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German Pages 300 Year 2001
Altes Reich, Frankreich und Buropa
Historische Forschungen Band 70
Altes Reich, Frankreich und Europa Politische, philosophische und historische Aspekte des französischen Deutschlandbildes im 17. und 18. Jahrhundert
Herausgegeben von Olaf Asbach, Klaus Malettke, Sven Externbrink
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Altes Reich, Frankreich und Europa : politische, philosophische und historische Aspekte des französischen Deutschlandbildes im 17. und 18. Jahrhundert I Hrsg.: Olaf Asbach ... Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Historische Forschungen ; Bd. 70) ISBN 3-428-10090-5
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 3-428-10090-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@
Vorwort Der vorliegende Band enthält die überarbeiteten Vorträge, die am 26. und 27. Februar 1999 an der Philipps-Universität Marburg anläßlich des Kolloquiums Das französische Deutschlandbild im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts gehalten wurden. Hierbei handelte es sich um eine von mehreren Arbeitstagungen, die im Rahmen der Arbeit des deutsch-französischen Forschungsverbundes Das französische Deutschlandbild im Europa des 17.-18. Jahrhunderts/Les representations franraises de l'Allemagne en Europe, XVIrxvur siecles stattgefunden haben. Innerhalb dieses von 1995 bis 1999 von der Volkswagen-Stiftung geförderten, interdisziplinär angelegten Verbundes wirkten Arbeitsgruppen mit, die an verschiedenen französischen und deutschen Einrichtungen angesiedelt waren: an der Maisan des Seiences de l'Homme, Paris, am Zentrum für Höhere Studien/Frankreich-Zentrum der Universität Leipzig, am Institut für Philosophie sowie am Institut für Neuere Geschichte der Philipps-Universität Marburg. Ziel des Projektverbundes war es, aus unterschiedlichen Perspektiven der Spezifik des Bildes vom Alten Reich nachzugehen, wie es vor allem im 17. und 18. Jahrhundert auf seiten französischer Rezipienten bestanden hat. Wesentliche Aspekte der Untersuchung bildeten dabei (1.) die Wahrnehmung des Alten Reiches durch die französische Diplomatie im 18. Jahrhundert, (2.) die rechtsphilosophische Rezeption der Reichsverfassung, (3.) die historische Semantik des Feldes 'Deutschland' in Frankreich sowie (4.) die wechselseitige Rezeption im deutschen Exil des französischen Adels nach der Revolution von 1789. Die in vorliegendem Band dokumentierte Tagung verfolgte wie die übrigen innerhalb des Forschungsverbundes durchgeführten Veranstaltungen einen doppelten Zweck. Einerseits bot sie die Gelegenheit der Präsentation der jeweils erzielten (Zwischen-)Resultate der einzelnen Forschungsprojekte zu den unterschiedlichen Fragestellungen.' Vor allem aber diente sie der Diskussion und dem Erfahrungsaustausch über die laufenden und die beabsichtigten Arbeiten, um die mit dem Forschungsverbund anvisierte fächer- und länderüber-
1 Innerhalb des vorliegenden Bandes bieten insbesondere die Beiträge von Olaf Asbach, Sven Externbrink, Armelle Lefebvre und Jörg Ulbert Einblick in umfangreichere Monographien zur behandelten Thematik, die zur Zeit vor dem Abschluß stehen.
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Vorwort
greifende Integration und Synthese des wissenschaftlichen Forschungsprozesses anhand eines gemeinsamen, übergreifenden Gesamtprojekts in die Tat umzusetzen. Der Dank der Herausgeber gilt all denen, die diese deutsch-französische Kooperation ermöglicht und unterstützt haben. Vor allem sind hier die Volkswagen-Stiftung und der Leiter des Forschungsschwerpunkts "Das Alte Reich und Europa", Dr. Wolfgang Levermann, zu nennen, die durch ihre Unterstützung und Förderung die Arbeit der Forschungsgruppen in Marburg, Paris und Leipzig möglich gemacht haben. Zu danken ist zudem der Maison des Seiences de l'Homme, Paris, und ihrem Leiter, Prof. Dr. Maurice Aymard, in deren Händen die Koordination des Forschungsverbundes lag. Dank gebührt auch der Phitipps-Universität Marburg und dem Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie für die Bereitstellung der Tagungsräume. Besonders möchten die Herausgeber- auch im Namen der Autoren- Herrn Prof. Dr. Sirnon und dem Verlag Duncker & Humblot für die Aufnahme des Bandes in die Reihe ,,Historische Forschungen" und Frau Heike Frank für die Betreuung des Bandes danken.
Marburg, im November 2000
OlafAsbach Sven Externbrink Klaus Malettke
Inhaltsverzeichnis Einleitung Das Alte Reich in Europa - historische, politische und philosophische Perspektiven Von Olaf Asbach, Sven Externbrink und Klaus Malettke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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L Zur Elnf'ühnmg: Das Alte Reich in der Geschichtsschreibung Kaiser, Reich und Reichsverfassung 1648-1806. Das neue Bild vom Alten Reich Von Anton Schindling, Tübingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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ß. Zur bistorisehen Semantik: Deutschland aus französischer Sicht (16.-18. Jahrhundert) Les toumures "aujourd'huy" et "estat present" dans les representations de l'Allemagne aux 16" et 17" si~les. Semantique et presupposes des discours politiques modernes Par Armelle Lefebvre, Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Politisch-semantische Strategien vom Ancien Regime zur Restauration. Das Alte Reich als (Con)fideration, Corps, Systeme in der französischen Publizistik Von Fred E. Schrader, Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
m. Das Alte Reich in Europa (1): Französische Diplomaten und Intellektuelle Im frühen 18. Jahrhundert Reich versus Territorien? Zum Problem der Souveränität im Heiligen Römischen Reich nach dem Westfälischen Frieden Von Peter Schröder, Oxford . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Der Reichstag im Spiegel französischer Gesandtenberichte (1715-1723) Von Jörg Ulbert, Lorient . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Die Reichsverfassung als föderativer Staatenbund. Das Alte Reich in der politischen Philosophie des Ab~ de Saint-Pierre und Jean-Jacques Rousseaus Von Olaf Asbach, Harnburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
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Inhaltsverzeichnis
IV. Das Alte Reich in Europa (II): Französische Diplomaten und Intellektuelle nach 1750 Frankreich und die Reichsexekution gegen Friedeich ß. Zur Wahrnehmung der Reichsverfassung durch die französische Diplomatie während des Siebenjährigen Krieges Von Sven Extembrink, Marburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Klassischer Republikanismus und Reichsverfassung. Mablys Perzeption der Reichsverfassung und ihre systematischen Voraussetzungen in der Etude de l'histoire Von Dieter Hüning, Marburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Die Perzeption des Alten Reiches in der ,,Encyclopedie" Von Klaus Malettke, Marburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
Zu den Autorinnen und Autoren .. .. . .. .. .. . . . .. .. .. .. . .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. . . . . .. .. . . . 299
Einleitung
Das Alte Reich in Europa historische, politische und philosophische Perspektiven Von Olaf Asbach, Sven Externbrink und Klaus Malettke
Das Heilige Römische Reich deutscher Nation oder das Alte Reich, wie es seit dem Abschluß des Westfälischen Friedens in Münster und Osnabrück 1648 bis zu seiner Auflösung 1806 bestand, unterlag in seiner Struktur und seinem Funktionsgefüge tiefgreifenden Wandlungen. Vor allem hat es aufgrund seiner komplexen verfassungsrechtlichen Struktur unterschiedlichste Konjunkturen und Interpretationen erfahren. Während sich die anderen Staaten Europas mit England und Frankreich an der Spitze auf den Weg zum modernen souveränen, auf einen zentralen Willen hin organisierten "Nationalstaat" machten, konnte sich im Alten Reich diese Entwicklung nicht durchsetzen. Seinen mittelalterlichen Ursprüngen als Lehensverband treubleibend, entwickelte das Reich eine eigene Form frühneuzeitlicher Staatlichkeit, die durch den Antagonismus und zugleich durch das Miteinander von Kaiser und Reich( -sständen), durch die Ausbildung der Landesherrschaft (superioritas territorialis) auf der Ebene der Stände, durch die Repräsentation des Reiches im Reichstag und durch zahlreiche andere Verfassungsstrukturen geprägt wurde. Kein Staat im modernen Sinne und den übrigen Staaten Europas nicht vergleichbar, stellte das Reich stets eine Herausforderung für die politische, rechtliche und philosophische Publizistik dar, eine Provokation, die sogar mit seinem formellen Ende 1806 nichts an Schärfe verlor. Seit dem 16. Jahrhundert ist viel Tinte geflossen, um dieses eigentümliche Gebilde, das sich in ständiger Weiterentwicklung befand, zugleich aber auch von großer Beständigkeit war, verfassungsrechtlich bestimmen und mit der Begrifflichkeit des entstehenden, im Begriff souveräner Macht zentrierten, Staatsverständnisses erfassen zu können. Der für die Entwicklung des Reiches in der frühen Neuzeit bedeutendste Nachbar des Reiches war das Königreich Frankreich, das immer wieder als Paradebeispiel für die Ausbildung des frühmodernen souveränen Staates angeführt wird. Aus dem Konflikt um die Erbschaft des Herzogtums Burgund im späten 15. Jahrhundert entwickelte sich der verschiedene Phasen durchlaufen-
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de und die Entwicklung des sich ausbildenden europäischen Staatensystems prägende säkulare Antagonismus der Dynastien Habsburg, die seit Kaiser Friedrich III. (1440-1493) bis zur Auflösung des Reiches 1806 mit nur einer kurzen Unterbrechung die deutschen Könige und Kaiser stellte, und Valois/ Bourbon, die in diesem Zeitraum die französische Krone trugen. Diese Rivalität wurde bis ins späte 17. und ins 18. Jahrhundert hinein als naturgegeben hingenommen. Seit Franz I. suchten die französischen Könige immer wieder das Bündnis mit den Ständen des Reiches und unterstützen sie in ihrem Kampf um ihre Eigenständigkeit. In der deutsch-französischen Geschichte der frühen Neuzeit bildet der Westfälische Friede von 1648 eine Zäsur. Denn als Garant des Friedens wurde Frankreich beinahe automatisch in die weitere Entwicklung der Geschicke des Reiches und seiner Verfassung eingebunden. Diese enge Verflechtung deutsch-französischer Geschichte zwischen Reformation und Restauration erforschten die Historiker beider Länder unter wechselnden Fragestellungen seit der Etablierung der Geschichte als wissenschaftliche Disziplin. 1 Insbesondere die politische Geschichte nahm dabei einen besonderen Stellenwert ein, lieferte sie doch im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zahlreiche Argumente für die angebliche ,,Erbfeindschaft" zwischen deutschem und französischem Volk. Diese Epoche kann nun mittlerweile als überwunden gelten, doch zeigen Irritationen in Frankreich über die Rolle des wiedervereinigten Deutschlands in Europa, wie bedeutend die Auseinandersetzung mit dem wechselseitigen Bild ist, das Akteure im Staatensystem voneinander haben2. Gerade für die frühe Neuzeit hat der französische Blick auf das Alte Reich grundsätzliche Diskussionen angestoßen. Es ist außerordentlich bezeichnend, daß die erste und gewiß prägendste und einflußreichste Bestimmung von Verfassungsstruktur und Souveränität des Reichs durch einen Franzosen erfolgt
1 Vgl. Heinz-Otto Sieburg, Deutschland und Frankreich in der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts (1815-1848/1848-1871) (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte, Mainz, Abt. Universalgeschichte 3, 17), Wiesbaden 1954, 1958; Beate Gödde-Baumanns, Deutsche Geschichte in französischer Sicht. Die französische Historiographie von 1871 bis 1918 über die Geschichte Deutschlands und der deutsch-französischen Beziehungen in der Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte, Mainz, Abt. Universalgeschichte 49), Wiesbaden 1971. 2 Darauf deuten Titel von Büchern wie Philippe Delmas, Über den nächsten Krieg mit Deutschland, Berlin 2000, ebenso hin wie die Reaktionen des französischen Innenministers Chev~nement, der zu den im Mai 2000 vorgetragenen Überlegungen des deutschen Außenministers Fischer zu einer künftigen "Europäischen Föderation" erklärte, dies zeige, daß Deutschland "reve toujours du Saint Empire romain germanique. Elle ne s'est pas encore guerie du deraillement qu'a ete Je nazisme dans son histoire" (zit. nach Le Monde, Montag, 22. Mai 2000).
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ist, durch Jean Bodin, an dessen Behauptung, das Reich sei als Aristokratie anzusehen, da die Souveränität bei den im Reichstag vereinigten Reichsständen und nicht beim Kaiser liege, Generationen von - deutschen und französischen! - Historikern und Staatsrechtlern sich abgearbeitet haben. Bodins Ausführungen stehen geradezu paradigmatisch für ein seit dem 16. Jahrhundert nicht nur im Bereich politischer Entscheidungsträger immer stärker werdendes Interesse Frankreichsam Reich. Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts setzte eine intensive publizistische Beschäftigung mit dem Reich ein, die parallel zur Aktivität einer zunehmend institutionalisierten Außenpolitik einhergeht, die dank eines dichten Netzwerkes von Gesandten jederzeit auf eine umfangreiche Sammlung von Informationen über Deutschland zurückgreifen konnte. 3 Auch wenn es im Hinblick auf die französische Perzeption der Verfassungsstruktur des Alten Reichs oft unmöglich ist, zwischen primär staatsrechtlich interessierten Untersuchungen einerseits, vornehmlich politisch-instrumentellen Zwecken dienenden Perspektiven andererseits zu unterscheiden, ist eine analytische Differenzierung zwischen ihnen doch unerläßlich. Eines der Ziele der Beiträge des vorliegenden Bandes ist es, deutlich zu machen, in welchem Sinne die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen, mit denen der französische Blick auf die Verhältnisse im Reich gerichtet wird, den Gegenstand präformieren. Die Forschung über die deutsch-französischen Beziehungen im Bereich der Außenpolitik hat sich bisher auf bestimmte Untersuchungsgebiete, nämlich die Klärung einzelner diplomatischer Aktionszusammenhänge, beschränkt. Ausgeklammert blieben dabei zum größten Teil die eigentlichen Voraussetzungen des außenpolitischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses. In diesem Zusammenhang spielt die Frage, auf welchem Bild die Konzeptionen und Entscheidungen der politischen Eliten beiderseits des Rheins beruhten, eine entscheidende Rolle. Politiker reagieren "stärker aufgrund der jeweiligen Wahrnehmung der Realität( ...) als aufgrundder Realität selbst( ...). Die Art des Konfliktaustrags zwischen Staaten hängt ganz wesentlich davon ab, was Völker und Staatsführungen voneinander wissen, welche Vorstellungen sie von der Gegenseite haben, welches Bild sie sich vom Gegenüber machen".4 Der Verlauf von Entscheidungsprozessen, die Entwicklung von Hand-
3 Klaus Malettke, Frankreich, Deutschland und Europa. Beiträge zum Einfluß französischer Theorie, Verfassung und Außenpolitik in der Frtihen Neuzeit, Marburg 1994, passim, und bes. S. 15-42 den Überblick zur Forschung "zu den Bereichen 'Staat und Politik"' seit 1945. 4 Gottfried Niedhart, Perzeption und Image als Gegenstand der Geschichte von den internationalen Beziehungen. Eine Problernskizze, in: Bemd J. Wendt (Hg.), Das britische Deutschlandbild im Wandel des 19. und 20. Jahrhunderts, Bochum 1984, S.
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lungsstrategien und die Arten des Konfliktaustrages hängen ganz entscheidend davon ab, was und wieviel die politischen Akteure im internationalen System voneinander wissen und welche Vorstellungen sie sich von ihrem jeweiligen Gegenüber machen. Eng damit verbunden sind die Fragenkomplexe, welche Wechselwirkungen zwischen diesen Vorstellungen existieren und inwieweit diese Perzeptionen von den allgemeinen intellektuellen Strömungen der Epoche beeinflusst werden. Insofern bildet die Perzeptionsforschung nicht nur eine wesentliche Grundlage für die Analyse einzelner politischer Aktionen, sondern kann darüber hinaus entscheidende Impulse für die Friedens- und Konfliktforschung geben. Um die komplexen Verhältnisse und Beziehungen im Reich angemessen beurteilen und das eigene Handeln entsprechend ausrichten zu können, war für die französischen Staatsmänner und Diplomaten eine genaue Kenntnis des Funktionierens der Institutionen des Reiches, der Verfahren und der geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze seiner Verfassung unerläßlich. Nur dann konnte schließlich die jeweils verfolgte Politik direkter oder indirekter Beeinflussung des Machtgefüges im Reich, des aktiven Eingreifens durch Bündnisse mit einzelnen Ständen zur Schwächung Habsburgs funktionieren. Wie diese politisch-diplomatische Perzeption der Reichsverhältnisse in der französischen Monarchie konkret funktionierte, zeigt der vorliegende Band an exemplarischen Fällen aus unterschiedlichen Zeiträumen: thematisiert werden zum einen die Zeit der Regentschaft nach dem Tode Ludwigs XIV. (17151723), zum anderen die Zeit des Siebenjährigen Krieges (1756-1763). Für die Auswahl dieser beiden Phasen waren Gesichtspunkte und Fakten entscheidend, auf die an dieser Stelle etwas ausführlicher eingegangen sei, da so die Entwicklungen langer Dauer ins Blickfeld kommen, die einerseits für das Verständnis der in den historischen Beiträgen diskutierten Sachverhalte unerläßlich sind, die andererseits die Lebenswelt der Philosophen und Autoren, deren Werke hier diskutiert werden, selbst geprägt haben. Mit dem Frieden von Utrecht (1713) scheiterten die hegemonialen Pläne Ludwigs XIV. endgültig. Der sich nach 1679 abzeichnende Wandel in Europa von einem muttipolaren System zu einem von Frankreich dominierten Staatensystem, in dem die Multipolarität mehr und mehr zugunsten eines kontinuierlichen Ausbaus der französischen Machtposition reduziert zu werden drohte, konnte von der antifranzösischen Koalition nicht nur gestoppt, sondern auch auf Dauer verhindert werden. Daß die Realisierung der Ambitionen Ludwigs XIV. vereitelt werden konnte, ist aber nicht nur auf die zunehmende Solidarität der durch Frankreich bedrohten Staaten, auf den sich formierenden
39-52, S. 42. Vgl. zur Perzeptionsforschung auch Robert Jervis, Perception and Misperception in International Politics, Princeton, N.J. 1976.
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europäischen Widerstand sowie auf die Überforderung der wirtschaftlichen und finanziellen Möglichkeiten Frankreichs zurückzuführen, sondern auch auf die Widersprüchlichkeit und die Fehler ludovizianischer Außenpolitik, die wesentlich zum Scheitern seiner weitreichenden Intentionen beigetragen haben. Der Gedanke des Gleichgewichts der Kräfte in Europa, der die Utrechter Friedensverhandlungen maßgeblich geprägt hatte, blieb fortan eine Konstante in den multilateralen Staatenbeziehungen des 18. Jahrhunderts. 5 Denn mit dem europäischen Gleichgewichtssystem wurde implizit die Vielgestaltigkeit der Staatenwelt propagiert und damit auch die Existenz der zahlreichen kleinen Staaten Europas garantiert. Das Prinzip des europäischen Gleichgewichts tendierte damit in letzter Konsequenz in Richtung auf die Erhaltung des Status quo. Dieses Prinzip ließ Veränderungen - man denke an den Aufstieg Preußens und Rußlands zu europäischen Großmächten - auf der Basis der Convenance oder Reziprozität zu. Frankreich blieb in dem in Utrecht ausgebildeten "System der 'präpondierenden Mächte'" (H. Duchhardt) aber weiterhin eine Großmacht, die innerhalb des Systems eine beachtliche politische Dynamik entfaltete. Unter der Regentschaft Philipps von Orleans (1715-1723) und seines Prinzipalministers, des Kardinals Guillaume Dubois, war die französische Außenpolitik von der Furcht eines Wiederauflebens der antifranzösischen Großen Allianz geprägt. Deshalb waren die außenpolitischen Aktivitäten Frankreichs in jenen Jahren durch das ständige Bemühen gekennzeichnet, die bei Ludwig XIV. dominierende Politik polarisierender Allianzen durch vorsichtige Ansätze zu einer Politik kollektiver Sicherheit abzulösen. Der Premierminister Ludwigs XV., Kardinal Andre Hereule de Fleury, setzte zwar die von Dubois begonnene Ententepolitik mit England im wesentlichen bis 1735 fort. Seit jenem Zeitpunkt beabsichtigte er aber eine Neuorientierung der französischen Außenpolitik, um für diese einen größeren Entscheidungsspielraum zu gewinnen. Fleury war sich auch sehr wohl bewußt, daß die französisch-englische Entente die Rivalitäten beider Mächte in Europa und Übersee nicht beseitigen, allenfalls verdecken konnte. Der Minister orientierte sich deshalb stärker nach Wien, um den politischen Einfluß der Seemächte gemeinsam mit Österreich zurückzudrängen. Im Frieden von Wien von 1735, mit dem der Polnische Erbfolgekrieg endete, schien der Ausgleich mit Österreich bereits erreicht. Dann tratjedoch 1740 mit Beginn des Österreichischen Erbfolgekrieges der jahrhundertealte Antagonismus zwischen Frankreich und Habsburg noch einmal in alter Schärfe zutage. Er endete erst mit dem ,,Renversement des Alliances" von 1756/57. Damit veränderten sich die
5 Vgl. jetzt Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700-1785 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen 4 ), Paderbom 1997.
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Strukturen der europäischen Politik fundamental. Es vollzog sich aber auch eine Umgruppierung des europäischen Staatensystems. 6 Eine Folge dieser Umgruppierung "war nach 1763 der Rückzug Großbritanniens aus der Kontinentalpolitik und eine Lähmung Frankreichs, das sich aus der Reichspolitik weitgehend verabschiedete, was insgesamt eine deutliche Schwerpunktverlagerung der Großmachtpolitik nach Ostmitteleuropa und Südosteuropa (Polen Balkan/Osmanisches Reich) nach sich zog". 7 Diese kurze Skizze weist bereits auf die beiden Zäsuren französischer Außenpolitik hin, denen die Beiträge von Jörg Ulbert und Sven Externbrink gewidmet sind. Während der Regentschaft Philipps von Orleans vollzog sich nicht zuletzt aufgrund der veränderten innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen ein Wandel gegenüber der Außenpolitik Ludwig XIV., und mit dem ,,Renversement des Alliances" von 1756/57 veränderten sich die Strukturen des europäischen Staatensystems grundlegend. Grundsätzlich unterschieden von dem auf das Reich allgemein und auf das Spannungsverhältnis von Kaiser/Reichsstände im besonderen fokussierten Blick der Diplomaten und Politiker ist das Erkenntnisinteresse, das der Beschäftigung mit dem Alten Reich und seiner Verfassungsstruktur durch die französischen Philosophen des Zeitalters der Aufklärung zugrunde liegt. Im Laufe des 18. Jahrhunderts werden etwa etwa beim Abbe de Saint-Pierre, bei Jean-Jacques Rousseau oder Abbe de Mably philosophische Perspektiven auf das Reich entwickelt, in denen sich, wie die Beiträge von Olaf Asbach und Dieter Hüning zeigen, ein Bild vom Alten Reich herauskristallisiert, das sich gegenüber jenem, das die französischen Politiker und Diplomaten vermitteln, durch ein spezifisch unterschiedenes Erkenntnisinteresse auszeichnet. Ungeachtet der Differenzen nämlich, die zwischen den verschiedenen philosophischen Interpreten der Verhältnisse des Reichs bestehen, kommt es ihnen doch allen darauf an, im Lichte ihrer je eigenen normativen Prinzipien und Konzeptionen von gelingender politischer und gesellschaftlicher Organisationsformen die Angemessenheit der Verfassungsstruktur des Alten Reichs zu überprüfen, wie sie einerseits die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb des Reichs, darüber hinaus aber auch die Stellung des Reichs im europäischen Kontext prägte. Ihnen geht es deshalb einerseits vor allem um die rechtsphilosophische Einordnung der Verfassung des Reichs innerhalb der
6 Siehe Klaus Malettke, Grundlegung und Infragestellung eines Staatensystems: Frankreich als dynamisches Element in Europa, in: Peter Krtlger (Hg.), Das europäische Staatensystem im Wandel. Strukturelle Bedingungen und bewegende Kräfte seit der Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 35), München 1996, s. 27-62. 7 Heinz Duchhardt, Altes Reich und europäische Staatenwelt 1648-1806 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 4), München 1990, S. 14.
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Konzeption neuzeitlicher Staatlichkeit, andererseits um ihren normativen Gehalt. Hier stehen ganz unterschiedliche Fragen im Zentrum des Interesses. Inwiefern befördert oder behindert die Reichsverfassung den Bildungsprozeß der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft und die hierfür konstitutiven Prozesse der Entfaltung bürgerlicher Freiheit und Gleichheit? Inwiefern kann sie gerade aufgrund ihrer so untypischen Struktur als Modell dienen für eine Auflösung von Problemen und Widersprüchen, die im Prozeß der Ausbildung und Generalisierung des modernen souveränen Nationalstaats und der durch ihn geprägten Staatenwelt des neuzeitlichen Europas auftraten und nach einer Lösung verlangten? Die Beiträge des vorliegenden Bandes reflektieren und verdeutlichen in ihrer Gesamtheit sowohl die systematischen als auch die diachronischen Differenzen und Entwicklungen des französischen Deutschlandbildes. Indem für zwei exemplarische Zeiträume- für das frühe sowie für die Jahrzehnte nach der Mitte des 18. Jahrhunderts -jeweils unterschiedliche politische, historische und philosophische Darstellungen und Interpretationen des Reichs untersucht werden, treten nicht nur die verschiedenen Perspektiven und die ihnen jeweils zugrundeliegenden Interessen und Positionen deutlich hervor, sondern es lassen sich in zeitlicher Perspektive auch Weiterentwicklungen und charakteristische Bedeutungsverschiebungen des französischen Deutschlandbildes beobachten. In seinem einleitenden Beitrag über ,,Kaiser, Reich und Reichsverfassung" in der Zeit zwischen dem Westfälischen Frieden 1648 und der Auflösung des Alten Reichs 1806 wirft Anton Schindling einen doppelten, historisch wie auch wissenschaftsgeschichtlich ausgerichteten Blick auf das Bild des Alten Reichs. Auf der einen Seite zeigt er die verschiedenen Etappen, Konjunkturen und Desiderata auf, die die Erforschung und die Bewertung der Verfassungsstruktur, der Institutionen und Entwicklungen des Alten Reichs in der Geschichtsschreibung insbesondere des 19. und 20. Jahrhunderts geprägt haben. Von besonderer Bedeutung erweist sich dabei die in den vergangenen Jahrzehnten zu konstatierende Differenzierung der Forschungslandschaft, die zu einem Ende der lange Zeit dominierenden, auf den Nationalstaat fixierten 'horussischen' Geschichtsschreibung und einer Neubewertung der Reichsgeschichte geführt hat. Ins Zentrum rückt zunehmend das Bild eines, wie Schindling es nennt, 'reichischen Deutschlands', das von dem Bewußtsein seiner Vielgestaltigkeit und Komplexität getragen ist, welches "von einem durchaus lebensweltlich präsenten und funktionsfähigen Alten Reich [zeugt], und zwar gerade auch in den eineinhalb Jahrhunderten seiner Existenz, die auf den Westfälischen Frieden noch folgten.''s Über diese historiographische Perspek-
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Anton Schindling, Kaiser, Reich und Reichsverfassung, in diesem Band, S. 32 f.
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tive hinaus bietet Schindling einen Überblick über die Dynamik, die Widersprüche und die Entwicklungsetappen des Alten Reichs zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert, womit er zugleich das historische Feld umreißt und absteckt, auf dem sich die weiteren Beiträge des Bandes in je besonderer Perspektive bewegen. Zunächst werden die langfristigen Wandlungsprozesse untersucht, die in der historischen und politischen Semantik der das Alte Reich und seine politische und rechtliche Verfaßtheit bezeichnenden Begriffe in der französischen Publizistik zu konstatieren sind. Armelle Lefebvre und Fred E. Sehrader analysieren dabei unter Verwendung von begriffsgeschichtlichen Methoden den Wandel, der sich im Hinblick auf die Beschreibungen des Alten Reichs im Verlauf der Jahrhunderte immer deutlicher abzeichnet. Lefebvre verfolgt in ihrem Beitrag den Wandel des Bildes, das in der politischen und staatsrechtlichen Publizistik Frankreichs des 16. und 17. Jahrhunderts vom jeweils aktuellen Zustand des Reichs, seiner Verfassungsstruktur, Stabilität und Entwicklungstendenzen entworfen wurde. In ihrer Analyse zahlreicher, teils vergessener oder anonymer Schriften und Traktate zeichnet sie die Muster nach, denen die Diagnosen von Strukturen und Tendenzen des Alten Reichs folgen. Zunächst überwiegen der bei Bodin oder Loyseau gängige ,,Discours de Ia decadence" oder- etwa bei de Thou oder Varillas - der gegenläufige, Stabilität und 'liberte germanique' betonende ,,Discours de Ia conservation". Nach dem Dreißigjährigen Krieg und verstärkt gegen Ende des 17. Jahrhunderts wächst unter dem Einfluß Pufendorfs und der stark rezipierten Reichspublizistik das Interesse an präzisen und detaillierten Kenntnissen von Reichsgeschichte und -Verfassung, wofür Namen wie de Prades oder Rocoles stehen. Insbesondere zeigt Lefebvre, daß diese Diskussionen um das Alte Reich immer auch ein Element der Ausbildung des neuen politischen und verfassungsrechtlichen Selbstverständnisses der französischen Autoren selbst war. Fred E. Sehrader richtet in seinem Beitrag den Fokus vor allem auf das 17. und 18. Jahrhundert, in denen die Verfassung des Reichs als Jederation oder als confederation, als corps oder als systeme beschrieben wird, womit sich jeweils unterschiedliche Vorstellungen über Struktur, Homogenität und Funktionsweise des Reichs, seiner Glieder und ihres Verhältnisses zueinander verbinden. Dabei zeigt sich unter anderem, daß das Reich im Spannungsfeld zwischencorpsund systemegesehen wird, wobei im 18. Jahrhundert der Aspekt des ,,Systems", unter welchem das Reich deutlicher als Resultat eines politisch und rechtlich erzeugten, diplomatisch gestützten, letztlich intentional "konstruierten" Zusammenhangs von zentralen und territorialen Mächten, Akteuren und Institutionen erscheint, gegenüber dem der zunächst dominierende organische, hierarchische Charakter der Vorstellung des Reichs als eines "Corps" in den Hintergrund tritt.
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In den beiden folgenden Abteilungen wird anhand von Fallstudien dem Wandel der Wahrnehmung der Verhältnisse innerhalb des Reichs sowie seiner Stellung im europäischen Zusammenhang einerseits in chronologisch begrenzten Kontexten, andererseits in systematisch deutlich voneinander abweichenden Perspektiven nachgespürt. Im dritten, der letzten Phase der Regierungszeit Ludwigs XIV. und der auf ihn folgenden Periode der Regence gewidmeten Teil leitet der Beitrag von Peter Sehröder über zur Rezeption der Reichsverfassung und des Verhältnisses von Kaiser und Reichsständen im frühen 18. Jahrhundert. Ausgehend von der auch für die französische Publizistik bedeutsamen und zum Teil als paradigmatisch anzusehenden Diskussion um die Staatlichkeil des Reichs bei Pufendorf und Leibniz, untersucht Sehröder ihre vor dem Hintergrund der Bedrohung des Reichs durch das ludovizianische Frankreich einerseits, durch die Türken andererseits entwickelten Projekte zur Organisation und Weiterentwicklung der Reichsverfassung. Während die von Pufendorf entwickelten politischen Positionen dabei kaum die konventionellen Vorstellungen überschritten, ist es nach Schröders Auffassung Leibniz gewesen, der eine originellere und radikalere Fortentwicklung der föderalistischen Organisation des Reichs entworfen hat. Zwischen dem Ende des Rheinbunds und dem Abschluß der Reichsdefensionsordnung (168l/82) regte er an, durch Allianzen der Reichsstände untereinander ein verteidigungsfähiges Reich zu konstituieren, das nicht prinzipiell auf den Kaiser angewiesen sei. Im Anschluß daran wird in zwei Beiträgen gezeigt, wie sich diese theoretischen und praktischen Entwicklungen innerhalb des Reichs in der Wahrnehmung französischer Diplomaten und politischer Theoretiker im beginnenden 18. Jahrhunderts dargestellt haben. Jörg Ulben analysiert den schwierigen Neubeginn der französischen Diplomatie am Reichstag in Regensburg nach dem Ende des Spanischen Erbfolgekrieges, der noch von beiderseitigem Mißtrauen und Antipathie geprägt war. Das Bild der französischen Diplomatie war während der Regence noch weitgehend antihabsburgisch geprägt, wobei sich das Zentrum des französischen Interesses von den Institutionen des Reichs weg und hin zu einer direkten Bündnispolitik und Einflußnahme auf die Reichsstände verlagerte. Nun war man darauf bedacht, nicht in aktuelle, am Reichstag verhandelte Konflikte einzugreifen, und insbesondere suchte man zu vermeiden, in die Religionsstreitigkeiten der ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts verwickelt zu werden. Von einem eigenständigen Interesse an den Institutionen des Reichs, insbesondere am Reichstag, kann auf seiten der französischen Diplomatie zur Zeit der Regence nicht mehr gesprochen werden. Ganz anders verhielt es sich, wie Olaf Asbach in seinem Beitrag zeigt, mit dem Bild der Reichsverfassung als eines föderativen Staatenbundes in der politischen Philosophie des Abbe de Saint-Pierre, wie es in den letzten Jahren des Spanischen Erbfolgekriegs entworfen und zum Vorbild für eine künftige
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Olaf Asbach, Sven Externbrink, Klaus Malettke
europäische Rechts- und Friedensordnung gemacht wurde. Saint-PierresBlick auf die Reichsverfassung markiert insofern einen Wendepunkt in der Perzeption der Reichsverfassung, da ihn nicht mehr die Frage nach deren Einordnung in die liberlieferten aristotelischen Verfassungskategorien interessiert; im Zentrum seines Interesses steht vielmehr der Charakter des Reichs als eines planvoll konzipierten und hergestellten Systems, das als solches modellhaft flir eine überstaatliche Staatenorganisation stehen kann. Dieses Element tritt, wie Asbach hervorhebt, in der Bearbeitung, die Jean-Jacques Rousseau um 1758 dem Projekt Saint-Pierres angedeihen ließ, zugunsten einer stärker historisch und empirisch, am inneren und äußeren Gleichgewicht des Reichs im europäischen Zusammenhang orientierten Perspektive in den Hintergrund. Der Zeitraum, in dem Rousseau seine berühmte Formulierung vom "Corps Germanique" niederschrieb, welches im Herzen Europas liegend durch seine Existenz und sein "droit public" die Stabilität des gesamten Kontinents garantiere,9 befindet sich im Zentrum der letzten Abteilung des Bandes, die im Zeichen der ,,Renversement des Alliances" und einer aus unterschiedlichen Gründen gewandelten französischen Perspektive auf das Alte Reich steht. Einleitend untersucht Sven Externbrink das Interesse der französischen Außenpolitik an der Fortexistenz des Reichs und der Sicherung des Alten Reiches gegen die Aggressionen Friedrichs II. von Preußen. Frankreich als Garant des Westfälischen Friedens versuchte im Siebenjährigen Krieg, auch innerhalb der neuen Allianz mit Wien weiterhin traditionelle Positionen durchzusetzen, so vor allem die Protektion mindermächtiger Reichsstände und die Bewahrung der Reichsverfassung. Bis hin zu den kleinsten, machtpolitisch unbedeutenden Reichsständen warb Versailles flir den Kampf gegen Friedrich II. Obwohl das Reich dem Drängen des Kaisers und Frankreichs mehrheitlich nachgab und sich zur Achterklärung gegen den Preußenkönig entschloß, führte der unglückliche Kriegsverlauf letztlich zu einem erheblichen Ansehensverlust der französischen Monarchie nicht nur im Reich, sondern auch in Frankreich, wo die literarische Öffentlichkeit den erfolgreichen Kampf Friedrichs II. gegen eine übermächtige Koalition weitgehend positiv wlirdigte. Deutlich kritischer fällt demgegenliber das Urteil liber das Reich aus, wie es in den flinfziger und sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts im Werk Gabrie! Bonnot de Mablys, des französischen Diplomaten und Theoretikers, zum Ausdruck kommt. Mably, dessen politisches und historisches Denken, wie Dieter Hüning zeigt, eher am Ideal des klassischen Republikanismus als an dem des neuzeitlichen Kontraktualismus orientiert ist, zeichnet ein komplexes Bild des Alten Reichs. Entwirft er in der Perspektive der Erziehung und Aus-
9 Jean-Jacques Rousseau, Ecrits sur l'abb6 de Saint-Pierre, in: ders.,