was Tereščuk als „spezifische Mikrotoponymie“ 338 bezeichnet hat, die für die lavra charakteristisch gewesen sei. Die innere Heterogenität der lavra spiegelte sich auch in der sozialen Zusammensetzung der Bewohner wider. Auf der einen Seite gab es einen statistisch kaum greifbaren Teil an Bettlern, Prostituierten, Obdachlosen und (Klein)kriminellen – mithin jenen Personenkreis, der in der öffentlichen Meinung an einem solchen Ort vermutet wurde und der üblicherweise mit Kollektivbegriffen wie „elende und dunkle Menschen“ 339 (niščie i temnye ljudi), „dunkelste und zwielichtigste Gestalten“ 340 (samye temnye, samye podozritel’nye ličnosti) oder einfach als das „eingenistete Übel“ 341 (vkorenivšagosja zla) belegt wurde. Was bei solchen Pauschalisierungen übersehen wurde, waren die unterschiedlichen Motive und Umstände, die die Menschen an einen Ort wie die lavra führten: Während Diebe oder Passfälscher sich auf d ­ iesem Weg dem Zugriff der Polizei zu entziehen suchten, blieb Personen, die über keine gültige Aufenthaltserlaubnis verfügten, kaum eine andere Möglichkeit, musste doch in Nachtasylen und Herbergen ein Pass vorgelegt werden, ehe man möglicherweise Aufnahme fand. Dementsprechend landeten sie, wenn sie nicht auf der Straße übernachten wollten, an Orten wie der „Mausefalle“, von der Svešnikov berichtet, dass sie vor allem von Passlosen belegt wurde und von so genannten Spiridony-­Povoroty – Personen, die der Stadt verwiesen worden waren und illegal zurückkehrten.342 Und auch 338 Tereščuk, Vjazemskaja lavra, S. 668. 339 M., Dom Vjazemskogo (Iz sudebnoj chroniki), S. 668. 340 Skorodumov, Vjazemskie kadety, S. 4. 341 Ebd. 342 Die Zahl der Personen ohne gültigen Pass belief sich in St. Petersburg auf durchschnittlich rund 8200/Jahr (im Zeitraum von 1869 – 1877). Wobei der Begriff „Passlose“ (­ Bezpaportnye) nicht ganz zutreffend ist, denn die meisten dieser Menschen verfügten über einen Pass. Es handelte sich nämlich in der großen Mehrzahl um Bauern, die zur Saisonarbeit in die Stadt kamen und hierfür von ihrer Heimatgemeinde mit einem Pass ausgestatte wurden, der nur für einen bestimmten Zeitraum Gültigkeit besaß. Wenn dieser Zeitraum ablief,

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der „Lumpenflügel“ war nicht nur eine unter sanitären Gesichtspunkten problematische Ansammlung alter Kleiderreste,343 sondern zugleich ein Nachtlager für obdachlose Frauen,344 für die es wie gezeigt in den Nachtasylen und Herbergen St. Petersburgs kaum Plätze gab. Unabhängig von der jeweiligen moralischen Bewertung dieser Beweggründe bleibt somit festzuhalten, dass die lavra ein zentraler Anlaufpunkt und Zufluchtsort für all diejenigen war, die aus den unterschiedlichsten Gründen durch das offizielle Raster gefallen waren.345 Zugleich lebten in dem Gebäudekomplex auch Handwerker, Arbeiter, Bauern aus dem Umland, ehemalige Soldaten und Fuhrleute vom nahe gelegenen Heumarkt. Dies wird bereits an den von den Bewohnern geprägten Bezeichnungen wie „Korbfabrik“ oder „Tischlerflügel“ deutlich. Auch Krestovskij gelangte zu der Feststellung, dass sich in der lavra entgegen der offiziellen Lesart nicht nur „unzuverlässige Elemente“ versammelten, sondern dass sie ebenso als „Zuflucht für Proletarier aller Art und Klassen“ diente, von denen „der größte Teil zur armen Bevölkerung dieser Stadt gehört.“ 346 Der Arbeit von Hubertus Jahn lässt sich entnehmen, dass von 120 Personen, die bei einer Polizeirazzia in der lavra in der Nacht vom 25. auf den 26. März 1852 verhaftet wurden, 74 dem Stand der Bauern angehörten und 23 den meščanin zuzurechnen waren.347 Nun sagt der Stand noch nicht zwingend etwas über die Art des Lebensunterhalts in der Stadt aus, die Übergänge ­zwischen einem Dasein als Tagelöhner und der Existenz als Bettler oder Kleinkrimineller waren fließend und nicht selten in einer Biographie vereint. Ein Beispiel hierfür ist der Vermieter des Zimmers, in dem Svešnikov während seiner Zeit in der lavra gemeinsam mit anderen Personen lebte. Es handelte sich um einen früheren leibeigenen Bauern und späteren Soldaten, der nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst in die Hauptstadt ohne dass sie die Stadt verlassen hatten, galten sie als „Passlose“ und liefen Gefahr, bei Polizeirazzien verhaftet und der Stadt verwiesen zu weden. Vgl. Michnevič, Vladimir, Jazvy Peterburga. Opyt istoriko-­statističeskogo issledovanija nravstvennosti stoličnogo naselenija, Sankt-­Peterburg 2003 (erstmals 1886), S. 98 – 120. 343 So etwa die Perspektive Fedor Ėrismans. Vgl. ders., Nastojaščee sostojanie, S. 55. 344 Vgl. Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 908, der abschätzig von „‚umherstreunenden‘ Frauen“ spricht. 345 Dies gilt auch für Svešnikov selbst, der während seiner Aufenthalte in St. Petersburg immer wieder zu trinken begann und völlig mittellos in der lavra landete. Vgl. ders., Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 55 – 60, 85, 89, 130, 132, 153 – 163. 346 Ebd., S. 911. 347 Vgl. Jahn, Armes Russland, S. 234.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

gekommen war. Dort hatte er zunächst als Bediensteter und dann als Händler auf dem Heumarkt gearbeitet, ehe er eine Seitenwohnung in der obersten Etage des „Glasflügels“ anmietete und sich auf die (illegale) Untervermietung der Schlafplätze und „Winkel“ verlegte.348 Später begann er zudem, dem Beispiel vieler anderer Vermieter in der lavra folgend, mit dem ebenfalls nicht legalen Verkauf von Wodka 349 und der Vergabe von Krediten. Sein Lebensweg kann als exemplarisch für die Verflechtung der nicht trennscharf zu unterscheidenden Kategorien von ‚regulärer‘ und ‚irregulärer‘ Lebensführung dienen. Es verdeutlicht, dass es nicht hinreichend ist, die Bewohner der lavra allesamt einfach als ‚Randgruppe‘ der Gesellschaft zu klassifizieren. Die Lebenswirklichkeit und die Biographien der Individuen waren deutlich komplexer. Dies bildete sich auch auf einer räumlichen Ebene ab. Einerseits lässt sich an der „Mikrotoponymie“ der lavra ablesen, dass bestimmte Flügel von bestimmten Gruppen bewohnt wurden, dass es also eine an den Tätigkeiten orientierte Aufteilung der Anlage durch die Bewohner gab. Zugleich lebten aber alle gemeinsam an einem Ort, dem sie mit Vjazemskaja lavra einen übergreifend verwendeten Namen gegeben hatten. Die einzelnen Gebäudeteile waren miteinander verbunden und untereinander begehbar, und auch die Höfe waren zwar bestimmten Gebäuden zugeordnet, wurden aber de facto von allen genutzt. So stand der Hof vor der „Korbfabrik“ primär den Korbmachern zur Verfügung, was durch die zahlreichen Holzbalken zum Ausdruck kam, auf denen sie ihre Weidenruten trockneten. Zugleich stellten die Balken an Feiertagen und im Sommer jedoch auch einen beliebten Treffpunkt zum Kartenspielen und Trinken dar.350 Ein weiteres Beispiel für einen Ort, an dem die verschiedenen Gruppen der lavra einerseits bestimmte, angestammte Plätze innehatten und sich ihre Wege andererseits kreuzten, war der „gläserne Flügel“. Auf einer vertikalen Ebene gab es zunächst die Keller-‚wohnungen‘. Sie verfügten nur in Ausnahmefällen überhaupt über Fenster und wurden bei Tauwetter oder starkem Regen direkt überflutet. 348 Vgl. Svešnikov, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli, S. 14 – 16. 349 Der großflächige Verkauf von Wodka in den Zimmern der lavra hatte sich mit dem Anwachsen des Slums entwickelt. Den Aufzeichnungen Svešnikovs lässt sich entnehmen, dass Ende der 1860er Jahre 5 Kneipen in der Anlage existierten. Zehn Jahre später habe er die lavra deutlich überfüllter angetroffen, und die Kneipen ­seien obsolet geworden, da der Alkohol in praktisch jedem Zimmer schwarz verkauft wurde. Vgl. Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 85, 130. 350 Vgl. Svešnikov, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli, S. 8.

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Nach Krestovskij glichen sie eher „Ställen“ 351 als menschlichen Behausungen. Nichtsdestotrotz lebten dort Menschen, und zwar die Allerärmsten der Armen, Obdachlose ohne Papiere und ohne Geld. Demgegenüber wohnten die Bäcker und Branntweinhändler für gewöhnlich im dritten Stock des Hauses, in Zimmern mit Heizung, Licht und Wasser, für die Preise von über 30 Rubel/Monat verlangt wurden.352 Das mittlere Stockwerk, die eigentliche Glasgalerie, war den Dieben und Kriminellen vorbehalten.353 Auch einen Ort wie die lavra durchzogen also die gleichen vertikalen Hierarchien des Wohnens, wie sie für die gesamte Stadt typisch waren. Zugleich war der „gläserne Flügel“ als größter und am dichtesten bewohnter Teil der gesamten Anlage eine Zone der Überschneidung z­ wischen den verschiedenen Bewohnern und über diese hinaus. Vor allem die „Fressmeile“ (obžornyj rjad) im Eingangsbereich hatte sich als Treffpunkt etabliert. Sie bestand aus Tischen und Bänken, die entlang des Flurs und in den Zimmern aufgestellt wurden und auf denen von Milch und Käse über Kartoffeln und Suppen bis hin zu billigem Tabak alle möglichen einfachen Lebensmittel angeboten wurden. All dies war, wie Svešnikov schreibt, „nicht immer lecker, aber dafür preiswert und sättigend.“ 354 Während die Kundschaft unter der Woche vor allem aus den armen Einwohnern der lavra wie Obdachlosen und Bettlern bestand, kamen an den Wochenenden auch zahlreiche Händler, Arbeiter und Handwerker vom Heumarkt und aus der Umgebung. Viele von ihnen waren Stammkunden und erhielten einen entsprechenden Rabatt. Sie kamen nicht nur zum Einkaufen, sondern auch um der Geselligkeit willen und um gemeinsam zu trinken. Nicht selten mündeten die Abende im „Glasflügel“ in Streitigkeiten und Schlägereien, und die Zusammenkünfte endeten oft erst am frühen Montagmorgen.355 Die Boulevardpresse nahm dies zum Anlass für Berichte über „Orgien“ 356, die nächtelang im „Glasflügel“ der lavra stattfänden. Jenseits dieser voyeuristischen und auf Umsatz abzielenden Perspektive lässt sich bei genauerem Hinsehen konsta­ tieren, dass der Gebäudekomplex in seinem Inneren eine räumliche Struktur 351 Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 910. 352 Vgl. Svešnikov, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli, S. 11. Entsprechend auch, mit noch höheren Zahlen, Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 910. 353 Vgl. Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 913. 354 Svešnikov, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli, S. 9. 355 Vgl. ebd. 356 Vgl. beispielsweise [o. N.], Dnevnik priključenij. V Vjazemskoj lavre.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

aufwies, die sowohl auf bestimmten Zuordnungen als auch auf Überschneidungen und Verflechtungen basierte. Diese Struktur war durch das alltägliche Handeln der Bewohner geschaffen worden, die ihrer Welt damit, um auf Loïc Wacquants Definition der „kollektiven Selbsterzeugung“ zurückzukommen, eine „Form“ gegeben hatten. Diese Form entsprach nicht den Modi anderer Bereiche der Gesellschaft, aber für die Menschen in der lavra funktionierte sie. Ein Ort wie die „Fressmeile“ auf den Fluren des „gläsernen Flügels“ hatte darüber hinaus eine zweifellos wichtige ökonomische und für die dort verkehrenden Menschen existentielle Funktion. Hier konnten sie Grundnahrungsmittel zu Preisen erwerben, die noch einmal unter denen der Händler auf dem Heumarkt lagen. Solche „Fressmeilen“ waren angesichts der weitgehenden Untätigkeit der Stadt in dieser Frage der einzige Anlaufpunkt für all diejenigen, die, aus ­welchen Gründen auch immer, nicht in den städtischen Nachtasylen oder bei einer der Wohlfahrtsgesellschaften unterkamen. Nachdem die „Fressmeile“ auf dem Heumarkt infolge des Umbaus des Platzes 1886 geschlossen worden war, kam dem Verkauf in der lavra eine umso größere Bedeutung zu. Auch in anderer Hinsicht besaß der Gebäudekomplex eine wichtige ökonomische Funktion. Dies gilt zum einen für seine innere Struktur, in der sich bestimmte Handelsbeziehungen z­ wischen den Bewohnern herausgebildet hatten. Die Kleinkriminellen fanden in den Lumpensammlern und Trödelhändlern Abnehmer für ihr Diebesgut. Die Bäckereien, Brennereien und die Kuttelküche verkauften einen Teil ihrer Ware an die Bewohner der lavra oder an die Händler der „Fressmeile“. Und nicht wenige Vermieter boten ihren Gästen für ein paar Kopeken am Tag neben der Übernachtung auch noch Verpflegung an.357 Es hatte sich eine Struktur entwickelt, bei der die verschiedenen Gruppen voneinander profitierten und bei der die Übergänge ­zwischen Legalität und Illegalität erneut fließend waren. Joseph Bradley hat bei seiner Untersuchung des Moskauer Chitrov-­Markts von einer „duality“ und einer „symbiotic nature“ der Beziehungen z­ wischen einer „above-­ground world“ der Händler und Handwerker und der „underground world“ 358 der subproletarischen Schichten gesprochen – ein Befund, der sich auf die Vjazemskaja lavra in Petersburg übertragen lässt.

357 Vgl. Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 913 – 920; Svešnikov, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli, S. 19. 358 Bradley, „Once You’ve Eaten Khitrov Soup You’ll Never Leave!“, S. 9.

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Über ihren inneren Raum hinaus war die lavra vielfältig mit dem angrenzenden Heumarkt verknüpft. Händler des Sennaja nutzten Räume in dem Gebäudekomplex zur Lagerung ihrer Waren, und mit Anbruch des Morgengrauens strömten die verschiedenen Gruppen aus der lavra auf den Heumarkt: Die Bäcker, die Verkäufer der Waren aus der Kuttelküche, die Lumpenhändler und die Korbmacher ebenso wie die Bettler, Diebe und Prostituierten. Ab fünf Uhr am Nachmittag füllten sich die Gebäudeflügel dann langsam wieder.359 Zahlreichen Bettlern der Stadt diente die lavra als Basis, von der aus sie ihre Touren durch Petersburg unternahmen. Sie wussten sich hierbei sehr gut des städtischen Raums zu bedienen. So berichtet Svešnikov von einem Bettler namens P ­ oplevkin, einem ehemaligen Unteroffizier der Gendarmerie. Dieser konzentrierte sich samstags auf kleinere Märkte und die großen prospekty der Stadt, suchte sonntags bestimmte Kneipen auf, von denen viele im Umfeld des Heumarkts lagen, dienstags war er auf der Vasilij-­Insel, der Petersburger und der Vyborger Seite unterwegs, und an allen übrigen Tagen versuchte er sein Glück auf dem Apraksin rynok und dem Heumarkt. Abends kehrte er jeweils in die lavra zurück.360 Ein solch systematisches Vorgehen war nicht ungewöhnlich,361 es bedurfte jedoch bestimmter Fixpunkte, die als Rückzugsorte dienten. Auch die ökonomische Verflechtung der lavra mit ihrer Umgebung lässt sich mithin nicht einfach entlang der Kategorien von „Legalität“ und „Illegalität“ beschreiben. Unabhängig von juristischen oder moralischen Einordnungen entspricht sie jedoch dem, was Loïc Wacquant als weiteres Charakteristikum einer „kollektiven Selbsterzeugung“ der Bewohner beschrieben hat: Sie verliehen ihrer Welt nicht nur eine „Form“, sondern auch einen „Zweck“. Über „Form“ und „Zweck“ hinaus lassen sich, trotz der zweifellos prekären Lebensumstände, auch Anzeichen für eine Identifikation mit dem Ort ausmachen. Insbesondere das übergreifend verwendete und von den offiziellen Bezeichnungen abweichende System der Benennung bestimmter Orte lässt sich als Aneignung des Raums durch die Bewohner deuten. Das bekannteste und ‚erfolgreichste‘ Beispiel ist sicherlich die Titulierung der gesamten Anlage als Vjazemskaja lavra. Der Name etablierte sich innerhalb weniger Jahre auch im 359 Vgl. Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 915 – 919; Svešnikov, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli, S. 8. 360 Vgl. Svešnikov, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli, S. 47 – 51. 361 Vgl. hierzu ausführlich Jahn, Armes Russland.

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allgemeinen Sprachgebrauch und war bald deutlich geläufiger als das offizielle Dom Vjazemskogo (Vjazemskij-­Haus). Zugleich spricht aus ihm ein gehöriges Maß an Selbstironie und Sarkasmus, war der bezeichnete Ort von einem „Kloster“ doch denkbar weit entfernt. Möglich ist zudem, dass mit der Selbstbezeichnung als lavra die eigene, herausgehobene Stellung innerhalb der Slums St. Petersburgs unterstrichen werden sollte – durften in der Rangfolge der orthodoxen ­Kirche doch nur die wichtigsten Klöster des Landes diesen Ehrentitel führen. Weitere Beispiele für eine Aneignung des Raums, die außer durch das alltägliche Handeln und durch die ökonomische Nutzung auch sprachlich zum Ausdruck gebracht wurde, sind die bereits genannten Bezeichnungen der einzelnen Gebäudeflügel, der Höfe und auch solcher an sich leer stehender Gebäude wie dem eingangs beschriebenen Haus an der Fontanka. Im Slang der Bewohner der lavra firmierte es als Fontaločnyj dom 362, abgeleitet von dem Substantiv Fontalka, der Bezeichnung des ‚einfachen Volkes‘ für die Fontanka.363 Auch dies war Bestandteil jener alternativen Toponymie, durch ­welche die Bewohner die Orte der lavra als ‚ihre‘ markierten. Sie entspricht dem, was Loïc Wacquant als „Bedeutung“ bezeichnet, die einem Ort gegeben wird, und die neben „Form“ und „Zweck“ die dritte Komponente einer „kollektiven Selbsterzeugung“ darstellt. Genau dies lag hier vor. Oder, um auf Martina Löws Konzept der Konstituierung sozialer Räume zurückzukommen: Das Platzieren oder sich selbst Platzieren von sozialen Gütern und/oder Menschen im Raum, aus dem die „relationalen (An) Ordnungen“ entstehen und das sie als Spacing bezeichnet, war im Fall der lavra ebenso gegeben wie die Zusammenfassung der (An)Ordnungen durch Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse zu einem Raum (Syntheseleistung). In ­diesem Sinne lässt sich die Vjazemskaja lavra als ein sozialer Raum bezeichnen, den die in ihr lebenden Menschen geschaffen haben und den sie durch ihr Handeln täglich neu konstituierten und veränderten. Dies festzustellen bedeutet nicht, einer retrospektiven Romantisierung der prekären Lebensumstände in einem Slum das Wort zu reden. Die Vjazemskaja lavra war keine solidarische Gemeinschaft der Ausgestoßenen der Gesellschaft, sondern ebenso wie andere Orte von Machtstrukturen und Ungleichheiten durchzogen. Das vielgliedrige System von Mietern und Untermietern führte 362 Vgl. Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 904; Tereščuk, Vjazemskaja lavra, S. 668. 363 Vgl. Sindalovskij, Naun, Slovar‘ Peterburžca. Leksikon Severnoj stolicy. Istorija i ­sovremennost‘, Moskva 2014 (erstmals 2003), S. 164.

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zu Abhängigkeiten und Ausbeutung, vermietet wurden ‚Schlafplätze‘ auf der Hälfte einer Matratze, feuchte und schimmelige ‚Winkel‘ und sogar der Steinboden unter den Pritschen.364 Es gab die einfachen Badehäuser und es gab eine Banja von „beträchtlichem Luxus“ 365, die zum früheren Wohnbereich des Fürsten Vjazemskij im Fontaločnyj dom gehörte, ausgestattet mit marmornen Wannen, Teppichen und weichgepolsterten Möbeln. Sie war den besser gestellten (Klein) kriminellen vorbehalten, wenn diese einen ertragreichen Tag gehabt hatten. Es gab zutiefst patriarchalische Strukturen und alltägliche Gewalt, die in erster Linie von den Männern der lavra ausging und die Rechte der dort lebenden Frauen massiv einschränkte. Und es gab den bereits erwähnten „Bock“ – ein fensterloses Gebäude in der Nähe der „Korbfabrik“. Hier wurden Personen, die ohne gültigen Pass aufgegriffen wurden, mit einem Strick, an dessen einem Ende sich ein Knoten befand, gnadenlos ausgepeitscht. Für die so Gestraften existierte innerhalb der lavra die Bezeichnung als „Vjazemskier Kadetten“ (Vjazemskie kadety).366 Dieses System der Selbstjustiz (domašnaja rasprava) stellt das vielleicht drastischste Beispiel dafür dar, wie schnell die Aneignung des Raums durch die Bewohner in die Entstehung neuer Hierarchien und in Willkür umschlagen konnte. Nicht zufällig war die Titulierung der Bestraften als „Kadetten“ der Sprache des Militärs entlehnt, wie auch unter den Bewohnern als weiterer Name für den gesamten Gebäudekomplex neben Vjazemskaja lavra der Ausdruck „Vjazemskij-­Korps“ (Vjazemskij korpus) existierte.367 Wer dazu gehörte, war Teil einer Gemeinschaft, und er durchlief zugleich eine harte Schule – so lässt sich das Selbstverständnis deuten, das mit solchen Begriffen transportiert werden sollte. Die Petersburger Presse empörte sich über die „Willkür“ (samoupravstvo), die in der lavra herrsche, und forderte ein strenges Durchgreifen seitens des Staats. Hierfür mangelte es jedoch zum einen an einem wirklichen politischen Willen, in der Wohnungsfrage aktiv zu werden, was nicht nur in d ­ iesem Fall bedeutet hätte, Hausbesitzer wie den Fürsten Vjazemskij zur Verantwortung zu ziehen. Und zum anderen blieben die Maßnahmen, die es dennoch gab, weitgehend folgenlos. Neben den bereits erwähnten juristischen Auseinandersetzungen und

364 Vgl. hierzu, mit zahlreichen Beispielen, Ėrisman, Nastojaščee sostojanie; Krestovskij, Peterburgskie truščoby; Svešnikov, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli. 365 Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 907 f. 366 Vgl. Skorodumov, Vjazemskie kadety. 367 Vgl. ebd.

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den Begehungen des Orts durch Sanitärärzte wurde wiederholt die Polizei in die lavra geschickt, gegen Ende des Jahrhunderts erhielt sie sogar einen festen Standort am Rande der lavra in Form einer Polizeiwache. Aber auch diese Maßnahme führte weder in sanitärer noch in kriminalpolizeilicher Hinsicht zu wesentlichen Veränderungen.368 Stattdessen entwickelten die Bewohner ein offensichtlich gut funktionierendes Frühwarnsystem, in dem der Nikanoricha eine zentrale Rolle zukam. Zur Poltorackij pereulok gelegen, ließ sich aus ­diesem Gebäudeteil jede Bewegung rund um den „gläsernen Flügel“ hervorragend beobachten. Sobald sich Polizisten dem Gebäude näherten, erlosch das ansonsten zu jeder Uhrzeit brennende Licht in den Fenstern der Nikanoricha – wodurch eine Abfolge von Klopfzeichen ausgelöst wurde, die sich über alle Zimmerwände erstreckte und mittels derer in kürzester Zeit alle Bewohner des Gebäudes informiert waren.369 So beschränkten sich die Auswirkungen der staatlichen Regulierungsver­suche im Wesentlichen auf die temporäre oder dauerhafte Schließung bestimmter Trakte. Damit wurden die Probleme jedoch nicht gelöst, sondern nur verschoben. Ein Beispiel hierfür war das bekannte Bordell Malinnik (der Himbeerstrauch). Im Spasskij pereulok am Rande des Heumarkts gelegen, galt es seit Langem als sanitärer und polizeilicher Brennpunkt. Die Schließung des Malinnik führte jedoch lediglich dazu, dass die Prostituierten sich einen anderen Ort suchten – in ­diesem Fall den „gläsernen Flügel“ der lavra.370 Die Menschen ließen sich nicht einfach verdrängen, sie blieben trotz aller Missstände in ihrem Viertel. Auch seitens wohlfahrtlicher Gesellschaften wurde versucht, auf die Verhältnisse in der lavra Einfluss zu nehmen. So eröffnete die eingangs d ­ ieses Kapitels erwähnte „Gesellschaft für Nachtasyle in St. Petersburg“ 1883 ein Nachtasyl in der lavra, im Haus Nr. 79 an der Fontanka.371 Und 1898 folgte ein durch Spenden namhafter Vertreter der Petersburger Gesellschaft ermöglichtes Arbeitshaus, das sich an Kinder ­zwischen 7 und 14 Jahren richtete. Der dortige Tagesablauf war strikt reglementiert und bestand aus Schulunterricht, Handwerkskursen sowie religiöser Unterrichtung durch Geistliche.372 So sinnvoll eine elementare Bildung 368 Vgl. hierzu die Stellungnahmen der Polizei in: Zasedanii v stoličnom mirovom sezde 15-go fevralja, sowie in Ėrisman, Nastojaščee sostojanie. 369 Vgl. Krestovskij, Peterburgskie truščoby, S. 919 f. 370 Vgl. Svešnikov, Peterburgskie Vjazemskie truščoby i ich obitateli, S. 10 und 32. 371 Vgl. den Bericht der Gesellschaft an die Duma für das Jahr 1884: ISPGOD, 1885, No. 48, S. 1296 – 1299, hier S. 1296. 372 Vgl. Detskij prijut trudoljubija v Vjazemskom dome.

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für die Kinder der lavra gewesen sein mag, so weit war ­dieses Programm von der Lebenswirklichkeit und den materiellen Notwendigkeiten der Menschen entfernt. So erklärt es sich, dass einige Mütter versuchten, ihre Kinder wieder aus der Obhut des Arbeitshauses zurückzunehmen, um sie zum Betteln auf den Heumarkt ­schicken zu können. Die Leitung des Arbeitshauses reagierte hierauf „ungeachtet des Widerstands der Angehörigen mit verschiedenen Maßnahmen […], bis dazu, dass einige der Unglücklichen ganz in Verwahrung genommen wurden, obwohl die Unterkunft auch den grundlegendsten Bedürfnissen nicht genügte.“ 373 Solche Zwangsmaßnahmen mögen zum Besten der Kinder gedacht gewesen sein. Sie illustrieren jedoch zugleich, wie tief der Graben z­ wischen den betroffenen Bewohnern und den wohltätigen Gönnern war, ­zwischen dem Innenleben des Slums und den Versuchen, ihn von außen zu regulieren. Insgesamt stellte die Vjazemskaja lavra, die in der öffentlichen Meinung mit den Worten Wacquants als ein „Hort versammelter Regellosigkeit“ galt, einen Ort dar, der eine vielschichtige innere Struktur aufwies. Die dort lebenden Menschen hatten de facto die Kontrolle über ein Gelände übernommen, welches de jure einer anderen Person gehörte. Der Profit, den Fürst Vjazemskij mit seinem Besitz erzielte, war beträchtlich – die Möglichkeiten zur Steuerung des Geschehens hatte er jedoch durch seine gezielte Vernachlässigung des Anwesens selbst aus der Hand gegeben. Was sich für Außenstehende wie ein schwer durchschaubares Gestrüpp darstellte, das man in Ermangelung passender Kategorien nur mittels negativer Begriffe und damit als Abweichung von der Norm beschrieb, war für die Bewohner eine funktionierende Struktur, die sie geschaffen hatten und an der sie sich orientierten. Basierend auf einem System aus Zuordnungen und Verflechtungen, das in einer eigenen Toponymie zum Ausdruck kam, stellte die lavra sowohl einen ausgesprochen prekären und von zahlreichen Hierarchien durchzogenen Ort als auch einen sozialen Raum dar, der zum Fixpunkt der in ihr lebenden Menschen geworden war. Die weitgehende Reformresistenz ­dieses Orts, der sich trotz wiederholter Regulierungsversuche über ein halbes Jahrhundert nicht wesentlich veränderte, erklärt sich nicht allein durch den fehlenden politischen Willen der Stadtduma. Selbst wenn es seitens der politisch Verantwortlichen ein entschlossenes Handeln gegeben hätte, wären dessen Auswirkungen vermutlich nicht von Dauer gewesen. Wenn die Zeitung Nedelja (Die Woche) 1895 beklagte, dass der Slum trotz aller Versuche der Polizei und der politisch Verantwortlichen auch 30 Jahre nach dem 373 Ebd., S. 11.

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Erscheinen des Romans von Krestovskij nach wie vor „ein Slum geblieben ist“ 374, so lassen sich zwei wesentliche Gründe hierfür benennen: Zum einen hatte sich in der lavra eine Ökonomie entwickelt, die einer sehr heterogenen Einwohnerschaft ein Überleben (wenn auch auf einem sehr niedrigen Niveau) ermöglichte und die zugleich eine Nische füllte, die von der Ökonomie der gesamten Stadt hervorgebracht worden war, andernorts aber nicht abgedeckt wurde. Um es an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen: Ohne den Heumarkt wäre die Lebensmittelversorgung in der russischen Hauptstadt noch wesentlich schwieriger gewesen, als sie es ohnehin schon war – und ohne die lavra hätte der Heumarkt nicht so funktionieren können, wie er es tat. Zugleich war die lavra Anlaufund Fluchtpunkt für diejenigen, die andernorts nicht unterkamen, die aber als Gelegenheitsarbeiter für die Metropole unentbehrlich waren. Und zum anderen basierte der alles andere als konfliktfreie, aber doch funktionierende Alltag in der Vjazemskaja lavra auf einer gemeinsamen Kultur und personellen Netzwerken, die die Menschen immer wieder dorthin zurückkehren ließen.375 Wie bereits am Beispiel Spiridon Drožžins deutlich wurde, blieb die arme Bevölkerung in ‚ihrem‘ Umfeld, in dem sie sich auskannte und in dem über Kontakte die Möglichkeit bestand, an Jobs zu gelangen. Um noch einmal das Zitat des Londoner Reverend William Danton aus dem Jahr 1861 aufzugreifen: „The poor are indeed displaced, but they are not removed. They are shoveled out of one side of a parish, only to render more over-­crowded the stifling apartments in another part.“ 376 Und Friedrich Engels schrieb 1872 in Anbetracht der Umgestaltung des städtischen Raums von Paris unter der Ägide Georges-­Eugène H ­ aussmanns: „Das Resultat ist überall dasselbe […]: die skandalösesten Gassen und Gäßchen verschwinden unter großer Selbstverherrlichung der Bourgeoisie von wegen d ­ ieses ungeheuren Erfolges, aber – sie erstehen anderswo sofort wieder und oft in der unmittelbaren Nachbarschaft.“ 377 Angesichts dessen blieben Versuche, von außen regulierend in die lavra einzugreifen, zum Scheitern verurteilt. Sie waren vielmehr Ausdruck der Unkenntnis über das Leben der städtischen Unterschichten an einem Ort inmitten der russischen Hauptstadt. 374 M., Dom Vjazemskogo (Iz sudebnoj chroniki), S. 668. 375 Vgl. die entsprechenden Schlussfolgerungen für den Moskauer Chitrov-­Markt auch bei Bradley, „Once You’ve Eaten Khitrov Soup You’ll Never Leave!“, S. 18 – 20. 376 Allen, Cleansing the City, S. 119. 377 Engels, Friedrich, Zur Wohnungsfrage, in: Marx Engels Werke, Bd. 18, Berlin 1981, S. 20 – 287, hier S. 260 f.

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Letztendlich dauerte es bis zum Jahr 1913, bis man sich dafür entschied, die lavra abzureißen. Nachfolgend im Besitz einer Aktiengesellschaft, plante diese die Errichtung eines mehrstöckigen Einkaufszentrums mit unterirdischen Garagen, Restaurants und Ausstellungsräumen. Die bisherigen Bewohner der lavra mussten an andere Orte ausweichen – ein Teil von ihnen in Häuser am angrenzenden Zabalkanskij prospekt, andere an den deutlich weiter entfernten O ­ bvodnyj 378 kanal. Das Bauvorhaben der Gesellschaft wurde infolge des Beginns des ­Ersten Weltkriegs nicht mehr realisiert. Erst die neuen sowjetischen Herrscher ließen Markthallen errichten und verlegten damit zugleich den Heumarkt an den früheren Ort der Vjazemskaja lavra. Der Sennaja ploščad‘ wurde zu einem freien Platz umfunktioniert und 1952 in „Friedensplatz“ (ploščad‘ mira) umbenannt.379 Auch heute befindet sich dort, wo einst die lavra stand, der neue Heumarkt ­(Sennoj rynok). Abgesehen vom Namen des am Moskovskij prospekt Nr. 6 gelegenen Hotels Dom Vjazemskoj erinnert nichts mehr daran, dass hier einst Tausende von Menschen im größten Slum St. Petersburgs lebten.

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Abb. 9: Der Eingang des Heumarkts, 2010 

378 Vgl. Anciferov, Ulica rynkov, S. 90 – 96; Tereščuk, Vjazemskaja lavra, S. 668. 379 1961 folgte der Abriss der Erlöserkirche (Spas na Sennoj). Vgl. Jurkova, Sennaja ploščad‘, S. 191 – 210. 380 Foto: Hans-­Christian Petersen, 2010.

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Abb. 10: Das Hotel Dom Vjazemskoj am Moskovskij prospekt Nr. 6, 2010 

„Schlammloch“ und „Ameisenhaufen“? „Vasjas Dorf“ „Sehr viele Petrograder haben davon gehört, dass irgendwo in Petrograd ‚Vasjas Dorf ‘ liegt. Aber ob viele wissen, wo es sich befindet und was es mit ihm auf sich hat?“ 382 Mit dieser rhetorischen Frage beginnt eine Artikelserie, die 1915 in der „Kleinen Zeitung“ (Malen’kaja gazeta) erschien und in der über einen weiteren großen Slum in der zu Beginn des E ­ rsten Weltkriegs von St. Petersburg in P ­ etrograd umbenannten russischen Hauptstadt berichtet wurde, der sich auf der Vasilij-­Insel und 381 Foto: Hans-­Christian Petersen, 2010. 382 Jaškov, V., „Vasina derevnja“, in: Malen’kaja gazeta, 03. 01. 1915, S. 3.

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damit ‚jenseits des Flusses‘ befand.383 Der Verfasser nahm die von ihm konstatierte Unwissenheit der Bevölkerung über diesen Ort zum Anlass, detailliert über das Zusammenleben der rund 5000 Bewohner von „Vasjas Dorf “ (Vasina derevnja) zu schreiben. Denn im Gegensatz zur lavra war „Vasjas Dorf “ weitgehend unbekannt – und hieran hat sich bis heute nichts geändert. Blickt man in die einschlägigen Darstellungen zur Geschichte der Vasilij-­Insel, so findet „Vasjas Dorf “ dort entweder gar keine oder nur sehr kursorisch Erwähnung.384 Dies lässt sich zum einen dadurch erklären, dass sich die Ansiedlung im Unterschied zum Heumarkt und zur lavra nicht im Zentrum Petersburgs befand und kein Gegenstand öffentlichen Interesses war. Mit ihr ließ sich kein vergleichbarer Umsatz machen wie mit Geschichten aus der berühmt-­berüchtigten ­Vjazemskaya lavra. Zum anderen gründet die weitgehende Auslassung von „Vasjas Dorf “ in den Stadtteilgeschichten darauf, dass ein Slum nicht dem Bild entspricht, das von der Vasilij-­Insel vermittelt werden soll(te): In sowjetischer Zeit passten die bereits von Marx und Engels abschätzig als „Lumpenproletarier“ bezeichneten Ärmsten der Armen nicht ins teleologische Narrativ der zur Revolution drängenden class of ‚conscious‘ workers,385 und im postsowjetischen Russland werden eher die hochkulturellen und repräsentativen Seiten der Geschichte St. Petersburgs beleuchtet, als dass man sich eingehender einem Slum und seinen Bewohnern zuwenden würde.386 So stellen die Artikelserie in der Malen’kaja gazeta sowie ein 1914 erschienener Bericht in Peterburgskij listok 387 die einzigen Zeugnisse dar, die uns über „Vasjas Dorf “ zur Verfügung stehen – ein Ort, an dem rund 5000 Menschen unter prekärsten Bedingungen lebten. 383 Jaškov, V., „Vasina derevnja“, in: Malen’kaja gazeta, 03. – 04. sowie 06. – 08. 01. 1915 384 Letzteres gilt einzig für die Enzyklopädie von Nikitienko und Sobol‘: Doma i ljudi, S. 423. 385 Abzulesen ist dies an Pirogov, Vasil’evskij ostrov, sowie an Nikitenko/Sobol‘, Bol’šoj ­prospekt Vasil’evskogo ostrova. Trotz der unmittelbaren Nähe zum Bol’šoj prospekt wird „Vasjas Dorf “ nicht genannt. 386 Deutlich wird dies auch an der populärwissenschaftlichen Darstellung von Buzinov, Desjat‘ progulok po Vasil’evskomu. Hinsichtlich der unterschiedlichen Narrative ist ein Vergleich der Einträge zur Vasilij-­Insel in den folgenden beiden Enzyklopädien aufschlussreich: Sankt-­Peterburg – Petrograd – Leningrad. Ėnciklopedičeskij spravočnik, Moskva 1992, S. 108 f.; Ėnciklopedija Sankt-­Peterburga, 2004 ff. URL: http://encspb.ru/ object/2803998688?lc=ru (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). „Vasjas Dorf “ findet in keiner von beiden Erwähnung, ebenso wenig wie in der aktuellen Petersburg-­Enzyklopädie: Tri veka Sankt-­Peterburga. Zur Vjazemskaja lavra findet sich dort hingegen der bereits erwähnte Artikel von Tereščuk, Vjazemskaja lavra. 387 Vgl. D., Užasy „Vas’kinoj derevni“, in: Peterburgskij listok, 27. 04. 1914, S. 10.

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„Vasjas Dorf “ lag ­zwischen der 17. und 18. Linie auf der Vasilij-­Insel, am Ort einer früheren Müllhalde. Wie bereits erwähnt, war die Vasilij-­Insel ursprünglich zum Zentrum der neuen Hauptstadt auserkoren worden, ehe die Wahl später auf die Admiralitätsseite fiel. Ein geometrisch angelegtes Netz von Kanälen und Straßen brachte das herrscherliche Streben nach Rationalisierung und Ordnung zum Ausdruck. Eine Linie bezeichnete hierbei eine Straßenseite, wobei die 16. und 17. sowie die 18. und 19. Linie jeweils eine Straße bildeten. „Vasjas Dorf “ befand sich im Haus Nr. 18 an der 17. Linie, nur wenige Häuser vom Hauptboulevard der Insel, dem Bol’šoj prospekt, entfernt.388 Das „Dorf “ setzte sich aus mehreren hölzernen Häusern zusammen, lag jedoch zugleich nur einen Steinwurf von den ‚besseren‘ Wohngegenden der Vasilij-­Insel entfernt. Die für die russische Hauptstadt typische große räumliche Nähe z­ wischen Arm und Reich kam hier einmal mehr exemplarisch zum Ausdruck: Im direkt an den Slum angrenzenden Haus Nr. 20 lebte zwischenzeitlich der bekannte Meteorologe Michail Rykačev, Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Zur selben Zeit waren die 17. und 18. Linie nicht nur Standort von „Vasjas Dorf “, sondern auch mehrerer Einrichtungen für Waisenkinder und Arme.389 Was lässt sich nun aus den Presseberichten über „Vasjas Dorf “ erfahren? Folgt man der Darstellung, so pflegten seine Bewohner einen derben Umgangston, hatten einen ausgeprägten Hang zu Gewalt und Alkohol und waren erfinderisch darin, ohne ‚ehrliche Arbeit‘ zu überleben. Der Müll wurde einfach aus den Fenstern geworfen und die Toiletten standen offen nebeneinander, so dass man ­völlig ungeschützt (vo vsej ‚nature‘390) dem Blick des Nachbarn ausgesetzt war und währenddessen ausgiebige Konversationen führte. Der Verfasser der Malen’kaja gazeta stellte die Bewohner hierbei nicht durchweg als arbeitsscheu und verdorben dar – neben Figuren wie dem „Wahrsager“ 391, der es mittels 388 Vgl. Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 423 und 432, sowie den Plan der Vasilij-­Insel samt Hausnummern in: Ves‘ Peterburg na 1902 god. Adresnaja i spravočnaja kniga g. ­S.-Peterburga. Plan Vasil’evskoj časti – Suvorovskogo učastka, Sankt-­Peterburg 1902, S. 620. Die Ortsangaben decken sich mit denen in Peterburgskij listok, einzig die Hausnummer unterscheidet sich (Nr. 20 statt Nr. 18). Vgl. D., Užasy „Vas’kinoj derevni“. 389 Vgl. Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 423; Ėnciklopedija blagotvoritel’nosti: Sankt-­ Peterburg, URL: http://encblago.lfond.spb.ru/search.do?objectType=2805596371 (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 390 Jaškov, „Vasina derevnja“, 04. 01. 1915, S. 3. 391 Dieses und das folgende Zitat ebd., 08. 01. 1915, S. 3.

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obsku­rer ­Prophe­zeiungen zu einem relativen Wohlstand gebracht hatte und gleich drei Nummern im „Dorf “ bewohnte, wurden auch der „ehrliche Arbeiter“ 392, der auf der Suche nach billigem Wohnraum in die Ansiedlung kam, oder der „alleinstehende Alte“ 393, der von Almosen lebte, eingeführt. Sie wurden als „erniedrigte Leute“ 394, als Opfer präsentiert, ebenso wie die Kinder, die Namen wie „Wolf “ trugen und deren Schicksal „völlig von der Straße bestimmt wurde“ 395 (ulica deržit detej v polnoj svoej vlasti). Aber auch diese Differenzierung ­zwischen ‚verdorbenen‘ und ‚unschuldigen‘ Bewohnern war ein typisches Stilmittel der Reportagen aus den Slums, um gleichermaßen Abscheu wie Mitleid hervorzurufen und somit das (vermutete) Sensationsbedürfnis der Leserschaft zu befriedigen. Über das Kreieren bestimmter literarischer Figuren versuchte man, einen Wieder­erkennungswert zu erreichen und das Publikum bei der Stange zu halten.396 Die zitierten Passagen sind in erster Linie literarischer Natur und als historische Quelle über das Innenleben eines Slums schwerlich zu verwenden. Gibt es aber neben dieser narrativen Ebene auch etwas, was wir über die reale Geographie von „Vasjas Dorf “ erfahren? Geht man noch einmal an den Beginn der Reportage zurück, so wird dort neben der Lokalisierung ­zwischen der 17. und 18. Linie auch die Entstehungsgeschichte der Ansiedlung geschildert, und zwar deutlich ausführlicher als in den spärlichen Angaben an anderer Stelle. Der Enzyklopädie von Galina Nikitenko und Vitaliy Sobol‘ ist zu entnehmen, dass „Vasjas Dorf “ von einem Unternehmer bäuerlicher Herkunft namens Egor Vasil’ev auf einer großen, unbebauten Fläche errichtet wurde. Sein Ziel sei es gewesen, die Wohnungen in der nach ihm benannten Anlage zu niedrigen Preisen zu vermieten.397 Dies deckt sich mit den Angaben in der Malen’kaja gazeta. Darüber hinaus erfahren wir dort jedoch, dass Egor Vasil’ev als Jugendlicher nach Petersburg gekommen war, jahrelang als Müllsammler gelebt und sich schließlich ein 392 Ebd., 06. 01. 1915, S. 3. 393 Ebd., 07. 01. 1915, S. 3. 394 Ebd. 395 Dieses und das folgende Zitat ebd. Vgl. zur Wahrnehmung der Straße als einem Ort der ‚Masse‘ und der Sittenlosigkeit Steinberg, Petersburg. Fin de Siècle (insbesondere Kapitel zwei). 396 Vgl. Jahn, Armes Russland, S. 123 – 128. 397 Vgl. Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 423. Vgl. deckungsgleich hinsichtlich des Namensgebers des Slums auch D., Užasy „Vas’kinoj derevni“.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

Stück Land auf der Vasilij-­Insel gekauft hatte.398 Dort eröffnete er eine eigene Müllhalde, und als er genügend Materialien beisammen hatte, baute er sich aus diesen mit Unterstützung weiterer Gehilfen wie dem Zimmermann Klimentij ein erstes Haus auf seinem Grundstück, das jedoch dem Wind zum Opfer fiel. Es folgte ein zweiter Bau, der stand hielt und bald durch weitere Anbauten ergänzt wurde. Hinzu kamen die ersten Mieter, die Egor Vasil’ev gegen die Zahlung von 5 Kupferkopeken pro Tag dort wohnen ließ.399 Bis zum Erscheinen des Berichts im Peterburgskij listok im April 1914 war die Ansiedlung auf 5000 Menschen angewachsen, die in 247 Wohnungen lebten.400 Ihre Namen würden, so der Verfasser der Artikelserie in der Malen’kaja gazeta, „drei tonnenschwere Bücher“ 401 füllen. Er traf auf Menschen, die bereits seit 20 Jahren dort wohnten. Dies bedeutet zum einen, dass „Vasjas Dorf “ mindestens seit Mitte der 1890er Jahre existierte,402 und damit seit jener Zeit, in der sich die in St. Petersburg sowieso notorische „Wohnungsfrage“ wie gezeigt noch einmal zuspitzte. Wie direkt der Zusammenhang ­zwischen Verteuerung und Slumbildung war, lässt sich für „Vasjas“ Dorf ebenso wenig wie für andere Slums in Petersburg exakt benennen. Es finden sich jedoch Indizien in der Zeitungsreportage, die für einen solchen Konnex sprechen: Unter der Rubrik „Bewohner“ (Žil’cy) werden in der Malen’kaja gazeta neben dem bereits erwähnten „ehrlichen Arbeiter“ 403 eine ganze Reihe weiterer Personen genannt, die sich mit ihren geringen Einkommen keine andere Unterkunft leisten konnten, darunter der „pensionierte Beamte mit 7,40 im Monat“ 404 und die „kinderreiche Witwe“, die für das Zusammenkleben von Zigarettenschachteln 30 Kopeken am Tag erhielt. Und Peterburgskij listok wies darauf hin, dass auch Straßenbahnkontrolleure, Schaffner, Milchmänner sowie „eine ganze Reihe Handwerker und Heimarbeiter“ 405 zu den Bewohnern 398 Vgl. hierzu sowie zum Folgenden Jaškov, „Vasina derevnja“, 03. 01. 1915, S. 3. 399 In „Peterburgskij listok“ werden 2 Rubel/Monat als Miete für einen Winkel und bis zu 18 Rubel für eine ganze Wohnung genannt. Vgl. D., Užasy „Vas’kinoj derevni“. 400 Vgl. ebd. Die Zahl von 247 Wohnungen findet sich bei Jaškov, „Vasina derevnja“, 06. 01. 1915, S. 3. 401 Jaškov, „Vasina derevnja“, 06. 01. 1915, S. 3. 402 Dies deckt sich in etwa mit der Datierung in der Enzyklopädie von Nikitenko und Sobol‘. Dort heißt es, dass Egor Vasil’ev das „Dorf “ zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründet habe. Vgl. Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 423. 403 Jaškov, „Vasina derevnja“, 06. 01. 1915, S. 3. 404 Dieses und die folgenden beiden Zitate Jaškov, „Vasina derevnja“, 04. 01. 1915, S. 3. 405 D., Užasy „Vas’kinoj derevni“.

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des Slums zählten. Sie alle lebten, wie es in der Malen’kaja gazeta hieß, in „Vasjas Dorf “, weil es dort „billige Wohnungen und Zimmer“ 406 gab. Das Anwachsen von „Vasjas Dorf “ auf mehrere Tausend Bewohner sowie die lange Verweildauer eines Teils von ihnen werfen ebenso wie bei der lavra die Frage auf, ob es neben der materiellen Notwendigkeit weitere Motive gab, die die Menschen trotz der zweifellos wenig komfortablen Bedingungen an die Ansiedlung banden. Auf Grundlage der uns vorliegenden Reportagen lässt sich diese Frage nur schwer beantworten – zu spöttisch und herablassend ist der Ton, wenn es etwa über die Begründung der Anlage durch Egor Vasil’ev heißt, dass dieser „sein Glück genau dort gesucht [habe], wo es jeder unter einem glück­lichen Stern Geborene suchen würde – im Müll.“ 407 Dennoch werden ‚hinter‘ dieser selbstgefälligen Perspektive Umrisse dessen sichtbar, was „Vasjas Dorf “ über eine Zuflucht hinaus für seine Bewohner bedeutete. So lässt sich die Genese des Slums auch ganz anders deuten, als es die Journalisten taten: Als ‚wilde‘ Aneignung eines bis dahin brachliegenden Geländes, die sich der staatlichen Kon­trolle entzog und ihre eigenen Strukturen ausbildete. Wenn es in der Malen’kaja gazeta heißt: „Vor allem möchte ich die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Linien d ­ ieser Bauten richten. Was sind das für Linien! Nur der hochtalentierte Hacken Egor Vasil’evs vermochte sie so zu ziehen: Die eine Ecke eines Gebäudes ist auf den Betrachter ausgerichtet, die andere auf den Kaukasus …“ 408 – dann zeugt dies zum einen von der Fremdheit des Verfassers in ­diesem Umfeld: Trotz aller vermeintlicher Grenzüberschreitung und Authentizität der Reportage blieb er eben doch ein Slum-­Tourist und vermisste die für den Rest der Vasilij-­Insel so charakteristischen geraden Linien. Zugleich zeigt sich, dass „Vasjas Dorf “ nach anderen, nach seinen eigenen Regeln funktionierte, wie auch die folgende Passage verdeutlicht: Eine Wohnung in ‚Vasjas Dorf ‘ zu betreten, ist nicht so einfach, wie man es von anderen Häusern gewöhnt ist. Bevor Sie eintreten, müssen Sie die Wohnung gut einen halben Tag lang suchen, weil die Flügel, Treppen und Nummern der Wohnungen in ‚Vasjas Dorf ‘ Legion sind. Jeder seiner Bewohner kennt lediglich sein eigenes Haupteingangsloch, in das er jeden Tag kriecht; nur seine eigene Wohnungsnummer, in die ihn die dunkle Nacht und die Kälte treiben. Selbst die Hofwärter in ‚Vasjas Dorf ‘ 406 Jaškov, „Vasina derevnja“, 06. 01. 1915, S. 3. 407 Jaškov, „Vasina derevnja“, 03. 01. 1915, S. 3. 408 Jaškov, „Vasina derevnja“, 04. 01. 1915, S. 3.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

verirren sich in d ­ iesem undurchdringlichen Schlammloch [v ėtom neprochodimom omute] und winken bei Fragen nach den Wohnungen nur gleichgültig mit der Hand ab: ‚Weiß nicht …, krebseln Sie die Treppen ab, irgendwo werden Sie fündig, aber wir wissen es nicht …‘409

Was dem Reporter der Malen’kaja gazeta wie ein chaotisches, „undurchdringliches Schlammloch“ vorkam, war für die Bewohner von ‚Vasjas Dorf ‘ ein Ort, mit dem sie sich zumindest insoweit identifizierten, als dass sie ihn als ihr ‚Eigenes‘ markierten. Die in der zuletzt zitierten Passagen genannten Hausnummern waren vom Besitzer Egor Vasil’ev angebracht worden und beinhalteten neben der reinen Nummerierung Richtlinien wie die folgende: „Wohnung No. XY. 7 Kubiksažen‘ Luft. Nicht mehr als 7 Bewohner. Auf den Fluren und in der Küche ist das Wohnen nicht erlaubt.“ 410 Diese Maßgaben hatten, insoweit ist dem Tenor der Reportage zuzustimmen, tatsächlich jeglichen Realitätsbezug verloren – in „Vasjas Dorf “ lebten die Menschen genauso wie an vielen anderen Orten Petersburgs in jedem Winkel und jedem Kellerloch. Was sie aber darüber hinaus taten, war, die Eingänge über den Türen mit Inschriften wie der folgenden zu versehen: „Fjodka-­Ovčuch, Dieb.“ 411 Annoncierungen wie diese sind sicherlich kein Anlass, das Zusammenleben in „Vasjas Dorf “ nachträglich zu romantisieren – im Sinne der hier interessierenden Fragestellung sind sie aber, unabhängig von ihrer moralischen Bewertung, Ausdruck eines bewussten Überschreibens der ursprünglichen Ordnung eines Raums. Und dies, ebenso wie im Falle des „Vjazemskij-­Klosters“, nicht ohne ein gewisses Maß an Selbstironie. Ihren prägnantesten Ausdruck fand die Identifikation der Bewohner mit ‚ihrem‘ „Dorf “ an den Wänden der Ansiedlung. Diese waren von den Bewohnern mit zahlreichen Schriftzügen und Darstellungen überzogen worden. Eines dieser Wandgemälde zeigte den Besitzer, Egor Vasil’ev, wie er „auf seinem gestutzten Rüden mit erhobener Faust heranritt, während aus seinem Mund Rauch aufstieg und er ausrief: ‚Haltet die Kohle bereit, verdammte Bewohner von Vasjas Dorf [Gotov’te gamzu, okajannye vasinoderevency].‘“ 412

409 Ebd. 410 Ebd. 411 Ebd. 412 Ebd. „Gamza“ stand im Slang der Unterwelt für „Geld, Brieftasche“. Vgl. Snapskaja, S. M. (Ved. redaktor izdanija), Bol’šoj slovar‘ russkogo žargona, Sankt-­Peterburg 2000, S. 121;

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Die Graffiti sind in zweifacher Hinsicht Ausdruck eines Prozesses der Identifikation mit dem Gelände, das man als das eigene betrachtete und von dem Besitzer bedroht sah. Zum einen steht das Markieren der Wand als solches für einen Aneignungsprozess des Raums und entspricht damit Richard Sennetts Charakterisierung von Graffiti „as a writing of the underclass“, mit dem man seine Anwesenheit zum Ausdruck bringt „We exist, and we are everywhere. Moreover, you others are nothing; we write all over you.“ 413 Zum anderen ist es die Selbstbezeichnung als „verdammte Bewohner von Vasjas Dorf “, die einen Bezug zum Ort wie auch untereinander zum Ausdruck bringt. Der Begriff Vasinoderevency widerlegt die in der Reportage zum Ausdruck gebrachte Annahme, dass sich die Bewohner des ‚Dorfes‘ nicht füreinander, sondern lediglich für ihr eigenes „Loch“ interessieren würden. Stattdessen hatten sie offensichtlich ebenso wie im Falle der lavra eine gemeinsame Identität entwickelt. Dies festzustellen bedeutet nicht, einer retrospektiven Romantisierung des Lebens in „Vasjas Dorf “ das Wort zu reden. Ebenso wie die lavra war auch der Slum auf der Vasilij-­Insel von Machtstrukturen und Ungleichheiten durchzogen. Das skizierte Wandgemälde verweist bereits auf eine dieser Frontstellungen – den Gegensatz z­ wischen Besitzer und Mietern. Die mit der Bezeichnung ­Vasinoderevency artikulierte gemeinsame Identität der Bewohner speiste sich nicht zuletzt aus dem gemeinschaftlichen Gefühl eines „Wir“ gegen „ihn“. Zugleich gab es aber auch d ­ ieses „Wir“ im Sinne eines egalitären Miteinanders nicht, auch wenn in der Artikelserie stellenweise ein solches Idyll suggeriert wird, etwa, wenn es mit Blick auf die zahlreichen im ‚Dorf ‘ vertretenen ‚Typen‘ heißt: „Alles dies findet im Ameisenhaufen von ‚Vasjas Dorf ‘ seinen Platz. Alle nimmt er auf, niemand wird verschmäht.“ 414 Das Bild vom „Ameisenhaufen“ stimmte sicherlich insoweit, als dass der Slum ein Anlaufpunkt für diejenigen war, die sich am Rande der Gesellschaft befanden und andernorts abgewiesen wurden. Aber zugleich finden sich in der Reportage zahlreiche Beispiele dafür, wie stark etwa Geschlechterhierarchien den sozialen Raum „Vasjas Dorf “ strukturierten. Genannt sei nur die von den Männern und Jugendbanden ausgehende

Gračev, M. A., Slovar‘ tysjačeletnego russkogo agro: 27.000 slov i vyraženiy, Moskva 2003, S. 187. 413 Sennett, Richard, The Conscience of the Eye. The Design and Social Life of Cities, New York 1990, S. 207. 4 14 Jaškov, „Vasina derevnja“, 06. 01. 1915, S. 3.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

allgegenwärtige Gewalt auf den Straßen des „Dorfes“, die dazu führte, dass Frauen diese abends und nachts mieden.415 Insgesamt lassen sich somit einige Parallelen z­ wischen der Binnenstruktur der Vjazemskaja lavra und jener in „Vasjas Dorf “ benennen. Die Quellenlage ist zweifellos schlechter, die Zeitungsartikel sind erkennbar an ein bestimmtes Publikum adressiert und bieten keinen vergleichbar tiefen Einblick in das Innenleben des Slums, wie dies bei den Aufzeichnungen Nikolaj Svešnikovs der Fall ist, der als langjähriger Bewohner der lavra über diese berichtete. Dennoch ist hier wie dort eine große Diskrepanz ­zwischen der Außenwahrnehmung dieser Orte und ihrer tatsächlichen Binnenstruktur zu konstatieren. Was für Außenstehende undurchdringbare Dickichte, „Schlammlöcher“, zu sein schienen, waren für die Bewohner Koordinatensysteme, die nach von ihnen geschaffenen Regeln funktionierten. Diese Regeln entsprachen nicht den gängigen gesellschaftlichen Erwartungen – es hieße jedoch, der Perspektive des zeitgenössischen Slumming aufzusitzen und die Exotisierung dieser prekären Orte fortzuschreiben, würde man hieraus schlussfolgern, dass es außer Not und Elend keine aktive Auseinandersetzung der Menschen mit den sie umgebenden Bedingungen gegeben hat und dass sich ihre Handlungen mithin nur „als Derivate von Zwängen“ 416 beschreiben lassen. Die Beispiele Vjazemskaja lavra und „Vasjas Dorf “ zeugen vielmehr davon, dass die Bewohner sich den Raum auf vielfache Weise angeeignet haben. Zugleich macht der Einblick in „Vasjas Dorf “ auf einer vergleichenden Ebene deutlich, dass die lavra keineswegs so exzeptionell war, wie sie häufig dargestellt wurde (und wird). Ihre Größe, vor allem aber ihre Lage im Zentrum der Stadt, am Rande des nicht minder bekannten Heumarkts, sowie der Kontrast z­ wischen ihrem aristokratischen Äußeren und dem Innenleben prädestinierten sie dafür, zum ‚Vorzeigeslum‘ St. Petersburgs zu werden. Blickt man jedoch hinter diese literarische und auflagenträchtige Fassade, so wird deutlich, dass die lavra nur der bekannteste Slum unter mehreren in Petersburg war, und dass sie nicht grundsätzlich anders ‚funktionierte‘ als etwa „Vasjas Dorf “. Hierfür sprechen auch die Beobachtungen, die Aleksej Svirskij in seiner Erzählung Mir truščobnyj (Welt der Slums) wiedergibt. Svirskij, der als Bettler verkleidet die Slums in St. Petersburg und Rostov am Don ‚besuchte‘ und dann mit 415 Ebd. Grundsätzlich zu dieser Thematik: Neuberger, Hooliganism. Vgl. auch Steinberg, Blood in the Air. 416 Wacquant, Drei irreführende Prämissen, S. 203.

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dem Anspruch der Authentizität über sie schrieb, erwähnt unter anderem, dass das ­zwischen Fontanka und Obvodnyj kanal gelegene Nachtasyl am Izmailovskij prospekt den Spitznamen „Slum-­Jachtklub“ 417 (truščobnyj jacht-­klub) trug. Die Parallele zur Selbstironie der Bezeichnung des Vjazemskij-­Hauses als „Kloster“ (lavra) ist offenkundig. Des Weiteren berichtet er, dass sich die Bewohner der Slums untereinander als „Slumbrüder“ 418 (truščobnye bratii) ansprachen – eine Kollektivbezeichnung, die an die Selbstdarstellung der Bewohner von „Vasjas Dorf “ als Vasinoderevency erinnert und die zudem eine gemeinsame Identität zum Ausdruck bringt, die die verschiedenen Slums St. Petersburgs miteinander verband. Dazu passt es, dass Peterburgskij listok im April 1901 über den Obvodnyj kanal als „Kurort des einfachen Volkes“ (narodnyj kurort) berichtete. Der Obvodnyj kanal, dessen Antlitz von zahlreichen Industriebetrieben geprägt war und an dessen Ufern sich mehrere Slums befanden, wurde in der warmen Jahreszeit zur ‚Datscha‘ der armen Bevölkerung Petersburgs: Mit Anbruch der warmen Tage […] beginnt sich die berühmte ‚Vjazemskaja lavra‘ zu leeren und ihre Aborigines [Aborigency eja] brechen zu ihrem geliebten ‚Kurort‘ auf. Dieser ‚Kurort‘ befindet sich in Petersburg und ist nichts anderes als die Ufer des berühmten Obvodnyj kanal. Während der Reiche unter den bezaubernden Himmel Siziliens strebt, der Mensch mit einem mittlerem Einkommen auf die Krim, und derjenige mit einem kleinen Einkommen nach Novaja derevnja oder nach Ozerki [ein Seengebiet nördlich der Stadt – H.-C. P.], begibt sich der Arme direkt an die Ufer des Obvodnyj kanal […]. ‚Das ist unser Kurort!‘, sagen die Bettler und faulen ‚Kadetten‘ entlang des Kanals. Wir haben den ‚Kurort‘ letzten Sonntag besucht.419

Im Folgenden gibt der Verfasser seine Eindrücke und (fiktive oder authentische) Dialoge der Menschen wieder, die er angetroffen hat. Er folgte hierbei dem gängigen Narrativ über ‚die Armen‘ und präsentierte sie vor allem mittels der von Wacquant so benannten „negativen Begriffe“: Männer und Frauen, die skurrile 417 Svirskij, Mir truščobnyj, S. 51. Vgl. zum Werk Svirskjs: Andronova, Nina, Ličnost‘ i ­publicistika A. I. Svirskogo. Unveröffentlichte Dissertation, Rostov-­na-­Donu 2009, sowie Neuberger, Hooliganism, S. 243 – 250. 418 Svirskij, Mir truščobnyj, S. 30. 48, 50. 419 Dosužij, Narodnyj kurort. (Fotografičeskij snimok), in: Peterburgskij listok, 17. 04. 1901, S. 2.

Reaktionen auf die Wohnungsnot

Kleidung tragen, übermäßig dem Wodka frönen und durch Kartenspielen die Zeit nutzlos totschlagen. Als Einsätze beim Kartenspiel setzten sie laut des Artikels unter anderem „den gesamten Heumarkt samt Waren“ 420, den Warschauer Bahnhof und die Vjazemskaja lavra. Unabhängig von der wenig objektiven Perspektive des Artikels bestätigt die Beschreibung des Obvodnyj kanal als ‚Datscha‘ der städtischen Unterschichten, dass die armen Bewohner die verschiedenen Orte des ‚anderen Petersburg‘ durch ihr Handeln miteinander verbanden, dass sie also eine eigene Topographie der Stadt entwickelten, die sich, wie das Beispiel der Adaption der Datscha-­Kultur in Gestalt des Obvodnyj kanal als ‚Kurort‘ zeigt, an Mustern der übrigen Gesellschaft orientierte, indem diese nicht ohne Selbstironie an die eigene Lebens­ situation angepasst wurden. Überliefert sind zudem Zeitungsberichte über eine Abfolge von ‚Exkursionen‘, die eine Gruppe von Abgeordneten der Petersburger Duma 1913/14 durch die Slums der Stadt unternahm. Die Parlamentarier ließen sich hierbei von der lokalen Presse begleiten, so dass die anschließenden Artikel in Peterburgskij listok Auskunft darüber geben, w ­ elche Orte man aufsuchte und wie die Journalisten und Abgeordneten diese wahrnahmen.421 Neben „Vasjas Dorf “ bildete der Obvodnyj kanal einen Schwerpunkt des Programms, darunter das Cholmuši, ein großer Komplex ärmlicher Mietskasernen, in dem bis zu 2500 Menschen in rund 130 Wohnungen lebten.422 Hierbei fällt auf, dass die lavra, die zu d ­ iesem Zeitpunkt gar nicht mehr existierte, wiederholt als Vergleichs- und Bezugspunkt herangezogen wurde. So gab Peterburgskij listok auf die rhetorische Frage „Wohin hat sich die Vjazemskaja lavra verkrochen?“ folgende Antwort: Das berühmte Londoner Whitechapel, eines der schlimmsten Viertel der großen europäischen Metropolen, erscheint aristokratisch im Vergleich zu dem Gebiet um die Voronežskaja ulica [die dies- und jenseits des Obvodnyj kanal verlief – H.-C. P.] und die angrenzenden Straßen. Es wird durchaus keine Übertreibung sein, wenn wir feststellen, dass die dunkle Bevölkerung Petersburgs [temnoe naselenie ­Peterburga] 420 Ebd. 421 Vgl. M. B., Peterburgskie truščoby, in: Peterburgskij listok, 31. 10. 1913, S.  4; [o. N.], ­Peterburgskie truščoby, in: ebd., 15. 02. 1914, S. 3; D., Peterburgskie truščoby. Novaja ėkskursija glasnych, in: ebd., 04. 05. 1914, S. 11. Vgl. zu den ‚Exkursionen‘ der Dumaabgeordneten auch Neuberger, Hooliganism, S. 240 – 242. 422 Vgl. [o. N.], Peterburgskie truščoby, in: ebd., 15. 02. 1914, S. 3.

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nach der Beseitigung der Vjazemskaja lavra am Zabalkanskij prospekt, die ­Vsevolod Krestovskij in seinen ‚Peterburgskie truščoby‘ beschrieben hat, hierher, in d ­ ieses Gebiet, das wir uns gestern angesehen haben, umgezogen ist – der ‚Bodensatz‘ der Stadt und jene, die sich nicht nur nähren, sondern sich ­zwischen der Armut und dem Laster steinerne Paläste errichten.423

Und bereits ein Jahr zuvor war das Cholmuši als „zweite Vjazemskaja lavra“ 424 bezeichnet worden, die schlimmer sei als das Original. Der Umstand, dass die Abgeordneten der Petersburger Duma es erst kurz vor Beginn des ­Ersten Weltkriegs für nötig befanden, die Orte der größten Armut ihrer Stadt selbst in Augenschein zu nehmen, und sich hierbei auch noch von der Boulevardpresse begleiten ließen, spricht für sich. Die wiederholten Bezüge zur Vjazemskaja lavra unterstreichen jedoch noch einmal, dass der lavra als dem Slum St. Petersburgs zwar in dem Sinne eine Sonderstellung zukam, als dass die anderen Truščoby der Stadt an ihr gemessen wurden – zugleich offenbarten sich bei einem solchen Vergleich jedoch offenkundig zahlreiche Parallelen. Es spricht somit vieles dafür, dass die am Beispiel der lavra und von „Vasjas Dorf “ entwickelten Einsichten in die inneren Strukturen dieser Orte nicht singulär sind, sondern repräsentativ für die Slums der russischen Hauptstadt stehen.

423 Ebd. 424 M. B., Peterburgskie truščoby, in: ebd., 31. 10. 1913, S. 4.

„The conflict over public space is always about control versus freedom, segregation versus diversity. What’s at stake is more than a square.“ (New York Times, 14. 06. 2013)

4. Märkte und Händler Märkte waren nicht nur in der russischen Hauptstadt ‚klassische‘ Orte der ‚kleinen Leute‘. Auf ihnen verkauften die aus dem Umland kommenden Bauern ihre Waren, und zugleich war der Markt Treffpunkt, Arbeitsbörse und Schauplatz von Revolten – mithin nicht nur ein ökonomisch definierter Ort, sondern, wie es der Nestor der Petersburger Lokalgeschichte (Kraevedenie), Nikolaj ­Anciferov, formulierte, ein „pulsierender Organismus“ 1, der über den eigentlichen Handelsplatz hinaus den Charakter ganzer Stadtviertel prägte. Diese Beobachtung soll im Folgenden aufgegriffen werden. Zunächst werde ich die Topographie der Märkte St. Petersburgs zur Jahrhundertmitte nachzeichnen, um dann nach ihrer weiteren Entwicklung zu fragen – also danach, wer wie und aus w ­ elchen Motiven auf ihre Gestaltung Einfluss nahm. Der anschließende Blick auf die ‚fliegenden‘ Händler der Stadt leitet dann bereits zum zweiten Teil ­dieses Kapitels über – nämlich zu der Frage, wie die Welt der ‚kleinen‘ Händler St. Petersburgs aussah und wie sie auf die strukturellen Veränderungen ihrer Umgebung reagierten. Das Handeln der Menschen entsprach häufig nicht den stadtplanerischen Vorstellungen von einer modernen und ‚geordneten‘ Metro­pole, es basierte auf ökonomischen Notwendigkeiten und auf bestimmten Vorstellungen davon, was man als tradiertes Recht begriff, und ließ sich nicht einfach regulieren. Entgegen der allgemein anerkannten zentralen Bedeutung, die den Märkten bei der Entwicklung der jungen russischen Hauptstadt zukam, ist ihre Geschichte bisher weitgehend ungeschrieben geblieben. Zwar gibt es einige Aufsätze zu einzelnen Märkten Petersburgs, vor allem zur wechselvollen Historie des Heumarkts und den ihn umgebenden Slums, wobei neben dem Artikel von Hubertus Jahn 1 Anciferov, Ulica rynkov, S. 59. Vgl. zu Anciferov sowie zur Entwicklung der Petersburger Kraevedenie insgesamt: Johnson, Emily D., How St. Petersburg Learned to Study Itself. The Russian Idea of kraevedenie, Pennsylvania 2006.

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Märkte und Händler

über die „Metamorphosen eines Stadtviertels“ 2 in erster Linie die Veröffent­ lichungen Zoja Jurkovas zu nennen sind, von der jetzt auch eine Monographie über den Sennaja vorliegt.3 Nach wie vor existieren aber keine Studien, die die Märkte der Stadt in ihrer Gesamtheit einer eingehenden Betrachtung unterziehen. An neueren Publikationen bietet außer dem populärwissenschaftlichen Buch von Valerij Kalugin 4 allein Ljudmila Procaj 5 einen schmalen, aber anschaulichen ersten Überblick über die hauptstädtischen Handelsorte um die Jahrhundertwende. Bereits deutlich älter, aber mit ihrem kulturgeschichtlichen und vergleichenden Ansatz nach wie vor mit großem Gewinn zu lesen, ist die zitierte Studie von Nikolaj Anciferov über die „Straße der Märkte“ aus dem Jahr 1926.6 Im Rahmen der folgenden Skizze der Topographie der Märkte St. Petersburgs um die Mitte des 19. Jahrhunderts werde ich auf sie zurückkommen.

4.1. Neuordnung und Segregation Topographie des Handels um die Mitte des 19. Jahrhunderts Seit der Gründung der Stadt an der Neva waren die Förderung und zugleich die Kontrolle des Handels zentrale Anliegen des Staats. Hierbei ging es sowohl um die Funktion als Handelszentrum, die der neuen Metropole zugedacht war, als auch um die Versorgung der Bevölkerung der zukünftigen Hauptstadt des Reiches. Ein besonderes Augenmerk galt der Frage, wo in der Stadt gehandelt werden durfte und wo nicht. Ebenso wie Peter I. waren auch die nachfolgenden Herrscher bestrebt, den Handel auf bestimmte Orte St. Petersburgs zu begrenzen, unterteilt nach der Art der Produkte. Je nach Ware wurden den Händlern bestimmte Plätze zugewiesen, wobei insbesondere die Politik Katharinas II . darauf abzielte, das Viertel rund um Admiralität und Winterpalast vom wirtschaftlichen Leben der Stadt abzugrenzen, um den Ausbau eines repräsentativen und vom Gewühl und den Gerüchen der Märkte unbeschadeten Zentrums 2 Jahn, Der St. Petersburger Heumarkt im 19. Jahrhundert. 3 Jurkova, Sennaja ploščad‘. 4 Kalugin, Valerij, Rynki Peterburga. Iz istorii rynkov Sankt-­Peterburga. Rynki i kriminal. Adresa i telefony vsech rynkov goroda. Sovety učenogo-­kulinara, Sankt-­Peterburg 2000. 5 Procaj, Rynki Peterburga. 6 Anciferov, Ulica rynkov.

Neuordnung und Segregation

voranzutreiben.7 Das Wachstum der Stadt in den folgenden Jahrzenten konterkarierte diese Planungen jedoch, so dass sich die Haupthandelsader St. Petersburgs, der Abschnitt der Gartenstraße (Sadovaja ulica) ­zwischen Gostinyj dvor und Heumarkt, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr am Rande, sondern mitten in der Stadt befand. Der als Gostinyj dvor bezeichnete Kaufhof der Stadt stand nicht immer wie heute an der Ecke Nevskij prospekt/Gartenstraße. Der erste Gostinyj dvor wurde ‚jenseits des Flusses‘ errichtet, auf der Petersburger Seite als dem anfänglichen Zentrum der Stadt. Was jedoch konstant blieb, war die ökonomische und symbolische Funktion, die den Gostinye dvory zukam: Als von der Autokratie gestiftete und für die städtische Kaufmannschaft bestimmte, befestigte Gebäude waren sie Orte des gehobenen Handels und verkörperten das Bestreben des Staats, das Kapital der Kaufmannschaft für die Entwicklung der Stadt zu mobilisieren.8 Von anderem Charakter war hingegen der erste große Lebensmittelmarkt der Stadt, der sich ebenfalls auf der Petersburger Seite befand. Nachdem der zunächst errichtete Obžornyj rynok wie bereits erwähnt 1710 einem Brand zum Opfer gefallen war, entwickelte sich der hinter dem Kronwerk der Peter-­und-­Pauls-­ Festung gelegene Sytnyj rynok zum Markt der ‚kleinen Leute‘ auf der Petersburger Seite. Er bestand, vergleichbar dem Heumarkt, aus einem großen, offenen Platz, auf dem die Bauern aus dem Umland ihre Waren verkauften und dessen Antlitz lange Zeit von einfachen, hölzernen Verkaufsständen dominiert wurde.9 7 Hierzu demnächst die bereits erwähnte Dissertation von Alexander Bauer (Mainz), in der er auf die Plätze der Stadt als zentralen Gegenstand staatlicher Planung und Regulierung im 18. Jahrhundert eingehen wird. Vgl. jetzt auch, über St. Petersburg hinausgehend: ­Ananieva, Anna/Bauer, Alexander/Leis, Daniel/Morlang-­Schardon, Bettina/Steyer, Kristina (Hg.), Räume der Macht. Metamorphosen von Stadt und Garten im Europa der Frühen Neuzeit, Bielefeld 2013. 8 Vgl. Bogdanov, Igor‘, Bol’šoj Gostinyj dvor v Peterburge, Sankt-­Peterburg 2001, S. 6 – 33; ders., Gostinye dvory, in: Tri veka Sankt-­Peterburga. Ėnciklopedija v trech tomach. Bd. 1: Osemnadcatoe stoletie, Buch 1, Sankt-­Peterburg 2005, S. 264 – 268; Suknovalov, ­Petrogradskaja storona, S. 13 – 15; Grečuchin/Popov, Progulki po Petrogradskoj, S. 12 – 17. 9 Anfangs hieß der spätere Sytnyj rynok noch „Tatarenlager“ (Tatarskij Tabor). Vgl. Kašpur, L. I., Torgovlja, in: Triv veka, Bd. 1, Buch 2, S. 397 – 400, hier S. 397; Michelovič, I., Rynki, in: Tri veka, Bd. 2, Buch 5, S. 1068 – 1073, hier S. 1071; Orlova, Marina, Sytnyj, Mytnyj i drugie …, in: Leningradskaja Panorama, No. 5, 1989, S. 25 – 27. Der Name Sytnyj rynok leitet sich gemäß der mündlich tradierten Erinnerung der Händler von dem Med ab, einem alkoholhaltigen Getränk aus gegorenen Beeren, wasser und Honig, das vor der Anlage eines ständigen Markts allabendlich am Rande des Platzes verkauft und als syta

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Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde der Sytnyj rynok dann zunehmend zum Gegenstand staatlicher Regulierungsbestrebungen, worauf ich im folgenden Abschnitt noch näher eingehen werde. Als 1716 die Vasilij-­Insel zum zukünftigen Zentrum St. Petersburgs bestimmt wurde, erhielt auch der Gostinyj dvor dort einen neuen Standort. Seinem Charakter entsprechend, wurde er auf der Strelka wiedererrichtet, der gegenüber dem Winterpalast gelegenen südöstlichen Spitze der Insel, auf der sich auch die Zwölf Kollegien und die Kunstkammer befanden.10 Zudem wurde jetzt auch auf der Vasilij-­Insel ein Lebensmittelmarkt begründet, der für die breite Bevölkerung gedacht war: der Andreevskij-­Markt (Andreevskij rynok). Ebenso wie zuvor der Sytnyj rynok auf der Petersburger Seite befand er sich nicht in unmittelbarer Nähe zum Gostinyj dvor, sondern einige Straßen entfernt, an der Kreuzung Bol’šoj prospekt/sechste Linie. Errichtet in den 1720er Jahren, erfreute er sich zunehmender Beliebtheit bei den Bewohnern, bis er 1763 durch ein schweres Feuer zerstört wurde.11 Der 1789 bis 1790 errichtete Neubau bestand dann bereits aus einem zweigeschossigen, steinernen Gebäude mit Galerien und glich damit eher den Gostinye dvory als den offenen Märkten wie dem Sytnyj rynok oder dem Heumarkt. Nicht zufällig wurde der neue Andreevskij-­Markt denn auch zum Prototyp für die Kaufhöfe kleinerer Städte wie Kostroma oder Kozlov.12 Mit der Neubegründung des Stadtzentrums auf der Admiralitätsseite Ende der 1730er Jahre begann die Herausbildung jener Handelsmagistrale, die von ­Anciferov in Anlehnung an den gleichnamigen Roman Émile Zolas über die Markthallen von Paris 13 als der „Bauch Petersburgs“ 14 bezeichnet wurde. Das eine Ende dieser „Straße der Märkte“ markierte der nun auf die Admiralitätseite verlegte Große Kaufhof (Bol’šoj Gostinyj dvor). Errichtet 1761 bis 1785, erstreckte er sich über zwei Stockwerke und avancierte rasch zum „Handelsmekka“ 15

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bezeichnet wurde, abgeleitet vom russischen Wort syt (satt, gesättigt). Vgl. den Brief des Händlers Nikolaj Sažin: Sytnyj rynok v Peterburge, in: Russkaja starina 4 (1873), Bd. 8, S. 244. Vgl. Nikitenko/Sobol‘, Doma i ljudi, S. 10 – 12. Vgl. Procaj, Rynki Peterburga, S. 14. Vgl. ebd. Zola, Émile, Der Bauch von Paris, Paderborn 2011 (Franz. Original erstmals 1873). Anciferov, Ulica rynkov, S. 58. Procaj, Rynki Peterburga, S. 9. Ein erster Gostinyj dvor auf der Admiralitätsseite befand sich an der Grünen Brücke am Ufer der Mojka. Er fiel 1736 einem Brand zum Opfer. Vgl.

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S­ t. ­Petersburgs. Ende der 1860er Jahre beherbergte er rund 270 Geschäfte, in denen die wohlhabenden Kaufleute der Stadt ihre Waren anboten.16 Als nächster großer, an der Gartenstraße gelegener Marktkomplex folgten der Ščukin dvor und der Apraksin dvor. Im Gegensatz zum Gostinyj dvor befand sich das Gelände des Apraksin dvor in Privatbesitz – es gehörte zu den zahlreichen Besitzungen der Grafen Apraksin in der Hauptstadt. Das Grundstück war ihnen 1739 für ihre Verdienste von der Zarin geschenkt worden. Gemeinsam mit dem benachbarten Ščukin dvor bildete er im 19. Jahrhundert einen der größten Märkte St. Petersburgs.17 Das Prestige ­dieses bis zum verheerenden Brand im Jahr 1862 aus einer Mischung aus steinernen Bauten und hölzernen Verkaufsbuden bestehenden Marktkomplexes war höher als das des auf ihn folgenden Heumarkts – zugleich stand es jedoch deutlich hinter dem des Gostinyj dvor zurück.18 Unter anderem beherbergte der Apraksin dvor einen Trödelmarkt (tolkučij rynok), und Johann Georg Kohl berichtet davon, dass dieser im Volksmund auch als „Läusemarkt“ 19 (voševoj rynok) bezeichnet wurde. Nur wenige hundert Meter weiter traf (und trifft) die Gartenstraße auf den Heumarkt. Ursprünglich am Rande der Stadt gelegen, diente er seit den 1730er Jahren den Bauern aus dem Umland als Ort für den Verkauf von Heu, Brennholz und ähnlichen Materialien.20 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelte er sich zum größten Lebensmittelmarkt der Stadt, auf einem offenen Platz, der von der Gartenstraße in zwei Hälften geteilt wurde. Ab den 1860er Jahren wurde der Heumarkt, wie noch zu zeigen sein wird, zum Gegenstand intensiver und langwieriger Überlegungen, wie dieser von der Obrigkeit zunehmend als ‚bedrohlich‘ wahrgenommene Ort reguliert werden könnte.

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Bogdanov, Bol’šoj Gostinyj dvor v Peterburge, S. 25 f.; Pyljaev, Michail, Staryj Peterburg. Istorija byloj žizni stolicy Rossijskoj imperii, Moskva 2006 (erstmals 1887), S. 191 – 193. Vgl. Bogdanov, Bol’šoj Gostinyj dvor v Peterburge, S. 155; ders., Gostinyj dvor, in: Tri veka, Bd. 2, Buch 2, Sankt-­Peterburg 2003, S. 199 – 203. Vgl. Rubachin, Vasilij, Grafy Apraksiny i ich peterburgskaja votčina. Apraksin dvor, Sankt-­ Peterburg 1912; zum Ščukin dvor auch Bachtiarov, Anatolij A., Brjucho Peterburga. Očerki stoličnoj žzni, Sankt-­Peterburg 1994 (erstmals 1887), S. 67 – 76. Vgl. Anciferov, Ulica rynkov, S. 100. Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen, Bd. 1, S. 171. Vgl. hierzu jetzt Jurkova, Sennaja ploščad‘, sowie Bauer, Alexander, Platz – Herrschaft – Kaufleute. Regulierung des öffentlichen Raums am Beispiel des Heuplatzes in der zweiten Hälfte des 18. und ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Ananieva u. a., Räume der Macht, S. 197 – 225.

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Jenseits des Heumarkts lagen zur Jahrhundertmitte noch zwei weitere, deutlich kleinere Märkte. Zum einen der Nikol’skij rynok an der Kreuzung Krjukovkanal/­ Katharinenkanal – bekannt für seinen Fischhandel, zugleich aber auch ein Ort der städtischen Armut, auf dem es eine Suppenküche gab und der vor allem im Sommer als Jobbörse für Arbeitsmigranten fungierte.21 Den Abschluss der Märkte entlang der Gartenstraße bildete der Pokrovskij rynok, der sich auf dem heutigen Turgenevplatz befand. Die auf ihm angebotenen Waren waren ebenso wie die Verkaufsstände einfach und ärmlich, und folgt man der Darstellung Nikolaj Anciferovs, so genügte „ein einziger Blick“, um zu erkennen, dass der Pokrovskij rynok „nicht den Eindruck eines Handelszentrums“ 22 vermittelte. Insgesamt wies die Gartenstraße damit nicht nur die größte Dichte an Märkten in St. Petersburg auf, sondern entlang ihres Verlaufs lässt sich auch ein soziales Gefälle der Handelsorte beobachten: Je größer die Entfernung vom Nevskij prospekt und vom Gostinyj dvor, desto schlechter der Ruf des Markts. Anciferov sprach 1926 davon, dass ein Rundgang über die städtischen Märkte deutlich mache, „welchen Einfluss die Nähe zum Zentrum der Stadt auf den Charakter der Märkte hat, die sich in unterschiedlicher Entfernung von ihm befinden. Der Gostinyj dvor, der Apraksin dvor und der Aleksandrovskij-­Markt [der erst 1867 errichtet wurde und auf den ich im Folgenden noch eingehen werde – H.-C. P.] bilden diesbezüglich auf einer Ebene drei aussagekräftige Beispiele – und der Heumarkt sowie der Pokrovskij-­Markt auf einer anderen.“ 23 Damit zeigt sich ein sozialräumliches Muster, das bereits die Entwicklung der Stadtteile ‚jenseits des Flusses‘ prägte: Die Verteilung von Armut und Reichtum hing maßgeblich davon ab, wie zentral oder wie ‚peripher‘ man lebte oder Handel trieb. Ähnlich dem Bol’šoj prospekt auf der Vasilij-­Insel oder dem Kamennoostrovskij prospekt auf der Petersburger Seite vereinte auch die im Zentrum gelegene Gartenstraße z­ wischen ihren beiden Endpunkten das gesamte Spektrum des Lebens in der russischen Hauptstadt. Neben diesen mehr oder weniger großen Märkten gab es in St. Petersburg überall noch kleinere Handelsreihen und ‚fliegende‘ Händler.24 Ihre Existenz war Ausdruck dessen, dass sich die Regulierung des Handels seitens des Staats

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Vgl. Procaj, Rynki Peterburga, S. 13 f. Anciferov, Ulica rynkov, S. 104. Ebd., S. 105. Vgl. Zasosov/Pyzin, Iz žizni Peterburga, S. 317 f.; Michelovič, Rynki; Procaj, Rynki P ­ eterburga, S. 88 – 119.

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in der Praxis nur begrenzt durchsetzen ließ – ein Konfliktfeld, das im Kontext des Umbaus des Heumarkts sowie bei der Betrachtung des Umgangs der Stadt mit den Straßenhändlern noch näher zu beleuchten sein wird. Zugleich zeigt das bisher Skizzierte, dass zur Jahrhundertwende in erster Linie die innerstädtischen Gebiete St. Petersburgs gut mit Handels- und Einkaufsmöglichkeiten versorgt waren, während andere Teile der Stadt wie etwa die Vyborger Seite über gar keinen zentralen Markt verfügten. Hiervon profitierte die im Zentrum lebende, im Durchschnitt besser gestellte Bevölkerung (und insbesondere die Kaufmannschaft), während die städtischen Unterschichten an den Peripherien andere Wege finden mussten, um sich zu versorgen. Dieses Ungleichgewicht entwickelte sich umso mehr zu einem veritablen Problem, je weiter die Stadt wuchs – weshalb die Frage der Märkte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem wichtigen Thema in der Hauptstadt wurde.

Akteure und Motive Im Jahr 1848 kam die Petersburger Duma bei einer Bestandsaufnahme der in der Stadt vorhandenen Märkte zu dem Ergebnis, dass deren Anzahl „weder der Größe der Hauptstadt noch dem Umfang der Bevölkerung“ adäquat sei. Von „vielen Orten“ St. Petersburgs befände sich der nächste Markt „mehrere Werst entfernt, so dass die Bewohner, insbesondere die armen, gezwungen sind, ihr Fleisch bei fliegenden Händlern [u raznosčikov] zu kaufen und höhere Preise zu zahlen, ohne hierfür immer frische Ware zu bekommen.“ 25 Dementsprechend sei es, so die Duma weiter, unabdingbar, neue Märkte in der Stadt zu gründen und das hierfür notwendige Kapital zur Verfügung zu stellen. Anlass für diese Bestandsaufnahme waren mehrere Eingaben von Händlern gewesen, ihnen den Verkauf von Fleisch jenseits der Märkte zu erlauben – ein Anliegen, das seit dem 18. Jahrhundert immer wieder an die Stadt herangetragen wurde und das bereits zu zahlreichen Konflikten geführt hatte, wie noch zu zeigen sein wird. Das Innenministerium veranlasste hieraufhin die Einsetzung eines Komitees unter Vorsitz des Petersburger Gouverneurs, das sich der von der Duma aufgeworfenen Frage der Vergrößerung der Zahl der 25 Schreiben des Innenministeriums an die Hauptverwaltung für Verkehrswege und öffentliche Gebäude, 21. 05. 1848, RGIA, f. 218, op. 4, del. 1871, l. 1 – 1ob., hier 1 1.

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in Petersburg vorhandenen Märkte annehmen sollte. Das Komitee, dem außer dem Gouverneur noch das Stadtoberhaupt, Mitarbeiter des Innenministeriums, des Generalgouverneurs, der Hauptverwaltung für Verkehrswege und öffentliche Gebäude sowie, in beratender Funktion, Abgeordnete der Petersburger Duma angehörten, nahm Ende Juni 1848 seine Arbeit auf.26 Bei der folgenden Erfassung des Status quo kam man auf eine Zahl von insgesamt 490 Verkaufsständen (Lavki) in der Stadt, die sich auf neun Märkte sowie mehrere Handels­reihen verteilten. Neben diesen einigermaßen klar einzugrenzenden Orten gab es gemäß den Erhebungen des Komitees rund 580 weitere Verkaufsstände, die jenseits der Marktplätze existierten, wobei diese Größenordnung nur einen Annäherungswert darstellte, da sich das Ausmaß des Straßenhandels kaum exakt benennen ließ, was unter anderem daran deutlich wird, dass die Zahl der abseits der Märkte vorhandenen Gemüsehändler bis zum Abschluss der Arbeit der Komitees offen („unbekannt“, neizvestno) blieb.27 Zweifellos zutreffend war jedoch die Feststellung, dass die Verteilung der Handelsplätze einen Verstoß gegen das Gesetz Katharinas II . vom Juni 1782 darstellte, in welchem diese verfügt hatte, dass in jedem Teil der Hauptstadt mindestens ein zentraler Markt zu existieren habe.28 Wie das Komitee festhielt, war dies 1848 in fünf Stadtteilen nicht der Fall: Im zweiten Bezirk des Admiralitätsdistrikts, in den Bezirken Narva und Karetnaja sowie auf der Vyborger Seite und im Ochta­gebiet.29 Dementsprechend betonte es „die Notwendigkeit der Gründung weiterer Märkte über die heute bestehenden hinaus“ 30 und schlug vor, beginnend im Narvaviertel, insgesamt vier neue Märkte in St. Petersburg zu errichten. Zudem sprach sich das Komitee dafür aus, in Anbetracht der derzeitigen, ungenügenden Abdeckung den Gesuchen der Händler stattzugeben, ihnen also den Verkauf von Fleisch abseits der Märkte zu erlauben. Eine ­solche Genehmigung sollte allerdings an bestimmte Bedingungen geknüpft werden. 26 Vgl. zur Bildung des Komitees die Korrespondenz ebd., l. 2 – 10, sowie: Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge. Doklad komissija o pol’zach i nuždach obščestvennych ­S.-Peterburgskoj Gorodskoj Dume, Sankt-­Peterburg 1912, S. 45 f. 27 Vgl. den Bericht über die Sitzung des Komitees am 25. 11. 1848, RGIA, f. 218, op. 4, del. 1871, ll. 10 – 23ob., hier ll. 16 – 18ob. 28 Vgl. O stroenii rynkov i lavok po častjam stoličnogo goroda Sanktpeterburga, 28. 06. 1782, abgedruckt in: Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. 71. 29 Vgl. RGIA, f. 218, op. 4, del. 1871, l. 17ob. 30 Ebd., l. 21ob.

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So wurde es als unerlässlich bezeichnet, die auf mehrere Stadtviertel verteilten Verkaufsstände „an einem Ort zu konzentrieren, um die Aufsicht zu erleichtern“, sowie „polizeiliche Regeln“ 31 zu erlassen, um die Qualität der verkauften Ware kontrollieren zu können. Weiterhin wurde ein solcher Verkauf nur in den Gegenden der Stadt als zulässig erachtet, in denen es keine zentralen Märkte gab, und in jedem Einzelfall bedürfe es des Einverständnisses des Innenministers, in Absprache mit dem Generalgouverneur.32 Der Bericht des Komitees wurde vom Innenministerium an die Petersburger Duma weitergeleitet, w ­ elche eine Kommission einsetzte, um die Vorschläge auf ihre Realisierbarkeit zu überprüfen. Die Kommission kam zu dem Schluss, dass der Bau vierer neuer Märkte durch die Stadt nur mittels langfristiger Kredite finanzierbar und damit aus finanziellen Gründen nicht erstrebenswert sei. Als Alternative führte sie den Bau der Märkte durch private Händler an – was jedoch von der Mehrheit der Duma abgelehnt wurde, die es als eine zentrale Kompetenz der Stadt erachtete, möglichst viele Handelsorte Petersburgs selbst zu betreiben, zu kontrollieren und durch die Vermietung der Standplätze Einnahmen zu erzielen. Dementsprechend sprach sich die Duma anstelle des Baus neuer Märkte dafür aus, über die Genehmigung des Verkaufs jenseits der Märkte die Abdeckung zu verbessern.33 Diese Position wurde von weiteren beteiligten Personen, darunter auch vom Stadthauptmann, Generalmajor Krol‘, unterstützt,34 so dass die Schaffung neuer Märkte letztendlich vorerst im Sande verlief. Gleichwohl beinhaltete die Diskussion aber bereits alle Themenfelder, die auch in den nächsten Jahrzehnten die Debatte über die Märkte der Hauptstadt bestimmen sollten: Versorgung, Ertrag und Regulierung. Unter diese drei Begriffe lassen sich die bis 1914 angedachten oder realisierten Umstrukturierungen der Märkte St. Petersburgs subsummieren – wobei Versorgung, Ertrag und Regulierung als Leitlinien des politischen und ökonomischen Handelns der beteiligten Akteure eng miteinander verwoben waren und jeweils am konkreten Ort, den Märkten der Stadt, zusammenliefen.

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Ob ustroistve rynkov v S.-Peterburge, S. 47. Vgl. ebd. Vgl. Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. 47 – 49. Vgl. u. a. das Schreiben Krol’s an die Hauptverwaltung für Verkehrswege und öffentliche Gebäude, 16. 01. 1852, RGIA, f. 218, op. 4, del. 1871, ll. 18 – 19.

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Versorgung Die Verteuerung der Grundnahrungsmittel war in St. Petersburg über Jahrzehnte hinweg ein Problem, für das keine wirkliche Lösung gefunden wurde. Noch 1913 debattierte die lokale Duma über den Vorschlag einer zur Regulierung der Fleischpreise eingerichteten Kommission, auf dem Heumarkt einen Verkaufsbereich mit festgelegten Preisen einzurichten.35 Die Frage des permanenten Anstiegs der Preise für Fleisch wurde hierbei von der Kommission als nur ein Aspekt der ganz grundlegenden Schwierigkeiten der Stadt gesehen, zumindest einen „gewissen Einfluss auf die Regulierung der Preise der Grundnahrungsmittel zu erlangen – deren Anstieg in letzter Zeit ein solches Ausmaß erreicht hat, dass es unmöglich für die St. Petersburger Stadtverwaltung ist, hierauf nicht ihre besondere Aufmerksamkeit zu richten.“ 36 Dies war zweifellos zutreffend – allein z­ wischen 1895 und 1911 lag die Teuerungsrate nicht nur für Fleisch bei durchschnittlich knapp 50 %, auch bei Mehl, Butter, Brot, Fisch oder Gemüse sah die Entwicklung nicht grundlegend anders aus.37 Ebenso wie im Falle der Verteuerung des Wohnens ging diese Entwicklung in erster Linie zu Lasten der städtischen Unterschichten, die am wenigsten in der Lage waren, die steigenden Preise zu bezahlen. Deshalb war der Ort, auf den sich die Vorschläge der Kommission bezogen, auch nicht zufällig gewählt – der Heumarkt war nicht nur der größte Lebensmittelmarkt der Stadt, sondern auch der zentrale Versorgungspunkt für die arme Bevölkerung der innerstädtischen Distrikte. Im November 1913 stimmte die Petersburger Duma mehrheitlich für den Vorschlag der Kommission, probeweise einen Fleischverkauf zu festen Preisen auf dem Sennaja zu beginnen.38 Aufgrund der in den nächsten Jahren die Stadt und das ganze Land erfassenden Umbrüche blieb der Beschluss jedoch ebenso folgenlos wie das zu spät einsetzende Umdenken eines Teils der Dumaabgeordneten in der Wohnungsfrage. Er steht jedoch exemplarisch dafür, dass sich die

35 Vgl. den Bericht der Stadtverwaltung in: ISPGOD, 1913, No. 44, S. 1253 – 1274. 36 Ebd., S. 1253. 37 Vgl. die auf den Angaben der Stadtverwaltung basierende Tabelle: Ceny na glavnejšie ­predmety potreblenija v S.-Peterburge s 1895 po 1911 g., in: Ob ustrojstve rynkov v ­S.-Peterburge, S. 86 – 88. 38 Vgl. die Protokolle der Dumasitzungen am 13. und 15. 11. 1913 in: ISPGOD, 1914, No. 10, S. 2621 f., und No. 11, S. 2813 f.

Neuordnung und Segregation

Verteuerung elementarer Produkte des alltäglichen Lebens auch in den zentralen Bereich St. Petersburgs zu einem massiven Problem entwickelt hatte. In noch stärkerem Maße galt dies für die entlegeneren Gebiete der Stadt. Das oben angeführte Zitat über die Orte Petersburgs, die mehrere Werst vom nächsten Markt entfernt lagen, zeigt, dass die ungenügende Abdeckung des Stadtgebiets mit großen Handelsplätzen nicht nur ein Problem der Distanz war, die die Menschen zurücklegen mussten, sondern auch Konsequenzen für die Preise hatte. Je weiter man von den Märkten der Stadt entfernt wohnte, desto stärker war man auf Zwischenhändler angewiesen, die die Ware selbst auf den Märkten erwarben und sie dann zu einem höheren Preis dort verkauften, wo es keine Alternative gab. Vergleichbar der Wohnungsfrage, trieb auch hier der Mangel die sowieso bereits steigenden Preise noch weiter in die Höhe – und ebenso wie im Falle der Keller- und Eck-‚wohnungen‘ waren es auch bei der Versorgung mit Lebensmitteln erneut vor allem die städtischen Unterschichten, die hiervon betroffen waren, denn sie waren es, die in erster Linie in den Gegenden lebten, in denen es keine Märkte gab. Auf diesen sozialräumlichen Zusammenhang hatte bereits das erwähnte Komitee 1848 hingewiesen, und nicht zufällig lagen mit dem Narvaund dem Karetnajadistrikt sowie der Vyborger Seite und dem Ochtagebiet vier der fünf von ihm benannten Viertel, die über gar keinen zentralen Handelsplatz verfügten, jenseits des innerstädtischen Bereichs. Trotz dieser offenkundigen Unterversorgung großer Teile der Stadt dauer­te es bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, ehe der Bau zusätzlicher Märkte beschlossen wurde. Erst 1901 stimmte die Petersburger Duma der Aufnahme eines Kredits in Höhe von 450.000 Rubel zu, mit dem, neben einem Kühlgebäude auf dem Sennaja, vier neue Märkte im Stadtgebiet errichtet werden sollten: auf der Vasilij-­Insel im Bereich der Siedlung Gavan‘, im Kolomnadistrikt, im Narvaviertel sowie auf der Vyborger Seite.39 Während die ersteren beiden bis 1914 realisiert wurden – der Neue Gavaner Markt entstand bis 1907 entlang der Fürstinnenstraße (Ulica Knjagininskaja) im Südwesten der Vasilij-­Insel,40 der Locmanskij-­Markt im Kolomnadistrikt wurde 1910 eingeweiht 41 – blieb die

39 Vgl. den Bericht der Stadtverwaltung in: ISPGOD, 1903, No. 10, S. 119 – 127; Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. 52. 40 Vgl. Gorodskoj rynok v Gavani, in: Zodčij. Eženedel’nyj architekturnyj i zudožestvenno-­ techničeskij žurnal 36 (1907), vyp. 22, S. 224. 41 Vgl. Procaj, Rynkij Peterburga, S. 84 f.

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gesamte Vyborger Seite bis 1914 ohne großen, zentralen Markt. Ebenso wenig kam es zum Bau eines Großmarkts, der von verschiedenen Seiten mit Blick auf die Versorgungsprobleme in der Stadt und den skizzierten Anstieg der Preise nachdrücklich eingefordert wurde.42 Und so erinnerte denn auch das Resümee, das eine weitere von der Duma gebildete Kommission 1912 zog, stark an die Schlussfolgerungen des Berichts aus dem Jahr 1848: Es sei nicht zu verkennen, dass sich der Großteil der Handelsplätze in dem Teil der Stadt befinde, „der den geographisch zentralen Teil Petersburgs bildet und der überwiegend von einer mehr oder weniger wohlhabenden Bevölkerung bewohnt wird. Die Gegenden aber, die überwiegend von den Arbeitern bewohnt werden, sind durch das Fehlen der Vorzüge eines konzentrierten Handels gekennzeichnet und müssen sich ihre Lebensmittelvorräte auf privaten Märkten oder bei privaten Verkaufsständen besorgen. Das Fehlen städtischer Einzelhandelsmärkte überlässt die Bevölkerung völlig der Macht des Kleinhandels, bei dem man alle Produkte unweigerlich zu höheren Preisen erwerben muss.“ 43 Die Versorgungslage in der russischen Hauptstadt hatte sich mithin bis zum Beginn des E ­ rsten Weltkriegs nicht grundlegend verändert, und vor allem jenseits des Zentrums gestaltete sie sich nach wie vor ähnlich prekär wie um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Um zu verstehen, warum dies trotz der offensicht­ lichen Engpässe so war, ist es aufschlussreich, sich das Beispiel der Vyborger Seite noch einmal genauer anzuschauen, die wie erwähnt bis 1914 ohne einen zentralen Markt blieb. Es verdeutlicht, dass die Frage der Versorgung der Bevölkerung nur ein handlungsleitendes Motiv unter mehreren darstellte – und dass es nicht für alle Beteiligten oberste Priorität besaß.

Ertrag Dass die Vyborger Seite mit ihrer großen Fläche, einer schnell wachsenden Bevölkerung und einer unzureichend entwickelten Infrastruktur dringend einen zentralen Markt benötigte, war den verantwortlichen Stellen der Stadt nicht erst seit der Jahrhundertwende bekannt. Seit den 1870er Jahren waren von verschiedener Seite wiederholt Vorschläge an die Stadtverwaltung herangetragen 42 Vgl. Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. V–XXVIII. 43 Ebd., S. XXII.

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worden, mit privatem Kapital einen Markt im Vyborger Distrikt errichten zu dürfen. Vermögende Einzelpersonen boten ebenso wie ausländische Aktien­ gesellschaften – darunter die in Paris ansässige „Gesellschaft für Immobilien und französische Märkte in St. Petersburg“ (Obščestvo nedvižimostej i francuzskich rynkov v S.-Peterburge)44 – eine private Finanzierung an, für die sie im Gegenzug das langfristige Recht auf die Gestaltung des neuen Markts sowie auf die durch die Vermietung der Handelsplätze zu erwartenden Gewinne erhalten wollten. Alle diese Anträge wurden von der Petersburger Duma abgelehnt – was sich nur erklärt, wenn man den Blick neben der Frage der Versorgung auch auf die Einnahmen richtet, die sich nicht nur private Finanziers, sondern auch die Stadt von der Gründung eines Markts versprachen. Deutlich wird dieser Zusammenhang in einer Ausarbeitung, w ­ elche die Stadtverwaltung der Duma zur Frage des Standortes eines Markts auf der Vyborger Seite im März 1903 vorlegte. Vorausgegangen waren wie erwähnt 1901 die grundsätzliche Zustimmung der Abgeordneten zum Bau eines solchen Markts sowie die Bewilligung der entsprechenden Mittel. Einleitend fasste die Stadtverwaltung die beiden gegensätzlichen Positionen zusammen, die im Laufe der Beratungen zutage getreten waren: Einerseits gebe es, so die Stadtverwaltung, „die Kalkulation, mit diesen Gründungen [neuer Märkte – H.-C. P.] möglichst hohe Einnahmen zu erzielen, was dazu führt, die Orte für den Bau von Märkten in den am dichtesten bewohnten Gebieten der Hauptstadt zu suchen – und auf der anderen Seite muss man die Tatsache berücksichtigen, dass die zentraleren Teile der Stadt bereits derart mit jeder Art von Handelseinrichtungen versorgt sind, dass die Notwendigkeit zentraler Handelspunkte, wie sie Märkte darstellen, für sie bei Weitem nicht so hoch ist wie in den periphereren Gebieten. Die Letzteren ziehen aufgrund ihrer Abgelegenheit von den großen Warenumschlagsplätzen stets Händler an und benötigen deshalb ungleich dringender als erstere s­ olche Einrichtungen, ganz zu schweigen davon, dass die Gründung von Märkten an den Rändern der Stadt deren Entwicklung und Bevölkerung einen beträcht­ lichen Impuls verleihen wird.“ 45 Damit hatte die Stadtverwaltung zwei der entscheidenden Motive benannt, ­zwischen denen sich die Positionen der beteiligten Akteure bewegten: Einerseits die Versorgung und Förderung gerade jener Teile der Stadt, die bisher abseits 44 Vgl. ebd., S. 49 – 52. 45 Bericht der Stadtverwaltung in: ISPGOD, 1903, No. 10, S. 119.

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der großen Handelsplätze lagen, und andererseits das Bestreben, mit der Gründung neuer Märkte kurzfristig möglichst hohe Einnahmen zu erzielen. Im Falle der Frage eines zukünftigen Markts auf der Vyborger Seite folgten aus diesen unterschiedlichen Prioritäten zwei verschiedene Standorte, die zur Diskussion gestellt wurden. Die Stadtverwaltung selbst plädierte für ein Gebiet ­zwischen Arsenal’naja, Mineral’naja und Timofeevskaja ulica und damit für die Gegend östlich des Samsonprospekts, die bisher im Schatten der dortigen Entwicklung gestanden hatte. Wie sie in einer Sitzung am 30. September 1903 unterstrich, benötigte die Vyborger Seite mit ihrer Ausdehnung von 15 Werst eigentlich drei Märkte – angesichts der beschränkten Mittel plädierte die Stadtverwaltung jedoch für nur einen Standort, der dafür aber zumindest so ausgewählt werden sollte, dass er vom westlichen wie vom östlichen Teils des Distrikts erreichbar wäre – und damit eben nicht direkt am Samsonprospekt liegen konnte. Sie verwies darauf, dass ein Markt „an den Rändern, an denen die Straßen kaum ausgebaut sind, inzwischen aber viele Arbeiter leben, unabdingbar ist und dass die Stadt eher der armen Bevölkerung helfen sollte als den wohlhabenderen Einwohnern, die die Möglichkeit haben, sich ihre Vorräte in der Stadt zu kaufen.“ 46 Zudem stimme es nicht, wie von den Gegnern d ­ ieses Standorts behauptet, dass die vorgeschlagene Gegend einer „Ödnis“ (Pustynnost‘) g­ leiche. Das Gebiet verbinde wichtige Straßen der Vyborger Seite in west-­östlicher Richtung, und zudem ­seien dort in den letzten Jahren mehrere große Fabriken entstanden, denen in Kürze noch weitere folgen würden. Was heute noch wie ein „leeres Gebiet“ wirken könne, werde „in drei Jahren eine der besten Gegenden der Stadt sein, mit ausgezeichneten sanitären Bedingungen.“ Dort, wo heute die Straßen noch durch „Tausende von Fuhren mit Schnee und Müll verstopft [zagromoždennaja tysjačami vozov so snegom i musorom]“ würden, werde der Bau eines Markts „den Ausbau des Gebietes erleichtern und den Wert der Grundstücke in dieser Ecke der Stadt erheblich steigern.“ 47 Die Argumentation der Stadtverwaltung ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Zum einen beinhaltet sie die Frage der Versorgung der Bevölkerung als einen zentralen Punkt – und dies mit Blick auf die jahrzehntelang vernachlässigten Gebiete östlich des Samsonsprospekts auch sicherlich zu recht. Zugleich 46 Schreiben der Stadtverwaltung an den Stadthauptmann, 10. 10. 1903, RGIA, f. 1293, op. 137, del. 91, ll. 1 – 4, hier l. 2ob. 47 Ebd.

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wird deutlich, dass dies nicht als Widerspruch zur Generierung von Einnahmen gesehen wurde – vielmehr war der Bau eines Markts für die Petersburger Stadtverwaltung ein Mittel, die Gegend zu einer „der besten der Stadt“ zu machen und auf diese Weise mittels höherer Grundstückspreise auch den städtischen Gewinn zu steigern. Was damit einherging und ja auch explizit angestrebt wurde, war die Aufwertung des ganzen Viertels in Gestalt einer Neuordnung des Handels. Und es wird auch deutlich, wer hierfür weichen sollte: Während für den Fall der Errichtung eines festen Markts „ausgezeichnete sanitäre Bedingungen“ in Aussicht gestellt wurden, fungierte der traditionelle Verkauf der Bauern direkt von ihren Fuhren (Vozy), der in den meisten Teilen der Vyborger Seite in Ermangelung eines zentralen Handelsortes nach wie vor noch anzutreffen war, in der Argumentation der Stadtverwaltung nur in negativer Gestalt, als „Verstopfung“ der Straßen mit „Schnee und Müll“. Ebenso wie bei der Wohnungsfrage bedeutete Aufwertung also zugleich Verdrängung – ein Zusammenhang, auf den ich im folgenden Abschnitt unter dem Stichwort Regulierung noch näher eingehen werde. Die Gegenposition vertraten der Mitarbeiter der Stadtverwaltung, Petrov, sowie die Finanzkommission der Duma. Petrov plädierte in einem Sondervotum dafür, Märkte grundsätzlich nur dort anzusiedeln, wo die Bevölkerung bereits eine „beträchtliche Dichte“ 48 erreicht habe. Im Fall der Vyborger Seite treffe dies für den von der Stadtverwaltung favorisierten Standort sicher nicht zu, weshalb er für eine Ansiedlung des Markts ­zwischen Samsonprospekt, Nystader Straße und Lomanskij pereulok plädierte, mithin in dem Bereich der Vyborger Seite, der bereits am weitesten entwickelt war. Ganz ähnlich argumentierte die Finanzkommission. Sie verwies ebenfalls darauf, dass mit einem Markt in einer dichter bewohnten Gegend mehr Menschen versorgt werden könnten und dass hiervon höhere Einnahmen zu erwarten ­seien.49 Der von ihr vorgeschlagene Standort (das südliche Ende der Nižegorodskaja ulica) war denn auch nur wenige Meter von dem entfernt, den Petrov präferierte. In beiden Fällen lag die Priorität darauf, innerhalb der bestehenden sozialräumlichen Strukturen möglichst viele Menschen zu erreichen und damit kurzfristig einen hohen Gewinn zu generieren. Eine mittel- und langfristige Perspektive der Entwicklung respektive Aufwertung peripherer Gebiete spielte hingegen keine Rolle. 48 Sondervotum des Mitarbeiters der Stadtverwaltung, Petrov, in: ISPGOD, 1903, No. 10, S. 127. 49 Vgl. die Stellungnahme der Finanzkommission: Ebd., 1903, No. 13, S. 770.

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Die Mehrheit der Dumaabgeordneten schloss sich im Mai 1903 dem Standpunkt der Stadtverwaltung an.50 Zum Bau eines Markts kam es auf der V ­ yborger Seite dennoch nicht – zu groß waren die Unterschiede in den Positionen, die sich auch auf anderen Ebenen fortsetzten. So teilte etwa das Baukomitee des Innenministeriums die Argumentation der Finanzkommission, und 1906 erfolgte eine Entscheidung für einen anderen, weiter westlich gelegenen Standort.51 Letztendlich lebten die Bewohner der Vyborger Seite bis zum Beginn des E ­ rsten Weltkriegs ohne einen zentralen Markt, da sich kein Konsens z­ wischen den politisch verantwortlichen Stellen herausbildete, man es zugleich aber auch mehrheitlich ablehnte, die Finanzierung, und damit auch die zu erwartenden Einnahmen, in private Hände zu geben. Die skizzierten widerstreitenden Positionen trafen nicht nur im Fall der V ­ yborger Seite aufeinander. Dem Bau des erwähnten Neuen Gavaner Markts im Südwesten der Vasilij-­Insel gingen vergleichbare Debatten voraus: Ein Teil der Dumaabgeordneten plädierte dafür, den Markt ganz bewusst „am westlichen Rand der Insel“ zu bauen, da es dort ein „beständiges Anwachsen der Bevölkerung“ gebe und sich das Gebiet zugleich bisher in „sanitärer Hinsicht in sehr schlechtem Zustand“ 52 befinde. Es wurden mithin die gleichen Argumente der Förderung und Aufwertung angeführt wie im Falle der östlichen Gebiete der Vyborger Seite. Und ebenso wie dort gab es demgegenüber die Position, den Markt besser in dem dichter bewohnten Teil der Vasilij-­Insel zu errichten, was in d ­ iesem Fall hieß: entlang des Bol’šoj prospekt.53 Der Unterschied zur Vyborger Seite bestand allerdings darin, dass der Neue Gavaner Markt Anfang des 20. Jahrhunderts tatsächlich errichtet wurde, womit die Vasilij-­Insel neben dem zentraler gelegenen Andreevskij Markt einen zweiten Handelsort erhielt. Insgesamt lässt sich also konstatieren, dass es außer der Frage der Versorgung der Bevölkerung einen weiteren wichtigen handlungsleitenden Aspekt in der 50 Vgl. den Beschluss im Protokoll der Dumasitzung vom 21. 05. 1903: Ebd., 1903, No. 40, S. 1843. 51 Vgl. das Schreiben des Baukomitees des Innenministeriums an den Innenminister, 24. 08. 1905, RGIA, f. 1293, op. 137, del. 91, ll. 5 f., sowie zur Beschlussfassung der Duma für den neuen Standort in: ISPGOD, 1906, No. 27, S. 446 f., sowie No. 33, S. 1734 f. 52 So der Abgeordnete N. Azar’ev, wiedergegeben in dem Bericht der Stadtverwaltung in: ISPGOD, 1902, No. 4, S. 541 f., hier S. 541. 53 Vgl. in ­diesem Sinne etwa die Position der Mehrheit der Duma, wiedergegeben in dem Bericht der Stadtverwaltung: ebd., 1889, No. 16, S. 331 – 340.

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Diskussion über Zahl und Gestalt der Märkte in St. Petersburg gab: die Mehrung der Einnahmen des kommunalen Haushalts. Dies bezog sich zum einen auf die Summen, die die Stadt durch die Märkte selbst, sprich: durch die Vermietung von Verkaufsständen erzielte: Allein 1911 waren dies gut 300.000 Rubel.54 Zum anderen beinhaltete es jedoch auch die Hoffnung darauf, dass die Märkte zur Aufwertung bisher vernachlässigter Teile der Stadt beitragen könnten. Ebenso wie die gezielte Anlage von Gärten und Plätzen 55 wurde der Bau von Märkten als Mittel betrachtet, um die Rentabilität städtischer Grundstücke zu erhöhen. Aufwertung beinhaltete jedoch nicht nur die Mehrung des Ertrags, sondern zielte stets auch auf strukturelle Veränderungen. Im Falle des Um- oder Neubaus von Märkten bezog sich dies, wie das kurze Zitat über die Fuhren, die die Straßen der Vyborger Seite verstopfen würden, bereits andeutet, in erster Linie auf die Handelsplätze selbst. Sie sollten ein anderes, ‚ordentlicheres‘, moderneres Gesicht bekommen. Nicht ohne Grund wurde bereits sprachlich z­ wischen „Basaren“ (bazarnye ploščadi) und „Märkten“ (Rynki) unterschieden: Während letztere als dauerhafte Handelsplätze mit festen Markthallen definiert waren, wurden unter „Basar“ alle Orte subsummiert, die keine befestigten Verkaufsstände aufwiesen und nicht überdacht waren.56 Neben Versorgung und Ertrag ging es also stets auch um die Regulierung des städtischen Raums.

Regulierung Von den drei Themenfeldern, die die Diskussion über Zahl und Gestalt der Märkte in St. Petersburg bestimmten, ist das der Regulierung sicherlich das komplexeste. Es umfasste sowohl den Anspruch des Staats, die Versorgung der Bevölkerung möglichst nicht in fremde, sprich: private Hände zu geben, wie auch ein Streben nach Zentralisierung und Ordnung, das sich aus einer Wahrnehmung der meisten Handelsorte der Stadt als hygienische und soziale Problemfälle speiste.

54 Vgl. Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. XIVf. 55 Vgl. Nardova, Peterburgskaja gorodskaja duma, S. 252. 56 Vgl. hierzu die entsprechende Definition: Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. XIVf., 54.

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Der erste Aspekt – die Frage, wem die Märkte der Stadt im ökonomischen Sinn gehören sollten – spielte wie skizziert bereits bei der Debatte über einen Markt auf der Vyborger Seite eine wichtige Rolle. Dass es hierbei nicht allein um die zu erwartenden Einnahmen ging, verdeutlicht eine ausführliche Stellungnahme, die 1883 seitens der Stadtverwaltung in Reaktion auf das Angebot der „Gesellschaft für Immobilien und französische Märkte in St. Petersburg“ erarbeitet wurde. In ihr betonte die Stadtverwaltung die „Idee der gesellschaftlichen Bedeutung der Märkte“ und unterstrich, dass diese „ihrem Wesen nach Handelsinstitutionen sind, die das Ziel haben, dem Nutzen und den Bedürfnissen der Bewohner der Stadt“ 57 zu dienen. Dementsprechend stehe das Recht, Märkte zu errichten und zu kontrollieren, „ausschließlich der städtischen Selbstverwaltung“ zu, während das Vorhaben der Pariser Gesellschaft „nicht den Interessen der Stadt“ 58 entspreche und abzulehnen sei – was durch die Mehrheit der Dumaabgeordneten auch geschah. Eine Privatisierung der Märkte St. Petersburgs (über die bereits bestehenden privaten Handelsplätze wie den Apraksin dvor hinaus) gehörte nicht nur bei Neugründungen zu den diskutierten Optionen, sondern stand auch bei der Umstrukturierung schon vorhandener Handelsplätze zur Debatte. Zu letzteren zählten der Heumarkt und der Sytnyj rynok – zwei der ältesten Märkte St. Petersburgs, die seit dem 18. Jahrhundert der Stadt gehörten und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand eingehender Korrespondenzen und Planungen wurden, in denen es um ihre Neuordnung und Regulierung ging. Der Heumarkt besaß unter den Märkten der russischen Hauptstadt eine in mehrfacher Hinsicht herausgehobene Stellung. Ursprünglich am Rande der Stadt gelegen, hatte er sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zum größten und für die Stadt einträglichsten Lebensmittelmarkt St. Petersburgs entwickelt. Deutlich mehr als die Hälfte der Einnahmen, die durch die Vermietung von Verkaufsständen in den kommunalen Haushalt flossen, stammten vom Sennaja.59 Dementsprechend besaß die Frage einer möglichen Privatisierung des Heumarkts neben prinzipiellen Überlegungen auch eine maßgebliche finanzielle Dimension.

57 Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. 51 f. 58 Ebd., S. 52. 59 1885 waren dies beispielsweise rund 176.000 Rubel, bei knapp 217.000 Rubel Gesamteinnahmen von allen städtischen Märkten. Vgl. S.-Peterburg. Gorodskoe obščestvennoe upravlenie v 1884 g. Otčet gorodskoj upravy, Sankt-­Peterburg 1885, S. 40 – 43.

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Abb. 11: Der Heumarkt in den 1830er Jahren 

Zugleich war der Heumarkt mit der angrenzenden Vjazemskaja lavra wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt auf den mentalen Karten der Bewohner der russischen Hauptstadt zum Mittelpunkt des ‚anderen‘ Petersburg geworden. In den Berichten der Boulevardpresse war er allgegenwärtig, und in der russischen Literatur bildete sich sogar die Figur eines typischen Heumarktbewohners (­ sennovskij obitatel‘) heraus.61 Neben dem Aspekt der Vermarktung der Armut besaßen die mit dem ­Sennaja verbundenen Bilder aber auch einen realen Kern. Der nach wie vor offene Platz mit seinen zahlreichen angrenzenden Spelunken, Bordellen sowie der V ­ jazemskaja lavra war ein Ort, der sich traditionell nur schwer beherrschen ließ. Aus der Sicht

60 XIX vek. Illjustrirovannyj obzor minušego stoletija. Izd. A. F. Marksa, Sankt-­Peterburg 1901, S. 108. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Сенная_площадь_в_1830_ году..jpg (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 61 Vgl. Cejtlin, E., „Sennovskij obitatel“ v Peterburgskoj istorii i kul’ture, in: Pjatye otkrytye slušanija „Instituta Peterburga“. Sankt-­Peterburg 1998, S. 1 – 6.

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der Obrigkeit verkörperte der Name „Heumarkt“ eine stete potentielle Bedrohung der öffentlichen Ordnung – spätestens, seit er 1831 im Zuge der ersten Choleraepidemie in Petersburg zum Schauplatz der so genannten „Cholerarevolte“ (cholernyj bunt) geworden war, dem ersten Volksaufstand in der Geschichte der Stadt.62 Auch in den folgenden Jahrzehnten berichtete die Handelspolizei immer wieder von massiven Schwierigkeiten, auf dem Sennaja ihre Kontrollen durchzuführen.63 Zugleich hatten sich der Platz und der auf ihm befindliche Markt zu einem hygienischen Problemfall entwickelt, der über seine eigenen Grenzen h ­ inaus auch die angrenzenden Viertel sowie die gesamte Stadt betraf. Die städtische Sanitärkommission führte gleich im ersten Jahr ihres Bestehens eine Begehung des Heumarkts durch und berichtete von aus hygienischer Sicht höchst bedenklichen Zuständen. Sie fand den Boden des Platzes von einer dicken Schicht aus Müll, Essensresten und anderen Überbleibseln des Markts bedeckt vor.64 Und der bereits erwähnte Grigorij Archangel’skij sprach 1869 vom Heumarkt als dem „Zentrum des Schmutzes“, das er in Kontrast zum Nevskij prospekt als dem „Zentrum der Reinheit“ 65 setzte. Diese Mischung aus realen und imaginierten Bedrohungen führte zu verschiedenen Versuchen des Staats, diesen ‚wilden‘ Ort zu regulieren. Nach der Errichtung der Hauptwache im Jahr 1820 war es vor allem das Vorhaben, anstelle des bisherigen offenen Platzes feste Markthallen zu errichten, das für intensive Diskussionen sorgte. Nach einem verheerenden Brand, der 1862 den Handel auf dem Heumarkt zwischenzeitlich zum Erliegen brachte, wurden mehr als 20 Projekte zur Umstrukturierung des Platzes eingereicht, und zugleich sollte es über zwei Jahrzehnte dauern, bis der neu gestaltete Heumarkt eingeweiht werden konnte – eine Konsequenz der divergierenden Positionen, die in dieser Debatte aufeinander trafen.

62 Vgl. den Bericht eines wachhabenden Offiziers über das Geschehen: Fon-­der-­Choven, I. R., Bunt na Sennoj ploščadi v Sankt-­Peterburge, Ijun 1831 g., in: Russkaja starina 16 (1885), Bd. 47, S. 61 – 69, sowie die Schilderung bei Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen, Bd. 1, S. 194 – 196. 63 Vgl. u. a. ISPGOD, 1865, No. 2, S. 74; ebd., 1876, No. 2, S. 165. 64 O dejatel’nosti gorodskoj sanitarnoj komissii, in: Archiv sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny 4 (1868), No. 1, S. 48 – 50, hier S. 48 f. Zum Zeitpunkt der Begehung durch die Ärzte der Sanitärkommission, Mitte März, war diese Schicht noch mit Schnee und Eis vermengt. Wirklich problematisch wurde es mit dem Ende der Frostzeit. Vgl. hierzu Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen, Bd. 1, S. 200 f. 65 Archangel’skij, Žizn‘ v Peterburge po statističeskim dannym, No. 3, S. 98.

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Ein erster Standpunkt wurde durch den langjährigen Gouverneur (ab 1871 Stadthauptmann) von St. Petersburg, Graf Nikolaj Levašov, verkörpert. Er strebte danach, den Heumarkt zu einem repräsentativen, der russischen Hauptstadt ‚angemessenen‘ Marktplatz umzuwandeln. Er beförderte Projekte, die auf eine große, den gesamten Heumarkt abdeckende Markthalle hinausliefen, und da ­solche Entwürfe teuer und nicht aus dem Budget der Duma zu bezahlen waren, sprach sich Levašov für die Finanzierung durch Privatpersonen aus, denen dann auch die Verantwortung für den Heumarkt übertragen werden sollte. Das heißt, was der Gouverneur anstrebte, war die Privatisierung des bisher in städtischem Besitz befindlichen Heumarkts. Wie hätte dies konkret ausgesehen? Als Beispiel sei kurz das Projekt des Architekten Avgust Žoffri 66 skizziert, das dieser 1864 dem Gouverneur vorlegte. Es war mit insgesamt 1.132 Verkaufsständen (554 ebenerdig und 578 unterirdisch) der bis dahin umfangreichste Entwurf, demzufolge der gesamte Platz durch eine steinerne Halle mit verspiegeltem Glas abgedeckt worden wäre, in deren Mitte Marmorschalen mit lebenden Fischen sowie Fontänen platziert werden sollten. Die veranschlagten Kosten beliefen sich auf rund zwei Millionen Rubel, w ­ elche Žoffri zuzüglich Zinsen in Form einer über 40 Jahre ansteigenden Staffelzahlung an die Stadt zurückerstatten wollte. Im Gegenzug wären alle zukünftigen Einnahmen aus der Verpachtung der Marktstände an den neuen Besitzer geflossen. Zudem verknüpfte Žoffri sein Angebot mit mehreren Bedingungen. So sollte die Stadt zusagen, innerhalb der 40 Jahre keine weiteren Lebensmittelmärkte in den angrenzenden Distrikten (Admiraltejskaja, Kazanskaja, Spasskaja, Kolomenskaja und Moskovskaja) zu bauen, der traditionelle Verkauf der Händler von ihren Fuhren wäre eingeschränkt worden, und die Gesellschaft, die Žoffri zur Verwaltung des Sennaja zu gründen beabsichtigte, sollte das Recht erhalten, die Pachtpreise für die Marktplätze zu variieren sowie den gesamten Heumarkt jederzeit zu den vereinbarten Bedingungen an einen anderen Mieter abtreten zu dürfen.67 Der Entwurf Žoffris wurde von einer deutlichen Mehrheit der Abgeordneten der Petersburger Duma als zu teuer und nicht passend für den Ort bewertet. Man fürchtete, dass der Handel auf dem Sennaja seinen Basarcharakter 66 Vgl. zu seiner Person sowie seinen Bauten in Petersburg den Eintrag in: Architektory-­ stroiteli Sankt-­Peterburga serediny XIX-načala XX veka. Spravočnik. Pod obščej redakciej B. M. Kirikova, Sankt-­Peterburg 1996, S. 133. 67 Vgl. den Bericht der hiermit befassten Kommission in: ISPGOD 1865, No. 9, S. 450 – 464.

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verlieren würde, und lehnte das Projekt schließlich mit 75 zu 15 Stimmen ab.68 Levašov warb zwar auch weiterhin für sein Vorhaben, den gesamten Platz zu „reinigen“ und der Stadt damit eine „große, unbebaute Fläche“ 69 zur Verfügung zu stellen, die dann mit privatem Kapital zu einem repräsentativen Marktplatz umgebaut werden könnte. Er bezeichnete dies als eine der wichtigsten Fragen der Stadtplanung, die sowohl „den hygienischen Zustand der Hauptstadt als auch die finanziellen Interessen der städtischen Gesellschaft“ 70 berühre und deshalb einer baldigen Entscheidung bedürfe. Zugleich blieb der Vorschlag Žoffris nicht der einzige seiner Art,71 was zeigt, wie groß das nationale wie internationale Interesse an dem ‚Produkt‘ Heumarkt war, von dessen Erwerb man sich trotz der zunächst immensen Kosten ein gewinnbringendes Geschäft versprach. Letztendlich fand sich hierfür jedoch keine Mehrheit in der Duma, da die Debatte zugleich deutlich gemacht hatte, welch weitgehende Konsequenzen eine Privatisierung des Sennaja gehabt hätte: Die Stadt hätte für lange Zeit jeglichen Einfluss auf die Gestalt und den Charakter des größten Lebensmittel­markts der Stadt verloren. Die zweite Position wurde von der Mehrheit der Abgeordneten der Petersburger Duma vertreten. Im April 1866 stellte eine eigens hierfür eingerichtete Kommission einen Kriterienkatalog für die zukünftige Gestalt des Heumarkts vor. Demzufolge sollte nur eine Hälfte des Platzes überdacht werden, während die andere auch zukünftig dem Verkauf direkt von den Fuhren der Händler vorbehalten bleiben sollte. Grundsätzlich strebte man eine Bebauung in „möglichst großer Einfachheit“ 72 an, entsprechend den auf dem Heumarkt gehandelten Produkten des täglichen Bedarfs. Der Sennaja solle auch weiterhin ein Ort sein, an dem die Arbeiter Imbisse und heiße Speisen bekommen, und insgesamt müssten alle „notwendigen Verbesserungen ohne Beeinträchtigung seines Charakters“ 73 als einem Ort der Grundnahrungsmittel für die arme Bevölkerung der Stadt vonstattengehen. 68 Vgl. das Protokoll der Dumasitzung vom 16. 06. 1865: ebd., 1865, No. 12, S. 592 – 594. 69 Schreiben Levašovs an Aleksandr Timašev, 13. 09. 1870, RGIA , f. 1293, op. 76, del. 305, ll. 20 – 22ob., hier l. 21. 70 Ebd., l. 22. 71 Vgl. als Überblick zu weiteren Entwürfen Jurkova, Sennaja ploščad‘, S. 71 – 90. Weiterhin: Veksler, A., Sennaja ploščad‘, in: Tri veka Sankt-­Peterburga, Bd. 2, Buch 6, S. 206 – 213. 72 Protokoll der Sitzung vom 11. 04. 1866 in: ISPGOD 1866, No. 8, S. 399 – 405, hier S. 401. 73 Ebd.

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Dies war eine deutlich andere Position als jene des Gouverneurs. In ihr verband sich das finanzielle Interesse der Duma an den Einnahmen, die sie mit dem Heumarkt erzielte, mit grundsätzlichen Erwägungen der Bewahrung der Gestaltungshoheit über die Zukunft des wichtigsten Markts der ‚kleinen Leute‘ in der Hauptstadt. In der Konsequenz lehnte eine Mehrheit der Dumaabgeordneten alle von Levašov favorisierten Entwürfe von privater Seite ab. Einen dritten Standpunkt vertraten die städtische Sanitärkommission sowie der Petersburger Oberpolizeimeister. Der Vorsitzende der Sanitärkommission, Petr Žukovskij, unterstrich wiederholt, dass der Heumarkt in erster Linie ein Epidemienherd sei, den man vollständig beseitigen und von Grund auf sanieren müsse. Zudem habe sich der Charakter des Orts fundamental geändert – aus einem ursprünglich am Stadtrand gelegenen Handelsplatz für den temporären Verkauf von Heu und Brennholz sei ein ständiger Markt geworden, und in den Schlangen der auf dem Platz befindlichen ‚Fressmeile‘ (obžornyj rjad) fänden sich heute kaum noch Arbeiter, dafür aber viele „unnütze Leute“ 74 aus den umliegenden Häusern. Ähnlich argumentierte der Oberpolizeimeister. Er bezeichnete eine Beibehaltung des Markts aus polizeilicher Sicht als nicht erstrebenswert, da dieser neben den Käufern eine große Zahl an Kriminellen und Prostituierten anziehe. Die „Masse an schädlichen Mitgliedern des Gesellschaft“ 75 fände am Heumarkt ideale Bedingungen, um sich in den angrenzenden Häusern zu verstecken und zu sammeln. Diese Entwicklung könne nur durch eine „allgemeine Säuberung des Ortes“ und durch die Verlegung des Markts an den Stadtrand behoben werden. Die Sanitärkommission und der Oberpolizeimeister gaben damit einer Stimmung Ausdruck, die auch in Teilen der Petersburger Presse ihren Niederschlag fand. So wurde im Peterburgskij listok die Forderung erhoben, den gesamten Platz zu ‚reinigen‘, und die Möglichkeit seiner Verlegung an den Izmailovskij prospekt ­zwischen Fontanka und Obvodnyj kanal erwogen.76 74 Ob ustrojstve krytago rynka na Sennoj ploščadi, in: Archiv sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny 6 (1870), No. 2, S. 140 – 147, hier S. 142. 75 Dieses und das folgende Zitat: Schreiben des St. Petersburger Oberpolizeimeisters an den Innenminister, 29. 06. 1869, RGIA, f. 1287, op. 40, del. 310, ll. 114 f., hier l. 114. 76 Vgl. Architektor Rejters, O Sennoj, in: Peterburgskij listok, 09. 06. 1866, S. 2. Das Gelände am Izmajlovskj prospekt, auf dem sich bereits das schon erwähnte, als „Slum-­Jachtklub“ bekannte Nachtasyl befand, wurde auch in der Duma als möglicher alternativer Standort diskutiert. Vgl. den Bericht der Stadtverwaltung vom 08. 12. 1878 in: ISPGOD, 1879, No. 1, S. 94 – 112.

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Die Forderung nach einer vollständigen Auflösung oder Verlegung des Heumarkts blieb nicht ohne Widerspruch. Eine Stelle, die sich gegen eine ­solche vermeintliche ‚Lösung‘ positionierte, war die Haushaltsabteilung des Innenministeriums. Sie wies darauf hin, dass es, wenn man die Positionen der Sanitärkommission sowie des Oberpolizeimeisters konsequent zu Ende denke, am besten wäre, gar keine Märkte in der Stadt zu haben. Dies sei aber in einer Stadt von der Größe St. Petersburgs schlicht nicht möglich. Außerdem lasse sich ein Markt nicht einfach verlegen: Der Handel könne nicht umstandslos an einem neuen Ort fortgeführt werden, während man die Bevölkerung am Heumarkt, die auf die günstigen Produkte angewiesen sei, von der Versorgung abschneide. Ebenso wenig lasse sich das Pro­ blem des Milieus, das sich um den Sennaja entwickelt habe, durch Verlegung lösen. Vielmehr sei zu erwarten, dass es entweder mitwandere oder sich an anderen Orten niederlasse, was die Überwachung aus polizeilicher Sicht nur erschweren würde.77 Am deutlichsten trafen die verschiedenen Positionen in der Duma aufeinander. In der Debatte am 15. Februar 1868 sprach der Abgeordnete Ivan Glazunov, zugleich Mitglied der Sanitärkommission, dem Heumarkt jeglichen Charakter eines Markts der ‚kleinen Leute‘ ab, bezeichnete ihn als eine Ansammlung verdorbener Leute und forderte seine vollständige Räumung.78 Er sah hierin kein Problem – vielmehr könne man die ‚Fressmeile‘ des Heumarkts ebenso gut auf den Nevskij prospekt verlegen, ohne dass sie etwas von ihrer Funktion einbüßen würde.79 Der Abgeordnete Alexander Jakovlev verwies demgegenüber darauf, dass es neben den von Glazunov erwähnten Zuständen und Personen auch nichtkriminelle Händler auf dem Heumarkt gebe, die einfach ihre Waren verkaufen wollten. Zudem wandte er sich gegen die verbreitete Dämonisierung der Zwischenhändler, die vermeintlich den für den ‚ursprünglichen‘ Basar typischen

77 Vgl. die Stellungnahme der Haushaltsabteilung in: Ob ustrojstve krytago rynka na Sennoj ploščadi, S. 144 – 146, sowie die dazugehörige Korrespondenz: RGIA, f. 1286, op. 31, del. 4. 78 Vgl. zur Biographie Glazunovs, der der ersten Kaufmannsgilde angehörte und für insgesamt vier Legislaturperioden in die Duma und 1881 zum Stadtoberhaupt gewählt wurde: Nardova, Peterburgskaja gorodskaja duma, S. 417 – 420. Eine weniger schmeichelhafte Charakterisierung findet sich in der satirischen Schrift: Portrety glasnych ­S.-Peterburgskoj gorodskoj dumy sessii 1877 – 1880 godov, Sankt-­Peterburg 1880, S. 25 f. Dort wird vor allem betont, dass Glazunov „sowohl Ehre als auch Kapital“ erlangen wollte, während seine Tätigkeit als Abgeordneter „kaum zu bemerken“ gewesen sei. 79 Vgl. das Protokoll der Dumasitzung am 15. 02. 1868 in: ISPGOD, 1868, No. 5, S. 226 – 243, hier S. 226 – 232.

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Handel aus erster Hand ‚verdorben‘ hätten: Nach dieser Logik wäre, so Jakovlev, jeder Kaufmann ein Zwischenhändler: „Er kauft aus erster Hand und verkauft dann wieder – ich kann darin nichts Schlechtes oder Unmoralisches sehen.“ 80 Des Weiteren kritisierte Jakovlev das ständig reproduzierte Bild des Sennaja als des Ausgangspunkts aller sanitären Probleme der russischen Hauptstadt. Es stimme, dass der Heumarkt rieche – aber das sei das Wesen eines jeden Lebensmittelmarkts und an sich noch nicht gesundheitsgefährdend. Ebenso wenig sei der Heumarkt der alleinige Ursprung der Choleraepidemien – die letzte, gerade ein Jahr zurückliegende, sei nicht auf dem Sennaja ausgebrochen, sondern auf der Vasilij-­Insel.81 Die Zahl der Erkrankten liege rund um den Heumarkt vor allem deshalb höher, weil dort mehr Menschen lebten. Insgesamt warf Jakovlev der Sanitärkommission vor, ihrer Aufgabe nicht gerecht zu werden: Anstatt die Auflösung des Markts zu fordern, müsse sie zunächst einmal für eine bessere Einhaltung der Vorschriften sorgen. Der Heumarkt sei durch das Leben des Volkes entstanden und könne nicht „durch künst­liche Maßnahmen“ aufgelöst werden. Er sei der „einzige Volksmarkt“ (­ edinstvennyj narodnyj rynok) in St. Petersburg, und nur das Leben selbst könne ihn wieder auflösen: „Ihn aber durch künstliche Maßnahmen zu vernichten, den Ort zu säubern und ihn zu einem Stadtpark zu verschönern, wird eine schöne Fantasie bleiben und sonst nichts.“ 82 Man könne, so Jakovlev weiter, „das Volk zwingen, außerhalb der Stadt zu essen, wenn man ihm keine Möglichkeit gibt, in der Stadt zu essen. Man kann auch die Fressmeile vernichten, aber was ist diese Fressmeile eigentlich, die im Volksmund auch als ‚Adelsküche‘ bezeichnet wird?“ Aus der Sicht der Sanitärkommission sei sie in erster Linie ein Treffpunkt für Leute, die es nicht wert s­ eien, beachtet zu werden – dies möge so sein, aber selbst sie, so Jakovlev, „müssen doch essen.“ 83 Und diese Menschen würden sicher nicht in überdachte und damit leichter kontrollierbare Orte gehen, weil sie dort Gefahr liefen, nach ihrem Pass gefragt zu werden. Die Mehrheit der Abgeordneten schloss sich der Argumentation Jakovlevs an und votierte mit 54 zu 43 Stimmen gegen eine Auflösung und Verlegung des Heumarkts.84 80 Ebd., S. 233. 81 Jakovlev befand sich damit in Übereinstimmung mit den Ergebnissen, zu denen Julij Gjubner bei seinen Untersuchungen über die Häufung der Todesfälle in den verschiedenen Stadtteilen gekommen war. Vgl. Kapitel 2.1. 82 ISPGOD, 1868, No. 5, S. 234 f. 83 Ebd., S. 240. 84 Vgl. ebd., S. 241.

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Die Debatte über die Zukunft ­dieses Orts dauerte jedoch noch weiter an. Erst als Alexander II. 1879 darauf drängte, dass die Frage nun möglichst rasch einem Ende zugeführt werden müsse,85 sah sich die Stadtverwaltung veranlasst, einen Wettbewerb auszuschreiben. Prämiert wurde ein Entwurf des Architekten Ieronim Kitner 86, der ein großes Gebäude in Form eines achtendigen Kreuzes vorsah und in der Petersburger Presse kontrovers aufgenommen wurde. Die Zeitung Golos (Die Stimme) lobte ihn als „leicht, schön, beständig und preiswert“ 87, wohingegen Novoe vremja (Die neue Zeit) in ihm das Ende des bisherigen Heumarkts erblickte. Die ‚Fressmeile würde‘ „im Namen der Sauberkeit“ 88 verschwinden, während die Preise aufgrund der Bau- und Betriebskosten ansteigen würden, und zwar auf ein Maß, das nicht nur die Armen, sondern auch den durchschnittlichen Bewohner Petersburgs treffen würde. Sauberkeit ließe sich, so Novoe vremja, nicht durch schöne Fassaden, sondern nur durch eine andere Einstellung der Menschen erreichen – und wenn die Stadt einen Markt mit gläsernen Türmen wünsche, solle sie diesen doch an einer anderen Stelle der Stadt errichten. Und die Peterburgskaja gazeta (Petersburger Zeitung) wies darauf hin, dass ein solcher Bau vor allem den Interessen der Hausbesitzer dienen würde, deren Häuser und Geschäfte direkt an den Platz grenzten – der Heumarkt existiere jedoch nicht für die Interessen der Hausbesitzer, sondern für die Bevölkerung St. Petersburgs.89 Nachdem Abgeordnete der Duma ähnliche Bedenken artikuliert hatten, überarbeitete Kitner seinen Entwurf. Beschlossen und letztendlich gebaut wurden dann vier Pavillons, deren Einweihung 1886 erfolgte. Jeder dieser großen, eisernen Pavillons verfügte über hohe Fenster und war in seinem Inneren mit zwei Durchgängen ausgestattet, an denen sich die Verkaufsstände in vier Reihen gliederten. Alle Verkaufsstände waren von gleicher Größe, nummeriert und mit den Namen des Verkäufers versehen, wobei die Möglichkeit bestand, mehrere nebeneinanderliegende Stände zu erwerben.90 85 Vgl. das Protokoll der Dumasitzung vom 27. 06. 1879: ISPGOD, 1879, No. 14, S. 1375. 86 Vgl. zu seiner Biographie sowie seinen zahlreichen Bauten in Petersburg den Eintrag in: Architektory-­stroiteli Sankt-­Peterburga, S. 158  f. 87 [o. N.], Chronika, in: Golos, 03. 02. 1880, S. 3. 88 [o. N.], Buduščija blaga i Sennoj rynok, in: Novoe vremja, 10. 02. 1880, S. 4. 89 Vgl. [o. N.], Po povodu postrojki zdanija dlja rynka na Sennoj, in: Peterburgskaja gazeta, 01. 06. 1880, S. 2. 90 Detaillierte Einblicke in das Innere der Markthallen finden sich in: Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii, S. 356 – 382. Vgl. ebenso: Anciferov, Ulica rynkov,

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Abb. 12: Der Heumarkt im Jahr 1900 

Für den von der Duma ursprünglich gerade für die arme Bevölkerung als wichtig erachteten traditionellen Verkauf der Bauern von ihren Fuhren war hiernach kein Platz mehr: Der Handel auf dem Heumarkt erfolgte von nun an innerhalb der Hallen, während Händler mit Fuhren an andere Orte ausweichen mussten. Vor allem die Stadtverwaltung forcierte diese Entwicklung: Nach ihrer Darstellung verfügte der Heumarkt nach dem Umbau nicht mehr über genügend Platz für einen nicht-­stationären Verkauf, und zudem verursachten die Fuhren deutlich mehr Müll und damit auch höhere Kosten. Dementsprechend sei es besser, für sie einen alternativen Standort zu suchen.92 S. 81 – 86; Zasosov/Pyzin, Iz žizni Peterburga, S. 110 – 112; Bachtiarov, Brjucho Peterburga, S. 138 – 148; Veksler, A., Sennoj rynok, in: Tri veka Sankt-­Peterburga, Bd. 2, Buch 6, S. 210 – 213. 91 URL : https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sennaia-1900.jpg (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). 92 Vgl. den Bericht der Stadtverwaltung in: ISPGOD , 1885, No. 1, S. 167 – 174. In den ursprünglichen Bauplanungen war hingegen noch ein Bereich für diese traditionelle Art des Verkaufs vorgesehen, und zwar dort, wo er sich bereits seit Jahrzehnten befand:

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In dieser Argumentation, der sich die Abgeordneten mit knapper Mehrheit anschlossen,93 flossen verschiedene Motive der Diskussion über Zahl und Gestalt der Märkte in St. Petersburg zusammen. Eine vollkommene Umstellung des bis dahin offenen Heumarkts auf einen Verkauf in Markthallen verursachte zwar zunächst nicht unerhebliche Baukosten, versprach aber mittelund langfristige deutlich höhere Einnahmen, da für die Fuhren traditionell keine Standgebühr zu entrichten war, während die nummerierten Plätze in den Pavillons zu festen Preisen vermietet wurden.94 So stieg denn auch der Betrag, den die Stadt mit dem Sennaja erzielte, ­zwischen 1890 und 1900 um mehr als 50 % an.95 Dieses ökonomische Kalkül verband sich mit dem Ziel, den Heumarkt besser regulieren zu können: Wie die Stadtverwaltung in der Logik ihrer Argumentation zutreffend feststellte, widersprach die Beibehaltung eines nicht-­stationären Handels der Intention, die dem gesamten Umbau zugrunde lag: Es passte nicht in das angestrebte Bild, neben den klar strukturierten Pavillons weiterhin die Pferde der aus dem Umland kommenden Bauern stehen zu haben.96 Zusätzlich zum höheren Profit kam hier eine Vorstellung von Modernität und Ordnung zum Tragen, die auf eine grundlegende Neuordnung des Heumarkts hinauslief. Auf der Strecke blieb der Aspekt der Versorgung. Der Heumarkt wurde zwar nicht über Nacht zu einem zweiten Gostinyj dvor, dafür waren die Beharrungskräfte bisheriger Verhaltensweisen doch zu stark,97 aber er verlor ein Stück weit

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In der Nähe der Erlöserkirche (Spas na Sennoj) am Ende des Zabalkanskij prospekt, über den die meisten Händler aus dem Umland auf den Heumarkt kamen. Vgl. die ausführliche Darstellung des überarbeiteten Entwurfs von Kitner in: ebd., 1882, No. 40, S. 2864 – 2870. Die Entscheidung fiel mit 40 zu 34 Stimmen. Vgl. das Protokoll der Dumasitzung vom 25. 01. 1885: ebd., 1885, No. 7, S. 619 – 621. Vgl. die entsprechende Kalkulation ebd., 1885, No. 1, S. 169 f. Die Einnahmen erhöhten sich von 233.706 Rubel (1890) auf 367.430 Rubel (1900), wodurch sich die Baukosten in Höhe von 481.764 Rubel innerhalb weniger Jahre amortisiert ­hatten. Vgl. den Bericht der Kommission für städtischen Immobilienbesitz und Einkünfte in: ISPGOD, 1900, No. 10, S. 97 – 222, hier S. 102 und 111. Vgl. ­dieses Argument in: ISPGOD, 1885, No. 1, S. 173. Dies zeigt ein Schreiben des Petersburger Stadthauptmanns an das Stadtoberhaupt und die Sanitärkommission vom 24. 09. 1908. In ­diesem wird auf verschiedene Polizeiberichte verwiesen, denen zufolge die Pavillons dringend einer Desinfektion bedürfen. Zudem ­seien die Durchgänge in den Hallen häufig zugestellt. Vgl. CGIA SPb, f. 210, op. 1, t. 1, del. 369, l. 1. Die Sanitärkommission führte daraufhin eine Begehung der Pavillons durch.

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seine Funktion als Ernährer der Ärmsten der Armen der russischen Hauptstadt. Der aus der Sicht der Stadt wenig lukrative Verkauf der Händler direkt von ihren Fuhren war zugleich aufgrund der nicht zu entrichtenden Standgebühren der für die Käufer preisgünstigste. Für die städtischen Unterschichten war dies von ebenso existentieller Bedeutung wie die ‚Fressmeile‘, auf der sie sich zu geringen Beträgen mit heißen Speisen und Getränken versorgen konnten. Beides wurde nun im Zuge des Umbaus des Heumarkts an andere Orte verlegt. Damit war das eingetreten, was Novoe Vremja bereits 1880 prophezeit hatte: „Im Namen der Sauberkeit“ 98 verlor der Heumarkt, der „Ernährer der Hauptstadt“ 99, einen Teil seiner bisherigen Funktion. Einer der neuen ‚Volksmärkte‘, die nun die Versorgungsfunktion für die städtischen Unterschichten übernahmen, war der bereits erwähnte, ebenfalls an der Gartenstraße gelegene Nikol’skij rynok. Bedeutend kleiner als der Heumarkt, wurde er zum neuen Standort der ‚Fressmeile‘ sowie eines Teils des nicht-­stationären Handels.100 Im Sinne einer sozialräumlichen Regulierung des städtischen Handels war dies nur konsequent: Während der zentraler gelegene Heumarkt eine Aufwertung erfuhr, verlegte man die Versorgungspunkte der armen Bevölkerung Petersburgs weiter an die innerstädtischen Randgebiete, und mit dem Nikol’skij rynok an einen Ort, der schon bisher eine Suppenküche beherbergte und vor allem im Sommer als Jobbörse für Arbeitsmigranten fungierte. Von der Stadtverwaltung wurde dieser Zusammenhang klar gesehen: Bereits 1877, also noch vor Beginn des Baus der Hallen auf dem Heumarkt, entwickelte man Pläne, einen Teil des Handels sowie Das hieraus resultierende Protokoll enthält eine ganze Reihe von Punkten, die nicht den Vorschriften entsprachen (Durchgänge, Luft, Licht, Toiletten, Abfallentsorgung etc.). Vgl. das Protokoll vom 23. 10. 1908 ebd., l. 3 – 3 ob. Vgl. ebenso den Bericht der Sanitärärzte in: Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. 41 f. Ähnliches berichtet Émile Zola über Paris: Sein Porträt des Quartier des Halles zeugt ebenfalls davon, dass der Handel auch nach dem Bau der Markthallen nicht scharf von den Straßen der Umgebung geschieden war. Vgl. Zola, Der Bauch von Paris. 98 [o. N.], Buduščija blaga i Sennoj rynok, in: Novoe vremja, 10. 02. 1880, S. 4. 99 Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii, S. 356. 100 Eine detaillierte Beschreibung des Nikol’skij rynok am Ende des Jahrhunderts findet sich in Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii, S. 382 – 393. Vgl. zur dortigen „Fressmeile“ Bachtiarov, Brjucho Peterburga, S. 148 – 152. Kürzere Passagen zum Nikol’skij rynok zum in: Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. 44; Zasosov/Pyzin, Iz žizni ­Peterburga, S. 114; Anciferov, Ulica rynkov, S. 102 f.

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die ‚Fressmeile‘ vom Sennaja auf den Nikol’skij rynok zu verlegen: Ersterer werde dadurch hygienischer und rentabler, während letzterer schon jetzt eine „Ansammlung des einfachen Volkes“ 101 (Skoplenie prostogo naroda) darstelle und damit der geeignete Standort sei. Die Stadtverwaltung wusste sich hierbei in Übereinstimmung mit einem Teil der stationären Händler auf dem Sennaja, die ebenfalls eine Verlegung der ‚Fressmeile‘ forderten, w ­ elche den Ruf des ganzen Markts präge und „das Haupthindernis für die Entwicklung eines ordentlichen Handels“ 102 darstelle. Die Stadtverwaltung nahm diese Forderung „umso lieber“ auf, als „die Fressmeile auf dem Platz eine immense Fläche einnimmt, die man vorteilhaft zum Bau weiterer Verkaufsstände ­nutzen und somit die Rentabilität des Markts in erheblichem Maße steigern könnte. Außerdem würde der Markt mit der Verlegung dieser schmuddeligen Meile nicht mehr nur die mittellose Bevölkerung der Hauptstadt anziehen, sondern auch wohlhabendere Bewohner, die den Markt bisher wegen seiner Schmutzigkeit und der beständigen Ansammlung schmuddeliger Leute gemieden haben.“ 103

Die Zitate zeigen, dass es bei dem Umbau des Heumarkts um mehr ging als nur um die Behebung der zweifellos vorhandenen sanitären Probleme. Intendiert war eine grundlegende Veränderung d ­ ieses größten Markts der Stadt, die bereits in der Sprache begann, wie der Vorschlag des Abgeordneten Fredrikson illustriert: Er wollte die „Fressmeile“ nicht nur verlegen, sondern auch gleich in „Essensmeile“ 104 (s-­estnyj rjad) umbenennen – eine Bezeichnung, die deutlich weniger proletarisch klang und kaschierte, um was es im Kern ging: Um die Versorgung der armen Bevölkerung der Stadt, die ohne ­solche Anlaufpunkte nicht gewährleistet werden konnte. Aufwertung ging im Falle der Märkte also ebenso wie bei der Wohnungsfrage mit Verdrängung einher, weshalb von den Veränderungen auf dem Sennaja zugleich andere Handelsorte der Stadt betroffen waren. Neben dem Nikol’skij 101 Bericht der Bericht der Kommission für städtischen Immobilienbesitz und Einkünfte vom 20. 12. 1877 in: ISPGOD, 1878, No. 1, S. 75 – 87, hier S. 87. 102 Bericht der Stadtverwaltung vom 10. 12. 1882, in: ebd., 1882, No. 40, S. 2864 – 2870, hier S. 2865. 103 Ebd. 104 Protokoll der Dumasitzung am 25. 01. 1878, in: ebd., 1878, No. 5, S. 569.

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rynok lässt sich als weiteres Beispiel der Platz bei der Obuchov-­Brücke am Ufer der Fontanka nennen. Nur wenige hundert Meter vom Heumarkt entfernt, entstand hier eine „Filiale“ 105 des Sennaja, die alle Merkmale aufwies, die bis zu dessen Umbau den Heumarkt ausgemacht hatten: ein offener Markt mit Waren minderer Qualität sowie Käufern aus den unteren Schichten der Gesellschaft. Ebenso wie der Nikol’skij rynok wurde er seitens der Stadtverwaltung zum neuen Standort für den nicht-­stationären Verkauf ausgewählt,106 und ebenso wie ersterer übernahm er damit einen Teil der Versorgungsfunktion, die bisher der Sennaja innehatte.107 Nun könnte die besondere Stellung, die dem Heumarkt unter den Märkten der russischen Hauptstadt zukam, zu der Annahme verleiten, dass die skizierten intensiven und sich über mehrere Jahrzehnte erstreckenden Bemühungen um seine Regulierung einen Sonderfall darstellten und sich nur auf diesen als besonders gefährlich geltenden Ort bezogen. Dass dem nicht so war, zeigt das Beispiel des Sytnyj rynok auf der Petersburger Seite. Auch er bestand aus einem großen, offenen Platz, auf dem die Bauern aus dem Umland ihre Waren verkauften, und besaß den Charakter eines Markts der ‚kleinen Leute‘. Sein Antlitz dominierten einfache, hölzerne Verkaufsstände, und bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fehlte es an einer Wasserversorgung, an Toiletten sowie an einer Möglichkeit zur Entsorgung des anfallenden Mülls.108 Im Rahmen des Stadtentwicklungsplans von 1850 wurde dann erstmals das Vorhaben festgehalten, die hölzernen Stände durch zwei große, steinerne Markthallen zu ersetzen. Die hierfür ausschlaggebenden Motive waren vergleichbar denen, die zum Umbau des Heumarkts führten: Es ging der Stadt um eine Erhöhung der Einnahmen, um eine Verbesserung der polizeilichen und sanitären Situation (insbesondere der Feuergefahr) sowie um ein grundsätzliches Missfallen am „abstoßenden Äußeren“ 109 (bezobraznyj vid) des Markts. Der Unterschied 105 Zasosov/Pyzin, Iz žizni Peterburga, S. 112. 106 Vgl. die entsprechenden Berichte der Stadtverwaltung in: ISPGOD, 1882, No. 4, S. 149 – 166, hier S. 165 f.; 1885, No 1, S. 167 – 174, hier S. 168. 107 Vgl. auch die Schilderung bei Anciferov, der vom Obuchov-­Markt als einer der „Verzweigungen des Sennaja“ spricht: Anciferov, Ulica rynkov, S. 98 108 Vgl. die detaillierte Beschreibung in: Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii, S. 703 f. 109 So die Formulierung des Generalgouverneurs in einem Schreiben an die Hauptverwaltung für Verkehrswege und öffentliche Gebäude vom 16. 08. 1855, RGIA, f. 218, op. 3, del. 1288,

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bestand darin, dass die Überlegungen im Falle des Sytnyj rynok zunächst einmal zurückgestellt wurden – im Gegensatz zum zentral gelegenen und stets überfüllten Heumarkt sah man die Investitionen in Höhe von rund 350.000 Rubel für einen Umbau im Falle der Petersburger Seite „angesichts der derzeitigen Bevölkerung ­dieses Stadtteils“ als „nicht nur nutzlos, sondern geradezu schädlich für die Stadt“ 110 an, wie es der Generalgouverneur in einem Schreiben 1855 formulierte. Die Petersburger Seite sei, so der Generalgouverneur weiter, „zu großen Teilen mit unbedeutenden Holzgebäuden bebaut, die der armen Bevölkerung gehören.“ 111 Dementsprechend müsse man zunächst abwarten, ob sich diese soziale Zusammensetzung ändere, ehe man dort größere Ausgaben tätige. Die Formulierungen zeugen von dem Desinteresse, das den als ‚peripher‘ wahrgenommenen Vierteln entgegenbracht wurde. Ebenso wie im Fall der V ­ yborger Seite erachteten die politisch Verantwortlichen Investition in diese Teile der Stadt als zweitrangig und entschieden in erster Linie nach kurzfristigen ökonomischen Kriterien. Für den Sytnyj rynok bedeutete dies, dass zunächst einmal kein grundlegender Umbau erfolgte, auch wenn man am grundsätzlichen Ziel einer Neuordnung und Aufwertung d ­ ieses Orts festhielt. So schlug eine mit der Zukunft des Sytnyj rynok befasste Kommission 1866 der Duma vor, die bisherigen „schmutzigen Baracken“ (grjaznye baraki), die „den gesamten Markt verunstalten“ 112, durch zwei einheitliche Reihen von Verkaufsständen mit Eisendächern zu ersetzen. Diese würden nicht nur mehr Platz, sondern auch einen „wohlgestalteten Anblick“ 113 (blagoobraznyj vid) bieten. Ebenso wie im Fall des Heumarkts deckten sich diese Vorschläge mit Forderungen, die von einem Teil der stationären Händler des Markts erhoben wurden: Sie verlangten die Beseitigung der alten Holzbaracken und Zelte, die den Ruf des ganzen Markts und damit den Handel beeinträchtigen würden.114

ll. 2 – 3ob., hier l. 3ob. 110 Ebd., l. 3. 111 Ebd. 112 Bericht der zeitweiligen Baukommission in: ISPGOD, 1866, No. 8, S. 407 – 410, hier S. 407. 113 Ebd., S. 408. 114 Vgl. u. a. den Bericht der Kommission für städtische Register und finanzielle Angelegenheiten vom 20. 05. 1867: ebd., 1867, No. 10, S. 507 – 511.

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Letztendlich dauerte es bis zum Mai 1909, ehe die Duma eine Summe von rund 600.000 Rubel für den Bau eines Novyj Sytnyj rynok bewilligte.115 Neben dem Desinteresse an ­diesem Teil der Stadt war es nicht zuletzt die Frage der Finanzierung, die über mehrere Jahrzehnte eine Beschlussfassung verhinderte. Ebenso wie beim Sennaja gab es eine Reihe von Eingaben, nicht zuletzt von Händlern des Sytnyj rynok, den Umbau des Markts privat zu finanzieren und hierfür im Gegenzug von den Gebühren befreit zu werden und für eine bestimmte Zeit die Einnahmen behalten zu können.116 Während die Stadtverwaltung dies mit gewissen Auflagen befürwortete, wurde es von der Mehrheit der Dumaabgeordneten abgelehnt, die hierin ebenso beim Heumarkt die Gefahr einer Privatisierung der städtischen Märkte erblickte.117 Gebaut und 1912 eingeweiht wurde dann schließlich eine große, den gesamten Markt umfassende Halle.118 Mit ihrer Jugendstilfassade entsprach sie architektonisch dem Antlitz der mehrgeschossigen Häuser, die entlang des benachbarten Kamennoostrovskij prospekt erbaut wurden. Zugleich orientierte man sich mit den Eisenkonstruktionen sowie bei der Anordnung der Handelsplätze im Inneren der Halle an den Pavillons, die auf dem Sennaja entstanden waren. Ähnlich war bereits beim Umbau des Andreevskij Markts auf der Vasilij-­Insel verfahren worden: Den dort 1891/92 entstandenen zweigeschossigen Korpussen lag ebenfalls das Vorbild des neuen Heumarkts zugrunde.119 Und ebenso wie auf dem Sennaja stiegen in der Folge auch hier die städtischen Einnahmen um fast 50 %.120

115 Vgl. hierzu detailliert, unter anderem zu den verschiedenen Entwürfen, die im Rahmen eines 1905 ausgeschriebenen Wettbewerbs eingereicht wurden, die Berichte und Sitzungsprotokolle in: ebd., 1908, No. 23, S. 2009 – 2064; 1909, No. 1, S. 5 f.; 1911, No. 38, S. 71 – 7 7. 116 Vgl. hierzu u. a. den Bericht der Stadtverwaltung vom 15. 03. 1905, in: ebd., 1905, No. 16, S. 1022 – 1039. 117 Vgl. u. a. die Berichte und Sitzungsprotokolle, in: ebd., 1866, No. 22, S. 1201 f.; 1905, No. 24, S. 752; 1908, No. 23, S. 2009 – 2013. 118 Vgl. Orlova, Sytnyj, Mytnyj i drugie; Schlögel, Petersburg, S. 74 f. 119 Vgl. Gorod S.-Peterburg s točki zrenija medicinskoj policii; S. 663 – 668; Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. 42 f.; Procaj, Rynki Peterburga, S. 14, 74 – 78. 120 Die Einnahmen erhöhten sich von 17.501 Rubel (1890) auf 33.760 Rubel (1900). Vgl. ISPGOD, 1900, No. 10, S. 102 und 111 f.

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Abb. 13: Entwurf für die Markthalle am Sytnyj rynok, 1908 

Die Frage, ­welche Konsequenzen diese Umstrukturierungen für die Versorgung der städtischen Unterschichten hatten, wurde demgegenüber als zweitrangig betrachtet. Zwar wurde 1904 auf der Petersburger Seite mit dem Zentralmarkt (Central’nyj rynok) ein weiterer Markt eröffnet, dieser war jedoch nicht für die einfache Bevölkerung, sondern als gehobene Alternative zum Sytnyj rynok konzipiert. Zwischen Kronwerksstraße und Kamennoostrovskij prospekt und damit in unmittelbarer Nachbarschaft gelegen, entstand der Zentralmarkt auf Initiative des Kaufmanns der ersten Gilde, G. Aleksandrov, dem auch das nicht weit entfernte, ‚angesagte‘ Restaurant „Aquarium“ gehörte.122 Jurij Zavodčikov, der seine Kindheit auf der Petersburger Seite verbracht hatte, schreibt in seinen Erinnerungen, dass der Zentralmarkt der Ort für das „‚saubere‘ Publikum“ gewesen sei, wohingegen der Sytnyj rynok von den „unteren Schichten der Gesellschaft“ 123 aufgesucht wurde. Und in der Tat zeigte sich rasch, dass der neue Markt nicht den Bedürfnissen der Bewohner entsprach: Ein Teil der Fläche 121 Orlova, Sytnyj, Mytnyj i drugie, S. 26. 122 Vgl. Orlova, Sytnyj, Mytnyj i drugie, S. 26; Procaj, Rynki Peterburga, S. 68 – 74; Zasosov/ Pyzin, Iz žizni Peterburga, S. 28. Das „Aquarium“ befand sich im Kamennoostrovskij prospekt Nr. 10. Vgl. Svetlov, Peterburgskaja žizn‘ v konce XIX stoletija, S. 56, 112. 123 Zavodčikov, Jurij, Peterburg načala XX veka (vpečatlenija detstva), in: Istorija Peterburga 3 (2003), No. 1, S. 24 – 37, hier S. 35.

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konnte nicht vermietet werden, und bereits 1907 wandte sich Aleksandrov mit dem Vorschlag an die Stadtverwaltung, den Zentralmarkt in städtische Pacht zu überführen und dafür den Sytnyj rynok zu schließen – ein Anliegen, das abgelehnt wurde.124 Insgesamt macht die vergleichende Betrachtung der Entwicklung der Märkte St. Petersburgs deutlich, dass der Umbau des Heumarkts keinen Sonderfall darstellte, sondern dass ihm vielmehr eine Vorreiterfunktion in einem Prozess der grundsätzlichen Neuordnung der Märkte St. Petersburgs zukam. Die primären, wenn auch nicht unumstrittenen Ziele waren eine höhere Rentabilität sowie eine stärkere Regulierung dieser Orte. Auffällig ist, dass in erster Linie jene Märkte, die sich im Zentrum der Stadt oder zumindest in den besseren Gegenden der jeweiligen Stadtviertel befanden, zu Objekten der Regulierung wurden 125 – neben dem Heumarkt, dem Andreevskij-­Markt sowie dem Sytnyj rynok gilt dies auch für den Apraksin dvor, der nach dem verheerenden Brand 1862 neu aufgebaut werden musste. Im Zuge dessen wurde der sogenannte Trödelmarkt (tolkučij rynok), der sich bis dahin im Inneren des Apraksin dvor befunden hatte, an die Ecke Gartenstraße/Voznesenskij prospekt verlegt.126 Hieraus entwickelte sich der Neue Alexander-­Markt (Novo-­Aleksandrovskij rynok), dem Anciferov noch Jahrzehnte später einen „slumartigen Charakter“ (truščobnyj charakter) attestierte: „So sehr der Apraksin dvor im Aussehen, in der Qualität der Waren und mit seinem Ruf hinter dem Gostinyj dvor zurücksteht, umso ärmer und dreckiger ist der Alexander-­Markt im Vergleich zum Apraksin dvor. Unter den erwähnten ‚Handelshöfen‘ nimmt er den letzten Platz ein.“ 127 Damit war erneut ein als problematisch angesehener Teil eines großen Handelsortes vom Zentrum an die innerstädtischen Ränder verlegt worden. Der Unterschied zu den anderen Märkten bestand darin, dass sich der Apraksin dvor in Privatbesitz befand – der Staat war jedoch über Stadtentwicklungspläne, Auflagen und Verhandlungen 124 Vgl. Orlova, Sytnyj, Mytnyj i drugie, S. 26. 125 Vgl. diese Feststellung für den Heumarkt bereits für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bei: Bauer, Platz – Herrschaft – Kaufleute, S. 207 – 210. 126 Vgl. Rubachin, Grafy Apraksiny i ich peterburgskaja votčina, S. 71 – 79; Procaj, Rynki Peterburga, S. 36 – 46, 52 – 56; Zasosov/Pyzin, Iz žizni Peterburga, S. 106 – 112. 127 Anciferov, Ulica rynkov, S. 100. Den Eindruck eines Slums teilte einige Jahre zuvor auch bereits Peterburgskij listok. Dort wurde der Neue Alexander-­Markt unter der Überschrift „Petersburger Slums“ mit „Vasjas Dorf “ auf der Vasilij-­Insel verglichen: Peterburgskie truščoby. Novaja ėkskursija glasnych.

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maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt.128 Und die Tendenz blieb dieselbe: Die Märkte respektive Formen des Verkaufs und der Versorgung, die primär von den städtischen Unterschichten frequentiert wurden, wurden zunehmend aus den ‚besseren‘ Teilen der Stadt verdrängt. Was sich also vollzog, war eine Segregation des Handels in der russischen Hauptstadt – eine Entwicklung, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in anderen Städten Europas beobachten lässt und die zu einer Verschiebung des Verhältnisses von „Zentrum“ und „Peripherie“ führte.129 Das Bild von der Entwicklung der Märkte St. Petersburgs bliebe unvollständig ohne eine Betrachtung der ‚fliegenden‘ Händler. Sie waren in der ganzen Stadt anzutreffen und besaßen gerade dort, wo es keine großen Märkte gab, eine unentbehrliche Funktion bei der Versorgung der Bevölkerung. Zugleich lag es jedoch in der Natur dieser Art des Verkaufs, dass er sich den Bestrebungen zu einer Entmischung der Handelsorte der Stadt entzog – ‚fliegende‘ Händler waren nicht an einem bestimmten Ort zu erfassen und ließen sich entsprechend auch nicht ‚verlegen‘. Gerade weil dies so war, wurden sie zu einem beständigen Objekt staatlicher Regulierungsbestrebungen.

Die Straße als Objekt der Regulierung: ‚Fliegende‘ Händler in der Hauptstadt Die Frage des nicht-­stationären, ‚fliegenden‘ Handels durch Hausierer (Raznosčiki) beschäftigte die hauptstädtische Politik seit der Gründung St. Petersburgs.130 Wie eingangs ­dieses Kapitels bereits skizziert, galt ein besonderes Augenmerk aller Herrscher seit Peter I. der Frage, wo in der Stadt gehandelt werden durfte und 128 Vgl. hierzu u. a. die umfangreiche Korrespondenz in: RGIA, f. 218, op. 4, del. 1025; Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. 69 f. 129 Lenger spricht davon, dass Europas Städte durch „Prozesse der funktionalen und der residentiellen Segregation, die zum einen die räumliche Verteilung von Handels-, Transport- und Produktionsfunktionen neu ordneten und zum anderen zu einer sozial homogeneren Zusammensetzung einzelner Stadtviertel führten […] grundlegend ihr Gesicht veränderten“. Ders., Metropolen, S. 85. 130 Dies galt ebenso für die Zeichner, Literaten und Fotografen der Stadt, für die der ‚typische‘ Straßenhändler ein beliebtes Motiv darstellte. Vgl. Mjasnikova, L., „Vstaet kupec, idet raznosčik“. Uličnye torgovcy v Sankt-­Peterburge vtoroj poloviny XIX-načala XX veka (po materialam foto Gosudarstvennogo muzeja istorii Sankt-­Peterburga, in: Peterburgskie čtenija 6 (1997), S. 655 – 658.

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wo nicht. Das Ziel, den Handel auf bestimmte Orte zu begrenzen, kollidierte mit der weit verbreiteten Praxis von Bauern und Händlern, ihre Waren auf den Straßen und an den Haustüren der Stadt feilzubieten. Die Reaktionen der Politik auf diese offensichtliche Diskrepanz changierten ­zwischen Verbot und Legalisierung. So erließ Katharina II., nachdem sie im Mai 1782 verfügt hatte, dass in jedem Teil der Hauptstadt mindestens ein zentraler Markt zu existieren habe, noch im November des gleichen Jahres ein Gesetz, dass den Handel mit Fleisch und Fisch auf die Marktplätze begrenzte, die sich in der Nähe von Schlachthöfen befanden, und ihn für alle anderen Orte der Stadt untersagte.131 1796 wurde diese Regelung aufgehoben, woraufhin sich zahlreiche Händler mit festen Marktständen, die Einnahmeverluste befürchteten, an den Herrscher wandten, so dass der Handel 1805 vom Senat erneut eingegrenzt wurde.132 Ungeachtet der wechselnden Gesetzeslage existierte der Verkauf auf den Straßen, in den Höfen und an den Haustüren St. Petersburgs fort. Zwar gelang es dem Staat, bestimmte Orte wie etwa die Brücken im Zentrum der Stadt, die lange Zeit beliebte Treffpunkte der ‚kleinen Leute‘ gewesen waren, zu ‚regulieren‘. Der Journalist und Schriftsteller Vladimir Zotov spricht in seinen Erinnerungen davon, dass die Brücken St. Petersburgs durch die Verdrängung der Händler ihre „ursprüngliche Physiognomie“ 133 unwiderruflich verloren hätten. Dies änderte jedoch nichts daran, dass der ‚fliegende‘ Handel an anderer Stelle fortgeführt wurde. Der Grund hierfür lag in der mangelhaften Abdeckung der Stadt mit Märkten: Es gab einfach zu viele Teile der Stadt, die über keine hinreichende Versorgungsstruktur verfügten und in denen die Menschen auf das (häufig teurere) Angebot der Straßenhändler angewiesen waren. Die Duma betonte demgegenüber wiederholt ihren Anspruch, im gesamten Stadtgebiet für die Vergabe der Handelsplätze zuständig zu sein. Ihr ging es zum einen um die Einnahmen, die sie mit der Vermietung fester Standplätze erzielte und die sie 131 Vgl. O razdače v Sanktpeterburge mest pod stroenie lavok; o zapreščenii torgovat‘ mjasom i ryboju v lavkach nachodjaščichsja v domach, i o sčitanii takovych lavok v razsuždenii postoev za te samye pokoi, iz kotorych oni perestroeny, 07. 1. 1782, abgedruckt in: Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. 71 – 74. 132 Vgl. Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. 45. 133 Zotov, V[ladimir], Peterburg v sorokovych godach (Vyderžki iz avtobiografičeskich ­zametok), in: Istoričeskij vestnik 11 (1890), t. 39 – 40, No. 1 – 6, hier t. 39, No. 2, S. 324 – 343, hier S.  327. Vgl. zu den Brücken als Orten der ‚fliegenden‘ Händler auch Svetlov, ­Peterburgskaja žizn‘ v konce XIX stoletija, S. 40 f.

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durch die Praxis der ‚fliegenden‘ Händler bedroht sah. Da sich der Straßenhandel nicht nachhaltig eindämmen ließ, führte man kostenpflichtige Plaketten ein, die alle nicht-­stationären Händler zu erwerben und sichtbar an ihrer Kleidung zu tragen hatten.134 Wer ohne ein solches Abzeichen angetroffen wurde, musste eine Geldstrafe entrichten, im Wiederholungsfall drohte Arrest.135 Zum anderen spielten grundsätzliche Ordnungsvorstellungen eine wichtige Rolle: Der Verkauf von Fleisch, Fisch und anderen Waren abseits der offiziellen Märkte wurde nicht nur als ein hygienisches Problem betrachtet, sondern ebenso wie die offenen Märkte mit ihren hölzernen Verkaufsständen als bezobrazie (Hässlichkeit, Unordnung)136, die es zu beseitigen galt. Zusätzlich zur Frage der Einnahmen kam hier erneut eine Vorstellung von Modernität und Ordnung zum Tragen, die im Widerspruch zur gängigen Praxis auf den Straßen der Hauptstadt stand. Neben der städtischen Duma positionierten sich auch private Akteure zur Frage des ‚fliegenden‘ Handels. Dies galt für einen Teil der registrierten Verkäufer auf den offiziellen Märkten der Stadt, die darauf hofften, sich auf ­diesem Weg der Konkurrenz der Straßenhändler entledigen zu können. So gingen der Verlegung des Trödelmarkts vom Apraksin dvor nach dem Brand 1862 ebenso Eingaben der dortigen festen Händler voraus wie der Umgestaltung des Sytnyj rynok zu Beginn des 20. Jahrhunderts.137 Und andererseits waren es die Besitzer der an die Märkte grenzenden Häuser, die ihre Innenhöfe und die Bürgersteige an Hausierer vermieten. Sie sahen ihre Einnahmen durch die Regulierungsbestrebungen der Duma gefährdet. In Anbetracht der nicht eindeutigen juristischen Bewertung dieser Praxis sowie der ungenügenden Versorgungslage in der Stadt wurde der Verkauf im Umfeld öffentlicher und privater Häuser die meiste Zeit geduldet, solange nicht die Handelspolizei im Auftrag der Duma versuchte, ihn 134 Vgl. Procaj, Rynki Peterburga, S. 16, 101. Für die Überwachung dieser Regelung war die Handelspolizei zuständig. Vgl. u. a. das 1882 erlassene Statut über die Handelsaufsicht in St. Petersburg in: ISPGOD, 1883, No. 1, S. 2 – 11. 135 Vgl. exemplarisch den Fall der Händler, die in der Nähe des Heumarkts Fisch verkauft hatten und vor Gericht zu einer Strafe von 25 Rubel verurteilt wurden, in: ISPGOD, 1891, No. 26, S. 991 – 995. 136 Vgl. diese Formulierung u. a. in der Begründung einer von der Duma eingesetzten Kommission, die mit einem entsprechendem Streitfall auf dem Heumarkt befasst war: ebd., 1867, No. 7, S. 372 – 377, hier S. 377. 137 Vgl. zum Apraksin dvor: RGIA, f. 218, op. 4, del. 1025, u. a. ll. 135 – 137. Vgl. zum Sytnyj rynok die im Bericht der Stadtverwaltung vom 23. 05. 1904 erwähnten Klagen der Händler über die ungeliebte Konkurrenz: ebd., 1904, No. 13, S. 2105 – 2114.

Neuordnung und Segregation

zu unterbinden. Wenn dies geschah, wie etwa 1864 in den Häusern rund um den Heumarkt, brachen regelmäßig Kontroversen aus, in denen die ‚fliegenden‘ Händler ebenso wie die Hausbesitzer darauf verwiesen, dass das Vorgehen der Stadt eine Verletzung des „Rechts auf Privatbesitz“ 138 darstelle, während die Duma argumentierte, dass das Recht der Immobilienbesitzer an der Hausfassade ende und dass somit jeder, der davor Waren anbieten wolle, dies nur mit Zustimmung der Duma sowie bei Entrichtung der entsprechenden Gebühr tun dürfe.139 Eine dauerhafte Regelung wurde in dieser Auseinandersetzung nicht gefunden, so dass es erst die skizzierten Umbauten der Märkte waren, die den Handel in bestimmten Teilen der Stadt neu ‚ordneten‘. Das Thema der ‚fliegenden‘ Händler blieb in der russischen Hauptstadt unverändert aktuell, und auch die Politik der Segregation des Handels konnte das ‚Problem‘ nicht beheben, sondern verschob es lediglich. Dies galt nicht nur für die Brücken und den Heumarkt, von wo die Händler an alternative Orte wie den erwähnten Obuchov-­Platz an der Fontanka auswichen. Auch an anderen Stellen gelang es der Stadt nicht, den Straßenhandel zu unterbinden. Im gleichen Jahr, in dem auf dem Heumarkt die Hallen eingeweiht wurden, sah sich der Petersburger Stadthauptmann zu einer Verordnung gezwungen, in der er beklagte, dass der offene Handel nach wie vor an „gewissen Orten“ 140 stattfinde, und zum wiederholten Male auf die Durchsetzung der diesbezüglichen Beschlüsse der Duma drängte. Auch dies änderte jedoch wenig. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts belief sich die Zahl der Hausierer in der Stadt auf rund 3000,141 und zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die ‚fliegenden‘ Händler erneut Gegenstand kontroverser Diskussionen, sowohl auf dem Sytnyj rynok als auch bei den Überlegungen zur Errichtung eines zentralen Markts auf der Vyborger Seite.142 Letztendlich benannte die Duma 1909 18 Punkte im Stadtgebiet, an denen der Basarhandel (bazarnyj torg) in Gestalt der offenen Märkte legalisiert wurde 143 – 138 Prošenie s Peterburgskich torgovcev v raznos, 21. 05. 1866, RGIA, f. 1287, op. 29, del. 1600, ll. 27 – 28ob., hier l. 28. 139 Vgl. das Protokoll der Dumasitzung vom 07. 09. 1867 in: ISPGOD, 1867, No. 16, S. 854 – 857, hier S. 856. 140 Verordnung des Stadthauptmanns sowie der Polizei vom August 1886, in: ebd., 1886, No. 35, S. 663. 141 Vgl. Procaj, Rynki Peterburga, S. 16. 142 Vgl. RGIA, f. 1293, op. 137, del. 91. 143 Vgl. Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. XIVf., 52 – 54.

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ein Versuch, zumindest eine gewisse Lokalisierung des Handels des ‚einfachen Volkes‘ zu erreichen, und zugleich ein Eingeständnis, dass alle weitergehenden Regulierungsbestrebungen erfolglos geblieben waren.

„Dreihundert fünf und sechzig Tage in jedem der hundert Jahre, die da heranrollen, bewegen sich auf jenem Markte die interessantesten Erscheinungen unbemerkt, unbeachtet und unbeschrieben neben einander hin und offenbaren sich immer in neuen Bildern, und wenn man nur zu einem einzigen Posaunenstoße das Zauberhorn vom Elfenkönige Oberon borgen könnte, um all jenes Marktleben in einem einzigen Momente jener 365 Tage zu fesseln, so würden Bilder genug dastehen, um hundert Pinsel und Federn zu beschäftigen.“ (Johann Georg Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen, 1845)

4.2. Reaktionen auf die Neuordnung Wie sah nun die Welt der ‚kleinen‘ Händler St. Petersburgs aus und wie reagierten sie auf die strukturellen Veränderungen ihrer Umgebung? Die Antwort auf diese Fragen wird im Folgenden anhand zweier Beispiele gegeben. Der erste Bereich, der genauer betrachtet werden soll, sind die Orte der „niederen Bücherkunde“ 144 (nizovaja knižnost‘) – die Märkte, Brücken und Straßen der Stadt, auf denen Händler abseits der renommierten Buchhandlungen Literatur für das ‚einfach Volk‘ anboten. Das Zentrum d ­ ieses Buchhandels der ‚kleinen Leute‘ war der Apraksin dvor – einer der ältesten Märkte der Stadt, in dessen Innenhof eine Bücherreihe (knižnyj rjad) existierte, die eine „eigene kleine Handelswelt“ 145 (osobennyj mirok torgovli) darstellte, ­welche nach ihren eigenen Regeln funktionierte und die nach dem verheerenden Brand, der den Apraksin dvor 1862 fast vollständig zerstörte, an einen anderen Ort verlegt und damit in ihrer Ordnung nachhaltig erschüttert wurde. Darüber hinaus gab es die „Büchervagabunden“ 146 144 Rejtblat, N. I. Svešnikov. Knigotorgovec, memuarist, p’janica, S. 7. 145 So das übereinstimmende Urteil mehrerer Zeitgenossen. Das hier angeführte Zitat stammt von Kuročkin, Grigorij V., Knižnyj rjad, in: Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 275 – 278, hier S. 257. Der Text ist um die Jahrhundertwende entstanden und beschreibt die knižnyj rjad aus eigener Anschauung und aus einem Abstand von rund 50 Jahren, also um das Jahr 1850. 146 Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 74.

Reaktionen auf die Neuordnung

(brodjačie knigoprodavcy) – Buchhändler, die ihre Ware in großen Säcken mit sich trugen und sie an der Haustür der Kunden zu verkaufen suchten. Sie gehörten zu den ‚fliegenden‘ Händlern, um deren Eingrenzung sich die Stadt vergeblich bemühte, und die hier nun aus ihrer Binnenperspektive beschrieben werden sollen. Das zweite Beispiel führt zurück auf den größten und schillerndsten Markt St. Petersburgs, den Heumarkt. Es handelt sich um drei Petitionen, die Mitte der 1860er Jahre an den Innenminister sowie an den Zaren persönlich gerichtet wurden. Sie stammten von Händlern, die auf dem Sennaja ihre Waren anboten und mit den städtischen Verordnungen in Konflikt gerieten. Die Petitionen gehören damit zu den ganz wenigen Äußerungen, die wir von den Bewohnern und Händlern des Heumarkts überhaupt haben – denn so viel über diesen Ort auch geschrieben wurde, eine Geschichte des Heumarkts ‚von unten‘ steht nach wie vor aus. Die Petitionen ermöglichen einen Blick darauf, wie die Regulierungen des öffentlichen Raums von den Betroffenen selbst wahrgenommen wurden und wie sie hierauf reagierten.

‚Aus dem Volk, für das Volk‘: Der Buchhandel der ‚kleinen Leute‘ Den detailliertesten Einblick in die „besondere Welt“ 147 der „niederen Bücherkunde“ gewährt ein Autor, der bereits bei der Beschreibung des Innenlebens der Vjazemskaja lavra eine wichtige Rolle gespielt hat: Nikolaj Svešnikov. Zwischen den Phasen, in denen er in der lavra von der Hand in den Mund lebte und buchstäblich sein letztes Hemd vertrank, versuchte er während seiner Aufenthalte in Petersburg immer wieder, sich durch Arbeit eine gesicherte Existenz aufzubauen – als Buchhändler auf den Märkten der Stadt und als „Büchervagabund“, der vor allem in den Datschengebieten an den Rändern der Hauptstadt seine Ware anbot. Diese Tätigkeit nimmt in seiner Autobiographie einen wichtigen Platz ein, und Svešnikov erwies sich hierbei, wie Jeffrey Brooks zutreffend feststellte, als „a perceptive observer of the chapbook publishing scene.“ 148

147 Rejtblat, N. I. Svešnikov. Knigotorgovec, memuarist, p’janica, S. 7. 148 Brooks, When Russia Learned to Read, S. 100.

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Abb. 14: Porträt Nikolaj Svešnikov, 149 ca. 1896/97 

Geboren 1839 in der an der Wolga gelegenen Kleinstadt Uglič, ähnelt das Leben Svešnikovs in mehreren Punkten der Biographie Spiridon Drožžins.150 Ebenso wie dieser erwarb er in seiner Heimatgemeinde rudimentäre Kenntnisse des Lesens und Schreibens, verließ dann jedoch vorzeitig die Schule und wurde von seinen Eltern, zwei meščane, 1852 zum ersten Mal in die Stadt, nach St. Petersburg, geschickt. Dort lebte er zunächst bei seiner älteren Schwester im Spasskij ­pereulok in der Nähe des Heumarkts, um dann zu Verwandten nach Černaja rechka zu ziehen, der bereits erwähnten Datschengegend im Nordwesten der Vyborger Seite. Seine erste bezahlte Anstellung erhielt Svešnikov als Verkäufer

149 Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996. Priloženie. 150 Die folgende biographische Skizze basiert auf der kommentierten Neuausgabe seiner Lebenserinnerungen (Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996) sowie auf einem Nachruf, der im Jahr seines Todes erschien: [o. N.], N. I. Svešnikov, in: Istoričeskij vestnik 20 (1899), Bd. LXXVII, Nr. 8, S. 1055 f. (ebenfalls publiziert in: Novoe vremja, 1899, Nr. 8413).

Reaktionen auf die Neuordnung

und Bote in einem Stand auf dem Apraksin dvor – eine Tätigkeit, die er aufgrund mehrerer Diebstähle und seines beginnenden Alkoholkonsums 1855 wieder verlor. Sein weiteres Leben war durch häufige Orts- und Arbeitswechsel gekennzeichnet. Ebenso wie Drožžin bewegte sich Svešnikov beständig ­zwischen der Kleinstadt, aus der er stammte, und den großen Metropolen, in erster Linie St. Petersburg, seltener auch Moskau. Immer wieder versuchte er, in der Stadt Fuß zu fassen, und immer wieder kehrte er bettelarm und vom Alkohol gezeichnet zurück. Eine weitere Parallele zu dem später gefeierten „Bauerndichter“ bestand in der autodidaktischen Aneignung von Bildung – auch Svešnikov ließ sich durch seine prekären Lebensumstände nicht davon abhalten, wann immer möglich Bücher nicht nur zu verkaufen, sondern auch zu lesen. Der große Unterschied z­ wischen beiden besteht darin, dass Svešnikov der soziale Aufstieg verwehrt blieb. Während Spiridon Drožžin zur Projektions­fläche für die Suche der Intelligencija nach ‚Ursprünglichkeit‘ avancierte und damit die Niederungen des Lebens verlassen konnte, verkörperte Nikolaj Svešnikov die „banale, minderwertige und dreckige“ 151 Kultur der städtischen Armut, aus der er Zeit seines Lebens keinen Ausweg fand. Es ist bezeichnend, dass seine autobiographischen Aufzeichnungen damit enden, dass er um 1890 St. Petersburg mit dem festen Vorsatz verließ, fortan „nützliche Bücher“ 152, sprich: geistige und bildende Literatur, in der Provinz zu verkaufen – und dass er wenige Jahre später, 1899, mittellos und weitgehend unbekannt in einem Krankenhaus in St. Petersburg verstarb.153 In Anbetracht dieser Umstände ist es bemerkenswert, dass es Nikolaj S­ vešnikov überhaupt gelang, seine Memoiren zu schreiben, und dass diese zudem noch publiziert wurden. Verfasst hat er sie größtenteils während seiner Aufenthalte in der Vjazemskaja lavra. In seinem Vorwort beschreibt er seine Motivation: Es gehe ihm darum, Zeugnis über ein Leben abzulegen, das er selbst als von „Unverbesserlichkeit und einem Hang zum Laster“ gekennzeichnet charakterisierte. Er habe „nichts verborgen, was sich ereignet hat. Vielleicht kann diese aufrichtige und für mich schwere Beichte irgendjemandem von Nutzen sein.“ 154

151 152 153 154

Rejtblat, N. I. Svešnikov. Knigotorgovec, memuarist, p’janica, S. 5. Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 163. Vgl. [o. N.], N. I. Svešnikov, in: Istoričeskij vestnik, S. 1055. Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 13.

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Neben ­diesem Bedürfnis nach Bekenntnis hoffte Svešnikov darauf, mit einer Publikation seiner Autobiographie seine prekäre Lage verbessern zu können. Hierbei kam ihm seine Tätigkeit als Buchverkäufer zugute, denn trotz seiner chronischen Unfähigkeit, sich ein geregeltes Leben aufzubauen, hatte er im Laufe der Zeit doch zahlreiche Kontakte zu anderen Buchhändlern sowie zu namhaften Herausgebern und Schriftstellern geknüpft. Zu diesen zählten Anton Tschechow, der Senator, Minister und Historiker Graf Dmitrij Tolstoj sowie Sergej Šubinskij, Redakteur der Zeitschrift Istoričeskij Vestnik, und Aleksej Suvorin, Herausgeber der Zeitung Novoe Vremja. Im Frühjahr 1889 fuhr Svešnikov nach Moskau, um Tschechow zu besuchen.155 Dieser hatte zuvor von einem Bekannten Svešnikovs in St. Petersburg einen Teil der Rohfassung der Memoiren erhalten. In einem Brief an Suvorin schrieb Tschechow anschließend: „Heute war der frühere Buchhändler Svešnikov bei mir. Abgerissen und in Bastschuhen. Klare Augen und eine kluge Person. Er geht zu Fuß durch Petersburg und möchte seine frühere Tätigkeit wieder aufnehmen. Mit dem Trinken hat er aufgehört. […] Ich hatte seine Erinnerungen, die Sie ebenfalls kennen. Erinnern Sie sich?“ 156 Im gleichen Jahr wandte sich Svešnikov an den Schriftsteller Nikolaj Leskov sowie an Suvorin selbst. Leskov schrieb daraufhin an die Herausgeber der Zeitschrift Russkaja mysl‘: „Mein Hoflieferant für seltene Bücher, der Buchhändler Nikolaj Ivanovič Svešnikov, der sich vor zwei Jahren dem Suff hingegeben, seinen Pass verwettet hat und von der Bildfläche verschwunden ist, ist dieser Tage zurückgekehrt und präsentierte halbnackt ein Manuskript über die von ihm erlittenen Missgeschicke […]. Das Manuskript ist natürlich primitiv, aber von einem sehr lebensnahen Inhalt. […] Niemand anderes kann dies verfassen als ein einfacher Mann, der alles Dargelegte selbst gesehen und am eigenen Leib erfahren hat.“ 157 Suvorin übersandte das Manuskript unter Hinweis auf die Empfehlung Tschechows an Sergej Šubinskij, den Redakteur des Istoričeskij Vestnik. 155 Vgl. die Erwähnung d ­ ieses Besuchs in dem Brief Svešnikovs an Suvorin, 31. 10. 1899, in: Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1930, S. 9 f. 156 Tschechow an Suvorin, 22. 04. 1889, hier zitiert nach Rejtblat, N. I. Svešnikov. ­Knigotorgovec, memuarist, p’janica, S. 5. Vgl. auch die Schilderung des Treffens mit Tschechow in Moskau in Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 150 f. 157 Brief von Leskov, 02. 06. 1899, hier zitiert nach Rejtblat, N. I. Svešnikov. Knigotorgovec, memuarist, p’janica, S. 6. Leskov bezieht sich hierbei auf ein Textfragment aus den Erinnerungen Svešnikos, das er selbst überarbeitete und das unter dem Titel Spiridony-­Povoroty vorab in Russkaja Mysl‘ (1889, Nr. 8) erschien.

Reaktionen auf die Neuordnung

Svešnikov, der sich in Geldnöten befand, bemühte sich aus der lavra, Suvorin und Šubinskij von einer Veröffentlichung seiner Erinnerungen zu überzeugen. Es gelang ihm, für Abschnitte seines Textes Anzahlungen von 5 bis 10 Rubel zu erhalten.158 Wiederholt unterstrich er, dass alles von ihm Geschilderte „wahrheitsgemäß“ 159 sei. Zugleich erwähnte er seine eigene „Schwäche“ 160 und verwies auf seine Umgebung, in der ohne Unterlass getrunken werde. Letztendlich erschienen seine Memoiren dann 1896/97 im Istoričeskij Vestnik, wenige Jahre vor seinem Tod. Neben den Aufzeichnungen Svešnikovs werden im Folgenden weitere Quellentexte über den Buchhandel der ‚kleinen Leute‘ herangezogen. Grigorij Kuročkin,161 A. Štukin 162, Anatolij Bachtiarov 163 sowie erneut Vsevolod ­Krestovskij 164 haben ebenso wie Svešnikov die Welt der Petersburger Bouquinisten beschrieben. Ihre Texte dienen zur Verifizierung seiner Angaben und erweitern zugleich die Perspektive. Wie sah nun die Bücherreihe inmitten des Apraksin dvor aus? Wie bereits im vorhergehenden Kapitel erwähnt, bildete der Apraksin dvor gemeinsam mit dem angrenzenden Ščukin dvor im 19. Jahrhundert einen der größten Märkte St. Petersburgs. Johann Georg Kohl erschien die Anlage aufgrund ihrer Ausmaße als „eine Stadt an sich“ 165, und die dortigen Händler wurden umgangssprachlich mit einem eigenen Namen, als Apraksincy (Apraksinisten) bezeichnet.166 Der Apraksin dvor gehörte zu den zahlreichen Besitzungen der Grafen A ­ praksin in der Hauptstadt, denen das Grundstück 1739 von der Zarin geschenkt worden 158 Vgl. den Brief von Svešnikov an Suvorin, 17. 03. 1890, in: RNB . Otdel rukopisej, f. 874 (Šubinskij), op. 1, del. 47, ll. 118 f,, sowie den Brief an Šubinskij, 22. 06. 1890, in: ebd., ll. 122 f. 159 Brief von Svešnikov an Šubinskij, 22. 06. 1890, l. 122ob. 160 Brief von Svešnikov an Šubinskij, 11. 08. 1890, in: ebd., ll. 124 – 125ob, hier l. 124ob. 161 Kuročkin, Knižnyj rjad. Vgl. zu ­diesem Text Anm. 145 d ­ ieses Kapitels. 162 Štukin, A. D., Knižiki, in: Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 278 – 283. Der Text erschien erstmals 1865 im Peterburgskij listok. 163 Bachtiarov, Brjucho Peterburga, S. 183 – 185. 164 Krestovskij, Vsevolod V., Bukinist, in: Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 283 – 289. Der Text erschien erstmals 1867. 165 Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen, Bd. 1, S. 172. 166 Vgl. hierzu die anekdotische Schilderung der Welt der Apraksincy bei Lejkin, Nikolaj A., Apraksincy. Birževye Artel’ščiki. Sceny i očerki, 3. Auflage, Sankt-­Peterburg 1886. Der Teil des Textes zu den „Apraksinisten“ stammt aus dem Jahr des verheerenden Brandes, 1862.

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war.167 In der Zeit Katharinas II. entstanden die ersten steinernen Bauten, und ein Ukaz Alexanders I. ermöglichte 1802 zusätzlich den bereits existierenden Verkaufsständen die Vermietung noch leerer Flächen auf dem Gelände, das bald im allgemeinen Sprachgebrauch nicht mehr als „Hof “ (dvor), sondern als „Markt“ (Apraksin rynok) bezeichnet wurde.168 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts bestanden die Fassaden zur Sadovaja ulica und zum Apraksin pereulok sowie ein Flügel im Innenbereich des Geländes aus steinernen Bauten. Daneben dominierten zahlreiche hölzerne Verkaufsstände das Bild, und im Inneren hatte sich ein Trödelmarkt (tolkučij rynok) entwickelt, von dem Kohl wie bereits erwähnt berichtet, dass er im Volksmund auch „Läusemarkt“ 169 (voševoj rynok) genannt wurde. Während dieser Trödelmarkt gerade für die Angehörigen der städtischen Unterschichten eine zentrale Bedeutung besaß (Nikolaj Leijkin spricht davon, dass sie ohne den Apraksin dvor nicht hätten existieren können 170), stellte die Existenz hölzerner Stände in einem zentralen Teil der Stadt aus Sicht der Obrigkeit einen Missstand dar, den man zu beseitigen trachtete. Hinzu kam, dass sich dort ständig „von morgens bis abends eine Ansammlung schwarzen Volkes [stečenie černogo naroda] aus verschiedenen Gründen und Bedürfnissen zusammendrängt“ 171, wie der Generalgouverneur 1831 festhielt. Wiederholt gab es Versuche der Regierung, das Grundstück zu erwerben, um dann, ähnlich wie später auf dem Heumarkt, die bisherige Struktur des Markts durch große steinerne Hallen zu ersetzen. Alle diese Anläufe scheiterten jedoch an der Weigerung der Grafen Apraksin, den für sie lukrativen Hof zu verkaufen.172 167 Vgl. Rubachin, Grafy Apraksiny i ich peterburgskaja votčina, S. 29. 168 Vgl. Veksler, A. F., Apraksin dvor, in: Tri veka, Bd. 2, Buch 1, S. 166 – 168, hier S. 166. Die Bezeichnung Apraksin rynok findet sich auch bei Svešnikov. Vgl. ders., Peterburgskie ­knigoprodavcy. Apraksincy i bukinisty, in: ders., Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 177 – 221, hier u. a. S. 177 f. Dieser Text war nicht Teil der Autobiographie ­Svešnikovs, sondern erschien gesondert im Istoričeskij vestnik (1897, Nr. 7 und 8). 169 Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen, Bd. 1, S. 171. Vgl. auch die Schilderung ­dieses Teils des Markts bei Lejkin, Apraksincy, S. 126 – 143. 170 Lejkin, Apraksincy, S. 4. 171 Abschrift der Stellungnahme des Generalgouverneurs, 10. 08. 1832, RGIA, f. 1287, op. 5, del. 772, ll. 48 – 85, hier l. 51. 172 Vgl. u. a. die Mitteilung des Stadtoberhaupts vom 09. 06. 1862, in der vom Scheitern entsprechender Gespräche mit den Apraksins berichtet wird: ebd., f. 218, op. 3, del. 1288, l. 30. Vgl. ebenso K istorii Apraksina i Ščukina rynkov, in: Ob ustrojstve rynkov v ­S.-Peterburge, S. 69 f., hier S. 69.

Reaktionen auf die Neuordnung

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Abb. 15: Brand des Apraksin dvor, 1862 

Ende Mai 1862 brannte ein verheerendes Feuer den Apraksin dvor bis auf die Grundmauern nieder. In der Konsequenz wurde der Handel provisorisch an andere Orte der Stadt verlegt, während der Apraksin dvor in neuer Form wieder aufgebaut wurde. Seine Struktur änderte sich, fortan dominierten feste, mehrstöckige Markthallen das Bild, während die hölzernen Verkaufsstände größtenteils weichen mussten.174 Hiervon waren auch die Buchhändler betroffen. Die Bücherreihe (knižnyj rjad) war Teil des Trödelmarkts und lag im Inneren des Apraksin rynok. Die Reihe bestand nicht aus einem durchgehenden Korpus, sondern aus einzelnen, hölzernen Verkaufsständen, die aber so dicht gedrängt standen, dass sie wie eine Einheit wirkten.175 Insgesamt belief sich die Zahl der Bücherstände auf dem Apraksin dvor bis zum Brand 1862 auf rund 30.176 173 Rubachin, Grafy Apraksiny i ich peterburgskaja votčina, S. 52. 174 Vgl. Vyborka iz otčeta sanitarnych vračej po osmotru rynkov v g. S.-Peterburge. Apraksin rynok, in: Ob ustrojstve rynkov v S.-Peterburge, S. 42; Rubachin, Grafy Apraksiny i ich peterburgskaja votčina, S. 73 – 79; Procaj, Rynki Peterburga, S. 36 – 46; Veksler, Apraksin dvor, S. 167 f. 175 Vgl. Svešnikov, Nikolaj, Peterburgskie knigoprodavcy. Apraksincy i bukinisty, S. 178. 176 Vgl. Kuročkin, Knižnyj rjad, S. 257.

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Abb. 16: Bücherstand im Apraksin dvor 

Das Angebot richtete sich in erster Linie an die ‚einfache‘ Bevölkerung der Stadt. Während die renommierten Buchhandlungen St. Petersburgs am Nevskij prospekt, im Gostinyj dvor und entlang der Sadovaja ulica lagen und sich primär an die ­Intelligencija und wohlhabende Kunden richteten 178, wurde im Apraksin dvor ‚aus dem Volk, für das Volk‘ verkauft. Die Stände waren klein, vollgestopft mit Büchern, von denen die billigeren Ausgaben auf davor stehenden Tischen präsentiert wurden.179 Die Händler entstammten selbst den unteren Schichten der städtischen Gesellschaft, sie waren meščane, Bauern oder prikaščiki, die zumeist zuvor andere Tätigkeiten ausgeübt hatten, ehe sie sich als Buchhändler selbständig machten. Als

177 Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996. Priloženie. 178 Vgl. zu den genauen Adressen Michnevič, Vladimir, Peterburg ves‘ na ladoni, Sankt-­ Peterburg 1874, čast‘ 2, S. 528 f. 179 Vgl. für einen, wenn auch ziemlich abschätzigen, Blick in das Innere eines solchen Bücherstandes Bachtiarov, Brjucho Peterburga, S. 183 – 185.

Reaktionen auf die Neuordnung

Begründer der Buchreihe im Apraksin dvor galt Vasilij Cholmušin. Er hatte in den 1820er Jahren als ‚fliegender‘ Händler mit dem Buchverkauf begonnen, um dann ab 1830 einen Stand im Apraksin dvor zu eröffnen. Als Nikolaj Svešnikov 1852 zum ersten Mal nach St. Petersburg kam und eine Anstellung im Apraksin dvor erhielt, besaß Cholmušin bereits einen der größten Stände in der Bücherreihe.180 Obwohl er selbst nur rudimentär lesen und schreiben konnte, hatte er sich einen Ruf als Spezialist für geistige Literatur erworben. Neben Volksmärchen, Bilderbögen (Lubki) und anderer einfacher Literatur, die insgesamt das Angebot auf dem Apraksin dvor dominierte,181 galt er als Referenz für Synodalliteratur, Heiligenviten und orthodoxe Schriften aller Art.182 Im Laufe der Zeit erlangte Cholmušin sogar eine gewisse Bekanntheit in Petersburg: Sein Lebensweg diente als Vorlage für ein Theaterstück, das 1846 im Aleksandrinskij-­Theater uraufgeführt wurde. Grigoij Kuročkin, der einer der Aufführungen beiwohnte, berichtet, wie das Publikum in Anbetracht der Figur des einfachen Händlers in Gelächter ausbrach.183 Cholmušin, dessen Stand in der Bücherreihe die Nummer eins trug, war nicht der einzige Buchhändler auf dem Apraksin dvor, der des Lesens und Schreibens nur bedingt mächtig war.184 Unter den Bouquinisten fanden sich einige Analphabeten, und auch diejenigen, die alphabetisiert waren, lasen nur selten die von ihnen angebotenen Bücher. Folgt man der Darstellung Svešnikovs, so war dies kein Ausdruck von Desinteresse, sondern das Ergebnis ökonomischer Notwendigkeiten: Die Händler betrachteten die Bücher als Ware, die es zu verkaufen galt, um sich ein Auskommen zu sichern.185 Svešnikov selbst bildete also eher die Ausnahme, da er, wie sich seiner Autobiographie entnehmen lässt, aus Interesse an der Literatur zum Buchhändler wurde und sich auch durch seine prekären Lebensumstände nicht vom Lesen abhalten ließ. 180 Vgl. Svešnikov, Peterburgskie knigoprodavcy. Apraksincy i bukinisty, S. 178. 181 Vgl. ausführlich zur lubočnaja literatura Brooks, When Russia Learned to Read, S. 59 – 109. 182 Vgl. Kuročkin, Knižnyj rjad, S. 258. 183 Das Stück trug den Titel „Die ungewöhnliche Reise eines Šchukin-­dvor-­Kaufmanns und seine glückliche Rückkehr“ (Neobyknovennoe putešestvie ščukinodvorskogo kupca i blagopolučnoe vozvraščenie). Für die anschließende Druckfassung wurde er verändert: „Die Reise eines Apraksin-­Kaufmanns zur Hölle“ (Putešestvie apraksinskogo kupca v ad). Vgl. ebd., S. 257 f. 184 Eine detaillierte Übersicht über die einzelnen Buchhändler auf dem Apraksin dvor findet sich bei Kuročkin, der in seiner Beschreibung die gesamte Reihe abschreitet. Vgl. ebd., S. 262 – 274. 185 Vgl. Svešnikov, Peterburgskie knigoprodavcy. Apraksincy i bukinisty, S. 199 f.

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Insgesamt könnte man also der Eindruck gewinnen, dass die „niedere Bücherkunde“ dadurch charakterisiert war, dass literarisch wenig anspruchsvolle Bücher in einfachen Holzständen von größtenteils ungebildeten Händlern unters Volk gebracht wurden. Dass dies auch zeitgenössisch so gesehen wurde, lässt sich der entsprechenden Passage in Anatolij Bachtiarovs „Der Bauch Petersburgs“ ­(Brjucho Peterburga) entnehmen. In abschätzigem Ton beschreibt er das gedrängte Innere eines solchen Stands, in dem „die Philosophie als fundamentale Wissenschaft direkt auf dem Boden Platz findet“ und in dem „das vollendete Chaos“ 186 das grundlegende Prinzip darstellte. Blickt man jedoch hinter d ­ ieses oberflächliche Bild, so wird deutlich, dass der ‚einfache‘ Buchhandel bestimmte innere Strukturen aufwies und nach seinen eigenen Regeln funktionierte. Greift man noch einmal den Punkt des Analphabetismus eines Teils der Händler auf, so kompensierten sie ihre fehlende Bildung dadurch, dass sie sich zumindest grob den Inhalt der Bücher aneigneten, die sie ansonsten gegenüber den Kunden nicht hätten anpreisen können. Da ihnen dies nicht durch eigene Lektüre möglich war, waren sie auf den Austausch mit anderen Händlern angewiesen.187 Dieses Vorgehen kann als exemplarisch für den Buchhandel der ‚kleinen Leute‘ gelten: Personelle Netzwerke und gegenseitige Unterstützung bildeten die Grundlagen ­dieses von der Obrigkeit kritisch beäugten und häufig prekären Sektors, wie im Folgenden gezeigt werden soll. Grundsätzlich beschränkte sich der Bücherverkauf für das ‚einfache Volk‘ auch vor dem Brand 1862 nicht auf den Apraksin dvor. Dieser bildete vielmehr das Zentrum eines Systems von An- und Verkauf, zu dem ebenso die ‚fliegenden‘ Händler gehörten. Letztere trugen ihre Ware in großen Säcken mit sich und brachten die Bücher direkt zu den potentiellen Kunden. Zwischen den „Büchervagabunden“ gab es fortlaufende Absprachen darüber, wer in welchem Gebiet tätig war und ­welche Orte oder Personen als besonders vielversprechend galten. So lässt sich den Erinnerungen Svešnikovs entnehmen, dass er in den Phasen, in denen er als ‚fliegender‘ Buchhändler arbeitete, immer wieder in den Datschengegenden an den Rändern St. Petersburgs unterwegs war, vor allem in Novaja derevnja und Černaja rečka. Die Bücher, die er dort zu verkaufen suchte, erwarb er auf dem Apraksin dvor und dem Sytnyj rynok auf der Petersburger Seite.188 Darüber 186 Bachtiarov, Brjucho Peterburga, S. 183. 187 Vgl. Svešnikov, Peterburgskie knigoprodavcy. Apraksincy i bukinisty, S. 199 f. 188 Vgl. Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, u. a. S. 68 f., 74, 76.

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hinaus gab es Hinterzimmer in bestimmten Kneipen der Stadt, die unter den nicht-­stationären Buchverkäufern bekannt waren. Dort traf man sich, tauschte Bücher und teilte die beim Verkauf gemachten Erfahrungen und die Adressen lukrativer Kunden. Svešnikov selbst lernte in einer Kneipe, in der er arbeitete, zum ersten Mal die „Büchervagabunden“ kennen.189 Rückblickend spricht er von einer großen „Informationssolidarität“ 190 (Solidarnost‘-soobščitelnost‘), die ­zwischen den ‚fliegenden‘ Buchhändlern geherrscht habe. Man habe sich über Erfolge und Misserfolge auf dem Laufenden gehalten und auf diese Weise das Stadtgebiet untereinander aufgeteilt. Das Beispiel Svešnikovs, der seine Ware auf den Märkten erwarb, um sie anschließend weiterzuverkaufen, zeigt, dass die ‚fliegenden‘ Händler auf den stationären Buchhandel angewiesen waren. Diese Abhängigkeit bestand beidseitig: Im Gegensatz zu den renommierten Buchhandlungen bezogen die ‚kleinen‘ Händler auf den Märkten die Literatur nicht direkt von den Verlagen, sondern kauften sie an. Dieser Ankauf erfolgte entweder untereinander oder mittels der ‚fliegenden‘ Händler, die auf die Märkte gingen und ihre Bücher feilboten. Die Grenzen ­zwischen Legalität und Illegalität waren hierbei fließend. Teilweise waren es gebrauchte Bücher, die aufgekauft wurden, nicht selten handelte es sich aber auch um „dunkle Ware“ 191 (temnyj tovar), mithin um gestohlene Bücher, die auf diese Weise den Weg in den legalen Markt fanden.192 Zudem fungierten die ‚fliegenden‘ Händler als Mittler ­zwischen der Bücherreihe auf dem ­Apraksin dvor und den Buchhandlungen St. Petersburgs. Gelangte ein Händler auf dem Markt in den Besitz eines seltenen Buches, bei dem davon auszugehen war, dass es nicht legal erworben wurde, und wollte er ­dieses nicht zu den nie­drigen Marktpreisen verkaufen, sondern es für eine höhere Summe einer g­ roßen Buchhandlung anbieten, dann erschien er nicht persönlich in dem Geschäft, sondern schickte einen „Büchervagabunden“ als Mittelsmann. Die ‚fliegenden‘ Händler, die diesbezüglich über die besseren Kontakte verfügten, einigten sich mit den Buchhandlungen dann zumeist auf einen Ankauf auf Kommission, so dass einerseits die Möglichkeit bestand, das Buch zurückzugeben, andererseits aber im Falle

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Vgl. ebd., S. 53. Svešnikov, Peterburgskie knigoprodavcy. Apraksincy i bukinisty, S. 194. Ebd., S. 195. Vgl. hierzu Štukin, Knižiki, S. 278 – 280.

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seines Verkaufs alle Beteiligten von d ­ iesem Vertriebsweg profitierten.193 Manche Büchereien Petersburgs ließen sich auf diese Weise regelmäßig von den ‚fliegenden‘ Händlern beliefern. So sichtete etwa Marikij Vol’f, ein bekannter Petersburger Verleger und Buchhändler, regelmäßig abends ab 6 Uhr am Hinterausgang seines Geschäfts die frisch eingetroffene Ware und kaufte sie gegebenenfalls an.194 Auch in anderer Hinsicht hatten sich Strukturen entwickelt, mit denen die gesetzlichen Grenzen gezielt überschritten wurden. So wurde in der Bücherreihe auf dem Apraksin dvor Literatur nicht nur verkauft, sondern auch ‚heraus­ gegeben‘ – wobei die Herausgebertätigkeit darin bestand, erfolgreiche Bücher mit minimalen Änderungen zu reproduzieren und dann als Originale zu verkaufen. Peterburgskij listok beschrieb ­dieses Fälschungssystem mit den folgenden Worten: „Der Apraksin dvor hat nicht nur seine Stände, sondern auch seine eigene Literatur […], seine Herausgeber und nicht zuletzt seine mustergültigen und weniger ansehnlichen Schriftsteller – die Arbeiter […].“ 195 Insgesamt waren somit nicht nur die Grenzen ­zwischen Legalität und Illegalität fließend, sondern auch z­ wischen stationärem und nicht-­stationärem Handel. Letzteres galt umso mehr, als die jeweilige Tätigkeit von den Konjunkturen der unterschiedlichen Jahreszeiten abhing. So war etwa der Verkauf auf den Datschen Petersburgs, wie Svešnikov ihn betrieb, nur in den Sommermonaten erfolgsversprechend. Neben den Einnahmen ließen sich hierbei auch wertvolle Bekanntschaften und Kontakte gewinnen. Svešnikov lernte während seiner Verkaufstouren nicht nur andere Buchhändler und die Besitzer der Landgüter kennen, sondern auch Petersburger Studenten. Ähnlich wie Spiridon Drožžin betont er deren Bedeutung für seine weitere Entwicklung: Sie ­seien seine „Lehrer“ 196 gewesen, ihrer Beharrlichkeit habe er es zu verdanken, dass er später seine Erinnerungen habe verfassen können. Im Herbst endete die Datschasaison, und die Händler mussten sich nach anderen Einkommensmöglichkeiten umsehen. Viele gingen in die Provinz und

193 Vgl. ebd. 194 Vgl. ebd. Vgl. auch das kurze Biogramm zu seiner Person in: Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1930, S. 507. 195 Apraksinskaja izdatel’skaja dejatel’nost‘, in: Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 289 f., hier S. 289. Der Text erschien erstmals am 28. 03. 1865 in Peterburgskij listok. Vgl. hierzu auch Štukin, Knižiki, S. 281. 196 Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 69.

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boten auf den dortigen Märkten ihre Ware an.197 So auch Svešnikov, der immer wieder nach Uglič zurückkehrte, um von dort aus sein Glück in den Dörfern zu versuchen. In seinen Memoiren beschreibt er, wie er jedes Mal gescheitert und mittellos nach Petersburg zurückkehrte. Die Alternative bestand darin, einen festen Verkaufsstand in der Stadt anzumieten. Auch dies hat er mehrmals versucht, ebenfalls ohne dauerhaften Erfolg. Ein Ergebnis ­dieses weitverzweigten Netzwerks stationärer und nicht-­statio­ närer Buchhändler war eine erstaunliche Breite des Angebots. Während ­Vasilij Cholmušin als Fachmann für geistige Literatur galt, war Iov Gerasimov bei den Kunden des Apraksin dvor für seine Auswahl an alter kirchlicher Literatur bekannt, und Jakov Matjušin stellte einen Anlaufpunkt für alle Bibliophilen dar, die bei ihm Bücher fanden, die es nirgends sonst mehr gab.198 Diese Auffächerung führte dazu, dass die Kundschaft nicht nur aus den Käufern der ‚leichten‘ Prosa bestand, sondern dass ebenso Bücherliebhaber und Literaten die Dienste dieser Händler in Anspruch nahmen. Lejkin spricht davon, dass „die Bibliophilen und Bibliomanen von ihm [dem Apraksin dvor – H.-C. P.] geradezu in Verzücken versetzt“ 199 worden s­ eien und dass man häufig Erzählungen über die Kleinode habe hören können, die sie dort erworben hatten. Und in dem anonymen Nachruf auf Svešnikov, der im Istoričeskij vestnik erschien, heißt es über ihn: „Ende Juli [1899 – H.-C. P.] ist Nikolaj Ivanovič Svešnikov nach schwerer Krankheit in einem Petersburger Krankenhaus gestorben. Er war, wenn nicht der letzte, dann auf jeden Fall ‚einer der letzten Mohikaner‘, ein Vertreter jener Buchhändler, die das Buch geliebt haben und die Bücherkunde beherrschten wie kaum ein Buchverkäufer. Diese Bouquinisten-­Bibliographen waren unersetzliche Gehilfen der Schriftsteller und Gelehrten beim Aufspüren benötigter und oft seltener Bücher.“ 200 Ebenso kamen Schüler und Studenten auf den Apraksin dvor,

197 Vgl. hierzu, mit einem Schwerpunkt auf Moskau und seiner Umgebung, auch Brooks, When Russia Learned to Read, S. 101 – 109. 198 Vgl. Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 178 – 182. Vgl. entsprechend auch die Charakterisierung der einzelnen Händler bei Kuročkin, Knižnyj rjad, S. 262 – 274, sowie die knappen biographischen Angaben in Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1930, hier S. 508 und 512. 199 Lejkin, Apraksincy, S. 4. 200 [o. N.], N. I. Svešnikov, in: Istoricheskij vestnik, S. 1055 f.

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deren Geld nicht für Neuanschaffungen reichte und die hier nach gebrauchten Ausgaben Ausschau hielten.201 Die ‚einfachen‘ Buchhändler konnten mithin zu niedrigen Preisen eine breit gefächerte Nachfrage bedienen. Durch thematische Spezialisierungen erreichten sie eine Differenzierung des Angebots, mit der sie unterschiedliche Interessentenkreise ansprachen und sich zugleich ein jeweils individuelles Profil gaben. Hinzu kamen die ‚fliegenden‘ Händler, die als mobile Dienstleister auch Rechercheaufträge durchführen konnten, sei es für Händler auf dem Markt, sei es für vermögende Kunden, die nach bestimmten seltenen Ausgaben oder Neuauflagen suchten. Trotz dieser vielfältigen gegenseitigen Unterstützung war die Welt der ‚kleinen‘ Buchhändler ebenso wenig wie die Vjazemskaja lavra eine solidarische Gemeinschaft am Rande der Gesellschaft. Neben den beschriebenen Formen der Solidarität gab es untereinander auch Diebstahl, Betrug und ökonomischen Konkurrenzkampf. Nikolaj Svešnikov selbst legt in seinen Aufzeichnungen Zeugnis davon ab, wie oft er seine Kollegen bestohlen hat und sich dann monatelang in der lavra vor den Betroffenen verstecken musste. Hinzu kamen Händler wie Michail Popov, der danach strebte, möglichst viele andere Stände aufzukaufen, um sich eine monopolartige Stellung aufzubauen. Sein Vorhaben scheiterte an dem geschlossenen Widerstand der übrigen Buchhändler: Als sie von seinem Plan erfuhren, kauften sie sich an anderen Stellen, z­ wischen den Obst- und Gemüsehändlern, neue Stände, um anschließend ihre alten zu hohen Preisen an Popov zu veräußern. Als dieser erkennen musste, dass er die Konkurrenz nicht verdrängt hatte, sondern diese nur an neue Orte ausgewichen war, sah er sich gezwungen, die Bücherstände wieder ihren vorherigen Besitzer zu überlassen, nicht, ohne hierbei massive finanzielle Einbußen zu erleiden.202 Von bekannten Händlern wie Cholmušin oder Popov abgesehen, blieb der Buchhandel für die meisten ein prekäres Geschäft. Die Einnahmen waren niedrig und unterlagen großen Schwankungen. Viele lebten täglich von der Hand in den Mund. Hinzu kam ein weit verbreiteter Alkoholismus, in dessen Folge das eingenommene Geld sehr schnell wieder verausgabt war. Svešnikov hat aus ­diesem Grund wiederholt versucht, die Kreise und Orte der Buchhändler zu meiden und sich andere Verdienstmöglichkeiten zu erschließen. Letztendlich landete er 201 Vgl. Bachtiarov, Brjucho Peterburga, S. 184 f. 202 Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 76.

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jedoch jedes Mal wieder auf dem Apraksin dvor oder dem Heumarkt, da hier die personalen Netzwerke existierten, die für ihn in der Stadt überlebensnotwendig waren.203 Es entbehrt nicht einer bitteren Ironie, dass es ihm mit diesen Netzwerken nicht besser erging, da die mit ihnen verbundene Trinkkultur regelmäßig dazu führte, dass er buchstäblich sein letztes Hemd vertrank und ohne fremde Kleidung gar nicht mehr auf die Straße gehen konnte. Dies waren die Schattenseiten eines Sektors, der nichtsdestotrotz deutlich differenzierter war, als Beobachter wie Anatolij Bachtiarov zu meinen glaubten. Es war tatsächlich eine „eigene kleine Handelswelt“ 204, die nach anderen Regeln als den offiziell gültigen funktionierte, die aber zugleich ein bemerkenswertes Maß an innerer Solidarität aufwies und die eine Nachfrage bediente, für die es andernorts kein Angebot gab. Diese Handelswelt geriet in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus zwei Gründen zunehmend unter Druck. Der erste bestand in dem im vorhergehenden Kapitel dieser Arbeit beschriebenen Bestreben des Staats, den Handel in der Stadt zu regulieren und ihn auf bestimmte Plätze zu begrenzen. Für die „Büchervagabunden“ bedeutete dies, dass sie sich so lange relativ frei in Petersburg bewegen konnten, bis 1850 der nicht-­stationäre Verkauf von Büchern auf den Straßen und Märkten der Stadt verboten wurde.205 Der Staatsrat, von dem diese Initiative ausging, sorgte sich hierbei in erster Linie um das unkontrollierte Eindringen verbotener ausländischer Literatur in das Zarenreich – der ‚fliegende‘ Buchhandel wurde damit jedoch zugleich empfindlich getroffen. Štukin spricht von den 1830er und 1840er Jahren als der Hochzeit der Bouquinisten, als man ihnen auf den Straßen Petersburgs häufig begegnet sei.206 Auch nach dem Verbot habe diese Art des Handels nicht gänzlich aufgehört zu existieren, man habe sie jedoch nur noch in „reduzierter Form“ angetroffen, und heute, im Jahr 1865, sei der ‚fliegende‘ Buchhandel gänzlich aus dem Stadtbild verschwunden. Die Händler hätten nun feste Punkte eingenommen, auf den Brücken, Straßen und Märkten St. Petersburgs.207

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Vgl. u. a. die entsprechende Schilderung ebd., S. 106 f. Vgl. Anm. 145 ­dieses Kapitels. Vgl. Štukin, Knižiki, S. 278, sowie die dazu gehörige Anmerkung. Vgl. ebd. Vgl. ebd.

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Diese Aussage deckt sich mit der Schilderung Svešnikovs. Er berichtet, dass viele Händler, die bis dahin keinen festen Standort besaßen, in den 1860er Jahren ihr Dasein als „Büchervagabunden“ zugunsten dauerhafter Stände auf den Straßen und Märkten aufgegeben hätten.208 Hieraus sollte man nicht die Schlussfolgerung ziehen, dass es fortan gar keine ‚fliegenden‘ Händler in St. Petersburg mehr gab, die Bücher zum Verkauf anboten. Zum einen waren bei Weitem nicht alle ‚fliegenden‘ Händler ausschließlich auf Bücher spezialisiert (wie dies bei Svešnikov der Fall war), sondern Bücher waren für sie nur eine Ware unter vielen, die sie nur zu bestimmten Zeiten im Jahr in Angebot hatten.209 Und zum anderen gelang es der Stadt grundsätzlich nicht, die Raznosčiki aus der Hauptstadt zu verbannen. Wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt, belief sich ihre Zahl gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer noch auf rund 3000 – und es ist reichlich unwahrscheinlich, dass sich hierunter keine (zumindest temporären) Buchhändler mehr befanden. Setzt man die Verdrängung des ‚fliegenden‘ Handels jedoch mit einem zweiten Ereignis in Verbindung, so spricht viel dafür, dass die erste Hälfte der 1860er Jahre tatsächlich eine Zäsur für die Welt der „Büchervagabunden“ gewesen ist. Gemeint ist der Brand des Apraksin dvor Ende Mai 1862. Wie bereits erwähnt, veränderte sich die Struktur des Apraksin dvor nach dem Brand grundlegend – fortan dominierten feste, mehrstöckige Markthallen das Bild, während die hölzernen Verkaufsstände größtenteils verschwanden. Hiervon war auch die Bücherreihe betroffen – die neben ihrer ökonomischen Funktion stets auch ein Treffpunkt der ‚kleinen‘ Leute der Stadt gewesen war, ein postojannyj klub 210, wo man sich traf, unterhielt und gemeinsam stöberte.211 208 Vgl. Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 75. 209 Vgl. diese Feststellung bei Bachtiarov, Brjucho Peterburga, S. 185. 210 So die zeitgenössische Formulierung von Simoni, hier zitiert nach Rejtblat, N. I. ­Svešnikov. Knigotorgovec, memuarist, p’janica, S. 8. 211 Am Rande sei erwähnt, dass der neu errichtete Apraksin dvor letztendlich genauso wenig ein ‚geordneter‘ Ort wurde, wie dies auf dem Heumarkt nach der Errichtung der vier Markthallen der Fall war. So enthält ein nach einer Begehung des Apraksin dvor im August 1888 angefertigtes Protokoll, das dem Petersburger Stadthauptmann vorgelegt wurde, eine Auflistung von Missständen, die nicht den Vorgaben entsprachen. Unter anderem wurde beklagt, dass viele Händler ihre Ware nach wie vor auf den Bürgersteigen abstellten, wodurch die Durchfahrtsstraßen versperrt wurden. Zudem waren an vielen Stellen des Markts eigenhändige Umbauten vorgenommen worden. Ebenso wie auf dem Sennaja waren die Verhaltensweisen der Menschen langlebig und folgten nicht unmittelbar den

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Abb. 17: Ansicht des Apraksin dvor von der Fontanka, 1900 

Der Brand, der den Markt bis auf die Grundmauern zerstörte, bedeutete zunächst, dass alle Händler an andere Orte in der Stadt ausweichen mussten. Dies betraf auch die Bücherreihe, die auf den Semenovskij plac, den heutigen Pionerskaja ploščad‘, verlegt wurde.213 Der neue Standort lag jenseits der Fontanka und damit deutlich schlechter als der Apraksin dvor mit seiner großen Laufkundschaft. Während andere Händler sich nach einer Übergangszeit erneut auf dem A ­ praksin dvor niederlassen durften,214 wurde der Trödelmarkt im Inneren des Markts Mitte 1863 per Ukaz des Zaren aufgelöst.215 Der dortige Buchhandel kam

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stadtplanerischen Zielsetzungen. Vgl. das Protokoll des Begehungsberichts in: RGIA , [o. D. – ca. September 1888], f. 777, op. 4, del. 41, ll. 12 f. URL : https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/ff/Apraksindvor.jpg (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). Vgl. Svešnikov, Peterburgskie knigoprodavcy. Apraksincy i bukinisty, S. 213 – 221. Vgl. Rubachin, Grafy Apraksiny i ich peterburgskaja votčina, S. 74 f. Vgl. die Mitteilung über den ukaz in ISPGOD, 1863, Nr. 8, S. 365.

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damit weitgehend zum Erliegen. Mit Ausnahme einiger weniger Verkäufer 216 kehrte der Großteil von ihnen nicht mehr zurück. Als neuer Standort wurde ihnen der an der Ecke Gartenstraße/Voznesenskij prospekt befindliche Neue Alexander-­Markt (Novo-­Aleksandrovskij rynok) zugewiesen. Dieser lag deutlich weiter vom Zentrum entfernt und besaß nach zeitgenössischem Eindruck einen „slumartigen Charakter“ 217 (truščobnyj charakter). Damit war erneut ein als problematisch angesehener Teil eines großen Handelsorts vom Zentrum an die innerstädtischen Ränder verlegt worden. Die Unterbringung der traditionsreichen Bücherreihe des Apraksin dvor auf dem Neuen Alexander-­Markt war Teil der Politik der Segregation des Handels in der Hauptstadt. Namhafte Händler wie Vasilij Cholmušin, Iov Gerasimov oder Dmitrij Fedorov zogen mit ihren Bücherbeständen um (insoweit diese nicht vom Brand beschädigt worden waren), erlitten jedoch bald finanzielle Einbußen und erreichten nicht mehr den Umsatz, den sie zuvor als Teil der Apraksincy erzielt hatten.218 Neben dem Novo-­Aleksandrovskij rynok suchten sich die Händler weitere Orte im Stadtgebiet, um ihren Handel fortführen zu können. Begehrt waren Plätze im Umfeld der städtischen Duma, da dort, in unmittelbarer Nähe des Gostinyj dvor sowie des Nevskij prospekt, ein reger Publikumsverkehr existierte. Viele Händler wichen zudem auf die zahlreichen Brücken St. Petersburgs aus – ebenfalls Orte, die viel frequentiert wurden und die traditionell beliebte Treffpunkte der ‚kleinen‘ Leute der Stadt darstellten. Svešnikov versuchte sein Glück mehrfach an der Kettenbrücke (Cepnoj most), der heutigen Pantelejmonovskij-­Brücke, in der Nähe des Sommergartens,219 andere Händler standen an der Aničkov-­Brücke, der Kazaner Brücke oder der Polizeibrücke.220 Insgesamt lässt sich somit eine breitere Streuung des ‚kleinen‘ Buchhandels im Stadtgebiet konstatieren. Der Handel wurde dezentraler – mit dem Brand des Apraksin dvor war er seines Zentrums beraubt worden. Dies traf nicht zuletzt die ‚fliegenden‘ Händler, deren Vertriebswege wie skizziert eng mit der Bücherreihe 216 Vgl. u. a. die Erwähnung eines nach wie vor vorhandenen Buchhandels auf dem Apraksin dvor in: Putevoditel‘ po S.-Peterburgu, Sankt-­Peterburg 1903, S. 181. 217 Vgl. Anm. 127 des vorhergehenden Kapitels. 218 Vgl. für eine Übersicht über die individuellen Auswirkungen des Brands und der anschließenden Verlegung Svešnikov, Peterburgskie knigoprodavcy. Apraksincy i bukinisty, S. 178 – 193; Kuročkin, Knižnyj rjad. 219 Vgl. Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 79, 81. 220 Vgl. Michnevič, Peterburg ves‘ na ladoni, S. 529 f.

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im Apraksin dvor verknüpft waren. Dieser Verlust dürfte die zweite wichtige Ursache für ihren Niedergang gewesen sein. Die Händler versuchten, den einschneidenden Veränderungen „kooperativ“ 221 zu begegnen. So unterlagen die Preise für die Anmietung von Standflächen, die von der Stadt zweimal im Jahr vergeben wurden, nach dem Brand des Apraksin dvor starken Schwankungen – ein Standort in der Nähe der Duma war deutlich teurer als ein Platz an einer Brücke jenseits des Stadtzentrums. Die Händler entwickelten daraufhin ein eigenes Bewertungssystem: Sie legten untereinander fest, wer an welchem Ort handeln durfte und wie viel der jeweilige Platz wert war. Diese Summe wurde vorab in eine gemeinschaftliche Kasse eingezahlt – und nach Beendigung der städtischen Auktion erhielten diejenigen, die zu viel eingezahlt hatten, eine Erstattung, während im Falle einer niedrigeren Summe nachgezahlt werden musste.222 Auf diese Weise versuchte man, die Preisschwankungen abzufedern und eine gewisse Berechenbarkeit für die eigene Kalkulation sicherzustellen. Ein anderes Beispiel für den „Gemeinschaftsgeist“ 223 (obščij duch), der unter den ‚kleinen‘ Buchhändlern herrschte, waren Zusammenschlüsse zur Festlegung von Mindestpreisen im Verkauf. Vor allem ältere Händler waren hierin geübt. Sobald sie davon erfuhren, dass irgendwo in der Stadt ein großer Bestand an Büchern zu erwerben war, gründeten sie eine Gesellschaft, kauften den Bestand vollständig auf und verständigten sich anschließend über eine preisliche Untergrenze für den Weiterverkauf.224 Auch dies war eine Reaktion auf die sich verändernden Rahmenbedingungen – stiegen doch die Preise für die Standflächen immer weiter an, während zugleich die eigenen Einnahmen nach dem Brand im Apraksin dvor zurückgingen. Letztendlich wurde der Spielraum der ‚kleinen‘ Händler jedoch trotz der ihnen eigenen „Gemeinschaft“ 225 (Obščnost‘) immer enger. 1884 erließ die Stadtverwaltung ein Verbot für den Verkauf an vielbelebten Orten wie etwa dem Nevskij prospekt.226 Die Händler waren dadurch gezwungen, auf die weniger frequentierten Straßen und Plätze jenseits des Zentrums auszuweichen oder sich in die 221 Svešnikov, Peterburgskie knigoprodavcy. Apraksincy i bukinisty, S. 207. 222 Vgl. die Beschreibung d ­ ieses Umlagesystems bei Svešnikov, Vospominanija propaščego čeloveka, 1996, S. 81. 223 Svešnikov, Peterburgskie knigoprodavcy. Apraksincy i bukinisty, S. 207. 224 Vgl. ebd. 225 Ebd. 226 Vgl. ebd., S. 212.

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Innenhöfe und Eingänge von Privathäusern zurückzuziehen. Dass auch diese keine konfliktfreien Zonen waren, wird Thema des folgenden Abschnitts sein. Zunächst soll jedoch noch kurz gezeigt werden, dass die skizzierten Entwicklungen im Spannungsfeld von Regulierung und Aneignungen des städtischen Raums ‚von unten‘ nicht nur in St. Petersburg, sondern auch in anderen Metropolen Europas wirksam wurden – am Beispiel Londons und auf Grundlage von Henry Mayhews voluminöser Untersuchung London Labour and the London Poor 227.

London: The costermongers Henry Mayhews Sozialreportagen über das Leben der armen Bevölkerung Londons, mit denen er 1849 im „Morning Chronicle“ begann, sind Teil einer verstärkten öffentlichen Aufmerksamkeit für die ‚dunklen Ecken‘ der Stadt, die nicht von dem Boom in der Industrie- und Handelsmetropole an der Themse profitierten. Die Frage, w ­ elche Erkenntnisse sich aus dem Werk Mayhews über das Leben der urban poor Londons gewinnen lassen, ist hierbei zum Gegenstand einer intensiven Forschungsdiskussion geworden. Zuletzt hat Ole Münch aus einer praxeologischen Perspektive gezeigt, dass die Berichte Mayhews Gegenstand eines „cultural exchange“ waren: Seine Darstellungen der Straßenhändler und weiterer Gruppen wurden von diesen rezipiert und zum Teil scharf kritisiert, da sich die von Mayhew befragten Menschen in dessen Beschreibungen nicht richtig dargestellt fühlten. Diese Diskrepanz löste wiederum Prozesse über das ‚wahre‘ eigene Selbst innerhalb dieser Gruppen aus.228 Für den hier ­interessierenden Kontext 227 Mayhew, Henry, London Labour and the London Poor. A cyclopaedia of the conditions and earnings of those that will work, those that cannot work, and those that will not work, by Henry Mayhew. 4 Volumes, London 1861/62. Digital Edition, Permanent URL: http://hdl.handle.net/10427/14951; http://hdl.handle.net/10427/15186; http://hdl.handle. net/10427/15071. Digital Collections and Archives, Tufts University, Medford, MA. 228 Münch, Ole: Henry Mayhew and the Street Traders of Victorian London. A Cultural Exchange with Material Consequences, in: The London Journal, DOI : http://www. tandfonline.com/doi/full/10.1080/030580 34. 2017.1333761 [letzter Aufruf am 19. 11. 2018]. Vgl. zur Frage des Umgangs mit den Reprotagen Mayhews zudem u. a. Himmelfarb, ­Gertrude, „The Culture of Poverty“, in: Dyos, Harold James/ Wolff, Michael (Hg.), The Victorian City. Images and Realities. 2 Volumes, London 1973, hier Vol. 2, S. 707 – 736; S­ eltzer, Mark, Henry James and the Art of Power, Ithaca 1984; Lindner, Rolf, Henry ­Mayhew, Stadtethnograph, in: Rolf Lindner (Hg.), Die Zivilisierung der urbanen Nomaden. Henry

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besteht der Quellenwert der Reportagen Mayhews dennoch darin, dass sie zu gewichtigen Teilen aus Interviews bestehen, die ­Mayhew und seine Mitarbeiter geführt haben. Die hieraus resultierenden Selbstbeschreibungen der armen Stadtbewohner sind im Sinne ihrer Wahrnehmung als handelnde Individuen ein kaum zu überschätzender Fundus, der die vier Bände Mayhews von anderen zeitgenössischen Untersuchungen, wie etwa jenen von Charles Booth,229 abhebt. Mayhew hat nicht nur über ‚die‘ Armen geschrieben und versucht, sie zu objektivieren und zu kategorisieren, sondern er hat sie als Subjekte ernst genommen und zu Sprechern ihrer selbst gemacht.230 In Henry Mayhews Beschreibung der London poor kommt der Straße als öffentlichem Ort eine grundlegende Bedeutung zu. Zum einen stellt sie den roten Faden dar, der seine ganze Sammlung zusammenhält: Er befasst sich mit dem „London Street Folk“ und fasst hierunter alle diejenigen, „who obtain their living in the streets of the metropolis.“ 231 Seiner Definition von ‚Armut‘ ist somit eine räumliche Dimension inhärent, sie ist an die Straße als Lebensraum gebunden.232 Zum anderen spielen Straßen und Märkte in den Aussagen der Interviewten selbst eine prominente Rolle, als Orte, mit denen man sich verbunden fühlte. Als Beispiel sei dies für die costermongers demonstriert, denen Mayhew rund 50 Seiten seiner Untersuchung widmet. Die costermongers, also alle diejenigen, die vom Verkauf von Gemüse, Obst und Fisch in den Straßen Londons lebten, stellten mit rund 25.000 – 30.000 Personen die mit Abstand größte Gruppe des von Mayhew untersuchten „street folk“ dar. Seine Schilderung ihrer Lebensbedingungen geht hierbei weit über die rein

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Mayhew, die Armen von London und die Modernisierung der Lebensformen, Münster 2005, S. 8 – 25. Booth, Charles, Life and Labour of the People in London. 17 Volumes, London 1902/03. Vgl. zur Gegenüberstellung von Booth und Mayhew auch Yeo, Eileen, Mayhew as Social Investigator, in: Thompson, Edward/Yeo, Eileen (Hg.), The Unknown Mayhew, New York 1973, S. 51 – 95, hier S. 88 – 95; Humphery, Anne, Travels into Poor Man’s Country. The Work of Henry Mayhew, Georgia 1977, S. 198 – 201; Lindner, Walks on the Wild Side, S. 90 – 95. Mayhew, London Labour and the London Poor, Vol. I, S. 3. Mayhew erfasste mit ­diesem Zugang rund 40.000 – 45.000 Menschen, und somit einen Ausschnitt einer insgesamt deutlich größeren Zahl an Armen in London. Straßenhandel und freie Märkte waren auch bei den von Charles Booth entwickelten Kategorien von Armen ein wichtiges Kriterium, vor allem für die zweitärmste Gruppe, die Klasse B (Very poor, casual). Vgl. O’Day, Rosemary/Englander, David, Mr. Charles Booth Inquiry. Life and Labour of the People in London Reconsidered, London 1993.

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quantitativ-­ökonomische Analyse hinaus; was Mayhew leistet, ist, lange, bevor es den Begriff überhaupt gab, die Beschreibung einer Subkultur, die sich durch einen gemeinsamen Kleidungscode, einen bestimmten slang und andere Merkmale auszeichnet.233 Durch ­dieses Interesse für kulturelle Details widerlegte er das Bild der vermeintlich homogen grauen Armutsviertel, er „straft die Rede vom zerlumpten East Ender auf eine geradezu herausfordernde Art Lüge.“ 234 Neben dresscode und slang gehörten Orte zu den elementaren Bestandteilen des ‚Wir‘-Bewusstseins der costermongers. Sie legten Wert darauf, im Unterschied zum viktorianischen Bürgertum nicht als häuslich beschrieben zu werden, sondern ein „street-­life“ 235 zu führen. In Falle der costermongers bedeutete dies in erster Linie die Freiheit, ohne festen Standort ihre Waren in den Straßen und auf den Märkten Londons verkaufen zu können. Sie konzentrierten sich auf bestimmte, als ‚eigene‘ wahrgenommene Teile der Stadt, womit sie eine alternative Topographie Londons entwickelten: „They themselves designate the locality where, so to speak, a colony of their people has been established, a ‚coster district‘, and the entire metropolis is thus parceled out, almost as systematically as if for the purpose of registration.“ 236 Schwerpunkte der „coster districts“ waren die armen Stadtteile im Süden und im Osten der Stadt, darunter stadtbekannte Märkte wie The New Cut (Lambeth), Leather Lane (Holborn) und The Brill (Somers Town). Die costermongers ließen sich also gezielt in bestimmten Teilen Londons nieder, um diese zu ‚ihren‘ zu machen. Zugleich nahmen sie diese Bezirke anschließend als ‚eigene‘ wahr und erinnerten sich voller Stolz ihrer Tradition, wie die folgende Äußerung eines costermonger in einer von Mayhew einberufenen öffentlichen Versammlung Londoner Straßenhändler belegt: It was a positive fact, he said, notwithstanding their poverty, their hardships, and even their degradation in the eyes of some, that the first markets in London were mainly supported by costermongers. What would the Duke of Bedford’s market in Covent-­ garden be without them? This question elicited loud applause.237 233 Vgl. Bauer, Nora/Mißbach, Antje/Remmele, Claudia/Schlüter, Nele/Woitas, Kathi, Vom Charakter der Details. Henry Mayhews Costermonger als Proto-­Subkultur, in: Lindner, Die Zivilisierung, S. 63 – 82. 234 Lindner, Henry Mayhew, S. 21. 235 Mayhew, London Labour and the London Poor, Vol. I, S. 11. 236 Ebd., S. 47. 237 Eda., S. 104.

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Dieser Prozess von Aneignung und Erinnerung als ‚Eigenes‘ entspricht ­Martina Löws Konzept von Spacing und Syntheseleistung, weshalb die Straßen und Märkte Londons als soziale Räume der costermongers benannt werden können. Das „street-­life“ der costermongers passte nicht in eine Zeit, die nach ‚Zivilisierung‘, Ordnung und Verbürgerlichung strebte. Vor allem die Jahrzehnte z­ wischen 1830 und 1870 waren eine „Phase der räumlichen Neustrukturierung“ 238 der britischen Hauptstadt: die animal bloodsports wurden verboten, Volksfeste und Jahrmärkte eingeschränkt, und auch die costermongers blieben von ­diesem Bestreben nach Regulierung des öffentlichen Raums nicht verschont. Mit dem Metropolitan Police Act von 1829, der alle Kompetenzen, die bisher lokale Milizen, Nachtwächter oder die Armee innehatten, bei der Polizei konzentrierte, wurde ein Instrument geschaffen, um dem bereits seit 1817 gültigen Act for better paving, improving and regulating the streets of the Metropolis, and removing and preventing nuisances and obstructions therein Gültigkeit zu verschaffen. Dieser verbot das Feilbieten und Abstellen jeglicher Art von Waren sowie ihren Transport auf Karren oder Wagen und wurde nun sukzessive auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet.239 Für die costermongers bedeutete dies, dass sie mittels Vertreibungen durch die Polizei (das so genannte move-­on-­system) zunehmend aus dem öffentlichen Raum verdrängt wurden. Neben handfestem Widerstand gegen diese Maßnahmen reagierten sie hierauf mit einem Rückzug ins Verborgene und nach innen. Kneipen, Hinterhöfe und Music Halls gewannen an Bedeutung und ersetzten die Straße als sozialen Raum der Armen.240 Einer der populärsten Orte war The Vic (The Royal Victorian Theatre), eine alte Galerie in The New Cut (Lambeth). Es wurde zu einem „proletarian house“ 241, vor dem die costermongers Stunden vor Beginn der Vorstellungen in langen Schlangen anstanden. Drinnen herrschte größte Enge, und das Publikum tat seinen Ge- oder Missfallen während der Vorstellungen lautstark kund.242 Weitaus beliebter als die eigentlichen Aufführungen waren 238 Bosshard, Katrin/Götz, Thomas, Städtisches Vergnügen im Zeichen ­­ der Neuordnung. London und die Costermonger im Prozess des Übergangs 1830 – 1870, in: Lindner, Die Zivilisierung, S. 96 – 115, hier S. 101. 239 Vgl. Eichhorn, Peter, Neue Regeln – neue Rebellen. Die Londoner costermonger ­zwischen Polizeiordnung und Chartismus, in Lindner, Die Zivilisierung, S. 82 – 96. 240 Vgl. Bosshard/Götz‚ Städtisches Vergnügen, S. 103 ff. 241 White, London in the Nineteenth Century, S. 274. 242 Vgl. die Schilderung eines Abends in The Vic in Mayhew, London Labour and the London Poor, Vol. I, S. 18 – 20.

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jedoch die Musik­stücke in den Pausen, und dies vor allem dann, wenn man das Stück kannte und die gesamte Galerie lauthals mitsingen konnte. Hierbei feierte man nicht zuletzt sich selbst, was sich unter anderem darin ausdrückte, dass, wie Mayhew berichtet, an dem Abend, als er The Vic besuchte, auf einem Plakat unter der Überschrift „There’s a good time coming, boys“ gedruckt stand: „assisted by the most numerous and effective chorus in the metropolis.“ 243 Die costermongers hatten sich auch diesen, ursprünglich für eine ‚höhere‘ Kultur geschaffenen, Ort angeeignet und betrachteten ihn nun als ‚ihren‘. Die Beschreibung einer Straßenhändlerin verdeutlic dies: „I has very few amusements. I goes once or twice a month, or so, to the gallery at the Wick (Victoria Th ­ eater), or I live near. It’s beautiful there. O, it’s really grand. I don’t know what they call what’s played, because I can’t read the bills. I hear what they’re called, but I forgets. I knows Miss Vincent an John Herbert when they come on. I likes them the best.“ 244

Das Beispiel der costermongers macht zweierlei deutlich: Zum einen, wie die urban poor sich trotz ihrer sozialen Marginalisierung durch ihre alltägliche Praxis den städtischen Raum aneigneten und ihn zu einem für sie zentralen sozialen Raum umcodierten. Die hierbei entstehende alternative Topographie der Stadt ließe sich auch für andere von Mayhew beschriebene Gruppen aufzeigen, etwa für die Straßenreiniger, die ebenfalls die Straßen und Kreuzungen der Stadt unter sich ‚aufteilten‘ und bestimmte interne Hierarchien und Zugehörigkeiten entwickelten.245 Zum anderen zeigt die sukzessive Verdrängung der costermongers von außen nach innen, dass der öffentliche Raum immer auch ein umkämpftes Gebiet war, das von verschiedenen Machtstrukturen durchzogen wurde. Dies galt für London ebenso wie für St. Petersburg, weshalb der Blick im Folgenden noch einmal auf den Heumarkt gerichtet werden soll.

243 Ebd., S. 19. 244 Ebd., S. 463. 245 Vgl. ebd., S. 465 – 507.

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„… für die Armen bestimmt“: Der Heumarkt aus der Sicht der ‚fliegenden‘ Händler Während der Umbau des Apraksin dvor als Reaktion auf den verheerenden Brand bereits in den 1860er Jahren begann, erstreckte sich, wie gezeigt, die Debatte über die Umgestaltung des Heumarkts über gut zwanzig Jahre, ehe sie in den Bau vier großer, metallener Pavillons mündete, die 1886 eröffnet wurden. Bis heute wissen wir jedoch nichts über die Reaktionen der Betroffenen auf die Veränderungen ihrer Umwelt. Im Folgenden sollen drei Petitionen in den Blick genommen werden, die Mitte der 1860er Jahre an den Innenminister sowie an den Zaren persönlich gerichtet wurden. Sie stammen von Händlern, die auf dem Heumarkt ihre Waren anboten und mit den städtischen Verordnungen in Konflikt gerieten. Sie gehören damit zu den ganz wenigen Äußerungen, die wir von den Bewohnern und Händlern des Sennaja überhaupt haben. Fragt man zunächst nach dem Erkenntniswert dieser Quellen, so wird man ihnen auf den ersten Blick hohes Maß an ‚Authentizität‘ zusprechen. Haben wir es doch, so zumindest die naheliegende Annahme, mit den Stimmen der ‚kleinen Leute‘ selbst zu tun und nicht mit einer Wiedergabe durch eine dritte Person, die wie im Falle der Berichte der Petersburger Boulevardpresse über die städtischen Slums eine ‚Story‘ verkaufen wollte. Keith Snell, Autor grundlegender Studien über das Selbstverständnis der Armen in der englischen Gesellschaft, spricht angesichts dessen von Briefen und Petitionen als „alongside oral history […] the most authentic sources for ‚history from below‘ and historical questions of identity among the poor“ 246, die wir haben. Auf der anderen Seite stehen jedoch die narrativen Konventionen, innerhalb derer sich s­ olche Quellen bewegen. Petitionen kennt die russische Geschichte seit dem Mittelalter, was bedeutet, dass sie in einer bestimmten inhaltlichen wie formalen Tradition stehen.247 Hieraus ergeben sich Schlussfolgerungen, die eine 246 Snell D., Keith, Belonging and Community. Understandings of ‚Home‘ and ‚Friends‘ among the English Poor, 1750 – 1850, in: The Economic Historical Review 65 (2012), Nr. 1, S. 1 – 25, hier S. 2. 247 Erwähnt sei diesbezüglich das paper von Hubertus Jahn zur Konferenz „Poverty in Modern Europe. Micro-­perspectives on the Formation of the Welfare State in the 19th and 20th Centuries“ am German Historical Institute in London im Mai 2012: Voices from the Lower Depths. Russian Poor in Their Own Words. Jahn analysiert Petitionen über einen Zeitraum vom 17. bis zum 20. Jahrhundert.

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allzu enthusiastische Einordnung dieser Quellen als ‚authentisch‘ als fraglich erscheinen lassen.248 Dies beginnt mit dem Punkt, wer die Petitionen geschrieben hat: der oder die Unterzeichner selbst oder doch eher ein Schreiber? Letzteres war angesichts des verbreiteten Analphabetismus städtischen Unterschichten nicht unüblich. Hiermit verbunden ist die Frage, wie der letztendlich zu Papier gebrachte Inhalt der Petitionen zustande gekommen ist: Wer hat daran mitgewirkt, und wie groß ist der Anteil eines eventuellen Schreibers am Ergebnis? Und es ist zu bedenken, dass Petitionen ein performativer Akt waren, bei dem man sich und sein Anliegen in einem möglichst günstigen Licht präsentierte, um den, in aller Regel ungleich höher gestellten, Adressaten zu überzeugen. Haben wir es also tatsächlich mit den Stimmen der Armen ‚selbst‘ zu tun? Blicken wir zur Beantwortung dieser Frage auf die Petitionen der Händler und darauf, ob sie uns etwas über den Heumarkt als ‚ihren‘ Ort sagen. Zu den äußeren Merkmalen der Petitionen lässt sich konstatieren, dass alle drei in einem Zeitraum ­zwischen Februar 1865 und Juni 1866 verfasst wurden. Gerichtet waren sie im Februar 1865 sowie im Mai 1866 an das Innenministerium sowie am 6. Juni 1866 an den Zaren. Die jeweils unterschiedlichen Handschriften decken sich nicht mit denen der Unterzeichner, weshalb anzunehmen ist, dass die Petitionen von Schreibern zu Papier gebracht wurden. Wie genau hierbei die letztendlichen Formulierungen zustande kamen, ist angesichts fehlender weiterer Quellen zu den Petitionen nicht mehr zu klären. Denkbar wäre etwa, dass die Anliegen dem jeweiligen Schreiber mündlich vorgetragen wurden. In allen drei Fällen stammen die Unterschriften zu rund 90 % von Bauern sowie vereinzelt von meščane. Während sich unter den Petitionen vom Februar 1865 sowie vom Juni 1866 jeweils rund 100 Namen finden, sind es bei der vom Mai 1866 nur 15. Offensichtlich wurden für die letzte Petition, die als einzige direkt an den Zaren adressiert war, noch einmal möglichst viele Unterschriften gesammelt. Hierbei fällt auf, dass einige Personen erneut unterschrieben haben, deren Name sich bereits unter der ersten Petition vom Februar 1865 findet. Dies lässt darauf schließen, dass man sich kannte oder zumindest Kontakte existierten, die rasch aktiviert werden konnten. Zudem müssen ähnliche Interessen bestanden haben, was zur Frage nach dem Inhalt der Petitionen führt. 248 Vgl. zum folgenden auch King, Steven, Friendship, Kinship and Belonging in the Letters of Urban Paupers 1800 – 1840, in: Historical Social Research 33 (2008), Nr. 3, 249 – 277, hier S. 252 f.

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Zentrales Anliegen der Petition vom Februar 1865 war das aus Sicht der Unterzeichner bedrohte Recht, auch im Sommer Fleisch auf dem Heumarkt verkaufen zu dürfen. In den beiden Petitionen aus dem folgenden Jahr ging es darum, auch weiterhin am Rande des Heumarkts, in der Nähe öffentlicher und privater Gebäude, Waren anbieten zu können. Im Kern waren beide Anliegen eng miteinander verknüpft, womit sich auch die Überschneidungen bei den Unterschriften erklären: Es waren ‚fliegende‘ Händler ohne festen Standort, die sich zu Wort meldeten und gegen die von ihnen als ungerecht wahrgenommene Behandlung zur Wehr setzten. Wie die Zusammensetzung der Unterzeichner der Petitionen zeigt, waren dies in aller Regel Bauern, die ihre Waren direkt von ihren Fuhren verkauften, im Gegensatz zu jenen stationären Händlern, die über einen festen Verkaufsstand auf dem Sennaja verfügten. Entsprechend ähneln sich die Petitionen in Aufbau und Argumentation.249 Den konkreten Anlass bildete jeweils das Vorgehen der Handelspolizei, die Beschlüsse der städtischen Duma umsetzte: Zum einen das Verbot des Fleischverkaufs auf dem Heumarkt durch ‚fliegende‘ Händler z­ wischen April und November, und zum anderen eine Verordnung, die den Verkauf durch ‚fliegende‘ Händler in der Nähe öffentlicher und privater Gebäude untersagte. Diesen Beschlüssen der Duma war im Falle des Fleischverkaufs ein Gesuch der stationären Händler vorausgegangen, in dem diese die Handelspolizei zu Maßnahmen gegen die Konkurrenz der ‚fliegenden Händler‘ aufgefordert hatten.250 Dem wurde in den Petitionen eine Argumentation entgegengesetzt, bei der sich zwei Stränge ausmachen lassen: ein juristischer und ein Argumentationsgang, der auf den Heumarkt als den traditionellen Ort der ‚kleinen Leute‘ abhob. Zur juristischen Seite des Streits lässt sich sagen, dass die Duma grundsätzlich berechtigt war, die Regeln des Handels auf dem Heumarkt zu bestimmen, gehörte der Ort doch zum städtischen Besitz. Allerdings konnten ihre Beschlüsse vom Innenministerium wieder aufgehoben werden. Im Falle des Fleischverkaufs durch 249 Die beiden Petitionen vom Mai und Juni 1866 enthalten zudem teilweise identische Passagen. Dies ist aber auch nicht verwunderlich, betrafen sie doch das ­gleiche Anliegen und wurden in nur geringem zeitlichem Abstand voneinander verfasst. 250 Vgl. Prošenie krest’jan, torgujuvščich mjasom na Sennoj ploščadi, 09. 02. 1865, RGIA , f. 1287, op. 29, del. 1600, ll. 21 – 26, hier l. 21. Die Beschwerde ist ebenfalls erwähnt in: O vosproščenii torgovlja mjasom na Sennoj ploščadi, a takže meločnago torga s ­postojannych mest okolo častnych i kazennych zdanii, in: ISPGOD , 1867, Nr. 7, S. 372 – 377, hier S. 373.

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die ‚fliegenden‘ Händler in den Sommermonaten war die Rechtslage eindeutig: Der Handel mit frischen Fleisch war auf dem Heumarkt im Sommer seit 1842 nur aus festen Verkaufsständen erlaubt, bei denen es die Möglichkeit gab, die Ware zu kühlen.251 Nicht ganz so unstrittig verhielt es sich mit dem generellen Handelsverbot in der Nähe öffentlicher und privater Gebäude. Hier argumentierten die Unterzeichner der Petition nicht ganz grundlos, dass sich die Verfügung der Duma in erster Linie gegen den Handel richte, der vor den an den Heumarkt angrenzenden Häusern sowie in deren Innenhöfen stattfand. Diese Häuser gehörten jedoch nicht mehr zum Grund und Boden der Duma, sondern waren Eigentum der jeweiligen privaten Besitzer. Dementsprechend unterstrichen die Unterzeichner, dass ein solches Verbot eine Verletzung des „Rechts auf Privatbesitz“ 252 (Prava častnoj sobstvennosti) darstelle. Allerdings war dieser Punkt nicht unumstritten und letztendlich abhängig von der jeweiligen politischen Beschlusslage: Die Duma hatte bereits zuvor mehrmals Verordnungen erlassen, die ihr für das gesamte Stadtgebiet das Recht zusprachen, die Handelsplätze zu vergeben. Diese Beschlüsse waren jedoch sowohl auf den Widerspruch der privaten Hausbesitzer als auch des Innenministeriums gestoßen. Letzteres hatte 1842 in einer Verordnung den aus der Umgebung kommenden Bauern das grundsätzliche Recht zugestanden, auf den Handelsplätzen der Stadt ihre Produkte zu verkaufen.253 1854 stellte das Ministerium dann jedoch in einem Erlass klar, dass private Personen nicht berechtigt waren, Handelsplätze zu vergeben und damit die städtischen Kassen zu schädigen.254 Infolge dieser nicht ganz eindeutigen Sachlage wurde der Verkauf durch nicht stationäre Händler im Umfeld öffentlicher und privater Häuser letztendlich geduldet, bis die Handelspolizei 1864 versuchte, ihn zu unterbinden. Nicht zuletzt die Verordnung aus dem Jahr 1842 war es denn auch, auf w ­ elche die Unterzeichner Bezug nahmen, als sie sich nun direkt an das Innenministerium wandten. 251 Vgl. O vosproščenii torgovlja mjasom na Sennoj ploščadi. 252 Prošenie s Peterburgskich torgovcev v raznos, 21. 05. 1866, RGIA, f. 1287, op. 29, del. 1600, ll. 27 – 28ob., hier l. 28. 253 Der entsprechende Erlass des Innenministeriums vom 29. 11. 1842 ist abgedruckt in: Ob otvode mesta dlja bazarnoj vozovoj torgovli i ob izdanii objazatel’nago postanovlenija o porjadke torgovli z vozov v S.-Peterburge, in: ISPGOD, 1885, Nr. 35, S. 313 – 318, hier S. 315. Darunter fielen auch Fisch und Fleisch, allerdings nur im gefrorenen Zustand. 254 Vgl. O vosproščenii torgovlja mjasom na Sennoj ploščadi. Der mögliche wirtschaftliche Schaden bezieht sich darauf, dass die nicht festen Händler für 2 Rubel und 86 Kopeken eine Blechmarke von der Stadt erwerben mussten.

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Wichtiger als diese juristische Ebene der Auseinandersetzung sind für den Kontext dieser Arbeit jedoch die Passagen der Petitionen, in denen auf die Eigenschaft des Heumarkts als Ort der ‚kleinen Leute‘ Bezug genommen wird. Die Unterzeichner verwiesen zum einen darauf, dass bei so weitgehenden Einschränkungen des ‚fliegenden Handels‘ das „Wohlergehen des Volkes“ 255 (narodnoe ­blagosostojanie) gefährdet sei: Bisher habe „ein großer Teil der armen Bevölkerung der Hauptstadt, der zum Einkaufen auf den Heumarkt kommt“, bei ihnen frisches Fleisch von gleicher Qualität wie an den Ständen, aber zu deutlich nie­ drigeren Preisen bekommen. Würde dies nun wegfallen, so könnten die festen Händler die Fleischpreise „eigenmächtig“ 256 festlegen. Dies würde zu einem „Monopol“ 257 führen, unter dem in erster Linie die arme Bevölkerung Petersburgs zu leiden haben werde. Zugleich argumentierten die Unterzeichner mit einer Art Gewohnheitsrecht. Sie verwiesen darauf, dass sie den Handel so ausüben würden, wie sie es „seit langer Zeit“ 258 (s davnago vremeni) stets getan hätten. Sie würden nicht mehr verlangen als das Recht, an ihre angestammten Plätze, an denen sie „bis heute“ 259 (ponyne) gehandelt hätten, zurückzukehren. Dementsprechend wiesen sie auch den Vorwurf der Duma, sie hätten sich diese Plätze „eigenmächtig“ 260 (samovol’no) angeeignet, zurück: „Wir können die Wegnahme unserer Plätze durch die Duma nicht akzeptieren, da sie ihr nicht gehören und sie somit kein Recht hat, sie zu vergeben.“ 261 Vielmehr habe man die Plätze „im Einverständnis mit den Hausbesitzern“ bekommen, „ebenso wie die Duma ihre Plätze vergibt.“ Falls es aber so sei, dass die Hausbesitzer hierzu kein Recht gehabt hätten, dann „nehmen wir die Plätze zum Handeln auch von der Duma und […] zahlen hierfür die bekannte Abgabe.“ In jedem Fall möge aber die „grundlose Verfolgung“ durch die Polizei aufhören, die „viele von uns in die Armut getrieben hat.“ 255 Dieses und das folgende Zitat Prošenie krest’jan, torgujuvščich mjasom na Sennoj ploščadi, l. 22. 256 Ebd., l. 21ob. 257 Ebd., l. 22. 258 Prošenie s Peterburgskich torgovcev v raznos, l. 27 259 Prošenie vom 06. 06. 1866, RGIA, f. 1287, op. 29, del. 1600, ll. 31 – 34ob., hier l. 32. 260 O vosproščenii torgovlja mjasom na Sennoy ploščadi, S. 374. 261 Dieses und die folgenden Zitate bis zum Ende des Absatzes Prošenie vom 06. 06. 1866, ll. 31ob–32ob.

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Den Hintergrund für diese Argumentation stellte der traditionelle Verkauf der Waren durch in die Stadt kommende Bauern dar.262 Auf dem Heumarkt bildete sich dies auch zum Zeitpunkt der Abfassung der Petitionen insofern noch ab, als der Platz seit Beginn des 19. Jahrhunderts wie gezeigt in zwei Hälften geteilt war: eine offene, „grüne“ einerseits, wo die Erzeugnisse direkt von den Fuhren der ankommenden Händler verkauft wurden (im Winter Holz und Heu, im Sommer landwirtschaftliche Produkte wie Gemüse, Kohl und Milch, aber auch Pflanzen und Bäume)263, sowie eine zweite Hälfte, auf der vor allem Fleisch, Fisch, Obst und Gemüse an festen Verkaufsständen angeboten wurden. Die Unterzeichner der Petitionen beriefen sich nun darauf, dass sie bis zum Einschreiten der Handelspolizei in dem „grünen Abschnitt“ auch ­Fleischwaren direkt verkauft hatten, ohne dass die dortigen stationären Händler daran Anstoß genommen hätten. Ob diese Argumentation stichhaltig war, war in der Duma, wie skizziert, umstritten. Verfechter einer generellen ‚Säuberung‘ des gesamten Heumarkts wie der erwähnte Petr Žukovskij oder der Abgeordnete Ivan Glazunov stritten die Existenz eines solchen Gewohnheitsrechts ab. Sie verwiesen darauf, dass die Mehrzahl der Händler schon lange keine Bauern mehr s­ eien, sondern Zwischenhändler. Damit habe der Markt seinen Charakter grundlegend geändert und stehe nicht mehr in der Tradition des früheren Handelsorts am Rande der Stadt.264 In ihren Augen stellte der offene Verkauf ebenso wie die angrenzende ‚Fressmeile‘ eine „Hässlichkeit“ 265 (Bezobrazie) dar, die es zu beseitigen galt. Andere Abgeordnete wie der erwähnte Aleksandr Jakovlev unterstrichen demgegenüber den Charakter des Heumarkts als einzigem „Volksmarkt“ 266 (narodnyj rynok) in St. Petersburg.

262 Vgl. hierzu eingehend Bauer, Platz – Herrschaft – Kaufleute. Im Winter erfolgte der Verkauf von Schlitten. Vgl. Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen, Bd. 1, S. 198. 263 Vgl. zur Palette der angebotenen Produkte den Bericht der Kommission für öffentliche Interessen und Notwendigkeiten vom 28. 01. 1868, in: ISPGOD, 1868, Nr. 2, S. 72 – 77, hier S. 75; Kohl, Petersburg in Bildern und Skizzen, Bd. 1, S. 196 f. 264 Diese Argumentation findet sich exemplarisch in den Äußerungen Glazunovs in der Dumadebatte vom 15. 02. 1868: ISPGOD, 1868, Nr. 5, S. 226 – 243. 265 So u. a. die Formulierung des Generalgouverneurs in einem Schreiben an die Hauptverwaltung für Verkehrswege und öffentliche Gebäude vom 16. 08. 1855: RGIA, f. 218, op. 3, del. 1288, ll. 2 – 3ob, hier l. 3. 266 Ebd. S. 235.

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Die Mehrheit der Dumaabgeordneten schloss sich letztendlich der Position Jakovlevs an. Man beschloss, den Verkauf von Fleisch in Zelten probeweise für ein Jahr zuzulassen, mit den gleichen sanitären Auflagen, wie sie auch für Verkaufsstände galten.267 Mit Blick auf den Handel vor privaten und öffentlichen Gebäuden stellte die Duma hingegen klar, dass das Recht der Hausbesitzer an der Hausfassade ende und dass somit jeder, der Waren anbieten wolle, dies nur mit Zustimmung der Duma sowie bei Entrichtung der entsprechenden Gebühr tun durfte. Grundsätzlich gelte es, den Handel auf die Orte der Stadt zu begrenzen, die dafür vorgesehen ­seien 268 Für den Heumarkt war damit eine vorläufige Regelung gefunden, ehe die Eröffnung der vier Markthallen 1886 jeglichen offenen Handel auf dem Markt zumindest offiziell beendete. Das Thema der ‚fliegenden‘ Händler blieb jedoch, wie geschildert, unverändert aktuell. Dies zeigt, dass die hier diskutierten Petitionen keine Einzelfälle repräsentieren. Das Thema betraf den gesamten Stadtraum, und was hierbei im Kern aufgeworfen wurde, war die Frage, wem das Recht zustand, das alltägliche Geschehen an Orten wie dem Heumarkt zu regeln. Oder, um es prägnanter zu formulieren: Wem gehörten die Märkte der Stadt? Unabhängig davon, wie man diese Frage letztendlich beantworten mag, machen die oben zitierten Passagen deutlich, dass die ‚kleinen Leute‘ Orte wie den Heumarkt als ihre Orte betrachteten, an denen sie seit langer Zeit Handel trieben. Selbstverständlich war die Berufung auf das „Wohlergehen des Volkes“ hierbei auch eine diskursive Strategie, mit der sie versuchten, ihr Anliegen als im allgemeinen Interesse liegend zu präsentieren. Petitionen waren eben, wie Steven King es formuliert hat, „multi-­functional documents, combining reportage, fact, posturing, rhetoric and circumstance.“ 269 Aber, so King weiter, diese narrative und strategische Formung solcher Quellen bedeutet nicht, dass wir sie nicht zugleich als Teil einer agency begreifen können, mit der man auf real vorhandene Prozesse Einfluss zu nehmen versucht.270 Dies gilt auch für die hier analysierten Beispiele. Durch das Verfassen einer Petition artikulierten die Unterzeichner ihren Anspruch auf den Heumarkt und versuchten, ihre Position zu Gehör zu bringen. Der Umstand, 267 Vgl. das Protokoll der Dumasitzung vom 07. 09. 1867, in: ISPGOD 1867, Nr. 16, S. 854 – 857, hier S. 856. 268 Ebd. 269 King, Friendship, Kinship and Belonging, S. 253. 270 Ebd., S. 271. Zur gleichen Einschätzung gelangt, mit Blick auf Petitionen, auch Jahn, ­Voices from the Lower Depths.

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dass sie sie nicht eigenhändig zu Papier gebracht hatten, bedeutet nicht, dass sich nicht trotzdem die Interessen der Betroffenen in ihnen wiederspiegeln. Und die Berufung auf den Heumarkt als Ort der Armen war neben ihrer rhetorischen Funktion auch Teil der Abgrenzung zu den Orten der Reichen. So heißt es denn auch in einer weiteren Petition, die ebenfalls von Händlern des Sennaja stammte und gleichfalls die Frage des Kleinhandels aufgriff: „Es ist bekannt […], dass die Duma das arme Volk [bednyj narod] drangsaliert und die Reichen noch weiter fördert, aber der Heumarkt ist nicht für die Reichen bestimmt worden, sondern für das ländliche, das arme Volk, und d ­ iesem wird heute noch nicht einmal mehr eine Scheibe Brot gewährt.“ 271 Die Selbstverortung als Teil des „armen Volkes“ war, in St. Petersburg ebenso wie in London, mit bestimmten Orten in der Stadt verbunden – in ­diesem Fall mit dem Petersburger Heumarkt.

271 Petition von Soldaten und Witwen an den Innenminister, hier zitiert nach Jurkova, ­Sennaja ploščad‘, S. 89.

Farbtafel 1: Sterblichkeit in den verschiedenen Stadtteilen St. Petersburgs, 1886 – 1895 1

Die Karte zeigt die Zahl der Todesfälle innerhalb eines Jahrzehnts (1886-1895) in den verschiedenen Stadtteilen. Je dunkler die Färbung, desto höher die Zahl der Todesfälle (von unter 15 bis zu über 30 Opfern/1.000 Einwohner).

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Farbtafel 2: Sterblichkeit in den verschiedenen Stadtteilen St. Petersburgs, 1870 2

Die Karte zeigt die Opfer der Cholera-Epidemie des Jahres 1870 in den verschiedenen Stadtteilen. Je dunkler die Färbung, desto höher die Zahl der Todesfälle (von unter 20 bis zu über 45 Opfern/ 1.000 Einwohner).

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Farbtafel 3: Existierende und geplante Straßenbahnlinien in St. Petersburg, 1912 3

Die blauen Linien markieren die bereits realisierten Straßenbahnlinien, während die roten die noch in Planung befindlichen anzeigen.

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Farbtafel 4: Plan zum Umbau des nördlichen Teils der Vyborger Seite, 1912 4

Enakiev schlug einen umfangreichen Ausbau des nordwestlichen Teils der Vyborger Seite vor. Unter anderem skizzierte er den Bau eines Stadions, neuer Alleen sowie die Anlage mehrerer großer Grünflächen.

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Farbtafel 5: Durchschnittliche Mietpreise/Person in den verschiedenen Stadtteilen St. Petersburgs, 1890 5

Die Karte zeigt die durchschnittlichen jährlichen Mietpreise/Person im Jahr 1890. Je dunkler die Färbung, desto höher die Miete (von unter 30 Rubel bis zu über 100 Rubel).

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Farbtafel 6: Besitzverhältnisse an den Gebäuden St. Petersburgs, 1880 6

Die rosafarbigen Flächen stehen für Gebäude in Privatbesitz, die lila gefärbten markieren staatliche und gesell­ schaftliche Gebäude und Paläste.

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Anmerkungen 1 Gjubner, Statističeskija issledovanija sanitarnogo sostojanija Peterburg, ­Sankt-Peterburg 1872, Anhang. (= Karte 4 im Textteil) 2 Ėnciklopedičeskij slovar’ Brokgauza i Ėfrona, Bd. 28a, Sankt-Peterburg 1900, S. 308. Hier zitiert nach: Historic Cities. St. Peterburg. URL : http://historic-cities.huji.ac.il/russia/ peterburg/maps/brockhaus_efron_56_spb_mortality.html (letzter Aufruf am 28. 10. 2018). (= Karte 5 im Textteil) 3 Enakiev, Zadači preobrazovanija S.-Peterburga, o. S. Die Pläne für den Bau einer Metro in St. Petersburg wurden bis zum Zusammenbruch des Zarenreichs nicht mehr realisiert. Vgl. hierzu die Karte mit der beabsichtigten Linienführung in ebd., o. S. Ab 1906 verkehrten die ersten benzinbetriebenen Omnibusse in der Stadt, allerdings zunächst nur zwischen den Bahnhöfen, und damit nicht auf der Vasilij-Insel. Vgl. hierzu Lenkin, A., Avtobusy Peterburga, in: Istorija Peterburga 7 (2007), No. 2, S. 15 – 18. (= Karte 7 im Textteil) 4 Enakiev, Zadači preobrazovanija S.-Peterburga, o. S. (= Karte 11 im Textteil) 5 Ėnciklopedičeskij slovar’ Brokgauza i Ėfrona, Bd. 28a, Sankt-Peterburg 1900, S. 308. Hier zitiert nach: Historic Cities. St. Peterburg. URL : http://historic-cities.huji.ac.il/russia/ peterburg/maps/brockhaus_efron_56_spb_mortality.html (letzter Aufruf am 28.10.2018). (= Karte 14 im Textteil) 6 Plan S.-Peterburga, razdelennyj na časti Policejskogo upravlenija i priložen. podrobnyj ukazatel’. Sostavlen. i izdan. I. O. Ivanovym na 1880 god, Sankt-Peterburg 1880. (= Karte 15 im Textteil)

5. Soziale Räume der Armen: Resümee und Ausblick Kehrt man noch einmal zu Jürgen Osterhammels Definition städtischer Modernität aus einer globalgeschichtlichen Sicht zurück, so erfüllte die russische Hauptstadt St. Petersburg am Ende ihrer Entwicklung von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Jahr 1914 alle Kriterien einer modernen Metropole. Der von Osterhammel als Charakteristikum benannte umfangreiche Infrastrukturausbau fand zweifellos statt – allerdings mit großen Ungleichheiten z­ wischen Zentrum und Peripherie. St. Petersburg wurde in seinen ‚besseren‘ Gegenden „sauberer und heller“, während andere Stadtteile nur sehr begrenzt von den strukturellen Veränderungen profitierten. Die Ränder der Stadt waren „kein Gegenstand der Fürsorge der städtischen Selbstverwaltung“ 1, wie Grincevič zutreffend festgestellt hat. Zugleich ist jedoch deutlich geworden, dass es ‚die‘ Peripherien nicht gab. Die Verortung der „Peripherie“ im Stadtraum St. Petersburgs war Gegenstand beständiger Aushandlungsprozesse und unterlag fortlaufender Veränderung. Sie stand in einem engen Zusammenhang mit dem Stadtzentrum und wurde maßgeblich davon beeinflusst, was man von dort aus als ‚zentral‘ und was als ‚randständig‘ betrachtete. Dies führte zu erheblichen inneren ­Differenzierungen in den Vierteln ‚jenseits des Flusses‘, die sich im Zuge des infrastrukturellen Ausbaus nicht verringerten, sondern weiter zunahmen – die Diskrepanzen ­zwischen den beleuchteten Prospekten der Vasilij-­Insel und der Petersburger Seite und ihrem ‚Hinterland‘ waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts im wahrsten Sinne des Wortes offensichtlich. Es ist mithin bereits auf einer strukturellen Ebene unzureichend, Urteile über ‚die‘ Ränder der Stadt zu fällen, wie es in der Historiographie häufig geschehen ist. Für die Räume der städtischen Unterschichten folgt hieraus, dass sie nicht nur vernachlässigte Räume waren, sondern ebenso wie die ‚besseren‘ Viertel der Stadt zum Gegenstand von Regulierungsbestrebungen und ökonomischen Interessen wurden. Ein Beispiel hierfür stellt die in Petersburg allgegenwärtige Wohnungskrise dar. Die Entwicklung des städtischen Grunds und Bodens zur „Vermögensanlage“ und zum „Spekulationsobjekt“, um noch einmal die Definition Osterhammels aufzugreifen, beeinflusste auch in der russischen Hauptstadt 1 Grincevič, Proekty planirovki Peterburga, S. 58.

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das Leben immer größerer Teile der Bevölkerung. Die Spirale aus Verteuerung und Verdrängung traf all diejenigen, die dem steigenden Preisdruck nicht mehr standhalten konnten, und machte auch vor den Kellern, Ecken und Dachböden der städtischen Unterschichten nicht halt. Je größer die Wohnungsknappheit, desto größer das Kapital, das die Immobilienbesitzer aus ihr schlugen, und umso prekärer die Lebensbedingungen derjenigen, die aus ökonomischen Gründen eine bestimmte Gegend der Stadt nicht verlassen konnten. Sie waren in der schwächsten Position, das Problem selbst beeinflussen zu können – die Rahmenbedingungen gestalteten andere. Ein weiterer ‚typischer‘ Ort im Leben der städtischen Unterschichten waren die Märkte – und auch ihre Struktur blieb im Betrachtungszeitraum nicht statisch. Die drei Begriffe Versorgung, Ertrag und Regulierung markieren die Leitlinien, nach denen die Märkte St. Petersburgs bis 1914 umgestaltet wurden, wobei sich die letzteren beiden im Laufe der Zeit als die entscheidenden herauskristallisierten, während die an sich grundlegende Funktion eines Markts, die Versorgung der Einwohner, als nachrangig betrachtet wurde. Nur so lässt es sich erklären, dass die rasch wachsende Bevölkerung der Vyborger Seite bis zum Beginn des ­Ersten Weltkriegs ohne einen zentralen Markt auskommen musste und dass auf der Petersburger Seite mit dem Zentralmarkt ein Handelsort entstand, der gar nicht dafür konzipiert war, den Bedürfnissen der Mehrheit der Bewohner zu entsprechen. Zugleich verstärkte sich bis zum ­Ersten Weltkrieg in der Topographie der Märkte St. Petersburgs ein sozialräumliches Muster, das bereits bei der Entwicklung der Stadtteile ‚jenseits des Flusses‘ deutlich geworden war: Die Verteilung von Armut und Reichtum hing maßgeblich davon ab, wie ‚zentral‘ oder wie ‚peripher‘ man lebte oder, im Fall der Märkte, Handel trieb. Eine beispielgebende Funktion kam hierbei dem Umbau des Heumarkts zu: Die Errichtung der dortigen Markthallen markierte zugleich die Verlegung der ‚Fressmeile‘ sowie bestimmter ‚einfacherer‘ Arten des Verkaufs auf neue ‚Volksmärkte‘ wie den Nikol’skij rynok, und damit weiter an die innerstädtischen Randgebiete. Es ist kein Zufall, dass in erster Linie jene Märkte, die sich im Zentrum der Stadt oder zumindest in den ‚besseren‘ Gegenden der jeweiligen Stadtviertel befanden, zu Objekten der Regulierung wurden – Aufwertung ging im Falle der Märkte ebenso wie bei der Wohnungsfrage mit Verdrängung einher und mit dem Versuch, die als problematisch definierten Räume aus den saubereren und helleren Teilen der Stadt zu entfernen.

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Was lässt sich angesichts dieser Rahmenbedingungen zusammenfassend über die armen Bewohner St. Petersburgs sagen, die von den Veränderungen in besonderer Weise betroffen waren? Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass das Urteil von Hubertus Jahn, demzufolge wir über Armut in der russischen Geschichte nur als Objekt „sozialer Imagination“ oder Fürsorge respektive Kontrolle schreiben können, da „Bettler und Arme bis ins späte 19. Jahrhundert keine eigene historische Stimme hatten“ und wir sie also nur „in Äußerungen von anderer Seite“ 2 finden, in dieser Form nicht zutrifft. Zwar bilden sich die historischen Stimmen der städtischen Unterschichten nicht in umfangreichen Beständen in den Archiven ab, die Suche nach ihnen gestaltet sich schwierig und mündet nicht zufällig in eine Auswertung unterschiedlicher Quellengattungen. Diese Spannbreite eröffnet jedoch zugleich erkenntnistheoretische Möglichkeiten, da sich das Handeln der urban poor aus verschiedenen Perspektiven betrachten lässt. Und zugleich wird deutlich, wie nah wir den marginalisierten Räumen der Stadt auf ­welchen Wegen kommen können und wo die Grenzen einer solchen Annäherung liegen. Als erste für den Kontext dieser Arbeit zentrale Gruppe sind Ego-­Dokumente zu nennen. Sowohl die Analyse der in ihrer zeitlichen Erstreckung außergewöhnlichen Erinnerungen Spiridon Drožžins und Matrjona Ključevas wie auch die Auswertung der detaillierten Aufzeichnungen Nikolaj Svešnikovs über sein Leben als Buchhändler und seine Aufenthalte in der Vjazemska lavra erbrachten Einblicke in die Wahrnehmung und Aneignung des städtischen Raums durch die Angehörigen der unteren Schichten. In allen drei Fällen zeigte sich, dass personelle Netzwerke von entscheidender Bedeutung waren, um trotz der prekären Lebensumstände in der Großstadt überleben zu können. Während Matrjona Ključeva dank ihrer Anstellung im Nähatelier zumindest über ein, wenn auch geringes, geregeltes Einkommen verfügte, sind die städtischen Biographien Drožžins und Svešnikovs von einer hohen Mobilität charakterisiert. Diese Mobilität kann einerseits als typisch für die durch häufig wechselnde Tätigkeiten geprägten Existenzen der subproletarischen Schichten bezeichnet werden, war jedoch zugleich mehr als ein reines „Derivat von Zwängen.“ 3, um die Formulierung Loïc Wacquants noch einmal aufzugreifen. Sowohl bei Spiridon Drožžin wie auch bei Nikolaj Svešnikov lässt sich erkennen, wie sie ihre Netzwerke in der Stadt 2 Jahn, Armes Russland, S. 16. 3 Wacquant, Drei irreführende Prämissen, S. 203.

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aufgebaut und für sich genutzt haben. Diese Netzwerke waren mit bestimmten Orten und Teilen der Stadt verbunden – im Falle Drožžins mit dem Spasskajaund dem Moskauer Distrikt diesseits und jenseits der Fontanka, bei Svešnikov in erster Linie mit dem Apraksin dvor und dessen Umgebung – womit deutlich wird, dass die Mobilität nicht nur unfreiwillig und reaktiv begründet, sondern zugleich Ausdruck einer gezielten Aneignung des städtischen Raums war. Eine weitere Gemeinsamkeit aller drei Protagonisten stellt die autodidaktische Aneignung von Bildung dar. Zwar kommt ­diesem Bereich in den Erinnerungen Matrjona Ključevas keine so prominente Rolle zu, wie dies in den Aufzeichnungen Spiridon Drožžins und Nikolaj Svešnikovs der Fall ist, was aber auch nicht verwundert, da sie sich im Unterschied zu letzteren beiden nicht als zukünftige Schriftstellerin zu positionieren suchte. Nichtsdestotrotz nutzten alle drei die Bildungsangebote, die ihnen im städtischen Kontext zur Verfügung standen. Bei Matrjona Ključeva geschah dies in der Volkslesehalle am Ekateringofskij prospekt, während Drožžin sich in die Publička einschrieb und auch sonst jede Möglichkeit zum Lesen ergriff, was ihn mit Nikolaj Svešnikov verbindet, der sich selbst in der Vjazemskaja lavra nicht davon abhalten ließ, Bücher nicht nur zu verkaufen, sondern auch zu lesen, und zudem noch seine eigene Lebensgeschichte niederzuschreiben. Ohne die vor allem in den späteren Publikationen Drožžins als Moloch beschriebene Stadt hätten weder er noch Svešnikov, die beide bei ihrer ersten Ankunft in St. Petersburg nur über rudimentäre Kenntnisse des Lesens und Schreibens verfügten, später als Schriftsteller in Erscheinung treten können. Ein weiterer Punkt, der auch an anderen Stellen, etwa bei der Betrachtung des Innenlebens der städtischen Slums, von Relevanz war, sind die Differenzierungen und Hierarchisierungen z­ wischen den Geschlechtern. Die Orte der städtischen Unterschichten waren vielfach patriarchalisch strukturiert, sei es durch ihre Codierung als ‚männliche Orte‘ (etwa im Falle der zahlreichen Kneipen), sei es durch die in aller Regel von Männern ausgehende alltägliche Gewalt, oder sei es, im Fall einer gemeinsamen Haushaltsführung, infolge der Doppelbelastung der Frauen durch Erwerbs- und Hausarbeit. Diese Punkte sind im Einzelnen bereits zuvor von der Forschung beschrieben worden – erst die vergleichende Lektüre der Ego-­Dokumente ermöglicht es jedoch, sie in ihrer Gesamtheit und in ihren Auswirkungen auf das tägliche individuelle Handeln zu betrachten. Einem solchen mikrohistorischen Zugang steht als klassischer Kritikpunkt die Frage nach der Reichweite der derart gewonnenen Erkenntnisse entgegen. Was erfahren wir durch die „dichte Beschreibung“ des Handelns von Spiridon

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Drožžin, Matrjona Ključeva und Nikolaj Svešnikov über diese drei Personen hinaus? Diese Frage, die natürlich ihre Berechtigung besitzt und die ich mir im Laufe meiner Beschäftigung mit dem Thema auch selbst mehr als einmal gestellt habe, würde ich heute mit drei Punkten beantworten: Zum einen mit dem Hinweis darauf, dass wir schlicht keinen breiten Fundus entsprechender Zeugnisse besitzen; gäbe es ihn, würde es wohl niemand unterlassen, nach übergreifenden Erkenntnissen zu fragen – da dem aber nicht so ist, bleibt dies eine theoretische Möglichkeit. Zum zweiten hätte ein makrohistorischer Zugang, etwa die Auswertung einer größeren Zahl von Polizeiakten über die Vorkommnisse in bestimmten Vierteln der Stadt, andere, nicht mehr oder minder, sondern ebenso wichtige Erkenntnisse zu Tage fördern können. Aber ein vergleichbares Verständnis des Handelns der Angehörigen der städtischen Unterschichten, das diese als Individuen in den Blick nimmt, hätte hieraus nicht resultiert. Und drittens beschränkt sich diese Arbeit nicht allein auf die Analyse einzelner Erinnerungen und Aufzeichnungen. Vielmehr werden diese stets im jeweiligen Kontext und innerhalb des Stadtraums St. Petersburgs verortet und zugleich mit anderen Quellen kombiniert.4 So wird es möglich, die Handlungsbedingungen des Individuums im Rahmen der strukturellen Gegebenheiten ebenso zu verstehen, wie danach zu fragen, ob das handelnde Subjekt seinerseits auf die Strukturen und Prozesse einwirken konnte oder nicht. Als zweite zentrale Quellengruppe sind Eingaben, Bittschriften und Klagen zu nennen. Mit ihnen positionierten sich die Menschen zu den Veränderungen ihrer Umgebung, ­seien es der Bau von Brücken und die Grundstücksenteignungen im Zuge der Regulierungsmaßnahmen ‚jenseits des Flusses‘, oder ­seien es die im Wandel befindlichen Bedingungen, zu denen auf den Märkten und Straßen der Hauptstadt Handel getrieben werden konnte. Diese Quellen besitzen einerseits den Vorteil, dass ihnen im Vergleich zu den Ego-­Dokumenten eine höhere Repräsentativität zugesprochen werden kann, geben doch die hier herangezogenen Eingaben und Petitionen die Standpunkte größerer Gruppen von Personen wieder. Auf diese Weise wird deutlich, dass es nicht nur vereinzelte Angehörige der städtischen Unterschichten waren, die auf die sie betreffenden Prozesse Einfluss zu nehmen suchten.

4 Beides im Übrigen Punkte, die für eine methodisch reflektierte Mikrogeschichte elementar sind. Vgl. Ulbricht, Mikrogeschichte, S. 12 – 28.

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Auf der anderen Seite setzt der kollektive Charakter dieser Quellen der tieferen Erkenntnis über die jeweiligen Beweggründe und das hieraus resultierende Handeln deutliche Grenzen. Sowohl die narrativen Konventionen, innerhalb derer sich ­solche Quellen bewegen, wie auch der Umstand, dass Eingaben und Petitionen ein performativer Akt waren, bei dem man sich und sein Anliegen in einem möglichst günstigen Licht zu präsentieren suchte, um den Adressaten zu überzeugen, erschweren die Antwort auf die Frage, ob wir es hier tatsächlich mit den Stimmen der Armen ‚selbst‘ zu tun haben, oder ob die Berufung auf ‚das Volk‘ in erster Linie Teil einer diskursiven Strategie war, bei der man sich auf das allgemeine Interesse berief. Dies gilt sowohl für die Stellungnahmen, die im Kontext der Diskussion über den Bau fester Brücken zur Vyborger wie zur Petersburger Seite verfasst wurden, als auch für die Petitionen der ‚fliegenden‘ Händler, die ihre Tätigkeit durch die Veränderungen rund um den Heumarkt bedroht sahen. Zugleich bedeutet die narrative und strategische Formung solcher Quellen nicht, dass wir aus ihnen nicht trotzdem etwas über die Interessen und das Handeln der ‚kleinen Leute‘ erfahren können. Sowohl im Fall des Brückenbaus als auch durch die Händler wurden Anliegen artikuliert, die für die ‚einfache Bevölkerung‘ von großem Interesse waren. Die Unterzeichner fungierten somit zugleich als ‚Anwälte‘ ihres Viertels, und der Bezug auf bestimmte Orte wie den Heumarkt brachte hierbei eine Selbstverortung der städtischen Unterschichten im Stadtraum St. Petersburgs zum Ausdruck. Etwas anders stellt sich die Situation im Fall der Klagen gegen die im Zuge der Regulierungsmaßnahmen erfolgenden Grundstücksenteignungen dar. Sie wurden von Einzelpersonen erhoben und sind somit eindeutig zuordenbar. Zugleich weisen die Verfahren jedoch ein hohes Maß an Standardisierung auf, das der Einsicht in die jeweiligen individuellen Motive und Handlungen deutlich engere Grenzen setzt, als dies etwa bei den Ego-­Dokumenten der Fall ist. Nichtsdestotrotz konnte mit der Auswertung d ­ ieses Bestands gezeigt werden, dass auch die ‚kleinen Leute‘ an den (vermeintlichen) Peripherien der Stadt die sie betreffenden Veränderungen nicht einfach hinnahmen, sondern ihre Ansprüche artikulierten. Und dies durchaus mit Erfolg. Als dritte Quellengattung sind die Reportagen der hauptstädtischen Presse und literarische Darstellungen zu nennen. Bei ihrer Lektüre sollte stets im Blick behalten werden, dass sie Teil des Slumming waren, bei dem ‚die Armen‘ ‚entdeckt‘ und vermarktet wurden. Dies gilt sowohl für Zeitungsberichte im Peterburgskij

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listok oder der Malen’kaja gazeta als auch für Vesvolod Krestovskij’s Peterburgskie truščoby. Sie alle zielten darauf ab, ein voyeuristisches Interesse des Publikums an den ‚dunklen‘ Ecken der Stadt zu bedienen, was ihre Auswertung als historische Quellen erschwert. Zugleich stellen ­solche Berichte nicht selten die einzigen Zeugnisse dar, die wir über die Orte der städtischen Unterschichten besitzen. Ohne die Artikelserie über „Vasjas Dorf “ wüssten wir praktisch nichts über diesen Ort, an dem rund 5000 Menschen lebten. Die Geschichte der Slums St. Petersburgs würde sich nach wie vor weitgehend auf den Heumarkt und die Vjazemskaja lavra beschränken, womit das Bild höchst unvollständig bliebe und letztendlich nur die Dominanz des Zentrums über die ‚Peripherien‘ fortgeschrieben würde. Zudem gilt es zu bedenken, dass der überhebliche und sensationsheischende Tenor, der allen diesbezüglichen Presseberichten eigen ist, zwar unzweifelhaft zum Ausdruck bringt, zu welchem Zweck die Texte geschrieben wurden – aber nichtsdestotrotz waren die Reporter vor Ort, und sei es, indem sie Dumaabge­ordnete bei deren ‚Exkursionen‘ durch die ‚eigene‘ Stadt begleiteten. Auch K ­ restovskij’s Roman basiert auf mehrfachen Aufenthalten in der lavra sowie auf seinen Exzerpten aus Gerichts- und Polizeiakten. Dementsprechend würde man sich wichtiger Erkenntnisse berauben, beschränkte man die Auswertung dieser Quellen allein auf die Diskursanalyse; für eine ­solche sind sie zweifellos wichtig, aber ebenso lassen sich ihnen, im Abgleich und in Kombination mit anderen Quellen, auch Informationen über diejenigen gewinnen, die ungefragt zum Objekt journalistischer Neugierde wurden. Ginge man dem nicht nach, wüssten wir auch weiterhin nichts über die Wandgemälde in „Vasjas Dorf “ und über den Obvodnyj kanal als „Kurort des einfachen Volkes“. Insgesamt kann konstatiert werden, dass die Suche nach den Orten der städtischen Unterschichten nicht eingleisig verläuft, zumal, wenn man nicht bei einer Betrachtung ‚von außen‘ stehen bleiben, sondern die inneren Strukturen und Handlungslogiken verstehen möchte. Die Weiterung der Perspektive durch die Kombination verschiedener Quellenarten hat sich vor ­diesem Hintergrund als produktiv erwiesen, um sich der „Arbeit der kollektiven Selbsterzeugung“ 5 anzunähern, mittels derer die Bewohner der ‚dunklen Ecken‘ St. Petersburgs ihrer Welt eine Form, eine Bedeutung und einen Zweck verliehen. Den ‚roten Faden‘ bildete hierbei der Zugang über konkrete Orte. Auf diese Weise kann es 5 Wacquant, Drei irreführende Prämissen, S. 203.

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gelingen, nicht bei einer Analyse der Sicht von außen stehen zu bleiben, sondern auch Perspektiven von innen zu skizzieren und zu zeigen, was diese Orte trotz ihrer sozialen Marginalisierung für ihre Bewohner bedeuteten. Zugleich werden innere Heterogenitäten und Ungleichheiten sichtbar. Dies beugt nicht nur einer nachträglichen Romantisierung der Lebenswelten der urban poor vor, sondern erweitert und differenziert vor allem unser Bild vom ‚schwarzen Volk‘, das eben mehr war als der vom Senator Ableuchov gefürchtete „vieltausendköpfige Menschenschwarm“. Die Forschungsperspektiven, die sich aus dieser Arbeit ergeben, weisen in zwei Richtungen. Zum einen erscheint eine Erweiterung auf andere Städte des Russischen Reichs lohnenswert, muss die junge Metropole St. Petersburg doch bis heute immer wieder mit dem Vorwurf leben, eigentlich keine ‚wirklich russische‘ Stadt zu sein. Welche Reichweite besitzen die am Beispiel der Stadt an der Neva gewonnenen Erkenntnisse für den Rest des Imperiums? Wie fällt der Vergleich mit der zweiten Metropole, Moskau, aus? Und ­welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten gibt es wiederum ­zwischen diesen beiden Großstädten und den Hauptstädten der Provinz? So unterschiedliche Städte wie Odessa, Kiew, Kazan‘ oder Saratov böten sich an, womit zugleich die multiethnische Zusammensetzung des Imperiums stärker in den Blickpunkt rücken würde. Voraussetzung hierfür wäre ein verstärktes Interesse an Fragen der Erforschung sozialer Marginalisierung und einer Stadtgeschichte ‚von unten‘, die für Russland bisher nur in Ansätzen vorliegt.6 Zum anderen wäre es sicherlich interessant, über Russland hinauszublicken und Vergleiche mit weiteren europäischen und außereuropäischen Metropolen und Städten anzustellen. Ein solcher komparativer Ansatz wäre zweifellos 6 Lutz Häfner hat am Beispiel Saratovs entsprechende erste Überlegungen angestellt: „Leben sie im Graben, fressen sie die Raben.“ Politische Partizipation und sozialpolitischer Diskurs im Spiegel der städtischen Peripherie und Städteassanierung in Saratov, 1860 – 1914, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 4 (2000), S. 184 – 209. Auch der bereits etwas ältere Band „Cultures in Flux“ ist diesbezüglich zu nennen: Frank/Steinberg, Cultures in Flux. Die Monographie von Ilya Gerasimov (Plebeian Modernity. Social Practices, ­Illegality, and the Urban Poor in Russia, 1905 – 1916, Rochester 2018) erschien während der Drucklegung d ­ ieses Buches und konnte nicht mehr herangezogen werden. Verwiesen sei jedoch auf den programmatischen Aufsatz: Gerasimov, Ilya, The Subalterns Speak Out, in: Petersen, Spaces of the Poor.

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anspruchsvoll und nicht einfach zu bewerkstelligen. Es gibt jedoch gute inhaltliche Gründe, ihn dennoch anzugehen. Zum einen war der Vergleich in den zeitgenössischen Debatten über die Ursachen städtischer Armut und Ungleichheiten omnipräsent. Eine Durchsicht von Periodika wie dem Archiv sudebnoj mediciny i obščestvennoj gigieny macht rasch deutlich, wie detailliert entsprechende Entwicklungen in Mittel- und Westeuropa rezipiert wurden und wie sehr sich die Autoren als Teil einer internationalen Expertengemeinschaft begriffen. Diese nach Westen gerichtete, transnationale Perspektive sollte ernst genommen und in entsprechenden Untersuchungen operationalisiert werden. Zudem mögen die im Rahmen dieser Arbeit punktuell erfolgten Blicke über St. Petersburg hinaus als Indizien dafür dienen, dass ­solche Weiterungen der Perspektive jenseits der lange dominierenden Ost-­West-­Dichotomie unser Verständnis „europäischer Geschichte“ (und über diese hinaus) erweitern können. Dies gilt zum einen auf einer strukturellen Ebene, wie das Beispiel nach der Frage von Gentrifizierungsprozessen gezeigt hat, mit dem nicht nur die historische Dimension des Wechselspiels von Aufwertung und Verdrängung beleuchtet, sondern auch die Westzentriertheit des bisherigen Konzepts kritisch hinterfragt wurde. Notwendig wären diesbezüglich weitere Forschungen, die den Untersuchungsbereich sowohl räumlich als auch zeitlich öffnen. Liegt der Ursprung der Gentrifizierung tatsächlich in den europäischen Städten des 19. Jahrhunderts, wie Neil Smith annimmt,7 und ist sie damit an eine bestimmte Kombination aus Urbanisierung, Industrialisierung und sich entfaltendem Kapitalismus gebunden? Oder finden sich vergleichbare Prozesse auch jenseits des „alten Kontinents“ und vor der Zeit der europäischen Moderne? Es erscheint mir lohnenswert, diesen Fragen weiter nachzugehen – nicht zuletzt, um die Gegenwart in unseren Städten besser zu verstehen. Zum anderen hat auf der Handlungsebene das Beispiel der costermongers verdeutlicht, dass sich die urban poor trotz ihrer sozialen Marginalisierung durch ihre alltägliche Praxis den städtischen Raum in London ebenso wie in Petersburg aneigneten und ihn zu einem sozialen Raum umcodierten. Außerdem zeigt die sukzessive Verdrängung der costermongers von außen nach innen, dass der öffentliche Raum immer auch ein umkämpftes Gebiet war, das von verschiedenen Machtstrukturen durchzogen wurde – eine Erkenntnis, die analog für die Straßen und Märkte St. Petersburgs gilt. 7 Smith, The New Urban Frontier, S. 37−40.

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Ein anderes Beispiel wären die Lebensmittelpunkte der armen Bevölkerung in den Städten Europas. Abgesehen von vereinzelten Fallstudien wissen wir nach wie vor kaum etwas über das Innenleben dieser Orte. Dabei hat Jennifer Davis vor inzwischen fast 30 Jahren eine hochinteressante, dichte Beschreibung der Jenning’s Buildings publiziert, eines im Londoner Stadtteil Kensington gelegenen Slum, der sich bis 1873 vis-­à-­vis des Kensington Palace befand.8 Ihre Ergebnisse weisen zahlreiche Parallelen zur Vjazemskaja lavra und zu „Vasja’s Dorf “ auf: Eine frappierende Diskrepanz ­zwischen der von außen zugeschriebenen Homogenität und der Heterogenität im Inneren; ein Untermietsystem, das sich für die Besitzer der Anlage als profitabel erwies; das Fehlen eines politischen Willens auf kommunaler Ebene, Maßnahmen zur Verbesserung des Status quo zu ergreifen; eine Ökonomie des Slums, die den Bewohnern ein, wenn auch zweifellos prekäres, Überleben sicherte und die eng mit den umgebenden, lokalen Strukturen verknüpft war; ein Wechselspiel ­zwischen äußerer Stigmatisierung und innerer Solidarisierung, und damit genau die Form von „kollektiver Selbsterzeugung“, durch w ­ elche die Bewohner „ihrer Welt eine Form, eine Bedeutung und einen Zweck verleihen“ 9, und wie sie im Rahmen dieser Arbeit für die Petersburger Slums konstatiert wurde. Am Ende ihres Artikels resümierte Davis: „As a result, the use of so-­called cultural characteristics either to label groups or individuals or to explain their behaviour appears problematic.“ 10 Diese Feststellung hat nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt, und hieran ließe sich im Sinne einer „comparative sociology of social polarization from below“ 11 anknüpfen, um die fortdauernde Exotisierung dieser Orte aufzubrechen und die „europäischen Binnenperipherien“ 12 in eine andere, vollständigere europäische Geschichte zu integrieren. Abschließend bleibt festzuhalten, dass in dieser Arbeit der Versuch unternommen wurde, den Blick auf die Heterogenität und Individualität hinter den Fassaden 8 Davis, Jennings’ Buildings and the Royal Borough. Vgl., diesen Ansatz fortführend und mit weiteren, europäischen und außereuropäischen Fallstudien, auch Petersen, Spaces of the Poor. 9 Wacquant, Drei irreführende Prämissen, S. 203. 10 Davis, Jennings’ Buildings and the Royal Borough, S. 31. 11 Wacquant, Loïc, Urban Outcasts. A Comparative Sociology of Advanced Marginality, Cambridge, Malden 2008. 12 Dejung/Lengwiler, Ränder der Moderne, S. 26.

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zu werfen. Anstelle der „Reproduktion der immer gleichen Bilder“ 13 wurden die Realitäten der Bewohner und ihre aktive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Ungleichheiten mittels kultureller und sozialer Praktiken ‚von unten‘ sichtbar. Macht man sich die Mühe und hinterfragt die vermeintliche „Homogenität der Viertel“ 14, dann erweisen sich die von Jörg Baberowski evozierten „Bauernmassen“ 15 als Individuen, die sich die für sie zentralen Orte als soziale Räume im Sinne Martina Löws aneigneten: „Die Bewohner der Armutsviertel sind den Fährnissen der Ökonomie zwar in besonders drastischer Weise unterworfen, doch hören sie damit nicht auf, die sozialen Bedingungen, unter denen sie leben, in einem Prozess sinnhafter Aneignung auch selbst zu gestalten.“ 16 Diese Feststellung des Soziologen Sighard Neckel besitzt auch in historischer Perspektive und für das Handeln der städtischen Unterschichten in St. Petersburg Gültigkeit. Dies sollte Anlass dazu geben, unsere Bilder von ‚den Armen‘ zu hinterfragen und uns den Menschen hinter den kollektiven Zuschreibungen zuzuwenden.

13 14 15 16

Schroer, Räume, Orte, Grenzen, S. 250. Ebd., S. 249 f. Baberowski, Die Entdeckung des Unbekannten, S. 25. Neckel, Zwischen Robert E. Park und Pierre Bourdieu, S. 79.

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Anhang Karten, Abbildungen, Tabellen und Maße Karten

Die Stadtbezirke St. Petersburgs, 1840  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  54 Die Stadtbezirke St. Petersburgs, 1869  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  55 Die Stadtbezirke St. Petersburgs, 1910  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  56 Sterblichkeit in den verschiedenen Stadtteilen St. Petersburgs, 1870  . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 – 63 Sterblichkeit in den verschiedenen Stadtteilen St. Petersburgs, 1886 – 1895  . . . . . . . . . . . . .  66 Die Vasilij-­Insel, 1849  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  111 Existierende und geplante Straßenbahnlinien in St. Petersburg, 1912  .. . . . . . . . . . . . . . . .  116 Die Inseln der Petersburger Seite  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  121 Die Petersburger Seite, 1849  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  125 Die Vyborger Seite, 1849  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  131 Plan zum Umbau des nördlichen Teils der Vyborger Seite, 1912  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  141 Grundstück des pensionierten Matrosen Antonov auf der Petersburger Seite, 1891  . . . . . .  165 Grundstück der Klägerin Val’ter auf der Vyborger Seite, 1889  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  166 Durchschnittliche Mietpreise/Person in den verschiedenen Stadtteilen St. Petersburgs, 1890 . .  184 Besitzverhältnisse an den Gebäuden St. Petersburgs, 1880  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  190 Das Gebiet der Vjazemskaja lavra im Spasskaja-­Distrikt, 1867 – 1870  . . . . . . . . . . . . . . . . .  244

Abbildungen

Bahnstation Malaja Višera, mit ­Kirche, 1855 – 1864  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Straßenbahn auf dem Samsonprospekt, um 1910  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fassade und Grundriss der für 1913 geplanten Arbeiterwohnungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . Arbeitersiedlung Gavan’skij gorodok, 1911  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gavan’skij gorodok, Vortragsraum, 1911  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gavan’skij gorodok, Speisesaal, 1911  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gavan’skij gorodok, Arbeiterwohnung, 1911  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Blick in das Innere der Vjazemskaja lavra, 1905 – 1910  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Eingang des Heumarkts, 2010  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Hotel Dom Vjazemskoj am Moskovskij prospekt Nr. 6, 2010  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Heumarkt in den 1830er Jahren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Heumarkt im Jahr 1900  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entwurf für die Markthalle am Sytnyj rynok, 1908  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Porträt Nikolaj Svešnikov, ca. 1896/97  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brand des Apraksin dvor, 1862  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bücherstand im Apraksin dvor  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansicht des Apraksin dvor von der Fontanka, 1900  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

                

84 138 202 236 237 237 238 256 268 269 299 307 314 322 327 328 337

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Anhang

Tabellen

Einwohnerzahl St. Petersburgs, 1725 – 1914  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Straßenlaternen in St. Petersburg, 1820 – 1898  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wohnstandard in Petersburger Wohnungen, 1890  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Todesfälle in St. Petersburg, 1887 – 1893  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

    Einwohnerzahl der Vasilij-­Insel, 1869 – 1906  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Einwohnerzahl der Petersburger Seite, 1869 – 1906  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Einwohnerzahl der Vyborger Seite, 1869 – 1906  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Einwohnerzahl der Distrikte St. Petersburgs, 1869 – 1906  .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Durchschnittliche Mietpreise für Wohnungen in St. Petersburg, 1890, unterteilt nach Etagen . . Einwohnerzahl Wiens, 1840 – 1918  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Einwohnerzahl Londons, 1800 – 1911  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  Maße Längenmaße 1 Sažen‘ 1 Aršin 1 Werst

2,13 Meter (seit 1835) 0,71 Meter (seit 1835) 1,0668 Kilometer

Flächenmaße 1 Sažen‘² rd. 4,54 Meter2 (seit 1835)

49 53 59 65 114 126 135 177 179 213 218

Abkürzungen

Abkürzungen CGIA SP b

Central’nyj gosudarstvennyj istoričeskij archiv Sankt-­Peterburga del. Delo f. Fond ISPGOD

Izvestija Sankt-­Peterburgskoj gorodskoj obščej dumy Izdatel‘, Izdatel’stvo Kniga List, Listy ohne Namen ohne Seitenzahl obratno Opis‘ Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii RAN II Rossijskaja Akademija Nauk, Sankt-­Peterburgskij institut istorii RGIA Rossijskij gosudarstvennyj istoričeskij archiv RNB Rossijskaja nacional’naja biblioteka t. Tom vyp. Vypusk izd. kn. l., ll. o. N. o. S. ob. op. PSZ

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Anhang

Quellen und Literatur Quellen Ungedruckte Quellen Central’nyj gosudarstvennyj istoričeskij archiv Sankt-­Peterburga (CGIA SPb), St. Petersburg f. 210: Gorodskaja sanitarnaja komissija op. 1, t. 1: del. 7, del. 11, del. 131, del. 148, del. 369. op. 3: del. 2. f. 256: Stroitel’noe otdelenie Petrogradskogo gubernskogo pravlenija op.1: del. 1475, del. 1518, del. 3035. f. 1648: Policejskie učastki Petrograda op. 1: del. 1247. Rossijskij gosudarstvennyj istoričeskij archiv (RGIA), St. Petersburg f. 218: Department iskustvennych del glavnogo upravlenija putej soobščenija i publičnych zdanii op. 3: del. 1288. op. 4: del. 878, del. 900, del. 1025, del. 1871. f. 777: Petrogradskij komitet po delam pečati (Peterburgskij cenzurnyj komitet) op. 4: del. 41. f. 1248: Osobe prisutstvie po delam o prinuditel’nom otčuždenii nedvižimogo imuščestva pri ­Gosudarstvennym sovete op. 1: del. 25, del. 144. op. 2: del. 961, del. 1636. f. 1286: Department policii ispolnitel’noj MVD op. 31: del. 4. f. 1287: Chozjajstvennyj department MVD op. 5: del. 772. op. 29: del. 1600. op. 30: del. 80. op. 40: del. 310. f. 1293: Techničesko-­stroitel’nyj komitet MVD op. 76: del. 305. op. 137: del. 91. op. 167: del. 144. Rossijskaja nacional’naja biblioteka (RNB), Fond dissertacij, St. Petersburg Andronova, Nina, Ličnost‘ i publicistika A. I. Svirskogo. Unveröffentlichte Dissertation, Rostov-­ na-­Donu 2009.

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Anhang

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Ortsregister

Ortsregister In das Register wurden alle Orte, Flüsse, Kanäle, Inseln, Straßen, Plätze, Brücken und Parks in St. Petersburg, London, Wien und Umgebung aufgenommen, die im Text Erwähnung finden. Auf eine Erfassung von „St. Petersburg“ bzw. „Petersburg“ wurde wegen der beständigen Nennung verzichtet.

A

E

Admiralität/Admiralitätsdistrikt  53, 54, 80, 109, 114, 118, 142, 153, 160, 177, 181 – 185, 191, 192, 225, 230, 282, 288 Aleksandrovskij Park  81 Alexanderbrücke  137 Alexander-Newski-Distrikt  178, 230, 232 Andreevskij rynok  155, 284, 296, 313, 315 Aničkov-Brücke  57, 338 Apothekerinsel  120 Apraksin dvor  79, 88, 285, 286, 298, 315, 318, 320, 323, 325 – 333, 335 – 339, 345, 364 Apraksin pereulok  81, 82, 326 Arsenal’naja ulica  294

East End  219, 220, 222 – 224, 342 Ekateringofskij prospekt  85, 96, 364 Elagininsel  120

B Balham  221 Bermondsey  221 Bethnal Green  87, 220 – 224 Bol’šaja Morskaja ulica  57, 58, 80 Bol’šaja Puškarskaja ulica  122 Bol’šoj prospekt (Petersburger Seite)  122 – 124, 127, 128 Bol’šoj prospekt (Vasilij-Insel)  110, 112, 113, 115, 117, 155, 156, 183, 211, 270, 271, 284, 286, 296

F Fljugov pereulok  140 Fontanka  57, 74, 79, 81, 87, 95, 102, 137, 147, 183, 184, 188, 242, 245, 246, 253 – 256, 263, 265, 278, 303, 311, 319, 337, 364 Fürstinnenstraße  156, 291

G Gavan‘  112 – 115, 119, 154, 155, 183, 236, 239, 291 Gavaner Städtchen  236, 238, 240, 241, 246 Golodaj  109, 113, 115, 118, 199 Gončarnaja ulica  233 Gorochovaja ulica  58, 80 Gostinyj dvor  76, 102, 120, 121, 153, 283 – 286, 308, 315, 328, 338 Grenadiersbrücke  133 Große Kol’tovskij-Straße  161, 164 Große Neva  14, 57, 58, 81, 108 – 110, 114, 117, 120, 121, 123, 131 – 133, 135, 143, 144, 147 – 150, 153, 166, 184, 212 Große Nevka  131, 133, 134, 147

C Černaja rečka  186, 322, 331 Černyšev-Brücke  79 Cholmuši  279, 280 City of London  219, 221, 224

H Haseninsel  119, 120 Holborn  220, 342

I D Dreifaltigkeitsplatz  120, 121

Isaaksbrücke  109, 110 Izmajl-Brücke  57 Izmajlovskij prospekt  57, 278, 303

399

400

Anhang

J

M

Jazykov pereulok  140 Jenning’s Buildings  35, 370

Malyj prospekt (Petersburger Seite)  122, 123, 163, 164, 185 Malyj prospekt (Vasilij-Insel)  118, 119, 123 Mariä-Verkündigungs-Brücke  114, 143 Mineral’naja ulica  294 Mojka  53, 284 Moskauer-Distrikt  82, 87, 102, 185, 187, 364 Murinskij prospekt  140

K Kalinkinplatz  75, 76, 78, 79, 87, 99, 101 Kamennoostrovskij prospekt (Steininsel­ prospekt)  80, 123, 124, 127, 128, 130, 150, 163, 164, 183, 187, 210, 211, 286, 313, 314 Karetnaja-Distrikt  288, 291 Karpovka  124, 128, 129 Katharinenhof  76, 100 Kazaner-Brücke  338 Kazaner-Distrikt  53, 142, 160, 177, 181, 182, 186, 191, 192, 230 Kensington  370 Kolomna-Distrikt  53, 54, 68, 74, 76, 78, 96, 98 – 100, 142, 230, 233, 291 Kolpino  76, 103 Kol’tovskij-Straße  162 Kreuzinsel  120 Krjukov-Kanal (Katharinenkanal)  77, 114, 188, 286 Kronwerksstraße  314 Kuznečnyj pereulok  82, 91, 162, 163

L Lambeth  342, 343 Landstraße  216 Langham Place  220 Leather Lane  342 Leopoldstadt  216 Ligovskij prospekt  82, 188 Linienwall  213, 214, 216 Litejnaja-Distrikt  181, 182 Litejnyj-Brücke  136, 143, 146 – 148, 199 Litejnyj prospekt  81, 84, 136 Locmanskij-Markt  291 Lomanskij pereulok  164, 295 London  27 – 29, 35, 36, 52, 60, 87, 88, 137, 169, 205 – 207, 210, 212, 216, 218 – 225, 243, 267, 279, 340 – 344, 352, 369, 370

N Narva-Distrikt  178, 187, 230, 232, 288, 291 Neuer Alexander-Markt  315, 338 Neuer Gavaner-Markt  156, 291, 296 Nevskij prospekt  13, 24, 39, 53, 57, 58, 76, 81, 83, 86, 91, 102 – 105, 107, 128, 182, 283, 286, 300, 304, 328, 338, 339 Nikol’skij rynok  286, 309 – 311, 362 Notting Hill  221 Novaja derevnja  138, 278, 330 Novyj Sytnyj rynok  313 Nystader Straße  132, 136, 295

O Obuchov-Platz  319 Obuchovskij prospekt (Zabalkanskij prospekt, Moskovskij prospekt)  80, 245, 253 – 255, 268, 280, 308 Obvodnyj kanal  58, 60, 188, 229, 233, 268, 278, 279, 303, 367 Obžornyj rynok  120, 121, 283 Ochta-Viertel  58, 131 – 133, 136, 137, 160, 183 Oranienbaum  202 Ordinarnaja ulica  163

P Petersburger Brücke  124 Petersburger Insel  120, 127 Petersburger Seite  14, 50, 53, 54, 80, 81, 87, 119 – 131, 133, 135, 140, 142 – 154, 157, 158, 160, 162, 164, 182, 183, 185, 192, 210 – 212, 242, 283, 284, 286, 311, 312, 314, 331, 361, 362, 366

Ortsregister

Peter-und-Pauls-Festung  106, 119 – 121, 148, 150, 183, 213, 283 Petrovskij Insel  120, 123 Pokrovskij rynok  286 Polizeibrücke (Grüne Brücke)  50, 183, 284, 338 Poltorackij pereulok (Gorstkina ulica)  245, 253, 255, 265 Poplar  222, 223 Portland Place  220 Putney  221

R Regent’s Park  219, 220 Regent Street  220, 225 Ringstraße  214 – 217, 220, 225 Roždestvenskaja-Distrikt  98, 137, 181, 230, 232 Ružejnaja ulica  164

S Sadovaja ulica (Gartenstraße)  81, 87, 102, 283, 285, 286, 309, 315, 326, 328, 338 Samsonievskij-Brücke  122, 144 Samsonsprospekt  132, 134, 136 – 140, 183, 294, 295 Schlossbrücke  150 Schlossplatz  105 Ščukin dvor  285, 325 Semenovskij plac  337 Sennaja ploščad‘ (Heumarkt)  24, 25, 27, 41, 61, 64, 79, 80, 97, 98, 152, 186, 188, 228, 243, 245, 246, 251, 253, 255, 258 – 262, 265 – 268, 270, 277, 279, 281, 283 – 287, 290, 298 – 313, 315, 318, 319, 321, 322, 326, 335, 336, 344 – 352, 362, 366, 367 Sennoj rynok  254, 268 Shoreditch  221 Simbirskaja ulica  134 Smolenka  118 Smolensker Feld  112, 113, 155 Somers Town  342 Sommergarten  76, 98, 99, 102, 106, 338

Southwark  220 Spasskaja-Distrikt  53, 61, 64, 80, 85, 87, 97, 98, 102, 142, 230, 301, 364 Srednyj prospekt (Vasilij-Insel)  117, 118, 155, 156 Steininsel  120, 123, 124, 133 Stepney  220 – 223 St. James  220 St. Marylebone  219, 220 Stroganov-Brücke  133, 137, 140 Sytninskaja ploščad‘  162, 163 Sytnyj rynok  121, 158 – 160, 162, 283, 284, 298, 311 – 315, 318, 319, 331

T The Brill  342 The New Cut  342, 343 The Vic  343, 344 Timofeevskaja ulica  294 Troickij most (Dreifaltigkeitsbrücke)  127, 128, 143, 150, 151, 153, 154, 187 Tučkov-Brücke  122, 123, 144 Turgenevplatz  286

V Vasilij-Insel  14, 27, 49, 58, 83, 87, 104, 108 – 115, 117 – 127, 129, 130, 135, 140, 142, 143, 146, 150 – 157, 160, 180, 182, 183, 185, 188, 192, 211, 233, 243, 262, 269 – 271, 273, 274, 276, 284, 286, 291, 296, 305, 313, 315, 361 –– 1.–19. Linie  110, 112 – 115, 117, 118, 183, 185, 211, 271, 272, 284 Vasjas Dorf  27, 188, 243, 269 – 280, 315, 367, 370 Vjazemskaja lavra  27, 81, 229, 233, 242 – 245, 251, 259, 261 – 264, 266 – 268, 270, 277 – 280, 299, 321, 323, 334, 364, 367, 370 Vladimirskaja ulica  81 Vladimirskij prospekt  82 Voskresenskij-Brücke  133, 136 Voskresenskij prospekt  133 Voznesenskij prospekt  58, 85, 315, 338 Vyborger-Brücke  133

401

402

Anhang

Vyborger Seite  14, 54, 58, 108, 122, 127, 129 – 140, 142 – 144, 146 – 148, 152, 156, 157, 160, 164, 175, 182, 185, 186, 211, 262, 287, 288, 291 – 298, 312, 319, 322, 362, 366

W West End  219 – 222, 225 West Kensington  221 Westminster  220 Wien  36, 207, 208, 212 – 222, 224, 225

Z Zagorodnyj prospekt  82 Zarinnenwiese (Marsfeld)  127, 187 Ždanovka  127 Zentralmarkt  314, 315, 362